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Wer ist Harry Wind? Ein Mann von zweiundvierzig Jahren, Besitzer einer eleganten Villa, eines beträchtlichen Vermögens, eines Werbebüros mit siebzig Angestellten – und einer ungewöhnlich lebhaften Phantasie, die ihm seine berühmt gewordenen „Windgeschichten“ eingibt. Seinen ersten großen Erfolg hatte er, als er kurz nach dem Krieg amerikanischen Journalisten aus reinem Vergnügen am Schwindeln von der romantischen Vorliebe der Schweizer für Gartenzwerge erzählte: Die Geschichte wurde geglaubt und gedruckt, jeder New Yorker wollte seinen Gartenzwerg. Dem Harry Wind aber brachte der Gag sein erstes industrielles Unternehmen und einen schwerreichen Schwiegervater, Inhaber des größten amerikanischen Werbebüros mit zehnmal siebzig Angestellten, ein. Seitdem hat Wind mit systematischer Unverschämtheit zahllose Geschichten erfunden und mit ihrer Hilfe alles Verkaufbare an den Mann gebracht. Er ist ein großer Herr geworden; er hat internationale Verbindungen; seine so außerordentlich wertvolle Begabung wird von noch viel Mächtigeren geschätzt und benützt. Trotzdem erscheint eines Tages in seinem hochmodernen Büro Herr Rappold von der schweizerischen Bundespolizei, um ihn zu verhaften – auf sehr diskrete Weise. Und nun sitzen sie einander in der für Privilegierte eingerichteten Luxuszelle gegenüber: der nüchterne, gerissene Kriminalist, der einen Auftrag ausführt, und der geschmeidige, zwielichtige, dennoch in seiner seltsamen Art um die „Wahrheit“ bemühte Harry Wind, der die „Geschichte des Geschichtenerzählers“ zu erfinden beginnt …
Schutzumschlag: Rolf F. Müller
WALTER MATTHIAS DIGGELMANN
DAS VERHÖR DES HARRY WIND Roman
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VERLAG VOLK UND WELT BERLIN 1964
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as ist ein Herbsttag. Ich, Harry Wind, stehe wie immer um sechs Uhr auf. Ich bin zweiundvierzig Jahre alt. Fünf oder sechs Stunden Schlaf genügen mir. Im Haus ist es still. Barbara, meine Frau, Tobias und Ethel, meine Kinder, schlafen noch. Ich gehe ins Badezimmer und dusche mich. Erst sehr heiß, dann sehr kalt. Das ist nichts als Gewohnheit; ich empfinde nicht das geringste dabei, zum Beispiel anschließend Frische oder ein Prickeln am ganzen Körper. Dann gehe ich eine Treppe tiefer zur Küche, wo ich drei Gläser Fruchtsaft trinke. Das Hausmädchen stellt mir jeden Abend den Fruchtsaft bereit. Jahrelang habe ich Cornflakes mit Zucker und Milch zum Frühstück genommen. Ich öffne das Küchenfenster, und vor mir, wie ausgelegt zu meinen Füßen, als könnte ich bloß über den Fenstersims steigen, weißliche Nebeldecke über der ganzen Stadt. Von der Rehalp herauf – ich wohne in der Eierbrecht, Burenweg 4a – höre ich das Quietschen der Tramwagen. Auf den Geleiseschleifen vor dem Depot manövrieren sie die Anhänger. Ich gehe in mein Zimmer zurück und kleide mich an. Barbara schläft in ihrem eigenen Zimmer. Sie hat einen leichten Schlaf, würde aufwachen und könnte nicht wieder einschlafen. Ich öffne auch hier die Fenster. Was ich einigermaßen, trotz Nebelteppich, links und rechts sehen kann, das ist mein Besitz: Ein Land5
haus im Stil einer mexikanischen Ranch; erbaut vor fünfzehn Jahren nach einem Entwurf von Professor Schwarz. Ich blicke linker Hand über meinen Besitz hinaus und sehe die Renditenhäuser, die Heniger in den vergangenen drei Jahren gebaut hat. Zwei Jahre lang habe ich mich mit Heniger herumgeschlagen: Er wollte eine breite Straße vom Burenweg zu seinen Renditenhäusern bauen. Er kam zu mir und verlangte fünfhundert Quadratmeter von meinem Garten. Er bot mir einen durchaus respektablen Preis. Ich weigerte mich aber, soviele Quadratmeter von meinem Garten abzugeben. Ich sah nicht ein, wozu Heniger hier Renditenhäuser bauen mußte; eine Vierzimmerwohnung kostet bei ihm 720.– Franken Monatsmiete! Heniger ist Gemeinderat. Bei jeder Gelegenheit erhebt er seine Stimme zugunsten des sozialen Wohnungsbaues. Ich weigerte mich, aber er fing an zu bauen. Dann waren die Häuser bezugsbereit, und eine Straße von drei Meter Breite führte zu ihnen. Ich weigerte mich immer noch. Heniger ging zur Stadt. Er brachte die Stadt dazu, eine Straße vom Burenweg zu Henigers Renditenhäusern zu bauen; und ich sah das Enteignungsverfahren kommen. Nun gab ich nach. Heniger bezahlte jetzt auch einen höheren Preis. Mit dem Erlös konnte ich die neue Stützmauer bauen. Ich hätte Heniger erwürgen können. Ich könnte ihn heute noch erwürgen. Ich schließe die Fenster und gehe in die Garage hinunter. Ich sitze am Steuer meines Corvair und starte den Motor. Ich fahr im ersten Gang zwei Meter auf die Tore zu; sie öffnen sich, weil der Wagen den Strahl der Fotozellen unterbrochen hat. Die Tore schließen sich, sobald ich den Strahl der Fotozellen vor der Garage durchfahre. 6
Die Straße ist feucht, gelbe, rote, braune Blätter haben sich festgesaugt; die Rutsch- und Schleudergefahr ist beträchtlich. Nach einigen hundert Metern biege ich in die Witikonerstraße ein. Links von mir sehe ich fünf Meter neues Geländer mit Mennige angestrichen; wann werden sie dieses Stück Geländer endlich mit Deckfarbe überstreichen? Vor einem halben Jahr hat Albert Hug hier die Rechtskurve nicht beachtet: Er ist mit seinem Austin Healy geradeaus, durch das Geländer und über die sieben Meter hohe Stützmauer ins Tobel gerast. Das Unglück geschah um zehn Uhr eines hellen Maivormittags. Die Trauerfeier fand im Familienkreise statt: Keine Blumen, keine Kränze. Man hatte des Kinderdorfes in Trogen zu gedenken; so wollte es der Vater, Oberst Hug, haben. Er war nun allein in dem großen Haus an der Oetlisbergstraße. War er einsam? Julius, mein Mitarbeiter für Militärfragen, sagte gestern: „Ich sehe nicht ein, weshalb du immer wieder darauf zu reden kommst: Eine Untersuchung gegen dich! Das ist absurd. Wir haben immer unsere Gegner gehabt: Die Defätisten, die Antimilitaristen zum Beispiel. Das ist nicht neu, daß sie uns moralisch haltlose Kriegshetzer nennen, bloß weil wir für eine starke Armee arbeiten. Sie versuchen es nun auf neue Art, uns beizukommen …“ Ich erwiderte wie schon oft: „Unsere Abwehr muß etwas unternehmen. Der Bundesrat kann das nicht auf sich beruhen lassen. Was die ‚Prawda’ geschrieben hat, ist mit einem bloßen Dementi nicht abzutun. Natürlich hat der Bundesrat unsere Diplomaten ange7
wiesen, gegen die Verdächtigungen der ,Prawda’ zu protestieren, etwa in dem Sinne, daß dies soviel wie Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten sei. Anderseits hat die ,Prawda’ in den beiden Artikeln gegen die Schweiz wörtlich Formulierungen zitiert, die deinem Armee-Bericht an Mitulskij vom vergangenen Sommer entnommen sein könnten!“ Julius konnte noch immer nicht begreifen, warum ich auf diese Dinge zu sprechen kam. Er sagte mit leicht bebender Stimme: „Nein, nein, das kann ich nicht glauben: Daß unsere Gegner in den Besitz dieses Berichtes gelangt sind und ihn russischen Agenten ausgeliefert haben, bloß um uns fertig zu machen. Und wenn es so wäre, dann wüßte unsere Abwehr genau, wo sie zupacken müßte. Nicht bei uns, Harry, sicher nicht bei uns. Wir tun doch alles, um stark zu sein. Wir haben den Bericht ja nur verfaßt, um Dollars zu bekommen, Dollars, die uns die Arbeit erleichtern. Dollars, Harry, die schließlich aus dem Westen kommen! Die ,Prawda’ kommt aber aus dem Osten!“ Als ich über den Römerhof fahre, kommt mir wieder, wie schon oft, meine Erfahrung mit der ersten Uhr in den Sinn: Das war am Morgen meines ersten Schultages. Mein Vater, Uhrmacher mit eigener Werkstätte und eigenem Verkaufsladen, band mir eine Armbanduhr ums Handgelenk, als ich mich verabschiedete. Wir wohnten an der Oberdorfstraße. Ich wehrte mich gegen die Begleitung meiner Mutter. „Harry, denke daran, nicht jeder Junge bekommt so früh schon eine so schöne Uhr“, sagte mein Vater und blickte 8
mir in die Augen. „Denke daran und sei deinen Eltern dankbar. Es ist eine gute Uhr, eine teure …“ Als ich aus der Oberdorfstraße kam und in die Kirchgasse einbog, nahm ich die Uhr vom Handgelenk. Mein Vater hatte vergessen, das Preisetikett auf dem Boden der Uhr abzuschaben. Die Uhr kostete Fr. 17.50. Es war eine billige Uhr, das konnte ich auch als Siebenjähriger ermessen. Ich war schließlich der Sohn eines Uhrmachers. Ich schlug die Uhr, die ich mit zwei Fingern am Band hielt, gegen die Hausmauer. Dann preßte ich sie an mein rechtes Ohr: Sie tickte noch. Ich schlug sie ein zweites Mal gegen die Mauer; sie lief noch immer. Ich schlug sie ein drittes, ein viertes und ein fünftes Mal gegen die Mauer: Jetzt stand sie still. Ich kehrte um. Statt zur Schule ging ich zu meinem Vater zurück. Ich gab ihm die Uhr und sagte kein Wort. Er hielt sie ebenfalls an sein Ohr, schüttelte den Kopf und ließ mich stehen. Nun lief ich zur Schule. Zwei Tage später bekam ich meine Uhr wieder. Drei Tage später schlug ich die Uhr wieder gegen die Hausmauer, und dann stand sie still. Ich ging zu meinem Vater zurück. Diesmal stand meine Mutter wie eine Kundin vor dem Ladentisch. Ich gab die Uhr meinem Vater. Er achtete nicht darauf. „Der Kohl kostet fünfundzwanzig …“, sagte er. „Nein, er kostet dreißig Rappen“, widersprach meine Mutter. „Ich habe den Marktbericht im Tagblatt gelesen“, sagte mein Vater, „der Kohl ist um fünf Rappen gefallen. Was willst du noch einkaufen?“ „Eine Zungenwurst, ein Kilo Zucker, ein Pfund gelbe Erbsen, es gibt morgen Erbsensuppe, ich muß die Erbsen über Nacht einlegen, sechs Eier, Persil …“ 9
Mein Vater hatte alles notiert. Er rechnete jetzt. „Das macht Fr. 5.75. Ich gebe dir Fr. 6.- mit; den Rest mußt du mir nicht zurückbringen.“ Meine Mutter nahm das Geld und dankte. Jetzt wandte sich mein Vater an mich. Was geschehen sei, wollte er wissen. Ich zuckte die Schultern. Meine Mutter sagte: „Er muß doch jetzt zur Schule, es ist ja schon zehn vor zehn …“ Mein Vater kam nicht auf den Vorfall zurück. Ich erhielt meine Uhr wieder. Es war eine andere, wirklich eine gute Uhr … Ich parke meinen Corvair unter den Platanen und Kastanienbäumen vor dem Schwurgericht. Dann begebe ich mich in mein Büro. Ich habe mein Büro, ich muß sagen Büros, im zweiten, dritten und vierten Stock im Vorbau des Schauspielhauses an der Rämistraße. Mein Arbeitszimmer, der Empfangsraum und das Sitzungszimmer befinden sich im vierten Stock. Die Trottoirs sind übersät mit Roßkastanien; ihre grünen Stachelhüllen sind geborsten. Wenn das Wetter jetzt umschlägt, sind die Bäume über Nacht entlaubt. Bald wird es kahl und kalt sein. Für heute nachmittag ist Wind aus West bis Südwest angesagt … Ich fahre mit dem alten langsamen Lift in den vierten Stock. Es ist kurz nach sieben. Ich öffne die Türe zum Empfangsraum, und obgleich ich nicht die geringste Veränderung bemerke, kein abgestandener Zigarrenrauch in der Luft liegt, weiß ich, daß sie da sind. Ich weiß es einfach, das hat nichts mit Vorahnung zu tun. Ich irre mich nur in einem: Es sind nicht ihrer drei da, ein einziger sitzt hinter meinem Schreibtisch, den Hut auf dem Kopf. Er läßt mich eintreten, erhebt sich mühsam wie einer, der die ganze Nacht in dieser unbeque10
men Lage verbracht hat, kommt mir entgegen, einen amtlichen Ausweis in der Hand: „Rappold“, sagt er, „Bundespolizei. Ich habe“, fuhr er ernst und feierlich fort, als wolle er damit andeuten, daß er zu seiner Arbeit stehe, sie ohne Zynismus ausführe, aus einer Art Überzeugung beispielsweise, „ich habe hier auf Sie gewartet, damit ich Ihnen nicht irgendwo begegnen muß. Ich habe es mit Ihrem Fräulein Haufler so besprochen; Fräulein Haufler wird schweigen. Sie sind verhaftet. Es tut mir leid für Sie. Hier können Sie den Haftbefehl einsehen. Die Kollusionsgefahr ist erheblich. Das ist der eigentliche Grund Ihrer Verhaftung. Sie werden selbstverständlich eine Vorzugshaft genießen.“ „Sie sind allein?“ frage ich ihn. Diese Frage macht ihn nervös. Er ist um einen Kopf kleiner als ich und ein Mann von schätzungsweise vierundsechzig Jahren. Ein Spezialist, stelle ich mir vor, der möglicherweise auch schon in Amerika gearbeitet hat. Ich beachte ihn nun scheinbar nicht mehr und gehe ins Vorzimmer. Allerdings lasse ich die Türe offen, damit er sehen kann, daß ich in der Arbeitsagenda blättere. „Ihr Besuch ist nicht vorgemerkt“, rufe ich durch die Türe und mache dazu ein ernstes Gesicht. Dann kehre ich in das Arbeitszimmer zurück. Die Fenster des Zimmers gehen auf den Heimplatz hinaus. Ich bemerke, daß die beiden Verkehrspolizisten gerade ihre Arbeit aufgenommen haben. Dann gehe ich hinter meinen Schreibtisch, setze mich und öffne die mittlere Schublade. Ich höre Rappold laut und scharf sagen: „Es hat keinen Zweck, lassen Sie …!“ 11
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ommen Sie, Herr Rappold“, sage ich, und ich gehe ihm voraus. Ich selbst schließe mein Arbeitszimmer ab und gebe ihm den Schlüssel. Auch die Autoschlüssel händige ich ihm aus. Wir betreten den Lift und fahren abwärts. Unten im schlauchartigen Eingang, der auch als Eingang zum Schauspielhaus dient, steht ein anderer; auch er ist in Zivil. Rappold grüßt, gibt ihm meine Schlüssel und sagt: „Keine Auskünfte, begriffen?“ Der andere nickt. Ich gehe voraus. Ich beachte ihn nicht, überquere die Rämistraße, die beiden Traminseln, und auf der gegenüberliegenden Seite vor dem Kiosk mache ich Halt. Ich betrachte den Zeitschriften-Aushang. „Der Spiegel“: „Mein Gott – was soll aus Deutschland werden?“ Eine KonradAdenauer-Biographie. Ich kaufe den „Spiegel“. Rappold folgt mir, hat aber den Platz noch nicht überqueren können. Er ist erst bis zur Traminsel gekommen, wo er warten muß, weil hintereinander die Fünf und die Neun vom Bellevue herauf eingefahren sind. Und wenn die beiden Straßenbahnen weg sind, wird er noch warten müssen; denn soeben fahren von der Steinwiesstraße und von der Kantonsschule her die Acht und die Fünf ein. Ich setze mich in ein Taxi, das hier seinen Standplatz hat. Ich lasse die Tür offen und warte. Ich weiß nicht, was und wieviel Rappold weiß. Er wird eine Menge wissen, daran ist nicht zu zweifeln, und er 12
wird mir seine Karten nicht auf den Tisch legen. Ich werde mit offenen Karten spielen. Ich sehe, Rappold hat Mühe, durchzukommen. Die Straßenbahnen sind jetzt weg, aber der Strom der stadteinwärts und -auswärts fahrenden Autos hat eingesetzt. Keiner hält an, um Rappold durchzulassen. Er muß warten, bis der Verkehr stockt. Schließlich steht auch er vor dem Kiosk. Er sieht sich um, wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. Ich warte, dann rufe ich ihn. „Kommen Sie!“ Meine Stimme klingt freundlich, und ich sehe, wie er zusammenfährt. Noch hat Rappold die Türe auf seiner Seite nicht geschlossen, sage ich zum Fahrer: „Kaserne Kantonspolizei. Wir haben Zeit …“ Ich sage das, weil ich nicht will, daß er schnell fährt. Rappold beobachtet mich. „Oder?“ frage ich lächelnd. Er nickt. Auf der Fahrt sprechen wir kein Wort. Dann steige ich als erster aus, bezahle auch die Taxe. Rappold schüttelt den Kopf. Und während das Taxi wegfährt, kommt der Kommandant der Kantonspolizei in seinem hellgrünen Oldsmobile angefahren. Er ist im Bild, aber er ist mir gegenüber nicht im geringsten befangen. Wir kennen uns seit vielen Jahren. Rappold sagt: „Herr Kommandant!“ Und der Kommandant erwidert: „Nehmen Sie mit meinem Büro vorlieb, ich muß gleich wieder weg.“ Er führt uns an stramm grüßenden Uniformpolizisten vorbei in den ersten Stock zu seinem Büro. Er stellt die Zigarrenkiste auf den Tisch, rollt den kleinen metallenen Boy 13
heran mit der Whiskyflasche, dem Campari und Schnäpsen darauf, und ich lasse mich in einen der vielen Fauteuils fallen, atme tief und sage: „Einen Campari für mich, und Sie, Herr Rappold?“ Rappold ist konsterniert, er hat ein paar Jahrzehnte Erfahrung und sagt jetzt trotzdem: „Sie sind verhaftet!“ Der Kommandant dreht sich um, grinst und sagt: „So erst recht, Inspektor.“ Dann wendet er sich an mich und meint: „Schade, daß Sie nicht dabei sein können. Um acht Uhr habe ich die Expertenkommission beim Bootshaus. Ich brauche für meine Seepolizei ein neues Motorboot, ein schnelleres, und jetzt werden wir den Herren vormachen, daß es so nicht mehr weitergeht. Zwanzig Leute habe ich dafür eingesetzt. Und um auf sicher zu gehen, ließ ich den Motor des alten Bootes drosseln. Ist das kein Einfall?“ Er geht. Rappold, er hat sich endlich gesetzt, legt mir die Fotokopie eines Leitartikels der „Prawda“ vor. Ich kann nicht Russisch. Unsere Tageszeitungen sind seit Wochen voll mit Kommentaren über diesen und andere Artikel, die in der „Prawda“ erschienen sind. Ich blicke Rappold in die Augen, so gut das geht. Er macht mir keinen schlechten Eindruck. Er scheint freundlich zu sein, offen und loyal; ein Mensch ohne Hintergedanken. Das will nicht heißen, daß er mit offenen Karten spielt. Er ist verheiratet, wie ich sehe, und hat wohl Kinder, die längst erwachsen sind. In einem Jahr, stelle ich mir vor, 14
wird er in den Ruhestand treten. Bei der Bundespolizei ist er keine Null. Er beherrscht sein Handwerk. Ich muß wissen, wen ich vor mir habe. Aber noch kann ich nur mutmaßen. Rappold ist von gedrungener Gestalt. Er hat einen breiten Nacken. Sein Haar ist ergraut. Schwarz sind nur noch seine Augenbrauen. Hände hat er wie ein Handwerker, der seinen Beruf seit Jahrzehnten nicht mehr ausübt, aber lange genug ausgeübt hat, um die Hände zu prägen. Rappold nimmt die Fotokopie wieder an sich. Er blickt mir ruhig und freundlich in die Augen und sagt: „Sie müssen sich Ihrer Lage bewußt werden, Herr Wind. Sie sind wirklich verhaftet und sind isoliert. Sie dürfen zum Beispiel keine Briefe schreiben; auch Ihrer Frau nicht. Sie dürfen keine Telefongespräche führen. Auch Besucher können Sie nicht empfangen …“ „Ich weiß, Herr Rappold, man macht mir schwerwiegende Vorwürfe. Ich soll politischen, militärischen und wirtschaftlichen Landesverrat begangen haben …“ Rappold beachtet meinen Einwurf nicht. „Sie müssen auch auf die Hilfe eines Rechtsanwaltes verzichten“, fährt er fort. „Erst wenn das polizeiliche Ermittlungsverfahren abgeschlossen ist und die Akten der Bundesanwaltschaft überwiesen sind, können Sie einen eigenen Anwalt beiziehen. Sie sind allein, Herr Wind. Ich bin der einzige Mensch, mit dem Sie sich unterhalten können während der Zeit der Voruntersuchung. Werden Sie sich also Ihrer besonderen Lage bewußt …“ „Sie wünschen ein Geständnis?“ frage ich. Er schüttelt den Kopf, geht dann aber dennoch auf meine Frage ein. 15
„Wie würde denn Ihr Geständnis lauten?“ „Versuchen wir es“, sage ich und zeige auf die Fotokopie, die jetzt vor ihm auf dem Tisch liegt. „Die ,Prawda’ lügt nicht. Die ,Prawda’ schreibt, es sei einem ihrer Agenten eine umfangreiche Denkschrift zu Fragen einer Umgestaltung der Schweizer Armee in die Hände geraten. Inhalt dieses Dokumentes sei eine präzise Beschreibung der bisherigen Gliederung unsrer Armee, der bisherigen Einsatzdoktrin, des Nach- und Rückschubwesens und so weiter. Ferner gebe diese Denkschrift Aufschluß über Stärke und Bewaffnung – in Einzelheiten – unserer Armee. Doch nicht darüber ist die ‚Prawda’ entrüstet. Die ,Prawda’ befaßt sich vor allen Dingen mit dem zweiten Teil dieser Denkschrift. Dieser zweite Teil enthält Vorschläge, wie und in welchem Umfange unsere Armee auch weiterhin umgestaltet werden müßte. Auch die bis heute errungenen Erfolge (z.B. vier vollmechanisierte Divisionen) werden nicht unterschlagen. In diesem zweiten Teil werden auch die Ratschläge der Schweizer Wehrgesellschaft an den Bundesrat im einzelnen angeführt: Die Organisation unserer Armee muß jener der NATO-Armeen angeglichen werden … Wir sind ein kleines Land, werden wir angegriffen, eilt man uns zu Hilfe, ohne zu zögern, sofern man überhaupt auf unseren Kriegsflugplätzen landen kann und so weiter … Die Kavallerie muß gänzlich verschwinden … Die Flugwaffe um das Dreifache verstärkt werden, zwölfhundert, statt vierhundert Frontflugzeuge (und statt nur 0,8 müssen die künftigen ‚Jabo’ 1,4 Mach fliegen können) … Die Infanterie muß voll motorisiert werden … Automatische Waffen sind einzuführen … Abschußrampen für Ra16
keten mit Atomköpfen sind herzustellen … Wenn wir keine Abschußrampen für Raketen besitzen, wie sollen unsere Verbündeten wirklich helfen können? Die ,Prawda’ schreibt: ,Wir verfügen über Beweise, daß dies nicht die Auffassung von Außenseitern ist. Es handelt sich um die offizielle Auffassung des Verteidigungsministeriums (Militärdepartements).’ Die ,Prawda’ nennt weder meinen Namen, noch die Schweizer Wehrgesellschaft. Weshalb nicht? Herr Rappold: Der Bericht, der an den Chairmann des ‚Freedom-Konzerns’ gegangen ist, nennt Namen …“ Ich habe langsam gesprochen. Rappold hat unaufhörlich Notizen gemacht. Er stenographiert. Er blickt mich jetzt an, freundlich, jedenfalls nicht unfreundlich, und ich nehme an, das ist eine Aufforderung zum Weiterreden. Aber bevor ich wieder ansetze, stehe ich auf und gehe zum Fenster. Vor meinen Augen habe ich die graue Militärkaserne, und wenn ich mich etwas nach links drehe, sehe ich den Exerzierplatz. Die Rekruten stehen herum und rauchen. Und jetzt stimmt einer ein Lied an. Ich öffne das Fenster. Wir haben immer „Erika“ gesungen, aber jetzt singen sie „Ein Schiff wird kommen“. Ich schließe das Fenster. „Ich weiß nicht, wie die Russen zu dieser Denkschrift gekommen sind“, sage ich, „aber wenn sie sie wirklich besitzen, und wir haben keinen Anlaß, daran zu zweifeln, dann heißt das noch lange nicht, daß ich sie ihnen in die Hände gespielt habe. Ich finde die Haltung, die die Bundespolizei jetzt einnimmt, falsch. Die Bundesbehörde sollte den Leitartikel der ,Prawda’ als dummdreistes Propagandamanöver abtun, sollte behaupten, die Denkschrift, von der die Rede 17
ist, sei von den Russen angefertigt, meinetwegen erfunden worden. Aber ich fürchte, dafür ist es zu spät, obgleich die Bundespolizei nichts anderes in Händen hat als diesen Leitartikel, nicht einmal die Fotokopie der Denkschrift, und nachdem sich die Amerikaner geweigert haben …“ Rappold unterbricht mich: „Sie sind gut unterrichtet!“ Und dabei sieht er mich an, als ob ich gerade einen Fehler gemacht, als ob ich ein Geständnis abgelegt hätte. Dabei rede ich schon die ganze Zeit aufs Geratewohl hin. Ich weiß nicht, was er weiß, ich weiß nur, was unsere Zeitungen geschrieben haben, und daß keine Zeitung meinen Namen erwähnt hat. Insofern habe ich mich natürlich von Anfang an gefährdet. Ich nehme jetzt die „Prawda“ in die Hände, ich gehe Zeile um Zeile durch, obwohl ich nicht Russisch kann; aber ich denke mir, wenn mein Name erwähnt wird, dann wird man ihn wohl nicht mit kyrillischen Buchstaben geschrieben haben. Rappold hat Erfahrung, und er weiß genau, was ich tue. Aber er lächelt nicht, sondern sagt nur: „Sie können sich die Mühe ersparen, von Harry Wind ist nicht die Rede.“ „Was meinen Sie damit?“ „Diese Frage ist überflüssig“, antwortet Rappold ruhig, und fährt fort, ohne mich dabei anzusehen: „Glauben Sie nicht, daß Sie mich so leicht hereinlegen. Wir kennen Sie!“ Dieses „Wir kennen Sie“ hat er in einem Ton der Verachtung gesagt. Ich starre ihn herausfordernd an, aber ich schweige. Dann sagt er so nebenbei: 18
„Windgeschichten. Das meine ich. Wir sind im Bild. Sie haben damit eine gewisse Berühmtheit erlangt. Selbst Korpskommandant Sturzenegger hat mich gewarnt. ,Gehen Sie zu ihm’, hat er gesagt, ,und er wird Ihnen eine fabelhafte Geschichte auftischen. Geben Sie ihm das Stichwort Landesverrat, und es ist ihm gut genug für irgend eine haarsträubende Geschichte.’“ „Dann sind wir ja zu Ende“, sage ich, aber er schüttelt den Kopf. „So einfach ist es auch wieder nicht. Wir wissen mehr als nur das, was in der ,Prawda’ steht. Wir haben unsere Beziehungen.“ Ich nicke. „Über eines bin ich mir noch nicht im klaren, Herr Rappold, nämlich, ob Sie mich ins Zuchthaus bringen wollen oder …“ „Ich bin nicht Ihr Richter, Herr Wind, ich habe mit dem Zuchthaus nichts zu tun. Ich bin seit vierunddreißig Jahren bei der Bundespolizei. Ich habe die Rekrutenschule bei der Kantonspolizei Zürich gemacht. Ich war in den zwanziger Jahren Vorarbeiter in einer mechanischen Schreinerei. Es ging uns damals schlecht. Ich meldete mich zur Polizei. Ich arbeitete mich in die Höhe, ich wurde früh der Kriminalpolizei zugeteilt. Dann kam ich zur Bundespolizei. Das ist mein Beruf. Ich liebe, wenn Sie so wollen, meinen Beruf, und ich habe immer sehr viel von mir selbst verlangt: Ganze Arbeit, Herr Wind. Und ich werde auch in diesem Fall ganze Arbeit leisten. Im übrigen ist mir Ihre Person gleichgültig. Ich verachte Sie nicht, ich verabscheue Sie nicht.“ „Gut“, erwidere ich, „auch ich habe einen Standpunkt: 19
Ich will nicht ins Zuchthaus. Mit anderen Worten, es darf nicht zur Anklage kommen.“ Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, lächelt Rappold, und jetzt nimmt er sogar die Campari-Flasche zur Hand und schenkt mir und sich ein. „Ich habe Zeit“, sagt er, „und ich habe mit dem Kommandanten vereinbart, daß Sie in eine der wenigen Vorzugszellen kommen; Zellen, die der Kommandant, wie er immer betont, für Staatsanwälte und Gerichtsvorsitzende, die mit zwei Promille Alkohol im Blut am Steuer betroffen werden, eingerichtet hat. Es sind komfortable Zellen. Und die Mahlzeiten, sofern Sie persönlich dafür aufkommen, erhalten Sie aus einem Restaurant. Auch einen Radioempfänger dürfen Sie haben, Bücher, soviel Sie wollen, Zeitungen und so weiter. Und täglich, wenn möglich, werden wir miteinander reden. Sie werden mir sehr viel erzählen, angefangen bei Ihrer Geburt, und Sie werden sehr viel lügen und verdrehen, Sie werden ungeheuer viel fabulieren, mündlich und schriftlich, und ich werde allmählich die Wahrheit finden …“ „Windgeschichten“, sage ich. „Ich bin vorbereitet.“ „Fangen wir jetzt an?“ Rappold nickt aufmunternd. „Kennen Sie Mitulskij?“ frage ich Rappold. Er kennt ihn nicht. „Mitulskij“, erzähle ich, „ist der Chairman des ,Freedom-Konzerns’. Ich traf ihn anfangs Mai in Genf. Bis dahin habe ich immer über Jack F. Barth mit ihm verhandelt. Ich hätte mich von mir aus nicht mit ihm eingelassen, 20
aber er sagte, Jack F. Barth habe ihn angewiesen, mit mir direkt Kontakt aufzunehmen. Er kam auf unsere Flugwaffe zu sprechen, fragte, ob wie soweit seien, daß unsere Flugwaffe mit dem Freedom-Fighter ausgerüstet werden könnte. Er sagte: ,Eure Venoms und Vampires, die ihr den Engländern abgekauft habt, sind nur noch zu verschrotten. Der Freedom-Fighter hat die beste Elektronik, Höchstgeschwindigkeit 1,8 Mach, Bordradar, acht Kanonen … Der Freedom-Fighter kann als Jäger und als Jagdbomber eingesetzt werden …‘ Ich unterbrach ihn. Ich sagte, wir hätten eine Wehrgesellschaft, deren Vorsitzender Korpskommandant Sturzenegger sei; das sei soviel wie ein DreisternGeneral. Und ich sei nur geschäftsführender Sekretär dieser Wehrgesellschaft. Wörtlich sagte ich ungefähr: ,Die Konjunktur hat unsere Leute nicht armeefreundlich gemacht, und außerdem herrscht die Meinung vor, eine künftige kriegerische Auseinandersetzung sei Sache zwischen den Amerikanern und den Russen.’ Mitulskij schüttelte den Kopf. Er antwortete, das interessiere ihn nicht, er habe den Auftrag, die europäischen Armeen mit dem Freedom-Fighter auszurüsten. Und ich sagte, er müsse mich ausreden lassen, um Mißverständnisse zu verhüten. Und ich erzählte ungefähr wörtlich: ,Als die Roten bei uns 1949 eine Initiative lancierten, um das Rüstungsbudget um einen vollen Drittel zu kürzen, gründete ich die Schweizer Wehrgesellschaft, und ich schaltete mich auch in den Abstimmungskampf ein. Geldgeber war die Schwerindustrie, die in jeder Hinsicht an einer starken Armee interessiert ist. Ich sagte diesen Leuten, die Roten dürften nicht gewinnen, und damit sie nicht gewinnen könnten, müßten 21
wir Öffentlichkeitsarbeit leisten. Ich brauchte das Wort ‚Public Relations’ nicht. Die Leute begriffen und gaben mir, das heißt der Wehrgesellschaft, das Geld. Und nach dem Abstimmungskampf, den wir gewonnen haben, sagte ich, wir müßten fortfahren, und so fuhren wir fort. Die Industrie, das heißt die Generaldirektoren und die Vorsitzenden der Verwaltungsräte, wurden Mitglieder der Wehrgesellschaft. Dann nahmen wir auch Vertreter von Bankgesellschaften auf und später Vertreter der Textilindustrie und der Genußmittelindustrie, und ich mußte mein Büro erweitern; ich stellte vollamtliche Mitarbeiter ein. Und bereits vor fünf Jahren hat die Wehrgesellschaft eine Denkschrift ausgearbeitet und der Landesverteidigungskommission unterbreitet. Wir wollen eine Armeereform. Wir wollen mechanisierte Divisionen, schwere Panzer, schnelle Flugzeuge, eine moderne Armee wollen wir. Wir, die Wehrgesellschaft. Aber wenn wir unser Ziel erreichen wollen, dann müssen wir uns noch mehr anstrengen, das Volk, die Parlamentarier, die Chefbeamten der Verwaltung aufklären: ,Mene Mene Tekel U-Pharsin’: Die Schweizer Armee gezählt, gewogen und zu leicht befunden … Wir müssen ‚Menetekel-Filme’ drehen, ,Menetekel-Bücher’ schreiben, und wir müssen Hunderttausende von Schweizern in großen Sälen versammeln, und an den Wänden wird das ,Mene Mene Tekel U-Pharsin’ erscheinen; das muß doch zu machen sein mit der heutigen Technik, mit Infrastrahlen, zum Beispiel.’ Mitulskij schüttelte sich vor Lachen: ,Sie Teufelskerl!’ ‚Menetekels’, fügte ich hinzu, ‚kosten viel Geld; gute 22
Menetekels kosten mehr Geld als eine Leuchtwanderschrift’. Mitulskij erwiderte: ‚Geben Sie mir die Denkschrift, und ich sorge dafür, daß der Freedom-Konzern dreihunderttausend Dollar im Jahr an Ihre ‚Aktion Menetekel’ drangibt.’“ „Aber wozu die Denkschrift?“ fragte Rappold, was mich erstaunt: Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? „Herr Rappold“, erwiderte ich, „alle wollen immer eine Geschichte, eine ,Menetekel-U-Pharsin-Geschichte’. Aber ohne Geschichten kein Geld für Geschichten. Im Ernst: Mitulskij mußte dem Aufsichtsrat des Freedom-Konzerns eine gute Geschichte einer kampfunfähigen Schweizer Armee vorlegen, eine gute Geschichte einer Schweiz ohne Wehrwillen. Aber ich sagte Mitulskij, die Denkschrift könne ich ihm nicht geben, indes werde ich meinen Mitarbeiter Julius beauftragen, für den Freedom-Konzern eine neue Denkschrift zu verfassen. Und Julius schrieb also diese Abhandlung über den Zustand der Schweizer Armee, gründlich und genau. Ich ließ das Manuskript ins Amerikanische übersetzen und schrieb eine Schlußfolgerung dazu: Die Organisation unserer neuen Armee würde in Zukunft jener der NATO-Armeen angeglichen, so daß die Schweiz praktisch als Mitglied des westlichen Verteidigungsbündnisses betrachtet werden könne. Ich legte großen Wert auf diese Schlußfolgerung. Ich sagte mir, wenn der Aufsichtsrat des Freedom-Konzerns sehe, daß die Schweiz gewillt sei, praktisch, wenn auch noch nicht politisch, dem westlichen Bündnis sich anzuschließen, würde ich das Geld für meine ,Menetekel-Aktion’ ohne weiteres bekommen. Ver23
stehen Sie, Herr Rappold, es handelte sich um einen Einfall zu einer neuen Geschichte. Und was ich damit sagen will: Insofern lügt die ,Prawda’ nicht.“ Rappold faltete die Hände, drehte die Daumen und sagt: „Korpskommandant Sturzenegger sagte, innerhalb der Wehrgesellschaft sei nie die Rede vom Ankauf von Freedom-Fighters für die Schweizer Armee gewesen …“ Unser Gespräch wird unterbrochen. Hauptmann Kurz von der Kantonspolizei kommt und bittet Rappold, mich dem Erkennungsdienst vorführen zu dürfen. Auch das muß sein.
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auptmann Kurz trägt keine Uniform. Der Kommandant, er hat den Rang eines Majors, trägt auch keine Uniform. Auch die Leutnants tragen keine Uniform. Nur die Soldaten, die Gefreiten und die Unteroffiziere müssen Uniform tragen. Natürlich sind auch die Beamten der Kriminalpolizei nicht uniformiert. Alles in der Kaserne ist hell und freundlich. Würde es nach Antibiotika riechen, würde man annehmen, dies sei ein Krankenhaus. Aber es riecht nur nach Büro, nach Verwaltung. Hauptmann Kurz geht links von mir, bei Engpässen, bei Türen zum Beispiel, geht er voraus. Rappold hat sich in letzter Sekunde entschlossen, mitzukommen, obgleich man ihn nicht nötig hat. Uniformpolizisten mit Papieren in Händen begegnen uns, grüßen auf militärische Art. Hauptmann Kurz grüßt zurück, indem er zwei Finger der rechten Hand an seine Schläfen legt. Wir kommen an einer Türe vorbei, und ich bleibe stehen, denn die Anschrift interessiert mich: „Fernmeldezentrale“. Kurz sagt: „Das kennen Sie noch nicht. Interessiert Sie das?“ Ich nicke. Wir besichtigen die Fernmeldezentrale: Sendeund Empfangsgeräte, Fernschreiber, Telephone, Alarmvorrichtungen. An der Wand eine Mattscheibe von drei mal vier Meter: Zahlen leuchten auf, und gleichzeitig ertönt eine männliche Stimme aus irgendeinem Lautsprecher, der nicht zu sehen ist. Kurz sagt: 25
„Ich will Ihnen etwas zeigen.“ Er geht zum Schaltpult, das aussieht wie irgend ein Regiepult beim Rundfunk oder ein Mischpult im Schallplattenstudio. Kurz drückt auf einige Tasten und ruft eine Nummer auf. Die aufgerufene Nummer erscheint auf der Mattscheibe. Dazu meldet sich eine Stimme. „Wo sind Sie?“ fragt Kurz. Die Stimme antwortet: „Hier ZH 2357, wir patrouillieren zwischen Birmensdorf und Affoltern am Albis.“ „Nichts Besonderes?“ „Nichts Besonderes. Zwei Anzeigen wegen Überfahrens der Sicherheitslinie.“ „Danke. Ende.“ Wir gehen weiter zum Erkennungsdienst, zur Daktyloskopie. Der Daktyloskopist nimmt meine Finger, als wären sie aus Holz, drückt die Fingerbeeren, dann auch die Handballen hart auf eine geschwärzte Unterlage und dann auf das Karteiblatt. Kurz sieht zu, Rappold beobachtet das übrige Treiben: an allen Karteikasten stehen Männer und suchen. Wir begeben uns in einen anderen Raum, ins Fotostudio. Ich muß mich auf einen Stuhl setzen: Bitte ohne Krawatte, und Kragen geöffnet. Der Adamsapfel muß mit drauf auf dem Foto sein. Den Hinterkopf muß ich an eine Stütze pressen, die Hände bitte auf die Knie. Ich muß stillhalten. Der Fotograf heftet eine schwarze Tafel an meine Brust. Darauf lese ich: Harry Wind, 4.7.1918 / 286345. Ich muß stillhalten. Der Fotograf kann meinen Stuhl aus der Entfernung steuern: Der Stuhl dreht sich rechtsherum, dann linksherum. Das Licht bleibt dasselbe. Sie machen keine 26
Porträtstudien hier, das ist klar. Hier ist es wichtig, daß auf dem Foto das Muttermal an meinem linken Nasenflügel zu sehen ist und die Narbe in der Mitte der Stirne. Nach der Aufnahme werden meine Körpermaße gemessen: 1,80 groß, Brustumfang 92. Dann folgt eine Beschreibung: hängende Schultern, Zähne intakt, bartlos, auf dem linken Nasenflügel Muttermal, Durchmesser zwei Millimeter, in der Mitte der Stirn schöne Narbe, drei Zentimeter lang, senkrecht verlaufend. Augen: grünbraun, Haare dunkelbraun bis schwarz. „Wenn ich die Haare eine Woche lang nicht gewaschen habe, scheinen sie schwarz; ganz schwarz“, sage ich. Der Beamte überhört meinen Einwurf. Er spannt ein Formular in die Maschine, fragt mich nach Namen, Vornamen, Geburtsdatum. Er tippt mit nur zwei Fingern. Hauptmann Kurz steht am Fenster. Er hat die Vorhänge zurückgeschlagen. Rappold interessiert sich für die Fotoapparate. Hin und wieder stellt er dem Beamten eine Frage. Er besitze privat eine ,Hasselblatt’, mit Teleobjektiv, sagt er. Vor allem photographiere er vom Fenster seiner Wohnung aus Straßenszenen. „Militärische Einteilung, Grad …?“ fragt mich der Beamte. „Major, Kommandant Bataillon …“ „Hören Sie“, unterbricht mich der Mann barsch, „wir machen hier keine Witze!“ „Es tut mir leid“, wendet sich Rappold an mich, „daß ich Ihnen diese Prozedur nicht ersparen kann. Hier muß jeder erkennungsdienstlich erfaßt werden. Es handelt sich nicht um eine Schikane.“ 27
Der Beamte scheint zu verstehen. Von nun an spricht er in einem milderen Ton zu mir. Als ich die Krawatte umbinde, hält er mir den Spiegel. „Bitte“, sagt er. Hauptmann Kurz scheint von allem keine Notiz zu nehmen. Er begleitet uns zum Büro des Kommandanten zurück. Es ist elf Uhr, und ich fühle mich unbehaglich. Ich weiß, daß ich jetzt nicht sagen kann: „Entschuldigen Sie mich, Herr Rappold, wir müssen unsere Sitzung vertagen, weil ich verabredet bin.“ Ich kann nichts unternehmen. Ich kann auch nicht den Telefonapparat zu mir herüberziehen und irgend eine Nummer einstellen. Ich bin in Gefahr. Man rede mir nicht von der „inneren Freiheit“. Das ist Theologie. Rappold scheint nur zwei Arten von Menschen zu kennen: Landesverräter und Patrioten. Ich fürchte nicht, daß er plötzlich eine zusammenlegbare Peitsche aus der Rocktasche zieht. Dafür wurde er nicht nach Wien, Berlin, Paris und London geschickt. Die Schläger unter den Polizisten bleiben in Uniform. Aber ich könnte mir vorstellen: Rappold weiche Tag und Nacht nicht von meiner Seite. Wir beziehen anstelle einer Zelle ein Hotelzimmer, wir lassen uns weißen Bordeaux bringen und Austern, Tournedos Rossini, Espresso mit Framboise, eine Havanna. Die Zimmertüre ist nicht abgeschlossen. Und immer wieder sagt Rappold zu mir: „Bitte, die Türe ist offen, gehen Sie.“ Und jedesmal, wenn ich entschlossen bin, zu gehen, sind meine Beine eingeschlafen. Nach Tagen oder Wochen nehme ich mir vor, Rappold umzubringen. Mit meinen Händen.
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Ich will in meine Zelle geführt werden. Ich will mich zwei oder drei Stunden allein in meiner Zelle aufhalten, damit ich mich an die vier Mauern und an die Stäbe vor dem Fenster gewöhnen kann. Es ist klüger, nicht gleich zwölf Stunden hintereinander in der Zelle zu bleiben. Rappold kommt zur Sache. Aber kaum hat er einige Worte gesagt, geht die Türe auf. Der Kommandant kehrt zurück. Er lächelt. „Ich habe mein Schnellboot“, ,sagt er und reibt sich die Hände. „Die Expertenkommission hat sich überzeugen lassen. Wir haben dabei beinahe einen Polizeimann verloren, so stark haben meine Leute den Motor gedrosselt. Der Mann ging zweihundert Meter vom Ufer entfernt ins Wasser. Er sollte einen Ertrinkenden, einen Erschöpften markieren; einen schlechten Schwimmer. Der Mann machte das großartig. Er tauchte unter, ein zweites Mal, ein drittes Mal. Dann schrie er. Er schrie wie einer, der wirklich am Ertrinken ist. So laut schrie er, daß seine Hilferufe beinahe den blubbernden Motor unseres Bootes übertönten. Die Herren Experten wurden unruhig. Und ich wußte plötzlich, daß mein Mann da draußen es ernst meinte. Der spielte gar nicht mehr. Der war wirklich am Ertrinken. Und nun kamen wir nicht von der Stelle mit dem gedrosselten Motor. Aber schließlich schafften sie’s und brachten ihn an Land. Er war erschöpft, er hatte Wasser geschluckt. Niemand hatte an das kalte Wasser gedacht. Daran hatten wir wirklich nicht gedacht. Aber nun hat er zwei Tage Urlaub, und ich bekomme mein Schnellboot …“ Der Kommandant lächelt. Er steht vor seinem Schreib29
tisch und sieht die Morgenpost durch. Er ist von Legenden umwoben. Während zwölf Jahren war er Chef der Kriminalpolizei der Stadt Zürich. Während dieser zwölf Jahre blieb kein Kapitalverbrechen ungelöst. Wie er das schaffte, war sein Geheimnis. Dann wurde er erster Staatsanwalt. Ich lernte ihn eines Nachts kennen. Ich saß spät abends mit einigen Freunden aus der Studentenzeit im „Grünen Scherben“. Wir hatten viel Bier und Schinkenhäger getrunken. Um halb eins, da wir nach Gesetz den „Scherben“ hätten räumen müssen, trat er ein. Er setzte sich an unseren Tisch, und als die Streife kam, um uns aufzuschreiben, weil wir noch immer da saßen, sahen die beiden Polizisten ihn, grüßten und gingen. Sie sagten der Wirtin nur, sie müßte die Türe schließen. Sie schloß die Türe und ließ keine neuen Gäste mehr ein. Er trank Rotwein. Um acht Uhr morgens, sagte er nebenbei, beginne seine Schlußrede vor den Geschworenen. Zwei Männer waren des Raubmordes angeklagt. Der Streit drehte sich nur noch um die rechtliche Beurteilung: Raubmord oder Totschlag? Ich war Jurist, und meine Zukunft noch nicht entschieden. Würde ich doch noch Strafverteidiger werden? Ich brachte das Gespräch auf die beiden Mörder, aber es war wenig aus ihm herauszuholen. Wir saßen bis gegen vier Uhr in der Früh im „Scherben“, und alles, was er über seinen Beruf sagte, war: „Die würden ihre blauen Wunder erleben, wenn ich Verteidiger wäre statt Ankläger.“ Er meinte die Bürger. Ich sagte: „Wechseln Sie doch Ihre Stellung.“ „Nein“, erwiderte er, „das kann ich nicht. Ich spiele zwar mit dem Gedanken, aber ich könnte es doch nie tun.“ 30
Um vier Uhr nahm er ein Taxi und fuhr nach Hause. Er badete und fuhr anschließend ins Bahnhofrestaurant und frühstückte. Um acht stand er vor den Geschworenen. Wir saßen auf der Tribüne. Sein Plädoyer war scharfsinnig und milde in einem. Sein Auftreten so, als hätte er die Nacht schlafend verbracht. Er redete ununterbrochen zwei Stunden lang. Als er aufhörte, erhob sich einer der Angeklagten, ging auf ihn zu und gab ihm die Hand. Ich saß noch öfters auf der Zuschauertribüne, wenn er als Ankläger auftrat. Nur wenige Angeklagte haben ihm die Hand nicht gereicht. Kein Verteidiger ist je gegen ihn aufgekommen. Die Legende erzählt, er habe alle Nächte, die seinen großen Schlußreden vor Gericht vorangegangen seien, beim Rotwein im „Grünen Scherben“ oder ähnlichen Lokalen verbracht. Ich selbst habe auch einige dieser Nächte in seiner Gesellschaft verbracht. Seinetwegen hatte ich angefangen, Rotwein zu trinken. Rappold blickt auf seine Uhr. Er wendet sich an den Kommandanten und sagt: „Vielen Dank, es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie uns Ihr Dienstzimmer überlassen haben. In Zukunft werden wir uns woanders unterhalten, vielleicht in der Zelle.“ „Wie Ihnen beliebt“, erwidert der Kommandant, „Sie können ohne Bedenken auch mein Konferenzzimmer benützen, wie gesagt, immer wenn ich nicht da bin … ich finde diesen Raum gar nicht so ungemütlich …“ Nun blickt er mir ins Gesicht, lächelt und fragt: „Wie sind Ihre Aussichten? Es steht nicht zum besten, wie?“ 31
Diese Worte fallen schwerer und böser, als es seine Absicht ist. Rappold schweigt. Die Neuenburger Pendule, die der Kommandant von der Regierung zum Geschenk erhalten hat, als er von der Staatsanwaltschaft zur Kantonspolizei wechselte, schlägt elf. Rappold bricht auf. Er lege Wert darauf, sagt er, mich persönlich in die Zelle zu begleiten, mich jeweils dort auch wieder abzuholen. Er geht mit seinen Wünschen noch einen großen Schritt weiter: Er bittet, das Gefängnispersonal anweisen zu dürfen, mit mir keine Gespräche zu führen; unter keinen Umständen. Der Kommandant zuckt die Schultern. Wenn Rappold solches als nötig erachtet, gut. In seiner Stimme schwingt Verachtung mit. Aber mir kann es recht sein, wenn er Rappold nicht auf solche Fehler aufmerksam macht. Rappold unterschätzt mich. Ich verabschiede mich vom Kommandanten. Ich gehe Rappold voraus, wie am Morgen schon. Polizeirekruten begeben sich in die Kantine. Aus der Kantine dringt süßlicher Geruch von gedämpftem Rosenkohl in die Gänge. Der Zellenbau ist phantasielos und nicht einmal zweckmäßig. Lackiertes Eisen, der Lack abgesprungen, vergraut; Rost frißt am Eisen. Meine Zelle befindet sich im dritten Stockwerk. Hellblaue Wände, fließendes Warmund Kaltwasser, ein Spiegel, Tisch und Stuhl, alles nicht festgeschraubt, Radioanschluß, hinter einem Vorhang aus Plastik ein WC mit Wasserspülung. Auf dem Tisch befindet sich eine Schreibgarnitur. Kaum sind wir wieder allein, ist Rappold freundlich und zuvorkommend. Wenn es mir mit einer Schreibmaschine leichter von der Hand gehe, sagt er, werde er mir eine besorgen können. „Wozu?“ frage ich. 32
„Ich muß Sie ersuchen“, erklärt er, „Ihren Lebenslauf schriftlich niederzulegen. Wir könnten das zwar gemeinsam machen“, fährt er fort, „aber ich bin der Meinung, es sei besser, wenn Sie das allein erledigen.“ Eine Schreibmaschine brauchte ich nicht, sagte ich und frage, bis wann er meinen Lebenslauf haben möchte. „Wir haben Zeit“, erwidert er. „Und was das Essen anbetrifft, werde ich mich jetzt gleich darum kümmern, der Kommandant hat mir bereits gesagt, welches Restaurant …“ Ich lasse ihn nicht ausreden. „Ich möchte Gefängniskost haben.“ Rappold sagt nur: „Bitte, bitte, wie Sie meinen.“ Und dann denkt er nach. Ich sehe es ihm an, daß er glaubt, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Und er hat etwas Wichtiges vergessen. Ich habe ja alle meine Effekten, wie sie das bezeichnen, bei mir: Das Geld, die Brieftasche, die Schnürsenkel, das Taschenmesser, den Hosengürtel und so weiter. Rappold zögert, aber dann verlangt er mir all diese Dinge ab, sagt, er werde mir nachmittags eine Quittung dafür bringen, und falls ich Wäsche brauchte, wolle er sich mit meiner Frau in Verbindung setzen. Dann geht er. Aber bevor er die Türe ins Schloß fallen läßt, fragt er ganz wie nebenbei: „Können Sie mir erklären, weshalb Mitulskij behauptet hat, er habe von Ihnen nie ein Schriftstück, das sich mit unserer Armee befasse, erhalten?“ Ich schüttle den Kopf: „Sie sind wirklich nicht schlecht vorbereitet.“ Er zwinkert mit den Augen, und die Türe fällt zu.
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eltsam: Kaum bin ich in der Zelle, fahre ich mit der rechten Hand prüfend über mein Gesicht, und ich habe das Gefühl, die Bartstoppeln seien heute rascher gewachsen als an anderen Tagen. Das sind Symptome der Gefahr. Doch kann die Gefahr nicht wirksam werden, solange ich mir ihrer bewußt bin. So prüfe ich mein Gesicht im Spiegel und stelle fest, daß die Bartstoppeln nicht einen Zehntelmillimeter länger sind als an anderen Tagen. Vielleicht habe ich mich heute früh nicht sorgfältig rasiert? Aber eigentlich habe ich mich nie sorgfältig rasiert. Ich werde Rappold bitten, daß er mir mein Toiletten-Necessaire besorgt. Er wird mir meine Bitte, mich zwei Mal am Tag rasieren zu dürfen, nicht abschlagen. Er wird sich einen Spaß daraus machen, die Rasur persönlich zu überwachen. Und wenn er persönlich keine Zeit hat, wird er mich durch einen Uniformpolizisten bewachen lassen. Die Zahnbürste und die Zahnpaste, Seife und Frottiertücher werde ich in der Zelle behalten dürfen. Auch darauf kommt es an, daß ich mir die Hände jederzeit waschen kann. Ich weiß natürlich, was Rappold sagen würde, wenn er erführe, weshalb ich auf all das Wert lege. Er würde sagen, mit solchen Äußerlichkeiten sei mir nicht geholfen. Aber er wird nichts erfahren. Er wird denken, schließlich sei ich ja kein Schwein. Nur ich kann die Wirksamkeit unscheinbarer 34
Dinge ermessen. Nur ich. Wenn sie dafür ihre Gründe haben, daß sie keine Kranken hängen, köpfen oder erschießen, dann habe ich meine Gründe, weshalb ich mich zweimal am Tage rasieren und meine Hände waschen will. Die Uhr hat er mir nicht abgenommen. Hat er sie vergessen? Er kann sie auch mitnehmen. Ich habe ein ausgeprägtes Zeitgefühl. Außerdem höre ich hier die Stundenschläge vieler Turmuhren. Ich brauche die Longines nicht. Es ist viertel vor eins. Es gibt heute kein Mittagessen für mich, keinen gedämpften Rosenkohl, Salzkartoffeln und zwei Scheiben Waadtländer Saucisson. Sie haben mich vergessen. Sie denken, ich werde meine Mahlzeiten vom Restaurant beziehen. Ich will mich jetzt an den Tisch setzen. Rappold wird staunen, wird unsicher werden, denn so werde ich die Führung behalten können, indem ich nichts verschweige. Er wird nicht damit rechnen, daß ich nicht einen, sondern viele Lebensläufe habe. Ich will berichten, lückenlos, lückenhaft, beides in einem, und es wird nicht eine Frage des Gedächtnisses sein, des Erinnerungsvermögens, sondern nur eine Frage der Ordnung, des Einordnens. Die Jugend: Meine Eltern waren gewöhnliche Leute, kirchenfromm und anständig. Wo beginne ich? Mein Vater, Uhrmacher mit eigenem Geschäft, führte eine Durchschreibe-Buchhaltung mit zwei Rubriken: Einnahmen, Ausgaben. Ein Zwischenfall: Mein Cousin mütterlicherseits, der bei meinem Vater die Uhrmacherlehre machen sollte, entdeckte eines Tages in dieser Buchhaltung: „Putzfrau, 4 Stunden und Tramspesen Fr. 14.50“ in der 35
Ausgabenrubrik. Indes mußte mein Cousin jeden Morgen den Laden und die darunterliegende Werkstatt reinemachen. Ich war zwölf, als mein Cousin diese Entdeckung machte. Einige Monate später brach ein offener Streit aus. Mein Cousin, der Amtsvormundschaft unterstellt, weil er außerehelich geboren war und seine Mutter für die Berufsausbildung nicht aufkommen konnte, hatte Geld aus Vaters Ladenkasse gestohlen. Er hatte diese Diebstähle in der Buchhaltung vermerkt, aber Vaters Handschrift unordentlich nachgeahmt. Aber nicht deshalb war man ihm auf die Spur gekommen, sondern weil der Bücherexperte und Steuerberater meinen Vater eines Tages darauf aufmerksam machte, er händige seinem Neffen wohl etwas zuviel Taschengeld aus. Ich war dabei, als der Bücherexperte und Steuerberater dies sagte. Es war beim Mittagessen. Auch Vital, mein Cousin, war dabei. Mein Vater antwortete, er werde sich das überlegen müssen. Sonst sagte er kein Wort weiter. Nach dem schwarzen Kaffee setzte er sich mit seiner Buchhaltung an den Stubentisch. Er verzichtete auf den Mittagsschlaf. Das war ungewöhnlich. Vital war seit einem Jahr bei uns. Er bewohnte eine Mansarde, weil wir das Gästezimmer an Studenten vermieteten. Aus diesem Geld schaffte meine Mutter für alle Kleider an. Wir verlangten achtzig Franken im Monat mit Bedienung und Frühstück. Vital blieb am Küchentisch sitzen. Auch das war ungewöhnlich. Meine Mutter blieb auch sitzen. Dem Bücherexperten war in seiner Haut nicht wohl. Er wußte, daß Vital kein Taschengeld von meinem Vater erhielt. Er wußte, daß die Amtsvormundschaft meinem Vater fünfhundert Franken Lehrgeld im Jahr und achtzig Franken Pension im Monat für Vital bezahlte, und 36
daß die Amtsvormundschaft von meinem Vater jeden Monat eine Rechnung zugestellt bekam für Bestandteile, die Vital zerbrach. Er wußte auch, daß Vital seit einem halben Jahr die meisten Großuhren, die gebracht wurden, selbständig reparierte, und daß mein Vater dadurch nicht unerhebliche Mehreinnahmen buchen konnte. Das alles wußte der Bücherexperte, und weil er das alles wußte, sagte er plötzlich, er müsse jetzt gehen, und er ging, aber er übersah beim Abschied Vitals ausgestreckte Hand. Inzwischen prüfte mein Vater jede Eintragung in der Buchhaltung seit Vitals Lehrantritt. Es war eine große Arbeit. Die Eintragungen „Taschengeld“ hatte er natürlich bald einmal herausgeschrieben, aber auf die anderen „Betrügereien“ wäre er ohne Vitals Hilfe kaum gestoßen. Insofern waren Vital die Fälschungen Vaters Handschrift nicht schlecht gelungen. Meine Mutter sagte nach langem Schweigen bloß: „Ist das wahr?“ Vital nickte, und so weit ich mich erinnere, war nichts von Trotz in seinem Gesicht, nichts von Trauer oder Reue, sondern nur Offenheit. „Mein Gott“, klagte sie, „was soll denn aus dir werden, Vital?“ Er zuckte bloß die Schultern. Das war nicht sein Kummer. Ich betrachtete Vital mit Bewunderung, denn das hatte ich mit meinen zwölf Jahren verstanden: Vital hatte gestohlen. Vital war ein Dieb. Jetzt würde die Polizei kommen und Vital ins Gefängnis bringen. Meine Bewunderung für meinen Cousin wuchs, während mein Vater in der Stube mit der Buchhaltung beschäftigt war. Meine Mutter mahnte Vital: „Wenn du mehr gestohlen hast, dann sag es. Wenn du jetzt die Wahrheit sagst, wird die Strafe kleiner sein.“ Und ich dachte: „Sag bloß nichts, sonst wird die Strafe kleiner, wenn du jetzt die 37
Wahrheit sagst, dann darfst du nicht ins Gefängnis, dann kommt die Polizei auch nicht.“ Das dachte ich. Ich sagte kein Wort. Vital aber blickte meiner Mutter ins Gesicht: „Ich habe nicht gestohlen.“ Er sagte das, ohne die Stimme zu heben; es war nur eine Feststellung. Meine Mutter zitterte, und ihre Stimme gehorchte ihr fast nicht mehr, als sie sagte: „Jetzt kommst du gleich mit und sagst deinem Onkel, was du alles zusammengestohlen hast.“ Vital folgte meiner Mutter, ich folgte ihm. Mein Vater war ruhig. Er trug den weißen Mantel und hatte sich die Lupe ins rechte Auge geklemmt. Der Tintenstift in seiner Hand sah aus wie eine Uhrmacherpinzette, und man hätte glauben können, er sei mit der Reglage einer Spirale beschäftigt. Vital sagte: „Ich habe die übrigen Eintragungen immer am Anfang eines Monats gemacht, und zwar in der gleichen Reihenfolge wie du.“ Mein Vater blickte auf. „Was für eine Reihenfolge? Wie ich?“ Vital erklärte. Er hatte jeweils die Rechnungen, die mein Vater der Amtsvormundschaft monatlich zu stellen pflegte, in die Buchhaltung übertragen, detailliert, und die entsprechenden Beträge dann aus der Kasse genommen. Solche Rechnungen enthielten bis zu zwanzig Positionen, eben soviele, als Vital während eines Monats an Bestandteilen zerbrochen, und die mein Vater ersetzt hatte. Vital mußte sich an den Tisch setzen und diese Eintragungen mit Tintenstift ankreuzen. Mein Vater ging und telephonierte mit der Polizei. Er bat darum, daß man einen Kom38
missar schicke, und man versprach ihm, einen zu schicken. Meine Mutter sagte, er müsse doch den Laden öffnen, aber mein Vater erwiderte, der Laden bleibe geschlossen, bis das Verhör vorbei sei, aber er gehe jetzt hinunter und schreibe einen entsprechenden Vermerk an die Türe. Er ging hinunter. Bald darauf erschien ein Polizist in Zivil. Meine Mutter aber hatte wieder Mitleid mit ihrem Neffen, sie umarmte ihn sogar und begann zu weinen. Sie schluchzte und sagte: „Vital, warum bist du denn nicht zu mir gekommen?“ Vital aber stieß meine Mutter zurück und schrie: „Geh du zu deinem Alten!“ Meine Mutter war entsetzt. Vital, als ob nicht das geringste geschehen wäre, sagte zum Polizisten: „Bitte, nehmen Sie mich mit, ich will nicht mehr hier bleiben.“ Mir stieg das Blut in den Kopf. Indes war ich enttäuscht, daß der Mann von der Polizei keine Uniform hatte, und daß keiner auf der Straße erkennen konnte, daß Vital abgeführt wurde. Als mein Vater zurückkam, standen der Polizist und Vital im Vestibül. Sie gingen. Der Vater, verwirrt, hielt den Polizisten auf, gab ihm die Buchhaltung mit und stand dann unter der Türe wie einer, der im Schlafwandel aufgeweckt worden ist. Ich folgte beiden. Zuweilen war ich ihnen dicht auf den Fersen, zuweilen ging ich auf gleicher Höhe neben ihnen, aber ich war zu erregt, um eine Frage zu stellen. Vital wurde auf die Wache gebracht … Ich wußte bis zu jenem Tag wenig über Vitals Herkunft. Ich wußte nur, daß er der Sohn der einzigen Schwester 39
meiner Mutter war, daß diese einen Mann geheiratet hatte, in einem kleinen Dorf im Bündnerland wohnte, daß Vital noch zwei Halbbrüder hatte, die aber acht und zehn Jahre jünger waren als er, und daß er bei uns eine Lehre machen sollte. Als ich wieder nach Hause kam, nahm mich meine Mutter zur Seite – es war ein schulfreier Nachmittag – und sie ermahnte mich, Vital nicht zu verachten, Vital aber auch als Warnung hinzunehmen, denn so gehe es einem, wenn man Recht und Unrecht nicht unterscheiden könne. Er sei ein armer Kerl und habe nie einen Vater gekannt. Er sei in Waisenhäusern und bei Pflegeeltern aufgewachsen, und statt daß sich seine Mutter um einen etwas vermögenderen Mann umgesehen hätte, habe sie dann auch noch diesen armen, wenn auch liebenswürdigen Onkel Josu geheiratet. „Und dabei war er immer so intelligent. Er hätte es weiß Gott zu etwas bringen können, aber so … Und da anerbot sich dein Vater, ihn in die Lehre zu nehmen. Der Amtsvormund fuhr einzig wegen Vital ins Bündnerland und tat alles, damit er ihn wieder bevormunden konnte. Für Bevormundete sind nämlich immer viel mehr Unterstützungsgelder da, als für die anderen Mittellosen. Ja, und da setzte der Vormund also einen Brief auf. Einen Brief, wie ihn die Mutter eben an die Amtsvormundschaft schreiben sollte. Einen Brief, in dem sie der Vormundschaft schreibt, es gehe nicht mehr mit Vital, er mache seinem Stiefvater Schwierigkeiten. Denn es braucht immer einen Grund, damit ein Mensch bevormundet werden kann.“ Meine Mutter ließ mich plötzlich stehen. Sie rannte zum Telephon, wollte unbedingt den Kommissar sprechen, der Vital abgeholt hatte, und als sie dann mit ihm verbunden 40
war, sagte sie, man müsse ihr den Vital nach der Vernehmung wieder zurückbringen, sie dulde es nicht, daß er ins Gefängnis komme. Und zu mir, der ich ja wohl nicht alles verstand und begriff damals mit meinen zwölf Jahren, sagte sie nachher: „Dein Vater ist unmenschlich. Wie er auch mit mir umgeht! Ich bin seine Frau. Ich bin deine Mutter. Tag für Tag läßt er mich in den Laden kommen, Tag für Tag muß ich aufzählen, was ich einkaufen will, und er nimmt den neuesten Marktbericht hervor und sagt, der Kohl, ja der steht heute bei vierzig Rappen, Zucker … Mein Gott, und wie er mir das Geld in die Hand zählt, und wie ich zurückkomme und ihm das Restgeld wieder auf den Tisch legen muß … nein, nein, Vital hat ganz recht, wenn er … o Gott, was sage ich, natürlich hat Vital kein Recht, zu stehlen …“ Um fünf Uhr kam der Polizist in Zivil mit Vital zurück. Mein Vater schloß das Geschäft. Dann standen wir alle in der Stube. Meine Mutter, mein Vater standen da, und zwischen den beiden ich, und vor uns stand Vital, aber auch der Polizist, bloß ging uns dieser nichts an. Vital sah meinem Vater in die Augen und sagte: „Es tut mir leid, ich bitte um Verzeihung. Ich sehe ein, daß ich Unrecht getan habe, es geht nicht, daß ich deine Schrift fälsche, es tut mir leid …“ Und ehe mein Vater darauf antworten konnte, zog Vital einen Briefumschlag aus seiner Rocktasche, tat einen Schritt auf meinen Vater zu und streckte ihm diesen Umschlag hin. Dann sagte er: „Es fehlen zwanzig Franken. Ich habe damit meiner Mutter ein Geburtstagsgeschenk gekauft.“ 41
Mein Vater nahm das Geld und zählte es. Hundertundfünfzig Franken waren es. Der Polizist erklärte, wenn mein Vater keinen Strafantrag stelle, wäre die Sache erledigt. Wenn mein Vater aber den Strafantrag nicht zurückziehe, komme Vital wahrscheinlich nicht ins Gefängnis, sondern in eine Erziehungsanstalt. „Ich habe mit dem Amtsvormund gesprochen“, sagte der Polizist, „und der Amtsvormund hat Bedenken geäußert. Vitals Akte ist belastet. Der Umstand, daß er seiner Mutter, beziehungsweise seinem Stiefvater hat weggenommen werden müssen, wiegt schwer. Der Amtsvormund ist der Meinung, man sollte keinen Strafantrag stellen.“ Mein Vater, der das Geld jetzt gezählt hatte, antwortete: „Wenn er bereut!“ Der Polizist sagte, Vital bereue seine Tat sicher. Vital sagte: „Ich bereue, daß ich deine Schrift gefälscht habe. Aber ich habe nicht gestohlen, dieses Geld ist eigentlich mein Geld, aber ich bereue, daß ich es heimlich genommen habe.“ „Ich ziehe den Strafantrag nicht zurück“, rief mein Vater aufgebracht. Aber meine Mutter wies ihn zurecht: „Du ziehst den Strafantrag zurück.“ Vital wandte sich an den Polizisten: „Ich gehe lieber ins Gefängnis“, meinte er. Meine Mutter schrie: „Nein, Vital, du gehst mir nicht ins Gefängnis. Es ist nicht wahr, daß man dich von deinem Vater Josu hat wegnehmen müssen, weil du dich nicht vertragen hast mit ihm. Das ist nicht wahr. Aber so ein Brief ist eben geschrieben worden. Jetzt liegt er bei den Akten, mein Gott, Anni und 42
ich sind auch als Waisen aufgewachsen. Das alles darf sich nicht wiederholen.“ Aber mein Vater, sehr klein gewachsen, mager, mit Augen und Händen, die nur für Uhren geschaffen waren, bäumte sich gleichsam auf. Er stampfte mit seinem Fuß und sagte laut: „Willst du einen Dieb unter uns dulden? Hast du nicht mehr als einmal gesagt, es wäre besser gewesen … Und überhaupt, schon mehr als einmal hat mich Vital bedroht, aber mir ist jetzt alles klar, jawohl, jetzt ist mir alles klar …“ Dabei blickte er Mutter an. Der Polizist ließ meinen Vater nicht austoben. Er legte die rechte Hand an die Krempe des Hutes und sagte höflich: „Ihre Familienangelegenheiten gehen mich nichts an.“ Er ließ uns alle stehen und ging. Ich stellte mich neben Vital und flüsterte ihm zu, daß wir lieber verschwinden sollten. Vital nickte, und wir gingen in sein Mansardenzimmer hinauf. In der Stube unten stritten meine Eltern weiter. Ich habe sie später immer wieder einmal streiten gehört. Es ging immer um dasselbe; mein Vater sagte immer: „Du hast mich des Geldes wegen geheiratet“, und meine Mutter sagte immer: „Du hast mich genommen, weil du wußtest, wie anspruchslos ich bin.“ Es war eine klare und saubere Rechnung, die sich meine Eltern gegenseitig vorhielten, und es führte auch nie weiter. Im Mansardenzimmer setzte sich Vital auf den Bettrand, und ich setzte mich auf die Fensterbrüstung. Vital sagte dumpf, aber nicht eigentlich verzweifelt: 43
„Ich gehe.“ Und ich, im Widerstreit meiner Gefühle, ermunterte ihn. „Ja, gehe, aber wohin willst du gehen?“ Im gleichen Augenblick hätte ich ebensogut sagen können, und es wäre ebenso ehrlich gewesen: „Nein, geh nicht, bleibe!“ Vital dachte nach. Dann begann er einen kleinen Koffer zu packen. „Ich fahre nach Australien“, sagte er, „aber du darfst keinem Menschen etwas davon sagen. Nach einem Monat darfst du es deiner Mutter sagen, daß ich nach Australien gefahren bin. Sobald es dunkel ist, gehe ich.“ „Aber du hast kein Geld“, wandte ich ein. Es müsse auch ohne Geld zu machen sein, antwortete er entschlossen. Aber in diesem Augenblick war ich schon so weit, mir einen Anteil an Vitals Abenteuer zu sichern. Ich blieb einige Zeit bei ihm. Wir redeten wenig. Vital warf dann und wann eine Bemerkung hin, und so erfuhr ich, daß er meine Mutter immer bewundert hatte, daß er meinen Vater verachtete. Als die Dämmerung so fortgeschritten war, daß die Straßenbeleuchtung eingeschaltet wurde – es war sechs Uhr –, stieg ich in die Wohnung hinunter. Mein Vater hatte sich nochmals in die Werkstatt begeben. Meine Mutter war schweigsam. Ich bemerkte, daß sie geweint hatte. Wir sprachen nicht miteinander, und ich ging zu meinem Vater. Er begrüßte mich mürrisch, aber ich zeigte mich freundlich. „Nicht wahr, was Vital gemacht hat, ist doch eine Frechheit?“ 44
Mein Vater löschte die Arbeitslampe aus und wandte sich mir zu. Es war beinahe Nacht, aber mein Vater war sparsam, er sagte, reden könne man auch ohne Licht. Auch im Laden vorne brannte kein Licht, bloß die Schaufenster waren beleuchtet. Aber wenn jemand die Ladentür öffnete, ging das Deckenlicht von alleine an. So war mein Vater, und jetzt hielt er mir einen kleinen Vortrag über Recht und Unrecht, über das Stehlen und über das Geben und Nehmen. Mein Vater glaubte fromm zu sein und war davon überzeugt, daß er für Vital nur das Beste im Sinn habe, daß er ihm alles verzeihen werde. Doch vorerst sollte Vital die Strafe auf sich nehmen, er sollte Scham zeigen und aufrichtige Reue. Auch von Armen und von Reichen redete mein Vater, und davon, daß es nun einmal Gottes Wille sei, daß es Arme und Reiche gebe, und daß es nicht des Menschen Sache sei, diese Ordnung umzustoßen. Die große Uhr zeigte schon vor halb sieben, und um halb sieben war Ladenschluß. Ich bat ihn, einige Armbanduhren zu einer Auswahl zusammenstellen zu dürfen, denn meine Klasse habe beschlossen, unserem Lehrer eine Uhr zum Geburtstag zu schenken. Mein Vater drehte die Arbeitslampe wieder an und sagte: „Du weißt ja, wie die Schubladen geöffnet werden.“ Ich stellte eine Auswahl von zehn Uhren zusammen, und dann schlug es halb sieben. Ich hörte, wie mein Vater die Arbeitslampe löschte, er war ein sehr pünktlicher Mann. Ich öffnete schnell die Ladenkasse, ergriff wahllose einige Geldscheine, steckte sie in die Hosentasche, und dann stand mein Vater schon hinter mir. „Du kannst ja diese Uhren morgen in die Schule mit45
nehmen“, sagte er, „und jetzt legen wir sie am klügsten in den Kassenschrank, du mußt mich morgen bloß daran erinnern.“ Dann ging ich und rannte fast atemlos die Treppen hinauf zur Mansarde. Vital war nicht mehr da.
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s ist vier Uhr nachmittags. Die Sonne am Untergehen. In der Zelle dämmert es. Vor wenigen Minuten ist die Türe aufgegangen, und Rappold ist eingetreten. Er mustert die Zelle und sagt: „Eigentlich eine freundliche Atmosphäre. Man wird Ihnen noch ein Rundfunkgerät bringen.“ Ich rede von meiner Toiletten-Tasche. Obwohl Rappold von sich aus daran gedacht und sie auch schon mitgebracht hat, läßt er mich ausreden. „Sie können sich auch fünfmal am Tag rasieren“, sagt er, „und ich habe nicht den Ehrgeiz, Sie dabei zu überwachen oder überwachen zu lassen.“ Dazu lächelt er. Er nimmt die vollgeschriebenen Blätter an sich: „Ich werde die Geschichte mit der Maschine abschreiben lassen. Sie erhalten eine Kopie. Das Manuskript bleibt bei den Akten.“ „Warum nennen Sie es ‚Geschichte’, es handelt sich doch um einen Lebenslauf?“ Er nickt. „Ich kenne bereits einige Ihrer Lebensläufe. Ich war heute in Ihrem Büro. Sie sind ein vielseitiger und ein raffinierter Mann. Ihre Pläne sind nicht leicht zu durchschauen.“ 47
„Haben Sie ein Exemplar meiner Denkschrift gefunden? Haben Sie ein Doppel meines Begleitbriefes an Mitulskij gefunden?“ „Meine Mitarbeiter sind auch am Burenweg 4a gewesen. Natürlich haben sie dort auch nichts gefunden.“ „Und Sie geben nicht auf?“ Rappold blickt mich wortlos an. Auch ich schweige. Auf einmal sagt er dann: „Mene Mene Tekel U-Pharsin. Das gilt auch für Sie.“ Ich lächle und schüttle den Kopf: „Die Menetekel-Geschichten sind meine Geschichten.“ So führt unser Gespräch zu nichts. Rappold blickt um sich. Beiläufig und ohne mich anzublicken sagt er: „Kommen wir zur Sache. Ich habe Ihren Mitarbeiter Julius vernommen. Julius weiß nichts. Er weiß nur von einer Denkschrift, und diese eine sei dem Bundesrat ausgehändigt worden. Im übrigen behauptet er, Sie seien unschuldig.“ „Julius übertreibt. Ich bin weder schuldig noch unschuldig.“ „Julius wird der einzige sein, der Sie nicht verlassen wird.“ „Nicht verlassen kann? Ich fürchte …“ „Ja“, Rappold nickte. „Er wurde zornig. Verhaften Sie mich, wenn schon!’ sagte er. Und schließlich meinte er, es gebe eben gewisse militärische Dinge, die geheimgehalten werden müßten.“ „Darum wußte er auch nichts von der Denkschrift, die an die Adresse Mitulskijs geschickt worden sein soll?“ Rappold zuckt die Schultern und erwidert: 48
„Ich habe ihn aufmerksam gemacht, daß sein Chef nicht grundlos in Haft sitze; aber er hat mir keinen schlechten Eindruck gemacht. Offen und korrekt stand er mir Rede und Antwort. Bloß wenn ich auf die Denkschrift an Mitulskij zu sprechen kam, schwieg er zuerst und sagte dann: ,Ich habe kein Recht, mich darüber zu äußern. Verstehen Sie mich. Ich weiß nicht, wovon Sie reden …‘ Im übrigen, Herr Wind, habe ich wie gesagt eine gute Meinung von Ihrem Julius …“ Rappold hat sich auf den Rand der Pritsche gesetzt. Auch das war eine der Hafterleichterungen: Die Pritsche wird tagsüber nicht hochgestellt, ich kann mich niederlegen, wann es mir behagt. „Wer ist Julius?“ fragt Rappold. Ich muß nachdenken. „Julius“, sage ich, „hat sich damals, als ich einen Sachverständigen suchte, unter fünfzig anderen Bewerbern gemeldet. Das war kurz nach der Gründung der Wehrgesellschaft. Nach dem ersten, allgemein gehaltenen Gespräch – belanglos, nichts von Lebenslauf und ähnlichem –, beschloß ich, ihn einzustellen. Aber das teilte ich ihm nicht mit. Ich sagte: ,Ich kann mich noch nicht entschließen.’ Ich beleidigte ihn: ,Wie Sie da vor mir sitzen und ich Sie mir ansehe, muß ich schon sagen, ich begreife nicht, daß man Sie zur Offiziersschule zugelassen hat.’ Julius wurde blaß, seine Lippen zuckten. ,Und wie ist denn das mit den Frauen?’ fragte ich, und er antwortete mit leiser Stimme, er sei verheiratet. Dann bot ich ihm eine Zigarre an, und er nahm sie, obgleich er Nichtraucher war. Ich fragte ihn, was er denn für einen Beruf habe, obgleich ich aus seinem Bewerbungs49
schreiben wußte, daß er Historiker war, und jetzt kam auf einmal Leben in ihn. Er begann zu berichten: ,Sehen Sie’, sagte er, ,ich habe mich mit meiner Dissertation nun doch wirklich leidenschaftlich für das Ansehen berühmter Generäle eingesetzt. Zum Beispiel für von Warnery, Baron von Besenval, Zurlauben, Jomini, Dufour und Wille, und ich wollte auch für Clausewitz einstehen, für Keitel sogar und für Kesselring. Vor allem: mir ist es darum gegangen, den Verunglimpfungen entgegenzutreten. Überall heißt es jetzt doch wieder, Generäle hätten keine Moral, keinen Instinkt, keine Humanität. Generäle seien egoistisch, ehrsüchtig, machten das Völkermorden zu einer Art Kunst, die Schlachtfelder zur Arena, und so glaube ich, ich habe alle nötigen Voraussetzungen für den Posten, den Sie, Herr Major, da ausgeschrieben haben …‘ Ich fragte ihn, warum er mich mit Major anrede, ich sei Harry Wind, im schlimmsten Falle Doktor Harry Wind, aber doch nicht Major, aber in der Hinsicht hatte Julius taube Ohren, er hat mich Major genannt, bis ich ihm das Du anbot, und von da an hat er meinen militärischen Rang nur noch in Gesprächen mit Dritten angeführt …“ „Übrigens“, unterbricht mich Rappold, „man hat Sie für die Dauer der Untersuchung Ihres Kommandos enthoben. Die Stabseffekten sind bereits abgeholt worden. Aber bitte erzählen Sie weiter …“ „Ich ließ Julius wieder kommen. Er sollte mir aus seinem Leben erzählen. Er war Werkstudent, wie er mir sagte, aber das glaubte ihm kein Mensch, weil seine Mutter, und er war ja einziger Sohn, eine rechte Staatspension bezog, ein Haus und Vermögen besaß, und er nannte sich Werk50
student, bloß weil er während der Semesterferien bei der Post mithalf, irgendetwas unternahm, was ihm Geld einbrachte. Er war auch in Rom gewesen, ein halbes Jahr lang, und dann mußte er in die Rekrutenschule, in die Unteroffiziersschule, in die Offiziersschule. ,In der OS’, erzählte er mir, ,da war ich immer ein Antreiber, und ich machte mich deswegen bei allen verhaßt. Aber das machte mir nichts aus, und nach der OS meldete ich mich freiwillig als Gruppenchef zu einer Unteroffiziersschule, und da tat ich mich als Antreiber auch ganz besonders hervor, und dann mußte ich meinen Leutnantsgrad abverdienen, in einer Zürcher Rekrutenschule, und da hörte ich zum ersten Mal von Ihnen, Herr Major. Sie waren noch Hauptmann, und ich erinnere mich, Sie genossen einen sagenhaften Ruf, und zugegeben, Sie hatten auch Ihre Gegner; aber ich sagte mir, so weit möchte ich es auch bringen, und ferner sagte ich mir, ich müsse einfach stur sein: Stur darauf ausgerichtet, es so weit zu bringen wie Sie, Herr Major, und ich untersagte mir jede Frage, wirklich, ich stellte keine Fragen mehr …‘ Sehen Sie, Herr Rappold, ich mußte mir einen Menschen sichern, der, einmal auf ein Geleise gesetzt, unter keinen Umständen entgleisen würde. Ich wußte, daß bloßer äußerer Ehrgeiz mir keine Gewähr dafür bieten würde. Ich mußte einen Menschen finden, der meine Sache zur seinen machen würde, der, indem er für meine Sache einsteht, vor allem für sich selbst einsteht. Darum war es nicht leicht, den richtigen Mann zu finden. Nur deshalb ließ ich Julius mehrere Male zu mir kommen. Ich mußte herausfinden, woran der junge Mann eigentlich litt, ich mußte seine Wunde sehen, seine Geschichte kennen. Ich ließ ihn erzählen, von seiner 51
Heirat mit einer Jugendfreundin, die wie er aus vermögendem Hause kam. Ich mußte herausfinden, wie er sich zur Umwelt verhielt. Er mußte mir seine Geheimnisse preisgeben. Ich hätte es mir leichter machen können. Ich hätte einen Menschen wie Sie, Herr Rappold, auffordern können, Vorleben und Herkunft von Julius auszukundschaften. Aber ich habe kein Vertrauen in solche Art von Auskundschafterei, und es ging mir auch darum, daß Julius im Bewußtsein zu mir kommen würde, ich hätte in den Abgrund seiner Seele geschaut. So kam ich immer wieder auf seine Familie zu sprechen. Wie nebenbei, nachdem er von seiner Frau geschwärmt hatte, sagte ich zum Beispiel: ,Nun, wirklich zufrieden? Kein Verlangen nach …?’ ,Nein’, erwiderte er ernst, ,nein, Herr Major, keine Frauengeschichten, wozu auch, Herr Major, ich bin ausgeglichen, zugegeben, ausnahmsweise gibt es Nächte, da muß ich hinaus, da leide ich an Claustrophobie, verstehen Sie, wir wohnen im Haus meines Vaters, es ist ein großes Haus, aber es gehen von Zeit zu Zeit Nächte auf, da wird es klein und drückend. Ich sitze dann im Arbeitszimmer meines Vaters, die Wände verstellt mit Bücherbrettern, Kriegsgeschichten, und sitze in seinem Stuhl, an seinem Tisch, und die Schreibgarnitur, die da ist, ist die seine, und die Tischlampe ist die seine, aber das ist es eigentlich nicht, sondern ich sitze da zurückgelehnt, das Gesicht zur Decke, und auf einmal habe ich das Gefühl, oben geht einer um, und der, der oben umgeht, der ist viel zu schwer, die Decke trägt ihn nicht, die Decke beginnt zu sinken, sie sinkt immer tiefer. Sehen Sie, Herr Major, natürlich weiß ich, daß die Decke nicht sinkt, und ich springe auf, ich trotze meinem Gefühl, 52
aber langsam verlassen mich die Kräfte, es beginnt mit dem Herzen, und dann muß ich weg, ob ich will oder nicht, da hilft mir meine Sturheit nicht. Dann verlasse ich das Haus, gehe zur Garage, fahre in die Stadt, besuche eine Bar, trinke Whisky, gehe von Bar zu Bar, trinke immer wieder einen Whisky, und es wird Mitternacht, die Bars werden geschlossen, jede zweite Straßenlaterne erlischt, es wird dunkler und stiller auch auf den Straßen, und dann gehe ich an den See hinaus und von dort zum alten Tonhalleplatz am Bellevue, setze mich auf die niedere Mauer, die den Platz umschließt, und ich sehe Huren auf und ab gehen, ich beobachte, wie Autos im Schrittempo heranrollen, anhalten, wie die Seitenfenster heruntergehen, und ich höre sie flüstern, aber ich kann mich nicht entschließen, nein, das kann ich nicht …‘ Und dann redete Julius plötzlich von etwas anderem. Er starrte mich an und sagte: ,Sie müssen mir eine Chance geben, Herr Major!’ Ich nickte, wußte noch immer nicht, worauf er hinaus wollte. ,Kotzen Sie sich aus’, antwortete ich, und er setzte von neuem an. ‚Ich habe den Vorschlag zum Instruktionsoffizier nicht erhalten. Und ich habe doch alle Prüfungen bestanden, und auch der Leumundsbericht über meine Person war bestens in Ordnung. Aber als ich vor dem Arzt stand, sagte der, mit dem Schlüsselbein ginge das nicht, die Militärversicherung könne sowas nicht riskieren. So ein Schlüsselbein! Ich könne, sagte der Arzt, keinen Sprung aus drei Meter Höhe mehr riskieren, und ich antwortete, ich sei doch Leutnant und hätte ganz andere Sprünge hinter mir. Der Arzt war irritiert. Er sagte, es hätte mit mir überhaupt nicht so weit 53
kommen dürfen. Er wolle seinen Kollegen nicht schlecht machen, aber eben, jener Kollege, der mein Schlüsselbein habe durchgehen lassen, sei einem fatalen Irrtum zum Opfer gefallen. ‚Wissen Sie was’, sagte der Arzt zu mir, ,ich beantrage Ihre Entlassung aus der Armee. Das ist das beste für Sie und für uns.’ Glauben Sie mir, Herr Major, ich war perplex. Mehr als das: Ich witterte Machenschaften. Wieso sagte man: ,Das ist das beste für Sie und für uns? Für uns?’ Ich sagte, das komme nicht in Frage und verlangte eine medizinische Oberexpertise. Sie konnten mir eine Oberexpertise nicht verweigern. Und sie verweigerten sie mir auch nicht. Ich wurde aufgefordert, mich in der Universitätsklinik ein zweites Mal untersuchen zu lassen. Ich ging und sagte mir, ich müßte es von Anfang an mit der Wahrheit halten. Ich erklärte dem Professor, der mich, von Studenten umringt, untersuchte, um was es sich handelte, nämlich um eine Intrige, gesponnen gegen meine Familie, gegen das Ansehen meines toten Vaters. Ich sagte offen: ,Die wollen mich nicht in der Armee haben. Als Milizsoldat müssen Sie mich dulden, aber als Berufssoldat wollen sie mich nicht. Und nur deshalb haben Sie mein Schlüsselbein als zu brüchig befunden.’ Der Professor gab sich Mühe. Am Schluß der Untersuchung meinte er, ich könne mit meinem Schlüsselbein sehr wohl Berufsoffizier werden … wenn es nur auf Schlüsselbeine ankäme … Aber das schriftliche Gutachten lautete anders. Der Professor erklärte, ich müßte im Kindesalter wohl einmal das Schlüsselbein gebrochen haben, worauf sich beim Heilungsprozeß zu wenig von irgendeiner Sub54
stanz gebildet habe. Es bestehe deshalb eine gewisse Gefahr für mein Schlüsselbein. Sofern ich aber darauf bestünde, meine Militärkarriere als Milizoffizier fortzusetzen, empfehle er, mich zum Abschluß einer privaten Zusatzversicherung zu verpflichten. Von Berufsmilitär war nicht die Rede. Man stellte mich vor die Wahl, entweder ausgemustert zu werden, oder Milizoffizier mit privater Zusatzversicherung zu bleiben …‘ Julius machte eine Pause. Er glaubte wohl, ich hätte alles begriffen. Aber ich schwieg. Da setzte er seine Geschichte fort: ,Herr Major, ich war fünfzehn, als sich mein Vater erschoß. Ich war fünfzehn, als man in Nürnberg die Kriegsverbrecher verurteilte. Ich war fünfzehn, als mein Vater am Radioempfänger saß, und den Verlauf des Nürnberger Prozesses verfolgte. Aber der Tod meines Vaters war kein Eingeständnis, war kein Bekenntnis seiner Schuld. Mein Vater starb aus Scham, und das, Herr Major, soll ihm einer nachtun. Ja, er starb, weil er sich schämte, das Leben war ihm unerträglich geworden. Und was kann ich dazu? Ich ertrage diese Verfolgungen nicht mehr. Ich weiß, daß mein Vater hochgestellte Freunde hat, heute noch, aber keiner will für ihn einstehen, für sein Andenken. Korpskommandant Sturzenegger, zum Beispiel, war Oberst, als mein Vater auch Oberst war, und sie waren Freunde. Sie waren einer Meinung. Aber nur mein Vater war mutig genug, seine Meinung zu sagen. Mein Vater war ein hervorragender Generalstabsoffizier. Aber er hatte sein Metier nicht bei den Franzosen gelernt. Mein Vater war Schüler der ,Prinz Alexander Akademie’ gewesen. Er hatte Ludendorff persönlich gekannt. Mein Vater hatte während des ersten 55
Weltkrieges im Deutschen Generalstab gearbeitet. Er war maßgeblich am Erfolg der Schlachten am Isonzo und bei Karfreit beteiligt. Und als er in den zwanziger Jahren in die Schweiz kam, das Schweizer Bürgerrecht erhielt, wußte er, was eine Armee ist. Mein Vater verhandelte nicht aus Dummheit mit dem Deutschen Gesandten. Er wußte, daß wir mit unserer Armee gegen die Deutschen nicht aufkommen können; auch nicht an der Seite der Franzosen. Die hatten keinen Einsatzwillen, die waren nicht kriegstüchtig. Und daß mein Vater bedeutend war, geht schon daraus hervor, daß der Bundesrat ihn dreimal nach Berlin schickte, und keinen anderen. Und nach seinem dritten Besuch in Berlin kehrte er zurück und schrieb seine Warnung an den Bundesrat und vor allem an den General. Er wurde nicht angehört. Da griff er zur Selbsthilfe. Er veröffentlichte seinen vertraulichen Bericht. Und dann wurde er vor ein Militärgericht gestellt. Er wurde aus der Armee ausgeschlossen. Und als der Krieg zu Ende war und als in Nürnberg die großen Prozesse begannen, war mein Vater nicht mehr vom Radio wegzubringen. Er aß auch nicht mehr; fast nicht mehr. Er ergraute im Gesicht, und über Nacht waren seine vollen Haare weiß. Und als er die Nürnberger Urteile gehört hatte, stieg er in sein Schlafzimmer hinauf. Es befand sich über seinem Arbeitszimmer. Ich stand neben meiner Mutter unter der Salontüre. Wir blickten ihm nach, und er stieg langsam und mühsam, und meine Mutter fing zu schluchzen an. Sie starrte zur Treppe hinüber, und ich hatte plötzlich Angst, zerrte an meiner Mutter und sagte: „Was siehst du?“ Sie antwortete nicht. Dann hörte ich den Schuß. Als ich zur Treppe eilen wollte, hielt mich Mutter 56
zurück. Sie sagte: ‚Bleib! Es ist gar nichts. Nein, es ist gar nichts …‘ Ich durfte meinen Vater nicht mehr sehen. Es kam dann unser Arzt, etwas später die Polizei, und dann kamen immer mehr und mehr Leute. Eine Stunde später fuhr der Leichenwagen vor, zwei Männer trugen einen Sarg ins Haus, und zehn Minuten später trugen sie ihn wieder hinaus. Ich habe es noch heute in den Ohren, wie der Motor angeworfen wurde, und das Kratzen im Getriebe, als der Fahrer den ersten Gang schaltete … Ja, Herr Major, das ist nun zweierlei: Nämlich das eine, daß ich der Sohn meines Vaters bin und meinen Vater geliebt habe, und das andere, daß mein Vater nur die Armee gesehen hat und nicht die Politik. Aber man will das nicht sehen. Höherenortes ist der Name meines Vaters zum Inbegriff des Defätismus gemacht worden. Und: Wie der Vater, so der Sohn. Darum habe ich nur eine Bitte, lassen Sie mich bewähren. Ich bin auf Ihrer Seite, Herr Major …‘ Und nun sehen Sie, Herr Rappold, in diesem Moment nahm ich seine Hand in meine Hände und sagte: ‚Ja, Sie sind mein Mann!’ Julius wurde zum zweiten Sekretär der Wehrgesellschaft ernannt. Er wurde dann Hauptmann, und in einigen Jahren wird er auch Major sein.“ Inzwischen ist es Nacht geworden. Jetzt nehme ich meine Toiletten-Tasche, die Rappold gebracht hat, und rasiere mich. Rappold steht hinter mir und sagt: „Das ist bezeichnend für Sie, Wind!“ 57
„Und Hunger habe ich auch“, antworte ich. „Sobald ich gegangen bin, bekommen Sie Ihr Essen. Und wenn Sie gegessen haben, setzen Sie sich bitte an den Tisch und schreiben auch diese Geschichte auf.“ Ich bin gerade daran, mich einzuseifen, das Wasser rauscht in der Leitung, und eingeseift, wie ich gerade bin, wende ich mich Rappold zu: „Ich bringe alles zu Papier. Wie Sie wünschen, Rappold. Aber machen Sie mich hinterher nicht für Ihre Enttäuschungen verantwortlich.“ Rappold tut, als verstünde er nicht, wovon ich eben geredet habe. „Im Ernst, Herr Rappold, ich nehme nichts zurück. Sie bekommen die Julius-Geschichte schriftlich.“ Dann geht er, und wenige Minuten später bekomme ich mein Nachtessen.
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appold hat mir ausrichten lassen, daß ich ihn nicht vor mittags erwarten darf. Er bittet darum, ich möchte mit der Beschreibung meines Lebens weiterfahren. Ein Polizist hat mir diese Nachrichten gebracht. Auch die Zeitungen, hat er gesagt, würden mir erst gegen Mittag gebracht werden. Wir wohnten an der Oberdorfstraße. An der Oberdorfstraße starb mein Vater. Wir waren Mieter. Im Erdgeschoß hatte mein Vater den Uhrenladen und die Werkstatt. Im zweiten Stock war die Wohnung. Mein Vater war Bürger von Kilchberg und Zürich. Mein Großvater war Lehrer in Kilchberg, ein angesehener Mann. Ruhig und fleißig handelte er nebenbei mit Grundstücken. Er war zufällig zum Grundstückshandel gekommen. Alle kannten ihn, und er kannte alle. Eines Tages kam ein junger Lehrer mit einigem Vermögen nach Kilchberg. Dieser Lehrer suchte ein Grundstück. Mein Großvater ging ihm an die Hand, hatte Glück, und vermittelte so dem jüngeren Kollegen ein gutes Grundstück. Es kamen andere zu ihm, Zugezogene, und er fand auch für diese geeigneten Baugrund. Bauern kamen zu ihm, deren Kinder nicht mehr auf dem Heimwesen arbeiten wollten, und sie baten ihn, nach geeigneten Käufern Umschau zu halten. Dieses Nebenamt warf anfangs wenig 59
Gewinn ab, fast mußten Käufer und Verkäufer meinem Großvater die Provisionen aufzwingen. Doch allmählich bekam er Geschmack am Gewinn. Sein Sohn, Uhrmacher seit vier Jahren, redete eines Tages von einem eigenen Geschäft. Daraufhin trieb mein Großvater den Grundstückhandel planmäßig. Mein Vater war vierunddreißig, als er an der Oberdorfstraße in Zürich das Geschäft eines alten Uhrmachers übernehmen konnte. Mein Großvater gab ihm ein Darlehen, aber nicht zinsfrei und nicht als Vorschuß auf die zu erwartende Hinterlassenschaft. Mein Großvater sagte, Geschenke verdürben den Charakter. Aber was konnte meinem Vater geschehen? Das Geschäft an der Oberdorfstraße hatte seine Stammkundschaft. Die Kilchberger brachten ihre Uhren zu Großvater, wo mein Vater sie jeweilen abholte. Im Hause meines Großvaters hatte mein Vater eine kleine Filiale seines Geschäftes untergebracht. War die Auswahl für einen Kilchberger Käufer nicht groß genug, fuhr mein Vater abends mit einer noch größeren Auswahl nach Kilchberg. Wir hatten eine anhängliche Kundschaft in Kilchberg bis zum Tode meines Großvaters. Er starb an einer Art Blutzersetzung schmerzlos und ohne zu jammern. Ihn habe ich als Leichnam gesehen. Doch so friedfertig er auch da lag, mir jagte er Angst ein. So fremd war er, da sich seine Lippen auf mein Flüstern hin nicht mehr bewegten. Man hatte ihn im Lehrzimmer aufgebahrt. Die Kilchberger kamen und nahmen Abschied von ihm. Ich stand in einer Ecke des Lehrzimmers und beobachtete die Leute, die kamen und taten, als hätten sie es gewußt, daß es so und nicht anders enden müßte. Ich stand in der Ecke. Meine Großmutter, kurzsichtig und beinahe blind, 60
streute jeden Tag frische Schnittblumen über den Leichnam ihres Mannes. Die Blumen welkten. Es war Juli. Und wenn wir die Fenster am Morgen öffneten, summten Bienen über dem weißen Gesicht des Toten. Von zehn Uhr an mußten wir den Rolladen herunterlassen. Von irgendwoher hatte mein Vater einen Ventilator gebracht. Diesen schalteten wir ab elf Uhr ein. Ich wurde fromm erzogen. Als Erstkläßler mußte ich die Sonntagsschule besuchen. Nie brachte ich Maikäfer in die Sonntagsschule, nie las ich während der Predigt RolfTorring-Hefte, und wir fuhren bis zum Tode meines Großvaters beinahe jeden Sonntagnachmittag nach Kilchberg. Wir hielten uns im großen Blumengarten auf. Gegen die Vesperzeit gingen wir ins Lehrzimmer. Da stand das Harmonium. Wir sangen immer einen Choral, bevor es Vesperbrot gab. Dann starb mein Großvater. Er wurde auf dem Friedhof von Kilchberg beerdigt, und mein Vater mußte von diesem Tag an keine Zinsen mehr bezahlen. Meine Großmutter wurde von Monat zu Monat kurzsichtiger. Sie erblindete schließlich, aber das war nur die Folge einer versteckten Krankheit, denn kaum war sie erblindet, erkrankte sie. Mein Vater brachte sie ins Krankenhaus, wo sie nach einem Vierteljahr starb. Ich sah ihren Leichnam nicht. Niemand durfte ihren Leichnam sehen. Mein Vater sagte, sie sei am Ende nur noch ein Skelett gewesen und ganz mit Gift angefüllt. Sie wurde neben ihrem Mann in Kilchberg beerdigt, aber Jahre danach erfuhr ich, daß sich im Sarg nur noch ihre Asche und einige Sandsäcke befunden hatten. Ich weiß nicht, ob mein Vater das auch erfahren hatte. Mein Vater verkaufte das Haus in Kilchberg, denn er brauchte 61
Geld. Er war ein guter Uhrmacher, aber ein schlechter Kaufmann. Seine Auswahl wurde von Jahr zu Jahr kleiner, und er sagte, er könne nicht Zehntausende von Franken ins Sortiment stecken, und die Kundschaft verließ ihn allmählich, denn es redete sich allmählich herum, daß man beim Uhrmacher Wind keine Auswahl hätte. Mein Vater sagte jeweils zu den immer weniger werdenden Kunden: „Bitte kaufen Sie, was ich habe, verlangen Sie nicht, was ich nicht habe.“ Nach dem Tode meines Großvaters kaufte mein Vater ein Motorrad, denn er hatte früher einmal eines besessen. Dann kaufte er ein Zelt und zwei Schlafsäcke, und im nächsten Sommer – das war nach Vitals Fall – fuhren wir ins Bündnerland zu Tante Anni und Onkel Josu. Wir fuhren nur über das Wochenende aus. Wozu wir das Zelt mitnahmen, war mir nicht klar, als wir in Zürich wegfuhren. Die Fahrt war enttäuschend. Mein Vater brachte das Motorrad nicht über 40 Stundenkilometer hinaus. Ich ärgerte mich, denn wir wurden ununterbrochen von anderen Fahrzeugen überholt. Ich wußte nicht, daß mein Vater sich bei Vitals Eltern nicht angemeldet hatte. Wir überraschten sie. Sie saßen gerade beim Abendessen: Pellkartoffeln, Milch und Brot. Mein Vater war, das muß ich nachholen, ein kleiner, geschwätziger Mann. Er schwatzte viel und schnell, wenn er mit Leuten zusammenkam, aber er kam fast nur im Geschäft und im Kirchenchor „Unterstraß“ mit Leuten zusammen. Und jetzt, da er Vitals Eltern gegenüberstand in der Dämmerung der Küche mit Steinboden, fing er gleich von Vital an. Er kannte die Wohnung, die man über einen Hinterhof mit Dunghaufen erreichte, von früher; als Verlobte waren er und meine Mutter einmal hier 62
gewesen. Mein Vater klopfte nicht an, er schlich in den dunklen Korridor, tappte auf den Schuhspitzen zur Küchentüre, öffnete diese, steckte den halben Kopf durch den Spalt und kicherte – auch Kichern war eine Eigenschaft von ihm – und er kicherte also: „Wo habt ihr ihn denn versteckt, den Vital?“ Denn er hatte nach Vitals Flucht immer behauptet, entweder sei der Junge umgekommen, oder aber er sei beim Bären-Josu, wie mein Vater seinen Schwager nannte. Ich stand dicht hinter meinem Vater. Ich wollte ihn von der Türe wegziehen, weil ich das Gefühl hatte, das könne nicht gut herauskommen, aber ich hatte mich getäuscht. Vitals Eltern standen auf, begrüßten uns freundlich, freuten sich, daß wir gekommen waren. Tanti Anni stellte sogleich zwei Tassen und zwei Teller auf den Tisch. Von Vital keine Spur. Onkel Josu zuckte nur die Schultern und sagte, Vital sei alt genug, um sich allein durch die Welt zu schlagen. „Dem kann nichts geschehen“, sagte auch Tante Anni. Und der Bären-Josu sagte zu meinem Vater: „Wenn er mit einem Gauner, wie du einer bist, fertig geworden ist, dann wird er mit aller Welt fertig werden.“ Mein Vater kicherte und antwortete: „Deinen Humor möchte ich haben.“ Wir redeten dann nicht mehr über Vital. Um neun Uhr bestand mein Vater darauf, daß wir beide im Zelt übernachten wollten. Aber Onkel Josu hatte einen Krug Apfelmost auf den Tisch gebracht. Mein Vater hatte davon getrunken, und jetzt, als er aufstehen wollte, taumelte er. Die „Vitals“, wie ich sie immer genannt habe, lachten. Wir schliefen dann beide in Vitals Bett. Ich konnte lange nicht einschlafen. Am Sonntagvormittag fuhren wir zurück nach Zürich. 63
Einige Jahre später fuhr mein Vater allein mit dem Motorrad ins Zürcher-Oberland. Er wollte nach Fischenthal und von dort auf den Bachtel. Er beabsichtigte, wie er sagte, endlich einmal die Landschaft zu sehen, aus der meine Mutter stammte. Er fuhr nach dem Gottesdienst, gegen zehn Uhr, von uns weg, und um vier Uhr stand ein Polizist vor unserer Türe und berichtete, mein Vater sei in der Nähe von Rüti in die geschlossenen Bahnschranken gefahren. Er liege jetzt im Krankenhaus von Wetzikon. Wir nahmen diesen Bericht entgegen, als hätten wir ihn erwartet. Meine Mutter bestellte ein Taxi. Sie war noch nie mit einem Taxi gefahren. Kaum hatte sie den Hörer eingehängt, starrte sie mich an und sagte: „Mein Gott, was habe ich getan? Was wird er sagen? Ein Taxi?“ Mein Vater war mit einer Hirnerschütterung davongekommen. Aber er jammerte und verlangte Spritzen. Die Krankenschwester redete sanft auf ihn ein, aber er beruhigte sich nicht. Er verlangte nach dem Arzt. Als der Arzt kam, redete er gar nicht gütig auf ihn ein. „Ich weiß schon, was ich zu tun habe“, sagte er. Wir fuhren mit der Bahn zurück. „Dort drüben“, erzählte meine Mutter, „dort liegt Mönchaltorf. Dort starben deine Großeltern. Anni und ich waren damals acht und sechs Jahre alt. Wir Kinder wurden bei Bauern untergebracht. Als Anni achtzehn Jahre alt war, sagte sie eines Tages: ,Ich bekomme ein Kind.’ Das sagte sie beim Abendbrot. Der Bauer tat, als hätte er nichts gehört. Die Bäuerin aber wollte wissen, wer der Vater sei. Anni erzählte, der Vater des Kindes heiße Serban. Serban 64
war aus Rumänien gekommen und hatte sich einige Monate in der Gegend aufgehalten. ‚Serban’, erzählte Anni, ,kam jeden Abend, sobald alle schliefen, zu mir. Wir gingen spazieren. Er sagte, er werde mich nach Rumänien mitnehmen. Später. Jetzt ist er in Paris. Er muß warten, bis in Rumänien die Kommunisten regieren. Vorher kann er nicht zurück. Serban ist ein Kommunist …‘ Jetzt hatte der Bauer gut zugehört. ,Dieser Kommunistenbalg’, schrie er plötzlich, ‚kommt mir nicht auf die Welt!’ Anni regte sich nicht auf. Sie war groß und stark und hatte weiße Zähne. Die Burschen aus der Gegend waren verrückt nach ihr. ,Ich bringe das Kind auf die Welt’, antwortete sie, ,und er wird Vital heißen.’ ,Im Schweinekober kannst du ihn zur Welt bringen’, sagte der Bauer. Die Bäuerin mischte sich ein. ‚Haben wir dich nicht anständig erzogen? Waren wir nicht wie richtige Eltern zu dir? Und jetzt diese Schande. Mit einem Kommunisten. Aus Rumänien. Und jetzt, sagst du, ist er in Paris. Ausgerechnet in Paris! Nein, Anni, morgen gehen wir zum Arzt.’ Der Bauer und die Bäuerin redeten beinahe bis Mitternacht auf Anni ein. Aber sieben Monate später gebar sie ihren Vital. Nicht im Schweinekober und auch nicht auf der Heubühne. Wir hatten ja auch einen Vormund. Genau wie jetzt Vital. Der Vormund schickte Anni nach Zürich, wo es eine Klinik gab, die auch gefallene Mädchen auf65
nahm. Dort sollte sie während einiger Monate nach dem Wochenbett als Hausmädchen bleiben. Das Kind würde später ins Waisenhaus kommen. Doch Anni scherte sich nicht um die Anweisungen des Vormundes. Eines Nachts nahm sie den Jungen und ging auf und davon. Man suchte nach ihr, aber man fand sie nicht. Man hat wohl nicht ernsthaft gesucht. Anni wollte nach Paris. Aber sie besaß weder Paß noch andere Papiere, und so kam sie nicht über die Grenze. Serban hat nichts mehr von sich hören lassen. Als Vital fünf Jahre alt war, bekam er einen Vater. Anni und Josu heirateten. Josu war Meisterknecht auf dem Gutsbetrieb eines Sanatoriums. Anni war Hilfspflegerin. Josu tat, als wäre das Kind von ihm. Ich bewundere Anni. Aber ich hatte auch Angst vor ihr. Wie sie ihr Kind gebar! Ich blieb in der Gegend und wurde Kellnerin. Damals sagte man noch Kellnerin, und das war nicht beleidigend. Heute muß man Serviertochter sagen. Jemand riet mir, in die Saison zu gehen. Ich würde in der Saison mehr verdienen. Also suchte ich Arbeit in Ferienhotels. Ich kam in einem großen Hotel in Pontresina unter. Sommers arbeitete ich in Amden. Ich wurde Saaltochter und mußte den Gästen das Frühstück, das Mittagessen und das Souper servieren. In Amden arbeitete ich schon den dritten Sommer im selben Hotel, als mir eines Tages ein Stammgast die Heirat antrug. Er hieß Wind. Der Mann schien ordentlich zu sein, gewissenhaft, und er bot mir Sicherheit. Er forderte nur eines von mir: daß ich die Saison aufgeben und in Zürich arbeiten müsse, damit wir uns häufiger sehen könnten. Er esse mittags in der Stadt, sagte er, und er besorge mir einen Arbeitsplatz in jenem Gasthaus, wo er esse. Damit war ich 66
einverstanden, und als die Saison in Amden zu Ende ging, fuhr ich nach Zürich. Mein Bräutigam – das war er ja nun – hatte eine Stelle in einem alkoholfreien Gasthaus für mich gefunden. Er kam jeden Mittag und setzte sich an einen der Tische, die zu meinem Service gehörten. Er sparte. Das fiel mir gleich auf. Von ihm bekam ich kein Trinkgeld. Eines Sonntags im Spätherbst fuhren wir nach Kilchberg. Bei dieser Gelegenheit wurden die Verlobung an Weihnachten und die Heirat an den kommenden Ostertagen besprochen und festgelegt. Seine Eltern wollten meinen ganzen Lebenslauf erfahren. Auch meine Ersparnisse interessierten sie. Aber dein Vater hatte mir verboten, alles zu erzählen. Zum Beispiel über Anni und Vital. Anfangs Dezember nahm mich dein Vater ins Geschäft, und er paßte uns beiden die Trauringe an. Wir hielten uns an den Brauch: Er kaufte meinen Ring, ich kaufte den Ring für ihn. Ich mußte ihm aber nicht den vollen Preis dafür bezahlen. Er sagte, er gebe mir den Ring zum Einstandspreis.“
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appold erscheint früher als gemeldet. Er bringt mir Zeitungen und die Reinschrift meiner Geschichte von gestern; es sind zehn Seiten. „Lesen Sie“, sagt er, „und unterschreiben Sie jedes Blatt einzeln. Setzen Sie das Datum dazu.“ ‚ „Ich unterschreibe“, antwortete ich, „aber ich lese es nicht mehr.“ „Wie Ihnen beliebt. An Ihrer Stelle würde ich es lesen. Vielleicht wollen Sie da und dort eine Korrektur anbringen“, sagt Rappold freundlich. Als ich erwidere, es könnte sein, daß ich meine Vergangenheit heute anders sähe als gestern, und ich wäre dann gezwungen, meine Geschichte zu widerrufen, schüttelt er nur den Kopf und sagt: „Sie mit Ihrem Gedächtnis!“ Als ob es eine Frage des Gedächtnisses wäre, wenn einer im Nachhinein die Geschichte seiner Vergangenheit entwirft! Auch bittet mich Rappold, die Chronologie einzuhalten. Als ich erwidere, die Vergangenheit kenne keine Chronologie, schüttelt er wieder den Kopf. „Taktik“, sagt er; aber nicht ohne Anerkennung. „Sie verlangen Chronologie, Herr Rappold, aber wie kann ich wissen, wann es angefangen hat? Angenommen, ich sei ein Landesverräter: An welchem Tag, zu welcher Stunde bin ich es geworden?“ 68
Er weiß auch keine Antwort. ‚Chronologie? Alles sind Geschichten!’ „Aber die Geschichten“, meint er, „die Sie mir auftischen, haben sich wenigstens zugetragen. Jede Ihrer Geschichten begann an einem bestimmten Tag und endete an einem bestimmten Datum.“ Wir reden aneinander vorbei. Rappold nimmt die zehn Seiten, die ich unterschrieben habe, wieder an sich. Mir fällt auf, wie sorgsam er damit umgeht. „Kommen wir zur Sache“, sagt er, „ich habe noch einige Fragen. Was geschah mit dem Geld, das Sie für Vital gestohlen haben?“ „Mein Vater entdeckte den Diebstahl im Verlaufe des nächsten Vormittages. Er ließ gleich wieder die Polizei kommen. Nun kamen sie zu zweit. Sie wollten auch mich vernehmen, aber meine Mutter ließ es nicht zu. ‚Ziehen Sie bitte meinen kleinen Sohn nicht in solche Geschichten’, sagte sie. Meine Mutter meinte, es sei nicht so wichtig, herauszufinden, wie Vital an die Kasse herangekommen war, Hauptsache sei, er habe gestohlen. Da ließen die Polizisten von ihrer Untersuchung ab. Nun wollten sie, daß meine Mutter Vitals Kleidung beschreibe. ,Was trug er denn, als Sie ihn zum letzten Mal sahen?’ Meine Mutter mußte nachdenken. ,Er trug einen schwarzen Pullover. Nein, den schwarzen hat er ja hier gelassen. Er trug also den roten …‘ ,Hosen?’ ‚Natürlich Hosen.’ ,Farbe der Hosen? Rock?’ 69
‚Farbe der Hosen? Braun oder grau oder auch schwarz, was weiß ich?’ ,Braun?’ Meine Mutter schüttelte den Kopf. ,Braun? Habe ich vielleicht braun gesagt? Ich glaube, er nahm die grauen mit. Grau mit Fischgratmuster …‘ Die beiden Polizisten mußten viel Geduld aufbringen, bis sie die Beschreibung beisammen hatten. Sie wandten sich auch an meinen Vater. Aber der schwieg. Er schwieg, und nur einmal wandte er ein: ,Von mir aus müssen Sie ihn nicht suchen.’ Nach dem Mittagessen zeigte ich das Geld. Es war nicht viel; vierzig Franken. Meine Mutter erhob sich wortlos, ging in mein Zimmer und kam mit der Sparbüchse zurück. Sie hatte sie geöffnet und leerte den Inhalt auf den Tisch. Sie zählte das Geld und stellte fest: ,Das letzte Mal, als ich dein Geld zählte, hattest du gegen fünfzig Franken, ich glaube, es waren genau neunundvierzig Franken und fünfunddreißig Rappen. Jetzt sind es noch neun Franken, fünfunddreißig Rappen …‘ Die fehlenden vierzig Franken steckten in der Tasche ihrer Küchenschürze. Aber ich sagte nichts. Vital wurde zur Fahndung ausgeschrieben. Drei Tage nach seinem Verschwinden brachte Radio Beromünster vor den Mittagsnachrichten die Vermißtmeldung. Natürlich kam Vital nicht bis nach Australien. Er gelangte vorerst bis zur Grenze bei Chiasso. Lastwagenfahrer nahmen ihn jeweilen ein Stück des Weges mit, und so kam er zur Grenze. Er ging an die Zollstelle. Man fragte ihn nach dem Paß, und er sagte die Wahrheit: Er besäße keinen Paß. Wohin er 70
denn gerne möchte, fragten ihn die Zöllner. Er sagte wiederum die Wahrheit: Nach Australien möchte er. Und weiter fragten sie ihn aus, woher er komme, wieviel Geld er denn besitze, und immer sagte Vital nichts als die Wahrheit, und die Zollbeamten hatten ihre helle Freude an ihm: Sie sagten ihm schließlich, daß er hier ohne Paß nicht durchkomme, aber er könne ja eine Stunde bergauf wandern, dann Richtung Como laufen, mitten durch die Maulbeerbäume. Über den Drahtzaun soll er klettern, und so komme er nach Italien; wenigstens nach Italien. Vital folgte dem Rat der Männer. Zwei Jahre später kehrte er in die Schweiz zurück. Der Faschisten wegen, sagte er, als er verhaftet wurde, denn die Faschisten hatten von ihm verlangt, daß er sich rekrutieren lasse, und da ging er auf und davon. Vital kam nach Zürich und wurde hier einige Wochen eingesperrt. Der Diebstahl kam zur Sprache, der erste, und auch der zweite, den ich begangen hatte. Mein Vater hatte ohne Wissen meiner Mutter wieder Strafklage erhoben, nicht weil er Vital nicht leiden konnte, sondern weil er seither meiner Mutter immer wieder vorwarf, sie stehe auf Vitals Seite. Vital nämlich schrieb meiner Mutter jeden Monat einen langen Brief. Aber davon wußte Vater gar nichts. Vital liebte meine Mutter. Vital ist also zurückgekehrt. Vor Gericht gab er ohne weiteres beide Diebstähle zu, aber er zeigte keinerlei Reue. Daraufhin wies man ihn ins ,Burghölzli’ ein, um ihn psychiatrisch zu untersuchen. Nach sechs Monaten stellte man ihn noch einmal vor Gericht: Die Psychiater waren zum Schluß gekommen, Vital sei ein egozentrischer, überhebli71
cher und was weiß ich für ein Mensch. Vital wurde zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Der Amtsvormund legte ihm eine Rechnung von dreitausend Franken vor: die Summe, die die Amtsvormundschaft für ihn bisher aufgebracht hatte. Er müsse nun eben arbeiten und Geld verdienen, sagte der Amtsvormund, und monatlich Rückzahlungen an die Vormundschaftskasse leisten. Vital fand eine Stelle als Fuhrmann auf einem Gutsbetrieb, und als er den ersten Monatslohn abholen wollte, bekam er dreißig Franken und eine Quittung für siebzig Franken. Soviel, sagte der Meister, habe er an die Vormundschaftskasse bezahlen müssen. Vital packte seinen Koffer und ging. Der Vormund fahndete nach ihm, entdeckte ihn bei einem Metzger, wo er Laufjunge war, und als Vital seinen Monatslohn abholen wollte, erhielt er wiederum dreißig Franken und eine Quittung für siebzig. Wieder ging er weg. Aber der Amtsvormund suchte und fand ihn, und wieder bekam er dreißig Franken und eine Quittung. Eines Tages wurde der Amtsvormund zum Direktor einer Strafanstalt ernannt, und Vital hatte Ruhe bis er volljährig war. Als Vital volljährig wurde, ließ ihn sein neuer Amtsvormund kommen, und dieser sagte: ,Vital, du wirst jetzt aus der Vormundschaft entlassen, aber zuerst mußt du diese Schuldanerkennung unterschreiben.’ Vital unterschrieb und wurde aus der Vormundschaft entlassen. Er war jetzt Bauarbeiter und Fabrikarbeiter, und während der Wintermonate arbeitete er nachts bei der Bundesbahn als Isolatorenreiniger. Er stieg bei sieben, zehn oder fünfzehn Grad unter Null und nach Mitternacht, wenn der Fahrstrom abgestellt war, auf die Masten. Er balancierte über den kaltglitzernden Geleise auf den 72
Querträgern, in der einen Hand die Karbidlampe, in der anderen den Topf mit dem Reinigungsmittel. Er saß rittlings auf den Querträgern und reinigte die Isolatoren von Eisen- und Stahlstaub. Die Isolatoren mußten davon gereinigt werden, damit sie nicht eines Tages den Strom zu leiten begannen. Vital arbeitete so vom November bis in den März hinein, jede Nacht von Mitternacht oder ein Uhr an bis drei oder vier Uhr morgens, bei Nebel, bei Schneefall, bei Winterstürmen und bei Kälte. Seine Arbeit begann immer mit der Frage: ‚Haben sie den Strom auch wirklich abgestellt?’, und Nacht für Nacht stand die zweite Frage auf den Lippen dieser Männer: ,Werde ich nicht ausgleiten?’ Ja, Herr Rappold, so brachte sich Vital durchs Leben. Aber eines Tages begegnete er einem jungen Mann und kam mit ihm ins Gespräch. Vital geriet ins Erzählen, und am Ende sagte der junge Mann: ,Gut, daß ich Sie getroffen habe. Sie können schreiben, glauben Sie mir das, ich kann das beurteilen.’ Vital ging schlafen und erwachte am nächsten Morgen als Schriftsteller. Er sagte sich: ,Das ist ein Weg, eine Möglichkeit.’ Und nach dem Morgentee ging er auf das Kreisbüro, wies seine Papiere vor und sagte: ,Ich möchte eine Berufsänderung in die Papiere und in Ihr Register eintragen lassen: Ich bin jetzt Schriftsteller.’ Der Beamte hatte keinen Grund, Vitals Bitte nicht nachzukommen und schrieb in alle Papiere und ins Register: ‚Schriftsteller.’ In seinem Militärdienstbuch nahm aber Vital die Änderung der Berufsbezeichnung selbst vor. Er schrieb mit unschöner Schrift: ‚Schriftsteller’, vergaß nach dem f das t, korrigierte den Fehler, aber als er sein Militärdienstbuch nach Jahren einem Beamten der Militärdirektion vorlegen mußte, sah 73
dieser die Änderung der Berufsbezeichnung, und Vital mußte fünf Franken Buße bezahlen. Jetzt half der Amtsvormundschaft auch Vitals Schuldanerkennung nichts. Er war Schriftsteller und ohne Einkommen. Aber als Vital heiratete, sah er sich nach einem Einkommen um. Davon hörte auch die Amtsvormundschaft. Sie schrieb ihm, sie mahnte ihn, aber er antwortete immer das gleiche: ‚Ich verdiene sechshundert Franken im Monat, und die Wohnung allein kostet zweihundert, und meine Frau erwartet ein Kind, und ich bin Schriftsteller …‘ Vital schrieb auch einen Brief an seinen einstigen Vormund, der inzwischen nicht mehr Direktor einer Strafanstalt war, sondern Regierungsrat und Vorsteher der Justizabteilung. Vital schrieb ihm und setzte ihm die Lage auseinander; aber der Regierungsrat antwortete nicht. Auch die Amtsvormundschaft zeigte keine Nachsicht mit Vital. Der Gerichtsvollzieher kam in die Wohnung. Statt sechshundert bekam Vital nur noch vierhundertundfünfzig Franken im Monat. Hundertundfünfzig wurden der Amtsvormundschaft überwiesen. Vital schrieb Briefe an die Justizdirektion, denn die Justizdirektion mußte die Amtsvormundschaft beaufsichtigen. Vital schrieb der Amtsvormundschaft und dem Regierungsrat, der einst sein Amtsvormund gewesen war, aber alle sagten nur das eine: ‚Hätten Sie Ihre Uhrmacherlehre beendet und wären Sie nicht straffällig geworden, dann wäre das Fürsorgeamt für dieses Geld aufgekommen, so aber …‘ Und das ging ein Vierteljahr lang so weiter, und Vital wußte sich nicht zu helfen. Ja, Herr Rappold, sehen Sie, jetzt geschah etwas, was mein Vater erst viele Jahre später erfuhr. Meine Mutter gab Vital Geld. Wie sie von seiner Not erfuhr, weiß 74
ich nicht. Wahrscheinlich schrieb ihr Vital. Jedenfalls nahm sie Vaters Sparkassenbuch, ging damit auf die Bank und hob das Geld ab, ohne daß es mein Vater wußte. Er bekam es erst viele Jahre später zu wissen. Aber dann sagte er nicht mehr viel dazu, denn er alterte früh und wurde krank. Monatelang war er krank und hilflos. Wegen des Geldes sagte er also kein Wort, und meine Mutter mußte an seinem Krankenbett von allen Speisen und Getränken, die sie ihm brachte, mitversuchen. Mein Vater war mißtrauisch und fürchtete, wir würden ihn vergiften. Vital ging mit dem Geld zum Amtsvormund. Der nahm das Geld an, schrieb eine Quittung, lobte Vital und sagte: ,Sehen Sie, da ist eben dieser Fehlbetrag in unserer Kasse, und dieser Fehlbetrag stammt von meinem Vorgänger, der jetzt Regierungsrat ist. Ich sagte mehr als einmal zu ihm – verstehen Sie, wir sind Duzfreunde –: ‚Heinrich, der Betrag ist immer noch offen.’ Er antwortete immer: ,Sieh nach in den Büchern, ich habe das Geld für diesen Vital ausgegeben damals.’ Ja, und ich sah nach, und es ließ sich nicht ändern, einer von beiden mußte den fehlenden Betrag ausgleichen, Sie oder mein Freund Heinrich, denn Heinrich hatte es leider unterlassen, für Sie ein Gesuch an das Fürsorgeamt zu stellen. Er nahm das Geld einfach aus unserer sogenannten Handkasse, und so im Nachhinein weigerte sich das Fürsorgeamt, dafür aufzukommen. Aber eben, Sie selbst haben sich das alles eingebrockt! Sie haben kein Recht, uns anzuklagen!’“ Mein Bericht ist zu Ende. Es entsteht eine Pause. Rappold schweigt. Er hat die Tageszeitungen mitgebracht. Und wie ich sehe, hat er gestern nachmittag eine Pressekonferenz abgehalten. 75
„Aus Gründen erheblicher Verdunkelungsgefahr“, lese ich, „mußte Dr. Harry Wind in Haft gesetzt werden.“ „Aus Gründen der Verdunkelungsgefahr“, lese ich weiter, „muß die Bundespolizei der Presse gegenüber zurückhaltend sein.“ Man bittet die Presse um Verständnis. Ich lese ferner, daß ich für die Dauer der Untersuchung meines militärischen Kommandos enthoben bin. Ich lese, daß die Bundespolizei schon vor Monaten auf mich aufmerksam gemacht worden sei. Ich lese, daß Oberstkorpskommandant Sturzenegger namens der „Schweizer Wehrgesellschaft“ entschieden dementiert, daß ich auftrags und namens der Wehrgesellschaft gehandelt hätte. Der Vorstand der Wehrgesellschaft drückt sein Bedauern aus und gibt bekannt, daß man sich jetzt nicht dazu äußern wolle, um die Untersuchung nicht zu beeinflussen … „Dr. Harry Wind wurde seinerzeit bei der Gründung der Schweizer Wehrgesellschaft mit der Führung des Sekretariates und der Geschäfte vor allem deshalb betraut, weil er bereits über ein gut organisiertes Büro verfügte, weil er in publizistischer Hinsicht Erfahrung hatte, und vor allem weil die Wehrgesellschaft unverzüglich handeln mußte. Wir rufen in Erinnerung, daß die kommunistisch gefärbten Abrüstungsinitianten bereits erheblich an Boden gewonnen hatten. Die Wehrgesellschaft durfte keine Zeit mit dem Einrichten eines eigenen Sekretariates verlieren. Abgesehen davon ist die Wehrgesellschaft eine zivile und keine militärische Institution. Ihre Mitglieder, zumindest der Vorstand, sind Berufsoffiziere. Das einschlägige Beamtengesetz hätte es auch nicht zugelassen, daß ein Berufsoffizier gleichzeitig die Geschäfte der Wehrgesellschaft geführt hätte. Im übri76
gen hat die Wehrgesellschaft keinen Anlaß, den Untersuchungsbehörden mit Mutmaßungen und Vorurteilen vorzugreifen. Die Untersuchung wird erweisen, inwiefern Dr. Harry Wind die Institution der Schweizer Wehrgesellschaft für private und, wie wir nicht glauben können, für landesverräterische Umtriebe mißbraucht hat …“ „Ich lasse Ihnen die Zeitungen da“, sagt Rappold und steht auf. Er sagt, während er zur Türe geht: „Eines dürfte Ihnen klar sein: Sie sind so oder so ein verlorener Mann!“
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ch weigerte mich entschieden, zuzugeben, daß ich die vierzig Franken aus meiner Sparkasse genommen hätte. Meine Mutter versuchte alles, um mich, wie sie sagte, von meiner fixen Idee abzubringen. „Das hast du geträumt“, sagte sie, „du bist überspannt, die Ereignisse der letzten Tage haben deine Nerven angegriffen, Harry. Du willst deiner Mutter doch keinen Kummer machen? Du darfst nicht lügen, Harry, und stehlen, das ist doch gar nichts Tapferes. Siehst du, selbst wenn du es getan hättest …“ Ich weigerte mich. Gründe für mein Verhalten konnte ich nicht vorbringen. Ich war kaum dreizehnjährig. Aber ich weigerte mich, es zuzugeben. In den folgenden Wochen kamen Verwandte, Bekannte und Freunde auf Besuch, und erkundigten sie sich nach Vital, dann kam natürlich auch die Rede auf sein Verschwinden. Ich ergriff jeweils die Gelegenheit. Ich erzählte von unserem Beisammensein in der Mansarde, ich erzählte ausführlich und auf Einzelheiten bedacht. Ich berichtete, wie ich zu Vater in den Laden ging und wie ich das Geld aus der Ladenkasse nahm. Aber niemand wollte mir glauben. Meine Mutter lächelte nachsichtig. Mein Vater schwieg. Immerhin wurde ich von da an beobachtet, und man 78
sprach über mich. Als meine Mutter das Gespräch später noch einmal auf Vitals „letzte Stunden“ brachte, weigerte ich mich auch jetzt noch, den Diebstahl Vital zu überlassen. Ich hatte gestohlen, und davon wich ich nicht ab. Mein Vater sagte auf einmal: „Von mir hat er das jedenfalls nicht.“ Meine Mutter erschrak. „Was willst du damit sagen?“ fragte sie. Doch mein Vater wiederholte lediglich die Worte und fügte ihnen nichts bei. „Von mir vielleicht?“ fragte sie und erhob sich. Mein Vater hob den Kopf, schaute sie an, dann mich, und erwiderte: „Schließlich bist du Annis Schwester!“ Offen gestanden interessierte mich der Streit der Eltern nicht. Auch konnte ich die Anspielungen meines Vaters nicht begreifen. Ich sah nur, daß meine Mutter im Gesicht weiß wurde, und daß dieses Gesicht kalt und starr erschien. Ich ging. Ich ging zu meinem Klassenkameraden Wolfgang. Es war nicht üblich, daß ich nach dem Abendbrot unsere Wohnung noch einmal verlassen durfte, aber niemand rief mich zurück. Ich brauchte Hilfe, ich brauchte Rat, und so berichtete ich Wolf gang, daß man mir nicht glaube, daß ich einen Diebstahl begangen habe. Ich berichtete, um Rat zu bekommen, nicht Lob. Natürlich mußte ich ihm die Geschichte von Vital ausführlich erzählen. Aber dann merkte ich, daß mein Klassenkamerad eine andere Auffassung von allem hatte als ich. Er sagte: „Harry, du bist ja wahnsinnig geworden. Das ist ja toll, daß sie dir den Diebstahl nicht abnehmen. Mensch, so 79
mußt du weitermachen. Die hast du ja in den Händen. Das ist ja ganz großartig.“ Ich begriff ihn nicht. Da kam er ganz nahe an mich heran und flüsterte mir ins Ohr, ich müßte so einen Diebstahl wiederholen. Ich begriff noch immer nicht, was er wirklich meinte, aber daß ich den Diebstahl wiederholen sollte, leuchtete mir ein. „Dann ist es bewiesen, nicht wahr?“ sagte ich. Doch mein Klassenkamerad schüttelte bloß den Kopf: „Daß du nicht merkst, daß dein Vital ein Idiot ist …“ Ich ließ ihn stehen und rannte davon. Ich wurde ein anderer. Ich fing an, für meine Mutter Besorgungen zu machen. Ich ging zum Bäcker, zum Metzger, zum Milchhändler. Ich wurde freundlich und aufmerksam behandelt. Ich selbst brachte, wenn es irgendwie ging, die Rede auf meinen Diebstahl. Ich sagte, ich würde wieder stehlen. „Ja, tu das“, sagten die Leute und lachten. Einige Tage später stahl ich zwanzig Franken. Ich zeigte sie meinem Klassenkameraden. Und dieser erzählte meine Geschichte den anderen. Viele waren mißtrauisch. Wolfgang wollte sie verprügeln, aber ich hatte einen besseren Plan. Ich verteilte das Geld: Als Beweis sozusagen. Aber ein einziges Mal verteilen war kein ausreichender Beweis. Ich wartete ab. Ich sagte daheim beim Mittagessen: „Eben hat mir Herr Wenzel gesagt, bei ihm sei gestohlen worden. Es werde in letzter Zeit in allen Geschäften gestohlen.“ Mein Vater blickte nicht einmal von der Suppe auf. Meine Mutter sagte: 80
„Iß jetzt.“ Ich wandte mich an meinen Vater: „Du solltest auch mal nachsehen.“ Er schwieg. Als nach einer Woche noch immer nichts geschah, stahl ich wieder zwanzig Franken. Wieder verteilte ich das Geld und erwarb dafür Ruhm in meiner Klasse. Daheim kam auch der zweite Diebstahl nicht zur Sprache, auch der dritte und vierte und fünfte nicht. Ich ging zum Bäcker und kaufte eine Menge Süßigkeiten. Ich ging einige Male hintereinander zu ihm, und nun fragte er mich, woher ich das Geld habe. „Ich habe es gestohlen.“ Der Bäcker lachte. „So siehst du aus.“ Aber ich ging auch zu Herrn Wenzel und kaufte ein Dutzend Würste. Er fragte, für wen ich die Würste kaufen würde, und ich antwortete, diese seien für meine Klassenkameraden. Und wer sie denn eigentlich bezahle? fragte Herr Wenzel, denn mein Vater war als sparsamer Mann bekannt. „Ich habe das Geld gestohlen“, sagte ich. Und so vergingen Wochen und Monate. Meine Eltern begannen zu schweigen: Ihr Schweigen betraf alles und jedes. Denn alle „Oberdörfler“ redeten nicht von meinem Diebstahl, sondern nur davon, daß ich immer sagte, ich hätte gestohlen. Und niemand scheute sich, in der Metzgerei oder sonst wo immer in meiner Gegenwart über mich zu sprechen. Ich hörte sie sagen: 81
„Einer, der so ist, so seltsam, so merkwürdig … natürlich stiehlt er nicht, aber falls er eben doch stiehlt, von seinem Vater hat er es jedenfalls nicht …“ Alle meine Anstrengungen liefen darauf hinaus, daß ich ein anderer wurde, nicht aber der, der ich hatte werden wollen, nämlich einfach der, der für Vital, weil von Vital eingenommen, weil er Vital bewunderte und vielleicht liebte, Fluchtgeld gestohlen hatte, der, der vielleicht aus Protest gestohlen hatte, dessen Protest man aber nicht entgegennahm. Ich wurde ein anderer. Bei meinen Jahrgängern ein Dieb, der es so geschickt anstellte, daß ihm die Eltern nicht auf die Spur kamen: Bei den Erwachsenen vom Oberdorf war ich vor allem der Sohn meiner Mutter: von unsicherer Herkunft, zwielichtig … Ein Jahr verging. Waren es zwei Jahre? Ich war nun Schüler des Literargymnasiums, mußte vor dem Rektor erscheinen, der mir freundlich mitteilte, er sähe es lieber, wenn ich mich gelegentlich nach einer anderen Form des Heldentums umsehen würde. Ich verstand ihn nicht, und so wurde er ausführlicher. Er berichtete, daß das Gerücht hier umgehe, ich sei ein Dieb. Er habe sich daraufhin mit meinen Eltern in Verbindung gesetzt und erfahren, daß solche Gerüchte meiner Phantasie entsprängen. „Und was willst du denn mit alldem?“ fragte er. „Du stiehlst nicht, behauptest aber seit Jahren, du seiest ein Dieb! Was willst du eigentlich damit?“ „Fragen Sie meine Kameraden“, sagte ich, doch er lächelte bloß. „Ich habe mit deinen Kameraden bereits gesprochen“, 82
sagte er, „und ich will dir nicht verschweigen, was sie von dir halten: Du bist ein Prahlhans!“ Ich sagte kein Wort mehr. Der einzige, der zu mir gestanden hätte, Wolfgang nämlich, lernte ein Handwerk, und die anderen, die mit mir von der Volksschule ins Gymnasium hinübergewechselt hatten, waren nicht zuverlässig, waren eifersüchtig, hatten zwar mein Geld immer angenommen, standen aber jetzt nicht mehr dazu. „Du mußt durch echte Leistung imponieren“, redete der Rektor gütig auf mich ein, „nehmen wir deine Noten, zum Beispiel im Deutsch: Deine Aufsätze, habe ich mir sagen lassen, sind unter dem Durchschnitt. Algebra ist etwas besser. Du scheinst ein gutes Gedächtnis zu haben. Wenn du nun in Deutsch Fortschritte machen würdest, wäre das eine eindrückliche Leistung.“ Der Rektor entließ mich, nachsichtig lächelnd. Noch am gleichen Tag schrieb ich an eine Deutsche Illustrierte mit wöchentlicher Jugendbeilage – meine Mutter hielt sich dieses Blatt – ich wünsche Briefwechsel mit einem siebzehnjährigen Berliner Jungen. Es vergingen drei Wochen, und dann traf der erste Brief ein. Horst Krüger hieß der siebzehnjährige Junge aus Berlin, und ich schlug ihm schon im ersten Brief vor, wir sollten uns gegenseitig helfen. Ich sei beispielsweise furchtbar schwach im Aufsatzschreiben, und falls er furchtbar stark darin sei, könnte ich seine Aufsätze abgeändert meinem Lehrer vorlegen. Er solle mir schreiben, mit was ich ihm helfen könnte. Seine Antwort kam rasch, aber ich wurde, als ich seinen Brief las, anfänglich etwas kleinmütig. Horst Krügers Stärke war das Aufsatzschreiben ebenfalls nicht, indes schlug er mir vor, unter 83
seinen Klassenkameraden nach den besten Arbeiten Ausschau zu halten, und mir eben diese zu schicken. Er bat um Angabe der Themata. Ich war noch kleinmütiger als zu Beginn der Lektüre. Was wußte ich denn, welche Themata der Deutschlehrer uns stellen würde? Abgesehen von dem einen Aufsatz im Monat, dessen Thema wir frei wählen mußten? Ich ließ nichts unversucht. Zwei Tage später kürzte ich die Pause vor der Deutschstunde ab. Der Deutschlehrer hatte seine Mappe bereits auf das Pult gelegt, und ich öffnete sie. Ich handelte ins Blaue hinein. Ich stellte mir vor, der Deutschlehrer habe sein fest umrissenes Programm wie jeder andere Fachlehrer auch. Und er hatte ein solches Programm. So notierte ich mir die Themata und schrieb auch gleich den Begleitbrief an Horst Krüger. Horst, dem ich ausführlich berichtete, schrieb zurück, er habe großen Spaß an meinem Einfall, überhaupt redeten fast alle an seiner Schule von mir, und ich könne mich darauf gefaßt machen, daß man mich für die Ferien nach Berlin einladen wolle. Ich bekam auch die Aufsätze, die mehr oder weniger jenen Themata entsprachen, die uns gestellt wurden. Es bereitete mir nicht allzugroße Arbeit, die Neufassungen zu schreiben. Nach zwei Monaten mußte ich erneut vor dem Rektor erscheinen. Er empfing mich ernst, beinahe feierlich. Er sprach sanft und fast leise mit mir. Er hatte meine Aufsätze vor sich und ermahnte mich, die Wahrheit zu sagen. Ich bestand darauf, daß ich diese Aufsätze geschrieben hätte. Am Ende der peinlichen Unterredung schlug er mir vor, ich sollte mich einer Prüfung unterziehen. Denn er glaube mir, sagte er, aber er möchte meinetwegen, daß auch der leises84
te Verdacht verstummen würde. Ich erwiderte, ich würde mich in ein leeres Zimmer einschließen lassen, mit nichts als mit Tisch, Stuhl, Papier, Tinte und Feder. Er schüttelte den Kopf und konnte sich mit meinem Vorschlag nicht befreunden, aber er versprach, mit dem Deutschlehrer zu sprechen. Die einzige Bedingung, die ich machte, bestand darin, daß ich das Thema drei Tage voraus wüßte. Mein Deutschlehrer war mit meinem Vorschlag einverstanden. Er sagte, er werde mir das Thema am Morgen bekanntgeben, und um zwei hätte ich mich der Prüfung zu unterziehen. Ich war auch damit einverstanden. Die Prüfung fand zehn Tage später statt. Ich erschien in der Schule, und der Rektor war dabei, als der Deutschlehrer meine Taschen untersuchte. Ich hatte zwei Stunden Zeit, meinen Aufsatz zu schreiben. Ich brauchte nur eine Stunde. Er war genausogut wie alle anderen Aufsätze, die ich auch aus Berlin bezogen hatte, aber ich will nicht behaupten, der Rektor und der Deutschlehrer hätten sich deshalb vor mir verneigt. Immerhin, meine Ehre war eine ganze Ehre. Damit konnte ich mich auf die Dauer nicht zufriedengeben. Ich wußte bereits an jenem Prüfungstage, daß ich einmal, spätestens in der Maturaklasse, diese Geschichte erzählen würde. Und ich erzählte sie auch. Aber wir hatten einen andern Deutschlehrer. Das Thema zu einem der letzten Aufsätze konnten wir frei wählen. Ich erzählte darin meine Geschichte, wie sie sich abgespielt hatte. Der jetzige Deutschlehrer sagte bei der Kritik: „Ihr Aufsatz, Wind, würde eindrucksvoller wirken, wenn Sie diese Geschichte als das, was sie wirklich ist, bezeich85
net hätten, nämlich als ein Modell. Daß Sie versucht haben, Ihre Geschichte autobiographisch zu verbrämen, ist schade. Im übrigen haben Sie Ihr Thema hervorragend bewältigt …“
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er Kommandant der Kantonspolizei inspiziert die Zelle. Er hat die Schlüssel bei sich und öffnet und schließt die Türen selber ab. Ich habe aufgehört, an meinem Lebenslauf zu schreiben, und warte auf das Mittagessen. Der Kommandant gibt mir die Hand zum Gruß, dann sieht er sich um, geht zum Fenster und will es öffnen, aber es läßt sich nicht öffnen. „Ich werde Anweisungen geben, daß man die Schrauben herausdreht. Man kann nämlich die Schrauben herausdrehen, und dann läßt sich das Fenster öffnen. Ich mußte die Zusicherung geben, daß die Fensterflügel bei gewöhnlichen Häftlingen verschraubt bleiben. Ich hatte mich ohnehin stark einsetzen müssen, damit diese wenigen Zellen mit normalen Fenstern versehen wurden. Nur zwei Bedingungen hat man mir auferlegt: die Schrauben und geripptes Glas, damit die Häftlinge keine Aussicht auf den Kasernenplatz haben.“ Inzwischen aber hat der Kommandant sein Militärtaschenmesser mit dem Schraubenzieher zur Hand genommen und dreht jetzt die Schrauben heraus. Dann öffnet er den Fensterflügel. Das Eisengitter bleibt. Und als spräche er zu sich selber, sagt er: „Man kann viel einwenden gegen den Heinrich, aber das eine hat ihm niemand absprechen können: Der Strafvollzug war ihm eine ernste Sache. Und 87
nicht bloß, solange er Direktor der Strafanstalt war, auch noch später, als er Vorsteher der Justizdirektion war. Er hat Zuchthäuser und Gefängnisse gehaßt. Er sagte immer, Gefängnisse seien Schandmale unserer Gesellschaft. Das sagte er besonders laut, wenn er getrunken hatte. Und er trank fast täglich. Rotwein, wissen Sie. Und ich spielte oft Karten mit ihm. Und dabei handelte ich so Dinge aus mit ihm wie eben diese Zelleneinrichtung. Ja, Heinrich war alles in allem ein feiner Kerl. Ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Er war seinem Amt nicht gewachsen. Seine Sekretäre regierten. Und er hatte keine Ordnung, auch das ist wahr. Aber lassen wir das. Jetzt ist er tot. Wissen Sie, als seine Gegner gewisse Unstimmigkeiten aus seiner Amtszeit als Vormund ans Licht zerrten, mangelhafte Abrechnungen von Mündelgeldern, wie es plötzlich hieß, er habe Mündelgelder in seine eigenen Taschen fließen lassen … pfui Teufel, das hatte er doch nicht gemacht, das ist ja Unsinn, er hatte Mündelgelder ausgegeben und diese Ausgaben nicht schriftlich belegen können. Das ist alles. Er hatte keinen Sinn für Buchhaltungsfragen. Und es ist ja auch möglich, daß er sich selbst aus Mündelgeldern Darlehen gegeben hatte … Aber das nur nebenbei. Ich bin gekommen, um nachzusehen, wie es Ihnen geht.“ Ich bedanke mich. Es geht mir gut. Und nun wird es mir noch besser gehen, wenn ich zuweilen das Fenster öffnen und Ausschau halten kann, wenn auch nur auf den Kasernenplatz. Der Kommandant mustert mich und schüttelt ungläubig den Kopf: „Unterschätzen Sie mir Rappold nicht …“, sagt er, „der kann viel. Er kann viel und ist ehrgeizig. Er war vielleicht 88
immer ein bißchen zu ehrgeizig. Deshalb brachte er es nur bis zum Inspektor. Er ist ein Biedermann. Was ihm abgeht, ist ganz einfach eine Art Liebe und Zuneigung zu seinen Opfern. Er leidet selbst nicht, wenn er seine Opfer peinigt. Er stellt sich selbst und alles, was er tut, nicht in Frage. Ich gebe zu, gerade die Bundespolizei braucht solche Menschen …“ „Glauben Sie, er setzt sich auch in meinem Fall durch?“ Der Kommandant schaut mich an. „In irgend einer Form gewiß. Rappold bildet sich viel darauf ein, immer und überall ‚ganze Arbeit’ zu leisten. Das heißt nicht, daß er Sie zu Fall bringt, aber es heißt, daß am Ende einer hängen bleibt.“ „Vielleicht mein Mitarbeiter Julius?“ Er zuckt die Schultern. Der Kommandant blickt auf die Uhr, gibt mir die Hand. „Ich muß jetzt gehen. Ich höre schon die Essensverteiler im unteren Stock klappern. Guten Appetit.“ Kaum habe ich meinen Blechteller geleert, erscheint auch schon Rappold. Er bringt mir das „Volksrecht“ und sagt: „Lesen Sie das.“ Ich lese, das heißt, ich überfliege den Leitartikel und beantworte laufend die darin aufgeworfenen Fragen: „Sie müssen die Sozialdemokraten an die Kriegstechnische Abteilung in Bern verweisen. Dort sind die Akten vermutlich archiviert worden. – Es trifft zu, ich habe der Schweizer Armee hundert Schul- und Trainingsflugzeuge vom Typ ‚Harvard’ verkauft. Das Stück zum Preis von siebzigtausend Franken mit Blindflugausrüstung. Ich habe 89
am Flugzeug genau fünftausend Franken verdient. Aber das war kein Nettoverdienst, das können Sie mir glauben. Ich hatte bedeutende Unkosten, und vor allem, was jetzt keiner wissen will, das Risiko … Oberst Hug, damals Vorsitzender einer nationalrätlichen Studienkommission für Rüstungsfragen, empfahl mich dem Chef des Militärdepartements. Oberst Hug sagte, ich verstünde allerhand von der Infanterie, und so flog ich als Mitglied einer Expertenkommission nach Amerika. Wir hatten die Aufgabe, amerikanische Waffen zu prüfen. Unter anderen eben auch Infanteriewaffen, ferner mobile Radaranlagen und Fahrzeuge, Jeeps zum Beispiel. In den Augen der Amerikaner waren diese Waffen veraltet. Aber sie hatten im letzten Kriegsjahr zuviel davon produziert. Und jetzt war der Krieg zu Ende, und an Korea dachte man noch nicht, ganz abgesehen davon, daß sie eben daran gingen, ihre Armee mit modernen Waffen auszurüsten. So ließen sie alle Kleinstaaten wissen, daß sie ihre Arsenale für den Ausverkauf öffnen würden, und darum gingen auch wir Schweizer hinüber. Wir reisten in den Staaten umher, wochen- und monatelang, wir sahen, nicht einmal bewacht, Abstellwiesen mit Zehntausenden von Fahrzeugen, jeder Witterung ausgesetzt. Wir schritten durch meilenlange Hallen, in denen Maschinengewehre und Funkgeräte und Radaranlagen aufgestapelt waren. Wir besuchten auch die Militärakademie von Westpoint, waren beeindruckt, und wurden von Stadtbehörden offiziell empfangen … Sie wissen ja, wie das so geht. Und dann war unsere Expedition zu Ende, und eigentlich sollten wir zurückfliegen und Bericht erstatten, sagen, ob sich die Jeeps und die Radaranlagen für unsere Armee eignen würden. 90
Aber ich verspürte nicht die geringste Lust, zurückzukehren, für den Augenblick wenigstens nicht. So telegraphierte ich an Oberst Hug: ‚Möchte noch einige Wochen hier bleiben. Was kann ich tun. Können Sie mich irgendwo empfehlen …‘ Hug telegraphierte sofort zurück: ,Melden Sie sich bei Jack F. Barth, 5th Avenue, New York. Empfehle Sie telegraphisch bei Barth. Barth ist mein Freund …‘ Ich ging nach New York, ich ging zum Rockefeller Center, und plötzlich stand ich vor dem Barth-House gegenüber der St. Patrick Cathedral. Ich war überrascht. Ich konnte nicht wissen, daß Jack F. Barth in New York einen Namen hatte, ich konnte auch nicht wissen, daß er der Gründer und Inhaber der größten Advertising-Agency von Amerika war. Jack F. Barth hatte in seinem Barth-House die zehn obersten Stockwerke belegt. Er beschäftigte siebenhundert Werbefachleute, Grafiker und Angestellte. Jack F. Barth, wie gesagt, ein Jugendfreund Hugs, war mit zwanzig ausgewandert und hatte die amerikanische Staatsangehörigkeit erworben. Durch ihn machte ich später die Bekanntschaft mit einem kanadischen Schrotthändler, und als ich diesem erzählte, in welcher Eigenschaft ich herübergekommen sei, sagte er, er habe soeben einige tausend ,Harvards’ von der Air Force übernommen. Die einen seien noch in sehr gutem Zustande, andere werde er verschrotten. Eben sei er daran, den Regierungen aller europäischen Kleinstaaten, aber auch den Kubanern, mitzuteilen, daß er billig ,Harvards’ anbieten könne. Er bot mir sogleich einen Options-Vertrag an, aber ich lächelte nur, denn vor solchen 91
Geschäften habe ich Bedenken. Jack F. Barth klopfte mir auf die Schultern und sagte: ‚Unterschreiben Sie nur. Das ist ein guter Start, mein Junge. Mein Freund Hug wird seine helle Freude haben an Ihnen.’ Ich unterschrieb den Vertrag, obgleich ich nicht einmal wußte, wie eine ,Harvard’ aussah. Natürlich wußte ich von Hug, daß unsere Flugwaffe ein neues Schul- und Trainingsflugzeug suchte, und daß es sich darum handelte, einen Typ zu finden, der sich vor allem für Blindflüge eigne, der also entsprechend ausgerüstet sein mußte. Dann bekam ich vom Schrotthändler technische Beschreibungen, Wartungsvorschriften für das Bodenpersonal und Bedienungsvorschriften für Piloten. In diesen Dokumentationen war die ,Harvard’ natürlich abgebildet. Ich schrieb einen langen Brief an Hug, erwähnte aber nichts von einer Option, sondern schrieb, ich sei jetzt stolzer Flugzeugbesitzer und nebenbei natürlich, daß es sich um einen vorteilhaften Kauf für unsere Flugwaffe handeln könnte. Ich legte auch alle technischen Beschreibungen bei zu Händen der Kriegstechnischen Abteilung und schrieb, ich würde eine Maschine nach Europa schicken, wenn man den Typ ausprobieren möchte. Ich nannte als Preis siebzigtausend Schweizerfranken ohne Transportkosten. Mein Optionsvertrag lautete auf sechs Monate. Ich hoffte, man könnte sich in der Schweiz in dieser Zeit entschließen. Aber das war nicht der Fall. Erst vier Monate nach meinem Angebot kam Bericht, ich soll eine ,Harvard’ nach Thun verfrachten, und dann vergingen noch einmal vier Monate, bis die Schweizer Testpiloten gefunden hatten, daß die ,Harvard’ ein vorzügliches Schul- und Trainingsflug92
zeug sei. Inzwischen wäre meine Option erloschen, und sie lautete ja nicht bloß auf irgendwelche hundert ,Harvards’, sondern auf bestimmte hundert, und diese hundert waren numeriert, und ich war im Besitz der dazugehörigen Bordbücher. Es waren hundert ,Harvards’, die alle weniger als zweihundert Flugstunden hinter sich hatten und deren Motoren total revidiert waren. Nun hatte ich ja in den Staaten besonderes Glück gehabt, wie Sie bestimmt schon erfahren haben, Herr Rappold. Ich verkaufte Zehntausende von Gartenzwergen, die ich aus der Schweiz und aus dem Schwarzwald nach New York importierte, und ich verdiente dabei soviel Geld, daß ich dem Schrotthändler eine beträchtliche Anzahlung an meine hundert Flugzeuge leisten konnte. Es ist also nicht wahr, was das ‚Volksrecht’ schreibt, ich hätte die ,Harvards’ in meiner Eigenschaft als Mitglied der Militärkommission gehandelt: Das ist nicht wahr, und dieser Hinweis zum Beispiel darauf, ich sei damals auch Mitglied des Generalstabes gewesen, ist falsch. Ich war militärisch beurlaubt. Ich war privat in New York, und ich war Gast bei Jack F. Barth. Erst als ich wieder in der Schweiz war, diente ich beim Generalstab, wie das üblich ist bei Offizieren, die avancieren. Ich war also privat in New York und dazu Gast Jack F. Barths. Barth bewohnte ein Appartement an der 81. Straße Eastriverside Drive, und über das Wochenende fuhren wir regelmäßig nach Hartsdale, wo Barths ein Landhaus besaßen. Barbara, einzige Tochter, neunzehn Jahre alt, besuchte das ,Hunter-College’ an der Madison-Avenue: Sie wollte Grafikerin oder etwas ähnliches werden. Sie schwärmte für Europa, für Paris vor allem und für Rom; an Zürich lag ihr nicht viel. Barbara wußte, 93
daß ihre Mutter lieber einen Sohn geboren hätte, das heißt, wenn schon, dann außer Barbara auch noch einen Sohn. Barbaras Mutter war eine kleine Frau, zierlich wie eine Filigranarbeit, und ich wunderte mich, daß sie überhaupt ein Kind zur Welt gebracht hat. Von einem gewissen Tag an konnte ich mir ein Leben ohne Barbara nicht mehr vorstellen. Dafür habe ich allerdings keine Erklärung. Barbara litt beträchtlich: Sie war ihrem Vater sehr zugetan. Aber sie erfuhr nach und nach, daß er eine bedeutende Rolle als Drahtzieher der öffentlichen Meinung spielte. Barbara fühlte sich ihrem Vater gegenüber unsicher. Nicht minder unsicher fühlte sie sich der Mutter gegenüber. Sie scharte schon mit vierzehn und fünfzehn Jahren eine beachtenswerte Schar von Freunden und Verehrern um sich. Sie verbrachte bereits mit siebzehn Jahren fast jeden Abend auf irgendwelchen Parties. Als ich Gast ihrer Eltern war, nahm sie mich überallhin mit. Ich beobachtete sie, wie sie mit ihren Freunden tanzte. Ihre Art zu tanzen fiel mir auf. Ich hatte sie früh im Verdacht, sie lasse sich mit jedem ein, obschon ich eigentlich wenig Erfahrung mit Frauen hatte. Nun wollte ich plötzlich Barbara haben. Am Anfang war es nicht Liebe. Nur ein einziger Gedanke war in mir: Ich wollte sie haben. Eines Tages kamen wir erst vor der Morgendämmerung nach Hause. Im Salon nahmen wir noch einen Drink. Das Radio spielte. Ich nahm Barbara in die Arme und küßte sie. Ihre Lippen waren feucht und kalt, ihre Augen waren matt, aber sie wehrte sich nicht gegen meine Umarmung. ,Hast du noch nie einen Mann geliebt?’ fragte ich. Sie schüttelte den Kopf und fragte nun mich: 94
,Hast du schon mal eine Frau geliebt?’ Ich sagte, ich hätte mehr als eine Frau geliebt. ,Hast du mit ihnen geschlafen?’ Ich nickte. ‚Schlafen alle Europäer mit soviel Frauen?’ Ich nickte. ,Ich werde nie mit einem Mann ins Bett gehen’, sagte sie und lachte. Ich ging zum Radio, um andere Musik zu suchen, und sagte: ‚Vielleicht werden wir beide uns noch einmal gehören.’ ‚Warum?’ ‚Warum nicht?’ ,Du müßtest lange warten. Vielleicht bis ans Ende deines Lebens …‘ ,Ich werde warten.’ ‚Nein, Männer können nicht warten.’ ‚Woher weißt du das?’ ,So war es auch bei meinem Vater. Meine Mutter wollte auch nicht. Aber da sie ihn liebte …‘ ,Du bist Barbara. Du bist nicht deine Mutter, und ich bin nicht dein Vater. Ich werde warten.’ ,Warum.’ Dieses Warum klang wie Angst und Sehnsucht in einem. Und als ich ihr ins Gesicht schaute, sah ich ein anderes Gesicht, und es erinnerte mich an das Gesicht Tonis, und jetzt war mir plötzlich bewußt, warum ich das feste Gefühl hatte, ohne Barbara nicht mehr leben zu können. Ich wußte plötzlich, daß ich für Barbara da sein müßte, jederzeit …“
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Rappold steht auf, unschlüssig. Er hat die ganze Zeit auf dem Pritschenrand gesessen. Jetzt geht er zum Fenster. Rappold öffnet es. Er wirft einen Blick auf das große Exerzierfeld, dann wendet er sich mir zu. „Ich habe größeres Interesse für Ihre Gartenzwerge, als für Ihre übrigen Geschichten“, sagt er. „Meine Gartenzwerge? Ich machte bei Jack F. Barth unter anderem auch Bekanntschaften mit Journalisten. Zum Beispiel lernte ich auf einer Party Al Stone und Sunny Field kennen; beide von der ,New Yorker Sun’. Am nächsten Tag holten sie mich ab. Wir fuhren nach Grennick Village, in ,La vie en rose’, das ist eine Bar, sie gehörte dem Iren Mac, und nach einiger Zeit kamen weitere Journalisten dazu, Dick Nicholson zum Beispiel, und später auch Edgar C. Borland, beides Kolumnisten irgendwelcher Zeitungen oder Magazine. Denken Sie daran, Herr Rappold, das war verhältnismäßig kurze Zeit nach Kriegsende, und Europäer, abgesehen von deutschen Kriegsgefangenen, eine Seltenheit in Amerika. Von den Emigranten rede ich nicht. Die Journalisten wollten viel wissen. Sie wollten erfahren, weshalb die Schweiz nicht in den Krieg hineingezogen worden war, und sie wußten natürlich auch schon einiges. Sunny Field zum Beispiel fragte mich, ob es wahr sei, daß Hitler in der Schweiz ein Bankkonto besessen habe. Und als ich erstaunt die Gegenfrage stellte, wie er zu dieser Vermutung komme, zwinkerte er mit den Augen und sagte: ,Wer hat denn kein Bankkonto in der Schweiz?’ Und Borland sagte: ,Vielleicht Stalin …‘ Aber immerhin wußten sie, daß die Deutschen uns 96
,Messerschmitts’ geliefert hatten mit Sand in den Motoren. Und sie wußten auch, daß einer der ersten deutschen Düsenjäger in Dübendorf notgelandet war, und daß die Schweizer ihn in Anwesenheit des deutschen Botschafters vernichten mußten, weil die Deutschen uns sonst keine ,Messerschmitts’ mehr geliefert hätten. Al Stone sagte, wir Schweizer hätten die gottverdammte Pflicht gehabt, mit unserer ganzen Armee in Deutschland einzumarschieren, als wir von den Judenvernichtungen gehört hatten. Sunny Field schlug plötzlich vor, mich zu interviewen. Sie fragten, was ihnen der Augenblick gerade eingab. Ich nahm es nicht ernst. Am Ende fragte Edgar C. Borland, was ich in Manhattan zum Beispiel vermisse im Vergleich zu Zürich. Ich erwiderte mit ernstem Gesicht: ,In Manhattan vermisse ich vor allem Gartenzwerge.’ Sie lachten. Und ich fuhr, ernsthaft bleibend, fort: ,Sehen Sie, meine Herren, bei uns stehen die Gartenzwerge im Mittelpunkt aller Interessen. Abgesehen vom Geld natürlich, dreht sich bei uns alles um die Gartenzwerge. Im Spätherbst, wenn die letzten Astern verblüht sind, wenn wir die Geranien von den Balkons hereinnehmen und in den Keller stellen, dann nehmen wir auch die Gartenzwerge ins Haus. Und an den langen, langen Winterabenden, Schnee auf den Straßen, Schnee auf den Dächern, überall Schnee, entzünden wir in der warmen Stube Kerzenlichter, und die ganze Familie beschäftigt sich mit den Gartenzwergen: Sie werden gewaschen, die Gartenzwerge, sie werden neu bemalt, eine gelbe Zipfelmütze anstelle der roten vom vergangenen Jahr, blaue Schürzen, statt grüne, und neue rote Backen bekommen sie auch. Und dann im 97
Frühling, wenn die Krokusse wieder blühn, bringen wir sie wieder hinaus, die gemütlichen Gartenzwerge. Wir stellen sie in unsere Gärten, auf die Balkons, und wir sind dann den Frühling hindurch und den Sommer hindurch vollauf damit beschäftigt, Wege anzulegen, Stege zu bauen. Ganze Wälder aus grünem Gips sprießen zwischen Stinkender Hoffart dem Himmel zu, und was wir im Winter nicht bewältigten, das holen wir nach. Wir basteln Schubkarren und aus Zinkdraht Gartengeräte, und wenn wir es noch ernster nehmen, bauen wir Burgen und Schlösser, auch Ruinen; Ruinen machen sich immer gut. Gartenzwerge überall. Unsere gesamte Architektur, die Städtebauer zum Beispiel, nehmen Rücksicht auf unsere Gartenzwerge. Gartenzwerge, meine Herren, können gefährlich werden. Lachen Sie nicht. Gartenzwerge wollen ernst genommen werden. Es handelt sich nicht, wie Sie vielleicht glauben, um Spielerei. Denn Gartenzwerge, das können Sie sich ausdenken, sind bösartige Geschöpfe, herrschsüchtig sind sie, raffgierig, und, wie gesagt, böse. Es ist ausgeschlossen, daß wir unsere Gartenzwerge mißachten. Stellten wir sie auf den Estrich zum Beispiel, hätten wir schlaflose Nächte. Die Gartenzwerge würden umhergehen, ohne Unterlaß umhergehen, und sperrten wir sie in die Keller, wie die Geranien zwischen Herbst und Frühling, würden sie an den Mauern kratzen und nagen, Tag und Nacht, und sie würden anfangen zu singen mit ihren röhrenden Stimmen, und schlössen wir sie ein in die Safes unserer Bankhäuser, dann würden sie sich aufblasen, wie Frösche aufblasen und die Safes sprengen! Gartenzwerge wollen geliebt sein, meine Herren.’ An das eine hatte ich nicht gedacht: Daß sie meine Ge98
schichte über die Gartenzwerge auch wirklich drucken würden. Die New Yorker wollten auf einen Schlag Gartenzwerge haben. Fast alle New Yorker wollten Gartenzwerge haben. Dann kamen die von Washington, die von Detroit, ein Staat nach dem anderen, nur der Süden, der Süden wollte keine Gartenzwerge. Ich flog nach Europa zurück. Jack F. Barth sagte zu mir: ,Das ist das zweite Geschäft deines Lebens!’ Ich flog nach Zürich; es war nicht einfach, denn die internationalen Linien waren noch nicht eröffnet; Charterflugzeuge waren es, die von den Staaten nach Europa flogen und zurück. Und man mußte eine Art von ,very important person sein, damit man mitfliegen durfte. Und da leistete ich mir einen Schwindel, ich gab mich als Mitglied der Schweizer Studienkommission aus, was ich ja schließlich gewesen war, und so bekam ich meine Flugkarten. In Zürich hatte ich erfahren, daß es im Schwarzwald von Gartenzwergen wimmelte, aber der Schwarzwald war von den Franzosen besetztes Gebiet. Ich hörte von einem kleinen Fabrikanten in Obwalden. Ich fuhr zu ihm. Er stellte im Jahr auch nicht mehr als einige hundert Gartenzwerge her. Ich gab ihm Geld, erklärte ihm, daß er Heimarbeiter suchen soll, und daß er seinen Betrieb erweitern müsse. Das tat der Mann auch, und wenn Sie meinen Buchhalter fragen, wird er Ihnen sagen, daß ich noch heute Teilhaber dieses Betriebes bin. Und noch heute leben Hunderte von Leuten von diesen Gartenzwergen. Denn als der amerikanische Markt nach etwa vier Jahren gesättigt war, fing ich den Heimarbeitern zuliebe an, auch die Schweizer für Gartenzwerge zu interessieren. Ich beauftragte einen freien Mitarbeiter der 99
,Weltwoche’, einen Magazinartikelschreiber, einmal dem volkskundlichen Ursprung dieses Kitsches nachzugehen, und er ging ihm nach, und er brachte viel interessantes Material an den Tag. Wir verkauften Tausende von Gartenzwergen, aber das interessiert Sie ja weiter nicht, und ich will damit auch nur sagen, man kann Gartenzwerge genauso gut an den Mann bringen wie zum Beispiel einen Weltkrieg. Ich versichere Ihnen, Herr Rappold, es ist nie mein Ehrgeiz gewesen, Gartenzwerge zu verkaufen, aber ich bin da einfach so hineingeraten, und wer wollte mir daraus einen Vorwurf machen?“ „Diese Gartenzwerg-Geschichte ist bekannt“, sagt Rappold, „und mir scheint, Sie haben noch nie etwas anderes getan, als Geschichten erfunden.“ „Ich bin gerade dabei“, entgegnete ich, „die Geschichte des Geschichtenerzählers zu erfinden. Und was tun Sie denn anderes? Sind Sie nicht auch gerade dabei, die Geschichte eines raffinierten Landesverräters zu erfinden? Die Frage, Herr Rappold, die am Ende bleibt, ist: Welche von den beiden Geschichten wird geglaubt werden, meine Geschichte oder Ihre Geschichte. Auf irgendwelche Maßstäbe kommt es jetzt nicht an. Maßstäbe gibt es immer erst im Nachhinein …“ „Ich erfinde keineswegs die Geschichte eines Landesverräters, ich suche nur die Wahrheit“, erwidert Rappold. „Wahrheit ergibt sich nur aus den Geschichten. Und Polizeiakten, Herr Rappold, enthalten niemals die Wahrheit, sondern geben nur darüber Aufschluß, in wessen Händen die Macht liegt. Ich bin ein Drahtzieher. Ich herrsche. Ich herrsche über100
all, wo es zu herrschen gilt. Ich spiele mit dem Ehrgeiz der Dummen und spiele mit dem Machtwillen der Bösen, mit dem Hunger der Armen und mit dem Überfluß der Reichen. Alle stehen in meinen Diensten. Die Bankiers antichambrieren in meinen Salons, die Generäle. Sie führen Kriege, kleine Kriege in Kuba, Korea, Algier, auf Feuerland und im Kongo. Und dann kehren sie alle zu mir zurück. Sie sind nun glücklich und zufrieden. Sie haben ihrem Leben einen Sinn eingehaucht. Denn nicht wahr, keiner wird General ohne Aussicht auf einen Krieg. Wer wird schon Richter ohne Aussicht auf Todesurteile? Und wer wird Politiker ohne Aussicht auf Macht? Und wer wird schließlich Humanist ohne Aussicht darauf, erschossen zu werden? Jeder Mensch will seinem Leben einen Sinn einhauchen. Jack F. Barth hat gewaltige Geschichten erfunden: Teenager, Halbstarke, Jugendkriminalität, Rassendiskriminierung, Kuba, Antikommunismus, Korea, Berlin, Atomangst … Und die Wirtschaft blüht, wie man so sagt. Fast allen Menschen in den Staaten geht es gut. Auf die wenigen, denen es nicht gut geht, kommt es auch nicht an. Erfinden Sie eine gute Geschichte gegen mich. Glauben Sie mir, Landesverräter sind jetzt nicht mehr gefragt. Ganz abgesehen von dem Widerspruch, den Sie sich leisten müßten: Ausgerechnet Harry Wind ein Landesverräter. Harry Wind, der seinen Landsleuten die Geschichte vom zweiten Weltkrieg erfunden hat. Ohne meine Geschichte, Herr Rappold, hätte Ihr Tun keinen Sinn. Ich bin es, der dem Schweizer beigebracht hat, daß er eine Armee brauche. Ohne Armee, Herr Rap101
pold, gibt es keine Landesverräter. Sie wären schon längst entlassen worden, Herr Rappold. Sehen Sie sich doch einmal die Gesichter unserer Kriegsveteranen an: Sie strahlen vor Glück. Sie treffen sich am Biertisch und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Sie sagen sich: ,Prost, Hermann, wenn wir nicht gewesen wären, wenn wir nicht die Opfer gebracht hätten, gäbe es die Schweiz nicht mehr. Ein Prosit auf unseren General!’ Im Ernst, Herr Rappold …“ Rappold hebt die Hand, als wollte er mich zum Schweigen bringen. Ich schweige auch. Er schließt das Fenster. „Kann ich die Fortsetzung Ihrer Lebensgeschichte mitnehmen?“ Ich gebe ihm die Blätter. Er geht wortlos und vergißt, die Zellentüre zu schließen.
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icht alle Geschichten gelingen. Ich trat mit neunzehn Jahren zwischen Matura und Hochschulstudium vor den Aushebungsoffizier und sagte: „Ich will Flieger werden.“ Und dann: „Ich bin Maturand und ich möchte Ingenieur werden.“ Ingenieure konnten sie bei unserer Flugwaffe brauchen, so schickte man mich ins fliegerärztliche Institut, wo ich untersucht wurde. Es lag nichts gegen mich vor. Auch medizinisch nicht. Ich brachte einen Teil der Infanterierekrutenschule hinter mich, wurde Unteroffizier, und dann begann die fliegerische Vorschulung. Ich wollte Flieger werden, weil Horst Krüger in Berlin Flieger wurde, und weil er mir jetzt seitenlange Briefe über die Fliegerei schrieb. Und Flieger waren in jedem Land Helden. Wir hatten Mittelholzer und Bieder. Jedermann kennt das Richthofen-Geschwader. Ich hatte alle Fliegergeschichten gelesen, die ich auftreiben konnte; auch Ackermann zum Beispiel. Aber es stellte sich bald heraus: Ich war der einzige Abenteurer unter den Schülern, der einzige Geschichtenmacher. Meine Kameraden waren Techniker. Man trichterte uns vom ersten Tag an ein, Fliegen sei vor allem Technik. Zum Beispiel errechneten wir die Steuerfunktionen, wie sie bei einem Looping wirksam werden, schon im Theoriesaal, 103
längst vor dem ersten Alleinflug: Wie das Seitensteuer zum Höhensteuer wird und so weiter. Im Theoriesaal versagte ich nicht. Ich mit meinem Gedächtnis konnte da durchaus bestehen, auch wenn ich nicht begriff, auch wenn ich den Dingen nicht auf den Grund kam. Was Aerodynamik wirklich ist, habe ich nie so begriffen, wie es ein Flieger begreifen muß. Aber immerhin, ich speicherte all die Formeln, die man uns vorsetzte, in meinem Gedächtnis. Ich gab sie wieder von mir, völlig genau, und die Lehrer schöpften nicht den geringsten Verdacht. Auch am Doppelsteuer versagte ich nicht. Es gelang mir durchaus, während zehn Minuten eine vorgeschriebene Höhe und einen bestimmten Kurs einzuhalten, auch dann, wenn der Lehrer am Doppelsteuer versuchte, mit einem fast nicht wahrnehmbaren Druck auf das Steuer Einfluß zu nehmen, nicht etwa als Schikane, sondern um beispielsweise einen plötzlich aufkommenden Seitenwind anzudeuten. Lehrer wie Kameraden sahen in mir den kommenden Staffelführer. Auch ich sah mich selbst als kommenden Staffelführer. Ich gab immer wieder meine Fliegergeschichten zum Besten. Die besten Fliegergeschichten, die ich gelesen hatte, vermengt und vermischt mit den Berichten, die mir von Horst Krüger zugingen. Und ich bemerkte es schon nicht mehr, wenn ich plötzlich von der dritten Person in die erste fiel und so erzählte, als handelte es sich um meine eigenen Abenteuer. Auch die Lehrer achteten nicht darauf. Auch sie begannen zu erzählen. Natürlich in der ersten Person. Ich hatte sie so weit gebracht. Am Anfang waren sie zurückhaltend, karg im Gespräch mit uns. Aber von Woche zu Woche tauten sie mehr 104
und mehr auf. Keiner bemerkte, wie wir eigentlich wetteiferten, keiner gewahrte es, nicht einmal ich selbst, wie ich die Technik aus dem Feld zu schlagen versuchte zugunsten der Geschichten. Am 12. September starteten wir zum ersten Alleinflug. Keine große Sache: Starten, geradeaus fliegen in einer Höhe von siebenhundert Metern bis Uster, vor Uster große Volte und Rückflug, landen, keine Ziellandung, keine Dreipunktlandung. Der Flugplatz war von leichtem Nebel eingehüllt, wie immer zu dieser Jahreszeit. Auf dem Wangenerberg drehten sich keine Radarantennen wie heute, und der Buchenwald zwischen Gockhausen und Pfaffhausen schimmerte rotbraun. Wenn die Sonne aufging, leuchtete das Grün der Wiesen. Als wir am Rand der Graspiste antraten, Lederhaube und Fliegerbrille in der linken Hand, war an ein Starten noch nicht zu denken. Trotzdem standen die „Bücker“ bereit, die Mechaniker ließen die Motoren warmlaufen. Wir verbrachten die Zeit damit, indem wir laut alle nötigen Manipulationen vor uns hersagten. Endlich brach die Sonne durch. Ich hatte als erster zu starten. Ein äußeres Zeichen meines Erfolges, den die anderen mir willig zugestanden. Doch im Augenblick, da ich meinen Namen rufen hörte, war plötzlich auch die Angst da und Unsicherheit. Allein der Umstand, daß der „Bücker-Jungmeister“ ein Einsitzer war, nahm mir jede Sicherheit. Der Mechaniker half mir beim Festschnallen, machte mich mit schreiender Stimme, weil der Motor lief, nochmals darauf aufmerksam, wie ich im Notfall auszusteigen, wie ich den Fallschirm zu öffnen hätte. Dann trat er zur Seite. Ich überprüfte die Steuerorgane, 105
dann, den Knüppel ganz angezogen, gab ich Vollgas, das heißt, ich tat, was Vorschrift war. Dann hob ich die Hand, zwei Finger ausgestreckt, der Mechaniker zog die Radschuhe weg. Ich rollte zur Startlinie, und dabei sprach ich laut vor mich her, die rechte Hand am Knüppel, die linke am Gemischregler: „Achtung, geradeaus, Gemischhebel nach vorn schieben, langsam, gleichmäßig, Seitensteuer und Verwindung ruhighalten, Seitenböen beachten. Ausbruchgefahr, auch wenn beim Bücker nicht wahrscheinlich, immer auch daran denken, Heck hebt sich, Knüppel leicht anziehen, warten bis es fliegt, Knüppel mehr anziehen, Höhe gewinnen, auf vorgeschriebener Höhe Gemischhebel auf Markierung ‚Reisegeschwindigkeit’ zurücknehmen …“ Aber als ich auf der Startlinie stand, schon etwas darüber hinausgerollt, was schon ein Fehler war, brach mir der Schweiß aus. Ich wußte, daß ich jetzt aufgeben müßte, dieses Abenteuer abbrechen, die eigene Schwäche eingestehen, das Unvermögen, aber ich war nicht mehr Herr meiner eigenen Geschichte. Der Lehrer gab das Startzeichen, der „Bücker“ begann zu rollen. Ich schob den Gemischhebel nach vorne, brüsk und gar nicht gleichmäßig, ich sah die Graspiste rasend auf mich zukommen, gleichzeitig starrte ich auf den Geschwindigkeitsmesser, der Zeiger erreichte die grüne Marke, dann die weiße und dann die rote, aber meine rechte Hand am Knüppel war gelähmt, und ich sah nicht, daß das Flugzeug zwar an Geschwindigkeit aufholte, aber nicht stieg. Ich flog, wie man mir nachträglich sagte, nicht höher als drei oder vier Meter über Grund. Ich sah nur, wie ein Heuschober oder ähnliches plötzlich auf mich zukam am Ende der Piste. Ich erkannte die Gefahr nicht, obgleich ich Angst hatte. 106
Der Bücker bohrte sich in den Heuschober, drehte ab und blieb im Dach hängen, der Propeller hatte das dürre Gebälk tausendfach zersplittert. Von einem technischen Versagen konnte nicht die Rede sein. Wovon ich bewußtlos geworden war, konnte nicht einwandfrei festgestellt werden. Die Gurten waren nicht gerissen, Kopfwunden, überhaupt Wunden, wurden keine festgestellt. Einige Tage später hatte ich einen schriftlichen Rapport zu verfassen. Es wäre übrigens nicht das Ende meiner Fliegerlaufbahn gewesen, wenn ich darauf beharrt hätte. Die Lehrer waren auf meiner Seite, auch die Kameraden. Beim einen und anderen mochte die Einsicht aufgekommen sein, daß ich vielleicht doch so etwas wie ein angehender „Maulheld“ sei, aber ein solches Bild von mir hätte ich wieder zerstören können. Und ich hatte damals noch nicht diesen einen Schritt, der zuviel ist, getan. Ich war mir noch nicht bewußt, daß es sich um eine Geschichte handelte. Aber ich war mir bewußt, daß ich ehrenvoll und mit Ansehen meinen Abschied vorbereiten mußte. Ich tat es mit meinem schriftlichen Rapport. Ich schrieb: „Die Minuten, die dem Start, und die Sekunden, die der Bewußtlosigkeit vorangingen, waren grauenvoll. Es war mir, als würde ich auf zwei Ebenen gleichzeitig leben, indes nicht etwa gespalten in zwei Individuen, sondern auf beiden Ebenen als ein ganzes, unteilbares Ich: Da war auf beiden Ebenen alles gegenwärtig. Auf der einen das, was ich zu wissen hatte von der Schulung her, Handhabung der Steuerorgane, Funktion der Indikatoren, Start-, Steig- und Reisegeschwindigkeit, Landegeschwindigkeit, Temperaturen, Drehzahlen des Motors und so weiter, und auf der an107
deren Ebene war das nicht mir Zugehörige, das Abenteuer, die erfundene Geschichte, gelesen, aufgelesen, mir in vielen Wochen aber doch zu eigen gemacht. Und nur durch die schimmernde Scheibe des Propellers, tausendfach die entzweigeschnittenen Strahlen der Sonne, die beidseits des Rumpfes zur Erde fielen, über die Tragflächen glitten, durch die Propellerscheibe sah ich die braune Wand auf mich zukommen, nicht als Gefahr, und über dieser Wand den mattblauen Himmel, den es zu erreichen galt, mit Hilfe der Technik, ohne Gefühl, also so: Das Erreichen des Himmels ist kein Abenteuer, sondern präzise, erfahrbare Technik …“ Es war nicht ungefährlich, diesen Bericht abzuliefern. Ich tat es auf gut Glück hin. Denn die Schilderung stammte nicht von mir. Es handelte sich um einen Text, den ein gewisser Kurt Höfer geschrieben hatte „Ikarus fliegt wieder, Selbsterlebtes deutscher Jungflieger in Spanien.“ Natürlich hatte ich nicht alles wortwörtlich abgeschrieben. Und ich hatte wirklich Glück, mein Rapport wurde angenommen, mein Bericht schien den Verantwortlichen einleuchtend. Zwar wurde ich als Dichter abgetan und der Infanterie zugeteilt. Alles in allem: Es war eine mißlungene Geschichte, aber ich will sie hier nicht unterschlagen. So weit schreibe ich an meinem Lebenslauf, nachdem Rappold gegangen ist. Ich bin müde. Es ist acht Uhr, und nun bringt man mir endlich das Nachtessen. Man hält sich streng an Rappolds Weisungen: Man redet kaum ein Wort mit mir. Was er sich wohl davon verspricht? Mir fällt plötzlich ein, daß es bereits der dritte Tag ist, der jetzt zu 108
Ende geht, der dritte Gefängnistag, und ich bin ruhig, eine Art Zufriedenheit hat sich in mir ausgebreitet. Und wenn ich mich selbst frage: Wozu das alles? Wozu diese Geschichten? Ich finde keine Antwort, keine bündige Antwort, die in einem einzigen Satz gesagt werden könnte. Aber das muß ich Rappold beibringen: So einfach ist es nicht, wie er es haben möchte. Landesverrat! Gewiß, aber dann würde noch immer die Frage offen bleiben, wann und wie hat es begonnen? Und weshalb sind Leute wie Rappold, Sturzenegger und Hug nicht früher drauf gekommen? Ich habe immer meine Gegner gehabt. Geschichtenerzähler stoßen immer auf Gegner. Nicht nur im Zusammenhang mit unserer Armeereform habe ich meine Gegner, nein, ich habe auch schon als Harry Wind Gegner gehabt. „Er ist ein Maulheld, ein Geschichtenerzähler“, sagen sie. „Er hat in seinem Leben noch nichts geleistet, nichts hervorgebracht, nichts geschaffen …“ Dabei übersehen sie keineswegs, daß ich gegen eine halbe Million Franken jährlich versteuere, daß ich Kommandant eines Zürcher Bataillons bin oder war, daß mein Büro siebzig Mitarbeiter zählt, aber immer stellen sie die Frage: „Was treibt er eigentlich?“ Gewiß, mein Unternehmen heißt einfach „Büro Harry Wind“. Was ist das für ein Büro, fragen sie. Eine Reklameagentur? Ein ziviles Generalstabsbüro für politische Aktionen? Dann sagen sie, ich sei ein Meinungsschieber. Und offen gestanden, es fiele mir sehr schwer, wenn ich sagen müßte, was ich wirklich bin und treibe. Von mir aus gesehen: Ich versuche. Ich versuche alles. Ich bin eine Art Ver109
sucher. Wenn Oberstkorpskommandant Sturzenegger zum Beispiel sagt: „Die Atomwaffen bringen wir beim Volk nie durch. Denken Sie an die radioaktive Verseuchung, denken Sie an die kirchlichen und an die pazifistischen Kreise …“ Wenn Sturzenegger so etwas zu mir sagt, dann antworte ich: „Geben Sie mir Zeit, ich will es versuchen.“ Ich könnte aber auch sagen: „Die Atomwaffen, die bringen wir genauso gut herein wie Bananen.“ Das könnte ich mit gutem Recht sagen, aber ich bin nicht überheblich, obwohl alle meinen, ich sei überheblich. Ich werde, was meinen Charakter angeht, unterschätzt. Ich bin wirklich nicht überheblich. Darum sage ich nicht, ich bringe die Atomwaffen herein wie Bananen, obwohl ich das sagen könnte. Denn ich bringe sie herein, wenn ich will. Natürlich unter der Voraussetzung, daß ich ein Budget dafür habe. Und dann meinen sie immer, ich hätte Pläne, ich würde planmäßig vorgehen. Ich habe Pläne, das heißt meine Mitarbeiter arbeiten Pläne aus. Wir nennen es Exposé, Aktionsplan und so weiter. Meine Mitarbeiter schaffen und schreiben wochenlang an solchen Plänen, tragen alles einschlägige Material zusammen, verschaffen sich Informationen, betreiben Meinungsforschung, Demoskopie, zeichnen Kurven und stellen Tabellen zusammen. So ein Plan umfaßt gut seine hundert A4-Seiten. Und wozu das? Einzig und allein, damit jener, der irgendetwas durchsetzen, verkaufen oder was weiß ich was will, kurz der Auftraggeber, seine Sicherheit hat. Sage ich beispielsweise: „Ich brauche eine Million, um eine eidgenössische Ab110
stimmung gewinnen zu können“, dann bekomme ich weder die Million, noch den Auftrag. Schreibe ich aber einen zweihundertseitigen Aktionsplan, davon hundertfünfzig Seiten über die Vorgeschichte, wie es zu dieser Abstimmung kam, und nur fünfzig Seiten über die Stimmenverhältnisse zwischen den Liberalen und den Sozialdemokraten etwa, und gliedere ich den Millionenbetrag in dreißig einzelne Posten, dann bekomme ich den Auftrag und mehr als die Million, denn nun fühlt sich der Auftraggeber sicher, und er sagt zu mir: „Seien Sie ja nicht zu sparsam!“ Ja, und was tue ich dann in Wirklichkeit? Ich erfinde eine Geschichte. Zum Beispiel die Geschichte der armen Glühlampenfabrikanten, die um ihre Existenz fürchteten, als die Schweiz zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vorstoßen wollte. Philips, sagten die armen Glühlampenfabrikanten, überschwemmt die Schweiz mit Glühlampen, wenn die Zölle fallen. Ich erfand die Geschichte der armen Glühlampenfabrikanten. Sie hatten eben keine Geschichte, keine ordentliche, erzählbare, spannende Geschichte. Alle, die Glühlampen herstellen, waren durch Zufall auf dieses Geschäft gekommen. Aber ich bringe jetzt einen Sinn in diese Geschichte, und kaum ist dieser tiefere Sinn gefunden, kann ich meine Geschichte von den Glühlampenfabrikanten der Öffentlichkeit erzählen. Ja, nun setzt die Kunst des Erzählens ein. Ich bin wach und nehme jede Reaktion aus dem Publikum ernst. So mildere ich unter der Hand ein Kapitel, ich verniedliche Argumente, zerhacke sie und flöße sie dem Publikum löffelweise ein. Die Leute wollen Geschichten. Nur wer eine gute Geschichte hat, dringt durch.
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Aber jetzt bin ich an der Reihe. Jetzt brauche ich eine Geschichte. Natürlich ist das, was geschehen ist, nach dem Gesetz Landesverrat. Ich nämlich habe Julius den Auftrag gegeben, eine glaubwürdige Geschichte der Schweizer Armee, Rückblick und Ausblick, zu verfassen. Er hat es getan. Ich habe sie gelesen und unterschrieben. Mitulskij zuliebe, eigentlich, denn was liegt mir schon am FreedomFighter? Zugegeben, Spielerei ist das nicht, was ich treibe. Ich glaube nie im voraus daran, daß man mir meine Geschichten abnimmt. Ich bin meinen Erfindungen gegenüber immer ein tiefer Skeptiker gewesen, aber bis heute hat man mir meine Geschichten abgenommen. Wer verargt es mir also, daß ich nicht ins Zuchthaus will? Gerade weil ich weiß, daß die Zuchthäuser auch nur zu einer Geschichte gehören? Und wenn ich Rappold meine Geschichte nicht in einem Atemzug vortragen kann, so sind eben die Umstände daran schuld. Rappold ist mein einziges Publikum; vorläufig wenigstens. Er sitzt an seinem Tisch und schreibt meine Geschichte ins reine. Natürlich händigt er sie weiteren Personen aus. Aber bis jetzt kenne ich nur seine Reaktionen, und so muß ich vorsichtig sein. Daß wir übrigens mit der Denkschrift zu Gunsten des Freedom-Konzerns zu weit gegangen sind, wußten Julius und ich sehr früh. Wir haben die Beweisstücke verbrannt, und Mitulskij hätte mit seinen beiden Exemplaren dasselbe tun sollen, aber offenbar hat er sein Exemplar weitergegeben. Und jetzt schweigt er einfach. Meine Feinde sind jene, die auch Geschichten erfinden können. Ich muß sie ernst nehmen. Es könnte einer auftreten und eine Harry-Wind-Geschichte erfinden, die mich ins 112
Zuchthaus bringen könnte. Damit muß ich rechnen. Ich muß also diesem einen zuvorkommen. Meine Geschichte muß stärker sein als seine. Ich weiß, daß Landesverräter heute nicht mehr gefragt sind, auch Spione nicht. Im Grunde genommen sind auch Kriegsgeschichten im Augenblick wenig gefragt. Und ich habe, als ich anfing, die Geschichte unserer starken, unserer schweren, unserer mechanisierten, unserer atombespickten Armee zu schreiben, nicht an den Krieg appelliert, aber ich habe beispielsweise unsere jüngste Vergangenheit glorifiziert, ich habe beispielsweise den berüchtigten Operationsplan „Tannenbaum“ ans Tageslicht geholt, Operationsplan „Tannenbaum“: Angriff der HitlerArmeen auf die Schweiz abblasen, weil die Schweiz eine verhältnismäßig zu starke Armee besitzt. Daß deutsche Generalstabsoffiziere auf unsere Turner hingewiesen haben, das verschwieg ich. Ich habe auch die Interviews zitiert, welche Sunny Field, Edgar C. Borland und Dick Nicholson in New-Yorker-Magazinen publiziert haben: Das Land der träumenden Gartenzwerge. Das haben sie doch nicht auf sich sitzen lassen. Natürlich wird Rappold die Frage stellen, weshalb ich es übernommen habe, die Geschichte einer neuen Armee zu erfinden. Er erwartet eine klare Antwort. Überzeugung, zum Beispiel, wäre ein Argument, aber dieses ist mir zu gefährlich, nicht wegen Rappold, aber andere Leser könnten einen Widerspruch heraushören. Nein! Ich habe keine solchen Überzeugungen. Ich glaube nicht, daß irgend etwas so und nur so sein kann und muß. Ich weiß nicht, was kommen wird. Ich weiß nicht, ob eine Zukunft nötig ist. Was war, das lese ich in Geschichtsbüchern nach. Geschichten, nichts als Geschichten. 113
Und die Menschen machen sich den Vorwurf gegenseitig, sie würden nichts aus den Geschichten lernen. Als ob Geschichten geschrieben würden, damit man lerne. Geschichten: Ordnen im Nachhinein. Die Welt, das bloße Leben, ist kein Theater. Von Dramaturgie keine Spur. Diese haben wir Geschichtenerfinder erfunden. Aber jetzt geht es um meine eigene Geschichte. Ich weiß, es muß eine gute Geschichte werden. Das Wesentliche muß zum Vorschein kommen: daß ich immer nur ein Versucher gewesen bin, nie ein Überzeugter, auch nicht überzeugt von mir, von meinem Können, und vor allem nicht von der Richtigkeit meines Handelns. Jack F. Barth hatte zu mir gesagt: „Junge, Junge, das mit den Gartenzwergen, das war ein einmaliger Einfall.“ Offengestanden finde ich diesen Einfall blöd. Ich habe mit meiner Meinung darüber nie zurückgehalten. Aber Jack F. Barth sagte: „Du mußt jetzt nicht süffisant werden. Es ist bedeutungslos, was du persönlich von deinem Einfall hältst, wichtig ist nur, daß dein Einfall Wirkung hat. Es ist wirklich eine prächtige Geschichte.“ Alle meinen, ich hätte so etwas wie ein Konzeption gehabt und sei planmäßig vorgegangen. Nein, ich habe immer von der Hand in den Mund gelebt und wie man sagt, über meine Verhältnisse, in jeder Beziehung. Natürlich beschäftige ich siebzig Mitarbeiter, die in meinem Namen Pläne ausarbeiten, Aktionspläne auf sieben Jahre hinaus. Und ich unterschreibe diese Pläne auch. Aber ich kann mich nicht erinnern, daß ich je mit meiner Überzeugung hinter diesen 114
Plänen und Aktionen gestanden hätte. Aber das weiß nur ich allein. Nicht einmal meine Mitarbeiter wissen das. Es gab freilich auch Mitarbeiter, die mich durchschauten. Diese verließen mich nach kurzer Zeit. Ich bin auch nicht immer auf der Höhe meines Könnens. Wenn ich nicht auf der Höhe meines Könnens bin, merken meine Mitarbeiter auf. Aber ich habe meine Art, mit allen fertig zu werden, mit beinahe allen. Jene, mit denen ich nicht fertig werde, gehen wieder. Und sie vergessen mich. Ich lasse meine Mitarbeiter beispielsweise um acht Uhr zu mir kommen. Ich weiß, um acht Uhr sind sie noch nicht wach. Ich lasse vier bis sieben Mitarbeiter miteinander kommen. Aber ich beschäftige mich nur mit einem einzigen. Die übrigen sind Zuschauer, Zuhörer. Es handelt sich um ein reines Ablenkungsmanöver. Ich beginne immer mit einem Tadel. Tadel ist immer angebracht. Es vergeht kein Tag, da einer sagen könnte: „Ich bin heute nicht tadelnswert.“ Allein daß ich sage: „Du bist auch heute tadelnswert!“ macht ihn schon unsicher. Nur darauf kommt es an. Ich arbeite mit Behauptungen. Ich rede rasch und laut. Ich habe mir für meine Auftraggeber einen eigenen Wortschatz geschaffen: Bewußtseinsschwelle zum Beispiel, Duplikation der Information, und so weiter. Das macht Eindruck. Aber meine Auftraggeber verlangen immerhin einen schriftlichen Aktionsplan. Ich gebe diesen Auftrag an meinen Mitarbeiter weiter. Es ist leicht, einen solchen Aktionsplan zu entwerfen. Ich habe vor bald zwanzig Jahren einen solchen Plan aus dem Amerikanischen übersetzt. Jack F. Barth hatte ihn mir gegeben. Und diesen einen Plan übergebe ich jedem neueintretenden Mit115
arbeiter, und jeder Aktionsplan, der in meinem Büro entworfen wird, ist nicht viel mehr als eine Abschrift dieser Vorlage. Natürlich keine wortwörtliche Abschrift. Dennoch arbeitet mein Mitarbeiter vier Wochen lang an diesem Plan. Weshalb? Weil ich ihn angewiesen habe, täglich Informationsgespräche mit meinen Auftraggebern zu führen, damit diese eine Art innere Sicherheit gewinnen. Nach vier Wochen legt mir mein Mitarbeiter seinen Aktionsplan vor. Ich weiß, was darin steht, bevor ich das Deckblatt öffne. Und dann eben rufe ich einige weitere Mitarbeiter zu einem Werkstattgespräch in mein Büro. Ich öffne das Deckblatt des Manuskriptes, ich blättere im Manuskript, und dabei beobachte ich meinen Mitarbeiter. Je länger ich lese, das heißt, Lektüre vortäusche, desto unsicherer wird er. Es kommt hinzu, daß ich bewußt das Gerücht aufrechterhalte, ich sei unerbittlich streng, grob im Umgang mit meinen Mitarbeitern, aber im übrigen großzügig und niemals nachtragend. Ich suche, während mein Mitarbeiter immer unsicherer wird, einen Anknüpfungspunkt. Irgend einen Fehler hat er sicher begangen. Ich muß ihn nur finden. Ein Orthographiefehler kann mir genügen. Ich verlange einwandfreie Arbeiten; in jeder Beziehung. Ich bezahle gute Saläre. Stoße ich nun etwa auf das Wort „Reform“, so sage ich, indem ich aufstehe und meinem Mitarbeiter das Manuskript hinwerfe: „Woher kommst du?“ Er versteht meine Frage nicht. „Du schläfst noch. Woher kommst du? Ich meine nicht, kommst du jetzt aus dem Bett, ich meine, bist du ein Zürcher oder ein Düsseldorfer?“ 116
Er antwortet mit bebender Stimme, mit einem Gesicht zwischen Lächeln und Angst: „Ich bin ein Zürcher.“ „Aber du bist nicht in Zürich zur Schule gegangen?“ „Ja doch.“ „Warst du ein Trottel in der Schule?“ „N-nein, das heißt, n-ein …“ „Zürich ist was?“ Er schweigt. „Zum Beispiel eine Stadt!“ Ein bitteres Lächeln auf seinem Gesicht. „Und was für eine Stadt?“ „Eine große Stadt?“ „Die größte Stadt der Schweiz!“ „Und?“ Er überlegt. „Eine Industriestadt?“ „Auch.“ „Hat Zürich Kirchen?“ „Ja.“ „Zähle sie mal auf!“ „Großmünster, Fraumünster, Sankt Peter, Sankt Jakob, Prediger, Liebfrauen …“ „Genug. Hat Zürich eine Geschichte?“ „Ja, natürlich.“ „Hat Zürich in der Geschichte jemals eine Rolle gespielt?“ „Nein … das heißt … nein.“ „Nein? Ist Zürich eine katholische Stadt?“ „Es gibt auch Katholiken in Zürich.“ 117
Und nun verwerfe ich die Hände und schüttle den Kopf. Ich blicke meine Zuhörer an, ich sehe, die haben ihren Spaß an dieser Szene. Aber mein Opfer ist völlig verwirrt. Ich habe ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Und jetzt fordere ich einen andern Mitarbeiter auf und frage ihn, ob er gemerkt habe, worauf ich hinaus wollte. Und jetzt kommt es: „Zürich ist eine Reformationsstadt!“ Pause, Ruhe. Dann fahre ich fort: „Hast du das gehört? Zürich ist eine Reformationsstadt. Die Reformation hat Zürich geprägt. Unsere Vorväter haben das Leben gelassen für die Reformation. Wir feiern jedes Jahr einen Reformationssonntag. Begreifst du?“ Nein, er begreift nicht. Ich würde an seiner Stelle schließlich auch nichts mehr begreifen. Aber ich sage: „Und du verwendest andauernd das Wort ‚Reform’. Du willst also ausgerechnet in Zürich eine Reform bekämpfen. So kriegst du kein einziges Nein in die Urne. Geh in dein Büro und arbeite bis heute abend einen neuen Plan aus …“ Mein Auftritt ist zu Ende, meine Mitarbeiter verlassen mich. Ich setze mich, ich bin erschöpft. Und ich weiß, daß sich alle vier oder fünf mit dem einen zusammensetzen, und daß ihnen die Antwort, die sie mir hätten geben können, erst zehn Minuten später einfällt, zu spät einfällt. Am Abend, das kann ich voraussehen, kommt das gleiche Manuskript wieder zu mir, und in einem Begleitbrief setzt mir der Mitarbeiter auseinander, daß wir auf das Wort „Reform“ nicht verzichten könnten, weil die Motion unter dem Stichwort VBZ-Reform vorgebracht würde, und außerdem schreibe er ja „Pseudo-Reform“ … 118
Was habe ich damit gewonnen? Ich weiß, meine Mitarbeiter haben das Gefühl, ich würde ihre Manuskripte ernst nehmen und streng prüfen. Beides trifft nicht zu. Ihre Pläne schicke ich meinen Auftraggebern, oder ich bitte um eine Besprechung, und ich rede vor meinen Auftraggebern, und ich schildere, wie ich den Wahlkampf im Jahre 1956 geführt habe und wie ich in New York Gartenzwerge verkauft habe, aber ich rede nach Möglichkeit nicht von der neuen Aufgabe. Und ich weiß, es überzeugt meine Auftraggeber, wenn ich ihnen die Geschichten vergangener erfolgreicher Aktionen erzähle. Drei Minuten vor dem Ende der Sitzung komme ich auf das Budget zu sprechen, ich überfalle sie gleichsam damit, und immer mit Erfolg … Mein Unternehmen ein Büro für Wahlpropaganda zu nennen, wäre nicht richtig. Ich führe tatsächlich Wahlkämpfe, ich organisiere politische Aktionen, aber arbeite ich nicht auch für humanitäre Institutionen? „Milch für Kongokinder“ zum Beispiel. Ich führte auch in der Schweizer Industrie Verpflegungsautomaten ein. Ich bin heute Teilhaber einer solchen Automatenfabrik. Ich leitete über vier Jahre hinaus eine Aktion zur Einführung der Fünftagewoche, und in Betrieben mit Fünftagewoche brauchen sie Verpflegungsautomaten oder Kantinen, aber Kantinen können sich nicht alle Betriebe leisten, oder sie leisten sich Kantine und Verpflegungsautomaten … Und nun geht also der dritte Tag im Gefängnis zu Ende. Mein Fenster steht offen, ich sehe den schwarzen Himmel, aber ich weiß, es ist kein schwarzer Himmel, denn er ist wolkenlos, aber von hier aus kann ich die Sterne nicht se119
hen. Ich habe am Tage meiner Verhaftung nur das eine gewußt: „Ich muß die Führung behalten, nicht Rappold darf führen.“ Und ich war mir der großen Gefahren bewußt. Mehr habe ich nicht gewußt. Jetzt weiß ich mehr, und ich sehe deutlicher den Weg, den ich gehen muß. Ich muß die Geschichte des Geschichtenerfinders weiter ausspinnen. Das heißt, ich bin seit drei Tagen am Erfinden, aber ob es richtig war oder nicht, das habe ich nicht gewußt. Nun weiß ich’s. Es ist der einzig richtige Weg. Was ich zwanzig Jahre lang für andere erfolgreich getan habe, das muß ich nun für mich tun. Und ich werde sehr behutsam und sehr geschickt von Fall zu Fall auch Einzelheiten über meine Art des Vorgehens einflechten. Zum Beispiel, wie ich mit meinen Mitarbeitern umgehe, das muß Rappold erfahren. Und wie die Schweizer Wehrgesellschaft aus einem Männer-Gelage in der Sturzenegger-Villa hervorgegangen ist. Sturzenegger ist bekanntlich ein großer Schnapstrinker. Er ist nur freundlich, wenn er getrunken hat. Wenn er nüchtern ist, ist er ekelhaft. Und wenn es Rappold nicht von sich aus tut, dann schreibe ich auch die Geschichte von Julius auf. Aber ich bin sicher, daß er gerade jetzt an seinem Tisch sitzt und alles, was ich ihm erzählt habe, aufschreibt …
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ch beschloß etwa um 1939 herum, die Rechte zu studieren. Auch mit Literatur und Geschichte liebäugelte ich. Daß ich das väterliche Geschäft niemals übernehmen würde, stand fest, auch wenn wir daheim kein Wort darüber gesprochen hatten. Wir sprachen daheim überhaupt kaum über meine Zukunft. Alles ging zwar sehr ordentlich, aber im Grunde genommen war von Ordnung nicht die Spur. Ich besuchte das Gymnasium, aber weder meine Mutter, noch mein Vater, noch ich verbanden damit etwa eine bestimmte Absicht. Natürlich wurde eines Tages die Frage aufgeworfen: „Was nun?“ Meine Mutter, es war nach dem Abendessen, sagte plötzlich: „Advokat, das wäre doch etwas für dich.“ Ich lachte. Sie hätte auch sagen können: „Geh zur Polizei.“ Das hätte ich noch besser verstanden. Aber meine Mutter dachte an etwas anderes. Sie sagte: „Das ist doch ein guter Beruf, Advokat, das ist doch das Beste, was man werden kann. Ein Advokat hat doch alles in den Händen, das Gesetz vor allem.“ Sie besaß eine sehr einfache Vorstellung von der Juristerei, aber ich hatte ihr keinen besseren Vorschlag zu ma121
chen. Denn exakte Wissenschaft war nicht meine Sache. Ich hatte nicht die Ausdauer, die ein Wissenschaftler haben muß. An Genauigkeit lag mir nichts. Natürlich war ich neugierig, doch meine Neugier betraf ausschließlich das Verhalten der Menschen. Und als ich darüber nachdachte, mir klar wurde, was mich allenfalls interessierte, das Verhalten des Menschen also, sagte ich mir: „Natürlich, als Jurist kann man auch Strafverteidiger werden, oder Ankläger, oder Richter …“ Das Recht interessierte mich nicht. Auch nicht die Gerechtigkeit. Den Glauben, es gäbe eine Gerechtigkeit, hatte ich bereits verloren. Zum Beispiel Vitals Fall. Oder meine Deutschaufsätze im Literargymnasium! Aber ich sagte mir: „Als Jurist hast du zumindest Zugang zu jenen Räumen des Lebens, wo sich die Geschicke der Menschen gleichnishaft zusammenballen, wo sich Schicksale, auch geträumte, vollziehen, wo die Eingeschlossenen, zerbrechen oder auferstehen. Ich werde Strafverteidiger.“ „Du hast recht“, sagte ich zu meiner Mutter. „Die Juristerei ist genau mein Fach. Ich werde Strafverteidiger. Und du wirst sehen, man bringt keine Mörder mehr ins Zuchthaus. Vorausgesetzt, ich verteidige sie …“ Meine Mutter lächelte nicht, sie machte vielmehr ein ängstliches Gesicht, und mein Vater schüttelte den Kopf. Es kam der Krieg. Ich war bereits Unteroffizier, kam dazu, daß ich jetzt auch Student der Rechte war, und beides zusammen war ausreichend Grund, Offizier zu werden. Ich dachte an die Bequemlichkeit. Natürlich darf ein LeutnantDasein nicht überschätzt werden, aber in vielen Belangen 122
ist es doch bequemer, als Soldat zu sein. Ich kam also in die Offiziersschule. Ich war kein Rebell, wenigstens kein offener Rebell. Aber ich war von Anfang an mißtrauisch. Jetzt war ich Untergebener, und ich beobachtete mich selbst kühl und aufmerksam. Wie lange würde ich in der brütenden Sonne strammstehen, wie lange würde es dauern, bis mir die Nerven durchgingen, und ich jenem Hauptmann, der mich strammstehen ließ, ins Gesicht schlagen würde? Und wie lange würde ich durch den Schlamm kriechen wie ein Wildschwein …? Es fiel mir von Anfang an auf, daß sie es nicht darauf abgesehen hatten, uns hart zu machen, sondern nur darauf aus waren, uns zu zeigen, daß sie Macht besaßen, daß sie uns wie Schweine behandeln konnten, wann immer es ihnen gefiel. Dafür hatten sie den Krieg als moralische Deckung: Die Schweinerei mußte sein. Wir lebten die Geschichte der gefährdeten Schweiz. Jeder fand die ihm zusagende Rolle in dieser Geschichte. Die schönste Rolle hatte der General. Er wußte nicht, daß man uns in der brütenden Sonne strammstehen und daß man uns stundenlang durch den Dreck kriechen ließ, er konnte das gar nicht wissen, denn er war General. Als es sich herausstellte, daß unsere Armee nur mangelhaft ausgerüstet war, lud er seine höheren Offiziere auf ein Schiff und fuhr über den Vierwaldstättersee zur Rütliwiese. Hier veröffentlichte er einen Tagesbefehl. Ich dachte, als ich davon hörte, eine einzige deutsche Messerschmitt hätte genügt, um das Schiff auf den Grund des Sees zu schicken, und unsere Armee wäre ohne Führung gewesen. Denn wer hätte auf wirkliche Kräfte vertraut, etwa auf die Idee der Freiheit und der Unabhängigkeit? Wohl keiner. Die Städter, 123
so weit sie Geld besaßen, flüchteten in die Berge. Unsere Industrie lief auf Hochtouren: Wir belieferten vor allem die Deutschen. Nachts verdunkelten wir, damit es den Engländern schwerer fiel, Deutschland zu finden. Und um zehn Uhr stellte unser Landessender seine Emissionen ein, weil die alliierten Bomber unseren Landessender als Funkfeuer für ihre Radiokompasse mißbrauchten. Sie flogen immer in großer Höhe vom Kanal her kommend Richtung Beromünster, und wenn sich die Nadel ihres Radiokompasses im Kreise drehte, so daß sie wußten, daß sie sich jetzt genau über Beromünster befanden, drehten sie ab und wußten nun, daß sie mit Kurs so und so in so und soviel Minuten über München sein würden oder über Frankfurt oder über Mannheim … Wir kamen den Deutschen entgegen und stellten unseren Landessender um zehn Uhr abends ab, damit die Alliierten keine Navigationshilfe mehr hatten. Und im übrigen übten wir den Ernstfall. Wir sangen „Erika“ und „Unter der Laterne“, wir hörten den Deutschlandsender, und später, als es draußen anfing schief zu gehen, hörten wir London, das Ton-Signet: Die ersten Takte aus Beethovens Schicksalssinfonie … Ich wurde Leutnant der Infanterie, später Oberleutnant, und ich studierte die Rechte an der Universität Zürich. Ich war vor allem mißtrauisch. Wir hatten auch Landesverräter. Landesverräter, die nicht älter waren als achtzehn und neunzehn Jahre, als sie den Verrat begingen, und ich erinnere mich, daß diese nicht erschossen wurden, aber noch immer gefangen waren, als die deutschen Kriegsverbrecher längst wieder hohe Beamtenstellen in Westdeutschland einnahmen. Wir nahmen Flüchtlinge auf, Polen zum Bei124
spiel; aber Juden nahmen wir nicht allzuviele auf. Der Bundesrat sagte, wir könnten nicht alle Juden aufnehmen, unser Land sei klein und unser Vorrat beschränkt. Niemand war schlecht und böse. Wir waren nicht antisemitisch wie die Deutschen. In meiner Kompanie war ein Jude sogar Leutnant. Ich stand im Ruf, ein guter Offizier zu sein, denn ich war damals schweigsam und mißtrauisch. Ich war aber auch neugierig. Ich überlegte auf den nächtelangen Fußmärschen, auf denen die Soldaten nur hundsmüde wurden und wunde Füße bekamen: „Wieviele Stunden werden sie schweigend und ohne zu murren marschieren?“ Sie murrten wenig, sie sangen oft. Natürlich hatten wir unsere Zwischenfälle. Eine ganze Artillerieabteilung zum Beispiel trat in den Ausstand. Die Kanoniere blieben eines Morgens einfach liegen. Nicht einmal zum Frühstück erhoben sie sich. Sie hatten nichts gegen ihren Kommandanten. Aber es fehlte ihnen eines Morgens die Gewißheit, daß es so sein müsse und nicht anders. Sie fluchten über den General und über den Bundesrat, und sie blieben liegen. Der verantwortliche Korpskommandant forderte Truppen aus einem anderen Landesteil an. Er wollte sie gegen die streikenden Kanoniere einsetzen. Und er bekam die Truppen aus dem anderen Landesteil. Aber das half auch nichts. Als er befahl, Schreckschüsse in die Luft abzugeben, stellten diese Soldaten das Gewehr bei Fuß. Auch die Heerespolizei, die eingriff, konnte nichts ausrichten. Schließlich mußten die Kanoniere demobilisiert werden. Die ganze Abteilung wurde aufgelöst, und jeder einzelne wurde einer anderen Einheit zugeteilt. Damit war der Konflikt gelöst. Die Öffent125
lichkeit erfuhr nichts. Auch im kleinen hatten wir unsere Rebellen. Je länger der Krieg dauerte, desto sicherer wurden unsere Soldaten gegenüber uns Offizieren. Sie durchschauten uns, sie schätzten uns ein, genau, und sie waren unerbittlich. Sie hatten insgeheim ihre Listen. Das war uns allen klar. Und es gab auch tödliche Unfälle. In einem Zürcher Regiment wurde ein Major erschossen. Er war gefürchtet. Er war ein kleiner bösartiger Mann. Er pflegte nächtlicherweile die Wachen zu inspizieren. Dabei geschah es. Auf das „Halt, wer da“ eines Postens schwieg er. Da hat der Posten geschossen. Der Fall wurde nicht näher untersucht. Der Major bekam eine Beerdigung mit militärischen Ehrenbezeugungen. Aber nicht die Kompanie, bei der sich der Unfall zutrug, begleitete den Toten auf seinem letzten Weg. Und so hatten wir auch unsere Opfer. Je länger der Krieg dauerte, desto nüchterner wurden wir. Die Geschichte, die man uns gegeben hatte, die Geschichte von der unabhängigen und gefährdeten Schweiz wurden wir satt. Die Rollen glitten uns aus den Händen. Natürlich hatten wir bis zum Ende Offiziere, die es bedauerten, daß es nicht zu Grenzzwischenfällen gekommen war. Wir hatten Leute, die ihren Krieg in Interniertenlagern spielten. Es gab viele deutsche Internierte. Es gab auch Franzosen und wie gesagt Polen. Und da waren Lagerleiter, die Sieger spielten, und die Internierten mußten Kriegsgefangene spielen. Die Kriegsgefangenen wurden streng verhört. Es wurden Protokolle aufgesetzt, und dabei legte man eine entsicherte Pistole auf den Tisch, und die Kriegsgefangenen mußten erzählen. Sie mußten stundenlang erzählen. Der Lagerkommandant war unzufrieden; er behauptete, sie erzählten 126
nicht die Wahrheit, und er verhängte Dunkelarrest. Keiner der Internierten wußte, was ihm geschah. Keiner wagte zu klagen. Und der Lagerleiter wirtschaftete oft noch einen Gewinn heraus. Er kürzte die Lebensmittelrationen und steckte den Gewinn in seine Tasche. Als kurz vor Kriegsende ein Journalist dahinter kam, wurde er verhaftet und zu Festungshaft verurteilt. Und als dann die volle Wahrheit zutage kam, wurden der Lagerleiter und seine Helfer verhaftet. Aber man weigerte sich, den Prozeß des Journalisten wieder aufzunehmen. Wir hatten also auch unseren Krieg, unsere Kriegsverbrecher, unsere Landesverräter und unsere zum Tode Verurteilten. Im Herbst 1944 wurde ich überraschend zum Hauptmann vorgeschlagen, einige Jahre früher, als es eigentlich üblich war. Im Januar 1945 begann die Rekrutenschule, und ich übernahm eine Kompanie Rekruten, achtzehn- und neunzehnjährige Jungen. Ich hatte die Kriegsjahre und ein „Praktikum“ als Justizoffizier hinter mir, als ich die Kompanie Rekruten übernahm. Das Staatsexamen lag noch vor mir, und ich wüßte keinen besonderen Grund, weshalb ich meine Kompanie so geführt habe, wie ich es dann getan habe. Es sei denn, man bezeichne meinen damaligen Zustand als Koller. Ich versuchte mich jedenfalls. Einmal ließ ich an einem nebligen Wintertag meine Kompanie in schneidender Kälte strammstehen, bis sich fast Rauhreif auf ihren Lippen bildete, bis einer aufjaulte, weil sich die Haut seiner Hand am Metall des Gewehres festgefroren hatte. Ich jagte meine Kompanie durch hohen Schnee, und 127
ich ließ nicht zu, daß sie anschließend die Schuhe wechselten. Mehr als einmal schickte ich meine Soldaten nach dem Nachtessen mit Vollpackung und mit Gasmaske vor dem Gesicht auf einen Übungsmarsch. Als Kompanieführer hatte ich freie Hand. Härte war erwünscht. Ich versuchte mich daran. Ich wollte nicht glauben, daß keiner der Rekruten sich beim Schulkommandanten beschweren würde. Ich wartete täglich darauf. Aber es geschah nicht das Geringste. Und wenn ich Singen befahl, dann sangen sie; sie sangen immer noch „Erika“. Ich ließ es nicht bei der Härte bewenden. Ich fing schon nach der vierten Woche an, beim Schulkommandanten für meine Kompanie Sonderbewilligungen einzuholen. Meine Kompanie durfte auch unter der Woche, wenn ich es für richtig hielt, duschen. Oder ich forderte Abendurlaub bis Mitternacht und lud dann meine Kompanie ein. Ich führte sie geschlossen von der Kaserne zu irgendeinem Gasthof und ließ Alkohol auffahren. Der Schulkommandant sah das nicht gerne, anfänglich fragte er mich auch nach Gründen. „Herr Oberst“, fragte ich dann immer, „sind Sie mit meiner Kompanie zufrieden oder nicht?“ Er zuckte die Schultern: „Sie haben die beste Kompanie, ich weiß nicht, was Sie mit den Leuten machen.“ Ich bekam meine Sonderbewilligungen, sooft ich darum nachsuchte. Aber ich versuchte mich. Es blieb bei diesen Gelagen im Saal irgendeines Gasthofes nicht beim bloßen Saufen, das versteht sich. Ich lockerte die Geister und die Seelen meiner Rekruten auf, und begann ihren Widerspruch herauszufordern. Ich beleidigte sie. Ich nannte sie 128
Kriecher; aber nichts geschah. Ich war ihr Hauptmann, und sie haßten mich. Ich begann, sie nach solchen Festen noch härter anzufassen. Kalt war es nun nicht mehr. Der April kam und damit am frühen Nachmittag zuweilen eine fast stechende Sonne. Nun ließ ich sie in der Sonne strammstehen, nicht bloß zehn, sondern zwanzig Minuten lang. Ich ließ sie strammstehen, bis ihnen der Schweiß über das Gesicht lief, bis einer umfiel. Ich schritt ihre Front ab, blickte einzelnen in die Augen, beanstandete ihre Haltung. Ich sagte zum Beispiel: „Warum zuckst du mit dem linken Augenlid? Ist das eine Achtungstellung?“ Oder ich sagte: „Atme durch die Nase und presse deine Lippen ordentlich zusammen.“ Keiner lehnte sich auf. Erst am Vorabend der Entlassung kam es zu einem Zwischenfall. Alle Kompanien der Rekrutenschule hatten Ausgang bis zwei Uhr nachts. Ich ging mit meiner Kompanie aus. Und dieses eine Mal hatte ich nicht mehr die Absicht, meine Soldaten zu versuchen. Es war eine Abschiedsfeier und weiter nichts. Die Rekruten hatten sich auf diesen Abschiedsabend lange vorbereitet. Meine Zugführer unterrichteten mich: Ein Orchester wurde zusammengestellt, Spottgedichte sollten vorgetragen werden, und ich mußte darauf bestehen, daß man dabei auch meine Person nicht schone. Ferner wurde von Überraschungen gesprochen, von einem Kabarett zum Beispiel. Ich hatte nichts vorbereitet. Wir marschierten geschlossen und singend zum Gasthof. Es begann ausgelassener als an allen vorhergehenden Abenden; 129
vielleicht war das kleine Orchester schuld daran. Man spielte von der ersten Minute an. Und es wurde, das sah ich gleich, auch von Anfang an heftig getrunken. Man verbrüderte sich, Unteroffiziere mit ihren Rekruten, Zugführer mit ihren Unteroffizieren. Was die Soldaten vortrugen, waren Spottgedichte, zum Teil witzig, zum Teil unbeholfen. Alles in allem wurde der Geist der Kameradschaft gepriesen und meine Härte bejaht; selbst jetzt. Die Leute waren alle schon ordentlich betrunken, als um Mitternacht Kabarett angesagt wurde. Man schob vier Tische zusammen, das sollte die Bühne abgeben. Als Verfasser wurde der Rekrut Josef Müller genannt. Ich war gespannt darauf, denn Müller war kein einfacher Soldat gewesen, von Anfang an nicht. Er war verschlossen, und sein Zugführer hielt ihn für einen widerspenstigen, aufsässigen Burschen. Müller hatte es nie über eine Durchschnittsleistung gebracht; aber ich sah den Grund mehr in seinen geringen körperlichen Kräften, als in einer kritischen oder gar negativen Einstellung mir oder dem Militär gegenüber. Müller war von Beruf Schriftsetzer. Er hatte sich auch schon als Journalist versucht. Soviel ich wußte, las er in seiner Freizeit und ging selten aus. Ich war auf seine Vorstellung gespannt. Ich hatte dazu gar keinen Grund. Aber jetzt nach Mitternacht war ich nicht minder angetrunken als meine Rekruten. Auch hatte ich meinen Leutnants das Du angeboten, und so war ich vielleicht unsicherer als sonst. So schenkte ich diesem Müller mehr Beachtung als nötig. Jedenfalls begann ich nachzudenken. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich diesen Müller irgendwann einmal hart angefaßt hätte. Ich konnte mich an nichts erinnern. Ich fühlte mich unsicher werden. Sooft ich auf130
blickte und nach vorn blickte, wo Müller seine Anweisungen gab, glaubte ich, er würde mich anstarren. Aber er hatte keine Zeit, sich mit mir zu beschäftigen. Und dennoch wurde die Gewißheit, er starre mich ohne Unterlaß an, immer stärker in mir. Schließlich wandte ich mich an Müllers Leutnant. Ich versuchte, soviel als möglich aus dem Leutnant über Müller herauszuholen. „Was wollen Sie, Entschuldigung, was willst du?“ begann er zögernd. „Müller ist schon recht … ein bißchen empfindlicher als andere Leute … er ist vielleicht … auch kleiner … ein bißchen widerspenstig.“ „Schon gut“, entgegnete ich, „das ist nichts Neues. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, ich hätte ihn einmal falsch angepackt, ihn beleidigt …“ Der Leutnant war nicht mehr nüchtern. „Natürlich hast du ihn einmal beleidigt. Du hast ihn sogar tief beleidigt. Aber nicht nur du. Alle haben ihn beleidigt, das ganze Militär beleidigt ihn. Er brauche sich nicht zum Schwein machen zu lassen, um die Schweiz verteidigen zu können. Er brauche diese von Minderwertigkeitsgefühlen geplagten Schreihälse nicht, um Soldat zu werden. Er brauche dazu auch keine Uniform. Er brauche nur einen Mann, der ihm zeige, wie man mit der Waffe umgehe. Er brauche einen Mann, der ihm zeige, wie er sich am geschicktesten vor dem Angreifer verhalte. Aber er brauche diese Uniform nicht, diesen Kadavergehorsam. Und er glaube keinem einzigen Offizier, zumindest keinem höheren Offizier.“ Der Leutnant mußte abbrechen, vorne begann Müller. Ich war zerstreut, nicht aufmerksam genug. 131
„Weshalb dieses Gefühl von Unsicherheit und Angst?“ fragte ich mich. „Du hast den Leuten alles bewilligt, du hast darauf bestanden, daß niemand und nichts verschont würde an dieser letzten Zusammenkunft …“ Aber darum handelte es sich nicht. Es war einfach die Ahnung, es würde etwas Entscheidendes geschehen. Müller hatte angefangen. Er parodierte unseren Schulkommandanten: Begrüßung der eben eingerückten Rekruten: „… Und nun werden wir richtige Menschen aus euch machen!“ Müller war nicht komisch. Stimmen ertönten. Müller ließ sich nicht beirren. Er fuhr fort, holte einen Partner auf das Podium. Die zweite Nummer war eine sehr komische Nummer. Müller hatte anscheinend Georg Büchner gelesen. Müller spielte den Obersten, seine Rolle entsprach etwa jener des Büchnerschen Doktors. Mir ist vor allem eine Frage des Obersten an den Rekruten geblieben: „Und pißt er auch jeden Morgen schön brav? Er soll viel aufs Pissen halten und keine Fragen stellen. Hört er Raunen im Moor? Er soll’s nicht hören. Das Vaterland hat Bauchweh …“ Diese Nummer war zu hochgegriffen für die meisten Soldaten meiner Kompanie. Dann zeichnete Müller einen Querschnitt unserer Rekrutenschule. Bei einzelnen Szenen brach ein unbändiges Gelächter aus. Dann kam die Schlußnummer. Es handelte sich nicht um eine einstudierte Nummer. Müller gab kaum ein Stichwort, er hatte sich nur einen Rahmen ausgedacht. Die Offiziere unserer Kompanie würden nun vor das Gericht gestellt. Der Einfall zündete. 132
Müller rief: „Wollen die Herren ihre Rollen selber spielen, oder ziehen sie es vor, daß wir ihre Rollen darstellen?“ Die einen schrien: „Antreten!“ Andere: „Darstellen!“ Mein Leutnant ging nach vorn. Er war bereit, seine Rolle selber zu spielen. Ich hielt ihn zurück. Ich flüsterte, aber nicht leise genug, so daß auch Rekruten es hören konnten: „Bist du wahnsinnig geworden?“ Mein Leutnant sah mich erstaunt an. Ich weiß nicht, wie ich ausgeschaut habe in jenem Moment. Ich erinnere mich nur, daß ich eine Katastrophe befürchtete. Die Rekruten hatten alle zuviel Alkohol in sich, und wenn sie den Sinn von Müllers Nummern auch nicht begriffen hatten, so ahnten sie doch, daß jetzt gleichsam ihre Stunde gekommen war. Müller hatte lediglich das Stichwort gegeben, die Bewegung damit ausgelöst, aber nun mußten auch ihm die Zügel entgleiten. Die Stimmen die forderten, daß die Offiziere ihre Rollen selber spielen sollten, wurden immer lauter. Und ohne daß ich es im Augenblick bemerkte hatte, war der Leutnant neben mir bereits vorne auf den Tisch gestiegen. Die anderen folgten ihm. Schließlich standen alle fünf auf dem Podium. Jetzt schrien sie nach mir. Ich hatte keine Wahl mehr. Meine Offiziere standen vorne. Hätte ich jetzt gesagt, das komme nicht in Frage, wäre ein Tumult entstanden. Müller versuchte, seine Kameraden zu übertönen. Er schrie, es handle sich um einen Scherz, Ankläger und Zeugen seien Rekruten, ebenso seien Rekruten 133
die Richter. Und dann stand auch ich auf dem Podium. Ich blickte in die Gesichter meiner Rekruten. Wolken von Tabaksqualm hingen unter der Holzdecke. Das Licht leuchtete gebrochen und matt. Auf den Tischen lagen umgestürzte Bierflaschen, Zigaretten- und Zigarrenstummel schwammen in den Bierlachen. Die Anklage begann. Erst waren die anklagenden Stimmen spärlich. Trotz Alkohol waren die Soldaten anfangs gehemmt. Aber sie ermunterten sich gegenseitig. Es ging nicht lange, und da war ein einziges Gewirr von anklagenden Stimmen. Doch es fiel keine Anklage von Bedeutung. Es war immer dasselbe: Strammstehen in der Kälte, Strammstehen in der Hitze, Nachtmärsche, Kriechen im Dreck, Taktschrittklopfen, stundenlang, Exerzieren, stundenlang, abgewiesenes Urlaubsgesuch, schlechtes Essen, Beleidigungen wie: Sie Arschloch, Sie vollgeschissener Strumpf, Sie Halbidiot, Sie Vollidiot, Sie sind wohl im Schweinekober zur Welt gekommen … Nein, die Anklagen waren ohne Bedeutung, das übliche, umso mehr, als man vermied, einen der Offiziere persönlich zu beschuldigen. Aber mit jeder Sekunde steigerte sich das Stimmengewirr. Jeder hatte nun etwas abzurechnen. Sie kamen und drängten immer zahlreicher nach vorn. Die Unteroffiziere versuchten die Soldaten zu beschwichtigen. Und dann standen sie vor uns. Jeder von uns Offizieren sah einem persönlichen Widersacher, einem persönlichen Feind in die Augen. Meine Leutnants, selbst nur ein Jahr älter als die Rekruten, verloren ihre Haltung. Sie gaben die Anschuldigungen zurück. Irgendeiner der Soldaten packte einen meiner Offiziere am Bein, zerrte ihn herunter. Jetzt ging eine richtige Keilerei los. Schließlich droschen die 134
Soldaten auch gegenseitig aufeinander ein. Ich hatte mitten im Handgemenge (und ich bekam auch einige wuchtige Schläge ab) immer nur einen Gedanken: Die Stühle, die in die Brüche gingen, die Tische, unzählige Gläser, alles ist nebensächlich. Nebensächlich die verrenkten Glieder, blauen Augen, die blutenden Schrammen: Wenn nur keiner das Bajonett zieht! Und dann hatte ich plötzlich einen Einfall, den ich nicht weiter untersuchte. Ich riß mich mit aller Gewalt aus dem Handgemenge, schwang mich auf einen Tisch und schrie so laut ich nur konnte: „Kompanie: Auf!“ Die Wirkung war merkwürdig. Eine fast lautlose Stille trat ein. Jeder ließ von jedem ab. Und nach dieser lautlosen Stille, die eine oder zwei Sekunden gedauert hatte, kam mühsam wieder Leben in die Leute: Sie stöhnten, schneuzten sich, holten tief Atem, begannen ihre Uniformen zu prüfen, ihre Wunden abzutasten. Ich telefonierte in die Kaserne und verlangte unseren Arzt. Ich erzählte ihm offen, was geschehen war, und er versprach, in Begleitung eines Sanitäters sofort zu kommen. Er brachte Verbandszeug mit. Als ich wieder in den Saal zurückkam, waren die Soldaten bereits am Aufräumen. Alle waren entspannt und grinsten. Ich atmete auf. Aber da kam mein Leutnant auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr, einer sei nicht so glimpflich davongekommen. Sie hätten ihn in ein Nebenzimmer gebracht. Ich eilte hinüber. Hier lag Korporal Hug auf dem Tisch. Uniformrock und Hemd waren geöffnet. Man konnte keine äußere Verletzung feststellen. Er war bewußtlos, und das erste, was ich dachte: Schädelbruch! Und dann das erste, 135
woran ich mich erinnerte: Korporal Hug war unser bestgehaßter Unteroffizier, willig aber unfähig, und Sohn eines Obersten. Ich erinnerte mich an eine dienstliche Unterredung mit ihm, in der er mir gestand, daß er Angst vor seinen Rekruten habe. „Ich weiß“, sagte er damals, „eines Tages gehen sie auf mich los. Dabei wollte ich gar nicht Unteroffizier werden. Aber mein Vater hatte darauf bestanden. Mein Vater …“ Hug war ein schlechter Unteroffizier, denn er war kein Mann, und darum haßten ihn die Soldaten. Und jetzt lag dieser Korporal Hug bewußtlos auf dem Tisch. Wir konnten ihm nicht helfen, wir mußten den Arzt abwarten. Aber auch der Arzt konnte Hug nicht helfen. Schädelbruch, meinte der Arzt, könnte es nicht sein, vielleicht eine Hirnerschütterung. Jedenfalls mußten wir den Bewußtlosen in die Kaserne schaffen. Während der Arzt Hug untersuchte, ging ich in den Saal zurück, wo die Rekruten immer noch mit Aufräumen beschäftigt waren. Ich versuchte herauszufinden, was mit Hug geschehen war. Auf meine erste Frage rief einer, Hug sei doch wohl von seiner eigenen Gruppe behandelt worden. Zu Hugs Gruppe gehörte auch Müller. Zur Rede gestellt, wollte er nichts damit zu tun haben. Niemand wollte etwas gesehen haben. Niemand wollte sich an Hug erinnern, keiner hatte ihn berührt, nicht absichtlich wenigstens. Ich mußte Korporal Hug in die Kaserne zurückschaffen, mitten in der Nacht ins Krankenzimmer einweisen, dazu einen Rapport schreiben. Korporal Hug kam im Morgengrauen zu sich. Er klagte 136
über Kopfschmerzen, fuhr zusammen, wenn die Tür zum Krankenzimmer geöffnet wurde und blickte ängstlich um sich. Im übrigen schwieg er. Ich besuchte ihn nach der Tagwache. Ich setzte mich auf den Rand seines Bettes, redete auf ihn ein, nicht als Kompanieführer, als Freund. Was geschehen sei? Er schüttelte den Kopf. „Angst?“ Er nickte. „Vergessen Sie es. Wir werden gegen neun Uhr entlassen. Ich werde bei Gelegenheit mit Ihrem Vater sprechen.“ Hug gab mir die Hand. Er dankte mir, und nun war er so weit, daß er aufstehen konnte. Er sagte: „Erzählen Sie meinem Vater nichts.“ Ich erwiderte: „Bleiben Sie zunächst hier. Ich lasse Ihre Sachen herbringen. Aber zur Entlassung müssen Sie erscheinen. Nehmen Sie sich zusammen.“
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m Laufe des Vormittags hat mir der Kommandant der Kantonspolizei Zeitungen gebracht. Rappold lasse mich grüßen, er sei verhindert und werde kaum vor dem späten Nachmittag eintreffen. Der Kommandant hatte es eilig. Ich suchte in den Zeitungen weitere Kommentare zu meiner Verhaftung. Es wurde nicht viel darüber berichtet. Endlich spät am Nachmittag kommt Rappold. Er scheint wenig zuversichtlich zu sein. Aber er ist nicht unfreundlich. Er bringt mir die Reinschrift meiner Aussagen. Ich muß Blatt für Blatt einzeln unterschreiben. Er wirft mir vor, ich ginge in der Schilderung von Einzelheiten zu weit. Damit machte ich ihm unnötig Arbeit. Er wolle ja die Wahrheit, wehre ich mich gegen diesen Vorwurf. Wörtlich sage ich: „Ich kenne die Wahrheit nicht. Ich kenne nur die Umstände. Die Wahrheit müssen schon Sie finden. Am klügsten, Sie legen meine Einzelheiten den Betroffenen vor. Man wird Ihnen gewiß an die Hand gehen.“ Auch wenn er es nicht zugibt, so weiß ich, daß er die Protokolle den Betroffenen vorlegt. „Wir müssen rascher vorankommen“, meint er, „ich habe im Zimmer des Kommandanten ein Tonbandgerät aufstellen lassen. Sie können natürlich diese Art der Vernehmung ablehnen.“ 138
Ich habe nichts gegen diese Art der Vernehmung einzuwenden. Im Gegenteil. Auf dem Weg zum Zimmer des Kommandanten fasse ich kurz zusammen, was ich bereits seit unserem letzten Gespräch zu Papier gebracht habe: Wie ich Offizier wurde, die Affäre mit Korporal Hug. Unsere Schritte hallen. Alle Wände werfen das Echo zurück. Rappold versteht mich schlecht. „Meine Geschichten interessieren Sie wohl nicht mehr“, sage ich, als wir im Sitzungszimmer angekommen sind. „Hier an diesem Tisch“, erwidert er, „hat der Mörder von Örlikon seinen Mord eingestanden. Man hat ihn während einer Stunde durch einen Arzt untersuchen lassen. Alles nur Taktik. Dann ließen sie ihn erzählen. Die Geschichte seines Lebens. Eine harmlose Geschichte, die Geschichte eines Ehrenmannes. Aber man wußte schon, daß der Ehrenmann kleine Diebstähle begangen hatte; sie hatten Diebsgut in seinem Zimmer gefunden. Man hatte es hier in dieser Schublade: silberne Aschenbecher, Kerzenhalter, kleine Taschenmesser mit Perlmutterschalen und dergleichen. Sie ließen ihm während drei Stunden den Ehrenmann. Ein Ehrenmann, der nie straffällig geworden war, nicht einmal eine Buße. Ein Ehrenmann? Ja, ohne Makel. Und dann nahm der Kommandant den silbernen Aschenbecher aus der Schublade, stellte ihn auf den Tisch, denn sie rauchten alle. Der Ehrenmann wurde blaß. Er konnte es nicht leugnen. Wirklich, er hatte den Aschenbecher gestohlen. Er war Nachtwächter von Beruf, Schließer. Er ging durch die Dienstzimmer der Direktoren. Einmal hatte es ihn in der Hand gezuckt. Und so kam der kleine, silberne Aschenbecher in seinen Besitz. So war es. Man müsse 139
doch begreifen, daß er davon nicht hatte reden wollen. Er habe es ja selbst nicht begreifen können! Und dann griff der Chef in die Schublade und zog den Kerzenständer hervor, dann die kleinen Taschenmesser mit Perlmutterschale. Nein, da war kein Mörder in die Falle gegangen, aber ein kleiner, minderwertiger Dieb und Lügner. Der Kommandant erzählte nun die Lebensgeschichte des Ehrenmannes. Er wußte eine ganze Menge, die der andere verschwiegen hatte. Zum Beispiel, daß der Ehrenmann anläßlich eines Wettschießens Resultate gefälscht hatte, um in einen höheren Rang zu kommen. Nichts als Kleinigkeiten. Aber eine ganze Stunde nahm sich der Kommandant, um die Lebensgeschichte des Ehrenmannes mit ruhiger und freundlicher Stimme zu erzählen. Nein, einen Mörder hatten sie nicht erwischt, aber … Und da war es dem Ehrenmann so unerträglich geworden, daß er aufstand mit weißen Lippen: Ja, ich habe sie umgelegt, ich, ich, ich …‘, schrie er. Sie hatten es vermutet, schon vorher, weil er, der Bräutigam des Opfers, nie gefragt hatte, unter welchen Umständen seine Braut umgekommen sei und zu welcher Zeit. Aber sie hatten keine Beweise. Die Wahrheit läßt sich nicht beweisen. Aber eine Geschichte kann sie an den Tag bringen …“ Wir kommen zur Sache. Es ist dunkel geworden. Rappold schiebt das Mikrophon in meine Nähe. Wir sitzen uns am langen Tisch gegenüber, Rappolds rechte Hand am Lautstärkeregler des Tonbandgerätes. Er entschuldigt sich, er hat keine Übung in der Handhabung eines solchen Gerätes. „Hug war Kommandant des Regimentes, dem ich zugeteilt war, und wohnte damals am Burenweg. Heute wäre er mein Nachbar. Das Grundstück, auf dem mein Haus steht, 140
habe ich von ihm erworben. Er hat viel Baugrund in jener Gegend verkauft. Auch Heniger, dem Vorsitzenden der Liberalen, hat er ein schönes Stück Baugrund verkauft. Mich hat er dadurch geschädigt. Ich mußte an Heniger hundert Quadratmeter abtreten, damit er eine Straße zu seinen Renditenhäusern erstellen konnte. Jetzt wohnt Hug an der Ötenberg-Straße. Sein altes Haus am Burenweg ist abgerissen worden. Es war ein Bauernhaus, ein Riegelbau, im Innern aber wie eine Villa ausgebaut. Es war Hugs Geburtshaus. Seine Vorfahren sind Bauern gewesen. Er, einziger Sohn, studierte Maschinenbau, ging nach Rußland, Petersburg, kehrte 1917 über Skandinavien in die Schweiz zurück, mittellos, das heißt, was sein Vermögen in Rußland betraf …“ Rappold unterbricht mich, das Tonband läuft weiter. „Kommen Sie zu Ihrer Geschichte“, mahnt er nachsichtig. „Hug heiratete eine Kocherhans – von der KocherhansMaschinenfabrik –, trat ins schwiegerelterliche Unternehmen ein, wurde Technischer Direktor, später Verwaltungsrat und Delegierter des Verwaltungsrates. Er war auch Milizoffizier bei der Artillerie. Dort brachte er es zum Oberst. Das Unternehmen Kocherhans dehnte sich unter seiner Leitung mehr und mehr aus. Im Mai 1945, als Hug mich zu einer Unterredung an den Burenweg bat, gehörten die Kocherhans’schen Unternehmen zu den großen Maschinenfabriken der Schweiz. Hug war außerdem Verwaltungsrat der Bankgesellschaft …“ „Beschränken Sie sich auf Ihre Geschichte, Herr Wind, auf Ihre Geschichte …“, drängt Rappold ein zweites Mal. „Meine Geschichte? Das ist doch meine Geschichte! 141
Hug bat mich zu einer Unterredung. Sein Sohn Albert hatte in meiner Rekrutenkompanie den Unteroffiziersgrad abverdient. Jetzt war dieser Sohn in einer Nervenklinik. Hug eröffnete mir das mit zitternder Stimme. Mit einer Stimme, die weint, und die Augen werden nicht feucht. Albert habe einen Schock erlitten, sagte Hug. Er führte mich in den Salon; ein Samarkand, ein Schirwan und ein Täbris bedeckten den Fußboden. Ferner bemerkte ich einen Hain von Stehlampen mit seidenen Schirmen. Eine einzige Front aus Fenstern mit niedriger Brüstung bot einen herrlichen Blick über die Stadt. Lederstühle, ein schwarzglänzender Flügel, Bücherregale. Ein Mädchen trug Wein auf. Hug hatte Lob für mich. Nur in einem tadelte er mich. Ich hätte mich seines Sohnes annehmen müssen. Abgesehen vom psychischen Schock – Hug sprach von einem Trauma – hätte unser Schularzt zumindest feststellen müssen, daß sein Sohn drei Rippen gebrochen und einige Quetschungen davongetragen hatte. Hug war über alles im Bild. Ich hätte mein ‚Kompanie, auf!’ einige Minuten frühen rufen müssen. Es wäre nicht zum Schlimmsten gekommen, und er tadelte mich noch einmal, weil ich mich nicht weiter um den Zustand seines Sohnes gekümmert hatte. Denn hätte ich getan, was meine Pflicht war als Kommandant dieser Schulkompanie, hätte ich eine Untersuchung einleiten müssen. Und dann wäre es bei einem bloßen Disziplinarverfahren geblieben. So aber … Hug, groß und imposant, auch wenn er saß, das eine Bein über das andere geschlagen, in der einen Hand das Weinglas, bedauerte, daß es so weit gekommen war. Und ich hätte ihm eine Menge Arbeit, Ärger, Kummer erspart, fügte er hinzu. Alle waren also schon bei 142
ihm gewesen. Alle hatte er mit derselben Freundlichkeit empfangen, wie mich an diesem Nachmittag. Im Föhn lag die Stadt wie ein unwirkliches Modell vor uns. Alle hatten hier ein Glas Wein getrunken, meine Zugführer, meine Unteroffiziere und auch Müller. Aber Müller hatte nichts zugegeben. ,Er leugnet noch immer’, sagte Hug, ‚obgleich alle gegen ihn ausgesagt haben.’ Müller soll Hugs Sohn geschlagen haben. Ich brachte meine Einwände vor. Ich sagte, ich hätte Müller nicht während einer Sekunde aus den Augen verloren. Hug hielt mir die Aussagen aller anderen entgegen. Er hatte alle Aussagen schriftlich und von den Betreffenden unterzeichnet in Händen: ,Zur Person, zur Sache, Vorhaltungen … Ich bezeuge mit meiner Unterschrift, daß …‘ Vor allem, sagte Hug nun, hätte ich Müllers Kabarett nicht durchgehen lassen dürfen. Ich hätte die Texte vor der Veranstaltung lesen müssen. In Hugs Augen war einwandfrei erwiesen, daß Müller den Tumult bewußt herbeigeführt habe, und daß er, kaum waren die Leute entfesselt, sich an Korporal Hug herangemacht hatte. Ich widersprach, denn ich konnte es nicht glauben. Ich suchte nach einem Ausweg. Aber auch daran hatte Hug gedacht. Ich hatte es bis zu diesem Augenblick einfach übersehen, daß die Protokolle so abgefaßt waren, als hätte ich selbst die Vernehmungen geführt. Ich erklärte Hug offen, daß ich das für Betrug ansehe. Aber er erwiderte, er habe die Vernehmungen eben durchführen müssen, weil ich krankheitshalber nicht dazu in der Lage gewesen sei. ,Ich bin aber nicht krank gewesen.’ ,Nun, ich habe jedenfalls allen, die ich vernommen habe, erklärt, Hauptmann Wind sei krank und nicht in der 143
Lage, die Vernehmungen durchzuführen’, erwiderte Oberst Hug. ,Und Ihr Sohn, was hatte er ausgesagt?’ Hug hatte diese Frage nicht erwartet. Ein fast unmerkliches Zittern ging über sein Gesicht, aber er schwieg. Ich bat mir Bedenkzeit aus. Hug wollte nicht darauf eingehen. Er erinnerte mich an meine Pflicht. Ich verstand nicht recht, was er mit diesen Protokollen anstrebte. Ich rollte den Abend noch einmal auf. Ich verschwieg nichts. Auch nicht, daß ich plötzlich von einem unguten Gefühl befallen worden war. Und zum Schluß sagte ich: ‚Bitte, Herr Oberst, klären Sie mich wenigstens auf: Was bezwecken Sie damit?’ Eine Pause entstand. Hug ging nicht auf meine Frage ein. Aber ich täuschte mich nicht, seine Gesichtshaut war plötzlich fahl und schlaff geworden. Er verabschiedete mich und war mit meiner Forderung nach Bedenkzeit einverstanden. Ich suchte Müller und fand ihn. Ich verabredete mich mit ihm darauf in der ‚Bierhalle Kropf’. Wir tranken Bier, und ich erzählte ihm, daß Oberst Hug auch mich vorgeladen habe. ,Dann ist die Sache ja perfekt’, sagte er. Ich widersprach: ,Lassen Sie die Leute doch’, fuhr Müller fort, ,ich weiß, was ich wissen wollte. Ich hatte während der ganzen Rekrutenschule beobachtet, wie rasch sich ein ausgewachsener Mann zum Schwein machen läßt. Niemand lehnt sich auf, wenn man im Namen der Freiheit, der Unabhängigkeit sie wie Schweine behandelt. Ich habe so meine Beobachtungen gemacht. Und Sie wissen, Herr Wind (er nannte mich nicht Hauptmann), was ich davon halte. Am letzten Abend hielt ich allen einen Spiegel vor. Sie erkannten sich. 144
Und die Wahrheit wurde ihnen unerträglich. Als wir Gericht spielten – Sie erinnern sich doch? – klagten sie die Offiziere an, statt sich selbst. Sie mußten nun dreinschlagen. Ich hatte damit gerechnet. Nun muß ich auch den Preis dafür zahlen. Ich weiß genau, daß Sie nicht krankheitshalber den Vernehmungen ferngeblieben sind, Herr Wind, und ich sage das nur, damit wir uns gegenseitig nichts vormachen müssen.’ Müller rechnete mit vier Wochen Festungshaft, möglicherweise bedingt erlassen. Ich wünschte Müller Glück und fuhr an den Burenweg. Hug schien niedergeschlagen. Als ich ihm sagte, ich würde seine große Vorarbeit als die meine betrachten, wurde er heiter. Unter der Haustüre sagte er: ,Wenn es irgendwie geht, besuchen Sie bitte meinen Sohn. Er verehrt Sie sozusagen …‘ Müller stand vier Wochen später vor dem Divisionsgericht. Er hatte einen schweren Stand. Der Auditor hatte inzwischen verschiedenes herausgefunden. Der Preis ging in die Höhe, der bedingte Straferlaß kam nicht in Frage. Damit hatte Müller nicht gerechnet, und damit fand er sich auch später nie ab.“ Rappold atmet schwer. Ich sehe ihm an, daß er in der letzten Zeit zuviel gearbeitet hat. Er ist übernächtig, überanstrengt. „Und“, fragt er, da ich nicht Miene mache, weiterzufahren, „was ist in Wirklichkeit geschehen?“ „Was soll ich sagen? Natürlich hatte Müller Korporal Hug nicht einmal berührt. Korporal Hug flüchtete vor Angst, stürzte über einen Stuhl – ganz einfach: Er fiel unglücklich, er brach sich drei Rippen, trug Quetschungen davon, verlor das Bewußtsein. Er kommt sich feige vor. 145
Warum feige? Warum soll sich einer auch an einer Schlägerei beteiligen?“ Rappold ist entrüstet. „Entrüstung ist hier fehl am Platz“, sage ich, „Müller wollte den Erfolg, die Wirksamkeit seines ‚Spiegels’ sichtbar machen. Er war bereit, dafür einen Preis zu bezahlen. Doch das Gericht ging und erhöhte den Preis. Bloß weil Müller der Sozialistischen Jugend angehört hatte. Das war nicht fair, aber es war nicht zu ändern.“ „Und?“ fragte Rappold. „Erzählen Sie mir nun die ganze Müller-Geschichte! Oder sind Sie zu müde? Sind Sie erschöpft? Haben Sie Hunger? Wollen wir eine Pause machen?“ Ich bin verwirrt, und ich gebe es zu. „Sie spielen nur den Verwirrten!“ erwidert Rappold. Da ich darauf nicht eingehe, fährt er fort: „Wir kennen Müller!“ „Zufällig?“ „Und Sie, Herr Wind, kennen die Müller-Geschichte auch. Warum wollen Sie also nicht erzählen?“ Nun stehe ich auf, lächelnd: „Muß ich die ganze Arbeit allein tun?“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Die Reihe ist an Ihnen. Die Müller-Geschichte ist Ihre Geschichte.“ Rappold stellt das Tonband ab, spult es zurück. Offenbar will er nicht, daß die Müller-Geschichte ins Protokoll aufgenommen wird. „Was haben Sie vor?“ fragt er, während er die Tonbandspule bewegt, so lange bis das erste Wort unseres Müller146
Gespräches über den Tonkopf läuft. Rappold nimmt es genau. Ich gebe keine Antwort. Was habe ich vor? Nichts! Ich versuche, ich spiele, ich bin neugierig darauf, was Rappold über Müller berichten wird. „Sie haben Oberst Hug ausgelacht, als er damals sagte, Müller werde sich rächen.“ Rappold hat das Tonbandgerät abgestellt. Das besprochene Band legt er in eine Schachtel, die Schachtel schiebt er in seine Aktentasche. Und jetzt nimmt er das kleine Scherchen, das entmagnetisierte, und schneidet einige Meter Band mit unserem Müller-Gespräch kurzerhand ab. Aber er wirft diese Meter nicht in den Papierkorb, er steckt sie in seine Rocktasche. Nun bin ich wieder in meiner Zelle, und man bringt mir das Nachtessen. Es ist sieben Uhr. Weshalb ich sieben Uhr als Nacht empfinde, weiß ich nicht. Ich schlafe tiefer und länger, seit ich im Gefängnis bin. Ich schlafe acht bis zehn Stunden. Rappold hat mir noch die Abendausgaben der Tageszeitungen gebracht und einen Brief Barbaras. Barbara schreibt über die Polizei. Man habe das ganze Haus durchsucht, Tobias und Ethel hätten es lustig gefunden. Was man mir vorwerfe, habe sie nur den Zeitungen entnommen. Auch werde das Haus überwacht. Keiner meiner Mitarbeiter dürfe hinein. Die Polizei habe ihr geraten, mit meinen Mitarbeitern keinen Kontakt zu pflegen. Natürlich könne sie mit ihnen zusammenkommen, aber man glaube, ich könne mich so leichter loseisen. Sie habe ein einziges Telefongespräch mit Julius geführt. Julius sagte, der Kopf fehle. Erst jetzt hätten sie alle erfahren, daß ich keinen wirklich ins Vertrauen gezogen hätte. Barbara schreibt: 147
„Hug hat mich angerufen und gesagt, unser Telefon werde abgehört. ‚Machen Sie sich keine Sorgen’, hat Hug gesagt, ,Harry wird bald frei sein. Wir werden den wahren Schuldigen finden …’“ Beinahe alle Tageszeitungen haben einen Leserbrief, unterzeichnet mit den Initialen D.W.M. abgedruckt. D.W.M. setzt sich für die Methoden der Wehrgesellschaft ein. Es sei lächerlich, davon zu sprechen, der Geschäftsführer der Wehrgesellschaft habe die Presse und führende Parlamentarier auf raffinierte Art und Weise bestochen, so daß die Betroffenen die Bestechung nicht einmal hätten wahrnehmen können … Ich lese diesen Brief nicht zu Ende. Ich kenne den Stil. Julius hat ihn geschrieben. D.W.M. ist ein elsässischer Ingenieur, siebzig Jahre alt, und lebt von einer bescheidenen Rente. Mein Büro gibt ihm monatlich einen Zuschuß von zwei- bis dreihundert Franken. Dafür muß er Leserbriefe unterschreiben und wenn nötig Leute suchen, die ebenfalls solche Briefe an die Redaktionen unterschreiben. Die Zürcher Zeitung „Die Tat“ hat einmal zum Bundesfeiertag eine Umfrage zur Ausrüstung unserer Armee gemacht. Zweitausend Briefe sind eingegangen. Tausendsechshundert dieser Briefe hat mein Büro organisiert. Es war eine große Arbeit, aber es hat sich gelohnt. „Die Tat“ hat sechzig Briefe in einer Sonderbeilage abgedruckt, fünfundvierzig davon stammten von uns. „Die Tat“ schrieb in der redaktionellen Einleitung, das Ergebnis der Umfrage sei repräsentativ für die öffentliche Meinung des Schweizervolkes. Ich habe meine Mitarbeiter immer wieder auf die Möglichkeit solcher Leserbriefe aufmerksam gemacht. Natürlich bilden 148
Leserbriefe nur eine der vielen Möglichkeiten, eine Meinung zu verbreiten. Was immer man mir vorwirft, ich habe nichts anderes getan, was andere nicht ebenso leicht hätten tun können. Ich bin Realist. Auch wenn mir das keiner glauben will. Ich arbeite mit Tatsachen, mit Vorhandenem. Ich arbeite zum Beispiel erfolgreich mit der Tatsache, daß wir in der Schweiz viele Vereine und Verbände haben. Viele Vereine und Verbände halten mindestens einmal im Jahr eine Versammlung ab. Die Mitglieder treffen sich, die Vorstände legen Rechenschaft ab, werden wiedergewählt, und alles dauert etwa eine Stunde. Anschließend folgt ein kultureller oder gemütlicher Teil. Aber dafür geben unsere Vereine nur ungern Geld aus. Wir haben in der Schweiz zahlreiche Schriftsteller. Gegen siebenhundert leben allein in der deutschsprachigen Schweiz. Viele von ihnen reisen umher und halten Vorträge. Meistens erhalten sie hundert Franken für einen Vortrag. Oft werden sie eingeladen, anläßlich von Vereinsversammlungen den gemütlichen Teil zu bestreiten. Nicht weil sie gemütlich, sondern weil sie billig sind. Jeder possenreißende Conferencier aus der Steiermark verlangt seine vierhundert Franken für einen gemütlichen Teil. Da habe ich eingegriffen. Ich habe einen Vortragsdienst gegründet. Ich habe mich der reisenden Schriftsteller wie ein Agent angenommen. Fünfhundert Franken sichere ich ihnen für jeden Vortrag zu. Dafür schrieb ich ihnen das Thema ihrer Vorträge vor: Das Schweizer Wehrwesen von einst, von heute, und in der Zukunft; der Mensch und die Atombombe und ähnliches. Sie sollten für meine starke Armee werben. Ich bin nicht einfältig. Unauffällig für das Thema werben, habe ich immer 149
gesagt, nicht zu dick auftragen. Ich ließ auch Lichtbilder herstellen, kaufte Projektionsapparate und habe die Schriftsteller damit ausgerüstet. Ich habe dafür gesorgt, daß im Vortragssaal auch die Bücher der Vortragenden aufliegen. Die Vereinsmitglieder, die umsonst zu einem kulturellen Teil gekommen waren, glaubten sich immer verpflichtet, die Bücher zu kaufen. Meine Schriftsteller mußten sie signieren, und das taten sie immer mit Freude. In meinem Büro sind vier Leute ausschließlich mit diesem Vortragsdienst beschäftigt. Natürlich können meine Schriftsteller nicht immer und überall meine Lieblingsthemen vortragen. Es sind auch andere Stoffe zu berücksichtigen. Ich will nicht, daß mein Vortragsdienst durchschaut wird. Ich sorge aber auch auf andere Weise für Abwechslung. Statt eines Schriftstellers schicke ich einen höheren Offizier, einen Brigadier oder auch nur einen Oberst zur Jahresversammlung eines Vereins. Ich habe diese Offiziere entsprechend vorbereitet. Ich habe ihnen Jovialität und Volkstümlichkeit beigebracht. Sie müssen sich beliebt machen. Sie müssen selbst über ihren Stand lächeln können. Das macht beliebt. Ich habe auch schon einige Male mit Erfolg deutsche Generäle des zweiten Weltkrieges kommen lassen. Nicht für Musikvereine, aber für Juristen, Studenten oder Lehrer. Auch habe ich es durchsetzen können, daß ich mit zwanzig Redaktoren führender Tageszeitungen an den berühmten MittelmeerManövern teilnehmen konnte. Sie sollten mit eigenen Augen sehen, was eine wirkliche Armee ist, sie sollten Vergleiche mit unserer Armee anstellen können. Lust an einer schönen und guten Armee sollten sie bekommen. In Bern 150
habe ich ein Pressefoyer eröffnet. Natürlich gehen der Wehrgesellschaft auch über andere Kanäle vertrauliche Informationen zu. Ich habe nicht umsonst dafür gesorgt, daß Divisionäre, Brigadiers und einflußreiche Industrieführer im Vorstand der Wehrgesellschaft sitzen. Mein Pressebüro in Bern gibt wöchentlich ein Bulletin heraus. Dieses geht an siebenhundert Zeitungen; honorarfrei, versteht sich. Monatlich gehen Bildreportagen an die Redaktionen. Ich komme, wenn nötig, auch für die Clichékosten auf. Und ich beschäftige ausschließlich die besten Fotografen. Sehr oft lasse ich Reportagen herstellen, honoriere die Arbeit sehr hoch und verlange, daß sie sie selbst und unter ihrem Namen an die Zeitschriften weiterleiten. So erscheinen in großen und kleinen illustrierten Zeitschriften meine Reportagen. So entsteht schließlich im Volk eine einheitliche Meinung. Ich gehe auch unsern Parlamentariern an die Hand und gehe dabei von der Tatsache aus, daß unsere Parlamentarier wenig Zeit für ihr Amt haben, viel zu wenig Sachkenntnis besitzen, ein viel zu kleines Taggeld erhalten und viel zu hohe Spesen haben. Für alle Fragen, die mit unserer Armee zusammenhängen, stellen meine Mitarbeiter Dokumentationen zusammen, gefällig und handlich im Aussehen, knapp in der schriftlichen Zusammenfassung, natürlich illustriert, und diese Dokumentationen werden den Parlamentariern auf Wunsch zugestellt. Sie können sich in kurzer Zeit ein hieb- und stichfestes Bild machen über alle zur Debatte stehenden Fragen. Die Botschaften, die der Bundesrat an das Parlament abgibt, sind zu langatmig, zu schwer verständlich. Meine Botschaften sind im Stil der Boulevard-Presse gehalten, mit Schlagzeilen in 151
Rot- und Schwarzdruck. Und ich bin nicht so dumm, daß ich unseren National- und Ständeräten diese Dokumentationen öffentlich aushändige. Ich wahre strengste Diskretion. Und ich verlange von keinem Parlamentarier, daß er zugibt, von meiner Arbeit zu profitieren. Ich selbst, als einmal ruchbar wurde, mein Büro händige den Leuten solche Botschaften aus, sorgte dafür, daß ein Entrüstungssturm losging. Ich legte einigen bedeutenden Nationalräten Leserbriefe zur Unterschrift vor und brachte diese in namhaften Zeitungen unter. Ein Jahr vor der großen Debatte im Bundeshaus zur Frage, ob inskünftig sechzehn Milliarden für die Rüstung oder nur acht ausgegeben werden sollen, habe ich einen Spielfilm drehen lassen. Kosten: siebenhundertundfünfzigtausend Franken. Der Film trug den Titel „Die letzte Mobilmachung“. Ich habe auf unsere bewährten Kabarettisten verzichtet, ich habe das Drehbuch von einem bedeutenden Schriftsteller schreiben lassen, nicht von Possenreißern, ich habe einen jungen Regisseur verpflichtet und gute Schauspieler engagiert. Der Film war ein großer Erfolg. Ich verdiente Geld damit. Der Film zeigte das Schicksal der Schweizer ohne Armee. Es war ein guter Film. Seither werde ich immer wieder angehalten, neue Filme herzustellen. Ich überlege es mir. Ich warte das Ende von Rappolds Untersuchung ab. Dann will ich mich entscheiden.
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ch war dreißig: der Jugend war ich nicht mehr zuzurechnen. Ich kehrte in die Schweiz zurück; an meiner Seite Barbara. Wir waren noch nicht verheiratet, und es war auch noch nicht die Rede davon gewesen. Ich hatte Jack F. Barth versprochen, in Zürich ein Büro zu eröffnen. Dieses Versprechen war nicht unverbindlich. Ich fühlte, daß Jack mir Barbara nur unter einer solchen Bedingung anvertrauen würde. Mit Barbara hatte ich etwas vor: Ich versuchte, ihre Geschichte zu zertrümmern. Im Flugzeug begann ich beinahe wie im Scherz von einer Heirat zu sprechen. Barbara sagte: „Solche Gedanken läßt du besser fahren. Ich tauge nicht zur Ehe. Ich bin meiner Mutter zu ähnlich: zu empfindsam, zu zart gebaut; ich würde nie gegen dich aufkommen. Du bist stark. Du bist ein Mann, der alles fertigbringt. Du bist meinem Vater ähnlich …“ Ich fing an, die Geschichte von Barbaras Geburt zu zertrümmern. „Du bist du“, sagte ich. „Du mußt dich selbst ernst nehmen und nicht deine Mutter und nicht deinen Vater. Du kannst genauso stark sein wie ich. Du mußt dich selbst nur ernst nehmen. Du mußt immer daran denken, daß jeder Mensch ein eigenes Leben lebt. Kein Mensch lebt das Leben eines anderen. Und kein Mensch hat nur ein Gesicht, jeder Mensch hat viele Gesichter.“ 153
„Ach“, seufzte Barbara, „du bist so anders. Du kommst nach New York und du verkaufst diesen Amerikanern Gartenzwerge. Überhaupt weiß ich nicht, was du willst.“ „Ich will nur das eine: so ungeschoren als möglich durchs Leben kommen. Mit dir zum Beispiel …“ So hat es begonnen. Ich machte aus Barbara ein wunderbares Mädchen, baute ihr eine neue Geschichte, die unsrige, die Geschichte von Mann und Frau. Als wir in Dübendorf landeten, wurden wir von Albert Hug abgeholt. Jack hatte seinem Freund Hug unsere Ankunft gemeldet. Barbara sollte bei Hug wohnen. Wir fuhren vom Flugplatz an den Burenweg. Albert war guter Laune. Ich hatte ihm jede zweite Woche einen Brief geschrieben. Doch im Augenblick gab es wieder Spannungen zwischen ihm und dem Vater. Albert wollte Musik studieren. Vielleicht würde er eines Tages Dirigent oder ähnliches sein. Der Vater aber sagte: „Das ist Geschwätz. Du hast keine Konzeption …“ Ich hatte keine Konzeption, aber ich hatte Pläne. Die Lage war günstig. Ich hatte den Plan, Albert als Barbaras Begleiter vorzuschlagen. Albert sollte sie auf der vorgesehenen Europa-Reise begleiten. Ich wollte Barbara Briefe schreiben: täglich oder zumindest wöchentlich. Diese Briefe würden ihre Wirkung nicht verfehlen. Und Albert würde so Zeit gewinnen. Was ihn anging, tat ich es nicht aus reiner Nächstenliebe, aber auch nicht aus Selbstsucht. Ich war neugierig und beabsichtigte, den jungen und den alten Mann zu Freunden zu machen. 154
Meine Pläne wurden verwirklicht. Barbara und Albert traten ihre Reise zu Beginn des neuen Jahres an. Ich sprach bis in die ersten Frühlingstage hinein viel mit Oberst Hug. Zuweilen sprach er zu mir wie zu seinem Sohn. Ich ließ ihn reden. Aber allmählich kam er von selbst darauf und auf mehr: „Natürlich hat jeder sein eigenes Leben“, sagte er in solchen Augenblicken des Erwachens. Aber er brachte es kaum zu tieferen Einsichten. Er beharrte darauf, daß ein Mensch eine Konzeption haben müsse. „Ich habe Albert eine Konzeption entworfen. Herrgott, ich begreife nicht, daß er sie nicht annimmt. Er selbst ist offensichtlich nicht imstande, sich zu entscheiden …“ Solche Dinge sagte er immer wieder. Und wenn ich ihn darauf aufmerksam machte, daß ich auch keine Konzeption besitze, lachte er: „Sie haben nicht nur eine Konzeption, Sie haben sogar ein gerütteltes Maß an Sarkasmus …“ Jack F. Barth schrieb und drängte. „Jetzt nach dem Krieg werden die zivilen Luftfahrtgesellschaften wieder aufgebaut. Neue Flugzeuge werden auch in Europa gekauft. Man wird neue Flughäfen bauen, und wir könnten dabei große Geschäfte machen. Der ,Freedom-Konzern’ stellt Radaranlagen, Landehilfen jeder Art her, zum Beispiel System ILS, Pistenbeleuchtungen, Funkfeuer-Stationen, Bordradar, Triebwerke. Sei nicht dumm, mein Junge, und sei fleißig. Amerika wird in Europa zum Zuge kommen, und du wirst deinen Anteil haben an diesem Kuchen …“
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Es gab eine Verzögerung. Während Albert und Barbara durch Europa reisten: Paris, Florenz, Rom, auch Warschau, führte ich vom Mai bis anfangs November „Ellens Eisrevue“ durch die Schweiz: Zürich, Luzern, Aarau, Basel, Schaffhausen … Ellen Rathenau, Inhaberin eines Hamburger Zirkus, hatte ihre eigenen Tiernummern (Eisbären, Ponys und Katzen) nach England geschickt, um mit der Kitzbühler Eisrevue eine Europa-Tournee zu unternehmen. Ellen Rathenau hatte gute Beziehungen zu den Besetzungstruppen, und so ging ihre Tournee zuerst durch Deutschland und bekam dann die Genehmigung, auch in die Schweiz zu kommen. Ellen hatte eine große Eismaschine und eine Bühne gekauft. Sie setzte eine große Anzeige in einige Schweizer Zeitungen: „Gesucht Tournee-Leiter für die Schweiz“ usw. Ich bewarb mich um diesen Posten, ich weiß nicht weshalb. Das heißt, ich hatte einen Grund dafür, der mir aber nicht bewußt war. Ich nahm diese Stelle wohl an, um Hug zu beweisen, daß ich keine Konzeption hätte. „Sehen Sie“, sagte ich, „mit dem Zweigbüro für Ihren Freund Jack F. Barth ist es so eine Sache. Ich warte noch den Herbst ab. Inzwischen gehe ich auf Tournee. Ich kann mir dabei alles in Ruhe überlegen.“ Hug war entsetzt, aber dann nahm er es für Sarkasmus. Ich hatte Ellen Rathenau geschrieben, ich hätte in New York Gartenzwerge verkauft und hielte mich für fähig, den Schweizern eine Eisrevue zu verkaufen. Ellen Rathenau besaß wenig Bargeld, und ich verpflichtete mich, für eine Zollkaution von hunderttausend Franken aufzukommen. Ich verpflichtete mich auch, an jedem Gastspielort die 156
Platzmiete im voraus zu bezahlen, ebenso eine bestimmte Garantiesumme den Elektrizitäts- und Wasserwerken und den Schweizerischen Bundesbahnen für die Transportkosten. Ich mußte also viel Geld aufwenden, aber das bot mir keine allzugroßen Schwierigkeiten. Ich setzte einen Tournee-Plan auf, das heißt, ich kopierte einfach den TourneePlan des Zirkus Knie. Ich schrieb ein Programmheft, ließ Plakate drucken, und dann reiste ich zu den ersten zehn Gastspielorten, verhandelte mit den Behörden und unterschrieb Verträge. Am achten April kam Ellen Rathenau mit ihrem gesamten Wagenpark bei Basel über die Grenze. Sie brachte nur zehn Zeltarbeiter mit, weitere zwanzig sollte ich in der Schweiz suchen, ebenso zwei Köche. Wir hatten Erfolg. In Zürich, in Luzern, in Aarau. Überall war das Zelt Abend für Abend voll, fast jeder Platz besetzt. Ich ging jeden Abend nach Beginn der Vorstellung an die Kasse und nahm das Geld in Empfang. Abend für Abend brachte ich siebzehntausend Franken von der Kasse zu meinem Wagen, in dem ein Tresor stand. Die Vorhänge waren zugezogen, die Türen an beiden Stirnseiten durch Sicherheitsschlösser verriegelt. Abend für Abend nach der Vorstellung kam Ellen zu mir und holte sich ihren Anteil. Damit mußte sie die Gagen bezahlen, die Löhne der Zeltarbeiter, Platzmiete und die Transportkosten. Ich trug meinen Anteil an der Reklame und meine persönlichen Spesen. Der Wohnwagen, so war es ausgemacht, wurde mir zur Verfügung gestellt. Ellen hatte William mitgebracht. William war ihr Zeltmeister und Freund. In der Regel wohnte William bei Ellen. Aber zuweilen stritten sie sich, und dann kam er zu mir. Ellen war Witwe. Ihr Mann, einst ein bekannter Seiltänzer, 157
war während des Krieges Flugzeugführer, hatte in Frankreich hinter der Front niedergehen müssen und wurde von Widerstandskämpfern gefangengenommen. Sie erschossen ihn und schickten seine Uniform an die Pariser Besatzungskommandantur. Ellen war die einzige Tochter des Zirkusinhabers Rathenau. Als ihr Vater 1938 starb, führte sie das Unternehmen. Es ging alles gut. Sogar während des Krieges konnte ihr Zirkus in Paris gastieren. Meistens war sie im Auftrag der Organisation „Kraft durch Freude“ unterwegs, allerdings mit einem kleineren Programm, in dem die ausländischen Nummern fehlten. Mit einem noch kleineren Programm ging sie zuweilen an die Front. Ellen war während der letzten Monate Rotkreuzfahrerin gewesen und hatte auf einem Verbandplatz im Osten William getroffen. „Ich weiß nicht“, begann William immer, wenn er sich mit Ellen gestritten hatte und sie ihn aus ihrem Wohnwagen gewiesen hatte. „Ich weiß nicht, weshalb sie es für mich getan hat. Ich war damals schon seit Tagen unterwegs und befand mich in der Nähe von Dresden. Ich kam auf einen Verbandplatz, und da sah ich Ellen. Man war gerade dabei, einige hundert Verletzte zu bezeichnen, die mit einem der letzten Züge nach dem Westen gefahren werden sollten. Ich war nicht verwundet. Stell dir das vor, Harry. Vier Jahre Ostfront und nicht einmal verwundet. Frostbeulen, das schon, aber nicht verwundet. Ich komme auf diesen Verbandplatz, und da war mein erster Wunsch: Wäre ich nur auch verwundet. Jetzt vor allem, dann würde ich zu jenen gehören, die mit diesem Zug nach dem Westen gefahren werden. Und da stehe ich vor Ellen. Ich habe sie nur 158
angeschaut, weiter gar nichts, und da zieht sie mich ins Verbandzelt, reißt mir den Rock auf, das Hemd, und legt mir einen Verband an, einen Verband, so dick und straff, daß ich im Augenblick kaum atmen kann, und dann bringt sie es fertig, daß ich mit dem nächsten Zug fahren konnte. Auch sie fährt mit. Sie flüstert mir zu, wie ich mich verhalten muß, daß ich dann türmen muß. Ja, und später türmt sie mit mir. Es war in der Nähe von Kassel: Bei Nacht verlassen wir den Verwundetentransport. Ich verstehe nicht, warum sie das für mich getan hat. Überallhin hat sie mich mitgenommen. Ich habe in ihrem Haus in Hamburg gewohnt. Erst waren noch Ausgebombte in ihrem Haus, die später auszogen. Wir waren dann allein, allein als Mann und Frau. In ihrem Zimmer, da steht eine große Vitrine, eine Vitrine aus Glas, und darin hängt die Uniform ihres toten Erich. Was sagst du dazu? Und wenn ich die Flasche Korn in die Hände genommen habe, dann hat sie mich angeschaut, angeschaut wie eine Frau, die liebt, weißt du, angeschaut mit Augen, wie es sie gar nicht gibt, und wenn ich Korn trank, ein Glas, zwei Glas, weißt du, Wassergläser, dann sagte sie plötzlich: ,Genau wie der Erich!’ Das sagte sie immer …“ Unsere Tournee hatte Erfolg. Aber der Erfolg wurde uns zum Verhängnis. Ich verstand zu wenig von diesem Geschäft. In Luzern sollten wir drei Wochen gastieren. Aber wir hatten einen solchen Erfolg, daß wir so lange dort blieben, bis wir keine Besucher mehr hatten. So fing es an. Mein Tourneeplan geriet durcheinander. Dann kam eine Regenzeit, und mit dem Regen kamen immer weniger Be159
sucher. Ellen verstand auch nichts von Verwaltung. Wir hatten keine richtigen Rücklagen, wir strichen das Geld einfach ein, wir improvisierten. Aber wir schlugen uns immerhin durch. Richtig schlimm wurde es erst in Frauenfeld. Es war bereits Oktober, und eines Tages hatten wir kein Geld mehr, jedenfalls zu wenig Geld, um allen Verpflichtungen nachzukommen. Natürlich hatte ich mein eigenes Geld; aber mein Bankberater, zu dem ich fuhr, um die Revue wieder auf die Beine zu bringen, redete mir ein, ich dürfe nichts mehr hineinstecken. Ich befolgte seinen Rat. Wir mußten also zusehen, daß wir mit den Tageseinnahmen durchkamen. Die Geschichte Williams begann in jenen Tagen. Das heißt, das Ende seiner Geschichte. Es war nach der letzten Vorstellung in Frauenfeld. William war krank, war müde. Er ging zu Ellen in den Wohnwagen und sagte: „Ich schaff’ das nicht mehr. Ich kann den Abbau des Zeltes nicht leiten. Ich sag’ es Sonny Marek, er soll den Abbau leiten …“ Und dann ging er zum Wandschrank und nahm den Schinkenhäger hervor, und Ellen, die ihn schweigend beobachtet und angehört hatte, rief plötzlich: „Herrgott, William, du sollst nicht immer saufen. Auf alle Fälle sollst du jetzt nicht saufen. Du weißt doch ganz genau, was auf dem Spiel steht. Wenn du mit deinem ganzen verdammten Park nicht rechtzeitig auf die Straße kommst, ist unsere Vorstellung heute abend in Schaffhausen im Eimer. Und wenn du besoffen bist, hast du dich nicht in der Gewalt, und die Leute schlampen herum …“ William ließ Ellen stehen. Er nahm die Flasche mit und kam zu mir. 160
„Das geht mich alles ‘nen Dreck an“, sagte er. „Ihr sollt die Leute anständig bezahlen, und dann schlampen sie nicht. Und warum müssen wir nach Schaffhausen?“ Er wartete meine Antwort nicht einmal ab und ging. Ich folgte ihm. Er betrat das Vorzelt. Die letzten Besucher, die nach der Vorstellung noch ein Glas Wein getrunken hatten, gingen. Die Zeltarbeiter hatten jetzt die Theke abgebrochen, Flaschen und Gläser waren bereits verpackt. Im Hauptzelt hatten sie mit dem Abbau angefangen. William sagte zum Barmädchen: „Stell mir noch eine Flasche Korn heraus.“ „Ich habe keinen Korn, William. Niemand außer dir will Korn. Aber Cognac habe ich, wenn du willst.“ William war heute auch für Cognac zu haben. Er wandte sich mir zu und sagte: „Im Wagen hab’ ich Vorrat. Aber ich gehe nicht mehr in den Wagen. Ich will sie nicht mehr sehen, jetzt.“ Das Barmädchen verlangte sechzehn Franken für die Flasche Cognac. „Schreib’s auf“, rief William. „Ich darf nichts mehr aufschreiben, Ellen macht mir einen Mordskrach, wenn ich was aufschreibe. Sie hat mir überhaupt verboten, dir etwas zu geben. Wenn wir abbauen, sollst du nichts bekommen, hat Ellen gesagt.“ William ließ das Mädchen stehen. Er steckte die Flasche in die Tasche seines Ledermantels und winkte mir mit der Hand: „Komm, Harry, die können das auch ohne mich. Wir gehen in deinen Wagen …“ Die Flasche Schinkenhäger war nicht leer. Er stellte sie 161
neben den Cognac auf den kleinen Tisch. Ich hatte wie Ellen einen Salonwagen, das heißt, einen zweiteiligen Wagen, vorne einen „Salon“, hinten das Schlafabteil. Wir befanden uns im „Salon“. William nahm zwei Whiskygläser, die er mit Korn füllte. Er gab mir ein Glas. Er leerte den Schnaps wie Wasser hinunter. Plötzlich zog er einen Revolver aus der inneren Manteltasche, entsicherte ihn und legte ihn neben die Cognac-Flasche. Dazu lächelte er. „Bin nicht hier …“, fing er an, „verstehst du Harry, ich bin nicht hier. Willst du wissen, wo? Ich sag’s dir, dir sag’ ich’s. Ich bin im Bunker von Braslava. Im Bunker von Braslava …“ Er begann zu erzählen. Ich kannte die Geschichte schon längst, er hatte sie mir immer wieder erzählt. Immer dann, wenn er mit Ellen Streit hatte, kam er zu mir und erzählte diese Geschichte. Was er mit dem Revolver wollte, ahnte ich nicht. „Ich habe mich nie freiwillig für Spähtrupps und dergleichen gemeldet“, fing William mit betrunkener, brüchiger Stimme an, „verstehst du, Harry, sowas habe ich nie getan. Aber einmal hat es mich doch erwischt. Der Befehl war vom Bataillonskommandeur gekommen: Hauptmann Speier übernimmt mit zehn Mann … Wir sind nachts ein oder zwei Stunden lang in südöstlicher Richtung vorgedrungen und stießen dann auf Widerstand. Der Mond war aufgegangen. Ich stand mit einemmal alleine im Schatten eines Waldrandes. Vor mir schimmerte ein breiter Fluß, darüber eine Brücke, eine kleine schmale Brücke für Infanterie. Ich glaube, die Russen hatten sie in aller Eile gebaut. Ein Weg führte vom Waldrand zu ihr. Auf beiden Seiten 162
des Weges wuchs Gebüsch, ich bemerkte auch Weidenstrünke. Eine Weile stand ich da und lauschte: Ohne Unterlaß war ein Rollen in der Luft, und ich hatte das Gefühl, die Luft zittere, wie etwa das Meer, wenn der Wind darüber streicht: Ein Kräuseln, einmal stärker, einmal schwächer. Und plötzlich übertönte helles Geknatter das dumpfe Rollen. Ich trat aus dem Schatten des Waldrandes und ging auf die Brücke zu. Ich wußte, daß ich mich verirrt hatte; vielleicht befand ich mich hinter der russischen Linie. Ich war bis auf wenige Schritte an die Brücke herangekommen, als ich trotz dem Rauschen des Flusses und dem Grollen in der Luft Schritte hörte. Sie kamen vom gegenüberliegenden Ufer auf die Brücke zu. Ich versteckte mich hinter einem Strauch und wartete. Sie kamen über die Brücke; acht Mann zählte ich. Ich entsicherte meine Maschinenpistole. Die Russen sahen und hörten mich nicht. Sie summten irgendein Lied. Ich zielte mit meiner MP von der Hüfte aus, den Finger gekrümmt am Abzug. Die Russen kamen dicht an mir vorbei. Ich dachte, ich würde nun schießen, sie alle umlegen, sobald der letzte an mir vorbei sei. Ich würde sie rücklings anfallen mit meiner MP auf etwa zwanzig Meter Entfernung. Schließlich war ich im Krieg, an der Front, und die Russen schnitten mir den Weg ab. Ich dachte an meine Aufgabe. Die Russen gingen weiter, die Entfernung zwischen mir und ihnen wurde immer größer, noch einige Schritte, und die Streuung wurde zu groß. Aber dann kam es. Wie ein Würgen vom Magen her zum Hals, zum Kopf, und ich fiel hin, das Gesicht zur Erde. So blieb ich liegen. Ich weiß nicht, wie lange. Als ich erwachte, war der Mond untergegangen, und ich folgte dem Weg, den die Russen genom163
men hatten. Ich ging und ging. Ich traf keinen Menschen, und ich weiß nicht, wieso ich wieder im Bunker von Braslava war, als der Tag anbrach. Der Bataillonskommandeur war da und wollte erfahren, was sich zugetragen hatte; aber ich schwieg. Ich starrte am Kopf des Kommandeurs vorbei. ,Wieder so ein Schock?’ fragte er. ,Ich weiß nicht, was geschehen ist’, antwortete ich. Ja, was ist geschehen? Sie kehren alleine zurück, Speier, das ist alles.’ ,Das ist verdächtig, oder?’ entgegnete ich und blickte ihm in die Augen. Er stand auf, kam auf mich zu, klopfte mir auf die Schultern: ,Nun, Speier, wir sind froh um jeden, der zurückkommt. Es ist nicht nötig, daß alle umkommen bei diesem großen Verrecken …‘ Ja, Sie sagen das ganz genau: Es ist ein großes Verrecken. Aber wir müssen schweigen, Herr Kommandeur, wir dürfen es nicht laut sagen, wir dürfen nicht daran denken. Wissen Sie, Herr Kommandeur, man kann es nicht verstehen. Jetzt bin ich in Uniform. Und es kommt mir nur wie eine Stunde vor, da war ich noch auf Heissenberg bei meinen beiden alten Leutchen. Und doch kann das nicht stimmen. Es kam vorher noch die Sache mit Polen, mit Danzig. Da war ich schon in Uniform, Feldwebel, Leutnant, und jetzt Kompanieführer …‘ Der Bataillonskommandeur schaute mich an und klopfte mir auf die Schultern: ,Wir führen Krieg, und wir werden diesen Krieg gewinnen. Wir müssen ihn gewinnen. Heute nacht waren Sie wieder einmal ganz groß, Speier. Jetzt ha164
ben Sie einen Schock, aber Sie waren ganz groß, verstehen Sie, Sie waren ganz groß! Ich habe einen zweiten Trupp ausgeschickt, Speier, und die Meldung heißt: Spähtrupp Speier, zehn Mann, hatten Feindberührung, Speier hat mit zehn Mann fast eine Kompanie Russen aufgerieben … Sehen Sie sich doch mal ihre Klamotten an, Speier, sind ja steif von geronnenem Blut …‘ Die Erinnerung war weg. Sie sagten also aus, ich hätte mit zehn Mann fast eine Kompanie Russen aufgerieben. Davon wußte ich nichts. Die Erinnerung war weg. Als ich meine MP prüfte, später, als der Bataillonskommandeur nicht mehr da war, sah ich, daß ich keinen einzigen Schuß abgegeben hatte. Und meine Handgranaten hatte ich auch noch alle. Und mein Bajonett war blank …“ Plötzlich stand William vor mir, packte mich und fragte: „Hast du mal einen Menschen umgebracht?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, William, ich habe noch keinen umgebracht. Ich hatte bisher keinen Grund.“ William wurde ruhig, nahm seinen Revolver und setzte sich. Er sicherte die Waffe. Als ich fragte, wozu er sie brauche, ging er nicht auf die Frage ein, mir schien es wenigstens so. „Ellen hat ein Darlehen aufgenommen. Hinter deinem Rücken hat sie Geld bekommen. Sie will mit dem ganzen Park in Schaffhausen überwintern. Das heißt, jetzt muß sie in Schaffhausen überwintern, weil der Park da bleiben muß, als Pfand sozusagen. Im nächsten Jahr will sie eine zweite Tournee machen, aber mit dem Zirkus. Und während des Winters will sie umherreisen und Nummern suchen 165
und engagieren. Sie will mich los sein, verstehst du? Ich fahre nicht mit ihr herum, um Nummern zu suchen …“ Er schwieg, öffnete den Ledermantel und zog zwei Fotografien hervor. Beide Bilder stellten ihn dar: William Speier in der Uniform eines deutschen Fliegers. „Du warst aber nicht Flieger“, sagte ich. Er lachte. „Siehst du, der eine hier bin ich, der andere aber bin nicht ich. Sieh dir die Fotos genau an.“ Er hatte recht; der eine war er, der andere war nicht er. „Der andere“, sagte William, „ist Erich, Ellens erster Mann. Eines Tages mußte ich die Uniform anziehen. Sie paßte mir wie angegossen. Ellen hatte einen Fotografen bestellt. Und der machte dieses Bild …“ Er nahm mir die beiden Fotos wieder aus der Hand und steckte sie in seine Rocktasche zurück. Er setzte sich wieder und begann ohne Überleitung, ohne Erklärung weiter zu erzählen. „Ich habe immer ins Ungefähre geschossen. Ich habe nie geschossen, wenn ich einen Russen sehen konnte. Ich schoß vor allem nachts, wenn es stockfinster war, oder im Nebel. Aber kurz vor Weihnachten 1943 verloren wir unseren Bataillonskommandanten. Eine Granate fegte den KP weg. Dann kam ein anderer Bataillonskommandeur. Nachdem er seine Offiziere begrüßt hatte, rief er mich zur Seite. Es war sehr kalt, und ich hatte meine Hände in die Manteltaschen gesteckt. ,Ich denke’, sagte der neue Bataillonskommandeur, ,ich denke, Sie wissen auch, was sich gehört.’ ,Ich weiß nicht, was Sie meinen’, sagte ich zögernd. ,Ich bin schließlich von Anfang an dabei.’ 166
,Ich wünsche, daß Sie Ihre Hände aus den Taschen nehmen, wenn Sie vor mir stehen.’ ,Es ist aber verdammt kalt.’ Er kniff die Augen zusammen: ,Sie sind Ritterkreuzträger, Hauptmann Speier!’ ‚Ja, Herr Kommandeur, aus Irrtum, sozusagen aus Mißverständnis. Bereits fünfmal ist meine Kompanie aufgerieben worden. Ich lebe immer noch. Die Russen sind schlechte Schützen, was mich angeht …‘ ,Darauf komme ich gerade zu sprechen’, sagte er, und jetzt störte es ihn nicht mehr, daß ich die Hände in den Manteltaschen hatte. ,Sie führen zuweilen Reden, habe ich mir sagen lassen?’ Ich zuckte die Schultern. ,Sie haben vor kurzem einen Brief an das Führerhauptquartier geschrieben?’ Das hatte ich wirklich. Ich hatte keinen Grund, es nicht zuzugeben. ,Sie haben sich nicht an den Dienstweg gehalten. Das hätte Folgen für Sie haben können. Aber Sie hatten Glück. Der Stabschef hat sich Ihre Personalakte kommen lassen. Sie sind Ritterkreuzträger, von Anfang an dabei, und man nahm an, Sie hätten den Brief in einer Art vorübergehender geistiger Störung geschrieben.’ ,Ich war ganz beieinander, Herr Kommandeur, als ich den Brief schrieb. Ich hielt es für meine Pflicht, darauf aufmerksam zu machen, was hier vorgeht. Ich dachte mir, die wissen nicht, was hier vorgeht. Sie sind neu, Herr Kommandeur, aber Sie werden Ihre Erfahrungen auch machen: Wir schießen, die anderen schießen, wir schießen, 167
die anderen schießen, wir gehen vor, wir gehen zurück, die anderen gehen vor, die anderen gehen zurück. Fünf Mal zweihundert Mann habe ich allein drangegeben, Herr Kommandeur, und es hat sich nichts geändert. Fünf Mal zweihundert Mann! Es gibt keinen Sieg, Herr Kommandeur, keinen deutschen und keinen russischen Sieg. Es gibt nur Tote. Auch das habe ich geschrieben. Es gibt nur Tote und verbrannte Dörfer, aber einen Sieg, das gibt es nicht …‘ Er blickte mich an, und dann fragte er: ,Sagen Sie, Speier, haben Sie eigentlich schon mal einen Menschen getötet? Einen Russen, einen Feind, erschossen, abgestochen?’ ,Ich weiß es nicht, Herr Kommandeur. Ich kann mich nicht daran erinnern.’ ,Fünf Mal zweihundert Mann, Speier, haben Sie drangegeben, aber Sie sind noch immer da?’ ‚Ja’, erwiderte ich, ,das ist seltsam.’ Und dann war das Gespräch plötzlich zu Ende. Er sagte nur noch: ,Wir kommen später darauf zurück.’ Und er kam darauf zurück, zwischen Weihnachten und Neujahr. Er ließ mich zwischen Weihnachten und Neujahr zu sich kommen. Er war freundlich, stellte eine Flasche Cognac auf den Tisch und sagte: ,Sehen Sie sich die Flasche an: Echter Cognac, direkt aus Frankreich …‘ Er schenkte ein, großzügig, als handle es sich nicht um echten Cognac, direkt aus Frankreich. Dann fluchte er über das Wetter, über die Kälte, über den Nachschub, der nicht 168
klappte, und über die verdammten Alliierten, die alle großen Städte dem Erdboden gleichmachten und damit auch nichts ändern konnten. Und dann rief er plötzlich laut: ‚Bringen!’ Sie brachten ihn. Zwei Landser stießen einen russischen Offizier vor sich her. Der Kommandeur konnte einige Worte Russisch. Er hieß den Offizier, auf einer Munitionskiste Platz zu nehmen. Die Landser konnten wieder gehen. Der Kommandeur beachtete den Russen nicht weiter, sondern wandte sich an mich und sagte: ,Sind Sie religiös? Glauben Sie an Gott?’ Auf solche Fragen konnte ich nicht antworten. Ich wußte es nicht. Glaubte ich an Gott? Möglich, aber ein Ja wie ein Nein hätte die Wahrheit nicht getroffen. ,Wenn Sie jetzt sterben müßten’, sagte der Kommandeur, ,wen würden Sie für Ihren Tod verantwortlich machen?’ Ich schwieg auch auf diese Frage. Da nahm er seine Pistole und legte sie vor sich hin auf den Tisch. Er schenkte noch einmal die Gläser voll, und wir leerten sie in einem Zug. ,Ich befehle Ihnen’, sagte er, als er das Glas abstellte, ‚diesen Russen zu erschießen. Mit offenen Augen, Speier, sollen Sie dieses Mal diesen Russen umlegen.’ Ich zog meine Pistole und entsicherte sie. Ich sah den Russen an. Er lächelte. Ich sah den Kommandeur an. Er lächelte auch. Aber ich lächelte nicht. ,Damit wir uns verstehen, Speier: Das ist kein Spiel: Der Russe oder Sie, klar!’ Ich sagte nichts, ich sah den Kommandeur bloß an, und 169
langsam hob ich meine Pistole und schoß ihm ins Gesicht. Er hatte es kommen sehen, aber wie gelähmt am Tisch gesessen. Er war auf der Stelle tot und fiel mit dem Gesicht auf den Tisch und stieß dabei die Cognacflasche um. Der Cognac floß über den Tisch und über die Kanten und tropfte zur Erde. Plötzlich stand der Russe neben mir. Er hatte bereits die Pistole des Toten in seiner Hand. Er ging rückwärts auf den Ausgang zu und schoß auf mich. Aber als er schoß, strauchelte er, und so verfehlte er mich. Es wäre nicht nötig gewesen, mich zu treffen, denn ich schoß nicht. Der Russe taumelte aus der Türe, und kaum war er draußen, stürzten unsere Leute herein, drehten sich um, und einige zwanzig Meter vom Unterstand entfernt erwischten sie den Russen. Später wurde der Vorfall dem Regimentskommandeur gemeldet … und als unsere Leute am gleichen Tag Gefangene machten, erschossen wir sie alle und sagten, so hoch sei der Preis für einen Bataillonskommandeur.“ Der Morgen dämmerte. William stand auf und ging zur Türe. Ich folgte ihm. „Harry“, sagte er unter der Tür zu mir, „ich fahre mit dem Park über die Grenze, und in Hamburg, wenn alles ordentlich im Winterquartier untergebracht ist, mache ich Schluß.“ „Du bist verrückt“, sagte ich nur. Sie hatten das Chapiteau bereits abgebaut und waren eben daran, den letzten Mastteil auf den Wagen zu stemmen. William schaute ihnen zu. Ich bemerkte, wie die Pneuräder 170
immer tiefer in den vom Regen aufgeweichten Grund sanken, beinahe bis zu den Naben. Dann hörte ich Marek zu den anderen sagen: „William, dieses faule und versoffene Schwein würde besser mithelfen, statt da zu stehen und zu gaffen.“ William mußte die Worte gehört haben, aber er sagte nichts. Auf der Fahrt nach Schaffhausen hatten wir eine Panne; beim Mastenwagen brach die hintere Achse. Der Aufbau, der kurz vor Mittag hätte begonnen werden müssen, wurde durch diesen Achsenbruch verzögert. Es stellte sich auch heraus, daß zehn Zeltarbeiter zwischen Frauenfeld und Schaffhausen abgesprungen waren. Das waren Schweizer, die uns im Stiche ließen. Ellen war mit ihrem Taunus in der Morgenfrühe weggefahren, niemand wußte wohin. So hatte ich nicht mit ihr reden können. Es ging nicht, daß sie in der Schweiz überwintern würde, denn ich hatte eine Zollgarantie geleistet. Ich fragte mich auch, weshalb Ellen nichts mit mir besprochen hatte. Mit dem Park als Sicherheit hätte ich meinen Finanzberater auf der Bank gewiß überzeugen können, daß weitere Investitionen nicht verloren seien. Schließlich war ich an diesem Mißerfolg nicht ganz unschuldig. Natürlich hatte ich nicht allein die Gastspiele verlängert, aber ich hatte auch nicht widersprochen. Auf der Fahrt nach Schaffhausen – ich nahm William in meinem Peugeot mit – sprach ich mit ihm darüber: „Das ist einfach“, meinte er. „Ellen will mit dir nichts mehr zu tun haben. Ich weiß auch warum. Sie will nichts mehr mit dir zu tun haben, weil du mein Freund bist, weil ich bei dir gewohnt habe, wenn sie mich nicht mehr haben wollte. Das ist der Grund.“ 171
In Schaffhausen legte ich mit Hand an. Ich half, die Rondel- und Abseglunganker einschlagen, ich half dem Eismeister den Platz vermessen, die Eisbühne aufstellen, die Kühlrohre verlegen. Ich war diese Arbeit nicht gewohnt und hatte am Abend wunde Hände. Der Mastenwagen traf erst gegen fünf Uhr ein. Die Abendvorstellung konnte natürlich nicht stattfinden. Ich half mit, so gut es ging. Wir arbeiteten bis tief in die Nacht hinein. Um neun Uhr, es war schon längst dunkel, zogen wir den ersten Mast hoch. Zwanzig Männer waren wir, und wir stemmten den anderthalb Tonnen schweren Mast Zentimeter um Zentimeter in die Höhe. Dann kam Sigmar mit seinem Deutz-Traktor und machte sich bereit, den Mast hochzuziehen. Gerade waren wir so weit, da hörten wir alle ein verdächtiges Girren in den Hanfseilen des Hilfszuges. Wir sprangen, auf einen Ruf Williams hin, zur Seite, und schon fiel der Mast schwer zur Erde zurück. William fluchte und befahl, den kleinen Kettenzug aus dem E-Wagen zu holen. Die Arbeit begann von vorne. Es stellte sich heraus, daß der Kettenzug den Mast beinah allein hochziehen konnte. Wir mußten den Mast nur noch abstützen, wenn der Mann am Zug eine Pause machte. William konnte es sich nicht erklären, warum man nicht schon immer den Kettenzug verwendet hatte. Dann fuhr Sigmar abermals mit seinem Deutz vor. Wenige Minuten später hob sich der Mast beinahe lautlos in die Nacht. Aber plötzlich, der Mast stand bereits senkrecht, und wir waren daran, ihn abzusichern, begann William zu fluchen. Er stand vor Marek und fluchte auf ihn ein: „Du Vollidiot, das ist ja der falsche Mast, das ist ja Nummer 172
zwei, wie hast du denn die Züge ausgelegt, völlig verkehrt: aber ich nehme alles zurück, wenn du mir zeigst, wie du jetzt Nummer eins an Nummer zwei hochziehen willst …“ Marek konnte das natürlich nicht. So war die schwierige Arbeit umsonst getan. Der Mast mußte wieder umgelegt werden. Dann ordnete William selbst Züge und Taue, welche die vier Masten gegenseitig verbanden und absicherten. Es war zehn Uhr geworden. Die Leute waren müde, und wir beschlossen, Feierabend zu machen. William und ich gingen zu Ellen. „Es ist dir doch auch klar“, sagte sie, „daß auch morgen keine Vorstellung stattfinden kann. Oder glaubst du im Ernst, die Leute stehen deinetwegen um vier in der Früh auf? Zehn sind bereits abgesprungen. Und warum? Deinetwegen, nur deinetwegen! Alle haben dich satt. Du stehst herum, säufst, und die anderen können die Arbeit machen. Das hat schon in Grenchen angefangen. Da läßt du den ganzen Park in den sumpfigen Boden hineinfahren, obwohl Marek und Sigmar dich gewarnt haben. Und in St. Gallen hast du den Hauptzug nicht auswechseln lassen, obwohl man dir gesagt hat, der alte Tampon halte keinen Wind über fünfzig mehr aus. Und so ist es auch gekommen. Ein Sturm von fünfzig, eine Vorstellung muß ausfallen, weil du endlich den Hauptzug auswechseln mußt. Und in Baden hast du die Leute weggehen lassen, obwohl du Meldung hattest, daß ein Sturm kommt. Die Quaderpolstangen haben fast alle Parkettstühle zusammengehauen. Und heute? Heute geht es über deine Kräfte, die Arbeit zu kontrollieren. Was soll denn das? Du bist dabei, als man den zweiten, statt den ersten Masten hochzieht. Du bist nicht dabei! Du bist wohl 173
wieder in Braslava. Du bist müde, wie? Du mußt abrechnen, mit deinen fünf Mal zweihundert, die du ,drangegeben’ hast …“ Ich fürchtete, Ellen würde fortfahren, ihn zu verhöhnen. Aber wahrscheinlich hörte er sie gar nicht. William war nicht bei der Sache. Dennoch lenkte ich Ellen ab, indem ich über unsere Geschäfte zu reden begann. „Hast du bereits mit einem andern Geldgeber verhandelt?“ Sie blickte mich erstaunt an, schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin doch nicht verrückt. Ich habe mich bei den Behörden erkundigt, das ist alles …“ Ich zeigte auf William und sagte: „Und?“ „Wir gehen nach Hamburg zurück. Er muß zum Arzt. So geht es nicht weiter …“ Nun war ich bereit, auf Ellens Vorschlag einzugehen, den Schuldschein anzunehmen und das Konkursamt zu ersuchen, den Park zu arretieren. Ellen erklärte, sie werde die deutschen Zeltarbeiter aus der eigenen Tasche bezahlen. So wurden wir einig. William äußerte sich nicht zu diesen Plänen. Wir gastierten zehn Tage in Schaffhausen. Sieben Tage zuviel. Aber darauf kam es nun auch nicht mehr an. Ellen konnte ein Winterquartier ausfindig machen. Von einer Maschinenfabrik erhielt sie am Stadtrand ein überdachtes Areal. Auch das Konkursamt machte keine Schwierigkeiten. Die Zolldirektion war zuvorkommend. Nur das Wetter war unangenehm. Es regnete seit Frauenfeld fast jeden Tag, der Himmel war schwarz, und zuweilen mischte sich Schnee in den Regen. Trotz den elektrischen Strahlern froren die 174
Leute in den Wohnwagen. Und sie brachten Nässe und Dreck in ihre Kojen. Die zehn abgesprungenen Schweizer konnten wir nicht mehr ersetzen. Am Morgen des letzten Tages fuhr ich nach Zürich. Mit Ellen und William hatte ich ausgemacht, daß ich sie zwei Tage später wieder treffen würde. Ellen hatte in einem Hotel Zimmer reservieren lassen. Ich blieb zwei Tage in Zürich und fuhr dann wieder nach Schaffhausen zurück. Ich ging ins Hotel. Der Concierge sagte mir, die beiden seien nicht angekommen. Das beunruhigte mich kaum. Ich fuhr zum Winterquartier am Stadtrand und glaubte, mich verirrt zu haben. Auf dem überdachten Areal fand sich keine Spur von einem Zirkus. Ich telephonierte mit der Verwaltungsabteilung der Maschinenfabrik, aber dort wußte man auch keine Auskunft. Dann fuhr ich in die Stadt zurück und ging auf das Konkursamt. Wir hatten ausgemacht, die Vereinbarungen erst rechtlich zu bestätigen, wenn sich der Park im Winterquartier befände. Auf dem Konkursamt wußte man auch nichts. Die Papiere waren vorbereitet, aber wohin der Park gekommen war, wußten sie nicht. Da Ellen mir kein Geld schuldete, sah ich nicht ein, warum sie sich nicht an unsere Abmachungen gehalten hatte. Schließlich war sie es gewesen, die in der Schweiz überwintern wollte. Aber dann kam mir William in den Sinn, und ich fuhr zur Grenze. Der gesamte Park hatte in der vergangenen Nacht die Grenze überschritten. Alle Papiere waren in Ordnung. Der Grenzübertritt war rechtzeitig angemeldet worden. Auch die Pässe der Leute waren in Ordnung. Ich wollte wissen, ob Ellen diesen Grenzübertritt veranlaßt und organisiert habe. Nein, sagte man mir, die Frau Direktorin sei krank 175
gewesen. Sie habe in ihrem Wohnwagen im Bett gelegen, und der Zeltmeister habe sie persönlich gepflegt. „War sie tot?“ fragte ich. Die Zollbeamten schauten mich entgeistert an. „Wieso tot?“ fragte der eine. Ich wußte keine Antwort. Und dann sagte ein anderer, der dabei gewesen war: „Die haben womöglich eine Tote hinausgeschmuggelt. Das ist mir doch gleich aufgefallen, als er sagte, die Frau Direktorin habe hohes Fieber, wir dürften sie nicht stören, wir konnten kaum ihr schlafendes Gesicht sehen …“ Meine Frage hatte sie aufgebracht. Zehn Minuten später begann der Apparat zu arbeiten. Ich wurde zurückgehalten. Die Schweizer Kriminalpolizei kam. Es vergingen fünf Stunden, bis die Deutschen den Park gefunden hatten. Er war in der Morgenfrühe in Singen verladen worden und rollte jetzt Hamburg entgegen. Auf irgendeiner Station konnte der Sonderzug angehalten werden. Ellen war tot. William saß betrunken neben ihr. Er hatte sie erschossen. Das konnten sie ihm beim heutigen Stand der forensischen Ballistik beweisen. Aber er konnte weder an jenem Tag noch am nächsten vernommen werden. Er war stockbetrunken, und es schien, er würde sich nicht mehr erholen. Ich hatte keinen Grund, zu schweigen. Man protokollierte meine Aussagen, und dann wurde ich entlassen. Es war Nacht geworden. Ich hatte keine Kraft mehr, nach Zürich zurückzufahren. So übernachtete ich in jenem Zimmer, das Ellen für William hatte reservieren lassen. Später wollte ich nach Hamburg fahren, aber ich ließ es dann doch bleiben. Erst lange später wurde ich von Williams Verteidigung aufgefordert, nach Hamburg zu kommen. Aber ich weigerte 176
mich nun erst recht und erklärte, ich würde vor einem Zürcher Gericht aussagen. Williams Verteidiger kam nach Zürich und war bei meiner Vernehmung anwesend. William konnte nicht verurteilt werden. Er machte während der Dauer der Untersuchungshaft jede Woche eine Eingabe an den Staatsanwalt, an den Haftrichter auch und verlangte, daß man ihm zuerst den Prozeß mache wegen seines Mordes an dem Bataillonskommandeur. Er wurde dann in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen. Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört, und ich bin auch nie mehr nach Hamburg gefahren.
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ack F. Barth hatte während des Sommers kistenweise Unterlagen herübergeschickt: Prospekte, Firmengeschichten, Unterlagen von in den Staaten durchgeführten Werbekampagnen, Aktionspläne, Statistiken und Gutachten von Motivforschern, Belege über Public-RelationsAktionen. Ich öffnete die Kisten. Meine Mutter hatte sie ins Mansardenzimmer schaffen lassen. Jack F. Barth hatte mir auch Briefe geschrieben, immer in der Meinung, ich stecke mitten in der Vorarbeit für die Gründung eines Werbebüros. Er gab mir Ratschläge. Er schrieb mir, ich müßte mein Büro großzügig eröffnen, die Presse einladen, Regierungsmitglieder, Chefbeamte … In anderen Briefen trieb er mich zur Eile an. Deutschland, schrieb er, sei im Kommen, Amerika habe keine andere Wahl. Er machte mich auf die Wirkungen des Marshallplanes aufmerksam. Er schrieb, wenn ich nicht bald beginnen würde, sähen sich seine Klienten anderweitig um. Er schrieb: „Dear Harry, sei nicht einfältig. Bedenke, was wir vorhaben: Wir haben es in Händen, einige große amerikanische Konzerne in Europa zu vertreten. Begreife, was das heißt: In jedem Land ein eigenes Büro, oder wenigstens Geschäftsfreunde. Das bedeutet Macht. Wir arbeiten einander in die Hände, aber du mußt dich beeilen. Unsere Klienten, schließlich, können sich nichts Besseres wünschen …“ 178
Ich hatte keine Eile. Inzwischen erkrankte auch mein Vater. Der Sohn eines befreundeten Uhrmachers führte nun das Geschäft. Manchmal setzte ich mich an das Bett meines Vaters; aber er starrte meistens zur Decke. Brachte ihm meine Mutter etwas zu essen oder zu trinken, zwang er auch mich, davon zu kosten. Er verwendete seine ganze Kraft auf solche Kundgebungen des Mißtrauens. Seine Hände waren gelb und knöchern, die Haut fast durchsichtig. Oft ging ich auch in der Wohnung herum und schaute meiner Mutter bei der Arbeit zu. Meine Mutter erzählte seltsame Geschichten von ihren Bekannten. Mehr als drei Mal erzählte sie mir die Geschichte vom Schuhmacher visà-vis, der seine Wohnung in Herrliberg hatte. Der Schuhmacher war jetzt ganz verstört, seine dreißigjährigen Gewohnheiten waren durcheinander geraten. Während dreißig Jahren war er Tag für Tag mit demselben Morgenzug von Herrliberg in die Stadt gefahren. „Stell dir nur vor, Harry“, sagte meine Mutter, während sie Kartoffeln schälte, „Tag für Tag sitzt er jeweils im dritten Wagen nach der Lokomotive, und Tag für Tag steigt in Küsnacht ein Inspektor des Steueramtes hinzu, und sie kennen sich nun seit bald dreißig Jahren. Jeden Tag sagen sie dieselben Worte zueinander: ,Guten Tag, wie geht’s, danke, mir geht’s, wie geht’s denn Ihrer lieben Frau, danke, ihr geht’s auch gut.’ Ja, der Schuhmacher fragt jeden Tag: ,Wie geht’s Ihrer lieben Frau?’, und jeden Tag erwidert der Inspektor vom Steueramt: ,Danke, ihr geht’s auch gut.’ Und dann reden die beiden über das Wetter, über den Nebel, an den sich beide nicht gewöhnen können, über den Morgenzug, der jeden Tag drei Minuten Verspätung hat, 179
weil in Zollikon Milchkannen eingeladen werden müssen, aber sonst reden sie nicht viel. Und jedes Jahr, wenn der Inspektor in die Ferien verreist, verabschiedet er sich vom Schuhmacher, und so weiß dieser, daß er nun drei oder vier Wochen alleine Zug fahren muß. Er selbst geht nie in die Ferien. Ja, und vor drei Wochen also ist der Inspektor am Morgen plötzlich nicht erschienen. Der Schuhmacher macht sich seine Gedanken. Aber alles Denken hilft ihm nichts, denn er kennt nicht einmal den Namen des anderen. Und er weiß nicht, was dem anderen zugestoßen ist. Krankheit? Der Schuhmacher schüttelt den Kopf. Der Inspektor ist noch nie krank gewesen. Hat er ihn vielleicht beleidigt? Aber daran kann er sich mit dem besten Willen auch nicht erinnern. So denkt und denkt er nach und ist die ganze Zeit nicht bei der Sache und nagelt die falschen Schuhe. Doch nach einer Woche kommt der Inspektor wieder, und unser Schuhmacher ist hocherfreut, so erfreut, daß er den Beamten nicht näher ansieht. Wieder wechseln sie ihre spärlichen Worte: ,Wie geht’s, wie geht’s Ihrer lieben Frau …?’ Und der Beamte sagt: ,Danke, es geht ihr gut.’ Weiter sagt er nichts, und dem Schuhmacher fällt weiter auch nichts auf, wie gesagt, er hat keine Augen für kleine Veränderungen, er sieht den Beamten, wie er ihn nun seit mehr als zwanzig Jahren gesehen hat. Aber als sie ausgestiegen sind auf dem Bahnhof Stadelhofen, da nimmt der Beamte den Schuhmacher zur Seite und sagt: ‚Entschuldigen Sie wegen vorhin: Meiner Frau, meiner lieben Frau, ja so unrecht habe ich ja nicht, wenn ich sage, es gehe ihr gut: Sie ist gestorben, ja, ja, darum bin ich einige Tage nicht erschienen …‘“ 180
Meine Mutter schaute von ihren Kartoffeln auf und sagte nebenbei: „Ja, beerdigen. Es kommt ja selten vor, daß beide miteinander gehen …“ „Nun“, fuhr meine Mutter fort, „da bemerkte der Schuhmacher erst, daß der Beamte einen schwarzen Knopf trägt, eine schwarze Krawatte, und es ist ihm peinlich zumute. Auch den Inspektor läßt das Mißverständnis nicht gleichgültig. Und am anderen Morgen, da er wieder zusteigt auf dem Bahnhof Küsnacht, und der Schuhmacher sich entschuldigen will, fängt der Beamte an mit dem Gespräch, und er ist es, der fragt: ,Und Ihrer lieben Frau?’ Ja, und da sagt der Schuhmacher: ‚Danke, ihr geht’s gut’ Und das geht nun also seit zehn Tagen so, und nach zehn Tagen beschließt der Schuhmacher, den späteren Zug zu benützen, oder den früheren, nur nicht mehr den, den er seit dreißig Jahren benützt hat. Er ist jetzt ganz durcheinander und verstört, kommt er zu früh, ist es ihm nicht recht, kommt er zu spät, ist es ihm auch nicht recht, ja was soll er, der arme Mann?“ „Was soll er“, sagte ich, „was soll er? Er soll wieder seinen Zug nehmen.“ Meine Mutter wehrte mich ärgerlich ab. „Nein, das kann er wirklich nicht, das begreife ich, wo er doch Junggeselle ist, und der andere fragt immer …“ Meine Mutter mußte seit Jahren ein Korsett tragen, und sie war, das fiel mir aber erst jetzt allmählich auf, auch wunderlich geworden. Das Sterben war in ihrem Denken. Sie sprach oft zu mir darüber. „Du wirst sehen“, sagte sie oft zu mir, „er macht es nicht 181
mehr so lange. Er wird bald sterben. Und ich muß jetzt Geduld haben …“ Sie redete von meinem Vater. Und immer wieder kam sie auf das Schicksal des Schuhmachers zurück. „Ich weiß schon, was er tun müßte“, sagte sie zu mir, „er müßte heiraten. Er braucht in seinem Alter kein Aufhebens davon machen. Er kann in aller Stille heiraten. Und dann hat er seine Ruhe wieder. Dann kann er wieder mit dem gewohnten Morgenzug fahren …“ Ich stelle fest, daß es spät am Abend ist. Man hat mir heute früh eine Tischlampe gebracht, obwohl es in der Zelle keine Steckdosen gibt. Der Elektriker hat dann die Tischlampe an die Deckenbeleuchtung angeschlossen. Ich werde auf die Zeit aufmerksam, weil ich Schritte gehört habe. Hier im Polizeigefängnis sind Schritte in der Nacht selten. Es sei denn, sie haben einen Mörder gefangen und führen ihn alle zwei Stunden zur Vernehmung. Meine Türe wird geöffnet. Ich fahre herum, ich denke, jetzt haben sie neue Saiten aufgezogen, jetzt holen sie mich alle zwei Stunden zur Vernehmung, meine Geschichte des Geschichtenerfinders ist doch eine schlechte Geschichte. Es ist der Kommandant. „Entschuldigen Sie“, sagt er, die halbabgebrannte Zigarre im Mundwinkel. „Ich habe Ihnen einen Nachbarn gebracht. Er soll eine ruhige Nacht in einer angenehmen Zelle haben. Ein merkwürdiger Mann …“ Der Kommandant hat die Zellentüre hinter sich zugezogen. Aber nun wird er gerufen. Ein Polizist verlangt Anweisungen. 182
„Gehen Sie in mein Büro“, sagt der Kommandant, „und bringen Sie einen Whisky herauf …“ Der Polizist ist verwirrt, er hat eine Frage auf den Lippen, aber er schweigt und geht. „Ich habe Sie durch das Guckloch beobachtet“, sagt der Kommandant, „und ich hatte mit einemmal das Bedürfnis, mit Ihnen zu plaudern. Sie sind ja noch wach? Sie arbeiten? Wenn Ihnen dieser Lampenschirm nicht zusagt, sagen Sie es. Ich finde das Licht zu grünlich. Man kann den Schirm auswechseln. Licht ist wichtig, auch die Farbe des Lichts …“ Er setzt sich auf die Pritsche, seine Füße erreichen gerade den Boden. „Als ich als siebenjähriger Junge den Wunsch hatte, Polizist zu werden, weil wir einen Polizisten im Hause hatten und weil diese Familie immer zu essen hatte, keine Arbeitslosigkeit kannte, keinen Hunger, keine Not, und wir hatten arge Zeiten durchzumachen, neunzehnhundertachtzehn, als ich damals den Wunsch hatte, zur Polizei zu gehen, dachte ich nur an Sicherheit, nicht an die Schicksale, das Abenteuer, die Tragödie der menschlichen Seele, deren Zeuge ich immer wieder wurde …“ Der Polizist bringt den Whisky. Er klopft, bevor er eintritt, wie ein Zimmerkellner in einem Hotel. „Danke“, sagt der Kommandant, „Sie können gehen. Ich bleibe noch.“ Der Polizist geht. Er grüßt auch mich. So, als wäre ich Gastgeber. Der Kommandant erzählt: „Iphraim betrat heute abend um sechs das Restaurant 183
,Hungaria’. Er setzte sich an einen Zweiertisch, studierte die Speisekarte und bestellte ein Huftsteak, Salat, dazu Rotwein. Er sieht sehr ruhig aus. Er sieht so aus, daß man ihm vom ersten Augenblick an Vertrauen schenken muß. Nun ißt er sein Huftsteak und seinen Salat und trinkt seinen Rotwein. Um halb sieben betritt ein Mann namens Steiglitz ebenfalls die ,Hungaria’. Steiglitz ist fünfundzwanzig Jahre alt, stammt aus Pommern. Seine Familie lebt jetzt in Westdeutschland. Er studiert an der Eidgenössischen Technischen Hochschule. Zwischen ihm und Iphraim stehen zwei Tische. Aber so, wie sie sitzen, müssen sie sich ins Gesicht blicken, wenn sie den Kopf heben. Steiglitz bestellt für sich das dritte Menü. Iphraim trinkt Kaffee, einen Cognac und wartet. Er wartet, bis Steiglitz sich mit der Serviette den Mund abwischt. Und dann geschieht es: Iphraim zieht eine Pistole hervor, zielt kurz und schießt. Steiglitz fällt mit dem Gesicht auf den Tisch. Außer den beiden sind sieben Gäste im Restaurant, fünf Kellner, zwei Frauen hinter der Theke und der Wirt. Iphraim winkt ruhig, als wäre nichts geschehen, dem Kellner und verlangt die Rechnung. Er bezahlt, steht auf und verläßt das Lokal. Er geht in Richtung Beatenplatz, dann in Richtung Bahnhofbrücke. Auf der Bahnhofbrücke angekommen, läßt er die Pistole in die Limmat fallen. Er geht weiter. Als wir mit der Mordkommission eintreffen, ist es zehn nach sieben. Steiglitz wurde von keinem der Anwesenden berührt. Wir riegeln die Türen ab, alle behaupten, keiner außer dem Mörder habe das Restaurant inzwischen verlassen. Wir lassen uns den Täter beschreiben. Ein paar Widersprüche gibt es bei solchen Fällen immer, aber wir können uns ein Bild machen und 184
die Verfolgung aufnehmen. Der Wirt sagt, er sei dem Mann bis auf die Straße nachgegangen, und so habe er sehen können, daß er sich in Richtung Beatenplatz davon gemacht habe, langsam wie ein Spaziergänger. Weshalb hat sich keiner dem Mörder in den Weg gestellt? Es habe gar nicht nach Mord ausgesehen, sagen die Gäste, die Kellner und die Frauen hinter der Theke. Erst als er weg war und als Steiglitz keine Miene machte, sich wieder aufzurichten … Hat man einen Schuß gehört, oder hat man keinen Schuß gehört? Man hat einen Schuß gehört. Wir sichern die Spuren, wir stellen die Fotoapparate und die Spotlights auf. Es wird neun Uhr, bis wir wegkommen. Ich allerdings bin bereits um halb neun im Mordbüro. Iphraim wird gebracht. Sie haben ihn am Limmatquai, in der Mitte zwischen der Bahnhofbrücke und der Uraniabrücke festgenommen. Iphraim Zähler heißt der Mann und gesteht, ohne daß wir eine Frage zu stellen brauchten. ,Ich wollte noch ein wenig Luft schnappen’, sagt er, ,weil mir diese Stadt gefällt und weil mein Flugzeug erst um elf abfliegt.’ Wohin? Nach Tel Aviv. Iphraim hat eine Flugkarte auf sich. Und er kennt sein Opfer ganz genau: Dieter Steiglitz, fünfundzwanzig, Student, und so weiter. Er hat ihn also vorsätzlich erschossen. Seit zwei Jahren suchte er ihn. In Düsseldorf fand er seine Spur, und er folgte ihm nach Zürich. ,Daß ich ihn ausgerechnet im Restaurant erschossen habe’, sagt Iphraim, ,hängt nur damit zusammen, daß mein Flugzeug um elf abfliegt. Meine Zeit ist knapp. Sehen Sie, ich habe kein Geld mehr. Ich muß zurück. Ich hatte ihn schon einmal vor mir. Das war in einem Hörsaal. Ich hoffte, ich würde ihm bei einer besseren Gelegenheit begegnen. Aber 185
ich bin nicht an ihn herangekommen. Und heute abend betritt er plötzlich das Restaurant, setzt er sich in meine Nähe. Ich schieße. Es ist mir gleichgültig, was nachher geschieht. Aber es geschieht nichts, und jetzt weiß ich, es wird nichts geschehen …‘ ‚Ja nun’, frage ich endlich, ‚weshalb haben Sie ihn denn erschossen?’ Eine Judengeschichte: Die Zählers wohnten damals in Pommern. Der Vater des toten Dieter war Parteimitglied und SS-Offizier. Eines Nachts ließ er die Familie Zähler wegschaffen. Nur der jüngste Sohn Iphraim hatte sich im Estrich oben ein Zelt aufgeschlagen. So entkam er. Natürlich wurde er gewarnt, und Nachbarsleute verhalfen ihm zur Flucht. Er hatte Glück und gelangte gelegentlich nach Israel. Als der Krieg zu Ende war, kehrte er nach Deutschland zurück, um Steiglitz zu suchen. Er brauchte Jahre dazu. Immer wieder kehrte er nach Israel zurück. Er arbeitete, legte Geld auf die Seite, um wieder nach Deutschland zurückzukehren. Endlich kam er den Steiglitz’ auf die Spur. Aber der alte Steiglitz hatte sich das Leben genommen, und von den vier Söhnen waren bis auf Dieter alle im Krieg gefallen. Ich sagte zu Iphraim: ,Was kann denn dieser Dieter dafür? Er war noch nicht einmal auf der Welt, als der alte Steiglitz deine Familie wegschaffen ließ. Und jetzt kommst du, Jahrzehnte später …‘ Iphraim blieb unbewegt. ,Das ist Gesetz’, erwiderte er. ,Nein’, sagte ich, ,das ist nicht Gesetz. Das ist Mord.’ ,Sie kennen eben das Gesetz nicht’, fährt Iphraim fort. 186
,Das Gesetz heißt nämlich, Gott wird sie verfolgen bis ins vierte und fünfte Glied.’ ,Gut’, sagte ich darauf, ,gut, aber du bist schließlich nicht Gott.’ ,Ich bin sein Werkzeug …‘ Da standen wir also noch immer um ihn herum; verlegen. Keiner hatte eine Antwort bereit. Ich telephonierte in die ,Hungaria’, wo man noch immer mit der Spurensicherung beschäftigt war. Die Zeugen kamen. Ich nahm sie in mein Büro, die Gäste, die Kellner, die Frauen von der Theke und den Wirt. Ich teilte ihnen mit, was über Iphraim bis jetzt feststand. Sie schwiegen. Ich sagte, Iphraim sei vielleicht gar nicht der Mörder. Das Geschirr und das Besteck, das er zum Essen benützt hatte, war in die Spülmaschine getan worden, bevor die Polizei eingetroffen war. Es fehlten Spuren, vor allem fehlten Fingerabdrücke. Ich würde ihnen nun Iphraim vorführen, und sie müßten mir sagen, ob es sich um den Mörder handle oder nicht. Und als ich gehen wollte, um Iphraim zu holen, trat einer der Kellner vor, jener, der den Mörder bedient hatte, und sagte: ‚Nein, er ist es nicht.’ Ich blickte ihm in die Augen und ließ ihn stehen. Die Zeugen blieben zurück, als wären sie Geschworene und müßten jetzt den Wahrspruch finden. Ich kehrte nicht allein mit Iphraim zurück. Ich wollte nicht allein die Verantwortung tragen für das, was nun geschehen würde. Ich nahm den Staatsanwalt mit und den Chef der Städtischen Kriminalpolizei. Und dann stand Iphraim Zähler vor den Zeugen. Die Gesichter der Zeugen blieben unbeweglich. Der Staatsanwalt verlor die Geduld. Er forderte 187
die Zeugen auf, eindringlich, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Er ging auf die Zeugen zu, er blieb vor dem ersten stehen und fragte: ,Ist das der Mann, der geschossen hat?’ Der Zeuge sieht dem Staatsanwalt gerade in die Augen und erwidert: ,Nein!’ Der Staatsanwalt versucht es mit dem zweiten Zeugen. Auch dieser sagt nein. Und so geht er von Zeuge zu Zeuge, und jedesmal wiederholt er sein ,die Wahrheit und nichts als die Wahrheit’, und jeder antwortet mit einem Nein. Dann läßt der Staatsanwalt ein Protokoll aufnehmen, und die Zeugen müssen es unterschreiben. Sie können gehen. Während sie gehen, beobachte ich sie genau. Ich sehe den Glanz in ihren Augen, als sie an Iphraim vorbeigehen und ihm zunicken. Um elf kamen unsere Leute zurück. Sie hatten Spuren gesichert, aber keine, die Iphraim belasten. Nicht eine Faser seines Kleides war auf dem Stuhl oder am Tisch zu finden. Und wie gesagt, das Geschirr, aus dem er gegessen hatte, war schon gespült, als wir eintrafen. Ich war dafür, den Mann freizulassen, aber der Staatsanwalt klammerte sich an das Geständnis. ‚Unsere Seepolizei, die Taucher und die Froschmänner werden die Mordwaffe aus der Limmat fischen’, sagte er, ,und dann …‘ Ich schwieg, alle schwiegen. Auch der Chef der städtischen Kriminalpolizei. Ich brachte den Gefangenen selbst in die Zelle. Ein Polizeimann begleitete mich. Und nun bin ich hier …“ Erst jetzt greift der Kommandant zum Whisky. „Das wird eine schlaflose Nacht absetzen“, sagte er. „Ich 188
könnte verrückt genug sein und Sie jetzt auf einen Spaziergang mitnehmen. Aber ich will Ihnen Ihre Chance nicht verderben. Ich habe Rappold beobachtet. Er hat sich verändert. Es könnte ihm durchaus einfallen, mitten in der Nacht herzukommen. Ich möchte nicht, daß er Sie nicht in der Zelle antrifft. Er hat mir gestern gesagt, er wisse jetzt, weshalb während meiner Amtszeit als Chef der städtischen Kriminalpolizei kein Kapitalverbrechen unaufgeklärt geblieben sei. Ich weiß es nicht. Ich kann nichts dafür …“ Der Kommandant schenkt sich noch einen Whisky ein, sagt aber, das sei der letzte, er werde sich nun verabschieden, er brauche ein bißchen Bewegung. Bevor er geht, sagt er mit einem maliziösen Lächeln: „Ich nehme an, Sie würden an meiner Stelle auch so handeln. Die Seepolizei, die Taucher und die Froschmänner sollen die Iphraim-Zähler-Geschichte erfahren, bevor sie untertauchen und nach der Mordwaffe suchen …“ Der Kommandant ist nicht allein ohne Schlaf diese Nacht. Kaum ist er gegangen, lege ich mich nieder; aber ich finde den Schlaf nicht. Neben mir, nur durch eine Mauer getrennt, schläft wohl Iphraim. Oder schläft er nicht? Ich horche. Ich gehe zur Mauer und lege mein Ohr daran. Ich höre nichts. Ich beschließe, wach zu bleiben. Ich setze mich an den Tisch und schreibe. „Ich beschloß eines Tages, meine Mutter ins Theater zu führen. Man gab ein Lustspiel von Nestroy. Am Vormittag kurz nach zehn Uhr begab ich mich zur Vorverkaufskasse, um zwei Karten für den Abend zu kaufen. Ich stand im kleinen Lift und drückte den Schaltknopf für den vierten, statt für den ersten Stock. Ich war nicht bei der Sache. 189
Meine Gedanken waren bei Barbara. Und ich merkte es erst, als ich den Lift verlassen hatte. Da stand ich und suchte vergebens die rote Tafel: ‚Vorverkauf’. Dafür vernahm ich erregte Stimmen zweier Männer. Die Korridortüre war zu. Aber die beiden Männer sprachen so laut miteinander, daß ich die Worte verstehen konnte. Ich blieb stehen. Ich hörte zu. ,Wo nichts ist’, rief plötzlich der eine, ,da hat selbst ein Kaiser sein Recht verloren …‘ Ich ging dicht an die Korridortüre heran. Die beiden Männer stritten sich anscheinend um einen Mietvertrag. Das hatte ich bald heraus: Der eine war der Vermieter, der andere war der Mieter. Sie hatten wohl einen Vertrag miteinander. Der Vermieter schrie, er habe nun insgesamt sechstausend Franken in die Renovation der Büros gesteckt. Laut Vertrag müsse der Mieter die Hälfte dieses Betrages übernehmen. Und der Mieter rief, er habe weder dreitausend, noch dreihundert, noch dreißig Franken. ,Ich werde gerichtlich gegen Sie vorgehen’, drohte der Vermieter. Sie begannen immer wieder von neuem: Der Vermieter führte die sechstausend Franken an, der Mieter erwiderte, weder könne er den vertraglich vereinbarten Teilbetrag bezahlen, noch könne er die Büros überhaupt übernehmen. ,Ich habe doch gestern den Konkurs anmelden müssen. Gehen Sie zum Konkursrichter!’ schrie der Mieter. Ich öffnete die Korridortüre und trat ein. ‚Meine Herren’, sagte ich laut und freundlich, ,meine Herren, ich bin die Rettung. Ich übernehme nicht nur die Büros, ich übernehme auch die sechstausend Franken. Mein Name ist …‘ 190
Zuerst waren die beiden Herren sprachlos. Dann stellten sie sich vor. Der Vermieter war ein Meierhans, der Mieter hieß Fuchs. Fuchs atmete auf. Meierhans, Eigentümer des Hauses, wie es sich bald einmal herausstellte, war über mein Erscheinen nicht erfreut. Dreimal sagte er … ,So oder so, einen Schadenersatz müssen Sie mir leisten.’ Ich sagte: ,Ich übernehme alles.’ ,Das kommt nicht in Frage, Herr Fuchs hat mir einen Schadenersatz zu leisten.’ ‚Inwiefern, Herr Meierhans, haben Sie denn durch mich Schaden gelitten?’ fragte Fuchs. ‚Insofern, insofern, was heißt überhaupt insofern? Sie haben den Vertrag unterschrieben, Ihr Anteil an der Renovation beträgt dreitausend Franken, das ist es.’ ,Ich übernehme auch Ihren Anteil, Herr Meierhans’, sagte ich, ,Hauptsache, Sie überlassen mir diese Büros, denn ich muß hier eine Filiale des amerikanischen ‚FreedomKonzerns’ einrichten.’ Herr Meierhans ließ nicht locker. Es ärgerte ihn, daß Herr Fuchs darum herum kam, Schadenersatz zu leisten. Fuchs rief immer wieder: ,Aber ich bin doch pleite, Herr Meierhans, was wollen Sie denn?’ Herr Meierhans war auch mir gegenüber mißtrauisch. Ich nannte ihm Bankverbindungen. Mürrisch ließ er sich zum Mittagessen einladen, mürrisch wartete er, bis die Banken 191
wieder öffneten, und dann begann er von der Kabine aus zu telephonieren. Immerhin lockte ihn das Angebot, das ich ihm gemacht hatte: Nämlich die Renovationskosten ganz auf mich zu nehmen. Herr Fuchs trennte sich nicht von uns. Er wollte wissen, zu welchem Ende wir kommen würden. Zu Herrn Meierhans sagte ich schließlich: ,Bitte rufen Sie Oberst Hug an. Erkundigen Sie sich bei Oberst Hug über meine Person.’ Das tat er nicht. ,Die Bankauskünfte’, sagte er nun, ‚genügen mir.’ Und zu Fuchs gewandt, fügte er hinzu: ,Daß Leute wie Sie so billig davonkommen, ist nicht in Ordnung …‘ Herr Fuchs regte sich über diese Worte nicht auf. Es war fast vier Uhr, als wir die Mietverträge unterschrieben. Ich verlangte, daß er mir den zweiten und dritten Stock ebenfalls überlasse, falls die jetzigen Mieter ausziehen würden. Herr Meierhans war damit einverstanden. Und als ich die Frage auf die Einrichtung brachte, stellte sich Herr Fuchs als Möbelhändler vor; er handle auch mit Büromaschinen, sagte er. Meierhans sah es nicht gerne, daß ich mit Fuchs ins Geschäft kam. Wir stellten eine Liste der Möbel und Büromaschinen auf. Diese Liste wurde so umfangreich, daß ich Fuchs vorschlug, meine Büros völlig einzurichten und zu organisieren. Zu Meierhans sagte Fuchs: ‚Sehen Sie, jetzt könnte ich meinen Verbindlichkeiten wieder nachkommen …‘ Ich ging nach Hause. Meine Mutter war unzufrieden, weil ich mich den ganzen Tag nicht gemeldet hatte. Ich 192
sagte, daß ich mein Büro organisiert hätte. Sie sah mich mit großen Augen an: ,Du tust immer so bescheiden, Harry, wir meinen immer, du arbeitest nichts, und dabei arbeitest du in aller Heimlichkeit ganz gewaltig.’ Sie bat mich, die Wohnung für kurze Zeit zu hüten, weil sie einkaufen müsse. Ich setzte mich zu meinem Vater ans Bett. Er war nur noch Haut und Knochen, aber er weigerte sich, ins Krankenhaus gebracht zu werden. Der Arzt, der zuweilen einen Spezialisten beigezogen hatte, verweigerte jede Auskunft über die Krankheit meines Vaters. Es war die Rede von einer Art Blutzersetzung, dann wieder vom Krebs. Der Arzt sagte einmal, mein Vater habe wohl unlängst in der Nacht einen leichten Schlaganfall erlitten, und meine Mutter hätte dies nicht bemerkt. Mein Vater war hartnäckig krank; er wollte gar nicht gesund werden. Er bestrafte uns mit seiner Krankheit. Seine Krankheit war nichts anderes als ein Vorwurf an uns und an die Umwelt überhaupt. Ich saß an seinem Bett; aber wir redeten kaum ein Wort. Ich saß schon länger als eine Viertelstunde bei ihm, als es an der Wohnungstüre klingelte. Ich ging hinaus und öffnete. Ein Mann trat in die Wohnung. Ich schloß die Türe. Er war so selbstverständlich eingetreten, daß es mir gar nicht in den Sinn gekommen war, zu fragen, wer er sei und was er wolle. Jetzt blieb er stehen und musterte mich. Ich schätzte sein Alter gegen siebzig Jahre. In der strengen Novemberkälte ging er ohne Mantel und ohne Kopfbedeckung. Er hatte einen beinah kahlen Schädel. Die wenigen Backen- und Nackenhaare waren weiß. Er trug einen dunkelblauen Anzug, der ihm zu groß 193
war. Vielleicht hatte er den Anzug von der Winterhilfe oder von der Heilsarmee bekommen, überlegte ich. Sein Hemd war aus rotem Barchent. Anstelle einer Krawatte trug er eine schwarze Kordel. ,Sie sind der Sohn?’ Ich nickte: ,Und wer sind Sie?’ ,Ich besuche Ihren Vater.’ Er ließ mich stehen und ging auf die Zimmertüre zu. Er ging so sicher auf diese Türe zu wie einer, der sich in der Wohnung gut auskannte. Ich folgte ihm. Als mein Vater den Mann sah, kam Leben in ihn. Seine Augen glänzten. ,Laß uns allein’, befahl er. Ich ließ die beiden und ging ins Wohnzimmer. Aber ich beobachtete sie durchs Schlüsselloch. Der Fremde redete jedoch so leise, daß ich kein Wort verstand. Ich sah nur das Gesicht meines Vaters. Es fiel mir auf, wie angestrengt er zuhörte. Der Besuch des Fremden dauerte ungefähr zehn Minuten. Er gab meinem Vater die Hand, ging auf die Türe zu und kehrte aber wieder zum Bett zurück. Mein Vater nickte. Der Mann öffnete die kleine Nachttischschublade und nahm Vaters Brieftasche. Er drückte sie geöffnet meinem Vater in die Hände. Mein Vater zog einen Hundertfrankenschein heraus. Der Fremde faltete die Note und steckte sie ein. Dann legte er die Brieftasche an ihren Ort zurück, gab meinem Vater nochmals die Hand und kam aus dem Zimmer heraus. Ich folgte ihm. Als er die Wohnung verlassen wollte, rief ich: ,Wer sind Sie, und was soll das?’ Er ließ die Türklinke los, drehte sich um, schwieg und 194
blickte mir in die Augen. In diesem Augenblick öffnete sich die Schlafzimmertür. Mein Vater erschien, er, der seit Wochen sein Bett nicht mehr verlassen hatte. ,Laß ihn!’ schrie er mich an. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Fremden, und dann ging er. Als ich wieder am Bett meines Vaters stand, schaute er mich haßerfüllt an, sagte aber kein Wort. Die Geschichte mit dem Fremden begann vor zwei oder drei Jahren. Eines Abends erschien mein Vater niedergeschlagen zum Nachtessen. So sehr meine Mutter auf ihn eindrang, wollte er nichts berichten. Aber schließlich erzählte er es doch. Vor Wochen war er wie so oft zum ,Uhren-Huber’ am oberen Rennweg gegangen, um Bestandteile zu kaufen. Er schlug wie immer den Weg über die Helmhausbrücke ein, und in Gedanken versunken, achtete er kaum auf die anderen Leute. Plötzlich stieß er mit einem Mann zusammen, blieb stehen, wollte sich entschuldigen, aber als er das Gesicht dieses Mannes sah, hatte er das Gefühl, ihn zu kennen. Nicht so zu kennen, wie er jetzt vor ihm stand: Verwahrlost, schmutzig, unrasiert, mit wäßrigen Augen. Mein Vater konnte sich nicht erinnern, wo, wann und in welchem Zusammenhang er diesen Mann kennengelernt hatte. Nur eines fühlte er: Diese Begegnung bedeute nichts Gutes. So ließ er den Fremden stehen und eilte davon. Als er beim ,Uhren-Huber’ die Bestandteile gekauft hatte, ging er einen anderen Weg zurück, die Strehlgasse hinunter zum Weinplatz und über die Gemüsebrücke. Doch als er sich dem Rathaus näherte, sah er zwischen den gegenüberliegenden Früchteständen wieder den Fremden. Dieser nickte, lächelte und grüßte. Das war die 195
erste und die zweite Begegnung gewesen. Mein Vater begegnete dem Fremden von da an noch öfters. Er begegnete ihm nicht jedesmal, wenn er zum ,Uhren-Huber’ ging, aber meistens stand der Fremde auf der Brücke und lächelte meinem Vater zu. Mein Vater begann Umwege zu machen. Er ging den Limmatquai hinunter, über die Rudolf-BrunBrücke. Mein Vater ging zum Bellevue und über die Quaibrücke, was einen großen Umweg bedeutete, aber dem Fremden entging er nur selten. An jenem Abend, als er uns von diesen Begegnungen mit dem Fremden berichtete, hatte ich das Gefühl, mein Vater habe Angst. Allerdings behauptete er, er fürchte sich nicht, noch fühle er sich bedroht. Einige Zeit verging. Wir sprachen nicht mehr davon. Ja, ich vergaß diesen Fremden, schließlich war ich auch unterwegs. Doch als ich ein Jahr später wieder für einige Zeit zu Hause war, bat mich mein Vater eines Tages, das Geschäft für eine halbe Stunde zu hüten. Wenn er etwas besorgen wollte, mußten immer meine Mutter oder ich das Geschäft hüten. Mein Vater sagte, er gehe zum ,Uhren-Huber’, in einer halben Stunde sei er spätestens wieder zurück. Ich wartete eine halbe Stunde. Mein Vater kam nicht zurück. Ich rief beim ,Uhren-Huber’ an, und man sagte mir, mein Vater sei gar nicht da gewesen. Ich wartete drei Stunden, dann telephonierte ich der Stadtpolizei. Meinem Vater konnte ja auf der Straße etwas zugestoßen sein. Der Polizei war nichts bekannt, man riet mir aber, mich beim Kantonsspital zu erkundigen. Aber auch im Kantonsspital war nichts zu erfahren. Ich wartete. Jedesmal, wenn sich die Ladentüre öffnete, dachte ich, die Polizei komme, um zu melden, daß mein Vater unter ein Auto oder 196
unter das Tram gekommen sei. Aber die Polizei kam erst kurz nach sechs Uhr. ,Es ist mir sehr peinlich’, sagte der Polizist, ,aber ich kann nichts ändern. Wir haben draußen im Wagen Ihren Vater. Er ist betrunken. Man hat ihn in der Langstraße aufgefunden. Er lag in einem Hauseingang auf dem Boden und schlief. Kommen Sie, helfen Sie uns, ihn in die Wohnung zu bringen …‘ Mein Vater war inzwischen wieder zu sich gekommen. Er war noch immer betrunken. Er lächelte und sang etwas vor sich her, was er an diesem Nachmittag gehört haben mußte. Aber sprechen wollte er nicht. Dennoch kam ich auf die Zusammenhänge. Mein Vater sagte beispielsweise: ,He, he, ich habe einen Freund, ich habe einen guten Freund.’ Als die Polizei wissen wollte, ob mein Vater bestohlen worden sei und durch wen, stellte es sich heraus, daß er tatsächlich keinen Rappen mehr bei sich hatte, aber ich schwieg, ich gab nicht preis, was ich wußte oder zumindest ahnte. Meine Mutter weinte. Schließlich ging die Polizei wieder. Wir brachten meinen Vater zu Bett. Er fiel sogleich in einen schweren Schlaf. Als wir ihn am nächsten Morgen aushorchen wollten, wurde er böse. Über den Fremden fiel kein Wort. Später, als ich wieder unterwegs war, schrieb mir meine Mutter, Vater werde von Monat zu Monat seltsamer. Nun komme es vor, daß er mitten am Nachmittag das Geschäft schließe und verschwinde. Er sage ihr jeweils kein Wort davon. Niemand wisse, wohin er gegangen sei. Pünktlich um halb sieben, wenn die Läden schließen, er197
scheine er in der Wohnung, schweigend; aber er sei nicht betrunken. Sie wisse sich nicht mehr zu helfen. Ich schrieb ihr, sie soll ihm einmal folgen. Aber als sie es versuchte, sah er sie und trat beim Milchmann in den Laden. Dann kehrte er zurück und tat, als wäre nichts geschehen … Als meine Mutter an diesem Abend zurückkam, berichtete ich ihr von dem Besuch. Ich berichtete ihr aber nichts Neues. ‚Ja, ja’, sagte sie seufzend, ,er taucht jede Woche einmal oder zweimal auf. Er grüßt nicht einmal. Er geht zu ihm ans Bett, und dein Vater will nicht, daß ich dabei bin.’ ,Er gibt ihm Geld’, sagte ich. ‚Ja, ja, so fünf Franken … soll er meinetwegen.’ Ich sagte nicht, daß Vater ihm heute hundert Franken gegeben hatte, aber ich beschloß, diesem Fremden auf die Spur zu kommen. Meine Mutter erriet meine Gedanken. ,Laß die Finger davon, Harry’, sagte sie. ,Das geht uns nichts an.’ ,Der Fremde ist ein kleiner Gauner, das ist alles.’ ,Ich möchte dich daran erinnern, daß dein Vater damals, als er dem Fremden zum ersten Male begegnet war, Angst vor ihm hatte.’ ,Und?’ fragte ich. ,Man hat niemals grundlos Angst, Harry. Laß die Finger davon.’ Ich horchte natürlich auf. ,Was meinst du damit?’ ,Was weiß ich. Ich vermute das nur so.’ ,Du vermutest das nicht nur so, du hast einen bestimmten Verdacht, nein, du weißt sogar, weshalb er Angst hat.’ 198
,Nein, Harry, wirklich nicht! Ich habe das nur so gesagt. Mein Gott, Harry, vielleicht sogar aus Bosheit, weil er mir auf die Nerven geht, dein Vater. Ein Leben lang hat er zu wenig Geld verdient, um seine Frau in die Ferien schicken zu können, aber jetzt hat er Geld genug, um es einem Fremden nachzuwerfen. Vielleicht wünsche ich mir, daß dein Vater nicht so sauber dasteht, wie er es möchte. Ja, wirklich … Ach, Harry, ich weiß ja nicht, was ich rede, laß mich in Ruhe mit diesem Fremden.’ Ich beschloß, diesem Fremden bei nächster Gelegenheit nachzugehen.“ Rappold erscheint gegen drei Uhr. Wir gehen sogleich ins Sitzungszimmer des Kommandanten. Rappold macht einen zuversichtlichen Eindruck. Er pafft geradezu gemütlich an seiner Zigarre. Er hat eine prallvolle Aktenmappe mitgebracht. Die Freundlichkeit gilt mir. „Freuen Sie sich nicht zu früh, Herr Wind, etwas kann dennoch an Ihnen hängen bleiben. Ich gebe zu, ich bin Ihnen einigermaßen auf den Leim gegangen. Vielleicht deshalb, weil man mich vor Ihnen gewarnt hat, das heißt vor Ihren Geschichten. Aber meine Aufgabe besteht nicht nur darin, Ihre Geschichten zu Protokoll zu bringen. Ich muß auch Ihre Verantwortung für jene Denkschrift feststellen. Sie machen sich eine Art Vergnügen daraus, des Landesverrates verdächtigt zu werden. Sie sind nicht ohne boshafte Ironie, Herr Wind. Sie leben auf Ihre Art vom Sarkasmus. Sie haben einen grimmigen, einen schwarzen Humor, Herr Wind. Was ich verstehe, wenn man wie Sie in die Zusammenhänge hineinsieht. Ich habe Sie durchschaut, Herr Wind …“ 199
Das alles sagt er, pausenlos. Das Tonband läuft. Ich habe nichts zu erwidern. Da ich schweige, blickt er mich an. Eine Art von Siegesgewißheit strahlt aus seinem Gesicht, und dann gibt er mir, fast feierlich in der Gebärde, einen Zeitungsausschnitt. Ich lese: „Was in den vergangenen Tagen gegen Major Wind, Generalsekretär der Schweizer Wehrgesellschaft, geschrieben und gesagt worden ist, widerspricht in allen Teilen dem, was Major Wind bis zum Tage seiner Verhaftung geleistet hat. Man darf in Erinnerung rufen, daß Major Wind, damals noch Hauptmann im Generalstab, ein maßgeblicher Mitbegründer der Schweizer Wehrgesellschaft war. Man darf in Erinnerung rufen, daß die Schweiz es seinem Einfallsreichtum, seinem Einsatzwillen, seinem unerschütterlichen Glauben an die Existenz der freiheitlichen Schweiz verdankt, daß wir die kommunistische Initiative besiegt haben, eine Initiative, die verlangte, daß das Rüstungsbudget um einen vollen Drittel zugunsten des sozialen Wohnungsbaues, zugunsten des Ausbaues der Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung gekürzt werde. Es sei damit nicht das Wort geredet gegen jede Form von Besserstellung unserer Arbeiterschaft, aber es darf und muß in Erinnerung gerufen werden, daß auch diese Initiative nicht eine Besserstellung der Arbeiter im Auge hatte, sondern die Unterminierung unserer Wehrkraft. Es war Major Wind, der dies erkannte, es war Major Wind, der eine Gegenaktion auslöste und sie leitete. Ich hatte das Glück, Major Wind in seiner Jugend kennenzulernen. Major Wind verfügt über einen scharfen Intellekt und über einen fanati200
schen Gerechtigkeitssinn. Die Existenz der Schweizerischen Unabhängigkeit ist ihm innerstes Anliegen. Er hat sich für diese Sache geopfert, er hat sich anfeinden lassen, als Kriegshetzer (was das Lächerlichste ist, was man ihm nachsagen kann) verschreien lassen. Man frägt sich allen Ernstes, was ist das für eine Kopfjägerei, die plötzlich gegen Major Wind ausgelöst wurde. In welchem Verhältnis steht dieser Verdacht, er habe politischen, wirtschaftlichen und sogar militärischen Landesverrat begangen, gegenüber dem, was er während Jahren geleistet hat? Weshalb, frägt man sich, ist es den Untersuchungsorganen bisher nicht eingefallen, die Schuldigen anderswo zu suchen? Es liegt doch auf der Hand, daß gewissen Regierungen alle Mittel recht sind, den freien Westen schlecht zu machen, das Verhältnis unter den westlichen Staaten zu stören. Weshalb, frage ich, sollen diese Mächte die Schweiz verschonen? Und schließlich: Welche Motive könnte Major Wind gehabt haben, eine solch ungeheuerliche Tat zu tun? Zugegeben: Major Wind hat immer eine sehr offene Sprache gesprochen. Er hat niemals den Vorstand der Schweizer Wehrgesellschaft verschont, wenn es darum ging, Eigenliebe, Eigennutz, Verlogenheit aufzudecken, ja zu geißeln. Sein Spott, sein Sarkasmus war immer gefürchtet, hat es anderseits seinen Gegnern leicht gemacht, den Spieß gegen ihn zu drehen, indem seine Gegner behaupteten, er nehme die Sache nicht ernst, er sei ein Geschäftemacher übelster Sorte … Alles bekannte, ja allzu bekannte Anwürfe, und man sollte endlich wissen, wo die Urheber solcher Verleumdungen sitzen. Oberst Wilfried Hug, Ständerat
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„Ja“, sage ich zu Rappold, „ein gewisser Widerspruch ist nicht zu verkennen.“ „Ich habe gestern abend, das heißt bis heute morgen gegen vier Uhr“, sagte Rappold, „mit Korpskommandant Sturzenegger zusammengesessen. Er war während des Nachtessens zugeknöpft, unzugänglich, mürrisch. Wir tranken erst Pinot Noir, dann Schladerer. Er hatte ihn kürzlich aus dem Schwarzwald mitgebracht. Er sagte: ,Ob Verrat oder nicht Verrat, ist eine Frage des Datums. Wenn schon, dann sind wir alle mitschuldig. Wir waren uns selbst zu fein, zu gut, um beispielsweise die Redaktoren für unsere Sache zu gewinnen. Wir wußten, daß Harry die Presse beeinflußt hat. Wir verabscheuten es. Wir überließen es ihm, schmutzige Hände zu bekommen. Das ist der Grund, weshalb wir ihm nicht oder nur selten dreinredeten. Deshalb sind wir zufrieden gewesen, daß er uns nur Monatsrapporte über seine Tätigkeit, über Erfolg und Mißerfolg unterbreitete. Dabei war es mir immer klar, daß er berichten konnte, was ihm zusagte, daß er verschweigen konnte, was er wollte. Schließlich waren wir uns im Vorstand der Wehrgesellschaft noch lange nicht immer einig. Er hat die Herren jeweils vor fertige Tatsachen gestellt. Er hat auch mich, den Vorsitzenden der Wehrgesellschaft, immer wieder vor vollendete Tatsachen gestellt. Ich habe es ihm nachgesehen. Ich sagte immer: ‚Hauptsache, wir bekommen eine bessere Armee. Wir können nicht zimperlich sein in der Wahl der Mittel.’“ „Vor einer Woche“, sage ich, „hat sich Sturzenegger von mir distanziert.“ „Ja, davon hat er auch gesprochen“, antwortet Rappold, 202
„er sagte mir, er habe sich wohl oder übel von Ihnen distanzieren müssen, bis man Näheres erfahre.“ „Und jetzt?“ „Er sagte, es sei vielleicht ein Fehler gewesen, zu den Manövern seines Armeekorps militärische Beobachter aus den Oststaaten einzuladen. Gewiß hätten diese Beobachter seine Manövergrundlage mißverstanden und seien zum Schluß gelangt, man rechne damit, daß die NATO im Ernstfall der Schweiz zu Hilfe eilen würde …“ „Und?“ „Eben, die Manöver, die Oberst Sturzenegger leitete, haben im April dieses Jahres stattgefunden.“ „Ich weiß: Julius war Pressechef.“ „In allen Zeitungen sind Reportagen erschienen.“ „Es war vielleicht nicht taktvoll, Beobachter aus den Oststaaten einzuladen und dann von der Annahme auszugehen, die Schweiz würde vom Osten her angegriffen. Ich habe Sturzenegger damals gewarnt. Aber auch Hug war auf seiner Seite. Die vom Osten sollen merken, daß wir uns auch für diesen Fall vorsehen, hielten sie mir entgegen.“ „Darüber wollen wir uns nicht unterhalten. Es werden immer wieder Fehler gemacht“, erklärt Rappold und entnimmt seiner Aktenmappe ein umfangreiches Dossier. „Müllers Akte“, sagt er und öffnet das Dossier. „Ich gebe das Wichtigste in Stichworten wieder: Geboren 1925 in Dortmund. Kommt 1939 mit zwei Geschwistern zu Verwandten in die Schweiz. Verliert 1943 seine Eltern in Deutschland. Rückt 1945 in die Rekrutenschule ein. Er hat das Gymnasium besucht, konnte aber aus finanziellen Gründen nicht bis zur Matura bleiben. Er 203
wandte sich dem Journalismus zu. Begann als Filmkritiker. Trat mit achtzehn Jahren der sozialdemokratischen Partei bei, trat wieder aus und wurde Mitglied der Sozialistischen Jugend. Er geriet zum ersten Mal mit der Polizei in Konflikt, als er Ende 1944 mit zehn anderen Jugendlichen eine Versammlung deutschfreundlicher …“ „Nationalsozialisten …“ werfe ich schnell ein. „… im Hotel Glockenhof sprengte. Die Polizei mußte eingreifen, um die Versammlungsmitglieder zu schützen. Müller rückte in die Rekrutenschule ein. Nach jenem Fall wurde er aber überwacht. Es gelang ihm, bei der Neuen Zürcher Zeitung als Volontär einzutreten. Seine wahre Gesinnung konnte er verheimlichen. Als die Bombe auf Hiroshima fiel, schrieb er einen ‚Offenen Brief an Truman und andere Kriegsverbrecher’. Es gelang ihm immerhin, daß dieser Artikel gesetzt wurde. Die NZZ verdankt es einem Maschinenmeister, daß der Brief schließlich nicht erschien. Müller wurde entlassen und fand beim ,Volksrecht’ Arbeit. Gleichzeitig gründete er ein sogenanntes Kabarett. Das erste Programm war ein Erfolg. Auch das zweite wäre ein Erfolg gewesen, wenn die Presse nicht hinter seine politische Einstellung gekommen wäre. Das war im Jahre 1949. Auch für das ‚Volksrecht’ war er jetzt nicht mehr tragbar. Müller gründete eine eigene Presse-Agentur. Das mußte ihn sehr viel Geld gekostet haben. Woher das Geld kam, fand man bald heraus.“ „Müller stellte seine Agentur vor allem der Abrüstungsinitiative zur Verfügung …“ „Ja, er vertrat die Meinung, die Schweiz brauche überhaupt keine Armee. Daß die Schweiz vom Krieg verschont 204
geblieben sei, verdanke sie in Wahrheit dem Zufall. Aber Müller vertrat nicht nur Meinungen, er legte sie auch in Artikeln schriftlich nieder. Er schrieb einen Artikel unter dem Titel: ,Was haben die Schweizer unter einer möglichen Herrschaft des Kommunismus zu verlieren?’ Müller wurde verhaftet und gegen eine Kaution von fünftausend Franken freigelassen. Das war 1956. Müller verschwand aus der Schweiz und tauchte erst in Ostberlin, später in der Zone auf … Was sagen Sie nun dazu, Herr Wind?“ „Gar nichts“, entgegnete ich. „Sie erzählen mir da nichts Neues. Ich habe Müller immer beobachtet. Er hat mich auch oft besucht. Ich habe mit ihm sogar eine Wette abgeschlossen. Ich habe ihm gesagt: ,Was wetten wir? Wer von uns beiden gewinnt die Abstimmung über die Abrüstungsinitiative?’ Er machte mich darauf aufmerksam, daß ich dafür den nötigen Apparat nicht besitzen würde …“ „Jetzt verstehe ich gar nichts“, meinte Rappold, „das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe …“ „Hören Sie, das ist ganz einfach: Ich mochte früher diesen Müller gut. Wir waren nicht gerade Freunde, aber so etwas Ähnliches. Man kann auch sagen, wir waren Gegner: Er glaubte fest daran, daß der Mensch vorbestimmt sei, in Frieden und Ruhe mit anderen Menschen zusammenzuleben. Ich behauptete, mit dieser Vorbestimmung habe es seine Schwierigkeit, aber ich sei natürlich auch dafür, daß die Menschen in Frieden und Ruhe zusammenleben. Müller hatte dagegen so etwas wie eine fixfertige Zukunft für den Menschen. Er war ein Fanatiker. Er konnte einfach nicht einsehen, daß das Leben sinnlos ist, wenn wir ihm nicht selbst einen Sinn geben. Für Müller war alles eine logische 205
Ableitung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. ,Du wirst daran scheitern’, sagte ich ihm mehrmals …“ „Du?“ Rappold sah mich fragend an. „Ja, wie gesagt, wir waren so etwas wie Freunde. Und Sie vermuten richtig: Eigentlich ist dieser Müller der Grund, daß wir eine Wehrgesellschaft haben.“ „Sie behaupten also“, stellte Rappold fest, „dieser Müller habe damals eigentlich die Abstimmungskampagne geleitet?“ „Ich behaupte es nicht, ich weiß es. Daß ich damals die Gegenkampagne geleitet habe, wissen auch nur wenige Leute. Wer solche Aktionen leitet, Herr Rappold, begibt sich nicht an die Rampe der öffentlichen Bühne. An der Rampe agieren andere Leute. Auf keinen Fall jene, in deren Hände die vielen Fäden zusammenlaufen. Diese Namen nennt man nicht. Er stellt seine Verbindung zu jenen, welche an der Rampe stehen, mit Hilfe von Stafettenläufern her: Je öfter die Stafette in andere Hände wechselt, desto größer die Gewähr, daß der Aktionsleiter nicht erkannt werden kann. Können Sie sich beispielsweise an den Selbstmord des Taxichauffeurs Gaugier erinnern? Gaugier hat in meiner Kampagne gegen die Reform der Verkehrsbetriebe eine Serie von Nein-Inseraten unterzeichnet. Gaugier hatte in Wirklichkeit keine Ahnung, in welche Hände er geraten war. Ich ging davon aus, daß die Motion nicht nur durch Großunternehmer wie Taxi-Firmen und Transportanstalten bekämpft werden sollte. Die Masse der Stimmbürger hätte sich sonst gesagt: Die Herren Großunternehmer haben wieder einmal Angst, es könnte ihnen ein Stück von ihrem Kuchen abgeschnitten werden! Wenn ich mit einer Insera206
ten-Serie den Anschein erwecken könnte, daß auch der kleine Arbeitnehmer, selbst der Gewerkschafter gegen die Reform ist, dann hätte ich gewonnenes Spiel. Ich suchte vorerst einmal eine Verbindung zu den Gewerkschaften. Meine Mitarbeiter konnten mir nach wenigen Tagen einen Namen nennen: Jakob Dischmeier, Sozialdemokrat, Journalist und Gemeinderat. Die Liberalen hielten keine großen Stücke auf ihn. Er war ihnen nicht fein genug. Im Parlament pöbelte er die Liberalen an, nannte sie Halsabschneider. Dischmeier war auch in den eigenen Reihen ein umstrittener Mann. Aber er sprach die Sprache der Arbeiter und trank gewaltig: Bier und Schnäpse. Er kannte Mädchen und ihre Zuhälter und nahm sich entlassener Sträflinge an. Er hatte sein Gutes, dieser Dischmeier! Meine Mitarbeiter beauftragten einen älteren liberalen Broschürenschreiber, mit Dischmeier zu reden. Dischmeier nahm an, aber er kam eine Woche später mit dem Bescheid, die Gewerkschaften weigerten sich, die Reform zu bekämpfen, vor allem deshalb, weil die Liberalen am gleichen Abstimmungssonntag einen sozialistischen Antrag für ein Feriengesetz bekämpften. Wenn die Liberalen für die sozialistische Vorlage die Stimme freigäben, würden sie vielleicht ihre Haltung zur Reform der Verkehrsbetriebe überprüfen. Die Liberalen waren damit einverstanden, die Stimmen freizugeben. Dieser Erfolg ermunterte die Gewerkschaften und sie forderten, daß die Liberalen für das sozialistische Feriengesetz die Ja-Parole herausgeben sollen. Ich besprach die Lage mit meinen Auftraggebern. Diese besprachen die Lage mit dem Vorsitzenden der Liberalen. Zu einer Ja-Parole konnte man sich aber nicht entschließen, aus begreiflichen Grün207
den. Aber ich gab dennoch nicht auf. Ich wies meine Mitarbeiter an, Dischmeier mitzuteilen, die Gewerkschaft soll in dieser Frage eine Versammlung einberufen, ein kontradiktorisches Gespräch veranstalten mit freier Diskussion. Nach zehn Tagen war es so weit. Die Versammlung war jedermann zugänglich. Ich schickte fünf Diskussionsteilnehmer hin. Meine Argumente lauteten so: Die Gewerkschaft muß begreifen, daß die Liberalen die Ja-Parole nicht vertreten können, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Es sei aber schon viel erreicht, wenn die Liberalen in dieser Frage sich neutral verhielten. Was die Reform-Motion jedoch angehe, so liege es im Interesse der Arbeitnehmer, daß diese abgelehnt werde. Bei einer Annahme würden die Unternehmer in ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit stark eingeengt, was sich auf die Arbeitnehmer auswirken müßte: Prosperität des Unternehmers gleich Prosperität des Arbeitnehmers! Dieses Argument wirkte. Die Versammlungsteilnehmer setzten eine Resolution auf. Nun mußte ich die Leute nur noch dazu bringen, daß sie ihre Resolution auch in der Öffentlichkeit bekannt machten. Ihnen dafür die Insertionskosten aufzuladen, konnte man ihnen nicht zumuten. So anerbot ich mich, diese Kosten zu übernehmen. Aber sogar das schien ihnen eine Zumutung. Ich ging einen Schritt weiter: Sie sollten in denselben Inseraten ihre eigene Vorlage vertreten können. Darauf gingen sie zögernd ein, aber immerhin, sie gingen darauf ein. Ich händigte ihnen keinen Scheck oder Bargeld aus. Sie mußten mir nur ihre Inseratenentwürfe übergeben. Ich sagte, dies sei aus Gründen der ganzen Disposition nötig. Das sahen sie ein. Ferner verlangte ich, daß zwei Leute aus ihren Reihen diese Inse208
rate namentlich unterzeichnen. Ich wollte nicht mit einem sogenannten ‚Aktionskomitee’ arbeiten, sondern mit Namen ehrbarer Bürger. Man müsse zu seiner Meinung stehen, sagte ich. Dischmeier sah das ein. Er redete mit der Gewerkschaft. Auch diese sah das ein. Nun ging es nur noch darum, zwei Gewerkschafter zu finden, die bereit waren, ihre Namen dafür herzugeben. Es wurde zwei Taxichauffeure genannt. Man hielt mich über Dischmeier auf dem laufenden: er werde am kommenden Dienstag um fünf Uhr die beiden Männer bearbeiten. Man gab mir auch den Treffpunkt bekannt, ein Restaurant in der Nähe des Taxistandplatzes am Hauptbahnhof. Ich war neugierig und begab mich auf die genannte Zeit dorthin. Ich kannte Dischmeier von einem Photo her, und so fiel es mir nicht schwer, ihn zu erkennen. Er betrat denn auch kurz nach fünf in Begleitung von zwei Taxichauffeuren das Restaurant. Ich hörte Dischmeier die Beweise wiederholen, die an der Gewerkschaftsversammlung ausschlaggebend gewesen waren. Die Männer nickten, bejahten. Sie waren nach kurzer Zeit dafür, daß die Reform bekämpft werden müsse. Es waren ältere Männer und standen wohl seit Jahren im Dienst der gleichen Taxi-Firma. Sie waren treue und ergebene Arbeitnehmer, zufrieden mit ihrem Brotgeber. Es schien alles zu klappen, aber als Dischmeier ihnen vorschlug, daß sie ihre Namen dafür hergeben sollten, zögerten sie. Der eine sagte: Ja, ja, ich bin auch gegen ‚Aktionskomitees’! kein Mensch weiß, wer dahinter steckt. Aber nicht wahr, Herr Gemeinderat, so eine Abstimmung ist eine heikle Sache, eine sehr heikle Sache, nicht wahr. Ich hab’ einen Sohn, der kann jetzt studieren, weil er ein Stipendium 209
bekommt, und das müssen Sie verstehen, Herr Gemeinderat, so eine Abstimmung kann Folgen haben. Ich möchte das Studium meines Sohnes nicht gefährden …“ Dischmeier hatte dafür Verständnis. Nun wich aber auch der andere zurück. Er gab keine Gründe an, sondern unterstützte einfach seinen Kollegen. Dischmeier sagte: ‚Aber die Inserate müssen unterzeichnet werden!’ Die beiden Männer hielten Rat. Dann nannten sie die Namen zweier Kollegen und anerboten sich, diese vom Taxistandplatz hereinzuholen. Dischmeier war damit einverstanden. Die Männer gingen und kamen kurz darauf mit zwei anderen Kollegen zurück. Nun mußte Dischmeier das Gespräch nicht mehr allein bestreiten. Die beiden Taxichauffeure setzten ihren Kollegen beredt auseinander, daß die Reform abgelehnt und daß die Inserate unterzeichnet werden müssen. Die beiden Kollegen waren damit einverstanden und nickten. Aber auch sie hatten Bedenken. Der eine sagte: ,Ich würde meinen Namen schon hergeben, aber meine Frau ist ständig krank, und da sind wir auf Unterstützung angewiesen, und so eine Abstimmung ist eine heikle Sache. Ich muß da vorsichtig sein, sonst heißt es dann, dafür hat er Geld …‘ Nun ratschlagten sie zu viert. Nach einer Weile fielen wieder zwei Namen. Die vier lachten. Ich hörte vor allem den Namen Gaugier und die Worte: ,Der Gaugier, der macht das schon. Warten Sie bloß, Herr Gemeinderat! Wenn wir dem Gaugier sagen: Gaugier, du kannst nicht bloß immer die Vorteile von der Gewerk210
schaft haben, du mußt auch einmal etwas dafür tun, sonst wirst du eines Tages ausgeschlossen und dann kannst du bei den Wilden Taxichauffeur werden, dann unterschreibt der Gaugier. Der ist, wissen Sie, Herr Gemeinderat, nicht ganz hell, und der Jörimann, das ist ein Bündner, und der brennt doch darauf, daß er sich mal wichtig nehmen kann …‘ Und schon waren die beiden weg und kehrten mit Gaugier und Jörimann zurück. Dischmeier mußte nichts mehr sagen. Die vier Taxichauffeure hatten Gaugier und Jörimann in wenigen Minuten so weit. Sie setzten ihre Unterschriften unter die Erklärung, die Dischmeier mitgebracht hatte. Die Kampagne begann zehn Tage später. Sie wissen ja, Herr Rappold, die Zeitungsverleger verlangen für solche Inserate eine Erklärung, daß der Unterzeichner alle Folgen, auch die einer möglichen Strafklage wegen Ehrverletzung, auf sich nehme und für alle Kosten aufkomme. In unserem Falle lautete der Text etwa so: Die beiden Unterzeichneten erklären, daß sie die Verantwortung für den Inhalt dieser Inseraten-Serie im vollen Umfange auf sich nehmen und haftbar sind für alle eventuellen gerichtlichen Folgen … Ich gab Anweisung, daß diese Erklärung von den beiden Taxichauffeuren zu unterschreiben sei. Es sollte dem Gegner nicht leicht fallen, die wahren Urheber zu finden. Ich sagte aber auch, daß die beiden gleichzeitig rückversichert werden müßten. Die Annoncen-Agentur drängte. Die ersten Inserate waren bereits erschienen. Und nun kam es zur Katastrophe. Dischmeier, unser Verbindungsmann, schickte Gaugier und Jörimann je ein Exemplar der Erklärung in einem Eilbrief zur Unterschrift, ohne die rückversichernde Gegen211
erklärung beizulegen. Dischmeier hatte einfach vergessen, dieses Blatt beizulegen. Er maß dem auch keine allzu große Bedeutung bei. Er sandte das fehlende Blatt noch am gleichen Abend nach. Der Eilbrief erreichte Gaugier abends kurz nach sieben. Um acht hätte Gaugier seinen Dienst antreten müssen. Er war sehr gewissenhaft. Um neun war er noch nicht erschienen. Auch hatte er nichts von sich hören lassen. Um halb zehn fuhr der Chauffeur, den Gaugier um acht hätte ablösen sollen, nach Höngg; Gaugier war Junggeselle und wohnte an der Stadtgrenze bei Höngg. Gaugier hatte sich erhängt. Er hatte einen kurzen Brief hinterlassen. Er könne diese Verantwortung nicht auf sich nehmen …“ „Sie schweifen immer ab“, sagt Rappold, der von dieser Geschichte nichts wissen wollte. „Sie suchen doch die Wahrheit“, erwidere ich, „und ich stecke Ihnen das Feld ab, wo Sie die Wahrheit …“ „Was heißt Wahrheit? Jetzt bin ich hier, um die Tatsachen für den Untersuchungsrichter zusammenzutragen. Nun, Julius hat mir die Belege aller im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Abrüstungsinitiative von damals erschienenen Inserate und Zeitungsartikel zusammengetragen. Sie haben, vermute ich, schon damals Ihre Methode angewendet?“ „Die Bekämpfung der Abrüstungsinitiative war meine erste Kampagne dieser Art. Und was diese Methode angeht, so habe nicht ich sie erfunden, ich habe sie von Jack F. Barth übernommen und angewendet, so weit ich sie in der Schweiz anwenden konnte …“ Rappold ist nachdenklich geworden. „Sie sind mit Ihren Gegnern nicht zimperlich umgegangen, Herr Wind.“ 212
„Ich hatte keine Gründe dafür.“ Rappold zieht einen Zeitungsausschnitt aus dem Dossier. Ich kenne diesen Ausschnitt. Es handelt sich um einen Artikel, der in einer großen Wochenzeitung erschienen ist. Rappold liest vor: „Das Beharrungsvermögen spielt im öffentlichen Leben der Schweiz eine wesentliche Rolle. Meistens keine schlechte: Ein Bundesrat bleibt, auch wenn ihm ein Unternehmen deutlich mißraten ist. Es gibt jedoch Grenzen. Wenn ein Mann während Jahren unwillkommenen Einfluß mit offizieller Unterstützung ausübt, naht der Tag, an welchem man ihm den Lautsprecher entziehen sollte. Dieser Tag muß demnächst für den Radiokommentator Werner Eiselin kommen. Eiselin wurde einst als Rußlandkenner zum geschätzten Mitarbeiter Beromünsters. Er hat das Werden der kommunistischen Weltmacht gründlich studiert und erkannt. Seine Prognosen und Kritiken hatten einst Gewicht und Niveau – einst! Aber dann begann er sich zu wandeln. Eiselin wurde zum Anpasser, zum Künder und Propheten einer friedlichen Koexistenz. Wohl kritisiert er einzelne Gewalttaten. Er gefällt sich nicht in bloßen Lobhudeleien: Dazu ist er auch viel zu klug. Aber eingehüllt in den unumgänglichen Tadel wirbt er doch stets für jene Macht. Ist es, so fragen wir, in Ordnung, daß ein Eiselin noch immer als ,Rußlandspezialist’ am BeromünsterMikrophon kommentieren kann, da Beromünster doch als offiziöser Sender angesehen werden muß?“ Rappold schiebt diesen Zeitungsausschnitt in das Dossier zurück. Dann blickt er mich an, ruhig, keine Spur von einem Vorwurf in den Augen; Besorgnis schon: 213
„Was ging dann mit Eiselin?“ fragte er. „Eiselin mußte abtreten, das ist klar. Übrigens müssen Sie den Fall Eiselin so sehen: Eiselin wurde nicht geopfert, um ihm das Mikrophon zu entziehen, sondern Eiselin wurde zu Fall gebracht, um Stimmung zu machen.“ Rappold schweigt. Er zieht ein weiteres Dokument aus dem Dossier. Es handelt sich um einen Brief, um ein Rundschreiben, das wir damals an alle Mitglieder der Wehrgesellschaft gerichtet haben. Rappold liest wiederum vor: „Die Schweizer Industrie ist den sozialistischen Forderungen der vergangenen dreißig Jahre in einem solchen Ausmaße entgegengekommen, daß nun auch die Industrie eine Forderung stellen kann an ihre Arbeitnehmer: Nämlich die moralische Forderung, die Anliegen der Wehrgesellschaft zu unterstützen. Wir bitten alle Mitglieder der Wehrgesellschaft, sofern sie Arbeitgeber sind und über Belegschaften verfügen, in gewissen zeitlichen Abständen Versammlungen der Arbeiterschaft …“ Ich hebe abwehrend die Hand. Auch dieses Dokument legt Rappold wortlos in das Dossier zurück. „In den Reihen der höheren Offiziere haben sich zwei Kommandanten als Gegner der Schweizer Wehrgesellschaft entpuppt“, fährt Rappold fort, „indes war der Bundesrat und insbesondere die Landesverteidigungskommission für die Bestrebungen der Wehrgesellschaft eingenommen …“ „Wir sind ausschließlich moralisch unterstützt worden …“ muß ich der Wahrheit zuliebe einwerfen. „Dennoch“, entgegnet Rappold, „hat Korpskommandant Sturzenegger die beiden Gegner bei einer Kundge214
bung im Kongreßhaus der eigentlichen Insubordination bezichtigt, ja, er ist sogar weitergegangen und hat den beiden Kommandanten nahegelegt, zu schweigen. Die gleiche Wochenzeitung, die Eiselin angegriffen hatte, fand heraus, daß einer der beiden Offiziere vor wenigen Jahren eine ausgedehnte Rußlandreise unternommen hatte. Erich Fries hat dann auf das Jahresende hin seinen Abschied genommen.“ „Über eines müssen Sie sich klar sein, Herr Rappold“, antwortete ich. „Bevor man so etwas wie eine ArmeeReform durchsetzen kann, muß man Stimmung dafür machen. Die öffentliche Meinung, die Stimmung, die Atmosphäre gibt den Ausschlag. Dafür kann niemals genug getan werden …“ „Ihr Mitarbeiter Julius hat mir auch die Monatsberichte gegeben, die Sie jeweilen für die Mitglieder der Wehrgesellschaft ausgearbeitet haben. Diese Berichte sind unzuverlässig, weil sie unvollständig sind. Gewisse Aktionen, die Ihr Büro durchgeführt hat, werden darin nicht erwähnt.“ „Sie werden auch von Briefen, die angeblich in meinem Büro geschrieben wurden, keine Kopien finden. Es ist nicht schwierig, den Briefkopf der Wehrgesellschaft nachzumachen; verstehen Sie?“ Rappold versteht mich. „Ich muß noch einmal auf Müller zurückkommen“, sagt Rappold. „Haben Sie damals, als Sie die Kampagne gegen die Abrüstungsinitiative führten, mit ihm auch weiterhin Kontakt gehabt?“ „Wir haben uns dann und wann getroffen.“ 215
„Müller wußte also, daß Sie dahinter gesteckt haben?“ „Er wußte es.“ „Wie erklären Sie sich dann, daß Müller nicht ähnliche Methoden angewandt hat wie Sie?“ „Weil ich ihm immer gesagt habe, was ich als nächstes tun werde.“ „Ich verstehe das nicht recht. Sie müssen mir das erklären.“ „Müller war stets auf dem laufenden.“ „Das beantwortet meine Frage nicht: Müller hätte zum Beispiel die Hintergründe zum Fall Eiselin aufdecken können. Warum hat Müller geschwiegen?“ „Weil er mir nicht glaubte.“ „Ihnen nicht glaubte?“ Rappold schüttelt den Kopf. „Ja, Müller hat mir einfach nicht geglaubt. Müller hielt mich für einen Schwätzer. Sie glauben mir ja die MitulskijGeschichte auch nicht.“ „Ich kann Ihnen das Gegenteil nicht beweisen; das ist etwas anderes. Mitulskij zum Beispiel weiß von keiner Denkschrift …“ „Vielleicht hat sich Müller auch gesagt, er wolle lieber abwarten, er werde erst dann zuschlagen …“ Rappold unterbricht mich: „Sehen Sie! Sie sagen es!“ Rappold lehnt nun jede weitere Erklärung ab. Auch ich darf nicht weiter reden. „Kein Wort mehr“, sagt er zwei- oder dreimal, „kein Wort mehr, Sie verderben mir den Appetit.“ Dann stellt er das Tonbandgerät ab. Er begleitet mich in meine Zelle. Es dämmert bereits. 216
„Das entbindet Sie allerdings nicht von der Aufgabe, Ihren Lebenslauf zu Ende zu schreiben“, sagt er, als wir in meiner Zelle angekommen sind. „Was?“ frage ich. Aber er lächelt nur, als ob ich sein Komplize wäre. „Sie glauben mir doch kein Wort“, sage ich. „Ich glaube, was ich beweisen kann. Ich muß mich an Tatsachen halten, nicht an Geschichten.“ „Das ist schade“, erwidere ich, „Geschichten sind wirkungsvoller als Beweise …“ Er zuckt die Schultern.
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ein Vater starb im Februar. Es hatte schon drei Tage geregnet. Schnee mischte sich in den Regen. In den Häusern brannten auch tagsüber die Lampen. Wir wußten seit einigen Tagen, daß es mit meinem Vater zu Ende gehe. Er war abgemagert und weigerte sich, zu essen. Hin und wieder nahm er einen Löffel Tee zu sich. Am 16. Februar, an seinem Todestag, als ich die Wohnung gegen acht Uhr verlassen wollte, stellte sich meine Mutter mir in den Weg. „Bleib heute da“, sagte sie. „Ich kann nicht“, antwortete ich, „mein Büro …“ „Nicht, wenn dein Vater stirbt.“ „Er stirbt doch nicht.“ „Ich will nicht allein in der Wohnung sein, wenn er stirbt.“ „Du merkst es vorher. Dann rufe mich an.“ „Ich merke es nicht früh genug. Der Tod kann plötzlich eintreten. Es ist dann zu spät. Ich fürchte mich davor. Das kannst du doch deiner alten Mutter nicht antun. Auch deinem sterbenden Vater nicht. Immerhin, er ist dein Vater, und jetzt stirbt er …“ Meine Mutter drückte ihre Hände gegen das Gesicht und schluchzte. Ich legte den Mantel wieder ab und blieb. 218
Ich ging an das Bett meines Vaters. Er lag da wie ein Toter. Er hatte die Augen geschlossen. Daß er noch atmete, war kaum zu hören. Ich verließ ihn wieder und setzte mich in mein Zimmer. Barbara und Albert Hug waren drei Tage vor Weihnachten von ihrer Europareise zurückgekommen. Barbara war erschüttert. Sie waren in Warschau gewesen, auch in Majdanek. Barbara hatte die Kinderschuhe gesehen. Von einer Rückkehr nach Amerika war jetzt nicht die Rede. Auch die Hoffnung von Oberst Hug hatte sich nicht erfüllt. Albert und Barbara verstanden sich gut, aber von Liebe war nicht die Rede. Albert sprach auch zu mir nie über seine Gefühle, obgleich ich mich gut mit ihm verstand. Wir sprachen immer offen miteinander. Er gab jetzt, einige Jahre nach dem Vorfall, auch zu, daß er anläßlich des Abschiedsfestes nicht geschlagen worden sei. Er hatte sich aus Angst in die Bewußtlosigkeit geflüchtet. Er wollte beweisen, daß er für die von seinem Vater befohlene Laufbahn untauglich sei. Das gab er heute zu. Er war sich auch im klaren, daß ich damals zu seinen Gunsten ausgesagt hatte, nur damit die Beziehung zwischen Vater und Sohn nicht in die Brüche ging. Albert studierte jetzt Kunstgeschichte. Er wollte Kunsthistoriker werden, vielleicht einmal Konservator an einem Kunsthaus. Vielleicht würde er Kunstschriftsteller werden. Das alles war noch offen. Die Europareise hatte ihm jedoch gut getan. Barbara wohnte seit ihrer Rückkehr bei Hug. Jack F. Barth hatte geschrieben, er würde im Januar oder Februar nach Europa und in die Schweiz kommen. Er war eifrig daran, sein 219
Europageschäft aufzubauen. In Deutschland war ebenfalls ein Büro eröffnet worden, ebenso in Skandinavien, in Frankreich, Spanien und Italien. Jack F. Barth konnte nicht früher kommen, weil er drüben die Gouverneurswahlen vorbereiten mußte. Er führte den Wahlkampf der Demokraten. Ich sah Barbara fast jeden Tag. Ich redete nie ein Wort über Heirat und Ehe, kein Wort über Zuneigung oder gar Liebe. Von Amerika erhielt sie nur spärlich Post. Ihr Vater war kein großer Briefschreiber, und ihre Mutter war leidend. Ich hatte mit meiner Arbeit für den FreedomKonzern angefangen. Die Internationale Handels AG. hatte die Generalvertretung übernommen. Vorerst importierten wir aber nur Kühlschränke, Küchengeräte, Kochherde und Radioapparate. Ich war am Gewinn der Internationalen Handels AG. beteiligt. Jack F. Barth hatte mir dazu geraten. Ich sicherte mir also vierzig Prozent und kam gleichzeitig in den Verwaltungsrat. Mein Büro unterscheidet sich auch heute noch von allen anderen Büros, die nach dem meinen entstanden sind: Alle anderen sind bloße WerbeAgenturen oder sogenannte Public-Relations-Agenturen. Die beiden Begriffe werden in meinem Büro nicht verwendet: Ich bin auch nicht Mitglied des Bundes Schweizerischer Reklameberater, und ich habe dennoch meine Kommissionen bei den Zeitungen. Ich setze jährlich an die fünfundzwanzig Millionen Franken allein für Inserate und Drucksachen um. Ich mache meistens keine Reklame für Unternehmen, an denen ich nicht beteiligt bin. So bin ich heute Verwaltungsrat einiger größerer und kleinerer Unternehmen. Aber außer mir weiß niemand, wo ich Teilhaber, 220
Aktionär oder Verwaltungsrat bin. Nur ich weiß es. Ich nütze diesen Umstand nicht aus. Allerdings kann ich es nicht verhüten, daß man mir schließlich mehr und stärkeren Einfluß beimißt, als ich wirklich habe. Ich bestreite nicht, daß ich über starke und weite Beziehungen verfüge; aber die Geschichte, die über mich im Umlauf ist, deckt sich nicht mit der Geschichte, die ich, und nur ich, kenne. Am 16. Februar läutete es gegen elf Uhr an der Wohnungstüre. Mein Vater lebte noch. Der Arzt war eben gekommen und wieder gegangen. Er blieb nicht länger als notwendig am Bett eines Sterbenden. Einzig meine Mutter ging alle paar Minuten an das Bett meines Vaters. Ich blieb in meinem Zimmer. Ich war zu keiner Arbeit fähig; ich konnte nicht einmal Zeitung lesen. Zweimal stand ich auf, ging ans Fenster, weil ich gehört hatte, wie unten an der Straße ein Auto angehalten hatte. Aber es war nichts. Ich arbeitete insofern, als ich eine Todesanzeige für meinen Vater aufsetzte, eine Adressenliste zusammenstellte und für den Pfarrer, der die Abdankungsrede halten sollte, den Lebenslauf meines Vaters in Stichworten notierte. Mein Vater sollte viele Blumen und Kränze bekommen. Das war mein Wunsch. Der Kirchenchor, in dem er jahrzehntelang mitgesungen hatte, sollte in der Abdankungskapelle singen. Zuweilen kam meine Mutter herein. Sie war bleich und weinte. „Du läßt deinen Vater ganz allein sterben, ganz allein!“ „Ich komme schon, wenn es einmal so weit ist“, sagte ich. Ich dachte von acht Uhr an, seit ich in meinem Zimmer saß, auch an den Fremden. Ich war sicher, daß er kommen würde. Und als es dann gegen elf Uhr an der Türe klingelte, 221
sprang ich auf und ging öffnen. Ich hatte geahnt, daß er dastehen würde, und er stand da, ohne Hut, völlig durchnäßt. Ich zog ihn herein. „So können Sie aber nicht hinein. Sie müssen sich umziehen.“ Ich bat ihn, zu warten, ging in Vaters Zimmer und nahm aus seinem Schrank Wäsche und Kleider heraus. Der Fremde war etwas größer als mein Vater, aber zur Not paßten ihm die Kleider. Ich führte den Fremden in mein Zimmer und sagte, er soll sich umziehen. Ich ging hinaus und wartete. Nach wenigen Minuten kam der Fremde in Vaters Wäsche und Kleidern. Er lächelte und ging mir voran zu meinem Vater. Mein Vater hatte seit Stunden die Augen nicht mehr geöffnet; aber jetzt, da er die Stimme des Fremden hörte, öffnete er sie. Dann zog ich den Fremden fort. Ich ging mit ihm in mein Zimmer und bot ihm Sherry an. Er verlangte aber Schnaps. Er bekam seinen Schnaps. „Haben Sie es geahnt?“ fragte ich ihn. „Was denn?“ „Daß er heute sterben muß?“ Der Fremde schüttelte den Kopf. „Sie hatten also einfach kein Geld mehr?“ Er nickte. Dann zeigte er zum Fenster und sagte: „Ich dachte, er würde mir heute Geld geben für einen Hut. Er hat immer gesagt, er kaufe mir einen Hut. Und einen Mantel. Er hat mir schon im Herbst einen Mantel und einen Hut kaufen wollen. Aber wir haben das Geld immer für die Fahrt gebraucht. Er wollte immer hinfahren. Wir mieteten jeweilen ein Taxi und fuhren hinaus. Das kostete eine Menge Geld. Draußen aßen wir auch, wir tranken, und dann fuhren wir zurück. Er wollte immer punkt halb sieben zurück sein. 222
Er war pünktlich, das muß man ihm lassen …“ Dann stand er auf und sagte: „Ich kann nun wieder gehen.“ Ich hielt ihn zurück. „Er stirbt heute“, sagte ich, „vielleicht hat er Ihnen etwas hinterlassen.“ Daran hatte der Fremde offenbar nicht gedacht. Er setzte sich. „Und wenn er Ihnen nichts vermacht hat, bekommen Sie von mir etwas. Sie können auch später wieder kommen. Ich habe ein Büro, vielleicht kann ich Ihnen Arbeit verschaffen.“ „Ich brauche keine Arbeit“, erwiderte er, „ich brauche Geld. Das ist alles.“ „Gut“, sagte ich, „aber umsonst bekommen Sie von mir kein Geld.“ „Was wollen Sie?“ „Ich will alles wissen. Wo hinaus sind Sie gefahren mit meinem Vater?“ Er trank seinen Schnaps und goß sich selbst wieder ein. „Nach Kaiserstuhl.“ „Nach Kaiserstuhl?“ „Ja. Warum, weiß ich auch nicht. Er war ein wenig verrückt. Wir fuhren meistens mit dem Taxi nach Kaiserstuhl. Er wollte das kleine Zollhaus sehen, die Brücke über den Rhein, drüben Deutschland, und dann gingen wir immer auch in ein Restaurant, wo wir Wein tranken, ein Stück Fleisch aßen, dazu Brot. Oder wir aßen Käse und Brot. Bevor wir wieder zurückfuhren, trank ich immer noch einen Schnaps. Er trank nie Schnaps.“ 223
„Und was wollte er in Kaiserstuhl: Das Zollhaus, drüben Deutschland … aber was wollte er wirklich?“ „Er sagte immer, unsere Begegnung sei ihm wichtig, auch die Art, wie wir uns kennengelernt haben.“ „Damals auf der Gemüsebrücke?“ „Ja, es war ein Zufall; aber das wollte er nicht wahrhaben. Auf der Gemüsebrücke stießen wir zusammen, zufällig, und er blickte mich an, als würde er mich kennen. Wir begegneten uns wieder, wir grüßten uns. Das ist alles. Ich hatte nichts zu tun. Ich bin jetzt siebzig, ich weiß, Sie geben mir keine siebzig Jahre, aber es ist so. Mit vierundsechzig bin ich entlassen worden. Mit Schimpf und Schande, wie man so sagt. Ich hatte nichts zu tun, und so ging ich diesem Mann nach, der mich so seltsam anschaute und grüßte, als kenne er mich aus früheren Zeiten. Ich fand bald heraus, wer er war: Ein Uhrmacher, ein Mann mit eigenem Geschäft, und so sagte ich mir: Der kann dir dann und wann aushelfen … Ich erhalte beinahe keine Pension, müssen Sie wissen, zweihundert Franken, dabei stand ich vor der Pensionierung, als ich entlassen wurde. Kein Mensch hatte Sinn für das, was ich getan hatte. Aber Ihr Vater begriff es. Einzig Ihr Vater hatte Verständnis für das, was ich getan habe. Er sagte immer, das sei die schönste Geschichte, die er je gehört habe, und darum wollte er auch immer wieder nach Kaiserstuhl hinausfahren, das kleine Zollhaus sehen, die Brücke über den Rhein, drüben Deutschland. Das ist alles …“ Der Fremde füllte wieder sein Schnapsglas. Dann blickte er mich an und sagte: „Stirbt er wirklich?“ 224
„Er stirbt“, erwiderte ich, „heute noch, daran ist wohl nichts zu ändern.“ „Ja, und draußen dieser Regen und die Wolken zwischen den Dächern, der Schnee, der Regen … sie schaffen ihn fort im schwarzen Kastenwagen, Uniformierte kommen, Zigarettenstummel zwischen den Lippen, fahren mit dem schwarzen Wagen auf das Trottoir, damit sie den Verkehr nicht behindern. Sie öffnen beide Flügeltüren, ziehen den Sarg hervor, kommen durch das Treppenhaus herauf, läuten, kommen herein, gehen ins Zimmer und stellen ihn auf den Boden. Sie schließen den Sarg und gehen weg mit Ihrem Vater. Sie können den Toten noch einmal sehen, bevor die Uniformierten den Sargdeckel schließen. Man schafft ihn weg. Ich frage mich immer: Wo werden die Uniformierten mich abholen? Ich bin Bürger dieser Stadt, müssen Sie wissen. Ich habe Anspruch auf einen Sarg. Aber ich frage mich: Wo wird das Trauerhaus stehen? Es gibt keine Trauerhäuser mehr. Und darum kommen sie auch nicht mehr, die Toten, zwischen Martini und Aschermittwoch. Sie ziehen nicht mehr durch die Nächte. Sie werden verbrannt. Es gibt keine Trauerhäuser mehr und keine Trauernden, keine Toten, die Nachschau halten, ob die Lebenden die Ordnung bewahren oder ob sie die Ordnung zerstört haben. Es gibt keine Trauerhäuser mehr, auf deren Fenstersims geweihtes Brot liegt zur Versöhnung mit den Toten, die da zwischen Martini und Aschermittwoch wiederkommen … Jetzt schafft man sie weg, im schwarzen Kastenwagen, und wenn wir in den Bankreihen sitzen, wenn der Pfarrer das Gebet spricht, vor unseren Augen Blumen und Kränze, der Sarg darunter, dann haben wir keine Gewähr dafür, daß un225
ser Toter im Sarg liegt, es kommt auch nicht darauf an, vielleicht ist der Sarg auch leer, unser Toter längst verbrannt. Und wenn sie uns das Tongefäß mit der Asche überreichen, dann wissen wir nicht, ist es die Asche unseres Toten oder die Asche eines anderen. Es kommt auch nicht mehr darauf an. Wenn einer tot ist, dann hat er kein Gesicht mehr. Was Sie sehen, ist Erinnerung, nichts als Erinnerung … Der Bucklige ist jetzt auch tot. Jetzt spielt niemand mehr die Valse musette. Er hatte nur eine Harmonika, weiter nichts: Keine Familie, kein Haus, kein Bett, nur die Ziehharmonika. Er kam während mehr als zwanzig Jahren bei Kaiserstuhl über die Grenze. Wir ließen ihn durch. Er kam auch während des Krieges, am Anfang wenigstens (die letzten drei Jahre des Krieges blieb er in Kaiserstuhl), ging von Gasthaus zu Gasthaus und spielte. Niemand beachtete ihn. Die Polizei fragte längst nicht mehr nach ihm. Auch die Polizei von drüben nicht. Er hatte einen Paß, aber dieser Paß war abgelaufen. Trotzdem ließen wir ihn durch. Er ging in den Schwarzwald, spielte im Schwarzwald; dann kam er über die Grenze und spielte in Kaiserstuhl und kehrte wieder zurück in den Schwarzwald, zwanzig Jahre lang. Als ich nach Kaiserstuhl versetzt wurde, kam er schon immer. Er nannte sich Elias. War er Franzose, Zigeuner, Jude? Niemand wußte es. Er war da, es gab ihn … Wir waren lange Zeit nur zwei Zöllner; wir lösten uns alle zwölf Stunden ab. Im kleinen Zollhäuschen stand ein Feldbett. Da lagen wir auf dem Feldbett, und draußen kam niemand vorbei. Nach dem Krieg waren es vier Zöllner. Ich war der Älteste und deshalb der Chef. Junge Zöllner wollen immer Urlaub haben. Sie hatten Bräute, und ich hatte nie226
mand, und deshalb übernahm ich ihre Stunden und blieb an der Grenze. Wenn Elias vorbeikam, sagte ich immer zu ihm: ,Hast du auch nichts zu verzollen?’ Und Elias antwortete immer: ,Muß ich den Schwartenmagen verzollen, den mir der Eiben-Wirt geschenkt hat?’ Ich zeigte immer auf seine Ziehharmonika und sagte: ,Ich bin sicher, du hast etwas in deinem Balg.’ Elias lachte. Eines Tages hatte ich meinen sechzigsten Geburtstag. Ich hatte meine Geburtstage immer vergessen, aber den sechzigsten vergaß ich nicht. Ich habe am 15. Dezember Geburtstag. Ich weiß nicht weshalb, aber ich rechnete an meinen Lebensjahren, und ich wußte natürlich, was man mir so nachsagte: Daß ich nicht pfiffig genug sei, und nur darum seit Jahrzehnten an diesen Ort verbannt und ohne Freunde sei. Wirklich, ich hatte keinen Freund. Ich versah meinen Dienst, ich ließ keinem etwas durch, nicht einmal einem Bauern. Ich sagte immer: Zoll ist Zoll. Ja, und deshalb sagten die anderen: Er ist nicht pfiffig genug! Verstehen Sie, ich hatte eben keine Pfiffigkeit in mir. Und dann kam Elias. Er kam aus dem Schwarzwald. Es dämmerte schon, und es hatte zu schneien begonnen. Die Deutschen hatten den Schlagbaum heruntergelassen und sich ins Zollhaus zurückgezogen. Elias war an ihnen vorbeigegangen; sie hatten sich nicht um ihn gekümmert. ,Gut, daß du kommst’, sagte ich zu Elias, ,ich habe heute Geburtstag. Ich bin sechzig Jahre alt. Meine Leute haben mir Wein geschenkt, und jetzt will ich mit dir anstoßen. Komm herein, es ist geheizt.’ 227
,Aber das ist doch gegen die Vorschrift. Behalte den Wein und trinke ihn um Mitternacht, wenn dein Dienst vorbei ist, trinke ihn nicht jetzt.’ ,Ich bin der Chef hier’, sagte ich im Spaß, ,und ich befehle dir jetzt, hereinzukommen. Wenn du nicht willst, dann muß ich dich festnehmen, um deine Papiere zu untersuchen.’ Elias war unsicher geworden. Er verstand den Spaß nicht. In den letzten drei Jahren des Krieges war er nur deshalb in der Schweiz geblieben, weil drüben ein Neuer gekommen war, der Elias’ Papiere sehen wollte. Es war ein ganz junger, und niemand hatte ihn über Elias eingeweiht. ,Gut, wenn du darauf bestehst’, meinte er schließlich, ,du bist der Chef hier und kannst alles mit mir machen.’ Wir traten ins Zollhaus. Ich öffnete eine Flasche. ‚Stelle deine Harmonika auf den Tisch’, sagte ich, ,du mußt mir noch etwas vorspielen. Heute ist mein sechzigster Geburtstag, da mußt du mir etwas vorspielen.’ Elias trank zögernd den Wein. ,Was ist denn? Willst du nicht auf mein Glück trinken? Los, trink!’ Nun trank er den Wein. Er leerte auch das zweite Glas auf mein Wohl, stellte es dann auf den Tisch zurück: ,Mehr Glück verträgst du nicht’, sagte er, ,ich muß jetzt gehen.’ Ich hatte getrunken, drei Glas, vier Glas, ich wußte es nicht mehr. ‚Nichts da, du bleibst’, befahl ich Elias, Jetzt feiern wir Geburtstag. Du bleibst und spielst mir was vor. Wir trinken, und wenn’s spät wird, kannst du hier schlafen. Es ist geheizt, und wir haben auch noch ein zweites Feldbett.’ 228
‚Aber das ist gegen die Vorschrift’, sträubte sich Elias und drängte zur Türe. Ich wurde im halben Rausch plötzlich wütend. ,Du spielst jetzt, und du bleibst!’ schrie ich und sprang auf. Elias stand schon bei der Türe. Da packte ich ihn, packte seine Harmonika, nahm sie ihm einfach weg, riß sie aus der Hülle, stellte sie auf den Tisch und sagte: ,Das ist aber eine verdammt schwere Harmonika.’ Nun wurde Elias zornig. Er kam auf den Tisch zu und wollte seine Harmonika wieder nehmen. Aber ich erwischte sie an einem Ende, und er zerrte am andern Ende. Ich weiß nicht mehr, wie es eigentlich geschah; aber die Harmonika entglitt unseren Händen und fiel zu Boden. Und dann war es geschehen: die Harmonika ging entzwei, und Flaschen fielen heraus. Jetzt kam es heraus: Elias brachte Himbeergeist aus dem Schwarzwald in die Schweiz, und aus der Schweiz brachte er Bohnenkaffee in den Schwarzwald … Ich traute meinen Augen nicht. Ich wollte es nicht glauben. Elias ein Schmuggler! ,Das ist nicht wahr’, sagte ich, ,wir haben zuviel Wein getrunken.’ Aber darauf ging Elias nicht ein. Er gestand, daß er seit Jahr und Tag diesem kleinen Geschäft nachgehe. ,Glaubst du vielleicht’, sagte er, ,ich lebe von meinen Valses musettes? Wer lebt schon davon? Und sollte ich verhungern? Aber jetzt mache mit mir, was du willst.’ Ich erwiderte, er soll die beiden Flaschen verschwinden lassen und gehen. Doch davon wollte er nichts wissen. Er wußte etwas Besseres: ‚Stell deinen Wein weg, ich hole mir beim Eiben-Wirt die Harmonika, und dann feiern wir 229
deinen Geburtstag recht, und nach Mitternacht kannst du mich festnehmen.’ So feierten wir denn. Und um Mitternacht nahm ich ihn nicht fest. Er hatte mir die Pfiffigkeit beigebracht, und vor allem: jetzt hatte ich einen Freund. Er war gar nicht niedergeschmettert, nur weil ich ihn überführt hatte. Er versuchte nicht einmal zu lügen. ,Du an deinem Platz, ich an meinem’, sagte er. Ja, und nach Mitternacht kamen wir überein, gemeinsame Sache zu machen. Ich beteiligte mich an seinem Geschäft. Und das ging vier Jahre gut. Vier Jahre! Nicht daß es mir ums Verdienen gegangen wäre. Nein, um die Pfiffigkeit, wenn Sie so wollen, und weil Elias jetzt mein Freund war. Bis dann eines Tages ein Neuer kam. Daran waren die Autos schuld und die Währungsreform in Deutschland. Allen ging es mit einem Male besser, sie hatten alle plötzlich mehr Geld. Unsere Zollstation wurde allmählich wichtiger und wichtiger. Sogar von Freiburg kamen sie herauf durch das Höllental und bei uns über die Grenze. So wurde unser Zollübergang wichtiger und wichtiger, und sie schickten mehr Leute zu uns. Alles junge Leute, und die griffen durch, wie sie sagten. Und so kam es mit mir so weit: Mit Schimpf und Schande und Bewährung auf vier Jahre! Ein wenig Pension, weil ich sonst nie straffällig geworden war, und weil ich nichts verdient hatte dabei, oder fast nichts …“ Er trank wieder, stand dann auf und ging zum Fenster. Es regnete, und immer noch war Schnee unter den Regen gemischt. „Es sollte jetzt kälter werden oder wärmer“, sagte der Fremde, „Regen oder Schnee …“ 230
„Und was geschah mit Elias?“ fragte ich. Er zuckte die Schultern. „Der war zu alt. Was keiner gewußt hatte: Elias war über die achtzig hinaus. Ihm sahen sie es nach; mehr oder weniger. Vor Gericht hat er ja auch gelogen. Ab und zu, hat er gesagt. Wer sollte es ihm beweisen? Ich habe nicht gegen ihn geredet. Und wie gesagt, er war zu alt. Ein paar Monate bekam er; auch er mit Bewährungsfrist. Jetzt lebt er irgendwo im Schwarzwald. Er darf nicht mehr herüber. Aber Ihr Vater hat immer gesagt: ,Paß auf, eines Tages kommt er wieder zurück.’ Ich kann mich immer noch in Kaiserstuhl zeigen. Ja, man sieht mich gern im Städtchen. Und das mit der Freundschaft, glaube ich, hat Ihrem Vater Eindruck gemacht. Ich wäre auch gar nicht von mir aus hier in die Wohnung gekommen. Aber er hat es verlangt. Er hat gesagt: ‚Wenn ich krank werde, dann besuche mich …‘“ Der Fremde wandte sich vom Fenster ab. Meine Mutter war hereingekommen. Sie nickte. Keine Tränen, kein Wort. Ich ging an ihr vorbei zu meinem Vater, und der Fremde folgte mir. Später traf der Arzt ein. Als der Leichenwagen kam, war ich bereits unterwegs von Amt zu Amt. Mein Mitarbeiter gab die Todesanzeige auf und adressierte die Kuverts. Der Fremde war bei meiner Mutter geblieben, bis sie den Toten abholten. Er half, den Sarg in den schwarzen Kastenwagen zu schieben, und dann ging er fort. Ich hatte vergessen, ihm Geld zu geben. Er kam nie mehr zurück. Zuweilen tat ich es später meinem Vater nach: Ich hielt Ausschau nach ihm, aber ich sah ihn nie wieder. Ich sah ihn auch an der Abdankung nicht. 231
Am Abend des Todestages kamen die Oberdörfler, um halb sieben, nach Geschäftsschluß. Der Schuhmacher war schon da, nachdem der schwarze Kastenwagen abgefahren war. Er blieb bei meiner Mutter bis zum letzten Zug. Er erschien auch am folgenden Vormittag in unserer Wohnung, und meine Mutter lud ihn zum Mittagessen ein. Am Tag der Beerdigung schloß er seine Werkstätte und saß in der Abdankungskapelle hinter meiner Mutter. Ich war viel unterwegs, kam spät nach Hause, ging frühmorgens wieder fort, und wenn ich einen Abend zu Hause verbrachte und wir allein waren, sprach meine Mutter nie von unserem Toten, sondern immer nur von Emil. Eines Tages, vielleicht drei Monate nach dem Tod meines Vaters, sagte meine Mutter: „Ich habe kürzlich gemeinsam mit Emil die Geschäftsbücher durchgesehen. Der Angestellte ist zuviel. Wir könnten verkaufen, ausverkaufen, und an Stelle eines Uhrenladens einen Schuhladen eröffnen. Emil würde seine Werkstätte behalten, und ich könnte den Schuhladen führen. Das ist schon immer Emils Traum gewesen: Einen eigenen Schuhladen zu haben.“ „Gut, aber wenn du einen Schuhladen hast, dann hast doch du ihn, und nicht Emil.“ Meine Mutter gab keine Antwort. Sie hatte noch in der Küche zu tun. Einige Tage später fing sie wieder davon an: „Ich bin mit Emil bei einem Advokaten gewesen. Ohne deine Einwilligung kann ich den Uhrenladen nicht verkaufen. Aber ich habe mir gedacht, du hast ja kein Interesse daran. Ich könnte also mit Emil einen Vertrag machen. Es 232
gibt verschiedene Arten, wie man gemeinsam ein solches Geschäft führen kann. Was meinst du?“ „Ich habe nichts dagegen“, antwortete ich, „aber auf eines möchte ich dich dennoch aufmerksam machen: Würdest du dich mit Emil als Geschäftspartner gut verstehen? Hättest du genügend Erfahrung, um das Geschäft zu führen? Würdest du nicht Gefahr laufen, von Emil übervorteilt zu werden?“ Meine Mutter gab keine Antwort. Sie hatte noch in der Küche zu tun. Als es zum dritten Mal zum Gespräch über den Verkauf des Uhrenladens kam, war Emil dabei. Meine Mutter hatte darauf bestanden. Ich sagte erneut, meine Mutter würde den größten Teil des nötigen Kapitals hineinstecken, und ihre Interessen müßten entsprechend gewahrt werden. Emil wurde beinahe zornig. „Bin ich vielleicht grün? Natürlich werde ich ihre Interessen wahren. Das sind ja unsere Interessen …“ Meine Mutter beschwichtigte ihn. „Er meint es nicht so, Emil.“ „Wie meint er es denn? Er denkt, ich will dich betrügen, dabei will ich dich heiraten, sobald das gesetzlich möglich ist …“ Nun war es gesagt, und die beiden schwiegen. Aber ich ging und holte eine Flasche Wein und war einverstanden.
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as ist nun seit einigen Tagen so: Man vergißt morgens nach dem Frühstück, mittags nach dem Essen und sogar nach dem Nachtessen meine Zellentüre zu verschließen. Erst dachte ich, sie haben eine Aushilfe, einen Anfänger; aber dieser Gedanke ist unsinnig, schließlich werden hier Mörder bis zu ihrer Aburteilung verwahrt. Und dann: die Essenverteiler wünschen guten Appetit. Wenn sie das Blechgeschirr wieder holen, bleiben sie unter der Türe stehen und fragen: „Hat’s geschmeckt, Herr Doktor, wünschen Sie irgendeine Zeitung?“ Gestern war Sonntag. Es gab Kalbsbraten mit Kartoffelstock, dazu ein Glas Wein. Der Essenverteiler ließ die halbvolle Flasche auf meinem Tisch stehen. Ich trank deswegen keinen Schluck mehr als mir zustand; ein Glas nämlich. Der Polizeibeamte, der die Flasche wieder mitnahm, war verlegen. Es fiel ihm nichts ein. Und ich bleibe immer kühl und zurückhaltend. Jetzt, das fühle ich, muß ich auf der Hut sein, und ich versuche eine Antwort auf die Frage Zu finden, was all das bedeutet. Rappold kann ich nicht fragen; er hat sich in den vergangenen vier Tagen nicht mehr blicken lassen. An seiner Stelle gleichsam erschien gestern ein Pfarrer. Ein hagerer Mann mit schmalen Lippen. Sein Umgang mit Häftlingen ist gewandt. Er übt wohl sein Amt schon seit Jahren aus. Er ist freundlich, zerstreut 234
und scheint kaum zuzuhören. Er redet, reiht Worte aneinander, die ich noch von der Unterweisung her kenne. Die alte Geschichte: Ich kann mich nur mit Menschen verständigen, die mich an ihren Zweifeln teilhaben lassen. Genauso, wie ich sie teilhaben lasse an meinen Zweifeln. Am späten Nachmittag erschien der Kommandant. Ich fragte ihn, was alles zu bedeuten habe. Man vergesse zum Beispiel die Türe zu schließen, man versuche, mit mir über das Wetter zu reden. Er blickte mich an, zuckte die Schultern und schwieg. Er sei gekommen, um sich von mir zu verabschieden. Er fahre für zwei Wochen nach Rom. Wie jedes Jahr um diese Zeit. Ich bin hartnäckig und erkundige mich nach Rappold. „Er ist nicht mir unterstellt“, sagte er. „Rappold gehört zur Politischen Polizei; zur Bundespolizei.“ Aber das weiß ich selbst. Ich weiß auch, daß Rappold die Unterstützung der Kantonspolizei verlangen kann, daß er den Kommandanten nicht aus reiner Höflichkeit über den Verlauf seiner Arbeit unterrichtet. Ich weiß auch, daß der Kommandant über meinen Fall genau im Bild ist. „Ich verabschiede mich von Ihnen“, sagte er nun, „weil ich Sie wahrscheinlich nicht mehr sehe, wenn ich aus dem Urlaub zurückkomme.“ Das muß mir genügen. Ich erkundige mich noch nach Iphraim Zähler. „Iphraim Zähler?“ sagte er etwas verwirrt, „den haben wir in eine Klinik eingewiesen … Ja, ich weiß, warum Sie fragen. Nein, ich habe die Froschmänner dann doch nicht eingeweiht, wie ich es vorgehabt hatte.“ „Man hat die Waffe also gefunden?“ 235
„Nein, aber Iphraim wurde ein zweites Mal den Zeugen aus der ,Hungaria’ gegenübergestellt. Wieder kam nichts dabei heraus. Er bestand auf seiner Geschichte.“ „Was wollen Sie denn mehr?“ fragte ich. „Nichts, aber wir können ihm den Mord nicht beweisen. Sein Geständnis hilft nicht weiter. Wir können keinen verurteilen, bloß weil er behauptet, ein Mörder zu sein.“ „Legt er Wert darauf?“ „Was meinen Sie damit?“ „Ich meine, daß er das Wort Mörder gar nie ausgesprochen hat. Er sagte nur, er habe den jungen Steiglitz in der ,Hungaria’ erschossen.“ „Ach so, so meinen Sie das. Nun ja …“ Wir ließen dieses Thema fallen. Ich kam noch einmal auf Rappold zu sprechen. „Rappold hat noch mehr Leute angefordert“, sagte er schließlich. „Sein Fall hat eine neue Wendung genommen, neue Dinge sind aufgetaucht … mehr kann ich nicht mitteilen.“ Ich lese die Zeitungen. Die Temperatur ist auf Null gesunken. Es regnet in der ganzen Schweiz. Der Flughafen Kloten ist wegen Nebel seit vierundzwanzig Stunden gesperrt. Die Verkehrsunfälle häufen sich. Die Autofahrer denken zu wenig an die nassen Blätter … Einige Zeitungen greifen den Fall Zähler noch einmal auf. Merkwürdig, zumindest auffallend ist, daß alle für den Täter Partei nehmen. Mord wird verziehen, gerechtfertigt. Ein Mörder, der kein Mörder ist. Wenn jene, die diese Geschichte kommentieren, wenigstens zweifeln würden, aber Zweifel kennen sie nicht. Daß Polizeiberichterstatter 236
selbstherrlich einen Mord für Nichtmord erklären, nur weil ein Jude auf den Nachkommen eines Judenmörders geschossen hat … Zweifel, das wäre schon viel, das ist oft alles, was wir vermögen: Zweifel, nicht Entscheide, weil wir’s einfach nicht wissen können! Heute ist Rappold endlich erschienen. Er bleibt unter der Zellentüre stehen, die Zigarre zwischen den Zähnen, über den rechten Arm den schweren Wintermantel gelegt, in der linken Hand hält er den Hut. Er wirft den Mantel über den linken Arm, streckt mir die Hand zum Gruß entgegen, zieht sie wieder zurück, weil ihm offenbar einfällt, daß es unhöflich ist, mit der Zigarre zwischen den Zähnen zu grüßen. Aber dann findet er sich auf einmal nicht mehr zurecht. Er gibt das Händeschütteln auf und sagt nur: „Da sind wir wieder! Kommen Sie, hier ist es nicht gemütlich. Wir machen es uns im Büro des Kommandanten bequem. Er ist nach Rom gefahren. Weiß Gott, was er mit diesem Rom hat. Ich finde es übertrieben. Seit fünfundzwanzig Jahren fährt er nach Rom in die Ferien. Aber jeder hat so seine Eigenheiten. Er hat das vielleicht nötig. Ist man übrigens meinen Anweisungen nachgekommen? Ich habe meine Leute angewiesen, Ihnen nach Möglichkeit jeden Wunsch zu erfüllen …“ Während er so daherredete, habe ich die Zeitungen ordentlich zusammengefaltet und auf den Tisch gelegt, die Schuhe angezogen, die Krawatte und den Rock. Jetzt bin ich bereit. Rappold geht mir voran, die Eisenstiegen abwärts. Noch immer erschrecke ich, wenn unsere Schritte so laut widerhallen. Noch immer erschrecke ich, wenn wir vor der Türe stehen, die das Gefängnis von der Polizeikaserne 237
trennt: eine Türe ohne Griff. Nur wer einen Schlüssel hat, kann hier durch. Dann stehen wir vor dem Scherengitter. Wie wir durch die Korridore schreiten, an jungen, scheinbar herumstehenden Uniformpolizisten vorbei, grüßt Rappold jovial. Er hebt den rechten Arm leicht und nickt. Natürlich weiß er, wer er ist: ein Beamter der Bundespolizei. Und er weiß, daß jedermann vor der Bundespolizei weit mehr Achtung hat als vor der Kriminalpolizei. Rappold genießt das. Er ist ein großer Genießer. Selbst wenn er am Stammtisch Karten spielt, denkt er daran. Er genießt, zu beobachten, wie man ihm auf die Finger sieht. Im Büro des Kommandanten wirft er seinen Mantel über den Schreibtisch, den Hut auf den Mantel, und mit einer großzügigen Geste fordert er mich auf, Platz zu nehmen. Er fragt mich, ob mir Whisky behage. „Ihr Mitarbeiterstab ist groß“, beginnt er, die Zigarre noch immer zwischen den Zähnen, während er Whisky einschenkt. „Im Ernst, ich war verblüfft, als ich mir neulich Ihre Arbeitsräume noch einmal zeigen ließ. So nach den Akten wußten wir alles. Aber es ist eben doch etwas anderes, wenn man die Sache wirklich sieht. Siebzig Mitarbeiter? Sagen Sie, das bringt doch auch so seine Gefahren mit sich? Sind Sie in der Lage, so viele Mitarbeiter zu überwachen?“ „Was soll ich Ihnen darauf antworten? Ich habe es nie versucht. Es fiel mir gar nie ein, meine Mitarbeiter zu überwachen.“ „Das ist ein Fehler. Das muß man unbedingt tun. Man hätte dies und jenes vermeiden können.“ 238
„Dies und jenes? Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Herr Rappold.“ Er trinkt Whisky wie einer, der immer Whisky trinkt. Mein Glas hat er mit einer leichten Handbewegung herübergeschoben. „Das werden Sie gleich wissen, Herr Doktor, Sie werden gerade deswegen noch Ihre Überraschungen erleben. Zugegeben, Sie haben ganz vorzügliche Mitarbeiter. Mit einem bin ich recht gut Freund geworden inzwischen. Das darf ich wohl sagen: Gute Freunde. Erraten Sie, mit wem?“ „Siebzig Mitarbeiter, Herr Rappold. Welcher davon soll ausgerechnet Ihr Freund geworden sein? Und wozu? Und weshalb?“ „Lassen Sie sich überraschen. Sie erfahren das alles noch. Aber ich will Sie nicht unnötig auf die Folter spannen. Ich meine Julius. Julius ist der beste Mann, den Sie haben. Ich habe zwei Abende mit ihm verbracht. Abende? Nächte! Ja, gäbe es um diese Jahreszeit zu einer vernünftigen Morgenstunde Morgengrauen, dann könnte ich sagen, bis zum Morgengrauen hätten wir zusammengesessen. Sehen Sie, dieser Julius hat Format. Das haben Sie vielleicht gar nie richtig erkannt. Und wissen Sie, worin dieses Format besteht? Julius kann sich unterordnen, Julius weiß, daß Sie der Chef sind, er weiß, daß Sie die Verantwortung tragen … Er weiß auch, daß er kaum alle Ihre Weisungen auf deren Sinn und Zweckmäßigkeit überprüfen konnte, daß er sich also auf Sie verlassen muß. Julius, möchte ich sagen, handelt immer im Hinblick auf das Größere, im Hinblick auf die Ordnung. Er weiß, daß er sich den größeren Zusammenhängen unterordnen muß. Genau wie ich es tun 239
muß. Auch ich muß Befehle ausführen, die mir sinnlos, ja zuweilen unmenschlich vorkommen. Aber es ist nicht meine Sache, Entscheide zu treffen, obwohl ich mehr als einmal im Leben versucht war, dies zu tun. Sehen Sie, in Sachen Zuchthäuser bin ich nicht stur. Auch ich halte Zuchthäuser nicht für die einzige Lösung. Gewiß muß man jedem so lange als möglich zubilligen, daß er gebessert werden kann. Aber alles hat seine Grenzen. Und Grenzen bedeuten für den einzelnen immer Härte, sogar Unrecht. Der einzelne ist eben nichts, wenn es aufs Ganze ankommt, auf die Ordnung, auf den Staat. Darin habe ich meine persönlichen Erfahrungen. Und ich danke es noch heute Gott, daß bei mir immer im rechten Augenblick diese Einsicht siegte. Man kann es in jedem Gehege zu etwas bringen. Ich habe es immerhin in meinem Gehege ganz weit gebracht. Aber nur, weil ich immer im rechten Augenblick einsichtig war und mir sagte: ‚Rappold, hier sind deine Grenzen …‘ Betrachten wir nun Ihre Geschichte, Herr Doktor. Sie haben gewiß bemerkt, daß ich Ihnen gegenüber sehr skeptisch war, am Anfang wenigstens. Da hatte ich nämlich den Auftrag – entschuldigen Sie meine Worte – einen Landesverräter unschädlich zu machen. Sie kennen unsere Ausgangslage? Und Sie wissen, wie so was bei uns vor sich geht. Wachtmeister Rappold, seit dreißig Jahren bei der Bundespolizei, wird beauftragt, den ‚Fall Prawda’ zu bearbeiten. Man kriegt da so … wie wir sagen … seine Einspritzungen. Oben wissen sie wenig oder nichts. Man weiß, daß die Wehrgesellschaft der Landesverteidigungskommission eine Denkschrift unterbreitet hat … Aber lassen wir das. Ich will nur festhalten, daß ich nichts weiter erfahren habe, als 240
daß diese Denkschrift von der Wehrgesellschaft ausgearbeitet worden war. Und mein Vorgesetzter gibt mir seine Weisungen. Ich will’s gerade vorwegnehmen, wie diese ausgesehen haben: Erich Fries ist nahe mit meinem Vorgesetzten verwandt. Das Schicksal Erich Fries’ geht ihm nahe, begreiflich. Daß Erich Fries den Rücktritt nehmen mußte, empfindet mein Chef als persönliche Schmach. Deshalb ist er unsachlich, wenn von der Wehrgesellschaft, von Major Harry Wind die Rede ist. Er sagte mir wörtlich: ,Da müssen Sie mal genauer hinsehen …‘ Daß wir uns richtig verstehen, Herr Doktor, mein Chef sagte kein Wort gegen Sie. Er meinte nur, Ihr Büro sei so groß geworden, daß selbst Sie den Überblick verloren hätten, falls sich da irgendeiner eingenistet hätte … Verstehen Sie, so faßt er das auf. Ich sage das, um nicht mißverstanden zu werden. Ich begann mit meiner Arbeit, und nach einigen Wochen haben alle Spuren zu Ihnen geführt. Ich erwirkte bei meinem Vorgesetzten einen Haftbefehl. Wir begegneten uns. Vom ersten Augenblick an ließen Sie mich fühlen, daß Sie mich verachten. Das können Sie nicht bestreiten. Aber ich nehme es Ihnen heute, nachdem ich mehr weiß, auch gar nicht mehr übel. Sie haben das Recht, mich zu verachten. Ich war ein Stümper. Das ist Stümperei. Ich habe Sie falsch eingeschätzt. Ich bin auf dem einen einmal gefundenen Weg geblieben. Ich habe nicht sehen können oder sehen wollen, daß es ein Holzweg war. Und weshalb, Herr Doktor? Sogar das kann ich erklären: Wenn unsereins nicht den Ehrgeiz hätte, ganze Arbeit zu leisten, käme ganze Arbeit nie zustande. Sie sind mein letzter Fall. Sobald dieser Fall gelöst ist, werde ich aus dem Dienst zurücktreten. Ich werde in 241
einigen Monaten 65 und habe Ruhe verdient. Aber jetzt bin ich etwas unsicher geworden. Fast wäre ich in die Falle gegangen, weil ich Ihre Sprache nicht verstand. Gewiß schien es mir rätselhaft, daß ein Mann, der seine besten Jahre der Armee opferte, mit einem Mal sein Vaterland verraten sollte. Welcher Widerspruch! Das setzte mir Korpskommandant Sturzenegger kürzlich auch auseinander. Aber – und nun komme ich zum Kern der Geschichte – ich war auf dem besten Weg, eigenmächtig zu handeln. Ich war blind, nicht mehr bereit, die Wahrheit zu erkennen, nur noch darauf aus, Sie, Major Wind, zu überführen, Ihre Schuld aufzudecken, sie zu beweisen.“ Rappold sah starr an mir vorbei, während er redete. Er unterbrach sich kurz und fuhr fort: „Ich habe mich eigentlich während Wochen über meinen Chef hinweggesetzt. Das könnte man mir sozusagen zur Last legen. Sehen Sie, ich bin auch mit meinen fast 65 Jahren bereit, das frei zu gestehen. Man soll eben seinen Bereich nicht mutwillig verlassen. Es bedrückt mich, wenn ich jetzt an die Folgen denke, die meine Eigenmächtigkeit hätte haben können. Ich hätte die Verantwortung dafür nicht übernehmen können. Dazu bin ich nicht stark genug. So geht es jedem, der seinen Bereich verläßt: Dieser Müller, dieser Eiselin, und selbst dieser Erich Fries können die Verantwortung für das, was sie getan haben, auch nicht tragen. Für Leute dieser Art, Herr Major, haben wir Zuchthäuser gebaut.“ Rappold redete ohne Unterbruch, aber in diesem Augenblick beobachtete er mich scharf, als wolle er die Wirkung seiner Worte in meinem Gesicht ablesen. „Für solche Leute gibt es keine andere Lösung. Man hat Erich Fries, man hat Eiselin und man hat auch Müller oft genug 242
gewarnt, aber sie haben diese Warnungen überhaupt nicht beachtet. Man wird sie morgen oder übermorgen verhaften.“ Hier hielt Rappold nun ein, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirne. Langsamer fuhr er fort: „Und daß dies möglich ist, verdanke ich Ihrem Mitarbeiter Julius. Er ist ein guter Mann, Ihr Julius, ich sagte es schon. Gerade darum, weil er weiß, wo sein Platz ist. Weil er weiß, daß Sie sein Vorgesetzter sind, daß Sie die Grenzen bestimmen. Vor Wochen schon nahm ich mir Julius vor. Ich hoffte, er würde mir helfen, Sie zu überführen. Ich hoffte wirklich, er würde Ihre Aussage über ihn als Beleidigung, als Herausforderung empfinden. Ich stand dann wirklich kopfschüttelnd da, als er das Protokoll ohne jeden Protest las. ,Wissen Sie’, sagte er, ‚Harry hat recht. Ich stehe noch immer tief in seiner Schuld. Damals hat er mich gezwungen, mich zu erinnern. Er war hart. Er war gerecht. Mein Vater hatte wirklich Fehler begangen. Darüber gibt es heute nichts mehr zu reden. Harry half mir aus jenen Verstrickungen heraus, er half mir, die Wahrheit zu erkennen, und die Wahrheit ist immer auch Ordnung …‘ ‚Ja, ja’, sagte ich zu Julius, ,das nimmt Ihnen auch keiner, aber lesen Sie doch das Protokoll noch einmal genau. Die Art, wie Harry Wind Sie schildert … Er macht sich lustig über Sie. Er beleidigt Sie …‘ Julius blickte mich an und schüttelte fast unmerklich den Kopf. ,Sie kennen ihn eben nicht’, antwortete er. ‚Harry ist ein Mann von großem Witz, er ist mit einem ungeheuren Verstand ausgerüstet, Gefühl liegt ihm nicht. Und haben Sie nicht bemerkt, daß er genau gleich auch über sich selbst redet?’ 243
Wie hätten Sie sich an meiner Stelle verhalten? Im ersten Augenblick brachte mich Julius zur Verzweiflung. Sie müssen meine Lage würdigen: Ich hatte alle Hoffnung nun auf Julius gesetzt! Doch ich sehe, Sie verstehen mich nicht. Das war doch so: Ich mußte Ihre Aussagen, wie wir das nennen, ‚verifizieren’. Ich ging also mit den von Ihnen unterzeichneten Protokollen zu den durch Sie belasteten Personen. Ich ging zu Korpskommandant Sturzenegger, zu Oberst Hug, zu anderen Offizieren, zu Angehörigen des Parlaments, ich machte alle diese Personen mit Ihren Aussagen über sie bekannt. Und was kam dabei heraus? Nichts. Sturzenegger lachte und sagte: ‚Echt Harry Wind.’ Was sollte ich damit anfangen? Hug ließ durchblicken, es fehle mir an Intelligenz, um Sie zu durchschauen. Soviel nur nebenbei. Gerade solche Reaktionen bestärkten mich immer mehr, Sie doch noch zu überführen, Sie zur Strecke zu bringen. Dabei setzte ich alle meine Erwartungen in Ihren Julius. Ich dachte, daß wenn einer von Ihren Aussagen tödlich beleidigt sein müsse, dann ganz bestimmt er. Er wird sich rächen, dachte ich mir. Ich gebe zu, ich war maßlos erstaunt, daß auch er sagte: ,Ohne Sarkasmus geht’s nicht ab bei ihm.’ Da zog ich mich zurück, und ich prüfte nochmals alle Protokolle Wort für Wort. Immer wieder griff ich mir an den Kopf und sagte: ,Du kannst nicht mehr lesen.’ Einige Tage später ging ich wieder zu Julius und legte ihm die anderen Protokolle vor. Er las auch diese aufmerksam und langsam. Er blickte mich an und meinte: ‚Harry Wind ist wirklich ein großer Mann. Darum kann er sich nicht anders verhalten. Sie müssen das begreifen. Sie können ihn nicht anklagen und erwarten, daß er sich ver244
teidige. Er wird sich nie verteidigen.’ Aber er versprach, mir zu helfen. Er schlug vor, alle Barth-Büros dafür einzusetzen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß wir über unsere eigenen Beziehungen verfügen. Wir haben unsere Spionageabwehr, wir haben unsere Agenten. Doch Julius lächelte. ‚Versuchen wir es lieber mit unserem eigenen Apparat’, antwortete er auf meine Einwände. Seine Haltung ärgerte mich. ,Das ist auch einer von denen, die nicht selbständig denken können, einer, der käuflich ist …‘ Genau das sagte ich mir. Bevor ich mich entschloß, die Hilfe von Julius anzunehmen, ging ich nach langer Zeit wieder einmal zu meinem Chef. Er empfing mich unfreundlich. Er hat nämlich auch seine Empfindlichkeiten. Er machte mich darauf aufmerksam, daß ich die Pflicht habe, ihn alle paar Tage über den Stand meiner Nachforschungen zu unterrichten. Ich bat um Entschuldigung und sagte, ich sei vor lauter Arbeit nicht dazugekommen, ihn über den Stand der Dinge zu unterrichten. Aber er werde es mir verzeihen, wenn er erfahre, wie weit ich gekommen sei. ‚Sprechen Sie von Major Wind?’ fragte er. Schon dieser Ton gefiel mir nicht. ‚Sprechen Sie von Major Wind?’ Es klang wie: ,Was wollen denn Sie kleine Maus diesem Mann anhaben?’ Und das war doch bemerkenswert. Ich erinnere Sie: Mein Chef und Erich von Fries, verschwägert … Ich erwiderte: ‚Ich glaube, da ist mir ein ganz großer Fisch ins Netz gegangen.’ Sehen Sie, ich war auf meine Art stolz darauf, das zu sagen. Sie müssen wissen, ich habe schon mehr als einmal gegen mein Empfinden handeln müssen. Sie kennen ja auch den Fall des Oberleutnant Räber: Verliebt in eine Tschechin, ahnungslos, daß sie eine Sekretärin der tschechischen Ge245
sandtschaft ist. Aber man läßt ihn auf Zusehen hin schuldig werden, damit man ihn um so fester in die Hände bekommt. Man macht Gegenbesuche in seiner kleinen Wohnung, man läßt sich die Reglemente zeigen, die er als Offizier leihweise besitzt. Man läßt sich diese Reglemente, diese nichtssagende Kasernenhofliteratur, geben, man will sie mal durchgehen; und dann bringt man diese Reglemente nicht mehr. Räber fordert sie zurück. Man lächelt. Steht nicht auf dem Deckblatt geschrieben: ,Geheim, nur für dienstlichen Gebrauch’? So steht’s doch geschrieben. ,Räber, beschaffen Sie uns noch diese und jene Auskunft, und dann bekommen Sie ihre Reglemente wieder.’ Die tschechische Geliebte kann ihm nicht helfen. Er vertraut sich einem Jugendfreund an, geht diesen um Hilfe an. Das hätte er nicht tun dürfen. Denn dieser Jugendfreund hat ihn denunziert. Und mir, Inspektor Rappold, fällt der Fall zu. Und so, wie ich’s eben erzählte, fiel dann die Lösung aus. Ich bemühte mich darum, daß Räber ungeschoren davon komme, aber der Denunziant blieb hartnäckig. Ich ließ es auf einen Streit mit meinem Chef ankommen, setzte ihm auseinander, daß Räber nichts anderes sei als ein Betrogener. Und überhaupt: Was er den Tschechen ausgeliefert habe, sei ohne jedes Gewicht. ,Nein’, sagte der Chef, ,ein Offizier muß wissen, daß er solche Reglemente nicht aus den Händen geben darf. Gleichgültig, ob solche Dokumente wertvoll oder wertlos sind.’ Räber bekam acht Monate Gefängnis … Sehen Sie…“ „Kennen Sie den Angeber?“ Es ist die erste Frage, die ich einwerfe, seit er zu sprechen begann. Daß ich überhaupt frage, macht Rappold unsicher. Er schüttelt heftig den Kopf: 246
„Das ist bedeutungslos. Was ich damit sagen will …“ „Ich glaube“, unterbreche ich ihn, „Julius, Ihr Gewährsmann, war doch ein Jugendfreund von Räber. Ich erinnere mich an den Fall …“ Rappold, vielleicht weil er bestürzt ist, lacht laut heraus. „Im Ernst, Sie verdächtigen doch nicht Julius, diesen unglücklichen Räber denunziert zu haben?“ „Ich verdächtige jeden. Auch mich.“ „Das ist absurd.“ „Ja, alles ist absurd. Der Mensch ist in seiner Natur absurd, seine Handlungen, sein Denken sind absurd. Aber erzählen Sie weiter. Mit Ihrer Geschichte sind Sie doch auf etwas aus, auf etwas Neues. Man dementiert keine alten Geschichten, ohne eine neue zu haben.“ Ich habe ihn aus der Fassung gebracht. Er findet nun nicht mehr zurück. Er findet den Faden nicht mehr. Ich muß ihm helfen, und ich habe meinen Spaß daran. „Sie erzählten mir, wie Sie entschlossen waren, mich ins Zuchthaus zu bringen, wie Sie Ihren Chef davon überzeugen wollten, daß Sie in mir einen ganz großen Fisch gefangen hätten, und Sie setzten gerade zu einer jener Anklagen an, die im Volksmund in den Worten gipfeln: ,Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen’. Und für Sie gehöre ich zu den Großen. Vielleicht haben Sie nicht unrecht. Ich bin immer aufs Ganze gegangen; wenigstens in den letzten Jahren. Begonnen habe ich auch ganz klein … wie Sie wissen. Sie gingen also zu Ihrem Chef, und der war jetzt plötzlich anderer Meinung?“ „Er … nein! Er hatte gar keine Meinung. Ich mußte ihm sämtliche Protokolle dalassen. Er wollte sie studieren, sagte 247
er. Und dann kam es zu einer Unterredung mit Sturzenegger, Hug und mit noch anderen Leuten, die mir unbekannt waren. Jeder von ihnen hatte eine Abschrift der Protokolle vor sich. Sie notierten ihre Gedanken auf einen Notizblock. Alle waren mit ernsten Gesichtern gekommen. Beinahe flüsternd haben sie sich begrüßt. Aber dann begann sich die Spannung zu lösen. Es begann damit, daß Sturzenegger anfing zu lächeln und seinem Nachbar Hug einige Worte zuzuflüstern. Die andern wagten nun auch zu lächeln. Ich beobachtete sie. Ich wurde das bedrängende Gefühl, es ginge jetzt um mich, und nicht mehr um Harry Wind, nicht los. Ich beobachtete sie. Ich fühlte mich wie ein Marder, der am Ausgang seines Baues von Jagdhunden umlagert ist. Ein Marder kann sich zwar in seinen Bau zurückziehen. Er kann warten, bis die Hunde das Warten satt haben, aber ich wagte mich hinaus. Und so bemerkte ich wie beiläufig zu meinem Chef, daß die gesetzlich zulässige Haftzeit für Harry Wind in den nächsten Tagen ablaufe. Die Bundesanwaltschaft müßte eine neue Verfügung erlassen. Kaum hatte ich diese Worte, die mir unwichtig vorkamen, ausgesprochen, da fielen sie über mich her. ,Sie haben sich selbst und die Bundespolizei lächerlich gemacht’, sagte Hug. Sturzenegger blickte mich mit seinen wäßrig-blauen Augen an und rief mit scharfer Stimme: ,Es muß einer Rappold heißen, um zu glauben, wir würden die Geschicke unseres Landes in die Hände eines Abenteurers oder Lumpenkerls legen.’ Ich muß sagen, mein Chef stand immerhin einigermaßen für mich ein. ,Ich bin der Auffassung, die Herren gehen zu weit, wenn 248
sie nun alle Schuld Inspektor Rappold in die Schuhe schieben’, sagte er mit einer ruhigen, fast ausdruckslosen Stimme. ,Rappold wurde bei seinen Nachforschungen von keiner Seite unterstützt. Er war auf die Aussagen von Harry Wind angewiesen. Es ist nun einmal die Art von Herrn Wind, durch seine merkwürdigen Aussagen die Untersuchung zu erschweren. Trotzdem möchte ich sagen, ist es Inspektor Rappold gelungen, sich nahe an die Lösung heranzuarbeiten …‘ Er hat mich dann gebeten, das Konferenzzimmer zu verlassen. Ich wartete. Die Herren saßen noch über zwei Stunden beisammen. Was sie gesprochen haben, weiß ich nicht. Als ich meinen Chef wieder sah, schien er in bester Stimmung. Er gab mir die Hand und beglückwünschte mich zu meiner Arbeit. ,Auch die Herren beglückwünschen Sie’, sagte er.“ Rappold schweigt und greift zum Whiskyglas. Seine Hand zittert. „Ich verstehe nicht, warum Sie mir das erzählen“, sage ich. Rappold sieht mich einen Augenblick an. „Nein? Sie verstehen mich nicht? Ich versuche nur, mein Vorgehen Ihnen gegenüber zu erklären. Fassen Sie es auch so auf: Ich bitte Sie, mir zu verzeihen und Verständnis zu haben.“ „Verzeihen?“ „Sie wissen, daß ich den Fall nicht von mir aus verfolgt habe. Ich bin nur ein Inspektor.“ „Das weiß ich. Sie hatten die Aufgabe, mich ins Zuchthaus zu bringen. Aber das ist Ihnen offenbar bis heute nicht gelungen.“ 249
Rappold springt auf. Beschwörend steht er vor mir, fast lächerlich. „Sagen Sie das nicht. Meine Aufgabe lautete nur, einem Fall von politischem, wirtschaftlichem und militärischem Nachrichtendienst nachzuspüren. Ich muß meine Vorgesetzten in Schutz nehmen. Ich, und nur ich, habe mir vorgenommen, Sie ins Zuchthaus zu bringen. Ich trage die ganze Verantwortung dafür. Und nur darum stehe ich jetzt vor Ihnen und bitte Sie, mir zu verzeihen, mir meine Haltung nicht nachzutragen. Ich konnte nicht wissen, wer Sie in Wirklichkeit sind. Ich war Ihnen nicht gewachsen, ich verstand Ihre Sprache nicht.“ „Und jetzt? Verstehen Sie jetzt meine Sprache?“ „Ich glaube es. Auf alle Fälle ist es mir möglich, morgen oder übermorgen die wirklich Schuldigen zu verhaften …“ „Die wirklich Schuldigen?“ „Ja, Sie selbst haben mir die Lösung zugespielt, bloß merkte ich es nicht gleich.“ „Welche Lösung?“ „Mich erwischen Sie nicht noch einmal, Major Wind.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Ich verstehe nun Ihre Sprache.“ „Was will man von mir?“ Rappold blickt mich verständnislos an. Ich sehe ihm an, daß er plötzlich Eile hat. Er will wegkommen. „Sie wurden denunziert“, sagte er schließlich. „Sie machen sich die Sache zu einfach.“ „Tut mir leid, aber mehr weiß ich auch nicht.“ „Ich verstehe. Und was nun?“ „Nichts weiter. Sie sind frei.“ 250
Rappold wird plötzlich wieder gesprächig. „Wir haben nur eine Bitte und sind uns bewußt, daß wir etwas viel verlangen: Bleiben Sie noch diese Nacht hier. Es wäre uns sonst nicht möglich, diese Wendung geheimzuhalten.“ „Tun Sie, was Ihnen richtig scheint. Und führen Sie mich nun in die Zelle zurück.“ „In die Zelle? Wir bitten Sie nur, die Polizeikaserne nicht zu verlassen. Innerhalb des Hauses können Sie sich frei bewegen. Man wird Ihnen das Dienstzimmer des Kommandanten herrichten. Und noch eine Bitte: Nehmen Sie keine Verbindung mit Ihrer Familie oder mit Ihrem Büro auf. Wenigstens heute nicht.“ Habe ich ihn durchschaut? Weiß Rappold, daß ich ihn durchschaue? „Ich möchte in meiner Zelle bleiben, Herr Rappold. Ich wünsche, daß sich nichts ändert. Man soll die Türe ordentlich verschließen, mir keinen Wein zum Essen auftragen …“ Auch diese Worte, ich sehe es ihm an, will er nicht begreifen. Er steht mir ratlos gegenüber. „Sie irren sich, Rappold, ich bin nicht Ihr Komplize!“ Das versteht er nun. Und wie ich mich anschicke, zu meiner Zelle zurückzugehen, folgt er mir wortlos, niedergeschlagen.
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chnee ist gefallen. Wenn sie morgens den Kaffee bringen, sieht man Eisblumen an den Fenstern. Zwei Tage und zwei Nächte sind vergangen seit Rappolds letztem Besuch. Die Heizung ist ungenügend. Man bietet mir einen elektrischen Ofen an. Ich will keinen elektrischen Ofen. Rappold kann ich nicht helfen. Es liegt nicht an mir, ihm zu erklären, wie er eingekreist wurde. Er würde auch kein Wort darüber sprechen wollen. Das Mißverständnis ist zu großartig. Heute hat sich auf zehn Uhr Rappold angemeldet. Zum Schlußprotokoll, wie er mir ausrichten ließ. Ich könne vor zwölf Uhr die Polizeikaserne verlassen. Ich könne mich auch mit meiner Familie in Verbindung setzen. Das habe ich getan, soeben, vom Büro des Kommandanten aus. Die Gefahr eingerechnet, daß die Leitung abgehört würde, habe ich Barbara gebeten, für die ganze Familie die Koffer zu packen, Geld abzuheben, mit dem Corvair an die Kanonengasse zu kommen, dort nach zwölf auf mich zu warten. Auch die Pässe soll Barbara nicht vergessen. Ich denke, daß wir vorläufig nach Frankreich fahren. Ich habe versucht, Erich Fries zu erreichen. Die Polizei hatte ihn bereits abgeholt. Werner Eiselin, von dem ich weiß, daß er bei einer Frau Globke in Untermiete wohnt, konnte ich nicht erreichen. Rappold erscheint pünktlich. Seine Haltung wirkt ge252
messen. Er ist nicht übertrieben freundlich, nicht übertrieben zurückhaltend. „Sie wissen also, daß die beiden verhaftet sind?“ fragt er als erstes. Ich schweige. „Also war es doch richtig?“ Dies sagte er mehr für sich, so nebenbei, ohne auf eine Antwort zu warten. Und doch frage ich: „Was war richtig?“ „Daß ich Ihnen das letztemal nicht auf den Leim ging. Sie taten doch so, als wüßten Sie nicht, von wem die Rede war.“ „Sie irren sich, Rappold, ich bin nicht Ihr Komplize. Ich habe Ihnen dies letztesmal schon gesagt.“ „Aber heute haben Sie versucht, mit Erich Fries zu telephonieren.“ „Nun denn, wissen Sie auch, daß ich nach Frankreich fahre, und zwar sofort?“ „Sie haben Urlaub verdient, Herr Doktor. Aber bleiben wir bei der Sache: daß Sie versucht haben, mit Erich Fries zu telephonieren, beweist doch …“ „Ja, ich weiß … daß ich mit ihm unter einer Decke stecke oder so, nicht wahr?“ „Natürlich nicht. Aber immerhin beweist es, daß auch Sie ihn und Eiselin für schuldig halten.“ „Suchen Sie sich andere Leute dafür, Rappold, nicht mich. Ich will mit Ihrer neuen Geschichte nichts zu tun haben.“ Rappold verzieht sein Gesicht. Er wirkt nicht mehr so gemessen wie am Anfang. „Die Wahrheit ist nicht so einfach“, sage ich noch. Rappold blickt kurz auf, sieht an mir vorbei und spricht 253
wieder pausenlos, wie immer, wenn er sich unsicher fühlt. Er blickt auf die Uhr. „Ich will Sie nicht länger aufhalten, Herr Wind. Ich will Ihnen nur in kurzen Zügen berichten, was wir nun wissen und warum es uns möglich war, wenigstens Eiselin und Erich Fries zu verhaften. Daß sich Müller in der Ostzone aufhält, wissen Sie? Ich fasse mich kurz: Erich Fries war Mitglied der Landesverteidigungskommission. Als die Wehrgesellschaft eine Denkschrift über die Armeereform einreichte, erhielt Fries auch ein Exemplar; wie alle Mitglieder der Kommission übrigens. Aber er war mit ihren Vorschlägen nicht einverstanden. Seine Einwände waren unsachlich und von persönlichen Gründen getragen. Fries war schon immer ein Gegner Sturzeneggers gewesen. Sie erinnern sich doch, Herr Wind, daß die Wehrgesellschaft immer wieder angegriffen wurde. Angegriffen wurden auch Sie. Sie hatten während einiger Zeit starke Gegner. Und Erich Fries gelang es, eine starke Gruppe gegen die Wehrgesellschaft zu mobilisieren. Aber dann wurde Fries kaltgestellt. Natürlich völlig zu Recht. Es ist doch wirklich ein starkes Stück, als Mitglied der Landesverteidigungskommission eine vierwöchige Rußlandreise zu unternehmen … die Frage laut zu äußern, ob es nicht doch klüger wäre, auf Atomwaffen zu verzichten … wie gesagt, es war an der Zeit, Erich Fries in die Schranken zu weisen, und dabei haben Sie und Sturzenegger …“ „Ich möchte mit Ihrer Geschichte nichts zu tun haben, Herr Rappold.“ „So? Ihr Julius informierte mich anders …“ „Und was weiter?“ 254
„Erich Fries ging unter die Atomgegner, er trat mit Werner Eiselin in Verbindung. Eiselin war der leitende Kopf der Atomkrieg-Gegner. Das Geld dafür erhielt er von einem gewissen Alois Müller. Dieser wiederum bekam es von den Kommunisten. Da fügt sich ein Steinchen zum anderen, fugenlos. Nicht wahr, Herr Wind? Und zur Person Müller: dieser Mann schenkte Ihnen mehr Glauben, als Sie damals annahmen. Und als auch Eiselin kaltgestellt war, nahm sich Müller seiner an. Eiselin ist verheiratet und hat drei Kinder. Ich weiß, Sie boten ihm einen Posten in Ihrem Büro an. Aber Müller kam Ihnen zuvor. Er brauchte diesen Mann. Eines Tages vernahmen Sie, daß er Leiter einer Import-Export-Firma geworden sei. Ihr Büro überwachte diese Firma. Zu Recht vermutete Ihr Julius, es könnte sich um eine Nachrichtenagentur handeln. Von außen gesehen, sprach allerdings nichts dafür. Die Firma importierte hauptsächlich aus den Oststaaten und exportierte dorthin. Als Sie uns darauf aufmerksam machten, daß …“ „Wir? Ich?“ „Julius sagte es. Und wir machten uns an die Arbeit. Doch mit welchem Erfolg? Wir erfuhren, daß Eiselin ausschließlich Import- und Exportaufträge für andere Leute abwickelte: Kaufhäuser, aber auch für Unternehmen der Maschinen- und Textilindustrie. Er verdiente, und die Auftraggeber ließen ihn verdienen. Sie mußten ihn schließlich gut dafür bezahlen, daß er – und nicht sie – von wohlmeinenden Bürgern ab und zu heftig angegriffen wurde. Er stand ja für die anderen ein. Und eben, als wir dieses Unternehmen endlich einmal genauer betrachten wollten, wurden uns die Hände gebun255
den. Durch wen? Eiselins Auftraggeber intervenierten. Sie befürchteten, Eiselin würde schließlich auspacken. Die Aktion wurde abgeblasen … Und nun noch einmal zu Müller zurück: Sie unterschlugen mir, daß Müller Ihnen ein- oder mehrere Male drohte, sich zu rächen …“ „Müller drohte mir nie.“ „Müller soll doch wenigstens einmal gesagt haben: ,Ich bringe dich ins Gefängnis.’ Stimmt das?“ „Genau das gleiche sagte ich auch zu ihm.“ „Vorläufig sind es andere, die Sie ins Gefängnis gebracht haben, Herr Wind! Aber das gleiche wird Müller blühen, wenn er sich anmaßen sollte, in die Schweiz zurückzukehren. Sie sind doch der Stärkere, Herr Wind.“ „Ich will nichts mit Ihrer Geschichte zu tun haben, Herr Rappold. Sie haben zu viel gelernt im Umgang mit mir.“ „Aber es ist doch Ihre Geschichte, Herr Wind. Ich habe sie nur herausfinden müssen.“ „Meine Geschichte! Was wissen Sie, Herr Rappold, von meiner Geschichte?“ „Nun, dank Ihrem Kampf gegen die Atomkrieg-Gegner konnten wir den Fall lösen.“ „Was wissen Sie über Hiroshima und Nagasaki, Herr Rappold?“ „Das ist etwas anderes. Sie wollen mich jetzt nur verwirren. Aber ich lasse mich nicht mehr verwirren. Ich gehe Ihnen nicht mehr auf den Leim. Es steht ja fest, daß Sie, Herr Major, für die Atombewaffnung eintreten.“ „Das ist nicht ganz richtig, Rappold. Ich sagte damals, 256
ich bringe Atombomben mit derselben Leichtigkeit in die Schweiz wie Bananen. Ich sagte nie: Ich bin für Atomwaffen.“ Jetzt habe ich ihn verwirrt. Wieder einmal hat Rappold den Faden verloren. Aber ich helfe ihm nicht. Nach einer kurzen Pause fährt er jedoch fort: „Sehen Sie, Erich Fries kam also mit Eiselin ins Gespräch. Und die beiden besprachen natürlich auch die Aktionen der Wehrgesellschaft. Erich Fries überließ seinem neuen Freund eine Abschrift Ihrer Denkschrift. Und von dieser Denkschrift stellte Eiselin eine Kopie her, und diese schickte er Müller. Aber Müller war vorerst zurückhaltend. Er heckte einen raffinierten Plan gegen Sie aus: In Helsinki wie in den meisten Städten anderer Länder sind ähnliche Büros entstanden wie das Ihre. Julius nennt sie ,BarthBüros’. So gibt es auch in Helsinki ein Barth-Büro. Und dort hat Müller vorübergehend gearbeitet. Nur wußten Sie das nicht. Und hier gewann er die Freundschaft eines jungen Mannes, der später einige Monate in Zürich gearbeitet hat. Und zwar in Ihrem Büro. Weil alle Barth-Büros auf der ganzen Welt auch Mitarbeiter austauschen untereinander. Und dieser junge Mann benützte die Zeit hier, um für Müller Material gegen Sie zu sammeln. Was ihm auch zum Teil gelang. So ist er auch vorübergehend in den Besitz eines umfangreichen Exposes zu Händen eines gewissen Mitulskij gelangt. Sie, Herr Doktor, hatten ja entschieden, daß diese Information unter keinen Umständen unser Land verlassen dürfe. Auch nicht für den Preis, daß der FreedomKonzern die Bestrebungen der Wehrgesellschaft unterstützen würde. Aber Müller war dafür besorgt, daß eine Abschrift 257
in russische Hände gelangte, und später schrieb er den Brief an die Bundesanwaltschaft …“ „Und jetzt wollen Sie die Akten der Bundesanwaltschaft übergeben? Sie scheinen ganze Arbeit geleistet zu haben, Herr Rappold!“ Rappold überhörte, was ich sagte. Es gefiel ihm nicht. „Kürzlich telegraphierte Mitulskij“, fuhr er fort, „er besitze die angeforderten Auskünfte noch immer nicht.“ „Und das lassen Sie als Beweis gelten?“ „Die Beweiswürdigung ist nicht meine Sache, Herr Major. Die Bundesanwaltschaft hat darüber entschieden.“ „Und Ihre Meinung?“ „Ich bedaure, Herr Doktor, daß Sie noch immer glauben, ich verdächtige Sie … Wirklich! Ich habe Fehler begangen. Das bestreite ich gar nicht …“ „Und wenn ich meine Aussagen in bezug auf Müller und Eiselin widerrufe?“ „Das werden Sie nicht tun.“ „Vielleicht werde ich es doch tun. Ich glaube, ich bin sicher, daß ich es tun werde. Ich mag Ihre Geschichte nicht.“ Rappold sah mich unsicher an. „Sie würden uns die Arbeit erschweren“, meinte er dann. „Aber das können Sie sich nicht leisten. Wie stünden Sie da, Herr Doktor!“ „Wie stehe ich jetzt da?“ „Man entläßt Sie. Ein Bürger wie jeder andere.“ „Wer sagt das?“ Rappold zuckte die Schultern. „Aber ich will nicht mittun bei dieser Geschichte.“ 258
„Ich durchschaue Ihre Absicht nicht. Warum wollen Sie Fries und Eiselin entlasten?“ „Ich sage nur, was ich weiß. Ich weigere mich, Ihnen darüber hinaus zu helfen.“ Ich gebe zu, daß mich weniger die Worte als der Ton seiner Stimme und sein Gesichtsausdruck zusammenfahren ließen, als er mir antwortete. Rappold hatte sich plötzlich erhoben, trat einige Schritte zurück und blickte mich regungslos an: „Ich habe meine Aufgabe erfüllt, Herr Doktor, genau wie man es mir aufgetragen hat. Alles andere ist nicht mehr meine Sache. Ich habe nichts mehr zu sagen.“ „Und das ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit?“ „Fassen Sie das auf, wie Sie wollen.“ Das sind seine letzten Worte. Kein Wort des Abschieds, des Grußes, nichts. Er dreht sich um und geht, läßt die Türen hinter sich offen. Ich gehe zum Fenster, blicke hinab auf die Kasernenstraße. Es hat wieder zu schneien angefangen, doch mischt sich der Regen unter den Schnee. Die Flocken fallen schnell und senkrecht auf den dunklen Asphalt.
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I
n einigen Minuten schlägt es zwölf. Der Koffer ist gepackt. Ein junger Polizist brachte mir einen Schraubenzieher. Ich habe die beiden Fensterflügel wieder festgeschraubt. Ich möchte die Zelle so verlassen, wie ich sie vorgefunden habe. Als Hauptmann Kurz – gerade war Rappold gegangen – ins Büro des Kommandanten kam, um mir die Entlassungspapiere auszuhändigen, wagte er nicht, mich anzublicken. Den Entlassungsschein steckte er mir gefaltet und mit einer nervösen Bewegung zu. Ich faltete ihn wieder auseinander und las ihn so, wie ich Hotelrechnungen überprüfe. Dann steckte ich dieses Papier in meine Brieftasche. Hauptmann Kurz sprach noch von einer Genugtuungssumme, die mir ausbezahlt würde. Ich sagte: „Unsere Gesellschaft läßt sich ihre Geschichten etwas kosten!“ Hauptmann Kurz verstand mich nicht. „Es wird gleich jemand Ihren Koffer holen“, erklärte er. Bei der Verbindungstüre zur Polizeikaserne steht ein alter Schließer. Ich kenne seinen Namen nicht, er hat auch nie versucht, mit mir ins Gespräch zu kommen. Nun stelle ich den Koffer ab und schüttle dem Mann die Hand. „Auf Wiedersehen“, sage ich gedankenlos. Er hebt spöttisch den Zeigefinger, ein menschenfreundliches Lächeln überfliegt sein Gesicht: 260
„Nichts da, bei Ihrer Postur, mit diesem Köpfchen … Sie werden’s schon noch auf einen grünen Zweig bringen … nur nichts sich nachtragen lassen …“ Ich wünsche, den hinteren Ausgang zu benützen. Hauptmann Kurz erklärt, meine Freilassung würde erst am Nachmittag bekanntgegeben. Ich stehe auf dem Parkplatz der Infanteriekaserne. Nichts von „tief Atem holen“. Es ist kalt. Die Bise geht, obgleich es schneit, Schnee mit Regen vermischt. Auf der anderen Seite des Exerzierplatzes liegt die Kanonengasse. Quer über den Platz führt ein Kiesweg, breit für eine Zwölferkolonne. Den Corvair sehe ich von weitem. Warum habe ich eigentlich den Corvair gekauft? Jahrelang bin ich Chevrolet gefahren, Barbara sagte: „Er ist einfach ein prima Wagen …“ Barbara fährt gut Auto … Hat sie Tobias und Ethel bei sich? Ich weiß, als hätte man es mir gesagt, daß sie jetzt am Burenweg auf mich warten: Julius, Hug … Das Mädchen wird sie im großen Wohnzimmer mit Apero bedienen … Nicht, wenn Barbara dem Mädchen Urlaub gab und das Haus schloß … Die Kinder laufen mir entgegen. Barbara bleibt im Wagen. „Wie war’s in Hamburg?“ fragt Tobias. Die Frage überrascht mich zunächst, aber Barbara wird den Kindern erzählt haben, ich sei in Deutschland gewesen. „Wie geht es, Harry?“ erkundigt sich Barbara. Wir fahren. Die Kinder wollen wissen, wohin es geht. „Paris“, sage ich, „aber heute fahren wir nur bis Montbeliard.“ Barbara fährt ruhig, sicher. Auf geraden Strecken zwischen hundert und hundertzwanzig. Sie lächelt. „Ich hab’s ja gewußt“, flüstert sie. 261
Ich schweige. Sie muß jetzt einige Kurven nehmen, und die Straße ist vermatscht. Aber nach den Kurven dreht sie mir rasch ihr Gesicht zu: „Ich weiß, was du denkst.“ „Ja?“ Vier Uhr. Wir haben Delle erreicht. Ich kurble das Seitenfenster herunter. Der Zollbeamte kommt auf die rechte Seite. Ich reiche ihm unsere Pässe, die grüne Versicherungskarte. Meine Hand ziehe ich gar nicht erst zurück, denn er wird nur flüchtig in den Pässen blättern und sie mir zurückgeben. Ich blicke ihn auch nicht an. Plötzlich höre ich Barbaras Stimme: „Siehst du?“ Ich blicke auf, der Zollbeamte ist nicht mehr da. Wir schauen beide auf das Zollhaus. Der Beamte erscheint wieder und bittet mich, auszusteigen. Ich folge ihm. Er führt mich ins Büro des Postenchefs. Dieser, ein freundlicher Mann, lächelt und sagt: „Sie können nicht über die Grenze, Monsieur. Ihr Passeport ist gesperrt. Hat man Ihnen das nicht mitgeteilt?“ „Das muß ein Irrtum sein!“ Dabei weiß ich, daß es kein Irrtum ist. Ich weise dem Postenchef mein Entlassungspapier vor. „Ich bin nicht auf der Flucht“, sage ich. „Ich glaube“, meint der Postenchef, „das ändert nichts daran; der Passeport ist gesperrt …“ „Wann sind Sie von meiner Ankunft orientiert worden?“ 262
Einen Augenblick ist er stutzig. Er versucht aber gar nicht erst, mich anzulügen. „Warten Sie … zirka zwölf Uhr durch Fernschreiber …“ Ich grüße und gehe. Barbara ist nicht überrascht. Tobias und Ethel sind enttäuscht. Barbara wendet. Wir fahren zurück. Wir wollen nur bis zum nächsten größeren Ort fahren. „Und was passiert nun?“ fragt Barbara. „Nichts. Meine Anwesenheit ist Zeugnis genug. Mehr verlangen sie nicht von mir.“ „Und später?“ „Später? Sehen, was sich machen läßt.“
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„Später? Sehen, was sich machen läßt.“ Einige Bemerkungen zu den Geschichten des Harry Wind
Nach allem, was der Leser über den Zyniker und Geschichtenerfinder Harry Wind vernommen hat, mag er geneigt sein, aus dessen letzten Worten auf nichts anderes zu schließen als auf die nie ermüdende Bereitschaft des echten Abenteurers, einen Ausweg auch aus der verfahrensten Situation zu finden und von neuem zu beginnen: im Falle des Harry Wind mit neuen „Geschichten“, die ihm letzten Endes ausschließlich zur Selbstbehauptung dienen. Es gibt jedoch in dieser höchst zwielichtigen Gestalt Ansätze, die zumindest die schwache Möglichkeit einer anderen Deutung zulassen. Wind charakterisiert sich selbst als einen Menschen, der jegliche Gesetzmäßigkeit leugnet: „Ich glaube nicht, daß irgend etwas so und nur so sein kann und muß. Ich weiß nicht, was kommen wird. Ich weiß nicht, ob eine Zukunft nötig ist.“ Dieser Standpunkt, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft von der Mehrzahl der Bürger geteilt, von den Beherrschern dieser Gesellschaft mit gutem Grunde sorgfältig gefördert, führt beim kleinen Spießer zur freiwilligen Unterordnung unter die ihm unbekannten, sein Leben bestimmenden Gesetze und zur Beschränkung auf ein illusionäres kleines Glück, das man einander in ständigem Kleinkrieg vorwiegend mit der Waffe des Betrugs (und Selbstbetrugs) abzuringen versucht. Wind hat diesen Leuten etwas voraus: seine unerhört lebendige Phantasie, das heißt, eine eminent künstlerische Befähigung, die ihn zwar nicht zu einem echten Erforscher der Wirklichkeit, aber doch zu einem 264
Neugierigen macht. Dem nicht analytischen Charakter seiner Begabung entsprechend versucht er – sehr frühzeitig – in die zugänglichste und lebendigste Schicht der Realität einzudringen: die menschliche Verhaltensweise. Was ihm in seiner nächsten Umgebung, vor allem in der Gestalt des Vaters, an Geiz, Kleinlichkeit und Verlogenheit entgegentritt, weckt in dem mit den Gaben der Intelligenz, der Einbildungskraft und der Unverschämtheit Ausgestatteten das Gefühl einer grenzenlosen Überlegenheit und einer grenzenlosen Verachtung – Voraussetzung und Grundlage seiner späteren Erfolge. Dabei übersieht er freilich, daß er zwar nicht die Lebensformen, aber die Lebensauffassung dieser Spießer teilt. Die moralische und politische Indifferenz, die ihn Atomwaffen mit Bananen gleichsetzen läßt, ist nichts weiter als die in eine zynische Aktivität verkehrte Lethargie des kleinen Mannes, der „ja doch nichts ausrichten kann“. Harry Wind, der Erfolgsmann, der heimliche Aktienbesitzer, der von sich sagt: „Ich bin ein Drahtzieher. Ich herrsche …“, ist in Wirklichkeit ein umgestülpter Kleinbürger. Der Verzicht auf tiefere Einsicht, die Ersetzung der Geschichte durch Geschichten, macht den so scharfsinnigen Harry Wind unfähig, seine eigene Situation richtig zu deuten – sein Erkenntnisvermögen bleibt auf die Sphäre der Psychologie beschränkt. Wenn er sagt: „Ich spiele mit dem Ehrgeiz der Dummen und spiele mit dem Machtwillen der Bösen, mit dem Hunger der Armen und mit dem Überfluß der Reichen. Alle stehen in meinen Diensten“, so trifft das zu – bis zu einer ganz bestimmten, nicht von ihm gezogenen Grenze. Die Einflußmöglichkeiten, die ein riesiger Machtapparat ihm wegen seiner ungewöhnlichen Bega265
bung und Verwendbarkeit in einem Teilgebiet eingeräumt hat, und die dadurch bei ihm hervorgerufene Hybris lassen ihn verkennen, daß er nichts weiter ist als ein kleines Rädchen, das nötigenfalls ausgewechselt werden kann. Es genügt, daß irgendein Vorgang an irgendeiner Stelle dieses Systems ihn zumindest vorübergehend unerwünscht oder untragbar macht, und er stürzt von dem Seil ab, auf dem er sich bis dahin mit der nachtwandlerischen Sicherheit des im Grunde Unwissenden bewegt hat – zunächst nicht auf den harten Boden, sondern in das von seinen Auftraggebern gehaltene Netz. Warum soll man schließlich auf etwas, was sich als so nützlich erwiesen hat, gleich völlig verzichten? Und dann weiß Herr Wind ja auch so manches. Man kann nicht sagen, daß der Absturz bei Harry Wind Einsichten auslöst, die ihm vorher versagt waren. Die Äußerungen, die seinen Zynismus, seine gesellschaftliche Indifferenz, sein egozentrisches Streben nach Wohlergehen beweisen, finden sich ja in den Geschichten, die er Rappold während seiner komfortablen Haft erzählt. Und doch scheint sich hier zuweilen so etwas wie der schüchterne Beginn eines Wandlungsprozesses anzudeuten. Der Autor macht es dem Leser nicht leicht, das Bild, das er von Harry Wind vermitteln will, aus dem Irrgarten der „Windgeschichten“ herauszuschälen. Das mag nicht zuletzt daran liegen, daß er, begreiflicherweise von seinen großen Landsleuten Frisch und Dürrenmatt beeinflußt, so gut wie ausschließlich die literarischen Mittel der indirekten Charakterisierung, der ironischen Brechung und Aufhebung anwendet. Die von Max Frisch so souverän gehandhabte Methode der mehrfachen Verschachtelung dürfte bei der Konzeption von Dig266
gelmanns Roman Vorbild gewesen sein. Und dabei ist eine Gewichtsverschiebung eingetreten: die Figuren der zum Teil meisterhaft gestalteten einzelnen Geschichten sind außerordentlich plastisch und in sich geschlossen, während die Konturen des Harry Wind zuweilen zu zerfließen drohen – über das Maß an Relativierung hinaus, das durch seinen Charakter künstlerisch gesetzt ist. Die amoralische, in der Gleichgültigkeit gegen die Folgen seines Handelns manchmal geradezu barbarische Haltung dieses Mannes verträgt sich nicht recht mit der noch so zurückhaltenden Sympathie für Menschen, die echter Krisen fähig sind wie Williams – oder gar echter Entschlüsse wie Müller, Fries und Eiselin. Nach seiner unerwarteten Entlassung versucht er mit seiner Familie nach Frankreich zu fahren – zweifellos, um dort ein neues kleines Glück in Großformat aufzubauen. Man hält ihn zurück: Herr Wind weiß zu viel. Vielleicht will man ihn auch wieder verwenden – er wird jetzt verwendbarer sein als je zuvor. Aber Herr Wind ist nicht nur zynisch und egozentrisch, er hat auch Phantasie. Und wer kann wissen, ob seine Phantasie sich nicht, durch die Erlebnisse der letzten Zeit angeregt, mit den Müller, Eiselin und Fries beschäftigen wird? Und ob er dann nicht zu ahnen beginnt, daß die scheinbar so unbegrenzte Macht, die er über Dinge und Menschen auszuüben glaubte, recht fragwürdig und unsicher ist? Und daß Freiheit nicht bei ihm ist, dem aus dem Gefängnis Entlassenen, vielleicht sogar wieder in seine „Rechte“ Eingesetzten, sondern bei dem verhafteten Fries, der sich die Freiheit nahm, eine moralische und politische Entscheidung zu treffen. M. S. 267
1. Auflage Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin W 8 by Benziger Verlag 1962, Einsiedeln, Zürich, Köln Printed in the German Democratic Republic L. N. 302, 410/94/64 Alle Rechte für die Deutsche Demokratische Republik vorbehalten Der Vertrieb in Westdeutschland und Westberlin ist nicht gestattet Einbandentwurf: Rolf F. Müller Satz, Druck und Einband: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30
Der 1927 geborene Autor verbrachte seine Kindheit und Jugend in einem Bergdorf in Graubünden und in Zürich. Er erlebte die Wirren der ersten Nachkriegszeit in Deutschland und kehrte dann in die Schweiz zurück, wo er in vielen Berufen, als Bauhandlanger, Fabrikarbeiter, Hotelbursche, Redakteur, Vcrlagslektor, Rundfunkregisseur, Journalist und Werbefachmann tätig war. Sein erster Roman, „Geschichten um Abel“, erschien 1960. Für sein Drama „Jeder findet seinen Brutus“ wurde ihm ein Preis des Züricher Schauspielhauses verliehen. Sein bisher größter Erfolg war „Das Verhör des Harry Wind“, ein Roman, in dem er zweifellos seine eigenen Erfahrungen als Werbefachmann mit viel Witz, aber auch mit großer psychologischer Delikatesse kritisch verarbeitet hat. 7,40 MDN