Edward Carey
Das verlorene Observatorium
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Edward Carey
Das verlorene Observatorium
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Der Straßenkünstler Francis Orme versucht, das Mysterium der Liebe zu ergründen, indem er sich der Gegenstände bemächtigt, die seinen Mitmenschen am Herzen liegen. Am Tage steht er als lebendes Standbild bewegungslos im Zentrum seiner Heimatstadt, die Abende widmet er seiner »Ausstellung der Liebe«, die er fein säuberlich katalogisiert im Keller eines abbruchreifen Observatoriums versteckt hat. Einst Familiensitz der Ormes, ist das Observatorium heute ein Mietshaus mit reichlich exzentrischen Bewohnern. ISBN 3-935890-11-7 Originalausgabe Observatory Mansions Aus dem Englischen von Jürgen Bürger 2002 Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München Umschlaggestaltung: Camilla Jodal, Hamburg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Der Straßenkünstler Francis Orme versucht, das Mysterium der Liebe zu ergründen, indem er sich der Gegenstände bemächtigt, die seinen Mitmenschen am Herzen liegen. Diese Gegenstände trägt er in seiner »Ausstellung der Liebe« zusammen, die er fein säuberlich katalogisiert im Keller eines abbruchreifen Observatoriums versteckt hat. Einst Familiensitz der Ormes, ist dieses Observatorium heute ein Mietshaus mit reichlich exzentrischen Bewohnern. In Wohnung Nr. 10 wohnt der immerfort weinende Peter Bugg, der von den Erinnerungen an seine Zeit als Studienrat heimgesucht wird. In Nr. 18 lebt die fernsehsüchtige Claire Higg, die zwischen Fiktion und Realität nicht mehr zu unterscheiden vermag und Trauer trägt, wenn in einer Seifenoper jemand das Zeitliche segnet. Die Dame aus Nr. 20 hält sich für einen Hund, bevorzugt dieselbe Kost wie ihre vermeintlichen Artgenossen und trägt ein Halsband. Isoliert von der Außenwelt vegetieren die Mieter des Observatoriums einsam vor sich hin, bis eines Tages die halbblinde Anna Tap in Wohnung Nr. 18 einzieht.
Autor Edward Careys von der Kritik hoch gelobter Roman »Das verlorene Observatorium« ist eine Tragikomödie voller skurriler Figuren und Begebenheiten, sprachlich brillant und spannend erzählt.
Edward Carey wurde 1970 im englischen Norfolk geboren. Nach der Schule besuchte er zeitweilig die Marineakademie, arbeitete als Aufseher in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett und studierte Theaterwissenschaften. Seitdem war er als Dramaturg an staatlichen Theatern in Rumänien und Litauen tätig, wo er u.a. Werke von Robert Coover und Patrick Süskind für die Bühne adaptierte.
Für meine Mutter und meinen Vater
Ich streifte Handschuh und Rüstung über meine Hände, meine Beine, meine Gedanken Kess keinen Teil meines Menschseins der Berührung oder anderen Giften ausgesetzt. Marin Sorescu
I DIE ANKUNFT Ich trug weiße Handschuhe. Ich wohnte bei meiner Mutter und meinem Vater. Ich war kein Kind. Ich war siebenunddreißig. Meine Unterlippe war geschwollen. Ich trug weiße Handschuhe, obwohl ich kein Hausdiener war. Ich spielte nicht in einer Blaskapelle. Ich war kein Kellner. Ich war kein Zauberer. Ich war der Aufseher in einem Museum. Ein Museum bedeutsamer Dinge. Die weißen Handschuhe trug ich, damit ich keines der 986 Exponate des Museums beschädigte. Ich trug weiße Handschuhe, damit ich nichts mit bloßen Händen anfassen mußte. Ich trug weiße Handschuhe, damit ich meine Hände nicht ansehen mußte. Wie so viele Menschen lebte auch ich in einer Stadt, einer kleinen Stadt, einer wenig bemerkenswerten Stadt, einer nicht sonderlich berühmten Stadt. Ich wohnte in einem großen Gebäude, hatte jedoch nur zu einem kleinen Teil davon Zugang. In meiner Nachbarschaft lebten andere Leute. Ich kannte sie kaum. Das Haus, in dem wir wohnten, war ein riesiger, viergeschossiger klassizistischer Würfel, der »Das Observatorium« genannt wurde. Das Observatorium war schmutzig. Schwarze, an nicht verheilende Krätze erinnernde Flecken verunzierten das Äußere, und nachts hatte irgendein unbekannter Vandale verschiedene Botschaften mit rotem und gelbem Autolack auf die grauen Wände gesprüht. Die augenfälligste lautete: Und sogar Du kannst Liebe finden. Von seiner Unansehnlichkeit und Größe einmal abgesehen, stellten die vier schlichten Säulen, auf denen der Portikus über dem Eingang ruhte, das einzig wirklich bemerkenswerte Charakteristikum des Gebäudes dar. Die Säulen waren übel -6-
zerkratzt und voller Löcher, besonders eine schien unter ihrer Last nachgeben zu wollen. Ansonsten fiel an dem Gebäude nur noch die Kuppel auf dem Schieferdach genau über der Eingangshalle auf. Vor langer Zeit einmal beherbergte diese Kuppel wirklich ein Observatorium. Ein Observatorium, dem heute die Teleskope fehlten und das nun ein nicht offiziell erklärtes Schutzgebiet war für Tauben, ihre Scheiße, ihre Jungen, ihre Sterbenden und Toten. Früher einmal lag das Observatorium auf dem Land, war umgeben von Seitengebäuden, Stallungen, Grünland und Feldern. Mit der Zeit schlich sich die Stadt heran und bedeckte mit jedem Jahr mehr Felder, bis sie schließlich das Grünland erreichte, das sie unter Asphalt begrub, und die Seitengebäude, die sie niederriß. Allein das Haus selbst blieb übrig, dieser große graue Würfel. Rund um das Haus errichteten sie eine kreisförmige, drei Meter hohe Mauer, eine Barrikade, eine klare Feststellung, daß die Stadt bis hierhin kam und nicht weiter. Doch die Stadt dehnte sich bis weit über unser Zuhause hinaus aus, baute noch mehr Straßen und Häuser. Und mit dem anhaltenden Wachstum der Stadt wurden die Straßen in der Nachbarschaft des Observatoriums noch breiter und noch befahrener, wurden ein ständig selbstbewußter werdender Strom, bis schließlich ein toter Flußarm entstanden war und das Observatorium zur Insel wurde. Ein Kreisverkehr, eine Verkehrsinsel, von der Stadt vergessen, aber von ihrer schnell fließenden Betriebsamkeit umspült. Ich stellte mir unser Zuhause oft als großen, unbehaarten alten Mann vor. Der Mann umarmt mit seinen schlaffen Armen seine runden Knie und starrt hoffnungslos hinab auf den Verkehr, auf die kleineren, modernen Gebäude in der Nachbarschaft, auf die vorbeihastenden Menschenmassen. Er seufzt schwer; er ist sich nicht ganz sicher, warum er immer noch da ist. Dem alten Mann geht es nicht gut, der alte Mann stirbt. Er leidet an unzähligen Gebrechen, seine Haut ist bleich, er hat innere Blutungen. -7-
Dies war unser Zuhause, und wir waren sogar leidlich glücklich, dort zu wohnen, bis ein neuer Bewohner kam. Das erste Gerücht über den neuen Bewohner erreichte uns in Gestalt eines kleinen Zettels am Anschlagbrett in der Eingangshalle. Dort stand: Wohnung 18. Wird bezogen. In einer Woche. Eine einfache Mitteilung, die uns gehörig Angst einjagte. Der Pförtner hatte den Zettel dort ausgehängt. Er wußte, was wir wissen wollten: Wir wollten wissen, wer es war, der Wohnung 18 beziehen sollte. Er hing den Zettel dorthin, weil er genau wußte, daß es uns völlig aus der Fassung bringen würde. Er hätte es auch einfach für sich behalten können, und wir wären eine Woche später fassungslos gewesen zu hören, wie jemand eifrig und ohne Vorankündigung sein Leben in Wohnung 18 einrichtete. Aber er warnte uns in dem Wissen, daß es uns schockieren würde. Sein einziger Beweggrund war, uns aus der Fassung zu bringen. Er wußte, daß jeder einzelne von uns sich eine Woche lang über die geheimnisvolle Person den Kopf zerbrechen würde, die in Wohnung 18 einziehen sollte, und daß er allein das Geheimnis wahren würde, da niemand jemals mit ihm sprach. Außer zu einem Zischen machte der Pförtner seinen Mund nicht auf. Der Pförtner zischte uns an, wenn wir ihm nahekamen. Dieses Zischen bedeutete Geh weg. Und wir hielten uns daran. Es war nicht angenehm, dem Zischen des Pförtners nahezukommen. Es war nicht angenehm, dem Pförtner nahezukommen. Also, selbst wenn wir uns nach dem neuen Bewohner erkundigt hätten, wäre die Antwort doch nur ein Zischen gewesen. Geh weg. Wir mußten also warten. Und mehr als alles andere hassten wir das Warten. Die Ungewißheit war schlecht für unsere angeschlagenen Seelen. Wir durften unserer Phantasie über den zukünftigen Bewohner von Wohnung 18 -8-
freien Lauf lassen, eine ganze Woche lang. Und eine ganze Woche lang lebten wir in Panik. Wir schliefen kaum noch. Wir begegneten uns vor Wohnung 18, als würden wir sofort begreifen, was für ein Mensch es war, der schon bald dort leben würde, indem wir uns einfach in diesem Teil des Gebäudes aufhielten, der uns so beunruhigte. Wenn wir uns dort sahen, wichen wir sofort beschämt zurück. Wenn wir die Wohnung betraten, während der Pförtner sie saubermachte, jagte er uns mit einem Zischen wieder hinaus. Zitternd liefen wir zu unseren eigenen Wohnungen zurück. Wohnung 18 diente in jener Zeit, als das Observatorium noch ein Landsitz war, als Ankleideraum und Schlafzimmer, jetzt war sie genau wie alle anderen Wohnungen im dritten Stock. Wir fanden keinerlei Anhaltspunkte. Wir wollten Dielen herausreißen, die sanitären Anlagen beschädigen, die Stromleitungen durchschneiden. Alles, um den neuen Bewohner wissen zu lassen, daß er nicht willkommen war. Das alles wollten wir, taten jedoch nichts. Gelähmt vor Panik und mit Schweißperlen auf der Stirn saßen wir allein hinter verschlossenen Türen auf unseren Klosettbrillen und grübelten. Wir aßen weniger. Hätte die Woche länger gedauert als eine Woche, wir wären alle merklich dünner geworden. Vor der Ankunft des neuen Bewohners herrschte Stillstand. Jahr war auf Jahr gefolgt, und wir konnten keinen Unterschied zwischen ihnen erkennen. Sicher, wir wurden älter, aber da wir uns jeden Tag sahen, hatten wir alle (als hätten wir es so verabredet) die spezifischen Veränderungen des Alterwerdens nicht bemerkt oder zumindest so getan. Mit unserem Zuhause verhielt es sich ganz anders. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich viele von uns des langsamen, aber sicheren Zerfalls des Hauses nur zu bewußt waren, auf jeder Etage hatten sich große Stücke der allgegenwärtigen blauweißen Tapete von den Wanden gelöst, die Teppichböden waren zerschlissen und voller Löcher, und das Treppengeländer auf der obersten Etage, wo sich die -9-
billigeren, kleineren Wohnungen befanden, war bereits kollabiert. Die Sanitäranlagen funktionierten nur sporadisch. Häufig fiel der Strom aus. Wir, die Bewohner des Observatoriums, waren eine kleine, ganz eigene Gruppe von Menschen. Gruppe ist vielleicht das falsche Wort, da unsere Zusammengehörigkeit allein auf der Tatsache beruhte, daß wir im selben Gebäude lebten. Oder vielleicht waren wir uns auch ähnlich geworden, weil wir so lange in Einsamkeit lebten, denn je länger Menschen allein sind, desto schwieriger werden sie. Wie merkwürdig Menschen doch sind, die sich, sobald sie ein gewisses Alter überschritten haben, in jeder Richtung blockiert sehen, diese Menschen, die überzeugt sind, keine Arbeit mehr zu finden, diese Menschen, die allein leben. Und natürlich verbringen sie ihre gesamte Zeit damit, herauszufinden, wie sie zurechtkommen können, oder sie denken über ihre Vergangenheit nach, wobei sie jedoch nur sich selbst haben, mit dem sie sich in Erinnerungen ergehen können. Und wie langweilig es ist, wie schmerzhaft, wenn Tag für Tag immer nur ihr eigenes Spiegelbild im Spiegel auftaucht. Wie sehr sie sich danach sehnen, von sich selbst wegzukommen, nicht einfach nur, aus sich herauszugehen, sondern aus ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu entkommen, kurz, für immer alles hinter sich zu lassen, was irgend etwas mit ihnen zu tun hat. Aber ich stellte mir diese Menschen gern als reine Menschen vor, als konzentrierte Menschen oder, um es anders auszudrücken, so wie ganz alltägliche Menschen sein würden, wenn man sie befreite von Arbeit, Freunden, Familie und all den anderen Dingen, die man im Leben eben so macht und von denen es heißt, dass wir daran teilhaben sollten. Diese Menschen sind obsessiv; manchmal ist es leicht, sie zu erkennen, andere Male wieder nicht. Sieht man sie in der Stadt, bringt einen ihre Verschrobenheit bisweilen zum Lachen, häufiger jedoch fühlt man sich erbärmlich. Sie sind ein seltener Menschenschlag, bizarre Wesen, die finsteren Märchen entsprungen zu sein -10-
scheinen, doch sie sind Wirklichkeit, sie sind unterwegs, man kann sie unter den Coca-Cola-Reklamen in den Städten finden, neben den Ständern der Abendzeitungen, sie warten mit uns anderen darauf, daß die Ampel grün wird. Wir sieben aus dem Observatorium waren ein wenig so. Wir sieben Seit Jahren waren wir gewohnt, daß Bewohner auszogen. Entweder packten Bewohner ihre Sachen und gingen, oder sie starben in ihren Wohnungen und wurden weggebracht. Nach ihrem Weggang blieben die Wohnungen leer und mit jeder Räumung wirkte unser Zuhause größer und größer. Es war uns allen sehr wohl bewußt, daß der Marktwert unserer Wohnungen, so gut sie einst gewesen sein mochten, ständig gesunken war und daß wir wohl kaum einen Käufer finden würden, sollten wir uns zum Verkauf entschließen. Das Observatorium war für vierundzwanzig Familien ausgelegt, aber unmittelbar vor der Ankunft des neuen Bewohners wohnten nur sieben Personen dort. Man ging davon aus, daß diese Zahl wahrscheinlich weiter abnahm, eine Zunahme galt als höchst unwahrscheinlich. Sorgen machten wir uns ausschließlich darum, der letzte zu sein, der übrigblieb. Allein in unserem riesigen Zuhause zu leben, durch all die leeren Wohnungen zu streifen, das war nichts, worauf man sich freuen konnte. Auch wenn wir zusammen nicht glücklich waren, auch wenn wir nur sporadisch freundschaftlich miteinander verkehrten, auch wenn viele von uns praktisch in völliger Einsamkeit lebten, ließ sich doch ein gewisser Trost aus der Tatsache ziehen, daß wir unser Elend nicht allein trugen. Es war ein unter sieben Personen geteiltes Leid. Es ließ sich eine gewisse Freude oder wenigstens ein Gefühl der Verbundenheit daraus ziehen, mit Menschen zusammenzuleben, deren Leben genauso unspektakulär enden -11-
würde wie das eines jeden anderen. Es gab wenig, worauf wir uns freuen konnten. Wenig veränderte sich. Die einzige Abwechslung stellte das gelegentliche Eintreffen der Abbruchexperten dar, die ungeladen auftauchten und nie sehr lange blieben. Bei ihrem ersten Besuch vor rund zwölf Jahren waren wir natürlich beunruhigt. Die Abbruchexperten kamen mit Vertretern der Immobilienfirma, der das Observatorium gehörte, jener Firma, die den Pförtner bezahlte. Wir warteten darauf, daß etwas geschah. Aber nichts passierte. Die Angst hatten wir unter uns sieben aufteilen können. Eine Zeitlang blieben wir in Kontakt und teilten unsere Sorgen. Als jedoch eine angemessene Zeit verstrichen war und wir den Eindruck gewannen, daß genaugenommen nichts passieren würde, kehrten wir alle in unsere individuelle Eins amkeit zurück. Wir verschlossen unsere Türen und beendeten jede Kommunikation bis zum nächsten Besuch der Abbruchexperten. Mit jedem Mal bereiteten uns die Besuche weniger Sorgen. Wir hatten uns gegenseitig so sehr davon überzeugt, es würde nichts passieren, daß wir beim letzten Besuch unmittelbar vor der Ankunft des neuen Bewohners unsere ungeladenen Abbruchexperten überhaupt nicht mehr beachteten und nicht einmal in Erwägung zogen, den anderen unsere Tür zu öffnen. Wir machten weiter wie bisher und warteten geduldig auf den Moment, wenn einer von uns der letzte noch verbleibende Bewohner in unserem Zuhause sein würde, auf den Zeitpunkt, an dem niemand mehr übrig war, den man noch ignorieren konnte. Einsamkeit taugt nur dann etwas, wenn man von anderen Menschen umgeben ist. Ich als jüngster Bewohner hatte das meiste zu befürchten. Ich war bei Ankunft des neuen Bewohners siebenunddreißig. Nun könnte man annehmen, daß ich mich freuen würde, einen weiteren Bewohner in unserem Haus zu haben, doch dem war durchaus nicht so. Dies war bei keinem von uns so und dies ist der große Widerspruch der Einsamen. Auch wenn wir uns danach sehnten, nicht allein zu -12-
sein, fürchteten wir doch auch die Schmerzen, die es uns kosten würde, aus unserem Zustand der Einsamkeit herausge holt zu werden. Und nach Überwindung dieser Furcht, konnte uns da jemand garantieren, daß wir nie wieder in einen Zustand der Einsamkeit zurückversetzt würden? Das konnte niemand. Obwohl wir unsere Einsamkeit nicht unbedingt genossen, so gewöhnten wir uns zumindest an sie. Es war ein verläßlicher Zustand, beinahe wie ein Freund. Wir wollten, daß sich nichts änderte. Wenngleich wir uns danach sehnten, nicht der letzte überlebende Bewohner zu sein, sehnten wir uns doch auch danach, daß sich an unseren beruhigenden Tagen nichts änderte. Wir wollten keine Geräusche. Wir wollten keine unerwarteten Bewegungen. Am Tag, bevor der neue Bewohner kam, waren wir alle vereint in einer nahezu alles verzehrenden Besorgnis. Wir hatten einander noch nicht die Türen geöffnet, aber die Option war da. Wir konnten förmlich spüren, wie die Türklinken bebten. Wir waren unruhig. Wir zogen die Möglichkeit in Betracht, daß der neue Bewohner ein Mensch sein könnte, der wie wir Geselligkeit mißbilligte. Wir zogen die Möglichkeit in Erwägung, daß der neue Bewohner alt sein oder im Sterben liegen, ja vielleicht sogar noch während seiner ersten Nacht hier sterben könnte. Wir zogen die Möglichkeit in Betracht, daß der neue Bewohner nur einen kurzen Blick auf unser Zuhause werfen und sodann beschließen könnte, sofort wieder abzureisen. Sollte dies der Fall sein, wären wir für ein paar Minuten gekränkt und anschließend für immer und ewig erleichtert. Uns blieb nur abzuwarten und ihm seinen Aufenthalt bei uns, der, davon waren wir überzeugt, nur ein kurzer sein würde, so unangenehm wie möglich zu machen. Aber niemand machte sich mehr Sorgen als ich, war ich doch der jüngste Bewohner und folglich derjenige, sollte sich herausstellen, daß der neue Bewohner weder alt war noch im Sterben lag, der aller -13-
Wahrscheinlichkeit nach am längsten unter seiner Gesellschaft zu leiden hätte. Der Tag kam Es war ein strahlender Morgen. Es hätte keiner sein sollen, es hätte ein bedeckter Tag sein sollen. Es war ein angenehmer Tag im späten Frühjahr. So hätte es nicht sein sollen, der Tag hätte ein in tristen Winterpessimismus gehüllter Tag sein sollen. Ich war früh auf und hatte meine Mutter, meinen Vater und mich versorgt. Ich vermute, viele Leute würde die Angst überkommen, wenn sie mit siebenunddreißig aufwachten und feststellten, daß sie mit ihren Eltern zusammenlebten. Für sie wäre es erdrückend, jeden Tag mit ihren Eltern zu verbringen; diese Menschen würden sich eingeengt fühlen, sie würden sagen, die Luft, die sie atmeten, sei vergiftet. Vielleicht würden sie ja sogar des Nachts vor ihren Betten knien, wie gute Kinder es tun, und beten, daß ihre Eltern morgens tot wären, wie böse Kinder es tun. Was auf mich nicht zutraf, war ich doch nicht unglücklich, bei meinen Eltern zu leben. Am Morgen des Tages, an dem der neue Bewohner zu uns kam, kauerte ich vor der Tür und wartete auf Geräusche. Stille. Um halb neun mußte ich aus dem Haus und zur Arbeit. Ich stieg die Treppe zu Wohnung 18 hinauf, die Tür stand offen, die Wohnung war jedoch leer. Er war immer noch nicht gekommen. Das einzige Leben im dritten Stock war das Wohlwollen, das aus Miss Higgs Fernseher in Wohnung 16 strömte. Ich mußte zur Arbeit. Die Fahrt zur Arbeit Normalerweise nahm ich den Bus, um zur Arbeit zu kommen. -14-
Jeder, der auf Verlangen die richtige Summe hinlegen konnte, war berechtigt, in ihm Platz zu nehmen und den recht zweifelhaften Komfort seiner schmutzigen und aufgeschlitzten Sitze zu ertragen. Der Schmutz war natürlich gefährlich für meine weißen Handschuhe und solange ich im Bus war, mußte ich sorgsam darauf achten, nichts zu berühren. Der Bus war alt, aber er bewegte sich. Er bewegte sich, allerdings nur sehr langsam. Sein Fahrer war ein junger Mann, der bestimmt bei sämtlichen Prüfungen in der Schule durchgefallen und von daher gezwungen war, sein ganzes Berufsleben jeden Tag aufs neue die Schmach ertragen zu müssen, diesen Dinosaurier von Fortbewegungsmittel zu fahren. Der Mann mußte außerdem die Schreie, das Gekicher, den Dreck, die Liebe und den Haß der Schulkinder erdulden: Der Bus war gleichzeitig der Schulbus. Wahrend der Schulzeit brachte er jeden Tag sämtliche Kinder der Gegend zu ihren Stunden der Qualen. In den Schulferien konnte man sehen, wer den Bus sonst noch benutzte. Zum Beispiel mehrere diagnostizierte Schwachsinnige. Unter diesen befand sich Michael, ein Riese von Mann und einfühlsamer, so glaubte ich, als die anderen. Michael beobachtete ständig, er musterte jeden einzelnen seiner Mitreisenden, taxierte sie mit seinen hellblauen Augen. Die Schwachsinnigen besuchten ebenfalls eine Schule, eine andere Art von Schule. In dieser Schule lernten sie weder Geschichte, Sprachen, Mathematik noch Naturwissenschaften. In dieser Schule lernten sie, glücklich zu sein, zu lächeln, ihre digitalen Armbanduhren zu lesen und sich vor allem keine Sorgen zu machen. Die übrigen Fahrgäste waren im wesentlichen alte Männer und alte Frauen, bisweilen Ehepaare, meistens jedoch nicht. Die Alten waren unterwegs zu einem Ausflug in die Innenstadt, wo sie unter blinkenden Neonreklamen in Cafes sitzen würden, um verwirrt der geistlosen Musik zu lauschen, Tee und Kaffee zu schlürfen und seufzend den Kopf hängenzulassen. Zwei andere Fahrgäste fand ich noch bemerkenswert. Der erste war ein kleiner Junge -15-
mit hellblonden Haaren, der immer von seiner dunkelhaarigen Mutter begleitet wurde (gleichwohl sie kaum Beachtung verdient und leicht vergessen werden kann). Der Junge trug eine Brille, und eines der Gläser war abgeklebt, so daß man nicht hindurchsehen konnte. Grund dafür war das Schielen des Jungen. Indem er nur das schielende Auge benutzte, sollte sich dieses Auge gewissermaßen von selbst wieder in Ordnung bringen. Ich glaube nicht, daß es funktionierte. Der andere Fahrgast war ein Mann in den Vierzigern, der sehr schüchtern war. Dieser Mann war Dichter, er schrieb wunderschöne Oden an Bäume, Blumen und Tiere, die er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Er erinnerte sich ihrer mit Hilfe von Photos, die er in der Stadtbibliothek fand. An der Stadtbibliothek würde der Bus ihn absetzen. Und mich ebenfalls. Der Tag der Ankunft des neuen Bewohners fiel in die Schulzeit, und so war der traurige Bus voller Kinder. Einige der Kinder waren zwangsläufig Mädchen. Und nicht weniger zwangsläufig pubertierten einige dieser Mädchen. Normalerweise saßen sie beim Busfahrer, stierten seine behaarten Arme an und schwatzten mit ihm, hoben ihre Röcke, brachten ihn zum Lachen und ermunterten ihn, sie zu zwicken. Wir kamen an Geschäften vorbei, an den in unserer Stadt immer noch recht neuen Hamburger-Restaurants mit ihren sauberen Plastikschildern. Wir kamen an dem großen Supermarkt vorbei, einer von insgesamt dreien, die wir hier haben, von denen jeder eine ganze Armee erschreckend dünner, blasser Mädchen mit wasserstoffblonden Haaren beschäftigt. Welch exotische Freuden dort zu finden sind: Straußensteaks, Papayamark, ein Getränk namens »Sex am Strand«. Auf dem Weg zur Arbeit erhaschte ich an diesem Tag einen merkwürdigen Anblick, etwas Neues. Ein noch langsameres Fahrzeug als unser Bus hielt den Verkehr in der Gegenrichtung auf. Dieses Fahrzeug reinigte die Straßen. Es ist eine Tatsache, daß unsere Stadt schmutzig ist und abstoßend. Es ist eine Tatsache, daß jedes bewegte und -16-
feststehende Objekt von Staub überzogen ist. Dieses Fahrzeug nun versuchte auf seine langsame, aber systematische Art, unsere Stadt vom Schmutz zu befreien. Noch nie zuvor hatte ich ein Fahrzeug gesehen, das konstruiert war, die Straßen zu schamponieren, und aus ihren Reaktionen zu schließen, galt dies ebenfalls für die anderen Bewohner unserer Stadt. Das Fahrzeug war neu, es glänzte. Voller Staunen starrten die Menschen die Maschine an und schritten vorsichtig über die saubere Schneise, die sie hinterließ. Nach dem Exodus an der Schule und dem Frieden kam die Bibliothek. Der Dichter und ich stiegen aus. Es gibt keine Dunkelheit, nur Unwissenheit, stand auf einem Stein über dem Portal der Bibliothek. Und beugte damit die Rücken der Menschen und sorgte dafür, daß die Optiker nicht arbeitslos wurden. In der Bibliothek ging ich zu der Tür mit der Aufschrift GENTLEMEN , denn so ein Mensch bin ich und bereitete mich hinter der abgeschlossenen Tür einer Toilettenkabine auf die Arbeit vor. Die Arbeit Es gibt in unserer Stadt, im Zentrum unserer Stadt, in jenem Teil unserer Stadt, der hauptsächlich von Leuten bevö lkert wird, die überzähliges Geld haben, in jenem Teil unserer Stadt, den Leute, die nicht aus der Stadt kommen, höchstwahrscheinlich besuchen, einen Sockel. Der Sockel einer Statue. Der Sockel einer Statue ohne Statue. Ein Sockel einer Statue, auf dem sich einmal Buchstaben befunden hatten, welche der Statue, die einmal darauf stand, einen Namen gaben. Die Statue war verschwunden, die Buchstaben auf dem Sockel waren getilgt worden. Und genau auf diesem Sockel, im Zentrum der Stadt, arbeitete ich. Die getilgten Worte auf dem Sockel mochten vielleicht meinen Namen genannt haben, denn außer mir -17-
benutzte ihn niemand. Hätte dort mein Name gestanden, dann hätte dort gestanden: FRANCIS ORME. Welcher Natur war nun die Arbeit, mit der ich beschäftigt war, wenn ich auf diesem Sockel stand? Ich war eine Statue, ich gab vor, eine Statue zu sein. Mit dieser Tätigkeit verdiente ich genug Geld, um mich selbst zu ernähren, meine Mutter zu ernähren, meinen Vater zu ernähren und sogar, wenn ich das Bedürfnis verspürte, einen Mann namens Peter Bugg zu ernähren. Ich trug Weiß. Wie bereits erwähnt wurde, trug ich weiße Baumwollhandschuhe. Wenn ich aber mit meiner Tätigkeit beschäftigt war, dann trug ich überall Weiß, nicht nur an den Händen. Weißes Leinen umhüllte meinen Körper, ich hatte eine weiße Lockenperücke auf, um mein nichtweißes Haar zu verbergen, eine weiße Hose, ein weißes Hemd, eine weiße Weste, eine weiße Krawatte, ein weißes Gesicht. Jeden Tag vor Arbeitsbeginn schminkte ich mir das Gesicht weiß. Ich überdeckte all die kleinen Leberflecke, Sommersprossen und die dicke Unterlippe, welche Francis Orme zu erkennen gaben. Ich stand da ohne jede Identität, eine Statue in Weiß. Ich stand einen halben Meter über dem Boden, getragen von meinem Sockel. Unter mir befand sich eine Blechdose, in die mit fortschreitendem Tagewerk Münzen gelegt wurden. Noch eines muß erwähnt werden: In der rechten Hand hielt ich einen weißen Emailletopf. In diesem Topf befand sich ein kleiner weißer Plastikstreifen mit einem Drahtring am Ende. In diesem Topf befand sich eine Seifenlösung. Ich stand reglos da, den Topf in der Hand, die Augen geschlossen. Wenn ich eine Münze fallen hörte, öffnete ich die Augen, nahm den Plastikstreifen mit dem Drahtring am Ende aus dem Emailletopf und blies Seifenblasen in Richtung desjenigen, der mir die Münze gegeben hatte. Die Seifenblasen stellten ein Ärgernis dar, mit dem ich mich abfinden mußte. Wenn Menschen sich von Geld trennen, verlangen sie dafür eine gewisse Gegenleistung. Seifenblasen waren die billigste Gegenleistung, die mir einfiel. -18-
Nachdem ich eine Seifenblase fabriziert hatte, schloß ich meine Augen, nahm wieder meine vorherige Haltung ein und blieb absolut bewegungslos, bis ich das Fallen einer weiteren Münze hörte. Dann öffnete ich die Augen, bewegte mich und blies eine weitere Seifenblase. Wenn ich meine Augen öffnete, sah ich vor mir viele Menschen. Menschen, die noch nie zuvor eine Person gesehen hatten, die so bewegungslos dastand. Menschen, die verwirrt waren und sich fragten, ob ich aus Fleisch und Blut oder aus Gips war. Bis ich die Augen aufschlug. Das Weiß meines Körpers war in seiner Weißheit so makellos, daß das Weiß meiner Augen vergleichsweise schmutzig erschien. Schmutzig, aber lebendig. Wenn ich meine Augen schloss, nahm ich wieder meine perfekte Reglosigkeit ein und die Menschen um mich herum, die erst einen Moment zuvor meine lebendigen Augen gesehen hatten, begannen sich erneut zu fragen, ob ich nun aus Fleisch und Blut oder aus Gips war. So perfekt war meine Reglosigkeit. Wie hatte ich gelernt, diesen Grad an Unbelebtheit zu erreichen? Die Kunst der Reglosigkeit Als Kind machte ich oft das folgende Spiel: Ich baute meine Spielsachen im Kreis um mich herum auf und ließ in der Mitte einen Platz für mich selbst. So saßen wir dann zusammen. Ich sah sie mir eines nach dem anderen an, für exakt die gleiche Zeit. Ich dachte darüber nach, wie es wohl wäre, ein Ding zu sein. All diesen Gegenständen, ein Teddybär, ein Zinnsoldat, ein aufziehbarer Roboter, ein ausgestopfter Fuchs und ein Plastikfrosch, lieh ich zu gegebener Zeit meine Stimme, machte sie während meiner Kindheit vorübergehend lebendig. Ich hielt es daher nur für fair, daß ich, hatte ich ihnen doch die Möglichkeit gegeben zu erfahren, wie das Leben wohl sein könnte, im Gegenzug mit ihrer Hilfe herausfinden sollte, wie es -19-
war, ein Ding zu sein. Ich rührte mich nicht. Ich spürte, wie mein Herzschlag sich verlangsamte. Ich schloß die Augen. Als ich erwachsen wurde, erhielt ich eine Anstellung im Wachsfigurenmuseum der Stadt. Es war eine beliebte Arbeit, das Wachsfigurenmuseum war ein beliebter Ort. Man teilte mir mit, daß ich bei meinem Vorstellungsgespräch bewegungslos zwischen Wachsfiguren stehen mußte. Es gab fünf Bewerber auf eine Stelle. Die Arbeit bestand aus Reglosigkeit. Die Kunst, reglos zu bleiben. Man informierte uns, daß niemand eingestellt und die Stelle ein weiteres Jahr unbesetzt bleiben würde, falls keiner von uns reglos genug war. Es war eine beliebte Attraktion des Museums, das Wachsfiguren ausstellte, die vorgaben, Menschen zu sein, ebenfalls Menschen zu beschäftigen, die vorgaben, Wachsfiguren zu sein. Wenn das Publikum die Exponate sorgfältig studierte, versuchte man gern zu erraten, welche aus Wachs waren und welche aus Fleisch und Blut. Oft tippten die Besucher daneben; dies lag daran, daß die Armee der Fleischpuppen wahre Experten waren, Meister der Reglosigkeit. Wenn sich eine Figur bewegte, von der man annahm, sie sei aus Wachs, war das Publikum überrascht. Sie schnappten nach Luft und lachten dann. Dies galt als unterhaltsam. Bei dem Vorstellungstermin mußten wir beweisen, daß wir in der Lage waren, für sehr lange Zeit eine bestimmte Haltung einzunehmen. Wir fünf erhielten bei unserem Vorstellungstermin fünf Wachsfiguren als Partner. Wir trugen verschiedene Kostüme aus unterschiedlichen Epochen. Ich erhielt ein weißes Hemd mit Rüschenmanschetten, eine Kniebundhose, einen Gehrock, weiße Strümpfe, schwarze Schnallenschuhe und eine weiße Lockenperücke mit einem dunkelroten Band. Ich erinnere mich äußerst gut an dieses Kostüm, da ich es nicht nur bei meinem Vorstellungstermin im Wachsfigurenmuseum trug, sondern ebenfalls bei der Ausübung meiner anschließenden Tätigkeit dort. Tatsächlich behielt ich das Kostüm nach Beendigung meiner Anstellung und benutzte das Hemd und die Perücke -20-
(allerdings ohne das Band), während ich bewegungslos auf meinem Sockel stand. Nachdem wir kostümiert waren, führte man uns fünf zu unseren Plätzen zwischen den Wachsfiguren. Wir nahmen unsere Posen ein. Der Vorstellungstermin begann. Ein fetter Mann in einem cremefarbenen Dreiteiler kam herein, wie ich später erfuhr, war er den ganzen weiten Weg vom größten aller Wachsfigurenmuseen, dem in der Hauptstadt unseres Landes, gekommen, nur um diesen Vorstellungstermin durchzuführen. Er ging die Reihe der Puppen aus Wachs und aus Fleisch und Blut hinauf und hinunter, blieb vor jeder einzelnen lange stehen. Er setzte sich und beobachtete uns aus einiger Entfernung. Er nahm seine Taschenuhr heraus und wartete. Nach einer halben Stunde hatten sich drei Puppen aus Fleisch und Blut verraten. Sie hatten sich bewegt und wurden folglich entlassen. Jetzt waren wir nur noch sieben. Eine Dreiviertelstunde später wurde eine vierte Puppe aus Fleisch und Blut ohnmächtig. Jetzt waren wir nur noch sechs. Nach einer Stunde nahm der fette Mann in dem cremefarbenen Dreiteiler eine Plastikdose aus einer seiner Taschen. Sie war voller Fliegen. Er öffnete diese Dose, die Fliegen flogen um uns herum, landeten auf unseren Gesichtern, wanderten in unsere Nasen. Doch wir rührten uns nicht. Nach anderthalb Stunden gab sich wieder jemand zu erkennen. Aber das war nicht ich. Eine der Wachsfiguren war in Wirklichkeit aus Fleisch und Blut gewesen. Der fette Mann sagte (zu der Wachspuppe, die sich als Fleischpuppe zu erkennen gegeben hatte), Ich fürchte, wir müssen Sie entlassen, danke für Ihre bisherige gute Arbeit. Die Fleischpuppe sagte, Aber ich arbeite doch bereits seit drei Jahren hier, wie soll ich denn jetzt meine Familie ernähren? Der fette Mann sagte, Besorgen Sie sich eine Bewegungsarbeit. Jetzt waren wir nur noch fünf. Nach fast zwei Stunden klatschte der Mann in dem cremefarbenen Anzug in die Hände und sagte, Sehr gut, das -21-
genügt, bitte treten Sie vor. Aber ich rührte mich nicht. Wieder so ein Trick. Nach zweieinhalb Stunden betrat ein Angestellter des Wachsfigurenmuseums mit einem Tablett den Raum, auf dem sich etwas zu essen befand. Gebratener Fasan, Bratkartoffeln, Brokkoli, eine Flasche roten Bordeaux, Zitronenkuchen, Stilton und Portwein. Der Angestellte ging wieder. Der Mann in dem cremefarbenen Anzug verspeiste nach und nach sein Mittagessen. Er machte Pausen zwischen den Gängen und beobachtete uns, während er aß und trank. Nach dreieinviertel Stunden schlief der fette Mann ein oder gab vor zu schlafen, bis zum heutigen Tag bin ich nicht sicher, ob dies nun ein weiterer Trick war oder nicht. Erst nach fast vier Stunden schüttelte der fette Mann seinen Schlaf ab oder gab vor, seinen Schlaf abzuschütteln und verließ den Raum, wobei er die Tür hinter sich schloss. Kurz darauf kam ein anderer Mann herein, er sagte, der Vorstellungstermin sei nun offiziell vorüber und Francis Orme werde vom Wachsfigurenmuseum eingestellt. Aber ich rührte mich nicht. Dann sagte der Mann, Ich danke Ihnen allen und alle Wachsfiguren traten vor und verließen den Raum. Ohne fremde Hilfe. Es hatte überhaupt keine Wachsfiguren gegeben. Der Mann trat zu mir. Er sagte, Vielen Dank, Francis, das genügt jetzt, geben Sie nicht so an. Ich war mit Abstand die jüngste Fleischpuppe, die jemals vom Wachsfigurenmuseum eingestellt worden war. Die Arbeit war erheblich komplizierter, als es dem Nichteingeweihten erscheinen mag und wir, die wir mit unserer Arbeit der Reglosigkeit beschäftigt waren, wir waren eine sehr stolze Gruppe Soldaten. Wir hielten uns selbst für halb Mensch und halb Ding. Um einen solchen Grad an Professionalität zu erreichen, war es wichtig, nicht nur äußere Reglosigkeit zu erlangen, sondern ebenfalls innere Reglosigkeit. Innere Reglosigkeit war eine Kunst, die ich von meinem Vater lernte.
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Mein Vater und seine (innere) Reglosigkeit Vater ist keine berühmte Gestalt der Gegenwart, wird keine der Zukunft sein und seine Vergangenheit war so ereignislos wie ein leeres Tagebuch. Vater wird niemals eine berühmte Gestalt sein. Vater verstand sich in seiner eigenen Existenz als Parenthese. Überzeugt, die Quintessenz der Unscheinbarkeit zu sein, beschloß er, seine Tage außerhalb des Lichts zu leben, in Schattierungen der Dunkelheit, welche Menschen davon abbringen könnten, ihn mit einem Stück Leben zu verwechseln. Er fühlte sich wohl dabei, sich mit allem anzufreunden, was niemals Widerworte gab, mit allem, was sich niemals bewegte, mit allem, was andere nicht beachteten oder wahrnahmen. Vater hielt seinen jungen Körper reglos, um alles um sich herum zu beobachten. Seinen Körper still zu halten half ihm dabei, mit Geduld und Bedacht zu sehen, was um ihn herum war. Vater war ein Freund von allmählich wechselnden Lichtintensitäten, von der Odyssee einer Schnecke, vom Schneefall des Staubs. Eines Tages allerdings wurde Vater im Licht erwischt. Eines Tages zog Mutter die Gardinen auf und führte ihn in die Kirche. Eines Tages wirkte Vater zutiefst verängstigt und zerbrechlich. Er wurde gezwungen, nach draußen zu gehen. Vater holte sich einen Sonnenbrand (so wie andere Menschen sich eine Krankheit holen). Nach einiger Zeit hörte seine Frau auf, mit ihm zu spielen und er wurde ausrangiert. Seine kurze Zeit der Scheinbarkeit, der Bedeutung war vorüber, und er kehrte wieder in den Schatten zurück. Sein Sonnenbrand verlor sich. Vater war lebendig und nicht lebendig, Vater war tot und nicht tot, er lebte und starb reglos. Reglos. Er hielt seinen alten Körper still. Er hielt die Zeit still. Zeit ist Bewegung, Vater und Bewegung behandelten sich gegenseitig mit Bedacht. Wenn Vater in seiner aktiveren Zeit beschloß, sich zu bewegen, dann wurde diese Entscheidung erst und ausschließlich nach großem Ringen erschöpfender innerer Abwägungen in die Tat -23-
umgesetzt. Wenn sich Vater später bewegte, dann wurde er entweder von jemandem bewegt, oder aber sein Körper bewegte ihn absichtlich. Aber lassen Sie sich nicht täuschen, das war nicht Vater, der sich da bewegte, das war Vaters Körper. Gleichwohl sich diese zwei ihr Leben lang kannten, waren sie dennoch nie eins. Vaters Körper zuckte, ohne Vater vorher zu warnen. Er war ein alter, faltiger Rebell. Vater, in Vaters Körper, verfolgte mit Erstaunen, Bewunderung und stillem Schrecken die Bewegungen seines Körpers. Für ausgedehntere Abstecher in die Welt der Aktiven betätigten wir seine Gliedmaßen. Vater war unser persönliches erwachsenes, häßliches Püppchen. Wir zogen an seinen Fäden. Unsere Gliederpuppe aus Fleisch und Blut. Vor elf Jahren traf Vater eine Entscheidung. Vaters Entscheidung bestand darin, seinen alten Körper noch unbeweglicher zu halten als seinen jungen Körper. Deshalb lebte er auf einem Sitzmöbel. Einem großen roten, ledernen Sessel. Hätte ich ihn nicht bereits als meinen Vater vorgestellt, könnte man ihn auch »den Mann im Sessel« nennen oder »Sessel mit einem Mann«, war doch der Sessel auf den ersten Blick bedeutsamer als sein Bewohner. Und so kam es, daß der Tod Vater vergaß, wie er da in seinem Sessel hockte. Der Tod verharrte einen Augenblick vor dem sich nicht bewegenden Vater und zog dann mit der Überzeugung weiter, sein Geschäft sei bereits vollbracht. Vaters Entscheidung wurde nicht etwa aus Angst vor dem Tod getroffen. Vaters Entscheidung erfolgte aus Gründen der Zweckmäßigkeit. Es war sehr zweckmäßig für einen Mann, der die Reglosigkeit liebte und in einem Zustand permanenter Trägheit in einem bequemen Sessel saß. Vaters Entscheidung erfolgte aus Liebe zur Reglosigkeit. Vater war ein Genie des Stationären. Vater war ein Rätsel. Gleichwohl
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Gleichwohl war ich an dem Tag, als der neue Bewohner eintraf, nicht in der Lage, meine perfekte Reglosigkeit zu verrichten. Ich konnte äußere Reglosigkeit erlangen, nicht jedoch innere Reglosigkeit. Es war mir nicht möglich, mich zu konzentrieren, weil ich zu diesem Zeitpunkt wußte, daß der neue Bewohner zweifelsfrei Wohnung 18 in Besitz genommen hatte. Meine Reglosigkeit war nicht perfekt und aufgrund ihrer Unvollkommenheit fühlte ich mich elend. Ohne vollkommene äußere und innere Reglosigkeit war ich keinen Deut besser als jeder x-beliebige Straßenmusiker der Stadt. Verschlimmert wurde es dadurch, daß ich einmal, als Münzen in meine Dose fielen, die Augen öffnete, um die Seifenblasen zu blasen und dann Ivan sah, einen meiner früheren Kollegen aus dem Wachsfigurenmuseum, einer aus der stolzen Gruppe von Puppen, die halb Mensch waren und halb Wachs. Ich konnte sehen, wie sehr er sich meiner Vorstellung schämte. Als ich bei der nächsten fallenden Münze die Augen wieder aufschlug, war er fort. Wir halb wächsernen, halb menschlichen Puppen, die noch übrig waren, waren zu dieser Zeit bereits nicht mehr im Wachsfigurenmuseum beschäftigt. Unsere Rollen waren von elektronischen Puppen übernommen worden, die man auf lange Sicht billiger glaubte und außerdem, was für eine Schmach, für das Publikum beeindruckender hielt als uns. Die Kunst der Reglosigkeit war zu einer vergessenen Kunst geworden. Damals war es immer noch möglich, den einen oder anderen von uns auf den Straßen zu sehen, trübselig durch die Stadt streifend, hin und wieder innehaltend, um voller Neid eine Statue oder Säule zu betrachten. Mein ehemaliger Kollege Ivan mußte wohl den Eindruck gehabt haben, ich hätte meine Kunst vergessen, würde sie womöglich verraten, als sei ich eine vergangene Größe, die immer noch mitleiderregend versuchte, mit einem untergehenden Handwerk Geld zu verdienen. An diesem Tag machte ich früh Feierabend. -25-
Peter Bugg Was meine ersten visuellen Eindrücke von dem neuen Bewohner betraf, mußte ich mich auf den Bericht von Mr. Peter Bugg verlassen. Mr. Bugg lebte in Wohnung 10, die, als unser Haus noch auf dem Land lag, Teil der Kinderzimmer gewesen war, genaugenommen ein Schlafraum und ein Klassenzimmer. Peter Bugg, Schulmeister im Ruhestand, Privatlehrer im Ruhestand, Ruheständler, lebte, sofern man es leben nennen konnte, von einer kleinen Pension, die er vom Vater eines seiner ehemaligen Schüler bezog. Peter Bugg, kahl wie ein Ei. Peter Bugg, gekleidet in seinen schwarzen Anzug mit ausgestellten Hosenbeinen. Erst der zweite Anzug, den er jemals besaß und ganz gewiss sein letzter. Dieser Anzug war ein Geschenk vo n seinen ehemaligen Schülern. Aber nicht aus Dankbarkeit. Sondern aus Verpflichtung. Die Schüler hatten den ersten Anzug ruiniert, den er besaß. Sie hatten die weiße Sitzfläche seines Stuhls angemalt. Weiß. Peter Buggs erster Anzug, der ebenfalls schwarz gewesen war, hatte sich mit Peter Bugg darin auf dem Stuhl im Klassenzimmer niedergelassen und war im Bereich und der näheren Umgebung seines mageren Hinterns weiß geworden. Ein schwarzweißer Anzug. Die Schüler waren verpflichtet, ihm einen neuen zu kaufen. Sie vergeudeten ihr gesamtes Taschengeld für Peter Buggs mageren Hintern, was seiner Beliebtheit natürlich nicht zugute kam. Aber dies kümmerte ihn wenig, zumindest damals nicht, denn damals schienen die ständig wechselnden Schülerströme sich noch unendlich vor ihm zu erstrecken, ein ganzer Horizont voller erzieherischer Möglichkeiten. Er war ein grausamer Lehrer. Aber auf seine Art war er fair. Seine Grausamkeit bekamen die Gescheiten wie die Idioten zu spüren. Er gestand sich keine Lieblinge zu. Er war gefürchtet, und er roch diese Angst, atmete diese Angst ein mit einer Sommeliersnase. Dann fand Peter -26-
Bugg einen Liebling und etwas lief schief. Etwas lief furchtbar schief. Peter Bugg beschloß, seine geliebte Schule zu verlassen und Privatlehrer zu werden. Was er dann auch zweiundzwanzig Jahre lang war. Eines Tages bemerkte dieser strenge Mann, daß er weinte. Ohne erkennbaren Grund. Er vermutete, eine Bindehautentzündung zu haben. Doch welches Medikament er auch immer sich in die Augen träufelte, Peter Bugg weinte weiter. Die Arzte hatten keine Erklärung für sein Weinen. Peter Bugg weinte weiter. Er war bekannt dafür Zu sagen, manche Menschen weinen eben. Er war bekannt dafür zu sagen, sie weinen ohne offensichtlichen Grund. Sie sind nicht traurig, sagte er, sie weinen einfach, ohne daß die Tränen je versiegen. So etwas passiert manchen Menschen, sagte er, es passiert einfach und es gibt nichts, was sie dagegen tun könnten. Ein oder zwei Jahre später bemerkte Peter Bugg, daß er schwitzte. Fast ständig. Am ganzen Körper, ob er sich nun bewegte oder nicht. Er nannte dieses Schwitzen Hyperhydrosis. Doch gleichgültig, welche Medikamente er nahm, ob nun oral verabreicht oder zur äußerlichen Anwendung, Peter Bugg schwitzte weiter. Die Arzte hatten keine Erklärung für das Schwitzen. Er war bekannt dafür zu sagen, manche Menschen schwitzen eben. Er war bekannt dafür zu sagen, sie schwitzen ohne offensichtlichen Grund. Sie sind weder in schlechter körperlicher Form noch übergewichtig, sagte er, sie schwitzen einfach, ohne daß der Schweiß je versiegt. So etwas passiert manchen Menschen, sagte er, es passiert einfach, und es gibt nichts, was sie dagegen tun könnten. Peter Bugg deckte sich ein mit schweißhemmenden Mitteln, Fußdeodoranten, Körperlotionen und Rasierwasser. Er roch nach hundert verschiedenen Düften. Peter Bugg bemerkte, daß er am stärksten in jenen Körperregionen schwitzte, wo Haare wuchsen. Also rasierte er sich. Er rasierte sich den Schädel. Er rasierte sich die Augenbrauen. Er rasierte sich die Achseln. Er rasierte sich die Beine und seine Brust. Er rasierte sich zwischen den Beinen. Er -27-
ließ nicht ein einziges Haar nachwachsen. Peter Bugg wußte, was geschah, aber er war ein zurückhaltender Mensch. Ein Mensch, dem es schwerfiel, über sich selbst zu sprechen, dem es schwerfiel, überhaupt mit jemandem zu sprechen. Ein Mensch, den ein verbaler Kontakt nervös, ein körperlicher Kontakt hysterisch machte. Ein Mensch, der von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen (ich war eine davon) nicht die Gesellschaft anderer sucht e. Er wußte, was mit ihm geschah, und das machte ihm angst. Sein ganzer Körper weinte. Sein ganzer Körper schluchzte. Das wußte er. Was er wissen wollte, war: Warum? Ein bebrilltes, verschwommenes Etwas Als ich von der Arbeit nach Hause kam, ging ich vorbei an Wohnung 6, wo ich mit meinen Eltern lebte, weiter die Treppe hinauf in den dritten Stock. Die Tür von Wohnung 18 war geschlossen. Der neue Wohnungsinhaber hatte sie in Besitz genommen. Die Tür war geschlossen, und ich klopfte nicht an, um mich vorzustellen. Ich legte ein Ohr an die Tür, hörte aber nichts. Alles, was ich im dritten Stock hören konnte, waren die Freundlichkeiten, die aus Miss Higgs Fernseher kamen. Ich kehrte nach Hause zurück. Ich hatte einen Besucher. Der Besucher, der ebenfalls eine n Schlüssel zu unserer Wohnung besitzt, hatte sich selbst hereingelassen. Er saß in unserem größten Zimmer, ein Raum, der uns als Küche, Eß- und Wohnzimmer diente. Er saß auf einem einfachen Stuhl vor dem großen roten Ledersessel und hielt Vater, der in seinem Sessel saß, die Hand. Der Besucher weinte und schwitzte und roch nach hundert verschiedenen Düften: Es war Peter Bugg. -28-
Schweißperlen, ganze Inselkolonien, standen auf seinem weißen, glänzenden Schädel. Peter Bugg erzählte mir dann von der Person, die Wohnung 18 in Besitz genommen hatte. Ich wußte, daß dies der Grund für seinen Besuch war, denn an diesem Wochentag kam er mich für gewöhnlich nicht besuchen. Pünktlich erschien er zweimal die Woche, um mir zu helfen, Vater umzuziehen. Und er schaute auch nach Vater, wenn ich arbeiten war. (Mutter, die im größten Zimmer unserer Wohnung lebte, wechselte ihre Kleidung zum Glück selbst.) Peter Buggs Besuch stellte also eine Ausnahme dar. Peter Bugg erzählte. Der neue Bewohner von Wohnung 18, erklärte er, sei nicht: 1. Alt. 2. Im Sterben begriffen. 3. Männlich. Die beiden ersten Punkte hatte ich zumindest stillschweigend erwartet. Es war höchst unwahrscheinlich, daß wir ein solches Glück hätten. Der dritte Punkt aber traf mich wie ein Schlag. Ich hatte stets in Betracht gezogen, daß meine Phantasien bezüglich des neuen Bewohners nicht zutreffen mochten. Ich hatte versucht, dies zu berücksichtigen. Aber niemals, nicht einmal einen einzigen Augenblick lang, hatte ich in Erwägung gezogen, daß der neue Bewohner eine Frau sein könnte. Ob sie nun Sommersprossen hatte, hübsch war oder häßlich, fettleibig oder abgemagert, blond oder dunkelhaarig, konnte Peter Bugg mir nicht beantworten. Ebenso wenig konnte er sich an ihr Alter erinnern. Ich kann sie sehen. Nicht sehen kann ich jedoch, was es ist, das ich sehen sollte. Was es ist, das ich beschreiben sollte. Was siehst du? Ich sehe… ich sehe… eine diffuse Masse. Verschwommen. Die Masse rauchte eine Zigarette. Rauch stieg mir in die Augen. Ich weinte. Moment! Etwa auf Kopfhöhe gab es zwei kaum merkliche Spiegelungen. Ja! Sie trug eine Brille. -29-
Sonst noch was? Es muß doch noch mehr geben. Das arme, flennende Bündel war noch nie, so erklärte er, in der Lage gewesen, seinen Blick konzentriert auf eine weibliche Gestalt zu richten. Sie war ihm ein vollkommenes Mysterium. Nicht mal bei seiner Mutter? Seine Mutter, ja, an die konnte er sich besser erinnern. Sie war diejenige, die mit seinem Vater verheiratet war, oder? Ja, sagte er, das war sie dann wohl. Ein diffuser, wohlmeinender Nebel. Ich erfuhr, daß Peter Bugg der neuen Bewohnerin auf der Treppe begegnet war und sogar mit ihr gesprochen hatte. Er sah sofort, gleichwohl nicht genau, dass es keine Bewohnerin war, mit der wir glücklich werden könnten und dies sagte er ihr auch. Er hatte sein Gesicht zu einer Maske aus Verbitterung und Haß verzogen, ein spezieller Gesichtsausdruck, mit dem er damals seine Schüler in Angst und Schrecken versetzt hatte, und richtete entschieden unfreundliche Worte etwa an jene Stelle, von der er glaubte, daß sich dort, wenn man die weibliche Anatomie in Betracht zog, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Kopf befinden müsse. Diese Worte: Gehen Sie wieder nach Hause. Gehen Sie weg. Und Peter Bugg war überzeugt, daß seine Intentionen mit diesen beiden Sätzen präzise zum Ausdruck gebracht worden waren. Er war recht zufrieden mit sich. Allerdings hatte er nicht mit einer Erwiderung gerechnet: Hier ist jetzt mein Zuhause. Es sei jetzt ihr Zuhause, verkündete sie und anscheinend meinte sie es auch so. Sie ging weiter die Treppe hinauf. Peter Bugg, entsetzt ob ihrer Antwort, erlebte sich sodann als Wasserfall aus -30-
Schweiß und Tränen und beeilte sich nervös, in sein eigenes Zuhause, in Wohnung 10, zurückzugelangen. Frustriert über Buggs doch recht selektive Erinnerungen, beschloß ich an jenem ersten Abend, den die neue Bewohnerin von Wohnung 18 bei uns verbrachte, jemand anderen im Observatorium aufzusuchen und so womöglich mehr zu erfahren. Wir statteten Miss Higg aus Wohnung 16 einen Besuch ab. Allerdings nicht sofort, war es doch genau die Uhrzeit, zu der Miss Higg vor ihrem Fernseher saß und eine ihrer Lieblingssendungen ansah, weswegen uns bestimmt kein Einlaß gewährt würde. Wir warteten also höflich, bis die Sendung vorbei war. Wir aßen. Wie kam es, dachte ich laut und bislang hatte ich noch nie darüber nachgedacht, wie kam es, daß Peter Bugg ohne Probleme Zeit mit Miss Higg verbringen konnte? Denn immerhin war auch sie eine Frau. Er zuckte zusammen, seufzte und erklärte dann: Ich habe niemals in Erwägung gezoge n, daß Claire Higg auch nur entfernt etwas Weibliches besitzen könnte. Claire Higg Claire Higg existierte selten in der Gegenwart, selten in der Vergangenheit und ganz sicher nie in der Zukunft. Sie hatte sich selbst ein alternatives Zeitgefüge namens Fiktion erschaffen. Miss Higg lebte für die Fiktion und sie hatte bereits so lange und so vollkommen für die Fiktion gelebt, dass für sie Fiktion zur Wirklichkeit geworden war. Trotz der Farben, die sich aus ihrem Fernseher ergossen, umgab Miss Higg mit ihrer bleichen, trockenen, jugendlosen Haut und ihren dunklen, staubigen Kleidern eine schwarzweiße Aura, etwas Mottenhaftes. Sie war eine Frau ohne Feuchtigkeit. Und Claire Higg hatte einen Weg gefunden, völlig zu vergessen, wie Claire Higg aussah. In Wohnung 16, wo sie lebte, gab es keine Spiegel. Ihr Apartment -31-
bestand aus sechs Zimmern, von denen sie jedoch nur vier benutzte. Während ihrer Abwesenheit wurden in den übrigen die Staubteppiche dicker und immer dicker. Sollte sie noch einmal die anderen Räume betreten, würde sie diese nicht wiedererkennen, wäre überzeugt, woanders zu sein, sich verlaufen zu haben. Die anderen Zimmer waren von der restlichen Wohnung nicht wirklich abgetrennt, eigentlich überhaupt nicht, aber es gab einen gewissen Punkt in ihrer Wohnung, den sie schon eine ganze Weile nicht mehr überschritten hatte. Nichts hielt sie davon ab, auf die andere Seite hinüberzugehen, sie tat es nur einfach nicht. Denn es gab dort nichts für sie. Alles, was sie brauchte, hatte sie in ihren vier Zimmern: Küche, Wohnzimmer, Bad und Schlafzimmer. Die Mehrzahl ihrer Tage verbrachte sie in der warmen Behaglichkeit ihres Lieblingssessels, von wo aus sie sich der Freundlichkeit stellte, die ihr Fernseher verströmte. Dort verlebte sie glückliche Tage. Sie verbrachte sie mit ihren Freunden, mit Figuren aus Seifenopern. Sie liebte sie alle, sogar die Schurken. Im Inneren dieser magischen Fernsehkiste befanden sich so wunderbare Farben, so wunderschöne Menschen, so herrliche Leben. Außerhalb gab es nur die kleine Miss Higg. Aber das spielte für sie keine Rolle. Da der größte Teil des Tages in Gesellschaft wunderbarer Figuren verbracht wurde, konnte der Rest des Tages damit verbracht werden, über diese wunderbaren Figuren nachzudenken. Ihr Gehirn spielte die Geschehnisse des Tages noch einmal nach und dann gickelte sie leise, aberaberte, weinte und seufzte noch einmal mit ihren Lieben. Es war ein erfülltes Leben. Jeden Tag hatte sie ungeheuer viel zu tun, in jeden einzelnen Tag mußte sie Beerdigungen, Hochzeiten, Geburten, Skandale, Affären, Poolpartys, wichtige Besprechungen in gewaltigen Büros, Spaziergänge am Strand, Ausritte zu Pferde, Wellenreiten, Wutanfälle, Tränen, Küsse, gelegentliche Vorspiele zum Sex und noch vieles andere packen. Wenn sie schlafen ging, dann tat sie dies mit einem Lächeln, um sich -32-
bereits wieder auf einen weiteren ereignisreichen Tag einzustimmen. Miss Higgs magnolienfarben gestrichene Wände zierten einst, bevor es ihre Wände wurden, als man aus ihren Fenstern noch das Grünland sehen konnte, auf dem lässig Rinder weideten, eine Reihe von Drucken mit Jagdszenen. Heute waren sie überzogen mit sorgfältig aus Illustrierten ausgeschnittenen Photos, festgehalten von Bildernägeln, Reißzwecken und Nähnadeln. Ein Mann tauchte besonders häufig auf: Schnurrbart, gebräuntes Fleisch und breites Lächeln mit viel Zahn. Dieser Mann war ebenfalls auf ihrem Kaminsims zu finden, eingezwängt zwischen Glas und Holz in einem Bilderrahmen. Dieses Porträt zeigte darüber hinaus die Hand einer anderen, fremden Person, die auf seiner Schulter ruhte. Das Photo war so zurechtgeschnitten worden, daß diese andere Person, mit Sicherheit weiblich, nicht mehr darauf zu sehen war. In ihrer kleinen Küche mit dem winzigen Gasherd und dem Babykühlschrank stellte Miss Higg eine Korkpinnwand aus, auf der weitere Zeitungsausschnitte über ihre Fernsehhelden gezeigt wurden. Auf einer ihrer magnolienfarbenen Wände befand sich ein rechteckiger Flecken, wo einmal ein Photo gehangen hatte. Dieses Photo stammte aus Miss Higgs ureigenem und ehemals sehr realem Leben. Es war das Paßphoto eines krank aussehenden Mannes: Alec Magnitt, der frühere Bewohner von Wohnung 19. Verstorben. Auf der Rückseite des Photos befand sich eine Aufschrift: Claire, Claire, ich liebe dich so sehr. Unterzeichnet mit: A. Magnitt, Wohnung 19, Das Observatorium. Doch das Photo war nicht mehr da (Position 770). An diesem besonderen Abend, Miss Higgs Sendung war zu Ende, und die Nachrichten fingen gerade an, ein Ärgernis, das sie sich niemals ansah oder anhörte, drehte Miss Higg die Lautstärke ihres Fernsehers herunter und hörte ein Klopfen an ihrer Tür. Ein außerplanmäßiges Programm ah Ersatz für die -33-
Neun-Uhr-Nachrichten Wer? fragte sie sich. Ich bin es, Peter, kam die Antwort. Peter und Francis Orme. Sie seufzte, in Gedanken war sie immer noch bei anderen Wesen, anderen wunderschönen, sonnengoldenen Geschöpfen, die von Liebe und Dollars sprachen. Wir waren nicht Teil ihres wunderbaren Lebens. Ich hatte eine geschwollene Unterlippe, Peter eine Glatze. Er heulte ständig und schwitzte. Unsere Haut war blaß. Wir besaßen nur wenig Geld. Im günstigsten Fall hätten wir Statisten sein können, Staffage für Massenszenen, immer schön im Hintergrund. Aber an diesem Abend waren wir vorgetreten und drohten damit, uns direkt vor das Auge des Betrachters zu schieben. Und Miss Higgs Augen waren ausschließlich auf Schönheit justiert. Sich aus dieser geistigen Verfassung zu lösen, erforderte ein wenig Konzentration. Sie würde sich einreden müssen, daß wir Figuren aus dem Fernsehen und die Figuren aus dem Fernsehen Menschen waren. Sie würde sich einreden müssen, daß sie den Kanal gewechselt hatte und nun vermutlich bei einer Dokumentation hängengeblieben war oder bei einem billig produzierten Schwarzweißfilm, der einzig und allein von nichtschö nen Menschen ohne Sonnenbräune und Geld handelte. Sie würde sich einreden müssen, daß die Schauspielerin, die im Begriff stand, die Rolle der Miss Claire Higg zu spielen, absolut nichts mit ihr zu tun hatte. Die Namensgleichheit war reiner Zufall. Die wirkliche Miss Claire Higg befand sich an einem Strand, Ozeane weit entfernt. Wieviel Überzeugungsarbeit würde dafür nötig sein? Ich bin beschäftigt. Es ist neun Uhr. Die Nachrichten sind dran. Ich sehe die Nachrichten. Sie sehen doch nie die Nachrichten. Ich habe Besuch. Ja, aber im Augenblick auf der falschen Seite Ihrer Tür. Ihr -34-
könnt nicht lange bleiben. Wir werden nicht lange bleiben. Nicht länger als eine halbe Stunde. Wir wissen, daß die Nachrichten nur eine halbe Stunde dauern. Kommt rein. Setzt euch. Ich hole euch einen Martini. Miss Higgs Martini schmeckte eher nach Tee. Sie saß in ihrem Lieblingssessel, und während wir redeten, rieb sie ihr Gesicht und die Arme mit Sonnencreme ein. Sie war immer noch im Nachthemd, sie trug nur höchst selten etwas anderes, hatte sie doch keinerlei Veranlassung, sich vor die Tür zu begeben, da es dort nichts für sie gab. Peter Bugg erledigte ihre Einkäufe. Auf ihrer Einkaufsliste fand sich nicht selten ein eigenartiger Artikel: Sonnenschutzcreme, ein Bikini, ein Champagnerglas, eine rote Rose. Diese Wünsche lauerten versteckt zwischen Teebeuteln, Currysuppe, Thunfischstücken und Haftcreme für dritte Zähne. Gelegentlich verließ sie sogar selbst das Haus, allerdings nur, wenn es zu Stromausfällen kam. Wenn der Strom ausfiel, gingen Peter Bugg und ich immer schnurstracks in ihre Wohnung. Dort trafen wir sie dann völlig aufgelöst an. Wir steckten sie in ihren Mantel, jeder nahm einen Arm, und wir begleiteten sie nach unten. Zeit für Ihren Spaziergang, sagten wir bei solchen Gelegenheiten. Alle sind gestorben, sagte sie. Sie sind nicht gestorben, sagten wir, sie werden bald wieder zurück sein, es ist nur Zeit für ein bißchen frische Luft. Dann lächelte sie. Ihr seid meine Kavaliere, untersteht euch, mich zu mißbrauchen, sagte sie. Wir sagten: Werden wir nicht. Peter Bugg und ich spazierten dann mit ihr um die Außenmauer des Observatoriums, wobei wir Miss Higg mehr trugen als begleiteten. Falls im Verlauf eines solchen Spaziergangs im Haus das Licht wieder anging, geriet sie in Panik, woraufhin wir sie sofort in ihre Wohnung zurückbrachten. Dies waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen Miss Higg ihre Wohnung überhaupt verließ. So war sie jedoch nicht immer gewesen. Es gab auch andere Higg-Zeiten. Sie liebte einmal und wurde geliebt, stimmt doch, -35-
Claire? Wurde ich, oder nicht? Oder nicht? Aber das ist eine andere Geschichte. Miss Higg hatte ihre Gründe, warum sie keinen neuen Mitbewohner wollte. Besonders einen, der auf ihrer Etage wohnte. Sie wollte, daß ihre Stunden vor dem Fernseher durch nichts und niemanden gestört wurden. Sie wollte keine Gesellschaft mehr, hielt sie für gefährlich. Ein neuer Kamerad könnte ihren Fernseher zu sehr ins Herz schließen, könnte Affären mit ihren wunderschönen Freunden anfangen. Schlimmer noch, ein neuer Kamerad könnte sie ermutigen, weniger fernzusehen, könnte sie ermutigen, nach draußen zu gehen. Sie hatte, erzählte sie uns, gehört, wie die neue Bewohnerin in Wohnung 18 einzog. Sie hatte Stimmen gehört. Plural. Mit wem unterhielt sie sich? fragten wir. Mit dem Pförtner, sagte sie. Unmöglich. Reden und zischen, schlugen wir vor. Reden und reden, beharrte sie. Wir überhörten diese Bemerkung und führten sie auf Miss Higgs Mangel an Konzentration zurück. Nannten die Stimmen Geräusche aus ihrem Fernseher. Das Anklopfen, sagte sie, war ein neues Anklopfen. War weder das Anklopfen von Peter noch das Anklopfen von Francis Orme. Und? Zu dem Klopfen gehörte eine Stimme. Und was hat sie gesagt? Sie sagte: Hallo. Und? Sie sagte, Ich weiß, daß Sie da sind, ich höre Ihren Fernseher. Und was haben Sie geantwortet? Nichts. Gut. Und dann klopfte es wieder an, und die Stimme war auch da. Und was sagte die Stimme? -36-
Die Stimme sagte, Ich bin Ihre neue Nachbarin. Und was haben Sie gesagt? Nichts. Gut. Und dann sagte die Stimme, Ich hoffe, wir werden Freunde. Und was haben Sie gesagt? Nichts. Gut. Und dann sagte die Stimme, Ich komme später noch einmal vorbei, in Ordnung? Und was haben Sie gesagt? Ich sagte, Nein. Niemals. Sehr gut. Dann, erklärte Miss Higg, entfernten sich die Stimme und das Anklopfen und kehrten auch nicht mehr zurück. Wir lobten Miss Higg für das Gespräch. Wir sagten, Es ist das Beste für das Observatorium. Ach ja? sagte sie. Wir sagten, Es ist das Beste für Ihre ungestörte Privatsphäre. Ja, sagte sie, dann ist es ja gut. Ich fragte sie, ob es an der Stimme irgend etwas gegeben habe, das ihren Besitzer beschreiben mochte. Miss Higg meinte, es sei die Stimme einer Frau gewesen, einer jungen Frau, wahrscheinlich Mitte bis Ende Zwanzig, Anfang Dreißig. Wir beschlossen, daß unter Aufbringung aller uns zur Verfügung stehenden Mittel die neue Bewohnerin des Observatoriums innerhalb einer Woche wieder verschwunden sein mußte. Ich strich über meine Handschuhe, dieses Weiß, diese Baumwolle und dacht e scharf nach. Claire Higg sah ruhestörenden Lärm als eine Möglichkeit an. Sie schlug vor, ihren Fernseher ständig (außer bei Nachrichtensendungen, Dokumentarfilmen, Wirtschaftsberichten, Wetterberichten, Schwarzweißfilmen, Tiersendungen und Aufrufen der Polizei) auf volle Lautstärke zu stellen. Bugg und ich hielten dies für -37-
einen guten Anfang. Was meine Person betraf, regte ich an, der neuen Bewohnerin zu folgen, wohin auch immer sie ging, um so herauszufinden, aus welchem Grund sie ausgerechnet in diesem Teil der Stadt leben wollte und was sie veranlassen könnte, falls es so etwas gab, das Observatorium wieder zu verlassen. Higg und Bugg fanden, dies sei ein ausgezeichneter Vorschlag. Als aber Bugg an der Reihe war, fiel ihm überhaupt nichts ein, was er tun könnte. Aber nachdem ich dann einige Minuten meine Handschuhe gestreichelt hatte, fiel mir eine Aufgabe für ihn ein. Peter Bugg sollte mit der Leiter des Pförtners, die im Keller aufbewahrt wurde, zum Fenster von Wohnung 18 hinaufklettern. Während die neue Bewohnerin außer Haus war, sollte er in ihre Wohnung eindringen, ihr gesamtes Hab und Gut inventarisieren und diese Dinge dann umräumen, sie an andere Stellen räumen. Alles in eine andere Ordnung bringen. Dies würde die neue Bewohnerin mit Sicherheit enorm einschüchtern. Es würde ihr große Sorgen bereiten, nicht nur um die Sicherheit ihres Hab und Guts, das wir ja an andere Stellen räumten, sondern auch um die Sicherheit ihrer eigenen Person, die wir jedoch keinesfalls anrühren würden. Die Gegenstände eines Menschen definieren seine Identität, jede Person ordnet sie bei sich zu Hause gemäß ihrer jeweiligen Vorlieben an. Wenn die Gegenstände einer Person von einer unsichtbaren Macht umgeräumt werden, dann kann es dieser Person vorkommen, als spiele man mit ihrer Seele, als mache sich jemand an ihrem Innersten zu schaffen. Wenn alle Fenster von Wohnung 18 verschlossen waren, sollte Peter Bugg versuchen, eines aufzubrechen. Wenn aber dies nicht möglich war, sollte er vorsichtig eine Glasscheibe einschlagen. Aber er, der arme Bugg, vor Nervosität schwitzend und heulend, fragte sich, ob er nicht der falsche Mann für diese Aufgabe war und ob er nicht vielleicht etwas anderes tun könnte. Was würde passieren, wenn die Polizei ins Spiel käme, fügte er hinzu, würde er doch mit Sicherheit überall seine Fingerabdrücke -38-
hinterlassen haben. Ich sagte ihm, er solle Handschuhe tragen. Der arme Bugg besaß keine, also borgte ich ihm ein Paar rosafarbene Gummihandschuhe. Diese trug ich immer über meinen weißen Handschuhen, wenn ich den Abwasch machte. Es ist schon fast halb zehn. Gute Nacht, Miss Higg. Gute Nacht, Francis Orme. Gute Nacht, Claire. Gute Nacht, Peter. Und ein wenig später… Gute Nacht, Francis. Gute Nacht, Sir. Handschuh-Tagebuch Es wirkte beruhigend, wieder in meinem Schlafzimmer zu sein. Nachdem wir nun beschlossen hatten, etwas zu unternehmen, würde schon bald wieder alles in Ordnung kommen, dachte ich. Die Bedrohung würde vorüberziehen, und wir würden wieder ein stilles Völkchen sein. Niemand würde dem Observa torium seinen Frieden stehlen, niemand würde unser Leben verändern, niemand würde in Wohnung 6 eindringen. Ich schaute mich in meinem Zimmer um und das, was ich sah, beruhigte mich. Am Fußende meines Bettes standen drei Kästen aus Holz. Die Kästen hatten alle dieselbe Größe. Sie waren nach meinen Wünschen von einem Schreiner angefertigt worden. Etwa zwanzig auf fünfunddreißig Zentimeter im Quadrat und knapp acht Zentimeter hoch. In allen drei Kästen befanden sich zwei senkrechte, anderthalb Zentimeter starke Leisten, die den Innenraum in drei absolut gleiche Teile gliederten. Zwei dieser Kästen waren bereits gefüllt. Sie enthielten meine Handschuhe. Meine alten, gebrauchten Handschuhe. Beide volle Kästen zusammen enthielten insgesamt sechshundert Paar Handschuhe, zweihundert in jedem der Fächer. Das dritte Fach des dritten Kastens füllte ich derzeit. Der dritte Kasten würde in einer Zeitspanne von dreiundzwanzig Paaren gefüllt sein. Zwischen jedes Handschuhpaar legte ich ein Blatt Pergamentpapier und -39-
notierte auf einem kleinen Schnipsel Aquarellpapier, fünf mal fünf Zentimeter groß, das Datum, an dem ich begonnen hatte, die Handschuhe zu tragen, sowie das Datum der letzten Benutzung. Dies war mein Handschuh-Tagebuch. Durch die Daten auf jedem Stück Aquarellpapier und die jeweiligen Schulhefte (die numerisch geordnet in Reihen unter dem Bett standen) war es mir jederzeit möglich, in Erfahrung zu bringen, was mich veranlaßt hatte, sie nicht mehr zu tragen. Ich erlaubte mir niemals, Handschuhe zu tragen, die auch nur im entferntesten schmutzig waren, da meine Hände stets tadellos weiß sein mußten. Die neue Bewohnerin sollte am Folgetag ermuntert werden auszuziehen. Alles würde wieder sein, wie es war. Niemand würde mein Handschuh-Tagebuch berühren. Mutter betrachten Mutters Schlafzimmer war schon immer ein Schlafzimmer gewesen, es war ein Schlafzimmer, als das Observatorium noch ein Landsitz war. Es hatte eine altmodische, purpurfarbene Velourstapete, die über sechzig Jahre lang ungestört die Wände geschmückt hatte. Das Schlafzimmer meiner Mutter enthielt eine Mutter, ein Bett, Bücher, Gemälde, Photographien, Hüte, Schuhe, Spiegel, Schlüpfer, Büstenhalter, Illustrierte, Grammophonplatten, leere Flaschen, Schirme, gepreßte Blumen, Teetassen, Sherrygläser, eine Herrenarmbanduhr, einen Gehstock, einen Abakus und noch viele weitere Dinge. Die Vorhänge in Mutters Schlafzimmer waren immer geschlossen, Tag wie Nacht. Auf einem kleinen Teaktischchen stand ein Nachtlicht aus Porzellan, das für Kleinkinder gedacht war. Das Nachtlicht, das niemals ausgeschaltet wurde, hatte die Form eines Champignons, der innen hohl war und ein kleines Porzellankaninchen beherbergte. Das Porzellankaninchen hielt -40-
eine Porzellanlaterne hoch, die eine winzige Zwanzig-WattBirne enthielt. Diese Lampe gehörte mir. Sie wurde mir geschenkt, als ich noch ein Kind war. Die Gegenstände in Mutters Zimmer waren ihre Erinnerungsstützen. Jeder Gegenstand eröffnete ihr eine vergangene Zeit. Wenn es Mutter nicht gelang, sich an ihre glücklicheren Tage zu erinnern, schlug sie die Augen auf und betrachtete die Gegenstände in ihrem Zimmer. Ihr Blick streichelte sie, sie schloß wieder die Augen und nahm das Bild des Gegenstands mit sich zurück in die Vergangenheit. Für eine Person öffnete Mutter niemals die Augen, nur für Gegenstände, diese gewissen, in ihrem Zimmer versammelten Gegenstände. Ich hatte schon einige Jahre nicht mehr die Augen meiner Mutter gesehen, die blau waren. Als ich am nächsten Morgen dann zu Mutter hineinging, um ihr von dem neuen Bewohner zu erzählen und sie um Rat zu fragen, nahm sie meine Anwesenheit nicht einmal zur Kenntnis. Ich ging häufig in ihr Schlafzimmer, um mit ihr zu sprechen, um ihr meine Ängste zu erzählen, und ich fühlte mich, auch wenn Mutter nie antwortete, dadurch getröstet, dass sie einfach da war, ruhig atmete und mich nie unterbrach. Aber an diesem Morgen, mit solchen Neuigkeiten, hoffte ich, sie würde vielleicht etwas zu mir sagen, ich hoffte, sie könnte sich zumindest rühren, um ihrer Beunruhigung Ausdruck zu verleihen, ich hoffte, sie könnte mir vielleicht irgendwie zeigen, daß ich ihr Mitgefühl und Verständnis hatte. Aber sie ergriff meine behandschuhte Hand nicht und drückte sie auch nicht fest, sie behielt die Augen geschlossen, behielt ihr langes, graues Haar reglos auf dem Kopfkissen, hielt ihr Atmen ruhig und gleichmäßig. Bewegung
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Die neue Bewohnerin verließ den ganzen Morgen über ihre Wohnung nicht. Ich lauschte eine Stunde lang nach ihren Schritten und ging sogar zweimal in die dritte Etage hinauf, lauschte an der Tür, um mich zu vergewissern, dass sie noch dort war. Aber sie konnte mich nicht den ganzen Tag im Haus halten, wo ich darauf warten würde, dass sie endlich etwas unternahm. In diese Falle ließ ich mich nicht locken, ich würde das Observatorium verlassen, folgen konnte ich ihr auch später noch. An diesem Wochentag nahm ich mir üblicherweise frei, und an allen freien Tagen ging ich in den Park. Also verließ ich das Haus und blieb an der Einfahrt des Observatoriums stehen, wo früher einmal ein Tor gewesen war und wo es jetzt nur noch ein Loch in der Ziegelmauer gab. Ich stand an der Grenze unseres Verkehrsinselhauses und beobachtete, wie die Autos um es herumrasten. Ich dachte: Alles fährt herum, aber nichts kommt herein. Ich wartete auf eine Lücke im Verkehrsstrom. Diese Verfahrensweise muß immer durchgespielt werden, wenn man ein Verkehrsinselhaus verläßt. Manchmal dauert es Minuten, bevor sich eine Lücke ergibt, manchmal nur Sekunden und wenn es soweit ist, muss man um sein Leben rennen. Ja, den Verkehr darf man niemals unterschätzen, wenn man ein Verkehrsinselhaus verläßt, dies hatte das kleine Mädchen aus Wohnung 17 auch lernen müssen. Zu spät jedoch. Sie hatte es viel zu eilig, flog über ein Auto und unter das nächste. Nachdem ich die erforderliche Lücke gefunden hatte, flitzte ich hinüber zur anderen Straßenseite. Ins Jedermannsland, hinein in die Dummheit der Stadt. Ein Mädchen kaute Kaugummi ich konnte sie kommen riechen. Ein Heranwachsender mit einer Haut, die seine Nahrung verriet, lauschte hämmernden Rhythmen und summte dazu, während er sich bewegte, wobei sein Gang versuchte, der Musik Rechnung zu tragen. Junge, wunderschöne Mädchen klopften mit ihren hochhackigen Hufen. Männer in Anzügen gingen allein und brachten es -42-
zuwege, ernst zu sein. Eine alte Frau blieb alle sechs oder sieben Schritte stehen, um nach Luft zu schnappen. Ihr Mund bewegte sich schneller als ihre Beine, sie lutschte ein Bonbon. Kinder rannten (sie lärmten am meisten) und rempelten mich an. Ich beklagte mich nicht. Liebend gern hätte ich mich beklagt, aber dazu fehlte mir der Mut. Für mich war nichts furchterregender als die Jugend. Die Welt abwägen Ich erreichte den Parkeingang. Der Park war kein außergewöhnlicher Park. Es war ein sehr gewöhnlicher Park, ein sehr uninteressanter Park namens Tearsham Park Gardens. Dort stand der Mann, der vor Tearsham Park Gardens arbeitete. Dort stand ein Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, der Öffentlichkeit seine alltäglichen Dienste zur Verfügung zu stellen. Feiertage inbegriffen. Er kam nie zu spät, er machte Überstunden, er war seiner Arbeit treu ergeben. Worin bestand seine Arbeit, was war sein Handwerkszeug? Er benötigte lediglich ein einziges Werkzeug, um sich sein spärliches Einkommen zu verdienen. Er stand mit großem Stolz dahinter. Er war, glaube ich, der einzige Mann in der Stadt, der auf diese Weise arbeitete. Er war ein Original. Sein Handwerkszeug war eine Personenwaage. Für zwei Münzen konnte man sich das Vergnügen erlauben, sein Gewicht in Pfund zu erfahren. Ich trat auf die Waage, ich trat von der Waage. Ich gab dem Mann zwei Münzen, wie ich es immer einmal wöchentlich machte, und stets an diesem Wochentag. Der Mann, seinen Namen erfuhr ich nie, hatte seine Arbeit schon vor Jahren aufgenommen. Es war ein ungewöhnliches Unternehmen, den Menschen eine Personenwaage zur Verfügung zu stellen. Zunächst hatte er nur wenige Kunden. Dies ist vielleicht nicht weiter erstaunlich. Personenwaagen sind durchaus weitverbreitete Gegenstände. Aber er blieb auf seinem Posten. Seine Anwesenheit wurde zur -43-
Kenntnis genommen. Man hielt ihn mit einer gewissen Zuneigung für einen liebenswürdigen Idioten und seine Kundenliste wuchs. Hauptsächlich waren es alte Frauen, manchmal auch junge Männer, die es amüsant fanden, sich zu wiegen. Zu seiner Kundschaft zählten nie junge Frauen. Ich hatte ihn noch nie sprechen hören, erforderte das Verfahren doch keine Worte, und dies wußte ich zu schätzen. Der Mann notierte das Gewicht eines jeden Kunden in ein kleines Notizbuch. Den Grund dafür kenne ich nicht. Ich fragte ihn nie nach dem Grund. Er führte eine Chronik über das Gewicht aller Menschen, das war sein Geschäft. Vielleicht waren ihm bestimmte Tendenzen hinsichtlich Korpulenz oder Schlankheit aufgefallen. Vielleicht errechnete er das Durchschnittsgewicht einer gewissen Körpergröße. Oder eines gewissen Alters. Oder Geschlechts. Vielleicht wollte er auch einfach nur unter Menschen sein. (Einmal hatte er sein Gewichtsnotizbuch offenbar verlegt. Äußerst verwirrt ließ er für zwei Wochen seinen Posten unbesetzt. Schließlich jedoch kaufte er sich ein neues Notizbuch und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück. (Position 644.) Mein Gewicht wurde aufgezeichnet, genau wie es jede Woche auf die gleiche Art aufgezeichnet wurde. Es war Routine. Er bemerkte mich, als ich das Observatorium verließ. Ich lächelte ihn an, er lächelte von seinem Platz hinter der Waage zurück. Dann flitzte ich über die Straße und ging zu ihm. Ich erkundigte mich nie nach seiner Waage oder nach seinem Notizbuch. Er erkundigte sich nie nach meinen Handschuhen. Wir kommunizierten mit Lächeln. Einmal wöchentlich. Da es mein freier Tag war, ging ich weiter und setzte mich in den Park. Liebe und Haß in Tearsham Park Gardens
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1. LIEBE. Ich liebte Tearsham Park Gardens wegen seiner wunderschönen weißen, traurigen Bäume, die aufgrund der Umweltverschmutzung ihre Rinde verloren hatten und von jungen Vandalen mit ihren verschwitzten Vergrößerungsgläsern signiert worden waren. Irgendwer liebt irgendwen, irgendwer liebt eine Fußballmannschaft, irgendwer brennt obszöne Buchstaben ein, ein anderer schnitzt mit einem Messer. Ich liebte diesen Park wegen des Paares, das an diesem Tag an mir vorbeikam: ein alter Mann mit seinem Enkel, der vor ihm auf einem Dreirad fuhr. Der alte Mann ging langsam, sehr langsam (wir haben Zeit, heute haben wir viel Zeit) von einem Ende des Parks zum anderen. Der Enkel sollte sich eigentlich am Tempo seines Großvaters orientieren, aber er war immer mindestens zwei Meter voraus. Der kleine Junge hielt an, um ein Liebespaar zu beobachten, das sich auf einer Bank küßte. Der Großvater blieb stehen und schaute ebenfalls zu. Schließlich gingen sie weiter, wenn auch nicht zur gleichen Zeit und nicht im gleichen Tempo. In der Mitte des Parks gab es einen betonierten Platz. Seine Bodenplatten waren uneben, und in seiner Mitte befand sich ein rostiger Springbrunnen. Ich kann mich nicht erinnern, den Brunnen je in Betrieb gesehen zu haben. Er war schon immer trocken gewesen, es sei denn, es regnete, und wenn es regnete, lief er über. Ich nannte ihn Brunnen aus Optimismus, vielleicht aber auch aus Mitleid. Neben dem rostenden Brunnen, dem es an Wasser und Wertschätzung mangelte, saß ein schönes Mädchen. Wann immer ich ein schönes Mädchen sah, dachte ich daran, was für mich das Beste war. Höchstens Anfang Zwanzig. Zerrissene Hose. Jeans. Karierte Jacke. Gefärbte, kupferrote Haare. Braune Sommersprossen. Mondgesicht. Schön. Sie trug Kreide auf die Betonplatten auf, sie rieb Farben in das uniforme Grau. Sie verschmierte sie, vermischte sie. An diesem Tag malte sie einen Engel. Der Engel war das Werk eines Meisters der Renaissance, sie kopierte das -45-
Bild von einer Postkarte, aber die Ähnlichkeit war nicht besonders. Über einem an den vier Ecken mit Steinen beschwerten Taschentuch stand die Mitteilung: DANKE. Man dankte ihr mit Münzen. Großzügig. Nicht wegen ihrem Engel, sondern weil sie große braune Augen hatte. Wir kannten uns nun schon seit zwei Jahren. Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen. Menschen, alle möglichen Menschen, alte, junge, kranke und gesunde, sprachen mit ihr. Es hätte mir gefallen, ihre Kreidebilder zu sammeln, aber die verblaßten schnell. Sobald sie fort war, gingen die Menschen über ihre Bilder hinweg. Der Regen löste sie auf, schrubbte ihre Gesichter weg. In einem Anfall von Dummheit hatte ich einmal mit meinen behandschuhten Händen über ihr Kunstwerk gerieben, nachdem sie fort war. Auf meinen Handschuhen befanden sich anschließend schmutzige, häßliche, verschmierte Flecken. Ich mußte sie ersetzen und war anschließend tagelang krank. Einmal schaute sie mich an und lächelte. Ich erwiderte ihr Lächeln nicht. Ich hatte Angst. Sie hörte auf zu lächeln und widmete sich wieder ihren Farben. Wann immer ich ein schönes Mädchen sah, dachte ich daran, was für mich das Beste war, aber nur für kurze Zeit. Es war gegen Ende des Frühlings; mit all den Blüten im Park gab es einen Hauch von Hoffnung. 2. HASS. Der Park war abscheulich wegen seines Gedächtnisses. Wie so viele Menschen war er traurig wegen seines Gedächtnisses. Wie so viele Menschen genoß er es, seine Traurigkeit an andere weiterzugeben. Diese Traurigkeit, gleichwohl keine gefährliche Krankheit, war ansteckend. Sie hatte die Eigenart, durch die Poren der Haut eines Menschen zu dringen. Menschen saßen absolut glücklich im Park, aber noch bevor sie wieder aufstanden, schlichen sich traurige Gedanken in ihre Köpfe. Der Park erinnerte sich daran, was er einmal gewesen war. Er erinnerte sich an andere Bäume. Er erinnerte -46-
sich an Gras, an viele Hektar Grasland. Er erinnerte sich an die Hufe von Kühen und Kälbern. Er erinnerte sich. Alles, was von dem einst weiten und üppigen Park geblieben war, wurde nun von einem schmiedeeisernen Zaun eingepfercht. Das Grünland wurde umgepflügt, Häuser wurden auf seinem Boden errichtet. Die Kühe wurden fortgetrieben, Menschen wurden hergetrieben. An diesem Punkt muß ich zugeben, daß ich als Kind auf den Straßen gewandert bin, die den Park umgaben. Ich war da, die Straßen nicht. Früher war dies alles mein Zuhause gewesen. Die Ormes lebten bereits seit Jahrhunderten auf diesem Land. Sie lebten in einem Haus nicht weit von diesem Park entfernt. Als ich jung war, trug das heute Observatorium genannte Gebäude einen anderen Namen, damals hieß es noch Tearsham Park. Tearsham Park war ein großes Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert. Es hatte auch ein älteres Tearsham Park gegeben, ein Herrenhaus aus dem sechzehnten Jahrhundert, das jedoch bei einem Brand zerstört worden war. Vieles aus diesem Haus war gerettet worden, aber das Gebäude selbst war für immer verloren - seine Balken und Dielen aus Eichenholz waren leichte Beute für das Feuer. Das neue Tearsham Park, errichtet an exakt derselben Stelle wie sein Vorgänger, war ein großer grauer Würfel mit einem zentralen Innenhof und einem, was wirklich ungewöhnlich war, Observatorium, das in ein kuppelförmiges Dach genau über der Eingangshalle gebaut worden war. Als aus Tearsham Park das Observatorium wurde, entstand in der Mitte des einstigen Innenhofs ein Fahrstuhlschacht. Auf dem restlichen Hof wurden auf jeder Etage rechtwinklige Korridore angelegt, die von oben bis unten durch Treppen miteinander verbunden waren. Die ursprüngliche imposante Mahagonitreppe sowie das nach hinten liegende Treppenhaus für die Dienstboten wurden abgerissen. Wo einst Fenster auf den Innenhof führten, befanden sich jetzt Treppenabsätze mit Türen. Das Gebäude wurde in vierundzwanzig einzelne Wohnungen aufgeteilt. Das -47-
eigentliche Observatorium blieb erhalten, gleichwohl nur in seiner Form, nicht in seiner Funktion. Ich erinnerte mich an große, weitläufige Räume: die Bibliothek, das Frühstückszimmer, der Salon, das Rauchzimmer, das Eßzimmer. Sie alle waren geteilt worden, getrennt durch Gipskartonplatten. Aber ich hatte mir eingeprägt, wie alles einmal gewesen war. Der Park erinnerte sich. Vater erinnerte sich auch. Genau in diesem Park, in seiner kleineren Ausgabe, hatte mein Vater einen Schlaganfall bekommen. Leute brachten ihn nach Hause, seine Haut war kalkweiß. Seitdem hatte er ein herunterhängendes Augenlid, und man konnte die rosa Innenseite des Unterlides sehen. An diesem Tag saß Vater auf einer Bank und betrachtete den kleinen Teil des Parks, über den er einst geherrscht hatte. Er sah Menschen, hörte Geräusche. Er bekam einen Schlaganfall und kippte seitlich von seiner Bank auf den Boden. Hunde und die Hundedame Im Park arbeitete eine Hundedame. Die Hundedame roch nach Hunden, eine Mischung aus Ammoniak mit einem Schuß Erbrochenem, Urin und Scheiße. Die Hundedame trug ein Hundehalsband und Kleider (alt, schmierig). Zusätzlich hatte sie eine Schicht Hundehaare. Sie hatte viele Freunde, ausnahmslos Hunde. Ihre Kleidung war zerrissen, die Haut an ihren Händen, Oberschenkeln, Knöcheln und Brüsten war zerkratzt von den anderen Hunden: Erinnerungen an andere Zeiten. Manche dieser Male waren frisch, noch blutrot unterlaufen, andere waren alt und beinahe hautfarben. Glückliche Zeiten, himmlische Augenblicke. In der Stadt gibt es viele Hunde. Sie haben sich eine Art Gesellschaftsordnung gegeben, sich in verschiedene Kasten differenziert: die mit Halsband und die ohne. Die Hundedame -48-
mit ihrem schmierigen, verfilzten Haar und ihrem Mundgeruch, der auf eine Ernährung aus Mülltonnen schließen ließ, liebte alle Hunde ohne Halsband. Vollgepißter Schlüpfer. Stets sabbernd. Hundefreund. Sie fütterte die Hunde im Tearsha m Park Gardens. Dafür jaulten sie sie an, kratzten sie, leckten sie, bissen sie. Sie fütterte sie mit weggeworfenen Leckerbissen; in einer stillschweigenden Übereinkunft nahm sie die gleiche Nahrung zu sich. Auch sie bellte und knurrte, rollte sich auf dem Boden und schnupperte den anderen Hunden unter dem Schwanz. Sie war die Hundedame von Tearsham Park, loyal gegenüber ihrer Brut, gewaltig und vollbusig wie eine große, trächtige Hündin. An diesem Tag saß ich im Park, und sie schleppte sich mit ihren breiten, haarigen Hüften über den beinahe schönen Engel des schönen Mädchens, das ich seit zwei Jahren kannte. Das Mädchen sagte nichts, besserte sofort das verschmierte und verquollen aussehende Gesicht ihres Engels aus, machte es wieder schmal. Die Hundedame hatte noch einen anderen Namen, man nannte sie auch Zwanzig. Zwei Namen, die nie in einem Paß auftauchen werden. Zwanzig wurde sie auch genannt, weil sie in Wohnung 20 des Observatoriums lebte. Eine günstig gelegene Hundehütte, so nahe am Park. Man hätte nun denken können, daß Zwanzig lieber bei ihren Hunden draußen schlief. Doch sie zog es vor, dies gerade nicht zu tun, weil sie nicht eines Tages aufwachen wollte und einer ihrer Hundefreunde zerrte ihr gerade die Innereien heraus, weil sie einen Ort brauchte, an dem sie ihre Wunden lecken und ihre Knochen verstecken konnte. Wir nannten sie Zwanzig, weil sie sich geweigert hatte, uns ihren richtigen Namen zu verraten. Bevor der neue Bewohner von Wohnung 18 eintraf, war sie der Bewohner, der als letztes in das Observatorium eingezogen war. Sie kam während eines Unwetters an, an einem jener seltenen Tage, wenn der ganze Staub der Stadt von den Wänden, von den Straßen, von den wenigen Bäumen, auch von den Menschen geschält und dann in -49-
kalkigen, aschgrauen Farben in die Finsternis der Kanalisation gespült wird. Während dieses bestimmten Unwetters nun kletterte Zwanzig, die Hundedame, mit ihrem kranken Hund, einer erbärmlich mageren Dogge, deren Rippen sich durch ihr räudiges Fell bohrten, durch ein offenes Fenster in eine der leerstehenden Wohnungen im Erdgeschoß des Observatoriums. Noch in derselben Nacht, nach vielen Stunden Gewinsel und Gestöhn, starb der Hund mit einem letzten Zucken seiner Hinterläufe. Es war ein großer, schwarzer, häßlicher Kadaver. Er mußte ein Monster von Hund gewesen sein. Ein Hund, der Zwanzig in ihrer Größe ebenbürtig war. Die zwei waren in eine Schlägerei geraten, einen Kampf unter Hunden, und auf der Flucht aus diesem Kampf war die Dogge in den Kreisverkehr hineingeraten. Und wurde prompt angefahren. Sie wurde vom Kotflügel eines Autos gegen die Ziegelmauer des Observatoriums geschleudert und brach sich dabei die Hüftknochen. Und Zwanzig, die, was den Verkehr betraf, vorsichtiger war, rannte hinüber, um den Hund während seiner letzten Atemzüge zu streicheln und in unser Haus zu tragen. Am nächsten Morgen begrub Zwanzig ihren Mann in der harten, staubigen Erde auf dem Gelände des Observatoriums, wo einst die Blumenbeete gewesen waren. Sie ließ ihren Schlüpfer herunter und pißte auf das Grab. Dann schnupperte Zwanzig alle Wohnungen ab und entschied sich für Wohnung 20. Wohnung 20, oberste Etage, vor dem Fahrstuhl, der nicht mehr funktionierte, vor dem Fahrstuhl, der einst funktioniert hatte und zwar so schnell funktioniert hatte, dass er Mr. Alec Magnitt tötete und Mr. Alec Magnitts Taschenrechner zertrümmerte (Position 737). Doch davon wußte Zwanzig nichts. Zwanzig benutzte die Treppe. Es war ihre freie Entscheidung, auch wenn es keine andere Möglichkeit gab. Zwanzig, die Hundedame, bezahlte keine Miete. Auch sie hatte keinerlei Veranlassung, einen neuen Bewohner -50-
willkommen zu heißen. Da die Bewohner des Observatoriums ausnahmslos der menschlichen Art zuzurechnen waren, verabscheute sie alle gleichermaßen. Sie liebte einzig und allein… Hunde. Für uns war Zwanzig die perfekte Mitbewohnerin. Sie bezahlte keine Miete, aber das war nicht unser Problem. Sie lebte völlig zurückgezogen und verbrachte ihre Tage (und die meisten ihrer Nächte) im Park. An diesem Tag im Park beobachtete ich, wie sie sich mit hängendem Bauch auf den ausgetretenen Rasen von Tearsham Park Gardens legte. Sie gähnte, legte ihr Kinn auf die Erde, wackelte einmal mit dem Hintern und schloß die Augen. Ein Kinderspielzeug An diesem Tag im Park sah ich ein Kind. Ich sah eine Mutter, die das Kind trug, hoch über dem Boden, viel höher als ein Kind groß war, irgendwo ganz weit oben, auf Mammihöhe eben. Ich sah die Hand des Kindes, die ein Kinderspielzeug umklammerte. Mit dem Würgegriff der Liebe. Der Gegenstand, bislang unbedeutend, aber dann, urplötzlich, höchst bemerkenswert, fiel zu Boden. Das Kind schrie. Die Mutter ging weiter, sagte dem Kind, es solle den Mund halten, trennte das Kind für immer von seinem Kinderspielzeug. Ich sah diesen Gegenstand, einst überschüttet mit Aufmerksamkeit, jetzt einsam und verlassen, nur ein weiteres Opfer der Liebe. Also stand ich auf, näherte mich, blieb stehen, bückte mich, überprüfte den Gegenstand auf unzumutbaren Schmutz, auf Kindersabber und Rotz, auf weiße Baumwolle verschmutzende Substanzen, auf Feinde von Handschuhen. Fand jedoch nichts. Fand den Gegenstand des Sammelns äußerst würdig. Fand den Gegenstand allein, kinderlos, einen Sammler benötigend. Und so, allzeit Freund der Freundlichkeit und flink wie eine Elster, stibitzte ich ihn. Ein Kinderspielzeug, gerettet vom Boden des -51-
Parks, fand ein neues Zuhause in meiner Tasche. Es war ein kleines Concorde-Flugzeug aus Metall, mit Zahnspuren in der Nähe des Cockpits, abblätternder Farbe, einem fehlenden Plastikrad. Wohin mochte es wohl fliegen? Wo war sein Hangar? Es gab eine kleine Stelle, die groß genug war, um darauf zu landen (und niemals wieder zu starten). Eine Parzelle. Mit der Aufschrift Position Nummer 986. Eines muß ich klarstellen, ich zog nicht einfach los und nahm jeden vergessenen Gegenstand mit. Gewisse Erfordernisse müssen erfüllt sein. Die Zahnspuren am Cockpit, das fehlende Rad hatten dem Gegenstand eine Geschichte verliehen. Bewiesen, daß er geliebt wurde. Kennzeichneten ihn als relevant. Also eilte ich durch den Park, mogelte mich durch den Verkehr und kehrte in das Gebäude zurück mit der Aufschrift: DAS OBSERVATORIUM Großzügig ausgestattete, geräumige Wohnungen Als ich das Observatorium mit seinen minderwertig ausgestatteten, engen Wohnungen betrat, begegnete ich einer Person. Ein Schließmuskel namens Pförtner Der Mann mit vielen Schlüsseln. Der Stoiker. Der Pförtner, immer damit beschäftigt sauberzumachen, stets damit beschäftigt, sämtlichen Staub zu beseitigen, allzeit damit beschäftigt, sich das Herz zu brechen. Er sah mich, machte jedoch keine Anstalten, mich zu grüßen. Nicht einmal ein Zischen. Als ich an ihm vorbeikam, wandte er mir den Rücken zu, ging dort hinaus, wo ich hereingekommen war, betrat das Gebäude erneut und beseitigte, mit seiner Kehrschaufel und seinem Besen vorwärtskriechend, meine Fußspuren. Die Schlüssel klimperten. Die Borsten seiner Bürste schrubbten den grauen, verschossenen Teppichboden, der einmal blau gewesen -52-
war. Der Schmutz und der Dreck der Stadt hatten ihre eigene Farbe hinterlassen, aber als erstes schrubbte der Pförtner das Blau weg, säuberte es weg, kehrte es auf. Auf diese Art räumte er alle Farben weg. Er zerlegte alles auf ein allgegenwärtiges Grau. Weiß wäre ihm lieber gewesen. Aber Weiß war nicht möglich. Weiß ist nicht von Dauer. Weiß, fragte er sich wahrscheinlich, bist du ein Mythos? Ich hielt die Farbe Weiß in Händen, meine Handschuhe, aber der Pförtner dachte: Das Weiß ist aus der Stadt verschwunden. Er dachte, es hätte schon vor Jahren seine Koffer gepackt und einen traurigen, verwaisten, unreinlichen Jungen zurückgelassen, der jeden Tag wie Sisyphus die Treppe hinaufstieg, mit seiner Kehrschaufel und seinem Besen, die Spur eines Teppichbodens hinterlassend, der nur marginal sauberer war, wie die Antithese einer Schnecke. Sei nicht wie eine schleimige Schnecke und laß hinter dir keine Müllspur zurück das waren die ersten Worte, die er an mich gerichtet hatte. Aber ich hatte den Pförtner schon sehr lange nicht mehr sprechen hören, das letzte Mal hatte er sein Schweigegelübde bei dem Versuch gebrochen, Zwanzig aus 20 zu vertreiben. Vor zwei Jahren. Sie bezahlte schließlich keine Miete. Sie hat ihn gebissen. Der Pförtner wohnte unter uns. Im Herzen des Schmutzes, im Keller. Inmitten all des Staubs und Drecks gab es eine Oase, inmitten all des Staubs und Drecks befand sich ein aus drei Zimmern bestehender Käfig unverfälschter, vollkommener Sauberkeit. Ich sah ihn einmal. Ich kam herunter, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, daß erneut in unser Zuhause eingebrochen worden war. Ich kam, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, daß die Einbrecher dieses Mal nicht besonders weit gekommen waren. Bis zur Eingangshalle, bis zum Schrank in der Eingangshalle. Bis zu dem Besenschrank, in dem der Staubsauger aufbewahrt wurde. Er ist weg, sagte ich. Gestohlen. Niemand kann es sich leisten, ihn zu ersetzen, sagte ich. Mit -53-
einem Lächeln. Früher war mir der Pförtner einmal wöchentlich behilflich, Vater sauberzumachen. Doch einmal, beim letzten Mal, als wir Vater aus seinem roten Ledersessel hoben und auf einen benachbarten Stuhl setzten, fiel ein Tropfen Speichel aus Vaters Mund und fand vorübergehend Quartier auf der rechten Wange des Pförtners. Der Pförtner ließ Vater fallen. Vater fiel zu Boden, und der Pförtner rieb wie verrückt an seiner Wange. Er machte Vater nie mehr sauber. Er benutzte nie wieder den Staubsauger. Ich nahm den Staubsauger an mich. Es waren keine Fingerabdrücke darauf zu finden. Ich trug ja Handschuhe. Weiße Baumwollhandschuhe. Der Staubsauger ist weg, sagte ich. Gestohlen, sagte ich. Übersetzung: Dein bester Freund… ist leider von uns gegangen (Position 802). Und dann, in diesem Augenblick höchster Verwundbarkeit, sah ich, was noch nie zuvor jemand gesehen hatte: die Wohnung des Pförtners. Als der Pförtner nach oben in die Eingangshalle hinaufrannte, seine Wohnungstür offenliess, ging ich hinein und fand… Den aus drei Zimmern bestehenden Käfig unverfälschter, vollkommener Sauberkeit, der alle Kakerlaken, Nacktschnecken, Fliegen, Spinnen, Motten, Silberfischchen, Ameisen, Fledermäuse, Mäuse, Ratten und intimen Eintagsfliegen ins Exil geschickt hatte. Gleichwohl befand sich unter dem Bett, jenseits des Lichts, neugierigen Blicken entzogen, ein Koffer. Der Koffer wurde von vier Laschen und zwei großen Vorhängeschlössern gesichert. Was darin wohl begraben sein mochte? Ich vermutete: unvorschriftsmäßige Kleidungsstücke, unbestimmte Depeschen, außerplanmäßige Handbücher und photographische Porträts kurz, Erinnerungsstücke aus einem durchschnittlichen Leben. Von dem Pförtner, bevor er ein Pförtner wurde, von einem Mann, der früher einmal einen Namen hatte, bevor er zu einer Arbeit wurde. Der Koffer hatte eine doppelte Funktion: Zum einen sollte er die Fragmente einer Biographie ersticken, zum -54-
anderen sollte er der darüberliegenden, ohnehin schon sehr harten Matratze weitere Festigkeit verleihen. Es gab ein Bad. Ich nehme nicht an, daß die Badewanne jemals benutzt worden war. Was nicht heißen soll, daß der Pförtner sich nicht wusch. Den entscheidenden Hinweis lieferte der Duschkopf, der mit Autorität einen schrägen Blick auf die Hähne für heißes und kaltes Wasser warf, als seien diese schmutzige Kinder. Die Badewanne, so stelle ich mir vor, wurde von dem Pförtner als Instrument von Schlampigkeit und Verlotterung aufgefaßt. Ein energisches Waschen war in solch einer Konstruktion niemals möglich. In einer Badewanne liegt man in seinem eigenen Dreck. Die Dusche andererseits spült den Schmutz definitiv herunter und schickt ihn umgehend durch das Abflußloch der Vergessenheit entgegen. Unmittelbar über dem Spülkasten der Toilette befand sich merkwürdigerweise ein Spiegel, in dem der Pförtner beim Wasserlassen sein Gesicht studieren mußte, möglicherweise nannten Pförtner diese Handlung aber auch Urinieren. In dem Spiegel sah der Pförtner sein Gesicht. Und in diesem Gesicht mußte er eine Zeit vor seinem Pförtnertum gesehen haben, er mußte eine Kindheit gesehen haben, vielleicht Spielzeuge. Vielleicht sogar Glück. Auf diesem Gesicht befanden sich Male. Male, die sich überschnitten. Überall waren Male. Nadelstiche der Unvollkommenheit. Der Pförtner hatte rötlichgelbe Sommersprossen. Sie bedeckten sein Gesicht völlig. Unordentliche Gruppen verzerrten die Präzision seiner Nase, seiner Wangenknochen, seiner Lider. Er hatte seit über fünfzig Jahren geschrubbt und geschrubbt, und dennoch waren sie nicht abgegangen. Sie verliehen ihm etwas Kindisches. Es war, als bestünde sein Körper darauf, sich den Anschein eines Kindes zu bewahren, bis er aufhörte, Pförtner zu sein und eines letzten, glücklichen Tages eine Person wurde. Eine pförtnerlose Person. Eine Personperson. Pförtner war sein Name: Außer daß dies der Name ist, der -55-
Torwächtern oder Portiers oder Hausmeistern gegeben wird, ist Pförtner zugleich die Bezeichnung für den Pylorus des Magens. Am Ende des Pylorus sitzt der Musculus sphincterpylori, ein kräftiger Schließmuskel an der Verbindungsstelle zwischen Magen und Zwölffingerdarm, welcher der Nahrung Einlaß in den Verdauungstrakt gibt. Dieser ringförmige Muskel entscheidet, ob die Nahrung passieren darf oder die Weiterreise untersagt wird. Zu einem als Pylorusstenose bekannten Leiden kommt es dann, wenn sich der Muskel zusammenzieht und es fürderhin kategorisch ablehnt, überhaupt irgend etwas durchzulassen. Dies führt zu wiederholtem Erbrechen, bisweilen von Nahrung, die vierundzwanzig Stunden zuvor aufgenommen wurde, und bewirkt eine Alkalose, eine Verschiebung des SäureBasen-Gleichgewichts im Körper hin zur alkalischen Seite. Wenn sich dieser Muskel beharrlich weigert, sich zu entspannen, ist eine als Pyloromyotomie bekannte Operation erforderlich, um dieses Tor gewaltsam zu öffnen. Der Pförtner, Muskel, nicht Mann, mag sich weigern, sich zu öffnen und damit Aufspaltung, Abtransport und Verdauung von Nahrung zu verhindern, was wiederum den ganzen Körper in Schach hält, mit katastrophalen Folgen. Der Pförtner, Mann, nicht Muskel, beaufsichtigte den Abtransport von Unrat, der sich im Körper des Observatoriums ansammelte. Allabendlich stellten wir unsere vollen Müllbeutel vor unsere Wohnungstüren, der Pförtner beseitigte sie jeden Morgen. Und der Pförtner sorgte, von Zwanzig einmal abgesehen, für die Entfernung aller Eindringlinge, die zufällig auf das Observatorium stießen, besonders der pubertierenden Jungen, die gelegentlich durch die kaputten Fenster der Erdgeschoßwohnungen einstiegen, um Zigaretten zu rauchen, Dosenbier zu trinken und Magazine voller nackter Frauen einer näheren Untersuchung zu unterziehen. Wenn es zur Pylorusstenose kam, wenn der Pförtner aufhörte sauberzumachen, würden wir in Schmutz und Unrat ertrinken. -56-
Bei meinem einzigen Besuch in der Wohnung des Pförtners gönnte ich mir ein Souvenir. Die Zweituniform des Pförtners hing ordentlich und blitzsauber in seinem Kleiderschrank. Einen Messingknopf nahm ich für mich mit (Position 803). Eine Weile nachdem ic h diesen Knopf genommen hatte, verwirrte mich der Pförtner. Ich sah ihn stets tadellos gekleidet in seiner Uniform, an der kein einziger Knopf fehlte. Zunächst nahm ich an, daß er nur eine Uniform trug. Dann vermutete ich, daß er einen Ersatzknopf gekauft hatte. Schließlich begriff ich. Am dritten Knopf von unten hatte der Faden stets eine geringfügig andere Farbe. Ich stellte mir vor, wie der Pförtner sich jedesmal mit Nadel und Faden hinsetzte, wenn es Zeit war, die Uniform zu wechseln, und einen einzelnen Knopf von der einen auf die andere Uniformjacke versetzte. An diesem ersten Tag, den die neue Bewohnerin bei uns verbrachte, machte sich der Pförtner, nachdem er jeden Beweis für mein Kommen beseitigt hatte, auf die Suche nach weiterem Schmutz. Ich ging hinab in den Keller. Die Reise zum Sinn Dort unten, wo der Teppichboden aufhörte, wo es für die Bewohner nichts zu sehen gab und wo niemand etwas zu suchen hatte außer dem Pförtner, lag der Staub in dicken Schichten. Er hatte jeder Ecke die Kanten genommen und Phantomdecken und Phantomwände entstehen lassen, die auf Fundamenten aus Spinnengewebe gründeten. Der Keller hatte die Länge und Breite der darüber liegenden Etagen, es gab eine aus Ziegeln gemauerte Gewölbedecke, die von einem gerippten Muster überzogen war und an jedem Segment einfache Säulen besaß wie die Wurzeln eines gewaltigen Baums. Diese Vielzahl von Säulen, welche das Haus trugen, waren geradezu ideal, um sich dahinter zu verstecken. Ideal, erinnerte ich mich aus meiner -57-
Kindheit, um in Knöchelhöhe Angelschnüre darumzubinden und dann zuzusehen, wie Hausangestellte darüber stolperten. Weiterhin gab es einen Tunnel, der im Keller begann und bis zur nächsten Kirche führte, die etwa eine halbe Meile entfernt lag. Dieser Tunnel war alles, was von dem abgebrannten ursprünglichen Herrenhaus aus dem sechzehnten Jahrhundert noch übrig war. Dorthin ging ich. Danach suchte ich. Hinter der Wohnung des Pförtners, hinter den Heizungsräumen, hinter den Gipskartonplatten und den Rollen blauweißgestreifter Tapete (Reste des Umbaus von Tearsham Park zum Observatorium) war eine Tür. Ich sehe sie jetzt vor mir, und während ich sie sehe, werde ich auf diffuse Art traurig. Eine Tür mit der Aufschrift GEFAHR - ZUTRITT VERBOTEN . Meine Tür. Verschlossen von einem schweren Vorhängeschloß, zu dem ich allein den Schlüssel besitze. Verteilt über den langen Gang, der zur Kirche führte und vor dem Einsturz bewahrt wurde durch zahlreiche Holzbalken, die die Decke und die Wände abstützten, mit gerade noch genug Platz, um einen schmalen Durchgang zu lassen, waren die 985 Exponate meiner Ausstellung. Meine persönliche Geschichte ließ sich anhand dieser Ausstellung nachvollziehen. Wie die Gesteinsschichten einer Felswand lagen hier verschlüsselt die Jahre und Abschnitte meines Lebens. Die Ausstellung zeigte ebenfalls das Leben der Stadt, die Veränderungen des Geschmacks, des Reichtums, ihrer Menschen. Jedes Ausstellungsstück wurde in einem Plastikbeutel aufbewahrt, der mit Klebeband versiegelt war, um mögliche Beschädigungen durch Kondenswasser zu vermeiden. Am Fuß eines jeden Ausstellungsstücks befand sich ein kleines, mit schwarzem Kugelschreiber beschriftetes Pappschild: Die Nummer des Ausstellungsstücks. Ich, der Besitzer dieser Sammlung, ihr Archivar, Aufseher und Publikum, schle nderte den langen Gang hinunter und zählte: Eins, zwei, drei… Da waren sie alle, hübsch in Polyäthylen -58-
verpackt, all meine Schätzchen, die Arbeit vieler Jahre. Alles meins. Ich begann mit der Sammlung, meinem ganzen Stolz, als ich im Alter von vierzehn Jahren einen Kassenzettel fand, der vom Wind auf die Zufahrt des Observatoriums gehaucht worden war, zu jener Zeit, als das Haus noch Tearsham Park hieß. Ich war nach draußen, von meiner Mutter an die frische Luft geschickt worden, damit ich ein bißchen körperliche Bewegung bekam. Meine weißen, geschnürten Schuhe, entworfen für Sportler (eine Gemeinschaft, der ich nie angehört habe), erfreuten sich daran, einen Kiesel rauf und runter, vor und zurück zu kicken. Ich verfehlte mein Ziel, schürte das Erdreich auf und brachte dabei zufällig den Kassenzettel an die Oberfläche. Position Nummer 1, direkt neben dem Eingang: Feinkost Lebensmittel 9 0,79 3 W 1 0,35 2,21 St 2,21 tl 2,50 ca 0,29 cd Vielen Dank für Ihren Einkauf Dieses scheinbar langweilige Stück Treibgut regte meine Neugier an. Ich rettete den Papierschnipsel. Wer war in dem Geschäft gewesen? Was hatte die Person gekauft? Wo wohnte die Person? Mann oder Frau? Verheiratet oder alleinstehend? Häßlich oder hübsch? Jung oder im Sterben liegend? Werde ich dich je kennenlernen? All diese Fragen waren nicht zu beantworten, also dachte ich mir einfach Leute aus, die zu diesem Kassenzettel paßten. Der Beleg wurde in Frischhaltefolie verpackt und unter meinem Bett versteckt und viele Wochen und Monate jeden Tag heraus geholt, bis er völlig zerknittert war und äußerst anfällig für Risse wurde. Andere Gegenstände lösten die Liebe ab, die ich für diesen ersten empfand. Neue Geschichten wurden erschaffen. Zunächst sammelte ich unscheinbare Dinge: leere Schachteln, Plastiktüten, leere Flaschen und Dosen, gebrauchte -59-
Briefumschläge, Bleistiftstummel, kurz, Dinge, die weggeworfen worden waren, die entweder verbraucht waren oder nicht mehr beachtet wurden, Dinge, die andere Leute gemeinhin als Müll bezeichnet hätten. Dann stellte ich eines Tages einen neuen Grundsatz auf. Ich kaufte ein Notizbuch mit festem Einband, im folgenden Ausstellungskatalog genannt, und schrieb auf die erste Seite: VON NUN AN MÜSSEN SÄMTLICHE AUSSTELLUNGSSTÜCKE DIE FOLGENDEN BEDINGUNGEN ERFÜLLEN: SIE DÜRFEN EINZIG UND ALLEIN AUS DEM GRUND AUSGESTELLT WERDEN, DASS SIE GELIEBT WURDEN; DASS SIE IHREM FRÜHEREN BESITZER WERTVOLLER WAREN ALS ALLE ANDEREN BESITZTÜMER, DASS SIE ORIGINALE SIND, DASS SIE UNERSETZLICH SIND. Mit der Zeit wurde die Sammlung zu umfangreich, um in meinem Zimmer aufbewahrt zu werden, und wurde daher Stück für Stück in den Keller gebracht, was ein dreimonatiges Umzugsprogramm darstellte. Anfangs wurden sie noch im Weinkeller versteckt, den zu betreten, wie viele Teile des Anwesens, Kindern streng verboten war; diese elterliche Warnung sorgte dafür, daß diese verbotenen Ecken und Winkel schnell zu meinen Lieblingsverstecken wurden. Die Zeit verging. Dann war Francis Orme, nicht eines Tages von vielen, aber auch nicht völlig unerwartet, kein Kind mehr. Dann wurde Francis Orme mit seinen weißen Handschuhen dem Kindesalter für entwachsen erklärt. Die Zeit verging.
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Dann wurde bekanntgegeben, daß der Park seinen Namen zu »Das Observatorium« änderte, und die Bauarbeiten begannen. Aus dem Weinkeller sollte eine Souterrainwohnung werden. Ein aus drei Zimmern bestehender Käfig, verborgen unter Staub und Schmutz. Der fette und dünne Kavalier Man hatte mir Gespenstergeschichten über den korpulenten Gentleman erzählt (ebenfalls ein Orme, ebenfalls Francis genannt, jeder erstgeborene männliche Orme wurde Francis genannt, gleichwohl dieser Francis Orme Sir Francis Orme genannt wurde), der zu dick war, um durch den Gang im Keller, der aufgrund eines Konstruktionsfehlers in seinem Verlauf immer enger wurde, in die rettende Kirche fliehen zu können. Man hatte mir erzählt, daß der Kavalier in der Dunkelheit dort unten hängengeblieben war, sich so vollkommen verkeilt hatte, daß er weder vor noch zurück konnte. Und in der fürchterlichen Dunkelheit, die Rippen gequetscht, unfähig, sich umzudrehen, am Kopf blutend und die Finger gebrochen, starb er. Jahrzehnte später wurde sein Skelett gefunden, auf dem Boden liegend, während seine einst ordentliche Uniform um seine Gebeine herum verrottete. Erst nach seinem Tod war der Kavalier dünn genug geworden, um befreit zu werden. Diese Legende war mir als Kind mit genau der richtigen Dosis Dramatik und Spannung erzählt worden, daß ich sie mit allen Details schluckte und mir schwor, niemals den Gang zur Kirche hinunterzugehe n, wo ich ganz sicher von Wanden umgeben in eine tödliche Falle laufen würde, aus der ich mich auch durch noch so viel Gezappel nicht mehr befreien könnte. Niemand, sagte man mir, würde mich suchen kommen, sollte ich je dort unten feststecken, denn dort lebte der Kavalier und kein Mensch möchte dem fetten und dünnen Kavalier begegnen. -61-
Also verlagerte ich, bewaffnet mit einer brennenden Kerze und, für den Fall, daß ich mit meinem ängstlichen Zittern die Flamme löschen sollte, einer Schachtel Streichhölzer die Ausstellung noch einmal an diesen sichersten aller Orte, wo mich meine Eltern niemals suchen würden, selbst wenn ich mit achtzig Dezibel brüllte. Niemand darf dich finden. Nie. Nie, nie, niemals. Es war solch ein perfektes Versteck, nicht einmal der Pförtner kam in diesen Teil des Kellers. Viel zuviel Dreck. Natürlich mußte ich dort unten meine Handschuhe schützen. Ein kleines Zugeständnis. Wann immer ich in den Keller ging, trug ich über meinen weißen Baumwollhandschuhen die braunen Lederhandschuhe meine s Vaters. Und neunzehn Jahre lang bewahrte ich das Geheimnis der Ausstellung. Bis die neue Bewohnerin kam. Das Objekt Ein Exponat befand sich in ständiger Bewegung. Es war mein wertvollster Besitz. Die Inspiration, die mich antrieb, die Ausstellung weiter zu vergrößern. Es war der empfindlichste, kunstvollste und raffinierteste Gegenstand, den ich je gesehen hatte, das ultimative Exponat, welches immer ans Ende der Ausstellung verlegt wurde. Es mußte immer wie der jüngste Zugang erscheinen, durfte niemals von einem anderen Ausstellungsstück in meiner Liebe verdrängt werden. Es war der absolute Höhepunkt der Ausstellung und wurde einfach, voller Liebe und großem Respekt, Das Objekt genannt. Und neben dieses heilige Exponat platzierte ich liebevoll Exponat Nummer 986. Eine verkratzte Spielzeug-Concorde. Für dieses Ausstellungsstück mußte ich mir keine Geschichte ausdenken. Ich hatte mit den Tränen des Kindes, als sich Flugzeug und Kind für immer voneinander trennten, genug gesehen. Wahrend ich mich konzentrie rte, leckte ich mir über die -62-
Unterlippe, wie es schon sehr lange meine Angewohnheit war, wenn mich die Ausstellungsleidenschaft überkam. Und so kam es, daß meine Unterlippe nach einer Weile anschwoll. Ich verbrachte eine Stunde unter meinen Freunden, ging den schmalen Korridor auf und ab, vergewisserte mich, daß sie alle in Sicherheit waren, sprach mit ihnen, teilte mich ihnen mit. Schließlich kehrte ich mit Bedauern in die Welt darüber zurück. Als ich das Ende der Treppe erreichte, die in die Eingangshalle führte, hörte ich eine Stimme. Die Stimme, die zu dem bebrillten, verschwommenen Etwas gehörte, das ich bereits zuvor erwähnt habe. Das verschwommene Etwas stand jetzt in meinem Blickfeld. Die Summe sagte: Was ist da unten? Sie sagte: Was ist da unten?
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II BEGEGNUNGEN
Unsere erste Unterhaltung Was ist da unten? Ich sah in das blasse Gesicht der neuen Bewohnerin. Es war ein rundes Gesicht mit einem straffen Kinn, feinen, gut geformten Ohren und einer kleinen Nase, die ein wenig nach oben zeigte. Sie hatte zwei Sommersprossen, beide etwa so groß wie ein Stecknadelkopf, eine auf der linken Wange, die andere auf der Nasenspitze. Sie hatte sauberes, schwarzes Haar, das die Erlaubnis hatte, schulterlang zu wachsen und dichte, schwarze Augenbrauen. Ansonsten sprang einem auf den ersten Blick nichts weiter ins Auge, außer vielleicht noch die beiden Gegenstände, die sie im Gesicht trug. Der eine war eine Zigarette, der zweite eine runde Brille mit Metallgestell, deren starke Gläser die Augen dahinter vergrößerten. Die Augen und es war schwer, dies zu übersehen, waren grün und schienen extrem gereizt zu sein, irgendwie entzündet. Wenn man all diese Merkmale zusammen nahm (gleichwohl jedes für sich durchaus attraktiv gewesen sein mag), erhielt man ein leicht abstoßendes, wenig beneidenswertes Bild. Die neue Bewohnerin war nicht hübsch. Was ist da unten? Die neue Bewohnerin war ein wenig größer als 1,50 Meter, sie trug ein schlichtes, dunkelblaues Kleid und flache Schnürschuhe. Ihre Hände waren schmal und knochig. Auf der rechten Hand befand sich zwischen den Knöcheln von -64-
Zeigefinger und Daumen ein Leberfleck. Beide Hände waren häßlich, beide waren voller Schwielen. Was ist da unten? Nichts. Ist das der Keller? Was machen Sie hier? Tut mir leid. Ich heiße… Sagen Sie mir nicht, wie Sie heißen. Ich brauche Ihren Namen nicht. Wie heißen Sie denn? Meinen Namen brauchen Sie nicht. Ich werde es Ihnen nicht sagen. Wohnen Sie hier? Das tue ich. Verschwinden Sie. Gut. Lassen Sie mich erklären, ich bin neu hier. Ich wohne jetzt in Wohnung 18. Warum? Es ist mein Zuhause, ich habe es gekauft. Warum? Es hat mir gefallen. Warum? Ich wollte in diesem Teil der Stadt leben. Warum? Das geht nur mich etwas an. Wann gehen Sie wieder? Ich gehe nicht wieder. Ich will, daß Sie bis Ende der Woche weg sind. Doch statt einen Streit anzufangen oder in Tränen auszubrechen, lächelte die neue Bewohnerin, so als hätte sie plötzlich etwas -65-
gesehen oder verstanden, und sagte: Natürlich, Sie sind der mit den Handschuhen. Fassen Sie mich nicht an. Sie sind Francis, stimmt's? Der Pförtner hat Ihnen meinen Namen gesagt! Sie werden sich schon noch an mich gewöhnen, Francis. Bis später. Und da stand ich dann mit offenem Mund wie ein Vollidiot und starrte ihr nach, als sie das Observatorium verließ. Ich glaube nicht, daß sie mir überhaupt zugehört hat, ich glaube, daß sie nicht die geringste Absicht hatte zu gehen. Ich machte meinen Mund wieder zu und folgte ihr nach draußen. Die neue Bewohnerin war auf der anderen Seite des Kreisverkehrs und wurde gerade von dem Mann mit der Personenwaage gewogen. Sie sprach mit ihm, er sprach mit ihr. Die Worte hörte ich nicht, dafür war ich viel zu weit entfernt, wurde vom Verkehr zurückgehalten. Ich kam mir ein wenig verraten vor, wo der Mann mit der Waage und ich uns doch nun schon seit mehreren Jahren kannten. Am meisten ärgerte mich, daß er anscheinend seine Unterhaltung mit der neuen Bewohnerin genoß und noch lächelte, als sie längst weitergegangen war. Ich beeilte mich, ebenfalls schnell hinüberzukommen, und lächelte den Waagenmann an, es war ein gewaltiges Lächeln, ein viel größeres Lächeln als jedes andere Lächeln, das ich vorher oder seitdem zuwege gebracht habe. Ein Lächeln, das nur den einen Zweck hatte. Den Waagenmann mit meiner Freundlichkeit zu beeindrucken. Er schaute jedoch nicht auf, sondern lächelte in sein Notizbuch vertieft still vor sich hin. Merkwürdige Dinge geschehen im Park Es gelang mir nicht auf Anhieb, die neue Bewohnerin im Park zu finden, gleichwohl sah ich eine Mutter, die ihren plärrenden Sohn tröstete, während die zwei vergeblich und verzweifelt eine -66-
verlorene Spielzeug-Concorde suchten. Als ich die neue Bewohnerin dann sah, bemerkte ich zu meiner Verärgerung, daß sie in der Nähe des kaputten Springbrunnens war und sich ein Kreidebild des Mädchens anschaute, das ich nun seit zwei Jahren kannte. An diesem Tag wurde ich noch einmal verraten. Die neue Bewohnerin sprach das Mädchen an. Und das Mädchen antwortete. Was dann folgte, lässt sich nur mit diesem scheußlichen Wort plaudern umschreiben. Sie plauderten, als seien sie alte Freunde, die sich aus den Augen verloren hatten. Die Worte sprudelten nur so aus ihnen heraus. Ja, für mich, der ich in sicherer Entfernung auf einer Parkbank saß, sah es sogar so aus, als hätten sie Schwierigkeiten, die Worte schnell genug herauszubekommen. Es verblüffte mich geradezu, wie frei und offen sie sich unterhielten. Die Worte stiegen durch Röhren in ihnen auf und strömten aus ihren Mündern. Ich hatte schon gerüchteweise von solchen Menschen gehört. Diese Menschen, die anscheinend völlig mühelos mit jedem einzelnen Lebewesen kommunizieren konnten. Diese Menschen, die allein durch ihre Ausstrahlung bewirkten, daß sich ihnen auch der verschlossenste Mensch öffnete, ohne dieser Person dabei Schaden zuzufügen. Wahrscheinlich genoß die Person diese Erfahrung sogar. Ich war an diesem Tag vom Novum dieser hemmungslosen Kommunikation so fasziniert, daß, wäre ich nicht Francis Orme gewesen, ich dieses Schauspiel vermutlich richtiggehend genossen hätte. Es hätte mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Ich hätte mich leicht und lebendig gefühlt. Es hätte, aber das hat es nicht. Wenn man diese Freude am Sprechen nahm und ins Observatorium hineinholte, sah ich gefährliche Zeiten auf uns zukommen. Ich sah sich öffnende Türen, ich sah zutage geförderte Geheimnisse. Es ist allgemein bekannt, dass solcherart Unterhaltung, wie ich sie nun bezeugte, entspannend war und Entspannung ist eine Gefahr. Sind wir entspannt, vernachlässigen wir unsere Deckung. Ganz besonders im -67-
Gespräch. Eine entspannte Unterhaltung führt zu Offenheit. Und in der Offenheit geben wir häufig Dinge preis, die niemals preisgegeben werden sollten. Schließlich war ihr Gespräch zu Ende. Die neue Bewohnerin ging in einen anderen Teil des Parks. Zu meiner Freude war allgemein bekannt, daß dieser andere Teil des Parks, jene Ecke ramponierten Rasens, für die sie sich entschied, von einem gewissen Alptraum von Mensch beansprucht wurde. Von jemandem, der Menschlichkeit verabscheute. Von einem Misanthrop auf allen vieren. Zwanzig. Hundedame. Ein Wort zu Zwanzig, Hundedame Zwanzig, so glaubten wir anderen Bewohner, konnte man nur bemitleiden. Wir waren zu der Ansicht gelangt, daß sie das Produkt unbeschreiblicher familiärer Unannehmlichkeiten war. Wahrscheinlich, so dachten wir, kam sie vom Land. Denn in der Abgeschiedenheit und Stille auf dem Land können so manche unvorstellbare Verbrechen passieren. Wir stellten uns vor, daß man sie als Kind angekettet hatte. Wahrscheinlich, so dachten wir, in einer Hundehütte. Wahrscheinlich, so dachten wir, in Gesellschaft eines Hundes. Zu essen bekam sie nur Reste, entschieden wir, die sie sich mit dem Hund teilte. Niemand hatte ihr beigebracht zu sprechen. Sie war, was man ein Wolfskind nannte. Irgendwann mussten dann ihre Eltern, ihre Walter, gestorben sein, oder vielleicht war Zwanzig ihnen auch einfach entkommen. In diesem Punkt waren wir nicht einer Meinung, darüber stritten wir. Allerdings waren wir alle überzeugt, daß sie sich aus ihrer schrecklichen Zwangslage irgendwie befreit hatte und gemeinsam mit ihrem Begleiter in die Stadt gekommen war. Der Hund starb, wie wir alle nur zu gut wußten, in einer der Wohnungen im Erdgeschoß des Observatoriums. Danach hatte sie beschlossen, bei uns zu bleiben, an dem Ort, wo sich auch -68-
das Grab des Hundes befand. Wir alle hatten, wenn auch nur selten, in unseren Zeitungen Berichte über Wolfskinder gelesen. Diese Schilderungen bestärkten uns in unserem Urteil über Zwanzigs entsetzliche Vergangenheit. Ja, Zwanzig war wirklich bemitleidenswert. Die Zähmung von Zwanzig, Hundedame Zwanzig, Hundedame, erlaubte nichts und niemandem, ihr Stück Rasen zu betreten. Bisweilen verirrte sich ein Hund dorthin, meistens, um an Zwanzig zu schnuppern, doch er wurde schnell wieder weggejagt. Menschen fanden es höchst unerfreulich, an dieser Stelle anzuhalten, und gingen weiter. Es war weniger der Flecken Gras, der das Problem war, sondern vielmehr das, was darauf lag: eine Frau, schmutzig, schmierig, mit einem Hundehalsband und zerfetzter Kleidung, bedeckt mit Hundehaaren und stinkend wie eine Kloake. Sie war eine Beleidigung für jeden Geruchssinn, was sie zweifellos ungeheuer erfreute, wie im übrigen alles, was ihr menschliche Kontakte ersparte. Hunde hingegen schienen ihren Gestank faszinierend zu finden und schnüffelten, sofern sie dazu eingeladen wurden, glücklich zwischen ihren Beinen, an jener Stelle, so vermutete ich, wo sich die intensivsten Gerüche fanden. Zwanzig lag bäuchlings auf dem Gras und döste immer noch genauso vor sich hin, wie ich sie einige Zeit früher an diesem Tag bereits gesehen hatte. Als die neue Bewohnerin sich näherte, öffnete sie die Augen und stand auf. Auf allen vieren. Die neue Bewohnerin setzte sich aufs Gras, drei Meter von Zwanzig entfernt. Zunächst schien Zwanzig überrascht, dann ging ihr Hinterteil hoch (was andeutete, daß sich ihr das Fell sträubte), und sie fing an zu knurren. Aber die Bewohnerin rührte sich nicht. Die Bewohnerin lächelte. Dieses Lächeln mochte bei anderen Menschen gewirkt haben, mochte bei der Kreidemalerin gewirkt haben, mochte bei dem Mann mit der -69-
Personenwaage gewirkt haben, mochte sogar beim Pförtner gewirkt haben. Es wirkte jedoch nicht bei Zwanzig. Zwanzig knurrte, sie schürzte die Lippen, ihre Augen traten vor. Sie war beleidigt. Das hier war immerhin ihr Flecken, was hatte der Zigaretten rauchende, bebrillte Zweibeiner hier zu suchen? Diese Frau war wirklich erstaunlich. Sie war einer dieser Menschen, die einfach ungerührt in die Privatsphäre anderer Leute eindrangen, sie war jemand, der, wenn er einen Feldweg entlangspazierte, früher oder später auf das unvermeidliche Schild mit der Aufschrift PRIVATBESITZ - ZUTRITT VERBOTEN stoßen und es vorsätzlich ignorieren würde. Aber Zwanzig ließ das nicht zu. Sie bellte. Sie bleckte die Zähne. Schwarz und gelb waren sie. Sie näherte sich knurrend so weit, daß sie mit der Nase praktisch das Gesicht der neuen Bewohnerin berührte. Ich dachte daran, der neuen Bewohnerin zuzurufen, sie schwebe in ernster Gefahr. Ich dachte daran, sie von diesem Ort wegzubringen, ihr zu raten, nie mehr dorthin zurückzugehen. Das ist Zwanzigs Platz, hätte ich sagen sollen, und niemand nähert sich Zwanzigs Platz, es sei denn, man ist ein Hund und dann auch nur, wenn man dazu aufgefordert wird. All das hätte ich sagen und tun sollen. Statt dessen unternahm ich gar nichts, ich saß einfach da und schaute zu. Ich lächelte, ich strich über meine Handschuhe und dachte, was ich nun überhaupt nicht hätte denken dürfen. Ich dachte: Mach schon, Zwanzig, beiß sie. Beiß sie! Sorge dafür, dass es richtig weh tut. Und das tat Zwanzig. Zwanzig biß ihr in die Hand, und Blut tropfte von der Hand der neuen Bewohnerin und Tränen traten ihr in die Augen, zeugten davon, dass der Biss mit Sicherheit weh tat. So, dachte ich, jetzt weißt du es. Lass Zwanzig in Ruhe, der Schmerz wird vergehen, die Wunde wird verheilen, geh nach Hause, verbinde deine Hand, trockne deine Tränen. Doch die einen zur Raserei bringende neue Bewohnerin wich nicht einen Zentimeter zurück, sondern hielt Zwanzig, der Hundedame, statt dessen ihre Hand hin, lud sie ein, es noch -70-
einmal zu versuchen. Es war, als würde sie sagen, Mach schon, Zwanzig, Hundedame, nimm meinetwegen den ganzen Arm, ich hab schließlich noch einen. Zwanzig starrte die Hand an, dachte darüber nach, überlegte, was dieses Angebot wohl bedeutete. Hätte sie einen Schwanz gehabt, dann hätte sie in diesem Moment bestimmt aufgehört, damit zu wedeln, denn die angebotene Hand und, falls nötig, der dazugehörige Arm konnten nur eines bedeuten: daß die neue Bewohnerin keine Angst vor Zwanzig hatte. Zwanzig war verwirrt. Ich, ein Stück entfernt, war ebenfalls verwirrt. Die neue Bewohnerin schien wild entschlossen. Sie hielt ihren Arm vor Zwanzigs Gesicht und dann passierte die erste außergewöhnliche Sache, Zwanzig wich zurück. Die neue Bewohnerin stand auf. Zwanzig wich weiter zurück. Die neue Bewohnerin hob ihre Hand höher als Zwanzigs Zähne, etwa auf Kopfhöhe. Sie legte die Hand auf Zwanzigs Kopf, auf Zwanzigs Haare. Und dann passierte die zweite außergewöhnliche Sache, sie fing an, Zwanzig, die Hundedame, zu streicheln. Und Zwanzig, die Hundedame, ließ es zu. Fünf Minuten später saß die neue Bewohnerin auf dem Flecken Gras, der bislang als Zwanzigs Eigentum angesehen wurde. Zwanzigs Kopf lag in ihrem Schoß, und sie streichelte immer noch ihre Haare. Zwanzig lächelte zufrieden. (Ich hätte Zwanzigs Haar um nichts auf der Welt angefaßt, ich mußte schließlich an meine Handschuhe denken. Ich fürchtete um die Hände der neuen Bewohnerin.) Und so, in unauffälliger Entfernung sitzend, beobachtete ich das glückliche Paar eine halbe Stunde lang, die neue Bewohnerin streichelnd und rauchend, Zwanzig lächelnd und seufzend, bis ich leider und unvermeidlich abgelenkt wurde. Eine kurze Geschichte über Paßphotos
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Meine Paßphotosammlung nahm ihren Anfang, nachdem ich es mir abgewöhnt hatte, in der Stadt spazierenzugehen (kurz nachdem Tearsham Park seinen Namen in »Das Observatorium« abgeändert hatte). Früher brach ich von zu Hause auf und schaute mich in der Stadt nach einem interessanten Menschen um, dem ich folgen konnte. Wenn ich dann eine solche Person gefunden hatte, folgte ich ihm oder ihr einfach diskret in einem gewissen Abstand. Manchmal folgte ich einem Mann, andere Male einer Frau. Ich hatte keine Vorlieben. Dem ersten interessanten Mensch, der mir über den Weg lief, folgte ich. Ungeachtet des Geschlechts. Oder des Alters. Oder der Rasse. Ich folgte der auserwählten Person, solange sie in Bewegung blieb. Ich beobachtete sie und stellte mir dabei das Leben vor, das die fragliche Person wohl führen mochte. Es interessierte mich nicht weiter, ob meine Vorstellungen zutreffend waren oder nicht. Was zählte, war allein, daß ich am Ende des Tages das Gefühl hatte, einen neuen Menschen kennengelernt zu haben. Manchmal dauerten diese Spaziergänge sehr lange, Stunden vielleicht, manchmal auch nur wenige Minuten. Das war jedoch unwichtig. Wichtig war nur, daß ich meinte, Zeuge eines kurzen Augenblicks im Leben eines interessanten Menschen geworden zu sein. Es mag vielleicht kein interessanter Augenblick gewesen sein. Das war mir aber egal. Ich war einem interessanten Menschen nahe gewesen, jemandem, mit dem ich mich womöglich gern angefreundet hätte. Aber ich fand, daß Freunde überwiegend abwesende Dinge waren. Ich hatte nur einen echten Freund, dem ich allerdings erst begegnete, nachdem ich meine Stelle im Wachsfigurenmuseum angetreten hatte. Auf eine Art waren meine Spaziergänge auf den Straßen der Stadt ein Trost. Durch sie kam ich so nahe an interessante Menschen heran, wie ich wollte. Ich hätte mir nicht gewünscht, daß diese Streifzüge durch die Stadt, diese städtischen Verfolgungsjagden unbedingt zu einem Gespräch, geschweige denn zu einem Austausch von -72-
Adressen führen würden. Meine Stadtspaziergänge hörten an dem Tag auf, als ich meine Stelle im Wachsfigurenmuseum antrat. Von da an waren meine Tage ausgefüllt. Unser Arbeitstag war lang, und wir mußten an sieben Tagen in der Woche arbeiten. Aus diesem Grund war es mir nun unmöglich, durch die Straßen der Stadt zu streifen und mich interessanten Menschen an die Fersen zu heft en. Tagsüber war ich auf das Wachsfigurenmuseum beschränkt und damit zugegebenermaßen glücklich. Abends, nach getaner Arbeit, war ich viel zu müde, um noch auf der Suche nach interessanten Menschen durch die Straßen der Stadt zu ziehen. Gleichwohl ich sie vermißte, wie ich mich erinnere. Auf dem Weg zur Arbeit kam mir dann eines Tages eine Idee. Auf einem Bürgersteig hatte ich ein verlorenes Paßphoto gefunden. Ich hob es auf. Ich betrachtete das Gesicht. Ich dachte mir eine Geschichte zu diesem Gesicht aus. Und behielt das Paßphoto. Mit der Zeit hatte ich genügend Paßphotos für eine Sammlung. Diese Sammlung war allerdings nie, so sehr ich sie auch bewunderte, ein Ersatz für meine eigentliche Arbeit: die Ausstellung von Gegenständen, wie man sie im Keller findet, in diesem Tunnel, der zu der Kirche führte (eine Ausstellung, zu der im übrigen auch ein Paßphoto gehört, Position 770). Es mag offenkundig sein, daß Paßphotos nicht unbedingt zu den Dingen zählen, die man häufig auf Bürgersteigen findet. Nachdem ich dieses erste Paßphoto gefunden hatte, suchten meine Augen auf dem Weg zum Wachsfigurenmuseum stets die Bürgersteige der Stadt nach Paßphotos ab. Aber nach drei Monaten hatte ich erst ein einziges weiteres Paßphoto gefunden, ein weiteres Gesicht, das ich betrachten konnte. Ich mußte also meine Taktik ändern. Es dauerte nicht lange, bis mir eine Lösung einfiel. Ich änderte meinen Weg zur Arbeit und ging nun jeden Morgen an einem Passbildautomaten vorbei. Dort machte ich mir die Ungeduld des Menschen zunutze. Nachdem die Paßphotos aufgenommen sind, vergehen gut drei Minuten, bis man sie -73-
mitnehmen kann. Diese Zeitspanne dauert es, bis die Maschine im Inneren des Paßbildautomaten die Paßbilder entwickelt hat. In der heutigen Zeit halten recht viele Leute drei Minuten schon für eine Ewigkeit. Und an diesem Punkt setzte ich an. In unmittelbarer Nähe des Paßbildautomaten, an dem ich auf dem Weg zum Wachsfigurenmuseum vorbeikam, gab es mehrere Geschäfte, Geschäfte mit Schaufenstern, Schaufenster, mit denen sich jene drei Minuten vertreiben ließen, in der die Paßphotos entwickelt wurden. Häufig genug verbrachten Leute, die auf ihre Photos warteten und sich die Schaufenster ansahen, um die drei Minuten totzuschlagen, damit länger als drei Minuten. Wenn ich niemanden sah, der zum Ausgabeschacht des Paßbildautomaten ging, sobald ein Bogen mit Photos dort hineinfiel, schnappte ich mir die Photos (stets vorsichtig wegen der gerade trocknenden Chemikalien), nannte sie mein eigen und setzte schnell, für den Fall, daß ich gesehe n wurde, meinen Weg zum Wachsfigurenmuseum fort. Ich wurde nur einmal erwischt und entschuldigte mich daraufhin überschwenglich bei dem Mann, dessen Paßphotos ich gestohlen hatte. Ich sagte zu ihm, Ich dachte, es wären meine, es kommt mir vor, als würde ich schon eine Ewigkeit darauf warten. Ich gab ihm die Photos zurück, und er nahm meine Entschuldigung an. So wuchs meine Paßphotosammlung derart schnell an, daß ich an einem Punkt 126 verschiedene Paßphotos von Menschen besaß, denen ich nie begegnet war. Für 126 verschiedene Gesichter wurden 126 verschiedene Geschichten ausgedacht. An dem Nachmittag im Park, als die neue Bewohnerin Zwanzig, die Hundedame, gezähmt hatte, erspähte ich ein weggeworfenes Paßphoto neben dem mir am nächsten stehenden Papierkorb. Es war ein junger Mann. Um die Dreißig. Schwarzes Haar, das dringend gekämmt werden mußte. Kantiges Gesicht, das eine Rasur brauchte. Jeanshemd, das gebügelt werden mußte. Ich bemühte mich, mir aufgrund seines Gesichts sein Leben vorzustellen. Ein weiteres menschliches Wesen, noch eines, das -74-
ich nie zuvor gesehen hatte. An was dachte er? War er glücklich? War er grausam? Machte er sich Sorgen? Je länger ich sein Gesicht anstarrte, desto weniger verstand ich ihn. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, es passiert immer wieder, wenn ich einen Menschen entweder auf einem Photo oder in Wirklichkeit aufmerksam studiere: Auf den ersten Blick meine ich immer, ich könnte jemanden recht schnell durchschauen, so daß die spontanen Urteile, zu denen ich gelange, bestimmt zutreffen, aber je länger ich hinsehe, desto weniger verstehe ich und desto klarer wird mir, welch eine schwierige Kunst die Beurteilung eines Menschen ist. Als ich von dem Paßphoto wiederaufschaute, sah ich, daß Zwanzig allein auf ihrem Stück Rasen lag. Die neue Bewohnerin war fort. Vor der Kirche Ich konnte sie nirgends im Park entdecken. Ich zog in Erwägung, umgehend ins Observatorium zurückzugehen, um Peter Bugg zu warnen, daß ich sie verloren hatte. Wenn aber die neue Bewohnerin bereits ins Observatorium zurückgekehrt war, war es ohnehin zu spät. Falls sie dies jedoch noch nicht getan hatte, dann mußte sie immer noch irgendwo in der Stadt sein, und Peter Bugg konnte seine Arbeit in Wohnung 18 ungestört fortsetzen. Ich hatte noch nicht lange gesucht, als mich eine Idee innehalten ließ. Die neue Bewohnerin rauchte ziemlich viel, bislang hatte man sie noch nicht ohne Zigarette im Mund oder in der Hand gesehen. Wenn Zigaretten aufgeraucht sind, entledigt man sich im allgemeinen der Kippe, sie wird achtlos dort auf den Boden geworfen, wo sich der Raucher gerade befindet. Also konnte ich der neuen Bewohnerin folgen, indem ich ihre Zigarettenkippen sammelte. Ich näherte mich Zwanzig, ohne ihr zu nahe zu kommen, um eine Kippe aufzuheben, die ganz sicher -75-
ihr gehört hatte (sorgfältig darauf achtend, daß keine Asche auf meine Handschuhe kam, benutzte ich dazu eine Pinzette, die ich stets dabei hatte). In Schwarz und unmittelbar am Filter war auf das Zigarettenpapier ein Kreis mit den Worten LUCKY STRIKE aufgedruckt. Jetzt konnte ich ihren weggeworfenen Kippen durch die Stadt folgen, bis ich die Stelle fand, wo sie nicht mehr weggeworfen wurden, die Stelle, wo die neue Bewohnerin gerade sein würde. Mir fiel auf, daß ihre Zigarettenstummel ihre Zahnabdrücke trugen. Das war nützlich: Es bedeutete, daß ich wahrscheinlich keine Zeit damit vergeudete, einer anderen Person zu folgen, die nicht die neue Bewohnerin war, aber ebenfalls Lucky Strikes rauchte. Ich folgte den Kippen, die in Abständen von etwa zweihundert Metern aufeinander folgten. Wenn ich eine Kippe gefunden hatte, mußte ich zuerst in alle Richtungen gehen, bevor ich die nächste fand. So kam ich schließlich zu einer Kirche. Auf den Stufen der Kirche lag die letzte Kippe, obwohl es mehr war als eine Kippe: eine halbe, nicht zu Ende gerauchte Zigarette. Daher vermutete ich, daß sich die neue Bewohnerin in der Kirche befand. Die Kirche hatte zwei Ausgänge, der erste führte jenseits des Portals durch eine große Eichentür, der andere war zu finden, indem man in einer Privatkapelle die steinerne Deckplatte eines angedeuteten Grabmales beiseite schob. Hatte man die Platte zur Seite geschoben, stieg man auf grob behauenen Stufen in die Dunkelheit hinab. Und man fand sich in einem Tunnel wieder, einem Tunnel, der immer breiter wurde, je weiter man vordrang. In diesem Tunnel würde man zahlreiche Gegenstände entdecken, 986, um ganz genau zu sein. Ich hielt es für unwahrscheinlich, daß die neue Bewohnerin diesen Ausgang wählen würde, wußten doch nur sehr wenige Menschen davon. Sie würde die Kirche bestimmt durch das Portal verlassen, also wartete ich auf dem Kirchenfriedhof auf sie. Ich war seit mehreren Jahren nicht mehr auf diesem Friedhof gewesen und als ich ihn an diesem Tag wieder sah, überkam -76-
mich ein seltsam anrührendes Gefühl. Ich kannte jemanden, der hier beerdigt war, jemand, den ich einmal geliebt hatte. Ich nahm ein paar Blumen von einem frischen Grab und legte sie auf das Grab meiner alten Freundin. Der Grabstein trug eine schlichte Inschrift, dort stand, in fetten Großbuchstaben, lediglich ein Wort: EMMA Denn hier lag Emma begraben. Eine kurze Rundreise um die Erinnerung an eine Frau namens Emma, Lange bevor Tearsham Park seinen Namen in »Das Observatorium« änderte und kurz bevor ich anfing, Handschuhe zu tragen, gab es eine Zeit, die man als die Emma-Monate kannte. Emma, bereits eine alte Frau, als ich sie kennenlernte, war die gute Seele des Dorfes Tearsham, in dem das Haus meines Vaters, Tearsham Park, bei weitem das größte Anwesen war. Sie half den alten Junggesellen und Jungfern in unserem Dorf. Sie brachte den Kindern das Schwimmen bei. Sie besuchte die Kranken. Sie betete für die Toten. Wie ich vermute, gehörte zu ihren guten Taten, die der Allgemeinheit weniger in Erinnerung geblieben waren, ein Wunder, das sie eines Tages in Tearsham Park vollbrachte. Emma brachte mir das Sprechen bei. Als Kind hielt man mich für zurückgeblieben, gleichwohl ich selbst mein nicht vorhandenes Sprechen weniger auf Blödheit als vielmehr auf Sturheit zurückführen würde. Ich hatte es nicht eilig zu sprechen. Ich konnte mir nicht vorstellen, welchen Vorteil mir Wörter gewähren mochten. Wörter bedeuteten in der Regel Gesellschaft und ich war schon immer allein am glücklichsten. Viele Lehrer und Therapeuten waren nach Tearsham Park geschickt worden und alle waren wieder -77-
abgezogen, ohne auch nur ein einziges Wort aus mir herauszukitzeln. Meinen Eltern waren die Lehrer ausgegangen, und irgend jemand mußte wohl Emma als ultimatives Mittel gegen mein Schweigen vorgeschlagen haben. Obgleich meine Eltern skeptisch waren, traf Emma am nächsten Tag ein, da es keine Alternative mehr gab. Emmas Äußeres Von Emma, die niemals verheiratet gewesen war, sprach man nie als Miss Soundso, sondern einfach als Emma, nur Emma. So nannte ich sie, so nannte sie jeder. Sie lebte allein in einem kleinen Cottage am Dorfrand. Emma trug Schwarz. Die ganz- inSchwarz-gekleidete Emma. Immerzu schwarz. Selbstgeschneiderte schwarze Kleider. Schwarze Mütze, schwarze Bluse, schwarzer Rock bis hinunter zu den Knöcheln. Dicker, schwarzer Stoff selbst im Sommer. Kratzig. Emma roch. Ich verbrachte Tage mit der Suche nach den Bestandteilen, die ihren Gestank beschreiben konnten. Ich wurde schließlich in der Küche fündig. Emma roch wie gekochte Karotten. Aus Emmas Gesicht wuchsen lange, graue Haare, so als hätte sich ihr Kinn in einem Spinnennetz verfangen. Emmas Haut war das Schlimmste. Als sie zum ersten Mal nach Tearsham Park kam, hatte ich Angst vor ihr. Ich hatte Angst vor ihrem Bart, ihren Kleidern, ihrem Geruch, aber am allermeisten angst machte mir Emmas Haut. Häufig schloß ich die Augen, nur damit ich ihre Haut nicht ansehen mußte. Es ist schwierig, Emmas Haut zu beschreiben. Zutaten für eine Beschreibung von Emmas Haut: Man nehme eine Apfelsine. Schäle sie. Lasse sie sodann mehrere Tage in der Sommersonne liegen. Die in der Sonne liegende Apfelsine verliert ihre Farbe, wird weiß und entwickelt dicke, tiefe Furchen. Sie wird auch kleiner. Man zerteile die Apfelsine, nehme eines der dicken, -78-
ausgedörrten und faltigen Stücke und reiße es in der Mitte auseinander. Darin, genau in der Mitte, befindet sich ein winziges Stück der ursprünglichen Orange - immer noch fleischig, sich immer noch an einen Rest von Saft klammernd. Müßte ich Emma schälen, dann hätte ich irgendwo tief in ihrem Inneren, hinter dieser dicken und scheintoten Hülle, ein bißchen Leben, ein bißchen Blut gefunden. Ich mochte Emma nicht. Nicht zu Anfang. Ich wollte, daß sie wieder ging, ich veranstaltete einen ziemlichen Affentanz und schmiß alles mögliche durch die Gegend. Später betete ich, sie möge ewig leben, aber zunächst flehte ich inständig, daß sie nachts einen schmerzhaften Tod starb. Und doch wußte ich mit meinem Kinderverstand, daß es wenig Hoffnung gab, denn trotz ihres uralten äußeren Erscheinungsbilds verrieten ihre Augen mehr Energie, mehr Leben, als in meinem jugendlichen Körper zu finden war. Lakritzstunden Die geschwärzte und bärtige Emma schloß und verriegelte die Kinderzimmertür hinter sich. Sie lächelte mich nicht an. Sie betrachtete mich kurz und völlig ausdruckslos. Sie setzte sich. Sie öffnete ihre (schwarze) Tasche, nahm eine Tabaksdose und ein Bündel schwarzes Zigarettenpapier mit Lakritzgeschmack heraus. Sie drehte sich eine Zigarette. Sie saß da und rauchte. Sie nahm einen kleinen (schwarzen) Plastikaschenbecher aus ihrer Tasche, stellte ihn vor sich auf den Tisch und füllte ihn mit Asche. Als die Zigarette aufgeraucht war (dies dauerte einige Zeit und sie rauchte, bis sie sich an dem angefeuchteten Ende beinahe die Finger verbrannte), klopfte sie mit den Fingern auf den Tisch. Sie wartete, daß etwas passierte. Ich saß am anderen Ende des Tischs und wartete, daß passierte, was immer da passieren sollte. Stille. Emma nahm ein Stück Lakritz aus ihrer -79-
Tasche und lutschte geräuschvoll daran. Schließlich war auch das verschwunden. Sie saß still da. Ich wartete. Nichts. Sie drehte sich eine weitere schwarze Zigarette. Sie rauchte schweigend. Mein erster Emma-Tag wurde in Zigaretten und Lakritze gezählt. Sie sagte nichts. Ich ächzte nicht, beobachtete nur. Stunden des Wartens mit Zigaretten- und Lakritzkonsum als einziger Abwechslung. Als die kleinen schwarzen Stummel den Aschenbecher gefüllt hatten und ihre Tüte mit Lakritze leer zu sein schien, stand Emma wieder auf, schob den Stuhl ordentlich unter den Tisch, ging zum Fenster hinüber, öffnete es, leerte den Aschenbecher, verstaute ihn wieder in seinem schwarzen Zuhause, schloss das Fenster, entriegelte die Tür, ging hinaus und schloss die Tür von außen wieder ab. Das war mein erster Tag mit Emma. Das Echo Was die Tage Nummer zwei und drei mit Emma betrifft, siehe Tag eins. Der vierte Tag brachte eine neue Erfahrung. Die Stunden mit Emma waren für mich alles andere als angenehm. Ich war ruhelos. Ich wartete darauf, daß sie etwas tat oder sagte. Ich zappelte herum. Ich ließ meine Beine unter dem Tisch baumeln. Ich fing an, mit den Füßen aufzutreten. Emma schaute auf, sie nickte. Ich stampfte fester mit den Füßen auf, sie fing an, mit ihren (schwarzen) Holzschuhen zu trampeln. Wir veranstalteten eine n Höllenlärm. Wir trampelten weiter. Ihre Holzschuhe machten einen beeindruckenden Krach auf dem Boden. Als ich aufhörte zu stampfen, hörte sie auf zu trampeln. Wieder Stille. Sie steckte sich eine weitere Zigarette an. Ich stand auf, rannte zur Kinderzimmertür und trommelte mit den Fäusten dagegen. Ich stöhnte. Ich jaulte. Ich brüllte. Erst als ich mich wieder beruhigt hatte, registrierte ich, daß Emma Beifall -80-
klatschte und sogar lächelte. Sie hielt mir ein Stück Lakritz hin, das ich offensichtlich essen sollte. Ich nahm es. Ich warf es auf den Boden, ich stampfte darauf, ich trat das verdammte schwarze Ding platt. Sie nahm ein weiteres Stück heraus, ließ es fallen und zermalmte es unter ihren Holzschuhen. Ich schrie. Emma schrie, genau so laut und genauso panisch. Ich schenkte ihr ein Jaulen, das einen in den Wahnsinn treiben konnte. Sie gab sich alle Mühe, auf dieselbe Weise zu antworten, aber ihrem Jaulen fehlte mein voller Klang. Ich hörte auf zu schreien und zu jaulen, denn in diesen Gesten lag wenig Ho ffnung. Emma ahmte meine Geräusche nur nach und zeigte keine Angst vor Lärm. Wie auch immer, es war ohnehin niemand gekommen, um mich zu retten. Emma sprach: Frrrrr. Ffffrrrrrr. Ich sah sie beleidigt an. Ich verstand. Falls ich das Kinderzimmer je verlassen wollte, dann nur, nachdem ich dieses Geräusch nachgemacht hatte: fffrrrrrr. Ich lerne sprechen Fffirrrrrr, sagte Emma. Ffffff, versuchte Francis. Rrmr. Errrrr. Rrrrr. Rrrrr. Ffrffrrrrrr. Ffffff. Rrrrr. Fffrrrr. rffrrr Ffffrrrr. Aaaaaa. -81-
Aaaaaah! (Den kannte ich.) Ffrrrrraaaaa. Ffffaaaa. Ffffrrraaaa. Fffrrrraaaa. Fffffrrrraaannnn. Nnnn. Nnnn. Ffffrrrrraannn. Fffrrrraaannn. Ssssss. Ssssss. Fransss. Franssss. Iiiiiii, sssss. Iiiiissss. Fraanssiiissss. Ffraaanssiiisss. Francis. Frarncissss. Francis. Frarncis ss. Francis. Francis. (Pause.) Francis. Francis. Francis. Francis. Francis. Francis. Francis! Und Emma zeigte auf mich. Ich war dieses Geräusch. Ich war dieses Francis. Sagte ich: Francis. Und zeigte dabei auf mich. -82-
Emma streckte ihre faltige, kalte Hand aus. Ich zuckte zusammen. Sie nahm meine Hand und legte sie in ihre Hand. Wir schüttelten uns die Hände. Francis und Emma schüttelten sich die Hände. Mutter kennenlernen Emma schloß die Tür des Kinderzimmers auf. Wir gingen Mutter im Salon besuchen. Franc is, sagte ich. Mutter küßte mir das ganze Gesicht ab und streichelte mein Haar, sie sagte zu mir: Mutter, Mammi. Sag Mammi. Francis, sagte ich. Überspringen wir einige Monate und viel Lakritze. Ich konnte reden. Ich konnte Sätze sprechen. Ich konnte mit jedem sprechen und ihre Antworten verstehen. Ich hatte, mit Bedauern, die Welt der Kommunikation betreten. Allerdings wäre ich nicht dort geblieben, wenn da nicht eine Sache gewesen wäre… Die Unterhaltung der Kinderzimmertage Stapf, stapf, stapf! Die Süßwarenhändlerin, die Tabakhändlerin, die Audio-Bibliothekarin war auf dem Weg. Hereinspaziert kam sie. Sie nahm meine Hand. Wir wünschten uns einen guten Morgen. Sie setzte sich. Sie drehte sich eine Zigarette, viel zu langsam, sie wußte genau, worauf ich wartete, sie machte es mit Bedacht. Sie nahm ihre Streichhölzer heraus, viel zu langsam, viel zu langsam. Das erste erlosch, noch bevor es seinen Zweck erfüllen konnte, sie hatte es ausgehen lassen und zwar absichtlich, da war ich sicher. Mit dem zweiten zündete sie ihre Zigarette an. Sie nahm einen langen, tiefen Zug. Rauch quoll aus ihrem Mund. Stille. Was sollen wir heute machen? -83-
Das war es. Darauf wartete ich. Eine Geschichte, eine Geschichte, rief ich. Das war es, was ich immer und für alle Zeiten wollte. Emmas Geschichten wurden komplexer und faszinierender, je besser ich sprechen lernte. Emmas Geschichten waren von Generation zu Generation überliefert worden, wobei sie sich immer ein wenig veränderten auf dem Weg von Mutter oder Großmutter zum Kind. Emma hatte viele der Geschichten, die sie erzählte, von ihrer Großmutter gehört: Sie lernte sie auswendig, schmückte sie dann aus oder vergaß Teile und ersetzte diese Teile durch eigene Zusätze. Häufig verlangte ich, daß sie bestimmte Geschichten wieder und wieder erzählte, manchmal veränderte sie dann den Schluß oder überließ es mir, sie zu Ende zu bringen. Wie kann ich Emmas Geschichten beschreiben? Sie waren lebendig. Sie bewegten sich. Sie lebten! Sie waren ein wirbelnder Strudel aus Farben und Gerüchen, die niemals eingefangen werden konnten. Sie veränderten ihre Form, verschlangen sich ineinander, widersprachen sich, die Enden jagten die Anfange, sie schweiften abrupt vom Thema ab oder stürzten sich in andere Geschichten, als wechselten sie nur die Bahnen, preschten in merkwürdige Richtungen davon, vergaßen sich selbst, erinnerten sich wieder, verwandelten sich von Liebesgeschichten in Tragödien oder wieder zurück in Komödien. Ich hörte von Prinzen und Prinzessinnen, von Stiefmüttern, von Eseln, die Gold kackten, von Drachen, magischen Königreichen, Ungeheuern, Blaubärten, Hexen, Kobolden, Riesen, Trollen und vielen anderen Traumgestalten. Neben den typischen Märchenfiguren erfand Emma eigene. Und von ihren eigenen Geschichten begannen einige nicht in irgendeinem imaginären Königreich, sondern in Tearsham Park. Diese Geschichten fingen häufig so an: Oben im Kinderzimmer ahnte niemand etwas davon, aber unten in der Bibliothek widerfuhr Mr. Orme etwas höchst Außergewöhnliches. Mein Vater, geistesabwesend und geheimnisvoll, den wir so oft -84-
irgendwo im Haus antrafen, wie er ins Nichts starrte oder mit einer ungeheuren Neugier vor dem einen oder anderen Gegenstand kauerte, wurde mit Emmas Hilfe zur magischsten Figur von allen. Emma erzählte von Vaters Abenteuern. Wenn Vater von meiner Mutter auf einen Spaziergang aus dem Haus geschickt worden war, erzählte Emma mir, er sei auf Safari gegangen in ein fremdes, weit entferntes Land, wo die Menschen Köpfe in ihren Bäuchen hatten; wenn wir ihn, von Maulwurfshügeln fasziniert, auf den Weiden sitzen sahen, dann schickte Emma ihn tief hinein in die Erde, wo alte, haarige Leute lebten; oder sie beschwor Stürme herauf, die Vater mit hinauf in den Himmel nahmen, wo er fremdartige, gewichtslose Wesen besuchte, die in den Wolken lebten. Und beinahe glaubte ich all diese Geschichten. Wenn ich Vater anschaute, erschienen sie mir völlig plausibel. Das Ende von tausend Geschichten An einem gewissen Tag kam Emma zu spät. Ich ging hinunter, um es Mutter zu sagen. Sie meinte, ich solle im Kinderzimmer warten, Emma würde schon noch kommen. Als sie jedoch nicht kam, ging ich sie suchen. Emmas Haustür war geschlossen, aber nicht verriegelt. Ich ging hinein. Emma saß vor ihrem Kamin. Das Feuer war bereits vor vielen Stunden niedergebrannt. Emmas Augen waren geschlossen. Mit geschlossenen Augen war auch ihre ganze Energie erloschen. Es sah so aus, als wäre ihre Haut aus verbranntem Papier, ihre Kleidung aus Zigarettenasche. Ich war überzeugt, wenn ich pustete, würde ihr Kopf auf die Brust sinken und beide Teile, miteinander verbunden und unergründlich wie Emma, würden schon bald hinabschweben zu dem, was einmal Emmas Füße gewesen waren und dann würde die ganze Emma, die alte Emma, ordentlich in einem kleinen Häufchen dort liegen und darauf -85-
warten, weggekehrt zu werden. Das erloschene Kaminfeuer würde wie ihre Zwillingsschwester erscheinen. Aber ich pustete nicht. Emma sank nicht in sich zusammen; ich dachte nur meine kindischen Gedanken. Ich zog an ihrem Ellbogen. Emma schaute nicht auf. Die Bibliothek war geschlossen, die Geschichten lagen verschlossen unter ihrer steifen Zunge und würden nie mehr zum Spielen herauskommen. All die Wesen, von den Trollen bis hin zu den Prinzessinnen, all ihre Helden und Abenteuer waren Emmas Hals hinunter in den Abgrund ihrer ruhenden Organe gesunken, inmitten von Blut, das jede Vorstellung davon verloren hatte, was Bewegung war. Emma war ein totes Ding. Sie hatte sich genau in der Mitte ihre Lippen verbrannt, sie hatte eine Lakritzpapierzigarette geraucht, als sie gestorben war und diese hatte sie überlebt. Sie war im erkaltenden Blut ihres Mundes ausgegangen, hatte ihre Lippen noch gewärmt, als alles andere längst kalt wurde. Die letzte warme Stelle an dem Menschen, der mir das Sprechen und das Denken beigebracht hatte, wie ich meine Phantasie benutzen und mir Geschichten ausdenken konnte, die letzte warme Stelle waren die Lippen und die Spitze ihrer Zunge gewesen. Auf einem Tisch neben dem Kamin lag eine Tabaksdose und ein Bündel schwarzes Zigarettenpapier. Ich nahm sie für meine Freunde, ich übergab sie meinen Taschen (Positionen 44 und 45). Aber Emma war immer noch auf dem verwahrlosten Kirchenfriedhof anzutreffen. An diesem Tag saß ich da und starrte auf den Grabstein: EMMA Unsere zweite Unterhaltung
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Ich bemerkte die neue Bewohnerin. Sie stand im Portal der Kirche, rauchte eine Zigarette und beobachtete mich. Sie sind mir gefolgt, nicht wahr? Nein, danke. Warum sind Sie mir gefolgt? Ich lege Blumen auf das Grab eines Freundes. Nein. Wollen Sie etwas von mir? Es wäre besser, wenn Sie bis Ende der Woche verschwunden sind. Ich habe aber nicht die Absicht zu gehen. Man hat schon gehört, daß Leute ihre Absichten ändern. Ich nicht. Man hat schon gehört, daß Leute, die versprechen, niemals ihre Absichten zu ändern, dann doch ihre Absichten ändern. Tja, ich jedenfalls nicht. Wir werden sehen. Wollen Sie mir etwa drohen? Schon möglich, daß Sie auf unerwartete Hindernisse stoßen. Sie sind wirklich ein äußerst boshafter kleiner Mann. Wenn Sie es unbedingt so ausdrücken müssen, ziehe ich das Wort bösartig vor. Auf jeden Fall bin ich größer als Sie. Vor Ihnen habe ich keine Angst. Wir werden sehen. Der Pförtner hat gesagt, Sie wären ein bißchen zurückgeblieben. Ist das wahr? Diese Unterhaltung ist für mich hiermit beendet. (Ich schickte mich an zu gehen.) Ist das die Wahrheit? Der Pförtner weiß gar nichts von mir. (Ich schickte mich an, auf der Stelle zu gehen.) -87-
Ich heiße… Ich brauche keine Namen! Oh, diesen werden Sie aber brauchen, Francis Orme. Merken Sie ihn sich gut. Ich höre nicht zu! Ich heiße Anna Tap. Die Erkenntnisse von Peter Bugg, Schulmeister im Ruhestand, Hauslehrer im Ruhestand, etc Peter Bugg erwartete mich bereits, als ich an diesem Tag unmittelbar nach meinem zweiten Gespräch mit der neuen Bewohnerin zurückkehrte, die nun, wie ich zur Kenntnis nehmen mußte, den Namen Anna Tap trug. Peter Bugg war verwirrt. Verwirrung in Gestalt von Schweißperlen und Tränen kullerten aus ihm heraus. War er in Anna Taps vorübergehender Wohnung gewesen? War er. Hatte er eine Bestandsaufnahme ihrer Besitztümer gemacht? Hatte er. Er hielt eine schweißgetränkte Liste in seinen schwitzenden Fingern. Hatte er die Gegenstände umgeräumt? Hatte er. Versprochen. Allerdings, sagte er, sei dies schwierig gewesen. Schwere Gegenstände? Nein. Zu viele Gegenstände? Nein. Empfindliche Gegenstände? Nein. Er zeigte mir die Liste: Eine Bestandsaufnahme der Besitztümer von Anna Tap. Nr. 18, Das Observatorium. Vorübergehender Bewohner. Bett……………………………………………………………... 1 Laken, Kopfkissenbezug……..............………………(jeweils). 4 Kopfkissen……………………………………………………... 2 Decken………………………………………………………..... 2 Handtücher (weiß, identisch)…………………………………... 3 Stühle (identisches Design - preußischblau, Plastik, -88-
Metallgestell) ………………………………………….............. 2 Tische (identisches Design - Resopalplatte, Metallgestell) …... 2 Mantel (schwarz)……………………………………………..... 1 Blaue Kleider (identisch) ……………………………………… 8 Schwarze Schnürschuhe (flache Sohlen, alle identisch) (Paare) 3 Socken (schwarz, identisch)…………………………....(Paare) 8 Unterwäsche (BHs, Schlüpfer)……………………........(Paare) 8 Brillenetui (leer, Stahl)……………………………………….... 1 Zahnbürste, Zahncreme, Seife, Shampoo, Deodorant...(jeweils) 1 Tablettenpackung (Aufschrift: DIHYDROKODEINTARTRAT)…..... 1 Koffer (schwarz)……………………………………………….. 1 Das waren sämtliche Gegenstände, die in Wohnung 18 zu finden waren. Ich bestand darauf, dass es noch mehr geben müsse. Irgendwelche Schreibgeräte, Briefe vielleicht? Photos, Bücher, Zeitschriften? Nein. Bilder, Poster, Ziergegenstände? Nichts. Er hatte nicht überall gesucht. Er bestand beharrlich auf dem Gegenteil. Das einzige, was er nicht mit auf seine Liste gesetzt habe, sagte er, seien verschiedene Lebensmittel gewesen. Er fügte außerdem hinzu, daß sie keinerlei Küchengeräte besaß. Keinen Kühlschrank, keinen Herd. Die Nahrungsmittel seien entweder frisch oder in Konservendosen. Alles mußte kalt verzehrt werden. Das Problem, das der arme Peter Bugg hatte, bestand darin, Anna Taps Besitztümer so hinzustellen, daß es aussah, als hätten die Dinge neue Plätze eingenommen. Seine ersten Versuche, Kleidung und Schuhe umzuordnen (die bereits vor seiner Ankunft an verschiedenen Stellen der Wohnung zu finden waren), hatten damit geendet, daß die Wohnung hinterher genauso aussah wie zuvor. Als wäre Peter Bugg überhaupt nie dort gewesen. Die Unterwäsche habe ich nicht angerührt. Gleichwohl mir nicht entging, daß die Schlüpfer kleine weiße Schleifen hatten. Die Schleifen machten mich traurig, ich weiß -89-
selbst nicht, warum. Auch das Bett schob er nicht an eine andere Stelle. Es war zu schwer. Die Stühle hatte er an einen anderen Platz gestellt, aber am Ende sah es dennoch nicht so aus, als hätten sie sich wirklich bewegt. Beide waren absolut identisch. Am Ende entschied sich Peter Bugg, bei seinen Umräummanövern alles andere als subtil vorzugehen. Er brachte die Bettwäsche ins Wohnzimmer. Die gesamte Kleidung und alle Schuhe brachte er ins Eßzimmer. Sämtliche Toilettenartikel (Handtücher, Zahncreme etc.) brachte er in die Küche und die Lebensmittel ins Bad. Das Brillenetui (leer) legte er ins Gästezimmer. Allerdings rührte er die Unterwäsche, wie er beteuerte, nicht an. Das Ganze wurde für den armen Peter Bugg noch schwieriger durch die rosa Gummihandschuhe, die ich ihm aufgenötigt hatte. Die Handschuhe, sagte er, hätten bewirkt, daß seine Hände nur noch mehr schwitzten. Darüber hinaus hatte er ohnehin eine ziemliche Angst vor seiner Aufgabe und schwitzte und heulte bei ihrer Umsetzung gewaltig. Sich die Stirn oder die Augen mit Gummihandschuhen abzuwischen erwies sich als wenig hilfreich, da das Gummi die Feuchtigkeit nicht aufnahm. Der geringe Umfang von Anna Taps Besitztümern sowie die Ähnlichkeit, die sie untereinander hatten, beunruhigte uns sehr. Die Vielzahl gleicher Gegenstände ließ, entschieden wir schließlich, auf einen ordentlichen, einen zu ordentlichen Kopf schließen. Darüber hinaus wies sie auf eine bemerkenswert geringe Eitelkeit oder Liebe zu Dingen hin. Wir waren uns am Ende sicher, daß Anna Taps recht schlichter Lebensstil nur provisorisch war. Ihre restlichen Sachen würden sicherlich bald nachkommen. Natürlich würden wir dafür Sorge tragen, daß uns Anna Tap noch vor deren Ankunft verlassen hatte, denn mehr Gegenstände würden ihr nur Mut machen, länger bei uns zu verweilen; persönliches Eigentum verleiht Menschen ein gewisses Sicherheitsgefühl. Wir waren hocherfreut, daß ihr Einzug noch nicht abgeschlossen war. Zum Glück bedeutete -90-
dies auch, daß es weniger Arbeit beim Verlassen der Wohnung gab. Wir hörten Anna Tap in ihr zeitlich befristetes Zuhause zurückkehren und dann, wenig später, erreichte uns ein jäher Schrei aus dem dritten Stock. Unten in Wohnung 6 lächelten Bugg und ich uns an. Ein Todesfall erschüttert uns mehr als die Hinterbliebenen Als wir zur verabredeten Zeit während der Abendnachrichten Miss Higgs besuchen wollten, um ihr von unseren Fortschritten zu berichten, hörten wir Stimmen aus ihrer Wohnung kommen. Diese Stimmen, es waren zwei, gehörten nicht zu einem Fernseher. Die Stimmen gehörten Miss Claire Higg, Fernseheinsiedlerin und Anna Tap, vorübergehende Bewohnerin von Apartment 18. Zwei Stunden später, während der nächsten Nachrichtensendung, wurden wir aufgeklärt. Claire Higg hatte einen zutiefst betrüblichen Verlust erlitten. Es hatte einen Todesfall gegeben. Wir waren überrascht, konnten wir uns doch nicht erinnern, daß sie Freunde oder Verwandte hatte, konnten wir uns doch niemanden vorstellen, dessen oder deren Tod sie erschüttert haben könnte. Die Nachricht über den Todesfall hatte sie veranlaßt zu schreien. Es war nicht, wie wir zunächst glaubten, Anna Tap, die beim Betreten ihrer provisorischen Wohnung geschrieen hatte, sondern Claire Higg. Diese hatte ihre Wohnungstür geöffnet, um zu schreien, wobei sie hoffte, daß der Schrei die Ohren von Peter Bugg oder Francis Orme erreichen würde. Sie wollte Gesellschaft. Sie brauchte Trost. Doch die Gesellschaft, nach der sie verlangte, war nicht gekommen. Statt dessen hatte sie Besuch bekommen von Anna Tap. Claire Higg beeilte sich, darauf hinzuweisen, daß Miss Tap im Gegensatz zu Peter Bugg und Francis Orme umgehend -91-
gekommen war, um Beileid und Trost zu spenden. Der Todesfall war völlig überraschend gekommen. Der Verstorbene sei erschossen worden, erklärte sie und zwar aus kürzester Entfernung. Sieben Schüsse. Er stürzte zu Boden. Er hatte nicht die geringste Chance. Wer ist tot? Wer wurde erschossen? Miss Claire Higg zeigte auf eines der Photos des Mannes mit dem Schnurrbart, die sie aus einer Illustrierten ausgeschnitten hatte. Nun mag man denken, daß ein solcher Todesfall, der Tod einer frei erfundenen Gestalt, wohl kaum Grund zum Schluchzen sein kann. Unter Umständen sind solche Todesfälle einen Seufzer wert, aber nicht mehr. Jedoch nicht bei Miss Higg. Für sie stellte dieser Todesfall eine echte Tragödie dar. Für sie war der schnurrbärtige Mann eine echte Person, er war ihr Freund. Der ihr auf grausame Weise genommen wurde durch (ihrer Überzeugung nach) echte Kugeln. Zum Beweis gab es sogar (falsches) Blut. Wir konnten nicht sagen, Keine Sorge, Miss Higg, es ist nur eine Geschichte. Der Scha uspieler mit dem Schnurrbart lebt noch und es geht ihm gut. Das konnten wir nicht sagen. Hätten wir es versucht, hätte Miss Higg uns nur ungläubig angestarrt und geseufzt, Du armes Geschöpf, du armes Geschöpf. Waren wir wieder zu lange in der Sonne gewesen? Nein, nein, wir mußten diese absurde Scharade fortsetzen und Claire Higg trösten, weil wir ja herausfinden wollten, was sich zwischen ihr und Anna Tap abgespielt hatte. Offenbar war Anna Tap sehr liebenswürdig gewesen. Sie hatte Claire Higg sogar eine ihrer Zigaretten angeboten. Der Verstorbene hatte ebenfalls geraucht. Eine andere Marke zwar, aber die Wirkung war die gleiche: Higg fühlte sich dem Schnurrbartträger näher. Anna Tap hatte sich offenbar geduldig Miss Higgs Erinnerungen an den toten Mann ange hört. Besser gesagt, an die tote fiktionale Gestalt… ich lasse mich wirklich gehen. Miss Tap hatte sogar gesagt, sie würde gerne wissen, wie sich ein solcher Verlust anfühle. -92-
Aber nein, meine liebe Annie und stören Sie sich nicht daran, wenn ich Sie meine liebe Annie nenne und nicht Anna. Sie sollten von Glück reden, daß Sie noch nie einen solchen Verlust erlitten haben. Es ist wirklich schrecklich. Jetzt werde ich wahrscheinlich bis an mein Lebensende Schwarz tragen müssen. Wissen Sie, Miss Higg… Nennen Sie mich Claire, alle meine Freunde nennen mich Claire. Wissen Sie, Claire, ich hatte nie jemanden, den ich verlieren konnte. Niemanden, den Sie verlieren konnten? Unsinn. Wissen Sie, ich bin… Waise. Über die Ermutigung der neuen Bewohnerin zur Abreise Am nächsten Tag war ich zeitig aus dem Haus und erstand beim Schlosser, zu dem man vom Observatorium aus nur zehn Minuten zu gehen hatte, ein neues Türschloß mit zwei Schlüsseln. Bugg und ich hörten Anna Tap weggehen, woraufhin wir uns mit Schraubenzieher, Hammer und Meißel bewaffnet Wohnung 18 näherten. Vor Wohnung 18 erwartete uns eine unangenehme Überraschung. Zwanzig, die Hundedame, zottelig und geduckt, vielleicht ein wenig sauberer als gewöhnlich, aber immer noch abstoßend, stand Wache für ihre neue Freundin. Ein menschlicher Wachhund. Sie knurrte Bugg an, der daraufhin sofort zu schwitzen begann und mich ebenfalls. Ich hielt die Hände hinter meinem Rücken. Wir kehrten zurück nach unten. Das war es dann wohl, es gibt nichts, was wir tun können. Der blöde Bugg, unterbelichteter alter Schulmeister, unterbelichteter alter Hauslehrer. Passionierter Büchernarr, ein -93-
aus Büchern bestehender Kopf, ein Kopf, bestehend aus Blättern voller winziger Buchstaben. Eine Haut aus Papier, das Papier seiner Haut glühte vor Worten, Worte, die unter seinem Schweiß glänzten. Wer hat das Buch Peter Bugg gelesen? Niemand. Wer möchte das Buch Peter Bugg lesen? Niemand. Es bleibt auf dem Regal stehen. Dorthin wurde es kurz nach Erscheinen gestellt, die Auflage bestand aus nur einem Exemplar und niemand hatte je danach gefragt. Es würde staubig sein, aber ein solches Papier schwitzt. Niemand möchte das Buch Peter Bugg ausleihen. Die letzten Seiten bleiben leer. Für den Augenblick. Es ist ein in schwarzes, wollartiges Material gebundenes Buch, das sich am unteren Ende nach außen hin ausbeult. Es heißt Die Geschichte von Peter Bugg, Lehrer im Ruhestand, Privatlehrer im Ruhestand, etc. Dort steht es, ein Buch unter vielen. Es ist keine Liebesgeschichte, es ist kein Thriller, zwischen den Buchdeckeln ist kein Mord versteckt und auch keine Abenteuer. Um die Lektüre ein wenig kurzweiliger zu gestalten, finden sich über das Buch verteilt einige Bilder: eines vom Vater der Hauptperson, die anderen sind ausnahmslos Schulphotos, glückliche, läche lnde Jungs. Das ist alles. Um ehrlich zu sein, es ist ein recht altmodisches Buch. Was nicht heißen soll, daß es je modern war. Auch wird es nie modern sein. Peter Bugg wurde geboren, Peter Bugg unterrichtete, Peter Bugg atmete. Wen interessiert das? Das war es dann wohl, es gibt nichts, was wir tun können. Es gab doch etwas, Peter Bugg, es gab doch etwas, Sir, nämlich alles, was wir tun konnten. Ich schickte ihn los. Auf jetzt. Gehen Sie und besorgen Sie uns einen Hund, einen der Stadthunde, einen wilden, aber nicht zu wild, lassen Sie sich nicht beißen, bringen Sie ihn her. Heulend, schwitzend und stöhnend kehrte er zurück, sein nervöser Körper war in schrecklicher Angst vor dem, was er kaum tragen konnte: einen Hund, ein flohverseuchtes Hündchen. Ich legte etwas rohen Speck auf die Treppe direkt unterhalb der -94-
dritten Etage und scheuchte das Hündchen hinauf, um ihn zu holen. Das Hündchen schnappte sich den Speck. Aber dann kam das Hündchen sofort zurückgeflitzt, kam jaulend wieder die Treppe herunter, rannte um sein Leben. Ihm folgte Zwanzig, die Hundedame. Bitte schön, Sir, das ist es, was getan werden konnte. An diesem Tag wechselten wir das Türschloß von Wohnung 18 aus. Bugg behielt das alte Schloß. Ich behielt den einen Schlüssel des neuen Schlosses, Peter Bugg den anderen. Hier. Jetzt wird sie todsicher ausziehen. Jetzt konnte ich wieder arbeiten gehen. Arbeit Von der Arbeit an diesem Morgen habe ich nur wenig zu berichten. Außer daß ich wieder in meiner gewöhnlichen ungewöhnlichen Form war. Ich konnte sowohl äußere wie auch innere Reglosigkeit erreichen, und mein Publikum belohnte mich leidlich für meine Anstrengungen. Von der Arbeit an diesem Nachmittag habe ich eine unerfreuliche Angelegenheit zu melden. Ich war recht glücklich und zufrieden, bis ich, als eine Münze fallengelassen wurde (und ich die Augen aufschlug), bemerkte, daß sich auch Anna Tap unter meinen dankbaren Zuschauern befand. Als ich die Augen wieder schloß, war mir sofort klar, daß ich meine innere Reglosigkeit jetzt nicht mehr erreichen konnte. Als ich sie wieder öffnete, bemerkte ich, daß die Münze diesmal von Anna Tap fallengelassen worden war. Ich pustete Blasen in ihre Richtung. Ich schloß die Augen. Eine Münze wurde fallengelassen. Ich öffnete die Augen. Anna Tap hatte die Münze fallenlassen. Was ich jedoch zwischen dem Fallenlassen -95-
von Münzen hörte, war das eigentlich Unerfreuliche an dieser Geschichte. Die Münzen, die von Anna Tap fallengelassen wurden, waren keine Münzen, die aus ihrer Tasche genommen wurden. Sie wurden vielmehr aus meiner Blechdose genommen, die vor dem Sockel stand. Anna Tap nahm eine Münze aus der Dose und warf sie dann wieder in die Dose zurück. Wieder und immer wieder. Jedesmal, wenn eine dieser Münzen fallengelassen wurde, sah ich mich gezwungen, Blasen in ihre Richtung zu pusten. Ich bemerkte weiterhin, daß die Zahl meiner dankbaren Zuschauer stetig abnahm, während Anna Tap meine Talente auf derart erbärmliche Weise mißbrauchte. An diesem Nachmittag nahm Anna Tap meine (hart verdienten) Münzen vielleicht zehn- oder zwölfmal aus der Dose, wobei, wie ich in den Pausen bemerkte, ihr Lächeln von Mal zu Mal breiter wurde. Schließlich gab es eine lange Pause zwischen zwei Münzen, und als ich erneut die Augen aufschlug, war sie fort. Befristete Erleichterung Als ich von der Arbeit nach Hause ging, zu Fuß dieses Mal, wütend wegen meines abhanden gekommenen inneren Friedens und nicht in der Lage, das Bild der lächelnden neuen Bewohnerin aus meinem Kopf zu verbannen, fand ich Trost in einem zufällig aufgeschnappten Gespräch. Zwei ältere Frauen unterhielten sich, während sie spazierengingen und ab und zu stehenblieben, um sich die Schaufenster anzuschauen: Ja, du siehst wirklich hübsch darin aus. Es ist ein Familienerbstück. Diese Zobelstola hat meine Großmutter immer getragen. Leider wird es jetzt wieder wärmer, und ich muß sie bis zum nächsten Winter weglegen. Ich ärgere mich immer über den Sommer, weil er so warm ist und ich meine Stola nicht tragen kann. Sie fühlt sich so weich an. -96-
Fühl doch mal. Ich bin überzeugt, daß sie sich wundervoll anfühlt. Nun fühl doch mal. Ja, es ist so weich. Nimm sie ruhig. Du kannst sie eine Weile tragen, wenn du magst. Wirklich? Ja, natürlich. So weich. Es fühlt sich wunderbar an, sie zu tragen. Schau mal da im Fenster. Sieh dir diese Seidenstoffe an! Was für schöne Farben! Meinst du, wir sollten hineingehen? Oh, laß uns einfach machen! Liebes, wo ist mein Zobel? Na hier, um meinen Hals… Oh! Wo hast du ihn hingetan? Gerade war er noch hier. Und wo ist er jetzt? Meine Zobelstola! Meine Stola! Ich weiß es nicht. Sie ist gestohlen worden! Vielleicht liegt sie auf dem Boden. Oh, nein. Du Miststück, du hast sie dir einfach stehlen lassen! Ich fühlte mich gleich erheblich besser (Position 987). Peter Buggs Verrat Nachdem ich mein neues Exponat katalogisiert hatte, begab ich mich in die dritte Etage, um herauszufinden, wie es Anna Tap ergangen war, und fand dort eine unerfreuliche Situation vor: -97-
Die alte Tür von Wohnung 18 war ausgetauscht und das alte Schloß wieder eingebaut worden, von dem neuen Schloß war nirgends etwas zu sehen. Miss Claire Higgs Fernseher war nicht zu hören, obwohl es doch ihre übliche Fernsehzeit war. Statt dessen der unangenehme Klang eines Gesprächs; es waren nicht nur zwei, sondern gleich vier Stimmen. Higg hatte Gesellschaft. Zwei der Stimmen erkannte ich auf Anhieb. Claire Higg. Anna Tap. Von den beiden anderen verwirrte mich die eine, die andere brachte mich aus der Fassung. Die erste der beiden Stimmen kannte ich nicht, hatte sie noch nie zuvor gehört. Mehr noch, ich verstand nicht ein Wort von dem, was sie sagte. Es war eine irgendwie gebrochen klingende Fremdsprache. Plötzlich lachte diese Stimme, die erste Stimme. Es klang wie ein Kinderlachen, nur daß es kein Kind war. Dieses wunderschöne Lachen, so natürlich, so verwirrend in seiner Schönheit, war hier völlig fehl am Platz; in Claire Fliggs Wohnzimmer sollte es ein solches Lachen nicht geben. Die zweite Stimme sprach abwechselnd in jener Fremdsprache, jedoch flüssiger als die andere Stimme, und in unserer eigenen Sprache. Sie gehörte und ich schäme mich, dies zugeben zu müssen, das heißt, ich schäme mich nicht für mich selbst, sondern vielmehr für ihren Besitzer, einem Schulmeister im Ruhestand, einem Privatlehrer im Ruhestand und einem ehemaligen Kameraden von mir, der nach hundert verschiedenen Gerüchen stank. Peter Bugg, gar keine Frage. Um ganz sicherzugehen, klopfte ich auf dem Weg nach unten sogar an die Wohnungstür mit der Aufschrift 10. Niemand reagierte auf mein Klopfen. Peter Bugg war nicht da, versuchen Sie es später noch einmal. Allerdings war Peter Bugg nicht da! Nicht mehr in meiner Gunst und nicht mehr in seiner Wohnung, sondern oben bei Higg, Tap, einem Fremden und sich selbst. Sie waren alle auf Anna Tap hereingefallen, alle waren sie weg. DER PFÖRTNER (ich interessierte mich nicht für ihn, er konnte ruhig gehen) -98-
DER MANN MIT DER PERSONENWAAGE (in seinen Taschen werden sich ab sofort jede Woche zwei Münzen weniger befinden) DAS MÄDCHEN, DAS FRANCIS SEIT ZWEI JAHREN KANNTE, ABER MIT DEM ER NIE GESPROCHEN HATTE (von meiner Liste gestrichen) ZWANZIG, DIE HUNDEDAME (mir hat immer nur ein Hund wirklich etwas bedeutet, und der ist jetzt schon seit Jahren tot) HIGG (warte nur bis zum nächsten Stromausfall) BUGG (wen interessierte schon Peter Bugg?) Mich. Francis interessierte es. Ich hob meine Hand im Klassenzimmer von Peter Buggs Gedanken. Bitte, Sir. Sir! Sir! Schweigen, Stille. Moment, dachte ich, die kommen schon zurück. Einer nach dem anderen, in umgekehrter Reihenfolge, werden sie alle zurückgelaufen kommen. Einfach mal abwarten. Also wartete ich. Drei Stunden. Dann hörte ich endlich ein ruhiges Klopfen an unserer Tür. Und wer klopfte da wohl? Der Mann mit den hundert Gerüchen. Ein Hundehalsband Wie gewohnt schwitzte und heulte Peter Bugg übermäßig, gleichwohl diese Ausscheidungen jetzt durch die Aufregung und nicht durch Nervosität hervorgerufen wurden. Er erzählte mir, etwas ganz Wunderbares sei geschehen. Das Schloß, das Schloß. Ein anderes Mal. Jetzt! Jetzt, Peter Bugg (diesmal nicht Sir), jetzt! Hör zu, etwas ganz Wunderbares ist mit der Frau aus Wohnung 20 passiert. Aber das Schloß! Später. Hör zu. Setz dich. Die Frau aus Wohnung 20 hat angefangen zu sprechen. Ich bin sicher, du hast sie noch nie sprechen hören. Nun, heute hat sie damit angefangen. Ungefähr um fünf Uhr ist es passiert. Noch keine vollständigen Sätze. Aber nach und nach hat eine Art -99-
Kommunikation stattgefunden. Bis jetzt nur Worte. Fremdartige Worte. Aber als Lehrer vieler Fächer, der ich nun einmal bin… Der Sie einmal waren. … ist es mir gelungen, einige der Worte zu so etwas wie einer Bedeutungseinheit zu verbinden. Anscheinend fühlt sich diese Frau, die ich zwar schon gesehen, allerdings nie weiter beachtet habe, sehr zu Hunden hingezogen. Anfangs war Hund das einzige Wort, das sie herausbrachte. Natürlich in ihrer eigenen Sprache. Von uns ermutigt, ging sie dann einen kleinen Schritt weiter. Ein Name. Max. Dieser Name, fragten wir uns, war er die Kurzform für Maximilian? Als wir den Namen vollständig aussprachen, jaulte sie aufgeregt. Ein Jaulen, das dem Jaulen eines Hundes sehr ähnlich war. Wir versuchten herauszufinden, wer dieser Maximilian war. Ihr Mann? Nein. Ihr Vater? Ihr Freund? Ihr Bruder? Nein. Sie sagte immer wieder Hund, Hund. Wir vermuteten, daß sie von dem Wort Hund nicht loskam. Doch dann zeigte sie uns ein Hundehalsband. Auf dem Hundehalsband befand sich ein Namensschildchen, und auf dem Namensschild stand MAX, in Großbuchstaben. Max war ein Hund, verstehst du. Genau das versuchte sie, uns zu sagen. Faszinierend. Und das Schloß? Und Anna Taps Reaktion? Es war Miss Tap, die neue Bewohnerin, die herausfand, daß die Frau sprechen konnte und obwohl sie nichts verstand, war sie sicher, daß es Worte waren, gleichwohl in einer anderen Sprache. Sie fragte also Claire, ob sie etwas verstand, ob sie die Sprache beherrsche. Claire schlug vor und zwar mit gutem Recht, daß ich womöglich behilflich sein könnte, da ich Lehrer und Privatlehrer sei… Lehrer waren. Privatlehrer waren. Ich konnte die Frau verstehen, weißt du. Ich kannte die Sprache. Und wir versuchten, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Anscheinend hat sie eine schreckliche Tragödie erlebt. Bislang scheint sie nicht in der Lage zu sein, sich an irgend etwas zu -100-
erinnern, außer daß sie einen Hund namens Maximilian hatte. Sie klammert sich an dieses verfluchte Halsband und läßt nicht zu, daß es jemand anfaßt. Es ist der einzige Hinweis auf ihr Leben und sie hat panische Angst, daß jemand es stehlen könnte. Ich spitzte die Ohren. Wie ein Hund. Und als wir langsam Fortschr itte machen, da lacht die Frau aus 20. Es ist so ein außergewöhnliches Lachen, Francis, du solltest es hören. Wir bemühen uns, mehr herauszufinden. Sie ist sehr auf Anna fixiert, sagt kein Wort, solange sie nicht da ist. Sie leckt ihr immer wieder das Gesicht und die Hände ab, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet und sie winselt, wenn Anna nicht im Zimmer ist. Ich bin nur kurz heruntergekommen, um es dir zu sagen. Ich gehe jetzt wieder nach oben, sie sind jetzt bestimmt fertig. Anna und Claire haben sie gewaschen, sie war in einem schrecklichen Zustand. Sie riecht etwas streng, aber dagegen läßt sich etwas unternehmen. Und das Schloß? Ach, ja. Das Schloß. Es tut mir leid, Francis. Kurz nachdem du zur Arbeit gegangen bist, klopfte jemand an meine Tür. Ich machte auf. Da stand der Pförtner mit Miss Tap. Der Pförtner zischte und sagte: Geben Sie mir den Schlüssel zu dem neuen Schloß an der Tür von Wohnung 18. Sie haben doch hoffentlich bestritten, ihn zu haben. Nein. Ich habe ihm den Schlüssel gegeben. Dann sagte er: Geben Sie mir das alte Schloß der Tür von Wohnung 18. Das Sprechen schien ihm irgendwie schwerzufallen. Seine Sätze waren, glaube ich, einstudiert. Sie haben doch hoffentlich darauf bestanden, das alte Schloß nicht zu haben. Nein. Ich habe ihm das Schloß gegeben. Du weißt, wie sehr ich körperliche Gewalt verabscheue. Und die Gefahr bestand definitiv. Ich schwitzte stark und weinte viel. -101-
Sir! Der Pförtner nahm den Schlüssel und das Schloß und ging. Es ist sinnlos! Miss Tap blieb noch und richtete ein paar ruhige Worte an mich. Haben Sie die Sachen in meiner Wohnung umgestellt? Habe ich. Versprechen Sie mir, so etwas nie wieder zu tun? Versprach ich. Vielen Dank, sagte sie und schickte sich an zu gehen. Ich versuchte noch, etwas zu sagen, so was wie eine Entschuldigung vorzubringen. Sie drehte sich um und sagte, recht freundlich, wie ich mich entsinne, Ich möchte kein Wort mehr hören. Wir vergessen die Sache einfach. Es ist nie passiert. Außerdem bin ich überzeugt, daß Sie dazu angestiftet wurden. Auf Wiedersehen, sagte sie, und ging. Später kam sie dann wieder, um sich nach meinen Fremdsprachenkenntnissen zu erkundigen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, Francis, jetzt nicht mehr, nachdem sich diese Sache mit der Frau aus Nummer 20 ergeben hat. Ich wußte, es würde dir nichts ausmachen. Diese ganze Sache mit den Schlössern und Schlüsseln erscheint plötzlich doch recht belanglos, findest du nicht auch? Es erschien mir nun höchst unwahrscheinlich, daß Miss Anna Taps Aufenthalt in Wohnung 18 nur von vorübergehender Dauer war. Mit ihrer Ankunft brach im Observatorium eine neue Zeit an. Genau wie bei der Ankunft Christi, welche eine neue Zeitrechnung zur Folge hatte, aus v. Chr. wurde n. Chr. Anna Taps Ankunft und Anwesenheit hatte die traurigen Jahre der Bewohner des Observatoriums in Vergessenheit geraten lassen und dabei, vielleicht unbeabsichtigt, ein Inferno entfesselt. Im Gegensatz zu Christus war Anna Tap nämlich ein Amateur in Sachen Zeitbeherrschung, sie war nie in der Lage, uns auf die eigenen Beine zu stellen und zu sagen: Vergeßt die Vergangenheit, laßt uns mit der Gegenwart anfangen und von hier aus weitergehen. Nein, das konnte sie nicht, statt dessen schleuderte sie uns zurück in unsere Vergangenheit. -102-
Ich ging zeitig zu Bett. Dieses Weiß. Diese Baumwolle. Ich schlief, während über mir flatternd Erinnerungen erwachten.
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III DIE VIER GEGENSTÄNDE Die Zeit der Erinnerungen Nun brach eine Zeit an, die auch die Zeit der Erinnerungen genannt wurde, eine merkwürdige Zeit, in der wir Bewohner des Observatoriums gezwungen waren, jene Lebenserinnerungen aufzunehmen, die ein jeder von uns aussandte, um an die Tür der anderen zu klopfen, um durch unsere Zimmer zu fliegen, um unsere Nasenlöcher hinaufzuschwimmen, während wir schliefen. Während dieser Zeit waren überall Erinnerungen, sie lauerten mit schmachtendem Blick oder lustlos mit unverbrauchter Energie, bettelten um Aufmerksamkeit auf Türklinken, auf Fensterbänken, auf Kopfteilen von Betten. Wir konnten sie nicht ignorieren, wir lauschten ihnen, wir tranken sie, wir schluckten sie und trotzdem wollten sie nicht wieder gehen. In dieser mit unseren Erinnerungen gefüllten Zeit war es schwer, die Gegenwart wahrzunehmen. Wir wußten nicht, wie spät es war oder welcher Tag, manche von uns suchten sogar nach dem Namen des Monats. Während der Zeit der Erinnerungen sahen wir unsere Zimmer, unser Hab und Gut, uns selbst durch die Wolken der Geschichte wabern. Keinem Gegenstand konnte man trauen, denn alle Gegenstände im Observatorium beteiligten sich hämisch an dieser verwirrenden Episode in unserem Leben. Wenn wir nach einem Stuhl griffen, stellten wir womöglich fest, daß dieser Stuhl gar nicht existierte: Er hatte vor Jahren einmal dort gestanden und wir hatten uns nur daran erinnert, das war alles. Die Zeit der Vier Gegenstände -104-
Eine Periode während dieser Zeit war bekannt als die Zeit der Vier Gegenstände. Die Idee dieser vier verachtenswerten Gegenstände kam jedem von uns in den Kopf und nachdem sie sich dort einmal eingenistet hatte, dehnte sie sich immer weiter aus, bis sie alles war, woran wir noch denken konnten. Ein ledernes Hundehalsband (mit einem Namensschildchen, in das MAX eingraviert war), eine runde Nickelbrille mit dicken Gläsern, ein schwarzweißes Paßphoto eines blassen Mannes (mit der Widmung Claire, Claire, ich liebe dich so sehr auf der Rückseite und unterschrieben mit A. Magnitt, Wohnung 19, Das Observatorium) und ein Lineal aus Mahagoni, das auf beiden Seiten Maßeinheiten in Zoll hatte. Die Luft war stickig vor lauter Erinnerungen, wir mußten richtiggehend um jeden Atemzug kämpfen, und während wir atmeten, saugten wir nur noch mehr Erinnerungen auf. Jeder schwelgte nur so in Erinnerungen. Kindheiten stürmten die Treppen des Observatoriums hinauf, Tote lagen in unseren Betten. Im Staub unseres Zuha uses befanden sich winzige Hautpartikel, die wir manchmal Jahre, manchmal nur Tage zuvor abgestoßen hatten. Diese Partikel fingen an, sich selbständig miteinander zu verbinden, so daß wir sahen, wie die Haut eines früheren Ichs unsere Gestalt annahm, ihre frühere Gestalt, und um uns herumstreifte: Es waren die Geister vergangener Häute. Allein Vater, geradezu wendig in seiner Reglosigkeit, gelang es, elegant über all die Geschichten, die an seinen Socken zerrten, hinwegzuschreiten und um sie herumzutanzen. Er schaffte dies, indem er seine Gedanken leer hielt, indem er diese perfekte innere Reglosigkeit erreichte, in der es keine Gedanken mehr gibt, in der Erinnerungen ersticken. Der Prolog zur Zeit der Erinnerungen hatte begonnen mit der Ankunft der neuen Be wohnerin, Miss Anna Tap. Und sie war es auch, welche die Geschichten aus uns herausholte, zumindest so lange, bis es einfach zu viele Stimmen waren, zu viele Geister -105-
von Gegenständen, als daß sie diese noch kontrollieren konnte. Eigentlich aber begann die Zeit der Erinnerungen mit einem Hundehalsband, das der Frau gehörte, die in Wohnung 20 lebte und sie endete mit einem Todesfall. Nicht mit der Erinnerung an einen Todesfall, gleichwohl Erinnerungen bisweilen mit Todesfällen enden (oder beginnen), sondern mit einem wirklichen Todesfall. Mit einer richtigen Leiche, die sich einfach weigerte, in eine Vergangenheit zurückzusinken, als wir sie berührten. Die Leiche war kalt, und sie war fest. Die Bewohner des Observatoriums versuchten, ihre gegenwärtig einsamen Leben mit Menschen aus ihrer Vergangenheit zu bevölkern, damit ihnen womöglich wieder der Sinn nach Gesellschaft stand. Sie machten sich nicht klar, daß Erinnerungen schmerzlich sein könnten. Doch das würden sie schon sehr bald merken. Erinnerungen sollten in Schädeln eingesperrt bleiben oder in einem Tunnel, der sich in seinem Verlauf immer weiter verengt. Zunächst tat ich mein Bestes, die Angelegenheit zu ignorieren, die sich zwei Etagen über mir in Wohnung 16 abspielte, aber nur einen Abend später, nach einem weiteren erfolgreichen Arbeitstag, wurde ich erneut durch das Klopfen des Mannes mit den hundert Gerüchen gestört, der mich unbedingt mit den Erinnerungen bekannt machen wollte, die freigelassen worden waren. Zwanzig erinnerte sich (1) Die Frau, die wir Zwanzig nannten, war gewaschen worden, ihr Gesicht, ihr Körper, ihr Haar war sauber. Man hatte sie in eines von Claire Higgs Kleider gesteckt, sie sah völlig verändert aus, wie man mir sagte. Sie hatte sich erinnert und sogar wieder gelacht. Zwanzig erinnerte sich an die Zahl 20. Es war die Zahl, die sie dazu gebracht hatte, auf der obersten Etage des Observatoriums zu leben. 20, die Zwei und die Null, genau in -106-
dieser Reihenfolge zusammengefügt, übten einen unwiderstehlichen Reiz auf sie aus. Sie erinnerte sich, daß sie in der Zeit, als sie in einem fremden Land lebte, genaugenommen in ihrer Heimat, in einem Wohnblock lebte, und die Zahl an ihrer Tür war genau die gleiche gewesen. 20. Claire Higg erinnerte sich (1) Der ursprüngliche Zweck der Zeit der Erinnerungen war es, Zwanzig Gelegenheit zu geben, sich selbst zu finden, sich an so vieles zu erinnern wie nur irgend möglich. Aber es ist nur menschlich, daß, hat eine Person begonnen, sich in Erinnerungen zu ergehen, eine andere Person sofort den unwiderstehlichen Drang verspürt, genau das gleiche zu tun. Und so kam es, daß Claire Higg sich an jene romantischen Tage erinnerte, genaugenommen waren es sogar Jahre, als sie ihr Herz an einen Mann namens Alec Magnitt verlor. Kein schöner Mann. Er trug weder einen Schnurrbart, noch hatte er ein magisches Lächeln. Aber er wurde von Claire Higg geliebt. Er lebte in Wohnung 19, und sie folgte ihm, als er von der Arbeit nach Hause ging. Magnitt war Buchhalter, erinnerte sie sich, während sie mit Anna Tap, Zwanzig und Peter Bugg zusammensaß, er ging nie ohne seinen Taschenrechner aus dem Haus. Higg trug Schwarz. Sie ging in ihrem Zimmer auf und ab und betrachtete all die Photos des verstorbenen Schnurrbart-Mannes, während Zwanzig damit beschäftigt war, sich zu erinnern. Und wie sie sich in ihrem Zimmer so umschaute, bemerkte sie ein quadratisches Stück ihrer Magnolientapete, das weniger schmutzig war als der Rest. Dort, an genau dieser Stelle, befand sich einmal das Photo von Alec Magnitt, erinnerte sie sich laut. Wo war es nur hin? Ich liebte Alec, sagte sie zu ihren drei Besuchern. Und Alec liebte mich auch, fügte sie inständig -107-
flehend hinzu. Auch wenn sie sich nicht wirklich daran erinnerte, daß er dies einmal gesagt hatte. Tatsächlich hatte er es nie gesagt. Aber er schrieb es einmal, auf die Rückseite eines Paßphotos schrieb er Claire, Claire, ich liebe dich so sehr. Er hatte, darauf bestand sie, er hatte diese Worte ganz dicht an Claire-Claires verfettetes Herz geschrieben. Er hatte sogar seinen Namen daruntergesetzt, erinnerte sie sich. Ein Beweis, sagte sie. Ein Beweis ihres Erinnerungsvermögens. Aber wo war dieser Beweis nur geblieben? Ja, wo ist dieses Paßphoto? Es hing genau dort, sagte sie ihren drei Besuchern und zeigte auf die Wand. Und sie ließ die drei, einen nach dem anderen, dieses heilige Stück Wand inspizieren, wo sich einmal der Beweis befunden hatte, daß Claire Higg tatsächlich geliebt worden war. Sie glaubten ihr, sie wollten keinen Beweis. Sie wollte jedoch sehr wohl, o ja, Claire sehr wohl. Beweis, wo bist du? Wo bist du, liebes Photo von meinem lieben Alec? Es war das einzige Photo, das sie von ihm besaß. Dann geriet sie in Panik, sie schrie. Anna Tap gab ihr eine Zigarette, aber das schien auch nicht zu helfen. Was ist denn los? fragten sie. Ich kann mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern! Sie schloss die Augen, und auf den Magnolienwänden ihrer Erinnerung konnte sie nur noch das Gesicht eines Mannes mit gebräunter Haut und Schnurrbart sehen, der sie mit seinem perfekten Lächeln anstrahlte. Alec? hatte sie gerufen, gleichwohl niemals in sein blasses Gesicht, dieses blasse Gesicht, an das sie sich so verzweifelt zu erinnern suchte. Auf ihrer magnolienfarbenen Wand befand sich eine Art Beweis für die Existenz dieses Gesichts. Sogar in ihrem Kopf befand sich eine Art von Beweis, auch wenn sie darauf nicht völlig vertrauen konnte. Wann immer sie an ihre Vergangenheit dachte, wurde diese geradezu sensationell, die gebrochen weißen, schmuddeligen Räume ihrer Jugend verwandelten sich in unendlich lange, goldene Strande. Sie konnte ihrem Gehirn nicht vertrauen, denn so vieles, woran es -108-
sich erinnerte, und das begriff sie in diesem Augenblick, hatte niemals wirklich ihr gehört. Sie brauchte den Beweis, nicht, um ihn diesen drei Gästen zu zeigen, sondern um ihn sich selbst zu zeigen. Wo war nur dieses Paßphoto geblieben? Zwanzig erinnerte sich (2) Nachdem Claire Higg sich ein wenig beruhigt hatte, versuchte Anna Tap erneut, Zwanzig zum Sprechen zu bringen. Und Zwanzig, nach einiger Zeit und einiger Geduld, lachte wieder ihr herrliches Lachen und erinnerte sich laut an mehr. Sie erinnerte sich, mit der Dogge ein weites, felsiges Gelände überquert zu haben. Es gab auch Bäume und sie hatte Blut am Kopf. Sie nahm an, daß sie sich den Kopf aufgeschlagen haben mußte. Und dann sah sich Anna Tap Zwanzigs Kopf an und sagte, ja, dort befände sich eine Narbe. Und so feierten dann alle Zwanzigs Annahme bezüglich ihrer Kopfverletzung, denn jetzt war auch das definitiv eine Erinnerung. Und war es nicht auch ein Fortschritt? Claire Higg erinnerte sich (2) Und nachdem Zwanzig sich an dieses weitere Detail erinnert hatte, entstand eine kurze Pause. Und in diese Pause sprang Claire Higg, nutzte dieses kurze Schweigen, um es mit sich selbst zu füllen. Sie erinnerte sich an eine Zeit, als sie in der Hauptstadt unseres Landes lebte und arbeitete. Sie arbeitete in einem großen Kaufhaus, dem größten, erinnerte sie sich, das es gab. Sie war stolz auf ihren Arbeitgeber, sie hatte dort dreiundzwanzig Jahre gearbeitet und in diesen dreiundzwanzig Jahren hatte sie die kontinuierliche Steigerung von Beliebtheit und Marktanteilen des Kaufhauses miterlebt. Sie arbeitete in der Strumpfabteilung. Sie verkaufte Strümpfe, Strumpfhalter und -109-
Strumpfhosen. Sie erinnerte sich, daß sie nur ein recht begrenztes Warensortiment zu verkaufen hatte, als sie in der Strumpfabteilung anfing. Hauptsächlich verkaufte sie Strumpfhosen aus Nylon, Wolle und Seide. Damals waren ihre Kunden in erster Linie Frauen ihres Alters, die vernünftige Kleidungsstücke kaufen wollten. Dann änderte sich der Geschmack und sie musste anfangen, auch andere Artikel zu verkaufen. Ihrer Meinung nach handelte es sich dabei um recht häßliche Dinge, besonders die aus rotem Satin. Sie erinnerte sich, wie auch ihre Kundschaft sich änderte. Mit einem Mal schienen sie weniger vernünftig zu sein, eher leichtfertig; nicht unbedingt jünger, aber mit mehr Busen und Makeup. Mit der Zeit kam ihr in den Sinn, daß sie den sexuellen Abenteuern der Menschen in unserer Hauptstadt Vorschub leistete. Das stimmte sie traurig. Ganz besonders erschütterte es sie, wenn Männer kamen, um diese ihrer Meinung nach lächerlichen Sachen mit Schnallen, Laschen und Klammern zu kaufen. Claire Higg fühlte sich mehr und mehr erniedrigt, da die Dinge, die zu verkaufen sie gezwungen war, immer erotischer wurden, denn Claire Higg hatte nur wenig Sinn für Erotik. Mit der Zeit gelangten die Inhaber des Kaufhauses zu der Ansicht, daß Claire Higg potentielle Kunden der Strumpfabteilung abschreckte; ihre verschüchterte, recht verzweifelte Ausstrahlung, ihr magerer, wenig überzeugender Körper trugen nicht zur Absatzsteigerung bei. Man ließ sie gehen, gab ihr einen Scheck. Und mit diesem Geld sowie einem Teil ihrer Ersparnisse kaufte sich Claire eine Wohnung außerhalb der Hauptstadt, die sie zunehmend verwirrte. Sie zog in eine kleinere, hoffentlich nettere Stadt, von der sie wünschte, daß sie sich dort wohler fühlen werde. Sie kaufte Wohnung Nummer 16 in einem alten Gebäude, das erst kurz zuvor in Eigentumswohnungen aufgeteilt worden war, ein Gebäude, welches »Das Observatorium« genannt wurde. Zwanzig erinnerte sich (3) -110-
Claire Higg war sehr traurig, nachdem sie all dies erzählt hatte, und die Stimmung oben in Wohnung 16 wurde melancholisch, bis Zwanzig, der Miss Higgs Geschichte nicht übersetzt worden war, plötzlich loslachte (worauf Miss Higg zutiefst gekränkt reagierte). Sie erinnerte sich daran, daß sie sich nach ihrer Kopfverletzung an absolut nichts mehr erinnern konnte. Sie erinnerte sich daran, daß sich in ihren Taschen nichts befand, was etwas über ihre Identität aussagen konnte; außer einer Dogge, die ein Halsband trug mit einem Namensschildchen, auf dem MAX eingraviert war, besaß sie nichts, was ihr auch nur den kleinsten Hinweis auf ihr Leben vor der Kopfverletzung hätte geben können. Der Pförtner erinnerte sich Und anderswo im Observatorium erinnerte sich der Pförtner während er über die neue Zwanzig sinnierte, die er einige Zeit zuvor gesehen hatte, jetzt sauber und gewaschen, dass er einmal versucht hatte, Zwanzig in ihrem ungewaschenen Zustand aus Wohnung Nummer 20 zu entfernen. Und er erinnerte sich, daß sie ihn gebissen hatte. Er reinigte die Wunde, so erinnerte er sich und aufgrund seiner hygienischen Anstrengungen war kein Andenken dort zurückgeblieben, wo Zwanzigs Zähne sich in seine getüpfelte Haut gegraben hatten. Und wie er in seinen Erinnerungen die alte, schmutzige Zwanzig das Observatorium betreten sah, wurden andere Erinnerungen an andere Bewohner wachgerufen. Diese anderen Bewohner, diejenigen, an die er sich gern erinnerte, waren heute allesamt fort. Sie hatten, so erinnerte er sich, eine gewisse Klasse besessen, waren sauber und gepflegt gewesen. Und dies wiederum ließ ihn traurig an jene Zeit zurückdenken, als das Observatorium noch voller Menschen gewesen war, als alle vierundzwanzig Wohnungen -111-
belegt gewesen waren. Damals galt das Observatorium als eine attraktive Adresse, es war nur kurze Zeit, nachdem er seinen Namen in Pförtner geändert hatte. Er erinnerte sich mit Wehmut an das perfekte, staubfreie Blau der Teppiche und an das fleckenfreie Blauweiß der tapezierten Wände. Als er seinen großen Schlüsselbund spürte, erinnerte sich der Pförtner an eine Zeit, als diese Schlüssel die Türen zu den Leben so vieler verschiedener Menschen öffnen konnten. Damals war er ein glücklicher Pförtner gewesen. Allerdings besaß er nur noch eine vage Erinnerung, wie sich Glücklichsein anfühlte. Mutter erinnerte sich Mutter, in horizontaler Lage auf ihrem Bett, erinnerte sich an eine Zeit, die sie noch senkrecht erlebte. Sie erinnerte sich an die gleiche Zeit, an die sich auch der Pförtner erinnerte, an jene Zeit, als das Observatorium als attraktive Adresse galt. Aber ihre Erinnerungen an diese Zeit umfaßten nicht staubfreie blaue Teppiche oder fleckenfreie, blauweißgestreifte Tapeten. Sie hatte es versäumt, sich dies zu merken. Sie erinnerte sich an eine Zeit, als Wohnung 8 von einem schlanken Junggesellen bewohnt wurde. Sie erinnerte sich an das Doppelbett des schlanken Junggesellen, das groß genug war für einen Junggesellen und eine Frau, sei sie nun ledig oder verwitwet. Sie erinnerte sich, daß sie sich selbst Witwe nannte, obwohl sie sich noch erinnerte, daß ihr Mann noch lebte. Die Erinnerungen meiner Mutter wurden in ihrem Erinnerungskino für einen Augenblick durch das Erscheinen meines Vaters unterbrochen. Und als sein Gesicht auf ihre Leinwand kam, da war es, als stünde dort ENDE, denn Vaters Gesicht hielt ihren Erinnerungsstrom an, trocknete ihn aus. Wenn sie Vaters Gesicht sah, zählte sie bis zehn oder zwanzig oder fünfzig, manchmal bis tausend, normalerweise sperrten die Zahlen ihn aus. Sie beendete ihre Erinnerungsvorstellungen immer genau dann, wenn Vater darin -112-
auftauchte. Sie wollte sich nicht an Vater als Teil dieser Zeit erinnern, als sie noch senkrecht gewesen war. Und horizontal. Und dann erinnerte sie sich wieder an dieses Junggesellenbett in Wohnung 8. Sie erinnerte sich daran, dort nackt gelegen zu haben, und der Junggeselle lag nackt neben ihr. Ihre Erinnerungen hatten sie dermaßen erregt, daß sie eine Hand ausstreckte, um den Junggesellen zwischen den Beinen zu berühren, aber er war nicht da. Ach ja, erinnerte sie sich unglücklich, er ist fort, nicht wahr? Hat Wohnung 8 verlassen, hat das Observatorium verlassen, hat Alice Orme verlassen. Aber sie erinnerte sich noch, ihn Bastard genannt zu haben, bevor er ging. Mutter erinnerte sich mit Hilfe von Gegenständen, wie ich ja bereits angedeutet habe und diese spezielle Erinnerung wurde ihr durch eine Herrenunterhose geliefert, die, ohne Inhalt, auf einem der Stühle in Mutters Schlafzimmer lag. In einer längst vergangenen Zeit zog sie ihm diese Unterhose aus. Er jedoch zog sie wieder an, darüber seine Anzugshose, und kurz darauf war er vollständig bekleidet und dann ging er mit all seinen Unterhosen (bis auf eine) fort. Aber sie erinnerte sich, ihn ein zweites Mal Bastard genannt zu haben, bevor sie anfing zu weinen, obwohl sie es in Wirklichkeit nur einmal gesagt hatte. Wiederholung. Mutter hatte wahrscheinlich zu dem Junggesellen Bastard gesagt und bereits zwölf- oder dreizehnmal an diesem Tag zu weinen begonnen. Die Erinnerungen drehten sich in ihrem Kopf wie ein Riesenrad, oft hielt sie das Rad an, wenn es zu Herrenunterhosen kam. Mutter bewegte sich immer in einem Teufelskreis von Erinnerungen, der mit Herrenunterhosen begann und mit Bastard endete. Vater erinnerte sich Aber Vater erinnerte sich an nichts. Vater saß in seinem roten -113-
Ledersessel, bewegungslos wie die Zeichen auf einem Zifferblatt, starrte vor sich hin, ohne sich je zu rühren, während Stunden- und Minuten- und Sekundenzeiger ihn umkreisten (gegen den Uhrzeigersinn). Falls er sich überhaupt an etwas erinnerte, was ich nicht glaube, dann erinnerte er sich daran, sich nicht zu erinnern. Anna Tap erinnerte sich (1) Claire Higg in ihrer Wohnung 16 mit ihren Gästen, die jetzt schwiegen und sich mehr als nur ein wenig beklommen fühlten, dachte immer noch vage an ihre alte Arbeit in der Strumpfabteilung und fragte Anna Tap, welche Anstellung sie gehabt habe. Und so kam es, daß sich Anna Tap an ihre Arbeitsstelle erinnerte, die sich in der Abteilung für Textilerhaltung im dritten Stock des Stadtmuseums befunden hatte. Sie erinnerte sich an die Tür ihres Büros. Auf der anderen Seite dieser Tür befanden sich Werkbänke, Mikroskope, Standlupen, Farbstoffe, verschiedene Wachse, Baumwolle, organische Lösungsmittel, Harze, Präparationsnadeln, gebogene chirurgische Nadeln, Seiden- und Polyesterfäden und zahlreiche andere Dinge, die allesamt mit ihrer Arbeit zu tun hatten. Und worin bestand ihre Arbeit? Bis zu ihrer Entlassung war Anna Tap als Textilkonservatorin im Stadtmuseum beschäftigt. Sie reinigte und präparierte Kleider, Gobelins, Sitzbezüge, Kimonos, Tagesdecken, Laken, Stickereien, Anzüge, Krawatten, Taschentücher, Spitzenschleier, Fahnen, Puppenkostüme, Hemden, Blusen, Socken, Gabardine, Wamse, Strumpfhosen, Pantalons, Bischofsmitren, Hosen, Röcke, Hüte, Handschuhe und zahlreiche andere Dinge. Sie arbeitete mit Roßhaar, Menschenhaar, Pelzen, Federn, Spitze, Wolle, Baumwolle, Nylon, Samt, Filz, Seide, Rup fen und zahlreichen anderen Stoffen. Sie erinnerte sich, wie es war, diese verschiedenen Materialien zu berühren, sie reinigte sie, sie konservierte sie, -114-
damit man sich noch in vielen Jahren ihrer erinnerte. Dennoch vergaß sie nicht, während sie sich über ihre Arbeitsgegenstände beugte, daß die Träger dieser Dinge oder ihre Besitzer bereits vor Jahren gestorben waren, manchmal sogar vor Jahrhunderten. Die Dinge hatten ihre Besitzer überlebt. Die Dinge hatten jedesmal den Sieg davongetragen. Und sie sorgte gewissenhaft dafür, daß sie auch in Zukunft gewinnen würden. Sie half sogar, dachte sie damals, die Siege der Dinge zu vervollständigen. Ein Teil ihrer Aufgabe als Textilkonservatorin bestand in der Reinigung der Gegenstände. Und während sie sie reinigte, entfernte sie all die verschiedenen autobiographischen Fragmente, die sie noch besaßen. Sie entfernte alle Spuren und Flecken, alles, was von den Besitzern noch daran haftete. Sie entfernte Schweiß, Lippenstift, Speisereste, Matsch, Wein, Blut, Sperma und zahlreiche andere Erinnerungen. Sie entfernte sämtliche Geheimnisse von diesen Dingen, bis nur noch der Gegenstand selbst übrig war, sauber und knitterfrei. Sie war praktisch eine Waschmaschine der Geschichte. Doch die Dinge rächten sich an Anna, statt ihr dankbar zu sein, daß sie sie so großmütig erhalten und bei ihrem Sieg über den Menschen unterstützt hatte. Ihre Augen, davon waren die Dinge überzeugt, hatten zuviel gesehen, hatten all ihre kleinen Geheimnisse gelesen, bevor sie entfernt wurden. Anna Tap, über so vielen Stoffen kauernd, ihre bebrillten Augen auf winzige Fäden richtend, hatte zu erblinden begonnen. Im Verlauf der Jahre waren ihre Gläser immer dicker geworden, bis sie sich schließlich mehr auf ihren Tastsinn als ihr Sehvermögen verlassen mußte. Und das war nicht gut. Durchaus möglich, daß sie versehentlich eine dieser winzigen Fasern zerriß, durchaus möglich, daß sie eigene Flecken hinzufügte. Sie mußte also gehen. Den Gegenständen zuliebe hatten die Gegenstände so verfügt. Nachdem ihr Augenlicht zu schwach geworden war, wurde sie entlassen. Dann blieb der arbeitslosen Anna Tap außer ihren Augen nur -115-
noch wenig anderes, worüber es nachzudenken galt. Der letzte Augenarzt hatte gesagt, daß er leider nichts tun könne, daß sie leider erblinden werde. Nach der gescheiterten Trabekulektomie, sagte er, und angesichts andauernder Resistenz gegen Acetazolamid und Pilocarpin erscheint es unmöglich, die weitere Steigerung des Augeninnendrucks zu vermeiden. Kurzum, wir sind nicht in der Lage, die körpereige ne Produktion von Kammerwasser zu verringern. Das Augengewebe werde gedehnt, sagte er und dadurch wird sich die Bindehaut entzünden, was dazu führen wird, dass die Augäpfel in ihrem Schädel so hart werden wie zwei kleine Steine. Im Anschluss daran, fürchte ich und wir wollen uns doch nichts vormachen, werden Sie erblinden. Dieser Vorgang wird zu heftigen Reizungen führen, die Sie aber durch die Einnahme von Medikamenten lindern können. Er gab ihr ein Arzneifläschchen mit der Aufschrift DIHYDROKODEINTARTRAT, hochdosiertes Kodein, sagte er, das dürfte die Schmerzen verringern. Anna Tap erinnerte sich, daß sie sehr viele Augenärzte aufgesucht hatte und daß sich keiner erinnern konnte, jemals einen so schlimmen Fall wie den ihren gesehen zu haben. Und daß es nichts gab, was man für sie tun konnte. Kurz darauf begann Anna Tap zu beten. Sie betete, daß ihr Sehvermögen gerettet wurde, doch bislang, so erinnerte sie sich, waren ihre Gebete nicht erhört worden, auch wenn sie sicher war, daß sich dies noch rechtzeitig ändern würde. Nur für alle Fälle hatte sie einen Großteil ihrer Sachen verkauft, ihr Hab und Gut auf einen überschaubaren Umfang reduziert und sorgfältig in ihrer neuen Wohnung verteilt, damit sie sie auch wiederfand, wenn sie blind wurde, eine Maßnahme fü r die vor ihr liegenden Jahre der andauernden Dunkelheit. Doch dies war nur für den Fall, falls ihre Gebete nicht erhört wurden, erinnerte sie sich, was ja nicht so sein würde, wie sie nachdrücklich betonte. Sie würde dieses Dihydrokodeintartrat nicht benötigen. Was waren schon Pillen, verglichen mit der Stärke des Glaubens? -116-
Claire Higg erinnerte sich (3) Dann erinnerte sich Claire Higg, wieder jene Aufmerksamkeit benötigend, die sie während Anna Taps Reminiszenz verloren hatte, jeden Morgen um sieben Uhr eine volle und ungeöffnete Flasche Milch draußen neben ihre Tür gestellt zu haben. Weiterhin erinnerte sie sich, ihre Wohnungstür um halb acht wieder geöffnet zu haben, um besagte Milchflasche hereinzuholen. Und genau in diesem Moment sah man einen gewissen Mr. Alec Magnitt auf dem Weg zur Arbeit seine Wohnung verlassen. Dann sahen sie sich durch den vergitterten Aufzugschacht an. Sie lächelten einander zu, wünschten sich bisweilen einen guten Morgen, machten gelegentlich eine Bemerkung über das Wetter. Das war alles. Aber es war etwas. Wenigstens sah sie ihn jeden Tag. Und alles nur wegen ihrer Milchflaschen. Milchflaschen der Liebe, hatte sie sie früher immer genannt, wie sie sich nun wieder erinnerte. Der arme Alec Magnitt bekam nie heraus, daß der Milchmann gar nicht ins Observatorium kam. Peter Bugg erinnerte sich (1) Und nach dieser Erinnerung schlug Anna Tap vor, sie sollten alle mal eine Pause machen und nahm Zwanzig, die zunehmend unruhiger wurde, mit hinüber in ihre Wohnung, um ihr zu essen zu geben. Peter Bugg, nach hundert verschiedenen Gerüchen riechend, erinnerte sich während der Mittagspause in seinen eigenen, ordentlich aufgeräumten vier Wänden. Er war (bis dahin) nicht bereit, seine Vergangenheit zu teilen, aber auch er erinnerte sich. In seinem größten Zimmer mit der merkwürdigen und völlig unpassenden Tapete (eine Hinterlassenschaft von seinem Vormieter) aus stark vergrößerten Photographien eines -117-
fernen Hafens in einem fernen Land mit bizarren Schiffen und spärlich bekleideten Fischern ließ Peter Bugg seine Erinnerungen herein. Er starrte seine eigenen Photos an, eingeschlossen in Rahmen, Photos von Schulkindern, die sich für ihre jährlichen Porträts zusammendrängten. Diese Jungen waren ordentlich über Schiffen, Fischern und Hafengebäuden aufgehängt worden, doch Peter Bugg sah nicht den fremdländischen Hafen, er sah nur die Jungen aus seinem Leben. Er gab dem Gesicht jedes einzelnen dieser lächelnden Jungen einen Namen. Dann fiel sein Blick zufällig, denn er versuchte, niemals in diese Ecke zu schauen, auf eine Schwarzweißphotographie mit dem Gesicht seines Vaters. Und er erinnerte sich, wie sich dieses Gesicht seines Vaters bewegte. Dann fing er an, noch ein wenig mehr als üblich zu schwitzen und zu weinen. Und indem er das tat, erinnerte er sich an eine Zeit, als er weder weinte noch schwitzte. Als jedoch seine Erinnerungen auf seinen Vater gekommen waren, wollte sein Vater ihn nicht mehr loslassen. Er fixierte seinen Sohn auf seinem Platz, beobachtete, wie sein Sohn versteinert in seinem Sessel versank. Erinnerst du dich an diese Angst, Ronnie? denn sein Vater nannte ihn immer Ronnie, daran erinnerte er sich, konnte es nicht vergessen, o ja, Ronnie erinnerte sich an die Angst. Es war die gleiche Angst, erinnerte er sich, die er so gelassen an seine Schüler weitergab. Und ganz besonders an einen Schüler. Sein Name: Alexander Mead. Nein, nimm diesen Namen weg, schrie Peter Bugg (inzwischen laut), denn plötzlich hatte er schreckliche Angst. Sein Herz begann zu rasen. Schweiß und Tränen schossen aus seiner Haut. Nimm diesen Namen weg, schrie er. Leg ihn zurück, zurück, zurück in die Abgründe meines Gehirns. Laß ihn in der Dunkelheit. Aber der Junge, dadurch ermutigt, daß man sich an seinen Namen erinnert, kommt zum Spielen heraus. Ein blonder Junge: ordentlich, genau, ein außergewöhnlich intelligenter Schüler ohne Freunde. Geh weg, Junge, schrie der pensionierte Schulmeister des -118-
Jungen laut. Geh und mach deine Hausaufgaben. Aber der Junge sagt, er sei fertig mit den Hausaufgaben, Sir. Peter Bugg öffnete das Fenster seines Wohnzimmers, aber der Junge wollte nicht hinaus mit der drückenden, nach hundert verschiedenen Gerüchen riechenden Luft. Statt dessen setzte er sich auf Peter Buggs Kopf und rutschte von Zeit zu Zeit herunter, wenn der Schweiß zu glitschig wurde. In Peter Buggs Augen. Ja, auch Peter Bugg erinnerte sich. Zwanzig erinnerte sich (4) Nachdem alle von ihrer Mittagspause wieder in Wohnung 16 zurückgekehrt waren, erinnerte sich Zwanzig mit Hilfe von Anna Tap daran, tagelang, vielleicht monatelang, womöglich sogar jahrelang (sie konnte es nicht genau wissen) herumgeirrt zu sein. An diese Zeit, sagte sie, könne sie sich mit ihrem noch vagen Verstand vage erinnern. Allerdings erinnerte sie sich an gewisse Hunde auf diesem langen Spaziergang. Sie erinnerte sich, ihr Essen in Mülltonnen gefunden zu haben, die vor den Häusern der Menschen standen. Manche dieser Leute hielten Hunde. Sie erinnerte sich an Hundekämpfe. Heftige Hundekämpfe. Sie erinnerte sich, nach diesen Kämpfen die Wunden des Hundes Maximilian geleckt zu haben. Sie erinnerte sich an den Geschmack von Hundeblut. Jedesmal, wenn Zwanzig sich erinnerte, wurde sie ein wenig unsicherer. Anna Tap erinnerte sich (2) Dann erinnerte sich Anna Tap an ihren zweiten Besuch in dem Museum, in dem sie so viele Jahre gearbeitet hatte, in dem ihre Augen irreparabel geschädigt worden waren. An ihren ersten Besuch konnte sie sich nicht mehr erinnern. Bei ihrem ersten -119-
Besuch in dem Museum war sie nämlich erst wenige Tage alt. Sie war in Decken gewickelt auf der Damentoilette liegengelassen worden, in einem Waschbecken, den Kopf unter einem Wasserhahn, erklärte sie. Sie meinte, es könnte der Hahn für heißes Wasser gewesen sein. Sie wurde gefunden, von wem, das wusste sie nicht und in Pflege gegeben. Das war alles, woran Anna Tap sich von dem erinnern konnte, was man ihr über ihren ersten Besuch im Stadtmuseum erzählt hatte. An ihren zweiten Besuch jedoch erinnerte sie sich ohne fremde Hilfe. Sie war damals sechzehn. Man hatte ihr gesagt, daß sie auf der Damentoilette des Museums ausgesetzt worden sei und deshalb wollte sie sich diese nun mit eigenen Augen ansehen. Anna sah sie, verbrachte zwei Stunden dort und versuchte, so erinnerte sie sich, Mami näherzukommen. Dann, als sie genug gesehen hatte, machte sie einen Rundgang durch das Museum. Sie nannte die Ausstellungsstücke Brüder und Schwestern. Näher, erklärte sie, würde sie ihren Geschwistern wohl nie kommen. Sie beschloß, im Stadtmuseum arbeiten zu wollen, um an einem Ort zu sein, an dem, das glaubte sie, ihre Mutter einst gewesen war und auch, um ihren sogenannten Brüdern und Schwestern nahe zu sein. Sie hatte nie, sagte sie, ihre Liebe zu Damentoiletten verloren. Francis Orme erinnerte sich (1) Diese Erinnerung, als sie mir später an jenem Tag von Peter Bugg geschildert wurde, erinnerte mich an eine meiner eigenen Erinnerungen. Und so kam es, daß sogar ich mich erinnerte. Anna Taps Museumsgeschichte hauchte meinem eigenen ersten Besuch in einem Museum Leben ein. Die Museen sind verschieden. Das Museum, an das ich mich erinnerte, war ein Wachsfigurenmuseum. Kurz nach Emmas Tod nahm mich mein Vater mit ins Wachsfigurenmuseum. Er ging mit mir dorthin, -120-
vermute ich, um mich aufzumuntern. Emmas Tod hatte mich sehr betrübt, ich war in tiefer Trauer um sie versunken. Ich bestand sogar darauf, daß man mir Lakritz kaufte. Doch nichts, von den Anfängen meiner eigenen Ausstellung einmal abgesehen, begeisterte mich so sehr wie dieser Nachmittag, den ich damit verbrachte, zwischen den Männern und Frauen aus Wachs herumzuschlendern, die so bedrohlich über mir kleinem Wicht aufragten. Da ich keine Freunde hatte, überlegte ich mir damals, daß das Wachsfigurenmuseum doch ein vortrefflicher Ort wäre, welche zu finden. Ich könnte, so stellte ich mir vor, meine Tage hier umgeben von Menschen verbringen, ohne jemals einsam zu sein. Ich könnte mit ihnen sprechen, ich könnte ihnen Stimmen geben und ich könnte stillhalten und meine Augen schließen, wie ich es zu Hause mit meinen Spielsachen geübt hatte und mir vorstellen, ich sei aus Wachs. Ich war an diesem Tag so tief beeindruckt, daß ich meine Trauer um Emma vergaß. Vater, erinnerte ich mich, war ebenfalls beeindruckt. Ich schwor, wenn ich die Kindheit hinter mir gelassen hatte und erwachsen geworden war, dann würde ich mir eine Arbeit im Wachsfigurenmuseum suchen. Zwanzig erinnerte sich (5) Zwanzig erinnerte sich, früher an diesem Tag, noch vor meinen Erinnerungen an das Wachsfigurenmuseum, daß sie den ganzen Weg von ihrer Heimat bis zum Observatorium zu Fuß zurückgelegt hatte. Sie erinnerte sich, daß sie bei ihrem Aufbruch nicht zu Maximilian sagte, Wir werden einfach weitergehen, bis wir das Observatorium erreichen. Die Tatsache, daß sie im Observatorium endete, muß als reiner Zufall angesehen werden. Am Abend bevor sie sic h in Wohnung 20 niederließ, waren Zwanzig und Maximilian in einen -121-
Hundekampf verwickelt worden, einem ganz besonders üblen, wie sie sich erinnerte. An diesem Abend kämpften sie mit einem ganz besonders furchterregenden Hund. Er hatte Zwanzig an vielen Stellen zerkratzt. Aber den armen Maximilian, erinnerte sie sich, hatte er beinahe totgebissen. Und auf der Flucht vor dem Hund, erinnerte sie sich unter Tränen, war Maximilian von einem Auto angefahren worden. Er jaulte so schrecklich, als er getroffen wurde, sagte sie. Zwanzig erklärte in ihrer fremden Sprache mit Peter Bugg als Übersetzer, daß sie einen Schlupfwinkel brauchte, um Maximilians Wunden zu lecken. Doch Maximilian, die traurige Dogge, starb noch in derselben Nacht. Sie begrub ihn, erinnerte sie sich, in der trockenen Erde draußen vor dem Observatorium. Im Anschluss wusste sie weder, was sie mit sich anfangen sollte, noch, in welchem Land sie gelandet war. Sie konnte sich auch nicht erinnern, warum sie überhaupt so weit gegangen war. Als sie sich im Observatorium umschaute, sah sie auf einer Tür die Nummer 20, und diese Zahl schien ihr irgend etwas zu bedeuten, also beschloß sie, dort zu bleiben. In Wohnung 20. Zwanzig lachte nicht, als sie sich an das alles erinnerte. Claire Higg erinnerte sich (4) Eines Morgens war Alec Magnitt, erinnerte sich Claire Higg unaufgefordert, aus seiner Wohnung gekommen, um zur Arbeit zu gehen, und hatte wie gewöhnlich Claire Higg angelächelt, als sie herauskam, um ihre Milchflasche der Liebe hereinzuholen. Aber an diesem Tag hatte Alec Magnitt etwas gesagt, er hatte gesagt, Ich wußte gar nicht, daß wir Milch ins Haus geliefert bekommen. O ja, sagte Higg, log Higg, erinnerte sich Higg laut, wenn Sie mögen, arrangiere ich das für Sie. Würden Sie das wirklich tun? sagte Magnitt. Sicherlich, sagte Higg. Und das tat sie auch. Sie kaufte jeden Abend eine zusätzliche Flasche Milch, eine für Higg, eine für Magnitt und stellte jeden Morgen um -122-
sieben Uhr eine vor ihre Tür und eine vor Magnitts Tür. Sie erinnerte sich noch sehr deutlich an diesen Morgen, sagte sie, denn bei dieser Gelegenheit hatte sie den Eindruck gehabt, daß Alec Magnitt tatsächlich mit ihr flirtete. Er hätte mich ja überhaupt nicht auf die Milchflaschen anzusprechen brauchen, oder? Und als sie darauf keine Antwo rt erhielt, ging sie in die Küche, um sich ein Glas Milch einzuschenken. Bei ihrer Rückkehr sagte sie: Ich trinke schon immer für mein Leben gern ein Glas Milch. Ich persönlich kann sie nicht ausstehen. Anna Tap erinnerte sich (3) Es war Anna Tap, die sich an ihre Abscheu vor Milch erinnerte. Claire Higg schien gekränkt. Anna Tap bot ihr eine Zigarette an und erzählte von der Zeit, als sie in Waisenhäuser geschickt wurde. Wir lebten in Schlafsälen, manchmal nur zu zehnt, andere Male waren wir fünfzig oder mehr, sagte sie. An den Schlafsaal eines Waisenhauses erinnerte sie sich besonders gut. Dieser, sagte sie, war so voll, dass in jedem Bett zwei Mädchen schliefen und auch zwischen den Betten lagen Mädchen, und Mädchen lagen auch entlang der Durchgänge. Wenn man auf dem Boden schlief, dann schlief man auf einer Matratze, sagte sie, wenn man in einem Bett schlief, schlief man ohne Matratze, lag auf den kalten, harten Brettern, hatte nur ein Laken zwischen sich und diesen Brettern. Die Laken waren fast immer schmutzig. Und es gab immer nur ein Kissen pro Bett oder Matratze, so daß das schwächere Kind von jedem Paar immer ohne auskommen mußte. Wir legten uns mit den Köpfen in entgegengesetzten Richtungen hin - wenn man uns Kopf an Kopf nebeneinander liegend vorfand, wurden wir geschlagen. Es gab dort auch Fenster, aber diese Fenster hätten dringend geputzt werden müssen, außerdem waren sie vergittert und -123-
verriegelt. Und nachts war die Tür des Schlafsaals stets abgeschlossen. Die Betten waren aus Holz und in die Kopf- und Fußteile eines jeden Bettes waren die Namen von Kindern eingeritzt oder Worte des Hasses oder der Liebe oder auch einfach nur Kratzer und Kerben, die Signaturen der Kinder, die nicht schreiben konnten. Es war möglich, dass die Kinder in diesem Waisenhaus blieben oder verlegt wurden (was mindestens auf Dreiviertel zutraf) und so kam es, dass sich die Priester, die das Waisenhaus leiteten, weniger um die Mädchen kümmerten, die voraussichtlich nur kurze Zeit bleiben würden, da sie ja fortgeschickt werden konnten, noch bevor sie die Gelegenheit bekamen, ihre Namen zu lernen. Es wäre ein Leichtes für die Priester gewesen, sich hinzusetzen und sich die Geschichte jedes Kindes anzuhören, ihm im Verlauf der Schilderungen ein Taschentuch zu reichen und es zu trösten. Aber wenn sie sich die Zeit für ein Kind genommen hätten, dann hätten auch andere darauf bestanden, Aufmerksamkeit geschenkt zu bekommen und so ließ man gleich alle allein. Sie weinten allein. Überzogen die ohnehin schmutzigen Laken mit ihrem Rotz und ihren Tränen. Die Laken, zu schwach, sich zu wehren, wurden gestreckt, zerrissen, geliebt und eingeschmiert und dann ohne einen Abschiedsgruß verlassen, damit das nächste Mädchen sie mißhandeln konnte. Manchmal lagen wir den ganzen Tag und die ganze Nacht über dort. Tagsüber stand die Tür immer offen. Von der Tür aus war ein Korridor zu sehen, und bisweilen gingen andere, besser gekleidete Kinder vorbei, erinnerte sich Anna Tap. Auch Erwachsene gingen vorbei: Priester, Putzfrauen, Ärzte. Nur die anderen Kinder schauten herein, aber sie blieben niemals stehen, um zu reden, tröstende Worte oder Beleidigungen auszusprechen, denn auf einem Holzschemel in der Tür saß ein Aufseher. Der Aufseher war ein gut gebauter Mann von etwa zwanzig Jahren. Er saß dort an jenen Tagen und in jenen Stunden, an denen wir gezwungen waren, im Schlafsaal zu bleiben. Er saß dort mit -124-
einer Zeitung, las sie von vorne bis hinten, begann mit dem Sportteil und arbeitete sich dann von hinten nach vorne vor. Er schaute nur auf, wenn sich eine von uns der Tür näherte. Dann schickte er das Kind zurück in sein Bett oder stand auf und füllte den ganzen Türrahmen aus. Alles war nur vorübergehend, all diese kleinen Körper würden nicht länger als drei Monate dort liegen. Nur die Flecken, die Betten, der Aufseher waren von Dauer. Tagsüber, wenn der Aufseher mit seiner Zeitung auf seinem Posten saß (sofern es uns nicht erlaubt war, draußen zu sitzen oder in einem großen Klassenzimmer), war alles still, nur das Rascheln der Decken oder Laken war zu hören oder ein leises Flüstern, denn die Gegenwart des Aufsehers war eine unmissverständliche Anweisung SEID STILL. Aber nachts, nach einer Mahlzeit, bestehend aus einem Glas Milch (erinnerte sie sich mit einem Blick auf Claire Higg, denn es war das Glas Milch, welches ihr Gedächtnis angeregt hatte), Suppe, Brot und Keksen, nachdem die Tür abgeschlossen und auf dem Korridor Ruhe eingekehrt war, begann nach und nach der Lärm. Zuerst war es ruhiges Getuschel hier und dort, von diesem Bett oder von jenem, dieser Matratze oder jener Matratze: niemals über das Ursprungsbett oder die Ursprungsmatratze hinausgehend, wo deren Bewohner miteinander tuschelten. Somit fanden die ersten Unterhaltungen immer nur zwischen zwei Mädchen statt. Pärchen flüsterten, Getusche l, das zaghaft, ohne zu wissen, ob die Nachbarn reagieren würden, begann mit: Es ist dunkel oder Es ist kalt oder Bist du wach? Und dann kamen die Antworten zurück: Du wirst dich dran gewöhnen oder Nehme ich dir zuviel Decke weg? oder Ich bin wach, schon in Ordnung, wenn wir reden. Und dann erkundigte man sich nach dem Namen der anderen, woher man kam, ob man wisse, wohin es als nächstes ging, wie lange man hier bliebe? Nach und nach wurde man dann sicherer, die Worte kamen schneller, waren jetzt spontan, nicht mehr sorgfältig zurechtgelegt. Im -125-
ganzen Schlafsaal wurden die zahlreichen Gespräche immer lauter und die anderen Paare, die zunächst Angst hatten zu reden, fügten nach und nach ihre eigenen Geräusche hinzu und so fielen die Worte von Bett zu Bett oder sprangen hinüber zur Reihe auf der anderen Seite, schössen von Kopf zu Kopf: Worte kamen jetzt nicht mehr von einer oder zwei Stellen, sondern aus zahlreichen, unzählbaren Quellen. Anna Tap sagte an diesem Punkt, daß dies die Geräusche waren, die sie am meisten liebte, wenn jeder aufgeregt sprach, sich in seinem Bett aufsetzte, den neuen Mädchen viele Betten entfernt etwas zurief. Dies bedeutete für sie Gesellschaft, notwendige Geräusche von Gesellschaft. Die Mädchen in diesem Schlafsaal schüttelten sich die Hände, imitierten Erwachsene, tasteten in der Dunkelheit nach einander, rochen die Stimmen der anderen, erzählten von ihrem bisherigen Leben. Und wenn ein Kind eine ganz besonders traurige oder furchterregende oder witzige oder ergreifende Lebensgeschichte erzählte, dann wurde es aufgefordert, in einen anderen Teil des Raums zu gehen, damit auch andere sie hören konnten. Diese Aufgabe, das Sichten und Austauschen von Geschichten, wurde von den älteren Mädchen übernommen, die schon Wochen oder Monate dort waren. Sie fungierten als Redakteure, Organisatoren, kontrollierten die Nächte nicht gewaltsam, sondern halfen weiter, ermutigten jedes neue Kind zu sprechen. Aber jede Nacht endete verheerend. Die älteren Mädchen, die nicht aufgrund ihres Alters so gena nnt wurden, sondern wegen der bereits im Schlafsaal verbrachten Zeit, hatten sich Nächte und Nächte die Geschichten angehört und erwarteten diese Tageszeit gierig. Sie waren hervorragende Zuhörer und stolz auf ihr ausgezeichnetes Gedächtnis. Sie hörten zu, ohne zu unterbrechen, nickten an den richtigen Stellen oder machten mitfühlende Mienen oder lachten bei Bedarf. Wenn aber eine Geschichte zu Ende war und bereits einige Nächte alt, dann hörten wir sie häufig wieder. Dieses Mal würde sie von einem älteren Mädchen erzählt, das sie -126-
übernommen hatte, aber bei ihrem Leben schwören würde, daß ihr dies alles tatsächlich widerfahren war. Und das war der Punkt, an dem stets der Ärger begann. Auch wenn Namen und kleinere Ereignisse abgeändert wurden, im Laufe des Tages überarbeitet, um für die nächtliche Vorführung bereit zu sein, war die Quelle doch nicht zu verleugnen. Häufig hörte das Mädchen, die Urheberin, die eine Geschichte erzählt hatte, wie diese von einer Älteren für sich in Anspruch genommen wurde und reagierte heftig darauf. Obwohl ihre Geschichte wahr sein mochte oder vielleicht auch nicht, enthielt sie mit Sicherheit einen Kern an Wahrheit und häufig umfasste dies die eine geliebte Person, ein Tier, einen Gegenstand oder einen Zwischenfall, welcher von dem Kind wie ein kostbarer Schatz gehütet worden war und jetzt, als es seine eigene Geschichte aus dem Mund einer anderen hörte, war es, als hätte jemand sein Leben gestohlen. Anna Tap erklärte, daß sie nichts besaßen, kein Gepäck hatten, selbst die Kleider, die sie trugen, gehörten dem Waisenhaus. Wenn ein Kind mit eigenen Kleidern ankam, dann wurden sie ihm weggenommen, wenn nötig, auch mit Gewalt und es sah sie nie wieder. Man wußte von Einschüchterungsversuchen seitens der stärkeren Mädchen, die solche Kleidungsstücke an sich nahmen und dadurch eine Individualität für sich beanspruchten, die nicht ihre eigene war. Die Geschichten, die man den neuen Mädchen entlockte, wurden gestohlen und wie nach dem Verlust liebevoll aufbewahrter Photographien oder Briefe hatten sie das Gefühl, daß sie plötzlich nie einer Vergangenheit angehört hatten, einem Ort und Menschen. Geschichten und Erinnerungen waren alles, was sie noch besaßen und sie kämpften darum, wenn sie ihnen gestohlen wurden, sie schlugen leidenschaftlich um sich, bissen, zogen an Haaren. Häufig geschah es, daß mehrere der älteren Mädchen dieselbe Geschichte stahlen; denn sie wurden ihrer eigenen Erzählungen überdrüssig und änderten sie bis zu dreioder viermal wöchentlich ab. Und wenn es geschah, daß -127-
dieselbe Geschichte von zwei oder drei oder vier Mädchen gestohlen wurde, begann ein größerer Kampf um deren Besitz, bisweilen wurde die Urheberin selbst darin verwickelt, bisweilen schaute sie in Tränen aufgelöst zu. Mit dem Beginn der Kämpfe hörten die Geschichten auf für diese Nacht, die Geräusche wurden hässlich, jetzt hörte man des öfteren Weinen, Betten wurden verschoben, Kinder brüllten, wenn sie in die Auseinandersetzungen verwickelt wurden, Köpfe wurden gegen Betten geschlagen. Und dann kehrten die Verwundeten genau wie die Sieger langsam zu ihren Betten zurück und für eine Weile hörte man vielleicht noch ein leises Schluchzen, dann herrschte Stille. Wenn dann noch jemand, neues Mädchen oder Ältere, irgend etwas sagen sollte, auch wenn es nur ein Flüstern war, wurde sie sofort durch ein kollektives Halt die Klappe zum Schweigen gebracht. Und das Schweigen hielt an bis zur nächsten Nacht, wenn alles wieder von vorne beginnen würde. Der Schlafsaal war ein Museum von Geschichten, wahre, gestohlene, veränderte. Und die Direktoren waren die älteren Mädchen, die jedoch die Arbeiten nicht katalogisierten, sondern vermischten, beseitigten, verloren. Francis Orme erinnerte sich (2) Der Abschnitt von Miss Taps Geschichte über die Besitztümer von Kindern (beziehungsweise das Nichtvorhandensein solcher) erinnerte mich an die Gegenstände anderer Kinder. Ich erinnerte mich an die Mansardenzimmer von Tearsham Park und in den Mansardenzimmern, die am weitesten von der Treppe entfernt lagen, noch hinter den Unterkünften der Dienstboten, verbrachte ich viele Stunden damit, die Gegenstände toter Leute zu entdecken. Das Hab und Gut der Toten wurde dort oben aufbewahrt. Viele dieser Gegenstände stellten eine Verlegenheit -128-
dar für die noch Lebenden, die unten wohnten. Aber manche Dinge in den Mansardenzimmern wurden dort aufgehoben, weil der tote Besitzer ein Geheimnis bleiben sollte. Versteckt in einem verschlossenen Schrankkoffer in einem der kleineren Zimmer fand ich die Besitztümer eines Kindes, unter anderem einen Teddybär ohne Mund (Position 174). Peter Bugg erinnerte sich (2) Das Geplapper über Schlafsäle, wie Peter Bugg es sah, über Schlafsäle nur für Mädchen, erinnerte ihn an andere Schlafsäle voller Jungen, in denen er abends das Licht gelöscht und die Jungen ihren Gedanken an Mädchen überlassen hatte. Die Namen mancher dieser Jungen drängten sich ihm, Sir, Sir, wieder in den Kopf. Und unter diesen Namen befand sich auch der des Jungen, der gestorben war, des Jungen, von dem Peter Bugg überzeugt war, ihn auf seine eigene gemeine Art in den Tod getrieben zu haben. Tränen strömten über sein Gesicht, als ihm der Junge auf der durch den übermäßigen Schweiß gut geschmierten Haut erneut von der Glatze in die Augen rutschte. Alexander Mead. Er erinnerte sich an so viele Kind heiten, an so viele Schultage, warum also gelang es ihm nicht, das Bild vom Gesicht dieses einen Jungen zu verbannen. Der Junge blieb und lächelte bei jedem Blinzeln in Buggs Schädel. Dies ist eine seiner Erinnerungen, die er auf keinen Fall mit Higg, Tap und Zwanzig teilen wollte. Später jedoch erzählte er mir von den Schlafsälen der Jungen… Francis Orme erinnerte sich (3) … so daß ich mich, in Betten schlafende Mädchen und Jungen vor Augen, an jene Zeit zurückerinnerte, in der ich vierundfünfzig Porzellanpuppen besessen hatte. Die Zeit der -129-
Puppen rühmt sich der folgenden Akteure: ich selbst, Herr Francis Orme, der damals gerade erst die Zeit der Weißen Handschuhe hinter sich gebracht hatte und vierundfünfzig Porzellanpuppen. Diese Puppen hatten einmal meiner Großmutter väterlicherseits gehört und angeblich waren sie äußerst selten und kostbar. Mutter hatte mir nicht erlaubt, sie anzufassen. Sie lagen in ihren verschiedenen weißen Pappschachteln, eingepackt in schützendes Seidenpapier, in diesen fernen und mir verbotenen Mansardenzimmern von Tearsham Park. Wahrend der Zeit von Mutters Größter Traurigkeit, die zusammenfiel mit der Zeit der Puppen, schloß sie sich in ihr Schlafzimmer ein und konnte mich von daher auch nicht oben auf dem Dachboden sehen. Ich holte die Puppen aus ihren Schachteln, stellte sie auf ihre zierlichen Füße, malte mir aus, mit jeder einzelnen von ihnen verheiratet zu sein und sah mich glücklich in der Abgeschiedenheit der Mansardenzimmer von Tearsham Park leben. Ich sah mich nonchalant unter den Zwängen der Ehe herumspazieren, immer von vierundfünfzig winzig kleinen Porzellangemahlinnen verfolgt. Später, in der zweiten Phase der Puppenzeit, entkleidete ich alle Puppen und untersuchte sie sorgfältig. Ich wurde zu einem Experten in der Anatomie der Puppenheit. (Im Wachsfigurenmuseum versuchte ich einmal, das Fleisch unter der Kleidung der Wachsmenschen zu untersuchen. Die Wachsmenschen hatten keine Wachskörper, die Wachsmenschen besaßen Körper aus Styropor und Fiberglas manche von ihnen, die mit den langen Kleidern, hatten sogar Holzstümpfe als Beine.) Die dritte Phase der Puppenzeit, die bedauerlicherweise zugleich auch die letzte war, sah ich mich all die entkleideten Puppen in ihre weißen Schachteln zurücklegen und jede einzelne numerieren. Ich fand in Tearsham Park genug weißen Karton, um mir selbst eine etwas größere Schachtel zu basteln. Diese beschriftete ich mit fünfundfünfzig. Ich wollte mich in meine eigene Schachtel legen, ebenfalls nackt bis auf -130-
meine weißen Handschuhe, und meditieren. Die Zeit der Puppen endete abrupt. Mutter, die inzwischen wieder ihr Zimmer verlassen hatte, gleichwohl ein wenig blasser und schmaler als zuvor, entdeckte mich (nackt) mit meinen vierundfünfzig (nackten) Porzellanfrauen und erwirkte umgehend meine Scheidung von ihnen. Ich erinnerte mich, daß ich meine Frauen das letzte Mal während der Auktion sah, die auf dem Rasen von Tearsham Park stattfand. Da waren die Puppen wieder bekleidet und erzielten eine äußerst hohe Summe. (Alle, bis auf eine, der die Flucht gelang. Position 192). Zwanzig erinnerte sich (6) Zwanzig, die sich schnell von ihrer Amnesie erholte, dachte an all die Hunde von Tearsham Park Gardens. Sie erzählte, wie sie sich mit ihnen die Zeit vertrieben hatte. Sie erzählte von unaussprechlichen Dingen. Ich sage unaussprechlich, weil der völlig entsetzte Peter Bugg sich strikt weigerte, sie mir weiterzuerzählen. Sie weinte Tränen der Reue über all diese unanständigen Handlungen. Ich war nicht immer so, oder? Nein. Sie erinnerte sich jetzt, sie erinnerte sich an eine Wohnung mit der Nummer 20 an der Tür. Sie war nicht immer die Hundedame von Tearsham Park Gardens gewesen. Ich habe so häßliche Dinge getan. Sie hatte sie aus Liebe zu Maximilian getan, den sie schmerzlich vermißte, erinnerte sie sich. Claire Higg erinnerte sich (5) Zwanzigs Erinnerung an ihre damals erst jüngst zurückliegende Hundezeit erinnerte wiederum Claire Higg an jene unzähligen Tage, die sie gleichermaßen schlimm vertan hatte, wenn auch nicht mit solch unaussprechlichen Beschäftigungen, sondern vor ihrem Fernseher. Ich habe so viel Zeit verloren, sagte sie und riß -131-
sämtliche Bilder des verstorbenen schnurrbärtigen Mannes von den Wanden. Was habe ich getan? Sie hatte sieben Jahre lang gar nichts getan und der jähe Schock dieser Erkenntnis veranlasste sie, den Stecker des Fernsehers aus der Dose zu ziehen und zu schwören, niemals wieder, nicht einmal für eine einzige Sekunde, fernzusehen. Es gab nur ein einziges Gesicht für mich, sagte sie und zerriss die Zeitungsausschnitte des schnurrbärtigen Mannes in tausend Stücke. Er war blaß, erinnerte sie sich. Sein Photo hing an der Wand. Seht dort, es war genau dort! Aber da war es nicht mehr. Zwanzig erinnerte sich (7) Und als Zwanzig sah, wie Claire Higg die Ausschnitte von ihrem Schnurrbart-Mann aus den Illustrierten zerfetzte, erinnerte sie sich an einen anderen schnurrbärtigen Mann. Dieser schnurrbärtige Mann, erinnerte sie sich in heller Aufregung und mit einem kleinen Lachen, hatte keine perfekten Zähne. Sie erinnerte sich, diesen schnurrbärtigen Mann außerhalb der Wohnung mit der Nummer 20 daran gesehen zu haben, und auch darin. Er war, rief sie aus, ihr Ehemann. Aber sein Familienstand und sein Haarwuchs waren zunächst alles, woran sie sich erinnern konnte, soweit es ihn betraf. Erschöpft, wie sie alle waren, und für den Augenblick bar weiterer Erinnerungen, wurde dann beschlossen, es sei an der Zeit für eine weitere Pause. Man ließ Claire Higg mit ihrem ausgeschalteten Fernseher allein. Nachdem Peter Bugg zuerst in seiner eigenen Wohnung gewesen war, klopfte er an die Tür der Familie Orme. Bei dieser Gelegenheit erzählte er mir all die Erinnerungen, die oben in Wohnung 16 geflüstert worden waren. Bei sich trug er das Photo eines Mannes, seines Vaters, von dem er sagte, er könne mit ihm nicht mehr seine Zimmer teilen. Andererseits, sagte er, könne er es auch nicht ertragen, es -132-
zu vernichten. Ob Francis, fragte er, wohl so nett sein könnte, sich für ihn darum zu kümmern, nur für eine Weile. Ich konnte. Er sagte weiterhin, dass ihm eine gewisse Angelegenheit zu schaffen mache und obwohl er es derzeit nicht über sich brachte, sie jemand anderem anzuvertrauen, wäre Francis wohl zu gegebener Zeit bereit, sich diese Sache anzuhören? Ich wäre. Beim Hinausgehen dann flüsterte Peter Bugg, aufgewühlt, heulend und schwitzend, etwas Schreckliches: Weißt du, wo Chiron ist? Und ging, ohne auf eine Antwort zu warten. Eine kurze Reise in die Erinnerung an die Lehrmethoden von Peter Bugg, so wie Francis Orme sich an sie erinnerte Nach Emmas Tod wurde in erster Linie von Mutter, entschieden, dass man mir das Lesen und Schreiben beibringen sollte. Vater sprach von seinem alten Hauslehrer. Mutter schrieb ihn an und als sie erfuhr, dass Bugg damals vorübergehend, wie Bugg sich ausdrückte, ohne Arbeit war, stellte sie ihn ein. Meine Eltern hatten beschlossen, mich nicht auf eine Schule zu schicken, zum Teil aus einem Grund, den ich Widerwillen nannte und sie beschränkte Begabung, aber auch, weil mein Vater selbst nie auf einer Schule gewesen war, womit es irgendwie sinnvoll erschien, daß auch ich nicht gehen sollte. Mir wurde exakt das Gleiche beigebracht wie meinem Vater in seiner Kindheit. Die Jahre des zivilisatorischen Fortschritts zwischen der Ausbildung meines Vaters und meiner eigenen wurden einfach ignoriert oder für unbedeutend erklärt und so wurde ich lange Zeit auf eine Welt vorbereitet, die es gar nicht mehr gab. Peter Bugg, mein neuer Lehrer, stank förmlich nach Geschichte; er schien überhaupt nichts Modernes an sich zu haben. Sein blasser Körper sah aus, als wäre er schon lange tot und seine -133-
Kleidung schien vor zwei oder drei Generationen für Menschen geschneidert worden zu sein, die auf Schwarzweißphotos gehörten. Bugg war ein kleiner Mann. Er hatte einen winzigen, wenig muskulösen Körper, an dessen vier Ecken streichholzartige Arme und Beine herausragten. Sein ordentlich gescheiteltes Haar war so schwarz, daß es die Blässe seiner Haut noch hervorhob. Er hatte einen riesigen Kopf, der aussah, als gehöre er jemand anderem. Ich glaubte, der Grund hierfür sei, dass er immerzu seinen Kopf trainierte, aber niemals seinen Körper. Ich erinnere mich noch, dass wir uns am ersten Tag, an dem ich seine schnarrende Stimme hörte, im großen Salon befanden: Hier haben wir also den kleinen Schüler. Steh jetzt gerade. Kinn hoch. Wir werden viel Zeit miteinander verbringen. Nicht mehr lange und deine Hände, deine dreckigen Finger werden Aufsätze abfeuern. Ich werde dich Junge nennen. Du wirst mich Sir nennen. Wenn du anderer Meinung bist, werde ich mein Lineal rufen und das wird dich zur Heulsuse machen. Geben wir uns jetzt die Hand. Das werden wir nicht mehr tun, bis ich meine Arbeit erledigt habe oder sie dich erledigt hat. Vater? Das ist Mr. Bugg, Francis. Er war mein Lehrer, jetzt wird er deiner sein. Er war jünger als ich, als er kam, um zu unterrichten. Ich war sein erwachsener Schüler, fast zehn Jahre älter als er. Für mich begann das Schuljahr erst dann, wenn Mr. Buggs Schule Ferien hatte. Mr. Bugg ist ein Intellektueller. Er ist der Verfasser einer Druckschrift mit dem Titel Die Vorzüge der Prügelstrafe in der Erziehung. Bloß eine Satire. Außerdem hat er 3633 verschiedene Bücher gelesen. Tatsächlich sind es inzwischen 6869. Ich habe tiefere Ozeane der Erkenntnis erforscht, seit du das letzte Mal Chiron ge sehen hast. -134-
Chiron ist Mr. Buggs Lineal. Da ist er ja! Möchtest du Chiron kennenlernen, Junge? Chiron hat seinen ersten Auftritt. Chiron war ein langes, dickes, auf Hochglanz poliertes Mahagonistück. Ich nickte auf Mr. Buggs Frage und glaubte, dies sei höflich. Es war höflich. Und außerdem war es dumm. Strecke deine Hände aus, die Handflächen nach oben. Ich lernte Chiron kennen. Chiron brannte. Beim nächsten Mal sind es die Knöchel. Das ist Chiron. Vater! Lauf jetzt zum Mittagessen, Francis. Der Unterricht beginnt morgen. Genieße deine Freiheit. Punkt sieben Uhr. Die Vorzüge der Prügelstrafe in der Erziehung Mein Vater wandte den Blick ab und ließ meine Erziehung beginnen. Er wußte (wie sehr brannte ihm die Erinnerung auf den Händen?), was mir bevorstand. Er hatte in den Nächten seines frühen Mannesalters gezittert bei dem Versuch, seinen Verstand zu schärfen. Er versuchte, Schritt zu halten, mit seinem Lehrer auf einer Höhe zu bleiben, fiel aber zurück, und Chiron wurde geschickt, um ihn zu holen. Er kämpfte sich durch einen Sturm aus Silben und geschriebenen Worten, die in seinen mit Tränen gefüllten Augen verschwammen. Er küßte seine Hände, als sie noch Stunden später zitterten, wenn der Unterricht für den Tag vorüber war, wenn er frei war, seine roten, geschwollenen Knöchel ihn jedoch nicht vergessen ließen. Er war beschimpft worden: Dummkopf, Einfaltspinsel, Blödian, Hornochse, Vollidiot, Ignorant, Faulpelz. Er kroch auf dem Boden des Kinderzimmers, biß in seiner Hysterie in die Tischbeine, verkroch sic h in schwarze Löcher der Ablenkung -135-
und Verzweiflung. Er weinte, bis er sich erbrach, er konnte nicht mehr schlafen aus Angst, es würde wieder Tag werden, er riß sich die Haare aus und stöhnte in panischer Angst, wenn die Uhr siebenmal verhängnisvoll schlug. Und doch war Peter Bugg wieder hier, bereit, seinem unwissenden Sohn das Wissen einzubleuen. Ich schrieb meine zitternden ABCs, während Chiron drohend über mir schwebte und auf mich herabstürzte. Ich malte meine Unds, Wies und Weils auf das Schulpapier. Ich zog jeden Tag einen Rand auf meine Seite und schrieb langsam, mit pochenden Händen meine kläglichen Bleistiftstriche. Zwischen Frühstück und Mittagessen krallte ich mich auf der Achse meiner stumpfen Bleistiftspitze durch Jahrhunderte von Grammatik. Zwischen Mittagessen und fünf Uhr nachmittags schwamm und versank ich, tauchte wieder auf und prustete in den unruhigen Wogen der Arithmetik, stets geleitet von den Blitzschlägen eines Mahagonilineals namens Chiron. Und jeden Abend, entsetzt und geduckt, wurde ich am linken Ohrläppchen in den Salon geschleift, wo sich mein Schulmeister gegenüber meiner Mutter schier endlos darüber ausließ, daß ich seines Unterrichts nicht würdig war. Ich mußte sagen, Liebe Mutter, es tut mir so leid, ich werde mir mehr Mühe geben. Und manchmal schickte mich mein Privatlehrer, zur Raserei gebracht durch meine Trägheit, mit zwanzig Blatt Papier hinaus, auf deren erster Seite ganz oben stand: Ich bin ein Idiot, schwach und undankbar x 1.000. Ich rannte dann in die Küche und verteilte Blätter an den Koch und die anderen Hausangestellten, jeder nahm sich ein Blatt. Meine unsichere und große Handschrift war leicht nachzumachen. Wir gestalteten die Strafarbeit so angenehm, wie es ging, tranken heißen Kakao und Pfefferminztee, während wir mit Bleistiften in Händen um den runden Eichentisch herumsaßen. Ich selbst war nicht auf diese Idee gekommen. Das war Vater. Er hatte es als Kind genauso gemacht. Manchmal beteiligte er sich an dem Schreibspiel; er -136-
willigte ein, ein Idiot zu werden, schwach und undankbar. Eines Tages waren wir alle mit unseren Bleistiften in der Küche beschäftigt, als wir eine ruhige Stimme hörten, bei der sich uns die Nackenhaare vor Entsetzen sträubten: Was geht hier vor sich? Es war Peter Bugg. Ich wurde ins Kinderzimmer gesperrt, wo ich einen Roman schreiben sollte, der aus einem einzigen, immer zu wiederholenden Satz bestand: Ich bin ein falsches, schlechtes und scheußliches Kind. Ich hatte bereits eine ausgiebige, wenn auch sehr einseitige Unterhaltung mit einem Stück Mahagoni hinter mir. Trotzdem lernte ich. Ich konnte lesen und schreiben. Ich machte Fortschritte. Der Untergang von Peter Bugg Etwa sechs Monate nach Peter Buggs Ankunft, es war kurz vor Weihnachten, wurde entschieden, wiederum von meiner Mutter, daß ich eine Belohnung für meine Anstrengungen erhalten sollte. Auf die Frage, was ich denn gern hätte, antwortete ich sofort, daß ich noch einmal das Museum der Wachsmenschen sehen wollte. Bugg sollte mich begleiten, ein Taxi fuhr uns an den vereisten Feldern vorbei in die Stadt. Vor dem größten Spielwarengeschäft der Stadt ließ Bugg das Taxi halten und trotz meines Protestes bestand er darauf, dass wir zumindest einen Blick hineinwerfen sollten. Ich erinnere mich an seine Worte, Jedes Kind liebt Spielwarengeschäfte, ganz besonders zur Weihnachtszeit. An diesem Tag war es Bugg, der mit den Spielsachen spielte und ich übernahm die Rolle des Erwachsenen, der auf ihn aufpasste, während er -137-
verzückt kichernd Spielzeug um Spielzeug in die Hand nahm. Sieh dir das an und sieh dir das an und sieh dir das an. Ich erinnere mich, wie er sich vor meinen Augen verwandelte und dabei wirklich glücklich wirkte. All die Verbitterung war von seinem Gesicht gewichen und ich spürte, dass er sich zum ersten Mal seit Jahren richtig amüsierte. Er spielte mit Marionetten, schoß mit Spielzeugrevolvern, drückte auf Knöpfe, die bei kleinen elektronischen Spielen die Torpedos auslösten. Er knuddelte Teddybären, schoß mit Pfeil und Bogen und versuchte, einen Drachen steigen zu lassen. Er zo g mich an der Hand von einem Gegenstand zum nächsten, strahlte übers ganze Gesicht und kreischte vor Aufregung. Sieh dir das an und sieh dir das an und sieh dir das an. Ich nahm an, meinem Privatlehrer müsse es nicht gutgehen, er hätte eine Art Anfall. Oder vielleicht war sein außergewöhnliches Verhalten auch nur ein Versuch, die Obsessionen von Kindern nachzuahmen, und schon sehr bald würde er zu mir sagen, Nein, Francis, so etwas darfst du niemals tun. Du mußt hart arbeiten, denn nichts als Leid und Kummer widerfährt den jungen Erwachsenen, die sich ihrer kindischen Seite hingeben, anstatt erwachsen zu werden und hart zu lernen. Diese Kinder werden zu Versagern, sie enden im Gefängnis. Aber Bugg spielte weiter. Er bestand nur noch aus Sieh dir das an und sieh dir das an und sieh dir das an. Er war wirklich und wahrhaftig glücklich. Das Spielwarengeschäft verließen wir erst, als ein Verkäufer ihm dringend davon abriet, auf ein Schaukelpferd zu steigen: Entschuldigen Sie bitte, Sir, aber ich glaube kaum, daß dieses Pferd für Personen Ihrer Größe konstruiert ist. In diesem Augenblick schien er Jahrzehnte älter zu werden, alle Hoffnung und Liebe in seinem Gesicht zu verlieren. Peter Bugg begann zu weinen, und wir verließen eilig das Geschäft. Er weinte auch während unseres gesamten Besuchs im Wachsfigurenmuseum. Jedesmal, wenn ich versuchte, mich -138-
neben einen meiner Freunde aus Wachs zu stellen und eine gewisse Reglosigkeit zu erlangen, auch wenn es nur eine äußere war, wurde ich von seinem fortwährenden Geschluchze abgelenkt. Wie erwachsen, wie reif und unerschrocken er die Wachsmenschen erscheinen ließ. Allerdings glaube ich nicht, daß mein Privatlehrer auch nur einen einzigen von ihnen wirklich ansah. Er schluchzte und zitterte am ganzen Körper während des gesamten Besuchs. Da ich von ihm vor meinen Wachsfreunden in Verlegenheit gebracht und beleidigt wurde, schlug ich schließlich vor, nach Hause zurückzukehren. Er nickte schmollend und ließ sich von mir an der Hand aus dem Museum führen. Auf dem Heimweg im Taxi wischte Bugg sich die Tränen ab und sammelte sich, um vor meinen Eltern unverändert zu erscheinen. Ich begann mich zu fragen, wie ich mich von ihm hatte bedroht fühlen können, von diesem Mann, der mit Spielsachen spielte und wie ein kleines Kind weinte, sobald er zurechtgewiesen wurde. Und ich fing an zu verstehen, daß ich den kleinen Mann Peter Bugg womöglich besiegen könnte, wenn es mir gelang, mich im Kinderzimmer zu beherrschen, wenn es mir gelang, so zu tun, als könnte das Lineal mir nicht weh tun. Es dauerte einige Monate, bis ich mich soweit unter Kontrolle hatte. Ich ließ zu, daß meine Knöchel blutig geschlagen wurden, ohne sie zu schützen oder ihnen anschließend groß Beachtung zu schenken. Zunächst reagierte Bugg auf meine scheinbare Ungerührtheit, indem er mich fester oder an anderen Stellen schlug, auf den Kopf, auf den Nacken, quer über die Rippen. Doch mit der Zeit drückte er seine Verzweiflung über mein Phlegma mit langen Wutausbrüchen voller Schmähungen aus, was stets faszinierend zu beobachten war. Er schnaubte, sein blasses Gesicht lief dunkelblau an, er knirschte zwischen den Sätzen mit den Zähnen und stampfte mit den Füßen, um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen. Und diese Worte -139-
selbst sprudelten haßerfüllt hervor, waren durchtränkt von Speichel und Sabber: all die Früchte seines beträchtlichen Vokabulars zum Thema Dummheit, doch selbst diese waren bald erschöpft, und er war gezwungen, sich auf Fussgestampfe oder frustriertes Gejammer zu beschränken. Diese Wutanfälle waren außergewöhnlich sehenswert, ja sogar angenehm, eine willkommene Pause zwischen Latein und Mathematik. Am Ende beruhigte er sich wieder, indem er sich mit dem Rücken zu mir setzte und leise seine Lieblingskapitel aus den Feldzügen des Julius Cäsar vor sich hin murmelte oder indem er sich eine komplizierte Gleichung stellte und diese geschickt löste. Langsam nahm dann seine wütende, gerötete Haut wieder ihr gewohntes Weiß an, und der Unterricht konnte weitergehen. Meine Knöchel verheilten. Chiron wurde grau vor Staub. Mahagoni zum Schweigen bringen Gelegentlich und völlig unerwartet war er wie früher und verprügelte mich. Vielleicht war es so sehr Bestandteil seiner Lehrmethoden und für ihn so natürlich, daß er kaum registrierte, was er tat. Es ist natürlich sehr großmütig, das so zu sehen. Ich vermute, es machte ihm Spaß, Strafen zu verhängen. Ich vermute, die Reaktionen der Bestraften waren für ihn zutiefst befriedigend. Eine Befriedigung vielleicht, der nichts gleichkam, was er sonst noch tat oder sah. Vielleicht war es seine geheime Leidenschaft. Vielleicht bin ich jetzt nicht ganz so großmütig. Es war an einem dieser sonderbaren Tage, an denen Bugg zu jäher und kurzer Gewalttätigkeit zurückkehrte, daß Chiron in den ewigen und schon lange erwarteten Ruhestand versetzt wurde. Ich war wieder einmal, was nicht weiter ungewöhnlich war, des Verbrechens der Trägheit beschuldigt worden und schon einen -140-
Augenblick später streifte Chiron seine Haut aus Staub ab und ließ mit einem einzigen Hieb die Knöchel meiner rechten Hand aufplatzen. Da ich meine Selbstdisziplin etwas gelockert hatte, verlieh ich meinem Schmerz ausnahmsweise Ausdruck. Bugg grinste breit. Um drei Uhr am folgenden Morgen schlich ich auf Zehenspitzen in der Dunkelheit zu einem gewissen Schlafzimmer voller Bücher, in dem ein gewisser Gentleman voller Bücher Träumen voller Bücher nachhing. Peter Bugg, dessen schwarze Locken in einem Haarnetz gefangen waren, träumte tief und fest, sprach im Schlaf mit Edelleuten und Kaisern einer längst vergessenen Zeit. Seine Tür ging auf, aber er wußte nichts davon. Das Gewicht der Geschichte lag auf seinen geschlossenen Lidern. Sein Bibliotheksverstand konnte nicht sehen, daß der Feind in seine Bibliothek mit Schlafzimmer einmarschiert war, allerdings waren nicht die barbarischen Goten gekommen, um die Zivilisation auszulöschen, sondern ein einzelner Junge im schulpflichtigen Alter und in Schlafanzug, Morgenmantel und Pantoffeln. Er hatte einen Ausdruck auf seinem rundlichen Gesicht, der nichts Gutes verhieß. Peter Bugg hatte einen Bettgenossen, keinen eingebildeten, sondern einen sehr realen. Der Genosse lag zugedeckt neben ihm. Obgleich der Bettgenosse keine Frau war, war er praktisch seine Ehefrau. Hätte er eine Stimme besessen, dann hätte er seinen Herrn jetzt zu den Waffen gekräht. Aber er hatte keine und brüllte nicht, als er aus dem Bett genommen, aus der BuchNacht entfernt und in den Keller von Tearsham Park gebracht wurde, wo er in einen kalten, feuchten Tunnel geworfen und für immer dort liegengelassen wurde. Derselbe Tunnel, in dem sich Jahre später auch meine Ausstellung befand und ihm Gesellschaft leistete. Das Lineal wurde zu Nummer 52. Der Kriminelle aber kehrte strahlend wie ein Honigkuchenpferd in sein Kinderzimmer und zu herrlichen Träumen über ermordete Lineale zurück. Lebe wohl, Chiron, von Insekten -141-
überkrochen, für die er nur mehr ein simples Stück Holz war, ganz allein dort unten für so viele Jahre, ohne Bücher, ohne Stimmen, ohne Knöchel und nichts zu tun. Wie fühlte es sich an, eine solche Einsamkeit zu spüren? Der vielseitig begabte Peter Bugg Natürlich schrie er Entführung! Natürlich war ich der einzige Verdächtige. Natürlich wurde das ganze Haus abgesucht. Aber niemand fand Chiron. Und ich beteuerte beharrlich meine Unschuld. Jeder wußte, daß ich das Lineal genommen hatte, aber sie hatten keinen Beweis. Ich spielte vorbildlich das Unschuldslamm und leitete sogar die Untersuchungen. Wir durchsuchten die Zimmer des Dienstpersonals, Vaters Bibliothek, Mutters Salon. Im Kinderzimmer stellten wir alles auf den Kopf. Wir durchkämmten den Garten, durchforsteten die Felder. Wo konnte dieses Lineal nur sein? Sie, wir, suchten überall. Nichts. Der Unterricht wurde für zwei Tage ausgesetzt, jeder durchsuchte jeden und alles. Mr. Bugg saß unterdessen in stiller Trauer mit einer Wärmflasche im Bett und versuchte, mit seinem Verlust zurechtzukommen. Aber niemand schaute in einem gewissen Tunnel nach. Ihn zu betreten war streng verboten. Ein gewisser Geist eines gewissen fetten und dünnen Kavaliers hauste dort unten. Dieser Ort durfte nicht gestört werden. Du darfst dort nicht hinein, Francis, hast du mich verstanden? Am dritten Tag schickte man mich in Buggs Zimmer. Ich sollte unterrichtet werden, während er noch im Bett lag und mit seinem Verlust kämpfte. Es war ein freund licherer, netterer Peter Bugg. Er sprach mit leiser Stimme: Bitte, Francis, falls du Chiron hast, gib ihn mir zurück. Ich schwöre, ich werde ihn nie wieder mit in den Unterricht bringen. Sir, wenn ich ihn hätte, würde ich ihn liebend gerne -142-
zurückgeben. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wo er geblieben sein könnte. Ich werde ihn ebenfalls sehr vermissen, denn er hat mir so vieles beigebracht. Er war ein Geschenk von meinem Vater. Das dort ist Vater. Mr. Bugg zeigte auf eine Photographie in einem silbernen Bilderrahmen (dasselbe Photo übrigens, das Peter Bugg mir an jenem Abend viele Jahre später zur vorübergehenden Verwahrung gegeben hatte). Der Abgebildete war ein gehässig aussehender Mann mit dunklen Haaren und Koteletten. Mein Vater war wie ich Lehrer. Ein fabelhafter Lehrer, der beste, den es je gab. Er hatte viele Tausende von Büchern gelesen. Er lehrte an einer Universität. Er war ein richtiger Professor. Als er starb, kamen dreihundert Menschen zu seiner Beerdigung. Es hat nie einen größeren Mann gegeben. So bescheiden, so liebenswürdig, so unendlich klug. In seinem Unterricht faulenzte niemand, jeder saß kerzengerade da, hörte zu, wurde inspiriert, befand sich in Gegenwart wahrer Größe. Er veröffentlichte sieben Bücher. Allesamt Meisterwerke, ausnahmslos wegweisend auf ihrem Gebiet. Vielleicht werde ich sie dir eines Tages einmal zeigen, wenn du sie verstehen kannst. Chiron war sein Lineal. Chiron ist eine Figur aus der griechischen Mythologie, er war ein Zentaur, doch Chiron war im Gegensatz zu den übrigen seiner Art, die laut und gewalttätig waren, weise und liebenswürdig. Er war ein Lehrer, ein berühmter Lehrer, er unterrichtete Jason und Achilles und Äskulap. Mein Vater unterstrich die herausragenden Wörter in seinen Werken mit diesem Lineal. Er hat niemals jemanden damit geschlagen. Er hatte es nicht nötig. Er verwandelte all seine Schüler in kleine Genies. Er hinterließ mir das Lineal in seinem Testament, damit es mir Glück bringen sollte. Mehr hat er mir nicht hinterlassen. Das gesamte Geld und all seine Bücher erhielt die Universitätsbibliothek. Weißt du, wo Chiron ist? Nein, Sir. -143-
Einige der Bücher, die du hier siehst, gehörten meinem Vater. Ich habe sie gestohlen. Ich kann nicht stillschweigend über mein Verhalten hinweggehen, aber ich meinte, es sei wichtig für mich, zumindest etwas von seinem Wissen zu sammeln. Ich ging mit einer Aktentasche in die Bibliothek, legte die Bücher in die Tasche und ging mit ihnen wieder hinaus. Es dauerte nicht lange, da begann man, die Taschen der Leute zu durchsuchen, wenn sie die Bibliothek verließen. Also änderte ich meine Taktik: ich verstaute die Bücher in Mülltüten und warf sie aus den Fenstern der Bibliothek hinunter in die Mülltonnen. Ich stahl, was gewissermaßen mein Erbe hätte sein sollen, aber es war illegal, da Vater mir nur sein Lineal vermacht hatte. Weißt du, wo Chiron ist? Nein, Sir. Wir verbrachten den Tag nicht mit Lernen, sondern mit Reden. Bugg zeigte mir viele Bücher, aber nie diejenigen, die sein Vater geschrieben hatte. Er sprach von Dädalus, der seinen ungehorsamen Sohn im Ikarischen Meer verlor, von König Minos, der seinen Stiefsohn in einem Labyrinth gefangenhielt, von Ödipus, der seinen eigenen Vater ermordete, kurzum, er sprach von Vätern und Söhnen. Er erwähnte häufig seinen eigenen Vater, dessen Name Peter Bugg war. Der andere Peter Bugg, mein Privatlehrer, wurde auf den Namen Ronald Peter Bugg getauft, ließ den Ronald aber zugunsten von Peter weg, in memariam patris. Am Schluß jeder Geschichte fragte er immer, behutsam, ruhig, Weißt du, wo Chiron ist? Beim Aufräumen seines Zimmers, wir hatten ein ziemliches Durcheinander verursacht, als wir uns seine Bücher und Photos ansahen, bemerkte ich eine große Flasche Tinte, die auf einem Regal neben dem Waschbecken stand. Als ich sie wieder auf den Schreibtisch stellen wollte, hielt Peter Bugg mich zurück. Er wies mich an, sie zurückzustellen, denn dort gehöre sie hin, und er erklärte den Grund: Es ist eine traurige Geschichte, aber ich werde sie dir erzählen. -144-
Ein Geheimnis im Tausch gegen ein anderes Geheimnis. Eigentlich ist es ziemlich blöd, aber ich erzähle es trotzdem. Mein Vater veröffentlichte sein erstes Buch im Alter von sechsundzwanzig Jahren, damals war sein Haar noch pechschwarz, er war jung, und das Leben und andere Arbeiten lagen noch vor ihm. Ich war fest entschlossen, wie Vater zu werden, schon in jungen Jahren zu veröffentlichen. Aber mit sechsundzwanzig hatte ich immer noch nichts geschrieben. Also änderte ich meine Zielsetzung und nahm mir ein bescheideneres Projekt vor. Ich schwor, mein erstes Buch veröffentlicht zu haben, bevor mein schwarzes Haar ergraute. Du siehst mich hier mit schwarzen Haaren, aber grau bin ich schon vor vielen Jahren geworden. Die ersten grauen Haare tauchten auf, da war ich gerade mal dreißig. Es war beinahe, als würden mich meine eigenen Haare verspotten. Eines Abends, ich befand mich in meiner Abstellkammer in der Schule, überwältigte mich die Angst, daß ich meinen Schwur brechen würde. Ich saß vor dem Spiegel und versuchte, jedes einzelne graue Haar auszureißen. Es war sehr schwierig, eine wirklich knifflige Arbeit! Frustriert nahm ich eine Flasche mit nicht wasserlöslicher Tinte von meinem Schreibtisch und färbte damit meine Haare. Seitdem mache ich es regelmäßig. Ich färbe meine Haare mit schwarzer Tinte, das gibt mir mehr Zeit. Eines Tages werde ich ein Buch schreiben, und dann lasse ich meine Haare grau werden, setze mich hinaus in die Sonne und atme tief durch. Deshalb die Tinte. So, Francis, mein lieber Junge, nachdem ich dir dies anvertraut habe, würdest du mir bitte erzählen, wo ich Chiron finde? Sir, das weiß ich nicht. Bitte, glauben Sie mir. Morgen werde ich wieder aufstehen. Vielleicht finde ich, wenn ich aufwache, ein Stück Mahagoni neben mir. Was meinst du, Junge? Ich habe keine Ahnung, Sir. Das war's für heute. Jetzt geh. Ich brauche meinen Schlaf. -145-
Sieben Uhr wie gewohnt. Sieben Uhr, Sir. Vielleicht werde ich nie ein Buch schreiben. Was meinst du, Francis? Vielleicht werde ich es nie schaffen. Sir? Aber woher sollst du so etwas wissen, du bist ja noch ein Junge. Ich war auch einmal ein Junge. Darf ich jetzt gehen, Sir? Vater konfiszierte meine Spielsachen, ließ mich Tag und Nacht lernen. Eines Tages hob er mich hoch und klopfte mir auf den Kopf, Was steckt da drin, Ronnie? Ist da überhaupt irgendwas drin? Sieben Uhr, Sir. Aber er hörte nicht zu. Ich ließ Peter Bugg auf dem knochigen Schoß des anderen Peter Bugg zurück, seinem mythischen Vater. In dieser Nacht setzte sich Peter Bugg an seinen Schreibtisch, beobachtet von den Eulenaugen der unzähligen Bücher, die ihn mit stechendem Blick fixierten und keinerlei Mitleid mit ihm empfanden. Er schrieb eine Seite, warf sie fort, schrieb eine andere, warf sie fort. Und so begannen seine Qualen. Um sieben am folgenden Morgen erschien er nicht im Klassenzimmer. Ich fand ihn in seinem Zimmer. Er war am Schreibtisch eingeschlafen, um seine Füße schwebten kleine Wolken verstoßener Seiten. Ich nahm die große Tintenflasche und versteckte sie im Kinderzimmer. Einige Stunden später: Junge, hast du meine Tinte genommen? Ja, Sir, das habe ich. Bringe sie unverzüglich zurück. Nein, Sir, das kann ich nicht, ich habe sie umgekippt. NEIN! Ich denke, es wäre besser, Sir, wenn Sie Ihren Haaren erlauben -146-
würden, ihre richtige Farbe anzunehmen, damit Sie pünktlich zum Unterricht erscheinen. Der dunkle Ton kehrte in Buggs Gesicht zurück. Du glaubst nicht, dass ich es schaffe, oder ist es vielmehr so, dass du versuchst, mich daran zu hindern? Ja, das ist es, nicht wahr? Aber ich lasse mich nicht aufhalten. Du wirst schon sehen, ich werde schreiben… Oh, und was für ein Buch! Du wirst schon sehen. Du wirst schon sehen. Und so kehrte er in sein Zimmer zurück. Vier Stunden später stieg Bugg mit all seinen Koffern voller Bücher in ein Taxi. Er schüttelte mir zum Abschied nicht die Hand, wie er es versprochen hatte. Sein Abschiedsgruß lautete: Hast du Chiron? Er schloss die Wagentür und verließ Tearsham Park, verließ das Dorf Tearsham und fuhr in die Stadt seiner Zukunft. Nach einer Weile hörte er auf, sein Haar zu färben, und rasierte sich den Schädel. Ich erinnere mich noch gut an den Schock, als ich den glatzköpfigen Bugg zum ersten Mal sah, wie ein uraltes Baby kam er mir vor. Er kehrte zu uns zurück, als er keinen anderen Ort mehr hatte. Aber er war ein anderer Bugg geworden, ein gebrochener und nervöser Bugg, ein Bugg, der jede Autorität verloren hatte. Wir brachten ihn in einer der leeren Wohnungen des Observatoriums unter. Er mußte seine frühere Wohnung verlassen, nachdem er Jahre damit verbracht hatte, das Buch nicht zu schreiben, das zu schreiben er sich geschworen hatte. Du wirst schon sehen. Du wirst schon sehen. Aber am Ende gab es nichts zu sehen. Oder doch, Sir? Erinnerungsdruck In den darauffolgenden Tagen nahm der Erinnerungsdruck zu. Peter Bugg besuchte mich gelege ntlich, gleichwohl weniger -147-
häufig und diese Besuche endeten ausnahmslos mit der Frage nach einem gewissen verlorenen Lineal. Er erzählte mir, daß Zwanzig sich an die Telefonnummer ihrer Wohnung in dem fremden Land erinnert habe. Sie hatte dort angerufen, aber der Wohnungsinhaber hatte gewechselt, es war nicht mehr ihr Ehemann. Claire Higg hatte sich erinnert, dass sie etwa zu der Zeit, als sie das letzte Mal Alec Magnitts Photo gesehen hatte, vermehrt Besuch von Francis Orme erhalten habe und nun fragte sie sich, ob ich mich wohl an den Verbleib ihres innig geliebten Bildes erinnern könne. Doch schon bald beendete Peter Bugg seine abendlichen Besuche. Abends, nach meiner Arbeit auf dem Sockel, war ich nun wieder allein, hatte nur Mutter und Vater zur Gesellschaft, was ziemlich das gleiche ist wie völlige Einsamkeit. Ich hatte das Gefühl, in diesen oben aufkommenden Erinnerungsströmen zu ersticken, und als dann mein freier Tag kam, beschloß ich, anstatt den Tag im Park oder in Wohnung 6 herumzusitzen oder die lange Reihe meiner Exponate im Tunnel auf und ab zu gehen, daß ich einmal raus mußte, einen anderen, nicht so übermäßig vertrauten Teil der Stadt besuchen mußte. Ebenfalls erinnerte ich mich frustriert daran, daß meine Fingernägel inzwischen wieder viel zu lang geworden waren. Wenn ich sie mir nicht bald schneiden ließ, würde ich todsicher ein Paar weiße Baumwollhandschuhe ruinieren. Ich gehe an meinen zahlreichen Kollegen vorbei Ich ging quer durch die Stadt, zog es bei dieser Gelegenheit vor, zu Fuß zu gehen und nicht den Bus zu nehmen. Auf meinem Weg kam ich an meinen zahlreichen Kollegen vorbei, an den Straßenprofis unserer Stadt, die sich ihren Lebensunterhalt mit ihren beschränkten Talenten verdienten. Sie konnten überleben, weil sie sich mit einem selbstsicheren Lächeln ihrem Publikum -148-
präsentierten, beinahe überzeugend jene Verzweiflung verbargen, die Löcher in ihre Seelen gefressen hatte. Sie waren angeschlagene und verkümmerte Ausstellungsstücke für die ewige Unverwüstlichkeit des Menschen. Ich ging vorbei an dem Mann mit der Waage. Ein Stück weiter begegnete ich der nervösen und gereizten Frau mit den Zuckungen. Sie hieß Mad Lizzy und verbrachte den ganzen Tag mit Photographieren. Mad Lizzys Photos waren ausnahmslos Schnappschüsse von Menschen, die durch die Stadt gingen oder rannten. Sie versuche, so erklärte sie mir einmal, die Essenz des urbanen Lebens einzufangen. Später würde sie einen Stand aufmachen, um diese Photos zu verkaufen und ihren potentiellen Kunden zuzubrüllen, daß sie große Kunst seien. Die Tatsache, daß sie nur wenige dieser Photos verkaufte, stellte für Mad Lizzy in ihrer sonderbaren Logik nicht nur eine der großen Ungerechtigkeiten der Welt dar, sondern war zugleich auch der schlagende Beweis für ihren Wert. Ich ging vorbei an Pascal, dem blinden Akkordeonspieler und an Samuel, dem Entfesselungskünstler (der sich seine Ketten um den Körper gewickelt hatte). Und ich ging vorbei an Moses (der in Wirklichkeit Philip hieß), dem lautstarken Propheten, der sein zusammenklappbares Kreuz hinter sich aufgestellt hatte und dessen Predigten, die man für drei Münzen das Stück erwerben konnte, vor ihm am Straßenrand lagen. Ich ging vorbei an Sad Eddy, der seine roten Rosen verkaufte, ich ging vorbei an Claudia, der winzigen Cellistin (an deren zerkratztem und verbeultem Cello ein Schild lehnte, worauf zu lesen war, daß sie einst im Konzertsaal der Stadt gespielt, dann aber schlechte Zeiten erlebt hatte, gleichwohl hier die präzisere Angabe gewesen wäre: am Konzertsaal gespielt), ich ging vorbei an Herbert, dem syphilitischen Zauberer, mit seiner einbeinigen weißen Taube (obwohl es eigentlich eine ganz normale Stadttaube war, die er gebleicht hatte), ich ging vorbei an Hamish, dem Salamander, Hamish mit seinen versengten Lippen -149-
und dem von Brandnarben übersäten Körper, Erinnerungen an seine Zeit als Feuerschlucker. Ich ging vorbei an Carlo, dem ältesten der Straßenprofis, der sich mit Hilfe einer verbogenen Krücke aufrecht hielt, die er sich aus einer Gerüststange gemacht hatte. Früher hatte sich Carlo immer ein Holzbein angeschnallt, das er für das Publikum auszog, aber leider hatte ihm jemand dieses Bein gestohlen (Position 634). Ihnen allen nickte ich zu. Und schließlich kam ich an Constantin, dem Schlangenmensch, vorbei und an Constantin vorbeizukommen bedeutete, daß ich mein Ziel erreicht hatte. Das Wachsfigurenmuseum Das Wachsfigurenmuseum war ein großes, jedoch recht gewöhnliches Backsteingebäude, das durch riesige Fiberglassäulen und Karyatiden teilweise verkleidet worden war, wobei bereits ein einfacher Schlag gegen dieselben verraten würde, daß sie hohl waren. Dieses Wachsfigurenmuseum, vor dem Constantin bereits seit vielen Jahre arbeitete, war ein beliebter Platz, um den er hatte kämpfen müssen und den er aufgrund seiner außergewöhnliche n, wenn auch nicht wirklich geschmackvollen Talente der winzigen Claudia mit dem Cello abspenstig gemacht hatte. Im Wachsfigurenmuseum arbeitete mein einziger Freund mit Wachs. Begegnung mit meinem einzigen echten Freund Die Wachsbildhauer kümmerten sich ausschließlich um die Köpfe, die sie formten, die sie so sorgfältig modellierten, daß sie berühmten Persönlichkeiten glichen. Für den Rest des Ausstellungsstückes aber, für Arme, Beine, den Torso, alle Körperteile, die bei allen Menschen gleich sind, wurden Abdrücke von den Körpern der Halb-Wachshalb-Mensch-150-
Puppen genommen und dann ausgegossen. Unter uns Puppen befanden sich Männer wie Frauen, alt und jung. Wir waren ideale Spender von Körperabdrücken. Als Gegenleistung war es üblich, daß der Bildhauer die Halb-Wachshalb-Mensch-Puppe auf irgendeine Weise für die Zeit entschädigte, die sie auf der obersten Etage des Wachsfigurenmuseums verbrachte, wo alle Exponate hergestellt wurden. Diese Entschädigung erfolgte bisweilen in Form von Geld, manchmal war es etwas zu essen, andere Male machte man kleine Geschenke, ein billiges Schmuckstück vielleicht oder ein Feuerzeug. Aber es bestand ein stillschweigendes Abkommen, daß die Puppe belohnt werden mußte. Von dieser Tradition wußte ich noch nichts, als ich meine Arbeit im Wachsfigurenmuseum aufnahm. Wir Halb-WachshalbMensch-Puppen kommunizierten nur sehr selten miteinander, immerhin wurden wir nicht dafür bezahlt, gesellig zu sein, wir wurden dafür bezahlt, bewegungslos zu bleiben. Nur ein einziges Mal während meiner Anstellung im Wachsfigurenmuseum wurde dieses Gesetz der Ungeselligkeit ernsthaft gebrochen. Eine männliche und eine weibliche Puppe starrten einander unentwegt über die gesamte Länge des Großen Saales hinweg an. Sie zwinkerten sich gelegentlich zu und warfen Luftküsse oder klimperten mit den Wimpern. Nach einer Weile jedoch wurden sie entdeckt und sofort entlassen. Das war die Strafe für übertriebene Geselligkeit. Als ich meine Kollegen die Treppe hinauf in das geheimnisvolle oberste Stockwerk des Wachsfigurenmuseums steigen und durch eine Tür mit der Aufschrift NUR FÜR PERSONAL verschwinden sah, konnte ich daher auch nicht wissen, warum die beiden dort hinaufgeschickt wurden und was genau sich hinter dieser Tür befand. Die Wachsbildhauer waren eine lärmende Truppe, die sich in der Kantine immer laut unterhielt, ohne jemals auf das Zartgefühl der Puppen Rücksicht zu nehmen. Ich bin überzeugt, daß sie uns in Wahrheit für minderwertige Geschöpfe hielten, -151-
für ungelernte Arbeiter. Sie lachten, sie schmatzten, hauten mit dem Besteck gegen ihre Teller. Sie sorgten dafür, daß unsere Mittagspausen äußerst unerfreulich waren. In einer Mittagspause fühlte ich mich ganz besonders belästigt, da ich bemerkte, daß die Bildhauer über mich redeten. Zumindest wurden die Worte neuer Bursche und Handschuhe immerzu wiederholt. Gerade als es mir gelungen war, mich davon zu überzeugen, daß dies ein Zufall war, schaute einer der Wachsbildhauer aus dem Kreis seiner Kollegen auf und lächelte mich an. Bewußt. Unverkennbar. Ich saß immer allein an einem Tisch, so weit weg von allen anderen wie nur irgend möglich; aus diesem Grund konnte der Bildhauer niemand anderen außer mir angelächelt haben. Er hatte mich für sein Lächeln ausgewählt. Er hatte sich entschieden, mir sein Lächeln zu schenken und niemand anderem. Die Folge dieses plötzlichen Freundlichkeitsangriffs war, daß ich von da an meine Mittagspausen in der Ruhe und Abgeschiedenheit des Umkleideraums verbrachte, wo ich nicht befürchten mußte, angelächelt zu werden. Ich hatte meine weißen Handschuhe bereits einige Jahre getragen, bevor ich die Anstellung im Wachsfigurenmuseum fand, und hatte daher die schmerzhafte Routine des Nägelschneidens zu diesem Zeitpunkt schon perfektioniert. Da das Schneiden der Nägel mit sich brachte, die Hände aus den Handschuhen nehmen zu müssen, mit sich brachte, nackte Hände zeigen zu müssen, verabscheute ich diese Maßnahme sehr. Für mich war es widerlich, ein Affront gegen mein Handschuhtragen. Doch weil nicht geschnittene Nägel sich durch die weiße Ba umwolle arbeiten konnten, war ich zu dem Zugeständnis gezwungen, wann immer meine Nägel zu lang wurden, die Handschuhe auszuziehen und mich dieser beleidigenden Wucherungen zu entledigen, ohne dabei meine Hände wirklich anzusehen. Bei einer dieser unerfreulichen Gelegenheiten, als ich in der Abgeschiedenheit des -152-
Umkleideraums tapfer meine Nägel schnitt und in einem Zustand größten Unbehagens vor Verzweiflung und Übelkeit laut stöhnte, wurde ich von einer Stimme abgelenkt, die folgende Frage stellte: Möchten Sie, dass ich Ihnen die Nägel schneide? Es war die Stimme des Wachsbildhauers, der mich bewusst und absichtlich angelächelt hatte. Ich versteckte die Hände hinter meinem Rücken und rief dem Bildhauer zu, er möge bitte wieder gehen. Aber er wollte nicht ge hen, statt dessen sagte er: Ich könnte sie Ihnen schneiden, falls Ihnen das hilft. Kommen Sie mit nach oben. Dort habe ich ein paar schärfere Scheren. Ich kann nicht zulassen, daß jemand meine Hände sieht. Es wird nicht lange dauern, dann können Sie sie wieder bedecken. Aber es ist nicht erlaubt. Es geht Ihnen doch nicht gut. Es wird deutlich weniger schmerzvoll sein, wenn Sie mir erlauben, es zu tun. Aber jeder wird es sehen. Nein, überhaupt nicht. Wir werden sehr diskret sein. Und so, voller Hoffnung, aber auch nervös, die Hände wieder in ihren Handschuhen verborgen, folgte ich dem Mann die verbotene Treppe hinauf zur obersten Etage, hinter die Tür, auf der stand: NUR FÜR PERSONAL. Wir betraten einen äußerst langen, in zwei Hälften geteilten Raum. Im ersten Teil befanden sich zahlreiche Tapeziertische, auf denen viele unvollendete Köpfe und Gliedmaßen von zukünftigen Puppen lagen. Alles sah aus, als gehörte es zu einer Lehrakademie für Präparatoren oder in einen AnatomieSeminarraum oder in eine Transplantationsfabrik. Oder als beherberge die oberste Etage des Wachsfigurenmuseums die Überreste einer Hinrichtung. Jenseits der Tische, im zweiten Teil des Raumes, befanden sich zahlreiche abgeteilte -153-
Arbeitsplätze, wo die Bildhauer ruhig und ungestört arbeiteten. Sie formten Ton, der anschließend mit Gips überzogen wurde, um so eine Gußform zu erhalten, die dann mit Wachs gefüllt wurde. Der Bildhauer brachte mich in seine Kabine. Nehmen Sie Platz. Atmen Sie tief durch. Entspannen Sie sich. Es wird nicht lange daue rn. Bevor er mir die Handschuhe abnahm, verband er mir freundlicherweise die Augen. Da er mit seinen Händen außerordentlich geschickt umging, streifte er mir die Handschuhe mühelos ab. Er führte die Operation so behutsam wie möglich durch, aber die Nägel waren recht lang geworden, und es war nicht einfach, sie zu schneiden. Jedesmal, wenn er mit einem fertig war, hörte ich ein lautes Knacken, und mir wurde ein wenig schummerig. Aber er schaffte es, die Nägel wurden gestutzt, und meine Handschuhe wurden wieder angelegt. So, das wäre geschafft. Schön kurze Nägel. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee, Francis? Ich weiß nicht. Ich nehme eine. Woher kennen Sie meinen Namen? Hier kennt jeder den Namen von jedem. Das werden Sie schon noch mitbekommen, wenn Sie erst einmal eine Weile hier sind. Ich heiße übrigens William. Der Kaffee war stark und schwarz. So trinke er ihn, sagte er, um wach zu bleiben, denn oft genug modellierte er bis tief in die Nacht hinein. Ich bemerkte, daß er am Kopf eines jungen Mannes arbeitete, der etwa mein Alter hatte. William fragte, ob ich den jungen Mann erkenne. Ich schüttelte den Kopf. Darüber schien er ein wenig enttäuscht zu sein und zeigte mir verschiedene Photographien des Mannes. Ich sah, und äußerte dies auch, daß die Ähnlichkeit seines Kopfes mit den Photographien sehr groß war. Aber Sie erkennen ihn immer -154-
noch nicht? Kopf und Photographien waren offensichtlich von einem jungen, berühmten Schauspieler, der erst vor kurzem gestorben war und dessen Modell in das Wachsfigurenmuseum aufgenommen werden sollte. Wahrend unseres Gesprächs an diesem Tag fand William heraus, daß ich fast nie wußte, wen die verschiedenen Wachsfiguren darstellen sollten. Und so kam es, daß ich mein Zuhause erwähnte. Wo sind Sie gewesen, Francis? Hauptsächlich in Tearsham Park, und in letzter Zeit im Observatorium. Wo liegt das? Sie haben noch nie vom Observatorium oder von Tearsham Park gehört? Wo sind Sie denn gewesen? William hatte von beiden noch nie gehört, und ich musste zum ersten Mal erkennen, dass mein Zuhause, der Mittelpunkt meiner Existenz, eigentlich nur eine von vielen menschlichen Ansiedlungen war. Tearsham Park, das Observatorium: völlig durchschnittlich. Nachdem ich meinen Kaffee getrunken hatte, bedankte ich mich mehrmals bei William. Er sagte, keine Ursache, das war doch nichts. Er log. Es war sehr wohl etwas. Etwas Gewaltiges. William erklärte sich einverstanden, mir auch in Zukunft gern behilflich zu sein, wenn meine Nägel wieder geschnitten werden mussten. Ich ließ ihn dann mit dem Kopf des jungen Schauspielers zurück. Ein kurzer Bericht über die Stifierin des Wachsfigurenmuseums Unsere Stifterin, denn so nannten wir sie, war schon viele Jahre tot. In der Eingangshalle stand eine Wachsfigur von ihr. Ich hatte nicht gewußt, daß sie es war. Dies erfuhr ich erst von William, der mir ihre Geschichte erzählte. Unsere Stifterin war mit einigen der berühmtesten Menschen ihrer Zeit befreundet -155-
gewesen. Sie war Künstlerin, eine Bildhauerin. Unsere Stifterin hatte eine berühmte Freundin, die schon sehr alt war und wahrscheinlich bald sterben würde. Sie beschloß, die Erinnerung an ihre Freundin zu konservieren. Sie machte einen Gipsabdruck von ihrem Gesicht und füllte den Abdruck mit Bienenwachs. Als die Freundin starb, hatte Unsere Stifterin ein Modell ihrer Freundin, das ihr Gesellschaft leisten konnte. Auf die gleiche Weise begann Unsere Stifterin nach und nach Wachsabdrücke von all ihren Freunden anzufertigen, und zu gegebener Zeit wurden ihre Modelle berühmt. Da sie vermeiden wollte, daß ihre Privatwohnung, in der es ohnehin schon voll genug war (gleichwohl mit Wachsfiguren), ständig besucht wurde, fing sie an, Geld von den Leuten zu nehmen, die ihren merkwürdigen Besitz sehen wollten. Zu ihrer Überraschung aber stellte sie fest, daß die Menschen nur zu gern bereit waren, die geforderte Summe zu zahlen, um die Wachsabdrücke ihrer berühmten Freunde sehen zu dürfen. So kam es, daß aus der Wohnung Unserer Stifterin eine Ausstellung wurde. Jahre später war Unsere Stifterin, inzwischen eine alte und sehr vermögende Frau, häufig zu sehen, wie sie zwischen den Wachsfiguren ihrer Freunde umherging. Sie hatte sie alle überlebt, lebte aber inmitten von Erinnerungen an ihre Gesichter, ihre Augenfarbe, Haarfarbe, Kleider und Schuhe und Körpergröße. Immer hatte sie sich den Abschnitt aus dem Leben ihrer Freunde ausgesucht, an den sie sich erinnern wollte; manche hatte sie in ihren jungen Jahren modelliert, andere im Alter. Kurz vor ihrem Tod ließ sie ein Wachsmodell von sich selbst anfertigen, so wie sie zu diesem Zeitpunkt aussah. Dieses stellte sie zwischen die Wachsabdrücke ihrer Freunde. Sie beobachtete, wie ihr in Wachs gegossenes Selbst ihre in Wachs gegossenen Freunde beobachtete. Die Erinnerung an ihre Freunde und an ihre Trauer um ihre Freunde war perfekt in Wachs konserviert. Dann bekam sie einen Herzinfarkt und starb. Im Alter von 102 Jahren.
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Über menschliche Dummheit Sämtliche Wachsfiguren des Museums stammten von berühmten Menschen aus allen Epochen. Ihre Geschichten erfuhr ich durch Williams Erzählungen. Die Wachsbildhauer besaßen nicht die Freiheit, sich die Objekte selbst aussuchen zu dürfen, die sie modellierten. Der Beirat des Wachsfigurenmuseums, der im größten aller Wachsfigurenmuseen in unserer Hauptstadt saß, beschloß, welche Figuren angefertigt werden sollten. Der Beirat entschied, wer berühmt war und wer nicht, wer modelliert würde und wen man ignorierte. Er erschuf Namen, indem Skulpturen von Menschen in Auftrag gegeben wurden, von denen nie zuvor jemand gehört hatte. Und er vernichtete Namen, indem er die Entfernung einer Wachsfigur bekanntgab und so die jeweilige Person in öffentliche Schmach und Schande stürzte. Mir fiel in meiner Empörung auf, daß die Museumsbesucher besonders auf Wachsreproduktionen jener Leute reagierten, die sie wiedererkannten. Es war eine unter Besuchern verbreitete Unsitte, sich neben diesen Wachsfiguren photographieren zu lassen. Die Besucher aber verstanden nie, daß diese Wachsfiguren unabhängig von ihren menschlichen Gegenstücken eine eigene Identität besaßen. Die von diesen Besuchern (unbedeutenden, kleinen Menschen) gemachten Photographien, die Art, wie sie ihre schmutzigen Finger auf die Schultern einiger meiner besten Wachsbekannten legten, erschienen mir durch und durch pervers. Diese selbstverliebte Gedankenlosigkeit war ein erstklassiges Beispiel für menschliche Dummheit. Die Besucher versuchten, sich selbst vorzumachen, sie wären diesen vermeintlich berühmten Menschen tatsächlich begegnet; als würde deren Persönlichkeit irgendwie auf sie abfärben, als würden sie plötzlich selbst ein klein wenig berühmt, wenn sie sich neben die Wachsreproduktion einer berühmten Persönlichkeit stellten. Sie -157-
betrachteten die Wachskopien und machten tiefschürfende Bemerkungen: Mir war nie bewusst, dass sie so groß war! Ich bin größer als er, wer hätte das gedacht? Sich vorzustellen, daß ich so dicht neben ihr stehen kann! Die Besucher waren nicht in der Lage zu erkennen, was das Wachsfigurenmuseum war. Sie sahen eine Ruhmeshalle, und indem sie Photographien machten, glaubten sie, für einen Augenblick dem Ruhm ganz nah zu sein, ihn sogar berühren zu können. Aber darum geht es bei dem Wachsfigurenmuseum überhaupt nicht. Das Wachsfigurenmuseum ist eine äußerst aussagekräftige Abhandlung über die wunderbare Gewöhnlichkeit des Menschen. Den Ruhm konnten wir vergessen, wirklich wichtig ist, daß wir es mit Menschen zu tun hatten: mit Nasen, Ohren, Augen. Es ist eine Ausstellung, welche den Menschen in all seinen verschiedenen Lebensaltern zeigt, von Babys bis zu alten Hexen. Die Tatsache, daß die Ausstellungsstücke zufälligerweise auch noch berühmt sind, ist völlig bedeutungslos. Der ganze Zweck des Wachsfigurenmuseums bestand darin, bis ins letzte Detail die menschliche Gestalt studieren zu können, nimm doch einmal eine Lupe und studiere die Unterschiede des menschlichen Kinns. Doch das sahen sie überhaupt nicht. In der Ausstellung war es möglich, etwas zu tun, was überall sonst völlig unmöglich war: sich der menschlichen Gestalt zu nähern, nahe genug, um sie zu berühren. Bei wie vielen Menschen auf dieser Welt trauen wir uns, mitten im Satz einzuhalten und zu sagen, Entschuldigen Sie, ich würde jetzt gerne Ihre Lippen untersuchen, könnten Sie bitte stillhalten? Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Es dürfte eigentlich nicht länger als zwanzig Minuten dauern. Halten Sie einfach still, damit ich sie ausgiebig anstarren kann. Bei wie vielen Menschen ist das möglich? Antwort: bei sehr wenigen. Selbst wenig zurückhaltenden Menschen ist es unangenehm, wenn sie intensiv angestarrt -158-
werden. Nur im Wachsfigurenmuseum, in diesem Menschenmuseum, konnte der Mensch wirklich und wahrhaftig untersucht werden. Die vielen Hände des Francis Orme Ich war dermaßen beeindruckt von Williams Liebenswürdigkeit am Tag des ersten Nägelschneidens, daß ich ihn verschiedene Male besuchte, auch wenn gar keine Maniküre nötig war. William machte Andeutungen über diesen berühmten jungen (toten) Schauspieler, der Hände zu seinem Kopf benötigte. Der Schauspieler, deutete William an, war genauso alt wie Francis. Wirklich? Wie faszinierend. Ich denke, ich sollte jetzt wohl besser gehen. Ich besuchte William erst wieder, als meine Nägel eine für die Handschuhe gefährliche Länge erreicht hatten. Er lehnte es ab, sie zu schneiden, sofern ich ihm nicht erlaubte, einen Abdruck meiner Hände zu nehmen. Abgemacht? Nein, niemals. Ich denke, ich sollte jetzt wohl besser gehen. Erst als mir meine Handschuhe fast zu reißen begannen, kehrte ich widerwillig zu William zurück und ließ ihn einen Abdruck meiner Hände machen, damit er mir im Gege nzug dafür die Nägel schnitt. Ich sah die Wachsabdrücke meiner Hände nicht, nachdem sie fertig waren. Dies war die Bedingung dafür, daß sie in Gips gegossen würden. Sie mußten immer vor mir verborgen werden. Dies war natürlich möglich, solange die Hände in Williams Kabine aufbewahrt wurden, aber vollkommen unmöglich, sobald die Figur des jungen Schauspielers in die Ausstellung aufgenommen wurde. Als ich diese Hände das erste Mal sah, war ich angewidert, aber mit der Zeit störten sie mich immer weniger. Viel später, kurz bevor meine Anstellung im Wachsfigurenmuseum beendet -159-
wurde, berührte ich sie sogar einmal. Es war so sonderbar, all diese anderen Menschen zu beobachten, denen ich nie begegnet war, wie sie das Wachfigurenmuseum betraten, in dem meine nackten Hände ausgestellt waren. Natürlich registrierten die meisten Menschen meine Hände nicht, oder wenn doch, dann hatten sie nie mehr als nur einen kurzen Blick für sie übrig, aber das spielte auch keine Rolle. Die Tatsache, daß sie dort waren, die Tatsache, daß die Leute nicht auf sie zeigten oder sich vor Lachen bogen, die Tatsache, daß man sie für annehmbar, ja sogar normal hielt, verlieh mir ein gewisses Selbstwertgefühl. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es bereits viele weitere Abdrücke meiner Hände überall in der ganzen Ausstellung. Meine Hände wurden nicht nur für männliche Figuren benutzt, sie schauten auch aus den Armein von Frauenkleidern hervor. Meine Hände, sagte William, seien nahezu makellos (man konnte auf ihnen noch einige Hinterlassenschaften aus Chirons Zeit finden), sie waren im Verhältnis zu meinem übrigen Körper ein wenig zu schmal, so als hätten sie aufgehört zu wachsen wie eine Pflanze, die zu lange kein Sonnenlicht bekommen hatte, sie seien zierlich, sagte er, sie wären perfekt für Frauen. Für die Männerhände wurden oft noch Haare hinzugefügt, echtes Menschenhaar, für die Frauen lange Fingernägel. Genaugenommen war es nicht William, der seine Modelle mit Haaren oder Nägeln oder Augen versah, denn dies war ein eigener Arbeitsschritt, der von anderen Abteilungen erledigt wurde. Mit der Zeit lernte ich alle Abteilungen kennen. Um die Haare kümmerte sich ein Zwillingspaar, Laura und Linda, für die Nägel war ein Mann namens Julian zuständig, für die Augen, mit Abstand die faszinierendste Abteilung, eine Frau namens Ottilia. Ottilia hatte Puppenaugen hergestellt, bevor sie im Wachsfigurenmuseum anfing, und ihre Augen waren so lebensecht, daß ich überrascht war, wenn sie nicht blinzelten.
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Über William und Freundschaft William war mein einziger echter Freund, und im Verlauf meiner Arbeit im Wachsfigurenmuseum kam ich ihm immer näher. Ich kam häufig in die obere Etage zu einer Tasse starken schwarzen Kaffees. Er war mein Freund, obwohl ich ihn in der Öffentlichkeit niemals so genannt habe. Auch erfuhr ich nichts über sein Leben außerhalb des Wachsfigurenmuseums. Ich fand zum Beispiel nie heraus, ob er verheiratet war oder Junggeselle, ob er Kinder hatte, ob er glücklich war mit seiner Arbeit. Natürlich war mir klar, daß er vorgab, meine Nägel schneiden zu wollen, um Gipsabdrücke meiner Hände machen zu können, daß er sie nicht aus einer altruistischen Neigung heraus geschnitten hatte, doch das spielte für mich keine Rolle. Genaugenommen hielt ich William für einen wahren Freund, weil wir uns gegenseitig brauchten. Ich konnte ihm vertrauen, er hatte mir keine Lügengeschichten aufgetischt, wie sehr er mich mochte, er hatte mir weder geschmeichelt noch mich beschwatzt, Gipsabdrücke meiner Hände anfertigen zu lassen. Und außerdem würde er nie irgendwelche persönlichen Gefälligkeiten von mir verlangen, würde sich nie an meiner Schulter ausheulen. Es war die geschäftsartige Natur unserer Freundschaft, die ich schätzte, fühlte ich mich doch in seiner Gesellschaft nützlich. Und auch wenn William häufig von oben herab mit mir sprach, über manche meiner Bemerkungen kicherte und aus Spaß den anderen Wachsbildhauern Geschichten über mich erzählte, war er nichtsdestoweniger mein einziger echter Freund. Er war der Mann, der meine Nägel schnitt. Ein Beispiel, wie sich sehr sich ein echter Freund als ärgerlich erweisen kann
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Als ich mich an diesem Tag mit William traf, um dem Erinnerungsdruck im Observatorium zu entgehen, zog er mir einfach einen Stuhl heran und nahm seine Schere heraus. Ich legte die Augenbinde an, er zog mir die Handschuhe aus und schnitt meine Nägel. Nachdem sie geschnitten waren, ich meine Handschuhe wieder angezogen und die Augenbinde abgenommen hatte, saßen wir noch, wie wir es uns zur Gewohnheit gemacht hatten, zusammen und tranken Williams starken schwarzen Kaffee. Ich erlag dem Bedürfnis, mich mitzuteilen, und erzählte meinem einzigen wahren Freund von der schrecklichen Erfahrung, die ich gerade im Observatorium durchlebte. Ich erzählte ihm alles, was es über Miss Anna Tap zu erzählen gab. Wie sieht sie aus? Teigig, rundliches Gesicht, Brille. Spitze Nase. Während ich sie beschrieb, begann William ihr Gesicht als Miniaturausgabe aus Ton zu modellieren, versuchte mit Gewalt, ihr Bild einzufangen. Wir bekamen heiße Köpfe bei dem Versuch, ihre Gesichtszüge zu bestimmen, bei dem Versuch, Williams Hände mit meinen Worten um die Stupsnase herumzuführen, um das rundliche Kinn, die hohe Stirn. Ich meinte, mich recht gut erinnert zu haben, aber der Kopf, den wir schließlich gemeinsam zustande brachten, besaß nur wenig Ähnlichkeit mit der echten Anna Tap. Francis, seien Sie mir nicht böse, aber ich möchte Ihnen gern eine Frage stellen. Sie scheinen sehr viel über dieses Mädchen zu reden. Hätten Sie sie gern als ganz besondere Freundin, Francis? Was meinen Sie damit? Möchten Sie sie vielleicht in den Armen halten? Sie küssen? Ich denke, ich sollte jetzt wohl besser gehen. Ich verließ William, meine Tasse mit starkem schwarzem -162-
Kaffee blieb halbvoll auf seinem Arbeitstisch stehen. Zigarettenstummel Auf dem Rückweg von William traf ich auf Anna Tap, die gerade die Kirche verließ. Ich beobachtete, wie sie über den Friedhof zum Observatorium zurückging. Ich folgte ihr in sicherem Abstand von einigen Metern und sammelte, sorgsam auf meine Handschuhe achtend, alle Zigarettenstummel auf, die sie im Gehen fallenließ. Als ich mich auf meinem Zimmer in Sicherheit befand, hatte ich nicht weniger als vier Lucky-StrikeZigarettenstummel gesammelt. Ich breitete sie auf meinem Schreibtisch aus und numerierte sie auf ihren gelben Filtern. Ich hatte sie gesammelt, um Williams lächerliche Fragen zu beantworten, um herauszufinden, ob ich Anna Tap näher sein wollte oder nicht. Ich war natürlich überzeugt, daß dies absolut unmöglich sei, meinte aber, in diesem Punkt ganz sichergehen zu müssen. Ich betrachtete die Zigarettenstummel. Wollte ich diesen Zigarettenstummeln näher sein, die Anna Tap so nahe gewesen waren, die von Anna Tap sogar geküßt und gebissen worden waren? Nein, sagte ich mir, nein, das wollte ich nicht. Ich fand die Zigarettenstummel unattraktiv. Positionen 988 und 989 Inzwischen waren wir weit fortgeschritten in der Zeit der Erinnerungen und hatten sogar schon mit der Zeit der Vier Gegenstände begonnen. Wie bereits angedeutet, machte ich mir große Sorgen um meine Mitbewohner im Observatorium, gleichwohl sie im Gegenzug überhaupt nicht an mich zu denken schienen. Da ich versuchen wollte, die Zeit der Erinnerungen zu beenden, machte ich mich in dieser Nacht an die Arbeit. Ich hatte Sehnsucht nach der Zeit vor Anna Taps Ankunft, fühlte -163-
mich ausgeschlossen und verwirrt durch das Zusammentragen der Zigarettenstummelsammlung. Still und reglos waren die Bewohner des Observatoriums, bewegt nur durch ihren tiefen Schlaf um drei Uhr morgens. Aber jemand war nicht in seiner Wohnung, verließ ganz allein sein Zimmer. Dieser Jemand namens Francis Orme schlich auf Zehenspitzen in die Schwärze der Nacht hinaus und lehnte die Leiter gegen das Fenster von Wohnung 18. Ich kletterte zu Wohnung 18 hinauf und betrat das nach Zigaretten riechende Gelände. Ich schlich auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer und fand eine Frau von Ende Zwanzig bis Mitte Dreißig, die fest schlief und von Waisenhäusern, Museen und winzigen Textilfasern träumte. Neben ihrem Bett lag ein Brillenetui und in dem Brillenetui eine Brille. Rundes Gestell. Aus Metall. Mit dicken Gläsern (Position 988). Dann wagte ich mich durch die ständig offene Tür von Wohnung 20 und fand Zwanzig schnarchend und leise im Schlaf bellend vor. Mit einer Pfote umklammerte sie das Hundehalsband und das Namensschildchen mit der Aufschrift MAX. Indem ich um ihren Kopf und ihre Hände herum schnüffelte wie ein Hund, keine sonderlich angenehme Aufgabe, bemerkte ich zu meiner Zufriedenheit, daß Zwanzig das Hundehalsband losließ, um ihre Hände auf meine Schultern zu legen und mir das Gesicht zu lecken, wobei sie glücklich winselte. Und als Zwanzig genug geleckt hatte, nahm ich das Halsband (Position 989). Durch die Augen von Anna Tap Nachdem ich Zwanzigs einstiges Hundehalsband ordentlich in eine transparente Plastiktüte gelegt und das Exponat katalogisiert hatte, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Brille. Mit einem der Zigarettenstummel im Mund und der -164-
Brille auf der Nase versuchte ich herauszufinden, wie es sich anfühlte, Anna Tap zu sein. Ich sah alles nur noch verschwommen. Verschwommene Farben, verschwommener Übergang von Licht in Dunkelheit. So ähnlich, dachte ich, mußte es sein, wenn sie ihre Brille nicht trug. Auf diese Weise ahmte ich Anna Tap nach, saugte an ihren bereits gerauchten Zigaretten und sah durch ihre Brille, etwa eine halbe Stunde lang, nur um sicherzugehen, welche Gefühle ich ihr gegenüber empfand. Ich gelangte zu dem Schluß, daß sich William geirrt haben mußte. Ich sah weitere zehn Minuten durch die Brille und rauchte, nur um sicherzugehen. Nichts. Dann katalogisierte ich die Brille, legte sie in einen Plastikbeutel, ging nach oben ins Bett und schlief glücklich ein. Am nächsten Morgen ging ich etwas früher als üblich zur Arbeit und hatte das Haus bereits verlassen, bevor einer der anderen aus dem Bett gestiegen war. Ich dachte darüber nach, welchen Gefallen ich allen erwiesen hatte, allen außer Anna Tap natürlich. Zwanzig war glücklich gewesen als Hundedame von Tearsham Park Gardens, jetzt hieß es, sie sei traurig, hatte keine Ahnung mehr, wer sie war. Claire Higg hatte glücklich in ihren Fernseher gestarrt, bis er durch Anna Taps Anwesenheit ausgeschaltet und sie an Alec Magnitt erinnert wurde. Auch Peter Bugg war mit seinem Leben leidlich zufrieden gewesen, bis er an seinen Vater, an das Lineal seines Vaters und an längst vergangene Schuljahre erinnert worden war. Indem ich das Hundehalsband wegnahm, hoffte ich, alle Anhaltspunkte zu beseitigen, die Zwanzigs toten Hund betrafen, hatten diese doch all ihre anderen Erinnerungen geweckt. Auf diese Weise wollte ich Zwanzig in ihre frühere Hundezeit zurückbringen. Indem ich Claire wieder zu ihrem Fernseher und Bugg in sein Leben voller Schweiß und Tränen zurückführte, hoffte ich, die Zeit der Erinnerungen in Wohnung 16 zu beenden. Indem ich Anna Taps Brille stahl, hoffte ich, ihr zu zeigen, daß sie im Observatorium immer noch nicht willkommen war. Wenn Zwanzig in den Park -165-
zurückkehrte, wenn Claire sich wieder ihrem Fernseher widmete, wenn Bugg aufhörte, sich Gedanken zu machen, dann würde Anna Tap begreifen, und zwar in aller Deutlichkeit, daß sie hier nicht gebraucht wurde. Sollte sie doch blind wie ein Maulwurf in ihrem Schlafzimmer sitzen und darüber nachdenken. Dann konnte sie woandershin gehen. Dies waren meine glücklichen Gedanken, als ich, einige Zeit vor dem Eintreffen des Publikums, auf meinem Sockel im Herzen der Stadt stand. Auf eine Münze wartete, die fallengelassen wurde. Handschuh-Armageddon Auf dem Nachhauseweg von der Arbeit begegnete ich weder Anna Tap, die gerade aus der Kirche kam, noch fand ich sie in der Kirche. Allerdings war sie dort gewesen, ich nahm es zumindest an. Zigarettenstummel, Lucky Strikes mit Zahnabdrücken, lagen hier und da auf dem Rückweg zum Observatorium. Ich sammelte sie ein, hörte aber schon bald damit auf: Aufgespießt auf einer der Spitzen des Zaunes von Tearsham Park Gardens befand sich ein einzelner weißer Handschuh der von mir bevorzugten Sorte. Mein Handschuh. Ich nahm ihn herunter. Ja, es war meiner! Ein Stückchen weiter fand ich noch einen Handschuh, diesmal auf dem schmutzigen Bürgersteig. Er war nicht das Gegenstück zum ersten, sondern wieder ein linker. Noch ein Stück weiter war auf der anderen Straßenseite ein Handschuhpaar auf das Schild genagelt worden, das auf das Observatorium hinwies. Großzügig ausgestattete, geräumige Wohnungen: DAS OBSERVATORIUM Großzügig (Handschuh) ausgestattete, geräumige (Handschuh) Wohnungen Meine Handschuhe, meine! In den Handflächen durchbohrt, wie -166-
bei Christus! Meine Handschuhe. Ich zog sie herunter. Meine Handschuhe waren zerrissen. Meine Handschuhe waren schmutzig. Im Erdgeschoss lag ein völlig verdreckter Handschuh, hatte der Pförtner ihn als Staubtuch missbraucht? Auf der Treppe des Observatoriums, von der Kammer des Pförtners bis in den ersten Stock: überall lagen Hände (auf manche, wie ich zu meinem Entsetzen bemerkte, war offenbar auch getreten worden). Die Handschuhe auf der Treppe erinnerten an unglückliche, anämische Insekten, die versuchen, nach Hause zu kriechen. Mein Zuhause! Dann sah ich es: die Tür von Wohnung 6! Ein neues Schloß war montiert worden! Unter der Tür konnte man die leeren Finger eines weißen Handschuhs sehen, für mich aber war Wohnung 6 gesperrt. Ich brüllte wieder und wieder. Ich setzte mich auf die Treppe, die Handschuhe in Händen, andere Handschuhe auf dem Schoß, und zitterte. Mit Hilfe der weißen Baumwolle gelang es mir schließlich, mich zu beruhigen. Ich erkannte, daß es sich bei dem neuen Schloß um exakt dasselbe Schloß handelte, das ich für Anna Tap gekauft und zu dem ich den Reserveschlüssel in der Tasche hatte. Ich schloß auf. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan, denn der Anblick, der sich meinen Augen an diesem grausamen Abend bot, war etwas, dem zartbesaitete Personen wie Francis niemals ausgesetzt werden sollten. Weiße Handschuhe, ein Meer weißer Handschuhe, weiße Handschuhe auf jedem Quadratzentimeter Boden von Wohnung 6 des Observatoriums. Ich machte mich daran, die Handschuhe vorsichtig einzusammeln, hatte schreckliche Angst, womöglich auf einen zu treten. Ich legte die Handschuhe auf Oberflächen, höher als der Boden. Die armen Diener, die armen Häute. Über das Nachtlichtkaninchen in Mutters Schlafzimmer war ein Handschuh gestreift worden. Mutters Kopf lag auf einem mit weißen Handschuhen gefüllten Kissen, und auf Mutters Sessel lagen zwei mit weißen Handschuhen ausgestopfte Männerunterhosen. Im Badezimmer nahmen weiße Handschuhe -167-
gerade ein Bad, gebrauchte Handschuhe lagen in der Klosettschüssel. Handschuhe waren an die Hähne für heißes und kaltes Wasser gebunden worden, sowohl in der Badewanne als auch am Waschbecken. Sie waren voller Wasser; aufgedunsene Hände, die mehr an Kuheuter als an empfindliche Greifinstrumente erinnerten. In der Kochecke des größten Raumes von Wohnung 6 lagen kalte Handschuhe im Kühlschrank, es gab gefrorene Handschuhe im Tiefkühlfach, auf dem Herd kochten Handschuhe in heißem Wasser, im Backofen lagen verbrannte Handschuhe. In der Eßecke des größten Raumes von Wohnung 6 war der Tisch gedeckt worden. Auf einem Teller in der Mitte des Tisches stand ein ekelhafter Salat aus weißen Handschuhen mit ein paar Spritzern Olivenöl, unter dem Deckel einer Terrine fand sich Weiße-Handschuh-Suppe und auf dem Deckel eines Silbertabletts ein Paar weiße Handschuhe mit Zwiebeln gefüllt. Im Wohnzimmerteil des größten Raums von Wohnung 6 saß Vater: Vater mit Handschuhen über den Ohren und fingerlosen Handschuhen an den Händen; die Finger, die zuvor zu den weißen Handschuhen an seinen Händen gehört hatten, waren ihm über die Zehen gezogen worden. In meinem Schlafzimmer befanden sich drei leere Handschuh-Tagebuch-Schachteln. Auf meinem Schreibtisch lag ein einzelner Handschuh. Der Handschuh war mit einem Stift so hingelegt worden, daß es aussah, als hätte der Handschuh geschrieben. An der Spitze des Stiftes lag ein Blatt Papier. Auf das Blatt Papier war folgendes geschrieben worden: BITTE UM RÜCKGABE: 1. Ein Mahagoni-Lineal, bekannt unter dem Namen Chiron. 2. Ein Paßphoto von Alec Magnitt mit handschriftlichen Liebeserklärungen auf der Rückseite. 3. Ein Hundehalsband mit einem Namensschild und der -168-
Aufschrift MAX. 4. Eine runde Brille mit Metallgestell und starken Gläsern. VIELEN DANK. Wir befanden uns mitten in der Zeit der Vier Gegenstände. Spätabendliche Besucher Ich hatte meine Handschuhe, so gut es ging, gerettet, manche befanden sich bereits wieder in den Handschuh-TagebuchSchachteln, andere trockneten im Bad. Ich war damit beschäftigt, die Finger wieder an den weißen Handschuh anzunähen, den mein Vater an seinen Händen und Zehen getragen hatte, als die Tür von Wohnung 6 geöffnet wurde. Es wurde nicht angeklopft, es gab kein Darf ich bitte hereinkommen. Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen. Sie öffnete sich, und Menschen kamen in Wohnung 6, ohne daß auch nur einmal das Wort Bitte bemüht wurde. Und als wäre das noch nicht genug, kamen sie schnurstracks in mein Schlafzimmer. Noch nie zuvor war mein Zimmer derart bevölkert gewesen. Dort standen Higg, Bugg, Zwanzig und hinter ihnen der Pförtner, der Anna Taps Ellbogen hielt. Wie winzig Anna Taps Augen ohne Brille aussahen. Higg, bemerkte ich zu meiner Empörung, trug einige meiner weißen Handschuhe am Leib. Sie hatte sich einen BH angezogen, und diesen BH hatte sie mit Handschuhen ausgestopft, kompensierte also ihre winzigen Brüste mit meinen weißen Baumwollfreunden. Fingerspitzen lugten unter den Körbchen des BHs heraus. Meine Handschuhe befingerten Miss Higgs Brüste. Der Pförtner sprach zuerst. Ich selbst habe eigentlich keinen Anlass zur Klage. Ich bin nur als Miss Taps Führer hier, sie kann nicht sehen. -169-
Raus. Sie wollen verschiedene Gegenstände zurück, von denen sie glauben, daß sie von Ihnen ausgeliehen wurden, Francis Orme. Nein. Ihr habt meine Wohnung bereits durchsucht und nichts gefunden. Damit dürfte doch wohl offenkundig sein, daß ich sie nicht habe, daß ich völlig unschuldig bin und daß mir daher Unrecht getan wird. Dann wollen Sie die Gegenstände also nicht zurückgeben? Selbst wenn ich sie hätte, würde ich es nicht tun. Sie haben sie nicht? Wer hat meine Handschuhe weggenommen? Warum fragen Sie nicht danach? Ich werde Wochen brauchen, um mein Handschuh-Tagebuch wieder in Ordnung zu bringen. Und selbst dann wird es nie mehr vollständig sein. Das ist ein erheblich schwerwiegenderes Verbrechen. Wer war es? Wer? Bugg kicherte. Higg kicherte. Der Pförtner zischte (es war ein kicherndes Zischen). Claire Higg fing an, etwas von Milchflaschen zu jammern, Zwanzig fing an zu bellen, Peter Bugg begann, sich an seinen Vater zu erinnern, und Anna Tap fing an, sich ihre blinden Augen zu reiben. Sie werden es uns schon noch sagen, das werden Sie. Ja, das werden Sie. Es war der Pförtner, der diese Worte sprach. Dann befahl er Bugg, der weinte und schwitzte und nach hundert Gerüchen roch, mich auf einem Stuhl festzuhalten, während er eine meiner weiß behandschuhten Hände am Handgelenk ergriff und die Handfläche nach oben drehte. Claire Higg zückte einen Füllfederhalter, den ich als Peter Buggs Füllfederhalter wiedererkannte, hielt die Federspitze einen Millimeter über die makellos weiße Baumwollfläche meiner gefangenen Hand und stieß dabei folgenden Einsilber aus: Sprich. -170-
Ich hätte in diesem Moment durchaus offen gesprochen, vielleicht sogar meine Ausstellung verraten, wäre nicht Zwanzig gewesen, die mich tatsächlich rettete, indem sie mir entsetzliche Schmerzen zufügte. Zwanzig ergänzte Higgs Sprich mit lautem Hundegeheul, welches Miss Higg derart erschreckte, dass ihre Hand zuckte und Tinte auf meine weiße Baumwollhand tropfen ließ. Welch ein Verlust! Welch ein Verlust! Erheblich schlimmer und größer als der Verlust von tausend und abertausend Linealen oder Brillen oder Paßphotos oder Hundehalsbändern. Ich empfand einen tieferen und größeren Schmerz, als jede Wunde mir hätte zufügen können: Auf meinen Handschuhen befand sich Tinte! Ich zeigte sie Claire Higg und Peter Bugg, dem Pförtner, Anna Tap und auch Zwanzig. Seht nur, was ihr getan habt! Das ist schlimm, das ist sehr schlimm! Das ist sehr sehr sehr schlimm! Ich saß im Schneidersitz auf dem Boden, meine Hände lagen zitternd auf meinen Knien. Sie bebten, als wären sie scheußlich verbrannt worden. Wiederholt schloss ich die Augen und öffnete sie in der vergeblichen Hoffnung, dass in einer magischen Sekunde, als ich nicht hinschaute, die Tinte auf wundersame Weise verschwunden wäre und mein Handschuh zu seiner früheren makellosen Schönheit zurückgefunden hätte. Eine ganze Weile saß ich dort, wiegte mich sanft vor und zurück, nickte sachte, summte leise vor mich hin, tröstete mich, während sie, die Mörder, schlaff und ohne einen Funken Stolz im Leib und zutiefst beschämt um mich he rumstanden. Mir war hundeelend. Mein Herz schrie, und jedesmal, wenn ich die Augen schloß, war ich sicher, ohnmächtig zu werden. Mein Herz drosch auf meinen Brustkorb ein, als versuchte es verzweifelt herauszukommen. Mir ist schlecht. Ich kann mich nicht beruhigen. Ich versuchte, die heilige Schrift mit dem Titel Das Gesetz der -171-
Weißen Handschuhe zu rezitieren, konnte mich jedoch nicht konzentrieren. Ich stand auf. Ich mußte in Bewegung bleiben. Ich ging um Zwanzig herum, um Claire Higg und Peter Bugg, um den Pförtner und um Anna Tap herum. Ich konnte nicht stillstehen, während gleichzeitig mein Herz wie verrückt hämmerte und darum bettelte, freigelassen zu werden. Mein Herz wollte sich einfach nicht beruhigen. Ich kann mich nicht beruhigen, ich kann mein Herz nicht beruhigen. Warum läßt es sich nicht beruhigen, warum läßt es sich nicht beruhigen? Was kann ich tun, damit es sich beruhigt? Werde ich sterben, fühlt sich Sterben so an? Beruhige dich, Francis Orme. ICH KANN NICHT! Anna Tap versuchte, mich zu beruhigen. Setzen Sie sich, Francis. Ich muß in Bewegung bleiben. Nein, das müssen Sie nicht, setzen Sie sich, dann wird es Ihnen gleich wieder bessergehen. Genau. Atmen Sie tief durch. Ich kann mich nicht beruhigen! Tief durchatmen. Mein Herz! Zählen Sie. Langsam. 123456789101112… Langsamer. 1 2 3 4… Ich kann nicht! Doch, Sie können. Was passiert mit mir? Es ist nichts. Es wird bald wieder vorbei sein. Pssst. Helfen Sie mir! Versuchen Sie, sich hinzulegen. Geht es besser? Ich kann nicht. -172-
Sie können. Besser? Ein bißchen. Tief durchatmen. Ich fühle mich schwach. Nein, Sie fühlen sich nicht schwach, Sie sind nur müde. Schließen Sie die Augen. Tief durchatmen. Ich bin müde. Schließen Sie die Augen. Mein Herz! Schließen Sie die Augen, ruhig durchatmen. Schließlich schlief ich ein. Als ich aufwachte, waren alle weg. Später an diesem Abend (als ich ein frisches Paar Handschuhe trug) hörte ich es an unserer Tür klopfen und roch, dass Peter Bugg davorstand. Francis, ich weiß, was du getan hast, ist nicht recht. Aber ich werde dir meinen Teil des Unrechts verzeihen, wenn du mir erlaubst, kurz mit dir zu sprechen. Die anderen schlafen alle, und ich muß mit jemandem reden. Ich kann nicht mehr aufhören zu denken, ich werde das Bild des Jungen nicht mehr los… Er lächelte mich bereits seit Tagen an, aber heute abend hat er angefangen, laut zu lachen. Francis, Alexander Mead ist zurückgekommen, um mich zu quälen. Laß mich rein. Ich habe keinen Schlüssel für diese Tür. Der Pförtner hat ihn, und der schläft jetzt. Laß mich bitte rein, laß mich heute nacht nicht allein. Ich gab keine Antwort. Peter Bugg klopfte noch ein paarmal, bettelte noch eine Weile weiter (soll er doch bitten und betteln, dieser unversöhnliche Bugg), und dann kehrte er weinend und riechend und schwitzend zu Alexa nder Mead zurück. -173-
Das Altarbild von Tearsham Church Am nächsten Tag erhielt ich keinen Besuch. Den Morgen verbrachte ich damit, einige weitere meiner mißbrauchten Handschuhe zu retten. Im Verlauf des Nachmittags hörte ich den Pförtner und Anna Tap die Treppe heruntergehen und belauschte den folgenden Teil eines Gesprächs: In die Augenklinik? Nein, in die Kirche. Ich rannte zu meiner Ausstellung hinunter, die ganze Strecke bis zum schmälsten Ende des Tunnels und dann auf der anderen Seite wieder heraus. Ich schob den steinernen Deckel des falschen Grabmals beiseite, wobei ich Vaters alte Lederhandschuhe über meinen weißen trug. Dann schob ich die Platte zurück und richtete mich, ein wenig außer Atem, in Tearsham Church auf, in der Privatkapelle der Familie Orme, getrennt vom Rest der Kirche durch ein hohes Gitter mit Zierspitzen und ein Schloß, zu dem nur ich und der Priester einen Schlüssel besaßen. Seit einiger Zeit schon wurde die Kirche vernachlässigt. Nur wenige Menschen kamen noch her, ich selbst war auch schon seit Monaten nicht mehr hier gewesen. Der Priester mußte sich um vier weitere Kirchen kümmern und hielt die Gemeinde, die einst Tearsham hieß, für seine unbedeutendste. Gottesdienste waren hier schon seit einigen Jahren nicht mehr gefeiert worden, und der langsame Verfall der Kirche hatte eingesetzt. Manche der Kirchenfenster waren eingeworfen und mit Brettern vernagelt worden, doch die Tauben schafften es dennoch herein, vielleicht durch den Glockenturm, und waren sie erst einmal drin, konnten sie nicht mehr heraus. Überall entleerten sie ihren Darm. Sie starben in den Ecken, und ihre Kadaver ermunterten die Ratten. Der Müll aus der Stadt hatte sich Zutritt verschafft. Papier von Süßigkeiten, rostende Dosen, vergilbte Zeitungen. -174-
Alle der einst zahlreichen Kirchengemälde und Wandteppiche waren schon vor langer Zeit aus den verschiedenen Seitenkapellen entfernt worden, zusammen mit dem Altar, den Kerzenständern, dem Kelch und sogar den Kirchenglocken. Jetzt waren nur noch die staubbedeckten Bänke, die defekte alte Orgel und das sperrige, morsche, häßliche Altarbild der Kirche übrig. Das Altarbild bestand aus acht überlebensgroßen Holzfiguren. Eine Madonna. Ein Kind. Sechs Heilige. Die Madonna saß mit dem Christuskind auf dem Schoß auf einem Thron und hatte jeweils drei Heilige zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten. Diese Holzmenschen waren wie Puppen angezogen worden, sie trugen Kleider: echte Kleider, die sich in einem Zustand fortgeschrittenen Zerfalls befanden, verschossen, von Motten zerfressen, an manchen Stellen waren sie von den Körpern gerutscht und lagen nun in merkwürdig aussehenden Haufen unter den Figuren auf dem steinernen Boden der Kirche. Die hölzernen Arme, Hände und Gesichter dieser Helden früherer Zeiten waren einmal fleischfarben angemalt gewesen. Ein großer Teil der Farbe hatte jedoch begonnen abzublättern, was den Eindruck vermittelte, als würden die Märtyrer erneut zu Tode gemartert, in ihren verschiedenen Posen der Glückseligkeit bei lebendigem Leib gehäutet. Einige der Heiligen hatten einmal echtes Menschenhaar auf dem Schädel gehabt, gleichwohl vieles davon im Laufe der Zeit ausgefallen war, die Jungfrau Maria war fast kahl. Die Heiligen waren, von rechts nach links: die heilige Katharina von Alexandrien mit dem Instrument ihres Martyriums, einem Rad; der heilige Thomas von Aquin, der ein Buch umklammerte, die Summa theologicae; der heilige Stephanus, der erste Märtyrer, der gesteinigt wurde, hielt große, scharfkantige Steine in Händen; der heilige Petrus trug die mit drei goldenen Kronen geschmückte Mitra des Papstes und hatte zwei Schlüssel in der Hand; Franziskus, dieser hölzerne Francis, nicht ich, hatte die Hände gefaltet und richtete den Blick zum -175-
Himmel, hatte wahrscheinlich Halluzinationen über einen Spatz oder Buchfink. Der heilige Franziskus trug keine Gegenstände, verachtete er doch jeglichen irdischen Besitz. Dieser unterernährte Mann trug große Blasen in der Mitte seiner Hände und Füße, seine Wundmale (jedes mal, wenn ich nach Beginn meiner Handschuhzeit die Kirche besuchte, sehnte ich mich danach, ein Paar weiße Handschuhe über Franziskus' gezeichnete Hände zu ziehen). Und schließlich war da noch die heilige Lucia, die einen Holzteller hielt, auf den zwei Holzaugen geleimt waren. Von der Gruppe befand sich lediglich Lucia in einem halbwegs guten Zustand. Sie allein besaß noch volles Haar, das ihr über die Schultern fiel, sie allein besaß glaubhaftes, intaktes Fleisch, sie allein war noch vollständig bekleidet, und ihre Kleidung hatte, was höchst ungewöhnlich war, ihre ursprüngliche Farbe bewahrt, wirkte sogar sauber und neu. Jeder, der die Kirche nicht kannte und sie zum ersten Mal betrat, mochte Lucia zunächst für einen echten Menschen halten, wenn auch in einem bizarren Kostüm. Wenn sie sich dann aber nicht bewegte, wurde man irgendwann mißtrauisch, ging zu ihr und sah dann ihre Nachbarn. Ihre vergammelten, verunstalteten Nachbarn, die unter einem solchen Wurmbefall zu leiden hatten, daß sie wie Leprakranke aussahen, wie monochrome Geister in ihren verschossenen und schmuddeligen Kleidern. Das Altarbild war von meinem Urgroßvater gestiftet worden, einem anderen Francis Orme. Er stieß bei einer seiner Reisen auf das hölzerne Altarbild (so lautet zumindest die betreffende Anekdote in einem Band der Geschichte der Ormes). Unter beträchtlichen Schwierigkeiten und mit noch beträchtlicheren Mitteln gelang es ihm, es unter der Bedingung zu erwerben, daß es immer auf heiligem Boden stehen müsse. Mein Urgroßvater übergab es Tearsham Church. Die Jungfrau, wie ich annehme, damals noch nicht kahl, besaß eine, so glaubt man, außergewöhnliche Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau. Er -176-
saß früher immer vor der hölzernen Mutter Gottes, hing dabei wahrscheinlich nicht unbedingt himmlischen Gedanken nach und verwechselte sie mit der Mutter seines Sohnes, einem weiteren Francis Orme. Eines Tages fand man dann meinen Urgroßvater nackt auf dem Schoß der Heiligen Jungfrau. Deren Sohn lag auf dem Boden von Tearsham Church, nachdem er gewaltsam von seinem angestammten Platz entfernt worden war. Meine Urgroßvater versuchte, die hölzerne Jungfrau zu begatten. Er beschloß seine Tage in einer Krankenhauszelle. Nach einiger Zeit trafen der Pförtner und Anna Tap ein. Versteckt hinter dem Grabmal eines toten Orme belauschte ich sie. Was sehen Sie? Hölzerne Menschen. Wer ist der mit den Schlüsseln? Der heilige Petrus, der Torhüter des Himmels. Auch ein Pförtner? Der heilige Pförtner. Beschreiben Sie mir den letzten Heiligen ganz links. Es ist eine junge Frau, Miss Tap. Das ist die heilige Lucia. Was hält sie in der Hand? Einen Teller. Was befindet sich auf dem Teller? Ein Paar Augen. Wegen dieser Augen bin ich hier. Ich kümmere mich nun schon seit Monaten um die heilige Lucia. Als ich sie das erste Mal sah, war sie wie die anderen, sie sah krank und mitgenommen aus, überall blätterte ihre Farbe ab, sie war übersät mit Rissen und Flecken. Ich sollte die Kleidung und die Haare von allen Heiligen herrichten. Es war ein Auftrag des Stadtrats, unsere Kirchen und alles, was sich in ihnen befindet, zu konservieren. Aber dann wurde bekannt gegeben, dass diese Kirche hier zukünftig nicht mehr benutzt würde und die Mittel wurden -177-
gestrichen. Für mich war es allerdings zu spät, denn die heilige Lucia hatte begonnen, mich zu faszinieren. Nachts träumte ich von ihrem traurigen Gesicht. Ich glaubte, sie riefe nach mir. Ich ging in die Bibliothek und schlug ihre Geschichte nach. Ich fand alles über sie heraus, was es zu wissen gibt. Die Krankheit meiner Augen macht mir bereits seit vielen Jahren zu schaffen, ich wurde von Optiker zu Optiker, von einem Augenarzt zum nächsten geschickt. Sie bliesen mir Luft in die Augen, spritzten Farbstoff hinein, setzten Injektionen und operierten sogar, aber meine Augen verbesserten sich nicht. Meine Augen würden, so sagten sie mir voraus, hart werden, würden fest werden und schließlich ihre Sehkraft verlieren. Also meinte ich, daß die heilige Lucia aus einem bestimmten Grund zu mir gekommen war. Sie ist die Schutzheilige der Augenkranken. Da sie zwei Paare besitzt, eines auf dem Teller und eines in ihrem Kopf, dachte ich, sie könnte mir vielleicht eines ausleihen. In den Büchern stand, daß sich ein Ungläubiger in Lucias Augen verliebt hatte und sie anflehte, ihn zu heiraten. Lucia lehnte ab und der Mann ließ ihr daraufhin die Augen herausreißen. Aber wie durch ein Wunder wuchs ihr sofort ein neues Paar nach. Ich beschloß, die heilige Lucia zu restaurieren, sie in ihren Originalzustand zurückzuversetzen. Über Monate blieb ich nach Feierabend noch in der Werkstatt und behandelte ihre Kleider, kaufte neues Material, wo es nötig war. Ihre Haare waren so spröde und zerbrechlich, daß sie ersetzt werden mußten. Ich setzte eine Annonce in die Zeitung: HABEN SIE LANGES BLONDES HAAR? Wären Sie bereit, es zu verkaufen? Bitte setzen Sie sich in Verbindung mit… Viele Menschen antworteten, die meisten waren ungeeignet, aber unter ihnen war ein Mädchen mit so schönen langen, goldgelben Haaren, daß ich sie beinahe für die lebendige Lucia hielt. Sie trug ein kleines goldenes Kreuz um den Hals. Ich bezahlte sie gut, sie ließ sich das Haar kurz schneiden. Nachdem ich es abgeholt hatte, nähte ich es Strähne -178-
für Strähne zusammen. Ich bezahlte einen Restaurator aus dem Museum, damit er ihre Augen und ihre Haut wieder lebendig machte. Aber dann erhielt ich einen Brief, der mich in Kenntnis setzte, daß Lucia Eigentum der Kirche sei und ich sie innerhalb von vier Tagen zurückbringen müsse, da andernfalls rechtliche Schritte unternommen werden würden. Ich ignorierte den Brief, und fünf Tage später kam die Polizei ins Museum und nahm sie mit. Wer will sie haben, schrie ich die Polizisten an, wer außer mir hat sich je um sie gekümmert? Darum gehe es nicht, antworteten sie, die Statue gehöre nun einmal Tearsham Church. Und so fing ich an, regelmäßig herzukommen, sie vier- oder fünfmal wöchentlich zu besuchen, wobei ich jedesmal zu ihr um mein Augenlicht gebetet habe. Aber schon bald genügte das nicht mehr, ich mußte sie häufiger sehen, also zog ich um. Sie sieht wunderschön aus neben den anderen, finden Sie nicht? Sehen Sie sich die Gruppe an, wie sie gerade in einer Linie nebeneinander stehen. Sie sehen einander nicht an, sie kommunizieren nicht. Früher war das so in der Kunst, doch dann änderte sich der Geschmack, und die Heiligen wurden so gemalt, daß sie sich untereinander und mit der Jungfrau unterhielten. Man nannte diese Art von Altarbild sacra conversazione, heilige Unterhaltung. Diese Gemälde umfaßten nicht selten auch den knienden Stifter des Altarbildes, seinen Auftraggeber. Manchmal stelle ich mir vor, wie sich diese hölzernen Heiligen miteinander unterhalten, nicht völlig isoliert leben. Und dann sehe ich mich selbst als eine Art Stifterin, die Lucias Segen erhält und plötzlich zu einem Teil des Altarbildes wird. Der Festtag der heiligen Lucia ist der dreizehnte Dezember, ein Tag, der früher als Wintersonnenwende gefeiert wurde, der kürzeste Tag des Jahres, die längste Nacht. Der blindeste Tag im Kalender. Seit ich Lucia begegnete, habe ich an jedem dreizehnten Dezember Kerzen vor ihr aufgestellt und sie angefleht, mir me in Augenlicht zurückzugeben. Ich spüre das Licht nur mehr aufgrund seiner Wärme, anstatt es zu sehen. -179-
Noch hat sie mir nicht geholfen. Aber das wird sie, sie muß einfach. Und es wird in diesem Jahr sein, am dreizehnten Dezember, daß sie meine Augen rettet. Denn wenn es dann nicht passiert, wird es zu spät sein, ich werde erblinden, und meine Augen werden hart. Bringen Sie mich jetzt zu ihr, Pförtner, damit ich sie berühren kann. Sie blieb etwas über eine Stunde bei Lucia und dann brachte sie der Pförtner zurück ins Observatorium. Auch ich verließ die Jungfrau, ihr Kind und die sechs Heiligen und kehrte zu meiner Ausstellung zurück. Der Entleiher Nachdem ich einige Stunden später den Tunnel hinter mir verschlossen hatte, stieg ich die Treppe hinauf zu Wohnung 6, wo Anna Tap vor der Tür auf mich wartete. Francis? Francis, sind Sie das? Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe? Ich habe geklopft und geklopft. Außer mir macht niemand die Tür auf, und ich war nicht da. Francis, ich möchte meine Brille zurück. Dann sollten Sie sie wohl besser finden. Ich glaube, ich weiß, wo sie ist. Na, dann gehen Sie doch und holen sie. Ist sie im Keller, Francis? Haben Sie sie dort versteckt? Ist das der Grund, warum Sie mich bei unserer ersten Begegnung unbedingt von der Kellertreppe forthaben wollten? Was bewahren Sie dort unten auf? Dort ist noch die Wohnung des Pförtners und der Heizungsraum… Ich könnte den Pförtner bitten, sich einmal gründlich dort unten -180-
umzuschauen. Das würde ich nicht tun… Ich wußte doch, daß sie dort unten ist! … nicht, wenn Sie Ihre Brille zurückhaben wollen. Holen Sie sie mir. Das kann ich nicht. Francis, wir machen ein Geschäft. Sie geben mir jetzt meine Brille zurück, und wenn ich wieder richtig sehen kann, dürfen Sie sie behalten. Aber was ist, wenn Sie erblinden? Ich werde nicht erblinden. Aber wenn doch, darf ich sie dann trotzdem behalten? Bitte, Francis. Wenn Sie es versprechen. Ich kann ohne sie nicht sehen. Das ist nicht üblich. Ich habe noch nie zuvor ein Exponat der Ausstellung als Leihgabe fortgegeben. Ich weiß nicht, ob so etwas zulässig ist. Versprechen Sie mir, die Brille zurückzugeben, nachdem Sie erblindet sind? Ja. Nun, lassen Sie uns überlegen. Was meinen Sie, wie lange wird es dauern, bis Sie völlig erblinden? iCH WEISS ES NICHT! Ungefähr? Einige Monate, aber ich werde nicht erblinden. Einige Monate? Eine Leihgabe über eine nicht näher spezifizierte Anzahl von Monaten. Nun, ich würde dieses Geschäft ja in Erwägung ziehen… aber Sie haben mich als zurückgeblieben beschimpft. Das hat mir ganz und gar nicht gefallen. Ich habe es nicht so gemeint. -181-
So ist es schon besser. Aber genügt das? Ich könnte den Pförtner rufen. Also abgemacht. Ich werde Ihnen die Brille geben. Sie geben Sie mir zurück, nachdem Sie erblindet sind, innerhalb einiger Monate. Es ist nicht nötig, den Pförtner in die Sache mit hineinzuziehen. Und was ist mit dem Hundehalsband, Claires Photo und Peters Lineal? Nein, die können sie nicht zurückbekommen. Ich habe sie zerstört. Ich glaube Ihnen nicht. Ihre Brille könnte ich ebenfalls zerstören. Nein, Francis. Es tut mir leid. Ich ging also in die Ausstellung und lieh mir ein Exponat aus. Es würde, so lautete die Übereinkunft, in einer nicht näher spezifizierten Anzahl von Monaten zurückgegeben werden. Wieder im Erdgeschoß, in der Eingangshalle, hörte ich Schreie aus dem zweiten Stock. Claire Higg, der Pförtner, Zwanzig und Anna Tap befanden sich in Wohnung 10 (Peter Bugg ebenfalls). Das Ende der Zeit der Erinnerungen, der Abschied von Peter Bugg, Schulmeister im Ruhestand, pensionierter Privatlehrer, etc Mr. Peter Bugg, nicht mehr schwitzend, nicht mehr weinend, aber immer noch nach hundert verschiedenen Gerüchen riechend, war zu Hause. Mr. Peter Bugg trug eine Schulkrawatte. Marineblau mit roten Streifen. Er trug sie falsch herum. Der Knoten befand sich in seinem Nacken. Genaugenommen trug die Krawatte eigentlich Peter Bugg. Peter Bugg, kalt jetzt und still, nicht mehr von Gedanken an Alexander Mead oder seinen Vater oder das Lineal seines Vaters -182-
besessen, befand sich in vertikaler Position etwa einen halben Meter über dem Boden. Hängend. Und fliegen konnte er nicht… Erhängt. Erdrosselt. Tot. Der Pförtner schnitt ihn ab und legte ihn auf sein Bett. Auf seinem Schreibtisch, an dem er wieder und immer wieder sein Buch nicht zu Ende gebracht hatte, lagen fünf Umschläge, adressiert an: den Pförtner des Observatoriums, die Bewohnerin von Wohnung 20, Miss Anna Tap, Francis Orme (der Jüngere), Claire. Diese Briefe waren die letzten Schriftstücke von Peter Bugg, gleichwohl sie selbst in ihrem geringen Umfang jenes andere, unvollendet gebliebene Opus weit übertrafen. Wir öffneten die Umschläge. An den Pförtner des Observatoriums Mein lieber Pförtner, ich bedauere es sehr, Sie nicht persönlich ansprechen zu können, denn erst als ich mich hinsetzte, um Ihnen diesen Brief zu schreiben, bemerkte ich, daß ich nie Ihren wirklichen Namen erfahren habe. Verzeihen Sie mir. Ich bedauere zutiefst das Durcheinander unter meinen persönlichen Sachen, die Sie nun aufräumen müssen. Ich fürchte, Sie werden derjenige sein, der diese Aufgabe übernehmen muß. Für Ihre Mühen lege ich einen Geldschein bei. Verzeihen Sie mir. Hochachtungsvoll, Peter Bugg An die Bewohnerin von Wohnung 20 Liebe Freundin, leider haben Sie noch keinen Namen, aber ich -183-
bin sehr zuversichtlich, daß Sie sich schon sehr bald wieder an ihn erinnern werden. Ich lege Ihnen ein nicht sehr umfangreiches, aber, wie ich meine, hilfreiches zweisprachiges Wörterbuch bei. Weiterhin hinterlasse ich eine Liste mit Telefonnummern von Polizeirevieren in Ihrem Land. Ich bin sicher, man wird Ihnen bei der Suche behilflich sein, wenn Sie diese Nummern anrufen. Ich habe keinen Zweifel, daß Sie schon bald wieder Sie selbst sein werden. Mit herzlichen Grüßen und den besten Wünschen, Peter Bugg (Dieser Brief wurde später von Anna Tap Wort für Wort mit Hilfe von Peter Buggs altem Wörterbuch übersetzt.) An Miss Anna Tap Liebe Miss Tap, ich fürchte, Sie werden von mir sehr enttäuscht sein. Verzeihen Sie mir? Ich muss Sie um einen Gefallen bitten. Während me iner Zeit im Observatorium habe ich im Laufe der letzten Jahre verschiedene kleine Pflichten übernommen. Diese Pflichten umfassen die Einkäufe (hauptsächlich Lebensmittel und gelegentlich einige ungewöhnlichere Dinge) für Miss Higg und, dies ist die anspruchsvollere Aufgabe, tagsüber nach Mr. Francis Orme zu sehen, während sein Sohn außer Haus ist. Würden Sie dies für mich übernehmen? Ich entschuldige mich dafür, aber ich vertraue voll und ganz Ihren Fähigkeiten. Obwohl ich Sie nur sehr kurze Zeit kannte, in tiefer Verbundenheit und mit den besten Grüßen Ihr Peter Bugg An Francis Orme (den Jüngeren) -184-
Mein lieber Junge, Du darfst Dir auf gar keinen Fall Vorwürfe mache, letzte Nacht nicht mit mir gesprochen zu haben. Früher oder später wäre ich sowieso gega ngen. Ich werde nun schon seit vielen Jahren von einer gewissen Erinnerung gequält, die dafür verantwortlich ist, wie ich erst kürzlich erkannt habe, daß ich aus Nervosität schwitze und vor Reue weine. Es ist durchaus möglich, daß Du dies bei Deinem ehemaligen Hauslehrer nicht bemerkt hast oder daß Du einfach so freundlich warst, kein Wort darüber zu verlieren. Der Name des Jungen war Alexander Mead. Wir waren Freunde. Er war mit Abstand mein intelligentester Schüler. Davon abgesehen, spielten wir nach Schulschluß immer zusammen Dame, Flohhüpfen oder Murmeln. Er war der beste und treueste Freund, den ich in meinem ganzen Leben hatte. Außerhalb des Unterrichts nannte er mich Peter. Wir standen uns sehr nahe. Ich wollte, daß er erwachsen wurde und er wollte, daß ich wieder Kind wurde. Aber es gelang uns auch so, über den Altersunterschied hinweg eine bedeutsame und gehaltvolle Beziehung aufzubauen. Eines Tages war er während des Unterrichts so in das Thema verrieft, das ich gerade unterrichtete, daß er mich Peter nannte anstatt Sir. Die Klasse verstummte und wartete auf meine Reaktion. Was konnte ich tun? Ich konnte ihm diese Vertraulichkeit nicht ungestraft durchgehen lassen. Ich mußte etwas tun. Und die Klasse lechzte nach Blut. Alexander sah so verängstigt, so zerbrechlich aus. Ich nahm Chiron heraus und schlug ihn ununterbrochen für fünf Minuten auf die Knöchel, auf den Kopf, auf die Rippen. Ich mußte es tun, es war eine Frage des Überlebens; ein Lehrer darf sich vor versammelter Klasse niemals von einem Schü ler mit Vornamen ansprechen lassen. Das ist respektlos. Er mußte bestraft werden. Wenn ich ihn nicht geschlagen hätte, und zwar hart geschlagen hätte und wiederholt geschlagen hätte, dann wäre ich das Opfer gewesen. Die Klasse hätte einen Keim von Schwäche in mir gesehen und somit hätte -185-
ich meine Autorität verloren; die Schüler hätten angefangen, ungehorsam zu werden und sich über mich lustig zu machen. Ich mußte ihn schlagen, und mit jedem Schlag zerfiel unsere Freundschaft ein Stück mehr, nach fünf Minuten war sie tot. Nach dem Unterricht versuchte ich, mit ihm zu reden, aber die Tür seines Zimmers war abgeschlossen und er gab keinen Laut von sich. Als er am folgenden Morgen nicht zum Unterricht erschien, schickte ich jemanden nach ihm. Die Tür war immer noch abgeschlossen. Sie wurde gewaltsam geöffnet. Der Junge hatte sich mit einer Schulkrawatte erhängt. In den Wochen nach seinem Tod fand ich in meinem Zimmer viele zu Schlingen gebundene Schulkrawatten, zwischen den Büchern, in Schränken und Schubladen, in meinem Bad und einmal sogar in meinem Essen. Ich erfuhr nie, welcher meiner anderen Schüler sich dieser unangenehmen Aufgabe angenommen hatte, ich begriff nur, daß es mehrere sein mußten. Es schien für mich auf der Hand zu liegen, daß sie mir die Verantwortung für den Tod des Jungen gaben. Unter solchen Bedingungen konnte ich nicht mehr unterrichten und verließ daher die Schule, auch wenn ich zugeben muß, daß der Direktor durchaus nicht traurig war, mich gehen zu sehen. Ich scheue mich zu sagen, daß es die Erinnerung an diese Krawatten war, die mich gestern zum Mißbrauch Deiner Handschuhsammlung inspiriert hat. Ich hinterlasse Dir, dem einzigen Schüler, der stets zu mir gestanden hat, meine Büchersammlung. Du wirst feststellen, daß sie sich ein wenig verringert hat seit unserem gemeinsamen Unterricht in Tearsham Park. Ich mußte viele von ihnen zugunsten leiblicher Bedürfnisse verkaufen. Unter ihnen findest Du die verschiedenen, von meinem Vater verfaßten Bücher. Was die Photographie meines Vaters anbelangt, sei bitte so gut und lege sie mir ins Grab. Die Krawatte, die wahrscheinlich zerschnitten wurde, wenn Du dies hier liest, vertraue ich Dir an, da ich weiß, daß du eine große Sammelleidenschaft für gewisse -186-
Dinge besitzt, die anderen Menschen lieb und teuer sind. Der Hals, um den sie das erste Mal gebunden wurde, war mir in der Tat lieb und teuer. Sollte sich Dein Vater jemals von seiner Krankheit losmachen können, richte ihm bitte meine tief empfundene Dankbarkeit für die Rente aus, die mir so viele Jahre zu gewähren er die Güte besaß. Ich bin zu Alexander Mead gegangen, um mich zu entschuldigen, bleibe aber, im Leben wie im Tod, Dein Hauslehrer Peter Bugg PS: Weißt Du, wo Chiron ist? An Claire Meine liebe Claire, ich hoffe sehr, daß Sie es mir nicht übelnehmen, wenn ich Sie auf diese vertrauliche Art anspreche, aber nie bin ich einer Frau nähergekommen als Ihnen. Ich muß gestehen, und ich hoffe, es wird Sie nicht zu sehr bestürzen (falls doch, versuchen Sie bitte, mir zu verzeihen), daß ich schon seit mehreren Jahren, ich weiß nicht genau, wie lange, solche Dinge haben meines Wissens nicht immer einen klar definierten Anfang, in Sie verliebt bin. Ich habe nicht einen Moment geglaubt, daß Sie meine Gefühle erwidern würden, und deshalb habe ich auch nie darüber gesprochen. Ich war zufrieden, jeden Tag in Ihrer Nähe zu sein. Auf Ihre früheren Freunde, die realen wie die fiktiven, war ich unendlich eifersüchtig, und ich hoffe, Sie werden mir die Unverschämtheit nachsehen, wenn ich ein kleines Photo von mir beifüge, ein Photo aus glücklicheren Tagen, als ich noch Haare hatte. Wenn Sie es nicht behalten möchten, kann ich es verstehen. Falls aber doch, dann wäre es -187-
bestimmt kein Fehler, wenn Sie es in Ihrem Wohnzimmer über den Flecken an der Wand hängen, wo einst Mr. Magnitt zu finden war. Ich habe gestern abend daran gedacht, als wir die Treppe hinauf zu Ihrer Wohnung gingen und Sie erwähnten, wie praktisch es wäre, wenn der Fahrstuhl wieder funktionieren würde. Diese Bemerkung erinnerte Sie, fürchte ich, an Mr. Magnitts bedauernswertes Ende. Sollte mein Photo Ihnen auf irgendeine Weise helfen können, den Verlust des anderen Photos, welches Sie, wie ich fürchte, höchstwahrscheinlich nie wiedersehen werden, zu überwinden, dann behalten Sie es bitte. In großer Liebe, Peter So endete die Zeit der Erinnerungen.
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IV DAS OBSERVATORIUM UND TEARSHAM PARK
Gedenken an Peter Bugg Zwanzig, Anna Tap und ich waren als Zeugen dort. Peter Bugg wurde in einer billigen Kiste aus dürftig verkleideten Spanplatten in das städtische Krematorium gebracht. In der Kapelle, in die wir geführt wurden, befanden sich Stühle für vierzig oder mehr Personen, aber wir benötigten nur drei. Wir kamen uns so merkwürdig vor, die Haupttrauergäste zu sein, daß wir uns in die zweite Reihe setzten, so als rechneten wir damit, es kämen noch andere Leute. Der Priester kam den Gang heraufgerannt, trieb die Sargträger an und schaute nervös auf seine Uhr. Er hatte eine Hautkrankheit, große, gelbe, schuppige Entzündungen blühten auf seinen Wangen. Als der Sarg aufgestellt war, legte ich das Photo von Peter Bugg senior darauf, woraufhin mir der Priester einen mißbilligenden Blick zuwarf, ohne es allerdings wieder wegzunehmen. Mit einer Photokopie von Peter Buggs Geburtsurkunde in der Hand begann er, bedeutungslose Worte über jemanden mit dem Namen Ronald Peter Bugg zu sprechen und wäre es nicht so traurig gewesen, hätte ich bestimmt angefangen zu kichern. Wir sangen ein Lied und während der dritten Strophe drehte der Mann, der auf einem elektronischen Tasteninstrument spielte, sollten wir glauben, es sei eine Orgel?, die Lautstärke ein wenig hoch, damit wir alle wussten, dass jetzt der Moment gekommen war, um Peter Bugg ein letztes Mal anzusehen. Sobald das Lied -189-
zu Ende war, wurden wir hinausgedrängt, jedoch durch eine andere Tür als die, durch die wir hereingekommen waren, denn durch diese traten andere Menschen mit einem anderen Sarg, die von einem anderen Priester zur Eile getrieben wurden. Wir gingen nach Hause. Claire Higg hatte beschlossen, in Wohnung 16 zu bleiben. Die Fahrt zum Krematorium sei für sie zu lang, sagte sie. Ich weiß nicht, ob sie das Photo von Peter Bugg, wie von ihm vorgeschlagen, an die Wand hängte. Ich durfte ihre Wohnung nicht mehr betreten. Niemals wieder, sagte sie. Und tatsächlich, ich sah sie nie wieder. Entgegen ihrem Versprechen steckte Miss Higg den Stecker ihres geliebten Fernsehers doch wieder in die Dose und setzte ihr früheres Privatvergnügen fort, wenn auch, wie ich annehme, mit deutlich geringerem Enthusiasmus. Wenn es mal wieder zu einem Stromausfall kam, brachte man sie eine Zeitlang zu ihrem kleinen Spaziergang nach draußen, aber bei diesen Gelegenheiten wurde sie von zwei anderen Begleitern gestützt: Anna Tap und dem Pförtner. Auch der Pförtner fehlte bei Peter Buggs Abschied, er hatte einen Container unter Buggs Fenster stellen lassen und warf alle Sachen des einstigen Bewohners, die nicht irgend jemandem hinterlassen worden waren, aus dem Fenster in diesen Container. Darunter auch die wenigen, die erbärmlich wenigen Seiten von Buggs nun für immer unvollendet bleibendem Buch. Der Rückstand von Buggs Leben füllte den Container nicht. Ein nur halb gefüllter Container wurde abgeholt. Ich dachte darüber nach, wie viele Containerladungen jeder Bewohner des Observatoriums wohl fü llen mochte. Mein Leben würde viele Containerladungen benötigen. Auch Mutter würde mit Sicherheit mehr als einen Container brauchen. Claire Higg würde mit einem einzigen Container auskommen. Miss Tap brauchte nicht mehr als einen Viertelcontainer. Der Pförtner mit seiner Kiste, in der er sein Hab und Gut aufbewahrte und die noch nie jemand gesehen hatte und seinen Uniformen würde ein -190-
Achtel eines Containers benötigen. Und Zwanzig ohne ihr Hundehalsband würde überhaupt keinen Container benötigen. Für sie würde ein einziger Müllbeutel genügen. Wieviel häuft der Durchschnittsmensch in seinem Leben an? Wir waren wieder sieben, genauso viele wie vor dem Einzug der neuen Bewohnerin. Der Weggang von Zwanzig Zwanzig rief die Polizeibeamten in ihrem Land an und nach einer Woche Funkstille fand man ihre Akten. Man sagte ihr, daß ihr Name nicht Zwanzig war, auch nicht Hundedame, sondern Anca lautete, dass sie mit Stefan verheiratet war und das Stefan und Anca keine Kinder hatten. Sie war sechsundzwanzig, als sie verschwand, neununddreißig, als sie wieder auftauchte. Aber zu dem Zeitpunkt, als man sie gefunden hatte, als sie sich selbst gefunden hatte, hatten alle längst aufgehört, noch nach ihr zu suchen. Wahrend ihrer Abwesenheit waren ihre Eltern gestorben, die Mutter an Altersschwäche, der Vater hatte sich umgebracht. Dies erfuhr sie von ihrer Schwester. Sie hatte sich nicht daran erinnert, eine Schwester zu haben. Sie fragte ihre Schwester, ob sie sich gut verstanden hätten. Die Schwester antwortete, nein, das hätten sie nicht, sie hätten sich gehaßt; sie hatten sich in denselben Mann verliebt, und dieser Mann hatte Anca geheiratet, nicht ihre Schwester. Wo ist er jetzt? Weißt du das nicht? Nein, Anca wusste es nicht, aber sie erinnerte sich an seinen Schnurrbart, sie erinnerte sich, wie er vor der Tür von Wohnung 20 stand (der anderen). Er aber, so erfuhr sie von ihrer Schwester, hatte sie vergessen. Er hat wieder geheiratet, Anca. Dich? -191-
Nein, er war nie an mir interessiert. Hat er nicht auf mich gewartet, hätte er nicht warten können? Anca, es war keine glückliche Ehe. Oh, das wußte ich nicht. Er hat dich geschlagen. Das wußte ich nicht. Du hast dir einen Hund gekauft, um dich zu schützen, den größten Hund, den du finden konntest. Max hast du ihn genannt. Ich nehme nicht an, daß du dich an Max erinnerst, dieses harmlose Viech. So ein riesiger Hund in so einer winzigen Wohnung. Er hat dir nicht geholfen. Nach allem, was deine Nachbarn sagten, bist du nach einem Streit plötzlich spurlos verschwunden. Du und der Hund. Man verdächtigte deinen Mann des Mordes. Stellte ihn vor Gericht. Aber es gab nicht genug Beweise, um ihn länger als zehn Jahre hinter Gitter zu bringen. Zehn Jahre! Davon hat er aber nur sechs abgesessen, dann kam er wieder raus und heiratete eine andere. Ich an deiner Stelle würde mich bedeckt halten, denn ich kann mir kaum vorstellen, daß Stefan gern erfahren würde, daß er sechs Jahre für nichts und wieder nichts in der Hölle geschmort hat. Jeder glaubte, daß er dich ermordet hat. Ich auch. Am Ende hat er es wahrscheinlich sogar selbst geglaubt, er konnte sich nur nicht mehr erinnern, wie er es gemacht hat. Ich habe mir den Kopf gestoßen, und dann bin ich gelaufen und gelaufen. Jeder hat dich gesucht. Können wir beide Freunde sein? Ich weiß nicht, wir haben uns früher sehr gehaßt. Du bist meine Schwester. Ich habe sonst niemanden. Können wir es versuchen? -192-
Wenn du willst. Danke, vielen Dank. Ich habe Platz in meiner Wohnung. Du kannst bei mir bleiben, allerdings nicht für immer, sondern nur so lange, bis du eine Arbeit findest. Anca erzählte Anna Tap ihre Geschichte sehr langsam, Wort für Wort, blätterte dabei in dem Wörterbuch, das Peter Bugg ihr geschenkt hatte. Also verließ uns Anca, Zwanzig, die Hundedame, ebenfalls. Der Pförtner, Anna Tap und ich begleiteten sie zum Bus. Sie lachte, als sie in den Bus stieg, sie lachte, als sie uns durch das Busfenster zuwinkte. Sie lachte, als der Bus losfuhr, aber da hatte sie auch Tränen in den Augen. Jetzt waren wir sechs. Monate später erhielten wir, oder besser Anna Tap, eine Postkarte von Anca, geschrieben in unserer Sprache und voller Fehler. Anca schrieb, daß sie sich in dem Augenblick, als sie ihre Schwester sah, daran erinnerte, wie sehr sie sie gehaßt hatte. Beide fanden es unmöglich zusammenzuleben. Sie fand Arbeit in einer Fabrik, die Hundefutterkonserven herstellte. Wohnte jetzt mit ihren alten Sachen in ihrer eigenen Wohnung. Sie hatte sich eine Hauskatze angeschafft, schrieb sie, die Anna hieß. Weiterhin schrieb sie, daß sie inzwischen Angst vor Hunden habe und ihre Nähe nicht ertragen könne. Arme Anca, sie wußte immer noch nicht wirklich, wer sie war, aber sie studierte ihre alten Sachen, um es herauszufinden. Sie nahm ihr Leben wieder auf, ohne seinen Sinn zu hinterfragen. Anna Tap sagte, sie sähe auch keine andere Möglichkeit für sie. Wir hörten nie wieder von ihr. Der Pförtner räumte auch Zwanzigs Wohnung aus. Aufgrund der Löcher in der Decke, durch die es hineingeregnet hatte, war alles sehr feucht; Lebensmittelreste, die in Mülltonnen gefunden worden waren, lagen überall auf dem Boden herum und verfaulten; man fand Knochen und Hundehaare, getrocknetes -193-
Blut, Urin und Scheiße. Der arme Pförtner, er schrubbte alles blitzblank. Die Zeit der Stille Kurz nach der Zeit der Erinnerungen, die Peter Bugg und Zwanzig mit sich genommen hatten, traten wir in die Zeit der Stille ein. Zum Schluß gehen einem selbst die Erinnerungen aus, sogar sie haben ein Ende. Keine Erinnerung hält sich für eine Ewigkeit, denn andernfalls müßte sie eine Verbindung zur Gegenwart haben. Und niemand kann sich an die Gegenwart erinnern. Die Gegenwart ist der Mörder aller Erinnerungen. Vater lebte dort, in der Gegenwart, an diesem Ort ohne Erinnerungen. Nachdem so viele Erinnerungen erzählt worden waren, beschlich uns ein Gefühl der Unzufriedenheit. Wir sahen einander an und dachten : Ist das alles? Das bist du? Mehr bist du nicht? Nun ja, wenn du das bist, wenn das alles ist, was dich ausmacht, dann bist du gar nicht mehr so bemerkenswert. Ich kenne jetzt deine Geschichte, mehr gibt es für mich nicht zu erfahren, und urplötzlich weiß ich nicht mehr, was ich dir noch sagen soll. Ganz ehrlich, vielleicht bist du sogar ein bißchen langweilig, du hättest mir nicht alles erzählen dürfen, du hättest etwas zurückhalten sollen, um mein Interesse lebendig zu halten. Aber nachdem ich jetzt alles über dich weiß, sehe ich mich auf einmal außerstande, noch mit dir zu reden. Ich ziehe es vor, nichts mehr zu sagen. Die Zeit der Stille, da sie ja eine Zeit der Stille war, hatte nur wenig über sich zu erzähle n. Es passierte sehr wenig… außer Stille. Niemand sprach. Wir behielten unsere Stille für uns, fütterten sie, schliefen mit ihr, atmeten sie ein. Von Zeit zu Zeit jedoch ergab es sich, daß wir an einem unserer Mitbewohner vorbeikamen, auf der Treppe vielleicht oder in der Eingangshalle, im Park oder auf der Straße. In diesen Fallen -194-
gingen wir einfach schweigend weiter, so als hätten wir die Person nicht gesehen. Vielleicht nickten wir uns kurz zu. Doch kein Wort wurde gewechselt. Wir konnten nicht sprechen, unsere Zungen waren von einer schrecklichen Lähmung beschwert. Unsere Lippen öffneten sich allein für Nahrung oder Getränke, zu anderen Zeiten blieben sie starr. Ich ging wie gewohnt zur Arbeit und erreichte sowohl innere wie äußere Reglosigkeit. An meine n freien Tagen besuchte ich den Park. Bei einem dieser Besuche im Park sprach mich der Waagenmann an, brach für einige Sekunden die Stille, bevor ihm der Druck der Zeit wieder die Lippen verschloß. Das Mädchen, sagte der Waagenmann, und ich vermutete, er meinte Anna Tap, wird immer dünner. Das war alles. Ich dachte nicht weiter darüber nach. Miss Tap besuchte weiterhin die heilige Lucia, um zu ihr zu beten, auf dem Weg von der Arbeit nach Hause fand ich ihre achtlos auf den Bürgersteig geworfenen Zigarettenstummel. Diese sammelte ich weiter. Oft war der Pförtner in Miss Taps Gesellschaft zu sehen, gleichwohl sie auf ihren nachmittäglichen Spaziergängen der Zeit der Stille gehorchten. Tatsächlich hatte ich jetzt den Eindruck, da der Pförtner nicht unerhebliche Zeit mit Anna Tap verbrachte (obwohl sie kaum miteinander sprachen), daß in ihrem Nicken und Lächeln eine gewisse Wärme und Herzlichkeit zu liegen schien. Der Pförtner schien ein glücklicherer Pförtner zu sein, er zischte weniger und er räumte weniger auf. Miss Tap übernahm Peter Buggs Pflichten: Sie ging für Claire Higg einkaufen, sie wechselte meinem Vater die Windeln. Der Pförtner gab ihr einen Schlüssel zu Wohnung 6, wobei er zweifellos vorher einen Zweitschlüssel für sich selbst anfertigen ließ. Ich hinterließ eine Notiz für Miss Tap: 1. Betreten Sie nicht das Zimmer meiner Mutter. -195-
2. Betreten Sie nicht das Zimmer von Francis. Bei einem ihrer Besuche in Wohnung 6 schlenderte sie in Mutters Schlafzimmer, und als ich von der Arbeit heimkehrte, fand ich ein Photo von mir als Kind, auf dem ich zwei Mäuse in meinen Händen hielt. Meine Hände waren weiß auf diesem Photo. Ich hatte sie weiß angemalt. Die Mäuse lebten und starben, bevor ich Handschuhe trug, und nachdem ich anfing, Handschuhe zu tragen, suchte ich alle Photos heraus, die je von mir gemacht worden waren, und malte meine photographierten Hände weiß. Unter dem Bild, das Miss Tap aus dem Zimmer meiner Mutter genommen und auf den Eßzimmertisch gelegt hatte, befand sich ein Zettel, auf dem zu lesen stand: Warum? Am gleichen Tag, als ich das Photo an seinen angestammten Platz zurückbrachte, überwand meine Mutter erstaunlicherweise die Barriere des Schweigens, verließ für einen kurzen Augenblick die Tage ihrer Erinnerung: Francis? Mutter! Francis, ich möchte dieses Mädchen hier nicht sehen. Sorge dafür, daß sie draußen bleibt. Dann schloss sie sich wieder ein. Ich hinterließ einen Zettel an derselben Stelle, wo der Warum- Zettel hinterlegt worden war (diesen Zettel bewahrte ich auf). Ich schrieb: Betreten Sie auf keinen Fall noch einmal das Zimmer meiner Mutter. Danach gab es, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, keine weiteren Zettel mehr von Miss Tap. Es herrschte wieder Stille. Die einzigen Geräusche, die wir hörten, abgesehen von den Bewegungen unserer einsamen Körper, waren jene aus dem Fernseher auf der dritten Etage. Aber diese Lärmquelle ist dafür -196-
ausgelegt, uns stillzuhalten. Wochen verstrichen. Wir beobachteten unsere Uhren. Anders als die Zeit der Erinnerungen führte die Zeit der Stille exakt Buch über die Zeit, denn wir wußten immer, welcher Monat es war, welche Stunde es war, und normalerweise auch, welche Minute es war. Die Zeit der Stille dauerte einen Monat, drei Tage und vierzehn Stunden. Sie wurde eines Tages jäh aus einer höchst unvorhersehbaren Ecke beendet. Ich arbeitete gerade, stand still und bewegungslos auf meinem Sockel. Eine Münze fiel in meine Schachtel. Ich öffnete die Augen, um Anna Tap vor mir zu sehen mit einem Blatt Papier in den Händen, auf dem stand: Ihr Vater hat zu sprechen begonnen. An diesem Tag ging ich früher nach Hause. Vaters erste Worte Natürlich konnte ich Miss Taps Nachricht zunächst nicht glauben, doch dann, nach ausgiebigem Nachdenken, hielt ich es durchaus für möglich, daß Vater genau jetzt, eher noch als zu jedem anderen Zeitpunkt, begonnen hatte zu sprechen. Ganz sicher hatte die Zeit der Stille ihn dazu verleitet. Nur während der Zeit der Stille konnte Vater aus der Reserve gelockt werden, sein Hirn soweit entspannen, daß ein Gedanke eindringen konnte. Der Gedanke, vermutlich liegengeblieben aus der Zeit der Erinnerungen, mußte sich durch ein Nasenloch meines Vaters hochgearbeitet und in seinem Gehirn niedergelassen haben. Vater befand sich während der Zeit der Stille immer im Frieden, war aber anschließend sehr verletzlich. Ein Gedanke befand sich in seinem Gehirn, flog die Korridore entlang, und seine Bewegungen hatten ihm den Mund geöffnet. Vater sprach mich, als ich mit Miss Tap früher als üblich von der Arbeit nach Hause kam, nicht mit Namen an. Er sah mich überhaupt nicht an. Miss Tap hatte mir auf der Heimfahrt erzählt -197-
(womit sie das Schweigen zwischen uns für immer brach), daß mein Vater nur so viel gesagt hatte: Wagen. Wieder und immer wieder. Sie glaubte, er würde damit auf seine automobile Vergangenheit anspielen, als das Observatorium noch Tearsham Park hieß. Sie irrte sich. Es war allerdings ein gutes Zeichen. Ich setzte mich vor Vater. Er lächelte. Er sprach, besser: Er murmelte. Die ersten paar Tage hörten wir nichts anderes von ihm als ängstliche, kaum hörbare Worte. Aber es waren Worte, da waren wir uns sicher. Vater sprach wieder. An diesem ersten Tag flüsterte er: Wagen. Der Wagen der. Wagen. Der… der… Hallo, Vater. Der Wagen. Ich bin es, Francis. Wagen. Wagen. Und dann ist da noch Orion, Vater. Orion, ja. Orion. Wie geht es dir? Gut, Vater. Wie geht es dir, Orion? Orion, der Wagen… Die Plejaden. Die Plejaden! Andromeda. Der große Bär, Ursa Major! Der Schütze. Kassiopeia! Perseus. Sirius, der Hundsstern. Oh, toll. Mein Vater erinnerte sich an die Namen von Sternen oder Sternbildern. Und indem er sich an sie erinnerte, meinte ich, er sähe sich wieder in seinem Observatorium. Die Observatoriumsnächte oder die Zeit von Vaters Größtem Glück wurden von meinem Vater in völliger Abgeschiedenheit vorn Rest der Menschheit mit einer ausgiebigen Betrachtung des Universums verbracht. Mein Vater hatte, viele Jahre bevor es das Observatorium gab, Stille mit Weisheit verwechselt. Damals hatte er noch nicht seine unglaubliche innere Reglosigkeit gelernt, die ich später in Ehren halten sollte. Als Vater noch ein Kind war, erhielt er an einem Geburtstag ein Mikroskop geschenkt, und so nahm seine unerschrockene -198-
Analyse des Lebens ihren Anfang. Klein-Vater und das Mikroskop-Abenteuer Das Erscheinen dieses Gesche nks fiel zeitlich zusammen mit Vaters Abwesenheit von der äußeren Welt. In jener Zeit war er über seinem Spielzeug kauernd im Kinderzimmer zu finden, wo er fasziniert ein Haar, die Innereien einer zerquetschten Ameise, Hefe oder Wasserflöhe anstarrte. Vaters Welt war damals winzig klein. Und so waren auch Vaters Gedanken. Vaters Gedanken waren so winzig klein, daß sie eigentlich kaum Gedanken waren, sie waren Halbgedanken oder Viertelgedanken. Und all diese Gedankenfragmente kreisten ausschließlich um die Reduzierung von allem, was er um sich herum sah, auf dessen kleinsten Teil, auf eine einzelne Zelle. Wann immer er seinen Vater oder seine Mutter sah, meinen Großvater oder meine Großmutter, runzelte er die Stirn und reduzierte seine Eltern auf die noch in seiner Erinnerung haftenden Dimensionen und Farben einer einzelnen Blutzelle. Dann erst entspannte sich mein Vater. In seinem Kopf speicherte er ein kleines visuelles Wörterbuch winziger Dinge, die ohne Hilfsmittel für das menschliche Auge unsichtbar waren. Sein Verstand sezierte alles, bis es nicht mehr weiter ging. Dort lauerte Vater, unter dem Blick eines mächtigen Objektivs mit 1000facher Vergrößerung. Er lebte dort, es war der einzige Ort, an dem er funktionieren konnte. Vater verwandelte sich auf bedenkliche Weise in das winzigste Molekül. Vor Menschen schreckte er zurück, empfand ihre gewaltigen Ausmaße als angsteinflößend. Falls er einmal zufällig aus dem Fenster schaute, konnte ihm die Ausdehnung des Horizonts panische Angst einjagen. Eine Maus, dachte er, war zwar nicht in der Lage, ihn zu fressen, könnte ihn aber einatmen. Eine gewöhnliche Stubenfliege trat womöglich mit einem ihrer borstigen Füße auf ihn und zerquetschte ihn. Es war -199-
ein hochgefährliches Leben für Vater, als Vater kreisförmige Blutzelle mit einem Planeten verwechselte.
eine
Mein Vater durch sein Vergrößerungsglas Meine Großeltern glaubten zunächst, die Besessenheit meines Vaters von seinem Mikroskop sei auf eine Leidenschaft für die Wissenschaft zurückzuführen. Eine Zeitlang unterstützten sie sogar seine langen Nachmittage oben im Kinderzimmer, wo er sich in Mesophyll- oder Epithelzellen verlor. Zu seinem nächsten Geburtstag schenkte man ihm daher einen Chemiekasten. Mein Vater öffnete den Chemiekasten nie. Er blieb im Kinderzimmer, hockte mit gekrümmtem Rücken zitternd und vor sich hin murmelnd in einer Ecke. Falls man ihn bewegte, begann mein Vater am ganzen Körper zu zittern, Tränen schössen aus seinen Augen, sein Gesicht erstarrte zu einem Ausdruck unstillbarer Angst. Schließlich kam mein Großvater auf eine Idee, die einen der zwei genialen Momente darstellte, die er in seiner ansonsten gänzlich wohlhabenden und völlig banalen Existenz erlebte. Ein Vergrößerungsglas, eine Lupe. Großvater schenkte Vater eine Lupe. Vater warf einen Blick durch die Lupe und wuchs sofort. Jetzt war Vater zwar immer noch klein, aber andererseits auch wieder groß genug, um viele seiner Ängste abzulegen. Er war kein Molekül mehr, jetzt hatte er in etwa die Größe eines Streichholzes. Vor Mäusen hatte er immer noch Angst und auch vor Fliegen, aber solange keine Tiere oder Insekten in seiner Nähe waren, war er völlig ruhig, und man erlebte gar, daß er bisweilen schüchterne Gespräche führte. Kurz vor seinem Tod hatte mein Großvater seine zweite brillante Idee. Eines Nachts, als Vater schlief, schlich er ins Kinderzimmer und borgte sich Vaters Lupe aus. Er ersetzte die runde Linse durch ein einfaches Stück Glas und legte es dann wieder zurück. -200-
Daraufhin betrat Vater das nächste Stadium seiner Analyse des Lebens. Jetzt hatte Vater eine normale menschliche Größe, ein Meter fünfundachtzig, um genau zu sein. Er war immer noch dafür bekannt, sich Gegenständen zu nähern und sie durch seine Lupe anzustarren. Ich glaube, ihr kreisförmiger Rahmen half ihm, sich zu konzentrieren. Observatoriumsnächte Die Observatoriumsnächte gehörten zu den mit Abstand größten und kostspieligsten aller Unternehmungen meines Vaters, das Leben zu analysieren. Sie ergaben sich nicht einfach im Verlauf einer bestimmten Nacht, sie erforderten vielmehr viele Monate der Planung und als es schließlich soweit war, sollten sie das Leben meines Vaters für immer verändern (und uns später einen Namen für unser neues Zuhause geben, das eigentlich unser altes Zuhause unter einem anderen Namen war). Vater hatte einen Feldstecher gefunden, und mit diesem vor Augen saß er immer in seinem bequemen Bibliothekssessel (rot, Leder) und beobachtete, wie die Außenwelt sich ihm näherte - weit entfernte Bäume schleuderten ihm jäh ihre riesigen Stämme entgegen. Während dieser Zeit sah sich Vater in der Größe von Bäumen. Mit weiten, bedächtigen Schritten ging er immer um Tearsham Park herum spazieren. Eines Abends war Vater in seinem Arbeitszimmer so tief in die Betrachtung einiger Rotbuchen versunken, daß er sie bis Einbruch der Dunkelheit durch sein Fernglas studierte. Vater strengte seine Augen an, aber die Bilder der Bäume waren verblichen. Er trat ans Fenster, immer noch durch sein Fernglas schauend, als die Linsen plötzlich den Nachthimmel einfingen. Er sah den Mond, er sah die Sterne. Das genügte Vater, und so fing es an. Mit einem Mal wurde Vater so groß, daß er nicht einmal mehr in die Bibliothek paßte, auch nicht in Tearsham Park oder in unser Land, Vater war plötzlich so groß wie die Welt. In einem einzigen winzigen -201-
Augenblick hatte ihn sein phänomenales Hirn in einen Planeten verwandelt. Vater ließ sich dazu herab, noch einmal vorübergehend unsere Größe anzunehmen, und erstand ein Teleskop. Aus diesem kleinen, wenig bemerkenswerten Teleskop entstand die Idee des Observatoriums. Schon sehr bald ließ Vater auf Kosten des Ormeschen Vermögens die Dachkuppel umbauen. Das grüne Kupferdach wurde entfernt, ein Metallrahmen wurde sorgsam hochgezogen, Glassegmente wurden eingesetzt, eines davon mit einem Scharnier, damit es geöffnet werden und ein neu erworbenes und außergewöhnlich starkes Teleskop hinausschauen konnte. Mein Vater in Relation zum Universum Vater verbrachte seine Tage mit dem Studium astronomischer Karten und spielte mit Modellen der Planeten. Sagte, er wolle seine Nachbarn kennenlernen. Er freundete sich mit allen Sternen an, nannten sie beim Namen, hüpfte die ganze Nacht von Stern zu Stern und konnte sich erst wieder losreißen, wenn die Sonne herauskam, um ihm den Spaß zu verderben. Vater kannte das Universum. So sehr er auch mit sich kämpfen mochte, Vater war an jenem ersten Abend seiner stimmlichen Rückkehr noch nicht in der Lage, etwas anderes als die Namen der Sterne herauszubringen. Vergeblich versuchte er, aus seinem Sessel zu kommen, aber der Sessel war nicht willens, ihn freizugeben. Wir wuchteten ihn hoch, Miss Tap und ich und halfen ihm behutsam, im größten Zimmer von Wohnung 6 auf und ab zu gehen. Doch schon bald setzten wir ihn erschöpft wieder ab. Er schloß die Augen, und sofort flogen seine Gedanken hinauf in den Kosmos. Wahrend ich zuschaute, wie Vaters Augen sich schlossen, begriff ich, was ihn wieder zu uns zurückgebracht hatte. Seine normalerweise so abwesenden Augen hatten sich plötzlich auf die stark -202-
vergrößerten Augen von Anna Tap gerichtet. Konkave Linsen ließen Vater lebendig werden. Mein Vater war immer schon ein Freund von Linsen gewesen. Ein Familientreffen In der Nacht, die auf Vaters neuerliche Kenntnisnahme seiner einstigen Kameraden, der Sterne, folgte, schlief ich schlecht. Vaters Atmen störte meinen Schlaf, oder besser gesagt das, was ich zunächst für Vaters Atmen hielt und was tatsächlich, wie ich später begriff, Vater war, der wieder und immer wieder ein Won rief. Er sagte: Alice. Alice. Alice. Ich verließ mein Schlafzimmer und fand Vater auf einem Stuhl sitzend vor. Irgendwie war es ihm ohne Hilfe gelungen, sich aus seinem roten Ledersessel zu ziehen, der ihn so viele Jahre erbarmungslos gefangengehalten hatte. Vater bewegte seine neue Sitzgelegenheit langsam nach vorne. Mit der Ernsthaftigkeit einer Schnecke war er unterwegs in Richtung Korridor. Ich stand unbemerkt da und beobachtete ihn. Nicht einmal als ich sagte, Vater, ist mit dir alles in Ordnung? schaute er auf. Seine ganze Konzentration war ausschließlich darauf gerichtet, sich und seinen Stuhl vorwärts zu bewegen. Und während er sich im Rhythmus seiner Atemzüge bewegte, rief er mit schwacher Stimme: Alice, Alice. Nach Erreichen des Korridors setzte er seinen Weg zum Zimmer meiner Mutter fort. Nachdem es ihm schließlich gelungen war, die Tür von Mutters Zimmer zu öffnen, schob er sich und seinen neuen Stuhl auf Mutters Bett zu. Alice, Alice. Ich glaube, meine Mutter war wach. Ich sah, wie sich die Augen unter ihren Lidern bewegten. Aber sie rührte sich nicht. Alice, Alice. Sie hingegen rief ihren Mann nicht: Francis, Francis. Francis senior. Mein lieber alter Vater manövrierte seinen Stuhl so, daß er Mutters Bett berührte. Mit einem nachgerade kühnen Manöver gelang es Vater, sich -203-
auf Mutters Bett zu wuchten. Er streckte sich neben Mutter aus, aber er berührte sie nicht. Er sagte noch einmal: Alice, Alice. Dann verrenkte er den Kopf, um ihre sanftmütige Gestalt anzusehen, und raunte: Alice, Alice. Wir brauchen einen neuen Francis Orme. Alice, Alice. Ich glaube nicht, daß der jetzige noch lange hält. Alice, Alice, Orion, Kassiopeia. Unter Mutters Lidern hatten sich Tränen gebildet und diese bahnten sich nun gewaltsam ihren Weg hinaus und rollten eilig die welken Wangen hinab. Bevor ich in mein eigenes Zimmer zu meinem traumlosen Schlaf zurückkehrte, setzte ich mich eine Weile auf den Stuhl am Bett meiner Mutter und beobachtete, wie Vater die Augen schloß und ruhiger atmete. Vaters Kinnlade bewegte sich malmend. Früher hatten Vaters ruhig und friedlich verbrachte Tage ein Gegengewicht im heftigen Zähneknirschen während der Nacht. Es war ein schreckliches Geräusch. Wir fragten uns, was wohl in Vaters Gehirn vor sich gehen mochte, daß er so aufgeregt mit den Zähnen knirschte. Meine Mutter haßte dieses Geräusch, sie konnte nicht einschlafen in jenen Nächten, wenn sie in einem Bett schliefen. Sie brüllte Vater dann an und befahl ihm, seine Zähne im Zaum zu halten. Vater, geweckt und wieder sanftmütig, sah dann aus, als wäre er am Boden zerstört und versicherte ihr mit tränenfeuchten Augen, solche Geräusche überhaupt nicht machen zu können, meine Mutter solle endlich aufhören, ihn zu tyrannisieren. Also kaufte Mutter ein Diktiergerät, zeichnete eines Nachts Vaters Zähneknirschen auf und spielte es ihm am folgenden Morgen vor. Vater schien schockiert, konnte nicht verstehen, warum sein Körper, der doch den ganzen Tag über so höflich und sanft war, nachts solche bedrohlichen und unerfreulichen Geräusche von sich gab. Er gelangte zu dem Schluß, daß er seinem Körper nicht vertrauen konnte, wenn dieser ihn nachts so verriet. Er wartete geduldig darauf, daß sein Körper dreister wurde bei seinem heimlichen -204-
Verrat, er wartete darauf, daß sein Körper eine Reise antrat, vielleicht nicht weiter als zum Park, obwohl der Verstand es ihm streng verboten hatte. Eines Tages brachte der Körper meines Vaters meinen Vater dann tatsächlich in den Park. Vater setzte das einzige ihm noch verbliebene Mittel ein, um seinem Körper eine Niederlage beizubringen. Vater beobachtete die Menschen in seiner Nähe, Vater hörte Geräusche, Vater fiel von der Parkbank. Vater ließ sich einen Schlaganfall bekommen. Seitdem hing das untere Lid seines linken Auges leicht herab und ließ die rosa Innenseite erkennen, ein Andenken an die Schlacht zwischen Vaters Körper und Vaters Verstand. Doch dies alles lag weit zurück, in einer anderen Zeit, als Vater noch Zähne hatte zum Knirschen und nicht nur Zahnfleisch. Als Vater schlief und Mutters Tränen getrocknet waren, dachte ich, daß es einen Ausdruck für das gab, was in dieser Nacht geschehen war: ein Familientreffen. Frühstück mit Mutter und Vater In dieser Nacht passierte noch mehr, wie ich herausfand, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Ich war in der Küche und bereitete das Frühstück vor, als mich das Gefühl beschlich, beobachtet zu werden. In diesem berühmten roten Ledersessel saß ein älterer Mensch. Aber es war nicht Vater. Sondern Mutter. Meine Mutter. Mutters Augen waren geöffnet, Mutter schaute mich direkt an. Mutter! Guten Morgen, Francis. Mutter! Wo ist das Frühstück? Im Anmarsch, im Anmarsch. Hast du gut geschlafen, Francis? -205-
Ja, danke. Ich bin ja so froh. Und du, Mutter, hast du auch gut geschlafen? Ich habe überhaupt nicht geschlafen. In meinem Bett liegt ein fremder Mann. Wir frühstückten zusammen am Eßzimmertisch. Dies hatten wir seit Jahren nicht mehr getan. Beim Essen sprachen wir nicht. Als Mutter mich lange genug beim Abwasch beobachtet hatte (ich trug die rosa Gummihandschuhe), teilte sie mir ihre Absicht mit, sich anziehen zu wollen, ihre Nachtbekleidung ausziehen zu wollen und ihre Tagesbekleidung anziehen zu wollen, was sie jedoch nicht tun würde, solange sie dabei von einem fremden Mann angestarrt wurde. Ich ging in Mutters Zimmer. Vater war wach, er lag auf Mutters Bett und nuschelte vor sich hin. Ich versuc hte, ihn zu bewegen, ihn vom Bett zu ziehen, ihn zu ermuntern, sich auf den Stuhl zu setzen, aber Vater war viel zu schwer und überhaupt nicht kooperativ. Ich brauchte also Hilfe. Mutter würde mir nicht helfen, sie lehnte es strikt ab, Vater zur Kenntnis zu nehmen. Der Pförtner würde nicht helfen, er hatte schon beim letzten Mal, als er sich um Vater kümmerte, Vater wegen eines Speicheltropfens fallengelassen. Claire Higg war zu schwach und sprach ohnehin nicht mehr mit mir. Also blieb nur noch eine Person. Ich klopfte an Miss Taps Wohnungstür, und sie folgte mir die Treppe hinunter. Vater liegt in Mutters Bett, Mutter möchte sich anziehen, sagte ich. Das war alles. Wir trugen Vater aus Mutters Schlafzimmer. Währenddessen huschte Mutter ins Bad und kam erst wieder heraus, als Vater sich außer Sichtweite in der Küche befand, dann flitzte sie in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Als wir Vaters Allerwertesten auf dem roten Ledersessel ausrichteten, geriet der alte Mann erneut in Panik, zappelte mit seinem schwachen Körper herum und jammerte. Also setzten wir ihn auf einen Stuhl und fütterten ihn. -206-
Mutter im Spiegel Mutter sah sich im Spiegel und sagte sehr ruhig: Sieh sich einer nur diese häßliche alte Hexe an. Mutter wusch sich, zog ihre Nachtwäsche aus und ein rotes Kleid an. Sie bürstete sich ihr Haar. Sie legte ein wenig Makeup auf. Dann schaute Mutter in den Spiegel und sagte: Guten Morgen, Alice. Unwiderstehliche Alice. Und tatsächlich, Mutter war eine attraktive Frau, wenn sie sich die Zeit nahm, ihre Hässlichkeit zu beseitigen. Allmählich setzte unser Alltag ein In jenen ersten Tagen nach seiner Rückkehr fiel es Vater sehr schwer, sich zu bewegen. Doch langsam und mit viel Ermunterung brachten Anna Tap und ich, wie Eltern ihrem Kind, Vater bei zu gehen. Einer stellte sich hinter Vater, der andere vor ihn, und dann forderten wir ihn behutsam auf, ein paar Schritte zu versuchen. Manchmal fiel er hin, meistens jedoch fingen wir ihn auf. Was für ein schweres Kind Vater doch war. Aber er machte schnell Fortschritte, und schon bald konnten wir mit ihm Wohnung 6 verlassen und auf den Hausflur gehen. Mit der Zeit lernte er, auf allen vieren die Treppe hochzugehen. Hinunterzugehen war da schon gefährlicher. Er umklammerte das Geländer, bis seine Knöchel weiß vorsprangen und sich weigerten, wieder loszulassen. Aber langsam und mit viel Geduld, jeden einzelnen Schritt als eine eigenständige Reise verstehend, gelang es uns, ihn zurück nach Hause zu bringen. Mutter machte schnellere Fortschritte. Sie verließ Wohnung 6 schon am ersten Tag ihrer Rückkehr zu uns. Eine Woche später -207-
schaffte sie unter Aufsicht einen kurzen Spaziergang im Park. Die meisten ihrer Tage jedoch verbrachte sie im Observatorium. Sie ging von einer leeren Wohnung zur anderen, zischte den Pförtner an und schaute mit Claire Higg fern. Vaters verstaubtes Gebiß fanden wir in einer Schublade. Wir reinigten es und sagten: Weit aufmachen. Nachts verhüllten wir den roten Ledersessel mit Laken und Kopfkissen und brachten Vater an diesen ihm vertrauten Ort. Er schlief nicht gut, häufig hörte man ihn zu den Sternen rufen. Wir wechselten uns bei der Versorgung von Mutter und Vater ab. Normalerweise nahm ich Mutter und Anna übernahm Vater, oft beaufsichtigten wir aber auch einen Elternteil gemeinsam. Zuerst mochte Mutter Anna Tap überhaupt nicht, sie nannte sie eine Photodiebin und erst nachdem Anna ihr viele Gefälligkeiten erwiesen hatte, fing sie an, ihre Gesellschaft als erträglich anzusehen. Allerdings blieb Mutter dabei, von Vater als dieser fremde Mann zu sprechen und wenn wir sie darüber aufklärten, dass dieser fremde Mann in Wirklichkeit ihr Ehemann sei, entgegnete sie stets: Unsinn, mein Mann ist vor vielen Jahren an einem Schlaganfall gestorben. In den folgenden Wochen war die Zeit zweigeteilt. Mutter und Vater sahen sich zwar am selben Ort, aber zu unterschiedlichen Zeiten. Vater sah sich in Tearsham Park um und konnte nicht verstehen, warum sich alles so verändert hatte. Mutter wusste, dass sie im Observatorium war und zwar nicht in dem Observatorium, in dem sie glücklich war; sie befand sich im jetzigen Observatorium, dem auseinanderbröckelnden Observatorium, in dem wir anderen lebten, in der realen Zeit. Dies verstand sie auch, sie existierte in der Gegenwart, streifte aber gern durch die Vergangenheit, und wenn sie die Wände der verschiedenen leerstehenden Wohnungen berührte, erinnerte sie sich an Bilder, die einst dort gehangen hatten. Mutter erging sich in Erinnerungen, arbeitete sich zurück, erinnerte sich von der Gegenwart aus rückwärts, aber Vater lebte die Vergangenheit. -208-
Vater konnte nicht sehen, daß er sich hoffnungslos in einer längst vergangenen Zeit verloren hatte. Er glaubte, er sei in Tearsham Park, und daß sich Tearsham Park auf unerklärliche Weise ihm entfremdet hatte. Er versuc hte, diese Fremdheit zu überwinden, indem er verzweifelt bemüht war, sich exakt zu erinnern, wo genau die Räume waren, die sich ihm im Augenblick entzogen. Leider kamen ihm dabei immer wieder Gipskartonwände in den Weg und er schrie, Der Speiseraum der Dienstboten ist hier, auf der anderen Seite dieser Wand. Und uns blieb nichts übrig, als die Achseln zu zucken, ihm die Hand zu tätscheln und zu sagen: Nein, Vater, du irrst dich. Dennoch hatte er recht. Er hatte immer recht. Gemeinsam wuchteten sich Mutter und Vater zurück ins Leben. Und während sie das taten, füllte sich das Gebäude, welches Tearsham Park genannt wurde, welches das Observatorium genannt wurde, allmählich mit den Menschen und Gegenständen ihrer jeweiligen Vergangenheit. Die vollständige Geschichte des Observatoriums und von Tearsham Park Aus der Sicht meiner Mutter und meines Vaters (nacherzählt mit Hilfe von Francis Orme und Anna Tap): T EIL EINS. Das Observatorium Meine Mutter stand in einem leeren Schlafzimmer der verlassenen Wohnung 8. Sie wischte mit den Händen Spinnweben beiseite, blies die toten Fliegen in eine Ecke und setzte sich dann genau in die Mitte des Raumes auf den nackten, staubigen Fußboden. Wo ich jetzt sitze, sagte sie, stand das Bett des Junggesellen. Es war ein großes Doppelbett, es machte keine Geräusche. Hier auf diesem Bett lag der Junggeselle jede Nacht und schlief (sagte Mutter und breitete ihre Hände im Staub aus). -209-
In manchen Nächten, wenn er hier la, schlief er nicht, in manchen Nächten und auch an manchen Tagen hatte er Gesellschaft. Ich bin hier, sagte meine Mutter, um mich an meinen letzten Besuch in dieser Wohnung zu erinnern. Ich stand hier (jetzt stand sie mit nur einem Bein in der Wohnung, der Rest befand sich auf dem abgelaufenen Teppichboden des Treppenabsatzes). Er ließ mich nicht herein. Durch den Spalt der Tür sah ich, daß er seine Taschen gepackt hatte und die Wohnung leergeräumt war. Er wollte am nächsten Morgen abreisen, ohne mir Lebewohl zu sagen. Ich hätte ihm tausend Dinge sagen können. Aber er machte sich nichts mehr aus mir, und daran konnte ich nichts ändern, denn je mehr ich es versuchte, desto weiter stieß er mich fort. Wie ich da auf dem Treppenabsatz stand, nur der kleinste Teil von mir in seiner Wohnung, dachte ich: Was soll es, was macht überhaupt noch Sinn? Und ich schleuderte ihm einfach ein nicht sonderlich überzeugendes Bastard entgegen und ging. Ich ging in mein Zimmer in Wohnung 6, streifte mein Nachthemd über, zog die Vorhänge zu und legte mich ins Bett. So fing es an. Francis kam zu mir, er sagte: Mutter, steh auf, es ist noch nicht Schlafenszeit. Hör zu, Francis, sagte ich, wenn ich die Augen schließe, kann ich überall sein. Ich kann mich in jede gewünschte Zeit denken. Wenn mir danach ist, kann immer Sommer sein. Ich kann jene besseren Tage, die anscheinend nie wiederkehren werden, noch einmal erleben. Wenn ich mich in Wohnung 10 zusammen mit dem Junggesellen sehen möchte, als ich ihm zum ersten Mal begegnet bin, als wir noch glücklich waren, kann ich einfach die Augen schließen und bin da. Aber vielleicht wäre es besser, wenn ich irgend etwas von ihm hätte, was mich an ihn erinnern wird. Francis, ich weiß, du bist ein Dieb. Du bist ein Dieb, seit du krabbeln konntest, es liegt in deiner Natur, ich habe mich nie darüber beklagt, ich habe dich nie verraten, nicht einmal, wenn deine Opfer verzweifelt und in Tränen aufgelöst waren, nicht einmal, wenn ich ganz genau -210-
wußte, daß du verantwortlich warst. Ich hätte es tun können, aber ich habe es nie getan. So, und jetzt, Francis, habe ich eine n Auftrag für dich. Du wirst auch bezahlt. Stiehl mir einen Slip des Junggesellen. Francis Orme, beiseite gesprochen zu Anna Tap Mit der Zeit entwickelten Mutter und ich große Pläne. Ich half, alles, was Mutter gehörte, in einem Zimmer unterzubringen. Ich stahl alle Geschenke zurück, die sie je gemacht hatte. Ich stapelte Gegenstände in Mutters Zimmer. Und sie bezahlte mich für jeden zurückgebrachten Gegenstand. Als ich Mutters gesamte Erinnerungen beisammen hatte, saß ich in ihrem Zimmer, hielt ihr die Hand und wir lachten zusammen. Die Ausstellung von Mutter war eine der größten Leistungen meines Lebens, wurde nur noch übertroffen von der anderen Ausstellung unten im Keller, im Tunnel, der zur Kirche führte. Und wie belohnte mich Mutter für mein Genie? Sie schloß sich ein und liebte nur noch ihre Vergangenheit und ihre Gegenstände. Mutter machte sich zum Geist. Tearsham Park Mein Vater beklagte sich, die Gerüche seien falsch. Das ganze Observatorium durchzog ein Geruch nach Feuchtigkeit sowie der modrige, süßliche Duft von Ratten. So war es früher nie, sagte er, es roch immer nach Holzpolitur, sie polierten ständig die Bodendielen aus Eiche. Oder es duftete nach den köstlichen Wohlgerüchen aus der Küche. Nachdem seine ersten Versuche, die Räume von Tearsham Park wiederzuentdecken, vor gebrochen weißen Wänden und zerrissenen Tapeten geendet hatten, beschloß mein Vater, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Er entschied, mit seiner Kindheit anzufangen und -211-
sich dann langsam und methodisch vorzuarbeiten. Er war überzeugt, daß dieser Erinnerungsprozeß ihm am Ende das ganze und vertraute Tearsham Park erschließen würde, daß er etwas vergessen haben mußte, was ihm eine Erklärung für alles liefern mochte, und daß dieses Gebäude ein kompliziertes Puzzle war, das es galt zusammenzusetzen. Das Observatorium Mutter sagte: Hier stehe ich auf der zweiten Etage vor Wohnung 12. Zu meiner Rechten befindet sich Wohnung 13, zu meiner Linken haben wir Wohnung 11. In Wohnung 12 lebt eine Mutter. Zu beiden Seiten ihres Lebens zwei Töchter. Ich öffne die Tür zu Wohnung 12: Hier sehen wir die Mutter, sie heißt Elizabeth. Ich öffne die Tür zu Wohnung 13: Hier sehen wir die Tochter namens Christa. Ich öffne die Tür zu Wohnung u: Hier sehen wir die Tochter namens Eva. Die Schwestern waren Zwillinge, aber in meinem ganzen Leben bin ich niemals Zwillingen begegnet, die einander so wenig ähnlich sahen. Christa war groß und dünn. Eva war klein und fett. Elizabeth, ihre Mutter, war groß und fett, allerdings hatte sie Krebs, was sie zunehmend kleiner und dünner werden ließ. Ich schließe die Tür von Wohnung 12. Mutter Elizabeth ist gestorben. Ich öffne die Tür von Wohnung 12, die Mutter ist beerdigt. Jetzt befinden sich die beiden Töchter in Wohnung 12, früher so nett und freundlich, doch jetzt schreien sie und kratzen sich. Sie teilen die gesamte Habe ihrer Mutter unter sich auf. Einst waren die Schwestern unzertrennlich, sie verbrachten ihre Tage mit der Pflege ihrer kranken Mutter. Nie habe ich bei Kindern eine solch liebevolle Hingabe gesehen. Allerdings habe ich auch nie solch streitsüchtige Schwestern erlebt, als es nach dem Tod der Mutter darum ging, ihren Besitz aufzuteilen. Sie gehen durch die Wohnung. Die eine hat ein Blatt mit kleinen, runden, roten Aufklebern in der Hand. Die andere hat ein Blatt mit kleinen, -212-
runden, grünen Aufklebern in der Hand. Sie gehen durch die Wohnung und befestigen die Klebepunkte auf verschiedenen Gegenständen. Sie streiten sich. Wenn die eine einen roten Aufkleber auf einem Gegenstand erspäht, verlangt sie, daß er sofort entfernt wird, damit er gegen einen grünen Aufkleber ausgetauscht werden kann. Und umgekehrt. Manche Gegenstände tragen grüne oder rote Aufkleber, und genau unter ihnen, nicht zu erkennen, befinden sich rote oder grüne Aufkleber. Dann bleiben beide vor einem Gegenstand stehen. Der Gegenstand ist ein Memoire-Ring, den ihre Mutter von ihrem lange zuvor verstorbenen Mann erhalten hatte. Es ist ein wunderschöner dicker Silberring mit einem kostbaren Diamanten. Eva sagt, der Diamant gehöre ihr, aber Christa widerspricht. Der Diamant ist voller grüner und roter Aufkleber. Sie brüllen sich an, ihre Wortgefechte sind im ganzen Gebäude zu hören, alle Bewohner kommen neugierig aus ihren Wohnungen und stehen in den Türen, versuchen, mehr mitzubekommen. Beide Schwestern behaupten: Meine Mutter hat diesen Ring als Zeichen der Liebe erhalten. Ich habe Mutter geliebt, ich habe Vater mehr geliebt als du, also ist es nur recht, daß ich den Ring bekomme. Sie beschimpfen sich. Sie schlagen sich. Sie werfen sich gegenseitig vor, ihre Mutter niemals geliebt zu haben. Sie nennen sich gegenseitig egoistisch, materialistisch. Aber sie können nicht entscheiden, welche der Schwestern den Ring behalten soll. Schließlich einigen sie sich darauf, ihren Streit bis zum nächsten Morgen zu verschieben. Sie schließen die Tür zu Wohnung 12 ab. Ich schließe sie. Sie kehren in ihre Wohnungen 11 und 13 zurück. Auch diese Türen schließe ich. Dahinter schluchzen die Schwestern allein. Dann wird es Nacht. Schließe die Augen. Öffne deine Augen. Schon ist es Morgen. Ich öffne die Tür zu Wohnung 11. Ich öffne die Tür zu Wohnung 13. Frostig wünschen die beiden Schwestern sich einen guten Morgen. Ich öffne die Tür zu Wohnung 12. Die Schwestern betreten Wohnung 12. Der Memoire-Ring ist fort. -213-
Er ist über Nacht verschwunden. Christa sagt zu Eva, gib mir meinen Diamanten zurück. Eva sagt zu Christa, gib mir sofort meinen Ring wieder. Sie beschuldigen sich viele Stunden lang, sie durchsuchen gegenseitig ihre Taschen und ihre Zimmer. Sie finden den Memoire-Ring nicht. Die Polizei wird gerufen. Die Polizei findet den Memoire-Ring ebenfalls nicht. Drei Tage später sind die Wohnungen, 12 und 13 leer. Die Gegenstände aus Wohnung 12 sind unter Aufsicht von Rechtsanwälten auf die beiden Schwestern aufgeteilt worden. Die Schwestern verlassen das Observatorium mitsamt ihrer Habe und jeweils einer Hälfte der Besitztümer ihrer verstorbenen Mutter. Sie sprechen nie wieder auch nur ein Wort miteinander. Tearsham Park Vater stand in Wohnung 1 und sagte: Dies ist der Salon. Früher war er einmal, sofern ich mich nicht irre, ungefähr dreimal so groß wie jetzt. Er ist schmutzig! Woher kommt nur all der Müll, all die leeren Dosen und Zeitungen? Und jemand hat die Fenster eingeschlagen. Eigentlich müßte sich genau über mir auf der mit Rosen und Blättern verzierten Stuckdecke ein Datum befinden: 1687. Hier, sagte Vater und trat gegen eine Wand, müßte ein Kamin sein, ein großer Marmorkamin, flankiert von Säulen, die den Kaminsims tragen, und sein Zwilling müßte sich ein paar Meter weiter befinden, auf der anderen Seite der Wand. Das da befindet sich im Weg, diese Wand! Da müßten auch Gobelins sein, aber es ist alles einfach viel, viel zu klein! Stell in deiner Phantasie ein Sofa hierher. Auf diesem nicht vorhandenen Sofa sitze ich mit meiner Mutter. Mein Vater sitzt allein dort drüben. Er liest den letzten Band der Geschichte der Ormes. Er hatte diesen Band verfaßt. Er lacht. Ich spiele mit einer Lupe. Vater klappt das Buch zu. Es ist zu Ende. Francis, sagt mein Vater, du bist Erbe einer großen und alten -214-
Familie. Kümmere dich gut um alles, wenn ich fort bin. Liebe und ehre sie. Heirate, zeuge einen Sohn, mindestens einen. Vergeude niemals Geld. Vermehre die Ländereien der Ormes. Sollte dir dies nicht möglich sein, dann bewahre alles, so wie es ist. Wenn du auch nur einen Zoll davon verlierst, werden dich deine Ahnen verfluchen. Mein Vater führt mich durch das ganze Haus, zeigt mir den gesamten Besitz unserer Familie. Sieh dir alles an, sagt er, ist es nicht wunderschön? Verliere nichts davon, Francis, sagt er. Vater führt Anna und mich in die Eingangshalle und sagt: Hier in der Halle von Tearsham Park sind viele Gesichter. Nicht kahle und schmutzige Tapeten, und der Boden müßte aus schwarzem und weißem Marmor im Schachbrettmuster sein, kein abgewetzter Teppichboden. Hier gibt es viele in Öl gemalte Gesichter. Viele stolze Profile. Viele alte Ormes. Ein Kopf über dem anderen, fünf Köpfe hoch klettern sie huckepack in die Dunkelheit. Viele alte, tote Ormes. Die Toten, die häufig abgestaubt werden, eine Kapelle der Geschichte. All diese sorgfältig in der Abfolge ihrer Existenz angeordneten Gesichter raunen Erinnere dich an mich. Die ganze makellose Geschichte. Sie sehen mich an, und in ihren Blicken liegt keine Anerkennung. Komm jeden Tag hierher, sagt mein Vater, so wie ich es getan habe. Betrachte diese Gesichter. Wenn du sie ansehen kannst, dann erfüllst du deine Pflicht, dann werden diese Porträts deine Freunde sein. Wenn du sie aber nicht anschauen kannst, dann machst du etwas falsch. Bringe dein Versäumnis sofort in Ordnung, Francis. Wenn du Land kaufst und das wirst du, dann musst du herkommen und die Porträts ansehen. Du wirst feststellen, daß sie dich anlächeln. Verkaufe niemals, Francis, vermehre, expandiere. Der dort ganz oben ist der älteste Francis Orme, Sir Francis Orme, der auf diesem Grund und Boden gestorben ist, in einem Tunnel, der im Keller beginnt. Wir alle sind seine Kinder, er hat uns gemacht. In Dankbarkeit borgen -215-
wir uns seinen Namen für unsere kleinen Leben und geben ihn dann weiter. Er ist nichts, was wir behalten dürfen. Gib ihn weiter, Francis, erhalte ihn am Leben. Lies die Geschichte der Ormes in der Bibliothek, und schreibe deine eigene. Enttäusche uns nicht. Versprich es mir. Schwöre bei diesen Porträts und beim Leben deines eigenen Vaters, daß du uns nicht enttäuschen wirst. Versprich es, Francis, versprich es. Ich verspreche es. Das Observatorium Mutter: Dies hier ist Wohnung 16. Ihre Bewohnerin ist Claire Higg. Claire Higg sieht fern. Sie hat es sich erst kürzlich zur Gewohnheit gemacht fernzusehen und… Unvermittelt brach Mutter ab, sie hatte Vater in der benachbarten Wohnung herumlaufen gehört und lief eine Etage nach unten. Tearsham Park Vater in Wohnung 15: Dies ist Peter Buggs Zimmer. Dieser strenge, ernste Mann mit seinen pechschwarzen Haaren ist während der Schulferien mein Hauslehrer. Früher hatte er nur ein Zimmer, doch jetzt sind daraus merkwürdigerweise vier Räume geworden. Drei dieser Räume sind imaginär. Ignoriere sie. An den Wänden hä ngen Schulphotos. Das Observatorium Mutter: Diese Wohnung hier, Wohnung 10, gehört Peter Bugg. Dieser glatzköpfige Mann, der ständig schwitzt und heult, war der Hauslehrer meines Mannes und meines Sohnes. Er ist erst unlängst eingezogen. Der Besitzer seiner früheren Wohnung hatte Eigenbedarf angemeldet. Bugg hält sich fern von anderen -216-
Leuten und verbringt den größten Teil seiner Zeit an seinem Schreibtisch. Ich weiß nicht, was er da schreibt. Dort am Fenster steht ein Papierkorb. Er ist gefüllt mit zusammengeknülltem Papier. Die Tapete, die riesige Photographie eines Hafens mit Fischern bei der Arbeit in seltsam anmutenden Booten, hat nichts mit Peter Bugg zu tun. Sie war bereits vor ihm hier. Wie lächerlich Mr. Buggs Schulphotographien aussehen, wenn sie direkt über dem ultramarinblauen Meer hängen. Diese merkwürdige Tapete stammt noch vom früheren Wohnungsinhaber, einem alten Mann, der viele Jahre im Ausland gearbeitet hatte. Die Phototapete zeigt die Aussicht, die er von seinem Haus in einem fremden Land hatte, das er sehr vermißte. Der alte Mann, Mr. Wilson, hatte in unser Land zurückkehren müssen, weil seine Arbeit dort beendet war. Er haßte es, hier zu leben, und verwandelte seine Wohnung in ein Museum seiner im Ausland verbrachten Jahre. Nahezu alles in dieser Wohnung stammte aus dieser fremden Welt. Als er eines Tages zum ersten Mal nach fast einer Woche wieder seine Wohnung verließ, war er so entsetzt über alles, was er sah, daß er absolut regungslos stehenblieb, alle Muskeln anspannte und zu schreie n begann. Er schrie und schrie und wollte überhaupt nicht mehr aufhören zu schreien. Der Pförtner rief einen Arzt, der Arzt rief einen Krankenwagen. Sie nahmen Mr. Wilson mit und brachten ihn nicht wieder zurück. Tearsham Park Vater mit Tränen in den Augen, wieder in Wohnung 1, die er den Salon nannte: Dort drüben (er zeigt auf eine leere, schmutzige Ecke) liegt mein Vater. Wir glauben, meine Mutter und ich, daß Vater schläft. Mutter geht hinüber, um ihn zu wecken, der Gong zum Abendessen war ertönt, aber Vater will einfach nicht aufwachen. Mutter brüllt mich an. Sie sagt, ich solle allein zum Abendessen gehen. Ich sehe Vater nie wieder. -217-
Kurze Zeit später werden Leute anfangen, Geld von uns zu verlangen, sehr viel Geld - Steuern und Abgaben, die wir zahlen müssen, weil Vater gerade gestorben ist. Sie verlangen so viel Geld, daß Mutter zu weinen beginnt, und wir verkaufen die beiden Öllandschaften im Eßzimmer. Wann immer wir auf die Lücken an den Wanden blicken, erinnern wir uns der Bilder. Ich sehe Mutter am Schreibtisch im Raucherzimmer, wo Vater seine Bücher aufbewahrte. Sie sagt: Zu Lebzeiten deines Großvaters hatte dieses Haus siebenundzwanzig Angestellte, es gab Butler und Kellner, Lakaien und Kammerzofen, aber die Dinge haben sich verändert. Das war vor langer, langer Zeit. Sie seufzt und sagt mir, daß wir unser Personal weiter verringern müssen. Der Hausverwalter muß gehen und ein Dienstmädchen und auch der Kammerdiener, wir können es uns nicht mehr leisten, den Küchenjungen weiter zu beschäftigen, was im übrigen auch für die Putzfrau gilt. Es wird nicht mehr genug Leute geben, das Haus sauber und in Ordnung zu halten, und es wird auch niemanden mehr geben, der die Fußböden bohnern kann. Das Observatorium Mutter, wieder vor Claire Higgs Wohnung (sie war erst wieder in den dritten Stock gegangen, nachdem sie sicher war, daß Vater nicht in der Nähe der Treppe oder unten im Erdgeschoß war): Claire hat einen schrecklichen Verlust erlitten. Sie sitzt allein, weint Tag und Nacht. Wir haben versucht, sie mit nach draußen zu nehmen, haben ihr Spaziergänge im Park angeboten, Cafebesuche mit heißer Schokolade. Sie findet unsere Angebote nicht verlockend. Jeden Morgen kommen wir und klopfen an ihre Tür. Sie sagt, sie könne nicht herauskommen, weil sie aus ihrem Fenster einen toten Spatz gesehen habe, der am Straßenrand liegt. Dies sei ein schlechtes Omen, sagt sie. An -218-
anderen Tagen sagt sie, sie könne das Haus nicht verlassen, weil sie das Hupen eines Autos gehört habe, was bedeutete, daß ein gemeingefährlicher Fahrer auf den Straßen unterwegs war und sie überfahren könnte. Manchmal sagt sie uns, sie kann nicht mitkommen, weil ein Unwetter heraufziehe, gleichwohl nicht eine Wolke am Himmel steht. Sie steht nur am Fenster und beobachtet den endlos vorbeiziehenden Verkehr. Tearsham Park Vater in Wohnung 1, in seinem verkleinerten Salon: Der Raum ist voller Mädchen. Mutter beaufsichtigt sie. Sie trinken Tee. Ich sitze dort drüben, ein Stückchen abseits. Mutter will mich bewegen, doch mit den Mädchen zu plaudern, aber ich habe Angst. Ich bleibe still. Die Mädchen kommen jeden Tag und unterhalten sich ausgelassen, sie kennen sich schon lange. Mit mir sprechen sie nicht. Mutter versucht, eine Frau für mich zu finden. Ich sage ihr, daß ich keine Frau haben will. Sie gibt mir eine Ohrfeige. Als die Mädchen das nächste Mal kommen, muß ich bei ihnen sitzen. Beim Tee stoße ich versehentlich eine Tasse um und verschütte ihren Inhalt über das Kleid eines der Mädchen. Das Mädchen brüllt mich an, schreit, das Kleid sei neu gewesen. Sie beschuldigt mich, den Tee absichtlich umgestoßen zu haben. Sie hatte ein nettes Gesicht und ein nettes Lächeln. Aber dieses Lächeln lag nur auf ihren Lippen, wenn sie sich mit den Mädchen unterhielt. Als sie mich anschreit, mich beschuldigt, absichtlich ihr Kleid ruiniert zu haben, trägt sie ihr wunderbares Lächeln nicht. Als die Mädchen das nächste Mal zum Tee kommen, ist das Mädchen mit dem Lächeln nicht mehr unter ihnen. Mit der Zeit kommen immer weniger Mädchen zu Mutters Teegesellschaften. Dann finden sie nicht mehr statt. Ich bin sehr erleichtert.
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Das Observatorium Mutter, immer noch auf der dritten Etage, öffnete die metallene Schiebetür des Fahrstuhls. Sie warf einen Blick in die Dunkelheit. Mutter: Dies ist ein Prolog zu dem, was geschah, bevor Miss Higg sich aus der Welt zurückzog. Sieh dir dieses Metallseil an, dieses Seil ist eines der Seile, die früher den Fahrstuhl sanft hochgezogen oder hinabgelassen haben. Sieh dir das Ende des Seiles an. Es ist gerissen. Es gibt Gerüchte, die Francis in die Welt setzte, daß der Pförtner das Aufzugseil vorsätzlich durchgetrennt habe. Die Polizei war ebenfalls der Ansicht, das Drahtseil sehe ein wenig merkwürdig aus. Wenn das Seil aufgrund von Materialermüdung gerissen wäre, müßten die Enden eigentlich ausgefranst gewesen sein. Aber es gab keine Beweise. Tearsham Park Vater, immer noch in seinem reduzierten Salon mit der Nummer 1: Ich sitze hier. Niemand sonst ist im Raum. Die Tür geht auf, eine andere Tür als diese, auf der sich die Nummer 1 befindet, und es war auch keine billige Tür, denn wenn man dagegenklopfte, dann klang es nicht so hohl wie bei dieser. Ich sehe diese andere Tür deutlich vor mir, ich sehe, wie sich diese andere Tür öffnet, ein Mädchen betritt den Salon. Die Tür wird wieder geschlossen, ich höre, wie ein Schlüssel im Schloß gedreht wird. Ich bin mit einem Mädchen im Salon eingesperrt. Dieses Mädchen soll meine zukünftige Frau werden. Sie kam aus der Stadt, stammte nicht aus einer alten Familie wie der unseren, wie man mir später erzählte. Aber trotzdem aus einer durchaus guten Familie, sagte meine Mutter. Sie kommt zu mir und sagt hallo. Ich schaue weg. Dann küßt sie mich auf den Mund. Ich laufe zur Tür und flehe meine Mutter an -220-
aufzuschließen. Das Mädchen folgt mir zur Tür, und als ic h begreife, daß meine Mutter nicht aufmachen wird, drehe ich mich um. Das Mädchen küßt mich noch einmal. Ihr dritter Kuß ist länger als die beiden anderen. In panischer Angst stehe ich wie erstarrt da. Ich spüre ihre Zunge auf meinen Lippen. Ihre Zunge öffnet meinen Mund und schlängelt sich hinein. Nach einer Weile nimmt sie ihre Zunge wieder heraus und tritt einen Schritt zurück. Mir wird bewußt, daß ich sehr lange die Luft angehalten habe, und nun ist mir schwindlig. Ich atme aus. Ich muß wohl ziemlich mitgenommen aussehen, denn jetzt geht das Mädchen und setzt sich auf einen der Sessel und fängt an zu weinen. Nach einer Weile gehe ich zu ihr und setze mich neben sie. Ich tätschele ihre Hand. Sie schaut zu mir auf. Sie lächelt. Diesem Lächeln kann ich mich nicht widersetzen. Das Mädchen hat ein wunderbares Lächeln und fragt: Darf ich bleiben? Ich antworte: Ja. Aber nicht, weil ich möchte, daß sie bleibt. Ich sage ja, weil es unmöglich ist, diesem Lächeln zu widersprechen. Ich höre, wie sich ein Schlüssel im Schloß dreht. Ich höre meine Mutter anklopfen. Als ich hingehe, um zu antworten, fragt mich meine Mutter, Wie geht es dir, mein Schatz? Ich sage spontan und ohne nachzudenken, daß ich verliebt bin. Doch die Worte, die gerade über meine Lippen gekommen sind, schockieren mich. Ich denke über sie nach und begreife, daß ich tatsächlich verliebt bin. Ich sage es wieder: Ich bin verliebt in… Dann sprach ich nicht weiter. Ich kenne ihren Namen nicht. Ich frage sie: Wie heißt du? Sie sagt, ihr Name sei Alice. Ich drehe mich zu meiner Mutter um. Ich sage: Ja, ich bin in Alice verliebt. Das Observatorium Meine Mutter befindet sich im dritten Stock irgendwo zwischen den Wohnungen 16 und 19. Mutter: Vor den Wohnungen 16 und 19 stehen Milchflaschen. Es ist exakt sieben Uhr dreißig -221-
morgens. Die Tür von Wohnung 16 geht auf. Dort steht Miss Claire Higg in ihrem Nachthemd, durchaus aufreizend. Jetzt geht auch die Tür von Wohnung 19 auf. Mr. Alec Magnitt tritt heraus, er trägt einen ordentlichen, wenn auch altmodischen grauen Anzug mit dazu passenden grauen Schuhen. In einer Hand hält er einen Taschenrechner. Er nimmt die Milchflasche und stellt sie, ohne die Wohnungstür zu schließen, in seinen Kühlschrank. Claire sieht einen kleinen Teil seiner Wohnung, genau den Teil, den sie immer sieht. Sie sieht das gerahmte Photo einer alten Frau, wahrscheinlich Alec Magnitts Mutter. Mr. Magnitt kehrt auf den Treppenabsatz zurück und schließt seine Tür ab. Claire Higg, die immer noch vor der Tür von Wohnung 16 postiert ist, lächelt ihn liebevoll an. Er antwortet mit einem nervösen Lächeln. Alec Magnitt geht auf Claire Higg zu und drückt ihr etwas in die Hand. Er zieht das Fahrstuhlgitter zurück und geht in die Kabine. Hinter sich zieht er das Gitter wieder zu. Claire Higg verschwindet in ihrer Wohnung und schließt hinter sich die Tür. Sie senkt den Blick auf ihre Hände. Dort findet sie ein Paßphoto von Alec Magnitt, auf dessen Rückseite Worte voller Liebe stehen. Alec Magnitt in seinem Fahrstuhl betätigt den Knopf mit der Aufschrift E für Erdgeschoß. Daraufhin ist im Treppenhaus ein unwahrscheinlicher Lärm zu hören, das Geräusch von etwas, das schnell und aus großer Höhe herunterfällt. Und dann gib es einen gewaltigen Knall. Staub steigt auf, quillt im ersten und zweiten Stock aus dem Fahrstuhlschacht. Miss Higg öffnet wieder ihre Wohnungstür. Sie lächelt nicht mehr. Sie rennt zum Fahrstuhl im dritten Stock und zieht das Metallgitter zurück. Sie schaut in den Fahrstuhlschacht hinab. Sie sieht das geborstene Metallseil unter sich baumeln. Claire Higg schreit. Tearsham Park Mein Vater stieg langsam die Treppe hinauf, meine Mutter, die -222-
ihn kommen hört, stürmte in den vierten Stock hinauf. Mein Vater blieb vor Wohnung 16 stehen. Er hörte Stimmen aus dem Wohnungsinneren. Vater: Diese aus unbekanntem Grund mit 16 bezeichnete Tür hat überhaupt nichts zu tun mit der Zahl sechzehn. Diese Tür ist die Tür zu meinem Schlafzimmer. (Vater schlägt gegen die Tür.) Ich will nicht aus meinem eigenen Schlafzimmer ausgesperrt werden. (Claire Higg im Inneren flucht. Vater tritt gegen die Tür. Wir bitten ihn inständig aufzuhören, wir bitten ihn, sich sein altes Schlafzimmer doch vorzustellen. Er beschwert sich noch ein bißchen, dann berührt er mit der Hand die Tür, schließt die Augen und lächelt.) Auf der anderen Seite dieser Tür liege ich unter der Decke auf meinem Himmelbett. Ich bin allein. Es ist Mitternacht. Am heutigen Tage habe ich Alice geheiratet, in die ich mich verliebt habe. Es war nur ein kleiner Gottesdienst in Tearsham Church. Alice schläft heute abend zum ersten Mal in Tearsham Park. Ihr Schlafzimmer befindet sich zwei Etagen tiefer. Und wie ich so die Decke meines Zimmers anstarre, werde ich von einem Klopfen gestört, einer Hand, die auf Holz klopft. Wer ist da? frage ich. Ich bin es, Alice, sagt Alice. Die Tür wird ohne meine Erlaubnis geöffnet, und Alice kommt in mein Schlafzimmer und macht die Tür hinter sich zu. Sie trägt lediglich ihre Nachtwäsche. Und dann trägt sie auf einmal gar nichts mehr. Alice, völlig nackt, tritt vor und zieht mir Laken und Decken fort. Dann ersetzt sie die Laken und Decken durch ihren nackten Körper. Sie zieht mir die Schlafanzughose herunter und setzt sich auf mich. Sie bewegt sich auf und ab. Ich werde von einem überaus angenehmen Gefühl übermannt. Kurze Zeit später schaut Alice zu mir herab und fragt: Schon? Ich weiß nicht, was sie meint, und ignoriere ihre Bemerkung. Alice kehrt in ihr Zimmer zurück. Sie wird in den nächsten Nächten wiederkommen, und es wird immer wieder das gleiche passieren. Ich fange an, mich auf diese Nächte zu freuen. Es dauert nicht lange, und sie hört auf, Schon? zu sagen, und bleibt -223-
länger bei mir. Das Observatorium Meine Mutter betrat im vierten Stock die leere Wohnung 23. Mutter: Diese hier, die kleinste Wohnung des Gebäudes, war einmal das Zuhause von Lord Aloysius Pearson. Lord Pearson lebte allein. Er besaß einmal ein Schloß, das voller Schätze war und so groß, daß er es im August für die Öffentlichkeit öffnete und gegen Eintritt die Besucher herumführte. Das Schloß war allerdings recht baufällig, und um alles noch schlimmer zu machen, war während eines Unwetters eine Zeder auf sein Dach gestürzt und hatte einen beträchtlichen Schaden angerichtet. Lord Pearson konnte sich aus eigenen Mitteln die Restaurierung seines Hauses nicht leisten. Und so blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er mußte es mitsamt seiner Schätze einer Stiftung übereignen. Diese Stiftung setzte das Schloß wieder instand und hielt es das ganze Jahr über für den Publikumsverkehr geöffnet. Die Stiftung legte fest: a. Das es Lord Pearson nicht möglich sein wird, im Schloss zu bleiben. b. Das es Lord Pearson nicht möglich sein wird, Besucher durch das Schloss zu führen. (Vergleiche die Anmerkung unten). Anmerkung: Die Stiftung beschäftigt ein Team von Experten für Geschichte und Architektur mit einer umfassenden Ausbildung in Museumspädagogik. Lord Pearson verließ sein Schloß in der Gewißheit, daß es restauriert und für immer seine Familienschätze bewahren würde. Er kam in die Stadt und kaufte, von dem größeren Teil des ihm noch verbliebenen Geldes, Wohnung 23 im -224-
Observatorium. Dieses Gebäude, so sagte er, schien eine Geschichte zu haben, und außerdem, sagte er, sei die Wohnung (ein früheres Dienstbotenzimmer) angemessen im Preis. Hier lebte er, und hier starb er. Vor seinem Tod lud er häufig die anderen Bewohner in seine Wohnung ein und führte sie herum, als wäre es ein herrschaftliches Anwesen. Er sagte dann, Dies ist der Salon, in dem Lord Pearson saß und fernsah. Dies ist das Bad, in dieser Plastikwanne wusch sich Lord Pearson mit nach Limonen duftender Seife. Dies ist die Küche, und an diesem Tisch saß Lord Pearson und schlürfte seine Kraftbrühe. Und so weiter. Lord Pearson starb an einer Überdosis Schlaftabletten. Sein Geld war zur Neige gegangen. Er hatte nicht die geringste Idee, womit er seinen Lebensunterhalt verdienen könnte. Auf seiner Leiche, die elegant in einen Tweedanzug gekleidet war, lag ein Zettel: Dies ist Lord Pearson. Ein stattliches Relikt aus der Zeit der Jahrhundertwende. Bitte in der Familiengruft beisetzen. Tearsham Park Vater stand in der verlassenen Wohnung 12. Vater: Dies ist das Zimmer meiner Mutter. Meine Mutter liegt auf ihrem Bett. Über den Raum verteilt findet sich ihre Sammlung von Porzellanfiguren, die mich anstarren. Es ist Tag. Meine Mutter verläßt das Bett nicht mehr. Meine Mutter sagt mir, ich dürfe nicht vergessen, die Familie Orme am Leben zu erhalten. Sie sagt mir, ich solle die Geschichte der Ormes studieren, damit ich sie an meine Kinder weitergeben kann. Dann fängt sie an zu weinen. Sie sagt mir, sie werde von meiner Frau verfolgt. Sie sagt mir, meine Frau räume absichtlich und vorsätzlich alle Gegenstände in Tearsham Park um. Mutter sagt mir, Alice habe -225-
Dinge umgeräumt, nur um ihre Autorität zu untergraben. Mutter klagt, wenn sie bestimmte Gegenstände nicht finden könne, die vorsätzlich an einen anderen Platz gestellt worden waren, dann zeige Alice darauf und sage zu ihr, daß sie sich ihres Wissens schon immer an dieser Stelle befunden hätten. Mutter erzählt mir, dies sei schon so oft passiert, daß die Dienstboten bereits hinter ihrem Rücken über sie lachten. Als sie sich das letzte Mal nach dem Verbleib von fehlenden Gegenständen erkundigt hatte, fragte Alice sie vor den Dienstboten, ob sie sich auch gut fühle, ob es ihr nicht besserginge, wenn sie im Bett bliebe. Mutter sagt zu mir, Setz dich, Francis, mein Schatz. Ich sage, Ich kann leider nicht, ich habe Alice versprochen, mit ihr spazierenzugehen. Am nächsten Tag erzählt Mutter mir, Alice habe das Hauspersonal gegen sie aufgebracht. Ich sage Mutter, daß sie Alice gegenüber unbarmherzig sei und daß ich Alice später mit ins Schlafzimmer bringen werde, damit Mutter sich bei ihr entschuldige. Mutter schickt mich hinaus und sagt, ich solle niemals mehr zurückkehren. Während der Nacht stirbt sie im Schlaf. Wir beerdigen sie. Ich räume ihre Porzellanfiguren auf den Dachboden. Meine Frau sagte: Ich ertrage es nicht, wie mich diese Puppen anstarren. Nimm sie weg, Francis, bevor ich sie zerschlage. Das Observatorium Mutter in Wohnung 19: Es ist der Abend vor dem Unglück mit dem Fahrstuhl. Alec Magnitt sitzt an seinem Schreibtisch und betätigt die Tasten seines Taschenrechners. Er hört eine Stimme draußen auf dem Treppenabsatz. Er nähen sich der Wohnungstür und legt ein Ohr neben den Spion. Er hört den Pförtner mit Claire Higg reden und dann an ihre Tür klopfen. Darf ich hereinkommen? Nein. -226-
Bitte, gehen Sie dann wenigstens mit mir spazieren? Nein, ich will nicht. Ich möchte Sie küssen. Ich liebe Sie. Lassen Sie mich in Ruhe. Machen Sie schon auf, ich will Sie küssen. Gehen Sie weg! Der Pförtner verläßt die Tür zu Wohnung 16 und tritt auf dem Treppenabsatz wütend gegen die Fußleiste, wobei er eine Delle hinterläßt, die du hier sehen kannst. Dann geht er fluchend davon. Das alles weiß ich, weil ich bei Claire Higg in Wohnung 16 war. Wir hörten, wie Alec Magnitt seine Wohnung verließ und zur Tür von Wohnung 16 kam. Claire schien mit einem Mal ganz aufgeregt zu werden. Dann hörten wir, wie sich die Schritte wieder entfernten und die Tür von Wohnung 19 geschlossen wurde. Claire sah enttäuscht aus. In dieser Nacht schrieb Alec Magnitt auf die Rückseite seines Paßphotos ein Geständnis seiner Liebe. Tearsbam Park Mein Vater stand in Mutters Schlafzimmer in Wohnung 6. Vater: Endlich! Das hier stimmt, das hier ist das Zimmer meiner Frau! Dieselben Wände mit derselben roten Velourstapete. Vielleicht ist alles ein wenig voller als früher, aber es ist ihr Zimmer. Schau, ich erkenne dieses Nachtlicht wieder. In diesem Kinderbett schläft ein Baby. Das Baby ist ein Junge. Er heißt Francis. Alle erstgeborenen Söhne der Ormes werden Francis getauft. Er ist sehr klein und sehr weiß. Dies ist unser Baby. Dies ist das Baby, das Alice und ich gemacht haben. Die Porträts lächeln.
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Das Observatorium Mutter: Ich befinde mich in der Eingangshalle. Es ist Abend. Alec Magnitt kommt von der Arbeit nach Hause. Er betritt den Fahrstuhl und wird in den dritten Stock befördert. Jetzt kommt Claire Higg in die Eingangshalle. Sie ist Alec Magnitt gefolgt. Sie geht die Treppe bis in den dritten Stock hinauf. Jetzt kommt eine dritte Person. Es ist der Pförtner. Der Pförtner ist Claire Higg gefolgt, die Alec Magnitt folgte. Sein Gesicht ist stark gerötet. Er ist eifersüchtig. Er steigt die Treppe zu seiner Kellerwohnung hinunter. Jetzt kommt die vierte und letzte Person. Das bin ich, Alice Orme. Ich bin dem Pförtner gefolgt, der Claire Higg folgte, die Alec Magnitt folgte. Ich begreife, daß sich der Pförtner zu meiner Freundin Claire Higg hingezogen fühlt. Er hat etwas Gefährliches. Erst als er he rausfand, daß Alec Magnitt sie liebte, zeigte auch er Interesse an ihr. Vielleicht ist er einer jener Menschen, die nur Menschen lieben können, die bereits geliebt werden. Vielleicht ist er der Meinung, daß ein Mensch nur dann wert ist, geliebt zu werden. Vielleicht muß er einen Menschen sehen, der geliebt wird, um sich vorstellen zu können, wie Liebe sein kann. Und wenn er das sieht, will er sie stehlen. Claire folgt Alec, der Pförtner folgt Claire, ich folge dem Pförtner. Dies ist kein ungewöhnliches Zusammentreffen. Es passiert mehrere Male wöchentlich. Der einzige Mensch, der davon gleich überhaupt nichts mitbekommt, ist Alec Magnitt. Es ist schon merkwürdig, daß der Pförtner Claire nach Magnitts Tod völlig ignoriert. Er verliert umgehend jedes Interesse, als könne er ohne Alec nicht mehr erkennen, was genau es war, das Claire liebenswert machte. Tearsham Park
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Vater in Wohnung 14: Ich weiß, daß dieser Raum das Kinderzimmer ist, auch wenn jemand die Wickeltische und die Kinderstühle fortgeschafft hat, um mich hereinzulegen. Und es gab hier früher Fliesen in der Farbe von Schmeißfliegen auf dem Boden und an den Wänden bis auf halbe Höhe. An dieser Stelle und ich bin sicher, dass es hier war, hatte ich meinen Namen in die Wand geritzt. Sieh nur! Es ist Gips! Man hat alles abgedeckt, aber ich war hier! Das hier ist wirklich das Kinderzimmer! Genau dort drüben habe ich mit meinem Mikroskop gesessen. Aber das ist schon lange her. Dann, Jahre später, schläft unser Kind im Kinderbett. Der Arzt ist gerade gegangen, einer von vielen Ärzten, die wir im Lauf der letzten Monate kommen ließen. Unser Kind ist fünf Jahre alt. Es geht ihm nicht gut. Es ist krank. Sein Kopf ist angeschwollen, und es ist sehr blaß. Es klagt über Kopfschmerzen. Es schläft jetzt und wie ich auf seinen blassen, mageren Körper hinabschaue, fange ich an zu weinen. Der Kopf auf diesem Körper ist viel zu groß. Das Verhältnis stimmt nicht. Die Wangen sind stark angeschwollen. Das Fleisch auf seinem Gesicht sieht so straff aus, daß ich mir vorstelle, es müsse bald platzen. Das Observatorium Mutter in Wohnung 8, wo ihr Junggeselle lebte: Ich befinde mich im Schlafzimmer. Ich bin nicht allein. Ich lächle. Tèarsham Park Vater in Wohnung 14: Die Krankheit meines Sohnes ist weiter fortgeschritten. Während sein Kopf noch größer geworden ist, magerte sein Körper weiter ab. Mir fällt auf, daß er viel und oft lächelt. Auch jetzt lächelt er. Um seine Augen sind Falten aufgetaucht. Mein Sohn hält einen Arm seines Teddybären. Den -229-
Mund hat er abgerissen, das Lächeln aus dem Gesicht des Teddybären. Mein Sohn will eigentlich nicht lächeln. Ich glaube, es ist eine Begleiterscheinung seiner Krankheit, die Haut in seinem Gesicht ist zu einem Lächeln verzogen. Mein Sohn hat sehr feines, blondes Haar. Es ist gescheitelt. Es ist so dünn, daß man beinahe seinen Schädel durchschimmern sieht. Ich sehe meinen Sohn an, und ich denke, daß mein fünfjähriger Sohn aussieht wie ein alter Mann. Das Observatorium Mutter, immer noch in Wohnung 8: Ich befinde mich im Schlafzimmer. Ich bin nicht allein. Ich lächle. Tearsbam Park Vater in Mutters Schlafzimmer in Wohnung 6: Meine Frau liegt im Bett. Sie verbringt inzwischen den größten Teil ihrer Tage im Bett. Sie hat schon sehr lange nicht mehr nach unserem Sohn gesehen. Ich trage meinen Schlafanzug. Es ist Nacht. Ich lege mich ins Bett zu meiner Frau. Ich sage zu ihr: Alice, ich habe bei den Porträts gesessen. Alice, wir brauchen noch einen Francis Orme. Ich glaube nicht, daß dieser sehr alt wird. Das Observatorium Mutter in Wohnung 8: Ich befinde mich im Schlafzimmer. Ich bin nicht allein. Ich lächle. Ich bin in einen Junggesellen verliebt. Noch nie zuvor war ich so glücklich. Tearsham Park -230-
Vater in Mutters Schlafzimmer in Wohnung 6: In dem Kinderbett, das hier stehen sollte, schläft unser zweites Kind. Es ist wieder ein Junge. Er heißt Thomas. Alice kümmert sich sehr liebevoll um ihn und legt jede Stunde ihre Hände um seinen Kopf, weil sie prüfen will, ob er anschwillt. Sie seufzt erleichtert. Mein anderer Sohn, der durch sein Leiden für gewöhnlich im Kinderzimmer bleiben muß, kann überhaupt nicht mehr aufhören zu lächeln. Ich bemerke aber, daß in seinen Augen weder Glück noch Zufriedenheit liegt. Er hat das Baby gesehen. Er mustert das Kind aufmerksam und während er das Gesicht des Babys betrachtet, streicht er über seine eigenen Wangen. Meine Frau will nicht zulassen, daß unser ältester Sohn das Baby berührt. Sie schiebt ihn fort, wenn er ihm zu nahe kommt. Da steht er nun, hat uns den Rücken zugewandt und geht die Treppe hinauf, die ins Kinderzimmer führt. Er ist sechs Jahre alt, sieht aber aus wie sechzig. Zwei Arzte stehen am Bett meines Sohnes. Mein Sohn jammert und hält sich den Kopf. Ich frage die Arzte: Können Sie denn nichts tun? Er hat Schmerzen. Tut doch was! Die Arzte sagen, man kann nichts mehr tun. Sie haben dem Jungen Morphium gegeben. Mein Sohn kratzt sich fieberhaft am Kopf. Tut doch was! Das Observatorium Mutter in Wohnung 12: Ich habe den beiden Schwestern gerade ein Geschenk gemacht. Ich habe Eva und Christa einen Plattenspieler gegeben. Dies ist das letzte Geschenk, das ich jemals machen werde. Heute habe ich erfahren, daß die einzige noch freie Wohnung, Wohnung 8, von einem sehr attraktiven Junggesellen gekauft worden ist. Der Junggeselle, sein Name ist Dominic, lächelte mich an, als er kam, um sich die Wohnung -231-
anzusehen. Und in seinem Lächeln war etwas. Er erkundigte sich nach meinem Namen und ob ich verheiratet sei. Ich sagte, mein Name sei Alice und ich sei Witwe. Die Schwestern packen den Plattenspieler aus und legen eine Schallplatte auf. Sie sagten: Herzlichen Dank, Alice, das ist wirklich sehr nett von Ihnen. All die vielen Geschenke, die Sie uns gemacht haben! Wir hören uns ein berühmtes Liebeslied an, und während wir das tun, denke ich an den Junggesellen. Tearsham Park Mein Vater verließ Wohnung 14, seine Füße erinnerten sich an einen anderen Bodenbelag der Treppe. Seine Hände und Arme waren ausgestreckt, wie wenn er etwas tragen würde. Mir war, als könnte ich Vater als jungen Mann sehen, aufrecht und mit vollem, schwarzem Haar. Vater: Dies ist Francis Orme, ältester Sohn von Francis Orme. Ich wünschte, er würde mehr wiegen. Ich habe das Gefühl, ich würde gar nichts tragen. Er sieht aus wie ein alter Mann. Er hat aufgehört zu atmen. Sein großer Kopf arbeitet nicht mehr. Dies ist mein Sohn. Dies war mein Sohn. Mein Sohn ist tot und ich fühle mich elend. Mückenstiche und Lippenbalsam Daß meine Eltern sich überlegt hatten, im Observatorium herumzulaufen und sich vorwärts und rückwärts durch ihre individue llen Geschichten zu bewegen, war für uns kein Grund, mit unserem Leben aufzuhören. Ich stellte mich auch weiterhin in den wenigen Stunden des Tages, die ich meine Eltern der Obhut von Miss Tap überlassen konnte, auf meinen Sockel in der Innenstadt oder schlenderte den Gang meiner Ausstellung entlang. Und Miss Tap wurde von mir auf Verlangen abgelöst, damit sie das hölzerne Altarbild der Tearsham Church -232-
aufsuchen und für die Rettung ihres schwindenden Augenlichts zur heiligen Lucia beten konnte. Als ich einmal von meinem Sockel zurückkehrte, sah ich Anna Tap allein am Küchentisch in Wohnung 6 sitzen (Vater war unten in Wohnung 4, wo sich einst die alte Bibliothek befunden hatte; meine Mutter machte ein Nickerchen in ihrem Schlafzimmer). Anna und in diesem Punkt irre ich mich nicht, trug ein Paar weiße Handschuhe, als ich hereinkam. Sie versteckte schnell ihre Hände, und ich sah sie nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber sie trug auf jeden Fall weiße Baumwollhandschuhe. Handschuhe, die sie nicht aus meinen Handschuh-Tagebuch-Schachteln genommen hatte, Handschuhe, deren Verbleib nach meinem schrecklichen Handschuh-Armageddon immer noch ungeklärt war. Wir befanden uns inzwischen in den Sommermonaten, und der Sommer ist eine Jahreszeit, die ich verabscheue. Die Hitze läßt meine Hände transpirieren, aber noch schlimmer als das ist der Sommer die Jahreszeit, in der es die meisten Mücken gibt. Ich wurde von Mücken terrorisiert; tagsüber stürmten sie in Wohnung 6 und formierten sich auf der Zimmerdecke meines Schlafzimmers, um während der Nacht herabzustoßen und mich zu stechen. Die Mücken stachen mir in die Beine, in die Arme und ins Gesicht. Mückenstiche sind eine gefährliche Sache. Die kleinen Stiche auf meiner Haut, die zu kleinen roten Hügeln anschwollen, juckten. Und wenn es juckt, will ich mich kratzen. Ich will überhaupt nichts anderes mehr als mich kratzen. Aber ich kann mich nicht kratzen. Kratzen ist der Feind aller Handschuhe. Malträtierte, aufgekratzte Mückenstiche hinterlassen Flecken auf den Spitzen meiner Baumwollfinger. Mit den Händen kann ich mich also nicht kratzen. Und so streifte ich während der Sommermonate unglücklich durch die Welt des Observatoriums und rieb meine Arme an Fensterbrettern, meine Beine an Türkanten. Und war wirklich todunglücklich. Wenn ich auf meinem Sockel stand und die Augen schloss, gelang es mir manchmal, äußere Reglosigkeit zu -233-
erreichen, aber niemals die innere Reglosigkeit, die meine Arbeit eigentlich verlangte, denn ich konnte an nichts anderes denken als an das Jucken von tausend Mückenstichen. Dieser Sommer jedoch war anders als all die anderen Sommer voller Mücken. In diesem Sommer wurde ich wie gewöhnlich an vielen Stellen gestochen, aber ich kratzte mich nicht. Es juckte ein wenig, aber nie besonders lange. Anna Tap gab mir ein Wunderspray, das meinen manischen Juckreiz beendete. Ich sprühte mich ein, und das Spray fühlte sich sehr kühl und beruhigend an. Später in diesem Sommer kam Anna zu mir in Wohnung 6 und sagte, meine Unterlippe sei angeschwollen. Das wußte ich auc h selbst, war ich mir doch jeden Details, attraktiv oder nicht so attraktiv, meines siebenunddreißigjährigen Körpers nur zu bewußt. Anna hielt eine kleine Cremetube in der Hand. Die habe ich für Sie gekauft, sagte sie. Es ist für Ihre Lippe, es wird die Schwellung lindern. Ich hielt die Tube mit der Lippencreme in meinen weißen Händen. Einige wenige Augenblicke dachte ich darüber nach, dann sagte ich: Das kann ich nicht annehmen. Ich darf keine Creme auf meine Finger bekommen, ob sie nun weiß ist oder transparent. Anna nahm die Tube Lippencreme. Anna drückte etwas von der Lippencreme auf einen ihrer Finger ohne Handschuh. Annas Finger berührte meine Unterlippe. Sie trug Creme auf die Unterlippe auf. Annas Finger verrieb diese Creme über meine Unterlippe, bis mir ein wenig schwindlig wurde und ich mich setzen mußte. In dieser Nacht lag ich auf meinem Bett und dachte daran, daß Anna Taps Finger tatsächlich meine Unterlippe berührt hatte. Wahrend sie dies tat, ich erinnerte mich sehr genau daran, befand sich ihr Gesicht sehr dicht an meinem. Ich konnte ihren Atem riechen, der nach Zigaretten roch, und sehr deutlich die Sommersprosse sehen, die genau auf der Mitte ihrer Nasenspitze saß. Außerdem sah ich auf kurze Distanz Anna Taps Lippen. -234-
Zwei Wochen lang trug Anna Tap täglich die Creme auf meine Lippe auf. Und jeden Tag, den sie die Creme auftrug, konnte ich ihr Gesicht sehr sorgfältig studieren. Manchmal, wenn ich ihr Gesicht ansah, schaute ich ihr in die Augen, und einmal schaute sie mir dabei in die Augen. Nicht sehr lange. Mir wurde wieder schwach. Am Ende der zwei Wochen war meine Unterlippe nicht mehr geschwollen, und Anna hörte mit dem Lippeneincremen auf. Ich erinnere mich voller Bedauern daran. Ich nehme an, es muß wohl ungefähr zu dieser Zeit gewesen sein, daß ich anfing, meine Einstellung zu Anna Tap zu überdenken. Zunächst hatte ich gedacht, daß überhaupt nichts Hübsches an ihr war. Nun erkannte ich, daß dies nicht stimmte. Ich fand ihre Nase hübsch und ihre Lippen nicht unattraktiv und ihr Lächeln vielversprechend. Selbst ihre Augen, vielleicht aufgrund ihrer Anfälligkeit, besaßen eine gewisse unaufdringliche Schönheit. Und sie hatte die mit Abstand beweglichsten Schulterblätter, die ich je gesehen hatte. Wenn sie zusammengekauert über einem Tisch las, dann sah es aus, als gehörten sie einem kleinen Vogel. Eines Nachts auf der Straße Eines Nachts, als Mutter schlief und Vater mit Anna oben im heruntergekommenen Observatorium war, ging ich hinaus auf die Straße. Ich flüsterte ihren Namen in die Nacht. Anna, Anna, sagte ich. Zu den Straßen, zum Park, zu den Häusern. Ich hörte den Laut ihres Namens auf meinen Lippen. Ich hörte, wie sich ihr Geräusch still aus mir hob und in der sommerlichen Nachtluft klein und präzise klang. Anna. Anna. Anna. -235-
Erzähl mir von Handschuhen, Anna Erzähl mir von Handschuhen, Anna. Dies war eine gute Möglichkeit des Zeitvertreibs. Selbst wenn ich sie zehnmal am Tag bat, mir von Handschuhen zu erzählen, lächelte sie und begann erneut: Hände werden vom Handschuhschneider vermessen: die Breite über den Knöcheln, die Spanne vom ausgestreckten Daumen zum ausgestreckten kleinen Finger, die Länge von der Mitte des Handgelenks zur Spitze des längsten Fingers, die Dicke der Hand. Die Form der Hände werden auf einem Blatt Papier nachgezeichnet. Zwei Materialstücke werden für einen Handschuh benötigt. Das erste, das größte Stück, ist von der Hand abzüglich des Daumens. Es hat sieben Finger. Stellen Sie sich das so vor, als hätte man die Haut einer Hand entfernt und flach ausgebreitet, so daß der kleine Finger doppelt so breit ist wie die anderen Finger, denn anders als bei den anderen sind die Nagelseite und die Handflächenseite noch miteinander verbunden. Dieses Stück wird dann am kleinen Finger gefaltet, wodurch die Form einer Hand entsteht. Dann wird es zusammengenäht. An diesem Punkt gibt es noch ein Loch im Handschuh, durch das der nackte Daumen herausragen würde, falls man ihn jetzt überstreifte. Das zweite Stück ist ein länglicher Materialstreifen, der ebenfalls in der Mitte gefaltet und dann in der Form des Daumens zusammengenäht wird, um dann in das Loch des Handschuhs eingepaßt zu werden. Jetzt ist der Handschuh vollständig. Außerdem werden häufig zwei oder mehr Wülste hinzugefügt, die etwas von dem überschüssigen Material aufnehmen und verhindern, daß der Handschuh seine Form verliert. Diese nennt man Abnäher. Je mehr Anna mir von Handschuhen erzählte, desto klarer wurde mir, dass ich mich bei diesen Beschreibungen nicht über -236-
den Inhalt ihrer Sätze freute, die gespickt waren mit Fachausdrücken dieses Berufs, sondern vielmehr über die Tatsache, dass sie zu mir sprach. Ich begriff, daß etwas unternommen werden mußte, um dieser Schwärmerei ein Ende zu bereiten. Mich beschlich Angst und Sorge um die Ausstellung. Ein Auftrag für William Ich besuchte William. Meine Nägel waren zwar recht lang, aber sie mußten nicht wirklich geschnitten werden. Ich ließ sie mir trotzdem schneiden. Als wir den starken schwarzen Kaffee tranken, sagte William: Es freut mich, daß du gekommen bist. Ich war sicher, daß du früher oder später kommen würdest. Ich sagte ihm, daß ich gekommen war, um bei ihm eine Bestellung aufzugeben. Eine Büste. In Wachs. Und das, bitte, sobald wie möglich. Sag mir wie viel und ich werde dir das Geld bringen, alles auf einmal oder in wöchentlichen Raten. Wenn du willst, können wir einen Vertrag aufsetzen. Ich werde einen Eilzuschlag zahlen, aber ich werde keine Konventionalstrafe erheben, falls es länger dauert. Ich habe Geld, mach dir deswegen keine Gedanken. Ich bin im Moment sehr beschäftigt. Nimm dir etwas Zeit für Francis. Francis, hast du überhaupt eine Vorstellung, wieviel es kostet, einen Wachskopf anzufertigen? Ich habe Geld. Ich legte meine gesamten Ersparnisse auf Williams Arbeitstisch, Münzen von meiner Sockelarbeit, Geldsche ine von damals, als ich meiner Mutter half, ihr gesamtes Hab und Gut in ein Zimmer zu räumen. William zählte es. Das ist nicht genug. -237-
Es muß genügen. Du hast nicht richtig gezählt. William sah meine Enttäuschung und fragte mit einem Seufzer: Um wen geht es? Eine Frau, Ende Zwanzig bis Mitte Dreißig. Ich werde Photos benötigen. Die werde ich besorgen. Lebt diese Person? Das Leben dieser Person, ob vergangen oder gegenwärtig, ist völlig belanglos, soweit es deine Arbeit betrifft. Falls sie lebt, könnte sie mir Modell sitzen. Francis, es ist doch nicht das Mädchen, über das wir schon gesprochen haben, oder? Stell dir einfach vor, die Person ist tot. Warum willst du es, Francis? Das geht dich nichts an. Die Photographien müssen sehr detailliert sein. Jeder Winkel ihres Gesichts. Nahaufnahmen. Sicher. Eine Sache noch: Du wirst natürlich Laura und Linda für die Haare beschäftigen und Ottilia für die Augen. Es sei denn, du willst sie glatzköpfig und blind. So, was Ottilia angeht, sie darf auf gar keinen Fall die Augen kopieren, die sie auf den Photographien sehen wird. Natürlich wird sie diesen Photographien die Augenfarbe der Person entnehmen können, aber das ist dann auch schon die einzige Information, die ihnen zu entnehmen ist. Die Augen der Person sind beschädigt. Sie sind blutunterlaufen und gelb, die Iris ist trüb. Diese Details muß Ottilia ignorieren. Sie soll dem Kopf perfekte Augen geben. Ist das klar? Ich werde die Photos in einigen Tagen vorbeibringen, und dann kannst du dich an die Arbeit machen. Abgemacht? Gut. Lebe wohl, William, ich danke dir für deine Zeit. Ich werde tun, was ich kann, Francis, aber du wirst mir mehr -238-
Geld bringen müssen. Du bekommst alles, was ich von jetzt an verdiene. Ein Auftrag für Mad Lizzy Ich war an diesem Tag sehr geschäftstüchtig und ging schnurstracks meinen zweiten Auftrag an: Photographien von Anna Tap. Ich fand Mad Lizzy zuckend durch die Menschenmassen der Stadt wirbeln, damit beschäftigt, Leben aufzuzeichnen. Ich sprach sie an und lud sie auf einen Kaffee in einem bestimmten Café ein, wo man weiß, daß ich dort gelegentlich mein hart verdientes Geld ausgebe. Dieses Café ist in keiner Weise außergewöhnlich. Der Kaffee jedoch ist ausgezeichnet, was aber für sich genommen noch kein Grund ist, es aufzusuchen. Ich gehe wegen eines Kellners dorthin, wegen George, einem jungen Mann von Mitte Zwanzig, mager und nervös und unendlich hilfsbereit. Der Grund, warum ich George mag, ist seine Lüge. Er lügt ausschließlich in einem Punkt. Und als er kam, um unsere Bestellung aufzunehmen, da log er, wie es nicht anders zu erwarten war. Francis, wie schön, mal wieder deine herrlich weißen Hände zu sehen. Ich freue mich, daß du gerade heute gekommen bist, denn jetzt können wir uns doch noch voneinander verabschieden. Ich werde morgen in die Hauptstadt reisen. Dort werde ich ein neues Leben beginnen. Einen Kaffee und eine Portion Pommes frites? Sofort. Wann immer ich dieses Café aufsuche, ist es zufällig immer der Tag vor Georges Abreise in die Hauptstadt. Ich glaube nicht, daß George es jemals schaffen wird. Allerdings nehme ich nicht an, daß George genauso denkt: Jeden Morgen steht er auf, lächelt sein schmales Gesicht im Spiegel an und sagt, Morgen, du Lümmel, morgen bist du nicht mehr da. Warum lädst du mich zu Pommes frites ein, Francis Orme? -239-
Ich habe einen Auftrag für dich. Habe zuviel zu tun. Du kannst dabei etwas verdienen. Mir fehlt die Zeit. Ich werde irgend etwas Wichtiges verpassen. Alles umsonst. Wir saßen draußen, Lizzy stocherte in ihren Pommes frites herum. Plötzlich ließ sie eine fallen, hob ihre Kamera und schoß sieben Photos hintereinander. Drei Touristen waren vorbeigegangen, das war alles. Lizzys Körper wippte und zuckte. Aus ihrem Mundwinkel kam: Hab sie erwischt! Hihi. Werde ich nie wieder vergessen. Ich werde sie heute abend entwickeln und in das Buch mit den Photos zu dieser Straße legen. Was für Bilder, was für Bilder! Und sie gratulierte sich selbst, indem sie ihren knochigen Oberschenkel tätschelte. Dieser Auftrag, Mad Lizzy… Vergiß es. Es wäre draußen. Wo? Wo? In der Stadt draußen? Oder draußen aus der Stadt draußen? In der Stadt draußen. Tearsham Park Gardens. Wer? Wer? Ein Stadtmensch? Oder ein Mensch von aus der Stadt draußen? Ein Stadtbewohner. Geld? Her damit. Gib es Lizzy, bitte. Danke. Gut. Ich gab Mad Lizzy die Hälfte ihres Honorars und beschrieb ihr Anna Tap, sagte ihr, dass sie aus jeder Perspektive Photos von ihrem Gesicht schießen und dabei so unauffällig vorgehen mußte, wie es ihr Zucken erlaubte. Elf Uhr, sagte ich, in Tearsham Park. Du wirst sie erkennen, sagte ich, denn ich werde neben ihr stehen. Verstanden. Verstanden. Jetzt muß ich aber. Tschüß, Amsel. -240-
Und weg war Mad Lizzy, beschäftigt mit den seltsamen Exzentrizitäten ihres Körpers. Mad Lizzy war immer in größter Eile, schien jedoch nie an einem bedeutungsvollen Ort anzukommen. Sie verbrachte ihre Tage mit dem Versuch, das Stadtleben einzufangen. Aber sie war niemals in der Lage, die Stadt festzuhalten. Denn die Stadt veränderte sich ständig, immer wieder geschahen die ungewöhnlichsten Dinge, und sie konnte nicht überall gleichzeitig sein, vieles verpaßte sie einfach. Sie würde viele Menschenleben benötigen, um ihre Arbeit zu vollenden. Das Schlimmste jedoch war, daß Mad Lizzy die Stadt photographierte, um sich als Teil von ihr zu fühlen, aber je mehr sie photographierte, desto distanzierter fühlte sie sich. Man sah sie häufig die Straßen der Stadt entlanglaufen bei dem Versuch, die Stadt zu erschöpfen, aber letzten Endes erschöpfte sie immer nur sich selbst. Um elf Uhr am nächsten Morgen, als wir mit Mutter in Tearsham Park spazierengingen, wurde Anna vom Klicken einer Kamera und den Zuckungen eines Photographen abgelenkt. Ich entschuldigte Lizzy, erklärte, dass sie ziemlich verrückt sei und Anna schien damit zufrieden. Drei Tage später erhielt ich die Photos. Sie besaßen einen gewissen Charme und beschrieben Annas Gesicht zufriedenstellend aus jeder erdenklichen Perspektive (und obendrein auch noch ein gutes Stück von Tearsham Park Gardens). Ich übergab die Photos William und er machte sich an die Arbeit. Das Observatorium und Tearsham Park Jetzt ist es an der Zeit, zu meinem Vater und meiner Mutter zurückzukehren. Mutter hatte sich zu ihrer Zeit der Geschenke zurückgearbeitet. Vater hatte sich in Wohnung 4 aufgestellt, wo früher die alte Bibliothek gewesen war. Die ganze Zeit über waren wir uns nur zu bewußt gewesen, daß, während Mutter -241-
ihre Erlebnisse im Observatorium rückwärts durcheilte und Vater vorwärts durch die Tearsham-Park-Zeit stolperte, der Moment kommen würde, an dem sie sich begegnen würden. Soweit war es zwar noch nicht, aber wir wußten, daß es so kommen mußte. Die vollständige Geschichte des Observatoriums und von Tearsham Park Aus der Sicht meiner Mutter und meines Vaters (nacherzählt mit Hilfe von Francis Orme und Anna Tap): TEIL ZWEI. Mutters Zezi der Geschenke In diesem Teil der Geschichte des Observatoriums war Mutter dabei anzutreffen, wie sie eilig durch die leeren und die wenigen noch bewohnten Apartements streifte. Mutter, die Geschenkemacherin, war während der ersten Jahre des Observatoriums geradezu besessen von Geschenken. Jeder neue Bewohner erhielt ein Geschenk von Mutter, und jene Bewohner, die auf diese Geschenke reagierten und Mutter gegenüber eine gewisse Zuneigung zeigten, erhielten bisweilen zweimal in der Woche Besuche und Geschenke. Mit jedem Geschenk, erklärte Mutter, erlangte sie Zutritt in eine Wohnung. Einem fetten Mädchen, das Ballettunterricht nahm und mit ihrem mageren Vater und ihrer mageren Mutter in Wohnung 1 lebte, schenkte sie ein Buch über Ballerinen. Dem jungen Pärchen in Wohnung 2 schenkte sie eine Yucca-Palme. Dem ungeselligen Briefmarkensammler aus Wohnung 3 schenkte sie einen Beutel Pfeifentabak. Den drei häßlichen Brüdern, die in Wohnung 4 lebten, schenkte sie einen Spiegel. Der einsamen alten Frau aus Wohnung 5 gab sie ein Radio. Keine Geschenke machte sie in Wohnung 6, denn dort lebte sie selbst. Einen Winkelmesser schenkte sie dem alten Mann, dessen Rücken so schlimm -242-
gebeugt war, daß jeder ihn nur Mr. Rechtwinkel nannte. Er lebte in Wohnung 7. Keine Geschenke machte sie in Wohnung 8, da diese bis zur Ankunft des Junggesellen leer blieb. Ihm schenkte sie sich selbst. Dem jungen, frisch verheirateten Paar in Wohnung 9 schenkte sie eine Broschüre über das Verfassen eines Testaments. Mr. Wilson, ein Mann, der alles aus einem gewissen Land liebte und der sein fernes Zuhause verlassen hatte, um in Wohnung 10 zu leben, schenkte sie eine Eintrittskarte für den Zoo. Ein Service mit vier Teetassen schenkte sie der fetten Eva, die in Wohnung 11 lebte. Vier Sherrygläser schenkte sie der alten Elizabeth, die in Wohnung 12 starb. Ein Set mit vier Wassergläsern erhielt Christa aus Wohnung 13. (Genau vier Gläser, damit sie von der Mutter und ihren beiden Töchtern auf ein Gläschen eingeladen werden konnte.) Dem exkommunizierten Vikar, der in Wohnung 14 lebte, schenkte sie eine Agenda. Dem jungen alleinstehenden Mann aus Wohnung 15 gab sie eine Flasche Wodka; er spielte Klavier in einer Bar in der Innenstadt. Ich glaube, Mutter fand ihn attraktiv, bis er anfing, fast jede Woche eine andere Freundin mit nach Hause zu bringen. Miss Claire Higg, die in Wohnung 16 lebte, gab sie ein Buch mit dem Titel Das gute Sex-Handbuch. Und der jungen Frau in Wohnung 17, die bei einem Verkehrsunfall direkt vor dem Observatorium gerade erst ihre kleine Tochter verloren hatte, schenkte sie einen Bilderrahmen. Mutter klopfte an die Tür von Wohnung 18 und schenkte dem pensionierten Armeeoffizier und seiner Frau einen Spielzeugpanzer aus Plastik. Mutter klopfte an die Tür von Wohnung 19, aber der schüchterne Wohnungsinhaber namens Alec Magnitt kam nicht an seine Tür, also ließ sie einen Abakus davor liegen. Den Wohnungen 20 und 21 schenkte sie, in dieser Reihenfolge, ein Deodorant und ein Buch mit dem Titel Wohnungseinrichtung mit Niveau. Der Bewohner von Wohnung 22 war ein Porträtmaler und ihm schenkte sie ein Buch über Porträtmalerei. Lord Pearson aus Wohnung 23 bekam ein Buch -243-
über moderne Architektur und dem Besitzer von Wohnung 24, die am weitesten von der Treppe entfernt lag, schenkte sie eine Reportage darüber, wie viele Menschen in Häusern ohne ausreichende Feuertreppen verbrannten. Nicht alle Geschenke zeugten vom plumpen Humor meiner Mutter und nicht alle Bewohner verstanden diesen Humor. Sie kehrte zu Wohnung 6 zurück und jauchzte, nachdem sie das Innere einer weiteren Wohnung gesehen hatte, Ich lebe, ich lebe! Meistens ignorierten die Bewohner Mutter nach ihrem ersten Besuch, manche aber ließen sie später wieder herein. So schloß Mutter ihre Freundschaften. Sie war glücklich. Sie genoß es, Geschenke zu machen, es füllte ihre Tage aus. Tearsham Park Vater befindet sich in der leerstehenden Wohnung 4. Vater: Hier, wo ich stehe, müßte eigentlich ein rotes Ledersofa sein. Dort drüben müßte einer von zwei roten Ledersesseln stehen. Der andere Sessel müßte genau hier vor dem Regal sein, in dem die Geschichte der Ormes aufbewahrt wird. Dieser Sessel und das weiß ich ganz sicher, ist mit böswilligen Absichten ins Ankleidezimmer meiner Frau geschafft worden. Stell dir vor, dieser Sessel steht wieder hier. Ich setze mich mit Hilfe deiner Gedanken hinein. Ich lese. Ich studiere die Geschichte der Ormes. Jahre sind verstrichen seit dem Tod meines ältesten Sohns. Fast ist es uns gelungen, ihn zu vergessen. Die wenigen Besitztümer, die er in seinem kurzen Leben ansammeln konnte, darunter auch seine Geburts- und Sterbeurkunde, sind in einen Karton gepackt worden. Der Karton befindet sich in einem verschlossenen Schrankkoffer in einer der Dachkammern. Sämtliche Photos, die wir jemals von ihm gemacht haben, wurden vernichtet. Alle bis auf eines. Eines habe ich behalten und vor meiner Frau in einem Band der -244-
Geschichte der Ormes versteckt. Ich benutze es als Lesezeichen. Ein kleiner Junge mit geschwollenem Gesicht und einem mundlosen Teddybär im Arm. Wir haben daran gedacht, unseren zweiten Sohn jetzt Francis zu nennen und nicht Thomas. Francis, Thomas (aber auch wieder nicht Thomas) weiß bislang noch nichts von seinem verstorbenen Bruder. Er ist ein begriffsstutziges Kind, das ohne die Bemühungen einer Frau aus dem Dorf bestimmt niemals zu sprechen gelernt hätte. Erst vor kurzem hat sein Privatlehrer Peter Bugg das Haus verlassen und lehnt es ab zurückzukehren. Seit der Hauslehrer fort ist, verbringt Francis den größten Teil seiner Tage auf der Bank neben dem Kriegerdenkmal im Herzen von Tearsham Village. Francis sitzt auf dieser Bank und starrt auf den Schulhof, wo Kinder seines Alters spielen. Um diese Zurschaustellung von Einsamkeit in der Öffentlichkeit zu beenden, habe ich ihm vor zwei Wochen zwei Mäuse gekauft. Haustiere, die ihm Freunde sein sollen. Mein Sohn taufte sie auf die Namen Peter und Emma. Ich photographierte ihn mit den Mäusen. Er wirkte sehr glücklich. Einige Tage ging dann alles gut, doch dann kehrte mein Sohn zu seiner Angewohnheit zurück, die Kinder auf dem Schulhof zu beobachten. Ich fragte ihn, ob er mit seinen Mäusen nicht mehr glücklich sei. Er sagte, doch, schon, das wäre er. Äußerst glücklich, versicherte er und kehrte zu der Bank neben dem Kriegerdenkmal zurück. In seiner Abwesenheit ging ich ins Kinderzimmer. Zunächst konnte ich die Mäuse nirgends finden. Die Tür ihres Käfigs stand offen, und der Käfig war leer. Ich nahm an, daß er die kleinen Geschöpfe versehentlich hatte entkommen lassen, doch dann fand ich sie versteckt unter Papieren im Kinderzimmerschreibtisch. Sie waren auf zwei ordentlich ausgesägte Holzklötze genagelt worden. Unter jedem der bedauernswerten Geschöpfe war mit Tinte in sauberer Handschrift auf ein Stück weißen Karton der Name des Verstorbenen geschrieben worden. Peter. Emma. -245-
Das Observatorium Mutter: Heute war mein Sohn den ganzen Nachmittag und einen Teil des Abends verschwunden. Der Pförtner berichtete mir, daß er Stunden zuvor das Haus verlassen habe. Ich stehe direkt neben dem Eßtisch in unserer Wohnung, es ist Wohnung 6. Mein Sohn ist zurückgekehrt, er sitzt am Eßtisch. Er sagt uns, mir und dem Mann, der einst sein Vater war und jetzt mitleiderregend auf seinem Sessel in der Ecke vor sich hinvegetiert, er habe wunderbare Neuigkeiten. Mein Sohn erzählt uns, daß er Arbeit gefunden habe. Ich freue mich für ihn; ich hätte niemals gedacht, daß mein Kind arbeitsfähig wäre. Er strahlt mit einem ungewöhnlich großen Lächeln. Ich frage ihn, um was für eine Arbeit es sich denn handele. Er sagt, daß er in einem Museum in der Innenstadt arbeiten werde, einem Wachsfigurenmuseum voller berühmter Persönlichkeiten. Seine Aufgabe wird sein, stillzustehen und vorzugeben, aus Wachs zu sein. Mit Sicherheit ist mein Sohn eingestellt worden, damit man sich über ihn lustig machen kann: Irgendein grauenhafter kleiner Arbeitgeber meint wohl, Francis könne interessant sein, werde mit seinen weißen Handschuhen für Gesprächsstoff sorgen. Bestimmt wird man meinen Sohn als Kuriosität ausstellen, als Mißgeburt. Er sieht, daß ich enttäuscht bin. Er sieht zu dem Mann hinüber, der einst mein Ehemann war. Francis sagt, sein Vater lächle. Ich erwidere, dies sei völlig unerheblich, der Mann lächle häufiger, was überhaupt nichts zu bedeuten habe. Ich sage zu Francis, daß ich ihm nicht erlauben werde, diese erniedrigende Anstellung anzutreten. Zu meiner Überraschung sagt er, Ja, Mutter, wenn du es so wünschst. Für den Rest des Tages sprechen wir nicht mehr darüber. Am nächsten Morgen verläßt er zeitig das Haus und beginnt seine Arbeit in diesem Wachsfigurenmuseum. Als ich ihn am Abend sehe, schimpfe ich mit ihm. Doch er sagt, Versuch doch, mich daran zu hindern. -246-
Was ich nicht tue. Ich halte seine Arbeit vor den anderen Bewohnern geheim. Ich schäme mich dafür, und auch für meinen Sohn. Jetzt verbringe ich die Tage völlig allein in Wohnung 6. Ich muß unbedingt neue Freunde finden. Ich beschließe, viele Geschenke zu kaufen. Tearsham Park Vater in Wohnung 4: Ein Band der Familiengeschichte ist gestohlen worden. Der Band, den ich gerade las. Der Band, in dem die Photographie lag. Er wurde nachts gestohlen. Ich frage die Hausangestellten. Sie schütteln den Kopf. Ich frage Francis. Francis sagt, er wisse von nichts. Ich fange an, das ganze Haus abzusuchen. Das Observatorium Meine Mutter in der Eingangshalle: Ich begrüße die Bewohner des Observatoriums. Sie kommen mit Gepäck, mit Lastwagen voller Gepäck. Sie richten sich ihr neues Zuhause so nahe an meinem ein. Ich bin sehr glücklich. Ich schüttle jedem einzelnen die Hand. Ich sage: Herzlich willkommen. Willkommen im Observatorium. Francis steht hinter mir. Er sieht sehr ernst aus, er verbringt mehr Zeit damit, den Besitz der neuen Bewohner zu betrachten als die neuen Bewohner selbst. Er schüttelt keinem die Hand. Tearsbam Park Vater in Wohnung 24: Dies sind die Mansardenzimmer, aus irgendeinem Grund sind sie aufgeräumt worden. Sie waren schon immer staubig, aber früher waren sie auch voller -247-
Gegenstände. Ich bin hergekommen, um (erfolglos) nach dem verschwundenen Buch mit dem Photo zu suchen. Statt dessen habe ich entdeckt, daß noch etwas anderes fehlt. Ich sehe folgendes: eine leere Ecke. Dort stand einmal eine Holzkiste, in der sich verschiedene Dinge befanden, für die es in Tearsham Park keine Verwendung mehr gab. Unter diesen Dingen war auch ein Teddybär ohne Mund. Das Observatorium Im größten Zimmer von Wohnung 6 spricht meine Mutter: Als mein Gemahl heute im Park saß, bekam er einen Schlaganfall. Der Arzt sagt, womöglich erhole er sich wieder, er könne hierbleiben, oder man weise ihn in ein Krankenhaus ein. Es läge an uns. Mein Mann spricht nicht, er schaut verloren vor sich hin. Sein Gesicht ist völlig ausdruckslos. Oh, warum ist er nicht gestorben? Ich sage dem Arzt, Ja, nehmt ihn mit, steckt ihn in ein Krankenhaus, schafft ihn mir aus den Augen. Franc is sagt, Nein, auf gar keinen Fall. Francis sagt, Ich werde mich um Vater kümmern. Ich sage, Tu, was du willst, aber erwarte von mir keine Hilfe. Für mich ist mein Mann gestorben. Ich sehe mich als Witwe. Ich trage Schwarz. Manchmal ertappe ich mich beim Weinen ich empfinde keinerlei Trauer, warum sollte ich also weinen? Ich trockne meine Augen und mache mir Vorwürfe. Tearsham Park Vater im Schlafzimmer meiner Mutter in Wohnung 6: Der Priester hat uns besucht. Etwas Furchtbares ist geschehen, etwas Unbeschreibliches, etwas Unaussprechliches ist gestohlen worden. Nicht die Spielsachen, nicht der letzte Band der -248-
Familiengeschichte, nicht das Photo oder der Teddybär, sondern etwas anderes. Francis streitet alles ab, aber ich weiß, daß er schuldig ist. Wir haben das Haus abgesucht, wir haben das Gelände abgesucht. Wir haben nicht gefunden, wonach wir suchten. Ich habe das Kind mit der Reitpeitsche geschlagen. Er fragt mich, Vater, liebst du mich nicht? Später, als ich mich wieder ein wenig beruhigt habe, antworte ich ihm, Ich werde dich immer lieben, aber ich fürchte, ich werde dich nie wieder mögen. Was habe ich nur getan, um ein solches Monster von Kind zu erschaffen? Wie konnte er nur so etwas tun? Was hat ihn dazu gebracht, so etwas zu stehlen? Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Aus Angst, ihn erneut zu verprügeln, wage ich es nicht, das Kind anzusehen. Er widert mich an. Als wir meiner Frau von Francis' Verbrechen erzählten, erbrach sie sich. Wir führten sie nach oben ins Bett. Sie verläßt ihr Zimmer nicht mehr. Sie hat gänzlich aufgehört zu sprechen. Sie liegt in ihrem Bett und rührt sich nicht. Eine kurze Unterhaltung zwischen Anna Tap und mir Meine Eltern nahmen Anna Tap und mich normalerweise bereitwillig auf ihre Abenteuer mit, wir stellten niemals ihre Geschichten in Frage und sprachen anschließend nur selten darüber. In Wahrheit ist dies hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß ich Anna bremste, sobald sie zu reden begann. Aber dieses eine Mal war Anna so schockiert über das Theater meines Vaters, so schockiert, ihn in Tränen aufgelöst zu sehen, dass sie mich beharrlich weiter fragte, sogar noch, nachdem ich sie eindringlich gebeten hatte, den Mund zu halten. Was wurde gestohlen, Francis? Ich weiß es nicht. Was haben Sie gestohlen? -249-
Kann man etwas stehlen, das niemand haben will? Warum waren Ihre Mutter und Ihr Vater so bestürzt? Was ist passiert? Meine Eltern sind sehr nervöse Menschen. Francis, was haben Sie getan? Anscheinend habe ich es vergessen. Francis. Ich denke, ich sollte jetzt wohl besser gehen, Mutter ruft. Das Observatorium Mutter wandert auf den Treppenabsätzen umher, betritt Wohnungen und verläßt sie dann wieder: Morgen werden die Anstreicher mit ihrer Arbeit fertig sein. Sieh nur die Fußleisten, sieh nur die Fensterbänke. Sieh nur die neuen Decken. Komm mit in Wohnung 2, früher war das unser Salon, wie groß alles war. Schau dort oben: die Decke ist so glatt und weiß. Dort oben waren früher scheußliche Rosen und Blätter in Gips modelliert, das alles ist jetzt weg. Ist es nicht viel besser so? Sauber und weiß, bereit und neu. Alles wartet auf Leben. Tearsham Park Vater in Mutters Schlafzimmer in Wohnung 6: Das Hündchen ist heute angekommen. Das Hündchen war meine Idee. Es ist auf meine Initiative zur Genesung meiner Frau angeschafft worden. Der Arzt hielt es ebenfalls für eine gute Idee. Ich sehe deutlich vor mir, wie meine Frau schon sehr bald mit ihm spazierengeht, es füttert und knuddelt. Ich sehe ein neues Leben für meine Frau, inspiriert durch das vergnügte Wackeln eines Hundeschwanzes. -250-
Als Idee war es eine meiner besten. Ich hoffte, daß es funktionieren würde. Ich hoffte, daß meine Frau schon bald ihr Bett aufgeben und ins Leben zurückkehren würde. Und so habe ich den Hund Hope genannt. Ein Halsband wurde gekauft, das Halsband erhielt die Gravur Hope. Hope trug Hope um seinen kleinen Hals und lief ins Schlafgemach meiner Frau und leckte meiner Frau die Hand. Aber meine Frau rührte sich nicht, schaute nicht zu dem Geschöpf hinab, ignorierte sein Kläffen. Ich habe Hope zu ihr ins Zimmer gesperrt. Das Observatorium Mutter, die Treppen des Observatoriums hoch und runter: Die Bauarbeiter versprechen mir, daß die Arbeiten in zwei Tagen abgeschlossen sind. Alle Wohnungen haben Türen und Elektrizität und Gas. Es ist so aufregend! Morgen kommen die Schlosser. Sie werden an jeder Wohnungstür Schlösser anbringen, auch an unserer. Es passiert wirklich! Menschen werden hierherkommen. Wirklich. Wirklich. Tearsham Park Aufgrund von Vernachlässigung und Langeweile ist der Hund gefährlich geworden. Er ist wild geworden, vertraut den Menschen nicht mehr. Verlassen, eingesperrt, nicht allein, aber einsam, ist er sehr ängstlich geworden. Überall in seinem Schlafzimmer hat er seinen Darm entleert, er hat an der Tür gescharrt, die Bettlaken meiner Frau angefressen. Dann hat er aufgehört zu bellen und verweigerte sogar die Nahrungsaufnahme. Beim Anblick eines aufmerksamen Menschen schreckt er entweder sofort vor Angst zurück oder nähert sich und beißt. Heute wurde das Geschöpf dabei erwischt, wie es an den Händen meiner Frau kaute. Ich habe den Hund vor -251-
die Tür gesetzt, er wird nie mehr das Schlafzimmer meiner Frau betreten. Das Observatorium Mutter auf den Treppenabsätzen: Die Elektriker sind einfach überall und verlegen Stromleitungen. Die Installateure bauen Heizkörper ein und schließen die Wasserhähne an. Sieh nur, hier ist der Fahrstuhlschacht! Und da ist der Fahrstuhl! Ich drücke einfach auf diesen Knopf hier. Hör nur: Er lebt! Die Geschichte des Hundes namens Hope Vater, wieder in seiner Bibliothek in Wohnung 4: Lange Zeit war der Hund vergessen. Aber eines Tages kehrte Hope zu uns zurück, abgemagert mit dem wilden, verfilzten Fell eines Streuners. Er biß nicht mehr, er lief nicht mehr fort, er schnüffelte und trottete dann teilnahmslos weg. Er schien etwas zu suchen, konnte sich aber nicht mehr erinnern, was es war. Alles, worauf er stieß, wurde zurückgewiesen. Er nahm nichts von dem Futter, das wir ihm anboten. Er versuchte, sich an etwas zu erinnern, und diese Anstrengung brachte ihn um. Zuerst dachte ich, daß er meine Frau suchte, aber später, nach seinem Tod, glaubte ich, daß es ein abstraktes Glück war, das sich ihm entzogen hatte. Er war auf der Jagd nach einem Leben, das er eigentlich hätte haben sollen, das Leben eines Hundes, der von einer Familie geliebt wurde, mit dem man spazierenging, der gefüttert und beschützt wurde und mit dem man Spaß hatte. Hope war nun ein häßlicher Hund, nicht so sehr, was das Aussehen betraf, sondern vielmehr auf andere Art. Es war eine innere Häßlichkeit. Francis wusch und bürstete ihn, schnitt sein dickes, widerspenstiges Fell, aber ihm blieb der -252-
unattraktive und unverkennbare Druck einer verzweifelten und allumfassenden Einsamkeit. Wir liebten den Hund namens Hope nicht und konnten ihn auch nicht lieben, schon allein der Gedanke daran machte uns krank. Nach Monaten der Sehnsucht gab er seine Suche schließlich auf. Er versuchte zu sterben. Lag an abgelegenen Stellen des Parks, schlief, genau wie meine Frau und versuchte, nie mehr aufzuwachen. Aber irgendwie wurde er dann doch wieder von Francis gefunden und zwangsernährt, woraufhin er teilnahmslos sein Dasein fortsetzte. Bis er eines Tages in das letzte Stadium seines entsetzlichen Leidens eintrat. Hope der Hund kratzte sich zu Tode. Hopes Halsband baumelte locker um seinen Hals. Er kaute immerfort darauf herum. Das Halsband aus steifem Leder hatte schartige Ränder, die sich in sein Fell schnitten. Die Schnitte, die schlimmsten hatte er direkt hinter den Ohren, wurden entdeckt und das Halsband abgenommen, damit die Wunden verheilen konnten. Aber nachdem er einmal damit angefangen hatte, konnte Hope mit Kratzen nicht mehr aufhören. Und mit jedem Kratzen der scharfen Krallen seiner Vorderpfoten wurden seine Verletzungen schlimmer, bis das arme Geschöpf schließlich auf beiden Seiten des Kopfes keine Haare mehr hatte, nur noch verletzliches rosa Fleisch. Seine Hinterbeine wiederholten, was die Vorderbeine machten, und fügten ihm quer über die Rippen viele neue Verletzungen zu. Schon bald war das ganze Lebewesen, der Hund namens Hope, einzig und allein mit seiner Selbstzerstörung beschäftigt, zu deren Erfüllung jede Hecke, jeder Backstein, jede Baumrinde zu Hilfe genommen wurde. Allem Anschein nach war dieses Unglück ansteckend, denn irgendwann während Hopes unermüdlicher Selbstverstümmelung begann auch mein Sohn Francis sich zu kratzen. Da er sich nur kratzte, wenn er allein war, bemerkte es zunächst niemand, bis er schließlich ein schmuddeliges weißes Hemd zum Waschen gab, das einen großen, braunen, getrockneten Blutfleck am Kragen hatte. Der Arzt wurde -253-
unterrichtet, und Francis' Hals wurde verbunden. Aber jeden Abend wurde der Schorf untersucht, und wir entdeckten, daß der Verband im Laufe des Tages abgenommen und an der Wunde gekratzt wurde. Francis fing an, sich auc h an anderen Stellen zu kratzen, doch seine Badezeiten wurden von unserem Dienstmädchen überwacht und jede Verschlechterung seiner Haut sofort gemeldet. Francis wurde zum Kinderarzt gebracht, der Hund namens Hope zum Tierarzt. Der Kinderarzt verschrieb viel frische Luft und eine weiße Salbe, die dreimal täglich auf die entzündeten Stellen aufgetragen werden sollte. Der Tierarzt verschrieb Hope viel frische Luft und eine weiße Salbe, die dreimal täglich auf die Wunden aufgetragen werden sollte. Jeden Abend kam Francis im Schlafanzug nach unten, um mir gute Nacht zu sagen. Francis mußte sich ausziehen, damit der Heilungsprozeß kontrolliert werden konnte. Aber es stellte sich keine Besserung ein. Ganz besonders attackierte er jeden Leberfleck, jedes Muttermal, jeden natürlichen Makel seiner Haut. Es war, als versuche er, seine Identität auszulöschen. Der Hund zerkratzte sich weiterhin, und Francis ahmte ihn mit energischer Verehrung nach. Der Tierarzt verschrieb also Antibiotika: Ein Fläschchen mit weißen Pillen, die in ein Stück Käse geschoben und hinterhältig dem ahnungslosen Hope zum Fressen gegeben werden sollten. Der Kinderarzt verschrieb Steroide für Francis. Die Steroide machten Francis schläfrig, und er verbrachte den Großteil des Tages im Bett. Doch wenn man die Bettdecken zurückzog, konnte man feststellen, daß die Laken mit Blut gesprenkelt waren. Hope erhielt einen Halskragen aus Plastik, der sich wie ein Trichter über seinen Schultern erhob. Der Kragen machte ihm zwar große Angst, hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich weiterhin zu kratzen. Der Arzt gab Francis ein Paar weißer Baumwollhandschuhe. Eine Zeitlang, Francis, sagte er, wird alles, was du anfaßt, kontrolliert, alles, was du anfaßt, wird Spuren auf diesen Handschuhen hinterlassen, damit wir wissen, -254-
was du gemacht hast. Er wurde angewiesen, sie den ganzen Tag und die ganze Nacht zu tragen. Sie müßten unbedingt weiß bleiben. Er bekäme Prügel, wenn sich auch nur ein Hauch von Blut auf ihnen befand, egal, welche Ausrede er dafür hatte. Um ihn daran zu hindern, die Handschuhe einfach auszuziehen, an seinen wunden Stellen zu kratzen und sie dann wieder anzuziehen, band man zwei Stücke Kordel um seine Handgelenke und versah sie mit einer Vielzahl komplizierter Knoten, die er unmöglich öffnen konnte. Geme insam gingen der Hund mit seinem grotesken Kragen und Francis mit seinen makellosen Handschuhen mitleiderregend und völlig frustriert im Garten auf und ab, stets auf demselben, von mir festgelegten Weg, der um das Haus herumführte, aber nicht so weit, daß sie zu den zahlreichen Nebengebäuden und Stallungen kamen, wo das unglückliche Duo unbeobachtet herumwandern konnte. Sobald diese Stunden aber durch das Läuten einer Glocke beendet wurden, entließ sich Francis von Hope und zog sich auf die oberen Treppenabsätze des Hauses zurück, wo er sich in aller Ruhe und Abgeschiedenheit an der Rückenlehne eines Stuhles, der Ecke eines Bücherregals oder mit Hilfe einer steifen Haarbürste kratzen konnte. Am Tag seines dreizehnten Geburtstags hörte das Kratzen auf. Genau in dem Augenblick, als Francis sich auf die Zehenspitzen stellte und sich über seine Geburtstagstorte beugte, um die Kerzen auszupusten, erklang die Dienstbotenglocke. Auf dem Flur zur Küche stand ein Landarbeiter mit einem Paket aus Zeitungspapier, in dem der erbärmliche und blutige Hund namens Hope lag. Er war in eines der Hühnergehege gekommen, um sich dort am Drahtzaun zu kratzen, und die Hühner, außer sich durch den Anblick und Geruch von Blut, hatten ihn zu Tode gepickt. Francis, mitsamt einem Leichenzug, der aus Zimmermädchen, dem Koch, der Haushälterin und mir selbst bestand, begrub ihn neben dem Küchengarten. Francis nahm das alte, durchgekaute -255-
Halsband und den neuen Halskragen aus Plastik mit in sein Kinderzimmer. Ohne Hope hörte auch sein Juckreiz auf. Die Kordel wurde durchgeschnitten, und Francis wurde aufgefordert, seine Handschuhe wieder auszuziehen. Das lehnte er jedoch strikt ab. Er sagte, dazu hätten ihm die weißen Handschuhe einfach zuviel über das Leben beigebracht. Er sagte, Hopes Tod sei häßlich und unschön gewesen, er sagte, die Handschuhe hätten ihn gelehrt, Abstand zum Leid zu halten. Außerdem meinte er, durch die Handschuhe schicker auszusehen. Er fand die saubere weiße Baumwolle beruhigend. Er sagte, er würde gern alles im Auge behalten, was er berührte, es werde ihn in Zukunft vorsichtiger machen. Auf diese Weise wurde es meinem Sohn zur Gewohnheit, Handschuhe zu tragen. Den folgenden Artikel fand ich im Kinderzimmer: Das Gesetz der Weißen Handschuhe 1. Weiße Baumwollhandschuhe sind wie deine zweite Haut, also behandle sie entsprechend. Werden sie zerrissen, dann ist es so, als hättest du dich geschnitten. 2. Sobald ein Handschuh oder ein Paar Handschuhe beschmutzt werden, ist es, als wären sie ein Paar Hände, die fürs Leben gezeichnet wurden. Sie können nie wieder sauber sein. 3. Das Waschen von Handschuhen ist nicht erlaubt. 4. Äußerste Sorgfalt muß darauf verwandt werden, die Handschuhe niemals zu beschmutzen. Gleichwohl sind wir darauf eingerichtet zu akzeptieren, daß gewisse Mißgeschicke passieren, aber… (siehe 5) 5. Der Verlust eines Paars Handschuhe ist eine schwerwiegende Missetat. Wenn Handschuhe verlorengehen (Verlust = beschmutzt oder zerkratzt), dann ist der dabei erlebte Schmerz -256-
genauso groß, als würden dem unvorsichtigen Träger die Hände abgehackt werden (was ja tatsächlich auch genau das ist, was er getan hat). 6. Tote Handschuhe sollten zur letzten Ruhe gebettet werden wie ein treuer Freund, der sich im Dienst ausgezeichnet und seinen Frieden verdient hat. Es ist verboten, mit schmutzigen Handschuhen herumzugehen. 7. Tote Handschuhe erfüllen keine Funktion. Die Hände unter ihnen sind niemals in der Lage, etwas aufzuheben, zu berühren oder zu bewegen. Sie sind tot. 8. Tote Handschuhe sollten umgehend gegen neue, lebendige Handschuhe ausgewechselt werden. 9. Beim Wechsel der Handschuhe ist es nicht erlaubt, die eigenen nackten Hände in ihrem häßlichen Zustand anzusehen. Erst wenn sie stolz ihre neue weiße Haut tragen, ist es wieder erlaubt, sie anzusehen. 10. Es ist verboten, einen anderen Menschen seine nackten Hände sehen zu lassen. Das Observatorium Mutter in der Eingangshalle: Hier hingen früher überall alte Ölgemälde von toten Ormes. Und jetzt: eine blau und weiß tapezierte Wand. Der Marmorboden im Schachbrettmuster wurde herausgerissen und verkauft, an seiner Stelle wurden neue Dielen verlegt, über die ein blauer Teppichboden kommen wird. Überall Neues! Tearsham Park Vater in Mutters Schlafzimmer in Wohnung 6: Grundsätzlich erzählte ich meiner Frau die Neuigkeiten des Tages, während sie -257-
von uns zurückgezogen in ihrem Bett lag. Die Augen geschlossen. Still daliegend. Heute jedoch sitze ich an ihrem Bett und erzähle ihr, dass ich Orme-Land hatte verkaufen müssen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Es gibt immer weniger Landarbeiter. Die jungen Leute werden dazu gebracht, in der Stadt zu arbeiten, wo die Löhne höher sind, sie sagen, das Land habe ihnen nichts mehr zu bieten. Sie verabscheuen ihre Eltern und deren Lebensweise, sie wollen mehr erleben als nur Felder und frühes Aufstehen. Das Gut braucht Geld. Ich weiß, warum sich alles so verschlimmert hat. Es stehen viele Reparaturen an und unser Maschinenpark ist schrecklich veraltet. Außerdem gibt es Gerüchte unter den Landarbeitern, daß alles nur meine Schuld sei, daß ich unfähig sei, einen landwirtschaftlichen Betrieb zu führen. Ich weiß nicht, warum es dazu gekommen ist; wir haben uns verschuldet. Ich kann es nicht mehr ertragen, die Porträts anzusehen. Die Leute, die das Land kauften, haben mir versprochen, nicht darauf zu bauen. Allerdings haben sie mir dies nicht schriftlich gegeben. Sie sagten, Nennen wir es eine Vereinbarung auf Treu und Glauben. Ich schäme mich. Ich sitze neben meiner Frau, halte ihre Hand und sage, Alice, mein Schatz, ich habe etwas Land verkaufen müssen. Als ich fertig bin, sehe ich, wie sich die Augen meiner Frau öffnen, als wären meine Worte der Schlüssel zu ihrem Schloss gewesen. Ich gehe jetzt nicht mehr in die Eingangshalle, ich will die Porträts nicht mehr sehen. Ich verlasse das Haus immer durch einen der Nebeneingänge, durch die Küche oder die Vorratskammer. Das Observatorium Mutter im zerstörten Observatorium: Hier oben hat sich mein Mann vor den Bauarbeitern verkrochen. Er beklagt sich über -258-
den ständigen Lärm der Arbeiter. Er brüllt zu ihnen hinunter, sie sollen ihre Radios abstellen, doch sie machen sich lustig über ihn und drehen die Lautstärke hoch. Er flüstert: Ich habe den Duft von Gras gekannt, gewußt, wie es sich anfühlte. Er blickt über die Brüstung und murmelt: Eiche, Ahorn, Esche, Buche. Tearsham Park Vater in Wohnung 1, früher ein Teil des Salons: Meine Frau verbringt ihre Zeit mit der Lektüre von Büchern über fremde Klimazonen. Verkaufe das ganze Land, sagt sie zu mir, verkaufe alles, Francis, dann können wir noch einmal von vorne anfangen. Sie sagt: Ich kann hier nicht leben! Alles erstickt mich! Du. Unser Sohn. Alles sieht so alt aus! Es macht auch mich alt. Sieh mich an, ich bekomme schon Falten! Verkauf alles, bevor es eine häßliche alte Hexe aus mir macht. Schick mich in Urlaub. Laß dich von mir scheiden. Ermorde mich! Meine Frau findet meinen Sohn, wie er nackt mit den Porzellanpuppen meiner Mutter spielt. Sie konfisziert die Puppen. Tage später spricht sie mit ihm, sie befiehlt ihm, seine Handschuhe auszuziehen. Mein Sohn läuft weg und weigert sich viele Monate, mit ihr zu sprechen. Als mein Sohn mich bittet, ihm neue Handschuhe zu kaufen, sehe ich ihn traurig an und nicke. Ich bin ein schwacher Mann. Ich schicke das Dienstmädchen mit ihm in die Stadt, um die Handschuhe zu kaufen. Ich werde alles tun, um mir den Jungen vom Leib zu halten. Heute hat Francis einen Kassenzettel in der Einfahrt gefunden. Es ist eine Warnung seitens der Stadt. Sie sagt: Ich komme. Das Observatorium
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Mutter in der Eingangshalle: Heute ist unser Pförtner angekommen. Er hat sich in seiner Kellerwohnung eingerichtet und trägt seine Uniform voller Stolz. Es sind noch keine Bewohner hier, außer mir, meinem Mann und meinem Sohn, er aber ist schon bereit für seine Arbeit. Er hat einen großen Schlüsselbund. Wie heißen Sie? frage ich ihn. Er antwortet: Pförtner. Nennen Sie mich Pförtner. Tearsham Park Vater schaut aus dem Fenster von Wohnung 3: Heute sind unsere Hausangestellten gegangen. Ich habe ihnen von diesem Fenster aus nachgeschaut. Sie sind ohne einen Blick zurück gegangen. Sie geben mir die Schuld. Ich weiß, daß sie mir die Schuld geben. Sie wollten sich nicht einmal verabschieden. Meine Frau hat alle entlassen. Sie hatte Anwälte und auch Ärzte von Anwälten kommen lassen. Sie sagt, ich sei nicht imstande, mich um irgend etwas zu kümmern. Sie sagt, es müßte ihr erlaubt sein, die Verantwortung zu übernehmen. Die Anwälte haben mit mir gesprochen. Ich fing an zu weinen. Die Anwälte schauten zu, als meine Frau mich in die Halle von Tearsham Park zerrte, wo die Porträts hängen. Ich bin weggerannt. Die Anwälte haben ihre Ärzte kommen lassen. Die Ärzte haben mir derart dumme Fragen gestellt, daß ich mich weigerte, ihnen zu antworten und anfing zu weinen. Die Arzte schleiften mich in die Halle. Ich fing an zu schreien. Die Ärzte gingen. Die Anwälte gingen. Meine Frau hat die Verantwortung über meine finanziellen Belange übernommen. Das Observatorium Mutter, rastlos in der Eingangshalle: Die Bauarbeiter sagen, sie -260-
werden für die Arbeit sechs Monate benötigen. Als ich ihnen von meinem Schlafzimmer erzähle, sagen sie, sie hätten Anweisungen erhalten, dieses Zimmer nicht zu verändern, es solle bleiben, wie es ist. Nach ihren Plänen bleibt das Zimmer ein Schlafzimmer, sagen sie, wir lassen es am besten dabei bewenden. Aber ich will, daß es umgebaut wird! schreie ich. Es muß anders werden. Nein, es wird nichts geändert, sagen sie, es bleibt, wie es ist, genau so. Selbst diese scheußliche purpurne Tapete wird bleiben. Mutter und ihr Tapetentanz An dieser Stelle begann meine Mutter, an der Tapete zu reißen, frische Wunden neben alte Narben zu setzen, dort, wo sie die Tapete aus demselben Grund bereits vor Jahren zerrissen hatte. Wie zuvor hatte sie nur wenig Erfolg. Sie bespuckte die Wände und trat gegen sie, aber am Ende sank sie auf dem Fußboden zusammen. Ich wußte, daß sie dies tun würde, ich hatte es bereits zuvor erlebt, damals hatte es mich noch überrascht. Aber beim zweiten Mal war ich vorbereitet, und als Mutter aufgehört hatte, sich zu bewegen, reicht e ich ihr ein Taschentuch, das ich nur für sie aus meiner Kommode genommen hatte, und machte mich sodann auf die Suche nach Vater. Tearsham Park Vater in Wohnung 4: Ich habe es mir zur Gewohnheit werden lassen, mit einem Feldstecher vor den Augen aus dem Fenster zu schauen. Ich beobachte die Bäume: Eiche, Ahorn, Esche, Buche, Pappel, Tanne, Eibe, Linde. Oben, von einem Fenster im Dachboden, kann ich die Stadt sehen. Sie ist nicht mehr weit. Tearsham, direkt hinter dem Grünland gelegen, ist eher eine Stadt als ein Dorf. -261-
Das Observatorium Mutter stürmte aus dem Observatorium und kehrte mit einer Plastiktüte voller Schachteln mit Teebeuteln und Gläsern mit Kaffee zurück. Den ganzen Nachmittag machte Mutter Becher mit Tee oder Kaffee für ihre imaginären Arbeiter und lief durch die leerstehenden Wohnungen. Die Becher stellte sie vor die Wände aus Gipskartonplatten, die zugemauerten Kamine, im Keller neben den neuen Heizkessel und neben den Fahrstuhlschacht. Sie nahm sämtliche Becher aus unserer Wohnung und zusätzlich alle aus Claire Higgs Wohnung. Sie ließ den ganzen Tag über das Wasser kochen. Abends sammelten wir die Becher ein und kippten den kalten, nicht getrunkenen Tee und Kaffee in den Ausguß. Mutter, kurz bevor sie schlafen ging: Sie haben eine Tür neben meinem alten Ankleidezimmer eingebaut und eine 6 darauf geschrieben. Aber mein Schlafzimmer haben sie immer noch nicht umgebaut, obwohl ich nicht aufhöre, sie daran zu erinnern. Tearsham Park Vater, aus einem Fenster in Wohnung 4 blickend: Eiche, Ahorn, Esche, Buche… alle anderen sind fort. Das Observatorium Mutter in der Eingangshalle: Ich tanze zur Musik aus den Radios der Bauarbeiter, manchmal tanzen sie mit mir. Sie rauchen selbstgedrehte Zigaretten. Sie haben Gipskarton und Spanplatten im Keller gelagert. Sie sagen, sie werden damit die Zimmer von Tearsham Park neu aufteilen. Sie sagen, -262-
Idealerweise sollten die Zwischenwände mit Backstein gemauert werden, aber sie hätten Anweisung, Platten zu verarbeiten. Sie sagen, diese Platten halten nicht so lange, sie können ziemlich leicht herausgeschlagen werden, aber dafür sind sie auch erheblich billiger. Sie haben meine alte runde Emailwanne herausgerissen und den Raum halbiert. Die eine Hälfte wird ein erheblich kleineres Bad, die andere Hälfte ein kleines Schlafzimmer. Aus meinem Ankleidezimmer machen sie eine Küche und ein Wohnzimmer. Alles ist neu. Jetzt müssen sie nur noch mein Schlafzimmer umbauen. Tearsham Park Vater durch ein Fenster von Wohnung 4: Eiche. Das Observatorium Mutter in der Eingangshalle: Mein Mann sagt, er kann das Haus schreien hören. Ich sage ihm, das sind Arbeiter, die sägen und bohren, aber er will mir nicht glauben. Sie haben angefangen, die Seitengebäude und Stallungen abzureißen. Wie mühelos sie zusammenbrechen, es ist beina he so, als hätten sie sich nie nach etwas anderem gesehnt. Tearsham Park Vater im Observatorium: Hier oben bin ich glücklich. Man hat mir erlaubt, viel Geld auszugeben, und ich bin glücklich. Meine Frau sagt, wenn wir weiterhin Geld ausgeben, wird uns am Ende etwas passieren. Ich versuche, nicht daran zu denken. Nicht hier oben, nicht hier im Observatorium. Nicht solange ich bei -263-
meinem Teleskop bin. Nachts beobachte ich die Sterne und Planeten, tagsüber schlafe ich oder studiere meine astronomischen Karten. Auf diese Weise bleibe ich geistig gesund. Auf diese Weise blicke ich nur nach oben. Ich wage es nicht, nach unten zu sehen. Unter mir bauen sie auf altem OrmeLand. Unter mir asphaltieren sie den Rasen. Das Observatorium Mutter in der Eingangshalle: Hier haben wir die architektonischen Aufseher. Stolz und unerschrocken! Ich habe dafür gesorgt, daß wir im Haus bleiben, im neuen Haus, wie wunderbar das klingt. Wir werden in dem Teil wohnen, der am wenigsten nach Orme riecht, womit ich natürlich den Teil meine, in dem ich gewohnt habe, mein Apartment. Für KleinFrancis wird ein kleineres Kinderzimmer gebaut. Mein Mann fragt mich, wo er schlafen soll. Als ich ihm sage, daß er natürlich bei mir schlafen wird, starrt er mich entsetzt an und beginnt sogar zu weinen. Tearsham Park Vater in seinem Observatorium: Als ich heute hier heraufgekommen bin, sah ich, dass sie mein Teleskop weggenommen haben. Vater, als er die Treppe hinuntergeht: Die Zimmer von Tearsham Park sind leer. Es gibt nur noch zwei Betten im ganzen Haus. Alles andere ist fort. Sie haben mein Haus ausgeweidet. Der gesamte Besitz meiner Familie befindet sich auf dem letzten noch verbliebenen Streifen Grasland. Vater, auf einer Bank in Tearsham Park Gardens: Um mich herum befinden sich die Besitztümer meiner Familie. Ich schaue mich um. Da ist mein Teleskop! Da sind auch Ölgemälde: Die -264-
Porträts meiner Ahnen! Sie weinen! Da ist Porzellan und Keramik. Da sind Mahagonikommoden und Rosenholztische. Da liegen meterweise Bücher: die komplette Chronik der Familie Orme (bis auf einen Band). Da sind Spiegel und Gobelins. Da liegen die Puppen meiner Mutter und die Schrotflinten meines Vaters. Die Marketerie-Tische und die Anrichten, die Pfannen und Kochtöpfe, die Gartenmöbel, die Sonnenuhr. Sogar meine Kleid er sind hier. Und da sind meine Schlafanzüge! An allem hängt ein kleines Schildchen. Auf jedem Schildchen steht der Posten und dann eine Zahl. Dort drüben steht ein Mann hinter einem Schreibtisch. Er hat einen Holzhammer. Er ruft Nummern aus. Leute nicken ihm zu. Überall sind Leute. Leute und Gegenstände. Die Leute kaufen die Gegenstände. Auf einem Tisch sehe ich meinen Feldstecher neben der Nummer 386 stehen, ich nehme ihn in die Hand. Als niemand hinschaut, lasse ich ihn unter meinem Mantel verschwinden. Ich kann doch nicht verhaftet werden, wenn ich meinen eigenen Feldstecher stehle. Ich sitze auf einem der roten Ledersessel, die aus der Bibliothek geholt worden sind. Ich reiße das Schildchen ab. Ich bedecke die Sessellehnen mit meinem Mantel und meiner Jacke, damit ihn niemand sieht, damit ihn niemand kauft. Es kann nicht wahr sein, denke ich, bestimmt ist es nicht wahr. Der Mann mit dem Hammer ruft weiter und verkauft Geschichte. Manchmal höre ich zu, manchmal summe ich auch vor mich hin, damit ich nichts höre. Position 1945 Zwei ganz besonders prächtige, 56 cm hohe Bronze-Vasen. Position 1956 Ein Familienporträt in Öl von einem Kavalier, tadellos gerahmt. Position 2432 Ein Mahagonischreibtisch mit Lederauflage, neun Schubladen und geneigter Schreibfläche. Position 2978 Ein schöner Satz Schachfiguren aus Elfenbein in einer geschnitzten Ebenholzschatulle sowie zwei Schachbretter. Position 3671 Ein -265-
blauweißes Frühstücksservice, 104 Teile. Position 4648 Ein patentiertes Dampfbad mit Gasbrenner. Position 6043 Zwei Paraffinlampen, ein Fußwärmer aus Ton, zwei Scheren und Bürsten. Position 6743 Eine sehr kostbare astronomische Uhr von Pratt. Position 7021 Ein hervorragendes Teleskop von H. Muncie, 1,82 in hoch mit 13 cm Durchmesser. Position 7347 1. Lalandes' Katalog der Sterne und totalen Sonnenfinsternisse. 2. Philps' Praktische Astronomie. Position 7986 Eine schöne, in Maroquinleder gebundene Ausgabe von Die Welt der Kometen von Guillemin. Schließlich kommen sie zum letzten Gegenstand. Position 8029 Acht Kakteen und eine Kamelie. Die Leute beginnen zu verschwinden. Oh, wie lange sie brauchen, um zu gehen, am Ende nur angetrieben von der untergehenden Sonne. Mit einem Mal werde ich mir meiner über mich gebeugten Frau bewußt, die sagt: Wir hatten kein Geld mehr, Francis, wir mußten alles verkaufen, die Banken wollten es so. Wir haben gerade noch genug Geld, um uns irgendwo ein paar Zimmer zu mieten. Wir werden nicht weit weg gehen. Ich habe alles geklärt. Wir werden einen neuen Anfang machen, Francis, wir fangen noch einmal von vorne an. Aber ich will nicht noch mal von vorne anfangen. Alles ist verkauft worden, bis auf den roten Ledersessel, auf dem ich sitze und den Feldstecher, den ich unter meinem Mantel versteckt habe. Jemand hat meinen Schlafanzug gekauft. Was werde ich heute nacht anziehen? Man lässt mich in meinem Sessel allein auf dem zurück, was vom Grünland noch übrig ist. Die Leute haben überall auf dem Gras ihren Müll liegenlassen. Mein Sohn kommt zu mir und sagt: Mutter tanzt nackt ums Haus. Das Observatorium Mutter, vor dem Observatorium stehend: Ich halte die Hand -266-
meines Mannes. Es ist ein sehr erhabener Augenblick. Vor uns, auf zwei Metallpfosten und ein gutes Stück über dem Boden, befindet sich ein großes Marmorschild, das im Moment noch von einem Laken verhüllt ist. Ich sehe meinen Mann an. Mein Mann versteht nicht. Triumphierend ziehe ich das Laken fort, und ich sehe… Aus Tearsham Park wird Das Observatorium Vater, die Eingangshalle verlassend: Meine Frau ist sehr aufgeregt, sie schleppt mich aus unserem leeren Haus nach draußen. Vor uns, auf zwei Metallpfosten und ein gutes Stück über dem Boden, befindet sich eine Art Schild, das unerklärlicherweise direkt vor dem Haupteingang aufgestellt worden ist. Meine Frau sieht mich an. Ich verstehe nicht. Meine Frau zieht das Tuch herunter, und ich sehe… DAS OBSERVATORIUM Großzügig ausgestattete, geräumige Wohnungen Meine Mutter und mein Vater Vor der verschmutzten Fassade des Observatoriums stehend, starren meine alten Eltern zur Abwechslung einmal gemeinsam auf den Namen unseres Hauses, der stümperhaft in ein schmutziges und angeschlagenes Schild aus falschem Marmor gemeißelt ist. Nachdem sie das Schild angesehen hatten, sahen sie einander an. Schließlich sprachen sie, erhoben ihre Stimmen über den ständ ig kreisenden Verkehr: Du! Du? Francis? Alice? Bist du es wirklich, Francis? -267-
Alice? Alice! Ich dachte, du wärest tot. Ich habe dich aus den Augen verloren. Meine Frau! Mein Mann! Wo bist du gewesen? Im Observatorium, Wohnung 6. Erste Etage. Ich wußte nicht, wo ich dich suchen sollte. Und du, wo bist du gewesen? Natürlich in Tearsham Park. Nein, Francis, dieses Gebäude gibt es nicht mehr. Wo ist es hin, Alice? Es ist tot, Francis. Es folgte ein langes Schweigen. Ist es wirklich tot? Mausetot, Francis. Ich bin hier geboren, weißt du. Wir mußten weiterziehen. Ein weiteres langes Schweigen. Vater versuchte zu verstehen, versuchte, die einzelnen Informationen miteinander in Verbindung zu bringen. Jemand hat das Teleskop aus dem Observatorium geholt. Keine Angst, niemand hat die Sterne angerührt. Da bin ich aber froh. Es folgte ein weiteres langes Schweigen, und obwohl der letzte Satz meinen Vater ein wenig aufgemuntert hatte, sah er immer noch beunruhigt aus. Er murmelte vor sich hin. Schließlich sprach er wieder. Alice? Ja, Francis. Alice? Alice! Alice! Pssst, Francis, was ist denn los? Alice. Alice, wenn ich nicht in Tearsham Park gewesen bin, wo bin ich dann gewesen? -268-
Ich meine mich jetzt daran zu erinnern, daß du in dem Zimmer gewesen bist, das neben meinem liegt. Du warst so still, ich dachte, du wärest tot. Und noch ein Schweigen. Mein Vater betrachtete sehr lange die Silhouette des Observatoriums. Verwirrt las er die Graffiti: Und sogar Du kannst Liebe finden oder Genieße den Geschmack, doch als er die Säulen des Eingangsportikus anstarrte, veränderte sich sein Gesicht und als er nun sprach, schien er auf ein Wissen anzuspielen, das sich ihm bisher entzogen hatte: Ich bin sehr krank gewesen, oder? Jetzt geht es dir wieder gut, Francis. Mir ist ein bißchen kalt. Dann laß uns hineingehen, Francis. Ist es kalt, Alice? Nein, Francis, es ist Sommer. Im Sommer ist es heiß. Oh, gut, es ist nur, daß ich die Temperaturen nicht mehr spüren kann. Langsam, vorsichtig, behutsam führte meine Mutter meinen Vater über die Treppe des Observatoriums nach oben zu Wohnung 6, blieb auf jeder zweiten oder dritten Stufe stehen. Sie führte ihn in das größte Zimmer und setzte ihn in einen geräumigen roten Ledersessel. Schlaf jetzt ein bisschen, Francis. Dann wirst du dich gleich besser fühlen. Nur ein kleines Nickerchen, Alice. Es war eine recht anstrengende Reise. Vater schloss die Augen.
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V DAS FEST DER HEILIGEN LUCIA
Abbruchexperten An einem Tag im Herbst kehrten die Abbruchexperten zurück. Meine Mutter sah sie durch den Zaun des Parks, sie machten sich in ihren Akten Notizen. Als Mutter von ihrem Spaziergang zurückkam (nachdem sie zu Abend gegessen und ihre Freundin Claire Higg besucht hatte, zusammen mit Claire Higg ein wenig ferngesehen hatte, in ihre eigene Wohnung zurückgekehrt war, ihre Nachtkleidung angezogen hatte), sagte sie mit einem Gähnen: Ich habe gesehen, daß die Abbruchexperten wieder da sind. Anna Tap, die bei uns in Wohnung 6 war, erkundigte sich, wer sie waren. Wir antworteten, daß wir es eigentlich nicht genau wüßten, daß sie nie wirklich etwas anderes machten, als sich alle halbe Jahre Notizen in ihre Unterlagen zu schreiben. Wir waren zu dem Schluß gelangt, daß sie recht friedliche Menschen waren, diese Abbruchexperten. Aber Anna Tap sagte: Ist Ihnen denn nie in den Sinn gekommen, diese Leute zu fragen, was sie hier zu suchen haben? Nein. War es nicht. Gedenken an Vater (1) Wir beerdigten Vater in der Orme-Kapelle von Tearsham Church. Der Priester kam und schloß das Tor der Kapelle auf. Einige Tage zuvor hatte ic h Mutter früher als üblich auf den -270-
Beinen gesehen. Gut gekleidet verließ sie das Observatorium mit dem Familiensilber in der Hand: ein Kerzenständer, das Besteck und ein Tablett. Es stammte noch aus Tearsham Park, ich erinnerte mich aus meiner Kindheit daran. Wie kam es, daß es bei der Versteigerung nicht verkauft worden war? Wo hatte sie das Silber all die Jahre aufbewahrt? Ich ging in Mutters Schlafzimmer, das Bett war abgezogen, und ihre Matratze war aufgeschlitzt worden - Mutter hatte das wohl bekannteste Versteck von allen benutzt, um das Silber von mir fernzuhalten, ein Ort, von dem sie genau wußte, daß ich nicht in Erwägung ziehen würde, dort zu suchen. Von dem Geld für das verkaufte Silber (was alles war, das noch übrigblieb von Tearsham Park) erstand Mutter einen erheblich schöneren Sarg als jenen, in den Peter Bugg gelegt worden war. Als wir die Orme-Kapelle betraten, hatte ich Angst, der Priester würde womöglich anordnen, den falschen Grabdeckel anzuheben, so daß der Tunnel plötzlich zum Vorschein käme und meine Ausstellung entdeckt würde. Aber der Priester wählte das richtige Grabmal für Vater aus, in dem bereits seine Eltern und Großeltern lagen. Es gab natürlich noch andere steinerne Särge mit anderen toten Ormes darin. Und alle enthielten erstklassige Dinge. Mutter, Anna Tap und ich waren zugegen. Außer dem Priester sagte niemand ein Wort. Mutter trug wieder Schwarz. Claire Higg hatte beschlossen, zu Hause zu bleiben, die Reise zur Kirche sei zu weit für sie, sagte sie, ich habe wirklich viel zu tun. Man verzieh ihr, sie war Vater nie begegnet, für sie war er eine groteske Fiktion. Als sie den Deckel von der großen, mit Blei verkleideten Steinkiste zogen, um meinen toten Vater zu entsorgen, begriff ich, daß Gott uns alle holt. Als sie Vater in die Dunkelheit hinabsenkten, erkannte ich, daß es für uns keine andere Möglichkeit gibt, wir müssen mit Gott sterben. Ob wir gut sind oder böse, unterwegs in den Himmel oder die Hölle oder einfach -271-
irgendwo liegengelassen werden, um zu verfaulen: Unser Körper wird immer unter das Zeichen des Kreuzes geschoben. Ein Sarg ist nichts anderes als ein Müllcontainer. Gott, der Müllmann. Gedenken an Vater (2) Vier Wochen nach Vaters Tod sah ich ihn immer noch von hinten, wie er die Straßen der Stadt entlangging. Doch wenn ich mich näherte und ihn rief, dann war es nicht Vater, der sich umdrehte, sondern irgendein fremder alter Mann. Ich sprach von Vater. Ich sprach von nichts anderem. Mein Vater und die Sterne. Mein Vater zwischen Blutzellen. Mein Vater, so groß wie die Bäume. Im Gegenzug dazu sprach meine Mutter überhaupt nicht von Vater, sie sprach nur über die Wochentage und die Wetteränderungen, sie sah fern mit Claire Higg, sie füllte ihre Tage mit Nicht-an-Vater-denken-Kunstgriffen. Ich holte den roten Ledersessel aus dem größten Zimmer in Wohnung 6. Ich wuchtete ihn die Treppe hinunter. Ich schleppte ihn nach draußen auf die betonierte Fläche. Ich kaufte einen Kanister Benzin, schüttete das Benzin über den Sessel und steckte es an. Der Sessel stöhnte und knisterte und machte sich flach, bis nie wieder jemand auf ihm sitzen konnte. Gedenken an Vater (3) Einige Zeit blieb Vaters Gebiß in einem mit Wasser gefüllten Glas auf dem Küchentisch von Wohnung 6. Manchmal ertappten wir uns dabei, wie wir diese Zähne ansahen, Anna Tap, Mutter und ich. Beim Essen fiel es uns schwer, sie nicht anzusehen, so wie sie uns aus ihrem Wasserglas anlächelten. Sie raubten uns den Appetit. Schließlich, eines Nachts, als alle -272-
schliefen, nahm ich sie weg (Position 994). Gedenken an Vater (4) Ohne Vater war die Welt mit einem Mal unsicher; es war ihr unbegreiflich, was sie ohne Vaters innere Stärke machen sollte. Die Welt wurde zerbrechlich. Nach Vaters Tod bewegten wir uns mit großer Vorsicht, wir fanden es unvorstellbar, daß das Leben weitergehen durfte, als wäre überhaupt nichts geschehen, wir rechneten eigentlich mit Naturphänomenen, einer Sonnenfinsternis, einem Orkan oder Erdbeben. Wir fühlten uns betrogen, als nichts dergleichen geschah. Wir wollten, daß die Welt anläßlich Vaters Tod mit Katastrophen ein Zeichen setzte. Wir waren überzeugt, daß etwas der Trauer unserer blutenden Herzen gleichkam: Die Sonne mußte heute oder morgen vom Himmel fallen. Aber nichts passierte. Schon bald begriffen wir, was Vaters Tod für uns bedeutete: Es bedeutete, daß der Tod möglich war. Nachdem wir uns das klargemacht hatten, fingen wir an zu zittern und gingen gebeugt und mit kurzen Schritten. Erst Vaters Tod hatte uns dies gelehrt, hatte uns solch tiefe Traurigkeit und Wut und Angst gelehrt. Alle Toten zuvor waren lediglich Probefahrten für Vaters Tod gewesen. Bei ihnen schien es irgendwie leicht zu sein. Wer weinte überhaupt um diese toten Menschen? Aber Mutters Gleichgültigkeit gegenüber Vaters Tod ließ mich schon bald erkennen, daß niemand so sehr litt wie ich. Und wenn ich wir dachte, meinte ich eigentlich ich. Gedenken an Vater (5) Ich besuchte das Observatorium bei Nacht. Als ich mit Vater dort war, hatten wir das Glas wieder auf die Kuppel beschwören -273-
können, wir hatten durch den Feldstecher geschaut und uns vorgestellt, wir säßen hinter einem riesigen Teleskop. Ohne ihn jedoch verblasste das Observatorium: Der metallene, kuppelförmige Rahmen war wieder rostig, überall lag Taubenscheiße, am Eingang sogar eine tote Taube. Wenn ich mit Anna Tap oben im Observatorium war, zeigte ich ihr die Sterne und Planeten. Obwohl Anna keine Aufgaben mehr für meine Eltern zu erledigen hatte, kam sie oft in Wohnung 6 und rauchte, oft unternahmen wir kurze Spaziergänge. Ich glaube, wir wurden Freunde. Ich redete mit ihr ausschließlich über Vater. Eines Abends begann sie zu weinen. Die arme Anna hatte keinen Vater, zumindest keinen, den sie kannte. Aber das war nicht der Grund für ihre Tränen. Francis, sagte sie, kannst du mich sehen? Nimmst du mich überhaupt wahr? Ich könne sie sehen, sagte ich, sie säße neben mir, oben im Observatorium, und schaue zu den Sternen auf. Sie sagte, das meine sie nicht. Meine Gedanken, sagte ich, kreisten im Moment ausschließlich um Vater. Das wisse sie, sagte sie, denn seit Wochen hätte ich über nichts anderes mehr geredet als nur über Vater. Ob es nicht besser wäre, wenn ich Platz machte für jemand anderen, wenn ich jemand anderen hineinließe. Vielleicht gibt es ja jemanden, der gern hineinwill, Francis, sagte sie. Denk mal drüber nach, sagte sie und ging. Gedenken an Vater (6) Als ich in dieser Nacht in Wohnung 6 zurückkehrte, hörte ich Geräusche aus dem Schlafzimmer meiner Mutter. Das Knirschen von Zähnen. Den Zähnen meines Vaters. Aufgeregt öffnete ich die Tür, fragte mich dabei, ob sich Vater nicht in Mutters Zimmer aufhielte, vielleicht war er ja doch nicht gestorben. Mutter schlief. Auf ihrem Nachttisch, neben dem Nachtlicht, stand ein Diktiergerät und spielte Geräusche von -274-
Vaters Zähnen. Dies wurde Mutter zur Gewohnheit. Sie ging ins Bett, schaltete das Diktiergerät ein, denn erst, wenn sie das Geräusch von Vaters Zähnen hörte, konnte sie einschlafen. Anna-Tage Dann folgte eine kurze und glückliche Zeit namens Anna-Tage. Während der Anna-Tage, an denen immer die Herbstsonne schien, verbrachte ich meine Zeit mit Anna. Ich sprach nicht mehr von Vater. Anna sagte, ich könne ruhig von ihm sprechen, nur eben nicht die ganze Zeit. Ich hielt es für sicherer, es überhaupt nicht zu tun. Ich hatte den Eindruck, daß Anna sehr glücklich war. Sie lachte über manches, was ich sagte (aber nur, wenn ich nicht zu sehr versuchte, sie zum Lachen zu bringen). Dann und wann schloss sie die Augen und sagte, Ich kann die Sonne auf meinem Gesicht spüren. So war Anna, als sie in diesem Herbst mit mir zusammen war. Warum also sagte dann der Mann mit der Personenwaage immerzu, wenn ich allein in den Park ging: Das Mädchen wird dünner. Ich war Annas Freund. Wir sprachen nicht über Freundschaft, was aber bestimmt auch nicht erforderlich war. Manchmal gingen wir gemeinsam in die Innenstadt. Auf diesen Spaziergängen sagte sie: So vieles von der Stadt wird uns vorenthalten. Wir kennen nur die Teile, in denen wir leben oder Freunde haben oder arbeiten. Wir kennen unsere Routen, unsere kleinen Wege, ganz bestimmte Straßen, aber das ist auch schon alles, was wir kennen. Hier war ich noch nie. Wenn ich dich nicht auf diesen Spaziergängen begleitet hätte, dann hätte ich dies oder das oder jenes nie gesehen. Ich hätte nicht einmal gewußt, daß es überhaupt existiert. Es ist nicht Teil meines Lebens. Ich kenne niemanden, der hier wohnt oder arbeitet. Aber wenigstens habe ich es jetzt gesehen, Francis. -275-
Ich besuchte mit ihr die Kirche und schaute zu, wie sie die Augen und das Gesicht der heiligen Lucia streichelte. Sie sagte, wenn die Schmerzen in den Augen anfangen, wenn ihre Augen beginnen, hart zu werden, würden die Augen der heiligen Lucia bestimmt weich. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, warum also sagte der Mann mit der Personenwaage immer, wenn ich allein in den Park ging: Das Mädchen wird dünner. Die Spaziergänge mit dem Pförtner hatte sie schon lange aufgegeben, meine Gesellschaft war ihr lieber. Der Pförtner, bemerkte ich, hatte angefangen, grimmiger sauberzumachen und aufzuräumen, und wann immer ich in seine Nähe kam, fauchte er mich an. Anna bat mich, ihr etwas über mich zu erzählen, und als ich ablehnte, schaute sie weg. Sie fragte mich, was ich im Keller aufbewahrte. Ich sagte es ihr nicht, aber sie fragte immer wieder, ließ das Thema nicht auf sich beruhen. Eines Tages ärgerte ich mich über ihre ständigen, immergleichen Fragen und sagte: Liebe, Anna, Liebe wird im Keller aufbewahrt, 995 Objekte der Liebe, alle ordentlich verpackt. Laß sie mich sehen, Francis. Nein. Nein, das kann ich nicht. Sie bat mich, die Handschuhe auszuziehen. Nein, niemals, das kann ich nicht. Es dauerte nicht lange, und sie kam nicht mehr zu unseren Spaziergängen. Obgleich sie immer noch bei uns im größten Zimmer von Wohnung 6 saß. Doch wir sprachen nicht miteinander, denn plötzlich hatten wir uns nur noch wenig zu sagen. Ich starrte auf meine Handschuhe oder den Fußboden, sie sah mich die ganze Zeit an. Und jedesmal, wenn ich allein in den Park ging, sagte der Mann mit der Personenwaage: Das Mädchen wird dünner. Ich wusste, was mit ihr geschah, sah aber keine Möglichkeit, es aufzuhalten: Sie wurde traurig wie wir anderen. -276-
Eines Nachmittags, als wir zusammen in Wohnung 6 saßen, fragte Anna mich: Willst du meine Hand halten, Francis? Aber ich hielt nicht ihre Hand, das war klar. Dann sagte sie: Möchtest du mich küssen, Francis? Damit hatte ich nicht gerechnet. Und mein Herz hüpfhüpfte vor Freude. Warum also, warum antwortete ich, nachdem ich eine Frage gehört hatte, die mich innerlich Freudensprünge vollführen ließ, die irgendwo in meinem tiefsten Inneren etwas auslöste, warum, warum antwortete ich, wenn ich diese Frage doch so mochte: Ich denke, ich sollte jetzt besser gehen. Herbst führt zu Winter Die Wintermonate näherten sich. Ich war bekannt dafür, daß ich den Winter liebte. Im Winter trugen die Menschen Handschuhe. Natürlich keine weißen Baumwollhandschuhe. Im Winter trugen die Kinder leuchtendbunte Handschuhe, auf deren Finger Gesichter aufgenäht waren, oder sie trugen Fäustlinge. Im Winter zogen Männer und Frauen Wollhandschuhe an: schwarz, rot, grün, blau oder rosa. Oder Lederhandschuhe mit einem Futter aus weicher Wolle oder Seide. Ja, ich liebte diese winterliche Handschuhmanie; ich fühlte mich der Menschheit ein Stück näher. Anna Taps Liebeskleid Die Tage wurden weniger wie die Anna-Tage und mehr wie die Francis-Tage, bis sie schließlich gänzlich wie Francis-Tage waren und aus verschiedenen Aktivitäten bestanden, auf die bereits verwiesen wurde. Sicher, Anna besuchte uns oft in -277-
Wohnung 6, aber sie war schüchtern geworden in meiner Gesellschaft und sah mich häufig nicht mehr an, wenn sie sprach. Einmal hinterließ sie mir eine Nachricht, die sie unter der Tür zu meinem Zimmer hindurchschob und die zu verstehen ich außerstande war. Sie lautete: Wenn nicht jetzt, wann dann? Sie kam und setzte sich mit einem ihrer blauen Kleider, einer Nadel und schwarzem Garn zu uns. Zuerst dachte ich, sie stopfte irgendwelche Löcher, aber mit der Zeit begriff ich, daß Anna Worte auf ihr Kleid stickte. Das erste Wort, das sie schrieb, war Peter. Das zweite Wort, das sie schrieb, war liebte. Das dritte Wort, das sie schrieb, war Claire. Anna überanstrengte ihre angeschlagenen Augen. Wahrend die Wochen verstrichen, schrieb sie mit schwarzem Garn folgende Sätze auf ihr Kleid: Claire liebte Alec. Alec liebte Claire. Der Pförtner liebte Claire. Mrs. Orme liebte einen Junggesellen. Mr. Orme liebte Mrs. Orme. Dies ist mein Liebeskleid, Francis, erklärte sie mir. Ich schreibe Sätze der Liebe, damit ich sie niemals vergesse. Damit ich, falls ich blind werde, die Worte ertasten kann, wenn ich sie trage. Über Francis und Liebende (1) Es ist allgemein bekannt, dass Liebespaare Händchen halten. Es ist allgemein bekannt, daß ich Handschuhe trage. Es ist allgemein bekannt, daß ich niemals etwas berühre, das schmutzig sein könnte (menschliches Fleisch ist nur ein Beispiel). Also konnte ich mit meiner Geliebten niemals Händchen halten. Deshalb habe ich keine Geliebte.
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In einem Pappkarton Eines Tages wurde von einem Kurier ein großer Pappkarton ins Observatorium geliefe rt. Auf dem Karton stand: Eigentum von Francis Orme. Der Pförtner brachte den Karton hoch in Wohnung 6. Innerhalb weniger Minuten wußte jeder im Observatorium von diesem Karton. Mutter sah, wie der Pförtner ihn hochbrachte, woraufhin sie sofort losstürmte, um es Claire Higg und Anna Tap zu erzählen. Aber ich brachte den Karton in mein Zimmer und schloss hinter mir die Tür, sperrte die anderen aus. Claire, deren Gedanken durch den Fernseher getrübt waren, in den sie starrte, meinte, es könnte sich Geld in dem Karton befinden oder vielleicht sogar ein abgeschlagener Kopf, war aber ansonsten viel zu beschäftigt, um ihre Wohnung zu verlassen und der Sache auf den Grund zu gehen. Mutter und Anna klopften an meine Tür. Laß uns rein, Francis, was ist in dem Karton? Geh weg, Anna. Geh weg, Mutter. Laßt mich in Ruhe. In dem Karton befanden sich zum Schutz des Inhalts jede Menge Styroporflocken. Als meine behandschuhten Hände vorsichtig herumtasteten, stieß ich auf Haare und sogar ein Gesicht und einen Hals und zwei Schultern. Es war eine Büste aus Wachs. Als ich mir das Gesicht zum ersten Mal anschaute, jagte mir seine Genauigkeit einen Schrecken ein. Ich starrte sie an und sie runzelte weder die Stirn noch schaute sie weg. In dem Karton lag eine Postkarte, ein Photo des Wachsmodells Unserer Stifterin, auf deren Rückseite folgendes geschrieben stand: Francis, Beiliegend der Kopf Deiner Wahl. Ich rate davon ab, Wachs zu küssen, Fleisch ist erheblich weicher. William Sie war sehr gut getroffen. Bis auf ein Detail. Die Augen. Die Augen waren ganz gewöhnliche, gesunde, wunderschöne grüne Augen. William hatte Anna perfektioniert. Ich hörte Anna, die echte Anna, außerhalb meines Zimmers, wo -279-
sie in der Küche mit Mutter redete. Anfangs war es schwer zu glauben, daß sie zwei eina nder so ähnliche Köpfe haben konnte und daß einer davon mir ganz allein gehörte. Ich berührte ihn. Ich berührte die Augen, die Haare, ich küßte die Lippen. Ich studierte das Gesicht. Hier war Anna und ich konnte sie berühren, wie ich sie berühren wollte. Ich konnte ihre Haare streicheln. Anna hätte mir niemals erlaubt, sie so zu berühren, und selbst wenn, wäre ich womöglich Gefahr gelaufen, meine Handschuhe zu beschmutzen. Jetzt konnte ich sie berühren und sicher sein, dass meine Handschuhe makellos blieben. Die Büste beklagte sich nicht, ich tat so, als gefielen ihr meine Aufmerksamkeiten. Ich machte mir vor, daß es wirklich Anna war, die ich da berührte, daß meine Baumwollfinger wirklich ihre Haut spürten. Doch was genau bedeutete der Wachskopf? Daß ich mich nie wieder einsam fühlen müßte. Mutter und Anna erzählte ich, bei der Lieferung habe es sich um eine neue Schachtel mit Handschuhen gehandelt. Sie schienen mir zu glauben, auch wenn sie nicht ganz nachvollziehen konnten, warum ich nun so viel mehr Zeit in meinem Zimmer verbrachte. Es fiel mir schwer, den Kopf allein zu lassen und wenn es nur für einen Moment war Zur Rettung der Ausstellung Aber ich konnte einfach nicht aufhören, an die echte Anna zu denken. Die Wachsbüste bewirkte, daß ich nur noch mehr an sie dachte. Wenn ich nicht in meinem Zimmer war, war ich mit der echten Anna Tap zusammen. Ich sah ihre Lippen oder ihre Ohren oder ihre Haare und sehnte mich danach, sie zu berühren, konnte es kaum noch erwarten, wieder in meinem Zimmer bei der Wachsbüste zu sein. Francis, sagte ich zu mir, du mußt dir ganz schnell was einfallen lassen, denn die Ausstellung leidet. Francis, sagte ich zu mir, -280-
mit Hilfe dieser Büste mußt du dir Anna als einen neuen Gegenstand vorstellen. Du kannst dir all die Schmerzen ersparen, die ein direkter menschlicher Kontakt mit sich bringt, du kannst das Objekt deiner Liebe (die Wachsbüste) ohne das lästige Durcheinander der Liebe (Anna Tap) haben, wenn du das Objekt liebst und die Person ignorierst. Beschäftige dich damit, solange du willst, denn schon bald wird sie dich langweilen. Dann wirst du sie nicht mehr in deiner Nähe haben wollen. Und langsam begann es zu funktionieren: Ich konnte mich allmählich davon überzeugen, daß ich sowohl der wächsernen als auch der fleischlichen Anna Tap überdrüssig wurde. Eines Abends Eines Abends kam Anna ein wenig tränenfeuchter und gesellschaftssuchender als üblich zu uns. Sie blieb neben dem Esstisch stehen und wartete darauf, dass Mutter oder ich sie aufforderten, sich doch zu uns zu setzen und ihr einen Kaffee anboten. Was jedoch keiner von uns tat. Mutter war eingeschlafen, und ich ließ Anna einfach dort stehen. Sie trat zunehmend verzweifelt von einem Fuß auf den anderen. Bis sie schließlich sprach: Ich habe das Fläschchen mit der Aufschrift Dihydrokodeintartrat angestarrt. Heute spürte ich einen neuen Schmerz in den Augen, und als ich die Pillen in die Hand nahm, fühlte ich mich sicherer. Das sollte ich nicht tun, ich weiß. Ich sollte Lucia vertrauen. Aber als ich das Fläschchen wieder wegstellte, spürte ich den Schmerz sofort zurückkehren. Lucia stellt mich nur auf die Probe, Lucia will nur, daß ich ihr vertraue, nicht wahr? Ist es nicht langsam an der Zeit, daß du das Observatorium verläßt? Francis? Reicht das nicht langsam? Merkst du denn nicht, daß wir deiner -281-
überdrüssig geworden sind? Ich warte auf das Fest der heiligen Lucia. Warum? Es wird nichts passieren. Es wird, du wirst schon sehen. Das glaube ich nicht. Du wirst erblinden, du wirst schon sehr bald erblinden. Und dann? Ich werde nicht erblinden. Erwarte nicht, daß wir uns dann um dich kümmern. O nein, da spielen wir nicht mit. Vielleicht solltest du besser von hier fortgehen, in ein Heim gehen, wo man sich richtig um dich kümmern kann. Ich werde nicht erblinden. Es ist doch nur zu deinem Besten. Du solltest wirklich gehen. Und zwar so bald wie möglich. Ich könnte dir jetzt ein Taxi rufen. Das könnte ich für dich tun. Man kann ein Blatt aufheben und es vor die Sonne halten. Dann sieht man alles über dieses Blatt, alles, was in seinem Inneren ist, alle Adern, nichts bleibt verborgen. Nachdem ich an diesem Abend mit ihr gesprochen hatte, erging es mir mit Anna genauso. Auf ihrem Gesicht lag ein solch ängstlicher Ausdruck, daß ich meinte, ich könnte daraus alles ablesen, was in ihrem Gehirn und in ihrem Körper vorging: Ich konnte sehen, wie krank sie war, wie leicht man sie aufheben und wegwerfen konnte. Über Francis und Liebende (2) Bald hörte Anna auf zu reden, wenn sie uns besuchen kam. Sie saß einfach nur da mit ihrem Liebeskleid und stickte einen neuen Satz auf das Kleid. An eine Stelle des Kleides, die den Po bedeckt: -282-
Francis liebt niemanden. 12. Dezember Am zwölften Dezember, einem Tag so kurz vor Weihnachten, daß viele Menschen nur noch an das bevorstehende Fest denken konnten, ereignete sich etwas Merkwürdiges. Der Tag begann damit, daß Anna in Wohnung 6 kam und sagte: Morgen, Francis, ist das Fest der heiligen Lucia. Morgen werde ich wieder richtig sehen können, Francis, du wirst staunen. Abends dann entdeckte Anna ihre Wachsbüste. Ich war nicht da. Ich leckte unten im Tunnel über meine Unterlippe. Anna besuchte meine Mutter, aber Mutter war eingeschlafen. Anna schlenderte in Wohnung 6 herum und ging in mein Zimmer. Sie fand die Wachsbüste. Sie kehrte in die Küche zurück und holte ein Messer. Sie malträtierte das Gesicht des Wachskopfs. Sie zerstörte die Augen. Dann ging sie in ihre Wohnung und schloß die Tür ab. Sie weigerte sich, mich zu sehen, sie wollte nicht einmal durch die geschlossene Tür mit mir reden. Also beschloß ich, am nächsten Tag, dem lang ersehnten dreizehnten Dezember, die hölzernen Augen der heiligen Lucia zu stehlen und sie in den Wachskopf einzusetzen. Das Fest der heiligen Lucia Mit einem Blick aus dem Fenster am Morgen des Festtags der heiligen Lucia war schon klar, daß es ein Tag war, an dem nichts Wunderbares passieren würde. Die winterliche Witterung sorgte für eine gedrückte Stimmung. Es war ein Tag, an dem man sich am besten sofort wieder ins Bett legte, einschlief und bis zum vierzehnten Dezember nicht wieder aufwachte. Für jene -283-
aber, die aufstehen und sich vor die Tür wagen mußten, war es einfach nur ein weiterer unangenehmer Wintertag, kalt und traurig. Ich erinnerte mich sofort an meinen Plan, als ich aufwachte und den mutwillig zerstörten Wachskopf sah, mit tiefen Narben in seinem Wachsfleisch und offenen Löchern dort, wo einst die Augen waren. Sobald ich angezogen war, marschierte ich, weder schnell noch langsam, zur Tearsham Church - ich war von der Gerechtigkeit meines Plans überzeugt, und die Gerechtigkeit verlieh mir für meine Reise einen ruhigen, zuversichtlichen Schritt. Wenn mich an diesem besonderen Morgen jemand gesehen hätte, wie ich vom Observatorium zur Tearsham Church ging, hätte man mich bestimmt für einen Beamten gehalten, für jemanden, bei dem jeder einzelne Schritt die Rückendeckung von Gesetzen und Bestimmungen besaß. Einen solchen nüchterngeschäftsmäßigen Gang hatte ich. Wenn man mich gesehen hätte, dann hätte man mit Sicherheit darauf geachtet, mir aus dem Weg zu gehen, da man überzeugt gewesen wäre, daß der Weg, den ich nahm, mir allein gehörte und andere dort eigentlich nichts zu suchen hatten. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, auf meinem Weg zur Kirche jemandem begegnet zu sein. Es ist durchaus denkbar, daß ich an anderen Menschen vorbeigekommen bin oder Leute mir aus dem Weg gegangen sind, sie hinterließen jedoch bei mir keinen bleibenden Eindruck; meine Gedanken waren viel zu sehr mit den hölzernen Augen der heiligen Lucia beschäftigt. Als ich die Kirche betrat, sah ich sofort, daß der Staub erst kürzlich aufgewirbelt worden war. Aber ich sagte mir, daß wahrscheinlich ich selbst es gewesen war, als ich die Kirchentür öffnete. Denn es war niemand in der Kirche zu sehen. Nur einmal, als ich auf das hölzerne Altarbild zutrat, meinte ich, ein leises Zischen zu vernehmen. Die Heiligen selbst standen genau, wie sie schon immer gestanden hatten, ihre würdigen Posen machten mir Mut und -284-
beruhigten mich. Es war eine unkomplizierte Aufgabe, die ich zu erledigen hatte: Ich musste einfach die hölzernen Augen von der Schale der heiligen Lucia nehmen und dann verschwinden. Ich würde den Frieden der Kirche nicht länger stören als unbedingt nötig. Aber ich hatte, daran muß ich erinnern, das Recht hierzusein, ich hatte ein Anrecht auf diese Augen. Meine Augen, die Glasaugen in dem Wachskopf, waren zerstört worden - da war es nur fair, daß die hölzernen Augen mir gehören sollten. Zum Ausgleich. Das konnte die Kirche doch sicher verstehen. Die heilige Lucia stand wie gewohnt neben ihren heiligen Kollegen, Märtyrern sowie der Jungfrau und dem Kind. Ihre rechte Hand hielt, wie nicht anders zu erwarten, eine hölzerne Schale. Die Schale jedoch war, entgegen allen Erwartungen, leer. Man konnte Spuren sehen, wo einmal etwas angeleimt gewesen war, aber zwei Holzaugen waren nicht da. Natürlich hätte mich die Ungerechtigkeit dieser Situation laut aufschreien lassen sollen. Hätte mich vielleicht davon überzeugen müssen, die hölzerne Frau an ihren goldenen Haaren aus der Kirche zu schleifen und sie auseinanderzunehmen, sie an einer Wand zu zerschlagen. Doch kaum hatte ich den Mund geöffnet, um meiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen, da bemerkte ich auf einer der Bänke liegend den Körper einer jungen Frau, gehüllt in ein blaues Kleid und einen schwarzen Mantel. Die ruhig atmende Anna Tap. Mit geballten Fäusten, in denen sich gewiß mein Augenschatz befand, einer in jeder Hand. Ich schob mich ruhig durch die Bank, bis ich neben ihr stand. Ich hockte mich nieder, bis sich mein Kopf auf einer Höhe mit ihren Händen befand. Ihre Hände waren schmutzig, staubverschmiert. Ich streifte die Lederhandschuhe meines Vaters über meine weiße Baumwollhaut und begann, Annas rechte Hand zu öffnen. Die Faust aber blieb unnachgiebig. Ich zerrte fester an ihren Fingern. Sie öffnete die Augen, häßliche, wunde Augen, Kugeln, die vor Schmerz schimmerten, mit -285-
geröteten Lidern vom Reiben. Wie weh tat es, Anna Tap? Hast du geweint? Hast du geschrien? Wahrend ich sie bearbeitete, mit meiner Entschädigungsaktion beschäftigt war, starrte sie mich weiter an. Und ich war mir gar nicht sicher, ob diese schrecklichen Augen überhaupt irgend etwas sahen. Sie sagte leise: Warum werden die hölzernen Augen nicht weich, Francis? Ich setzte meine Arbeit an ihren Fingern fort. Wenn meine Augen hart werden, warum werden dann die hölzernen Augen nicht weich? Es wird nicht lange dauern. Sie sollten weich sein. Gib sie mir, und ich bin sofort weg. Ich kann den Schmerz nicht abstellen. Nimm eine Pille. Ich habe schon eine genommen. Dann wirst du dich bald besser fühlen. Ich habe mich übergeben. Dann nimm noch eine Pille. Ich wußte nicht, daß es so weh tun würde. Mir ist schlecht davon geworden. Nimm noch eine Pille. Sie sind in meiner Tasche. Ich griff in ihre Manteltasche und fand eine Tablette. Dann bat ich sie, die Hand zu öffnen, damit ich ihr die Tablette geben konnte, aber statt dessen richtete sie sich auf und öffnete den Mund. Ich ließ sie fallen, die Pille fiel von meiner Hand in ihren Mund. Meine Hände berührten ihre Lippen nicht. Sie schluckte und zuckte zusammen. Die hölzernen Augen gehören mir, Anna. -286-
Sie funktionieren nicht. Du hast meine Augen kaputtgemacht, also muß ich diese haben. Sie funktionieren nicht, Francis. Sie sind nutzlos. Bitte, gib sie mir. Dann lächelte Anna, es war ein liebloses Lächeln mit dem einzigen Zweck, daß ich mir dumm und unbeholfen vorkam. Was mich aber nur wütend machte und mich fast aus der Kirche hätte stürmen lassen, wäre da nicht die Tatsache gewesen, daß sie immer noch meine hölzernen Augen umklammerte. Warum hast du von mir eine Wachsbüste anfertigen lassen, Francis? Die Augen, bitte. Wußtest du nicht, daß du auch das Original anfassen kannst? Die Augen, bitte. Ich hätte dich gelassen. Die Augen, sofort! Ist es dir peinlich, daß ich es herausgefunden habe? Armer kleiner Junge. Ich denke, ich sollte jetzt besser gehen. Dann hörte Anna auf zu lachen und fing an zu weinen. Sie rieb sich mit den Fausten die Augen, drückte sie beinahe ein. Und nachdem sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, konstatierte sie einfach und ohne einen Hauch von Zweifel: Ich werde blind. Und dann sagte sie es wieder: Ich werde blind. Und seufzte. Und mit einem Mal waren die hölzernen Augen überhaupt nicht mehr wichtig, plötzlich begriff ich, was ich tun mußte, solange ich noch Gelegenheit dazu hatte: Ich mußte Anna hinunter in den Tunnel führen und ihr die Ausstellung zeigen. Sie mußte -287-
alles sehen, mußte alles sehen, bevor sie erblindete, vom ersten bis zum allerletzten Stück: Das Objekt Ich hatte nie beabsichtigt, jemandem die Ausstellung zu zeigen, aber in diesem Augenblick war ich davon überzeugt, daß ich es tun mußte, daß es das Wichtigste war, was ich jemals tun würde. (Vielleicht lag dies daran, daß Anna mir leid tat, weil sie so unter ihrer Augenkrankheit litt. Das will ich nicht ausschließen. Ich bin durchaus fähig, Mitleid zu empfinden, und vielleicht ist mein Mitleid sogar in der Lage, zumindest vorübergehend mein Handeln zu bestimmen. Das kann sein. Zum damaligen Zeitpunkt jedoch meinte ich, daß etwas völlig anderes mich antrieb, meine Ausstellung zu öffnen, wenn auch nur für begrenzte Zeit und für ein sehr begrenztes Publikum.) Sie willigte ein, mich zu begleiten. Zunächst lächelte sie und sagte: Nicht jetzt. Doch dann ging sie in sich und sagte, dass sie natürlich sofort mitkäme, wenn ich es wollte und dass jetzt vielleicht genau der richtige Moment sei. Aber du darfst die Augen nicht aufmachen, du mußt sie geschlossen halten, andernfalls werde ich dir gar nichts zeigen. Du mußt alles in der richtigen Reihenfolge sehen, in der es gesehen werden soll. Wenn du die Augen aufmachst, bevor es soweit ist, müssen wir sofort wieder gehen. Ich zog Annas Mantel über ihren Kopf. Was kannst du sehen, fragte ich. Und sie sagte: Nichts, ich kann überhaupt nichts sehen. Gut, sagte ich, dann laß dich von mir führen. Immer noch die Lederhandschuhe tragend, zog ich sie am Handgelenk vorwärts und gab ihr Anweisungen. Ich schloss das Tor zur Kapelle der Ormes auf. Dann schob ich den Deckel des Grabmals zur Seite, und wir stiegen langsam zur Ausstellung hinunter. Achte darauf, nicht zu schnell zu gehen, sagte ich, dir wird doch nicht wieder schlecht, oder? Sie sagte, sie könne nichts sehen. Das ist schon in Ordnung, sagte ich, du wirst, sobald wir den Anfang erreicht haben. Halte dich immer rechts. Als wir den anderen Eingang im Keller des Observatoriums -288-
erreichten, zündete ich eine Kerze an. Dies ist meine Ausstellung, sagte ich. Ich habe sie noch nie zuvor jemandem gezeigt. Mach jetzt die Augen auf. Bitte, sieh her. Ich gab ihr das Ausstellungsbuch und wies sie an, meine Eintragungen zu jedem Ausstellungsstück zu lesen. Ich wollte, daß sie alles sah, sogar das letzte Stück, selbst das. Sie steckte die hölzernen Augen in ihre Manteltasche. Sie nahm ihre Brille heraus, putzte sie an ihrem Kleid, und begann. Position 1: ein Kassenzettel. Gehörte (für kurze Zeit) entweder: 1 - einem Busschaffner; 2 dem Helfer eines Erfinders; 3 - einer schwangeren Hausfrau; 4 einem Polizisten; 5 - einer Stewardess; 6 - einem Rattenfänger; 7 - einem Straßenkehrer; 8 einem Trompeter; 9 - einer Kindergartenerzieherin; 10 einer Garderobenfrau; 11 - einem Taubenliebhaber; 12 einem Chefbibliothekar; 13 - einem Musikboxhersteller; 14 - einem Jungen, der Muttermord begangen hatte. (Alle oben genannten Möglichkeiten wurden äußerst gewissenhaft in Erwägung gezogen.) Anna las und betrachtete weiter. Irgendwann erreichte sie: Position 49: ein Liebesbrief. Ein schlecht geschriebener Brief eines Dienstmädchens an einen Kammerdiener, ursprünglich unter der Tür des Kammerdieners hindurchgeschoben, aber sichergestellt, bevor der Kammerdiener sowohl von seiner Existenz als auch von der Liebe des Dienstmädchens zu ihm erfuhr. Anna unterbrach sich, kauerte sich wieder hin: Position 110: ein tontinisches Tablett (Silber). Gelangte in den Besitz der Familie Orme durch eine Wette, die geschlossen wurde zwischen einem vor langer Zeit verstorbenen Francis Orme und seinen Freunden. Die Wette gewann, wer am längsten lebte. Francis Orme schaffte es. Wertvollster Besitz meines Großvaters, bewies er doch die Langlebigkeit seiner Familie. Wertvollster Besitz meines Vaters, weil sein Vater es so liebte. -289-
Anna rieb sich die Augen, putzte ihre Brille und fuhr fort: Position 163: ein in Maroquinleder gebundenes Buch (ein Band der Geschichte der Ormes). Vater entwendet, um ihn daran zu erinnern, daß manche Ormes noch leben. Anna sagte, sie wolle eine Pause machen, doch ich flehte sie an, weiterzulesen. Sie lächelte und sagte: Danke, daß du mir das alles zeigst, Francis. Mach weiter, flehte ich, du mußt bis zum Ende kommen. Position 238: ein Ballettschuh. Gehört der fetten kleinen Tochter (und vielversprechenden zukünftigen Ballerina) der mageren Eltern aus Wohnung 1. Anna putzte wieder ihre Brille. Mach weiter, sagte ich, hör nicht auf. Position 301: zwei Gehstöcke. Gehören dem Mann in Georges Café, der ohne sie nirgendwohin gehen konnte. Er musste George bitten, vom Telefon des Cafés aus einen Anruf machen zu dürfen und dann zwei Stunden warten, bis er von seiner klapprigen Frau abgeholt wurde (die unter Verwendung einer Gehhilfe eintraf, an die sie zwei Reservestöcke gehängt hatte). Anna sagte, ihre Augen brannten. Sie schlug vor, daß wir für eine Weile aufhörten, aber ich sagte, ich würde lieber weitermachen. Ich gab ihr noch eine Tablette. Position 353: zwei Perlenohrringe. Zuvor Eigentum des als Mr. Rechtwinkel bekannten Mannes aus Wohnung 7 und Beweis für die Existenz seiner Mutter. Anna sagte zu mir: Francis, hör endlich auf, nur ein verschwommener Flecken zu sein, komm ins Licht. Ich sagte: Ich stehe im Licht. Sie sagte: Ich kann dich nicht richtig sehen, was passiert mit mir? Ich sagte: Möchtest du nach oben? Sie sagte: Erst, wenn ich fertig bin. Position 380: eine Fernbedienung für einen Fernseher. Claire -290-
Higg, Wohnung 16, als sie gerade nicht hinschaute, als sie in die Küche ging, um mir eine Tasse Tee zu machen. Anna sagte, sie brauche eine Pause, sie könne sich nicht mehr konzentrieren. Wir gingen zum Ende des Tunnels und die Stufen hinauf. Wir sind wieder in der Kirche, sagte ich. Anna hielt sich an meinem Rücken fest, während wir die Kirche verließen. Wir setzten uns auf eine Bank im Tearsham Park Gardens. Anna sagte: Ist es wirklich Tag? Ist es wirklich hell? Ich sagte: Der Himmel hat einen traurig blauen Farbton. Sie sagte: Ich kann nichts sehen. Sie sagte: Ich kann überhaupt nichts mehr sehen. Wir kamen überein, daß Anna blind war. Anna hielt meinen Arm. Wir gingen hinein.
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VI KLEINE MENSCHEN
Die Philosophie des Mark Daniel Cooper Tagelang ließen sie mich nicht zu Anna. Claire Higg und Mutter kümmerten sich um sie, zogen sie an, fütterten sie, kämmten ihre Haare, badeten sie, lasen ihr Gutenachtgeschichten vor; zwei alte Frauen spielten mit einem blinden Mädchen wie mit einer Puppe. Es war ihnen lieber, wenn das blinde Mädchen nicht sprach, wenn das blinde Mädchen nur lächelte. Doch manchmal schrie das blinde Mädchen auch und wollte gar nicht mehr aufhören zu schreien. Jemand hatte meine Wachsbüste von Anna gestohlen. Sie war am Festtag der heiligen Lucia aus meinem Zimmer verschwunden. Ich vermutete, daß es Mutter gewesen war, die sie mißbilligend entsorgt hatte. Falls sie es war, sie erwähnte es jedenfalls nie und ich hatte zuviel Angst vor ihr, um die Rückgabe zu erbitten. Ohne die Büste vergaß ich Annas Gesicht. Oder ich erinnerte mich nicht mehr richtig daran. Manchmal machte ich abendliche Spaziergänge durch die Stadt, überquerte die Straßen, welche das Observatorium einfassten, dachte an Anna, versuchte, mich an sie zu erinnern, sog den Duft eines jeden Rauchers ein, der vorbeiging. An einem dieser Abende, es war vielleicht ein wenig später als gewöhnlich und ich befand mich gerade irgendwo zwischen Tearsham Park Gardens und Tearsham Church, bemerkte ich, daß noch jemand in der Nähe war, sehr dicht hinter mir, und zischte. Ich drehte mich um und erwartete, den Pförtner zu -292-
sehen. Aber es war ein junger Mann mit pockennarbigem Gesicht. Er trug einen Trainingsanzug und besprühte die Wände der Stadt mit einer Farbsprühdose. Die mit hohem Druck herausgesprühten Wörter schienen auf den Wanden zu zischen oder zu flüstern. Es waren folgende Worte: Für die zarteste Haut. Die weißesten Zähne, den frischesten Atem. Und sogar Du kannst Liebe finden. Dreh die Uhren zurück, verabschiede dich von deinen Falten. Denn du bist es dir wert. Endlich hatte ich den Mann gefunden, der seine Zeichen in der ganzen Stadt hinterlassen hatte, nachts die Wände besprühte, seine Botschaften verbreitete, damit sie am Morgen jeder lesen konnte. Ich sehnte mich sehr nach Gesellschaft, aber er brauchte eine ganze Weile, bis er zu mir Vertrauen fasste. Er stotterte ganz fürchterlich. Er hieß, soweit ich ihn verstehen konnte, Mark Daniel Cooper, und er verbrachte oft die Nächte mit seinen Sprühdosen. Auch die Arbeit an den Wanden des Observatoriums, gab er zu, stammte von ihm. Er sagte, es fiele ihm so schwer, mit Menschen zu reden, daß die Menschen ihn lieber in Ruhe ließen. Um daran etwas zu ändern, schrieb er zunächst seine Gefühle in Notizbücher. Aber ganz oft, sagte er mehr durch Gesten als mit Worten -, war er so wütend, daß auch seine Buchstaben zornig wurden, und zornige Buchstaben, sagte er, gestikulierte er, sind riesengroß und füllten seine Notizbücher viel zu schnell. Aber kein Mensch las diese Notizbücher, nachdem er sie vollgeschrieben hatte, sie lagen einfach nur nutzlos herum. Irgendwann sah er dann Graffiti auf den Mauern eines Schulhofs, und mit einem Mal wußte er, was er zu tun hatte. Er war so glücklich dabei, seine geheimsten Gedanken über die Stadt zu sprühen, daß all sein Schmerz verflog. Danach war er selbstbewußter, und schon bald gingen ihm die Dinge aus, die er zu sagen hatte. Aber er konnte nicht mehr aufhören, Graffiti auf die Wände der Stadt zu sprühen, -293-
denn dies war das einzige, was ihm das Gefühl gab, lebendig zu sein. Mit der Zeit fing er an, die überall anzutreffenden Werbebotschaften zu vollständigen Sätzen auszuformulieren. Sie käme so selbstbewußt daher, diese Werbung, sagte er. Nichts anderes auf der Welt wäre so selbstbewußt. Er sagte, die allgegenwärtigen Coca-Cola-Reklamen, die es in der Stadt gab, soweit er zurückdenken konnte, verliehen uns einen Wert. Wenn die Firma Coca-Cola glücklich war, hierzusein, dann hatte sie Vertrauen in uns, und dann sollten auch wir Vertrauen in uns haben. Würden die Coca-Cola-Schilder entfernt, wären wir wertlos. Mit ihnen gehörten wir wirklich und wahrhaftig zur Welt. Indem er die selbstbewussten Worte der Werbung kopierte, spürte er, wie ihr Selbstbewusstsein auf ihn abfärbte. Das alles erzählte er mir lächelnd mit seinen abgehackten Worten und schrieb: Enjoy the taste. Er borgte mir eine seiner Dosen, damit ich dieses eine Wort auf die Ziegel schreiben konnte: Anna. Nein, nein, sagte er, gestikulierte er, ich hätte das Wort viel zu klein gemacht, und so besprühte er eine ganze Straße mit großen fetten Annas. Anna-Straße nannten wir sie. Als er entschied, es sei für ihn an der Zeit zu gehen, da sprühte er ein Lebewohl auf die Wand, lächelte mich nervös an, ohne mir direkt in die Augen zu sehen und stürmte in den frühen Morgen davon, bevor es zu hell wurde. Anna beobachten Natürlich wurden sie mit der Zeit nachlässig. Ihre Liebe zu und ihr Interesse an der blinden Puppe begannen zu schwinden. Mutter hatte einen Schlüssel zu Annas Wohnung, den sie -294-
bisweilen versehentlich nachts neben dem laufenden Diktiergerät liegenließ. Also verließ ich manchmal, wenn alle schliefen, Wohnung Nummer 6 und stieg, Mutters Schlüssel in der Hand, die Treppe hinauf zu Annas Wohnung. Ich ging in Annas Schlafzimmer und beobachtete sie beim Schlafen, sah sie lange an. Ich entdeckte neue, hellere Sommersprossen, die ich zuvor nicht gesehen hatte. Ich hätte sie gern berührt, tat es aber nie. Annas geschlossene Augen (was passierte unter diesen Lidern?), Annas Nase, Annas kleine Ohren. Ich stellte mir ihren ganzen, unter dem Laken verborgenen Körper vor. Annas versteckte Arme und Beine, Annas versteckter Bauch, Annas versteckte Brüste. Doch bevor sie aufwachte, stahl ich mich wieder hinaus. Tagsüber, wenn ich sie nicht sehen durfte, wenn ich nicht einmal vor ihrer Wohnungstür warten durfte, mußte ich mir eine andere Beschäftigung suchen. Von Zeit zu Zeit kehrte ich zu meinem Sockel zurück, doch es gelang mir nicht, mich zu konzentrieren. Ich verbrachte viele Stunden bei meiner Ausstellung, betrachtete diejenigen Objekte, die Anna auch betrachtet hatte, redete mit dem kostbarsten aller Gegenstände, Das Objekt, ganz am Ende der Ausstellung, ein Gegenstand, den Anna nie erreichte, den sie nie mehr sehen würde. Ein Besuch in Mr Behrens' Handschuhgeschäft Wenn sie niedergeschlagen sind und ein bißchen Aufmunterung benötigen, gehen viele Menschen einkaufen. Manche kaufen Kleidung, andere etwas zu essen. Wenn ich mich trösten mußte, kaufte ich Handschuhe, weiße Baumwollhandschuhe in Mr. Behrens' Handschuhgeschäft. Mr. Behrens war ein winziger Mann, der ebenfalls Handschuhe trug, gleichwohl seine aus Leder und schwarz waren. Er trug die Handschuhe, um seine Hände zu verstecken, die in einem Krieg verbrannt worden -295-
waren, über den er nie sprach. Mr. Behrens' Handschuhgeschäft war auf alle möglichen Typen von Handschuhträgern ausgerichtet, er verkaufte Handschuhe in allen Farben, er verkaufte Handschuhe aus Wolle, Baumwolle, Gummi, Leder, Fuchsleder, Kalbsleder, Ziegenleder, Moleskin, Draht. Ich war sein bester Kunde. Ich kam schon vor vielen Jahren zu ihm und kaufte jedesmal gleich mehrere Paar Handschuhe. Die meisten seiner Kunden, sagte Mr. Behrens, achteten darauf, daß ihre Handschuhe Jahre halten, bisweilen sogar Jahrzehnte. Aber Sie, Francis, sagte er, Sie sind stets loyal, schauen fast regelmäßig herein und kaufen immer, und das en gros, die gleichen traditionellen weißen Baumwollhandschuhe, in Schachteln verpackt und in Seidenpapier eingeschlagen. An diesem Tag, es war einige Monate vor dem Tag, an dem mein Einkauf erforderlich gewesen wäre, verließ ich Mr. Behrens und sein Handschuhgeschäft mit zehn neuen Paaren, zehn neuen, ordentlich gestapelten Membranen, die friedlich auf den Tag warteten, an dem ich sie ins Leben rufen würde, an dem die Finger agieren und schüchtern die Welt kennenlernen würden. Das Weihnachtsgeschenk Schon bald fühlte sich Anna sicherer und durfte in Begleitung Spazierengehen. Manchmal ging sie mit Mutter, andere Male durfte sie mit mir gehen. Sie ging niemals mit Miss Higg. Claire Higg hielt nichts von Orten im Freien. Annas Augen hatten begonnen, sich vollständig zu trüben, nichts mehr in ihnen verriet, daß sie jemals gesehen hatten. Ihre Iris, die Pupillen, waren inzwischen milchigweiß und hart. Wenn sie sich nicht bewegte, erinnerte sie an eine Wachsfigur, der man vergessen hatte, die Augen aufzumalen. Immer wieder berührte sie ihre weißen Augen, drückte sie, rieb an ihnen. Ich fragte, ob sie noch -296-
wisse, wie die meisten Dinge aussahen. Ja, sagte sie, aus der Erinnerung und durch Berührung. Anna sagte zu mir: Bitte, laß mich deine Hände berühren, dann bin ich glücklich. Es war Weihnachten. An Weihnachten packen Leute Dinge in Papier ein. Anna Tap wollte meine Hände berühren, und da Weihnachtszeit war, würde dies mein Geschenk an sie sein. Ich würde meine Hände in Geschenkpapier einwickeln. In mein Kostüm gekleidet (das Kostüm, das ich trug, als ich noch im Wachsfigurenmuseum arbeitete), mit Schnallenschuhen, Strumpfhose, einem weißen Hemd und Rüschenmanschetten, einem langen Gehrock und einer Perücke mit langen Locken auf dem Kopf, betrat ich das Wachsfigurenmuseum durch den Seiteneingang mit dem Kombinationsschloß, den wir halb wächserne, halb fleischliche Puppen immer benutzt hatten. Reglos waren die Bewohner, still wie Wachs. Träumten sie? Bewegten sich Gedanken in ihrem wächsernen Inneren? Wurde man von den Glasaugen der Wachsfiguren beobachtet, wenn man sich zwischen ihnen umherbewegte? Manche der Wachsmänner und Wachsfrauen bewegten sich selbst, am Tage, wenn die Ausstellung geöffnet war, wenn Elektrizität ihre Körper wärmte und sie zu unschönen und ruckartigen Bewegungen veranlaßte. An diesem Heiligabend jedoch bewegten sie sich nicht, als ich zwischen ihnen herumlief. Vor dem Wachsmodell eines verstorbenen Filmstars blieb ich stehen. Meine weißen Handschuhe berührten seine jugendlichen Wachshände. Ich hörte den Nachtwächter, der seine Runde machte. Lautlos drehte ich dem Filmstar die Hände ab. Die Wachshände ließen sich nur langsam drehen, sehr langsam. Es hatte etwas Entsetzliches, wie diese Wachshände kreisten und kreisten: Warum schrie der Wachsmund dieses Wachskopfes nicht? Dann hielt ich zwei Wachshände in Händen, meine Hände, aber aus Wachs. -297-
Der Nachtwächter kam die Treppe herunter. Regungslos stand ich neben Männern in Anzügen, Frauen in Ballkleidern, fetten Königen und fetten Königinnen in hoheitlichen Gewändern. Mir leisteten die Berühmten und die Verrufenen Gesellschaft, ich war ihnen herzlich willkommen. Der Lichtschein der Taschenlampe fiel in den Raum, und der Wächter folgte. Er ging um uns herum. Er richtete seine Taschenlampe in unsere Gesichter. Vor jedem einzelnen blieb er stehen. Er versuchte uns zu überführen, aber keiner von uns rührte sich, beziehungsweise nur einer von uns rührte sich, aber das war nicht ich. Weiter entfernt, am anderen Ende des Ausstellungssaals, stand in wächserner Gesellschaft das Modell eines Mannes, etwa einsachtzig groß, braunes Haar, schmal, Nadelstreifenanzug. Die Augen dieses Ausstellungsstücks bewegten sich. Sie schauten entweder geradeaus oder starrten mich an. Ich kannte dieses Ausstellungsstück. Er hieß Ivan. Er war keine Wachsfigur, er war eine Puppe aus Fleisch und Blut. Er hatte schon als Fleischpuppe gearbeitet, bevor ich ins Wachsfigurenmuseum kam, wurde aber am gleichen Tag wie ich entlassen. An diesem Abend sah ich ihn wieder, still und reglos bis auf seine Augen. Der Wächter bemerkte nicht, dass sich diese Augen bewegten, er sah nichts Ungewöhnliches in den erstarrten Figuren vor sich, er bemerkte auch nicht, dass eine Wachsfigur seine Hände verloren und eine andere sie genommen hatte. Während er den Strahl seiner Taschenlampe über uns gleiten ließ, veränderte sich seine Miene nicht. Dann senkte er die Taschenlampe und begann, sich auszuziehen. Im folgenden erreichte ich lediglich äußere Reglosigkeit, die innere, ich gestehe es, kam mir abhanden. Der Wächter, inzwischen völlig nackt, ging zu einer bestimmten Wachsfigur und umarmte sie. Er berührte ihren Körper, küßte ihren Mund und fuhr mit seinen Händen durch ihr Haar. Er seufzte und stöhnte. Er streichelte die Styroporbrüste und tastete sich unter dem Kleid bis ganz oben zwischen ihre Fiberglasbeine vor. Es -298-
handelte sich um das Modell einer berühmten Schönheit, einer Sängerin. Er rieb seinen Körper an ihrer Haut aus Wachs, Fiberglas und Styropor. Nachdem er masturbiert hatte, weinte er. Er zog sich an, trat vor die Wachsfigur, die er missbraucht hatte, küsste ihr auf die Stirn und murmelte aufrichtige Entschuldigungen: Ich liebe dich. Es tut mir leid. Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt. Ich liebe dich, und ich bin deiner Liebe nicht würdig. Er hob seine Taschenlampe auf, richtete ihren Strahl noch einmal auf uns, besonders auf seine Geliebte, und ging dann still die Treppe hinunter. Als er nicht mehr zu hören war, verließ ich meine äußere Reglosigkeit und ging, immer noch die Wachshände tragend, zu Ivan hinüber. Unmittelbar vor ihm blieb ich stehen, lächelte und flüsterte: Frohe Weihnachten. Sag es niemandem, Francis. Bitte. Ich mache nichts Unrechtes. Ich komme einfach nur her, um bei ihnen zu sein. Ich rühre sie weder an, noch tue ich ihnen etwas. Sag es niemandem, bitte. Versprochen. Bist du jeden Tag hier? Jeden zweiten Tag. Hast du nie Hunger? Ich nehme immer Sandwichs und etwas zu trinken mit. Ich schleiche mich abends durch unseren alten Eingang rein, genau wie du, während der Wächter seine Runde macht. Dann bleibe ich den ganzen Tag und einen Teil des Abends bei ihnen, bevor ich wieder nach Hause gehe. Ich schlafe einen Tag und komme dann zurück. Hier bin ich glücklich, und ich schade niemandem. Kommst du mit mir oder bist du gerade erst angekommen? Gerade angekommen, kurz vor dir. Ich konnte sie doch nicht über Weihnachten allein lassen. Armer Ivan. -299-
Francis, warum hast du diese Hände gestohlen? Sie sind ein Weihnachtsgeschenk. Wenn du sie nicht zurückbringst, werde ich gezwungen sein, dich zu melden. Und dann werden sie dich fragen, woher du das weißt. Wie konntest du Augenzeuge des Diebstahls werden? Und wenn du es ihnen erklärst, werden sie dich merkwürdig ansehen, die Arzte rufen und dich einsperren… Sie werden neue Hände machen, Ivan. Er wird aussehen wie zuvor. Aber ich werde es wissen. Frohe Weihnachten. Francis, geh nicht. Ich muss, der Wächter wird zurückkommen. Ich habe Angst. Es ist wegen dem jungen Mann ohne Hände. Menschen sollten Hände haben. Ohne Hände sieht er nicht mehr aus wie ein Mensch, er sieht nur noch aus wie ein Modell. Und wegen ihm sehen auch die anderen aus wie Modelle. Bitte, bring die Hände zurück. Frohe Weihnachten. Dann nimm die ganze Figur mit. Ich will nur die Hände. Ich habe Angst. Sieh nur, meine Hände zittern, meine Hände wollen, dass ich sie abschneide und sie dem jungen Mann gebe. Ivan, er ist aus Wachs. Du verrätst uns. Warum gehen wir nicht zusammen? Bleib hier bei uns. Alles wird sein wie vorher. Ich muss nach Hause. Ich muss die Hände hier abliefern. Ich glaube, eines Tages wird jemand hereinkommen, einer von den hohen Tieren, und mich aus der Ausstellung entfernen. Sie werden mich hochheben und rausschleifen. Sie werden mich in -300-
einen kalten Raum stecken und die Tür abschließen. Aber selbst dann werde ich noch stillstehen. Ich werde mich nicht bewegen. Und vielleicht Tage oder Wochen später werden sie in diesen Raum zurückkommen und meine Arme oder Beine abziehen, um sie jemand anderem zu geben, einem anderen Modell. Dann werden sie den Rest von mir verbrennen. Und eines ist sicher, wenn ich brenne, wird mein Fleisch von mir abtropfen wie Wachs. Ich denke, du solltest die Ausstellung verlassen. Es wird dir gut tun. Komm mit mir. Du bist eifersüchtig. Nein, Ivan. Ivan nahm wieder seine unbewegliche Haltung ein und sagte kein Wort mehr. Weihnachtsmorgen Am Morgen des ersten Weihnachtstages ging ich zu Wohnung 18. Anna Tap saß mir am Tisch gegenüber. Anna, du kannst meine Hände berühren. Wachshände ragten aus den Armein meines Pullovers, meine eigenen, behandschuhten Hände steckten weiter oben und hielten die wächsernen Handgelenke. Sie berührte meine beiden Ellbogen und ließ ihre Finger langsam meine Unterarme hinuntergleiten. Sie berührte meine Hände. Sie sind so kalt. Sie tastete sie ab. Sie sind so hart. Sie ergriff die Finger und zog sie behutsam zu sich. Die Wachshände lösten sich. Sie spürte ihr Gewicht. Sie knallten auf den Tisch. Anna schrie. -301-
Es sind meine Hände, das sind meine Finger und Knöchel. Wachsabdrücke, die mein Freund William gemacht hat. Noch ein Auftrag? Nicht für mich, sondern für das Wachsfigurenmuseum. Sie waren für eine Wachsfigur. Jetzt gehören sie dir. Meine Hände. Ein Geschenk von mir. Frohe Weihnachten. Und was schenkte Anna mir zu Weihnachten? Eine Brille. Eine Brille, die mir ohnehin schon gehörte. Eine Brille, die zur Ausstellung gehörte, die nur eine Leihgabe war. Dann war es also eine frohe Weihnacht? Nein, nicht wirklich. Ein Schatten namens Tap Anna Tap, blind, Mitte Zwanzig bis Anfang Dreißig, in einem blauen Kleid, in schwarzen Schuhen, müsse, sagte sie, immer bei mir bleiben. Sie sagte, sie fühle sich nicht wohl, wenn ich nicht in ihrer Nähe wäre. Sie wollte nicht allein gelassen werden. Wenn man sie im größten Zimmer von Wohnung 6 zurückließ, machte sie sich auf die Suche nach mir. Sie folgte mir hinunter in den Keller, fand die Tür zum Tunnel und hörte erst auf zu klopfen, nachdem ich sie hereingelassen hatte: Ich habe im Moment zu tun. Geh wieder nach oben. Ich werde dich nicht stören. Ich werde einfach hier sitzen. Ich gebe keinen Laut von mir, du wirst gar nicht merken, dass ich da bin. Ich setzte meine Arbeit fort. Ich mag deine Ausstellung, Francis. Oder beinahe. Ich glaube, ich habe sie nicht ganz verstanden. Du sagtest, es sei eine Ausstellung der Liebe. Aber das habe ich nicht gesehen, ich habe nur abgelegte oder gestohlene Gegenstände gesehen. Vielleicht solltest du mir von den anderen Exponaten erzählen, die ich nicht mehr zu sehen bekommen habe. Vielleicht solltest du mir deinen Katalog vorlesen. Nein, niemals. -302-
Sie bestand darauf, mich zu begleiten, wenn ich in die Stadt ging um auf meinem Sockel zu stehen. Sie stellte sich dann neben den Sockel und lächelte jedes Mal, wenn eine Münze in meine Dose fiel. Ich konnte niemals allein sein. Sie verlor immer noch an Gewicht, wie der Mann mit der Personenwaage nicht müde wurde mir mitzuteilen, wann immer Anna und ich in den Park gingen. Manchmal versuchte ich, sie bei der Pflastermalerin zu lassen. Ich ging zu dem defekten Brunnen, setzte Anna auf die Bank, die den Kreidebildern am nächsten war, und sagte ihr, dass ich sie schon bald wieder abholen würde. Sie rief mir nach, sah verängstigt aus. Sie nahm die Augen der heiligen Lucia aus ihrer Tasche und spielte nervös damit, ließ sie von einer Hand in die andere gleiten. Doch trotz meiner Verärgerung über die immerwährende Gegenwart von Anna Tap stellte ich fest, dass ich sie nie sehr lange allein lassen konnte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, wenn ich fortging, ich sah ihre mitleiderregende Mimik und hörte, wie sie die hölzernen Augen aneinander rieb. Oft hatte ich ein so schlechtes Gewissen, dass ich sofort zu ihr zurückkehrte und sagte, Ja, in Ordnung, du kannst mitkommen. Aber in dem Moment, in dem ich es sagte, ärgerte ich mich zugleich. Also platzierte ich sie woanders und versprach zurückzukommen. Also rief sie nach mir. Also bekam ich ein schlechtes Gewissen und wurde traurig. Also ließ ich sie mitkommen. Also widerte sie mich an. Ich war ein Einzelgänger. Ich war glücklicher, wenn ich allein war. Aber jetzt konnte ich nicht mehr mit dem kostbarsten Stück meiner Ausstellung reden, weil sie dabei war; ich konnte keine innere Reglosigkeit mehr erreichen, weil sie da war; ich konnte nicht mehr denken, weil sie immerzu da war. Jedes Schweigen wurde unterbrochen von: Francis, was machst du? Als wir im Tunnel waren, sagte sie einmal zu mir, Ich fülle deine Tage mit Liebe, Francis. Du wirst dich dran gewöhnen. Habe Geduld. -303-
Ich fragte sie, Lebst du noch hinter diesen weißen Augen, Anna? Sie lassen dich so tot aussehen. Ich lebe noch, Francis, sagte sie, komm näher. Sie rauchte ständig. Und beschmutzte alles. Ich war überzeugt, dass meine Handschuhe noch gelbe Finger bekommen würden, wenn ich zuviel Zeit mit ihr verbrachte. Ich stahl ihre Zahnbürste. Und warf sie fort (sie war der Ausstellung nicht würdig). Ich beschwerte mich über ihren Mundgeruch, bat sie, mir nicht zu nahe zu kommen. Ich ging in ihre Wohnung hinauf, als sie bei meiner Mutter war, und räumte ihre Sachen um. Ich legte Ziegelsteine vor die Wohnungstür, sah zu, wie sie stürzte und sich verletzte. Ich nahm sie mit auf einen Spaziergang in die Stadt und ließ sie irgendwo stehen, ich hörte, wie sie meinen Namen rief und folgte ihr, als sie verzweifelt Passanten um Hilfe bat. Ich folgte ihr den ganzen Weg zurück nach Hause. Ja, ich schaute sogar zu, wie sie voller Schrecken am Bordstein stand und dem Verkehr kuschte, der um das Observatorium raste, sah sie eine Stunde dort warten und jeden Passanten anflehen, sie auf die andere Seite zu bringen. Geduldig ertrug sie all meine kleinen Gemeinheiten. Sie gab vor, ich sei nur müde, ich meinte nicht wirklich, was ich sagte. Sie verzieh mir immer: Ich verzeihe dir, Francis. Aber ich fand, es wäre interessanter, wenn sie mir nicht verzieh, wenn sie mich anbrüllte und beschimpfte und mich in Frieden ließ. Meine Tage waren ausgefüllt mit dem abgestandenen Mief von Anna Tap, und ich kämpfte um frische Luft. Sie machte mir Geschenke: Sie gab mir ihr Brillenetui, sie gab mir ihr Liebeskleid (das ich ohnehin vorhatte zu stehlen, Position 995). Ich weiß, es ist sehr schwer für dich, Francis. Ich weiß, es wird seine Zeit dauern. Aber keine Angst, ich habe Geduld. Über Augen und Stöcke -304-
Ich brachte Anna in die Augenklinik. Sie gaben ihr einen weißen Metallstock mit einer Gumminoppe an der Spitze. Man brachte Anna bei, wie dieser Stock zu benutzen war, und hielt sie mir für einige Stunden vom Hals, während sie den Boden abklopfte und Unterweisungen erhielt, wie man durch Abklopfen die Straßen kennenlernen konnte. Aber es war seltsam. Wenn Anna bei ihren Stunden war, wollte ich sie zurückhaben, ich langweilte mich ohne sie. Wenn sie in der Augenklinik für den Tag fertig war, wartete ich dort bereits auf sie. Mit jeder weiteren Unterrichtsstunde gewann Anna ihr Selbstvertrauen zurück. Die Augenklinik hatte Glasaugen für sie bestellt und rechnete in einigen Wochen mit der Lieferung. Aber sie wollte in ihrem Schädel hölzerne Augen tragen und schrie und trat, wenn die Augenärzte dies ablehnten. Unhygienisch. Abstoßend. Tabu. Tap geht allein Nachdem sie einige Wochen bei den Augenspezialisten verbracht hatte, ging Anna wieder allein spazieren. Sie ließ sich nicht von mir führen, sie klammerte sich weder an meinen Arm, noch versuchte sie wie zuvor, nach meiner Hand zu greifen. Sie stand aufrecht und allein. Wenn ich ihr zu nahe kam, wurde ich mit dem Stock geschlagen. Anna Tap hatte wirklich ihr Selbstvertrauen wiedergefunden. Sie machte mir auch keine Geschenke mehr. Im Tunnel besuchte mich Anna Tap nicht mehr, selbst wenn sie eingeladen wurde. Sie verbrachte viel Zeit mit ihren Gehlehrern, Mädchen, die in ihrem Alter waren. Schmiedete Pläne. Ein Ausflug -305-
An einem Tag Mitte Januar hatte (und habe) ich Geburtstag. An diesem Geburtstag erhielt ich die folgenden Geschenke: 1. Vo m Pförtner: ein Zischen. 2. Von Claire: nichts. 3. Von meiner Mutter: ein Paar rote Baumwollhandschuhe. 4. Von Anna Tap: einen Ausflug. Dieser Ausflug von Anna war ein Überraschungsausflug, mit dem sie sich, wie sie sagte, schon seit mehreren Wochen beschäftigte, genaugenommen, seit eine gewisse Person, die weiße Handschuhe trug, verkündet hatte (diese Information ließ sie völlig zusammenhanglos und beiläufig zwischen zwei Sätzen fallen), dass sein Geburtstag nahe. Der Ausflug begann mit einer Busfahrt. Ich saß ganz vorn neben Anna Tap. Ich bemerkte mit leichtem Schrecken, dass der Bus nicht wie gewohnt in Richtung Stadt fuhr, sondern sich von ihr entfernte, in eine Richtung fuhr, die einzuschlagen ich nicht gewohnt war: Wir bewegten uns hinaus aufs Land. Seit Tearsham Park unbenannt worden war, hatte ich völlig vergessen, dass es das Land überhaupt noch gab. Nach einer halben Stunde waren wir angekommen. Der Bus fuhr ohne uns weiter. Was riechst du, Francis? Verwesung und Fäulnis. Ist es ein angenehmer Geruc h? Nein. Schau nach oben, Francis. Sind da Vögel? Tauben und Möwen. Was siehst du vor dir? Eine Metallmauer, die sich über Meilen erstreckt. Gibt es einen Eingang? Da ist eine Metalltür. Offne sie, wir gehen hinein. Ein Mann in einem schmutzigen Overall, mit Stiefeln und dicken Gummihandschuhen, einem Helm auf dem Kopf und einer Papiermaske über Mund und Nase, kam sofort zu uns gelaufen. Anna nahm einen Zettel aus der Tasche, der Mann las und ließ uns in Ruhe, nachdem er uns, aus Sicherheitsgründen, -306-
angewie sen hatte, immer am Rand zu bleiben. Was siehst du, Francis? Ich weiß nicht… Überall sind Sachen, alte Matratzen, alte Fahrräder, eingeschlagene Fernseher, kaputte Autos, Teppiche, Koffer, Zeitungen, Illustrierte, Taschen, Vorhänge, Bücher, Knochen, Kartons, verfaulende Lebensmittel, Schutt… Weinst du? Nein. Gut, dann mach weiter. Da liegen zerbrochene Stühle, Bodendielen, Fensterrahmen, verdrehte und zerschlagene Schaufensterpuppen, Kleidung, Kassenzettel, Balken, Lampen, Dosen, Plattenspieler… alles kaputt… Hör auf zu weinen und mach weiter. Ich weine nicht. Mach weiter. Da liegen Tische mit drei Beinen, da sind Teller und Uhren. Da sind Tassen, zerbrochenes Glas, Flaschen, Gemälde, Poster, Reifen, Kartons, Drähte, Schuhe, Brillen, Perücken, Garderoben, Kommoden, Türen… Hör nicht auf. Bitte, darf ich aufhören? Mach weiter. Ich denke, ich sollte jetzt besser gehen. Mach weiter! Da liegen Stifte, Koffer, Aktentaschen, Aktenschränke, Laken, Decken, Eimer, Sägen, Eisenpfähle, Gipsverbände, eine Karyatide ohne Kopf, Fliesen, Mäntel, Steine, Spiegel, das Bein einer Puppe. Weiter! Weiter! Da sind Bettgestelle, Kleider, Plastikschmuck, Telefone, Photos, -307-
eine Tafel, ein Dreirad, eine Hundehütte, ein Kamin, ein Snooker-Tisch… ein Laufgestell… Ich will aufhören. Abgesehen von diesen Gegenständen, was siehst du noch? Menschen laufen darauf herum. An manchen Stellen türmt sich der Müll haushoch. Was tun diese Menschen? Sammeln? Nein, sie stöbern. Was ist das hier, Anna? Das ist der gesamte Müll der Stadt. Nein, es ist kein Müll, nicht alles. Beschreibe den Geruch. Ich kann nicht. Es riecht nach Verwesung, es riecht nach Fäulnis, es ist der Geruch von allem, was wir wegschmeißen. Es ist der Geruch von allem, was wir nicht mehr haben wollen. Es ist so traurig. Es ist der Geruch von sterbenden Dingen, Francis. Dinge sterben nicht. Hier vor unseren Augen werden all die toten Gegenstände, all die aussortierten Gegenstände von toten und lebenden Menschen aufbewahrt. Jene Sachen, die uns nichts mehr bedeuten. Eines Tages werden auch unsere Sachen hier hergebracht. Nicht meine Sachen. Warum sind wir hier? Ich dachte, du fändest es vielleicht unterhaltsam. Es ist ein bisschen so wie deine Ausstellung, findest du nicht? Natürlich weniger ordentlich. Nein. Es gibt Ähnlichkeiten. Meine Ausstellung ist voller Liebe. Mir wird schlecht. -308-
Willst du dich nicht übergeben. Schau dir das an. Es ist so, so traurig. Ich kann nicht. Ich kann nicht sehen. Ich will nach Hause. Faß die Sachen doch einmal an, Francis. Sie sind so schmutzig! Berühre sie. Berühre sie und schau dir dann deine Handschuhe an. Hör auf damit. Bitte, bitte, hör auf damit. Dies ist die Scheiße der Stadt. Da drüben ist eine Ratte! Mir ist schlecht. Sieh dir die Ratte an, Francis, schau sie dir an. Trägt sie weiße Handschuhe? Auf der Rückfahrt im Bus sagte sie mir, sie hätte mir die Berge gezeigt, weil sie es gut mit mir meine. Sie bat mich wieder, die Handschuhe auszuziehen. Ich sagte nichts. Ich setzte mich auf einen anderen Platz ans Ende des Busses. Das war mein Geburtstagsausflug. Wenn Anna danach zu Besuch kam, verließ ich Wohnung 6. Wenn ich in den Tunnel ging, schloss ich die Tür stets hinter mir ab. Die Abbruchexperten kamen wieder. Sie sprachen mit dem Pförtner. Ich ignorierte alle: Anna, Mutter, Claire Higg, den Pförtner, die Abbruchexperten.. Dieses Weiß. Diese Baumwolle. Diese Ausstellung. Dieser ganz besondere Gegenstand. Das war alles. Das war alles, was es für mich gab. Pförtner
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Der Pförtner kehrte weiter, wischte weiter, blies weiter Trübsal. Manchmal konnte man sehen, wie er mit einer Drahtbürste ein kleines Stück Teppichboden schrubbte und erst dann mit seiner Arbeit aufhörte, wenn er den Teppichboden vollständig weggeschrubbt hatte und die Dielen darunter zu sehen waren. Aber er leerte weiterhin unsere Mülleimer, er zischte weiterhin, und wir gingen ihm weiterhin aus dem Weg. Higg Ich ging jetzt für Miss Higg einkaufen. Mutter brachte ihr die Lebensmittel dann hinauf. Sie meinte, Miss Higg ginge es schlechter, sie sagte: Claire hat sich gehen lassen. Sie sieht Ta g und Nacht fern. Sie schläft nicht mehr in ihrem Bett. Wenn das Programm am Abend zu Ende ist und die Fernsehsender nur noch einen hohen, anhaltenden Ton übertragen, starrt Claire auf den leeren Bildschirm und begleitet diesen Ton die ganze Nacht lang mit einem Summen. Miss Higg beklagte sich, dass eines frühen Morgens, als sie noch schlief, jemand in ihre Wohnung geschlichen war und den Fernseher ausgeschaltet hatte. Sie sagte, jemand habe ihre Haarbürste gestohlen. Alle sahen mich an. Aber ich hatte die Haarbürste nicht gestohlen. Was sollte ich auch mit Claire Higgs Haarbürste? Mutter Mutter verbrachte so wenig Zeit wie möglich in ihrem Schlafzimmer und ließ all ihre Sachen von mir mit Laken verhängen. Sie stand jetzt früh auf, vor allen anderen, zog sich immer schick an, ging aber nie aus, nicht einmal in den Park. -310-
Tap Anna Tap wurde von mir völlig ignoriert bis zu dem Abend, als sie von einem Mann mit weißen Handschuhen Besuch erhielt. Der Mann mit weißen Handschuhen Spätabends, als alle schliefen, war noch jemand unterwegs, ging die Treppe zur dritten Etage hinauf. Er blieb vor der Wohnung mit der Nummer 18 stehen, drehte mit einer weiß behandschuhten Hand am Türknauf. Die Tür war abgeschlossen. Er nahm einen Schlüssel heraus. Er schloss die Tür zu Wohnung 18 auf und trat ein. Fest schlafend in seinem Schlafzimmer lag der sich sanft hebende und senkende Körper von Anna Tap. Sie schlief, sie wusste nicht, dass jemand ihre Wohnung betreten hatte, sich langsam ihrem Schlafzimmer näherte, sich langsam ihrem Bett näherte. Der Besucher kniete sich hin, als er das Bett erreichte. So verharrte er für kurze Zeit und betrachtete das geschlossene Gesicht von Anna Tap. Er hob seine weiß behandschuhten Hände an ihr Gesicht und berührte sanft, ganz sanft ihr dunk les Haar. Er streichelte es eine Weile, sachtesachte, um sie nicht zu wecken. Er wurde mutiger. Er berührte ihre Haut. Mit den Fingerspitzen berührte er leicht ihre Wangen. Ein Finger zeichnete die Kontur ihrer Nase nach. Er spürte die geschlossenen Lippen. Er berührte ihre Lider. Doch als er die Lider berührte, begannen sich die verdorbenen Kugeln darunter zu bewegen. Sie öffneten sich, und die gebrochenen Augen schauten heraus und sahen nichts. Wer ist da? Jemand ist da. Bist du es, Francis? -311-
Der Besucher berührte noch einmal Anna Taps Gesicht. Anna ergriff seine Hände. Francis. Francis. Die behandschuhten Hände des Besuchers hielten die Wangen von Annas Gesicht. Sie drückten zu. Nicht so fest, Francis. Du musst zärtlicher sein. Die behandschuhten Hände streichelten ihr Haar. So ist gut. Und zogen dann daran. Nein, Francis, zärtlich. Die behandschuhten Hände berührten ihre Lippen. Das ist schön, Francis. Die behandschuhten Hände schoben einen behandschuhten Finger in Annas Mund. Und dann zwei Finger und dann drei Finger und dann sogar vier. Anna würgte. Francis, bitte! Der Besucher küsste Anna Taps Stirn, ihre Wangen und Lippen. Heftig. Heftige Küsse. Zärtlich, Francis, du musst zärtlich sein. Die Lippen des Besuchers küssten zärtlich Annas Mund. Und Anna erwiderte diesen Kuss. Anna tastete das Gesicht des Besuchers ab. Sie lernte es mit ihren Händen kennen. Sie fühlte die Lippen des Besuchers, und dann hörte sie abrupt auf. Die Unterlippe des Besuchers war nicht geschwollen. Der Besucher roch auch nicht nach Francis. Wer sind Sie? Der Besucher hielt Annas Gesicht in seinen Händen. Wer sind Sie? Der Besucher küsste Anna. Aufhören. Bitte. -312-
Der Besucher küsste Anna. Ich schreie. Bitte, gehen Sie weg. Der Besucher küsste Anna. Anna schrie. Der Besucher zischte, zärtlich, leise. Ein Zischen, das nicht bedeutete: Geh weg! Ein Zischen, das bedeutete: Ich bin es doch, ich bin es. Hast du dich nicht nach mir gesehnt? Nun, hier bin ich. Anna schrie. Der Besucher legte eine behandschuhte Hand über Annas Mund, mit der anderen zog er die Decken weg. Annas Schreie hatten das ganze Haus geweckt, und ich, Mutter stand dicht hinter mir und trieb mich an, klopfte an die Tür von Wohnung 18. Als ich die Tür öffnete, sah ich den Pförtner. Er trug weiße Handschuhe, die zweifellos im Verlauf meines Handschuh-Armageddons in seinen Besitz gelangt waren. Die Sommersprossen der Unvollkommenheit schienen auf seinem Gesicht zu beben. Er zitterte. Er drängte sich an mir vorbei und stieß Mutter aus dem Weg, bevor er zischte und in den Tiefen des Kellers verschwand. Das Schreien hörte nicht auf. Es hörte selbst dann nicht auf, als meine Mutter Annas Nachthemd wieder heruntergezogen hatte, sie in den Arm nahm, beruhigte und dann selbst weinte. Er hat versucht… Er hat versucht… Er hat versucht… Anna kommt zu Besuch In dieser Nacht kam Anna zu Besuch und schlief nie wieder in Wohnung 18. Statt dessen lag sie in meinem Zimmer. Während der ersten Nacht ihres Besuchs schlief sie nicht. Mutter hielt ihre Hand, ich hätte ihr auch eine von mir angeboten, aber ich wurde nicht darum gebeten. Mutter sagte, ich solle gehen. Ich schlief nicht. Bei Tagesanbruch öffnete ich die Tür meines Zimmers und sah Mutter, dass Mutter in einem Sessel schlief und Anna in meinem Bett. Sie hielten immer noch Hände. -313-
Ich ging in den Park, fühlte mich ohnmächtig. Ich trat gegen Bäume und verletzte mir die Füße, was in mir das Gefühl der Nutzlosigkeit nur noch verstärkte. Bei meiner Rückkehr sah ich den Pförtner innerhalb der kreisförmigen Mauer des Observatoriums. Er hatte sich ein Feuer gemacht. Er hatte seinen Besen und seine Kehrschaufel und seinen Handfeger verbrannt. Die Kehrschaufel und der Griff des Handfegers waren aus Plastik, sie zerliefen in der Hitze. Wenn ein Tropfen flüssigen Kunststoffs in die Flammen fiel, hörte ma n ein zischendes Geräusch. Dieses Zischen war dem Zischen des Pförtners sehr ähnlich, das Geräusch des Zorns. Der Pförtner sah mich nicht an, er starrte nur grimmig in die Flammen und weinte. Einer der Messingknöpfe an seiner Uniform fehlte. Die kleinen Menschen Wir dachten nicht daran, die Polizei anzurufen wegen dem, was Anna passiert war. Und hätten wir daran gedacht, dann hätte man uns am Telefon wahrscheinlich nicht verstanden oder wir hätten den Hörer in dem Moment wieder aufgelegt, in dem jemand vo n außerhalb des Observatoriums mit uns sprach. Wir bewegten uns nur selten, und wenn wir uns bewegten, dann kündigten wir unsere Bewegungen an, bevor wir sie machten: Ich gehe jetzt mal eben aufs Klo. Ich bin nicht lange weg. Ich komme sofort zurück. Ich setz nur den Kessel auf und mach uns einen Tee. Ich leg mich nur kurz hin. Anna rauchte nervös. Sie wagte es nicht, ohne eine Zigarette in den Händen dazusitzen. Meine Mutter beobachtete Anna immerzu und schickte mich fort, wenn sie zu weinen begann. Inzwischen war ich der einzige, der das Observatorium verließ. Ich kaufte die Lebensmittel und die Zigaretten. Einmal versuchte ich, in einem Geschäft etwas zu stehlen, nur um mir zu beweisen, dass ich immer noch der berüchtigte Seriendieb -314-
Francis Orme war. Eine n Laib Vollkornbrot. Ich wurde erwischt, der Ladenbesitzer lachte mich aus. Er sagte, das wäre der ungeschickteste Diebstahlversuch gewesen, den er je gesehen hätte. Er zeigte mich nicht an. Ich bezahlte das Brot. Wir waren damals kleine, winzige Mäusemenschen, die nach Gefahr schnupperten. Claire Higg kommt zu Besuch Ungefähr ein, zwei Nächte nachdem Anna Besuch vom Pförtner erhalten hatte, entschied meine Mutter, dass wir alle zusammen in Wohnung 6 leben müssten. Sie holte zuerst Claire Higg in unsere Wohnung und ging dann noch einmal nach oben, um den Fernseher zu holen. Damals war Claire Higg nur noch zum Teil Claire Higg, den Rest von sich hatte sie irgendwo verloren, irgendwo verlegt. Sie schien nur noch ein halbes Gesicht und einen halben Körper zu haben, ihren Blick konnte sie nur noch auf den Fernsehbildschirm richten. Sie reagierte nervös, wenn jemand sprach, und begann sich zu kratzen, wenn Anna weinte. Gelegentlich wurde Anna jähzornig und zerschmetterte ein paar Gläser, warf Bücher von den Rega len herunter und spuckte auf den Boden. Und während dieser Anfälle kratzte sich Claire Higg, kaute auf ihren Haarspitzen und sah völlig ungeschützt aus, als wäre sie der letzte Mensch auf der Welt, der in einem unfruchtbaren Land auf einem einfachen Stuhl saß, an seinen Haaren kaute, sich kratzte und auf das schreckliche Etwas wartete, das zu ihr kommen und Buh! sagen würde. Wir alle warteten auf dieses schreckliche Etwas. Mutter beruhigte Anna dann immer. Wenn ich ihr jedoch helfen wollte, schob sie mich fort, Nicht anfassen, Francis. Geh weg. Geh schlafen. Anna schlief weiterhin in meinem Bett, Miss Higg schlief mit Mutter in ihrem Doppelbett, und ich schlief im größten Zimmer von Wohnung 6 auf einem Bett aus Kissen und gefalteten -315-
Daunendecken. Die ganze Welt war geschrumpft auf die Größe von Wohnung 6 des Observatoriums. Wenn ich sprach, wurde mir gesagt, ich solle den Fernseher nicht stören. Wenn ich Hilfe beim Kochen anbot, wurde mir gesagt, ich solle weggehen oder schlafen gehen oder beides. Wenn ich mich irgendwo hinsetzte, wurde mir gesagt, ich solle mich bewegen. Wenn ich irgendwo stand, wurde ich weggeschoben. Wenn die anderen sprachen, dann sprachen sie nicht mit mir. Sie sahen mich nicht einmal an. Man erlaubte mir, die Müllbeutel vor die Tür zu stellen. Die wurden jedoch nicht mehr abgeholt. Und fingen an, sich zu türmen. Pylorusstenose Dann erwischte uns die Pylorusstenose. Es war nicht nur, dass sich fünfzehn oder mehr Müllbeutel vor der Tür von Wohnung 6 stapelten oder dass diese Müllbeutel zu stinken begonnen hatten. Es war nicht nur, dass ich eines Morgens, als ich zum Einkaufen nach unten ging, bemerkte, dass sämtliche Fenster im Erdgeschoss eingeschlagen worden waren. Es war nicht nur, dass die Fußböden nicht mehr gefegt wurden. Und es war nicht nur, dass das ganze Haus nach verfaulenden Lebensmitteln stank. Es war etwas anderes. Es war das Gefühl der Niederlage. Wir hörten auf, so zu tun, als bemerkten wir nicht, dass unser Zuhause und unsere Leben ruiniert waren. Wir saßen jammernd auf verschiedenen harten Stühlen und warteten darauf, dass die echten Schmerzen begannen. Seit Tagen schon hatte niemand mehr den Pförtner gesehen. Ich war der letzte, der ihn sah, als ich vom Einkaufen zurückkam. Während ich mit den Schlüsseln von Wohnung 6 herumhantierte, kam der Pförtner aus der leerstehenden Wohnung 8, wo er, glaube ich, auf mich gewartet hatte. Er riss -316-
mir die Einkaufstüten aus der Hand und warf sie die Treppe hinunter. Dann fing er an, auf mich einzutreten. Er zog mich an den Haaren. Er boxte mir in den Bauch und ließ mich verzweifelt nach Luft schnappend auf dem Boden liegen. Das war das letzte Mal, dass einer von uns Wohnung 6 verlassen hatte. Unter der schrecklichen Trägheit der Pylorusstenose versuchten wir, uns nicht mehr als unbedingt erforderlich zu bewegen, denn jede Bewegung bereitete uns jetzt Schmerzen. Es war schmerzhaft für uns und auch für unser Zuhause, jede zu schnelle Bewegung brachte uns womöglich zu Fall, ließ womöglich Etage auf Etage einstürzen. Wenn unser Zuhause schon sterben musste und wir fühlten, dass dies der Fall sein würde, wollten wir mit ihm sterben. Ein Leben ohne das Observatorium konnten wir uns nicht vorstellen. Eines Nachmittags schauten wir aus dem Fenster des größten Zimmers von Wohnung 6 und sahen, wie der Pförtner mit den Abbruchexperten sprach. Wir sahen ihn mit den Abbruchexperten reden, aber wir konnten ihn nicht hören. Die Abbruchexperten nickten ihm zu, ließen ihn irgendwelche Papiere unterschreiben, schüttelten ihm die Hand. Wahrend wir alles von oben beobachteten und kein Wort sagten. Dann kam eines Tages ein Lastwagen auf den Hof des Observatoriums gefahren und blieb einige Stunden dort. Und an diesem Tag hörten wir unter uns eine kleine Explosion und spürten, wie das ganze Gebäude kurz erbebte. Danach fuhr der Lastwagen fort, und wir blieben ratlos zurück. Wir saßen im Kreis zusammen und erinnerten uns gegenseitig daran, das Atmen nicht zu vergessen. Wir alle wussten, dass unser Ende nahte, um uns zu holen. Es waren noch einige Konservendosen übrig, die wir gerecht unter uns aufteilten. Schon sehr bald würden wir wahrscheinlich kein Essen mehr benötigen. Wir hörten auf fernzusehen, denn die Wesen, die auf dem Bildschirm auftauchten, waren uns völlig fremd, -317-
gleichwohl ihr Aussehen uns vage an uns selbst erinnerte. Wir wollten jetzt nur noch Ruhe, wir lauschten und warteten darauf, dass etwas passierte. Die Zeit kam bald. Wir stellten keinen Müll mehr hinaus, sondern behielten ihn bei uns im größten Zimmer von Wohnung 6, wo wir auch alle schliefen. Da Anna inzwischen keine Zigaretten mehr hatte, arbeitete sie sich durch die gefüllten Aschenbecher und rauchte die Überreste alter Zigaretten. Wenn die Stummel keinen Tabak mehr enthielten, saß sie einfach mit einer Kippe im Mund da und nuckelte still vor sic h hin. Den Pförtner hörten wir direkt vor der Tür herumhämmern. Wir dachten: Bald, der Tag kommt bald. Und dann war es soweit.
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VII ABBRUCH
Der Tag kam Am Morgen des Tages, auf den wir so lange gewartet hatten, wachten wir in einer merkwürdigen Stille auf, alles wirkte so wunderbar friedlich. Wir saßen wie immer im Kreis und warteten. Nachdem wir anderthalb Stunden gewartet hatten, bekam Anna wieder einen ihrer jähzornigen Anfälle. Es fing damit an, dass sie eine Zigarettenkippe ausspuckte. Dann stand sie auf, und wir schauten zu, wie sie ihren Stuhl mit einem Tritt umstieß und sämtliche schmutzigen Teller aus der Spüle auf den Boden knallte. Ich kann nicht länger stillsitzen. Warum solltest du auch? Steh doch auf! Ich will eine Zigarette. Ich will Geräusche, irgendwelche Geräusche und eine Zigarette. Ich kann nicht mehr länger hier bleiben. Nein, ich werde nicht geduldig sein! Lasst mich in Ruhe. Fasst mich nicht an! Ich lebe! Ich will nicht tot sein. Sitzt nicht einfach so da herum. Bitte, bewegt euch doch. Zeigt mir, dass ihr Menschen seid. Francis, bewege dich. Sprich. Einer von euch! Ich kann das nicht allein. Warum sitzt ihr einfach so da? Ich werde das nicht akzeptieren. Es ist noch nicht vorbei. Warum sagt ihr, es ist vorbei, wenn es doch noch gar nicht vorbei ist? Es muss nicht so sein. Ich gehe raus. Ich gehe raus, und wenn es sein muss, werde ich dem Pförtner allein gegenübertreten. Will mir keiner helfen? Niemand? Alice? Claire? Francis? Komm schon, Francis! Wovor hast du Angst? Ich werde die Tü r aufmachen und frische Luft hereinlassen. Ihr werdet euch gleich besser fühlen. Und dann kommt ihr mit, -319-
oder? Dann kommst du mit, Francis. Fass die Tür nicht an. Setz dich. Rede nicht. Sei still. Ich werde die Tür nur einen Spalt aufmachen. Komm von dieser Tür weg. Ich werde nur die kleine Tür ein kleines Stückchen aufmachen. Du darfst die Tür nicht berühren. Du musst still sein. Du musst dich wieder auf deinen Stuhl setzen. Lass den Türknauf los! Komm da weg. Dreh ihn nicht! Du darfst ihn nicht drehen! Lass es sein! Bitte! Komm und setz dich hin. Sei ein braves Mädchen. Komm und setz dich zu Claire. Komm und setz dich zu Alice. Wenn du magst, kannst du Francis' Hand halten. Sie drehte den Türknauf! O mein Gott! Laß los, laß sofort los! Sie dreht ihn, dreht ihn! Der Knauf ist abgegangen! Die Tür ist abgeschlossen, sie geht nicht auf. Jemand hat die Tür abgeschlossen! Da steckt irgendwas in dem Schloss, jemand hat es zugeklebt! Jemand hat uns eingesperrt! Hilfe! Setz dich hin! -320-
Hilfe! Sei still! Hilfe! Komm von der Tür weg. Es könnte dich jemand hören! Hilfe! Setzt sie hin! Geh zu deinem Stuhl! Bitte, bitte. Hilfe. Geh zu deinem Stuhl! Pssst, jetzt. Pssst. Es ist gleich soweit. Hab nur Geduld. Es wird bald vorüber sein. So ist gut, sitz einfach still. Könntest du für mich das Fenster aufmachen? Ich brauche etwas frische Luft. Ist das erlaubt? Nur einen Spalt. Bitte schön und jetzt warte einfach ganz ruhig ab. Darf ich mich etwas näher ans Fenster stellen? Ist das erlaubt? Wenn sie verspricht, nicht zu reden. Versprichst du es? Ich werde still sein. Ich brauche nur etwas frische Luft. Doch in dem Moment, als Anna Tap vor dem Fester stand, stieß sie es weit auf, beugte sich hinaus und schrie: Hilfe! So hilf uns doch jemand! Wir sind hier oben eingeschlossen! Helft uns! Nachdem sie das hinausgebrüllt hatte, schien sie wieder ruhiger zu werden. Sie setzte sich auf ihren Stuhl, sie lächelte unscheinbar und wir setzten uns alle um sie herum und kuschten unserem unruhigen Atem. Wir rochen die frische, kühle Luft. Anna hatte unseren inneren Frieden zerstört. Nun wuchsen wir endlich wieder. Annas Schrei hatte uns etwas Hoffnung geschenkt, ihre Stimme war so laut, uns war nicht klar gewesen, dass wir jemanden unter uns hatten, der zu einer solchen Lautstärke fähig war. Wir waren so lange still gewesen, und jetzt konnten wir mit einem Mal die Stille nicht mehr länger ertragen. Claire Higg begann den Ton zu summen, der aus dem Fernseher kam, wenn Programmschluss war. Mutter fing an zu singen, ich begann das Gesetz der Weißen Handschuhe zu rezitieren, Anna fing an zu lachen. Nicht lange, und wir beugten uns alle aus dem -321-
Fenster, brüllten und sangen und pfiffen und kicherten. Als wir aber in der Ferne ein Klopfen hörten, verstummten wir und bekamen wieder Angst. Unsere Retter Unsere Retter, es waren gleich mehrere, befanden sich auf der anderen Seite der Tür. Aber sie klangen so weit weg, als hätten sie sich in einem anderen Gebäude befunden. Sie brüllten, ob jemand da sei, und wir brüllten zurück: Ja, wir sind alle hier, Alice und Claire und Anna und Francis Orme. Unsere Retter antworteten, wir sollten von der Tür zurücktreten, sie würden sie jetzt aufbrechen. Tretet zurück. Geht weg. Sie schlugen die Tür ein, die stöhnte und knackte und schließlich nachgab. Dann sahen wir, was passiert war: Jemand hatte Kitt ins Schlüsselloch geschmiert, Gipskarton über unsere Tür genagelt und anschließend darrübertapeziert, damit es aussah wie eine Wand, so als existiere Wohnung 6 nicht. Unsere Retter hatten unsere Tür nur gefunden, weil die Tapete an dieser Stelle sauberer war als an anderen Stellen. Der Pförtner, der Pförtner hatte uns verbarrikadiert. Wir sahen unsere Retter. Es waren vier Männer. In identischen weißen Overalls. Sie trugen Plastikhelme. Über ihren Visieren verkündete ein Aufkleber: Abbruchexperten. Sie starrten uns verdutzt an. Wir starrten sie verdutzt an. Kommen Sie bitte mit nach unten. Warum? fragte Mutter. Ich denke, es wäre besser für Sie. Dann werden wir natürlich mitkommen. Sie führten uns die Treppe hinunter und durch die Eingangshalle. Plastikbänder mit dem Aufdruck GEFAHR ABSTAND HALTEN und Schilder mit der Aufschrift ABBRUCHARBEITEN standen überall um das Observatorium -322-
herum. Absperrgitter aus Metall waren entlang der umliegenden Straßen aufgestellt, Holzbretter über die Fenster der Nachbarschaftshäuser genagelt worden. Es gab keinen Verkehr. Unzählige Menschen standen hinter den Absperrungen, bildeten einen Kreis um die Insel des Observatoriums: Die ganze Stadt war gekommen, um zuzusehen. Als die Schaulustigen uns sahen, jubelten sie. Es war uns peinlich: so viel Aufregung, und alles nur wegen uns. Die Menge schob und drängelte sogar, nur damit sie uns besser sehen konnte. Leute mit Fernsehkameras und Mikrophonen rannten über die leere Straße. Sie bombardierten uns mit Fragen. Wir beantworteten ihre Fragen nicht, da wir durch das Jubelgeschrei derart schockiert waren, dass wir vorübergehend vergaßen, wie man sprach. Aber wir lächelten in die Kameras. Ein Mann in einem braunen Anzug und mit einer Klemmmappe in der Hand steuerte auf uns zu. Wir erkannten in ihm sofort einen der älteren Abbruchexperten, die wir im Gespräch mit dem Pförtner gesehen hatten. Er berichtete, unser ganzes Haus sei gründlich abgesucht worden, man habe aber niemanden mehr gefunden. Wo wir uns denn versteckt hätten? Wir sagten, wir hätten uns nicht versteckt, der Pförtner hatte uns verstecken wollen. Er sagte, wir könnten auf gar keinen Fall mehr zurück ins Observatorium. Er könne den Terminplan jetzt unmöglich noch ändern, die Polizei sei gerufen worden, der Verkehr sei angehalten und umgeleitet worden. Wissen Sie eigentlich, wie viel Vorbereitung und Organisation dahinterstecken? fragte er. Alles muss jetzt weiter nach Plan laufen. Wir würden mit Sicherheit Schadenersatz erhalten, versicherte er, auch wenn sich seine Firma nichts vorzuwerfen hätte. Aber der Terminplan könne und dürfe jetzt nicht mehr geändert werden, auf gar keinen Fall. Wo war überhaupt der Pförtner? Niemand wusste es. Man hatte ihn früher an diesem Morgen gesehen, er hatte geholfen, im Keller Drähte zu verlegen, er wollte die Arbeiter nicht allein lassen. Mutter fragte: -323-
Was haben Sie denn vor? Wir werden die vertikalen Stützpfeiler entfernen, Madam. Die Schwerkraft dürfte dann den Rest erledigen. Ich verstehe nicht… Wir werden die tragenden Wände im Keller zerstören, Madam, und dann wird das Gebäude durch sein Eigengewicht in sich zusammenstürzen. Es ist eine ziemlich einfache Sache und dürfte nicht lange dauern. Gehen Sie jetzt bitte zu den Zuschauern hinüber und bleiben Sie hinter der Absperrung. Aber ich konnte nicht einfach so gehen. Wie könnte ich einfach so gehen? Ich wusste, dass noch etwas zu tun war. Und zwar schnell, bevor es zu spät war. Ich schob mich durch die Menge, drängte mich von Tearsham Park Gardens Richtung Kirche, und gerade als ich mich auf den Weg machte, hörte ich jemanden rufen, der sich anhörte wie Anna Tap. Francis? Francis? Francis!! Begebenheiten im Keller Wie konnte ich die Ausstellung im Stich lassen, wenn das gesamte Gewicht aller Ormes auf sie herabzustürzen drohte? Konnte ich sie einfach einem solchen Ende überlassen? Ich konnte es natürlich nicht. Denn ich, der gescheiterte Hüter all dieser Liebe, würde mir im Spiegel nicht mehr in die Augen schauen können. Ich würde nicht mehr Francis Orme sein, nachdem jeder einzelne wichtige und aufgezeichnete Augenblick meines Lebens vernichtet worden war. Und was würde mein Leben noch bedeuten, wenn sein einziger Daseinszweck beseitigt worden war? Es würde gar nichts mehr bedeuten, es wäre ein langweiliges, ödes Nichts. Ich schloss die Kapelle der Ormes auf, entfernte den Deckel des falschen Grabmals, stieg in den Tunnel hinunter und zog den -324-
Deckel hinter mir wieder zu. Damit ich etwas sehen konnte, riss ich immer wieder Streichhölzer an und arbeitete mich so im flackernden Licht zu tanzenden Schatten durch den schmalen Tunnel und sah die Geschichte der Stadt rückwärts verlaufen, sah mich immer jünger werden, sah all meine Fehler, all meine Siege. Ich rannte an Anna vorbei, deren Augen noch funktionierten, vorbei an Vaters Tod, vorbei an Peter Buggs Krawatte, vorbei an den Anfängen des Observatoriums, vorbei am Ende von Tearsham Park. Mit jedem Schritt verlor ich Jahre meines Lebens. Ich rannte vorbei an meiner Schulzeit, vorbei an Emma, bis ich schließlich völlig außer Atem Position 1 erreichte, einen Kassenzettel. Wenn ich mich beeilte, würde die Zeit reichen, um alles einzusammeln. Es musste noch genug Zeit sein. In diesem Tunnel befand sich, ordentlich dokumentiert, alle Zeit der Welt. Konnte ich da nicht ein Jahr zurücklassen, jene Gegenstände zurücklassen, welche die Existenz eines Jahres bezeugten, sie eintauschen für ein paar wohlwollende Minuten. Damit ich meine großartige Sammlung evakuieren konnte? Als ich mich neben den von Liebe abgewetzten Kassenzettel kniete, hörte ich eine Männerstimme aus dem Keller kommen. Irgend jemand war noch immer hier. Die Stimme rief: Anna, Anna! Ich ließ den Beleg fallen. War Anna noch im Keller? Sie musste es doch mitbekommen haben: Man hatte beschlossen, heute das Observatorium zu beseitigen. Sie musste schnell nach draußen. Ich versuchte, die Tür des Tunnels zu öffnen, aber sie war von der anderen Seite abgeschlossen. Ich war eingeschlossen, wurde von meinem eigenen Vorhängeschloss eingesperrt. Ich rief nach ihr, trat gege n die Tunneltür: Anna! Anna! Meine Rufe begegneten auf der anderen Seite der Tür den Echos der anderen Stimme. Anna! Anna! rief die Stimme. Anna! Anna! kam meine Antwort. -325-
Ich schlug mit den Fäusten auf die Tür ein. Anna! Anna! kam wieder die Stimme. Ich schmiss mich mit der Schulter gegen die Tür, wieder und immer wieder, bis schließlich das wurmzerfressene Holz nachgab. Ich trat in den grauen Keller des Observatoriums. Der Boden war übersät mit Drähten. In die Säulen waren Löcher gebohrt worden, und in diesen Löchern endeten die Drähte mit einem harmlos aussehenden Zylinder aus grauer Knete. Man konnte sogar einen Schutthaufen sehen, wo als Probelauf bereits eine der tragenden Säulen gesprengt worden war. Wir hatten den Lärm ihres Einsturzes tags zuvor vage gehört, oben in unserem Gefängnis, oben in Wohnung 6. Anna! Anna! wieder ertönten die klagenden Rufe. Diese Korridore hatten früher Butler gesehen, die hier unten Wein holten, und Waschmägde, die hierher kamen, um den Waschkessel zu heizen, hatten Küchenj ungen gesehen, die Feuerholz holten. Und mir war, als würde ich sie jetzt an mir vorbeihasten sehen, als würden unsere Schuhe im Takt unterschiedlicher Jahre auf den gleichen kalten Ziegelboden schlagen, der Geruch von Gefahr musste die Dienstboten ins Leben zurückgerufen haben, oder die Bohrungen in den Säulen hatten Löcher in der Zeit geöffnet und ließen nun die Vergangenheit herausströmen. Mir war, als wären in diesem Augenblick oben im Salon die Diener bemüht, die Lampen anzumachen, die Haushälter mussten nach Staub suchen, Kammerzofen ließen das Badewasser einlaufen und hofften, das Wasser möge schneller fließen. Mir war, als würden meine Ahnen von Zimmer zu Zimmer laufen oder sich kerzengerade in ihren Betten aufrichten, um nach den Dienern zu läuten, sie versuchten zu verstehen, warum sie sich plötzlich so unsicher fühlten. Und unter ihnen, gefangen im Aufruhr des Augenblicks, wären auch mit graublauen Ringen unter den Augen und ängstlich besorgten Blicken die blassen Gesichter der Schatten früherer Bewohner des Observatoriums. Der Klavierspieler musste seine Etüden unterbrechen; die sterbende -326-
Mutter kam mit ihren beiden erwachsenen Töchtern an die Tür, alle demselben erschreckten Instinkt folgend; der Junggeselle wurde bei seinem nachmittäglichen Liebesspiel gestört, nicht von einem bestimmten Geräusch, sondern einer Vorahnung; die junge Mutter, die das Kreischen des Autos direkt vor der Mauer des Observatoriums hört, als es ihre kleine Tochter erfasst; Alec Magnitt, der den Fahrstuhl betritt… Sie alle waren mit einem Mal wach und fragten sich, was hat uns gerufen, was hat uns nur gerufen? Was wird passieren, was wird wohl passieren? Ich erreichte die Stelle, von der die Rufe ausgingen. Es war der Drei- Zimmer-Käfig unverfälschter Ordentlichkeit. Der Pförtner war noch in seiner Wohnung, seine Pförtneruniform, an der immer noch ein Messingknopf fehlte, war schmutzig. Er saß auf seinem mit einem Vorhängeschloss gesicherten Schrankkoffer neben dem Bett, jener Schrankkoffer, der mutmaßlich seinen ganzen persönlichen Besitz sowie seine Erinnerungen enthielt. Anna Tap lag in seinem Bett. Sie war ganz ruhig, schien sich gar nicht bewusst zu sein, dass ich gerade den Raum betreten hatte. Sie lag unter der Bettdecke, nur Hals und Kopf waren zu sehen. Der Pförtner bürstete ihr mit Claire Higgs Haarbürste das Haar und rief immer nur ihren Namen: Anna. Sie sah krank aus, ihr Gesicht war geschrumpft, die Haut matt und leblos. Warum bewegte sie sich nicht? Anna, steh auf! Der Pförtner griff nach Annas Haaren, umklammerte sie mit der Faust und zog daran. Er stöhnte vor Anstrengung und hievte Anna aus dem Bett. Ihr Kopf löste sich, er hielt ihn mir vor die Nase. Was hatte er getan? Anna! schrie ich und während ich schrie, begann der Pförtner vor Vergnügen zu quietschen. Erst dann sah ich, dass Anna gar keine Augen hatte, dass sich gewaltige Narben quer über ihr Gesicht zogen und dass ihr -327-
Körper direkt unterhalb der Schultern sauber abgetrennt war. Der Pförtner hielt die Wachsbüste von Anna Tap hoch. Er zischte und raunte leise: Wer hat dich herausgelassen, Francis Orme? Sie jagen das Haus in die Luft. Du hättest nicht herkommen dürfen… Wir müssen gehen. Aber wir werden eine Ausnahme machen, Anna, nicht wahr? Es ist keine Zeit mehr. Anna möchte, dass du dich setzt. Komm rein und setz dich. Sie müssen gehen, wir haben keine Zeit mehr. Für Freunde muss immer Zeit sein. Komm rein, Francis, komm nur. Anna kennst du ja bereits, oder? Sie können nicht bleiben. Ich habe einen Knopf verlegt. Hast du ihn gesehen? Sie müssen hier raus. Soll ich die Tür zumachen, damit wir nicht gestört werden? Ich gehe. Ich hab es Ihnen schon einmal gesagt, ich gehe jetzt. Der Pförtner zischte. Komm rein! Mach die Tür zu. Verschwinden Sie von hier! Ich rannte zum Tunnel zurück. Es dauerte nicht lange, und meine Schritte erhielten Gesellschaft von anderen Schritten, hastigen Schritten, die in meinen Ohren widerhallten. Und eine Stimme, die rief: Wo ist mein Knopf? Hat jemand meinen Knopf gesehen? Und während ich lief, sagte ich zu mir: Ich glaube, du kanns t noch schneller, Francis. Und sogar noch ein bisschen schneller, Francis, wenn ich bitten darf. Schaffst du das? Ich werde es zumindest versuchen. So, ich denke, es geht nicht mehr schneller. Aber das genügt nicht. Du musst noch ein bisschen schneller laufen. Reicht es jetzt? Nein, noch ein bisschen, bitte. -328-
So? Schneller, bitte, Francis, schneller. Noch schneller? Ich werde es natürlich versuchen, aber… Ich konnte nicht weiter, obwohl ich nur einen Meter von der aufgebrochenen Tür zum Tunnel entfernt war. Der Pförtner war bei mir, er hatte mich an den Haaren gepackt und schlug meinen Kopf gegen die Wand. Doch eine Explosion am anderen Ende des Kellers bewirkte, dass er mich losließ. Die Explosion löste eine Druckwelle aus, die nun durch den Keller rauschte und die Wangen des Pförtners erbeben Kess. Als sich der Staub einen Augenblick später gelegt legte, sah ich meine weißen Baumwollhände an - sie waren tot, schmutzig, hässlich. Sieh nur, was du gemacht hast? Du bist dafür verantwortlich. Der Pförtner spuckte mir ins Gesicht und sagte: Lebe wohl, Francis. Und lächelte. Eine weitere Explosion, lauter, erheblich lauter. Und dieses Mal führte die Druckwelle Putz und Mauerwerk mit sich, verteilte es über die Stelle, wo der Pförtner und ich festsaßen. Wir hörten, wie über uns die Welt zu knarren anfing und dann nachgab. Ein Augenblick außerhalb der Zeit Der Pförtner rührte sich nicht. Ich sah ihn nicht wirklich, zumindest nicht ganz, nicht einmal zum größten Teil. Nur einen Teil von ihm. Seine rechte Hand. Staubig. Mit Sommersprossen übersät. Aus den Trümmern herausragend. Ich schaute mich im Keller um, dessen eine Hälfte mit Staub und Schutt gefüllt war, während die andere Hälfte immer noch ihre Säulen und die Gewölbedecke besaß und so tat, als sei überhaupt nichts passiert. Ich stand auf und klopfte mich mit den Unterarmen ab, achtete selbst jetzt auf mein Erscheinungsbild, -329-
blieb ruhig, versuchte, mir keine Sorgen zu machen. Ich hatte schon gehört, dass Menschen sich so verhielten, wenn sie sich in extremen Gefahrensituationen befanden, dass sie Trost in den banalsten Handlungen fanden. Man hatte mir einmal von einem Mann erzählt, der wusste, dass er schon sehr bald sterben würde, aber trotzdem hartnäckig darauf bestand, eine Lesebrille zu bekommen, weil er Angst hatte, sich die Augen zu verderben. Ganz ähnlich klopfte ich nun allen Staub von mir ab und ging dann, mit langsamen, überlegten Schritten, ganz ruhig, um meine wachsende Angst zu überspielen, in den Tunnel. Ich fing an, meine Ausstellung einzusammeln, um sie mit nach draußen zu nehmen, ergriff jedes Exponat an einer Ecke seines Plastikbeutels. Ich war nicht bereit, auch nur ein einziges Ausstellungsstück zu verlieren, ließ jedoch die Kartonstücke mit den Positionsnummern zurück. Ich konnte später alles neu katalogisieren. Aber dies war ein schwieriges Unterfangen, konnte ich doch meine Hände nicht mehr benutzen und war gezwungen, die ganze Ausstellung mit den Handgelenken an mich zu nehmen. Immer wieder ließ ich kostbare Gegenstände fallen. Soll ich noch einmal zurück? Was war es noch? Position 9, eine leere Essigflasche. O ja, ich erinnere mich, Position 9 ist gut. Solltest du besser aufheben. Oh, und noch etwas war weg. Was war es noch? Position 6, ein Bleistiftstummel. Position 6 hier lassen? Niemals. Heb es auf. Aber jetzt ist Position 18 weg. Die leere, kleine, braune Pappschachtel? Heb sie sofort auf. Hör auf herumzutasten, Francis. Dies ist wirklich nicht der richtige Augenblick. Und mit jedem fallengelassenen Gegenstand wuchs meine Panik. Ich hatte kaum mit der Bergung der Ausstellung begonnen, als die dritte und stärkste Explosion mich auf den Boden des Tunnels schleuderte. Begebenheiten in einem Tunnel Als ich die Augen wieder aufschlug, konnte ich nichts sehen. -330-
Das Kellerlicht, das den Tunnel zuvor spärlich erleuchtet hatte, war erloschen. Irgend etwas drückte auf meine Beine, so daß ich mich nicht bewegen konnte. Einige der alten Holzbalken, die die Decke und die Wände des Tunnels abstützten, waren eingebrochen, hatten einen Teil des Tunnels einstürzen lassen und bedeckten nun meine Beine. Als ich den Kopf ein wenig hob, stieß ich gegen einen anderen Balken: Der vor mir liegende Weg war ebenfalls versperrt. Ich war gefangen. Ich wagte nicht, mit meinen Händen herumzutasten, gab mir Mühe, gar nicht erst an sie zu denken. In welchem erbärmlichen Zustand sie jetzt wohl sein mochten? Wie schmutzig mochten sie sein, tote Handschuhe, tote Hände, gelähmt vor Dreck? Nach und nach konnte ich auch meinen restlichen Körper spüren. Ich lag auf meiner Ausstellung. Vor mir türmten sich Exponate auf, ich spürte die Plastikbeutel an meinen Wangen, mein Kinn lag auf einer Tabaksdose. Mir war bewusst, dass ich versuchen musste aufzustehen, ich musste meine Beine aus den Trümmern befreien und versuchen, mich durch den Tunnel zu arbeiten, um die Kirche zu erreichen. Das alles hätte ich tun sollen, aber ich hatte Angst, meine Beine zu bewegen. Sie könnten verletzt sein, und ich wollte keinen Schmerz empfinden. Ich hatte Staub in den Lungen und den Geschmack von Blut im Mund, mein Kopf fühlte sich dick und fremd an. Lauf, Francis, lauf, dachte ich. Doch statt dessen schloss ich einfach die Augen und glitt in einen tiefen Schlaf. Ich erwachte aufgrund der Schmerzen in meinen Beinen. Ich versuchte, den Schutt wegzuräumen und mich umzudrehen, es gelang mir aber nicht. Ich spürte das Pochen in meinen beleidigten Händen, ich drückte sie an meine Lippen, küßte sie. Das wunderschöne Weiß war für immer verdorben, einer meiner Finger war sogar durch die Baumwolle gedrungen. Ich holte einige Male tief Luft und versuchte, mich ausschließlich auf meine Füße, Knöchel und Beine zu konzentrieren, versuchte mich zu erinnern, auf welche Weise sie mit mir verbunden -331-
waren, wie sie sich anfühlten, wie sie sich bewegten. Und in dem Moment, als ich mir dies vorstellte, spürte ich, wie sich die Schmerzen durch meinen ganzen Körper bohrten. Ich versuchte, mich ein Stück zu drehen, um die Bewegung meiner Beine zu spüren. Aber je mehr ich mich bewegte, desto größer waren die Schmerzen. Ich befreite mich mit winzigen, kontrollierten Bewegungen und schob mich schließlich langsam vorwärts, kam Zentimeter um Zentimeter weiter. So gut es ging, setzte ich mich auf, kauerte unter dem Holzbalken und umarmte meine verletzten Knie. Es wäre eine gute Idee, jetzt ein Streichholz anzuzünden, dachte ich. Es wäre gut, etwas zu sehen, egal, wie trostlos alles auch sein mochte, es wäre gut, diese dichte Dunkelheit aufzulösen und sei es nur für einen Augenblick. Ich hatte Angst vor der Dunkelheit wie ein kleines Kind. Wie, fragte ich mich, fühlte Anna sich, die gefangen war in ewiger Nacht. In meiner Tasche befanden sich Streichhölzer, die ich jedoch ohne Zuhilfenahme meiner Hände nicht anreißen konnte. Trotzdem versuchte ich es, schob mit einem Ellbogen die Schachtel aus meiner Hosentasche und klemmte sie zwischen meine Füße. Aber so konnte ich sie nicht öffnen. Dann versuchte ich, die Streichholzschachtel zwischen den Handgelenken zu halten und mit der Zunge aufzuschieben. Aber ich hielt die Schachtel falsch herum, und als ich die Zunge ausstreckte und die kleine Kartonschublade herausschob, fielen sämtliche Streichhölzer auf den Boden. Ich schrie auf und trat frustriert mit den Schuhen auf den Streichhölzern herum und verfluchte sie. Nun war ich allein in der Dunkelheit. Ich hatte meine einzige Chance auf Licht vertan, hatte sie auf den Boden des Tunnels geworfen. Dann fing ich an, mir angst zu machen, murmelte, wenn du hier nicht rauskommst, wirst du sterben. Wenn ich hier bliebe, dachte ich, würde ich eins werden mit dem berühmten fetten und dünnen Kavalier. Auch mein Geist würde dann herumwandern und jeden erschrecken, der kam, mich zu suchen; und diese -332-
Eindringlinge kehrten nie mehr ans Licht zurück, selbst wenn sie mit achtzig Dezibel schrien, denn niemand würde sie in diesem Tunnel suchen, weil hier das Phantom mit den weißen Handschuhen und der fette und dünne Kavalier hausten und diese zwei würde niemand stören wollen. Aber ich konnte mich nicht durch den Schutt vor mir arbeiten, es war unmöglich, das Gesetz der Weißen Handschuhe verbot es: Bestimmung 7. Tote Handschuhe erfüllen keine Funktion. Die Hände unter ihnen sind niemals in der Lage, etwas aufzuheben, zu berühren oder zu bewegen. Sie sind tot. Ich würde um Hilfe rufen. Wie praktisch es wäre, wenn Leute kämen, um mich zu retten. Sie würden die ganze Arbeit erledigen, die Trümmer wegräumen, während ich hier saß, meine Finger küsste und den Leuten befahl, sich doch bitte zu beeilen. Ja, genau so würde es sein. Ich musste nur den Mund aufmachen und laut rufen. Was von den Wanden des Tunnels noch stand, würde meine Worte sicher als Echo zurückwerfen und verstärken, bis jemand es hörte. Und dann würden sie sofort die Trümmer wegräumen und mit der Rettungsaktion beginnen. Ich fühlte mich gleich besser. Als ich dann jedoch den Mund aufmachte, um zu schreien, brachte ich keinen Laut heraus. Mein Hals war so trocken, dass ich nicht mehr als ein dünnes Flüstern zustande brachte. Und dieses Flüstern verklang, kaum dass es ausgestoßen war. Ich war wie ein Pharao, der mit all den Dingen seines Lebens beigesetzt worden war. Aber noch war ich nicht bereit, das Leben loszulassen. Ich richtete meine Ellbogen auf den Schutt vor mir und fing an, mit hässlichen, verzweifelten Gesten zu scharren. Doch nichts rührte sich. Ich schlug mit den Handgelenken auf den Schutt ein. Nichts rührte sich. Ich trat gegen den Schutt. Und er rührte sich nicht. Wenn ich vielleicht meine Hände benutzte… aber das war nicht erlaubt. In diesem Punkt war Bestimmung 7 ganz eindeutig. Also würde ich einfach hier sitzen, mich an die schartige -333-
Tunnelwand drücken und versuchen, das Ende einfach zu verschlafen, versuchen, ruhig zu bleiben, versuchen, ein wenig von dieser inneren Reglosigkeit zu erlangen, die ich stets so genossen und geliebt hatte, als mir nicht die unmittelbare Auslöschung drohte. Aber in meinem Zustand der Angst war es schier unmöglich, innere Reglosigkeit zu erreichen. Und so versuchte ich es mit einer verlängerten Sitzung äußerer Reglosigkeit, um mich zu beruhigen. Aber nicht einmal dazu war ich in der Lage. Ich zappelte herum, meine blutenden Beine wollten nicht aufhören zu zittern, meine Hände pochten und vor meine Augen traten die Worte der siebten Bestimmung des Gesetzes der Weißen Handschuhe und wurden immer kleiner, bis der Text am Ende nicht mehr zu lesen war. Nein! Ich konnte das Gesetz nicht brechen! Wozu würde das führen? Es wäre sicherlich das Ende. Ich würde einer dieser anderen Menschen werden, ich würde anfangen zu reden, ich würde sogar aufhören zu sammeln und diesen höchst angenehmen Sockel in der Innenstadt verlassen. Ich würde eine Bewegungsarbeit annehmen, und bei dieser Bewegungsarbeit würde mein Vorgesetzter fast zwangsläufig sagen: Zieh diese Handschuhe aus, Francis und setz dich hin, sei ein lieber Junge. Und ich könnte sogar ein lieber Junge werden und diese Handschuhe tatsächlich ausziehen… und was dann? Nein, ich war Handschuhträger, soviel war sicher. Handschuhmenschen sind magische Menschen. Handschuhe zu tragen, alles zu kontrollieren, was man berührt, kam einem erhabenen Schweben über der Welt gleich. Man konnte das Leben, all das Leid beobachten, man konnte beobachten, brauchte aber niemals etwas zu berühren. Es war besser, gar nicht erst darüber nachdenken, das Gesetz der Weißen Handschuhe zu brechen, es war besser, einfach ganz ruhig hier unten in dieser fürchterlichen Dunkelheit zu sterben. Aber es war sehr schwer, nicht zu denken, blieb einem doch sehr wenig anderes zu tun. Ich versuchte, mich an die Namen der -334-
Sterne zu erinnern, aber dazu benötigte ich die Hilfe me ines Vaters. Und so drängte sich mir ein Gedanke auf, gleichgültig, wie sehr ich auch versuchen mochte, ihn auszulöschen und dieser Gedanke besaß eine solche Macht, dass er mir schließlich den Mund öffnete und mich flüstern ließ: Bestimmung 11. Es ist jüngst entschieden worden, dass unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen tote Hände auch weiterhin eine Funktion erfüllen können. Für den Fall, dass ein behandschuhtes Individuum von Schutt umgeben in einem dunklen Tunnel erstickt, wurde auf allgemeinen Wunsch beschlossen, dass Hände mit schmutziger oder zerrissener weißer Baumwolle sowie Hände ohne weiße Baumwolle sich bewegen und zur Arbeit eingesetzt werden dürfen. Meine Finger begannen, den Schutt wegzuräumen. Der verletzlichste Teil von mir wurde zerschnitten, mein Vorankommen durch mehr Schutt und mehr Schnitte belohnt. Meine armen Hände wurden für alle Zeiten ruiniert. Sie brannten, sie schmerzten, aber sie arbeiteten weiter. Langsam fing ich an, den Schutt hinter mir aufzutürmen und dann in Armladungen langsam den Tunnel hinunterzuschieben. Und schon bald, nach einigen Pausen und Flüchen, dass der Schutt nicht weniger wurde, gelang es mir, einen Balken, der den Weg versperrte, nach hinten wegzuschieben und auf den Schutt zu klettern, wobei ich mit dem Rücken die Tunneldecke entlangschrammte. Und schließlich, endlich, ging es wieder abwärts, so dass ich auf dem Boden kriechen konnte. Einige Zeit später spürte ich die Stufen des Tunnels und schob den Deckel des Grabmals beiseite. Das Licht stach mir in die Augen. Das erste, was ich dann sah, waren meine verratenen Hände, hässlich und verschämt. Meine Nägel bluteten, winzige Fetzen ausgefranster Haut hingen von den handschuhlosen Fingern, und die behandschuhten Finger hatten ausnahmslos rote Spitzen. Mit baumelnden Beinen saß ich dort, halb in der Kirche, halb im Tunnel, keuchte und weinte und schaute in die -335-
Dunkelheit zurück. In der Ferne, gerade noch vom Licht berührt, sah ich ein trauriges Stilleben. Unordentlich, vernachlässigt lagen dort einige, viel zu wenige Stücke meiner Ausstellung, zertrümmert und zerbrochen. Gerade noch konnte ich das abgerundete obere Ende meines letzten Ausstellungsstücks sehen, Position 996, das kostbarste aller Ausstellungsstücke. Der Gegenstand, für den die Ausstellung überhaupt angelegt wurde. Das stets an einen neuen Platz wandernde Exponat, das immer an jener Stelle platziert werden musste, die am weitesten vom Anfang entfernt war, immer wie die jüngste Neuerwerbung erscheinen musste. Ich rutschte wieder hinunter ins Halbdunkel. In diesem Tunnel wurde das Leben und die Liebe so vieler Menschen gezeigt. Vater war dort und Zwanzig und Claire Higg und der arme Peter Bugg und auch Emma, und sogar Anna Tap. Aber vor allem anderen wurde dort eine so bedeutende und wichtige Person aufbewahrt, dass mir seine Liebe wichtiger war als alle anderen ausgestellten Menschen: Position 996, ein Skelett. Ich hob dieses Ausstellungsstück auf, das sich in drei transparenten Beuteln befand. Ich tastete die Plastikhäute ab. Für einen Moment meinte ich im Dämmerlicht, er sei lebendig. Ich meinte, auf seinem Schädel Fleisch wachsen zu sehen, Augen in seine Augenhöhlen treten und einen großen, immerzu lächelnden Mund zu sehen. Ich meinte, ich sähe seinen Atem an der Innenseite des Plastikbeutels, doch dann verblasste das Leben wieder, und nur der Kopf lächelte weiter, das Lächeln eines Totenkopfs. Die abgerundete Oberseite des Schädels war blank poliert, sie schimmerte in der Dunkelheit. Ich hatte mich immer sehr darum gekümmert, er hatte eine solch wunderbare Rundung. Ich küsste sie. Dann studierte ich den Beutel, in dem sich die Hände des heißgeliebten Ausstellungsstücks befanden. Ich brachte die Beutel hinauf in die Kirche und legte sie auf den kalten Steinboden. Ich schüttete einen Beutel aus, sortierte die -336-
Knochen. Handwurzelknochen und Mittelhandknochen und auch Fingerglieder. Was für winzige Hände es doch waren. Sie hatten angefasst, sie hatten gesammelt, sie waren Handfläche an Handfläche zum Gebet zusammengelegt worden, sie hielten Dinge, auch andere Hände. Bruderhände in meinen Händen, Bruderschädel an meinem Schädel. Bruder Francis neben seinem jüngeren Bruder Thomas. Mein älterer Bruder. Bruderausstellungsstück vor allen anderen Ausstellungsstücken, das Ausstellungsstück, für das ich geliebt, aber niemals gemocht werden sollte. Ich schob den Deckel zurück, der erst wenige Monate zuvor für Vater entfernt worden war und als das Grabmal halb geöffnet war, legte ich die Überreste meines Bruders auf den Sarg meines Vaters, dorthin zurück, woher ich sie genommen hatte. Zumindest ein Gegenstand wurde zurückgegeben, wenigstens soviel konnte ich tun. Konnte Vater Gesellschaft geben. Konnte ihn daran erinnern, dass er einmal zwei Söhne gehabt hatte, egal wie sehr er auch immer versuchte, den Porträts zuliebe zu glauben, dass ich sein ältester Sohn war. Die Knochen kehrten nach Hause zurück, jeder Splitter, jedes angeschlagene Fragment meines kleinen Bruders, der älter war als ich. Zurück in sein steinernes Bett, Stück für Stück. Am Schluss der Schädel, den ich vorher noch ein letztes Mal polierte. Francis, Francis? Jemand rief. Francis? Francis? Ich bin hier, Anna. Du hast es verpasst. Wie konntest du es verpassen? Es ist eingestürzt, Francis. Deiner Mutter zufolge, wie ein einst mächtiger Elefant, dessen Knie nachgeben, bevor er ächzend hinfällt. Man sagt, es sei ein großartiger Anblick gewesen. Du hättest bleiben sollen. Ich habe dich gerufen. Es gab mehrere gewaltige Explosionen. Du hättest sie eigentlich hören müssen. -337-
Das hatte ich. Die Menschen haben gejubelt, als es einstürzte. Sie haben photographiert und gejubelt. Es sind immer noch viele da, sie sind zu den Trümmern gegangen, spielen auf dem, was von unserem Haus noch übrig ist. Ich habe so lange gebraucht, dort wegzukommen. Die Kreidemalerin hat mich hergebracht. Der Pförtner ist tot. Niemand hat ihn gesehen. Er ist tot. Die Ausstellung ist zerstört. Ja, ich denke, das ging wohl nicht anders. Es tut mir leid, Francis. Er wurde zerquetscht, und die Ausstellung haben sie auch zerquetscht. Wo werden wir heute nacht schlafen? All die Arbeit, für immer dahin. Man wird uns wahrscheinlich etwas suchen. Bestimmt wird man das. Anna, fünf Schritte entfernt, schien näher kommen zu wollen. Sie tastete sich vor, war mutig geworden durch die Ereignisse des Nachmittags. Sie streckte die Hände aus, suchte mich in der Luft, schlug mit den Händen gegen das Gitter der Kapelle, bis sie das offene Eingangstor fand, trat noch einen Schritt vor, und dann lagen ihre Finger auf dem Gegenstand, den ich in Händen hielt. Ihre Hände bewegten sich, sie tasteten den Schädel ab, die Zähne, ihre Finger glitten in die Augenhöhlen. Francis! Es ist in Ordnung. Was ist das? Es ist ein Exponat aus der Ausstellung. Ich lege ihn gerade zurück. Was ist das? -338-
Keiner von uns sagte ein Wort. Nachdem Anna wieder etwas ruhiger atmete, flüsterte sie: Es ist ein Schädel. Ich lege ihn zurück. Du hast ihn gestohlen. Aber ich lege ihn zurück. Du hast einen Schädel gestohlen. Er kommt jetzt wieder zurück. Ich lege ihn jetzt wieder zurück. Wessen Schädel ist das, Francis? Es ist der Gegenstand, wegen dem Vater so außer sich war. Sie wollten ihn vergessen. Aber ich habe mich daran erinnert. Es ist mein Bruder. Leg ihn zurück. Zurück in seinen Sarg. Und hinein mit dem Schädel. Ich schloss den Deckel, löschte das Licht, schloss die Kapelle ab. Anna saß auf einer der vorderen Bänke, hätte sie Augen gehabt, dann hätte sie die heilige Lucia angesehen. Ich setzte mich neben sie. Anna, mir sind die Handschuhe ausgegangen. Als sie anfing, meine zerrissenen Handschuhe auszuziehen, hielt ich sie nicht davon ab. Als sie meine Hände auf ihr Gesicht legte, protestierte ich nicht. Haut auf Haut. Haut auf Haut.
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VIII CITY HEIGHTS
Pförtner Der Pförtner, dessen wirklicher Name nie bekannt wurde, starb beim Abbruch des Observatoriums, den er maßgeblich herbeigeführt hatte. Es hieß, spielende Kinder hätten in den Trümmern unseres einstigen Zuhauses einen Schrankkoffer aus Metall gefunden, der jenem ähnlich war, den man in der Kellerwohnung des Pförtners gesehen hatte und von dem man annahm, dass sich in ihm alles befand, was von seinem Leben übrig war, alle Beweise für seine Existenz, bevor er seine Arbeit im Observatorium begann. Der Schrankkoffer war bei der Explosion stark verbeult worden, eines der Vorhängeschlösser war abgerissen aber eines war noch dran. Die Kinder, so wurde mir berichtet, knackten das verbliebene Vorhängeschloss und als sie den Deckel des Schrankkoffers hoben, um einen Blick hineinzuwerfen, fanden sie nichts. Der Schrankkoffer war leer. Aber dies ist nur eine Vermutung. Ein Gerücht. Man kann es glauben oder auch nicht. Claire Higg Claire Higg ist ebenfalls tot. Sie starb am gleichen Tag wie der Pförtner, nur kurz vorher. Während der Vorbereitungen zur Sprengung des Observatoriums filmten Fernsehkameras die Menge, die kreischend darauf wartete, dass es endlich losging. Eine dieser Fernsehkameras wurde auf Miss Higg gerichtet. Das -340-
Fernsehteam hatte Monitore aufgestellt, auf denen die Bilder der verschiedenen Kameras zu sehen waren. Diese Monitore standen ganz in Miss Higgs Nähe, und Miss Higg schaute glücklich auf die Bildschirme, fühlte sich wegen ihrer Gegenwart auch im Freien wohl. Als Miss Higg dann auf einen bestimmten Monitor schaute, bemerkte sie plötzlich auf dem Bildschirm die Gestalt einer Frau, die auf einen Fernsehmonitor starrte. Sie wusste, dass sie diese Frau einmal gekannt hatte, konnte sich nur nicht mehr so recht an sie erinnern. Sie betrachtete den Fernsehmonitor: Diese alte Frau hatte fettiges Haar, war dürr und blass und unübersehbar schmutzig. Wer könnte das wohl sein? Sie dachte nach und kratzte sich dabei am Kopf. Und während Claire Higg sich am Kopf kratzte, bemerkte sie, dass sich die alte Frau auf dem Fernsehmonitor ebenfalls am Kopf kratzte. Diese abstoßende alte Frau, die aussah, als hätte man sie jahrzehntelang in eine Schuhschachtel gesperrt. Claire fiel auf, als sie zuerst sich selbst und dann den Monitor ansah, dass die Frau sogar das gleiche Nachthemd trug. Sie bemerkte weiterhin, dass die alte Frau zufälligerweise exakt die gleichen Flecken auf dem Nachthemd hatte. Und dann begriff Claire Higg, frühere Bewohnerin von Wohnung 16, einst geliebt von Mr. Alec Magnitt (verstorben), (vielleicht) einst geliebt vom Pförtner (demnächst verstorben), dass sie selbst diese unangenehm aussehende alte Frau war. In dem Moment, in dem Claire Higg sah, wer sie war, in dem Moment, in dem sie sah, was aus ihr geworden war, sprang sie sofort in einen dieser Momente extrem geschärften Bewusstseins und beschloss, erfüllt von wachsendem Entsetzen, Abscheu und Atemlosigkeit, auf der Stelle einen Herzinfarkt zu bekommen. Natürlich starb sie. Aber es hätte sie vielleicht getröstet zu wissen, dass die letzten Augenblicke ihres Lebens ein äußerst sehenswertes Fernsehprogramm abgaben. Dies ist keine Vermutung. Dies sollten Sie glauben.
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Mutter Meine Mutter lebt noch, aber ich wohne nicht mehr bei ihr. Mutter wohnt in einem großen weißen Gebäude auf der anderen Seite der Stadt. Dieses Gebäude ist eines von mehreren und besonders darauf ausgerichtet, sich um alte Menschen zu kümmern. Als die Menge der Schaulustigen sich nach dem Abbruch zerstreute, wurde Mutter mitgerissen. Doch die Menge, die sich erheblich schneller bewegte, als ihr alter Körper problemlos verkraften konnte, spuckte sie wieder aus, drängte sie beiseite und schleuderte sie gegen eine Wand. Mutter brach zusammen. Als auch die letzten Leute sich entfernten, fand sie jemand, der Hilfe holte. Sie wurde auf einer Bahre in einen Krankenwagen getragen und verschwand in der Stadt. Wir brauchten eine Woche, bis wir sie wiedergefunden hatten. Alle Krankenhäuser riefen wir an, aber keines hatte sie aufgenommen, nicht einmal von ihr gehört. Am Ende schlug jemand vor, wir sollten doch im großen Pflegeheim anrufen. Und tatsächlich hatte der Krankenwagen sie direkt dorthin gefahren, in das winzige, angegliederte Krankenhaus, wohin so viele alte Leute gebracht wurden und das niemand für ein Krankenhaus hält, sondern nur für ein Sanatorium auf dem Gelände des Pflegeheims. Mutter hatte sich die Hüfte gebrochen. Man operierte sie, setzte ihr ein neues Gelenk ein. Man sagte ihr, dass sie sich nie wieder ohne Stöcke oder Gehhilfe bewegen könne. Das Pflegeheim verfügt über ein Personal von achtzehn Krankenschwestern und drei Ärzten. Es ist voller alter Leute, die dichtgedrängt auf engem Raum leben. Dort reden sie über alte Dinge und andere alte Menschen und alte Gegenstände, die es nicht mehr in Geschäften zu kaufen gibt und über alte Gerichte, deren Rezepte niemand mehr kennt. Mutter ist wütend auf die alten Leute, sie schreit die Krankenschwestern an und will wissen, warum sie mit sabbernden Idioten zusammenleben -342-
muss, die sich ständig einnässen und nicht einmal mehr wissen, wer sie sind. Sie sagt, sie sei nicht so wie die anderen, sie bekäme noch alles mit. Dann lächeln die Schwestern Mutter an und geben ihr ein paar Pillen. Mutter versteckt die Pillen. Sie hat mittlerweile eine großartige Sammlung, die sie im Spülkasten einer der Toiletten des Pflegeheims aufbewahrt. Ich bin sehr stolz auf Mutter. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass wir miteinander verwandt sind. Die Schwestern erlauben ihr nicht, das Tonband mit den Geräuschen von den Zähnen meines Vaters abzuspielen, und sie klagt darüber, nicht mehr schlafen zu können. Mutter lässt sich jeden Tag das Haar bürsten. Anna Tap Anna Tap hat entschieden, sich um mich zu kümmern. Nach dem Einsturz des Observatoriums, sagte sie, sei ich recht hilflos geworden. Wir verbrachten unsere Tage mit ausgiebigen Spaziergängen durch die Stadt. Lange Zeit führten uns diese Spaziergänge zu dem Ort, wo früher das Observatorium gestanden hatte. Container um Container waren die Trümmer abtransportiert worden. Oft gingen wir auch in den Tearsham Park. Der Waagenmann war immer noch dort und wenn wir ihm begegneten, sagte er jedes Mal, Anna habe zugenommen. Tatsächlich wurde sie recht dick. Ihr Bauch zeichnete sich deutlich unter dem Kleid ab. Schon bald musste sie sich neue Kleider aus einem dehnbaren Material kaufen, die groß genug waren, sie und ihre wachsende Leibesfülle zu bedecken. Eine Zeitlang gab sie sogar das Rauchen auf. Jetzt ist sie allerdings wieder dünn geworden, nicht so arg wie zuvor, sondern so schlank, wie sie war, als sie in das Observatorium einzog. An ihren Augen wurden gewisse Änderungen vorgenommen. Die Glasaugen trafen in der Klinik ein. Es wurde allerdings auch -343-
noch ein zweites Augenpaar angefertigt und Anna trägt nur diese Augen und niemals die aus der Klinik. Die Augen, die sie trägt, sind teilweise aus Glas, teilweise aus Holz. Ottilia, die Augenmacherin im Wachsfigurenmuseum, hat sie angefertigt. William hat das für uns arrangiert. So erhielt Anna am Ende also doch noch die Augen der heiligen Lucia, deren Oberflächen sorgfältig auf Glaskugeln geklebt wurden und die wunderbar in Annas Schädel passen. Sie sieht sehr schön mit ihnen aus. Sie machen sie sehr glücklich. (Manchmal, wenn Anna sich nicht bewegt, die Lider geöffnet hält und ihre hölzernen Augen zu sehen sind, denke ich, dass Anna zu einem Gegenstand geworden ist. Doch dann spricht sie, und ich werde daran erinnert, dass sie die echte Anna Tap ist, gemacht aus Fleisch und Blut.) City Heights Anna und ich wohnen zusammen in einem Haus direkt gegenüber von Tearsham Park Gardens. Wir wohnen schon seit einigen Wochen hier. Es ist ein modernes Gebäude, aber es gefällt uns. Unser neues Zuhause wurde exakt an derselben Stelle errichtet wie das Observatorium, wie Tearsham Park, es heißt City Heights und hat zwanzig völlig identische Stockwerke. Man hat einen Tunnel gebaut, der von City Heights zum Tearsham Park Gardens führt, eine Unterführung aus Beton, damit die neuen Bewohner den Kreisverkehr unterqueren können und keine Angst mehr davor haben müssen. Dieser Tunnel besitzt eine gelbe Neonbeleuchtung, die ihm eine klaustrophobische und feindselige Anmutung verleiht. Dort unten gibt es auch einige Graffiti. Ich glaube, sie stammen von Mark Daniel Cooper. Auch wenn das Observatorium verschwunden ist und City -344-
Heights seinen Platz eingenommen hat, ist es immer noch möglich, wenn man ganz still ist, das alte Gebäude zu hören. Manchmal höre ich Miss Higgs Fernseher oder Zwanzigs Bellen, und gelegentlich meine ich, die hundert Gerüche von Peter Bugg riechen zu können. Wenn man ganz reglos bleibt, so reglos, dass einem fast das Herz stehen bleibt, kann man die Geräusche von Tearsham Park wahrnehmen, kann man den Hund Hope kratzen hören oder meinen Vater mit den Sternen sprechen oder Emma eine Geschichte erzählen. Und vielleicht, wenn man die äußere und innere Reglosigkeit so beherrscht wie ich, kann man auch, vielleicht und dann auch nur kaum, den unruhigen Atem meines Bruders hören, den Atem des anderen Francis Orme. Francis Orme Ich trug weiße Handschuhe. Ich wohnte bei meiner Mutter und meinem Vater. Ich hatte eine geschwollene Unterlippe. Ich trage keine weißen Handschuhe mehr. Ich lebe mit Miss Anna Tap zusammen. Meine Lippen sind nicht geschwollen. Ich arbeite nicht mehr auf dem Sockel in der Innenstadt. Mir wurde eine Anstellung von der Firma angeboten, der City Heights gehört. Ich nahm das Angebot an. Sie haben mir eine wunderbare blaue Uniform mit goldenen Epauletten gegeben und Anna und mir eine schöne Zwei-Zimmer-Wohnung im Keller zur Verfügung gestellt. Anna sagt, ich gebe einen guten Pförtner ab. Ich kenne jeden, der in dem Gebäude lebt. Anna und ich verbringen die meiste Zeit gemeinsam mit einem neuen Ding. Dieses neue Ding besitzt keinerlei Verständnis für innere oder äußere Reglosigkeit, befindet sich in ständiger Bewegung und gibt laute, sehr laute Geräusche von sich, die uns nachts wach halten. Das neue Ding lebt. Es ist ein weibliches neues Ding, und wir haben sie Frances genannt. -345-
Als ich unsere Tochter das erste Mal sah, habe ich geweint, weil sie so winzige Hände hatte. Jetzt sind sie größer geworden. Jetzt greifen sie und lassen einen nicht mehr los. Ich habe unser neues Zuhause weiß gestrichen. Manchmal tauche ich meine Hände in den Farbeimer. Bei diesen Gelegenheiten gehe ich zum Spiegel und betrachte mich mit weißen Händen. Dann bin ich traurig.
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Anhang FRANCIS ORMES AUSSTELLUNG DER LIEBE
Positionen 1 - 996 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.
Ein Kassenzettel. Ein benutzter Briefumschlag (weiß). Ein benutzter Briefumschlag (blau). Eine weiße Plastiktüte. Eine leere Weinflasche. Ein Bleistiftstummel. Eine leere Dose Eiertomaten. Eine rote Plastiktüte. Eine leere Essigflasche. Eine leere Dose Ananasstücke. Eine leere Pappschachtel (weiß). Ein rostiger und verbogener Nagel. Eine braune Papiertüte. Viele Bleistiftspäne. Einige Gänsefedern. Eine Glühbirne (durchgebrannt). Ein alter Wischmop. Eine leere Pappschachtel (braun). Einige Fischgräten. -347-
20. Ein alter Kalender. 21. Eine Sammlung abgeschnittener Zehennägel. 22. Verschiedene Sorten Hundekot in einem Glas (versiegelt). 23. Ein Baumwolltaschentuch (benutzt). 24. Ein versiegeltes Glas mit Badewasser. 25. Eine Sammlung Asche aus einem offenen Kamin. 26. Eine verbogene Haarspange. 27. Eine Menge Kartoffelschalen. 28. Eine Tageszeitung. 29. Ein kaputter Metallkleiderbügel. 30. Ein Apfelkerngehäuse. 31. Eine Porzellantasse ohne Henkel. 32. Ein gebrauchter Einwegrasierer. 33. Eine Sicherung (durchgebrannt). 34. Ein Korken (von einer Weinflasche). 35. Eine Zigarettenkippe. 36. Eine verbogene Heftklammer. 37. Eine Socke mit drei Löchern. 38. Ein Teddybär (klein). 39. Ein Zinnsoldat (Infanterie). 40. Ein Roboter zum Aufziehen. 41. Ein ausgestopfter Fuchs. 42. Ein Plastikfrosch. 43. Eine Sammlung zerbrochenes Glas. 44. Eine Tabaksdose aus Blech. 45. Ein Stoß schwarzes Zigarettenpapier. 46. Ein Miniaturelefant aus Elfenbein. 47. Eine Brautschatulle (Schildpatt mit metallener -348-
48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72. 73.
Einlegearbeit). Ein Essensgong (Kupfer und Blech). Ein Liebesbrief. Der achte Band einer Enzyklopädie. Zwei Messingtürknäufe. Ein Maha gonilineal. Eine große Flasche schwarzer Tinte. Ein Haarnetz. Zwei hölzerne Türknäufe. Eine Suppenkelle. Vier Gardinenzüge. Das Photo einer Jagdgesellschaft. Ein Photo von einer Jagd. Ein im orientalischen Stil gefertigter hölzerner Hahn. Ein Erdglobus. Ein Bein von einer alten Eistruhe. Ein Klavierhocker. Ein Buch über die Wissenschaft der Physiognomik. Ein goldener Siegelring. Verschiedene Teile von vier Vogelscheuchen. Eine Punschschüssel (Silber und Schildpatt). Ein Zweihänderschwert (Stahl). Ein Ablauf aus Kiefernholz. Eine Reitpeitsche. Ein Schuhlöffel aus Elfenbein. Ein Familienstammbaum (auf Pergament). Ein Schnitzmesser. -349-
74. 75. 76. 77. 78. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. 95.
96. 97. 98.
Zwei Nagelscheren (Silber). Eine Miniaturdampfmaschine. Die Ecke von einem Gobelin (Wolle und Seide). Ein Stößel. Ein Photo von einer Frau mit einer Reihe Porzellanpuppen. Eine Kleiderbürste. Ein brauner Lederschuh (Herren, rechter Fuß). Ein schwarzer Lederschuh (Herren, rechter Fuß). Ein Pfefferstreuer. Ein Porzellanschwan. Ein vergoldeter Kerzenhalter aus Buchenholz. Ein brauner Filzhut. Eine Suppenterrine (Porzellan). Ein hölzerner Krocketball (rot). Zwei Glaskristalle von einem Kronleuchter. Zwölf Kassenbücher. Ein Wasserkrug, Silber, vergoldet. Die Marmorbüste eines kahlköpfigen Gentleman. Ein Stuhlbein (Kiefer). Die Gebissstange eines Zaumes. Eine Schnupftabaksdose (Elfenbein). Ein Buch mit dem Titel Der Abendmahlsgottesdienst (Einband aus schwarzem Ziegenleder). Ein Diadem (Gold, Silber, Smaragde). Ein Aschenkasten. Ein illustriertes Buch über Motten und Schmetterlinge. -350-
99. Eine Angel für das Fliegenfischen von Lachs. 100. Ein Paar diamantenbesetzte Ohrringe aus Silber. 101. Ein Buch mit aktuellen Stadtplänen. 102. Eine kleine Skulptur einer klassischen Figur (Buchsbaum). 103. Eine Strohpuppe. 104. Eine Muskete mit Luntenschloss. 105. Ein großer Blumentopf aus Terrakotta. 106. Ein Kirchenfenster mit einem Familienwappen. 107. Ein silberner Brieföffner. 108. Zwei Eier aus Malachit. 109. Eine Holzkohlenskizze von einem geräumigen Haus. 110. Ein tontinisches Tablett (Silber). 111. Ein Sonnenschirm. 112. Drei silberne Serviettenringe. 113. Ein Zeitungshalter. 114. Eine Schürze. 115. Ein kupferner Kesseldeckel. 116. Ein Torriegel. 117. Eine Schraube von einem Mikroskop. 118. Ein Rodelschlitten. 119. Zwei Teetassen aus Porzellan. 120. Eine hölzerne Klosettbrille. 121. Eine Maschine zum Verkorken von Flaschen. 122. Eine Gießkanne. 123. Zwei Kricketquerhölzer. 124. Eine illuminierte Handschrift. 125. Ein Kissen mit einem bestickten Überzug. -351-
126. Eine Schachtel Nadeln. 127. Ein Kochthermometer. 128. Ein Buch mit botanischen Zeichnungen. 129. Zwei Drucke von Hahnenkämpfen. 130. Ein Buch mit anatomischen Zeichnungen. 131. Ein Metallbolzen. 132. Ein Gartenhandschuh. 133. Das Aquarell einer schönen Frau, zweihundert Jahre tot. 134. Ein Stundenglas. 135. Eine Flasche mit altem Portwein (ungeöffnet). 136. Ein Salzstreuer, Silber, vergoldet mit Glas. 137. Eine Wetterfahne. 138. Einige Exlibris (in heraldischem Design). 139. Eine Brunnenpumpe. 140. Zwei Würfel (Elfenbein). 141. Zwei hölzerne Spielsteine von einem Backgammon-Spiel. 142. Ein Turm von einem Schachspiel (Elfenbein). 143. Ein Turm von einem Schachspiel (Holz). 144. Ein Stab zur Reinigung von Schrotflinten. 145. Ein Paar Topfhandschuhe. 146. Sieben Geschirrtücher. 147. Der Aufziehschlüssel einer Standuhr. 148. Der Aufziehschlüssel einer Standuhr. 149. Der Aufziehschlüssel einer Großmutteruhr. 150. Der Aufziehschlüssel einer Stiluhr. 151. Der Aufziehschlüssel einer Tischuhr. 152. Ein Vergrößerungsglas. -352-
153. Ein Päckchen Kurkuma. 154. Ein Päckchen Knoblauchsalz. 155. Zwei Lorbeerblätter. 156. Eine Karaffe aus geschliffenem Glas mit Malt Whisky. 157. Eine silberne Zuckerschale. 158. Ein Entermesser. 159. Ein Blasebalg. 160. Ein Schürhaken. 161. Eine Porzellanvase. 162. Ein Psalter. 163. Ein in Maroquinleder gebundenes Buch (ein Band der Familiengeschichte der Ormes). 164. Ein Photo von einem Jungen mit einem Teddybären (schwarzweiß). 165. Ein Watstock. 166. Ein Pfefferstreuer, Silber, vergoldet mit Glas. 167. Ein schmiedeeisernes Kamingitter. 168. Ein Kohleneimer. 169. Zwölf Schutzumschläge. 170. Eine eiserne Fußangel. 171. Ein Fischkessel. 172. Ein schwarzer Lederreitstiefel. 173. Eine Fruchtschale aus Kristallglas. 174. Ein Teddybär ohne Mund. 175. Ein hölzerner Kreisel. 176. Ein hölzernes Jo-Jo. 177. Ein Kricketschläger. 178. Eine Marionette (Junge mit langer Nase). -353-
179. Ein Dreirad. 180. Eine Geburtsurkunde. 181. Ein Totenschein. 182. Die Überreste einer Maus, auf ein Brett genagelt (beschriftet). 183. Die Überreste einer Maus, auf ein Brett genagelt (beschriftet). 184. Ein Lichtschalter. 185. Ein Sitzstock 186. Ein zerkautes Hundehalsband mit Namensschild (geprägt). 187. Ein Hundehalskragen. 188. Acht Scharniere einer spanischen Wand. 189. Eine Nachttischlampe. 190. Ein Rücktrittsgesuch. 191. Ein Klingelzug. 192. Eine nackte Porzellanpuppe. 193. Ein halber Vorhang. 194. Eine Anzahl dünner Wachskerzen. 195. Ein Abschiedsbrief. 196. Ein Entschuldigungsbrief. 197. Ein Brief des Hausherrn an die Haushälterin. 198. Die Schlüssel der Haus hälterin. 199. Eine Dienstbotenuniform. 200. Zwei Eiswürfelschalen. 201. Ein Satz Bauklötze für Kinder. 202. Sechs Entlassungsschreiben. 203. Eine Wasserpfeife. 204. Eine mechanische Spielzeugeisenbahn. -354-
205. Eine Tube Bohnerwachs 206. Sieben Schrauben von einem Dampfkessel. 207. Eine Kehrichtschaufel mit Besen. 208. Vier Postkarten aus fremden Städten. 209. Der Schlüssel zur Gesindestube. 210. Eine uralte Boxkamera. 211. Eine Dose mit Silberputzmittel. 212. Ein Hufkratzer. 213. Ein Geständnis mit Tränenspuren (Tinte auf Papier). 214. Ein Brief, der das Ende eines Vertrags bestätigt. 215. Ein Monokel. 216. Ein Gestell für Tennisschläger. 217. Der Griff einer Klospülung. 218. Eine mumifizierte Katze. 219. Ein Orientteppich. 220. Ein Napf für Hundefutter. 221. Ein Himmelsglobus. 222. Ein Stück grüner Filz (von einer Tür). 223. Eine Packung Aspirin- Tabletten. 224. Eine Liste von Gegenständ en, die zu versteigern sind (Broschüre). 225. Ein Auktionshammer. 226. Ein Scheck, ausgestellt auf ein Auktionshaus. 227. Zwei Rollen Wandtapete. 228. Eine Kabeltrommel. 229. Eine Metallsäge. 230. Ein Elektrobohrer. 231. Zwei Monteuranzüge. -355-
232. Ein genau abgeschnittenes Stück Fußleiste. 233. Eine Fußboden-Poliermaschine. 234. Das Innere eines Telefons. 235. Ein Werkzeugkasten. 236. Ein Sicherungskasten. 237. Dreizehn Pinsel. 238. Ein Ballettschuh. 239. Das erste Schlüsselset eines neuen Hausbewohners. 240. Sieben Einladungen zu einer Einweihungsfeier. 241. Eine unbenutzte Fußmatte. 242. Ein Stück Verband. 243. Mehrere Photos von der Chromssphäre der Sonne. 244. Ein Reisebuch. 245. Ein Metronom. 246. Ein Testament. 247. Ein Kaschmirschal. 248. Ein Orden (Silber, Band). 249. Eine Landkarte von Westeuropa. 250. Eine Landkarte von Osteuropa. 251. Ein Hochzeitsphoto. 252. Ein Tennisschläger. 253. Ein Holzschuh. 254. Ein Bügelhorn. 255. Eine Röntgenaufnahme der Lungen. 256. Eine männliche Plastikpuppe. 257. Ein getrockneter Kugelfisch. 258. Eine Paraffinlampe. 259. Eine Trompete. -356-
260. Eine Brille. 261. Ein Kieselstein. 262. Ein Inhalationsgerät. 263. Ein lederner Boxhandschuh. 264. Ein steifer, hoher Priesterkragen. 265. Eine Menge Hostien. 266. Ein Märchenbuch. 267. Vier Spitzenhäubchen. 268. Ein Militärschwert. 269. Ein Dosenöffner. 270. Eine Gebrauchsanleitung (für einen Kindermodellbausatz). 271. Ein Stück Karton mit Beschriftung (aus dem Besitz eines Landstreichers). 272. Ein Pass. 273. Mehrere Gitarrensaiten. 274. Ein Diskus. 275. Eine Totenmaske. 276. Eine handgezeichnete Karte. 277. Ein Einkaufskorb. 278. Ein Regenschirm. 279. Zwei Flugtickets (nicht rückerstattungsfähig). 280. Eine Spezialsäge. 281. Eine Bleistiftzeichnung, auf der ein Buckliger abgebildet ist. 282. Ein Fäustling aus Wolle. 283. Ein Kruzifix. 284. Eine goldene Sportmedaille. 285. Eine Rolle Stacheldraht. -357-
286. Ein Stepptanzschuh. 287. Ein lederner Sandsack. 288. Eine Hundepfeife. 289. Ein kalbslederner Stulpenhandschuh. 290. Ein Plattenspieler. 291. Eine Rasenmäherklinge. 292. Eine Todesdrohung (aus einer Zeitung ausgeschnittene Buchstaben, auf weißes Papier geklebt). 293. Ein Stück Treppenläufer. 294. Das Protokoll eines Prozesses. 295. Eine Dose mit getrockneten Teeblättern. 296. Eine Steuerrückzahlung (Scheck). 297. Eine Sammlung Scheren (sechsundzwanzig Stück). 298. Eine Moleskinhose. 299. Ein Schallplattenverzeichnis aus einer Musikbox. 300. Eine Flasche Massageöl. 301. Zwei Gehstöcke. 302. Eine Nagelbürste. 303. Ein blaues Hemd. 304. Ein Terminkalender. 305. Eine Anzahl von Schlüsseln an einem Schlüsselring. 306. Ein Verkehrszeichen. 307. Eine Zoetrop, auch Wundertrommel genannt. 308. Einige getrocknete Chilis. 309. Ein Vogelnest. 310. Ein Einkaufszettel. -358-
311. Eine Stockpuppe. 312. Ein Kindertöpfchen (Email). 313. Eine Bibel (ledergebunden). 314. Die Spitze eines menschlichen Daumens (in Baumwolle gewickelt). 315. Eine Fußschüssel aus Blech. 316. Ein Schulphoto. 317. Ein Führer von einem öffentlichen Schlachthof. 318. Ein Bauteil aus einer Waschmaschine. 319. Ein Buch über Philosophie. 320. Das Eisenrohr eines Glasbläsers. 321. Ein Märchenbuch für Kinder. 322. Ein gekrümmter Beitel. 323. Ein schwarzer Ledergürtel. 324. Ein Adressbuch. 325. Das Pedal einer Nähmaschine. 326. Ein Mikrophon. 327. Ein silberner Teelöffel. 328. Ein getrockneter Seestern. 329. Ein Buch über Diäten. 330. Ein Federkiel. 331. Eine Arche Noah (mit zwanzig Holztieren und zwei Holzmenschen). 332. Eine Plastikpuppe, die sich selbst einnässen kann. 333. Ein Oboen-Rohrblatt. 334. Eine Urinprobe (in einem Reagenzglas). 335. Der Deckel eines Taufsteins. 336. Ein Ruder. 337. Eine Kindertrommel. -359-
338. Ein elektrischer Toaster. 339. Eine Turnhose. 340. Eine Aderpresse. 341. Ein Weinglas mit dem Abdruck eines Lippenstifts am Rand. 342. Ein Wettschein. 343. Eine Flasche Tipp- Ex. 344. Eine Maultrommel. 345. Ein Blasrohr. 346. Ein Spielzeugpanzer aus Plastik. 347. Ein politisches Manifest. 348. Eine Zielscheibe (von einem Dart-Spiel). 349. Ein Schlagring. 350. Ein Poster von einem Filmstar. 351. Eine Dose mit Strohhutfirnis. 352. Ein Telegramm. 353. Zwei Perlenohrringe. 354. Eine Papierfahne an einem Holzstab. 355. Ein Metalldetektor. 356. Ein Dinosaurier-Modellbaukasten. 357. Ein Chiffrierbuch. 358. Ein Leihbuch. 359. Ein Bibliotheksausweis. 360. Ein Schrapnellsplitter. 361. Eine Schlafanzughose (schmutzig). 362. Ein Stück Schottenstoff. 363. Mehrere Ausstellungskataloge. 364. Eine Flagge. 365. Ein Zahnbecher. -360-
366. Eine Tube Fleckenentferner. 367. Ein Kazoo. 368. Ein Wörterbuch der Medizin. 369. Der Eckzahn von einem Narwal. 370. Eine batteriebetriebene Taschenlampe (Gehäuse aus Gummi). 371. Eine handschriftliche Karte über den genauen Ort eines Grabes (Papier). 372. Ein Paar Stiefel, einer mit höherem Absatz und Metallverstärkung. 373. Ein Theater aus Pappe. 374. Ein Buch mit bebilderten Erzählungen. 375. Ein mit Sand gefüllter Glasbehälter. 376. Ein Kopfhörer. 377. Eine Taschenuhr. 378. Ein Bajonett. 379. Ein blutbefleckter Teewärmer. 380. Eine Fernbedienung für einen Fernseher. 381. Ein Infusionsapparat. 382. Ein billiges Schmuckstück (geprägt). 383. Ein Rollschuh. 384. Ein Zylinder. 385. Ein Feuermelder. 386. Eine Cordjacke. 387. Ein Türklopfer aus Messing. 388. Ein fingerloser Handschuh zum Sportschießen. 389. Ein medizinischer Armreif. 390. Ein Stopfei. 391. Ein Bumerang (Karenya-Holz). -361-
392. Ein Bierdeckel (mit einer darauf geschriebenen Telefonnummer). 393. Ein Heizkörperhahn. 394. Ein Arbeitsvertrag (für eine Stelle in einer Wachsfigurenausstellung). 395. Eine Liste von Vorschriften und Bedingungen am Arbeitsplatz. 396. Ein Stadtplan. 397. Eine Hutnadel. 398. Ein Teil von einem Wachsohr. 399. Ein Holzreifen. 400. Ein Stempelkissen. 401. Ein Gummistempel. 402. Eine blaue Socke. 403. Ein Malkasten. 404. Die Uniform einer Krankenschwester. 405. Eine Narrenkappe. 406. Eine Harmonika. 407. Eine Miniaturstatue von Buddha. 408. Ein St.-Christophorus-Medaillon. 409. Ein buntgestreifter Hosenträger. 410. Eine Straußenfeder. 411. Ein Stahlhelm. 412. Eine Flasche Arsen. 413. Skizzen eines Künstlers. 414. Ein Kreissägeblatt. 415. Ein Spachtel eines Bildhauers. 416. Ein silberner Drehbleistift. 417. Gussformen von einem Wachskopf. -362-
418. Ein Büschel blondes Haar. 419. Ein Wachsfuß. 420. Ein Glasauge. 421. Ein seidenes Kopftuch. 422. Eine Maschine zum Zählen von Banknoten. 423. Ein Büschel braunes Haar. 424. Eine Postkarte von der Stifterin Wachsfigurenmuseums. 425. Ein Kaleidoskop. 426. Eine Schwarzweißphotographie Familienporträt). 427. Ein Paar schwarze Lederhandschuhe. 428. Ein Päckchen Zigaretten (ungeöffnet). 429. Ein metallenes Zahnrad. 430. Eine Wärmflasche. 431. Ein Bauplan eines Architekten. 432. Mehrere Streichholzschachteln (alle leer). 433. Ein Büschel kupferrotes Haar. 434. Eine verwelkte Rose. 435. Ein Sportpokal. 436. Ein silbernes Armband. 437. Pfeil und Bogen. 438. Eine Wachsbirne. 439. Eine Hornbrille. 440. Eine Kinderregenjacke. 441. Eine Hundeleine. 442. Ein Klavierschlüssel. 443. Eine Schwimmbrille. 444. Die Robe eines Chorknaben. -363-
eines
(ein
445. Ein Sturmfeuerzeug. 446. Ein Zeichendreieck. 447. Ein Winkelmesser. 448. Ein Kompass. 449. Ein stumpfer Bleistift. 450. Hausaufgaben eines Schulkindes. 451. Eine silberne Krawattennadel (graviert). 452. Ein Zielfernrohr. 453. Ein Stück rotes Band. 454. Eine Epaulette. 455. Eine schwarze Baumwollweste. 456. Ein Paar lederne Hausschuhe. 457. Das Rad von einem Krankenhausbett. 458. Ein Stück Seife (Zitronenduft). 459. Vier Dosen Kraftbrühe. 460. Ein Hörrohr. 461. Eine Gelenkleuchte. 462. Eine Fußfessel. 463. Ein Gipsabdruck von einem menschlichen Gebiss. 464. Pulver zur Zubereitung von Milkshakes in einem Plastikbehälter. 465. Ein Penis aus Schokolade. 466. Eine Schildkröte. 467. Eine Flasche Nelkenöl. 468. Ein Zwergenkostüm. 469. Eine Club-Mitgliedskarte. 470. Ein Reflexhammer. 471. Eine Zahlenliste für ein Kombinationsschloss. 472. Eine Polizeiakte. -364-
473. Mehrere Kinderbilder. 474. Eine Photographie von einer Erstkommunion. 475. Ein Rauchen- verboten-Schild. 476. Ein Flachmann (mit Brandy). 477. Ein Lotterielos. 478. Ein Photo einer alten Frau. 479. Eine menschliche Rippe (die angeblich einem Heiligen gehörte). 480. Ein Billardstock. 481. Eine Fleischpastete. 482. Ein Walkman. 483. Seidenunterwäsche. 484. Zwei Bodendielen. 485. Eine Schallplatte. 486. Mehrere Lockenwickler. 487. Ein Feuerzeug aus Messing. 488. Mehrere Mottenkugeln. 489. Ein Briefmarkenalbum. 490. Eine Aktentasche. 491. Ein Behälter für die sterblichen Überreste eines Menschen (Plastik). 492. Die sterblichen Überreste eines Menschen (Asche). 493. Ein Schraubenzieher (mit Plastikgriff). 494. Ein roter Satin-BH. 495. Ein Magnet. 496. Eine Kontaktlinse. 497. Ein Florett. 498. Eine Sonnenbrille. 499. Das erste Paar Schuhe eines Kindes. -365-
500. Eine Pelzmütze mit Ohrenklappen. 501. Der Backenzahn eines Zahnarztes. 502. Eine Mörtelkelle. 503. Ein Paar lederne Schaftstiefel. 504. Ein Knochenbohrer. 505. Der Brief von einer Mutter an ihren Sohn. 506. Vier Pfauenfedern. 507. Ein Buch mit Verbrechensstatistiken. 508. Ein Buch mit Fingerabdrücken. 509. Ein Rollstuhl (zusammengeklappt). 510. Eine blaugrüne Pudelmütze mit Bommel. 511. Ein Sextant. 512. Eine Photographie von der Geburtstagsfeier eines Sechsjährigen. 513. Mehrere Schokoladeneier. 514. Ein Windspiel. 515. Ein Angestellter-des-Monats-Abzeichen. 516. Eine Wäscheleine. 517. Eine einfache Keramik. 518. Ein schmutziges Umhängetuch. 519. Eine Camera obscura. 520. Eine Sammlung Nippesfiguren (Katzen aus Porzellan, Plastik, Gummi, Glas). 521. Das Bein einer kleinen Aufziehballerina. 522. Eine BH-Sammlung (zwölf Teile), gestohlen von einem Jungen. 523. Ein Streichholzmodell von einer eingespannten Bogenbrücke. 524. Zwei Schweineherzen in einer Holzkiste. -366-
525. Eine stonewashed Jeans. 526. Ein Kinderlexikon. 527. Ein großer Kaktus. 528. Ein elektrischer Heizlüfter. 529. Ein silbernes Zigarettenetui. 530. Ein Hörgerät. 531. Eine Photographie einer Frau auf Wasserskiern. 532. Mehrere Tigerzähne. 533. Ein Glas Senf. 534. Ein Tablettenröhrchen (etikettiert). 535. Eine signierte Lithographie. 536. Der Schminkkasten eines Clowns. 537. Ein Schreibmaschinenfarbband. 538. Eine Sonnenbrille. 539. Eine Schmalfilmkamera. 540. Ein Schmalfilm (belichtet). 541. Spulen mit Schmalfilm (entwickelt). 542. Ein Rollkragenpullover. 543. Eine Menge Postkarten. 544. Eine Dose Raumspray. 545. Ein Füllfederhalter aus Stahl und Plastik. 546. Eine Ampulle mit Jungfrauenblut (angeblich). 547. Ein Notenständer. 548. Eine Stelze. 549. Ein Aschenbecher aus Terrakotta. 550. Eine abgewetzte Fußmatte. 551. Ein Nonnenschleier. 552. Eine Karte eines fremden Landes. -367-
553. Eine Opiumpfeife. 554. Der Abholschein einer Reinigung. 555. Eine Zahnspange. 556. Eine Zündkerze. 557. Eine Sicherheitsnadel. 558. Ein Tintenfass aus Porzellan. 559. Ein Buch mit Volksmärchen für Kinder. 560. Eine Handtasche (mit umfangreichem Inhalt). 561. Eine Hälfte einer über zehn Jahre gehenden Korrespondenz (479 Briefe). 562. Ein Puzzle-Teil. 563. Ein Skapulier (Stoff). 564. Ein Universitätsabschlusszeugnis. 565. Eine Luftpumpe. 566. Die Photographie eines Teenagers (weiblich). 567. Mehrere Wunderkerzen. 568. Eine Heiratsurkunde. 569. Ein Stoß Notenblätter. 570. Die gebundene Ausgabe eines Romans. 571. Eine Photographie von einer politischen Versammlung. 572. Eine Sammlung von Kaugummi-Papierchen. 573. Ein Kanaldeckel. 574. Eine Strafarbeit (dreißig Blatt Papier, vollständig). 575. Eine Dissertation über Kastraten (handschriftlich). 576. Eine einfache Decke. 577. Ein hölzernes Götzenbild. 578. Die Sitzfläche eines Korbstuhls. 579. Eine Sammlung von Hotel-Briefpapier. -368-
580. Eine wattierte Tagesdecke. 581. Eine Unze Haschisch. 582. Mehrere abgefeuerte Gewehrpatronen. 583. Eine Gebetsmühle. 584. Ein Funkempfänger. 585. Ein Koffer voller Bananen. 586. Ein Tagebuch eines Schulmädchens. 587. Ein Puppenhaus. 588. Ein Knöchelband. 589. Eine Sammlung aufgespießter Motten. 590. Die vollständigen handschriftlichen Liebesgedichte eines Amateurdichters. 591. Ein Zirkusplakat. 592. Eine Augenbinde. 593. Ein Stapel Kochrezepte. 594. Eine Bootsmannspfeife. 595. Die Photographie eines alten Mannes mit einem jungen Mädchen. 596. Eine Sammlung Speisekarten. 597. Ein Nähzeug. 598. Ein Flaschenöffner. 599. Ein Gesangbuch. 600. Eine Perlenkette. 601. Eine Schachtel medizinischer Handschuhe. 602. Ein Brief von einem Rechtsanwalt. 603. Das Wörterbuch einer toten Sprache. 604. Ein kleines Gemälde von der Jungfrau Maria. 605. Eine Zielscheibe (benutzt). 606. Die Nachtglocke eines Arztes. -369-
607. Ein Fernseher. 608. Ein Schaukelsitz. 609. Ein Holzstab aus einem Geländer. 610. Eine Sammlung von Comic-Heften. 611. Teil eines Motors aus einer mechanisierten Wachsfigur. 612. Eine gelbe Plastikzahnbürste. 613. Die Photographie eines Mannes, der zu einer großen Menschenmenge spricht. 614. Die Pfeife eines Verkehrspolizisten. 615. Eine Edition von zwölf Kupferstichen. 616. Eine Papiertüte mit Zitronenbrausepulver. 617. Die Handfläche eines Märtyrers (Gips). 618. Eine Dose Kaviar (geöffnet). 619. Ein Zu-verkaufen-Schild. 620. Ein eingelegtes menschliches Kleinhirn. 621. Zwölf Flaschen selbstgebrautes Bier. 622. Ein Sonnenhut. 623. Ein Buchprüfungsbericht. 624. Eine Augenklappe. 625. Ein Sprachkurs (vier Kassetten, ein Buch). 626. Ein Rückenkratzer. 627. Ein Filmplakat. 628. Ein Kündigungsschreiben. 629. Der Ausstellungskatalog eines Wachsfigurenmuseums. 630. Ein letzter Gehaltsscheck. 631. Ein dunkelrotes Band. 632. Ein Stück Gabardine. -370-
633. Ein Paar schwarzer Spangenschuhe. 634. Ein Holzbein. 635. Ein angeschlagenes Urinal. 636. Eine Herzmuschel aus Messing. 637. Ein tragbarer Gaskocher. 638. Eine Korallenkette. 639. 639.17 Detektivromane. 640. Eine Milchflasche (ungeöffnet). 641. Ein Paar weiße Handschuhe von einem berühmten Zauberer. 642. Ein Gruppenphoto von einem Klassentreffen. 643. Ein Radio. 644. Ein Notizbuch (mit Gewichtsangaben von Menschen). 645. Mehrere (entwickelte) Diapositive. 646. Ein Diaprojektor. 647. Ein eingeschriebener Brief (ungeöffnet). 648. Ein Päckchen Spielkarten (markiert). 649. Ein Buch über trockene Cholera. 650. Der Name eines gefallenen Soldaten von einem Kriegerdenkmal. 651. Eine Startpistole. 652. Ein Hochzeitskleid (Satin). 653. Eine Fahrradpumpe. 654. Eine Flasche Kleber. 655. Ein Schnorchel. 656. Ein Theaterstück. 657. Ein Architektenentwurf für Sozialwohnungen. 658. Ein Taschenspiegel. -371-
659. Eine karierte Hose. 660. Eine Katzenklappe. 661. Ein präparierter Lachs (in gläsernem Schaukasten). 662. Ein Zierdeckchen (Baumwolle). 663. Eine Milchflasche (ungeöffnet). 664. Ein Handbuch über die Sexualität. 665. Eine Schachtel mit verschiedenen Feuerwerkskörpern. 666. Eine schwarze Haarlocke. 667. Lippenstift (zinnoberrot). 668. Mehrere gefurchte Blei- und Nickelkugeln. 669. Eine Smokingjacke und Hose. 670. Eine Violine. 671. Ein Duschkopf. 672. Ein Brusthaartoupet. 673. Ein silberner Bilderrahmen (leer). 674. Ein Halstuch (Seide). 675. Eine Visitenkarte. 676. Ein Paar knöchelhoher Lederstiefel. 677. Die Photographie von einem pickeligen jungen Mann. 678. Ein Ölgemälde einer blauen Perserkatze. 679. Eine Milchflasche (ungeöffnet). 680. Ein Hammer. 681. Ein Vibrator. 682. Eine Vogeltabelle. 683. Ein Uhrenpendel. 684. Ein astrologisches Schaubild. 685. Eine Schneiderschere. -372-
686. Einige Photographien von Patienten, die sich freiwillig in eine Nervenheilanstalt haben einweisen lassen. 687. Eine Roulettkugel aus Elfenbein. 688. Eine Bauchrednerpuppe. 689. Eine Gezeitentabelle. 690. Künstliche Flügel. 691. Ein Kolostomiebeutel (leer). 692. Eine Trillerpfeife. 693. Eine Flasche Shampoo. 694. Eine Keksdose. 695. Ein Pultaufsatz (Esche). 696. Ein weißer Leinenanzug (drei Teile). 697. Ein Memoire-Ring (Diamant, Silber). 698. Ein Fächer aus Papier und Holz. 699. Ein Dauerlutscher. 700. Ein Scheitelkäppchen. 701. Ein Gerät zum Entfernen von Fusseln. 702. Ein Kleiderbügel. 703. Ein Selbstbildnis. 704. Ein ledernes Lesezeichen. 705. Ein Baumwollnachthemd (weiß). 706. Ein Anker. 707. Eine Herdtür. 708. Feuchtigkeitscreme. 709. Ein Päckchen Zigarettenpapier. 710. Eine Kerze. 711. Vier Dosen Bier. 712. Ein Taschenmesser mit sechzehn verschiedenen -373-
Klingen. 713. Die Überreste einer Tulpe. 714. Ein Fliegerkompass. 715. Ein Schubladengriff (Messing). 716. Eine Brieftasche voller Geld. 717. Eine Jogginghose. 718. Zwei Kino-Eintrittskarten. 719. Eine Kaffeekanne aus Jenaer Glas. 720. Ein Benzinkanister. 721. Aktienzertifikate. 722. Ein Maßband. 723. Der Nasenring eines Stiers. 724. Ein Overall. 725. Eine Milchflasche (ungeöffnet). 726. Ein Tafelschwamm. 727. Ein Stück Rohr. 728. Ein Schulschemel. 729. Ein Kameraobjektiv. 730. Ein Hundeknochen. 731. Ein Paar Kinderhandschuhe mit auf Fingerspitzen aufgestickten Gesichtern. 732. Ein Feuerlöscher. 733. Ein Koffer. 734. Ein Fön. 735. Ein Führer einer fremden Stadt. 736. Eine Tasche aus Segeltuch. 737. Ein defekter Taschenrechner. 738. Eine Nagelfeile. 739. Ein Schwimmerhahn. -374-
den
740. Ein Erste-Hilfe-Kasten. 741. Ein Türscharnier. 742. Ein gestärkter Kragen. 743. Eine lederne Sporttasche. 744. Ein Pinseletui. 745. Ein metallene r Schrankkoffer. 746. Ein Paar falscher Wimpern. 747. Ein brauner lederner Schulranzen. 748. Ein Weihnachtsmann-Kostüm. 749. Ein Schirmständer aus einem Elefantenfuß. 750. Eine Dose mit fluoreszierender Farbe. 751. Eine Uniform aus dem Bestand einer besiegten Armee. 752. Ein Kniepolster aus einer Kirche. 753. Ein Koffer mit Rädern. 754. Eine Hantel. 755. Ein Behälter mit Styling-Schaumfestiger. 756. Eine Packung Kondome. 757. Ein Moskitonetz. 758. Ein Korkenzieher. 759. Zwei gestärkte Shorts. 760. Ein Glas Haferflocken. 761. Eine Photographie von einem Mann ohne Nase. 762. Eine Flasche Parfüm. 763. Eine Andenkenstatue aus Gips von einer alten Kirche. 764. Ein Buch über Völkermord. 765. Ein getrocknetes Seepferdchen. 766. Ein Dankesschreiben. -375-
767. Der Stab einer Sonnenuhr. 768. Eine Kaffeemühle. 769. Eine Tube Haftcreme. 770. Ein Passphoto (mit Widmung auf der Rückseite). 771. Eine Flasche Sonnenöl. 772. Ein Strohhut. 773. Ein falscher Schnurrbart. 774. Ein Nussknacker. 775. Eine Sofortbildkamera. 776. Eine flache Mütze. 777. Ein Thermometer. 778. Ein seidener Morgenmantel. 779. Eine Anwaltsrechnung. 780. Ein Buch mit Autogrammen. 781. Eine Flasche Wodka. 782. Ein Schokoladenhase. 783. Das Ergebnis eines Schwangerschaftstests. 784. Ein Scheckheft. 785. Eine Euroscheckkarte. 786. Ein offenes Rasiermesser. 787. Eine Bahnsteigkarte. 788. Ein Verlobungsring. 789. Ein Paket gemahlener Kaffee (vakuumverpackt). 790. Eine Klinge eines Küchenmixers. 791. Ein Ehering (Gold). 792. Ein Stück Schlauch. 793. Eine Schachtel Pralinen (ungeöffnet). 794. Eine Militärmütze. -376-
795. Ein Gallenstein (in einem Glas). 796. Die Photographie eines Schiffes. 797. Ein Korken von einer Champagnerflasche. 798. Ein Haarreif. 799. Ein Nummernschild. 800. Ein rotes Kleid. 801. Eine Photographie von marschierenden männlichen Jugendlichen. 802. Ein Staubsauger. 803. Ein Messingknopf. 804. Eine Herrenarmbanduhr. 805. Sechs Weingläser. 806. Die Bronzebüste eines berühmten Politikers. 807. Eine Photographie von einer Laientheateraufführung. 808. Eine Flasche Hustensaft. 809. Die Tagebuchaufzeichnungen eines Arztes (sieben Bände). 810. Ein Paar Schuhe, früher im Besitz eines Riesen. 811. Ein Augenzeugenbericht über eine Begegnung mit Außerirdischen. 812. Eine Briefmarke (abgestempelt). 813. Ein Gipsengel. 814. Ein Stethoskop. 815. Ein Paar weiße Handschuhe vom Posaunisten einer Militärkapelle. 816. Eine Photographie einer Bulldogge. 817. Eine Plastikflasche mit Spülmittel. 818. Ein Barometer. -377-
819. Ein Entwurf für eine Tätowierung. 820. Ein Taktstock. 821. Eine Gasmaske. 822. Eine Karte zum Valentinstag. 823. Ein seidenes Unterhemd. 824. Eine Schachtel mit gefüllten Pralinen (ungeöffnet). 825. Ein Fußball. 826. Eine Mitteilungskarte über eine Adreßänderung. 827. Ein Satz Würfel. 828. Eine digitale Armbanduhr. 829. Eine Personenliste. 830. Zwei Theaterkarten. 831. Ein Toupet. 832. Eine Babypuppe. 833. Eine Jeroboam-Flasche eines sehr alten Weines. 834. Mehrere Photographien nackter Kinder. 835. Eine Brieftasche voller ausländischer Währungen. 836. Eine schwarze Krawatte. 837. Ein Fahrradsattel. 838. Ein Handbohrer. 839. Einige Chips für Spielautomaten. 840. Eine Warzensocke. 841. Das Tonband eines Anrufbeantworters. 842. Eine Flasche Schaumbad. 843. Ein Brautstrauß. 844. Das Skelett einer Fledermaus. 845. Ein Taufkleid. 846. Eine Flasche Vanillemark. -378-
847. Ein toter Goldfisch in einem Plastikbeutel mit Brackwasser. 848. Ein grauer Mantel. 849. Eine Flasche Formaldehyd. 850. Ein Namensschild. 851. Ein Plastikkamm. 852. Ein Drachen. 853. Eine Präparatorenschere mit stumpfen Spitzen. 854. Ein Damenbadeanzug. 855. Die Schelle eines Invaliden. 856. Eine gepunktete Fliege. 857. Eine Gefängnisuniform. 858. Eine Rosette. 859. Ein Messer, benutzt von einem berühmten Mörder. 860. Ein Fossil eines alten Tausendfüßlers. 861. Ein Karnickelstall (leer). 862. Ein Schneesturm in einer Plastikkuppel (Souvenir). 863. Eine Wasserwaage. 864. Mehrere Zeitungsausschnitte. 865. Ein Turban. 866. Eine Zwangsjacke. 867. Mehrere Pflanzensamen in einer Schachtel. 868. Ein Ruder. 869. Eine Plastikmülltonne. 870. Das erste Periodensystem eines zukünftigen Chemikers. 871. Eine Kastanie auf einer Kordel. 872. Ein Geschichtsbuch. -379-
873. Ein Spielzeugastronaut aus Plastik. 874. Ein Patientenblatt aus einer Krankenakte. 875. Ein Führerschein. 876. Ein Taschentuch (mit Initialen). 877. Eine Dose mit Vitamintabletten. 878. Mehrere Mausefallen. 879. Eine Satellitenschüssel. 880. Eine Wasserpistole aus Plastik. 881. Ein Laptop. 882. Vier Teile einer Regenrinne aus Blei. 883. Eine getrocknete Heuschrecke. 884. Der linke Lautsprecher einer Stereoanlage. 885. Ein Bauarbeiterhelm (Plastik). 886. Eine Autoantenne. 887. Eine rote Baskenmütze. 888. Ein Becken. 889. Ein Badewannenstöpsel. 890. Ein Dietrich. 891. Eine Teekanne aus Porzellan. 892. Mehrere Weihnachtskarten. 893. Die Photographie einer nackten Frau mit einem Pferd. 894. Siebzehn Photoalben von einer Familie. 895. Der Backenzahn eines Kindes. 896. Der Zeichenstift eines Architekten. 897. Der Bolzen eines Türschlosses. 898. Ein Theaterprogramm (mit Autogramm). 899. Eine Spritze. 900. Der Fliehkraftregler aus einem Fahrstuhl. -380-
901. Die Leertaste von einer Computertastatur. 902. Eine Handschelle. 903. Ein Scheck. 904. Eine Türglocke. 905. Das Diagramm eines Alchimisten. 906. Eine Kalksteinskulptur von einem Eulenkopf. 907. Eine alte und ungenaue Weltkarte. 908. Mehrere Seekarten. 909. Eine Aufnahme eines Konzertpianisten. 910. Drei Theatermasken. 911. Eine Photographie von einer Stadt unmittelbar nach ihrer Bombardierung. 912. Ein Nachruf (ausgeschnitten aus einer Zeitung). 913. Ein Rosenkranz. 914. Ein Tritonshorn. 915. Eine Stoppuhr. 916. Die Ursprungserklärung eines Ölgemäldes (Tinte auf Papier). 917. Eine Photographie eines toten Mannes. 918. Ein elektronisches Taschenspiel. 919. Eine Flasche Brennspiritus. 920. Eine Miniaturyacht aus Holz. 921. Ein Radiointerview (auf Band). 922. Eine Totenmesse (Notenblätter). 923. Ein Straßenschild. 924. Ein Schwanenei. 925. Ein Pelzkragen. 926. Eine Schachtel bunte Kreide. 927. Eine Postkarte mit dem Motiv eines -381-
Renaissancegemäldes. 928. Eine Hasenpfote. 929. Zwei aufblasbare Armbinden. 930. Eine wattierte Jacke. 931. Ein ferngesteuertes Spielzeugauto. 932. Das Versetzungszeugnis eines Schulmädchens. 933. Eine aufblasbare Puppe (weiblich). 934. Eine Telefonpuppe. 935. Ein Terminzettel aus einem Krankenhaus. 936. Die Perücke eines Transvestiten. 937. Das Notizbuch eines Schriftstellers. 938. Eine Menge Konfetti. 939. Ein Bauchnabelring. 940. Eine alte Münze. 941. Eine Künstlermonographie. 942. Ein Tarotspiel. 943. Eine Baseballmütze. 944. Ein Zugfahrplan. 945. Eine Telefonkarte. 946. Ein Videoband. 947. Ein Revolver. 948. Die Schlüssel eines Hotelzimmers. 949. Eine Kupferstechernadel. 950. Eine Sammlung pornographischer Magazine. 951. Ein Habit. 952. Eine Photographie eines uniformierten Mannes. 953. Eine Plastikmaus von einem Computer. 954. Eine Plastik zweier gefalteter Hände (Marmor). -382-
955. Ein Kontoauszug. 956. Ein Zigarettenanzünder aus einem Auto. 957. Eine Photographie, vermutlich von einem Geist. 958. Ein Akkordeon. 959. Die Photosammlung eines alten Mannes von den weiblichen Eroberungen seines Lebens. 960. Mehrere unbenutzte Luftballons. 961. Ein Tonbandgerät. 962. Ein Vermissten-Suchplakat. 963. Eine Spielzeughandgranate. 964. Ein Mobiltelefon. 965. Ein Architekturwörterbuch. 966. Eine Sammlung toter Fliegen (in einer großen Streichholzschachtel). 967. Ein Thermograph. 968. Zwei identische schwarzgelbe Kleider (einst im Besitz von Zwillingen). 969. Eine Seite aus einem Manuskript. 970. Eine Gesichtsmaske, um Hautverbrennungen zu kaschieren. 971. Ein Promillemesser. 972. Ein parfümierter Liebesbrief. 973. Eine Photographie vom Jahrestreffen einer Nudistengruppe. 974. Ein Gästebuch (in Leder gebunden). 975. Mehrere Liebesromane als Taschenbuchausgabe'. 976. Siebzehn Computer-Disketten. 977. Eine Photographie zweier nackter Frauen. 978. Ein weißes Neglige aus Seide. -383-
979. Ein Holzpferd auf Rädern mit einer Leine. 980. Eine Stimmgabel. 981. Ein getrockneter Wassermolch. 982. Ein Geburtstagskuchen. 983. Mehrere Fliegenfänger. 984. Eine Pillenschachtel (mit zahlreichen Tabletten). 985. Ein Taufkleid. 986. Eine Spielzeug-Concorde. 987. Eine Zobelstola. 988. Eine Brille mit Metallgestell. 989. Ein Hundehalsband mit Namensschild (graviert). 990. Eine Schulkrawatte. 991. Ein handschriftlicher Zettel. 992. Eine Dose Insektenschutzmittel (gegen Mücken). 993. Eine Tube Lippencreme. 994. Ein künstliches Gebiss. 995. Ein blaues Kleid (bestickt). 996. Das Objekt.
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