MYTHOR Das verwunschene Tal von Hans Kneifel Band 07
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MYTHOR Das verwunschene Tal von Hans Kneifel Band 07
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Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, das vorliegende Buch steht unter einem Thema, das sich in anderer Form immer wieder in den verschiedenen Ausprägungen der fantastischen Literatur findet, im Märchen und in der Sage ebenso wie in der vergleichsweise modernen Fantasy: das Thema der geheimnisvollen Tiere, die zu Helfern des Helden werden können, und der geheimnisvollen Orte, die der Held aufsuchen muß, um seine Bestimmung zu finden. Für Mythor, den jungen Helden dieser Buchreihe, der in vielerlei Hinsicht noch nicht einmal ahnt, welche Dimensionen der Kampf zwischen der Lichtwelt und den Dunkelmächten wirklich erreichen wird, sind seltsame Orte bisher immer wieder wichtig geworden: der Wasserfall, die Lichtburg, der Wolkenhorst – an all diesen Stellen erlangte er neue Erkenntnisse oder gar wichtige Gegenstände, die ihm im Kampf gegen die dunklen Feinde helfen können. Jetzt wartet noch das verwunschene Tal auf ihn, ein weiterer Ort uralter Mythen. Zu diesen Mythen gehören natürlich auch die Tiere: Das Einhorn ist sicher das bekannteste Fabelwesen, das in diesem Buch auftaucht; in zahlreichen Märchen und Sagen seit dem legendären Gilgamesch-Epos wird es erwähnt, manchmal als Sinnbild für Tapferkeit, manchmal auch als Symbol für Jungfräulichkeit. In der MYTHOR-Serie tritt das Einhorn zusammen mit zwei anderen Fabeltieren auf, dem Bitterwolf und dem Schneefalken. Wie es dazu kommt, daß Mythor, der junge Krieger, diese Tiere findet, schildert der vorliegende Band. Zwei Autoren steuerten die Romane dazu bei: Hans Kneifel schrieb »Das verwunschene Tal« und »Der Mann auf dem Einhorn«, während Hubert Haensel »Der Schwefelfluß« verfaßte. Lassen Sie sich von den fantastischen Tieren in die fantastische Welt von 3
Mythor entführen! Klaus N. Frick
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Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Aus dieser Dunkelzone greifen die gierigen Finger des Bösen nach der Welt der Menschen. Unter dem Befehl von Dämonenpriestern machen sie sich daran, den Norden der Welt zu erobern. Zu lange schon ist es her, daß der Bote des Lichts mit seinem strahlenden Kometentier den Menschen den Frieden brachte. Und der »Sohn des Kometen«, der möglicherweise dem Bösen standhalten kann, ist noch immer nicht aufgetaucht. Die uralte Nomadenstadt Churkuuhl, die auf dem Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen in einer furchtbaren Katastrophe unter. Aus ihren Trümmern retten sich nur wenige, darunter ein junger Mann, den man Mythor nennt und dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. In einem unterirdischen Tempel erfährt er, daß der Sohn des Kometen sich diesen Titel erst erkämpfen muß. Nachdem Mythor vor einer Invasion durch das von Dämonenpriestern geführte Kriegervolk der Caer fliehen konnte, will er die erste der Aufgaben erfüllen, die ihm gestellt wurde: das Gläserne Schwert Alton für sich zu gewinnen, das in Xanadas Lichtburg aufbewahrt wird. Doch die ehemalige Lichtburg ist zu einem Hort der Dunkelheit geworden. Nur mit Hilfe einiger neuer Freunde gelingt es Mythor, bis zur Lichtburg vorzudringen und das Schwert an sich zu bringen. Durch lange unterirdische Gänge entkommt er mit seinen Gefährten, ohne zu wissen, wohin ihr Weg führt. Die Freunde erreichen in Nyrngor das Tageslicht. Die Stadt wird von den Caer belagert. Obwohl Mythor der jungen Königin Elivara zur Seite steht, läßt sich der Sieg der Caer nicht 5
verhindern. Mythor macht sich auf den Weg zu Althars Wolkenhort, wo der Helm der Gerechten auf ihn wartet. Über einen Weg, der vor langer Zeit von den mittlerweile ausgestorbenen Titanen angelegt wurde, gelangt Mythor zum Wolkenhort, der von zauberischen Pflanzen beschützt wird. Auf den verschiedenen Ebenen des himmelhohen Turms muß sich Mythor mit den Geistern früherer Eindringlinge auseinandersetzen, bis er dann schließlich Althar selbst antrifft und von ihm den Helm der Gerechten erhält. Dieser soll ihn künftig schützen und ihm den Weg zu anderen Stützpunkten des Lichtboten weisen. Auf dem weiteren Weg zu der Piratenstadt Thormain wird Mythor mit seinen Freunden von dem mächtigen Ritter Coerl O’Marn gefangengenommen, dem Oberbefehlshaber der CaerTruppen. Der Sohn des Kometen merkt bald, daß er keinen dämonischen Feind vor sich hat, sondern einen klugen und tapferen Menschen, der sich unter Mythors Einfluß von den Dämonenpriestern abwendet und zu seinem Freund wird. Der Ritter zeigt auf der Ebene der Krieger Mythor die geballte Macht der Caer, um ihn davon abzubringen, gegen dieses Reich anzukämpfen. Dabei gerät Coerl O’Marn selbst unter den zauberischen Einfluß der Dämonenpriester und wird zu Mythors Feind. So muß sich der Sohn des Kometen auf die Suche nach weiteren Verbündeten machen, die er im Bereich der Zaubertiere zu finden hofft: ein Einhorn, einen Schneefalken und den Bitterwolf, der angeblich bei seiner Geburt geheult haben soll…
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Hans Kneifel
DAS VERWUNSCHENE TAL Das Riff wölbte sich vom dunklen, geheimnisvollen Grund des Meeres der Spinnen auf. Es bestand aus zerrissenem, scharfkantigem Stein von tiefschwarzer, fast bläulich schimmernder Farbe. Der oberste Kamm des Riffs erstreckte sich von Süden nach Norden und zerfiel in eine Reihe von Erhebungen, von denen nur wenige die Wasseroberfläche durchstießen. Wie der sägezahnartige Rücken des Großen Fisches, der auf dem Grund aller Meere liegt, bildeten die Felsen unter dem tobenden Wasser eine Falle für Schiffe und alles, was einen bestimmten Tiefgang hatte. In den Höhlen des Riffs lebten seltsame Geschöpfe, die gierig in der Tiefe jagten, und andere, die an die Oberfläche kamen, wenn sie die Schatten von Booten dahingleiten sahen. Jetzt, mitten in der Nacht, lag nur das kreidige Licht des Mondes auf den Wellen. Das Wasser, das von dem wütenden Wind vor sich her geschoben wurde, stemmte sich gegen die unterseeische Barriere. Die Wassermassen brachen sich, wurden hochgedrückt und rasten die schwarzen, zerklüfteten Wände hoch, bis sie die Oberfläche erreichten und dort immer wieder riesige Wellen bildeten. Es schien, als ob der Große Fisch, vor dem sich alle Fischer fürchteten, aufgetaucht sei – die Welle bildete in Nord-Süd-Richtung einen gewaltigen Buckel. Sie türmte sich auf, griff über das Riff hinweg und ergoß sich donnernd auf der anderen Seite wieder ins Meer. Kristallklar waren in dieser schauerlichen Nacht die Sterne. Sie bedeckten den Himmel ringsum, und ihr Leuchten wetteiferte mit dem Mondlicht. Und da war noch etwas, weit und 7
hoch im Norden! Lange Vorhänge aus rotem, blauem und goldgelbem Licht bewegten sich, zuckten auf, erloschen wieder, erschienen abermals und waren wie Schleier, die eine unsichtbare Göttin zwischen den Sternbildern bewegte. Selbst Mythor erschauerte, wenn backbords dieses rätselhafte Licht auftauchte. »Es ist die Lichtmelodie!« schrie Steinmann Sadagar mit blaugefrorenen Lippen. »Fahrna hat es im EMPIR NILLUMEN gelesen.« »Was bedeutet es?« »Das weiß ich nicht!« Das Fischerboot hatte drei erkennbare Vorzüge, wenn es auch nicht so schlank und schnell wie die Kurnis war. Ein seegängiges Alltagsfahrzeug, das den Wellen bisher getrotzt hatte, leicht zu manövrieren und solide aus schwerem Holz gezimmert. Mythor hatte es in einem Anflug von Galgenhumor Lahmer Seevogel getauft. Wieder packte ein neuer Windstoß den Seevogel, trieb ihn auf die Spitze einer Woge hinauf, schüttelte ihn hin und her und glitt unter die Decken, Mäntel und Pelze der vier Insassen. Kalathee schrie auf vor Angst. Mythor stand am Steuer und sah undeutlich, daß der Bug des Bootes ins Nichts deutete. Sie ritten auf der Woge, die sich seitlich des Fischerboots brach und in weißen Gischt verwandelte. Es war kein Segeln mehr, es war eine rasende Schlingerfahrt über das aufgewühlte Meer der Spinnen. In keiner Himmelsrichtung war trotz der klaren Sicht Land oder gar ein Feuer zu erkennen. »Wo sind wir, Mythor?« rief Nottr, der neben Kalathee im Schutz des Hecks kauerte. »Irgendwo zwischen der Dreiländerinsel und dem Festland von Tainnia«, gab Mythor zurück. »Wir werden diese Nacht nicht überleben«, schluchzte Ka8
lathee. »Wir haben schon andere Nächte überstanden«, antwortete Mythor. Aus seinem Beutel voller Münzen hatte Steinmann Sadagar an der Ostküste der Dreiländerinsel einige Goldstücke geopfert. Dafür hatten sie von den armen Fischern Nahrungsmittel, Decken und Felle und das Boot bekommen. Es war zwischen der Elvenbrücke und Akinborg gewesen und schien eine Ewigkeit zurückzuliegen, denn so lange erschien ihnen schon diese Wahnsinnsfahrt. Bittere Kälte, noch schneidender durch den wütenden Sturmwind, verwandelte jeden Tropfen Wasser an Deck in Eis. Das Segel war starr und fest wie ein Schild, vom Bugspriet hingen lange Eiszapfen. Auch an den Wanten bildeten sich Eiskristalle. Ab und zu platzten große Fladen der Eisschicht vom Segel und klirrten aufs Deck herunter. »Sie haben uns immer wieder gewarnt!« ließ sich Sadagar vernehmen. »Wir fahren in den sicheren Tod, Mythor!« »Auf alle Fälle«, versuchte er ihre Angst zu zerstreuen, »ist es eine schnelle Fahrt. Ich bin sicher, sie führt nicht ins Verderben, sondern letztlich nach Nyrngor.« Dann sah er weit vor sich die Woge. Schon jetzt hob sich das Boot. Die Welle, auf der es geritten war wie ein flaches, zitterndes Brett, senkte sich und verschmolz mit der riesigen See, die sich immer höher auftürmte. Mythor sah fassungslos diese gigantische Wassermasse, auf der jetzt der Lahme Seevogel hinaufkroch wie auf den Hang einer schwarzen Düne. Das Ruder in Mythors halb gefühllosen Händen bot plötzlich keinen Widerstand mehr. Aber die Geschwindigkeit des offenen Fischerboots fiel nicht ab, im Gegenteil, sie nahm noch zu, während der Seevogel den Wasserberg hinaufstürmte. Mythor bewegte den Kopf hin und her. Er sah weit über das 9
gischtende Meer hinweg. Das Fischerboot schob sich noch immer die Vorderseite der Welle hinauf. Und Mythor sah wieder jene Schleier aus geheimnisvollem Licht zwischen den Sternen. Das Boot befand sich binnen weniger Augenblicke auf dem höchsten Punkt dieser Woge, deren Wasser verdächtig ruhig war. »Es ist etwas unter uns!« gellte Nottrs Schrei auf. Mythor klammerte sich ans Ruder. Für einen entsetzlichen Augenblick schien der Seevogel stillzustehen. Dann brach einen Steinwurf vor dem plumpen Bug die Woge und bildete eine weiß leuchtende Schaumwand. Sie senkte sich und riß das Boot mit sich. Eine rasend schnelle Fahrt abwärts begann. Das Boot schlingerte und bäumte sich auf wie ein störrisches Pferd. Entsetzensschreie erklangen hinter Mythor, der sich an das Ruder klammerte und versuchte, das Boot zu steuern. Große Wellen bauten sich rechts und links auf, brachen zusammen und überschütteten den Seevogel mit eisigen Wassertropfen. Das Wasser lief aus den Haaren der Pelze und gefror sofort zu langen, dünnen Zapfen. Das Boot jagte den Hang der Welle hinunter. Noch war es nicht in den schäumenden Strudel gekommen, der vor dem Bug ständig größer und wilder wurde. Aber das weiße, tobende Durcheinander kam immer näher. Die Luft war erfüllt von einem hohlen, geisterhaften Sausen und Jaulen, das nicht vom Wind stammte. Von Steuerbord schlug peitschend eine Welle ins Boot und wirbelte die Ersatzriemen und die Anker durcheinander. Angstvoll klammerten sich Mythors Freunde fest. Abermals platzte unter dem Winddruck eine riesige, gewölbte Eisplatte vom Segel und wurde über den Bug hinweggerissen. Das Boot tauchte in den Wirbel aus Wasser, Schaum und nebelartig zerstäubter Gischt ein. Sofort bildete sich rings um die Nußschale eine undurchdringliche Zone. Tief unter dem Kiel 10
donnerte es dumpf auf. Durch das Wasser schienen Schreie zu dringen, seltsame, langgezogene Töne, die nicht aus dieser Welt stammten. »Der Große Fisch!« stöhnte Nottr auf. Niemand hörte ihn. Das Boot, eingehüllt in den brodelnden Wassernebel, zitterte und bebte in allen Fugen. Die Taue und der Mast knatterten und vibrierten. Aus dem Nebel, der trügerisch heller war als die schwarze Nacht, prasselten Eisstücke und ein Schwall Wasser ins Boot. Der Lahme Seevogel krängte schwer über. Ein Brecher schlug über das Heck und durchnäßte Mythors Rücken und die Decken, die sich Nottr, Kalathee und Sadagar um ihre Körper zerrten. Das Boot schoß aus dem Nebel hinaus, ließ den Gischtwall hinter sich und raste weiter. Mythor warf einen Blick über die Schulter. Hinter dem Boot kochte das Meer, die gewaltige Woge überschlug sich, und ihre Ausläufer griffen wie mit Krallen nach dem schwankenden Gefährt. Wieder ertönte ein donnerndes Geräusch tief unter den Planken, zwischen denen an mehreren Stellen Wasser eindrang. »Das Meer… es bringt uns um!« wimmerte Kalathee. Mythor dachte nicht daran, dem Boot eine neue Richtung zu geben. Es war so gut wie sinnlos. Der Sturm, der das Boot einmal in nördliche, dann in nordöstliche, wieder zurück in östliche Richtung vor sich her trieb, war zu stark. Das Segel konnte nicht nachgestellt werden. Dann erreichte der Wellenkamm das Boot. Er griff mit gewaltigen Kräften nach dem Ruder und schüttelte es hin und her. Mythor klammerte sich an den eisverkrusteten Holzbalken und spürte, wie das Gläserne Schwert bei jeder Bewegung gegen sein Knie schlug. Sein Körper wurde wie eine Puppe hin und her geschleudert. Wenigstens konnten sie jetzt wieder sehen, wie das Meer um sie herum aussah: Es war ihnen klar, daß sie sich in ärgster Not befanden. Wieder 11
krachte eine Welle ins Boot, tauchte es tief mit dem Heck ein, aber das meiste Wasser spritzte nach allen Seiten hinaus. Bis jetzt hatte Mythor noch gehofft, einigermaßen heil den Kontinent zu erreichen, irgendwo im Land Dandamar ans Ufer zu kommen. Seine Hoffnung war noch nicht gebrochen, denn er klammerte sich an seine Gedanken. Es war fast wie ein Zwang über ihn gekommen, nach den Erlebnissen in der Ebene der Krieger seinen Weg weiterzugehen. Er war ihm, das wußte er tief in seinem Inneren, vom Schicksal vorgeschrieben. Aus diesem Grund war er hier und abermals in tödlicher Gefahr. Er schüttelte den Kopf, als könne er dadurch seine quälenden Gedanken loswerden, dann atmete er tief ein und aus. Obwohl sein Körper von dem wild schlagenden Ruder durchgeschüttelt wurde, fühlte er, wie die eisige Luft seinen Kopf klärte. »Wir schaffen es! Wir werden das Meer besiegen!« schrie er trotzig. Der Wind riß die Worte von seinen gefühllosen Lippen. »Uns frißt der Große Fisch!« keuchte Nottr aufgeregt. Donnernd fielen die Riesenwellen hinter dem Boot zusammen. Der Wind, der von der mächtigen Woge abgelenkt worden war, packte wieder den Seevogel. Das Boot wurde schneller, trotz der schweren Eisplatte, die sich vom Bug bis zum Heck erstreckte. Mythor suchte und fand die drei übereinanderstehenden hellen Sterne, die ihm als Wegmarke dienten. Er streckte den schmerzenden Arm aus und winkte Nottr. »Du steuerst, Nottr! Immer auf diese Sterne dort zu!« brüllte er. Schwerfällig stand Nottr auf und taumelte schwankend auf den Griff des Ruders zu. »Und du?« »Ich hacke das Eis auseinander und werfe es über Bord.« Mythor löste das Seil um seine Hüften und band Nottr fest. 12
Im Augenblick verhielt sich das Boot einigermaßen ruhig. Aber das würde sich nach wenigen Atemzügen ändern. Nottr schüttelte sich und stieß eine dampfende Wolke Atem aus. »Du hast recht. Vielleicht schaffen wir’s!« sagte er dumpf. Aber die Angst hielt ihn in ihren Krallen. Die Angst, unter sich einen Abgrund von tödlichem Wasser zu haben. »Je mehr wir uns fürchten, desto eher ertrinken wir«, versuchte Mythor zu spotten. »So ertrinken, wie ich mich fürchte, kann keiner«, antwortete Nottr, aber er sah die Sterne und hielt das Boot auf Kurs. Mythor griff in die Luft und fing ein Tau auf. Er hielt sich daran fest, zog unter den eisbedeckten Fellen sein Schwert aus dem Gürtel und machte einen Satz bis zum Mast. Dort klammerte er sich an und schlug mit dem Schwert senkrecht ins Eis, versuchte es dann mit der nadelscharfen Spitze und brach einen riesigen Brocken los. Er spaltete ihn in zwei Teile und bückte sich, ein Bein um die vereisten Schoten gehakt. Dann schaffte er es, den Eisriegel hochzuheben und über Bord zu kippen. Sein Vorhaben ging also auf. Wie ein Rasender schlug und stach er auf die Eisplatte ein. Die Bewegungen ließen ihn schwitzen und vertrieben ein wenig die Eiseskälte aus seinem Körper. Eisbrocken nach Eisbrocken flog über Bord. Das wenige Wasser, das über die Bordwände spritzte, störte Mythor nicht sonderlich. Sein Schwert schlug gegen den Mast. Das Holz dröhnte auf, und ein Hagel von kleinen Eisspeeren krachte herunter. »Du schaffst es, Mythor!« schrien Sadagar und Nottr. »Ich habe es allerdings bezweifelt«, murmelte Mythor. Das Schwert wirkte als Hebel. Immer wieder blieb die Spitze Altons im Holz stecken, aber die Planken waren dick genug. Kantige Brocken purzelten übereinander. Zweimal wurde Mythor beinahe über Bord geschleudert, aber es gelang ihm, sich 13
an den Wanten oder am Mast festzuhalten. Zwei Drittel der Eisplatte waren beseitigt, als Nottr plötzlich aufschrie. »Mythor! Dort! Eine Spinne!« Mythor warf die letzten Eisbrocken über Bord und richtete sich auf, eine Hand an den Wanten, in der anderen das Schwert, dessen Griff durch den Handschuh hindurch seine klammen Finger wärmte. Nottr deutete nach Steuerbord. »Ich sehe sie!« Nur in seiner Gesamtheit wirkte diese Kreatur wie eine gewaltige Spinne. Ihr annähernd runder Körper tauchte aus dem Wasser auf und überzog sich in Blitzesschnelle mit weißem Eis. Die langen Beine, die sich tentakelartig bewegten, peitschten das Wasser in dem Versuch, dem Schiff näher zu kommen. Kiefer blitzten im Mondlicht auf. Sie öffneten und schlossen sich. Als nähere sich ein Krebs, ein aufrecht gehender Krake durch seichtes Wasser, so kam das Spinnenungeheuer heran. »Wir sind schneller als das Biest!« schrie Nottr. »Es scheint so.« Das Riesengeschöpf paddelte schnell heran. Aber der Lahme Seevogel neigte sich nach Backbord und wich in gefährlicher Fahrt aus. Das Wasser gurgelte und rauschte nur eine Handbreit unterhalb der offenen Bordwand. Mit zwei langen Armen, in deren Haaren oder Fell riesige Eiszapfen klapperten, griff das Spinnenungeheuer nach dem Heck des Bootes. Nur eine Mannslänge hinter dem eisverkrusteten Ruder schlugen die hakenförmigen Klauen enttäuscht ins Wasser zurück. Mythor erkannte, daß die Gefahr noch lange nicht vorbei war. Er schwankte und rutschte unter dem Segel hindurch zum Bug des Schiffchens. Dort klammerte er sich an dem doppelten Tau fest, das von der Mastspitze bis zu einem schweren Eisenring oberhalb des Bugspriets lief. Eine zweite Riesenspinne tauchte aus dem Meer auf. Als sich die Kreatur aus dem Wasser schob, den unförmigen Fratzen14
schädel suchend drehte, packte Nottr das Ruder und versuchte, das Boot nach rechts zu steuern. Mythor hob langsam das Schwert, heftete den Blick auf das Untier und wartete, die Stöße des Bootes mit den Knien abfedernd. Das Boot schoß scheinbar schräg an dem Spinnenungeheuer vorbei. Aber die Bestie griff an. Sie stemmte sich durch das Wasser. Ihre Arme schlugen die Wellen in einem rasenden Wirbel. Das Glühen, das von den unzähligen Augen ausstrahlte, schuf auf dem Wasser verschwimmendes Funkeln. Dort, wo der Körper durch die Wellen gerissen wurde, und an den Stellen, an denen die tentakelartigen Glieder eintauchten und wieder hochgepeitscht wurden, schien die See zu kochen und zu brodeln. In unheimlicher Schnelligkeit furchte das zweite Untier durch das Wasser, während die zuerst aufgetauchte Bestie versuchte, das Boot einzuholen. Aber sie würde es nicht schaffen, vorausgesetzt, nichts hielt den Seevogel auf. Drei schwingende Tentakel erhoben sich über den eisbedeckten Leib des Spinnenwesens, bogen sich weit zurück und verschwanden, Eisstücke losschleudernd, in der Dunkelheit. Der Körper arbeitete sich weiter, auf diesen unsichtbaren Punkt zu, an dem das Boot vorbeikommen mußte. Mythor hob das Gläserne Schwert. Wenn es aus seinen Fingern glitt, dann war die Waffe für alle Zeit in der Tiefe des Meeres versunken. Seine Finger krampften sich um den Griff. Dann riß er sich schnell den rechten Handschuh ab, packte das Schwert erneut und fühlte, wie es mit seiner geballten Hand zu verschmelzen schien. Aus der Finsternis sausten die Krallen und Klauen und Saugnäpfe heran. Ein Hagel winziger Eisstücke traf Mythor, aber er kniff die Augen zusammen und schlug zu. Als sich der erste Tentakel krachend in die Bordwand bohrte, das Boot umschlingen und an sich ziehen wollte, sauste das Schwert herab. Das ferne, melancholische Stöhnen wurde vom 15
Splittern des Holzes und dem Wind übertönt. Aber Altons Schlag schnitt den unterschenkelstarken Arm ab. In einer krampfhaften Zuckung bohrten sich Dornen und Krallen ins Holz. Der zweite Tentakel schwirrte heran, schlug gegen das Tauwerk und griff nach Mythor. Wieder sauste das Schwert herab und durchschnitt mit einem einzigen, mächtigen Hieb die Masse aus Knochen und Muskeln. Aus dem abgetrennten Stumpf ergoß sich pulsierend eine dampfende Flüssigkeit ins Meer. Mythor duckte sich unter dem dritten Arm, das Schwert fuhr hoch und traf das schlangenartige Etwas in der Luft. Das Spinnenungeheuer stieß ein knurrendes Fauchen aus. Es versank halb im Wasser, während das Boot sich stampfend und schaukelnd an dem unförmigen Leib vorbeikämpfte. Der Kopf tauchte auf, zwei Kiefer schlossen sich mit berstendem Krachen. Mythor blickte am Segel vorbei in Nottrs Gesicht. Der Bepelzte stemmte sich mit aller Kraft gegen das Ruder und versuchte, von der brodelnden Stelle um die Backbordplanken wegzukommen. Wieder packte der Wind das Segel und riß den Seevogel vorwärts. Mythor sah, daß das erste Ungeheuer seine Versuche, das Boot zu verfolgen, aufgegeben hatte. Er stieß Altons Spitze in den abgetrennten Teil des Beines, der quer im Bug lag und zuckte. Mit einer wütenden Bewegung schleuderte er den Stumpf über Bord. Die Krallen des ersten Tentakels bohrten sich ins Holz, ließen die Eisschicht knirschen und aufspringen, lösten sich wieder und schienen im Todeskampf ein eigenes Leben zu entwickeln. »Ich werde mein Leben lang von dieser Nacht träumen«, murmelte Mythor. Noch war kein drittes Ungeheuer aufgetaucht, aber er war darauf vorbereitet. Einige Zeit verging, vielleicht hundert Herzschläge. 16
Dann zeigte sich an vier Stellen Bewegung. Nacheinander spie die See vier Ungeheuer aus. Sie waren größer als die beiden ersten Kreaturen mit ihren Krakenarmen. Die vier Kolosse bildeten eine unregelmäßige Reihe. Die beiden äußeren waren keine Gefahr; das Boot würde schnell an ihnen vorbeiziehen, ehe sie es von zwei Seiten ergreifen konnten. Mythor holte tief Luft und schrie Nottr zu: »In der Mitte hindurch, Nottr!« Nottr schrie keuchend zurück: »Ich versuch’s!« Der Kampf ließ ihn seine Angst vergessen, der Kampf mit Wind und Wellen und mit dem bockenden, schlagenden Ruder. Das Boot raste dahin, und Nottr glaubte weit voraus eine schwarze und langgestreckte Masse zu erkennen, die sich vor die Sterne des Horizonts schob. War es Land? Oder war es ein Spuk, der seine Augen narrte, weil er sich so sehr wünschte, vor dem Bug endlich einen Teil der Nyrngor-Küste auftauchen zu sehen? Er vergaß seine Gedanken und versuchte, so gut er es konnte, das Boot auf dem richtigen Kurs zu halten. Mythor spähte angestrengt nach vorn. Trotz der Eiskristalle in seinen Augenbrauen und dem gefrierenden Schweiß auf seiner Stirn sah er, daß es zwischen den zwei mittleren Spinnenungeheuern jetzt noch genügend Platz gab, um unangefochten hindurchzusegeln. Aber von Atemzug zu Atemzug verringerte sich der Abstand, weil beide Kreaturen schräg auf den Seevogel zuschwammen. Es waren Giganten der Tiefe, riesige Wesen mit wild wirbelnden Gliedmaßen, mit gewaltigen Köpfen und zackenbewehrten Leibern. Mythor schloß die Augen. Trotz seines einzigartigen Schwertes und seines Muts fühlte er, wie ein eisiger Panzer sich um sein Herz legte. Dann aber schlugen seine Gedanken einen Haken. Er fühlte förmlich das Pergament an seiner Haut, dachte an das Bildnis darauf und daran, welch langer Weg noch bis zu dem Augen17
blick sein mochte, in dem er dieser jungen, betörenden Frau gegenüberstand. Und er wußte, daß er sie suchen und finden würde. Irgendwo, irgendwann, denn er würde sein Leben nicht in dieser Nacht auf dem eisigen, sturmdurchtosten Ozean lassen. Eine Ruhe, die er selten gefühlt hatte, kam über ihn. Er wartete mit dem Schwert in der Faust. Die Geschehnisse liefen mit ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit ab. Das Boot flog förmlich über die Kronen der Wellen dahin. Es war dadurch, daß er das Eis zerhackt und über Bord gestemmt hatte, viel leichter geworden. Oder der Sturm hatte an Heftigkeit zugenommen. Jedenfalls erschien ihm der Lahme Seevogel plötzlich doppelt schnell. Von zwei Seiten näherten sich die Spinnenungeheuer. Auch sie waren teilweise in dicke Eispanzer gehüllt wie in schwere grünlichweiße Rüstungen. Wie rasende Schlangen streckten sich die Tentakel dem Boot entgegen. Krallen und Scheren blitzten im Mondlicht… ein Klirren wie von Schwertern erfüllte die eisige Luft. Zwei Krakenarme schlugen zu und trafen nur das Wasser, jeweils zwei Armlängen von Steuerbord und Backbord entfernt. Dann krachten wie Wurfanker die Klauen zweier weiterer Arme in den hochragenden Bug und in die Klampen, von denen die Ersatzriemen gehalten wurden. Mythor bewegte sich so schnell, wie er konnte; er hob das Schwert hoch über den Kopf und zerschnitt mit einem Schlag den links auftreffenden Arm. Dann fuhr er herum und nahm all seine Kraft zusammen. Der nächste Hieb zerschnitt den zweiten Arm, der dritte bohrte sich in den Schädel der Bestie, der rechts vom Bug aus dem Wasser ragte. Das Schwert drang so tief in den Schädel ein, daß Mythor bei dem Versuch, Alton wieder an sich zu reißen, fast über Bord gegangen wäre. Er schlug mit der Brust und dem Oberarm schwer gegen die Steuerbordkante, aber das Schwert blieb in seiner Hand. 18
Das Boot rammte das Tiefseeungeheuer. Die zahllosen Arme des Untiers peitschten ziellos gegen das Boot und durch die Luft, als die Kreatur in einem gewaltigen Wasserwirbel und einer riesigen Menge rotgefärbter Luftblasen versank. Das Boot bäumte sich auf, kippte nach Backbord, wurde mitten in seiner rasenden Bewegung angehalten, fiel krachend und in einer Gischtwolke wieder zurück, und die blind umherschlagenden Arme trafen die zweite Bestie. Der Lahme Seevogel schüttelte sich. Jede einzelne Verbindung knirschte grauenhaft auf, als sei es ein Lebewesen. Der Anker polterte durch das Boot und bohrte sich mit einer Spitze neben dem abgetrennten Arm in die Planken. Wasser schoß neben dem Kiel durch einen Riß, der sich bei der nächsten Bewegung wieder schloß. Mythor sah einen Arm heranhuschen, sprang zur Seite und führte einen waagrechten Hieb. Das Schwert durchtrennte nur halb den Arm, aber dessen Kraft war gebrochen. Ein anderer Tentakel knallte heran. Mythor riß das Schwert schützend vor sein Gesicht und spannte die Muskeln. Die Wucht des Hiebes ließ die Schneide tief in die schwarze Haut dringen, zerriß einige Saugnäpfe, groß wie Kinderköpfe, und auch dieses Angriffswerkzeug versank wieder im Wasser. Dann kam das Boot frei. Die Spinnenbestie war darunter hinweggetaucht. Der Sturm fuhr in das Segel und ließ eine massive Eisplatte auf Mythors Schultern kippen. Er fühlte einen Schlag wie von einem aufschwingenden Torflügel und schüttelte die Splitter aus dem Fell, das die Wucht abgefangen hatte. Ein riesiges Auge tauchte an Backbord auf, und schon zuckte in einer unbewußten Bewegung das Schwert herunter. Die Spitze bohrte sich eineinhalb Ellen tief in die gallertartige Masse. Das Spinnenuntier tauchte, aber die aufgerissenen Kiefer schlitzten an Backbord die Planken fast von ganz vorn bis hin19
ten auf. »Wir sind durch!« schrie Nottr wie ein Wahnsinniger. Kalathee hatte seit langem zu schreien aufgehört, und Sadagar schien ohnmächtig geworden zu sein. Schnell nahm das Boot wieder Fahrt auf. Mythor wußte, daß der Tod haarscharf an ihnen vorbeigegangen war. Aber er blieb wachsam. Seine Augen suchten die Wasserfläche vor dem Boot nach anderen Bestien ab, nach den verräterischen Wirbeln und Luftblasen. Aber er konnte nichts erkennen. Weit davon entfernt, Genugtuung oder Freude zu verspüren, wandte er sich um und hob das Schwert. Es glühte schwach in der Dunkelheit, stärker aber als jemals zuvor. Sadagar meldete sich jetzt: »Kalathee leidet. Sie friert. Ich meine, sie stirbt, wenn nicht etwas geschieht. Komm nach hinten, Mythor!« »Sobald ich kann.« Mythor stand im Bug und versuchte, jede einzelne größere Welle im Auge zu behalten. Inzwischen hatte der Mond einen Teil seiner nächtlichen Wanderung zurückgelegt. Das Licht fiel in einem anderen Winkel auf die tobenden Wellen. Sie waren nicht höher, aber auch nicht weniger drohend als vor Stunden. Und der Wind nahm eher noch an Stärke zu. Dort vorn?
Mythor wischte über seine Augen und vergaß, den rechten Handschuh wieder anzulegen. »Bei meinen unbekannten Ahnen!« stieß er hervor. »Was ist das?« Während das Boot nach Nordosten, eher Ostnordost trieb, fegte der Sturm den Himmel leer. Selbst eine Handbreit über dem Horizont war jeder Stern deutlich zu erkennen. Voraus sah Mythor einen langgezogenen dunklen Streifen, der die Sterne verdunkelte. Und rechts davon bewegte sich das Wasser um eine große, zerrissen aussehende Masse. Aber nirgendwo um das Schiff gab es Zeichen dafür, daß eine weitere 20
Spinnenbestie auftauchte – kein Wellengekräusel, keinen Schaum, keine Luftblasen. Der riesige Gegenstand mochte ein umgestürztes Schiff sein, oder etwas anderes trieb mit der Meeresdrift in nördliche Richtung und würde vielleicht den Kurs des Lahmen Seevogels kreuzen. Mythor nickte und stapfte zum Heck zurück. Er beugte sich über Kalathee. Sie hatte die Augen geschlossen und wimmerte leise. Sadagar sagte: »Sie ist krank. Es ist nicht nur die Kälte.« Als Mythor die Decken und Felle zurückschlug, krachten und knirschten sie. Der Atem der jungen Frau ging stoßweise und fauchend, und als ihr Mythor die Hand auf die Stirn legte, erschrak er. Ihre Haut war glühend heiß. Kein Zweifel, die Frau fieberte stark. Zwischen den einzelnen Atemstößen hustete sie lange und qualvoll. »Das sieht sehr ernst aus«, sagte Mythor, und in einem plötzlichen Entschluß legte er das Schwert auf den Körper Kalathees. Nottr warf Blicke in seine Richtung, die Mythor aber nicht bemerkte. Dann schlug er die Felle wieder zurück und streichelte Kalathees Wange. »Wir können ihr nicht anders helfen. Halte sie fest, Steinmann, und decke sie gut zu! Es wird noch kälter werden.« »Natürlich, Mythor. Kann das dort schon das Land sein?« »Nichts ist unmöglich«, antwortete Mythor und zwängte seine Finger wieder in den Handschuh. Er stellte sich neben Nottr auf das leicht erhöhte Heck des Bootes. Von hier gab es einen geringfügig besseren Blick. Das Schwert würde Kalathee nicht schaden und ihr sicher irgendwie wärmend helfen. »Sind das Trümmer?« fragte Nottr und deutete auf den Gegenstand, der ebenso eisverkrustet war wie alles andere, was sich in dieser Nacht auf dem Wasser bewegte. Das Boot und dieses schweigende Ding dort trieben auf einen Punkt zu, den 21
sie schätzungsweise zur gleichen Zeit passieren würden. Mehr und mehr begann das Eis in vielfältigen Formen den Seevogel zu beherrschen. Seltsame Formen wuchsen überall, wo der Sturm das eiskalte Wasser hinpeitschte. Mythor hielt das Steuer fest und ließ seine Augen nicht von der herantreibenden Masse. Schließlich erkannte er die Formen von zerstörten Häusern, in deren leeren Fensterhöhlen sich das Eis ausgebreitet hatte. »Es sind die Reste einer Nomadenstadt!« sagte er schließlich. »Ich erkenne einen Torturm.« Natürlich dachte er zuerst an Churkuuhl. Er glaubte, in den eisverkrusteten Trümmern, die auftauchten und sich wieder senkten, die Stadt zu erkennen, die ein solch gräßliches Ende genommen hatte. »Die Reste von Churkuuhl? Bist du sicher?« fragte Nottr und federte einen starken Stoß des Bootes ab. »Ziemlich sicher!« Mondlicht lag auf den Trümmern. Sie bildeten eine zusammenhängende Fläche aus den ineinander verschachtelten Hausresten. Ein toter Yarl trieb zwischen Balken und Palisadenresten. Die Wellen hoben und senkten das Trümmerfeld, dessen einzelne Teile sich gegeneinander rieben und bewegten. Ein ständiges Knirschen und Krachen kam über die Wellen und bildete ein Signal der Gefahr. Immer wieder wurden Teile der Trümmermasse von einer besonders starken Welle hochgeschoben und brachen auseinander. Ein breiter Schwanz von kleinen Bruchstücken schwamm wie ein Kometenschweif im Kielwasser der driftenden Stadtruine. Die Geräusche waren schon jetzt stärker als die des Windes und der Wellen. Mythor griff ins Steuer und änderte den Kurs des Bootes ein wenig, so daß es hinter der zerbrochenen und menschenleeren Nomadenstadt durchfahren würde. Es wurde fühlbar kälter, und auch Mythor fror unter seinem Fellmantel. 22
Das Husten Kalathees hörte auf, aber sie war noch immer kraftlos und im Fieber. Die beiden Männer blieben im Heck und versuchten, das Boot so schnell und auf so geradem Kurs wie nur irgend möglich durch den eisigen Sturm zu bringen. Schweigend blickten die Insassen des Bootes auf die krachende und berstende Masse aus Eis und Gebäuderesten, und Mythor erkannte, daß es sich tatsächlich um Churkuuhl handelte. Es war kein Leben mehr in diesem schwimmenden Haufen aus Ruinen und Zerstörung. Jetzt herrschte dort das Eis, und die starren Leichen einiger Marn schwammen im Sog der driftenden Masse dahin. »Hier hat alles wirklich angefangen«, murmelte Mythor zu sich selbst. Ein Kreis hatte sich geschlossen, aber für ihn bedeutete es nichts: Die Prüfungen, die er als Sohn des Kometen noch vor sich hatte, würden nicht weniger hart sein als sein Weg bisher. »Möge die Erbschaft des Lichtboten mir helfen«, flüsterte er, und dann durchfurchte das Boot, das schwer nach Backbord krängte, die kleinen Trümmer, die knirschenden Eisschollen und den Abfall der gestorbenen Stadt. Der schwarze Streifen voraus wurde deutlicher. Es gab keinen Zweifel, daß es sich um Land handelte. Und wenn es Land war, lag irgendwo dort der Hafen von Nyrngor, den sie nicht anlaufen durften. * Die Fahrt mit dem Lahmen Seevogel dauerte eine Ewigkeit. Wenigstens kam es den drei Männern so vor. Das Eis stand fast knietief im Boot. An jeder Stelle befanden sich Eisschichten, Eisgirlanden und Eispanzer. In gefährlichem Winkel hing das Boot im Wasser, aber es hielt den Kurs. Die schwarze Silhouette kam näher, Einzelheiten wurden deutlicher. Es war eine zerklüftete Felsenküste mit schmalen Ein23
schnitten und kleinen, finsteren Stränden. Einige laublose Bäume waren zu erkennen, die sich im Sturm schüttelten. Das Schiffchen trieb geradewegs auf eine Reihe scharfer Felsen zu, die der Küstenlinie vorgelagert waren. Mythor riß das Ruder herum und zwang das Boot, sich aufzurichten und schräg an den Steinblöcken vorbeizufahren. Tauwerk straffte sich, der Mast knirschte schrecklich, Eisstücke lösten sich und flogen den Männern in die Gesichter. »Ich habe es euch geschworen, als wir ablegten, drüben…«, sagte Mythor und sah, wie die Planken eine Handbreit an einem aus den Wellen tauchenden Felsen entlangscheuerten. Wieder wurden Eisschichten und Holzspäne von den Planken gerissen. »Wir schaffen es!« »Gleich schafft uns der Felsen«, sagte Nottr grimmig. »Die kurze Strecke schwimmen wir auch noch!« »Und frieren im Wasser ein«, widersprach Nottr. Der Lahme Seevogel war fast am Ende. Ein Tau riß, im Segel zeichnete sich ein Netz von Rissen ab. Nur der Eispanzer hielt noch die Stoffasern zusammen. Das Boot geriet in eine Brandungswelle und schwankte hin und her. Wieder rissen zwei Planken auf und ließen Wasser ein. Mythor steuerte an drei nadelscharfen Felsen vorbei und auf einen flachen Strand zu, der sich hinter einem Felsen erstreckte. Der Stein hatte die Form eines Adlerkopfes. Mondlicht und Schatten verliehen ihm diese Form. »Wir landen?« rief Sadagar erwartungsvoll. Kalathee schien zu schlafen. Sie rührte sich nicht. »Ich nenne es nicht Landung, sondern Strandung!« brüllte Mythor. »Festhalten!« Er drehte das Boot in den Wind. Ein Sturmstoß packte den Seevogel, riß das Segel von oben nach unten entzwei; die Brandungswelle hob das Boot. Der schäumende Streifen des Wassers auf dem Strand war keinen Bogenschuß weit entfernt. Das 24
Boot gewann ein letztes Mal an Fahrt und raste genau auf den Sand oder das feine Geröll zu, das voller Eis und Schneekristalle war. Mythor und Nottr verständigten sich mit einem Blick und klammerten sich an das Ruder. Dann kippte der Bug schwer in die Wellen, richtete sich wieder auf, und ein einziger Schwung trug das halbe Wrack drei Mannslängen weit auf den Strand. Der Mast brach, das Segel legte sich über das Vorschiff, und das Ruder brach mit einem trockenen Knall entzwei. Mythor und Nottr wurden nach vorn geschleudert, Kalathee und Sadagar und die Ausrüstung rutschten über die Eisplatte in der Bilge. Aber das Wasser flutete zurück und ließ das Boot tief in den Sand einsinken. Mit zwei Sätzen waren Nottr und Mythor über Bord gesprungen und halfen Sadagar, die junge Frau hinauszuheben. »Ertrinken werden wir nicht mehr«, meinte Sadagar mit seiner rauhen Stimme. »Aber vermutlich erfrieren.« »Vermutlich nicht!« widersprach Mythor. Über den Strand zog sich ein fast hüfthoher Wall aus Treibholz hin. In großer Schnelligkeit hoben sie allen Besitz aus den Trümmern des Seevogels und schleppten ihn in den Schutz der Felsen. Der Hang war nicht sehr hoch, und vom freien Land grenzten ihn Felsen und windzerzauste, eisverkrustete Bäume ab. Mythor rannte voraus und fand eine geschützte Stelle zwischen drei großen Felsen. Sie war trocken, und Feuerschein würde nicht nach außen dringen, war nur vom Wasser aus zu sehen. Als er seine Packen abgelegt hatte, raschelte etwas in den dürren Büschen unterhalb der ächzenden Bäume. Steinmann Sadagar kam ihm entgegen, ließ sein Bündel fallen und riß seinen Pelz auseinander. Seine Arme bewegten sich so schnell, daß Mythor nur schemenhafte Bewegungen sah. Dreimal ertönte ein wischendes Geräusch, dann schrie etwas in den Büschen quietschend auf. 25
Ein Tier, fetter als ein großer Hund, brach, wild um sich schlagend und kreischend, aus dem Gestrüpp. Sadagar rannte hinüber und riß sein viertes Wurfmesser aus dem Gürtel. Das Schreien brach abrupt ab. Sadagar stöhnte, als er das blutende Tier über den Sand heranschleppte. »Es ist ein Oinkenporker«, sagte er. »Viel Fett, langfaseriges Fleisch. Guter Braten, falls wir ein Feuer haben.« Bedächtig zog er die Dolche aus dem Körper des Tieres, wischte sie am Fell ab und schob sie zurück in die Scheiden. Keiner seiner Würfe war danebengegangen. Mythor sagte: »Das ist mehr, als wir erhoffen konnten. Nottr hat Werkzeug, um Feuer zu machen. Wir übernachten hier!« Sie polsterten den Boden mit Decken und Fellen. Holz wurde herbeigeschleppt und schnell angezündet. Binnen kurzer Zeit brannte ein riesiges Feuer, von den dünnen Zweigen und den schweren Kloben genährt. In seinem Licht sahen die Männer trockene Felswände, eine annähernd saubere Sandfläche und die Spuren eines anderen Feuers, das vor Monden hier gebrannt haben mochte. Mythor nahm sein Schwert an sich und umrundete einmal die Felsgruppe. Kein Zweifel, sie befanden sich in Dandamar. Weit und breit gab es kein Licht. Nyrngor mochte irgendwo hinter den Hügeln liegen. Mythor sah auch keine Spuren. Er schleppte weiteres Holz herbei, hackte mit dem Schwert die Läufe und den Kopf des Tieres ab und sah zu, wie Nottr das Tier aus der Decke schlug, ausweidete und dann in Stücke zerteilte. Die dampfenden Fleischbrocken und die dünnen Fettscheiben spießte er auf einen langen, zugespitzten Holzpfahl. In den Lederbeuteln begann der gefrorene Wein aufzutauen. Zwischen den Felsen, die eine Art Giebeldach bildeten, wurde es binnen kurzer Zeit fast zu heiß. Kalathee schlug die Augen auf, sah sich erstaunt um und schien aus einem tiefen Traum zu erwachen. 26
»Wie geht es dir?« fragte Mythor beklommen. »Ich bin matt«, sagte Kalathee und schnupperte den Geruch in die Flammen tropfenden Fettes. »Aber ich habe kein Fieber mehr. Ich huste nicht mehr… mir ist wohlig warm.« Dampf stieg aus den trocknenden Decken, Pelzen und Wämsern auf. Das Fleisch des Oinkenporkers roch geradezu köstlich. Die Männer betteten Kalathee auf einigermaßen trockene Felle, drehten sich selbst vor den Flammen hin und her und spürten, wie die Erstarrung langsam aus ihren Körpern wich. »Ich habe es nicht glauben können«, sagte Sadagar und räusperte sich, »als wir vom Ufer abstießen.« Zwei Astgabeln von Treibholzstücken befanden sich an den beiden Seiten des Feuers, abseits von den Flammen. Nottr kauerte davor und drehte den Pfahl langsam hin und her, dann stand er wieder auf und knetete den Lederschlauch. Der Wein war noch eiskalt. Sadagar wickelte einen Becher aus und schichtete Brotfladen und Stücke getrockneten Fisches, den sie von den Besitzern des Bootes erhalten hatten, auf ein Tuch. »Es wird ein fürstliches Mahl werden«, versprach Nottr und zog seine nassen Stiefel aus. »Uns wird es so vorkommen!« versicherte Mythor. Sie sahen sich in die Augen und fingen zu lachen an. Es war ein dröhnendes Gelächter, das die aufgestauten Ängste beseitigte und die neu gewonnene Lebensfreude kennzeichnete. Als schließlich auch Kalathee einstimmte, wußten sie endgültig, daß sie gerettet waren. Während sie auf den Braten und darauf warteten, daß der Wein trinkbar wurde, schleppte Mythor die Reste des Segels heran, zerhieb den Mast und errichtete eine Art Windschirm vor den Felsen. Die Flammen leckten an den Wänden, die Kleidung wurde trockener, und es stank nach versengtem Fell. Diese Nacht würden sie Schlaf finden und Wärme. Nottr übernahm die erste Wache, nachdem sie gegessen und 27
Kalathee mit den besten Brocken gefüttert hatten. Bis weit nach der Morgendämmerung ließ er das Feuer nicht ausgehen. Als das erste Sonnenlicht des Tages auf die noch immer aufgewühlten Wellen schien, verbreitete noch immer ein großer Haufen weißer und roter Glut Licht und Hitze zwischen den Felsen. Mythors Helm hing auf einem Pfahl, den der junge Krieger mit dem Schwertgriff in den Boden gehämmert hatte. Wie ein urzeitlicher Schädel oder die Knochen eines seltsamen Tieres schien der Helm die Schlafenden zu bewachen. * In dieser Stunde der Nacht war Nyrngor mehr denn je eine tote Stadt. Die Peitschen der Caer knallten nicht mehr. Ihre Lanzenschäfte schlugen nicht mehr auf die hungernden Bewohner ein. Die Gassen und Plätze waren leer; die Stadtbewohner, die nicht geflohen waren, hatte die Spuren der Belagerung und der Kämpfe wegräumen müssen. Aber dennoch war die Stadt alles andere als sauber. Ihr ursprüngliches Aussehen war inzwischen Legende. Die verkohlten Balken und die geschwärzten Mauern der verbrannten Häuser und Häuserzeilen ragten wie verdorrtes Holz in die Luft. Ratten huschten pfeifend durch die Trümmer und suchten in der peinigenden Kälte nach Fressen. Der Wind, der eisig durch die offenen Tore hereinheulte, war wie ein Symbol für den Niedergang der Stadt. Ab und zu hörte man Waffenklirren und den harten Schritt von Bewaffneten. Dann verbreiteten die Fackeln der CaerPosten auch schwaches, flackerndes Licht in den schmalen Gassen. Fenster waren mit Lumpen und Decken verhängt. Nur aus wenigen Schloten stiegen dünne Rauchfahnen in die Nacht28
luft. Geborstene Türen wurden durch Stricke und darübergenagelte Bretter zusammengehalten. Von einigen Dächern tropfte Wasser und bildete lange Eiszapfen. Nirgendwo lag Schnee, nicht einmal in den Winkeln, in die niemals ein Sonnenstrahl fiel. Die Körper von Gehenkten baumelten von schaukelnden Ästen. Von irgendwoher wehte der Geruch einer Suppe, die aus unbeschreiblichen Zutaten bestehen mußte. Ein gellender Pfiff ertönte aus der Richtung der Stadtmitte. Eine Frau schrie hell auf, aber niemand wußte, woher der Schrei kam. Im Hafen bildete sich Eis auf der Wasseroberfläche. Es waren nicht mehr viele Schiffe da; nur noch ein paar tausend Caer-Soldaten befanden sich in Nyrngor. Auch große Teile des Lagers waren abgebaut und auf die abziehenden Schiffe gebracht worden. Als habe sich die Nachricht vom Fall und der Besetzung der Handelsstadt über das ganze Land verbreitet, war auch kein einziges Schiff mehr hierhergekommen. Ein Hund knurrte plötzlich auf, kniff den Schwanz zwischen die Beine und rannte unter den zertrümmerten Torflügeln hervor. Als habe er ein Ziel, rannte er hechelnd auf dem Pflaster dahin, sprang in weiten Sätzen über eine Brücke, überquerte im Schutz der Dunkelheit einen Platz und lief dorthin, wo Schloß Fordmore den Mittelpunkt der besiegten Stadt bildete. Jeder Schritt enthüllte im Mondlicht neue Zerstörungen. Die Stadtmauern waren rußgeschwärzt, das Steinwerk von den Einschlägen mannigfaltiger Geschosse gezeichnet. Die langen Bahnen des Öls bedeckten die Quader. Große Flecken getrockneten Blutes waren hier und dort sichtbar. Alles Brennbare war weggeräumt worden. Die Caer schürten ihre Feuer mit den Resten. Die Soldaten hatten die Herrschaft über die Stadt übernommen. Wer nicht gehorchte, wurde geschlagen oder nach Fordmore getrieben. Wer sich offen auflehnte oder gar einen 29
Caer angriff, starb eines schnellen Todes. Auch am Tag wurde in den Gassen nur geflüstert. Die Nyrngorer fürchteten sich. Es gab längst keine vierzigtausend Bewohner mehr. Wie viele es wirklich noch waren, konnte nicht festgestellt werden. Die Kälte hatte die Pest besiegt. Die letzten Pesttoten, einige Dutzend, waren vor der Mauer im hartfrierenden Boden begraben worden. Am Brunnenplatz hielt eine Katze die Reste einer zerfetzten Ratte zwischen den Vorderpfoten. Das Tier fauchte auf und machte den Buckel krumm. Dann sprang es mit einem weiten Satz von dem Balken und huschte lautlos am Brunnentrog vorbei. In der Dunkelheit ertönte ein halb ängstliches, halb zorniges Fauchen, dann war das Tier verschwunden. Die Katze, die gegen etwas Warmes, Weiches geprallt war, machte einen Bogen und bewegte sich in Richtung des Stadtzentrums. Eine schwarzverhüllte Gestalt richtete sich auf. Im Mondlicht funkelte die Schneide eines Dolches, der jetzt wieder unter dem Gewand versteckt wurde. Die Gestalt, eine gebeugte alte Frau, erstarrte, als sie das Klirren und das grölende Lachen hörte. Es kam aus der Gasse der Weinhändler. Entlang den Hauswänden tastete sich die Frau auf die Quelle der Geräusche zu. Sie setzte vorsichtig Schritt vor Schritt und bewegte sich völlig lautlos. Einen unsichtbaren Beobachter hätte etwas an den Bewegungen der Alten stutzig werden lassen. Zweihundert Schritt huschte die alte Frau entlang den Häusern, dann zog sie sich wieder in den Schatten zurück. Schräg gegenüber leuchtete durch die Sprossen eines Fensters Licht. Aus dem Schornstein des Hauses quoll weißer Rauch. Es roch nach Wein und Erbrochenem. Es roch aber auch nach Käse, nach Bratenfett und frischem Brot. Die Caer hatten diese Schenke in Besitz genommen. Die Frau brauchte nicht lange zu warten. Dann knarrte die Tür auf. Ein hochgewachsener Caer-Offizier stolperte über 30
seine kurze Lanze, als er in die Gasse hinaustrat. Er schwankte hin und her und schien erheblich betrunken zu sein. Seinen Mantel hatte er lose über der Schulter, den Helm schlenkerte er am Sturmriemen hin und her. Torkelnd umrundete er ein leeres Weinfaß. Er schien die Kälte nicht zu spüren, summte eine Melodie und rammte mit der Schulter die Mauer. Unbemerkt schlich die Frau hinter ihm her. Sie war drei Schritte hinter seinem Rücken, als er unter dem Steg stehenblieb, der von Haus zu Haus lief. Dann sauste etwas durch die Luft, der Mann stieß ein Ächzen aus und sank zu Boden. Ein Knüppel hatte ihn im Genick getroffen. Noch ehe er krachend auf das spiegelglatt gefrorene Pflaster schlagen konnte, schob die Alte ihren gekrümmten Körper vor ihn und fing den Sturz ab. Dann plünderte sie den Offizier mit raschen Bewegungen, die lange Erfahrung verrieten, restlos aus. Lanze, Helm, der Brustpanzer, Schwertgehänge und Dolche, der Mantel und schließlich die geraubten Stiefel. Als sie ihn zurückließ, war er nicht nackt, aber waffenlos. Und auch seine Geldbörse klimperte schwach am Gürtel der Alten. Sie schien über große Kräfte und ebensolche Behendigkeit zu verfügen, die Frau mit dem schmalen, runzligen Gesicht. Sie eilte zurück zur Schenke. Das Nachbarhaus war leer und dunkel. Mit all den Waffen kroch sie mehrere Treppen abwärts, tappte durch ein modriges Gewölbe und durchquerte mehrere Keller. Dann spähte sie schwer atmend durch die breiten Ritzen in einer Tür, die aus schenkelstarken Balken gezimmert und mit schweren eisernen Beschlägen verankert war. Dahinter flackerte schwach eine Kerzenflamme. Die Alte klopfte in einem bestimmten Rhythmus gegen die Tür. Sie tat es mit dem Knauf eines Dolches. Schritte näherten sich, eine unterdrückte Stimme fragte: »Wer da?« »Eine alte Frau, die Waffen eines bewußtlosen Offiziers und Geldstücke bringt.« 31
Nur Eingeweihte kannten diesen Weg. Zwei Fallen, die einen ungeheuren Lärm verursacht hätten, hatte sie umgangen. Die Tür wurde geöffnet; sie bewegte sich geräuschlos. Die Frau schlüpfte hinein. Waffen schlugen gegen Mauerwerk und Holz. Überall standen Weinfässer und lange Regale mit umgedrehten Krügen. Ein etwa fünfzigjähriger Mann schob einen armdicken Eisenriegel vor und wandte sich an die alte Frau. Er flüsterte: »Ich habe schon gehört, daß Caer überfallen werden. Ich dachte an Dhorkan… aber wer bist du?« Sie legte die einzelnen Waffen auf Tische und lehnte sie gegen Fässer. Hier befand sich bereits ein kleines Waffenarsenal. Sie ließ sich nicht stören, und erst als sie fertig war, schlug sie im Licht der dicken, tropfenden Kerze den Umhang zurück. Der weißhaarige Mann starrte unsicher in ein schmales Gesicht. Graues Haar war mit hölzernen Kämmen hochgesteckt und bildete im Nacken einen Knoten. Bernsteinfarbene Augen blitzten ihn an. Er kannte diese mandelförmigen Augen! Aber die Haut des Gesichts, das durch die starken Wangenknochen und das energische Kinn harte Konturen erhielt, war braun und grau wie das einer alten Frau. Im rechten Ohrläppchen war ein nicht zu übersehendes Loch, in dem einmal ein goldener Ring… Er hob den Kopf und flüsterte erschrocken: »Königin Elivara!« Sie nickte und lächelte kurz. »Ich bin es. In dieser Maske wird mich kein Caer aufhalten. Wie du siehst, hat die Verkleidung ihr Gutes. Wo sind die anderen?« »Woher weißt du…?« stotterte der Bruder des Wirtes, einer der treuesten Männer, einer, der bis zuletzt an den Mauern gefochten hatte. »Ich habe euch genau beobachtet. Es verschwinden so viele Männer im Haus nebenan. Weißt du etwas von Dhorkan?« 32
»Nein. Wir sind zehn Männer. Hier ist der Treffpunkt. Sie sind in allen Teilen der Stadt unterwegs. Interessante Dinge erzählen sie, Königin. Nahe Fordmore geht etwas vor!« »Auch ich habe davon gehört. Noch diese Nacht sehe ich es mir an.« Die Färbung der Haut und die Runzeln, die sie alt erscheinen ließen, stammten von Kräutersäften. Das Wissen über die Blätter, Wurzeln und Früchte hatte Elivara von ihrer Amme. Sie trug keinen Schmuck. Er war unter der Nordmauer vergraben. Der Schenkenwirt zapfte einen silbernen Becher seines besten Roten ab und reichte ihn der Königin. »Was weißt du von Hester, außer daß er die Königsmarionette von Feithearn, diesem Schakal, ist?« »Nichts, Königin. Er hat, soviel wir wissen, Schloß Fordmore nicht verlassen. Das Schloß wird stark bewacht.« »Ich weiß. Ich bin seit Tagen in der Stadt. Aber ich konnte mich dem Schloß nicht nähern. Ich habe sieben Männer, die mir helfen.« »Dann sind wir siebzehn. Achtzehn mit dir!« sagte der breitschultrige Mann. Auch ihm waren die Runen der Sorge ins Gesicht gegraben. »Für eine Armee im Untergrund ist das verdammt wenig.« »Mit der Zeit werden mehr Krieger zu uns stoßen. Aber wir werden die Caer nicht aus Nyrngor jagen, sondern wir wollen ihnen den Aufenthalt zur bleibenden Erinnerung werden lassen. Zur sehr bösen Erinnerung!« Elivara trank den Wein in großen Schlucken. »Hat der Keller noch einen Zugang?« »Ja. Einen Fluchtweg. Dort, hinter dem großen schwarzen Faß. Willst du hier schlafen?« »Ist es sicher?« »Ja. Noch. Ich bin den Rest der Nacht hier. Komm, wann du willst, und klopfe wieder in der gleichen Weise!« Elivara leerte den Becher, nickte dem Wirt dankend zu und 33
verließ den Keller. Sie sicherte nach allen Seiten, ehe sie das halb ausgebrannte Haus verließ. Dann schlug sie den Weg nach Fordmore ein. Über ihr flatterte ein Schwarm Wasservögel zielbewußt über die Dächer. Es schien, als hätten Elivara und die Vögel dasselbe Ziel. Seit der Ritter Coerl O’Marn mit seinen besten Kriegern die Stadt verlassen hatte, waren zwei Änderungen deutlicher geworden: Solange er auf seinem schweren Roß durch die Gassen sprengte, gab es so etwas wie Zucht und Ordnung auch für die Sieger. Jetzt aber leisteten sich die Soldaten Übergriffe. Sie verhielten sich wie der neue Herrscher über Nyrngor. Dieser Herrscher hieß Feithearn. Das alles wußte Elivara längst. Auch daß der Dämonenpriester ein grausames Verhältnis zu den Beherrschten hatte, konnte niemandem entgehen. Jeder seiner Befehle, die im Namen Hesters in den Gassen verkündet wurden, bestätigte seine Absicht, die Stadt völlig unter seine Gewalt zu bringen. Während Elivara durch die Stadt schlich, sah sie immer wieder Zeichen dafür. Aber auch ferner Lärm wurde lauter. Sie unterschied Kommandos, knallende Peitschen und das Klirren von Steinmeißeln. Zwei Hunde, ein kleiner und ein großer, wolfsähnlicher, rannten kläffend und knurrend hinter ihr her, überholten sie und liefen in die Hafentorstraße. Bisher war Elivara nicht angehalten worden. Sie sah CaerPatrouillen nur von fern. Aber vor ihr brannten Feuer und zahlreiche Fackeln. In der Nähe von Schloß Fordmore arbeiteten jetzt, weit nach Mitternacht, Stadtbewohner. Soldaten bewachten sie. Elivara, die bereit war, jedem anderen Menschen eine schwachsinnige alte Vettel vorzuspielen, blieb stehen und wich dann auf einen Schleichweg aus. Schließlich, nachdem sie über leere Plätze und eisbedeckte Brücken geschlichen war, stand sie auf der leeren Terrasse eines Hauses, das einem Kauffahrer gehört hatte und jetzt leer und geplündert war. Vor 34
ihr erhoben sich die rötlichen Mauern des Schlosses, und auf dem Platz dazwischen arbeiteten sie. Eine Grube wurde ausgehoben. Steinquader, die wohl von der Stadtmauer stammten, wurden behauen und zusammengefügt. Unter Brettern verborgen schien ein länglicher Steinbrocken zu liegen, denn von dort kam das wütende Hämmern der Meißel. Überall standen und gingen Doppelwachen. Es war unmöglich, sich unter die Arbeitenden zu mischen. Elivara sah schweigend und in steigendem Haß zu, wie die Caer-Offiziere rücksichtslos die Peitsche gebrauchten, wenn jemand zu langsam arbeitete oder sich die Hände an einem Feuer wärmen wollte. Der Priester, Ziel ihres Hasses, war nirgendwo zu sehen. Hinter vielen Fenstern des Schlosses brannten Lichter. Wortfetzen drangen an ihre Ohren. »… bald aufgerichtet sein. Noch ein paar Tage!« »Sie müssen schneller arbeiten…« »Dann wird Feithearn die Stele beschwören. Eine Seite ist schon fertig. Die Zeichen sind magisch…« Ein dröhnendes Gelächter folgte. Eine Peitsche knallte. Ein Offizier schrie: »Und dann muß jeder Städter jeden Tag hierherkommen und sich vor Duldamuurs Obelisken verbeugen.« Elivara begriff, was sie eben andeutungsweise gehört hatte. Der Dämonenpriester ließ direkt neben dem Palast eine Stele aufrichten, die voller eingravierter magischer Zeichen war. Wenn jeder Bewohner der Stadt tagtäglich den Bösen Mächten seine Ehrerbietung zu leisten hatte, würden bald alle Menschen hier vollkommen in der Gewalt des Bösen sein. Also würden Elivara und ihre Rebellen, das schwor sie sich, diese Stele stürzen müssen. »Aber zuerst«, flüsterte sie im Selbstgespräch, »muß sie aufgestellt sein. Ich werde es diesem Priester zeigen! Vor dem 35
Schloß meines Vaters!« Aber sie sah noch einige befremdliche Dinge: Auf der Brüstung der obersten Plattform saßen viele Vögel. Auch große Greifvögel waren darunter. Zwischen den schuftenden Nyrngorern huschten Ratten und Katzen umher, ohne sich gegenseitig anzugreifen. Hunde liefen um die Beine der Posten und ließen sich weder mit Steinwürfen noch mit Fußtritten vertreiben. Und über dem Schloß kreiste ein Schwarm Seeschwalben. Das hatte zweifellos etwas zu bedeuten. Aber was? * Auf der Platte des großen hölzernen Tisches war eine Klappe befestigt. Sie wurde an der Rückseite von zwei massiven Stäben gestützt, die in Vertiefungen des Tisches einrasteten. So entstand eine schräge Fläche, die etwa zwei bis drei Ellen im Quadrat maß. Mit kleinen Messingnägeln war ein unregelmäßig geschnittenes Stück Pergament darauf festgespannt. Das Bild, das auf dem elfenbeinfarbenen dünnen Leder entstehen sollte, war mit winzigen Strichen vorgezeichnet. Unzählige zittrig ausgeführte Linien und Kurven bildeten eine merkwürdig exotisch wirkende Landschaft, in der sich Fabeltiere zu tummeln schienen. Aus dem Berg im Hintergrund schien ein böse starrendes Gesicht herausgemeißelt worden zu sein. Nur einige Teile des Bildes waren mit einer Art ölig fließender Lackfarbe fertiggestellt. Hester, der halbblinde Bruder der Königin, saß auf der Vorderkante eines Sessels, der viel zu groß für ihn war. Seine Zunge wischte wie ein nervöses kleines Tier über seine Lippen. Das eine Auge stierte einmal kurzsichtig auf das Bild, dann bog der Junge den Kopf in den Nacken und musterte das Gezeichnete und Gemalte aus größerer Entfernung. Erstaunlich sicher aber waren seine Finger, die einen dünnen Pinsel 36
packten und ihn in ein Schälchen mit schwarzem Lack tauchten. Die Frau, die hinter ihm saß und Flicken in eine Decke nähte, hieß Swite oder so ähnlich; Hester behielt keine Namen längere Zeit. Sorgfältig zog er einige der Kohlestiftlinien nach. Er wußte selbst nicht genau, was er tat. Etwas trieb ihn, und solange der Drang nicht erloschen war, so lange malte und zeichnete er, was seinem verwirrten Verstand eben einfiel. Ab und zu kam ein leises Lallen aus dem Mund des Knaben. Das Lächeln, das sein Gesicht überzog, war eine Grimasse. Hester hörte auch nicht die harten Schritte vor der Tür, die von mehreren Männern stammten. Aber die Frau hob den Kopf und hörte angstvoll zu nähen auf. Die Tür flog auf. Der Dämonenpriester Feithearn kam herein, als sei er König Carnen. Hinter ihm schoben sich selbstbewußt fünf Caer in den Raum. Sie waren in voller Rüstung und schwer bewaffnet. Hester hob den Kopf über das Pult und fuhr fort, schwarze Schatten zu malen. Er stieß ein kurzes Kichern aus. Feithearn, der nur seinen Mantel, nicht aber Handschuhe und Helm trug, schnippte mit den Fingern und deutete auf Swite. »Hinaus! Ich habe mit Hester zu reden.« Schweigend gehorchte die Frau. Sie huschte verschreckt hinaus, sich an den Kriegern vorbeidrückend. Krachend warf ein Caer die Tür zu. Feithearn umrundete langsam den Tisch und warf einen langen Blick auf das unfertige Bild. Das Licht vieler Öllampen spiegelte sich in der Schicht über dem unmenschlichen Gesicht, die wie bewegliches Glas wirkte, wie ein Mineral aus der Tiefe der Welt. Aus den unergründlichen Augen sprach dämonische Macht, als sich der junge Priester an Hester wandte. Seine Stimme war nur scheinbar sanft; hinter jedem Wort 37
lauerte die Schärfe eines Peitschenhiebs. »Du malst? Gut. Besser, als einen Dolch zu halten.« Der schwarze Mantel bauschte sich und warf schwere Falten. Die Silberstickerei funkelte strahlend. Hester zwinkerte und richtete seinen Blick auf Feithearn. Er grinste verzerrt. »Hör zu!« Hester erschrak; er sah weinerlich drein. Feithearn lehnte sich an eine Tischkante und fuhr fort: »Morgen wirst du mit mir gehen. Ich spreche draußen vor dem Palast. Bei jedem Satz, wenn ich eine Pause mache und dir einen Stoß versetze, mußt du nicken. Und versuche zu lachen, auch wenn es dir keiner glaubt. Verstanden?« Der junge Mann hob eine Schulter, blickte von unten herauf in das maskenhafte Gesicht des Priesters. Es war deutlich, daß sich Hester fürchtete. Hester nickte und lallte einige kaum verständliche Worte. Es klang, als habe er den Befehl begriffen. »Wir fahren im Wagen durch die Stadt. Du grüßt nach allen Seiten. Du hebst die Arme. Klar?« Hester nickte mindestens ein dutzendmal. Er kicherte auf. Nicht einmal Feithearn erkannte, welcher Art dieses hilflose Lachen war. Der Priester hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Farbnäpfchen und die Dosen tanzten, blutiges Rot ergoß sich aus einem Becher über das Holz und versickerte in die Risse. »Morgen mittag! Deine Wärterin wird dich anziehen und füttern. Du wirst im Hof erwartet. Das war’s, Königssohn!« Herrisch winkte Feithearn seinen Soldaten. Sie verließen klirrend und stampfend den Raum. Mit einem sehr seltsamen Blick aus seinem gesunden Auge blickte Hester ihnen nach, bis die schwere Tür wieder zugeschmettert wurde. Dann tunkte Hester einen anderen Pinsel in die rote Farbe. Sie wirkte wie frisches Blut auf dem braunen Holz. Bedächtig fuhr er fort, 38
Farbe auf das Pergament aufzutragen. * Der Reiter war ebenso erschöpft und hungrig wie das Pferd. Er hing, von seinem dunklen Mantel bedeckt, schwer in den Steigbügeln. Er näherte sich von Norden der Stadt, und nur seine flinken Augen bewiesen, daß er nicht eingeschlafen war. Das Tier setzte vorsichtig Huf vor Huf. Es waren fast keine Geräusche zu hören, das reifbedeckte Gras dämpfte die Hufschläge, und der Umhang verhinderte das Klirren der Waffen. Ein runder Schild bedeckte den Rücken des schlanken Mannes, der einen einfachen Helm trug. Vor den Nüstern des Pferdes und dem Mund des Reiters stiegen weiße Atemwolken auf. Eine Hand im schmutzigen schwarzen Handschuh klopfte den Hals des Pferdes. »Nur noch eine letzte Anstrengung!« Vor dem Reiter lag wie ein riesiges totes Tier die Stadt. Die Mauern ragten dunkel und scheinbar unbezwingbar auf. Der Reiter ließ ein leises, verzweifeltes Lachen hören. Er lenkte das Pferd nach rechts, und schon gähnte vor ihm der offene Bogen eines zerstörten Tores. Der Reiter zog sein Schwert, hob den Kopf und setzte sich im Sattel zurecht. Dann stieß er einen Zischlaut aus, gab dem müden Tier die Sporen und sprengte in einem holprigen Galopp durch das Tor. Die Hufschläge klapperten unerträglich laut auf dem Pflaster, die Echos hallten von den unbelebten Häusern wider. Riesige Schatten bewegten sich. Das Mondlicht funkelte auf der Schneide des Schwertes. Aber auf seinem Weg durch einen kleinen Teil der Nordstadt sah der Reiter keinen Caer, der ihn aufhalten wollte. Nyrngor war ausgestorben. Ein einzelnes Licht tauchte vor ihm auf. Er ritt scharf entlang den Hauswänden, das Tier strengte sich 39
ein letztes Mal an und wurde schneller. Seine Lungen gingen keuchend wie löchrige Blasebälge. Das Licht ließ das Schild einer Taverne erkennen. Ein baumelndes Faß, das sich in rostigen Ketten knirschend bewegte, darauf die Worte: Trunkener Seemann & Mastbruch. Kurz vor der Eingangstür zügelte der Reiter das Pferd, sprang mit einem Satz aus dem Sattel und zerrte das Tier in eine Hofeinfahrt. Mit drei, vier Sätzen war er an der Tür und spähte ins Innere. Dort waren der Wirt, zwei alte Mägde, drei Caer, die vor vollen Bechern saßen. Ein mächtiges Feuer loderte im Kamin, aber die fettigen Spieße und Roste waren leer. »Sie sitzen im Warmen«, brummte der Reiter, schlug seinen Mantel weit über die Schultern zurück und hantierte an seinem Gürtel. Er schloß die Augen, murmelte einen Fluch oder eine Anrufung, spannte seine Muskeln und stieß die Tür auf. Die Caer sprangen auf und griffen nach den Schwertern. Der Eindringling bewegte sich plötzlich mit unbegreiflicher Schnelligkeit. Als ein Krug auf ihn zuflog, senkte er den hoch erhobenen Arm. Ein Dolch pfiff durch den Rauch der Wirtsstube und bohrte sich in den Hals eines Caer. Zwei Schritte brachten den Krieger in die Mitte des Raumes. Sein Schwert schlug nach rechts und traf mit der Breitseite einen Caer an der Stirn. Der Soldat brach über einem Tisch zusammen, aber noch ehe er den Boden berührte, parierte der Eindringling den ersten Schwerthieb mit seiner Klinge. Der Wirt sprang zurück, die Mägde stießen helle Schreie aus. Viermal kreuzten die beiden Männer die klirrenden Klingen in der Enge der niedrigen Gaststube. Eine Magd rannte zur Tür und schloß sie, lehnte sich mit der Schulter dagegen. Dann unterlief der Eindringling einen Hieb, lenkte das Schwert ab und riß mit der freien Hand den Dolch aus dem Gürtel des Soldaten. Der Caer starb mit einem langgezogenen Ächzen. Der Kämpfer ließ die blutige Klinge sinken und fragte: »Be40
finden sich noch mehr Caer in dieser Schenke?« Der Wirt hob einen Leuchter hoch und kam mit der Hand hinter seinem Rücken hervor. Sie hielt ein langes Küchenmesser. »Nein. Aber…« »Keine langen Reden. Draußen ist ein Pferd. Helft mir!« Sie plünderten die Caer aus. Stiefel und sämtliche Waffen, etwas Geld und die Teile der Rüstung verschwanden wie von Geisterhand. Der Fremde brachte das Pferd heran, und die Männer luden die toten und bewußtlosen Körper auf den Rücken des Tieres. Dann fuhr der Krieger herum und sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: »Ich komme zurück. Ich brauche ein Nachtlager und einen Platz für das Pferd. Die Caer lade ich bei ihren Schiffen ab.« Der Schein der Kerze fiel in das unrasierte, schmutzige und ausgezehrte Gesicht des jungen Mannes. Plötzlich grinste der Wirt breit und sagte voll abgrundtiefer Erleichterung: »Dhorkan! Die Königin wartet schon auf dich!« »Nicht vergeblich, wie ich beweisen konnte. Schnell! Einen Becher!« Schon reichte ihm eine Magd einen Becher mit Wein. Dhorkan stürzte ihn in drei Zügen hinunter, rülpste laut und hob die Hand. »Wir werden später Erzählungen austauschen. Denkt an mein Pferd!« Augenblicke später verhallten die Hufschläge des schwerbeladenen Tieres in der Dunkelheit. Nur der Schatten wanderte noch über die Hauswände. Der Mond spiegelte sich in den Eisflächen der Gasse. * Die Menschen, die sich innerhalb der Stadtmauern befanden, Caer wie Nyrngorer, fieberten dem Höhepunkt der Ereignisse 41
entgegen. Sie wußten kaum, was geschehen würde. Aber sie ahnten, daß etwas in dieser Stunde geschah, was für ihr weiteres Leben bestimmend sein würde. Am Tag war der Caer-Priester zusammen mit Hester im Streitwagen der verschwundenen Königin durch die Stadt gefahren. Elivaras Rappen hatten den Wagen gezogen. Caer stießen in Fanfaren, und andere Caer verkündeten die Botschaft: »Um Mitternacht muß jeder Bewohner Nyrngors an der Stele Feithearns vorbeigehen und sich vor den magischen Zeichen verneigen.« Immer wieder hatte Hester sein hilfloses Lächeln aufgesetzt und nickend die Befehle des Priesters bestätigt. Und jetzt warteten sie alle… Etwa zwei Stunden vor Mitternacht schlichen Dhorkan und Elivara durch die Stadt. Der Anführer ihrer Leibgarde trug Rüstung und Waffen eines Caer. Sie bewegte sich in der Maske der schwachsinnigen Greisin. Nach vielen Umwegen, ständig von der Gefahr der Entdeckung bedroht, erreichten sie das leere Haus des Kauffahrers. Schon von weitem hatten sie Lichter gesehen und das Lärmen gehört. Die Stele vor dem Schloß schien fertig zu sein. Schweigend stand Dhorkan auf der kleinen Terrasse, die Hand am Schwertgriff. Er starrte das verwirrende Bild an. »Nicht die Caer, sondern Drudins Dämonenpriester sind die wahre Pest!« stieß er in ohnmächtiger Wut aus. Halblaut antwortete Elivara: »Es ist so, wie du sagst. Aber es wird ein merkwürdiges Fest werden.« Inzwischen waren sie mehr als zwanzig Verschworene. Fünf von denen, die ihnen halfen, trugen wie Dhorkan erbeutete Rüstungen und Waffen. Noch immer ruhte die Rüstung König Carnens im Versteck, in einem leeren Weinfaß der Taverne. Wenn nur Mythor hier wäre! dachte die Königin niedergeschlagen. »Es sind zu viele Caer dort unten.« 42
Die Arbeiter waren bis auf wenige Ausnahmen vertrieben worden, obwohl die Stele noch nicht richtig verankert war. Auf einem Sockel von fünf aufeinanderfolgenden Steinen, einer kleiner als der nächsttiefere, erhob sich eine fünf Mannslängen große Säule aus schwarzem Stein. Dunkelrot waren die Reliefs ausgelegt. Es handelte sich um Fratzen und verzerrte Köpfe, um Schattenwesen, magische Zahlen und Schriftzeichen, die jeden Teil der Säule bedeckten. Von diesem schwarzen Obelisken ging eine stumme Drohung aus, als sei er mit Verderben geladen. Einige Nyrngorer schlugen Pflöcke in den Boden und befestigten damit die unterste Plattform. Etwa zwei Dutzend CaerDoppelwachen marschierten auf dem Platz hin und her. Sie kontrollierten auch die Ränder des Platzes, dort, wo die ersten Häuser standen. Viele Fackeln und lodernde Feuer in großen Schalen zogen sich in einer Doppelreihe vom Tor bis zum Obelisken und bildeten dort einen zweifachen Kreis. Dhorkan lachte heiser. »Es werden jeden Tag ein paar weniger. Sie verschwinden einfach, und niemand findet sie wieder.« »Aber unser Angriff muß blitzschnell geführt werden. Ebenso der Rückzug.« »Es ist alles geplant und vorbereitet.« Sie beobachteten weiter. Wieder fiel Elivara auf, daß sich eine ungewöhnlich große Menge von Tieren rund um das Schloß sehen ließ. Streunende Hunde, Gruppen von riesigen Ratten, Vögel auf den Giebeln der Häuser und Katzen, deren Augen im Mondlicht funkelten wie Edelsteine, und einige große Vögel, die man undeutlich erkannte, wenn sie das Licht der Sterne verdeckten oder vor dem Mond vorbeischwebten. Die Tiere waren allesamt unruhig. Aber sie griffen nicht an. »Verstehst du das?« fragte Elivara nach einer Weile. In ihrem Versteck im Keller der Taverne hatten sie bereits über diesen 43
gespenstischen Umstand gesprochen. »Nein. Noch immer nicht«, gestand Dhorkan. Er huschte zurück in den verwüsteten Raum, entzündete eine Kerze und schirmte sie mit einer Tischplatte ab. Dann legte er den Bogen und die Pfeile bereit. Sie warteten, frierend und geduldig. In einigen Verstecken, so nahe an der Säule wie möglich, harrten die anderen Rebellen auf ein Signal. Plötzlich kam undeutliche Bewegung in die Szenerie. Ohne daß es die Caer merkten, verschwanden die Ratten. Sie sammelten sich im Dunkeln und bildeten zwei lange Reihen, die sich im rechten und linken Winkel des Schloßtors versteckt in den Hof hineinbewegten. Ein paar Katzen folgten lautlos. Die Hunde blieben stehen und spitzten die Ohren. Elivara stieß Dhorkan an, der Krieger hob die Schultern. Die Vögel verließen wie auf ein einziges Kommando ihre Plätze, flogen auf und sammelten sich zu mehreren Schwärmen. Dann rauschte es plötzlich über dem Platz, und die Schwärme verformten sich zu trichterartigen Schläuchen. Die Spitzen der Schläuche mündeten in offenen Fenstern, in Dachluken und flogen durch das Tor ins Schloß. Elivara stieß einen Laut der Überraschung aus. »Hester!« sagte sie aufgeregt. »Ich dachte nicht daran! Er versteht es, Tiere zu beeinflussen!« Ein paar Caer waren stehengeblieben und starrten nach oben. Sie sahen nicht genug, um Alarm zu schlagen. Und schon waren die meisten Vögel verschwunden. Nur noch einige riesige, weißköpfige Geier stürzten sich von oben in den Hof des Schlosses. »Dein Bruder lockt diese Tiere alle an?« fragte Dhorkan ungläubig. »Ich glaube, ja. Aber es kann natürlich auch sein, daß der Dämon des Priesters mit den Tieren spricht.« Einige Augenblicke hatten genügt, und inzwischen waren 44
unbemerkt die unzähligen Katzen verschwunden. Einige gedrungene Schatten rasten durch das Tor. Dies waren keine Katzen mehr. Oder es waren riesige Wildkatzen oder Lynxe, die aus den Wäldern der Wildländer hierhergekommen sein mußten. Zu welchem Zweck? Wer hatte sie gerufen? Wieder blieb es einige Augenblicke lang still. Dann brach ein betäubender Lärm aus. Innerhalb von Schloß Fordmore schien Panik um sich zu greifen. Schritte ertönten, schrille Schreie und kurze Flüche erschallten aus den Fenstern und dem Hof. Waffen klirrten, Türen schlugen zu, Pferde wieherten, als stünden die Stallungen in Flammen. Möbelstücke fielen um, ein sich überschlagender Körper brach durch ein Fenster und blieb zerschmettert auf dem Platz liegen. Katzen miauten und fauchten, Hunde kläfften, knurrten und jaulten. Sie waren es, von denen die Caer-Wachen angegriffen wurden. Einzelne Soldaten wälzten sich, von Rudeln schnappender Hunde förmlich bedeckt, auf dem Boden. Vögel zwitscherten, kreischten und schrien. Fackeln bewegten sich hinter den Fenstern hin und her. Es begann, nach versengten Federn und Fellen zu stinken. Dhorkan wartete Elivaras Zuruf nicht ab. Er ergriff den Bogen, legte einen Brandpfeil auf die Sehne und entzündete den harz- und ölgetränkten Ballen an der Kerze. Er zog die Sehne bis ans Ohr und schoß den Pfeil schräg hinauf zum Mond. Surrend, mit hellen Flammen und weißem Rauch, beschrieb der Pfeil seine Bahn. Der Arbeiter, der vor Stunden in die Fugen unter dem Säulenfundament Öl statt Wasser gegossen hatte, war längst wieder verschwunden. Dhorkans zweiter Pfeil jaulte in flacher Flugbahn über den Platz, an zwei Caer und einem Rudel geifernder Hunde vorbei, und landete im allgemeinen Lärm und Chaos am Fuß der Stele. Der Ball aus Stoff und Harz tauchte flammend ins Öl ein, das Feuer breitete sich nach beiden Seiten aus. Einen Atemzug später brannte es hell 45
und lodernd am Sockel des Obelisken. Der Signalpfeil erlosch. Der Lärm im Inneren des Gebäudes nahm zu. Kreischende Schreie ertönten und erfüllten die Nacht. Zwischen den Häusern stürmten etwa zwei Dutzend Männer hervor. Sie rannten im Zickzack zwischen den Caer hindurch, die mit den Hunden kämpften. Einige Soldaten verbluteten auf dem Pflaster. Die Rebellen rannten auf die Stele zu. Einer von ihnen schwang ein Seil mit einem Wurfanker. Die Männer an den Seiten des Stoßkeils schwangen blitzende Schwerter. Der Überfall erfolgte in äußerster Lautlosigkeit und lief beängstigend schnell ab. Dhorkan legte einen neuen Pfeil auf die Sehne und wartete. Er war bereit, einzugreifen. Der Wurfanker flog durch die Luft. Er wickelte sich in halber Höhe um die Stele, rutschte ab und wurde zurückgezogen. Eine zweite Schlinge entrollte sich, das erste Seil traf den Obelisken zwei Mannslängen weiter oben. Die Widerhaken des Ankers griffen in das Seil. Zwei Caer rannten auf die Rebellen zu, die sich bereits langsam zurückzogen. Da die Hälfte von ihnen Caer-Ausrüstungen trug, wurden die Wachtposten unsicher, und dieses Zaudern brachte ihnen den Tod. Zehn Männer schoben die Schwerter in die Scheiden, warfen die Schilde auf den Rücken und hängten sich ans Seil. Als sich das Seil straffte, als auch das zweite Tau Halt gefunden hatte, erreichte der chaotische Lärm aus dem Schloß einen vorläufigen Höhepunkt. Inzwischen hatten sich, den Befehlen folgend, viele Nyrngorer eingefunden. Sie füllten die Gassen und die Räume zwischen den Häusern aus und starrten wie gelähmt auf das Schauspiel, das sich ihnen bot. Ein Ruck ging durch das Seil, die Stele bebte; Staub und Steinsplitter lösten sich vom Fundament. Die Menge stieß ein langgezogenes Stöhnen aus, das in das allgemeine Kreischen 46
und Heulen mündete. Aus dem Tor stürzte eine Gruppe von Caer. In ihrer Mitte befand sich Feithearn, erkenntlich an seinem Mantel und dem gräßlichen Knochenhelm. Die Masse der Stadtbewohner erkannte ihn sofort. Auch er sah, daß sich zwei gestraffte Seile von der Stele zu den zerrenden und ziehenden Männern spannten. Aber keiner der Caer griff ein. Sie hatten genug mit sich selbst zu tun. Vögel flatterten um ihre Köpfe, hackten in die Haut und in die Augen und rissen an den Haaren. Katzen sprangen an den Gewändern hoch, krallten sich in den Stoff, und ihre Krallen rissen tiefe Furchen in die Hände und die Gesichter der Caer. Hunde verbissen sich zugleich mit den Ratten in die Beine und in den Nacken. Ein Geier rauschte mit weit ausgebreiteten Schwingen heran und hackte nach Feithearns Knochenhelm. Sein Schnabel glitt mit einem metallischen Klirren von der Helmzier ab. Überall waren Ratten. Sie drängten sich zwischen die Hunde und Katzen und bissen, wo immer sich ihnen ein Fleckchen Haut bot. Eine riesige Menge von Caer und Nyrngorern drängte sich aus dem Tor. Sie flohen vor dem Angriff der Tiere. Die Caer schlugen wild um sich, rissen die Tiere von ihren Mänteln und Rüstungen, wehrten sich mit Dolchen und wütenden Schlägen. Diener und Dienerinnen rannten aus Schloß Fordmore hinaus und verschwanden in alle Richtungen. Die Dunkelheit zwischen den Häusern verschluckte sie spurlos. Die Tiere stürzten sich auf alle Männer, die Caer-Rüstungen trugen. Die Stadtbewohner hingegen ließen sie ungeschoren. Dann riß der Strom der Flüchtenden ab. Ein einzelner Mann rannte mit schlenkernden Schritten aus dem Tor. Er trug einen weiten Mantel, der hinter ihm flatterte. »Hester!« schrie Elivara auf. 47
Dhorkan zielte auf den Dämonenpriester. Aber immer wieder schoben sich große Vogel und andere Caer zwischen den Schützen und den Priester. Um Hester bildeten die Tiere einen Ring. Hunde, große Katzen mit lohfarbenem Fell und ein kleines Rudel Lynxe schirmten ihn ab. Niemand konnte zu ihm gelangen, ohne zwei Mannslängen wütender Tiere überwinden zu müssen. Die Stele wankte! Sie neigte sich von der Schloßmauer weg, pendelte zurück, wurde wieder nach vorn gezerrt und schien einen langen Moment unbeweglich in der Schwebe zu verharren. Dann fiel sie. Die Rebellen ließen die Stricke fahren und rannten davon. Vor ihnen öffneten sich in den Reihen der Stadtbewohner schmale Gassen. Die Dämonenstele Feithearns schlug mit einem Geräusch, das die Grundmauern des Schlosses erbeben ließ, auf das Pflaster. Sie zersprang in mehrere Teile, aber… Noch bevor sie den Boden berührte, zuckten Blitze knatternd in kreidebleicher Helligkeit auf. Sie fuhren zwischen der schwarzen Säule und dem Boden hin und her. Als die Stele den Boden berührte, flammte sie in unirdischer Glut auf. Ein ungeheurer Blitz schoß senkrecht hinauf, verästelte sich tausendfach und erzeugte einen Donnerschlag, der jeden betäubte. Im Boden erschien ein Loch. Überall flammten Blitze, schmorten die Steine, kochte die Erde. Hitzewellen schlugen von den Trümmern des Obelisken nach allen Seiten. Die Körper der toten Caer wurden in die Höhe gewirbelt und gegen die Mauern geschmettert. Die Lebenden wurden von der Helligkeit, dem Lärm, der lauter als der Donner des Sommergewitters war, den Flammen und dem verglühenden Pflaster und dem Erdreich darunter in Angst und Schrecken versetzt, und dort, wo sie dieser dämonischen Erscheinung näher waren, wie Puppen zu Boden geschleudert. Elivara klammerte sich an Dhorkan. Der schoß seinen Pfeil 48
ab, aber er traf nicht Feithearn, sondern blieb im Schild eines Caer stecken. »Hester! Sieh an, was er tut!« schrie Elivara auf. Ihr Bruder, der in diesem Moment, schaurig beleuchtet von Blitzen und Feuern und beschützt von dem Ring aus wütenden Tieren, von der roten Schloßmauer wegflüchtete, wirkte nicht mehr unbeholfen und schwachsinnig. Er war zu weit entfernt, als daß Elivara seinen Gesichtsausdruck erkennen konnte. Aber sie sah, daß er zielbewußt handelte. Seine Bewegungen waren nicht mehr die eines hilflosen Jungen. Wie er so dahinlief, mitten unter seinen Tieren, strahlte er eine Form von Macht aus, von Autorität, wie sie Elivara zum letztenmal bei ihrem Vater erlebt hatte. Er rannte, umgeben von Tausenden Vögeln, Ratten, Katzen, Hunden und irgendwelchen anderen Tieren, in nordöstliche Richtung. Auch dort gab es keine geschlossenen Stadttore. Die Tiere folgte ihm in langen Sätzen am Boden und in der Luft. Einige Herzschläge später war dieser Spuk vorbei. Die letzten tierischen Angreifer ließen von den Caer ab. Dann hallte Feithearns Stimme, die sich vor Wut und Enttäuschung überschlug, von den Mauern wider. Er stand neben den erloschenen Trümmern der Stele und dem dampfenden Krater und schrie: »Ihr werdet es büßen! Ihr habt euch gegen Drudin und meinen Dämon gestellt! Jeder einzelne von euch, ja, auch ihr, Soldaten, wird meinen Zorn zu spüren bekommen.« Schweigend griff Dhorkan in den Köcher und wählte einen Pfeil mit besonders scharf geschliffener Spitze. »Die Stele wird wieder aufgerichtet! Wir werden den Idioten fangen und bestrafen. Und keiner von euch wird es wagen, sich noch einmal gegen mich und die Magie zu stellen!« Dhorkan zielte, ließ die Sehne los und verfolgte den blitzschnellen Flug des Geschosses. Der Pfeil fauchte eine Elle von 49
Feithearns Brust entfernt vorbei und bohrte sich schmetternd in die Schulter des Caer, der direkt neben dem Priester stand. »Wir müssen weg. Sie werden die Umgebung absuchen!« sagte Dhorkan und legte seine Hand auf Elivaras Schulter. »Du hast recht.« Sie löschten die Kerze, verließen das Haus und liefen, so schnell sie konnten, vor der Menge der zurückflutenden Nyrngorer durch die Gassen. Sie erreichten die Schenke, in der nur eine alte Dienerin wartete. Wein und kaltes Essen waren bereitgestellt, denn auch der Wirt war beim Schloß gewesen. »Sceythe«, sagte Elivara, dies war der Name des Mitverschwörers, »hat es richtig gemacht. Der wichtigste Treffpunkt und das sicherste Versteck sind hier, wo tagtäglich die CaerHauptleute zechen.« »Noch sind wir sicher. Aber nach dieser Nacht«, meinte Dhorkan und war ebenso wie Elivara nur mit Schwierigkeiten in der Lage, das zu verarbeiten, was sie eben erlebt hatten, »hat es niemand in der Stadt leicht. Abgesehen davon, daß der Winter fortschreitet und nicht nur die Nahrungsmittel knapp werden.« »Hier ist heißer Wein mit Gewürzen«, sagte die zahnlose Alte und stellte einen Krug mit zwei Bechern vor Elivara und Dhorkan. »Danke! Ausgerechnet Hester! Ich kann es noch immer nicht glauben.« Betrat jemand die Gaststube der Taverne, mußte er glauben, ein Caer zechte mit einer alten Frau. Dhorkan fühlte, wie der heiße, süße Wein, vom Magen ausgehend, seinen Körper binnen weniger Atemzüge wohlig erwärmte. »Eines Tages werden wir alles begreifen. Was wir sehen, sind nur einzelne Zeichen, Königin«, meinte der junge Mann. Jetzt erst war er sicher: Zweifel hatten ihn in den vergangenen Tagen geplagt. Er 50
hatte versucht, das Überleben der Flüchtlinge zu organisieren, und dann, von einem Augenblick zum anderen, entschloß er sich, in die Stadt zurückzukehren. Zumindest sich der Stadt zu nähern, um etwas über ihr Schicksal zu erfahren. Den Wirt dieser Taverne kannte er seit zehn Jahren. Zuletzt hatte er ihn gesehen, wie er Mauerbrocken auf die Caer geschleudert hatte. Der Trunkene Seemann & Mastbruch war vor dem Fall der Stadt Treffpunkt der wildesten Kämpfer und der hübschesten Mädchen gewesen. Und jetzt war er der einzige Ort, an den sich die Rebellen zurückziehen konnten. Sceythe würde eher sterben, als Verrat zu begehen. Das war so sicher wie die Tatsache, daß der Mond am Himmel stand. Dhorkan ließ sich nachschenken und fuhr fort: »Feithearn hat vor den Augen der ganzen Stadt bewiesen, daß sein Zauber nicht allmächtig ist. Tiere haben seine Wachen fast umgebracht. Und ich sage dir, Königin Elivara mit den bernsteinfarbenen Augen, daß wir noch ganz andere Dinge erleben werden. Und ich sage dir noch etwas! Ich träume oft, und inzwischen glaube ich auch an meine Träume. Vieles von dem, was wir erleben, hat mit Mythor zu tun, dem Sohn des Kometen!« Sie blickte ihm lange ins Gesicht. Dann seufzte sie und sagte langsam: »Ich glaube, du hast recht. Nyrngor aber wird niemals mehr das werden, was es war.« »Was zerstört ist, kann aufgebaut werden. Eines Tages werden die Caer nicht mehr die Herrscher sein. Beide sind wir jung. Wir werden es erleben.« Die Ränder der Becher gaben ein dumpfes Geräusch, als Dhorkan und Elivara auf diese Hoffnung anstießen. Dann flog die Tür auf, und der Wirt kam herein. Dhorkan hob beide Hände und sagte, noch ehe der Freund seine Neuigkeit heraussprudeln konnte: »Wir haben alles gesehen! Und auch wir haben keine Erklärungen. Wir sind nur 51
müde und schmutzig.« Irgend etwas hatte sich in der halb zerstörten, besetzten und geplünderten Stadt verändert. Die nächste Zeit würde zeigen, ob es eine Änderung zum Guten oder zum Schlechten war. Der Morgen versprach einen herrlichen, wenn auch kalten Tag. Die Sonne strahlte herunter. Ihre Wärme löste den Rauhreif auf, der wie weißer Zierat auf Gräsern, Ästen und Stämmen lag. Am strahlend blauen Himmel zeigte sich nicht ein Wölkchen. Nur weit in der Ferne, im Norden, zogen sich dünne Rauchfäden in die unbewegte Luft und zerfaserten erst in großer Höhe. Dort lag Nyrngor. »Ich wünschte, wir hätten Pferde!« sagte Mythor und hielt auf der Kuppe des Hügels an. »Jeder Weg ist mühsam, wenn man ihn zu Fuß zurücklegen muß.« Der Helm der Gerechten bestimmte den Weg, seit sie am Morgen nach der schauerlichen Seefahrt aufgebrochen waren. Die vier Freunde waren ausgeschlafen, ihre Pelze und Fellmäntel waren trocken. Nottr trug zusätzlich zu den anderen Vorräten noch ein paar Bratenstücke des Oinkenporkers auf dem Rücken. Mythor hatte den Helm der Gerechten aufgesetzt, sein Blick wanderte ungehindert über die Umgebung. »Eigentlich sollte es mich nach Nyrngor ziehen«, sagte er leise. »Aber wir würden uns unnötig in große Gefahr bringen.« Steinmann Sadagar fügte hinzu: »Coerl O’Marn und seine Elitesoldaten sind nicht mehr hier. Ich denke, Feithearn wird sich zum Herrscher über die Stadt aufgeschwungen haben.« »Das ist sicher!« bestätigte Kalathee. »Elivara wird viel Glück brauchen, um zu überleben.« Mythor streckte den Arm aus und deutete auf einen auffällig großen Vogelschwarm, der südöstlich von Nyrngor in dieselbe Richtung flog. Die Tiere kreisten über einem Punkt und flogen wieder weiter. Hoch in der Luft zogen riesige Greifvögel ihre 52
Kreise. Mythor dachte wieder an das Einhorn, den Schneefalken und den Bitterwolf, der, jener Legende entsprechend, geheult haben sollte, als man ihn als Fünfjährigen fand. Der Helm würde ihn zu den Tieren führen, aber voller Mißtrauen ahnte Mythor, daß es kein direkter und einfacher Weg sein würde. »Wohin zieht dich dein Helm?« fragte Nottr. »Dorthin, wohin es auch die Vögel treibt«, sagte Mythor. »Aber ich sehe gerade, daß es nicht nur Vögel sind.« Die Sonne blendete sie ein wenig. Aber immer deutlicher wurde eine Art Zug, der aus vielen kleinen Tieren bestand. Sie kamen zwischen den niedrigen Hügeln und den Feldern hervor, krochen durch das Unterholz und bildeten eine breite Bahn, die sich in die Richtung bewegte, die auch Mythor einzuschlagen gedachte. Die Wanderer erkannten Hunde aller Größen und Rassen, einträchtig zwischen Ratten und Katzen. »Das ist eine Überraschung!« murmelte Sadagar. »Eine Karawane der Tiere. Was soll das bedeuten?« »Keine Ahnung«, brummte Nottr. »Hunde, Katzen und Vögel… ein verrücktes Land!« Mythor winkte und machte sich hügelab auf den Weg. Sadagar folgte ihm, Nottr packte den Arm Kalathees und zog sie mit sich. Je näher sie dem Zug kamen, desto größer wurde die Menge der Tiere. Ein lebender Teppich wimmelte und krabbelte über das weglose Gelände, den fernen Waldstücken entgegen. Und dann blieb Mythor überrascht stehen. »Diese Gestalt kenne ich«, sagte er verblüfft. »Es muß der Bruder Elivaras sein, der halb blinde Hester.« Etwa im zweiten Drittel der anscheinend endlosen Karawane der Tiere war ein kreisförmiger Platz frei gelassen. Mitten darin ging Hester, in einen weiten Mantel gehüllt. Er hatte gar nichts mehr an sich von dem hilflos lallenden Jungen, der sei53
nen eigenen ungeschlachten Körper nicht beherrschte. Diese unzähligen Tiere schienen nicht nur seine Begleiter zu sein, sie waren Wächter und Eskorte zugleich. Wachsam sicherten die Hunde nach den Seiten. Stets liefen einige von ihnen weitab des Hauptstroms. Die Vögel schwirrten nach allen Seiten davon und kehrten dann wieder zu dem kugelförmigen Schwarm zurück, der sich über Hester ausbreitete. Und die großen Vögel hoch über der Gruppe sahen ohnehin alles, was sich in weitestem Umkreis bewegte. »Jetzt erkenne ich ihn auch. Es ist tatsächlich Hester«, bestätigte Nottr voller Verwunderung. »Wohin ziehen ihn die Tiere?« »Du solltest dich besser fragen, wohin er sie führt«, schränkte der Steinmann ein. »Vielleicht finden wir es bald heraus.« Mythor dachte mit leisem Schrecken daran, was Elivara ihm einmal erzählt hatte. Hesters Fähigkeit, mit Tieren umzugehen und sie nach seinem Willen zu beeinflussen, kannte jedermann in Schloß Fordmore. Hier war der Beweis dafür. Hester war zweifellos aus Nyrngor geflohen, denn Feithearn hätte ihn nicht freiwillig ziehen lassen. Das wiederum ließ vermuten, daß ihn der Priester mit seinen Caer-Soldaten verfolgen würde. Schon wieder hatte sich die Lage gefährlich zugespitzt. Mythor mußte die Veränderung berücksichtigen. Dann kam ihm ein anderer, noch beunruhigenderer Gedanke. »Ich suche drei Tiere«, stieß er hervor. »Hester beherrscht Tiere. Ich glaube, wir beide suchen dasselbe.« »Dann bleibt uns nichts anderes übrig«, brummte Nottr mißmutig, den die Aussicht auf eine beschwerliche Wanderung keineswegs freute, »als ihn zu verfolgen. Und die vielen Tausende seiner Tiere.« »Richtig. Damit fangen wir genau jetzt an«, entschied Mythor. Rund fünf Bogenschüsse weit waren sie von dem breiten 54
Strom der Tiere entfernt. Der Zug war zu Ende, als sich Mythor und seine Freunde auf die unübersehbare Spur setzten. Hester und seine Tiere bewegten sich unerwartet schnell. Zwei große Katzen beschlossen die Versammlung der schweigenden Tiere. Sichernd drehten sie ihre Köpfe nach allen Seiten. Falls sie Mythor und seine Gruppe sahen, schienen sie ihn nicht als Gefahr für Hester anzusehen. Die Wanderer hatten noch keine Mühe, den Tieren zu folgen. Es war ein einmaliger Anblick. Der Zug der Tiere war schätzungsweise hundert Mannsgrößen lang und vier Mannsgrößen breit. Die Rücken der meisten Tiere waren dunkel, und so sah es aus, als bewege sich ein schwarzes Band über die Äcker, Felder, die Hügel und die schmalen, erstarrten Wasserläufe. Der freie Kreis inmitten der Tiere wanderte sozusagen mit. Er veränderte seinen Durchmesser niemals. Mit knappen, herrischen Gesten jagte Hester einen Hund in jene Richtung, ließ von den großen Katzen ein Gebüsch durchsuchen, schien mit den kleineren Vögeln zu sprechen, die ab und zu sein Gesicht umschwirrten. Vielleicht, dachte Mythor, der nicht wußte, was er davon zu halten hatte, vielleicht hat Hester auch etwas mit den drei Fabeltieren zu tun.
Dann nämlich war er Mythors Feind. Oder zumindest sein Konkurrent. Mit Hilfe der Tiere konnte er Mythor mühelos ausschalten. Trotzdem folgten ihm Mythor und seine Freunde. * Am späten Nachmittag lösten sich plötzlich einige Dutzend Vögel aus den Hauptschwärmen. Sie zeigten Zielstrebigkeit, aber keine sinnlose Eile. Sie stiegen hoch und flatterten dann auf Mythor und seine Freunde zu. Jetzt saßen sie auf einem modernden Baumstamm und aßen von ihren Vorräten. 55
»Da! Vögel«, sagte Nottr unwillig. Die Narbe über seinen Lippen hob sich deutlich ab. »Ich sehe sie«, gab Mythor zurück. »Laß den Bogen, Nottr!« Die Vögel schwirrten hin und her, näherten sich der Gruppe und umflogen sie von allen Seiten. Sie stiegen hoch und fielen wieder; einige setzten sich auf Zweige in der Nähe und hielten die Köpfe schief. Aus kleinen schwarzen Augen beobachteten sie lautlos und scharf die vier Personen in ihren schweren Pelzen. Einer der größeren Vögel flog davon und kam nicht mehr zurück, zwei andere folgten. Dann näherte sich langsam einer der Geier und flog in vier, fünf Mannshöhen Entfernung dicht über dem Boden um die Wanderer herum und strich dann flügelrauschend ab. »Sie beobachten uns!« flüsterte Kalathee und drängte sich in Mythors Nähe. »Hester läßt uns beobachten«, erklärte Mythor. »Er hat also bemerkt, daß wir ihm folgen.« »Er wird denken, daß wir ihn verfolgen.« »Wenn seine Späher ihm berichten, daß wir hier gemütlich Bratenstücke verzehren, wird er erkennen, daß wir den gleichen Weg zu haben scheinen. Mehr nicht«, stellte Mythor richtig. Aber trotzdem ließ er kein Auge von den Vögeln, die jetzt ihre Plätze verließen und zurückflogen. Während sie Mythor beobachtet hatten, waren Hester und seine seltsamen Verbündeten ohne Aufenthalt weitergewandert, und dies in unverändert schnellem Tempo. Der letzte Vogel, ein großes Exemplar mit schwarzem, glänzendem Gefieder, spreizte seine Flügel und flatterte auf. »Jetzt entscheidet es sich!« sagte Nottr. »Er weiß über uns alles.« »Vielleicht sagen ihm die Vögel, wer wir sind. Er hat uns häufig gesehen, als wir im Schloß wohnten«, sagte die junge 56
Frau halblaut. »Auch das ist möglich«, antwortete Mythor. »Alles ist möglich, wenn Magie im Spiel ist.« Was immer die Vögel dem seltsamen Herrscher der Tiere von Mythor berichtet hatten, Hester ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Der breite Strom seines tierischen Heeres wanderte mit ihm weiter und verschwand in der graugrünen Dunkelheit des nächsten Waldes. * Bis zum Sonnenuntergang folgten Mythor und seine Freunde den Tieren. In der Nacht rasteten sie kurz, und als es genügend Mondlicht gab, gingen sie langsam weiter. Die Spur war deutlich, der Weg war nicht zu verfehlen. »Was wir in der Nacht nicht schaffen, holen wir morgen auf«, meinte Mythor. »Wie lange werden wir ihm wohl folgen müssen?« fragte Kalathee. Hier zwischen den Stämmen der Laub- und Nadelgewächse war es windstill und weitaus weniger kalt als auf der Strecke vor dem Waldrand. »Es werden wohl einige Tage werden«, meinte Nottr. »Hoffentlich reichen die Vorräte.« »Das Land ist leer. Niemand wohnt hier«, faßte Sadagar seine Beobachtungen zusammen. »Du hast recht«, unterstützte ihn Mythor. »Aber ich rechne fest damit, daß Nottrs Pfeile oder deine Wurfmesser uns wieder einen Braten beschaffen. Brennholz gibt es wohl genug.« »So ist es.« Hinter dem Wald lag ein Sumpfgebiet, dann kamen wieder weite Flächen unberührter Landschaft. Dahinter folgte ein niedriger Wald; ein paar Bachläufe wanden sich durch verwilderte Einöde, und abermals tauchten die traurigen Bäume auf, 57
die auf einzelnen Sumpfinseln wuchsen. Es gab keinen Pfad, aber die Tierkarawane hatte ihre Spur auch hier hinterlassen. »Die Vögel und die Späher haben den richtigen Weg gefunden«, meinte Mythor. »So ist Hester durch den Sumpf gekommen, ohne einzusinken.« »Und so kommen wir ebenso leicht durch den Sumpf – aber wohin gehen wir?« fragte Kalathee. »Ich glaube, das wissen nicht einmal Hesters Spähervögel«, knurrte Nottr. Sie folgten den Tieren insgesamt zweieinhalb Tage lang, Tag und Nacht, durch fast jede Art von Landschaft. Der Weg führte nicht geradeaus, sondern folgte den leichtesten Abschnitten des Geländes. Zahllose Hindernisse hatten sich den Tieren und Hester in den Weg gestellt, sie waren umgangen oder überwunden worden. Das also waren die Wildländer von Dandamar – unbewohnt, reich an Wald und, den Abdrücken in den wenigen durchgehenden Schneeflächen nach zu schließen, auch an Wild. Und dann, zwischen Mittag und Abend, als Nebel die blutrote Sonnenscheibe zu verhüllen begann, verbreiterten sich die Spuren der Tierarmee nach rechts und links. Vor den Augen der Wanderer öffnete sich ein Tal. Aber der Weg dort hinein war versperrt. * Mythor nahm alle Einzelheiten des Tales, das unter ihm lag, voller Spannung in sich auf. Vor ihm und seinen Freunden, die ebenso staunend dastanden, erstreckte sich ein Wall von dornigen Ranken, ineinander verhakten Zweigen, von Gestrüpp und kleinen Bäumen, die ihre harten Äste abwehrend nach allen Seiten spreizten, von seltsamen, laublosen Pflanzen, die aussahen, als seien sie 58
kunstvoll aus Metall geschmiedet. Baumstämme, riesige Wurzeln mit Knoten darin, faulendes Laub, lange Eiszapfen und jede andere Art von natürlich gewachsenen Hindernissen bildeten, so weit man sehen konnte, einen runden Wall um das gesamte Tal. Und noch etwas: Undeutlich erkannten die Wanderer zwischen den trockenen Zweigen die Reste von Gemäuer. Es war uralt und mehr als nur zerbröckelt. Moos wuchs auf den Quadern und den Ziegeln, die sich ebenso stark aufgelöst hatten. »Siehst du, was ich sehe?« wandte sich Mythor nachdenklich an Steinmann Sadagar. »Ich sehe genau dasselbe. Dieses Tal war vor langer Zeit von einem stattlichen Wall umgeben.« Das spitze Gesicht Sadagars schaute unrasiert, schmutzig und übernächtigt aus den verfilzten Haaren der Fellkapuze hervor. »Richtig. Und inzwischen ist nicht nur Gras darüber gewachsen«, stellte Mythor fest. Das Tal hatte einen Durchmesser von etwa einem Stundenmarsch. Der Wall hinter den Pflanzen war stellenweise stark zerstört; ausgefressene Stellen gab es an vielen Abschnitten der annähernd kreisförmigen Anlage. »Irgendwie paßt die alte Mauer zur Elvenbrücke«, knurrte Nottr. Als er seinen Arm um Kalathee legen wollte, rückte sie zur Seite. Das Tal war voller Bäume und riesiger Gewächse, die wie exotische Pilze aussahen, wenigstens von hier oben aus. Dreißig oder fünfzig Mannslängen ging es, meist senkrecht, zum Talboden hinunter. In der Mitte des Tales, halb verborgen und überwuchert, erhoben sich andere Ruinen. Einst schien das Gemäuer eine große, schüsselförmige Kuppel gebildet zu haben. Jetzt war sie eingebrochen; die Rundung wirkte wie die Schale eines zer59
brochenen Eis. Plötzlich sagte Nottr voller Aufregung: »Das muß es sein!« Mythor fuhr herum und starrte ihn an. »Was willst du sagen, Nottr?« »Es gibt Legenden und Sagen. Eine Rückenschwester wußte davon. Das muß das verwunschene Tal sein.« »Der Name paßt zum Tal«, meinte Mythor. »Das verwunschene Tal also war das Ziel von Hester«, meinte Nottr. »Wahr gesprochen, Sattelbruder«, grinste Sadagar. »Hier haben wir die Spuren. Einige der Hunde liegen sicher mit zerschmetterten Knochen dort unten.« Als erzähle er eine uralte Sage, brummte der Lorvaner: »Im verwunschenen Tal, das östlich von Xanadas Lichtburg zu finden ist, soll vor ewigen Zeiten der letzte Stamm der Königstrolle gehaust haben. Abgeschieden von dem Rest der Welt und den Bewohnern der Wildländer, schmiedeten sie an ihren Legenden. Aber dann holten die eigenen Märchen die Königstrolle ein. Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist.« »Nicht einmal die verblichene Fahrna!« bestätigte Sadagar voller Grimm. Einige Bäume, inzwischen im Schutz des Hanges zu wahren Baumriesen herangewachsen, hatten ihre Wurzeln in die Steine und das wenige Erdreich gekrallt. Der Abstieg wirkte schon von hier halsbrecherisch, und trotzdem hatten es die Tiere und der halb blinde Hester geschafft, dort hinunterzuklettern. »Was sagt der Helm der Gerechten?« fragte Kalathee nachdenklich. »Er flüstert«, antwortete Mythor ohne Zögern, »daß sich die sagenhaften Tiere, die ich suche, dort unten verstecken. Es zieht mich dorthin. Wollt ihr mir helfen?« »Dumme Frage«, sagte Nottr und setzte sein verzerrtes Grinsen auf. »Der Abstieg ist weniger schlimm als der lange Weg 60
hierher.« »Da hast du wirklich recht«, pflichtete ihm Mythor bei. Noch zögerten sie, aber es blieb ihnen wohl keine andere Wahl. Hochnebel zog auf; auf der anderen Seite des Tales sahen sie schon nicht mehr deutlich das Gestrüpp und den Mauerrest. Die Sonne, eine dunkelrote Scheibe im Nebel, würde bald untergegangen sein. Sie durften nicht mehr länger zögern. »Versuchen wir’s!« »Mir fällt noch etwas ein«, sagte Nottr und zog sein Krummschwert. Er schlug dort, wo die Spuren der Tiere zu erkennen waren, einige Ranken und Äste ab. Auch Mythor hieb mit dem Gläsernen Schwert eine schmale Gasse an einer Stelle, an der der Abstieg leichter zu bewältigen schien. »Ja?« »Die Wildländer, die auf ihren Zügen weit bis in den Westen vordringen, meiden das Land nahe dem verwunschenen Tal. Sie werden uns nicht angreifen, weil sie nicht hierherkommen.« »Eine Sorge weniger«, sagte Steinmann Sadagar zufrieden. Sie zerrten die Äste und zerschnittenen Ranken zur Seite. Dann sprang Mythor vorwärts und kämpfte sich durch den schmalen Durchlaß hindurch. Unter seinen Tritten zerfielen die Ziegel und das Füllmaterial. Er rutschte aus, stützte sich auf das Schwert und kam an die Kante des Absturzes. Aus einem Baumwipfel, der sich annähernd in gleicher Höhe wie Mythor befand, flogen einige faustgroße dunkle Gegenstände. Sie schlugen wie Steine in das Rankenwerk ein, und zwischen den Zweigen ertönte ein kicherndes Fauchen. »Die Königstrolle!« schrie Nottr. »Sie werfen mit Nadelbaumzapfen und trockenen Früchten.« »Unsinn!« gab Sadagar zurück und hielt Kalathees Hand. Im Bereich der Pflanzen und Äste war der Abstieg einigermaßen 61
leicht. Aber schon trat der nackte Fels zutage, in dessen Spalten kümmerliche Büsche wurzelten. »Achtung! Die Königstrolle haben sicher überall Fallen hinterlassen!« warnte Nottr. »Dann müßten auch die Tiere und Hester in die Falle getappt sein«, antwortete Mythor. Er sah überall die Spuren des Abstiegs. Katzenkrallen und Rattenzähne hatten die Rinde von den Ästen und das Moos vom Gestein abgekratzt. Er folgte Schritt um Schritt diesem Weg, griff in Felsritzen und stellte die Füße auf die Wurzeln. Eines der seltsamen Geschosse traf seinen Helm und erzeugte ein platschendes Geräusch. Es konnte durchaus so sein, daß die unsichtbar hinter den benadelten Zweigen verborgenen Geschöpfe die späten Nachkommen der Königstrolle waren, aber sie stellten keine Gefahr dar. Sie zielten miserabel. »Ist es schwierig?« rief Sadagar von oben herunter. »Nicht besonders.« Unter Mythors Fingern löste sich ein Stein aus der Wand. Staub rieselte ihm in die Augen und auf die Schultern. Der Stein schlug auf seine Schulter, und der Kletterer schwankte hin und her, an einer Hand hängend. Krachend überschlug sich der uralte Quader in den brechenden Zweigen und polterte abwärts. Mythor klammerte sich an eine Wurzel und rief nach oben: »Vorsicht! Haltet euch an den Wurzeln fest. Der Stein ist mürbe.« »Schon gemerkt.« Hester, so überlegte Mythor, besaß nur ein Auge und hatte sicherlich Schwierigkeiten, die richtigen Handgriffe während einer solch gefährlichen Kletterei zu finden. Trotzdem schien er mitsamt seiner seltsamen Begleitung heil unten im Talkessel angekommen zu sein. Die Wurzeln knirschten, feine Wurzelhärchen lösten sich aus den Fugen im Mauerrest und im Fels62
gestein. Kurz nachdem Mythor ein Stück Fels überwunden hatte, krachte es direkt über seinem Kopf tief im Gestein. Eine Fläche, groß wie eine Tischplatte, brach auseinander und fiel aufstäubend in einen Hohlraum des Felsens hinein. Hätte er sich dort befunden, wäre er in das Loch gestürzt. Er schüttelte sich und blieb auf einem schmalen Sims, bis Kalathee neben ihm stand. »Es gibt also doch Fallen«, sagte er und hustete in der Staubwolke, die noch immer von oben herunterrieselte. »Es wird nicht die einzige gewesen sein«, sagte sie keuchend. Über ihr hangelten sich Nottr und Sadagar ab und umgingen geschickt die große Öffnung mit den zackigen Rändern. »Ich werde darauf achten«, versicherte Mythor. Wieder prasselten trockene Früchte aus den Bäumen. Schattenhaft sahen die Eindringlinge kleine tierische Gestalten hinter den Nadelzweigen umherklettern und hörten sie aufgeregt schnattern. Mythor blickte über seine Schulter hinunter in den Abgrund. Das nächste Stück Fels war nicht so steil. Vorsichtig machte er sich an den Abstieg und prüfte jeden Griff vorher, rüttelte an den Vorsprüngen und trat auf die Simse. Wie Hester hier geklettert war, blieb ein Rätsel. Unterhalb der Felsnase löste sich ein flaches Stück aus der Wand; es war falscher Fels gewesen, irgendwie an den natürlichen Hang gemauert. Aufplatzend sackte die Fläche nach unten, riß mehrere Büsche mit sich und bildete eine Lawine aus Trümmern und ätzendem Staub. Es wurde bereits dunkler, und Mythor versuchte, schneller zu klettern, ohne seine Vorsicht zu vergessen. Einmal brach ein großes Wurzelstück aus dem Fels, und Mythor hing nur an den Händen. Er ließ sich in einen Baumwipfel fallen und landete einigermaßen weich. Dann kletterte er am Stamm abwärts. Nottr überholte Kalathee und half ihr, indem er sie mit einem Stück Seil herunterließ. 63
Am Fuß des Baumes, der in unnatürlichem Winkel aus dem Hang wuchs, gab unter Mythors Stiefeln das Erdreich nach. Wieder war eine Mauer unter dem Gewicht zusammengebrochen. Mythor fiel schwer auf die Schultern und rutschte vier Mannslängen abwärts, zwischen Dornen, Steinbrocken und faulendem Laub. Der dicke Pelz schützte ihn ein wenig. Dann kippte er nach vorn und fiel auf die Hände. »Bei Erain!« fluchte er. »Sie scheinen etwas dagegen zu haben, daß jemand das Tal betritt.« Nicht nur die fehlende Sonne rief diesen Eindruck hervor, sondern auch die Gewächse und die Stimmung nahe dem Boden des Tales. Dunkel, schweigend und beängstigend war alles, kein Tier rührte sich zwischen den riesigen Farnblättern, deren Unterseiten braun und schwarz waren. Noch ein Stück Mauerwerk, das sich unter den Schritten auflöste, eine freie Fläche, in der sich steinerne Falltüren öffneten, als Mythor mit dem Schwert darauf stieß, und dann stand er auf dem Boden des verwunschenen Tales. Irgendwo hinter der düsteren Wildnis lag die auffällige Ruine. Nottr und Kalathee stolperten die letzten Schritte herunter und glitten neben Mythor in die dämmrige Dunkelheit unter den Gewächsen. »Ein teuflischer Abstieg«, knurrte Nottr. »Aber kein gebrochener Fuß.« Er wickelte das Tauende wieder um seinen Pelz, aber ehe er den Knoten schlug, zog er sein Krummschwert und behielt es in der Rechten. Während sie beim letzten Teil ihres Marsches gefröstelt hatten, begannen sie hier zu schwitzen. Es war warm und stickig, ein Geruch nach Moder, Fäulnis und exotischen Blüten breitete sich aus. Die Spuren, die Hesters Tiere hinterlassen hatten, waren auch jetzt unübersehbar. Aber die Fallen waren nicht unter den Ratten, Hunden und Katzen eingebrochen. 64
Steinmann Sadagar stolperte zwischen den knotigen Wurzeln heran und hob beide Arme. »Ein seltsames Vergnügen, zu deiner Begleitung zu zählen, Mythor«, sagte er keuchend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein schütteres blondes Haar klebte vor Nässe. »Du sagst es. Und es verspricht noch vergnüglicher zu werden«, gab Mythor grinsend zurück. Sadagar schüttelte den Kopf und sah sich um. »Gräßlich!« sagte er. Er drückte genau die Gefühle seiner Freunde aus. Mythor hob das Schwert und legte die linke Hand um die Schneide, die in der zunehmenden Dämmerung matt zu leuchten begann. »So oder so«, sagte er bedächtig und ging langsam in die Richtung, in der nach rund tausend Schritten der Rand des Gemäuers auftauchen würde, »es wird dunkel. Möglicherweise müssen wir noch außerhalb der Ruine schlafen. Ich schlage vor, wir nutzen den letzten Rest Licht.« »Ist das beste!« bestätigte Nottr und führte einige blitzschnelle Hiebe gegen einen unsichtbaren Gegner. »Gehen wir.« Nebeneinander schritten sie auf den Mittelpunkt des verwunschenen Tales zu. Pilze zerplatzten unter ihren Tritten und wirbelten purpurnen Staub in die Höhe. Hin und wieder raschelten die dürren Wedel der Farne über ihren Köpfen. Leichter Nebel bildete sich kniehoch über dem Boden, der unter den Füßen federte. Kein Laut war zu hören außer den Schritten und den Atemzügen. Ab und zu klirrten Waffen oder Rüstungsteile gegeneinander. Mythor nahm seinen Helm ab und hängte ihn an den Gürtel. Die vier Eindringlinge erwarteten, daß sich nach wenigen Augenblicken eine wilde Meute von Tieren auf sie stürzen würde. Wo war Hester? Und was war in der Ruine wirklich versteckt? 65
* Feithearn warf die Peitsche zu Boden und schrie seinen Gefangenen an: »Jetzt wirst du es sagen. Oder müssen wir noch nachhelfen?« Sein Gefangener war nur einer von einem Dutzend Nyrngorer, die Feithearn ins Schloß hatte bringen lassen. Hier waren sie verhört worden. Feithearn hatte mit der Peitsche und mit Duldamuurs Hilfe die Verhöre abgehalten. Der junge Mann stöhnte, aber er versuchte, nichts zu sagen. Sein Heldenmut war sinnlos. Längst wußte Feithearn alles. »Ich weiß nicht, wo Hester ist.« Seine Stimme war von Angst verzerrt, Schweiß lief über sein zerschundenes Gesicht. Mitleidlos fragte der Priester: »Aber du hast ihn gesehen. Ihn und seine… viehische Herde.« »Ja. In den… Gassen.« Im Hof des Schlosses und überall dort, wo die Soldaten in geräumten Häusern wohnten, auch im Lager am Hafen, sammelten sich die Reiter. Schwerbewaffnete Soldaten aus jener Schar, die sich während der Belagerung durch besondere Tapferkeit ausgezeichnet hatte. Mit frischen Pferden, die satt und ausgeruht waren. Einhundert Männer waren ausgewählt worden. »Zu welchem Tor ist er geflohen?« »Ich hab’s nicht gesehen!« »Aber du weißt es. Welches war’s?« »Nordosttor, haben sie gesagt.« »Wer?« »Die anderen. Jeder, der darüber gesprochen hat.« »Sie haben es alle gesehen?« »Viele haben’s gesehen. Ihn und die Tiere.« Auch Feithearn, noch immer außer sich vor Zorn und Ent66
täuschung, hatte Rüstung und Waffen bereitmachen lassen. Noch schmerzte sein Körper von den Bissen der Tiere. Und von dem entsetzlichen Schock, der durch ihn gefahren war, als die Säule auf dem Boden aufschlug und das Loch hineinbrannte. »Und sie sind zur Stadt hinaus und weg, über das Land, in rasender Eile und durch die Nacht?« »Man hat es mir… erzählt«, wimmerte der Gefangene, drehte den Kopf zur Seite und verlor das Bewußtsein. Feithearn stampfte mit dem Fuß auf und sagte, mühsam beherrscht: »Bringt ihn weg! Nein. Werft ihn aus dem Schloß hinaus! Das wird ihn zu sich bringen. Wir reiten. Wir haben schnelle Pferde. Wir werden den Schwachsinnigen bald eingeholt haben.« Obwohl er Coerl O’Marn fast haßte, wäre es ihm lieber gewesen, den schweigsamen Ritter an seiner Seite zu haben. Er legte die Rüstung an und setzte den Helm auf. Dann schwang er sich in den Sattel und ritt an der Spitze der ersten Gruppe aus dem Schloßhof. Vor dem Schloß stieß eine zweite Gruppe zu ihnen, an einigen anderen Stellen Nyrngors trafen sie auf weitere. Als sie durch das Nordosttor ritten, schloß sich der letzte Zug Reiterei an. Einhundert Caer-Soldaten und Feithearn galoppierten auf der breiten Spur dahin, die Hesters Tiere hinterlassen hatten. Ihr zu folgen war leicht. Es ging auch viel schneller, als Hester die Strecke zurückgelegt hatte. Es dauerte nicht lange, und dann erreichten die Caer den Rand des Talkessels. Es war kurz nach Sonnenaufgang. * Sadagar schüttelte Laub und die großen Schuppen der Pilz67
stämme aus seinem Pelz. Sein Magen knurrte, aber er hörte nicht auf ihn. Er rüttelte Mythor, Nottr und zuletzt Kalathee wach und sagte aufgeregt: »Auf die Beine! Die Tiere kommen.« Sofort lagen die Schwerter in den Fäusten der Männer. Sadagar warf Kalathee einen seiner zwölf Wurfdolche zu. Dann standen sie schweigend da und lauschten. Sie hörten tatsächlich genau die Geräusche, die sie erwarteten. Zwitschern und Krächzen, das aufgeregte Pfeifen der Ratten, knurrende und fauchende Laute kamen aus der Richtung, in die sie in der Finsternis nicht mehr hatten vordringen wollen. Mythor knurrte: »Du hast recht. Los. Dort geschieht etwas. Wir müssen es sehen.« Sie liefen los, umrundeten die Stämme der Pilze und die Schäfte der Farne. Groß wie Dächer breiteten sich die Kappen der Gewächse aus. Jeder Schritt wirbelte eine Wolke Sporen auf. Die Geräusche kamen näher und schwollen an. Aber noch tauchte keiner der tierischen Späher auf. Die Aufregung mußte einen anderen Grund haben. Mehr und mehr lichtete sich der Bewuchs. Auch die Strahlen der aufgehenden Sonne, obwohl sie nicht in den Talgrund fielen, schufen zusätzliche Helligkeit. Nach einem kurzen Lauf schoben sich aus dem Unterholz die Umrisse von mächtigen Quadern, die von Moos bedeckt waren. Die Polster schillerten in ungesunden, fahlen Farben, und aus den schmalen Ritzen wuchsen allerlei stachelige Pflanzen. Noch immer waren die Geräusche vor den Eindringlingen. Die Steine schienen einst von heller Farbe oder gar weiß gewesen zu sein. Wo sie offen lagen, zeigten sie noch die sorgfältige Bearbeitung. Aber schon nach einigen Schritten nach rechts erkannte Mythor einen breiten Riß, der sich nach oben fortsetzte und immer breiter wurde. Das Gebäude, das vom Rand des Tales trotz der Zerstörungen schon kühn und rie68
sengroß gewirkt hatte, sah von hier noch grandioser aus. In seinem Inneren schrien und tobten die Tiere. Mythor winkte. Er hatte die Spur Hesters gesehen und war sicher, daß sie zu einem Eingang führte. Das ist nach dem Wasserfall, der Lichtburg und dem Wolkenhorst also die vierte Station des Lichtboten! sagte er sich. Aus der zerbrochenen Kuppel, hoch über den Köpfen der vier Fremden, flatterte der riesige Vogelschwarm auf. Tausende von Körpern formierten sich zu einer Wolke. Keines der Tiere beachtete Mythor und dessen Freunde. Sie strichen dicht über den Köpfen der Pilze und der Farne ab und flogen mit allen Zeichen der Aufregung dorthin, wo sowohl Hester als auch Mythor heruntergeklettert waren. Als die Spur eine scharfe Krümmung beschrieb, blieben die Gefährten stehen. In diesem Moment sprangen die Wildkatzen und die Lynxe an ihnen vorbei und verschwanden in gewaltigen Sätzen zwischen den Pilzen. »Sie haben es nicht auf uns abgesehen!« sagte Nottr scharf. »Wenn nicht auf uns, auf wen dann?« meinte Mythor verwundert. Die gesamte Armee des Halbblinden schien an ihnen vorbeizuspringen, zu schleichen und zu trippeln: Ratten, Katzen und Hunde. Dazwischen leuchteten die hellen Felle der großen Katzen und die lohfarbenen der Lynxe. »Das kann nur eine Bedeutung haben«, sagte Sadagar mißtrauisch. »Die Caer! Feithearn hat Hester verfolgt.« »Das ist denkbar«, murmelte Mythor. »Ich glaube, du hast recht.« Mythor und seine Begleiter mußten stehenbleiben und warten. Die Tiere strömten an ihnen vorbei und schienen immer wütender zu werden. Endlich riß der Strom ab. Eine einzelne Katze schoß an Nottr und Sadagar vorbei wie ein Blitz. Sie kreischte auf und raste in Zickzacksprüngen zwischen den 69
Pilzen hindurch. Als sie nicht mehr zu sehen war, tobte dort, wo der Hang in den Talboden überging, gewaltiger Lärm auf. Deutlich unterschieden sie laute Kommandos, Waffenklirren und die unterschiedlichen Schreie der Tiere. Nottr lachte triumphierend auf und hob das Schwert. »Die Tiere! Wir müssen hin! Die Tiere kämpfen gegen die Caer.« Er riß sich den Pelz von den Schultern, warf ihn zu Boden und rannte davon. Mythor und Sadagar wechselten einen schweigenden Blick. Mythor überlegte zwei Atemzüge lang und sagte dann: »Er hat sicher recht. Aber wir befinden uns zwischen den Parteien.« »Trotzdem sollten wir dorthin.« Mythor deutete auf Kalathee. »Du wirst dich hier verstecken. Achte darauf, was Hester tut, falls es dir gelingt, ihn zu sehen. Das Tal ist wirklich voller Geheimnisse.« »Kommt schnell wieder zurück!« rief Kalathee und umklammerte den Dolch Sadagars. Die Männer entledigten sich ebenfalls der hinderlichen Pelze und rannten davon. Sie liefen einfach der Quelle des Lärms nach. Ein erbitterter Kampf schien dort ausgebrochen zu sein. * Noch kletterten die letzten Caer an Seilen und hastig geknoteten Strickleitern den Abhang hinunter, ununterbrochen belästigt von den versteckten, gnomenhaften Wesen, als die ersten Vögel erschienen. Feithearn erkannte augenblicklich, daß sie es mit Hesters Begleitung zu tun hatten. »Wehrt euch!« schrie er durchdringend. »Schlachtet sie ab!« Er fühlte noch die schmerzenden Wunden der letzten Begegnung. Er sprang auf den Boden, riß den Bogen von der Schulter und einen Pfeil aus dem Köcher. Er rannte zwanzig Schritt weiter nach Osten, um freies Schußfeld zu haben. Nur 70
wenige Soldaten befanden sich vor der Mauerruine bei den Pferden. Die anderen verteilten sich längs des Talbodens und wehrten sich gegen die Vogel. Ihre Schwerter schnitten durch die Luft und töteten die Angreifer zu halben Dutzenden. Feithearn, ein Bogenschütze von beachtlichen Fähigkeiten, spannte die Sehne und jagte einen Pfeil in den heranstürmenden Körper eines Lynxes. Das Tier fauchte auf, überschlug sich mitten im Sprung und starb mit gellendem Kreischen. Die Caer-Soldaten waren weder überrascht, noch fürchteten sie sich. Aber die Menge der Tiere erschreckte sie. Zwar schmetterte fast jeder Schwerthieb eine Handvoll kleinerer Vögel aus der Luft, aber jetzt hetzten die Hunde heran und verbissen sich in die Kleidung und in Arme und Beine der Kämpfenden. Um jeden Krieger bildete sich förmlich eine Wolke oder ein dicker Kreis. Sterbende Katzen krallten sich mit letzter Kraft in jeden Fleck bloßer Haut und schrammten mit den Krallen lange Spuren in Schilde und Panzer. Feithearn wurde noch nicht von den Tieren bedrängt. Er verschoß Pfeil um Pfeil. Seine Schüsse auf kurze Entfernungen waren hervorragend gezielt und trafen fast immer tödlich. Dort brach ein Hund im Angriffssprung zusammen, da wurde eine große Katze an. einem Farnstamm förmlich aufgespießt, dann schlug der Körper eines herunterschießenden Geiers schwer durch die splitternden Wedel. Die Schwerter der Caer wirbelten und töteten und verwundeten die Tiere. Die Männer sprangen hin und her, versuchten gleichzeitig zu kämpfen und sich der Tiere zu erwehren. Jetzt fluteten die Scharen der Ratten in breiter Front herbei. Sie pfiffen durchdringend und erzeugten mit ihren Zähnen und Pfoten klickende und knisternde Laute. Hunde jaulten durchdringend auf, Katzen fauchten und schrien kläglich, wenn die Schwertschneiden ihre Körper aufrissen. Einige Caer waren zu Boden gerissen worden und starben unter den Fängen großer 71
Hunde einen schmerzvollen Tod. Andere Soldaten zogen sich bis zu den Felsen zurück und kämpften erbittert weiter, die Rücken am Stein. Aber Hunderte von Ratten kletterten an den Körpern hinauf, behinderten jede Bewegung und zerfetzten die Kleidungsstücke. Ihre Zähne gruben sich schmerzhaft in die Haut. Um die Soldaten herum häuften sich die Kadaver der Tiere. Die Männer wurden gezwungen, zurückzuweichen oder ihre Stellungen zu verändern. Immer noch wehrten sie sich kraftvoll und verbissen. Aber jeder der etwa neunzig Männer blutete aus zahllosen Wunden. Einer warf Schild und Schwert zu Boden, griff sich ans Auge und rannte aufheulend durch die Reihen der anderen Krieger. Ein Vogelschnabel oder eine Katzenkralle hatte ihn geblendet. Feithearn zog den letzten Pfeil aus dem Köcher, legte an und schoß ihn auf einen Lynx ab, der zwei Schritt vor einem Krieger zusammensackte. Während des bisherigen Teiles des Kampfes hatten die kleinen Wesen in den Baumkronen nur weiche Geschosse geschleudert. Aber jetzt hatten sie Gefährlicheres als verschrumpelte Früchte und Zapfen in den Händen. Sie schleuderten Steine, und dies ebenso zielbewußt wie vorher die wirkungslos zerplatzten Früchte. Zwar trafen viele der scharfkantigen Steine die verteidigenden Tiere, aber mehr der gefährlichen Wurfgeschosse ließen Schilde dröhnen, trafen die Kämpfer an den Köpfen, im Nacken oder zwischen den Schulterblättern. Zwei Caer gingen unter einem Steinhagel zu Boden und wurden von einem schweren Quader halb zermalmt, der aus großer Höhe auf sie herunterpolterte. Der Dämonenpriester versuchte sich Gehör zu verschaffen, aber der chaotische Lärm des wütenden Kampfes war zu laut. »Hierher! Wir müssen uns sammeln!« schrie er. Einige Männer verstanden ihn und rannten, sich verteidi72
gend, zu ihm heran. Andere schlossen sich an. Die kämpfenden Gruppen waren nicht nur am Abhang, sondern hatten sich weit auseinandergezogen. Überall blitzten die Schwerter, schlugen Tiere gegen die Schilde, sprangen die Soldaten wie Wahnsinnige hin und her. Das Schreien hörte nicht auf. Aus dem Augenwinkel sah Feithearn, der mit seinem Schwert Hiebe gegen die anspringenden Katzen und einige Hunde führte, zwischen den Stämmen im nebligen Halbdunkel drei Gestalten auftauchen. Seine Augen weiteten sich, als er erkennen mußte, daß sie von den Tieren nicht im geringsten belästigt wurden. Aber im selben Moment traf ihn ein schwerer Stein im Nacken und zwang ihn in die Knie. Ein Hund sprang an seine Kehle, sein Schwert zuckte hoch und durchbohrte die Kehle des geifernden Tieres. Wieder sanken rechts und links von ihm zwei Caer zu Boden und wurden augenblicklich von einer krabbelnden und schnappenden Meute von Tieren zugedeckt. »Zurück!« schrie Feithearn, so laut er konnte. Ein paar seiner Krieger hörten ihn und liefen mit ihm zusammen instinktiv dorthin, wo der Abhang weitaus flacher verlief. Auch weiter vorn zogen sich die Soldaten zurück, denen es gelungen war, sich freizukämpfen. Aber für jedes getötete oder schwerverwundete Tier kamen zwei andere zwischen den Stämmen hervor und stürzten sich von den Pilzen und aus den Farnen herunter. Und ununterbrochen surrten Steine aus den Baumkronen herab. Ab und zu polterten schwere Gesteinsbrocken aus der Höhe, rissen Gestrüpp und lange Kalkfahnen mit sich. »Hierher! Her zu mir!« Mehr und mehr Soldaten, deren Körper, Waffen und Rüstungen blutüberströmt waren, lösten sich aus den Einzelkämpfen und rannten auf Feithearn zu. Sie mußten sich jeden Schritt ihres Rückzugs teuer erkämpfen, obwohl die Anzahl der Tiere 73
stark abgenommen hatte. Und gerade in dem Augenblick, als sich die Krieger rund um Feithearn sammelten, stieß einer der Caer-Hauptleute einen lauten Entsetzensschrei aus. Er deutete an die Stelle, an der vor einigen Augenblicken die Fremden aufgetaucht waren. Feithearn starrte in die Richtung. Er erkannte trotz des goldfarbenen, hornverzierten Helmes den Mann, der in der Kabine des schwarzen Dreimasters aufgetaucht und ihn besinnungslos geschlagen hatte. Mythor? War es dieser Mann, dessen Name immer wieder in Nyrngor gewispert wurde? Neben Mythor schoß zwischen den Pilzschäften ein schneeweißer Falke hervor, stieß einen durchdringenden Ruf aus und schlug mit den Flügeln. Ein riesiger Wolf lief in kraftvollen Sprüngen am Boden dahin. Der Falke hob und senkte sich angriffslustig über dem Rücken des hechelnden Tieres. Die Szene verwandelte sich in ein Bild des Schreckens für den Dämonenpriester, als aus der Dunkelheit des Pilz- und Farnwaldes ein ebenfalls wunderbares Tier auftauchte. Es sprengte in einem rasenden Galopp leichtfüßig heran und wich mit geschickten Bewegungen des Pferdekörpers den Bäumen und Wurzeln aus. Ein Pferd? Nein… Es war ein schwarzes Einhorn.
Auf dem Rücken des Einhorns, dessen Horn weiß leuchtete, saß Hester. Als ob er sein Leben lang auf dem Rücken dieses Tieres verbracht habe, saß er ohne Sattel und hielt sich an der Mähne fest, deren schwarzes Haar ihm fast bis zur Brust flatterte. Wie ein Schlag traf es Feithearn. Der Dämon in ihm verfiel in Panik, als er den Ansturm der Weißen Magie spürte wie einen Blitz. »Zurück! Das Einhorn will mich töten!« schrie Feithearn und wandte sich zur Flucht. Wie ein Rasender rannte er den Hang hinauf, verfolgt von einigen Katzen und den Steinwürfen der Baumgeister. Die Krieger folgten ihm, überwältigt von dem 74
wilden, drohenden Bild, in rasender Eile. Jeder, der noch laufen konnte, versuchte das Tal zu verlassen. Der Bitterwolf stieß ein schauriges Heulen aus. Der gellende Schrei des Falken bohrte sich durch Feithearn, der bei jedem weiteren Schritt mehr Beklemmung fühlte und eine Schwäche in allen Gliedern. Er kannte nur einen Gedanken: Flucht. Er drehte sich nicht einmal um, sonst hätte er gesehen, wie Mythor und die beiden Fremden an dessen Seiten neben dem Reiter auf dem schwarzen Einhorn auf die fliehenden Caer zustürzten und sie verfolgten. Hester war alles andere als halb blind und schwachsinnig. Er hatte sich in einer fast magischen Weise verändert. Wie ein strahlender Held saß er auf dem Einhorn, das jedem seiner Befehle augenblicklich folgte. Er jagte hinter den Caer-Soldaten her. Seine Tiere blieben über ihm und an seiner Seite. Mythor fiel zurück, denn das Einhorn war schneller. Aber das sahen die Fliehenden nicht, denn sie rannten über die schmalen Felsbänder hinauf, brachten sich gegenseitig zu Fall, ergriffen die Stricke, die ihnen von oben zugeworfen wurden. Steine prasselten auf Helme und Schilde und schlugen in die Körper. Die Tiere wichen vor Hester und dem tiefschwarz schimmernden Einhorn zur Seite und bildeten eine breite Gasse. Tausende toter Tierkörper bedeckten den Boden. Feithearn krallte sich in den Hang und flüchtete trotz seiner nachlassenden Kräfte schneller als alle anderen. Auch er übersah die breite, harte Fläche, die nahe einer Felsnadel auf noch leichtere Weise aufwärts führte, gut abgeschirmt durch Bäume mit immergrünen Nadeln. Der Falke flatterte den Hang aufwärts. Neben den Läufen des Einhorns machte der Wolf große Sätze. Die Gruppe verschwand mit einigen Sprüngen hinter den Bäumen und stürmte den Hang hinauf. Weder die Tiere noch die kleinen Wichte 75
in den Baumkronen griffen an. Die Vögel, die den Kampf überstanden hatten, flatterten von allen Seiten auf und dem Reiter hinterher. Die Ratten verschwanden auf rätselhafte Weise, die Katzen kletterten den Hang hinauf, und die letzten Hunde rannten lautlos hinter Hester her. * Mythor blieb stehen und fluchte leise. Dann sagte er niedergeschlagen: »Hester war schneller. Er suchte und fand die Tiere vor mir. Und jetzt habe ich sie für alle Zeit verloren.« Niemand wußte, wohin Hester reiten würde. Eines jedoch war sicher: Er würde nicht nach Nyrngor zurückkehren. »Nach allem, was du gesagt hast über die Tiere, Mythor«, bemerkte Nottr voller Mitgefühl, das er nur schlecht auszudrücken in der Lage war, » sind sie dir sehr viel wert. Richtig?« »Ja. Ich bin enttäuscht. Ein Außenseiter hat dem Sohn des Kometen den Bitterwolf, den Schneefalken und das schwarze Einhorn entrissen.« »Gestohlen hat er sie!« grollte der loyale Sadagar. Mythor widersprach: »Nein, das hat er nicht. Er war einfach schneller.« Alle Tiere, die den furchtbaren Kampf überlebt hatten, waren verschwunden. Es flogen keine Steine mehr aus den Bäumen. Etwa zwei Dutzend blutüberströmte Körper von CaerAngreifern lagen verkrümmt am Hang des Tales, umgeben von Tierkadavern. Von der Umgebungsmauer her erschollen Kommandos, dann drangen Wiehern und Hufschläge an die Ohren der drei Freunde. »Die Caer fliehen«, stellte Sadagar erleichtert fest. »Hätte ich mein Ohr noch«, ereiferte sich Nottr, »würde ich mehr hören.« 76
Mythor nickte schweigend und schob das Gläserne Schwert in den Gurt zurück. »Sehen wir nach, was Hester in der Kuppelruine für uns zurückgelassen hat.« »Kalathee! Sie wird sich fürchten«, rief Nottr und rannte davon. Binnen kurzer Zeit lag wieder die Ruhe des vergangenen Abends über dem verwunschenen Tal, jene mysteriöse Ruhe, in der noch andere Gefahren und Überraschungen verborgen sein mochten. Mythor und Steinmann Sadagar, tief in Gedanken versunken, folgten Nottr zum Eingang der zerstörten Kuppel. * Und abermals änderte sich die Szene. Schon wenige Schritte jenseits des halb zerstörten Eingangs breitete sich strahlende Helligkeit aus. Oben mochte ein klarer, frostiger Tag herrschen, hier unten war es viel wärmer und überdies windstill. Dazu kamen die schwüle Ausstrahlung der Pilze und der Umstand, daß durch die geborstene Kuppel des Gebäudes inzwischen die Sonne des Vormittags einfiel. Sie enthüllte Hunderte von verschieden hohen, sehr schlanken Säulen, von denen die Reste der Kuppel gestützt wurden. Noch höhere Säulen ragten dort auf, wo es längst kein Gewölbe mehr gab. In der Mitte des Bauwerks lagen riesige Trümmer, zwischen denen sich mächtige Bäume und niedriges Strauchwerk, durchsetzt von den großen Pilzen, ausgebreitet hatten. Es war ein Ort der Trostlosigkeit. Aber unschwer war zu erkennen, daß es einst ein Bauwerk von beispielloser Kühnheit gewesen war, das Klarheit und Helligkeit ausgestrahlt hatte. Mythor fand als erster Worte, um seine Eindrücke zu schildern. »Wenn wir eingedrungen wären«, sagte er nachdenklich 77
und wandte sich nach links in eine Art Bogen gang hinein, »hätten sich uns zweifellos die Tiere entgegengestellt.« »Da kannst du sicher sein!« stimmte Sadagar zu. »Suchst du etwas Bestimmtes?« »Alles und nichts«, bemerkte Mythor. »Die Tiere allerdings suche ich nicht mehr.« Er versuchte schweigend mit seiner Enttäuschung fertig zu werden. Auch im Inneren der Kuppelruine war es totenstill. Trotz der dicken Staubschicht und der angewehten Pflanzen klangen ihre Schritte wie hallende Echos. Sie kamen an eine Tür, die sich links von ihnen befand, gegenüber der ersten Reihe der Säulen. Das Holz zerfiel zu einem Haufen modernder Späne und Splitter, als Mythor den schweren Riegel berührte. Eine große Kammer mit schräger Decke enthüllte sich ihnen. Kalathee stieß einen unterdrückten Schrei aus und klammerte sich an Nottrs Arm fest, als zum erstenmal seit unnennbar langer Zeit Licht in das Gelaß fiel und seltsame Dinge enthüllte. An der Rückwand des Raumes befand sich eine wuchtige Konstruktion aus verschiedenfarbigem Stein. Es war ein riesiges Gesicht, das den drei wortlos staunenden Betrachtern entgegenstarrte. Ein Gesicht in Ruhe, keine dämonische Fratze, aber ein Antlitz, das gleichzeitig Arroganz, Bösartigkeit und Drohung ausstrahlte. Über der Darstellung der Haut lag wie über den Gesichtern der Dämonenpriester eine glasklare Schicht, und die riesigen Augen ließen die Blicke der Fremden ins schwarze, unergründliche Nichts fallen. Steinmann Sadagar stöhnte auf und flüsterte: »Der Lord des Hasses!« Mythor schaute ihn von der Seite an und fragte unsicher: »Wer soll das sein, Sadagar?« Das Riesengesicht war drei Mannslängen groß und eigen78
tümlich gedrungen. Der Hals bildete einen Säulenstumpf und wuchs nahtlos aus dem Boden auf. Statt der Augäpfel waren in den steinernen Wölbungen Löcher. Die Mundwinkel zeigten nach unten; es war, als schenke der Kopf dem Beschauer nichts mehr als ein verächtliches Grinsen. Es war selbst in dieser unerschütterlichen Ruhe ein grausames, gnadenloses Gesicht. Alle Fugen des Mauerwerks liefen vom Eingang her auf dieses Gesicht zu. Die Wand, aus dem der Kopf mit dem schulterlangen pechschwarzen Basalthaar hervorwuchs und sich dem Eingang entgegenreckte, glänzte wie erstarrte Lava. »Fahrna hat mir aus dem EMPIR NILLUMEN vorgelesen. Oder aus einem anderen Text. Sie fing zu zittern an, wenn sie vom ›Lord des Hasses‹ sprach. Er muß genauso ausgesehen haben«, sagte Steinmann Sadagar, und deutliche Beklemmung lag in seiner Stimme. Langsam ging Mythor näher an das kantige Kinn heran, das in Brusthöhe hervorstach. Die verschiedenfarbigen Steine waren hervorragend bearbeitet. Mythor sah die Poren in der Haut, die Falten und die Kerben in den zusammengepreßten Lippen. Er vermochte nicht, irgendeine Bedeutung in diesem Bildnis zu erkennen. »Was hat ein Kopf von dieser Art ausgerechnet hier zu suchen?« fragte er sich halblaut und betrachtete den Koloß von beiden Seiten. Schweigend und rätselhaft stand das Gesicht da, mit scharf herausgearbeiteten Haaren und Ohren, und als Mythor wieder zurückging und in die Höhlungen der Augen starrte, glaubte er, dasselbe Gefühl zu empfinden wie damals, als er in Feithearns und Aerinnens Augen gesehen hatte: einen Vorstoß zum Ursprung alles Bösen und Verderbenbringenden. Er schüttelte sich und winkte seinen Freunden. »Suchen wir weiter. Der Koloß wird uns nichts sagen.« Schweigend schlossen sich Nottr, Sadagar und Kalathee an. 79
Zwischen den Säulen suchten sie weiter. Nach einigen Schritten auf einem höher gelegenen Absatz erkannten sie im Staub und Schutt die Spuren von Hester und vielen Tieren. Sie führten zwischen einzelnen Trümmern hindurch und auf einen kantig vorspringenden Eingang zu. »Vielleicht findest du noch ein viertes Tier!« versuchte Nottr zu scherzen. Kalathee sagte nichts, sie schien noch immer unter dem Eindruck des schrecklichen Gesichts zu stehen. Mythor antwortete nicht. Offensichtlich hatte auch Hester nicht genau gewußt, wo er suchen mußte. Die Spuren führten auch wieder aus dem Raum hinaus, der hinter dem wuchtigen Eingang lag. Mythor zog langsam sein Schwert und trat aus dem Sonnenlicht in die halbe Dämmerung des Raumes hinein. Es war eine große Halle. Durch Risse und eckige Löcher der Decke fielen Strahlenbündel ein, in denen der Staub flimmerte. An jeder Wand, an Dutzenden von Säulen, von der Decke und vom Boden sprangen Masken und Fratzen dem Eintretenden entgegen. Hunderte von steinernen, hölzernen und metallenen Masken und solche, die aus zwei dieser Materialien oder aus allen dreien bestanden. »Hat das EMPIR NILLUMEN auch für diese Fratzen und Gesichter eine Erklärung?« fragte Mythor laut. Seine Worte hallten in dem Raum wider. Die halben oder ganzen, teilweise wie zerrissen wirkenden Masken schienen zu leben. Lichtreflexe tanzten durch den Raum und huschten über die Augen, die Wangen und die Stirnen dieser Kunstwerke. Es gab alle Größen; einige waren nur handgroß, andere maßen drei Ellen, wieder andere waren eine Elle groß. Sie lachten, weinten und waren ernst, einige Gesichter zeigten tragische Züge, andere wieder schienen in sich versunken, wieder andere trugen einen undeutbaren Ausdruck zur Schau. Es war verwirrend; als ob Hunderte von Wesen aus alten Legenden jeden schweigend anstarrten, der in 80
diesen Raum eintrat. »Nein. Davon weiß ich nichts«, sagte Sadagar. »Ich auch nicht«, bestätigte Nottr. Mythor ging zwischen den Säulen und den Wänden hin und her. Jeder Schritt wirbelte Unmengen feinen Staubes hoch, in dem sich die grellen Sonnenstrahlen brachen. Gläserne und eiserne Augen sahen ihn unergründlich an, steinerne Augen zwinkerten aus hölzernen Gesichtern, in denen die Maserung Teil des Ausdrucks war. Nicht einmal ein einziges erklärendes Schriftzeichen war unter oder neben den Masken angebracht. Doch! Es gab eine Gemeinsamkeit. Alle Augen, auch die einzelnen Augen jener gespaltenen und zerrissenen Masken, blickten stets den Besucher an, aus allen Winkeln, aus jeder Ecke, von unten herauf und oben herunter. Mythor prüfte eine hölzerne Maske, die von der Stirn bis zum Kinn zackig gespalten war. Es hatte niemals eine andere Hälfte gegeben. Das Holz, das nicht die geringsten Zerfallserscheinungen zeigte, war entsprechend bearbeitet worden. »Nur der Lichtbote weiß, was das zu bedeuten hat«, murmelte Mythor. Seine Worte hallten mehrfach wider, als ob die Masken leise miteinander sprächen. »Auch Hester hat’s nicht gewußt«, krächzte Nottr und hustete, weil ihm Staub in die Kehle geraten war. »Du hast recht. Für irgend jemanden wird diese Ruine sehr viel Bedeutung haben. Für uns nicht. Vielleicht einmal viel später«, beschwichtigte sich Mythor selbst und verließ langsamen Schrittes den Raum. Ihm war, als bohrten sich die Blicke der stummen Phantasiegeschöpfe dort drinnen zwischen seine Schulterblätter. Sie folgten den Spuren Hesters. Sie wanden sich durch einen Teil der Ruine. Der kreisförmige Rand, wo die Kuppel begann und am niedrigsten war, 81
schien am besten erhalten zu sein. Nur wenige Risse zeigten sich hier. Aber vor kurzer Zeit waren schwere Quader aus der Kuppel heruntergefallen; man sah deutlich die frischen Brüche und Splitter. Säulen lagen geborsten am Boden. Zwischen Trümmern wuchsen Pflanzen, aus den Ecken drängte das Moos hervor. Die Tiere hatten einen breiten Pfad hinterlassen, der schließlich abwärts führte und an einer Rampe endete. Wieder lag vor Mythor ein Haufen Schutt, der einmal ein Portal gewesen war. Hesters Spur führte hindurch und darüber. Ein riesiger Saal tat sich auf. Undeutlich waren Räder und Taue zu erkennen. Ein gewaltiger Mechanismus, der wie das Räderwerk eines Schöpfbrunnens aussah, befand sich in der Mitte der Halle. Eine Hälfte des Rades verschwand in einer Aussparung des Steinbodens. Lange Stangen mit merkwürdigen Knoten, Gitterwerke und Hebel, abermals Seile verschiedener Stärke, Platten und Kugeln füllten die Halle aus, ragten ineinander und schienen zusammenzugehören. Wieder fielen die Eindringlinge in ehrfürchtig verwundertes Staunen. Die Materialien waren Holz und Leder, Tauwerk und verschiedenartige Metalle. Hin und wieder waren schwere Steinbrocken durch eiserne Bänder an langen Hebeln befestigt. Als Mythor sich trotz seiner Verblüffung einige Schritte weit in das Zentrum der Anlage hineinwagte, stieß er mit der Schulter an einen eisernen Stab. Der Stab bewegte sich mit einem mißtönenden Kreischen. Und dann… Von der Decke senkte sich ein Steinbrocken, so groß wie zwei Pferde. Alle Räder begannen sich zu drehen. Hebel hoben und senkten sich. Geräusche aus einer anderen Welt ertönten. Seile spannten sich und drehten Räder in verschiedenen Geschwindigkeiten. Es summte, klingelte, ächzte und krachte. Alles, was so aussah, als könne es sich bewegen, bewegte sich auch. Ein Hammer schlug dröhnend auf eine Ei82
senplatte, die größer als ein Schild war. Ein anderer Hammer drosch auf dicke Metallstangen ein, die glockenartige Töne von sich gaben. Beim ersten Geräusch waren Nottr, Kalathee und Sadagar aus dem Raum hinausgestürzt. Mythor zog sich Schritt um Schritt zurück, das Schwert Alton wie zum Schutz erhoben. Einzelne Teile dieses erstaunlichen Dinges lösten sich auf, brachen auseinander, sprangen aus den Lagern und rollten davon. Steine zerbrachen und zerschmetterten die Hebel, die auf und nieder tanzten. Es schrillte, kreischte und krachte. Überall lösten sich dichte Staubschichten auf und machten Teile dieses Mechanismus unsichtbar. Mit einem gewaltigen Geräuschorkan, der in den Ohren dröhnte und chaotisch widerhallte, brach dieses uralte Ding zusammen. Teile polterten auf den Boden, andere verkeilten sich ineinander und brachen. Seile klatschten gegen die Wände und verwickelten sich in anderen Teilen. Aber noch immer sank der riesige Stein unverändert langsam abwärts und ließ Stangen in hohlen Säulen auf und nieder stampfen, drehte Räder, bewegte Zähne und schlug schließlich mit einem berstenden Schlag auf. Trümmer wirbelten durch den Saal und trieben Mythor aus dem Eingang hinaus. Er klammerte sich im hellen Licht an eine Säule und starrte in den Saal hinein. »Der Lichtbote hat sich mit merkwürdigen Dingen beschäftigt«, sagte er zu sich. Aber auch jetzt verstand er nicht das geringste. Er wußte nur, daß die Kuppel einst ein Zentrum geheimnisvoller Vorgänge gewesen sein mußte. Mit einem donnernden Krach und einem Schlag, der den Boden beben ließ, kam das Chaos zu einem Ende. Aus dem Eingang quoll eine dicke Staubwolke. Mythor schüttelte den Kopf. »Das war wohl auch nicht, was Hester suchte«, meinte er. Aus der Staubwolke kamen noch ein paar dröhnende Schläge, dann war es still. Mythor wischte 83
den Staub aus seinem Gesicht und hob den Kopf. »Die Kuppel des Lichtboten!« staunte er. »Voller unverständlicher Dinge. Phantastische Bauwerke, die sich bewegen und selbst zerstören! Ich begreife gar nichts.« Die Eindringlinge suchten weiter. Ununterbrochen entdeckten sie verwirrende Bauwerke aus Stein und Metall. Es gab breite und schmale Treppen, Absätze und Säulenhallen, immer wieder leere Kammern und Säle. Rampen fingen auf dem Boden an und endeten im Nichts. Überall lagen Trümmer, Staub und zusammengewehte Pflanzenteile. Zahllose Erker und Kanzeln wuchsen aus den Mauern. Es gab eiserne Konstruktionen, in denen vor Urzeiten einmal Lichter gebrannt haben mochten, denn die Mauern waren geschwärzt. Und schließlich, etwa um die Mittagsstunde, standen die überraschten Gefährten vor einer Kammer, in die ebenfalls die Spuren Hesters führten. »Er hat lange gesucht«, sagte Mythor. »Fast die ganze Nacht«, bekräftigte Kalathee. Sadagar meinte: »Die Spähervögel haben ihm, scheint es, nicht viel helfen können.« »Sehen wir nach«, schlug Nottr vor, der seit dem ersten Erlebnis sein Schwert nicht aus der Hand gelegt hatte, »was hier auf uns lauert.« Sie traten in einen Saal, dessen innere Wände einer Kugel glichen. Sie waren mit Linien und gerundeten Zeichen bedeckt. Ein einziges Relief füllte jede Stelle der Wandungen aus. Mythor blinzelte und rief: »Schriftzeichen!« Er erkannte, daß die Zeichen demselben Schema folgten wie die Fratzen und Gesichter im Maskensaal. Auch sie waren unterschiedlich groß und eine Meisterleistung unbekannter Bildhauer. Ihre Oberflächen glühten und glänzten, da auch sie aus unterschiedlich gefärbtem Stein geschaffen worden waren. Mythor unterschied ohne Mühe einzelne Buchstaben und ver84
suchte, Wörter oder gar Sätze zu bilden, aber schon bald gab er es auf. Nicht eine einzige Kombination aus großen, mittleren und kleinen Buchstaben ergab einen Sinn, auch nicht, wenn er versuchte, nur Lettern eines Typs miteinander zu sinnvollen Gebilden zu verbinden. Auch hier durchliefen breite Risse die inneren Rundungen. Sicherlich war irgend jemand fähig, diese Buchstaben als das zu erkennen, was sie tatsächlich waren. Bestimmt gab es jemanden, der hier wichtige Botschaften lesen konnte, aber er war es nicht. Er ließ den Kopf sinken und ging schweigend hinaus. »Sinnlos!« murmelte er. Eine Rampe führte von hier unter den Trümmerhaufen des Kuppelmittelpunkts. Die Eindringlinge folgten dem Pfad, den die Tierpfoten getrampelt hatten. Sie kamen in ein Gewölbe, das ebenfalls rund war und von wuchtigen Säulen getragen wurde. Auf flachen steinernen Podesten lagen drei verschieden große Gegenstände, die genauso merkwürdig waren wie alles andere. Zögernd gingen sie näher. In der Mitte lag der größte Fund, und er entpuppte sich als Gebilde aus Fäden, ein exotisches Gespinst von grausilberner Farbe. Wenige Atemzüge später mußten die Freunde erkennen, daß dieser Fund aus zwei annähernd gleichen Hälften bestand. Sie waren auseinandergeklappt wie bei einer geöffneten Meeresmuschel. »Diese Umrisse…«, begann Sadagar und ging näher heran. Seine Finger lagen wachsam an den Griffen der Wurfmesser. »Sie sind die Umrisse eines Tieres. Ich irre sicher nicht, wenn ich sage, daß hier das schwarze Einhorn eingebettet war«, stellte Mythor fest. Hierher hatte also die Fähigkeit Hesters, mit Tieren umzugehen und sich bewußt oder unbewußt auf sie einzustellen, den Halbblinden geführt. »So muß es gewesen sein!« bekräftigte Nottr. Zwei Hälften eines muschelartigen Kokons waren unvollständig auseinandergeklappt. Die hellen, weichen Fasern des 85
Inneren zeigten jeweils die Umrisse des Pferdekörpers mit dem schlanken Kopf und dem unterarmlangen Horn, das aus der Stirn herauswuchs. Hier hatte demnach das Einhorn geschlafen oder gewartet. Und Hesters Anwesenheit hatte es aufgeweckt. Erst jetzt sahen sie, daß sich um die drei Podeste jeweils ein Haufen von Mauertrümmern aufgetürmt hatte. Die Kokons waren also eingemauert gewesen, und irgendein Zauber hatte sie zerbrochen. Die Tiere und Hester verfügten nicht über die Kraft und die Werkzeuge, die Steine aufzubrechen. »Hier also schlief das Einhorn über eine unglaublich lange Zeit hinweg«, murmelte Mythor und ging zum nächsten Podest. Der Gespinstkokon war weitaus kleiner. Hier waren zweimal die Körperumrisse eines Wolfes eingedrückt, der in der für diese Tiere typischen Haltung zusammengekauert geschlafen hatte oder erstarrt war. Von den Enden der aufgeklappten Schalen hingen dicke Gespinstfäden und hatten sich auf die Trümmer gelegt. Es schien, als wären die Kokons in ihrer steinernen Gruft aufgehängt gewesen oder wenigstens aufrecht festgehalten worden. Mythor faßte ins Innere und fand einen weichen, flaumartigen Flor, der die Haut und das Fell des Wolfes geschützt hatte. Hier hatte der Wolf auf seinen richtigen Besitzer gewartet. Es war müßig, sich vorstellen zu wollen, auf welche Weise Hester den Bitterwolf und das schwarze Einhorn geweckt hatte. Und ebenso unklar blieb Mythor, wie er es hätte anstellen sollen, die Tiere aus ihrem steinernen Gefängnis zu befreien. Der dritte Kokon hatte den Schneefalken enthalten. Ein fast kugelförmiger Schutzbehälter, kleiner als ein Schild und aufgeklappt, zeigte den Falken mit halb ausgebreiteten Schwingen. Der Kopf war vorgestreckt gewesen, der Hakenschnabel zeichnete sich scharf ab. Mythor zog die Schultern hoch und 86
sagte schließlich nachdenklich und bitter: »Hester ist uns zuvorgekommen. Ich kann ihm den Besitz dieser wunderbaren Tiere nicht streitig machen… Ihr wißt, warum.« Sie glaubten es zu wissen. Wer Hester gesehen hatte, noch vor kurzer Zeit innerlich und äußerlich ein Krüppel, wer ihn miterlebt hatte, wie er auf dem Rücken des Einhorns strahlend einhergeritten war, konnte nicht daran denken, ihm den Besitz des Schneefalken, des Bitterwolfs und des Einhorns streitig zu machen. Mythor schritt schweigend die Rampe hinauf und setzte sich an der Kante des riesigen Loches in der Kuppel auf eine umgestürzte Säule. Er legte das Gesicht in die Hände und versuchte sich darüber klarzuwerden, wie es nun weitergehen sollte. Die Sonne stach warm in seinen Nacken. Er ließ die Ereignisse der letzten Tage und Stunden noch einmal an sich vorbeiziehen. Das Ziel, das er hartnäckig verfolgt hatte, gab es nicht mehr. Er spürte kaum, wie sich Kalathee neben ihn setzte und an seine Schulter lehnte. »Du bist traurig, Mythor?« fragte sie leise. »Kann ich dir helfen?« Er schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. »Ich glaube nicht. Ich weiß nicht, wie es weitergeht.« »Das gilt nur für jetzt, für diese Stunde«, sagte sie beschwichtigend. »Morgen sieht alles anders aus. Du wirst eine neue Aufgabe erhalten.« »Und wenn nicht, stellst du dir selbst eine abenteuerliche Aufgabe!« pflichtete ihr Nottr bei. »Bist du hungrig, Freund?« Mythor schüttelte den Kopf. Seine Hand bewegte sich wie selbständig. Sie glitt unter das Wams und berührte das Pergament, an das er lange nicht mehr gedacht hatte. Liegt hier die Aufgabe? fragte er sich. »Du mußt etwas essen, Mann!« beschwor ihn Steinmann Sa87
dagar. »Enttäuschung und Hunger ergeben eine gefährliche Mischung.« Mythor winkte ab. Sie mochten recht haben. Vielleicht war es so. Die unheimliche Ruhe im Inneren des Bauwerks kam hinzu und bedrückte ihn zusätzlich, ohne daß er es merkte. Dann spürte er tief in seinem Bewußtsein, wie sich eine Stimme meldete. Sei nicht niedergeschlagen, schien sie ihm sagen zu wollen. Der Mißerfolg wird von kurzer Dauer sein!
Der Helm der Gerechten »sprach« zu ihm! Die drängende Stimme fuhr fort. Was sie ausdrückte, war folgendes: Verlasse das Tal in östlicher Richtung! Laß deine Freunde hier! Du brächtest sie in Gefahr, und sie wären hinderlich. Ein neuer Schritt auf dem Weg zu deiner Bestimmung wartet darauf, getan zu werden.
Er stand auf. Seinem Gesichtsausdruck konnten die Freunde entnehmen, daß in ihm eine innerliche Wandlung vorgegangen war. Er begann zu lächeln, nahm den Helm ab und hielt ihn mit ausgestreckten Armen vor sich. »Der Helm hat gesprochen«, verkündete er voll neuer Fröhlichkeit. Tatendrang erfüllte ihn augenblicklich. »Ich habe es doch gewußt. Aber du wolltest mir nicht glauben«, rief Kalathee und strahlte ihn sehnsüchtig an. Mythor lachte auf. »Ja. Der Helm sagte mir, ich solle in östlicher Richtung gehen. Dort warte eine neue Aufgabe auf mich. Aber er sprach auch davon, daß ihr hier warten sollt. Ich muß allein gehen!« Nottr sagte nach einigem Zögern: »Ich werde hier warten.« »Nicht hier, ohrloser Lorvaner!« rief Sadagar. »Ich rechne fest damit, daß die Caer wiederkommen. Oder kannst du glauben, daß ein Zauberpriester eine solch schmähliche Niederlage hinnimmt?« »Du hast recht, Steinmann«, sagte Nottr. »Wir verstecken uns außerhalb des Tales. Dort gibt es auch Wild, und wir se88
hen einen Gegner schon von weitem.« »Das ist sicher der bessere Vorschlag!« rief Mythor und deutete auf den gegenüberliegenden Eingang in die geborstene Kuppel. »Wir essen, besprechen alles, und dann brechen wir nach oben auf. Hester hat uns einen bequemen Weg gezeigt.« »Einverstanden.« Der Helm schwieg, als Mythor ihn wieder aufsetzte. Die Eindringlinge gingen zielstrebig entlang den Säulen bis zum Eingang, wo ihr Gepäck und ihre Pelze lagen. Dort packten sie die Vorräte aus, aßen und tranken in Ruhe und sahen sich dann an. »Der Treffpunkt soll die Felsnadel sein, die wir während des Marsches hierher gesehen haben«, schlug Mythor vor und wischte seine Hände ab. »Kannst du uns sagen, ob wir nur ein paar Tage oder bis zum Sommer auf dich warten sollen?« erkundigte sich Sadagar. Mythor dachte daran, daß er seinen Gefolgsleuten sehr viel zumutete. Aber er hatte nicht die geringste Möglichkeit, dies zu ändern. »Mehrere Monde lang… nein«, dachte er laut. »Ein paar Tage? Ihr wißt selbst, wie lange sich etwas hinziehen kann, von dem man glaubt, daß es nur wenig Zeit braucht. Ich denke, ich werde in weniger als einem Mond wieder bei der Felsnadel sein.« »Dann soll es mir recht sein«, meinte Sadagar. »Du mußt tun, was der Helm der Gerechten von dir verlangt.« »Nichts anderes habe ich vor, bei Erain!« versicherte Mythor. Sie zogen die Pelze an und nahmen die Lasten auf. Dann verließen sie langsam den Boden des Talkessels und stiegen in den Spuren des schwarzen Einhorns im Zickzack über breite Felsbänder den flachen Hang und die Mauerreste aufwärts. Je höher sie kamen, desto mehr nahm die Kälte zu. »Die unsichtbaren Nachkommen der Königstrolle machen 89
uns jetzt keine Schwierigkeiten mehr. Sie schützen die Ruine nur vor Eindringlingen«, stellte Mythor fest und musterte unbehaglich die Baumkronen. Der untere Absatz der Umfassungsmauer kam näher. Hier bog der schmale Pfad mit den tief eingedrückten Hufspuren des Einhorns ab und näherte sich in flachem Winkel der Kante. »Oder Hester hat sie mit den Tieren verwirrt und verängstigt«, meinte Nottr. Sie kletterten durch den zerfallenen Einschnitt der Mauer und befanden sich jenseits des Gürtels aus Pflanzen und Dornenranken. Das Tal lag in der Sonne des frühen Nachmittags unter ihnen. Ein leichter Wind aus dem Osten ließ sie frösteln. Mythor deutete auf eine gedrungene Gruppe von Felsen, riesigen Findlingen und dichtem Unterholz. Daraus ragte wie ein leicht gekrümmter Finger die Felsnadel auf. »Das ist der Treffpunkt!« bestimmte er. »Er ist kaum zu übersehen. Für niemanden«, sagte Sadagar sarkastisch. »Solltest du unterwegs auf einen Goldschatz stoßen, so laß ihn nicht liegen.« Mythor lachte. Er hatte Sadagars Anspielung nur zu genau verstanden. Er, der seinen Beutel voller Münzen wie sein Leben hütete, hatte den Fischern das Boot und vieles andere abgekauft. Seine Kasse war leer. Mythor versprach deshalb: »Ich denke daran, Steinmann! Du kannst sicher sein, daß ich meine Schuld an dich begleiche.« Nottr unterbrach sie. Er hielt die Hand an sein nicht mehr vorhandenes Ohr und wies dann in das Gestrüpp. Deutlich hörten sie ein angstvolles Wiehern und das Brechen von Zweigen. »Pferde!« Mythor und Nottr handelten instinktiv. Sie rissen die Schwerter heraus und rannten aus zwei Richtungen auf die Quelle der Geräusche zu. Aber als sie herankamen, sahen sie nur ein einzelnes Pferd, einen Rappen, dessen Fell vor 90
Schweiß troff. Steigbügel und Zaumzeug des ge sattelten Pferdes hatten sich im Gestrüpp verfangen. Das Tier war halb rasend vor Angst. Es beruhigte sich aber schnell, als zwei Menschen auf die Büsche zukamen, mit beruhigenden Stimmen sprachen und das Tier befreiten. »Ein Geschenk von Feithearn!« lachte Nottr. »Ich werde mich bedanken, wenn ich ihm das nächstemal gegenüberstehe«, sagte Mythor und klopfte den Hals des Rappen. »Und dazu noch mit vollen Satteltaschen.« Es gehörte einem der Unglücklichen, die von den Tieren zu Boden gezwungen worden waren und zerfleischt auf der Talsohle lagen. Mythor führte den Hengst zu Kalathee und Sadagar zurück und hob die Hand. »Ich nehme schweren Herzens Abschied von euch«, sagte er. »Nach Osten geht es. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.« Er schüttelte Sadagars Hand und versprach, falls möglich, so viele Goldstücke mitzubringen, daß sie Steinmanns Beutel zerreißen würden. »Du wirst uns berichten, was du erlebt hast. Viel Glück, was immer du unternimmst«, sagte Kalathee und umarmte ihn. Nottr schlug ihm kräftig auf die Schulter und flüsterte: »Denk an das Bild! Sie ist so schön…« »Eher verliere ich das Gläserne Schwert«, versprach Mythor und schwang sich in den Sattel. Das Pferd bäumte sich auf, aber Mythors Schenkeldruck beruhigte es schnell wieder. Sie blickten ihm schweigend nach. Immer wieder drehte sich Mythor im Sattel herum und winkte. Er schlug die Kapuze des Pelzes hoch und setzte sich im Sattel zurecht. Dann fiel das Tier in einen leichten Galopp. Einige Stunden später kamen sie an einen schmalen Bach. Mythor schlug mit der Spitze Altons ein Loch in das dünne Eis und ließ das Pferd saufen. Er füllte die Sattelflasche mit dem eiskalten, sprudelnden Wasser. 91
Er riß einige Zweige ab, suchte leidlich trockenes Gras zusammen und rieb den Rappen ab. In der zunehmenden Kälte der Nacht konnte es sein, daß das Tier krank wurde. Dann ritt er weiter, in gemächlichem Tempo, nach Osten. Der Helm schwieg und vermittelte ihm keine neuen Einsichten. Die Sonne bewegte sich dem Horizont entgegen. Nebel und Dunst kamen auf und verwandelten das Gestirn in eine gewaltige blutrote Scheibe. Mythor schauderte, wenn er sich umdrehte und dieses Schauspiel sah. Es war längst nicht mehr ein Hauch der Bestimmung, der ihn wieder vorwärts trieb. Es war das feste Bewußtsein, einen weiteren Schritt von entscheidender Wichtigkeit zu tun. * Nyrngor lag unter dem Licht einer klaren Mondnacht. Die Türmer, von Feithearn eingesetzt, blickten von den Zinnen der Mauern und Türme weit ins Land hinaus. Überall lag das Mondlicht auf den Feldern, starker Reif hatte die Umgebung überzogen. Die Äste der Bäume und Büsche wirkten wie Gebilde aus weißen Kristallen. Die Natur schien ausgestorben zu sein. Es riefen keine Nachtvögel, keine Wölfe heulten, keines der nachtjagenden Tiere ließ sich hören oder sehen. Nur wenn die Posten den Atem anhielten und in die Stadt hinunterhörten, wenn sie ganz scharf horchten, vernahmen sie mühsam unterdrückte Geräusche. Die Bewohner der Stadt kämpften um das nackte Überleben. Sie versuchten ihre Häuser winterfest zu machen, indem sie Fenster und Türen mit Stoffen abdichteten. Es gab inzwischen in Nyrngor kaum noch jene halbverbrannten Holzteile, die von den Bränden der Belagerung erzählten. Man hatte sie abgesägt und zerkleinert. Nachdem ein Teil im Palast für die 92
Kamine abgeliefert worden war, heizten die Städter ihre Öfen mit den Resten. Das Lager der Caer-Soldaten verkleinerte sich von Tag zu Tag. Vorräte und Heu für die Pferde wurden in die Stadt gebracht. Neunundneunzig von hundert Bewohnern verhielten sich so, wie Feithearn es wollte. Aber die Nacht gehörte den kleinen Gruppen von Rebellen. Nachts wagten sich die Caer nur noch in größeren Trupps in die Gassen und die wenigen Schenken. Der Wille zur Verteidigung der Stadt oder besser dazu, die Caer zu vertreiben, war bis auf winzige Spuren erloschen. Die notleidenden Menschen hatten nur ein Bestreben: Sie wollten den Winter überstehen. Der einzelne Posten fror erbärmlich. Immer wieder schlug er die Arme gegen den Körper. Rauhreif lag auf den Haaren des Pelzes. Jeder Atemzug entließ eine weiße Dampfwolke in die Luft. Der schwere Glutkorb vermochte nichts gegen den dünnen Wind, der zwischen den Zinnen hindurchpfiff. Wenn der Posten sich zu wärmen versuchte, blickte er in die feuerrote Glut. Bis sich seine Augen dann wieder an das veränderte Licht der Landschaft gewöhnt hatten, die er beobachten mußte, dauerte es lange. Aber jetzt hob der Caer-Soldat den Kopf und schlug den hochgestellten schweren Kragen zurück. »Caers Blut!« flüsterte er. »Hufschlag. Irgendwo reitet ein Rasender!« Alles in dieser Nacht war dazu angetan, ihn das Fürchten zu lehren. Das kleine Heer unter Feithearns Führung kam geschlagen und demoralisiert aus dem verwunschenen Tal zurück, und nun lagen die Kameraden fiebernd und stöhnend in ihren Quartieren. Jetzt dieses Hufgetrappel! Jemand ritt in rasendem Galopp. Der Posten hob beide Hände an den Mund und rief dem 93
nächsten Schatten auf der Mauer eine Frage zu. »Hörst du es auch?« Jeder Schritt, jedes laut gesprochene Wort weckte in der Stadt unter der Mauer vielfältigen Widerhall. »Was soll ich hören?« »Dort draußen reitet jemand über gefrorenen Boden. Horch!« »Ich höre nichts!« Andere Posten vernahmen den Wortwechsel und wurden aufmerksam. Von beiden Seiten erschollen Fragen. Zum Schluß rief der Caer, der die Geräusche zuerst gehört hatte und jetzt ganz klar unterscheiden konnte: »Euch hat die Kälte dumm und taub gemacht! Hört ihr nichts, ihr Narren? Ein Reiter kommt, und er ist nicht zu sehen. Feithearn wird euch bestrafen, wenn ihr nicht handelt. Los! Greift zu den Bogen!« Seine letzten Worte wurden durch einen gräßlichen, langgezogenen Laut unverständlich gemacht. Auf der Ebene heulte schaurig ein Wolf auf. Jeder von ihnen hatte mehr als genug Wölfe heulen hören… Aber dieser Laut war ganz anders. Er ließ jedem, der es hörte, einen eisigen Schauer das Rückgrat hinunterlaufen. Wieder schrie der Wolf auf – mit einer kraftvollen und fordernden Stimme. Der Schrei war voller Wut und Gier, voll Angriffslust und Stärke. Das Hufgetrappel wurde lauter. Und plötzlich sahen sie es alle: Ein einzelner Reiter stob in einem schnellen Galopp auf die Stadtmauer zu. Er tauchte ganz plötzlich auf, vielleicht hinter einer Bodenwelle oder hinter reifbedecktem Gesträuch. Ein drittes, nicht weniger schauerliches Geräusch mischte sich in Wolfsgeheul und Hufgetrappel: der krächzende Jagdruf eines Falken. Sie sahen den Vogel unmittelbar darauf. Ein schneeweißes Tier, das über dem Kopf des einsamen Reiter schwebte. Das Licht der Sterne und des Mondes lag auf dem Körper und den Schwingen. Die Augen schienen zu glühen wie Rubine. 94
Der Wolf war grau und zottig wie alle Wölfe dieser Welt. Verglichen mit allen anderen aber war er riesengroß. Er reichte dem Reiter bis zu den Knöcheln. Das Reittier war schwarz. An seiner Stirn leuchtete wie ein flammender Speer das weiße Horn. Und der Reiter war der Königssohn Hester. Hester ritt auf dem schwarzen Einhorn auf Nyrngor zu! Ein Posten schrie durch das Wolfsgeheul und die gellenden Schreie des Schneefalken: »Es ist Hester! Er reitet das Einhorn!« Die entsetzten Rufe setzten sich kettenförmig fort. In den Häusern wurden Türen aufgerissen, die Stadtbewohner verstanden die Worte, und neue Hoffnung tauchte ganz vage auf. »Hester reitet das Einhorn!« Die Posten, denen noch ein Rest klarer Verstand geblieben war, beobachteten das seltsame Gespann. Der Wolf verließ seinen Platz an der rechten Seite des Reiters nicht. Der Falke blieb stets an derselben Stelle. Eine Speerlänge über dem Kopf des Einäugigen flatterte er dahin. Das Einhorn trug keinen Sattel, aber der Junge saß hinter dem Hals des Tieres, sich an der Mähne festhaltend, als sei er dort festgeschmiedet. Das Tier ahnte jeden seiner Befehle. Jetzt änderte die Gruppe ihre Richtung. War sie zuerst geradewegs auf die Mauern des nordöstlichen Stadtteils zugaloppiert, schwenkte sie nun nach links und bewegte sich längs der Mauern. Einige Caer griffen in die Köcher und legten mit klammen Fingern Pfeile auf die Sehnen ihrer Bogen. Sie zielten gut, aber keiner der Pfeile traf auch nur annähernd sein Ziel. Fluchend sahen die Posten, wie die Spukgestalten dahinfegten, von jedermann deutlich zu erkennen. Mitten auf der freien Fläche zwischen den beiden offenen Toren hielt Hester durch einen unhörbaren Befehl das Einhorn an. 95
Das Zaubertier erhob sich und stand breitbeinig auf den Hinterbeinen. Die Hufe der Vorderbeine schlugen einen rasenden Wirbel durch die Luft. Wieder begannen sich die Posten zu fürchten. Fast jeder von ihnen war ein guter Reiter. Aber noch nie hatte es eines ihrer Pferde geschafft, sich so lange und so kraftvoll aufzubäumen. Hester hob in einer drohenden Geste einen Arm. Sein langer Mantel flatterte von seinem Rücken wie ein dunkles Leichentuch. Er ballte die Hand und schüttelte sie, nicht weniger drohend, gegen die Stadt Nyrngor. Damit meinte er die Caer und Feithearn, nicht die Bürger hinter den Mauern. Noch immer stand das Einhorn da und wirbelte die Hufe durch die eisige Luft. Es warf sich auf den Hinterbeinen herum und galoppierte davon, kaum daß die Hufe den hartgefrorenen Boden berührt hatten. Der Wolf und der weiße Falke folgten dem Reiter, der das Einhorn in einer weiten Kurve von den Mauern wegführte und mit rasendem Hufschlag wieder irgendwo dort in der reifbedeckten Einöde der Felder und Weiden verschwand. Ein Posten rannte die Treppen des Turmes hinunter. Der Schrecken saß ihm im Nacken. Er rannte durch die halbe Stadt. Jeder Nyrngorer, der ihn sah, erschrak: Dem Mann stand die nackte Furcht im Antlitz. Er lief, um Feithearn zu berichten, was er eben mit eigenen Augen gesehen hatte. In dieser Nacht wurde in Nyrngor das Gerücht geboren, daß Hester die Stadt von den Besetzern befreien und dem alten Königsgeschlecht seines Vaters Carnen wieder zu seinem Recht verhelfen werde. Der Zauberpriester hörte schweigend und nur scheinbar ruhig, was der Posten berichtete. Er nickte und entließ den verwirrten und erschöpften Mann. 96
Feithearn wußte jetzt, daß er seine zweite Niederlage erlitten hatte. Eine dritte, schwor er sich zitternd vor Haß und Wut, würde er nicht mehr hinnehmen. Duldamuur, sein Dämon, beruhigte ihn und erfüllte ihn mit Zuversicht und neuer Stärke. Was war schon ein Halbblinder mit drei Tieren, die ihm gehorchten? Ein Heer von Caer-Soldaten vermochten sie nicht zu ersetzen, und sie hatten auch der dämonischen Kraft aus der Schattenzone nichts entgegenzusetzen. * Schlaftrunken fuhr Elivara auf. Ihre Hand zuckte nach dem langen Dolch, aber eiskalte Finger legten sich auf ihren Arm. »Ich bin es, Dhorkan«, sagte das geschwärzte Gesicht hinter der Kerzenflamme leise. »Ich habe alles mit angesehen!« Elivara richtete sich auf. Der Schlaf lähmte ihre Glieder. Sie befanden sich im Kellerversteck von Sceythes Taverne. »Was hast du gesehen?« fragte sie schlaftrunken. Dhorkan wirkte fast wie ein Caer. Beinahe jedes Stück seiner Ausrüstung war überfallenen Soldaten abgenommen worden. Sein Fellmantel und er selbst verströmten die Kälte der Nacht. Hier, im Gewölbe, war es leidlich warm, und unter den Decken und Fellen war es noch wärmer. »Unglaubliche Dinge!« sagte er, und ein breites Grinsen, nicht frei von Furcht allerdings, erschien auf seinem harten Gesicht. »Erzähle!« »Ich war im Schutz der Dunkelheit auf dem Ostturm. Der Caer sah und hörte mich nicht, ich war nicht auf der obersten Plattform. Heute nacht hat dein Bruder den Caer einen höllischen Schrecken eingejagt.« Er berichtete, daß auch er fernen Hufschlag gehört, die Auf97
regung der Soldaten miterlebt und schließlich Hester auf einem schwarzen Einhorn, geleitet von einem Wolf und beschützt von einem schneeweißen Falken, gesehen hatte. Dann lachte er heiser auf und goß sich Wein in den Becher. »Und als sich das Einhorn aufbäumte, schüttelte Hester, ausgerechnet Hester, den wir als halb blind und geistesschwach kennen, wütend die Faust gegen die Caer auf den Mauern. Feithearn wird abermals fluchen und zittern. Erst diese Niederlage und dann das. Auf dem Weg durch die Stadt bin ich in vielen Häusern gewesen.« »Ja?« »Ich habe ein Gerücht in die Welt gesetzt. Nun… eigentlich ist es kein Gerücht, sondern die Wahrheit. Bei Tagesanbruch weiß es jedes Kind in der Stadt. Hester wird zum neuen Fanal des Widerstandes, zusammen mit seiner Schwester – aber du befindest dich ja nicht offiziell in der Stadt.« »Dabei wollen wir es auch belassen«, sagte sie und seufzte. »Nur die Rebellen dürfen es wissen. Mein armer Bruder… draußen in der Kälte, ohne Hilfe, mit diesen Tieren. Ich weiß nicht, was ich denken soll.« Dhorkan lachte heiser auf und antwortete in sicherem Tonfall: »Ein halb blinder, scheinbar geistesschwacher Junge, der eine Tierarmee befehligt und nachts auf einem Einhorn die Caer erschreckt, Königin! Ich glaube nicht, daß er schutzlos ist und erfriert oder verhungert. Vergiß den Hester von früher! Jedenfalls weiß ich eines: Wir werden mit ihm zusammen den Caer nicht nur ein paar unbehagliche Stunden verschaffen. Früher oder später jagen wir sie aus der Stadt.« Königin Elivara schwieg. Sie wußte, daß sich nun vieles geändert hatte. Aber sie teilte die Entschlußkraft ihres Hauptmanns nicht. Es war unmöglich, die Caer zu vertreiben. Bei dem Gedanken, wie Nyrngor den Winter überleben sollte, wurde ihr übel vor Sorge und 98
Angst. Ihr graute vor den nächsten Tagen.
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Hans Kneifel
DER MANN AUF DEM EINHORN Der pfeifende Westwind fegte dichte Schneeschauer über das Land. Der Winter war endgültig über Dandamar hereingebrochen. Die beißende Kälte hatte nachgelassen, aber der einsame Reiter und sein Pferd froren trotzdem. Das Fell des gedrungenen Rappen dampfte, der Mann im Sattel hatte den Kragen des Fellmantels hochgeschlagen und festgeknotet, und der Atem stand als weiße Wolke vor dem Gesicht. Es war ein einzelner Reiter, der seine Spur durch die dünne Schneedecke zog. Die Silhouette des schwarzen Pferdes hob sich scharf gegen die weißen Flächen ab. Die Hufspur war gestochen scharf, und jedem Wildländer wäre es ein leichtes gewesen, dem Reiter zu folgen. Die Spur führte aber nicht gerade durch die kältestarre Einöde, sondern ließ erkennen, daß der Reiter nicht genau zu wissen schien, wohin er die Schritte des Tieres lenken sollte. Mythor befand sich östlich des verwunschenen Tales. Seit Tagen ritt er in mäßigem Tempo dahin. Bisher hatte er nicht ein einziges menschliches Wesen gesehen. Trotzdem hatte er das Gefühl gehabt, als beobachteten ihn unsichtbare Augen. Im Wald, abseits von seinem Weg, rührte sich nichts. Nur hin und wieder fiel Schnee von den Ästen. Mythor zog am Zügel. Willig blieb der Rappe stehen. Mythor richtete sich in den Steigbügeln auf und betrachtete nachdenklich seine eigene Spur. Zwar verlief sie stets in der bestmöglichen Deckung, aber sie bewies ihm endgültig, daß ihn der Helm des Gerechten im Stich gelassen hatte. Noch fühlte er bisweilen dieses eigenartige Summen und das Wispern und Flüstern der vagen gedanklichen Beeinflussung, 100
aber seit Tagen ließ sich davon nichts ableiten. Warum hilft mir der Helm jetzt nicht?
Einmal trieb er ihn in diese Richtung, dann wieder in eine andere. Im Augenblick ritt er nach Süden, aber das konnte sich rasch ändern. Auf seinem Weg hierher hatte er nicht einmal in weiter Ferne etwas gesehen, was seiner Betrachtung wert gewesen wäre. Nichts! Mythor zuckte mit den Schultern und trieb den Rappen wieder an. Das Tier schnaubte und stapfte weiter durch den Schnee. Er ritt zwischen dem Wald und der langgezogenen Buschreihe hervor und sah weit voraus, zwischen den stäubenden Schneefahnen, ein Haus. Es schien ein verlassener Bauernhof zu sein. Verlassen deswegen, weil aus dem Kamin kein Rauch aufstieg. Der Helm flüsterte ihm nichts zu. Er spürte keinen Drang und keinen Zwang, dorthin zu reiten. Trotzdem ritt er auf das einzelnstehende Gehöft zu. Es wurde langsam Abend, und er begrüßte die Gelegenheit, nicht unter Bäumen oder in feuchtem Laub schlafen zu müssen. Vielleicht fand sich auch noch Futter für den Rappen. Auch das Pferd schien etwas zu wittern, denn es wurde schneller, ohne daß Mythor die Sporen einsetzte. Stunden, so schien es, dauerte der Ritt. Als Mythor das Loch in der Hecke passierte, keuchten die Lungen des Tieres wie Blasebälge. Der heiße Atem des Rappen gefror in der Luft. Ein letzter Schneeschauer wirbelte um den Reiter, als er sich vor einer niedrigen Tür aus dem Sattel gleiten ließ. Er spürte trotz der dicken Stiefel seine Füße nicht mehr. Langsam zog er das Tier hinter sich her, bis er einen windgeschützten Winkel und dort eine geduckte Scheune erreichte. Holzstapel und große, schneebedeckte Haufen schirmten den Hof ab. »Ein glücklicher Tag!« Die Scheune, in der Halbdunkel herrschte, war halb voll 101
Heu. Mythor sattelte das Pferd ab, rieb es trocken und sah zu, wie der Rappe hungrig zu fressen begann. Ein großer Holzbottich stand neben dem aufgerissenen Torflügel der Scheune. Der Inhalt war zu Eis gefroren. Mythor zog das Gläserne Schwert, hielt es in beiden Händen und lief zum Haus hinüber. Er hämmerte mit der Faust gegen die Tür. Niemand antwortete. Er stieß die Tür auf und blickte in einen niedrigen Raum hinein, in dessen Mitte ein riesiger offener Kamin gemauert war. »Ist jemand hier?« brüllte Mythor. Er durchquerte den Raum, hielt die Hand in die Asche. Sie war eiskalt. Vielleicht, so überlegte er, war der Bauer bei der Nachricht, daß die Caer Nyrngor angriffen, in die Stadt geflüchtet. Mythor fand Werkzeug zum Funkenschlagen. Kurze Zeit darauf brannte ein kleines Feuer im Kamin, und er konnte vorsichtig trockenes Holz darauf schichten, das er unter dem Herd fand. Zuerst wärmte sich Mythor am Feuer. Dann schwenkte er den Kessel über die Flammen. Als sich der massive Eisbrocken darin aufgelöst hatte, goß er das noch immer kalte Wasser in einen Trog, und nach kurzer Überlegung holte er den Rappen und einen Armvoll Heu in denselben Raum. In der hintersten Ecke fraß das Pferd, tauchte sein Maul in das aufgetaute Wasser, und schließlich holte Mythor auch noch den Sattel. Dann erst legte er wuchtige Kloben nach, keilte einen Holzstamm gegen die Tür und zog den Mantel aus. Draußen heulte der Sturm. Als er durch einen Fensterspalt lugte, sah er, daß es bereits finstere Nacht war. Er packte die Reste des Proviants aus, fand Öl in einem Krug, und irgendwie gelang es ihm, aus den kärglichen Zutaten eine würzige, heiße Suppe zu kochen. Er ließ den Rest im Kessel, für den nächsten Morgen. Dann nahm er 102
den Helm ab, der die letzte Zeit nutzlos gewesen war. »Man kann nicht alles haben«, murmelte er und bereitete sich neben dem Feuer ein Lager aus alten Decken, einigen Fellen und dem Laub, das in geflochtenen Körben lag. Das Schwert rammte er in eine Ritze der Bodenbretter. Mit geschlossenen Augen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, vor sich das wärmende Feuer, lag er da. Noch schlief er nicht; die Ereignisse seit dem Absturz der Nomadenstadt zogen in qualvoller Langsamkeit an seinem inneren Auge vorbei. Er war ebenso ratlos wie vor dem Betreten des verwunschenen Tals. Im Bewußtsein, an einem toten Punkt angekommen zu sein, schlief er ein. Ruhig stand der Rappe in seiner Ecke und kaute an den Halmen des Heubüschels. Am Morgen war aus dem Feuer ein großer Haufen schwarzroter Glut geworden. Rasch wärmte er die Suppe auf und aß sie mit einem grob geschnitzten Holzlöffel. Draußen herrschte eine tödliche Ruhe. Mythor wusch sich Gesicht und Hände im eiskalten Wasser. Dann blickte er durch den Fensterspalt: Hof und Scheune waren unberührt, es gab keine Spuren. Als er durch einen zwei Finger breiten Riß der Eingangstür starrte, zuckte er zurück und sah dann genauer hin. Einen halben Bogenschuß weit, im Loch der Hecke, standen fünf Gestalten in dicker Pelzkleidung. Ihre Gesichter waren unter den Kapuzen nicht zu erkennen. Jeder der Krieger, an deren Gürtel Schwerter und Äxte hingen, hielt zwei oder drei Wurfspeere in der Hand. Wildländer! *
Es herrschte Sternenlose Nacht, und doch war es nicht völlig finster. Die Männer konnten den Fuß der Mauer erkennen und gerade noch den schmalen, stellenweise verwehten Pfad, den 103
die Caer-Patrouillen getreten hatten. Gegen Mitternacht, nach einem letzten wütenden Ansturm, ließ der Wind nach und schlief endlich ganz ein. Die Zinnen trugen dünne Schneehauben, zwischen den Quadern hingen Eiszapfen. Nicht nur den beiden frierenden Posten auf dem Turm des Hafentors erschien die Stadt wie eine Festung, von Schnee und Dunst eingeschlossen. Jedermann in Nyrngor hatte in diesen Stunden und Tagen dieselbe Empfindung. Große, gefährliche Dinge schienen sich hinter den Vorhängen des fallenden Schnees zu verstecken. »Caers Blut!« murmelte der Posten mit blaugefrorenen Lippen. »Ich sage dir, dieses verfluchte Einhorn ist kein Geistertier.« »Es ist ein Geist. So stark und schnell ist kein Pferd. Ich habe noch nie so etwas erlebt.« »Abwarten. Ob er auch heute nacht wieder kommt?« »Ich glaube es ganz sicher«, war die unwillige Antwort. Zwischen ihnen, im windgeschützten Winkel, stand ein eiserner Korb aus geflochtenen Bändern. Er war voller roter Glut, darüber lagen brennende Scheite. Aber die stechende Hitze, die er ausstrahlte, konnte die Posten nicht wirklich vor der Kälte schützen, die der Stein gespeichert hatte. Sie froren erbärmlich, ihre Stimmung war dementsprechend. Jede Nacht warteten sie. Diejenigen, die schliefen, wurden durch das Heulen des Wolfes aufgeweckt und durch die gellenden Schreie des Falken. Wer nicht schlief, saß da und wartete darauf, ob der Einhornreiter erschien oder nicht. Die Posten versuchten, sich vor Überraschungen zu schützen, und hielten ihre Waffen bereit. Niemand wußte, an welchem Teil der Stadtmauer Hester mit dem schwarzen Einhorn zuerst auftauchen würde. Niemand hatte Hester aus so geringer Entfernung gesehen außer Feithearn und einigen Caer, daß er es mit Gewißheit 104
sagen konnte. Aber jeder Nyrngorer war davon überzeugt. Der Schneefall hörte langsam auf. An vielen Stellen der Mauern leuchteten Fackeln, deren Licht sich im Schnee zu spiegeln und zu vervielfachen schien. Ein fernes Geräusch drang an die Ohren der Wartenden. Die Caer hoben die Köpfe. Und dann erschienen auf dem Schnee zwei dunkle Punkte, ein größerer und ein kleinerer. Sie kamen rasch näher, und zwar auf das Hafentor zu, von Süden herangaloppierend und laufend. Das Einhorn hatte unfaßbare Kräfte, denn es sprengte durch den stellenweise tiefen Schnee, als gebe es ihn nicht. Auch der Wolf, der neben dem Reiter trabte, wurde vom Schnee nicht in seinen Bewegungen behindert. »Halt die Speere bereit!« zischte der Posten seinem Kameraden zu und trat an die Brüstung. »Geister und Dämonen sind mit unseren Waffen nicht zu töten«, gab der andere zurück. »Aber wenn es kein Geist ist?« Der schaurige Schrei des großen Wolfes schnitt seine Worte ab. Echos zitterten über Nyrngor dahin. Für die Stadtbewohner war es ein Zeichen, daß die Freiheit nicht mehr fern war, für die Caer bedeutete es Kampf und die Konfrontation mit Mächten, über die sonst nur ein Zauberpriester des Herzogtums verfügte. Die Posten packten ihre Speere fester, als der Ruf des Falken ertönte. In gestrecktem Galopp kam der Reiter näher. In der rechten Hand trug er drei kurze Wurfspeere, deren Blätter im Fackellicht golden aufblitzten. Das schwarze Einhorn, dessen Fell glänzte, hatte eine breite und tiefe Spur durch den aufstiebenden Schnee gezogen, eine schmalere stammte vom Wolf, der unaufhörlich sein schauerliches Heulen in die kalte Luft schickte. Flügelschlagend und in kurzen Abständen seinen durchdringenden Jagdruf aufstoßend, schwebte der weiße Falke ü105
ber Reiter und Wolf. So kamen sie heran, näherten sich dem offenen Hafentor, und die Caer-Wachen stürzten zu dem provisorischen Wall aus Steinquadern und Eisplatten, der jetzt das Tor bis auf eine schmale Passage verschloß. Genau unter dem Torturm bäumte sich das Einhorn auf. Ein Hagel Pfeile schoß unter dem Torbogen hervor, aber keiner von ihnen traf. Entweder lenkte sie eine Zauberkraft ab, oder sie waren in der Kälte schlecht gezielt gewesen. Hester bog seinen Arm zurück und schleuderte, während das Einhorn wieder auf die Vorderbeine zurückfiel, einen Speer durch die treibenden Schneeflocken. Auch den halb blinden Jungen schien eine ungeahnte Kraft zu erfüllen. Die Flugbahn des Speeres war absolut gerade. Ein ächzender Schrei hallte durch das Gemäuer. Ein Posten, dem der Speer durch die Pelze und die Rüstung gedrungen war, taumelte rückwärts und brach zusammen. Blut färbte den Schnee rot. Auf dem Turm über dem Torbogen spannte der Caer-Posten seinen Bogen. Er fixierte das Ziel. Während der Wolf mit glühenden Augen die Umgebung musterte und durchdringend heulte, galoppierte Hester weiter und hielt sich an der flatternden Mähne des Einhorns fest. Zum erstenmal sah der Posten, der den Pfeil auf die Brust des Reiters richtete, das Horn auf der Stirn des Tieres, das bis auf diesen Unterschied die Körpergestalt eines starken Rapphengstes hatte. Er löste die Sehne: Heulend flog der Pfeil abwärts. Der Caer hätte geschworen, daß er gut genug gezielt hatte, um wenigstens den Reiter zu verletzen. Aber eine unwirkliche Kraft schien den Pfeil schon nach dem Verlassen der Sehne in die falsche Richtung zu lenken. Er ging neben dem Falken wirkungslos durch die Luft. Der Reiter, halb in seinen flatternden Mantel gehüllt, hob 106
den Arm und schüttelte ihn drohend mitsamt den beiden Speeren gegen den Turm. Dann wieherte das Einhorn grell auf. Die Caer zuckten zusammen und starrten nach unten, wo Hester und das Einhorn wieder die Richtung änderten und entlang der Mauer nach Norden galoppierten. Sie verschwanden für die Soldaten auf dem Hafentorturm nach wenigen Augenblicken in dem dünnen Schneetreiben. »Hörst du den Lärm aus der Stadt?« fragte einer der Posten und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Ja, und ich weiß, was er bedeutet. Wir hatten die Bevölkerung in der Hand«, sagte der andere. Immerhin wohnten dort dreißig mal tausend Menschen oder sogar mehr. Zwar waren sie wehrlos gemacht worden, und auch Hunger und Kälte würden sie von einem organisierten Angriff abhalten, aber… »Sie werden neue Hoffnung schöpfen. Du weißt, wie viele Kameraden nicht mehr in die Quartiere zurückkehren?« »Ich weiß. Und daß viele überfallen und ausgeplündert werden, weiß ich auch.« »Und vielleicht überfällt er auch die Reiter, die nach dem Tal unterwegs sind.« »Sie hätten früher losreiten müssen. Jetzt kommen sie mitten in den schlimmsten Winter«, pflichtete der andere bei. Es waren kritische Stimmen laut geworden. Die Soldaten fragten sich, warum Nyrngor so spät im Jahr angegriffen worden war. Ein Kriegszug, der in den Winter fiel, begünstigte zwar die Angreifer, wenn sie wohl ausgerüstet waren. Aber er brachte über jede Armee eine Fülle von Problemen, unter denen sie jetzt litten. Doch die Befehle waren Sache von Herzog Murdon oder gingen von dem geheimnisumwitterten Drudin aus, dem Herrscher der unterirdischen Städte, von denen im Herzogtum geflüstert wurde und die niemand kannte. 107
»Sei froh, daß du nicht mitgeritten bist!« tröstete der Posten. In der Ferne verlor sich das Heulen des Wolfes. Das Summen und das Stimmengebrodel in den Gassen der Stadt aber blieben, solange der Einhornreiter entlang der Mauer ritt. Heute, zum erstenmal, hatte er sich mit Waffen gegen die Versuche der Besatzungssoldaten gewehrt, ihn zu töten. * Immer wieder mußte die Gruppe der ersten Reiter ausgewechselt werden. Die Männer waren nicht weniger erschöpft als die Tiere, denen der Schweiß im Fell gefror. Zwar gelang es ihnen, sich einen Weg durch den Schnee zu bahnen, aber der niedergetretene Pfad, den sie für die Nachfolgenden schufen, kostete Unmengen an Kraft. Feithearn hatte dreihundert Reiter ausgeschickt, um das verwunschene Tal von den Tieren zurückzuerobern und die Kuppelruine zu untersuchen. Jetzt in der einsetzenden Dunkelheit waren die Caer-Reiter noch knapp einen Tagesritt vom Talrand entfernt. Der Wind riß und zerrte an ihren Schilden und an den dicken Mänteln. In den Mähnen und Schweifen der Pferde knisterten Eiskristalle. Der Zug der Krieger wand sich in der Spur dahin, die von den Hufen der Pferde immer härter und leichter gemacht wurde. Der Rückweg würde leicht sein, der Weg zum Tal war es nicht. Als die zwölf Mann, die bisher die Spur getreten hatten, ihre müden Pferde anhielten, um die nächste Gruppe an die Spitze zu lassen, murmelte einer der Anführer: »Ich bin nicht sicher, ob Feithearn den richtigen Befehl gegeben hat.« Sein Nachbar knurrte zwischen den Pelzen hervor: »Aber wir haben gehorcht. Was hat er Falsches befohlen?« »Dreihundert Männer sind weniger in der Stadt. Denkt an 108
die Rebellen! Sie werden von der Bevölkerung versteckt.« »Du magst recht haben!« Es war ihnen klar, daß dreihundert Männer fehlten, um die Ordnung in Nyrngor zu sichern. Der Zug stockte, die Vorreiter schlossen zu Paaren auf und reihten sich in der Mitte ein. In langsamem Schrittempo kämpften sich die Krieger hinter dem flatternden Kriegswimpel her, auf den Rand des Tales zu. Es waren geübte Krieger, und sie wußten sich zu helfen. Stangen wurden in den Schnee gerammt, nachdem die Pferde einen großen Kreis festgetreten hatten. An den Stangen und Lanzen wurden Stoffbahnen befestigt, die als Windschutz und Wall gegen den Schnee wirkten. Mit Schilden und Schwertern grub man bis zum Boden und legte das Gras frei. Mitgebrachte Fackeln und Holzstücke bildeten ein Feuer. Die Pferde fraßen das Heu, das einige Packtiere mitführten. Aus Schneeballen und Decken bauten die Männer höhlenartige Unterschlupfe. Schnee schmolz in Töpfen über dem Feuer. Tiere und Männer drängten sich eng zusammen und halfen sich gegenseitig. So schafften sie es, die Nacht zu überstehen. Beim ersten Licht ritten sie weiter. Von dem Heer aus Vögeln, Katzen, Hunden, Ratten und Wildtieren gab es keine Spuren und keinerlei Anzeichen dafür, daß das Kommen der Caer beobachtet worden war. * In der dunklen Taverne roch es nach kaltem Essen, sauer gewordenem Wein und nach Rauch und Ruß. Drei Personen saßen im Hintergrund des niedrigen, verräucherten Raumes, nur ein winziges Ölflämmchen ließ die Umrisse der Bänke und Tische erkennen. Es war die Zeit zwischen Mitternacht und Morgen. Das Heu109
len des Wolfes und der Schrei des Falken waren längst in der Ferne verklungen. Nyrngor lag wieder ruhig da, aber die Nervosität und die Angst waren geblieben. »Ich begreife das alles nicht. Es ist und bleibt mir ein Rätsel«, sagte Königin Elivara leise. Noch immer verwendete sie die Maske der schwachsinnigen Alten. Bisher war sie nicht einmal von den Stadtbewohnern erkannt worden, denen sie sich nicht freiwillig offenbart hatte. »Woher kamen die Tiere? Wo sind sie am Tag? Wovon lebt Hester?« »Niemand weiß es. Wir dürfen die Stadt nicht verlassen, und die Caer trauen sich nicht, den Spuren zu folgen.« Dhorkan saß im fellausgeschlagenen Sessel des Wirtes, der am Rand des riesigen Herdes kauerte und seine Hände über der Ascheschicht rieb. »Es gibt Bauernhäuser und Einödhöfe«, brummte Sceythe. »Irgendwo werden sie Unterschlupf gefunden haben.« Vier Nächte schon galoppierte Hester auf dem Einhorn um die Stadt. Gerüchte schwirrten durch die schneebedeckten Gassen Nyrngors. Die kleine Gruppe der Rebellen, meist mit Caer-Waffen ausgerüstet, erhielt regen Zulauf. Die Caer und Feithearn reagierten mit einer Flut neuer Drohungen und Verbote. »Irgendwo, ja sicher«, seufzte Elivara. »Und wenn ihn die dreihundert Reiter Feithearns fangen?« »Dann bringen sie ihn in die Stadt zurück«, antwortete der Wirt brummig. »Schließlich braucht ihn der Priester lebend auf dem Thron. Mach dir keine Sorgen, Königin!« »Ich mache mir Sorgen«, beharrte sie. »Ich rechne damit, daß Feithearn magische Kräfte einsetzt. Dann werden keine TierArmeen mehr dasein!« »Aber wir sind da. Und wir werden immer mehr!« beharrte Dhorkan. Sein Gesicht war schmaler geworden und hatte sein jugendliches Aussehen verloren. Harte Linien gruben sich in 110
seine Züge. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, Dhorkan!« klagte Elivara. Sie hatten, auf einem verlassenen Teil der nördlichen Mauer stehend, Hester und seinen Auftritt beobachtet. Aber die Rätsel waren geblieben; keine Frage war beantwortet worden. »Nyrngor wird niemals wieder das werden können, was es einst war.« Dhorkan zog die Schultern hoch und sehnte sich nach seinem Lager. Sie waren zu nächtlichem Leben verdammt worden, denn nur im Schutz der Dunkelheit konnten sie sich treffen, konnten Caer überfallen und Waffen erbeutet werden, konnte man ein Lager der Caer plündern. Er gähnte und stand auf. »Ich gehe in mein Versteck«, sagte er leise. »Du solltest auch schlafen, Königin.« Noch immer trafen sich Caer in dieser Taverne. Hin und wieder verrieten sie unabsichtlich in ihren Gesprächen irgendwelche Neuigkeiten. Sceythes Mägde hatten scharfe Ohren. Und bisher war keiner auf den Gedanken gekommen, die Königin und den Hauptmann ihrer Palastgarde ausgerechnet hier zu suchen. »Ich versuche es«, antwortete sie flüsternd. »Obwohl mich meine Gedanken nicht einschlafen lassen werden.« Dhorkan öffnete die winzige Falltür und kletterte in das tiefe, uralte Gewölbe hinunter, wo sich zwischen den Weinfässern und den erbeuteten Waffen sein Lager befand. * Noch vor einem Jahr war er Novize gewesen. Seine rasche Auffassungsgabe und sein starker Wille, verbunden mit dem Umstand, daß er Drudins Lieblingsschüler war, hatten ihn an die Spitze der Priesterschaft getragen. Aerinnen, sein Konkur111
rent um das Amt des neuen Herrschers über Nyrngor, war mit Sicherheit tot, denn sonst hätte er ihm längst den Titel streitig gemacht. Feithearn verschwendete keinen Gedanken mehr an ihn. Seine Gedanken waren ganz anderer Natur. »Duldamuur!« sagte er gepreßt. »Ich brauche deinen Rat und deine Hilfe!« Der Dämon gab keine Antwort, die menschliche Ohren hören konnten. Aber die verkrampfte Haltung des jungen Mannes, der im Thronsessel König Carnens saß, löste sich ein wenig. Er lauschte in sich hinein. »Ich muß etwas gegen den Einhornreiter und seine Tiere unternehmen. Nyrngor droht mir zu entgleiten!« Duldamuur, durch Feithearns Verbindung zum Schattenreich existent, war mächtig und listig. Er gehorchte und beantwortete Feithearns Fragen, er bestätigte die Überlegungen des Priesters. Feithearn stieß ein leises Kichern aus und sagte: »Das ist gut! Ich werde alle deine Kraft brauchen, Duldamuur!« Nur wenn er allein war, sprach er laut mit Duldamuur. Das Unterbewußtsein des Priesters hatte einige Ideen ausgebrütet, und der Dämon erkannte ihre Notwendigkeit ebenso. Feithearn würde viel Kraft brauchen, und der Dämon gab sie ihm. »Ich weiß, was ich zu tun habe«, murmelte er. Er stand auf und wanderte durch den Saal. Er blieb am Kaminfeuer stehen und blickte in die lodernden Flammen. Dabei fiel ihm ein, daß es den Caer-Soldaten an Feuerholz zu mangeln begann. Am anderen Morgen setzte er seinen Plan in die Tat um. Er rief die Hauptleute seiner Wache zusammen und ordnete an: »Wir brauchen einen starken Rappen. Sucht unter unseren Pferden das beste aus! Es muß dem Einhorn gleichen. Ich brauche einen sehr guten Reiter. Er muß das Pferd ohne Sattel und Zügel reiten können.« 112
Die Caer grinsten; sie erkannten den Umfang des Planes. Einer von ihnen fragte beeindruckt: »Du willst einen Gegenreiter aufstellen, Priester?« »Und ihn mit dämonischen Kräften ausstatten. Ich weiß, daß wir den Willen der Nyrngorer brechen müssen. Wir haben zu viele Männer verloren!« »So ist es«, bestätigte ein Hauptmann. »Wir werden dir bis Mittag sowohl den Reiter als auch das Pferd bringen.« »Ihr versteht!« sagte Feithearn zufrieden, denn er sah, daß ihm die Krieger ohne Murren gehorchten. »Wir müssen die Ordnung aufrechterhalten. Wir müssen die Nyrngorer einschüchtern.« Der Hauptmann schlug mit der Faust gegen den Brustpanzer. »Bevor der letzte Schnee geschmolzen ist, werden sie wissen, wem sie zu gehorchen haben!« Feithearn nickte und entließ die Krieger. In dieser Nacht würden die Nyrngorer ein seltsames Schauspiel erleben. Wie allerdings Hester auf den Plan des Zauberpriesters reagieren würde, wußten weder Feithearn noch Duldamuur, sein Dämon. * Mythor hielt den Atem an. Er beobachtete in steigender Unruhe die Wildländer. Was er über sie wußte, hatte er aus zweiter Hand. Gegen fünf gut bewaffnete Krieger hatte er keine echte Chance, aber es sah in diesem Moment nicht so aus, als würden sie angreifen. Leise berieten die Männer miteinander. Ihre Waffen klirrten in der unbewegten Morgenluft. Mythor versuchte einem Kampf aus dem Weg zu gehen. Er hatte nichts gegen diese Krieger, deren Welt die Einöde war. Aber er würde sich wehren müssen, wenn sie ihn angriffen. Die Tür und die Wände des Hauses würden ihrem ersten An113
griff widerstehen. Sein Plan nahm feste Umrisse an. Er huschte zurück in den Raum, ließ das Pferd saufen und schnallte sorgfältig den Sattel fest. Ein Rest Wärme hing noch im Inneren des Gebäudes. Mythor setzte den Helm der Gerechten auf und schloß das Kinnband. Das Pferd witterte die Anwesenheit Fremder und hob den Kopf. Mythor klopfte beruhigend den Hals des Tieres. Vielleicht glückte es ihm, die Krieger dort draußen zu überraschen. Ganz langsam führte er den Rappen zur Tür und achtete darauf, daß er die Hufe vorsichtig aufsetzte. Mythor sprang zurück, zog das Gläserne Schwert aus der Bodenritze und schlüpfte in den Mantel. Was sollte er tun? Wieder spähte er durch den Spalt. Die Wildländer waren näher herangekommen; zwei Männer gingen hinüber zur Scheune. Sie schienen darauf zu achten, daß ihre Gesichter stets im Schatten der großen Kapuzen aus Fell lagen. Mythor lauschte auf das summende Drängen des Helmes vergeblich. Er hob die Schultern und entfernte den Holzstamm von der Tür. Einer der drei übriggebliebenen Wildländer schulterte sein Speerbündel und stapfte nach rechts: Sie wollten also versuchen, alle Seiten des Hofes zu kontrollieren. Offensichtlich waren sie zum erstenmal hier. »Ich versuch’s!« sagte sich Mythor und riß die Tür auf. Das Pferd machte einen Satz und stand vor dem Haus. Mythor schwang sich in den Sattel und gab dem Rappen die Sporen. Er riß das Schwert hoch und beugte sich weit vor. Das Tier machte fünf oder sechs kraftvolle Sätze durch den halbhohen Schnee, dann erst erholten sich die Wildländer von der Überraschung. Während Mythor auf sie zugaloppierte, stieß er einen heiseren, anfeuernden Schrei aus und hob das Schwert. Die Wildländer sprangen auseinander. Einer stürzte in die Hecke. Mythor sprengte auf den Raum zwischen ihnen zu, 114
warf einen blitzschnellen Blick über die Schulter und sah, wie einer der Männer an der Scheune mit dem Speer ausholte. Er duckte sich noch tiefer und schlug zuerst nach rechts. Sein Schwerthieb wirbelte den Speer aus den Händen des Mannes und schleuderte ihn ein zweites Mal in den Busch zurück. Der Krieger auf der linken Seite schleuderte einen Speer, der über Mythors Kopf hinwegpfiff und sich irgendwo in den Schnee bohrte. Ein weiterer Speer, dessen Spitze sich drohend auf Mythor richtete, wurde vom zweiten Schwerthieb auseinandergebrochen. Das Pferd warf sich herum und galoppierte in kurzen, hohen Sprüngen weiter. Wieder blickte Mythor zurück und sah, wie ein Speer auf ihn zuflog. Er verfehlte Tier und Reiter nur um eine Elle und knirschte in eine Schneewehe. Die Hufe des Pferdes berührten unter dem dünnen Schnee hinter der Hecke gefrorenen Boden, und schlagartig nahm die Schnelligkeit zu. Mythor blickte sich um. Hinter ihm rannten die Männer zusammen, aber er war bereits außerhalb der Reichweite ihrer Geschosse. Das ausgeruhte Tier galoppierte geradeaus, bis der Schnee wieder tiefer wurde, dann ließ Mythor den Zügel los. Der Rappe kämpfte sich durch Schneewehen und über die flachen Stücke des Geländes. Der erste Zusammenstoß mit den unbekannten Kriegern war glimpflich abgelaufen, sagte sich Mythor. Er hatte Glück gehabt. Eine größere Horde und ein anderer Hinterhalt, und er würde nicht ohne Kampf davonkommen. Der Helm? Der Helm der Gerechten schwieg und half ihm nicht weiter. Mythor war gänzlich ohne Orientierung. Es schneite nicht, der Wind war mäßig, und trotz der Helligkeit gab es keinen Sonnenschein. Mythor ritt nach Süden, aber seine Richtung konnte sich bald wieder ändern. Er war ratlos und wußte nicht, wohin. 115
Er ritt bis Mittag weiter, ohne einen weiteren Wildländer auch nur aus der Ferne zu sehen. Die Wahl des Weges überließ er dem Rappen. Das Tier suchte den leichtesten Weg, und der Weg führte jetzt nach Südosten. Das flache Land ging zunächst in Gebüsch über, aus den Büschen wuchsen niedrige Bäume, und dann fing wieder ein Waldgürtel an. Das Pferd schob sich zwischen schneebedeckten Zweigen hindurch. Die Hufe trafen auf weiches, federndes Laub. Ab und zu schnellte ein Zweig in die Höhe, und eine schwere Last Schnee krachte und prasselte auf den Boden oder auf Mythors Schultern. Eine wohltuende Ruhe herrschte unter den dichten Baumkronen. Mitten im Wald, auf einem der zahllosen Tierpfade, ließ der Helm sein Summen vernehmen. Mythor atmete auf, als er erkennen konnte, daß der Rappe seinen Weg ungefähr dorthin gerichtet hatte, wohin der Helm jetzt wies. Der Pfad wand sich in endlosen Windungen zwischen den Stämmen dahin, folgte einem zugefrorenen Bach, brach plötzlich ab und wurde jenseits eines undurchdringlichen Gebüschs fortgesetzt. Ab und zu richtete sich Mythor in den Steigbügeln auf, hielt das Pferd an und lauschte angestrengt. Die Tiere des Waldes schienen sich versteckt zu haben. Außer dem Brechen der Äste und dem Poltern der fallenden Schneepolster und jenen Lauten, die Pferd und Reiter selbst verursachten, gab es keinerlei Geräusche. Trotzdem blieb er wachsam und angespannt. Der Wald lichtete sich. Zwischen den Stämmen leuchtete eine andere Schneefläche. Mythor ritt auf die größte Öffnung zu, die er in dem braunen und grünen Spalier erkannte. An der Grenzlinie zwischen Wald und Flachland hielt er an. Seine Augen suchten die Ebene vor sich ab. Es war eine große 116
Lichtung, von Waldrändern, unregelmäßigen Gruppen von schneebedeckten Felsen und einigen kleinen Hügeln umgeben. Ein tiefer Einschnitt lag auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung und schien die logische Fortführung von Mythors Weg zu sein. Es lag nur wenig Schnee auf dem Boden, und Mythor trieb den Rappen an. Das ausgeruhte Tier galoppierte willig und brachte den Reiter schnell bis in die Mitte der freien Fläche. Noch war die Lichtung leer. Kein Leben zeigte sich. Während Mythor in den Steigbügeln federte, um dem Rappen die Last nicht zu schwer zu machen, sah er sich immer wieder um. Vor ihm verliefen zahlreiche Spuren. Bis jetzt waren es ausnahmslos Tiere, die hier gewechselt waren. Die Ränder des Einschnitts kamen näher. Die Ebene fiel leicht ab und lief in einen Hohlweg aus. Hier entdeckte Mythor zum erstenmal Spuren, die unzweifelhaft von Menschen stammten. Sie kamen von rechts und links, vereinigten sich und bildeten in der Mitte des immer steiler werdenden Einschnitts einen breiten Weg. Der Schnee war bis zu einer dünnen Schicht zusammengetreten worden. Eine düstere Ahnung ergriff Mythor, und er setzte kurz wieder die Sporen ein. Der Rappe spürte die Unruhe des Reiters und wurde schneller. In einem gestreckten Galopp sprengte der junge Krieger durch den Hohlweg. Bisher war sein Mißtrauen nicht gerechtfertigt gewesen. Kein Wildländer tauchte auf, keine Geschosse surrten durch die neblige Luft. Aber der Hohlweg wurde schmaler und tiefer, die Hänge wurden immer steiler; schließlich wand sich der Weg nach rechts und links. Gestürzte Bäume lagen über dem Einschnitt, ein Windstoß warf breite Schneefahnen von den Kanten. Mythor hob den Kopf und spähte nach oben. Vor ihm brach eine Schneeschicht von einem Stamm und fiel wie ein weißer Vorhang mitten auf den Weg. Hinter den hoch117
ragenden Wurzeln des gestürzten Baumes erhoben sich zwei Gestalten. Zuerst starrten sie bewegungslos auf Mythor herunter, dann griffen sie hinter sich und hielten Wurfspeere in den Händen. Mythor riß das Schwert hoch und winkelte den Arm vor dem Gesicht ab. Die Wildländer griffen ihn ohne Warnung an und schleuderten schweigend die Speere. Mythor sah, daß eines der Geschosse schräg über ihn hinwegflog, die Spitze des zweiten aber genau auf ihn zuschwirrte. Das Schwert bewegte sich blitzschnell nach rechts und traf den Speer dicht hinter der Spitze. Der Speer wurde zur Seite gewirbelt und schlug zu Boden. Ein dritter Angreifer tauchte auf, als Mythor genau unter dem Stamm hindurchritt. Er handhabte, das sah Mythor gerade noch aus den Augenwinkeln, eine Schleuder. Der Stein jaulte durch die Luft, traf das Horn des Helmes und zerplatzte dort. Mythor beugte sich aus dem Sattel, schüttelte sich und versuchte, das Brummen seines Schädels zu ignorieren. »Sie scheinen mich nicht leiden zu können«, knurrte Mythor und sprengte mit losem Zügel weiter. Der Weg beschrieb eine Biegung nach rechts. Die Hufe des Rappen gruben sich in den Schnee des linken Hanges, als das Tier dem Weg weiter folgte. Es schien die Gefahr zu wittern und wurde, ohne daß Mythor etwas dazu tat, schneller. »Verdammt!« Mythor fluchte. »Ich hätte den Wald nicht verlassen sollen.« Er ritt einen schrägen Hang hinunter, galoppierte durch den hohen Schnee wieder auf den Hohlweg zurück und schwang Alton über dem Kopf. Wieder heulte ein Stein über ihn hinweg. Ein Pfeil klirrte splitternd von der Klinge Altons ab. Der Hohlweg bildete wieder eine Gerade, eine natürliche Brücke spannte sich, aus gigantischen Steinbrocken zusammengesetzt, über eine Kluft. Sie war nicht sehr tief, aber die Wände bildeten einen glatten doppelten Absturz, ohne jede Treppe und 118
ohne Sims. Mythor ritt in hartem Galopp auf den Anfang der seltsamen Brücke zu. Zwischen den Felsen und hinter Schneeanhäufungen sprangen Wildländer hervor, hoben ihre Waffen und zogen die Kapuzen tief in die Gesichter. »Es war ein Fehler, den Wald zu verlassen«, knurrte Mythor, setzte die Sporen ein und schob die Stiefel tiefer in die Steigbügel. Er hob das Schwert, das in der beginnenden Dämmerung schwach leuchtete. Es summte schmerzlich auf, als Mythor, halb Furcht im Herzen, halb voll erbittertem Trotz, in der Mitte der Brücke auf die Linie der Wildländer losritt. Aus den Nüstern des Rappen kamen lange Dampfwolken. Seine trommelnden Hufe warfen Eisbrocken hoch. Der erste Speer bohrte sich zwei Handbreit vor dem Pferd in den Schnee. Der Rappe brach den Schaft mit der Schulter ab. Einige Pfeile schwirrten dem Reiter entgegen. Einer riß einen Schnitt in Mythors Mantel, ein anderer zerschnitt das Fell des Rappen an der Kruppe, und das Tier wieherte laut auf, bäumte sich auf, fiel zurück und schlug mit den Vorderhufen zwei Wildländer nieder. Mythors Schwert fuhr aufwärts und abwärts. Der harte Hieb schlug nacheinander zwei Äxte aus den Händen der Wildländer, dann war Mythor durch die Kette hindurch, beugte sich weit nach vorn und schmetterte dem nächsten Gegner, der sich ihm entgegenstellte, den Speer aus den Händen. Dann war er am jenseitigen Ende der Brücke, ritt wieder durch einen Hohlweg aufwärts und tauchte, ohne daß ein weiterer Wildländer sich ihm entgegengeworfen hätte, in den nächsten Abschnitt des Waldes ein. Einige hundert Atemzüge lang behielt er den Galopp bei, dann ließ er den Rappen in Trab fallen und schließlich in langsamere Gangart. Es wurde rasch dunkel, und die Nacht kam, als Mythor sich am Rand einer winzigen Lichtung befand. Einmal ritt er um die Lücke 119
zwischen den Bäumen herum, aber er bemerkte nichts, was ihn beunruhigte. Zwischen einigen Felsen und in einer Höhlung, die von riesigen Wurzeln, Erdreich, Moos und Schneeschichten gebildet wurde, band er die Zügel des Pferdes fest. Zuerst reinigte er die Wunde des Tieres und strich etwas von einer blauen Salbe darüber, die er im Gepäck des Caer gefunden hatte. Er sammelte Zweige und warf sie dem Rappen vor. Das Tier leckte am Schnee und an den Eiszapfen, und es wieherte dankbar auf, als Mythor es mit trockenem Moos und Gras abrieb. Er selbst aß einige Streifen Braten, kaute auf einem harten Brotfladen herum und wickelte sich in seinen Mantel. Auch diese Nacht fand er Schlaf, obwohl ihn das Tier viermal weckte. Aber der Rappe schien nur Raubtiere gehört zu haben, keine Wildländer. Mythor behielt den Helm auf dem Kopf und das Schwert in der Hand. So fand er sich am nächsten Morgen wieder, leidlich ausgeschlafen und starr vor Kälte. Noch immer wußte er nicht, wo wirklich sein Ziel lag. * Der Anführer glitt aus dem Sattel, versank bis zu den Knien im Schnee und faßte den Zügel seines Tieres ganz kurz. »Ja, das ist es«, sagte er leise. »Das ist das verwunschene Tal. Aber ich sehe nicht einen einzigen Vogel, keinen Hund… nichts!« Auf den Resten der Kuppel lag Schnee, er bedeckte auch viele der Pilze und der Farnwedel. Aber ebenso deutlich war auch, daß er an den meisten Stellen des Tales entweder bereits geschmolzen war oder erst gar nicht gefallen. Hinter dem Anführer staute sich der lange Zug der drei Hundertschaften mit ihren dampfenden Pferden. »Der Frostriese Ymeer«, sagte der Fährtensucher, »hat das Land in seiner Fessel. Hier endet sein Reich, obwohl er aus 120
dem eisstarrenden Norden kommt.« »Frostriese oder nicht«, gab der andere mürrisch zurück. »Wir haben den Befehl, das Tal gegebenenfalls zu erobern. Achtung!« Er hob die Hand und schrie: »Hundert Mann bleiben hier und kümmern sich um die Pferde. Alle anderen kommen mit mir. Wir durchsuchen jeden Winkel. Macht schnell!« Die frierenden Caer-Soldaten sprangen von den Sätteln, knoteten die Zügel der Pferde zusammen, sammelten sich in kleinen Gruppen und stapften an den Rand des Tales, an die Reste der wuchtigen Umfassungsmauer. Auch die Hänge und die senkrechten Felsen waren voller Eis und Schnee. Die ersten Caer machten sich an den Abstieg. Sie rutschten und stolperten den Hang hinunter, den einige von ihnen vor Tagen hinaufgeflüchtet waren. Kein Tier griff sie an, keine Ratte zeigte sich, kein Geier zog im nebligen Himmel seine Kreise. »Bei Ymeer! Ein Platz voller Rätsel!« dröhnte die Stimme des Anführers. Er erreichte den Talboden und spürte, wie die Kälte drastisch nachließ. Hinter ihm sprangen Gruppen von Soldaten, die Schilde am Kinn und die Schwerter in den Händen, auf den weichen Boden des Tales. Aber keiner von ihnen bemerkte den einsamen Späher, der sich im Schnee zwischen den Trümmern der Umfassungsmauer verbarg. »Ausschwärmen!« Nur das Klirren der Waffen und das Brechen von dürren Wedeln waren zu hören, als sich die geschulten Kämpfer zu drei Keilen formierten. Je einer entfernte sich nach rechts und links, der dritte stieß langsam und wachsam in die Richtung des Zentrums vor. Die unheimliche Ruhe des Tales wurde durch Kommandos und Rufe jäh gestört. Die Männer kamen an den Leichen ihrer Kameraden vorbei und sahen, daß Ameisen die Körper teilweise bis auf die Knochen abgenagt und 121
sogar Stoff, Fell und Leder nicht verschont hatten. Immer breiter wurde der Strom der Soldaten. Sie untersuchten jeden Fußbreit des Tales. Die erste Gruppe drang durch das trümmerübersäte Mauerloch in der rissigen Kuppel ein. Zahlreiche Spuren wurden sichtbar, denen die Caer sofort nachgingen. Auch sie standen vor dem riesigen Kopf und staunten, auch sie entdeckten die Halle der Masken und einen gigantischen Berg von Trümmern eines unerklärlichen Mechanismus. Sie suchten zwischen den Trümmern, brachen Tore auf, die teilweise bereits vermodert waren, und sie fanden nichts anderes als uralte Dinge ohne erkennbare Bedeutung. Jeder Raum, den die Soldaten in den Resten der Kuppel und in den Gewölben darunter fanden, wurde mit Fackeln untersucht. Sie fanden auch die kokonartigen Hüllen und begriffen, daß hier die Tiere geschlafen hatten, mit denen Hester die Stadt terrorisierte. Aber sonst fanden sie nichts. Zweihundert Caer-Krieger stocherten mit den Schwertern zwischen den Wurzeln der Bäume. Sie wälzten Trümmer und zerbrochene Quader zur Seite und suchten nach verborgenen Eingängen. Einige von ihnen begruben ihre toten Kameraden, und schließlich kamen sie alle in dem Gebiet rund um den Eingang zur Kuppelruine zusammen. Der Anführer brauchte nur in ihre bärtigen, schmutzigen Gesichter zu blicken, um zu wissen, daß sie zwar ihren Auftrag ausgefüllt, aber nichts gefunden hatten. Er sprang auf einen Säulenstumpf, schob sein Schwert in die Scheide zurück und rief: »Ich sehe, ihr habt nichts gefunden?« »Nicht einmal Spuren. Aber der Mann, den sie Mythor nennen, war mit seinen Begleitern hier.« »Er wird ebensowenig gefunden haben wie wir. Gut. Wir reiten zurück!« »Caers Blut! Es wird das beste sein.« 122
Der Anführer deutete aus dem Eingang hinaus und nickte. Um ihn versammelten sich die Unterführer und winkten ihren Männern. »Macht schnell! Dann werden wir heute noch ein gutes Stück zurück schaffen.« Die Caer verließen den Talkessel und kletterten den Schräghang wieder hinauf. In guter Ordnung bestiegen sie wieder ihre Pferde und ritten in der breiten Spur zurück, die sie selbst durch den Schnee getrampelt hatten. Einer von ihnen glaubte, eine Gestalt auf der rechten Seite zu sehen. Als er genauer hinsah, war die dunkle Silhouette verschwunden. Ihr Auftrag war ausgeführt. Feithearn konnte die dreihundert Männer brauchen. Die Ordnung in Nyrngor litt, solange der Einhornreiter nachts um die Mauern galoppierte. Aber kein einziges Tier beobachtete den Rückmarsch der dreihundert Reiter. Zwischen den Bordwänden der Schiffe spannte sich eine dicke Eisschicht. Einige Dreimaster waren auf den Strand, andere auf den niedrigen Kai hinaufgezogen worden. Die Posten standen mit ihren rußenden Fackeln sowohl an den Schiffen als auch an den Eingängen des Lagerhauses. Im Abendwind schwankten die froststarren Seile und die hölzernen Elemente der Flaschenzüge. Zitternd vor Kälte, drängten sich die Pferde in einen windgeschützten Winkel zwischen den verlassenen Gebäuden des Hafens. Alles lag leer und im erbarmungslosen Griff des Winters da. Nur im Inneren des größten und wenig zerstörten Gebäudes, der Lagerhalle, herrschten aufgeregte Tätigkeit und eine Spur Wärme. Zahlreiche Fackeln, von schweigenden und grimmig blickenden Kriegern gehalten, beleuchteten ein mehr als seltsames Bild. Zwei Männer hielten einen Rappen am Zügel. Das pechschwarze Tier war unruhig und keilte aus, als ein Caer, der handwerklich sehr geschickt war, ihm ein breites Band um die 123
Stirn befestigte. In der Mitte des Bandes wuchs das mehr als eine Elle lange Horn hervor, freilich befand es sich tiefer am Schädel als das Horn des echten Einhorns. Auch waren viele Stellen des Tieres mit schwarzer Farbe eingerieben worden, mit Ruß und Fett. Der dünne Zügel war schwarz, ebenso ein breiter Gurt mit einigen Schlaufen, der dicht hinter den Vorderbeinen den Rumpf des Rappen umspannte. Der Reiter stieß ein heiseres Lachen aus. »Gut, daß Hester keine wilden Drohungen ausstößt. Sonst müßte ich ihm noch meine schöne Stimme leihen!« Die Fackelträger und die Soldaten stimmten in das Gelächter ein. Nur Feithearn lachte nicht. Er konzentrierte sich auf seine Aufgabe und spürte, wie der Dämon seine Lebenskraft sammelte. Der Reiter war mittelgroß, aber nicht schmächtig wie Hester, sondern schmal und sehnig. Sein Haar war tatsächlich blond und dünn. Man hatte ihm ähnliche Kleidung angezogen und ihm auch einen Mantel gegeben, der dem ähnlich war, den Hester trug. Das Pferd war gut gefüttert worden und war halb übermütig vor Kraft. Schon aus wenigen Schritten Entfernung sah man den Zügel kaum und bemerkte den Gurt gar nicht mehr. Das echte Einhorn trug keinen Sattel. »Der Gegenreiter ist bereit, Herr!« meinte ein Hauptmann. »Wann soll er aufbrechen?« »Erst später. Vor Mitternacht«, winkte Feithearn ab. Er hatte den schwarzen Mantel mit den Silberstickereien über die Schultern geworfen und trug über der gläsernen Haut seines Gesichts die Maske und den spitzen Helm. Die Handschuhe wirkten wie Knochenhände, als er die Finger nach dem Pferd ausstreckte. Wieder wurde das Tier unruhig und mußte mühsam gebändigt werden. »Duldamuur! Dämon, den ich beschworen habe und der in mir lebt! Ich rufe dich. Ich brauche deine Stärke und deine 124
Macht!« Die Stimme des Priesters klang verzerrt vor Konzentration. Das Gelächter der Caer und das Murmeln der Unterhaltung rissen ab. Stille breitete sich in dem staubigen Gewölbe aus. In der heißen Luft, die von den Fackeln aufstieg, bewegten sich die Spinnweben. Das Pferd wieherte dumpf, als stehe es unter großer Anstrengung. Magie aus der Schattenzone bildete eine Verbindung zwischen dem Pferd, dem Reiter und dem Priester. Geistige Anstrengung ließ die Lippen Feithearns schmal werden und Schweißtropfen auf der gläsern scheinenden Haut perlen. Der Dämon schien zu antworten, aber nur Feithearn hörte und verstand, was er sagte. »Erhalte mit deiner unfaßbaren Kraft den Reiter und das Tier! Es muß stark und ausdauernd sein, keine Scheu zeigen und dem Reiter gehorchen, als sei es sein Geschöpf!« beschwor Feithearn. Die Wirkung zeigte sich sogleich. Der schwere, breitbrüstige Rapphengst schüttelte den Kopf und warf ihn stolz in den Nacken. Die Muskeln des Tieres schienen anzuschwellen. Die Hufe bewegten sich tänzelnd, aber auch ohne Zügel hielt das Pferd seine Kraft unter Kontrolle. Nur seine Augen rollten, und der Atem fuhr in langen Dampfwolken aus den aufgerissenen Nüstern. Die Caer, die diesen ersten Teil der magischen Beschwörung miterlebten, wußten nur ungenau, daß die große Entfernung von der Schattenzone, die keiner von ihnen wirklich kannte, von Feithearn eine gewaltige Kraft erforderte. Aber sie sahen, daß die Energien des Zauberpriesters wirkten und auch auf den schmalschultrigen Kameraden übergriffen. Der Dämon gehorchte dem Priester. Der Caer, Torasc nannte man ihn, stöhnte auf. Sein Grinsen erstarb. Er fühlte in den Armen und Fingern eine neue, pri125
ckelnde Kraft. Die Schwarze Magie fing an, ihn zu verändern. Er wußte: Er würde keine Kälte spüren und keine Erschöpfung. Die Speere, die er schleuderte, würden ins Ziel treffen. Eine große Ruhe und Sicherheit kam über ihn. Magie würde ihn nun leiten und ihm die Kraft mehrerer Männer verleihen. In seiner Vorstellung und seiner Überzeugung fand eine Wandlung statt. Eine ruhende Kraft füllte ihn aus, sie würde ihn zu ungeahnten Leistungen befähigen, sobald er sich auf den Rücken des herrlichen Tieres schwang und in den Schnee hinausgaloppierte. Den Rest der Beschwörung hörte er nur noch als monotone Folge undeutlicher Wörter und Begriffe. Dann trat er dicht an das Tier heran, griff nach dem dünnen Riemen des Zügels und hob die Wurfspeere in seiner Hand. »Ich bin bereit«, sagte er mit völlig veränderter Stimme. »Ich weiß, was ich zu tun habe. Wann soll ich reiten?« Auf seltsame Weise schienen Reiter und Pferd miteinander zu verschmelzen. Sie bildeten schon jetzt, da noch die Füße des Caer den Boden berührten, eine unlösbare Einheit. »Kurz vor Mitternacht«, sagte Feithearn leise. Er taumelte. Zwei Krieger sprangen auf ihn zu und ergriffen ihn an den Oberarmen. Sein Atem ging laut und rasselnd. »Und hierher kehrst du zurück.« »Ich weiß es!« versicherte Torasc. »Ich bin der Gegenreiter.« Feithearn sackte zusammen. Es war, als habe alle Kraft seinen Körper verlassen. Er flüsterte heiser: »Bringt mich zurück in den Palast.« Seine Leibgarde schleppte ihn aus dem Lagerhaus und hob ihn in den Sattel des Pferdes. Fackeln wurden geschwenkt, als die zehn Mann langsam aus dem Hafengebiet herausritten und den Weg zum Stadttor einschlugen. Das war ein Signal für die Posten, sich zurückzuziehen. Nur ein paar Männer blieben zusammen mit dem Gegenreiter in dem Bauwerk zu126
rück. Sie hatten Futter hierhergebracht, es gab für Torasc und die Wächter weiche Lager und genügend Nahrungsmittel. Die Nyrngorer hatten nichts gesehen, und überdies waren weder der Reiter noch sein falsches Einhorn als das zu erkennen gewesen, was sie in wenigen Stunden darstellen sollten. Nur einer der Caer fragte seinen Kameraden flüsternd: »Was aber passiert, wenn Hester und Torasc vor den Mauern aufeinandertreffen? Wird Feithearns Magie siegen? Oder…?« Der andere hob die Schultern und spuckte aus. »Ich hoffe, der Speer von Torasc trifft so gut wie die Würfe des echten Einhornreiters.« »Ich hoffe, daß es bald Sommer wird«, murmelte sein Freund sarkastisch. Einige Stunden später zogen sie ein Tor des hölzernen, zugigen Gebäudes auf. Torasc schwang sich mit einem gewaltigen Satz auf den breiten Rücken des Hengstes. Die Stiefel des Caer schlüpften in die unsichtbaren Schlaufen, die Hand, die den Zügel hielt, fuhr durch einen anderen Griff am Gurtband. Drei kurze Wurfspeere nahm der Caer in die Hand, dann setzte er die mit Ruß geschwärzten Sporen ein und galoppierte an. Wie ein schwarzer Blitz schoß der Hengst durch das Tor hindurch. Der Hufschlag wurde als Echo zwischen den Mauern hin und her geworfen, dann wechselte er über in den knirschenden Schnee. Aus der Ferne hörten die zurückgebliebenen Wachen das schauerliche Heulen des Wolfes. Auch der echte Einhornreiter war wieder vor den Stadtmauern. * Erst nachdem Mythor das Pergament mit dem Bildnis der schönen Unbekannten wieder sorgfältig unter dem Wams versteckt hatte, fühlte er sich etwas besser. Seine Unruhe blieb, 127
aber gleichzeitig mit den unbeschreiblichen Empfindungen während des fast andachtsvollen Betrachtens waren andere, höchst überraschende Gedanken deutlich geworden. Mythor gab dem Pferd einen kurzen Schenkeldruck und ritt weiter. Der Helm drängte ihn jetzt abermals in eine andere Richtung: nach Südwest. »Und was werde ich dort finden? Wieder Wildländer, die mich hassen?« fragte Mythor laut. Ein Wind, dessen Töne aufwärts und abwärts glitten und eine heulende Melodie über das freie Geländestück bliesen, zerrte an ihm und riß den Schaum von dem Maul des Pferdes. Es war noch nicht lange her, seit er den ersten deutlichen Hauch der Bestimmung gespürt hatte. Gefährliche Abenteuer, unzählige Entdeckungen und eine geradezu gewaltige Entfaltung seines Wissens und seiner Kenntnisse hatten ihn seither bereichert. Selbst das Schwert hatte er besser und kräftiger zu führen gelernt vom unglücklichen Coerl O’Marn. Die geistige Enge seiner Heimatstadt Churkuuhl war ein für allemal vorbei. Jetzt erlebte er neue Horizonte, selbst wenn er dabei hungerte und fror. »So ist es! Bei Erain!« bestätigte er sich selbst. Er näherte sich dem nächsten Waldabschnitt, der hinter den Schneedünen dunkel und geheimnisvoll aufragte. Auch heute herrschten Hochnebel, leichter Schneefall und Wind, aber die Sonne konnte den Dunst nicht durchdringen. Ruhig trabte der Rappe in einer schmalen Spur, die von Waldtieren getreten worden war, der schmalen Lücke entgegen, die sich im Gebüsch zeigte. Mythor legte die Hand an den Schwertgriff. Er rechnete damit, wieder auf Wildländer zu stoßen. Die Horden waren vermutlich nichts anderes als Familienverbände, die alles und jeden jagten, die sich in ihr Gebiet verirrten. Das Gebiet war groß, und es gab nicht viele Wildländer, und 128
nur deswegen war Mythor so selten mit ihnen zusammengetroffen. Wieder schlug die Ruhe des Waldes über Mythor und dem Pferd zusammen. Der Tierwechsel verbreiterte sich, wurde wieder schmaler, führte im Zickzack aufwärts und abwärts und gestattete ein gleichmäßig schnelles Tempo. Der Helm der Gerechten schwieg jetzt wieder. Der Wald wurde kümmerlicher. Die Abstände zwischen den dünnen Stämmen wuchsen, die freie Sicht zeigte, als Mythor das Pferd zügelte, ein Bild, das ihn gleichermaßen überraschte wie faszinierte. Aus einer weitestgehend flachen Landschaft, deren Einsamkeit nur von wenigen kleinen Baumgruppen unterbrochen wurde, ragte ein Tafelberg heraus. Vor Mythors Augen lag eine unregelmäßig gewellte Fläche von makellosem Weiß. Darin waren die schwarzen und dunkelgrünen Flecken der Gewächse, und genau im Zentrum ragte, mehr als fünfzig Mannsgrößen hoch, der Tafelberg auf. Er war graubraun und, so gut Mythor es feststellen konnte, unbewachsen. Seine Abhänge waren von seltsamen Klüften und Schrunden durchzogen, die hellere Farben zeigten. Mythor blinzelte und schüttelte verwirrt den Kopf. Gerade dort, wohin er blickte, mußte sich ein großer Höhleneingang befinden. Der Berg schien rund zu sein, wie ein Kreis, und die oberste Fläche war von den Ewigkeiten der Zeit glattgeschliffen worden. Der Fuß des grauen Berges wies einen größeren Durchmesser auf als das Gipfelplateau, so daß er stumpfkegelig wirkte. »Das ist es!« sagte sich Mythor. Der Helm gab ihm keine Bestätigung. Mythor gab seinem Rappen leicht die Sporen, und das Tier fiel in einen langsamen Galopp. Eine Fahne stiebenden Schnees hinter sich, sprengte Mythor auf den Eingang zu. Er war sicher, sich am vorläufigen Ziel seiner Wünsche zu befinden. Vorübergehend drängte er die Gedanken an den Verlust der drei Tiere zurück und spähte 129
aufmerksam nach vorn. Vorsicht und Mißtrauen erfüllten ihn, und sein Instinkt trog ihn nicht. Nach kurzer Zeit sah er an vielen Stellen zwischen sich und dem Berg dunkle Gestalten aus dem Schnee auftauchen, als hätten sie ihn schon längst erwartet. Hier war es einer, dort erkannte er eine Gruppe, vor dem Eingang formierte sich eine mehrfach gestaffelte Kette. »Wildländer! Bei God und Erain… und es sind zu viele!« stieß er hervor. Tausend Mannslängen trennten ihn noch von dem schwarzen Eingang. Langsam zog er das Gläserne Schwert und ritt auf die ersten Posten zu. Sie alle trugen die Kapuzen, die für die Wildländer typisch waren. Mythor ahnte, daß er die Grenze Dandamars bereits hinter sich gelassen hatte. Eine Gruppe von drei Männern drang auf ihn ein. Er wollte zwischen ihnen hindurch auf sein Ziel zugaloppieren, aber er fuhr sogleich im Sattel herum und schlug das kurze Schwert aus der Hand des ersten Angreifers. Der zweite sprang zur Seite, als sein Artgenosse taumelte und auf das Heft der Waffe in seinen Fingern starrte, aber er richtete den Speer auf Mythor. Mit dem zurückschnellenden Hieb des langen Schwertes schmetterte Mythor die Waffe zur Seite und zerbrach den Schaft in zwei Hälften. Dann stieg der Rappe hoch, schlug mit den Hufen nach dem dritten Angreifer, der ein langstieliges Beil mit eiserner Schneide über seinen Kopf schwang und dabei einen trillernden Schrei ausstieß. Das Eisen klirrte hart gegen das schwach leuchtende Schwert, und die Wucht des Hiebes schlug einen zwei Finger tiefen Riß in das Metall. Die Axt entglitt den gefühllos gewordenen Fingern des Wildländers. Mythor ließ den Zügel los, beugte sich aus dem Sattel und packte den Angreifer am Schultergurt. Die Nähte des Fellman130
tels rissen knirschend. Die Kapuze fiel nach hinten und enthüllten ein bärtiges Gesicht. Dunkle Augen blitzten Mythor wütend an. Das Pferd machte einige Sätze, und der Körper des Mannes wurde über den Schnee gezerrt. Mythor erkannte, daß er nicht gegen Rotten von Waldbewohnern gekämpft hatte, sondern gegen ausgebildete Krieger. Sie waren nicht so geschult wie die erbarmungslosen Armeen des Herzogtums Caer, aber ihnen haftete nichts mehr von Fallenstellern und Jägern an. Er warf den Mann in den Schnee, der Körper überschlug sich und blieb liegen, während der Rappe auf die nächsten Verteidiger des einsamen Berges zutrabte. »Sie verteidigen den Berg! Das ist die Erklärung!« murmelte Mythor grimmig und hob das Schwert. Aber immer mehr Wildländer schoben sich zwischen ihn und den Fuß der Bergseite. Flüchtig glaubte Mythor so etwas wie Gerüste zu sehen und, aus der Bergflanke vorspringend, die kantigen Formen menschlicher Riesengesichter. Aber schon glitt sein Blick wieder nach unten und heftete sich wieder auf die zahlreichen Wildländer. Sie bildeten jetzt in ihrer Gesamtheit eine Art Halbkreis, dessen Enden sich ihm entgegenwölbten. Die Falle war aufgestellt und würde sich bald als dichter Kreis um ihn geschlossen haben. Mythor fiel eine einfache List ein. Er hatte weder die Absicht noch das Bedürfnis, Männer zu verletzen und zu töten, die ihm nichts getan hatten. Er lächelte kühl und ritt unverändert schnell auf den Mittelpunkt der Verteidigungslinie zu. Vor ihm blitzten zahlreiche Schwerter und Lanzenspitzen auf. Die Wildländer in ihren Fellen gehorchten zweifellos jemandem, der die Höhle und den Tafelberg beherrschte. Mythor schwang das Schwert, als wolle er angreifen. Die vorderste Linie kam immer näher, er zügelte das Pferd und sah sich um, als wolle er zurückreiten 131
und flüchten. Aber die Enden der sichelförmigen Umzingelung begannen sich bereits zu schließen. Mythor zwang den wiehernden Rappen zweimal, sich um seine eigene Achse zu drehen, dann machte er abermals einen schnellen Ausfall zu der Stelle, an der die Verteidiger am dichtesten standen. Sein Plan war riskant, versprach aber viel. Er wirbelte mit dem Schwert drei Männern die Waffen aus den Händen und schlug einen vierten mit der flachen Klinge in den Schnee. Dann hielt er das Schwert waagrecht über seinen Kopf, parierte das Pferd und schob langsam Alton zurück in den breiten Gürtel. »Hört auf!« rief er in Gorgan, der Sprache der nördlichen Welt. »Ich will nicht gegen euch kämpfen. Ich ergebe mich!« Mehrere Männer traten vor, die Spitzen ihrer Lanzen auf die Brust des Pferdes gerichtet. Einer sagte in kehligem Tonfall: »Du kommen. Wir auch nicht töten. Zum Berg, in drei Höhlen.« »Ich werde nicht fliehen!« versprach Mythor und hob den Männern die Handflächen entgegen. »Kommen jetzt!« Ein schweigender Kreis schloß sich um Mythor. Da er die Gesichter nicht sehen konnte, vermochte er nicht abzuschätzen, wie groß die Drohung war. Aber Hunderte von Speeren oder anderen Waffen richteten sich ins Innere des Kreises. Die Wildländer trieben Mythor auf den Tafelberg zu. Auch jetzt bestätigte sich Mythors erster Eindruck, daß zumindest diese große Gruppe der Wildländer gut ausgebildet war und einem Befehl gehorchte. Noch vierhundert Schritt waren es etwa bis zur Flanke des Berges. Mythor ließ den Rappen im Schritt gehen, bis ein Wildländer an den Zügel griff und das Pferd führte. Das Staunen Mythors wurde größer, als er in dem diffusen Licht mehr Einzelheiten 132
erkannte. Aus dem Felsen waren Gesichter herausgeschlagen und gemeißelt worden. Riesengroße Gesichter, viel größer als jenes, das er in den Ruinen des verwunschenen Tales bewundert hatte, starrten ihn an und blickten, seiner Schätzung nach, in die Richtung des verwunschenen Tales. Trotz der einfachen Holzgerüste, die wie Netze seltsamer Spinnen in den Spalten und Rissen des Felsens hingen, erkannte Mythor die Fremdheit der Köpfe. Ein böser, dämonischer Ausdruck lag in jenen Mündern, strahlte ihm aus den blinden Augen entgegen. Das Vorhandensein der Gerüste bewies, daß die Bildhauer noch an den Fratzen arbeiteten, aber jetzt vermochte Mythor keine Meißel und Hammerschläge zu hören. Er sah niemanden auf den Leitern und Gerüsten hängen. Auch an den Stellen, die nur sehr grob bearbeitet waren, spannten sich Brücken und schmale Stege. Also sollte der Berg rundum ausgemeißelt werden. Irgendwann würde eine ununterbrochene Kette von gigantischen Gesichtern die Flanken des Tafelbergs zieren. Er knurrte: »Jetzt weiß ich auch, was es mit dem Berg der Gesichter auf sich hat!« Einige Male hatte er in Nyrngor und während seiner Wanderung diesen Namen gehört und ihm keinerlei Bedeutung beigemessen. Er ertappte sich bei einem suchenden Blick: Befand sich etwa auch das Gesicht seiner unbekannten Schönen unter den Riesenköpfen? Nein. Schweigend musterte er abermals die unfertigen Züge der etwa sieben weitestgehend fertigen Köpfe. Sie wirkten menschlich und gleichermaßen fremd, vertraut und doch abweisend, arrogant und böse. Mythor glaubte, eine gewisse Ähnlichkeit aller Köpfe festzustellen. An ihnen mußten die unsichtbaren Bildhauer seit vielen Jahren gearbeitet haben. Sicherlich lagen unter dem Schnee am Fuß des Berges 133
große Mengen Steinbrocken und Schutt. Vor Mythor wuchs der Berg in die Höhe. Der Ring der Wildländer öffnete sich. Die Krieger bildeten zwei Reihen. Mythor ritt weiter und hielt unmittelbar vor dem Höhleneingang an. Im Gegensatz zu den Gesichtern war der Felsdurchlaß ohne Meisterschaft und lieblos aus dem Stein gehauen. Der Mann, der das Pferd führte, sagte unter der schützenden Kapuze hervor: »Absteigen! Kommen! Zu Urzuguhr!« »Ich werde tun, was du verlangst«, sagte Mythor und schwang sich aus dem Sattel. Der Wildländer führte das Pferd weg. Das Tier folgte gehorsam; es schien zu wittern, daß es in guten Händen war. Einige flache Stufen führten in den Höhleneingang hinein. Die Wachen blieben hinter Mythor zurück, aber ihre Waffen waren unverändert auf ihn gerichtet. Als Mythor in das Innere des Gewölbes trat, verstärkte sich die Empfindung des Fremdartigen und Abweisenden. Er ging geradeaus. Einige Feuer und Durchbrüche in der Felswand schufen in der ersten Höhle nach dem kurzen Gang verschwimmende Helligkeit. Rechts und links sah Mythor Teile von Gerüsten, Vorratsbehälter und große Steinkrüge, Werkzeuge und allerlei bedeutungslosen Kram; alles war verwahrlost und abgenutzt. Hammerschläge schallten ihm entgegen. Sie kamen von einem Feuer, in dessen Licht einige Männer arbeiteten. Einer hob ein glühendes Stück Metall aus dem Feuer, ein anderer bearbeitete es mit einem Hammer. Der Rauch zog senkrecht nach oben und entwich durch Spalten im Fels und Löcher, die auf das Plateau hinaufführten. Eine Stimme hinter Mythor sagte laut: »Mann am Feuer. Ist Urzuguhr. Er mit dir sprechen.« »Ist es der Mann mit dem silbernen Bart?« »Ja. Mit Bart.« Mythor ging, die Arme locker an den Seiten, auf den Mann 134
zu, der neben demjenigen mit dem Eisenhammer stand. Urzuguhr trat zur Seite, hob den Kopf und murmelte etwas Unverständliches zu seinen Gehilfen. Dann kam er mit schnellen, trippelnden Schritten auf Mythor zu, einen langen, kantigen Meißel in den Händen. »Wer bist du?« fragte er mit einer Stimme, die nicht zu seinem Körper paßte. Sie war abgrundtief und hallend, aber nicht laut. Etwas Unzufriedenes, Ungesundes ging von dieser knarrenden Stimme aus. Mythor betrachtete Urzuguhr einen Moment schweigend, dann antwortete er: »Ich bin Mythor. Ich komme aus Nyrngor.« Der Herr des Berges der Gesichter war zwei Kopf kleiner als Mythor. Sein ungepflegtes Haar und ein mächtiger, zottiger Bart waren leuchtend silberfarben. Unter buschigen Brauen zwinkerten graue Augen Mythor an. Urzuguhr hatte einen runden Höcker zwischen den Schulterblättern, aber einen breiten Brustkasten. Seine Schultern waren die eines Riesen, die Muskeln an den Oberarmen wanden sich wie Schlangen unter der Haut. Seine Arme hingen bis weit über die Knie herunter. Als er den Meißel fallen ließ und Mythor die rechte Hand entgegenstreckte, sah dieser, daß die Fingerspitzen rund und klobig geformt waren. Er ergriff die Hand, deren Innenfläche hart wie Horn war. »Ich schaffe ein gewaltiges Denkmal zu Ehren des Lichtboten«, erläuterte Urzuguhr. »Du sollst mein Gehilfe werden.« Mythor antwortete dem Verwachsenen: »Für die nächste Zeit mag das gelten.« »Wir werden sehen. Such dir einen Platz in den drei Höhlen, an dem du schlafen und wohnen kannst!« »Du meinst«, fragte Mythor und sah sich überlegend in der Höhle um, »daß du auch im eisigen Winter an den Gesichtern arbeitest?« 135
»Deshalb schmiede ich meine Meißel. Sie sind alle von mir, die Köpfe. Aber ich bin mit der Arbeit noch lange nicht zufrieden.« Mythor dachte, wenn er sich den Anblick der Gesichter wieder vergegenwärtigte, mehr an Drudin von Caer als an den Lichtboten. Aber er äußerte seine Zweifel nicht, sondern suchte sich eine leere Nische in der zweiten Höhle. Dort warf er sich auf ein Strohlager und entspannte seine Muskeln. Nur langsam wich die Kälte aus seinen Knochen. »Wenn ich nicht ganz irre«, flüsterte Mythor nachdenklich, »ist der Silberhaarige zwar ein genialer Künstler, aber alles andere als normal. Ich werde auch hier die Wahrheit herausfinden.« Er schloß die Augen, und als er in einen flachen, kurzen Schlaf fiel, hörte er ununterbrochen das Klingen des Hammers auf dem Amboß. Die Spitzen der Meißel wurden geschärft, und bei den nächsten Bildhauerarbeiten würde er helfen müssen. * Torasc spürte nicht die Kälte, er hatte keine Angst und dachte nicht an Gefahr. Eine grenzenlose Kraft erfüllte ihn, ebenso das Bewußtsein dieser Stärke. Das Tier unter ihm galoppierte leichtfüßig über den festgetretenen Schnee. Von den Stadtmauern und den Türmen leuchteten Fackeln. Caer beugten sich über die Zinnen und spähten zu ihm herunter. Der Gegenreiter sah, wie der Nebel über ihm an einigen Stellen aufriß. Sterne funkelten auf, der Schnee schien zu leuchten. Wieder heulte der Wolf am anderen Ende der Stadt auf. Der Hufschlag des Rappen brach sich an der Mauer. Einige Caer riefen ihm lachend etwas zu; er überhörte es. Die Speere in seiner Hand waren leicht, und als er am zerstörten Tor vorbei136
ritt, suchte er bereits den Kampf. Er konnte es gar nicht erwarten. Und er wußte auch, daß von versteckten Stellen die Nyrngorer sein Tun beobachteten. Zum Schein schossen Caer mit stumpfen Pfeilen auf ihn, die Pfeile bohrten sich vor und hinter ihm in den Schnee. Das Horn des falschen Einhorns schwankte auf und ab, ganz anders als das des Tieres, das Hester ritt. Der Wolf heulte haßerfüllt, und als der Falke seinen hellen Jagdschrei ausstieß, kam die Überzeugung über Torasc. Irgendwo vor ihm, an der Mauer, ritt der falsche Einhornreiter. Hester war der Gegenreiter, der Betrüger. Torasc stieß ein heiseres Lachen aus und beugte sich nach vorn. Am Turm des Nordwesttores hielt er den Rappen an und ließ ihn hochsteigen. Er schüttelte die Waffen in seiner Hand und machte drohende Gebärden. Dann sprengte er weiter, dem anderen Reiter entgegen. Am Nordtor erblickten sie einander. Der graue Wolf wandte im Lauf seinen Kopf und schaute hinauf zu Hester, dann riß er den schmalen Schädel in den Nacken, legte die Ohren an und stieß ein heiseres, langgezogenes Heulen aus, das in wütendes Knurren auslief. Der weiße Falke schlug schneller mit seinen langen Schwingen, reckte den Hakenschnabel vor und schrie. Das Einhorn bäumte sich hoch auf, schüttelte seine lange Mähne und galoppierte auf Torasc zu. Der Caer ließ den Zügel los, den er bisher kaum gebraucht hatte, und nahm einen Speer aus dem Bündel. Fasziniert sahen die Menschen auf den Mauern und Türmen, wie die beiden Reiter in schärfstem Tempo aufeinander lospreschten. Hinter ihnen wirbelten Eisbrocken durch die Luft. Die schwachen Schatten wurden stets, wenn die Reiter ins Licht der Fackel kamen, riesengroß und bewegten sich über die verwüstete Schneedecke. Weder Hester noch Torasc sprachen oder schrien. Torasc schleuderte den ersten Speer gegen 137
das Einhorn. Das Geschoß war unheimlich schnell und erzeugte ein summendes Geräusch. Das Einhorn warf sich nach rechts, schlug förmlich einen Haken, schien sich zu ducken und senkte den Kopf tief zum Boden. Die Spitze des Horns riß eine lange Spur in den Schnee. Hester duckte sich nach links über den Hals der Tieres. Der Speer heulte eine Handbreit über seinen Rücken hinweg. Der Wolf raste auf den zweiten Reiter los und schnappte nach den Fesseln des Pferdes. Der schwere Rappe sprang zur Seite, zeigte aber keinerlei Angst vor dem Raubtier. Torasc schlug mit den beiden Speeren nach dem grauen, wütend schnappenden und grollenden Tier, aber die langen Schneiden der Speere wischten haarscharf am Körper des Wolfes vorbei. Die Reiter schienen einander rammen zu wollen, aber wieder handelte das Einhorn drei Schritte vor dem Zusammenprall. Der Falke hatte seinen schützenden Platz über Hesters Kopf nicht verlassen. Seine Flügel schienen den Kopf des Jungen abzuschirmen. Das Einhorn sprang in vollem Galopp zur Seite. Krachend schlugen die Speere der Reiter gegeneinander. Dann waren die geisterhaften Reiter aneinander vorbei, und der Wolf kehrte zu seinem Herrn zurück. Der rasend schnelle Wirbel der Hufe verklang in beiden Richtungen. Torasc nahm den zweiten Speer in die Wurfhand. Er wußte, daß er Hester beim nächsten Aufeinandertreffen töten konnte, denn es war undenkbar, daß ein zweiter Reiter in der nördlichen Welt schneller und stärker war als er selbst. Das nächste Tor kam nach einer Weile in Sicht. Die hölzernen, mit Eisen und Bronze beschlagenen Torflügel hingen offen und schief in den Angeln. Torasc riß mit einem Schenkeldruck das Pferd herum, das sich genau vor dem Tor aufbäumte. Dahinter standen, zitternd vor Kälte und in dicke Felle ein138
gehüllt, einige Nyrngorer. Hinter den Fenstern eines unscheinbaren Hauses leuchteten schwache Lichter. Torasc holte aus und schleuderte den Speer. Das Geschoß verließ seine Hand. Einige Schritt später bildete sich um die Spitze ein fahles Glimmen, das nach wiederum einigen Schritt Flug aufloderte und größer, heller und heißer wurde. Der Speer schoß zwischen den Städtern hindurch, verbrannte die Haare auf ihren Pelzen und schlug in die Wand des Hauses ein. Einige Herzschläge später breitete sich von der Einschlagstelle nach allen Seiten ein rasendes Feuer aus. Die Nyrngorer, die diesen Vorgang in entsetztem Schweigen und völlig starr vor Schrecken mit angesehen hatten, wandten sich um und rannten zurück, um zu löschen und die Kinder aus dem brennenden Haus zu retten. Der Gegenreiter donnerte weiter. Weder er selbst noch sein Einhornpferd zeigten Spuren von Müdigkeit. Nur als die Speerspitze aufgeflammt war, hatte er einen stechenden Schmerz zwischen den Schulterblättern verspürt. Vorbei. Er vergaß ihn, stellte sich leicht in den Steigbügeln auf und wußte, daß ihn zahllose Augenpaare auf den Mauern anstarrten, daß er derjenige war, der die Furcht wieder in die Herzen der Nyrngorer zurückbringen würde. Die Furcht vor Caer und Feithearn. In dieser Nacht gab es kein zweites Zusammentreffen der beiden Reiter. Hester und seine Tiere schienen sich spurlos im Nebel aufzulösen, der von der Seeseite herankroch. * Jetzt bedeckten kostbare Teppiche in mehreren Lagen den Boden des Thronsaals. Die Räume der königlichen Familie waren geplündert worden. Dutzende schwerer Leuchter aus Silber, Gold und voller funkelnder Steine trugen brennende Kerzen. 139
Ein mächtiges Feuer loderte im Kamin. Die kostbarsten Möbelstücke aus Schloß Fordmore hatten die Caer hier aufgestellt. Wertvolle Mäntel und Wandbehänge verdeckten, auf königliche Feldzeichen und Zierlanzen aufgehängt, die Fenster und einige Türen. Auf einem Tisch, mit kostbarem Linnen gedeckt, standen Krüge und Pokale, in denen roter Wein schimmerte. Feithearn, der eine vorübergehende Schwäche seines Körpers mit Wein zu bekämpfen trachtete, lag mit geschlossenen Augen im Thronsessel Carnens. Der Sessel war mit Pelzen und Mänteln gepolstert, deren goldene Stickerei im Kerzenlicht schimmerte und funkelte. Trotz des Gefühls, jemand sauge die Kraft aus seinen Gliedern, war Feithearn zufrieden. »Ein Hauch des Schreckens…«, flüsterte er im Selbstgespräch. Tatsächlich war ein Raunen und Stöhnen durch die Stadt gegangen, als der Gegenreiter unter den Mauern entlanggeritten war. Das brennende Haus hatte die Nyrngorer davon überzeugt, daß er der Herrscher war. Nur er konnte Hester vertreiben, der den Städtern neuen Mut gab. Daß er hierhergekommen war, um zu bleiben und zu herrschen, hatte er durch die Ausstattung des Thronsaals bewiesen. Ein hartes Klopfen an der breiten Doppeltür unterbrach seine triumphierenden Gedanken. »Wer stört mich?« rief er. »Kyras, der Anführer der Reiter.« »Herein mit dir!« Der Hauptmann trat ein. Ein wuchernder Bart bedeckte sein erschöpftes Gesicht. Seine nasse Kleidung dampfte, Wasser tropfte aus den Fellen, das Eis auf Schultern und Rücken schmolz. Erschöpft sagte Kyras: »Wir sind zurück. Keinerlei Ausfälle, Feithearn. Wir haben jeden Fußbreit im Tal untersucht.« 140
»Und… was fandet ihr?« Sein Unbehagen, was das verwunschene Tal betraf, war groß. Es war ein Stützpunkt der Weißen Magie, und es war ihm nur unter Aufbietung aller Widerstandskraft möglich, dort zu verweilen. »Nichts. Die Tierhorden sind spurlos verschwunden, in den uralten Räumen der niedergebrochenen Kuppel befindet sich nichts anderes als Abfall. In einem Gewölbe fanden wir die Kokons, in denen der Falke, der Wolf und das Einhorn eine lange Zeit geruht haben müssen. Wir haben unsere toten Kameraden begraben; sie waren von Ameisen halb aufgefressen. Sonst sahen wir kein größeres lebendes Wesen, und auch die Kobolde in den Bäumen bewarfen uns nicht. Wir sind jetzt zurückgekommen und sofort in die Quartiere gegangen. Vielleicht beobachtete ein Fremder unser Vorgehen; wir konnten ihn nicht finden.« Feithearn deutete auf den Tisch. Kyras goß einen Becher halb voll Wein und trank in langen Zügen. »Ihr sollt Patrouillen bilden. Trotz allem haben wir die Rebellen noch nicht gefunden. Immer wieder werden wir im Schutz der Dunkelheit angegriffen. Seid wachsam. Und, noch etwas…« »Herr?« fragte der Caer lauernd. »Sorge dafür, daß Männer von Nyrngor die Stadt verlassen. Morgen nacht sollen sie Bäume fällen und Holz für den Palast sägen. Sie müssen um Mitternacht in der Nähe des kleinen Waldes sein. Hast du verstanden?« »Ja, Herr. Ich hörte vom Gegenreiter.« »Damit hängt es zusammen. Ihr werdet es erleben. Du kannst gehen.« Der Caer verbeugte sich knapp und verließ mit müden Schritten den Raum. * 141
Unter Torasc bewegte sich der schwarze Hengst. Die breiten Muskeln spielten, das Fell schimmerte wie poliertes Leder. Eine Aura animalischer Kraft ging von dem Pferd aus. Der lange Schweif peitschte die Luft und wirbelte Schneekristalle auf. Jeder Galoppsprung brachte Roß und Reiter dem Norden von Nyrngor näher. Die Anzahl der Fackeln und Feuerschalen auf den Mauerzinnen war in dieser Nacht besonders groß. Jedes lebende Wesen innerhalb der Mauern wartete. Jedermann wußte, daß ein Ereignis stattfinden würde, daß es sich zwischen den zwei Einhornreitern abspielte, aber wie es ausgehen würde, vermochte sich niemand vorzustellen. An diesem Abend hatte Torasc einen langen, mehrfach, geschliffenen Dolch im Gürtel, den ihm ein Bote von Feithearn ausgehändigt hatte; ein Dolch mit der Kraft Schwarzer Magie. Torasc ließ das Pferd in einem langsamen, kräfteschonenden Galopp dahinrennen. Sein Blick bohrte sich in das Dunkel, von dem sich die schneebedeckte Fläche abhob. Von Hester war nichts zu sehen und zu hören. Zwischen dem Tor und dem Wald bewegten sich Menschen. Axthiebe ertönten, Torasc hörte das Knirschen der Sägen. Caer standen mit lodernden Fackeln Wache neben den Arbeitern, die schon den gesamten Tag lang Holz für Schloß Fordmores neuen Besitzer geschlagen und geschleppt hatten. Der Gegenreiter sprengte, kochend vor körperlicher Begierde, auf die Leute zu. Die Caer wichen zur Seite. Verwirrt standen die Nyrngorer mit ihren Werkzeugen und Schlitten da. Holzstämme polterten dumpf zu Boden. Ungerührt ritt Torasc weiter und lenkte den Hengst auf eine Gruppe von schwitzenden Männern zu. Das Tier prallte in vollem Galopp gegen einen Mann, warf einen anderen um, die Nyrn142
gorer schrien und fluchten. Mit einem weiten Satz sprang Torasc über einen beladenen Schlitten, das Horn auf der Stirn des Hengstes zielte auf zwei Arbeiter, die versuchten, nach beiden Seiten auszuweichen. Einen von ihnen schmetterten die Hufe nieder, der andere fiel schwer über die Stammabschnitte. Ein Caer schwenkte seine Fackel, als der Unheimliche vorbeigaloppierte und wieder in der Dunkelheit verschwand. Flüche schallten hinter dem Gegenreiter her. Torasc lächelte nicht einmal. Er sah nicht, daß in der Finsternis über ihm der weiße Falke geräuschlos kreiste. Das Tier schwebte zwischen der Mauer und dem dahinrasenden Reiter, der immer wieder drohend die Speere gegen die Stadtmauer schüttelte. Aber er tat es nur dort, wo er nicht die Fackeln brennen sah, denn dort verbargen sich die Nyrngorer. Das Nordtor passierte Torasc im Galopp, er näherte sich dem nächsten Tor in den eisverkrusteten Mauern. Immer hielt er denselben Abstand von den Quadern ein; durch den Schnee hatten beide Reiter hier, wo es kaum andere Spuren gab, eine breite Bahn getreten. Weit vor ihm heulte der Bitterwolf, irgendwo im Osten der Stadt. Kraftvoll und ausdauernd, ohne die geringsten Müdigkeitserscheinungen, sprang der Hengst geradeaus. Der Falke verschwand, ohne daß es jemand sah, von seinem Platz. Mit einigen schnellen Flügelschlägen schraubte er sich in die Höhe und strich dann pfeilschnell über die Stadt hinweg, zu seinem Herrn. Schaurig hallte das Wolfsgeheul über die Dächer und Kamine. Ein winterkahler Baum kam näher und warf die Schneelast seiner Äste auf den Reiter und das Pferd. Torasc schüttelte sich nur und fühlte schwach die Stöße des harten Pferderückens. Vor dem nächsten Tor, das durch Bretterverschläge und umgestürzte Wagen blockiert war, zügelte er den Rappen. Er nahm einen Speer, wartete und zielte. Undeutlich erkann143
te er einen Brunnen, über dem sich die dicken Äste schwarzer Bäume reckten. Er holte aus und schleuderte den Speer, der durch die Luft pfiff und sich mit einem dumpfen Schlag tief in die borkige Rinde bohrte. Ein knisterndes Geräusch war zu hören, dann folgte ein tiefes Summen, das die Mauern zu erschüttern schien. Torasc stieß ein höhnisches Gelächter aus und riß das Tier herum. Er ritt weiter, hinter Hester her. Er wußte, daß sich in den nächsten Stunden der Baum schütteln und bewegen würde. Mitten in der Nacht noch würde der Baum zu trügerischem Leben erwachen und am Morgen, beim ersten Licht, hatte er grüne Blätter. Auch dies war ein magisches Zeichen für die Kräfte des zweiten Reiters. Heilloser Schrecken würde die Stadtbewohner packen. Das fahle Summen und das Knistern wurden leiser, der Reiter entfernte sich vom Brunnentor und ritt schneller. Er hetzte hinter dem Königssohn her. Das Wolfsgeheul wies ihm den Weg; Hester mußte sich im Süden der Stadt befinden. »Ich werde es ihnen allen zeigen!« knurrte Torasc, während der starke Hengst mit wippendem Stirnhorn unter den Mauern dahinpreschte. Für Torasc bestand kein Zweifel mehr: Er war der eigentliche Reiter, der den Städtern zeigte, daß die Caer und Feithearn die Stadt in ihrem Griff hatten und niemals mehr loslassen würden, gleichgültig, ob Einhornreiter um die Mauern galoppierten, Rebellen aus dem Untergrund heraus kämpften oder Zaubertiere in den Nächten heulten. Etwa eine halbe Stunde später hörte der Gegenreiter vor sich Hufschlag, dazu das Knurren und Jaulen des Wolfes. Einmal schrie der Falke laut. Torasc packte die Speere fester, er wußte noch nicht, auf welche Weise er versuchen würde, Hester anzugreifen oder, wenn möglich, zu töten. Schließlich sah er Hester auf dem Einhorn. 144
Er ritt keine zweihundert Schritt vor ihm. Neben dem Einhorn lief der riesige grauweiß gesprenkelte Wolf. Auf den Mauern tauchten jetzt wieder die Fackeln der Caer-Posten auf und warfen zitternde Lichter auf den harschen Schnee. Torasc setzte die Sporen ein, der Hengst wurde schneller. Lange Fahnen weißen Dampfes fauchten aus den Nüstern des Pferdes. Ein Windstoß trieb einen weiten Schleier Schnee von dem wuchtigen Turm, an dem der Care soeben vorbeidonnerte. Er heftete seinen Blick auf Hester, der jetzt nur noch hundert Schritt vor ihm war und mit dem rechten Arm in die Richtung der Caer auf den Zinnen deutete. Sicher wußte auch er, daß Hunderte von Augenpaaren jede seiner Bewegungen beobachteten. Torasc verfolgte Hester. Der Königssohn wandte sich im Sattel um und blickte seinen Verfolger an. Noch immer war der Caer vollkommen empfindungslos; er spürte weder die Kälte noch den gefahrdrohenden Blick des Jungen, noch die Besonderheit, die in diesem Zusammentreffen lag. Immer wieder sprang der Wolf zur Seite, wandte sich um und starrte den Caer aus glühenden Augen an. Der Abstand verringerte sich. Torasc nahm einen anderen Speer in die rechte Hand und beugte sich vor, heftete seinen Blick auf den Rücken des Jungen, der sich vor ihm bewegte. Er war entschlossen, den Speer zu schleudern. Er war stärker und mächtiger als dieser Junge dort. Er wußte, daß er damit die Herrschaft der Caer auf unerschütterliche Weise festigen und garantieren würde. Er holte weit aus, kam dem Einhornreiter immer näher und zielte auf dessen Rücken, der hinter dem flatternden Mantel verborgen war. Dann griff der Falke an. Er ließ sich senkrecht aus dem leichten Nebel fallen, erschien plötzlich dicht hinter dem Kopf Torascs und schlug dem Caer seine Flügel ins Gesicht. Der Schnabel hackte nach den Augen 145
des Reiters. Der Caer wehrte sich sofort und riß den Arm mit dem Speer in die Höhe. Er schwenkte und wirbelte den kurzen Speer instinktiv über sich durch die Luft und schrie, um den Vogel zu verscheuchen. Ein Schnabelhieb traf seinen Kopf und riß eine lange Wunde von der Stirn bis zum Haarwirbel. Ein brennender Schmerz durchfuhr den Reiter, und augenblicklich lief das Blut in seine Augen. Der Vogel schrie und wich aus, wurde vom Schaft des Speers getroffen und warf sich in der Luft herum. Wieder schoß er von hinten auf Kopf und Schultern des Reiters herunter. Die Krallen und der Schnabel rissen lange Wunden in den Hals und den Nacken des Caer. Mit einem wütenden Schlag riß er den Vogel aus seinem Rücken. Das Tier schrie gellend, überschlug sich in der Luft und gewann mit einigen Flügelschlägen Höhe und Abstand. »Verdammtes Biest!« fluchte Torasc und duckte sich. Inzwischen war er bis auf zwanzig Schritt dem Einhornreiter nahe gekommen. Er versuchte, den Angriffen des Falken zu entgehen und gleichzeitig mit dem Speer sein Ziel zu finden. Der weiße Falke stieg über seinem Kopf in die Höhe und stieß seinen gellenden Kriegsruf aus. Der Caer schleuderte mit aller Kraft den Speer. Er fauchte durch die eiskalte Luft. Die Spitze funkelte einen Herzschlag lang im Fackellicht auf, dann sah es so aus, als würde sie direkt zwischen den Schulterblättern steckenbleiben. Aber im letzten Moment machte das Einhorn einen Satz nach links. Der Speer fauchte an Hester vorbei und schnitt durch die wehende Mähne des Einhorns. Die Spitze fuhr zwischen den Vorderläufen des Einhorns und dem dahintrabenden Wolf in den Boden. Nur noch ein Speer lag in der linken Faust des Caer. Er warf ihn in die Höhe und griff mit der Rechten danach. Noch hatte er den Dolch, den Feithearn magisch beschworen 146
hatte, falls auch der letzte Wurf nicht traf. Ohne Wut oder Haß, nur mit dem Bewußtsein, daß er treffen würde, schleuderte er die Waffe nach dem Einhornreiter. Wieder schien das Einhorn zu ahnen, was der Gegner beabsichtigte. Das Tier warf sich herum, bäumte sich auf und schüttelte den Hals. Der Speer fegte auf der anderen Seite an Hester vorbei. Der Wolf sprang in die Höhe und rannte mit großen Sprüngen auf Torasc zu, fletschte grollend die Zähne und versuchte, in die Fesseln des Rappen zu beißen. Das Pferd schlug aus, Torasc beugte sich tief hinunter und stach mit dem Dolch nach dem Hals des Wolfes. Hester und sein Einhorn wichen nach links aus. Rechts ragte die Stadtmauer hoch. Der Einhornreiter verließ den ausgetretenen Pfad und galoppierte in die hohen Anhäufungen aus Schnee hinein. Der Falke stürzte sich auf den Caer und schlug ihm seine Krallen in die Schultern. Der Wolf bohrte seine weißen Zähne in das Bein des Hengstes. In einer riesigen Wolke von aufstäubendem Schnee verschwand Hester in der Dunkelheit. Der Rappe versetzte dem Wolf einen Schlag mit dem Hinterbein. Der Huf traf die Brust des grauen Raubtiers und schleuderte es zur Seite. Es landete zwischen Schnee und Mauerbrocken am Fuß des Turmes. Mit einem Schlag des Dolches vertrieb der Caer den Falken von seinem Nacken. Unbeirrt galoppierte der Rappe weiter. Der Wolf knurrte und heulte vor Schmerz, zog den Schwanz zwischen die Beine und rannte Hester und dem Einhorn nach. Der Falke wirbelte in der Luft herum und schwirrte dicht über dem Rücken des Wolfes in die Dunkelheit zurück. Der Hufschlag des Einhorns wurde leiser und war bald von der Dunkelheit verschluckt. Der Gegenreiter hatte Hester und seine Tiere vertrieben. Unbändige Freude erfüllte ihn, als er seine Runde um die Stadt 147
fortsetzte. Er schob den Dolch wieder in die Scheide und dachte daran, daß ihn Feithearn reich belohnen würde. Ohne jeden Zwischenfall beendete er seine nächtliche Runde um Nyrngor. Schon in der Nacht begannen die Gerüchte und das Flüstern. Nicht nur die Bürger der besetzten Stadt fürchteten sich. Auch viele Soldaten der Caer, die noch wenig Erfahrungen mit Drudins und Feithearns magischen Künsten hatten, dachten nur mit Schauder an das, was sie mit angesehen hatten. * Selbst in den dunklen Lumpen, dachte Dhorkan bei sich, und im Halbdunkel des Gewölbes läßt sich Elivaras Schönheit nicht übersehen. Er lehnte schweigend an einem Faß und blickte in Elivaras Augen. »Hester wird nicht mehr wiederkommen!« sagte die junge Königin traurig. Auch ihre Stimme paßte nicht zu der Verkleidung als alte Frau, in der sie die Stadt durchstreifte. »Ich habe einen Augenblick lang sein Gesicht gesehen, als er in die Dunkelheit floh.« »Du sollst dir keine Sorgen machen«, murmelte Dhorkan und schnallte den Schwertgürtel ab. »Auch der Reiter der Caer wird verschwinden.« Sie hatten die Vorfälle zum Teil selbst gesehen, zum anderen Teil von den Bewohnern erfahren. Die Schar der Rebellen war gewachsen, überall halfen ihnen die Bürger. »Aber früher oder später finden sie uns. Die dreihundert Mann sind wieder zurückgekommen!« wandte Elivara ein. »Die Gewölbe unter der Taverne sind nicht mehr sicher.« Dhorkan nickte beipflichtend, aber er antwortete: »Denke an die Kavernen unter der Stadt, aus denen Mythor mit seinen Freunden aufgetaucht ist.« »Wir werden uns dorthin zurückziehen müssen«, sagte Eli148
vara müde. »Ich kann nicht mehr daran glauben, daß wir die Caer vertreiben.« »Warte auf den Frühling, Königin!« »Er wird nichts ändern. Nur wärmer wird es werden«, sagte sie. »Und die Schiffe aus Caer können schneller segeln.« »Was sollten wir sonst tun? Wir gehören hierher!« sagte Dhorkan. »Wenn wir die Stadt verlassen, zerfällt alles. Du bist und bleibst die Königin von Nyrngor.« »Eine Königin ohne Thron, die über Ruinen und Hungernde herrscht.« »Immer noch besser als auf der Flucht durch die Wildländer oder in der Gefangenschaft Feithearns.« »Ein schwacher Trost, Dhorkan!« seufzte sie. »Der einzige, Königin«, schloß Dhorkan. Er zog die Decke an sein Kinn und streckte sich aus. Sie schliefen bald ein, aber am Morgen würde nichts besser sein, und auch die Zukunft sah düster und traurig aus. * Fieberhafte Betriebsamkeit weckte Mythor. Er setzte sich auf und blinzelte hinunter in das Zwielicht der großen Höhle. Wildländer liefen durcheinander. Sie trugen Teile von Gerüsten und Seile, schwere Hämmer und Meißel in allerlei Längen, dazu Holzkeile und dampfende Wasserschläuche. Es roch nach Ruß und dem Rauch frischer Feuer. Zwischen den kapuzenverkleideten Helfern humpelte der verwachsene Bildhauer hin und her und rief mit dröhnend tiefer Stimme seine kurzen Befehle. Mythor gähnte, betrachtete schweigend den Helm der Gerechten und fragte sich, an welchen Ort ihn die seltsamen Gedankenstöße des Helmes wirklich geführt hatten. Der junge Mann stand auf, wusch sich flüchtig und aß etwas von den 149
Nahrungsmitteln, die ihm während des Schlafes Urzuguhr oder ein Wildländer gebracht haben mochte. Dann knurrte er, halb belustigt, halb im Zweifel: »Der neue Gehilfe des Bildhauers tritt zur Arbeit an.« Er wußte noch nicht, was er von alledem zu halten hatte. Die Wildländer rannten zum Höhleneingang hinaus und verteilten sich auf den Leitern und Gerüsten. Bald darauf erklang von allen Seiten das Klirren der Meißel und Hämmer und das Poltern der losgeschlagenen Steinsplitter und Brocken. Mythor ging langsam hinaus und so weit von der Bergflanke weg, daß er die Gesichter und die Arbeiter genau studieren konnte. Die Köpfe, die meist zu etwa zwei Dritteln aus der Wand herausragten, schienen alle in die Richtung des verwunschenen Tales zu blicken. An anderen Stellen, abseits des Höhleneingangs, starrten sie in die entsprechende Himmelsrichtung. Wenn ihn nicht alles täuschte, was er über den Obersten Dämonenpriester Drudin wußte, sahen die Gesichter ihm ähnlich… oder sollten ihn wenigstens darstellen. »Jetzt verstehe ich manches!« flüsterte Mythor. Eine abgrundtiefe Enttäuschung überfiel ihn. Seinen Hoffnungen war ein schwerer Schlag versetzt worden. Dort oben turnte Urzuguhr über die Gerüste. Er trug stets Hammer und Meißel bei sich. An jeder Stelle, an der gearbeitet wurde, griff er korrigierend ein. Seine Baßstimme hallte von der Felswand wider. Ein ständiger Regen von kleineren und größeren Steinabfällen rieselte, zusammen mit Eisstücken und Schneeresten, über die Felswand herunter. An anderen Stellen, dort, wo die Gesichter noch roh und unfertig hervorragten, schlugen die Wildländer Keile in schmale Felsspalten und übergossen das Holz mit heißem Wasser. Jahre oder Jahrzehnte Arbeit schauten hier aus dem Berg der Gesichter! »Nein!« sagte sich Mythor. »Das sind nicht die Gesichter, die 150
den Lichtboten darstellen sollen. Sie stellen den Erzbösen dar, niemanden sonst!« Dies war sein Eindruck. Natürlich konnte er nicht sicher sein. Jedenfalls befand sich ein Stützpunkt des Bösen in der Nähe einer Insel, die dem Lichtboten gehört hatte. Während die Kuppelruine schwerlich mit ihrem Einfluß den Berg der Gesichter erreichte, strahlten die Felsgesichter ihre Aura des Bösen, der Schwarzen Magie, auf das Verwunschene Tal aus. Gerade als Urzuguhr auf Mythor aufmerksam wurde and das Gerüst herunterkletterte, fiel Mythor noch etwas ein: Wegen des Einflusses der Gesichter auf das Gewölbe mit den drei Kokons konnte es einem Menschen im Mittelpunkt der Spannungen zwischen Gut und Böse gelingen, die Tiere aus ihrem langen Schlaf zu befreien: Hester! »Alles ist Teil eines Planes«, murmelte der junge Krieger. Er begriff einen Teil der Strategie Drudins: Zuerst mußte also Nyrngor erobert werden. Damit hatten die Caer und ihre Zauberpriester einen Stützpunkt in Dandamar, in der Grenze zu den Wildländern. Von Nyrngor aus konnten sie vordringen und das verwunschene Tal in Besitz nehmen, den Stützpunkt des Lichtboten. Durch einen unglaublichen Zufall war ihnen Hester zuvorgekommen, aber er war auch Mythor zuvorgekommen. Die Übergabe des Bitterwolfs, des Schneefalken und des Einhorns an ihn war von Hester verhindert worden. Hester aber hatte sicherlich keinen eigenen Plan gehabt, den er weiter verfolgt hatte; nur seine Gabe, mit Tieren umzugehen, hatte ihn in die Ruine getrieben. Drudin hatte es geplant, und Feithearn mußte es genau gewußt haben! Deshalb die Verfolgung Hesters und seiner Tierarmee, deshalb der Kampf am Rand des Tales, den Feithearn verloren hatte. Der Dämonenpriester mußte vor Zorn kochend in Schloß Fordmore sitzen und über das Versagen seiner Mission 151
nachgrübeln. Hätte Feithearn die drei Tiere befreit, würden sie ihm gehorchen, und jeder Versuch Mythors, seiner gestellten Aufgabe gerecht zu werden, hätte schon hier geendet. Aber auch so bestand nur eine geringe Möglichkeit, die Tiere wiederzugewinnen. Vielleicht würde er mit Hester zusammentreffen. Die Pläne der Dunklen waren wirklich weit gediehen, überlegte Mythor. Wenn er sich vorstellte, welche Zwischenfälle oder Lösungen bei den anderen Stützpunkten auf ihn warten mochten, wurde er schlagartig mutlos. Er schüttelte den Kopf und verdrängte seine Gedanken, denn Urzuguhr stand vor ihm. »Du suchst nach Arbeit?« fragte er glattzüngig. Seine Augen zwinkerten unstet. Von ihm ging eine nervöse Spannung aus. »Ich sehe euch erst einmal bei der Arbeit zu«, bestätigte Mythor und war verwundert, als Urzuguhr um ihn herumhumpelte und eine Art Tanz aufzuführen begann. Er schien etwas irre zu sein. Seine langen Arme bewegten sich, als gehörten sie nicht zu dem unproportionierten Körper. »Alles von mir«, grollte der Alte und fuhr sich durch den Bart. »Alles für den Lichtboten. Aber noch lange nicht fertig, hihi.« »Auf mich wirken die Gesichter mehr, als stellten sie Drudin dar!« sagte Mythor, entschlossen, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. »Du kannst die Schönheit noch nicht erkennen?« »Es ist mir nicht möglich, die übernatürliche Schönheit zu erkennen, die den Lichtboten auszeichnen soll«, verbesserte Mythor vorsichtig. »Aber andererseits bin ich kein Handwerker. Du mußt mir zeigen, wie ich den Fels bearbeiten soll!« »Zeige ich dir alles!« kam die Antwort, während Urzuguhr Mythor von allen Seiten betrachtete, als sei er ein seltsames 152
Tier. »Das Schwert. Seltsam ist es. Anders als alle Schwerter, die ich je sah.« »Und trotzdem ist es ein gutes Schwert, das mich viele Kämpfe gewinnen ließ«, sagte Mythor und sah mit Unbehagen zu, wie Urzuguhrs knotige Finger über das durchsichtige Material der langen Schneide fuhren. Aber während er das seltsame Benehmen des silberhaarigen Mannes erlebte, sah er weiterhin ein, daß Hesters zufälliger Fund ihm dennoch indirekt geholfen hatte. Daß ein Mensch wie Hester die drei Tiere übernehmen konnte, zeigte Mythor, daß Drudins Pläne schon weit fortgeschritten waren. »Wann wirst du arbeiten?« »Gleich, wenn du es mir zeigst«, antwortete Mythor. »An welcher Stelle?« Der Alte kicherte und schlug sich selbst auf den unförmigen Buckel. »Dort oben. Wo sie die Keile hineintreiben.« »Gut. Einverstanden.« »Kannst mitkommen.« Mythor ahnte, daß die vielen Jahre zwischen den Wildländern und die eintönige Arbeit an den Bergflanken den Bildhauer Urzuguhr hatten schwachsinnig werden lassen. Oder aber er war schon vor dem Anfang der Arbeiten nicht mehr Herr seines Verstandes gewesen. Er stapfte vor Mythor auf das Ende der langen Leiter zu. Mehrere Leitern führten im Zickzack von Galerie zu Galerie. Hier würde sich Feithearn vermutlich sehr wohl fühlen können. Im verwunschenen Tal schien er Schwierigkeiten im unmittelbaren Wirkungsbereich der Weißen Magie gehabt zu haben. Dann also war es auch Drudins Plan gewesen, nahe dem Stützpunkt der Weißen Magie einen Gegenpol zu schaffen. Der Berg der Gesichter war dieser Gegenpol! Mythor kletterte von Sprosse zu Sprosse hinter Urzuguhr her. Das Klirren, Klicken und Hämmern wurde lauter. Stein153
splitter surrten durch die Luft. Kleinere Brocken polterten vom Gerüst hinunter und landeten im Schutt. Die Wildländer sahen nicht auf, als ihr Herr und Meister immer höher stieg, der Fremde hinter ihm her. »Was soll ich tun?« fragte er, als sie fast am höchsten Punkt der Gerüste angelangt waren. »Du bist kräftig, wie?« Mythor begann in dem Wind, der den Hang heraufpfiff, zu frösteln. Zwei zusammengebundene Leitern führten hinauf in eine Kerbe am Rand des Hochplateaus. »Ich denke schon!« rief er zurück. Er drehte sich herum und betrachtete die Stirnen, die Ohren und die scharf vorspringenden Nasen der Gesichter. Es waren Köpfe, die Männer in jedem Alter zeigen sollten, darüber hinaus sollte der Ausdruck eines jeden Gesichts wohl demjenigen eines Caer-Priesters gleichen. »Dann hilf denen mit den Keilen. Der Lichtbote wird dich reich belohnen. Nicht so reich wie mich, aber…« Der Rest seiner Worte ging in einem undeutlichen Gemurmel unter. Er deutete auf die Gruppe der Arbeiter. Sie waren vom Eifer des Alten angesteckt worden, denn sie arbeiteten ganz ohne Zwang in beträchtlichem Tempo. Kaum jemals sprach einer mit dem anderen. »He! Ihr dort, am siebten Kopf. Setzt die Keile ein! Schlagt sie fest, ehe das Wasser wieder gefriert!« schrie Urzuguhr hinunter. Die Hämmer schlugen zu und trieben die langen Dreiecke aus Holz in die Spalten des Felsens. Ein großes Stück sollte fast senkrecht abgeschnitten werden – eine Arbeit, für die Hammer und Meißel mondelang zu tun haben würden. »Ich werde ihnen gleich helfen«, versprach Mythor. »Aber zuerst sehe ich mich um, wenn du es erlaubst.« »Nur zu, junger Freund.« 154
Noch herrschte das klare Licht des frühen Tages, und weit in der Ferne, über den Baumkronen und jenseits des Schnees, sah Mythor das Gebiet, durch das er in den letzten Tagen geirrt war. Er kletterte die Leiter hinauf und stand am Rand einer fast völlig ebenen Fläche. Auch sie war rund und kleiner als der Durchmesser des Berges an seinem Fuß. Nur ein paar Eisplatten und Schneereste waren auf der tischflachen Platte zu sehen. Heulend trieb der Wind Schnee über den Tafelberg. Mythor hob die Hand an die Augen und sah tatsächlich undeutlich und weit in der Ferne die Felsnadelgruppe, in deren Nähe Kalathee, Nottr und Steinmann Sadagar auf ihn warteten. »Ihr werdet nicht lange warten müssen«, murmelte er. »Ich glaube nicht, daß ich lange hierbleibe.« Was sollte er tun? War er nicht mit allen Waffen – wozu auch die drei Tiere zählten – ausgerüstet, konnte er nicht erfolgreich gegen die Mächte der Dunkelzone kämpfen. Er allein war gegen sie machtlos. Sie würden ihn zertreten wie ein Insekt unter dem Stiefelabsatz. »Ich komme!« rief er nach unten und machte sich an den Abstieg. Einen ganzen Tag lang half er den schweigsamen Wildländern. Sie schlugen nach Urzuguhrs Anweisungen vier große Stücke Fels aus der Wand. Undeutlich begannen sich die Umrisse eines neuen Kopfes abzuzeichnen. Einmal sah er, in luftiger Höhe am Gerüst hängend und den Hammer schwingend, wie eine Gruppe Jäger erlegtes Rotwild, an Stangen gebunden, in die Höhle hineinschleppte. Bei Einbruch der Dämmerung zogen sich die Arbeiter aus der Felswand zurück. Sie schleppten ihre Werkzeuge mit sich und verloren sich rasch in den vielen kleinen Nischen der Höhlen. Über einigen Feuern drehten sich die Bratenstücke. Im Feuer wurden die Spitzen der Meißel gehärtet. Mit pendelnden Armen hinkte Urzuguhr auf Mythor zu und 155
fragte einfältig: »Gefällt dir die Arbeit, Fremder?« »Nicht übel«, gab Mythor zu, nahm aber die Hand nicht vom Schwertgriff. »Ich habe dadurch Wärme, Essen und ein Nachtlager. Wie viele Dutzend Jahre wirst du noch Gesichter in den Felsen schlagen?« »Bis ich fertig bin, hihi«, lachte Urzuguhr. »Der Lichtbote will nur beste Arbeit. Es kann lange dauern.« Er war wohl wirklich verrückt. Wie ein Kobold sprang er mit seinem mißgestalteten Körper in den drei Höhlen umher und sprach kurz mit seinen Untertanen oder Mitarbeitern. Es herrschte jedoch nicht der geringste Zwang, denn etwa zweieinhalbhundert Wildländer würden Urzuguhr mühelos überwältigen können. Aber auch von Schwarzer Magie merkte Mythor hier nichts. Vielleicht war es die Idee, die alle zusammenhielt und gemeinsam arbeiten ließ. »Es wird lange dauern, verlaß dich darauf«, sagte Mythor und lachte kurz. »Woher hast du den Auftrag?« »Weiß nicht mehr. Vielleicht ein Traum«, wich der Bildhauer aus und hob die Schultern. »Lange her.« »Das glaube ich«, antwortete Mythor gelassen. »Die Arbeiten dauern schon eine Weile.« »Viele Jahre, Fremder!« Ein heiseres Flüstern kam zwischen den schiefen gelben Zähnen Urzuguhrs hervor. Trotz seiner offensichtlich verwirrten Gedanken und seines mehr als merkwürdigen Verhaltens war sein Gesicht schmal, ruhig und, sah Mythor vom ungepflegten Zustand und dem Schmutz ab, in gewisser Weise fast edel zu nennen. »Und warum helfen dir die Wildländer so bereitwillig?« Die Wildländer, wenigstens diese hier, verhielten sich für Mythor völlig unverständlich. Ihre Fellmäntel mit den Kapuzen schienen sie tagsüber und ebenso in der Nacht zu tragen, und überdies versteckten sie nicht nur ihre Gesichter jetzt und hier in den Höhlen, sondern auch sich selbst. Wenn sie sich im 156
Licht der Feuer bewegten, blieben sie schattenhafte Gestalten. Mythor versuchte einen Blick der grauen Augen seines Gegenübers zu erhaschen, aber Urzuguhr wich in jeder Hinsicht aus. »Sie helfen mir. Zuerst waren es wenige. Dann kamen immer mehr. Und jetzt siehst du selbst, daß es viele sind. Sie fragen nicht, sie arbeiten.« Kein Zweifel. Es gab nicht nur einen Verrückten in den Höhlen. Oder ging es wirklich um Magie? Jedenfalls konnte Mythor bei allem Verständnis keinen Grund für normale Menschen finden, die in der Wildnis als Jäger lebten und sich freiwillig an dem Versuch beteiligten, einen Berg in steinerne Gesichter zu verwandeln. »Gut. Sie arbeiten… Ich schlafe mich jetzt aus, und morgen arbeiten wir alle weiter an der Gesichtergalerie des Lichtboten.« »So halten wir es!« bekräftigte Urzuguhr und versetzte einem Wildländer, der einen Meißel mit dem Hammer bearbeitete, einen kräftigen Tritt. »Geh jetzt schlafen! Die Arbeit ist hart, morgen.« »Ich werde es überleben«, versicherte Mythor und zog sich auf seinen Platz zurück. Er lag da, hielt die Augen geschlossen und entspannte sich. Die Arme hatte er hinter dem Nacken verschränkt. Die Gedanken und Überlegungen schossen wild durch seinen Kopf. Als er in der Finsternis den Griff des Schwertes berührte und sich der Eigenschaften dieser Waffe erinnerte, zeichnete sich undeutlich seinerseits ein Plan ab. Er wußte, daß die Gesichter, die drohend starrenden Köpfe nicht nur eine Bedeutung, sondern eine genau berechnete Wirkung hatten. Er mußte diese Wirkung aufheben. Und er würde es schaffen. Schon allein deswegen, weil er versuchen mußte, den Einfluß des Bösen einzudämmen. Dies galt auch für den Berg 157
der Gesichter. Der nächste Morgen brachte keine Änderung. Wieder erhielt Mythor zu essen; diesmal gab es saftige Bratenstücke vom am Vortag erlegten Wild. Er fing an, sich nach einem warmen Bad zu sehnen. Aber er legte seine Kleidung an und verließ die Höhle. Er begann, sich die einzelnen Leitern und Gerüste zu merken, und versuchte, sich ein Gesamtbild der verschiedenen Hängegalerien und Rampen aus Holz, die mit Seilen zusammengebunden waren, zu machen. Etwa ein Viertel der Felsflanken war von den Gerüsten überzogen. Zuerst arbeitete er mit den Wildländern, die jene Grobarbeiten ausführten und mächtige Felsquader aus dem Hang schlugen. Gegen Mittag kam Urzuguhr und holte ihn zu einer anderen Arbeit. Sie kletterten quer über den Felsabsturz, kamen an fertigen und unfertigen Köpfen vorbei und blieben schließlich neben dem Ohr eines riesigen Kopfes mit Hakennase stehen. Mehrere Gerüste in verschiedener Höhe zogen sich um die Stirn, um Nase und Kinn und um den Hals. Ein Dutzend Wildländer arbeiteten mit kleinen Meißeln an dem fast fertigen Bildwerk. Ihre Werkzeuge erzeugten ein fortlaufendes Klingeln und Klirren auf dem Stein. Zwei Männer schlugen dort, wo sich in menschlichen Augen die Pupillen befanden, runde Löcher in die Augen. »Hier kannst du üben und lernen«, versprach Urzuguhr und kicherte wieder auf seine herausfordernde Weise. »Sie zeigen’s dir.« »Schon gut. Ich werde es versuchen«, antwortete Mythor. Auch heute trug er Alton auf dem Rücken, mit einem Stück Seil sicher verknotet. Der Helm der Gerechten lag auf seinem Lager. Er fürchtete nicht, daß die Wildländer ihn stehlen würden. Zuerst sah er eine Weile zu, wie die Männer die Hämmer und die Meißel handhabten. Unter den Spitzen der Werkzeuge 158
wurde aus dem hellgrauen, leicht geäderten Stein mit den harten Kanten und den zahlreichen Unregelmäßigkeiten eine runde und glatte Oberfläche. Die Stirn wölbte sich, der Haaransatz wurde fein herausgearbeitet; jedes Haar wuchs in leichten Wellen nach hinten, und an mehreren Stellen konnte Mythor deutlich sehen, wie sich der Bildhauer die Fertigstellung vorgestellt hatte. Oder wie Drudin es geplant hatte. Ungerührt arbeiteten die Kapuzenmänner weiter. Trotz ihres Fleißes würde es tatsächlich noch eine Ewigkeit dauern, bis selbst diese wenigen Köpfe fertig waren. Und noch etwas bemerkte Mythor: Je glatter und fertiger die Köpfe wurden, desto mehr verstärkte sich ein fremdartiger Eindruck. Irgendeine Art von Leben sprach aus dem Stein. Schließlich nahm Mythor einem Mann den Meißel aus den Fingern und versuchte es selbst. Winzige Steinsplitter schlugen in sein Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und hämmerte weiter. Voller Verblüffung merkte er, daß er keinen Fehler machte. Er grinste vor sich hin und murmelte: »Ich komme weit durchs Land und lerne viel, bei Erain!« Er beobachtete alles um sich herum sehr genau. Dabei entging ihm nicht, daß die Meißel auf der glatten Steinoberfläche während der letzten Verschönerungen ganz feine Linien erzeugten. Im körnigen Stein zeichneten sich, nur einen Hauch vertieft, dicht nebeneinanderlaufende Muster ab. Immer wenn Mythor versuchte, sie genau zu betrachten, verschwammen sie vor seinen Augen. Er blinzelte, blickte wieder hin, verlor sie abermals aus den Augen. Er lächelte grimmig, schwieg aber. Er ahnte, was diese Verzierung bedeutete. Schon aus einer Mannslänge Entfernung wurde sie gänzlich unsichtbar. Die Wildländer hämmerten sie in den Stein, ohne wirklich zu wissen, was dieser Zierat zu bedeuten hatte. Er arbeitete ruhig bis zur Dämmerung und wurde immer si159
cherer. Sein Plan, am Morgen noch unklar und gefährlich unsicher, hatte feste Umrisse angenommen. Nachdem er in die Höhle zurückgeklettert war, suchte er sein Pferd. Er fand es in der hintersten Ecke der dritten Höhle, gut untergebracht in einem trockenen Verschlag. Der Sattel und das Zaumzeug hingen über einem rohen Holzpfosten. Das Tier wieherte auf, als er es tätschelte und ansprach. Mythor blickte sich unauffällig um. Niemand schien ihn zu beobachten. Er legte dem Rappen den Zaum um, schob aber die Trense nicht ins Maul. Er kontrollierte die Satteltaschen, aber er wagte nicht, den Sattel aufzulegen. Doch er sah auch die Gurtschnallen durch und vergewisserte sich, daß er das Gatter leicht würde aufbrechen können. Er suchte das Feuer auf, an dem Urzuguhr seine Meißel spitzen ließ. Ein Krug Wein ging von Hand zu Hand. Mit einem riesigen Beil, dessen geschwungene Schneide rot im Feuerschein aufblitzte, spaltete Urzuguhr schneebedeckte Holzkloben. »Frierst du, Fremder?« fragte er, spuckte in die Hände und hieb ein Holzstück in zwei Teile. Er war sicher ein schlechter Läufer, aber in seinen Schultern wohnten die Kräfte von drei Männern. Ein listiges Funkeln kam aus seinen Augen. »Nicht mehr. Der Wein wärmt mich.« »Morgen werden wir mit einem Kopf fertig. Der Einfluß des Lichtboten wächst an der Grenze zu Dandamar!« »So ist es. Trotzdem hungert es mich«, sagte Mythor. Aus dem Halbdunkel tauchte kurze Zeit später ein Wildländer auf und drückte ihm ein paar heiße Brotfladen in die Hand, in denen Fleischbrocken eingewickelt waren. Mythor aß schweigend und sah zu, wie die Meißel geschärft wurden, wie das Feuer loderte, wie die kleinen und großen Hämmer ge160
braucht wurden, wie sich alle diese Leute auf nichts anderes vorbereiteten als auf die Arbeit des nächsten Tages. Sie schienen irgendwie besessen zu sein. Aber er vermochte nicht, eine bösartige Besessenheit zu erkennen. Nur einmal hatte er heute einen Hauch von Schwarzer Magie verspürt. Er ging zu seinem Lager zurück und wartete. Später band er den Helm an seinen Gürtel, zog den Fellmantel an und wartete weiter. Als der Widerschein der meisten Feuer nicht mehr an den Felswänden zuckte, verließ er so leise wie möglich die Höhlen und kam tatsächlich unangefochten ins Freie. Er verhielt einige Atemzüge lang. Niemand schien ihm zu folgen. Aber er war ziemlich sicher, daß man ihn aus der Tiefe der Höhle heraus beobachtete. Er unterschätzte die Wildländer längst nicht mehr. Er ging betont langsam nach rechts. Als er die erste Leiter erreichte, die auf die Gerüste hinaufführte, änderten sich seine Bewegungen. Er kletterte hinauf, so schnell er konnte. Dann zog er das Gläserne Schwert und zerschnitt die mehrfach geknüpften Verbindungsstricke. Mit schnellen Griffen zog er die Leiter hoch und warf sie auf eines der Gerüste. Er kletterte weiter hinauf und erreichte das erste, noch unfertige Bildnis. Tief holte er Luft und hielt das Schwert in der Rechten fest. Der Hochnebel war aufgerissen, Sterne funkelten, und der Halbmond ließ den Schnee aufleuchten. Es war hell genug, um die Sprossen der Leitern und die Geländer der Gerüste zu erkennen. Mythor hob das Schwert, das schwach glühte und aufzustöhnen schien, dann schlug er zu. Die Waffe sprengte mit dem ersten Schlag die halbe Nase weg. Der zweite Hieb riß das Ohr ab und hinterließ eine tiefe Kerbe im Fels. Die Trümmer kippten nach vorn, zerschmetterten einen Teil des Gerüsts und polterten, sich überschlagend, in die Tiefe. Sie schlugen auf dem schrägen Wall der Felsabfäl161
le auf, fielen zur Seite und blieben liegen, in mehrere Teile zerbrochen. Als das Klirren des unzerstörbaren Schwertes verklungen war, kam aus dem Stein ein knirschendes Ächzen. Mythor zuckte zusammen, aber das Geräusch wiederholte sich. Das Innere des ausgehöhlten, bearbeiteten Felsens gab einen Laut von sich, der wie das Knurren eines verwundeten Tieres klang, wie ein Stöhnen aus einer tiefen Spalte, ein gräßlicher Laut, der von verborgenem Leben zeugte. »Schwarze Magie! Drudins Geist im Felsen!« knurrte Mythor, rannte auf dem Gerüst weiter und rammte das Schwert mit einem wuchtigen Schlag in die Augenhöhle des Kopfes. Ein dreieckiger Splitter, länger als eine Elle, brach krachend aus dem Fels und zersprengte die Nasenwurzel. Das linke Ohr der Fratze brach in vier Teile ab, als das Schwert mit dem Geräusch eines riesigen Hammers auf den fein bearbeiteten Stein schlug. Wieder ächzte und stöhnte der Fels auf. »Es sind die Linien und Wirbel der Beschwörung!« murmelte Mythor und hieb mit Alton nach den spöttisch verzogenen Lippen. Wieder brachen Felsstücke heraus, und wieder stöhnte der Fels auf. Die Abbilder des Bösen schienen zu leben. Die Geräusche, die aus dem Inneren der Gesichter ertönten, waren schauerlich und langgezogen. Mythor schüttelte sich und sprang weiter. Als er sich umdrehte, starrte er direkt in die schwarzen Öffnungen der Augen. Er führte den nächsten Schlag gegen das Gesicht, das ihn förmlich anzuspringen schien. Erneut brach eine Nase ab und riß einen Teil der Wange mit sich. Ein weiteres Stöhnen und Ächzen tief aus dem Gestein war die Antwort auf diesen zerstörenden Schlag. Die Höhlen der Augen schienen ihn verschlingen zu wollen. Auch die Münder der anderen Gesichter schienen sich zu bewegen. Mythor sagte sich, daß es die Schatten und das Mond162
licht seien, die diesen Eindruck hervorriefen. Er zielte auf jeden Vorsprung, den er sah. In einem rasenden Wirbel von Schlägen zertrümmerte er den zweiten und dritten Kopf, Nasen und Ohren, hämmerte die felsigen Brauen in Trümmer und schnitt tiefe Rillen in Stirnen und Wangen. Bei jedem Schlag erbebte der Fels. Tiefe Seufzer stiegen aus den haarfeinen Spalten der Felswand auf. Das gräßliche Ächzen kam aus der Wand und fuhr wie das Winseln des Windes in das Land hinaus. Das Stöhnen der Steine ließ Mythor schaudern. Der Griff des Schwertes schmiegte sich in seine Faust. Immer wieder schlug er zu, und hinter sich zerschmetterte er die Gerüste und Leitern. Die Trümmer hingen halb zwischen den Köpfen, halb vermischten sie sich mit den Brocken, die unablässig aus der Felsflanke polterten, während die Gesichter klagten und sich zu bewegen schienen. Mythor kletterte zwischen zwei Köpfen hinauf, warf eine Leiter hinter sich um und fuhr fort, die Gesichter zu zerstören. Der Lärm nahm eine eindringliche Lautstärke an. Das Schwert klirrte und klang auf wie eine Glocke. Das Krachen und Knirschen der Felsenstücke, das Splittern der Gerüste und das Poltern, mit dem die verschieden großen Brocken über den fast senkrechten Hang nach unten fielen, auf andere Gesichter prallten und auch dort Schäden hervorriefen, unterstrich das Wimmern und Stöhnen, das die Luft erfüllte. Mythor klammerte sich an ein Felsband, in Wirklichkeit eine Unterlippe, zog sich hoch und schwang sich auf eine hölzerne Kanzel. Wieder zischte Alton wehklagend nach rechts und zerbrach eine hakenförmige Nase senkrecht in zwei Teile. Nach einem weiteren Wirbel von Schlägen, der mehrere Gesichter bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte und einen Hagel großer, scharfkantiger Bruchstücke nach unten schickte, hielt Mythor schwer atmend und schweißüberströmt inne. 163
Er warf einen schweigenden Blick nach unten. Eine einzelne Gestalt rannte wie von Furien gehetzt aus dem Höhleneingang. Sie trug eine auflodernde Fackel. Nach einigen Herzschlägen erkannte Mythor den Bildhauer. Urzuguhr sah gerade noch, wie ein paar große Trümmer in dem Inferno aus Krachen und Stöhnen herunterpolterten. »Nein!« schrie Urzuguhr auf. Mythor schwang sich herum, holte aus und trennte mit einem Schlag, dessen Wucht seinen Körper erschütterte, ein kantiges Ohr ab. »Aufhören!« donnerte Urzuguhrs Stimme. Eine Horde Wildländer brach aus dem Höhleneingang hervor und versammelte sich hinter Urzuguhr. Fast alle Kapuzenmänner trugen Waffen. Mythor lachte rauh auf und holte wieder aus. Abermals brach eine Nase ab und hinterließ ein kantiges Loch in einem Gesicht. Ein Teil des Gerüsts stürzte polternd zusammen. »Die Gesichter sterben! Du bringst sie alle um, Fremder… Bist du wahnsinnig geworden?« brüllte der Bildhauer zu Mythor herauf. Mythor schrie zurück: »Ich vernichte die Dämonenfratzen. Sie sind das Werk des Bösen. Ich bin der wahre Helfer des Lichtboten!« »Du vernichtest das Werk meines Lebens. Haltet ihn auf!« brüllte Urzuguhr voller Furcht. »Das Werk deines Lebens«, gab Mythor zurück, »ist das Werk des Bösen. Es hat nichts mit dem Lichtboten zu tun.« In der anderen Hand hielt Urzuguhr sein schweres Beil. Er lief, die Kapuzenleute hinter sich, auf den Trümmerhaufen an der Felsflanke zu. Mehrmals rutschte er auf dem festgetretenen Schnee aus, einmal fiel er schwer in eine Schneewehe. Die Wildländer halfen ihm auf die Beine. Dort, wo die Leiter gewesen war, blieben sie alle stehen. Wieder kam von oben das 164
Klirren, abermals sauste ein Stück eines Gesichts abwärts und blieb, in Trümmer zerfallend, vor Urzuguhrs Füßen liegen. »Alle diese Jahre habe ich umsonst gearbeitet!« schrie Urzuguhr. »Mein Lebenswerk ist zerstört.« Mythor wartete darauf, daß Urzuguhr Drudins Namen oder den Begriff der Schwarzen Magie erwähnte. Einen Augenblick lang tat ihm der verkrüppelte, bucklige Bildhauer wirklich leid, denn auch er war ein Opfer der Caer-Priester. Oder hatte ein noch Mächtigerer als Drudin ihm vor einer Handvoll Jahren den Auftrag gegeben, dämonische Gesichter aus den Felsen zu meißeln? »Noch nicht ganz. Ich werde dem Bösen aus der Schattenzone Einhalt gebieten«, antwortete Mythor und schlug ein Kinn mit gezielten Hieben in Stücke. Er war selbst verwundert über die Fähigkeit des Schwertes, dessen Schneide nicht die winzigste Scharte zeigen würde, sollte er bei Tageslicht noch Gelegenheit haben, dies nachzuprüfen. Als die Bruchstücke abwärts krachten, hob Urzuguhr seine Axt. Er stürzte vor und legte den rechten Arm auf ein Stück der zerbrochenen Bildwerke. Die Axt fuhr herunter, ein knirschender Schlag ertönte und ein Aufschrei des Entsetzens ging durch die Gruppe der Wildländer. Urzuguhr hatte sich die rechte Hand am Handgelenk abgetrennt! Er preßte den blutenden Stumpf gegen seine Brust, stöhnte und ächzte lauter als die steinernen Gesichter und warf die Axt zur Seite. Dann rannte er nach rechts, packte die Sprosse der nächsten Leiter und kletterte wie ein Rasender aufwärts. Er rannte auf das erste Gerüst, schwang sich auf die nächste Leiter und kam immer höher, bis er schließlich auf dem größten und obersten Kopf stand. »Ergreift diesen Frevler!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Tötet ihn und werft ihn vom Rand des Berges!« 165
Mythor sah dem Buckligen zu, von Entsetzen und Schauder gepackt. Sein grausilberner Bart flatterte im Wind, als er die letzte Leiter faßte und sich, durch den Blutverlust geschwächt und in den Bewegungen behindert, von Sprosse zu Sprosse höherzog. Auch alle Wildländer starrten hinauf zur Kante zwischen Hang und Fläche des Tafelberges. Urzuguhr erreichte sie, stand langsam auf und hob seine Arme beschwörend in die Höhe. Ein letztes Mal ertönte seine hallende, tiefe Stimme: »Ergreift den Frevler und tötet ihn! Rächt die sterbenden Gesichter! Beendet mein Werk, nachdem ihr den Fremden der gerechten Strafe zuge…« Er ließ sich nach vorn kippen, von Schwäche und Todessehnsucht übermannt. Sein Körper fiel ganz langsam, überschlug sich und prallte schwer gegen Kopf und Stirn eines Gesichts. Der zweite Aufprall erfolgte auf einem halb zerhackten Schädel, dessen messerscharfe Kanten die Haut zerschnitten und die Knochen brachen. Mehrmals drehte sich der Körper und schlug in das Gemisch aus Schnee und Gesteinstrümmern. Zwei Herzschläge lang herrschte atemlose Stille. Dann schrien die Wildländer vor Wut auf. Sie stürmten den Hang und kamen auf vier Leitern auf die Gerüste der untersten Arbeitsebene zu. Mythor befand sich etwa in halber Höhe der Felsabstürze. Noch immer, aber in längeren Abständen, stöhnte und wimmerte der Stein. Aber jetzt wurden diese Laute übertönt vom Scharren zahlreicher Füße und dem Klirren der Speere und Äxte. Mythor hetzte auf eine Gerüstplanke. Am Ende wirbelte er herum, sprang auf den nächsthöheren Absatz und zerschlug mit kräftigen Hieben die Holzkonstruktion. Die Pflanzenseile rissen, die Gerüste kippten und wurden für die Verfolger un166
brauchbar. Ein Wurfspeer flog an Mythor vorbei aufwärts, drehte sich am Scheitelpunkt seiner Bahn und kam auf ihn zu. Als der Krieger auswich und den Speer mit dem Schwert zur Seite schlug, klirrten die goldfarbenen Bänder des Helmes gegen den Fels. Mythor kletterte schräg aufwärts und verstümmelte, auf einem federnden Gerüst stehend, ein weiteres Götzenbild, das drohende Laute ausstieß. Eine Leiter krachte unter dem Gewicht der Wildländer zusammen. Schmerzensschreie ertönten vom Fuß des Hanges. Der Zwischenfall spornte die anderen Kapuzenträger zu doppeltem Eifer an. Sie verließen an den zerstörten Stellen die Gerüste und krallten sich in die alten und neuen Sprünge des Felsens. Zwischen den Gesichtern und über deren zerstörte Reste hinweg, jedes hängende Brett und jedes baumelnde Tau ergreifend, kletterten sie Mythor nach. Ein zweiter Speer schürfte eine Eisplatte aus dem Felsen und überschüttete den Krieger mit einem Hagel aus blitzenden, scharfkantigen Eissplittern. Hinter sich zertrümmerte Mythor planvoll die Gerüste und die Leitern, zerhackte Seile und brach die hölzernen Keile ab, mit denen die Gerüste in der senkrechten Wand verankert waren. Aber auf breiter Front kamen die Wildländer unaufhaltsam näher. Inzwischen waren andere Gruppen aus den drei Höhlen hervorgekommen. Einige von ihnen hoben den Leichnam Urzuguhrs auf und trugen ihn in die Höhle zurück. Der Rest hatte sich mit Seilen und Strickleitern ausgerüstet und warf Wurfanker in die Felsen. Immer mehr Wildländer kletterten Mythor hinterher. Mehrere von ihnen hatten sich ihm bereits gefährlich genähert. Aber sie warfen keine Speere, weil sie beide Hände zum Festhalten und Klettern brauchten. Wieder brachen fünf Mannslängen Gerüst in die Tiefe. 167
Mythor verlor den Halt, rutschte über die runde Stirn eines Kopfes und riß sich die Haut an den erhabenen und vertieften magischen Linien auf. Er prallte mit den Schultern hart gegen den Fels, streckte die Arme aus und konnte den oberen Rand eines Ohres fassen. Das Schwert schlug gegen den Stein. Dann fanden seine Füße Halt in dem Loch des Gehörgangs. Er sprang hinunter auf das nächste Gerüst und zerschmetterte das Ohr. Er ließ sich über eine Nase hinuntergleiten und blickte nach seinen Verfolgern. Sie hatten den Befehl, ihn zu töten und von der Felskante zu stürzen. Zuerst nahm er, solange noch Zeit war, den Helm vom Gürtel, setzte ihn auf und band den Sturmriemen fest. Er rechnete nicht damit, daß der Helm der Gerechten ihm helfen konnte. Aber er schützte ihn sicherlich vor einigen Folgen des Kampfes. Und der Kampf war sicher, er fing an, wenn ihn die ersten Wildländer erreicht hatten. Trotzdem scheute er vor dem Kampf zurück. Die Wildländer waren keine Gegner für ihn. Noch sah er keinen Ausweg. Vielleicht fand er einen, wenn er sich auf der Fläche des Tafelbergs befand. Er zerstörte hinter sich ein anderes Stück des Gerüstes, lief weiter, kletterte abermals höher und zerschlug eine Leiter. Die Wildländer kletterten in einer breiten Front zwischen den Resten heran, klammerten sich an die Steine und kamen ihm immer näher. Ein Beil wirbelte durch die Luft und schlug über seinem Kopf gegen den Stein. Mythor hob das Schwert und ließ die Kinnpartie des Dämonenkopfs zersplittern, der über ihm hing und das oberste Gesicht vor der Felskante darstellte. Er schwang sich auf die Leiter und kletterte an der Wange des Kopfes vorbei nach oben. Ein schneidender Windstoß fuhr ihm ins Gesicht, als er hinaufsprang und sah, daß er allein hier oben stand. 168
Er warf das Schwert auf den eisigen Fels, packte die Leiter und stieß sie um. Sie kippte nach vorn und riß bei ihrem Sturz einige Gerüstreste und drei Wildländer von der Wand. Die Männer landeten in einem großen Schneehaufen, der aufstiebend unter ihnen auseinanderflog. Mythor lief, nachdem er das Schwert gepackt hatte, nach rechts. Er bewegte sich genau entlang der zerklüfteten Kante. Unaufhörlich traf Alton die Gerüste, die gesicherten Seile der Gerüste und hölzernen Leiteransätze. Er zerschlug mit kräftigen Hieben die Halterungen. Immer wieder bewiesen ein Knirschen und das darauffolgende Prasseln, daß weiter unten zwischen den Trümmern der Gesichter auch die Plattformen zu Bruch gingen. Schreie der Wut erschollen und wurden vom Wind zerstreut. Einmal warf er einen langen Blick in die Richtung des anderen Endes. Er konnte nichts erkennen außer Schnee und Eis und winzigen Erhebungen auf der glatten Fläche des Plateaus. Wieder hatte Nachtwind eingesetzt. Schnee trieb in kleinen Kristallen über die Fläche. Für die Wildländer, die zwischen Eingang und den Trümmern der Gesichter hin und her rannten, zeichnete sich der junge Fremde hoch über ihren Köpfen als drohende Gestalt ab, die sich schnell und zielsicher bewegte. Der große Fellmantel schien hinter ihm wie ein Schatten zu flattern, das schwach leuchtende Schwert beschrieb Kreise in der Luft, und drohend reckten sich die elfenbeinernen Hörner des Helmes in die Höhe. Ein Lichtblitz funkelte von dem Edelstein über der Stirn auf, ein drohendes blaues Leuchten. Jeder Schritt Mythors ließ Schnee und Eis, vom Wind mitgerissen, über den Hang prasseln. Wieder brach eine Konstruktion aus Holz, Ranken und Seilen in die Tiefe. Mythor blieb keuchend stehen, ging so nahe an den Absturz heran wie möglich und spähte hinunter. »Bei Erain!« murmel169
te er entschlossen. »Das wird wohl hart werden.« Einige Augenblicke lang spielte er mit dem Gedanken, quer über das Plateau zu rennen und sich an der gegenüberliegenden Seite hinuntergleiten zu lassen, um von dort aus zu fliehen. Aber er ließ den Gedanken fallen; die Wildländer würden ihn fassen, noch ehe er wieder den Höhleneingang und damit das Pferd erreicht hatte. Etwa ein Drittel des Umfangs des Bergs der Gesichter war voller Gerüste, Leitern und Köpfe gewesen. Entlang dieser Strecke kamen jetzt Wildländer über die Kante geklettert. Speerspitzen hoben sich über den kapuzenbedeckten Köpfen. Finger krallten sich in den eiskalten Stein und zogen die Körper hoch. Von zwei Seiten schleuderten die Mutigsten Beile nach Mythor. Einem davon wich er aus, indem er sich duckte, das andere schlug er mit einem Hieb Altons zur Seite. Langsam lief er auf den ersten Wildländer zu und rief: »Bleib zurück, Kamerad! Ich will dich nicht umbringen!« Als Antwort schleuderte ihm der Mann einen kantigen Felsbrocken entgegen. Er traf Mythor an der Schulter. Mythors Stiefel schnellte vor, das Schwert senkte sich, der Wildländer verlor den Halt und rutschte zwischen den Resten der Galerie aufschreiend abwärts. Vier Schritt weiter sprang ein Angreifer auf die Felsen. Er holte aus und schleuderte einen Speer nach Mythor. Der sprang zur Seite und duckte sich. Das Geschoß ging eine Handbreit an seinem Rücken vorbei und schlitterte über die Felsenfläche. Mythor sprang auf den Wildländer zu, schob den Saum des Mantels zurück und schlug den Angreifer mit der flachen Klinge zu Boden. »Aber ich kann… doch nicht jeden Wildländer… besinnungslos schlagen!« stöhnte er auf und wandte sich den nächsten Gegnern zu. 170
Sie kamen, ein halbes Dutzend, in langen Sätzen auf ihn zu. Die Schneiden von Speeren und Äxten funkelten im Mondlicht auf. Der Wind zerrte an ihren Kapuzen. Ein erster Streifen grauer Helligkeit bildete sich im Osten, hinter den treibenden Schleiern aus Schnee. Mythor stellte sich zum Kampf. Er hatte keinen Schild, nur sein Schwert. Die Waffe glühte und gab jenes traurige Stöhnen von sich, das ihn verwunderte und die Wildländer erschreckte. Aber noch mehr erschreckte sie die Wildheit, mit der er versuchte, ihren Angriff zurückzuschlagen. Während er gegen sie kämpfte, kamen an vielen Stellen andere Wildländer über die Kante und liefen auf die Stelle zu, an der Mythor sich gegen die sechs Angreifer wehrte. Er sprang hin und her, duckte sich, verwundete mit gezielten Schlägen und Stichen die Männer, schlug sie besinnungslos, wenn er es schaffte, hämmerte durch ihre Deckung hindurch und versuchte, ihre Waffen schon mit dem ersten Schlag unbrauchbar zu machen. Das Schwert Alton stöhnte nicht nur, die Klinge erzeugte bei den wütenden, weit ausgeholten Hieben ein hohles Pfeifen. Mythor zog sich Schritt für Schritt vom Abhang zurück. Mehrere Männer lagen bewegungslos auf dem Felsen. Wieder schrie einer auf und brach zusammen. Klirrend fielen Speere und Äxte auf den Stein. Ein Speer bohrte sich in einen Spalt und brach ab. Mythor wich einem Steinhagel aus und sprang direkt vor einen Wildländer. Ihn trafen die Steine, Mythor hatte ihn als Schild benutzt. Durch das Keuchen und Klirren und Prasseln ertönten zwei auffallend laute Geräusche. Ein Wolf heulte fast schmerzend laut. Ein Raubvogel stieß einen gellenden Jagdschrei aus. Mythor hob den Kopf. Ihm klangen die Laute sehr vertraut, aber er war sicher, daß er sich täuschte. Erstes Zwielicht lag auf dem Schnee. Der 171
Mond schob sich hinter eine schwarze, schneeschwere Wolke. Wieder traf die flache Klinge einen Wildländer seitlich am Kopf und schmetterte ihn zu Boden. Aber ebenso schnell hatte sich auch die Anzahl der Gegner vergrößert. Plötzlich blieben die Wildländer wie erstarrt stehen. Wieder schrien sie vor Schreck auf. Einige ließen die Waffen fallen. Andere wandten sich, seltsam taumelnd, zur Flucht. Ein tiefes, dunkles Grollen durchzog den Felsen. Zuerst erklang das Geräusch, dann begann der Tafelberg zu beben. Kein starkes Beben, sondern ein winziges Zittern. Es genügte, die Männer taumeln zu lassen und sie mit Furcht zu erfüllen. Die zertrümmerten Köpfe und Gesichter stöhnten und wimmerten auf. Magisches Leben erfüllte den großen, runden Berg. Die Eisplatten auf dem Plateau sprangen mit hellem Klirren in tausend Stücke. Aus dem geschwungenen Hang lösten sich an zahllosen Stellen große und kleine Steinsplitter. Sie trafen die kletternden Wildländer und schüttelten sie förmlich ab. Auch Mythor schwankte und taumelte. Über ihm flatterte plötzlich ein kleiner weißer Schatten. Der Schneefalke! Er zog seine Kreise, tauchte bis auf den Boden hinunter ; und umflog die flüchtenden Wildländer. Immer wieder stieß er seinen Jagdruf aus. Der Boden bebte, die Bildwerke ächzten und riefen bei jedem, der sie hörte, den Eindruck hervor, als versuchten sie, sich aus dem gewachsenen Fels loszureißen und ihre Umgebung anzugreifen. Sie stöhnten ihre Gefühle heraus, obwohl es undenkbar war, daß Stein ein menschliches Gefühl haben konnte. Für Mythor war es klar, daß Schwarze Magie sich hier austobte – hoffentlich zum letzten Mal. Grollend erstarb das Zittern des Felsens. Noch ein letztes, verzweifeltes Knirschen, dann war es ruhig. Aus der zerklüfteten Wand kam ein langgezogener Seufzer. Nur das Wolfsgeheul und das gellende Kreischen des weißen Falken blieben 172
übrig. Wildländer warfen sich zu Boden und blieben erschrocken und reglos liegen. Mythor ließ das erhobene Schwert sinken. Dumpfes Hufgetrappel erscholl aus der Richtung des Höhleneingangs. Jetzt wußte Mythor genau, daß Hester mit den drei Tieren hierhergekommen war. Mythor behielt, als er auf den Felsabsturz zuschritt, das Schwert schlagbereit in der Hand. Vor ihm, am Ende einer mehrfachen Reihe regungsloser Wildländer, ragte ein Stück einer Leiter über die Kante. »Was nun?« fragte er sich. Er sah, wie der Schneefalke sich schräg abwärts stürzte und den Reiter mit seinem Wolf umkreiste. Hester hielt das Einhorn vor dem Höhleneingang an. Das Horn des Tieres schimmerte ähnlich wie das Gläserne Schwert. Der Wolf stand vor den Vorderbeinen des Einhorns und knurrte und heulte. Eine Schar Wildländer stand in kleinen Gruppen vor dem Eingang. Sie waren vor Verwunderung oder vor Schreck erstarrt. Mythor schob Alton in den Gürtel und stieg langsam die Leiter hinunter, kletterte über die Reste der Gesichter und der Gerüste und sprang zwischen den Schnee und die Trümmer. Dann lief er auf Hester zu, doch als der Halbblinde den Kopf wandte, zwang er sich dazu, langsam zu gehen. Die Helligkeit erreichte den Fuß des Tafelbergs. »Ohne daß du es wußtest«, sagte er laut, »hast du mir das Leben gerettet, Königssohn.« Hester blickte ihn schweigend aus einem Auge an. Dann hob er den Kopf und musterte voller Staunen die halb zerstörten Gesichter und die Trümmer der Gerüste, daraufhin auch die Wildländer, die zum Teil aus der Wand kletterten, zum anderen aus dem Schnee und zwischen den Trümmern aufstanden. Der Falke landete auf den Schultern Hesters und schlug seine Krallen in den Mantel. Mythor blieb einige Schritte vor Hester stehen. Die Wildlän173
der starrten die Gruppe schweigend an. Mythor drehte sich um und sah verblüfft, daß von einigen Köpfen die Kapuzen heruntergerutscht waren. Die Köpfe darunter waren keineswegs ungewöhnlich, in keinem Sinn. Dann, wie auf ein geheimes Kommando, verschwanden die Wildländer. Auch diejenigen, die sich zwischen den Trümmern hervorwanden, humpelten und hinkten in die Höhle zurück. Schweigend blickten sich Mythor und Hester in die Augen. Das Einhorn stand unbeweglich unter dem Halbblinden. Hester zwinkerte. In seinem jungen Gesicht begann es zu arbeiten. Dann formten seine Lippen langsam und zögernd Worte. Er sprach ganz langsam und ziemlich undeutlich, aber Mythor verstand ihn. »Ich bin hier. Ein innerer Zwang trieb mich. Ein Einhornreiter hat in Nyr… Nyrngor gegen mich gekämpft. Das ist der Berg der Gesi… Gesichter.« »Das ist der Berg der dämonischen Gesichter«, bestätigte Mythor. »Urzuguhr, der Bildhauer, hat sie geschaffen. Sie sind Ausdruck der Schwarzen Magie der Dämonenpriester gewesen. Ich habe viel von ihnen zerstört.« »Sie sind zerstört. Ich werde sie… neu schaffen.« »Wie?« Sie wurden abgelenkt. Die Wildländer kamen aus dem Höhleneingang. Viele von ihnen trugen Fackeln, deren Flammen lediglich rituellen Zweck hatten, denn das Morgenlicht fiel hell und voll auf die Szene. Viele Wildländer schleppten auf einem Balkengestell einen großen Steinbrocken mit sich, den sie vor Hester absetzten. Die dunklen Augen wenigstens derjenigen, deren Kapuzen heruntergefallen waren, richteten sich in gläubigem Staunen auf das Einhorn, den Wolf, Hester und den Falken. »Was… ist… das?« fragte Hester schwerfällig. Ein Chor der Wildländer antwortete dumpf: »Der Donner174
stein, Herr.« Mythor hatte den Stein zwar schon mehrere Male in der Nähe von Urzuguhrs Feuerstelle gesehen. Aber niemals hatte er erkannt, daß der etwa drei Ellen große, eine Elle breite Stein ein kleines Meisterwerk der Bildhauerkunst war. Jeweils eine Reihe von halb hervorspringenden Gesichtern kennzeichnete die vier Kanten. Die Gesichter, ganz im Gegensatz zu denen im Felsenhang, waren keineswegs dämonisch oder böse. Sie lächelten und zeigten die Züge von jungen, schönen Männern. »Der Donnerstein?« fragte Mythor. Einer der Wildländer erwiderte in Gorgan: »Er kam, bevor wir waren. Urzuguhr fand ihn. Dann fing er an mit dort. Lange her, viele Sommer.« »Ich verstehe«, murmelte Mythor. Bevor Urzuguhr daranging, die Gesichter aus dem Felsen zu schlagen, hatte es diese Stele gegeben. Sie schien ein Zeichen des Lichtboten zu sein. Vielleicht war sie in den Gewölben der Kuppel im verwunschenen Tal versteckt gewesen, schon damals, vor vielen Jahren. Und während der Arbeit hatte sich die Bedeutung ebenso wie das Aussehen der Köpfe dramatisch verändert. »Der Einfluß der Magie hat alles anders werden lassen«, sagte Mythor halblaut, mehr zu sich selbst. Hester ließ sich vom Rücken des schwarzen Einhorns gleiten. Mythor hob die Schultern. Er war ratlos. Sein Ziel war gewesen, diese drei Tiere zu bekommen. Nun stand er unmittelbar vor ihnen. Hester klopfte auf den Hals des Einhorns und ging auf den Donnerstein zu. Er kauerte sich nieder und beachtete niemanden, als sei er allein hier. Der Wolf kam heran, starrte Mythor aus seinen großen Augen an und leckte, als Mythor instinktiv die Hand ausstreckte, Mythors Finger mit seiner langen, rauhen Zunge. Dann trottete er zum Einhorn zurück und kauerte sich daneben in den Schnee. Sollte Mythor Hester die Tiere wegzunehmen versuchen? 175
»Nein!« sagte er, scheinbar völlig ohne Grund. Er kämpfte schweigend und unsicher einen inneren Kampf. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, vorausgesetzt, die Tiere würden ihm auch so gehorchen wie dem Königssohn. Dann schüttelte der junge Krieger den Kopf und hob Alton an, um es wieder in den Gürtel zu schieben. »Soll Hester die Tiere behalten«, murmelte er und wandte sich ab. »Ich habe meinen Rappen. Ich helfe mir schon selbst weiter.« Mit leichter Traurigkeit dachte er daran, daß er in seinen Gedanken den Tieren bereits Rufnamen gegeben hatte. Neben Hester blieb er stehen und musterte die Stele, den Donnerstein. Ruhig sagte er, obwohl seine Stimme rauh wurde: »Deine Tiere warten. Bring sie in die Höhlen, zudem dich die Wildländer wohl als neuen Herrn sehen.« Hester drehte den Kopf hoch und lächelte. Sein gesundes Auge schloß sich dabei. Mythor sah verwundert, daß das Gläserne Schwert Alton urplötzlich aufzustrahlen begann. Der Griff in Mythors Faust summte zitternd. Das Schwert leuchtete fast so stark wie vor dem Verrat an Krudel. Mythor fühlte ein Brennen im Hals. Er blickte ungläubig das heller werdende Schwert an und schob es dann endlich in den Gürtel zurück. Das Leuchten blieb. Das Schwert hatte seine Gedanken belohnt. Sein freiwilliger Verzicht war anerkannt worden. »Vielleicht war es doch richtig von mir…«, flüsterte Mythor und setzte sich unweit des Donnersteins auf einen Holzklotz. Inzwischen hatten sich alle Wildländer, die sich bewegen konnten, im Kreis um die Tiere, Hester und die Stele aufgestellt. Der weiße Falke, dessen Gefieder sich strahlend vom Mantel des Einhornreiters abhob, saß ungerührt auf Hesters Schulter. Seine runden Augen hatten Mythor bisher nicht los176
gelassen. Hesters Fingerspitzen fuhren über die Linien und Kanten der vielen edlen Gesichter aus Stein. »Schön!« sagte er. Mythor versuchte, die Ereignisse der letzten Stunden zu verarbeiten und sie richtig zu beurteilen. Sicherlich ergab das alles irgendwann einen Sinn. Jetzt wußte er nur, daß Hester ihn gerettet hatte und daß der Einfluß des Bösen aus dem Schattenreich auf das verwunschene Tal vorbei war. Hester war von dem Donnerstein hingerissen. Woher hatte dieser wunderschöne Stein diesen Namen? Hester fragte undeutlich: »Wo bin ich?« Mythor erklärte es ihm, so gut er es wußte. Viel war es nicht. Hester schien gleichermaßen verwirrt und unsicher, und trotzdem ging von ihm ein starkes Selbstbewußtsein aus, das Mythor schon bei den wenigen und flüchtigen Zusammentreffen verblüfft hatte. Auch jetzt wußte er augenscheinlich genau, was er zu tun hatte. Er wiederholte unbeholfen genug Mythors letzte Worte und fuhr fort: »Die Wildländer… werden sie mir helfen?« »Ganz bestimmt. Sie sind seit vielen Jahren an nichts anderes gewöhnt. Verstehst du mich?« »Ja. Ich bleibe… hier.« Mythor schüttelte den Kopf. Er begriff nichts. »Du willst tatsächlich versuchen, die Bilder dort an der Felswand wieder neu zu schaffen? Das wird ein Dutzend Jahre oder länger dauern. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie du den Stein bearbeiten kannst? Urzuguhr war Bildhauer. Du bist keiner.« Hester lächelte in sich hinein. Das neue Selbstbewußtsein verwischte den Eindruck des Gesichts, der früher viele Menschen erschreckt oder zu Äußerungen des Miteids gebracht hatte. »Es ist… zu lernen. Ich kann… Bilder machen. Ich lerne«, sagte er. Mythor wußte, daß er rätselhafte Bilder malte oder im 177
Schloß Fordmore gemalt hatte. Er sagte anerkennend: »Bei Erain! Ich glaube es dir. Ich traue es dir zu.« Der Donnerstein bestand aus einer leuchtend weißen Gesteinsart. Als Hester endlich aufstand und auf den Höhleneingang zuschritt, sah Mythor erst die Schönheit dieses säulenartigen Meisterwerkes. Seine Herkunft lag im dunkeln, wie so vieles, was Mythor erlebt und gesehen hatte. Hester hob die Arme und machte eine grüßende Bewegung zu den Wildländern, die ihn noch immer hingerissen anstarrten. Sie waren entweder von seiner Erscheinung oder seinem Auftreten überwältigt oder von beidem. Offenbar brauchten sie einen Anführer oder Herrscher, der ihrem Leben einen Sinn gab. Diese etwa zweihundertfünfzig Menschen, ob auch Frauen unter ihnen waren, hatte Mythor bis heute nicht erkennen können, waren nur ein kleiner Stamm an der Grenze zu Dandamar. Hester hatte sich eine wahrhaft gigantische Arbeit vorgenommen. »Du willst tatsächlich hierbleiben?« fragte Mythor und ging neben ihm in die Höhlen hinein. »Ja. Ich will… so schöne Köpfe schaffen… wie den Don… Don… Donnerstein.« Der Falke kauerte auf Hesters Schulter; lautlos folgten der Bitterwolf und das Einhorn. Die Wildländer zogen ihre Kapuzen vor die Gesichter und bildeten ein Spalier. Als ob er genau wisse, wohin sein Weg zu führen hatte, ging Hester auf Urzuguhrs erloschenes Feuer, den Amboß und das Sortiment von Meißeln und Hämmern zu, die den Eingang der kleinen Nische umrahmten. »Hier… bleibe ich«, sagte Hester in endgültigem Tonfall. Mythor, stets wachsam und auf jede Überraschung gefaßt, verglich unausgesetzt jenen Hester, den Elivara ‘ voller schwesterlicher Zärtlichkeit gefüttert hatte, mit iem entschlos178
senen, völlig gewandelten jungen Mann von leute. Er war zweifellos reifer und härter geworden, und jede Art von Verkrampftheit hatte sich gelockert. Hester wandte sich an ihn. Sein Gesicht verzog sich in dem Bemühen, klare Worte zu formen. »Du bist Mythor. Du hast meine Schwester… geliebt!« stellte er stockend fest. »Ja.« »Du hast die Tiere… gesucht?« »Ja, das habe ich. Aus Gründen, die ich nicht kenne, warst du schneller.« Die nächste Bemerkung erschütterte Mythor. »Du kannst… sie haben. Alle drei.« Gleichzeitig streckte Hester den Arm aus. Der Falke sprang flügelschlagend auf seinen Unterarm. Dann streckte Hester dem jungen Krieger die Faust entgegen. »Nimm!« Der Schneefalke, Horus war der Name, der Mythor eingefallen war, schrie leise auf und flog auf Mythors Handgelenk. Aus seinen weißen Augen funkelte er Mythor an. Mythor schüttelte fassungslos den Kopf, dann stammelte er: »Ich… danke dir, Hester.« Es schien ein Zeichen gewesen zu sein. Der grau-weiß gesprenkelte Wolf, Hark würde Mythor ihn nennen, trottete heran und legte sich direkt neben Mythors rechten Stiefel. Der große Wolf, der angeblich bei Mythors Auffindung durch die Marn geheult haben sollte, lehnte seinen warmen Körper gegen Mythor. Staunend, aber in ehrfürchtigem Schweigen erlebten die Wildländer diesen Vorgang mit. Mythor war völlig verwirrt, als er hinter sich leisen Hufschlag hörte und dann das schwarze Einhorn neben sich auftauchen sah. »Pandor!« sagte er leise. »Das ist mehr, als ich erhoffen konnte, Hester.« 179
»Sie haben mir… ge… gedient. Ich brauche sie nicht mehr. Nimm sie«, entgegnete Hester und hob einen schweren, eisernen Meißel auf. Schweigend führte Mythor das Einhorn Pandor in die dritte Höhle neben sein Pferd. Der Falke flatterte auf seine Schulter, dann schwang er sich hoch und flog mit leisen, krächzenden Rufen eine Erkundungsrunde durch die Höhlen und Nischen, zwischen den Pfeilern und Bögen hindurch. Er schoß schließlich aus dem Eingang hinaus, blieb einige Augenblicke im Sichtbereich Mythors auf der Stelle rüttelnd, als wolle er ausdrücken, daß er wiederkommen werde. Dann strich er ab, vielleicht um ein Stück krankes Wild zu schlagen und zu kröpfen. Der Wolf blieb in der Wärme der Glut liegen und leckte seine Vorderpfoten trocken. Mythor ging völlig verwirrt zu seinem Lager zurück und spürte tief in seinem Inneren zum erstenmal ein Gefühl des Glücks. Aber es wurde überschattet von der Aussicht auf die Zukunft. Sie verbarg für ihn eine schier endlose Kette von Gefahren, ehe er sein Ziel erreichen mochte. Seine Selbstzweifel waren nicht geringer geworden, trotz des Besitzes der Tiere. * Noch nie hatte Mythor auf dem Rücken eines besseren Reittieres gesessen. Pandors Bewegungen waren kraftstrotzend und schnell. Das pechschwarze Einhorn war sicherlich kein Wundertier, aber es schien jede Absicht des Reiters Augenblicke früher zu ahnen. Winzige Schenkelhilfen reichten aus, leichte Zurufe dirigierten das Tier in jede Richtung. Pandor gehorchte Mythor, als sei er ein Teil seines Körpers. In einem halsbrecherischen Galopp preschte Mythor auf den Höhleneingang zu. Schon jetzt sah er deutlich, daß die Wild180
länder an den Felsflanken arbeiteten und die Gerüste und Leitern um einige der zerstörten Köpfe ausgebessert und neu befestigt hatten. Der oberste, größte Kopf war fertig eingerüstet. Hester kletterte dort herum und gab seine Anweisungen. Die Mähne Pandors schlug in Mythors Gesicht, als er sich vorbeugte. Pandor ließ sich nur ohne Zügel und Sattel reiten. Die Zügel vermißte Mythor keinen Augenblick lang, aber der fehlende Sattel machte ihm Sorgen. Wohin sollte er seine Ausrüstung packen? Der breite Rücken des Tieres sandte schmerzhafte Stöße durch seinen Rücken, die fehlenden Steigbügel machten seinen Sitz unsicher; in einem Kampf würden sie sich störend, wenn nicht gefährlich bemerkbar machen. »Auch auf diese Frage wird es irgendwann eine Antwort geben«, sagte er sich und sah, daß Hark, der Wolf, aus dem nahen Gebüsch hervorbrach. Das Raubtier schüttelte den Schnee aus dem Fell und kam zu Mythor und Pandor zurück. Der Schneefalke jagte irgendwo in der Nähe. Mythor schnalzte mit der Zunge, das Einhorn fiel aus dem Galopp in einen ruhigen Trab zurück. Der heiße Atem bildete weißen Dampf vor den Nüstern des Tieres. Es schien unermüdlich zu sein, denn selbst jetzt, nach einem langen Ritt rund um den Berg der Gesichter, zeigte Pandor keine Spuren der Ermüdung. Vier Tage waren vergangen, seit Hester im Morgengrauen aufgetaucht war. Mythor, der sein Glück noch immer nicht recht fassen konnte, lernte in dieser Zeit seine Tiere kennen. Soweit er es bis jetzt beurteilen konnte, waren Pandor, Hark und Horus schnell, ausdauernd und stark. Ihre Instinkte waren ebenso scharf wie ihre Sinne. Sie gehorchten Mythor aufs Wort, blieben aber selbständig und eigenwillig. Überdies wußte er, daß er ihre Lebensäußerungen noch lange nicht völlig verstand. Aber selbst wenn Horus und Hark jagten, um ihre Beute zu 181
schlagen, kamen sie immer wieder zu ihm zurück. »Zaubertiere?« fragte er sich und gab sich die Antwort: »Nein, das sind sie nicht. Nur der Umstand, daß sie in ihren Kokons schlafend gewartet haben, ist wunderbar.« Ein Schenkeldruck, und schon wurde das Einhorn langsamer. Die Wildländer, die zwischen den Höhlen und der Felswand hin und her liefen, nahmen Mythors Gegenwart auf merkwürdige Art hin. Sie wichen ihm aus, wenn sie an ihm vorbeigingen. Keiner sprach ihn an. Aber sie teilten ihr Essen und den Wein mit ihm, und als er von ihnen verlangte, einen großen Kessel Wasser zu sieden, gehorchten sie sofort. Ihr neuer Herr aber war eindeutig Hester. Sie taten, was er mit seiner brüchigen Sprache verlangte, nicht nur schnell, sondern mit offensichtlicher Begeisterung. Schon wieder war von zahlreichen Stellen der Felswand das Klirren und Krachen von Meißeln, Hämmern und Keilen zu hören. Staub und kleine Gesteinssplitter färbten den Schnee. Mythor ritt in die Höhle hinein und versorgte das Einhorn. Er wußte, daß die Tage der Ruhe bald vorbei sein würden. Seine Freunde warteten nahe dem verwunschenen Tal. * »Du willst gehen?« Es war schwer gewesen, Hester von seiner Arbeit wegzuholen. Er war wie besessen und kannte nichts anderes mehr. »Ich blieb hier«, sagte Mythor, der den Arm um Pandors Hals gelegt hatte, »um dich zu schützen. Ich dachte an einen Angriff der Caer. Sie fanden das verwunschene Tal leer. Der Berg der Gesichter ist nicht weit davon entfernt.« In rastloser, aber planmäßiger Arbeit hatte Hester das oberste Gesicht, das zugleich eines der größten war, bearbeitet. My182
thor hatte es am Ende seiner Flucht felsaufwärts nur geringfügig beschädigen können. Inzwischen hatte sich das Aussehen des Kopfes stark geändert. »Keiner hat… Urzuguhr gestört. Kein Angriff. Ich werde nicht gestört. Siehst du…?« Seine Hand deutete auf den weit vorspringenden Kopf. Das Gerüst um Stirn und Augen war entfernt, der Fels entlang diesen Kanten war frei von Eis und Schnee und glattgeschlagen. Haar, Stirn und Augen hatten ihr Aussehen und ihren Ausdruck gänzlich verändert. Nur wenig Stein war neu gemeißelt worden. Linien waren verschwunden, andere zeichneten sich an deren Stelle ab. Das Gestein, von wenigen vielverzweigten Adern durchzogen, aber glänzte im hellen Licht des Tages, obwohl sich die Sonne hinter den Schneewolken versteckte. »Ich sehe«, bekannte Mythor ehrlich, »daß der Kopf schön und leicht wirkt.« »Wie meine Bilder.« »Tatsächlich!« pflichtete Mythor bei. »Er gleicht den Köpfen des Donnersteins.« »Gleicht ihnen… aber anders«, stotterte Hester. »Sie werden… noch schöner.« Mythor mußte zustimmen. Obwohl der Kopf noch nicht fertig war, ließ sich deutlich erkennen, daß er genau das Gegenteil des zerstörten Kopfes ausdrücken würde, nämlich Schönheit und Leichtigkeit. So stellte sich Mythor einen Stützpunkt des Lichtboten vor, und so würde im Lauf der Jahre Hester auch die anderen Köpfe und Gesichter mit Hilfe der Wildländer gestalten. »Ich werde morgen im ersten Licht reiten!« sagte Mythor. »Wohin?« Hester wirkte zerstreut. Er hatte nur noch seine Arbeit im Sinn; den drei Tieren schenkte er keinen Blick mehr. Seine Hände waren rauh und schwielig geworden, seine kostbare Seidenkleidung war schmutzig und zerrissen. 183
»In der Nähe des verwunschenen Tales warten meine Freunde«, sagte Mythor. »Reite! Das Einhorn ist stark und… schnell«, meinte Hester, nickte ihm mit starrem Lächeln zu und lief auf die Leitern zu. Kurze Zeit später hörte Mythor aus dem zerklüfteten Gewirr der Gesichterfragmente das Klirren der Werkzeuge. Er hob die Schultern und ging zurück in die Höhle, um sich für den Ritt auszurüsten. Noch immer leuchtete das Gläserne Schwert hell und durchdringend. * Ein fast unhörbarer Befehl hielt Pandor an. Das Einhorn drehte sich herum, und Mythor hob grüßend und abschiednehmend den Arm. Hester, weit oben auf dem Gerüst, beachtete ihn auch jetzt nicht mehr. Der Kopf war zu zwei Dritteln fertig. Er strahlte heitere Ruhe, lächelnde Sicherheit und fröhliche Schönheit aus. Über dem Berg der Gesichter und in weitem Umkreis lag nicht nur vorübergehender Sonnenschein des frühen Morgens, sondern auch eine Art leuchtende Aura. Sie ließ sich schwer begreifen. Es war, als umhülle und schütze eine lichte Wolke dieses Stück des Landes. Mythor wußte es, ohne die Gründe zu kennen und eine Erklärung zu haben: Aus einem Stützpunkt der Schwarzen Magie, der düsteren Mächte aus der Schattenzone, war schon jetzt ein Hort des Lichtboten geworden. Wenn dereinst Hesters gigantische Arbeit vollbracht war, würde dieser Eindruck vollkommen sein. Dann würde der Berg der Gesichter in weitem Umkreis wirken und zu einer Festung gegen das Böse werden. Mythor ließ den Arm sinken und ritt weiter. Hoch über ihm schwebte ruhig, in weiten Kreisen, sein Späher. Horus, der 184
Schneefalke, würde ihn warnen, wenn sich auf seinem Weg Gefahren sammelten. Pandor fiel in einen leichten, schnellen Trab. Die Satteltaschen, die Mythor mit einem breiten Gurt aus dem Sattel des anderen Rappen an seinem Rücken festgebunden hatte, waren voller Nahrungsmittel und Ausrüstung. Der Helm der Gerechten schlug gegen seinen Oberschenkel. Einen Pfeilschuß entfernt schnürte Hark dahin, der riesige Bitterwolf. Obwohl er immer wieder zu Mythor und dem Einhorn herüberäugte, sah es aus, als gehöre er nicht zu dem dunkelhaarigen Krieger. Mythor schlug, sich nach der Sonne richtend, den Weg zum verwunschenen Tal ein. Er wußte, hinter welchem Hügel die Felsnadel lag. Und er begann, Hester und den Berg der Gesichter aus den Gedanken zu verlieren. Im Schutz der lichterfüllten Aura würde der einäugige Bruder Königin Elivaras sein Werk vollenden, wie lange es auch dauern mochte. In der ersten Stunde ritt Mythor auf einem deutlichen Pfad durch das schneebedeckte Land. Dann wurde diese Spur schmaler. Immer weniger Fährten kreuzten seinen Weg. Das Einhorn war auf dem ersten Teil des Pfades galoppiert, jetzt wurde es langsamer und bahnte sich kraftvoll einen Weg durch den Schnee. Längst war der Berg der Gesichter hinter dem Wald verschwunden. Horus kam zurück, zog einige Runden über Mythors Schultern und ließ sich dann auf dem rechten Unterarm nieder. Der Fellmantel trug bereits die Reißspuren der nadelscharfen Fänge. Mythor hatte Horus scharf beobachtet, aber das Tier wirkte nicht im mindesten beunruhigt oder aufgeregt. Also drohten wohl keine Gefahren. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, machte Mythor eine kurze Pause. Er hielt unter den ausladenden 185
Zweigen und Ästen eines einzelnen Baumes an, der auf der Kuppe eines Hügels lag. Wieder wandte sich Mythor um. Er konnte den Berg der Gesichter von hier aus nicht mehr sehen. Längst war die Sonne wieder hinter langgezogenen Schleiern von Schneekristallen verschwunden. Nur an drei Stellen, weit entfernt, erkannte Mythor dünne Rauchfäden irgendwelcher Lagerfeuer. Auch das Leuchten über dem Tafelberg sah er nicht mehr. »Es gibt kein Zurück mehr«, murmelte er. Horus fauchte auf seinem Arm. »Das verwunschene Tal wartet. Und Kalathee!« Er aß im Reiten und ritt bis zur Dämmerung weiter. In der Nacht fanden sie einen trockenen Platz in einem dichten Gebüsch, von mannshohen Schneeverwehungen umgeben. Der Wolf bewachte Mythors Schlaf am Boden, der Falke flatterte auf und verbrachte die Nacht irgendwo in den Ästen der Bäume. Und schließlich sah Mythor, als er zwischen den Stämmen eines Waldstreifens hervorritt, die Felsnadel vor sich. Noch zwei Stunden Ritt trennten ihn von diesem Treffpunkt. Seine Wachsamkeit wuchs, denn er dachte an die Caer, die entlang der Grenze von Dandamar streifen mochten. »Was hast du?« knurrte Mythor, als Horus sein Gefieder sträubte, einen krächzenden Ruf ausstieß und die Schwingen entfaltete. Der Schneefalke wirkte unruhig. Mythor riß den linken Arm in die Höhe und stieß den Falken ab. Mit schnellen Flügelschlägen gewann das Tier Höhe und flog nach rechts davon. Mythor sah ihm nach. Dort drüben zeichnete sich Wald gegen den Himmel ab. Mythor blinzelte, dann hob er schützend die Hand über die Augen. Er meinte, zwischen den Baumwipfeln Rauch aufsteigen zu sehen. Die Luft flimmerte. Er blickte genauer hin und entdeckte tatsächlich eine schwache Rauchspur. Als er Pandor in diese Richtung gehen ließ, vermochte er sogar den Rauch zu rie186
chen. »Es wird Nottrs Lagerfeuer sein«, murmelte er. Als Mythor auf die bewußte Stelle zuritt, kam der Bitterwolf hinter ihm aus den Büschen hervor und hetzte mit großen Sprüngen hinter dem Einhorn her. Mythor war sich klar, daß der pechschwarze, glänzende Körper Pandors gegen den Schnee ein hervorragendes Ziel abgeben mußte. Sorgfältig beobachtete er die Schneedecke. Er sah nur die Spuren von Vögeln und Rotwild. Das Einhorn versank bis zur Brust im Schnee und kämpfte sich wieder aus dem Graben heraus. Dann ging es über ein Stück Weide, wo die dürren Halme aus dem Schnee hervorstachen. Wind hatte die Schneedecke davongetragen. Mythor schlug den Mantel auf und griff nach Alton. Noch zog er das Gläserne Schwert nicht, blieb aber kampfbereit. Zuerst kreiste der Schneefalke über den Wipfeln, dann suchte er eine Öffnung zwischen den Ästen und verschwand dahinter. Schnee rieselte von den Zweigen. Das Schlagen der Flügel hallte leise im Wald wider. Noch immer keine Spuren, auch keine, die aus dem Wald in die Richtung der Felsennadel führten. Auf der leicht abschüssigen Weide galoppierte Pandor auf den Waldrand zu. Als sich aus dem höher werdenden Schnee Ranken und Dornen hochwanden, fiel er in Trab zurück. Mit einigen Sätzen überwand er diese natürliche Sperre. Dann polterten die Hufe dumpf auf schneefreiem Waldboden. Im Zickzack kam der Schneefalke zwischen den bemoosten Stämmen zurück. Diesmal wirkte er aufgeregt. »Was hast du entdeckt?« fragte Mythor, obwohl er wußte, daß er keine klare Antwort erwarten durfte. Er zog das Schwert und ritt dorthin, woher der Falke gekommen war.
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Der Geruch nach kaltem Feuerrauch wurde durchdringender. Zuerst wollte Mythor den Namen der Freunde laut rufen, unterließ es aber. Einige Wurzeln umgestürzter Stämme versperrten ihm den Weg. Ein kleiner Graben, auf dessen Grund Eis funkelte, wurde übersprungen. Hier lagen Holzspäne und abgerissene Rinde. Einige Schritte weiter: Mythor entdeckte eine Art Lager. Schräg in den Boden gerammte Stangen, darüber rohes Geflecht aus Zweigen, mit Schnee abgedichtet, und eine große runde Zone, von Steinen umgeben. Aus dem Feuer war Glut geworden, von einer dicken Schicht Asche bedeckt. Es ging keine Wärme mehr von dem großen, hellgrau staubenden Haufen aus. »Hark! Du mußt mich beschützen!« sagte Mythor flüsternd und blickte in die großen Augen des Wolfes. Das Tier tat, als habe es verstanden, aber es gehorchte in Wirklichkeit nur seinen Instinkten. Es warf sich herum und schlug einen Kreis um das Lager ein. Mythor glitt vom Rücken des Einhorns. Pandor blieb stehen, als habe Mythor das Tier an einen Stamm gefesselt. Kein Muskel rührte sich unter dem glatten Fell. Der Krieger lief geduckt, das Schwert in der Hand, auf das Lager zu und war bestrebt, stets die Schutzdächer oder einen Baum zwischen sich und die fast erkaltete Feuerstelle zu bringen. Dann sprang er mit einem gewaltigen Satz in die Mitte der winzigen Lichtung. »Bei Erain!« stieß er hervor. »Leer!« Er drehte sich langsam einmal um sich selbst und spähte in jeden dunklen Winkel. Der Schneefalke kam heran und landete auf einem abgestorbenen Ast. Hinter Mythor raschelte Hark auf dem trockenen Boden aus Laub und Nadeln. Es gab keinen Hinweis, daß hier Nottr, Kalathee und Steinmann Sadagar gelagert hatten. Aber drei Leute hatten sich hier 188
längere Zeit aufgehalten. Das war sicher. Es gab untrügliche Merkmale. Mythor streckte das Schwert aus und stocherte vorsichtig in der Mitte des großen Aschehaufens. Er förderte nur winzige Stücke fast schwarzer Glut zutage. Also hatte dieses Feuer vor rund einem Tag noch heftig gelodert. Er fand Federn, Knochen, einige Fellreste. Zwei gegabelte Holzstücke waren in den Boden gerammt gewesen und jetzt, fast verkohlt, umgefallen. Also hatten die drei Wanderer hier Fleisch gebraten. Mythor stand auf und ging dreimal um das Lager herum. Zwanzig Schritt entfernt, dem Waldrand zu, stand der Wolf. Und genau in diese Richtung führte eine deutliche Spur. Hark hatte sie vor Mythor wahrgenommen, und das gab den Ausschlag. Mythor flüsterte: »Sie haben vor kurzem dieses Lager verlassen und sind dorthin gegangen. In dieser Richtung liegt die Felsnadel mit ihrem Gebüsch. Also warten sie dort. Aber woher wußten sie schon so früh, daß ich komme?« Er zog sich auf Pandors Rücken und folgte, so schnell es hier möglich war, der Spur, die ihm Hark zeigte. Der Wolf heulte leise auf, als der Reiter, tief über den Hals des Einhorns gebeugt, aus dem Wald herauskam und über das offene Feld galoppierte, auf die Felsnadel zu. Ein undeutlicher Verdacht machte sich in Mythor breit. Er war nicht auf ein besonderes Geschehen gerichtet, sondern nur die Ahnung einer Gefahr, einer unerwarteten Wendung des voraussichtlichen oder erwünschten Geschehens. Mythor klammerte sich mit den Schenkeln an den Körper des Einhorns, hob den Kopf und musterte die Felsnadel, die immer näher kam. Eine dreifache Fußspur führte aus dem Wald heraus. Auf dieser Spur lief der Wolf, neben ihr ritt Mythor und ließ seinen Blick zwischen den Fußabdrücken und der Gruppe 189
aus Bäumen, Büschen und wuchtigen Felsen hin und her gleiten. Der Schneefalke schoß wie ein Pfeil auf die Nadel zu, umschwirrte sie aufgeregt und stieß gellende Schreie aus. In Mythor wuchs die Aufregung. Andere Spuren tauchten auf. Sie waren kaum älter und sicher nicht jünger als die dreifache Spur der Freunde. Aber sie verliefen kreisförmig um die Felsengruppe. Je näher Mythor den braunen und grauen Felsen kam, desto mehr Spuren sah er. Schließlich entdeckte er auf dem zertrampelten Gemenge aus Schnee und Gräsern die Hufabdrücke von Pferden. »Kalathee!« rief er. Die einzige Antwort war das wütende, klagende Heulen des Bitterwolfs. Mythor galoppierte in die neue Richtung. Der Wolf hörte nicht zu heulen auf; unablässig stieß der Schneefalke seinen Jagdruf in die klare Luft. Das Schwert in Mythors Hand gab sein klagendes Summen von sich. Vor Mythor befand sich niemand. Nur die Spuren wurden schärfer, tiefer und zahlreicher. Sie sahen aus, als habe hier vor gar nicht allzu langer Zeit ein Kampf stattgefunden. Mythor hatte den Felsen zu einem Drittel umrundet, und noch immer sah er die Gefährten nicht. Aber außer den Spuren gab es nichts, was auf einen Kampf hindeutete, weder zerbrochene Waffen noch zerrissene Kleidung, keine zerbrochenen Äste und kein Blut im Schnee. Schweigend, in steigender Besorgnis und Aufregung, gepaart mit Ratlosigkeit, ritt Mythor weiter. Schräg hinter ihm lief der Wolf. Er heulte nicht mehr, sondern stieß unausgesetzt ein tiefes Grollen aus. Der Falke flog hin und her. Das Einhorn begann schwer zu keuchen, aber es wurde nicht langsamer. Mythors Gewißheit, daß seine Freunde einem Überfall zum Opfer gefallen und getötet worden wa190
ren, wuchs. Aber es gab keinen Gegner. Jetzt hatte Mythor mehr als zwei Drittel der Büsche und Felsblöcke am Fuß der Nadel aus Stein umrundet. Nichts und niemanden hatte Mythor sehen können, aber nun berührten die Hufe des Einhorns ein Stück des Untergrunds, das völlig aufgewühlt und aufgerissen war. Hier gab es nur noch winzige Spuren von Schnee. Ein Felsblock schob sich in Mythors Blickfeld. Undeutlich erkannte er eingeritzte Linien. Augenblicklich hielt er das Einhorn an. Pandor bäumte sich auf, das lange Horn wies fast senkrecht in den Himmel. Mythor sprang vom breiten Rücken des Tieres und rannte über den gefrorenen Boden auf den kantigen Felsblock zu. Hinter ihm stemmte der Bitterwolf seine Läufe in den Schnee und kam zum Stehen. »Was ist das? Es sieht wie Schrift aus«, flüsterte Mythor und lief weiter. Es waren Schriftzeichen. Nach einigen Augenblicken der Besinnung erinnerte sich Mythor an Kalathees eigentümliche Art, Buchstaben aneinanderzufügen. Mit einem scharfen Gegenstand, vermutlich mit einem von Sadagars Wurfmessern, waren Worte in die fast ebene Fläche des Felsens geritzt worden. Sie hoben sich scharf und grell vom feuchten, moosgrünen Felsen ab. Mythor las schweigend: Ich habe erkannt, daß ich einen anderen Weggehen muß. Ich habe mich in meinen Gefühlen zu dir geirrt. Sie gehören in Wirklichkeit einem anderen. Es war unzweifelhaft Kalathees Schrift. Zahllose Fragen wirbelten durch Mythors Kopf. Seine so mühsam errungene Ruhe war dahin. Er las die Worte dreimal, viermal. Er spürte tiefe Besorgnis. Was mochte hier geschehen sein? Ohne es zu merken, zog er aus seinem Wams das Pergament hervor; der Wind entfaltete es in seinen Fingern. Gedanken191
verloren starrte er das Bild an, die Königin seines Herzens und seiner Sehnsucht, das Antlitz ohne Namen. Schweigend und grübelnd ging er zu seinen Tieren zurück. Horus kam aus der Luft herunter und setzte sich auf seine Schulter. Der Bitterwolf spürte Mythors Zustand und schmiegte sich an seine Knie. Still und leer lag die weiße Fläche im Licht der frühen Dämmerung. Mythor suchte nach einem Weg, einem Hinweis, wohin die Freunde verschwunden sein könnten… aber er fand nichts. Niedergeschlagenheit überfiel ihn, als er sich auf Pandors Rücken schwang. Wohin sollte er die Schritte des schwarzen Einhorns lenken? Auch der Helm der Gerechten half ihm nicht.
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Hubert Haensel
DER SCHWEFELFLUß Die Legende Dort, wo sich seit ungezählten Generationen die Stadt Ugalos erhob, war vor Menschengedenken noch finsterer, unwegsamer Wald gewesen, den kaum eines einsamen Wanderers Fuß betreten hatte. Und die, die es gewagt, kehrten nie zurück. Die Kunde von einem schrecklichen Ungeheuer, das an den Ufern der Lorana hauste, ging durch alle Lande: von einem feuerspeienden Drachen, größer als das Haus einer ganzen Sippschaft und gefährlicher als jeder Dämon der Finsternis, die damals nur einen schmalen Streifen der Welt in Angst und Verderben hüllte. Es hieß, daß zu jener Zeit viele Völker noch Freund waren miteinander und daß reger Handel herrschte zwischen Tainnia, Dandamar und den Südländern. Leider war es aber auch so, daß manches Fischerboot umsonst gegen die Gefahren des sturmgepeitschten Ozeans und die Tücken der Straße der Nebel ankämpfte. Und Dutzende von Wagenladungen gingen verloren oder verdarben, weil die Karawanen etliche Tagesreisen gen Westen oder Osten hin ausweichen mußten. Selbst klingende Goldstücke vermochten die Verluste nicht auf Dauer auszugleichen. Ein Mann wagte es, den Kampf aufzunehmen, ein erfahrener und gewandter Kämpfer, der strahlende Sieger in vielen Turnieren und Günstling und Liebhaber so mancher begehrten Herzogstochter. Leichtfüßig wie der Wind war sein Pferd und von einer makellosen Reinheit wie frisch gefallener Schnee. Niemand, der seinen Namen nicht kannte und ihn ohne Ehrfurcht auszusprechen gewagt hätte: derHeroe Maynos… Aber weniger seine Taten erhielten sein Andenken am Leben als vielmehr der Fluch, der seinem Ende anhing. Keiner in Ugalos, der den Tag herbeisehnte, an dem die Prophezeiung sich erfüllen würde. *
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Funkensprühend verformte sich das rotglühende Eisen unter den schwungvollen Hammerschlägen. Kraft und Geschicklichkeit und vor allem ein gutes Auge gehörten dazu, die kaum zwei Finger breite Klinge zu dehnen und mit einer beidseitigen Schneide zu versehen. Ohne Zweifel verfügte Jules Dubrahin über diese Eigenschaften. Und außer ihm noch ein Dutzend anderer Gehilfen, die in der Werkstatt arbeiteten. Meister Duprel war ein Könner seines Fachs, unbestritten der berühmteste Waffenschmied Ugaliens, obwohl diese Zunft viele große Meister besaß. Doch war er der größte unter ihnen. Von Duprel Selamy stammten Waffen, wie keines Recken Arm je bessere geführt hatte. Und der Goldharnisch, den der L’umeyn Mormand de Arrival Visond in besseren Tagen getragen hatte, als sein Leib noch nicht von der jetzigen Fülle gewesen, war ebenfalls ein Werk seiner Hände. Zischend kühlte das Eisen ab, als es zur Härtung in einen Bottich voll eiskalten Wassers getaucht wurde. Jules Dubrahin sah den sich zur Decke emporkräuselnden Rauchwolken sinnend nach. Seine Gedanken befaßten sich nicht mit der Arbeit. Seit Tagen schon galten sie dem Schicksal des Meisters, den seit Ende des letzten Neumonds niemand mehr gesehen hatte. Jules Dubrahin warf neue Kohlen in die Esse und schürte das Feuer. Dabei trat er so wild auf den Blasebalg, daß der Rauch ihm Tränen in die Augen trieb. Er hustete, fluchte unterdrückt und trat noch heftiger zu. Hinter ihm wurde eine Stimme laut: »Hör endlich auf, Jules! Oder willst du uns alle ausräuchern?« Dubrahin ließ mit keiner Regung erkennen, daß er die Worte gehört hatte. Erst als eine Hand seine Schulter packte, wandte er sich um. Aus zusammengekniffenen Augen musterte er sein Gegenüber. »Warum störst du mich, Frerick?« brummte er 194
mißmutig. Frerick Armos, nach Dubrahin derjenige, der am längsten in Meister Duprels Diensten stand, deutete auf den Amboß und den schweren Hammer, der daran lehnte. »Du vergeudest deine Kräfte, Jules«, sagte er vorwurfsvoll, »und du weißt genau, daß das Schwert mit Gefühl geschmiedet werden will. Sonst wird die Klinge wie die von hundert anderen.« »Ach, laß mich!« Dubrahin riß sich los, griff nach der Zange und stieß das lange Stück Eisen so heftig ins Feuer, daß Funken nach allen Seiten stoben. Aber Armos, sein Freund und Zechkumpan, ließ sich nicht so leicht abweisen. »Du wirst jetzt mit mir reden, Jules, ob es dir paßt oder nicht.« Dubrahin stocherte in der Glut herum. Winzige Flammen huschten über das Metall, das sich langsam rot färbte. »Ich wüßte nicht, was wir miteinander zu besprechen hätten.« »Aber ich weiß es, Jules. Es geht nicht an, daß in unserer Schmiede Waffen gefertigt werden, die schlecht sind. Seit Tagen bist du völlig verändert. Welcher Dämon ist dir begegnet?« »Bei Lavoux, ich will deine Visage nicht sehen.« »Schon gut.« Besänftigend streckte Armos beide Hände vor. »Aber gestehe ein, daß es die Sorge um Meister Duprel ist, die dir zu schaffen macht.« Klappernd fiel die Zange zu Boden. Aus weit aufgerissenen Augen starrte Dubrahin den anderen entgeistert an. »Woher weißt du…?« »Du bist so, seit Meister Duprel verschwand. Was weißt du, das du mir verschweigst?« »Ich?« murmelte Jules und starrte ins Feuer. »Nichts!« »Aqvitre soll mir beistehen!« rief Armos laut aus. »Du verschweigst mir allerhand. Hast du gar damit zu tun?« »Nein!« 195
Glut fiel auf den Boden, als Dubrahin das Schwert aus der Esse riß und herumwirbelte. Einen bangen Herzschlag lang sah es so aus, als wolle er sich auf Armos stürzen. »Aber der Erzmagier«, versetzte dieser ungerührt. Jules Dubrahin zuckte merklich zusammen. »Woher weißt du…?« fragte er verstört. »Nur eine Vermutung«, erwiderte Armos. »Doch dein Verhalten zeigt mir, daß ich ins Schwarze getroffen habe.« Dubrahin sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, aber keiner der anderen Gehilfen beachtete Armos und ihn. Keiner von ihnen machte sich Gedanken darüber, weshalb Duprel Selamy seit Tagen verschwunden war. »Sie sind dumm«, flüsterte Jules und zog seinen Freund mit sich hinter die Esse, wo niemand sie beobachten oder gar belauschen konnte. »Aber was haben Meister Duprel und dieser Erzgauner Vassander miteinander zu schaffen? Selamy ist ein aufrichtiger Mensch, der Magier hingegen…« »Schweig!« zischte Dubrahin erschrocken. »Willst du alle bösen Geister mit deinem unbedachten Gerede heraufbeschwören?« »Bei Aqvitre, nein«, hauchte Armos. »Doch ist bekannt, daß nicht nur der L’umeyn dem Erzmagier ergeben ist. Man munkelt, daß Vassander sich mit den Mächten der…« »Sprich es nicht aus!« »Dann lasse mich endlich wissen, was mit dem Meister ist.« Dubrahin nickte zögernd. »Ich war auf einer der mittleren Inseln, gestern, bei Einbruch der Dämmerung, und ich wurde zufällig Zeuge eines Gesprächs, in dem es auch um unseren Meister ging.« »Wo ist er?« »Das wissen die Götter. Duprel, hieß es, arbeite an einem Harnisch für den Erzmagier.« 196
»Aber warum nicht hier, in der Schmiede?« entfuhr es Armos. »Seit wann hat Vassander die Öffentlichkeit zu fürchten?« Dubrahin zuckte mit den Achseln. Er wollte noch etwas sagen, doch in diesem Augenblick erklang von ferne ein hohles Brausen, das sich schnell steigerte. Wie das Tosen eines mächtigen Wasserfalls. »Was ist das?« fragte Armos. Das Geräusch veränderte sich, wurde schriller, eindringlicher. Selbst die Luft schien zu zittern. »Wir haben die Dämonen heraufbeschworen«, klagte Dubrahin. »Vassander ist mächtiger als…« Abrupt brach das Brausen ab. Stille kehrte ein. Eine bedrückende, angsterfüllte Stille. Jeder wartete darauf, daß etwas Unheimliches geschehen würde. Der Boden begann zu zittern, kaum merklich zuerst, dann immer heftiger. Irgendwo im Gebälk knisterte es. Staub und Holzspäne rieselten aus dem Dachstuhl herab. Jemand schrie. Laut polternd stürzte ein Regal um. Werkzeuge aller Art kullerten über den Boden, der sich einen bangen Augenblick lang aufzubäumen schien. »Die Erde tut sich auf!« Aus schreckgeweiteten Augen starrte Jules Dubrahin in die Höhe, jeden Augenblick damit rechnend, daß die morschen Balken in sich zusammenstürzten. Dann war der Spuk so schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Aus den Straßen und Gassen vor der Schmiede ertönte aufgeregtes Schreien. Niemand wußte eine Erklärung für das, was geschehen war. Die Menge brüllte sich gegenseitig nieder, denn die einen gaben den anrückenden Caer die Schuld, die anderen wollten Dämonen gesehen haben, die aus dem Himmel auf Ugalien stürzten. * 197
Die Sonne neigte sich im Westen zur Ruhe. Ihre letzten Strahlen färbten den Himmel blutrot, gleich dem Widerschein einer fernen Feuersbrunst. »Ein böses Omen«, sagte Jules Dubrahin, als er neben Frerick Armos die Schmiede verließ. »Es kündet von Krieg und unsagbaren Leiden.« Es war ungemütlich an jenem Abend. Ein schneidend kalter Wind pfiff durch die engen Gassen, brach sich an den Fassaden der oftmals schiefen Gebäude, die sich eng aneinanderlehnten, wie um der Last des frisch gefallenen Schnees besser widerstehen zu können. Erste Lichter wurde entzündet. Vor ihren Geschäften waren die Händler damit beschäftigt, die feilgebotenen Waren abzuräumen. Von Osten her zog eine unheilschwere Finsternis auf. In dieser Nacht konnte es gut geschehen, daß erstmals in diesem Winter etliche Kanäle zufroren. Aber noch bedrohte das Eis nicht den besten Schutz der Stadt, die beiden Hauptarme der Lorana, die Ugalos einschlossen. Auf sieben Inseln, durch Nebenarme des Flusses getrennt, war die Hauptstadt Ugaliens entstanden, die wiederum von einer Reihe künstlich angelegter Kanäle durchzogen wurde. Das Wasser war zum Element ihrer Bewohner geworden; in seinem Schutz durften sie sich bislang sicher wähnen. Hunderte von Brücken verbanden die Landflecken miteinander, die manchmal nur wenigen Häusern Platz boten. Zu jeder der sieben großen Inseln führte nur eine gut gesicherte und Tag und Nacht bewachte Brücke über die Lorana. Vier befestigte Bauwerke waren es von Norden her und drei von Süden. Dabei spielte sich das eigentliche Leben nur auf den beiden größten Inseln am unteren Flußlauf ab. Was letztlich zu einem unmittelbaren Nebeneinander von Kaufleuten und Handwerkern, von Tagedieben und Dirnen geführt hatte und dazu, daß 198
viele Häuser förmlich in den Himmel gebaut worden waren, um überhaupt noch einen Raum zu schaffen, in dem Menschen leben konnten. Ein wahres Labyrinth war entstanden, in dem Ortsunkundige häufig tagelang umherirrten, ohne ihrem Ziel auch nur nahe zu kommen. Und kaum jemand aus der Bevölkerung wäre willig gewesen, zu helfen, denn Fremde waren in Ugalos nicht gern gesehen. Die beiden Gehilfen des Meisters Duprel wandten sich nach Westen. Dort waren die Schenken mit dem besten Wein, dort kamen aber auch die körperlichen Freuden niemals zu kurz. Schale, stickige Luft schlug ihnen entgegen, als sie die engen, gewendelten Stufen in ein Kellergewölbe hinab stiegen. Rußende Fackeln in eisernen Gestellen verbreiteten ein spärliches, flackerndes Licht. Dumpfe Männerstimmen und das schrille Kreischen von Frauen drangen von unten herauf. Die letzten drei Stufen nahm Dubrahin mit einem Satz, dann stieß er die schwere Tür auf, die zum Schankraum führte. Im hintersten Winkel war noch ein Tisch unbesetzt. Mit Ellbogen und Fäusten stieß Armos die Umstehenden beiseite. Die Schenke war zum Bersten voll. Allem Anschein nach machte der Wirt heute das Geschäft seines Lebens. Aus verschiedenen Gesprächsfetzen ließ sich entnehmen, daß es für die Bürger von Ugalos nur ein Thema gab: das merkwürdige Beben, das zu früher Stunde so manchen noch aus dem Schlaf geschreckt hatte. »Verdammt viel los«, sagte Dubrahin zwischen zwei tiefen Schlucken aus einem Krug voll schäumenden Gerstensafts. »Und nicht nur gemeines Volk ist da. Dort drüben in der Nische sitzen sogar Adlige von weiter flußaufwärts.« Armos nickte. »Sie suchen ihr Vergnügen, und mir scheint, daß sie schon tief in ihre Becher gesehen haben.« Eine junge Frau tänzelte heran, das lange, gelockte Haar lose über die Schultern fallend und einen Fetzen Stoff über der 199
Brust nur notdürftig verknotet. Ihre üppige Schönheit kam so voll zur Geltung. Dubrahin schürzte anerkennend die Lippen und bot ihr seine Knie als Sitzplatz an. Sie ließ sich auch sofort nieder und schlang ihm die Arme um den Hals. Einige Tische weiter erscholl lautes Gelächter. Ein Krug wurde umgestoßen und ging polternd entzwei. Roter Wein ergoß sich über kostbare Gewänder. Eine betrunkene Stimme rief nach dem Wirt. »Herzog Vulleroy«, sagte das Mädchen abfällig, während es sich eng an Dubrahin schmiegte. »Ich kann ihn und seine Leute nicht ausstehen. Alles Angeber und Krachmacher.« »Wer?« fragte Armos irritiert, als habe er nicht richtig verstanden. »Herzog Vulleroy«, wiederholte sie und schrie vor Schreck auf, als Dubrahin sie recht unsanft von sich stieß. Wie auf ein geheimes Kommando sprangen die beiden Schmiede auf. »Denkst du dasselbe wie ich, Jules?« fragte Armos scharf. »Mir kam der Kerl vorhin gleich so bekannt vor, obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Er scheint mir besoffen genug, um sich aushorchen zu lassen.« Dubrahin winkte dem Wirt. »Einen Krug Roten«, bestellte er. »Aber randvoll, alter Gauner.« Mit dem Gewünschten in Händen zwängten sie sich dann zwischen den Tischen hindurch. »Erlaubt, Herzog, daß wir uns zu Euch setzen«, bat Dubrahin und deutete eine Verbeugung an. »Wir hätten uns gerne mit dir unterhalten.« »Ich wüßte nicht, was ich mit dem Pöbel zu schaffen…«, brauste Vulleroy lautstark auf, unterbrach sich aber, als Armos den mit Wein gefüllten Krug vor ihm auf den Tisch knallte. Jetzt erst hielt er es für nötig, aufzublicken, wer ihn da angesprochen hatte. Sein Blick schien ins Leere zu gehen, zeigte aber völlig unerwartet doch Erkennen. 200
»Du bist der Schmied… Mein Schwert ist von dir.« »Nicht von mir«, verbesserte Dubrahin schnell. »Von Meister Duprel. Du kennst ihn, nicht wahr?« »Nein«, erwiderte Vulleroy, führte den Krug an die Lippen und trank ihn, ohne abzusetzen, zur Hälfte leer. »Du kannst es uns gegenüber ruhig eingestehen«, sagte Dubrahin voll Nachdruck. »Wir wissen, daß Meister Duprel für den Erzmagier Vassander arbeitet.« Um ein Haar hätte der Herzog erneut Scherben verursacht, so heftig war seine Reaktion. Aus aufgequollenen Augen starrte er den Schmied an. »Gar nichts weißt du«, zischte er. »Hast du verstanden?« »Wo ist Duprel Selamy?« wollte jetzt Armos wissen. »Sage es uns, und wir lassen dich in Ruhe.« »Lumpenpack!« Vulleroy spuckte aus. Dubrahin packte ihn hart an der Schulter und schüttelte ihn. »Wo hält Vassander unseren Meister gefangen?« »Bei Lavoux!« schrie der Herzog heiser auf und ließ ein vernehmliches Rülpsen folgen. »Ihr scheint nicht zu wissen, wen ihr vor euch habt. Schert euch in die Gosse zurück!« Plötzlich waren aller Augen auf sie gerichtet. Die Gespräche an den Nebentischen verstummten. Jedermann wartete darauf, daß etwas geschah. »Nicht ohne die geforderte Auskunft«, beharrte Armos. »Ich werde dir das hier geben!« kreischte Vulleroy und sprang auf. Polternd fiel sein Stuhl um. Wenngleich er zitterte, das Schwert in seiner Hand sprach eine beredte Sprache. Bedrücktes Schweigen breitete sich aus. Zwei von Vulleroys Gefolgsleuten erhoben sich ebenfalls. Auch sie zogen blank. Der Herzog riß sein Schwert hoch und stieß es nach vorn. Armos entging dem Stich durch einen raschen Sprung zur Seite. Etliche Gäste flohen vor ihm in Rich tung auf den Schanktisch. 201
Daß er sein Ziel verfehlt hatte, schien Vulleroy nur noch mehr anzustacheln. Er schnaubte wütend und stieß mit dem Fuß seinen umgestürzten Stuhl beiseite. »Macht den anderen fertig!« rief er seinen Leuten zu. »Der hier gehört mir.« Aber genauso schwer wie sein Zungenschlag war auch sein Schwertarm. Zweimal konnte Armos unter der ziellos durch die Luft schneidenden Waffe hinwegtauchen, beim drittenmal zersplitterte die Klinge einen Tisch aus massiver Eiche. Unter der Wucht des Schlages taumelte der Herzog nach vorn. Kreischend und schimpfend flohen die meisten Zecher zur Tür. Armos sah, daß sein Freund, in arge Bedrängnis geraten, das Messer zog. Nur weil Jules damit umzugehen verstand und seine beiden Gegner betrunken waren, hatte er überhaupt eine Chance. Mit einem Stuhl parierte er die unkonzentriert geführten Hiebe, sprang dann blitzschnell zur Seite und stieß seine Rechte vor. Ein wütender Aufschrei bewies, daß er getroffen hatte. Mehr konnte Armos nicht erkennen, denn der Herzog ‘ schien allmählich die Folgen des Alkohols zu überwinden und drängte ihn Schritt für Schritt zurück. Schon war die Wand bedrohlich nahe, an der Frerick nicht mehr ausweichen konnte. Auch er riß sein Messer aus dem Gürtel. Es warf es, verfehlte aber sein Ziel, weil Vulleroy sich just in diesem Augenblick auf ihn stürzte. Ein furchtbarer Schmerz im linken Oberarm ließ Armos taumeln. Warm lief es ihm über die Hand. Der Herzog triumphierte. Aber Frerick sah den nächsten Schlag kommen und duckte sich. Mit der Rechten bekam er einen Stuhl zu fassen, riß ihn hoch und drang seinerseits auf Vulleroy ein, dem das Schwert auf die kurze Distanz nur hinderlich war. 202
»Frerick!« Ein gellender Schrei, der gurgelnd abbrach. Armos wirbelte herum und sah Dubrahin tödlich getroffen stürzen. Und er sah sich plötzlich drei Gegnern gegenüber, denen er nicht gewachsen war. Sein einziges Heil lag in der Flucht. Mit einem Fluch schleuderte er dem Herzog den Stuhl an den Kopf. Dann sprang er vorwärts, stieß im Laufen einen Tisch um, der einen weiteren Verfolger zu Fall brachte, und war dann an der Tür, noch ehe der dritte ihn eingeholt hatte. Armos keuchte die enge Treppe hinauf, hörte weit unter sich polternde Schritte. Es schneite leicht, als er auf die Gasse hinauseilte. Ohne zu zögern, wandte er sich nach rechts, dorthin, wo es unzählige Winkel gab, in denen er sich verbergen konnte. Jules Dubrahin war tot. Und die Art, wie Herzog Vulleroy auf die ihm gestellten Fragen reagiert hatte, konnte nicht nur in dessen Trunkenheit begründet sein. Mehr denn je war Armos jetzt überzeugt davon, daß, sein Verdacht begründet war. Der Erzmagier Vassander, über den vielerorts gemunkelt wurde, schien wirklich seine Hände im Spiel zu haben. Der Schmied blieb stehen und lauschte in die Dunkelheit hinein. Keine Schritte, die ihm folgten. Er war in Sicherheit. Vorerst wenigstens, bis der Herzog ihn irgendwo aufspürte. In die Schmiede durfte er keinesfalls zurückkehren. Armos lehnte sich an die Wand eines baufälligen Gebäudes und schloß die Augen. Er fühlte, daß sich alles in ihm verkrampfte. Doch das konnte unmöglich eine Folge des Kampfes sein. Etwas würgte ihn, und dann wurde der Drang so stark, daß er sich übergab. Er fiel der Länge nach in den Schnee. Die Kälte tat gut und linderte das Brennen auf seiner Haut, das sich plötzlich bemerkbar machte. Tief atmete er ein. Ein grauenhafter Gestank lag in der Luft, 203
der ein erneutes Würgen hervorrief. Ziellos taumelte Armos durch die Nacht. Die Fleischwunde an seinem Arm pochte wie wild, hatte aber aufgehört zu bluten. Nur mühsam hielt er sich noch auf den Beinen. Am Rand eines der vielen kleineren Kanäle brach er schließlich bewußtlos zusammen.
Die Legende Mut und Tapferkeit zeichneten den Heroen Maynos aus. Dennoch beruhte sein Vorsatz, den schrecklichen Drachen im Kampf zu erlegen, nur auf den verheißungsvollen Worten einer schönen Tochter adligen Geblüts. Sie würde für ein Jahr seine Mätresse werden, wenn es ihm gelang, die Ländereien entlang dem Fluß von Furcht und Schrecken zu befreien. Mit Lanze, Bogen und Schwert zog der Heroe aus. Monde gingen ins Land, und niemand gedachte mehr jenes Helden, dessen Schicksal sich wohl auf grausame Weise vollzogen hatte, als ein Barde die Kunde vom Sieg über das feuerspeiende Getier brachte. Und wirklich, bald darauf kehrte auch Maynos zurück, in zerschlissenen Gewändern und von schwärenden Wunden bedeckt. Jeder, der das Schwert des Heroen sah, erschauderte. Feuriges Blut, das sich nicht abwaschen ließ, hatte die Klinge zerfressen und unbrauchbar werden lassen. Bewahrheiteten sich damit die Gesänge des Barden, der längst weitergezogen war? Viele schlugen die Augen nieder, wenn sie von nun an Maynos begegneten, und machten das Zeichen gegen den bösen Blick. Aber ungeachtet aller Warnungen wurde auf den sieben Inseln am Fluß die Stadt Ugalos errichtet. Zum Dank, obwohl es hieß, der Heroe Maynos habe mit den Mächten der Schattenzone einen Pakt geschlossen, die ihm daraufhin erst Macht über den Drachen gaben. Preis dafür sei auch sein Pferd gewesen, dessen donnernde Hufe und Wiehern manch Bürger von Ugalos in sternklaren Nächten zu hören glaubte. Der Barde hatte davon gesungen: Das Maul des Drachen fürchterlich, zwei Köpf mit Hörnern nähern sich. Der Arm zu schwach, das Schwert zu halten, da sind die schattenhaft’ Gestalten und fordern Leib, Seele und das Pferd, für Kraft und Sieg, der ewig 204
währt.
* Die Kälte lähmte ihn und machte seine Glieder taub und gefühllos. Frerick Armos vermochte nicht zu sagen, was ihn geweckt hatte. Mühsam blinzelte er in die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, die von einem unnatür lichen, giftigen Gelb war. Ein dumpfes Pochen in seinem linken Arm erinnerte ihn an die Geschehnisse der vergangenen Nacht. Er stöhnte unterdrückt auf und wollte sich erheben, rutschte aber aus und schlug der Länge nach in den Schnee. Doch was war das für Schnee? Angewidert schüttelte Armos sich. Eine gelbe Brühe, die auf der Haut brannte, tropfte über seine Hände. Er würgte. Jetzt wurde ihm auch der pestilenzialische Gestank bewußt, der über der Stadt hing. Selbst die Luft war gelblich verfärbt. Nebel schien überall aus den Kanälen aufzusteigen. Taumelnd kam Armos auf die Beine. Er befand sich in einem Teil von Ugalos, den er selbst kaum kannte. Ausgerechnet das Viertel der Bettler und Ausgestoßenen, der Kranken und Verachteten hatte er auf seiner nächtlichen Flucht betreten. Armos eilte auf eine winzige Brücke zu, mehr ein Steg aus roh behauenen Balken, der über den an dieser Stelle nur zwei Schritt breiten Kanal führte. Als sein Blick nach unten fiel, erschrak er. Das sonst völlig klare Wasser der Lorana hatte sich getrübt. Eine schweflige Brühe wälzte sich träge dahin. Von ihr aufsteigende Dämpfe verbreiteten den kaum noch zu ertragenden Pestgeruch. Armos taumelte zurück. Schmerzhaft schlug sein Herz, und 205
in seinen Schläfen pochte das Blut. Flucht, war der einzige Gedanke, der ihn erfüllte. Fort von diesem Ort des Grauens, auf dem der Hauch des Todes lastete. Die Arme auf seinen rebellierenden Magen gepreßt, hastete Armos in verkrümmter Haltung durch die noch stillen Gassen. Bedrückend die unzähligen windschiefen Gebäude mit ihren glaslosen Fensterhöhlen und schief in den Angeln hängenden Türen. Hinter ihm wurden Schritte laut. Ohne es eigentlich zu wollen, wandte er sich um. Ein verzerrtes Gnomengesicht starrte ihn an. Feurige Augen schienen durch die Dämmerung zu glühen, und ein zahnloser Mund öffnete sich. Zwei unglaublich dürre Arme streckten sich ihm hilfesuchend entgegen. »Mitleid, Fremder.« Armos hastete weiter. Keuchend ging sein Atem; die Luft brannte wie Feuer in seiner Lunge. Er wußte nicht, wohin. Irgendwo hoffte er Linderung zu finden. Aber immer wieder kam er in die Nähe von Kanälen, aus denen Wolken ätzender Dämpfe aufstiegen. Allmählich erwachte Ugalos, zögernder als gewöhnlich und keineswegs so lärmend und geschäftig wie sonst. Armos’ Wunde war wieder aufgebrochen. Der Schmerz brachte ihn ein wenig zur Besinnung und lenkte ihn ab. Er kam wieder in Stadtteile, die er kannte. Aber auch hier hatte sich das Wasser in eine schleimige Brühe verwandelt. Tote Fische trieben mit aufgedunsenen Bäuchen dahin. Die kunstvoll geschnitzten Brücken überzogen sich langsam mit einer mattgelben Schicht. Überall wurden Stimmen laut. Angstvolle Schreie hallten durch die Straßen. Angesichts des drohenden Unheils gab es kaum einen Bewohner, der nicht seine Götter anlief. Fliegende Händler machten die Geschäfte ihres Lebens. Fetische und Amulette gegen den bösen Zauber wurden ihnen förmlich aus den Händen gerissen. 206
Benommen sah Armos eine Weile dem hektischen Treiben zu, dann wandte er sich ab. Irgend etwas trieb ihn unaufhaltsam vorwärts. Je länger er dem verderblichen Einfluß der Dämpfe ausgesetzt war, desto mehr verlor er die Kontrolle über sich. Seine Bewegungen wurden eckiger, ungelenkig. Es fiel ihm schwer, sich dagegen zu sträuben. Entlang den Ufern verdorrte das Gras. Schwefliger Schleim schlug sich nieder. Zunächst nur in unmittelbarer Nähe der Wasserläufe, dann auch auf den Straßen und Gassen im weiteren Umkreis. Frerick Armos hörte jemanden predigen. Eine aufgeregte Menschenmenge wälzte sich vor ihm dahin. Als er näher kam, verstand er den Mann, der auf einem leeren Weinfaß stand und lautstark seine Meinung kundtat. Das Ende der Welt sei nahe. Es beginne damit, daß sich die alten Legenden erfüllten. * Niemand sah die Luftblasen im linken Hauptarm der Lorana aufsteigen. Das sonst reißende Wasser schien still und träge geworden zu sein. Ein Trugschluß, denn unter der schleimigen Schicht, mit der sich der Fluß während der Nacht überzogen hatte, war die Strömung unvermindert heftig. In dem einsam unmittelbar am Ufer gelegenen Haus wurde es lebendig. Poltergeister schienen in dem halb verfallenen Gemäuer zu wüten. Aber niemand war in der Nähe, den die Geräusche erschrecken konnten. Seit beinahe zwanzig Sonnenwenden mied jeder Bürger von Ugalos diesen Platz. Zu frisch war die Erinnerung an etliche grauenvoll entstellte Leichen, Bewohner dieses Hauses, die der Fluß nur wenige Schritt unterhalb an Land gespült hatte. Das Werk von Dämonen, vielleicht sogar der Mächte aus der 207
Schattenzone. Nur dem Erzmagier Vassander und seinen Bannsprüchen war es zu verdanken gewesen, daß das Böse nicht auf ganz Ugalos übergreifen konnte. Mit Hilfe der Weißen Magie hatte er in zähem Ringen alles Unheil in diesem Gebäude binden können. Seither verfiel das Haus und wurde mit seinen wild wuchernden Dornenhecken zum Schandfleck. Irgendwo polterte ein loser Mauerstein zu Boden. Staub wirbelte auf; es knackte und krachte im morschen Gebälk. Ein heiserer Schrei, dann ein schwarzer Schatten, der sich von dem Mauervorsprung löste und mit mächtigen Flügelschlägen dem fernen Horizont zustrebte. Unterdrücktes Fluchen folgte ihm. Schritte knirschten über sandigen Boden. Die einzige Tür wurde von innen her aufgestoßen und schwang knarrend in ihren Angeln herum. Dann – Stille. Nur unterbrochen von dem leisen Geräusch gepreßter Atemzüge. Ein purpurner Spitzhut erschien, mit schmaler, weicher Krempe und vielfältigen magischen Symbolen, wie sie Tradition waren in Ugalien. Der winzige Kopf mit dem runzligen Trollgesicht wurde von dem Magierhut fast völlig verdeckt. Kleine, kalte Augen mit stechendem Blick sahen sich nach allen Seiten hin um. Dann erst trat der nicht ganz fünf Fuß große, schmächtige Mann ins Freie hinaus. Das bodenlange Gewand, das er trug, war in düsterem Grauton gehalten, der weite, versteifte Umhang darüber in Purpur. Es war wohl der weiße, wallende Bart, der diesem Wesen die Würde verlieh, die es ausstrahlte. Desgleichen das ebenfalls weiße Haupthaar, das unter dem Umhang hervorquoll und bis weit über die Schultern fiel. Alles andere an dem Mann wirkte ernst, beinahe finster. Ihn nicht zum Freund zu haben hieß, ihn fürchten zu müssen. Und er war gefürchtet! 208
Er schien zu schweben, als er sich über den grasüberwucherten Boden bewegte. In Wirklichkeit erweckte nur das graue Gewand diesen Eindruck, weil es auch seine Füße verhüllte. Ein alter Mann, siebzig Jahre vielleicht, aber noch immer von aufrechter Haltung, die von Stolz und Überlegenheit zeugte. Sein Weg führte ihn in belebtere Gassen. Er hörte die Bürger von Ugalos schreien, sah sie ziellos durcheinanderlaufen und ihre Götter anrufen. Aber alle verstummten, sobald sie ihn erkannten. Vassander bemerkte die scheuen Blicke wohl, die man ihm zuwarf, doch ging er achtlos darüber hinweg. Selbst die gelben Dämpfe, die aus den Kanälen aufstiegen, rührten ihn nicht. Ungeachtet der glitschigen Schicht, die sich auf Steinen und Holzbohlen bildete, »schwebte« er über Dutzende von Brücken, bis er die Insel des gemeinen Volkes endlich hinter sich gelassen hatte. Jetzt lagen die Paläste des Adels vor ihm, eingebettet in verschwenderisch angelegte Prachtgärten. Aber auch hier hingen giftige Nebelschwaden in der Luft, die selbst der auffrischende Wind nicht zerstreuen konnte. Endlich hatte Vassander die östlichste Insel am oberen Flußlauf erreicht. Ein Gefühl sagte ihm, daß der L’umeyn Mormand de Arrival Visond bald seines Rates bedurfte. Deshalb beschleunigte er seinen Schritt in Richtung des Sonnenpalastes. Aber das prachtvolle Gebäude, das an Schönheit und Prunk alles übertraf, was die Nachbarländer Ugaliens aufzuweisen hatten, wirkte heute trist. Nicht ein einziger Sonnenstrahl brachte den weißen Marmor zum Leuchten, der eigens aus den Steinbrüchen des Karsh-Landes herbeigeschafft worden war. Unheilvoll lag der Nebel über den Mauern und Zinnen. Kein Vogel sang sein Lied in den frühen Morgenhimmel, kein 209
Schmetterling flatterte von Blüte zu Blüte. Die Blumen öffneten sich nicht und ließen die Köpfe hängen. Büsche und Bäume in unmittelbarer Nähe der Wasserläufe rollten die Blätter ein, nachdem diese ihr saftiges Grün verloren hatten und von den Rändern aus braun wurden und langsam zerfielen. Noch bemerkte es niemand, aber der Tod griff bereits nach Ugalos. * Mit einer jähzornigen Bewegung fegte er den leeren Becher vom Podest, der über den kunstvollen Teppich rollte und dann laut klappernd die vielen Stufen in die Vorhalle hinabfiel. Fast sofort erschien ein dienstbarer Geist, wohl anzusehen mit den üppigen Rundungen, und hob den Becher auf. »Bring ihn mir gefüllt zurück!« rief der L’umeyn und blickte der Frau sinnend nach. Ihr Name war ihm entfallen, aber er glaubte, daß einer von den Dutzenden von Bastarden, die seinen Palast bevölkerten, von ihr stammte. Vor etlichen Jahren hatte er das Vergnügen gehabt, mit ihr sein Gemach zu teilen. Das war lange her, fand er. Viel zu lange. In einer der kommenden Nächte würde er dies ändern müssen. Der L’umeyn aus dem Geschlecht der Arrival, einer alteingesessenen Adelsfamilie in der Grafschaft Visond, konnte darüber sogar die drohende Gefahr der Caer vergessen, die in Tainnia und wer weiß wo sonst noch eingefallen waren. Selbst die Warnungen der Magier wurden bedeutungslos gegenüber der Leidenschaft einer schönen Frau. Weshalb sollte er nicht gelassen abwarten, beabsichtigte er doch, Graf Corian mit dem Feldzug gegen die Caer zu betrauen. Die Frau kam wieder und brachte ihm einen randvoll gefüllten Becher, in dem es goldgelb funkelte. Sie wollte sich sofort 210
entfernen, aber der L’umeyn hielt sie am Handgelenk fest. »Bleib!« sagte er. »Und nenne mir deinen Namen.« »Julienne.« Er nickte zufrieden. »Du wirkst auf mich wie die Eislese in meinem Becher. Trink, Mädchen, es ist ein vorzüglicher Wein.« Sie bedankte sich mit einer grazilen Verbeugung. »Wir sollten eine Nacht miteinander verbringen«, platzte Mormand heraus. Julienne schwieg. »Was ist? Gefällt dir mein Angebot nicht?« Lauernd sah er sie an. »Ich weiß die Ehre zu schätzen, L’umeyn.« Ein verhaltenes Zittern schwang in ihrer Stimme mit. »Aber es ist…« »Keine Widerrede«, bestimmte er. »Du wirst mich noch heute bei Sonnenuntergang besuchen.« Eine Weile sah Julienne ihn schweigend an, während es um ihre Mundwinkel zu zucken begann, dann verbeugte sie sich tief. »Du wirst deinen Lichtkönig nicht enttäuschen«, sagte der L’umeyn. »Ich fühle es, mein Kind.« Mit einem raschen Griff nahm er ihr den noch halb vollen Becher aus der Hand und leerte ihn in einem Zug. Dann reichte er ihn ihr zurück. »Bringe mir mehr von diesem köstlichen Getränk. Es hilft mir zu vergessen.« Der L’umeyn hielt sich für unwiderstehlich. Er war mittelgroß, maß fünfeinhalb Fuß und hatte es, war er in früheren Zeiten auch schlank gewesen, im Lauf seiner nunmehr dreißigjährigen Regentschaft über Ugalien zu einer nicht unbeträchtlichen Körperfülle gebracht. Sein feistes Gesicht zierte ein lächerlich kleiner Oberlippenbart, den er mit schier unverständlicher Ausdauer pflegte. Mormand de Arrival Visond hatte schon in frühen Jahren ei211
ne Glatze bekommen. Jetzt trug er eine Perücke aus blonden, gelockten Mädchenhaaren. Seine Liebe galt dem Wein, aber noch mehr war er den Frauen zugetan. Allerdings war ihm der Gedanke, jemals zu heiraten, zutiefst zuwider. Julienne kehrte zurück, aber hinter ihr wehte ein grauenvoller Gestank in den Saal. Angewidert rümpfte der Lichtkönig die Nase und faßte nach seinem Riechfläschchen. Seinen vorwurfsvollen Blick bemerkend, sagte sie: »Es kommt von draußen, L’umeyn. Die Mauern überziehen sich mit einer gelben Schicht, die vom Fluß heraufsteigt. Böse Geister streifen über die Insel.« »Papperlapapp!« machte Mormand. »Welcher Magier wird es wohl wagen, sich mit uns zu messen?« Ganz wohl war ihm dabei aber nicht zumute. Es blieb ein gewisses Unbehagen, die Ahnung einer drohenden Gefahr. »Vassander muß her!« herrschte er das Mädchen an. »Suche den Erzmagier und sage ihm, daß ich seines Rates bedarf.« * Magier waren geachtet in Ugalien. Zum einen, weil die Ugalier ein zutiefst abergläubisches Volk waren, das für alles und jedes eine Deutung in der Weißen Magie suchte, zum anderen, weil ihr Lichtkönig, der L’umeyn, nicht durch Erbfolge, sondern von den Göttern bestimmt wurde. Nach dem Ableben eines Herrschers traten jeweils die zwölf Magier der Grafschaften zusammen, um einen Nachfolger zu bestimmen. Sobald sie dann ihre Wahl getroffen hatten, zog der Erzmagier von Ugalos zum Orakel von Theran, um die Wahl durch einen Wahrspruch bestätigen zu lassen. Zuletzt war dies vor dreißig Jahren geschehen. Mormand de Arrival Visond war ganze vierzehn Jahre jung gewesen, als das Orakel ihn in Gegenwart des Magiers Vassander als Herr212
scher anerkannt hatte. Selbstverständlich konnte es auch geschehen, daß das Orakel von Theran einen anderen Namen nannte. Vor allem in Zeiten, in denen es dem Herrscher schlechtging oder gar sein Tod vorhersehbar war, wurden im Volk Stimmen laut, daß der Erzmagier einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf den Wahrspruch nehmen könne. An all das und vieles andere mehr mußte der L’umeyn denken, während er ungeduldig darauf wartete, daß Vassander zu ihm kam. Im Lauf vieler Jahre hatte sein persönlicher Berater es verstanden, zum mächtigsten Magier im Lande aufzusteigen. Mormand hatte die Fenster des Palastes schließen lassen, als der hereinwehende Gestank schier unerträglich geworden war. Vom Ratssaal aus bot sich ihm ein guter Überblick über die sich teilende Lorana. Aber nur der linke Seitenarm hatte sich in eine dampfende Kloake verwandelt, auf der zu Hunderten tote Fische trieben. Die Ufer waren braun geworden von absterbenden Pflanzen, wohingegen der rechte Flußlauf kaum zur Hälfte von gelben Schlieren überzogen war. Die Weinberge, die von Norden her bis ans Wasser reichten, zeigten noch keine Schädigungen. Waren tatsächlich böse Geister am Werk? Der L’umeyn fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. Immer wieder tastete er über die Amulette, die er an schweren Goldketten um den Hals trug. »Lastet wirklich ein Fluch auf Ugalos?« fragte er sich im Selbstgespräch. Die Magier mußten helfen, denn nichts war ihnen mehr zuwider als die Schwarze Magie, wie die Priester der Caer sie anwendeten. In Ugalien fürchtete man alle dämonischen Mächte und hütete sich, am Bösen zu rühren. Schier grenzenlos war das Vertrauen in die Weiße Magie, die Schutz bieten 213
sollte vor den Einflüssen aus der Schattenzone. Endlich erschien Vassander und eilte ohne die übliche Ehrenbezeigung direkt auf den Lichtkönig zu. »Du hast mich rufen lassen, L’umeyn!« Der Lichtkönig nickte flüchtig und ließ sich ächzend in die Polster fallen. »Es stinkt«, sagte er bezeichnend. »Die Lorana ist verhext.« »Ich weiß«, nickte Vassander. »Und…?« Mormand benutzte wieder sein Duftwasser aus den Wurzeln edler Gehölze. »Was gedenkst du dagegen zu tun?« Tief atmete er ein. Da lag noch etwas anderes in der Luft, was seltsam berauschend wirkte und die Sinne verwirrte. Es mußte die Duftwolke sein, von der Vassander stets umgeben war. »Denk an meine Prophezeiungen!« erinnerte Vassander. »Vor vielen Monden habe ich vorausgesagt, daß die Magie der Caer-Priester auch nach Ugalos greifen wird. Nur sie sind mächtig genug, um die Lorana zu vergiften.« »Die Legenden sprechen von großem Unheil…« »Es sind die Caer«, wiederholte Vassander bestimmt. »Aber ich weiß, L’umeyn, daß du als weisester aller Herrscher meine Ratschläge aufgegriffen hast. Es ist nötig, einen Feldzug gegen die Horden zu führen, bevor sie ganz Ugalien mit Mord und Feuersbrünsten überziehen.« »Ich habe deinen Rat befolgt«, sagte Mormand, »und Unterhändler ins bergige Karsh-Land, nach Salamos und in das tainnianische Herzogtum Nugamor gesandt. Du weißt, daß Nugamor als einziger Teil Tainnias bisher noch verschont wurde. Zum Teil erhielt ich verbindliche Zusagen, aber auch einige Versprechungen, daß Boten in wenigen Tagen die Entscheidungen überbringen werden. Es wird zum gemeinsamen Kampf gegen die Caer kommen, vielleicht sogar zur Entschei214
dungsschlacht.« »Die Entscheidung wird fallen«, stimmte Vassander zu, und in seinen Augen blitzte es kurz auf. »Ich weiß es, denn es steht in den Sternen geschrieben. Es gibt einen Termin, für den die Zeichen günstig sind.« »In ganz Ugalien werden bereits Söldner angeworben und Gelder vereinnahmt«, fuhr der L’umeyn fort. »Die Grafschaften bereiten sich auf den Kampf vor. In unseren Waffenschmieden gehen die Feuer Tag und Nacht nicht mehr aus. Endlich scheinen alle Völker gewillt zu sein, sich zusammenzuschließen und gemeinsam gegen die Caer und ihre dämonischen Priester ins Feld zu ziehen.« »Ich sagte es voraus«, behauptete Vassander. »Der Sieg ist gewiß.« Mormand wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Ich ließ meinen besten Feldherrn rufen: Graf Corian de Veloy Anbur-Messarond. Er wird den Oberbefehl über unser Heer erhalten.« Vassander verriet mit keiner Miene, wie er darüber dachte. Er nickte nur. »Graf Corian ist ein fähiger Mann«, sagte er schließlich, »der es versteht, siegreich zu kämpfen und ein Heer zu führen.« »Ich wußte, daß meine Wahl richtig ist«, lachte Mormand. »Der Graf muß bald in Ugalos eintreffen.« Er hob seinen Becher und prostete Vassander zu. »Auf unseren Sieg!« * Die Spur, die er irgendwann wiedergefunden hatte, führte in südliche Richtung. Sie stammte von etwa zehn Pferden und zog sich unübersehbar durch den verharschten Schnee. Nur hin und wieder verlor sie sich an ausgedehnten Waldschneisen, wo der Wind ungehindert Zutritt hatte. An solchen Stel215
len wirkte das gefrorene, von einer dünnen Eisschicht überzogene Erdreich wie poliert. Mythor nahm wohl zu Recht an, daß die Fährte von den Entführern seiner Freunde stammte. Steinmann Sadagar und Nottr, vielleicht auch Kalathee, waren Unbekannten in die Hände gefallen. Der einsame Reiter mußte an die Botschaft Kalathees denken, die er in den Fels geritzt entdeckt hatte. Nach wie vor spürte er tiefe Besorgnis. Er konnte nicht glauben, daß das Mädchen sich so abrupt einem anderen Mann zugewandt hatte. War sie gezwungen worden, die Worte zu hinterlassen? Mythor wußte es nicht. In der Hoffnung, die Verfolgten einholen zu können, war er die halbe Nacht hindurch geritten, dann aber doch vor Müdigkeit und Erschöpfung eingeschlafen und erst von den Strahlen der frühen Morgensonne wieder geweckt worden. Es war klirrend kalt. Unter Pandors Hufen knirschte der Schnee. Am wolkenlosen Himmel zog der Schneefalke seine Kreise. Und irgendwo streifte Hark, der Bitterwolf, umher. Nur hin und wieder ließ er sein langgezogenes Heulen ertönen, wie um Mythor zu zeigen, daß er noch in der Nähe war. Der Wald wurde lichter. Erste Sonnenstrahlen brachen durch das Geäst und rissen eine verzaubert wirkende Schneelandschaft aus dem trüben Dämmer der frühen Stunde. Wie magische Kristalle gleißten Eiszapfen, die sich vereinzelt an dicken Ästen gebildet hatten. Ihr Funkeln erschien Mythor wie eine Verheißung, ein Hinweis darauf, daß er sich auf dem rechten Weg befand, auch wenn der Helm der Gerechten noch immer schwieg. Der heisere Schrei des Schneefalken ließ ihn aufsehen. Horus schien über den Wipfeln der Bäume stillzustehen. Ein zweiter Schrei folgte, drängender, wie Mythor zu erken216
nen glaubte. Zwar waren die Tiere erst seit kurzer Zeit bei ihm, aber doch bildete sich bereits so etwas wie gegenseitiges Verstehen heraus. Der Krieger richtete sich auf dem Rücken des schwarzen Einhorns auf, und genau diese Bewegung rettete sein Leben. Doch auch so streifte ihn die Lanze fast, bevor sie zitternd im Baum steckenblieb. Mythor ließ sich seitlich von Pandor hinuntergleiten. Ein zweiter Wurfspieß verfehlte ihn um etliche Schritt. Dichtes Gestrüpp verbarg die Angreifer vor den suchenden Blicken des Kriegers. Das Einhorn war noch ein Stück weitergetrabt, wandte sich aber nun um und scharrte ungeduldig mit dem rechten Vorderhuf. Den Kopf mit dem mächtigen Horn hielt es gesenkt. Weiße Fahnen quollen aus seinen Nüstern hervor, begleitet von wütendem Schnauben. Irgendwo raschelte es, knackten Äste. Mythor wirbelte herum, das Gläserne Schwert Alton zum Schlag hochreißend. Weich und warm schmiegte sich der Griff in seine Hand. Ein Schatten sprang ihn an, der Schaft einer Lanze schmetterte auf ihn herab. Er parierte den wuchtig geführten Hieb. Holz splitterte, und eine unverständliche Stimme schrie entsetzt auf. Jetzt wurde es laut ringsum. Mythor zählte fünf vermummte Gestalten, die aus dem Unterholz hervorsprangen. Sie trugen dicke Pelze, die nur ihre Augen unbedeckt ließen. Ihre Füße steckten in weit über die Knie hinaufreichenden Stiefeln. Mehr konnte er in der Kürze des Augenblicks nicht erkennen. Schreiend drangen die Angreifer auf ihn ein, mit Waffen, die schartig waren und blutbefleckt. Er schwang sein Schwert Alton, das sein seltsames Wehklagen von sich gab und einen um vieles helleren Schein verbrei217
tete, als dies noch vor wenigen Tagen der Fall gewesen war. Es durchschnitt eine zweite Lanze unmittelbar unterhalb der mit Widerhaken versehenen Spitze und prallte dann auf Metall. So hart war der Schlag geführt, daß es dem Angreifer die Waffe aus der Hand schlug. Mit verbissener Wut drangen die Vermummten auf Mythor ein. Noch vermochte dieser sich ihrer zu erwehren, aber er stand frei und ungeschützt. Deshalb wich er langsam zurück, bis er im Rücken die kalte Rinde eines Baumes spürte. Ein gezielter Hieb durchschnitt mehrere unter der Last gefrorenen Schnees herabhängende Äste, und vorübergehend verschwanden die Angreifer unter einer aufstiebenden Wolke. Danach aber schien sich ihre Wut verdoppelt zu haben. Wild und ungestüm drangen sie auf ihn ein. Noch konzentrierte er sich nur darauf, sie abzuwehren, aber allmählich begriff er, daß sie mehr wollten als nur seine Habe. Es ging um sein Leben! Die Angreifer waren kleiner als er, knapp fünf Fuß groß, aber zäh und verbissen. Mythor wagte einen Ausfall, ließ Alton einen halbkreisförmigen Bogen beschreiben und benutzte das Schwert gleichzeitig als Hieb- und als Stichwaffe. Einer der Vermummten schrie gellend auf, als die nadelscharfe Spitze ihr Ziel fand. Gurgelnd brach der Schrei dann ab. Zwei Mann versuchten nun, Mythor von hinten anzugehen, der ihre Absicht aber durchschaute und sie mit wohlgezielten Streichen in die Enge trieb. Er machte beide kampfunfähig. Wolfsgeheul ertönte in unmittelbarer Nähe. Ein großer grauer Schemen schoß zwischen den Bäumen hervor. Hark riß einen der noch handlungsfähigen Angreifer zu Boden. Seine Zähne schlugen sich in den Waffenarm des Mannes, der unterdrückt aufschrie. Der andere schien die Aussichtslosigkeit seiner Lage zu er218
kennen und verschwand im Unterholz. Mythor ließ ihn laufen. Er wandte sich dem Bitterwolf zu. Reglos stand Hark über seinem Opfer. Drohend zog er die Lefzen hoch, und sein mächtiges Gebiß schwebte nur wenige Zentimeter über der Gurgel des Mannes, bereit, bei der geringsten Bewegung zuzubeißen. Mythor riß ihm die Kapuze aus dem Gesicht. Er blickte auf einen kahlen Schädel, in dem die böse funkelnden Augen beherrschend waren. Haß starrte ihm entgegen und eine nur schwer verhaltene Gier. »Warum habt ihr mich überfallen?« fragte er. Der Mann schwieg. Irgend etwas unbeschreiblich Feindseliges ging von ihm aus. Hark ließ ein drohendes Knurren hören. »Rede!« forderte Mythor. »Oder du wirst mit meinem Schwert Bekanntschaft schließen.« Der Mann stieß ein heiseres Krächzen aus. Er versuchte, sich zu bewegen, aber sofort schnappte der Bitterwolf zu. »Laß ihn, Hark!« sagte Mythor. Der Wolf reagierte nicht darauf. Er riß eine tiefe, blutende Wunde in den Arm seines Opfers. »Hark!« Was immer in das Tier gefahren war, es ließ erst los, als Mythor fast wütend wurde. Sein Nackenfell sträubte sich. »Woher kommst du?« Wieder erhielt der Sohn des Kometen keine Antwort. Er schob Alton in den Gürtel zurück und wandte sich ab. Ein leises Schnalzen mit der Zunge, und schon kam Pandor angetrabt. Mythor tätschelte ihm den Hals. »Verschwinde!« rief er dann dem Mann zu, den der Bitterwolf noch immer aufmerksam bewachte. »Aber laßt euch nicht mehr in meiner Nähe blicken. Hark, komm her!« Einen Herzschlag später war er wieder mit seinen Tieren allein. Irgendwo über ihm zog Horus noch immer seine Kreise. 219
Hin und wieder gellte sein heiserer Schrei durch den Wald. Hark schien jetzt zu lauschen. Vielleicht hatte er ein Wild bemerkt, das sich als Beute eignete. Mythor beachtete ihn nicht. Er interessierte sich mehr für die Lanze, die noch immer in dem Baum steckte. Wenn er gehofft hatte, aus der Waffe Rückschlüsse ziehen zu können, so wurde er enttäuscht. Sie hatte einen glatten Schaft ohne jegliche Verzierung oder Wappen. Ein weißer Schatten huschte heran und ließ sich auf seiner Schulter nieder. Selbst durch den dicken Pelz hindurch spürte er die scharfen Krallen des Schneefalken. »Danke, Horus«, murmelte er. »Es sieht so aus, als könnten wir uns schnell aneinander gewöhnen.« Unwillkürlich mußte Mythor sich fragen, wie lange die Tiere wohl in den Kokons zugebracht hatten. Sicher kannten sie die Welt noch so, wie der Lichtbote sie erlebt hatte. Aber was war Besonderes an ihnen, daß sie zu ihm gehörten wie das Gläserne Schwert Alton oder der Helm der Gerechten? Irgendwann würde er es wohl erfahren. Wenn bis dahin die Welt nicht von Finsternis überzogen war, die sich unaufhaltsam auszubreiten schien. Ein gellender Schrei zerriß die Stille des Waldes und schreckte Mythor aus seinen Gedanken auf. Krächzend schwang Horus sich in die Luft, wo er mit sanftem Flügelschlag hinter den Wipfeln der Bäume verschwand. Hark ließ ein böses Knurren hören. Der Bitterwolf wandte den Kopf und blickte Mythor fast auffordernd an. Ein zweiter Schrei ertönte, der jedoch abrupt abbrach. Nur jemand, der sich in höchster Lebensgefahr befand, schrie so. Mythor zögerte nicht einen Augenblick. Es mochte sein, daß ein anderer ahnungsloser Wanderer den Vermummten in die Hände gefallen war und daß diese sich jetzt für die erlittene Schmach rächten. 220
Ohne auf dornige Äste zu achten, drang der Krieger in das Unterholz ein. Irgendwo vor ihm huschte der Bitterwolf durch das Dickicht. Er verlor ihn schnell aus den Augen. Nach einer Weile kam Mythor leichter vorwärts. Er folgte den Spuren, die Hark hinterlassen hatte, wohl wissend, daß der Wolf das Ziel nicht verfehlen würde. Der Geruch nach Rauch lag in der Luft. Tatsächlich brannte auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald ein spärliches Feuer. Nur der Wind schien die Glut immer wieder von neuem anzufachen, die sonst wohl schon erloschen wäre. Neben der Feuerstelle und sorgsam aufgeschichtetem Holz, das darauf schließen ließ, daß an diesem Ort nicht nur gelegentlich Menschen lagerten, lag ein dunkles Bündel im Schnee. Hark stand witternd davor und wandte den Kopf, als Mythor auf die Lichtung hinaustrat. Das Bündel erwies sich als ein Haufen übereinandergeworfener Felle, wie die Vermummten sie getragen hatten. Wahrscheinlich lauerten die Wegelagerer irgendwo in der Nähe. Aber Hark war wachsam, er würde Angreifer rechtzeitig wittern. Mythor zog eines der Felle beiseite und schauderte. Blicklose Augen starrten ihn an. Ein zum Schrei weit aufgerissener Mund offenbarte noch immer die Qualen, die dieser Mann vor seinem Tod empfunden haben mußte. Mythor kannte ihn. Es war derselbe, den Hark überwältigt und den er schließlich hatte laufenlassen. Er war erdolcht worden. Nicht hinterrücks, sondern von vorne. Und er hatte sich nicht dagegen zur Wehr gesetzt, denn dann hätte die Stichwunde ganz anders verlaufen müssen. Neben ihm lagen zwei weitere leblose Körper, die auf dieselbe Art zu Tode gekommen waren. Sie wiesen zahlreiche Wunden auf, die nicht von den Reißzähnen des Wolfes 221
stammten, dafür aber eindeutig von einer scharfen, doppelschneidigen Klinge. Von Alton, stellte Mythor schnell fest. Er selbst hatte die beiden kampfunfähig gemacht. Aber wer hatte sie getötet? Mythor zog auch die anderen Felle zur Seite. Dabei fiel sein Blick auf etliche bleich schimmernde Knochen, die vom Schnee schon halb verweht waren. Er hob einige davon auf. Zunächst wußte er nicht recht, was er damit anfangen sollte, doch dann durchfuhr ihn die Erkenntnis mit eisiger Hand: Menschenknochen! Mythor spürte, wie die Erregung ihn in ihren Bann zu schlagen drohte. Konnte es so etwas überhaupt geben? »Nein!« stöhnte der Krieger, und zum erstenmal seit langem verspürte er wieder jenes geheimnisvolle Flüstern, das von dem Helm der Gerechten ausging. Aber diesmal wollte es ihn nicht in eine bestimmte Richtung lenken; es war völlig ohne erkennbaren Sinn, fast lästig und unangenehm. Wieviel schlimmer als Tiere mußten Menschen sein, die ihre verwundeten Gefährten töteten, nur um sie dann zu verspeisen wie ein Stück erlegten Wildes? »Bei Erain«, sagte Mythor zu sich selbst. »Sie hatten mir dieses Schicksal zugedacht.« Und er wußte gleichzeitig, daß die Kahlköpfigen wiederkommen würden. Hark ließ ein leises Winseln vernehmen. Er schien unruhig und drehte sich im Kreis. Dann stieß er jenes Heulen aus, das für viele nur Legende war. Fast gleichzeitig vernahm Mythor Geräusche über sich. Schnee rieselte von oben herab. Mit bösartigem Fauchen schnitt ein Schwert durch die Luft und bohrte sich in den Boden, wo eben noch der Bitterwolf gewesen war. Hark jaulte auf, als die Schneide seinen rechten Hinterlauf berührte. Blut färbte das grau-weiß gesprenkelte Fell dunkel. 222
Mythor blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, weshalb der Wolf die Angreifer nicht gewittert hatte. Vielleicht haftete ihnen ein Zauber an, oder sie standen mit Dämonen im Bunde. Er sprang zur Seite. Hart und erbarmungslos prallten sie dann aufeinander. Die Angreifer ließen auch Hark nicht einen Augenblick lang aus den Augen. Der Bitterwolf zog seinen verletzten Lauf nach. Er blutete jetzt stärker. Fast schien es, als könne er Mythors Worte verstehen, der ihm zurief, fernzubleiben. Immer lauter wurde das Wehklagen, das Alton von sich gab. Mythor schenkte sich nichts. Es waren Bestien in Menschengestalt, gegen die er kämpfte. Sie drängten ihn zurück, hinaus auf die Lichtung, wo sie ihn einkreisen konnten. Trotz allem mußte er die Geschicklichkeit und die Kraft bewundern, mit der sie Alton immer wieder abwehrten. Wie eine Statue stand der Bitterwolf zwischen den Bäumen und beobachtete. Er schien nur auf ein Zeichen zu warten, um sich auf die vermummten Gestalten zu stürzen und ihnen die Zähne ins Fleisch zu schlagen. Mythors Fuß verfing sich in einem der herumliegenden Felle. Er taumelte, versuchte mühsam, das Gleichgewicht zu halten, und stürzte. Im Fallen noch trat er nach den Beinen eines seiner Gegner und brachte ihn ebenfalls zu Fall. Der Mann wurde von Alton förmlich aufgespießt. Nicht einen Herzschlag zu früh rollte Mythor sich zur Seite. Dort, wo er eben noch gelegen hatte, schmetterten zwei Schwerter auf den gefrorenen Boden. Zweifellos hätten sie ihm den Schädel gespalten. Nur mit Mühe gelang es dem jungen Abenteurer, seine Waffe aus dem Leichnam zu ziehen. Ein Fuß stampfte neben seiner Rechten auf den Boden. Mythor ließ die andere Hand vorschnellen. Seine Finger krallten sich in den ledernen Stiefel, 223
dann folgte die Klinge des Gläsernen Schwertes. Ein entsetzter Aufschrei. Der Angreifer stürzte bäuchlings in das fast erloschene Lagerfeuer. Funken stoben auf, und plötzlich fanden die Flammen wieder neue Nahrung. Jetzt sah Mythor sich nur noch einem Mann gegenüber, der unverkennbar erste Anzeichen von Furcht zeigte. Von oben stieß sein Schwert herab, dem der Sohn des Kometen nur durch abermaliges Abrollen zur Seite entgehen konnte. Dabei kam er selbst dem Feuer zu nahe. Der plötzliche Schmerz ließ ihn zusammenzucken, aber seine Linke umklammerte das glimmende Holzscheit, das er zwischen den Fingern fühlte, und riß es aus der Asche. Flammen züngelten auf, als Mythor nach dem Gesicht des letzten Angreifers stieß. Der Vermummte wich geschickt aus, vergaß dabei jedoch vorübergehend seine Deckung und bekam Alton zu spüren. Aber noch konnte er kämpfen. Haß flammte in seinen Augen auf, und Schaum bildete sich vor seinem Mund. Das war kein Mensch mehr, sondern eine Kreatur des Bösen. Abermals schnitt Alton durch die Luft. Dann trat Stille ein, nur unterbrochen vom Knistern des hell auflodernden Feuers. Mythor stieß das Gläserne Schwert in die Flammen und zerstreute die Asche. Er trat auch die letzte Glut aus und wandte sich schließlich ab. Hark folgte ihm humpelnd. * Die Verletzung des Bitterwolfs erwies sich zum Glück nur als Fleischwunde. Aber einen Fingerbreit tiefer, und Muskeln und Sehnen wären durchtrennt worden, und Hark hätte seinen Hinterlauf wahrscheinlich nicht mehr bewegen können. Indem er verschiedene Kräuter auflegte, brachte Mythor die 224
Blutung rasch zum Stehen. Hark schien jede seiner Bewegungen aufmerksam zu verfolgen. Was mochte in diesem großen Tier vor sich gehen? »So«, sagte Mythor endlich. »In spätestens zwei Sonnenuntergängen wird sich die Wunde geschlossen haben.« Prüfend sah er zum Firmament hinauf. Die Sonne stand fast über ihm, aber ihre Strahlen waren schwächer geworden. Irgendwie bedrückend war ihr Schein, beinahe gespenstisch die Schatten, die sie zauberte. Und auch der Himmel veränderte sich. Sein strahlendes Blau wich einem eigentümlichen schmutzigen Grau, das sich allmählich mit düsteren Wolkenfetzen überzog. Irgendwo dort oben kreiste Horus, und sein Schrei hallte weithin über das Land. Dandamar war kaum besiedelt. Eine öde Wildnis, in der es mitunter etlicher Tagereisen bedurfte, um von einem Gehöft zum nächsten zu gelangen. »Wir haben genug Zeit verloren«, sagte Mythor zu sich selbst. »Wenn wir noch länger warten, holen wir den Vorsprung der Entführer kaum noch auf.« Er wandte sich zu Hark um, der im Schnee lag und sich die Pfoten leckte. »Es geht weiter, Freund.« Aber der Bitterwolf ließ sich nicht stören. Als Mythor dann allerdings in die Mähne des Einhorns griff und sich auf dessen Rücken schwang, stand Hark sofort auf den Beinen. Pandor wieherte freudig. Sie kamen schnell vorwärts, denn der Wald wich einem weiten, hügeligen Gelände. Der Schnee war hart gefroren, und nur an manchen Stellen, die auf der windabgewandten Seite größerer Hügel lagen, brach das Einhorn bis zu den Fesseln ein. Immer öfter huschte Horus wie ein weißer Pfeil an Mythor vorbei und verschwand im heraufziehenden Dunst. Der Horizont war nicht zu erkennen. Sogar der Wald, den sie erst vor kurzem verlassen hatten, wurde zum düsteren 225
Schatten inmitten der schier unübersehbaren weißen Fläche. Ein schneidender Wind kam auf. Er peitschte Eiskristalle vor sich her, die wie winzige Messer in die Haut schnitten. Mythor zog sich den Fellumhang weit ins Gesicht. Hark lief jetzt links neben ihm. Der Bitterwolf hielt sich dicht neben Pandor, weil er dort dem heftiger werdenden Sturm am wenigsten ausgesetzt war. Der Schneefalke schien verschwunden zu sein. Es wurde rasch kälter. Drohend ballten sich schwarze Wolkenwände zusammen, und Dunkelheit brach über das Land herein. Das Einhorn schnaubte unruhig, als spüre es eine nahende Gefahr. Sein glänzendes Fell überzog sich mit einer dicken Schicht aus Schweiß und Schnee, die schnell zu Eis gefror. Mythors Hände, die sich in die Mähne klammerten, wurden schnell steif. Trotz wärmender Kleidung machte auch ihm die Kälte zu schaffen. Aber er mußte weiter! Seine Gedanken drehten sich nur um seine Gefährten, deren Spuren der Schneesturm wohl verwischen würde. Donnergrollen schreckte Mythor auf. Er sah, daß Hark die Ohren spitzte. Der Sturm wurde heftiger, wirbelte den frisch gefallenen Schnee auf und riß ihn mit sich fort. Schlagartig verringerte sich die Sicht bis auf wenige Schritt. Lang anhaltender Donner rollte jetzt über die Ebene. Irgendwo voraus flammte es auf. Greller Feuerschein riß für einen kurzen Augenblick die Dämmerung auf. Mythor konnte sich kaum noch auf dem Rücken des Einhorns halten. Es war Wahnsinn, in diesem Unwetter weiterzureiten. Aber es sah auch nicht so aus, als würde der Schneesturm bald nachlassen. Erneut zuckte ein Blitz auf. Im flackernden Widerschein 226
zeichneten sich mehrere Bäume in unmittelbarer Nähe ab. Ihr Schutz würde es leichter machen, den Sturm abzuwarten. Mit einem Schenkeldruck lenkte Mythor das Einhorn in die neue Richtung, und tatsächlich erreichten sie gleich darauf ein kleines Nadelgehölz. Im nächsten Moment fuhren erneut Flammen auf die Erde herab. Ein berstendes Krachen ertönte. Mit unwiderstehlicher Gewalt wurde der Krieger von seinem Reittier herabgezerrt. Etliche Schritt weit wirbelte er durch die Luft, bevor er unsanft aufschlug. Eine unheimliche Macht schien ihm in die Glieder zu fahren. In seinem Schädel dröhnte und hämmerte es; feurige Ringe tanzten vor seinen Augen, und er hörte wie aus unendlich weiter Ferne das erschrockene Wiehern des Einhorns und das Heulen des Bitterwolfs. Arme und Beine waren taub und brannten gleichzeitig in höllischem Feuer. Ein unsagbarer Schmerz raste durch seinen Körper – ein Dämon, der von ihm Besitz ergreifen wollte? Mythor schrie auf. Und sein Schrei mischte sich in das lauter werdende Prasseln, das ringsum war und ihn in die Wirklichkeit zurückrief. Flackernder Feuerschein lag über dem Schnee. Der Geruch brennenden Harzes breitete sich aus. Mühsam stemmte Mythor sich hoch. Er war benommen und fühlte sich schwach, und er zitterte. Aber als er die brennenden Bäume sah, von denen die Flammen in den Himmel stiegen, wußte er, daß die Götter ihm gnädig gewesen waren. Wintergewitter waren selten. Ob das Unwetter von Dämonen herbeigerufen wurde, ihn zu vernichten? Mythor wußte es nicht. Immerhin war er dem Blitzschlag nur um Haaresbreite entgangen. Und seither blieb es still, kein Donner rollte mehr über das Land, keine glühenden Finger leckten gierig vom Firmament. Der Sturm zerstreute die schwarzen Wolken. 227
Noch immer fiel Schnee. Mythor versuchte einige unbeholfene Schritte. Er war von einer inneren Unruhe erfüllt, die ihn aus der Nähe der lodernden Flammen wegführte. Er sah noch Pandor auf sich zukommen, dann wurde ihm schwarz vor Augen. Daß er stürzte, nahm er schon gar nicht mehr wahr.
Die Legende Es hielt den Heroen Maynos nicht lange in der neugegründeten Stadt. Sein Leben war der Kampf, und er zog wieder aus, um sich zu bewähren. Vielleicht trieben ihn die Mächte der Schattenzone vorwärts, vielleicht auch nur sein Weib Arza, das schon bald, nachdem die Kunde vom Tod des Drachen in aller Munde war, in Ugalos erschien. Dieses Weib war schlimmer noch als ein Drache mit zwei Köpfen. Sie haßte Maynos ob seiner unzähligen Liebschaften und scheute nicht davor zurück, einer seiner Mätressen die Augen auszukratzen. Eines Tages aber führte die Lorana blutrotes Wasser… Maynos war beim Baden in einem Seitenarm des Flusses hinterrücks getötet worden. Sein Weib hatte den Meuchelmörder gedungen, der wenig später an dieser Stelle auch Hand an sich selbst legte, von dunklen Mächten dazu gezwungen. Beides geschah eine halbe Tagesreise von Ugalos entfernt flußaufwärts. Der Heroe lebte noch lange genug, um diesen Ort verfluchen zu können. Sein Fluch öffnete die Erde, der für lange Zeit blutrote Fluten entströmten. Ob es das Blut des Drachen war, das den Fluß vergiftete, oder der Speichel von Dämonen, wagte niemand zu sagen. Erst nach vielen Sonnenwenden versiegte der Blutstrom. Von da an wurde die Lorana von der Blutquelle mit klarem, reinem Wasser gespeist, dem man gar oft wohltuende Wirkung zuschrieb. Es hieß, daß es Krankheiten heile und Gebrechen bis ins hohe Alter hinein lindere. Ugalos blieb die Stadt auf den sieben Inseln, und viele ihrer Bewohner, die aus Furcht vor Siechtum und Besessenheit geflohen waren, kehrten wieder zurück. Seither ist das Stadtwappen der sechsbeinige, kriechende Drache mit hochgestelltem Schweif, der gelbes Feuer in die Höhe speit. Als Erinnerung an die Gesänge des Barden und zur steten Mahnung vor den 228
unbegreiflichen Mächten der Schattenzone ist das Tier schwarz und blutrot gefärbt der Hintergrund. Über dem Drachen kreuzen sich Breitschwert und Zauberstab. Auch in den Wappen der zwölf Grafschaften findet sich der feuerspeiende Drache. Noch heute heißt es, daß großes Unheil der Stadt Ugalos drohe, wenn sich eines Tages das Wasser der Blutquelle wieder trübt…
* Leise, schlurfende Schritte huschten über den Boden aus weißem Marmor. Kein Laut drang von den oberirdischen Gemächern des Sonnenpalastes bis hierher. Die Gestalt im schwarzen Umhang verhielt, schien kurz zu lauschen und eilte dann weiter. Im Schein rußender Fackeln flammten in die Kleidung eingewebte magische Symbole auf. Sie vermochten Einblick in das Leben und Wirken ihres Trägers zu geben und wiesen den alten Mann als Erzmagier aus. Irgendwo öffnete sich knarrend eine Tür. Dröhnendes Gelächter aus rauhen Männerkehlen hallte durch die Gänge, dazwischen die schrille Stimme einer Frau. Ein lauter Knall, der in vielfachem Echo verhallte, dann war Stille. Aber jemand kam. Eng drückte sich Vassander in eine seitliche Nische. Er verschmolz fast mit den langen, flackernden Schatten. Eine junge Frau näherte sich und hastete eilig vorüber, ohne den Magier zu bemerken. Er kannte sie flüchtig. Sie zählte kaum siebzehn Lenze und war schon erfahrener als manche gealterte Mätresse. Der Erzmagier verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Grinsen. Diese Art von Vergnügen würde nicht mehr lange währen. Bald galt es zu kämpfen. Gegen die anrückenden Caer und ihre Priester. Vassander lief weiter, auf seine Art, die auf Außenstehende 229
wie ein schwereloses Schweben wirkte. Etliche schwere, eisenbeschlagene Türen zweigten seitlich ab. Sie führten zu den Waffenkammern, zu Vorratskammern und den Verliesen. Die Pforte am Ende des Ganges mußte es sein. Vassander vernahm leises Stimmengemurmel. Vorsichtig drückte er die Tür auf. Jetzt konnte er verstehen, was gesprochen wurde. Es waren belanglose Dinge. Der Magier zählte drei Männer, die um einen Tisch herumsaßen und sich zutranken. Im Hintergrund des Raumes bemerkte er eine zerwühlte Schlafstatt. Plötzlich verstummte die Unterhaltung. Jemand ließ entsetzt seinen Becher fallen, und goldgelbe Flüssigkeit ergoß sich über den Boden. Alle drei starrten Vassander aus schreckgeweiteten Augen an. Der Erzmagier stand in der offenen Pforte und wirkte wie aus Stein gehauen. »Ich sehe«, sagte er, »daß ich willkommen bin.« In seiner Stimme drückten sich Verachtung und Unmut aus, aber niemand schien das zu bemerken. »Sicher, Vassander«, erwiderte der mittlere der drei und erhob sich. »Wir freuen uns über deinen Besuch, wenngleich wir nicht wissen, was dich zu uns führt.« Der Mann, der dies sagte, mochte etwa Mitte der Dreißig sein. Er war unverkennbar adeligen Geblüts, worauf allein schon sein blasiertes Aussehen schließen ließ. Im übrigen zeigte er trotz seiner stattlichen Größe von beinahe sechs Fuß deutliche Spuren eines ausschweifenden Lebenswandels. »Es geschehen Dinge, Graf Laffeur de Arrival Visond«, sagte Vassander leise, »die dir nicht gefallen werden, wenn du sie erfährst.« Der Mann war der jüngere Bruder des L’umeyn Mormand, schnell mit der Zunge und noch schneller mit der Waffe, wenn es galt, einen unliebsamen Nebenbuhler zu beseitigen. 230
»Setze dich, Vassander, und berichte.« Der Graf bot dem Erzmagier seinen Stuhl an, was dieser aber mit einer schroffen Handbewegung ablehnte. Er schloß die Tür hinter sich und schwebte näher. Sein Gesicht blieb dabei im Schatten des fliederfarbenen Magierhuts, nur seine Augen versprühten ein unirdisches Feuer. »Du weißt, daß ich dich schätze, Graf Laffeur«, sagte Vassander nach einem raschen Seitenblick auf die beiden anderen, die bereits wieder dem Wein zusprachen. »Für mich bist du der Nachfolger des L’umeyn. Nur du hast den Mut und die Kraft, ein Reich wie Ugalien vor dem Zerfall zu bewahren.« »Du sprichst wahr, Erzmagier. Aber du bist sicher nicht gekommen, um mir dies zu berichten.« »Deine Klugheit ist bewundernswert.« Vassander nickte. »Es geschehen fürwahr Dinge zwischen Himmel und Erde, auf die ich keinen Einfluß habe. Die Entscheidungsschlacht gegen die Caer steht bevor, und nicht nur das ugalische Heer braucht einen starken Arm, der es zum Sieg führt. Allein unsere Grafschaften können hundert Hundertschaften in den Kampf werfen.« Graf Laffeur de Arrival Visond legte die Stirn in Falten. »Es wird ein Gemetzel geben«, stellte er dann fest und fügte rasch hinzu: »Ich nehme doch an, daß mein Bruder weiß, wer der fähigste Mann ist, das Heer zu leiten.« »Er glaubt es zu wissen«, sagte der Erzmagier. »Leider war es mir nicht möglich, ihn von dieser Meinung abzubringen.« »Wer?« stieß Laffeur hastig hervor. »Wer ist es?« Seine Augen, blutunterlaufen und von schwarzen Ringen umgeben, schienen ins Leere zu stieren, während er nach einem Becher griff und diesen hastig leerte. »Graf Corian!« Bedrücktes Schweigen folgte den Worten Vassanders. Der Magier hatte gewußt, welche Wirkung allein die Nennung 231
dieses Namens haben würde. Immerhin war bekannt, daß Corian und Laffeur von Jugend an die ärgsten Widersacher gewesen waren. »Dieser… dieser Bastard«, zischte der Bruder des Königs verächtlich, »soll unser stolzes Heer anführen?« Vassander machte eine umfassende Handbewegung. Die magischen Symbole auf seinem Umhang schienen dabei noch intensiver aufzuleuchten. »Du weißt es, Graf«, sagte er betont langsam, »deine Freunde wissen es, und auch mir ist dies bewußt. Aber der Wille des L’umeyn ist Gesetz.« »Es muß etwas geschehen«, lallte einer der beiden Zuhörer und schwenkte seinen leeren Becher. »Das wird es auch«, nickte Vassander. Laffeur sah ihn fragend an. »Du kannst Corian mit jeder Waffe schlagen.« »Hm«, machte der Graf. »Ich müßte ihn so verletzen, daß er den Feldzug auf einer Bahre verbringt. Denn weshalb sollte ich ihn töten? Es wird ihn viel mehr quälen, wenn er weiß, daß ich unser Heer zum Sieg führe.« »Ich sehe, du bist es wert, Lichtkönig zu werden. Das Orakel wird deine Wahl sicher bestätigen.« Laffeurs Gesicht zeigte eine unverhohlene Gier. »Wann?« fragte er hastig. »Das laß die Götter entscheiden«, antwortete Vassander. »Sie sind dir wohlgesinnt.« Mit diesen Worten wandte er sich um und schritt auf die Tür zu. * In einem Park hatte Frerick Armos wenigstens vorübergehend die Ruhe gefunden, die er sich wünschte. Tief sog er die würzige Luft ein, die den Duft vieler edler Hölzer in sich barg. A232
ber auch hier machte sich bereits der Gestank bemerkbar, der aus den Kanälen aufstieg. Der Schmied begann zu ahnen, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis ganz Ugalos unter der schwefligen Brühe erstickte. Schon verbarg sich die Sonne hinter träge dahintreibenden gelben Schleiern. Armos wurde von einem quälenden Hustenreiz geschüttelt. Höllische Schmerzen tobten in seiner Brust, die ihm die Sinne verwirrten. Um ihn herum drehte sich alles in einem rasenden Wirbel. Er glaubte Stimmen zu hören, unglaublich fremd, bedrohlich. Sie lachten über ihn, labten sich an seinen Qualen. Armos stürzte, während Dämonen die Wipfel der Bäume zu ihm herabbogen. Im Rauschen der Blätter, das wie ein Sturm über die Insel fegte, offenbarten sie sich. Armos schrie. Und allmählich erkannte er, daß es seine eigene Stimme war, die er hörte. Niemand befand sich in seiner Nähe. Er lag auf dem Rücken und starrte in den verschleierten Himmel hinauf. Und noch immer glaubte er zu fallen – in einem Sturz, der nicht enden wollte. »Aqvitre, hilf mir!« Taumelnd kam er auf die Beine und mußte um einen sicheren Stand kämpfen. Selbst nach etlichen durchzechten Nächten hatte er niemals ein solches Gefühl gehabt wie jetzt. Ein abscheulicher Juckreiz überzog seinen ganzen Körper. Armos’ Augen weiteten sich in ungläubigem Erstaunen, als er seine Hände sah. Sie waren gerötet und an den Knöcheln angeschwollen. Die Haut schälte sich ab, als er mit den Fingern über die betroffenen Stellen fuhr. Blutiges, leicht gelb verfärbtes Fleisch kam darunter zum Vorschein. Armos glaubte plötzlich, keine Luft mehr zu bekommen; seine Kehle war wie zugeschnürt. Kurz und hastig ging sein Atem, in den Schläfen pochte das Blut. Er würgte. Zu allem Überfluß machte sich auch seine Wunde am Oberarm wieder 233
schmerzhaft bemerkbar. Er erinnerte sich an die gelbe Brühe, die über seine Hände gelaufen war. Sollte sie…? Armos begann zu laufen. Er konnte jetzt nicht allein sein. Er mußte dorthin, wo Leute waren, mußte sehen, daß das Leben in Ugalos weiterging, daß nicht alle so waren wie er. Ein Fluch lastete auf der Stadt, der den Tod bringen konnte. Die ersten Häuser… Armos stolperte über holpriges Pflaster. Die Angst trieb ihn vorwärts, folgte ihm wie ein unsichtbarer Schatten. Von irgendwoher kamen aufgeregte Stimmen. Er folgte ihrem lauter werdenden Klang und gelangte auf einen größeren Platz, auf dem sich Bürger aller Schichten versammelt hatten. Wieder begann sich alles vor ihm zu drehen, aber Armos kämpfte mit aller Macht dagegen an und schaffte es, auf den Beinen zu bleiben. Unsicher tappte er weiter. Er torkelte zwischen die Leute, stieß sie mit den Ellbogen zur Seite, wenn sie ihm im Weg standen. Sie wehrten sich nicht, wichen sogar vor ihm zurück. Viel gemeines Volk war da, in Gewändern aus groben Stoffen. Aber auch etliche Adlige, die in ihren farbenfrohen, glitzernden Kleidern wie Pfauen wirkten. Alle waren sie aufgeregt und redeten wirr durcheinander. Wie durch einen dichten Schleier sah Armos eine Frau am Brunnen stehen. Sie war jung und schön, aber sie beugte sich so weit vor, als wolle sie in die Tiefe springen. Sie weinte. Zärtlich streichelte sie den Säugling, den sie an ihr Herz drückte. Armos kam näher. Er stieß mit dem Fuß gegen einen hölzernen Eimer, der über blutiges Pflaster rollte. Dann erst konnte er erkennen, daß das Kind tot war, allem Anschein nach unter großen Schmerzen gestorben. Sein kleines Gesicht wirkte verzerrt und war von Geschwüren übersät. Sanft berührte die Mutter es mit ihren Lippen, dann hob sie es hoch und… Armos sprang vor, kam jedoch zu spät. Der Leichnam des 234
Säuglings verschwand im dunklen Brunnenschacht. Gleich darauf ertönte von unten ein leises Klatschen, dem ein dumpfes Gurgeln folgte. Zitternd brach die Frau zusammen. Der Schmied wußte nicht zu sagen, was ihn dazu trieb, daß er sich trotz seiner Schwäche nach dem Eimer bückte, ihn an das Seil knotete, das über dem Schacht hing, und langsam in die Tiefe ließ. Als er spürte, daß die Last schwerer wurde, drehte er die Winde zurück. Niemand half ihm, den Eimer über den Mauerrand zu ziehen. Er bemerkte nicht das drückende Schweigen, das über dem Platz lag. Im nächsten Moment prallte er entsetzt zurück. Der Eimer entglitt seinen schlaffen Händen. Blut schwappte über seine Füße und färbte das Pflaster rot, bevor es im Staub versickerte. »Dämonenblut!« schrie jemand auf. Armos mußte an sich halten, um nicht wie von Furien gehetzt davonzurennen. * »Graf Corian ist soeben eingetroffen.« Der L’umeyn winkte kurz mit zwei Fingern der rechten Hand und ließ sich ansonsten nicht in seinem Mahl stören, das wie stets ausgezeichnet mundete. »Er soll sofort zu mir gebracht werden«, ordnete Mormand an, ohne sich von den Humpen Bier und etlichen Salaten, die mit köstlichen Soßen angemacht waren, abzuwenden. Noch weit mehr als den Frauen war er der Weißen Magie zugetan, was sich nicht zuletzt darin äußerte, daß nicht seinen Leibköchen die Zusammenstellung seiner Menüs oblag, sondern daß dafür ausschließlich die am Hof weilenden Astrologen verantwortlich waren. Zu besonderen Anlässen wurden die Mahlzeiten in magischen Ritualen zubereitet, was böse Geister vertreiben und die Gesundheit erhalten sollte. Tatsäch235
lich hatte der L’umeyn während der langen Zeit seiner Herrschaft noch keine Erkrankung durchstehen müssen. Auch sein magischer Schmuck mochte daran Anteil haben, wie er sich andererseits jeden Schritt, den er tat, von der altüberlieferten Magier-Etikette vorschreiben ließ. Mormand knabberte soeben am Schenkel einer knusprig gebratenen Wildtaube und leckte seine vom Fett triefenden Finger ab, als die Tür zum Speisesaal aufgestoßen wurde und Graf Corian erschien. Der Edelmann deutete eine flüchtige Verbeugung an. »Du hast mich rufen lassen, L’umeyn.« Mormand nickte, hieß ihn, sich zu setzen, und schob ihm eine Schüssel voll wohlschmeckender Flußmuscheln zu. »Bediene dich, Graf, denn du wirst ihre magischen Kräfte brauchen.« Fragend zog Corian die Augenbrauen in die Höhe, schwieg jedoch. Er brach eine der Muscheln auf und musterte sie von allen Seiten. »Was ist?« fragte der L’umeyn schmatzend. »Sind sie nicht gut? Ich lasse den Koch auspeitschen.« Graf Corian schüttelte den Kopf. »Ich frage mich nur, ob der Fang aus der Lorana stammt.« »Ach so.« Mormand machte ein verblüfftes Gesicht. »Du kannst beruhigt sein. Meine Astrologen würden es nicht zulassen, daß Verdorbenes auf den Tisch kommt.« »Was ist überhaupt geschehen? Schon von weitem sieht man die Stadt unter einer Wolke verborgen, die Pestilenz verbreitet. Dieser Gestank und der schweflige Schleim auf dem Wasser sind abscheulich. Was sagen die Magier dazu?« »Ich habe bisher nur mit Vassander gesprochen. Du weißt, daß seine Meinung stets die richtige war.« »Und…« Corian schien erschrocken. »Bewahrheitet sich die Legende von der Blutquelle?« Der L’umeyn griff nach einem zweiten Humpen Bier und rülpste. »Der Erzmagier meint, daß die Magie der Caer nach 236
Ugalos greift. Sie schicken sich an, auch unser Land mit Finsternis zu überziehen. Jemand muß ihnen Einhalt gebieten und die Völker des Nordens gegen sie in den Kampf führen.« »Eine wahrhaft ehrenvolle Aufgabe«, nickte Corian. »… die deinen Fähigkeiten gerecht wird«, vollendete der L’umeyn. »Ich habe dich kommen lassen, um dir den Oberbefehl über das ugalische Heer zu übergeben. Es zählt bereits hundert Hundertschaften gut ausgerüsteter Krieger.« Corian sprang so hastig auf, daß sein Stuhl polternd umfiel. Aber er empfand keineswegs die überschwengliche Begeisterung, die der L’umeyn von ihm erwartete. »Es wäre dir angemessen, L’umeyn…« »O nein!« wehrte der Lichtkönig ab. »Ich bin kein Feldherr. Mein Platz ist in Ugalos, wo das Volk mich sehen kann.« »Sagt Vassander das?« »Der Erzmagier weiß, daß ich dir den Oberbefehl übergebe, und er ist damit einverstanden.« Es war für den Grafen nicht schwer festzustellen, daß Mormand de Arrival Visond nichts anderes wollte, als die Last der Verantwortung, die auf seinen Schultern ruhte, auf andere abzuwälzen. Den Feldzug gegen die Caer anführen zu dürfen war also eine zweifelhafte Ehre. »Wie weit sind die Vorbereitungen gediehen, L’umeyn?« »Nun, es mangelt noch an den nötigen Mitteln. Die Erträge unserer Silberminen im Süden wurden zwar gesteigert, doch nicht in dem Umfang, der erforderlich wäre, um…« »Ich weiß«, grinste Corian zynisch, »um auf die Goldzwicker verzichten zu können, die harmlose Reisende überfallen und um ein Viertel ihrer Habe erleichtern. Welch große Löcher muß doch die Kriegskasse aufweisen.« »Wie meinst du das?« fragte Mormand verständnislos. »So, wie ich es sage, L’umeyn«, antwortete Corian wütend. »Sogar ich wurde an der Grenze zur Grafschaft Resond über237
fallen. Auf dein Geheiß hin wollte man mir ein Viertel von meinen Gold- und Silbermünzen abzwicken.« Der Lichtkönig wurde merklich blaß. Wenn er allein daran dachte, daß die Eintreiber berechtigt waren, die Überfallenen, die sich gegen sie zur Wehr setzten, zu töten – und keiner der de Veloy Anbur-Messarond würde tatenlos zusehen, wie andere sich seine Habe aneigneten. »Ein Versehen«, murmelte er. »Ich kann es mir nicht anders erklären.« »Sicher«, knurrte Corian. »Das haben auch die Goldzwicker schnell erkannt. Zwei von ihnen werden niemanden mehr überfallen.« Mit der Faust schlug er gegen den Knauf seines Schwertes. »Es war ihre eigene Schuld. Vergiß es.« Mormand schob dem Grafen eine weitere Schüssel über den Tisch zu, doch lehnte dieser ab. »Verzeih, L’umeyn, wenn ich ablehne. Aber ich habe einen anstrengenden Ritt hinter mir und möchte mich in meine Gemächer zurückziehen.« »Du findest den Weg allein?« »Ich kenne ihn.« Corian verbeugte sich knapp und wandte sich dann ab, während der Lichtkönig ihm sinnend nachblickte. Seine Schritte hallten durch den langgestreckten Saal mit den vielen Säulen und Nebenräumen. Vor der Tür blieb er noch einmal stehen, bevor er sie öffnete, und blickte sich um. Er prallte mit einem etwa gleichaltrigen Mann zusammen, der eben hereinstürmte. Laut klirrend ging dabei eine Karaffe zu Bruch. Köstlicher Wein ergoß sich über den Boden. »Verdammter Tölpel, kannst du nicht aufpassen?« Erst der wütende Klang der Stimme verriet ihm, wen er vor sich hatte. Er hätte den Mann nicht mehr erkannt. Zuviel Puder verdeckte die tiefen Falten unter seinen Augen und ließ 238
die ohnehin kantige Nase noch klobiger erscheinen. Bis tief in die Stirn zogen sich die gelockten blonden Haare einer Perücke. Nur die grauen Augen blickten kalt und angriffslüstern wie eh. »Sieh da, Graf Laffeur de Arrival Visond«, sagte Corian. »Was treibt dich zu solcher Eile?« »Corian!« zischte der andere, und es klang wie ein Fluch. »Du solltest dich vorsehen.« »Laß mich vorbei, Laffeur.« »Nicht, bevor du dich wie ein Ehrenmann bei mir entschuldigt hast. Aber ich wußte es schon immer: Du bist und bleibst ein ungehobelter Klotz.« »Hüte deine Zunge! Und jetzt geh zur Seite!« Mit einer unwilligen Bewegung schüttelte Laffeur den Kopf. Er stand unmittelbar unter der Tür und funkelte sein Gegenüber wütend an. »Nicht, bevor du mir diesen Wein und das kostbare Gefäß ersetzt hast.« »Mich geht das nichts an, du hättest eben vorsichtiger sein müssen.« Langsam wurde der Graf ungehalten. Laffeur schnippte mit den Fingern. Hinter ihm tauchten zwei junge Burschen aus dem Halbdunkel des Ganges auf. »Vermond und Brithor können bezeugen, daß du mich umgerannt hast.« Corian begann zu verstehen. »So ist das also«, sagte er gedehnt. »Was wird hier gespielt, Laffeur?« »Absolut nichts. Ich fordere dich nur auf, dich in aller Form zu entschuldigen.« »Dafür besteht kein Anlaß.« »Dann wird ein Zweikampf entscheiden!« »Ah«, machte Corian. »Ich schlage mich aber nicht mit Trunkenbolden und nichtsnutzigen Günstlingen. Geh mir endlich aus dem Weg!« Er wußte genau, daß er jetzt zu weit gegangen war, aber die 239
Art, die Laffeur an sich hatte, brachte ihn zur Weißglut. Auch wenn dieser der Bruder des Königs war, durfte er sich nicht einbilden, daß jeder nur nach seiner Pfeife tanzte. »Ich bestehe auf meinem Recht!« sagte Laffeur. »Es wird dich den Kopf kosten«, behauptete Corian gelassen. »Wenn meine Klinge nur halb so scharf ist wie dein Maul, habe ich nichts zu befürchten.« Inzwischen war der L’umeyn herangekommen. Seine ganze Haltung drückte angespanntes Interesse aus. »Du wirst dich der berechtigten Forderung meines Bruders nicht entziehen können, Graf Corian«, meinte er leichthin. »Oder hältst du nichts mehr von einer ehrenvollen Abwicklung zwischen Edelleuten?« Corian blickte von einem zum anderen und mußte feststellen, daß selbst Mormand einem Zweikampf entgegenzufiebern schien. »Ihr sollt euer Schauspiel haben. Aber Laffeur wird sich noch wünschen, er wäre mir aus dem Weg gegangen. Wann?« »Sofort, du Großmaul!« Der Bruder des Königs machte Anstalten, sich auf Corian zu stürzen, überlegte es sich dann aber doch anders. »Wir treffen uns auf dem Turnierplatz.« * Erstaunlich viele Zuschauer hatten sich eingefunden. Der Platz, von mehrfach mannshohen Mauern eingeschlossen und inmitten eines ausgedehnten Parks gelegen, war von den schwefligen Dämpfen der Lorana noch weitgehend verschont geblieben. Der sandige Boden zeigte die Spuren vieler Kämpfe, wie sie stets bei Vollmond zur Unterhaltung und Belustigung des Königs und seines Gefolges ausgetragen wurden. Magische Einflüsse hielten Schnee und Eis fern. Graf Laffeur war mit seinen beiden Kumpanen erschienen, 240
die sein Schwert und den Helm mit dem bunten Federbusch trugen. Im Gegensatz zu Corian hatte er eine Vollrüstung angelegt, die ihn zwar unbeweglicher machte, dafür aber besser schützte. Sein Blick glitt zu den Rängen hoch. »Wo ist Vassander? Interessiert ihn der Kampf nicht?« »Er wird es nicht wissen«, antwortete einer seiner Begleiter zögernd. »Der Erzmagier weiß über alles Bescheid, was in Ugalos vorgeht«, wies Laffeur ihn zurecht. Am linken Unterarm trug er bereits seinen Schild, der mit zwei Lederschlaufen befestigt war. Er setzte den Helm auf und nahm das Schwert. So angetan, trat er in die Schranken, wo Graf Corian ihn schon erwartete. »Ich bin bereit!« »Es wird dein letzter Kampf sein.« Vorübergehend brach die Sonne durch die in großer Höhe dahintreibenden Giftschwaden. Noch machte sich der Gestank hier, im Mittelpunkt der Insel, kaum bemerkbar. Aber es sah so aus, als senkten die schwefligen Schwaden sich langsam nieder. Hart prallten die beiden Kämpfer aufeinander. Ihre Schwerter schmetterten auf den Schild des Gegners. Graf Corian, der nur ein Kettenhemd und seinen Federhelm trug, zog sich mit wenigen raumgreifenden Schritten zurück. Mit einem heiseren Aufschrei stürmte Laffeur hinter ihm her, rannte aber ins Leere. Corian schien sich einen Spaß daraus zu machen. »Hier!« rief er, daß es weithin zu hören war. Laffeur wirbelte herum. Sein Gesicht verzerrte sich zur Grimasse, als er erneut auf den Gegner eindrang. Diesmal parierte Corian den Schlag mit seinem Schwert und griff seinerseits an. Kraftvoll und schnell waren seine Bewegungen; sie verrieten den geübten Kämpfer. 241
Laffeur mußte ihm weichen. Obwohl er sich verbissen zur Wehr setzte, wurde er Schritt für Schritt bis an die Schranke zurückgedrängt. Als er die Stange im Rücken spürte, ließ er sich völlig unerwartet fallen. Gleichzeitig löste sich der Schild von seinem Arm. Während Laffeur das Schwert hochriß und damit einen Hieb Corians ableitete, der tief in das Holz der Schranke eindrang, fuhr seine Linke durch den lockeren Sand und schleuderte ihn dem Angreifer entgegen. Das Ganze kam so überraschend, daß Corian keine Zeit fand, sich abzuwenden. Geblendet taumelte er zurück. Ein wohlgezielter Tritt brachte ihn zu Fall, und schon stand der Bruder des Königs über ihm und ließ sein Schwert auf ihn niedersausen. Einige Zuschauer schrien auf. Doch mußte Corian den Schlag geahnt haben, denn blitzschnell rollte er sich zur Seite. Der Hieb, der ihm sonst den Schädel gespalten hätte, trennte nur den Federbusch von seinem Helm ab. Aber schon riß Laffeur das Schwert wieder hoch. Diesmal schien er den unter ihm Liegenden aufspießen zu wollen. * Mythor erwachte davon, daß ihm eine kalte, feuchte Schnauze über das Gesicht fuhr. Als er die Augen aufschlug, ließ der Bitterwolf ein Winseln ertönen. Es verging eine Weile, bis er sich wieder in der Wirklichkeit zurechtfand. Kalter Rauch ließ seine Augen tränen. Das Feuer! Als er sich umblickte, sah er, daß es inzwischen erloschen war. Nur noch düstere Rauchfahnen stiegen steil in den Himmel, wo die Sonne schon weit im Westen stand. Der Schneesturm hatte sich gelegt, und es war längst nicht mehr so 242
bitter kalt wie zuvor. Nur verkohlte Baumstümpfe, die sich wie Geisterfinger in die Höhe reckten, zeugten noch von dem Blitzschlag. Pandor graste in der Nähe des verbrannten Wäldchens. Die Hitze hatte dort den Schnee geschmolzen und Gras und Moose zum Vorschein kommen lassen. Mythors Bewegungen waren fahrig. Den Helm der Gerechten mußte er beim Sturz verloren haben. Wahrscheinlich lag er irgendwo unter dem Schnee verborgen, den der Sturm etliche Fuß hoch angehäuft hatte. Allein hätte Mythor verzweifelt suchen müssen, doch die Nase des Bitterwolfs erwies sich als untrüglich. Kurze Zeit später konnte er den Helm wieder aufsetzen. Aber das gewohnte Gefühl, das ihm wiederholt den Weg gewiesen hatte, blieb aus. Nach einer Weile fühlte er sich dann kräftig genug, um weiterzureiten. Er rief nach Pandor und schwang sich auf dessen Rücken. Den Helm befestigte er an seinem Gürtel. Hinter ihm ließ sich der Schneefalke nieder. Alle Spuren waren verweht. Es schien aussichtslos, jetzt noch die Verfolgung fortzusetzen. Dennoch war Mythor nicht bereit aufzugeben. Er ritt weiter nach Süden, wobei er sich nach dem Stand der Sonne richtete. In Gedanken war er bei Sadagar, Nottr und Kalathee. Scheinbar endlos dehnte sich vor ihm die verschneite Ebene. Er mußte die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden, denn funkelnd brach sich die Sonne in dem makellosen Weiß. Der Streifen am Horizont schien erneut ein zusammenhängendes Waldgebiet anzukündigen. Pandor verfiel in einen gleichmäßigen, schnellen Trab. Das Spiel seiner Muskeln verriet Mythor, welche Kraft und Ausdauer in dem Tier steckten. Hin und wieder ließ Horus ein schrilles Krächzen verneh243
men und schlug mit den Flügeln, behielt seinen Platz auf dem Rücken des Einhorns aber bei. Hark trottete nebenher. Seine Ballen schienen den Schnee kaum zu berühren. Noch zog er seinen Hinterlauf ein wenig nach, doch wurden seine Bewegungen schon wieder geschmeidiger. Ein dunkler Strich in der Landschaft weckte Mythors Aufmerksamkeit. Mit einem leichten Fersendruck lenkte er das Einhorn in diese Richtung. Pandor reagierte einfühlsamer, als jedes noch so gut eingerittene Pferd es je getan hätte. Der Schneefalke schwang sich auf und drehte nach Westen ab. Als Mythor dann die Stelle erreichte, über der Horus laut krächzend schwebte, fand er nur eine Fährte im knietiefen Schnee. Verwundert stellte er fest, daß Hark etliche Schritte zurückgeblieben war. Auch Pandor schien plötzlich zu zögern. Mythor sprang ab. Von unguten Ahnungen geplagt, zog er Alton aus dem Gürtel. Das Leuchten des Schwertes wirkte sich allem Anschein nach beruhigend auf seine Tiere aus. Mehrere Schritt breit, führte die Spur schnurgerade durch den Schnee. Es waren die Abdrücke mächtiger Pranken, die jeweils eine Mannslänge weit auseinanderlagen. Fingerdicke Krallen hatten sich tief in den Boden eingegraben und Gras und Erde herausgerissen. Dazwischen zeichnete sich eine Schleifspur ab, die ohne weiteres von einem hornbewehrten Schwanz stammen konnte. Mythor versuchte, sich ein Bild von dem Ungeheuer zu machen, das hier gelaufen war. Er vermochte es nicht, hatte auch nie von einem solchen Tier gehört, das in den nördlichen Ländern lebte. Allerdings war es in den dünn besiedelten Weiten Dandamars nur zu gut möglich, daß niemand je dieses Geschöpf zu Gesicht bekommen hatte. Und wenn doch, würde derjenige wohl keine Gelegenheit mehr gehabt haben, sein Wissen weiterzugeben. Jetzt konnte Mythor auch das deutliche Zögern von Einhorn und Bitterwolf verstehen. Wieviel 244
mehr als ein Mensch mochten sie mit ihren feinen, der Wildnis angepaßten Sinnen erfassen. Zu Fuß folgte er der Spur ein Stück nach Süden, bis sie hinter einer langgestreckten Hügelkette überraschend scharf nach Osten hin abbog. Mehrmals stieß Horus auf ihn herab, als wolle er ihn auf diese Weise zur Umkehr bewegen. Dann sah Mythor im Licht der untergehenden Sonne etwas aufblitzen. Er bückte sich danach und hob es auf, während der Schneefalke kreischend in der Ferne verschwand. Was Mythor gefunden hatte, war eine Platte von der doppelten Größe einer Handfläche. Unschlüssig drehte er sie zwischen seinen Fingern. Sie war glatt und spiegelte und besaß eine merkwürdig gezackte Form. An zwei messerscharfen Spitzen konnte man sich leicht verletzen. Horn! fuhr es ihm durch den Sinn. Er hielt nichts anderes in Händen als eine Schuppe aus dem Panzerkleid des unbekannten Tieres. Es mochte ein überaus gefährlicher Gegner sein. Noch dazu mußte er damit rechnen, ihm jederzeit unverhofft gegenüberzustehen. Das Gläserne Schwert leuchtete so stark wie nie zuvor, und sein Klagen ließ Mythor schaudern, als er zuschlug. Funkensprühend fraß sich Altons Schneide in die Hornplatte, schnitt sie aber nicht völlig durch. Dazu bedurfte es erst eines zweiten Hiebes. Dann allerdings verblaßte das starke Leuchten des Schwertes wieder und wurde so, wie es seit den Ereignissen um den halbblinden Hester war. Die Hornschuppe zerbrach in unzählige winzige Stücke, als wäre sie bis eben noch von magischen Kräften zusammengehalten worden. Mythor wollte sich schon abwenden, als ihn ein leises Geräusch aufhorchen ließ. Er sah sich um. Die kaum fingergroßen Stücke hatten intensiv zu glühen begonnen. Zischend fraßen sie sich in den Schnee. Dann, von einem Augenblick zum anderen, lösten sie sich auf, als habe es 245
sie nie gegeben. Wären nicht die vielen glasig wirkenden Löcher gewesen, die zurückblieben, Mythor hätte glauben müssen, einem Spuk zum Opfer gefallen zu sein. »Magie«, murmelte er, als er zurückstapfte. »Das ist die Macht des Bösen.« * Die Begrüßung durch den Bitterwolf fiel so stürmisch aus, als sei der Sohn des Kometen tagelang weg gewesen. Hark sprang an ihm hoch, leckte ihm die Hände und ließ ein klägliches Winseln hören. Seine Rute war steil aufgerichtet. »Ist ja schon gut, Grauer«, sagte Mythor und kraulte ihm das Nackenfell. »Du hättest ruhig mitkommen können.« Die Dämmerung war hereingebrochen. Irgendwo zwischen den ersten funkelnden Sternen flog Horus im Abendwind. Pandor schnaubte ungeduldig, und Hark stieß Mythor immer wieder mit der Schnauze an. Es war unverkennbar, daß der Wolf sich freute. Aber nach wie vor schreckte er vor der Spur im Schnee zurück. Hark zeigte die Zähne und packte Mythors Arm. Das Knurren, das er von sich gab, klang nicht gefährlich, eher verspielt. Mythor versuchte, sich zu befreien, aber der Wolf ließ nicht locker und stieß ihn mit den Vorderpfoten an. »Ich glaube, du willst mir zeigen, daß deine Wunde verheilt ist. Laß sehen!« Hark bellte kurz. Er hielt still, als Mythor die Blätter von seinem Hinterlauf entfernte und vorsichtig über das verkrustete Blut tastete. Dann sprang er so abrupt herum, daß der Krieger den Halt verlor und in den Schnee fiel. Sofort war der Wolf über ihm. Auch jetzt biß er nicht zu, obwohl seine scharfen Raubtierzähne gefährlich nahe an Mythors Kehle waren. Der Sohn des Kometen versuchte ihn zu 246
packen, aber Hark war schneller und schüttelte sich. Wieder sauste er wie ein Schemen heran und riß den Mann um, der sich soeben erheben wollte. »Schluß jetzt!« schimpfte Mythor, halb verärgert und halb belustigt über die offensichtliche Freude des Tieres. »Gib Ruhe, Hark!« Betont scharf sagte er es, und der Bitterwolf ließ tatsächlich von ihm ab und schaute ihn schräg an, als könne er nicht verstehen, weshalb das Herumbalgen plötzlich zu Ende sein sollte. Mythor schnalzte zweimal kurz mit der Zunge, woraufhin Pandor angetrabt kam und ihn aufsitzen ließ. Vor der Spur im Schnee scheute das Einhorn zwar, folgte aber willig einem Fersendruck und galoppierte weiter. Irgendwann in der ersten Hälfte der Nacht erreichten sie den Wald, der während des Tages nicht viel mehr als ein dunkler Streifen am Horizont gewesen war. Mit einem sanften Zug an der Mähne brachte Mythor das Einhorn zum Stehen. Er hatte das Tier zuletzt nur langsam geritten, und es schwitzte nicht. Trotzdem rieb er es mit seinem Fellumhang ab. Horus ließ sich neben ihm nieder. Der Schneefalke kröpfte eine Maus, die er gefangen hatte. Der Anblick erinnerte Mythor an seinen eigenen knurrenden Magen. Da er den ganzen Tag über kein jagdbares Wild zu Gesicht bekommen hatte, verzehrte er einige der Vorräte. In der Krone eines umgestürzten Baumes bereitete er sich schließlich ein dürftiges Lager. Er rechnete nicht mit Gefahren, und wenn, würden seine Tiere ihn rechtzeitig warnen. Doch Mythor fand nur wenig Ruhe. Immer wieder schreckte er hoch, von bösen Träumen geplagt. Mehrmals sah er sie vor sich, ihren vollippigen Mund, die dunklen Augen mit den langen Wimpern und das schwarze, zum Zopf geflochtene Haar. Ihre Leidenschaft war berauschend: Nyala von Elvinon. Aber stets wenn er sie an sich zie247
hen wollte, verblaßte die Schönheit ihres Antlitzes, starrte ihn aus ihren Augen Drundyrs gläserne Fratze an. Schaurig klang das Lachen des besessenen Caer-Priesters. Mythor erwachte schweißgebadet. Sofort war auch Hark auf den Beinen und kam auf ihn zu. Aber der Krieger schickte ihn mit einer Handbewegung an seinen Platz zurück. Schweigend betrachtete er dann das Pergament mit dem Bildnis der unbekannten Schönen. Es schien förmlich zu leben, als er sanft mit den Fingern darüber hinwegstrich. Die Frau hatte so viel Ähnlichkeit mit ihm! Eine unstillbare Sehnsucht, ein körperliches Verlangen brannte in Mythor. Er wußte, daß er sie in seine Arme schließen würde, sobald er sie gefunden hatte. Nur sie konnte alle Strapazen und Gefahren wert sein, keine andere Frau auf dieser Welt, selbst Nyala nicht. Nachdem er das Bild wieder unter seinem Wams verborgen hatte, schlief er tief und traumlos. Erst das laute Krächzen des Schneefalken vermochte ihn zu wecken. Er erschrak, denn die Sonne stieg bereits über den Horizont herauf und tauchte das Land in den kalten Schein des Morgens. Horus zerrte ein blutiges Fellbündel hinter sich her. Einen Hasen, wie Mythor schnell feststellte. Eine ruckartige, kröpfende Bewegung, dann erhob sich der Schneefalke flügelschlagend und ließ sich wenige Schritte entfernt nieder. Seine weißen Augen ruhten unverwandt auf dem geschlagenen Tier, aber er machte keinerlei Anstalten, die Beute aufzureißen. Fast schien es, als wolle er dies Mythor überlassen. Der Krieger bückte sich nach dem Hasen. Als habe er nur darauf gewartet, riß Horus jetzt den Schnabel auf und spreizte das Gefieder. »Das ist für mich?« fragte Mythor. »Du hättest ihn selbst fressen können.« Der Schneefalke sah ihn aufmerksam an und krächzte dazu. 248
Hark kam herangetrabt und entblößte seine scharfen Reißzähne. »Ich habe noch genügend zu essen in meinen Satteltaschen«, sagte Mythor. »Vielleicht kommen einmal Zeiten, da ich euch dankbar bin, wenn ihr für mich jagt. Aber diesmal ist das noch für euch.« Mit dem Schwert zerlegte er den Hasen in zwei ungefähr gleich große Hälften und warf sie dem Bitterwolf und dem Schneefalken vor. Während Hark sich sofort über das warme Fleisch hermachte, verhielt sich Horus abwartend. Erst als der Krieger eine seiner Taschen öffnete und eine Scheibe Speck herausnahm, begann auch er zu fressen. Wenig später brachen sie auf. Allerdings mußte Mythor schon bald die bisherige Richtung verlassen und nach Westen hin abschwenken, denn der Wald erwies sich als zu dicht, um ein schnelles Vorwärtskommen zu ermöglichen. Wahrscheinlich hatten auch die Verfolgten einen anderen Weg gewählt, falls sie überhaupt bis hierher geritten und nicht schon im freien Gelände abgeschwenkt waren. Mythor verfluchte den Schneesturm, der sämtliche Spuren verweht hatte. Die Sonne stand fast schon im Zenit, als er auf eine breite Schneise stieß, die in südlicher Richtung weiterführte. Kurz entschlossen schwenkte er ab. Hier kam Pandor schneller voran. Aufmerksam beobachtete Mythor die neue Umgebung. Aber er fand keine Hinweise darauf, daß vor nicht allzu langer Zeit zehn Reiter hier entlanggekommen waren. Immer tiefer drangen sie in den Wald ein, und Mythor spielte bereits mit dem Gedanken, umzukehren, als der heisere Schrei eines Raubvogels ihn aufschreckte. Horus kreiste dicht über den Wipfeln der Bäume. Plötzlich stieß er pfeilgerade in die Tiefe, erhob sich aber schon im nächsten Augenblick wieder in die Lüfte. 249
Ein schmaler, zum Teil von Eis bedeckter Wasserlauf schlängelte sich zwischen den Bäumen dahin. Quellklares Wasser plätscherte über algenbewachsene Kiesel. Mythor vermochte nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Da glitt Horus erneut wie ein gespenstischer Schemen heran. Seine Schwingen berührten fast die Wasseroberfläche, als wolle er auf etwas aufmerksam machen. Nur wenige Schritte unterhalb der Stelle, an der Mythor durch den Bach ritt, sah er es aufblitzen. Er sprang ab und bückte sich danach. Es war ein Dolch. »Sadagar«, murmelte er, und um seine Mundwinkel begann es zu zucken. Was er kaum noch für möglich gehalten hatte, war eingetreten: Er befand sich auf der richtigen Spur. Aber er selbst hätte wohl achtlos seinen Weg fortgesetzt, wären nicht die scharfen Augen des Schneefalken gewesen. Eines der zwölf Wurfmesser des Steinmanns… Wie lange mochte es hier gelegen haben – einen halben Tag, länger? Mythor wußte es nicht, aber all seine Zweifel waren auf einmal wie weggeblasen. »Es geht weiter, Pandor. Zeig, was in dir steckt!« Der Weg führte noch immer nach Süden. Mythor sah ihn jetzt mit anderen Augen, erfüllt von neuen Hoffnungen und der Gewißheit, daß es noch nicht zu spät war. Pandors Hufe wirbelten den Schnee auf. Kein Pferd wäre zu solcher Kraft und Ausdauer fähig gewesen. Irgendwann wurde der Wald dichter, der Boden felsiger. Mächtige Findlinge ragten aus dem Schnee, viele von menschenähnlicher Gestalt, wie Gnomen und Kobolde, die zwischen verrottendem Laub ihr Unwesen trieben. Hin und wieder ließ der Bitterwolf ein drohendes Knurren hören. Die Rute steil aufgestellt und das mächtige Gebiß entblößt, trabte er hinter Pandor her. Selbst ihm schien dieser Teil 250
des Waldes nicht geheuer. Wachsamkeit und Angriffslust zugleich drückten sich in seinen Bewegungen aus. Mythor fühlte das Fremde wie eine eisige Hand, die sich seiner Gedanken bemächtigte; ihn träge werden ließ und einschläferte. War es denn wirklich wichtig, daß er den Freunden folgte? Harrten nicht große Aufgaben seiner, bei deren Erfüllung sie ihm nur hinderlich waren? Lautlose Stimmen ringsum, die auf ihn einredeten… Der Wald war erfüllt von ihnen. Ein Wispern und Raunen ging durch die Äste, wie das leise Rauschen des Windes und doch ganz anders. Mythor fühlte eine nie gekannte Schwermut in sich aufsteigen. O ja, er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Allein in seiner Macht lag es, diese Steine zu wirklichem Leben zu erwecken, denn er war der Sohn des Kometen, der Erbe des Lichtboten. Pandor schüttelte sich unwillig, als Mythor an seinem Hals entlang zu Boden rutschte. Von einem inneren Drang getrieben, stapfte der Krieger durch den fast kniehohen Schnee vorwärts, um zu helfen. Komm, lockten sie. Du bist wie wir, werde einer der Unseren. Ein Stein wuchs vor ihm auf, mannshoch, von einer leuchtenden Hülle umgeben, deren Schein blendend war wie das Licht der Sonne. Aber Mythor schien es nicht wahrzunehmen. Er verharrte mitten im Schritt, streckte die Arme aus, um den Fels zu umfassen. Alles um ihn herum war in Bedeutungslosigkeit versunken, auch Hark, dessen drohendes Bellen ungehört verhallte. Da fuhr der Bitterwolf herum und sprang ihn an. Ineinander verkrallt stürzten sie zu Boden. Mythor schrie auf, und sein Schrei löste den Bann, der auf ihm lag, und gab ihm ein wenig seiner Freiheit zurück, gerade so viel, daß er das Verderbliche seines Tuns erkennen konnte. »Zur Seite, Hark!« 251
Wie von selbst lag Alton plötzlich in seiner Hand. Klagend wirbelte das Gläserne Schwert durch die Luft und schmetterte auf den Stein, der vor ihm zurückwich. Der Boden schien zu zittern. Selbst die Bäume ächzten, als Mythor zuschlug. Ein Geräusch, klirrend wie zerspringendes Eis, hallte durch den Wald. In vielfachem Echo wurde es zurückgeworfen, lauter als das Heulen böser Geister. Noch einmal schmetterte Alton gegen den Fels, der sich unter dem Hieb auflöste. Dichter Rauch breitete sich aus, nahm vorübergehend die Form eines Gesichts an, verflüchtigte sich dann aber schnell. Ein letztes Klagen, ein stummer Fluch, und alles war vorbei. Nichts blieb außer etlichen in Stein gehauenen Statuen. Im Licht der hochstehenden Sonne wirkten sie kalt und leblos. * Der Tag neigte sich seinem Ende entgegen, die Wipfel der höchsten Bäume glühten in einem unwirklichen Rot, und noch immer besaß Mythor keinen Anhaltspunkt dafür, ob er den Verfolgten inzwischen näher gekommen war. Noch war es zu früh, um ein Lager für die Nacht zu bereiten. Solange noch ein Sonnenstrahl die Erde berührte, würde Mythor weiterreiten. Mehr und mehr überließ er es seinem Einhorn, den Weg zu finden. Dennoch blieb ihm nicht verborgen, daß Pandor völlig grundlos die Richtung wechselte und plötzlich nach Westen strebte. Er lenkte das Tier wieder nach Süden, und es gehorchte, wenn auch widerwillig. Der Bitterwolf trottete gleichmäßig nebenher. Sein Blick ruhte auf Mythor. Als dieser Pandor herumzwang, knurrte er verhalten. Auch der Schneefalke hatte abgedreht und war der Sonne nachgeflogen. Das Einhorn schüttelte sich und wurde langsamer. Schließ252
lich blieb es stehen, im Schatten der letzten Bäume vor einer künstlich angelegten Lichtung. Eine kleine, windschiefe Kate, ängstlich hineingeduckt zwischen hoch aufragenden Baumriesen, war das erste, was Mythor auffiel. Rauch kräuselte sich aus einem gemauerten Kamin in den wolkenlosen Himmel, und Licht schien hinter den geschlossenen Läden zu brennen. Aber als der Krieger genauer hinsah, war es erloschen. Spuren im Schnee rings um die Hütte, die sich auf der anderen Seite bis in den Wald hineinzogen, zeugten davon, daß hier jemand lebte. Durch das ungewöhnliche Verhalten seiner Tiere gewarnt, rüstete Mythor sich mit Schwert und Helm und schlich näher. Vielleicht fand er eine Bleibe bis zum Morgengrauen, wenn ihn nicht Schlimmes erwartete. Hark jedenfalls zögerte, und auch Pandor ließ eine deutliche Unruhe erkennen. In diesem Augenblick war Mythor wieder ganz der Krieger, dem das Schwert in der Hand Zuversicht verlieh. Durch die Bäume ging ein Rauschen, als der Wind auffrischte. Irgendwo schwang quietschend ein Fensterladen in seinem Scharnier und schlug dumpf dröhnend gegen das Holz der Hütte. Etliche Baumstümpfe gaben Mythor Deckung. Zehn Schritt war er noch von der Kate entfernt, als er eine flüchtige Bewegung wahrnahm – ein Tier, ein Mensch oder etwas gänzlich anderes? Er verharrte. Und wirklich, nach einer Weile zeigte es sich wieder. Was immer es sein mochte, es besaß menschliche Gestalt, wenngleich es unwahrscheinlich dürr war, dafür aber gut sieben Fuß maß. Weite Gewänder hüllten es ein, die aussahen, als wären sie aus allen möglichen Fetzen zusammengesetzt worden. Mehr konnte Mythor nicht erkennen, denn das Wesen ver253
schwand so schnell, wie es erschienen war. Nicht einmal einen Herzschlag später klatschte neben ihm etwas in den Schnee. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, um es aufzuheben. Ein faustgroßer Stein mit vielen scharf geschliffenen Kanten! Zweifellos geeignet, erhebliche Verletzungen hervorzurufen, wenn er mit großer Wucht traf. Während er den Fund noch betrachtete, verspürte Mythor einen entsetzlichen Schlag gegen die Schläfe, der ihn in den Schnee warf. Instinktiv fuhr seine Hand hoch, aber er fühlte kein Blut. Dieser zweite Stein hätte ihn töten können, so gut war er gezielt gewesen, und der Sohn des Kometen wußte nicht einmal zu sagen, woher der Wurf gekommen war. Er hatte es nur dem Helm der Gerechten zu verdanken, daß er nicht mehr als eine leichte Benommenheit verspürte, die schnell wieder von ihm wich. Wolfsgeheul ließ ihn herumfahren. Unmittelbar hinter ihm stand eine zweite Gestalt, kleiner im Wuchs, aber genauso gekleidet wie das Wesen, das er an der Hütte gesehen hatte. Sie wirbelte etwas durch die Luft, was wie ein schmaler Lederstreifen mit einem verdickten Ende aussah. Während Mythor sich fallen ließ, fühlte er einen faustgroßen Brocken unmittelbar an seinem Kopf vorbeizischen. Nur den Bruchteil eines Augenblicks später, und der geschleuderte Stein hätte ihm das Gesicht zerschmettert. Der Bitterwolf huschte heran und stürzte sich auf den Angreifer, der verzweifelt aufschrie. * Auf die Dauer wirkte das Geräusch der Pumpen zermürbend. Keinesfalls war es dazu angetan, große Hoffnungen zu wecken, was ein Entkommen aus dem Verlies betraf. Kein Son254
nenstrahl konnte in diese Tiefe vordringen, nur das monotone Rauschen des Wassers, wenn eine der Zellen geflutet wurde. Grausig klangen die Schreie Sterbender, bevor sie von einem Augenblick zum anderen abbrachen. Die starke Strömung der Lorana mit ihren tückischen Strudeln und Tiefen ließ niemanden davonkommen. Unbeherrscht schlug Duprel Selamy auf den Amboß ein, um sich abzulenken. Er wollte es nicht hören und schon gar nicht daran denken. Er war ein Narr gewesen, den Versprechungen zu glauben. Und doch fertigte er die Rüstung an, wie Vassander es wünschte. Das Ergebnis würde selbst den Goldharnisch des L’umeyn noch übertreffen, nicht nur von der Genauigkeit der Schmiedearbeiten her. Es würde ein wirklich einmaliges Werk bleiben, denn Duprel Selamy war überzeugt davon, daß ihn nach getaner Arbeit keine klingende Münze erwartete. Vielmehr würde er auf dem Grund des Flusses verwesen, den Fischen zum Fraß. Deshalb hatte der Erzmagier auf absoluter Geheimhaltung bestanden. So konnte er den Schmied jederzeit zum Schweigen bringen, ohne lästige Fragen befürchten zu müssen. »Ein Harnisch für den Feldzug gegen die Caer…« Duprel lachte. Immer häufiger ertappte er sich dabei, daß er mit sich selbst redete. Aber nur so ließ sich die Einsamkeit auf die Dauer ertragen, obwohl jeder Tag angefüllt war mit anstrengender Arbeit, die alles forderte, was Auge und Arm zu leisten vermochten. Ein Kettenglied formte sich unter der Wucht seiner Hammerschläge. Der Meister wußte nicht, ob es Tag war oder Nacht, denn er hatte es aufgegeben, die Tage zu zählen. Das Ende würde ohnehin schneller kommen, als er glaubte. Was spielte es da noch für eine Rolle, ob oben die Sonne schien oder der Vollmond am nächtlichen Himmel stand? Die Tage des Duprel Selamy waren erfüllt vom flackernden Schein der 255
Fackeln, von der blendenden Glut in der Esse und dem immer gleichen Klang der Werkzeuge. Man wußte wohl in Ugalos von dem Flußgefängnis auf dem Grund der Lorana, aber niemand hatte je erfahren, wo es lag und an welcher Stelle sich der Zugang befand. Kaum einer war je von dort zurückgekehrt. Auch Meister Duprel hätte keine Auskunft geben können, denn seine Augen waren verbunden gewesen, als er durch lange Gänge eines der Verliese betreten hatte. Die Rüstung ging ihrer Vollendung entgegen. Der Schmied konnte zu Recht stolz auf sein Werk sein, das nicht plump wirkte und klobig, sondern leicht und geschmeidiger noch als ein Kettenhemd. »Ein magischer Harnisch!« Duprel Selamy sagte es im Widerstreit der Gefühle. Der Erzmagier hatte jedes Teilstück beschworen, in einem langwierigen Ritual, mit dem er dem Eisen ein unwirkliches Leben einhauchte. Die Rüstung sollte Bestand haben gegen die Zauberkräfte der Caer-Priester und ihnen die Kräfte der Weißen Magie entgegenwerfen. Ein Geräusch an der Tür ließ den Schmied einhalten. Die schweren Riegel wurden zurückgeschoben, die ihn daran hinderten, den Raum zu verlassen. »Dein Essen, Duprel.« Der Mann, der ihm die Schüssel mit dampfendem Fleisch brachte, war nicht sehr gesprächig. Schon mehrmals hatte der Schmied versucht, eine Unterhaltung anzuknüpfen, war aber stets barsch zurückgewiesen worden. »Sag deinem Herrn, daß der Harnisch heute noch fertig wird!« sagte Selamy. Er war erstaunt, daß die Wache nicht, wie sie es stets getan hatte, sofort wieder ging, sondern sogar einige Schritte auf ihn zukam. »Vassander weiß es. Er wird bald hier sein.« Der Schmied horchte auf. Lag da wirklich ein Ausdruck des 256
Bedauerns in der Stimme? »Ich werde endlich die Sonne wiedersehen. Wie viele Tage sind vergangen, seit man mich hierherbrachte?« Die Wache lachte. Da war kein Mitleid, wie es eben noch schien, sondern eine eisige Kälte, bar jeglichen Gefühls. »Du wirst sterben, Duprel. Bereite dich schon darauf vor und genieße dein letztes Mahl.« Damit wandte der Mann sich ab, doch der Schmied rief ihm hinterher, bevor er die Tür wieder schließen konnte: »Habe ich nicht alles getan, was der Erzmagier von mir verlangte? Weshalb will er mich töten?« »Wenn du es nicht weißt… Aber laß dir sagen, daß du nach dem letzten Hammerschlag ertrinken sollst. Bald wird kein Hahn mehr nach dir krähen, und dein Leichnam bleibt für alle Zeiten im Fluß verborgen.« Dröhnend fiel die eisenbeschlagene Tür zu, und Duprel Selamy war wieder allein. Allein mit seinen Befürchtungen und der Bestätigung, daß dem wirklich so war. Doch er hatte vorgesorgt. Mit Eifer und Verbissenheit machte er sich daran, die Arbeiten an der Rüstung zu beenden. Nur ein Verschlußteil paßte nicht; er schien es nicht zu bemerken. * Mit aller Kraft trat Graf Corian zu und rammte seine Füße in den Unterleib des über ihm stehenden Laffeur, dessen eben noch triumphierendes Lachen zur schmerzverzerrten Grimasse wurde. Der Bruder des Königs taumelte zurück, bleich, nach Atem ringend, zitternd. Das Schwert in seiner Hand beschrieb einen kraftlosen Bogen und wirbelte nur lockeren Sand auf, der frei von Schnee oder gar Eis war. Mit einem schnellen Satz kam Corian auf die Beine. Er stieß 257
den Arm mit dem Schild nach vorne, aber Laffeur wich ihm aus. Auch sein Schwertstreich ging fehl; jedoch setzte er sofort nach und bedrängte seinen Gegner, der noch genug mit sich selbst zu tun hatte und seine Schläge zwar mit dem Instinkt des geübten Kämpfers abwehrte, aber nicht die Kraft aufbrachte, selbst wieder anzugreifen. Das Geräusch der aufeinanderschlagenden Klingen wurde von den hoch aufragenden Mauern ringsum noch verstärkt. Schritt für Schritt verlor Laffeur an Boden, und dann kam der Augenblick, in dem Graf Corian ihm mit einem von unten herauf geführten Hieb das Schwert aus der Hand wirbelte. Die Waffe blieb nur einen Schritt weit entfernt unter der Schranke liegen, unerreichbar für den Bruder des Königs. Dennoch warf er sich mit einem heiseren Aufschrei herum. In seinem Gesicht zeichnete sich unverhohlener Haß ab. Wieder war Graf Corian schneller. Sein Fuß berührte die Klinge, noch ehe Laffeur sich bücken konnte. »Niemals!« schnaufte Laffeur. Wie von Geisterhand hingezaubert, hielt er plötzlich einen Dolch in der Hand. Er stürzte sich auf Corian, der dem Angriff nur durch eine blitzschnelle Drehung zur Seite entgehen konnte. Auf dem Absatz wirbelte Laffeur herum, aber Corian schmetterte ihm den Schwertknauf in den Nacken, und er sank ächzend in die Knie. Noch einmal versuchte er zuzustechen, doch wieder war der andere auf der Hut. Ein schmerzhafter Fußtritt ließ ihn aufschreien, der Dolch entglitt seiner kraftlos werdenden Hand. Der Länge nach schlug Laffeur in den Sand, wo er halb betäubt liegenblieb. Graf Corian hatte für seinen Widersacher nur einen verächtlichen Blick übrig. Dann wandte er sich um, schwang sich über die Schranke und ging über schneefreie Wege zum Palast zurück. Er hörte Schritte hinter sich, aber es interessierte ihn 258
nicht, wer ihm folgte. Erst jetzt wurde ihm der abscheuliche Gestank bewußt, der auch hier in der Luft lag. Die gelblichen Nebelschwaden hatten den Boden fast erreicht. Viele der Pflanzen, die während des Winters ihre Blätter behielten, schienen langsam zu verdorren. Da war kein saftiges Grün mehr, nur noch Auflösung und Verfall und Staub, der träge in der Luft hing. * Wieder hörte er das Geräusch der Pumpen, die eingedrungenes Wasser in den Fluß zurückbeförderten. Diesmal schien es besonders laut – auch das monotone Klappern der Hufe. Unablässig bewegten sich die Pferde im Kreis, um die Maschinerie in Gang zu halten. Sie mußten blind sein, denn sonst hätten sie es nicht mit stoischer Ruhe ertragen. Duprel Selamy dachte daran, wer wohl die Pumpen antrieb, wenn kein Pferdegetrappel zu hören war. Sklaven? Niemand sonst würde sich dafür hergeben. Hatte man diese bedauernswerten Menschen ebenfalls geblendet? Oder mußten sie mit ansehen, daß sie nur in einem engen Kreis herumliefen, von schweren Deichseln gebeugt und den Rücken wund gescheuert? Vielleicht waren es aber auch von der Gerichtsbarkeit des L’umeyn und des Erzmagiers wegen Diebstahl, Raub, Mord und Notzucht Verurteilte, von denen man in vielen Fällen nie wieder hörte. »Eine scheinheilige Brut«, zischte der Schmied. Früher hatte er nicht darauf geachtet, aber in den langen Tagen seiner »freiwilligen« Gefangenschaft war ihm so manches klargeworden, was er, wie viele andere auch, bisher nur mit einem Achselzucken übergangen hatte. Angeklagt und verurteilt wurde nur der einfache Bürger, angefangen vom nichtsnutzigen Tagedieb über den Kaufmann 259
bis hin zum Bauern und Handwerker. Nicht aber die Adelsschicht, der meist von vornherein eine ehrenvolle Abwicklung dieser Delikte in Aussicht gestellt wurde. Die Edelleute durften ihr Leben in vollen Zügen genießen. Wenn ihnen eine Tochter der Stadt besonders gut gefiel, nahmen sie sich diese, ohne dafür vor Gericht gezerrt zu werden. Schlimmstenfalls bürdete man ihnen eine Geldstrafe auf, die sie sogleich aus ihrer Börse bezahlten und später durch erhöhten Wegezoll von Reisenden doppelt und dreifach wieder eintrieben. Duprel Selamy hatte seine Arbeit beendet. Voll Stolz betrachtete der kleine, drahtige Mann das Werk seiner Hände. Es war nicht übertrieben, ihn als einen Künstler seines Fachs zu bezeichnen, und wohl nur deswegen hatte der Erzmagier ihn beauftragt, den Harnisch zu schmieden. Der Meister lachte heiser auf. Er war überzeugt davon, daß Vassander nicht davor zurückschrecken würde, ihn mit Waffengewalt zur Arbeit zu zwingen. So oder so, er mußte dem Tod ins Auge blicken, und er war nicht der Mann, der vor Angst das Atmen vergaß. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als zu warten, denn selbst wenn er die Wache niederschlug, würde es ihm nie gelingen, das Flußgefängnis lebend zu verlassen. Duprel Selamy setzte sich auf den Amboß, ließ die Beine baumeln und dachte daran, wie schön es doch in Ugalos gewesen war. Ob seine Gehilfen die Werkstatt so weiterführten, wie er es stets getan hatte? O ja, sie waren tüchtig, wenngleich nur zwei von ihnen wirklich das Zeug hatten, Meister ihres Fachs zu werden, deren Ruhm weit über die Grenzen des Landes hinausreichte und deren Waffen begehrt waren. Duprel wußte, daß er sich auf Frerick Armos und Jules Dubrahin verlassen konnte; sie würden seinen guten Ruf in Ehren halten. Wenn er nicht in Kürze eines gewaltsamen Todes starb, hatte 260
er vielleicht noch viele Jahre zu leben. Obwohl das beste Mannesalter inzwischen hinter ihm lag, fühlte er sich noch immer frisch und wäre jederzeit bereit gewesen, es mit Jüngeren aufzunehmen. Er war fünfzig, und in seinem Leben hatten sehr oft Freude und Leid unmittelbar nebeneinander gelegen, doch er hatte es stets verstanden, sich durchzusetzen. Und das, obwohl er von Natur aus benachteiligt war, denn er maß nur knapp fünf Fuß. Aber er war drahtig und zäh und für seine geringe Größe und Statur ungewöhnlich stark. Seine kräftigen und von Schwielen übersäten Hände waren gleichzeitig so feinfühlig, wie niemand es von einem Schmied erwartete. Vielleicht wäre sein Leben anders verlaufen, hätten die Frauen an ihm Gefallen gefunden. Aber in früheren Jahren hatten sie sich nur über seine Ohren lustig gemacht, die wie die Henkel einer Schüssel seitlich abstanden, über seine breite Nase und den noch breiteren Mund, der sich, wie böse Zungen behaupteten, von einem Ohr bis zum anderen hinzog. Und jetzt, da er trotz seines Alters noch alle Zähne besaß und kein einziges graues Haar, da er vermögend war und sein Name in ganz Ugalien bekannt, hätte manches Weib sich gerne seiner angenommen. Aber nun wollte er nicht mehr, denn er wußte inzwischen, was es hieß, frei und ungebunden zu sein. Ein Geräusch schreckte ihn aus seinen Erinnerungen auf. Jemand machte sich an der Tür zu seinem Verlies zu schaffen. Gleich darauf wurde sie aufgestoßen. Der Erzmagier Vassander trat ein. Duprel blieb sitzen und wartete, bis der andere unmittelbar vor ihm stand und ihn aus seinen stechenden Augen durchdringend musterte. Dann erst bequemte er sich dazu, aufzustehen. Er war lediglich einen Fingerbreit größer als der Magier, nur wirkte dieser durch seinen Spitzhut imposanter. Überhaupt war der Schmied der Ansicht, daß Vassander mit vielerlei Tricks versuchte, den Ein261
druck, den er auf die Bevölkerung machte, aufzubessern. So glaubte er ihm auch nicht sein angebliches Alter von einhundertvierzig Jahren. Der Erzmagier prahlte wohl damit, um dem Volk als unsterblich zu erscheinen. In Wirklichkeit mochte er nur halb so viele Winter gesehen haben. »Wie weit bist du mit deiner Arbeit, Meister Duprel?« Der Schmied rümpfte die Nase ob des allzu aufdringlichen Geruchs, den der Magier verbreitete. Er haßte dieses widerlich süße, berauschend wirkende Duftwasser. »Der Harnisch ist fertig, Erzmagier.« Vassanders Blick bekam etwas Gieriges. »Laß sehen!« Duprel Selamy brachte die Rüstung, die in künstlerischer Feinheit gearbeitet war und zum Teil ein eigenartiges Glitzern erkennen ließ, das wie das Licht der Sterne am nachtschwarzen Himmel war. Sooft er die betreffenden Segmente berührte, schien es ihm, als halte er glühende Kohlen in der Hand, und doch zeigte seine Haut danach weder Brandblasen noch Rötung. Vassanders Beschwörungen waren für diese Erscheinung verantwortlich. Ob die Rüstung deshalb allerdings dem verderbenbringenden Einfluß der Caer-Priester standhalten würde, wagte Duprel zu bezweifeln. Jeder Schwertstreich würde daran abgleiten und jeder Pfeil zerbrechen, aber die Schwarze Magie und die unbegreiflichen Kräfte des Schattenreichs…? Der Erzmagier betrachtete den Harnisch und schien zufrieden. »Du wirst deinen Lohn erhalten, Meister Duprel«, sagte er. »Wisse aber, daß diese Rüstung einmalig bleiben soll, denn sie wurde nur für mich angefertigt und in ihr steckt viel von meinen magischen Kräften. Niemand darf je ihr Geheimnis erfahren.« »Ich werde schweigen«, versprach Duprel Selamy. »Davon bin ich überzeugt«, nickte Vassander, und der 262
Schmied verstand die Doppeldeutigkeit dieser Worte nur zu genau. Der Erzmagier schien geübt im Anlegen einer Rüstung. Innerhalb weniger Augenblicke war er vollständig in Eisen gekleidet, nur der Helm mit dem spitz zulaufenden Visier fehlte noch. Vassander nahm ihn aus den Händen des Meisters entgegen. Auch dieses letzte Teil paßte, aber es hatte einen Fehler, den zu beheben jedoch nicht schwer war. »Er läßt sich nicht richtig mit dem Halsstück verbinden«, stellte der Magier fest. »Das ist ein Ansatzpunkt für die Caer, der mir im Kampf das Leben kosten kann.« Duprel Selamy sah sich das Stück schweigend an. »Verzeih«, sagte er dann und schlug die Augen nieder. »Ich werde es sofort ändern.« »Später«, sagte Vassander. »Erst lasse mich das Meine tun, um diesen Harnisch zu vervollkommnen. Er ist wahrlich ein Meisterwerk.« Um den Erzmagier herum schien die Luft zu flimmern. Nur der Helm wirkte noch matt vom Schlag des Hammers und dem Ruß des Schmiedefeuers. Duprel Selamy wußte, daß sich dies schnell ändern würde, sobald Vassander seine Magie walten ließ. Doch erst entledigte sich der Erzmagier der Rüstung und stellte sie sorgsam neben die Esse. Nur den Helm legte er auf den Amboß in der Mitte des Raumes. Dann streckte er unter dem weiten Umhang die Arme aus, die Hände reckte er in einer beschwörenden Geste zur Decke empor. Sein Blick schien in endlos weite Ferne zu schweifen, während seine Gesichtszüge hart wurden und an den Schläfen deutlich sichtbar die Adern hervortraten. Nur das Flackern in Vassanders Augen zeigte, daß überhaupt noch Leben in ihm war. Seine Lippen blieben unbewegt, aber er murmelte leise vor sich hin. 263
Der Schmied hatte diesen Vorgang schon mehrmals verfolgen können. Obwohl er sich beinahe verzweifelt abwandte, spürte er erneut die unbeschreibliche Erregung, die sich seiner bemächtigte. Es war ein eigenartiges, unwirkliches Gefühl, das sich nicht in Worten ausdrücken ließ, das man nur erleben, aber niemals wirklich erfassen konnte. Krampfhaft hielt Duprel Selamy die Augen geschlossen. Trotzdem sah er wieder jenes weiße Leuchten, das scheinbar aus der Luft heraus entstand und den Erzmagier umgab. Flammen zuckten aus den Fingerspitzen des Magiers. Der Schmied konnte es deutlich erkennen, obwohl er Vassander noch immer den Rücken zuwandte. Die leise gemurmelten Sprüche wurden zum hohlen Brausen, das schnell den ganzen Raum erfüllte und sich zum lauten Tosen eines Sturmes steigerte. Der Amboß begann zu glühen, wechselte in schneller Folge die Farbe, war zuletzt von einem blendenden Weiß und löste sich dann auf, als habe er nie existiert. Der Helm schwebte jetzt in der Luft. Seine Form schien zu zerfließen, als die Flammen aus Vassanders Fingern ihn trafen. Auch er machte eine Verwandlung durch, wurde erst klar wie Kristall, dann schwärzer noch als die Nacht über Ugalos bei Neumond. Und in dieser Schwärze manifestierte sich eine geballte Macht. Duprel Selamy spürte sie in seinen Gedanken; sie jagte ihm eisige Schauer den Rücken hinunter, schien nach ihm greifen zu wollen, ihn mit sich zu ziehen. Doch ein befehlendes Wort des Erzmagiers ließ sie vergehen, bevor der Schmied ihren Verlockungen erlag. Ein letztes, grelles Aufleuchten, dann hatte auch der Helm den hehren Glanz der Rüstung angenommen. Langsam wandte Duprel sich um, während Vassander die Arme sinken ließ. Der Amboß wurde wieder sichtbar. »Nun vollende deine Arbeit!« sagte der Erzmagier. »Du 264
wirst nicht lange dafür brauchen?« »Es bedarf nur der Glut in der Esse und weniger Hammerschläge. Du kannst daraufwarten.« »Ich habe Wichtigeres zu tun und komme wieder, wenn alles vorüber ist.« Wie von Geisterhand aufgestoßen, öffnete sich die Tür. Vassander schritt hindurch. Lange starrte Duprel ihm noch hinterher, selbst als die Pforte wieder geschlossen war. Der einzige Weg, der aus dem Verlies hinausführte, war von schweren Riegeln gesichert, die niemand aufbrechen konnte. Wirklich der einzige? Es gab einen zweiten, doch dahinter lauerte der Tod… * In der Esse war noch Glut. Duprel Selamy hatte es mit einemmal eilig, sie anzufachen. Schnell züngelten Flammen empor und fanden neue Nahrung in einer Handvoll Kohlen, die der Schmied dann ins Feuer warf. Um das Verbindungsstück zwischen Helm und Brustpanzer bearbeiten zu können, bedurfte es keiner großen Hitze. Es ließ sich einfach formen. Drei maßvolle Schläge, ein nachhaltiger Druck mit dem Rundeisen, und der Helm mußte unverrückbar fest sitzen, wenn er erst einmal geschlossen war. Weder die Flammen noch sonst etwas konnten dem Glanz des Harnischs schaden, der von magischen Kräften erfüllt war. Dennoch fühlte der Schmied immer größere Zweifel. Was, wenn er sich irrte? Allein der Gedanke daran erschreckte ihn. Nie hatte er sein Ende so nahe vor sich gesehen, war er ähnlich hilflos gewesen wie in diesen Augenblicken. Hatten sich die Götter von ihm abgewandt? Allmählich begann Duprel zu bedauern, daß er sich nicht auf 265
den Erzmagier gestürzt und ihn mit dem Schmiedehammer erschlagen hatte. Vielleicht wäre es die Erlösung für Ugalos gewesen. In jäher Verzweiflung ballte er die Hände. Wie konnte er solches nur denken? Vassander hätte ihn getötet, ehe er überhaupt in der Lage gewesen wäre, die Hand gegen ihn zu erheben. Denn allein mit körperlicher Stärke vermochte niemand gegen die Allmacht magischer Kräfte zu bestehen. Duprel dachte an seine Schmiede, an die lärmerfüllten Gassen davor – an seinen Weinkeller, voll mit erlesenen Köstlichkeiten. Ja, verdammt, er hatte Angst, und er hätte ein Narr sein müssen, dies zu leugnen. Denn was konnte schlimmer sein als die Ungewißheit? Er nahm den Hammer und schleuderte ihn von sich. Dumpf dröhnte es, als er auf dem Boden aufschlug. »Aqvitre, mach ein Ende!« Duprel versuchte gar nicht erst zu begreifen, was mit ihm geschah. Er hatte doch bisher schon geahnt, daß er sterben mußte, und es hatte ihm nichts ausgemacht. Aber nun, da der Tod greifbar nahe schien, fühlte er sich elender als ein Jüngling vor seinem ersten großen Turnier. War da nicht ein Geräusch? Das lauter werdende Plätschern von Wasser… Der Schmied lauschte. Aber da war nichts mehr. Also mußte er sich geirrt haben. Du Narr, schimpfte er in Gedanken, bist nahe daran, hysterisch zu werden. Was haben die Tage im Verlies nur aus dir gemacht?
Duprel Selamy verstand sich selbst nicht mehr. Er fröstelte. Aber es war keine innere Kälte, die ihm zu schaffen machte. Vielmehr kroch sie seine Beine hinauf wie ein alles verschlingender Moloch. Und plötzlich war da die Nässe, und es stank fürchterlich. Der Schmied stand bereits bis zu den Knöcheln im Wasser, das schnell höher stieg. 266
Jetzt erst bemerkte er, daß sich die Wand hinter ihm langsam zur Seite schob. Je breiter der Spalt wurde, desto mehr gelbliches, trübes Wasser ergoß sich in den Raum. Das Blubbern und Gurgeln, eben noch fast unhörbar, schwoll zur Höllenmusik an. Duprel Selamy schrie. Er schrie so, wie er es immer wieder von den zum Tode Verurteilten gehört hatte. * Die Erkenntnis, daß sich auch das kristallklare Wasser des Brunnens verändert hatte, war erschreckend und ließ jede Hoffnung schwinden. Frerick Armos schwitzte plötzlich. Es war ein kalter Schweiß, den ihm die Angst aus dem Körper trieb, die Furcht vor dem Unbekannten, Unbegreiflichen. Wie gebannt starrte er auf das Blut, das noch immer aus dem Eimer floß, obwohl dessen Inhalt sich längst erschöpft haben mußte. Blasenwerfend breitete sich die Flüssigkeit aus, bevor sie zwischen den Pflastersteinen versickerte. Die Menge wich zurück. Stumm und zu keiner Äußerung fähig. Armos fühlte die Blicke der Leute auf sich ruhen, als machten sie ihn für alles verantwortlich. Langsam sank er in die Knie. Nur mit Mühe konnte er sich noch am Brunnenrand festklammern. Er übergab sich. Gelber Schleim quoll aus ihm heraus, vor dem es ihn selbst ekelte. Von Krämpfen geschüttelt, glitt er dann zu Boden. Fast verlor er die Besinnung, wußte nicht mehr, wo er sich befand und was geschah. Erst ein gellender Aufschrei brachte ihn wieder zu sich. Ihm war, als kehre er aus dem Jenseits zurück. Hatte er wirklich die Finsternis gesehen, die sich wie ein breites Band über fremde Ländereien erstreckte? Er glaubte noch immer zu schweben, dem Ende der Welt entgegen, zu vergehen in uner267
träglicher Hitze. Rauhe Fäuste rissen ihn hoch, droschen auf ihn ein und trieben ihm die Luft aus den Lungen. »Er ist besessen!« erscholl es ringsum im Chor. »Tötet ihn!« Frerick Armos begriff, daß nur er gemeint sein konnte. Er wollte etwas sagen, hatte aber nicht einmal mehr die Kraft zu stöhnen. Vor seinen Augen tanzten schwarze Schatten. Dennoch sah er, daß jemand den Eimer aufhob und in den Brunnenschacht warf. Der stete Blutstrom versiegte. »Werft ihn hinterher! Er steht mit dem Bösen im Bunde.« »Nicht ins Wasser! Er muß brennen! Nur so können wir seinen Dämon wirklich vernichten.« Der Mob brüllte sich gegenseitig nieder. »Ciarisse hat den Eimer heraufgeholt, da war das Wasser noch klar. Wir alle haben gesehen, daß es sich erst verfärbte, als dieser… dieser Besessene kam.« »Habt ihr auch gesehen, wie der Eimer blutete? Hätte Maurace ihn nicht zurückgeworfen, es würde jetzt noch aus ihm hervorquellen.« »Wir sollten Maurace dankbar sein.« »Er muß den Dämon töten! Nur ihm steht es zu.« Armos schlug der Länge nach hin, als die Männer ihn losließen. Kraftlos krallten sich seine Finger in das glitschige Pflaster. Wie durch einen dichten Nebel hindurch nahm er wahr, was um ihn herum vorging. Brutal trat man ihn in die Seite. Er krümmte sich vor Schmerzen. Ein zweiter Tritt rollte ihn auf den Rücken. Über sich sah er verschwimmende Nebel, in ständiger Bewegung begriffen. Träumte er? Oder waren dies die ersten Anzeichen des nahenden Todes, der ihn umfing? Nur er schien das Wiehern zu hören, kein anderer. Unter den Hufen des Schimmels erzitterte das Firmament. 268
Das edle Tier flog förmlich dahin. Es war frei wie der Wind über der Steppe; kein Reiter würde es je zähmen können. Hilfesuchend streckte der Schmied die Arme nach ihm aus. Aber ein furchterregendes Fauchen ließ ihn zurückschrecken. Feuer schlug ihm entgegen, Schwefel und beißender Rauch, der ihn erneut würgte. Ein geiferndes Maul wurde sichtbar. Auf einem langen Hals peitschte ein abscheulicher Kopf durch die Wolken. Ein zweiter folgte, ellenlange Reißzähne entblößend. Das Untier schnappte nach Armos, der sich nicht dagegen wehren konnte. Er wurde hochgewirbelt und schrie. Ein schmerzhafter Schlag ins Gesicht ließ ihn verstummen, brachte ihn aber gleichzeitig in die Wirklichkeit zurück. In einer langen Prozession trug man ihn durch die Gassen der Stadt. Immer mehr verängstigte und aufgeschreckte Bürger schlossen sich dem Zug an. Als Armos endlich erkannte, wohin man ihn brachte, mußte er sich erneut übergeben. Viele wichen entsetzt vor ihm zurück und machten die Zeichen gegen den bösen Blick. »Bei Aqvitre!« wollte der Schmied rufen, aber er brachte nur ein heiseres Krächzen hervor. Dann stellte man ihn auf die Beine. Ein harter Stoß in seinen Rücken ließ ihn vorwärts taumeln. »Er soll brennen!« schrie die Menge. Vor ihm war der Scheiterhaufen, mannshoch und sorgsam aufgeschichtet. Armos hatte keine Möglichkeit, zu fliehen. Die Meute, die sich in immer heftigere Erregung hineinsteigerte, würde ihn eher zerreißen als entkommen lassen. Seltsam, daß er angesichts des sicheren Todes daran denken mußte, wer das letzte Opfer der reinigenden Flammen gewesen war: eine Hexe, die nachweislich mit den Mächten der Schattenzone paktiert hatte. Aber das lag viele Sonnenwenden zurück. Der Erzmagier Vassander hatte ihr verderbliches Tun 269
entlarvt. Armos sah sie noch immer vor sich, wie sie sterbend zusammenbrach und die Flammen hoch aufloderten. »Nein!« kreischte er. »Ich bin nicht besessen!« Aber niemand schien ihn zu hören. Man erwartete von ihm, daß er erhobenen Hauptes hinaufstieg. Als Symbol für seine Reue und den Willen zur Abkehr von den Mächten der Finsternis. Doch Frerick Armos hatte nichts zu bereuen. Er war verrückt genug gewesen, einer Frau helfen zu wollen, die ihn nichts anging. Bestimmt schrie sie jetzt am lautesten. Zitternd hielt er sich an der Leiter fest. Nicht einen Schritt würde er freiwillig tun. Aber sie schoben ihn die Sprossen hinauf, und dann stand er doch oben und blickte hinunter auf die immer noch anwachsende Menge. Am ganzen Körper verspürte er einen schier unerträglichen Juckreiz. Die rötlichen Flecken auf seinen Händen schienen anzuschwellen. Jemand brachte eine brennende Fackel. Johlen und Toben begleiteten ihn, als er näher kam. »Haltet ein!« Zaghaft zunächst, doch dann ein zweites Mal und um vieles lauter, versuchte sich eine Frau Gehör zu verschaffen. »Der Mann ist nicht besessen, er ist unschuldig.« Vergeblich versuchte Armos zu erkennen, woher der Ruf kam. Nicht nur er hatte ihn gehört, denn innerhalb weniger Augenblicke wurde es merklich leiser. Der Fackelträger verharrte vor dem Scheiterhaufen, unwillig, wie es schien, aber gleichzeitig überrascht. »Wer behauptet das?« fragte er mit dröhnender Stimme. »Ich!« Eine junge Frau mit langem schwarzem Haar bahnte sich einen Weg durch die Umstehenden. Frerick Armos kannte sie. Und nicht nur er, wie es schien. »Ciarisse!« ertönte es von vielen Seiten. »Du willst ihn ver270
teidigen, ausgerechnet du?« »Ja, ich will es«, rief sie, für alle hörbar. »Dieser Mann wird ohnehin sterben, aber nicht, weil er von Dämonen besessen ist, sondern weil ein Fluch auf Ugalos lastet. Keiner kann dem Verderben entgehen.« Bedrücktes Schweigen. Dann ein vielstimmiger, entsetzter Aufschrei. »Die Blutquelle wird uns alle umbringen!« versetzte Ciarisse. »Seht ihn euch an, seht hinauf auf den Scheiterhaufen! Solche Flecken, wie er sie hat, wird schon bald mancher von euch an seinem eigenen Körper finden. Auch mein Sohn hatte sie. Danach kommen Beulen, die schnell wachsen, die die Haut aufreißen und bluten!« »Die Pest?« schrie jemand auf, und seine Stimme überschlug sich förmlich. »Gelbes Fieber!« kam es von Ciarisse, und man konnte ihr ansehen, wie verzweifelt sie war. »Die Prophezeiung unserer Urahnen bewahrheitet sich.« »Jeder hier«, sagte der Mann mit der Fackel so laut, daß es weithin zu hören war, »will ihn brennen sehen. Nur dadurch können wir die Götter wieder gnädig stimmen und das Böse vertreiben.« »Er ist unschuldig, sage ich euch«, wiederholte Ciarisse mit einem Nachdruck, der keinen Widerspruch duldete. »Verfallt nicht dem Wahnsinn, zu glauben, daß mit seinem Tod alles vorüber sei. Es wird noch schlimmer werden. Wer von euch hat bereits einen Angehörigen verloren?« Stille. »Niemand!« rief Ciarisse, und sie steigerte sich in eine Erregung hinein, die ihre Stimme zittern ließ. »Nur mein Kind mußte bis jetzt sterben. Also steht mir auch das Recht zu, über das Schicksal dieses Mannes zu entscheiden.« Zustimmung wurde laut. Sie wandte sich an Armos, der 271
noch immer auf dem Scheiterhaufen stand, als betreffe ihn das alles längst nicht mehr. »Komm herunter! Wer bist du überhaupt?« »Frerick Armos nennt man mich.« »Deiner Kleidung nach gehörst du zur Zunft der Schmiede.« »Ich bin Gehilfe bei Meister Duprel«, sagte Armos, während er vorsichtig die Leiter hinunterstieg. »Dem Waffenschmied?« kam es aus der Menge. »Ich kenne ihn. Er würde gewiß keinen bei sich dulden, der mit den Mächten der Schattenzone im Bund ist.« Die Stimmung schien langsam umzuschlagen. Kaum jemand nahm noch Notiz davon, daß die Fackel in einen nahen Kanal geworfen wurde und dort erlosch. Endlich sah Armos die Frau, die ihn gerettet hatte, aus der Nähe. Sie war wirklich schön, wenngleich ihr Gesicht von Kummer und Schmerzen gezeichnet war. »Ich danke dir«, sagte er. »Weshalb? Immerhin wolltest du mein Kind aus dem Brunnen holen. Du konntest nicht wissen, daß ich seinen Leichnam opferte, um weiteres Unheil abzuwenden.« Armos verstand nicht ganz. Aber Ciarisse erzählte ihm dann unter Tränen, was geschehen war. Es fiel ihr sichtlich schwer. Ihr drei Monde alter Sohn hatte sie schon in der Nacht mit seinem Schreien geweckt. Aber erst nach Sonnenaufgang hatte sie die Flecken auf Gesicht und Händen des Säuglings entdeckt, die sich schnell über den kleinen Körper ausbreiteten. »Er spie gelben Schleim«, sagte sie, und als Armos bestätigte, daß es ihm genauso gehe, schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. »Deshalb nenne ich es das gelbe Fieber«, fuhr sie nach einer Weile fort. Ihre Stimme war so leise, daß nur wenige der Umstehenden sie hören konnten. Aber was sie sagte, wurde schnell weitererzählt. »Auf der Haut bildeten sich Beulen, die 272
aufplatzten und zu bluten begannen. Ich ging an den Brunnen, um meinen Sohn zu waschen. Aber als er mit dem Wasser in Berührung kam, färbte es sich rot. Nicht du hast den Brunnen vergiftet, es muß der Leichnam meines Sohnes gewesen sein.« »Woher kommt diese Krankheit?« rief ein altes Mütterchen, das eben noch drohend seinen Stock gegen den Schmied geschwungen hatte. »Sieh dir die Lorana an, und du weißt es!« schrie Ciarisse unbeherrscht. »Die Blutquelle ist wieder aufgebrochen, wie die Legende es prophezeit. Das Ende der Welt ist nahe!« Irgendein Krieger hielt plötzlich sein Schwert in der Hand und stieß es in die Höhe, so daß jeder es sehen konnte. »Sollen wir warten, bis alle sterben?« hallte seine Stimme durch die Gassen. »Wir müssen kämpfen, bevor es zu spät ist.« Kämpfen, dachte Frerick Armos bitter. Gegen was? Gegen Dämonen oder den Fluß, der sich unaufhaltsam an Ugalos vorbeiwälzt und sein verhextes Wasser in die Kanäle ergießt? Doch so weit schien im Augenblick niemand zu denken. Überall zeigte sich der Mut der Verzweiflung. »Laßt uns reiten!« »Holt Pferde und Waffen!« Mehr als dreißig Mann taten sich zusammen. Dabei war Armos überzeugt davon, daß ihnen kein Erfolg beschieden sein würde, denn gegen den Fluch des Heroen konnten nur die Götter helfen. Gräßlich war das Jucken und unerträglich. Allein wenn er über seine Arme tastete, fühlte er größer werdende Beulen, die zu nässen begannen. »Du, komm mit!« Armos erhielt einen Stoß in den Rücken. Als er sich umwandte, hielt ihm ein Mann ein Langschwert hin. Aber der 273
Schmied zeigte nur seine Handflächen, und der andere verschwand mit einem erstickten Laut. Pferde wurden gebracht. Diejenigen, die am lautesten nach Kampf schrien, schwangen sich in die Sättel. Armos sah zu, wie sich die Menge langsam zerstreute. Viele scheue Blicke warf man ihm zu, und jeder mied es, ihm nahe zu kommen. Dann brach die wilde Jagd auf. Hufe donnerten über hölzerne Brücken und ließen den Boden erzittern. Für eine Weile rissen die gelben Nebel auf, die in immer dichteren Schwaden durch die Stadt trieben. Als sie sich wieder verdichteten, schien es, als hätten sie die Reiter vom Erdboden weg verschluckt. Grabesstille breitete sich aus. Doch nur für kurze Zeit, denn dann sorgten die Bürger von Ugalos selbst dafür, daß ihre stolze Stadt zu einem Hexenkessel wurde. Kälte und Nässe ließen Duprel Selamy schnell zu sich selbst zurückfinden. Das Wasser hatte bereits seine Waden erreicht, und ihm blieb nur noch wenig Zeit. Er hätte sich ohrfeigen können dafür, daß er beinahe die Nerven verloren hatte. Mit fliegenden Fingern legte er die Rüstung an, deren hellen Schimmer auch die trübe Brühe des Flusses nicht beeinträchtigen konnte. Schon stand er bis zu den Knien im Wasser, das rasend schnell stieg. Der Brustpanzer… Das Rückenteil… Oft genug hatte er es in den vergangenen Tagen geübt und sich dabei ausgemalt, wie es wohl sein würde. Aber die Wirklichkeit war ganz anders. Der Tod kam mit Riesenschritten. Sein Begleiter war ein grauenvoller Gestank, der den Schmied in seinen Bewegungen lähmte, ihn zittern und krampfhaft nach Luft ringen ließ. Zischend starb die Glut in der Esse; das Wasser riß die Kohlen mit sich. Duprel Selamy zwängte sich in den Harnisch, der ihm paßte, 274
als sei er eigens für ihn angefertigt worden. Und in gewisser Weise stimmte das auch. Vielleicht war es Schicksal, daß der Erzmagier Vassander und der Schmied nahezu gleich groß waren, vielleicht Vorsehung oder gar der Wille der Götter. Wer würde es je ermessen? Meister Duprel jedenfalls, als er zu ahnen begann, was ihm bevorstand, hatte den Harnisch nach seinen eigenen Körpermaßen angefertigt. Und nun konnte er nur hoffen, daß Vassanders Magie auch ihn schützte und er nicht doch jämmerlich ertrank. In seinen Stulpenstiefeln, die ihm bis über die Knie hinaufreichten, schwappte das Wasser. Als er es bemerkte, erschrak er. War seine einzige Hoffnung vergebens gewesen? Selbst er konnte keine Rüstung herstellen, die die Nässe abhielt wie die Waffe eines Gegners. Duprel Selamy schloß die Armmanschetten über seinem Lederhemd, dann nahm er den Helm und setzte ihn auf. Wenig später schlug das Wasser über ihm zusammen. Er glaubte seinen Herzschlag zu hören, während sich ein ungewohnter Druck auf seine Ohren legte. Seltsam gedämpft und wie aus weiter Ferne klang jetzt das Rauschen des Wassers. Aber in der Rüstung blieb es trocken. Vorsichtig machte der Schmied einige Schritte. Es war, als würde er von einer unsichtbaren Kraft festgehalten. Jede Bewegung fiel ihm unsagbar schwer. Es kostete Duprel ungeahnte Überwindung, beim Anblick der gelben Fluten vor seinem Visier nicht in Panik auszubrechen. Ein wenig half es ihm, daß er sich sagte, Vassanders Magie müsse stärker sein als die Elemente. Immerhin war der Harnisch für den Erzmagier bestimmt gewesen, und der würde sich nicht mit Halbheiten abgeben. Nun öffnete sich auch die gegenüberliegende Wand. Sofort machte sich eine überaus starke Strömung bemerkbar. Der 275
Schmied spürte nichts davon, aber er sah verschiedene Werkzeuge davonwirbeln. Sogar der schwere Amboß wurde umgeworfen. Duprel Selamy verdankte es nur der Rüstung, daß das Wasser ihn nicht längst schon mitgerissen hatte. Wenn der Raum wieder geschlossen und leer gepumpt war, würde Vassander kommen und sich seinen Harnisch holen. Zum erstenmal seit langem mußte der Meister lachen. Der Erzmagier würde fluchen, wenn er das Verlies leer vorfand, und annehmen, daß die Strömung der Lorana doch stärker gewesen war als seine Beschwörungen. Duprel hatte es auf einmal eilig, den Raum zu verlassen, denn jeden Augenblick konnten die Wände sich wieder schließen. Eine zweite Möglichkeit, zu fliehen, würde er bestimmt nicht mehr erhalten. Ohne es eigentlich zu wollen, wandte er sich flußaufwärts. Schon nach kurzem fiel es ihm leichter, seine Kräfte einzuteilen. Er kam schneller vorwärts. Dicke, von vielerlei Pflanzen überwucherte Mauern blieben hinter ihm zurück. In dem herrschenden Dämmer konnte er nicht viel erkennen. Das Flußbett war nicht schlammig, sondern wirkte eher wie geschliffener Fels, auf dem sich unzählige Gewächse festgesetzt hatten. Etliche Fuß lange Fangfäden, von der Dicke eines Fingers bis hin zur Stärke eines muskulösen Oberarms, trieben in der Strömung. Auf der Suche nach Nahrung setzten sie sich an der Rüstung fest. Duprel hatte Mühe, sie abzustreifen. Noch konnte er sich nicht allzuweit vom Flußgefängnis entfernt haben. Wenn er jetzt schon an Land ging, lief er Gefahr, von Häschern des Erzmagiers aufgespürt zu werden. Siedend heiß überlief es ihn: Er durfte nicht länger im Fluß bleiben, wollte er nicht ersticken. Wieviel Luft mochte noch in der Rüstung sein, die ihn am Leben erhielt? Daran hatte er nicht gedacht. Er war verloren. 276
Aber nach einigen bangen Herzschlägen siegte die Überzeugung, daß der Träger des Harnischs nicht umkommen würde, egal in welcher Gefahr er sich befand. Nur vor der Schwarzen Magie mußte er sich hüten. Duprel Selamy hielt sich nach links, bis endlich das Steilufer vor ihm aufragte. Auf diese Weise vermied er, ohne daß er sich dessen bewußt wurde, im Kreis zu laufen. Mit jedem Schritt, den er tat, wuchs seine Zuversicht. Irgendwann würde er zwar den Fluß verlassen und von da an vor Vassander auf der Hut sein müssen, aber darüber machte er sich jetzt noch keine Gedanken. Nicht nur seine Zukunft lag im Ungewissen, sondern das Schicksal der ganzen Lichtwelt. * Ein gellender Schrei hallte durch den Wald, als Hark sein Opfer ansprang und mit ihm zusammen zu Boden stürzte. Aber so schrie kein Mann. Das war die Stimme einer Frau, die sich in höchster Verzweiflung befand. Mythor sprang hinzu, drängte den Bitterwolf zur Seite und riß den Angreifer hoch. Es war wirklich ein Weib. Furcht sprach aus ihrem Blick. Ihr Alter war schwer zu schätzen, denn ihr Gesicht, von Wind und Wetter gegerbt, war voller Falten und Runzeln. Mythor nahm ihr den Lederstreifen ab und ein kleines Säckchen, das gefüllt war mit scharfkantig geschliffenen Steinen. Abschätzend wog er die primitive, aber doch wirkungsvolle Schleuder in der Hand, dann warf er sie von sich. Er ließ dabei die Hütte nicht aus den Augen, rechnete er doch damit, erneut angegriffen zu werden. Aber alles blieb ruhig. Zu ruhig. »Hark!« Ein kurzer Wink, und der Wolf verschwand im Wald. Niemand würde Mythor nun noch in den Rücken fallen können. 277
»Wer bist du?« wandte er sich an die Frau. Sie schwieg, preßte die Lippen aufeinander, bis sie nur noch einen schmalen, blutleeren Strich bildeten, und wich seinem Blick aus. Mythor setzte ihr das Schwert auf die Brust. »Dir werde ich nichts tun. Aber vielleicht bekommt dein Kumpan die Klinge zu spüren, wenn du nicht redest. Ich habe es nicht gerne, wenn man mich aus dem Hinterhalt überfällt.« Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine flüchtige Bewegung wahr. Ehe er überhaupt reagieren konnte, krachte ein Stein unmittelbar neben ihm ins Moos. Fast gleichzeitig sprang der Bitterwolf den zweiten Angreifer an. Die Frau neben Mythor stöhnte auf. Aller mühsam aufrechterhaltener Widerstand schien von ihr abzufallen. Der Sohn des Kometen nutzte die Gelegenheit. Während er Alton in den Gürtel schob, um zu zeigen, daß er es nicht auf ihr Leben abgesehen hatte, fragte er erneut: »Warum wolltet ihr mich umbringen?« Angst und Erschrecken standen ihr ins Gesicht geschrieben. Aber sie hätte wohl dennoch nicht den Mund aufgemacht, hätte nicht der Bitterwolf ein gereiztes Bellen hören lassen. »Ruf die Bestie zurück, bevor sie meinen Mann tötet!« forderte sie mit zitternder Stimme. »Nur wenn du mir meine Fragen beantwortest.« Sie wand sich, als empfinde sie körperliche Qualen. »Niemand, der sein Leben liebt, wird einen Dämonenreiter dulden.« Das also war es. Mythor verstand. Aberglaube beherrschte die Gedanken der beiden, die einsam im Wald lebten. Wahrscheinlich hatten sie gehofft, daß er vorbeiziehen werde, und ihn erst angegriffen, als er sich ihrer Kate näherte. »Aber wieso…« Die Frau wandte den Kopf, und der Blick ihrer schreckge278
weiteten Augen wanderte zu Pandor hinüber, der am Waldrand graste. »Das Einhorn«, sagte sie. »Wir wurden gewarnt und wußten, daß du kommen würdest.« »Ich verstehe deine Furcht.« Mythor erhob sich und rief nach Hark, der sofort von seinem Opfer abließ. »Aber ich bin nicht der, für den du und dein Mann mich haltet. Nie würde ich einen Bund mit Dämonen eingehen.« Auch die Frau stand nun auf und schüttelte den Schnee aus ihrem Umhang. Mißtrauisch schaute sie erst Mythor an, dann den Bitterwolf und Pandor. Sie zuckte kurz zusammen, als ein weißer Schatten aus den Wipfeln der Bäume herabglitt und sich auf der Schulter des jungen Mannes niederließ. »Ein Schneefalke«, stammelte sie, und zugleich wich ein Großteil des deutlich gezeigten Mißtrauens aus ihrem Gesicht. »Das Tier gehört dir?« Mythor nickte. »Es ist mein Gefährte.« »Dann muß ich deinen Worten wohl Glauben schenken«, murmelte die Frau. »In meiner Heimat gilt der Schneefalke als kluges Tier, das keinen Herrn anerkennt, der mit dem Bösen im Bund ist.« In einer unerwarteten Geste streckte sie ihm die Hand hin. »Ich bin Berra. Das dort drüben ist mein Mann, Vormen.« Mythor nannte seinen Namen, dann rief er den Bitterwolf endgültig zurück. Berra bückte sich unterdessen nach ihrer Schleuder und ließ sie in einer Falte ihres weiten Umhangs verschwinden. Zusammen gingen sie auf die Hütte zu. Vormens feindselige Haltung wich schnell einer spontanen Gastfreundschaft, als sie beim Schein des Kaminfeuers an einem Tisch saßen und Mythor berichtete, daß er unterwegs sei, um seine Freunde aus der Gewalt unbekannter Entführer zu befreien. Die Bißwunde, die Hark ihm zugefügt hatte, schien ihn dabei nicht zu stören. »Du kannst die Nacht bei uns verbringen«, schlug Berra 279
nach einer Weile vor. »Ich danke dir«, sagte Mythor. »Ich bin zufrieden, wenn ihr mir etwas Stroh gebt für mich und meine Tiere.« »Es ist nicht viel, was wir haben«, meinte Vormen, »aber du bekommst einen Platz vor dem Feuer, zu essen und zu trinken. Wir Fallensteller haben ein hartes Tagwerk, und wir wissen auch, was es heißt, einsam zu leben.« Mythor horchte auf. »Warst du während der letzten beiden Tage im Wald unterwegs?« fragte er. »Weiter als für gewöhnlich«, nickte Vormen. »Der Winter scheint besonders streng zu werden, denn das Wild wandert nach Süden, wo es nicht selten weniger Schnee gibt und bessere Futterplätze.« »Hast du die Spuren von Reitern gesehen? Etwa zehn müssen es gewesen sein.« »Ich dachte mir schon, daß du das fragen würdest«, antwortete der Fallensteller. »Die Männer, die du suchst, waren hier, gestern, nicht lange vor Einbruch der Dunkelheit. Sie gaben sich als Händler aus und kauften Fleisch als Wegzehrung.« »Waren sie es, die euch vor dem Dämonenreiter warnten?« Berra nickte. »Dann wissen sie, daß sie verfolgt werden«, überlegte Mythor. »Aber sie haben mich nie gesehen, kennen auch Pandor nicht.« »Vielleicht haben sie ihr Wissen von deinen Freunden.« Schlagartig verdunkelte sich Mythors Miene. Es war die Sorge, die sich darin widerspiegelte. »Bestimmt nicht freiwillig«, sagte er. »Man muß sie schon dazu gezwungen haben. Oder…«, er begann zu grinsen, »… der Kleine Nadomir konnte wieder einmal sein Maul nicht halten. Ja, dem Steinmann traue ich zu, daß er seinen Schutzgeist anruft und mit ihm zusammen versucht, den Entführern ein Schnippchen zu schlagen. Doch berichtet mir, was ihr 280
wißt.« »Neun Reiter waren es, und sie führten zwei Packpferde mit sich. Aber nur vier kamen zu unserer Hütte. Die anderen blieben am Waldrand zurück. Sie waren seltsam gekleidet, trugen lücher vor ihren Gesichtern und lange Gewänder mit Kapuzen, die sie sich über die Köpfe gezogen hatten.« Die Beschreibung erinnerte Mythor an Wüstenbewohner. Als er noch in der Nomadenstadt Churkuuhl gelebt hatte, war er solchen Reitern begegnet. Aber er hätte nicht mehr zu sagen vermocht, wo das gewesen war. Irgendwo in der Wüste von Salamos. »War eine Frau bei ihnen?« »Vielleicht«, antwortete Vormen nur. »Ich kann es dir nicht sagen, weil heftiger Schneefall die Sicht trübte. Die uns das Fleisch abkauften, waren Männer.« »Einer der fünf war klein wie ein Kind«, sagte Berra. Mythor zuckte mit den Achseln. »Das hilft mir nicht«, meinte er. »Was führten sie auf den Packpferden mit?« »Mehrere Bündel«, erinnerte sich Vormen, »deren Größe mir befremdlich erschien. Mag sein, daß es sich dabei um deine Freunde gehandelt hat.« »In welche Richtung ritten sie weiter?« »Nach Süden, glaube ich«, sagte Vormen. »Ja, nach Süden«, nickte auch sein Weib. »Sie müssen es gewesen sein«, überlegte Mythor. »Nur schade, daß ihr nicht mehr erkennen konntet. Aber ohne Zweifel wollten sie mich aufhalten, als sie euch vor dem Dämonenreiter auf dem Einhorn warnten. Beinahe wäre es ihnen auch gelungen.« Er unterbrach sich, weil Vormen plötzlich aufstand und irgendwo hinter dem Kamin, wohin er von seinem Platz aus nicht sehen konnte, zu kramen begann. Nach einer Weile kam der Fallensteller zurück und warf ihm ein glänzendes Goldstück hin. 281
»Das habe ich bekommen«, sagte er. »Als Bezahlung für das Fleisch. Kannst du damit etwas anfangen?« Mythor hatte die Münze aufgefangen und drehte sie nachdenklich zwischen den Fingern hin und her. Sie war recht gut erhalten und zeigte nur wenige Spuren eines Gebrauchs. Auf der einen Seite war ein Frauenkopf eingeprägt, auf der anderen eine Stufenpyramide mit hängenden Gärten, die sich zwischen den einzelnen Terrassen erstreckten. »Dieses Goldstück stammt zweifellos aus Sadagars Beutel, den er wie seinen Augapfel hütet«, stellte der Krieger fest. »Ich erkenne die Münze wieder, weil er sie mir vor nicht allzu langer Zeit einmal gezeigt hat. Angeblich stammt sie aus einem Land im fernen Süden.« »Du wirst deinen Freunden folgen?« fragte Berra. »Ich muß«, sagte Mythor, »um mir über ihr Schicksal klarzuwerden und sie zu rächen oder zu befreien.« »Aber du bist allein«, gab Vormen zu bedenken. »Die anderen sind neun und, wie mir schien, geübte Kämpfer.« »Soll ich mich davon abschrecken lassen? Mein Schwert Alton und der Helm leisten mir gute Dienste. Und dann vergiß nicht meine Tiere – sie sind nicht zu unterschätzende Gegner.« »Diese Frau, von der du sprachst«, sagte Berra nach einer Weile. »Liebst du sie?« »Liebe…« Mythor dehnte das Wort, als gelte es für ihn erst, dessen Sinn zu erfassen. »Nein«, murmelte er dann, »ich glaube nicht. Gewiß, Kalathee ist jung und schön, und manch einer würde alles dafür geben, könnte er mit ihr Zusammensein. Aber mein Herz gehört einer anderen. Ich kenne sie nicht, trage nur ihr Bild bei mir, doch irgendwann werde ich sie finden, und dann wird sie mir gehören.« »Wenn ein Mann wie du so von einem Mädchen schwärmt«, grinste Vormen, »muß es schon eine Göttin sein.« »Möglicherweise«, nickte Mythor, »ist sie eine Göttin.« 282
»Darf ich das Bild sehen?« fragte die Frau des Fallenstellers. Der Krieger zögerte zwar zunächst, holte dann aber doch das Pergament unter seiner Kleidung hervor. Berras Augen weiteten sich in offensichtlichem Erstaunen. »Sie hat viel Ähnlichkeit mit dir, Mythor«, stellte sie zögernd fest. »Und von ihr geht etwas aus, das wohl jeden Mann in seinen Bann zieht.« »Ich kann dich leider nur zu gut verstehen«, sagte Vormen leise. »Wie heißt das Mädchen?« »Nicht einmal das weiß ich«, gestand Mythor ein. »Aber irgendwie fühle ich, daß ich ihren Namen kenne.« »Du tust mir leid.« Dem Fallensteller war nicht anzumerken, ob er es ernst meinte oder sich über seinen Gast lustig machte. »Auf die Dauer ist das kein Leben für dich; ein Mann braucht Erfüllung, vor allem in der Liebe, um leistungsfähig zu bleiben.« Mythor nahm das Pergament wieder an sich und verbarg es sorgfältig. »Du magst recht haben, Vormen. Doch solltest du dir nicht meinen Kopf darüber zerbrechen.« »Obwohl er es liebend gerne täte«, platzte Berra heraus. »Denn hier gibt es weit und breit keine Abwechslung, also muß er sich allein mit mir begnügen.« »Ich werde dich…«, brauste Vormen auf. »Später«, meinte seine Frau zweideutig und grinste. Mythor erhob sich. »Es ist schon spät, und ich möchte morgen mit den ersten Sonnenstrahlen aufbrechen.« »Ich richte dein Lager her«, sagte Berra. Dem Krieger entging der bewundernde Blick nicht, mit dem sie ihn bedachte. Wahrscheinlich stellte sie Vergleiche an zwischen dem zu lang und zu dürr geratenen Vormen und ihm. In dieser Nacht schlief Mythor ruhig und ohne Träume. Er wachte auf, als der erste Schimmer der Morgenröte über den Horizont heraufzog. Der Abschied vom Fallensteller und sei283
ner Frau war kurz, aber herzlich. Dann ritt der Sohn des Kometen wieder durch eine verschneite, endlos erscheinende Wildnis. Pandor war ausgeruht, und entsprechend schnell kamen sie vorwärts. Aber immer wieder wich das Einhorn vom Weg ab und folgte dem Lauf der Sonne. Manchmal hatte Mythor Mühe, ihm seinen Willen aufzuzwingen. Da auch Hark und der Schneefalke öfter die Richtung wechselten und für längere Zeit verschwanden, schloß Mythor auf eine drohende Gefahr. Dennoch war er nicht gewillt, einen Umweg in Kauf zu nehmen, zumal er nicht wußte, wovor die Tiere wirklich zurückschreckten. Er setzte den Helm auf, aber schon nach kurzer Zeit verursachte ihm dieser schier unerträgliche Kopfschmerzen. Nur vorübergehend hatte er das unbestimmte Gefühl empfunden, als rate ihm eine innere Stimme, nach Westen zu reiten. Mythor tat dies als Einbildung ab, und es schien, als solle er damit recht behalten. * Die Sonne hatte ihren höchsten Stand längst überschritten, aber noch immer ritt der Krieger unbehelligt durch die Weiten Dandamars. Sein Weg führte durch Wälder, verschneite Steppen und an unwegsamen Sumpfgebieten vorbei. Wilde Tiere flohen vor der Nähe des Bitterwolfs. Meist bekam Mythor nur noch ihre Fährten zu Gesicht. Plötzlich aber zeichnete sich unweit von ihm eine breitere Spur ab. Aus der Nähe erkannte er dann, daß es die Abdrücke von Pferdehufen waren. Mehrere Tiere waren hier zum Teil hintereinander geritten worden, weshalb er nur schwer auf ihre wirkliche Zahl schließen konnte. Aber es mußte sich um die Gesuchten handeln. »Aufpassen, Hark!« rief Mythor dem Bitterwolf zu, der un284
mittelbar neben ihm lief. »Wir sind ihnen um einiges näher gekommen. Vielleicht lagern sie irgendwo vor uns, und wir holen sie im Lauf der Nacht noch ein.« Das Tier blickte ihn aus klugen Augen an. Der Wolf konnte zwar nicht verstehen, was er sagte, wohl aber glaubte Mythor, daß er dem Klang seiner Worte folge. Die Entführer waren wahrscheinlich Sklavenhändler aus dem tiefen Süden. Alles deutete darauf hin – ihre fremdartige Kleidung, der Weg, den sie gewählt hatten und der durch unbesiedeltes Land führte. Mythor würde ihnen die Beute wieder abjagen, selbst wenn er noch tagelang unterwegs sein mußte. Büsche und niederes Gehölz säumten die Spur. Wiederholt fand der Krieger abgebrochene Äste. Die Bruchstellen waren frisch, keinesfalls älter als vom frühen Morgen. Das Harz, das sie abgesondert hatten, klebte noch zwischen den Fingern. Lautes Bellen ließ Mythor aufsehen. Hark war ihm vorausgeeilt und schien etwas gefunden zu haben. Er kauerte vor einem Busch mit großen gelben Früchten, die zwar eßbar aussahen, jedoch von fingerlangen Dornen umgeben waren. Ob Hark sie für besonders schmackhaft hielt? Schon war Mythor im Begriff weiterzureiten, als sein Blick auf ein winziges Stück Fell fiel, das an einem der Dornen hing. Es war lehmgelb mit einem schwarzen Tupfen. Wahrscheinlich hatte der Bitterwolf ihm das zeigen wollen. Mythor erinnerte sich nur zu genau. Nottrs Beine waren von den Hüften bis hinunter zu den Knöcheln mit dem Fell einer Bergkatze verwachsen, das ihm Behendigkeit und sicheren Lauf verleihen sollte. Dies hier sah genauso aus. »Wir sind auf dem richtigen Weg, Hark.« Nur wenig später fand er ein Stück schwarzen Samtes. Horus verschwand über ihm im wolkenverhangenen Himmel, und der Bitterwolf huschte mit der ihm eigenen Geschmeidigkeit voraus. 285
Das Gelände wurde hügeliger und stieg steil an. Die Spur der Verfolgten führte einen dicht bewaldeten Berghang hinauf. Sie verlor sich schließlich auf steinigem Boden, der fast schneefrei war. Dafür bogen sich die Bäume unter der schweren Last, die auf ihren Ästen lag. Aus der Ferne erklang das Heulen des Bitterwolfs. In vielfachem Echo hallte es durch den Wald. Mythor hatte Mühe, zu bestimmen, woher es kam. Er entschied sich dafür, nach links zu reiten, wo der Wald merklich lichter wurde. Aber Pandor weigerte sich plötzlich, dem Schenkeldruck Folge zu leisten. Er schüttelte nur unwillig die Mähne und scharrte mit den Hufen zwischen den Steinen. Wieder erklang der Ruf des Bitterwolfs. Drängender, wie es schien. Mythor empfand dabei das unbestimmte Gefühl, als wolle Hark ihm etwas mitteilen. Doch Pandor zeigte sich noch immer störrisch und schnaubte verhalten. Dem Sohn des Kometen blieb nichts anderes übrig, als abzusteigen. Zu Fuß setzte er seinen Weg fort. Der Bitterwolf ließ ein schrilles Bellen vernehmen. Mythor hastete weiter. Die letzten Bäume wichen einer felsigen Hochebene, über die ein eisiger Wind wehte. Es schneite. Dicke Flocken bildeten einen schnell dichter werdenden Vorhang, der es schwermachte, sich zurechtzufinden. Weit im Hintergrund sah Mythor die Mauern alter Bauwerke aufragen. Aber das war es nicht, was ihm den Atem stocken ließ. Unweit vor ihm kauerte Hark zwischen zwei mannshohen Findlingen und ließ sein Wolfsgeheul ertönen. »Bei Erain!« Mythor verhielt mitten im Schritt, zögerte, stürmte dann aber mit schnellen Schritten weiter. Beim Schrei des Bitterwolfs… Erlebte er hier ein Stück seiner eigenen Vergangenheit? Ähnlich mußte es gewesen sein, als man ihn gefunden hatte. My286
thor fühlte sich sofort zu dem Jungen hingezogen, der ihn an sein eigenes Schicksal erinnerte. Das Kind, das ängstlich und völlig verstört auf den großen grauen Wolf blickte, der vor ihm kauerte, mochte etwa acht Jahre alt sein, also älter, als Mythor damals war. Seine dunkle Hautfarbe paßte ebensowenig in diese Gegend wie das Gewand, das es trug: Der Fallensteller Vormen hatte einen solchen Umhang beschrieben. Als Mythor näher kam, sprang der Junge auf und rannte davon. Der Krieger konnte ihn nicht zurückhalten, denn er entwischte durch den schmalen Spalt, den die beiden Felsblöcke miteinander bildeten. Hark verstummte. Aber dann ging Mythor auf das Gemäuer zu, in dem der Junge verschwunden war, und der Wolf begann laut zu knurren. Drohend zog er die Lefzen hoch und entblößte sein mächtiges Gebiß. Doch der Sohn des Kometen scheuchte ihn mit einer unwilligen Handbewegung zur Seite. Mythor wußte, daß der Wolf ihn warnen wollte. Indes war ihm das Schicksal des Findelkinds wichtiger als eine mögliche Gefahr, in die er sich unvorbereitet begab. Das Schneetreiben wurde heftiger. Ein schneidender Wind peitschte Mythor entgegen. Was er für die Ruinen einer allmählich zerfallenden Burg gehalten hatte, zeigte sich ihm jetzt als die geborstenen Säulen eines uralten Tempels. Ein Geheimnis schien diesen Ort zu umgeben. Mythor glaubte in eine andere Welt zu kommen. Ruhe und Frieden umfingen ihn. Alles war fremd und doch gleichzeitig so vertraut, als habe er schon immer zwischen diesen Säulen gelebt, die Schutz und Wärme versprachen. Hier schien es keine Gefahr durch die anrückenden Caer und die Mächte der Schattenzone zu geben. Aller Hader zwischen den Völkern, Krieg und Haß verblaßten zur Bedeutungslosigkeit. Mythor fühlte sich von einer unwiderstehlichen Macht ange287
zogen. Da war etwas, das ihn rief… Er glaubte die Stimme einer Frau zu hören, weich wie das Fell einer Schneekatze, berauschend wie süßer Wein und sinnlich betörend. Sie sprach zu ihm, wie Liebende miteinander reden. Sofort dachte er an das Bildnis der unbekannten Schönen. Er holte es unter seinem Wams hervor und schaute es lange und nachdenklich an. Ihre Augen strahlten in einem verheißungsvollen Feuer. Ihr langes, wallendes Haar wirkte wie der Schein der Sonne. Wenn er nur ihren Namen gekannt hätte! Mythor war überzeugt davon, daß er dieser göttlichen Frau begegnen würde. Ganz nahe war die Erfüllung seiner Träume. Irgendwo im Inneren des verfallenen Tempels wartete sie auf ihn. Wieso hier? Weshalb nicht an einem anderen Ort, der ihr angemessen gewesen wäre? Mythor drängte die lästigen Gedanken beiseite. Das Pergament in seiner Hand zitterte. Aber es war nur die freudige Erregung, die sich seiner bemächtigte. Syrina! Ganz deutlich war es in seinem Kopf: Syrina. Klangvoll und schön. Mythor wußte, daß dies ihr Name war. Leise murmelte er ihn vor sich hin, ganz dem Zauber des Augenblicks erlegen. Er folgte der Stimme, die ihn rief. Das Tosen des aufkommenden Sturmes hörte er nicht mehr, nur noch den Klang seiner Schritte, der von den Säulen ringsum widerhallte. ENDE
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Der nächste MYTHOR-Band Nun ist es Mythor doch gelungen: Er hat die drei ihm versprochenen Zaubertiere gewonnen. Mit Bitterwolf, Schneefalke und Einhorn begibt er sich auf die Suche nach seinen gefangenen Gefährten. Ihre Spur hat er mittlerweile gefunden. Doch scheint diese in die Fänge eines geheimnisvollen Ungeheuers zu führen, der Nadelschlange… In der Zwischenzeit mehren sich die Anzeichen dafür, daß die freien Länder des Nordens sich unter der Führung Ugaliens zu einer gemeinsamen Front gegen die Caer zusammenschließen. Auf Burg Anbor laufen die Verhandlungen der künftigen Bündnispartner. Doch die Kräfte des Bösen halten keineswegs still. Anschläge werden verübt, Verrat ist im Spiel, und sogar der Erzmagier des Lichtkönigs von Ugalien steht im Verdacht, aus der Schattenzone seine Befehle zu erhalten. Als Mythor zu der Versammlung stößt, sind sein Mut und seine Tapferkeit erneut gefordert. Der Zusammenschluß der Kräfte des Lichts darf nicht im letzten Augenblick scheitern! Die weiteren packenden Abenteuer des jungen Helden der Lichtwelt können Sie im folgenden dramatischen Band der MYTHOR-Serie verfolgen:
DAS NEST DER NADELSCHLANGE
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