Das Weltraumschiff
von Arthur Bagemühl
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Inhaltsangabe
Copyright
Der Autor
DIE FA...
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Das Weltraumschiff
von Arthur Bagemühl
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Inhaltsangabe
Copyright
Der Autor
DIE FAHRT ZUM MARS
DER RADIUM-DIEBSTAHL
DAS ATOM-INSTITUT
DIE REISE ZUM SATURN
DESCHT-I-KUWIR
IN DEN KLAUEN DES GEHEIMDIENSTES
FLUGPLATZ »WÜSTE«
GEFÄHRLICHE STRAHLEN
AUCH DIE RETTER IN DER FALLE
DIE FLUCHT
SPARTACUS
DIE GENESUNG
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Copyright
Altberliner Verlag Lucie Großer, Berlin 1952
Einband: Rudolf Schultz
Diese Ebook-Fassung ist nur für den privaten Gebrauch und nicht für den Verkauf
bestimmt. Sie wurde an einigen Stellen an die Erfordernisse der Darstellung auf einem Palm
angepasst.
f r e | e | b o o k s
3
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Der Autor
Bagemühl, Arthur
( 1891 - 1972 )
DDR-Schriftsteller, lebte in Berlin.
Er veröffentlichte mit Das Weltraumschiff den ersten populärwissenschaftlichen
utopischen (SF-) Roman in der DDR. Das Buch wurde bereits im Erscheinungsjahr 1952
zwei Mal in einer Höhe von je 10 000 Exemplaren verlegt.
Über ihn scheint so gut wie nichts bekannt zu sein. Zitat von Helmut Fickelscherer in dem
Beitrag Die Etablierung eines Genres
(http://www.berlingeschichte.de/Lesezei/Blz96_10/text04.htm):
Da bleibt kaum eine Erzählung unerwähnt, und sei sie noch so kurz, es werden
Grundthemen und Gestaltungsprinzipien der Autoren erörtert; selbst einer der frühen
Autoren der DDR-SF wie Arthur Bagemühl, heute weitgehend vergessen, ist aufgenommen,
und man erfährt, daß sein einziger Roman, Das Weltraumschiff, »eine für seine Zeit
beachtliche Breitenwirkung“ erzielte. (Bezug auf: Die Science-fiction der DDR. Autoren
und Werke. Ein Lexikon. Herausgegeben von Erik Simon und Olaf R. Spittel. Verlag
Das Neue Berlin, Berlin 1988)
Auf Spittels eigner Webseite (http://www.spittel.de) wird das Buch lediglich erwähnt mit
dem Zusatz, dass es zweiteilig in den Bären-Lese-Heften 1955 erneut abgedruckt wurde.
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
DIE FAHRT ZUM MARS
»Was hast du hier zu suchen?«
Erschreckt wendete sich Heinz zu dem zornigen Vater um.
»Ich... ich... die Tür zum Labor stand offen und...«
»Habe ich dir nicht streng verboten, in meiner Abwesenheit diesen Raum zu
betreten?«
»Der Strom war ja ausgeschaltet. Ich habe sofort auf die Schalttafel geguckt.«
Des Mannes Stimme wurde milder: »Der Strom ist nicht die einzige Gefahr. Du
weißt, daß ich mit radioaktiven Stoffen arbeite, und die sind mindestens ebenso gefährlich
wie hochgespannte elektrische Ströme.«
»Ich habe nichts angerührt, Vater. - Sag bitte, was ist das für ein Apparat?«
Der Junge deutete mit dem Finger auf einige Zeichnungen hin, die eine Kugel in
Außenansicht und im Querschnitt darstellten.
Professor Habermann hatte sich wieder beruhigt: »Das soll ein Weltraumschiff
werden.«
Fragend blickte der Knabe den Vater an: »Und was willst du damit machen?«
Der Gelehrte seufzte lächelnd über die hartnäckigen Fragen seines zwölfjährigen
Sprößlings; genau so hatte der Wissensdurst bei ihm selbst begonnen. »Vielleicht«,
antwortete er zögernd, »vielleicht einmal in andere Welten reisen.«
»In andere Welten?« staunte Heinz. »Mit so einem Ding? Wie ist das möglich?«
Habermann lachte kurz auf, dann gab er sich einen Ruck und fuhr fort: »Ich weiß
nicht, ob du es schon begreifen kannst, aber ich will es versuchen, dir die Grundtatsachen
der modernen Physik klarzumachen. Komm mit!«
Der Professor schob den Jungen hinaus und verschloß hinter sich das Laboratorium,
das an der Gartenseite des Habermannschen Landhauses lag. In der Diele zogen beide die
Wintermäntel an und traten dann auf die Straße.
Draußen heulte der Frühlingssturm mit gelegentlichen Hagelund Regenschauern. Die
Hände in die Manteltaschen vergraben, schlugen Vater und Sohn den Weg zum Tor des
ehemaligen Flugplatzes ein, der jetzt das berühmte Atomforschungsinstitut, die
Arbeitsstätte des Professors Habermann, beherbergte. Heinz pochte das Herz; sollte er zum
erstenmal dieses Heiligtum betreten?
Ja, wirklich. Der Vater sprach ein paar Worte mit dem Pförtner und machte eine
Eintragung in das Kontrollbuch; dann öffnete sich ihnen das Tor. Aber für Heinz folgte eine
Enttäuschung: An den Institutsgebäuden, zwischen denen der Wind um die Ecken pfiff, ging
der Vater vorbei auf den Weg zu, der quer über das weite, offene Gelände führte.
»Dort steht das Megatron.« Des Professors Hand wies nach rechts, wo in der Ferne
die drohende Masse eines gewaltigen Gebäudes aufragte. »Das ist die Maschine, in der
Elektronen, feinste Teilchen der Materie, in ihrer Bewegung aufs höchste beschleunigt und
dann auf Atome bestimmter Stoffe abgeschossen werden. Die Atomkerne werden durch
5
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
dieses Bombardement zerschmettert und geben dabei ungeheure Energien frei.«
Im offenen Gelände wehte der Wind gleichmäßiger, und je näher die beiden dem
Walde kamen, um so ruhiger wurde die Luft. Da begann der Professor von seinen Plänen zu
sprechen: »Du weißt, daß die Entfernungen im Weltraum sehr groß sind. Der Mond zum
Beispiel, der um unsere Erde kreist und uns von allen Himmelskörpern der nächste ist,
bleibt immerhin 384000 km von uns entfernt. Nun haben aber unsere schnellsten Flugzeuge
selbst in der obersten, ganz dünnen Luftschicht der Erde, in der Stratosphäre, selten
Geschwindigkeiten erreicht, die die des Schalls übertreffen, und auch wenn sie es schaffen,
genügt das noch nicht, um sie aus dem Machtbereich der Erde hinauszutragen. Für diesen
Zweck brauchen wir noch höhere Geschwindigkeiten, und die will ich mit meinem Geschoß
erreichen.«
»Aber wie?«
»Nun, seitdem es gelungen ist, Atomkerne zu zertrümmern und die dabei frei
werdende Energie zu bändigen, besitzen wir eine Energiequelle, die es uns ermöglicht,
Geschwindigkeiten zu erzielen, die weit über die des Schalls hinausgehen und bald vielleicht
nahe an die des Lichts herankommen. - Weißt du übrigens, wie groß diese beiden
Geschwindigkeiten sind?« »Ja, der Schall - 330 m ...«
»Genauer 333 m in der Sekunde. Richtig! Und das Licht?«
»Ich glaube, etwa tausendmal so schnell.«
»Das reicht nicht, fast eine Million mal! Das Licht eilt mit einer Geschwindigkeit von
300000000 m oder 300000 km in der Sekunde durch den Raum. Wenn wir mit unseren
Apparaten in die Nähe dieser Geschwindigkeit kommen, dann können wir uns bequem von
der Erde lösen und in sehr ferne Räume vorstoßen. Ein mit Atomenergie beschleunigtes
Geschoß kann in andere Welten eindringen. Dem Kenner von Einsteins Relativitätstheorie
erscheint das zwar immer noch wunderbar, aber nicht mehr unbegreiflich. Um diese Theorie
ganz zu verstehen, wirst du allerdings erst mühsam in die Geheimnisse der höheren
Mathematik eindringen müssen. Aber ich kann dir vielleicht an ein paar praktischen
Beispielen klarmachen, auf welche Weise bei immer steigenden Geschwindigkeiten die alten
physikalischen Begriffe von Raum und Zeit in weitem Maße unbrauchbar werden.
Stell dir vor: Vom Bahnhof Friedrichstraße in Berlin fahren kurz hintereinander zwei
Schnellzüge ab, der eine nach Frankfurt a. M. mit 95, der andere nach Köln mit 97 km
Stundengeschwindigkeit. Du selbst sitzt in dem Frankfurter Zug, der bald von dem Kölner
rechts überholt wird. Wie schnell fährt dann der Kölner an dir vorbei?«
»Sehr langsam! Er kriecht ja nur mit 2 km in der Stunde an uns entlang.«
»Stimmt! Wenn die Fenster offen sind, kannst du dich mit den Reisenden drüben im
Kölner Zuge eine Weile unterhalten. - Jetzt trennen sich die Gleise, und der Kölner Zug
entschwindet uns aus dem Gesicht. Aber auf dem linken Nachbargleis kommt uns plötzlich
von Frankfurt her ein anderer Zug mit der gleichen Geschwindigkeit entgegen. Wieder
blickst du zum Fenster hinaus. Was siehst du?«
»Ich kann nur sehen, daß etwas vorbeiflitzt.«
»Mit anderen Worten: Du hast diesmal den Eindruck ganz gewaltiger
Geschwindigkeit, obwohl der Zug mit ungefähr der gleichen Schnelligkeit gefahren ist wie
der erste Nachbar. Wir messen also stets Relativgeschwindigkeiten, und die ändern ihr Maß
je nach unserem eigenen Standpunkt oder unserer eigenen Bewegung.
6
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
So, und nun fahren wir mit unserem Zuge weiter. Wir nähern uns einem
Bahnübergang. Du steckst den Kopf zum Fenster hinaus - was du eigentlich nicht tun sollst
- und siehst, wie der Bahnwärter gerade den Hebel des Läutewerks zu drehen beginnt. Du
schätzt die Entfernung bis zu ihm auf einen Kilometer und zählst die Sekunden. Es müßten
drei Sekunden vergehen, bis du den ersten Ton der Glocke hörst. Aber...«
»Ich höre die Glocke schon, ehe die drei Sekunden um sind, denn wir fahren ja auf
ihn zu.«
»Nun ja, unser Zug nähert sich dem Bahnübergang mit 95km
Stundengeschwindigkeit, das sind 27 m in der Sekunde. Die Schallgeschwindigkeit beträgt
333 m, für uns im fahrenden Zuge aber tatsächlich 360 m. Der Ton der Glocke muß uns
also schneller erreichen.
Gut, das macht gedanklich keine Schwierigkeiten. Schlimm wird es aber, wenn wir es
nicht mit einem Ton, sondern mit einem Lichtsignal zu tun haben. Da stimmt mit einemmal
die Additionsrechnung nicht mehr. Alle Beobachtungen und auch die exaktesten Versuche
haben nämlich ergeben, daß die Lichtgeschwindigkeit unter allen Umständen konstant
bleibt. Einstein erläutert das an einem anderen Eisenbahnbeispiel:
Gerade in dem Augenblick, da der Zug, in dem wir sitzen, an dem Bahnwärter
vorüberbraust, schlagen zwei Blitze gleichzeitig weit vor und weit hinter dem Zuge in den
Bahnkörper. Von beiden Seiten hat der Beamte das grelle Leuchten gleichzeitig gesehen. Er
wartet auf den Donner, und siehe da: das Grollen beginnt von beiden Seiten gleichzeitig.
Die Entfernung beider Blitze war also die gleiche.
Wie aber erschien es dir vom Zuge aus? Du hast aus dem Fenster nach vorn geblickt
und hast gesehen, wie der Blitz weit vor der Lokomotive einschlug. Den Bruchteil einer
Sekunde später aber hast du noch einen Blitz gesehen, allerdings nur in dem rückwärtigen
Fenster des Führerstandes der Lokomotive. Du dachtest vielleicht, dort wäre etwas
explodiert; nein, es war die Spiegelung des anderen Blitzes, der hinter dem Zuge
eingeschlagen war. Für dich waren also die beiden Blitze nicht gleichzeitig, sonst wäre dir
die Spiegelung im Fenster gar nicht aufgefallen. Und doch steht fest, daß der Bahnwärter
beide zu gleicher Zeit niederfahren sah.
Die Geschwindigkeit des Lichts ist und bleibt - im Gegensatz zum Beispiele zu der
des Schalls - konstant! Den exakten Nachweis dafür kann ich dir erst später erbringen,
wenn du mit der Mathematik nicht mehr so auf dem Kriegsfuß stehst wie heute.«
Die beiden Wanderer hatten den Wald erreicht. Hier war es ganz still. Nur oben in
den Wipfeln der alten Bäume war ein leises Rauschen und gelegentlich ein Knacken. Des
Vaters Schritt war jetzt gemächlicher.
Heinz dachte angestrengt nach. »Und, Vater...«, zögernd kam seine Frage: »Was ist,
wenn wir eine Geschwindigkeit erreichen, die noch über die des Lichts hinausgeht?«
Der Professor lachte: »Das ist eine gedankliche Spielerei, die auf Abwege führt. Gäbe
es solche Geschwindigkeiten, dann würde freilich herauskommen, daß für den, der sich mit
Lichtgeschwindigkeit fortbewegt, die Zeit stillstehen müßte, und daß derjenige, der noch
schneller durch den Weltraum fliegt, verjüngt zurückkehren müßte. Das ist natürlich barer
Unsinn. Es gibt allerdings Leute, die mit solchen Spukgeschichten die Menschen zu
verdummen suchen, um sie von der Beschäftigung mit den für unser menschliches Leben
wichtigen Problemen abzulenken. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun. Die
Relativitätstheorie zwingt vielmehr gerade zu dem Schluß, daß sich nichts in der Welt
7
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
schneller oder auch nur ebenso schnell bewegen kann wie das Licht. Beschäftige dich also
nicht mit so irreführenden Phantasien. Ich will dir lieber noch ein wenig von meiner
praktischen Arbeit zeigen.«
Der Weg öffnete sich auf eine Lichtung, an deren Rand eine Holzbaracke stand. Hier
endete der Fahrweg.
Professor Habermann stieß die Tür der Hütte auf. Ein Regal mit Werkzeugen, zwei
lange Tische aus starken Eichenbohlen, eine kleine Drehbank und ein paar Stühle - das war
die Einrichtung. Auf dem Boden aber lagen gewaltige Metallschalen mit dicker
Doppelwandung und verzahnten Rändern, die offenbar ineinanderpaßten: Wenn man sie
zusammensetzte, würde wahrscheinlich eine große Kugel entstehen.
»Hier«, sagte der Gelehrte, »werden wir das Raumschiff montieren, dessen Teile da
herumliegen. Es erhält einen Motor nach dem bekannten Düsenprinzip, wie es bei
Flugzeugen und Raketen schon längst benutzt wird, und soll sich damit wie eine Rakete vom
Erdboden erheben. Dann aber, wenn es eine solche Höhe erreicht hat, daß Zerfallprodukte
der Atomkernspaltung kein Unheil mehr anrichten können, wird das Geschoß durch
Atomenergie eine weitere Beschleunigung erhalten, die für eine Weltraumfahrt ausreicht.
Die Einzelteile sind nach meinen Plänen und Angaben aus Spezialstählen und
anderen sehr widerstandsfähigen Materialien in einer Maschinenfabrik angefertigt worden,
ohne daß einer der Beteiligten den Zweck kennt, für den sie bestimmt sind. Meine Versuche
sollen geheim bleiben, bis ihre Ergebnisse feststehen, - und vielleicht noch länger, denn es
darf nicht dazu kommen, daß solche schnellen Geschosse von den Menschen als neue
Zerstörungswaffen benutzt werden, wie es bisher mit jeder großen Erfindung geschehen ist:
mit dem Schießpulver, mit dem Flugzeug und zuletzt mit der Atomenergie.«
* * *
Vor Jahresfrist war Heinz' Mutter gestorben. Seitdem hatte sich der Professor völlig
in seine Arbeit vergraben. Selbst die Mahlzeiten ließ er sich oft ins Studierzimmer oder ins
Labor bringen, und es hatte Tage gegeben, an denen sein einziger Sohn ihn überhaupt nicht
zu Gesicht bekam.
Nach dem gemeinsamen Besuch in der Waldhütte wurde das anders. Heinz wurde
der unentbehrliche Gehilfe des Vaters und opferte dafür alle freie Zeit, die ihm die Schule
ließ. Waren es auch nur einfache Handreichungen, die er leisten konnte, so ersparten sie
doch dem Gelehrten und seinem Assistenten viel Zeit.
Der Professor hatte für seinen Sohn die Erlaubnis zum Betreten des Institutsgeländes
in seiner Begleitung erwirkt, und Heinz durfte beim Bau des Weltraumschiffes helfen. Ende
Mai war die Kugel fertig montiert, alle Hilfsgeräte waren eingebaut. Die Kugel lag in der
Hütte auf einem niedrigen Fahrgestell und wurde nun auf einem Feldbahngleis zur Wiese
hinausgefahren.
Nachdem hier die Anschlüsse für die Zündkabel hergestellt waren, begaben sich
Professor Habermann, Dr. Heise und Heinz zum Megatron, das der Knabe bisher nur aus
weiter Ferne angestaunt hatte. Jetzt durfte er zum erstenmal den Betonklotz betreten. Er
war jedoch enttäuscht: In dem Hauptraum war kaum etwas anderes zu sehen als eine
große Schalttafel. Die Apparatur für die Atomzertrümmerung war fest in Beton eingebettet,
an ihr war wenig zu sehen.
Der Besuch im Kernwerk des Instituts war auch nur von kurzer Dauer; denn es galt
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
lediglich, den dort hergestellten Atomtreibstoff abzuholen. Er war in einer schweren
Bleikassette eingeschlossen, die auf einen Lastkraftwagen verladen wurde. Auch ein
Schutzanzug wurde ihnen mitgegeben. Habermann selbst kletterte auf die Ladefläche, um
das kostbare Gut während der Fahrt zu bewachen. Heinz mußte neben dem Assistenten
Platz nehmen, der am Steuer des Wagens saß. Der Motor sprang an, die Kollegen vom
Megatron winkten zum Abschied.
Kein Wort wurde während der Fahrt gesprochen, bis das Fahrzeug neben der Kugel
hielt. Und auch das Weitere wickelte sich ohne Worte ab. Nur mußte Heinz vergnügt lachen,
als sein Vater die schwere Rüstung des Schutzanzuges anlegte; wie ein Ritter, der auszieht,
den Lindwurm zu töten, dachte der Junge. In Wahrheit glich diese Ausrüstung allerdings
mehr derjenigen eines Tauchers.
Unbeholfen kletterte der Professor in die Kugel, ließ sich von Dr. Heise die Kassette
reichen und verschwand damit. Von den Vorgängen im Innern konnte Heinz leider nichts
sehen, aber er wußte aus den Erklärungen, die er an Hand der Zeichnungen erhalten hatte,
daß sein Vater jetzt die Bleikassette an dem Verbrennungsraum des Düsenmotors
festschraubte und dann den Kassettenschieber öffnete. Jetzt war keine Sperre mehr
zwischen den noch schlummernden Kräften des Treibstoffs und dem Motor, und in dem
Augenblick, wo durch einen Druck auf den Hebel die Spaltung der Atomkerne eingeleitet
werden würde, konnten die dabei entstehenden Zerfallprodukte ungehindert in den Motor
hineinschießen und ihn in Gang setzen.
Schließlich stieg Professor Habermann wieder heraus und klappte das Mannloch zu.
Er kam herab, tappte zur Hütte und holte den Kasten, der das Strahlensuchgerät barg.
Damit ging er rund um die Kugel und um den Lastwagen, um festzustellen, ob irgendwo
gefährliche Strahlungen auftraten. Da der Zeiger jedoch nirgends ausschlug, winkte der
Professor den beiden anderen beruhigend zu und legte den Schutzanzug ab. Dann kletterte
er noch einmal auf die Kugel, nestelte einen komplizierten Safeschlüssel hervor, den er an
einem Band um den Hals trug, und verschloß damit die Einstiegklappe. Das Weltraumschiff
war startbereit.
Als er wieder herunterkam, hob ein tiefer Seufzer seine Brust, und er fragte den
Assistenten:
»Alles in Ordnung?«
Das waren die ersten Worte, die seit dem Besuch im Megatron fielen. Dr. Heise
erwiderte:
»Jeder Griff war ja vorausberechnet. Wir haben nichts vergessen, Herr Professor.«
»Dann will ich nur noch die Kühlung prüfen.«
Habermann ergriff den Schalter an einem der Drähte, die in die Kugel führten. Im Nu
umhüllte sich diese mit einem Schneepanzer und strahlte eisige Kälte aus. Der Professor
nickte und betätigte wieder den Kontakt. Der Schnee löste sich allmählich auf. Der Gelehrte
wendete sich an seinen Assistenten:
»Bringen Sie, bitte, den Wagen mit dem Schutzanzug zum Institut! Ich folge Ihnen
mit Heinz zu Fuß und prüfe unterwegs die Zündkabel.«
* * *
Heinz wich an diesem Tage nicht von der Seite des Vaters, der ihm erlaubt hatte, im
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Institut zu bleiben, falls er nicht durch neugierige Fragen störte.
Beim Abendessen im Speiseraum des Instituts konnte sich der Junge allerdings nicht
mehr beherrschen und richtete die leise Frage an Dr. Heise:
»Was bedeutet eigentlich die Kühlungseinrichtung? Wozu ist sie da?«
Habermann ließ seinen Blick wie abwesend über das Gesicht des Sohnes schweifen
und beschäftigte sich dann weiter mit seinem Essen. Der Assistent aber gab bereitwillig
Auskunft:
»Beim Aufstieg ist die Gefahr für das Weltraumschiff nicht groß, denn die
Geschwindigkeit nimmt nur langsam zu und erreicht ihren höchsten Grad erst dann, wenn
die Kugel den Luftgürtel der Erde schon hinter sich gelassen hat. Bei der Rückkehr jedoch
stößt das Geschoß mit hoher Geschwindigkeit in die Atmosphäre hinein, und wir wissen aus
Erfahrung, daß zum Beispiel jene kleinen Himmelskörper, die unter ganz ähnlichen
Umständen auf die Erde fallen, durch den ungeheuren Luftwiderstand, durch die Reibung
mit der Luft, zur Weißglut erhitzt werden und schließlich platzen, so daß meist nur kleine
Bruchstücke auf die Erde gelangen; große Meteorstücke finden wir nur selten. So würde
auch unsere Kugel bei ihrer Rückkehr zur Erde durch die Reibung mit der Luft
wahrscheinlich zum Glühen gebracht und zerstört werden, wenn wir sie nicht künstlich auf
erträglicher Temperatur hielten. Dazu dient die Kühlanlage, für die übrigens auch
Atomzerfall die Energie liefert.«
»Und das ist nur eine von vielen Sorgen«, lächelte der Professor, der also doch
zugehört hatte. »Wer weiß, ob die Bremse funktioniert und die Kugel nicht mit viel zu
großer Geschwindigkeit auftrifft...«
Er versank wieder in brütendes Schweigen.
Die drei blieben zur Nacht im Institut, denn schon im Morgengrauen sollte der
Abschuß erfolgen. Die beiden Männer fanden keine Ruhe. Heinz hingegen war trotz seiner
fiebernden Erwartung auf dem harten Feldbett rasch eingeschlummert und wunderte sich
sehr, daß er überhaupt geschlafen hatte, als ihn Dr. Heise mitten in der Nacht weckte.
Draußen war es noch völlig dunkel, als sie das Institut verließen. Habermann prüfte
noch einmal die Zündleitung bis zur Kugel und wieder zurück. Das Kabel führte von dem
Weltraumschiff bis in ein Zimmer im Oberstock des Instituts, aus dessen Fenstern man den
Ausblick auf den Wald hatte.
In diesem Zimmer versammelten sich jetzt die Beteiligten: der Institutsleiter
Professor Frenzen, der Astronom Professor Groß, der an den Berechnungen der Flugbahn
beteiligt gewesen war, der Institutsarzt, Habermann selbst, sein Assistent und Heinz sowie
ein Institutsgehilfe.
Die übrigen Räume des Gebäudes lagen dunkel und vereinsamt. Die Wache des
Megatron hatte Anweisung, ihren Klotz nicht vor 7 Uhr früh zu verlassen. Die Posten an der
Umzäunung des Institutsgeländes waren verstärkt, sollten aber den Platz selbst nicht
betreten.
Im Osten kündigte sich der erste fahle Schein des Morgens an. Jetzt mußte die
dunkle Masse des Waldes sichtbar werden. Statt dessen zeigte sich jedoch nur ein
weißlicher Schleier. Erleichtert atmete Habermann auf. Der Leiter der Wetterwarte hatte
recht behalten mit seiner Vorhersage: Leichter Frühnebel in den ersten Morgenstunden. Der
Start des Geschosses würde also der Welt verborgen bleiben. Der Institutsleiter nickte
10
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Habermann ermunternd zu.
Der trat an den Tisch, auf dem der Zündschalter lag. Alle Augen waren auf den
unsichtbaren Wald gerichtet, als Habermann den Hebel niederdrückte. Eine geringfügige
Lichterscheinung blitzte aus dem Nebel auf, ihr folgte eine leichte Erschütterung, dann ein
dumpfer Laut wie von einer fernen Explosion und ein leises Zischen, das aber rasch wieder
erstarb.
»Zwei Uhr 23 Minuten 35 Sekunden«, stellte Dr. Heise fest, der die Stoppuhr
gestochen hatte, als sein Chef den Zündkontakt auslöste; er trug die Uhrzeit in sein
Protokoll ein.
»Start offenbar normal«, murmelte Frenzen befriedigt und wendete sich dann an
Habermann mit der Frage: »Wie lange haben Sie die Flugdauer berechnet?«
»Eine Stunde 16 Minuten 40 Sekunden«, erwiderte Heise an Stelle seines Chefs.
»Die Entfernung zum Mars beträgt etwa 230 Millionen Kilometer, und die Kugel fliegt mit
einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 100 000 km in der Sekunde.«
Frenzen rückte sich einen Stuhl ans Fenster, während Heise am Tisch sitzenblieb und
auf die Uhr starrte. Habermann stand aufrecht immer noch an seinem Platz und blickte in
die Ferne, wo sich jetzt die Baumwipfel aus dem Nebel zu heben begannen. Da schob sich
eine kleine Hand in seine geballte Faust. Ein Lächeln huschte über das blasse Gesicht des
Mannes, seine Hand schloß sich fest um die des Buben.
Es war so still, daß Heinz das schwere Atmen der Männer als lautes Geräusch
empfand. Er vernahm auch deutlich das Pochen des eigenen Herzens, das von Stolz auf den
Vater und von ungeduldiger Erwartung geschwellt war.
Da unterbrach Professor Frenzen noch einmal das Schweigen: »Und wo wird nach
Ihrer Meinung die Landung vor sich gehen?«
Diesmal antwortete Habermann selbst: »Die automatische Radar-Peilung ist genau
auf die Waldhütte eingestellt. Aber sie wird hoffentlich nicht so exakt funktionieren, daß die
Hütte zertrümmert wird.«
Quälend langsam verrannen die Minuten. Der Astronom und der Arzt hatten sich zu
dem Institutsleiter gesellt. Die drei Männer am Fenster ließen dann und wann ein leises
Wort in die Stille fallen, wie Wassertropfen in ein Becken rinnen. Manchmal knarrten die
Sohlen an den Schuhen des Institutsgehilfen, der sich an einem Aktenschrank zu schaffen
machte. Einmal hörte man aus weiter Ferne den Ruf eines Menschen: »Huhu!«
Wahrscheinlich hatte einer der Posten einen anderen angerufen.
»Noch zehn Minuten«, flüsterte Dr. Heise.
Frenzen fragte über die Schulter: »Schon so spät?«
Dann wieder Stille.
»Fünf Minuten«, meldete Heise, und nach einer kleinen Ewigkeit:
»Noch eine Minute!«
Professor Frenzen öffnete das Fenster. Der Nebel hatte sich aufgelöst, es war ganz
klar und hell geworden. Ein großes Leuchten am östlichen Horizont kündete die Sonne an
und versprach einen schönen Tag.
11
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Da!« rief Professor Frenzen. Er zeigte auf ein Staubwölkchen, das mitten über dem
Walde aufstieg. »Bravo!«
Frenzen war aufgesprungen und auf Habermann zugetreten. »Ich gratuliere. Die
Landung muß unmittelbar bei der Hütte vor sich gegangen sein.« Er schüttelte dem
Kollegen die Hand.
»Drei Sekunden über die errechnete Zeit«, stellte Dr. Heise fest.
»Das würde eine Differenz von...«, Frenzen rechnete, »...sagen wir: kaum ein
Promille sein. Lächerlich gering! - Aber nun wollen wir zur Landestelle!«
»Halt!« rief Habermann, »Schutzanzüge anlegen!«
»Natürlich.«
Heinz bettelte so lange, bis ihm erlaubt wurde, gleichfalls die schwere Rüstung
anzuziehen und mit auf den Wagen zu klettern, der in Richtung auf den Wald losratterte.
Man brauchte nicht lange zu suchen. Nur etwa zwanzig Meter von der Hütte entfernt
lag die große Kugel, offenbar unversehrt. Sie hatte im Sturze ein paar starke Äste
zerschmettert und hatte sich etwa einen Meter tief in den Boden eingewühlt. Aber sie stand
fast genau aufrecht, die Stabilisierungseinrichtungen hatten also bis zuletzt gewirkt.
Während Habermann die Landestelle und die Kugel auf Radioaktivität untersuchte,
brachte Dr. Heise eine Leiter. Der Professor stieg auf die Kugel, öffnete ihr Sicherheitsschloß
und klappte den Einstieg auf. Er verschwand im Innern. Dort hörte man ihn hantieren. Als
sein Kopf wieder aus dem Mannloch auftauchte, war er schon vom Schutzhelm befreit.
»Alles in Ordnung«, verkündete er heiter.
12
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
DER RADIUM-DIEBSTAHL
Die erste Reise von Habermanns Weltraumschiff war ein voller Erfolg. Die
Öffentlichkeit erfuhr allerdings zunächst nur, daß das Geschoß nach genau errechneter Bahn
den Mars umkreist hatte und daß die Registrier- und Photoapparate wertvolle neue
Aufschlüsse über diesen Planeten, seine Atmosphäre und seine Oberflächengestaltung sowie
über die Strahlungsverhältnisse im Weltraum mitgebracht hatten.
In den Zeitungen erschienen Bilder, die nur das Äußere der Kugel erkennen ließen.
An die kargen offiziellen Mitteilungen knüpfte die Presse eigene Kombinationen an, über die
Habermann ärgerlich den Kopf schüttelte.
Das Raumschiff war in die Hütte zurückgebracht worden. Es wurde nachträglich auf
den Namen »Mars« getauft, weil es seine erste Fahrt zu diesem Planeten gemacht hatte.
In der Schule war natürlich Heinz der Held des Tages. Er sonnte sich im Ruhme
seines Vaters. Es tat ihm nur leid, daß er selbst so wenig Tatsächliches wußte und über das
Wenige, das er wußte, nicht sprechen durfte.
Besonders neugierig war der kleine dicke Manfred:
»Haste den Atomkraftstoff selber jesehn?«
»Nein, den kann doch keiner sehen.«
»Wieso nich? Benzin kannste doch auch sehen, wenn de tankst!«
»Die Atomkraftstoffe sind aber radioaktiv und zerstören lebendes Gewebe. Deshalb
dürfen sie nur in Behältern aufbewahrt werden, die keine Strahlen durchlassen, zum Beispiel
in dicken Bleikanistern. Und wer mit solchen Stoffen frei hantiert, muß einen Schutzanzug
tragen.«
»Was denn für'n Schutzanzug?«
»Der ist aus dickem Stoff. Womit er imprägniert ist, weiß ich auch nicht. Und dazu
gehört ein Helm, ähnlich wie ein Taucherhelm, mit ganz dicken Augengläsern.«
»Haste schon mal einen angehabt?«
»Ja. Er ist mächtig schwer, man kann kaum drin laufen.«
»Denn haste doch den Treibstoff auch zu sehen gekriegt!«
»Nein, der war trotzdem im Bleikoffer.«
»Mensch, nicht mal 'n bißchen von dem Zeug haste gesehen?«
»Ein bißchen habe ich schon mal gesehen. Eine kleine Radiumpatrone hat mein Vater
im Labor. Die ist so schwach, daß man sie ohne Schaden für die Gesundheit in die Hand
nehmen kann.«
»Bring se doch mal mit!«
»Du bist wohl verrückt! Das Zeug ist viel zu kostbar, es ist immer im Stahlschrank
eingeschlossen.«
Heinz erschrak und wurde über und über rot. Da hatte er wohl etwas ausgeplaudert,
13
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
was er gar nicht erzählen durfte. In diesem Augenblick ertönte das Klingelzeichen zur
Beendigung der Pause und erlöste ihn von den neugierigen Quälgeistern.
Ein berühmter Ozeanforscher hatte angefragt, ob der »Mars« in die Tiefe der Südsee
tauchen und dort Messungen vornehmen könnte. Das Atominstitut erklärte sich bereit, den
Apparat für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen. Die Kugel wurde für die neue
Verwendung umgebaut, während gleichzeitig die Konstruktionszeichnungen für ein zweites,
etwas größeres Raumschiff angefertigt wurden.
Für einige Tage weilte auch ein Geograph als Besucher in Habermanns Landhaus und
hatte lange Beratungen mit dem Physiker. Heinz saß oft still in einer Ecke und lauschte den
Gesprächen der beiden Männer, aus denen er unter anderem entnehmen konnte, daß
Reisen des Raumschiffs in Gegenden der Erde unternommen werden sollten, in die man
bisher mit anderen Mitteln nicht hatte vordringen können.
Bald danach ereignete sich ein aufsehenerregender Diebstahl im Habermannschen
Privatlaboratorium. An einem der ersten heißen Julitage arbeitete der Professor dort bei
offenem Fenster, als er abberufen wurde, um vom Postboten einen eingeschriebenen Brief
entgegenzunehmen. Habermann verschloß zwar die Tür, als er das Labor verließ, vergaß
aber die Fenster zu schließen und ließ den Schlüssel im Stahlfach stecken. Als er nach
wenigen Minuten zurückkehrte, war aus dem Safe die Radiumkapsel verschwunden.
Die sofort herbeigerufene Kriminalpolizei stellte fest, daß der Dieb in den Kreisen der
Berufsverbrecher zu suchen war, denn er hatte mit raffinierter Vorsicht gearbeitet. Er hatte
Handschuhe getragen, denn Fingerabdrücke waren nirgends zu finden, und auch die
Fußspuren im Garten und auf dem Boden des Zimmers gaben keinen Aufschluß, weil der
Dieb seine Füße mit Lappen umwickelt hatte. Man setzte einen Polizeihund auf die Fährte.
Dieser verfolgte den Weg des Verbrechers bis zu einem benachbarten Grundstück. Dort fand
man die Lumpen, die der Dieb von den Füßen gestreift hatte, aber von dieser Stelle an
hörten alle Spuren auf, der Hund konnte keine weitere Fährte finden.
Die beiden Stücke Stoff wurden von Gerichtschemikern untersucht. Dabei ergab sich,
daß sie schon einmal als Motorenputzlappen verwendet worden waren, denn sie enthielten
Reste von Mineralöl und Verbrennungsrückstände. Die Polizei schloß daraus, daß der Dieb
Beziehungen zum Kraftfahrgewerbe habe. Dadurch verengte sich zwar der Kreis der in
Betracht kommenden Berufsverbrecher, aber er war immer noch recht groß, und es konnte
wochenlang dauern, bis alle Verdächtigen durchgeprüft waren. Inzwischen konnte das
wertvolle Radium längst über die Grenze verschoben sein.
Professor Habermann machte sich selbst heftige Vorwürfe, weil er mit dem vom
Institut ausgeliehenen Material nicht vorsichtig genug umgegangen war. Er bestellte sofort
Handwerker, die die Fenster des Laboratoriums vergittern sollten. Heinz aber verbrachte
eine fast schlaflose Nacht. Stundenlang schluchzte er in die zerwühlten Kissen. Denn er
fürchtete, daß seine unbesonnene Äußerung vor den Mitschülern über die Aufbewahrung
von Radium im Labor des Vaters weitererzählt worden war und den Dieb angelockt hatte.
* * *
In der Schule herrschte Hochstimmung wie stets am letzten Tage vor dem Beginn
der großen Ferien. Nur Heinz nahm daran keinen Anteil. Während die Kameraden in der
Pause auf dem Schulhof tobten oder Ferienpläne schmiedeten, blieb er, den Kopf in die
Hand gestützt, im Klassenzimmer sitzen und grübelte vor sich hin.
Da trat Felix, der Klassenerste, zu ihm, ein verständiger, zurückhaltender Junge.
14
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Na, sind dir die Ferien verhagelt? Könnt ihr keine Reise machen? Tröste dich, du
bist nicht der einzige, der zu Hause bleiben muß. Wir werden vielleicht mehr erleben und
mehr Spaß haben als die anderen.«
Heinz winkte müde mit der Hand: »Ach, wenn es das wäre!«
»Was denn sonst? Hast du was ausgefressen?«
»Ausgefressen?« Heinz hob erstaunt den Kopf und ließ ihn dann wieder sinken. »Ja,
vielleicht.«
»Na, ich will nicht neugierig sein.«
Felix ging zur Tür hinaus. Heinz tat die Teilnahme des Kameraden wohl, er folgte ihm
in den Flur. Der andre war an einem Fenster stehengeblieben und blickte auf den
lärmerfüllten Hof hinab. Heinz fragte nach einer Weile zaghaft:
»Was würdest du an meiner Stelle tun? Aus meines Vaters Laboratorium ist die
Kapsel mit Radium gestohlen worden, und ich bin vielleicht daran schuld. Denn ich habe
damals vor vier oder fünf Wochen hier in der Schule erzählt, daß er Radium im Haus hat.«
Felix hatte ihm aufmerksam das Gesicht zugewandt. Jetzt pfiff er durch die Zähne.
»So, so! Kann schon sein... War die Polizei schon da?«
»Ja, sie glaubt, den Dieb in ein paar Wochen fassen zu können. Inzwischen kann er
aber das Radium längst verscheuert haben.«
»Aha!« Felix versank in Schweigen.
Heinz machte das ganz nervös, er fragte schließlich:
»Du Sagst ja gar nichts...«
Felix war mit seinen Überlegungen fertig. »Paß mal auf«, sagte er, »als die anderen
dich damals umringten, blieb ich im Hintergrund, weil ich wußte, daß du doch keine
Geheimnisse ausplaudern darfst. Aber da stand noch einer hinten; das war der lange
Neumann aus der Klasse über uns. Der fiel mir auf, weil er nichts sagte, aber sich allmählich
auch randrängte. Und als du dann von dem Radium sprachst, da machte er einen ganz
langen Hals und hatte einen so gierigen Ausdruck im Gesicht, daß mich der Ekel packte.
Wenn überhaupt einer...''
Felix stockte.
»Ich verstehe«, flüsterte Heinz mit gepreßter Stimme. »Und du meinst, von unserer
Klasse kommt keiner in Frage?«
»Ich glaube kaum. Man kann natürlich für keinen die Hand ins Feuer legen. Aber ich
habe sonst nichts Auffälliges beobachtet... Weißt du, wir werden nachher die Pioniergruppe
zusammentrommeln und mit der beraten. Vielleicht kommt dabei noch was raus.«
Heinz fiel ein Stein vom Herzen. Nun sollte doch wenigstens etwas geschehen!
Elf Jungen waren es, die sich nach dem Schluß der letzten Stunde zur Besprechung
trafen. Felix und Heinz erstatteten Bericht.
»Ein Diebsfahl ist ein Verbrechen, das wir als Pioniere ohnehin bekämpfen. Aber
hier«, so meinte Felix, »handelt es sich sogar um Eigentum des Volkes, denn das
gestohlene Radium gehört dem Atominstitut!«
15
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Die Empörung war allgemein, und alle waren von dem Gedanken begeistert, den
Dieb durch gemeinsame Nachforschungen zu stellen. Aber wo sollte man ihn suchen?
Bestimmte Verdachtsgründe hatte niemand. Dem Neumann traute allerdings keiner. Aber
wenn er der Dieb war - was wollte er mit dem Radium? Verwenden konnte er es nicht, und
verkaufen auch nicht; wer hätte einem Vierzehnjährigen einen so wertvollen Stoff
abgenommen?
»Und seinem Vater?«
Der Gedanke schlug ein. Es war nachher nicht mehr festzustellen, wer ihn zuerst
geäußert hatte. Aber jetzt wußte fast jeder etwas Ungünstiges über den alten Neumann.
»Der hat 'n Autofuhrgeschäft. Mein Vater ist von ihm übers Ohr gehauen worden und
sagt: Nie wieder kriegt der Gauner 'n Auftrag von ihm!«
»Ja, und wie ist er zu dem Fuhrgeschäft gekommen? Vor dem Krieg hat er bloß 'n
kleenen Tempo-Wagen gehabt. Der hat in derselben Garage gestanden wie unser Wagen.
Darum kenn' wir'n ganz genau. Und denn hat er 'ne ganze Weile nischt gehabt und war
Chauffeur bei einem Kriegsschieber. Nach dem Krieg hat er dann herrenlose Autos und
Reifen gesammelt, angeblich für den neugegründeten Magistratsfuhrpark. Aber jetzt gehört
alles ihm, und der Magistrat is Neese. So is'r Fuhrherr geworden.«
»Det stimmt. Die Chauffeure aus der Garage bei uns um die Ecke erzählen dasselbe.
Von denen habe ich auch gehört, daß er mal gesessen hat.«
»Was, hinter schwedischen Gardinen?«
»Jawoll«, nickte Uli, »sie wußten bloß nicht, was er ausgefressen hat. Aber ein
halbes Jahr soll er damals weggewesen sein. Dann war es doch nicht bloß 'ne kleine
Sache!«
»Ja, aber jetzt ist er 'n angesehener Mann. Da hat er doch nicht nötig...«
»Na, angesehen? Das weiß ich nu nich! Bei der Bank, wo mein Vater angestellt ist,
hat der Neumann neulich 'n Kredit aufnehmen wollen. Er hat aber keinen gekriegt, weil
seine Autos schon alle verpfändet sind. Das hat mein Vater meiner Mutter erzählt.«
»Und der Pelz und die Brillanten, die die Olle nach'm Krieg plötzlich gehabt hat und
über die sich meine Mutter immer so geärgert hat? Darauf wird er doch Geld kriegen
können.«
»Den Pelz hat sie ja schon lange nicht mehr!«
»Mensch, dann riecht die Sache faul.«
»Jungs, seid vorsichtig!« mahnte Felix. »Bisher wißt ihr doch alle nichts Bestimmtes.
Was ihr hier vorbringt, sind nur ganz vage Vermutungen.«
»Aber überwachen müßten wir ihn doch.«
»Richtig! Aber wenn der das Radium hat, dann kann er's nicht hier oder in Berlin
verkaufen, sondern er muß damit weit wegreisen. Können wir feststellen, daß er 'ne große
Reise vorhat, dann haben wir ihn!«
»So einfach ist das nun auch wieder nicht. Jetzt in den großen Ferien reisen soviel
Leute! Heinz, was meinst du?«
»Ich weiß nicht... Vielleicht hat der Neumann wirklich mit dem Diebstahl zu tun. Die
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Polizei hat nämlich die Lappen gefunden, die sich der Dieb um die Füße gebunden hatte;
und das waren Autoputzlappen.«
»Na, was habe ich gesagt? Wir müssen den Kerl scharf überwachen.«
»Und wenn er nun mit seinem Wagen abhaut?«
»Dann fahre ich mit«, rief Uli.
»Der wird dich gerade mitnehmen!«
»Laß das meine Sorge sein!« Uli schien seiner Sache sehr sicher zu sein.
Die Jungen organisierten sofort einen Überwachungsdienst. Uli übernahm den Posten
in der Garage, in der Neumanns Wagen standen. Treffpunkt der Pioniere war die Laube in
Habermanns Garten.
An diesem Nachmittag ereignete sich nichts mehr. Die Posten vor Neumanns Haus
langweilten sich bis zum späten Abend. Kaum hatte jedoch Uli am nächsten Morgen seinen
Freund, der bei Neumann in der Garage arbeitete, begrüßt, als dieser ans Telephon gerufen
wurde: Neumann wollte innerhalb einer Viertelstunde seinen PKW vor der Wohnung haben.
Der Wärter machte den Wagen fertig und grinste, als Uli die Fahrt im Kofferkasten
mitmachen wollte. Er glaubte natürlich, der Junge würde vor Neumanns Wohnung
verschwinden, während er selbst hineinging, um dem Fuhrherrn die Wagenschlüssel zu
bringen. Aber darin täuschte er sich; Uli blieb in seinem Versteck.
Als das Auto für ein paar Minuten unbewacht stand, schlich der kleine Manfred
herbei, der gerade vor dem Haus Wache stand. Er untersuchte den hinteren Teil des
Wagens, um festzustellen, ob man nicht als blinder Passagier mitfahren könnte. Doch er
sprang erschreckt zurück, als sich der Kofferdeckel um einen Spalt öffnete und er
angefaucht wurde:
»Mensch, hau ab!«
Das konnte nur Uli sein. Beruhigt zog sich Manfred zurück und erstattete den
Kameraden Bericht.
Uli hatte keine Ahnung, wohin die Fahrt ging, die er in seiner unbequemen Lage
mitmachte. Als der Wagen endlich hielt und der Fahrer ihn verlassen hatte, lugte er
vorsichtig aus dem Kofferkasten hervor und stellte fest, daß er sich offenbar in Berlin
befand. Das Auto hielt vor einem Reisebüro. Uli schlüpfte heraus und schaute durch die
Ladenscheiben. Da stand Neumann und verhandelte mit einem Angestellten des Büros.
Einen Augenblick zögerte der Junge, dann betrat er den Laden. Die Hände in den
Hosentaschen, stellte er sich hinter den Dicken und tat so, als warte er darauf, als nächster
abgefertigt zu werden.
Er traute seinen Ohren nicht, als er vernahm: »Flugpassage nach Frankfurt am Main?
Jawohl, morgen Mittag 13 Uhr 27 ab Flughafen Tempelhof. Zwei Sitzplätze sind noch frei.
Darf ich einen Platz buchen? Sehr wohl!«
Uli hatte genug gehört. Um nicht entdeckt zu werden, verzichtete er auf die
kostenlose Rückfahrt im Kofferkasten, er benutzte lieber die Vorortbahn.
In der Pioniergruppe herrschte große Aufregung, denn die Posten hatten festgestellt,
daß Neumann ohne Uli zurückgekehrt war. Erst kurz vor 12 Uhr traf Uli im Habermannschen
Garten ein, um Bericht zu erstatten. Sofort wurde Kriegsrat gehalten.
17
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Mit seinem Auto wird er nicht nach Tempelhof fahren«, meinte einer. »Den Wagen
müßte er dann tagelang am Flugplatz stehenlassen, und das würde auffallen. Oder er müßte
einen Chauffeur mitnehmen, und der würde ein unbequemer Mitwisser sein.«
»Wenn er aber doch mit dem Wagen fährt?« gab Felix zu bedenken.
»Kann er ja nicht«, feixte Uli. »Die Karre steht morgen früh uff Latschen, kannst dich
drauf verlassen!«
»Ach so! Na, denn... Aber die Polizei wird uns auslachen, wenn wir auf dem Bahnhof
verlangen, sie solle ihn verhaften. Wir müßten zum mindesten sicher wissen, daß er das
Radium wirklich bei sich hat.«
»Wir müßten ein Strahlensuchgerät haben«, überlegte Heinz.
»Ich weiß nur nicht, ob mein Vater es mir gibt.«
»Kannste 's nich klauen?«
»Ein Pionier klaut nicht!« lehnte Felix streng ab.
»Nein, das tue ich auch nicht«, erklärte Heinz. »Aber wartet hier in der Laube, ich
werde gleich mit meinem Vater sprechen.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Heinz wiederkam; aber sein Gesicht strahlte. Der
Vater hatte ihm allerdings erklärt, Jungen dürften nicht auf eigene Faust Detektiv spielen. Er
hatte die Kriminalpolizei angerufen und sie von der Feststellung der Pioniere verständigt,
daß Neumann eine Luftreise unternehmen wolle. Darauf hatte der Kommissar versprochen,
daß jeder Schritt des Verdächtigen überwacht werden würde. Aber er hatte hinzugefügt:
»Wenn Ihr Sohn mit dem Geigerzählrohr zur Feststellung radioaktiver Strahlungen
umzugehen versteht, dann lassen Sie ihn ruhig damit zum Bahnhofgehen! Wir werden
rechtzeitig eingreifen.«
* * *
Die Pioniergruppe hatte ihren Plan sorgfältig vorbereitet und war früh auf den
Beinen. Als Neumann sein Haus verließ, unterrichtete ein Radfahrer die am Bahnhof
wartenden Freunde über die Annäherung des »Feindes«. Damit dieser nicht etwa Verdacht
schöpfe, wenn er Heinz erkannte, hatte Felix das Suchgerät übernommen und sich über
seinen Gebrauch unterweisen lassen. Den Kasten im Arm, schlenderte er wie zufällig dem
dicken Neumann entgegen, als dieser über den Bahnhofsvorplatz kam. Für einen Augenblick
schlug die Nadel stark aus, als sie nebeneinander waren, und Felix nickte verstohlen den
Freunden zu. Jetzt liefen sie zur Vorhalle und drängten sich zugleich mit dem Verdächtigen
vor dem Fahrkartenschalter. Noch einmal blickte Felix auf das Gerät. Es war kein Zweifel,
die Unruhe des Zeigers war deutlich zu erkennen, wenn er sich Neumann näherte. Er lief zu
Heinz hinüber, der in einer dunklen Ecke der Halle wartete.
»Los, hol schnell die Polizei!«
Inzwischen passierten Neumann und seine Verfolger die Sperre und gingen zum
Bahnsteig hinauf.
Die Bahnhofswache war mit zwei Volkspolizisten besetzt, als Heinz atemlos
hereinstürzte.
»Bitte, Herr Wachtmeister«, sprudelte er hervor, »kommen Sie mit und verhaften Sie
den Dieb, der bei uns das Radium gestohlen hat!«
18
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Der Polizist lachte: »Da könnte ja jeder kommen! Wer bist du denn?«
»Ich bin der Sohn von Professor Habermann. Der Dieb hat das Radium bei sich. Wir
haben ein Strahlensuchgerät mitgebracht und neben ihn gehalten. Er muß die Patrone in
der Westentasche haben. Bitte, bitte, kommen Sie schnell!«
Der Polizist hatte sich erhoben und schnallte das Koppel um. »Ich weiß nicht
recht...«, zögerte er.
»Rufen Sie doch meinen Vater an, damit er herkommt!« drängte Heinz.
»Wie ist er denn zu erreichen?« fragte der Volkspolizist, der am Tisch neben dem
Fernsprechapparat sitzengeblieben war.
Der Wachtmeister ließ sich die Nummer nennen und hob den Hörer ab. Sein Kollege
hatte sich inzwischen fertiggemacht und meinte:
»Na schön! So lange können wir den Mann wohl festhalten. Komm!«
Hinter der Sperre standen zwei Kameraden und winkten.
»Ihr seid wohl eine ganze Horde?« fragte der Wachtmeister.
»Allein hätte ich ihn ja nicht stellen können.«
»Ihr seid tüchtig!« lobte der Polizist und schob Heinz vor sich durch die Sperre.
»Dienstlich«, klärte er den Eisenbahner auf.
Auf dem Bahnsteig stand der dicke Neumann im Sommerüberzieher, eine
Aktentasche in der Hand, und blickte unruhig auf die große Uhr; auf die Jungen, die um ihn
herumspazierten, hatte er noch gar nicht geachtet. Da wurde sein Blick von der Gestalt
eines Polizisten angezogen. Er sah, wie ein Junge mit dem Finger auf ihn zeigte. Dieser
Junge - das war doch Professor Habermanns Sohn! Und jetzt strebte der Beamte mit
raschem Schritt auf ihn, Neumann, zu.
Da faßte der Dicke einen schnellen Entschluß. Eilends versuchte er das Ende des
Bahnsteigs zu erreichen, um sich in einer der dort stehenden Toiletten des Radiums zu
entledigen. Aber er hatte die Rechnung ohne die Jungen gemacht. Zwei stellten sich ihm in
den Weg, er stolperte über sie, fiel und wälzte sich mit ihnen am Boden.
Schon war der Wachtmeister über ihm:
»Halt, Männeken, nicht so eilig! Sie scheinen ja wirklich kein reines Gewissen zu
haben.«
Mühsam war Neumann wieder auf die Beine gekommen. »Was wollen Sie von mir?«
pustete er sich auf. »Lassen Sie mich in Ruhe! Ich habe eine dringende Reise vor.«
Da hielt ihm ein Herr in Zivil einen Ausweis vor die Nase: »Kriminalpolizei!« Im
gleichen Augenblick polterte der Zug nach Berlin herein und hielt neben dem Bahnsteig.
Neumann versuchte die nächste offene Tür zu erreichen. Die Beamten aber hielten ihn fest:
»Dageblieben! Sie können mit dem nächsten Zug fahren.«
»Das wäre ja noch schöner«, begehrte Neumann auf. »Muß sich ein angesehener
Bürger das gefallen lassen?«
»Angesehener Bürger?« prustete Uli und spuckte durch die Zähne. »Vorbestraft ist
der Mann. Ein halbes Jahr hat er gesessen.«
19
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Entgeistert starrte Neumann den Jungen an.
»Ihr scheint ja gut orientiert zu sein«, lachte der Polizist.
»Hier sehen Sie, Herr Wachtmeister!« Felix hielt das Kästchen neben Neumanns
Bauch. »Hier hat er das Radium.«
Neugierig beugten sich alle vor und starrten auf den zitternden Zeiger. Da versuchte
der Gestellte noch einmal zu entkommen. Aber die Jungen hatten einen dichten Kreis um
ihn gebildet, und die Polizisten griffen sofort wieder nach seinem Arm. Der Fahrdienstleiter
rief:
»Bitte Türen schließen... Zurückbleiben!«
Die Kelle hob sich über die Köpfe, der Zug rollte davon - ohne Neumann.
»Nun kommen Sie mal schön mit zur Wache!« redete der Kriminalkommissar dem
Dicken zu. »Wir werden ein Protokoll aufnehmen und dann weitersehen.«
»Ich muß mir wenigstens den Staub abklopfen«, erwiderte Neumann. Er beugte sich
nieder, um seine Knie zu säubern. Dann griff er unauffällig in die Westentasche und führte
die Hand zum Munde.
»Jetzt ist es aber genug«, meinte der Polizist. Er packte den Verhafteten am Ärmel
und führte ihn mit sanfter Gewalt durch die Sperre. Die Jungen folgten ihnen, aber nur
Heinz und Felix durften den Wachraum betreten, die übrigen mußten zu ihrer Enttäuschung
draußen warten.
Der Kriminalkommissar machte telephonisch dem Polizeipräsidium Meldung und
erhielt die Anweisung, bis zum Eintreffen des Leiters des Diebstahldezernats den
Verhafteten genau zu durchsuchen und das Radium sicherzustellen. Aber in Neumanns
Taschen war der wertvolle Stoff nicht zu finden. Professor Habermann, der gleichfalls
herbeigerufen worden war, stellte mit dem Geiger-Zählrohr fest, daß sich das Radium
dennoch bei Neumann befinden mußte. Man stand vor einem Rätsel, das erst gelöst wurde,
als der Oberkommissar eintraf. Dieser erfahrene Kriminalist ließ sich von seinem Kollegen
und von Professor Habermann kurz unterrichten, dachte einen Augenblick nach und schlug
sich dann lachend vor die Stirn: »Daß ich darauf nicht gleich gekommen bin: Er hat das
Radium verschluckt! — ein alter Trick.«
20
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
DAS ATOM-INSTITUT
Ein kräftiges Klistier hatte Neumanns Därmen die Radiumkapsel wieder entlockt,
aber den Diebstahl leugnete er weiter. Er hatte ihn auch nicht selbst begangen, sondern
sich dazu der Hilfe eines Einbruchspezialisten bedient, eines alten »Freundes« aus seiner
Gefängniszeit, der wenige Tage später ermittelt werden konnte.
Für die elf Pioniere aber war es ein großer Tag, als sie zum Kaffee in Habermanns
Wohnung eingeladen wurden, wo ihnen Professor Frenzen den Dank des Instituts für die
Wiederbeschaffung des Radiums aussprach.
Die Atomforschung interessierte sie alle brennend, und ein Strom von Fragen ergoß
sich über die Gelehrten. Schließlich hob Professor Frenzen lächelnd die Hand und gebot
Ruhe:
»Ich will es euch im Zusammenhang darstellen. Wenn ein kleiner Junge eine
Spielzeugeisenbahn geschenkt bekommt, was macht er dann damit?«
»Mein kleiner Bruder hat sie gleich kaputt gemacht«, klagte Fritz unter dem
Gelächter der anderen.
»Und warum? Nur aus Zerstörungswut?«
»Nein, er wollte sehen, was drin war und warum sich die Räder bewegten.«
»Seht ihr, genau so machen's die großen Männer: Sie wollen allen Dingen auf den
Grund gehen, wollen wissen, aus was für Stoffen die Welt zusammengesetzt ist und warum
sie sich bewegt.
Und so war man im Laufe des vorigen Jahrhunderts dahintergekommen, daß die
Welt, in der wir leben, aus allerkleinsten Teilchen besteht, so klein, daß wir sie auch mit
dem Mikroskop nicht mehr erkennen können. Und diese Teilchen nannte man Atome, das
heißt Unteilbare. Diese Atome können sich mit anderen Atomen der gleichen Art oder auch
anderer Art verbinden und bilden dann einen Verband, den wir Molekül nennen. Auch das
Molekül ist aber noch lächerlich klein.
Die Jahrhundertwende brachte uns die Entdeckung der Röntgenstrahlen, der
Elektronen als Träger der elektrischen Energie und die Kenntnis von jener sonderbaren
Strahlung, die wir Radioaktivität nennen. Zunächst hielt man alle diese Strahlen nur für
Energieübertragungen, für die Fernwirkung von Kräften, die die Stoffe besitzen, bis sich
herausstellte, daß bei der Strahlung allerfeinste Körnchen der Materie ausgeschleudert
wurden, Teilchen, die noch viel kleiner als ein Atom sind: man nannte sie Elementarteilchen.
Ein lichtaussendender Körper gibt also einen Teil seiner Materie in sehr fein verteilter Form
her und schickt ihn über weite Entfernungen aus.«
»Dann muß er doch leichter werden«, gab Fritz zu bedenken.
»Das wird er auch«, bestätigte Professor Frenzen. »Nur sind die ausgesendeten
Elementarteilchen so unendlich klein, daß es mit unseren heute noch groben Methoden
schwer ist, den Gewichtsverlust eines leuchtenden Körpers zu messen.«
»Gilt das nun für jede Art von Licht?« fragte Felix.
»Jawohl«, erwiderte Frenzen, »und nicht nur für jedes Licht, sondern für alle Arten
21
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
von Strahlung, z. B. auch für Röntgenstrahlen und Elektronenstrahlen. Den Weg zur
Erkenntnis des ganzen Problems eröffnete uns die 1900 von Max Planck begründete
Quantentheorie der Strahlung.
Noch deutlichere Einblicke in die Zusammenhänge zwischen Materie und Energie, das
heißt der Fähigkeit der Materie, Wirkungen auszuüben, bekamen wir durch die
Relativitätstheorie, die Albert Einstein 1905 aufstellte. Einen weiteren Schritt vorwärts
machte unsere Wissenschaft durch Niels Bohr, der 1913 seine Theorie vom Aufbau der
Atome aufstellte: Das Atom ist danach keineswegs unteilbar, sondern es ist eine Art
Planetensystem im kleinen, in dem der Atomkern die Rolle der Sonne spielt, um die die
Elektronen als Planeten herumwirbeln, allerdings nach anderen Gesetzen als denen, die
zwischen den Sternen wirksam sind. Der Kern ist positiv elektrisch geladen, die Elektronen,
die die Hülle des Atoms bilden, negativ. Das Gewichtige an diesem System ist der Kern,
während die um ihn kreisenden Elektronen viele tausendmal leichter sind als er.
Seitdem sind wir in den Aufbau der Atome noch weiter eingedrungen. Es stellte sich
heraus, daß die Atome in verschiedener Art zusammengesetzt sind, aus Protonen, das heißt
elektrisch positiv geladenen Teilchen, die fast zweitausendmal so schwer sind wie die
Elektronen, und aus Neutronen, die ebenso schwer wie die Protonen, aber elektrisch
neutral, also ohne Ladung, sind. Außerdem enthalten die Atomkerne wahrscheinlich noch
andersartige Bestandteile. Neben dem negativ geladenen Elektron wurde übrigens auch ein
positiv geladenes von gleicher Größe oder vielmehr Kleinheit entdeckt; es erhielt den
Namen Positron. Und in der kosmischen Strahlung, das heißt in derjenigen Strahlung, die
aus dem Weltraum zu uns dringt, wurde ein schweres Elektron, das sogenannte Meson,
beobachtet, das sowohl positiv wie negativ elektrisch geladen, aber auch elektrisch
ungeladen vorkommt und wesentlich schwerer ist als das Elektron.«
Uli stieß einen Seufzer aus und klagte: »Was es nicht alles gibt!«
Frenzen nickte und fuhr fort: »Wir sind dabei nicht einmal am Ende der
Naturerkenntnis angelangt. Täglich macht die Wissenschaft nicht nur durch mathematische
Berechnungen und theoretische Überlegungen, sondern auch durch praktische
Beobachtungen der Natur weitere Fortschritte. So haben erst in jüngster Zeit die beiden
sowjetischen Physiker Alichanow und Alichanjan kosmische Strahlungsteilchen bisher ganz
unbekannter Art entdeckt, die Varitronen. Das Meson ist nur eine besondere Art von
Varitron. Auch das Licht besteht aus solchen kleinsten Teilchen, aus Lichtquanten, die wir
Photonen nennen, und die gleichfalls in die Atomverbände eintreten oder von den Atomen
ausgestrahlt werden können. Weitere Teilchen sind teils bekannt, teils wird ihre Existenz
vermutet.
Alle diese Teilchen sind unvorstellbar klein, bewegen sich aber mit einer
Geschwindigkeit, die unvorstellbar groß ist. Die Photonen bewegen sich mit
Lichtgeschwindigkeit, also mit 300 000 km in der Sekunde, die anderen Teilchen mit
geringeren Geschwindigkeiten, die aber der Lichtgeschwindigkeit sehr nahe kommen
können.«
»Man spricht doch aber auch von Lichtwellen«, warf Felix ein. »Und im
Physikunterricht haben wir gelernt, daß die Wasserteilchen in der Welle nur im Kreise
tanzen, also immer wieder an ihren Ort zurückkehren. Nur die Welle als Bewegung pflanzt
sich fort, indem immer neue Teilchen von ihr ergriffen werden.«
»Ja, das ist richtig, und damit schneidest du einen wunden Punkt in unserer Theorie
an«, bestätigte der Professor. »Nicht alle Erscheinungen, die bei der Strahlung auftreten,
22
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
lassen sich aus dem korpuskularen, d. h. aus dem Teilchencharakter der Strahlung erklären.
Es stellte sich heraus, daß die Existenz der Elementarteilchen in sehr verzwickter Weise, die
wir noch keineswegs völlig durchschauen, mit Wellenvorgängen verbunden ist, die sich
durch den Raum in ähnlicher Weise fortpflanzen, wie sich die Wellen im Wasser
fortbewegen, wenn man einen Stein hineinwirft.
Die ganze große bunte Welt, die uns umgibt, und von der wir selbst ein Teil sind, ist
also aufgebaut aus Elementarteilchen (Protonen, Elektronen, Positronen, Varitronen,
Photonen usw.), die sich nach bestimmten Gesetzen zu Atomen zusammenschließen
können, aus Atomen oder aus gesetzmäßigen Zusammenschlüssen von Atomen, die wir
Moleküle nennen. Die Moleküle kann man mit Hilfe chemischer Vorgänge wieder in die sie
aufbauenden Atome zerlegen. Um die Atome in Elementarteilchen oder Gruppen von ihnen
aufzuspalten, braucht man dagegen andere, stärkere als chemische Mittel. Diejenigen
Stoffe, die nur aus Atomen einer einzigen Art aufgebaut sind, heißen Elemente. Ihre Zahl ist
uns genau bekannt: Es gibt 92 Elemente in der Natur.«
»Warum gerade 92?« fragte Felix.
»Die Atome der verschiedenen Elemente unterscheiden sich durch die Zahl der
Protonen in ihrem Kern, und 92 ist die höchste Zahl, bis zu der sich Protonen zu stabilen,
für längere Zeit beständigen Atomkernen zusammenballen können. Künstlich können wir
zwar diesen Prozeß heute noch weiter treiben, aber die auf solche Weise erzeugten
Elemente sind nicht stabil, ihre Atome zerfallen schnell.
Ich fasse zusammen: Die Atome der verschiedenen Elemente sind zwar unter sich
verschieden, aber sie bestehen alle aus den gleichen Urbaustoffen. Ihr habt schon gehört,
daß sie einen positiv elektrisch geladenen Kern haben, um den ein oder mehrere negativ
geladene Teilchen kreisen, die Elektronen. Der Kern wiederum besteht aus ein oder
mehreren Protonen mit positiver Ladung und (außer bei dem einfachsten Element, dem
Wasserstoff, dessen Atomkern lediglich aus einem Proton besteht) aus mehreren elektrisch
nicht geladenen Neutronen, deren Zahl fast immer größer, zum Teil viel größer ist als die
der Protonen. Daß es außerdem wahrscheinlich noch weitere Teilchen im Atomkern gibt,
habe ich auch schon erzählt.
Die Zahl der Protonen entspricht bei normalen Atomen genau derjenigen der
Elektronen, denn die elektrischen Kräfte beider Ladungen müssen sich ja das Gleichgewicht
halten, wenn das Atom normal und elektrisch neutral sein soll. Ein Atom mit sechs Protonen
im Kern wird also von sechs Elektronen umkreist. Ein solches Atom ist ein Kohlenstoffatom.
Die in der Natur vorkommenden Kohlenstoffatome haben jedoch in ihrem Kern außer den
sechs Protonen im allgemeinen noch sechs Neutronen. Die Zahl der Neutronen kann aber
auch eine andere sein, ohne daß das Atom selbst etwas anderes wäre als ein
Kohlenstoffatom. Der chemische Charakter des Atoms hängt nicht von der Neutronenzahl,
sondern allein von der Protonenzahl ab. Es gibt zum Beispiel in der Natur außer dem
normalen Kohlenstoffatom C126 mit der Gewichtszahl zwölf (das heißt sechs Protonen und
sechs Neutronen) auch ein Kohlenstoffatom C136, das ein Neutron mehr besitzt (sechs
Protonen und sieben Neutronen). Neuerdings haben wir mit unseren modernen
Atomenergieanlagen ein weiteres Kohlenstoffatom C146 hergestellt, das sogar acht
Neutronen hat. Aber dieses Atom C146 ist nicht beständig, sondern es zerfällt von selbst. Es
ist, wie wir sagen, radioaktiv. Eines dieser Atome nach dem anderen stößt durch Strahlung
ein Neutron ab und ist dann nach dessen Verlust wieder stabil. Auch C116 und C106 (das eine
mit fünf, das andere mit vier Neutronen) sind künstlich hergestellt worden; auch sie
zerfallen radioaktiv. Unter vier und über sieben Neutronen sind wir jedoch bisher nicht
23
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
gelangt, weil dann Stoffe entstehen würden, die so unbeständig sind, daß sie sofort im
Augenblick der Entstehung schon wieder zerfallen. Die verschiedenen Formen des gleichen
Elements nennen wir Isotope. Sie können, wie gesagt, stabil oder radioaktiv sein.
Nun sind aber auch Umwandlungen anderer Art an den Atomen möglich. Es kann
sich zum Beispiel ein elektrisch ungeladenes Neutron in ein positiv geladenes Proton
verwandeln. Dann muß das Atom ein neues Elektron in seine Hülle aufnehmen. Geschieht
das zum Beispiel bei einem Natriumatom, dann haben wir es nicht mehr mit Natrium zu tun,
sondern das Natrium hat sich in ein anderes Element umgewandelt; in Magnesium! Durch
Veränderungen des Kerns können also entweder andere Isotope des gleichen Elements oder
aber Atome eines anderen Elements entstehen. Auf diese Weise ist es den Kernphysikern
möglich, einen Stoff in den anderen zu verwandeln: Der alte Traum von der Kunst des
Goldmachens geht in Erfüllung! - Fragt sich nur, ob es sich lohnt. Beim Gold lohnt es sich
nicht; dieses einst so sehr geschätzte Metall gewinnen wir auch heute noch bergmännisch
billiger als durch Atomumwandlung. Denn die Atome sind außerordentlich zäh, und es sind
sehr kostspielige Verfahren notwendig, um sie zu zerbrechen oder umzuwandeln.«
»Wie macht man das denn überhaupt?«
»Ja, der Chemiker kann Moleküle in Atome zerlegen, aber die Atome leisten ihm
Widerstand. Wir Physiker hingegen haben es geschafft, auch die Atome zu spalten. Besucht
mich morgen früh im Institut, dann will ich es euch zeigen!«
»Au fein!«
* * *
Das war ein Ferienerlebnis: ein Besuch im Atominstitut!
Die Professoren konnten ihre Arbeit nicht versäumen und überließen die Führung der
jungen Gäste dem Assistenten Dr. Heise.
Der war für sie der richtige Mann: Er begrüßte sie mit dem vertrauten Ruf der
Jugend: »Freundschaft« und ließ sich durch die vielen Fragen, die auf ihn niederprasselten,
nicht aus der Ruhe bringen.
Zunächst ging es ins Hochspannungslaboratorium. Dort konnten die Jungen einen
alten Bekannten begrüßen, die Influenzmaschine, aus der sie lange Funken herauslocken
konnten, wenn sie nur den Finger der Kugel näherten. Der Apparat des Instituts war größer
und stärker als der in der Schule. Auch den Elektrisierapparat kannten einige schon als
Heilgerät. Jeder der Jungen ergriff jetzt einmal die Pole und ließ sich den kribbelnden Strom
durch die Arme rinnen.
Dann aber führte sie Dr. Heise in eine Halle, mit gewaltigen Transformatoren, aus
Metallplatten aufgebauten Blöcken, aus denen oben blanke Gestänge mit Kugeln an den
Enden herausragten. Dazwischen überall dicke Porzellanisolatoren. Nachdem die Jungen
andächtig um die Riesen herumgewandert waren, versammelte sie Dr. Heise vor einer
Schalttafel, die so aufgestellt war, daß man von ihr aus die ganze Halle übersehen konnte.
Von hier, aus sicherer Entfernung, wurde der Strom in die Giganten gelenkt. Der
Assistent legte einen Hebel um, und sofort wurde an einem der Transformatoren ein leichtes
Zischen hörbar; bald zeigte sich auch ein bläuliches Glimmlicht an den Stangen, besonders
aber an den Endkugeln: elektrische Entladungen, wie sie gelegentlich auch bei Gewittern im
sogenannten Elmsfeuer an Mastspitzen und Dachkanten auftreten - ein grandioses
Schauspiel, das den Jungen ein begeistertes »Ah!« entlockte.
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Ein Hebeldruck - das Leuchten erlosch. Dafür legte Dr. Heise einen anderen Hebel
um. Wieder ein Geräusch, als ob Wasser siedet.
»Achtung«, rief der Betreuer den Jungen zu, »nicht erschrecken!«
Dann schaltete er den Hebel. Ein greller Blitz fuhr aus der Kondensatorkugel zu einer
im Boden verankerten Metallplatte nieder, begleitet von einem ohrenbetäubenden
Geprassel.
»Wir stehen ja mitten im Gewitter!« jubelte Uli.
Lächelnd nickte der Assistent: »Ihr seid Zeugen elektrischer Entladungen gewesen,
wie sie ganz ähnlich, nur stärker, auch in der Natur vorkommen. Das Glimmlicht war ein
langsamer Ausgleich der Spannung zwischen dem positiven und dem negativen Pol, wobei
die Luft zum Leiter wurde. Der Blitz war ein plötzlicher Ausgleich. Und nun schnüffelt
einmal!«
Die Jungen hoben neugierig die Nasen und schnupperten herum.
»Es riecht so komisch? Beinahe wie Zwiebeln, aber nicht unangenehm.«
»Jawohl, es riecht nach Ozon. Der in der Luft enthaltene Sauerstoff besteht im
allgemeinen aus Molekülen, deren jedes zwei Atome hat. Durch die funkenlose, stille
Entladung der elektrischen Spannung aber bilden sich Sauerstoffmoleküle, die aus drei
Atomen bestehen; diese nennen wir Ozon. Im Gegensatz zu gewöhnlichem Sauerstoff hat
Ozon einen kräftigen Geruch. In der Atmosphäre, die unsere Erde umgibt, liegt in etwa 50
Kilometer Höhe eine Schicht, die hauptsächlich Ozon enthält und die Fähigkeit hat, die
kurzwelligen Sonnenstrahlen aufzusaugen. Wäre diese Ozonschicht nicht vorhanden, so
würden die kurzwelligen Strahlen wahrscheinlich alles Leben auf der Erde vernichten.
Und nun wollen wir zum Megatron gehen und uns die Atomkernspaltung ansehen.«
Den Jungen schwirrte der Kopf von all dem Neuen, das sie gehört und nur zum Teil
verstanden hatten. Der Marsch über das freie Feld zu dem großen Betonklotz des Megatrons
tat ihnen wohl.
Manfred hatte sich trotz seiner kurzen Beine an den langen Dr. Heise herangepirscht
und beichtete mit einem ehrlichen Seufzer:
»Ich habe nicht alles begriffen, was uns der Professor erzählt hat. Es war zuviel auf
einmal.«
Der Assistent klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter: »Tröste dich, Pionier!
Auch wir Großen ahnen mehr, als wir wissen. Und wenn du auch diesmal noch nicht alles
verstanden hast - es gibt einen alten lateinischen Spruch: aliquid haeret, das heißt: etwas
bleibt doch hängen.«
»Ja, das ist wahr. Ungefähr kann ich mir schon vorstellen, wie die Dinger da um den
Atomkern herumschwirren. Wie heißen sie doch?«
»Die Elektronen.«
»Ach ja, die Elektronen! Die drehen sich wie die Karussellpferdchen um das
Orchestrion.«
Dieser Vergleich löste befreiendes Lachen aus.
Im Megatron war Professor Frenzen selbst bei der Arbeit. Er stand mit einigen
25
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Assistenten und Technikern vor einem mehrere Meter breiten und fast zwei Meter hohen
Bauwerk aus Beton, auf dem oben an Ketten hängende Metallstäbe herausragten.
Rundherum lief ein eisernes Gerüst, zu dem eine Treppe hinaufführte.
»Das ist eine Maschine zur Atomzertrümmerung«, erklärte der Gelehrte seinen
Besuchern, »ein Uranmeiler. Uranium ist ein weißes, sehr hartes Metall. In der Reihe der
Elemente steht es an letzter Stelle, denn es hat die Ordnungszahl 92; in seinem Atomkern
sind also 92 Protonen. Wir gewinnen es aus der Pechblende, einem Mineral, das unter
anderen auch im Sächsischen Erzgebirge gefunden wird. Für uns ist dieses Metall deshalb
interessant, weil es radioaktiv ist, das heißt zum Zerfall unter Aussendung von
Strahlungsteilchen neigt.
Die Radioaktivität hat übrigens ihren Namen von einem anderen Metall bekommen,
das sich gleichfalls in der Pechblende findet, nämlich vom Radium, das 1898 als erstes
Element dieser Art von Pierre Curie und seiner Frau in Paris entdeckt worden ist. Radium
hat die Ordnungszahl 88, besitzt also gleichfalls einen recht komplizierten Atomkern mit 88
Protonen.
Aber bleiben wir beim Uran! Dieses Metall kommt in der Natur in mehreren Isotopen
vor. Am häufigsten ist U23892, das heißt Uran, dessen Atomkerne aus je 92 Protonen und 146
Neutronen bestehen. Für uns wichtiger ist das sehr viel seltenere U23592 mit einem Kern aus
92 Protonen und nur 143 Neutronen.
Das Uranisotop U23892 spaltet - wie fast alle natürlich radioaktiven Stoffe - beim
radioaktiven Zerfall nur kleine Teilchen ab, die aus zwei Protonen und zwei Neutronen
bestehen, es zerfällt also in zwei sehr ungleich große Stücke. Daran läßt sich grundsätzlich
auch durch künstliche Eingriffe nichts ändern. Das Uranisotop U23592 dagegen wird durch
Neutronenbeschuß in mehrere wesentlich größere Stücke zerschlagen, wobei erstens sehr
viel größere Energiemengen frei werden und zweitens der Zerfallsprozeß, einmal in Gang
gesetzt, in rasendem Tempo immer weiter um sich greift. Leider ist dieses Isotop auch in
reinem Uranmetall höchstens zu 0,7% enthalten. - Aber folgt mir! Wir wollen uns den
Uranmeiler ansehen.«
Eifrig kletterten die Jungen hinter Professor Frenzen die Leiter hinauf zur Galerie, die
in mehr als Mannshöhe um den Block herumlief, so daß man von oben die ganze Anlage
überblicken konnte.
»Wir haben die Produktion vor einer Stunde unterbrochen«, erklärte der Professor,
»und der Meiler wird jetzt genügend abgekühlt sein, so daß wir ihn öffnen und besichtigen
können.
»Öffnen, Martin!« rief er einem Manne zu, der am Ende der Halle auf einer Bühne
stand. Jetzt drehte der Mann an einem Handrade, und von oben her senkten sich langsam
zwei mächtige eiserne Haken an Ketten nieder. Zwei Arbeiter kletterten von der Galerie auf
den Block und schoben die Haken unter zwei runde Ösen, die aus dem Dach der Anlage
herausragten.
»Eingehakt!« meldeten sie und sprangen wieder von der Galerie. Da drehte Martin
nochmals an dem Rade. Die Haken hoben sich mit der dicken Deckplatte des Meilers empor.
Ein wenig Wasserdampf quoll heraus, ein Zeichen dafür, daß in dem Meiler eine erhebliche
Temperatur geherrscht haben mußte. Innerhalb des dicken Betontroges sah man eine
dunkle Masse.
»Ist das Schwarze da Uran?« fragte Fritz.
26
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Nein«, erwiderte Frenzen. »Das sind dicht aneinander gefügte Blöcke aus Graphit,
das heißt aus reinem kristallisiertem Kohlenstoff. Vom Kohlenstoff prallen Neutronen ab wie
Lichtstrahlen von einem Spiegel oder wie Billardbälle von einer Bande.«
»Aber die weißen Platten, die darauf liegen?«
»Jawohl, das sind die oberen Enden von Uranstäben, die in dem Graphit stecken. Ihr
seht sie jetzt von oben nur im Querschnitt als Quadrat.«
»Warum gucken denn ein paar von den Stangen oben heraus?«
»Das ist nun wieder kein Uran, sondern das sind Kadmiumstangen. Das
Kadmiummetall hat die Fähigkeit, Neutronen aufzusaugen. Wir können dadurch, daß wir
Kadmiumstangen in den Meiler hineinschieben, den Zerfallprozeß des Urans verlangsamen
oder ganz zum Stillstand bringen. Denn das Kadmium hält die Neutronen fest und läßt sie
nicht an das Uran heran.
Die Atomumwandlung ist übrigens mit gewaltiger Erhitzung verbunden. Der Meiler ist
deshalb mit Wasserkühlung ausgerüstet. Ihr seht zwischen den Uranstäben und dem
Graphit Zwischenräume, durch die das Wasser hindurchfließt. Auf dem Deckel seht ihr
mächtige Rohre, die jetzt mit hochgehoben sind. Durch diese Rohre wird der überhitzte
Wasserdampf in große Turbinen geleitet und so zur Gewinnung von elektrischer Energie
ausgenutzt. Aber diese Energie ist nur ein Nebenprodukt. Unser Meiler hat in erster Linie die
Aufgabe, Atomkraftstoffe herzustellen.«
»Ich denke, Uran ist schon Atomkraftstoff?« fragte Felix. »Stellen Sie denn hier Uran
her?«
»Nein«, erwiderte der Professor, »selbst reines Uran ist kein Atomkraftstoff. Unter
140 Uranatomen ist ja immer nur eines vom Typ U235, also für unsern Zweck geeignet, und
wir müssen die beiden Isotope voneinander trennen, ehe wir einen Verwendungsfähigen
Atomkraftstoff bekommen. Um einen fortschreitenden Zerfall des Urans, eine
Kettenreaktion, einleiten zu können, brauchen wir eine gewisse Mindestmenge U235, die als
kritische Masse bezeichnet wird. Haben wir mindestens diese kritische Masse, dann
brauchen wir das Uran nur mit langsamen Neutronen zu beschießen, und schon beginnt sein
Atomzerfall, bei dem jedes berstende Atom mehrere Neutronen frei gibt. Diese könnten
wieder Nachbaratome spalten, wenn sie nicht - zu schnell wären! Das sind sie aber leider;
sie haben zunächst eine so hohe Geschwindigkeit, daß sie durch ein Uranatom glatt
hindurchgehen, ohne ihm etwas anzuhaben. Aber es gibt Stoffe, die ein solches schnelles
Neutron nicht durchschlagen kann, sondern von denen es abprallt wie ein Gummiball von
einer Wand. Ein solcher Stoff ist Graphit. Stößt ein Neutron auf Graphit, so wird es
zurückgeworfen und büßt dabei an Energie ein; es wird bei jedem Abprallen langsamer, bis
es nur noch so geringe Geschwindigkeit hat, daß es ein weiteres Uranatom spalten kann,
wobei wiederum neue Neutronen frei werden. So steigert sich der Zerfall des Urans immer
mehr und ergreift schließlich den ganzen Block, bis das letzte Uranatom zerstört ist. Und
wenn wir diesen Vorgang nicht künstlich bremsen, dann geht das so schnell vor sich wie
eine Explosion. Der Uranmeiler würde dann als Atombombe wirken, ein mehrere Kilometer
großes Loch in den Erdboden reißen und den ganzen Bezirk mit gefährlichen Strahlungen
verseuchen. Die Amerikaner haben mit solchen Bomben Hiroschima und Nagasaki zerstört
und mit einer einzigen solchen Bombe hunderttausend Menschen gemordet. In der
Sowjetunion dagegen benutzt man die Atomsprengung zu friedlichen Zwecken: Man räumt
damit gewaltige Erdmassen fort, so daß große Ströme in Gebiete fließen können, die bisher
Wüste waren. So hilft die Atomenergie, neuen Kulturboden für die Ernährung von Menschen
27
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
gewinnen.
Wir aber wollen ja unser Institut nicht in die Luft sprengen und Selbstmord begehen.
Darum zügeln wir den Uranzerfall mit Hilfe der Kadmiumstangen, die so viel Neutronen
aufsaugen, daß es nicht zu einem plötzlichen, sondern nur zu einem langsamen und
geregelten Zerfall kommt.
Ist aber dieser Zerfallsprozeß einmal im Gange, dann bleibt auch gewöhnliches Uran
vom Isotop 238, das den Neutronen ausgesetzt wird, nicht unverändert. Nur zerfällt es nicht
wie das Isotop 235, sondern es nimmt ein Neutron in seinen Kern auf und verwandelt es in
ein elektrisch geladenes Proton. Dieser Vorgang ist noch nicht bis in die letzten
Konsequenzen aufgeklärt. Wahrscheinlich ist es so, daß das Neutron sowohl ein positives
wie ein negatives Elektron enthält, und daß es nun dieses negative Elektron abstößt und
dadurch zu einem Proton wird, das nur noch positive Ladung besitzt. Das neue, durch den
Hinzutritt des Protons vergrößerte Atom ist aber kein Uran mehr, denn es hat ja nicht 92,
sondern 93 Protonen. Es ist ein neues Element mit der Ordnungszahl 93 entstanden, das in
der Natur nicht vorkommt. Dieses von uns künstlich hergestellte Element hat den Namen
Plutonium bekommen. Es ist radioaktiv und verhält sich bei Neutronenbeschuß genau so wie
das seltene Uranisotop 235, für das es einen vollwertigen Ersatz bietet. Um dieses
Plutonium in größeren Mengen herzustellen, haben wir den großen Meiler gebaut. Wir geben
das hier gewonnene radioaktive Material für technische und medizinische Zwecke an andere
Institute oder an unsere eigenen Laboratorien ab.«
»Sie sagen immer: Meiler. Ich denke, es heißt Megatron?« fragte Uli.
»Das Megatron steht im Nachbarraum. Weil es aber die modernere Maschine ist, hat
sich sein Name für das ganze Gebäude eingebürgert. - Wir werden jetzt einmal zum
Megatron hinübergehen.« Professor Frenzen wandte sich an seine Assistenten: »Prüfen Sie
inzwischen den Meiler und schließen Sie ihn wieder!«
Nachdem er mit den Jungen von der Galerie herab geklettert war, zeigte er ihnen
noch die seitlichen Öffnungen des großen Betontroges, durch die die verschiedenen
Prüfgeräte und auch der Behälter mit dem Material für die Anfangszündung in den Meiler
hineingeschoben werden konnten.
Durch eine Betonwand vom Meiler getrennt stand das Megatron, gleichfalls ein
klobiger Maschinenbau, der aber im Gegensatz zu dem Betontrog des Meilers fast nur
Metallteile sehen ließ.
»Die Öffnung dieses Monstrums bereitet große Schwierigkeiten«, erklärte Frenzen,
»ich kann euch deshalb sein Inneres leider nicht zeigen. Ihr seht aber hier zu beiden Seiten
die Wicklungen je eines mächtigen Elektromagneten herausragen. Sie erzeugen zwei
magnetische Felder, die den Innenraum, eine Trommel von etwa einem Meter Durchmesser,
beeinflussen. In diese Trommel werden Protonen, Neutronen oder Elektronen
hineingeschossen und im Kreislauf durch die magnetischen Felder immer stärker
beschleunigt, bis sie Geschwindigkeiten besitzen, die denen der kosmischen Strahlung
nahekommen oder gleichkommen. Durch einen seitlichen Schlitz der Trommel treten sie
dann aus, und wir können sie dort durch geeignete Apparate auffangen und untersuchen
oder zu weiteren Experimenten verwenden, unter Umständen auch zur Zertrümmerung von
Atomen. Es gibt praktisch kein Element, das dem Beschuß mit schweren Elementarteilchen
Widerstand leisten könnte. Es kommt nur auf die richtige Größe der Geschwindigkeit dieser
Teilchen und einige andere Vorbedingungen an.
28
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Ich könnte euch noch manches über die Atomumwandlungen erzählen. Aber ich
fürchte, ihr würdet es doch nicht behalten. Außerdem will euch Herr Professor Habermann
noch sein Weltraumschiff zeigen.«
Da ergriff Felix das Wort für seine Kameraden:
»Wir danken Ihnen herzlich, Herr Professor. Wir sind so begeistert, daß wir später,
wenn wir groß sind, alle miteinander zu Ihnen kommen und bei Ihnen in Ihrem Institut
arbeiten möchten.«
Frenzen lachte: »Das werdet ihr euch noch überlegen. Zunächst schafft euch durch
eifrige Arbeit in der Schule die notwendige Grundlage! Mathematik ist die Seele der
Naturwissenschaft.« Er drückte jedem der Jungen zum Abschied kräftig die Hand.
Etwas erleichtert atmeten sie doch alle auf, als sie mit Dr. Heise wieder im Freien
standen. Ein fröhliches Lied verkürzte ihnen den Weg zur Hütte im Walde.
29
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
DIE REISE ZUM SATURN
»Mars« war Anfang Juli unbemannt in die Tiefe der Südsee geschickt worden, und
zwar zur absolut tiefsten Stelle des Weltmeeres, in den Philippinengraben zur
»Emden-Tiefe«, wo man erst 10 793 m unter dem Meeresspiegel auf festen Boden trifft.
Einen vollen Tag hatte die Kugel dort in völliger Dunkelheit gelegen, während die
eingebauten Apparate Wasser- und Bodenproben entnahmen, Druck und Temperatur,
Strömung des Wassers, Strahlung und sonstige Dinge maßen. Von Zeit zu Zeit hatten die
eingebauten Scheinwerfer aufgeleuchtet, und gleichzeitig waren die Filmapparate ausgelöst
worden.
Nachdem »Mars« glücklich wieder im Institutswäldchen gelandet war, wurde er
gründlich überholt, während gleichzeitig der Bau des zweiten, größeren Raumschiffes
vollendet wurde. Bei dem neuen Fahrzeug war man von der Kugelgestalt etwas abgewichen:
Es glich mehr einem Ei, das auf die Spitze gestellt ist und unten eine Anzahl
warzenähnlicher Auswüchse hat; das waren die Düsenauslässe des Reaktionsmotors und die
unteren Fenster. Diesmal waren zwei Einstiege an den Seiten vorgesehen. Aber diese
sowohl wie die beiden Seitenfenster und der Vorderausblick am oberen Ende ragten nicht
über die Außenhaut hervor. Um den Apparat auch unter starkem Druck von innen wie von
außen gasdicht zu machen, war der ganze Rumpf aus Spezialstahl in einem Stück gegossen
worden. Er wog nicht weniger als 8 t und war aus der Fabrik auf einem Speziallastwagen
zum Institut geliefert worden. Die sonstige Ausrüstung mit Kühlsystem, Isolierung gegen
kosmische Strahlung, Bremsen und Meßgeräten entsprach derjenigen des »Mars«.
In den letzten Julitagen war alles bereit für die Probefahrt des neuen Apparats. Sie
war nur von kurzer Dauer: ein Geschwindflug um den Mond. Damit alle interessierten
Astronomen den Flug beobachten konnten, fand er in einer sternklaren Vollmondnacht statt.
Wie bei den beiden Fahrten des »Mars« erwiesen sich auch bei dem neuen Geschoß
die Flugbahnberechnungen als richtig, und die Radargeräte arbeiteten bei der Landung so
genau, daß der schwere Apparat kaum vier Minuten nach dem Abschuß wieder unmittelbar
neben der Waldhütte stand; um ein Haar wäre diese selbst getroffen worden!
Nachdem sich alle seine Einrichtungen als zuverlässig erwiesen hatten, wurde das
zweite Weltraumschiff wegen seiner ersten Versuchsreise zum Mond auf den Namen der
Mondgöttin »Luna« getauft.
Professor Habermann entschloß sich jetzt, selber die erste Reise in den Weltraum zu
unternehmen. Professor Groß, der schon seit Wochen mit den astronomischen
Berechnungen für eine Fahrt zum Saturn beschäftigt gewesen war, kam mit seinen Formeln
und Zahlen und unterbreitete sie Habermann mit der Bitte, ihn auf diese Reise
mitzunehmen; aber der Atomforscher vertröstete ihn auf die nächste Fahrt. Er wollte das
erste Mal nur mit seinem Assistenten reisen, der die Apparatur genau kannte.
»Ich weiß mit den Apparaten auch Bescheid«, bettelte Heinz.
»Nein«, wies ihn der Vater zurück, »zwei Menschen in dem Weltraumschiff sind
genug. Du würdest uns nur im Wege sein.«
»Und wenn du nicht wiederkommst, was soll ich dann hier allein?«
»Fleißig lernen, damit du später meine Arbeit zu Ende führen kannst!«
30
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Für den 12. August war der Start angesetzt. Aber zwei Tage vorher stolperte Dr.
Heise vor der Waldhütte so unglücklich über das Feldbahngleis, daß er sich Elle und Speiche
des rechten Unterarms brach und an der Saturnreise nicht teilnehmen konnte. Eine
Verschiebung des Abflugs hätte eine völlig neue Berechnung der Flugbahn erforderlich
gemacht. Fast alle Kollegen erboten sich, an Dr. Heises Stelle zu treten, aber Habermann
machte ihnen klar, daß ihm nur ein Begleiter von Nutzen sein konnte, der den Apparat
genau kannte. Und in wenig mehr als vierundzwanzig Stunden konnte niemand die »Luna«
gründlich kennenlernen. Daher wollte er lieber allein reisen.
Da erneuerte Heinz seine Bitten und merkte bald, daß der Vater schwankend wurde.
Tatsächlich überlegte sich Habermann, daß er die Beobachtungen, um die ihn der Astronom
gebeten hatte, nicht würde durchführen können, wenn er die Reise allein machte und von
der Beobachtung der Atominstrumente in Anspruch genommen wäre. Übrigens hatte er
voller Vaterstolz festgestellt, wie eingehend sich Heinz über alle Einzelheiten der »Luna«
unterrichtet hatte, und wie geschickt und vorsichtig der Knabe mit den empfindlichen
Geräten umzugehen gelernt hatte. Vielleicht konnte er dem Sohn wenigstens für kurze Zeit
die Beobachtung der Instrumente überlassen? Lange kämpfte der Mann mit sich selbst,
dann nahm er das Wagnis auf sich. Die anderen Gelehrten erfuhren davon allerdings nichts.
Nur Heise wußte, daß Heinz abends in das Fahrzeug geklettert war und sich hinter dem
Motor ein bequemes Lager zurechtgemacht hatte. Dort lag er zusammengerollt wie ein Igel,
als sich in der Nacht die Kollegen Habermanns um das Raumschiff versammelten, um
Abschied zu nehmen.
0 Uhr 12 Minuten 15 Sekunden war als günstigster Zeitpunkt für den Abschuß
gewählt worden. Um diese Zeit stand die Sonne ziemlich genau auf der anderen Seite der
Erde, die Anziehungskräfte beider Weltkörper wirkten also in gleicher Richtung auf eine
senkrecht emporgeschossene Rakete. Bei richtig berechneter Geschwindigkeit mußte das
Raumschiff dann die Bahn des Saturn gerade in einem Augenblick kreuzen, wo dieser selbst
noch einige hunterttausend Kilometer entfernt war, aber schon ganz erheblich anziehend
auf das Geschoß wirkte. Die Schwerkraft des Saturn mußte die Bahn der Rakete, die bis
dahin fast geradlinig sein würde, stark abbiegen und das Geschoß vorübergehend zu einem
Saturnmond machen. Seine Bahn würde eine sehr exzentrische, langgestreckte Ellipse sein,
deren absteigender Ast die Erdbahn gerade wieder an der Stelle treffen mußte, an der die
Erde nach der errechneten Flugzeit sich befand.
Diese Art der Flugbahnberechnung hatte sich bei den drei bisherigen Fahrten als
zuverlässig erwiesen; die Uhren und die Apparate, die das selbsttätige Anspringen und
Aussetzen des Motors regelten, hatten einwandfrei gearbeitet. Deshalb wollte sich
Habermann bei der ersten Fahrt mit Bemannung gleichfalls auf diese Apparatur und auf die
Vorausberechnungen verlassen. Aber er hatte die Möglichkeit eigenen Eingreifens
vorgesehen, falls Überraschungen auftreten sollten.
* * *
Um halb zwölf nahm der Weltraumfahrer Abschied von seinen Kollegen. Der Einstieg
wurde hinter ihm geschlossen. Ein lautes Dröhnen verkündete ihm und Heinz, daß die
dicken Sperriegel der Einstiegklappe, die wie bei einer Safetür gearbeitet waren, in ihre
Rasten eingeschnappt waren. Nur gedämpft hörten die beiden die Rufe der
Zurückbleibenden, die ihre letzten Glückwünsche darbrachten und dann zu ihren Kraftwagen
eilten. Bald war das letzte Motorengeräusch der Autos verklungen.
31
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Habermann schaltete die Innenbeleuchtung und die Luftreinigung ein. Die Rakete
war als Druckkammer gebaut wie ein Stratosphärenflugzeug oder ein Unterseeboot. Für die
Versorgung der Insassen mit Atemluft hatten sich die Konstrukteure des Raumschiffs die
Erfahrungen zunutze gemacht, die mit Flugzeugen und U-Booten gesammelt worden waren.
Heinz hatte sich aufgerichtet und lächelte dem Vater zu. Der strich ihm liebevoll über
die Wange. Habermanns Hand zitterte leicht, er konnte seiner Erregung nicht ganz Herr
werden. Aber aus den Augen des Jungen strahlte ihm so festes Vertrauen entgegen, daß er
sich ein wenig schämte und zusammenriß.
»Achte bitte auf die Uhr und mach mich darauf aufmerksam, wenn es 0 Uhr 11 ist!«
wies er den Sohn an.
Heinz' Augen gingen hin und her zwischen dem Uhrzeiger und dem Vater, der noch
einmal alle Apparate in Augenschein nahm und vor allem die Sauerstoffabgabe des
Luftreinigers überprüfte, dabei aber selber auch immer wieder auf die Uhr blickte.
Endlich war es soweit. Vater und Sohn nahmen ihre Plätze auf den weichen
Lederpolstern neben dem Motor ein.
»Bequem hinsetzen und ruhig sitzen!« mahnte Habermann und legte die Hand an
den Hebel, der den Motor anspringen lassen sollte. Langsam krochen die letzten Sekunden
dahin.
Da — ein fürchterlicher Ruck! Heinz fühlte sich mit ungeheurer Wucht in seinen Sitz
gepreßt und hörte ein Donnergetöse, das allerdings bald in ein feines Singen überging. Aber
in den Ohren brauste es immer noch; kaum hörte er die Stimme des Vaters:
»Da liegt Berlin!«
Habermann zeigte auf das eine der unteren Fenster, durch das man einen hellen
Nebelfleck wahrnehmen konnte, das nächtliche Licht der Großstadt. Der Fleck schrumpfte
schnell zusammen, wurde immer kleiner und undeutlicher. Der fast unerträgliche Druck ließ
nach, als die Rakete ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Habermann erhob sich und
schaltete die Innenbeleuchtung aus. Wieder wies seine Hand nach unten. Dort sah man jetzt
eine dunkle Kugel, die Erde, in der Nacht davonschweben; nur an einem Rande war sie
schwach erleuchtet.
»Dort wird gleich die Sonne auftauchen«, bemerkte der Vater.
Heinz nickte. Mit gemischten Gefühlen sah er den heimatlichen Planeten
entschwinden. Aber da begann an der schwachbeleuchteten Kante der Erde ein grelles
Strahlen, nicht allmählich, wie die irdische Dämmerung kommt, sondern ganz plötzlich.
»Die Sonne!«
Jetzt nickte Habermann. »Blick nicht direkt hinein, sie blendet dich! Vermeide jetzt
auch jede größere Anstrengung!«
Die Sonne schien von unten durch beide Fenster in das Raumschiff hinein. Scharf
begrenzt zeichneten sich zwei helle Kreisflächen in der Kuppel ab. Dadurch wurde das
Innere der Rakete erhellt. Aber wenn man durch die Fenster hinausschaute, dann war dort
dunkle Nacht mit funkelnden Sternen. Auch die Sonne, die von unten hereinschien, stand
nicht am Tageshimmel, wie Heinz das gewöhnt war, sondern sie strahlte unerträglich hell
aus tiefdunkler Nacht! Die Erklärung dafür konnte er sich selbst geben: Die zerstreute
Helligkeit des irdischen Tages ist ja eine Folge der Lichtbrechung in der Atmosphäre, und
32
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
diese Lufthülle der Erde hatte das Weltraumschiff bereits verlassen.
Auch die Wirkung der irdischen Schwerkraft hatte praktisch fast aufgehört. Wenn
sich überhaupt noch eine Schwerkraft bemerkbar machte, so war es die der Sonne. Aber sie
war so schwach, daß man sich in dem Raumschiff fast schwerelos bewegen konnte. Heinz
war ganz wunderlich zumute. Sein Auge suchte die Erde. Aber sie war längst im Dunkel
verschwunden. Dort unten strahlte nur die Sonne, und neben ihr bewegten sich einige
schwache Sternchen, die man jedoch nur sehen konnte, wenn man die Blendung durch die
Sonne vermied. Welches dieser Sternchen war die Erde?
Habermann griff in eine Ledertasche neben seinem Sitz und holte Schokolade hervor.
Schweigend reichte er Heinz die eine Hälfte. Freudig griff der Junge zu, aber ein heftiger
Schmerz lahmte ihm fast den Arm. Er wollte ihn sinken lassen, der Arm blieb jedoch in der
Luft hängen.
»Du bist viel zu hastig!« mahnte der Vater. »Ganz langsam bewegen und nur zart
zufassen! Die Anziehungskraft von Erde und Sonne hat hier nur noch sehr geringe Wirkung,
viel geringere, als wir sie auf der Erdoberfläche gewöhnt sind. Daher sind die
Kraftempfindung der Muskeln und das Druckgefühl der Haut weitgehend verändert. — Nun
nimm!«
Vorsichtig griff Heinz zu. Tatsächlich: die Schokolade wog nichts! Er fühlte sie zwar
zwischen den Fingern, aber sie hatte kein Gewicht. Er schnellte sie mit der flachen Hand ein
wenig in die Höhe. Da flog sie bis in die Kuppel hinauf und schwebte nur ganz langsam wie
ein Federchen wieder herunter. Unwillkürlich verzog sich Heinz' Gesicht zum Lachen, er
wollte den Kopf schütteln; aber er ließ beides, denn auch diese leichten Bewegungen
verursachten ein unangenehmes Gefühl, beinahe einen Schmerz. Vorsichtig führte er das
Stückchen Schokolade zum Munde. Darauf beißen durfte er nicht, falls er Anstrengung und
Schmerz vermeiden wollte. Man durfte die Schokolade nur auf der Zunge zergehen lassen.
Das Geräusch des Motors hatte aufgehört. Die Rakete flog also jetzt mit
gleichbleibender Geschwindigkeit durch den dunklen Weltraum. Habermann verglich die
Großschen Tabellen mit der Uhrzeit und stellte mit Genugtuung fest, daß der Motor genau
zur vorausberechneten Zeit ausgesetzt hatte. Besorgt ging sein Blick über die verschiedenen
Registrierapparate hin: Innendruck wenig mehr als eine Atmosphäre. Außendruck fast Null.
Temperatur innen plus 22 Grad Celsius, außen am Kopf der Rakete minus 76, an der
Sonnenseite plus 980 Grad Celsius! Das war zu erwarten gewesen; da aber die
Innentemperatur stabil blieb, war anzunehmen, daß die Kühl- und Heizvorrichtung
einwandfrei arbeitete. Die Sauerstoffabgabe des Luftreinigers war gleichmäßig, die
Luftfeuchtigkeit nur wenig erhöht. Die kosmische Strahlung war sehr stark, aber die
Isolierschicht der Rakete ließ nur wenig davon in das Innere dringen.
Beruhigt wandte Habermann die Augen dem oberen Fenster zu. Dort war jetzt der
Saturn als heller Stern sichtbar. Dieser Planet mit den vielen Ringen rund um den Bauch
stand etwas seitwärts von der Flugbahn der Rakete. Habermann nahm ein kleines Fernrohr
vom Klemmhaken an der Wand und beobachtete ihn sorgfältig. Dann winkte er Heinz und
ließ auch ihn durch das Rohr schauen.
»Er wird immer größer«, staunte der Junge. »Aber die Ringe sind ja gar keine Ringe!
Sie sehen mehr aus wie eine körnige Masse.«
»Ja, es sind unzählige kleine Monde, jeder von einer Wolkenschicht umgeben und so
dicht beieinander, daß sie sozusagen einen Brei bilden.«
33
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Und jetzt sehe ich, wie das Ganze sich dreht. Es wird immer deutlicher. Es kommt
mir so vor, als ob sich der Brei verschiebt, weil er sich innen schneller bewegt als außen.«
»Ja, das stimmt. Der innere Rand des Ringes bewegt sich in 71/2 Stunden einmal um
den Saturn herum, der äußere Rand aber braucht 14 Stunden für einen Umlauf.«
»Das Ganze sieht eigentlich gar nicht wie eine Kugel aus, sondern eher wie ein
flaches Brötchen.«
»Gut beobachtet!« lobte der Vater. »Die großen Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und
Neptun drehen sich sehr schnell um ihre eigene Achse, viel schneller als die Erde. Auf dem
Saturn dauert daher ein Tag nur etwas mehr als zehn Stunden, nicht einmal halb solange
wie ein Tag auf der Erde. Bei dieser raschen Umdrehung macht sich die Zentrifugalkraft
natürlich viel stärker bemerkbar. Schon unsere Erde ist ja nicht ganz genau eine Kugel,
sondern sie ist an den Polen abgeflacht und am Äquator verdickt. Die Astronomen nennen
einen solchen Körper ein Sphäroid. Beim Saturn ist das infolge der schnelleren Bewegung
noch auffälliger. Er ist tatsächlich ein breiter Kuchen, zumal er am Äquator noch von dem
Wulst der Ringe umgeben ist.«
Habermann warf einen Blick auf das Gravitationsmeßgerät und rief seinen Sohn:
»Schau her, das Schwerefeld des Saturns macht sich schon erheblich bemerkbar und wird
jetzt ebenso stark wie das der Sonne. Etwas weiter aber wird es bei unserem Fluge rasch
immer stärker zunehmen. An diesem Punkt der Reise sollte uns ein Raketenstoß umkippen,
damit wir dem Saturn die Unterseite unseres Schiffes zuwenden und in seinem Schwerefeld
mit unseren Menschenfüßen fest auf dem Boden stehen. Setz dich in den Sessel und halte
dich fest!«
Heinz folgte der Aufforderung und wollte noch eine Frage stellen. Aber da setzte
auch schon der Düsenmotor einseitig mit seinen Explosionen ein.
»Vater, der Saturn verschwindet.«
Der Professor lächelte: »Du täuschst dich: wir selber drehen uns. Sieh da, jetzt ist
der Saturn im Seitenfenster zu sehen. Und bald werden wir ihn durch die Bodenfenster
erblicken können.«
»Jawohl, dort unten ist er schon.«
Vom Motor spürte man noch einen kurzen Gegenstoß in umgekehrter Richtung, der
die Drehung der Kugel abbremste. Dann setzte der Motor wieder ganz aus, das Raumschiff
drehte sich nicht weiter.
»Wahrhaftig«, rief Heinz. »Jetzt scheint die Sonne fast genau von oben herein.«
»Ja, und wir stehen auch wieder viel fester auf unseren Beinen, angezogen vom
Schwerefeld des Saturns. Aber - wir müssen seitwärts am Saturn vorbei, sonst stoßen wir
mit ihm zusammen.«
Habermann blickte besorgt durch eines der Bodenfenster zu dem Planeten hinab, der
jetzt schon mit bloßem Auge als bunter Ball zu erkennen war, immer größer wurde und
immer näher kam.
»Da stimmt doch etwas nicht!« murmelte Habermann noch einmal; er starrte wie
gebannt auf die große Kugel, die lautlos auf ihn zu schwebte.
»Vater, was ist denn das da?« fragte Heinz, indem er auf einen anderen Ball hinwies,
34
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
der von der Seite her mit noch größerer Geschwindigkeit näher kam als der große Planet.
Jetzt hatte auch der Vater diesen Körper entdeckt.
»Ein Mond des Saturns!« rief er, »ein Mond, den Kollege Groß wahrscheinlich nicht
gekannt und in seinen Berechnungen nicht berücksichtigt hat. Wir sind bereits in seinem
Schwerefeld und müssen mit ihm zusammenstoßen, wenn...« Ein Griff zum Motor, ein
Hebeldruck, eine kleine Explosion, ein scharfer Ruck und dann wieder das Singen der
Düsen. Der Motor lief. Ein Weilchen war der Erfolg zweifelhaft. Aber dann zeigte sich
deutlich, daß der unbekannte Saturnmond nicht mehr näher kam. Er wandte sich seitwärts,
zog in ungefähr gleichbleibendem Abstand vorbei und entfernte sich dann.
»Zurück zur Erde!« seufzte Habermann. »Aber wo ist sie? Wir haben die Richtung
verloren.«
Er starrte verzweifelt zum oberen Fenster hinaus, durch das schräg die Sonne
hereinschien.
»Die Erde ist doch da, wo die Sonne ist«, rief Heinz.
Der Vater lachte ärgerlich: »Sie ist inzwischen auf ihrem Wege um die Sonne auch
weitergewandert.«
»Das kann doch nicht viel sein.«
»Gerade genug, um an ihr vorbei zur Sonne zu fliegen, ohne die dunkle Erde zu
entdecken. Außerdem sind wir schon nicht mehr genau auf die Sonne ausgerichtet, sondern
befinden uns etwas seitwärts von der geraden Linie Sonne - Saturn.« Ein neuer Seufzer hob
seine Brust. »Es gibt nur eine Möglichkeit: Wir müssen uns vom Saturn als Mond einfangen
und so lange um ihn herumschleudern lassen, bis wir Richtung auf die Erde haben. Dabei
dürfen wir aber dem Saturn nicht so nahe kommen, daß wir auf ihn aufprallen.« Er stellte
den Motor ab.
»Ich muß versuchen, die Stellung der Erde ungefähr zu errechnen. Am besten
würden wir dazu auf dem Saturn landen. Aber der hat eine dichte Atmosphäre aus giftigen
Gasen, die mir die Beobachtung behindern würde. Wirst du es fertigbringen, uns ungefähr in
der gleichen Entfernung von ihm zu halten, wie wir sie jetzt haben? Du mußt für kurze Zeit
den Motor wieder anstellen, wenn er uns zu nahe kommt.«
»Natürlich kann ich das! Wir sind schon wieder näher an ihn herangerutscht, ich
werde den Motor laufen lassen.«
»Gut! Ich werde inzwischen die Planetentafeln zur Hand nehmen, die mir Kollege
Groß mitgegeben hat.«
»Ja, Vater! Ich passe schon auf.«
Heinz startete noch einmal den Atommotor, so daß sich das Bild des Saturns zu
seinen Füßen bald nicht mehr so stark vergrößerte. Währenddessen hatte Professor
Habermann die Planetentafeln, ein dickes Buch, aus einer der Taschen an seinem Sitz
genommen. Er öffnete den Band auf den Knien und begann eifrig zu rechnen. Einmal blickte
er auf und fragte besorgt :
»Kannst du den Abstand halten? Wir dürfen auch nicht zu weit vom Saturn fort.«
Heinz deutete nur lächelnd auf das Bild des Planeten, dessen eine Seite jetzt dunkel
zu werden begann. Habermann wendete sich wieder seinen Berechnungen zu. Auf seiner
35
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Stirne stand der Schweiß.
Plötzlich tauchte das Raumschiff in tiefe Finsternis ein. Der Saturn stand zwischen
ihm und der Sonne, aber er war trotz der dunklen Nacht deutlich zu erkennen. Man sah
jetzt, daß er von einer breiten Gasschicht umgeben war, in der sich die Sonnenstrahlen
brachen: Saturn war eine dunkle Kreisfläche, umrahmt von weißschimmernder,
hellbeleuchteter Wolle. Beiderseits glitzerten auch Teile der Saturnringe.
Genau so plötzlich, wie die Sonne erloschen war, strahlte sie auch wieder auf.
Habermann rechnete noch immer. »Es ist nur ein Glück, daß wir überreichlich
Atomkraftstoff mitgenommen haben«, murmelte er zwischendurch.
Heinz griff in die Tasche, die, wie er wußte, Schokolade enthielt. Er fand darin auch
eine Flasche, die er hervorzog, entkorkte und dem Vater bot.
»Ah, der Tee!« flüsterte der Mann erfreut; er nahm einen tüchtigen Schluck.
Heinz war nicht durstig. Er verstaute die Flasche wieder und beobachtete weiter den
Saturn.
»Ich habe schon seit einer ganzen Weile den Motor nicht mehr gebraucht«, meldete
er. »Ich glaube, wir sind trotzdem weder näher gekommen, noch vom Saturn abgerückt.«
»Das ist gut«, antwortete der Vater. »Dann befinden wir uns jetzt als Trabant des
Saturns im Gleichgewicht zwischen der Wirkung seines Schwerefeldes und der
entgegengesetzten, zentrifugalen Wirkung unserer Umlaufsgeschwindigkeit. Achte darauf,
daß es so bleibt!«
Saturn zeigte seine Seitenansicht. Die Sonne schien durch eines der Seitenfenster in
die Rakete hinein. Heinz griff noch einmal in die Tasche und entnahm ihr Schokolade, die er
mit dem Vater teilte. Jetzt, im Schwerefeld des großen Planeten, stand und saß man wieder
sicher in dem Weltraumschiff, Muskelbewegungen verursachten keine Schmerzen mehr.
»So!« Habermann richtete sich auf. »Hoffentlich stimmt meine Rechnung!«
Sorgfältig visierte er durch die beiden Fadenkreuze, die auf der Außen- und der Innenseite
des 20 cm dicken Oberfensters eingraviert waren.
»Nein«, seufzte er, »wir bekommen nicht genau die Richtung, die wir brauchen. Aber was ist das? Wir werden schon wieder von unserem Kurs abgelenkt. Verändert sich der
Abstand vom Saturn?«
»Ich glaube nicht. Jedenfalls kann ich nichts davon merken.«
»Da muß die Schwerkraft eines Saturnmondes im Spiel sein. Das ist kein Wunder:
Saturn hat nicht weniger als zehn solcher Trabanten, oder vielmehr elf, denn wir selbst
haben ja einen neuen entdeckt. Wo mag der Störenfried nur sein?«
»Ich sehe ihn!« rief Heinz. »Er fliegt ungefähr in der gleichen Richtung wie wir um
den Saturn, nur nicht so schnell wie wir. Bald werden wir ihn eingeholt haben.«
»Dann wird er uns also wieder in entgegengesetzter Richtung ablenken... Laß einmal
sehen! - Ja, wenn wir Glück haben, schwenkt er uns nahe an dem Punkt vorbei, auf den wir
unseren Kurs richten müssen. Die Zeit stimmt auch ungefähr... Junge, geh an den Motor
und schalte die Atomkraft in dem Augenblick ein, wo ich rufe: Jetzt. Aber halte dich fest,
daß dich der Rückstoß nicht umwirft!«
»Jawohl, Vater, ich bin bereit.«
36
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Habermann visierte durch das Fadenkreuz die neben der Sonne stehenden
Sternbilder an, die langsam an seinem Auge vorbeizogen. Heinz hatte die Hand am Anlasser
und blickte gespannt auf den Vater, der jetzt die Hand hob, um anzuzeigen, daß der
Zeitpunkt des Starts nahe sei.
»Jetzt!« tönte sein Kommando.
Mit hartem Zischen stieß der Düsenmotor seine Explosion aus. Der heftige Stoß ließ
Habermann in die Kniebeuge gehen. Aber er fing sich sofort wieder und beobachtete weiter.
»Die Richtung könnte stimmen«, murmelte er, »... wenn ich richtig gerechnet habe.«
»Du hast doch jetzt Zeit nachzurechnen, Vater!«
»Das werde ich auch tun. Achte auf die Instrumente und stell den Motor ab, sobald
du hier auf der Skala siehst, daß die Schwerkraft des Saturns auf den Wert 20 gesunken
ist!«
Der Professor beugte sich noch einmal über seine Berechnungen und verglich sie mit
den Planetentafeln. Heinz beobachtete den Saturn, der unter ihnen immer kleiner wurde; er
erschien nur noch wie ein weißer Tennisball, der mit einem langen Wollfaden umwickelt ist.
Habermann blickte empor. »Achte auf das Gravitationsmeßgerät!« mahnte er.
»Schau hin: Das Schwerefeld des Saturns ist schon viel geringer geworden, die Nadel weist
auf die Ziffer 20. Stell den Motor ab!«
Das Geräusch erlosch. »Bald wird sich die Schwerkraft der Sonne bemerkbar
machen«, murmelte der Gelehrte, wieder in seine Berechnungen vertieft.
Schon hatte jedes Gefühl für oben und unten aufgehört. Selbst das schwere Fernrohr
bildete in der Hand kein Gewicht mehr.
»In meiner Rechnung habe ich einen Fehler nicht entdecken können«, sagte
Habermann.
»Ist es denn so schlimm, wenn du dich ein bißchen verrechnet hast? Die Rakete läßt
sich doch steuern; sie ist sogar genau zur Waldhütte zurückgekehrt!«
»Ja, aber nicht mit Atomtreibstoff. Der ist zum Steuern ungeeignet, weil sein
einseitiger Ausstoß zu gewaltig wirken und das Raumschiff in wirbelnde Umdrehung um die
eigene Achse versetzen würde. Darum ist der Motor so gebaut, daß der Atomtreibstoff
immer nur auf den ganzen Düsenkreis zugleich wirken kann und uns nur in einer Richtung
beschleunigt. Wenn wir das Schiff wenden wollen und zu diesem Zweck nur eine Düse oder
die Düsen auf einer Seite betätigen wollen, dann müssen wir den Raketentreibstoff
einschalten, der weniger grob arbeitet und sich leichter dosieren läßt. Der Raketentreibstoff
besteht aus Alkohol und Wasserstoffsuperoxyd. Von diesen beiden Flüssigkeiten haben wir
aber nur eine engbegrenzte Menge mit, weil sie verhältnismäßig viel schwereres Gewicht
haben und viel größeren Raum in Anspruch nehmen als der Atomtreibstoff. Was wir davon
noch im Tank haben, das brauchen wir, um unseren Landeplatz auf der Erde anzusteuern.
Nur im äußersten Notfall darf ich es verwenden, um unsere Richtung hier im weiten
Weltraum zu ändern. Zur Überwindung der großen Räume müssen wir uns im wesentlichen
auf die Richtkraft verlassen, die uns die Schwerefelder der Himmelskörper, namentlich der
Sonne, bieten.«
Sorgfältig maß der Gelehrte die Winkel, die die Richtungen auf die Sonne und auf
verschiedene Sterne, namentlich auf den Saturn, miteinander bildeten. Dann atmete er tief
37
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
auf:
»Es scheint einigermaßen zu stimmen.«
Buchstäblich »im Fluge« waren ihnen die Stunden vergangen. Jetzt kam es darauf
an, mit dem Auge die Erde zu entdecken. Sie konnte nicht weit von der Sonne entfernt sein,
besaß aber keine eigene Leuchtkraft, sondern war nur auf einer Seite einen Streifen breit
von der Sonne erhellt. Abwechselnd blickten Vater und Sohn suchend durch das Fernrohr.
Schließlich waren es wieder die jüngeren Augen, die die heißersehnte zuerst sahen.
»Da ist sie!« schrie Heinz.
»Im Auge behalten!« forderte Habermann. Er visierte über den Kopf des Knaben
hinweg und entdeckte jetzt auch am dunklen Firmament ein Lichtpünktchen. »Aha! Gib mir
das Fernrohr!«
Ohne den gefundenen Punkt aus dem Auge zu lassen, hob er langsam das
Instrument. Nachdem er es gerichtet hatte, mußte er doch noch einmal eine ganze Zeit
suchen, bis er es endlich im Glase hatte; so lichtschwach war das Bild der alten Erde. Aber
sie war es, wenn auch noch weit entfernt. Ganz langsam flog sie neben der Sonne vorbei
und wurde immer größer. Würde ihr die Rakete aber so nahe kommen, daß die Schwerkraft
der Erde das Übergewicht über das der Sonne bekäme? Habermann wartete noch ab.
Solange sich das Bild der Erde vergrößerte, bestand die Hoffnung, in ihren Bereich zu
gelangen. Aber die Erde rückte immer weiter seitwärts.
Da entschloß sich Habermann zum Handeln. Er schaltete auf Alkoholtreibstoff und
leitete ihn zu den Düsen auf jener Seite des Fahrzeugs, die der Erde abgewandt war. Dann
betätigte er die Zündung; schon knatterte der Motor einseitig los, und die Rakete wendete
sich mit dem Kopf in die Richtung, in der die Erde ihre Bahn zog.
Als die Erde seitwärts stand, öffnete Habermann alle Düsen und stellte auf
Atomtreibstoff um. Es war deutlich zu erkennen, daß der scheinbare Abstand zwischen dem
großen Sonnenbrand und dem winzigen Erdbällchen jetzt langsamer wuchs.
Als er überhaupt nicht mehr merklich zunahm, drosselte der Professor den Motor.
Geräuschlos schwebte die »Luna« auf Erde und Sonne zu. Die Erde wurde größer;
jetzt war sie im Fernrohr ein schwach leuchtender Ring, der sich scheinbar immer mehr der
Sonne näherte und schließlich in ihr verschwand. Vater und Sohn starrten auf den
entgegengesetzten Rand der Sonne, aus dem die Erde wieder auftauchen mußte.
Aber es dauerte wohl eine halbe Stunde, bis dieses Ereignis eintrat. Der Planet war
inzwischen bedeutend größer geworden. Schon mit bloßem Auge sah man ihn als kleinen
goldenen Reif dicht neben dem gewaltigen Sonnenball.
Da hielt Habermann die Zeit für gekommen, direkt Richtung auf die Erde zu nehmen.
Noch einmal schaltete er auf Raketentreibstoff und betätigte eine Reihe Düsen. Das
Raumschiff drehte sich; alles, was nicht befestigt war, auch die Menschen purzelten
durcheinander. Schließlich standen Vater und Sohn auf der Fassung des Oberfensters, das
nun nach unten auf die Erde gerichtet war. In diesem Augenblick stellte der Gelehrte auf
Atomtreibstoff um und ließ die »Luna« mit Höchstgeschwindigkeit auf den Planeten
zubrausen.
Schnell vergrößerte sich die Erde. Jetzt konnte man schon erkennen, daß sie nicht
nur ein leuchtender Ring war, sondern ein runder Körper von der Größe einer Billardkugel,
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
von der man allerdings nur die unbeleuchtete Seite vor Augen hatte. Bald wurde daraus
eine kleine Kegelkugel. Da stellte Habermann den Motor ab.
Der Abstand zur Erde wurde immer geringer; jetzt schien der Planet schon die Größe
eines Medizinballes zu haben. Habermann opferte noch einmal einen Teil des kostbaren
Raketentreibstoffes, um das Raumschiff so zu steuern, daß sein Unterteil zur Erde hinwies.
Nachdem diese Wendung gelungen war, schaltete er auf Atomtreibstoff um und bremste auf
diese Weise die ungeheure Fallgeschwindigkeit. Mit aller Gewalt wurden die beiden
Menschen auf den Boden gepreßt. Mühsam richteten sie sich auf und setzten sich in die
Sessel neben dem Motor. Plötzlich umfing sie völlige Finsternis.
»Wir sind im Erdschatten«, erklärte der Vater. »Die Sonne steht jenseits der Erde.«
Immer langsamer schwebte der heimatliche Planet näher. Er war schon so groß, daß
seine hellen Ränder nur noch dann zu sehen waren, wenn man sich seitwärts beugte und
schräg durch die unteren Fenster hinausblickte. Die Rakete schwebte allerdings nicht auf die
Mitte der Erdkugel zu, sondern ein wenig seitwärts, wo eine hell beschienene Wolke sichtbar
wurde.
Habermann schaute auf das Meßgerät für die Stärke des Schwerefeldes.
»Wir müssen uns jetzt für die Landung auf das automatische Richtgerät verlassen«,
sagte er, indem er die Kopfhörer des Radarpeilgerätes umlegte. Er schaltete das Gerät ein
und drosselte damit selbsttätig die Zufuhr des Atomtreibstoffes. Ein feines ryhthmisches
Ticken in den Kopfhörern zeigte an, daß die Kurzwelle des Institutssenders richtig
empfangen wurde. Da setzte auch schon automatisch der Motor wieder ein, jetzt mit
Alkoholantrieb. Die Rakete neigte sich. Die beiden Reisenden konnten sich kaum in ihren
Sesseln halten.
Plötzlich schien die Sonne wieder herein, aber sie blendete nicht mehr so stark wie
bisher, denn die Rakete befand sich über der weißen Wolke, die sehr groß geworden war,
und die Sonne schien durch sie hindurch wie durch einen glitzernden Schneehaufen.
»Vater, der Himmel ist gar nicht mehr schwarz, er ist jetzt ganz dunkelblau«, rief
Heinz verwundert aus. Er war so sehr an die tiefe Dunkelheit des Weltraums gewöhnt, daß
ihn dieses tiefe, aber dennoch strahlende Blau überraschte. Es war allerdings von
außerirdischer Schönheit.
»Jawohl, mein Sohn«, antwortete Habermann, »im äußeren Teil der Atmosphäre, in
der wir uns jetzt befinden, ist zwar die Luft außerordentlich dünn, aber selbst diese dünne
Luft bricht die Sonnenstrahlen und zerstreut sie. Je näher wir der Erde kommen, um so
stärker wird die Lichtbrechung und um so heller wird das Blau des sogenannten Himmels
werden. In dem luftleeren Weltraum dagegen werden die Lichtstrahlen nicht gebrochen, sie
treffen dort unser Auge nicht zerstreut, sondern grell aus absoluter Finsternis heraus. - Aber
blicke jetzt hinunter ! Wir haben die Wolke überflogen und haben klare Sicht auf die Erde:
eine grünlich blaue Fläche, die hinter uns im Dunkel zurückbleibt, vor uns aber immer heller
wird. Hinter uns die Nacht, vor uns der Tag. Wir sind über einem der großen Weltmeere,
denn Land ist nirgends zu sehen. Nach der Beleuchtung zu urteilen, ist es hier unter uns
gerade etwa sechs Uhr abends. Wir fliegen in den Tag hinein, also gegen die Drehbewegung
der Erde. Nach dem Stand der Sonne befinden wir uns in der Nähe des Äquators. Aber wo?
Welcher Ozean mag da unter uns liegen?«
»Sieh, Vater, den weißen Ring dort!«
39
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Das ist offenbar der Gischt der Brandung um eine Insel. Aber die Kreisfläche ist
innen dunkelblau. Da ist Wasser. Also ein Atoll.«
»Ein Atoll? Was ist das?«
»Ein ringförmiges Korallenriff. Wahrscheinlich ist da auf dem Meeresboden der Krater
eines alten Vulkans. Auf seinen Rändern haben sich Korallen angesiedelt, das heißt
Meeresbewohner, von denen man nicht recht sagen kann, ob sie Pflanze oder Tier sind. Das
Skelett, das ihren Körper stützt und mit dem sie auf dem Boden festgewachsen sind, ist
nicht innen wie bei uns, sondern außen, es ist ein Kalkpanzer, und wenn die Koralle stirbt,
dann bleibt dieses Kalkskelett stehen. Da diese Korallen gesellig in großen Kolonien leben,
so setzen sich immer neue junge auf die alten abgestorbenen darauf, und allmählich
entsteht ein ganzer Felsen aus Korallenkalk. Diese Atolle sind also lebendig gewachsen. Sie
sind ein Kennzeichen der Westhälfte des Stillen Ozeans. Siehst du, dort schließt sich nach
Norden zu eine ganze Perlenkette solcher kleiner Inseln an, und links von uns nach Süden
tauchen größere auf. Ich vermute, wir haben soeben die Marshall-Inseln passiert und fliegen
an den Salomon-Inseln vorbei. - Jawohl, dort links sehe ich Land, das muß die große Insel
Neuguinea sein, hinter der Australien im Dunst nicht zu erkennen ist. Vor uns sind jetzt die
Philippinen. Hier ist die tiefste Stelle des Weltmeeres, der Philippinengraben, in den der
»Mars« kürzlich in zehn Kilometer Tiefe versenkt war. Wenn wir unsere Richtung
beibehalten, kommen wir nach meiner Schätzung auf dem geradesten Wege nach Haus.«
»Die Philippinen scheinen recht große Inseln zu sein, namentlich die eine, die dort
links im Hintergrund liegt.«
»Das wird Borneo sein. Diese Insel gehört schon nicht mehr zu den Philippinen,
sondern zum Malaiischen Archipel.«
»Und vor uns kommt ein ganz breiter Landstrich in Sicht.«
»Das ist sicher Indochina.«
»Oh, ist das ein Gewirr von Gebirgen und Wäldern! Und die Berge werden immer
höher, in derFerne sind sie mit Schnee bedeckt.«
»Das muß der Himalaja sein, das höchste Gebirge der Welt mit Gipfeln bis zu fast
9000 Metern. Wir kommen, wie es scheint, dicht daran vorbei; das Gebirge bleibt rechts
neben uns. Eine Landung dort wäre höchst gefährlich.«
»Jetzt liegt ein herrliches Tal unter uns, mit vielen breiten Strömen.«
»Das sind die Mündungsarme des Ganges und des Brahmaputra. Beide kommen vom
Himalaja und bewässern die fruchtbarste und am dichtesten bevölkerte Ebene Indiens. Aber was ist das? Unser Düsenmotor stottert, unser Kurs wird unregelmäßig. Und das
gerade in dem Augenblick, wo wir auf das zerklüftete Gebirgsland Afghanistan zufliegen.«
»Können wir nicht gleich hier landen? Das Gangestal ist doch dicht bewohnt, hier
finden wir überall Hilfe.«
»Zu spät! Wir sind ja schon fast darüber hinweg. Du siehst, hier beginnen schon die
Berge. - Da, der Motor streikt!«
Habermann betätigte die Zündung, und tatsächlich sprang der Motor noch einmal an.
Der Gelehrte atmete auf:
»Wenn wir nur noch über das Gebirge hinwegkommen!«
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Ein Weilchen lief der Motor noch, aber kaum war der Hilmend, der einzige größere
Fluß Afghanistans, überschritten, da setzte er wieder aus und ließ sich nicht mehr in Gang
bringen. Schon entfalteten sich die Bremsklappen. Rasch kam der Boden näher. Er schien
ziemlich eben zu sein, bot aber einen trostlosen Anblick; keine Spur von grünen Pflanzen
oder bestellten Feldern, nur rotbraune Wüste bis zum Horizont, wo eine große Wasserfläche
leuchtete.
»Setze dich fest hin! Wir werden eine harte Landung haben.«
41
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
DESCHT-I-KUWIR
Die Mahnung des Vaters kam gerade noch zur rechten Zeit. Heinz klammerte sich an
den Armlehnen des Sessels fest. Da gab es auch bereits einen unerhört harten Stoß, den er
durch das ganze Rückgrat bis ins Gehirn spürte. Die Federn des Sitzes bohrten sich in sein
Hinterteil. Aber es war ihm nichts Ernsthaftes geschehen. Er rappelte sich hoch und
erschrak, als er den Vater leblos in seinem Sessel hängen sah. Er rüttelte ihn:
»Vater, komm doch zu dir! Was ist dir?«
Ratlos blickte sich der Junge um. Die Flasche, dachte er. Mit fliegenden Händen holte
er den Tee hervor und hielt dem Vater die entkorkte Flasche an die Lippen. Er zwängte sie
zwischen die Zähne des Mannes und kippte etwas von ihrem Inhalt in seinen Mund. Das
meiste lief allerdings daneben und über das Kinn. Aber einige Tropfen hatten doch wohl ihr
Ziel erreicht. Der Gelehrte öffnete die Augen, hustete, wischte sich den Mund und blickte
erstaunt um sich.
»Ich war wohl bewußtlos?« fragte er.
Heinz nickte nur.
Der Vater erholte sich rasch. »Wir müssen uns irgendwo im nördlichen Persien
befinden«, überlegte er. »Ich glaube, ich habe das Kaspische Meer schon in der Ferne
gesehen. An einen Weiterflug ist nicht zu denken. Unser Vorrat an Alkohol und
Wasserstoffsuperoxyd scheint völlig erschöpft zu sein. Wir müssen aussteigen!«
Er blickte durch die Seitenfenster.
»Eine traurige Gegend! Steine, Sand und Dorngestrüpp. Nun ja: Descht-i-Kuwir, die
unfruchtbare Salzsteppe. Aber ganz unbewohnt wird diese Wüste wohl nicht sein.«
Er zog den Safeschlüssel hervor und öffnete einen der seitlichen Einstiege. Mit
lautem Gepolter sprangen die Sperrriegel zurück. Die schwere Klappe ließ sich leicht nach
außen aufstoßen. Mit der frischen Luft strömte der würzige Duft der Steppe in den engen
Raum, in dem die beiden Menschen acht lange Stunden eingeschlossen gewesen waren.
Heinz kletterte als erster hinaus. Es freute sich der lang entbehrten körperlichen
Bewegung.
»Sieh, Vater, was ist das da?«
»Schwarze Zelte.«
»Warum laufen denn die Menschen so eilig herum?«
Habermann holte das Fernrohr aus der »Luna« und erklärte nach einem kurzen Blick
durch das Instrument:
»Sie treiben ihr Vieh zusammen. Es sind wohl Nomaden, die ihre Zelte abbrechen
und an einen anderen Ort wandern wollen. Wir müssen uns beeilen, damit sie uns nicht
davonlaufen.«
Stöhnend und stolpernd setzte sich Habermann in Bewegung; der Aufenthalt in dem
engen Raumschiff hatte seine Beine steif werden lassen. Allmählich kam er jedoch in Trab,
er schrie und winkte mit den Händen. Sein flinker Sohn konnte kaum mit ihm Schritt halten.
42
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Vater, sie schießen!« rief Heinz atemlos.
Der Professor blieb stehen und ließ erstaunt die Arme sinken. Aus dem Gewimmel
von Menschen und Tieren bei den Zelten hatten sich drei Hirten auf struppigen Pferden
gelöst. Sie waren den beiden Weltreisenden entgegengesprengt und hielten etwa fünfzig
Meter vor den Zelten. Sie waren mit langen Stangen oder Speeren bewaffnet, einer von
ihnen aber hatte ein Gewehr auf die Habermanns in Anschlag gebracht, obwohl sie noch ein
paar hundert Meter entfernt waren. Der Professor hob die Arme, um zu zeigen, daß er als
Freund kam und unbewaffnet war. Seine Rufe wurden von den Reitern offenbar nicht
verstanden, aber der Mann in der Mitte ließ wenigstens das Gewehr sinken und legte es vor
sich quer über den Sattel.
Zögernd und mit erhobenen Armen kamen die Habermanns näher. Die Perser trugen
hohe schwarze Mützen aus Fell in Kegelform mit eingedrückter Spitze. Buntgestreifte
Gewänder umflatterten sie. Ihre Gesichter waren von schwarzen Bärten umrahmt. Der Mann
in der Mitte schien der älteste zu sein; jetzt in der Nähe sah man, daß sein Haar schon
ergraut war. Als die Schiffbrüchigen etwa auf zehn Schritte heran waren, hob der Alte
wieder drohend seinen Schießprügel und zwang dadurch die Habermanns, stehenzubleiben.
»Wir kommen als Freunde«, rief der Professor. »Wir konnten nicht mehr
weiterfliegen und mußten hier landen...« Er wies mit der Hand hinter sich auf die Luna, das
silberglänzende Bällchen in der Ferne.
Die drei Männer blickten unentschlossen einander an, zuckten die Achseln und
schüttelten die Köpfe. Der Alte sagte etwas in einer unverständlichen Sprache.
»Do you speak english?« versuchte es Habermann auf gut Glück. Aber auch die
englische Sprache war den Nomaden ein unbekanntes Verständigungsmittel.
Wir müssen doch irgendwie Verbindung mit der zivilisierten Welt bekommen! dachte
der Gelehrte halb verzweifelt. »Telegraph«, rief er und tat so, als tippe er mit dem Finger
auf die Taste eines Telegraphenapparats: »Tick - ticktick - tickticktick - tick.«
»Oh, Telegraph!« wiederholte einer der jüngeren Männer mit eifrigem Kopfnicken.
»Wo?« fragte Habermann, »dort?« Er zeigte nach Norden.
»Oder dort Telegraph?« Er wies nach Süden.
Der Mann schüttelte den Kopf und streckte den Speer nach Nordwesten aus. Dabei
sagte er wieder etwas von »Telegraph«. Dem Gelehrten fiel ein Stein vom Herzen: Der erste
Schritt zur Verständigung war getan.
»Wie weit?« fragte er, indem er langsam in die angedeutete Richtung marschierte
und mit Betonung die Schritte zählte: »Eins, zwei, drei...«
Aber die drei Männer lachten. Sie wurden jetzt lebhaft und redeten alle zugleich,
ohne daß sie dadurch verständlicher wurden. Die Frauen und Kinder hatten sich bei den
Zelten zusammengedrängt und beobachteten neugierig die Verhandlungen. Die kleinen
Kinder schrien und klammerten sich an die faltigen Röcke der Frauen, von wo sie ängstlich
auf die Fremden hervorlugten.
Einer der jüngeren Hirten spornte sein Pferd in die Richtung, die er mit dem Speer
gewiesen hatte. Aber er galoppierte nur ein paar Schritte bis neben Habermann.
»Wie lange reiten?« fragte der noch einmal, indem er mit dem Finger zunächst auf
43
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
das Pferd, dann nach Nordwesten zeigte. »Wie lange reiten zum Telegraph?«
Der junge Mann lächelte verlegen, als habe er nicht verstanden, und schaute den
Alten mit dem Gewehr an.
Da machte der Professor einen neuen Versuch. Er tippte dem Pferd auf den Hals,
winkte nach Nordwesten, sagte »Telegraph« und zeigte dann auf den Punkt, wo die Sonne
aufgegangen sein mußte. Die Männer drehten sich interessiert nach Osten um. Langsam
hob Habermann die Hand, bis sie auf den strahlenden Sonnenball wies. Dort verweilte er
kurz und verfolgte dann langsam weiter den Bogen, den die Sonne im Laufe des Tages am
Himmel beschreiben mußte. Dann zeigte er auf seine Armbanduhr.
Da hatte der Alte begriffen. Er begann zu reden, zeigte auf seinen Gaul, dann in die
Richtung, in der wahrscheinlich die Stadt mit der Telegraphenanstalt lag, und beschrieb den
Sonnenbogen bis etwa zur Mittagshöhe.
Habermann nickte und bat:
»Gib mir ein Pferd!«
Dabei deutete er auf seine eigene Brust und dann auf das Roß des Alten.
Der schien verstanden zu haben. Er tuschelte eine Weile mit den beiden anderen und
wandte sich dann wieder an Habermann. Was er sagte, war nicht zu verstehen, aber seine
Handbewegungen waren unverkennbar, sie bedeuteten: bezahlen! Die Gebärdensprache ist
international.
Habermann nickte und zog zaghaft die Börse. Der Alte schaute neugierig auf die
bunten Scheine, die ihm der Professorreichte. Aber er kannte sie nicht als Geld und
schüttelte daher den Kopf.
»Was kann ich ihnen nur Wertvolles bieten?« seufzte Habermann verzweifelt.
Heinz hatte oft genug gekaupelt. Dieses Geschäft verstand er besser als sein Vater!
Er trat auf den Alten zu und holte das geliebte Messer aus der Hosentasche. Es hatte eine
Perlmutterschale und war Heinzens Stolz; er trennte sich ungern davon, aber vielleicht
kaufte ihm der Vater in Berlin ein neues.
Lockend ließ er die blitzenden Klingen und den Korkenzieher auf- und zuklappen. Die
Augen des Alten leuchteten begehrlich auf. Er griff nach dem Messer und prüfte seine
Schärfe an dem harten Holz seines Gewehrkolbens. Dann wechselte er ein paar Worte mit
seinen Begleitern, überlegte noch einmal und gab Heinz das Messer mit einem Kopfschütteln
zurück.
Inzwischen hatte sich Habermann selbst besonnen. Er deutete auf seine
Armbanduhr. Die konnte er entbehren, denn in der Luna befanden sich noch die
Präzisionsuhren. Der Alte fragte etwas. Der Professor nahm das für eine Aufforderung zur
näheren Prüfung, schnallte die Uhr vom Handgelenk und reichte sie dem Manne hinauf.
Der Reiter hielt die Uhr ans Ohr und nickte. Dann beriet er lange mit seinen
Begleitern. Immer wieder besichtigten sie die Uhr, die von Hand zu Hand ging; sie drehten
sie hin und her. Endlich schienen sie befriedigt zu sein. Gewandt sprangen alle drei aus dem
Sattel. Sie legten die rechte Hand auf die linke Brustseite, wo das Herz sitzt, und verneigten
sich. Der Professor und sein Sohn folgten ihrem Beispiel. Aber persische Nomaden wissen,
was sich gehört. Nach dieser Begrüßung auf orientalische Weise reichten sie den beiden
Gastfreunden auf europäische Art die Hand.
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Der Alte begann zu sprechen. Er zeigte auf die Uhr und auf sich selbst. Dann tippte
er dem Professor auf die Brust und klatschte mit der anderen Hand lachend seinem Gaul auf
die Kruppe. Er deutete nach Nordwesten und sagte »Telegraph«. Habermann begnügte sich
mit einem Kopfnicken.
So war das Geschäft abgeschlossen, und es folgte die formelle Einladung. Mit
verbindlichen Handbewegungen und Verbeugungen wurden die beiden Fremden
aufgefordert, zu den Zelten mitzukommen.
* * *
Der Alte hatte seine Gäste in sein eigenes, das größere der beiden Zelte geführt. Die
Frauen packten eilig den Hausrat wieder aus, den sie zusammengerafft hatten, um vor der
vom Himmel gefallenen Kugel zu fliehen. Viel war es nicht, was sie besaßen; diese
Wüstennomaden waren sehr arm, ihr ganzer Reichtum waren ihre Herden und - die vielen
Kinder! Sehr schön waren allerdings die Teppiche, der einzige Schmuck der Zelte; aber auch
diese Teppiche waren alt und verbraucht. An den Zeltwänden lagen Polster und dicke
Filzplatten, die als Sitze dienten. Aber das Sitzen mit untergeschlagenen Beinen war für die
Europäer eine Qual.
Man bot ihnen einen Willkommstrunk. Ein halbwüchsiges Mädel zog aus einer Ecke
einen dicken Sack hervor. Heinz war sehr erstaunt, als er erkannte, daß er aus einer
Ziegenhaut zusammengenäht war. Dieser »Schlauch« war mit einer Flüssigkeit prall gefüllt.
Das Mädchen band eine der Fußöffnungen des Balges auf und ließ daraus etwas Weißes in
eine Schale rinnen.
Sie brachte das Gefäß dem Alten, der nur daran nippte und es dann dem Professor
reichte. Ablehnen durfte man einen solchen Begrüßungstrunk natürlich nicht. Aber
Wüstenwind und Sonnenbrand hatten die beiden Weltreisenden auch durstig gemacht.
Wenn nur das Mädel nicht so schmuddlig gewesen wäre! Ihr schwarzes Haar stand wild
zersaust um ihren Kopf. Bekleidet war sie nur mit einem grau und unansehnlich gewordenen
europäischen Kunstseidenhemd, dessen einer Träger abgerissen baumelte, und mit einem
zerschlissenen Rock, der bis auf die nackten Füße reichte. - Außer den drei Männern gingen
alle barfuß.
Habermann gab die Schale wieder an den Alten zurück. Der nahm sie in Empfang
und reichte sie Heinz. Durstig setzte der Junge zum Trinken an; aber da schlug ihm ein
säuerlicher Geruch entgegen, so widerlich, daß er entsetzt innehielt.
»Trink!« hörte er die mahnende Stimme des Vaters. »Sei nicht unhöflich!«
Er bezwang seinen Widerwillen und nippte an der Schale; sie enthielt saure
Schafsmilch, das landesübliche Getränk.
Der Hausherr und der jüngste der Männer, der mit ins Zelt gekommen war und
offenbar zur Familie gehörte, hatten von der kleinen Szene nichts bemerkt. Das Mädchen
aber, das im Hintergrund bei dem Ziegenschlauch hockte, starrte Heinz unverwandt aus
großen schwarzen Augen an, und der Junge konnte deutlich erkennen, daß sie sich der
geringen und verschmähten Gabe schämte. Da lächelte er ihr beruhigend zu. Jetzt hüpfte
sie flink herbei, füllte die Schale neu und zog sich dann hinter die beiden Schwarzbärtigen
zurück. Aus dem sicheren Hinterhalt winkte sie Heinz, er solle mitkommen. Sie huschte zum
Ausgang und wartete dort auf ihn.
Heinz, den die Schwüle im Zelt bedrückte und der nicht wußte, wie er auf seinem
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
niedrigen Kissen sitzen sollte, war froh, daß er sich erheben konnte, und folgte dem
Mädchen. Draußen ließ sie einen Schwall unverständlicher Worte über ihn erergehen. Ihre
Gesten sagten deutlich, was sie meinte:
»Armer Junge, du mochtest das Zeug nicht!«
Als er ihr aber lachend die Wange streichelte, ging ein Leuchten über ihr Gesicht.
Was hatte sie für schöne dunkelbraune Augen und was für zierliche weiße Zähne! Mit dem
Finger strich sie dem Jungen über die Lippen und klopfte ihm freundschaftlich auf den
Bauch. Dann ergriff sie ihn bei der Hand und rannte mit ihm hinter das Zelt.
Dort waren einige Ziegen angebunden, während Mutterschafe, von Lämmern
umhüpft, an einem Heubündel rupften.
Das Mädchen lief zu einer der Ziegen, legte sich unter sie und saugte an dem langen
prallen Euter. Heinz sah die Schluckbewegungen ihrer Kehle. Es war ihm, als könne er die
Milch auf dem Wege bis in ihren Bauch verfolgen; nur mit Mühe verbiß er das Lachen.
Die Kleine sprang auf und drängte ihn selbst zu der Ziege. Heinz hatte Durst. Obwohl
ihn der scharfe Geruch der Tiere störte, kroch er unter die Ziege. Aber die war unruhig,
meckerte und trat mit den zierlichen Hufen hin und her. Da redete ihr das Mädchen gut zu
und hielt sie fest. Der Junge sah die Zitzen vor seiner Nase baumeln. Beherzt griff er mit
den Lippen zu und begann zu saugen. Es ging besser, als er gedacht hatte, und die Milch
schmeckte köstlich. Wie einfach kann doch das Leben sein!
Die Sonne stand schon tief, und das Mädchen machte Heinz begreiflich, daß er nun
ins Zelt zurückkehren müsse. Der Junge schlenderte zum Eingang, blickte aber neugierig
dem flinken Kind nach, das auf der anderen Seite hinter dem Zelt verschwand. Er ging vorn
herum und lugte hinter die Wand. Dort prasselte auf einem aus Feldsteinen errichteten
Herde ein helles Feuer. Die Frauen gingen ab und zu, rührten in den Töpfen und drehten
einen Spieß, an dem ein ganzer Hammel briet. Es brutzelte und zischte, denn das Fett
tropfte ins Feuer. Die Frauen winkten ihm lachend, aber Heinz schüttelte den Kopf und ging
zu den Männern hinein.
Die saßen jetzt um eine Wasserpfeife versammelt. Auch der dritte Perser hatte sich
wieder eingefunden. Die Männer boten Heinz das Mundstück der Pfeife, aber diesmal
schüttelte sein Vater energisch das Haupt und machte den Persern begreiflich, daß sein
Sohn für solche Genüsse noch zu jung sei.
Neugierig betrachtete Heinz das Gerät und fragte:
»Ist das eine Wasserpfeife?«
»Ja, das ist eine Nargileh«, erwiderte Habermann.
Die anderen stimmten eifrig zu: »Nargileh, Nargileh!« Sie freuten sich, daß die
Fremden endlich ein Wort aus ihrer Sprache kannten.
»Unsere Pfeifen sind viel einfacher«, wunderte sich Heinz.
»Aber auch ungesünder«, entgeguete der Vater. »Hier wird der Rauch durch ein
großes Gefäß voller Wasser hindurchgefiltert. Er wird dadurch gesäubert und abgekühlt.
Wenn du eine Nargileh auskippst, dann siehst du, wieviel Teer das Wasser aufgefangen hat.
Die aromatischen Stoffe dagegen, auf die allein es dem Raucher ankommt, hält das Wasser
nicht zurück.«
46
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Habermann wollte nun zur Luna zurückkehren. Die Frauen hatten soeben zwei
Öllampen gebracht und an Ketten befestigt, die vom First des Zeltes herabhingen. Wortreich
und mit vielen Gebärden hielten die Männer den Professor zurück. Durch Bewegungen zum
Munde deuteten sie an, daß das Festmahl bald aufgetragen werde. Habermann lehnte die
Einladung nicht ab, denn außer Schokolade hatte er keine Lebensmittel auf die Reise
mitgenommen, die ja nur einen halben Tag hatte dauern sollen.
Da sah Heinz, wie das Mädel ihm wieder heimlich winkte. Er schlüpfte hinaus und ließ
sich hinter das Zelt führen, wo in der Abenddämmerung eine Frau um ein Mutterschaf
bemüht war. Die beiden Kinder kamen gerade zur rechten Zeit, um mitzuerleben, wie drei
Lämmchen, eines nach dem anderen, zur Welt kamen. Die Tierchen wankten sofort auf
steifen Beinchen herum und wurden von den Schafen, die sich herandrängten,
saubergeleckt. Es dauerte gar nicht lange, bis sie die Zitzen ihrer Mutter fanden und sich
satt tranken.
Heinz hatte anfangs geglaubt, das Leben der Nomaden sei ein fröhliches Nichtstun.
Allmählich erkannte er, wie schwer die Arbeit war, der sie ihr Dasein verdankten. Besondere
Hochachtung flößten ihm die Frauen ein, die trotz der schweren und schmutzigen Arbeit so
liebevoll mit den Tieren umgingen. Er begriff jetzt, daß sie nicht Zeit gehabt hatten, das
Achselband des Mädchens festzunähen. Gedankenlos griff er nach diesem Band. Da errötete
die Kleine und lief davon.
Die Frauen hatten das Essen fertiggestellt und trugen die Schüsseln ins Zelt. Auch
Heinz ging hinein. Es roch appetitlich nach frisch gebratenem Fleisch und nach unbekannten
Gewürzen. Die Männer hockten im Kreise unter der einen Lampe, die Frauen und Kinder
unter der anderen. In jedem Kreise stand eine Schüssel mit Fleisch und eine voller Reis,
daneben ein Topf, aus dem immer wieder zerlassene Butter über den Reis gegossen wurde.
Aber wo waren die Teller, die Messer, die Gabeln, die Löffel? Hilflos schauten sich die
Habermanns um. Die Perser luden mit lebhaften Gebärden zum Essen ein; die Frauen und
Kinder hatten damit schon begonnen. Wie machten die es? Sehr einfach: sie ergriffen ein
Stück Fleisch mit den Fingern und schoben es in den Mund! Und dann langten sie ebenso
mit den Fingern in den Reis, kneteten sich ein Kügelchen und schickten es hinterher.
Vater und Sohn sahen sich betreten an. Dann lachte der Professor: »Hier lebt man
noch so, wie es die Bibel aus der Zeit vor viertausend Jahren schildert.«
Die Männer freuten sich, als die beiden Gäste endlich zulangten, und stürzten sich
nun selber auf die Speisen. Die Fleischstücke waren reichlich groß und machten den
Fremden viel Mühe, während die Perser spielend mit ihnen fertig wurden. Im übrigen war
das Fleisch saftig und mürbe, es schmeckte vorzüglich, nur war es für Heinz' Zunge zu
scharf gewürzt.
Aber der Reis! Heinz brachte es nicht fertig, ihn zu greifen. Ratlos blickte er zu seiner
Freundin hinüber. Er zeigte ihr die hohle Hand so, daß sie einem Löffel ähnlich sah.
Die Kleine begriff sofort. Sie huschte hinaus, und kaum eine Minute später hielt
Heinz einen Holzlöffel in der Hand. Mit einem Lächeln dankte er ihr und benutzte das Gerät
abwechselnd mit dem Vater. Der Hausherr nickte heiter und verständnisvoll und rief dem
Mädel etwas zu, was wohl eine Anerkennung enthielt, denn sie senkte errötend den Kopf.
Obwohl die Perser kräftig zugelangt hatten, wurde die große Fleischschüssel doch bei
weitem nicht leer. Als sich der Professor erhob, standen auch die anderen Männer auf; sie
leckten sich die fettigen Finger ab und rülpsten so ungezwungen, daß Heinz entsetzt den
47
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Vater anstarrte. Der lächelte:
»Ich erinnere mich, gelesen zu haben, daß es im Orient Brauch ist, dem Gastgeber
auf diese Weise zu zeigen, daß man satt und dankbar ist.«
Nun ließ sich Habermann nicht mehr halten, er drängte zum Aufbruch. Der alte
Perser machte ihn auf die Gefahren der Steppe aufmerksam: Er brüllte wie ein Löwe, so daß
die Frauen entsetzt aufkreischten, und heulte wie ein Schakal. Dann wies er auf die Kissen
und Filzpolster hin, die in einer Ecke aufgestapelt lagen und jetzt im Zelt ausgebreitet
wurden. Aber Habermann schüttelte den Kopf.
»Bleib du hier!« redete er Heinz zu. »Du liegst hier bequemer. Ich möchte den
wertvollen Apparat die Nacht nicht ohne Aufsicht lassen.«
Heinz wäre zwar lieber beim Vater geblieben, aber eine Nacht auf dem Ledersessel
krumm zu sitzen, war auch keine angenehme Aussicht. Deshalb ergab er sich drein, zu
bleiben.
Es war jetzt Nacht. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber die Sterne waren so
klar, daß man ein paar Schritte weit sehen konnte. Die beiden jüngeren Männer hatten
Fackeln entzündet und begleiteten den Professor zur Luna. Bald hatte die große Stille der
Wüste das Geräusch ihrer Schritte verschluckt. Nur ab und zu hörte man eines der Schafe
blöken. Manchmal heulte in der Ferne ein Schakal, dann antwortete jedesmal ein Knurren
oder ein kurzes Blaffen der Hunde, die die Herde umkreisten, Heinz kehrte mit dem Alten
ins Zelt zurück. Ddrt waren zwei Decken ausgespannt worden, die den Raum dreifach,
unterteilten. In dem kleinsten Mittelraum war das Lager für die Männer aufgeschlagen; sie
bewachten den Eingang. Rechts hatten die Frauen einige Mutterschafe mit neugeborenen
Lämmern zusammengetrieben. Links war der Schlafraum der Frauen und Kinder. Im ganzen
Zelt herrschte ein fürchterlicher Gestank von den Tieren, von dem Essen und besonders von
den blakenden ölfunzeln. Heinz tat es nun doch leid, daß er nicht mit dem Vater gegangen
war.
Der Alte zeigte auf eine der Lagerstätten. Aber da steckte das Mädel den Kopf herein
und stritt eine Weile mit dem Hausherrn. Heinz merkte, daß es sich um ihn handelte. Der
Alte hob die Hand und zeigte: so groß! Das Mädel senkte ihre Hand fast bis zum Boden und
widersprach: so klein! Schließlich wandte sich der Mann an Heinz selber mit der Frage, ob er
sich zu den Männern rechne - dabei drückte er die Brust raus und schüttelte rollenden
Auges die Fäuste - oder ob er noch ein Kind sei, dabei kroch der Alte in sich zusammen und
machte: »Tütü!« Das war so komisch, daß Heinz hellauf lachte. Er hatte begriffen, und da er
sich ein wenig vor den Schwarzbärtigen fürchtete, zog er es vor, die Nacht bei den Kindern
zu verbringen. Die Kleine freute sich, ergriff ihn bei der Hand und zog ihn mit sich in das
Frauengemach.
Die erwachsenen Frauen waren noch bei der Herdstelle. Man hörte sie dort mit
Geschirr klappern. Die Kinder balgten sich nackend auf den Polstern und machten großen
Lärm. Das halbwüchsige Mädel fuhr wütend unter die wilde Schar. Mit ein paar Klapsen
brachte sie sie zur Ruhe. Alle krochen unter die Decken, und bald lag auch Heinz in tiefem
Schlaf.
* * *
Mitten in der Nacht erwachte Heinz. Nur mit Mühe konnte er sich erinnern, wie er in
dieses dumpfe Zelt gekommen war. Die Lampe brannte noch. Ringsum herrschte große
Aufregung, denn draußen tobte ein heftiges Gewitter. Die kleinen Kinder, die von den
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Frauen angezogen wurden, schrien ängstlich. Nebenan hörte Heinz die Männer
hinauspoltern; sie mußten zu der Herde, die mit wildem Blöken das Gekläff der Hunde
übertönte. Das Mädchen kniete vor Heinz und rüttelte ihn.
In ihren großen dunklen Augen standen Tränen.
Der Junge begriff: sie verlangte von ihm, er solle sich anziehen. Aber wozu? Daheim
hatte man sich um ein solches Wärmegewitter, das schnell vorüberzieht, niemals
gekümmert. Warum also die Aufregung? Er wußte nicht, daß gerade Schafherden oft vom
Blitz getroffen werden.
Er suchte das Mädchen zu beruhigen, und als sie trotzdem auf ihrem Willen bestand,
fuhr er sie heftig an. In diesem Augenblick fuhr wieder ein Blitz krachend nieder. Mit einem
Aufschrei brach die Kleine zitternd und weinend zusammen. Dumme Heulliese! dachte
Heinz, aber gleichzeitig meldete sich sein männliches Überlegenheitsgefühl und sagte ihm,
daß er den Schwächeren schützen müsse. Da zog er sie tröstend neben sich, und sie
beruhigte sich auch, zumal die Wut des Gewitters nach diesem letzten harten Schlag
gebrochen zu sein schien. Nur in der Ferne grummelte es noch ein paarmal. Leise
trommelte der Regen auf das Zeltdach. Sein eintöniges Lied wiegte die beiden Kinder, eng
aneinandergeschmiegt, wieder in Schlaf. Aber ungestört verlief für Heinz auch der zweite
Teil der Nacht nicht. Immer wieder wurde er von einem unerträglichen Jucken wach. Er
rückte von dem schlafenden Mädchen fort und kratzte sich bis aufs Blut.
Schon am frühen Morgen begann das Leben der Hirten. Die Tiere mußten versorgt
werden, und erst nachdem das geschehen war, bereiteten die Frauen das Frühstück für die
Menschen: einen Becher Tee und ein großes Stück flachen Brotes.
Auch der Vater kam zum Frühstück von der Luna zum Zelt. Er brachte den Frauen
und Kindern Schokolade mit und löste damit helle Freude aus. Nach dem Frühstück ging er
mit den Männern zu den Pferden. Die Sonne hatte sich gerade erst über das Gebirge
erhoben, da brach der Professor mit dem jüngeren Mann zu seinem großen Wüstenritt auf.
Heinz kam sich sehr einsam vor. Die kleinen Kinder liefen vor ihm davon, besonders
die Jungen waren sehr scheu. Seine Freundin aber, das älteste der Kinder, hatte keine Zeit.
Immer wieder wurde sie von den Frauen gerufen: »Fatima! Fatima!« Sie hatte also
denselben Namen wie die Lieblingstochter des Propheten. Im übrigen war ihr Achselband
wieder angenäht. Wann hatte sie dazu Zeit gehabt? Sie war doch ein ordentliches Mädchen!
Heinz mußte auf eigene Faust Entdeckungsreisen unternehmen. Die große
Schafherde war nicht weit von den Zelten. Sie machte sich durch die dicke Staubwolke, die
ihre Hufe aufwirbelten, schon von Ferne bemerkbar. Bei ihr fand Heinz den Alten, der ihn
freundlich begrüßte und ihm zu seinen Verrichtungen Erklärungen gab, die der Junge leider
nicht verstand.
Als Heinz zu den Zelten zurückbummelte, sah er Fatima mit dem Aufschirren eines
Esels beschäftigt. Da er sie fragend anblickte, zeigte sie auf die leeren Ziegenschläuche, die
zu beiden Seiten des Esels hingen, und machte die Geste des Trinkens. Dann gab sie dem
Tier einen Klaps mit der Gerte, und gehorsam setzte sich Meister Langohr in Marsch. Den
Weg kannte er offenbar, er trottete ziemlich rasch, so daß die beiden Kinder lustig hinter
ihm herspringen konnten. Faul und störrisch sind die orientalischen Esel keineswegs.
Die Ebene ging allmählich in sanftes Hügelland über, und als die kleine Karawane
über eine Bodenwelle kam, blieb Heinz erstaunt stehen. Vor ihm lag ein liebliches Tal mit
grünen Wiesen, bestellten Äckern und Fruchtbäumen, und am jenseitigen Hang kletterte ein
49
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Dörflein empor, das zwar aus ärmlichen Hütten bestand, aus dem aber lustiges Hundegebell
und das Blöken von Rindern herübertönte. Eine Oase!
Der Esel nahm seinen Weg nicht dorthin, er trottete am diesseitigen Hang weiter auf
ein Wäldchen am oberen Ende des Tales zu. Der Grünstreifen wurde schmaler, er säumte
ein Bächlein, dem man jetzt immer näher kam. Schließlich blieb der Esel kurz vor dem
Wäldchen an der Quelle stehen.
Das Wasser sprudelte aus einer Röhre in der Felswand in einen großen Steinkasten
und floß auf einer Seite über dessen Rand ab. Außen war dieses Wasserbecken mit Reliefs in
zierlicher Bildhauerarbeit geschmückt. Unter den Figuren fiel Heinz besonders eine auf: ein
geflügelter Knabe mit einer brennenden Fackel. Aber er hielt die Fackel gesenkt, stellte also
den antiken Todesengel dar. Das Brunnenbecken war einst der Sarkophag eines reichen
Mannes gewesen.
Das schreckte den Jungen jedoch nicht. Das Jucken, das schon in der Nacht
begonnen hatte, plagte ihn immer noch, besonders am Halse. Vielleicht würde ihm ein
kühles Bad Linderung verschaffen.
Rasch wollte er die Kleider abwerfen, aber das Mädchen machte ihm begreiflich, daß
man hier nicht baden dürfe. Verzweifelt zeigte er ihr seine zerkratzte Brust und den Hals.
Da lachte sie, krempelte die Säume seines Hemdes auseinander und holte daraus ein paar
winzige graue Tiere hervor, die sie zwischen ihren Fingernägeln zerknackte.
Ein Schauer des Ekels lief dem Jungen über den Leib. Er ahnte, daß es sich um Läuse
handelte.
Fatima machte ihm klar, daß es streng verboten sei, dasTrinkwasser zu
verunreinigen. Sie zeigte abwärts auf das Bächlein und gab Heinz einen Schubs in dieser
Richtung.
Während sie selbst die Schläuche mit Wasser füllte, sprang er über die Steine an
dem lustig plätschernden Rinnsal hinab. Wo sich das Tal ein wenig erweiterte, hatte sich ein
flaches Wasserbecken gebildet. Viele Spuren bewiesen, daß hier das Vieh getränkt wurde.
Der Junge entledigte sich der Kleider und wälzte sich in dem Wasser, das zwar flach, aber
kühl und klar war.
Bald kam auch Fatima mit ihrem Esel, dem die prall gefüllten und sicher sehr
schweren Wasserschläuche an die Flanken klopften. Auf einen Zuruf des Mädchens blieb das
Tier gehorsam stehen und weidete friedlich, während sich Fatima eifrig an die Säuberung
der Kleider des Jungen machte.
Heinz winkte ihr, sie solle auch ins Wasser kommen, aber sie schüttelte lachend den
Kopf, bis sie mit ihrer Arbeit fertig war. Dann streifte auch sie die Kleider ab und sprang ins
Wasser. Übermütig spritzten sich die Kinder gegenseitig; aber sie wurden es bald müde,
und außerdem machte sie das Grautier mit kläglichem »Hüchah!« darauf aufmerksam, daß
es mit seiner schweren Last wartete.
* * *
Gegen Mittag hatten die beiden Reiter das Städtchen Sebsewar erreicht. Der Perser
wollte bei einer Gastwirtschaft rasten, aber der Professor drängte zum »Telegraph«. Das
Postamt war - wie in den heißen Mittagsstunden üblich - geschlossen, und es bedurfte
langen Klopfens und Bittens, bis ein Beamter öffnete. Mißmutig holte der den Telegraphisten
herbei, einen jüngeren Mann, der wie alle seine Berufsgenossen in jedem Lande der Welt
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
wenigstens ein paar Brocken Englisch verstand. Ohne vorherige Bezahlung in
Landeswährung wollte er allerdings kein Telegramm annehmen, aber er machte den
Professor auf den deutschen Dr. Riedel aufmerksam, der um diese Zeit mit Freunden im
Kaffeehaus zu sitzen pflege.
Das Cafe war nicht weit entfernt. Dr. Riedel war tatsächlich dort und zeigte nicht
geringes Erstaunen, in diesem abgelegenen Winkel der Welt einen deutschen Landsmann zu
treffen. Er selbst war während des letzten Krieges in Afrika in Gefangenschaft geraten und
nach der Entlassung aus dem Lager im Orient geblieben,
Ohne lange zu überlegen, sagte er seine Hilfe zu. »Alkohol?« wiederholte er die
Frage des Gelehrten. »Ja, der läßt sich hier vielleicht beschaffen, aber Wasserstoffsuperoxyd
in der von Ihnen gewünschten Konzentration - ganz ausgeschlossen! Nicht einmal in der
Hauptstadt Teheran.«
»Und ein Kraftfahrzeug, das eine Last von acht Tonnen transportieren könnte?«
Dr. Riedel lachte belustigt: »Mit einem solchen Mammut in die Wüste? Unmöglich,
selbst wenn es so etwas in Persien gäbe! Aber wenn Ihnen nur der Treibstoff fehlt, dann
lassen Sie ihn sich doch aus Deutschland mit einem Flugzeug bringen! Flugzeuge können in
der Wüste ohne Gefahr landen.«
Der Hirte hatte mit den beiden Pferden geduldig vor dem Telegraphenamt gewartet.
Ihn befragte Dr. Riedel nach dem geographischen Punkt, an dem die Luna gelandet war.
»Sie werden englisch telegraphieren müssen«, wandte er sich dann wieder an
Habermann. »Das Telegramm wird über mehrere Zwischenstationen nach Berlin laufen. Die
meisten Telegraphisten können aber nicht Deutsch und würden ein deutsches Telegramm
wahrscheinlich böse verstümmeln.«
Zwei Telegramme in englischer Sprache mußte der Telegraphist von Sebsewar an
diesem Tage absenden. Sie besagten auf gut deutsch:
Sebsewar, 13. August 19..
An Atominstitut Berlin stop
Luna wegen Treibstoffmangels etwa sechzig Kilometer südöstlich Sebsewar
Provinz Chorassan notgelandet stop Erbitte Drahtüberweisung tausend Mark
persischer Währung an Doktor Riedel Sebsewar und Entsendung Flugzeuges mit
Nachschub Alkohol und Wasserstoff stop Habermann
51
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Sebsewar, 13. August 19..
An Reuter-Büro Teheran stop
Deutsches Weltraumschiff in Wüste bei Sebsewar notgelandet stop Deutscher
Professor und Apparat unversehrt stop Weitere Einzelheiten nach Erhalt größeren
Spesenvorschusses stop Doktor Riedel Sebsewar
Von dem zweiten Telegramm wußte Habermann natürlich nichts, denn Riedel hatte
mit dem Beamten in der Landessprache verhandelt. Er hatte früher schon gelegentlich von
Unglücksfällen und anderen Ereignissen, zu denen er als Arzt gerufen worden war, kurze
Pressemeldungen nach Teheran gegeben und dabei die Erfahrung gemacht, daß das
englische Nachrichtenbüro seine Korrespondenten am schnellsten und besten bezahlte. Es
kam Riedel gar nicht zum Bewußtsein, daß es im Falle der »Luna« höchst bedenklich war,
sich an dieses Spionageorgan der britischen Kolonialherren zu wenden. Er dachte zunächst
nur daran, daß die Sensationsnachricht von der Landung des Weltraumschiffes sicher gut
honoriert werden würde.
»Wann kann ich auf eine Antwort aus Berlin rechnen?« wollte der Gelehrte wissen.
»Frühestens in vierundzwanzig Stunden.«
»Dann reite ichjetzt zurück und komme morgen mittag wieder.«
»Wollen Sie denn die Pferde zuschanden reiten?« stellte ihm Dr. Riedel vor. »Sie
selbst können sich eine solche Strapaze auch nicht jeden Tag von neuem zumuten. Mein
Haus ist groß genug; Sie sind mein Gast, bis die Antwort eintrifft.«
»Vielen Dank«, erwiderte der Professor. »Aber ich möchte lieber zu meinem Apparat
zurück - und zu meinem Jungen. Vielleicht könnte mir ein Bote das Telegramm in die Wüste
bringen?«
Riedel überlegte einen Augenblick. Allzu gern hätte er das geheimnisvolle
Weltraumschiff mit eigenen Augen besichtigt. Darum sagte er:
»Wenn Sie die Nacht durchaus draußen zubringen wollen, dann mache ich Ihnen
einen anderen Vorschlag: Ich schicke meine Patienten nach Hause und bringe Sie heute
abend mit meinem Wagen an Ort und Stelle. Ich besitze ein Reisezelt; das nehmen wir mit
und schlagen es neben Ihrem Apparat auf. Ich stelle es Ihnen als Unterkunft für Sie und
Ihren Sohn zur Verfügung, bis der Apparat wieder starten kann. Morgen früh können wir
wieder nach Sebsewar fahren.«
Dieser Vorschlag war so vernünftig, daß Habermann ihn nicht ablehnen konnte. Er
entließ den jungen Hirten mit den Pferden und folgte selbst dem deutschen Landsmann in
das Kaffeehaus, um eine Stärkung zu sich zu nehmen.
In einer kleinen Stadt erregt ein Fremder stets Aufsehen, und Dr. Riedel merkte man
es an, welche Genugtuung es ihm bereitete, daß von dem Glanz dieser Sensation ein wenig
auch auf ihn fiel. Bereitwillig gab er seinen Bekannten Auskunft über den Ankömmling,
während diesem aufgetischt wurde, was der Gastwirt zu bieten hatte. Besonders
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
weltgewandt gebärdete sich ein persischer Kaufmann, der ein bißchen Englisch und
Französisch konnte und sich zu den beiden Deutschen gesellte, um Neuigkeiten zu erfahren.
Seine Höflichkeit kannte keine Grenzen, als er erfuhr, daß Habermann ein »Hakim«, ein
Mann mit akademischer Bildung, war.
Auch der Kelanter, der Polizeichef, von Sebsewar saß unter den Gästen und schlürfte
einen Scherbet, ein eisgekühltes Fruchtgetränk. Mit der beringten Hand kämmte er seinen
dichten schwarzen Vollbart und brachte dadurch zum Ausdruck, daß er von der allgemeinen
Neugier nicht berührt war. Als jedoch der Kaufmann im Auftrage Dr. Riedels zu ihm trat und
ihn an dessen Tisch einlud, um den Fremden kennenzulernen, erhob er sich gewichtig und
schritt mit würdevollem Lächeln auf unsere Freunde zu.
»Seien Sie nett zu dem Mann!« flüsterte Riedel dem Professor zu. »Mit der hohen
Obrigkeit muß mau sich gut stellen.«
»Haben wir den Untertanengeist in Deutschland abgeschafft, um ihn uns im Ausland
wieder anzugewöhnen?« murrte der Gelehrte. Aber er begrüßte den hohen Beamten
trotzdem höflich, wenn auch zurückhaltend.
Im Laufe der zumeist in persischer Sprache geführten Unterhaltung wurde Riedel
immer redseliger, so daß ihn Habermann warnte:
»Erzählen Sie nur nicht zuviel von mir!«
Doch der andere lachte: »Ich weiß ja selbst kaum etwas von Ihnen. Aber Sie und Ihr
Weltraumschiff sind doch nun einmal hier, und wir können Sie nicht verstecken. Heute
abend wird man im ganzen Sonnenlande von nichts anderem reden.«
Habermann wischte sich seufzend den Schweiß von der Stirn: »Ja, ein Sonnenland
ist dieses Persien.«
»Ich habe nicht einmal ganz Persien gemeint, sondern zunächst nur unsere Provinz.
Chorassan heißt nämlich auf deutsch: Sonnenland. Aber es ist durchaus möglich, daß man
morgen schon in ganz Persien von Ihnen spricht, und es wird sich vielleicht empfehlen, eine
Gendarmeriewache zu erbitten, um Ihren Apparat vor Neugierigen zu schützen.«
Diesem Argument konnte sich der Professor nicht verschließen. Er ermächtigte daher
den Arzt, mit dem Kelanter darüber zu reden, und der Beamte erklärte sich sofort bereit,
ein paar Gendarmen zum Landeplatz der Luna zu schicken.
Da die heißeste Tageszeit vorbei war, begaben sich die Gäste des Cafés wieder an
ihre verschiedenen Verrichtungen. Die beiden Deutschen gingen in den Basar, um
Schlafdecken und Lebensmittel einzukaufen. Als sie mit einem Lastträger, der die Einkäufe
trug, zu Riedels Haus kamen, hatte der Hausmeister inzwischen das Zelt und die Feldbetten
auf dem Verdeck des Kraftwagens festgeschnallt und den Benzintank gefüllt. Die zur
Sprechstunde erschienenen Patienten schickte der Arzt zu einem persischen Kollegen.
Die Sonne warf den Schatten des Wagens schon lang voraus, als die beiden Männer
auf der staubigen Landstraße zur Stadt hinausfuhren.
»Der Gewitterregen hat nicht viel genutzt«, meinte Riedel. »Die Hammahda wird
schon wieder sehr trocken sein.«
»Die Hammahda?«
»So nennt der Araber die Wüste. Das Wort bedeutet: die Durchglühte. Aber Sie
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
haben noch Glück gehabt mit Ihrer Landung. Sie sind am Rande der Hammahda
herabgekommen. Was würde aus Ihnen geworden sein, wenn Sie noch tiefer in den
Descht-i-Kuwir, in die Salzsteppe, hineingeraten oder weiter südlich in der Wüste Lut
gescheitert wären, wo Sie Hunderte von Kilometern weit keine menschliche Siedlung
gefunden hätten!«
»Oder wenn wir ins Kaspische Meer gefallen wären,« lachte Habermann. »Ich hatte
es in weiter Ferne schon aufleuchten sehen.«
»Wir wollen gar nicht daran denken!«
* * *
Der Vormittag hatte Heinz genug Abwechslung geboten. Bei der Hauptmahlzeit hatte
es wieder Pilaw gegeben, das heißt Reis mit Hammelfleisch, und unter Anleitung der Kinder
hatte er sogar gelernt, zwischen den Fingern Reiskügelchen zu formen und sich ohne Löffel
zu behelfen. Während der heißen Tagesstunden hatte der Junge aus Scheu vor dem
Ungeziefer das Zelt gemieden; er hatte ein paar Stunden im duftenden Heu hinter dem Zelt
auf der Schattenseite geschlafen. Aber der Nachmittag war ihm unendlich lang erschienen,
denn seine Freundin Fatima hatte mit den Frauen arbeiten müssen. Eine Weile hatte er
zugesehen, wie sie Raffan, das ist flüssige Schafbutter, in einem Lederschlauch bereitete.
Dann hatte er mit einem jungen Hunde gespielt; der hatte ihn auch zur Landestelle der
Luna begleitet. Hier saß nun Heinz traurig auf einem Stein, die Arme um die Knie
geschlungen, und starrte sehnsüchtig in die untergehende Sonne, während das Hündchen
seine trüben Gedanken mit einem Jaulen begleitete.
Da wallte vor dem rotglühenden Sonnenball ein Wölkchen auf, das schnell größer
wurde. Heinz sprang auf: Das war doch ein Auto! Der Hund stand mit gesträubtem Fell
neben ihm und bellte wütend dem ungewohnten Geräusch entgegen. Der Kraftwagen
verließ die von vielen Herden ausgetretene Drift und schaukelte über das holprige Gelände
auf die Luna zu. Der Junge stieß einen Freudenschrei aus: Er hatte hinter der
Windschutzscheibe des Vaters Gesicht erkannt.
Dr. Riedel mußte scharf bremsen, damit ihm das anstürmende Paar, Mensch und
Hund, nicht unter die Räder geriet.
Zum Erzählen war nicht viel Zeit, denn es galt, noch vor dem Dunkelwerden das Zelt
aufzuschlagen. Während die Männer die Pflöcke einrammten, schob Heinz die Stangen
ineinander. Gerade wollten sie mit vereinten Kräften das Zelt aufrichten, da vernahmen sie
einen melodischen Ruf, fast einen Jodler.
Mit wehendem Kittel kam raschen Schrittes der alte Perser durch die Wüste herbei.
Sein scharfes Auge hatte die Annäherung des Autos erkannt, und er hatte mit Recht
vermutet, daß es den fremden Reisenden zurückbrachte.
Jetzt erst erfuhren unsere Freunde, wer sie beherbergt hatte: Der Alte trug den
stolzen Namen Gholam Ali Khan und war ein Angehöriger des lekischen, altpersischen
Stammes der Kurden. Aber sein Adelsstolz hinderte ihn nicht, das Obergewand abzuwerfen
und kräftig mit anzupacken. Erst als die Arbeit getan war, wurde er wieder ganz Würde und
lud mit orientalischer Grandezza nicht nur die Habermanns, sondern auch den Hakim Riedel,
von dessen Anwesenheit in Sebsewar er bereits gehört hatte, zum Abendessen ein. Da bei
dem neuen Zelt noch keine Kochstelle errichtet war, wurde sein Angebot dankbar begrüßt.
»Heinz, warum kratzt du dich denn immerfort am Halse?« fragte der Vater. »Haben
54
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
dich Mücken gestochen?«
Der Junge wurde rot und stotterte: »Mücken nicht, aber...«
Er schämte sich, die Läuse zu erwähnen.
Auch Dr. Riedel war aufmerksam geworden: »Zeig mal, was hast du denn?« Der Arzt
lockerte dem Knaben den Hemdkragen und wunderte sich: »Du hast dich ja wund
gekratzt!«
Kleinlaut erwiderte Heinz: »Ich glaube, es sind... es sind - Läuse.«
Riedel seufzte: »Wahrscheinlich. Hast du schon welche gefunden?« Als der Junge
nickte, lächelte er beruhigend: »Die wirst du bald wieder los sein. Aber sieh dich vor, daß du
nicht wieder welche erwischst! Hier gibt es sehr viel Ungeziefer. In dem heißen Klima
gedeiht es besonders gut, und das kolonial ausgebeutete Volk kann sich seiner kaum
erwehren. Die alten Perser hatten für dieses ekelhafte Zeug sogar einen besonderen
Schutzheiligen, den Ahriman, den Gott alles Bösen und Widersacher des guten Gottes
Ormuzd. Aber ich bin lange genug im Lande, meine Taschenapotheke ist für solche Fälle
eingerichtet.«
Er zog unter dem Rücksitz seines Wagens einen Kasten hervor und entnahm ihm ein
Büchschen mit einem scharfriechenden Pulver. Nachdem er dem Jungen Hals und Brust
eingepudert hatte, tröstete er ihn:
»Sollten noch einige der Biester am Leben bleiben, so türmen sie jetzt bestimmt.
Und heute abend gibt es eine Generalreinigung mit Nachbehandlung. Zur Vorsicht werden
wir dich aber neu einkleiden müssen. Ich weiß nur nicht, ob wir in Sebsewar einen
europäischen Knabenanzug bekommen werden.«
»Dann kaufen Sie mir einen Rock, wie ihn Onkel Gholam trägt!« schlug Heinz vor.
»Der ist viel bequemer, und die anderen Jungen gehen auch so.«
Das Essen wurde, der Sitte entsprechend, schweigsam eingenommen. Nachher aber,
bei der Wasserpfeife, war viel zu besprechen. Dr. Riedel war nicht damit einverstanden, daß
der Professor dem Perser seine goldene Uhr gegeben hatte. Eine moderne deutsche
Qualitätsuhr für die Überlassung zweier Pferde auf einen Tag - das war viel zu teuer! Aber
Habermann bestand darauf, daß Gholam Khan die Uhr als Andenken behalten sollte, weil er
den Schiffbrüchigen als erster geholfen hatte.
Die Sorge für den neuen Zeltplatz wurde Fatima übertragen. Da war Feuerholz zu
beschaffen, Milch und Wasser zu holen, zu kochen und zu waschen. Das Mädchen war sehr
stolz auf seine neue Würde als selbständige Hausfrau. Dr. Riedel allerdings war ihr
gegenüber mißtrauisch. Daß Heinz in Gholams Zelt Ungeziefer aufgegriffen hatte, flößte
dem Arzt sanitäre Bedenken ein, und er nahm sich vor, das Mädchen einer gründlichen Kur
zu unterziehen, es neu einzukleiden und ihm strengste Sauberkeit einzuschärfen.
Heinz hatte nun schon ein paar Brocken der persischen Umgangssprache
aufgeschnappt, und all das Neue, das er gehört und gesehen hatte, beschäftigte ihn lebhaft.
Als sich die drei Deutschen im eigenen Zelt zur Ruhe begeben hatten, bedrückten ihn noch
viele Fragen, die er in die Dunkelheit hinein an die beiden Männer richtete.
»Fatima hat mir gesagt, sie sei die Dochter vom alten Gholam. Komisch, nicht
wahr? Zufällig das gleiche Wort für Tochter wie im Deutschen!«
»Das ist kein Zufall«, erwiderte Dr. Riedel. »Das Persische ist eine indoeuropäische
55
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Sprache wie das Deutsche. Im Laufe der Jahrhunderte hat es sich stark abgeschliffen und
Lehnwörter aus dem Griechischen, aus dem Arabischen und aus den Turksprachen
aufgenommen. Außer der Dochter gibt es viele andere persische Wörter, die noch heute
den entsprechenden deutschen Bezeichnungen verwandt klingen. Lib heißt zum Beispiel
Lippe, und mein Hausmeister führt bei seinen Freunden den Spitznamen Libberlib, das
bedeutet Lippe auf Lippe, weil ein Liebeslied, das mit diesen Worten beginnt, sein
Lieblingslied ist. Mein persischer Kollege Nasir Hakimboschi, der für heute nachmittag und
morgen früh meine Patienten übernehmen mußte, nennt seine Frau schäkernd
Tschekerlib, das heißt Zuckerlippe.«
»Wenn wir also zur Zeit des alten Perserkönigs Kambyses hierher verschlagen
worden wären, dann hätten wir uns vielleicht in deutscher Sprache mit den Persern
unterhalten können?« fragte Heinz.
Die Phantasie des Knaben stimmte die beiden Männer heiter, und der Vater suchte
ihr einen Dämpfer aufzusetzen, indem er den Sohn darauf aufmerksam machte, daß er
heute nicht einmal die Sprache der alten Germanen verstehen würde. Er fügte hinzu:
»Solche gedankliche Spielereien sind auch deshalb müßig, weil ja die Lebensumstände
damals ganz andere waren. Zur Zeit des Kambyses, also vor fast 2500 Jahren, gab es noch
kein Verkehrsmittel wie unser Weltraumschiff. Eine Reise aus Deutschland hierher dauerte
fast ein Menschenalter.«
»Aber vielleicht könnte man mit der Rakete, wenn sie schnell genug ist, auch in
andere Zeiten reisen? Warum nicht in die Zeit des ollen Kambyses?«
Jetzt bekam Dr. Riedel einen Lachkrampf, der ihn fast erstickte. Auch der Professor
mußte lächeln, aber er antwortete sachlich:
»Ich habe dir schon einmal gesagt, daß deine Phantasie da in die Irre geht. Die
theoretische Spielerei mit der Reise in vergangene Zeiten ist reine Mystik; sie hat mit echter
Wissenschaft nichts zu tun und kann diese nur auf Abwege verführen. Außerdem würdest du
dich schön wundern, wenn wir plötzlich dem alten Perserkönig gegenüberständen. Er würde
wahrscheinlich Bogen und Pfeil in der Hand tragen. Zu seiner Zeit wimmelte es hier nämlich
noch von Löwen...«
»Die gibt es heute noch«, warf Riedel ein.
»Aber doch wohl nur vereinzelt. Außerdem war das die Blütezeit der Sklaverei.«
Erneut protestierte der Arzt: »Hier ist die Sklaverei noch immer nicht abgeschafft.«
»Aber lieber Doktor, wollen Sie mir einreden, daß es hier offiziell noch Sklaven gibt?
Die Sklaverei ist doch längst aufgehoben !«
»Ich bin davon überzeugt, daß Gholam von morgen an seine Tochter als Ihre
Haussklavin betrachtet und daß er sich sehr wundern wird, wenn Sie sie ihm bei Ihrer
Abreise wieder zurückschicken. Natürlich ist die Sklaverei auch in Persien offiziell
abgeschafft, aber die sittlichen Anschauungen des Orients kann man nicht in einem oder in
wenigen Jahrhunderten ändern.«
»Die sozialistischen Sowjetrepubliken haben solche Reste der antiken Sklaverei in
allerkürzester Zeit beseitigt. Im halbkolonialen Persien gibt es sie vielleicht noch. Es haben
sich ja sogar in Europa trotz der Einführung des kapitalistischen Systems noch Reste der
mittelalterlichen Feudalherrschaft erhalten. Aber auf jeden Fall lebte Kambyses in der
Blütezeit der Sklaverei und würde wahrscheinlich ungebetene Fremde, die in seinem Lande
56
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
aufgegriffen wurden, zu Sklaven gemacht haben, uns selbst vielleicht zu seinen
Lieblingssklaven, weil wir gewisse Künste verstehen, die er noch nicht kannte, aber doch
eben zu Sklaven.«
»Das mag sein. Und Sie haben natürlich auch damit recht, daß es heute offiziell
keine Sklaverei mehr gibt. Aber wie groß ist denn der Unterschied zwischen der Ausbeutung
eines antiken Sklaven und der eines angeblich freien Arbeiters durch die modernen
Kapitalisten, namentlich in einem halbkolonialen Lande wie Persien? Gewiß, die Engländer
haben nach Ägypten und nach den Ländern des Vorderen Orients das gebracht, was sie
Kultur nennen, und sie lassen sogar die Oberschicht dieser Kolonialländer, die Khediven und
Schahs, die Paschas, Emire und Scheiche und die eingeborenen Händler, die sich stolz
Effendi anreden lassen, an gewissen Errungenschaften der europäischen Zivilisation
teilhaben, damit diese an ihrer Stelle die Sklavenpeitsche schwingen und aus der großen
Masse der Bevölkerung zugunsten der Herren Engländer noch mehr Arbeit herauspressen,
als sie es als selbständige Sklavenhalter früher auch getan hatten. Und die smarten
Amerikaner, die allmählich die Engländer verdrängen, treiben es fast noch schlimmer, um
das nicht mit ansehen zu müssen, bin ich von Ägypten immer weiter nach Osten gewandert,
bis ich hier sitzengeblieben bin. Chorassan - so glaubte ich - hatten die modernen
Sklavenhalter noch nicht entdeckt. Aber ich habe mich geirrt. Ganz Persien steht schon
unter ihrer Fuchtel, und das Volk verarmt immer mehr.«
Riedel tat es offenbar wohl, sich seine Wut einmal vom Herzen reden zu können.
Habermann tröstete ihn:
»Wenn Sie das so klar erkannt haben, dann wundert es mich, daß Sie nicht längst
nach Deutschland zurückgekehrt sind.«
»Ich wagte es nicht, weil ich Mitglied der NSDAP gewesen bin.«
»Wegen der früheren Parteimitgliedschaft allein wird Ihnen kein Haar gekrümmt
werden. Verbrechen gegen die Menschlichkeit aber haben Sie, wie Sie selbst sagen, nicht
begangen. Und so, wie ich Sie jetzt kennenlerne, ist auch Ihre ganze Einstellung nicht mehr
nazistisch. Gute Ärzte werden auch bei uns gebraucht.«
»Ich möchte schon...« Dr. Riedel seufzte; er schien noch Bedenken zy haben: »Aber
die Bolschewiken...«
»... sind doch keine Menschenfresser«, fiel der Professor ein. »Denken Sie daran, wie
viele Nazioffiziere in russischen Gefangenenlagern zu begeisterten Sowjetfreunden
geworden sind! Heute ist unser Staat souverän; nur Deutsche bestimmen dort über das
Geschick von Deutschen, und wir fragen nicht, was einer war, sondern nur ob er ehrlich
beim Aufbau helfen will. Und helfen können dabei gerade Sie als Arzt. - Aber noch ein Wort
zur Sklaverei: Die kolonialen und halbkolonialen Völker nehmen dieses Problem jetzt selbst
in die Hand, sie sind erwacht. China hat sich schon befreit, und ganz Asien befindet sich in
Gärung. Die kleine Fatima ist auf keinen Fall unsere Sklavin, und ich erwarte von dir, mein
lieber Heinz, daß du sie eher wie eine Schwester behandelst. - Nun wollen wir schlafen, gute
Nacht!«
57
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
IN DEN KLAUEN DES GEHEIMDIENSTES
Als Habermann und Riedel am nächsten Tage wieder in Sebsewar eintrafen, lag eine
Antwort aus Berlin noch nicht vor. Wohl aber überreichte Libberlib seinem Herrn ein
Telegramm aus Teheran:
Erbitten Kabel über jede Einzelheit deutschen Weltraumschiffes und über
deutschen Professor stop Zweihundert Rial angewiesen stop Reuter Teheran
»Knauserige Pfeffersäcke!« knurrte Riedel.
Er konnte nicht wissen, daß der Reuter-Korrespondent in Teheran aufseine Meldung
ursprünglich überhaupt nicht hatte eingehen wollen. Mr. Whitman hatte Riedels Telegramm
nur für den Versuch eines durch Geldmangel aufs Trockene geratenen Abenteurers
gehalten, sich wieder flüssige Mittel zu beschaffen. Weltraumschiff? Lächerlich! Noch dazu
ein deutsches...
Vorsichtshalber hatte er jedoch die britische Botschaft angerufen, und der
Legationssekretär der Informationsabteilung hatte die Sache für wichtig genug gehalten, um
sie Sir Arthur Clifford, dem Botschafter, zu unterbreiten. Darüber waren wertvolle Stunden
vergangen, erst am späten Abend konnte man den Botschafter befragen, als dieser müde
von einem anstrengenden Festessen aus dem Salon eines persischen Ministers heimkehrte.
Sir Arthur hatte eine Entscheidung getroffen, die eines Diplomaten würdig war: »Zwar
Meldung nicht veröffentlichen, aber an Londoner Geheimdienst weitergeben! Vielleicht ist
doch etwas daran; deshalb weitere Informationen einziehen, ohne allerdings große Summen
aufzuwenden!« Infolgedessen erfuhr die Weltöffentlichkeit an diesem Tage nichts mehr von
der Landung der Luna.
Auch Habermanns Telegramm war in Teheran hängengeblieben. Der Telegraphist,
der beide Meldungen aus Sebsewar aufgenommen hatte, war ein eifriger Beamter und ging
mit den Morsestreifen sofort zum Direktor des Haupttelegraphenamts. Dieser witterte eine
Gelegenheit zum illegalen Nebenerwerb. Ein Telegramm an Reuter zurückzuhalten war
allerdings ein zu großes Wagnis; wenn der britische Löwe auch altersschwach ist, muß man
sich doch immer noch vor seinen Pranken hüten. Aber wer stand schon hinter einem
deutschen Professor? Die reichen Yankees würden sicher gern viele Dollar springen lassen,
wenn man ihnen sein Telegramm in die Hände spielte; vor wenigen Tagen hatte Frank J.
McLean, der Leiter des USAGeheimdienstes in Teheran, dem Telegraphendirektor gegenüber
ein Wort fallen lassen, das ein anständiger Mensch natürlich überhörte. Aber wenn die
Gelegenheit günstig war... Jedenfalls landete Habermanns Hilferuf zugleich mit einer
Durchschrift der Riedelschen Meldung auf Herrn McLeans Schreibtisch.
Trotzdem wurde Berlin von der Notlandung der Luna unterrichtet, wenn auch erst am
nächsten Morgen. Dafür sorgte die Korruption, die überall da herrscht, wo der Kapitalismus
am Ruder ist. Im Aufnahmesaal des Haupttelegraphenamts zu Teheran war der Inhalt der
beiden Telegramme natürlich ausgiebig besprochen worden. Unter den zwölf Beamten war
einer mit M. Lebrun, dem Korrespondenten des französischen Nachrichtenbüros Agence
France Presse, befreundet. Die Zeit, da die Franzosen im Orient tonangebend waren, ist
längst vorbei, aber gerade darum sind sie dort beliebter als die großspurigen neuen Herren.
58
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Hussein, der Telegraphist, war zwar ein frommer Moslem, und der Koran verbot ihm den
Genuß geistiger Getränke, aber in der Bar, wo man Lebrun meist antraf und wo fast nur
Europäer verkehrten, brauchte er es mit diesem Gesetz nicht so genau zu nehmen. M.
Lebrun spendierte auch gern ein paar teure Drinks, als ihm Hussein die saftige Sensation
von der notgelandeten Luna auftischte, die offenbar nicht einmal erfunden war. Noch im
Laufe der Nacht war die Meldung in Paris, und am frühen Morgen funkte sie der
Hellschreiber, das modernste Gerät zur Übermittlung von Nachrichten, in alle Welt, also
auch nach Berlin:
AFP Teheran, 14. August. Das deutsche Weltraumschiff »Luna« ist gestern
in der persischen Provinz Chorassan notgelandet. Es hatte infolge
Treibstoffmangels seinen Ausgangspunkt Berlin nicht wieder erreichen können. An
Bord befanden sich die beiden deutschen Professoren Habermann und Dr. Riedel.
Die Landung des Apparates, der Alkohol und Wasserstoffgas als Treibstoff benutzt,
erfolgte glatt und ohne Schaden etwa 60 km südöstlich Sebsewar.
Lebrun hatte also die beiden Telegramme nicht ungeschickt miteinander kombiniert.
Auch Mr. McLean war nicht untätig gewesen. Er hatte mit seinem Botschafter
gesprochen, und beide waren sich darüber einig, daß man versuchen müsse, den
merkwürdigen deutschen Apparat in die Hände zu bekommen. Auf keinen Fall durfte dieser
Professor Habermann neuen Treibstoff bekommen. Um ihn an der Fortsetzung seiner Reise
zu hindern, war jedes Mittel recht. Die Finanzmagnaten von Wall Street würden das größte
Interesse daran haben, die technischen Einzelheiten der Luna kennenzulernen. Botschafter
John D. Snyders mußte das wissen, denn er war selber der Schwiegersohn eines der
Bankkönige von New York und hatte der persischen Regierung erst kürzlich eine größere
Dollaranleihe vermittelt.
Aber diese Weltraumschiffangelegenheit mußte vertraulich behandelt werden.
Deshalb bat Mr. Snyders den persischen Innenminister selbst dringend um seinen Besuch in
der Botschaft.
Der Minister, ein Mann von ältestem persischem Adel, wußte genau, daß diese Bitte
einen Befehl darstellte, aber er ließ sich nicht gern befehlen und erschien nicht persönlich,
sondern er schickte am nächsten Vormittag seinen Stellvertreter, den würdigen Muchber ed
Daule.
Höflich, wie es einem Orientalen geziemt, saß dieser im großen Salon des
amerikanischen Botschaftspalastes Herrn Snyders gegenüber; der hatte die Beine auf den
Tisch gelegt, kaute an einem Stück Gummi und spuckte von Zeit zu Zeit auf den Teppich.
Der vornehme Perser übersah die schmutzigen Kreppsohlen vor seiner Nase geflissentlich.
Er blinzelte verträumt in das bunte Gefunkel des Urusi, des Fensters aus farbigem Glase,
das auf den Hof hinausging.
»Und die Regierung Seiner Majestät des Schah in Schah, des Königs der Könige, hat
noch keine Nachricht von der Landung dieses deutschen Spions in Chorassan? Wozu haben
Sie denn dort Ihre Polizei? Das ist doch eine Schweinerei!« Snyders' Bulldoggengesicht war
vor Wut rot angelaufen.
»Gewiß, gewiß!« lispelte Muchber zustimmend. »Wir werden den schuldigen
59
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Beamten sofort durch einen anderen ersetzen.«
»Durch einen anderen ersetzen«, höhnte der Amerikaner, »durch einen anderen, der
genau so unfähig ist! Und inzwischen läuft der deutsche Spion frei im Lande umher und
schnüffelt auf den Flugplätzen herum, die wir mit unseren teuren Dollars für Sie gebaut
haben.«
Für uns? dachte der Perser, daß ich nicht lache! Laut aber beeilte er sich zu
versichern: »Gewiß, gewiß! Wir werden ihn sofort verhaften lassen.«
»Und was wird aus dem Apparat? Wollen Sie nicht wenigstens feststellen, welche
technischen Mittel ein solcher Spion anwendet, um ungehindert auf persischen Boden zu
gelangen?«
»Wir werden den Apparat beschlagnahmen. Nur... Ich weiß nicht, ob wir Fachleute
haben, die...«
Snyders wurde schleimig milde. Er nahm die Beine vom Tisch und neigte sich
vertraulich zu dem Besucher hinüber:
»Wir werden Ihnen amerikanische Fachleute zur Verfügung stellen.«
Sind wir endlich an dem Punkt, wo du hinwolltest, du Dschaur, du ungläubiger Hund?
knirschte Muchber. Natürlich: das Konstruktionsgeheimnis der Deutschen willst du an dich
bringen. - Vernehmlich aber war nur sein Dank:
»Das wäre sehr gütig von Eurer Exzellenz.«
So kam es, daß der Polizeichef von Sebsewar eine Stunde später telegraphische
Anweisung erhielt, den deutschen Professor Habermann wegen Spionageverdachts zu
verhaften und seinen Apparat zu beschlagnahmen.
»Ma scha Allah, wie Gott will!« seufzte der Kelanter, als er den telegraphischen
Befehl gelesen hatte. Dann begab er sich, da die Sonne schon hoch stand, ins Kaffeehaus.
Soviel Gemütsruhe brachten die Leute vom amerikanischen Geheimdienst nicht auf.
Unablässig gingen verzifferte Telegramme zwischen Teheran, Washington und New York hin
und her. Weltraumschiff? Atominstitut Berlin? Vermutlich eine bemannte Rakete. Professor
Habermann? Jawohl, der war als Atomforscher, bekannt. Also eine Rakete unter
Verwendung von Atomtreibstoff? Doch wohl nicht! Soweit konnten die Deutschen noch nicht
sein; das hatte man noch nicht einmal in Amerika. Habermann selber forderte auch nur
Alkohol und Wasserstoff an; gemeint war wohl Wasserstoffsuperoxyd, das schon seit
langem in Verbindung mit Alkohol als Raketentreibstoff verwendet wurde. Also
wahrscheinlich bemannte Rakete zur Höhenstrahlenforschung. Dann brauchte man keinen
Atomfachmann aus Amerika nach Sebsewar zu schicken, es genügte ein Raketenfachmann
wie Major Spiller; der war schon jenseits des großen Teiches, er saß als Militärattaché bei
der Gesandtschaft in Athen. Also Befehl an Major Spiller, Athen: Sofort mit Flugzeug nach
Teheran! und Befehl an McLean, Teheran: Flugzeug bereit halten für Major Spiller nach
Sebsewar!
In der Londoner Downing Street war man nicht ganz so geschäftig. Aber aufgestört
war man auch dort durch die sensationelle AFP-Meldung. Das Auswärtige Amt und sein
Geheimdienst vereinbarten mit Reuter eine Meldung, die die AFP-Nachricht im wesentlichen
bestätigte, aber ihre Irrtümer vermied. Clifford und Whitman bekamen Anweisung, alle
erreichbaren Informationen einzuziehen.
60
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»These bloody Germans«, schimpfte Sir Arthur, »diese verdammten Deutschen!«
Er ließ Mr. Whitman kommen und erteilte ihm Vollmacht, über größere Beträge zu
verfügen, um von Dr. Riedel soviel Einzelheiten wie möglich zu bekommen. Am besten wäre
es, wenn Whitman selber nach Sebsewar fliege; er könne das Flugzeug des britischen
Militärattachés mitbenutzen, der auch dorthin beordert sei.
Kaum eine Stunde später hielt Dr. Riedel ein dringendes Telegramm in Händen:
Teheran, 14. August 19..
An Doktor Riedel Sebsewar stop
Sehr betrübt über Ausbleiben zuverlässiger Einzelheiten Luna stop Geld spielt
keine Rolle stop Dreitausend Rial angewiesen stop Reuterkorrespondent nach
Sebsewar unterwegs stop Erbitten Quartierbeschaffung für ihn stop Reuter
Teheran
Der Arzt wunderte sich: Luna? Den Namen hatte er doch in seiner Meldung gar nicht
erwähnt. Woher kannte man in Teheran den Namen des Apparats? Aber einerlei: mit
dreitausend Rial konnte man wirtschaften, konnte man Professor Habermann wirksam
helfen, und es lohnte sich, für Reuter weiterzuarbeiten.
Kein Wunder, daß Dr. Riedel keine Zeit fand, ins Kaffeehaus zu gehen. So hatte der
Kelanter keine Gelegenheit, ihm einen Wink zu geben.
* * *
Im Atominstitut hatte man sich große Sorgen gemacht, als Habermann nicht
rechtzeitig von seinem Flug zum Saturn zurilckkehrte. Abends gab man ihn schon verloren.
Erst am Vormittag des 14. August, zu der Zeit, als Habermann und Riedel mit ihrem Auto in
Richtung Sebsewar durch die Wüste stuckerten, erhielten Professor Frenzen und seine
Mitarbeiter Gewißheit darüber, daß ihr. Kollege noch am Leben war. Auf Grund der
AFP-Meldung riefen nämlich die Redaktionen aller Berliner Abendblätter im Institut an, um
Genaueres zu erfahren.
Der Inhalt der Meldung erregte zwar bei den Männern vom Atominstitut
Kopfschütteln — wer war zum Beispiel dieser rätselhafte Dr. Riedel? -, aber die meisten
Angaben von AFP waren so präzis, daß mau an der Zuverlässigkeit der Nachricht nicht
zweifeln konnte.
Obwohl Frenzen es für richtig hielt, direkte Nachricht von Habermann abzuwarten,
ehe er etwas Entscheidendes unternahm, unterrichtete er doch sofort die interessierten
deutschen Behörden und wissenschaftlichen Institute. Inzwischen ließ er die Mitglieder der
Betriebsgewerkschaftsleitung und die Betriebsaktivisten des Atominstituts zusammenrufen.
In dieser Beratung, die noch während der Mittagspause stattfand, trat Dr. Heise für eine
sofortige Hilfsaktion ein, und da seine Forderung von den Arbeitern unterstützt wurde, so
beschloß die Direktion trotz der zögernden Haltung der Professoren, wenigstens sofort
Erkundigungen über die Möglichkeit einer Hilfsexpedition einzuziehen. Jeder der Aktivisten
61
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
übernahm einen Einzelauftrag, der bis 19 Uhr durchgeführt sein sollte, damit dann abends
die Entscheidung fallen könnte.
Den ersten praktischen Erfolg erzielte Professor Frenzen: Die Regierung stellte
ausreichende Geldmittel für eine Hilfsexpedition zur Verfügung.
Die Betriebgewerkschaftsleitung hatte sehr bald festgestellt, daß sich noch genug
Alkohol und Wasserstoffsuperoxyd im Lager des Instituts befand. Im freiwilligen
Arbeitseinsatz machte sich eine Kolonne sofort daran, den Treibstoff in handliche Kanister
abzufüllen.
Die schwierigste Aufgabe hatte trotz seiner Behinderung durch den gebrochenen Arm
der Assistent Dr. Heise übernommen. Er war nach Berlin zum Geographischen Seminar der
Universität gefahren. Dort hatte man alle Spezialwerke und wissenschaftlichen
Einzeldarstellungen über das mittlere Chorassan und seine Salzsteppe herausgesucht. Unter
Anleitung der Professoren und Assistenten fertigten Studenten Auszüge aus diesen Werken
und Kopien von Spezialkarten des Gebietes um Sebsewar an.
Währenddessen rief Dr. Heise im Atominstitut an und erfuhr von dem
Institutsfunker, der die Verbindung mit der Luftverkehrsgesellschaft aufgenommen hatte,
daß gerade ein neu überholtes Transportflugzeug bereitstehe, das für die Expedition
geeignet sei. Ein Pilot, der die Strecke nach dem Nahen Osten gut kenne und der gerade
heute einen Erholungsurlaub antreten sollte, sei begeistert für den Plan, und auch für die
übrige Besatzung hätten sich sofort Freiwillige gemeldet.
Aber der Pilot hatte auch auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht: Wenn eine
Zwischenlandung auf dem Gelände des Atominstituts notwendig sei, dann könne sie nur bei
Tageslicht erfolgen. Wenn dieses Gelände früher auch Flugplatz gewesen sei, so fehlten
doch heute die Signalanlagen. Das Flugzeug werde für einen solchen Langstreckenflug
schwer mit Treibstoff belastet sein, und er werde froh sein, wenn er es auf diesem Gelände
gut aufsetzen und nachher wieder ungefährdet beim neuen Start hochziehen könne. Auf
jeden Fall müsse für eine Rauchfahne gesorgt werden, die ihm die Windrichtung anzeige.
Der Flug müsse ferner schon in den allernächsten Tagen und in aller Frühe
angetreten werden. Er schlage den 16. August vor. Die Sonne geht an diesem Tage um 4
Uhr 42 auf. Er werde noch bei Dunkelheit vom Flugplatz starten, damit er bei Beginn der
Helligkeit auf dem Institutsgelände niedergehen könne. Bodenpersonal werde er am Tage
zuvor zum Institut schicken. Dort müsse dann alles bereitstellen, denn die Aufnahme des
Expeditionsgutes und der Expeditionsteilnehmer dürfe höchstens eine halbe Stunde in
Anspruch nehmen, so daß das Flugzeug spätestens um 5 Uhr 30 wieder in der Luft sei. Die
Sonne gehe am 16. August in Mitteldeutschland um 19 Uhr 25 unter. Aber beim Fluge nach
Osten eile man der Sonne entgegen, überhole also die Zeit, und am Ziel, ein paar hundert
Kilometer östlich des Kaspischen Meeres, sei man den Europäern schon um drei Stunden
voraus, dort gehe die Sonne unter Zugrundelegung der mitteleuropäischen Zeit bereits um
16 Uhr 25 unter. Spätestens um diese Zeit müsse man also am Ziel sein, wenn man es noch
vor Eintritt der Dunkelheit finden wolle. Die gesamte Flugstrecke betrage rund 4000
Kilonieter. Das schwerbeladene Flugzeug habe aber nur eine Höchstgeschwindigkeit von 400
Kilonietern in der Stunde, und man müsse mit mindestens zehn Stunden reiner Flugdauer
rechnen. Die Zeit sei äußerst knapp, und der Erfolg hänge an einem seidenen Faden. Stoße
man auf eine Schlechtwetterfront, so könne man Sebsewar nicht an einem Tage erreichen.
Dr. Heise hatte gehofft, schon am nächsten Tage seinem Lehrer zu Hilfe eilen zu
können, und war durch diese Auskunft sehr enttäuscht. Professor Frenzen dagegen war
62
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
froh, noch einen Tag gewonnen zu haben. »Läßt unser Kollege Habermann auch morgen
nichts von sich hören«, so erklärte Frenzen abends bei der erneuten Zusammenkunft der
Aktivisten, »dann bin ich allerdings auch dafür, sofort mit einem Flugzeug nach ihm zu
suchen. Wenn er heil und gesund ist, wie wir wohl hoffen können, dann wird er ja aus
eigener Kraft auf irgendeine Weise Gelegenheit finden, in die Heimat zurückzureisen. Aber
den wertvollen Apparat werden wir nur retten können, wenn wir Raketentreibstoff
hinschaffen. Ich habe mich erkundigt: Wasserstoffsuperoxyd von der Art, wie wir es
brauchen, gibt es nur in hochindustrialisierten Ländern, auf keinen Fall aber in Persien. Die
Leitung der Hilfsexpedition möchte ich gern selbst übernehmen.«
Die Tatsache, daß nunmehr Übereinstimmung der Meinungen erzielt war, wurde von
der Versammlung mit Begeisterung aufgenommen, und es wurde beschlossen, die
Expedition so, wie es der Pilot vorgeschlagen hatte, am 16. August zu unternehmen und
sofort alle Vorbereitungen zu treffen. Außer Professor Frenzen sollten Dr. Heise und der
Arbeiter Martin aus dem Megatron, der große Erfahrung im Umgang mit Atomstoffen hatte,
an dem Fluge teilnehmen.
Während in Deutschland die Hilfsexpedition vorbereitet wurde, hielt Dr. Riedel in
Sebsewar seine Nachmittagssprechstunde ab. Als letzter Patient trat ein junger persischer
Arbeiter in das Ordinationszimmer.
»Nun, wo fehlt's?« fragte der Arzt.
Der junge Mann schien ein wenig verlegen zu sein. »Ich bin nicht krank«, sagte er
leise, »ich möchte den sowjetischen Professor sprechen.«
»Welchen sowjetischen Professor? Ich kenne keinen.«
»Ich weiß, daß er heute wieder mit Ihnen nach Sebsewar zurückgekommen ist.«
»Sie meinen Professor Habermann? Der ist kein sowjetischer Gelehrter, er ist
Deutscher wie ich.«
Der Besucher lächelte ungläubig: »Er hat meinem Bruder russische Zigaretten
gegeben.«
»Ihrem Bruder? Wer sind Sie denn?«
»Ich bin Jussuf ben Gholam Ali Khan. Der Professor ist gestern mit meinem Bruder
Hassan zu Pferde hierhergekommen. Mein Bruder hat bei mir übernachtet und ist heute früh
zu unserem Vater zurückgeritten.«
»Sie sind ein Sohn von Gholam Ali Khan?«
Der junge Manne nickte.
»Wenn Sie dem Professor etwas zu bestellen haben, dann sagen Sie es mir! Ihm
selbst können Sie es nicht ausrichten, denn er versteht kein Wort Persisch.«
Wieder lächelte Jussuf: »Wir können ja russisch sprechen. Ich bin einige Zeit in der
Sowjetunion gewesen.«
Riedel wurde ungeduldig: »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Professor
Habermann ist kein Russe! Russische Zigaretten kann man auch in Berlin kaufen.«
Der junge Perser blieb gelassen: »Bitte, fragen Sie ihn! Es ist sehr wichtig und
dringend.«
63
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Gut, warten Sie einen Augenblick!« Der Arzt schüttelte ärgerlich den Kopf über den
hartnäckigen Burschen.
Habermann war gerade vom Postamt, wo er vergeblich nach einem Telegramm aus
Berlin gefragt hatte, in sein Zimmer zurückgekehrt.
»Ich kann allerdings ein paar Brocken Russisch«, bestätigte er. »Seit uns aufrichtige
Freundschaft mit der Sowjetunion verbindet, stehen wir in lebhaftem Erfahrungsaustausch
mit sowjetischen Gelehrten, und ich habe deshalb ihre Sprache gelernt. - Vielleicht hat mir
der junge Mann wirklich etwas Wichtiges mitzuteilen.«
Die Nachricht, die Jussuf brachte, war allerdings sehr wichtig: Der Polizeichefhabe
telegraphisch Anweisung aus Teheran bekommen, Professor Habermann als Spion zu
verhaften und die Luna zu beschlagnahmen. Der Gelehrte wollte zunächst nicht daran
glauben und fragte, woher die Nachricht stamme. Aber Jussuf wehrte ab:
»Als Bolschewik solltest du wissen, daß man in solchem Fall keinen Namen
preisgibt!«
»Ich bin kein Bolschewik«, erwiderte der Professor. »Aber Ihre Vorsicht ist wohl am
Platze. Sie selbst sind Kommunist?« fragte er weiter.
Jussuf zögerte mit der Antwort: »Ich... Es gibt keine Kommunisten in Persien.«
»Ich verstehe«, nickte Habermann, »die Kommunistische Partei ist hier verboten.
Aber wenn ich Ihnen vertrauen soll, müssen Sie auch offen zu mir sein: Auf welchem Wege
haben Sie von dem Telegramm Kenntnis erhalten?«
»Der Polizeischreiber ist mein... mein Freund. - Aber nun beeilen Siesich! Die Polizei
kann jeden Augenblick eintreffen.«
»Was soll ich denn tun?«
»Mitkommen.«
»Aber Dr. Riedel muß doch wissen, wo ich hingehe.«
»Wenn die Polizei nach Ihnen fragt, kann er sagen, daß Sie allein in die Wüste
zurückgeritten seien zu Ihrem Apparat.«
»Und was wird aus meinem Jungen?«
»Der mischt sich am besten in persischer Kleidung unter die Kinder im Zelt meines
Vaters.«
»Mir wäre es lieber, wenn er in der Nähe des Apparats bleiben könnte. Wir wohnen
jetzt dort in Dr. Riedels Zelt.«
Jussuf gab nur ungern seine Zustimmung: »Ich weiß nicht, ob der Junge vorsichtig
genug sein wird... Aber sagen Sie Dr. Riedel noch nichts von dem Haftbefehl gegen Sie! Es
ist besser, wenn er der Polizei gegenüber ein gutes Gewissen hat. Sagen Sie ihm nur, er
werde bald selber merken, warum Sie allein in die Wüste zurückgekehrt seien. Er solle sich
auch nicht wundern, wenn er Sie dort zufällig nicht antreffe. Inzwischen möchte er für Ihren
Sohn sorgen, ihn persisch einkleiden und ihn für seinen taubstummen Diener ausgeben. So
kann der Junge vielleicht im Zelt bei dem Apparat bleiben. - Es ist gut«, lachte der junge
Perser, »daß Sie sich ein paar Tage nicht haben rasieren können. Morgen wird Sie keiner
wiedererkennen, der Sie am ersten Tage hier gesehen hat.«
64
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Er öffnete den Packen, den er unter dem Arm trug, und reichte dem Professor einen
schäbigen Perserrock und eine der landesüblichen Filzmützen.
Während der deutsche Gelehrte mit fliegenden Worten den Arzt unterrichtete,
verwandelte ihn Jussuf in einen persischen Kleinbürger. Riedel machte zwar Einwände und
wollte den Professor noch an der Haustür zurückhalten. Aber in diesem Augenblick tauchten
am Ende der Gasse mehrere Gendarmen auf. Rasch verabschiedeten sich die beiden
»Perser« von dem Arzt. An der Hausmauer lehnte Jussufs Motorrad. Die beiden schwangen
sich auf und verschwanden soeben knatternd um die Ecke, als der Kelanter mit seinen
Leuten die Haustür erreichte.
Dr. Riedel ahnte die Zusammenhänge und begrüßte den Beamten harmlos:
»Gerade habe ich die letzten Patienten entlassen. Treten Sie bitte ein!«
* * *
An diesem Abend hatte Heinz den Vater vergeblich erwartet. Erst als es schon dunkel
war, traf Dr. Riedel mit seinem Wagen ein. Der Junge schluchzte fassungslos, als er erfuhr,
was sich in Sebsewar ereignet hatte.
»Hör auf zu weinen!« mahnte der Arzt. »Es hängt jetzt alles davon ab, daß du dich
als ein Mann erweist. Dein Vater ist ja der Polizei noch nicht in die Finger gefallen.«
Heinz trocknete seine Tränen und versuchte, sich in die Rolle eines Taubstummen
einzuleben. Nachdem er den Perserrock angelegt und die Mütze aufprobiert hatte, die Dr.
Riedel mitgebracht hatte, wollten beide zu Gholams Zelt fahren, um Fatima zu holen, die
dem Jungen Gesellschaft leisten sollte. Aber der Arzt schaltete den Scheinwerfer seines
Wagens sofort wieder aus, weil er in der Ferne Motorengeräusch hörte. Es war ein schweres
Motorrad, das von Sebsewar her durch die Wüste näher kam. Nicht weit von Gholams Zelt
erstarb das Geräusch, aber kaum eine Viertelstunde später hörte man es von neuem, und
jetzt kam es direkt auf die Luna zu.
»Seit wann haben wir in Sebsewar motorisierte Polizei?« fragte sich Dr. Riedel
verwundert. Aber er irrte sich: Es war Jussuf, begleitet von einem anderen Perser.
»Heinz«, rief der Fremde, als er vom Soziussitz kletterte, »kennst du deinen Vater
nicht mehr?«
Da war der Kummer vergessen. Aber Jussuf kürzte die Begrüßung ab:
»Wir haben nicht viel Zeit. Herr Doktor, haben Sie nicht weiße Tücher, die wir bei
dem Apparat auslegen können, damit ein Flugzeug ihn aus der Luft ansteuern kann?«
»Richtig! Wie soll das deutsche Flugzeug diese Stelle sonst finden? Ich habe ein
dickes Paket Verbandmull; vielleicht können wir das verwenden.«
»Der Stoff kann ganz dünn sein, wenn er nur weiß ist!«
In fieberhafter Eile legten die Männer die Mullbahnen mitten auf einer völlig ebenen
Stelle der Wüste, wenige hundert Meter von der Luna und vom Zelt entfernt, in Form eines
großen Kreuzes aus und beschwerten sie mit Steinen, damit sich der Wind nicht unter das
leichte Gewebe setze und es fortwehe.
Nach einem schweren Abschied zwischen Vater und Sohn brausten die beiden
»Perser« ohne Licht wieder in die Nacht davon. Selbst ihre unbeleuchtete Maschine machte
die Pferde der Gendarmen scheu, die ihnen halbwegs vor Sebsewar begegneten. Der Führer
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
der Patrouille suchte die wilden Fahrer anzuhalten; aber die kümmerten sich nicht um seine
Zurufe. Hinter ihnen herzugaloppieren wäre bei der Geschwindigkeit des Motorrades ein
aussichtsloses Unterfangen gewesen. So entging Habermann diesmal den Gendarmen, die
ausgeschickt worden waren, ihn zu fangen und seinen Apparat zu beschlagnahmen.
Eine Stunde später begegnete der Patrouille ein Auto, das beleuchtet fuhr und auch
sofort hielt, als sich die Reiter ihm in den Weg stellten. Am Steuer saß Dr. Riedel, der dem
Gendarmerieoffizier bereitwillig Auskunft gab: Jawohl, auch er hatte nach Professor
Habermann gesucht, ihn aber nicht gefunden. Gewiß, der Fremde sei Riedels Gast gewesen,
habe auch gestern in dessen Zelt übernachtet, aber seit dem Nachmittag sei er
verschwunden und habe sich auch nicht bei dem Apparat und bei dem Zelt blicken lassen.
Die Gendarmen würden im Zelt die Dienerin Fatima und den taubstummen Diener des
Arztes finden, die es ihnen bestätigen könnten.
Als die Gendarmen gegen Morgen bei der Luna eintrafen, spielten die beiden Kinder
trotz aller Angst, oder vielleicht gerade deswegen, ihre Rolle ausgezeichnet. Sie hatten
infolge der Sprachschwierigkeiten zwei Tage Zeit gehabt, sich in der Zeichensprache zu
üben. Heinz fiel es nur schwer, das dumme Gesicht zu machen und die rauhen Kehllaute
hervorzubringen, die Dr. Riedel ihm empfohlen hatte.
Weder die Intelligenz noch der Diensteifer des Patrouillenführers waren sehr groß.
Immerhin stellte er nach kurzer Besichtigung des »eroberten« Weltraumschiffes fest, daß
die Kugel rundherum fest verschlossen war und daß man diesen schweren Brocken
unmöglich aus der Wüste abtransportieren konnte. Da er sich auf eine längere Bewachung
gefaßt machen mußte, so schickte er einen seiner Leute mit einer Meldung nach Sebsewar
zurück und forderte Unterkunft und Verpflegung für sich und seine zehn Männer an.
Nach dem anstrengenden Nachtritt hatten es sich die Gendarmen bei dem Zelte Dr.
Riedels bequem gemacht, wo ihnen Fatima einen kühlen Trunk reichte. In seinem neuen
Kleide sah das Mädchen so schmuck aus, daß sich die Polizisten, die sich selbst für
verteufelte Kerle hielten, gegenseitig bei ihr auszustechen versuchten. Über den
»taubstummen« Heinz machten sie derbe Witze, und Fatima hatte alle Mühe, den Jungen
vor Grobheiten zu schützen.
Jetzt kam der Patrouillenführer zum Zelt. Auch er zwirbelte unternehmungslustig
seinen Schnurrbart, als er dem hübschen Mädchen gegenüberstand, und hoffte auf einen
kleinen Flirt während der langen Stunden oder gar Tage der Bewachung des
Weltraumschiffes. An die Ausstellung von Wachen dachte er nicht; wer sollte schon ein
solches Monstrum wie diese Stahlkugel zu stehlen versuchen! Darum duldete er es
stillschweigend, daß sich seine Leute einer nach dem anderen zu den beiden großen Zelten
begaben und ihm bei Fatima das Feld überließen.
Aber die Kleine war auf ihrer Hut und hielt ihn in gebührendem Abstand. Außerdem
knurrte der »Taubstumme« wie ein böser Hund aus seiner Ecke, sobald sich der junge
Offizier Fatima verliebt nähern wollte. Nicht einmal eine Einladung zum Essen konnte der
Offizier erlangen; das Mädchen erklärte ihm rundweg, auf so hungrigen Besuch sei sie nicht
vorbereitet, und verwies ihn an Gholam Ali Khan.
So blieb dem jungen Mann nichts anderes übrig, als gleichfalls zu den großen
schwarzen Zelten hinüberzureiten, wo bald ein festliches Hammelbraten anhob.
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
FLUGPLATZ »WÜSTE«
Die heißen Mittagsstunden gelten in der Hammahda für Mensch und Tier als
geheiligte Ruhezeiten. Aber an diesem 15. August wurden sie bei Sebsewar durch die
dröhnenden Motoren eines Flugzeuges gestört. Mit einem Freudenschrei stürzte Heinz aus
dem Zelt. Aber wie groß war seine Enttäuschung, als er die amerikanischen Abzeichen
erkannte! Das konnte nicht die erwartete Hilfe aus Deutschland sein.
Der silbern glänzende Vogel kreiste ein paarmal über dem großen weißen Kreuz, das
neben der Luna ausgelegt war, und nahm dann Kurs auf Sebsewar. Am Stadtrand, wo die
Gärten begannen, setzte er sich mitten in einen Acker.
Nicht weit von der Landestelle stand in einem verwilderten Baumgarten die Hütte, in
der Jussuf den deutschen Professor versteckt hatte. Auch Habermann hatte freudig erregt
die Annäherung des Flugzeuges beobachtet und war dann ebenso enttäuscht wie sein Sohn.
Wer wie er »illegal« lebte, durfte sich zwar möglichst wenig sehen lassen, aber der deutsche
Gelehrte setzte diesmal die Vorsicht hinter der Neugier zurück und stapfte zu dem Apparat
hinüber.
Dort hatte sich schon ein großer Teil der leichtfüßigen Jugend versammelt, um den
Boten der modernen Technik in Augenschein zu nehmen, und weitere Besucher strömten
noch immer aus der Stadt herbei. Die Besatzung des Flugzeugs schien nur aus zwei
Männern zu bestehen, einem Piloten und einem Monteur, die zunächst in der Kabine
hantierten, dann herauskletterten und vergeblich versuchten, die schwere Maschine aus der
weichen Ackerkrume auf festeren Boden zu schieben.
»Boys, packt mit an!« forderte der Monteur die Umstehenden auf. Aber die
verstanden kein Englisch. Der Pilot ließ die ganze Skala gotteslästerlicher Flüche von seinen
Lippen strömen, die einem Amerikaner in so reichem Maße zur Verfügung stehen. Aber auch
das half nichts. Offenbar konnten die beiden ebensowenig Persisch wie der deutsche
Professor.
Da wagte Habermann eine Annäherung: »Hallo!«, und als ihm mit einem
erleichterten »Hallo« geantwortet wurde, fügte er die Frage an:
»Forced landing?«
»No, no«, erwiderte der Pilot, »keine Notlandung. Aber sagen Sie doch den
Burschen, sie sollen uns aus dem Dreck heraushelfen!«
»Ich kenne hier einen Motorenschlosser. Der würde als persischer Vorarbeiter besser
geeignet sein als ich.«
»Um so besser.«
Habermann blickte zu seiner Hütte hinüber. »Da kommt er!« rief er aus.
Tatsächlich kam Jussuf quer übers Feld gestolpert. Auch er hatte das Flugzeug
gesehen und war in Sorge um seinen Schützling herbeigeeilt. Atemlos langte er bei der
Gruppe an, wo ihn Habermann in russischer Sprache über die Lage unterrichtete. Jussuf
nickte nur und wendete sich dann an die umstehenden Perser. Er ließ Bohlen
herbeischaffen, die unter die Räder geschoben wurden, und bald hatte man die Maschine
auf festeren Boden gerollt.
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Den Professor hatte Jussuf beiseite geschoben, als er mit anfassen wollte. »Horchen
Sie lieber auf das, was sich die beiden Amerikaner erzählen!« hatte er ihm zugeflüstert.
Aber die sprachen nicht viel, sondern wuchteten mit an dem Flugzeug: »Hau ruck!«
Nur einmal hatte sich der Pilot den Schweiß von der Stirn gewischt, zur Stadt
hinübergeblickt und seinen Kameraden gefragt:
»Ob McLean den Sheriff gefunden hat?«
Der andre hatte jedoch nur die Achseln gezuckt.
McLean? Jussuf dachte angestrengt nach, als ihm Habermann die kurze Bemerkung
des Amerikaners mitteilte. »Den Namen habe ich doch schon gehört! Aber was bedeutet
denn Sheriff?«
»Das heißt: Polizeichef.«
»Aha, jetzt weiß ich Bescheid. McLean ist der amerikanische Oberspion in Persien,
der Leiter des USA-Geheimdienstes. Wir sind von unseren Freunden in Teheran schon vor
ihm gewarnt worden. Also der ist mit dem Flugzeug gekommen und jetzt unterwegs zu
unserem Kelanter. Nun ist mir auch klar, von wem der Befehl zu Ihrer Verhaftung
ausgegangen ist.«
Der Pilot bedankte sich für die Hilfe und wollte Jussuf eine Banknote in die Hand
drücken. Aber der lehnte das Geld ab und bat nur, die Helfer mit Zigaretten zu entlohnen.
Dann zog er den Professor beiseite.
»Es ist besser, wenn wir nicht zu lange hierbleiben. Ich werde das Flugzeug
bewachen lassen.«
Er winkte einen Jungen herbei und sprach leise mit ihm. Der Knabe nickte und
mischte sich wieder unter die Menge.
»Das ist einer von unserer Jugendbewegung«, sagte Jussuf im Fortgehen. »Ich habe
die Jungen gebeten, mir alles zu melden, was hier geschieht. Kinder fallen am wenigsten
auf. Außerdem sind sie zuverlässig«, fügte er mit stolzem Lächeln hinzu, »fast so
zuverlässig wie sowjetische Pioniere.«
»Aber warum gehen wir zur Stadt?« fragte Habermann.
»Hier sind zuviel Neugierige. Es ist besser, wenn wir auf einem Umweg zu Ihrer
Hütte gehen. Außerdem erfahren wir unterwegs vielleicht etwas über den Spion McLean.«
Jussuf verhielt den Schritt, lauschte und fragte: »Was ist das für ein Geräusch?«
Die beiden Männer drehten sich um. Da stand friedlich die gelandete amerikanische
Maschine. Vom Westen her näherte sich jedoch schon wieder ein Flugzeug, es war nur
gegen die tiefstehende Sonne nicht zu erkennen. Eine Zeitlang erstarb das
Motorengeräusch, aber dann heulte es wieder stärker auf, und bald schwebte die Maschine
über dem Landeplatz der Amerikaner und über Sebsewar.
»Ein Engländer«, rief Habermann enttäuscht.
»Alles Ihretwegen!« lachte Jussuf. »Aber sehen Sie, jetzt wendet er in die Wüste
zurück, er will sich Ihre Luna noch einmal ansehen. - Nein, das Fahrgestell wird
niedergelassen, er setzt zur Landung an, wahrscheinlich bei den Zelten.«
* * *
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Auch Heinz hatte dem zweiten Flugzeug hoffnungsvoll entgegengestarrt und war in
Tränen ohnmächtiger Enttäuschung ausgebrochen, als er die britischen Abzeichen erkannte.
Wo blieb das Flugzeug aus Deutschland?
Der Engländer war im Gleitflug tief heruntergekommen, so daß man die Köpfe der
Männer in der Kabine erkennen konnte. Dann hatte der Pilot noch einmal Gas gegeben und
die Maschine bochgezogen. Aber sehr bald war er von Sebsewar her zurückgekehrt und
neben dem Kreuz aus weißen Tüchern glatt gelandet.
Natürlich hatten sich die Wüstenbewohner und die Gendarmen in dichtem Schwärm
um die Maschine versammelt. Aus ihr kletterten zwei Männer heraus, die recht gut persisch
sprachen. Nachdem sie sich als der britische Militärattaché und der Reuter-Korrespondent
aus Teheran ausgewiesen hatten, wurden sie von dem Gendarmerieoffizier sehr
zuvorkommend behandelt. Sie bedauerten es sehr, daß Dr. Riedel nicht anwesend war,
ließen sich zu dem Weltraumschiff führen und hatten durch geschickte Fragen bald alles
erfahren, was die Perser über den merkwürdigen Apparat und seinen verschwundenen
Besitzer wußten; nur von der Anwesenheit des jungen Habermann erfuhren sie nichts.
Whitman bat, Dr. Riedels Zelt benutzen zu dürfen, wozu der Polizeioffizier sofort
seine Zustimmung gab. Fatima erhob zunächst Einwände, sie fügte sich jedoch, nachdem
ihr Heinz einen leisen Wink gegeben hatte. Der englische Journalist bat ferner um einen
Gendarmen, der als reitender Bote einen Brief zu Dr. Riedel nach Sebsewar bringen sollte,
und setzte sich dann mit seiner Schreibmaschine auf den Knien im Zelt nieder.
Heinz schlich neugierig herbei. Aber Whitman merkte es und wendete sich lächelnd
um:
»Do you understand English?«
Beinahe hätte sich Heinz verschnappt. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, daß er
taubstumm war. Mit einem Krächzen zeigte er auf seinen Mund; da kam ihm auch schon
Fatima zu Hilfe und setzte dem Engländer in persischer Sprache auseinander, daß der arme
Junge weder hören noch sprechen könne. Whitman wiegte bedauernd den Kopf und machte
sich wieder an seine Arbeit, ohne weiter auf Heinz zu achten, der eifrig bemüht war,
auswendig zu lernen, was jener schrieb.
Ab und zu schaute der britische Offizier herein, um zu sehen, ob Whitman noch nicht
fertig sei. Der Gendarm, der nach Sebsewar reiten sollte, wartete schon seit einer halben
Stunde mit seinem gesattelten Pferd vor dem Zelt.
Endlich zog der Journalist mit einem Seufzer der Erleichterung den beschriebenen
Bogen aus der Maschine und reichte ihn dem Militärattache. Während sich Whitman eine
Pfeife stopfte und anzündete, prüfte der Offizier Satz für Satz den Bericht, wobei er
mehrmals zustimmend nickte. Dann faltete er den Bogen zusammen und steckte ihn in die
Tasche.
»All right, Mr. Whitman. Ich nehme Ihren Bericht und meine Photos mit nach
Teheran und sorge dafür, daß das Telegramm sofort an Reuter nach London gefunkt wird.
Übermorgen bin ich wieder hier und bringe Zelt, Motorrad und Verpflegung mit. Inzwischen
versuchen Sie bitte, so ausführlich wie möglich auf telegraphischem Wege zu berichten!
Good-bye!«
Er schüttelte Whitman die Hand und winkte der Flugzeugbesatzung zu. Die Männer
beim Apparat warfen den Propeller an, und wenige Minuten später rollte das Flugzeug
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
schaukelnd über den holprigen Wüstenboden. Es hob sich nach kurzem Anlauf in die Lüfte
und entführte den britischen Militärattache in den glutenden Sonnenuntergang hinein.
Da das allgemeine Interesse dem Flugzeug gegolten hatte, war die Annäherung eines
Kraftwagens von der anderen Seite, von Sebsewar her, unbemerkt geblieben. Nur das
Hündchen, das Heinz begleitete, kläffte dem Auto entgegen und machte die Menschen
aufmerksam. So viel motorisierten Verkehr hatte die Wüste noch nicht erlebt!
Der Wagen hielt bei Dr. Riedels Zelt. Der Kelanter von Sebsewar und ein
vierschrötiger Europäer kletterten heraus. Während der Polizeichef den Gendarmerieoffizier
heranwinkte, näherte sich Whitman dem anderen und begrüßte ihn auf gut Glück in
englischer Sprache. Er bekam auch die Antwort in seiner Muttersprache, aber anders als er
gedacht hatte:
»Wer sind Sie?« schnauzte der Dicke. »Haben Sie durch den Gendarm diesen Brief
an den deutschen Arzt zu schicken versucht?«
Er schwenkte den aufgerissenen Brief in der Hand.
»Wer sind Sie denn, und wie kommen Sie zu meinem Brief?«
Heinz konnte der Auseinandersetzung, die zum groben Gezänk ausartete, nur mit
Mühe folgen. Er bewunderte die Ruhe des Engländers, der in vornehmem Ton, aber sehr
bestimmt sein Recht vertrat, während der Dicke, offenbar ein Amerikaner, frech und
anmaßend polterte und häufig Ausdrücke verwendete, die man im englischen
Sprachunterricht nicht kennenlernt. Der Kelanter, der zunächst mit dem Patrouillenführer
gesprochen hatte, versuchte zwischen den beiden in persischer Sprache zu vermitteln; als
ihm das nicht gelang, gab er den Gendarmen Befehl, die umstehenden Perser fortzujagen.
Heinz bedauerte es lebhaft, daß er dem Streit nicht weiter beiwohnen konnte. Er hörte nur
noch, wie sich Whitman an den Kelanter wendete mit den Worten:
»Ich protestiere ganz entschieden dagegen, daß Sie Herrn Doktor Riedels
Bewegungsfreiheit beschneiden. Doktor Riedel ist Reuter-Korrespondent wie ich und steht
unter dem Schutz der diplomatischen Behörden des Vereinigten Königreichs.«
Flugzeuge waren für die Bewohner von Sebsewar nichts Neues. Ungeachtet der
Proteste der Sowjetregierung hatten amerikanische »Fachleute« die ganze Provinz
Chorassan aus der Luft vermessen, angeblich für die persische Regierung, in Wahrheit zur
Anfertigung von Generalstabskarten des Gebiets an der sowjetischen Grenze für die
US-Armee. Aber die amerikanischen Vermessungsflugzeuge waren niemals bei Sebsewar
gelandet, und an diesem denkwürdigen 15. August hatte die kleine Stadt gleich zwei
Luftbesuche zu verzeichnen!
Dr. Riedels Nachmittagssprechstunde wurde dadurch empfindlich gestört. Der Arzt
war allerdings froh, daß ihm die meisten Patienten einfach davonliefen, um nach den
Flugzeugen zu schauen; er schloß seinen Laden vorzeitig und trat auf die vereinsamte
Straße. Der erste, dem er begegnete, war Jussuf; wahrscheinlich hatte der junge Mann auf
ihn gewartet.
»Wissen Sie, wer mit dem Flugzeug hierhergekommen ist?« fragte Jussuf und fügte
fast ohne Pause hinzu: »McLean, der Leiter des amerikanischen Spionagedienstes in
Teheran! Und jetzt ist er mit dem Kelanter zusammen in die Wüste gefahren.«
»Kommen Sie, Jussuf, wir wollen gleich hinterher!«
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Ich würde lieber mit meinem Motorrad fahren als mit Ihrem Wagen. Aber...« Der
junge Mann schob die Mütze zur Seite und kratzte sich hinterm Ohr. »Ich habe kein Geld
mehr zum Tanken.«
»Mensch, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Sie haben doch ohnehin größere
Ausgaben, wenn Sie für den Professor sorgen wollen!«
Der Arzt zog seine Brieftasche und reichte Jussuf eine Banknote.
»Das ist zuviel«, murmelte der Perser. »Es würde auffallen, wenn ein Arbeiter einen
so großen Schein wechselte.«
Da suchte Dr. Riedel alles Kleingeld zusammen, das er bei sich hatte, und gab es
dem jungen Mann. Dann trennten sich beide, um die Verfolgung des amerikanischen Spions
aufzunehmen.
Jussuf fuhr vorsichtshalber im großen Bogen von Westen her zum Zelt seines Vaters,
wo er erst in der Dunkelheit eintraf. Dr. Riedel dagegen steuerte seinen Wagen auf dem
üblichen Wege und erreichte noch in der Dämmerung, etwa eine Stunde später als der
Kelanter, den Zeltplatz.
McLean hatte sich mit dem gesamten Polizeigefolge zur Luna begeben. Whitman
wußte, daß die Kugel hermetisch verschlossen war, und zeigte daher keine Neugier mehr:
Was konnte der Amerikaner jetzt, da es schon fast dunkel war, noch entdecken! Viel
wichtiger war es für ihn, mit Dr. Riedel Verbindung aufzunehmen. Er befragte Fatima; die
aber blickte verlegen auf Heinz.
Der Junge kam aus seiner Ecke hervor. Die Ungewißheit peinigte ihn derartig, daß er
es vorzog, etwas zu wagen, um sich Gewißheit darüber zu verschaffen, was hier vorging.
Viel Englisch hatte er auf der Schule noch nicht gelernt, und seine Aussprache war von dem
Lehrer stets bemängelt worden. Aber da er taubstumm war, konnte er es vielleicht
schriftlich versuchen.
Er zog unter Whitmans Schreibmaschine ein Blatt Papier hervor, bat den Engländer
durch einen Hinweis mit dem Finger um seinen Bleistift und schrieb einen Fragesatz auf,
den er in der Schule gelernt hatte, und von dem er wußte, daß er einwandfrei war:
»What do you want?«
Was wünschen Sie? - Whitman blickte überrascht auf und wollte etwas sagen. Er
besann sich aber und schrieb unter die Frage:
»Ich möchte einen Boten an Dr. Riedel senden.«
Heinz klopfte das Herz, aber als er diese Antwort sah, stellte er mit Freuden fest, daß
sie nicht ein einziges Wort enthielt, das ihm fremd gewesen wäre. Nur mußte er jetzt
vorsichtig sein. Lange überlegte der Junge, dann schrieb er eine neue Frage:
»Zu welchem Zweck? Wer sind Sie?«
Whitman lächelte, als er es las. Er zog seine Brieftasche und reichte diesem
merkwürdigen taubstummen Perserjungen, der fast einwandfrei englisch schreiben konnte,
seinen Paß und das Telegramm, das Dr. Riedel an das Reuterbüro nach Teheran geschickt
hatte.
Heinz prüfte beide Dokumente sorgsam und überlegte wieder.
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Er konnte es kaum glauben, daß Dr. Riedel im Auftrage seines Vaters - oder hatte
der Arzt eigenmächtig gehandelt? - an Reuter telegraphiert hatte. Aber das Telegramm war
offenbar echt, und schließlich war ihm dieser Engländer weit sympathischer als der freche
Amerikaner, der sicher in böser Absicht hierhergekommen war. Und da sich beide gezankt
hatten, konnte aus dem Engländer vielleicht ein Verbündeter werden. Auf keinen Fall aber
konnte es schaden, wenn Dr. Riedel benachrichtigt wurde. Er suchte nach den passenden
Worten und schrieb dann:
»Fatimas Bruder kann zu Dr. Riedel reiten. Sagen Sie das dem Mädchen!«
Erfreut wendete sich Whitman an Fatima:
»Sie haben einen Bruder, der zu Doktor Riedel reiten kann?«
Aber die Kleine sperrte nur überrascht den Mund auf, denn sie verstand ja kein
Englisch. Der Mann merkte seinen Fehler und teilte ihr nun auf persisch mit, was ihm Heinz
hier auf dem Blatt geschrieben habe.
So kam es, daß Fatima hinüberlief zu ihres Vaters Zelt.
Whitman suchte die Zeit zu nutzen, um aus dem merkwürdigen Taubstummen noch
einiges herauszufragen. Aber Heinz verschanzte sich hinter der knappen schriftlichen
Mitteilung:
»Ich kann nur wenig Englisch.«
Beide saßen stumm und ein wenig schläfrig vor dem Zelt und schauten dann und
wann zur Luna hinüber, bei der eine große Menschenansammlung war. Da wurde das
Hündchen wieder unruhig; es kläffte in die Richtung nach Sebsewar hin. Heinz suchte das
Tier zu beruhigen. Als er in die Richtung blickte, die die Hundeschnauze wies, erkannte er
trotz der Dämmerung eine Staubwolke. Er winkte dem Engländer und zeigte sie ihm.
Whitman hatte ein Fernglas bei sich und erklärte nach kurzem Durchblick:
»Ein Auto.«
Heinz bat mit einer Geste um das Glas, lief dann ins Zelt und schrieb für den
Engländer auf:
»Dr. Riedel kommt.«
Whitman schlug ihm vergnügt auf die Schulter, als er das las.
Bei der Ankunft des Arztes ließ Heinz dem Besucher den Vortritt. Nach der
Begrüßung und den ersten aufklärenden Worten fragte Whitman: »Der Knabe ist Ihr
Vertrauter?« Und als Riedel nickte, fügte er hinzu:
»Ein intelligenter Bursche, schade, daß er taubstumm ist! Aber gerade darum kann
ich um so offener sprechen: Dieser McLean wünscht uns beide zu allen Teufeln, und ich bin
davon überzeugt, daß er uns alle aus dem Wege räumen würde, wenn er die Macht dazu
hätte. Meinen Brief an Sie hat er schon abgefangen. Gott sei Dank sind Sie selbst zur
rechten Zeit gekommen. Ich möchte nun vor allem ein dringendes Telegramm an unseren
Botschafter nach Teheran schicken, damit er uns vor der Willkür dieses brutalen
amerikanischen Polizisten schützt und dem persischen Innenminister das Rückgrat gegen
die frechen Amerikaner stärkt. Wir haben gar kein Interesse daran, daß die habgierigen
Yankees die deutsche Erfindung ausspionieren. Auf jeden Fall brauchen wir beide volle
Bewegungsfreiheit. Es kommt also sehr darauf an, daß wir das Telegramm an den
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Botschafter durchkriegen, ehe McLean beim Polizeichef die Sperrung des Telegraphen für
uns durchsetzt; eine solche Gewaltmaßnahme traue ich ihm zu. Glauben Sie, daß Ihr Wagen
schneller ist als der des Kelanters?«
»Nein. Aber das würde auch nicht viel nützen, denn nachts ist das Telegraphenamt
geschlossen, und wenn wir morgen früh hinkommen, könnte die Sperre schon verhängt
sein. Man müßte also den Kelanter hier festhalten, wenn man ihn daran verhindern wollte,
einen solchen Befehl zu geben.«
Heinz hatte das Gespräch mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt. McLean und der
Kelanter durften nicht fahren, das stand für ihn fest! Aber wie konnte man sie daran
hindern? Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Da fiel ihm sein Freund Uli ein, der gesagt
hatte. Neumanns Wagen würde auf Latschen stehen. Auf Latschen... Er zupfte Dr. Riedel am
Ärmel und ruhte nicht, bis dieser mit ihm hinters Zelt trat.
»Ich werde versuchen, dafür zu sorgen, daß der Kelanter nicht fahren kann.«
Der Arzt blickte besorgt auf den Jungen nieder: »Mach keine Dummheiten!«
»Ich weiß schon, was ich mache«, grinste Heinz. »Ich bin ja doof, mir kann keener!
Tun Sie nur so, als ob auch Ihr Wagen nicht in Ordnung wäre.«
Mit einem scherzhaften Händewinken verabschiedete er sich von Dr. Riedel, der ihm
kopfschüttelnd nachblickte, wie er zu dem Wagen des Kelanters hinüberbummelte.
Der persische Polizeichauffeur machte auf seinem Führersitz ein wohlverdientes
Nickerchen und achtete nicht auf die Kinder, die in der halben Dunkelheit noch um ihn
herumlungerten. Heinz winkte ein paar ändern Jungen, kniete an einem Hinterrad nieder,
schraubte die Ventilkappe ab und ließ mit leisem Zischen die Luft entweichen. Tipptipp
machte sein Finger. Das war ein lustiges Spiel, das die anderen bald begriffen hatten, so
daß sich Heinz zurückziehen konnte.
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
GEFÄHRLICHE STRAHLEN
Ziemlich schnell war es Nacht geworden. McLean kehrte in übelster Laune von der
Besichtigung der Luna zurück. Er hatte keines ihrer Geheimnisse enträtseln können. Nicht
einmal für eine Photoaufnahme hatte das Licht ausgereicht. Nun wollte er möglichst schnell
nach Sebsewar.
Er und der Kelanter nahmen im Wagen Platz, und der Chauffeur trat auf den
Starterknopf. Gehorsam sprang der Motor an, aber als er anziehen sollte, verschluckte er
sich und blieb stehen. Der Fahrer startete noch einmal und kuppelte mit verdoppelter
Vorsicht ein. Diesmal zog der Wagen an, aber sehr langsam; er rumpelte schnaufend und
mit heftigen Erschütterungen, kaum dem Steuer gehorchend, etwa hundert Meter weit.
Dann merkte der Fahrer, daß mit dem Fahrgestell etwas nicht in Ordnung war. Er hielt und
guckte unter den Wagen: er stand vierfach auf Latschen! Die kurze Fahrt über den steinigen
Wüstenboden hatte genügt, um die Schläuche aus den Felgen herauszuquetschen; an vielen
Stellen waren sie vom Druck des schweren Fahrzeugs zerschnitten. Hier half nur
stundenlanges Flicken - in der Dunkelheit der Wüstennacht - und dann Pumpen, Pumpen mit der Handpumpe. Das konnte bis morgen früh dauern! Fluchend und wetternd stolperten
McLean und der Kelanter zum Zelt des deutschen Arztes.
Whitman und Dr. Riedel hatten interessiert die AufbruchsVorbereitungen und die
Panne beobachtet, Whitman mit vorgeschobenem Unterkiefer und fast unbewegtem Gesicht,
der andre mit einem amüsierten Lächeln. Nur Heinz tat, als ginge ihn die ganze Geschichte
nichts an.
Da kam Riedel eine Idee. Er trat zu seinem Wagen, öffnete die Motorhaube und
spritzte ein paar Tropfen Kühlwasser auf die Zündkerzen. Dann versuchte er zu starten vergebens.
McLean verbiß seine Wut. Jetzt war er ölig freundlich. Whitman war plötzlich sein
»lieber Freund« und Riedel ein »werter Herr« geworden. Der »werte Herr« stellte auch
bereitwillig seinen Wagen zur Verfügung. Aber dessen Motor sprang nicht an! Der Arzt und
der persische Chauffeur bemühten sich vergeblich um ihn, und die ändern hielten nicht mit
guten Ratschlägen zurück; keiner konnte den Fehler entdecken.
Da zupfte Heinz den Arzt schon wieder am Ellbogen und führte ihn zum Zelt, wo
soeben Fatima mit ihrem Bruder eingetroffen war. Der junge Mann hatte sein Pferd
mitgebracht, machte jedoch darauf aufmerksam, daß noch eine bessere Möglichkeit
bestehe, Nachrichten schnell nach Sebsewar zu befördern: Jussuf sei mit dem Motorrad
gekommen und werde bald zurückfahren.
»Ruf rasch, aber unauffällig den Engländer!« forderte Riedel den jungen Habermann
auf. Der schlich sofort zu der Gruppe am Auto und holte Whitman.
In Eile wurde Fatimas Bruder über die Lage unterrichtet, damit er Jussuf alle nötigen
Aufklärungen geben konnte. Der Journalist händigte ihm sein Telegramm an den britischen
Botschafter mit der Beschwerde über das Verhalten des Amerikaners aus, und ehe die
andern von den Vorgängen beim Zelt etwas merkten, war der Reiter in die Nacht
untergetaucht.
Als erster kam McLean zum Zelt zurück. Er torkelte wie ein Betrunkener.
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Doktor, mir ist gar nicht wohl. Und an den Händen habe ich ein Jucken...«
»Zeigen Sie einmal her!«
Im Scheine der Azetylenlampe, die das Zelt erleuchtete, betrachtete der Arzt die
Handflächen des Spions, der sich ächzend auf einem Feldstuhl niedergelassen hatte.
»Was haben Sie denn gemacht? Haben Sie den heißen Motor angefaßt?«
»Nein, ich habe nur zugesehen.«
»Das verstehe ich nicht. Sie haben sich doch verbrannt! Sie müssen irgend etwas
Heißes oder eine Säure berührt haben.«
In diesem Augenblick betrat der Kelanter das Zelt. Riedel richtete sich auf und fragte
den Beamten:
»Herr McLean hat ganz merkwürdige Verbrennungen an den Händen. Wissen Sie,
was er Gefährliches berührt haben könnte?«
»Er hat doch zumeist Handschuhe getragen. Die hat er meines Wissens nur
ausgezogen, als er den Apparat des deutschen Professors untersuchte.«
»War der denn heiß?«
»Nein«, stöhnte McLean, »im Gegenteil, das Metall hatte sich schon stark abgekühlt,
während die Erde noch die Sonnenhitze gespeichert hatte.« Er versuchte seine Hände zu
betrachten, ließ sie aber mit einem Schmerzenslaut sinken. »Verdammt noch mal, meine
Arme sind wie gelähmt... Und warum brennt denn die Lampe jetzt so dunkel? Ich sehe ja
alles nur wie durch einen Schleier!«
»Aber McLean«, mischte sich Whitman ein. »Das Karbidlicht ist doch so grell und
klar! Sagen Sie, Sheriff, was hat denn McLean an der Luna gemacht?«
»Er hat vergeblich versucht, durch Betasten eine Öffnung zu finden, und hat dann
auch unten gesucht. Er hat die Erde weggeräumt; aber auch unten hat er wohl keine Tür
gefunden.«
Wieder zupfte Heinz den Arzt am Arm. Der ließ sich zwar in seinen beruflichen
Verrichtungen nicht gern stören, aber er wußte nun schon aus Erfahrung, daß die
Mitteilungen des Knaben wichtig waren, und verließ mit ihm das Zelt.
»Unten an der Kugel sind die Düsen, aus denen die hochverdichteten Treibstoffgase
ausgestoßen werden, auch die des radioaktiven Atomtreibstoffs. Wahrscheinlich hat sich der
neugierige Kerl radioaktive Verbrennungen zugezogen. Mein Vater hat mich oft genug davor
gewarnt.«
Riedel legte die Hand an die Stirn: »Natürlich!« Er eilte ins Zelt zurück.
»McLean, ist es wahr, daß Sie die Unterseite der Kugel berührt haben?«
»Ja, ich habe sie zum Teil freigelegt, um zu sehen...«
»Um Gottes willen, wußten. Sie denn nicht, daß dieses Weltraumschiff mit
Atomtreibstoff bewegt wird?«
»Das ist doch nicht möglich! Ich habe es jedenfalls nicht geglaubt...«
»Wir müssen versuchen. Sie so schnell wie möglich nach Teheran in ein modernes
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Krankenhaus zu schaffen. Hoffentlich gibt es dort Ärzte, die mit radioaktiven Schädigungen
Erfahrungen haben. Ich besitze sie nicht, ich kann Ihnen höchstens durch die üblichen Mittel
Linderung verschaffen. Aber so viel weiß ich: Hautverbrennungen, Lähmungen der
Gliedmaßen und der Sehnerven - das sind die gleichen Symptome...« Er stockte.
»Wie in Hiroschima«, lallte der Amerikaner. Er zitterte wie Espenlaub.
Ungerührt machte Whitman seine Notizen. Das gab Sensationsberichte !
»Ich muß meinen Wagen in Gang bringen!« rief Dr. Riedel.
»Wir bringen Sie zu Ihrem Flugzeug und transportieren Sie eilends nach Teheran.«
»Ja, bitte, bitte!« krächzte der zusammengebrochene Riese.
Der Arzt rannte zu seinem Wagen, wischte die Zündkerzen mit einem Lappen ab und
hielt dann einen brennenden Fidibus an die Kerzen, um den letzten Rest von Feuchtigkeit zu
beseitigen. Als er nun den Starter betätigte, sprang der Motor sofort an.
»Kommen Sie, McLean!«
»Ich kann nicht.«
Da faßte ihn Riedel unter die Achsel. Whitman sprang hinzu und half auf der anderen
Seite nach. Mit vereinten Kräften schleppten sie den schweren Mann zu dem Auto und
ließen ihn in die Polster sinken. Der Kranke klammerte sich an ihnen fest und wimmerte:
»Laßt mich nicht allein!«
»Nein, nein«, beruhigte ihn Whitman, »ich lasse Sie nicht im Stich.« Ihm war es sehr
lieb, daß er auf diese Weise nach Sebsewar und zum Telegraphenamt gelangen konnte.
»Können Sie Ihren Chauffeur entbehren, Kelanter?« fragte der Arzt.
»Gewiß, er kann Sie fahren. Aber ich möchte auch mit.«
»Das wird sich nicht ermöglichen lassen. Mein kleiner Wagen hat nur vier schmale
Sitze, und ich muß den Kranken unterwegs verbinden, ich muß also Bewegungsfreiheit
haben. Außerdem müssen Sie dafür sorgen, daß hier niemand mehr der gefährlichen Kugel
zu nahe kommt. Ich hole Sie morgen.«
Im Hause des Arztes kam es am nächsten Morgen zu einer erregten
Auseinandersetzung.
»Ich muß unbedingt den deutschen Professor sprechen.« Withman durchmaß mit
großen Schritten nervös das Zimmer. »Er ist der einzige, der mir über diese Teufelskugel
Auskunft geben kann.«
Jussuf, der mit verschlossener Miene am Fenster lehnte, schüttelte nur den Kopf.
Dr. Riedel war am Tisch sitzengeblieben. Jetzt hob er begütigend die Hände: »Setzen
Sie sich doch wieder, meine Herren!«
Aber die beiden anderen kamen seiner Aufforderung nicht nach.
»Schlimm genug, daß Sie sich mit dem Reuterbüro eingelassen haben, Herr Doktor!«
warf Jussuf dem Arzt vor. »Professor Habermann war sehr wütend, als er es erfuhr. Sind Sie
denn so unerfahren, daß Sie nicht wissen, wer Reuter ist? Nichts anderes als eine Agentur
des britischen Geheimdienstes, ein Agenten- und Spionennest der englischen Kriegstreiber.«
77
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Whitman lachte ärgerlich, während Riedel kleinlaut zugab: »Gewiß, ich habe
unvorsichtig und eigenmächtig gehandelt. Aber Sie haben ja von Mr. Whitman gehört, daß
die Amerikaner Professor Habermanns erstes Telegramm nach Berlin abgefangen haben,
und dadurch, daß ich an Reuter telegraphiert habe, hat die Welt wenigstens erfahren, wo
die Luna ist. Ich denke, auch in Berlin wird man es heute wissen. Wenn ich Reuter nicht
unterrichtet hätte, würden wir hier ohne einen Pfennig Geld sitzen und völlig den
Amerikanern ausgeliefert sein.«
Whitman nickte und fügte hinzu: »Sehen Sie, Jussuf, wir Engländer arbeiten nicht
mit so rohen Methoden wie die Amerikaner. Natürlich wollen wir auch möglichst viel über
das Weltraumschiff erfahren, aber...«
Da brach es plötzlich aus Jussuf heraus: »Ich denke nicht daran, Ihnen den Professor
auszuliefern! Und wenn man mich zu Tode foltert - man wird nicht erfahren, wo er sich
aufhält. Viele Tausende von Kommunisten sind durch die Hölle der faschistischen Tortur
gegangen, selten nur ist einer schwach geworden und hat den Mund aufgetan. Ich werde
nicht schwach!«
»Aber Mann!« Whitman war stehengeblieben. »Sie regen sich ganz unnötig auf. Ich
gebe zu: Das Vorgehen der Amerikaner hat Sie mißtrauisch machen müssen. Aber damit
habe ich doch nichts zu tun. Ich bin kein Folterknecht und habe auch gar nicht die Macht
dazu. Wofür halten Sie mich eigentlich?«
Jussuf zwang sich zur Ruhe. »Für einen Engländer«, knirschte er verächtlich.
»Was haben Ihnen die Engländer getan?«
»Mir? Sie haben meinem Vaterlande die Freiheit geraubt, spielen sich in Persien als
die Herren auf. Für wen fördern die persischen Lohnsklaven das Erdöl aus unserem
Heimatboden? Für die englische Ölgesellschaft, die jetzt allerdings zum Teil schon den
Amerikanern gehört! Und wer hat den Buren ihr Land genommen, weil es Gold und
Diamanten birgt, wer hat die Frauen und Kinder der Buren in Konzentrationslagern
verhungern lassen? Wer hat die freiheitliebenden Inder vor die Mündungen seiner Kanonen
gebunden und ihre Leiber in die Luft geblasen? Wer führt blutigen Krieg gegen die
malaiischen Freiheitskämpfer und mordet auch dort wieder Frauen und Kinder? Muß ich
Ihnen alle Greueltaten der britischen Kolonialherrscher aufzählen und alle die schändlichen
Gewalttaten und Morde des britischen Geheimdienstes, von denen die meisten niemals
aufgeklärt werden können?«
Whitman hatte sich gesetzt und stierte vor sich hin. »Sie haben nicht ganz unrecht«,
murmelte er. »Aber...« Er hob den Kopf. »Aber heute ist es doch anders. Wir haben eine
Labourregierung, eine Arbeiterregierung gehabt...«
Der junge Perser unterbrach ihn höhnisch lachend: »Eine
Arbeiterverräter-Regierung! Hat sich etwa unter dieser Regierung etwas geändert?«
»Nun ja: Indien zum Beispiel hat seine politische Freiheit erlangt.«
»Politische Freiheit nennen Sie das? Volksbetrug nenne ich es. Was nützt dem
indischen Volke eine politische Freiheit, die es nicht von der wirtschaftlichen Knechtschaft,
von der Ausbeutung durch die ausländischen Kapitalisten befreit?«
»Sie betrachten die Dinge sehr einseitig.«
»Ich betrachte sie so,wie es die große Masse des Volkes erlebt und erleidet, und
78
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
nicht so, wie es die am kolonialen Ausbeutungsgeschäft beteiligte dünne Schicht des
Großbesitzes erfreut.«
Es war ganz still geworden im Zimmer des Arztes. Allen drei Männern fiel plötzlich
das helle Ticken der Wanduhr auf. Jussuf blickte auf das Zifferblatt und machte ein paar
Schritte zur Tür:
»Der halbe Vormittag ist schon wieder verloren. Ich habe in den letzten Tagen meine
Arbeit schon viel zuviel versäumt. Ich muß jetzt gehen, sonst wirft mich mein Meister auf
die Straße.«
Auch Whitmann erhob sich: »Sie können ihm sagen, daß Sie in seinem Interesse
unterwegs gewesen sind, um mir das Motorrad zu verkaufen, von dem Sie gesprochen
haben. Ich werde gleich mit Ihnen gehen, um es zu übernehmen.«
»Gott sei Dank, daß Sie endlich das politische Thema haben fallen lassen!« seufzte
Riedel mit einem Lächeln. »Jussuf, wollen Sie nicht dem Professor selbst die Entscheidung
überlassen?«
»Ich werde mit ihm sprechen.«
Whitman stieß noch einmal nach: »Ich verspreche Ihnen, daß ich alles daransetzen
werde, um dem Professor die Rückkehr in seine Heimat zu ermöglichen - mit seinem
kostbaren Apparat.«
Der junge Perser schürzte verächtlich die Lippen: »Versprechungen eines
Engländers!«
Der Journalist aber war mürbe geworden und begehrte nicht mehr auf. »Dennoch«,
erwiderte er ruhig, »dieses Versprechen gilt und wird eingelöst werden - und wäre es auch
nur, weil ich diesen Amerikanern keinen Erfolg gönne, der mir versagt bleibt. Aber nun
kommen Sie! Ich brauche das Motorrad.«
»Und ich muß hinausfahren, um endlich den Kelanter zu erlösen«, lachte der Arzt.
* * *
»Da brummt doch schon wieder ein Flugzeug über der Wüste!«
Habermann und Jussuf sprangen vom Tisch auf und traten ans Fenster der Hütte.
»Es scheint bei der Luna zu landen«, meinte der Professor.
»Kommen Sie, wir fahren sofort hinaus!«
Der junge Mann kehrte zu seinem Platz zurück und widersprach: »Erst einmal wollen
wir unsere Linsen aufessen. Und dann... Ich kann doch nicht schon wieder blaumachen!«
»Doktor Riedel bescheinigt Ihnen, daß Sie krank waren.«
Auch Habermann setzte sich wieder und führte widerwillig den Löffel zum Munde.
»Es ist auch viel zu gefährlich für Sie«, gab Jussuf zu bedenken.
»Sie sehen zu schwarz. Im Notfall rufe ich die Hilfe des Engländers an.«
»Dem wollen Sie trauen?«
»Ihm nicht, aber seinem Geschäftsinteresse. Sehen Sie, dieser Journalist will etwas
in Erfahrung bringen, was er seinen Auftraggebern melden kann. Und er ist klug genug, um
79
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
zu wissen, daß er diese Dinge nur von mir erfahren kann und nur, wenn ich sie ihm aus
freien Stücken mitteile. Die blöden Amerikaner dagegen pochen auf die Gewalt und werden
daran scheitern. Ich kann dem Engländer sehr vieles sagen, was er für wertvoll halten wird,
was aber für den Fachmann nichts Neues darstellt. Die grundlegenden Ergebnisse der
Atomforschung sind ja den Physikern in Amerika, in England, in der Sowjetunion in
demselben Maße bekannt wie uns in Deutschland; überall arbeitet man an den gleichen
physikalischen Problemen, von fast den gleichen Ausgangspunkten aus und meist auch auf
fast den gleichen Wegen. Diese Dinge sind also keine Geheimnisse, und ich kann ruhig über
sie sprechen.«
»So dumm ist er doch nicht, daß er Dinge für neu halten wird, die jeder kennt.«
»Nun ja, einiges wird er von den Grundlagen der Atomphysik schon wissen, sonst
würde es überhaupt zwecklos sein, mit ihm darüber zu reden. Aber er ist kein Fachmann,
und vieles von dem, was der Physiker vom Fach kennt, wird ihm trotzdem neu erscheinen.«
»In London sitzen aber Fachleute! Die merken doch sofort, daß Sie den Whitman nur
gefoppt haben.«
»Sofort auch nicht. Übrigens kommt es mir doch nur darauf an, ein paar Tage Zeit zu
gewinnen. Inzwischen werde ich hoffentlich den Treibstoff für die Luna haben und starten
können. Und damit sich die Herren englischen Physiker bis dahin die Köpfe zerbrechen
können«, so fügte Habermann mit feinem Lächeln hinzu, »kann ich dem
Reuterkorrespondenten auch einige wirklich neue Einzelheiten auftischen, zum Beispiel
zusammenhanglose technische Ergebnisse meiner Arbeit, die keiner nachmachen kann,
wenn er nicht weiß, auf welchem Wege ich sie gewonnen habe, und von denen überdies
jede in der Form, wie ich sie Whitman mitteile, in einem wesentlichen Punkte unvollständig
oder unrichtig sein wird.«
Aber Jussuf war nicht so leicht zu überzeugen: »Ich halte das immer noch für
gefährlich«, sagte er. »Wie leicht könnten die englischen Physiker aus Ihren Mitteilungen
dennoch richtige Schlüsse ziehen! Ja, wenn es sich um Sowjetrussen handelte, dann würde
ich keine Bedenken haben. Ich habe drüben in unserem Nachbarlande, in der sozialistischen
Sowjetunion, gearbeitet; ich habe gesehen, wie man dort für den Frieden schafft. Ich habe
gesehen, wie durch eine gewaltige Atom-Sprengung ein Bergrücken fortgeräumt worden ist,
so daß die großen sibirischen Flüsse ihr Wasser nicht mehr nutzlos nach Norden ins Eismeer
ergießen, sondern nach Südwesten fließen und dadurch die ehemalige Wüste am Kaspischen
Meer, gar nicht weit von der persischen Grenze, in fruchtbares Ackerund Gartenland
verwandeln. Dieses Land war einst genauso unfruchtbar wie unser Descht-i-Kuwir, die
Salzsteppe vor unserer Tür, auf der Ihre Luna liegt. Heute trägt es tausendfältige Frucht an
Weintrauben und Baumwolle. So verwendet ein friedfertiges Volk die Ergebnisse seiner
wissenschaftlichen Forschung. Die Amerikaner aber und ihre Trabanten kennen ja keine
andere Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse als die für kriegerische Zwecke. Sie
reden von nichts anderem als von ihrer Atombombe und drohen der Menschheit die völlige
Vernichtung an. Wollen Sie, Professor, daß Ihre eigene Erfindung dazu ausgenutzt wird, um
fliegende Bomben herzustellen, die die Kulturtaten der friedlichen Völker wieder
auslöschen?«
»Gewiß nicht, Jussuf! Ich werde sehr vorsichtig sein und werde auch immer an Ihre
Warnungen denken. Aber es wird mir gar nichts anderes übrigbleiben, als den Burschen
vom britischen und amerikanischen Geheimdienst einen kleinen Köder hinzuwerfen, wenn
ich sie noch ein paar Tage hinhalten will. Einige Einzelheiten der Inneneinrichtung meines
80
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Raumschiffes sind ja schon durch die Bullaugen von außen zu sehen. Zum mindesten
darüber werde ich etwas sagen müssen, um abzulenken und irrezuführen. Aber das
Wesentliche und Wichtige werde ich auf jeden Fall für mich behalten.«
* * *
Das Flugzeug, das am 16. August kurz nach 13 Uhr bei der Luna landete, trug die
Abzeichen der USA. Es hatte den amerikanischen Militärattaché aus Athen, Major Spiller,
und einige Offiziere der USA-Botschaft in Teheran an Bord.
Die beiden Kinder in Dr. Riedels Zelt, die schon den Polizeichef und seinen Leutnant
als sehr lästige Einquartierung empfanden, wurden durch die Neuankömmlinge fast gänzlich
verdrängt.
Die Nachricht von der Erkrankung des amerikanischen Oberspions hatte sich wie ein
Lauffeuer in der Wüste verbreitet. Sie war durch das Gerücht übertrieben und mit grausigen
Einzelheiten ausgeschmückt worden, und keiner der Perser war zu bewegen, der
gefährlichen Kugel auch nur auf hundert Schritte nahe zu kommen.
Selbst der Kelanter lehnte es ab, die Amerikaner zur Luna zu begleiten.
Die Khakiblusenmänner wurden nun doch bedenklich. Sie versuchten durch ihren
Bordfunker Verbindung mit dem Flugzeug McLeans oder mit Teheran aufzunehmen, aber die
Entfernung war zu groß. Nur der amerikanische Flugplatz Meschhed und ein paar andere
benachbarte Kurzwellenstationen meldeten sich. Sie wußten nichts vom Schicksal McLeans.
Da wurde Spiller ungeduldig: »Wir verlieren nur unsere Zeit. Wer weiß, woran
McLean erkrankt ist! Andere waren doch auch an der Rakete und sind nicht krank geworden.
In meiner Anweisung ist nur von einem Raketengeschoß die Rede, das ich besichtigen soll.
Und diese niedlichen Spielzeuge kenne ich genau. Ich weiß, was die Deutschen in dieser Art
zu bauen verstehen.«
Und damit machte er sich auf den Weg zur Luna. Die anderen Offiziere schlossen sich
ihm an.
Kurz darauf knatterte der Reuter-Korrespondent auf seinem neu erworbenen
Motorrad herbei; auch er ging sofort zu dem Apparat hinüber, um zu sehen, was die
Amerikaner erreichen würden. Er kam zur rechten Zeit, um zu hören, wie Major Spiller
seinen Kameraden auseinandersetzte:
»Das ist zweifellos eine Rakete mit Düsenantrieb. Hier unten...« Er bückte sich und
wies in die Grube, die McLean gescharrt hatte. »Hier unten sehen Sie die Düsen. Ich
wundere mich nur, daß der Apparat so klobig ist. So viel Treibstoff kann er ja gar nicht
mitnehmen, wie nötig ist, um ihn zu bewegen. Kein Wunder, daß ihm der Sprit unterwegs
bald ausgegangen ist, so daß er hier notlanden mußte. Daß er Sprit und
Wasserstoffsuperoxyd verwendete, scheint ja festzustehen. Aber die Einzelheiten
interessieren mich doch. Ich muß unbedingt sehen, wie der Motor konstruiert ist und was
das Geschoß sonst noch enthält. Durch das dicke Glas der Fenster ist kaum etwas zu
erkennen. Und auch wenn wir sie einschlagen, werden wir wenig mehr sehen, denn sie sind
so eng, daß man sich nicht hineinzwängen kann. Die beiden Einlasse an den Seiten sind
offenbar Panzertüren, wie wir sie von unseren Banktresoren kennen. Wenn wir den
Schlüssel nicht auftreiben können, werden wir den Apparat aufschneiden müssen; ein
Schweißgerät für diesen Zweck werden wir ja in Sebsewar finden.«
Whitman notierte: Chikagoer Gangster, Geldschrankknacker.
81
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Und wenn wir damit nicht zu Rande kommen, sprengen wir die Kiste einfach mit
Dynamit oder mit einem anderen Sprengstoff auf«, schloß Spiller seine Betrachtungen. Jetzt
erst bemerkte er den Journalisten. »Was haben Sie denn hier zu suchen?« fuhr er ihn an.
»Wer sind Sie überhaupt?«
Einer der Offiziere mischte sich ein: »Das ist Mr. Whitman, Reuters
Chefkorrespondent aus Teheran. Ich kenne ihn. Hallo, Mr. Whitman!« Er reichte dem
Engländer die Hand.
Die anderen folgten seinem Beispiel. Nur Spiller knurrte unfreundlich in sich hinein:
»Wir brauchen hier keinen Londoner Aufpasser.« Whitmans feines Ohr hatte den Satz aber
doch aufgefangen.
Als die Gesellschaft zu Riedeis Zelt zurückkehrte, flüsterte Fatima dem Engländer zu:
»Sie sollen zu meines Vaters Zelt kommen.«
»Von wem stammt diese Einladung?«
»Das darf ich nicht sagen.«
In Gholams Zelt wurde Whitman von Jussuf begrüßt, der ihm den deutschen
Professor vorstellte. Der Engländer war hocherfreut und erklärte:
»Ich habe Ihnen wichtige Mitteilungen zu machen: Die Amerikaner haben vor, Ihre
Kugel aufzuschweißen oder, wenn ihnen das nicht gelingt, mit Dynamit aufzusprengen.«
»Meine kostbaren Instrumente!« empörte sich Habermann. »Was denken sich denn
diese Barbaren? Das muß unbedingt verhindert werden!«
»Wie wollen Sie es verhindern?«
»Wenn ich sie nicht anders fernhalten kann, sprenge ich selbst den ganzen Apparat
in die Luft.«
»Haben Sie denn Sprengstoff?« fragte Whitman mit hinterlistigem Zwinkern. Und da
Habermann nur unmutig die Achseln zuckte, fuhr er fort: »Solange die persische Polizei
nach Ihnen fahndet, würde ich an Ihrer Stelle überhaupt vorsichtig sein und mich nicht in
die Nähe des Raumschiffes wagen. Ich bin schon erstaunt, daß Sie mich hierherbestellt
haben. Ich hätte doch auch dorthin kommen können, wo Sie sich in größerer Sicherheit
befinden.«
»Mir ist es lieber, wenn auch Sie nicht erfahren, wo ich mich sonst aufhalte. Aber
gerade weil ich mich einer Gefahr aussetze, möchte ich diese Unterhaltung nicht zu lang
ausdehnen.«
»Ich nehme an. Sie haben mich rufen lassen, um mir etwas Wichtiges mitzuteilen?«
»Ja, ich möchte Sie bitten: Warnen Sie die Amerikaner dringend davor, die Kugel zu
öffnen oder die Düsen an ihrem Boden zu untersuchen! Denn... Aber ich muß Ihnen den
ganzen Apparat genauer schildern, sonst verstehen Sie es nicht. Schreiben Sie gleich mit!
Sie werden ja auch berufliches Interesse daran haben.«
Und nun erhielt der Journalist eine Beschreibung des Weltraumschiffes und seiner
Einrichtung, der er mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte. Als er sein Notizbuch
zuklappte, grinste er:
»Nun weiß ich eigentlich alles, was ich wissen wollte.«
82
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Ich habe Sie für weniger bescheiden gehalten«, spöttelte Habermann. »Sie kennen
noch nicht die Konstruktionseinzelheiten des Motors. Wer das erfahren will, muß den Motor
selbst öffnen und - dabei das Leben einbüßen, ehe er etwas entdecken kann. Denken Sie an
McLean! Deshalb bitte ich Sie noch einmal: Warnen Sie die Amerikaner vor solcher
Neugier!«
83
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
AUCH DIE RETTER IN DER FALLE
Das deutsche Großflugzeug unter Führung des Flugkapitäns Niedermayer hatte
planmäßig auf dem Gelände des Atominstituts eine Zwischenlandung vorgenommen und
war nach Aufnahme der Hilfsexpedition und ihres Gepäcks trotz der schweren Belastung gut
wieder vom Boden abgekommen. Die eben erst überholten Motoren sangen ohne Störung
Stunde um Stunde ihr Lied.
Für Frenzen, Heise und Martin war es ein großes Erlebnis, über deutsches Land
hinwegzufliegen, dann die Karten Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns und Rumäniens
aufzublättern, wenn auch die Sicht manchmal durch Regenwolken behindert war.
Von den aufregenden Vorfällen bei der Luna wußten sie noch nichts. Als sie aber
mittags über dem Schwarzen Meer anlangten und vor ihnen die viereckige Fläche der Krim
auftauchte, winkte sie der Funker aufgeregt herbei. Er hatte den Londoner
Kurzwellen-Sprechfunk eingeschaltet, der soeben eine ausführliche Reuter-Meldung über
den Unfall des amerikanischen Agenten McLean bekanntgab. Frenzen und Heise teilten sich
in einen Kopfhörer und lauschten den Worten des englischen Ansagers:
»Der amerikanische Beamte hatte den Boden unter der Kugel fortgeräumt, um zu
sehen, ob er von dort aus in ihr Inneres gelangen könnte. Er entdeckte an der Unterseite
des Apparates die Düsen des Raketenmotors. Als er zu seinem Zelt zurückkehrte, stellten
sich bei ihm schwere Gesundheitsschädigungen von der Art ein, wie man sie bei den Opfern
von Hiroschima und Nagasaki beobachtet hatte. Er wurde sofort im Flugzeug nach Teheran
ins Krankenhaus transportiert. Man nimmt au, daß das deutsche Weltraumschiff Luna
Atomzerfallprodukte als Treibstoff benutzt, und daß die Düsen noch radioaktive Substanz
enthielten, mit der sich McLean infiziert hat.
Professor Habermann, der Führer des Weltraumschiffes, ist offenbar rechtzeitig
davon verständigt worden, daß er von den persischen Behörden wegen Spionageverdachts
verfolgt werde, denn er ist nicht auffindbar. Wie Reuters Korrespondent zuverlässig erfährt,
ist er jedoch am Leben und hält sich wahrscheinlich noch in der Nähe seines Apparats
verborgen, denn er hat mehrmals auf geheimnisvolle Weise Nachrichten an einen ihm
bekannten deutschen Arzt in Sebsewar gelangen lassen.
In der Weltöffentlichkeit hat die Landung des bemannten Raketenapparats auf
persischem Gebiet großes Aufsehen erregt...«
Nun folgten Betrachtungen und Kombinationen, die für die deutschen Hörer kaum
von Belang waren.
»Und was ist aus Heinz geworden?« fragte Dr. Heise erregt.
»Aus wem?« Professor Frenzen war sehr erstaunt.
»Aus Habermanns Sohn. - Ach so. Sie wissen ja nicht, daß der Junge die Fahrt
mitgemacht hat.«
»Ist das wahr? Das wäre ja ein unverantwortlicher Leichtsinn des Kollegen
Habermann, wenn er außer seinem eigenen auch noch das Leben seines Kindes aufs Spiel
gesetzt hätte!«
»Ich habe soeben den amerikanischen Soldatensender Nahost gehört«, unterbrach
84
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
ihn der Funker. »Er meldet, daß unser Kamerad McLean vom Sonderkommando Teheran bei
der Untersuchung der Flugmaschine eines in Persien gelandeten deutschen Spions schwer
verunglückt sei, und daß sich eine Abordnung amerikanischer Offiziere im Flugzeug zur
Verfolgung des Spions aufgemacht habe.«
Bei den Expeditionsteilnehmern stieg das Fieber der Erwartung. Die Sonne, der sie
morgens entgegengeflogen waren, hatte einen großen Bogen beschrieben und stand jetzt
schräg rechts hinter ihnen. Sie vergoldete die schneegekrönten Zinnen des gewaltigen
Kaukasusgebirges, die rechts neben ihnen langsam dahinzogen. Das großartige Schauspiel
konnte sie aber nur für kurze Zeit von ihren sorgenden Gedanken ablenken.
Jetzt tauchte die weite Fläche des Kaspischen Meeres auf. Niedermayer blickte mit
dem Glase hinab und ging dann tiefer. Auf Martins Frage setzte er den Fluggästen
auseinander, daß in der bisher geflogenen Höhe ungünstige Windverhältnisse herrschten.
Der Küstenstreifen zeigte aber glattes Wasser, der Hafen Derbent da unten liege im
Windschatten. Dort wehe wahrscheinlich eine Westbrise am Boden, und die wolle er als
Schiebewind ausnutzen.
Seine Erwartung erwies sich als richtig. Das Flugzeug strich dicht über die nach
Osten rollenden Wogen hinweg und überholte sie in eilendem Fluge. Der
Geschwindigkeitsmesser kletterte auf 500, dann fast auf 600 Stundenkilometer; es war eine
Rekordfahrt.
»Das ist gut«, grunzte Niedermayer. »Jetzt haben wir Aussicht, noch bei Tageslicht
unseren Landeplatz zu finden.« Aber der Funkempfang war dort unten schlecht. Erst als der
Flugkapitän die Maschine wieder hochzog, um über die Nordausläufer des Elburs-Gebirges
hinwegzukommen, meldete sich wieder der britische Sender. Er brachte eine neue
Reuter-Nachricht von der Luna, und Frenzen und Heise zwickten sich gegenseitig in die
Arme, als sie sie hörten:
»Reuters Chefkorrespondenten ist es gelungen, Verbindung mit dem
verschwundenen deutschen Gelehrten aufzunehmen. Er hatte ein kurzes Interwiev mit
Professor Habermann, der sich dann jedoch in unbekannter Richtung wieder entfernte, ohne
sich zur Preisgabe seines Aufenthaltsortes bewegen zu lassen. Habermann warnte vor einer
unsachgemäßen Behandlung seines Apparats, indem er auf die Gefährlichkeit der
Atomzerfallprodukte hinwies, und gab unserem Korrespondenten folgende Einzelheiten
bekannt: ...«
Es folgte eine Schilderung der Luna und ihrer Einrichtungen. Aus manchen
Einzelheiten konnten die sachverständigen Deutschen entnehmen, daß der
Reuter-Korrespondent tatsächlich mit Habermann selbst gesprochen haben mußte. Mit
einem Seufzer der Erleichterung stellten sie aber gleichzeitig fest, daß offenbar den
Engländern nichts preisgegeben worden war,was es ihnen etwa ermöglicht hätte, den
Apparat nachzukonstruieren.
Niedermayer interessierte sich mehr für den letzten Teil der Meldung: »Wie unser
Korrespondent weiter berichtet, liegt die Landestelle des Weltraumschiffes am Rande der
nordiranischen Salzsteppe, etwa 60 Kilometer südöstlich Sebsewar. Die Wüste ist dort zum
belebten Flughafen geworden. Neben der Luna ist ein großes Kreuz aus weißen Tüchern
ausgelegt, das den Maschinen die Auffindung des Landeplatzes erleichtert. Gegenwärtig
stehen hier ein dreimotoriges USA-Flugzeug, das eine Untersuchungskommission von
amerikanischen Offizieren gebracht hat, ein schnelles englisches Jagdflugzeug, das dem
britischen Militärattaché in Teheran gehört, und ein großes Verkehrsflugzeug der persischen
85
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Regierung, mit dem ein hoher Beamter des Innenministeriums und Angehörige der
britischen Botschaft aus Teheran eingetroffen sind. Mit Kraftwagen und Motorrädern wird die
Verbindung zu der nahe gelegenen Stadt Sebsewar aufrechterhalten.«
»Dann können wir uns nicht verfranzen.« Niedermayer atmete erleichtert auf. Er
überließ den Steuerknüppel dem zweiten Piloten. Mit Kompaß und Karte legte er den Kurs
sorgfältig fest. Die Anhaltspunkte, die das Gelände bot, waren sehr gering. Denn man
befand sich jetzt in etwa tausend Meter Höhe über einer fast ebenen Einöde, dem
Descht-i-Kuwir. Jede kleine Bodenerhebung warf allerdings lange Schatten in der
Flugrichtung, denn die Sonne stand schon tief hinter dem Flugzeug. Der Himmel hatte sich,
seit man das Kaspische Meer verlassen hatte, aufgehellt, und die Bodensicht war gut.
Niedermayer ergriff sein Fernglas. »Da schimmert bereits ein weißer Fleck vor uns«,
rief er. »Jawohl, das muß das Landekreuz sein.«
Er setzte sich wieder an den Steuerknüppel, um selbst die Landung vorzunehmen.
Langsam sank die Umdrehungszahl der Motoren, derBoden kam näher, immer deutlicher
war das weiße Kreuz zu erkennen. Jetzt schien dieses in drehende Bewegung zu geraten.
Das war jedoch eine Täuschung; tatsächlich hatte sich das Flugzeug gedreht. Niedermayer
beschrieb eine Kurve nach Süden, weil er bemerkt hatte, daß am Boden Nordwind
herrschte. Die über der Wüste erwärmte Luft stieg auf, und vom Gebirge im Norden strömte
unten Kaltluft zu.
Kurz bevor der Flugkapitän den Apparat aufsetzte, traf einer der letzten
Sonnenstrahlen die silberne Kugel der Luna. Der Bruchteil einer Sekunde hatte für
Niedermayer genügt, um ihn das Ziel erkennen zu lassen. Ein kleiner Ruck - die Maschine
hüpfte noch ein paar Dutzend Meter weiter über das Kreuz hinweg, näher zur Luna heran.
Dann setzte der erfahrene Pilot seinen Apparat sanft auf und ließ ihn gegen den Wind
langsam ausrollen. Er stand genau zwischen dem Weltraumschiff und Dr. Riedels Zelt.
»Blöder Zufall« und »Glück für die Deutschen« behaupteten nachher die Amerikaner.
Jenseits des Kreuzes ragte die große persische Maschine auf. In ihrem Schatten lag,
wie das Küchlein neben der Glucke, der kleine Engländer mit den kurzen Stummelflügeln
und etwas weiter entfernt der lange Amerikaner. Hinter diesem, der die Seitenansicht bot,
erhob sich ein großes neues Zelt, das ein geschäftstüchtiger Kaufmann von Sebsewar auf
einem Lastkraftwagen hinausgeschafft und den Amerikanern vermietet hatte. Was an
Motorfahrzeugen in der kleinen Stadt aufzutreiben war, stand im Kreise um dieses Zelt
aufgereiht. Auch die Polizei hatte für ihre Leute gesorgt; diese wohnten in einem großen
schwarzen Zelt, das in allen Stücken demjenigen Gholam Ali Khans glich, an der Piste nach
Sebsewar, die bereits viele Autospuren aufwies. Weiter fort hoben sich undeutlich die
Umrisse der beiden Nomadenzelte am Horizont ab. An vielen Stellen stieg der Rauch von
Lagerfeuern auf.
Das war das Bild, das sich den Augen der deutschen Reisenden bot, ehe die rasch
zunehmende Dämmerung alle Konturen verwischte.
* * *
Heinz war ein Opfer trüber Stimmung. Wie lange hatte er den Vater nicht gesehen!
Und der Zwang, den ihm seine Rolle als Taubstummer auflegte, wurde auf die Dauer
unerträglich.
Die Hoffnung auf Hilfe aus Deutschland hatte er gänzlich aufgegeben, und als gegen
Abend wieder ein Flugzeug nahte, wollte er nichts sehen und hören. Er warf sich zu Boden
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
und barg das Gesicht auf den Armen. Fatima, die mit der Zubereitung des Abendessens
beschäftigt gewesen war, trat neugierig vor das Zelt. Mitleidig rüttelte sie den Freund an der
Schulter, und als er sie nicht hören wollte, blieb sie verzweifelt neben ihm stehen und rang
die Hände.
Da setzte das Flugzeug zur Landung an. Mit fürchterlichem Gebrüll stürzte sich der
Riesenvogel gerade auf sie, die kleine Fatima. Von Entsetzen geschüttelt brach sie mit
einem schrillen Aufschrei zusammen und krallte ihre Finger in den Nacken des Knaben.
Der stemmte sich hoch und schüttelte in ohnmächtiger Wut seine Faust gegen die
heranbrausende Maschine. Die fegte dicht neben den Kindern über den Boden. An ihrem
Heck trug sie - die deutschen Farben! Heinz wischte sich den Staub aus den Augen und
blickte noch einmal hin. Dann riß er Fatima hoch.
»Da! Da!«
Mehr brachte er vor Erregung nicht heraus. Dann schluchzte er wild auf. Lachen und
Weinen steckten in einem Sack. Er rannte hinter dem ausrollenden Flugzeug her. Fatima
wollte ihn zurückhalten; als ihr das nicht gelang, folgte sie ihm in atemlosem Lauf. Die
Kleider der Kinder flatterten im Propellerwind.
Aus des Jungen Brust arbeitete sich ein Schrei empor. Aber gegen den Sturm wurde
er nicht zum Laut. Keuchend standen sie jetzt hinter dem rechten Flügel der Maschine.
Heinz hüpfte empor, als könnte er im Sprung die Fenster der Kabine erreichen, hinter denen
menschliche Schatten hin und her huschten. Als der Propeller endlich ausschwang, rief er:
»Doktor Heise, Doktor Heise!«
Er legte die Hände um den Mund und schrie noch lauter:
»Doktor Hei-se!«
Die Aufmerksamkeit des Assistenten hatte der Luna gegolten, die auf der anderen
Seite lag. Jetzt, da das Motorengeräusch schwieg, hörte er von einer hellen Stimme seinen
Namen rufen. Er sprang hinüber und sah durchs Fenster zwei persische Kinder, von denen
eines, offenbar ein Knabe, wild mit den Armen fuchtelte.
Bordmonteur Henning öffnete die Tür und trat auf die Tragfläche hinaus. Er blickte
lächelnd zu den Kindern hinab.
»Was schreist du denn so?« fragte er.
»Doktor Heise! Da!« Heinz zeigte auf das Fenster.
»Kennst du ihn denn?«
»Ja, natürlich!«
»Warte, ich bringe die Leiter!«
Der Mann ging in die Kabine zurück und kehrte mit der Einstiegtreppe wieder, die er
neben dem Flügel einhängte. Er hatte kaum Zeit, sie zu befestigen, da war Heinz schon
hinaufgeentert. Fatimas schwarze Augen blickten ihm ängstlich nach. Der mitleidige
Monteur rief:
»Komm doch, komm!«
Soviel Deutsch verstand sie zwar schon, trotzdem schüttelte sie aber den Kopf, daß
87
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
die Zöpfe flogen, und wich einen Schritt zurück. Da sprang der Mann lachend hinab, nahm
die Überraschte auf den Arm und kletterte mit ihr die Treppe hinauf. Fatima wehrte sich
verzweifelt und zerkratzte ihm das Gesicht. Er aber ließ nicht los und stellte sie neben
Heinz, der gerade Professor Frenzen, Dr. Heise und Martin begrüßte und ihnen dann seine
verschüchterte Freundin vorstellte.
Auch die Flugzeugbesatzung versammelte sich um die beiden Kinder und lauschte
Heinzens Bericht, bei dem es allerdings wie Kraut und Rüben durcheinanderging, bis dem
Jungen die Gefahr zum Bewußtsein kam, in der auch die Neuankömmlinge schwebten.
»Sie müssen sofort weiterfliegen«, sagte er hastig, »sonst beschlagnahmen die
Amerikaner auch Ihr Flugzeug und lassen Sie als Spione verhaften.«
Er schaute besorgt aus dem Fenster. Aber die Perser hielten sich in ziemlicher
Entfernung, weil ihnen dieses Flugzeug allzu nahe bei der Teufelskugel zu stehen schien.
Nur ein paar amerikanische Flieger waren herbeigeeilt und schnüffelten neugierig um die
europäische Konkurrenz herum; hinaufzuklettern wagten sie nicht.
»So schlimm wird es wohl nicht gleich werden«, meinte Frenzen, und Niedermayer
fügte hinzu: »Weiterfliegen, in der Dunkelheit? Wohin?«
»Wir lassen doch den Professor Habermann und seinen Apparat nicht im Stich, um
uns selbst in Sicherheit zu bringen.!« protestierte Heise. »Wir sind nicht hierhergekommen,
um vor der ersten Gefahr Reißaus zu nehmen.«
»Sie werden uns doch nicht helfen können«, erwiderte Heinz mit finsterem Gesicht.
»Die Amerikaner wollen auf jeden Fall die Luna haben, und wenn sie den Treibstoff finden,
den Sie mitbringen, dann werden sie ihn fortnehmen, damit die Luna nicht wieder starten
kann.«
»Dann bringen wir die Sprit- und Wasserstoffkanister eben in Sicherheit, ehe die
Amerikaner kommen!« schlug Henning vor; er war ein Mann der raschen Entschlüsse.
»Aber wie?«
»Vergraben!« Zögernd nur hatte Heinz den Vorschlag gemacht.
»Richtig!« rief Henning. Er lief zum Werkzeugkasten und brachte Spaten und
Kreuzhacken herbei.
»Immer langsam mit die jungen Pferde!« Niedermayer, der Bayer, benutzte gern
Berliner Redensarten, um zu zeigen, wie sehr er zum Großstädter geworden war. »Übrigens
müssen wir dann auch unsere wichtigsten Fluggeräte sicherstellen...«
»... und meine Instrumente«, fügte Frenzen hinzu.
»Aber wir müssen damit warten, bis es dunkel ist, sonst sehen die Amerikaner, wo
wir unser Material hinbringen.«
»Inzwischen gehe ich zu den Behörden«, entschloß sich Frenzen. »Weißt du, wer hier
der höchste persische Beamte ist?« fragte er Heinz.
»Ja, der Kelanter - falls er nicht gerade in Sebsewar ist. Aber ich habe gehört, daß
auch ein hoher Beamter aus Teheran gekommen ist: der Staatssekretär Muchber ed Daule.
Für den wird gerade dort drüben ein Zelt gebaut.«
»Dann gehe ich dorthin. Willst du mich begleiten, Heinz?«
88
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Der Knabe zögerte: »Dann merken die Amerikaner, daß ich Heinz Habermann bin. Wenn doch nur Doktor Riedel hier wäre!«
»Ich begleite Sie, Herr Professor«, sagte Heise. »Der Weg ist nicht weit, wir werden
ihn auch zurück im Dunkeln finden.«
Am Fuß der Treppe standen drei Amerikaner, die Hände in den Hosentaschen.
»Sie werden uns gar nicht mehr hinauslassen«, seufzte Heinz.
»Was?« lachte Henning, indem er die Hemdärmel aufkrempelte. Mit einem Sprunge
war er mitten unter den Amerikanern, die gar nicht an Gegenwehr dachten, sondern alle
drei eilends das Weite suchten.
Es war schon recht dunkel. Nach Westen hin hoben sich allerdings noch die
Silhouetten der Flugzeuge und der Zelte vor einem hellen Himmelsstreifen ab, so daß
Frenzen und Heise ihren Weg fanden. Aber gegen Osten und zur Luna deckte die Nacht
schon alles zu.
»Wir werden gleich einmal nachsehen, wo wir unser wertvollstes Material einbuddeln
können.«
Henning war mit diesemVorschlag Martins durchaus einverstanden. Die beiden
Kinder, die ins Zelt hatten zurückkehren wollen, schlossen sich ihnen an. Als Fatima merkte,
worauf es ankam, führte sie die Männer zu einer Stelle, gar nicht weit vom Flugzeug, wo die
Erde bereits gelockert war. Gholam Ali Khan hatte hier einen Brunnen für sein Vieh bohren
wollen, aber die Arbeit wieder aufgegeben, weil das Grundwasser zu tief lag; Winterregen
hatten die alte Grube eingeebnet. Sie lag günstig jenseits des Flugzeugs, dem Lager
abgekehrt, nahe bei der Luna.
Während die Männer zum Flugzeug gingen, um Spaten zu holen und die Bergung des
Materials vorzubereiten, begaben sich die Kinder zum Zelt. Dort empfing sie der Führer der
Gendarmen mit Vorwürfen. Er war nervös, denn er hatte den Befehl bekommen, das
Flugzeug und die Luna abzusperren und niemand ohne Sondererlaubnis in diesen Bezirk
einzulassen. Wie aber konnte er mit seinen paar Männern einen solchen Befehl ausführen?
Dazu hätte man eine ganze Kompanie Soldaten gebraucht! Er mußte sich mit einem Posten
bei Dr. Riedels Zelt und mit einer Patrouille begnügen, die im großen Bogen das Flugzeug
und die Luna umkreiste.
* * *
Am Zeltplatz des Staatssekretärs Muchber ed Daule herrschte große Aufregung.
Perser, Amerikaner und Engländer wimmelten durcheinander wie die Bewohner eines
Ameisenhaufens, in dem ein Junge mit seinem Stock gestochert hat.
Den beiden deutschen Gelehrten fiel es nicht schwer, den Mittelpunkt dieses Haufens
zu finden. Dort stand eine dichte Menschengruppe, die sich gerade auflöste. Männer in
amerikanischen Uniformen entfernten sich eilig in Richtung auf das USA-Flugzeug.
Frenzen sprach den einzigen europäischen Zivilisten an, den er entdecken konnte es war der Reuter-Korrespondent Whitman - und fragte nach dem Staatssekretär Muchber
ed Daule.
»Muchber ed Daule? O yes, there!« Der Gefragte wies auf einen hochgewachsenen
Perser hin.
89
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Vor diesem verneigte sich Frenzen höflich und nannte seinen Namen. Dann stellte er
seinen Begleiter Dr. Heise vor. Die Verständigung war schwierig, denn Muchber konnte nicht
Deutsch, die beiden Deutschen aber nicht Persisch. Schließlich einigte man sich auf die
englische Sprache, die alle drei einigermaßen beherrschten, und wenn es gar nicht
weitergehen wollte, half der geschickte britische Journalist aus.
Frenzen schilderte den Zweck seiner Reise und bat um den Schutz und die
Unterstützung der persischen Behörden. Muchber wand sich wie ein Aal. Er bedauerte
unendlich... Er selbst habe keine Ursache, irgend etwas gegen die Herren zu unternehmen.
Aber er wisse nicht, was seine amerikanischen und englischen Freunde tun würden. Die
Herren würden verstehen: Persien sei mit der USA und mit Großbritannien verbündet. Er
müsse die Herren bitten, einstweilen in ihrem Flugzeug zu bleiben, bis er nähere
Anweisungen von seiner Regierung erhalte. Die Luna sei von den persischen Behörden
beschlagnahmt, sie dürfe auf keinen Fall abtransportiert werden, und gegen Professor
Habermann sei Steckbrief wegen Spionageverdachts erlassen.
»Dann lassen Sie wenigstens unseren Landeplatz absperren«, bat Frenzen, »damit
wir vor Übergriffen Unberufener sicher sind.«
Muchber lächelte hintergründig: »Das ist bereits geschehen. Ich werde Ihnen einen
Beamten mitgeben müssen, der Sie durch die Postenkette zurückführt.«
Auf dem Rückweg schloß sich Whitman den Deutschen an. Er schilderte ihnen die
verzwickte Lage. Links hinter ihnen kam Motorengeräusch näher. Grelle Scheinwerfer
schnitten durch die Dunkelheit. Zwei Fahrzeuge ratterten an ihnen vorbei, ein Personen-
und ein Lastkraftwagen mit einem Maschinengewehr auf dem Führerhaus.
Die beiden Wagen hielten bei dem deutschen Flugzeug, das sich nun im grellen Licht
der Scheinwerfer deutlich von seiner dunklen Umgebung abhob. Das Maschinengewehr
knatterte los. Drei Salven zischten über den deutschen Apparat hinweg.
Obwohl sie in der Grube gedeckt standen, zogen Martin und Henning die Köpfe ein.
»Da sind sie schon«, flüsterte der Monteur. »Es ist ein Segen, daß wir das ganze
Material schon hierher geschafft haben. Hoffentlich entdecken sie uns nicht; nur kein
Geräusch machen!«
Ein paar amerikanische Offiziere aus dem PKW rannten mit vorgehaltener Pistole zu
der deutschen Maschine, einige Soldaten mit Karabinern kletterten von dem LKW und
folgten ihnen. Im Rumpf des Flugzeugs hörte man die Amerikaner rumoren und schimpfen.
Dann polterten schwere Gegenstände aus dem Flugzeug zu Boden. Dazwischen hörte
man ein Plätschern wie einen Regen.
»Jetzt lassen sie uns das Benzin auslaufen!« klagte Henning.
»Sollen wir denn mit Spucke zurückfliegen?« fügte er wütend hinzu.
Die Plünderung dauerte mindestens eine halbe Stunde. Dann verließen die
Amerikaner das Flugzeug. Sie schleppten die Gegenstände, die sie herausgeworfen hatten,
zu ihrem Lastkraftwagen und nahmen sie mit sich.
Henning schlich mit Martin zu der wieder im Dunkeln stehenden Maschine. Die war
völlig ausgeraubt. Die Gangster hatten auch die Lebensmittelvorräte der Expedition
fortgeschleppt. Niedermayer lief hin und her wie ein gefangenes Raubtier. Die anderen aber,
zu denen sich bald Frenzen und Heise gesellten, saßen niedergeschlagen herum. Nur
90
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Henning und Martin bewahrten ihre Gemütsruhe.
»Was ist da schon bei?« fragte der Mann aus dem Megatron. »Unsere wichtigsten
Instrumente, den Treibstoff für die Luna und sogar den Schutzanzug haben sie nicht
gefunden, weil das alles draußen liegt. Wir werden die Sachen gleich eingraben, damit sie
sicher sind.«
»Und unsere Funk- und Peilgeräte, unser Werkzeug und unsere Ersatzteile sind ihnen
auch nicht in die Hände gefallen«, lachte Henning. »Ich habe schon nachgesehen: Sie haben
bloß die Tanks auslaufen lassen und ein Stück vom Zündkabel rausgeschnitten. Ein
Ersatzkabel habe ich draußen, und Benzin werden wir auch wieder kriegen, und wenn ich es
den Amerikanern selbst unter dem Hintern wegstehlen müßte! Wenn die denken, uns hier
festnageln zu können, dann sind sie schiefgewickelt. - Aber jetzt müssen wir die Grube
zuschütten, damit man morgen früh nichts sieht.«
* * *
Muchber ed Daule war nicht zu beneiden. Einerseits drängten die Amerikaner auf die
Festnahme der deutschen »Spione«, andererseits bestand der britische Militärattache
Oberst Parnell auf seiner Beteiligung an der Untersuchung; er verlangte auch die
Herausgabe der von den Amerikanern »beschlagnahmten« Gegenstände an die persischen
Behörden und aus Gründen der Menschlichkeit die Rückgabe der Lebensmittel an die
Flugzeugbesatzung.
Auch seine persischen Landsleute begannen immer lauter zu murren und den
Amerikanern Schimpfworte nachzurufen. Besorgt um die Sicherheit seiner amerikanischen
Schützlinge, für die er verantwortlich gemacht werden konnte, wagte Muchber tatsächlich,
sie um Nachgiebigkeit zu bitten. Um nicht noch Öl ins Feuer zu gießen, gab Spiller in der
letzten Frage nach:
»Holt euch die Lebensmittel ab!« rief er erbost.
Muchber war froh, wenigstens soviel erreicht zu haben. Er schickte ein paar
Gendarmen mit Lasteseln zu dem Zelt der Amerikaner, um die Konserven zurückzuschaffen.
Wieviel es gewesen war, wußten die Perser natürlich nicht, sie begnügten sich mit dem, was
ihnen die Amerikaner murrend hinwarfen.
Und davon verschwand auf dem Transport auch einiges. Ein dürftiges Häuflein
Büchsen, Kisten und Säckchen lag schließlich neben Dr. Riedels Zelt. Noch näher an das
Flugzeug heranzugehen, weigerten sich die Perser aus Angst vor der Teufelskugel ganz
entschieden. Aber man brauchte auch nur zu winken, da kamen Henning und Martin und
nahmen die Sachen freudig in Empfang.
Auf Anordnung des Arztes hatte Fatima einen Kessel Kaffee gekocht. Den brachten
die beiden Kinder gleichfalls zu der deutschen Maschine. Das hielten die Polizisten für
ungefährlich; Erwachsenen dagegen erlaubten sie keinen Besuch bei den Deutschen.
* * *
Die Amerikaner hatten in der Nacht tatsächlich einen Schweißapparat in Sebsewar
gefunden. Vormittags brachten sie das Gerät mit einem LKW zur Luna. Sie fluchten nicht
wenig, als sie hinter sich zwei Motorräder gewahr wurden, auf denen ihnen der neugierige
Journalist und der britische Militärattaché folgten.
91
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Während die Amerikaner ihren Schneidbrenner abluden und montierten, trat der
britische Offizier zu ihnen.
»Meine Herren«, stellte er ihnen vor, »warum wollen Sie den wertvollen Apparat
zerstören? Was er enthält, kann ich Ihnen in allen Einzelheiten sagen.«
Spiller lachte ihm ins Gesicht: »Woher wollen Sie das wissen?«
Lächelnd erwiderte Parnell: »Von unserem Geheimdienst. Er hat die Kugel natürlich
längst genau untersucht. Aber Sie kennen die Einrichtungen dieses Apparats sicher
gleichfalls. Es ist ja undenkbar, daß der amerikanische Geheimdienst weniger tüchtig ist als
der unsrige.«
Spiller kochte vor Wut und erwiderte grob: »Verschonen Sie mich mit Ihren
Redensarten!« Er setzte die dunkle Schutzbrille auf, um selber das Schweißgerät zu
bedienen, und schob den Engländer beiseite.
Parnell wurde sehr ernst, aber sein Ton blieb verbindlich, als er dem Amerikaner
vorstellte: »Warum wollen Sie sich die Mühe machen, Major? Ich habe in den ausführlichen
Bericht des britischen Geheimdienstes Einsicht genommen und kann Ihnen alles
Wissenswerte über diesen Apparat mitteilen. Da wäre es doch schade, wenn Sie sich durch
Anwendung des Schneidbrenners der größten Lebensgefahr aussetzten und gleichzeitig auch
diesen Apparat zerstörten, der sich doch fest in unseren Händen befindet und in den
nächsten Tagen in aller Ruhe weiter untersucht werden kann. Schon jetzt steht aber fest,
daß es sich um eine Rakete mit Atomtreibstoff handelt.«
Spiller riß sich die Brille vom Gesicht und rief: »Das glaube ich nicht.«
»Wir glauben es nicht nur«, fuhr Parnell fort, »sondern wir wissen es. Und die
Verbrennungen, die sich unser unvorsichtiger Freund McLean zugezogen hat, sind ein
Beweis dafür. Wenn Sie sich nun daranmachen wollten, die Außenhaut aufzuschweißen,
würden Sie dadurch wahrscheinlich sehr bald die Kühleinrichtung in Betrieb setzen, die für
die Verhältnisse des Weltraums berechnet ist und die Temperatur der Kugel in
Sekundenschnelle fast auf den absoluten Nullpunkt senkt. Sie können sich vorstellen, daß
dadurch alles Leben, das sich in der Nähe befindet, vernichtet werden würde, und selbst
wenn die Kühlung infolge irgendwelcher glücklichen Umstände versagte, würden Sie sich
beim Öffnen des Motors auf jeden Fall so schwere radioaktive Verbrennungen zuziehen, daß
Sie kaum noch Zeit haben würden, das auszuwerten, was Sie entdecken. Ich selbst werde
mich jedenfalls schleunigst entfernen, wenn Sie diesem gefährlichen Apparat ernstlich zu
Leibe gehen wollen. Ich bin von unseren Atomfachleuten aufs dringendste gewarnt
worden.«
Der Amerikaner dachte einen Augenblick nach. Dann machte er noch einen
schwachen Versuch, die Behauptungen des Engländers zu widerlegen:
»Der deutsche Professor selbst hat doch nur Wasserstoffsuperoxyd und Alkohol
angefordert. Von Atomkraftstoff war gar keine Rede.«
»Den brauchte er auch nicht zu erwähnen, weil er davon noch genug an Bord hatte.
Schauen Sie her! Durch das Bullauge hier können Sie bereits erkennen, wieviel Hebel sich
an dem Motor befinden. Nach dem uns vorliegenden Bericht dient einer davon dem Zweck,
den Atomkraftstoff zu den Düsen zu leiten oder wieder abzustoppen. Ein zweiter Hebel ist
zur Betätigung des Raketentreibstoffs alter Art bestimmt. Ein dritter Hebel löst die
Kühleinrichtung aus. Jenes runde Gerät dort mit seinem Kranz von Knöpfen ist
92
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
wahrscheinlich die in unserem Bericht erwähnte Einrichtung zur Betätigung der einzelnen
Düsen unabhängig voneinander. Sie sehen: eine verwirrende Fülle von Einzelheiten.
Welcher Gefahr würden Sie sich aussetzen, wenn Sie diesen komplizierten Motor öffneten
und dabei vielleicht einen der Hebel betätigten!«
»Die Hebel muß man natürlich stehenlassen«, erwiderte Spiller. »Aber«, er seufzte,
»wenn die verdammten Deutschen wirklich Atomkraftstoff benutzen... Ich habe mich von
Anfang an gewundert, daß diese schwere Kugel mit Raketentreibstoff bewegt werden soll.«
»Der dient nach unseren Informationen nur für den Start und für die Landung. Für
den Höhenflug wird Atomenergie verwendet. Auf jeden Fall möchte ich Ihnen raten,
zunächst den Bericht unseres Geheimdienstes anzufordern und zu studieren. Da Ihr CIC mit
unserem Intelligence Service Hand in Hand arbeitet, wird man Ihnen das Dokument nicht
vorenthalten.«
Der Amerikaner schüttelte den Kopf.
»Glauben Sie denn noch immer nicht«, fragte Parnell, »daß es sich wirklich um
Atomenergie handelt? Deren Gefährlichkeit kennen Sie doch! An den Düsenauslässen hier
unten sind ja Reste davon nachgewiesen. Denken Sie an McLean!«
Spiller bedachte sich. »So gefährlich kann doch das Zeug nicht sein«, murmelte er.
»Ich will mich wenigstens davon überzeugen. Man könnte irgendein Tier an den Düsen
anbinden. Ist es morgen noch gesund, dann habe ich keine Angst vor dem Ding.«
»Studieren Sie lieber erst unseren Bericht! Ich habe meine Pflicht getan. Good-bye!«
Damit zogen sich die beiden Engländer von der gefährlichen Kugel zurück und
schwangen sich auf ihre Motorräder.
»Die Nomaden haben Schafe genug«, schlug einer der amerikanischen Offiziere vor,
»wir können ja einen Hammel für den Versuch opfern.«
Spiller hatte einen Entschluß gefaßt. »Natürlich«, erwiderte er. »Wir werden bei den
Persern einen Hammel requirieren. Bitte, Hauptmann, übernehmen Sie das, und lassen Sie
sich einen festen Strick mitgeben, damit Sie das Tier hier befestigen können! Bis morgen
früh werden wir dann allerdings mit der weiteren Untersuchung warten müssen.«
93
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
DIE FLUCHT
Whitman hatte erkannt, daß er einen gewandteren und schnelleren Boten für den
Transport seiner Nachrichten zum Telegraphenamt als Jussuf nicht finden würde. Und Jussuf
hatte gern diesen Dienst übernommen, denn dadurch bekam er Gelegenheit, so oft er
wollte, in die Wüste zu fahren und den Professor über die Vorgänge bei der Luna zu
unterrichten. Er brachte auch jedes Telegramm des Engländers zunächst zu Habermann und
ließ es begutachten. Der deutsche Gelehrte hatte schon ein paarmal ohne Wissen Whitmans
kleine Korrekturen an den Manuskripten vorgenommen. So hatte er Einfluß auf die
Geschehnisse, ohne sich selbst großer Gefahr auszusetzen.
Als Jussuf an diesem Tage das Postamt verließ und sein Motorrad besteigen wollte,
bremste neben ihm ein schwerer Lastzug: ein Tankwagen der Anglo-Iranian Oil mit zwei
Anhängern.
Der Fahrer erkundigte sich bei ihm nach dem Wege zu den Flugzeugen in der Wüste,
denen er Treibstoff bringen sollte.
»Da muß ich selber hin«, war die Antwort.
»Setz dein Motorrad hier in den Raum zwischen Fuhrerhaus und Kessel und steig mit
ein!«
Das ließ sich Jussuf nicht zweimal sagen. Er dachte sofort an die leeren Tanks des
deutschen Flugzeugs. Vorsichtig begann er unterwegs:
»Fliegerbenzin ist 'ne feine Sache. Habt ihr nicht 'n paar Liter für mich übrig?«
»Selbstverständlich, soviel du haben willst.«
»Ich habe aber keine Kanister«, meinte er kleinlaut.
»Hast du nicht gesehen? Zehn große Kanister haben wir unter den Anhängern
baumeln. Die können wir alle verloren haben. Wir müssen sie nur verlieren, ehe wir den
Flugplatz erreichen.«
»Natürlich«, stimmte Jussuf eifrig zu. »Wir fahren bei unserm Zelt vorbei und
hängen sie da ab. Das brauchen die andern nicht zu sehen.«
* * *
Mit größter Aufmerksamkeit hatten die Männer vom Deutschen Atominstitut den
Besuch der amerikanischen und englischen Offiziere bei der Luna beobachtet. Ihnen fiel ein
großer Stein vom Herzen, als sie sahen, daß der Amerikaner auf die Verwendung des
Schweißapparats verzichtete.
Eine Stunde später kehrten die Amerikaner jedoch zurück und brachten einen
blökenden Hammel mit. Sie zerrten das Tier in die Grube unter dem Raumschiff und banden
es dort fest. Dann fuhren sie wieder davon.
»Was soll das bedeuten?« fragte Frenzen.
»Sie denken, die Rückreise nach Deutschland dauert lange«, meinte Martin lachend,
»und wollen Professor Habermann mit Verpflegung versorgen.«
Dr. Heise aber vermutete: »Der arme Hammel soll wohl ihr Versuchskaninchen für
94
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
die Gefährlichkeit der Radioaktivität sein.«
»Das glaube ich auch«, nickte Frenzen. »Sie wollen wohl nur sicher gehen. Wir
müssen immer noch damit rechnen, daß sie den Apparat zu öffnen versuchen. Schade, daß
wir das Tier seinem Schicksal überlassen müssen, das Leiden und langsamen Tod
bedeutet.«
»Gebratene Hammelkeule wäre nicht übel«, lachte Martin. »Aber wir brauchen
trotzdem noch nicht zu verhungern. Ein paar Konserven haben wir ja zurückbekommen. Es
ist Essenszeit!«
Die Flugzeugbesatzung war damit beschäftigt, das Essen zu bereiten, als der
Tankzug, geleitet von Jussuf, angerollt kam. Die deutschen Flieger machten begehrliche
Augen, als er nicht weit von ihnen hinter Dr. Riedels Zelt hielt und dort in Sichtdeckung
gegen das amerikanische Lager zehn große Kanister zurückließ. Von Heinz und Fatima, die
ihnen bald danach Kaffee brachten, erfuhren sie, daß der Sprit für sie bestimmt war. Da
brachten sie auf den tapferen Perser ein begeistertes Hoch aus.
Aber wie kriegen wir das Benzin an Bord, ohne die Gendarmen und das ganze Lager
zu alarmieren? Das war die Frage, über die sie sich den ganzen Nachmittag den Kopf
zerbrachen.
* * *
Spiller lief mit umgehängtem Fernglas herum. Er argwöhnte, daß die Engländer sich
einen Schlüssel zur Luna verschafft hatten. Wie hätten sie sonst von der Konstruktion des
Weltraumschiffes Kenntnis erlangen können? Einerlei, er hatte sich vorgenommen, in der
nächsten Nacht einen amerikanischen Posten da draußen auszustellen. Tagsüber blickte er
immer wieder durchs Glas hinüber.
Der Nachmittag war unerträglich schwül. Gegen Abend zog im Südwesten eine
Wolkenwand auf, die bald auch die Sonne verschlang, und kaum eine Stunde später entlud
sich wieder ein Wärmegewitter über der Wüste.
Ehe der Platzregen alles verhüllte, sah Niedermayer, der das Benzinlager nicht aus
den Augen verloren hatte, wie der Polizeiposten in dem Zelt Schutz suchte. Er besann sich
nicht lange.
»Schnell das Benzin holen!« rief er seinen Kameraden zu. »Alle Mann an Deck!«
Für die beiden deutschen Gelehrten war es ungewohnte Arbeit, die schweren
Kanister zu schleppen. Aber sogar Heise, der den gebrochenen Arm noch immer in der
Binde tragen mußte, ließ es sich nicht nehmen, einen Kanister zum Flugzeug zu bringen.
Ehe das Unwetter vorbei war, konnten die Deutschen gerade noch die leeren Behälter
wieder an ihren alten Platz hinter dem Zelt stellen. Und als der Gendarm ins Freie trat, fiel
ihm keine Veränderung auf; er würde auch keine entdeckt haben, wenn es inzwischen nicht
schon dunkel geworden wäre.
Zehn Kanister - das war nicht viel für ein großes schweres Flugzeug, aber es würde
wohl bis zum nächsten Flugplatz eines befreundeten Landes reichen.
Die Deutschen waren naß bis auf die Haut. Schweiß und Regen dampften aus ihren
Kleidern. Aber sie konnten sich keine Ruhe gönnen. Denn kaum war das Gewitter vorüber,
da kam Heinz angetrabt und überreichte Professor Frenzen ein kleines Päckchen:
»Vater schickt den Schlüssel zur Luna und bittet, wenn es irgend möglich ist, noch
95
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
heute nacht die Tanks aufzufüllen.«
Sofort machten sich alle erneut an die Arbeit. Ein leichter Wind trug die Geräusche
des Lagers herüber, er verwehte jedoch das Geräusch der Spaten und der klappernden
Kanister von der Arbeitsstelle der Deutschen zur anderen Seite in die Wüste. Nur wenn die
Gendarmen auf ihrem Patrouillengang diese Außenseite abschritten, mußte man die Arbeit
unterbrechen.
Im Scheine des Mondlichts wurde der Treibstoff zunächst ohne Störung zur Luna
gebracht. Dr. Heise, der einzige, der den Apparat genau kannte, kletterte hinein. Draußen
unter der Kugel lag der Hammel, mit einem Strick an eine der Düsen gebunden, röchelnd
am Boden. Das Tier war schwerkrank, ob nur von der ungewohnten Gefangenschaft oder
infolge der Strahleninfektion, war schwer zu entscheiden.
Heise hielt sich damit nicht auf. Er öffnete die Schraubdeckel des Alkohol- und des
Wasserstofftanks und ließ sich die Kanister reichen, um sie hineinzukippen - alles mit einer
Hand! Da zischte kaum hundert Meter entfernt eine Leuchtrakete hoch und verbreitete für
einige Sekunden Tageshelle. Die Deutschen warfen sich zu Boden und warteten mit
angehaltenem Atem, bis wieder Dunkelheit eintrat. Dann arbeiteten sie mit doppelter Eile
weiter.
Die Leuchtkugel war von einem amerikanischen Wachposten abgefeuert worden. Das
Gewitter hatte die Ausstellung des Postens verzögert, und der junge Flieger, der dann mit
Maschinenpistole, Handgranaten und Leuchtpistole zur Luna geschickt worden war, hatte die
persische Polizeipatrouille getroffen, mit ihr eine Zigarette geraucht und sein Gewissen
durch das Abschießen einer Leuchtkugel beruhigt. Die Gendarmen hatten mit begeisterten
Bewunderungsrufen in das Geprassel und Geglitzer gestarrt, und auch der amerikanische
Soldat war mehr geblendet als erleuchtet. Jedenfalls fiel ihm an der Luna nichts auf. Ihm
graute vor dieser unheimlichen Kugel, er blickte lieber gar nicht hin. Er schloß sich den
Persern auf ihrem Patrouillengang an. Als er sich kurz vor Mitternacht endlich ein Herz
faßte, noch einmal eine Leuchtkugel vorausschickte und dann tapfer auf das Teufelsding
losmarschierte, hatten die Deutschen ihre Arbeit längst beendet. Das leise Stöhnen des
gefesselten Tieres war das einzige, was der Amerikaner nach seiner Ablösung dem Major
Spiller melden konnte. Mit einer Erkrankung des Tieres hatte Spiller gerechnet. Er nickte nur
mißmutig, drehte sich auf die andere Seite, daß das Feldbett krachte, und schlief weiter.
Das Feuerwerk der Leuchtkugeln hatte den Persern außerordentlich gefallen. Als der
amerikanische Posten bei der Luna morgens eingezogen wurde, umringten ihn die
dienstfreien Gendarmen und viele Kinder. Er mußte ihnen die Leuchtpistole und ihre
Munition zeigen und erklären. War es ein Wunder, daß Pistole und Munition im Laufe des
Tages auf unerklärliche Weise verschwanden?
* * *
Habermann ertrug es nicht mehr, in der engen Hütte bei Sebsewar zu sitzen und
abzuwarten. Auch nachdem sich das Unwetter verzogen hatte, war sein Schlaf unruhig
gewesen, und am frühen Morgen ging er zu Dr. Riedel.
Der hatte sich von Libberlib eine Tasse Mokka auf türkische Art filtern lassen, so
dick, daß der Löffel drin stehen konnte, und bereitete sich darauf vor, endlich einmal wieder
seine Vormittagssprechstunde abzuhalten. Aber daraus wurde nichts. Habermann drängte
so lange, bis der Arzt seinem Hausmeister Anweisung gab, den Wagen fertigzumachen und
96
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
die Patienten fortzuschicken. Habermann wollte lieber jede Gefahr auf sich nehmen als die
Ungewißheit länger ertragen.
Beide Männer waren sich darüber im klaren, daß die Entscheidung unmittelbar
bevorstand. Wenn Habermann zur Luna zurückkehrte, mußte er auch bald mit ihr starten
oder Entdeckung befürchten. Und was wurde aus Riedel, wenn es den deutschen »Spionen«
gelang, sich der Festnahme zu entziehen? Würde man ihn nicht dafür verantwortlich
machen? Das waren die Fragen, die beide auf der langen Fahrt bewegten.
»Kommen Sie mit nach Deutschland!« schlug Habermann vor. »Wir brauchen
tüchtige Männer. Viele Millionen Umsiedler haben in Deutschland Arbeit, Brot und Obdach
gefunden. Unser Land wird auch Sie mit offenen Armen aufnehmen, gerade Sie als Arzt.«
»Obwohl ich die Dummheit begangen habe, eine Meldung an Reuter zu geben?«
zweifelte Riedel.
»Fehler machen wir alle«, beruhigte ihn Habermann. »Es kommt nur darauf an, daß
wir sie einsehen und versuchen, sie wieder gutzumachen und ähnliche Fehler künftig zu
vermeiden. Wer diese Grundsätze von Kritik und Selbstkritik anerkennt und danach handelt,
der ist bei uns stets willkommen.«
Als sie bei dem Zelt eintrafen, sahen sie an der Luna eine Menschenansammlung,
aus der ihnen lebhaft zugewinkt wurde. Riedel tat, als sehe er es nicht, denn er wollte
zunächst Professor Habermann im Zelt verbergen. Aber kaum hielten sie dort, da kam auf
seinem Motorrad der Reuter-Korrespondent angeprescht, eine dicke Staubfahne hinter sich
herschleppend.
»Kommen Sie gleich mit, Doktor«, rief er, ohne abzusteigen, »Spiller hat gestern an
der Luna einen Hammel angebunden. Das Tier ist schwerkrank. Sie werden ein gutes Werk
tun, wenn Sie feststellen, daß es mit Atomzerfallprodukten infiziert ist.«
Riedel seufzte: »Na schön. Ich fahre gleich hin; mein Besteck habe ich hier im
Wagen.« Dann wandte er sich an Habermann, der noch neben ihm saß und durch das
heruntergekurbelte Fenster die Hand seines Sohnes gefaßt hatte. »Steigen Sie aus!«
flüsterte er ihm zu.
Aber den deutschen Gelehrten zog es unwiderstehlich zu seiner Luna. Er erwiderte
ebenso leise: »Ich komme mit; ich werde mich im Wagen verstecken. Wenn ich jetzt
aussteige, sieht mich Whitman.«
Heinz öffnete den Schlag und schlüpfte auf einen der Rücksitze. »Ich bin Ihr Diener«,
lachte er. »Ich muß mit anfassen.« Der Junge legte die Arme um den Hals des Arztes und
preßte seine Wange an dessen Gesicht. Da brummte Riedel nur noch etwas
Unverständliches und ließ den Motor wieder anspringen.
Whitman hatte bei dem Knattern seines Motorrades von dem Gespräch im Wagen
nichts verstehen können. Jetzt folgte er besorgt der Spur des Autos.
Als sie zur Luna kamen, bemächtigten sich Dr. Riedel und Heinz des Besteckkastens
und öffneten ihn. Sie entnahmen ihm Gummischürze und -handschuhe, die der Arzt
sorgfältig anlegte.
»Zunächst, meine Herren«, so mahnte Dr. Riedel, »treten Sie ein paar Schritte
zurück! Wenn es sich wirklich um Atomverbrennungen handelt, ist die Berührung, ja sogar
die Nähe des infizierten Tieres gefährlich. - Noch einen Schritt!« bat er, als die Offiziere
97
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
seiner Aufforderung nur widerwillig nachkamen.
Dann beugte sich Riedel über das Tier, das unmittelbar vor der Luna lag und nur
noch schwache Lebenszeichen von sich gab. Er zupfte am Fell des Hammels. Die Haare
fielen fast von selbst aus. Die freigelegte Haut war schleimig erweicht. An einigen Stellen
löste sie sich bereits vom Fleisch. An den Vorderbeinen lagen die Knochen bloß, weil das
Tier gestrampelt hatte und dabei das zerstörte Gewebe abgefallen war.
Riedel erhob sich und trat zu den Offizieren.
»Es ist gar kein Zweifel«, so erklärte er ihnen, »daß es sich um radioaktive
Verbrennungen schwerster Art handelt, wie man sie ganz ähnlich an den Menschen in
Nagasaki und Hiroschima und an den Tieren auf dem Atoll Bikini nach dem amerikanischen
Atombombenversuch beobachtet hat.«
Er schilderte diese Symptome im einzelnen unter Hinweis auf das am Boden liegende
Tier, das gerade in diesem Augenblick nach einem letzten Röcheln von den Leiden erlöst
wurde, die der Amerikaner ihm auferlegt hatte.
»Der Kadaver«, fuhr Dr. Riedel fort, »muß tief verscharrt werden, denn er verpestet
die Umgebung nicht nur durch seine Verwesung. Wir werden ihn einstweilen in die Grube
unter dem Weltraumschiff werfen, die ohnehin verseucht ist.«
Spiller war neugierig zu dem toten Tier getreten. Er stieß mit der Stiefelspitze gegen
seine Schnauze. »Verreckt«, stellte er fest. Dann ließ er seine Augen über den entstellten
Kadaver schweifen. Ein Grauen kroch ihm über den Rücken. »Brrr!« schüttelte er sich. Mit
einer abwinkenden Geste des Ekels trat er zu seinen Kameraden.
Riedel reichte Heinz ein zweites Paar Gummihandschuhe und half ihm hinein. Dann
packten beide zu und warfen den Kadaver in die Grube unter der Luna; dort würde er beim
Start des Apparats in Atome zerblasen werden. Nur eine flache Erdgrube würde
zurückbleiben, die vielleicht noch einige Zeit etwas radioaktiv, aber kaum mehr eine Gefahr
für die Wüstenbewohner sein würde.
Der kleine persische Diener des Arztes hatte bei den Amerikanern keinen Argwohn
erregt, und Habermann hatte sich im Wagen geduckt, so gut es ging. Für ihn stand es fest,
daß er in der nächsten Nacht mit der Luna starten würde. Aber dazu mußte er mit der
Flugzeugbesatzung in Verbindung treten, und der persische Polizeiposten ließ leider, außer
den Kindern, niemand zu den Deutschen hinübergehen. Heinz litt nach der Rückkehr ins Zelt
an einem plötzlichen Unwohlsein, war sehr schwach und hatte Kopfschmerzen. Daher mußte
Fatima mit schriftlichen Botschaften die Vermittlerin spielen.
Auf diese etwas umständliche Weise wurde verabredet, daß Habermann, sobald die
Dunkelheit einsetzte, mit seinem Sohn und mit Dr. Riedel zum Flugzeug schleichen sollte.
Von dort würde der Professor dann in Begleitung Martins mit dem Schutzanzug, dem
Strahlensuchgerät und dem sonstigen Werkzeug zur Luna gehen. Sobald dort alles in
Ordnung gebracht wäre, sollte Martin den Schutzanzug zum Flugzeug zurückbringen. Eine
Viertelstunde später würde Habermann durch Blinkzeichen mit der Taschenlampe anzeigen,
daß er in wenigen Minuten starten werde. Dann würden die Propeller angeworfen werden,
und das Flugzeug sollte zugleich mit dem Weltraumschiff in die Nacht hinaus starten.
Leider kann man bei einem so schwierigen Unternehmen nicht alle Störungen
vorausberechnen, die unter Umständen eintreten können. Die erste Schwierigkeit bildete die
Tatsache, daß Spiller die Bewachung des Weltraumschiffes verschärft hatte. Er hatte ein
98
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Auto bis auf 50 m an die Luna heranfahren lassen, so daß diese im Scheinwerferlicht stand.
In dem Wagen saßen, soweit man das vom Zelt und vom Flugzeug aus beurteilen konnte,
außer dem Fahrer zwei Amerikaner, von denen ab und zu einer zur Luna ging und dann zum
Wagen zurückkehrte.
Die zweite Erschwerung brachte die Erkrankung des jungen Habermann. Er wurde
von Fieberfrösten geschüttelt, und Dr. Riedel hielt seinen Zustand für ernst. Um radioaktive
Schädigungen handelte es sich aber nicht. Heinz konnte natürlich nicht zurückgelassen
werden. Der Arzt war schon vorher halb entschlossen gewesen, mit nach Deutschland zu
gehen. Jetzt wußte er: Er würde den Kranken nach Haus begleiten.
Jussuf, der ein Telegramm zur Stadt gebracht hatte, hielt zu kurzem Besuch bei
Riedels Zelt. Habermann teilte ihm seine Sorgen mit: Wie konnte er zu der von den
Amerikanern bewachten Luna gelangen?
»Wir müssen die Amerikaner ablenken«, meinte der junge Perser. »Aber wie?«
Mehrere Vorschläge wurden erwogen und verworfen. Schließlich sprang Jussuf auf:
»Ich hab's! Wir kokeln den Amerikanern ihr Zelt über dem Kopf ab. Dann haben sie
mit sich zu tun und können sich nicht um die Luna kümmern.«
»Und wenn man Sie dabei erwischt?«
»Mich?« Der Perser lachte. »Ich bin gar nicht dabei. Das macht unsere
Jugendgruppe, die schon lange darauf brennt, sich praktisch zu betätigen, besonders wenn
es gegen die Amerikaner geht. Fast alle unsere Jungen aus Sebsewar lungern seit
vorgestern hier herum. Heute haben sie den Amerikanern eine Leuchtpistole samt Munition
wegstibitzt. Ich habe noch ein paar Kanister Benzin, die lasse ich mir von den Jungen
wegnehmen. Kann ich dafür, wenn einer von ihnen das Benzin bei dem Amerikanerzelt
auskippt und wenn nachher von weitem eine Leuchtkugel in das benzingetränkte Zelt
zischt? Es wäre das beste, wenn Sie jetzt gleich hinter mir aufs Motorrad klettern und ich
Sie zu dem deutschen Flugzeug bringe. Der Gendarm kann uns...« Er mutete dem braven
Mann die gleiche Handlung zu, die Götz von Berlichingen nach dem Zeugnis Goethes dem
Kaiser anriet. »Doktor Riedel und Ihr Sohn müssen nachher den allgemeinen Tumult
benutzen, um das Flugzeug zu erreichen«, meinte Jussuf abschließend.
Der Plan war gewagt, aber der Perser ließ ihnen keine Zeit zu langem Überlegen. Er
zerrte den Professor mit hinaus, wechselte ein paar Scherzworte mit dem Gendarmen und
trat auf den Starter. Knatternd sprang der Motor an. Jussuf saß auf und zog den Professor
hinter sich. Schon fegte das Motorrad davon und im Bogen zu dem deutschen Flugzeug hin.
Als der Polizist das merkte, rief er zwar »Halt, halt!«, aber es war zu spät. Der Gendarm
wußte, daß es ein aussichtsloses Unternehmen sein würde, auf das Geknatter im Dunkeln
etwa zu schießen. Er dachte gar nicht daran.
Fatima vergoß bittere Tränen, als sie erfuhr, daß die Abschiedsstunde geschlagen
habe. Die wenigen Tage des Zusammenlebens mit den Deutschen hatten ihr eine neue Welt
erschlossen. Besonders aber war sie geistig gewachsen an den Aufgaben, die ihr zur
selbständigen Erfüllung übertragen worden waren. Und nun sollte sie wieder in das dumpfe
Zelt ihres Vaters zurückkehren?
Für die Deutschen in Riedels Zelt und im Flugzeug schlichen die Stunden unerträglich
langsam dahin. Würde Jussufs Plan gelingen?
Heinz lag im Fieber. Seine Zähne klapperten. Fatima flößte ihm kühlen Scherbet ein.
99
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Da blitzte draußen in der Nähe des Amerikanerzeltes eine Leuchtkugel auf; sie
brannte auf dem Erdboden ab. In ihrem Schein wimmelten dunkle Gestalten um das Zelt.
Da zischte es wieder, ein zweiter Brand loderte auf dem Felde und bald ein dritter. Jetzt
züngelte eine Flamme empor, hohe Stichflammen folgten, und schon bildete das ganze Zelt
eine wabernde Lohe. Feuerfetzen flogen hoch in den Himmel. Darüber aber entfalteten sich
immer mehr Leuchtraketen: weiße, rote, grüne. Es war ein großartiges Feuerwerk, das alle
Augen auf sich lenkte.
Nur Habermann und Martin achteten nicht mehr darauf. Sie hatten längst
bereitgestanden und hasteten nun zur Luna hin, keuchend unter der Last, die sie zu
schleppen hatten. Jetzt zuckte der Scheinwerfer über sie hin, denn der Fahrer des
amerikanischen Wagens wendete zu dem brennenden Zelt hin und fuhr davon. Die Luna lag
im Dunkel. Aber die beiden Deutschen waren schon ganz nahe.
Hastig streifte Habermann den Schutzanzug über. Er kletterte in die Luna und ließ
sich das Werkzeug reichen. Sorgfältig untersuchte er die Kugel innen und außen mit dem
Strahlensuchgerät. Im Schein der flackernden Lohe konnte er erkennen, daß zwar an den
Düsen in der Grube ein leichter Ausschlag der Nadel erfolgte, daß aber lebensgefährliche
Strahlungen sonst nirgends auftraten. Da zog er den schweren Schutzanzug aus. In dem
Augenblick, da er ihn dem draußen wartenden Martin zureichen wollte, sprangen die
Flugzeugmotore an.
»Zu spät!« rief der Professor. »Sie kommen nicht mehr rechtzeitig zum Flugzeug. Sie
müssen mit mir reisen.«
»Jawohl, Herr Professor!« Martin war hocherfreut über die Reise im Weltraumschiff,
von der er schon oft geträumt hatte. Er zitterte vor Erwartung, als er hineinkletterte.
Habermann schaltete das Radargerät ein und legte die Kopfhörer an. Zu seiner
Genugtuung hörte er alsbald das Zeichen des Senders vom Atominstitut. Jetzt kam es nur
darauf an, daß der Motor einwandfrei ansprang und lief. Sorgfältig schloß er den Einstieg,
schaltete den Luftreiniger ein und gab dann durchs Fenster das Blinksignal mit der
Taschenlampe.
Drüben hatte man ihn verstanden und zeigte das Gegensignal. Die Flugzeugmotoren
heulten lauter. Die Flieger waren sich wohl darüber im klaren, daß sie auf Martin nicht mehr
warten konnten, sondern ihn seinem Schicksal überlassen mußten.
Erleichtert seufzte Habermann auf. Er schob Martin auf einen der Sessel und setzte
sich ihm gegenüber. Mit einem letzten Blick auf den bereits sinkenden Brand des
amerikanischen Zeltes und einem stillen Dank an den treuen Helfer Jussuf drückte er den
Starthebel nieder.
* * *
Als das Feuerwerk bei dem Amerikanerzelt begann, hatte Riedel den Jungen
aufgerüttelt:
»Wir müssen zum Flugzeug!«
Während sich Heinz mit Fatimas Unterstützung mühsam aufrappelte, ergriff der Arzt
den bereitgestellten Kasten mit Instrumenten und Heilmitteln und trat vors Zelt. Er tauschte
mit dem Gendarmen Vermutungen über das aus, was da drüben vor sich ging. Hinter ihm
wankten die beiden Kinder aus dem Zelt, fest aneinandergeschmiegt, Heinz von einer Decke
umhüllt. Der persische Polizist, dessen Augen wie gebannt an dem lodernden Brande
100
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
hingen, achtete nicht darauf, daß sich die Kinder zu dem Flugzeug hin entfernten. Als sich
jetzt mit lauten Rufen die Patrouille näherte, ging er ihr entgegen.
Diesen günstigen Augenblick benutzte Riedel, um hinter Heinz und Fatima
herzueilen. Er nahm den Jungen auf dem Arm und schritt rüstig aus.
»Geh zurück, Fatima!« keuchte er.
Aber das Mädel hatte seinen Entschluß gefaßt:
»Ich bleibe bei Heinz.«
Frenzen stand wartend an der Einstiegtreppe. Er nahm dem Arzt den Knaben vom
Arm und brachte ihn in die Kabine. Auch Fatima hatte schon einen Fuß auf die Treppe
gesetzt, da tauchte unter ihr eine dunkle Gestalt auf; sie stieß einen Schrei aus. Aber es war
nur Henning, der das Fahrgestell kontrolliert hatte. Lachend trug er das aufgeschreckte Kind
hinauf und setzte es neben Heinz, den Professor Frenzen in einen Sessel gebettet hatte. Als
letzter kam der Arzt, schwer atmend unter der Last seines Besteckkastens.
Man wartete auf Martin und auf das Zeichen von der Luna. Unsäglich langsam
schlichen die Minuten. Niedermayer ließ die Motoren anwerfen. Einer nach dem anderen
begann sein Lied, keiner versagte; erleichtert hörte der Flugkapitän sie singen.
Aber Martin kam noch nicht, obwohl der Brand des amerikanischen Zeltes schon am
Erlöschen war.
Da, die Stimme des Funkers: »Blinkzeichen von der Luna!«
Niedermayer blickte hinaus. Wahrhaftig, Habermann gab das verabredete Signal.
Dann konnte man nicht mehr auf Martin warten. Er steigerte die Umdrehungszahl der
Motoren.
»Antwortzeichen an Luna geben!«
»Verstanden!« antwortete der Funker.
Alle schauten zur Luna hinüber. Da: ein Feuerschein, eine Erschütterung, ein Knall
und ein durchdringendes Zischen. Mit einem glühenden Schweif wie ein Komet enteilte die
Luna in die Nacht.
Niedermayer zögerte nicht mehr; er wollte sich nicht der Gefahr aussetzen, von den
Amerikanern festgehalten oder wenigstens beschossen zu werden.
»Einstieg schließen. Bremsen los!«
Schon kamen die Antworten: »Einstieg geschlossen!« - »Bremsen sind los!«
Laut aufheulten die Motore und erschütterten das ganze Flugzeug. Der Scheinwerfer
zitterte voraus und tastete das Feld ab. Stoßend begann sich der Apparat
vorwärtszubewegen. Bald aber hörte die Erschütterung auf: die schwere Maschine mit ihrer
Menschenfracht schwebte, hob sich. Niedermayer nahm Kurs auf die Heimat.
Aber mit wenig Benzin in der Nacht nur nach dem Kompaß fliegen...
»Suchen Sie Verbindung mit dem nächsten sowjetischen Nachtflughafen !« forderte
Niedermayer den Funker auf.
Nach wenigen Minuten hatte dieser das Erkennungszeichen des Flugplatzes Baku in
den Kopfhörern.
101
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Gut«, entschied der Flugkapitän, »melden Sie hinunter, daß wir in Baku landen und
tanken wollen!«
* * *
Heinz lag im Fieber. Nur undeutlich erkannte er die Gesichter Dr. Riedels und
Fatimas, die sich um ihn bemühten. An dem festlichen Empfang, der dem deutschen
Flugzeug und seinen Insassen morgens in Baku bereitet wurde, konnte er nicht teilhaben.
Nur wie ein fernes Brausen drangen die Rufe von draußen an sein Ohr.
Als man ihn in sein heimatliches Bett legte, rief ihn die Berührung mit dem frischen
kühlen Linnen für kurze Zeit voll ins Bewußtsein zurück. Er erkannte das besorgte Gesicht
des Vaters, die brennenden Augen Fatimas und die vertraute Gestalt Dr. Riedels. Aber nur
von weit her vernahm er die Stimme des Arztes:
»Wahrscheinlich Flecktyphus, übertragen durch die Läuse. In wenigen Tagen werden
wir es genau wissen.«
Dann verfiel Heinz wieder in unruhigen Schlaf.
Und das Fieber stieg und gaukelte dem Jungen schreckliche Bilder vor. Er rief nach
dem Vater, aber wenn der an sein Bett trat, erkannte er ihn nicht. Die Arbeit des Vaters war
es, um die die Gedanken des Kranken immer wieder kreisten. In gesunden Tagen hatte er
gelernt, daß eine Beschleunigung von Körpern über die Geschwindigkeit des Lichts hinaus
unmöglich war, und daß kein Mensch aus der Zeit herausgelangen konnte, in der er lebte.
Aber im Unterbewußtsein haftete dieser Gedanke immer noch, und jetzt, da die Krankheit
die Kontrolle des Bewußtseins über das Denken aufgehoben hatte, kehrte diese Phantasie
immer zurück: Der Vater war in eine andere Zeit gereist und nicht zurückgekommen! Wo
war der Vater?
102
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
SPARTACUS
Professor Frenzen hatte einen neuen Stoff entdeckt, dessen Atomzerfall noch größere
Energien entwickelte als die bisher bekannten Treibstoffe. Damit konnten die
Weltraumschiffe bis zur Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden. Darüber hinaus aber war
es Professor Habermann unter Verwendung des Resonanzprinzips sogar gelungen,
Strahlenschwingungen »hinaufzuschaukeln«, so daß er Körper auch noch über die
Lichtgeschwindigkeit hinaus in Bewegung zu setzen vermochte.
Und nun war Habermann mit der Luna zu seiner ersten Reise ins Altertum gestartet.
Als Ziel hatte er einen Punkt in Mittelitalien etwa hundert Jahre vor dem Auftreten des Jesus
von Nazareth gewählt, weil er die Weltsprache jener Zeit, das Lateinische, einigermaßen
beherrschte.
Aber er hatte nur drei Tage fortbleiben wollen, und diese Frist war abgelaufen. Heinz
wußte, daß der Vater eine Kopie seiner Berechnungen für die Fahrt der Luna ins Altertum
und auch Tabellen für eine Hilfsexpedition mit dem »Mars« zurückgelassen hatte für den
Fall, daß er nicht zur festgesetzten Zeit zurück sei. Dr. Heise konnte mit seinem
gebrochenen Arm diese Reise nicht unternehmen. Er selbst, Heinz, mußte den Vater retten!
Rastlos suchte er in des Professors Schreibtisch nach den Berechnungen. Dabei fiel
ihm der Schlüssel zum Panzerschrank in die Hände. Er ging ins Laboratorium und fand dort
im Safe endlich die Tabellen.
Aber Professor Frenzen machte große Schwierigkeiten, und erst den vereinten Bitten
von Dr. Heise, Martin und Heinz gelang es, den Leiter des Instituts zur Hergabe des neuen
Treibstoffs für die Fahrt des »Mars« zu veranlassen.
An den Start und an die Fahrt erinnerte sich der Junge nicht mehr. Der Stoß mußte
wohl so stark gewesen sein, und alles mußte so schnell gegangen sein, daß er während
dieser Zeit bewußtlos war.
Aber jetzt schien hell die Sonne durch das enge Bullauge in den »Mars«. Mit größter
Mühe öffnete Heinz die schwere Stahlklappe über seinem Haupte und blickte hinaus.
Eine unbekannte Landschaft umgab ihn: ein wildzerklüftetes Felsgebirge, bedeckt
von dichten Wäldern, Eichenwäldern mit Blättern von etwas anderer Form, als wir sie in
Deutschland gewöhnt sind. Zwischen den hohen Stämmen standen kleinere Bäume und
Büsche mit lederartigem Laub von tiefgrüner Farbe: immergrüne Gewächse. Bei näherem
Zusehen kamen dem Jungen einige bekannt vor: Das kleinblättrige Gebüsch war sicher
Myrte; es war über und über mit kleinen weißen Blüten bedeckt. Und das Bäumchen
daneben war wohl der dem Kunstgott Apollon heilige Lorbeer. Ganz genau aber kannte
Heinz jene schlanken Gerten, die an dem kleinen Wasserrinnsal ein dichtes, süß duftendes
Gebüsch bildeten: Oleander. Würzig roch es von den kleineren Pflanzen, die auf dem Boden
einen schwellenden Rasen webten: Minze und Thymian und viele andere.
Der »Mars« lag am Rande eines Lorbeerbusches, vor ihm senkte sich eine Alm
ziemlich steil ab. Es war ein Wunder, daß die Kugel nicht hinabgerollt war. Heinz kletterte
hinaus und arbeitete sich durch das dichte Gestrüpp hindurch bis zu einem Felsen, der am
Hang emporragte. Als er näher kam und hinaufschaute, um eine Aufstiegmöglichkeit zu
suchen, stand oben eine Ziege und äugte auf ihn nieder. Plötzlich entfloh sie mit einem
blitzschnellen Satz nach der anderen Seite.
103
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Mit Mühe erklomm der Junge den Fels und suchte mit den Augen die nächste
Umgebung nach dem Hirten ab. Aber er konnte nirgends die Spur eines menschlichen oder
überhaupt eines lebenden Wesens entdecken. Es war wohl eine wilde Ziege gewesen, die
ihn als erste Botin des Naturgottes Pan begrüßt und ihm fast einen panischen Schrecken
eingejagt hatte.
Als er die Blicke weiter schweifen ließ, bemerkte er am jenseitigen Hang des Tales
ein silbernes Glänzen im Laub. Eine Bö strich über den Wald und öffnete für einen kurzen
Augenblick den Blätterschleier. Da schien es Heinz, als liege dort drüben eine Metallkugel.
Mit vor Erregung klopfenden Pulsen stieg er von seinem Beobachtungsposten und
rutschte in das Bachtal hinab. Das Wasser war nicht tief, er konnte von Stein zu Stein
springend hinübergelangen. Aber dann begann ein anstrengender Aufstieg und ein lange
vergebliches Suchen. Erst gegen Abend fand Heinz die Kugel; es war die Luna. Der Vater
war also fast an der gleichen Stelle gelandet wie Heinz. Aber der Professor selbst war nicht
dort, und keine Spur deutete daraufhin, in welcher Richtung er sich entfernt hatte.
Erschöpft setzte sich der Knabe auf einen der Sessel in der Luna und schlief sofort
ein.
Quälender Durst weckte den Jungen. In der Ledertasche neben seinem Sitz fand er
eine Flasche, die er gierig an den Mund setzte. Sie enthielt Zitronensaft. Dankbar gedachte
er des Vaters, der ihm ein Frühstück hinterlassen hatte. Aber zugleich überfiel ihn auch
wieder peinigend der Gedanke: Wo ist der Vater?
Heinz raffte sich auf und kletterte durch den Wald aufwärts, bis er zu einem Weg,
einer schmalen Straße, gelangte. Von der Anstrengung war er noch in Schweiß gebadet.
Sollte er nun der Straße folgen? Und in welcher Richtung? Er entschloß sich, nach links zu
gehen, wo sich der Weg allmählich abwärts neigte.
Aber er hatte kaum ein paar Schritte getan, da sprangen aus dem Gebüsch zwei
Männer, von denen einer ihm einen Sack über den Kopf warf. Heinz fühlte sich von beiden
Seiten gepackt und mitgezerrt. Es ging bald über Stock und Stein, bald auf gebahntem
Wege, meist abwärts.
Schließlich fühlte er eine Schwelle unter seinen Füßen, dann glatten Steinboden, und
am Hall der Schritte erkannte er, daß er in ein Haus geschleppt wurde. Er hörte mehrere
Männer in einer Sprache reden, die ihm zunächst fremd erschien. Dann aber verstand er
einzelne Worte: sie sprachen Latein! Nur mußte er sich erst daran gewöhnen, denn die
Männer verschluckten fast alle Endungen, auf die doch sein Lateinlehrer in der Schule so
großen Wert gelegt hatte, und das C klang bei ihnen immer wie K.
Der Sack wurde ihm abgenommen. Er stand vor einem spitzbärtigen Mann mittleren
Alters, der auf einem Sessel mit Armlehnen, aber ohne Rückenstütze saß und von den
anderen mit dem Namen Spartacus angeredet wurde. Da wußte Heinz, wen er vor sich
hatte: den Führer des großen Sklavenaufstandes, der drei Jahre lang die stolzen Römer in
Angst und Schrecken versetzte. Aber ihm flößte dieser Mann keine Furcht ein. Stand er doch
dem geliebten Freiheitshelden gegenüber, von dem er schon in der Schule so viel gehört
hatte, und den er sich zum Vorbild erwählt hatte. Dies also war Spartacus, den einst Rosa
Luxemburg zum Taufpaten der ersten deutschen Organisation aufrechter Freiheits- und
Friedenskämpfer, der Keimzelle der Kommunistischen Partei Deutschlands, gemacht hatte.
In neugieriger Ehrfurcht betrachtete Heinz diesen Mann, der einen Brustharnisch und
darunter nur eine kurze Tunica, ein Soldatenhemd, trug. An die Füße hatte er Ledersohlen
104
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
mit Riemen gebunden; die Vorderseite der Unterschenkel war durch Beinschienen
geschützt. Den rechten Arm stützte Spartacus auf die Marmorplatte eines kleinen Tisches,
auf dem sein Schwert und sein Helm lagen.
»Wer hat dich ausgeschickt, uns auszukundschaften?« fragte der Sklavenbefreier.
»Nemo, niemand«, erwiderte Heinz. Aber mit diesem einen Wort war auch sein
Latein erschöpft, er fuhr in seinem geliebten Deutsch fort: »Ich suche meinen Vater.«
»Was spricht er für eine Sprache?« Spartacus hatte diese Frage an einen der beiden
Männer gerichtet, die Heinz hereingeführt hatten, einen Riesen mit blondem Vollbart und
nacktem Oberkörper, nur mit einer komischen langen Hose bekleidet.
»Er scheint Germane zu sein«, antwortete der Mann lächelnd, »aber von einem
anderen Stamm als dem meinigen.«
Heinz nickte eifrig; »Germanus sum, ich bin Deutscher.«
Da legte ihm der blonde Hüne die Hand auf die Schulter und fragte in einem Dialekt,
der entfernt an das heutige Oberbayrisch anklang:
»Wo bist du geboren? Wer ist dein Vater?«
So deutlich, wie es hier geschrieben steht, verstand der Junge die Frage allerdings
nicht, er konnte ihren Sinn nur erraten und antwortete deutsch:
»Ich bin aus Berlin, und mein Vater ist Professor Habermann.«
Der Germane schaute ihn mit offenem Munde an und zuckte hilflos die Schultern.
Spartacus aber hatte ein Wort aufgefangen:
»Sagt er nicht: Professor?«
»Mein Vater«, erwiderte Heinz lateinisch an Stelle des Germanen.
»Ah, ein Professor, ein Gelehrter, aus Germanien?«
Heinz nickte.
»Und was tut er hier in den Samnierbergen? Ist er Sklave oder freigelassener Klient
eines Römers?«
Der Junge schüttelte den Kopf und suchte nach einem passenden Wort; schließlich
fand er es:
»Er forscht.«
Spartacus runzelte die Stirn, so daß sich seine dunklen Brauen über der Nase fast
berührten:
»Er forscht uns aus, kundschaftet uns aus?«
Seine hellgrauen Augen sprühten Zornesfunken.
Nochmals schüttelte Heinz den Kopf; er zählte auf:
»Er erforscht Länder, Völker, Tiere, Pflanzen...«
»Du kannst ganz gut Latein.«
»Wenig.«
105
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Spartacus lächelte wieder und sagte zu den beiden andern Männern:
»Er scheint wirklich ein Germane zu sein. Es ist nur erstaunlich, daß er behauptet,
sein Vater sei ein Gelehrter, der eine Forschungsreise macht. Seit wann haben die
Germanen so gelehrte Männer? Aber einerlei! Wenn er Germane ist, so ist er kein Römer.
Und wenn er ein Römerfreund wäre, dann könnte er besser Latein. Sag mir nur«, so wandte
er sich von neuem an Heinz, »wo ist dein Vater?«
»Nescio, ich weiß nicht«, erwiderte der Junge. Wiederum fehlten ihm die Worte, und
er ersetzte sie durch eine drastische Handbewegung, die Spartacus auch richtig verstand.
»Verschwunden?«
Heinz nickte.
»Seit wann?«
»Es sind drei oder vier Tage. Er ist hier in den Wald gegangen und - verschwunden.«
»Meine Freunde suchen das ganze Gebirge ab, und die Holzknechte und die Hirten
sind mit uns im Bunde. Wird dein Vater gefunden, so wird man ihn hierherbringen, wie man
dich hergebracht hat. Aber ich fürchte, daß er den Römern in die Hände gefallen ist, denn
bis gestern streifte hier eine Cohorte des Prätors Cnaeus Caecilius Metellus, den der
römische Senat ausgeschickt hat, die in Capua und in ganz Campanien entlaufenen Sklaven
wieder einzufangen. Das gelingt ihm zwar nicht, aber um so willkommenere Beute wird ihm
ein germanischer Professor sein. Mach kein so trauriges Gesicht! Wir sind dem Metellus auf
den Fersen und jagen ihm die wenigen Gefangenen, die er gelegentlich macht, wieder ab.«
»Ich möchte selbst lieber nach meinem Vater suchen.«
Spartacus lächelte und skandierte wie ein Rezitator:
»Necprid expectes amicos, quod tu agere possies. Erwarte nichts von deinen
Freunden, was selbst zu tun du fähig bist.«
Am Tonfall erkannte Heinz, daß das ein Vers war. Daher fragte er neugierig:
»Hat das ein Dichter gesagt?«
»Jawohl, Quintus Ennius hat es geschrieben, und du willst danach handeln, aber es
paßt schlecht auf deinen Fall. Was kannst du, Knabe, allein ausrichten? Non omnia
possumus omnes, wir können nicht alle alles.«
»Ist das nicht schon wieder ein Vers?«
»Er ist es«, lachte Spartacus, »und er stammt von dem Dichter Caius Lucilius. Ich
freue mich, daß du ein feines Ohr für die Schönheit der Sprache hast. Bald wirst du
lateinisch sprechen wie ein Römer. Und wenn du bei uns bleibst, werde ich dir Unterricht in
einer noch schöneren Sprache erteilen: der Sprache Homers, Anakreons und Sapphos.«
Heinz wunderte sich, daß ein entlaufener Sklave soviel literarische Bildung besaß und
in dem wilden Räuberleben, das er jetzt zu führen gezwungen war, die Neigung verspürte,
Verse zu zitieren.
»Haben wir eine Kammer für den Knaben?« wandte sich Spartacus an den blonden
Bären, und als er nickte, forderte er Heinz auf: »Folge deinem germanischen Landsmann!«
Der Junge zögerte noch; der Rebellenführer ließ es aber nicht zum Widerspruch
106
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
kommen. Er mahnte:
»Bleib bei uns! Nescis quid vesper serus vehat, du weißt nicht, was der späte Abend
bringen mag, - sagt Varro.«
* * *
Das Haus, das Spartacus zu seinem Standquartier erwählt hatte, war die Villa eines
reichen römischen Adligen, des Marcus Scribonius Largus. Die Gutssklaven hatten sich dem
Heere der Aufständischen angeschlossen, der Verwalter des Scribonianums, ein
Freigelassener, war mit seiner Familie zu seinem Herrn nach Rom geflohen. Da die Villa
nicht verteidigt und sofort von dem Oberbefehlshaber selbst besetzt worden war, so hatte
sie keine erheblichen Beschädigungen erlitten. Küche und Keller waren gut versehen und
wurden von ehemaligen Haussklaven versorgt, die zurückgekehrt waren, um ihrem
selbstgewählten Anführer aufzuwarten.
Der antike Herrensitz glich einer Burg. Er lag auf einem Ausläufer der Berge
Samniums nicht weit von der Stelle, wo die Appische Straße den Caudinischen Paß
überschreitet. Von der offenen Terrasse des Hauses konnte man weit in die fruchtbare
Ebene Campaniens hineinschauen und ein langes Stück jener berühmten Heerstraße mit
den Augen beherrschen. Bei klarem Wetter waren die beiden reichen Städte Capua und Nola
zu sehen und zwischen ihnen am Horizont der kegelförmige Vesuv, hinter dem man das
Tyrrhenische Meer nur ahnen konnte. Ein Feldherr, der Campanien erobern wollte, hätte
keinen günstigeren Ausgangspunkt wählen können als das Scribonianum.
Das Hauptgebäude hatte die übliche Form des römischen Hauses. Von der Straße
aus sah man nur eine hohe Mauer mit einer einzigen Unterbrechung, nämlich der schmalen
Tür und dem Fensterchen des Pförtners daneben. Diese kahle Mauer ließ kaum den
Reichtum vermuten, mit dem das Innere verschwenderisch ausgestattet war. Selbst in der
kleinen Kammer des Oberstocks, die Heinz bewohnte, waren die Wände so kunstvoll bemalt,
daß man den Eindruck hatte, man könne durch die Mauer hindurch in eine herrliche
Landschaft sehen.
Obwohl die Kammer keine Fenster hatte, konnte man an einer Seite wirklich in die
Landschaft hinausblicken, nämlich dort, wo die Tür zur offenen Terrasse führte. Und von
draußen drang am nächsten Morgen lautes Geschrei und Hufgetrappel an das Ohr des
Knaben. Er lief hinab zu sehen, was es gebe, und fand vor dem Hause ein Getümmel von
Menschen und Tieren. Ein baumlanger Kerl in der schmucken Offiziersrüstung eines
römischen Centurionen gab Befehle, worauf ein Teil des Zuges in den benachbarten
Wirtschaftshof des Gutes einrückte. Dann kam dieser Anführer zum Tor der Villa, auf deren
Schwelle in Mosaik das Grußwort »Salve« eingelegt war. Jetzt, da er den Mann näher sah,
erschrak Heinz vor den vielen Narben, die dessen Gesicht entstellten, und vor einer
furchtbaren Wunde im linken Oberarm, die kaum verheilt war, - Spuren des früheren
Gladiatorenberufs.
Der Türhüter führte den Mann zu Spartacus, der im Tablinum, dem gedeckten
Empfangsraum zwischen dem offenen Atrium und dem mit gärtnerischen Anlagen
geschmückten Peristylium, saß und Briefe schrieb. Hier hatte auch Heinz gestern vor dem
Sklavenführer gestanden. Um nicht zu stören, blieb der Knabe jetzt im Atrium neben dem
Impluvium, dem Wasserbecken unter der viereckigen Dachöffnung.
»Salve, Astyanax, sei gegrüßt!« rief Spartacus dem Neuankömmling entgegen. »Was
bringst du Neues, alter Kamerad?«
107
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Wir haben einen großartigen Fang gemacht. Rate, wen ich dir bringe!«
»Spanne mich nicht auf die Folter!«
»Das ist meine Rache für den Hieb, den du mir hier über das ganze Gesicht gezogen
hast.«
»Aber Astyanax, ist der nicht längst ausgeglichen durch Hiebe, die du mir versetzt
hast, und die mich an den Rand des Grabes gebracht haben? Waren wir nicht Sklaven und
Gladiatoren? Was ich dir tat, ich habe es dir unter unausweichlichem Zwang angetan, unter
der Fuchtel des Sklavenhalters Lentulus Battuatus und seiner unmenschlichen
Kerkermeister.«
»Und wir würden uns wahrscheinlich eines Tages gegenseitig umgebracht haben,
wenn wir nicht endlich erkannt hätten, daß wir diesen Zwang nicht länger dulden durften.
Und daß wir das eingesehen haben und nun wieder freie Männer sind, das verdanken wir
dir, Spartacus, und darum wird dein Name unsterblich sein!«
Der andere lächelte: »Nicht so große Worte, Freund! Sag mir lieber, wen du
gefangen hast.«
»Der schlimmste Bluthund des Lentulus, der Freigelassene Kalendio, ist mir heute in
die Hände gefallen.«
»Wie, Kalendio, der Oberaufseher der Capuaner Gladiatorenschule?«
»Derselbe. Die Cohorten des Metellus hatten eine ganze Schar Sklaven wieder
eingefangen, und Lentulus hatte seinen Kalendio ausgeschickt nachzusehen, ob nicht einige
seiner Gladiatoren darunter wären, und aus der Zahl der übrigen solche auszuwählen, die
für seine entflohenen Gladiatoren als Ersatz dienen könnten, unter dem Schutz eines ganzen
Manipels Soldaten war er nun mit all den eingefangenen Sklaven unterwegs nach Capua.
Aber der Centurio, der die Wachmannschaft befehligte, war ein Esel. Er hielt es nicht für
nötig, den Hohlweg, über dem wir versteckt lagen, vorher aufzuklären, ehe er
hineinmarschierte. Übrigens schade um den Mann, er hat sich gewehrt wie ein Gladiator, bis
er so erschöpft war, daß ich ihm den Fangstoß geben konnte, den uns Kalendio gelehrt hat.
Und er hat nicht um Gnade gewinselt, wie die meisten Offizierchen in solcher Lage tun. Wie
steht mir seine Rüstung, he?«
Spartacus tat ihm nicht den Gefallen, seiner Eitelkeit zu schmeicheln, sondern fragte
sachlich: »Und die andern?«
»Soweit sie nicht als Speise für die Geier in dem Hohlweg liegengeblieben sind, habe
ich sie mitgebracht. In wenigen Tagen werden wir ja wieder in Capua einziehen. Dann
veranstalten wir eine würdige Totenfeier für unsere gefallenen Kameraden. Können wir
ihnen eine größere Ehre erweisen, als daß wir die Legionäre im Zirkus als Gladiatoren
auftreten lassen?«
»Ich bin dagegen. Wir wollen alles, was Menschenantlitz trägt, aus der Sklaverei
befreien, aber wir wollen uns nicht mit den gleichen Verbrechen beflecken, die unsere
Zwingherren an uns begangen haben.«
»Ich verstehe dich nicht, Spartacus. Du bist doch selbst Gladiator gewesen. Wie oft
hat dein Leben von der Gnade eines adligen Bürschchens abgehangen. Hätte der
Togageschmückte oben in der Loge geruht, den Daumen nach abwärts zu kippen, so hätte
ich dich vielleicht zum Gaudium des römischen Pöbels in Stücke hauen müssen. Und zu
108
A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
diesem Pöbel gehören auch diese Legionäre. Nein, deine alten Kameraden wollen einmal
Herrenblut fließen sehen, sie wollen es einmal erleben, wie sich so ein stolzer Quinte in der
Arena benimmt. Und der Schuft Kalendio soll ihr Vorkämpfer sein! Er soll sie einüben, wie er
uns geschliffen hat.«
Spartacus seufzte. »Warum den Feind noch reizen? Es genügt, wenn wir ihn
besiegen. Wir wollen doch ein neues, schöneres Leben aufbauen und beweisen, daß wir
besser und tugendhafter sind als jene!«
»Hast du den Bericht vergessen, den dir unsere jenseits Capua streifenden Scharen
gebracht haben? Denkst du gar nicht an die ungezählten Kreuze an der Straße nach Rom,
an denen unsere gefangenen Kameraden einen qualvollen Martertod gefunden haben? Hast
du die Empörung der alten Gladiatoren über diese Greuel vergessen? Wenn du ihnen die
Genugtuung versagst, ihre Feinde als Gladiatoren sterben zu sehen, dann hast du alle alten
Gladiatoren gegen dich; und die sind die besten deines Heeres.«
Spartacus suchte Zeit zu gewinnen. »Was bringst du sonst noch?«
»Zweihundertundzwölf befreite Sklaven, darunter sechzehn Gladiatoren. Sie sind alle
bereit, sich uns anzuschließen. Siebenundachtzig sind wehrfähige Männer, einschließlich der
Gladiatoren.«
»Wir werden sie brauchen, wenn wir auf Capua rücken.«
»Nur einer verlangt seine Freiheit, zu gehen, wohin es ihm beliebt. Er ist ein
merkwürdiger Kauz. Ein komisches Latein spricht er, und sein Griechisch ist noch
lächerlicher. Aber er ist sehr gelehrt, ein Polyhistor. Wahrscheinlich ist er ein Germane,
vielleicht ein Priester oder Zauberer.«
»Fürchtet er denn nicht, seine Freiheit wieder zu verlieren, wenn er uns verläßt?«
»Er behauptet, die Römer würden ihn bestimmt nicht wieder einfangen, denn er
werde sofort aus Campanien und überhaupt aus Italien verschwinden.«
»Den Mann muß ich sofort sehen, Astyanax. Schaff ihn her!«
Der erfolgreiche Freischarführer lief an Heinz vorbei zur Pforte und rief hinaus:
»Lasset sofort den germanischen Wahrsager eintreten!«
Mit laut pochendem Herzen schaute der Knabe auf das Tor. Er hörte kaum noch, was
Astyanax über die Beute an Pferden, Eseln, Waffen und anderem Gerät zu berichten hatte.
Und jetzt stand eine dunkle Gestalt in dem hellen Viereck des Türausschnitts: sein Vater!
Ein Schrei entrang sich der Brust des Jungen. Durch den Schleier halber
Bewußtlosigkeit sah er die Gestalt auf sich zuschreiten, größer und größer werden, und
dann fielen Tränen aus des Vaters Augen auf sein Gesicht.
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
DIE GENESUNG
»Kind, mein Kind!« stammelte Professor Habermann, der seinen kranken Sohn in die
Arme geschlossen hatte. »Komm doch zu dir! Es ist ja nur ein Traum, was dich quält.«
Seine Tränen waren wirklich auf die heißen Wangen des Knaben gefallen. Zum ersten
Male seit dem Ausbruch der Krankheit schlug Heinz an diesem Morgen die Lider voll auf und
blickte den Vater an. Ein schwaches Lächeln des Erkennens spielte um Augen und
Mundwinkel, aber dann senkten sich die Wimpern wieder.
»Ja, ich habe geträumt«, flüsterte der Knabe mit einem Seufzer. »Ich bin so
müde...«
Habermann tupfte dem Kinde die Schweißperlen von der Stirn und deckte es
sorgfältig zu. Immer noch mit einem leichten Lächeln auf den Lippen schlief Heinz ein. Der
Vater schlich auf den Zehenspitzen hinaus und winkte Fatima fröhlich zu; er wußte, daß die
Krisis überstanden war.
Seit diesem Morgen, an dem er den Vater zum erstenmal mit vollem Bewußtsem
wiedererkannt hatte, war Heinz fieberfrei, aber noch sehr schwach. Er schlief den ganzen
Tag.
Als er gegen Abend erwachte, saß Fatima, mit einer großen weißen Schürze über
dem europäischen Kleidchen, an seinem Bett. Aber ihre äußere Veränderung interessierte
den Kranken zunächst nicht.
»Ich habe Hunger«, seufzte er; die Natur verlangte ihr Recht.
Fatima klatschte vor Freude in die Hände und strahlte ihn aus ihren dunklen Augen
an: »Ich habe eine Brühe gekocht, und Braten ist auch da. Willst du eine Scheibe Weißbrot
mit Kalbsbraten?«
Heinz wunderte sich über die Fortschritte, die seine Freundin im Gebrauch der
deutschen Sprache gemacht hatte, und nickte:
»Bring nur her, aber nicht zuviel!«
Das Mädchen lief in die Küche zu der alten Haushälterin. Als Heinz ihr nachblickte,
fiel ihm das Wort »Gazelle« ein. So war die kleine Fatima zu seinem Ärger von dem
Gendarmerieoffizier aus Sebsewar genannt worden. Jetzt ärgerte es ihn nicht mehr, denn er
sah, wie gut der Vergleich paßte.
Wohlig streckte er sich im Bett. Er blieb nicht lange seinen Gedanken überlassen.
Von Fatima benachrichtigt, trat der Vater ins Zimmer.
»Bist du endlich von Spartacus zu uns zurückgekehrt?« fragte er lächelnd.
»Ja, wir alle beide, nicht wahr?« erwiderte Heinz schelmisch.
»Aber wie war eigentlich die Rückreise? Ich weiß gar nichts davon.«
»Laß jetzt das dumme Zeug!« Der Professor wurde ernst. »Wie bist du nur auf den
Gedanken verfallen, wir könnten uns ins Altertum zurückversetzen?«
»Du hast doch selbst gesagt, theoretisch müßte man in eine andere Zeit gelangen,
wenn man die Geschwindigkeit über die des Lichts hinaus steigert.«
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Nicht einmal theoretisch«, widersprach der Professor, »sondern nur auf Grund
gewisser mathematischer Überlegungen. Tatsächlich hat ja die Mathematik unsere
Naturerkenntnis ungeheuer gefördert und gesteigert. Ein allgemein bekanntes Beispiel dafür
ist die Entdeckungsgeschichte des Planeten Neptun: Der französische Liebhaberastronom
Leverrier hatte 1845 dieses Gestirn mathematisch vorausberechnet, und auf Grund dieser
Berechnungen gelang es dann 1846 dem Berliner Astronomen Galle, den Neptun tatsächlich
am Himmel aufzufinden.
Aber die Mathematik ist nicht an sich schon die Wirklichkeit, sondern nur ein Abbild
der Wirklichkeit. Und so wie auch ein gemaltes Bild nicht einmal die Außenseite der Dinge
naturgetreu wiedergeben kann, geschweige denn ihr Inneres, so sind auch die Ergebnisse
mathematischer Berechnungen nur in bestimmten Grenzen auf die reale Natur übertragbar.
Jeder mathematische Schluß muß an der Praxis daraufhin nachgeprüft werden, ob er im
gegebenen Falle wirklich ein Bild der realen Verhältnisse widerspiegelt. Und das ist im Falle
der Lichtgeschwindigkeit und des Übergangs vom Raum in die Zeit offenbar nicht so,
sondern hier liegt ein Trugschluß vor.
Außerdem ist nicht anzunehmen, daß wir Menschen jemals die Lichtgeschwindigkeit
überhaupt erreichen können, so wie wir auch den absoluten Nullpunkt der Temperatur noch
nicht erreicht haben, obwohl wir ihm in Einzelfällen - wenigstens nach Celsiusgraden
gerechnet - schon sehr nahe gekommen sind. Aber ich darf dich nicht überanstrengen, du
bist noch sehr schwach. Und da kommt auch Fatima mit deinem Abendbrot.«
Heinz bekam einen Berg Kissen in den Rücken, so daß er mit dem Oberkörper fast
aufrecht sitzen konnte. Fatima ließ sich auf dem Bettrand nieder und wollte ihm die Tasse
an die Lippen führen. Er aber war zu stolz, sich füttern zu lassen wie ein Baby, und faßte
selber zu. Mit Vergnügen biß er in die Häppchen, die das Mädchen zurechtgemacht hatte.
Da klopfte es an der Tür. Mit vollem Munde rief Heinz: »Herein!«
Siehe, da stand Dr. Riedel in der geöffneten Tür und lachte. »Wie geht es unserem
Patienten?«
Heinz hatte keine Zeit zum Antworten. Er zeigte nur mit dem Finger auf das Tablett,
das Fatima auf den Knien hielt, und kaute weiter.
»Das ist recht. Iß, soviel dir schmeckt! Bald wirst du wieder aufstehen können«, rief
der Arzt näher tretend.
Aber die Augen waren größer gewesen als der Magen. Die Kinnladen wurden dem
Jungen schon lahm. »Ich kann nicht mehr.« Er schob das Tablett beiseite.
»Oh!« machte Fatima enttäuscht.
»Quäle ihn nicht!« mahnte der Arzt. »Wir wollen froh sein, daß er überhaupt schon
etwas zu sich genommen hat. Morgen wird er bestimmt ein dankbarer Bewunderer deiner
Kochkünste sein. Und nun müssen wir uns nach einer Schule für dich umsehen, Fatima. Ich
selber kann dich nicht weiter unterrichten, denn ich habe soeben den Vertrag mit dem
Krankenhaus unterschrieben und trete am Montag meine Stellung als Stationsarzt an.«
Habermann schüttelte ihm die Hand. »Ich gratuliere.«
»Ja, das können Sie«, erwiderte Riedel. »Es ist eine ganz moderne Anstalt, an der
ich arbeiten werde. Ich bin erstaunt, was in Deutschland auch auf dem Gebiet der
Gesundheitspflege geleistet wird. - Aber Fatima, was machst du für ein trauriges Gesicht?
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Hast du Angst vor der Schule?«
Das Mädchen nickte. Ihre schwarzen Augen schimmerten feucht von verhaltenen
Tränen. Da legte Heinz die Hand auf ihren Arm:
»Heule nur nicht! An der Schule, in die du kommst, gibt es bestimmt eine
Pioniergruppe wie bei uns. Die sorgt dafür, daß du keine Schwierigkeiten hast und gut
mitkommst.«
»Pioniergruppe, was ist das?«
»Das sind die tüchtigsten und aktivsten Jungen und Mädel der Schule. Sie haben den
Wahlspruch: Immer bereit! Du kennst ja die Jungen von Sebsewar, die deinem Bruder
Jussuf geholfen haben, das Zelt der Amerikaner in Brand zu setzen. So sind unsere Pioniere
auch: immer bereit zu helfen, wenn es sich um eine gute Sache handelt.«
* * *
Die großen Ferien waren vorüber, und die Schule hatte ohne Heinz beginnen
müssen. Täglich hatten sich die Kameraden nach seinem Befinden erkundigt. Als er sich nun
endlich auf dem Wege der Besserung befand, wollte ihn die ganze Klasse besuchen. Aber
Dr. Riedel bestand darauf, daß nur eine Abordnung von höchstens vier Jungen kommen
sollte.
Die Wahl fiel auf Felix, Uli, Manfred und Klaus, die nachmittags mit einem
Blumenstrauß und einigen saftigen Apfelsinen einen Krankenbesuch machten. Als ihnen
statt der alten Haushälterin, die sie gut kannten, die kleine Fatima öffnete, waren sie ein
bißchen verlegen. Aber sie brauchten kaum ein Wort zu stammeln: An den Blumen hatte
das Mädchen den Zweck des Besuchs sofort erkannt. Sie bat die Jungen mit orientalischer
Höflichkeit in die Diele und ging zu Heinz, um ihm die Kameraden anzukündigen.
»Wer is'n det?« fragte der lange Klaus überrascht, als sie hinter der Tür
verschwunden war.
»'n Mächen«, entgegnete der kleine Manfred trocken.
»Du bist wohl lebensmüde, du Zwerg?« grollte Klaus. »Ick weeß alleene, daß dir nich
so lange Zöppe wachsen.«
»Und was die für Augen hat«, staunte Uli, »ganz schwarz!«
»Die haben se sicher aus Persien mitgebracht«, schloß Felix weise.
»Aber in Ordnung scheint se zu sein«, fügte Manfred hinzu.
Da hörten sie von drinnen Heinz' jubelnde Stimme: »Kommt rein, ihr Strolche!«
»Freundschaft!« riefen die vier im Chor, als sie ans Bett des Kameraden traten, und
»Freundschaft« erwiderte der ihren Gruß.
Dieses Wort kannte Fatima schon, und es gefiel ihr als Gruß so gut, daß sie es mit
ihrer hellen Mädchenstimme wiederholte: »Freundschaft!«
Wie auf Kommando drehten sich die vier um, und Uli fragte: »Warum haste nich
gleich gesagt, daß du zu den Pionieren gehörst?« Er streckte ihr die Hand hin.
Fatima war über und über rot geworden und reichte ihm die Hand nur zögernd.
Heinz klärte die Kameraden auf. »Sie ist noch nicht Pionier, aber sie wird es bald
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
werden. - Das ist Fatima, die Tochter von Gholam Ali Khan aus dem Descht-i-Kuwir.«
»Mensch, langsam, langsam!« fiel Uli ein. »Fatima ist doch die Tochter vom ollen
Propheten Mohammed.«
Das Mädchen lachte und nickte.
»Die Fatima ist längst tot«, belehrte ihn Heinz. »Unsere Fatima und ihr Vater Gholam
und ihr Bruder Jussuf haben uns in der persischen Salzwüste aus der Patsche gezogen.
Wenn die nicht gewesen wären... wer weiß, was die Amerikaner mit uns gemacht hätten!«
»Hab ick nich gleich gesagt, sie is in Ordnung?« brüstete sich Manfred.
»Na denn: Freundschaft!« rief Felix, indem er Fatimas Hand ergriff. Alle vier
drängten sich um das Mädchen.
»Siehst du, Fatima«, sagte Heinz, »genauso wirst du in der Schule empfangen
werden.«
»Mensch, erzähl doch mal, wie das da war in der Wüste!« verlangte Klaus. »Wir
haben in der Pioniergruppe einen Dokumentenband mit der Aufschrift Weltraumschiff
angelegt und alle Zeitungsausschnitte mit Berichten über eure Reise gesammelt. Aber...«
Heinz winkte ab: »Das ist eine lange Geschichte. Da müssen wir mal einen
Pionierabend machen, wenn ich wieder ganz gesund bin.«
»Jawoll«, fiel Felix ein, »und du hältst das Referat...«
»... und Fatima das Korreferat«, ergänzte Manfred.
Das Mädchen machte große Augen. Referat und Korreferat waren ihr noch fremde
Begriffe. Aber unter »Pionierabend« konnte sie sich schon etwas vorstellen. Und wenn die
anderen Pioniere so waren wie diese hier, dann mußte ein Pionierabend eine feine Sache
sein. Die Jungen waren zwar etwas derb und laut, aber sie hatten ehrliche, offene Augen
und waren sehr lustig. Nachdenklich zog sie sich in die Küche zurück, um die Jungen unter
sich zu lassen.
Als Fatima hinaus war, wandte sich Klaus zu Heinz: »Is das 'ne richtiggehende
Perserin?«
»Frag nicht so dämlich!« griff Uli ein. »Das siehste doch.«
»Außerdem fragt ein Pionier gar nicht danach, wo jemand herstammt«, fügte Felix
hinzu. »Für uns sind alle Menschen Brüder und Schwestern.«
»Ooch der Neumann?« zweifelte Uli.
Felix verbesserte sich: »Alle anständigen Menschen.«
»Hätte Fatima noch ihr persisches Kleid an, dann würde Klaus gar nicht erst gefragt
haben«, erklärte Heinz.
»Hat sie das Kleid mitgebracht?«
»Natürlich, wir sind ja alle drei als Perser hier angekommen: Fatima, mein Vater und
ich.«
»Au, Junge, Junge! Zu der Pionierversammlung müßt ihr als Perser kommen, dann
macht das, was ihr erzählt, erst den richtigen Eindruck.«
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
»Im übrigen war Klaus' Frage gar nicht so dumm«, nahm Heinz das Gespräch wieder
auf. »Es gibt eine Menge Unterschiede zwischen den Menschen: Denkt nur einmal an 'die
Sprache! Fatima kann noch nicht viel Deutsch, und ihr müßt recht nett zu ihr sein und ihr
helfen.«
»Machen wir«, bekräftigte Manfred.
»Sie hat zum Beispiel mächtigen Bammel vor der Schule. Wir müssen mit der
Pioniergruppe ihrer Schule reden, damit die sie in ihre Obhut nimmt. Ihr müßt wissen: Sie
ist einsam in der Wüste aufgewachsen...«
»Die Tochter des Beduinenscheichs«, schwärmte Manfred.
»Ja, so ungefähr«, lachte Heinz. »Die Beduinen sind allerdings arabische Nomaden,
und Fatima ist aus Persien. Ihr Vater ist auch kein Scheich, sondern ein Khan. Aber
abgesehen von diesen Sprachunterschieden leben die einen wie die anderen in ärmlichen
Zelten und lassen ihre Schafherden auf kargem Wüstenboden weiden.«
»Mensch, is das 'ne romantische Sache!« Manfred strahlte. »Hast du sie aus ihres
Vaters Zelt entführt?«
»Quatsch«, wies Heinz ihn zurecht. »Fatima ist natürlich freiwillig mitgekommen. Das
heißt - halb war es wohl Zufall: Ich war ja krank, und als ich zu dem Flugzeug laufen wollte,
das uns abholte, da klapperten mir die Knochen vor Fieber. Und da hat mir Fatima geholfen,
und als wir bei dem Flugzeug waren, konnte sie nicht gut allein stehenbleiben; da ist sie
eben mit eingestiegen. Aber ich glaube, sie ist auch ganz gern mit uns gegangen. Heute
früh hat sie mir erzählt, sie möchte ganz viel lernen und dann nach Persien gehen und ihren
Landsleuten helfen. Daran hat sie vielleicht schon gedacht, als sie mitkam.«
»Wie geht's dir denn überhaupt?« fragte Felix. »Bist du noch nicht ganz gesund?«
»Ich bin noch verdammt schlapp«, seufzte Heinz, indem er sich in die Kissen
zurücksinken ließ.
»Entschuldige, daß wir so lange geblieben sind!« Felix erhob sich und gab seinen
Kameraden einen Wink. »Laß dir die Apfelsinen gut schmecken, und Hals- und Beinbruch!«
* * *
Am nächsten Tage fühlte sich Heinz schon viel kräftiger. Die langen Stunden allein
und wach im Bett zu liegen, wurde ihm bereits zur Qual. Als ihn der Vater besuchte, ließ er
ihn deshalb nicht so schnell wieder fort.
»Du meinst also, wir können uns nur im Fiebertraum ins Altertum zurückversetzen?«
»Es braucht nicht gerade ein Fiebertraum zu sein. Es gibt eine ganze Reihe von
Schriftstellern, die in historischen Romanen die antike Welt mit erstaunlicher Lebendigkeit
geschildert haben. Dazu muß man allerdings Geschichte, vor allem Kultur- und
Sittengeschichte, und Gesellschaftswissenschaft gründlich studiert haben.«
Heinz seufzte: »Und Latein.«
Ȇberhaupt die alten Sprachen. Aber warum willst du durchaus ins Altertum reisen ?
Unser heutiges Leben bietet Probleme genug, und es lohnt sich, die Gegenwart zu bereisen
und zu erforschen.«
»Das haben wir ja auch getan - zum Teil unfreiwillig. Wir sind zum Saturn gereist
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
und im fernen Persien gelandet.«
»Und die Erlebnisse, die du dort hattest, werden dir gezeigt haben, daß es nicht
genügt, alte Sprachen zu kennen, sondern daß man noch viel mehr und wichtigere
Wissenschaften beherrschen muß. Wo wären wir hingeraten, wenn ich nicht von Astronomie
und von Mathematik wenigstens so viel verstanden hätte, um bei der Umfliegung des
Saturns unsere Stellung zur Erde neu zu berechnen? Und was wäre in Persien aus uns
geworden ohne einige Kenntnisse in der Geographie und in den lebenden Fremdsprachen?«
Wieder hob ein schwerer Seufzer die Brust des Knaben: »Was man alles lernen muß!
Aber wenn man weiß, wofür es gut ist, und daß man es tatsächlich einmal brauchen kann,
ja, daß sogar das Leben davon abhängen kann, dann macht das Lernen noch einmal soviel
Spaß. Das werde ich in meinem Referat vor den Pionieren betonen, und ich werde
beantragen, daß wir Arbeitsgemeinschaften für Fremdsprachen, Mathematik, Kernphysik,
Astronomie... Ach, wir können ja nicht alles auf einmal schaffen!«
»Nein, beschränkt euch zunächst auf einige wichtige Gebiete des Wissens, die euer
besonderes Interesse finden!«
* * *
Die Pioniergruppen der beiden Schulen, die Heinz und Fatima besuchten, hatten
einen gemeinsamen Ausspracheabend veranstaltet. Mit atemloser Spannung hatten Jungen
und Mädel den Berichten gelauscht, die der kleine Weltreisende und die junge Perserin
erstatteten. Begeistert stimmten sie in der Aussprache Heinz' Vorschlag zur Bildung von
Arbeitsgemeinschaften für Sprachen, für Mathematik und für Atomphysik zu.
In seinem Schlußwort wies Heinz mit Nachdruck auf die besondere Bedeutung der
Wissenschaft im Kampf für die Erhaltung des Friedens zwischen den Völkern hin:
»Nur den Werken des Friedens darf und muß die Wissenschaft dienen, sie soll die
gesamte Menschheit einem besseren und schöneren Leben entgegenführen. Nie wieder darf
das, was forschender Menschengeist schuf, in ein Instrument der Vernichtung, in eine
Kriegswaffe umgefälscht werden, wie es bisher leider so oft geschehen ist. Raum für alle hat
die Erde, und die Wissenschaft hat schon heute Mittel genug ersonnen, sie besser zu
ernähren, zu kleiden, zu behausen, als es in der Vergangenheit je möglich war. Dabei
stehen wir erst am Anfang einer wissenschaftlichen Entwicklung, deren künftige
Möglichkeiten wir noch gar nicht ahnen. Wer nach einem besseren und schöneren Leben
strebt, hat nicht nötig, einen Mitmenschen auszubeuten, zu berauben oder gar
umzubringen. Er braucht sich nur in die Front derer einzugliedern, die für den Frieden
schaffen und kämpfen. Vereint sind wir unüberwindlich. Wir müssen nur treu
zusammenhalten, nicht nur diejenigen, die sich als Forscher in den Dienst eines Zweiges der
Wissenschaft gestellt haben, sondern alle werktätigen Menschen.
Und was von der Wissenschaft im allgemeinen gilt, das gilt in besonders hohem
Maße von der Kernphysik, also von der Wissenschaft, die sich mit der Spaltung der Atome
und der Verwertung der dadurch frei werdenden Energien befaßt. Gerade diese
Wissenschaft ist berufen, unsere Lebensmöglichkeiten in ungeahnter Weise zu erweitern.
Einer der ersten, die dies erkannt haben, war der Schöpfer der großen sozialistischen
Sowjetunion, Wladimir Iljitsch Lenin. Lange bevor die Atomwissenschaft ihre ersten
bescheidenen Erfolge errang, schrieb er schon im Jahre 1920, als er die Elektrifizierung
seines Landes einleitete, die prophetischen Worte:
Es öffnet sich eine blendende Perspektive in der Richtung der radioaktiven
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A. Bagemühl: Das Weltraumschiff
Elemente. Die Chemie wird zu einem Teil der Elektrizitätslehre. Die Elektrotechnik
führt uns zu den inneren Energiereserven des Atoms. Die Morgenröte einer neuen
Zivilisation hebt an.
Wir jungen Pioniere schreiten in diese Morgenröte hinein und werden uns ihrer
strahlenden Schönheit würdig erweisen. Seid bereit, immer bereit!«
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