Kriminalroman
_________________________________
Die Ehe der Eggerts war nicht in Ordnung, das steht fest. Als Christi...
33 downloads
712 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Kriminalroman
_________________________________
Die Ehe der Eggerts war nicht in Ordnung, das steht fest. Als Christine Eggert ertrunken aufgefunden wird und Hauptmann Rodak von der Mordkommission der Bezirksstadt den Fall in die Hand nehmen muß, breiten sich in dem kleinen Städtchen sofort Gerüchte aus. Horst Eggert mag ein schwieriger Charakter sein, aber ein Mörder? Seine Arbeitskollegen, die Nachbarn, der ABV, alle müssen sich der Frage stellen. Ihre Aussagen, viele Gespräche mit dem der Tat dringend verdächtigen Ehemann und die Untersuchungsergebnisse der Gerichtsmediziner bringen allmählich die wahren Umstände des Todes der jungen Frau zutage.
Bernd Diksen
Das Vorurteil _____________________________________________
Verlag Das Neue Berlin
1. Kapitel
Mutter Sandow liegt auf dem Rücken und kann nicht einschlafen. ‚,Warum die sich eigentlich nicht scheiden lassen?“ Eben hat sie laut ins Dunkel des Schlafzimmers ausgesprochen, worüber sie nachdenkt. Vom Bett nebenan kommt keine Antwort; nur das laute, etwas mühsame Atmen Erich Sandows ist zu hören. Er sollte endlich die Raucherei aufgeben. Aber auch er schläft nicht, er ist im Gegenteil hellwach. Die rechte Hand etwa zehn Zentimeter vom rechten Ohr entfernt, wartet er auf den fälligen Angriff der Mücke, die mit widerlichem Surren irgendwo dicht vor seinem Gesicht kreist, ein winziger, hartnäckiger Feind im Dunkeln. Mutter Sandow, die merkwürdigerweise während ihres ganzen Lebens nur selten mit dem Volk der Mücken auf Kriegsfuß gestanden hat – am Blut müsse es liegen, pflegt Erich seit rund vierzig Jahren zu behaupten –, faßt ihre Gedanken in einem Seufzer zusammen: „Das wird doch nie mehr was Richtiges.“ Auch dazu sagt Erich Sandow nichts. Die verdammte Mücke, falls es überhaupt eine einzelne ist, kurvt im Augenblick in einiger Entfernung, nicht entfernt genug freilich, als daß man nicht die scheußliche Gewißheit hätte, das Biest legt voller Heimtücke nur eine Art Gefechtspause ein. Er ist rechtschaffen müde, wie man das mit sechzig Jahren abends gegen zehn Uhr auch sein durfte – der Teufel hole alle Mücken und am besten den Fernseher gleich mit. 7
„Schlaf endlich“, knurrt er. Mücken und die Eggerts von nebenan, das ist zuviel auf einmal. Die Sache mit den Eggerts, das war ein Trauerspiel auf Raten, aber keine Ehe. Selbst er als Nachbar hat bisher nicht ergründen können, nach welchen Regeln und warum die beiden sich dauernd stritten. Sie taten es jedenfalls. Zuletzt vor rund drei Stunden. Vater Sandow hatte schon gelernt, aus der Lautstärke knallender Türen die Heftigkeit des Ehekrachs zu bestimmen. „Das gibt noch Mord und Totschlag“, sagt Mutter Sandow, weniger aus Rechthaberei als aus der Gewohnheit, einmal Begonnenes auch zu beenden. „Totschlag!“ Nun muß Sandow doch protestieren. „So schnell schlägt man sich doch nicht gleich tot!“ Hatte man in langen Ehejahren nicht selbst hin und wieder Streit gehabt? O ja! Aber warum jetzt – und noch immer surrten hell, fast melodisch, die Plagegeister gemein und aufdringlich irgendwo in der Nähe herum –, warum ausgerechnet jetzt Ursache und der mögliche Ausgang nachbarlicher Ehestreitigkeit geklärt werden mußten, das war denn doch nicht einzusehen. Erich Sandow dreht sich demonstrativ zum weit offenen Fenster um. Er zerrt trotz der sommerlichen Zimmerwärme die Bettdecke bis zum Hals, die Angriffsfläche für die Mücke damit verringernd, und beendet das ganz und gar unnütze Gespräch mit der Summe eigener Erfahrungen. „Im Bett“, erklärt er lakonisch, „werden sie sich schon vertragen.“ „Ihr habt bloß immer das Bett im Kopf!“ „Im Augenblick habe ich es unterm Hintern – und da ist es mir auch ganz recht.“ Er will endlich schlafen. Was außer den Viechern konnte diese Absicht nun noch sabotieren? Die Kolbenpumpe im Keller. Unerfindlich, warum 8
diese technisch unbestreitbar nützliche Konstruktion mitunter nachts mit eintönig scharfem Klopfen zu arbeiten begann, obwohl niemand den Wasserstand im Druckkessel durch Wasserentnahme verringerte. Auf die Hilfe eines Monteurs der zuständigen PGH wartete man zwar, aber nun schon längst nicht mehr geduldig. Er schläft auch wirklich schon halb, als seine Frau sich vorsichtig aufrichtet und angestrengt nach draußen zum Nachbargrundstück horcht. Es ist zwar nicht ungewöhnlich, zu dieser Tageszeit von drüben Geräusche zu hören, eher ist das Gegenteil verdächtig. Und doch lauscht Mutter Sandow hinüber, und irgendwie fühlt sie, daß der Mensch auf dem Hof des Eggertschen Grundstücks ein Fremder ist, sie glaubt sogar, ihn mit vorgestreckten Händen an Mauern und Hindernissen entlangtasten zu sehen. Überlaut klirrt eine umgeworfene Flasche. Mutter Sandow rüttelt nervös die Schulter ihres Mannes. Höflich war er selten, jetzt ist er grob. „Was is denn, verdammt?“ „Da ist jemand, bei Eggerts!“ Klatsch! Jetzt hat er doch noch seine Mücke, ein bißchen besänftigt ihn das Jagdglück. „Das ist doch keine Sensation.“ „Ich weiß nicht, Erich … mir ist, als schleicht da jemand herum.“ „Wenn du jetzt nicht bald schläfst, dann lass’ ich mich scheiden!“ Mutter Sandow läßt sich, wenn auch nicht zu hastig, wieder zurücksinken. Ein bißchen ist es Gewohnheit, auch Einsicht ist dabei. Zwar lauscht sie weiter, aber es klirrt und tapst nichts mehr nebenan. Trotzdem wandern die Gedanken weiter über den gepflasterten Hof des Nachbargrundstücks, huschen durch 9
den Garten und schließlich auch durch die Wohnung. Ob die Christine Eggert etwa …? Vielleicht lag darin die Ursache? Denn er, der Horst Eggert, ist kurz nach acht Uhr auf seinem Motorrad weggefahren. Und bis jetzt ist er nicht zurück, man hätte ihn hören müssen, bis drei Viertel zehn sogar sehen müssen, auf dem Bildschirm nämlich. Nicht ihn selbst, nur jene knatternden Linien, die von schlecht entstörten Zündkerzen kommen sollten, wenn sie auch nicht begriff, was Fernseher mit Motoren verband. Dieses technische Zeitalter gab einem dauernd Rätsel auf. Rätselhaft aber war auch die Ehe der Eggerts, jedenfalls für ihre Begriffe. In ihrer langen Ehe hatte es eigentlich nur ein Rätsel gegeben – wo nämlich vor nun schon dreißig Jahren Erichs Ehering geblieben war. Und noch heute, sogar jetzt, spürt sie jenes Gefühl aus Unbehagen, Traurigkeit und einer gehörigen Portion Eifersucht von damals, wenn sie an Erichs aufbrausende Rechtfertigung denkt: im Waschraum vergessen. Waschraum erinnert sie, nun schon schläfriger, an die beiden Gläser Erdbeeren, die nicht mehr in den Einweckapparat hineinpaßten und noch in der Waschküche auf dem ausrangierten Küchenstuhl stehen. Sie darf sie nicht vergessen. Gleich nach dem Einkaufen morgen wird sie auch die noch einwecken, es wäre schade um den Zucker und um die Arbeit. Noch besser wäre, sie pflückte die Reihen nochmals durch; nur zwei Gläser im Apparat ist auch Verschwendung. Wenn nur das Bücken nicht schon so beschwerlich wäre. So schläft sie ein, und eigentlich ist alles gut. Das mit dem Ehering ist schon lange her, so lange, daß es auch stimmen konnte. Erich war sonst immer ehrlich gewesen, ein bißchen brummig, manchmal knurrig, hin und wieder sogar aufbrausend, trotzdem aber im Grunde doch heiter. 10
2. Kapitel
Schwach reflektiert die unbewegliche Wasserfläche das Sternenlicht, still, wie schlafend stehen Schilfwände rings um den Teich, kein Luftzug bewegt die kugelförmigen Kronen einiger Obstbäume. Auch die jungen Bäume der Kiefernschonung, die bis auf wenige Meter an den Teich heranreicht, stehen regungslos. Wären es nicht Bäume, würden sie vielleicht kichern, sich bedeutungsvoll anstoßen und auf das Paar sehen, das den weichen Grasteppich des Bodens offensichtlich als Bett nutzen möchte. Es wird vorerst nichts aus diesem Vorhaben werden – plötzlich knackt ganz in der Nähe trockenes Unterholz. Erschreckt horchen beide auf, wie ertappte Sünder. Nach einigen Sekunden atmet der Mann schwer die angehaltene Luft aus und flüstert beruhigend: „Es war nichts.“ Gleich darauf sehen sie den Schatten eines Menschen, eines Mannes, der vorsichtig zum Teich hin tappt, zögernd stehenbleibt, horcht, weiterschleicht, im Schutz des hohen Schilfgürtels verschwindet. „Nicht mal hier ist man ungestört.“ Es soll scherzhaft klingen, ein wenig Trost, etwas Zuspruch. Aber die Frau wehrt ihn verängstigt ab, richtet sich auf und ordnet ihre Kleider, flüstert: „Ich muß nach Hause.“ Der Mann verbirgt seine Enttäuschung, steht ebenfalls auf, umarmt die Frau, horcht dann in die Richtung, in der der nächtliche Störenfried untergetaucht war. „Der badet wohl?“ Er ist eher belustigt als erstaunt, tatsächlich plätschert irgendwo Wasser, ein undeutliches Stöhnen dringt herüber, dann ist wieder Stille. 11
„Komm!“ drängt die Frau, ihr ist etwas unheimlich. Der Mann gehorcht widerstrebend, er spürt die Angst der Frau, und ein Beweis eigener Furchtlosigkeit wäre es eigentlich, nun erst recht nach dem plätschernden und stöhnenden Schatten zu sehen. Aber dann sind sie schon auf dem sandigen Feldweg, der in etwa zwanzig Meter Entfernung den langgestreckten Teich ungefähr zweihundert Meter begleitet, bis er nach links zum Städtchen abschwenkt. Zwar horcht der Mann zum anderen Ufer hinüber, sehen kann er wegen der hohen Schilfwände ohnehin nichts, aber drüben bleibt alles still, Ein bißchen merkwürdig erscheint ihm das. Badende pflegen zu prusten, typische Geräusche zu verursachen, die man besonders nachts überdeutlich hören müßte. Sie sind kurz vor den ersten Häusern der Kleinstadt, noch nicht im Schein der Straßenbeleuchtung, als sie hinter sich ein Motorrad kommen hören. Ehe sie der Lichtkegel des Scheinwerfers erfassen kann, zieht die Frau ihren Begleiter hastig zur Seite, dichtes Haselnußgebüsch schließt sich hinter ihnen. Das Motorrad rast mit überhöhter Geschwindigkeit vorbei. „Heute passiert’s, heute passiert’s“, behauptet die singende Männerstimme aus dem Autosuper. Eine rasche Handbewegung Siegfried Wolters läßt sie nicht preisen, was heute nun passieren soll. Wolter öffnet die Tür seines Trabants, zieht mit der anderen Hand den Zündschlüssel ab, steigt aus, aber nur, um sich wieder weit in den Wagen hineinzubeugen. Während er betulich zwei längliche Futterale und einen fast leeren Rucksack zutage fördert, denkt er zufrieden, 12
daß heute schon allerhand passiert ist: Er hat es geschafft, sein Bett zu einer Zeit zu räumen, wenn es darinnen am schönsten ist – morgens um halb vier. Aber die prophetische Melodie spukt ihm weiter im Kopf herum, sie begleitet Wolters nächste Handlungen, den Gang die wenigen Meter zum Teich, das Präparieren der beiden Angeln. „Anständiger Hecht am Haken … das könnte passieren“, murmelt er vor sich hin, während er sich bequem auf den alten Bohlensteg hockt und die nächste heilige Handlung vornimmt, die Tabakspfeife zu stopfen. Minuten später deuten nur noch leichte Rauchnebel, die aus dichten Schilfwänden hochschweben, auf die Anwesenheit eines Menschen hin. Nach einer hoffnungsfreudig verbrachten Viertelstunde beginnt Wolters bis dahin hypnotisch auf die beiden ‚rotweißen Posen konzentrierte Aufmerksamkeit allmählich zu erlahmen. Hier und da rufen sich Vögel ihre Morgengrüße zu, vielleicht auch machen sie sich über den Menschen da auf einem morschen Steg lustig, vielleicht gar warnen sie mit ihrem Gezwitscher die Fische vor der Heimtücke des Menschen, Würmer an ganz hinterhältigen Fallen ins Wasser gehängt zu haben. Wolter läßt den Blick immer häufiger wandern; diese verdammten Fische verhielten sich völlig passiv, jedenfalls ihm gegenüber. Von wegen: heute passiert’s! Mit leerem Rucksack nach Hause fahren, das würde passieren! Na, na, nur keine Panik. Angeln ist ein Ausdauersport, wenn die Betonung auch eindeutig auf Ausdauer liegt. Die Gegend ist so schön friedlich. Schilfwände, Weidengestrüpp, eine fast geschlossene Kette, die nur zweimal unterbrochen war. Einmal schräg gegenüber, jene Stelle, 13
seicht und sandig, wo oftmals Kinder badeten, trotz oder gerade wegen des Verbotsschildes. Alles wie immer, findet Wolter schläfrig; die Mücken wachen allmählich richtig auf. Er schlägt sich klatschend ins Genick, dreht dabei den Kopf nach links, und dort, am Ende des Teiches, ist die zweite Lücke. Und wie schon immer empfindet Wolter ein bißchen Neid auf Franz Fenner, den Besitzer des Grundstücks an jener Stirnseite. Kaum noch zu ergründen, warum man dort vor Jahren eine etwa fünf Meter lange Mauer errichtet hat, altertümlich und sehr solide, aus halben Felsbrocken. Gar nicht dumm die Idee, die Mauer als Fundament für eine Art Laube zu nutzen. Dumm nur, daß man nicht selbst der Besitzer war. Dann könnte man auch bei strömendem Regen einfach die Angeln zum Fenster hinaushängen. Und plötzlich sieht er etwas, was nicht ins gewohnte Bild paßt: Drüben, an der verbotenen Badestelle, schwimmt nicht das alte Paddelboot, jener geteerte Sperrholzkahn, den vor Jahren jemand hier ins Wasser setzte, als das Baden noch nicht verboten war. Mochte sein, jemand wollte damit den Kindern eine Freude bereiten, wahrscheinlicher aber war wohl, jemand hatte nicht recht gewußt, wohin mit dem Ding. Auf alle Fälle waren die Kinder nicht böse gewesen, und merkwürdigerweise hatte das schmale Boot alle Strapazen bis heute heil überdauert. Bis heute. Das war’s – denn das Boot hängt sonderbar schief etwa zehn Meter von seinem Stammplatz entfernt im Schilf. Zunächst empfindet Wolter noch eine Art selbstgefälliger Bewunderung. Er hatte recht gehabt: Es war eben doch nicht alles so wie sonst. Aber dann – ist es die Nachwirkung des gestrigen Fernsehkrimis, so etwas wie Vorahnung oder auch ein bißchen Sensationslust? – 14
beobachtet er das Boot mit wachsender Neugier, erhebt sich schließlich mißtrauisch, stellt sich sogar auf die Fußspitzen und starrt hinüber. „Heute passiert’s, heute passiert’s …“ Von Silbe zu Silbe lauter leiert der Textanfang durch sein Gehirn, dann ist er plötzlich sicher: Es ist etwas passiert. Sekunden zögert er noch, denn da ist ja die oft genug erwiesene Tatsache, daß Fische ausgerechnet immer dann beißen, wenn man gerade nicht auf die Angel achtet, dann stiefelt er los. Er braucht für den Hinweg, eine halbe Umrandung des Teiches, etwa zwei Minuten. Den Rückweg schafft er in knapp dreißig Sekunden. Unten am Steg hüpft eine der rotweißen Hohlkugeln auf und nieder, als der Trabant auf jaulend hinter einer Staubwolke verschwindet. Der Abschnittsbevollmächtigte Heinz Schladitz geht aufrecht und wach in den sonnigen Morgen hinein. Sein Dienstbereich ist, gemessen an der Personenzahl, nicht größer als die anderen Abschnitte der Kreisstadt, flächenmäßig jedoch recht ausgedehnt. Es ist der südliche Teil der Stadt, vorwiegend aus Einfamilienhäusern bestehend, durchsetzt mit unbebauten Gartengrundstücken, ausgedehnten Wiesen, Getreidefelder stoßen an die Nebenstraßen. Zu einer dieser Wiesen ist er unterwegs, zur sogenannten Festwiese. Er erinnert sich, daß sie in seiner Kindheit Schützenplatz hieß, und er erinnert sich auch noch gut an die Aufzüge, bunt und laut, des damaligen Schützenvereins. Nun ja, auch die Bezeichnung Schützenplatz war unvollkommen gewesen, er hatte auch den Fußballern gedient, der Hitlerjugend als Übungsstätte für kommende 15
Kriegsereignisse, die man harmlos Geländespiele genannt hatte. Ein Allzweckplatz gewissermaßen, denn es hatten darauf ebenso Kinderspiele stattgefunden, wie unter freiem Himmel lagernde Kriegsgefangene darauf gestorben waren. Nun ja, Kinder tobten noch immer darauf herum, aber die Fußballer hatten jetzt ihr eigenes Sportfeld. Hitlerjugend und Schützenverein waren gegangen, die Feste geblieben. Der Unterleutnant muß unwillkürlich vor sich hin schmunzeln; er denkt mitunter etwas schwerfällig, er ist nicht eben flink mit der Zunge, aber er denkt zu Ende und kommt zu einem vernünftigen Resultat. Die Schützen sind gegangen, die Feste geblieben; ist doch ausgezeichnet! Dieses stille Schmunzeln des ABV veranlaßt die alte Mutter Böttcher, die ihm auf ihrem schrottreifen Fahrrad entgegenkommt, etwas freundlicher zu grüßen, obwohl sie um diese Stunde wahrhaftig keinen Grund zur Fröhlichkeit hat. Das geht nun schon seit fahren so, daß sie morgens zum Garten hinaus muß, um das Viehzeug zu füttern, weil ihr Traugott, der alte Saufkopp, zwar auf Kleinvieh als zusätzliche Geldquelle besieht, vor acht Uhr aber nur selten aus dem Bett zu kriegen ist. Schladitz nickt ihr aufmunternd zu; auch er kennt die Nöte dieser alten Frau. Er dreht sich noch nach ihr um, müßte sie eigentlich darauf hinweisen, daß man einen Eimer nicht am Lenkrad transportieren darf, unterläßt es dann aber doch. Sie würde ihn gar nicht begreifen, sie ist ihr Leben lang so gefahren. Natürlich würde sie, vor seinen Augen, den Eimer gehorsam auf den Gepäckträger stellen oder zu Fuß weitergehen, aber morgen würde sie wie eh und je den Eimer ans Lenkrad hängen. Und seine gute Absicht, seine Pflicht, sie zu ermahnen, würde sie als zusätzliche Erschwernis ihres nicht leichten Lebens betrachten. 16
Gleich darauf erreicht Heinz Schladitz die von hohen Pappeln gesäumte Zufahrtsstraße zur Festwiese. Aber er wird heute nicht mehr dazu kommen, sein eigentliches Vorhaben auszuführen, nämlich durch seine bloße Anwesenheit die Schausteller zu mahnen, den Platz so zu verlassen, wie sie ihn vorzufinden wünschten: sauber. Drei Tage lang hatten sie für etwas Abwechslung gesorgt, heute früh ziehen sie ab. Zunächst hält den Unterleutnant ein Fahrrad auf. Es steht an die erste Pappel gelehnt, und das ist an sich kaum bemerkenswert, wenn irgendwo jemand wäre, dem das Damenrad gehören könnte. Schladitz blickt sich suchend um, tritt dann an das Fahrrad heran und runzelt die Stirn. Der Dynamo liegt am Vorderradmantel an. Schladitz hebt das Fahrrad am Lenker vom Boden an, dreht schwungvoll das Vorderrad; leise surrt der Dynamo, die Glühbirne in der Lampe flammt auf, erlischt mit der Radumdrehung. Seit zwei Stunden ist es hell, und mindestens so lange mußte das Rad schon hier stehen. Herrenloses Damenfahrrad, auch solch ein Ding. Na, kein Grund zur Aufregung. Mit Fundrädern war das VolkspolizeiKreisamt reichlich gesegnet, wahrscheinlich kam heute das nächste dazu. Gewohnheitsgemäß nestelt Schladitz sein Notizbuch aus der linken Brusttasche, dann den Kugelschreiber, bückt sich zum Sattel und schreibt, für alle Fälle, gleich jetzt die Rahmennummer auf. „Farbe?“ fragt er halblaut sich selbst, tritt einen Schritt zurück, legt den Kopf etwas schief und entscheidet: „Wird wohl grün aussehen, wenn der Dreck ab ist.“ Er wendet sich verärgert um, weil dicht hinter ihm ein 17
Radfahrer scharf bremst. Und er schüttelt den Kopf, als er den jungen Wachtmeister Richter erkennt. „Ich suche Sie!“ versichert Richter eilig, als sei das eine Entschuldigung. Schladitz klappt bedächtig sein Büchlein zu. „Guten Morgen“, sagte er dann mit Betonung und fragt so ganz in seiner ruhigen Art: „Und warum?“ „Sie sollen sofort zum Teich kommen!“ Obwohl Schladitz nicht das Drängen überhört, erkundigt er sich mit den gleichen Worten: „Und warum?“ Der junge Wachtmeister nimmt Haltung an, als könne dies allein den völligen Ernst seiner Meldung unterstreichen. „Genosse Oberleutnant Krüger wünscht es. Es wurde …“ Er stockt, die Meldung paßt so gar nicht zu dem wunderschönen Sommermorgen, dann sagt er leise: „Es wurde eine Frauenleiche gefunden!“ Schladitz hält einen Augenblick den Kopf schief, dann nimmt er wortlos das Fahrrad, wendet es und schwingt sich elastisch in den Sattel. Oberleutnant Krüger sieht den Genossen und Freund mit hochgezogenen Augenbrauen an, nickt dazu ganz leicht, und Schladitz versteht ohne Worte: Nun weißt du, warum ich dich rufen ließ! Schladitz weiß es. Die Tote, die er sich eben angesehen hat, die junge Frau, die mit ausgebreiteten Armen mit dem Unterkörper auf dem Bootsheck, mit Kopf und Schultern auf dem Ufer liegt, ist Christine Eggert. Die Familie Eggert wohnt in der Feldstraße, am äußersten Rand seines Reviers, und er hatte sich in den letzten Wochen öfter mit den Eggerts beschäftigen müssen. Er will etwas sagen, aber Krüger winkt ab, schüttelt den 18
Kopf, und auch diesmal versteht Schladitz ohne Worte. Er soll warten, bis der Arzt, der, solcher Übungen ungewohnt, ungeschickt am Kopf der Toten kniet, zu einem Resultat gekommen ist. Dr. Birnbaum richtet sich auf. Er tut das mit einer fast mechanischen Gleichmäßigkeit. Birnbaum ist einen Kopf größer als der Unterleutnant und übertrifft selbst den stattlichen Oberleutnant um einige Zentimeter. „Tja“, sagt der Doktor, reinigt sich die Hände an einem Tuch, sieht dabei aus seiner Höhe auf die Tote hinab, die in ihrem verrutschten Sommerkleid und mit ausgebreiteten Armen so liegt, wie sie sich zu Lebzeiten, von einigen Männern umstanden, sicher sehr geschämt hätte. „Sie ist ertrunken“, erklärt er sachlich, fügt aber, sich selbst korrigierend, hinzu: „Besser oder richtiger gesagt, sie ist erstickt. Ertrinken im eigentlichen Sinn gibt es ja nicht.“ „Mhm“, macht Oberleutnant Krüger unbestimmt, und auch ein anderer als Dr. Birnbaum würde die Skepsis kaum überhören, die in dieser knappen Äußerung liegt. Der Arzt wendet langsam den Kopf zum Oberleutnant. „Sie hegen Zweifel, wenn ich nicht irre?“ Er trifft genau jenen herablassend ironischen Tonfall, der manchem Mediziner eigen ist. Es ist ungewiß, warum der Arzt und der Kriminalist seit Beginn ihrer Bekanntschaft eine Kontrastellung bezogen haben und auf ihr verharren; fest steht, daß sie es tun. Irgendwann zu Anfang, etwa vor einem Jahr, als der junge Dr. Birnbaum nach hier kam, entwickelte sich eine Abneigung. Manchmal ist es nur ein unbedachtes Wort, das dann Jahre als Vorwand dient, das man nicht zurücknehmen will, auch wenn man es mit Anstand könnte. 19
Schladitz glaubte seinen Freund gut genug zu kennen, um zu wissen, daß der Doktor von Anfang an Krüger gegenüber diesen ekligen Tonfall angewendet haben mußte. Mochte sein, daß Birnbaum damit seine eigene Unsicherheit hatte übertünchen wollen, weil man, neu und jung, gewisse Anlauf Schwierigkeiten hatte, aber er hätte es nicht Krüger gegenüber tun sollen. Nicht, daß dem Genossen Oberleutnant Toleranz oder Anerkennung abgingen, aber er mochte Leute nicht, die alle Vorteile unserer Bildungspolitik wahrgenommen haben und dann vergessen, wem sie diese Vorteile verdankten, die für eigenes Verdienst hielten, was auch ein bißchen das Verdienst eines Krüger war. Einen kleinen Schritt müßte er tun, der Doktor, der inzwischen fest im Sattel sitzt, aber er tut ihn nicht. Manchmal konnte man glauben, er freue sich über Gelegenheiten wie diese hier, um dem Oberleutnant seine Überlegenheit beweisen zu können. Jetzt deutet Dr. Birnbaum, als Krüger beharrlich schweigt, mit dem Tuch in der Hand auf die Tote, ein bißchen lässig auch diese Geste, und sagt kühl: „Sie hat am Mund den für Ertrunkene charakteristischen Schaumpilz, ein Gemisch aus Schleim, Wasser, Luft, ein sicheres Zeichen, daß sie ertrunken ist. Zu Lebzeiten ertrunken. Jedenfalls“, und nun wird er auch noch etwas spitz, „habe ich das so gelernt.“ „Zweifelsohne“, stimmt Krüger zu, und damit meint er sicher nur die Beteuerung, löst den Blick von der Toten und läßt ihn über den Teich wandern. Gelernt! Auch er hatte das gelernt, zwangsläufig lernen müssen, wie man so vieles, eigentlich alles, zwangsläufig lernen mußte. 20
Dr. Birnbaum, auch in dieser Zustimmung Krügers Spott vermutend, beschlagnahmt für seine weiteren Begründungen jetzt Schladitz. Zwar muß der Unterleutnant den Kopf in den Nacken legen, um den Kontakt mit den Augen des Arztes herzustellen, aber ihm macht das nichts aus, er hat keine Komplexe. „Ich bin sicher“, legt sich der Doktor fest, „daß die Obduktion weitere typische Merkmale eines Todes durch Ertrinken erbringen wird. Verwässertes Blut in der linken Herzkammer zum Beispiel, die sogenannte Ballonlunge wahrscheinlich auch.“ Er überschüttet den ABV mit dem ganzen Schatz seines Wissens, obwohl alles, was er sagt, in erster Linie für Oberleutnant Krüger bestimmt ist, und schließt gönnerhaft: „Nebenbei sind das alles weitere Beweise, daß sie lebend ertrank.“ Schladitz nickt ernsthaft, obwohl es ihn zum Schmunzeln reizt. Er muß plötzlich an seinen Vater denken, eigentlich mehr an Vaters Garten. In diesem Garten stand noch immer der Birnbaum, vom Vater zu Beginn seiner gärtnerischen Entwicklung zwar äußerst liebevoll, aber dafür auch ganz und gar falsch verschnitten. Der Vater hatte diesem wuchsfreudigen Baum mit Vorliebe die Seitentriebe gekappt, und so ist der Baum dann auch gewachsen. Stetig in die Höhe, immer höher, und an den Seiten war nichts. „Wann“, lenkt Krüger unvermittelt das Gespräch in eine neue Richtung, „glauben Sie, ist es passiert?“ Dr. Birnbaum hebt die Hand mit dem Tuch, es sieht aus, als verbitte er sich die Störung, prüft die Zeit auf seiner Armbanduhr, ist aber diesmal vorsichtig mit seiner Diagnose. 21
„Schwer zu sagen … noch vor Mitternacht, würde ich meinen.“ „Mhm“, macht Krüger wieder und sieht fragend den ABV an. „Und Eggert? Arbeitet er immer noch …“ „Als Busfahrer beim Kraftverkehr“, ergänzt Schladitz. und macht auch schon einen Schritt auf den Barkas zu, weil er die nächste Anweisung logisch vorausbestimmen kann. Krüger nickt ihm matt zu. „Frag mal an – ich möchte wissen, ob Eggert heute seinen Dienst angetreten hat.“ Er sieht dem Genossen nach, beobachtet, wie Schladitz. mit. gewohnter Ruhe das Funkgerät bedient, wendet sich dann langsam um und starrt schweigend auf die Tote. Aber erst als Schladitz das Gespräch beendet hat und zurück zum Ufer stampft, sagt er schleppend: „Ich wundere mich nämlich, warum man sie nicht vermißt. Der Ehemann zum Beispiel.“ Schladitz, nun dicht hinter dem Arzt, räuspert sich mahnend, aber Krüger reagiert nicht darauf, wenn er auch genau weiß, warum der Genosse sich räuspert. Er zumindest wundert sich darüber nicht. „Ich wundere mich vielmehr“, sagt Dr. Birnbaum fast etwas ärgerlich, „warum sie überhaupt zu später Stunde hierhergekommen ist. Sie gehörte eigentlich ins Bett! Ihr Herz“, fügt er etwas gemildert hinzu, als dürfe man Herzen nicht zu unsanft anfassen, „war nicht ganz in Ordnung.“ Krüger scheint interessiert. „Sie war Ihre Patientin?“ Abneigung fördert Unsachlichkeit. „Wüßte ich das sonst?“ Krüger dreht sich wortlos um, nickt Schladitz zu. „Nun?“ „Eggert ist pünktlich vier Uhr morgens auf Linie gegangen.“ 22
„Danke“, sagt Krüger, und, ohne den Doktor anzusehen: „Der Mann Ihrer herzkranken Patientin ist also, ganz wie immer, am frühen Morgen in seinen Bus geklettert und geht seiner Arbeit nach.“ „Und? Das darf man doch von einem pflichtbewußten Werktätigen wohl auch verlangen, oder?“ „Im allgemeinen sollte man das begrüßen“, stimmt Krüger etwas steif zu, „nur … vermißt man eine bettlägerige Frau nicht trotzdem?“ „Ich hatte sie nicht krank geschrieben“, wehrt der Doktor ab. „Das hätten Sie aber tun sollen“, bemerkt Krüger trocken, und diesmal weiß der Arzt nicht recht, ist es die zwischen ihnen übliche Aggressivität oder ein ernsthafter Vorwurf. Er nimmt es als Vorwurf. „Sie gehörte nicht zu jenen Zeitgenossen, die in einer Sozialversicherung eine bequem zu melkende Kuh sehen.“ „Ich weiß“, sagt Krüger, „sie gehörte zu jenen, die um die Existenz ihres Betriebes fürchten, wenn sie einmal fehlen müssen.“ „Sie brauchen mich wohl nicht mehr?“ fragt Dr. Birnbaum kühl. Krüger wiegt bedächtig den Kopf, einen Augenblick geistert ein spärliches Lächeln um die Mundwinkel, dann sagt er langsam: „Ich fürchte, lieber Doktor, Sie haben einiges übersehen.“ Wahrscheinlich ist es nur dieses ‚lieber Doktor‘, was den Arzt sarkastisch werden läßt. „Sie werden mich aufklären!“ Der ABV zieht unwillkürlich den Kopf ein; das ist mehr, als der Oberleutnant für gewöhnlich hinzunehmen bereit ist. Schladitz beugt sich hinunter, um die Tote 23
besser betrachten zu können. Was hatte man übersehen? Er eingeschlossen? Es mußte Schwerwiegendes sein; Krüger bluffte doch nicht wie ein Kartenspieler. „Wir werden uns ergänzen“, meint der Oberleutnant leicht spöttisch. „Kooperation ist eines der Zauberworte dieser Zeit. – Christine Eggert ist ertrunken, sagen Sie.“ Er winkt etwas heftig ab, als Dr. Birnbaum erneut mit seinem Tuch wedelt und Einspruch anmelden will. „Lassen Sie mich bitte ausreden, ich zweifele Ihre Hypothese ja gar nicht an!“ Er kann es sich nicht verkneifen, der Doktor. „Was soll’s dann?“ fragt er achselzuckend und sieht auf seine Armbanduhr, als habe er schon einige Male drängend erwähnt, daß vor seiner Praxis zwei Blinddärme und eine Entbindung auf ihn warten. „Ich weiß nicht, ob es Ihnen entgangen ist … ich wollte es Ihnen gerade erklären.“ Oberleutnant Krüger mustert seinen Gesprächspartner bemerkenswert freundlich, nickt ihm sogar aufmunternd zu und fährt fort: „Sie sagten ferner, unter Hinweis auf bestimmte Symptome, sie sei lebend ertrunken und nicht etwa als Tote ins Wasser geraten. Nur … wenn diese Frau hier schon nicht tot ins Wasser kam – wie ist sie als Tote in diese Lage gekommen? Halb auf Land und halb auf das Boot?“ Der Doktor blinzelt einen Augenblick nervös, sieht irritiert zwischen der Leiche und dem Oberleutnant hin und her und fragt dann ganz erstaunt: „Wie – haben Sie die Tote etwa so gefunden?“ Der Sieger heißt im Augenblick Krüger. „Das eben“, tadelt er, „war unter Ihrem sonstigen Niveau, Doktor. Weit unter sogar. Oder …“ Er wendet – ein bißchen genießt er die Situation – betont langsam den Kopf und ruft Wolter an, der in etwa zwanzig Meter Entfernung noch 24
immer seine Angelgeräte ordnet, um nicht so völlig nutzlos herumzustehen. „Sie haben doch alles so gelassen, wie Sie es vorgefunden haben?“ „Wie meinen Sie das?“ „Ob Sie irgend etwas verändert haben. Die Lage der Toten zum Beispiel?“ Wolter streckt abwehrend beide Hände weit von sich. „Um Gottes willen, nicht angerührt habe ich sie! Man weiß doch Bescheid!“ „Ach soo! Sie glauben, hier handelt es sich nicht um einen Unfall!“ Krüger schüttelt befremdet den Kopf; er hat nichts gegen ein Wortgefecht, solange der Kern sachlich bleibt. Dr. Birnbaums Hand mit: dem Tuch zuckt fahrig hin und her, er sieht im Moment einem Trainer am Boxring ähnlich, der gern das Handtuch werfen möchte, sich aber wegen des tobenden Publikums nicht traut. „Was“, Krüger zeigt mit dem rechten Zeigefinger auf die Tote, „halten Sie eigentlich von der Kratzwunde am linken Oberschenkel dort?“ „Habe ich natürlich auch schon gesehen“, verteidigt sich der lange Doktor gegen den vermeintlichen Vorwurf. „Was Sie davon halten, hätte ich gern gewußt.“ „Kann allerdings von Bedeutung sein“, gibt er zögernd zu, „muß aber nicht. Es kann während des Ertrinkens entstanden sein, an einem Hindernis unter Wasser zum Beispiel, es kann sich aber auch um eine Verletzung handeln, die schon Stunden vorher entstanden ist. Und schließlich kann ihr die Schramme auch postum, also nach ihrem Tod, zugefügt worden sein. Dann allerdings kurz danach, auf jeden Fall aber weil vor Eintritt der Leichenstarre.“ Oberleutnant Krüger hebt unschlüssig die Schulter. „Wir werden ja sehen“, sagt er dann nachdenklich. „Sicher 25
scheint vorerst nur, daß jemand die Tote in die jetzige Lage gebracht haben muß – und das um Mitternacht oder noch davor, falls Ihre Zeitbestimmung nicht korrigiert wird.“ „Und warum nicht später?“ „Ihr Kleid ist trocken“, sagt Krüger kurz. Der Doktor hat auch das übersehen, niemand hat ihm deswegen einen Vorwurf gemacht, er glaubt trotzdem, sich entschuldigen zu müssen. „Ich bin ja kein Kriminalist.“ Aber selbst das scheint nicht Krügers Beifall zu finden. „Irgendwie sind wir alle ein bißchen Kriminalist, oder wir bilden es uns zumindest ein.“ „Oder kriminell“, sagt der Doktor und nickt der Toten zu, als hätte er eben ein feierliches Versprechen abgegeben. Er hat kein Glück an diesem Sommermorgen. „Unser Beruf, lieber Doktor“, sagt Krüger mit leisem Vorwurf, „verbietet Spekulationen und voreilige Schlüsse – das wenigstens haben wir gemeinsam. Und was Sie da eben andeuteten, ist zwar nicht ausgeschlossen, vorläufig aber nichts als eine Möglichkeit. Fest steht, wenn ich das wiederholen darf, daß jemand die Tote aus dem Wasser geholt haben muß, daß also jemand lange vor Herrn Wolter davon wußte. Und ich wüßte nun allerdings gern, wer dieser Jemand war.“ Er läßt den Blick nochmals wandern, als vermute er diesen Unbekannten ganz in der Nähe, fügt dann hinzu: „Und ich wüßte auch gern, warum er sich nicht umgehend bei uns meldete.“ „Er wird zwingende Gründe haben.“ „Wir werden uns doch noch ergänzen“, bemerkt Oberleutnant Krüger trocken, doch fehlt der Versicherung die Kraft der Überzeugung, die Wahrheit schlechthin. Die Worte paßten nur gut. 26
3. Kapitel
Mutter Sandow läßt das Kopfkissen sinken, sie hat zwei der Zipfel in den Händen, als ziehe sie einen ungehorsamen Bengel an den Ohren, und murmelt halb beschwörend: „Salz darf ich auch nicht vergessen.“ Aber sicher ist sicher. Sie läßt das Kissen endgültig los und geht nach nebenan in die Küche, schreibt, langsam und schon etwas zittrig, das Wort Salz auf den bereitliegenden Merkzettel, und so wird sie zumindest Streichhölzer, Gewürznelken und das Salz nicht vergessen. Dann, als sie das Kissen wieder heftig schüttelt, muß sie still vor sich hin lächeln – erst neulich hatte sie den Zettel vergessen, worauf stand, was nicht vergessen werden durfte. Endlich auch liegt das Kissen ordentlich rechteckig, sie zieht noch das Laken am Fußende glatt, packt dann das oberste Federbett vom Fensterbrett und bleibt, etwas gebeugt das unförmige Ding umarmend, mißtrauisch nach nebenan sehend stehen. Mutter Sandow gehört nicht zu jener Sorte Nachbarn, die ihr Mittagessen anbrennen lassen, weil sich nebenan interessante oder gar aufregende Dinge entwickeln. Aber sie hat sich erneut beunruhigenden Gedanken hingegeben; bei Eggerts hatte sich bis jetzt noch nichts gerührt. Fast immer hörte sie die Stalltür klappen, wenn die junge Frau ihr Fahrrad holte, um zur Arbeit zu fahren, meist auch das rhythmische Klopfen gegen die Hauswand, wenn sie den Abtreter vor der Verandatür reinigte. Heute aber war alles ruhig geblieben, und Mutter Sandow macht sich Sorgen. Die junge Frau schien in letzter Zeit nicht recht auf dem Posten zu sein, vielleicht brauchte sie Hilfe? 27
Aber da steht, fast in der Mitte des Hofes zwischen Haus und Stallgebäude, unter dem etwas kümmerlichen Nußbaum, ein Mann. Irgendwie kommt ihr der Mann bekannt vor, gesehen hat sie ihn ganz gewiß schon. Vielleicht ist es ein Arbeitskollege von Frau Eggert? Mutter Sandow runzelt erstaunt die Stirn, als der Mann nun versucht, auf Zehenspitzen ins Küchenfenster hineinzusehen, dann auch noch energisch gegen die Scheibe klopft. Er hat offenbar selbst nicht an einen Erfolg geglaubt, er zeigt keinerlei Enttäuschung, als er seinen nutzlosen Versuch aufgibt, die Hände in die Hosentaschen steckt – auch Erich pflegt das zu machen, wenn er nicht recht weiter weiß – und unvermittelt ihr genau in die Augen sieht. Sie packt, ein wenig ertappter Lauscher, das Federbett fester, hebt es an, bleibt aber noch stehen und ruft hinüber: „Da ist sicher niemand zu Hause.“ „Sieht ganz so aus“, erwidert der Mann, und Mutter Sandow hat schon die Frage auf der Zunge, was er dann da eigentlich auf dem Grundstück noch suche, als Schladitz die Stufen zum Vordereingang des Nachbarhauses hinuntersteigt. Den kennt sie natürlich, das ist der ABVer, wie das so neumodisch hieß, dennoch, es ist eine Wortverstümmlung, die Zutrauen einflößt, der nichts Schreckliches anhaftet wie etwa den beiden Buchstaben K und Z. „Morgen, Mutter Sandow!“ Er winkt ihr zu, vielleicht ist es ein Zeichen, noch einen Moment zu warten. Er spricht leise mit dem Mann – sie muß ihn doch schon gesehen haben, aber wo und wann war das bloß! –, ruft dann freundlich: „Wir wollten sowieso zu Ihnen, Frau Sandow – dürfen wir eben mal hinüberkommen?“ „Zu mir?“ Sie packt das Federbett noch fester, die 28
herausgepreßte Wölbung verdeckt ihr fast die Sicht; was wollten sie von ihr? Aber da hat sie schon zaghaft genickt, und nun muß sie sich mit Vaters Bett beeilen, was sollten die beiden denn von ihr denken? Als die Besucher in der Küche stehen, stellt Schladitz seinen Begleiter vor. „Dies“, sagt er, „ist der Genosse Oberleutnant Krüger, ein Mitarbeiter unserer Abteilung K.“ „Ka?“ „Kriminalpolizei“, klärt Krüger sie auf, verbeugt sich leicht, reicht ihr lächelnd die Hand und beruhigt sie: „Sie brauchen nicht zu erschrecken – wir haben nur einige Fragen an Sie.“ „Oh mein Gott“, sagt Mutter Sandow trotzdem. Kriminalpolizei, das Wort schaffte Unruhe, auch wenn es freundlich ausgesprochen wurde. Sah man nicht oft im Fernsehen, daß Kriminalkommissare auch mit Verbrechern freundlich redeten und sogar neben Leichen Witze rissen? Und Fragen, was für Fragen? Ohne ersichtlichen Grund, es ist eher eine Flucht in einen winzigen Aufschub, zieht sie den Merkzettel vom Tisch, legt ihn auf die Küchenwaage, setzt sich zögernd auf die Stuhlkante. „Wir hätten gern gewußt“, beginnt Krüger schonend, „wann Sie Frau Eggert zum letztenmal gesehen haben. Die Lage Ihrer Zimmer gestattet Ihnen doch einen recht guten Einblick“, er deutet unbestimmt in Richtung des Nachbargrundstücks, „zu den Eggerts.“ „Aber doch nur, wenn ich im Schlafzimmer bin“, empört sie sich schwach. Krüger hebt begütigend die Hand; das war doch keineswegs ein Vorwurf. „Wann also haben Sie Ihre Nachbarin zuletzt gesehen?“ wiederholt er. „Ja, wann eigentlich …?“ Sie wundert sich einen Augenblick, daß sie tatsächlich überlegen muß. Komisch, 29
daß man auf plötzliche Fragen nicht sofort antworten konnte, obwohl man es doch ganz bestimmt wußte. War bald wie in der Sendung von Karl Gass, da schlugen sich die Prüflinge auch immer hinterher an die Stirn, wenn sie die Lösung hörten. „Das war … na, gestern abend doch! Ja! Das heißt, gesehen habe ich sie eigentlich auch nicht, aber gehört!“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Sie hatten wieder mal Streit miteinander.“ Es entgeht ihr keineswegs, daß der Kriminaloberleutnant einen raschen Blick mit dem Herrn Schladitz wechselt; die glaubten unwohl nicht? „Die hatten nämlich oft Krach“, sagt sie betont, „und dabei waren sie nicht zimperlich! Jawohl!“ „Und können Sie uns sagen, wann ungefähr das gestern war?“ „Natürlich!“ Sie sieht den Frager herausfordernd an. Wirkt fast ein wenig stolz. „Nach sieben! Und Schluß war erst kurz vor acht. Da ist er nämlich weggefahren, mit dem Motorrad.“ „Soso, und nun wäre es schön, wenn Sie auch noch wüßten, wann Herr Eggert zurückgekommen ist.“ „Wann er. wieder nach Hause gekommen ist?“ Wieder überlegt sie, aber diesmal hilft es nicht. „Ja, das weiß ich nicht, aber vor halb elf nicht. Wissen Sie“, und nun wird sie eifrig im Bemühen, ihr vielleicht verdächtig gutes Wissen über die nachbarlichen Verhältnisse zu begründen, „bis um zehn hätten wir’s am Bildschirm gemerkt. Herrn Eggerts Motorrad kündigt sich immer mit Störungen an. Und bis halb elf habe ich wach gelegen, ich konnte nicht einschlafen, und … nun ja, da hört man dann überall ein bißchen hin.“ „Ausgezeichnet“, lobt Krüger, und er sieht der Frau an, daß sie diesem Lob nicht recht traut, „aber was ich 30
noch fragen wollte – worum ging der Streit? Ich meine, konnten Sie Einzelheiten verstehen?“ „Wo denken Sie denn hin! Ich mag das auch gar nicht hören!“ Sie schüttelt heftig den Kopf, als genügten Worte nicht, fügt aber seufzend hinzu: „Die arme Frau Eggert.“ „Sie konnten sie gut leiden?“ Mutter Sandow hat nicht nur keine Erfahrung im Umgang mit der Kriminalpolizei, ihr fällt auch gar nicht auf, daß der Oberleutnant in der Vergangenheit, von etwas Gewesenem spricht. „Ach ja, doch“, gibt sie unumwunden zu, „so zart wie sie ist? Sie sieht immer so hilfsbedürftig aus, ich mag sie wirklich. Sie ist auch sehr nett zu mir, wissen Sie? Manchmal fehlt einem dies und das, und der Weg in die Stadt ist einem in meinem Alter auch manchmal schon zuviel … doch, doch, ich mag sie gut leiden.“ Aber nun fällt ihr wieder der kurze Blickwechsel zwischen den beiden Männern auf; was hatten die eigentlich immer so Geheimnisvolles? Und warum fragten sie überhaupt? Da stimmte doch etwas nicht? Ob … und ehe sie ihre Gedanken zügeln kann, spricht sie es mit einer gewissen Naivität, aber auch mit leiser Genugtuung aus: „Ach, sie ist wohl endlich auf und davon?“ Der Oberleutnant sieht sie prüfend an, hält aber noch mit der traurigen Wahrheit zurück. „So etwa“, gesteht er unbestimmt, forscht dann weiter: „Sie hatte wohl allen Grund, nicht wahr?“ Wenn er unbedingte Zustimmung erwartet hat, jetzt wird er enttäuscht. „Nun ja, wissen Sie … Wer hat nun eigentlich Schuld? Vielleicht trägt sie auch ihr Scherflein bei, man kann nicht immer stillhalten, nicht?“ Dann erinnert sie sich der Gedanken von gestern nacht, sie empfindet auch allmählich Vertrauen zu dem Herrn Kriminaloberleutnant, und so sagt sie freimütig; „Man soll ja 31
nichts beschreien, aber ich habe schon manchmal gedacht, das gibt noch Mord und Totschlag.“ Eigentlich müßte sie jetzt von ihrer merkwürdigen Beobachtung sprechen, jenen Schatten erwähnen, den sie zu sehen geglaubt hatte, gestern spätnachts, aber das kommt ihr nun doch zu lächerlich vor. Es wird eine Katze gewesen sein, die drüben eine Flasche umgeworfen hatte, bestimmt dasselbe Biest, das auch eins der beiden Erdbeergläser vom Stuhl in der Waschküche gerissen hatte. Es war schon ein Kreuz mit den Männern – Erich hatte natürlich wieder vergessen, das Waschküchenfenster zu schließen. Schade um die Arbeit, und schade um den Zucker. „Das war’s eigentlich“, sagt Krüger, „vorerst jedenfalls. Wahrscheinlich …“ Er sieht überlegend nach der Telleruhr über dem Sofa, fragt dann: „Wann, kommt Ihr Mann nach Hause?“ „Halb fünf.“ „Es tut mir leid, Frau Sandow, aber richten Sie ihm doch bitte aus, daß wir“, wieder blickt er nach der leise tickenden Uhr, „sagen wir um fünf, nochmals vorbeikommen.“ Mutter Sandow wischt unruhig mit der Hand über die Tischplatte; warum nochmals herkommen? Hilfesuchend sieht sie Schladitz an, zu dem sie doch etwas mehr Vertrauen hat. Und der, als verstehe er gerade stumme Fragen der Bürger seines Abschnitts am besten, begründet den Vorschlag des Oberleutnants mit dem schrecklichen Satz: „Sie ist tot, die Christine Eggert.“ Automatisch nimmt Mutter Sandow die Abschiedshändedrücke entgegen, sie bleibt dabei auf dem Stuhl sitzen, ihr ist, als enthalte jeder Händedruck das übliche Beileid. Sie starrt den beiden nach, horcht auf Schritte, 32
Türklappen, auf das Quietschen der Gartenpforte und hört doch immer nur wieder den Satz, daß die nette junge Frau von nebenan tot sein soll. Und plötzlich empfindet sie sogar Zorn. Die sagten ihr, Frau Eggen ist tot, sagten nicht, wieso, warum und woran, sagten es und ließen sie damit allein zurück. Draußen heult ein Automotor, einmal, zweimal, dann ist wieder Stille. Mutter Sandow hockt noch immer auf ihrem Stuhl und starrt beklommen auf die Tür zum Schlafzimmer, als läge dort nebenan die Tote, still und stumm, nah und doch unendlich weit weg. Und dann schämt sie sich, weil jetzt, ausgerechnet jetzt, die Erinnerung sie überfällt, heraufbeschworen durch eine weißlackierte Tür, die zum Schlafzimmer führt, zu den Betten, in jene Zeit, da man selbst so jung und jünger war als Christine Eggert. Sie steht hastig auf, zerschneidet damit das Band der Erinnerungen, greift, fast einem fremden Willen gehorchend, nach dem Merkzettel auf der Küchenwaage. Während sie in den Schürzentaschen nach dem Bleistift sucht, empfindet sie, und das eigentlich zum erstenmal bewußt, daß sie Angst vor dem Sterben hat, weil plötzlich jemand gestorben war, mit dem man oft und gern geplaudert, gelacht und gefühlt hat, und jemand, der soviel jünger war. Mit Bleistift und Zettel in der Hand, setzt sich Mutter Sandow wieder, weiß gar nicht mehr genau, was sie sich notieren wollte, sie glaubt plötzlich, die junge Frau nebenan im Garten lachen zu hören. Sie wischt sich über die geröteten Augen, legt sich den Zettel zurecht, wischt mit der Handkante über einen nassen Fleck auf dem Papier, der wie ein Stern mit zu kleinen Zacken aussieht, und dann schreibt sie mit zittrigen Fingern ein Wort. Sie schreibt, um es nicht zu vergessen: Kranz. 33
Der weiträumige Autohof des VEB Kraftverkehr wirkt um diese Stunde verödeter als ein Großstadtboulevard weit nach Polizeistunde. Damit kann Karl Hellwig, Einsatzleiter und manchmal auch Blitzableiter, durchaus zufrieden sein; ein Kraftfahrzeug, so lautet eine seiner Devisen, verdiene nur Geld, wenn es fahre, für einen Kunden selbstredend. Wenn er dennoch, während er Oberleutnant Krüger in das flache Verwaltungsgebäude führt, kein gerade fröhliches Gesicht zeigt, so liegt das einmal an der scheußlichen Sache Eggert, zum anderen aber an der mangelnden Auskunftsbereitwilligkeit des Oberleutnants, immerhin gab es Fragen über Fragen. Aber Krüger hat sich lediglich danach erkundigt, ob Liebkind da sei. Der alte Liebkind, den die Berufsbezeichnung Nachtwächter längst nicht mehr stört, will sich umständlich von seinem Platz hinter dem Schreibtisch erheben, als Krüger und Hellwig das Zimmer der Einsatzleitung betreten. „Bleiben Sie ruhig sitzen!“ Oberleutnant Krüger drückt den alten, aber durchaus noch rüstigen Mann sanft in den Stuhl zurück und entschuldigt sich, daß man ihn habe herbitten müssen, leider gäbe es einige Fragen von Wichtigkeit. „Was ist denn überhaupt los?“ Opa Liebkind, Rentner mit ausreichendem Gehalt, wie er Fragen nach seinem Wohlergehen augenzwinkernd zu beantworten pflegt, räuspert sich heiser, raucht hastig eine Zigarette an und blinzelt verschmitzt; Hellwig, strenger Nichtraucher, reißt zusätzlich zum offenstehenden Fenster auch noch die Zimmertür auf. „Um ganz direkt zu fragen“, beginnt Krüger, wobei er 34
sich an das Fensterbrett lehnt, „wann kam der Kollege Eggert heute morgen zur Arbeit?“ Anscheinend war der erste kräftige Zug zu kräftig; Liebkind hustet qualvoll und mit gekrümmtem Oberkörper, ehe er mühsam erklären kann: „Das weiß ich nicht.“ Krüger zieht nur stumm die Augenbrauen hoch. „Wirklich“, beteuert Opa Liebkind, „verstehe ich selbst nicht …“ „Weil du wieder mal schön geschlafen hast“, fährt Hellwig böse dazwischen und verteilt mit schleudernden Armbewegungen die dichte Rauchwolke, die auf ihn zuschwebt. „Das mußte mir erst mal beweisen“, begehrt der Alte auf, hustet erneut, gibt dann kleinlauter zu: „Na ja, ab und zu druselt man schon mal ein. Setz du dich mal die ganze Nacht hin! Trotzdem“, er schielt an Krüger vorbei zum Fenster hinaus, „seine Jawa habe ich sonst immer gehört, Krach wie die Karre macht. Aber heute morgen eben nicht. Losgefahren ist er jedenfalls pünktlich!“ Er dreht sich halb zum Schreibtisch um, blättert, ohne sich zu erheben, in einem umfangreichen Buch, deutet schließlich auf eine bestimmte Eintragung. Der Oberleutnant braucht sich nur etwas vorzubeugen, um die Eintragung zu lesen, auf die Liebkinds Zeigefinger weist: KOM 0183 – 4.05 Uhr. „Mhm.“ Krüger lehnt sich zurück, dreht sich um, nickt hinüber zum langgestreckten Fahrradschuppen, der fast ausschließlich Motorräder beherbergt, erkundigt sich: „Und Eggerts Motorrad – steht es dort?“ Hellwig tritt eilig neben den Oberleutnant, mustert die abgestellten Kräder, sagt, zunächst ruhig: „Ja, das … dritte, vierte, fünfte! Von links. Die rote Jawa, die mit den vielen Rücklichtern auf dem Schmutzgummi.“ Er 35
fährt heftig herum und knurrt den alten Mann an: „Da mußt du aber besonders schön geschlafen haben!“ Liebkind zieht unbehaglich den Kopf ein, schnauft gekränkt und protestiert Schwach: „Muß ich gar nicht – der Eggert kann ja gekommen sein, als ich auf Rundgang war, ganz hinten irgendwo. Vielleicht hat er’s auch geschoben?“ Er fummelt anklagend am rechten Ohr, murrt störrisch: „Fußgänger kann ich auf zwanzig Meter Entfernung nicht mehr hören. – Was ist denn überhaupt los?“ „Was schon“, sagt Hellwig, „ist doch Stadtgespräch – Eggerts Frau ist tot.“ Er beißt sich auf die Lippen, sieht vorsichtig den Oberleutnant von der Seite an, aber der reagiert nicht darauf. „Was denn?“ Liebkind zerdrückt vor Überraschung seinen Zigarettenrest statt im Aschenbecher in einer Schachtel, in der Büroklammern sind. „Die Christine?“ „Mehr Frauen hatte er ja nicht“, sagt Hellwig grob, beißt sich erneut auf die Unterlippe, setzt kleinlaut hinzu: „Jedenfalls war er nur mit ihr verheiratet.“ „Na so was“, murmelt der alte Liebkind und raucht die nächste Zigarette an. Der Oberleutnant scheint den ganzen Wortwechsel gar nicht gehört zu haben. Er stößt sich vom Fenster ab und bittet den Einsatzleiter, ein wenig auf Eggerts Motorrad zu achten. „Ich meine, daß es niemand benutzt. Unter Arbeitskollegen, zumal unter Kraftfahrern, soll es so etwas ja geben.“ „Und wenn Eggert selbst …?“ Hellwig fährt sich unruhig durch die fahlblonden Haare, während er dem Oberleutnant zwei Schritte bis zur Tür folgt. Nachdenklich sagt Krüger: „Es könnte sein, er hat heute keine Gelegenheit dazu, nicht wahr?“ 36
„Sie kommen wie gerufen!“ Der füllige Mensch hinter dem morgendlich überladenen Schreibtisch hält bei seinem nicht ganz überzeugenden Stoßseufzer die linke Hand flüchtig über die Sprechmuschel des Telefonhörers, deutet dann hastig auf einen Stuhl, nörgelt weiter ins Telefon: „Wieso erst nachmittags um drei? Wie? Die Waggons können jetzt nicht bereitgestellt, werden? Soso! Aber ich kann ganz selbstverständlich alles umkrempeln … na ja, ist ja gut … um drei also! Aber kommen Sie mir nicht schon wieder mit Überstunden!“ Hubert Weißbrodt, Leiter der hiesigen Transportgesellschaft Handel, knallt den Hörer auf, kratzt sich nervös im Genick, ordnet wahllos einige Listen, schiebt sie anschließend wieder in die Unordnung zurück, und Oberleutnant Krüger ist sicher, daß er zwar erwartet wird, von Sehnsucht aber keine Rede sein kann. Das bestätigt nicht zuletzt die betonte Uninteressiertheit des Kollegen Günter, der, am zweiten Schreibtisch sitzend, bei Krügers Eintritt kaum aufgesehen hat und auch jetzt emsig irgendwelche Summen nachrechnet. Krüger ertappt sich dabei, daß er den Kollegen Günter noch immer von der Seite anstarrt. Wie viele Menschen in dieser Kleinstadt kennt er auch ihn. Nicht dienstlich, auch privat nicht näher, aber er weiß, Günter ist. einer von den Unauffälligen, Ruhigen. Ein Mensch, still und bescheiden, aber auch farblos, Junggeselle ohne besondere Neigungen. Falls sich Gegensätze wirklich anzogen, so waren die zwei Männer hier ein erstklassiges Gespann. Mußte der quirlige, nervöse und dauernd überbeschäftigte Glatzkopf Weißbrodt belebend auf Günter wirken, so dürfte dieser eine Art Bremse des cholerischen Temperaments seines Vorgesetzten sein. 37
„Es gibt wilde Gerüchte!“ mahnt Weißbrodt grollend, als der Besucher keine Anstalten trifft, ihn nun endlich aufzuklären. Weißbrodt sieht mit Befremden die Spur eines Lächelns um Krügers Mundwinkel. Der Oberleutnant hat eben, seine Gedanken über die Charakterisierung der beiden Männer weitertreibend, überlegt, wie wohl jeder auf einen plötzlichen körperlichen Schmerz reagieren würde, beispielsweise am empfindlichen Schienbein. Und es erheiterte ihn, sich vorzustellen, daß Günter wahrscheinlich nur stumm die schmerzhafte Stelle reiben würde, vielleicht mit einem unterdrückten Stöhnen, während Weißbrodt vermutlich, wilde Verwünschungen ausstoßend, Gott und alle Welt Vorwürfe machend, herumhüpfen würde. „Unsere Kollegin Eggert“, grollt Weißbrodt weiter, „sie soll … nun ja, ihr soll etwas zugestoßen sein!“ „Das“, sagt Krüger und ist nach Weißbrodts Ansicht endlich angemessen ernst, „ist kein Gerücht. Und“, er hebt abwehrend die Hand, als Weißbrodt ungezügelt auffahren will, „wir wollen uns auch nicht mit Gerüchten befassen, die Tatsachen sind schon traurig genug. Ja, Ihre Kollegin Christine Eggert ist tot. Ertrunken.“ „Aber das ist doch unmöglich!“ Weißbrodt erhebt sich polternd, stampft bis dicht vor Krüger. „Ertrunken? Sie konnte doch ausgezeichnet schwimmen!“ Krüger antwortet nicht sofort; er beobachtet erneut den Kollegen Günter. Auch jetzt im völligen Gegensatz zu Weißbrodt, sitzt er ganz still, der eben noch fleißig bewegte Bleistift ruht mitten in der Addition. „Nun sagen Sie doch was!“ „Man kann“, sagt Krüger langsam, und er sagt es etwas gegen seinen Willen, „unter bestimmten Vorausset38
zungen auch in einer Regenpfütze ertrinken.“ „Es hat seit vierzehn Tagen nicht geregnet“, fährt Weißbrodt auf, er fühlt sich veralbert. Er glaubt keineswegs an den Tod einer Kollegin, die noch gestern um ihn war. „Sie ist draußen, im sogenannten Fischteich, ertrunken.“ Oberleutnant Krüger hat allen Grund, sich über die Reaktion auf seine ebenso sachliche wie klärende Auskunft zu wundern. Daß Weißbrodt irritiert blinzelt, mochte noch zu einem Menschen passen, der sich hartnäckig weigert, an eine unfaßbare Nachricht zu glauben. Aber Günter spricht aus, was vielleicht Gerücht war, was der Oberleutnant aber nicht ausschließen durfte. Günter behauptete unvermittelt, und das ohne Erregung oder gar Triumph: „Dann hat er sie umgebracht.“ Er hat sich dabei nicht einmal umgedreht, er stiert weiter auf seine Addition, nur der Bleistift, wie ein Speer gehalten, zielt auf einen imaginären Punkt irgendwo hinter dem Fenster. „Eine schwerwiegende Behauptung“, bemerkt Krüger verhalten. Er empfindet jetzt eine gewisse Abneigung gegen Günter, er weiß selbst nicht recht, warum. Vielleicht ist es die ganze Art, die Farblosigkeit des Mannes, wahrscheinlich aber nur eine meist begründete Vorsicht gegen vorschnelle Urteile. Schnelle Urteile waren zu oft Vorurteile. „Wie kommen Sie darauf?“ „Na, wie schon!“ Weißbrodt schiebt den Kollegen mit fuchtelnden Armbewegungen einfach in den Hintergrund zurück. „Weil Christel, ich meine die Kollegin Eggert, nie freiwillig in den Fischteich gestiegen wäre, ist doch klar! Sie hatte regelrechte Angst vor offenen Gewässern, vor allem, wenn Schilf und andere Wasserpflanzen als Garnierung darin wachsen. Und dann Fischteich! Schon der Name sagt doch, daß darin Fische sind oder zumin39
dest waren. Vielleicht auch Aale, halbe Schlangen! Nee, nee, Genosse Oberleutnant – nie hätten Sie Christel dazu bewegen können!“ „Das wissen Sie ganz genau?“ „Na, hören Sie mal! Wenn man einige Jahre zusammen gearbeitet und hin und wieder auch gefeiert hat, weiß man eine ganze Menge voneinander. Und außerdem“, Weißbrodt klopft sich dröhnend auf die Brust, als handele es sich bei der folgenden Versicherung vorrangig um sein Verdienst, „wir sind eine Brigade der sozialistischen Arbeit!“ Krüger runzelt mißbilligend die Stirn. Er hat nichts gegen einen gesunden Stolz auf vollbrachte Leistungen, ihm selbst war dieses Gefühl tiefer Befriedigung nach Abschluß eines hartnäckigen Falles auch nicht unbekannt. Aber das eben klang ihm zu pathetisch, zu selbstbewußt, und es klang wie: Wir sind eine sozialistische Brigade, wir wissen alles, wir sind gut, uns kann nichts mehr passieren; seht uns an und schweigt ergriffen. „Das freut mich zu hören“, gesteht er schließlich matt, „weil Sie mir dann sicher mit einigen Auskünften helfen können, zum Beispiel über die Ehe der Eggerts.“ „Eine miserable Ehe“, bekräftigt Weißbrodt überzeugt. „Ist das Ihre eigene Ansicht, oder hat sich die Kollegin Eggert so über ihre Ehe geäußert?“ Zum erstenmal wirkt Weißbrodt etwas unsicher. Er sieht sich hilfesuchend nach Günter um, kratzt sich wiederum kräftig im Genick und gesteht zögernd: „Eigentlich … na ja, Christel hat eigentlich selten über ihre Ehe gesprochen. Ja, tatsächlich!“ Er schüttelt verwundert den Kopf, als fiele ihm das erst jetzt richtig auf. „Tatsächlich“, wiederholt er unruhig, „zwar weiß jeder, daß die Ehe …“ 40
„Vom Hörensagen“, unterbricht Krüger ironisch. Weißbrodt sieht sich erneut hilfesuchend nach Günter um, aber der schweigt, wenn er den Oberkörper auch ein wenig zu den beiden gedreht hat und so wenigstens etwas Anteilnahme ausdrückt. Da die Hilfe ausbleibt, stampft Weißbrodt erst einmal hinter seinen Schreibtisch, rückt sinnlos den Telefonapparat einige Zentimeter zur Tischkante, brubbelt unsicher: „Sie haben recht“, überlegt wenige Sekunden, gesteht dann: „Eigentlich, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hat sie genau das Gegenteil gemacht – nämlich ihren Mann verteidigt, wenn ihn jemand kritisiert hat. Tatsächlich!“ „Das“, sagt Krüger mit Nachdruck, „gibt es weitaus öfter, als man gemeinhin denkt.“ „Sie hielt ihn für den Größten!“ Oberleutnant Krüger wendet fast widerwillig den Kopf zu Günter. Der Hohn, die Gehässigkeit sind zu offensichtlich. „Sie sind anderer Meinung?“ Auch jetzt bewegt sich Günter kaum, er tippt leicht und unregelmäßig mit der Bleistiftspitze auf die Schreibunterlage. „Dem traue ich alles zu!“ Nun lächelt Krüger spöttisch. „Wenn ich Sie auch durchaus richtig verstehe – alles heißt aber, daß Sie ihm auch Gutes zutrauen.“ Günter verzieht nur geringschätzig die Mundwinkel. Die Augen sind es, denkt Krüger stumm, ich mag diese hellen, nicht grünen und nicht hellblauen Augen nicht, ich konnte schon den Hans Albers genau wegen dieser unnatürlich hellen Augen nicht leiden, obwohl diese Abneigung durch nichts zu begründen ist. Ich muß mich davor hüten, denkt er noch, dann fragt er, vielleicht ein wenig zu scharf: „Sie mochten Christine Eggen?“ Es scheint, als habe Günter erkannt, daß der Oberleut41
nant seinem Blick nur ungern begegnet. Er sieht ihn unverwandt an, läßt sich Zeil, antwortet aber aufrichtig: „]a.“ Der Oberleutnant nickt, vielleicht aus Anerkennung, vielleicht auch, weil er seine Überlegungen bestätigt sieht. „Sie mochten sie sogar sehr?“ Die unangenehmen Augen lassen Krüger nicht los. „Das darf man doch wohl, jemanden sehr mögen?“ „Was soll das alles?“ Betriebsleiter Weißbrodt fährt unbeherrscht dazwischen, als kränke es ihn, aus dem Mittelpunkt gerückt worden zu sein. Oberleutnant Krüger winkt ab, eine Geste, die er sonst nicht als Argument akzeptiert. Abwinken kann vieles bedeuten: Geringschätzung, Protest, Abwehr, Überheblichkeit, es ist anmaßend und kränkend. „Gewiß“, sagt er zu Günter, „das darf man, nur … vielleicht waren Sie damit eine der Ursachen für die Schwierigkeiten in Kollegin Eggerts Ehe?“ Günter scheint zunächst nur erstaunt zu sein, eine sich unaufhaltsam ausbreitende Gesichtsröte jedoch verrät nicht nur, daß er sehr wohl begreift, sie weckt auch für einen Augenblick eine gewisse Sympathie bei Oberleutnant Krüger. „Aber ich habe doch nie …“, murmelte Günter vorwurfsvoll. „Sie haben es ihr nie gesagt, meinen Sie, wie?“ Krüger lächelt ungewollt, nickt sonderbar grimmig dazu. „Als wenn das nötig wäre! Sie scheinen wahrhaftig wenig Erfahrung mit. Frauen zu haben – es genügt, wenn Sie einer heimlich verehrten Kollegin auch nur ein bißchen mehr Aufmerksamkeit schenken als üblich. Selbst wenn Sie ihr nur den Bleistift anspitzen – eine Frau merkt sehr schnell, was einen dabei so bewegt.“ „Ja, aber …“ 42
„Momentchen“, unterbricht Krüger ihn, „denken wir mal zu Ende. Diese Frau, selbst wenn sie keine Sekunde auch nur mit dem Gedanken an einen harmlosen Flirt spielt, erwähnt vielleicht zu Hause Ihren Namen etwas häufiger als den anderer Kollegen, und … na ja, Ehepartner sind mitunter verdammt hellhörig.“ „Unsinn!“ Weißbrodt wuchtet förmlich seine Fäuste in die Taschen seines Kittels und stampft wieder näher an den Oberleutnant heran. „Das heißt“, verbessert er sich rasch, „im allgemeinen kann das ja stimmen, aber wie ich den Eggert kenne …“ Krüger bringt ihn sanft aus dem Konzept. „Wie kennen Sie ihn denn?“ „Also gut“, lenkt Weißbrodt gehorsam ein, „wie ich ihn einschätze, hätte er einen Nebenbuhler unsanft an der Krawatte oder sonstwo gepackt und ihn eindeutig über bestehende Besitzansprüche aufgeklärt, möchte ich wetten. Schließlich weiß man ja, daß … na ja!“ „Was ‚na ja‘?“ „Na ja!“ Brummig bringt Weißbrodt seinen Satz zu Ende: „Man weiß ja, daß Eggert wegen Körperverletzung vorbestraft ist.“ „Das ist fast zehn Jahre her“, sagt der Oberleutnant mit Betonung und wundert sich etwas, daß man es noch nicht vergessen hat. „Zehn Jahre“, wiederholt er langsam, „eine lange Zeit.“ „Die Katze läßt …“ „Geschenkt.“ Krüger wendet sich zur Tür. „Eine Frage noch: War die Kollegin Eggert in letzter Zeit verändert? War sie bedrückt, oder sah man ihr Sorgen an? Oder …“, er mustert erneut den Kollegen Günter, der wieder auf seine Addition starrt, „hatte sie vielleicht Selbstmordgedanken?“ 43
„Ausgeschlossen!“ Weißbrodt wirkt im Augenblick wie eine Riesenschildkröte, die den Kopf herausschnellt, um einen besonderen Leckerbissen zu haschen. Und genau wie dieses Tier, wenn es übereilt gehandelt hat und den Kopf vorsichtig wieder einzieht, so schwächt Weißbrodt auch seine vorschnelle Versicherung wieder ab. „Das heißt, genau weiß man das eigentlich auch nicht.“ Als suche er Unterstützung, stiert auch er rasch zum Kollegen Günter, kratzt sich im feisten Genick, knurrt dann: „Weiß auch nicht recht … glaub’s aber nicht. Warum auch?“ Erscheint, befremdlich bei seiner Stellung, doch recht unentschlossen. „Herrgott“, poltert er los, „Selbstmordgedanken! Wer sagt nicht mal, wenn er gerade die Schnauze voll hat: ‚Am besten, man hängt sich auf oder so. ‚Ich nehm ’nen Strick und schieß mich tot … ‘“ Der Oberleutnant nickt zustimmend, übersieht den fragenden Blick Weißbrodts und ist überzeugt, daß der cholerische Betriebsleiter wahrscheinlich ähnliches seinen Mitarbeitern androht, wenn nicht alles ganz genau nach seinem Willen läuft. „Nein, nein“, bekräftigt Weißbrodt, der Krügers Nicken als ein Lob für seine Weisheiten auslegt, „halte ich für ausgeschlossen. Nun ja, ein bißchen still war sie in letzter Zeit schon, aber ist das ein Wunder? Bei dem Stoffel von Ehemann? Dabei war sie, und das müssen wir ja wissen, so ein lieber, ruhiger Kerl. Nicht etwa duckmäuserisch, keine Sorge! Aber sie war immer fröhlich, gleichbleibend fröhlich, möchte ich sagen. Ich kann mich auch nicht erinnern, daß wir mit ihr jemals Streit hatten. Kommt ja immer mal was vor, nicht? Aber Christel? Nee! Wissen Sie, sie war eine jener Frauen, die tapfer alles schlucken, vielleicht später irgendwo still vor sich hin weinen, verstehen Sie mich?“ 44
Wieder nickt der Oberleutnant, und diesmal könnte Weißbrodt die knappe Geste getrost als Lob werten. Denn das hat der Betriebsleiter eben fein formuliert, feinfühlig sogar, was man ihm eigentlich gar nicht zutraut. Vorausgesetzt natürlich, es ist nicht übertrieben, ein bißchen klingt es schon nach pflichtschuldigem Nachruf; über Tote redet man tunlichst nicht schlecht. Der Nachruf beschäftigt Krüger auch noch, als er über den zerfahrenen Zufahrtsweg zurück zum Wagen geht. Er hat ihn, mit Rücksicht auf einen möglichen Verkehrsstrom, wofür ja der Name Handelstransport sprach, draußen auf der Straße stehengelassen. Eine Rücksicht, die sich als unnötig erwiesen hatte. Wir werden ihr Andenken stets in Ehren halten – so wird der letzte Satz in der schwarzumrahmten Anzeige versichern, oder vielleicht wird es auch schlichter heißen: Wir werden sie nie vergessen. Auf einen Menschen hier kann das zutreffen, grübelt der Oberleutnant, während er sich einen Weg durch wahre Gebirge von Leergut, vornehmlich dünnwandige Kisten und Obststiegen, sucht. Der Gedanke an den Kollegen Günter läßt ihn am Fuß des Kistengebirges stehenbleiben und sich umdrehen. Am ersten Fenster der hellgeputzten Steinbaracke müßte eigentlich der Schreibtisch stehen, an dem Günter saß und addierte, aber der Oberleutnant kann durch die geschlossenen Fenster nichts erkennen. Aber draußen, etwa fünf Meter von den beiden Eingangsstufen entfernt, steht regungslos Weißbrodt, die Hände in den Taschen seines grauen Kittels, und stiert feindselig den Fahrradständer an. Sechs Räder zählt der Oberleutnant, zwei Plätze sind frei. Und einer davon wird nie mehr von Christine Eggert belegt werden. 45
‚Nie‘ ist scheußlich endgültig, so endgültig wie der Tod. Es scheint, als habe dieser Herr Weißbrodt zwei verschiedene äußere Hüllen und zwei ebenso verschiedene Seelen in der Brust, je nach Erfordernis, Cholerisch, temperamentvoll, fast selbstherrlich für den Dienstgebrauch, sensibel und mitfühlend im Privaten. Oberleutnant Krüger drückt sich sacht hinter die Kistendeckung, in seinem Beruf begegnete man häufig falschen Gesichtern, Theaterspielen dünkte besonders Verdächtigen vorteilhaft. Mochte es auch durchaus angebracht sein, wie Weißbrodt im Betrieb mit einem Schutzschild herumzulaufen, immer war es ganz gewiß nicht richtig. Und es gab auch noch genügend Menschen, die nachts im Walde pfiffen. Eine ganze Weile steht Weißbrodt regungslos, den Kopf wie angriffslustig vorgeschoben, sieht dann langsam aufwärts in den wolkenlosen Himmel, als erwarte er von dort ein beruhigendes Zeichen, daß alles nur ein schrecklicher Irrtum sei, und wendet sich unsicher in die Baracke zurück. Krüger vermißt den eigentlich fälligen Knall der Tür. Weißbrodt mochte tatsächlich erschüttert sein, Rücksicht war gewiß sonst kaum seine Stärke. Der Oberleutnant geht, in Gedanken versunken, weiter durch den Hohlweg von Kisten. Skepsis ist immer am Platz, und er denkt, ein bißchen sarkastisch, daß der Herr Weißbrodt zumindest schon deshalb traurig sein konnte, weil er eine stets fröhliche Kollegin verloren hatte, eine fast ideale Mitarbeiterin, die bei gelegentlichen Wutausbrüchen des Chefs still in eine Ecke gegangen war, um vor sich hin zu weinen.
46
4. Kapitel
Die ehrwürdigen Häuser rings um den Thälmannplatz der Bezirkshauptstadt scheinen durch ihre verschnörkelten Fassaden den Hochmut ihrer früheren Besitzer zu teilen: Widerlich, diese plebejische Hast! Jetzt, um die Mittagsstunde, brandet dichter Verkehr rings um den Platz, in dessen Mitte wie eine stille Insel, ein Zufluchtsort, der Busbahnhof mit seinen Bahnsteigen liegt. Das meiste Leben konzentriert sich wie immer um diese Zeit auf zwei Großgaststätten, durch deren Türen unablässig Hungrige und Satte strömen. Auf der Insel Busbahnhof, einsam auf Bahnsteig sieben, sitzt, ungeschützt in der prallen Sonnenhitze, ein dicklicher Mann, scheint zu dösen, sieht ab und zu schräg nach links, und man könnte meinen, er kämpfte mit sich, denn schräg links ist die Großgaststätte „Lindenhof“. Aber den Mann interessiert keine Gaststätte und auch nicht die Aussage der Häuserfassaden – die schauten schon zur Jahrhundertwende gleich hochmütig auf Landauer, Miet- und Postkutschen. Schräg links, betont auf Abstand von den Bahnsteigen bedacht, steht ein hellblauer Ikarus, auf dessen Lenkrad hemdsärmlig der Fahrer lehnt, Inbegriff eines erzwungenen Müßigganges. Als ahne Busfahrer Horst Eggert, daß ihn der Dicke mit dem Zigarrenrest im Mundwinkel hin und wieder mustert, richtet er sich jetzt langsam, etwas widerwillig auf, reibt sich die Augen, streicht die Haare glatt und sieht auf die Armbanduhr. Er hat noch fast eine Stunde Zeit, und so ist in seinem Blick, den er mürrisch zur Bank hinüberschickt, eine gewisse Abfälligkeit. Der 47
komische Dicke da hatte offenbar Angst, er könnte seinen Bus verpassen. Wie um das zu bestätigen, erhebt sich der Dicke, fährt sich mit dem Taschentuch über das Genick und marschiert unbekümmert quer über die Bahnsteige zum Ikarus. Eggert sieht ihn kommen, behält ihn im Auge, bis er den Bus fast erreicht hat, greift dann nach einer Zigarettenpackung und steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Und während der Dicke nun schon an der offenen Tür steht, zündet sich Eggert die Zigarette erst noch umständlich an, als habe er den Mann da überhaupt noch nicht gesehen. Gegen die Sonne blinzelnd, krächzt der übervorsichtige Fahrgast, nachdem er erst noch an das Türblech geklopft hat: „Entschuldigung – ist das der Bus nach K.?“ Eggert dreht den Kopf gerade so weit, daß er den Frager mit den Augenwinkeln erfassen kann. Seine Haltung ist so abweisend wie die Antwort: „Steht doch dran!“ Der Dicke ist offenbar ein Gemütsmensch. „Vielleicht kann ich nicht lesen?“ Obwohl er nur ein geringschätziges Achselzucken erntet, bohrt er hartnäckig weiter: „Und Sie fahren in einer Stunde?“ Eggert wendet ihm nun voll das Gesicht zu, forscht in den Gesichtszügen des Mannes, ob ihn der so harmlos wirkende Mensch etwa auf den Arm nehmen will, knurrt dann gereizt: „Ja, verdammt noch mal! Wenn nichts dazwischenkommt – und falls mich nicht irgendein Dorftrottel vorher zu Tode fragt.“ Der Dicke wiegt den Kopf, als prüfe er ernsthaft solche Möglichkeit, nuckelt dabei verzweifelt am Zigarrenstummel, nickt schließlich. Es könnte fast Anerkennung sein, aber der Dicke ist nur zu einem vorläufigen Urteil 48
gekommen. Dieser Eggert gehörte ohne Zweifel zu jenen Kraftfahrern, die um so überheblicher wurden, je höher sie saßen. Mit diesen Leuten ließ sich erst wieder vernünftig reden, wenn sie wieder auf der Erde standen. Er wendet sich wortlos ab und stapft ungerührt zum Bahnsteig sieben zurück. Ein wenig wirkt er tatsächlich wie ein unbeholfener Bewohner eines abgelegenen Dorfes, ein Gastwirt etwa, der weiß, daß er schon viel im Leben verpaßt: hat. nun aber seinen ganzen Ehrgeiz, daransetzt, wenigstens diesen einen Autobus nicht zu verpassen, eine Art Chance, den sehnlichst gewünschten Anschluß zu finden. Er steigt auch drei viertel Stunden später als erster ein, belegt die beiden vordersten Plätze, obwohl er sich diszipliniert in die Fensterecke zwängt. Und noch immer nuckelt er an seinem Zigarrenrest, ein Stummel, dessen Glutende zerfranst ist, als sei er mit aller Gewalt ausgedrückt worden. Monoton klopft der Heckmotor im Standgas, bis sich endlich die Türen zischend schließen. Eggert, der mehr als wortkarg die Fahrgäste abgefertigt hat, blickt prüfend in einen der drei Innenspiegel, sieht genau in die Augen des Dicken, dreht sich schwerfällig herum. „Hier ist Rauchen verboten!“ Der Zurechtgewiesene blinzelt das Verbotsschild an, nickt zustimmend, nuschelt undeutlich, aber friedfertig: „ich weiß“, nimmt den Zigarrenrest aus dem Mund, betrachtet eingehend das verkohlte Ende, klemmt ihn wieder in den Mundwinkel und lehnt sich zufrieden zurück. Und so bleibt er sitzen, bescheiden und anscheinend glücklich, daß er nun im richtigen Bus sitzt. Er bewegt sich kaum, läßt Felder, Dörfer, Wälder und kleine Städte an sich vorüberziehen, und nur ein aufmerksamer Beob49
achter würde sehen, daß er zumindest passionierter Kraftfahrer ist. Bei mitunter etwas gewagten Überholmanövern, bei unvermutet auftauchendem Gegenverkehr drückt er den rechten Fuß fest auf den Fußboden, meist auch gleichzeitig den linken – er bremst und kuppelt, als führe er selbst. Unangenehm empfindet Eggert nur die Angewohnheit des Dicken, häufig in die Rückspiegel zu sehen; ihre Augen begegnen sich oft. Solche Manöver können angenehm oder gar erregend sein, wenn es die Augen eines reizenden Mädchens, einer interessanten Frau sind, Augen, die anfangs abweisend, dann neugierig, später lockend sind und am Schluß geheimes Einverständnis zeigen. Ein herrliches Spiel, Kraftfahrer sind da nicht so. Die Augen dieses Dicken dagegen sind störend, sie erzeugen Abneigung und machen ganz einfach nervös. So nervös, daß man rauchen muß. Als Eggert sich trotz kurvenreicher Straße eine Zigarette anzündet, tritt der Dicke besonders fest auf die imaginären Pedale. „Ich dächte“, sagte er bequem in den Spiegel hinein, „hier ist Rauchen verboten?“ Eggert reagiert nicht darauf, bis er wenig später an einer Bedarfshaltestelle halten muß, mitten im Wald, wo ein tiefschwarz vermummtes Mütterchen aussteigt. Er dreht sich betont demonstrativ zu dem Dicken um. Er weiß sich im Blickfeld seiner Fahrgäste, er ist hier eine Art Kapitän, und nun wird er es dem Kerl zeigen, er wird ihn lächerlich machen, vor Publikum macht sich das besonders gut. „Sagen Sie“, beginnt er schleppend, „Sie arbeiten doch irgendwo? Oder …“, unüberhörbar der Spott, „sind Sie schon Rentner?“ „Irgendwo“, krächzt der Dicke, ohne seine bequeme 50
Haltung zu ändern; er scheint gar nicht zu begreifen, daß auf seine Kosten gelacht werden soll. „Und dürfen Sie an Ihrem Arbeitsplatz rauchen?“ „Sicher.“ „Na also!“ Befriedigt lehnt Eggert sich etwas zurück und registriert zustimmendes Lächeln bei einzelnen Fahrgästen. „Da hängt aber auch kein Verbotsschild, Meister!“ kontert der Zigarrenraucher gemütlich. Eggert, den ersten Gang einlegend, dreht sich erneut um, mustert den Dicken, fährt dann unbeherrscht an. Der Bus ruckelt widerspenstig, fügt sich rasch, nur das Getriebe schnarrt böse Protest beim Umschalten auf den nächsten Gang. Ein erneuter Blick in den Innenspiegel: Der Mensch tut harmlos, als hätte er bis jetzt kein Wort gesagt. Aber natürlich glotzt auch er gerade wieder in den Spiegel. Ganz nebenbei hat der Dicke das I ‚ager in zwei Parteien gespalten, zumindest die Raucher hätte er auf seiner Seile. Dann ist der Bus am Ziel, und Eggert könnte froh sein, einen unsympathischen Fahrgast loszuwerden, aber er hat jetzt keinen Blick für ihn. Eggerts Gesicht bleibt verschlossen und mürrisch, auch als er drei Männer an seiner Haltestelle stehen sieht, von denen zwei eine Uniform tragen. Nur seine Fahrweise verrät Erregung, so betont forsch und schwungvoll reißt er sein Fahrzeug in die letzte Kurve. Beängstigend dicht gleitet die Glaskanzel an einem Peitschenmast vorbei. Aber Eggert muß die Anfahrt im Schlaf kennen, er streift weder vorn den Leitungsmast noch mit dem Heck den rot warnenden Hydranten, nur der Druck auf das Bremspedal könnte gefühlvoller sein; bereits stehende Fahrgäste preßt der jähe Halt unwiderstehlich nach vorn. 51
Der Dicke wippt ein klein wenig mit, sitzt, dann wieder fest. Druckluft klappt die Türen auseinander, die Fahrgäste verlassen den Bus. Etwas ulkig anzusehen, wandern vor der Frontscheibe die Köpfe Oberleutnant Krügers und Einsatzleiter Hellwigs von rechts nach links; ein Hauptwachtmeister steht direkt neben dem Ausstieg. Und während Hellwig die Tür zum Fahrersitz öffnet, verschafft Eggert sich noch einen winzigen Aufschub, indem er den Dicken auffordert: „Hören Sie – wir sind am Ziel!“ Der wiegt zweifelnd den Kopf, als sei er davon keineswegs überzeugt, erhebt sich aber gehorsam, steigt gemächlich aus, wirft den kalten Stummel aufatmend in einen Betonkübel, der eher wie eine exentrische Blumenvase als wie ein Abfallkorb aussieht, zündet sich genießerisch eine neue Zigarre an, wandert gemächlich um den Bus herum und kommt gerade zurecht, Eggerts lahmen Protest zu hören: „Aber … ich kann doch den Bus hier nicht einfach stehenlassen!“ „Ich bin ja auch noch da“, sagt Hellwig. Aber das ist für Eggert im Augenblick gewiß kein Trost, eher das Gegenteil. Ein Wartburg braucht von dem kleinen, noch im Ausbau befindlichen Busbahnhof der Kreisstadt bis zum Volkspolizei-Kreisamt höchstens drei Minuten. Senken sich aber, wie eben jetzt, läutend die rot-weißen Schrankenrohre am Bahnübergang, kann man getrost sieben bis zehn Minuten hinzurechnen, je nachdem, aus welcher Richtung der erste Zug kommt. Links, auf einem der drei Rangiergleise, wummert verhalten eine V 200, als brenne sie darauf, die endlos scheinende Schlange von Güterwagen hinter sich mit stetiger Geschwindigkeit schneller an ihren Bestim52
mungsort zu schleppen. Dann wird noch ein Zug von rechts kommen, und so hat Horst Eggert mindestens noch dreizehn Minuten Zeit, Gedanken und Sorgen zu sortieren. Ebensoviel Zeit hat auch Oberleutnant Krüger, der hinten im Wagen neben Eggert lehnt. Auch er muß sich Gedanken machen, wenn auch von Sorgen keine Rede sein kann. Eine Spur Besorgnis vielleicht, die sich schnell zerstreuen oder wenigstens erklären ließe, aber eine Unterhaltung mit dem Mann vor ihm ist. im Augenblick nicht möglich. Dieser Mann ist Hauptmann Rodak, zweiter Mann der MUK. Er kennt ihn kaum erst, der Genosse Hauptmann ist kürzlich an die Stelle des Genossen Skowronnek gerückt, der zum Ministerium versetzt wurde. Das offizielle Vorstellen, zwei, drei kurze Gespräche, das ist alles. So kennt er eigentlich nur den guten Ruf des Hauptmanns, weiß, daß er verheiratet ist und zwei Kinder hat, daß er mit Sicherheit das charakterliche Gegenstück des strengsachlichen Skowronnek ist. Und eigenartigerweise kennt er auch schon den Spitznamen Rodaks, der, zählebig wie alle Spitznamen, dem Hauptmann bis in seine neue Dienststelle gefolgt ist. Während der erste Zug vorüberdröhnt, muß Krüger verstohlen vor sich hin schmunzeln. Spitznamen können mitunter Volltreffer sein, doch der, den der füllige Hauptmann trägt, muß Außenstehenden geradezu absurd erscheinen: man nennt Rodak „BB“. Der Hauptmann hat mit Brigit Bardot nicht mehr Ähnlichkeit als die charmante Französin etwa mit Rasputin, und Krüger weiß, daß die beiden Buchstaben, ein Begriff immerhin, in diesem Fall die Abkürzung von „Böseblick“ sind. Ob da nicht jemand tüchtig danebengehauen 53
hatte? Hauptmann Rodak wirkte viel eher gemütlich als böse. Der Grund zur Besorgnis liegt ganz einfach in der Tatsache, daß der Genosse Hauptmann überhaupt da ist, eben hier im Auto. Nicht etwa, weil man vom Ehrgeiz besessen wäre, einen Fall allein, ohne ranghöheren Genossen zu lösen, wenn auch nichts gegen persönliche Erfolge einzuwenden war, bloß – ein Hauptmann hatte doch mehr zu tun, als Busfahrer zu überwachen. Dann öffnen sich endlich die Schranken, die Frist schmilzt, für den einen zu schnell, für den anderen zu langsam. Nur den Hauptmann scheint es nicht zu kümmern, er betrachtet die Häuser der wenigen Straßenzüge, die der Wagen durchfährt, raucht genußvoll und genießt offenbar auch das Schweigen. Es ist auch gut, daß ihn niemand fragt, beispielsweise wie ihm das Städtchen gefalle. Es könnte sein, daß er zitiert: „Es liegt da und sieht aus.“ Das Urteil könnte aber auch lauten: „Ach, wissen Sie, wenn Sie das Städtchen nehmen würden und es einige Dutzend Kilometer entfernt wieder absetzten – es würde auch dort weder auffallen noch stören.“ Selbst in Krügers Dienstzimmer, nachdem Eggert vorübergehend der Obhut zweier Genossen anvertraut worden ist, hält Hauptmann Rodak weiter an seinem Schweigen fest. Wie er seine Zigarre zwischen den Lippen dreht und schiebt, dabei gleichzeitig Schrank, Lampe, Bilder, Stühle, Fußboden und den Schreibtisch fixiert, zeugt von einem gewissen Unbehagen. Besonders der Schreibtisch scheint ihm zu mißfallen. „Mhm“, nuschelt er schließlich. Das Zimmer, besonders der Schreibtisch, ist ihm zu aufgeräumt, es wirkt auf ihn wie die sogenannte gute Stube eines ehrgeizigen Kleinbürgers, die nur an besonderen Festtagen betreten 54
werden darf. Er jedenfalls würde diese Ordnung binnen Sekunden zerstört haben, und doch bewundert er Menschen wie Krüger, bloß weil sie eine solche Ordnung aufrechterhalten konnten. „Darf ich Sie zunächst“, beginnt Krüger förmlich, während er einen Packen Fotografien aus einem Schnellhefter nimmt, „erst einmal willkommen heißen und dann gleich auf eine brennende Frage …“ Dieser Hauptmann hat auch noch die wenig verheißungsvolle Gewohnheit, andere nicht, aussprechen zu lassen, eine Methode, die man eventuell noch akzeptieren konnte, wenn sie lange Umwege ersparte. „Aber, aber“, protestiert er heiser, „nicht so förmlich! Kommt man sich immer vor wie auf einem Tanzstundenball, nichts für mich.“ Rodak mustert skeptisch einen Besuchersessel, setzt sich vorsichtig hinein und grunzt mißbilligend vor sich hin, als er, ganz wie befürchtet, tief in das Polster sinkt. Er rappelt sich sofort wieder hoch, schüttelt den Kopf und erklärt: „In solchen Dingern kann man ernsthafte Sachen nicht besprechen. Also: die Obduktion.“ Oberleutnant Krüger hat die Manöver des Hauptmanns reserviert beobachtet, denkt ein bißchen wehmütig an dessen Vorgänger, mit dem er so ganz übereinstimmte. Vor das Bild des Genossen Skowronnek schiebt sich einen Moment das des langen Doktor Birnbaum. „Frau Eggert ist also doch nicht ertrunken?“ „Doch, doch“, versichert Rodak, findet nun endlich seinen Platz auf einem ungepolsterten Stuhl. „Ertrunken ist sie schon, nur …“, er nuckelt verzweifelt an seiner Zigarre, nimmt sie aus dem Mund. „nur ist da ein Umstand, der etwas befremdlich ist.“ „Es ist nicht der einzige“, sagt der Oberleutnant. Der Dicke nickt ihm zu, „Ich weiß. Sie berichteten ja 55
von der seltsamen Lage der Toten.“ Er nickt erneut, während er die Fotografien entgegennimmt, die Krüger hinüberreicht, blättert kurz in dem Packen und fährt fort, nachdenklich eine der Aufnahmen betrachtend: „Die Obduktion hat ergeben, daß die Frau eine ziemliche Dosis Schlaftabletten eingenommen haben muß. Zwar hätte die Menge nicht zu einer Vergiftung gereicht, merkwürdig bleibt es aber trotzdem, besonders im Zusammenhang mit diesen Fotografien hier.“ Er sieht den Oberleutnant fragend an, als erwarte er eine sofortige Erklärung. Krüger antwortet nicht, er sucht etwas in einem Schnellhefter. „Kommt ja vor, daß sich Selbstmörder sozusagen absichern, aber ich weiß nicht …“, Rodak schüttelt heftig den Kopf, „gehört habe ich jedenfalls von so einer Kombination noch nie. Andererseits aber, falls es ein Unfall war – welcher Mensch schluckt eine übernormale Dosis Schlaftabletten, geht anschließend spazieren oder“, er wackelt heftig mit dem Foto, „begibt sich gar auf eine nächtliche Bootsfahrt?“ „Genosse Hauptmann, hier ist das Protokoll der Wohnungsdurchsuchung. Es wurde nichts Wesentliches gefunden, kein Abschiedsbrief, auch nichts, was auf das Tabletteneinnehmen hinweisen würde. Vielleicht hat Eggert dafür eine Erklärung?“ Der Hauptmann blinzelt gemütlich und droht scherzhaft: „Wenn Sie mir jetzt noch empfehlen, den Eggert gelegentlich zu befragen, werden wir noch die besten Freunde! – Was ist dieser Eggert für ein Mensch? Besonders umgänglich kommt er mir nicht vor.“ „Ist er auch nicht.“ Krüger blättert vorsorglich in einem Schnellhefter, obwohl er jetzt gewiß keine Gedankenstütze braucht. „Einzelgänger“, sagt er, schließt den 56
Hefter und legt ihn wieder säuberlich genau auf den alten Platz zurück. „Vielleicht sogar ein bißchen Sonderling, was aber sicher nicht nur daran liegt, daß er im letzten Haus im Südviertel wohnt. Freunde scheint er glatt abzulehnen, jedenfalls weiß man von keinem. Alle bisher befragten Arbeitskollegen bestätigen, daß Eggert eigene Wege geht, sich oft ausschließt. Gewiß, hin und wieder ist man beisammen, und selbstverständlich spricht er mit seinen Kollegen. Auch über seine Arbeit ist nichts Nachteiliges bekannt, aber das ist auch schon alles. Ja, und daß er vor Jahren wegen schwerer Körperverletzung eine längere Freiheitsstrafe verbüßte, wissen Sie auch.“ „Und was wissen wir jetzt über den gestrigen Ehestreit?“ „Nicht mehr, als ich Ihnen schon fernmündlich mitteilte“, bedauert Krüger. „Ja, dann wollen wir jetzt den Eggert hören“, schlägt Rodak vor, und, während Krüger etwas steif aufsteht: „Könnte ich einen Augenblick Ihre Unterlagen einsehen?“ „Selbstverständlich, Genosse Hauptmann“, antwortet Krüger sehr korrekt, reicht den Schnellhefter hinüber und verläßt das Zimmer, um Eggert zu holen. Ein Augenblick, das stellt Krüger fast pedantisch nach der Uhr fest, dauert bei Hauptmann Rodak mindestens zehn Minuten. Längst ist er mit Eggert zurück, und noch immer liest der Hauptmann in den bisher nur dürftigen Berichten, ohne aufzusehen und ohne Eggert bisher auch nur offen zur Kenntnis zu nehmen. Um so mehr nutzt der Oberleutnant die Zeit, Eggert unaufdringlich zu mustern. Der Mann hat die für Berufskraftfahrer typische Figur – unten breiter als oben. Eggert war auch in jüngeren Jahren nicht gerade zierlich gewesen, irgendwie aber war schon immer eine unbestimmte 57
Drohung von ihm ausgegangen, seine Stämmigkeit und die groben, verschlossenen Gesichtszüge schienen zu warnen: Faßt mich lieber nicht an. Und so verschlossen ist er auch jetzt. Er sieht niemanden an. Sein Interesse, falls außer der Spannung in ihm jetzt überhaupt ein Gefühl Platz hat, gilt der Schar Spatzen, die militärisch ordentlich in Reih und Glied auf der Freileitung draußen vorm Fenster hocken. Kaum etwas bewegt sich an Eggert, hin und wieder die Augenlider und sonst nur die vor dem Bauch gefalteten Hände bei den regelmäßigen Atemstößen. Er wirkt völlig ruhig. Man müßte ihm den Puls fühlen, denkt Krüger ein wenig ironisch-grimmig und spürt einen unbestimmten Groll gegen den Mann. Und so ist noch etwas von diesem Groll in Krügers gescheitem Gesicht, als ausgerechnet jetzt der Genosse Hauptmann den Schnellhefter einfach auf die Tischkante flattern läßt. „Na“, krächzt er, scheinbar bester Laune, „nun sind wir ja wieder auf der Erde, wie?“ Eggert, der sich zwar aufrichtet, verzieht die Mundwinkel nach unten, zuckt die Achseln, blickt verständnislos den Oberleutnant an, und für eine Sekunde ist sogar so etwas wie Übereinstimmung zwischen Krüger und ihm. Rodak zündet umständlich ein Streichholz an, nickt Eggert zu, bringt seinen Stummel zum Qualmen und erklärt abgehackt zwischen krampfhaften Zügen: „Hier ist … Rauchen nicht … verboten.“ Er schiebt, still vor sich hin schmunzelnd, mit einem raschen Seitenblick auf den Genossen Oberleutnant, den Aschenbecher zuvorkommend näher zu Eggert, um ihm das Ablegen eines abgebrannten Streichholzes zu erleichtern, und meint freundlich: „Zwar ist es, wie zu vermuten 58
ist, auch nicht gerade dringend erwünscht, aber direkt verboten dürfte es nicht sein. Ja, Herr Eggert – übrigens, mein Name ist Rodak, Hauptmann der VP, und …“, er deutet mit dem Zigarrenrest auf den Genossen hinter dem Schreibtisch, „den Genossen Oberleutnant Krüger kennen Sie ja sicher?“ Er wartet, bis Eggert das durch Nicken bestätigt, und sagt zufrieden: „Na, da wären wir ja mittendrin. Wir haben nämlich eine Frage an Sie … das heißt, wie ich aus Erfahrung weiß, wirft in meinem Beruf eine einzige Frage gleich ein Dutzend andere auf, also: Können Sie uns sagen, wo Sie gestern abend waren? Etwa bis Mitternacht?“ Eggerts volle Lippen bleiben zusammengepreßt. Rodak muß ihn erst noch aufmuntern: „Gefällt Ihnen die Frage nicht?“ „Muß erst nachdenken“, sagt Eggert, als müsse er das wirklich, er verrät aber ungewollt seine Nervosität, als er kurz hintereinander nicht vorhandene Asche am Aschenbecherrand abstreift. „Das ist gut“, stimmt Rodak bereitwillig zu und versichert mit gespielter Naivität: „ihre Antwort ist nämlich wichtig.“ Oberleutnant Krüger ist nicht begeistert von dieser Art Befragung, er mahnt kühl: „Im übrigen, Herr Eggert, gestern abend ist nicht so lange her, daß man krampfhaft überlegen müßte.“ Obwohl der Hauptmann den stillen Widerstand spürt, nickt er dem Genossen Beifall zu, bleibt aber vorerst auf dem eingeschlagenen Weg. „Außerdem, Herr Eggert, sollten Sie bedenken, daß zu langes Nachdenken leicht den Verdacht erregen könnte, man sucht nach einer brauchbaren Ausrede.“ Und etwas aggressiver fügt er hinzu: „Falls man sie nicht längst hat.“ 59
„Brauche keine Ausrede!“ Eggert lehnt jede Hilfe ab. „Ich war unterwegs“, sagt er unhöflich. „Aha!“ Der Hauptmann tut, als sei das die wahrhaft ideale Antwort, setzt Höflichkeit gegen Unhöflichkeit. „Und darf man fragen, warum? Mit welchem Ziel?“ „Warum! Warum! Gab Krach zu Hause. Bin ich einfach abgehauen.“ „Und wohin? Und wann war das?“ Eggert legt die Hände auf die Oberschenkel, reibt sie, als friere ihn, und hebt die Schultern. „Nirgends hin, einfach so. Bloß weg – wie soll man sonst dein ewigen Gestreite ausweichen! Wissen Sie das?“ Hauptmann Rodak antwortet mit einer vagen Geste, vermeidet auch den fälligen Hinweis, daß ja eigentlich er frage, wartet einfach. „Und wohin? ’rumgefahren bin ich … eine ganze Zeit habe ich einsam im Wald gesessen und nachgedacht.“ „Sie pflegen häufig nachzudenken, wie es scheint. Und zu welchem Ergebnis kamen Sie gestern?“ „Zu keinem“, gesteht Eggert abfällig, „wenn man davon absieht, daß ich meine Ehe wieder mal beschissen fand. Aber das wußte ich auch schon vorher.“ „Schön, und wie lange dachten Sie nach? Was taten Sie danach? Fuhren Sie nach Hause zurück?“ Eggert sieht den Hauptmann zum erstenmal voll an, als wisse er, wie wichtig es jetzt für ihn wird. „Ich war seit gestern nicht mehr zu Hause. Seil abends um acht nicht mehr. Wozu auch? Ich sagte ja schon, daß es mir reichte. Ja, und später, muß nach elf gewesen sein, bin ich zum Kraftverkehr und habe mich in meinen Bus schlafen gelegt.“ „Soso, zum Kraftverkehr.“ Hauptmann Rodak schaut Krüger an, um ihm die Fortsetzung der Befragung zu 60
überlassen, und zermalmt seinen Zigarrenstummel im Aschenbecher, als gelte es, einen drohenden Waldbrand zu verhindern. Ganz gegen seinen Willen wiederholt auch Krüger: „Soso, zum Kraftverkehr! Wie aber erklären Sie sich dann, daß Sie der Kollege Liebkind nicht gehört und erst recht nicht gesehen hat?“ „Ganz einfach – der Herr Nachtwächter saß bei vollem Licht am Tisch und schlief.“ „Ein ankommendes Motorrad hätte ihn ganz sicher geweckt!“ „Ich mußte schieben, fast zwei Kilometer.“ „Warum das?“ „Kein Strom mehr“, sagt Eggert mürrisch, offenbar ärgert ihn sein defektes Motorrad beträchtlich. „Lichtmaschine scheint im Eimer zu sein.“ „Geschoben“, dehnt Krüger skeptisch, „wenn man bedenkt, fast zwei Kilometer – muß Sie doch jemand gesehen haben?“ „Keine Ahnung. Der Liebkind jedenfalls nicht, der schlief ja. Warum sollte ich ihn wecken?“ Krüger schüttelt den Kopf. „Nun, schon deswegen, weil Schlafen nicht zu den Pflichten eines Nachtwächters gehört. Ferner aus gewisser Kollegialität, es hätte ja eine Kontrolle kommen können, und schließlich, Sie hätten ihn zumindest unterrichten müssen, weil auch Betriebsangehörige nach Arbeitsschluß nichts im Betriebsgelände zu suchen haben. Sie hingegen bestiegen sogar unbemerkt ihren Bus und nächtigten darin. Das ist, gelinde gesagt, ein Verstoß gegen die Betriebsordnung.“ „Schlafen als Nachtwächter auch!“ „Dem kann man nicht widersprechen“, gibt Krüger aufrichtig zu. „Um aber auf Ihr Motorrad zurückzukom61
men, wir werden es uns etwas näher ansehen müssen.“ Eggert stemmt wieder die Schultern auf seine eigenartige Weise hoch; es ist sicher, daß die Jawa eine defekte Lichtmaschine hat. „Ich weiß nicht recht, Herr Eggert“, fährt Krüger fort, da der Hauptmann im Augenblick sein ganzes Interesse auf die nächste Zigarre konzentriert, als sei er hier bloß Gast, „muß man wegen einer ausfallenden Lichtmaschine sein Motorrad schieben? Immerhin reicht, selbst bei Nutzung aller Stromverbraucher, für einige Kilometer die Batterie als alleiniger Stromspender.“ Eggerts Stirnfalten schwingen einen Augenblick höher, verraten eine leichte Überheblichkeit, dünnen Spott. „Müßte – stimmt, Herr Oberleutnant“, sagt er herablassend, aber auch lebhafter, „aber was ist, wenn eine Lichtmaschine schon länger nicht funktioniert? Wenn man schon tagelang auf Batterie gefahren ist? Dann ist die Batterie ziemlich leer.“ „Es gibt Kontrollampen, die das Funktionieren anzeigen.“ „Wenn deren Birne nicht kaputt ist, wie die bei mir zum Beispiel.“ Der Spott ist deutlich, aber Spott ist oft nichts als ein Echo. „Für einen Berufskraftfahrer“, kontert Oberleutnant Krüger gelassen, „hat Ihre Maschine bedenklich viele Mängel.“ Die Spatzen, die eben in chaotischem Durcheinander davonstieben, sind für Eggert ein Anlaß, erneut zum Fenster hinauszusehen. Eigentlich hätte doch der Oberleutnant einigen Grund, gekränkt zu sein. „Nun ja“, schaltet sich Hauptmann Rodak ein, „ein Schuster hat nie ganze Schuhe, behauptet ein altes Sprichwort. Mag es auch verstaubt sein, ein bißchen was ist schon 62
dran. Sein Bus“, er nickt zu Eggert hin, „schien mir jedenfalls soweit ganz betriebssicher. Ja“, er mustert bedenklich seine Armbanduhr, als habe der Genosse Oberleutnant zuviel Zeit für nebensächliche Fragen verbraucht, kommt dann auf den Ausgangspunkt zurück „worum ging es eigentlich gestern abend bei Ihrem Streit?“ Eggert: wendet träge den Kopf zum Hauptmann, und doch ist etwas wie Sympathie auch in dieser Bewegung, vielleicht auch eine vage Dankbarkeit, der Blick aber ist abweisend. „Sie werden es doch nicht glauben“, sagt: er langsam, ein wenig hilflos, „aber ich weiß es nicht.“ „Warum soll ich das nicht glauben?“ krächzt Kodak mit sanftem Vorwurf, daß man ihm wenig Erfahrung im Umgang mit Frauen zutrauen könnte. „Fragen wir anders herum: Woran entzündete sich der Streit? Zwischen Ursache und Anlaß ist ja meist ein gewaltiger Unterschied.“ „Eine Schere.“ „Eine Schere?“ „Ja“, sagt Eggert ruhig, „ich fand sie nirgends.“ „Mhm“, mahnt der Hauptmann nach einer Weile, weil Eggert lange schweigt, obwohl man sieht, wie er vor sich hin grübelt. „Sie hatte“, beginnt er von neuem, ohne darauf zu achten, daß die beiden Kriminalisten einen raschen Blick wechseln, „die Gewohnheit, alles, was sie auch in die Hand nahm, einfach irgendwo hinzulegen. Man konnte einen Schuhanzieher zwischen Suppenlöffeln finden, Strümpfe im Zeitungsständer oder einen Schraubenzieher zwischen Einweckgläsern im Keller. Manches fand man überhaupt nicht oder sonstwo – wie gestern die Schere. Sehen Sie, und machte man ihr deshalb einen Vorwurf, schnappte sie ein oder schob es, wie gestern mit der Schere, einfach auf den Jungen.“ 63
„Was für einen Jungen?“ Rodaks Frage kommt ebenso rasch wie verwundert, und sie gilt nicht nur Eggert, wenn der auch, kaum weniger verwundert, sehr lakonisch erklärt: „Na, mein Junge, der Lutz!“ „Aber der ist doch seit vier Wochen im Heim!“ Zwar ist Oberleutnant Krügers scharfer Widerspruch nur dazu gedacht, Eggert einer Unwahrheit, zumindest der Zweifelhaftigkeit zu überführen, die Reaktion Hauptmann Rodaks hingegen ist lautlos, dafür aber auch unangenehm. Erstmals ahnt Krüger, daß der Spitzname „BB“, Abkürzung für „Böseblick“, durchaus seine Berechtigung haben kann, so böse sieht ihn der Hauptmann für Sekunden an. Da ist etwas, was er nicht weiß, obwohl er es wissen müßte, und dafür gibt es keine Entschuldigung. Sekunden sind nichts, manchmal. „Sprechen Sie sich ruhig aus“, fordert der Hauptmann Eggert freundlich auf. Es scheint, als habe Eggert die kurze Kontroverse bemerkt. Er lächelt Krüger etwas vertraulich zu, wenn das Lächeln auch gequält ist. „Das“, gesteht er dann leise, „habe ich mir immer gewünscht – wenn auch nicht hier!“ Und dann wird er endlich lebhaft, es sprudelt aus ihm heraus, wie unbegreiflich schwierig seine Ehe gewesen sei, wie er manchmal nicht gewußt habe, was tun. „Aber wie soll man immer alles hinnehmen? Man ist das und das so gewohnt, man hat das vorn Elternhaus so gesehen, so mitbekommen, will es so auch haben, und nachher ist alles ganz anders. Warum, warum? Warum soll ich“, er klopft sich beinahe brutal auf die Brust, „Unordnung hinnehmen, wenn doch Ordnung viel besser ist? Und warum soll ich den Jungen nicht in Schutz nehmen, wenn ich doch weiß, daß ebensogut sie verbummelt haben kann, was sie ihm vorwirft? Warum mochte sie den Jun64
gen nicht? Warum? Warum war sie unbegreiflich, eifersüchtig, manchmal fast verrückt? Wissen Sie das? Warum gab es um Selbstverständlichkeiten, die man mit einem Witz erledigen konnte, gleich einen Aufstand? Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe!“ „Sie müssen sich noch etwas gedulden, Herr Eggert.“ Hauptmann Rodak erhebt sich, schneidet damit jeden Widerspruch ab, übersieht die Verärgerung auf Krügers Gesicht. „Wir sind mit unseren Überprüfungen noch nicht soweit!“ Er präpariert seine halbe Zigarre äußerst gewissenhaft am Aschenbecherrand, um sie erneut anzuzünden, und sieht kaum auf, als Krüger und Eggert, beide wortlos, zur Tür gehen. Als Krüger schon die Tür für Eggert geöffnet hat, sagt Rodak leise: „Eine Frage läßt sich leider nicht vermeiden, Herr Eggert – Sie sagten eben, Ihre Frau war, hatte … Warum sprechen Sie eigentlich in der Vergangenheit?“ Eggert bleibt völlig beherrscht, das verschlossene Gesicht zeigt keine Wirkung. „Weil irgend etwas mit ihr sein muß. Sie sagten doch, Sie müssen etwas klären“, sagt, er schleppend. „Und Sie fragen ja dauernd nur nach ihr.“ „Und es interessiert Sie nicht, was mit ihr ist?“ „Ein bißchen schon“, gesteht Eggert, aber die Gleichmütigkeit gelingt ihm nur schlecht, und sie bekommt ihm auch nicht. Böseblick, davon ist der Oberleutnant jetzt überzeugt, war doch ein Volltreffer, so grimmig mustert der rundliche Hauptmann diesen Ehemann und knurrt: „Sie ist tot, Herr Eggert! Und ich habe das traurige Gefühl, Sie wissen das!“ Als Krüger sein Zimmer wieder betritt, steht der Hauptmann am geöffneten Fenster, beide Arme auf das Fensterbrett gestemmt, den erkalteten Zigarrenstummel im 65
Mundwinkel. Der Oberleutnant schiebt sich, etwas übertrieben rücksichtsvoll, an der massigen Gestalt vorbei hinter seinen Schreibtisch, legt den Schnellhefter genau und ordentlich auf die Schreibunterlage, setzt sich und mustert den Mann vom Bezirk von der Seite. Draußen, soviel hat er mit raschem Blick über die Schulter des Hauptmanns festgestellt, gibt es nichts zu sehen, was besonderes Interesse wecken könnte. Wahrscheinlich tat man gut daran, auf Überraschungen vorbereitet zu sein. „So ist das“, platzt Rodak in Krügers Gedanken hinein, und es leuchtet dem Oberleutnant sofort ein, warum der Hauptmann dabei listig schmunzelt, „man mißt andere Leute meist an seinem eigenen Verhalten, den eigenen Ansichten – und da kommt der andere manchmal nicht gut bei weg, nicht?“ Krüger räuspert sich verlegen, lächelt dann aber freimütig. „Nicht schlecht“, bekennt er offen. Der Hauptmann schließt vorsorglich das Fenster, lehnt sich dann gegen den Rahmen, den Wirbel unbequem im Kreuz. „Ihre Meinung?“ „Verdächtig“, sagt Krüger prompt. „Weiß nicht recht – dieser Eggert beantwortet zwar alle Fragen einigermaßen manierlich, ob er die Wahrheit sagt, sei erst mal dahingestellt, aber ein halbwegs brauchbares Alibi ist nicht einmal das. Und dann hat er eines nicht gemacht, was normal und erfahrungsgemäß die erste Reaktion wäre – er hat sich mit keiner Silbe erkundigt, warum wir ihn überhaupt hier haben.“ „Wahrscheinlich wußte er es längst.“ Der Hauptmann kratzt sich am Kopf. „Das ist es ja eben! Woher will er es denn gewußt: haben? Stimmen seine Angaben, dann hat er seine Frau gestern abend gegen acht Uhr zum letztenmal gesehen. Danach hat er sich 66
herumgedrückt, später im Kraftverkehr geschlafen, ist pünktlich früh um vier auf Linie gefahren, noch vor dem Zeitpunkt also, an dem der Frühaufsteher, dieser Angler, die Tote entdeckt hatte. Theoretisch allerdings könnte er, da ja sicher täglich einige Fahrzeuge kreuz und quer durch den Bezirk fahren, von einem Kollegen informiert worden sein. Stadtgespräch dürfte es ja inzwischen sein. Allerdings müßte diese Information bis spätestens ein Uhr übermittelt worden sein, danach befand er sich unter meiner stillen Obhut. Hier wiederum haben wir ihn in Empfang genommen – woher also?“ „Darauf gibt es nur eine Antwort, denk’ ich“, stellt Krüger sachlich fest. „Dafür spricht wohl auch seine recht unnatürliche Ruhe, eine Gefaßtheit, als habe er seit Stunden überlegt, Abstand gewonnen. Seine Trauer jedenfalls ist mäßig, sehr mäßig sogar.“ „Es sieht zwar so aus“, gibt der Hauptmann zu, „aber das muß nicht unbedingt seit! wahres Gesicht sein. Manche wirken bei Todesfällen in der Familie so ruhig und gefaßt, daß böse Zungen sofort ungehemmt tuscheln, der Leidtragende sei eher zufrieden als traurig.“ „Darin sehe ich keinen Widerspruch.“ „Ich auch nicht“, seufzt Kodak, „darin nicht, nein … Bloß, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß Frau Eggert eine doch recht anständige Dosis Schlafmittel nimmt und anschließend ausgeht.“ „Wieso eingenommen?“ Oberleutnant Krüger erkundigt sich bewußt, harmlos. „Vielleicht hat er sie ihr aufgezwungen? Oder einfach gegeben?“ Rodak reagiert darauf anders als erwartet. Er kichert belustigt: vor sich hin. „So dumm“, bemerkt Krüger spitz und betont, „kommt mir mein Einwand denn doch nicht vor.“ 67
„Er ist es aber“, sagt Rodak ungerührt und sehr offen. „Gegeben! Aufgezwungen! Haben Sie vergessen, daß es einen handfesten Ehekrach gegeben hatte? Von glaubwürdigen Zeugen bestätigt, also nicht erfunden? Und soviel weiß ich nach zehn Jahren durchschnittlicher Ehe – eine Frau nimmt nach einem ordentlichen Krach von ihrem Mann nicht mal einen Hundertmarkschein, geschweige denn drei oder noch mehr Schlaftabletten. Eher noch den Hundertmarkschein.“ „ich beuge mich natürlich Ihren Erfahrungen“, erklärt Krüger, noch mit einer Spur Steifheit. „Wenn aber doch als sicher gilt, daß Frau Eggert Schlaftabletten genommen hatte, so darf man sich doch wohl die Frage stellen, ob sie eigentlich wirklich im Teich ertrunken ist.“ Der Hauptmann ist wieder ernst und aufmerksam, frei von Skepsis ist sein Blick nicht. „Es gibt“, fährt Krüger bedächtig fort, „auch in unseren Breiten den Mord in der Badewanne.“ Es scheint, als beginne der Fensterwirbel im Kreuz den Hauptmann nun doch erheblich zu stören. Er stößt sich wuchtig ab, stampft bis zur Tür, dann zurück zum Schreibtisch und stellt sich breitbeinig vor Krüger hin. „Gut, befassen wir uns also mit dieser Möglichkeit. Zugegeben, es ist wohl nicht sonderlich schwierig, einen betäubten Menschen in einer Badewanne umzubringen. Wozu aber“, fragt er und beginnt erneut zu wandern, als vertrage das Thema keine Gelassenheit mehr, „sollte er sie denn zum Teich gebracht haben? Da wäre erstens“, er nimmt die Hand zu Hilfe, spreizt gewissenhaft Finger um Finger, „der Transport über rund einen Kilometer, und das zweitens vermutlich zu einer Tageszeit, zu der gewiß noch nicht alle Bürger schlafen. Drittens ginge ein solcher Transport kaum ohne äußere Spuren an der Leiche …“ 68
„Die Tote hat eine Schürfwunde am Oberschenkel“, erinnert Krüger aufmerksam, unbewußt ebenfalls mit den Fingern mitzählend. Der Hauptmann nickt zwar, geht aber nicht weiter darauf ein. „Viertens“, zählt er statt dessen weiter, „warum, zum Teufel, sollte er sie dann nicht ins Wasser geworfen, sondern in eine so merkwürdige Stellung gebracht haben?“ Krüger unterdrückt vorläufig den Einwand, daß eben jeder einen Fehler machen könne. „Fünftens aber“, beginnt Rodak von neuem, wobei er seine linke Hand mit allen gespreizten Fingern Krüger entgegenstreckt, „kannte doch gerade Eggert die Abneigung seiner Frau gegen offene Gewässer genau. Für einen Täter, der eine ganze Menge Umstände beachten muß, hätte sie in der Badewanne normaler gelegen als im Teich. Freilich müssen seine Zeitangaben stimmen. Sie starb weitaus später, als er sein Haus verlassen hat.“ Rodaks Hände, eben noch rechnerische Gedankenstütze, nesteln eine neue Zigarre aus der Packung, wieder flammt ein Streichholz auf, und wieder konzentriert sich der Hauptmann kaum darauf, ob die Zigarre auch vernünftig Feuer saugt. Er blinzelt durch die Flamme hindurch Krüger an, pafft endlich. „Ich muß mich allmählich beeilen, sonst kommt noch mein ganzer Fahrplan durcheinander. Mal sehen“, ein Blick auf die Uhr, „ob ich heute noch an den genauen Obduktionsbefund herankomme … Ja, ich würde vorschlagen, Sie kümmern sich inzwischen um Eggerts Angaben, mehr als Routine ist das leider nicht, trotzdem, irgend jemand muß ihn doch gesehen haben! Und außerdem …“ Er reibt sich gedankenverloren die Nase. „Außerdem?“ 69
„Warum ging Frau Eggert zum Teich, spätabends, nachdem sie Schlafmittel eingenommen hatte? Was trieb sie dorthin? Was gab es dort für sie, unvorbereitet, so enorm Wichtiges, trotz Dunkelheit und Furcht?“ Der Hauptmann deutet nachdrücklich auf den Schnellhefter, mahnt: „Da ist die Ansicht des Kollegen Günter – weiß er mehr, oder ist er tatsächlich nur eifersüchtig, um nicht zu sagen gehässig? Prüfen Sie auf jeden Fall auch sein Alibi!“ „Selbstverständlich“, sagt Oberleutnant Krüger so ruhig, daß Rodak einen Augenblick seine Aufbruchsvorbereitungen mißtrauisch unterbricht, die darin bestehen, Zigarren und Streichhölzer in die Jackentaschen zu schieben. „Merkwürdig auch dieser völlige Widerspruch: Die Arbeitskollegen behaupten übereinstimmend, diese Christine Eggert sei ein ausgeglichen fröhlicher Mensch gewesen, weder launenhaft noch streitsüchtig. Und er, der Ehemann, behauptet das Gegenteil!“ „Er wird schon wissen, warum er das sagt.“ Nun trifft Krüger doch ein „Böseblick“. „Vorsicht, Genosse Oberleutnant! Mir scheint, das eben war von einer gewissen Voreingenommenheit diktiert; hüten wir uns davor! Eggert wird in den nächsten Tagen ohnehin einiges zu spüren bekommen … oder sollten hier in Ihrem Städtchen nur perfekte Sozialisten wohnen?“ „Wenn ich recht verstehe, soll Eggert wieder …?“ „Was sonst?“ unterbricht Rodak, scheinbar nur aus Zeitnot. „Es ist nicht unbedingt alles verdächtig, was verdächtig aussieht, ebensowenig wie alles unverdächtig ist, was diesen Anschein erweckt. Und Einsperren ist keine Kunst. Logisch, daß sich die Lage blitzartig ändert, wenn 70
Sie Eggerts Angaben widerlegen können.“ Er reicht dem Oberleutnant die Hand, drückt kräftig zu und brummt versöhnlich, weil Krüger offensichtlich wenig begeistert ist: „Na ja, schon gut – Sie brauchen ja nicht zu applaudieren! Hat alles den bekannten Bart, weiß ich.“ Er drückt nochmals kräftig zu, wendet sich zur Tür und legt die behaarte Hand auf die Türklinke. Krüger ist ihm gefolgt, um dem Hauptmann zuvorkommend die Tür zu öffnen. Seine Hand flattert etwas fahrig sinnlos durch die Luft, und er sagt eine Spur hastig-verlegen: „Auf morgen also!“ Der Hauptmann muß nach oben blicken, um Krüger anzusehen. Während seine Rechte die schwarze Türklinke umklammert hält, zupft er sich mit der Linken ungeschickt an der Nase und erkundigt sich, als müsse er noch rasch ein kniffliges Rätsel anbringen: „Wie kann man sich, als Mann zum Beispiel, mit einem gleichbleibend fröhlichen, nicht launenhaften und nicht streitsüchtigen Wesen, zum Beispiel der eigenen Frau, dauernd zanken und streiten?“ Oberleutnant Krüger hat für heute von Rätseln genug, und er hat wenigstens seine kleine Revanche gut. „Das“, sagte er sanft, „wäre eine Frage an einen Mann mit den Erfahrungen einer zehnjährigen durchschnittlichen Ehe.“ „Nicht schlecht“, bekennt der Hauptmann fröhlich.
71
5. Kapitel
Während er noch durch das Städtchen radelt, ist Unterleutnant Schladitz in Gedanken schon zu Hause. Der Tag war lang gewesen. Noch jetzt, kurz vor achtzehn Uhr, liegt hochsommerliche Wärme über die Stadt gestülpt, wahrscheinlich würde es in der Nacht ein Gewitter geben. Auf jeden Fall würde man noch ein Stündchen im Garten sitzen, würde über dies und jenes nachdenken, über dies und jenes reden können. Doch ohne ausreichenden Zigarettenvorrat würde es nur ein halbes Vergnügen sein, und darum steigt Schladitz am sogenannten Imbiß vom Fahrrad. „Imbiß“ ist eine Irreführung, zumindest für Fremde. Einst, vor langen Jahren, hatte die Bezeichnung mal gestimmt; dann aber war, unerfindlich aus welchen Gründen, der Laden nacheinander ein Spielzeuggeschäft, Backwarenladen, Sportartikel-, Schuh- und wieder ein Backwarenladen gewesen, um endlich als Probierstube vorerst zur Ruhe zu kommen. Zwar weiß auch kein Mensch so recht, welche Genüsse eigentlich probiert werden sollen; niemand hat es schließlich nötig, täglich neu eine Biersorte zu probieren, die seit Jahren den Markt beherrscht. Also beschränkt sich der Daseinszweck der Probierstube auf den kräftigen Umsatz von Flaschenbier und Tabakwaren. Die Stube, größer als ein durchschnittliches Wohnzimmer ist sie nicht, ist so gedrängt voll, wie erwartet, und der dichte Tabaksqualm weckt in Schladitz den Drang, jetzt und sofort das Rauchen aufzugeben. Leider fällt ihm nicht allzu schwer, diesem Drang zu 72
widerstehen, und er drängt sich, hier und dort einen Gruß erwidernd, zum Ladentisch, verlangt und bezahlt seine Zigaretten und drängt sich wieder durch zum Ausgang. An der Tür steht inzwischen ein Mann, und Schladitz erkennt, daß der Mann fraglos etwas von ihm will. „Augenblick“, sagt er, tippt mit einer halbvollen Bierflasche gegen die Brust des Unterleutnants, grient etwas verlegen. „Sagen Sie – stimmt das? Das mit dem Eggert?“ Schladitz weiß, ohne den Namen des Mannes zu kennen, daß das ein Kneipengänger ist. Anhören muß er ihn sich trotzdem. „Was soll stimmen?“ Der Mann nickt wichtigtuerisch, blickt sich rasch um. „Na, der soll doch seine Frau …?“ Die Frage bleibt unvollendet, aber mehr Worte wären auch nicht nötig gewesen. „Wenn Sie diese Frage als Ansicht laut verbreiten sollten, dürften Sie Ärger bekommen.“ Der Mann zuckt die Achseln, tut gleichmütig. „Na, schön … ich wollte ja bloß … ich hab’s ja auch nur gehört … Der Eggert selbst hat gesagt, er könnte …“ Schladitz könnte dem Mann jetzt empfehlen, er solle weniger trinken, das wäre vielleicht ein wirkungsvoller Abgang. Aber er forscht dennoch, wenn auch leicht ironisch: „Geht es etwas deutlicher?“ Der Mann überhört die Ironie. „Hier hat er es gesagt“, trumpft er auf, „ungefähr! vor einem Vierteljahr … kann auch länger her sein!“ „Ich wollte eigentlich gar nicht hören, wie oft Sie hier sind.“ Nun stutzt der Mann doch; klang das eben nicht feindselig? Er trinkt hastig den Rest Bier, muß sein Ansehen wiederherstellen. 73
„Er hat damals gesagt, er könnte seine Frau glatt vergiften!“ „So“, sagt Schladitz vorerst nur, und eigentlich brauchte man solche Wirtshausreden nicht allzu tragisch zu nehmen, wenn da nicht die merkwürdige Sache mit den Schlaftabletten wäre. Er zieht sein Notizbuch aus der Brusttasche, den Kugelschreiber, macht alles mit der ihm eigenen Bedächtigkeit. „Könnte ich mal Ihre Personalien haben?“ „Wozu das?“ Dem Mann paßt das gar nicht. Das hatte man nun davon, nun rutschte man plötzlich in die Geschichte hinein, mit Namen und Hausnummer. Widerwillig reicht er seinen Ausweis; und dann fällt ihm – ist es Vergeltung gegen Schladitz oder Rechtfertigung? – ein: „Die Grabown hab’ ich gestern abend in Richtung Teich gehen sehen, vielleicht …“ Aber nun hat der Unterleutnant genug: üble Nachrede, gleich aus welchen Gründen auch immer, war noch nicht ausgestorben, wenn mitunter auch ein Quentchen Wahrheit aussortiert werden konnte. Aber über die hübsche Frau Grabow waren viele Märchen in Umlauf, und so war wohl jeder Kommentar überflüssig. Nun, er wird ihn hier sowieso nicht abgeben. Er notiert sich die Adresse, beschließt, trotz starker Vorbehalte den Genossen Oberleutnant anzurufen; man konnte nie wissen. Oberleutnant Krüger steht seit Minuten am Fenster. Als das Telefon klingelt, tastet er, ohne sich umzuwenden, mit der Hand hinter sich zum Hörer, bringt dabei einen Teil seiner geliebten Ordnung durcheinander, nimmt den Hörer auf, meldet sich halb abwesend. „Seine Personalien hast du? – Gut, gib sie mir morgen für alle Fälle … Ja, mach’s gut.“ 74
Er legt, und diesmal muß er sich umdrehen, den Hörer wieder auf, ignoriert einen unordentlich verrutschten Broschürenstapel, wendet sich wieder zum Fenster. Frau vergiften! Du lieber Himmel, wie oft stießen manche Leute wilde Morddrohungen aus, ohne je auch nur im Traum an deren Verwirklichung zu denken? Gewiß, in Sachen Eggert konnte die Sache Bedeutung haben, wahrscheinlich war es trotzdem nicht. Was wurde nicht: alles in Kneipen geschwafelt? Mindestens die Hälfte solcher Reden war schamlose Übertreibung, der Wunsch, als Held anerkannt zu werden. Immerhin, ob Eggert wirklich diesen grimmigen Seufzer ausgestoßen haben sollte? Balkone an Wohnblocks haben neben anderen Vorzügen auch den, daß man in Großstädten nachts einigermaßen ungestört sitzen kann, sofern nicht gerade über, neben oder unter einem Geburtstag, Taufe, Hochzeit oder sonst etwas gefeiert wird. In dieser Nacht feiert anscheinend niemand in der Nachbarschaft. Hauptmann Rodak, schon im Schlafanzug, sitzt auf dem Balkon seiner Wohnung, überdenkt Ergebnisse, wägt die nächsten Schritte ab, raucht behaglich die letzte Zigarre dieses Tages. Der Hauptmann hört die leise tappenden Schritte seiner Frau Rita, wartet, bis sie dicht hinter ihm steht. „Nein“, brummelt er. „Was ‚nein‘?“ „Ich will hier draußen nicht übernachten.“ „Was machst du sonst hier?“ „Ich denke nach.“ „Und was machst du tagsüber?“ Er sagt gemütlich: „Werd nicht frech“, will sie am 75
Arm festhalten, aber sie huscht schon ins dunkle Wohnzimmer zurück. Er sieht ihr nach, bis sie die Schlafzimmertür wieder anlehnt, und schmunzelt vor sich hin. Rita pflegt ohne Scheu zuzugeben, daß sie bedeutend ruhiger schlafen könne, wenn ihr „Dicker“ neben ihr läge, selbst wenn er dabei hin und wieder hemmungslos schnarche. Der Hauptmann nuckelt nochmals an seinem Zigarrenrest, steht auf, beugt sich über das Balkongeländer, verspürt einen Augenblick den kindlichen Wunsch, den Stummel hinunterfallen zu lassen, um auf den leisen Aufprall zu lauschen. Als er ins Schlafzimmer kommt, liegt seine Frau zugedeckt bis an den Hals, der nackte, ausgestreckte Arm ruht auf dem Nachttisch, ihr Zeigefinger auf dem Knopf der Nachttischlampe. Der Hauptmann muß schmunzeln, während er sich schwerfällig ins Bett rollt – sobald er selbst im Bett lag, hatte es dunkel zu sein, wenn auch vorher die Lampe stundenlang nutzlos brannte. Für Sekunden ist es scheinbar vollkommen dunkel, dann erobert sich Grad um Grad das Dämmerlicht der Großstadtnacht seinen Anteil zurück. Der Hauptmann liebt im Grunde dieses Dämmerlicht, er liegt mit offenen Augen. Halb spöttisch, halb teilnahmsvoll fragt Rita: „Denkst du immer noch?“ Rodak knurrt: „Glaub’ schon.“ „Hoffentlich an Schafe!“ „Selber Schaf“, meint er belustigt; Rita schwört auf Schafherden als Schlafmittel. Man müsse sich nur eine ganze Herde vorstellen, bei geschlossenen Augen selbstredend, etwa eine Herde, die ihrem Stall zustrebe. Und dann müsse man zählen. Zugegeben, er hatte es ausprobiert und war tatsächlich 76
eingeschlafen. Aber er war sicher, daß er vor Müdigkeit eingeschlafen war. „Und worüber denkst du nach?“ forscht sie nach einigen Minuten. „Über eine Statistik“, brummt er abwesend. Sie richtet sich lebhaft auf, boxt energisch das Kopfkissen zurecht, legt sich hörbar wieder hin. „Na, gräßlich.“ Rodak sagt nachdenklich: „Selbst Statistiken über Tote haben ihren Wert. Sie weisen unbestechlich nach, woran jemand gestorben ist, gewaltsam gestorben ist, was unsere Statistik betrifft. Zum Beispiel verrät sie, daß bei uns die weitaus meisten Tötungsverbrechen innerhalb der Familie begangen werden, so erstaunlich das auch klingen mag. Sie hat nur den kleinen Nachteil, daß sie zuwenig darüber aussagt, aus welchen Motiven die Tötungsverbrechen geschehen.“ „Eifersucht“, sagt Rita lakonisch. „Kluges Kind!“ „Hast du nicht ein bißchen Phantasie?“ Sie richtet sich sogar auf. „Frauen zum Beispiel können auf alles mögliche eifersüchtig sein! Auf das Auto, wenn die ganze Freizeit deswegen zum Teufel geht. Oder auf ein Kind …“ Sie läßt sich wieder fallen und erklärt kategorisch: „Und jetzt möchte ich endlich schlafen!“ „Ich auch“, krächzt er, aber es ist nur ein Wunsch, während Rita ohne Zweifel keinen Wunsch, sondern einen Befehl geäußert hat, den sie umgehend befolgen wird. Er wälzt sich etwas neidisch auf die Seite und weiß, daß noch lange Minuten vergehen werden, bevor er einschlafen kann. Rita behauptet, er hätte keine Phantasie! Natürlich weiß er, daß Frauen auf Kinder eifersüchtig sein konnten, Männer wahrscheinlich auch. Kinder sind immer das, 77
was man aus ihnen macht, so oder so. Und was hatte die Familie Eggert aus ihrem Kind gemacht? Im Heim war es – warum eigentlich? Wie alt ist es? Nein, er. Ein Junge, im Heim. War der Junge etwa der Grund, daß die Ehe tragisch endete? Auch das wäre nicht neu, nur pflegte die Reihenfolge umgekehrt zu sein – erst das Drama, dann das Kind im Heim. Eggert behauptet, fast immer wäre der Streit um das Kind gegangen, wahrscheinlicher war, daß er sich daran entzündet hatte. Aber zuletzt war das Kind nicht mehr dagewesen. Erst stritt man sich, weil ein Kind da war, nachher, weil es nicht mehr da ist. Rodak muß husten. Verdammte Raucherei. Ob es richtig war, Eggert nicht festzunehmen, wenigstens vorläufig? Es ist da so eine merkwürdige Unruhe in ihm, unklar warum. Er hat es vor dem Genossen Krüger verheimlicht; natürlich war diese seltsame Lage der toten Christine Eggert höchst bedeutsam. Jeder Zufallspassant, der eine Tote im Wasser entdeckt, informiert schleunigst die Volkspolizei, wobei höchstens die Skala der Beweggründe feine Unterschiede aufwies. Hier aber mußte jemand den Tod der jungen Frau bewußt verschwiegen haben, und der mußte weiter seinen Grund dafür haben. Nur – es mußte nicht unbedingt Eggert gewesen sein. Nebenan im Bett raschelt es, gleichzeitig mit leisem Knacksen flammt Ritas Nachttischlampe auf. Der Hauptmann dreht überrascht den Kopf; Rita hat sich ihm entgegengebeugt, sieht ihn kurz an, nickt, scheinbar beruhigt, legt sich und löscht das Licht in einem Arbeitsgang. „Was ist denn?“ fragt Rodak, verwundert, mißtrauisch. „Och, nichts“, sagt sie gedehnt, kuschelt sich hörbar ins Kopfkissen. „Du hast eben so schön gehustet, und da wollte ich nur sehen, ob du nicht aus Versehen noch eine 78
Zigarre im Mund hast!“ Einige Sekunden braucht er, dann grunzt er behaglich: „Werd nicht frech!“ Aber in der Mahnung ist mehr Zufriedenheit und Übereinstimmung mit dieser Frau, als wortreiche Beteuerungen enthalten könnten. Und das Gefühl, daß zumindest die kleine Privatwelt ganz in Ordnung ist, erweist sich als ein tauglicheres Schlafmittel als die berühmte Schafherde samt Schäfer. „BB“ blickt weder böse noch sanft, er schläft.
79
6. Kapitel
Was soll man von einem Menschen halten, der, obwohl ein Verdacht auf ihm zu lasten scheint, dennoch am frühen Morgen wie gewohnt sein Haus verläßt, um zur Arbeit zu gehen? Flüchtet er vor der bekannten, gleichwohl aber doch entscheidend veränderten Häuslichkeit? Ist er berechnend, listenreich, abgebrüht? Oder hat er einfach Pflichtgefühl? Darüber hat der junge Genosse, leidlich hinter Gebüsch im Nachbargrundstück verborgen, bis jetzt nicht nachgedacht. Er hat. registriert, was bis jetzt zu registrieren war – es war nicht viel. Nun sieht er Eggert aus dem Haus kommen, die Tür zum Hof sorgfältig hinter sich verschließend. Eggert geht bis zur Stalltür, dort macht er eine resignierende Geste, sieht auf die Armbanduhr und verläßt dann eilig sein Grundstück. Der junge Genosse, der sich in Windjacke und Manchesterhose irgendwie komisch, fast degradiert vorkommt, ist sicher, daß er seine Aufgabe bis jetzt ordentlich erfüllt hat. Eggert dreht sich, während er unvermindert eilig durch die Straßen dem Autohof zustrebt, weder um, noch benimmt er sich sonst auffällig. Eggert geht einfach rasch, ein Mensch, der nicht zu spät zur Arbeit kommen möchte. Er kann nicht wissen, daß er heute auf jeden Fall zu spät kommt, unbedeutend dabei die wenigen Minuten Verzögerung durch den nicht eingeplanten Fußmarsch. Auf dem Autohof hat der Tag begonnen wie jeder andere. Die ersten beiden Fernlastzüge sind seit einer Stunde 80
unterwegs zu ihren Ladeorten, das Nachttaxi steht auf Abruf neben dem Kasten mit den Feuerlöschgeräten, drei Autobusse der Morgenlinien vibrieren mit laufenden Motoren in Reih und Glied vor sich hin und vergiften mit Abgasen die klare Morgenluft. Die Luft im Zimmer der Einsatzleitung bedarf keiner Unterstützung durch Dieselmotoren, sie ist vom Rauch der fünf Zigaretten ausreichend geschädigt, den vier Kraftfahrer und ein Nachtwächter in schöner Eintracht aus- und wieder einatmen. Am kalten Kachelofen sitzt der Taxifahrer. Die Busfahrer stehen vorm Schreibtisch, kontrollieren Papiere und Fahrscheinblöcke, Wachmann Liebkind, Rentner mit auskömmlichem Einkommen, hantiert wichtigtuerisch mit seinem Schlüsselbund, obwohl er der einzige ist, der im Augenblick völlig überflüssig ist. Alten Hasen kann er, der ohnehin nie am Lenkrad gesessen hat, wahrhaftig nichts vormachen oder gar Ratschläge erteilen. Ganz als ob auch er alter Hase wäre, prüft der schmächtige Kollege Pattky seine Papiere; innere Unruhe, leichte Aufregung und unterdrückte Freude übertüncht der Qualm seiner Zigarette, die ihm besonders lässig im Mundwinkel hängt. Aber er ist kein Hase, eher ein junger Dachs, der noch nicht die Gelassenheit erfahrener Busfahrer hat. Zwar zwingt er sich zur Gelassenheit, als er nun als erster das Zimmer verläßt, aber in ihm bleibt die freudige Unruhe. Er, anscheinend ewiger Springer, geduldeter Notnagel, dem man jede lose Schraube zuschreiben konnte, hat jetzt seinen eigenen Bus, hat wohl endlich seinen Platz gefunden. Mit einer Mischung von Besitzerstolz und leiser Beklemmung, welche Überraschungen ihm mit dem fast unbekannten Bustyp bevorstehen könnten, geht er auf das 81
Fahrzeug KOM 0183 zu. Schwungvoll reißt er die Tür auf, er hat kein Auge für andere Leute, schon gar nicht für welche, die eigentlich gar nicht anwesend sein dürften. Er sieht Eggert nicht kommen, er sieht auch nicht den Mann in der Windjacke, er klettert in seinen Bus, ihm ist, als sei er irgendwie zu Hause angekommen. „Suchst du was Besonderes?“ Pattky bleibt mitten in den Bewegungen stecken; die Stimme da halb unter ihm ist die letzte, die er jetzt zu hören wünscht. Er wendet sich, ein Bein bereits im Bus, merkwürdig schwerfällig um, ihm ist, als müsse er schon wieder Abschied nehmen, noch ehe er richtig Besitz ergriffen hat. Eggert steht da wie eigentlich immer, wie man ihn kennt. Aktentasche in der Hand, bullig, brummig, drohend, vielleicht nicht brummiger und drohender als sonst, aber Pattky würde in diesem Moment auch ein ungewöhnlich freundlicher Eggert wie eine Bedrohung vorkommen. Tatsachen schaffen, denkt Pattky hastig, ist mit kurzem Ruck auf dem Fahrersitz, verstaut seine Fahrscheinmappe betont heftig neben sich. Erst dann antwortet er: „Hellwig hat mich für die Linie eingeteilt!“ Der leise Triumph verdeckt nur zum Teil seine Erregung, aber Eggert soll merken, daß er, Pattky, jetzt der Bessere ist. Eigentlich gehörte Eggert, der jetzt da unten steht, ganz woandershin! Einen Augenblick scheint es, als sähe Eggert das ein. Er nickt. Dann aber sagt er mit jenem Ton, der ihn bis jetzt die meisten Freundschaften gekostet hat: „Da war er aber sicher besoffen!“ „Ruf ihn doch an, Mensch!“ faucht Pattky. Eggert zieht an Pattkys Hosenbein und brummt: 82
„Werden wir – aber zusammen!“ „Ich muß los.“ Schließlich steigt Pattky doch aus. Er weiß sich im Recht, unmöglich kann Hellwig jetzt am Telefon sagen, es wäre ein Irrtum gewesen. Achselzuckend schiebt er sich dicht an Eggert vorbei, natürlich hat er seine persönlichen Sachen im Bus gelassen, so schnell würde er nicht kapitulieren. Variiertes Staunen empfängt die beiden. Eggert grüßt nicht, er geht wortlos zum Schreibtisch, greift nach dem Telefonhörer, knurrt den verstört blinzelnden Liebkind an: „Hellwigs Nummer!“ Der alte Mann sieht sich rasch nach Hilfe um findet sich aber allein gelassen. Die Busfahrer, eben noch beim derzeitigen Thema Nummer eins, dem reichlich merkwürdigen Tod der Christine Eggert, rascheln verlegen in ihren längst für gut befundenen Papieren, tauschen rasche Blicke unter sich: Wieso stand Eggert plötzlich hier im Zimmer? Nur der fahlblonde Taxifahrer mustert, ohne seine bequeme Stellung in der Ofenecke zu ändern, den wahrhaftig unerwarteten Kollegen mit einer Mischung aus Staunen und aufdringlicher Herablassung, eine Hilfe für Liebkind indessen ist auch er nicht. Der fährt mit zittrigen Fingern ein weiteres Mal die Liste mit den Telefonnummern hinunter; er ist etwas durcheinander, weil das nun doch fast komisch ist – gestern, als er Eggen sehen sollte, hatte er ihn nicht einmal gehört, und heute, da man ihn in einem bestimmten Gebäude mit soliden Fensterverzierungen glaubte, heute stand er ganz dicht vor ihm. Hellwig will er anrufen, jetzt, früh drei Viertel vier, der wird sich aber freuen! 83
Er sieht nervös hoch; vor ihm steht dieser Mensch, den Hörer wie eine Wurfkeule in der Hand, starrt ihn finster an und schweigt, was nun freilich nichts Außergewöhnliches an ihm ist, redselig war er nie gewesen. Neben ihm der Pattky … klar, einer ist hier zuviel, aber wer! Wer? Liebkind zieht hastig den mittelsten Schreibtischkasten auf, wühlt fahrig, bringt einen Zettel heraus, der von Hellwig an die Papiere des KOM 0183 geheftet worden war, um Eggert zu informieren, wie sich das ja auch gehörte. Ordnung war das halbe Leben. „Pattky soll fahren“, versichert er, hustet qualvoll, reicht Eggert den Zettel, sieht ihn an, ein bißchen ängstlich, ein bißchen mitleidig, er ahnt verschwommen, wie dem Menschen da vor ihm zumute sein kann. Man hatte ihn schon abgeschrieben, ausgestoßen sozusagen, Kraftfahrer sind ohnehin komische Leute. Ihr Auto war immer das beste, nur sie selbst konnten es richtig fahren, andere hatten ja keine Ahnung. Nahm man ihnen aus irgendeinem Grund den Wagen weg, führten sie sich wer weiß wie auf, dabei war doch ein Auto wie das andere? Eggert starrt länger auf den Zettel, als man für die paar Worte braucht, knüllt ihn dann verdächtig ruhig zusammen, steckt ihn ein und fragt ihn, ausgerechnet ihn, einen Nachtwächter, denn diese ebenso zählebige wie doppelsinnige Berufsbezeichnung wurde man sowieso nie los: „Und was soll ich fahren?“ Wieder sieht sich Liebkind hilfesuchend um, und diesmal wird ihm Hilfe zuteil, jedenfalls hat es ganz den Anschein. Kurmann, der Taxifahrer, richtet sich auf, zunächst nur, um sich noch bequemer hinzuflegeln. Vielleicht will er noch einige Sekunden herausschinden, vielleicht aber auch soll die betonte Unbekümmertheit nur die Wirkung 84
unterstreichen. Denn jetzt ist der Augenblick da, wo er sich revanchieren kann – dieser Eggert da, Kollege und Kumpel, hat ihm im vergangenen Herbst eine Prämie vermasselt, wegen einer einzigen Schwarzfahrt! Der war doch bloß neidisch gewesen, weil man mit einem Autobus natürlich bedeutend schlechter schwarzfahren konnte als mit einem unauffälligen Pkw. „Da wüßte ich Rat“, sagt Kurmann gedehnt. „Wie wär’s zum Beispiel mit einer grünen Minna?“ Er weiß im gleichen Augenblick, daß er da eben viel zu weit gegangen ist, aber es ist nun einmal gesagt. Von den Gesichtern der beiden anderen Busfahrer ist abzulesen, daß sie seine Großmäuligkeit keineswegs billigen, egal, was sie selbst über Eggert denken mochten. Kurmann kommt auch gar nicht mehr dazu, sich aus seiner bequemen Haltung aufzurappeln, so schnell wirbelt Eggert herum und klatscht ihm die rechte Hand auf die linke Gesichtshälfte. Er fühlt sich bitter gekränkt, weil man unter Männern doch zumindest mit den Fäusten schlug; Ohrfeigen waren einfach entwürdigend, das konnte man sich nicht bieten lassen. Schon sind die beiden Busfahrer dazwischen. Einer keucht: „Laßt bloß den Blödsinn!“, während der alte Liebkind fieberhaft nach dem Telefonhörer angelt, den Eggert einfach hat fallen lassen. Eggert sieht erst Kurmann stumm an, dann seine beiden Kollegen, wendet sich schwerfällig ab und stampft zur Tür. Nur Pattky, bis jetzt völlig passiv, sieht ihm deutlich besorgt nach, möchte ihm am liebsten folgen. Noch immer steht draußen der Bus, der Motor klopft unregelmäßig laut, als klatsche er Beifall. Dann aber ächzt draußen auf dem Flur eine Tür, jeder 85
hier kennt den Ton, und jeder weiß, daß Eggert in den Aufenthaltsraum gegangen ist. „Ruf doch mal an!“ verlangt nun auch Pattky, obwohl er jetzt einfach abfahren könnte. „Ja, ja“, quengelt Liebkind, dein so viel Unruhe am frühen Morgen höchst zuwider ist, und beginnt mit jener Sorgfalt zu wählen, wie sie Leuten eigen ist, die nie ihre Scheu vor Fernsprechern verlieren. Selbst ganz durchschnittliche Einsatzleiter haben am Vortag die notwendigen Dispositionen getroffen. Für Kranke und Urlauber wurden Springer eingesetzt, technische Dinge sind geregelt, außer Wundern ist alles erledigt. Man legt sich einigermaßen beruhigt zu Bett. Vielleicht flackert irgendwo versteckt ein bißchen Unruhe, daß man doch etwas übersehen haben könnte. Klingelt dann aber statt des unumgänglichen Weckers das Telefon, und zwar statt um halb sechs schon um vier, dann kann man ziemlich sicher sein, daß irgendwo etwas schiefgelaufen sein muß. Barfuß und in Turnhose – eine geradezu unverschämte Hitze war das gestern abend in diesem alten Bau gewesen – tappt Karl Hellwig zum Korridor und nimmt den Hörer ab. Als wäre es Pflicht, sich bei unerwünschten Störungen brummig zu melden, meldet er sich brummig, fragt, was, zum Teufel, denn schon wieder los sei, kratzt sich dabei die behaarte Brust, sieht sich selbst im Spiegel zu, fröstelt tatsächlich und denkt an alles mögliche, nur nicht an einen Kollegen Eggert, von dem plötzlich die Rede ist. „Was?“ schnauzt Hellwig, „Schlägerei hat’s gegeben?“ Nein, nein, hört er den Alten umständlich versichern, ganz so schlimm sei es nicht, gekommen, der Eggert 86
habe dem Kurmann nur eine kräftige Ohrfeige verpaßt, dann seien sie dazwischengegangen … Wer denn nun eigentlich fahren solle? Da sollte doch gleich! Wieso eigentlich hatte ihn dieser Oberleutnant Krüger nicht davon unterrichtet, daß Eggert …? Mußte er das überhaupt? Was war denn nun überhaupt Fakt? Es hieß doch, Eggert sei vernattert. Aber da sah man wieder mal, was an Gerüchten dran war! Nichts nämlich. „Ja doch!“ Dieser Liebkind konnte einem schon am frühen Morgen auf die Nerven gehen. „Ich überlege doch gerade krampfhaft, wie man es jetzt richtig macht!“ Es war Eggerts Bus, ganz ohne Zweifel, und Eggert war auch da. Wer aber wußte, ob er auch morgen da war, übermorgen und später? Nahm er den Pattky jetzt vom Bus, mußte er ihn vielleicht morgen oder übermorgen wieder höflich bitten, nun doch den Bus zu übernehmen. Andererseits, ich habe keine Ursache, Eggert kaltzustellen. Er ist nun eben mal nicht sonderlich kontaktfreudig, in der Arbeit aber war er zuverlässig. Aber ich kann wiederum auch nichts dafür, daß Eggert in eine, gelinde gesagt, unerquickliche Lage geraten ist. Und überhaupt: Karl Hellwig ist schließlich verantwortlich dafür, daß morgens rund tausend Menschen möglichst pünktlich zu ihren Arbeitsplätzen kamen. Und daran gemessen, sind die Schwierigkeiten eines einzelnen ziemlich uninteressant. „Pattky fährt!“ befiehlt er und will hastig auflegen. „Und Eggert und Eggert!“ Hellwig äfft gereizt nach, was Liebkind noch zu fragen hat. „Soll warten, ich komme gleich.“ Er legt den Hörer auf, fährt sich mit der Hand über das Kinn, beugt sich dicht an den Spiegel. Wunder gab es nicht, also kam man auch heute morgen nicht um die 87
verdammte Rasiererei herum. Im Bad befragt er nochmals den Spiegel, während die Hände schon ganz automatisch nach den notwendigen Rasierutensilien kramen. Einen Augenblick spürt er eine Art Haß auf diesen Eggert; ohne den Kerl könnte er jetzt noch friedlich schlafen, anstatt sich weißen Seifenschaum im Gesicht zu verreiben. Dann aber, als er sich abtrocknet: und erstaunlich frisch fühlt, schlägt der längst verrauchte Unmut in Mitgefühl um. Hatte er nicht vorhin gedacht, was das Schicksal eines einzelnen gegen das Wohlbefinden Tausender sei? Komisch eigentlich, es gab passend zu jedem Problem weise Worte, als hätten längst vergessene Generationen schon die gleichen Sorgen gehabt. Ein Toter, so hatte er irgendwann einmal gelesen, sei eine Tragödie – zehntausend Tote indessen nur eine Statistik. Stimmt, ein verstorbener Nachbar berührte einen viel mehr als Tausende Opfer einer Erdbebenkatastrophe irgendwo weit weg. Hellwig hat es nun eilig. Er zieht sich an und überlegt sich schon einleuchtende und möglichst schonende Formulierungen, mit denen er Eggert seine Entschlüsse zu erklären hofft. Während Hellwigs Trabant schon über die schlecht vernarbten Wunden der Mittelstraße hoppelt, Narben von der letzten Rohrleitungsverlegung, hat auch den Oberleutnant Krüger das Telefon geweckt. Eggerts Tagesablauf, wird er informiert, verlaufe wohl doch nicht so, wie ihn der Genosse Oberleutnant vorausgesagt habe. Zwar sei Eggert zur Arbeit erschienen, sei aber nicht am Busbahnhof angekommen, den fraglichen Autobus fahre ein anderer Kollege. Was er jetzt machen solle, möchte der Mann mit der Windjacke wissen. Warten, hat Krüger knapp geantwortet, hat selbst einige 88
Minuten gewartet und ruft den Autohof just im gleichen Augenblick an, da Hellwig den Trabant entgegen sonstiger Gewohnheit bis direkt an das Fenster seines Büros lenkt. Hellwig sieht Liebkind telefonieren und hört dessen erleichterten Ausruf: „Augenblick, eben kommt Kollege Hellwig!“ „Wer ist denn dran?“ Hellwig tritt ans Fenster und nimmt den Hörer, den Liebkind ihm mit der respektvollen Bemerkung reicht, daß die Kripo dran sei. „Hallo!“ sagt er, spürt wie immer, wenn er plötzlich mit der Kriminalpolizei zu tun hat, einen unerklärlich feinen Stich irgendwo in der Bauchhöhle, eine merkwürdige Sache eigentlich, weil man ja doch nicht im geringsten gegen die Normen menschlichen Zusammenlebens verstoßen hatte. „Was gibt es?“ „Wo ist Eggert?“ „Eggert?“ wiederholt er automatisch, wundert sich auch gar nicht, daß der Genosse am anderen Ende der Leitung sich nicht vorstellt, reagiert aber sofort auf Liebkinds eifrige Handzeichen, daß Eggert nicht weit weg sei. „Hier, natürlich!“ „Aber er fährt nicht seine Linie?“ „Woher …?“ Er stockt, weniger verdutzt als erlöst. Diese Frage nimmt ihm einen Teil seiner Sorgen ab. Wenn die Polizei jetzt schon wußte, daß Eggert nicht auf seinem Bus saß, hieß das, daß man Eggert überwachte. Folglich war Eggert keineswegs aus dem Schneider, wenn man so sagen durfte, und das wiederum bedeutete, daß es durchaus richtig gewesen war, Pattky einzusetzen. „Ja, sehen Sie, ich bin ja verantwortlich, nicht wahr? Und da ich nicht wissen konnte, daß der Kollege Eggert heute morgen wie immer … 89
Selbstverständlich mußte ich vorsorglich einen anderen Kollegen einteilen …“ Der Genosse Krüger, denn den hatte er nun allmählich an der Stimme erkannt, unterbricht Hellwigs Rechtfertigung mit der ungeduldigen Gegenfrage: „Und was wird mit: Eggert?“ Das müßten Sie eigentlich besser wissen, möchte Hellwig etwas kleinlich kontern, er unterläßt es aber. Bis jetzt hat er noch geschwankt, wie er entscheiden soll. Er war selbst lange genug Fahrer gewesen, um ermessen zu können, was es heißt, einem Kollegen ein wesentliches Stück seines Lebensinhaltes zu nehmen. Aber es war einerseits fraglich, ob man den robusten Eggert zu den Feinfühligen zählen mußte, und andererseits: zuviel Rücksicht verdarb mitunter die notwendige Autorität. „Eggert fährt vorläufig die Z vierzehn.“ Hellwig wartet eigentlich auf den Einwand, wieso vorläufig und was darunter zu verstehen sei, aber Krüger erkundigt sich nur kühl, was Z 14 sei. „Die Linie nach Treppen“, sagt Hellwig sachlich. „Wird zweimal morgens und einmal abends befahren, beginnt fünf Uhr vierzig am Busbahnhof.“ „Danke“, hört er Krüger sagen. Hellwig legt den Hörer auf und nimmt, als sei das im Augenblick das wichtigste, stirnrunzelnd den übervollen Aschenbecher, um ihn im Kachelofen zu entleeren. Was Hellwig dem Genossen Oberleutnant freilich verschwiegen hat, ist die Tatsache, daß die Z 14 unter den Kollegen Kraftfahrern als „Gammellinie“ verschrien ist; einige betrachten einen zeitweiligen Dienst auf dieser Linie als eine Art Strafversetzung. Für den Stammfahrer der Z 14 sind die getrennten Arbeitsstunden angenehm, 90
weil er sie gut mit privaten Pflichten koordinieren kann. „Gammellinie“ ist die Z 14 allerdings nicht nur wegen der unbequemen Arbeitszeit, auch die Straßen sind reparaturbedürftig, und da es in einem etwas abgelegenen Dorf nichts zu repräsentieren gibt, setzt man nicht gerade die neuesten Autobusmodelle ein, schließlich muß man sich an Kostensenkung und Rentabilität halten. Was Eggert davon hält, ist seinem Gesicht kaum abzulesen. Er sitzt zur Abfahrtszeit stumm hinter dem Lenker, kassiert wortkarg Fahrgeldgroschen, verteilt Fahrscheine. Selten nur fahren mehr als vier Personen am frühen Morgen hinaus aus der Stadt. Da ist, den Sitz an der Vordertür als Stammplatz beschlagnahmend, die hübsche Friseuse Monika, dann, eine Reihe dahinter, Hanna, die Sprechstundenhilfe der staatlichen Arztpraxis, neben ihr, wenn auch durch den schmalen Gang getrennt, ein LPGBuchhalter und fast ganz hinten, als lege sie Wert auf Distanz, das ältliche Lehrerfräulein Döring. Heute sitzt ein fünfter Fahrgast wie unbeteiligt genau über der Hinterachse. Er sieht aus wie ein Handwerker in den besten Jahren, ein Stellmacher etwa, der auf eine Zeitungsannonce hin eine verwaiste Stellmacherei nebst der inserierenden Witwe zu besichtigen gedenkt. Der junge Mann in Windjacke, mit dem er kurz zuvor gesprochen hat, könnte wohl sein Sohn gewesen sein, der ihm entweder zu- oder abgeredet hat. Und noch mehr ist heute verändert. Buchhalter und Sprechstundenhilfe haben den trennenden Gang überwunden, sitzen vertraulich nebeneinander, reden leise, nicken sich voller Verständnis zu, mustern verstohlen den Fahrer im Spiegel, lassen verwundert-befremdete Blicke über Eggerts breiten Rücken gleiten. Keine Frage, sie wundern sich, sind entrüstet und angeregt zugleich. 91
Spiegel wirken zwingender als direkte Blicke. Es ist eigenartig, in fremde Augen zu sehen, die irgendwo hinter einem forschen und fragen, bangen oder hassen. Eggerts Gesichtsausdruck verändert sich kaum, obwohl sein Blick immer häufiger zum großen Innenspiegel wandert. Erstattet die Maschine, als könnten Motor und das rumpelnde Getriebe des alten Ikarus die Tuschelei abwürgen, und überbrückt, ebenso Gleichmut wie Sorgfalt vortäuschend, die Minuten bis zur Abfahrt, indem er seine Hälfte der Frontscheibe flüchtig mit einem Lappen reinigt. Dann fährt er los, und würde man von seiner Fahrweise auf seine augenblickliche Gemütsverfassung schließen wollen, so scheint er ausgeglichen ruhig, fast in voller Harmonie mit seiner Umwelt zu sein. Einige werden ihn deswegen in ein bequemes Schema pressen. Man wird ihn für gefühllos, ja für abgebrüht halten.
92
7. Kapitel
„Wo ist Eggert?“ Oberleutnant Krüger ist überrascht, daß der Genosse Hauptmann schon jetzt, vormittags gegen elf Uhr, bemerkenswert vital und selbstverständlich mit erloschener Zigarre sein Zimmer betritt. „Wollten Sie nicht erst abends …?“ Er drückt dem Hauptmann die Hand, schiebt noch einen Schnellhefter zurecht. „Eggert ist arbeiten …“ „Es hat wohl einige Schwierigkeiten gegeben?“ Krüger berichtet knapp und sachlich von den morgendlichen „Zwischenfällen“ auf dem Autohof. Dann, einmal in Schwung, faßt er zusammen, was sich – mehr am Rande – seit des Hauptmanns Abwesenheit noch ergeben hat. „Mit Tatsachen allerdings kann ich leider noch nicht aufwarten. Es war noch kein Zeuge zu finden, der Eggert zur angegebenen Zeit gesehen hat.“ Er hakt ordnungsliebend etwas auf einem Zettel ab, den er dann etwas zögernd dem Hauptmann reicht. „Ich habe mir notiert, was mir vordringlich erschien. Die Reihenfolge“, erklärt er hastig, „ist selbstverständlich sekundär.“ Krüger nimmt aus seinem Schnellhefter einen weiteren Zettel, tippt bedeutungsvoll darauf und sagt zurückhaltend: „Mich interessierte die Herkunft der Schlaftabletten …“ „Gut“, unterbricht ihn Rodak, während er Krügers Notizen einfach auf den Schreibtisch flattern läßt. „Die Sache nämlich wird uns noch sehr beschäftigen. Und was 93
sagt Ihr Herr Doktor?“ Oberleutnant Krüger wirkt einen Augenblick finster; Dr. Birnbaum ist ganz und gar nicht „sein“ Doktor. „Er hat Christine Eggert, seiner Patientin, tatsächlich Schlafmittel verordnet“, sagt er kühl, „etwa vor sieben Wochen.“ Nun muß er den Zettel zu Hilfe nehmen, liest ab: „Zyklobarbital, enthält je Tablette null-Komma-zwei Gramm Zyklobarbital. Dazu außerdem auch ein Beruhigungsmittel, Faustan nennt es sich.“ „Gut“, wiederholt der Hauptmann, nimmt auch diesen Zettel an sich, liest ihn flüchtig und steht dann auf. „Das könnte die Herkunft erklären. Sonst aber ist damit herzlich wenig erklärt.“ „Er hatte es jedenfalls zur Hand.“ „Sie auch“, sagt Rodak trocken. „Aber gehen wir sachlich vor, sortieren wir sozusagen. An der Toten sind keinerlei Spuren einer Gewaltanwendung gefunden worden, von der Schramme am Oberschenkel abgesehen. Nun aber wehrt sich ein Mensch, der ertränkt werden soll, mit aller Macht, was wiederum erhöhte Gewalt des Gegners herausfordert, mithin …“ Er stockt, blinzelt versöhnlich. „Na ja, das wissen Sie ja alles.“ „Nach Einnahme einer stark überhöhten Dosis Schlafmittel ist man doch reaktionsunfähig, man kann sich also nicht wehren.“ „Stimmt auch, aber … verlieren wir uns nicht in grimmigste Kompositionen. Wir …“ Krüger zieht verwundert, fast peinlich berührt, die Augenbrauen hoch. „Kombinationen, meinen Sie doch sicher?“ „Wieso?“ Der Hauptmann blickt ihn mit gespielter Naivität an. „Lesen Sie keine Zeitung, sehen Sie nicht fern?“ 94
„Ich verstehe nicht“, murmelt Krüger unsicher. „Aber, aber! Wo doch neuerdings Kunstmaler nicht mehr malen, sondern Kompositionen aus Farben, Licht und Schalten schaffen? Wo Gärtner und Fleurop nicht mehr Blumengebinde, sondern Kompositionen aus Blüten und Gräsern zaubern, wahlweise zur Hochzeit oder zur Beerdigung? Friseure komponieren, hin und wieder tatsächlich auch noch Musiker – ja, sogar der Fischkoch bereitet keine Speisen mehr vor, kochen darf er scheinbar sowieso nicht, nein, er schafft Kompositionen! Aus sauren Gurken, Meerrettich, geriebenen Zwiebeln und totem Fisch!“ Oberleutnant Krüger hat anfangs skeptisch, dann aber mit wachsender Heiterkeit zugehört; jetzt muß er herzhaft lachen. Komposition aus sauren Gurken und totem Fisch! Und so lachen sie beide; zum erstenmal seit ihrer Begegnung ist völlige Übereinstimmung zwischen ihnen, und Krüger hat die erleichternde Gewißheit, daß dies auch so bleiben wird. „Komponieren wir also weiter“, sagt Krüger ernsthaft, und der Genosse Hauptmann findet auch sofort wieder den Anschluß. „Reaktionsunfähig! Schön, vergessen wir aber den heftigen Ehestreit nicht, überlegen wir unter diesem Gesichtspunkt, wie Frau Eggert reaktionsunfähig werden konnte. Da ist erstens der Umstand, daß gerade Schlafmittel abscheulich bitter schmecken. Obendrein sind sie schwer löslich, und wer mag schon weiße Krümel im Tee, in Wasser oder in einer anderen Flüssigkeit? Abgesehen vielleicht von Brühe mit Ei …“ „Vielleicht ein Versehen?“ „Ausgezeichnet“, bestätigt Rodak, aber er lächelt ein 95
wenig hinterhältig dabei. „Eine Möglichkeit, gewiß, nur … wie wollen Sie das mit einem Verbrechen in Verbindung bringen? Auf ein Versehen baut man schließlich keine so schwerwiegende Tat auf. Erinnern wir uns: Als sich Eggerts trennten, war Christine – hübscher Name übrigens – noch recht munter, sehr sogar, zu sehr, würde ich meinen. Aber das war um acht Uhr abends. Spätestens um zweiundzwanzig Uhr war sie schon tot. Was nun muß Eggert, über dessen Weg zumindest bis zum Eintritt der Dämmerung wir noch Zeugenaussagen brauchen, in relativ kurzer Zeit alles bedacht, eingeleitet und ausgeführt haben? Und …“, nochmals lächelt der Hauptmann hinterhältig, freilich auch ein bißchen siegessicher, „woher soll er denn gewußt haben, was sich da aus einem ‚Versehen‘ für eine Chance bietet?“ „Er kann die Verwechslung bemerkt haben“, sagt Oberleutnant Krüger, und er sagt es nicht mit der Absicht, dem Genossen Hauptmann seine Logik zu beweisen, er sagt es einfach und wundert sich deutlich über dessen Reaktion. „Verdammt!“ entfährt es Rodak. Er blinzelt zwar wieder, aber diesmal leicht verwirrt, ehe er aufrichtig – schön aufrichtig, findet Krüger – gesteht: „Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht!“ Oberleutnant Krüger könnte nun, was auch viele an seiner Stelle tun würden, den Hauptmann in lebhaften Worten zu dieser Version bekehren, seinen augenblicklichen Triumph auskosten, er tut es nicht. Er weiß, daß der Genosse jetzt diese Version prüft, bedenkt und wieder prüft, also tut er selbst es auch. Und schneller als der Genosse Hauptmann meldet er erste Bedenken an. „Das setzt freilich voraus, daß sie noch in seiner Gegenwart eine selbst für gewöhnliche Schmerztabletten 96
beträchtliche Anzahl geschluckt haben muß. Vor seinen Augen sozusagen.“ Den zweiten Haken findet Rodak. „Eine Verwechslung setzt im allgemeinen ähnliche, und zwar eben zum Verwechseln ähnliche Verpackungen voraus.“ Er scheuert sich nachdenklich das Kinn, sieht prüfend auf den Zettel in der Hand, aber da stehen nur zwei Medikamente verzeichnet. „Gut, das wird sich klären lassen.“ Dann sagt er bedächtig: „Aber es dürfte nicht sonderlich schwierig sein, einer Verwechslung nachzuhelfen, nicht?“ „Indem man Inhalte vertauscht!“ „Aber welcher Mensch nimmt denn selbst harmlose Tabletten in Mengen ein? Und schließlich bleibt als Hauptproblem, wie die Tote an den Teich gelangte.“ „Warum stehen wir eigentlich?“ fragt Oberleutnant Krüger unvermittelt. Er setzt sich, nachdem sich auch der Hauptmann, allerdings rein mechanisch, auf einem harten Stuhl niedergelassen hat, und gibt zu bedenken: „Theoretisch, da wir keinen einzigen Zeugen für Eggerts Nachtmärsche haben, hätte er fast die ganze Nacht Zeit gehabt.“ „Theoretisch“, murmelt der Hauptmann abwesend, steht ebenso abwesend wieder auf, stützt sich mit einer Hand auf den Schreibmaschinentisch, tippt einigemal rasch hintereinander auf die Transporttaste der Maschine, als wolle er des Rätsels Lösung morsen, und stimmt dann zu: „Theorie ist immer gut … Wenn sie stimmt! Theoretisch nämlich“, sagt er dann und kratzt sich ungeniert am Hals, „muß Eggert überhaupt nichts mit dem Tod seiner Frau zu tun haben …“ Hier muß der Oberleutnant unterbrechen; Widersprüche beschleunigen oft einen Klärungsprozeß. „Gestern sagten Sie Eggert auf den Kopf zu, daß er schon längst Bescheid wüßte!“ 97
„So?“ Das klingt so uninteressiert, fast auch spöttisch, daß Krügers Überzeugung von der Übereinstimmung mit dem Genossen Hauptmann bedenklich zu wanken beginnt. Der hingegen scheint nichts von den momentanen Zweifeln zu merken, er krächzt unbekümmert: „Das glaube ich auch jetzt noch!“ „So!“ bemerkt nun auch Krüger. Er nimmt betulich sorgfältig seine von Rodak achtlos auf den Schreibtisch gelegten Notizen, faltet sie peinlich korrekt und steckt sie in die Brusttasche, als sei er nun entschlossen, eigene Wege zu gehen. Und der Dicke merkt nichts. Er sagt ruhig: „Zum Beispiel könnte er sie gefunden haben. Da draußen.“ „Und ist dann kopflos geflüchtet?“ „Ohne Kopf nicht“, sagt Rodak ernsthaft. „Es wäre seine Pflicht gewesen“, ereifert sich der Oberleutnant etwas wider Willen, „uns sofort Mitteilung …“ „Es ist unsere Pflicht …“, unterbricht der Hauptmann, läßt nun endlich die Schreibmaschine in Ruhe und tritt ans Fenster, „… herauszufinden, warum jemand seine Pflichten verletzt. Was nun Eggert angeht – vielleicht hatte er Angst?“ „Angst? Sie meinen … vor Strafe?“ „Auch das wäre normal – und gut ist es auch. Gäbe es keine Furcht vor Strafe, vor der Rechnung, hätten wir bedeutend mehr zu tun. Aber das meine ich nicht ausschließlich. Vielleicht hat er auch Angst vor uns?“ Oberleutnant Krüger lächelt skeptisch. War es nicht natürlich, ja geradezu wünschenswert, daß Rechtsbrecher vor ihm, vor der Volkspolizei Furcht empfanden? Aber das meinte der Genosse Hauptmann nicht, selbstverständlich nicht. Rechtschaffene Bürger konnten die 98
Volkspolizei achten, konnten Respekt haben, sie als Freund betrachten, Furcht war ganz gewiß nicht dabei, es wäre Unsinn. „Wenn ich Sie recht verstehe“, sagt er endlich, „so hätte Eggert einen ausgeprägten Mangel an Vertrauen bewiesen?“ Rodak nickt zustimmend, ehe er antwortet: „Das kommt leider häufiger vor, als der gesunde Menschenverstand verkraften kann. Immerhin, es gab Zeiten, da mußten wir hart durchgreifen. Entsprechend waren die Strafen, und mancher könnte sich damals ungerecht behandelt gefühlt haben. Bei manchem dürfte dieses Gefühl vergessen sein, gewiß aber nicht bei allen.“ Als wollte er endlich zum Ende kommen, lenkt Krüger gelassen ein: „Schön, nehmen wir also an, Eggert fand seine Frau, tot, ertrunken. Er, vor zehn Jahren eventuell zu hart bestraft, fürchtet auf Unverständnis, Mißtrauen, Vorurteil oder sonstwas zu stoßen und schweigt. Bleibt die Frage, wie Frau Eggert an oder wahrscheinlich in den Teich gekommen ist.“ Der Hauptmann schüttelt den Kopf. „Die Frage wäre dann falsch gestellt – wie …“ Er stippt mit dem Zeigefinger auf Krügers Brust. „Nein! Warum ging sie zum Teich?“ „Das werden wir wohl nie erfahren“, bemerkt Krüger etwas leichthin und erntet umgehend den Abglanz eines bösen Blickes. „Nicht so voreilig“, warnt der Hauptmann knurrig, tappt einige Schritte auf und ab, bleibt erneut an der Schreibmaschine stehen und sagt: „Es wäre nämlich interessant, zu überlegen, wie Eggert seine Frau ausgerechnet am oder im Teich finden konnte. Warum ausgerechnet dort, wie? Woher wußte er denn, daß sie dort war? 99
Zufällig gefunden?“ Er schüttelt heftig den Kopf zu dieser Möglichkeit, ehe er behauptet: „Es muß – immer vorausgesetzt, Eggert hat seine tote Frau als erster entdeckt und sie in diese merkwürdige Lage gebracht – einen triftigen Grund für sie gegeben haben, trotz Aversion gegen nächtliche Ausflüge, eben genau zum Teich und nirgends anders hinzugehen. Und daraus ergäbe sich, daß Eggert wußte, wo er sie zu suchen hatte.“ „Fragen wir ihn doch“, antwortet Krüger lakonisch. „Und zwar gleich“, sagt Hauptmann Rodak so zufrieden, als habe er um ebendiesen Vorschlag gebangt. Er zerrt eine leicht zerknautschte Zigarrenpackung aus der Jackentasche, zerknüllt sie nach kurzer, mißbilligender Prüfung, will sie einfach auf den Aschenbecher legen, steckt sie dann aber listig blinzelnd wieder ein und brummt gemütlich: „Aber fahren Sie so, daß wir an einem Laden vorbeikommen, der mit Zigarren handelt.“ „Sie haben“, sagt Krüger lächelnd und blickt dabei übertrieben aufmerksam auf seine Armbanduhr, „jetzt genau achtundvierzig Minuten nicht geraucht! Da können Sie gleich ganz damit aufhören.“ „Solange es nicht verboten ist, rauche ich unbekümmert.“ „Wenn ich was zu sagen hätte, würde es verboten werden.“ „Oh“, sagt Rodak bedauernd und erklärt zu Krügers Verblüffung: „Da würden Sie sich aber Ärger mit meiner Frau einhandeln.“ „Aber … sagten Sie nicht gestern, Ihre Frau …?“ „Na ja, schon, nur … da müßte ich dann ihre über alles geliebten Blumen vom Balkon verbannen und Tabak dafür anbauen.“ 100
Sie kämen gerade richtig, empfängt Hellwig Oberleutnant Krüger und, nach kurzer Vorstellung, auch den Hauptmann. Und während er versichert, daß er eigentlich eben anrufen wollte, erinnert sich Krüger, daß er die gleiche Empfangsformel in Sachen Eggert schon einmal gehört hat. „Kommen Sie“, drängt Hellwig, deutet auf die querstehende Werkstatt, deren Tore weit offenstehen, „kommen Sie bloß mal mit!“ Er geht eilig vor ihnen her, als habe er Sorge, eine hübsch vorbereitete Überraschung doch noch zu verraten. Der Werkstatt ist freilich nicht anzusehen, welcherart diese Überraschung sein könnte, es sei denn, die so willkommenen Gäste sollten im Mach-mit-Wettbewerb etwas aufräumen helfen. Rings um einen Lkw, der über einer Montagegrube steht und sie motorlos angähnt, liegen zahllose Werkzeuge, ölgetränkte Holzklötze, Wagenheber, Winden. Zwischen den Vorderrädern des Lastwagens taucht ein Hut auf, dann nach und nach Arme, Oberkörper und Beine eines jungen Mannes, und alles zusammen ist der Autoschlosser Gutewort, zünftig in verschmierter Kombination. Von ihm hat man zu oft gesagt, er habe den sechsten Sinn für Motore, als daß er nun nicht selbst davon überzeugt ist. Wahr ist freilich, daß er sein Fach versteht. Während gewöhnliche Fahrer noch herumrätseln, was denn dem sonst so braven Motor heute nun fehle, er laufe doch so ulkig, irgend etwas rumpele doch da in seinem Inneren, und er ziehe, wie das in der Fachsprache heißt, nicht mehr das Hemd vom Arsch – Kollege Gutewort weiß nach einer halben Minute schweigsamen Hinhorchens die Fehlerquelle, nennt sie autoritär und geht, sich die kaum beschmutzten Hände an Putzwolle säubernd, aufrecht und gelassen davon. Und 101
irrt er sich doch einmal, erwischt man ihn beispielsweise an der Kupplungsdruckplatte, während er doch mit mildem Vorwurf die mangelhafte Schmierung des vierten Pleuellagers als Ursache der Fremdgeräusche bezeichnet hatte, dann pflegt er krötig zu behaupten, daß eben auch die Kupplung dringend der Überholung bedarf, sonst stände die Karre in drei Tagen erneut in der Werkstatt. Er irrt sich eben nie, der kleine König Gutewort. Die ihm gewöhnlich anhaftende verhaltene Würde ist für heute zum Teufel. „Hab’ noch mal da unten alles durchstöbert“, grollt er, spuckt aus, schielt mißbilligend den ihm natürlich bekannten Oberleutnant an, als sei der nicht so ganz unschuldig an seiner augenblicklichen Stimmung, und faßt das Ergebnis seines Stöberns zusammen: „Scheiße.“ „Um was geht es eigentlich?“ erkundigt sich Rodak gemütlich, während er Streichhölzer aus der Hosentasche zieht. Aber er sieht noch rechtzeitig eins der warnenden Schilder, die solchen Unfug wie Rauchen streng untersagen, und steckt sie wieder ein, obwohl er recht gut weiß, daß weder Kraftfahrer noch Schlosser sich von solchen Verboten beeindrucken lassen. „Eggert ist …“, beginnt Hellwig. „Mit meinem Geld!“ sagt Gutewort bedeutsam leise, und er nickt dazu wie ein Zirkuspferd, das zwei und zwei zusammenzählen soll. Dann besinnt er sich aber auf seine Wut und schleudert das Putzwolleknäuel dem Lkw in den offenen Rachen. „Sieht so aus“, bekennt Hellwig auf Rodaks kritischen Blick. Es klingt irgendwie enttäuscht, denn so etwas ist hier überhaupt noch nicht vorgekommen. Wo gab es denn so was, einen Kumpel beklauen! Es scheint aber auch eine leichte Befriedigung in Hellwigs Stimme zu 102
liegen, er nämlich hat nun ganz gewiß recht getan mit der Umbesetzung. „Sieht tatsächlich so aus“, wiederholt er. „Jedenfalls ist Eggert verschwunden – und der Kollege Gutewort vermißt das Geld aus seiner Brieftasche. Die steckte …“, er deutet auf einen Blechschrank ganz hinten in einer Ecke, dessen Türen ebenfalls weit offenstehen, „dort in seiner Lederjacke.“ Krüger und Rodak sehen sich kurz an, dann verlangt der Hauptmann etwas präzisere Angaben. „Seit wann vermissen Sie Ihr Geld?“ „Weiß der Teufel, wann dieser verdammte Hund meine Brieftasche geplündert hat. Jedenfalls habe ich es erst vor zehn Minuten gemerkt, als ich schnell mal Mittagessen fahren wollte.“ „Und woher“, erkundigt sich Rodak, diesmal bei Hellwig, „wissen Sie, daß Eggert verschwunden ist?“ In Hellwigs Gesicht steht geschrieben: Ist das eine merkwürdige, um nicht zu sagen, blöde Frage. „Weil er weg ist, ganz einfach.“ Ob er den Spitznamen des Dicken kennt, ist fraglich, aber er zieht merklich den Kopf ein, als ihn der Hauptmann stumm ansieht. „Ich hatte ihn, weil er nun doch bis Nachmittag Zeit hat, wie hier üblich, gefragt, ob er die Wartezeit in der Werkstatt überbrücken will; wird ja bezahlt. Begeistert war er wohl nicht, aber jedenfalls ist er vor meinen Augen in die Werkstatt marschiert.“ „War ja auch hier“, bestätigt Gutewort ungefragt. „Aber wie lange?“ Er hebt die Schultern. „Überschlagen hat er sich sowieso nicht, macht ja kaum einer.“ Damit will er zweifellos ausdrücken, daß selbst bei zugewiesener Hilfe die Last von Arbeit und Verantwortung weiter auf seinen Schultern ruht. Freilich verschweigt er, daß er 103
die Unlust seiner Kollegen meist kräftig fördert. Ergibt es sich, daß gerade die Bremsbeläge zu erneuern sind, so weist er die Hilfskraft leutselig an, schon immer die Räder abzumontieren, den Dreck von den Bremstrommeln abzukratzen und anschließend alles schön mit Waschbenzin zu säubern, worauf er dann persönlich den Fortgang der Arbeit übernimmt. „Meistens“, knurrt er halb abfällig und halb neidisch, „schwirren sie bald durch die Botanik oder spinnen den Büroweibern was vor.“ „Aha!“ macht Rodak, offenbar beeindruckt von soviel Freimut. „Und nun fehlt Ihnen also Geld – wieviel eigentlich?“ Jetzt muß das Zirkuspferdchen offenbar drei und drei zusammenrechnen. „Achthundertfünfzig Mark!“ sagt Gutewort stolz. Seht an, so viel Geld kann man mir klauen! „Achthundertfünfzig? Warum schleppen Sie so viel Geld mit sich herum?“ Der Vorwurf ist nicht zu überhören. „Ist das etwa verboten?“ Aber auch Gutewort kapituliert vor Rodaks Augen. „Na ja, ich wollte mir heute abend ein Maschinchen kaufen … eine elfhunderter ‚Indian‘, einmalige Gelegenheit, kommt nie wieder! ‚Indian‘, falls Ihnen das was sagt!“ Der erwartete blasse Neid bleibt aus. Dieser dicke Kripomensch mit dem kalten Zigarrenstummel sieht eher mitleidig aus und scheint angestrengt nachzudenken. Soll lieber sein Geld wieder ranschaffen! „Und niemand“, mischt sich Krüger ein, meint aber vorwiegend den Einsatzleiter, „weder Sie noch irgend jemand aus den Büros, hat Eggert den Autohof verlassen sehen?“ „Eben nicht“, sagt Hellwig achselzuckend. 104
„Und Sie?“ wendet sich Krüger an Gutewort, weil der Genosse Hauptmann vorübergehend jegliches Interesse verloren hat und den weiten, aber völlig leeren Autohof mustert. „Sie müssen doch wenigstens eine vage Ahnung haben, wann Sie Eggert zuletzt gesehen haben?“ „Wie denn? Sitzen Sie mal da“, er deutet mit dem Daumen hinter sich, „in der lausigen Grube, und bauen Sie am Getriebe! Und überhaupt, wenn ich erst mal in Gang bin, kenne ich nichts mehr, sehe bloß meine Arbeit! Außerdem …“ Er kratzt sich ausgiebig im Nacken, ehe er nachdenklich erklärt: „Zweimal war ich zwischendurch im Ersatzteillager, einmal war ich beim BGLler, wegen Ferienplätzen, na ja … also wenn ich so nachdenke, zwei Stunden mindestens habe ich den Kerl nicht mehr gesehen.“ Dazu nickt er, etwa eins und eins, seufzt und resümiert: „Na, jedenfalls ist der feine Herr weg, mein Geld mit ihm … und ich stehe da wie Irmgard Düren und die sieben Zwerge!“ Über diesen doch recht merkwürdigen Vergleich grient nur Hellwig, und im stillen schmunzelt er noch immer darüber, während Hauptmann Rodak ihn ersucht, alle Fahrer, die während der letzten zwei Stunden mit ihren Fahrzeugen das Gelände verlassen haben, zu fragen, ob sie Eggert vielleicht mitgenommen hätten. Denn das weiß ja nun jeder, Gutewort hat nicht nur den sechsten Sinn für Motore, er kann auch, wie man das so nennt, „Bolzen ’raushauen“. Nicht lärmend wie ein Kasper, diesen fröhlich sein sollenden Hokuspokus, sondern mehr oder weniger gelungene Blödeleien, die er gänzlich unverhofft anbringt. Allerdings weiß niemand, was der „kleine König“ Gutewort eigentlich lieber hört: Loblieder auf seine fach105
männischen Qualitäten oder die amüsierte Bewunderung eines seiner „Bolzen“, Aber diese seine Art kann er nun den ganzen Nachmittag strapazieren, während er Fragen neugieriger Kollegen beantwortet oder von sich aus sein Leid klagt. Und wie er das macht, immer gewürzt mit „Bolzen“, erntet er nicht nur Anteilnahme, mancher bewundert ihn ob der nonchalanten Kunst, den Verlust einer solchen Geldsumme zu verkraften. Natürlich sind es beim feierabendlichen Bier nicht mehr achthundertfünfzig, sondern tausend Mark; das spricht sich nicht nur besser aus, es hört sich auch respektabler an. Daß zu den Ehefrauen oder Ehemännern nur von aufgerundeten Zahlen gesprochen wird, rundet bloß die Charakterisierung dieses sauberen Kollegen Eggert ab: Wer klaut, der bringt auch kleine Kinder um.
106
8. Kapitel
Hauptmann Rodak ist kein Hellseher, er hält sich für einen ganz normalen Menschen, und als solcher schlägt er, nachdem alles Notwendige, nämlich die Aufenthaltsermittlung des Horst Eggert, veranlaßt ist, dem Genossen Oberleutnant vor, etwas für die Gesundheit zu tun, worunter er im Augenblick ein schmackhaftes Mittagessen versteht. Und während sie gemeinsam dem schon ziemlich leeren Speiseraum zustreben, steht, etwa siebzig Kilometer entfernt, ein junger, unscheinbarer Mann am Fenster eines anderen Speiseraumes und beschäftigt sich ebenfalls sehr mit einem Menschen namens Eggert. Dieser Eggert freilich ist erst ganze zehn Jahre alt, heißt Lutz und müßte eigentlich dort unten zwischen anderen Kindern auf der Wiese herumtoben, aber das tut er nicht. Heinz Bender, der unscheinbare Mann am Fenster, sieht eher nach einem ganz durchschnittlichen Bäckergesellen aus als nach einem Menschen, der so wichtige Dinge zu tun hat, wie andere Menschen zu erziehen. Er weiß das selbst, hin und wieder haben mitleidige oder abfällige Blicke ihm das zu verstehen gegeben, und mit jedem Neuankömmling ficht er eigentlich den gleichen, meist nur kurzen Kampf aus. Bender wartet noch einige Minuten in der Hoffnung, Lutz Eggert werde wieder auftauchen, vielleicht aus einer Senke des sehr weitläufigen Gartens, hinter einem Gebüsch oder einfach direkt unter ihm aus dem Tortunnel, dann verläßt er den Speiseraum und steigt etwas beunruhigt die ausgetretenen Holzstufen zum Erdgeschoß des 107
Kinderheimes hinunter. „Kinderheim“ steht draußen an der Toreinfahrt, in der Bender dann auftaucht, nachdem er den weiten gepflasterten Hof überquert hat, und sogar jetzt, in allmählich sehr begründeter Sorge, verspürt er den oft gedachten Wunsch, das Schild abzureißen und es durch ein anderes zu ersetzen, etwa mit dem Text: Notquartier für Kinder, deren Eltern unfähig sind. Das Heim ist ein ehemaliges Gut, das verrät schon die Gebäudeanordnung. Als es angelegt wurde, war die Stadt noch abseits, unterhalb des langgezogenen Hügels, den jetzt das breite Band der Umgehungsstraße irgendwie an die Großstadt fesselt. Es ist ein altes Gebäude, und selbst die Tatsache, daß man im ehemaligen Herrenhaus wohnt, lebt und arbeitet, hat eher etwas Tragikomisches als Erhebendes an sich. Bender sieht die Straße hinauf und hinunter und wendet sich sofort wieder ab. Er haßt diese Straße. Ein Kinderheim und eine Fernverkehrsstraße, das paßt nicht zusammen. Den Kindern, die hier ankommen, macht der Verkehr viel zu schaffen. Nicht der Lärm und schon gar nicht die Abgase, das sind Probleme, die sie nicht im geringsten belasten. Aber sie sind zu Hause ausgerissen, irgendwo in der Ferne das zu suchen, was ihnen zu Hause fehlte, Geborgenheit vielleicht, Verständnis oder auch Glück, und nun sind sie hier, unter einem Dach zwar, aber kaum mit dem Gefühl des Geborgenseins – und alle diese Autos brausen unentwegt vorbei in die Ferne. Er fragt noch die Küchenfrauen nach Lutz Eggert. Aber niemand hat gesehen, daß der Zehnjährige mitten im atemlosen Lauf entlang der Hecke, die den weiten Garten nicht unbedingt zuverlässig gegen die Außenwelt abschirmt, jäh stehengeblieben ist, ungläubig und doch mit 108
aufkeimender Hoffnung auf ein Stückchen Wunder. Lutz hat die leise Stimme, den verhaltenen Ruf, gehört und ist blitzschnell durch die gewaltsam geschaffene Lücke in der grünen Wand geschlüpft, mit vor Freude nassen Augen dem Mann in die Arme, den er selten verstanden, manchmal gehaßt hat und der ihm jetzt doch vorkommt wie der gute Zauberer im Wald der bösen Hexen. Heinz Bender bleibt nichts übrig, als das nun Notwendige zu veranlassen, er verständigt die Heimleitung, das zuständige Volkspolizeirevier und nicht zuletzt die Transportpolizei; Bahnhöfe waren seit eh und je Fallgruben für Flüchtlinge. Ganz zwangsläufig erreicht die Meldung bereits nach wenigen Minuten auch die Heimatbehörde, obwohl Bender nicht weiß, ob das in diesem besonderen Fall Sinn hat, beeinflussen kann er es ohnehin nicht. Aber der zehnjährige Bengel hatte gedroht, er werde sich umbringen, wenn er wieder nach Hause müßte. Das warf zwar ein sehr eigenartiges Licht auf dieses Zuhause, ganz wörtlich brauchte man die kindliche Drohung wohl auch nicht zu nehmen, wissen hingegen konnte man es nicht, und so war es auf jeden Fall angebracht, sie ernst zu nehmen. „Na, bitte!“ sagt Hauptmann Rodak so zufrieden, als sei die Meldung über die Flucht eines Zehnjährigen identisch mit einem Erfolg ihrer eingeleiteten Aufenthaltsermittlung, und nuckelt, dem Genossen Oberleutnant zublinzelnd, genußvoll an der Verdauungszigarre. „Sie meinen, unser Herr Eggert habe seine Hand im Spiel?“ Der Dicke wiegt zweifelnd den Kopf. „Spiel“, rügt er dann sanft, „ist für die mit Wahrscheinlichkeit entstandene Situation ein etwas leichtfertiger Ausdruck. Flüchtige 109
muß man oft mit Gewalt zur Einsicht bekehren, und ein Kind kompliziert die Sache nur – allerdings vereinfacht es sie zugleich, zumindest die Aufenthaltsermittlung an sich. Mann mit Kind ist auffälliger.“ „Einen Zufall, eine gewisse Duplizität, schließen Sie also aus?“ fragt Oberleutnant Krüger zurückhaltend. An die hin und wieder aufflackernde Belehrungssucht des Hauptmanns würde er sich wohl nie gewöhnen. „ ‚Wahrheit ist, was übrigbleibt, wenn man alles Unmögliche ausscheidet‘, soll der weise Sherlock Holmes gesagt haben – und nur Narren können dem widersprechen“, gibt Rodak gemütlich zurück. „Ist es, auf unser Problem angewandt, unmöglich, in der zur Verfügung stehenden Zeit von hier nach H. zu kommen? Ganz gewiß nicht, selbst wenn keine vernünftige Zugverbindung bestände – was Sie bitte gleich nachprüfen wollen –, bleiben noch genügend Möglichkeiten übrig, deren wahrscheinlichste der ‚Anhalter‘ ist. Eggert ist noch in Uniform, nehme ich an, und Kraftfahrer mögen ein eigenwilliges Völkchen sein – daß sie einen der ‚Ihren‘ am Straßenrand stehen und winken lassen, ist mehr als unwahrscheinlich. Benachrichtigen Sie die Genossen in H.!“ Als Krüger nach einer Viertelstunde zurückkommt, sitzt der Hauptmann noch immer auf seinem Platz, die Zigarre freilich ist erloschen. Ein bißchen anzüglich sagt der Oberleutnant, während er über die bequem ausgestreckten Beine des Hauptmanns steigen muß: „Das haben wir nun davon.“ „Was? Wovon?“ „Na ja“, lenkt Krüger ein. „Flucht ist im allgemeinen als Schuldeingeständnis zu werten.“ Rodak zerquetscht seinen Zigarrenrest im Aschenbecher. „Im allgemeinen mag das stimmen. Aber im beson110
deren? Abgesehen davon, daß jeder Fall für mich ein besonderer ist – wenn dieser Mensch tatsächlich seinen Jungen und keinen anderen aufsucht, dann …“ Er springt erstaunlich elastisch auf und beginnt, die Hände in die Hosentaschen gestopft, seinen Marsch vom Fenster zur Tür und immer hin und her. „Sie meinten doch vorhin, daß wir Eggert nicht suchen müßten, wenn wir ihn gleich festgenommen hätten, nicht?“ erkundigt er sich schließlich, ohne allerdings eine Antwort abzuwarten. „Dem kann man schwerlich widersprechen, nur, allein aus Nächstenliebe oder Schwachsinn ist das ja nicht geschehen. Eine Ehe zerbricht fast immer, weil ein Dritter dazwischentritt, wobei freilich erst die Ursache zu ergründen wäre, warum ein Dritter plötzlich Chancen hat.“ „Wenn ich recht verstehe“, wirft Krüger in seiner korrekten Art ein, „so sollte uns Eggert zu dieser Dritten führen?“ „Genau! Nur bezweifle ich noch, daß es überhaupt eine Dritte gibt. Ein Mensch in Not, gleich ob er nun schuldig oder unschuldig ist, sucht irgendwo Halt, Schutz. Nichts wäre natürlicher, als daß Eggert bei einer anderen Frau danach gesucht hätte – er aber geht zu seinem Jungen.“ „Das ist durch nichts bewiesen.“ „Aber wahrscheinlich.“ „Mit Geld aus fremden Taschen“, versetzt Krüger ironisch. Der Hauptmann hustet erst unwillig, leistet sich dann die Revanche. „Das ist durch nichts bewiesen. Was, glauben Sie, passiert, wenn gut ein Dutzend Kollegen schön vereint beim Frühstück sitzen, und einer behauptet in das leise Gemurmel hinein plötzlich aufgebracht, ihm sei die Brieftasche aus dem Spind gestohlen worden – und einer von ihnen ist, und sei es auch schon Jahre her, 111
wegen solcher Delikte vorbestraft?“ „Nun ja“, gibt Krüger unbehaglich zu. „Na also! Man wird ihn wie auf Kommando anstieren, dann schnell wegsehen und harmlos weiterkauen. Nur – der Betreffende hat sehr wohl verstanden und reagiert entsprechend.“ „Rückfalltäter sind leider noch immer unsere Sorgenkinder. Ein gewisses, meinetwegen instinktives Mißtrauen darf man den Kollegen durchaus nicht verübeln.“ „Nur muß man das nicht zeigen. Mißtrauen kann ebenso verheerend wirken wie naives Vertrauen … aber lassen wir das jetzt!“ Krüger erhebt sich erleichtert, ordnet mit wenigen Handgriffen die Gegenstände auf dem Schreibtisch, während sich der Hauptmann eine neue Zigarre anzündet. „Was schlagen Sie als nächsten Schritt vor?“ Rodak blinzelt spöttisch über soviel Förmlichkeit. „Schreiten wir“, sagt er betont geschraubt, „zu Herrn Eggerts Behausung, um sie der dringend notwendigen zweiten Durchsuchung zu unterziehen.“ Der Abschnittsbevollmächtigte empfängt sie in der offenen Haustür ohne sonderliche Hast, und auch Rodaks Frage, ob er sich schon etwas umgesehen habe, bringt ihn nicht aus der gewohnten Ruhe, selbst wenn die Frage ein Genosse Hauptmann mit dem leichten Vorwurf stellt, der etwa heißen könnte: Du sitzt zwei Stunden hier im Haus, und da müßte es eigentlich etwas von Wert zu berichten geben. „Ich hielt es für besser, nichts zu verändern“, gesteht Heinz Schladitz und leistet sich ein feines Lächeln; hier ist schließlich kein Tatort. Hinzu kommt, daß er gar nicht weiß, wonach er besonders hätte suchen sollen. 112
„Auch gut.“ Während er die wenigen Schritte bis zu der offenstehenden Wohnzimmertür geht, brummelt Rodak gemütlich: „Wer nichts macht, macht wenigstens nichts verkehrt.“ Oberleutnant Krüger möchte dem eigentlich sofort widersprechen, aber erstens kann der Hauptmann unmöglich ernsthaft eine solche These vertreten, und zweitens hat er allmählich genügend Erfahrung im Umgang mit ihm. Das war eine der vom Genossen Hauptmann anscheinend geliebten kleinen Fallen, eine Provokation. Das Zimmer ist nicht nur überraschend groß, auch die Einrichtung weicht von der üblichen Norm ab. Hier ist nichts von dem allgemeinen Schematismus, wonach eine Couch an die Wand, Sessel in eine sogenannte Sesselecke gehören, dieser gegenüber der obligatorische Fernseher, Tisch und hochlehnige Stühle in die Mitte und darüber, Blick- und Staubfang, ein mehrarmiger Leuchter. Dieses Zimmer hier, dessen Größe sich dadurch erklärte, daß Eggert eine Zwischenwand herausgenommen und sie durch eine schlanke Säule ersetzt hat, offenbarte einen bemerkenswerten Sinn für Eigenwilligkeit, wenn es auch wiederum ein anderes Klischee darstellte. Es ähnelte bei näherer Betrachtung doch sehr jenen großflächigen Räumen, wie sie vornehmlich in Fernsehspielen als Muster eines gewissen Wohlstandes angeboten werden. „Ganz gemütlich“, nuschelt Rodak. „Nur ein bißchen unordentlich, wie?“ Krüger, noch immer reserviert, erinnert daran, daß Frau Eggert gerade in puncto Ordnung ziemlich großzügig gewesen sein soll. Der Hauptmann antwortet nicht darauf. Er nimmt mit spitzen Fingern ein Kleidungsstück von einem Sessel, schiebt eine gefährlich an der Tischkante stehende Kaffeekanne zur Tischmitte, bleibt vor 113
einem erstaunlich gutgefüllten Bücherregal stehen, nickt, selbst leidenschaftlicher Leser, anerkennend den bunten Bücherrücken zu und sagt, als hätte man bis jetzt mit geschlossenen Augen vor sich hin geträumt: „Seilen wir uns also um!“ Man hat sich natürlich auf der Fahrt besprochen, man weiß, wonach man hauptsächlich suchen will, und so dauert es nicht lange, bis sich auf dem Tisch ein ansehnlicher Berg Medikamente türmt, aus dem eine blaue Kaffeekanne ragt. Den letzten Rest bringt Oberleutnant Krüger aus der Küche. Er läßt Fläschchen, Tuben, Röhrchen vorsichtig auf die Tischplatte kullern. „In dieser Familie hat man offenbar noch nichts davon gehört, daß Arzneimittel unter Verschluß aufzubewahren sind.“ Denn wahr ist, daß man eigentlich in jedem Schubkasten und Schrankfach „fündig“ geworden ist. Medikamente fanden sich zwischen Zahnputzzeug und Kosmetika, zwischen Tee und Nudelsuppen, in Nachtschränkchen und im Küchenschrank. Zum überwiegenden Teil sind es überlagerte, völlig wertlos gewordene Medikamente. Hauptmann Rodak betrachtet sich nachdenklich diese Ansammlung. Er sortiert, legt angerissene Packungen von Fieber- und Schmerztabletten auf ein Häufchen, liest auf einem Fläschchen die Zusammensetzung, studiert unendlich lange und zungenbrecherische Wortbandwürmer, kommt aber immer wieder auf ein bestimmtes Röhrchen zurück. Das ist zwar leer, es enthielt aber, wie der rotweiße Aufdruck versichert, Tabletten gegen Schmerzen aller Art, made in Bulgaria. Anscheinend noch immer in Gedanken, zieht er aus der Brusttasche einen flüchtig gefalteten Plastikbeutel, öffnet ihn und beginnt den ganzen Fund geräuschvoll einzusammeln. „Sind Sie eigentlich noch zu sprechen?“ 114
Oberleutnant Krüger antwortet nicht. Er steht vor der Bücherwand und liest. Eigentlich hat er nur in seiner Ordnungsliebe ein Buch in Reih und Glied zurückstellen wollen, das liederlich quer obenauf gelegen hatte. „Wird Sie interessieren.“ Krüger tritt an den Tisch und legt das Buch, in dem als Lesezeichen ein Stückchen Zeitungspapier steckt, dem Genossen Hauptmann vor. „Nach Feierabend“, nörgelt Rodak vor sich hin und klappt den Leinenband zu. Er wirft einen raschen Blick auf den Titel. „Hoppla!“ „Nicht wahr?“ Dieses Buch steht freilich auch bei ihm zu Hause, es war vor einiger Zeit im Handel erhältlich – hier jedoch muß ein Buch mit dem Titel „Die Sprache der Toten“ stutzig machen. „Schlagen Sie mal auf!“ Die Seiten fallen dort wieder auseinander, wo das Lesezeichen eingelegt ist. Und Hauptmann Rodak sagt wiederum: „Hoppla!“ Denn das ist nun doch äußerst interessant, um nicht zu sagen verdächtig. Das aufgeschlagene Kapitel behandelt den Tod durch Ertrinken; es analysiert, stellt Beweise auf, widerlegt naive Meinungen, zeigt die Bedeutung der Gerichtsmedizin. „Auch als Lehrbuch zu verwenden“, sagt Oberleutnant Krüger. Rodak widerspricht energisch: „Dann wäre Eggert ein ausgemachter Trottel! Gerade diese Lektüre müßte ihm gezeigt haben, wie gering seine Chancen sind. Nein, nein …“ Er unterbricht sich, der Fetzen Zeitungspapier weckt plötzlich seine ganze Aufmerksamkeit. „Er hat erst gestern darin gelesen!“ Der Hauptmann klopft mit dem Zeigefinger bedeutungsvoll auf das Stückchen Zeitung, das noch das gestrige Datum erkennen läßt. 115
„Das hieße ja …“ „Vorerst nichts weiter mit Sicherheit, als daß Eggert tatsächlich vom Tod seiner Frau wußte.“ Hauptmann Rodak hat sich erhoben und lächelt Krüger etwas unglücklich an. „Leider aber beweist das Stückchen Papier da auch, daß Eggert um die Todesart wußte – und wir hatten ihm doch gar nicht gesagt, woran seine Frau gestorben ist, wie? Da wir weiter wissen, daß er nach Verlassen der Dienststelle mit niemandem Kontakt aufnahm …“ Oberleutnant Krüger könnte nun erneut den immer gewichtiger werdenden Vorwurf anbringen, daß eine vorläufige Festnahme Eggerts einige Pannen verhindert hätte. Diesmal unterläßt er es aber und wirft statt dessen die Frage hin: „Vielleicht war er doch heute noch hier, wenn ihn auch niemand gesehen haben will?“ „Um hier drin zu lesen?“ Der Hauptmann dreht das Buch unschlüssig hin und her. Er blättert in den ersten, dann in den letzten Seiten. „Höchstens drei Jahre alt, das Buch – und dafür ganz schön dreckig und zerlesen, wie?“ „Wahrscheinlich ist es Eggerts Lieblingslektüre?“ „Oder ihre.“ Rodak steckt das Buch mit einiger Mühe in seine Brusttasche, sammelt auch noch den Rest der Medikamente in den Plastikbeutel und erläutert, den prallen Beutel hochhaltend, in seiner burschikosen Art: „Wie ich unseren Oberchemiker kenne, wird der sich mit einem fröhlichen Jauchzer darüberstürzen. Vorausgesetzt freilich, er hat beim gestrigen Kegelabend nicht zuwenig Holz geschmissen.“ Dann sieht er sich prüfend um, brubbelt: „Das wär’s erst einmal. Sehen wir uns draußen noch kurz um.“ Draußen, im gepflasterten Hof, steht Unterleutnant Schladitz breitbeinig vor zwei weit offenen Stalltüren, scheint abwechselnd in jeden Raum zu blicken, reibt sich 116
mit einer Hand das Kinn, während die andere Hand die umgehängte Kartentasche rhythmisch auf dem Gesäß auf und nieder wippen läßt. „Ist etwas?“ erkundigt sich Oberleutnant Krüger. Er kennt den Freund lange genug, und er wundert sich auch nicht, daß Schladitz nicht sofort antwortet. Auch Hauptmann Rodak scheint die Eigenarten anderer Leute zu respektieren. Er schiebt sich an dem ABV vorbei und schlendert in einen Raum, den schon der Benzingeruch als eine Art Garage oder Werkstatt charakterisiert. Und daß der weißgekalkte Stall Eggerts Reich war, bewies eindeutig die darin herrschende Ordnung. In offenen Schränken hingen Werkzeuge säuberlich der Größe nach, Schraubenkästen standen in Reih und Glied, Ersatzteile für das Motorrad standen, lagen oder hingen übersichtlich dort, je nach Abmessungen und Verwendungsfähigkeit. „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“, murmelt Rodak als Abschluß seiner Gedanken, wendet sich ruckartig zu Schladitz um und fragt fast barsch: „Nun?“ „Ich habe da so eine leise Ahnung“, sagt Schladitz bedächtig, und noch immer wippt die Tasche auf und nieder. Hauptmann Rodak blinzelt leicht nervös; wahrscheinlich ist ihm das etwas zuviel Ruhe und Bedächtigkeit. „Ahnen Sie wenigstens laut“, mahnt er dennoch freundlich. Schladitz beginnt umständlich zu erklären, daß er Frau Eggert häufig getroffen habe, auch dienstliche Besuche mußte er hin und wieder abstatten, meist wegen des Jungen, der ein rechter Rüpel ist. „Aber“, und nun kommt er endlich zum eigentlichen Thema, „ich sehe hier nur ein Kinderfahrrad.“ 117
Oberleutnant Krüger erinnert sich sofort an den cholerischen Betriebsleiter, sieht ihn in Gedanken vor leeren Plätzen eines Fahrradständers stehen und sagt sachlich: „Demnach fehlt ihr Fahrrad.“ Im ersten Moment scheint für Hauptmann Rodak daran nichts Aufregendes zu sein. Er brummt sein „Mhm“, schielt auf das Kinderfahrrad und rekapituliert mehr aus Gewohnheit: „Hier steht es nicht, am Teich ist es auch nicht gefunden worden, Eggert selbst ist heute morgen frisch zu Fuß marschiert … Moment!“ Diesmal ist wohl doch ein bißchen Triumph in Krügers Stimme, als er die Aufzählung mit dem wesentlichen Detail beendet: „Und Eggert hat heute morgen, und das trotz Verspätung, keinerlei Anstalten gemacht, sich des Fahrrades seiner Frau zu bedienen!“ „Weil er wußte, daß es gar nicht da war“, sagt Hauptmann Rodak trocken und seufzt: „Allmählich wird es etwas viel, wie? Vielleicht haben Sie das Gelände auch nicht gründlich genug absuchen lassen?“ Krüger lächelt verhalten ironisch. „Wir können es ja nochmals tun.“ „Ich glaube“, mischt sich Unterleutnant Schladitz bedächtig ein, „eine solche aufwendige Aktion wird überflüssig sein.“ Er knöpft die linke Brusttasche auf, zieht sein Notizbuch heraus, verschließt, was der Hauptmann mit komischverzweifeltem Blinzeln beobachtet, den Knopf der Brusttasche wieder gewissenhaft: und blättert erst dann, häufig den Finger benetzend, in seinem Büchlein. „Wahrscheinlich steht es seit gestern morgen bei uns hinter Schloß und Riegel“, erklärt er dann und reicht dem Hauptmann das aufgeschlagene Büchlein, vorsorglich auf die am gestrigen Morgen notierte Fahrradnummer tippend. 118
„Gott erhalte Ihnen Ihre Arschruhe!“ krächzt Hauptmann Rodak unfromm. Eine halbe Stunde später winkt der Hauptmann nur mürrisch ab, als Schladitz ein grünes Damenfahrrad aus dem Kombiwagen nimmt und dabei erklärt, daß sich die Kollegen des Handelstransportes ziemlich einig seien, es handele sich tatsächlich um Christine Eggerts Fahrrad. „Kollege Günter will es sogar beschwören“, fährt der Unterleutnant dennoch fort, nur wendet er sich diesmal an Krüger, der neben Rodak auf dem Hof des VPKreisamtes steht. „Er habe es, wenn kein Fahrzeug zur Verfügung stand, häufig benutzt. Mit Frau Eggerts Erlaubnis selbstverständlich.“ „Günter? Günter?“ brubbelt der Hauptmann vor sich hin. „Der heimliche Verehrer“, hilft Oberleutnant Krüger nach. „Sie erinnern sich?“ „Müssen wir uns auch noch näher betrachten.“ „Gewiß“, stimmt Krüger zu, „aber sein Alibi ist halbwegs in Ordnung. Seine Mutter bestätigte, daß er vorgestern bis weit nach dreiundzwanzig Uhr ferngesehen habe.“ Hauptmann Rodak findet zur Zeit an allem etwas auszusetzen. „Mütter“, sagt er ohne rechten Schwung, „stellen sich meist schützend vor ihre Kinder, das liegt in der Natur der Sache.“ Während er schon zum Wartburg geht, bestimmt er, auf der Fahrt zum Teich bei Frau Günter Zwischenstation zu machen. Im Wagen dann, als stachele die Diensteifrigkeit des Zweitaktmotors den eigenen Fleiß an, ist der Hauptmann insofern wieder ganz der alte, als er zum Thema Fernsehen und Alibi seine Gedanken ausplaudert. „Feine Sache, dieses Fernsehen, gewiß, nur … für unsere spezielle Arbeit 119
nicht unbedingt ein Gewinn. Am Fernseher gesessen, das ist heute so natürlich wie Abendbrot oder Beischlaf. Aber bei diesen häufigen Wiederholungen – natürlich auf vielfachen Wunsch einer alleinstehenden Dame – kann man sich in der Programmzeitung den bequemsten Tag für einen kleinen ‚Bruch‘ oder ähnliche Missetaten aussuchen. Kommt man dann doch in Verdacht, erzählt man frisch und frei den ganzen Film.“ „Was wir aber nicht unbedingt als lautere Wahrheit abkaufen müssen“, widerspricht Krüger, während er einen entgegenkommenden Milchtankwagen passieren läßt, um dann scharf links in eine schmale Gasse einzubiegen und vor einem schmalbrüstigen Haus zu stoppen. An diesem Haus ist alles schmalbrüstig, Fenster, Türen, Flur und Treppe. „Sollte man abreißen“, murrt Rodak im Halbdunkel des Hausflurs vor sich hin. „Kommt bestimmt“, versichert der Oberleutnant und klopft vernehmlich an eine niedrige Tür. Der Hauptmann schnuppert ungeniert; es riecht nach alter Farbe, nach Kartoffelkeller, und dazwischen mischen sich die „Düfte“ einer leerungsbedürftigen Außentoilette. „Ich bin oben!“ Eine harte Frauenstimme läßt die beiden Männer die Köpfe zur Treppe wenden. Hauptmann Rodak kann gegen den merklich helleren oberen Flur nicht viel mehr erkennen als eine hochaufgerichtete Gestalt, die erst dann zögernd Platz macht, als er fast die letzte Stufe erreicht hat. Überrascht registriert er zunächst, daß dieses Haus zwei Zeitabschnitte in sich vereinigt. Die untere Hälfte dokumentierte eindringlich, wieviel Komfort Kaiser und Könige den ärmeren Volksschichten zubilligten. Das obere Stockwerk indessen ist freundlich und im 120
Geschmack der heutigen Zeit eingerichtet. Zwar ist die Decke niedrig, aber hell getönt. Moderne Sprelacarttüren und eine ungewöhnlich elegante Flurgarderobe fallen auf, und sogar der Fußboden des Flures ist mit Spannteppich ausgelegt. Zufriedenstellend findet der Hauptmann auch den Geruch, es dominiert eindeutig Bohnerwachs. In dieser Helle entpuppt sich die Frau als eine herbe und auffallend rüstige Sechzigerin. Ihre Haare verraten die Strenge des Charakters, sie sind völlig glatt: gescheitelt, zu einem allerdings nur dürftigen Knoten im Nacken vereinigt, kein Löckchen, keine widerspenstige Strähne zerstört oder lockert diese Strenge. Wie ihr Haar preßt sie alles unter ihren Willen, auch den immerhin schon vierzigjährigen Sohn. Auch sie hat ihre Besucher gemustert, kühl und kurz. Den dicklichen Hauptmann vielleicht eine Spur neugieriger, den Oberleutnant eher mißbilligend. Nun deutet sie auf eine Tür, die eigentlich ins Nichts führen müßte, weil sie scheinbar sinnlos in der hinteren Außenwand angeordnet ist, aber sie führt in einen langgestreckten Raum mit halbschrägen Wänden. Oberleutnant Krüger, der durch das Verhalten der Frau irgendwie im Windschatten des Hauptmanns segelt, registriert mit: feinem Lächeln, daß Rodak sich wieder die Brust kratzt, untrügliches Zeichen, daß den Hauptmann etwas stark beschäftigt. Rodak ist freilich weniger darüber verblüfft, daß die Tür nun doch nicht ins Nichts führt – man hat einfach irgendwann den Boden des rechtwinklig an das Wohnhaus angebauten Stalls ausgebaut –, als über die Einrichtung. Das ganze Zimmer, von einer Ecke am Giebelfenster abgesehen, ist eine Gedenkstätte, und es ist auch nicht 121
schwer zu erraten, wem dieses andauernde Gedenken gilt. Über einem künstlichen Rosenstrauß hängt das Bild eines Mannes, ihres Mannes. Er war, wie so viele damals, in Soldatenuniform verkleidet; rechts unten ziert den versilberten Rahmen ein verstaubter Trauerflor. „Ich sitze gern hier oben“, sagt die Frau unvermittelt, und auch bei diesem Bekenntnis ist ihre Sprache nicht die kleinste Spur weicher; fast noch härter jedoch wirkt sie bei der anschließenden Feststellung: „Mein Sohn ist ein anständiger Mensch! Das habe ich Ihnen gestern schon gesagt!“ Da dies ohne Zweifel Oberleutnant Krüger gilt, schlendert Hauptmann Rodak, während Krüger in gewohnter Korrektheit versichert, daß auch niemand das Gegenteil habe verlauten lassen, zum Giebelfenster, um an einer Art Arbeitstisch stehenzubleiben. Der Frau entgeht in diesem Hause nichts. Noch ehe Rodak die feinen Werkzeuge, Rädchen, Schrauben und Federn eindeutig als Uhrmachergerätschaften klassifizieren kann, einige Sekunden hatte er auf Spielzeugeisenbahnen getippt, sagt sie: „Mein Mann hat früher häufig Uhren repariert!“, um im gleichen Atemzug Krüger zu fragen: „Warum kommen Sie schon wieder?“ Der Oberleutnant sieht sich hilfesuchend nach dem Genossen um, aber der Hauptmann hat plötzlich ein großes Fernglas vor den Augen und schaut damit durch das Fenster. „Ja …“, beginnt er verlegen. Was, zum Teufel, soll er eigentlich als Grund angeben? Er rettet sich vorerst in die belanglose Frage: „Sie sagten, Sie saßen vorgestern bis dreiundzwanzig Uhr am Fernsehgerät …“ „Habe ich nicht gesagt“, unterbricht ihn Frau Günter sofort. „Ich gehe abends pünktlich acht Uhr zu Bett!“ 122
„Ja, aber …?“ Wieder wandert ein hilfesuchender Blick zum Hauptmann, aber der ist noch immer mit dem Fernglas beschäftigt. Er fixiert offenbar einen bestimmten Punkt. „Mein Sohn hat bis kurz nach dreiundzwanzig Uhr ferngesehen!“ „Aber woher wissen Sie dann …“ „Ich höre den Apparat“, sagt die Frau kurz, und jetzt endlich wendet sich Rodak um. Sein schwaches Nicken zu dieser Auskunft bedeutet ein ironisches „Na, bitte!“ Denn das ist ja nun klar, ein Alibi von Wert hat der Herr Günter nicht, wobei allerdings die Frage blieb, ob er überhaupt eins nötig hatte. „Ein vorzügliches Glas“, lobt der Hauptmann. „Wollen Sie mal sehen?“ Er hält Krüger das Fernglas entgegen, und die Frage klingt sehr wie ein dringlicher Wunsch, ein Befehl, dem zu folgen man nicht umhin kann. „Das war noch Qualität!“ versetzt Frau Günter steif, aber es klingt ein konservierter Stolz mit. Sie gehört, davon ist Hauptmann Rodak restlos überzeugt, zu jenen Menschen, für die nur die Vergangenheit lebenswert war und die dann auch irgendwo in dieser Vergangenheit stehengeblieben sind. Er hat natürlich die oberflächlich abgefeilte Registriernummer am Glas entdeckt und die schwachen Umrisse des Hoheitsadlers, also ehemaliges Eigentum der Wehrmacht. Das war eben Qualität, vielleicht nur, weil der Herr Ehemann es behauptet hatte, und darauf schwor man mit albernem Stolz, obwohl man ein Fernglas neuerer oder neuester Produktion niemals in der Hand gehabt hatte. „Und sehr gut gepflegt, kein Stäubchen dran!“ lobt nun auch Oberleutnant Krüger mit sonderbarer Betonung, während er das Glas sanft auf den Werktisch stellt. 123
Er blickt nochmals zum Fenster hinaus, jetzt ist der schilfumrandete Teich, den man so überraschend von hier aus zu sehen bekommen hat, wieder in geziemende Entfernung gerückt. Durch die raffiniert ‚angeordneten Linsen eines Glases, dessen Qualität so hinterlistig betont wurde, war er zum Greifen nahe gewesen, auch einige Frauen, die in einem der Gärten Erdbeeren pflücken. „Es hat mich sehr gefreut, Sie kennengelernt zu haben“, verabschiedet sich Hauptmann Rodak ebenso überraschend wie nichtssagend konventionell. Die Frau bleibt auch bei dieser Floskel aus der Vergangenheit beherrscht; wahrscheinlich ist sie voll überzeugt, daß es eine Freude und Ehre zugleich ist, einen Menschen wie sie ansprechen zu dürfen. Es hat sich für uns gelohnt, korrigiert Oberleutnant Krüger in Gedanken, während er flüchtig die kalte Hand einer kalten Frau drückt. Eine Stunde später ist dieser Lohn einkassiert, von Freude freilich kann Oberleutnant Krüger nur bedingt sprechen. Er beschließt sogar, während er den Wartburg in Richtung Teich lenkt, den Genossen Hauptmann nur noch im äußersten Notfall anzureden und eine Erkenntnis als unumstößlich zu nehmen – „BB“ war doch ein Volltreffer. Die Befragung des Kollegen Günter hatte ergeben, daß er hin und wieder Eggert beobachten konnte. Anfangs, was man getrost glauben durfte, aus reinem Zufall, später dann aber gezielt. Es habe ihn empört, daß Eggert, meist abends, zu dieser nicht gerade im besten Ruf stehenden Gerda Fenner gegangen sei. Günters Empörung war Eifersucht, weiter nichts. Und seine betont bedeutungsvolle Bemerkung, die beiden seien meist im stillen Kämmerlein, einer Gartenlaube, verschwunden, durfte man getrost hinnehmen. 124
Schlimmer war schon der nüchterne Vorwurf Rodaks, er, Krüger, hätte sofort stutzen, ja einhaken müssen, als Günter vor zwei Tagen Eggert als Täter bezeichnet hatte. Eben wegen der Tatsache, daß Christine Eggert am Teich gefunden worden war. Beinahe kränkend war allerdings der Vorwurf, er hätte sich zumindest etwas dabei denken müssen. Ja, und dann war er explodiert, der Dicke. Er hatte sogar seine erst zu einem Viertel aufgerauchte Zigarre von sich geschleudert. Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß Gerda Fenner nicht nur früher Schaffnerin gewesen war, ehe Schaffnerinnen durch die Einführung der Selbstkassierung aus der Mode kamen – sie war auch lange Zeit mit Eggert auf einem Bus gefahren. Und das bißchen, so hatte der Hauptmann bitterböse geknurrt, das bißchen und das dabei doch verflucht wichtige Detail hätte er, Oberleutnant Krüger, seit vielen Jahre hier ortsansässig und mit der halben Stadt auf du und du, längst wissen müssen. Man hätte sich einen Haufen Fragerei, Sucherei und überhaupt diese Pleite ersparen können. Denn wenn der Herr Günter auch bestreite, Frau Eggert gegenüber Andeutungen über die abendlichen Ausflüge ihres Mannes gemacht zu haben, so sei das erstens nicht nur Schwindel, sondern zweitens höchstwahrscheinlich der Grund dafür, warum Frau Eggert überhaupt zum Teich gegangen war. Oder richtiger: gefahren war. Während der Wartburg wiegend die Holperstraße passiert, sitzt Hauptmann Rodak scheinbar in sich versunken und pafft längst wieder friedlich vor sich hin. Er weiß natürlich, daß er etwas heftig war, und nun wendet er sich, versöhnlich blinzelnd, an Oberleutnant Krüger. „Das geht: einem häufig so“, bekennt er, „am ersten Tag, in den ersten Stunden nach Entdeckung einer so 125
scheußlichen Sache, daß man zuviel zu verarbeiten hat, Dinge überschneiden sich, man möchte hier und dort zugleich sein.“ Krüger, ganz pflichtbewußter Fahrzeuglenker, sieht starr geradeaus. „Dieser Günter ist seltsam. Anstatt nun endlich gegen die Frau Mama aufzumucken und sich ein Weib zu nehmen, wenn ihm schon so sehr danach ist, mischt er sich in eine Ehe ein. Gewiß, die Methode, die er da versucht hat, ist uralt, der Erfolg hingegen höchst fraglich. Christine Eggert sollte natürlich ihren Mann verabscheuen, sollte ihn verlassen, ihn hassen statt lieben – und sich ihm zuwenden. Der große, aufrichtige Tröster! Ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle.“ „Immerhin hatte er doch erreicht, daß sie sich von der angeblichen Untreue ihres Mannes überzeugen wollte!“ „Wer täte das nicht?“ Rodak hebt die Schultern. „Da sie nun tot, Eggert hingegen flüchtig ist“, zieht Krüger ein vorläufiges Fazit, „muß man allmählich annehmen, daß sie ihn wohl wirklich überrascht hat.“ „Ich weiß nicht recht – es sind keinerlei Abwehrverletzungen entdeckt worden. Sie wird sich doch nicht in aller Seelenruhe haben umbringen lassen. Und außerdem: Wie passen die verdammten Schlaftabletten dazu?“ Oberleutnant Krüger weiß ohnehin keine befriedigende Antwort auf diese immer wiederkehrende Frage, und er muß sich nun auch sehr auf den schmalen Weg konzentrieren, zumal vor ihm jemand seinen Moskwitsch mitten in der einzigen Fahrspur abgestellt hat. Während der Wartburg schaukelnd auf die angrenzende Wiese ausweicht, hat sich der Hauptmann aufgerichtet und festgestellt, daß der Wagen ohne Zweifel vom Bezirk sei. 126
„Fahren Sie mal ’rum!“ verlangt er nach einem prüfenden Blick; die dichte Schilfwand versperrt die Sicht auf den Teich. Kaum aber kann er den Bootsliegeplatz sehen, brummelt er: „Ach nee – mein Freund, der Oberchemiker!“ Vor dem Boot kniet ein bebrillter Herr, der nur unwillig aufsieht und ungerührt weiter einen Beutel verschnürt. Neben ihm steht ein junger Wachtmeister, der zwar das Boot bewacht, nun aber wirkt es so, als bewache er den Mann im hellen Sportanzug zu seinen Füßen. Der „Oberchemiker“ nimmt die auffallend herzliche Begrüßung des Hauptmanns kaum zur Kenntnis, brummt nur mit überraschend kräftigem Baß: „Gleich“ und beginnt ein Taschenmesser sorgfältig von irgendwelchen schwarzen Resten zu säubern. Die kurze Pause nutzt der Wachtmeister, um Krüger zu melden, daß er instruktionsgemäß gelegentliche Passanten darauf angesprochen habe, ob sie zufällig in der fraglichen Nacht auch hier vorbeigekommen wären und irgend etwas von Wert beobachtet hätten, jedoch ohne den geringsten Erfolg. Der Oberleutnant nickt nur; ihn wundert das nicht. Hierher verirrten sich nachts höchstens heimliche Liebespärchen. Inzwischen hat sich Dr. Walters erhoben, säubert sich mit der linken Hand flüchtig die Knie und begrüßt mit der rechten die beiden Genossen. „Wollte heute sowieso noch zu dir“, erklärt Rodak. Dr. Walters deutet irgendwo hinter sich ins Schilf. „Deinen Beutel habe ich schon im Wagen.“ „Na, fein! Du mußt mir unbedingt …“ „Weiß schon“, unterbricht der Chemiker, „steht ja alles in deiner ungemein leserlichen Handschrift dabei 127
– solche Klaue wie deine steht nur Ärzten zu.“ „Und Chemikern“, ergänzt Rodak ironisch. „Und Chemikern“, wiederholt Dr. Walters völlig ernst, deutet flüchtig auf sein Handgepäck und sagt ohne Übergang: „In der Schürfwunde, du erinnerst dich, am Oberschenkel der Toten, fand sich ein Splitter. Holz, um genau zu sein. Könnte hier vom Boot stammen, kriege ich ’raus. Könnte aber auch anderen Ursprungs sein, denn wie die Tote lag, dürfte sie sich schwerlich hier verletzt haben.“ Dann rückt er an seiner Brille und widerspricht sich selbst: „Wird aber wohl doch vom Boot stammen, es fanden sich deutliche Teerspuren. Oder“ – wäre das feine Lächeln nicht um die Augenwinkel, könnte man die Frage für Hoffnung halten – „hast du schon mal einen geteerten Küchentisch gesehen?“ „Ich habe schon idiotischere Dinge gesehen!“ seufzt der Hauptmann. „Du mußt nicht so oft in den Spiegel gucken“, tadelt Dr. Walters mild, fast glücklich; er hat soeben eine Runde in dem Spielchen gewonnen, das die beiden Freunde offenbar als Genuß oder sogar als Lebensnotwendigkeit empfinden. Hauptmann Rodak nickt anerkennend. „Eine Wasserprobe habe ich auch entnommen“, fährt Dr. Walters dann sachlich fort. „Wird sich feststellen lassen, ob sie hier ertrank. Im übrigen darf ich in diesem Zusammenhang einen Vorwurf äußern – man sollte Chemiker sofort einschalten. Chemie bringt nicht nur Schönheit, die Chemie irrt sich auch nie!“ „Höchstens Chemiker“, grunzt Rodak freundlich. „Höchstens Chemiker“, stimmt Dr. Walters etwas unentschlossen zu; war das nun eben als gewonnene Runde zu werten oder nicht? Er annulliert sie einfach und wendet sich an Oberleutnant Krüger: „Schwierigkeiten ergäben sich 128
allerdings, wenn das hiesige Trinkwasser mit diesem erheblich verschmutzten Wasser hier identisch sein sollte.“ „Da kann ich Sie beruhigen“, sagt Krüger leicht befremdet. „Entschuldige“, mischt sich Hauptmann Rodak eilig ein, klopft dem Chemiker leicht die Schulter, tröstet: „Wir sehen uns heute noch! Vergiß nicht – mich interessieren Barbiturate, die möglicherweise nicht in Originalpackungen waren. Kann aber spät werden heute abend“, und er zieht Krüger einfach mit sich fort. „Wohl eher früh“, korrigiert Dr. Walters sanft hinter ihnen her, „und wohl auch erst morgen.“ Der dicke Hauptmann kichert belustigt vor sich hin, während sie auf das Gartengrundstück der Fenners zugehen. „Ausgekochter Halunke“, sagt er anerkennend, „natürlich weiß der besser als jeder andere, daß aus solchen Teichen kein öffentliches Trinkwassernetz gespeist wird. Der brauchte nur einen geschickten Anfang für sein Steckenpferd, verschmutzte Gewässer nebst den daraus sich ergebenden Konsequenzen für die Menschheit, biochemische und biologische Reinigungen und was weiß ich, was sonst noch für welche … Glauben Sie einem Fachmann – wenn der erst dieses Pferdchen gesattelt und bestiegen hat, dann spielt er Erlkönig und reitet durch Nacht und Wind und Wolkenbruch!“ Franz Fenner steht, mit dem Rücken zur Eingangstür, vor seiner Gartenlaube und ißt offenbar die Erdbeeren, die seine Frau, in tief gebückter Haltung pflückend, bis jetzt schon abgeerntet hat. Er wählt mit Bedacht die größten und reifsten Früchte, Stil und Blätterkrause wirft er gleich neben sich in den Teich. Um seine dürre Gestalt hängt eine frischgewaschene 129
Sommeruniform der Eisenbahner, und sein spitzes Gesicht zeigt, als er sich bei den herannahenden Schritten umwendet, den üblichen mürrischen Ausdruck. Nichts eigentlich fehlt ihm, er hat weder Sorgen noch Nöte, meist aber macht er sich Sorgen, fühlt sich hintergangen und irgendwie zurückgesetzt, begründen könnte er seine Gefühle jedoch kaum. Er weiß natürlich, wer ihn da jetzt besucht, er kennt den Oberleutnant Krüger wie fast jeder hier im Städtchen, er meint auch zu wissen, warum man ihn aufsucht. Direkt vor seiner zweiten Haustür sozusagen ist es passiert, etwas Unerhörtes, wahrscheinlich ein Verbrechen. Und er, Franz Fenner, sonst bei jedem Dreck anwesend, hat nichts gesehen, nicht einmal die Tote. Da passierte endlich einmal etwas Besonderes, fast auf seinem Grund und Boden, die Kollegen bestürmten ihn mit Fragen – und er hat nichts gesehen. „Tag“, gibt er den Gruß knurrig zurück, aber er ist gar nicht knurriger als sonst, hinter diesem mürrischen Alltagsgesicht konnte man sich ausgezeichnet verstecken. Er ißt noch ein besonders prächtiges Erdbeerexemplar, sieht dann auf die Armbanduhr und sagt: „Ich muß zum Dienst!“ „Lassen Sie sich nicht aufhalten“, rät ihm Hauptmann Rodak aufrichtig und sieht dabei Frau Fenner entgegen, die, einen fast vollen Korb Erdbeeren an der Hand, langsam näher kommt. „Ich wollte eigentlich nur wissen, hatten Sie vorgestern auch Spätdienst?“ „Ja“, sagt Fenner mißmutig; er hat Mitleid mit sich selbst. „Dann können Sie uns kaum helfen“, meint Rodak leichthin und wartet eigentlich nur, daß der ungastliche Geselle geht. 130
„Sie auch nicht!“ Fenner nickt in die Richtung, aus der seine Frau kommt, dreht sich unvermittelt um und ruft ihr, etwas drohend, unüberhörbar mißtrauisch zu: „Du warst doch vorgestern spätabends nicht hier?“ Gerda Fenner grüßt zunächst zurückhaltend, stellt den Korb zu dem anderen auf die Bank und beginnt, aufmerksam die Besucher musternd, ihre Hände an einem feuchten Tuch zu säubern. Sie hebt sich wohltuend von ihrem dürren, mißmutigen Gatten ab. An ihr ist alles fest, Körper, Bewegungen und Blick. Mit achtzehn mochte sie hübsch gewesen sein und begehrenswert, mit fünfundzwanzig noch immer begehrenswert, jetzt, knapp über dreißig, hatte sie etwas Mütterliches an sich. Ein guter Kamerad, ordnet der Hauptmann sie ein. „Hast du nicht gehört?“ braust Fenner auf. „Ob du vorgestern spätabends hier warst!“ „Nein“, sagt sie ruhig, hängt das Handtuch über die Banklehne und wiederholt: „Nein, das weißt du doch!“ „Gar nichts weiß ich! Ich weiß bloß, was du mir gesagt hast!“ „Und das reicht dir nicht?“ „Ich muß zum Dienst“, murrt Fenner, trottet auch schon zu seinem Moped, das im Schatten eines Nußbaums steht, brüllt von dort: „Die kommen doch wegen Eggert! Und du hattest früher was mit ihm! Und noch mit anderen!“ „Und du hast bloß immer auf mich gewartet, wie?“ „Das … das ist doch schon nicht mehr wahr!“ „Bei mir auch nicht“, sagt Frau Fenner und sieht ihren Mann kopfschüttelnd an. „Sie kommen doch noch zu spät!“ Oberleutnant Krüger möchte der unerquicklichen Szene ein Ende machen und klopft mit Nachdruck auf seine Uhr. 131
„Bloß nicht“, bekennt Fenner besorgt, nickt, sagt ganz manierlich: „Tschüs“, schiebt das Moped vom Ständer, versucht sogar so etwas wie ein entschuldigendes Lächeln, was freilich sehr verlegen gerät, und balanciert sein Fahrzeug über den schmalen Zufahrtsweg. „Mhm“, macht Hauptmann Rodak unbestimmt; ein bißchen Mitleid liegt darin, etwas wie Verlegenheit, vor allem aber soll es eine Einleitung sein. Er hat sie nicht nötig. „Ich komme schon aus mit ihm“, sagt Frau Fenner unvermittelt. Sie zuckt die Schultern. „Das ist nun mal so in diesem Nest.“ „Was ist so in diesem Nest?“ erkundigt sich Oberleutnant Krüger, als sei dieses „Nest“ eine persönliche Kränkung. Frau Fenner zögert einen Augenblick, mustert Krüger dabei mit einem Ausdruck von Belustigung und erklärt, eigentlich nur ihm: „Wenn man hier nicht den ersten oder mindestens den dritten Mann geheiratet hat, ist man ein bißchen unten durch. Besonders bei denen, die ihren ersten Liebhaber ins Ehebett geschleift haben – und nun furchtbar gern den zehnten hätten.“ „Bravo“, lobt Rodak ungehemmt; er mag Menschen, die ihre Ansichten freimütig äußerten. „Aber dennoch – das ist eigentlich nicht unser Thema.“ „Eggert“, sagt Frau Fenner. „Eggert“, bestätigt der Hauptmann, „mit dem Sie einige Jahre zusammen gearbeitet haben.“ Nun sieht sie Hauptmann Rodak voll an. „Nicht nur gearbeitet, wenn Sie das hören wollen. Horst ist einer der anständigsten Menschen, die ich kenne.“ Manchem anderen würde der Hauptmann jetzt ironisch zu bedenken gegeben haben, daß ein solches Urteil eine ziemliche Unbekümmertheit offenbare; hier scheint 132
es ihm nicht angebracht zu sein. Irgendwoher hat er plötzlich die Überzeugung, daß die Frau da vor ihm, die eben die vollen Erdbeerkörbe auf die Erde stellt und sich auf die Bank setzt, ein idealer „Kumpel“ ist. Auf sie konnte man sich verlassen, mit ihr konnte man reden, sich aussprechen, Verständnis selbst für schwierige Probleme finden. „Wir haben Gegenteiliges gehört“, erwidert er schließlich. „Ich auch.“ „Er hat Sie häufig besucht, nicht wahr? Hier draußen.“ Sie schüttelt den Kopf. „Häufig? Wie oft ist das, häufig?“ Der Hauptmann kratzt sich bei dieser Gegenfrage blinzelnd am Kinn. „Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, junge Frau. Häufig! Wäscht sich zum Beispiel jemand dreimal in der Woche die Füße, so ist das nicht häufig. Besäuft er sich hingegen dreimal in der Woche, ist das ganz sicher häufig.“ „Dann war er selten hier“, stellt Frau Fenner ruhig fest. „Oder er hat mich selten angetroffen, ich bin ja nicht Abend für Abend im Garten. Aber eines ist gewiß – er kam nur, wenn zu Hause Durchzug war.“ Trotz der lustigen Formulierung hörte sich das etwas wehmütig an, es schwang der Vorwurf mit, daß sie nur noch gut gewesen war, sich Sorgen und Nöte anderer anzuhören. „Was meinen Sie – wußte seine Frau von … von Ihrer Freundschaft mit ihm?“ Sie hebt unschlüssig die Schultern. „Ich weiß es nicht, wirklich. Sie zog ja erst vor zwei Jahren nach hier, durch die Heirat. Horst wird ihr kaum davon erzählt haben, aber …“, sie zögert einen Augenblick, „irgendein ‚guter 133
Freund kann es ihr natürlich gesteckt haben.“ Sie kann nicht wissen, daß sie recht hat, sie weiß nichts von den Beobachtungen und heimlichen Wünschen eines einsamen Günter. „Eifersucht“, sagt Rodak leichthin, „gab schon oft Zündstoff her.“ „Ich bin nicht eifersüchtig“, erklärt sie ruhig. „Und ob Christine es war, weiß ich nicht. Das heißt … auf den Jungen ja“ „Auf den hätte sie eher böse sein können“, mischt sich Oberleutnant Krüger ein. Eggert junior hatte für sein Alter bereits eine zu zweifelhaften Hoffnungen berechtigende Akte. „Seine Mitschüler nennen ihn ‚König der Ausreißer‘, ‚König der Schrottdiebe‘ trifft auch bald zu, nur bei Diebstählen in Selbstbedienungsläden zählt er noch zu den Anfängern. Und die Schuld an dieser negativen Entwicklung dürfte wohl kaum nur an Frau Eggert gelegen haben.“ „Schuld!“ Frau Fenner scheint völlig gelassen zu sein, fast heiter. Aber geschulte Augen lassen sich kaum täuschen; es ist Ausdruck von Erregung, daß sie ihren Ehering am Finger dreht und hin- und herschiebt. „Bei euch Polizeimenschen ist das einfach – ihr teilt die Welt in Schuldige und Unschuldige, und dazwischen ist nichts, nicht wahr?“ Sie bückt sich und nimmt aus einem Korb eine schlechte Erdbeere heraus, die sie neben sich auf die Bank legt, ehe sie nachdenklich sagt: „Sehen Sie, mein Mann hat auch zwei Kinder aus erster Ehe, wir haben uns aneinander gewöhnt, Kinder können ja im allgemeinen nichts dafür, daß sie da sind, es hat sie niemand gefragt, ob sie auf die Welt wollen. Und obwohl wir uns gut vertragen, manchmal reagieren sie trotzig, traurig oder einfach unverständlich.“ 134
„Darin unterscheiden sich Ihre Kinder aber kaum von anderen“, tröstet Rodak lächelnd; sein Bengel benahm sich mitunter auch eigensinnig. „Trotzdem“, beharrt sie, „bei eigenen Kindern fragt man sich höchstens, woher haben sie das, von wem geerbt … bei fremden Kindern wird man das Gefühl nicht los, so reagieren sie nur auf die Stiefmutter. Vielleicht haben sie Sehnsucht oder Heimweh nach ihrer richtigen Mutti. Wenn ich, die Stiefmutter, tadeln oder strafen muß, dann tue ich das in den Augen der Kinder nur, weil ich eine Stiefmutter bin. Aber eigentlich darf man sich darüber auch nicht wundern – durch alle Märchen, oder doch durch viele, geistert eine böse Stiefmutter.“ „Im Prinzip“, gesteht Hauptmann Rodak nachdenklich, „mag das einiges für sich haben, aber verallgemeinern sollte man es wohl doch nicht unbedingt.“ „Sie meinen Eggerts?“ Sie sieht den fülligen Hauptmann fragend an, wartet sein zustimmendes Kopfnicken ab, sagt dann leise: „Im Anfang ist alles schön …“ Ihr gleichmäßiges, herbes Gesicht bekommt einen verlorenen Ausdruck. „Horst hat mir viel erzählt, aber sicher doch alles aus seiner Sicht, und die muß ja nicht immer richtig gewesen sein. Da bekommt ein Achtjähriger eine neue Mutti, freut sich wohl anfangs, sie war sicher willens, mit. dem Jungen wenigstens gut auszukommen – sonst hätte sie doch wohl nicht geheiratet –, und doch sind dann beide voneinander enttäuscht. Warum?“ Frau Fenner hebt hilflos die Schultern. „Eggert hätte vermitteln können, sogar müssen“, wirft Krüger ein. „Vermitteln!“ Frau Fenner lächelt irgendwie wissend. „Das hat er ja auch versucht – und stand dann in der Mitte, zwischen beiden. Gab er dem Jungen recht, war sie 135
beleidigt – und umgekehrt. Ungerechtigkeiten sind schnell geschehen, und der Bengel hat wohl ziemlich rasch begriffen, wie er der Stiefmutter eins auswischen kann, hat das ausgenutzt. Von Sachlichkeit war dann auf beiden Seiten keine Rede mehr. Kinder können furchtbar ausdauernd und intensiv hassen – und Frauen müssen nicht immer nur stillhalten und weinen.“ „Hat Frau Eggert auch nicht“, meint der Hauptmann gelassener, als er eigentlich ist. „Jedenfalls zu Hause nicht. Auf ihrer Arbeitsstelle hingegen lobt man ausdrücklich ihr kollegiales, freundliches und sehr hilfsbereites Wesen.“ „Auf der Arbeit“, wiederholt sie, aber es, klingt geringschätzig. „Wo man einen nicht unwesentlichen Teil seines Lebens verbringt!“ „Und wo man selten private Probleme hat“, ergänzt Frau Fenner. Dem freilich könnte der Hauptmann widersprechen. Ein Mensch kann nicht wie ein Automat abschalten, sondern schleppt seine Probleme sehr wohl mit sich herum, auch wenn er sie am Schreibtisch oder einem anderen Arbeitsplatz nicht unbedingt zur Diskussion stellt. Und beim Handelstransport gab es einen Kollegen, dessen Problem Christine Eggert geheißen hatte. „In einer Brigade der sozialistischen Arbeit – und zu einer solchen gehörte Christine Eggert – sollten auch private Sorgen und Nöte miteinander gelöst werden“, sagt er schließlich. Frau Fenner lächelt jetzt, ihr forschender Blick indessen enthält Mißtrauen; wie weit darf man bei diesem dicken Polizeimenschen gehen? „Sozialistische Brigade!“ sagt sie. „Was ist das eigentlich?“ 136
„Nun“, beginnt Rodak ebenso unsicher wie erstaunt, „das ist … das sind …“ Natürlich weiß man genau, was das ist, eine Brigade der sozialistischen Arbeit, ohne Frage! Wie aber setzt man die wesentlichsten Merkmale in wenige Worte, etwa in einen Satz? „Um es kurz zu sagen …“ „Das ist“, unterbricht Frau Fenner ironisch, „jedenfalls beim VEB Handelstransport, eine Gruppe von Menschen, die sich gesagt hat, hier gibt’s Geld nebenbei zu machen, und sonst nichts.“ Hauptmann und Oberleutnant blicken sich kurz an; das war nicht nur Vorwurf, das war Abwertung. „Und worauf gründen Sie dieses recht herbe Urteil?“ „Auf ein ganz bestimmte Tatsache …“ „Die Sie von Eggert haben!“ unterbricht Rodak seinerseits. „Das schon“, gibt sie zu, „ich muß ihm darin recht geben. Wir haben uns mal den Kollektivvertrag vom Handelstransport angesehen, da steht ja alles drin, was so eine sozialistische Brigade an Bedingungen zu erfüllen hat. Nicht bloß einträchtig zusammen arbeiten – das müßte man in Hongkong auch, hatte Horst noch gemeint –, nein, sie sollen sich ja auch privat, mit den Familien treffen und sich notfalls helfen. Aber die sogenannten ‚Sozialisten‘ vom Handelstransport feiern und machen ihre Ausflüge sogar ohne Ehemänner oder eben Ehefrauen. Horst hat noch gelästert, die männlichen Kollegen würden wohl die Devise haben, ‚unsere Hühner treten wir selber‘.“ „Ach!“ Hauptmann Rodak leistet sich einen gemäßigt bösen Blick; das eben klang nach Umkehrungen aller bisherigen Ermittlungen. „Damit wollen Sie vermutlich andeuten, daß Eggert ausreichend Grund zur Eifersucht hatte?“ 137
„Christine war so treu, daß es schon lästig war.“ Die beiden sind ziemlich verblüfft, und Rodak murmelt skeptisch vor sich hin, allmählich werde es etwas kompliziert. Krüger, als müsse er den Ranghöheren um des guten Eindrucks willen kopieren, kratzt sich ausgiebig am Kinn. „Ja, und was meinen Sie – kann man dem Horst Eggert ähnliches bescheinigen?“ Dazu lächelt sie wieder, fast etwas traurig. „Ich weiß schon, wo Sie hinzielen, nur …“, sie hebt erneut die Schultern, „das weiß ich wiederum nicht. Ich jedenfalls habe seit damals nicht mehr mit ihm …“ Sie schenkt sich den Rest, sieht ein bißchen verlegen auf den Sand zu ihren Füßen, ihre ganze Haltung drückt irgendwie Wehmut aus. Hauptmann Rodak glaubt zu ahnen, daß sie lieber jene Frau wäre, die einem Eggert treu sein konnte, wenn auch nicht unbedingt bis zur Lästigkeit. Sicher auch, daß sie diesen Wunsch erst erkannte, als sie einen anderen, einen mürrischen Eisenbahner, geheiratet hatte. Nun ja, die Welt war schon kurios, vielleicht nicht die Welt an sich, ganz gewiß aber die kleine Welt einiger Leute, die sie bevölkern. „Vielleicht noch eine letzte Frage, Frau Fenner, da Sie Eggert ohne Zweifel recht gut kennen: Halten Sie ihn, ganz allgemein nur, einer schweren Untat für fähig?“ Ohne aufzusehen, sagt sie leise: „Ja, ich glaub’ schon …“ Sie erhebt sich, nimmt einen leeren Korb, murmelt matt auf Wiedersehen und geht, etwas schwerfällig, zurück zu ihren Erdbeeren. „Ein ziemlicher Widerspruch“, bemerkt Oberleutnant Krüger nachdenklich hinter ihr her. „Sie hält Eggert für einen der anständigsten Menschen und ihn gleichzeitig eines Verbrechens für fähig.“ 138
Auch der Hauptmann sieht ihr nach. Mit jedem Schritt von ihnen weg scheint sie fester auszuschreiten, schon pendelt der leere Korb spielerisch an ihrer Hand hin und her; schnurgerade liegen links die Erdbeerreihen und rechts die Wellen der Spargelbeete. Rodak wendet sich ab, sieht blinzelnd in die tiefstehende Sonne. „Widerspruch? Wieso?“
139
9. Kapitel
Die Verkäuferin in der ländlichen Konsum-Verkaufsstelle findet nichts Ungewöhnliches daran, als kurz vor Geschäftsschluß ein ortsfremder Mann mit einem kräftigen Jungen eintritt. Sie mustert ihn kurz, denn sie ist jung und ledig. Man kann nie wissen; manchmal läuft einem das Glück oder das, was man für sein Glück hält, ganz unerwartet über den Weg. Fremde in ländlichen Gemeinden fallen weniger auf als noch vor einigen Jahren, der sommerliche Tourismus beschert sie Tag für Tag. Auch dieser hier könnte einer der Glücklichen sein, für die Urlaub identisch ist mit Autoreisen; wahrscheinlich steht sein Wagen auf dem Parkplatz vor dem „Kastanienhof“, vielleicht auch gleich nebenan auf der Fernstraße. Freilich, die einem Urlauber zustehende leichte Fröhlichkeit ist dem späten Kunden wohl abhanden gekommen, er sieht eher verschlossen, fast böse aus; vielleicht, hat er eine Panne, einen unfreiwilligen Aufenthalt? Gut gekleidet indessen ist er, neu und elegant. Der Junge hebt sich merklich negativ dagegen ab. Die Verkäuferin klassifiziert den Mann endgültig als autoreisenden Campingfreund, die Wünsche des Kunden stimmen durchaus mit den Bedürfnissen dieser modernen Nomaden überein: Wurstkonserven, Keks und Schokolade, Dauerwurst, Cola. Selbst eine Flasche teuren Weinbrands widerspricht dem nicht, ein Schnäpschen abends vorm Zelt ist nicht weniger genußvoll als beim Fernsehen. Brot oder Brötchen allerdings sind um diese Zeit längst ausverkauft. Der Mann reagiert auf diese Auskunft 140
wie zahlreiche andere Kunden: mißtrauisch. Und so sieht er sie an, Verdacht im Blick, daß unter dem Ladentisch für Stammkunden noch begehrtere Dinge als gewöhnliche Backware liegen. Mädchen haben oft eine Schwäche für hilflose, enttäuschte Männer. Zögernd bietet sie ihm an: „Wenn Sie gern möchten …“, sie deutet auf die Nebentür zum Lagerraum, „ich habe für mich zehn Brötchen … die Hälfte könnte ich …“ „Das wäre nett“, bescheinigt ihr der Kunde, aber mehr als eine abgequälte Floskel scheint das nicht zu sein; der Mann sieht keineswegs netter aus als vorher. Immerhin, er verläßt den Laden doch etwas freundlicher grüßend als beim Eintritt. Das halbgefüllte Netz schleppt der Junge, er freut sich, daß der so gestrenge Herr Papa ohne Murren noch einen Berg Kaugummi gekauft hat. Wenig später sitzen Eggert und sein Sohn Lutz einige hundert Meter abseits des Dorfes im Schutz eines verwitterten Strohhaufens. Dem Jungen gefällt das derzeitige Leben ausnehmend, das hier war Romantik, das roch und schmeckte nach dem Lagerleben ungebundenen Abenteuers, nur das Feuerchen fehlte noch. Dazu kommt das stolze Glücksgefühl auf diesen, seinen Vati. Und er ist dem Heim entronnen, ihm kann ja mm wohl nichts mehr passieren. Toll, daß der Vati so unverhofft gekommen ist, und einfach „fetzig“, daß er ihn befreit hat, der alte Papa hatte manchmal doch ganz gescheite Einfälle. Lutz hält sich, eng an den Vater gelehnt, emsig an die Kekspackungen, während der Vati hin und wieder sparsam aus der Flasche trinkt. Nichts ist bisher zwischen ihnen besprochen, was allein wichtig wäre. Dem Jungen hat es natürlich wohlge141
tan, von strenger Zucht und „bösartigen“ Erziehern zu reden, er hat geklagt und hat geprahlt; der Herr Bender war eine richtige Niete. „Mutti wird vielleicht staunen“, sagt Lutz schließlich, denn das war ja noch ein Problem, das einzige für ihn, und die Feststellung enthält auch ebenso Triumph wie Besorgnis. Eggert sieht verloren zum nahen Waldrand hinüber, dessen Schatten sich unmerklich, aber stetig dichter heranschleicht, und antwortet schleppend: „Nein.“ „Jetzt ist sie wohl vernünftig?“ erkundigt sich der Junge altklug und frei von jeder Objektivität; für ihn war sie an allem schuld. „Sie ist nicht mehr da.“ „Au fein!“ Vaters Lächeln darauf ist freilich komisch, so gar nicht fröhlich, nicht einmal anerkennend. Sehr fein ist jetzt alles! So fein, daß man hier im Schutz alten, keineswegs nach frischer Ernte riechenden Strohs hockte, sich verstecken mußte und hellwach auf die Bewegungen der Umwelt achtete, wenn das der Junge auch gar nicht bemerkte. „Sie kommt auch nie wieder“, erklärt Eggert, und wenn er das auch so komisch gepreßt sagt, dem Zehnjährigen klingt es wie eine Jubelbotschaft. „Wirklich gar nicht mehr?“ forscht er leicht mißtrauisch; so viel Glück auf einmal gab es doch nicht? „Nie mehr.“ Die Kekse schmecken immer besser, zwar ist er allmählich satt, aber er stopft in sich hinein, was nur hineinpassen will. Sie, die strenge Mutti, ist nun endlich verschwunden – um so härter trifft der nächste, ganz und gar unverständliche Satz. 142
„Du mußt zurück!“ „Ins … ins …“, stottert der Junge fassungslos. „Ja.“ Wohl in jeder Minute bricht für irgend jemanden irgendwo eine Welt zusammen, eben bricht die frische Welt eines Zehnjährigen ein, wegen einer einzigen Silbe. „Aber warum denn, Vati! Jetzt, wo sie doch endlich fort ist?“ Kinder lassen sich leicht belügen, und es hilft ja auch nichts – Eggert weiß längst, eigentlich schon seit dem Augenblick, da er den Jungen in die Arme schloß, daß es Unsinn war, den Jungen herauszuholen. Mochte es in einem Heim auch streng zugehen, mochte es für Kinder traurig sein, es war wenigstens Ordnung, vielleicht zuviel Ordnung, zu streng. Er kann den Jungen nicht bei sich behalten, nicht mitnehmen – wohin auch? Stärker als je zuvor ist er jetzt, was er in den letzten Jahren eigentlich immer war, ein Klotz am Bein. „Es geht nicht anders, Junge …“ Schreiend, den letzten Rest der eben noch so willkommenen Kekse wild auf den umgepflügten Acker vor sich schleudernd, unterbricht das Kind: „Nein, Vati! Nicht ins Heim, bitte! Wir haben doch ein Zuhause!“ Den Zehnjährigen stören die Tränen nicht, er darf schluchzen, ungehemmt traurig, verzweifelt sein. Ein Vater muß sich beherrschen. Dabei war das Wort ein einziger Stich, jetzt hier, vagabundenhaft im Stroh: Zuhause! Und man hatte eins, mit Straße und Hausnummer, amtlich besiegelt. Aber nun hockte man eben hier und hatte heute eigentlich nichts besorgt, als ein Kind noch unglücklicher gemacht, als es vorher schon gewesen sein mußte. Und nun half nichts als lügen. „Es geht nicht anders, Junge“, beginnt Eggert erneut, zieht den Jungen an sich, Schutz und Sorge für das heu143
chelnd, was nur geschickte Lüge ist. „Sieh mal, wenn ich dich jetzt mitnehme, dann suchen sie dich, nicht wahr? Irgendwann finden sie dich und bringen dich sofort zurück ins Heim. Du mußt richtig entlassen werden, verstehst du?“ Der Junge horcht. Etwas an Vatis Worten ist schon richtig. Er hat im Heim einige gehen sehen, ordentlich vom Heimleiter verabschiedet, natürlich mit „blöden“ Ermahnungen, von freundlich lächelnden Eltern empfangen. „Na gut“, stimmt er zu, Vati war eben doch ein Kumpel, „aber gleich morgen, ja?“ Einer Lüge ist es egal, wie dick sie ist. „Vielleicht nicht gleich morgen, Junge, ein, zwei Tage werden wohl vergehen, ich muß ja erst beim Jugendamt alles erledigen, verstehst du?“ Und dann, weil der Junge sofort wieder enttäuscht reagiert, setzt er das bis jetzt immer wirkende Lockmittel ein: „Ich lasse dir auch Geld da.“ „Wieviel?“ Der Schmerz ist für Sekunden bis zum Waldrand gewichen. „Fünfzig?“ „Prima!“ Jetzt ist. der Schmerz irgendwo im Waldinnern, auf einer Lichtung oder in einem Fuchsbau. Vorsorglich, denn mit einem glatten Fünfziger kann ein Heimkind weniger als mit einer Mark anfangen, zählt Eggert die Summe in kleinen Scheinen ab, etwas Hartgeld dazu, sagt nichts zu dem Leichtsinn, es einfach in die Gesäßtasche der Niethose zu stecken. „Aber … du bringst mich doch hin, Vati?“ „Selbstverständlich, Junge!“ Der große Flüchtling fährt dem kleinen zärtlich wie selten über das borstige Blondhaar. Selbstverständlich muß er den Jungen hinbringen, wenn auch erst später in der Dunkelheit. Sieben 144
Kilometer, und zwangsläufig querfeldein, waren auch für einen Erwachsenen nachts nicht ungefährlich. Und doch sind für Eggert plötzliche Hindernisse, jäh auftauchende Gräben, Büsche, Menschen die geringste Gefahr. „Und du holst mich auch ganz bestimmt wieder ’raus? Großes Ehrenwort?“ Eggert nickt nur malt; ein Vater, der in vertrauensvoll fragende Kinderaugen hineinlügt. Er marschiert, wechselt von Licht in Schatten, stolpert, fängt sich, schwankt verwegen; o Straße, wie bist du so wunderlich. Denn jetzt kommt er, der kleine König Gutewort, es zieht ihn heimwärts; noch ist heute, wenn auch nur noch sechzig Minuten lang. Wunderlich ist auch die Treppe zum ersten Stock hinauf, von der Wohnungstür ganz zu schweigen; das Biest macht, was es will, weicht vor ihm aus, um sich anschließend auf ihn zu stürzen. Und doch geht sie plötzlich auf. In unwürdiger Haltung, auf allen vieren, landet Gutewort vor den nackten Beinen seiner Frau. Im Mininachtgewand reizend anzusehen, blickt sie auf ihn hinunter und bemerkt trocken: „Sie grunzten vernehmlich und kamen nach Hause gekrochen auf allen vieren. Wilhelm Busch!“ Gutewort rappelt sich mühsam auf, gurgelt etwas Unverständliches, um einen Widerspruch wenigstens anzudeuten; sein eingebildetes Königreich endet an der Wohnungstür, in seinen vier Wänden nimmt er meist nur die Funktion eines Beraters wahr. Die paar Meter bis zum ersten besten Wohnzimmersessel bringen zum Glück keine erneuten Komplikationen, und Gott segne den Erfinder der Sessellehnen, die gefährliche Gleichgewichts Verlagerungen verhindern. 145
„Gab’s Prämie?“ forscht sie anzüglich. Er glotzt sie, ein stupsnäsiges, meist lustiges Mädchen von gerade zwanzig Jahren, verschwommen an. Glück hat er gehabt; sieht aufreizend hübsch aus, seine Frau, die da am Kachelofen lehnt, allein das Nachthemdchen konnte einen bald umschmeißen; hatte ja auch ein Heidengeld gekostet, das Stückchen Gardine. „Bahnhof“, sagt er gnädig und leidlich verständlich. Die hatte ja keine Ahnung. „Der Eggert … kennste doch, von wegen Kollege – nischt is.“ „Ein Grund zum Saufen findet sich immer.“ Natürlich kennt sie Eggert, sie weiß von den Gerüchten und Behauptungen, nicht zuletzt von ihrem Mann. Aber so innig ist dessen Freundschaft mit Eggert nie gewesen, daß er etwa seinen Kummer über die Ereignisse ertränken müßte. „Bahnhof“, wiederholt Gutewort, „aber Sackbahnhof“, und dann trumpft er auf: „Getürmt isser – und zwar mit meinem Geld!“ Seinem heftigen Kopfnicken nach muß das Zirkuspferdchen jetzt mindestens drei und vier zusammenzählen. Aber, was wird denn nun? Erst stiert sie ihn so sonderbar an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank, und nun lacht sie auch noch? Und wie! Tatsächlich, Frau Gutewort lacht. Hell, fröhlich, herzhaft, stöhnt zwischendurch, er sei ein Idiot, dann aber wird die Fröhlichkeit gedämpfter, verlischt jäh. „Mensch“, schreit sie ihren verständnislos dreinblickenden Ehegatten an, „das Geld habe doch ich!“ „Du?“ „Na ja doch!“ Genau so klammheimlich, wie er es eingesteckt habe, hinterhältig, fast wie ein Spitzbube, so heimlich habe sie es wieder aus der Brieftasche herausgenommen. Sei doch wohl das letzte, einen „Indianer“, 146
oder wie der Schrotthaufen heiße, zu kaufen, wo man doch die brave MZ habe. Sein Motorradfimmel hinge ihr ohnehin ellenlang aus dem Hals und … „Mir ist irgendwie die Kurbelwelle in die Zündspule geraten“, murmelt der „kleine König“ voller Trauer über sein schweres Leben vor sich hin und schläft ohne Übergang ein. Dümmlich und lächerlich hängt er da in seinem Sessel, in drei, vier Stunden wird er ungemein zahm ins Bett kriechen und morgens tun, als wäre nichts gewesen. Spätestens nach dem Rasieren aber wird er männlichtapfer vorschlagen, sie möge doch eben mal schnell bei der Polizei vorbeigehen. Häschen, ich hab’ so viel zu tun heute, fahr du doch. Brauchst ja nur zu sagen, es hat sich aufgeklärt, das Geld ist da, ein Irrtum. Weiter nichts. Gewiß, entsprechend seiner wohl noch nicht ganz vollendeten Regenerierung wird sie nach kritischspöttischen Bemerkungen ja sagen, man würde weder ihm noch ihr den Kopf abreißen. Aufgeklärt hatte sich die Sache ohne Zweifel, vorerst allerdings nur für die Polizei. Denn wer sollte jene benachrichtigen, denen gegenüber er von Eggerts neuerlicher Untat geprahlt hatte? Heinz Bender erschrickt leicht, als es vorsichtig am Fenster klopft; es kann ja nur einer der beiden Genossen der Volkspolizei sein, die pausenlos das Gelände umrunden, selbstverständlich konnten es auch beide sein. Vielleicht hatte man Durst, vielleicht auch keine Streichhölzer, vielleicht aber auch hatte man Grund, ihn zu warnen. Denn um den kleinen Ausreißer ist da plötzlich ein bißchen viel Wirbel. Der Vater soll jetzt mit im traurigen Spiel sein, ein Mann, der wahrscheinlich sogar unter Mordverdacht stand. Er geht arglos aus seinem Zimmerchen, das neben 147
dem Büro liegt, um tue verriegelte Hintertür zu öffnen. Das Licht des Zimmerchens erhellt nur spärlich den verwinkelten Flur, trotzdem, hier braucht man keine Angst zu haben, besonders heute nacht nicht, da man sozusagen unter Polizeiaufsicht steht. Indessen, Arglosigkeit ist ein naher, mitunter tückischer Verwandter des Leichtsinns – rücksichtslos, überfallartig drängt ihn ein stämmiger, im Dämmerlicht doppelt bedrohlich wirkender Mann in den Flur zurück, und erst der mit hineinschlüpfende Junge bringt die beklemmende Erkenntnis, dieser Mann kann ein Mörder sein. Das lähmt Benders Reaktionsfähigkeit zumindest so lange, wie Eggert, hastig atmend, zum Türspalt hinausspäht und die Tür leise schließt, als draußen hinter der Hecke dumpf polternde Schritte lauter werden; er ist der Streife gerade noch entkommen. Ob dieses Durchschlüpfen, die Rückkehr überhaupt, als Leistung zu werten war, blieb freilich sehr dahingestellt. Aber ein Mensch auf der Flucht mußte immer auf genau jene Überraschung gefaßt sein, die das Ende seiner scheinbaren Freiheit bedeutet. „Los, gehen Sie schon!“ Bender fühlt sich vorwärts gedrängt, sogar gestoßen, auf sein Zirnmerchen zu, dichtauf folgt der Mann, den Ausreißer Lutz an der Hand. Der Raum, dessen Mobiliar hauptsächlich aus dem Bett, einem Bücherschrank, Tisch und zwei Stühlen besteht, ist plötzlich viel zu eng, ein bißchen fühlt sich Bender sogar als Gefangener. Schuld an diesem Gefühl trägt merkwürdigerweise nicht einmal Eggert, sondern der Junge. Der sieht ihn an, kaum eine Spur verlegen, eher triumphierend: Da staunst du, was? Wie habe ich das gemacht? Dabei saugt er mit der Zunge die linke Wange nach innen; typisches Zeichen für Zahnschmerzen. 148
Eggert, groß und drohend an den Türrahmen gelehnt, nickt zum Jungen hinunter. „Er hat Zahnschmerzen – Sie haben doch sicher eine Tablette?“ „Haben Sie ihn deshalb zurückgebracht?“ entfährt es Bender. In seinem Kopf jagen sich die Gedanken. Wie kann man den Genossen draußen einen Wink geben? Er mußte diesen Eggert irgendwie festhalten – und möglichst unauffällig. Und dann war da noch die Neugier des berufsmäßigen Erziehers – was war das für ein Mensch, der Mann da? Ein Mörder? Lutz hatte seinen Vater stets als prima Kerl beschrieben. Lösten aber prima Kerle ihre Probleme mit der Umwelt, indem sie ihre Ehefrauen umbrachten? Ach ja, Tabletten! Bender nickt etwas hastig, wohl ist ihm keineswegs, und geht zur Bürotür. „Wohin?“ Nur schön ruhig bleiben, befiehlt sich Bender, zumindest ruhig wirken. „Sie wollten doch Tabletten?“ „Was ist da nebenan?“ „Kommen Sie doch mit.“ Bender geht, läßt die Tür weit offen, entnimmt dem Schränkchen mit dem aufgemalten roten Kreuz die Tabletten. Er fühlt Eggerts mißtrauischen Blick im Rücken, fast wie eine Messerspitze, und schaut sich hilfesuchend nach dem Telefon auf dem Schreibtisch um. Da steht es, manchmal verflucht, aber es war eine nützliche Erfindung, solange man es ungestört benutzen konnte. Und eben das konnte er jetzt nicht. Gierig schluckt Lutz gleich zwei Tabletten; die Schmerzen mußten doch recht heftig sein. Unverkennbar auch, daß es nur der tückische Zahn ist, der den Jungen noch wach hält. „Und nun?“ erkundigt sich Heinz Bender. Irgendwie 149
ist ihm die finstere Ruhe seines unverhofften Gastes nicht geheuer; Drohung, Gewalt geht von ihm aus. Bender kann nicht wissen, daß dies Eggerts Alltagsgesicht ist. „Ich muß wieder“, sagt da Eggert auch schon, merkwürdig müde freilich. Er streichelt dabei dem Jungen, der sich erschöpft auf einen der beiden Stühle gesetzt hat, zärtlich über den Kopf, bückt sich, da Lutz nicht reagiert, zu ihm hinunter und sagt, halb Aufforderung und halb Bitte: „Er schläft.“ „Was hat denn das alles noch für einen Sinn?“ murmelt Bender. Er nimmt einfach den Jungen und legt ihn auf sein Bett, ein verschmutztes Bündel Kind auf weißer Wäsche. „Wo wollen Sie denn noch hin?“ „Was wissen denn Sie schon?“ „Über Sie einiges“, antwortet Bender, verwundert über die Resignation in Ton und Frage. „Auch über Ihre Ehe … und auch über Ihre tote Frau.“ Eggert nickt nur abwesend, und Bender, aus dem Gefühl heraus, der Mann überlegt seinen Abgang, spricht rasch weiter: „Es ist Ihnen doch klar, daß wir häufig mit unseren Kindern Gespräche führen, über ihr Zuhause, die Eltern, über ihre Interessen. Wir müssen ja herausfinden, wie es zu einer negativen Entwicklung kommen konnte, wie sonst sollten wir helfen … Wunder gibt’s in unserem Beruf nämlich auch nicht.“ Bender, gegen den bulligen Eggert noch unscheinbarer wirkend, fühlt sich abfällig gemustert. Gewiß, solche Reaktionen sind ihm nicht fremd, aber dieser Eggert hat wohl am wenigsten Grund, auf andere Menschen herabzusehen. „Wenn auch Kinder gern übertreiben“, sagt er scharf, „so dürfte wohl doch feststehen, daß in Ihrer Ehe allzu häufig Streit war, und wie sich das auf ein Kind auswirken kann, sehen Sie ja an ihm …“ Er deutet auf 150
den schlafenden Jungen. „Falls er Ihnen auch erzählt haben sollte, daß es meist um ihn ging, daß sie dabei keine Hemmungen hatte, sein Spielzeug zu zertreten, aus dem Fenster oder in den Ofen zu werfen – dann war das keine Übertreibung.“ „Und Sie hielten natürlich für Haß, was vielleicht nur Hilflosigkeit war, ein erbärmliches Unterlegensein! Viel leicht kam sie einfach nur nicht gegen Sie, gegen Ihre Art an – es war ein Ausweg für sie, auch wenn sie mit Tellern oder Tassen geworfen hat.“ Eggert schweigt. Er wirkt wie ein bockiges Kind. Bender schüttelt, nun deutlich überlegen, den Kopf. „Fragen wir doch mal nach Ihrer Reaktion. Wie du mir, so ich dir, nicht wahr? Zurückgeworfen haben Sie, und – was Sie sich dabei gedacht haben, begreife ich nie – Sie haben zugelassen, daß Lutz kräftig mitwarf – nach Ihrer Frau. Und da wunderten Sie sich auch noch, warum Ihre Frau den Jungen weniger und weniger mochte? Wie dumm sind Sie eigentlich?“ Für Sekunden möchte Bender die letzte Frage unbedingt zurücknehmen, Eggerts Gesichtsausdruck ist eine einzige Drohung. Bender empfindet ganz natürliche Furcht vor dem Mann, und im ersten Augenblick möchte er auch einlenken, als er versichert: „Selbstverständlich will ich damit Ihre Frau nicht freisprechen, Herr Eggert.“ Er stockt. Redete man einen Flüchtigen mit Herr an? „Nein, nein, darin sollten Sie mich nicht mißverstehen, ich glaube Ihnen unbesehen, daß Sie das Beste für den Jungen wollten, nur …“ Der Junge, der sich eben ruckartig bewegt, verschafft Bender nicht nur eine winzige Frist, er bringt ihn auch auf ein überzeugendes Argument. „Nehmen wir doch das eben –Tabletten gegen Zahnschmerzen! Sie wissen so 151
gut wie ich, daß er für sein Alter miserable Zähne hat. Und ich weiß, von ihm natürlich, daß Sie oft Mitleid hatten und ihm Schmerztabletten, gaben. Natürlich mit der Mahnung, ja morgen zum Arzt zu gehen. Ihre Frau hingegen hat sie ihm, außer in einem nächtlichen Notfall, strikt verweigert. Zahnärzte wohnen überall, es gibt extra Jugendzahnärzte. Aber ich irre mich kaum in der Annahme, daß Sie hinter dieser Konsequenz nichts anderes vermuteten, als daß Ihre Frau dem Jungen die – zugegeben – scheußliche Bohrerei gönnte.“ Das war ein Volltreffer! Bender weiß, daß er jetzt ins Schwarze getroffen hat, und eigentlich hat er nun nur noch den Wunsch, noch ein, zwei Stunden auf den Mann einreden zu können, ihn zu überzeugen, wie sinnlos sein Handeln manchmal war und es auch jetzt ist. Jäh zerreißt das Klingeln des Telefons nebenan im Büro Benders Hoffnung. Eggerts Gesicht, eben noch nachgiebig aufhorchend, verschließt sich ruckartig; er ist wieder der ewig wache Gehetzte. „Müssen Sie ’ran?“ knurrt er gereizt. „Ich habe Nachtdienst.“ Auch in Benders Antwort ist diese Gereiztheit; nicht abheben hieße außerdem, sich dem Vorwurf lässiger Dienstauffassung auszusetzen. Dann aber ist da der Gedanke der ersten Minuten: Vielleicht ließ sich, unauffällig im Gespräch, eine Warnung, ein verkappter Hilferuf einbauen? Und doch zuckt er dann ganz leicht zusammen, und ein bißchen war es auch zum Lachen – am anderen Ende der Leitung meldete sich die Polizei. Und was der Genosse dort erzählte, fast amüsiert plaudernd, das war nicht nur komisch, das war ausgesprochen grotesk! Man habe in der Nähe der Autobahn einen Jungen aufgegriffen, auf den die Beschreibung des abgängigen 152
Lutz Eggert passe. Zwar sei das Bürschchen so verstockt, daß er sich vorerst mit Ausdauer weigere, Namen und Herkunft preiszugeben, aber das gäbe sich erfahrungsgemäß in absehbarer Frist. „Ja, aber …“, würgt er mühsam hervor, „das kann doch nicht …“ Bender bringt den Satz nicht zu Ende; dicht neben ihm steht Eggert, der vielleicht nicht viel verstanden hat, aus seiner Situation heraus aber nur Gefahr wittern kann. Ich muß doch irgendwie …, überlegt Bender fieberhaft, und wieder bringt ein suchender Blick vage Hoffnung. Dort liegt er, der Junge, dort und nicht irgendwo an der Autobahn. „Vielleicht haben Sie die Beschreibung nicht zur Hand?“ erkundigt sich Bender, die nämlich könne er ganz exakt durchgeben, ein Hilfsmittel sei es gewiß. „Also der Junge trägt eine dunkelblaue Niethose, braune, schon etwas schiefgetretene Wildlederschuhe, stark verschmutzt …“ Eggerts derbe Hand liegt auf der Gabel, ersieht Bender böse lächelnd an. jetzt sind sie ohne Zweifel Feinde, die, wären sie sich an anderem Ort und unter anderen Bedingungen begegnet, vielleicht die besten Freunde hätten werden können. „Man wird sich dort wundern.“ Bender sagt, was er eigentlich gar nicht sagen wollte; irgendwie macht ihn diese Feststellung zum Komplicen, wenn sie freilich auch Genugtuung enthält. Aber auch Eggert hat es im gleichen Augenblick, da die Hand mehr instinktiv auf die Gabel prallte, begriffen – es war eine Riesendummheit. Selbst wenn der Mann am anderen Ende ein harmloses Gemüt sein sollte, würde er binnen Sekunden zurückrufen. Er mußte einfach ein 153
berufsmäßiges Mißtrauen haben, dafür sorgte allein, schon das Fahndungsersuchen. War er aber auf der Höhe, stutzte er todsicher über die Beschreibung – stark verschmutzte Schuhe! Und war er sehr auf der Höhe, konnte es nicht lange dauern, und von fern, dann bedrohlich immer näher, würde der scheußlich auf- und abschwellende Heulton einer Polizeisirene zu hören sein. Ohne ein Wort, man verabschiedet sich in solchen Situationen selten, wuchtet, Eggert herum, eilt, die Tür sinnlos hinter sich zuknallend, aus dem Büro. Heinz Bender, den Hörer ohnehin noch in der Hand, wählt nervös die bekannte Nummer. Bender haspelt einige Worte in die Sprechmuschel, schreit, als der Genosse Volkspolizist um Sachlichkeit, um Ruhe bittet: „Himmel – Eggert, der seine Frau umgebracht haben soll … ja doch!“, lauscht nur halb den Anordnungen, Ruhe zu bewahren und sich außerhalb der Gefahr zu halten, man sei sofort da, und spürt nur immer eine unerklärliche Unruhe um sich herum. Wo Gefahr anfängt und wie sie beginnt, interessiert Bender im allgemeinen durchaus, jetzt jedoch ist für ihn die Bedeutung des Wortes Gefahr erloschen, existiert überhaupt nicht. Minuten würden vergehen, kostbare Minuten, und vielleicht, nein, bestimmt, weil das ja immer so ist, pendelten die beiden Genossen Streifenpolizisten genau am entferntesten Punkt, ganz vorn an der Straße etwa. Von Eggerts Aufenthalt hier würden sie erst erfahren, wenn man sie darüber informierte. Also stürzt der hinaus, durch sein Zimmerchen ins Halbdunkel des Flures. Schon auf den ausgetretenen Sandsteinstufen ist ihm, als sei in seinem Zimmer irgend etwas verändert, ulkigerweise kommt: die Erleuchtung in schwarzer Finsternis der Sommernacht. Gleichzeitig 154
dringt der warnende Ruf heran: „Halt! Stehenbleiben – Deutsche Volkspolizei!“ Heinz Bender hetzt zurück, stolpert über die verdammten, ausgelatschten Stufen, rappelt sich hoch, steht schweratmend auf der Türschwelle seines Zimmerchens, wundert sich, begreift und erschrickt dennoch – sein Bett ist leer. Erdenkt noch, hätte ich doch bloß nicht so viel Zeit mit der verdammten Telefoniererei vertrödelt, gut reden hatten die, von wegen ruhig bleiben. Dann springt er die Treppen wieder hinunter, hinaus ins Dunkel. Er kennt den Ruf der Polizei, der nach der ersten Warnung folgt, und er weiß, daß dieser zweite Ruf unter bestimmten Umständen keine Pflichtübung ist. Und da hört er ihn auch schon, drohend, scharf, unmißverständlich, irgendwo von halbrechts. „Stehenbleiben – wer ist da?“ „Nicht schießen!“ brüllt Bender, wiederholt „Nicht schießen!“ und schreit mit aller Kraft: „Ein Kind ist auch draußen!“
155
10. Kapitel
Der Fahrer des Skoda-Lastzuges greift instinktiv nach dem Türdrücker, öffnet aber nicht, es hätte keinen Sinn mehr. Er hatte die kaum spürbare Bewegung des schweren Maschinenwagens sehr wohl registriert und im rechten Außenspiegel gesehen, wie eine Gestalt von seinem Wagen gesprungen war, die auch schon wieder aus seinem Blickfeld verschwindet. Dann sind auch die beiden vorfahrtberechtigten Wagen vorbeigehuscht, er hat freie Fahrt nach links, nach Hause. Er mochte Schwarzfahrer aus Prinzip nicht, mit einer kameradschaftlichen Frage erreichte man meist mehr, zum Beispiel einen Sitz im Fahrerhaus statt auf der Ladeflache. Aber der „Besuch“ konnte wenigstens nicht der Ladung gegolten haben, die liegt seit einer halben Stunde sicher am Bestimmungsort. Doch der blinde Passagier hat die Ladefläche gar nicht betreten. Eggert ist Bahndämme heruntergerutscht, über Schienen gestolpert, ist Güterzügen ausgewichen, über Waggonpuffer geklettert, unter Waggons hindurchgekrochen, hat eine trübe, nächtlich-müde Vorstadtstraße erreicht und es als Glück empfunden, daß der Lastzug hinter einer haltenden Straßenbahn stoppen mußte. Ein Fachmann kennt die Tücken jener dreieckigen Stahlkonstruktion, Schere genannt, die einen Anhänger zum fast spurtreuen Folgen eines Motorwagens zwingt. Ihr haben leichtfertige Menschen schon Finger oder gar das ganze Leben zum Opfer gebracht. Aber Eggert hat auf diesem gefährlichen, ewig unruhigen Dreieck einige Kilometer zwischen sich und einem ehemaligen Gutshaus 156
auf einem Hügel zurückgelegt. Während er noch möglichst harmlos dahingeht und sich verstohlen zahlreiche Schmutzflecke auf dem gestern noch nagelneuen Anzug verreibt, empfindet er eine Art grimmiger Genugtuung; der Mensch ist immer etwas stolz, hat er andere überlistet. Aber Eggert, Krimikonsument wie Legionen Mitmenschen, weiß sehr wohl, daß es für ihn vielleicht hier und da ein sicheres Plätzchen geben mag, die Straßen dieser nächtlichen Großstadt gewährten ihm keinen Schutz. Es ist nach Mitternacht. Die Straßenbahn vorhin konnte die letzte gewesen sein, der Lumpensammler. Gaststättenfenster glotzten tot und hämisch, Gastfreundschaft war an feste Zeiten gebunden. Aber dann ist da, halb hinter einer düsteren Toreinfahrt verborgen, gar nicht auf Publikumswirkung abgestimmt, doch plötzlich Musik, gedämpft, blechern, altmodisch. Kraftfahrer kennen mehr Tanzlokale als nur den heimatlichen Saal gleich um die Ecke, das bringt der Beruf so mit sich. Für viele ist das wenig verpflichtende Vergnügen in fremden Städten ein nicht unwesentlicher Aspekt. Auch für Eggert genügt ein Blick in den stickigen, wohl noch aus der Kaiserzeit stammenden Saal: Witwenball. Ein Witwenball hat: wohl doch trotz Musik, Fröhlichkeit, Lärm und Lachen irgendwie etwas Bedrückendes, und im Grunde findet Eggert hier auf einen Schlag zahlreiche Verwandte; sie sind auf der Flucht; alternde Frauen, manche noch jung und hübsch, aber irgendwann enttäuscht, voll trügerischer Hoffnung. Nur sind sie nicht auf der Flucht vor der Polizei, sie flüchten vorm Alter, vor sich selbst. Und natürlich 157
Männer, ausgesprochene Hechte im Karpfenteich; der Frauenüberschuß macht sie dazu. Hier hat auch der Hecht Eggert seine Chance, falls er nur ein bißchen Glück hat. Die Zeit läuft ihm davon, mit ihr die Frauen. Er stellt sich, ohnehin mißtrauisch – der Flüchtige sieht zwangsläufig in jedem, der ihn vielleicht nur neugierig mustert, einen Verfolger – gleich an die langgezogene Theke, trinkt, weil er sich kennt, zwei doppelte Weinbrand nebst Bier und fühlt sich danach ein wenig gelöster, als sei die Gefahr weggespült. Das Glück sieht in der Saalhitze verlebt aus, die Haare sind zu blond, mit Haarfestiger zu einem dennoch ansprechendem „Kopf“ aufgeputscht. Es ist nicht mehr schlank, dieses Glück, es ist füllig; der Kleidausschnitt verrät, was nach Demontage von der Figur übrigbleibt. Die Frau ist betrunken, ein älterer Kellner will sie eben nicht allzu höflich aus dem Saal geleiten. „Sei vernünftig“, kommandiert er, sie energisch dirigierend; sie wird morgens an den Oberarmen blaue Flecke haben. Dennoch gilt freilich sein Hauptinteresse seinem Revier; manche haben noch nicht bezahlt, und manche haben noch viel zu bezahlen. Nein, sie will nicht vernünftig sein, was soll sie allein zu Hause? „Nur noch einen“, bettelt sie störrisch, eben vor Eggert angekommen. Er nickt ihr zu, wird, selbst einen suchend, zu ihrem Rettungsanker. Dem Kellner ist die Entwicklung sehr recht, er hat sein Revier, die Kasse muß stimmen, mag sich doch der Kerl, den er noch nie hier gesellen hat, mit ihr amüsieren. „Noch zwei“, sagt Eggert zum Mann hinter der Theke, vielleicht der Wirt, vielleicht auch nur ein Mensch, der nach Feierabend Geld auf den Pfennig vorzurechnen hatte. 158
„Einen“, korrigiert der, flüchtig, abschätzend. Hing die alte Ziege dem Kerl nicht schon am Hals? Gott im Himmel! „Hörfehler?“ Eggert erschrickt ein wenig. Er weiß: ein Wirt, auch ein vom Wirt besoldeter Angestellter, braucht nur eine hinlänglich bekannte Nummer zu wählen und genießt umgehend die Unterstützung der Volkspolizei. Der Mann hinter der Theke, der Herrscher über Promille, schenkt zwei Gläser voll, aber sagt: „Der letzte für sie!“ „Ich heiße Lilly!“ Der Wirt zerquetscht ein abfälliges Lächeln. „Sie heißt Elisabeth. Natürlich nicht die heilige, sonst aber noch zu gebrauchen.“ Sein Augenmerk gilt indessen den anderen Gästen; er muß auf den Pfennig abrechnen, muß für das sorgen, was man in solchen Stätten für Ordnung ansieht. „Prost“, sagt Eggert, fragt: „Wohnst du in der Nähe?“ „Ja“, sagt sie, Lilly oder auch Elisabeth. Der Junge hat es eilig. Der Morgen widerlegt Heines Klage, in deutschen Landen sei der Sommer ein grün angestrichener Winter; strahlender kann die Sonne auch in Capri nicht auf- oder untergehen. Unentschieden freilich, ob der leichte Dunst aus der Flußniederung schwebt oder nur das Abfallprodukt geballter Industrie ist. Eggert sieht auf die Uhr, es ist kurz nach halb sechs, er hat also höchstens vier Stunden geschlafen. Neben ihm liegt sie, Lilly oder Elisabeth, er spürt ihren warmen Körper dicht an seinem, es ist ihm gar nicht mehr so angenehm wie noch vor wenigen Stunden. Seine Frist ist abgelaufen. Die Frau da, jetzt noch im Schlaf scheinbarer Befriedigung, wird aufwachen, und sie wird fragen, fragen. Zwar hat sie damit schon in der 159
Nacht begonnen, aber es war für ihn ein leichtes gewesen, eine Wagenpanne als Ursache seines Hierseins vorzutäuschen, Fachausdrücke imponieren Laien immer. Nur die obligatorische Frage nach seinem Familienstand hat sie vermieden, Enttäuschungen kommen immer viel zu früh. Während er sich vorsichtig die Hose anzieht, mustert, er sie. Da liegt sie, halb zugedeckt, nicht angezogen und auch nicht anziehend. Eggert lächelt dünn; immer macht er jetzt alles heimlich, sogar das Anziehen. Der nackte Frauenkörper läßt die Erinnerung, den Vergleich mit Christine urplötzlich über ihn hereinbrechen. Anders war sie gewesen, ganz anders, vertrauter vor allein, jede Bewegung hatte man gekannt, jede Reaktion voraussagen können. Er hat sie nicht bloß so gehabt, es war seine Frau gewesen, von Liebe freilich redete ein Eggert nicht, das machten Frauen. Er erinnert sich des Zimmerchens, viel kleiner und gemütlicher als dieses hier, das ein bißchen verstaubt ist, verlebt wie sie. Viel gemütlicher war es gewesen, das Zimmerchen in dem uralten, spitzgiebeligen Backsteinbau, einem Bauernhaus sehr ähnlich. Sogar der einzige Sessel war schöner gewesen als die hier, obwohl man bei jedem Aufstehen die rechte Holzlehne in der Hand hielt. Wie ein Befreier war er sich damals vorgekommen, ein Edelmann, der eine Leibeigene zu sich nahm. Er hatte sich die im Haus herrschende Schwester zum Feind gemacht, von Kontakt konnte seit der Hochzeit keine Rede mehr sein. Sie hatte alles bestimmt, jeden kommandiert, den eigenen Mann, die Kinder und vor allem Christine. Und das geduldige Schaf hatte gehorcht, hatte Kinder gehütet, wenn die Schwester zum Tanz wollte, hatte auf Pump eingekauft, wenn die Haushaltskasse der Schwes160
ter leer war wie ihr Herz, war eine Viertelstunde zu Fuß zur Arbeit gegangen, weil die Schwester unbedingt Christines Fahrrad brauchte, um irgendwann am Vormittag zum Frisör zu fahren. Und verlobt war Christine gewesen, vier Jahre lang, genau so lange, wie der Herr Verlobte für seinen Aufstieg von einem Montageschlosser zum Ingenieur gebraucht hatte. Den Ring freilich hatte nur sie getragen; ihn hatte er ganz gewiß gestört, wenn er den nicht kleinlichen Zuschuß aus Christines Arbeitsverdienst benutzt hatte, um die volkseigene Getränkeindustrie anzukurbeln. Vermutlich hatte niemand darüber Buch geführt, wie oft Eggert seinen Bus nachts im Schutz mächtiger Kastanien abgestellt hatte, um eine Stunde oder auch zwei herauszuschinden. Im Autohof registrierte der alte Liebkind zwar alle Ein- und Ausgänge mit eingeimpft preußischer Pedanterie, die Kunst des Augenzudrückens hatte er indessen auch beherrscht, das Preußische hatte sich wenigstens in diesem Punkt als saftlos erwiesen. Befreier? Wie hatte dieser blonde, fast mickrige Kerl, dieser Heimerzieher, ganz überzeugt gesagt? Hilflos sei Christine ihm gegenüber gewesen, unterlegen auch ihm. Hatte gut reden, dieser Bender. Alle hatten gut reden, vor allem die, bei denen alles reibungslos verlief; seht, wie gescheit, wie wunderbar wir sind! Je weniger Herz man an eine Sache, an einen Menschen hängt, um so leichter wurde man damit fertig, höchst einfach. Die Frau, Lilly oder auch Elisabeth, bewegt sich im Schlaf, die zu oft gereinigte Steppdecke verschiebt sich vollends. Scheinbar ohne rechten Zusammenhang, spült die Erinnerung, ein hartnäckig Ding, diese verdammte Erinnerung, das Bild einer Christine hoch, die im Nachthemd inmitten noch blühender Herbstastern lag, gegen 161
Mitternacht und in strömendem Regen. Kalt war es gewesen, und sie hatte erbärmlich geweint. Ein bißchen war es Erpressung gewesen: er kann mich doch hier nicht liegenlassen, er muß doch kommen und mich holen. Das Hinausstürzen aber in die feindliche Nacht, die ein eingebildeter und gefürchteter Feind war, das hatte vielleicht doch seine Ursache, wie dieser Bender wohl richtig erkannt hatte. Und der Mensch war Christine nie begegnet; sollte Minister für Erziehung werden. Aber, und auch das muß just hier in diesem Zimmer auch noch hochkeimen, selbst damals, naß, mit angeklatschtem Hemd, verschmutzt und unglücklich, hatte sie gerochen, wie eben Christine roch, nicht zu beschreiben freilich, trotzdem aber irgendwie immer gegenwärtig. Und auch jetzt. Sie, Lilly oder Elisabeth, wacht auch nicht auf, als er die kleine Wohnung verläßt. Er legt kein Geld hin, obwohl sie es sicher brauchen kann. Er geht. Und irgendwie ist er erleichtert, als gehe er nun nach Hause. Jetzt muß der Berufsverkehr einsetzen, unmöglich kann die Polizei jede Straßenbahn, jeden Bus, jeden Zug gewissenhaft kontrollieren, es gäbe ein Chaos in manchen Betrieben. Aber so wichtig ist er auch nicht, der Eggert.
162
11. Kapitel
Eine lausige Nacht, denkt Hauptmann Rodak an diesem Morgen, der gemächlich auf den Vormittag zugeht, und gähnt dabei. Die Nacht war zu kurz gewesen, ihm fehlt der Schlaf. Ein Sommermorgen auf dem Balkon der Wohnung wirkt jedoch merkwürdig aufmunternd, auch wenn man die Frau nur im Halbschlaf hat gehen sehen, eigentlich nur noch das Abschließen der Wohnungstür im Ohr hat. Er versucht ein bißchen über das Dach des Wohnblocks gegenüber in den wolkenlosen Himmel hineinzuträumen, aber es bleibt beim Versuch; die Wirklichkeit läßt sich von Träumen nicht überlisten. Denn er hat nun einiges mehr beisammen; der Mensch war ein verwunderlich kompliziertes Lebewesen, nahm man ihn sozusagen auseinander. Diese Christine Eggert war ohne allen Zweifel im Teich ertrunken, und zwar innerhalb weniger Sekunden, das kam nicht allzu häufig vor, meist vergingen Minuten bis zum Erstickungstod; ungewöhnlich war es trotzdem nicht. Noch immer aber blieb die Frage des Schlafmittels. Chemie war eine exakte Wissenschaft, unbestechlich gleich der Mathematik. In dem Röhrchen, das laut Aufschrift schmerzstillende Tabletten made in Bulgaria enthalten halte, fand Dr. Walters Spuren eines Barbiturates, wie man eigentlich vorausgeahnt hatte. Da diese darin nichts zu suchen hatten, blieb die vielleicht entscheidende Frage, wer den Umtausch vorgenommen hatte und zu welchem Zweck, wenn freilich auch Fahrlässigkeit keineswegs auszuschließen war. 163
Und da war – ein bißchen Hand des Zufalls, nicht unwesentlich aber auch das Bestreben, möglichst nichts zu übersehen, Widersprüche nicht einfach versanden zu lassen – die Begegnung mit einem dem Hauptmann bekannten Psychiater, und zwar mitten in der Nacht. Rodak hatte sich immer wieder gefragt, wieso die Charakterschilderung der Christine Eggert so gegensätzlich sein konnte. Zweifel ist oft die Wurzel des Wissens. Der Professor mit zweifachem Doktorgrad war trotz der sehr späten Stunde bemerkenswert großzügig gewesen. „Da gibt es tausend Möglichkeiten.“ Diese Generosität hatte er freilich umgehend eingeschränkt. „Hundert reichen auch, im Grunde schon zehn. Haben Sie schon mal an sexualdeterminierte Hysterie gedacht? Ist Ihnen der Begriff geläufig?“ Nun, er war es. Und die Frage, die Art an sich, hatte Rodak wieder die ironische Bemerkung Dr. Walters ins Gedächtnis gerufen, daß Arzte nichts dafür könnten, weil sie sich je nach Gegebenheit: als Verbündete des lieben Gottes oder aber des Gevatter Tod betrachteten. Immerhin, falls an dieser Frau im Kindesalter ein Sittlichkeitsverbrechen begangen worden sein sollte, konnte darin eine Erklärung für ihr widersprüchliches Verhalten liegen. Ob es stimmte und ob es die gesuchte Antwort war, mußte dahingestellt bleiben, wenn nicht bezweifelt werden. Wollte man manchen Kapazitäten glauben, so war niemand mehr normal, außer eben den Kapazitäten. Und das war wohl doch lächerlich, zumindest arrogant; wer andere beurteilen will, soll oder muß, der sollte um sich selber keinen Bogen machen. Und doch, Neugier oder auch Drang nach Gewißheit in Rodak sind mächtig genug, schon eine Viertelstunde später den pünktlich vor der Haustür haltenden Fahrer 164
anzuweisen, einen Umweg in die geplante Route aufzunehmen. Hauptmann Rodak weiß, plötzliches Leid, etwa durch einen nie für möglich gehaltenen frühen Tod, förderte oft das Mitteilungsbedürfnis, riß künstliche Schweigemauern ein. Um diese Zeit wundert sich Oberleutnant Krüger bereits maßvoll, daß der Genosse Hauptmann weder etwas von sich hören, geschweige denn sich seilen läßt. Dabei gab es Neuigkeiten, allerdings keine erfreulichen. Dieser Eggert war also tatsächlich im Kinderheim aufgetaucht, ganz wie Rodak es vorausgesehen hatte. Er war sogar zweimal aufgetaucht, das allerdings nur, um auch zweimal wieder zu verschwinden, obendrein mit dem jungen; der Mann mußte wahnsinnig sein. Untätigkeit bereitet, nur zu dafür vorgesehenen Stunden die rechte Freude, zumal dort im verschlossenen Stahlschrank noch weitere, zum Glück auch wesentlich dünnere Akten der Bearbeitung harrten. Aber Krüger ist auf Wunsch des Genossen Hauptmann ganz dem Fall Eggert verhaftet, und der schien irgendwie um den toten Punkt zu kreisen. Morgens, gleich zu Dienstbeginn, hat sich Unterleutnant Schladitz mit der nüchternen Meldung von seiner Nachtwache verabschiedet, es sei nichts, aber auch gar nichts passiert in und um Eggerts Häuschen, sähe man davon ab, daß er mit Hilfe langsam vor sich hin schimmelnder Wurstreste aus Eggerts Speisefach drei junge, noch unerfahrene Mäuse in ein und derselben Falle zur Strecke gebracht habe, nacheinander selbstredend. Bücher, Schreibgeräte und Broschüren auf dem Schreibtisch sind nun auch schon zum drittenmal korrekt ausgerichtet. Er hinterläßt, wo man ihn finden kann, und 165
steigt schon zehn Minuten später die Stufen zum dritten Stock eines AWG-Blockes hoch, bis er das Schildchen mit dem Namen Grabow auf einer der vier Wohnungstüren entdeckt. Schaden konnte eine Nachfrage keinesfalls, Irren ist menschlich. Noch ehe er klingeln kann, tritt aus der Nachbarwohnung eine ältere Frau, an der Hand ein prallgefülltes Netz mit leeren Milch- und Brauseflaschen, mustert ihn kurz und sagt, halb Warnung und halb Schwatzhaftigkeit: „Da drin ist dicke Luft!“ „Was Sie alles wissen“, sagt Krüger abweisend. Die Klingel scheint sich dem Kriegszustand angeschlossen zu haben, sie gibt lediglich ein widerwilliges Krächzen von sich. Dann wird die Tür förmlich aufgerissen, Jörg Grabow, noch schön in Schwung, faucht: „Was is denn, wer da …“, erkennt den Besucher und fragt bedeppert: „Ja, aber … Sie?“ Krüger deutet nach innen. „Darf man ’rein?“ Grabow macht überhastet Platz. Er ist, wahrscheinlich zum Nachteil dieser Ehe, ein gutaussehender junger Mann mit rotblonden Locken, der schwarze Kellneranzug steht ihm ausgezeichnet, nur die Fliege hängt, etwas verloren am Hemdknopf. Aus der Küche kommt seine Frau. Sie hat Shorts an, dazu einen sehr engen Pulli, die schlanken Beine stecken in hochgeschnürten Stiefelchen. Krüger kann nicht umhin, die junge Frau sympathisch zu finden, hübsch obendrein, trotz oder vielleicht gerade wegen des scheinbaren Widersinns einer Kombination von kurzen Hosen und Stiefeln. Jeden Mann, trüge er etwa zu einer Wattehose leichte Sandalen oder eben zu kurzen Hosen Schaftstiefel, würde man mitleidig belächeln oder für verrückt erklären, Frauen fand man hübsch. 166
„Wir müssen etwas besprechen“, erklärt ihr Krüger, fast noch steifer als üblich. „Waren wir zu laut?“ meckert Grabow ein Verlegenheitsscherzchen, schmettert, mit einem grimmigen Blick auf die Wohnungsnachbarin, erst jetzt seine eigene Tür zu und wundert sich verkrampft: „Und da kommt gleich die Kripo?“ „Ich habe einige Fragen an Ihre Frau zu richten.“ Vorerst richten sich dunkle, große Augen auf ihn; zögernd nickt Frau Grabow, rückwärts gehend, tastet sie sich zur Wohnzimmertür, öffnet sie, läßt den Oberleutnant stumm passieren und schließt sie rasch vor ihrem Mann, der wohl liebend gern auf seine Hausherrnrechte pochen möchte. Verlegenheit, Scham oder einfach Reflex; Frau Grabow rafft zunächst einige Kleidungsstücke von einem Drehsessel, um sie sinnlos auf einem anderen Sessel abzulegen. „Ich habe Haushaltstag“, sagt sie gepreßt, Erklärung für Unordnung und Anwesenheit gleichermaßen, und deutet einladend auf den nun freien Sessel. Krüger lehnt ab, warum, weiß er selbst nicht genau. Er hat sich eine harmlos erscheinende Einleitung zurechtgelegt, das Ziel in Belanglosigkeiten versteckt, meist eine bewährte Methode; aber nun fragt er, selbst für ihn überraschend, ohne Umschweife: „Wo waren Sie am Dienstagabend, Frau Grabow?“ Irgendwie muß die junge Frau genau diese Frage erwartet haben. Sie steht dicht vor Krüger, senkt den Blick. „Woher …?“ fragt sie leise zurück; noch überwiegt Abwehr. Zuviel Aufrichtigkeit wäre eine ausgemachte Eselei. Oberleutnant Krüger müßte dann schlicht zugeben, daß er im Grunde überhaupt nichts weiß, aber so leicht ver167
spielt man keinen plötzlichen Vorteil. Er wartet nur schweigend. „Es ist“, beginnt sie gezwungen, stockt, doch Krüger kann die Einleitung in Gedanken beenden – peinlich ist es ihr. „Also gut“, entschließt sie sich tapfer, „wir leben in Scheidung …“ Sie nickt zur Zimmertür und will nun, endlich entschlossen, weiter. „Ich war mit … mit …“, aber dann schafft sie es doch nicht. „Sie können den Namen vorläufig ausklammern“, hilft Krüger und erntet einen warmen Blick dafür. „Falls es sich nicht um den Namen Eggert handelt.“ „Aber nein“, fährt sie auf, gesteht dann: „Ich wollte eigentlich schon selbst kommen“ und wundert sich kaum noch über Krügers Bemerkung, daß er sich das gedacht habe, sie hält es fast für ein Lob. „Ja, wir waren da draußen – darum geht es doch, nicht? Gesehen haben wir eigentlich nichts Bestimmtes, für Sekunden einen Schatten, der hinterm Schilf verschwand, dann ein merkwürdiges Plätschern, als ginge jemand baden oder so … es war direkt unheimlich, wissen Sie?“ Oberleutnant Krüger nickt sparsam, natürlich weiß er es nicht, er war nicht dabei, man konnte es höchstens begreifen, vielleicht auch nachempfinden. „Die Uhrzeit wäre von Bedeutung.“ „Ja, so genau … vielleicht gegen elf?“ Sie errötet, sicher wegen des anschließenden Geständnisses, man sei dann auch gleich aufgebrochen, und lenkt rasch ab: „Später, etwa nach einer Viertelstunde, hat uns dann ein Motorrad überholt. Eine Jawa.“ „Kennen Sie sich so gut in Motorradtypen aus?“ „Mein … mein …“ „Ich verstehe“, hilft Krüger erneut. Wie für sich selbst, rechnet er laut: „Gegen elf, eine Viertelstunde später, 168
also etwa Viertel zwölf.“ Krüger betrachtet dabei die neckischen Stiefelchen und stellt die für Frau Grabow an sich belanglose Frage: „Sind Sie da nicht in den Lichtkegel geraten?“ Ihr ist es wiederum nur peinlich. „Wir hatten uns … wir wollten doch nicht …“ Man wollte natürlich nicht gesehen werden. Fest stand nun aber, daß Eggert Viertel zwölf noch mit Licht fahren konnte, sofern man ausschloß, daß irgendein Dritter zu so später Stunde, ebenfalls mit einer Jawa, dort draußen herumfuhr. Allerdings stand auch fest, daß Eggerts Lichtmaschine tatsächlich defekt war, der Regler klemmte. „Ich werde Sie vorladen müssen“, sagt er abschließend, „des Protokolls wegen, wobei sich kaum umgehen lassen wird, auch Ihren Begleiter zu hören.“ Er braucht sie gar nicht anzusehen, um zu wissen, daß genau dies die unangenehmste Seite der ganzen Angelegenheit ist, und fügt etwas scharf hinzu: „Wir sind zu strengstem Stillschweigen verpflichtet, Frau Grabow. Und wir richten uns im allgemeinen sehr nach unseren Pflichten.“ Er nickt ihr zu, tut, als verlasse er, in Gedanken, nur zögernd das Zimmer, reißt dann aber unvermittelt die Tür auf – Jörg Grabow hat Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren. „Alles mitbekommen?“ „Noch sind wir verheiratet, und da …“ Diesmal winkt Oberleutnant Krüger bewußt ab, der Herr Grabow mochte sich an seiner eigenen Nase zupfen, wie das nicht schön, aber treffend hieß, und sagt, Drohung und Angebot zugleich: „Sollten Sie Schwierigkeiten haben, Frau Grabow, ich bin auch dann für Sie zu sprechen.“ Damit geht, er und hält seine Überzeugung, daß man, 169
wie er zum Beispiel, alles mögliche tun kann, nur nicht überhastet heiraten, wieder einmal für bestätigt. In jeder Ehe, in die er im Fall Eggert hatte hineinhorchen müssen, stimmte der Pulsschlag nicht. Aber dann muß er lächeln; was würde der Genosse Hauptmann wohl zu dieser Theorie sagen? Er würde wahrscheinlich blinzelnd, paffend und recht gemütlich erklären, vielleicht ein bißchen zu optimistisch, diese Stadt beherberge an die tausend Ehepaare. Gewiß, in einigen Ehen werde es nicht stimmen, aber das sei noch längst kein Grund zur Resignation. Harmonische Ehen seien ziemlich sicher vor Anfechtungen, die in strafbare Handlungen ausarten, es sei denn, es habe sich gleich zu gleich gefunden. In einer „stürmischen“ Ehe gehe es oft nicht um Tatsachen, sondern leider viel häufiger um Einbildungen. Eine Tatsache lasse sich nachprüfen, beweisen oder belegen, aber wie solle man eine Einbildung belegen oder widerlegen? Oberleutnant Krüger ist zufrieden. Endlich hatte man eine Art Zeugen, eigentlich sogar zwei, und außerdem die Gewißheit, nunmehr doch mit dem Genossen Rodak übereinzustimmen, wenn man sich schon dessen Argumente zu eigen machte. Bei seiner Rückkehr ins Amt erhält Krügers ausgewogene Gemütsverfassung einen derben Stoß. Eine Bürgerin, Frau Gutewort, sei dagewesen und habe die Anzeige ihres Ehemannes betreffs eines Gelddiebstahls zurückgenommen, es sei ein Mißverständnis gewesen.
170
12. Kapitel
Christine Eggerts Heimatort ist eine aus einem großen Dorf periodisch gewachsene Bergarbeitersiedlung; Rodaks Fahrer findet das alte Bauernhaus, welches aus damaligen Notwendigkeiten heraus noch mit der obligatorisch hohen Mauer zur Straßenseite hin gesichert ist, ohne Schwierigkeiten. Der Umweg ist, gemessen an der Kilometerzahl, unbedeutend. Die verwitterte Haustür ist verschlossen, außerdem höchst unpraktisch angelegt, sie geht nach außen auf. Wer etwa auf der obersten der drei ausgetretenen Stufen stand und auf den Erfolg seines Klingeins wartete, würde unweigerlich von den Stufen gefegt. Auf Rodaks ausdauerndes Klingeln öffnet endlich ein etwa vierzigjähriger Mann, im Turndreß und mit schon bedenklich gelichtetem Haar, das wirr nach allen Seiten absteht. „Herr Töpfer?“ Rodak erntet matte Zustimmung, in der Ärger über die Störung mitschwingt. Der Hauptmann stellt sich vor und registriert Töpfers Verblüffung. Er macht regelrechte Plüschaugen, denkt Rodak erheitert, nickt dann zu der verständnislosen Frage, ob der Herr Hauptmann zu ihm wolle. „Kommen Sie doch ’rein“, murmelt Töpfer schließlich, wühlt dabei seine Haare noch mehr durcheinander, dann aber dämmert es ihm. „Sie kommen doch bestimmt wegen Christel!“ Die Bestätigung darauf beruhigt ihn soweit, daß er durch eine schmale Küche in das angrenzende Wohnzimmer vorangeht und sich sofort eines Rettungsankers 171
bedient; er zündet sich eine Karo an. Das Zimmer wirkt ausgesprochen behaglich, lediglich die Zimmerdecke ist, wie oft in alten Häusern, so niedrig, daß Zweimetermänner bei aufrechter Haltung in Schwierigkeiten geraten würden. Auch der Hauptmann raucht, nachdem er höflich um Erlaubnis gefragt hat, blickt einige Sekunden durch das Fenster, mustert, ohne es recht wahrzunehmen, ungepflegte Pflaumenbäume auf einer vernachlässigten Wiese, die sich nach etwa hundert Metern in halbhohem Gebüsch verliert, das stark an die verkümmerte Vegetation ‚sumpfigen Geländes‘ erinnert. „Eigentlich hätte ich auch gern Ihre Frau gesprochen“, sagt er schließlich. „Ist nur einkaufen, wird gleich dasein“, versichert Töpfer eifrig, fährt sich erneut durchs Haar und glaubt offenbar, seinen Aufzug entschuldigen zu müssen. „Ich habe Nachtschicht.“ „Wir müssen uns entschuldigen“, krächzt Rodak begütigend, während er besorgt die große Blumenbank unter dem Fenster mustert, besonders einen Gummibaum, dessen Blätter trübsinnig herabhängen; man sollte weniger oder überhaupt nicht hier im Zimmer rauchen. Ziergewächse sind augenscheinlich Töpfers Leidenschaft. Er tritt zum Gummibaum und hebt ein Blatt an. „ich kann machen, was ich will, immer gehen sie mir ein!“ Er deutet auf einen Topf mit russischem Wein, der auch nur noch mühsam ums Überleben kämpft, und behauptet betrübt: „Und was ich schon alles versucht habe, kein Umtopfen hilft, nicht die schönste Komposterde, nicht mal die lausige Chemie, eben nichts! Sie gehen ein, über Nacht, ganz still, und … und … na ja.“ „Blumen haben das so an sich“, bestätigt der Haupt172
mann nachdenklich, „sie sterben ohne viel Geschrei.“ Draußen klappt die Haustür, eine schon recht füllige Frau kommt hastig ins Zimmer, mustert die beiden Gäste deutlich nervös und sieht fast drohend ihren ahnungslosen Mann an, als sich der Hauptmann ausweist. Wehe, so sagt der Blick, du hast etwas ausgefressen! „Es handelt sich um Ihre Schwester.“ Hauptmann Rodak vertreibt unbegründete Sorgen, nickt zu dem prompt folgenden schwachen Seufzer, bittet um Verständnis für eine vielleicht merkwürdig anmutende Frage. „Ich hoffe auf ihre Hilfe.“ „Ist doch selbstverständlich“, versichert sie, die nur noch eine leichte Ähnlichkeit mit der bedeutend jüngeren Christine hat. Hauptsache offenbar, man wurde die Polizei schnell wieder los. „Worum geht es?“ In diesem Moment packt Herr Töpfer seine Frau hart am Oberarm und weist mit starrem Klick aus dem Fenster. „Laust mich der Affe, oder …?“ Vor den letzten niedrigen, verkrüppelten Birken steht, direkt: nach dem Fenster spähend, Horst Eggen, der sich, während die vier Personen im Zimmer je nach Veranlagung sein plötzliches Erscheinen verarbeiten, langsam wieder in Bewegung setzt, ohne Zweifel auf das Haus zu. Kein Mensch ist frei von Zufriedenheit über eine erstrebenswerte Lösung; Überraschungen, darf man verwünschen oder begrüßen. „Los!“ Hauptmann Rodak wirbelt behende zum Fahrer herum, der als einziger wohl, da er Eggert nicht kennt, mehr aus Neugier dem Mann entgegensieht. „Verbirg dich im Hof, Fluchtweg nach vorn zur Straße abschneiden! Notfalls festnehmen, klar?“ Dem Genossen Fahrer scheinen Flügel gewachsen zu sein: Er verschwindet ebenso blitzartig wie geräuschlos, 173
kein Schritt ist zu hören, keine Tür klappt. Der Hauptmann bückt sich ein wenig, versucht festzustellen, ob man im Zimmer von draußen gesehen werden kann, sicher ist sicher; der Mann dort draußen, ungefähr noch fünfzig Meter entfernt, war auf der Flucht, mußte mißtrauisch sein. Frau Töpfer indessen steht breit und wuchtig mitten im Zimmer; gemocht hat sie diesen Schwager nie, jetzt haßt sie ihn. „Wenn der Kerl doch nie hier aufgetaucht wäre“, stöhnt sie unterdrückt, „vielleicht lebte dann Christine noch!“ „Vielleicht“, murmelt der Hauptmann, „vielleicht aber auch nicht. ‚Der Tod ist gewiß‘, lautet ein altes Sprichwort, ‚ungewiß ist nur die Stunde des Todes.‘“ „Pst“, zischelt Töpfer aufgeregt, und Hauptmann Rodak ist nicht sicher, ob er Ruhe wünscht wegen des nun allmählich ganz nahe gekommenen Besuchers oder wegen des Themas, nervös indessen ist er gewiß, er zündet sich bereits die dritte Karo an, zwei qualmen schon im Ascher vor sich hin. Schritte tappen übertrieben laut im Flur, Hauptmann Rodak huscht ein wenig in die Deckung eines wuchtigen Kachelofens, dann klopft es, vielleicht etwas zaghaft, an die Küchentür. „Herein“, schreit Töpfer heiser, es hört sich an, als säße er halb unter Wasser. Dann schauspielert er aber doch einigermaßen, indem er den eintretenden Eggert trocken fragt: „Was willst denn du hier?“ Vielleicht ist es Eggerts Art, nicht von der Türschwelle her zu grüßen oder zu antworten, vielleicht auch treibt ihn das Mißtrauen ins Wohnzimmer; er hat auch keinen Gruß mehr nötig. Wuchtig und durch die flache Decke viel größer wir174
kend, steht Hauptmann Rodak einen knappen Meter vor ihm, sichtlich ruhig, obwohl er das keineswegs ist, und was er nun sagt, steht wohl in keiner Dienstvorschrift. „Irgendwo“, sagt der Hauptmann, genannt „BB“, „müssen wir uns schon einmal gesehen haben, wie?“ Eggert macht noch eine Bewegung, die man als Abwenden bezeichnen könnte, unentschieden allerdings, ob es Einsicht ist, daß er die Schultern sinken und sich wortlos Handschellen anlegen läßt. Sein Blick aber auf die Fesseln aus Edelstahl drückt die gleichen Empfindungen aus, wie sie der Hauptmann fast immer beobachten konnte. Viel Resignation, etwas Scham, ein bißchen dumpfe Wut und eine Prise Verachtung. „Gehen wir“, sagt der Hauptmann. „Ich wollte sowieso …“, beginnt Eggert, verstummt. Aber Rodak weiß schon, was Eggert wollte, angeblich wollte, mußte man wohl sagen. „Sehen Sie, Eggert“, brummelt er, „das sagen eigentlich alle – freilich erst, wenn wir sie schon haben.“ Und da steht er nun am Teichufer, Ausgangspunkt und Endstation, einen halben Schritt vom Wasser entfernt, den Kopf gesenkt; ist es Schuldgefühl, oder blendet ihn die schon tiefstehende Sonne? Stundenlang hat er auf Fragen geschwiegen, die Achseln gezuckt, den Kopf geschüttelt; Hauptmann Rodak, trotz überlegener, fast heiterer Ruhe, war dann doch ungeduldig geworden. „Na schön“, hatte er vor einer halben Stunde gemurrt, hatte dem Genossen Oberleutnant einen Wink gegeben, sich kurz mit ihm besprochen, und nun stand man hier. Die Konfrontation mit dem Ort eines schrecklichen Geschehens wirkte noch immer auf sensible Gemüter. Und 175
dafür durfte man diesen verschlossenen Menschen Eggert denn doch halten; ein finsterer Gesichtsausdruck, ein ablehnendes Wesen sagte noch längst nichts über den wahren Zustand aus, zu viele Menschen trugen unsichtbare Masken. Einen Punkt freilich hatte es noch gegeben, bei dem Oberleutnant Krüger nochmals mit Befremden reagierte, obwohl er inzwischen mit Ziel und Art des Genossen Hauptmann übereinzustimmen glaubte: die Handschellen. Eggert hatte sie sich zwar anlegen lassen, was blieb ihm auch sonst, übrig, Haltung und Gesichtsausdruck waren Widerwille in Vollendung gewesen. „Wir haben unsere Vorschriften“, hatte der Hauptmann zunächst ernsthaft kommentiert, um dann freilich mit seltsamer Ironie hinzuzufügen: „Aber wenn es Sie tröstet – ich mag die Dinger auch nicht sonderlich.“ Da ist eine Kindheitserinnerung, die Rodak ebensowenig vergessen kann, wie kein Mann je sein erstes Mädchen vergaß. In Dessau war es gewesen, mitten im hastigen Getriebe eines Bahnsteiges, wo er den ersten Menschen mit Handschellen gesehen hatte, als zehnjähriger Junge. Der Gefesselte hatte jene erst später in voller Bedeutung erkannte Kleidung getragen, blau und weiß gestreift, und er war unglaublich dürr gewesen, abgemagert, ein blauweißes Gespenst zwischen Feldgrau. Gehustet hatte er, die Hände wohlerzogen zum Mund gehoben. Hatte das schon unbegreiflich erschütternd gewirkt, so hatte der hohle Klang dieses Hustens in dem Zehnjährigen das merkwürdige Wissen geweckt, der Mann da war so gut wie tot. Der hat die Motten bis zum Stehkragen, hatte irgend jemand hinter ihm gemurmelt, wie ein deftiger Spaß hatte es geklungen, Motten und Stehkragen, und erst viel später hatte Rodak gelernt, daß damit hochgradige Schwindsucht gemeint ist. 176
Doch nun steht man hier und wartet; drüben, halbrechts auf dem Mauerstreifen, steht seit Minuten regungslos Frau Fenner, ihre Arme hängen irgendwie hilflos herab. „Wir haben viel Zeit“, krächzt Hauptmann Rodak eben, klatscht nach einer Mücke, ohne sie zu treffen, und meint genau das Gegenteil. „Oder“, fragt er dann sachlich, „stört Sie Frau Fenner?“ Achselzucken, dann mürrisch: „Nein.“ Es ist Eggerts erstes Wort, seit er den Wagen bestiegen hat. Er blickt kurz hinüber, und es ist, als übermittele er einen Befehl. Frau Fenner wischt sich über die Augen, wendet sich schwerfällig ab und taucht in den Schutz der gemauerten Laube. „Zu ihr wollten Sie doch an jenem Abend, nicht, wahr?“ Wieder Achselzucken. Rodak nickt dazu, als sei das die erwartete Antwort, fragt dann, scheinbar uninteressiert: „Was meinen Sie, Eggert, wußte Ihre Frau von – sagen wir – von dieser Freundschaft?“ Kopfschütteln, dann zögernd Logik. „Es muß ihr wohl irgendein Trottel erzählt haben.“ „Richtig“, lobt Rodak spöttisch. „Warum sonst sollte sie auch ausgerechnet hierher gegangen sein? Vielleicht wäre es doch gut, sich, ist man erst einmal verheiratet, nicht mit ehemals guten Bekannten zu treffen, zumindest nicht heimlich.“ Ausgerechnet bei diesem Thema wird Eggert mobil. „Warum nicht?“ fährt er auf. Offenbar hat er darüber auch schon nachgedacht, ist zu einem für ihn befriedigenden Resultat gekommen. „Von einer ehemaligen Freundin erwartet man wenigstens keine Wunder, keine Überraschung. Man kennt sich von allen Seiten, kann 177
sich über unmögliche Dinge unterhalten, braucht nicht über solche Umwege zu werben, man kann sich ohnehin nichts mehr vormachen, versteht sich auf Anhieb.“ „Mhm“, macht der Hauptmann und blinzelt dem Genossen Oberleutnant zu, „könnte was dran sein, Eggert! Allerdings – nachdem wir nun die Sprache wiedergefunden haben –, ich hätte nun doch gern eine Schilderung, zumindest aus Ihrer Sicht, wie Ihre Frau ums Leben kam. Und das, wenn es sich einrichten läßt, etwas zügig!“ „Sie glauben mir ja doch nicht!“ „Oh!“ stößt der Hauptmann so anerkennend aus, als sei dies genau die Klippe, die er gern umschifft hätte, wenn es auch leichthin, fast verständnisvoll klingt. Doch dann wird er heftig, unversehens wie meist, ein absoluter Böseblick. „Wir haben etwas gegen Sie, was? Wir sind nur bemüht, Ihnen ein Verbrechen anzuhängen, was sonst! Mensch, Sie denken ja noch immer an längst überwundene Krankheiten! Das mag ja früher angebracht gewesen sein, streite ich gar nicht ab; aber inzwischen sind wir doch zehn Jahre weiter! In zehn Jahren wird aus einer Zehnjährigen eine Zwanzigjährige – und Sie glauben gar nicht, wie gescheit und vorurteilslos man in zehn Jahren werden kann! Und nun bitte – oder Sie verderben sich die letzten Sympathien, die ich noch für Sie hege! Und das tue ich, so ulkig es Ihnen und auch anderen klingen mag – warum, erkläre ich Ihnen später oder auch nie!“ Sie sehen sich an, der Hauptmann und Eggert. Rodak ist wütend, Eggert ungläubig, aber doch mit leiser Hoffnung. Gab es denn das, der ist doch ein Kripomensch, ein Bulle! Und als sei eben über ganz Belangloses gesprochen worden, fragt der Hauptmann, während er sich den Zigarrenstummel anzündet, was nun wieder so leichthin und vertraut wirkt: „Sie fuhren also mit dem Motorrad 178
hierher, nach dem Streit oder auch mittendrin, um eine Seele zu treffen, die sich Ihren Jammer anhört – so war es doch?“ „Ja“, gesteht Eggert gehorsam, offenbar hat ihm die Versicherung des Hauptmanns imponiert, vielleicht aber auch hält er diesen Zeitpunkt für günstig, endlich mit seinem Jammer fertig zu werden. „Ja“, wiederholt er, „ich fuhr nach hier. Eigentlich wollte ich gar nicht, verstehen Sie … irgendwie wußte ich, daß es keinen Sinn hat, daß sie …“, er deutet matt zur Laube hinüber, „daß sie nicht hier war. Aber … ‚Hoffen und Harren hält manchen zum Narren.‘ Sagte meine Mutter immer.“ „Bekannt“, nuschelt Rodak, wobei offenbleibt, ob ihm die Tatsache oder der Ausspruch geläufig ist. „Sie fuhren also hierher. Wo ließen Sie das Motorrad?“ Eggert deutet zum Kiefernwäldchen. „Dort natürlich“, sagt er, als sei es natürlich, sein Fahrzeug zu verstecken, wenn man doch ganz harmlose Dinge vorhat, „und da saß ich dann auch, als ich sie kommen sah. Eigentlich sah ich nur das Licht am Fahrrad, es war ja schon fast dunkel … aber ich wußte, daß es …“, den Namen seiner toten Frau kann er nur zögernd, irgendwie horchend aussprechen, „… nur Christine konnte es sein. Ich kannte auch das Geräusch des Dynamos, der schnarrte so eigentümlich, wissen Sie …“ „Sie kam also“, erinnert Hauptmann Rodak nach einigen Sekunden, „und Sie konnten sich doch denken, warum sie kam?“ „Sie kam“, wiederholt Eggert, und obwohl es rein sachlich klingt, ist doch etwas Bewegung zu spüren, „und stellte ihr Fahrrad dort …“, er deutet auf einen Apfelbaum, etwa zehn Meter entfernt, dessen Fruchtansatz eine recht ordentliche Ernte verspricht, „dort stellte sie es 179
ab und sah hinüber.“ Beide Hände mit der Fessel deuten zum Gartengelände der Fenners. „Aber dort war ja niemand.“ „Spätestens da hätten Sie wissen müssen, was Ihre Frau ausgerechnet nach hier getrieben hatte!“ Eggert nickt. Genau wie der Hauptmann sieht er hinüber, wo hinter der Schilfwand immer mehr Neugierige ihre Köpfe recken. Ein vorwitziger Bengel hängt verwegen an einem dünnen Birkenstamm und beobachtet mit offenem Mund den Schauplatz. „Und weiter?“ „Weiter!“ Resignation und Widerstand sind zu überwinden. „Sehen konnte man nicht mehr viel“, erinnert sich Eggert mühsam, „plötzlich war … war meine Frau weg, nicht, mehr zu sehen. Nur das Fahrrad, wissen Sie, die verchromten Teile, die schimmerten undeutlich im Licht, Sterne müssen es gewesen sein. Ich habe eine ganze Weile gesessen und gewartet, wie lange weiß ich nicht, dann bin ich losgegangen, leise … ja, nach dort!“ Die Hände schwingen in Richtung zum verwitterten Bohlensteg, von wo der Angler Wolter seine Beobachtung machte. „Und da war mir, als säße sie hier in diesem Boot.“ „Und dann?“ Hauptmann Rodak drängt maßvoll, aber zielstrebig. „Dann, dann!“ Eggert stiert bedrückt auf das Boot. „Hergeschlichen habe ich mich, allmählich wurde ich wütend … verstehen Sie doch! Soviel Ausdauer für nichts! Sollte sie doch lieber … ja, genau das habe ich noch gedacht, sollte sie doch lieber Strümpfe stopfen, dafür hatte sie nämlich überhaupt nichts übrig, oder irgend etwas Nützliches tun, nicht bloß hier herumsitzen und warten, daß ich Mist baue!“ „Für nichts, sagen Sie?“ 180
„Herrgott, ich habe doch nichts mit Frau Fenner!“ „Nicht mehr!“ Für Sekunden ist eindeutig Eggert, ein Mensch also, den man beherrschen muß, der Überlegene. „Ich habe Christel auch nie einen Vorwurf daraus gemacht, daß sie nicht als unberührte Jungfrau zu mir kam!“ Hauptmann Rodak muß dieses Argument akzeptieren; man sollte Wunschdenken tunlichst nicht mit der Realität verwechseln. Er nickt etwas verlegen und rettet sich in die vorgezeichnete Bahn. „Weiter, Eggert, weiter!“ „Dann … dann … sie hat mich gar nicht gehört, sie muß tatsächlich eingeschlafen gewesen sein! Das konnte sie, in jeder beliebigen Stellung schlafen … Viel hat nicht gefehlt, und sie wäre einfach ins Wasser gekippt, und … und …“ Als täte ihm nun die Redseligkeit leid, winkt er, was sich wegen der Handschellen, der gekoppelten Hände, überaus unernst ansieht, rechthaberisch ab und knurrt: „Ist doch sowieso egal!“ Hauptmann Rodak zieht die Augenbrauen hoch, kratzt sich ausgiebig die Brust und kontert gelassen: „Wenn es egal ist, können Sie ja unbeschwert weitererzählen.“ Doch dann schwingt wieder ein böser Unterton mit. „Egal ist Ihnen im Augenblick höchstens Ihr linker Schuh, dabei wissen Sie ganz genau, daß ein beträchtlicher Teil Ihrer Zukunft von Ihren Ausführungen abhängt! Und noch eins: Ich mag schon Leute nicht, die anderen etwas vormachen wollen, widerwärtig hingegen sind mir solche, die sich selbst etwas vormachen!“ „Meine Zukunft!“ Eggerts Hohn will nicht so recht glücken. „Die haben es mir ja umgehend beigebracht, den Bus haben sie mir einfach weggenommen, ist meiner so gut wie ihrer – oder was sonst heißt Volkseigentum?“ Als sähe er ein, daß dieses Argument recht dürftig ist, 181
zerrt er seine Hände auf das Boot und stöhnt: „Reingefallen ist sie, einfach ins Wasser gefallen … auf den Scheißkahn da bin ich gesprungen, bißchen auf eine Seite, das Ding ist halb umgekippt, und …“ Auswischen wollte er ihr eins, sie davon kurieren, ihm nachzuschleichen. Er habe ihr auch vertraut, schließlich sei sie nicht nur mit holden Jungfrauen zusammen gewesen während der Arbeitszeit; aber sie sei ja manchmal sogar auf Fahrgäste eifersüchtig gewesen, die sie gar nicht kannte; sie hätte einfach angenommen, er habe eben etwas mit ihnen. Welch ein Blödsinn! „Nur“, sagt er dann, plötzlich beherrscht oder vielleicht auch von der Erinnerung gepackt, „sie fiel einfach ins Wasser … Ich dachte noch, na, jetzt wird sie sich aber erschrecken und vor Angst schreien, aber … nichts! Tief ist es hier ja noch nicht, einen Meter vielleicht. Sie muß sich hinter dem Boot versteckt haben, dachte ich dann, und eigentlich war ich noch immer bloß wütend, nicht mal in solch einer Situation gab sie nach … irgendwie war ich sogar enttäuscht.“ Eggert fährt sich mit den Händen unbeholfen über die Stirn, heiß ist ihm. Fast schon stereotyp drängt Hauptmann Rodak: „Weiter, Eggert, immer weiter.“ „Gegangen bin ich“, erklärt Eggert abweisend; die Hände schwingen träge zum Wäldchen hin, „zur Maschine. Aber an diesem Abend ging alles verquer – die Batterie war total leer, und da stand ich denn.“ Obwohl dieser Punkt irgendwann kommen mußte, zieht Rodak die Stirn in Falten, blinzelt den Genossen Krüger an und will damit wohl ausdrücken: Jetzt nimmt uns der Eggert aber richtig auf den Arm. Auch Krüger kann nicht umhin, spöttisch zu lächeln, wenn seine folgende Bemerkung 182
auch mehr ein Schuß ins Blaue ist: „Immerhin sind Sie später noch gefahren – wie haben Sie das Kunststück fertiggebracht, eine Batterie im Wald aufzuladen?“ „Gar nicht!“ Eggert reagiert wie immer höchst empfindlich, stellt man seine Fachkenntnisse in Frage. „Ich … eine andere habe ich mir besorgt.“ „Besorgt …“, dehnt Krüger ironisch. „Das ist in gewissen Kreisen eine sehr zarte Umschreibung … Weiß der ‚Spender‘ von seinem Glück?“ Eggerts Protest klingt angesichts der Geschehnisse, gegen die ein kleines Eigentumsdelikt harmlos ist, fast grotesk. „Sie halten mich wohl für einen Dieb, was?“ Ausgetauscht habe er seine Batterie gegen die eines Kumpels, er nennt auch Namen und Adresse. Ja, der habe schon geschlafen, aber erstens wollte er ihn nicht extra wecken und zweitens stände dessen alte Karre bei Wind und Wetter unter dem Balkon. „Nehmen wir an, es war tatsächlich so“, lenkt Hauptmann Rodak von der sekundären Geschichte ab, „gingen Sie zu Fuß zu diesem Kollegen?“ Eggert bemerkt die kleine Falle nicht. „Wie sonst? Nur, als ich zurückkam …“ Wieder stockt er kurz, dann sagt er leise: „Herrgott – es war doch meine Frau, verstehen Sie das nicht? Ich konnte doch nicht einfach … nicht so tun, als wäre nichts passiert?“ „War denn etwas passiert?“ „Ihr Fahrrad stand noch da“, sagt Eggert, sieht sich nach dem Apfelbaum um, schüttelt abwesend den Kopf, als begreife er auch jetzt noch nicht, wieso ausgerechnet das Fahrrad noch immer da stehen konnte. „Und sie war nirgends … Der Kahn da war etwas abgetrieben, nicht viel; sonst nichts. Es war ja dunkel, wissen Sie, und das Schilf hier ist wohl besonders dicht … Ich dachte erst, 183
weil sie ja immer genau das tat, was mich ärgern mußte, sie sei zu Fuß nach Hause, bloß damit das Rad hier weg war, durch meine Schuld natürlich, und ich ihr ein neues kaufen muß.“ „Bißchen ungewöhnlich, wie?“ „Bei Christine war nur das Normale ungewöhnlich“, sagte Eggert, und er scheint auch völlig von dieser waghalsigen These überzeugt zu sein. „Weiter!“ „Weiter“, wiederholt Eggert mechanisch, „weiter! Es war alles … irgendwie war alles so verdreht, andererseits kam mir auch alles wie gehabt, regelrecht vertraut vor: Die Maschine bockte, wahrscheinlich, nein, sicher durch meine Schuld, im Finstern montieren, Christine nirgends zu sehen, und nun hatte ich auch noch das Fahrrad am Hals! Ich … bin damit nach Hause gefahren.“ „Weil Ihnen das Rad, vielmehr das Geld für ein neues leid tat?“ Eggert ist für Sekunden die Kopie eines Böseblicks. „Ich habe manche Dinge doppelt und dreifach gekauft, um des lieben Friedens willen! Aber … natürlich, ich hätte ihr gern gesagt, daß man nicht so leichtsinnig mit seinem Eigentum umgehen soll, ich hätte, wenn auch nur in diesem Punkt, recht gehabt: und damit die ganze Schlacht gewonnen … nur, sie war gar nicht da!“ Hauptmann Rodak nickt; verwunderlich blieb allerdings, daß Eggert keinem Menschen begegnet war; man schien in dieser Gegend ausgesprochen zeitig ins Bett zu gehen. Wahrscheinlicher war indessen, daß Eggert, sei es unbewußt oder auch bewußt, jedem Menschen ausgewichen war. „Sie können sich nicht, vorstellen“, fährt Eggert gepreßt fort, „wie komisch mir auf einmal wurde. Ich 184
raste zurück, unterwegs fiel mir ein, daß ich das Fahrrad gar nicht gebrauchen konnte, ich hatte doch immer noch die Jawa … Ich ließ es einfach stehen, schon, damit ich wegen des Rades nicht nochmals hierher mußte … im Grunde nämlich wußte ich plötzlich, daß sie … daß Christine … aber man hofft ja dennoch, daß nicht das passiert sein kann, was man doch mit absoluter Sicherheit weiß …“ Er wechselt abrupt das Thema, deutet unbestimmt auf die fast bewegungslose Wasserfläche und sagt unangenehm sachlich: „Da vorn fand ich sie, ich bin sogar auf eins ihrer Beine getreten, als ich den Kahn ans Ufer schob; sie lag genau darunter.“ Aber dann würgt er doch; nur wenige Männer sind abgebrüht genug, ihre tote Frau nachts ohne Regung aus einem Gewässer zu fischen. „Und wie leise sie gestorben ist“, sagt Eggert dann ohne rechten Zusammenhang, ein wenig vorwurfsvoll, als müsse der Mensch im Augenblick des Sterbens schreien, aufbegehren oder doch wenigstens protestieren. „Fällt ins Wasser und stirbt, ganz still wie … wie …“ „Wie eine Blume vielleicht?“ hilft Rodak bedächtig. „Wie eine Blume“, wiederholt Eggert völlig ernst, fast dankbar für soviel Verständnis, nickt irgendwie sonderbar dem Wasser zu und bemerkt, als habe jemand dieses plötzliche Ertrinken angezweifelt, daß es so etwas gäbe, er habe nachgeschlagen. „Wissen wir.“ Hauptmann Rodak winkt müde ab, es gab noch viel merkwürdigere Todesarten. „Sie haben wohl oft in dem Buch gelesen?“ Eggert schüttelt den Kopf. „Ich nicht – Christine. Sie muß es auswendig gekannt haben. Komisch nur, daß sie sofort wegsah und sich die Ohren zuhielt, wenn im Fernsehen mal ein Mord vorgespielt wurde.“ 185
„Darüber können wir uns später wundern“, meint Rodak. Eggert sieht den Dicken an, als wundere ihn dessen Art nun doch erheblich, kapiert aber hat er. „Es war … gräßlich war es“, bekennt er zögernd, und das durfte man ihm getrost glauben. „Und dann, ich hatte sie gerade halb an Land, dann hörte ich Stimmen, jemand lachte sogar … lachte!“ „Ich vermute, daß Sie dann schleunigst getürmt sind?“ „Ich war ziemlich durcheinander …“ „Trotzdem hätte Sie Ihr Weg nun direkt zu uns führen müssen, Eggert!“ Darauf glaubt Eggert lächeln zu müssen, freilich ohne Zuversicht. „Als wenn Sie mir ein Wort geglaubt hätten!“ „Genau das erwarten Sie ja jetzt auch!“ knurrt der Hauptmann beinahe gelangweilt, gibt dann sogar zu: „Immerhin, so märchenähnlich ist die Geschichte gar nicht, möglich auf jeden Fall. Ob sie freilich wahr ist …? Da wäre nämlich Ihre Angabe, sie hätten Ihr Krad schieben müssen, mangels Strom.“ „Die andere Batterie hatte auch nur gerade so viel Saft drauf, daß ich von hier weg kam“, verteidigt sich Eggert. „Können Sie sich unter Tablettensucht etwas vorstellen?“ Da die Antwort, vielleicht weniger aus Unkenntnis als vielleicht wegen des gedanklichen Saltos, auf sich warten läßt, forscht Rodak weiter, wobei er, anscheinend in Gedanken, mit irgend etwas in der Jackentasche spielt: „Wie es den Alkoholmißbrauch gibt – Nikotinmißbrauch sowieso –, macht sich allmählich auch ein gewisser Mißbrauch von Medikamenten breit, einer Sucht sehr ähnlich … Könnte es sein, daß Ihre Frau davon abhängig war?“ 186
Eggert schüttelt sehr bestimmt den Kopf, sagt: „Ausgeschlossen“, denkt wohl dann erst richtig nach und meint zögernd: „Das heißt … sie hatte da so eine Angewohnheit, Sucht kann man das kaum nennen, weil … nun ja, manchmal nahm sie schon einige Tabletten auf einmal, harmloses Zeug, Spalt oder so. Und das immer mitten oder am Ende eines schönen Krachs.“ Er hebt die Schultern, mitleidiges Unverständnis andeutend. „Was das Zeug helfen oder nützen sollte, weiß ich wirklich nicht … Theater war das, weil sie es immer so machte, daß ich es unbedingt sah.“ „Möglich“, gibt Hauptmann Rodak zu, zieht aus der Jackentasche sein Spielzeug, das sich als jenes Röhrchen, made in Bulgaria, entpuppt, und hält es Eggert zwischen Daumen und Zeigefinger entgegen. „Waren auch solche darunter?“ Die Antwort ist nur Echo. „Möglich.“ „Genauer, Eggert! Daran kann man sich erinnern!“ Eggerts jähes Mißtrauen ist verständlich; mit diesem Röhrchen mußte es eine besondere Bewandtnis haben, die Polizei fragte nicht nach Albernheiten. „Das sind doch auch nur Schmerztabletten“, sagt er geringschätzig, gibt aber zu: „Aber solch Zeug hat sich bei uns schon rumgetrieben.“ „Eine vortreffliche Formulierung für die katastrophale Unordnung in bezug auf Arzneimittel in Ihrem Haushalt, Eggert!“ Der Hauptmann wirft das Röhrchen hoch, fängt es wieder, um es Eggert, diesmal auf der flachen Hand, zu präsentieren. „Und aus diesem Röhrchen hat sich Ihre Frau an jenem Abend bedient!“ Achselzucken. „Kann sein.“ Spott als Reaktion. „Das war nicht gut eben, Eggert – wir hörten vorhin, Ihre Frau habe stets vor Ihren Augen 187
Tabletten eingenommen.“ „Ich kann mich trotzdem nicht erinnern.“ Hauptmann Rodak nickt beinahe freundlich. „Aber klar, Eggert – immer wachsam, nicht?“ „Also gut – ich glaube schon, daß es solche gewesen sind. Wahrscheinlich fand sie gerade keine anderen, was weiß ich? Die lagen ja immer woanders herum.“ „Vielleicht haben Sie dieses Röhrchen extra hingelegt?“ „Warum sollte ich?“ „Weil hier drin mit einiger Sicherheit, besser gesagt, mit absoluter Sicherheit, Schlaftabletten waren, Eggert!“ Hauptmann Rodak klopft nachdrücklichst auf das Glasröhrchen. „Und ich wüßte gern, wie sie hier hineingekommen sind.“ Dann sagt er ohne Übergang: „Steigen Sie ein!“ Der Junge, eng in das Polster des Fahrersitzes gepreßt, hält den Atem an, liegt regungslos. Der Mann dort vorn, der eben gemächlich um die Werkstattecke schlurft, darf ihn hier nicht sehen, nicht einmal ahnen. Geschafft hat er es, der Lutz Eggert, unbemerkt von den Großen in den nicht abgeschlossenen Autobus zu schleichen, auf den Platz, der seinem Vati gehörte. Hier wird ihn keiner suchen, hier nicht! Und überhaupt, die Großen waren ganz schön dumm. Der Schaffner im Schnellzug, na, den hat er schön reingelegt, von wegen Fahrkarte und so. Die Karte hätte Vati, hat er einfach gesagt, und der säße im Speisewagen … Lutz wälzt sich ruckartig herum. Immer dieses gemeine Gerede über den Vati! Nicht bloß die Telefoniererei von Herrn Bender gestern nacht mit der Polizei; überhaupt sollte der Bender seine Tabletten ins Klo schmeißen, die halfen vielleicht gegen lange Fingernägel, gegen 188
Zahnschmerzen aber bloß zehn Minuten. Aber da waren vorhin zwei Kollegen von Vati, und die … ja, die hatten den Vati schlechtgemacht. Nun hätten sie ja endlich den Vati geschnappt, hätte einfach seine Frau umgebracht. Vatis Frau ist Mutti. Wenn alles gut war, hieß sie Christel für Vati, und nun sollte der Vati die Mutti umgebracht haben, so’n Quatsch! Vati hat doch sogar geschimpft, wenn Mutti eine Spinne totmachte, weil Spinnen zwar nicht niedlich, doch aber nützlich seien, weil sie nämlich Fliegen und solch Zeug fraßen – selber alles Spinner! Wieder schmeißt er sich herum, seelische Belastung einfach in körperliche Bewegung umsetzend. Er hat keine Ahnung, daß mancher alte Herr über fünfundsechzig sich noch umstellt, den gewohnten Lebensrhythmus sozusagen auf den Kopf stellt, statt am Tage nachts wacht und deswegen auch Nachtwächter heißt. Opa Liebkind gehört dazu. Seine Pflichten sind, entsprechend dem Gehalt, von mäßiger Schwere, eigentlich kinderleicht, für Kinder dennoch nicht geeignet. Zu Liebkinds Pflichten gehört regelmäßiges Abwandern des eingezäunten Geländes, er muß hier und da an Türen rütteln, gelegentliche Wünsche auf ein Taxi registrieren und selbstverständlich getreulich Berichte schreiben, falls es etwas zu berichten gibt, zumindest aber den höchst befriedigenden und angestrebten Satz eintragen: Keine besonderen Vorkommnisse. Heute nacht indessen muß er den Satz zu einer Art Aufsatz erweitern. Er stapft, den Weg von der Waschanlage kommend, die Front mattblinkender Autobusse ab, als er ungläubig blinzelnd bemerkt, daß ein Ikarus sich ganz leicht in den Federn bewegt. Daß Liebkind es überhaupt registriert, liegt an der fast feierlichen Stille ringsum. 189
Zugegeben, er war ohnehin nie der Tapferste, mit zunehmendem Alter wuchs außerdem die Überzeugung, daß er dennoch manchmal, im Krieg zum Beispiel, entschieden zu tapfer gewesen war. Die ganze Tapferkeit nützte einen Dreck, wenn man dabei in ebendiesen Dreck fiel, um anschließend mausetot zu sein. Und so schleicht er für alle Fälle recht vorsichtig an die Fahrertür, um einen Blick ins Innere zu wagen, schließlich konnte nur ein Lebewesen von einigen Kilo Gewicht das leichte Schwanken verursacht haben. Liebkind glotzt verdattert in zwei weit aufgerissene Kinderaugen. Seit Kindesbeinen auf Pflichtgefühl und Autoritätsstreben gedrillt, denkt er wahrhaftig, weiter in die Riesenaugen starrend, das hier geht gegen jede Betriebsordnung. Autobusse konnte man zwar zu den verschiedensten Dingen gebrauchen, unter den Augen eines so wichtigen Mannes, wie er es ist, hatte das gefälligst zu unterbleiben; wozu schließlich ist er da? Auf Zehenspitzen stehend, hat selbst ein Mensch im besten Alter wenig Halt, noch weniger ein alter Rentner, und so wankt Opa Liebkind mehrere Meter taumelnd zur Seite, als der „blinde Passagier“ nun auch noch die Initiative ergreift und die schwere Tür aufstößt. Liebkind erkennt gerade noch Lutz Eggert, den er wie viele Kinder der Kollegen Kraftfahrer kennt, dann hetzt der Bengel auch schon quer über den holprigen Hof, um sich über den Maschendrahtzaun zu schwingen und in der Nacht unterzutauchen, die kleine Menschen noch hastiger verschlingt als große. Wenig später hockt Liebkind denn auch vor seinem Wachbuch, die etwas steifen Finger mühen sich mit dem Kugelschreiber. Resultat der Mühe ist die in gotischen, 190
leicht verschnörkelten Buchstaben, aus denen ein Graphologe auf eine gewisse Geltungssucht, schließen würde, abgefaßte Eintragung, daß eine fremde Person aus einem Autobus vertrieben worden sei. Dieser wiederum sei nicht, entgegen aller Vorschrift, abgeschlossen gewesen. Das wird dem noch neu-stolzen Kollegen Pattky seine erste Verwarnung einbringen. Dann erst, zögernd, zieht er das Telefon näher heran. Er weiß nicht recht, wen und ob er überhaupt anrufen muß, den Hellwig oder gleich die Polizei. Die Wahl fällt auf die Polizei als zuständige Stelle, weniger um der einen Dienst zu erweisen, wenn ihm auch allmählich bewußt wird, daß alles mit dem Namen Eggert Zusammenhängende von Bedeutung sein kann, vielmehr aus der unbehaglichen Erfahrung heraus, daß ihn Hellwigs Karl anknurren würde, was, zum Teufel, ihn nachts um elf Uhr der Bengel dieses gerade heute fristlos entlassenen Eggert angehe. „Beatle der!“ grunzt Liebkind verhalten an die Adresse des Kollegen Einsatzleiters, und das ist, wenn es sich auch stark nach schlichtem „Bittel“ anhört, die kräftigste Verwünschung, die dem Alten im Augenblick zur Verfügung steht. Später, als in ihrem regelmäßigen Leben üblich, ist es geworden, viel später. Mutter Sandow dreht sich rechtschaffen abgespannt auf ihre Einschlafseite, wie sie das seit Jahrzehnten macht. Besuch hatten sie bekommen, überraschend, wie sich das für einen stets willkommenen Besuch gehörte; der älteste Enkelsohn. Dort am Schrank, jetzt nur zu ahnen, hing seine Uniform, Soldat ist er zur Zeit, bei der Fahne, wie er es nennt. Vater Sandow schnarcht verhalten vor sich hin, noch 191
war es erträglich, wahrscheinlich mußte sie ihn in Kürze zur Ordnung rütteln. Der Besuch hatte jene Nachricht, daß man Eggert gesehen hätte, mit diesen scheußlichen Dingern um die Handgelenke, ziemlich stark in den Hintergrund gedrängt, nun ist sie wieder voll gegenwärtig. Unwillkürlich richtet Mutter Sandow sich auf – trotz der Mücken steht das Fenster offen –, späht angestrengt nach drüben, sieht natürlich nichts als den dunklen Klotz eines Hauses. Ein bißchen unheimlich ist das doch, dieses tote Nachbarhaus, wenn auch, das sah man schließlich hin und wieder, drüben noch immer ein Volkspolizist steht, sitzt oder auch herumgeht. Sie weiß nicht, daß der Genosse drüben vor einer halben Stunde auch über einen Besuch informiert worden ist, einen vorerst nur möglichen freilich. Mutter Sandow sucht erneut ihre Einschlafstellung. Gottogott, schlimm ist die Geschichte; eigentlich ist er zu bedauern, der Herr Eggert. Ihr fällt ein, daß sie selbst unlängst Mord und Totschlag prophezeit hat; das nun wenigstens hätte nicht in Erfüllung zu gehen brauchen. Wenn Beten etwas rückgängig machen könnte, sie würde jetzt beten, nicht bloß darum, daß der Herr ihr eine ruhige Nacht und ein gesundes Erwachen beschere. Statt nun endlich einzuschlafen, ist sie plötzlich hellwach – dieses Quietschen, mehr ein feines, langgezogenes Fiepen, das kennt sie genau. Da, noch mal und noch einmal! Das ist die sogenannte Hollywoodschaukel im Hof, unter dem Nußbaum, die Tochter hatte sie ihr im vergangenen Sommer geschenkt. Anfangs war ihr das neumodische Ding nicht sonderlich sympathisch gewesen und reichlich überflüssig vorgekommen; überraschend schnell hat sie sich aber doch damit befreundet, und jetzt pflegt sie ihr Nachmittagsschläfchen mit deut192
lichem Wohlbehagen nur noch auf dem sanft schwankenden Möbel abzuhalten. Eben mußte jemand die Schaukel in Bewegung gesetzt haben, vielleicht wieder dieses verdammte Katzenvieh, der Herrgott mochte wissen, wem das stattliche Biest eigentlich gehörte. Sie mochte Katzen nicht, und der Gedanke, daß sich eine auf ihrer Decke aalte, verursachte ihr Unbehagen. Am Ende beschmutzte das Luder noch die Decke, vom Gestank ganz zu schweigen! Das läßt ihr keine Ruhe, sie richtet sich verärgert auf, angelt mit den müden Füßen nach den Pantoffeln und schlurft im Dunkeln durch Küche und Flur zur Hintertür, erst hier das Hoflicht einschaltend. In der plötzlichen Helle fährt ein wuscheliger Jungenkopf aus der karierten Decke. Noch ein überraschender Besuch. „Ja, Junge“, sagt Mutter Sandow erschreckt, weil das nun doch auch ein Eggert ist „wo kommst denn du her? Und warum gehst du nicht ’rüber?“ „Da ist doch Polizei!“ Lutz Eggert flüstert verschwörerisch: Denke mal an, wie pfiffig ich bin! Denn so gescheit, wie die Großen immer taten, waren sie längst nicht, weder der oberkluge Bender noch die Polizisten. „Was is denn?“ brummt Vater Sandow nun auch noch von der Tür her. Die beiden Alten im Nachthemd wirken wie Gespenster. Sandow hat natürlich Mutters Aufstehen gehört, so halb wenigstens, ganz deutlich dafür das Öffnen der Hoftür. Was hatte sie jetzt hier draußen zu suchen? „Nee!“ brummelt er dann, gleichfalls überrascht, als seine Frau durch einen Schritt zur Seite den Blick auf den Jungen freigibt. „Wen haben wir denn da?“ Immerhin, er denkt in solchen, halb kriminellen, Situationen praktisch, 193
und seine Aufforderung, doch erst einmal ins Haus zu kommen, ist trotz der scheinbaren Gemütlichkeit eine richtige kleine Mausefalle. „Ich … ich suche Vati“, erklärt Lutz seine Anwesenheit, während Mutter Sandow ihn mit sanftem Griff im Genick in den Hausflur dirigiert. Sandow nickt verständnisinnig, aber er verharrt auf seinem Platz. „Vor lauter Aufregung muß ich noch mal auf ’n Topp.“ Lutz Eggert findet es lustig, und Vater Sandow schlurft auch richtig los, mit Kurs auf die letzte Tür im Stallgebäude, wenn er freilich auch um die Ecke verschwindet, um nebenan kurz Bescheid zu sagen. Hauptmann Rodak und Oberleutnant Krüger finden, wie abgesprochen, die Hintertür unverschlossen, tappen im Schein einer Taschenlampe zur Küchentür und stehen für Mutter Sandow als überraschendster Besuch dieses Tages, für Vater Sandow endlich und für den Jungen als unfaßbare Katastrophe plötzlich in der Küche. Ihm schmeckt nicht einmal mehr die Stulle mit Hausmacherleberwurst, deren Duft doch so verführerisch hochsteigt. „Na“, krächzt Hauptmann Rodak gemütlich, reicht dabei den Sandows die Hand, „da wären wir ja endlich!“ Die Resonanz darauf ist dürftig. Den Dicken da kennt der Junge nicht. Sein Blick ist unentwegt auf den Oberleutnant gerichtet, der hat ihn schon dreimal in Empfang genommen, wenn seine Ausflüge beendet waren, beim erstenmal freilich viel verständnisvoller als beim drittenmal. Krüger versucht es mit gewisser Anerkennung. „Eigentlich eine ganz schöne Leistung, so allein bis hierher.“ Das Gesicht des Jungen drückt deutlich Zweifel aus; 194
der wollte ihn bloß fangen. Andererseits ist das Lob nicht zu überhören. Vor Unentschlossenheit greift er nach der Teetasse. Mutter Sandow hat es sich nicht ausreden lassen, ihre bewährte und beschworene Leib- und Magensorte, Hagebuttentee, zwecks Heilung aller Leiden und Sorgen aufzubrühen – und gewiß ungewollt befreit sie zwei Männer von ihren Sorgen. Schlechte Zähne, solche etwa, die bloß so versteckt von ferne muckern, reagieren mit ungeheuer plötzlichem Schmerz auf eine Zumutung wie heißen Tee, die Zunge schnellt telegrafisch in die protestierende Zone, unterstützt von der ganzen Hand, die von außen an die Backe zuckt. „Zum Zahnarzt gehen“, brummt der Dicke zu allem Überfluß auch noch, als wenn man das nicht sehr gut selber weiß. Aber der hat ja keine Ahnung, hat der bestimmt nicht, höchstens künstliche Zähne, und die taten nicht weh. Sollte sich mal auf so einen Folterstuhl klemmen und sich im Maul herumbohren lassen, brüllen würde der! Und wie! „Um diese Nachtzeit bißchen schwierig“, wirft Vater Sandow ein. „Gib doch mal eine Spalt, Mutter, davon stirbt er ja nicht.“ Lutz nickt eifrig Beifall, der Herr Sandow war schon immer ganz patent gewesen. „Aber nur eine“, sagt Mutter Sandow besorgt, geht aber gehorsam zum Schlafzimmer. Sie hat ihre Medikamente im Nachtschrank, seit sie verheiratet ist, und dabei wird es auch bleiben. He, was wird denn nun? Der Dicke ist ja genau wie Mutti, gönnt ihm nicht das bißchen Tablette. „Sicher haben Sie keine im Haus“, behauptet er eben so komisch … Na, Gott sei Dank, Oma Sandow ist okay. „Aber ganz gewiß“, sagt sie fest. Prima! 195
Aber den Dicken, den sollten sie rausschmeißen. „Sie irren sich“, behauptet er stur, woher will der denn wissen, was die Oma so alles hat? Angeben tut der vielleicht … Na schön, dann geh doch mit! Denn das macht Hauptmann Rodak, trotz Mutter Sandows abwehrender Gesten. Auch Vater Sandow quittiert den Entschluß vergrämt, er sieht aus, als habe er nun auch noch Zahnschmerzen. Einzig Oberleutnant Krüger sieht aus, als sei alles ganz normal. Er weiß, daß dem Genossen Hauptmann just genau der Gedanke gekommen sein muß, um den man seit Stunden zwar nicht gerungen, wohl aber diskutiert, eigentlich gerätselt hat. Der Junge mußte unbefangen, regelrecht arglos sein, sollte er seinem Vater helfen können. Mutter Sandow indessen begreift nur entfernt, was ihr der Hauptmann gedrängt zuflüstert. Selbstverständlich hat sie Spalttabletten und auch Fibrex vorrätig, und sie beobachtet nicht ohne Sorge, wie Rodak zunächst drei, dann nach kurzem Zögern vier Fibrex in ein Medikamentenröhrchen steckt; aber sie erkennt nicht, daß der Hauptmann darauf achtet, daß das eingestanzte große F jeweils verdeckt bleibt. Dann kommen sie wieder, Rodak lächelt, er habe es doch gewußt, was Lutz freilich nicht so recht begreifen kann. In dessen Augen glitzern schon Tränen, Wut und Enttäuschung – der Dicke da, Hauptmann wollte der sein, schöner Hauptmann! Aber dann tappt der Junge doch brav in die nächste und so wichtige Mausefalle. „Aber wir haben welche“, sagt er, ein bißchen zaghaft zwar, doch auch hoffnungsvoll. Und Rodak stellt sich dumm. „Du meinst drüben, zu Hause?“ 196
„Jede Menge“, behauptet Lutz und springt stürmisch auf, als der Hauptmann meint, na schön, dann brauche man doch nur hinüberzugehen; war eigentlich doch ein ganz patenter Kerl, der Dicke. Zwei alte Leutchen wundern sich anschließend zwiespältig über ihre Besucher. Mutter Sandow versucht ihrem Mann zu erklären, was sie selbst nicht richtig begreift, und Vater Sandow erklärt, daß er erstens keine Lust habe, nachts im Bett knifflige Rätsel zu lösen, und zweitens werden die Herren von der Kriminalpolizei schon wissen, was sie tun. Mochte sich Lutz Eggert anfangs intensiver gewundert haben, als es lebenserfahrenere Menschen konnten, allmählich gewinnt kindlicher Zorn die Oberhand. Er hat, von Oberleutnant Krüger mit rasch wachsendem Unbehagen anscheinend assistiert, Kästen herausgerissen, sie durchwühlt, flüchtig wieder zugeschoben, Schranktüren aufgezerrt und wieder zugedonnert, in Handtaschen gekramt, im Kleiderschrank gestöbert. Man kann schlecht finden, was andere, auf solches „Finden“ Ausgebildete, längst weggefunden haben. Und der Schmerz steigert sich in dem Maß, wie sich die helfende kleine weiße Scheibe entfernt. „Hier war einer drin!“ schreit er los, weint dabei; im Augenblick hat grenzenlose Enttäuschung harten Schmerz geschlagen. „Geklaut haben sie’s.“ Oberleutnant Krüger sieht besorgt den Genossen Hauptmann an, der, am breitflächigen Bücherregal stehend, bald diesen, bald jenen Buchtitel durchblättert. Es ist genug, mahnt der Blick, vielleicht schon zu weit, der Zeuge hier ist ein Kind, ein im Grunde armes Kerlchen, 197
wenn er auch wahrscheinlich ungeheuer wichtig ist. Mochte die Überführung eines Täters neben der Verhinderung von Taten überhaupt auch die Hauptaufgabe sein, der Belastbarkeit waren Grenzen gesetzt. Hauptmann Rodak zieht den nächsten Band heraus, ganz ohne System scheint er zu kramen. Theaterreif stutzt er dann, greift in die entstandene Lücke und hält ein Röhrchen, sein Röhrchen, made in Bulgaria, in der Hand. „Na bitte“, sagt er wohlwollend, lächelt, tut, als lese er die Aufschrift, nickt befriedigt und reicht den Fund dem Jungen, der sofort über einen Sessel hopst, auf Rodak zu. Die hoffnungsfrohe Erleichterung verzischt wie eine abgebrannte Wunderkerze, glüht einen Augenblick nach; die Bewegung, mit der Lutz unsicher nach dem Röhrchen greift, ist schon Resignation. „Na“, mahnt der Hauptmann gespannt, obwohl er nun schon sicher ist, vier Tabletten muß doch das rechte Maß gewesen sein, „was ist? Steht doch darauf: Gegen Schmerzen aller Art.“ „Die helfen nicht“, lehnt Lutz mürrisch ab, bohrt die Zunge probeweise in die fragliche Schmerzzone. Dann grient er unvermittelt, ein bißchen naiv, etwas besorgt, aber auch unverkennbar listig. „Da sind nämlich gar keine Schmerztabletten drin!“ „Sondern?“ Das Grienen wandelt sich bei soviel Interesse in lustiges Kichern. „Mutti habe ich gefilmt – die Dinger habe ich vertauscht!“ Dazu nickt er fröhlich: Was, ich bin ein pfiffiges Kerlchen! Er läßt sich zu der Erklärung herab, daß er damals gerade welche gebraucht habe, die Mutter hätte ihm nie im Leben welche gegeben, und gemerkt habe sie auch 198
immer, wenn er mal heimlich dran gewesen sei. „Wissen Sie, was da drin für welche sind?“ „Vielleicht?“ „Nie im Leben!“ protestiert Lutz, besorgt, es könnte ihm jemand die Pointe stehlen. „Schlaftabletten – so!“ Ja, guckt euch ruhig an! Ihr denkt wohl, ich bin dumm? „Soso“, nuschelt Hauptmann Rodak matt, „wirklich, einen feinen Film hast du dir da einfallen lassen …“ Sein Gesicht verfinstert sich. Wahrhaftig, der Bengel lachte ungehemmt und fröhlich! Gewiß, er hat kaum eine Vorstellung davon, was er mit seiner vermeintlich gelungenen List mitverschuldet hat, ihm aber, als Wissenden, klingt dieses Lachen dann doch wie blanker Hohn. „Was ist daran so ungemein komisch?“ „Weißt du“, sagt der Bengel vertraulich, bei soviel Lustigkeit stirbt alle Höflichkeit, „ich habe mir immer so fein vorgestellt, daß die Mutti die Dinger hier auf einmal einnimmt, am Sonntagabend einschläft und erst Dienstag wieder aufwacht. Dann guckt sie auf die Uhr, weil’s halb elf ist, und sagt erschrocken: Mein Gott, schon so spät!“ Als niemand lachen will – diese Großen waren vielleicht begriffsstutzig, Mann o Mann –, fügt er mitleidig hinzu: „Na, Mensch, sie denkt doch, es ist Montag – dabei ist schon Dienstag!“ „Soso“, wiederholt Hauptmann Rodak, nimmt dem Jungen das Röhrchen ab, schüttet ihm fast grob zwei Tabletten in die widerstrebend aufgehaltene Hand. „Nimm schon – sind wirklich Schmerztabletten!“ Er schluckt, da das Jungengesicht helles Mißtrauen zeigt, selbst eine Tablette, würgt sie trocken hinunter und befiehlt: „Und dann zieh dich aus und geh erst einmal schlafen – vorher waschen könnte allerdings nicht schaden!“ Er wendet sich ab, eigentlich nur, um der munteren 199
Freude zu entgehen, die ihn nun aus Kinderaugen anstrahlt, und dämpft sie mit der Bemerkung, der junge Genosse draußen werde natürlich hierbleiben. „Damit dir nichts passiert, mein Sohn!“ „Ich hab’ doch keine Angst!“ behauptet Lutz Eggert wegwerfend, seine Erfahrung indessen dokumentiert sich in der Fortsetzung: „Der soll doch bloß auf mich aufpassen.“ „Ich weiß“, sagt Hauptmann Rodak beinahe traurig, „du bist ein pfiffiges Kerlchen.“ „Kommen Sie“, sagt Rodak drei Tage später in die Zelle hinein. Dort steht Eggert, fremd und feierlich im schwarzen Anzug. Heute ist Christines Beerdigung. Wenn Engel reisen, lache der Himmel, hatte Rodak vorhin zu Krüger gesagt, zugegeben, eine kümmerliche Philosophie, da es bei einer Reise ohne Wiederkehr nichts zu lachen gäbe, immerhin aber vergieße der Himmel gerade heute Tränen. Es regnet in Strömen. Rodak hat einen Mantel über dem Arm, um ihn Eggert zu geben; es ist ein Mantel von Krüger, hoffentlich paßt er. Das tut er zwar nicht, in den Schultern ist er etwas eng, und auch Knöpfe und Knopflöcher lassen sich nur mühsam vereinen, ganz wie es der Oberleutnant prophezeit hat, was ein bißchen nach Widerstand geklungen hatte. Denn er schien nicht einverstanden zu sein mit Rodaks Wunsch, Eggert zu begleiten, zumindest hielt er soviel „persönliche Pflege“ für übertrieben, was noch mehr den Strauß Kalla betraf, den der Hauptmann hatte besorgen lassen, damit Eggert nicht wie der sprichwörtlich arme Sünder mit leeren Händen vor den Sarg träte. 200
Etwas von der anfänglichen Reserviertheit zwischen ihnen war noch hochgekeimt, besonders wegen einer Bemerkung Rodaks auf die durchaus zutreffende Ansicht des praktisch veranlagten Pflichtmenschen Krüger, daß der Regen wenigstens den Vorteil habe, die Zahl der Neugierigen auf ein Minimum zu reduzieren, wenn nicht vollkommen fernzuhalten. „Ich“, hatte Rodak, ausgerechnet der Logiker Rodak, der zudem noch jene wichtige Fähigkeit besaß, die man konstruktive Phantasie nennen konnte, vor sich hin gemurmelt, „möchte nur bei Sonnenschein begraben werden.“ Oberleutnant Krüger hatte nur mit der Stirnpartie Befremden ausgedrückt. „Schönes Wetter versetzt, den Menschen in gute Laune“, hatte der behäbige Hauptmann ernsthaft erläutert. Eggert, der wartend in Krügers Zimmer steht, wirkt trotz seiner gewohnten mürrischen Passivität doch irgendwie gelöster; er hat das Schlimmste hinter sich. Rodak hat indessen gegen die Tücken pflegeleichter Wäsche anzukämpfen. Oberhemden aus dieser seidigglatten Faser zum Beispiel sind ohne Zweifel praktisch, aber nur was die Pflege angeht. Für gerundete Männerbäuche, sofern man Hosenträger verabscheut, haben diese Hemden indessen den Nachteil, daß sie das fortwährende Bestreben der Hose, nach unten zu rutschen, außerordentlich fördern. Und so greift der Hauptmann ahnungslos unter seine Jacke, um Hemd und Hose hinten in das richtige Verhältnis zueinander zu bringen – aber genau diese Handbewegung machte er unlängst nach den Handschellen. „Damit geh’ ich nicht!“ schreit Eggert heiser auf, weicht einen Schritt bis zur Tür zurück, preßt sich mit 201
dem Rücken dagegen und angelt mit dem Fuß nach dem ungepolsterten Stuhl, als suche er einen Schutz. Würde er nicht unbewußt die Hände in jener Haltung vorstrecken, wie sie für eine Stahlfesselung unumgänglich ist, niemand hätte den plötzlichen Ausbruch verstanden. „Aber, aber …“, sagt Rodak nach einigen Sekunden. Genau wie Krüger ist er eher verdutzt als etwa erschreckt. „Wer denkt denn an so etwas?“ Nein, nein, er werde Eggert jetzt zwar begleiten, anschließend aber höchstwahrscheinlich nach Hause bringen, die Entscheidung darüber falle just in dieser Stunde. Was denn, erkundigt er sich dann, Mißtrauen geschickt mit einer Frage besänftigend, Eggert nun beginnen werde? Zurück zum Kraftverkehr vielleicht? Da sei zwar die fristlose Entlassung, aber da die auf falschen Voraussetzungen basiere, ließe sich die Angelegenheit bestimmt regeln. Die Antwort überrascht etwas. „Der Junge …“, stößt Eggert heraus, „ich muß ihn nach Hause holen.“ Hauptmann Rodak läßt sich gerade in den Mantel helfen, wiegt den Kopf und meint, das sei kein weiser Entschluß, wenn er zwar die Beweggründe verstehe. „Sehen Sie, Eggert, wenn wir Sie auch auf freien Fuß setzen, eine Gerichtsverhandlung wird es eines Tages doch geben, zumindest den Vorwurf unterlassener Hilfeleistung werden Sie sich gefallen lassen müssen. Ich bin zwar ziemlich sicher, daß die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird, die Entscheidung allerdings liegt bei Staatsanwalt und Gericht.“ Und wenn Richter und Staatsanwälte auch gewissermaßen an Paragraphen gefesselt seien – Vergleiche hinken zwar –, auch die Kraftfahrer wären an Vorschriften, Ge- und Verbote gekettet, trotzdem verhielten sich keineswegs alle exakt. Einer brause geradezu an eine Kreuzung heran, bremse dort scharf, was er sicher202
lich für besonders schneidig hält, verlasse sich voll auf die Qualität seiner Bremsanlage. Ein anderer wiederum verlangsame sein Tempo rechtzeitig und erreiche die Kreuzung bedeutend risikoloser. „Mit anderen Worten“, sagt Eggert, merkwürdigerweise nicht einmal brummig wie sonst, „ich kann auch abgehen?“ „Eben“, knurrt Rodak. Dennoch ist der Hauptmann irgendwie erleichtert, daß Eggert keine weiteren Fragen mehr stellt; er geht fast willenlos mit hinunter zum wartenden Wagen. Warum, wenn er doch in wenigen Stunden frei sein werde, ihn dann jetzt noch ein Hauptmann vom Bezirk begleitet, diese Frage stellt Eggert nicht. Aber da ist das seltsame Gefühl in Rodak, er habe diese Christine Eggert sehr gut gekannt, sie ist ihm fast vertraut, und im Grunde weiß er vielleicht mehr von ihr als der eigene Mann. Gewiß, solange man in der Kapelle saß, den Sarg vor Augen, so lange reichte, bei Männern zumeist, die Beherrschung. Erst in dem Augenblick, da der Sarg in die kümmerliche Grube von amtlich festgelegten Maßen hinabgelassen wurde, überfiel einen die Gewißheit mit aller Wucht – nie wieder siehst du sie, nie wieder hörst du ihr Lachen, Schimpfen, Flüstern, Weinen. Nie. Als sie ankommen, registriert Rodak, vorerst lediglich aus steter beruflicher Aufmerksamkeit, daß der Parkplatz vorm Friedhof völlig leer ist. Eggert klettert schwerfällig, fast widerstrebend aus dem Wagen, bleibt daneben stehen. Der Regen, Segen für die Landwirtschaft und den gesamten, leicht kränkelnden Wasserhaushalt, hat noch zugenommen. Dicke Wassersträhnen trommeln auf das Autoblech, aber Eggert bleibt stehen; in beiden Armen, mit einer Art unbeholfener Zärtlichkeit, hält er den Strauß aus weißen Blüten. 203
Hauptmann Rodak akzeptiert dieses letzte Zögern für einige Sekunden, schiebt dann Eggert sanft auf die offenstehende schmiedeeiserne Tür zu und sagt, was ihm selbst als zu allgemeiner Trost erscheint: „Wenn man so darüber nachdenkt, dann ist die ganze Menschheit eigentlich nur immerfort damit beschäftigt, in Ordnung zu bringen, was sie selbst vorher in Unordnung gebracht hat.“ Er wird dennoch verstanden. „Ich kann Christels Tod nicht …“ „Nein“, hilft Rodak, „man kann den Tod nicht korrigieren.“ Auch er stockt kurz, aber er muß es Eggert sagen, nicht als Warnung, als Brückenschlag zur Zukunft vielleicht, und auch nicht unbedingt neu. „Aber das Leben kann man korrigieren, – muß man sogar – wenn es aus den Fugen geraten ist.“
204
Heiner Rank Die letzte Zeugin Kriminalroman der DIE-Reihe
Leseprobe Im Kamin prasseln die Birkenscheite. Das Büro des Staatsanwaltes ist angenehm warm. Heym und Sommerfeld haben es sich in den Ledersesseln bequem gemacht. „Gut“, sagt Sommerfeld und zündet zum siebenundfünfzigsten Mal an diesem Vormittag seine Pfeife an. „Wen Sie für die Täterin halten, habe ich verstanden, Genosse Heym. Aber wie sind Sie eigentlich auf diesen Verdacht gekommen?“ „Es war der Telefonanruf.“ „Was für ein Telefonanruf?“ „Frau Ballhorn hat ihn in ihrer ersten Vernehmung erwähnt. Ganz am Rande nur, und ich bin leider nicht näher darauf eingegangen. Ich habe seine Bedeutung einfach nicht erkannt, ließ mich von den Fakten, die mir scheinbar ganz eindeutig vor der Nase lagen, zu einem voreiligen Urteil hinreißen. So ein Fehler hätte mir nach fünfzehn Dienstjahren eigentlich nicht passieren dürfen.“ „Mag schon sein“, knurrt Sommerfeld ungeduldig. „Wie war das nun mit dem Anruf?“ „Zu Anfang sprachen sämtliche Indizien gegen die Ballhorn. Aber je länger ich versuchte, ihr die Tat nachzuweisen, um so widerspruchsvoller wurde alles. Als ich gar nicht mehr weiter wußte, habe ich mir noch einmal die Protokolle der Aussagen angesehen. Dabei stieß ich auf den Anruf. In den vergangenen Tagen habe ich mich mit dieser Frage intensiv beschäftigt, und dabei ist folgendes zum Vorschein gekommen. An dem Abend, als Hellberger starb, klingelte gegen 21 Uhr in der Wohnung der Ballhorn das Telefon. Es meldete 205
sich eine Frau, die bat, Wolfgang Hellberger an den Apparat zu holen. Auf eine Frage der Ballhorn erklärte sie, daß sie vom VEB Wirkwaren Berlin anrufe und Hellberger in einer dringenden dienstlichen Angelegenheit sprechen müsse. Hellberger ist bereits seit, einer guten Stunde bei der Ballhorn. Gleich nach seinem Eintreffen bekam er einen Herzanfall, nahm die falsche Tablette ein und lag nun sterbenskrank im Bett Davon sagte aber Frau Ballhorn kein Wort. Sie wimmelte die Anruferin in der für sie typischen Art ab, indem sie einfach behauptete, Hellberger sei gar nicht bei ihr.“ „Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?“ fragt der Staatsanwalt und saugt dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife. „Daß Hellberger einem Mordanschlag zum Opfer gefallen ist.“ „Wieso?“ „Der Anruf kam gegen 21 Uhr. Um diese Zeit sitzt im VEB Wirkwaren nur der Nachtpförtner. Er hat nicht telefoniert. Die drei Sekretärinnen des Betriebes, die noch in Frage kämen, hatten ebenfalls nicht telefoniert. Es gab überhaupt nichts Dienstliches, das ein Ferngespräch erfordert hätte. Hinzu kommt, daß niemand im VEB Wirkwaren von Hellbergers Weibergeschichten irgend etwas ahnte. Natürlich kannte auch niemand dort Namen und Adresse der Ballhorn, und erst recht nicht, daß sich Hellberger an diesem Abend in Neuruppin befand. Das alles ist zweifelsfrei festgestellt, die Aussagen liegen vor. Was folgt daraus? Die Anruferin hat sich unter falschem Namen gemeldet. Sie gehört zu Hellbergers engstem Bekanntenkreis denn sie kennt nicht nur die Ballhorn, sie weiß auch, daß er bei ihr ist. Soweit die Fakten. Nun meine Behauptung, die ich später durch Indizien beweisen werde: Die Anrufern mußte unbekannt bleiben, damit man sie für den Fall, daß Hellbergers Tod Verdacht erweckt, nicht ermitteln konnte. Warum soll man sie nicht ermitteln können? Weil sie es ist, die Hellberger die tödliche Tablette ins Röhrchen getan hat. 206
Aber warum hat sie dann überhaupt angerufen? Sie rief in der Absicht an, einen Streit zwischen Hellberger und der Ballhorn zu provozieren. Sie wußte, daß die Ballhorn rasend eifersüchtig ist, und rechnete damit, daß Hellberger durch die Aufregung einen Herzanfall bekommt und die tödliche Tablette einnimmt.“ „Das wäre ja ein wahrhaft teuflischer Plan“, sagt der Staatsanwalt. „Nur gut, daß Ihre Vermutung falsch ist.“ „Das ist sie nicht“, sagt Heym entrüstet. „Vor zwei Minuten haben Sie selbst gesagt, daß Hellberger schon vor dem Anruf die Tablette eingenommen hatte und sterbenskrank im Bett lag.“ „Aber ich bitte Sie, das ist doch kein Gegenbeweis. Die Anruferin konnte überhaupt nicht wissen, daß ihr Plan bereits ohne ihre Mithilfe Wirklichkeit geworden war, daß Hellberger durch Zufall oder, besser gesagt, durch die Anstrengung und Aufregung des vorangegangenen Tages den Herzanfall, den sie provozieren wollte, schon bekommen hatte.“ „Wäre es nicht möglich, daß sie einfach nur anruft, um zu erfahren, was geschehen ist? Wenn ich einmal unterstelle, daß Ihre Vermutung über die Anruferin wahr ist, dann könnte ich mir denken, daß sie ziemlich unruhig war, weil sie ja nicht wußte, ob ihr Opfer die tödliche Tablette schon geschluckt hatte oder nicht.“ „Sicher, das wäre auch möglich. Aber es gefällt mir nicht. Und ich sage Ihnen auch warum. Weil es nicht zwingend ist.“ „Es gibt sogar noch einen Grund für diesen Anruf“, sagt Sommerfeld freundlich. „Sie bereute schon ihre Tat und wollte Hellberger warnen.“ „Möglich. Immerhin geben Sie damit zu, daß der Anruf von der Täterin kam.“ Sommerfeld lächelt. „Ich gebe zu, Ihre Theorie klingt ganz vernünftig. Sie haben aber eins vergessen: Die Ballhorn hat bisher die Tat hartnäckig geleugnet, die fünf anderen Frauen leugnen selbstverständlich auch. Deshalb können wir die 207
Möglichkeit eines Unfalls noch immer nicht völlig ausschließen. Und auch Selbstmord ist theoretisch noch nicht widerlegt.“ „Unfall würde bedeuten“, erwidert Heym, „daß die tödliche Tablette rein zufällig in das Röhrchen gelangte. Dieser Zufall ist so unwahrscheinlich, daß ich ihn für die Praxis nicht akzeptieren kann. Und was die Selbstmordtheorie angeht, wir haben Hellbergers Persönlichkeit und Lebensweise sehr genau unter die Lupe genommen. Das Ergebnis zeigt, daß Hellberger offensichtlich nicht der Typ war, der Selbstmord begeht. Auch die Tatumstände sind für einen Selbstmord sehr untypisch. Hellberger hat keine Zeile hinterlassen, die seinen Entschluß begründet. Wir haben keinen Zeugen gefunden, dem gegenüber er jemals die Absicht geäußert hätte, seinem Leben ein Ende zu machen. Außerdem konnte er gar nicht wissen, ob diese falsche Tablette wirklich tödlich ist. Selbstmörder mit ‚ehrlichen Absichten‘ pflegen eine möglichst sichere Todesart zu wählen. Und daß er den Selbstmord nur simulieren wollte, dafür liegen auch nicht die geringsten Anzeichen vor.“ „Es gab schon Fälle, in denen der Selbstmörder alle Spuren sorgfältig verwischte, um einen anderen Menschen in Mordverdacht zu bringen.“ „Ich weiß. Aber das Motiv für eine solche Tal ist immer nur Rache. In unserem Fall wäre es Rache aus verschmähter Liebe. Rönnen Sie sich vorstellen, daß ein Mann wie Hellberger, der an jedem Finger zehn Frauen haben konnte, sich ausgerechnet, wegen der dicken Ballhorn das Leben nimmt?“
Erscheint im Verlag Das Neue Berlin
208
2. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1976 (1974) Lizenz-Nr.: 409-160/131/76 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden scan & ebook by *MM* 622 215 1 EVP 2,– Mark