DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren en...
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DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Seit 1965 lebt er in New York City, wo er zunächst als Lektor tätig wurde. Seine ersten Bücher waren im Bereich Humor angesiedelt. Seit 1986 hat er sich jedoch ganz den Gruselgeschichten verschrieben.
Der Autor selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.« Seit 1992 der erste Band von GÄNSEHAUT (GOOSEBUMPS) in Amerika erschienen ist, hat sich die Serie binnen kürzester Zeit zu dem Renner entwickelt. Durch GÄNSEHAUT sind - das belegen zahlreiche Briefe an den Autor - viele Kinder, die sich bis dato nicht sonderlich für Bücher interessiert haben, zu Lesern geworden.
R. L Stine
Das Versteck der Mumie Aus dem Amerikanischen von Günter W. Kienitz
Band 20732
Der Taschenbuchverlag für Kinder und Jugendliche von C. Bertelsmann, München
Siehe Anzeigenteil am Ende des Buches für eine Aufstellung der bei OMNIBUS erschienen Titel der Serie.
Deutsche Erstausgabe Oktober 2000 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Goosebumps 2000 # 16: The Mummy Walks« bei Scholastic, Inc., New York © 1999 byThe Parachute Press, Inc. All rights reserved Published byarrangementwith Scholastic, Inc., 555 Broadway, New York, NY 10012, USA. »Goosebumps«TM and »Gänsehaut«TM and its logos are registered trademarksof The Parachute Press, Inc. © 2000 für die deutsche Übersetzung C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere auch am Serientitel »Gänsehaut«, vorbehalten durch C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München Übersetzung: Garsten Mayer Lektorat: Janka Panskus Umschlagkonzeption: Klaus Renner Ht Herstellung: Stefan Hansen Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20732-3 Printed in Germany 10 9 8 7 6 5 4 3 2
»Du brauchst keine Angst zu haben, Michael«, meinte Mom. Das sagte sie jetzt schon zum hundertsten Mal! Wir liefen an den Schlangen vor den Ticketschaltern vorbei. Hier im Flughafen schienen es alle unglaublich eilig zu haben. Ich sah ein junges Pärchen zu den Flugsteigen rennen. Auf kleinen Rädchen taumelten ihre Koffer hinter ihnen her. Ein Mann und eine Frau standen neben der Sicherheitskontrolle, wühlten in ihrem Handgepäck und stritten sich laut. »Ich dachte, du hast die Tickets. Ich habe sie dir heute Morgen selbst gegeben!« »Nein, du Idiot - ich sagte doch, du sollst sie einpacken!« Als Mom, Dad und ich vorbeieilten, sah ich ein kleines Mädchen auf einem Stapel Koffer sitzen und weinen. Ihre Eltern flehten sie an, doch bitte damit aufzuhören. Dad trug meinen Matchbeutel. Er drehte sich nach mir um und wollte mir etwas sagen - dabei stolperte er über einen Gepäckwagen. Ich lachte. Dad sah einfach zu komisch aus. Warum waren eigentlich alle hier so furchtbar angespannt? Dad ließ meinen Matchbeutel auf das Förderband plumpsen und wir gingen unter dem Metalldetektor durch. Bei Dad ging der Alarm los. Er verdrehte die Augen, holte die Schlüssel aus der Tasche und versuchte es noch einmal. Diesmal kam er durch. Ich betrachtete meine Tasche auf dem Monitor. Sie lief unter dem Röntgenapparat durch und ich konnte alles sehen, was drin war. Das war unglaublich cool! Dad nahm meine Tasche wieder in die Hand und wir gingen durch den langen Korridor zum Flugsteig. Mom und Dad hatten ein solches Tempo drauf, dass ich fast rennen musste, um noch mitzuhalten. 5
»Tante Sandra wird dich in Orlando abholen«, sagte Mom. »Du wirst sie sehen, sobald du aus dem Flugzeug aussteigst.« »Ich weiß, ich weiß«, stöhnte ich. Wie oft hatten wir diesen Plan eigentlich schon durchgekaut? Mindestens tausendmal! Die letzten beiden Wochen hatte ich damit verbracht, mir auszumalen, was ich in Orlando alles unternehmen würde. Disney World stand natürlich ganz oben auf meiner Liste. Aber auch in Sea World wollte ich eine Menge Zeit verbringen. Ich stehe total auf Fische und das Leben unter Wasser. Als ich letztes Jahr mit Mom und Dad zum Schnorcheln auf die Bahamas durfte, bin ich echt ausgeflippt. Diese ganze unbeschreiblich schöne Welt da unten mit diesen unglaublichen Wesen, also ehrlich! Es war wie eine Reise auf einen anderen Planeten. Dad meint, ich würde einen guten Astronauten abgeben. Er findet, ich sei der geborene Forscher. Und er hat Recht. Ich liebe es, an unbekannte Orte zu fahren und Neues zu entdecken. Also warum machen die jetzt so ein Riesengetue, nur weil ich allein nach Orlando fliege? Wir kamen zum Flugsteig. Dad stellte meine Tasche ab und blickte nervös auf seine Uhr. Mom drückte mir den Arm. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich mache mir ja gar keine Sorgen!«, beharrte ich. »Was habt ihr bloß? Immerhin bin ich zwölf, okay?« Mom und Dad tauschten Blicke. Mom biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte sich schon den ganzen Lippenstift weggenagt. »Letzter Aufruf für Flug Nummer 501 nach Pittsburgh«, plärrte eine Frauenstimme durch den Lautsprecher. »Passagiere für Flug Nummer 501 bitte zu Flugsteig 45.« »Du bist noch nie allein geflogen«, meinte Dad. »Wir waren immer dabei.« »Ich habe keine Angst«, versicherte ich ihnen noch einmal. »So schwer ist das ja nun auch wieder nicht. Ich setze mich einfach an meinen Platz und ein paar Stunden drauf bin ich in Orlando.« Ich lachte. »Die Piloten müssen die ganze Arbeit machen. Nicht ich.« Mom und Dad lachten nicht. »Du fliegst erster Klasse«, sagte Mom. »Da hast du es bequem.« 6
»Das ist super«, entgegnete ich. »Ein Schulfreund hat mir erzählt, dass es in der ersten Klasse Fruchteis gibt.« »Schon möglich«, sagte Dad und sah noch einmal auf die Uhr. Dann blickte er zur Anzeige am Flugsteig hoch. »Du musst jetzt langsam einsteigen.« Mom stieß einen kurzen Schrei aus und schlang die Arme um mich. »Ich wünsche dir eine gute, sichere Reise, Michael«, flüsterte sie und drückte ihre Wange gegen meine. Als sie mich wieder losließ, sah ich, dass sie Tränen in den Augen hatte. Dad umarmte mich ebenfalls. Er räusperte sich, sagte aber nichts. »Wird schon alles gut gehen«, versicherte ich ihnen noch einmal. »Wenn ich bei Tante Sandra bin, rufe ich euch an.« Mom gab mir einen weißen Umschlag. Dad hob meinen Matchbeutel auf und begleitete mich zum Flugsteig. »Du sitzt auf dem Platz l-A«, erklärte er mir. Er reichte mir den Matchbeutel und gab mir einen Klaps auf die Schulter. Ich drehte mich um und winkte ihnen nach. Mom wischte sich mit beiden Händen die Tränen von den Wangen. »Es wird schon nichts schief gehen. Ehrlich!«, rief ich ihr zu. Dann drehte ich mich um und lief durch den Passagierlaufgang zum Flugzeug. Wow, dachte ich. Warum benehmen die sich nur so seltsam? Bin ich vielleicht das erste Kind, das allein nach Orlando fliegt? Als ich das Flugzeug betrat, sah ich keine einzige Stewardess. Aber mein Platz war nicht schwer zu finden. Es war der allererste Sitz in der ersten Reihe der ersten Klasse. Ich stopfte meinen Matchbeutel in das Fach über dem Sitz. Dann ließ ich mich auf meinen Platz fallen. Wow. Bequem. Ich werde den Flug bestimmt genießen, sagte ich mir. Ich beugte mich in den Mittelgang und sah mich nach einer Stewardess um. Ich wollte fragen, ob sie einen Film zeigten. Immer noch niemand da. Ich fummelte am Sicherheitsgurt herum und versuchte ihn weiter zu machen. Endlich hatte ich es geschafft und ließ ihn einschnappen. Ich lehnte mich in das weiche Lederpolster zurück. 7
Auf einmal fiel mir der Umschlag ein, den Mom mir gegeben hatte. Ich hatte ihn in die Tasche meiner Jeans gestopft. Ich zog ihn raus und betrachtete ihn. Ein schlichter weißer Umschlag. Ob es ein Brief war? Hatten Mom und Dad mir vielleicht ein paar Zeilen geschrieben? Ich riss den Umschlag auf und zog ein Blatt Papier heraus. Ich faltete es auseinander, hielt es mir dicht vors Gesicht - und las mit stockendem Atem die kurze Nachricht: WIR SIND NICHT DEINE ELTERN.
»Was?« Ich packte das Blatt mit beiden Händen und starrte auf die Worte, bis sie mir vor den Augen verschwammen. »Das soll ein Witz sein - hab ich Recht?«, murmelte ich für mich. Mom und Dad zogen mich dauernd damit auf, dass ich ihnen nicht ähnlich sah. Sie sind beide groß und blond. Ich dagegen habe dunkelbraune Haare, braune Augen und bin eher klein und leicht pummelig. Aber das war schon ein sehr seltsamer Witz. Ich betrachtete den kurzen Satz noch einmal. Dann las ich ihn laut: »Wir sind nicht deine Eltern.« Er stand in blauer Tinte und großen, geschwungenen Buchstaben geschrieben da. Dads Handschrift. Ich merkte, dass meine Hände plötzlich zitterten. Ich faltete den Zettel zusammen und schob ihn in die Hosentasche. »Merkwürdig«, murmelte ich. »Sehr merkwürdig.« Warum sollten Mom und Dad so etwas schreiben? Was hatte das zu bedeuten? »Wir sind nicht deine Eltern.« Wenn das ein Witz war, dann verstand ich ihn nicht. 8
Ich werde Tante Sandra danach fragen, beschloss ich. Oder vielleicht rufe ich auch Mom und Dad an, sobald ich in Orlando bin, und frage sie gleich selbst, was das heißen soll. »Wir sind nicht deine Eltern.« Mir war leicht übel und mein Herz flatterte. Ich beugte mich noch einmal in den Mittelgang hinaus. Immer noch keine Stewardess in Sicht. Ich stemmte mich im Sitz hoch und sah mich in der Kabine um. Niemand sonst saß in der ersten Klasse. Ich zählte vier Reihen leerer, grauer Sitze. Bin ich denn der Einzige, der erster Klasse fliegt?, fragte ich mich. Orlando ist beliebt. Wo sind nur die anderen Flugpassagiere? Plötzlich war meine Kehle wie ausgetrocknet. Ich wollte ein Glas Wasser. Aber es war niemand da, den ich darum bitten konnte. Ich ließ die Gurtschnalle aufschnappen, den Gurt auf das Sitzpolster fallen und stand auf. Unter mir vibrierte der Boden. Ich hörte, wie die Triebwerke warm liefen. Ein schwerer, roter Vorhang trennte die erste von der Touristenklasse. Ich ging zum Vorhang, schob ihn beiseite und streckte den Kopf in die Touristenklasse. In schrägen Bahnen fiel das Sonnenlicht durch die beiden Fensterreihen. Leer. Niemand da. Niemand. »He«, rief ich und presste den Vorhang in der Faust zusammen. »He - ist hier jemand?« In dem riesigen, leeren Passagierraum klang meine Stimme ganz verloren. Das einzige andere Geräusch wai das Dröhnen und Heulen der Düsentriebwerke. »He...« Ich ließ den Vorhang fallen und wandte mich wieder der Spitze des Flugzeugs zu. »Ist da jemand?«, rief ich »Was ist hier eigentlich los?« Stille. Nichts rührte sich. Irgendwas ist hier falsch gelaufen, entschied ich. Ich bin im falschen Flieger oder so. Ich muss schleunigst aus diesem Flugzeug raus. Ich griff nach oben und versuchte den Matchbeutel aus dem Fach über mir zu zerren. Ich war immer noch damit beschäftigt, als ich ein lautes, knarzendes Geräusch hörte - und dann ein leises Zittern wie von einem Luftschwall. 9
Dann wurde die Flugzeugtür zugeschlagen. Vor Schreck verschlug es mir den Atem. »Halt! Lasst mich hier raus!«, schrie ich. »Lasst mich raus!«
Ich ließ meine Tasche fallen und torkelte zur Tür. »Lasst mich raus!«, schrie ich wieder und übertönte dabei das Dröhnen der Triebwerke. »He, ist da wer?« Ich trommelte gegen die Tür. Plötzlich wurde ich gegen die Toilette geschleudert. Wir setzen zurück, wurde mir klar. Das Flugzeug setzt vom Flugsteig zurück. »Nein, halt!«, brüllte ich und wirbelte zur Cockpittür herum. Ich muss dem Piloten sagen, dass niemand sonst an Bord ist, beschloss ich. Ich muss ihn dazu bringen, das Flugzeug anzuhalten! Er macht einen Fehler. Einen großen Fehler! Ich klopfte an die Tür, erst sachte, dann immer stärker. »He«, rief ich nach drinnen. »Sie müssen anhalten! Hier ist niemand sonst! He - hören Sie mich?« Keine Antwort. Ich presste eine Hand gegen die Wand, um den Halt nicht zu verlieren, als das Flugzeug rückwärts rollte und eine Kehre machte. »Hören Sie mich?«, kreischte ich. »Ich bin ganz allein hier hinten!« Vom lauten Schreien tat mir die ausgetrocknete Kehle weh. Ich schluckte schwer. Dann holte ich tief Luft und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Cockpittür. »Hören Sie doch! Halten Sie die Maschine an! Anhalten!« Keine Antwort. Kein einziger Laut drang zu mir. Irgendjemand musste da drin sein. Irgendjemand steuerte diese Maschine. Ich packte den Griff der Cockpittür und versuchte verzweifelt sie aufzuziehen. 10
Doch die Tür rührte sich keinen Millimeter. Ich drückte die Schulter dagegen, um sie aufzustemmen. Nichts. War sie verschlossen? Aber warum sollten die Piloten sich einschließen? Das Herz pochte mir in der Brust. Ich schluckte wieder, denn meine Kehle war so trocken und kratzig wie Stahlwolle. »Bitte!«, rief ich ins Cockpit hinein. »Warum hören Sie denn nicht auf mich?« Das Flugzeug machte einen Ruck und ich taumelte noch einmal gegen die Toilettentür. Als ich mich wieder aufrappelte, hörte ich, wie knackend ein Lautsprecher anging. »Bitte nehmen Sie zum Start Ihren Platz ein.« Eine Männerstimme. »Nein! Sie verstehen mich nicht!«, jammerte ich. Wieder trommelte ich gegen die Cockpittür. »Hier liegt ein Irrtum vor!« Es rauschte so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Dann wiederholte die Männerstimme durch das Rauschen hindurch ihren Befehl: »Bitte nehmen Sie Ihren Platz ein. Wir können erst abheben, wenn Sie an Ihrem Platz sitzen.« Ich zögerte. Die werden nicht auf mich hören, wurde mir klar. Die wollen einfach nicht mit mir reden. Mit einem gequälten Seufzen ließ ich mich in meinen Sitz plumpsen. Ich war immer noch dabei, mich anzuschnallen, als ich spürte, wie das Flugzeug abhob. »Ich glaube das einfach nicht«, brummelte ich. Ich drehte den Kopf zum Fenster und sah, wie die Erde wegkippte. Höher und höher ging es hinauf. Schließlich füllte der blaue Himmel das runde Fenster ganz aus. Ich spähte auf den Flughafen hinunter, auf die Bäume, die ihn umgaben, die rechteckigen Wohnblocks, die Häuser, die jetzt wie winzige Puppenhäuschen wirkten. Das passiert nicht wirklich, redete ich mir ein. Ich bin ganz allein. Ganz allein in diesem Riesenjet. Ich spürte, wie sich der Luftdruck änderte, als das Flugzeug zum Steigflug ansetzte. 11
Es machte eine scharfe Kurve. Ich hörte die Turbinen auf jaulen. Das Flugzeug neigte sich langsam zur Seite, kippte immer mehr weg. Dann legte es sich wieder in die Horizontale. Wir flogen eine weite Kurve ... Als ich noch einmal nach unten spähte, sah ich, dass die rechteckigen Häuserblocks verschwunden waren. Stattdessen erblickte ich grüne Baumkronen. Freies Feld. Dann wieder Bäume. Schließlich entdeckte ich einen langen, gelben Streifen. Sand? Genau. Den langen Sandstrand am Atlantik. Ich starrte reglos hinab wie gelähmt. Jetzt flogen wir über das Meer hinaus. Die Sonne warf glitzernde goldene Flecken auf das wogende, grün-blaue Wasser, bis der ganze Ozean schillerte und glänzte. Wieso fliegen wir über das Meer?, fragte ich mich. Dann traf mich plötzlich die Erkenntnis: Wir fliegen gar nicht nach Orlando. Das kann unmöglich der Weg nach Orlando sein. Ich sackte in meinem Sitz zusammen und faltete verkrampft die kalten, klammen Hände in meinem Schoß. Dann holte ich tief Luft, hielt den Atem an und versuchte meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Wo fliegen wir hin? Wo in aller Welt fliegen wir nur hin? Dann, als ich noch einmal tief Luft holte, bemerkte ich, wie die Tür zur Pilotenkanzel sich langsam öffnete...
12
Ein Mann trat aus dem Cockpit und musterte mich kalt mit seinen zusammengekniffenen, dunklen Augen. Er schien ungefähr vierzig zu sein, älter als mein Dad. Sein glattes, glänzend schwarzes Haar mit ein paar grauen Strähnen hatte er sich zu einem langen Pferdeschwanz zurückgebunden. An den Mundwinkeln zog sich ein schwarzer Schnauzer herab, der ebenfalls grau durchsetzt war. Er war sehr braun gebrannt. An einem Ohrläppchen glitzerte ein winziger Diamantknopf. Er trug eine grün-schwarze Tarnjacke und weite Khakihosen. Über der rechten Brust hingen zwei Reihen silberner Orden an seiner Jacke. »W-wer sind Sie?«, brachte ich mühsam heraus. Er musterte mich weiter mit seinen pechschwarzen Augen und antwortete nicht. »Was geht hier vor?«, verlangte ich zu wissen. »Wo sind die anderen? Wo fliegt diese Maschine hin?« Er hob beide Hände und machte mir Zeichen, mich zu entspannen. »Alles zu seiner Zeit«, sagte er. Er hatte eine überraschend sanfte Stimme und einen ganz leich- ten fremdländischen Akzent. »Aber - ich verstehe das nicht!«, stammelte ich. Noch einmal bedeutete er mir, mich zu entspannen. Seine Hände waren so sonnengebräunt wie sein Gesicht. Er wandte sich zu der schmalen Bordküche um und zog ein Plastiktablett aus einem Regal. »Wir haben einen langen Flug vor uns, ich werde Ihnen jetzt das Mittagessen bereiten.« Ich sprang mit wild klopfendem Herzen auf die Beine. Plötzlich hatte ich ganz weiche Knie, die jeden Moment einzuknicken drohten. »Ich will kein Mittagessen!«, schrie ich mit hoher, schriller Stimme. »Ich will hier raus! Wenden Sie die Maschine! Hier liegt ein schrecklicher Irrtum vor!« Er legte einen Finger an die Lippen. »Pst.« Er machte einen Kühlschrank auf und holte ein in Folie verpacktes Sandwich heraus. »Was würden Sie gerne trinken?« 13
»Ich will überhaupt nichts trinken!«, kreischte ich. »Ich will aus diesem Flugzeug raus! Ich will nach Hause! Das ist ein Irrtum!« »Das ist ganz und gar kein Irrtum«, meinte er sanft und stellte eine Coladose auf das Tablett. »Aber es muss ein Irrtum sein!«, beharrte ich. »Ich soll in Orlando meine Tante treffen! Wer sind Sie überhaupt? Was ist das für ein Flug? Wohin fliegen wir?« Er stellte das Tablett ab und drehte sich zu mir um. »Ich bin Leutnant Henry«, erwiderte er und neigte dabei leicht den Kopf. »Bitte entschuldigen Sie, aber das ist alles, was ich Ihnen sagen darf, Exzellenz.« »Was? Exzellenz?« Ich starrte ihn finster an. »Wieso nennen Sie mich so?« Er antwortete nicht. Er ist verrückt, wurde mir klar. Er ist irgendeine Art Spinner und hat zusammen mit irgendeinem Piloten diese Maschine gekapert. Ich werde entführt! Meine Knie gaben nach und ich fiel auf meinen Sitz zurück. Dort atmete ich wieder tief durch und versuchte mein rasendes Herz zu beruhigen. »Haben Sie keine Angst«, meinte Leutnant Henry. »Man wird Ihnen alles mitteilen, Exzellenz. Zu gegebener Zeit werden Sie alles erfahren.« Exzellenz? Wovon redete der überhaupt? »Hier.« Er stellte mir das Tablett auf den Schoß. »Essen Sie etwas. Es wird ein sehr langer Flug.« Leutnant Henry verschwand im Cockpit und tauchte nicht wieder auf. Wir flogen die ganze Nacht hindurch. Ich legte den Sitz zurück und versuchte zu schlafen. Aber ich hatte viel zu viel Angst. Was geht hier vor?, fragte ich mich. Dieser seltsame Brief von meinen Eltern ... das leere Flugzeug... dieser Mann, der mich Exzellenz nennt... Ich starrte durch das Fenster. Graue Dunstschwaden ballten sich vor einem fahlen Halbmond. Darunter lag das dunkle Meer. Endloses Wasser, das im Mondlicht hell schimmerte. 14
Endlich sank ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als ich erwachte, fiel roter Sonnenschein durch das kleine, runde Fenster. Ich spähte nach draußen. Statt des Ozeans erstreckte sich dort nun eine Art von Meer - ein Meer aus gelbem und weißem Sand. »Wüste«, murmelte ich. Die Tür zur Pilotenkanzel ging auf. Über dem Pilotensessel ragte der Hinterkopf eines Mannes auf. Unter seiner schwarzen Baseballkappe quoll rotes Haar hervor. Leutnant Henry trat heraus und schloss die Tür, sodass ich nichts mehr sehen konnte. »Haben Sie geschlafen, Exzellenz?«, erkundigte er sich und machte mit dem Kopf eine weitere, angedeutete Verbeugung. Plötzlich sackte das Flugzeug ab. Er hielt sich mit einer Hand an der Kabinenwand fest. Als er den Arm hob, sah ich unter seiner Jacke kurz ein braunes, ledernes Pistolenhalfter aufblitzen. Oh Junge, dachte ich. Die Maschine wird tatsächlich entführt. Ob er vorhat, mich nach der Landung zu erschießen? Will er Lösegeld für mich erpressen? Da kann er sich aber auf eine Überraschung gefasst machen. Meine Eltern müssen beide für unseren Lebensunterhalt arbeiten. Die können nicht gerade viel Lösegeld berappen. »Haben Sie geschlafen?«, wiederholte er. »Ich schätze schon«, erwiderte ich und streckte die Arme über den Kopf. »Wo sind wir? Was ist das für eine Wüste da unten?« Er drehte sich um und trat in die Bordküche. »Wir werden bald landen«, entgegnete er. Er gab mir ein Frühstück - Orangensaft, einen Apfel und eine Schale Cornflakes mit Milch. Dann verschwand er wieder im Cockpit. Während ich die Cornflakes löffelte, schaute ich auf die gelbe Wüste hinunter. Wie Knochen staken weiße Felsen im Sand. Während wir langsam tiefer sanken, glitt der Schatten des Flugzeugs über den Sand hinweg; ein langer, grauer Schatten. Wir gingen über einer schmalen Landebahn zwischen zwei niedrigen, gelben Hügeln nieder. Die Maschine setzte so unsanft auf, dass die Milch aus meiner Müslischale spritzte. Ich sah ein lang gestrecktes weißes, mit Stuck verziertes Flughafengebäude. Während wir ausrollten, entdeckte ich eine 15
Reihe von grünen Jeeps, braun uniformierten Soldaten mit Gewehren und haufenweise Leute in weißen, wallenden Gewändern. Mit einem Ruck kam das Flugzeug zum Stehen. Ich wurde nach vorn geschleudert, aber vom Sicherheitsgurt im Sitz gehalten. Leutnant Henry erschien in der Tür zum Cockpit. »Entschuldigen Sie bitte die Landung, Exzellenz«, meinte er. »Die Landebahn ist etwas zu kurz für diese große Maschine.« »Wo sind wir?«, wollte ich wütend wissen. »Warum haben Sie mich hierher gebracht? Und warum nennen Sie mich dauernd Exzellenz?« »Kommen Sie«, erwiderte er und gab mir ein Zeichen, den Sicherheitsgurt zu lösen. Die Flugzeugtür wurde geöffnet und grelles Sonnenlicht strömte herein. »Ich bin sicher, dass General Rameer Ihnen alles erklären wird.« Ich machte die Gurtschnalle auf, blieb aber sitzen. »Bin ich entführt worden? Ist es das?« Zum ersten Mal lächelte er. Seine dunklen Augen funkelten fröhlich, als hätte ich einen Witz gerissen. »Selbstverständlich nicht«, erwiderte er. Leutnant Henry führte mich in das helle Sonnenlicht hinaus. Wir betraten eine Gangway aus Metall und ich musste die Augen gegen das gleißende Licht abschirmen. Ein Schwall heißer, trockener Luft hieß mich willkommen. Mit klappernden Schritten stiegen wir die Metallstufen hinab. Unten nahmen uns vier Soldaten mit versteinerten Mienen in Empfang. Leutnant Henry nickte ihnen zu und sie salutierten mit zwei Fingern. Im Hintergrund des kleinen Flughafens stand eine dicht gedrängte Menschenmenge. Einige trugen weiße Gewänder. Andere hatten Tarnhemden und -hosen an. Wieder andere waren in grellbunte Hemden und Shorts gekleidet. Alle miteinander jubelten. Viele schwenkten dreieckige grüne Wimpel. Neben dem Ankunftsgebäude spielte eine kleine Kapelle. Galt das alles mir? »Das ist doch völlig verrückt«, murmelte ich. 16
In Begleitung von Leutnant Henry folgte ich den vier Soldaten über das Flugfeld. Sie brachten uns zu einer lang gestreckten schwarzen Limousine, die am Ende der Landebahn wartete. Ein Fahrer in dunkler Uniform verneigte sich und zog die Fondtür des riesigen Autos auf. Die Soldaten traten in formellem Gleichschritt beiseite. »Steigen Sie ein, Exzellenz«, forderte Leutnant Henry mich auf. »Steigen Sie in den Wagen. General Rameer erwartet Sie.« Ich zögerte. Die heiße Sonne brannte auf mich herab, aber über meinen Rücken liefen immer noch eisige Schauer. Ich bin hier viele tausend Meilen fort von daheim, überlegte ich. Ich kann nirgendwohin laufen. Habe absolut keine Fluchtmöglichkeit. Ich senkte den Kopf und spähte in das Wageninnere. Auf einem roten Ledersitz saß ein großer grinsender Mann in weißem Leinenanzug. Über dem schmalen sonnengebräunten Gesicht hatte er krauses weißes Haar. Wangen und Kinn waren mit schwarzen Bartstoppeln bedeckt. Er hatte stechende schwarze Augen. Zwischen den Beinen hielt er einen blank polierten schwarzen Stock. Am kleinen Finger der rechten Hand blitzte ein Ring mit einem grünen Edelstein auf. Er winkte mich zu sich. »Willkommen, Exzellenz«, rief er mit heiserer Stimme. Ich beugte mich in die Türöffnung hinab. »Warum nennen Sie mich so?«, rief ich. Und dann konnte ich mich nicht länger zurückhalten. Die ganze Wut, die ganze Angst und Verwirrung brachen aus mir heraus. »Ich will sofort meine Eltern sehen!«, schrie ich. »Ich steige nicht in Ihr Auto ein! Ich will auf der Stelle mit meinen Eltern sprechen!« General Rameers Grinsen verflüchtigte sich augenblicklich und sein Blick trübte sich. Sein gesamtes Gesicht schien sich zu verdüstern. »Es tut mir Leid, Exzellenz«, meinte er sanft. »Ihre Eltern sind nicht mehr am Leben.«
17
Ich schnappte nach Luft und hielt mich an der Wagentür fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Wie? Meine Eltern...?« General Rameer nickte traurig. »Aber - sie haben mich doch gestern erst in New York zum Flughafen gebracht!«, weinte ich. »Sie haben mich bis zum Flieger begleitet und ...« »Sie meinen die Clarkes? Diese Leute sind nicht Ihre Eltern, Exzellenz«, behauptete General Rameer. »Nicht meine Eltern?« »Sie hatten den Auftrag, Ihnen die Wahrheit zu sagen, bevor Sie das Flugzeug besteigen.« Der Zettel! Wir sind nicht deine Eltern. Dann ist es also wahr? »Aber... ich... ich ...«, stotterte ich, während ich mich, immer noch Halt suchend, an die Wagentür klammerte. »Steig ein«, forderte General Rameer. »Ich tue Ihnen nichts. Es gibt keinen Grund zur Sorge, Exzellenz.« »Steigen Sie ein«, drängte auch Leutnant Henry, der mir nachdrücklich eine Hand auf die zitternde Schulter legte. Ich warf einen Blick zurück zum Flughafen. Die Menge jubelte noch immer. Die grünen Wimpel flatterten und die Kapelle spielte unverdrossen einen fröhlichen Marsch. Die Sonne brannte auf mich herab. In meinem Kopf hämmerte es schmerzhaft. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als würde ich zerschmelzen und im Teer der Rollbahn aufgehen. Ich atmete tief durch, stieg ein und setzte mich neben General Rameer auf die rote Lederbank. Die Tür der Limousine wurde hinter mir geschlossen. Aus der Klimaanlage kam mir ein kalter Luftschwall entgegen. Ich sah General Rameer an. Sein weißer Anzug leuchtete. Mit beiden Händen hielt er den glänzenden Ebenholzstock fest umschlossen. 18
Er nickte dem Fahrer zu und das Auto setzte sich auf der Rollbahn in Bewegung, fuhr an der Kapelle und der jubelnden Menge vorbei. Ich konnte sie jetzt nicht mehr deutlich erkennen, denn die Fenster der Limousine waren dunkelgrau getönt. »Meine Eltern...«, setzte ich an. »Machen Sie sich keine Sorgen um die Clarkes«, sagte General Rameer leise. »Man wird sie gut behandeln.« »Sie meinen - es fehlt ihnen nichts?«, stieß ich hervor. Der General nickte. »Sie wurden gut dafür bezahlt, dass sie Sie beschützt haben. Sie haben zwölf Jahre lang gute Arbeit geleistet.« »Äh... mich beschützt?« »Sie haben Sie versteckt und beschützt«, erwiderte General Rameer. Ich blinzelte durch die getönte Scheibe nach draußen. In meinem Kopf rotierte es geradezu, als ich versuchte, aus alldem schlau zu werden. Die große Limousine holperte über eine schmale Straße. Auf der einen Wagenseite konnte ich Reihen von kleinen weißen Häusern ausmachen. Auf der anderen Seite erstreckten sich endlos die Sanddünen der Wüste. Am Straßenrand gingen Menschen entlang. Als die Limousine an ihnen vorbeirumpelte, drehten sie sich um und starrten uns nach. »Ich - ich glaube das alles einfach nicht«, stotterte ich und schüttelte den Kopf. Er tätschelte mir den Arm. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Mit einem Mal verriet sein Gesicht eine echte Traurigkeit. »Ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss«, meinte er mit seiner heiseren Flüsterstimme. »Das muss ein furchtbarer Schock sein.« »Dann sind also Mom und Dad - ich meine, die Clarkes ...«, setzte ich an. »Sie brachten Sie in die Vereinigten Staaten«, unterbrach mich General Rameer und blickte mich mit seinen dunklen Augen fest an. »Sie waren noch ein Baby. Sie können sich nicht daran erinnern. Sie flohen mit Ihnen nach New York. Sie hatten ihre Befehle.« »Befehle?« 19
»Sie zu schützen. Zu verhindern, dass unsere Feinde Sie aufspüren. Sie als normalen Jungen aufzuziehen.« »Und meine wirklichen Eltern?«, wollte ich wissen. Er neigte den Kopf, bis seine Stirn den Knauf seines Stocks berührte. »Ihre wirklichen Eltern kamen im Krieg um.« Ich schluckte. »Im Krieg?« »Unser zwölfjähriger Kampf gegen die Rebellentruppen. Unsere Schlacht gegen jene, die die Macht an sich reißen und unser Volk vernichten wollten.« Ich starrte ihn an und trotz der Klimaanlage tropfte mir der Schweiß von der Stirn. Ich bemühte mich verzweifelt, das Gesagte aufzunehmen und Klarheit in seine Worte zu bringen. »Was für ein Volk ist das?«, fragte ich endlich. »Wie heißt es?« Seine Miene hellte sich auf. »Jesekien«, erklärte er mir. »Jesekien. Es ist Ihre Heimat, Exzellenz. Es ist Ihr Volk.« »Ich - ich bin verwirrt«, gab ich zu. Ich krampfte die kalten klammen Hände im Schoß zusammen. »Wie nicht anders zu erwarten«, meinte General Rameer und nickte. »Doch es gibt nur Gutes zu berichten, Exzellenz. Denn wissen Sie, nach zwölf Jahren des Krieges haben wir gesiegt. Endlich ist es sicher für Sie zurückzukehren und Ihr Volk zu regieren.« Wieder schluckte ich. Ob das ein Witz war? Eine Lüge? Ich blickte dem General in die Augen und suchte die Wahrheit. Aber ich sah nur mein eigenes Spiegelbild. »Ich bin wirklich der Herrscher dieses Volkes?«, stieß ich endlich aus. »Ist das wahr?« Er nickte. »Ja. Wir sind auf dem Weg zum königlichen Palast. Sie werden Ihren Platz als Gebieter über Jesekien einnehmen.« Er packte mich fest am Arm. »Doch zunächst müssen Sie beweisen, dass Sie wirklich Michael sind. Sie müssen beweisen, dass Sie der königliche Prinz sind.« Ich stieß ein kurzes, erschrecktes Ächzen aus. »Es beweisen? Aber wie?« Er drückte wieder meinen Arm. »Es ist eine ganz einfache Probe. Sie müssen nur sagen, wo sich die Mumie befindet.« 20
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Die Mumie? Was für eine Mumie?«
Die Limousine rollte durch ein hohes Eisentor auf eine lange gepflasterte Auffahrt. Ein Spalier aus Palmen neigte sich über uns, während wir langsam auf den königlichen Palast zufuhren. Als der Palast in Sicht kam, fiel mir der Unterkiefer herab. Er war ein nicht enden wollendes Bauwerk in Rosa und Weiß mit Türmen, Erkern und eingezäunten Höfen. Entlang der gesamten Auffahrt standen Soldaten in brauner Uniform in Habtachtstellung Wache und präsentierten die Gewehre auf Hüfthöhe. Wir passierten einen breiten Hof und ich sah einen sprudelnden Wasserfall, der sich in einen riesigen, tränenförmigen Swimmingpool ergoss. Der Fußweg zum zweiflügligen Messingportal an der Frontseite war von hohen Sträuchern und Palmengrüppchen beschattet. »Das ist Ihr Heim, Exzellenz«, sagte General Rameer leise. »Wie ich sehe, sind Sie überwältigt.« »Ich glaube das alles einfach nicht«, gab ich zu. Er lachte in sich hinein, seine Miene aber blieb feier- lieh. »Ich hoffe, Sie kommen klar damit«, murmelte er kaum hörbar. »In früheren Zeiten mumifizierte unser Volk die Toten genau wie bei den Ägyptern«, erklärte General Rameer. Wir waren beide im Speisesaal, einem gewaltigen Raum mit goldbedeckten Wänden, silbrigen Vorhängen und einem Kristalllüster, der über uns zu schweben schien. Wir saßen einander an den beiden Enden eines langen polierten Mahagonitisches gegenüber. Diener hatten das Mittagessen aufgetragen - Schalen, auf denen sich Obst türmte, Datteln und Feigen, Platten mit gebratenem Hühnchen und Lamm, Salate, Kartoffeln und Reis. 21
Als ich mich gesetzt hatte, dachte ich noch, ich könnte nichts hinunterbringen. Ich hatte das Gefühl, mein Magen wäre zusammengeknotet. Der Kopf schwirrte mir noch von allem, was ich gehört und gesehen hatte. Aber ich war hungriger, als ich gedacht hatte. Schließlich hatte ich schon fast einen Tag lang keine vernünftige Mahlzeit mehr zu mir genommen. Ich häufte meinen Teller voll. General Rameer schien erfreut, mich mit so großem Appetit essen zu sehen. Und während ich aß, berichtete er mir von der Mumie. »Die Mumie Kaiser Pukrahs ist ein nationales Heiligtum, Michael«, erklärte er und strich dabei eine dicke, braune Paste auf ein Stück Fladenbrot. »Vor Urzeiten war Pukrah unser Herrscher. Die Mumie Pukrahs ist die älteste, die auf der Welt bekannt ist.« General Rameer teilte sein Stück Brot und reichte mir eine Hälfte. Die breiige Masse schmeckte seltsam, zugleich süß und würzig. »Über Jahrhunderte wurde Pukrahs Mumie in diesem Palast aufbewahrt«, fuhr der General fort. »Doch dann wollten die Rebellen vor zwölf Jahren Krieg. Ihre Eltern - unsere damaligen Herrscher - entschieden, die Mumie sei nicht länger sicher. Sie wussten, dass die Rebellen verzweifelt danach trachteten, die Mumie in ihren Besitz zu bringen. Also beschlossen Ihre Eltern, die Mumie an einem Ort zu verbergen, an dem keine der beiden gegnerischen Seiten sie finden würde. Und in der Mumie versteckten sie etwas von unschätzbarem Wert.« Ich schluckte einen Bissen Hühnchen hinunter. Dann nahm ich mir etwas von dem würzigen Kartoffelsalat. »Und was haben sie versteckt?«, wollte ich wissen. General Rameer riss sich eine Hand voll Weintrauben aus der Schale ab und warf sich eine nach der anderen in den Mund. »Ihre Eltern öffneten die Mumie und versenkten den Saphir von Jesekien darin.« »Den was?«, fragte ich nach. »Es ist der schönste Edelstein der Welt«, schwärmte General Rameer und klatschte dabei in die Hände. Plötzlich lag ein verträumter Ausdruck in seinen Augen. »Der Saphir ist so wertvoll, dass unser gesamter Staatsschatz darauf beruht.« Ich schielte ihn über den Tisch hinweg an. Ich wusste nicht ganz, wovon er sprach. Aber sein Gesichtsausdruck sagte mir, dass der 22
Saphir von Jesekien einen gewaltigen Haufen Kohle wert sein musste. »Ohne ihn kann unser Volk nicht überleben«, sagte General Rameer und beugte sich zu mir. »Zwölf Jahre lang dauerte der Krieg. Die Rebellen suchten verzweifelt nach Pukrahs Mumie. Sie wussten, wenn sie die Mumie finden - und damit den Edelstein - hätten sie gesiegt. Aber die Mumie war gut versteckt. Sie wurde nie gefunden.« Er seufzte und nahm sich noch ein paar Trauben. »Und nun ist der Krieg so gut wie beendet«, meinte er mit seiner heiseren Stimme. »Einige wenige Rebellen sind noch übrig. Aber wir haben gesiegt. Wir müssen die Mumie finden und den Saphir wieder an uns nehmen.« Ich ließ die Gabel fallen. »Sie meinen - Sie wissen auch nicht, wo das Versteck ist?« General Rameer schüttelte den Kopf. »Ihre Eltern haben es keiner Menschenseele gesagt. Und dann starben sie bei Ausbruch des Krieges. Niemand hier kennt das Versteck der Mumie. Ich nicht. Und auch keiner der übrigen Generäle.« Er beugte sich noch näher zu mir und seine dunklen Augen brannten sich förmlich in die meinen. »Wir müssen diese Mumie haben. Ohne sie kann unser Volk nicht überleben.« Er packte mich fest am Handgelenk. »Und Sie, Michael, Sie sind der Einzige, der weiß, wo sie versteckt ist.« »Was? Das soll ich wissen?« Ich versuchte meinen Arm zu befreien, aber er hielt mein Handgelenk unerbittlich fest und wandte seinen Blick nicht von mir ab. »Sie waren damals noch ein winziges Baby. Deshalb implantierten Ihre Eltern Ihnen einen Gedächtnischip ins Gehirn, auf dem der Aufenthaltsort der Mumie gespeichert ist. Dann wurden Sie schnellstmöglich in die Vereinigten Staaten gebracht, wo das Geheimnis in Sicherheit war.« »Ach. Ich verstehe.« Was für eine lahme Antwort. Aber was sollte ich denn schon sagen? Plötzlich hatte ich einen trockenen Mund. Ich nahm einen tiefen Schluck aus dem kristallenen Wasserpokal. Endlich ließ General Rameer mein Handgelenk los, aber er fixierte mich weiterhin, ohne auch nur zu zwinkern. Er starrte mich 23
so durchdringend an, als wolle er das Versteck der Mumie von meinen Augen ablesen. »Es ist schön, dass Sie wieder da sind, wo Sie hingehören«, meinte er und rang sich ein kurzes, angestrengtes Lächeln ab. »Schade nur, dass Ihre Eltern nicht erleben durften, was für ein feiner junger Mann Sie geworden sind.« »Äh... vielen Dank«, erwiderte ich verlegen und nahm einen weiteren tiefen Schluck. Ein Diener mit einer silbernen Kanne trat vor, um mir das Glas nachzufüllen. »Und jetzt werden Sie uns zur Mumie und dem Saphir führen«, erklärte General Rameer. »Und das Volk wird überglücklich sein, dass Sie - sein wahrer Herrscher - nach Hause zurückgekehrt sind.« »Äh ... klar«, erwiderte ich und zerknüllte nervös die Leinenserviette auf meinem Schoß. »Möchten Sie mir jetzt gleich sagen, wo die Mumie versteckt ist?«, erkundigte sich General Rameer vorsichtig. »Ganz Jesekien brennt darauf, es zu erfahren.« Ich holte tief Luft. »Na ja ...« Ich erstarrte vor Panik. Mein Herz schlug Purzelbäume in meiner Brust. Weiß ich denn, wo die Mumie steckt?, fragte ich mich. Nein. Ich habe nicht die leiseste Ahnung. General Rameer starrte mich an und wartete. Wartete auf eine Antwort. Ganz Jesekien wartet auf meine Antwort, wurde mir klar und ich musste mich an der Tischkante festhalten. Wenn sie herausfinden, dass ich absolut nichts weiß, könnte ich ernsthaft in Gefahr sein. Was soll ich bloß tun? Was soll ich ihm nur sagen? Lass dir etwas einfallen, Michael... denk nach!
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Ich ließ die Hände von der Tischkante gleiten und stöhnte laut auf. Dann drehte ich die Augäpfel nach oben, ließ den Körper zur Seite kippen ... kippen... ... bis ich schließlich vom Stuhl fiel und seitwärts auf den Teppich prallte. »Au!« Die Landung war härter, als ich geplant hatte. Von oben hörte ich General Rameer verblüfft aufschreien. Ich sah, wie zwei Diener auf mich zustürzten, um nachzuschauen, was mir fehlte. General Rameer rappelte sich von seinem Stuhl hoch und beugte sich über mich. Er sah mit echter Besorgnis zu mir herab und schüttelte mich sanft mit beiden Händen. »Exzellenz? Sind Sie okay?« Ich ächzte noch einmal und wälzte mich auf den Rücken. Ich blinzelte einige Male. »Tut mir Leid«, flüsterte ich. »Mir... mir fehlt nichts.« Ich setzte mich unsicher auf und blinzelte noch ein paar Mal. General Rameer trat zurück und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Allmählich kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. »Das war ... einfach ein zu großer Schock für mich«, sagte ich und rieb mir die Stirn. »Ich meine ... gestern noch war ich ein ganz normaler Junge aus Long Island. Im Flieger unterwegs zu meiner Tante und nach Disney World. Und heute...« »Ja, ja.« Der General half mir vorsichtig auf die Beine. »Ich verstehe das.« Er hielt mich fest, bis er überzeugt war, dass ich sicher stand. »Ihre ganze Welt wurde auf den Kopf gestellt, Exzellenz. Es tut mir schrecklich Leid. Ich hatte nicht vor, Sie zu drängen. Die Sache ist nur, wir müssen Pukrah und den Saphir zurückbekommen - und zwar sofort.« »Ja. Ja, natürlich«, erwiderte ich und schluckte. Er reichte mir den Wasserpokal. »Ich gebe Ihnen Zeit, sich zu erholen und alles etwas zu verarbeiten. Wir sprechen uns wieder, wenn Sie sich besser fühlen.« 25
Ich nickte matt und nahm einen großen Schluck. Aus dem Nichts tauchten zwei uniformierte Wächter auf. General Rameer befahl ihnen, mich in meine Gemächer zu bringen. Sie führten mich durch einen endlosen Korridor, dessen Wände mit goldenem Seidenstoff bespannt waren. Ich bestaunte eine lange Reihe großer Ölgemälde in goldenen Rahmen. Porträts altmodisch wirkender Menschen, die allesamt dunkel, klein und irgendwie pummelig waren. Sind das wirklich meine Vorfahren?, überlegte ich. Nein. Ich war sicher, dass General Rameer und seine Leute einen schrecklichen Fehler begangen hatten. Sie hatten sich den falschen Jungen geschnappt. So einfach war das. Und diese Nachricht von meinen Eltern? Bloß ein Witz? Oder hatten meine Eltern irgendwie denselben Fehler gemacht? Es war einfach zu viel, um darüber nachzudenken. Ich hatte das Gefühl, mir würde gleich der Schädel platzen! Die Wärter brachten mich zu meinem Quartier - dieses war nicht einfach nur ein Zimmer, sondern eine ganze Reihe riesiger Säle mit einem Hof im Freien, in dem ein Springbrunnen sprudelte. Ich betrat das Empfangszimmer, das ganz in Gold, Silber und Rot gehalten war. Allein dieser Raum war so groß wie unser ganzes Haus daheim! Er war voll mit Stühlen und Liegen und Tischen und Bücherregalen und Möbeln, deren Zweck ich nicht einmal kannte! Ehe ich mich richtig umgesehen hatte, blieb mein Blick an dem Telefon auf dem Tisch an der Rückwand haften. Ich wusste augenblicklich, was ich zu tun hatte. Ich musste daheim bei Mom und Dad anrufen. Ich musste eine Verbindung nach New York bekommen und den Irrtum aufklären, der hier vorlag. Sie waren bestimmt völlig außer sich, krank vor Angst. Als Tante Sandra sie angerufen und ihnen mitgeteilt hatte, dass ich nicht in Orlando angekommen war, da waren sie wahrscheinlich durchgedreht. Sicher hatten sie schon die Polizei und das FBI eingeschaltet! Mit hämmerndem Herzen hechelte ich richtiggehend durch den riesigen Saal und packte das Telefon. Mom und Dad werden wissen, wie sie mich hier rausholen können, 26
sagte ich mir. Sie werden mit diesem General reden. Und dann werde ich in der nächsten Maschine zurück nach New York sitzen. Ich hob den Hörer ans Ohr und wartete auf den Ton des Amtszeichens. Stattdessen hörte ich Stille. Ein Klicken. Und dann schnurrte mir eine Männerstimme ins Ohr: »Ja, Exzellenz? Sie wünschen einen Anruf zu tätigen?« Ich ächzte. »Sind Sie ... die Vermittlung?« »Ja, ich bin Ihre Vermittlung«, erwiderte er. »Fein, also ... ich möchte mit Long Island, New York telefonieren«, erklärte ich und versuchte dabei möglichst ruhig zu klingen. »Ich bin untröstlich«, behauptete er. »Ich kann diesen Anruf nicht durchstellen.« »Wie bitte?«, rief ich. »Soll das heißen ...« »Ich habe meine Befehle, Exzellenz.« »Aber... aber...« »Es tut mir wirklich schrecklich Leid, Sir. Möchten Sie einen anderen Anruf tätigen?« »Äh... ja«, entgegnete ich und überlegte rasch. »Ich möchte mit Orlando telefonieren. Orlando, Florida.« »Ach, das ist mir wirklich zutiefst unangenehm, Exzellenz. Das kann ich leider auch nicht zulassen.« »Aber ich muss mit meiner Tante reden!«, schrie ich, außer mir vor Wut. »Ich bin untröstlich«, säuselte er. »Aber ich habe meine Befehle, Sir.« »Befehle?«, kreischte ich. »Wie genau lauten denn Ihre Befehle?« »Sie stammen vom General«, erwiderte er sanft und ruhig. »Es ist Ihnen nicht gestattet, irgendwelche Telefonate zu führen. Bis der General die Erlaubnis erteilt.« Wutentbrannt knallte ich den Hörer auf die Gabel. Ich sah mich rasch im Saal um. Was nun? Ich muss aus diesem Palast raus, entschied ich. Wenn ich von hier fortkomme und es bis in die Stadt schaffe, dann kann ich ein öffentliches Telefon benutzen. Eine Telefon ohne persönliche Vermittlung! 27
Es dürfte nicht allzu schwer sein, mich hier fortzuschleichen, sagte ich mir. Ich muss nur den Wächtern ausweichen. Ich holte tief Luft und marschierte zur Tür. Mit zitternder Hand griff ich nach dem blitzenden Messingknauf, drehte ihn und zog. Doch die Tür bewegte sich nicht. Ich versuchte die Tür aufzudrücken. Dann zog ich wieder. »Exzellenz?«, rief eine Stimme von der anderen Seite der Tür. »Kann ich Ihnen irgendetwas bringen?« Ein Wächter. Ich war eingeschlossen. Und die Tür war bewacht. General Rameer ging kein Risiko ein. »Traut er mir etwa nicht?«, murmelte ich vernehmlich. Ich sitze hier in der Falle, ging mir auf. Angeblich bin ich ihr Herrscher - aber bis ich sie zu Pukrahs Mumie führe, bin ich ihr Gefangener. Mit einem tiefen Seufzer warf ich mich auf eine der roten Samtliegen, sank in die Polster und barg das Gesicht in den Händen. Ein paar Sekunden darauf hörte ich ein Husten, dann das Rascheln eines Vorhangs und einen Schritt. Ich bin nicht allein hier drin, wurde mir klar. Ich zog die Hände vom Gesicht zurück und wirbelte herum. »Wer ist da?«
Hinter den Seidenvorhängen trat ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter, hervor. Sie war groß und schlank und trug ein weißes Polohemd, das sie sich in die weißen Shorts gesteckt hatte. Sie hatte kurzes, rotbraunes Haar, einen Mittelscheitel und der Pony reichte bis zu ihren olivgrünen Augen. »Wer bist du?«, rief ich und sprang auf. Sie hielt einen Finger an die Lippen. »Pst.« Ihre grünen Augen funkelten. Sie deutete zur Tür. »Sie werden dich hören«, flüsterte sie. 28
Sie trippelte auf Zehenspitzen über den dicken Teppich und betrachtete mich unterwegs eingehend. »Bist du der Prinz?« »V-vermutlich«, stammelte ich. »Aber wer bist du?« Wieder hielt sie den Finger an die Lippen. »Pst. Die Wächter wissen nicht, dass ich hier bin. Ich bin Mary Kerr.« »Michael Clarke«, stellte ich mich mit leiser Stimme vor. »Wenigstens dachte ich bis heute Morgen noch, dass ich Michael Clarke bin. Inzwischen bin ich mir nicht mehr ganz sicher, wie ich heiße.« Sie betrachtete mich erneut. »Ist es okay, wenn ich Michael zu dir sage?« Ich zuckte die Achseln. »Wie du willst.« »Oder soll ich dich Exzellenz nennen?« »Nein - bloß nicht!«, flehte ich. Ihr Blick wanderte zur Tür. Wir hörten, wie zwei der Wächter auf der anderen Seite miteinander sprachen. »Und wer bist du?«, wollte ich endlich wissen. »Was tust du hier drin? Du klingst nicht so, als wärst du von hier. Bist du Amerikanerin?« Sie setzte sich auf die rote Samtliege und zog mich neben sich. »Ja, ich bin Amerikanerin«, flüsterte sie. Ihr Gesichtsausdruck wurde feierlich. »Meine Eltern waren General Rameers amerikanische Berater. Sie wurden beide durch eine Bombe getötet.« »Das tut mir Leid«, flüsterte ich zurück. Sie zwirbelte eine Strähne ihres Ponys in den Fingern, dann ließ sie sie los und die Hand sank in ihren Schoß. Sie seufzte. »Daheim hatte ich keine Verwandten mehr. Ich konnte nirgendwohin. Niemand konnte mich aufnehmen. Also hat General Rameer mich adoptiert.« »Dann lebst du im Palast?«, fragte ich nach. Sie nickte. »Und wie ist das so?«, flüsterte ich. »Es ist furchtbar!«, erwiderte sie. »Mir fehlen meine Freundinnen. Hier gibt es überhaupt keine anderen Kinder. Ich vermisse die Schule. Ich vermisse alles! Und schau dir diese Hütte doch bloß mal an.« 29
Sie machte eine weit ausholende Armbewegung. »Das ist alles so überkandidelt. Überall nur Gold und Silber. Hier mit Juwelen besetzt, da mit Samt bezogen und hier wieder mit Seide! Nichts ist normal! Nicht mal ein Poster kann ich in meinem Zimmer aufhängen. Nirgendwo kriegt man gute CDs. Ich kann kein ...« Sie merkte plötzlich, dass sie lauter geworden war, und hielt den Atem an. Wir wandten uns beide zur Tür um. »Entschuldige. Wieso reden wir überhaupt über mich?«, flüsterte sie. »Schließlich bist du es, der in der Tinte sitzt.« Ihre Worte jagten mir einen Schauer den Rücken hinab. »Ja, ich weiß. Ich sitze ganz tief in der Tinte.« Sie beugte sich näher zu mir. Ihr Blick bohrte sich in meine Augen. »Du hast ja keine Ahnung, Michael. Du machst dir überhaupt keine Vorstellung, wie tief drin du sitzt.« »Wie? Was meinst du damit?« »Das sind schlechte Menschen«, wisperte Mary. »Aber Mary, General Rameer ist jetzt dein Vater. Er hat dich adoptiert...«, protestierte ich. Sie schloss die Augen. »Das ist mir egal. Er ist der Schlimmste von allen. Es sind schlechte Menschen, Michael.« Sie öffnete die Augen und drehte sich zu mir. Ihr Kinn bebte. »Glaubst du denn ernsthaft, dass General Rameer dich über das Königreich herrschen lässt?« Ich schluckte. »Ich weiß nicht, was ...« »General Rameer hat zwölf Jahre lang Krieg geführt«, erklärte sie. »Und jetzt, wo er fast gewonnen hat, wird er seine Macht wohl kaum an einen Zwölfjährigen abtreten.« »Aber er nennt mich Exzellenz«, widersprach ich. »Und er hat versprochen, sobald ich ihm das Versteck der Mumie zeige ...« »Sie haben vor, dich zu töten, sobald du sie zur Mumie geführt hast!«, fiel mir Mary aufgebracht ins Wort. Vor Entsetzen blieb mir der Mund offen stehen. »Genau deswegen habe ich mich hier reingeschlichen«, flüsterte Mary. »Um dich zu warnen.« »Aber ich weiß doch nicht einmal, wo diese Mumie steckt!«, rief ich aus. Mary kniff die Augen zusammen. »Dann sitzt du sogar noch tiefer in der Tinte«, meinte sie. »Sie werden dich foltern. Sie...« 30
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und zwei Wächter in braunen Uniformen stürzten in das Zimmer. Mary und ich sprangen auf. Bevor Mary noch einen Schritt machen konnte, hatten die Wächter sie schon gepackt. »Lasst mich los!«, schrie sie und versuchte sich aus der Umklammerung zu winden. »Loslassen!« Doch die Wächter zerrten sie zur Tür. »Wo bringt ihr sie hin?«, rief ich. »Was habt ihr mit ihr vor?«
Krachend fiel hinter ihnen die Tür ins Schloss. Ich konnte hören, wie Mary mit den Wächtern stritt und ihnen sagte, sie sollen sie loslassen, den ganzen Weg durch den langen Korridor hindurch. Ich blieb wie erstarrt stehen und wartete ab, bis mein Herz zu rasen aufhörte. Ich starrte auf die Tür, als erwartete ich, dass sie jeden Moment wieder aufgerissen würde, die Wächter zurückkehrten und mich ebenso mit sich fortschleiften. »Was soll ich nur tun?«, fragte ich mich laut. Marys furchtbare Mahnung hallte mir in den Ohren wider. Es sind schlechte Menschen... Sie haben vor, dich zu töten... Sie werden dich foltern. Aber wenn sie nun den falschen Jungen haben, überlegte ich fieberhaft. Wenn sie den falschen Jungen haben, dann müssen sie mich laufen lassen - oder? Wenn ich nicht das Baby war, das vor zwölf Jahren nach Amerika geschickt wurde, können sie mich doch gar nicht hier behalten. Aber vielleicht war ich ja doch dieses Baby. Aber wenn ich dieses Baby war und mir dieser Gedächtnischip ins Gehirn implantiert wurde ... wieso kann ich mich dann nicht 31
erinnern? Aufhören!, befahl ich mir. Ich schüttelte heftig den Kopf und versuchte all diese verzweifelten Gedanken zu unterbinden. Ich starrte auf die Tür. »Augenblick mal!« Mir wurde mit einem Mal klar, dass die beiden Wächter jetzt nicht mehr da draußen standen. Sie hatten Mary mit sich geschleift. Konnte das sein? Sollten sie die Tür nicht abgeschlossen haben? Ich sprintete los, sprang über einen roten Lehnstuhl und flog mehr oder weniger zur Tür. Ich umklammerte den Knauf, drehte ihn - und zog. Ja! Die Tür schwang auf. Ich streckte vorsichtig den Kopf in den Korridor hinaus und erwartete dort Wächter zu sehen. Ich spähte in beide Richtungen. Leer. Der lange goldfarbene Korridor war, soweit ich es überblicken konnte, völlig menschenleer. Ich trat hinaus und das Herz schlug mir so wild in der Brust, dass ich es an den Rippen spürte. Sorgfältig schloss ich die Tür hinter mir. Wohin? Wohin sollte ich gehen? Ich musste die Rückseite des Palastes finden. Vielleicht waren dort weniger Wächter, entschied ich. Wenn ich es zur Rückseite schaffte, dann hätte ich vielleicht eine reelle Chance zur Flucht. Strahlen gelben Sonnenlichts fielen durch die deckenhohen Fenster in den Seitenwänden des Korridors. Es war immer noch Vormittag, also stand die Sonne im Osten, rechnete ich mir aus. Aber in welche Himmelsrichtung war der Palast ausgerichtet? Ich hatte keine Ahnung. Jetzt mach schon, Michael, befahl ich mir. Wichtig ist nur, endlich hier rauszukommen! Ich hielt mich eng an der Wand und machte mich nach rechts davon. Meine Schuhe tappten leise über den dicken, roten Teppich. Der Korridor war sonnendurchflutet. Die hohen Fenster reichten vom Boden beinahe bis an. die Decke. Zwischen den Fenstern blickten riesige Ölporträts meiner Ahnen - oder irgendjemandes Ahnen - auf mich herab und sahen mich rennen. 32
Kurz vor dem Ende des Korridors blähten sich goldene Seidenvorhänge in einer leichten Brise und scharrten leise über den Teppich. Ich war schon fast bei den Vorhängen angekommen, als ich ein weiteres Geräusch hörte. Das Poltern von Schritten. »Oh!« Ein abgehackter Ruf entfuhr meiner Kehle. Ich tauchte hinter den Vorhängen ab. Zog sie um mich herum, ließ mich auf die Knie fallen und spähte seitlich heraus. Eine Reihe von Wächtern marschierte, das Gewehr vor der Brust, an mir vorbei. Sie bewegten sich in geschlossener Formation, den Blick starr nach vorn gerichtet, den freien Arm in gleichmäßigem Rhythmus durchschwingend. Keiner sagte ein Wort. Ich hielt den Atem an, bis sie um eine Ecke bogen. Dann rappelte ich mich langsam und mit wackligen Beinen wieder auf. Das war knapp, sagte ich mir. Und was nun? In welche Richtung soll ich gehen? Meine Beine zitterten, als ich das Versteck hinter dem Vorhang verließ. Kein Laut war im Korridor zu hören. Doch dann vernahm ich ein PLING, PLING. Woher stammte dieses Geräusch? Ich drehte mich um und erblickte ein riesiges Insekt - vielleicht so eine Art Riesenpferdebremse -, das gegen eine Fensterscheibe flog. PLING... PLING... Das Insekt flog unverdrossen weiter gegen die Scheibe, warf mit wütend schwirrenden Flügeln den fetten, schwarzen Körper wieder und wieder gegen das Glas. Was für eine Zeitverschwendung, sagte ich mir. So kommst du nie durch das Fenster. PLING, PLING. Ich sah das große Insekt es wieder versuchen, und wieder. Durch das Fenster, dachte ich plötzlich. Durch das Fenster... Genau! Vielleicht kann ich durch das Fenster fliehen! Ich hechtete quer über den Korridor, fegte das große, summende Insekt mit der Hand fort und trat an das Fenster heran. Es war ein zweiflügliges Fenster mit einem Griff auf jeder Seite. 33
Ich spähte nach draußen in einen großen begrünten Hof. Er war leer. Bewacht nur von einer hohen Granitstatue, die irgendein Wesen mit Flügeln darstellte. Keine menschlichen Wächter. Hervorragend! Ich packte die Fenstergriffe, einen mit jeder Hand, und zog. Die Fenster waren schwerer, als ich erwartet hatte. Sie rührten sich keinen Millimeter. Ich umklammerte die Metallgriffe und zog fester. Geh auf, betete ich innerlich. Bitte... bitte... Ja! Ich zog das Fenster gerade weit genug auf, um hindurchzuschlüpfen. Warme, frische Luft aus dem Hof begrüßte mich. Ich beugte mich hinaus, legte die Hände auf den Fenstersims und machte mich daran, mich hinaufzustemmen. Hinauf und hinaus in die Freiheit... Da spürte ich starke Hände, die mich an den Schultern packten. »Aaahh!« Ein erschreckter Schrei entrang sich meiner Kehle. Der Griff verstärkte sich und ich wurde zurück nach drinnen gezerrt. Als ich mich umwandte, sah ich mich zwei finster dreinblickenden Wächtern gegenüber. »Das wird General Rameer aber gar nicht gefallen«, meinte einer von ihnen stirnrunzelnd. »Mitkommen«, befahl sein Kamerad. Und dann fügte er mit höhnischem Tonfall hinzu: »Exzellenz.«
Die beiden Wächter führten mich eine Marmortreppe hinab. Wir kamen an mehreren Sitzungssälen mit langen Mahagonitischen vorbei. Dann an einer Bibliothek, deren Wände von Bücherregalen gesäumt waren und in deren Mitte ein Billardtisch stand. 34
Wir passierten eine Küche, in der mehrere weiß gekleidete Köche geschäftig das Mittagessen bereiteten. Der Duft gerösteter Zwiebeln begleitete uns durch den Korridor. Schließlich bogen wir um eine Ecke und betraten ein kleines Zimmer. Als ich eintrat, sah ich, dass alle vier Wände mit Landkarten bedeckt waren. Die meisten davon, so vermutete ich, waren präzise und detaillierte Karten von Jesekien und seinen Nachbarländern. Einige der Karten waren mit roten und blauen Stecknadeln überzogen. Auf anderen waren in roter und blauer Tinte Linien und Kreise eingezeichnet. General Rameer saß an einem Schreibtisch vor der Rückwand des Zimmers. Er hatte eine große Karte auf der Schreibtischplatte ausgebreitet. Er beugte sich mit finsterer Miene über sie, murmelte vor sich hin und fuhr mit dem Finger in einer geraden Linie über die Karte. Als er die Wächter und mich eintreten hörte, blickte er kurz auf. »Michael?« Erstaunen spiegelte sich auf seinem Gesicht. »Er wollte aus dem Palast flüchten«, berichtete einer der Wächter. General Rameer blickte mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Wo?«, fragte er die Wächter. »Wie wollte er flüchten?« »Durch die Fenster zum östlichen Portikus«, erstattete einer der Wächter Rapport. General Rameer sah mich missbilligend an und seine weißen Brauen zogen sich streng zusammen. »Sie können uns allein lassen«, beschied er den Wächtern und schwenkte beide Hände, um sie zum Gehen aufzufordern. »Warten Sie vor der Tür.« Die Wächter machten kehrt und marschierten steif hinaus. Sie schlossen die Tür hinter sich. General Rameer blickte mich argwöhnisch an und klopfte mit seinem großen, grünen Ring auf die Landkarte auf dem Schreibtisch. Ich stand verlegen mitten im Zimmer, wobei ich dauernd die Hände zur Faust ballte und wieder öffnete. Das Herz pochte mir in der Brust. Ich hatte das Gefühl, diese Riesenbremse wäre in mir drin - PLING, PLING - und würfe sich gegen meine Eingeweide, in dem verzweifelten Versuch sich zu befreien. »Sie wissen, dass dieser Palast streng bewacht ist?«, fragte endlich der General. 35
Ich nickte. »Ja, ich weiß«, murmelte ich mit heiserer, verschreckter Stimme. »Und trotzdem haben Sie versucht, durch ein Fenster zu entkommen?« »Ja«, gestand ich. »Ich habe es versucht.« Zu meiner völligen Verblüffung lachte er laut auf. »Das ist exakt der Mut, den wir von unserem Herrscher erwarten!«, verkündete er. Er kam hinter dem Tisch hervor und schlug mir fest auf den Rücken. Dann schüttelte er mir die Hand und drückte zu, bis mir die Knöchel knackten. »Ich wusste doch, dass Sie der richtige Junge sind, Michael«, meinte er. Die niedrig hängende Deckenleuchte ließ seine weißen Zähne aufblitzen, als er mich herzlich anlächelte. »Genau diesen tollkühnen Mut braucht der Herrscher dieses Königreiches.« »Äh... na klar. Wahrscheinlich«, erwiderte ich matt. Meine Beine zitterten. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte kaum klar denken! Er ließ eine Hand schwer auf meiner Schulter ruhen und führte mich zur Wand gegenüber dem Schreibtisch. »Sehen Sie sich diese Karte an, Exzellenz.« Er fuhr mit seinem Spazierstock über eine große, farbige Karte Jesekiens, die größtenteils in Orange und Gelb gehalten war. Über die Wüste verteilt waren schwarz die groben Umrisse verschiedener Formationen eingezeichnet. Von Höhlen oder Seen vielleicht. »Dies ist Ihr Königreich«, erklärte General Rameer. Er stieß seinen Finger auf einen schwarzen Stern nahe der Südgrenze. »Das hier ist der Palast. Wir befinden uns in Ramenn, der Hauptstadt.« Er zog den Finger zurück und ich starrte den Stern an, als könnte ich Palast und Stadt tatsächlich sehen. »Haben Sie Jesekien in der Schule durchgenommen?« »Äh... nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Er runzelte die Stirn. »Da werden wir das Königreich wohl bekannter machen müssen, nicht wahr?«, verkündete er. »Jesekien muss sozusagen in den Köpfen der Menschen verankert werden.« »Wahrscheinlich«, entgegnete ich müde. »Hier ist die Wüste«, fuhr der General fort, während er mit seinem Stock über das große gelb-orange Feld fuhr. »Wie Sie sehen, macht die Wüste den größten Teil j des Reiches aus. Und die 36
Wüste ist übersät mit unzähligen hohen Felsformationen. Und in diese hohen Felsen wiederum sind viele Höhlen eingegraben.« Er wandte sich um, weil er sich versichern wollte, dass ich ihm auch aufmerksam folgte. Ich sah mit starrem Blick auf die Karte. »Nur zu. Schauen Sie sich die Höhlen genau an«, forderte er mich mit gesenkter Stimme auf. Er trat einen Schritt zurück, damit ich die gesamte Karte überblicken konnte. »Nur zu«, wiederholte er und ließ seine Hand dabei wieder schwer auf meiner Schulter ruhen. Mein Blick huschte über die Zeichnungen auf der gelben Landkarte. Ich sah dutzende Höhlen, manche groß, manche klein. Warum zeigt er mir das?, fragte ich mich. Warum lässt er mich die Höhlen betrachten? Aber natürlich wusste ich die Antwort bereits. Ich wusste, was als Nächstes käme. Und es erfüllte mich mit lähmendem Grauen. »Welche Höhle ist es, Michael?«, fragte General Rameer leise, während er den Griff um meine Schulter verstärkte. »In welcher Höhle ist Pukrahs Mumie verborgen?« Ich starrte auf die Karte vor mir. Ich merkte, dass ich schwer atmete und meine Brust sich spürbar hob und senkte. »In welcher Höhle?«, wiederholte General Rameer. »Das Wissen steckt in Ihrem Hirn, Exzellenz. Zeigen Sie mir die Höhle jetzt. Zeigen Sie mir das Versteck von Pukrahs Mumie.« »Ich... ich...« Meine Knie zitterten so heftig, dass sie ständig gegeneinander stießen. Ich drehte mich zum General um. »Ich kann mich nicht erinnern!«, weinte ich. »Ehrlich. Das ist die Wahrheit, General Rameer! Ich weiß es wirklich nicht mehr!« Das Lächeln General Rameers erstarb nicht. »Das ist nicht schlimm, Michael«, meinte er sanft. »Ganz und gar nicht schlimm.« »W-was soll das heißen?«, stammelte ich. »Nun... der Gedächtnischip steckt in Ihrem Gehirn, nicht wahr?« Er verstärkte den Griff um meine Schulter. »Also werden unsere Ärzte den Chip einfach herausoperieren.« 37
Die Wächter brachten mich zurück in mein Quartier. Sie mussten mich richtiggehend tragen. Meine Beine waren so schwach und weich, dass ich sie kaum bewegen konnte. In meinem Empfangszimmer sackte ich zusammen und sie schlossen die Tür hinter mir. Ich hörte, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde, und wusste einmal mehr, dass ich ein Gefangener war. »Aaaah!« Ich stieß einen Wutschrei aus und schleuderte ein Sofakissen aus Samt quer durch den Raum. Es prallte an einem seidenen Vorhang ab und fiel auf den Teppich. Als Nächstes nahm ich eine Glasvase vom Tisch und hob sie über den Kopf. Ich wollte alles kurz und klein schlagen. Ich wollte das Zimmer zertrümmern, alles zerbrechen, alles zerstören. Ich stellte die Vase zurück und fing an, schnell im Zimmer auf und ab zu gehen. Ich war zugleich wütend und verängstigt. »Was soll ich nur tun?«, fragte ich mich laut. Ich kann nicht zulassen, dass sie mir den Schädel öffnen. Sie dürfen mich nicht operieren. Unvermittelt blieb ich stehen. Ich hatte eine plötzliche Eingebung. »Mary, bist du hier?«, rief ich. »Bist du wieder da? Versteckst du dich hier?« Stille. »Mary?« Nein. Sie war nicht hier. Mit einem Mal hatte ich auch Angst um sie. Die Wächter hatten sie mit sich geschleppt, nachdem sie sie dabei ertappt hatten, wie sie mir helfen wollte. Was hatten sie ihr angetan? Sie war jetzt General Rameers Tochter. Er würde ihr nichts zu Leide tun - oder doch? Eine Reihe von heftigen Schlägen gegen die Tür ließ mich zusammenfahren. Die Tür wurde aufgestoßen und Leutnant Henry rauschte mit wehendem Pferdeschwanz herein. Er trug dieselben Sachen wie im Flugzeug - eine grün-schwarze Tarnjacke und weite Khakihosen. 38
Seine dunklen Augen schweiften durch den Raum und blieben dann an mir haften. »Exzellenz«, sagte er und neigte dabei leicht den sonnengebräunten Kopf. »Verzeihen Sie die Störung.« Ich starrte ihn einfach nur an. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. »General Rameer schickt mich, um mit Ihnen zu sprechen«, erklärte Leutnant Henry. »Er legt Wert darauf, allen Ärger zu vermeiden.« »Genau wie ich«, murmelte ich. Mit einem Seufzer setzte ich mich auf die Armlehne der Liege. »Wir verlangen nicht mehr von Ihnen, als dass Sie unserem Volk seinen Stolz zurückgeben«, fuhr Leutnant Henry fort, der sehr erregt sprach und mit beiden Händen gestikulierte. »Alle unsere Untertanen werden in Jubel ausbrechen, sobald erst die Mumie Pukrahs ihren angestammten Platz im Palast wieder eingenommen hat - zusammen mit dem Saphir.« Er hielt inne und wartete auf eine Erwiderung meinerseits. Doch wie zuvor starrte ich einfach nur geradeaus. »Sie werden tausende von Menschen glücklich machen, wenn Sie das Versteck der Mumie aufdecken«, meinte Leutnant Henry weiter. »Warum zögern Sie, Exzellenz? Warum machen Sie es allen so schwer?« Ich sprang auf. »Ich will es doch überhaupt niemandem schwer machen!«, schrie ich. »Ich sage die Wahrheit. Ich kann mich absolut nicht an Pukrahs Mumie erinnern. Ich weiß nichts!« Leutnant Henry nickte und schnalzte mit der Zunge. »Schade«, meinte er sanft und machte eine Geste in Richtung Tür. Zwei Wächter in braunen Uniformen betraten das Zimmer. »Bringt den Jungen in den Operationssaal!«, befahl Leutnant Henry. Ich bemühte mich nach Kräften darum, ihnen zu entkommen. Ich wand und krümmte mich und trat mit den Füßen. Aber es war zwecklos. Sie zwangen mich, ein OP-Hemd aus Papier anzuziehen. Ein paar Augenblicke später lag ich auf einer Metalltrage und wurde von vier Wächtern in einen Operationssaal im Palastkeller gerollt. An der Decke gingen blendend grelle Lampen an. Zwinkernd starrte ich zu 39
zwei Ärzten und einer Krankenschwester hinauf, die weiße Operationsgewänder und Mundschutz trugen. »Die Operation ist ganz einfach«, behauptete einer der Chirurgen. »Beeilen Sie sich bitte«, hörte ich eine vertraute Stimme irgendwo hinter mir sagen. Die Stimme General Rameers, leise und ruhig. »Das ganze Volk wartet auf diesen Gedächtnischip.« Der zweite Chirurg hielt eine schwarze Gummimaske vor mein Gesicht. »Zuerst lassen wir Sie einschlafen«, meinte er und beugte sich über mich. »Sobald ich Ihnen das hier über Mund und Nase halte, atmen Sie tief durch.« Er senkte langsam die Maske. »Nein, wartet!«, schrie ich auf. »Aufhören - bitte! Jetzt erinnere ich mich wieder! Gerade ist mir alles wieder eingefallen! Bitte stopp! Ich erinnere mich jetzt an alles!«
»Halt!« Von der Rückseite des Operationssaales hörte ich General Rameers Ruf. Die Ärzte traten beiseite und der General beugte sich über mich. Er betrachtete mich forschend, biss sich auf die Unterlippe und versuchte sich darüber klar zu werden, ob ich die Wahrheit sagte. Er kratzte sich die weißen Locken und sah mir ins Gesicht. »Sie haben das Gedächtnis also wiedererlangt, Exzellenz?«, fragte er schließlich. »Ja!«, rief ich. »Komplett. Es - es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.« General Rameer wandte sich an die Ärzte. »Schnallen Sie ihn vom Tisch los. Die Wache wird ihn in das Kartenzimmer bringen.« Augenblicke später stand ich in dem kleinen, mit Wandkarten voll gehängten Kellerzimmer. 40
General Rameer trat neben mich. Sein Spazierstock klackerte auf dem Boden. Er beäugte mich misstrauisch. »Ich bin sehr froh, dass du das Gedächtnis wiedererlangt hast, Michael«, behauptete er. »Ja, ich bin auch froh«, murmelte ich und wich dabei seinem durchdringenden Blick aus. »Plötzlich fiel mir alles wieder ein - auf einen Schlag.« »Bestens, bestens«, murmelte er. Er führte mich zu der gelb-orangen Wandkarte, die wir am Vormittag betrachtet hatten. »Fein, wir befinden uns also hier«, sagte er und deutete mit der Stockspitze auf den Stern, der den königlichen Palast bezeichnete. »Zeigen Sie es mir, Michael. Zeigen Sie mir, woran Sie sich erinnern. Wo werden wir die geheiligte Mumie und ihren verborgenen Edelstein finden?« Ich sah zur Karte. Mein Blick wanderte über die Wüste und dutzende von aufragenden Felsen und Höhlen. Aber ich konnte nicht scharf sehen. Ich hatte viel zu viel Angst. Alles verschwamm mir vor den Augen. »Können Sie das Versteck der Mumie auf dieser Karte entdecken?«, drängte General Rameer. »Können Sie auf den Ort deuten, Michael?« Ich hörte, wie seine Stimme ungeduldiger wurde. »Also...« Ich fuhr mit der Hand langsam über die Mitte der Karte. Panik stieg in mir auf. Mein Puls raste Ich bemühte mich normal weiterzuatmen, aber meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich bei jedem Atemzug ein pfeifendes Geräusch machte. Was soll ich jetzt nur tun?, fragte ich mich. Ich habe keinen blassen Schimmer, wo die Mumie versteckt ist. Ich weiß überhaupt nichts. Aber ich kann nicht zulassen, dass sie mir ins Gehirn schneiden. Das ist ganz unmöglich! Ich werde Zeit schinden, beschloss ich. Ich suche mir eine Höhle aus, die sehr weit weg liegt. Und dann... dann... Vielleicht kann ich fliehen, bevor er herausfindet, dass ich ihm einen Bären aufgebunden habe. Einen Bären aufbinden. Das war ein Lieblingsausdruck von meinem Vater. Er sagte das andauernd. Ich dachte an Mom und Dad, daheim in Long Island. Dann fiel mir wieder ein, dass sie womöglich gar nicht meine Eltern waren. 41
»Exzellenz? Ich warte.« General Rameers Stimme riss mich aus meinen aufgewühlten Gedanken. »Äh... richtig.« Ich deutete auf eine Höhle ganz weit unten auf der Karte. »Pukrahs Mumie ist ganz tief drinnen m dieser Höhle verborgen«, erzählte ich ihm und versuchte dabei, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Der General sah mich aus zusammengekniffenen Augen an, er musterte mein Gesicht eine lange Weile. Ich wandte mich ab und konzentrierte mich ganz auf die Karte. Mein Kinn fing zu beben an. Ich verdeckte es mit der Hand. »Die Mumie ist... äh ... hinter einer Mauer aus Steinbrocken versteckt«, fügte ich hinzu. Sehr gut, Michael, beglückwünschte ich mich. Das ist ein hübsches Detail. So klingt es, als würdest du wirklich wissen, wovon du sprichst. General Rameer beugte sich vor. Er brachte sein Gesicht bis auf wenige Zentimeter an die Karte heran und begutachtete die Höhle, die ich ausgesucht hatte. Nach einigen Augenblicken richtete er sich auf. »Diese Höhle ist das Versteck? Sie sind sich ganz sicher?« Ich zitterte am ganzen Körper. Ich hoffte, er würde es nicht bemerken. Ich nickte. »Ja. Die da ist es.« »Hervorragend.« Ein Lächeln huschte über General Rameers Gesicht. Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Gleich morgen in der Früh brechen wir auf. Sie werden uns führen.«
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich lag im Bett und starrte an die Decke. Tausende entsetzlicher Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum. 42
Das Mondlicht, das durch das Fenster hereinfiel, beleuchtete die hohe Standuhr an der Wand. Es war zwei Uhr morgens. Plötzlich hörte ich ein Schlurfen. Leise Schritte. Und dann schloss sich eine Hand über meinem Mund. Unter Strampeln und Treten versuchte ich mich aufzusetzen. Die Nachttischlampe ging an. Im hellen Licht erblickte ich Mary über mir. Sie legte einen Finger an die Lippen. Dann nahm sie langsam die Hand von meinem Mund. »Pssst.« »Du hast mich zu Tode erschreckt!«, keuchte ich. »Wie - wie bist du hier reingekommen?« Ihre grünen Augen blitzten im gelben Licht auf. »Mach bloß keinen Mucks, Michael«, ermahnte sie mich. »Heute Nacht stehen vier Wächter vor deiner Tür. Und die sind alle hellwach und auf der Hut.« Ich lehnte mich gegen das Kopfteil und strich mir das Schlafanzugoberteil glatt. »Was haben sie mit dir gemacht?«, flüsterte ich. »Nachdem sie dich hier drin bei mir erwischt haben, meine ich.« »Gar nichts haben sie gemacht«, erwiderte sie. »Ich bin die Adoptivtochter vom General - schon vergessen?« Ich schüttelte den Kopf. Sie ließ sich neben mir auf der Bettkante nieder. Sie war ganz in Schwarz gekleidet - schwarzes Oberteil, schwarzer Rock über schwarzer Strumpfhose. »Ich bin hier, um dich zu warnen«, sagte sie mir mit gedämpfter Stimme. »Hast du dem General das richtige Versteck gezeigt? Ich will es hoffen.« Ich starrte sie an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sollte ich ihr die Wahrheit erzählen? Sie wartete meine Antwort gar nicht erst ab. »Ich hoffe, du hast die Wahrheit gesagt, Michael. Diese Männer sind verzweifelt - und äußerst grausam. Wenn du sie belegen hast...« Ihre Stimme verlor sich. Ein Geräusch am Fenster ließ uns beide den Atem anhalten. Wieder prallte ein großes Insekt gegen die Scheibe. Mary blickte mir in die Augen. »Haben sie dir von dem Fluch erzählt, Michael?« 43
»Was? Was für ein Fluch?«, stieß ich mit erstickter Stimme aus. »General Rameer und seine Leute sind schrecklich abergläubisch«, flüsterte Mary. »Wahrscheinlich waren sie zu abergläubisch, um dir von dem Fluch zu erzählen.« »Erzähl du es mir«, drängte ich. »Pukrahs Mumie gehört dem Volk von Jesekien«, erläuterte sie. »Es heißt, wenn Pukrah in die falschen Hände gerät... wenn seine Mumie in böse Hände fällt... dann wird Pukrah zurückkehren! Pukrah wird über die Erde wandeln, bis das Böse vernichtet ist.« »Wow«, murmelte ich. »Die Männer sind alle abergläubisch, Michael«, fuhr sie fort. »Klar, sie sind scharf auf den Edelstein, der in der Mumie verborgen ist. Aber hauptsächlich wollen sie diese uralte Mumie selbst. Die sind so abergläubisch! Die glauben, sie können das Königreich nicht regieren, solange sie nicht im Besitz der Mumie sind. Die Mumie ist unglaublich wichtig für sie. Falls du also versuchen solltest, sie reinzulegen...« Ich stieß einen langen Seufzer aus. Konnte ich ihr die Wahrheit anvertrauen? Konnte ich ihr mein schreckliches Geheimnis sagen? Nein, entschied ich. Nein. Ich glaube zwar, ich kann ihr vertrauen. Aber ich will nicht, dass sie Ärger mit ihrem neuen Vater bekommt. Ich werde mein Geheimnis lieber nicht mit ihr teilen. »Alles ... in Ordnung«, sagte ich. Aber meine Stimme brach, als ich es aussprach. Sie starrte mich an. »Sicher?« »Sicher«, behauptete ich. »Der Gedächtnischip – er hat eingesetzt. Ehrlich. Auf einen Schlag ist mir alles wieder eingefallen.« Sie blickte mich unverwandt an, beäugte mich. »Ich habe diese Karte angesehen und plötzlich war mir alles wieder vertraut«, fuhr ich fort. »Als mein Blick auf die eine Höhle fiel, wusste ich sofort, dass es die richtige ist.« Ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Michael - das ist großartig!«, sagte sie begeistert. »Ja, klar«, pflichtete ich ihr bei. 44
Glaubte sie mir? Ja. Ich war mir sicher, dass sie das tat. »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!«, rief sie. »Ich ich wollte nicht, dass dir irgendetwas zustößt!« »Kein Problem«, beteuerte ich. Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Ich komme morgen mit«, verkündete sie. »Das wird so aufregend!« Rasch trat sie ans Fenster. »Wir sehen uns dann in der Früh«, flüsterte sie. Und damit verschwand sie still durch das Fenster und ließ nur die flatternden Vorhänge zurück. »Ja, aufregend, keine Frage«, murmelte ich und verdrehte die Augen. »Das wird echt aufregend werden.« Ich wusste, dass Mary mir nur helfen wollte. Aber ihre Äußerung, wie grausam und verzweifelt General Rameers Leute waren, trug nicht gerade dazu bei, mich zu beruhigen. Und ich wusste, dass die Geschichte von Pukrahs Fluch mir noch jahrelang Albträume bereiten würde! Was sie wohl mit mir anstellen werden, wenn wir zur Höhle kommen und die Mumie gar nicht da ist?, fragte ich mich. Was werden sie tun, wenn sie feststellen, dass ich sie angelogen habe? Mich mitten im Nirgendwo aussetzen? Mich zum Palast zurückschleifen und den Gedächtnischip doch aus meinem Gehirn entfernen? Warum funktioniert der Gedächtnischip nicht? Weil ich der falsche Junge bin? Weil ich nicht der Sohn der Herrscher des Königreichs bin? Weil sie einen furchtbaren Fehler begangen haben? Diese Fragen tauchten wieder und wieder in mir auf, bis ich das Gefühl hatte, mein Hirn würde zerspringen! Zitternd lag ich unter der Bettdecke, starrte zur Decke hinauf und überlegte ... überlegte. Ich schlief nicht einen Augenblick lang. Ich war immer noch hellwach und die Fragen quälten mich, als die Wächter ins Zimmer kamen, um mich zu wecken. Sie gaben mir einen grün-schwarzen Tarnanzug. »Exzellenz, Sie müssen sich jetzt ankleiden«, wies einer von ihnen mich an. »Bei Sonnenaufgang brechen wir auf.« Ich stand auf, streckte mich und warf einen Blick aus dem Fenster. In der Ferne machte ich einen schmalen roten Streifen aus: Die Sonne stieg über dem Horizont auf. 45
Ich bin verloren, wurde mir klar. Rettungslos verloren.
Hastig schlang ich ein Frühstück aus Toast und Orangensaft hinunter. Dann brachten die Wächter mich hinaus. Die Sonne hing als roter Ball noch immer tief über dem Horizont. Sie warf einen zartroten Schimmer auf dutzende und aberdutzende von Menschen, die hin- und herhuschten, auf Soldaten, Palastwachen, Diener. Eine endlose Folge von Jeeps und Armeelastern verstopfte die Straße vor dem Palast. Ich sah, wie bewaffnete Soldaten sich in olivgrüne Truppentransporter wuchteten. Diener luden tonnenweise Proviant in kleinere Laster. Trillerpfeifen ertönten. Ich entdeckte Leutnant Henry, der mitten auf der Straße Anweisungen brüllte. Die Wächter führten mich durch die Menschenmasse zum Jeep an der Spitze des Zuges. Mary stand in einem braun-grünen Tarnanzug und mit einem braunen Barett, das sie sich schräg über die Frisur gestülpt hatte, neben dem Jeep. Sie begrüßte mich mit einem Nicken. »Guten Morgen, Exzellenz«, meinte sie. Ihr Blick ruhte auf den Wächtern, die mich flankierten. »Wohl kaum«, flüsterte ich. Ich deutete nach hinten. »Ich dachte, wir gehen auf Mumienjagd«, sagte ich. »Wieso nimmt General Rameer diese ganzen Soldaten mit?« »Zur Sicherheit«, erwiderte Mary. Sie zeigte auf die Wüste. »Da draußen gibt es immer noch viele Rebellentruppen. Sie haben noch nicht aufgegeben. Der Krieg ist noch nicht zu Ende.« »Ach, super«, ächzte ich. »Noch ein Grund, sich Sorgen zu machen!« Da erschien General Rameer in einer braunen Armeeuniform, deren Brustpartie mit glänzenden Orden bedeckt war. Er gab mir einen 46
Klaps auf den Rücken. »Ein großer Tag!«, verkündete er freudestrahlend. »Ein großer Tag für das Königreich Jesekien! Endlich kehrt unser nationales Heiligtum zurück an den Ort, der ihm gebührt!« Mary und ich tauschten Blicke. General Rameer bedeutete uns, in den Jeep zu steigen. Mary nahm vorne neben dem Fahrer Platz. Der General und ich saßen gemeinsam hinten. »Wie lange brauchen wir bis zur Höhle?«, erkundigte ich mich. Er faltete eine Karte auseinander und breitete sie auf seinem Schoß aus. »Wir sollten bei Einbruch der Nacht dort sein«, erwiderte er. Er drehte sich lächelnd zu mir um. »Es ist ein kleines Reich, Michael. Es wirkt nur auf der Karte so groß. Aber innerhalb von einem Tag kann man jeden Ort in Jesekien erreichen.« Noch ein Tag Gnadenfrist, überlegte ich. Der General sah mich durchdringend an. Ich rang mir ein Lächeln ab. Ich wollte nicht, dass er sah, wie viel Angst ich hatte. Ein mit Soldaten besetzter Laster setzte sich vor unseren Jeep. Zwei weitere Laster fuhren zu unseren Seiten auf. Wir waren also von Bewaffneten umgeben. Sie hatten, wie mir jetzt klar wurde, den Auftrag, den General - und mich - vor Rebellenangriffen zu beschützen. General Rameer erhob sich von der Rückbank des Jeeps und neigte den Spazierstock nach vorn: das Signal zum Aufbruch. Ein paar Augenblicke danach setzten wir uns in Bewegung, ganz langsam erst, doch dann gewannen wir auf der schmalen, befestigten Piste durch die Wüste an Tempo. Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel und die Luft erhitzte sich. Die Straße endete schon nach wenigen Meilen und der Jeep holperte über Sand und Felsen. General Rameer studierte die Karte und rief dem Fahrer Anweisungen zu. Ich sah hinaus in die Wüste, die uns umgab. Weiße Felsen und gelber Sand, so weit das Auge reichte. Plötzlich kam ich mir so vor, als befände ich mich auf einem anderen Planeten. So muss es sein, wenn man über die Mondoberfläche fährt, dachte ich.
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Vor uns wirbelte der Wind den Sand auf, der über den Boden dahinstrich wie die Wogen eines trockenen Meeres. Zu allen Seiten ragten hohe weiße Felsformationen auf wie kleine Berge. Wir kamen an einem winzigen runden Teich mit blauem Wasser vorbei, der von gedrungenen Palmen umgeben war. Es sah aus wie im Kino. Unwirklich. Hinter dem Teich fiel ein dunkler Schatten auf den Sand. Der Schatten einer hoch aufragenden Felsspitze, in deren Fuß sich tiefe Höhlen gruben. Hässliche schwarz-weiße Wüstenvögel hockten groß und mager auf dem Felsen. Sie starrten regungslos auf uns herab, während wir vorbeipolterten. Das Sonnenlicht ließ den aufgewirbelten Sand wie Gold glitzern und beleuchtete die hohen weißen Granitfelsen vor uns. Eine seltsame und bezaubernd schöne Landschaft. Aber ich konnte sie nicht einmal ansatzweise genießen. Ich wusste, dass jede Minute in der Wüste mich meinem Verderben näher brachte. Jede Höhle, die wir passierten, jede Felsformation jagte mir einen Schauder über den Rücken. Es gibt kein Entkommen, wurde mir klar. Hier draußen kann ich nirgendwohin laufen. An diesem Abend wird General Rameer die Wahrheit erkennen. Die Mumie wird noch immer verborgen sein. Alle werden wissen, dass ich gelogen habe, dass ich sie alle zur entferntesten Höhle geführt habe, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Wir machten an einer flachen, von niedrigen Felsen umgebenen Senke Mittag. Dort nahm ich Mary beiseite. Ich musste unbedingt mit ihr reden. »Hast du irgendeinen Vorschlag?«, wollte ich wissen. »Was soll ich jetzt tun?« Sie sah mich scheel an, als kapiere sie nicht, wovon ich sprach. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen behilflich sein kann, Exzellenz«, entgegnete sie laut. »Was? Mary?« Ich drehte mich um und erblickte meine beiden Wächter hinter mir. Sie belauschten jedes Wort. Ich konnte unmöglich offen mit Mary reden. 48
Ich würgte ein Sandwich hinunter. Ich weiß nicht, wie ich es schluckte. Meine Kehle war ausgetrocknet wie der Sand und mein knurrender Magen zusammengekrampft. Ich schaute kurz zu den mageren schwarz-weißen Vögeln auf, die über uns auf den Felsen hockten. Ob das Aasgeier waren? Ob sie sich heute Nacht über mich hermachen würden? Nach kurzer Zeit ging die Fahrt weiter. General Rameer blickte wieder auf seine Karte. Während wir über die Dünen holperten und uns der Höhle am unteren Rand der Karte Stück für Stück näherten, wurde er zusehends aufgeregter. Der Nachmittag zog sich unerträglich in die Länge! Mir war übel. Der Schweiß tropfte mir von der Stirn in die Augen. Ich wischte ihn nicht einmal fort. Ich versuchte mir einen Plan zurechtzulegen. Aber mein Hirn war so leer wie die Höhle, die ich ausgesucht hatte! Konnte ich General Rameer sagen, dass ich mich geirrt hatte? Konnte ich auf eine andere der eingezeichneten Höhlen deuten - eine Höhle ganz am anderen Ende der Wüste? Das könnte mir für einen weiteren Tag Ärger ersparen, dachte ich. Aber nein. Diese Geschichte würde er mir unmöglich abkaufen. Er würde auf der Stelle wissen, dass ich Zeit schinden wollte. Dass ich ein ausgemachter Schwindler und Lügner war. Die Sonne versank gerade hinter hohen Felswänden, als wir plötzlich anhielten. General Rameer faltete die Karte zusammen. Er gab mir mit dem Spazierstock einen Klaps auf mein Knie. »Das ist sie!«, rief er und zeigte aufgeregt hinaus. »Das ist die Höhle!« Ich starrte auf die hohe Felswand. Sie ragte jäh aus dem Sand auf und schimmerte bläulich im abendlichen Licht. An ihrem Fuß befand sich eine dunkle Höhlenöffnung, die beinahe dieselbe Form hatte wie die Mauselöcher in den Comics. General Rameer sprang aus dem Jeep und gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Langsam kletterte ich hinaus, schwer keuchend und mit pochendem Herzen. Ich wischte mir den Sand aus den Augen. 49
»Der große Augenblick!«, erklärte General Rameer, als er zum Höhleneingang blickte. Ich schaffe das nicht, überlegte ich. Ich kann das unmöglich weiter durchziehen. Ich werde wahnsinnig. Ich halte das keine Sekunde länger aus! »General Rameer, ich - ich muss Ihnen etwas gestehen«, fing ich an. Die Worte blieben mir im Halse stecken. Ich hustete. Zwang mich weiterzureden. Mir blieb keine Wahl. Ich musste ihm die Wahrheit sagen. »General Rameer, ich habe gelogen«, beichtete ich. »Ich habe nur Zeit geschunden. Ich kann mich an gar nichts erinnern. Es tut mir Leid - aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wo diese Mumie steckt.« Irgendwie brachte ich diese Worte hervor. Dann trat ich mit einem langen Seufzer einen Schritt zurück. Und sah mit an, wie General Rameers Gesicht rot anlief und seine Augen vor Wut hervorquollen.
»Bitte«, setzte ich an. »Ich wollte nicht...« Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, dass der General gar nicht mich anstarrte. Er hatte kein Wort von dem gehört, was ich gesagt hatte. »Exzellenz - ducken Sie sich!«, schrie er. Er drückte mich neben dem Jeep auf den Boden. Ich hörte ein lautes KAWUMM, KAWUMM. Böller, dachte ich. Dann wurde mir klar, dass es Schüsse waren. Ein KAWUMM ertönte ganz in der Nähe - gefolgt von einem Pfeifen, als Luft aus einem Reifen des Jeeps entströmte. »Rebellen!«, hörte ich Leutnant Henry rufen. »Sie stecken oben auf dem Felsen! Keine Ahnung, wie viele!« 50
Ich hob den Blick zur Felswand und sah Männer in schwarzen Uniformen. Hinter mir sprangen General Rameers Soldaten von den Transportern herunter und brachten ihre Waffen in Anschlag. »Rennen Sie zu dem Felsen!«, befahl mir General Rameer und deutete dabei auf einen breiten Findling, der aus dem Sand aufragte. »Los!« Er zerrte mich auf die Beine und gab mir einen kräftigen Schubs. Ich sah, wie Mary auf der anderen Seite des Jeeps in Deckung ging. General Rameers Leute liefen geduckt auf den Felsen mit den schwarz gekleideten Rebellen zu. Ich hechtete auf den Findling zu und kroch auf Händen und Knien dahinter. Das ist grauenvoll!, sagte ich mir, während ich mich an der Felsenseite festkrallte und mich flach dagegen presste. Ein Krieg. Ein echter Krieg - und ich mitten drin. Ich muss hier fort... Fort? Mein Herz setzte einen Moment lang aus. Genau! Das ist meine Chance, entschied ich. Meine Chance, General Rameer zu entkommen, aus Jesekien zu fliehen. Ich schaute mich kurz um. Nichts als bläulich schimmernder Sand und die Wüste, die sich unter der hereinbrechenden Nacht verfinsterte. Wohin sollte ich gehen? Ich erinnerte mich, auf der Karte kleine Ortschaften gesehen zu haben, kleine Ortschaften jenseits der Grenze Jesekiens. Wenn ich es schaffe, unentdeckt von hier abzuhauen, dann kann ich mich in einer Höhle oder hinter irgendwelchen Felsen verstecken, überlegte ich. Und morgen früh kann ich mich dann zur Grenze aufmachen und einen dieser Orte suchen. Es war ein verrückter, aus der Verzweiflung geborener Plan. Aber er könnte mir das Leben retten. Ich warf einen letzten Blick über den Findling hinüber auf die Kämpfenden. General Rameer und seine Soldaten erstürmten gerade mit donnernden Waffen die Flanke der Felswand. Ich suchte nach Mary, konnte sie aber nirgends entdecken. »Dann tschüss miteinander«, murmelte ich. Ich stieß mich von dem Findling ab - und rannte los. 51
Meine Schuhe knirschten auf dem festen Sand. Mein Schatten erstreckte sich vor mir, als wolle er mir den Weg weisen. Ich war etwa zehn oder zwölf Schritt weit gelaufen, als das Schießen aufhörte. Plötzlich kamen mir meine schweren Schritte unglaublich laut vor! »Exzellenz - wo wollen Sie hin?«, rief jemand. Keuchend und japsend wirbelte ich herum - und sah Leutnant Henry, der mir hinterhertrabte. Beim Laufen baumelte sein Pferdeschwanz hinter ihm hin und her. Er hielt sein Gewehr in der einen Hand, mit der anderen winkte er mir zu. »Ich... ich...«, stammelte ich und suchte in Gedanken fieberhaft nach einer guten Erklärung. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Exzellenz«, sagte Leutnant Henry, als er mich einholte. »Es ist vorbei. Die Rebellen sind geflohen.« Er deutete zur Felswand hinüber. »Sehen Sie? Sie sind fort. Sie kämpfen niemals lange. Ein paar Schuss - und schon rennen sie.« Ich hörte Gelächter bei den Felsen. Ich sah Soldaten, die ihre Käppis in die Luft warfen. Sich beglückwünschten. Ihren raschen Sieg feierten. Der Sieg war zu rasch gekommen, dachte ich unglücklich, während ich hinter Leutnant Henry zurücktrottete. Ein wenig mehr Zeit und ich hätte fliehen können. Gott sei Dank war niemand in der Schlacht verwundet worden. Aber diese Männer waren bereit, ihr Leben zu opfern. Sie sind bereit zu sterben, um Pukrahs Mumie zurückzubekommen, dachte ich. Und was habe ich getan? Sie belogen. Ihnen einen Bären aufgebunden. Und jetzt bin ich endgültig verloren. Jetzt werden sie in die Höhle gehen und dann werden sie wissen, dass ich versucht habe, sie zu täuschen. 52
Ich wandte mich zum Höhleneingang um, der finster und klaffend aussah, wie ein riesenhaftes Maul, das mich verschlingen wollte. »Das war sehr dumm von dir!«, hörte ich General Rameer zornig schreien. Ich drehte mich um und erblickte ihn: Mit hochrotem Kopf und böser Miene schimpfte er Mary aus. »Es tut mir Leid, dass du in einen Kampf geraten bist«, brüllte der General. »Aber du darfst einfach nicht so dumm sein!« Ich stellte mich zu den beiden. Mary sah mich mit bedrücktem Gesicht an, dann wandte sie den Blick ab. »Was ist denn los?«, wollte ich wissen. General Rameer zeigte anklagend mit dem Finger auf sie. »Sie hat sich unter dem Jeep versteckt.« »Ich wollte mich nur in Sicherheit bringen!«, weinte Mary. »Unter dem Jeep ist es aber nicht sicher!«, sagte der General wutschnaubend. »Wenn der Benzintank von einer Kugel getroffen wird, explodiert der ganze Jeep. Das ist nicht gerade das, was ich mir unter ›sicher‹ vorstelle.« »T-tut mir Leid«, stammelte Mary, die seinem Blick noch immer auswich. »Du hattest Glück, Mary«, sagte der General plötzlich zärtlich. Dann zog er sie zu meiner Verblüffung an sich und umarmte sie. »Du hattest großes Glück.« Er hat sie wirklich gern, erkannte ich. Es würde ihm einen furchtbaren Schlag versetzen, wenn er wüsste, dass sie versucht hatte, mir zu helfen. Aber jetzt kann mir keiner mehr helfen, überlegte ich traurig. Niemand. »Gehen wir... jetzt in die Höhle?«, fragte ich General Rameer. Ich versuchte ruhig und gefasst zu wirken. Aber meine Stimme klang hoch und schrill. Der General ließ Mary los und wandte sich an mich. »Nein. Wir dürfen die Höhle noch nicht betreten. Wir dürfen die geheiligte Mumie erst ansehen, wenn wir uns gereinigt haben.« »Äh... und wie lange wird das dauern?«, erkundigte ich mich. General Rameer lachte. »Sie können es kaum erwarten, die Mumie zu sehen? Natürlich sind Sie ungeduldig, Exzellenz. Als 53
unser künftiger Herrscher können auch Sie es kaum erwarten, die geheiligte Mumie wieder im Königspalast zu wissen.« »Natürlich«, stieß ich hervor. »Aber wie lange wird es dauern, uns zu reinigen?« Er schlug mir herzlich auf den Rücken. »Stunden!«, verkündete er. »Wir müssen uns im Sand reinigen, im reinen, sauberen Sand unserer Ahnen. Wenn wir der Mumie im unreinen Zustand gegenübertreten, wird Pukrah Rache an uns üben.« Wow, dachte ich. Diese Leute sind aber wirklich abergläubisch. Ich war froh. Das bedeutete, dass mein Schwindel nicht sofort auffliegen würde. Mir blieb noch eine Nacht. Die Soldaten stimmten einen Sprechgesang an. Die Zeremonie der Reinigung hatte begonnen. Sie sprachen und sangen in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Dann schritten sie fort von den Felsen, hinaus in den flachen Sand. General Rameer gab Mary und mir ein Zeichen, ihnen zu folgen. Auch wir mussten uns reinigen. Die Sonne war mittlerweile ganz untergegangen. Die Luft hatte sich abgekühlt. Mary und ich ahmten die Handlungen der Soldaten nach. Wir alle zogen die Schuhe aus und gingen langsam barfuß über den Sand, der noch immer aufgeheizt von der Sonne war, wärmer als die Nachtluft. Die psalmodierenden Stimmen schwollen an. Der Klang schwebte über die Wüste hinweg. Während die Soldaten sangen, vergruben sie sich langsam im Sand. Mary und ich taten es ihnen gleich. Wir schoben den Sand von uns fort, scharrten ihn mit beiden Händen beiseite, gruben Löcher um uns. Es dauerte sehr lange. Trotzdem hörten der General Rameer, seine Soldaten und Diener nie auf zu singen. Sie verstummten erst, als wir bis zum Hals eingegraben waren. Ich drehte den Kopf und bestaunte den irren Anblick. Dutzende Köpfe ragten in der nächtlichen Dunkelheit aus dem Sand heraus. »Ich komme mir nicht so wahnsinnig gereinigt vor«, flüsterte Mary. »Eigentlich juckt es eher.« 54
»Der Sand ist schön warm«, flüsterte ich zurück. »Ich finde, es fühlt sich gut an.« Leutnant Henry blickte uns böse an. Wir verstummten und wandten uns voneinander ab. Ich starrte zum Eingang der Höhle hinüber. Erneut erzitterte ich bei ihrem Anblick. Die Zeremonie war beendet. Alle kletterten aus ihren Sandlöchern heraus. Dann machten sich einige Männer daran, Zelte aufzuschlagen. General Rameer schickte mich in ein Zelt neben dem seinen. »Sehen Sie zu, dass Sie ein wenig schlafen, Exzellenz«, wies er mich an. »Morgen wird ein erhebender und aufregender Tag.« Das glaube ich eher nicht, dachte ich unglücklich. Erhebend? Ganz sicher nicht. Aufregend? Na ja... Im Zelt wartete ein Schlafsack auf mich. Ich zog die Schuhe aus und krabbelte hinein. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, mich auszuziehen. Ich wusste, dass ich keinen Schlaf finden würde. Wieder einmal. Ich starrte zu den Zeltbahnen empor und versuchte, nicht an den nächsten Morgen zu denken. Versuchte an gar nichts zu denken. Der drückenden Stille der nächtlichen Wüste zu lauschen. Kein Wind. Keine Tierlaute. Keine Autos. Echte Stille. Vielleicht konnte ich mich ja fortschleichen, heimlich in der Dunkelheit flüchten ... Ich kroch vorsichtig aus dem Schlafsack und griff nach meinen Schuhen. Auf den Knien hockend, schlug ich den Zelteingang auf und spähte nach draußen. Eine Reihe kleiner Lagerfeuer warf ein flackerndes oranges Licht auf die Zelte. Im zuckenden Schein sah ich Soldaten. Wachen standen im Kreis um das gesamte Lager herum. Gewehre im Anschlag. Nein. Eine Flucht war völlig unmöglich. Ich schlüpfte ins Zelt zurück. Und wartete auf den Morgen. Die Sonne war erst als roter Dunstkreis zu sehen, tief über dem Wüstensand, als ich den Ruf hörte: »Exzellenz - Zeit aufzustehen. Pukrah erwartet uns!« 55
Meine Hände zitterten, als ich mich damit abmühte, mir die Schuhe zu binden. Ich war schwach auf den Beinen. Es fiel mir schwer, einigermaßen scharf zu sehen. Mein Rücken juckte. Ich schwitzte bereits, selbst jetzt, in der kühlen Morgenluft. Doch das waren Lappalien, wie ich wusste. Das war alles halb so wild. Mein großes Problem ließ sich in zwei Worte fassen - keine Mumie. »Da bist du ja!« General Rameer begrüßte mich überschwänglich, als ich aus dem Zelt wankte. Die morgendliche Sonne warf einen zartrosa Schein über Sand und Himmel. Ich blinzelte in den schimmernden Dunst. Ich konnte nicht erkennen, wo der Sand endete und der Himmel begann. Ich atmete tief durch. Das könnte einer meiner letzten Atemzüge sein, überlegte ich. Ich drehte mich zur Felswand um. Auch auf den weißen Felsen lag der rosige Schein der Sonne. Der in den Fels geschnittene, finstere Höhleneingang lag drohend vor mir. Panik stieg in mir auf und ich trat unwillkürlich zurück. Ich kann da nicht hinein, wurde mir bewusst. Ich schaffe es einfach nicht. Da spürte ich die Hand General Rameers auf meiner Schulter. »Hier entlang«, sagte er sanft. »Alle warten schon, Exzellenz. Sie und ich, wir müssen vorangehen. Wir müssen sie zu Pukrah führen.« Ich versuchte mir eine Antwort abzuringen, brachte aber keinen Ton heraus. Der General nahm die Hand nicht von meiner Schulter und führte mich voran. Als ich zurückblickte, sah ich, dass die Männer in Zweierreihen angetreten waren. Die Parade zog sich neben den Jeeps und Lastern dahin, bis hinaus in den roten Wüstensand. Die Feuer waren alle niedergebrannt. Aber die Wachen standen noch immer im Kreis um das Lager, die Gewehre geschultert. 56
Leutnant Henry stellte sich hinter General Rameer und mir auf. Er lächelte und zeigte mir den emporgestreckten Daumen. In ein paar Sekunden hat sich's ausgelächelt, dachte ich niedergeschlagen. Für alle. General Rameer schritt so weit und schnell aus, dass ich fast rennen musste, um mitzuhalten. Kurz darauf überragte uns bedrohlich die hohe Felswand. Wir gingen weiter, bis vor den dunklen Höhleneingang an ihrem Fuß. Die Luft aus dem Höhleninneren umstrich mich kühl und feucht. Meine Haut kribbelte. Obwohl der Anstieg zum Höhleneingang alles andere als steil war, keuchte ich, als hätte ich einen Berg erklommen. »Warten Sie hier«, flüsterte General Rameer. Er drehte sich um und wartete ab, bis die Männer sich hinter uns versammelt hatten. Dann schloss er die Augen, neigte den Kopf und sprach leise ein Gebet. Als er geendet hatte, öffnete er die Augen wieder und rieb die Hand gegen den Stein der Höhlenöffnung. »Reiben Sie Ihre Hand hier, Exzellenz«, wies er mich an. »Jeder Einzelne muss den Glückszauber der Höhle berühren.« Ich folgte seiner Anweisung und strich mit der Hand über das feuchte Gestein. »Und nun sind wir bereit, Pukrah zu huldigen!«, verkündete General Rameer. Nebeneinander traten wir in den Eingang der Höhle. Drinnen umfing mich Dunkelheit. Ein klammer, kühler Luftzug ließ mich erschaudern. Als die Übrigen hinter uns eintraten, flammten Taschenlampen und Halogenscheinwerfer auf. Lichtstrahlen blitzten und flackerten über den Höhlenboden und die steinernen Wände. Die Höhle war tiefer, als ich gedacht hatte. Und höher. Im dämmrigen Licht konnte ich die Decke nicht ausmachen. »Ihre Eltern haben einen guten Ort ausgewählt, um die geheiligte Mumie und ihren Edelstein zu verbergen«, sagte General Rameer, der sich dicht hinter mir hielt. Obwohl er ganz leise gesprochen hatte, hallten die Worte von den hohen Höhlenwänden wider. »Dort ist die Steinmauer!«, hörte ich Leutnant Henry ausrufen. 57
»Was?«, staunte ich mit offenem Mund. Überall um mich herum erschollen erregte Rufe. Männer richteten ihre Lampen direkt nach vorn. Ich blinzelte in das grelle Licht. Und sah Steinbrocken, die übereinander geschichtet dalagen. Eine Mauer aus Steinbrocken, vielleicht zweieinhalb bis drei Meter hoch, die fast die gesamte Höhlenbreite einnahm. »Genau, wie Seine Exzellenz es beschrieben hat!«, rief General Rameer überglücklich. »Ja, Michael. Dies muss die Wand sein, welche die Mumie verbirgt. Hinter diesen Steinen erwartet uns Pukrah.« Moment, jetzt mal gaaaanz langsam, dachte ich. Ich habe mir die Steinmauer doch ausgedacht. Aber jetzt steht eine Steinmauer genau vor mir! Dusel. Aber wie lange wird mein Glück noch halten? Stille senkte sich über die Höhle. Nun war es beinahe ganz ruhig, nur die Schuhe scharrten noch über den staubigen Höhlenboden. Und irgendwo am hinteren Ende der Höhle tröpfelte leise Wasser. Die Lampen strahlten die Steinmauer an. Taghell. Ich konnte jeden Steinbrocken gestochen scharf erkennen. »Wir können uns einzeln an der Mauer vorbeizwängen«, rief einer der Soldaten. »Zu langwierig. Reißt die Mauer ein!«, befahl General Rameer. Die Männer traten vor und machten sich daran, die Steine fortzuzerren. Sie wuchteten sie Stück für Stück von der Mauer herunter und rollten sie beiseite. Ich stand wie angewurzelt neben General Rameer. Blinzelte in die Lichtstrahlen. Meine Beine zitterten. Meine Kehle schnürte sich zu, bis ich mich zwingen musste weiterzuatmen. Ein Atemzug ... noch einer ... und noch einer. Ich wusste, dass jeder Atemzug mich meinem Verderben näher brachte. Von den Wänden hallte das laute Krachen der auf den Boden geschleuderten Steinbrocken wider. Die Männer arbeiteten still, mit feierlich gesetzten Mienen.
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Der General stand neben mir, die Hände in die Hüften seines Tarnanzugs gestemmt. Ein erwartungsvolles Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sah, wie die Mauer fiel. Er rührte sich nicht, zwinkerte nicht einmal. Ich auch nicht. Dann ließ der schrille Aufschrei eines Mannes uns beide zusammenfahren. Steine lösten sich in einer lautstarken Lawine. Ein großes Stück der Mauer fiel plötzlich in sich zusammen. Die Männer stürmten nach vorn. Jetzt werden sie die Wahrheit erfahren, wurde mir klar. Jetzt werden sie erkennen, dass ich gelogen habe, dass ich sie ohne Grund hierher geführt habe. Ich schloss die Augen und erwartete mein Schicksal.
Mit geschlossenen Augen hörte ich überraschte Rufe. Erschrecktes Aufstöhnen. »Es ist Pukrah!«, rief einer. Weitere Rufe ertönten und wurden überall aufgenommen. Ich öffnete die Augen. Ja! Ja! Ja! Vor mir war die uralte Mumie, hinter der eingerissenen Mauer. Sie stand aufrecht, angestrahlt vom zuckenden gelben Lichtschein. Die grauen Binden zerfetzt und zerschlissen. Den eng umwickelten Kopf leicht geneigt. Die schlanken, verbundenen Arme vor der Brust gekreuzt. »Pukrah! Pukrah!« Der Triumphgesang der Männer erhob sich in der ganzen Höhle. General Rameer strahlte und seine Augen leuchteten. Ich sah glitzernde Tränen seine Wange hinablaufen. Tränen der Freude. »Pukrah! Pukrah!«, schwoll der ausgelassene Gesang an. Ich stieß einen langen, erleichterten Seufzer aus. Dies war der glücklichste Tag meines Lebens! 59
Irgendwie hatte ich mich für die richtige Höhle entschieden, obwohl ich mit dem Finger wahllos auf irgendwelche Zeichen auf der Karte gedeutet hatte. Ich hatte die Mumie gefunden! Plötzlich fühlte ich mich so leicht, als hätte man mir ein ungeheures Gewicht von den Schultern genommen. Ich hatte das Gefühl, ich könne die Arme ausbreiten und fliegen, bis zum Dach der Höhle hinauf fliegen! Ich wollte Luftsprünge machen. Ich wollte vor Freude laut schreien. Doch dann, ganz plötzlich, erstarben die Gesänge. Die Männer wurden still. Ich drehte mich um - und hielt den Atem an. Ich wurde Zeuge, wie die Mumie die zerbrechlichen, gekreuzten Arme von der Brust nahm. Langsam glitten die umwickelten Arme zu beiden Seiten herab. Der kleine Kopf neigte sich. Und dann brandeten überall um mich herum Entsetzensschreie auf, als die Mumie einen torkelnden Schritt nach vorn tat. Und noch einen. »Die Mumie ist erwacht!«, schrie General Rameer auf. »Pukrah kehrt zurück!«
Steif streckte die Mumie die Arme von sich und torkelte vorwärts. Die bandagierten Füße schlurften über den Höhlenboden und wirbelten Staubwolken auf. Ihr Kopf kippte von einer Seite zur anderen, als sie blindlings vorwärts taumelte. SCHLURF, SCHLURF... Um mich herum verwandelten sich die überraschten Rufe in entsetztes Stöhnen. »Der Fluch!«, brüllte jemand. »Der Fluch Pukrahs!« »Pukrah kehrt zurück!«, würgte General Rameer hervor. Er machte sich zum Rückzug bereit, das Gesicht vor Schreck verzerrt. 60
Die Lichter huschten über die Mumie hinweg, als sie sich vorbeugte, mit ausgestreckten Armen steif vorantaumelte. Und dann schwenkten die Lichtkreise ab -und huschten über die Höhlenwände, als General Rameers Männer sich abwandten. Ein Lichterstrom raste auf den Höhleneingang zu. In Todesfurcht stöhnend, Entsetzensschreie ausstoßend folgten die Männer dem Licht. Sie rasten in wilder Panik über den mit Steinbrocken übersäten Boden und wirbelten dichten Staub auf. Tanzende Lichter ließen den Staub flimmern. Seltsame Schatten huschten neben den flüchtenden Männern auf den Höhleneingang zu. Es erinnerte mich an einen alten Schwarzweißfilm, unscharf und in der falschen Geschwindigkeit abgespielt. Ich stand da wie hypnotisiert und sah zu. Sah zu ... Ich sah zu, wie General Rameer mit eingezogenem Kopf durch den Höhleneingang stürmte, hinaus in das orangefarbene vormittägliche Sonnenlicht. Ich sah zu, wie seine Männer ihm folgten, sich in panischer Flucht durch den Eingang zwängten, hinaus aus der Höhle und dann immer weiter rannten. Ich muss auch rennen, wurde mir plötzlich klar. Der seltsame Anblick hatte mich an Ort und Stelle gebannt. Die eisige Todesfurcht hatte mich gelähmt. Aber ich musste den anderen folgen. Ich drehte mich um und wollte losrennen - aber zu spät! Die Mumie - Pukrahs Mumie - hatte mich erreicht. Die uralten Arme hoben sich vor meinem Gesicht und packten mich. Umklammerten meine Kehle. Die Mumie war stark ... so übermenschlich stark ... Sie schloss die Hände um meine Kehle und drückte langsam zu.
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»Neiiin ...«, würgte ich hervor. Die Mumie lockerte ihren Griff. Die bandagierten Hände ließen von mir ab. Pukrah warf den Kopf in den Nacken. Aus den engen Verbänden erscholl Gelächter. Ich taumelte zurück und rieb mir die Kehle. Das Herz hämmerte mir in der Brust. Ich bemühte mich, durch die wallenden Staubschwaden hindurch etwas zu erkennen. »Pukrah«, murmelte ich. Die Mumie hob die Hände vor das Gesicht und krallte die Finger in die Verbände. Entsetzt beobachtete ich, wie sich die Stoffbinden lösten. »Michael, hilf mir!«, rief die Mumie, die Stimme durch den Stoff gedämpft. Die Hände zerrten hilflos an den Verbänden. »Michael - befrei mich von diesem Zeug!« »Was?« Ich schluckte schwer und starrte ungläubig auf die Gestalt vor mir. »Mary?« »Natürlich. Mary«, erwiderte sie. »Wer sonst? Mach das weg! Ich kann nicht atmen!« Ich holte tief Luft und ging zu ihr, um ihr zu helfen. Ich drückte ihre Hände beiseite und fing an, die Bandagen von ihrem Gesicht fortzureißen. »Mary - gute Arbeit!«, rief ich aus. »Aber wie ...?« »Ich habe den ganzen Morgen dafür gebraucht«, stöhnte sie. Ich wickelte mehrere Lagen ab und endlich kam ihr Gesicht zum Vorschein, feucht vom Schweiß. »Ist dir gar nicht aufgefallen, dass ich den ganzen Morgen nicht da war?«, fragte sie. »Na ja... ich habe nach dir gesucht«, erwiderte ich. »Aber...« Ich wickelte ihre Hände aus. Dann machten wir uns gemeinsam daran, ihr die restlichen Verbände vom Leib zu reißen. »Mary, du hast mich zu Tode erschreckt!«, rief ich. »Warum hast du mir denn nicht gesagt, was du vorhast?« 62
»Wie hätte ich das denn tun sollen?«, hielt sie dagegen. »Der General ließ dich Tag und Nacht bewachen. Ich kam überhaupt nicht an dich ran.« Sie trat aus dem Häufchen Mullbinden heraus. Sie hatte sich das Zeug um die Kleider und ihre Stiefel gewickelt. »Aber warum?«, krächzte ich. »Ich hatte Angst um dich, Michael«, entgegnete sie, während sie sich Verbandreste aus den Haaren zog. »Du sahst so unglaublich angespannt aus. Und da dachte ich, vielleicht hast du mich ja belegen.« »Vielleicht...«, murmelte ich verlegen. »Also habe ich letzte Nacht die Höhle unter die Lupe genommen«, fuhr Mary fort. »Und was meinst du wohl? Keine Mumie. Da war mir klar, dass ich mir schnellstens etwas einfallen lassen musste. Ich brauchte einen Plan, um dein Leben zu retten - bis du das wahre Versteck findest.« Sie sah mir in die Augen. »Du weißt doch, wo das Versteck ist, oder?« Mir blieb keine Gelegenheit, ihr zu antworten. Wir schrien gemeinsam auf, als wir die bewaffneten Männer sahen, die in die Höhle stürmten. Etwa ein Dutzend schwarz uniformierte Männer. Rebellentruppen. »Es ist der Junge!«, rief einer von ihnen. »Der Junge und Rameers Tochter!«, verkündete ein zweiter Rebell freudig. Sie versperrten den Höhleneingang. »Keine Bewegung«, befahl einer von ihnen und kam auf uns zu, während er seine finsteren Augen zwischen Mary und mir hin- und herwandern ließ. »Ihr kommt mit uns.« »Sie - Sie befreien uns?«, rief ich. Er kicherte. Sein Blick blieb eiskalt. »Nicht ganz.«
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Vor der Felswand waren Laster und Jeeps der Rebellen aufgefahren. Die Rebellen zwangen Mary und mich, in den Laderaum eines schwarzen Transporters einzusteigen. Die Fenster waren dunkel getönt. Wir konnten nicht hinausschauen. Ein Rebell mit grimmiger Miene, schlank und bärtig, das schwarze Barett tief in die Stirn gezogen, behielt uns vom Beifahrersitz her im Auge. Der Transporter polterte durch die Wüste. Ab und zu drehten die Reifen im Sand lautstark durch. Mary und ich kuschelten uns im Laderaum unglücklich aneinander, die Hände verkrampft im Schoß. »Was werden sie mit uns machen?«, flüsterte ich. Mary zuckte die Schultern. »Sie könnten alles tun«, flüsterte sie zurück. Ihr Kinn bebte. »Sie sind noch schlechter als der General und seine Männer. Viel schlechter und noch verzweifelter.« Diese Auskunft hob meine Stimmung nicht gerade. Nach etwa einer Stunde kam der Transporter quietschend zum Stehen. Der bärtige Soldat sprang rasch nach draußen und zog die hintere Tür auf. Mit strengem Blick winkte er Mary und mich heraus. Wir traten in das gleißende Sonnenlicht. In einer flachen, sandigen Mulde, die von hohen Felsen verborgen war, erstreckten sich vor uns zwei Reihen schwarzer Zelte. Ein großer, kräftig wirkender Mann kam mit ausholenden Schritten aus dem ersten Zelt. Er hatte langes lockiges, schwarzes Haar, schwarze Augen unter dichten schwarzen Brauen und auf seinem sonnengebräunten Gesicht lag ein finsterer Ausdruck. Er trug weite schwarze Hosen und ein übergroßes aufgeknöpftes, schwarzes Hemd, unter dem eine breite gebräunte Brust sichtbar wurde. »Da sind sie, General Mohamm. Die beiden Gefangenen«, sagte der Soldat und deutete auf Mary und mich. Der General beäugte uns beide, ohne zu lächeln. »Bist du General Rameers Adoptivtochter?«, wollte er von Mary wissen. Sie nickte. 64
»Dann gehörst du also zur Familie«, meinte er und dabei huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. »General Rameer ist mein Cousin.« »Er sagt, Sie sind ein Verräter«, sagte Mary verächtlich. Die Augen des Generals blitzten zornig auf. Er wandte sich mir zu. »Und du bist der, den sie in Amerika versteckt haben?« »Ich ... ich glaube«, stammelte ich. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht am ganzen Leib zu zittern. General Mohamm trat einen Schritt auf mich zu. Seine Miene wurde bedrohlich. »Du bist der Sohn der ehemaligen Herrscher? Du bist derjenige, in dessen Gehirn sich das Geheimnis von Pukrahs Mumie verbirgt?« »Ich weiß es nicht!«, schrie ich. »Ich heiße Michael Clarke. Ich bin in Long Island, New York, aufgewachsen. Ich weiß überhaupt nichts ...« General Mohamm fuhr sich über die schwarzen Stoppeln auf seinem Kinn. »General Rameer kann ohne die Mumie nicht regieren«, meinte er nachdenklich. »Wenn ich die Mumie vor ihm finde, wird er mich nicht länger ignorieren können.« »Aber ich weiß doch nichts!«, protestierte ich. »Wir verschwenden nur unsere Zeit«, sagte der General grimmig. Er gab zwei schwarz uniformierten Soldaten, die neben seinem Zelt standen, ein Zeichen. Sie eilten zu uns her. »Bringt den Jungen ins Lazarettzelt«, befahl General Mohamm. »Holen wir uns diesen Computerchip. Sofort.«
Ich rannte los. Ich durfte nicht zulassen, dass sie einfach an mir herumoperierten! Ich stürzte blitzschnell an General Mohamm vorbei. Er stieß einen Schrei aus und versuchte mich zu schnappen. Griff aber ins Leere. 65
Ich machte eine scharfe Wende. Fast wären mir die Beine weggeknickt, als ich um sein Zelt herumschlidderte. Ich streckte beide Arme weit aus, um das Gleichgewicht wieder zu finden, und raste an einer langen Reihe von Zelten vorbei. »Schneller, Michael! Schneller!« Ich hörte, wie Mary mich anfeuerte. Ich kam zum letzten Zelt der Reihe. Ich drehte mich noch einmal um, dann wandte ich mich der Wüste zu. Wohin sollte ich laufen? Mein Blick schweifte erst in die eine Richtung, dann in die andere. Ich wusste, dass ich in der freien Fläche keine Chance gegen sie hatte. Sie liefen schneller als ich. Verstecken konnte ich mich im flachen Sand allerdings auch nicht. Leg jetzt keine Denkpause ein, Michael!, schalt ich mich. Renn einfach! Geschwind kehrte ich dem Rebellencamp den Rücken zu und spurtete über den Sand. Meine Schuhe sanken im weichen Sand ein. Immer wieder rutschte ich aus. Ich hatte das Gefühl, tausend Pfund zu wiegen. Trotzdem zwang ich mich weiterzurennen. Aber ich kam nicht weit. Ohne große Mühe holten mich ein paar schwarz uniformierte Soldaten ein. Sie umzingelten mich mit ausdruckslosen Gesichtern. Ihr Blick war eiskalt. Sie sagten kein Wort. Ich rang nach Atem, während sie mich zu General Mohamm am Lagereingang zurückstießen. Er schüttelte den Kopf und sah mich missbilligend an. In seinen dunklen Augen lag ein beinahe trauriger Ausdruck. »Hier kannst du nirgendwohin laufen, Michael«, sagte er leise. Mary stand zwischen zwei Soldaten. »Wenigstens hast du es versucht!«, rief sie mir zu. »Nehmt ihn«, befahl der General seinen Männern. »Lasst ihn nicht aus den Augen. Er könnte dumm genug sein, es noch einmal zu versuchen.« Die Soldaten packten mich bei den Armen, doch ich konnte mich befreien. »Bitte...!«, rief ich. 66
Der General hatte sich bereits auf den Rückweg zu seinem Zelt gemacht. Als er meinen Schrei hörte, drehte er sich um. »Bitte schneiden Sie mir nicht den Schädel auf!«, flehte ich. Aus irgendeinem Grund brachte ihn das zum Kichern. Er schüttelte den Kopf und grinste, als hätte ich etwas sehr Witziges gesagt. »Bitte«, wiederholte ich. Die Soldaten packten mich erneut. Sie schleiften mich grob mit sich und hätten mich beinahe vom Boden hochgehoben. »Lasst ihn los!«, hörte ich Mary wütend schreien. »He - ihr sollt ihn loslassen!« Aber natürlich beachteten die Soldaten sie gar nicht. Ungerührt zerrten sie mich ins Lazarettzelt, wo mich Ärzte in weißen Kitteln erwarteten. Die Soldaten zwangen mich, mich mit dem Rücken auf einen hohen Metalltisch zu legen. Dann schnallten die Ärzte mich an Armen und Beinen fest und legten eine schwere Decke auf mich. Schließlich schwenkten sie einen großen Metallapparat über mich und bereiteten sich auf die Operation vor.
»Nein!«, schrie ich. Ich versuchte verzweifelt mich zu befreien, drehte die Beine hin und her, stemmte die Arme gegen die Gurte. Aber sie ließen sich keinen Millimeter lösen. Die Ärzte fuhren einen Teil des Apparats herunter, bis er auf meinen Kopf zeigte. »Bitte«, weinte ich. »Schneiden Sie mir nicht den Kopf auf...« Ein junger Arzt, dessen lockiges schwarzes Haar unter seiner OP-Haube aus durchsichtigem Plastik hervorlugte, beugte sich über mich und fixierte mich mit seinen dunklen Augen. »Wir werden dich nicht aufschneiden«, meinte er. Ich schluckte. »Hä? Tun Sie nicht?« 67
Er schüttelte den Kopf. »Wir werden dich nicht aufschneiden. Wir werden dich nur röntgen.« »Ahhhhhh.« Meinen Lippen entfuhr ein langer Seufzer der Erleichterung. »Du kannst dich entspannen«, sagte der Arzt und klopfte mir beruhigend auf die Brust. »Es tut nicht weh. Du hast großes Glück. Wir haben diesen Röntgenapparat aus einem Krankenhaus jenseits der Grenze gestohlen.« Ich schloss die Augen. Ich war unglaublich froh. Sie müssen mir den Schädel gar nicht aufmachen. Sie brauchen ihn bloß zu röntgen. Und was dann?, fragte ich mich plötzlich und riss die Augen auf, während mein Herz wieder zu hämmern begann. Was werden sie machen, wenn sie feststellen, dass da gar kein Gedächtnischip ist? Oder was, wenn sie doch einen Gedächtnischip finden? Was werden sie dann tun? Reingehen und ihn rausholen? Das Gerät surrte und brummte. In einer Hinsicht zumindest hatten sie die Wahrheit gesagt - es tat nicht weh. »Wir sollten noch irgendwo einen Computertomographen klauen«, hörte ich einen der Ärzte murmeln. »Und wo sollen wir mitten in der Wüste genug Strom für so ein Ding herkriegen?«, erwiderte ein zweiter Arzt. Mehr Surren und Brummen erklang. Dann hoben sie das Gerät hoch und schwenkten es zur Seite. »Warte hier«, befahl mir ein Arzt. Konnte ich denn etwas anderes tun? Die Ärzte verschwanden. Das Zelt war leer. Ich lag da und lauschte den Stimmen außerhalb des Zeltes. Eine Fliege setzte sich auf meine Wange, aber ich konnte sie nicht wegschlagen. Ich schüttelte heftig den Kopf. Die Fliege spazierte mir über die Wange auf die Stirn. Ich spürte die Bewegungen ihrer klebrigen Beine auf meiner heißen Haut. Es kribbelte und juckte am ganzen Körper. Schweiß lief mir in die Augen. Ich schüttelte noch einmal den Kopf. Endlich machte sich die Fliege davon. Nach einer Weile hörte ich Schritte, die sich näherten. 68
Stimmen. Ich erwartete die Ärzte zu sehen. Aber stattdessen beugten sich zwei Soldaten über mich. »Du bist hier fertig«, meinte einer von ihnen. Er schnallte mir Arme und Beine los. »Der General will dich sehen«, sagte der zweite Soldat. Ich rieb mir die geschwollenen Handgelenke und folgte ihnen nach draußen in das grelle Nachmittagslicht. Mein Magen knurrte. Mir fiel auf, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Während wir die Zeltreihe abschritten, hielt ich Ausschau nach Mary. Aber sie war nirgends zu entdecken. Die Soldaten brachten mich zu General Mohamm. Er stand vor seinem Zelt und sprach zu einer kleinen Gruppe seiner Leute. Als er mich sah, wandte er sich von ihnen ab und schritt auf mich zu. »Michael«, sagte er. »Die Röntgenbilder waren höchst aufschlussreich.« »Aufschlussreich?«, fragte ich mit erstickter Stimme nach. Er nickte. »In deinem Kopf steckt überhaupt kein Gedächtnischip«, erwiderte er mit finsterem Blick. »Du bist nicht der richtige Junge!« »Ich hab's doch gewusst!«, brach es aus mir heraus. »Ich wusste es!« »Du bist nicht der Prinz«, sagte General Mohamm verächtlich. »Du bist ein Hochstapler. Wir haben keine Verwendung für dich.« »Ja!«, rief ich glücklich. »Ja! Und was bedeutet das? Heißt das, dass ich jetzt nach Hause kann?« Er beachtete mich gar nicht. Sein Blick wurde noch finsterer. Das Licht schien aus seinen Augen zu schwinden. Er wandte sich den beiden Soldaten zu, die immer noch dicht neben mir standen. »Ihr zwei«, sagte er leise, »ihr bringt Michael in die Wüste hinaus zur Pythongrube.«
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»Niemals!«, schrie ich. Wieder versuchte ich fortzurennen. Und wieder holten mich die schwarz uniformierten Soldaten des Generals problemlos ein. »Bringt ihn weg«, befahl General Mohamm noch einmal. »Er hat unsere Zeit verschwendet.« Die Soldaten schleiften mich mit sich. Aber dann polterte ein weiterer Soldat - ein Riese von einem Mann - auf den General zu. Er war groß und breit, gebaut wie ein Büffel, hatte langes lockiges, schwarzes Haar, das ihm um den Kopf wehte, und er trug eine schwarze Augenklappe. »Augenblick!«, rief er atemlos und reckte dabei zwei gewaltige Hände in die Luft. »Was ist denn los, Raoul?«, fragte der General kurz angebunden. Die beiden Soldaten lösten den Griff um meine Arme kein bisschen. Aber sie blieben stehen, um sich anzuhören, was Raoul vorbrachte. »Ist der Junge amerikanischer Staatsbürger?«, wollte er von General Mohamm wissen. Der General rieb sich das stoppelige Kinn. »Ich weiß nicht. Was spielt das für eine Rolle?« »Wir wollen keinen Ärger mit den Amerikanern«, meinte der Riese und keuchte schwer vom Laufen. Nachdenklich kniff der General die dunklen Augen zusammen. »Wenn wir Rameer besiegen und die Macht im Königreich übernehmen, wollen wir, dass die Amerikaner auf unserer Seite stehen«, sagte Raoul. »Also lass den Jungen frei.« Jaaaaaa!, dachte ich. Hör auf ihn, General. Bitte - hör auf ihn! »Nein«, erwiderte General Mohamm kopfschüttelnd. »Ich kann ihn nicht gehen lassen. Er hat unser Lager gesehen. Er wird General Rameer unser Versteck verraten.« »Aber die amerikanische Regierung ...«, setzte Raoul an. »Die wird nie etwas von alledem erfahren«, beendete der General die Diskussion. »Und wenn sie doch herausfinden, dass wir den 70
Jungen in unserer Gewalt haben, dann sagen wir eben, dass es die anderen waren. Dass General Rameer schuld ist.« Einen langen Moment starrte Raoul den General noch immer schwer keuchend an. Schließlich zuckte er die massigen Schultern und warf die Hände hoch. »Wie du meinst, General. Mach, was du willst.« Was hatten sie mit mir vor? Panik ergriff mich. »Nein - wartet!«, schrie ich. »Ihr könnt mich ruhig freilassen! Ich - ich kann das Versteck gar nicht verraten. Ich habe keine Ahnung, wo wir überhaupt sind!« Doch die Soldaten schleiften mich ungerührt davon. »Was genau hast du mit ihm vor?«, hörte ich Raoul fragen. »Ich lasse ihn zur Pythongrube bringen«, antwortete der General. »Die Pythons wurden schon eine ganze Weile nicht mehr gefüttert.«
Ich stemmte die Fersen in den Sand und schlug wild mit den Armen, um mich zu befreien. Aber die Soldaten waren viel zu stark. Ohne große Anstrengung schleiften sie mich an den Zeltreihen vorbei und hinaus in die gelbe Sandebene. Pythongrube? Pythongrube? Dieses Wort ging mir wieder und wieder durch den Kopf. Jedes Mal schnürte meine Kehle sich enger zu, wurden meine Beine schwerer, raste mein Herz heftiger. Pythongrube? Haben die tatsächlich eine Schlangengrube im Sand ausgehoben?, fragte ich mich. Die werden mich doch nicht an die Schlangen verfüttern oder? 71
Ich starrte in die Wüste hinaus. In der nachmittäglichen Sonne glitzerte der Sand wie Gold, so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen musste. Es war kein anderer Laut zu hören als unser Atem und das Knirschen unserer Schuhe, die beim Gehen im Sand einsanken. Ich warf einen Blick zurück und sah, dass General Mohamm und Raoul uns folgten. Ihre Mienen waren grimmig. Sie schauten stur nach vorn und wichen meinem Blick aus. Vor uns in der spiegelnden Ferne bemerkte ich einen schwarzen Wimpel, der an einer hohen Stange flatterte. Als wir näher kamen, erkannte ich eine dunkle Öffnung, ein breites kreisrundes Loch im Sand neben dem Wimpel. Eine Grube. Tief in den Sand gegraben. An ihrem Rand blieben wir stehen. Ich wollte mich loswinden, aber die Soldaten hielten mich fest umklammert. Ich versuchte zu schlucken, doch meine Kehle war so ausgedörrt, dass sie schmerzte. Ich spähte in die Grube hinab. Unten schlängelten sich tatsächlich Pythons. Sie krochen übereinander, umwanden einander. »Ahhhh.« Ein entsetztes Ächzen entfuhr meinen Lippen. Wie riesig sie waren! Konnten die überhaupt echt sein? Gab es wirklich Pythons, so dick wie Feuerwehrschläuche? Die Schlangen waren gelblich braun und grau. Sie reckten die Köpfe vom Grund der Grube empor, als wollten sie mich fassen. Sich windend und drehend, glotzten sie aus ihren feuchten, schwarzen Augen zu mir herauf. Aus hungrigen Augen. Ihre Mäuler weiteten sich gierig; lange Zungen schnellten daraus hervor. Die können mich verschlingen, ging mir auf und dabei zitterte ich heftig. Ich schlotterte so sehr, dass ich mich an die Soldaten lehnen musste, um nicht in die Grube zu stürzen. Die können mich in einem Stück verschlingen! Die Pythonköpfe reckten sich gierig höher. Sie stießen gegeneinander und rempelten einander an. »Sie kämpfen um den besten Platz«, erklärte einer der Soldaten. 72
»Die Pythons sind hungrig heute«, meinte hinter mir General Mohamm leise. Die Soldaten schleiften mich näher an den Grubenrand. Meine Schuhspitzen ragten über den Abgrund hinaus. General Mohamm stellte sich neben mich. Er blickte mich aus eiskalten Augen an. »Michael, gibt es etwas, das du mir jetzt sagen möchtest? Irgendetwas, das dir das Leben retten könnte?« »Bitte ...« Ich versuchte krampfhaft, mir weitere Worte abzuringen, doch sie wollten einfach nicht herauskommen. »Bitte...« »Hast du mir etwas zu sagen?«, wiederholte der General. »Nein. Ich ... ich ...«, stotterte ich. Die Pythons reckten die Köpfe, warfen sie zurück, rissen die klaffenden Mäuler auf. »Halt! Stopp!« Hinter uns ertönte eine vertraute Stimme. »Halt!« Ich drehte den Kopf und sah Mary, die, so schnell sie konnte, rannte und aufgeregt mit den Armen wedelte. »Halt!«, schrie sie. »Mir ist etwas eingefallen!«
Aus dem Flugzeugfenster starrte ich auf die Wüste tief unter mir. Langsam machte die Maschine eine Kehre zur Sonne hin. Ich schirmte die Augen gegen das grelle Licht ab. Als ich wieder hinabsehen konnte, kam glitzernd das blaue Meer in Sicht. Ich klammerte mich fest an die Lehnen des Sitzes, als könnte ich nicht glauben, dass sie echt waren. Saß ich wirklich in einem Flugzeug in Richtung Heimat? Ich drehte mich zu Mary auf dem Sitz neben mir um. »Du bist ein Genie!«, erklärte ich und musste dabei das Dröhnen der Düsentriebwerke übertönen. Sie lächelte. »Ich weiß«, entgegnete 73
sie. »Zwei Sekunden später und ich wäre Pythonfutter gewesen«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht«, erwiderte Mary und ihr Lächeln erstarb. Sie beugte sich vertraulich näher zu mir, obwohl wir die einzigen Passagiere in dem Flugzeug waren. »Sie hatten nie wirklich vor, dich in diese Grube zu stürzen«, meinte sie. »Diese Männer sind zwar grausam, aber nicht vollkommen böse.« »Viel enger hätte es nicht mehr werden können!«, rief ich aus. »Meine Füße waren schon über dem Rand. Die Pythonzungen haben schon an meinen Schuhen geleckt!« Mich schauderte. Ich hatte die glänzenden, feuchten Augen, die klaffenden Mäuler noch nicht vergessen. »Sie benutzen die Grube, um den Leuten Angst zu machen«, sagte Mary. »Aber sie verfüttern niemanden an die Schlangen.« »Aber warum?«, setzte ich an. »Sie wollten dir noch eine letzte Chance geben, ihnen zu sagen, wo die Mumie versteckt ist«, erklärte Mary. »Sie wussten, dass du den Gedächtnischip nicht hast. Aber sie dachten, vielleicht wüsstest du es ja trotzdem. Sie haben einfach einen letzten Versuch unternommen, die Information aus dir herauszukitzeln.« Ich nickte. »Schon kapiert.« Ich ließ mich in den Sitz zurücksinken und starrte wieder aus dem Fenster. Nichts als grün-blaues Meer unter mir. Ich war tatsächlich auf dem Weg nach Hause! Ich schloss die Augen und rief mir Marys Ansprache an General Mohamm noch einmal ins Gedächtnis. »Schicken Sie Michael zurück in die Vereinigten Staaten«, hatte sie ihn aufgefordert. »Und wenn Sie meinen Vater wirklich vernichtend schlagen wollen, schicken Sie mich mit Michael zusammen in die USA.« »Und weshalb sollte das deinen Vater vernichten?«, höhnte General Mohamm. »Wenn Sie mich fortschicken, wird das meinen Vater wütend machen und er wird aus Sorge außer sich geraten«, erwiderte Mary. »Er wird glauben, man hätte mich entführt. Es wird ihm das Herz brechen und ihm den Mut nehmen. Er wird alles liegen 74
lassen. Er wird sogar diesen Krieg vergessen - nur um mich wieder zu finden.« General Mohamm dachte lange darüber nach. Dann endlich befahl er: »Schickt sie beide fort.« Ich umklammerte die Lehnen des Flugzeugsitzes und sah Mary an. »Dein Einfall war absolut brillant!«, sagte ich zu ihr. »Na j a . . . er hat funktioniert.« Sie grinste mich an. »Er hat mir doch tatsächlich geglaubt, dass General Rameer und ich uns mögen!« Sie lachte. Und da waren wir nun, in einem riesigen Passagierjet, und ließen Jesekien und all seine Gefahren hinter uns. Wir waren auf dem Weg zum Kennedy-Flughafen, der nicht weit von meinem Zuhause auf Long Island entfernt lag. »Und was willst du tun, wenn wir in New York ankommen?«, fragte ich. Ihr Lächeln verschwand. Sie zuckte mit den Achseln. »Ich - ich weiß noch nicht.« »Na ja, du könntest mit zu mir nach Hause kommen«, schlug ich vor. »Mom und Dad ...« Ich hielt inne. Waren sie überhaupt meine Eltern? Würden sie zum Flughafen kommen und mich ab- holen? Würden sie sich freuen, mich zu sehen? Konnte ich zu meinem früheren Leben zurückkehren? All diese schrecklichen Fragen rasten mir durch den Kopf. Fragen ohne Antworten. Ich sank auf dem Sitz zusammen, schloss die Augen und versuchte, nicht nachzudenken. Der Flieger landete noch am selben Abend. Während wir langsam auf unsere Halteposition zurollten, war ich so nervös, dass ich fürchtete, ich würde völlig durchdrehen. Mary und ich rannten durch das Ankunftsgebäude. Ich wich einem Gepäckwagen aus. Wäre beinahe in eine Gruppe von Teenagern gestolpert. Wankte an einen Münzfernsprecher. 75
Ich warf einen kurzen Blick auf Mary, die hinter mir stand. »Viel Glück«, sagte sie und hob beide Hände. Sie hatte die Finger überkreuzt. Ich ließ einen Vierteldollar in den Schlitz fallen und wählte meine Nummer. Meine Hand zitterte so heftig, dass ich kaum den Hörer halten konnte. Einmal Klingeln. Zweimal... Nach dem dritten Läuten ging Mom dran. »Ich bin's!«, rief ich. »Ich bin wieder da!« »Wer?«, erwiderte Mom. »Wer spricht da?«
Ich verlor die Hoffnung. »Ich bin's - Michael!«, schrie ich durch den Flughafenlärm und drückte mir dabei den Hörer eng ans Ohr. »Michael? Du bist wieder hier?«, rief sie. »Das glaube ich einfach nicht! Ich hätte nie erwartet - ich meine, ich bin ja so froh!« Ich stieß einen langen, erleichterten Seufzer aus. Ich drehte mich um und streckte Mary einen aufgerichteten Daumen entgegen. Sie grinste mich an. »Wo steckst du?«, rief Mom. »Am JFK-Flughafen? Dein Dad und ich sind gleich bei dir!« Kaum war ich daheim angekommen, rannte ich schon durch das ganze Haus wie ein Verrückter. Ich flippte total aus! Ich wollte den Fußboden küssen vor Freude! Mom umarmte mich alle zwei Sekunden. Dad musste sich andauernd die Tränen aus den Augen wischen. 76
Sie nahmen Mary herzlich auf. Wir setzten uns gemeinsam ins Wohnzimmer und ich versuchte ihnen alles zu berichten, was mir widerfahren war. Mom und Dad hörten still zu, während ich erzählte. Bei den gruseligen Stellen schüttelten sie den Kopf und ächzten. »Das ist doch einfach nicht zu glauben, oder?«, fragte ich zum Abschluss meiner langen Geschichte. »Und dann stellte sich auch noch heraus, dass ich gar nicht das richtige Kind war. Die hatten die ganze Zeit über den Falschen in der Mangel!« Mom und Dad sahen sich lange in die Augen. Mom beugte sich über die Couch zu mir. »Aber Michael«, meinte sie sanft und legte mir eine Hand auf den Arm. »Du bist das richtige Kind. Du bist der Prinz von Jesekien.«
Mir blieb die Luft weg. »Niemals!«, krächzte ich. Beide nickten voll feierlichem Ernst. Mary starrte mich über das Zimmer hinweg an und ballte immer wieder nervös die Fäuste in ihrem Schoß. »Doch«, erwiderten Mom und Dad einstimmig. »Wir sind nicht deine wahren Eltern, Michael«, sagte Dad bedächtig, die Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Deine wahren Eltern waren die Herrscher über das Königreich.« »Die Geschichte, die General Rameer dir erzählte, ist wahr«, offenbarte mir Mom. »Von Anfang an. Als der Krieg in Jesekien ausbrach, brachten wir dich hierher nach Long Island in Sicherheit.« »Aber das ist völlig unmöglich!«, widersprach ich. Ich sprang auf die Beine. »Das kann nicht stimmen! Sie haben mich geröntgt, auf der Suche nach dem Gedächtnischip. Da ist keiner. In mein Gehirn ist kein Gedächtnischip implantiert!«
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»Das wissen wir«, erwiderte Dad, der noch immer sehr leise und ruhig sprach. Er forderte mich mit einer Handbewegung auf, mich wieder zu setzen. Aber ich blieb aufgerichtet vor ihm stehen, zitternd. »Als du noch ein Baby warst, ließen wir den Gedächtnischip entfernen«, erzählte mir Mom. »Wir wussten, dass er dein ganzes Leben vernichten könnte.« »Aber... aber...«, stammelte ich. »Ihr habt mich fortgeschickt! Ihr habt mich nach Jesekien geschickt!« »Uns blieb nichts anderes übrig«, sagte Dad. »Als General Rameer nach dir verlangte, mussten wir dich fortschicken.« »Aber wir haben dafür gebetet, dass sie dich wieder gehen lassen würden, sobald sie merken, dass du den Chip nicht hast«, setzte Mom hinzu. Sie seufzte glücklich auf. »Und so kam es ja auch!« Sie trocknete sich mit einem Papiertaschentuch die Augen ab. »Es hat geklappt. Sie haben dich heimgeschickt. Gesund und munter.« Dad stand auf und umarmte mich. Dann fasste er mich am Ellbogen und führte mich aus dem Wohnzimmer. Er winkte Mom und Mary, damit sie uns folgten. »Dad, was ist denn los?«, wollte ich wissen. »Wo gehen wir hin?« »Ich weiß, dass du schon viele Überraschungen über dich ergehen lassen musstest, Michael«, erwiderte er mit ernster Miene. »Aber eine letzte wartet noch auf dich.«
Dad knipste das Kellerlicht an. Zu viert marschierten wir die knarzende Holztreppe hinab. An der Kellerwand stand ein hoher, alter Kleiderschrank. Er stand dort schon, seit ich klein war. »Hilf mir mal«, bat Dad. Zu zweit stemmten wir uns kräftig dagegen und schoben den schweren Schrank zur Seite. Ich trat zurück und wischte mir die 78
Hände an der Jeans ab. Da entdeckte ich eine schmale Holztür in der Wand dahinter. »Was ist das?« Dad entriegelte die Geheimtür und zog sie auf. Dann knipste er eine weitere Lampe an. Wir spähten in ein winziges, rechteckiges Gelass. Mary und ich schrien beide auf, als wir den dunklen, hölzernen Sarkophag sahen, der schräg an der Steinmauer lehnte. Mit einem Ächzen öffnete Dad den schweren Deckel - und wir starrten auf Pukrah. Starrten auf die uralte Mumie, um die sich zwei Armeen zwölf Jahre lang bekämpft hatten. »Sie - sie ist hier!«, stieß ich schließlich aus. Mom nickte. »Das beste Versteck, das uns einfiel«, meinte sie. »Wir haben sie mit uns herausgeschmuggelt, als wir dich nach Amerika brachten. All diese Jahre haben wir die Mumie und den Saphir gehütet und bewacht. « »Wow«, murmelte Mary, trat an den Sarkophag heran und blickte aus weit aufgerissenen Augen auf die uralte, in Stoff gehüllte Gestalt. »Wow.« Ich war unglaublich aufgedreht. Ich dachte, ich würde in dieser Nacht überhaupt kein Auge zutun. Aber ich war so froh, wieder in meinem eigenen Bett zu liegen, dass ich sofort einschlief, als mein Kopf auf das Kissen sank. Ich fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als ich aufwachte, schien bereits das helle Licht des Tages durch das Fenster meines Zimmers. »Ich bin daheim!«, rief ich freudig erregt, als ich mich aufsetzte und mich streckte. »Ich bin wieder zu Hause!« Rasch zog ich mich an und lief durch den Gang zu dem Zimmer, in dem meine Eltern Mary einquartiert hatten. »He Mary!«, rief ich durch die Tür. »Mary?« Keine Antwort. Ich klopfte an die Tür. »Schläfst du noch?« Wieder keine Antwort. Ob sie schon früh aufgewacht und zum Frühstücken hinuntergegangen war? 79
Wie spät war es überhaupt? Ich machte die Tür auf und warf einen Blick hinein. Das Bett war ordentlich gemacht. Nirgendwo konnte ich ihre Kleider sehen. Plötzlich entdeckte ich einen weißen Umschlag, der mit Klebeband am Frisierspiegel festgemacht war. Eine Nachricht? Genau. Ich ging durch das Zimmer, riss den Umschlag vom Spiegel ab und zog einen Zettel heraus. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich ungläubig die säuberlich geschriebenen Zeilen las: Michael, ich hoffe, du hältst mich nicht für einen schlechten Menschen. Unsere gemeinsamen Abenteuer haben mir großen Spaß gemacht. Und es war schön, dich kennen zu lernen. Aber in einem habe ich wohl ein wenig geschwindelt. Es ist nämlich so, dass mein neuer Vater, General Rameer, und ich uns sehr nahe stehen. Wir lieben uns. Und ich würde alles tun, um ihm zu helfen. Ich muss gestehen: Ich habe mich nicht heimlich in dein Zimmer im Palast geschlichen, sondern er hat mich geschickt, um dich auszuspionieren. Deshalb durfte ich dich auch überallhin begleiten. Als ich mich in der Höhle als Pukrahs Mumie verkleidete, wollte ich damit dein Vertrauen gewinnen. Wir wussten, dass du der richtige junge warst. Und ich dachte, wenn du mir vertraust, dann wirst du mir die Wahrheit sagen. Wir hätten alles getan, um Pukrahs Versteck zu finden. Du siehst also, ich habe die ganze Zeit für meinen Vater gearbeitet. Es tut mir sehr Leid, dass ich dich belügen musste. Du bist ein toller Typ. Ich hoffe, dass du das verstehst. Deine Freundin Mary Ich musste den Brief dreimal lesen, weil mir der Kopf so schwirrte. Dann knüllte ich ihn in der geballten Faust zusammen und raste die Treppe hinunter. »Mom! Dad! Das müsst ihr euch unbedingt anschauen!« Sie saßen beide in der Küche am Esstisch und blickten auf, als ich hereinkam. »Michael? Was ist denn los?« 80
»Habt ihr Mary heute schon gesehen?«, fragte ich ganz außer Atem. »Nein. Ich dachte, sie schläft noch«, antwortete meine Mutter. »Dann solltet ihr das hier mal lesen!«, rief ich. »Ich habe es in ihrem Zimmer gefunden.« Ich schob ihnen den Brief hin. Sie lasen ihn schnell durch, mit aufgerissenen Augen und offenen Mündern. »Oje«, murmelte Dad. Mehr sagte er nicht. Dann sprang er auf und rannte zur Kellertreppe. Mom und ich folgten ihm auf den Fersen. Wir stürmten die Treppe hinunter. Dad brauchte das Licht gar nicht erst anzuknipsen. Wir sahen auch so, dass die Tür zu dem geheimen Kellergelass sperrangelweit offen stand. Der Sarkophag war ebenfalls geöffnet - und leer. Nur ein kleiner Zettel lag auf dem Boden des Sarkophags. Ich schnappte mir den Zettel. Ich erkannte Marys Schrift. »Was steht drauf?«, fragte Dad mit gesenkter Stimme. Laut las ich vor: »DIE MUMIE KEHRT ZURÜCK.«
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1. Der Spiegel des Schreckens 2. Willkommen im Haus der Toten 3. Das unheimliche Labor 4. Es wächst und wächst und wächst... 5. Der Fluch des Mumiengrabs 6. Der Geist von nebenan 7. Es summt und brummt — und sticht! 8. Die Puppe mit dem starren Blick 9. Nachts, wenn alles schläft 10. Der Gruselzauberer 11. Die unheimliche Kuckucksuhr 12. Die Nacht im Turm der Schrecken 13. Meister der Mutanten 14. Die Geistermaske 15. Die unheimliche Kamera 16. ... und der Schneemensch geht um 17. Der Schrecken, der aus der Tiefe kam 18. Endstation Gruseln 19. Die Rache der Gartenzwerge 20. Der Geisterhund 21. Die Wut der unheimlichen Puppe 22. Mein haarigstes Abenteuer 23. Gib Acht, die Mumie erwacht 24. Wer die Geistermaske trägt 25. Der Werwolf aus den Fiebersümpfen 26. Die unheimliche Puppe kehrt zurück 27. Es wächst weiter 28. Der Kopf mit den glühenden Augen
29. Hühnerzauber 30. Wenn das Morgengrauen kommt 31. Ich kann fliegen! 32. Mein unsichtbarer Freund 33. Der Schreckensfisch 34. Die Geisterschule 35. Das verwunschene Wolfsfell 36. Um Mitternacht, wenn die Vogelscheuche erwacht 37. Der Vampir aus der Flasche 38. Der Schneemann geht um 39. Die Geisterhöhle 40. Panikpark 41. Bei Anruf Monster 42. Die Monster vom Fluss 43. Fünf x ich 44. Rache ist... 45. Spürst du die Angst 46. Der Ring des Bösen 47. Der Werwolf ist unter uns 48. Das Versteck der Mumie 49. Bitte lächeln! 50. Das Geisterauto 51. Der Geist ohne Kopf 52. Das Geisterpiano 53. Es atmet 54. Fürchte dich sehr 55. Der Geist im Spiegel 56. Das Biest kommt in der Nacht