Keith Laumer
DAS VERGESSENE UNIVERSUM
Science-Fiction-Roman
BASTEI-SCIENCE-FICTION-TASCHENBUCH Nr. 8
Amerikani...
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Keith Laumer
DAS VERGESSENE UNIVERSUM
Science-Fiction-Roman
BASTEI-SCIENCE-FICTION-TASCHENBUCH Nr. 8
Amerikanischer Originaltitel: A TRACE OF MEMORY
Deutsche Übersetzung: Hubert Straßl
© Copyright 1963 by Keith Laumer
Deutsche Lizenzausgabe 1972:
Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach
Printed in Western Germany
Scan by Brrazo 03/2007
Titelillustration: Eddie Jones
Einbandgestaltung: Manfred Peters, Köln
Gesamtherstellung: Moritz Schauenburg KG, Lahr/Schwarzwald
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
PROLOG
Er erwachte und lag einen Augenblick ruhig. Über ihm schimmerte die Decke in schwachem, rötlichem Licht. Er fühlte die harte Matte unter seinem Rücken und wandte den Kopf. An der Wand neben ihm leuchte an einer Schalttafel ein rotes Warnlicht. Er schwang seine Beine über den Rand der schmalen Couch und richtete sich auf. Der Raum war klein, schmucklos, mit grauen Wänden. Ein steter Schmerz pochte in seinem Unterarm. Er schob den weiten Ärmel des seltsamen purpurnen Gewandes hoch und bemerkte ein Muster von winzigen Stichen in der Haut. Jemand hatte die Jäger auf ihn angesetzt! Wer hatte das gewagt? Sein Blick fiel auf eine reglose Gestalt am Boden. Er glitt von der Couch und beugte sich über den Körper ei nes Mannes in roter Tunika, die an vielen Stellen schwarz war von getrocknetem Blut. Vorsichtig drehte er den Körper auf den Rücken. Ammaerln! Er faßte nach dem Handgelenk und spürte einen schwachen Pulsschlag. Rasch erhob er sich und sah einen zweiten Körper, und in der Nähe der Tür zwei weitere. Er untersuchte sie und sah, daß alle drei tot waren, von Stich- und Schnittwunden entstellt. Nur Ammaerln atmete noch schwach. Er begab sich zur Tür und rief in die Dunkelheit. Die Regalreihen einer Bibliothek gaben ein kurzes Echo. Er schritt zurück in den roten Schein der Warnlampe und gewahrte einen Aufnahme-Monitor an der Wand. Er drückte die Neuroden an die Schläfen des Sterbenden, 5
aber mehr als Ammaerlns Gedächtnis aufzeichnen konnte er im Augenblick nicht tun. Er mußte ihn zu einem The rapisten bringen – und das rasch! Er eilte durch die Bibliothek und fand einen großen widerhallenden Raum dahinter. Dies war nicht der Saphir-Palast an der Küste des Flachen Meeres. Er befand sich an Bord eines Schiffes, eines Fern-Wanderers. War um? Was war geschehen? Er stand unsicher in der Dun kelheit. Die Stille war vollkommen. Er durchquerte die Große Halle und trat in den Beobachtungsraum. Dabei fand er einen weiteren Toten in der Uniform der Schiffs mannschaft. Er drückte einen Knopf, und die großen Schirme erwachten in blauer Intensität. Eine gigantische Sichel gewann an Schärfe und stach in grünlicher Bril lanz aus der Schwärze des Alls. Dahinter hing ein Beglei ter, blau bekleckst und atmosphärelos. Welche Welten mochten das sein? Eine Stunde später hatte er das riesige Schiff systema tisch durchkämmt. Sieben fürchterlich zugerichtete Lei chen waren alles, was es beherbergte. Im Kontrollraum fand er die Nachrichtenanlage eingeschaltet. Seine Ver suche brachten keine Antwort von der schweigenden, fremden Welt. Er kehrte in den Recorder-Raum zurück. Ammaerln atmete noch. Die Gedächtnisaufzeichnung war abge schlossen. Alles, woran sich der Sterbende in seinem langen Leben erinnerte, enthielt nun der kleine silberne Zylinder. Blieb nur noch der Farb-Code aufzuprägen. Ein weiterer Zylinder, der aus einer Öffnung an der Seite der Couch ragte, auf der er erwacht war, fing seinen Blick. Seine eigene Gedächtnisaufzeichnung! Er hatte also den Wechsel durchgemacht. Er nahm den bereits mit 6
den Farben versehenen Zylinder und steckte ihn in eine Tasche. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Ein Schwarm Jäger, wirbelnde Kugeln fahlen Lichtes, kam durch die Tür und griff ihn an. Ihr emsiges Summen er füllte die Luft. Ohne geeignete Waffe war er hilflos. Er hob den reglosen Körper Ammaerlns hoch. Gefolgt von einem Strom leuchtender Kugeln rannte er in die Beibootschleuse. Drei Boote lagen in den Kammern. Seine Sinne waren halb betäubt vom schwefeligen Gestank der Jäger, als seine Hände den Schalter fanden. Licht flammte in der Schleuse auf und trieb sie zurück. Er kletterte in das Ret tungsboot und legte den Sterbenden auf eine Couch. Es war lange her, seit er zum letztenmal ein Schiff ge steuert hatte. Aber er hatte es nicht vergessen. Ammaerln war bereits tot, als das Boot die Planeten oberfläche erreichte. Es landete sanft. Die Schleuse tat sich auf und gab den Blick auf eine zerklüftete Waldland schaft frei. Er würde hier keine Zivilisation finden. Nur der Landering und die Lichtung darum herum wiesen auf Menschenhand hin. Er sah eine Erdvertiefung nahe einem rechteckigen Markierungsstein am östlichen Rand der Lichtung. Er hob Ammaerlns Körper auf die Schulter und kletterte schwankend unter der Last die Einstiegleiter hinab. Mit den Händen vertiefte er das Erdloch, legte den Leichnam hinein und schaufelte die Erde darüber. Dann erhob er sich und wandte sich zum Boot um. Zehn Meter entfernt stand ein Dutzend Männer zwi schen ihm und der Einstiegleiter. Sie waren gedrungen, bärtig und in die zottigen Felle von Tieren gehüllt. Der größte von ihnen stieß einen kehligen Laut aus und hob 7
drohend ein Bronzeschwert. Hinter diesem scharten sich weitere um die Leiter. Reglos beobachtete er, wie einer der Männer hochkletterte und im Boot verschwand. Ei nen Augenblick später erschien der Wilde wieder und warf eine Handvoll kleiner glitzernder Gegenstände zu seinen Gefährten hinab. Mit lauten Rufen kletterten wei tere Wilde, von der Beute angelockt, die Leiter hoch. Der erste Eingeborene verschwand wieder im Boot. Bevor der vorderste der anderen Wilden oben anlangte, schloß sich die Schleuse und schnitt einen Entsetzensschrei aus dem Inneren ab. Die Männer fielen von der hochschwingenden Leiter. Das Boot stieg langsam auf und verschwand in westli cher Richtung. Die Wilden wichen entsetzt zurück. Der Mann, der Ammaerln hierhergebracht hatte, starrte dem winzigen blauen Licht nach, bis es sich am Himmel verlor.
8
I
Die Anzeige lautete: Abenteurer sucht Waffengefährten für ungewöhnliches Abenteuer. Foster, Postfach 19, Mayport. Ich knüllte die Zeitung angewidert zusammen und warf sie in die Richtung des Abfallkorbes. Alter Ge wohnheit folgend, schob ich den ausgefransten Ärmel hoch und warf einen Blick auf mein leeres Handgelenk. Die Uhr befand sich in einem Pfandhaus in Tupelo, Mis sissippi. Und dort lag sie so gut wie anderswo. Die ge naue Zeit war unwichtig. Jenseits des Parks in der Seitenstraße waren die mei sten Läden bereits finster. Ich sah keine Menschenseele. Es war Abendessenszeit. Während ich hinüberstarrte, wurde die Drogerie dunkel. Blieb nur noch der Schoko laden- und Zigarrenladen am unteren Ende. Ich fischte zum xten Male vergeblich nach einer Zigarette und wünschte, der alte Knabe hinter dem Ladentisch würde endlich Schluß machen. Sobald es dunkel genug war, wollte ich in seinen Laden einbrechen. Ich war kein Gewohnheitsverbrecher. Wahrscheinlich wurde ich deshalb dieses laue Gefühl nicht los. Obwohl es wirklich keine Sache war. Das Schloß war kein Pro blem und das Herankommen an die Tageseinnahmen noch weniger. Spätestens in zehn Minuten war alles vor bei und ich auf dem Weg nach Miami. In meiner großen Zeit beim Heeresgeheimdienst hatten härtere Sachen auf dem Programm gestanden als so ein kleiner Diebstahl. Aber das ist eine Weile her, und die Chancen, die sich mir danach boten, taugten nicht viel. Ich stand auf und machte eine Runde durch den Park. Es war ein warmer Abend voller Stechmücken. Der Duft 9
von Hamburgern aus dem Elite-Cafe erinnerte mich dar an, daß ich lange Zeit nichts mehr gegessen hatte. Im Commercial-Hotel brannten noch Lichter, auch über dem Kartenschalter am Bahnhof. Die Ortspolizei saß noch immer auf einem Stuhl im »Rexall« und unterhielt sich mit dem Mädchen hinter der Theke. Deutlich sah ich den 38er Revolver in der abgenutzten Lederhalfter an seiner Hüfte. Plötzlich wollte ich es hinter mir haben. Ein letz ter Blick auf die Lichter sagte mir, daß es nichts mehr zu warten gab. Alles war dunkel. Ich überquerte die Straße und schlenderte an dem Zigarrenladen vorüber. Hinter den Auslagen war es dunkel und tot. Ich sah mich um und trat in die Seitenstraße, in der ich die Hintertür wußte … Ein schwarzer Wagen rollte um die Kurve, und ein Gesicht mit scharfbebrillten Augen musterte mich. Die heiße Abendluft war in Bewegung. Ich spürte mein feuchtes Hemd kalt am Rücken kleben. »Suchen Sie was Bestimmtes, Mister?« meinte der Po lizist. Ich sah ihn stumm an. »Sie sind fremd hier. Auf der Durchreise?« fragte er. Aus irgendeinem Grund schüttelte ich den Kopf. »Ich habe einen Job hier«, erklärte ich. »Ich werde für Mr. Foster arbeiten.« »Wer ist Mr. Foster?« schnaufte der Polizist mit hart näckiger Neugier. Die Anzeige geisterte durch meinen Kopf – etwas mit einem Abenteuer. Foster, Postfach 19. Der Polizist ließ kein Auge von mir. »Postfach Neunzehn«, murmelte ich. Sein Blick schien sich an mir festzusaugen, dann öff nete er die Tür. »Sie kommen am besten mit zur Wache, Mister«, sagte er. 10
In der Wachstube bot er mir einen Stuhl an, ließ sich hin ter einem Schreibtisch nieder und griff nach dem Tele fon. Er wählte langsam und wandte mir dann den Rücken zu, während er sprach. Eine halbe Stunde verging, dann hörte ich einen Wa gen vorfahren. Der Mann, der gleich darauf eintrat, trug einen hellen Anzug, der weder neu noch frisch gebügelt war, und dennoch jenen exzellenten Sitz aufwies, mit dem Schneiderei zum Kunstwerk wird. Er bewegte sich leicht und entspannt, aber etwas warnte, ihn zu unter schätzen. Erst hielt ich ihn für Mitte Dreißig, doch als er mich ansah, gewahrte ich die feinen Linien um die blau en Augen. Ich stand auf. Er kam auf mich zu. »Ich bin Foster«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. Ich schüttelte sie. »Ich heiße Legion«, erklärte ich. Der Polizist ergriff das Wort. »Der Kerl behauptet, er sei nach Mayport ge kommen, um Sie zu treffen, Mr. Foster.« Foster maß mich ruhig. »Das stimmt, Sergeant. Dieser Herr interessiert sich für ein Angebot, das ich gemacht habe.« »Dann ist ja alles in Ordnung.« Der Sergeant nickte. »Ich war nicht sicher …« »Natürlich, Sergeant«, erwiderte Foster. »Es ist immer gut, wenn man vorsichtig ist. Wenn Sie also bereit sind, Mr. Legion?« »Sicher. Bin ich.« Mr. Foster wünschte dem Sergean ten eine gute Nacht, und wir verließen die Wache. Am Gehsteig vor dem Gebäude blieb ich stehen. »Besten Dank, Mr. Foster«, sagte ich. »Ich verschwin de jetzt lieber.« Foster öffnete die Tür seines Kabrioletts. Der Geruch 11
teurer Lederpolsterung stieg mir in die Nase. »Warum kommen Sie nicht mit, Legion«, meinte er, »und hören sich mein Angebot an?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht der Mann für Ihren Job, Mr. Foster«, machte ich ihm klar. »Wenn Sie freundlicherweise eine Kleinigkeit springen lassen, kann ich meinen knurrenden Magen beruhigen und bin auch schon aus Ihrem Leben verschwunden.« »Warum sind Sie so sicher, daß es Sie nicht interes siert?« »In Ihrer Anzeige war von einem Abenteuer die Rede. Davon habe ich genug hinter mir. Was ich jetzt suche, ist ein gutes, sicheres Loch, in das ich mich verkriechen kann.« »Ich glaube Ihnen nicht, Legion.« Foster lächelte. »Ich denke vielmehr, daß Ihre Abenteuer kaum begonnen ha ben.« Ich überlegte. Wenn ich mitging, bedeutete das eine Mahlzeit – und möglicherweise sogar ein Bett. Das war entschieden besser als eine Nacht unter einem Baum. Ich stieg ein und sank in den Sitz. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich schnell fahre«, sagte Foster. »Ich möchte vor der Dunkelheit zu Hause sein.« Der Wagen schoß vorwärts wie ein Torpedo aus dem Rohr. In der Einfahrt vor Fosters Haus stieg ich aus und be trachtete den weiten, gepflegten Rasen, die prächtigen Blumenbeete im Mondlicht, die Reihe hoher Pappeln und das große, weiße Haus.»Ich hätte nicht kommen sollen«, murmelte ich. »Das hier macht mir klar, was ich alles im Leben nicht erreicht habe.« »Das Leben liegt noch vor Ihnen«, erwiderte Foster 12
und öffnete eine mächtige Mahagonitür. Ich folgte ihm ins Innere. Am Ende eines kurzen Vorraums betätigte er einen Schalter, und Licht flammte in dem Zimmer vor uns auf. Meine Augen gewöhnten sich nur mühsam an den Reichtum. Auf einem grauen, kostbaren Teppich von der Größe eines mittleren Tennisplatzes standen dänische Teakmöbel vor gemusterten Wänden. Eine Klimaanlage hielt die Luft kühl. Foster machte sich an einer Bar zu schaffen. »Einen Drink?« Ich sah an mir hinab und versuchte, meinen zerknitter ten, unsauberen Anzug mit den schmierigen, ausgefran sten Ärmeln irgendwo in die Wohnharmonie einzuordnen. »Hören Sie, Mr. Foster«, begann ich. »Mir ist eben etwas eingefallen. Wenn Sie einen Stall haben, werde ich dort schlafen …« Foster lachte. »Kommen Sie! Ich zeige Ihnen das Bad.« Als ich wieder auftauchte, war ich sauber, soweit Wasser mich reinigen konnte, und trug eine Garnitur von Fosters Kleidern. Ich fand ihn in einen Drink und in Musik vertieft. »Der Liebestod«, sagte ich. »Ein wenig düster.« »Ich interpretiere ihn anders«, erklärte Foster und deu tete einladend auf einen der weichen großen Stühle und auf einen Stapel Sandwiches auf einem Kaffeetischchen. »Erklären Sie mir eines, Mr. Legion«, fuhr er fort, während ich seiner Aufforderung Folge leistete, »was hat Sie in meinem Namen hierhergeführt, wenn nicht der Wunsch, mich zu sehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Es hat sich einfach so erge ben.« »Erzählen Sie mir etwas über Sie«, verlangte Foster. »Da ist nicht viel zu erzählen.« 13
»Es interessiert mich trotzdem.« Ich zuckte die Achseln. »Ich wurde geboren, wuchs auf, ging zur Schule …« »Welche Schule?« »In die Universität von Illinois.« »Was haben Sie studiert?« »Musik.« Foster sah mich stirnrunzelnd an. »Es stimmt«, erklärte ich. »Ich wollte Dirigent werden. Die Armee hatte andere Pläne. Es erwischte mich im letzten Studienjahr. Sie entdeckten in mir eine Begabung für Geheimdienstarbeit. Es war mir gleich. Es ging mir nicht schlecht ein paar Jahre lang.« »Erzählen Sie weiter«, drängte Foster. Warum nicht? Ich hatte ein Bad und gutes Essen. Ich war ihm was schuldig. Wenn er meinen Lebenslauf ha ben wollte, bitte! »Bei einer Demonstration passierte es. Ein defekter Zeitzünder ließ eine Ladung Sprengstoff fünfzig Sekun den zu früh hochgehen. Ein Student kam ums Leben. Ich kam recht glimpflich davon. Nur ein angeschlagenes Trommelfell und ein halbes Kilo Kies im Rücken. Als ich aus dem Krankenhaus kam, ließ mich die Armee nur ungern ziehen – aber ziehen ließ sie mich doch. Mit dem Entlassungsgeld versuchte ich mein Glück als Privat schnüffler in San Francisco. Die Überbleibsel des Bank rotts verspielte ich ein paar Monate später in Las Vegas. Ich bekam einen Job bei einem Casinobesitzer, der ein Jahr später erschossen wurde. Danach verkaufte ich Ge brauchtwagen in Memphis, war Rettungsschwimmer in Daytona und schließlich Ködermann auf einem Fischer boot vor Key West – lauter verrückte Jobs, die nichts einbringen und keine Zukunft haben. Ein paar Jahre ver brachte ich auf Kuba, was mir zwei Kugelnarben am lin 14
ken Bein und einen guten Platz auf der schwarzen Liste der CIA einbrachte. Danach ging es rasch abwärts. Ohne einen Ausweis als Rückhalt lassen sich in dem Geschäft keine wirklich großen Fische an Land ziehen. Ich wollte nach Süden während des Winters und brachte meinen letzten Dollar bis nach Mayport. Das ist auch schon eine Weile her.« Ich erhob mich. »Das Bad war eine feine Sache, Mr. Foster. Und die Brötchen auch. Ich würde gerne in das Bett da oben kriechen und eine ungestörte Nacht verbrin gen. Aber ich bin nicht an dem Job interessiert.« Ich wandte mich ab. »Legion«, sagte Foster. Ich blickte mich um. Eine Bierflasche hing vor meinem Gesicht. Meine Hand fuhr hoch und fing den Schlag ab. »Keine schlechten Reflexe für einen Mann, der alle seine Abenteuer hinter sich hat«, meinte Foster. Ich stieß die Flasche zur Seite. Ich fühlte Ärger. »Wenn ich danebengegriffen hätte, wär’ ich ein paar Zähne los!« »Sie haben nicht danebengegriffen – obwohl Sie unter dem Einfluß des Bieres ein wenig schwankten. Und ein Mann, bei dem sich eine Flasche Bier bemerkbar macht, ist kein Alkoholiker.« »Ich hab nicht gesagt, ich wäre reif für die Klapsmüh le«, erwiderte ich heftig. »Mich interessiert nur Ihr Vor schlag nicht, ganz gleich, wie er lautet!« »Warten Sie, Legion«, sagte Foster rasch. »Vielleicht sind Sie der Meinung, ich hätte die Anzeige vorige Wo che einfach aus einer Laune heraus aufgegeben. Tatsache ist, daß ich sie in der einen oder anderen Form acht Jahre lang drucken ließ.« Ich sah ihn an und wartete. 15
»Und nicht nur hier am Ort. Auch in den großen Zei tungen und Zeitschriften. Alles in allem meldeten sich etwa fünfzig Personen, drei Viertel davon Frauen, die dachten, ich suchte eine Gefährtin. Auch ein paar Männer mit der gleichen Idee. Der Rest war auch nicht annähernd das, was ich suchte.« »Das ist allerdings überraschend«, gestand ich zu. »Man sollte meinen, sie hätten alle verrückten Würmer aus dem Holz gelockt.« Foster sah mich ernst an, und ich glaubte fast so etwas, wie Besorgnis in seinem Blick zu lesen. »Ich wollte, ich könnte Sie für meine Sache interessie ren, Legion. Ich glaube nämlich, Ihnen fehlt nur eines – Selbstvertrauen.« Ich lachte. »Glauben Sie? Mit mir ist nicht viel los …« »Legion, Sie sind intelligent und gebildet. Sie sind weit herumgekommen und haben gelernt, schwierige Si tuationen zu meistern. Sonst hätten Sie nicht überlebt. Sie haben eine Ausbildung genossen und kennen Tricks und Dinge, die nicht jedermann weiß. Und was vielleicht am wichtigsten ist: Obwohl Sie ein ehrlicher Mann sind, sind Sie im Notfall bereit, das Gesetz zu übertreten.« »Da liegt der Hase im Pfeffer«, sagte ich. »Nein, ich habe keine Kapitalverbrechen vor, Legion. Wie es meine Anzeige schon sagt, handelt es sich um ein ungewöhnliches Abenteuer. Dabei ist es sehr leicht mög lich, daß Übertretungen oder Umgehungen von speziel len Vorschriften oder Verboten nicht zu vermeiden sind. Ob es gerechtfertigt ist, können Sie selbst am besten be urteilen, wenn Sie die ganze Geschichte kennen.« Wenn Foster darauf aus war, meine Neugier zu wek ken, gelang ihm das ausgezeichnet. Der Ernst, mit dem er seine Sache vorbrachte, machte mich unsicher. Einerseits 16
hatte ich den Eindruck, daß es sich um etwas handelte, von dem man mit einiger Vernunft die Finger ließ, ande rerseits schien mir Foster nicht der Mann für Verrückt heiten … »Ich glaube, daß Sie mir Ihr Anliegen doch erzählen sollten.« Ich sah ihn auffordernd an. »Es leuchtet mir nur nicht ein, warum ein Mann mit diesem Luxus einen Her umtreiber wie mich zu einem Job überreden will?« »Ihr Ego hat einige kräftige Schläge einstecken müs sen, Legion, das ist ganz klar. Ich glaube, Sie haben Angst, ich könnte zuviel von Ihnen erwarten. Vielleicht kommen wir einander näher, wenn Sie sich und Ihre Pro bleme für den Augenblick vergessen …« »Ja«, entfuhr es mir, »einfach vergessen.« »In der Hauptsache wohl Geldprobleme. Die meisten Probleme dieser Gesellschaft wurzeln in dieser Wertab straktion Geld.« »Okay«, unterbrach ich ihn, »ich habe meine Proble me, und Sie haben Ihre. Wir sollten es dabei belassen.« »Sie meinen also, daß meine Probleme bei meinem Reichtum notwendigerweise trivialer Natur sein müssen« fuhr Foster fort. »Sagen Sie mir eines, Mr. Legion: Ha ben Sie jemals mit einem Mann zu tun gehabt, der unter Amnesie litt?« Foster schritt zu einem kleinen Schreibtisch und nahm etwas aus einer Lade. Er sah mich an. »Ich möchte, daß Sie sich das hier ansehen.« Ich ging zu ihm und nahm den Gegenstand, den er mir entgegenhielt. Es war ein kleines Buch, in graues Plastik gebunden, mit der Gravur zweier konzentrischer Ringe auf dem Deckel. Ich öffnete es. Die Blätter waren hauch dünn, aber undurchsichtig, und mit winzigen, fremdarti 17
gen Schriftzeichen bedeckt. Die letzten paar Seiten waren in englisch geschrieben. Ich mußte das Buch wie ein Kurzsichtiger an mein Gesicht halten, um die winzige Handschrift lesen zu können. 19. Januar 1710. Der Grad der Entfremdung der Symbo le ist erschreckend. Ich werde diese Aufzeichnungen in englischer Sprache weiterführen … »Wenn das eine Er klärung sein soll, muß ich Sie enttäuschen«, bekannte ich. »Ich habe nichts begriffen.« »Legion, für wie alt würden Sie mich halten?« »Nicht einfach zu sagen«, antwortete ich stirnrun zelnd. »Im ersten Augenblick habe ich Sie für Ende Dreißig gehalten. Aber bei genauerer Betrachtung sehen Sie mehr wie fünfzig aus.« »Ich kann Ihnen Unterlagen zeigen über meinen Auf enthalt in einem Militärlazarett in Frankreich«, erklärte Foster. »Ich erwachte bis an die Augen bandagiert und ohne Erinnerungen an irgend etwas, das vor diesem Tag geschehen sein mußte. Den Berichten nach, die damals angefertigt wurden, schien ich etwa um die dreißig Jahre alt zu sein.« »Amnesie ist nicht so ungewöhnlich bei Kriegsverlet zungen«, warf ich ein, »und Sie scheinen verdammt gut zurechtgekommen zu sein.« Foster schüttelte ungeduldig den Kopf. »Es ist in die ser Gesellschaft nicht besonders schwierig, materiellen Reichtum zu erlangen, obwohl mich das eine Reihe von Jahren in Trab hielt und mir wenig Zeit ließ, mich mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen. Aber es kam die Zeit, da ich Muße dazu hatte. Die Hinweise waren recht dürftig: Das Notizbuch hatte man neben mir gefunden. Außerdem trug ich einen Ring am Finger.« 18
Foster hielt mir die Hand entgegen. Am Mittelfinger befand sich ein massiver Siegelring, graviert mit demsel ben Symbol der konzentrischen Ringe, wie ich sie auch auf dem Notizbuch bemerkt hatte. »Ich hatte gefährliche Brandwunden, meine Kleidung war verkohlt. Das Notizbuch aber war seltsamerweise kaum beschädigt. Es ist aus sehr widerstandsfähigem Material angefertigt.« »Was haben Sie herausgefunden?« »Nichts, um ehrlich zu sein. Ich war bei keiner Militär einheit vermißt. Ich sprach Englisch, woraus man schloß, daß ich Engländer oder Amerikaner sein mußte …« »Aus Ihrem Akzent ließ sich das nicht eindeutig fest stellen?« »Offenbar nicht.« »Vielleicht ist es Ihr Glück. Ich würde was drum ge ben, wenn ich meine ersten dreißig Jahre vergessen könnte.« »Ich ließ mich die Nachforschungen einiges kosten«, fuhr Foster fort. »Kein Aufwand war mir zu groß. Weder an Geld noch an Zeit. Schließlich gab ich es auf. Und dann geschah es, daß ich den ersten winzigen Hinweis fand.« »Sie haben also doch etwas gefunden?« »Nichts wirklich Neues. Das Notizbuch half mir wei ter.« »Man sollte annehmen, daß es das erste war, womit Sie sich beschäftigten«, meinte ich erstaunt. »Sie wollen mir doch nicht sagen, daß Sie es sorgfältig einschlossen und einfach vergaßen!« »Nein, ich las es natürlich – soweit ich es lesen konn te. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil ist in englischer Sprache. Der Rest ist unverständlich. Und was ich lesen 19
konnte, schien mir ohne Sinn und ohne Bezug. Sie haben es ja selbst durchgeblättert. Es ist eine Art Tagebuch mit Eintragungen in höchst unregelmäßigen Abständen, und diese sind dem Verständnis so verschlossen, wie es ein Code nicht besser sein könnte. Außerdem die Zeitanga ben, die vom frühen achtzehnten Jahrhundert bis ins frü he zwanzigste reichen …« »Eine Art Familienprotokoll vielleicht«, warf ich ein, »das Generation um Generation weitergeführt wurde. Sind keine Namen oder Orte angegeben?« »Sehen Sie es sich noch einmal an«, sagte Foster. »Vielleicht fällt Ihnen etwas Seltsames auf – etwas, wo von bisher nicht die Rede war.« Ich blätterte das Buch erneut durch. Es war kaum mehr als zwei Zentimeter dick, und doch war es schwer – überraschend schwer. Die Seitenzahl war gewaltig. Ich blätterte durch Hunderte von engbeschriebenen Seiten, und doch war kaum die Hälfte der Blätter benützt. Wahl los herausgegriffen, las ich einige Stellen: 4. Mai 1746. Die Reise war kein Erfolg. Auch diese Spur verläuft im Sand … 23. Oktober 1790. Habe die Westmauer um eine Elle erhöht. Die Feuerflammen jetzt jede Nacht. Vermag nichts ihre teuflische Beharrlichkeit zu brechen …? 19. Januar 1831. Ich setze große Hoffnungen in das Philadelphia-Unternehmen. Mein größter Feind ist die Ungeduld. Alle Vorbereitungen für den Wechsel sind ge troffen, und dennoch bin ich unsicher … »Das klingt ziemlich seltsam. Nicht nur die Eintragungen sind ungewöhnlich. Dieses Buch müßte alt sein, aber Pa pierqualität und Einband schlagen alles, was ich bisher 20
gesehen habe. Und die Schrift ist enorm für einen Gänse kiel …« »Es steckt ein Schreibstift im Rücken des Buches«, erklärte Foster. »Damit ist es geschrieben worden.« Ich überzeugte mich und zog einen kleinen Stift her vor. »Das ist allerdings seltsam«, entfuhr es mir. »Einen echten, antiken, frühkolonialen Kugelschreiber findet man nicht jeden Tag …« »Warten Sie mit Ihrem Urteil ab, bis Sie alles gesehen haben«, riet Foster. »Und zweihundert Jahre mit einer Füllung – nicht schlecht.« Ich warf das Buch auf den Tisch. »Wer hält hier wen zum Narren, Foster?« »Dieses Buch wurde in den offiziellen Berichten in al len Einzelheiten beschrieben. Davon habe ich Kopien. Darin wird das Papier erwähnt und der Einband und der Stift. Selbst einige der Eintragungen wurden wortgetreu wiedergegeben. Die Behörden waren recht gründlich; aber ihre Untersuchungen führten zu nichts. Sie wußten mit mir genausowenig anzufangen wie Sie, Legion. Sie hielten dasselbe Buch in Händen, das Sie vor sich ha ben.« »Was wollen Sie damit sagen? Das Buch wurde also während des Krieges irgendwo hergestellt. Und was soll das beweisen? Ich will gern zugeben, daß das Ding mög licherweise zwanzig Jahre alt ist …« »Sie haben mich falsch verstanden, Legion«, sagte Fo ster ruhig. »Ich erzählte Ihnen, daß ich in einem Militär lazarett in Frankreich aufwachte. Aber es war ein Laza rett im Jahre 1918.«
21
II
Ich sah Foster von der Seite an. Er sah nicht aus wie ein Spinner … »Dazu kann ich nur sagen«, bemerkte ich trocken, »daß Sie für einen späten Siebziger recht passabel ausse hen.« »Sie finden mich befremdlich jugendlich? Was wür den Sie dazu sagen, wenn ich Ihnen erklärte, daß ich während der letzten Monate extrem rasch alterte? Daß man mich noch vor einem Jahr höchstens für einen Drei ßiger gehalten hätte …?« »Ich würde Ihnen nicht glauben«, erwiderte ich. »Es tut mir leid, Mr. Foster, aber ich finde auch die Sache mit dem 1918er Lazarett unglaubwürdig. Es ist einfach zu …« »Ich weiß. Zu phantastisch. Aber beschäftigen wir uns noch einmal mit dem Buch selbst. Sehen Sie sich das Papier genau an. Experten haben es untersucht. Es gab ihnen ein unlösbares Rätsel auf. Alle Versuche, es che misch zu analysieren, schlugen fehl. Sie hätten dazu eine Materialprobe gebraucht, und das war nicht möglich. Es hält allen Lösungsmitteln stand …« »Wieso hatten sie keine Materialprobe«, fuhr ich da zwischen. »Sie brauchten doch nur eine Seite herauszu reißen!« »Versuchen Sie es!« Foster deutete einladend auf das Buch. Ich nahm es, griff nach einem leeren Blatt und riß. Das Papier hielt. Ich zerrte stärker. Es war wie feines, starkes Leder, nur daß es sich nicht einmal dehnte. »Scheint wirklich widerstandsfähig zu sein«, murmel te ich und holte mein Taschenmesser hervor. Ich säbelte eine Weile, bevor ich mich damit abfinden konnte, daß es 22
nichts bewirkte. Ich breitete die Seite auf den Tisch und versuchte erneut zu schneiden, wobei ich mein ganzes Gewicht auf das Messer lehnte. Nichts. Ich stieß mit Ge walt zu. Nicht einmal ein Ritzer! »Allerhand, Mr. Foster«, gestand ich zu. »Versuchen Sie, ein Blatt herauszureißen«, empfahl Foster. »Zünden Sie es an. Schießen Sie darauf, wenn Sie wollen. Nichts wird auf diesem Material auch nur einen Abdruck hinterlassen. Sie rühmen sich, auf dem Boden der Logik zu stehen, Mr. Legion. Haben wir hier etwas vor uns, das ungewöhnlich ist – im Sinne unserer Erfah rungen – oder nicht?« Ich ließ mich in den Stuhl fallen. Erst nach längerer Fummelei wurde mir bewußt, daß ich noch immer keine Zigarette hatte. »Was beweist das?« knurrte ich. »Nur, daß das Buch nicht irgendein Schwindel ist. Sie haben etwas vor sich, das Sie nicht einfach als Einbil dung oder Unsinn abtun können. Das Buch existiert. Das ist unser wichtigster Ausgangspunkt.« Nach einem Au genblick fügte er hinzu: »Es gibt noch einen zweiten Faktor. Irgendwann in der Vergangenheit muß ich mir jemand zum Feind gemacht haben. Jemand oder etwas verfolgt mich systematisch.« Ich lachte auf und fühlte sofort, daß es unpassend klang. »Warum warten Sie nicht einfach auf Ihren Ver folger? Von ihm könnten Sie am leichtesten erfahren, was Sie wissen wollen.« Foster schüttelte den Kopf. »Es begann vor etwa dreißig Jahren«, erklärte er. »Ei nes Nachts verließ ich Albany, New York und fuhr nach Süden. Ich befand mich auf einer schnurgeraden Straße allein in der Dunkelheit. Nirgends waren Häuser. Da be merkte ich Lichter hinter mir. Keine Autoscheinwerfer, 23
sondern tanzende Lichter, die über die Felder kamen. Sie holten auf und waren schließlich vor mir. Sie wichen meinen Scheinwerfern aus. Ich hielt an. Ich hatte keine Angst, ich war neugierig. Um sie besser sehen zu kön nen, richtete ich den Handscheinwerfer auf sie. Sie ver schwanden, sobald der Strahl sie berührte. Nachdem ein halbes Dutzend verschwunden war, ging der Rest auf mich los. Ich hielt sie mir mit der Lampe vom Leib. Ich hörte auch einen Ton, als sie näherkamen, ein Summen in den oberen Frequenzen. Der Geruch von Schwefel stieg mir in die Nase, und plötzlich hatte ich Todesangst. Ich vernichtete das letzte der Lichter nicht mehr als drei Meter vor dem Wagen. Das Entsetzen, das ich in diesem Augenblick empfand, ist unbeschreiblich …« »Das klingt ziemlich unheimlich«, gab ich zu. »Aber wovor hatten Sie wirklich Angst – vor irgendeiner elek trischen Entladung?« »Natürlich. Es läßt sich für alles eine Erklärung fin den«, meinte Foster. »Aber das instinktive Grauen, das ich empfand, läßt sich nicht logisch erklären. Ich fuhr die ganze Nacht durch und den folgenden Tag. Ich fühlte, daß ich eine große Entfernung zurücklegen mußte. In Kalifornien kaufte ich mir ein Haus und versuchte die Sache zu vergessen – was mir nur halbwegs gelang. Dann passierte es erneut.« »Genau das gleiche? Wieder mit Lichtern?« »Diesmal begann es mit Interferenzen – atmosphäri schen Störungen – in meinem Radio. Dann fingen die Lampen im Haus an zu glühen, obwohl sie abgeschaltet waren. Ich fühlte es gleich – wie es näher kam und mich einzuschließen versuchte. Mein Wagen sprang nicht an. Glücklicherweise hatte ich ein paar Pferde zur Hand. Ich ritt – nein, ich flog – in die Stadt. Hinter mir sah ich die 24
Lichter, aber diesmal holten sie nicht auf. Ich nahm den ersten Zug, der die Stadt verließ.« »Aber ich begreife nicht …« »Es war nicht das letztemal. Insgesamt viermal tauch ten sie auf. Ich dachte, ich hätte sie nun endgültig abge schüttelt. Aber das war ein Irrtum. Deutliche Anzeichen weisen darauf hin, daß meine Zeit hier abläuft. Ich wäre längst fort, aber da waren noch ein paar Dinge zu arran gieren.« »Hören Sie.« Ich schüttelte den Kopf. »Was Sie brau chen, ist kein Abenteurer, sondern ein Psychiater. Ihr schwacher Punkt ist, daß Sie an Verfolgungswahn lei den …« »Es war mir klar, daß ich eine Erklärung nur in meiner Vergangenheit finden konnte«, fuhr Foster unbeirrt fort, »daher beschäftigte ich mich eingehend mit dem einzigen Verbindungsstück zu dieser Vergangenheit: mit dem No tizbuch. Da selbst Experten nichts mit der fremdartigen Schrift anzufangen wußten, wandte ich meine ganze Aufmerksamkeit dem englischen Teil zu. Und dabei fiel mir etwas auf, das ich zuvor noch nicht bemerkt hatte. Der Schreiber macht immer wieder Andeutungen über einen Feind, gegen den er sich schützen mußte. Die Hin weise bleiben aber auf das Wörtchen sie beschränkt. Der Schreiber des Buches hatte den gleichen Feind, der nun mich verfolgt. Und dann fiel mir noch etwas auf«, sagte er rasch, als ich ihn unterbrechen wollte. »Hinweise auf Gedächtnisverlust. Der Schreiber drückt sein Erschrek ken über eine plötzliche Unfähigkeit aus, sich wichtiger Daten zu erinnern, die er für seine Arbeit braucht.« »Welche Arbeit?« »Irgendein wissenschaftliches Projekt, soweit ich es den spärlichen Zeilen entnehme. Das Buch strotzt gera 25
dezu von Hinweisen auf Dinge, die unerklärt bleiben.« »Und Sie glauben, daß der Mann, der es schrieb, auch an Amnesie litt?« »Nicht unbedingt Amnesie«, meinte Foster. »Aber es gab eine Reihe von Dingen, an die er sich nicht erinnern konnte.« »Wenn das Amnesie ist, dann leiden wir alle daran«, sagte ich wegwerfend. »Niemand hat ein vollkommenes Gedächtnis.« »Aber hier handelte es sich um äußerst wichtige Dinge und keine unbedeutenden Kleinigkeiten.« »Mir ist schon klar, daß es nicht einfach ist, ohne Ver gangenheit zu leben. Und daß Sie sich wünschen, sie in dem Buch wiederzufinden, Mr. Foster. Aber wenn Sie mich fragen, sind Sie auf der falschen Spur. Ich meine, vielleicht waren Sie Schriftsteller oder so was, und …« »Legion, was hatten Sie sich für Miami vorgenommen?« Die Frage kam unerwartet. »Weiß nicht recht«, sagte ich zögernd. »Ich wollte in den Süden, wo es halbwegs warm ist. Früher kannte ich ein paar Leute dort …« »Mit anderen Worten, Sie hatten keine besonderen Pläne«, stellte Foster fest. »Ich biete Ihnen eine ausge zeichnete Bezahlung, wenn Sie hierbleiben.« Ich schüttelte den Kopf. »Kein Interesse, Mr. Foster. Das Ganze klingt mir zu phantastisch.« »Legion«, sagte Foster ernst, »glauben Sie wirklich, daß ich verrückt bin?« »Will ich nicht sagen. Es kommt mir nur alles ein we nig absurd vor, Mr. Foster.« »Ich möchte nicht, daß Sie für mich arbeiten, Legion. Ich bitte Sie vielmehr um Ihre Hilfe. Es steckt mehr da hinter, als Sie annehmen …« »Ich nehme gar nichts an«, brummte ich. 26
Unbeirrt fuhr er fort: »Aber ich kann darüber erst reden, wenn ich Ihrer sicher bin. Sie wissen bereits genug, um zu erkennen, daß ich mir das alles nicht nur einbilde …« »Ich weiß gar nichts«, unterbrach ich ihn. »Bisher ha ben Sie nur geredet.« »Wenn Sie sich um die Bezahlung Sorgen machen …« »Ach, zum Teufel«, rief ich. »Wo sind die Unterlagen, von denen Sie immer wieder reden? Ich sollte hier ver schwinden, statt mich über Sie zu wundern. Ich habe Är ger genug …« Ich brach ab. »Es tut mir leid, Mr. Foster. Aber es will verdammt schwer in meinen Schädel, daß Sie alles haben, was ich mir auch vom Leben wünschte, und daß Sie nicht damit zufrieden sind. Sie jagen Hirnge spinsten nach und das beängstigt mich einigermaßen. Ich meine, wenn Gesundheit und Reichtum nicht ausreichen, um das Leben zu genießen, was bleibt dann noch übrig?« Foster sah mich nachdenklich an. »Legion, wenn Sie alles im Leben haben könnten, was Sie nur wollten – wo für würden Sie sich entscheiden?« »Alles? Ich wollte immer schon viel erreichen. Es gab eine Zeit, da wollte ich ein Held sein. Später wünschte ich mir Köpfchen und eine Antwort auf jede Frage. Dann bildete ich mir ein, ein ehrlicher Job, einer der wichtig war und getan werden mußte, wäre erstrebenswert. Den Job habe ich nie gefunden. Auch die Klugheit blieb aus, und ich kam nie dahinter, wie ich einen Helden von ei nem Feigling unterscheiden könnte – ohne Etikett.« »Mit anderen Worten«, ergänzte Foster, »Sie suchten nach einer Abstraktion, an die Sie glauben konnten. An die Gerechtigkeit, zum Beispiel. Aber Gerechtigkeit ist nicht einfach ein Teil der Natur, Legion. Alle abstrakten Dinge wurzeln im Menschen und werden von ihm ge formt.« 27
»Es gibt ein paar gute Dinge im Leben. Die möchte ich gern haben.« »Und Ihre Träume? Wo bleiben die?« »Träume?« fragte ich. »Ja, ich habe Träume. Ich möchte eine Insel irgendwo, auf der ich mein Leben ge nießen kann.« »Sie kleiden das in Zynismus. Aber das ändert nichts an den Tatsachen. Materialismus ist nur eine andere Form von Idealismus.« Ich sah Foster an. »Ich weiß, daß ich diese Dinge nie mals haben werde – auch keine Gerechtigkeit, von der Sie eben sprachen. Und wenn man das einmal erkannt hat …« »Vielleicht ist diese Unerreichbarkeit ein wesentliches Element der Träume«, meinte Foster. »Was auch immer geschieht, halten Sie an Ihren Träumen fest.« »Wir sollten aufhören, zu philosophieren«, sagte ich ein wenig barsch. »Es führt doch zu nichts.« »Sie möchten also die Unterlagen sehen?« Foster zog einen Schlüsselbund aus seiner Innentasche. »Gehen Sie hinaus zu meinem Wagen. Ich habe ein kleines Safe an dem Chassis festgeschweißt. Sie brauchen nur eine Bo denplatte hochzuheben. Darin sind Fotokopien von allen wichtigen Unterlagen, ein Paß und Geld für den Notfall. Ich bin auf alles vorbereitet. Ich weiß, wenn es soweit ist, muß es rasch gehen. Hier«, er hielt mir die Schlüssel ent gegen, »sehen Sie nach!« »So dringlich ist die Sache auch wieder nicht, Mr. Fo ster. Ich werde am Morgen nachsehen, wenn ich ein we nig Schlaf nachgeholt habe. Aber machen Sie sich keine falschen Vorstellungen – mich treibt nur meine ver dammte Neugier.« »Wie Sie wollen.« Foster lehnte sich zurück und seufzte. »Ich bin müde, Legion. Mein Geist ist müde.« 28
»Meiner auch«, stimmte ich bei, »ganz abgesehen von meiner übrigen Anatomie.« Foster nickte. »Wir werden morgen weiterreden.« Ich zog die leichte Decke von mir und glitt aus dem Bett. Lautlos schritt ich über den dicken Teppich zum Schrank. Foster würde nichts dagegen haben, wenn ich seine Kleider ein wenig länger ausborge. Auf längere Sicht gesehen würde es ihn billiger kommen. Foster hatte einen Knacks weg, daran war nicht zu rütteln. Warum sollte ich noch länger hierbleiben, um ihm das zu sagen. Ich kramte meine persönlichen Dinge aus meinen alten Kleidern. Unten im Wohnzimmer waren die Vorhänge zu. Un deutlich sah ich die Umrisse der Bar. Konnte nicht scha den, etwas mitzunehmen. Ich tastete mich quer durch den Raum und ließ meine Hände über die Regale gleiten. Da war ein Stapel kleiner Dosen, die wie Rumbakugeln ras selten, wenn man sie schüttelte. Nüsse wahrscheinlich. Ich wollte sie auf den Bartisch stellen und stieß gegen ein Hindernis. Ich fluchte lautlos. Vorsichtig betastete ich den Gegenstand. Meine Finger fühlten kühles, glattes Metall und immer vertrauter werdende Formen. Um alles in der Welt, das war … Ich beugte mich näher, und in einem schwachen Schimmer von Mondlicht, der durch einen Spalt der Vorhänge fiel, sah ich meine irre Vermutung bestätigt. Vor mir befand sich ein Maschinengewehr, Kaliber 30. Unwillkürlich folgte mein Blick dem Lauf. Er zeigte ge nau auf das dunklere Rechteck der Vorzimmertür. Mit einem flauen Gefühl lehnte ich mich an die Wand. Wenn ich versucht hätte, durch diese Tür zu gehen. Foster hatte mehr als nur einen Hieb. Ich sah mich um. 29
Ich mußte hier ‘raus, bevor er aufwachte. Durch ein Fen ster. Ich kroch unter dem Lauf des Maschinengewehrs durch und zog die schweren Vorhänge zur Seite. Fahles Licht schimmerte hinter dem Glas. Kein Mondlicht, son dern ein eigenartig milchiger Schimmer, der an die Phos phoreszenz von Meerwasser erinnerte … Ich ließ den Vorhang los, kroch erneut unter dem Lauf des MGs durch und versuchte es in der Küche. Der Leuchtgriff des Kühlschrankes verbreitete vages Licht. Ich öffnete den Schrank. Die Innenbeleuchtung gab ge nügend Helligkeit, daß ich mich umsehen konnte. Keine Tür, aber ein fast vollständig zugewachsenes Fenster. Ich riß es auf und brach mir fast die Hand an einem starken Eisengitter. Im Wohnzimmer rüttelte ich an zwei weiteren ver sperrten Türen. Eine dritte ließ sich öffnen. Sie führte in den Keller. Die Treppe war steil und dunkel, wie das Kellertreppen so an sich haben. Aber dort bot sich viel leicht ein Ausweg. Ich tastete nach dem Lichtschalter. Ein Ölofen stand in der Mitte des Raumes. Ein Netz von Rohren breitete sich an der Decke aus. Einige Kisten standen an der Wand. Nirgends war eine Tür zu sehen. Als ich umkehren wollte, ließ mich ein Geräusch in nehalten. Es kam erneut – ein schwaches Schaben von Stein an Stein. Meine Kehle war plötzlich ganz trocken. Nichts wie die Stiegen hinauf! dachte ich. Das Kü chenfenstergitter ließ sich vielleicht aus der Verankerung reißen. Aber der Lärm meiner eigenen Schritte schien mir plötzlich übermächtig laut. Normalerweise glaube ich nicht an Dinge, die in der Nacht rumoren. Aber dies mal hörte ich sie selbst, und alles, was mir in den Sinn kam, waren Edgar Allan Poes unerfreuliche Geschichten 30
über Leute, die eingegraben wurden, ehe sie noch ganz tot waren. Wieder kam ein Geräusch, dann ein scharfer Knacks, und Licht drang durch einen Spalt, der sich im Boden auftat. Das reichte. Ich hastete die Stufen hoch, nahm immer ein halbes Dutzend auf einmal. In der Küche packte ich einen Stuhl und schwang ihn gegen das Fen stergitter. Er schnellte zurück und schlug mir den Mund blutig. Das war genau das, was ich brauchte. Die Angst machte einem kräftigerem Gefühl des Ärgers Platz. Ich stürmte ins Wohnzimmer zurück, als plötzlich die Lichter aufflammten. Foster stand vollständig angezogen auf der Treppe. »Also gut, Foster!« rief ich. »Ich will hier ‘raus!« Fosters Gesicht war bleich. »Beruhigen Sie sich, Mr. Legion. Was ist geschehen?« »Tun Sie nicht so unschuldig«, rief ich, noch immer wütend. »Was soll der ganze Zauber hier?« Ich deutete auf die Waffe. Sein Blick richtete sich auf das Gewehr, und seine Lippen wurden schmal. »Es reagiert automatisch«, er klärte er. »Etwas hat den Mechanismus aktiviert, aber nicht die Alarmanlage. Waren Sie draußen, Legion …?« »Wie denn?« knurrte ich. »Es ist sehr wichtig, Legion«, rief Foster alarmiert. »Der Anblick des Gewehres ist es doch nicht, der Sie so erschreckt hat? Was ist es?« »Ich suchte eine Hintertür«, sagte ich zögernd. »Dabei kam ich in den Keller. Da war ein Sprung im Boden und Geräusche und Lichter …« »Der Boden«, sagte Foster tonlos. »Natürlich. Das ist der schwache Punkt.« »Auch vor Ihren Fenstern tut sich einiges, das ich 31
nicht genauer sehen möchte«, krächzte ich. Fosters Blick wanderte zu den schweren Vorhängen. »Hören Sie mir genau zu, Legion«, sagte er eindringlich. »Wir sind in großer Gefahr – alle beide. Unser Glück ist, daß Sie aufstanden sind und es rechtzeitig bemerkt ha ben. Dieses Haus gleicht einer Festung. Das ist Ihnen sicher schon aufgefallen. Und im Augenblick stürmen die Angreifer die Mauern. Diese Mauern sind gut geschützt. Aber der Kellerboden besteht nur aus Eisenbeton von einem Meter Dicke. Das wird sie auf die Dauer nicht ab halten. Wir müssen verschwinden, so rasch und so unauf fällig es geht.« »Nur voran!«, ermunterte ich ihn. Er schritt zu einer der verschlossenen Türen und drückte ein bestimmte Stelle. Die Tür glitt auf. Wir traten in einen kleinen Raum, den wir durchquerten. Dann be diente Foster einen Mechanismus, und ein Stück der glat ten Wand öffnete sich. Foster sprang zurück. »Himmel!« Er bediente den Mechanismus erneut, und die Öffnung schloß sich. Der Geruch von Schwefel lag in der Luft. »Was, zum Teufel, geht eigentlich vor!« rief ich und wich zur Seite, als er an mir vorbeistürmte. Angst würgte mich. »Riechen Sie es nicht?« stieß Foster hervor. »Rasch, es gibt noch einen Weg!« Er stürmte die Stufen hoch, und ich folgte ihm. Oben riß er den Teppich zur Seite und griff nach einem Eisenring im Boden. »Beschwören Sie Ihre Götter!« sagte er gepreßt und zog. Ein Teil des Bodens tat sich auf. Eine Leiter führte in ein schwarzes Loch. Foster zögerte nicht. Er stieg hinab. Ich blieb dicht auf seinen Fersen. Drei Meter – dann war der Boden erreicht. Foster eilte voran 32
durch eine Tür in einen größeren Raum. Mondlicht schien durch hohe Fenster. Es war unange nehm kühl. »Wir sind in der Garage«, murmelte Foster. »Steigen Sie in den Wagen – leise!« Ich tastete mich um das Kabriolett herum und stieg ein. Foster startete und gab Gas. Der Wagen schoß vor wärts, während die Türen der Garage aufschwangen. Wir heulten mit sechzig Meilen aus dem Zufahrtweg und bo gen mit neunzig Meilen in die Hauptstraße ein. Als ich zurückblickte, entschwand die mondbleiche Fassade des Hauses hinter einem Hügel. »Was soll das alles?« fragte ich, während die Nadel auf hundertzwanzig zukroch. »Später«, stieß Foster hervor. Mir war nicht nach einer Debatte zumute. Schweigend beobachtete ich eine Weile den Rückspiegel und wunderte mich, wo die Polizisten heute alle blieben. Dann lehnte ich mich resigniert in den weichen Sitz und sah dem Kilometerzähler zu, der die Entfernung in sich hineinschlang.
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III
Es war beinahe halb fünf, als ich das Schweigen brach. »Jetzt, wo mir die Haare nicht mehr zu Berge stehen«, sagte ich, »kommt mir das alles ziemlich dumm vor. Wollen Sie nicht endlich anhalten …« Foster schüttelte den Kopf. »Wir müssen weiter. Viel weiter. Im nächsten Ort werde ich telefonisch Flugkarten bestellen. Wir müssen Miami verlassen.« »Sie hat es ganz schön erwischt«, entfuhr es mir. »Was wird aus Ihrem Haus? Ohne Pässe, Geld und Ge päck – wohin? Und was macht Sie so sicher, daß ich mit komme?« »Ich habe mich auf diesen Notfall gut vorbereitet«, er klärte Foster ruhig. »Eine Firma in Jacksonville ist mit der Verwaltung meines Hauses und meiner Hinterlassen schaft betraut. Mit meinem Verschwinden ist jede Ver bindung zu meinem früheren Leben abgebrochen. Und was Ihren Kummer betrifft, so können wir uns morgen neu ausstatten. Mein Paß ist im Wagen. Um für Sie einen aufzutreiben, wird es am besten sein, wenn wir in Puerto Rico Station machen.« »Hören Sie«, wandte ich ein. »Ich habe in der Dunkel heit Gespenster gesehen. Warum geben wir nicht einfach zu, daß wir den Kopf verloren haben?« »Die angeborene Trägheit des menschlichen Geistes«, meinte Foster nachsichtig. »Immer bereit, gegen neue Ideen anzukämpfen.« »Ihre sogenannten neuen Ideen werden uns früher oder später in eine Irrenanstalt bringen«, erwiderte ich verär gert. »Legion«, fuhr Foster unbeirrt fort, »Sie schreiben am besten auf, was ich Ihnen jetzt sagen werde. Es ist wich 34
tig – lebenswichtig. Das Notizbuch ist in meiner Jacke. Sie müssen den englischen Teil sorgfältig lesen. Danach werden Sie meine Worte besser verstehen.« »Hoffentlich kommen Sie mir jetzt nicht mit Ihrem Letzten Willen und dergleichen«, unterbrach ich ihn. »Wenigstens nicht, bevor Sie mir gesagt haben, wovor wir so eilig ausgerissen sind.« »Um ganz aufrichtig zu sein, ich weiß es nicht.« Fo ster lenkte den Wagen in die Einfahrt einer geschlosse nen Tankstelle. »Könnten Sie für eine Weile das Steuer übernehmen, Legion? Ich fühle mich nicht wohl.« »Klar fahre ich«, sagte ich und stieg aus. Ich schritt um den Wagen herum und öffnete die Tür zum Fahrer sitz. Foster saß zusammengesunken. Er sah älter aus als am Vorabend – um Jahre älter. Nun, die nächtlichen Er eignisse hatten mich auch nicht jünger gemacht. Foster rutschte auf den Beifahrersitz und ich stieg ein. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Mit mir stimmt etwas nicht.« »Wenn Sie krank sind, ist es vielleicht besser, daß ich einen Arzt suche …« »Nein, es geht schon«, murmelte er. »Sie müssen wei terfahren …« »Wir haben schon zweihundert Kilometer hinter uns gebracht«, wandte ich ein. Er richtete sich auf. Er setzte zum Sprechen an – und sank leblos in den Sitz. Hastig griff ich nach seinem Puls. Er pochte stark und gleichmäßig. Das Herz war in Ord nung, hoffte ich. Aber er brauchte ein Bett und einen Arzt. Die Tankstelle stand am Eingang eines kleinen Or tes. Langsam fuhr ich die Hauptstraße hinunter. Vor dem ersten schäbigen Hotel hielt ich an. Foster bewegte sich unruhig, als ich den Motor abstellte. 35
»Foster«, versuchte ich ihm zu erklären, »ich bringe Sie in ein Bett. Können Sie gehen?« Er stöhnte leise und öffnete die Augen. Sie waren glasig. Ich zog ihn aus dem Wagen und schleppte ihn in das Foyer. Ein alter Mann tauchte nach einer Weile auf, als ich läutete. Er gähnte und musterte mich mißtrauisch. Dann sah er Foster. »Wir dulden hier keine Betrunkenen«, sagte er. »Das ist ein achtbares Haus.« »Mein Freund ist krank«, erklärte ich. »Geben Sie mir ein Doppelzimmer mit Bad und versuchen Sie, einen Arzt zu erreichen.« »Was hat er?« fragte der Alte. »Ist hoffentlich nichts Ansteckendes, oder?« »Das könnte zum Beispiel nur der Arzt feststellen«, sagte ich nachsichtig. »Vor dem Morgen kommt kein Arzt ins Haus. Und wir haben kein privates Badezimmer.« Das Zimmer im vierten Stock war wie der Alte – wenig einladend. Geblümte Tapeten, ein altmodischer Wasch tisch und zwei breite Betten. Ich legte Foster in das linke Bett. Er lag entspannt da, einen ruhigen, fast heiteren Ausdruck im Gesicht. Die Leichenbestatter sind ganz vernarrt in so etwas, überlegte ich, bekommen aber mei stens nicht so einen gelösten Ausdruck hin. Ich ließ mich auf das andere Bett fallen und schlüpfte aus den Schuhen. Jetzt war ich an der Reihe, mich gehen zu lassen. Ich lag auf dem Bett, und dann sank mein Bewußtsein wie ein Stein hinab in unergründliche Tiefen. Als ich erwachte, drang bereits graues Tageslicht durch die schmutzigen Scheiben. Foster lag reglos auf seinem Bett. Er atmete schwer. Vielleicht war es nur Erschöp fung, und er brauchte gar keinen Arzt. Wahrscheinlich 36
würde er in Kürze aufwachen und sofort zum Aufbruch drängen. Ich selbst verspürte ein nagendes Hungergefühl. Ich brauchte etwas Kleingeld für ein Frühstück. Ich rief Fo sters Namen, aber er rührte sich nicht. Er schlief ver dammt fest, und es war sicher besser, wenn ich ihn nicht störte. Ich zog die Brieftasche aus seinem Mantel. Sie war er freulich dick. Ich nahm einen Zehner und legte die Brief tasche auf den Tisch. Foster hatte von Geld im Wagen gesprochen. Ich hatte die Schlüssel in meiner Tasche. Leise zog ich mir die Schuhe an und verließ das Zimmer. Foster hatte sich nicht bewegt. Auf der Straße inspizierten ein paar Bauernlümmel Fosters Wagen. Ich wartete, bis sie sich verkrümelt hat ten, dann stieg ich ein und untersuchte das Bodenblech. Ich fand den beweglichen Teil sofort. Darunter befand sich der Tresor. Ich schabte den Straßenschmutz vom Schloß und sperrte auf. Da waren ein Bündel Papiere, ein Paß, ein paar Landkarten mit Eintragungen und ein Bün del Scheine, bei dessen Anblick mir das Wasser im Mund zusammenlief. Ich ließ sie durch die Finger gleiten. Min destens fünfzigtausend. Ich stopfte alles wieder in den Tresor, schloß ab und stieg aus dem Wagen. Ein paar Häuser weiter entdeckte ich eine Imbißstube. Ich bestell te Hamburger und Kaffee und erging mich in stummer Betrachtung des Schlüsselbundes vor mir auf dem Tisch. Ich dachte auch an den Wagen, zu dem die Schlüssel paßten. Das Paßbild brauchte nur ein wenig aufgearbeitet zu werden, und alle Wege standen mir offen. Für das Geld konnte ich mir meine Trauminsel sogar aussuchen. Foster würde nach einem gesunden, ausgiebigen Schlaf den nächsten Zug nach Hause nehmen. Den Verlust von 37
fünfzigtausend würde er kaum spüren. Kurz darauf stand ich wieder vor dem Wagen und starrte nachdenklich auf die Schlüssel in meiner Hand. In einer Stunde konnte ich in Miami sein. Ich kannte je manden, der das mit dem Paß erledigen konnte. Foster war kein übler Bursche. Ich mochte ihn. Aber eine Chan ce kam nicht wieder. Ich griff nach der Wagentür. Eine Stimme hinter mir sagte: »Zeitung, Mister?« Ich fuhr herum. Ein Zeitungsjunge stand hinter mir. »Warum nicht,« sagte ich und gab ihm ein Geldstück. Ich blätterte sie durch. Eine Schlagzeile erregte sofort meine Aufmerksamkeit: POLIZEI HEBT SCHLUPFWINKEL AUS Im Zuge einer Razzia stieß die örtliche Polizei heute auf einen befestigten Bandenstützpunkt. Inspektor Che sters erklärte der Presse, der eigentliche Anlaß zur Razzia sei die Ankunft eines berüchtigten Bandenmitgliedes vor einigen Tagen in Mayport gewesen. Mehrere Schußwaf fen, darunter auch Maschinengewehre, konnten in einem Haus fünfzehn Kilometer außerhalb Mayports an der Fer nandina Straße sichergestellt werden. C. R. Foster, 50, der Besitzer des Anwesens, gilt als vermißt, es wird befürchtet, daß er einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Die Polizei sucht noch nach dem mutmaß lichen Mörder, der das Haus gestern abend besuchte … Ich stürmte in das dunkle Zimmer und hielt überrascht an. Foster saß auf dem Bettrand und blickte mir entgegen. »Sehen Sie sich das an!« rief ich und hielt ihm die Zei tung unter die Nase. »Jetzt ist die Polizei hinter mir her! Wegen Mordverdacht! Klemmen Sie sich hinter das Te lefon und bügeln Sie die Sache aus, wenn Sie können! 38
Sie und Ihre Hirngespinste! Die Polizei schwelgt in ih rem Triumph. Die muß Ihr Haus ja für AI Capones Waf fenlager gehalten haben …« Foster blickte mich interessiert an. Er lächelte. »Möchte wissen, was daran so verdammt lustig ist, Foster!« schrie ich mit überschlagender Stimme. »Verzeihen Sie die Frage«, sagte Foster freundlich, »aber – wer sind Sie?« Es gibt Augenblicke, da bin ich schwer von Begriff; aber das war keiner jener Momente. Die Konsequenzen aus Fosters Worten ließen meine Knie weich werden. »O nein, Mr. Foster. Sie können nicht einfach wieder Ihr Gedächtnis verlieren – nicht gerade jetzt, wo die Poli zei hinter mir her ist! Sie sind mein Alibi. Sie sind der einzige, der die Sache mit den Waffen und den Zeitungs anzeigen erklären kann. Ich kam eines Jobs wegen zu Ihnen, erinnern Sie sich?« Meine Stimme klang ein wenig schrill. Foster sah mich an, lächelnd und stirnrunzelnd zugleich. »Ich heiße nicht Foster.« »Hören Sie«, rief ich, »gestern hießen Sie noch Foster, und daran halte ich mich. Ihnen gehört das Haus, das die Polizei auf den Kopf gestellt hat. Und Sie sind die Leiche auf meinem Konto! Wir müssen sofort zur Polizei, und Sie werden dort erklären, daß ich nichts damit zu tun ha be.« Ich schob die Vorhänge auf. In dem Licht starrte ich Foster überrascht an. Einen Augenblick dachte ich wahr haftig, ich wäre im falschen Zimmer. Aber es war schon Fosters Gesicht, ich kannte es gut genug. Nur daß es nun, bei Licht betrachtet, wie zwanzig wirkte – keinen Tag älter! 39
Ich musterte ihn genau. Es waren dieselben blauen Au gen, aber ohne die Linien rundherum. Das schwarze Haar wuchs voller, als ich es in Erinnerung hatte, und die Haut war glatt und faltenlos. Ich mußte mich setzen. Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber es wollte mir nicht gelingen. Noch vor einem Augenblick hätte ich die Welt aus den Angeln heben können und nun hatte sie mich einfach überrollt. Daß ich um ein Haar mit Fosters Wagen ver schwunden wäre, trieb mir den kalten Schweiß auf die Stirn. Dann faßte ich den ersten klaren Gedanken! Jeder Polizist im Landkreis war nun hinter mir her, und da un ten auf der Straße stand Fosters Wagen. Es konnte nur Minuten dauern, bis sie ins Zimmer stürmten. Wenn ich dann erklärte, der Wagen gehöre Foster hier … Ich schauderte. Der Mann Foster, den sie suchten, war an die Fünfzig. Sie würden nicht mal einen halben Blick an die Wahrheit verschwenden. Daß ich Ihnen mit keiner Lei che aufwarten konnte, half mir wenig. Nervös schritt ich auf und ab. Die Wahrheit konnte ich niemals beweisen. Solange der alte Foster verschwunden blieb, hielten sie ihn für tot und mich für den Mörder. Und wer da glaubt, daß man eine Leiche braucht, um jemandem einen Mord anzuhängen, der sollte seinen Per ry Mason aufmerksamer lesen. Ich warf einen Blick aus dem Fenster und fuhr zurück. Zwei Uniformierte standen bei Fosters Wagen. Einer no tierte die Nummer. Der zweite musterte das Hotel. »Rasch, Foster!« krächzte ich. »Wir müssen fort!« Wir schlichen die Stiegen hinab und durch eine Hin tertür in eine Seitengasse. Niemand sah uns fortgehen.
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Eine Stunde später saßen wir in der Bahn, Fosters Kin dergesicht mir gegenüber. Mir war klar, daß ich ihn nicht mehr aus den Fingern lassen durfte. Ich konnte nur hof fen und abwarten, daß seine Erinnerungen wieder zu rückkamen. Das war meine einzige Chance. Ich überlegte meinen nächsten Schritt. Dabei dachte ich an die fünfzigtausend Dollar, die im Wagen zurück geblieben waren, und stöhnte. Foster sah mich besorgt an. »Leiden Sie an Schmerzen?« fragte er. »Nicht zu knapp«, knurrte ich. »Bevor ich Sie kannte, war ich ein Landstreicher, ohne Geld und ohne was zu beißen. Jetzt ist es nicht mehr so einfach. Die Polizei ist hinter mir her, und ich habe einen Schwachsinnigen am Hals.« »Was haben Sie verbrochen?« fragte Foster. »Nichts«, fuhr ich ihn an. »Als Hochstapler bin ich ei ne Niete. Während der letzten zwölf Stunden habe ich drei Diebstähle geplant, aber keinen durchgeführt. Und jetzt werde ich wegen Mordes gesucht.« »Wen haben Sie getötet?« fragte Foster höflich. Ich beugte mich ganz nah zu ihm und schnaufte: »Sie!« Ruhiger fuhr ich fort: »Es ist am besten, wenn Sie sich eines einprägen: Mein einziges Verbrechen war Dumm heit! Ich habe mir Ihre verrückte Geschichte angehört. Ihretwegen bin ich in einem Schlamassel ohne Ende.« Ich lehnte mich zurück. »Und dann ist da noch die Frage, wie ein alter Mann nach einem kurzen Schläfchen als flotter Twen aufwachen kann. Aber das erörtern wir lie ber später, wenn ich mich von meinem Nervenzusam menbruch erholt habe.« »Es tut mir sehr leid, wenn ich die Ursache Ihrer 41
Schwierigkeiten bin«, erklärte Foster. »Wenn ich mich nur an die Dinge erinnern könnte, von denen Sie spre chen. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« »Und Sie wollten einmal Hilfe von mir! Ja, Sie kön nen mir helfen. Geben Sie mir das Geld, das Sie bei sich haben. Wir werden es brauchen.« Foster gab mir die Brieftasche, nachdem ich ihm ge sagt hatte, in welcher Tasche sie sich befand. Ich sah sie durch. Sie enthielt nichts, das über seine frühere Persön lichkeit Aufschluß gab. »Wir werden nach Miami gehen«, erklärte ich. »Im kubanischen Viertel weiß ich einen Ort, wo wir ohne viel Aufsehen unterschlüpfen können. Billig noch dazu. Viel leicht werden Sie sich wieder erinnern, wenn wir eine Weile abwarten.« »Ja«, antwortete Foster. »Das wäre erfreulich.« »Wenigstens haben Sie Ihre Sprache nicht ganz ver lernt«, fuhr ich fort. »Vielleicht sind noch ein paar inter essante Einzelheiten hängengeblieben. Erinnern Sie sich, wie Sie zu dem Haufen Geld gekommen sind?« »Über Ihr Wirtschaftssystem ist mir nichts erinnerlich.« Fester sah sich um. »Dies ist in vielen Aspekten eine primitive Welt. Es sollte nicht schwer sein, hier Reich tum anzuhäufen.« »Ich hatte nie eine glückliche Hand dabei«, entfuhr es mir. »Ich konnte meistens nicht einmal das Geld für eine Mahlzeit zusammenkratzen!« »Nahrung bekommt man für Geld?« fragte Foster. »Alles bekommt man für Geld«, erläuterte ich ihm, »die meisten der sogenannten menschlichen Tugenden inbegriffen.« »Das ist eine seltsame Welt«, meinte Foster. »Ich werde viel Zeit brauchen, mich anzupassen.« 42
»Ja, ich auch«, seufzte ich. »Sagen Sie, Foster, haben Sie eigentlich Ihr Notizbuch noch?« Er durchwühlte sei ne Taschen und zog es schließlich hervor. Er betrachtete es und reichte es mir stirnrunzelnd. »Erinnern Sie sich daran?« fragte ich und musterte ihn aufmerksam. Er schüttelte langsam den Kopf und fuhr mit dem Fin ger über die Gravierung der beiden Ringe im Umschlag. »Dieses Symbol«, sagte er. »Es bedeutet …« »Weiter, Foster«, drängte ich atemlos. »Was bedeutet es?« »Es tut mir leid«, sagte er hilflos. »Ich kann mich nicht erinnern.« Ich nahm ihm das Buch aus der Hand und starrte dar auf. Aber ich sah nicht das Buch, ich sah meine Zukunft. Sie schien mir alles andere als rosig zu sein. Ich konnte leider nicht mit der Wahrheit herausrücken. Keiner wür de mir glauben. Ich hatte es erlebt und glaubte es selbst kaum. Aber vielleicht bildete ich mir nur ein, daß Foster jünger aussah. Schließlich hatte er eine erfrischende Nachtruhe hinter sich … Ich sah ihn an und wimmerte fast. Zwanzig war hoch gegriffen. Achtzehn kam der Wahrheit näher. Er sah aus, als hätte er seine erste Rasur noch vor sich. »Foster«, sagte ich und riß mich zusammen, »es muß alles in dem Buch da sein … Wer Sie sind und wo Sie geboren wurden. Es ist unsere einzige Hoffnung!« »Dann schlage ich vor, daß wir es lesen«, meinte er. »Keine schlechte Idee.« Warum war ich nicht längst selbst daraufgekommen? Ich schlug den Anfang des eng lischen Teils auf und las die nächste Stunde. Die erste Eintragung stammte vom 19. Januar 1710. Alle paar Mo nate folgten weitere kurze Eintragungen. Der Schreiber 43
schien ein Pionier in der Kolonie Virginia gewesen zu sein. Er klagte über Preise, über die Indianer, über die Ignoranz der übrigen Siedler, und gelegentlich ließ er eine Bemerkung über den Feind fallen. Des öfteren un ternahm er weite Reisen, und wenn er zurückkam, klagte er auch über diese. »Sehr eigenartig, Foster«, stellte ich fest, »das ist wäh rend eines Zeitraums von mehreren Jahrhunderten ge schrieben worden, und ist dennoch alles in der gleichen Handschrift. Ist das nicht merkwürdig?« »Warum sollte sich die Handschrift eines Menschen ändern?« fragte Foster. »Nun, man sollte meinen, daß sie zum Schluß ein we nig zittrig wird, glauben Sie nicht auch?« »Weshalb?« »In einfachen Worten ausgedrückt, Foster«, legte ich ihm geduldig dar, »die meisten Menschen leben nicht gar so lange. Hundert Jahre sind schon ein wenig viel, von zweihundert gar nicht zu reden.« »Dann muß dies eine sehr gewalttätige Welt sein«, bemerkte Foster. »Ach, hören Sie auf«, sagte ich barsch. »Sie tun, als wären Sie nur zu Besuch hier. Können Sie überhaupt nicht schreiben?« Nachdenklich sah er mich an. »Ja, ich glaube schon.« Ich reichte ihm das Buch und den Stift. »Versuchen Sie es.« Er nahm es, schlug eine leere Seite auf, schrieb ein paar Worte und reichte es mir zurück. »Immer und immer und immer«, las ich. Fragend sah ich ihn an. »Was soll das bedeuten?« Dann blickte ich erneut auf die Worte und blätterte rasch zurück. Ich war kein Handschriftexperte; aber an einem 44
bestand kein Zweifel: Das Buch war in Fosters Handschrift geschrieben! »Ich verstehe es nicht«, äußerte ich zum vierzigsten mal. Foster nickte verständnisvoll. »Warum schreiben Sie etwas in Code, das Sie nachher Zeit und Geld kostet, um es wieder zu entziffern? Sie sagten, Experten hätten sich daran bereits die Zähne ausgebissen. Aber Sie wuß ten doch, daß es Ihre eigene Handschrift war. Anderer seits hatten Sie schon früher einmal Amnesie. Sie ahnten, daß Sie in dem Buch wichtige Informationen niederge schrieben hatten …« Ich schüttelte hilflos den Kopf. »Hier, lesen Sie das Ding mal«, sagte ich. »Mir ist gar nichts mehr klar.« Foster betrachtete das Buch eingehend. »Das ist seltsam«, murmelte er. »Was ist seltsam?« »Das Buch ist aus Khaff hergestellt – einem absolut unverletzbaren Material. Und doch ist es hier beschä digt.« Ich schwieg und wartete. »Hier am Rückendeckel«, fuhr er fort, »ist eine ange schabte Stelle, Da das aber Khaff ist, kann es sich nicht um einen Kratzer handeln. Es muß absichtlich hier ange bracht worden sein …« Ich nahm ihm das Buch aus der Hand. Tatsächlich, da war ein hellerer Punkt am Rückumschlag, der aussah, als wäre er mit etwas Spitzem eingraviert worden. Ich erin nerte mich an meine vergeblichen Versuche mit dem Messer. Kein Zweifel, jemand hatte die Markierung hier angebracht, und sie mußte etwas bedeuten. »Woher wissen Sie über das Material Bescheid?« Überrascht blickte mich Foster an. »Ich weiß auch, daß das Fenster aus Glas ist«, sagte er. »Ich weiß es einfach.« 45
»Weil wir schon von Glas reden«, erwiderte ich. »Wir brauchen ein Mikroskop. Ich glaube, das wird uns eine Menge Fragen beantworten.« IV Die Zweihundertpfundseñorita mit der Warze auf der Oberlippe stellte einen Topf mit schwarzem, kubani schem Kaffee und einen Krug Milch zu den beiden ange schlagenen Tassen auf den Tisch. Ich goß ein, nahm ei nen Schluck und schauderte. Auf der Straße draußen wimmerte eine Gitarre Estrellita. »Also, Foster«, sagte ich, »ich habe folgendes heraus gefunden: Die erste Hälfte des Buches ist ein Gekritzel, das ich nicht lesen kann. Aber dieser Mittelteil, das ist verschlüsseltes Englisch, und zwar eine Art Zusammen fassung der Geschehnisse.« Ich griff nach den Blättern, auf denen ich den Code entschlüsselt hatte, und las: Zum erstenmal habe ich Angst. Meine Versuche, ein Nachrichtengerät zu konstruieren, haben die Jäger auf meine Spur gebracht. Ich schützte mich so gut ich konnte und suchte ihre Brutstätte. Als ich sie fand, sah ich, daß es jener Platz war, den ich noch aus alter Zeit kannte. Es war kein Sammelstock, sondern ein Schacht in der Erde, den Männer der Zwei Welten gebaut hatten. Ich wäre eingedrungen, aber die Jäger schwärmten zu Hunderten hervor. Ich kämpfte und tötete viele, aber schließlich mußte ich fliehen. Ich er reichte die westliche Käste, wo ich wagemutige Seeleute anwarb und mit einem armseligen Schiff in See stach. Nach neunundvierzig Tagen landeten wir an der Küste 46
dieser Wildnis. Männer wie aus grauer Vorzeit griffen uns an und ich lehrte sie das Fürchten. Von da an lebte ich in Frieden mit ihnen, und die Jäger haben diesen Ort nicht gefunden. Vielleicht endet alles hier, aber ich werde nicht aufge ben, solange Kraft in mir ist. Ich fühle, daß der Wechsel nicht mehr fern ist. Ich muß alles für den Fremden vorbereiten, der nach mir sein wird. Alles, was er wissen muß, steht auf diesen Sei ten. Hier ist meine Botschaft: Habe Geduld. Diese Rasse wird bald bereit sein. Blei be dem östlichen Kontinent fern und warte ab. Bald wer den Seemänner in großer Zahl aus dem Norden kommen. Wähle ihre besten Schmiede aus und baue einen Schild. Erst dann kehre zum Schacht der Jäger zurück. Er liegt auf einer Ebene, 50/10000 des Umfanges dieser (?) west lich des großen Kalkfelsens und 1470 Teile nördlich der Mittellinie, wie ich ziemlich genau errechnet habe. Der Ort ist weithin durch Steine markiert, die im Zeichen der Zwei Welten angeordnet sind. Ich sah Foster an. »Es folgen Aufzeichnungen über sein Wirken bei den Eingeborenen. Er wollte sie wohl in aller Eile zivilisieren. Sie hielten ihn für einen Gott und ge horchten ihm. Er ließ sie Straßen bauen, Stein bearbeiten, lehrte sie Mathematik und tat alles Erdenkliche, um sie für den Fremden vorzubereiten, der ihm nachfolgen soll te, damit dieser sich zurechtfand und das Werk weiter führen konnte.« Foster musterte mich nachdenklich. »Was ist unter dem Wechsel zu verstehen, von dem er schreibt?« »Er erklärt es nirgends, aber ich nehme an, daß er vom Tod spricht. Ich weiß allerdings nicht, woher der Fremde 47
kommen soll.« »Legion!« Eine Spur der alten Besorgnis war in seinen Augen. »Ich glaube, ich weiß, was er mit dem Wechsel meint. Ich glaube, daß er gewußt hat, er würde verges sen … Der Fremde ist er selbst – ein Mann ohne Erinne rung!« Ich nickte stirnrunzelnd. »Schon möglich. Reden Sie weiter.« »Und er schreibt, daß alles, was der Fremde wissen muß, in diesem Buch steht.« »Nicht in dem Teil, den ich entschlüsselt habe«, wi dersprach ich. »Er ergeht sich in Straßenbauangaben und dergleichen; aber er schweigt sich darüber aus, was die Jäger sind oder warum sie ihn überhaupt verfolgen.« »Es muß trotzdem im Buch stehen, Legion, wahr scheinlich im ersten Teil, dessen fremdartige Symbole wir nicht entziffern können!« .»Möglich«, gab ich zu. »Aber warum hat er dazu kei nen Schlüssel hinterlassen?« »Er nahm vielleicht an, daß der Fremde – er selbst – die alte Schrift lesen könne«, vermutete Foster. »Wie sollte er ahnen, daß sie wie alles andere in Vergessenheit geraten könnte?« Als ich zögernd nickte, fuhr er fort: »Aber wir haben doch etwas erfahren. Wir wissen die genaue Lage des Schatzes der Jäger.« »Wenn Sie ›Zehntausendstel westlich des großen Kalkfelsens‹ als genaue Lage bezeichnen wollen«, wand te ich ein. »Wir wissen mehr als das«, fuhr er eifrig fort. »Er er wähnte eine Ebene. Der Ort muß außerdem auf einem Kontinent im Osten liegen …« »Wenn wir annehmen, daß er von Europa nach Ame rika segelte, dann würde der Kontinent im Osten Europa 48
sein«, überlegte ich. »Aber vielleicht fuhr er von Afrika nach Südamerika, oder …« »Der Hinweis auf Seeleute aus dem Norden – damit sind sicherlich die Wikinger gemeint …« »In Geschichte haben Sie nicht alles vergessen«, stell te ich sarkastisch fest. »Wir brauchen Landkarten«, sagte Foster unbeirrt. »Was wir suchen müssen, ist eine Ebene nahe der Küste …« »Nicht unbedingt.« » … mit einer Formation von Kalkfelsen im Osten.« »Ich habe am Nachmittag bereits Karten besorgt und einen Globus dazu. Ich war mir ziemlich sicher, daß wir so was brauchen würden. Auf in unsere Traumunter kunft! Die Schaben und Flöhe werden es uns danken, wenn sie ein wenig Geographie lernen.« Wir verließen das Lokal. In unserem düsteren Logis zimmer, einen halben Block weiter, machte sich Foster sofort über den Globus her. »Es wäre doch denkbar, daß er mit diesen Zehntau sendstel Teile des Umfanges der Erde meinte, nicht wahr?« »Woher sollte er diese Kenntnisse haben …?« »Wir müssen diesen anachronistischen Aspekt außer acht lassen«, meinte Foster. »Der Mann, der dieses Buch schrieb, wußte viele Dinge. Wir müssen von ein paar Vor aussetzungen ausgehen. Einige sind offensichtlich: Wir suchen eine Ebene an der Westküste Europas, die …« Er holte sich einen Stuhl heran und studierte meine ent schlüsselte Abschrift » … die 50 in Zehntausendstel des Erdumfanges – das wären etwa 200 Kilometer – westlich einer Kalkformation, und 5880 Kilometer nördlich einer Mittellinie liegt …« »Vielleicht meint er den Äquator.« 49
»Ganz sicher!« rief Foster. »Natürlich. Das würde be deuten, daß unsere Ebene auf einer Linie« – er studierte den kleinen Globus – »liegt, die durch Warschau führt und südlich an Amsterdam vorbei.« »Aber diese Felsformation«, sagte ich nachdenklich. »Wie bringen wir etwas über auffällige Kalkfelsen in Erfahrung?« »Vielleicht gibt es eine Bücherei im Ort.« »Die einzigen Kalkfelsen, die ich kenne, sind die Klippen von Dover …« Wir griffen fast gleichzeitig nach dem Globus. »Zweihundert Kilometer westlich der Klippen …« Fo ster folgte mit dem Finger der imaginären Linie. »Nörd lich von London und südlich von Birmingham. Ja, das ist nicht weit von der Küste.« »Wo ist der Atlas?« Ich blätterte durch die billige Tou ristenausgabe. »Hier ist England. Wo ist die Ebene?« »Hier.« Foster setzte zielsicher den Finger auf die Kar te. »Eine große Ebene – Salisbury.« »Allerdings«, sagte ich. »Da brauchen wir Jahre, um Ihre Steinmarkierung zu finden. Wir sollten uns nicht in etwas hineinsteigern …« Ich nahm den Atlas und blätter te weiter. Plötzlich hielt ich inne. Ich starrte auf eine De tailkarte von Südengland, und mein Herz schlug heftig. Ich zeigte auf eine kleine Markierung im Zentrum der Ebene von Salisbury. »Hier ist Ihr unterirdischer Schacht der Jäger …« Foster beugte sich vor und las die kleine Schrift: »Stonehenge« Ich zitierte aus der Enzyklopädie: … dieses große Steinmal in der Ebene von Salisbury, Wiltshire, England, ist eines der bedeutendsten megalithi schen Monumente der Alten Welt. In einer kreisrunden 50
Vertiefung von 300 Fuß Durchmesser sind bis zu 22 Fuß hohe Steine in Form konzentrischer Kreise aufgestellt … »Das stimmt mit den Aufzeichnungen überein«, sagte ich. »Die konzentrischen Kreise – das Zeichen der zwei Welten, nehme ich an. So wie auf Ihrem Notizbuch …« »Und auf dem Ring«, ergänzte Foster. »Geben Sie mir das Buch.« Während er las, sah ich aus dem Fenster auf das nächtliche Miami hinaus. Ich zündete eine Zigarette an und dachte an den Mann, der vor langer Zeit in einem Drachenboot den Nordatlantik überquert hatte und ein Gott der wilden Indianerstämme geworden war. »Wir sollten auf den Boden der Tatsachen zurückkeh ren.« Ich hatte selbst Mühe, den Bann abzuschütteln. Foster sah mich an. »Wie steht es mit Ihrem Freund, der die Reisepässe besorgt? Kann er uns auch alle ande ren notwendigen Papiere für eine Reise nach England besorgen?« »Sicher.« Ich nickte. »Aber es wird nicht billig sein. Und wir sollten nichts überstürzen …« »Ich bin sicher, daß wir das Geld beschaffen können«, erklärte Foster. »Suchen Sie ihn auf – gleich morgen früh?« Ich seufzte resigniert. Ich ließ meinen Blick durch das trostlose Zimmer wandern. Durch das offene Fenster kam der kaum erträgliche Geruch von angebrannten Speisen und ranzigem Fett und der Gestank von Abfällen. »Wenigstens kommen wir aus diesem Loch ‘raus«, murmelte ich. V Die Sonne stand schon tief am Horizont, als Foster und ich das Lokal »Zum Alten Sünder« betraten und an ei nem Ecktisch Platz nahmen. Foster breitete seine Karten 51
und Aufzeichnungen aus. Das Geräusch ins Holz fahren der Wurfpfeile übertönte gelegentlich das Stimmengewirr. »Geben Sie doch endlich zu, daß wir nur unsere Zeit verschwenden!« nörgelte ich. »Zwei Wochen ziehen wir jetzt kreuz und quer durch die Gegend und stehen immer noch am gleichen Fleck.« »Unsere Nachforschungen haben kaum begonnen«, erwiderte Foster nachsichtig. »Das sagen Sie schon eine ganze Weile«, entfuhr es mir. »Aber wenn wirklich was in dem Steinhaufen ver borgen war, dann ist es längst verschwunden. Die Ar chäologen haben hier jahrelang herumgebuddelt und nichts gefunden.« »Sie wußten nicht, wonach sie suchten«, meinte Fo ster. »Sie sahen alles unter religiösen Aspekten …« »Aber wir wissen genau, wonach wir suchen«, stellte ich ironisch fest. »Vermutlich finden wir die Jäger unter einem lockeren Stein.« »Ich halte das nicht für unwahrscheinlich. Auch wenn es Ihnen lächerlich erscheint.« »Das ist mir klar. Sie haben sich ja auch eingeredet, daß uns die Jäger in der Nacht in Mayport überfallen ha ben, als wir wie zwei Verrückte aus Ihrem Haus flüchte ten.« »Ihren damaligen Worten zufolge …« begann Foster. »Ich weiß, Sie halten das für sehr wahrscheinlich. Das ist das Fürchterliche mit Ihnen. Es gibt nichts, was Sie für unwahrscheinlich halten. Es würde alles ein wenig leichter für mich machen, wenn Sie mich ein paar Dinge von der Liste des Wahrscheinlichen streichen ließen. Zum Beispiel, daß Kobolde in Stonehenge nisten …« Foster lächelte. Seine alte Persönlichkeit kristallisierte sich in diesen letzten Wochen immer deutlicher heraus, 52
und damit auch die alte dominierende Rolle in unserer Partnerschaft. »Das ist der Makel Ihrer Kultur«, sagte er, »daß aus Hypothesen über Nacht ein Dogma wird. Euer Denken ist noch dem neolithischen Bewußtsein verhaftet, als Stammesüberlieferung die Überlebensbasis war. Ihr habt erkannt, daß sich der Feuergott rein mechanisch durch Stäbchen und Reibung beschwören läßt, und gleich glaubt ihr, das Prinzip auf alle feststehenden Fakten an wenden zu können.« »Apropos feststehende Fakten«, unterbrach ich ihn, »wir haben noch genau 15 Pfund, in Worten: fünfzehn! Das sind etwa vierzig Dollar. Wir sollten uns ernsthaft einen Tapetenwechsel überlegen, bevor jemand auf die Idee kommt, unsere falschen Papiere genauer in Augen schein zu nehmen.« Foster schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben unsere Möglichkeiten bei weitem nicht ausgeschöpft. Ich habe ein paar Ideen, denen ich nachgehen möchte, und zwar nachts, ohne Touristen in der Nähe. Wir werden hier es sen und nach Anbruch der Dunkelheit aufbrechen.« Der Wirt brachte uns gleich darauf kaltes Fleisch und Kartoffelsalat. Ich säbelte lustlos an einer dünnen, aber widerstandsfähigen Scheibe Schinken und dachte, was für ein Narr ich doch sei. Meine Trauminsel wurde mit jedem Tag ungreifbarer. »Der Alte Sünder«, murmelte ich, »der bin ich selber.« Foster blickte auf. »Seltsame Namen haben diese alten Gasthäuser. Wahrscheinlich ist der Ursprung meist ir gendwo in der Vergangenheit vergraben und vergessen.« »Warum denken die sich nicht was Freundlicheres aus«, knurrte ich! »Paradies-Bar‹ oder ›Cafe zum steten Frohsinn‹ oder so was! Haben Sie sich das Schild drau ßen angesehen?« 53
»Nein.« »Es zeigt ein Skelett, das eine Hand hochhält wie ein Prediger, der den Weltuntergang herabbeschwört. Hier durch das Fenster können Sie es sehen!« Foster sah hinaus und betrachtete lange das schau kelnde Schild. Als er sich schließlich wieder umwandte, stand ein seltsamer Ausdruck in seinen Augen. »Was ist mit Ihnen …?« begann ich. Aber Foster beachtete mich gar nicht. Er winkte den Besitzer herbei. Der kleine, dicke Mann kam an unseren Tisch. »Ein sehr interessantes Haus«, erklärte Foster. »Wir haben es schon bewundert. Wann ist es gebaut werden?« »Nun, Sir«, hob der Wirt an, »unser Haus ist einige hundert Jahre alt. Man sagt, die Mönche aus dem nahen Kloster hätten es gebaut. Die Schergen des Königs rissen das Kloster später nieder. König Heinrich ist das gewe sen, als man die Papisten vertrieb.« »Heinrich der Achte, nehme ich an?« »Ja, eben der, Sir. Und dieses Haus blieb als einziges verschont, weil es das Brauhaus war, welches dem König sehr wertvoll erschien. Er belegte es mit Zehntpflicht, so daß zwei Fässer zu jeder Brauzeit für den König beiseite gestellt wurden.« »Sehr interessant«, bemerkte Foster. »Existiert der Brauch heute noch?« Der Wirt schüttelte den Kopf. »Zur Zeit meines Groß vaters kam er zum Wegfall, weil die Königin der Absti nenz huldigte.« »Wie kam das Haus zu diesem seltsamen Namen – ›Der Alte Sünder‹?« »Die Geschichte wird so erzählt«, fuhr der Wirt eifrig fort. »Eines Tages begab sich ein Ordensbruder aus dem 54
Kloster zu den großen Steinen, um nach dem alten Drui denschatz zu graben, wiewohl der Abt ihm verboten hat te, den heidnischen Boden zu betreten. Dort fand er die Gebeine eines Mannes, und da er ein guter und frommer Bursche war, gedachte er, ihm ein christliches Begräbnis zukommen zu lassen. Er wußte aber, daß es der Abt nie und nimmer erlauben würde. So begann er heimlich bei Nacht unter den Klostermauern im heiligen Boden ein Grab auszuheben. Aber der Abt war schlaflos und er wischte den Bruder beim Graben, und als er nachdem Grund fragte, sah der Ordensbruder lange Tage der Buße vor sich. Deshalb erklärte er, sein Trachten sei, einen Bierkeller auszuheben. Der Abt wußte solches Vorhaben zu schätzen. Er klopfte dem Bruder auf die Schulter und ließ ihn bei seiner Arbeit. So wurde das Brauhaus gebaut, und der Abt segnete es und damit auch die Gebeine, die tief im Boden unter den Fässern ruhten.« »Dann ist der alte Sünder also hier zu unseren Füßen begraben?« »Ja, so wird es erzählt. Und seit vierhundert Jahren hat das Haus diesen Namen.« »Und wo hat der Ordensbruder gegraben?« »Da draußen in der Ebene bei den alten Druidenstei nen, die sie Stonehenge nennen«, erklärte der Wirt. Er nahm die leeren Gläser. »Noch eines, die Herrschaften?« »Natürlich.« Foster nickte. Er saß mir dann stumm ge genüber, scheinbar nur mäßig beeindruckt von dem Ge hörten. Aber ich bemerkte die Spannung unter der Mas ke. »Was soll das alles?« flüsterte ich. »Seit wann haben Sie ein Faible für lokale Geschichte?« »Später«, murmelte Foster hastig. »Versuchen Sie den gelangweilten Ausdruck beizubehalten.« 55
»Das wird nicht schwer sein.« Der Wirt kam mit gefüllten Gläsern wieder. »Sie sagten, der Ordensbruder hätte die Gebeine ge funden«, begann Foster erneut zu bohren. »Sagten Sie nicht, sie wären in Stonehenge vergraben gewesen?« Der Wirt räusperte sich und sah Foster forschend an. »Kommen die Herrn vielleicht von der Universität?« »Sagen wir einfach«, meinte Foster lächelnd, »wir ha ben außerordentlich großes Interesse an diesen alten Überlieferungen, denen wir mit bescheidenen Mitteln nachgehen.« Der Wirt beschäftigte sich intensiv mit der Reinigung der Tischplatte. »Könnte wetten, daß es nicht billig ist«, meinte er. »Langwierig dazu, überall herumzugraben. Gewußt wo, das ist nicht unwichtig, könnte ich mir denken …« »Außerordentlich wichtig«, stimmte Foster zu. »Gut und gern fünf Pfund wert.« »Mein Großvater war’s, der mir den Ort zeigte. Bei Nacht und Mondschein gingen wir hinaus, und er zeigte es mir, wie es ihm sein Großvater gezeigt hatte. Es sagte mir auch, daß es ein großes Geheimnis wäre, eines, auf das man schon stolz sein könne.« »Hier noch fünf Pfund als Zeichen meiner persönli chen Wertschätzung«, erklärte Foster. Der Wirt sah mich auffordernd an. »Nun, Sir, ein Ge heimnis wie dieses, das von Vater auf Sohn weitergege ben wurde …?« »Natürlich möchte auch mein Begleiter seiner Wert schätzung Ausdruck verleihen«, meinte Foster. »Das macht noch einmal fünf Pfund.« »Weitere Wertschätzung übersteigt unser Budget, Mr. Foster«, sagte ich entschieden. Ich zog die fünfzehn 56
Pfund aus der Tasche und reichte sie ihm über den Tisch. »Ich hoffe, Sie haben die Leute nicht vergessen, die uns sprechen wollten. Ich schätze, daß wir jederzeit mit ihnen rechnen müssen.« Foster faltete die Scheine wieder zusammen, behielt sie aber in der Hand. »Das ist wahr, Mr. Legion«, erwi derte er. »Vielleicht sollten wir diese zeitraubende Sache lieber lassen …« »Nun gut – um der Wissenschaft willen«, fiel der Wirt ein, »werde ich ein Opfer bringen.« »Wir werden heute nacht gehen«, erklärte Foster. »Unsere Zeit ist sehr knapp bemessen.« Nach weiteren fünf Minuten war der Handel geschlos sen. Als der Wirt vom Tisch verschwand, drängte ich Foster neugierig: »Was ist Ihnen denn so plötzlich einge fallen?« Er deutete zum Fenster. »Sehen Sie sich das Schild noch einmal an.« Ich musterte den grinsenden Schädel verständnislos. »Ich sehe es«, stellte ich fest. »Aber mir ist nicht klar, warum Sie deshalb unsere letzten Scheine …« »Die Hand, Legion! Sehen Sie sich den Ring an!« Ja, da war ein großer Ring an den Zeigefinger gemalt, der konzentrische Kreise zeigte. Er war ein Duplikat des Ringes, den Foster am Finger trug. Der Wirt ließ den verbeulten Morris Minor an den Stra ßenrand rollen und stellte den Motor ab. Wir stiegen aus und blickten über die Ebene, auf der sich die Steingebilde gegen den letzten schwachen Schimmer des Abendrots abhoben. Der Wirt kramte ein Tuch und zwei große Taschenlampen aus dem Koffer 57
raum. Er gab Foster und mir eine. »Noch nicht einschal ten. Wir müssen vermeiden, daß die ganze Gegend von unserem Vorhaben Kenntnis erhält.« Er breitete das Tuch über den Stacheldrahtzaun und stieg hinüber. Wir folgten ihm schweigend. Die Ebene war verlassen. Ein paar einsame Lichter blinkten an einem fernen Hügel. Die Nacht war finster und mondlos. Wir passierten den äußeren Ring der Steinsäulen und tasteten uns vorsichtig um umgestürzte Blöcke herum. »Wir werden uns den Hals brechen«, schimpfte ich, »wenn wir nicht bald eine Lampe einschalten!« »Noch nicht«, flüsterte Foster. Der Wirt hielt an, bis wir ihn erreicht hatten. »Jener große Stein dort«, erklärte er. Wir mußten unsere Augen anstrengen, um ihn in der Dunkelheit zu erkennen. »Dort waren die Gebeine begraben?« fragte Foster. »Nein. Ist lange her. Zwanzig Schritte, wenn ich Großvaters Worte recht behalten habe … In einer Vertie fung … Fünfzig Schritte zur Rechten …« Der Wirt eilte murmelnd voran. »Wenn er willkürlich auf eine Stelle deutet und sagt: ›Hier ist es!‹, was dann? Wir können ihm nicht einmal den Hals umdrehen!« flüsterte ich. »Warten wir es ab«, meinte Foster. »Dort drüben!« der Wirt deutete in die Dunkelheit. »Ich sehe nichts«, bemerkte ich. Foster eilte voran, ich hinter ihm her, während der Wirt uns langsamer folgte. Vor einer Vertiefung hielten wir an. »Das könnte es sein«, sagte Foster. »Alte Gräber sin ken oft ein …« Plötzlich faßte er meinen Arm. »Sehen Sie …!« 58
Der Boden vor uns schien zu beben und sich zu heben. Foster schaltete seine Lampe ein. Die Erde in der Vertie fung brach auf und ein greller, lebendiger Lichtschimmer brach hervor. Ein Lichtball löste sich daraus und stieg hoch. »Alle Heiligen«, krächzte der Wirt, zu Tode er schrocken. Foster und ich standen wie angewachsen. Plötzlich stieß der Ball auf uns zu. Foster duckte sich und hob ab wehrend den Arm. Die leuchtende Kugel streifte ihn, prallte ab und schwebte über ihm. Im nächsten Augen blick war die Luft erfüllt von feurigen Bällen, die aus dem Boden schwärmten und sich auf uns stürzten. Ein Summen erfüllte die Nacht, als wären wir an ein Wes pennest geraten. Der Strahl von Fosters Lampe zuckte in die wirbelnde Masse. »Das Licht, Legion! Schalten Sie es ein!« rief er hei ser. Ich stand noch immer wie erstarrt. Die Lichtkugeln ignorierten mich. Sie hatten es nur auf Foster abgesehen. Hinter mir hörte ich, wie der Wirt mit hastigen Sprüngen das Weite suchte. Ich schaltete ein und richtete den Strahl auf Foster. Der Ball über seinem Kopf löste sich auf, als das Licht ihn traf. Weitere zerplatzten wie Seifenblasen im Kontakt mit dem Licht der Taschenlampe. Doch ebenso schnell flogen weitere Blasen heran. Foster taumelte, als sie ihn zurückdrängten. Seine Lampe schwang herum und zersplitterte am Stein hinter ihm. Den Augenblick der Finsternis nützten die Kugeln. Wie eine Wolke umhüllten sie seinen Kopf. »Foster!« rief ich. »Laufen Sie!« Aber er schaffte keine fünf Meter. Dann stürzte er zu Boden. »Deckung«, keuchte er und fiel auf sein Gesicht. Ich stürzte mich in den schwirrenden Haufen und stellte 59
mich über seinen Körper. Schwefelgestank umgab mich. Hustend versuchte ich den Lichtstrahl auf Fosters Kopf zu konzentrieren. Keine weiteren Kugeln tauchten aus dem Boden auf. Eine dichte Wolke umgab uns beide, aber nur Foster in teressierte sie. Ich faßte Foster an seinem Mantel und zerrte ihn zu einem der Steinblöcke. Nun konnten sie nur von vorn angreifen. Ich warf einen Blick auf den Spalt, aus dem sie aufge taucht waren. Er schien groß genug, einem Mann Schutz zu geben. Dann richtete ich mich auf, mit dem Rücken zum Stein, und konzentrierte mich auf den Kampf. Ich ging mit System ans Werk. Erst vertikal, dann ho rizontal ließ ich den Strahl wandern. Sie beachteten mich nicht. Sie wollten nur Foster, und ich fegte sie hinweg, wie sie herabkamen. Die Wolke schrumpfte, die An griffswut ließ nach. Das Summen wurde schwächer und verklang schließlich ganz. Endlich schwirrten nur noch ein paar Kugeln umher. Das letzte halbe Dutzend entfloh auf die Ebene. Ich sank gegen den Stein. Schweiß verklebte mir die Augen. Meine Lungen brannten vom Schwefelgeruch. »Foster«, keuchte ich. »Alles in Ordnung?« Er gab keine Antwort. Ich leuchtete in den Spalt und sah Steine und feuchte Erde. Foster war verschwunden. VI Leicht geneigt führte ein schwarzer Schlauch ins Erdin nere. Da unten mußte das Versteck liegen, aus dem die Jäger emporgekommen waren. Foster lag eingekeilt in der Öffnung. Ich kletterte hinab und zog ihn hoch. Er 60
atmete noch, schwach; aber regelmäßig. Daß der Wirt mit ein paar Leuten zurückkommen würde, um nach uns zu suchen, war unwahrscheinlich. Er schien mir nicht der Typ, der sich mit dem Geist des Al ten Sünders anlegen wollte. Foster stöhnte und schlug die Augen auf. »Wo sind … sie?« murmelte er. »Ruhig, Foster«, sagte ich beschwichtigend. »Sie sind fort.« »Legion«, sagte Foster und versuchte sich aufzuset zen. »Die Jäger …« »Meinetwegen nennen Sie sie Jäger. Was Besseres fällt mir auch nicht ein. Ich hab sie mit der Taschenlampe bearbeitet. Sie sind alle weg.« »Das bedeutet …« »Das können wir uns später überlegen. Jetzt müssen wir von hier verschwinden.« »Die Jäger … sie sind aus der Erde gekommen … aus einem Spalt im Boden.« »Stimmt. Sie waren selbst schon halb drin.« »Der Schacht der Jäger«, murmelte Foster. »Legion, geben Sie mir die Taschenlampe!« »Was haben Sie im Sinn?« fragte ich und reichte ihm die Lampe. »Bis jetzt war es selten etwas Erfreuliches.« Der Strahl bohrte sich in die Dunkelheit und fiel auf polierte Wände aus schwarzem Glas. »Der Schacht ist von Menschen gebaut worden«, ent fuhr es mir. »Und sicher nicht vom neolithischen Bru der.« »Legion, wir müssen herausfinden, was dort unten ist.« »Wir könnten morgen nach hier zurückkommen – mit Seilen und ausreichenden Versicherungspolicen«, legte ich ihm nahe. 61
»Das werden wir aber nicht«, meinte Foster. »Wir ha ben gefunden, was wir suchten …« »Geschieht uns recht«, sagte ich seufzend. Foster hatte die Beine bereits in der Öffnung und verschwand. Ich hinterher, mit einem letzten wehmütigen Blick auf den nächtlichen Himmel. Ich schlug auf dem steinübersäten Boden auf und japste. »Wo sind wir hier?« Ich fischte die Lampe aus dem Schutt zu meiner Rechten und leuchtete die Umgebung ab. Wir befanden uns in einem niedrigen Raum, der etwa zehn Meter im Quadrat maß. Die Wände waren glatt bis auf massive Objekte, die mich an Sarkophage erinnerten. Nur, daß diese »Sarkophage« hier die Blinklichter von Instrumenten widerspiegelten. »Wohin wir auch greifen«, seufzte ich, »greifen wir in den Dreck. Das ist nicht mehr und nicht weniger als eine streng geheime militärische Anlage.« »Unmöglich«, widersprach Foster. »Das kann keine moderne Anlage sein – hier am Grund eines halb mit Ge röll verschütteten Schachtes …!« »Wir müssen hier so schnell wie möglich ‘raus«, er klärte ich. »Sicher haben wir bereits irgendeine Alarm vorrichtung ausgelöst.« Ein Signalton schnitt mir das Wort ab. Gleichzeitig erwachte ein kleiner quadratischer Schirm zum Leben. Ich sprang auf und starrte auf das Instrument. Foster stand neben mir. »Was halten Sie davon?« »Ich bin kein Experte für Steinzeitüberbleibsel«, sagte ich. »Aber wenn das kein Radarschirm ist, fresse ich ei nen Besen!« Ich ließ mich in den Sessel vor dem Instrumententisch fallen und beobachtete einen roten Punkt, der über den 62
Schirm kroch. »Diese Entdeckung verdanken wir dem Alten Sün der«, sagte Foster hinter mir. »Wer hätte gedacht, daß er uns hierherführen würde.« »Der Alte Sünder?« lachte ich. »Der hätte sich das hier auch nicht träumen lassen.« »Sehen Sie sich die Zeichen an den Apparaturen an«, widersprach Foster. »Es sind die gleichen wie in der er sten Hälfte meines Notizbuches.« »Keine Klaue sieht aus wie die andere«, erwiderte ich verdrossen. »Wenn ich nur aus dem Schirm hier schlau würde! Der Punkt ist entweder ein sehr langsames Flug zeug – oder das Ding fliegt verdammt hoch.« »Moderne Maschinen fliegen in großen Höhen«, meinte Foster. »Also nicht so hoch«, erwiderte ich. »Ich muß heraus finden, was diese Skalen bedeuten …« »Hier ist eine Reihe von Kontrollen und Schaltern«, bemerkte Foster. »Offensichtlich kann mit ihnen etwas aktiviert werden …« »Finger weg!« sagte ich rasch. »Der dritte Weltkrieg kann auch mit einem einzigen Schalter ausgelöst wer den!« »Ich bezweifle, daß die Auswirkungen so drastisch wären«, widersprach Foster. »Sicher erfüllt diese Anlage einen bestimmten Zweck, der mit modernen Kriegen nicht das geringste zu tun hat – aber wahrscheinlich sehr viel mit den Rätseln in meinem Notizbuch und mit mei ner Vergangenheit.« »Je weniger wir darüber wissen, desto besser für uns«, erklärte ich ihm. »Wenn wir die Finger davon lassen, können wir immer noch sagen, daß wir hier vor dem Re gen untergekrochen sind …« 63
»Sie vergessen die Jäger, die durch ihren Ausbruch den Schacht freilegten!« »Warum sie das gerade in dem Augenblick taten, als wir ankamen, ist mir schleierhaft.« »Etwas hat sie aufgeschreckt. Ich glaube, sie fühlten die Anwesenheit ihres alten Feindes.« Ich fuhr herum. »Ach, machen Sie sich doch nicht zum Narren!« fuhr ich ihn an. »Sie halten sich für ihren alten Feind, huh? Haben Sie sich das auch mal im Detail überlegt? Dem nach hätten Sie selber vor zig hundert Jahren gegen diese Jäger gekämpft – hier in Stonehenge. Sie brachten ein paar von ihnen um die Ecke und nahmen dann die Beine in die Hand. Sie erwischten irgendwo ein Wikingerschiff und überquerten den Atlantik. Danach verloren Sie Ihr Gedächtnis und wurden Foster. Vor ein paar Wochen verloren Sie Ihr Gedächtnis wieder. Und Sie muten mir allen Ernstes zu, daß ich das glauben soll?« »Mehr oder weniger.« »Und jetzt hocken wir hier ein paar Dutzend Meter un ter Stonehenge – nach einer kleinen Meinungsverschie denheit mit einer Schar sonniger Stinkbomben. Erzählen Sie mir nur noch, daß wir hier Ihren neunhundertsten Geburtstag feiern wollen!« »Erinnern Sie sich an die Eintragung im Notizbuch, Legion? Als ich sie (die Jäger) fand, sah ich, daß es jener Platz war, den ich aus alter Zeit kannte. Es war kein Sammelplatz, sondern ein Schacht in der Erde, den Män ner der zwei Welten gebaut hatten …« »Okay«, sagte ich trocken. »Dann haben Sie also ei nen Tausender auf dem Buckel.« Ich warf einen Blick auf den Schirm, kramte ein Stück Papier aus der Tasche und schrieb ein paar Zahlen nieder. »Hier habe ich auch 64
ein paar interessante Zahlen für Sie. Das Objekt auf dem Schirm gondelt ziemlich genau in einer Höhe von fünf zigtausend Kilometer herum.« Angewidert warf ich den Schreiber auf den Tisch. »Wo sind wir da nur hineingeraten, Foster? Aber ich will’s gar nicht so genau wissen …« »Beruhigen Sie sich, Legion.« »Schon gut, Foster. Sie sind der Boß. Es sind nur mei ne Reflexe, die mit mir durchgehen wollen. Ich hege oh nehin immer noch die irre Hoffnung, daß Sie doch nicht ganz so verrückt sind und irgendwie … Foster! Sehen Sie nur!« Ein Muster von Punkten flammte in regelmäßigen Ab ständen über den Schirm. »Ein Erkennungssignal. Was tun wir jetzt?« Foster beobachtete stumm den Schirm. »Das Blinken macht mich nervös«, knurrte ich. »Ich komme mir ertappt vor.« Ein roter Knopf neben dem Schirm leuchtete verheißungsvoll. »Wenn ich den Knopf drücke, vielleicht …« Ich hatte den Finger drauf, bevor ich mir ganz klar darüber war. Ein gelbes Lämpchen blinkte am Kontrollpult. Am Schirm verschwand das Punktemuster. Der rote Punkt teilte sich. Ein kleinerer bewegte sich im rechten Winkel vom Hauptobjekt fort. »Ich bin nicht so sicher, ob das der richtige Knopf war«, murmelte Foster. »Da können Sie recht haben«, antwortete ich mit ein wenig schriller Stimme. »Es sieht so aus, als hätte ich an dem Schiff da oben eine Bombe ausgeklinkt!« Die Kletterei aus dem Schacht dauerte endlos. Keuchend lagen wir schließlich neben der Schachtöffnung. 65
»Wir müssen zur Straße«, sagte ich, heftig atmend. »Im Wirtshaus ist ein Telefon! Dort können wir die Be hörden verständigen …« Ich warf einen Blick zum Himmel. »Foster!« rief ich und ergriff seinen Arm. »Was ist das?« Ein gleißender Punkt bläulichen Lichtes, heller als die Sterne, wurde merklich größer, während wir ihn beo bachteten. »Scheint so, als kämen wir gar nicht mehr dazu, irgend jemanden zu benachrichtigen«, murmelte ich. »Das ist unsere Bombe – beim Endspurt.« »Das ist unlogisch«, wehrte Foster ab. »Diese Anlage kann kaum dafür gebaut worden sein, sich auf so kompli zierte Art selbst zu vernichten.« »Wir müssen hier ‘raus!« schrie ich. »Es nähert sich sehr rasch.« Foster schüttelte den Kopf. »Die Entfernung, die wir in diesen paar Minuten laufen könnten, ist lächerlich im Vergleich zu dem Ver nichtungsradius moderner Bomben. Hier in der Mulde sind wir sicherer als auf dem offenen Feld.« »Wir könnten in den Schacht zurückkriechen«, schlug ich vor. »Und darin begraben werden?« »Sie haben recht. Im Freien gegrillt zu werden, ist ein besserer Tod.« Wir kauerten in der Mulde und sahen das Ding auf uns herabkommen. »Das ist keine Bombe«, meinte Foster. »Es fällt nicht.« »Wie auch immer – wir sind gemeint. Leben Sie wohl, Foster. Ich kann nicht gerade behaupten, daß es eine Lust war, mit Ihnen zu leben. Aber es war ganz interessant. Es 66
wird gleich verdammt heiß werden. Ich hoffe, es geht schnell.« Die gleißende Scheibe war jetzt zu der Größe des Vollmondes angewachsen und unerträglich hell. Die Ebene war überstrahlt von fahlem, blauem Licht. Lautlos kam das Ding tiefer. »Es wird uns nicht direkt treffen«, murmelte Foster. »Es geht ein paar hundert Meter weiter östlich nieder …« Wir beobachteten das schlanke Geschoß mit angehal tenem Atem. Wie im Zeitlupentempo senkte es sich her ab und setzte federleicht auf. Einen Augenblick war alles in blauen Glanz getaucht. Dann erlosch das Licht. »Foster«, hauchte ich, »halten Sie es für möglich, daß …« Ein heller Spalt erschien an der Hülle und verbreiterte sich. Eine Leiter erschien und senkte sich zu Boden. »Wenn jemand mit Tentakeln herauskommt«, sagte ich schrill, »kann mich nichts mehr halten!« »Niemand wird aussteigen«, erwiderte Foster ruhig. »Ich glaube vielmehr, daß dieses Raumschiff zu unserer Verfügung steht.« »Ich werde nicht an Bord gehen«, stellte ich mit aller Bestimmtheit zum fünftenmal fest. »Das ist eines der wenigen Dinge, deren ich mir sicher bin.« »Legion«, redete Foster geduldig auf mich ein, »das ist kein militärisches Fahrzeug des zwanzigsten Jahrhun derts. Es hat auf den Sender unter dem alten Steinmonu ment reagiert, das mehrere tausend Jahre alt ist …« »Sie wollen mir einreden, daß das Schiff die letzten paar tausend Jahre die Erde umkreist und darauf gewartet hat, daß jemand den roten Knopf drückt? Das nennen Sie logisch?« »Mit unzerstörbaren Materialien – wie jenes, aus dem 67
das Notizbuch besteht – ist es nicht unmöglich. Nicht einmal besonders schwierig.« »Wir sind lebend aus dem Schacht herausgekommen. Warum begnügen wir uns nicht damit?« »Wir sind ganz nahe dran, ein jahrhundertealtes Rätsel zu lösen«, entgegnete Foster. »Ein Geheimnis, hinter dem ich – wenn die Aufzeichnungen in meinem Buch die Wahrheit sagen – nicht nur ein Leben lang hergewesen bin …« Ich lag am Boden und starrte auf diese unglaubliche Erscheinung. »Dieses Schiff – oder weiß der Teufel, was es ist – «, sagte ich geduldig, »taucht aus dem Nichts auf und öffnet seine Schleuse. Und Sie haben nichts Eiligeres zu tun, als die Einladung anzunehmen. Ihre Nerven möchte ich haben!« »Still!« unterbrach mich Foster. Da war ein fernes Grollen – wie von Kanonen. »Noch ein paar Schiffe …« begann ich. »Düsenjäger«, stellte Foster fest. »Wahrscheinlich vom Stützpunkt in East Anglia. Natürlich hatten sie unser Schiff ebenfalls auf den Schirmen …« »Mir reicht’s jetzt«, rief ich und sprang auf. »Bleiben Sie liegen, Legion!« schrie Foster. Die Ma schinen heulten über uns hinweg. »Keine Sekunde länger …« Zwei Feuerspuren zogen über den Himmel und kurv ten herab. Ich lag im Dreck hinter einem der Steine, noch ehe die Raketen auftrafen. Wie unter einem gigantischen Don nerschlag erbebte die Erde, und ich sah den Tunnelein gang einbrechen. Ich wagte einen Blick und beobachtete das glühende Loch der Schwanzdüse, als die Maschine steil hochkletterte. 68
»Die sind verrückt«, schrie ich, »einfach auf …« Eine zweite Detonation ließ mich meinen Ärger vergessen. Ich bohrte das Gesicht in den Staub und rührte mich nicht mehr, während neue Salven die Erde aufrissen. Dann hatte der Donner die erste Chance, auszuklingen. »Im Tunnel wären wir längst tot«, keuchte ich und spuckte Staub. »Die verdammten Narren haben das Schiff einfach …« Der Staub hatte sich fast gesetzt. Vor uns stand das Schiff – unverändert und unversehrt. Nur die Schleuse hatte sich geschlossen. Während ich es wie ein Gespenst anstarrte, öffnete sich die Schleuse erneut, und die Leiter schwenkte herab. »Sie werden mit Kerngeschossen wiederkommen«, warnte ich. »Dafür reichen die Schutzvorrichtungen des Schiffes vielleicht nicht aus. Und was uns betrifft …« »Hören Sie!« unterbrach mich Foster. Ein mächtigeres Grollen kam aus der Ferne. »Zum Schiff!« drängte er. Er war auf den Beinen und rannte. Der Gedanke an atomare Geschosse trieb mich ohne viel Zögern hinter ihm her. Wir hasteten über die rauchende, aufgeschürfte Ebene, während das Grollen der Bomber anschwoll. In zwei Sprüngen war ich die Leiter hoch und im erleuchteten Inneren. Die Schleusen tür schnappte zu. Ich stand in einem luxuriös ausgestatteten kreisrunden Raum. In der Mitte befand sich ein Sockel, aus dem eine glänzende Stange ragte. Daneben lagen die Gebeine eines Menschen. Foster stürzte zu der Stange und riß daran. Die Lichter flackerten, und mir wurde einen Augenblick schlecht. Sonst passierte nichts. »Versuchen Sie es nach der anderen Seite«, rief ich. 69
»Die Bomben müssen jeden Augenblick fallen …« Ich sprang zu ihm. Er deutete nur auf einen der Schirme vor ihm. »Sehen Sie doch!« Ich sah eine weiße Linie und einen roten Punkt, der daran emporkroch. »Wir sind gestartet«, sagte Foster. »Unmöglich. Wir haben nichts gespürt. Keine Be schleunigung, nichts … Das Ding ist schalldicht, deshalb hören wir die Bomber nicht.« »So schalldicht könnte die Außenhaut gar nicht sein, daß wir die Bomber nicht hören würden, wenn wir noch am Boden stünden. Dieses Schiff ist ein Produkt weit fortgeschrittener Wissenschaft. Wir haben die Bomber längst abgeschüttelt.« »Wohin fliegen wir? Wer steuert es?« »Es steuert sich selbst, nehme ich an«, erläuterte Fo ster. »Ich weiß zwar auch nicht, wohin wir fliegen; aber ich sehe, daß wir auf Kurs sind.« Ich sah ihn verblüfft an. »Sie sehen verdammt erfreut aus, Foster. Was ich von mir nicht behaupten kann.« »Ich will nicht abstreiten, daß ich die Entwicklung der Dinge sehr befriedigend finde«, antwortete Foster. »Wir sind in Sicherheit. Dieses Schiff ist ein Landeboot oder ein Rettungsboot. Und es bringt uns zum Mutterschiff.« »Okay, Foster«, seufzte ich. Ich warf einen vielsagen den Blick auf das Skelett am Boden hinter Foster. »Ich hoffe nur, daß wir mehr Glück haben werden als der letz te Passagier.« VII Zwei Stunden später standen Foster und ich vor einem gewaltigen Schirm, der zum Leben erwachte, wenn man 70
den silbernen Knopf daneben drückte. Er zeigte eine gro ße, schwarze, endlose Leere voll funkelnder Lichter von stechender Brillanz. Und vor diesem gewaltigen Hinter grund schwebte ein riesiges Schiff. Leblos. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich das spüren. Die gigantische schwarze, torpedoförmige Hülle trieb leer durch den Kosmos. Wie lange mochte sie schon hier warten? Und worauf? »Irgendwie ist mir«, murmelte Foster, »als käme ich nach Hause.« Das Schiff wuchs heran, und wir tauchten in seinen gewaltigen Schatten. Ein kleiner, rechteckiger Lichtfleck wurde zu einem riesigen Schleusentor, das uns schluckte. Die Schirme wurden dunkel. Nach einem kaum spür baren Ruck ging die Bootsschleuse auf. »Wir sind angekommen«, stellte Foster fest. »Steigen wir aus und sehen wir uns das Schiff an?« »Wenn wir schon hier sind«, sagte ich achselzuckend und folgte ihm. Dann vergaß ich für eine ganze Weile, den Mund zu schließen. Ich hatte leere Räume mit nack ten metallenen Wänden erwartet. Statt dessen taten sich gewölbte Höhlen vor uns auf, dämmrig, rätselhaft und farbenprächtig. Ein seltsamer Duft lag in der Luft, und leise Musik drang aus stalagmitartigen Pfeilern. Wir sa hen Teiche, Springbrunnen, Wasserfälle in gedämpftem Sonnenlicht. »Wo sind wir hier?« fragte ich. »In einem Märchen land oder in einem Traum?« »Diese Einrichtung ist nicht von Menschen der Erde entworfen«, antwortete Foster, »doch ich finde sie selt sam vertraut und angenehm.« 71
»Sehen Sie, dort!« rief ich und deutete auf ein Skelett, dessen augenloser Schädel mich anstarrte. Foster schritt zu der Säule, an dessen Fuß das Skelett lag. »Eines ist klar«, murmelte er, »hier ist ein Unglück geschehen. Keine Angst, Legion, sie sind schon sehr lan ge tot und bedeuten keine Gefahr mehr.« Er griff nach den Gebeinen und hielt mir etwas entgegen. »Noch im mer Zweifel, Legion?« Er hielt einen Ring in der Hand, ein Duplikat des Rin ges, den er selber trug. Ich schüttelte den Kopf. »Nicht ernstlich«, gab ich zur Antwort. »Wenn wir nur wüßten, was ihn getötet hat, oder wer …!« »Wir müssen uns umsehen. Die Antworten sind alle hier zu finden.« Foster schritt in einen Korridor, der an eine sonnenbeschienene Allee mit Kastanienbäumen er innerte, obwohl es hier weder eine Sonne noch Bäume gab. Ich folgte ihm und versuchte das alles zu fassen. Stundenlang wanderten wir herum, schweigend, mit glänzenden Augen – wie Kinder in einer Spielzeugfabrik. Wir entdeckten ein weiteres Skelett am Fuß riesiger Maschinen. In einem gigantischen Lagerraum hielten wir schließlich an. »Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, Foster«, stieß ich hervor, »welche Schatzkammer dieses Boot ist? Selbst wenn wir nur einen kleinen Teil verkaufen wür den …!« »Ich suche hier nur eines, mein Freund«, sagte Foster. »Meine Vergangenheit.« »Sicher, sicher«, stimmte ich zu. »Aber für den Fall, daß Sie sie nicht finden, wäre immer noch die geschäftli che Seite zu überlegen. Mit dem Boot könnten wir einen regelrechten Güterverkehr einrichten.« 72
»Ihr Menschen von der Erde«, seufzte Foster. »Für euch ist jede neue Entdeckung nur als wirtschaftliches Beuteobjekt interessant. Aber ich stelle es Ihnen frei.« »Okay, okay«, antwortete ich rasch. »Sie sehen sich in dieser Richtung um, bei den technischen Anlagen. Ich möchte hier noch ein wenig herumstöbern.« »Wie Sie wollen.« Stunden später fand ich Foster an einem langen Tisch aus gelbem Marmor. Sonnenaufgangsstimmung herrschte hinter den großen Pseudo-Fenstern des Raumes. Ich stapelte einen Stoß Bücher auf den Tisch. »Sehen Sie sich die Dinger an«, sagte ich aufgeregt. »Sie sind alle aus dem gleichen Material wie Ihr Notizbuch! Und die Bilder …« Ich schlug einen der dicken Wälzer auf. Ein doppelsei tiges Farbbild zeigte eine Gruppe bärtiger Araber in ihren schmutzigweißen Gewändern und im Hintergrund eine Schar magerer Ziegen. Dieselbe Art Bilder konnte man im »National Geographie« in jeder Nummer finden. Nur war die Bildqualität in Farbe und Detail hier so ausge zeichnet wie die besten Farbdiapositive. »Den Text kann ich leider nicht lesen; aber die Bilder sind aufschlußreich genug. Die meisten Bilder zeigen Szenen, die mir Alpträume bereiten werden. Aber hier sind eine Reihe von Abbildungen, die von der Erde stam men müssen. Nur der Himmel weiß, wie alt sie sind.« »Reiseführer wahrscheinlich«, erklärte Foster. »Reiseführer, für die jede Universität der Erde ein Vermögen ausgeben würde«, antwortete ich. »Das hier zum Beispiel!« Es zeigte eine Prozession kahlgeschorener Männer in weißen Sarongs, die ein goldenes Miniaturboot auf den 73
Schultern trugen. Sie kamen eine gewaltige Flucht wei ßer Stufen herab, die aus einer Statuenallee heroischer menschlicher Gestalten mit verschränkten Armen und bemalten Gesichtern führte. Im Hintergrund ragten zie gelrote Klippen hoch in die Glut der Wüstensonne. »Das ist der Tempel der Hatschepsut in seiner Blüte«, bemerkte ich, »was bedeutet, daß dieser Druck an die viertausend Jahre alt sein muß. Hier ist ein weiterer, den ich kenne.« Eine Lauftaufnahme zeigte eine gewaltige Pyramide. »Das ist eine der größeren Stufenpyramiden, bereits im Stadium des Verfalls. Und sehen Sie hier … ein Ma stodon … und dieser häßliche Bursche ist ein Säbelzahn. Das Buch ist verdammt alt …!« »Wir könnten das Schiff jahrelang durchsuchen und hätten längst nicht alle Schätze bewundert, die es birgt«, vermutete Foster. »Haben Sie noch mehr Skelette gefunden?« Foster nickte. »Hier muß irgendein Unglück gesche hen sein. Wahrscheinlich eine Seuche, denn die Gebeine zeigen keine Brüche.« »Der eine im Boot gab mir am meisten zu denken«, sagte ich. »Warum trug er eine Kette aus Bärenzähnen?« Ich ließ mich Foster gegenüber nieder. »Es gibt eine gan ze Menge Dinge, die wir klären müssen. Ein paar davon sind vordringlich, zum Beispiel, wo ist die Küche? Ich bin hungrig.« Foster reichte mir einen schwarzen Stab aus einer An zahl, die auf dem Tisch lag. »Das scheint mir wichtig.« »Was ist das? Ein Messerschleifer?« »Halten Sie es an den Kopf, über dem Ohr!« Ich folgte seinem Rat. Ich befand mich in einem grauen Raum und stand vor 74
einer hohen Wand aus geripptem Metall. Ich streckte die Hand aus, berührte die richtigen Vertikalen, und das Ge häuse öffnete sich. Augenscheinlich lag der Fehler in den quaternären Feldverstärkern, und ich wußte, daß vor der Aktivierung eine Autokontrollkreis-Übersteuerung not wendig war … Ich blinzelte benommen und starrte auf den gelben Tisch, die Bücher, den Stab in meiner Hand. »Ich befand mich in einer Art Maschinenraum«, sagte ich verwundert. »Irgend etwas stimmte nicht mit den … mit …« »Mit den quarternären Feldverstärkern«, half Foster aus. »Ich hatte das Gefühl, wirklich dort zu sein«, fuhr ich fort. »Und ich verstand den ganzen Kram!« »Das sind die technischen Handbücher«, erklärte Fo ster. »Sie enthalten alles, was wir über das Schiff wissen müssen.« Er sprang auf und eilte auf die Tür zu. »Wir müssen uns systematisch durch die Bibliothek durchar beiten. Es wird eine Weile dauern. Aber wir erfahren dort alles Nötige und können uns dann einen Operationsplan zurechtlegen.« Foster nahm eine Handvoll Instruktionsstäbe aus den Re galen der komfortabel eingerichteten Bibliothek und ging sofort ans Werk. Was wir dringend brauchten, waren Hinweise auf Nahrungsmittel, Ruhestätten und eine Be dienungsanleitung für das Schiff. Ich hoffte, daß es hier eine Art Kartei gab. Das würde unsere Suche nach den richtigen Informationen sehr erleichtern. Ich ging zum Ende des ersten Regals und entdeckte eine kurze Reihe roter Stäbe. Ich nahm einen heraus und zögerte einen Augenblick. Aber es schien mir unwahr 75
scheinlich, daß diese Dinger gefährlicher sein konnten als die schwarzen. Deshalb hielt ich den Stab an meine Schläfe … Als das Signal ertönte, erzeugte ich neurovaskulare Spannung, hemmte die kortikalen Zonen Ypsilon-zeta und iota und war bereit für … Ich riß den Stab vom Kopf, noch halb betäubt vom Lärm der Alarmglocke. Die Stäbe vermittelten vollkom mene Realität – mehr noch: Die gesamte Aufmerksam keit konzentrierte sich auf das Dargestellte. Da steckten gigantische Unterhaltungsmöglichkeiten dahinter. Man konnte eine Tigerjagd miterleben, mit einem Boxwelt meister in den Ring steigen, die Panik in einem abstür zenden Flugzeug miterleben. Ich dachte an die kräftige ren Empfindungen wie Schmerz und Furcht. Würden sie auch so überzeugend sein wie der Impuls, dieses kortika le Dingsbums zu kontrollieren? Ich versuchte einen weiteren Stab. Beim Erklingen des Apextons überflog ich die Instru mente und begab mich zum nächsten Transportkanal … Der nächste: Bei Antritt meines Dienstes als Wachoffizier erstattete ich als erstes Bericht an die Hauptkontrolle … Das waren Instruktionen über Routinepflichten an Bord des Schiffes. Ich ließ ein paar Stäbe aus und ver suchte es dann von neuem: Die Situation überstieg meine Elementarausbildung. Ich meldete mich zur technischen Instruktion. Ebene neun, Abteilung vier, Unterabteilung zwölf, Anmelderaum. Mir fiel ein, daß die Vorweisung des Beschäftigungs-Codes … des Beschäftigungs-Codes … des Beschäftigungs-Codes … (Das Orientierungsvermögen schwand zusehends; verwir 76
rende Bilder zuckten vorüber, unverständlich wie Hinter grundgeräusche). Dann schnitt eine klare Stimme durch das Durcheinander: ES HAT EIN TEILWEISER PERSÖNLICHKEITS SCHWUND STATTGEFUNDEN. BEWAHREN SIE RUHE! NEHMEN SIE EINEN INSTRUKTIONSSTAB FÜR ALLGEMEINWISSEN AUS DEM NÄCHSTLIE GENDEN NOTREGAL. ES BEFINDET SICH … Ich schritt die Regalreihen entlang und hielt vor einer Nische, wo ein u-förmiger Plastikstreifen an der Wand klebte. Ich riß ihn los und drückte ihn an meinen Kopf … Dann lehnte ich mit summendem Kopf an der Wand. Der rote Stab lag zu meinen Füßen. »Hey, Foster!« rief ich aufgeregt. »Ich glaube, ich ha be etwas gefunden.!« »Ich denke«, meinte ich, »diese Instruktionsstäbe vermit teln uns alles über das Schiff, was wir wissen müssen. Dann können wir auf vernünftiger Grundlage den näch sten Schritt überlegen.« Ich riß den Plastikstreifen von der Wand, wie mir das unter dem Einfluß des Stabes befohlen worden war. »Die Dinger machen mich ganz schwindlig.« Ich reichte ihm den Streifen. »Außerdem wollen Sie ja Ihr Gedächtnis wiederhaben.« Foster nahm ihn und zog sich auf einen Sessel an der Wand zurück. »Ich habe das Gefühl, daß bei dieser Ma trize die Dosis stärker ist als bei den anderen.« Er drückte ihn an seine Stirn. Augenblicklich wurden seine Augen glasig. Er sank schlaff in sich zusammen. »Foster!« rief ich. Ich griff nach dem Plastikstreifen, hielt aber inne. Vielleicht war Fosters abrupte Reaktion 77
ganz normal. Aber sie gefiel mir trotzdem nicht. Andererseits hatte Foster nur das getan, was der rote Instruktionsstab für den Notfall verordnete. Fosters Per sönlichkeit wurde aufgemöbelt. Das war alles, was ge schah. Und seine vollentwickelte Persönlichkeit war es, die wir brauchten, um diese Rätsel hier zu lösen. Obwohl das Schiff seit Jahrtausenden unberührt um die Erde krei ste, konnte die Bibliothek kaum veraltet sein. Nur war der Bibliothekar seit ein paar Jahrhunderten verschwun den, Foster war ohne Bewußtsein, und ich befand mich fünfzigtausend Kilometer von zu Hause entfernt. Ich durfte mich von solchen Kleinigkeiten nicht aus der Fas sung bringen lassen. Ich schlenderte durch den Raum, der vollgestopft war mit Regalen und Instruktionsstäben. Hier lagerte ein gi gantisches Wissen. Wenn ich mit einem Armvoll dieser Dinger auf die Erde zurückkehrte …Ich kam durch eine Tür in den anschließenden Raum. Dieser war klein, nüch tern und spärlich beleuchtet. In der Mitte stand eine gro ße, aufwendige Couch mit einem helmartigen Gerät am Kopfende. An den Wänden reihten sich seltsame Appara turen. Nichts Aufregendes war hier zu sehen, außer einer Anzahl von Skeletten. Zwei lagen an der Tür. Ein drittes neben der Couch. Daneben ein Dolch mit langer Klinge. Der Dolch war interessant. Er schien aus einem trans parenten orangefarbenen Metall zu bestehen. Am Griff entdeckte ich das Siegel der Zwei Welten. Er gab den ersten, vagen Hinweis, was hier stattgefunden hatte. Keine Seuche augenscheinlich. Ein Apparat fiel mir auf. Er sah aus wie ein Zahnarzt stuhl. Ober ihm befanden sich spinnenartige Metallarme und verschiedenfarbige Glaslinsen. Eine Reihe matter 78
silberner Zylinder lagerte in einem Regal dahinter. Ein weiterer ragte aus einer Halterung an der Seite des Gerä tes. Ich nahm ihn heraus und besah ihn genauer. Er be stand aus Plastik und fühlte sich glatt und schwer an. Ich war ziemlich sicher, daß es sich um was Ähnliches wie diese Instruktionsstäbe handelte, und ließ ihn in meine Tasche gleiten. Dann kehrte ich zu Foster zurück und wartete. Eine Stunde später begann Foster sich zu regen und schlug die Augen auf. Er nahm den Streifen ab. »Alles in Ordnung?« fragte ich aufatmend. »Sie haben mich ganz schön ins Schwitzen gebracht …« Foster sah mich an, wobei sein Blick von meinem un frisierten oberen Ende zu meinen ebensowenig salonfä higen Schuhen wanderte. Er runzelte die Stirn und sagte etwas, in einer Sprache, die überwiegend aus Ss und Qs zu bestehen schien. »Keine bösen Überraschungen mehr, Foster!« würgte ich hervor. »Reden Sie amerikanisch.« Ein Ausdruck des Erstaunens huschte über sein Ge sicht. Er sah sich um. »Das ist eine Schiffsbibliothek«, stellte er fest. Ich seufzte erleichtert. »Ich weiß nicht, wie lange das meine Nerven noch aushalten. Ich dachte schon, Ihr Ge dächtnis wäre wieder auf Wanderschaft gegangen. Was war los? Was haben Sie herausgefunden?« »Ich kenne Sie«, sagte Foster langsam, ohne den Blick von mir zu nehmen. »Sie heißen Legion.« Ich nickte beunruhigt. Es klang nicht freundlich, wie er es sagte. »Sicher kennen Sie mich.« Ich legte die Hand auf seine Schulter. »Erinnern Sie sich, wir haben …« Er schüttelte meine Hand ab. »Das ist nicht Sitte auf 79
Vallon«, sagte er kalt. »Vallon?« erwiderte ich unsicher. »Was ziehen Sie jetzt wieder für eine Schau ab, Foster? Wir waren dicke Kumpels, als wir vor einer Stunde in diesen Raum ka men, und wir waren unserem Geheimnis dicht auf den Fersen. Sie können mich nicht einfach so abspeisen. Ich will wissen, was Sie gefunden haben?« »Wo sind die anderen?« »Da sind ein paar ›andere‹ im Nebenzimmer«, knurrte ich. »Aber sie sind ziemlich abgemagert. Ich kann Ihnen noch ein paar zeigen. Die sind aber auch in keiner besse ren Verfassung. Davon abgesehen müssen Sie sich mit mir begnügen …« Foster sah mich an, als ob ich nicht vorhanden wäre. »Ich erinnere mich an Vallon«, sagte er. »Aber ich weiß auch von einer barbarischen Welt voller Brutalität und Primitivität. Ich habe Sie dort getroffen. Wir fuhren mit einem primitiven Schienenfahrzeug und mit einem Schiff, das durch das Meer kroch. Ich erinnere mich an enge, häßliche Kabinen, unerträgliche Gerüche und un sanfte Geräusche.« »Keine sehr schmeichelhafte Darstellung der Welt, zu der der liebe Gott sieben Tage gebraucht haben soll«, erwiderte ich trocken, »aber ich fürchte, ich erkenne sie wieder.« »Das schlimmste waren die Bewohner«, fuhr Foster schonungslos fort. »Mißgestaltet, verseucht, mit ge schwollenen Bäuchen, verbrauchter Haut und krummen Gliedern.« »Tja«, sagte ich. »Wir führen alle nicht das gesündeste Leben.« »Die Jäger! Wir sind vor ihnen geflohen, Legion, Sie und ich. Ich erinnere mich auch an den Landeplatz … 80
Die Jäger quollen aus der Erde. Wir bekämpften sie. Aber warum sollten die Jäger mich verfolgen?« »Ich hoffte, Sie wüßten das inzwischen«, sagte ich. »Haben Sie eine Ahnung, woher dieses Schiff gekommen ist? Und warum es gekommen ist?« »Es ist ein Schiff der Zwei Welten«, antwortete er. »Aber ich weiß nichts über seine Mission.« »Was ist mit dem Notizbuch? Vielleicht können Sie …« »Das Notizbuch!« unterbrach mich Foster. »Wo ist es?« »Ich glaube, in Ihrer Manteltasche.« Foster wühlte in seinen Taschen und zog es schließlich hervor. Er schlug es auf. Ich trat hinter ihn und sah ihm über die Schulter. Er hatte die ersten Seiten aufgeschlagen, die mit jenen selt samen, fremdartigen Schriftzeichen beschrieben waren, die bisher niemand entziffern konnte. Und er verschlang sie … Es dauerte Stunden. Als er endlich aufblickte, seufzte er tief und fuhr mit den Fingern durch sein schwarzes Haar. »Ich heiße Qulglan. Und dies«, er legte seine Hand auf das Buch, »ist meine Geschichte. Es ist ein Teil der ver lorenen Vergangenheit. Und ich vermag mich an nichts zu erinnern …« »Erzählen Sie es mir«, drängte ich, »lesen Sie vor!« Foster nahm es wieder in die Hand und blätterte. »Es scheint so, als wäre ich bereits einmal vor langer Zeit in einem Raum an Bord dieses Schiffes aufgewacht. Ich lag auf einer Memo-Couch. Und daraus folgt, daß ich den Wechsel durchgemacht hatte …« »Sie wollen sagen, Sie hatten das Gedächtnis verlo ren?« »Und wiedererhalten – auf der Couch. Meine Ge 81
dächtnisaufzeichnung war wieder in meinen Geist über tragen worden. Ich kannte meine Identität, aber ich wußte nicht, wie ich an Bord des Schiffes gekommen war. Die Aufzeichnungen sagen, daß meine fernsten Erinnerungen an ein Bauwerk an der Küste des Flachen Meeres zurück reichen.« »Wo ist das?« »Auf einer fernen Welt, die den Namen Vallon trägt.« »Was geschah dann?« »Ich blickte um mich und sah vier Männer am Boden liegen mit gräßlichen Wunden und über und über mit Blut bedeckt. Einer lebte noch. Ich versorgte ihn, so gut ich vermochte, und durchsuchte dann das Schiff. Ich fand drei weitere Tote, aber keinen Lebenden. Dann fielen die Jäger über mich her …« »Unsere leuchtenden, runden Freunde?« »Ja. Sie hätten mir das Leben aus dem Körper gesaugt, und ich besaß keinen Lichtschild. So flüchtete ich ins Rettungsboot und nahm den Verwundeten mit. Ich lande te auf dem Planeten, um den das Schiff kreiste – Ihre Er de. Der Verwundete starb. Er war mein Freund gewesen. Er hieß Ammaerln. Ich begrub ihn in einer kleinen Mulde und markierte den Ort mit einem Stein.« »Der alte Sünder«, entfuhr es mir. »Ja … vermutlich waren es seine Gebeine, die der Or densbruder fand.« »Und wir haben letzte Nacht herausgefunden, daß die Mulde durch Absinken von Erde in den Ventilator schacht entstanden sein muß. Sie wußten also auch da mals nichts über die unterirdische Anlage. Steht nichts darüber in Ihrem Notizbuch …?« »Nein, darin wird nichts erwähnt.« Foster schüttelte den Kopf. »Ein eigentümliches Gefühl, von den Erleb 82
nissen dieses Fremden zu lesen – und zu wissen, daß man selbst dieser Mann ist.« »Wie sind die Jäger zur Erde gekommen?« »Sie sind nichtstoffliche Wesen«, erklärte Foster. »Auch das Vakuum des Weltraumes kann ihnen nichts anhaben. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie dem Boot gefolgt.« »Sie blieben Ihnen auf den Fersen?« »Ja. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, warum sie mich verfolgten. Sie sind normalerweise harmlose Wesen, die dazu eingesetzt werden, Flüchtige vor der vallonischen Justiz ausfindig zu machen. Sie können auf das Individuum abgerichtet werden und bleiben ihm dann unerbittlich auf der Spur.« »So etwas wie Bluthunde«, murmelte ich. »Sagen Sie, was waren Sie eigentlich: ein vallonischer Kapitalverbre cher?« »Die Aufzeichnungen sagen erbärmlich wenig über meine vallonische Karriere aus.« Foster zuckte die Ach seln. »Aber diese unerklärte intergalaktische Reise und die deutlichen Zeichen von Gewalttätigkeit an Bord des Schiffes legen den Gedanken wahrhaftig nahe, daß ich und vielleicht auch ein paar meiner Gefährten wegen be gangener Verbrechen von den Zwei Welten verbannt wurden.« »Und deshalb schickten sie euch die Jäger auf den Pelz. Verständlich. Aber warum blieben sie die ganze Zeit über in Stonehenge?« »Der Energiefluß der Schirme war der Grund«, erwi derte Foster. »Sie brauchen elektrische Energie zum Le ben. Bis vor hundert Jahren war der Schirm die einzige Energiequelle auf dem Planeten Erde.« »Wie gelangten sie in den Schacht, ohne aufzugraben?« 83
»Sie können poröse Substanzen leicht durchdringen, wenn sie genügend Zeit zur Verfügung haben. Letzte Nacht allerdings, als ich so plötzlich in ihrer Nähe auf tauchte, da brachen sie in ihrer Hast einfach durch.« Ich nickte. »Was passierte dann – nachdem Sie den Toten begraben hatten?« »Die Aufzeichnungen berichten von Eingeborenen in Tierhäuten, die mich bedrohten. Einer von ihnen drang in das Boot ein. Er muß den Starthebel bewegt haben, denn das Landeboot startete und ließ mich zurück.« »Das waren also die Gebeine, die wir im Boot fan den«, sagte ich nachdenklich, »die mit der Kette aus Bä renzähnen. Aber warum hat er das Schiff nicht betreten?« »Das hat er zweifellos getan. Sie werden sich aber an das Skelett erinnern, das wir gleich in der Nähe der Schleusenkammer fanden. Das muß zu dem Zeitpunkt, als der Wilde an Bord kam, eine ziemlich frische und übel zugerichtete Leiche gewesen sein. Wahrscheinlich fürchtete er, daß ihn ein ähnliches Schicksal erwartete, wenn er sich an Bord wagte. In seiner Angst verhungerte er im Boot.« »Er war in Ihrer Welt gestrandet, und Sie in seiner.« »Genau«, stimmte Foster zu. »Und dann hat es den Anschein, daß ich mit den Wilden lebte und ihr König wurde. Ich blieb viele Jahre in der Umgebung des Lan deplatzes und hoffte auf Rettung. Und weil ich nicht al terte wie die Eingeborenen, verehrten sie mich als ihren Gott. Ich hätte ja ein Nachrichtengerät gebaut, aber es standen keine reinen Metalle zur Verfügung. Es gab nichts, das ich verwenden konnte. Ich versuchte, die Wilden zu unterrichten. Das war eine Arbeit von Jahr hunderten.« »Haben Sie nicht eine Art Schule aufgezogen?« 84
»Natürlich. Es mangelte den Menschen nicht an Intel ligenz. Mir war bald klar, daß die Eingeborenen von Menschen der Zwei Welten abstammen mußten, die vor langer Zeit hierher verschlagen worden waren.« »Aber wie überlebten Sie diese lange Zeit – Hunderte von Jahren? Seid ihr Supermenschen, die ewig leben?« »Die natürliche Lebenserwartung des Menschen ist sehr groß. Nur die Krankheiten machen eurem Leben frühzeitig ein Ende.« »Nicht nur Krankheiten«, warf ich ein. »Wir werden einfach alt und sterben.« »Der menschliche Geist ist ein großartiges Instru ment«, erklärte Foster, »das lange Zeiten überdauert.« »Das muß ich erst mal verdauen«, erwiderte ich. »Warum seid ihr immun gegen Altersschwäche?« »Alle Vallonier sind dagegen geimpft.« »Nicht schlecht. So eine Spritze hätte ich auch ganz gern. Aber zurück zu Ihnen.« Foster blätterte in seinem Buch. »Ich herrschte über viele Stämme und Völker. Ich sah viele Länder, immer auf der Suche nach erfahrenen Schmieden und Glasblä sern oder Weisen. Aber immer wieder kehrte ich zum Landeplatz zurück.« »Das war bestimmt nicht leicht für Sie«, stellte ich fest. »Ausgesetzt auf einer fremden Welt, verdammt zu einem jahrhundertelangen Leben in der Wildnis …« »Es war keineswegs uninteressant«, widersprach Fo ster. »Ich erlebte, wie mein primitives Volk zivilisiert wurde. Ich lehrte sie zu bauen, Tiere zu halten, das Land zu bestellen. Ich errichtete eine große Stadt, und ich ver suchte, der Adelsschicht den vallonischen Begriff der Ritterlichkeit beizubringen. Aber obwohl die Ritter an einem runden Tisch saßen, der der großen Ringtafel in 85
Okk-Hamiloth glich, begriffen sie es doch nie ganz. Und dann wurden sie zu weise und begannen ihren niemals alternden König mit anderen Augen zu sehen. Da verließ ich sie und machte mich erneut daran, ein Nachrichtenge rät zu bauen. Die Jäger merkten es und drangen auf mich ein. Ich hielt sie mir mit großen Feuern vom Leib. Dann aber wurde ich neugierig und suchte ihre Brutstätte auf …« »Ich weiß«, warf ich ein. »›… und ich sah, daß es je ner Platz war, den ich aus alter Zeit kannte. Es war kein Sammelplatz, sondern ein Schacht in der Erde, den Män ner der Zwei Welten gebaut hatten.‹« »Ich hatte keine Chance. Nur mit Mühe gelang es mir, mein Leben zu retten. Hunger hatte die Jäger tückisch gemacht. Sie hätten meinen Körper aller seiner Lebens energie beraubt.« »Wenn Sie nur von dem unterirdischen Sender gewußt hätten. Aber Sie wußten es nicht, und so fuhren Sie über das Meer.« »Sie fanden mich auch dort jenseits des Ozeans. Jedesmal gelang es mir, eine große Anzahl zu vernichten und zu fliehen. Doch immer überlebten ein paar und vermehrten sich wieder!« »Was ist mit Ihrem Nachrichtengerät? Hat es nicht funktioniert?« »Nein. Das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Nur eine hochentwickelte Technik konnte mir die einzelnen Teile liefern. Ich konnte die Menschen nur lehren, was ich wußte, die Entwicklung der Wissenschaften be schleunigen – und warten. Aber dann begann ich zu ver gessen.« »Wie das?« »Der Geist wird müde«, erläuterte Foster. »Das ist der 86
Preis der Langlebigkeit. Er muß sich erneuern. Schock und Entbehrungen beschleunigen den Wechsel. Jahrhun dertelang hatte ich es abzuwehren vermocht, aber dann kam es unaufhaltsam. Zu Hause auf Vallon war dafür gesorgt. Man zeichnete das Gedächtnis auf und speicher te es elektronisch. Nach dem Wechsel wurde die Ge dächtnisaufzeichnung wieder auf den erneuerten Körper übertragen. Aber gestrandet, wie ich es war, bedeutete, daß ich meine Erinnerungen vollkommen verlieren wür de. So bereitete ich mich darauf vor, begab mich an einen sicheren Ort und hinterließ Botschaften, die ich nach meinem Erwachen finden würde … »Als Sie in jenem Hotel aufwachten, waren Sie über Nacht auch wieder jung geworden. Wie ist das mög lich?« »Wenn sich der Geist erneuert und die Narben der Jah re beseitigt, dann geschieht mit dem Körper gleiches. Die Haut vergißt ihre Falten, die Muskeln wissen nichts mehr von ihrer Müdigkeit. Sie werden wieder so, wie sie sein sollen.« »Als ich Sie traf«, bohrte ich weiter, »da erzählten Sie mir, Sie wären 1918 schon einmal ohne Gedächtnis auf gewacht.« »Ihre Welt ist rauh und stellt große Anforderungen, Legion. Ich muß sehr oft vergessen haben. Irgendwann, irgendwo verlor ich dann wohl auch die Erinnerung an meine Suche und meinen Plan. Als die Jäger wieder er schienen, floh ich aus Angst – nicht weil ich sie kannte.« »Sie hatten ein Maschinengewehr in Ihrem Haus in Mayport. Was sollte es gegen die Jäger ausrichten?« »Nichts«, erwiderte Foster. »Aber das wußte ich nicht. Ich wußte nur, daß mich etwas verfolgte.« »Dabei wäre Ihr Nachrichtengerät jetzt im Bereich des 87
Möglichen gewesen. Aber Sie wußten nichts mehr – nicht einmal, daß Sie ein Gerät brauchten.« »Aber schließlich habe ich doch zurückgefunden – mit Ihrer Hilfe, Legion. Da ist nur noch ein Rätsel: Was ist vor all den Jahrhunderten auf diesem Schiff geschehen? Warum war ich an Bord? Und wer oder was hat die ande ren getötet?« »Vielleicht eine Meuterei«, sagte ich nachdenklich. »Während Sie mit der Gedächtnisübertragung beschäftigt waren.« »Vielleicht.« Er nickte. »Aber eines Tages werde ich die Wahrheit erfahren.« »Was mir auch nicht klar ist«, fuhr ich fort, »warum hat sich niemand von Vallon um das Schiff gekümmert? Es ist seit Jahrhunderten in einer Kreisbahn.« »Die Entfernungen sind zu gewaltig, Legion. Dies ist nur eine kleine Welt irgendwo zwischen den Sternen.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber auf der Erde befand sich doch offenbar eine Station. Die Erde muß für Ihre Leute ein vertrauter Planet gewesen sein. Bücher, in de nen wir die Bilder fanden, beweisen, daß Ihre Leute die Erde ein paar tausend Jahre lang besucht haben. Warum sollten sie ihre Besuche plötzlich einstellen?« »Solche Stationen sind auch auf tausend anderen Wel ten«, erklärte Foster. »Es sind Signalbojen, Wegweiser in der Wildnis des Weltenraums. Es mag Jahrhunderte oder Jahrtausende dauern, bis wieder ein Wanderer in dieses Gebiet kommt. Daß der Ventilatorschacht mit jahrhun dertealtem Geröll verstopft war, als ich hier landete, be weist doch allein schon, daß diese Welt kaum besucht wurde.« Ich überdachte das. Dann hatte ich eine Idee: »Sagten Sie nicht, Sie sind in der Gedächtnismaschine 88
aufgewacht – nach der Übertragung? Warum versuchen Sie es nicht noch einmal? Das heißt, wenn Ihr Gehirn schon wieder eine neue Ladung aushält …« »Ja«. Er erhob sich abrupt. »Das ist eine Möglichkeit. Kommen Sie!« Ich folgte ihm in den Raum, in dem die Gebeine lagen. Er betrachtete sie eingehend. »Das muß der Raum sein, in dem ich aufwachte, und diese Männer sah ich tot daliegen.« »Das tun sie noch immer«, erklärte ich trocken. »Aber was ist mit der Maschine?« Foster schritt zur Couch und untersuchte die Apparatu ren. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, murmelte er. »Natürlich kann sie nicht hier sein …« »Was?« »Meine Gedächtnisaufzeichnung. Die Matrize, von der ich damals mein Gedächtnis übertragen erhielt.« Augenblicklich fiel mir der Zylinder ein, den ich vor ein paar Stunden in meine Tasche gesteckt hatte. Ich zeigte sie ihm. »Die da?« Foster warf einen kurzen Blick darauf. »Nein, die ist leer wie die hier an der Wand.« Er deutete auf das kleine Regal. »Sie sind für Notfallspei cherungen. Normale Multi-Gedächtnisspeicher-Zellen wären mit einem Muster farbiger Linien gekennzeich net.« »Natürlich.« Ich seufzte. »Es wäre auch zu. einfach gewesen. Uns bleibt nichts erspart!« Ich sah mich um. »Ein großer Heuhaufen für unsere Stecknadel, aber wir haben ja Zeit genug.« »Es spielt keine Rolle. Sobald ich nach Vallon zu rückkomme, steht mir der Hauptspeicher offen, in dem sich die Gedächtnisaufzeichnungen aller vallonischen Bürger befinden.« 89
»Aber Sie hatten doch Ihre hier?« »Es kann sich nur um eine Kopie gehandelt haben. Die Hauptaufzeichnung bleibt immer in Okk-Hamiloth.« »Ich vermute, Sie werden froh sein, nach all den Jah ren wieder nach Hause zu kommen. Haben Sie herausge funden, wie lange Sie auf der Erde waren?« »Ich kann nur schätzen …« »Wie lange?« »Seit ich dieses Schiff verließ, Legion, sind dreitau send Jahre vergangen.« »Tut mir leid, daß es vorbei ist«, sagte ich. »Hab mich direkt an meine Rolle als Narrenlehrling gewöhnt. Sie werden mir fehlen, Foster.« »Begleiten Sie mich nach Vallon, Legion.« Wir standen im Beobachtungsraum und blickten auf die fünfzigtausend Kilometer entfernte Erde und die blei che Scheibe des Mondes. »Besten Dank für die Einladung, mein Freund«, erwi derte ich. »Es würde mich schon reizen, das alles zu se hen, aber vermutlich würde ich es bald bereuen. Ich säße wahrscheinlich nur auf Vallon herum und trauerte der guten alten Erde nach, trotz aller geschwollenen Bäuche, krummen Glieder und anderer Unzulänglichkeiten.« »Sie könnten eines Tages ja wieder zurückkehren.« »Kaum«, sagte ich. »Ein paar Jahrhunderte würden vergehen, selbst wenn die relative Reisezeit nur ein paar Wochen beträgt. Mein Leben ist verwurzelt in der Epo che, die mir vertraut ist. Sie mag ihre Fehler haben, aber sie ist mein Zuhause.« »Dann gibt es also nichts, Legion, womit ich Ihre Treue belohnen könnte …« »Ah, doch«, fiel ich ihm ins Wort. »Da wäre schon 90
etwas. Geben Sie mir das Rettungsboot, einige kleinere Werke aus der Bibliothek und vielleicht auch ein paar Geräte mit. Ich glaube, ich kann sie unter die Leute brin gen, ohne das politische Gleichgewicht allzu empfindlich zu stören. Ich bin nun mal ein unverbesserlicher Materia list.« Foster nickte. »Wie Sie wünschen. Nehmen Sie sich, was Sie haben möchten.« »Es wird nicht leicht sein, das Boot ‘runterzubringen, ohne daß die Radartechniker von den Stühlen springen«, bemerkte ich. »Aber der Zeitpunkt ist gerade noch gün stig. In ein paar Jahren wäre es unmöglich.« »Auch das Schiff wäre bald entdeckt worden, trotz der Radar-Negativ-Schirme«, ergänzte Foster. Ich starrte auf die große, strahlende Scheibe hinunter. Der Pazifische Ozean spiegelte den grellen Ball der Son ne. »Da unten ist eine Insel«, sagte ich ein wenig atemlos. »Ich brauche nur noch danach zu greifen.« »Sie haben sich verändert, Legion«, bemerkte Foster. »Sie sprechen wie ein Mann mit einem guten Schuß Joie de vivre.« »Ich dachte immer, ich wäre nicht der Kerl, der es wirklich zu etwas bringt«, sagte ich. »Aber hier oben klingt das verrückt. Da liegt die Welt zu meinen Füßen, mit allen Möglichkeiten, mit allen Chancen – auch ohne eine Ladung Kostbarkeiten als Rückhalt.« »Jede Welt hat ihre Gesetze«, erklärte Foster. »Man che sind komplexer, manche einfacher. Die Herausforde rung ist die gleiche: Man muß sich mit der Realität aus einandersetzen.« »Einer gegen das Universum also. Bei diesen Chancen ist auch der Verlierer noch ein Kerl.« Ich wandte mich zu 91
Foster um. »Es wird Zeit. Ich möchte im südlichen Teil Südamerikas landen. Dort weiß ich einen Platz, wo ich vor allzu neugierigen Fragen sicher bin.« »Keine Eile«, sagte Foster lächelnd. »Wir werden erst in ein paar Stunden in günstiger Position sein.« »Sicher«, gab ich zurück. »Aber ich habe viel vor – « Ich warf einen letzten Blick auf die majestätische Welt jenseits der Bildschirme. »Und je früher es losgeht, desto besser.« VIII Ich saß auf der Terrasse und genoß den Sonnenuntergang über dem Meer. Ich dachte an Foster, dessen Schiff da draußen irgendwo jenseits des Horizonts fast mit der Ge schwindigkeit des Lichtes durch ein anderes, endloses Meer raste. Für ihn waren vielleicht nur ein paar Tage vergangen, während ich drei Jahre verlebte. Drei Jahre, die ich wohl genutzt hatte. Am schwierigsten waren die ersten Monate gewesen. Ich hatte das Boot in einem Tal im Wüstengebiet südlich von Itzenca, einem kleinen Ort in Peru, aufgesetzt. Eine Woche lang blieb ich in der Nähe des Bootes, um sicher zu gehen, daß nicht die Vigilantes auftauchten mit aller lei guten Ratschlägen und ebenso lästigen Fragen. Dann machte ich mich mit ein paar ausgesuchten Dingen mei ner Schatzkammer per Anhalter auf den Weg in die Stadt. Der erste Schritt zum Wohlstand. Zwei Wochen Arbeit, Schinderei, Tauschgeschäfte und raffinierte Lü gen brachten mich schließlich an die kleine Hafenstadt Callao. Dort wartete ich eine weitere Woche, bis sich eine Möglichkeit fand, als Deckarbeiter auf einem Bana nenkutter weiterzukommen. In Tampa machte ich mich 92
selbständig und erreichte Miami, ohne Aufsehen zu erre gen. Die Polizei schien das Interesse inzwischen an mir verloren zu haben. Meine alte Freundin, die gewichtige Señorita, war nicht übermäßig erfreut, mich wiederzusehen, aber sie nahm mich auf. Endlich konnte ich mir einen Plan zu rechtlegen, wie meine Souvenirs am günstigsten in klin gende Münzen umzuwandeln waren. Die Dinge, die ich aus dem Boot mitgebracht hatte, waren eine Handvoll kleiner grauer Dominosteine. Das waren Filme. Dazu hatte ich auch einen kleinen Projektor bei mir. Ich bot sie nicht direkt zum Kauf an, sondern traf mich mit einem alten Bekannten in dem Geschäft. Der kopierte sie auf 35 Millimeter, ohne viel Fragen zu stellen. Die Filme waren gewaltig, die Spezialeffekte noch nie dage wesen. Sein Lieblingsfilm war einer, den ich »Die Mam mutjagd« betitelt hatte. Zwölf Filme hatte ich beisammen. Ich nahm ein paar Schnitte vor, die mir wesentlich erschienen. Versehen mit einem eingeblendeten Kommentar, kamen sie auf etwa zwanzig Minuten Länge. Mein Bekannter setzte sich mit einem Herrn vom Vertrieb in New York in Ver bindung, und nach ausführlichen Vertragsverhandlungen einigten wir uns auf hunderttausend für die ersten zwölf plus Zusicherung eines weiteren Dutzends zum selben Preis. Innerhalb einer Woche, nachdem die Filme in einem ersten Versuch in den Kinos in New Jersey angelaufen waren, hatte ich Angebote bis zu einer halben Million für meine nächste Lieferung – ohne lästige Fragen. Ich über ließ meinem Kumpel Mickey die Details und eilte zurück nach Itzenca. 93
Ein Jahr später hatte ich meine Insel, fünfzehn Meilen vor der Küste Perus, und ein Haus, das allen meinen Wünschen entsprach. Das oberste Stockwerk, fast ein Turmgeschoß, war ein großer Tresorraum, in dem ich meine vallonischen Schätze aufbewahrte. An die hundert Filme waren verkauft. Die große Sache war der Projektor selbst. Das eingebaute Minikraftwerk setzte nukleare Energie zu 99 Prozent in Licht um. Dieses tastete den Film molekulare Schicht um molekulare Schicht ab und projizierte ein ununterbrochenes Bild. Farb- und Tonwie dergabe waren absolut wirklichkeitsgetreu, was ein paar Beschwerden über zu kraftloses Technicolor einbrachte. Das Prinzip war also neu und wenigstens in der Theo rie weit über dem Horizont der lokalen Wissenschaftler. Die praktische Ausführung bot keine überwältigenden Schwierigkeiten. Was ich brauchte, waren die richtigen Kontakte zu wissenschaftlichen Kreisen, um das System anzupreisen, und schon war ein Millionen-Dollar-Projekt aus dem Ärmel. Ein paar technische Artikel hatte ich bereits auf dem Markt: ein widerstandsfähiges Papier, aus dem sich auch Hemden und Unterwäsche anfertigen ließen; ein chemi sches Mittel, das die Zähne zu schneeiger Weiße bleich te; einen Universalfarbstoff. Mit dem Wissen, das ich mir mit Hilfe der Instruktionsstäbe angeeignet hatte, schlum merte Genialität in mir. Die Möglichkeiten waren noch lange nicht ausgeschöpft. Beinahe ein Jahr kutschierte ich in der Welt umher. Das zweite Jahr verbrachte ich damit, mich auf der Insel behaglich und luxuriös einzurichten. Sechs Monate lang betrieb ich ein ganztägiges Pro gramm von Diät und Körperertüchtigung. Am Ende des Trainings war ich zweimal der Kerl von früher, im Ge gensatz zu meinem Trainer, der das Ganze nur halb über 94
lebte. Danach war ich wieder auf der Suche nach einem neuen Hobby. Und jetzt, nach drei Jahren, schien sie unausbleiblich: die Langeweile, die Krankheit des Müßigganges, die mir einst so unverständlich erschienen war. Aber von Reich tum zu träumen und ihn zu haben sind zwei verschiedene Dinge. Ich begann mich wieder nach den alten, harten Zeiten zu sehnen, als jeder Tag noch ein Abenteuer ge wesen war, voller Polizisten und unerfüllter Wünsche. Nicht, daß ich wirklich litt. Ich saß entspannt in einem bequemen Lehnstuhl und erholte mich von den ange nehmen Tätigkeiten, die der Reichtum beschert: den Bootsfahrten, dem Angeln, der großen Brünetten, die auf dem Kontinent für mich da war. Meine feste Kleine war eine Sekretärin in einer Elektronikfirma. Ich genoß die Musik von der unvergleichlichen Ton qualität einer Tausend-Dollar-Anlage und den grandiosen Ausblick, der ebenfalls ein paar Tausender pro Minute wert war. Als ich die Zigarre in den Silberaschenbecher warf, erregte etwas auf dem rotübergossenen Wasser meine Aufmerksamkeit. Eine Weile kniff ich die Augen zusammen, dann holte ich mein Fernglas. Ein Kanonenboot kam geradewegs auf die Insel zu. Ich beobachtete, wie es näher kam, auf die Anlegestelle zu, die ich gebaut hatte. Behelmte Männer stiegen aus und bildeten zwei Abtei lungen. Ich zählte achtundvierzig Mann und ein paar Of fiziere. Der Wind trug die Kommandos zu mir hoch. Dann setzten sie sich in Bewegung und marschierten die gepflasterte Straße hoch, die sich zwischen Hibiskus und Edelpalmen dahin wand. Sie hielten in der Auffahrt zum Tor, machten eine Linkswendung und verhielten in strammer Haltung. 95
Zwei Offiziere und ein rundlicher Zivilist mit einer Aktenmappe näherten sich dem Haus. Am Fuß der brei ten Tennessee-Marmortreppe blieben sie stehen. Ihr Anführer, ein Brigadegeneral, ergriff das Wort. »Dürfen wir hochkommen, Sir?« Ich warf einen Blick auf die reglosen Reihen in der Auffahrt. »Wenn die Jungs vielleicht einen Schluck Wasser ha ben wollen, lassen Sie sie ruhig ‘raufkommen, Serge ant!« erklärte ich. »Ich bin General Smale«, meinte der Brigadegeneral. »Das hier ist Colonel Sanchez von der peruanischen Ar mee«, dabei deutete er auf den zweiten Militärtyp, »und Mr. Pruffy von der amerikanischen Botschaft in Lima.« »Grüß Sie Gott, Mr. Pruffy«, sagte ich überschweng lich, »willkommen, Mr. Sanchez. Erfreut, Mr ….« »Wir kommen in einer … ah … offiziellen Angele genheit, Mr. Legion«, begann der General. »Sie ist von größter Wichtigkeit und Bedeutung für die Sicherheit Ihres Landes.« »O.K. General«, sagte ich. »Was ist geschehen? Kom men Sie ‘rauf! Läßt sich der Krieg nicht länger aufschie ben?« Sie stiegen die Treppe herauf, zögerten, wir schüttel ten schließlich die Hände und nahmen Platz. Ich bot meine handgedrehten Zigarren an. Pruffy sah mich überrascht an, Smale schüttelte den Kopf und San chez nahm drei. »Ich bin hier«, begann der General erneut, »um Ihnen ein paar Fragen zu stellen, Mr. Legion. Mr. Pruffy vertritt das Auswärtige Amt in dieser Sache, und Colonel San chez …« »… die peruanische Regierung«, erklärte ich. »Darum 96
frage ich Sie auch nicht, was amerikanische Streitkräfte auf peruanischem Boden zu suchen haben.« »Mr. Legion«, warf Pruffy ein, »ich glaube nicht …« »Ich glaube Ihnen«, eröffnete ich. »Was soll das alles, Smale?« »Ich komme sofort zur Sache«, antwortete Smale rasch. »Seit einiger Zeit wächst in den Untersuchungs und Sicherheitsabteilungen der US-Regierung eine Akte, die mangels einer exakteren Definierung die Bezeich nung ›Marsianer‹ trägt.« Smale hüstelte entschuldigend. »Vor etwas mehr als drei Jahren«, fuhr er fort, »wurde ein unbekanntes Flugobjekt …« »Ah, Sie sind an fliegenden Untertassen interessiert, General?« fragte ich. »Natürlich nicht!« schnappte er. »Das Objekt erschien auf einer Reihe von Radarschirmen. Es kam aus großer Höhe und landete …« Er zögerte. »Wollen Sie vielleicht sagen, daß Sie die weite Reise gemacht haben, um mir zu sagen, daß Sie es mir nicht sagen können?« »In England«, ergänzte Smale. »Amerikanische Auf klärungsmaschinen wurden eingesetzt, um das Objekt zu untersuchen. Aber bevor sie es identifizieren konnten, stieg es wieder auf, beschleunigte unglaublich rasch und verschwand in einer Höhe von mehreren hundert Kilo metern von den Schirmen.« »Man sollte meinen, unser Radar wäre leistungsfähi ger«, erwiderte ich. »Das Satellitenprogramm …« »Wir hatten keine Spezialgeräte zur Verfügung«, er klärte Smale unbeirrt. »Ausgedehnte Nachforschungen ergaben, daß zwei Ausländer – wahrscheinlich Amerika ner – das Gebiet ein paar Stunden vor der … ah … Er scheinung betreten hatten.« 97
Ich nickte. Ich dachte an mein vergebliches Bemühen, eine Bombe in den Schacht zu praktizieren. Das ganze Gebiet war wie ein Ameisenhaufen gewesen, so daß ich meine Absicht schnell fallenließ. Es machte keinen Un terschied. Sie entdeckten die Station auch so nicht. Die Explosivraketen hatten den Schacht verschüttet, und die scheinbar nichtmetallischen Baustoffe der unterirdischen Anlage ließen die Detektoren im dunkeln tappen. Auf Fosters Welt schienen Metalle überhaupt langst passe zu sein. »Ein paar Monate später«, fuhr Smale fort, »kamen eine Reihe bemerkenswerter Filme in den Staaten zur Vorführung. Sie zeigten Szenen von anderen Planeten und historische und prähistorische Begebenheiten auf der Erde. Sie wurden mit Erklärungen eingeleitet, daß es sich dabei um wissenschaftliche Spekulationen handle. Sie fanden großes Interesse, und mit wenigen Ausnahmen priesen die Wissenschaftler die hohe Wahrscheinlichkeit der Darstellungen.« »Es geht eben nichts über einen guten Trick«, warf ich ein. »Dazu noch ein so aktuelles Thema wie die Welt raumfahrt …« »Darunter befand sich ein Film, den man wegen scheinbarer Unrichtigkeiten und im Hinblick auf die Ex aktheit der anderen heftig diskutierte«, erklärte Smale. »Es handelte sich dabei um die Ansicht unseres Planeten aus dem Weltraum. Aus den Konstellationen der Gestirne im Hintergrund errechneten die Astronomen ein ungefäh res Aufnahmedatum von 7000 vor Christus. Seltsamer weise war die Hudson Bay das Zentrum der nördlichen Polkappe. Eine südliche war nicht zu entdecken. Der ant arktische Kontinent schien auf dem dreißigsten Breiten grad zu liegen.« 98
Ich blickte ihn an und wartete. »Eingehende Studien haben nun ergeben, daß vor neuntausend Jahren der Nordpol tatsächlich an der Hud son Bay war«, fuhr Smale erklärend fort, »und die Ant arktis eisfrei.« »Die Idee ist nicht gerade neu«, sagte ich zustimmend. »Es gab da sogar eine Theorie …« »Und dann diese Marsaufnahmen«, schnitt mir Smale das Wort ab. »Die Luftaufnahmen von den ›Kanälen‹ wurden als ausgezeichnet gelungen bewertet.« Er wandte sich an Pruffy, der seine Tasche öffnete und einige Fotos herausnahm. »Die erste Aufnahme ist vom Film kopiert.« Es war eine 24 x 36 cm Farbvergrößerung, die eine Anzahl von rötlichen Gräben vor einem blauschwarzen Horizont zeigte. Smale reichte mir ein zweites Foto. »Das hier schossen die automatischen Kameras der erfolgreichen Marssonde letztes Jahr.« Ich verglich sie. Die zweite Aufnahme war verwischt und blaustichig, die Szene aber eindeutig erkennbar. Die Gräben waren ein wenig tiefer und der Betrachtungswin kel anders, aber es waren die gleichen Gräben. »In der Zwischenzeit«, führte Smale aus, »tauchten ei ne Reihe neuartiger Produkte auf dem Markt auf. Chemi ker und Physiker waren gleichermaßen verblüfft über die völlig neuen theoretischen Erkenntnisse, die dahinter standen. Eines der Produkte – ein Farbstoff – verkörpert ein völlig neues Konzept der Kristallographie.« »Das ist der Fortschritt«, sagte ich achselzuckend. »Als ich noch jung und frisch war …« »Wir haben weder Zeit noch Mühe gescheut«, erklärte Smale, ohne meine Worte zu beachten. »Und wir fanden 99
heraus, daß alle diese außergewöhnlichen Fakten der ›Marsianer‹-Akte letztendlich nur einen einzigen ge meinsamen Faktor hatten: Sie, Mr. Legion.« IX Kurz nach Sonnenaufgang saß ich mit Smale erneut auf der Terrasse und kaute am letzten Bissen meines Früh stücks. »Das ist einer der Vorteile, wenn man im eigenen Haus eingesperrt ist: Das Essen ist ausgezeichnet.« »Ich verstehe Ihre Gefühle«, sagte Smale. »Um offen zu sein, ich finde diesen Auftrag auch nicht erfreulich. Aber es ist andererseits klar ersichtlich, daß einige Dinge einer Erklärung bedürfen. Ich hatte gehofft, Sie würden freiwillig mitarbeiten.« »Nehmen Sie Ihre Armee und ziehen Sie ab«, sagte ich unwirsch. »Dann bin ich vielleicht in einer Position, etwas freiwillig zu tun.« »Schon allein Ihr Patriotismus sollte …« »Mein Patriotismus sagt mir nur, daß in meinem Land ein Bürger gewisse Rechte hat. Daß Sie hier mit einem Zug Infanterie anrücken, ist nicht gerade ein Beweis da für«, erwiderte ich unfreundlich. »Allein meiner Gutmü tigkeit verdanken Sie es, daß ich Sie nicht einfach mit meinem Desintegratorstrahl auslöschte.« Smale blieb der Bissen im Hals stecken. »Na, na«, sagte ich grinsend. »War nur ein kleiner Scherz. Aber ich habe Ihnen keine Schwierigkeiten ge macht. Wozu also die Verstärkung?« Smale starrte mich an. »Welche Verstärkung?« Ich deutete mit der Gabel aufs Meer hinaus. Er drehte sich um. Ein Kommandoturm tauchte schäumend aus den 100
Wellen. Ein U-Bootdeck folgte. Noch während das Was ser ablief, öffnete sich eine Luke, und Männer krochen heraus und formierten sich emsig. Smale sprang auf. »Sergeant!« rief er. Ich sah mit offenem Mund, wie Smale zur Stiege lief und mehrere Stufen auf einmal nehmend hinabhastete. Ich hörte ihn brüllen, vernahm die Rufe der Männer, das Getrappel von Füßen. Ich begab mich ans Treppengeländer und blickte hinab. Pruffy stand im roten Pyjama mitten auf der Wiese und versuch te zu erfahren, was vorging. Colonel Sanchez war nicht minder aufgeregt. Smales Soldaten formierten sich auf der Wiese. »Bleiben Sie aus meinen Petunien, Sergeant!« rief ich. »Halten Sie sich da ‘raus, Legion!« brüllte Smale. »Warum sollte ich als einziger nicht herumbrüllen dür fen!« schrie ich. »Ich bin hier schließlich zu Hause!« Smale rannte die Stufen herauf. »Für Sie bin ich ver antwortlich!« schnappte er. »Ich werde Sie an einen si cheren Ort bringen. Wo ist der Keller?« »Mein Architekt hatte ihn unten eingeplant«, erklärte ich. »Was soll das alles? Rivalität in der eigenen Truppe? Haben Sie Angst, daß die da drüben Ihnen den Ruhm abjagen …?« »Das da drüben ist ein Atom-U-Boot«, schnappte Smale. »Gagarin Klasse. Es gehört zur Sowjetflotte!« Ich stand mit offenem Mund da und versuchte verzwei felt nachzudenken. Daß früher oder später die Staaten an meine Tür klop fen würden, damit hatte ich gerechnet. Aber sie konnten mir nichts anhängen. Sicher wußte ich manches, das die Regierung gern gewußt hätte, doch ich hatte niemandem etwas geklaut und sie mußten mich früher oder später 101
wieder laufenlassen. Mein Schweizer Bankkonto hielt ein paar Schläge aus, auch den Fall, daß man mir verbieten würde, weitere Neuerungen aus meinem Zauberkasten auf den Markt zu bringen. Aber ich hatte die Russen vollkommen vergessen. Na türlich mußten sie auch interessiert sein, und ihre Spione waren nicht schlechter als die Burschen vom US Geheim dienst. Legale Aspekte verloren alle Bedeutung, wenn sie mein Gehirn erst mal im Hauptwaschgang hatten. Es sah so aus, als kämen die Russen nicht vollkommen unerwartet für Smale und seine Männer. Aber ich war die Schachfigur, die hin und her geschoben werden sollte. Meine sorgfältigen Planungen lösten sich in Traumge spinste auf. Meine Insel schien zum Schlachtfeld zu wer den. Wie die Schlacht auch ausging – ich war der einzige wirkliche Verlierer. Ich hatte nur eine karge Chance: in der allgemeinen Verwirrung unterzutauchen. Smale ergriff meinen Arm. »Stehen Sie hier nicht ‘rum, Mann!« schnappte er. »Wo geht es lang …?« »Tut mir leid, General«, erwiderte ich und rammte ihm meine Rechte in den Magen. Er klappte zusammen, hatte aber noch Kraft genug, nach mir zu greifen. Ich setzte ihm die Linke ans Kinn. Während er fiel, sprang ich über ihn hinweg und hastete die Stufen zur Safe kammer nach unten. Als die Tür verriegelt war, atmete ich auf. Die Spezialwände hielten so ziemlich alles aus, was unter einem Volltreffer mit gröberer Artillerie lag. Bestimmt waren die Jungs da draußen auf die Beute er picht und würden das Haus nicht in Trümmer schießen. Für kurze Zeit wenigstens war ich sicher. Jetzt galt es, ein paar rasche Überlegungen anzustel len. Viel konnte ich nicht mitnehmen – falls es mir ge lang, die Insel unbemerkt zu verlassen. Ein paar Instruk 102
tionsstäbe vielleicht; die restlichen Filme. Die meisten der Stäbe hatte ich bereits ausgewertet. Eine Übertragung reichte für eine Einführung in das Gebiet. Zwei oder drei Übertragungen gravierten Details in die Ganglien. Die einzige Grenze war eine Überladung des Gehirns, die zur totalen Amnesie führen konnte. Für Instruktionsstäbe hatte ich keine Zeit mehr, und mitnehmen konnte ich nichts. Aber einfach fortgehen und alles zurücklassen … Ich stöberte durch meine Schätze, stopfte ein paar Kleinigkeiten in meine Taschen und stieß auf einen silb rigen Zylinder mit einem Muster von schwarzen und gol denen Streifen – eine Gedächtnisaufzeichnung! Sie erin nerte mich an etwas anderes … Das war es! Ich besaß noch immer den u-förmigen Plastikhelm, den Foster benutzt hatte, um die allgemei nen Daten über seine Heimatwelt zu erhalten. Ich hatte ihn bereits einmal ausprobiert, aber den Versuch nach ein paar Sekunden abgebrochen, weil ich gedacht hatte, der Schädel würde mir zerspringen. Seitdem ließ ich die Fin ger davon. Aber jetzt war vielleicht der Augenblick, es erneut zu versuchen. Eine ganze Menge meiner Beute aus dem Raumschiff hatte ich noch nicht näher unter sucht. Aber was das Helmstück mir geben konnte, wußte ich: Informationen über Vallon, die Zwei Welten und alle Wunder, die sie bargen. Ich warf einen raschen Blick aus dem Panzerglasfen ster. Smales Marinesoldaten bezogen Stellungen. Die Russen schwärmten am Landeplatz aus. Es schien tat sächlich ernst zu werden. Aber es mochte noch eine Wei le dauern, bis sie warm wurden. Foster hatte etwa eine Stunde gebraucht, um die Informationsdosis aufzuneh men, wahrscheinlich brauchte ich nicht viel länger. 103
Ich warf den Zylinder fort und kramte nach dem Pla stikhelmstück. Ich ließ mich in den Stuhl fallen. War es nicht gefährlich, was ich tat? Dieses Ding war für eine andere Rasse, eine andere Art von Gehirn entwickelt worden. Aber es war Wahnsinn, die Insel mit leeren Händen zu verlassen, und das Schweizer Konto wurde vermutlich überwacht. Nein, ohne Kampf fiel ich nicht wieder in die Gosse zurück. Was ich im Kopf hatte, ließ sich tauschen – für Freiheit und Unabhängigkeit. Ich wußte, daß es nicht so einfach war, wie ich es vor mir sah, aber es blieb keine Zeit für handfestere Pläne. Ich setzte das Helmstück auf. Ein heftiges Druckempfin den wurde abgelöst durch das Gefühl, von rasch steigen dem warmem Wasser umgeben zu sein. Panik griff nach mir. Aber eine Stimme beruhigte mich. Ich befand mich unter Freunden. Ich war in Sicherheit … X Ich lag in der Dunkelheit und lauschte der Erinnerung an Türme und Trompeten und feuerspeiende Brunnen nach. Meine Hand tastete nach oben und vermittelte den Ein druck eines groben Kleidungsstückes. Hatte ich nur ge träumt …? Ich regte mich. Licht flammte in meine Pupil len. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich um mich, in einem verstaubten, unfreundlichen Raum, voll gekramt mit Plunder. In einer Wand befand sich ein Fen ster. Ich starrte hinaus auf den grünen Rasen und auf einen Weg, der zum weißen Strand hinabführte. Es war ein fremdartiges Bild, und dennoch … Eine Welle von Übelkeit ließ mich taumeln. Ich blin 104
zelte und versuchte mich zu erinnern. Der Druck an meinem Kopf ließ mich hochgreifen und das Ding abnehmen, das ihn verursachte: Ein Instrukti onsgerät für Allgemeinwissen, wie es von nichtidentifi zierten Bürgern verwendet wurde, die unvorbereitet den Wechsel durchgemacht hatten … Plötzlich verblaßte das Bild in meinem Innern. Mit brummendem Kopf stand ich in meiner Safekammer und rang meine Sehnsucht nach Vallon nieder. Die Erinne rung daran blieb. Doch ich schien wieder ich zu sein. Eine Menge obskurer Ideen lauerte irgendwo im Hin tergrund meiner Gedanken. Später würde ich mich darum kümmern. Im Augenblick hatte ich alle Hände voll zu tun. Zwei mittlere Armeen hatten mich in der Zange. Ich mußte hier ‘raus! Ich hörte Gewehrfeuer und sprang ans Fenster. Smales Schiff lag auf Grund. Das russische U-Boot war nirgends zu sehen. Vermutlich hatte es die Männer abgesetzt und war wieder getaucht. Ein paar Leichen lagen am Strand herum. Ob es sich um die Guten oder die Bösen handelte, war von hier aus schwer zu sagen. Weitere Schüsse folgten. Es sah so aus, als hätte ich recht. Sie beschränkten sich auf kleinere Handgemenge, um mich und meine aufregenden Ideen möglichst unbe schädigt in die Hand zu kriegen. Mein romantischer Hunger nach Geheimgängen hatte meinen Architekten zwar zur Verzweiflung getrieben, aber jetzt war ich froh, daß ich sie hatte. In der Westwand der Safekammer führte eine Tür zu einer Wendel treppe. Dort konnte ich wählen. Wollte ich zum Boots haus, oder zum Waldrand hinter dem Haus oder zum Strand einen halben Kilometer nördlich der Anlegemau er. Ich brauchte nur … 105
Das Haus tanzte unter mir. Eine gewaltige Faust schleuderte mich zu Boden. Blut schoß aus meiner Nase, und mein Kopf dröhnte. Zittrig kam ich auf die Beine und taumelte auf die rettende Öffnung zu. Offenbar wur de da draußen jemand ungeduldig. Gleich darauf erschüt terte ein zweiter Treffer die Mauern: Mörser, schätzte ich, oder Raketen. Wahrscheinlich hatte ich das Vorge plänkel verschlafen. Ich sah mich ein letztes Mal um. Mein Blick fiel auf den Zylinder, den ich vor einer Stunde achtlos wegge worfen hatte. Aber nun wußte ich mehr darüber. Rasch hob ich ihn auf und steckte ihn in die Tasche. Ich erinner te mich, wo ich ihn gefunden hatte: während der Bela dung des Rettungsbootes zwischen den Knochen des Skelettes mit der Kette aus Bärenkrallen. Der Eingebore ne mußte es entdeckt und an den Farben Gefallen gefun den haben, so daß er es an sich nahm. Und ich mit meiner Ladung vallonischer Erinnerungen wußte nun, welch kostbares Objekt es wirklich war: Fosters Gedächtnisauf zeichnung! Zweifellos nur eine Kopie, aber ich konnte sie nicht zurücklassen. Eine wesentlich kräftigere Erschütterung unterbrach meine Überlegungen mit einem Schauer von Mörtel. Hu stend stolperte ich durch den Staub, erreichte die Tür und lief die Treppe hinab. Unten hielt ich kurz an. Im nächsten Augenblick tanz te der Boden erneut, und der Küstentunnel brach ein. Blieben Wald und Bootshaus. Viel Zeit zu entscheiden hatte ich nicht. Jeden Moment konnte mir auch hier die Tür vor der Nase zufallen. Augenscheinlich hatte der Ar chitekt bei den Tunnelstützen Einsparungsmaßnahmen getroffen. Natürlich hatte er nicht mit größeren Kriegen im Vorgarten gerechnet. 106
Der Kampflärm kam von Süden. Wahrscheinlich hat ten einige im Wald Deckung gesucht. Blieb das Boots haus. Auf den Einbruch der Dunkelheit zu warten schien unter den Umständen wenig erfolgversprechend. So holte ich tief Luft und stürmte in den Tunnel. Mit ein wenig Glück war das Boot noch unbeschädigt. Der Start würde zwar direkt unter den Nasen der Kämpfenden erfolgen, aber der Überraschungseffekt mußte mir ein paar hundert Meter Vorsprung verschaffen. Wenn es erst einmal fuhr, war mein Boot nicht mehr einzuholen. Dessen war ich recht sicher. Ich erreichte das Ende des stockdunklen Ganges und lauschte an der Holztür. Alles war ruhig. Ich öffnete sie vorsichtig und betrat die Rampe im Inneren des Gebäudes. Poliertes Mahagoni und Chrom schim merten beruhigend vor mir. Ich schlich mich näher, löste das Ankertau und war eben dabei, ins Cockpit zu klet tern, als der Verschluß einer Rifle schnappte. Im näch sten Moment lag ich flach, während der ohrenbetäubende Knall des Schusses das Bootshaus erfüllte. Ich wartete nicht auf den zweiten. Mit einem mittleren Salto ver schwand ich im dunklen Wasser. Drei Stöße brachten mich unter die Tür durch ins offene Wasser. Ich hielt mich dicht am Boden, wandte mich nach rechts und schwamm. Ich mußte aus meiner Jacke heraus. Irgendwie schaffte ich es tatsächlich, ohne aus dem Rhythmus zu kommen. Und mit ihr verschwand der kleine Reichtum in der Tie fe, den ich zuvor in die Taschen gestopft hatte. Fosters Gedächtnisaufzeichnung hatte ich noch. Sie steckten in meiner Hose. Zehn Stöße. Fünfzehn. Zwanzig. Ich kannte meine Grenze: fünfundzwanzig bei einer vollen Ladung Luft. Aber ich hatte es eilig gehabt, unterzutauchen … Fünfundzwanzig … noch einer … und noch einer. 107
Und oben wartete einer mit einem Gewehr in der Hand. Dreißig Stöße und keiner mehr. Und koste es Kopf und Kragen! Ich drehte mich auf den Rücken und brachte das Gesicht über Wasser. Ich schnappte gierig nach Luft, aber es blieb bei dem einen Schnapper. Eine Kugel peitschte das Wasser dicht neben mir. Ich sank wie ein Stein und machte fünfundzwanzig Meter, bevor ich wie der hoch mußte. Diesmal war der Schütze flinker. Die Kugel streifte meine Schulter wie glühendes Eisen. Dann war ich wieder unten, aber meine Strampelei brachte mich kaum noch vorwärts. Es war keine Kraft mehr in den Armen. Ich brauchte unbedingt Luft. Meine Lungen brannten. Ich fühlte das Bewußtsein schwinden, aber ich mußte noch ein paar Stöße schaffen … Wie aus einiger Entfernung beobachtete ich die plumpen Anstrengungen des Schwimmers, beobachtete die mühe vollen Bewegungen der schwachen, ungeschulten Krea tur … Eine Erweiterung des autonomen Systems war drin gend erforderlich. Rasch aktivierte ich die kortikale Zone Omikron, regulierte die Blutzufuhr, leitete die nötige Energie ab, um die molekularen Bande zu sprengen und produzierte Sauerstoff aus gespeicherten Fetten. Nun, da der Körper auf innere Reserven zurückgriff, die sechshundert Sekunden maximale Leistung garantier ten, stimulierte in die Zonen Ypsilon und My. Ich leitete volle Energie in die betroffenen Muskelkomplexe, stei gerte die Energiezufuhr bis zur vollen skelettalen Tole ranz und eliminierte alle überflüssige Bewegung. Der Körper glitt durch das Wasser mit der fließenden Eleganz eines Meeresbewohners …
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Ich ließ mich auf dem Rücken treiben und pumpte in tie fen Zügen die kühle Luft und blinzelte in den roten Himmel. Ein paar Meter von der Küste entfernt war ich praktisch am Ertrinken gewesen. Dann dieses neue Be wußtsein – wie eine Stimme, die mir Andeutungen gab. Aus der Menge des vallonischen Wissens, das ich aufge nommen hatte, nahm ich das, was ich brauchte. Und nun befand ich mich hier, fast einen Kilometer weit im Meer – außer Atem, aber heil. Doch jetzt war keine Zeit, über Wunder nachzugrübeln … Ich blickte auf mein Haus zurück und gewahrte nur ei ne Rauchsäule. Der Schütze war verschwunden. Er glaubte wahrscheinlich, daß er mich erledigt hatte. Of fenbar hatte er das Blut bemerkt. Der Gedanke an Haie machte mich unruhig. Man war zwar allgemein der Ansicht, daß es in der Umgebung keine gab, aber das Blut konnte sie anlocken. Ich ver suchte einen Blick auf meine Wunde zu erhaschen. Es war nur ein Kratzer und es schien nicht mehr zu bluten. Ich hatte noch ein größeres Problem. Bis zur peruani schen Küste waren es fast zwanzig Kilometer. Aber wenn die Jungs lange genug Krieg spielten, konnte ich es schaffen. Ich erwog, Schuhe und Hose auszuziehen, aber späte stens auf dem Festland würde ich das bereuen – wenn ich es schaffte! XI Ich saß am Küchentisch in Margaretas Apartment in Li ma und kaute an den letzten Bissen meines Steaks, wäh rend meine Kleine mir Kaffee nachgoß.» Und jetzt er zähl«, sagte sie. »Warum haben sie dein Haus niederge 109
brannt? Und wie bist du hierhergekommen?« »Sie waren so mit ihrem kleinen Krieg beschäftigt, daß sie die Hauptsache aus den Augen verloren«, sagte ich. »Das ist die einzig mögliche Erklärung. Ich dachte, ich wäre so sicher wie eine Zweidollaruhr auf einer Taschendiebjahresversammlung. Ich hatte geglaubt, sie wollten alles möglichst unbeschädigt haben. Ich hatte mich geirrt …« »Aber deine eigenen Landsleute …?« »Vielleicht hatten sie recht: Sie konnten nicht riskie ren, daß die Russkies mich schnappten.« »Aber du starrst vor Schmutz. Und das Blut an deinem Rücken …!« »Ich habe ein erfrischendes Fünfstundenbad hinter mir. Eine weitere Stunde robbte ich durch einen Mangro vensumpf. Und drei Stunden per Anhalter …« »Fühlst du dich jetzt besser? Du hast schrecklich aus gesehen.« »Noch einen Block weiter, und ich hätte es nicht mehr geschafft. Ich war fix und fertig. Der Kratzer an der Schulter ist nicht schlimm, aber der Schock … Ich weiß es nicht.« »Du mußt schlafen«, befahl Margareta. »Was kann ich in der Zwischenzeit für dich tun?« »Besorg mir Kleider«, bat ich. »Einen grauen Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte und Schuhe. Und geh zu meiner Bank und heb fünftausend ab. Ja, und schau nach, was in den Zeitungen steht! Falls du unten jemand herumlungern siehst, wenn du zurückkommst, komm nicht herauf! Ruf an, und wir treffen uns irgendwo.« Sie erhob sich. »Das ist furchtbar«, murmelte sie. »Kann deine Bot schaft nicht …?« 110
»Hab’ ich es noch nicht erwähnt? Ein Mr. Pruffy von der Botschaft kam Hand in Hand mit Smale an … und ein Colonel Sanchez. Würde mich nicht überraschen, wenn die örtliche Polizei auch bereits hinter mir her wä re. Es sei denn, sie halten mich für tot. Dieser Eindruck wird aber nicht von langer Dauer sein, wenn du frisch fröhlich mit einem Scheck von mir auftauchst und dich für Herrenmode interessierst. Ist leider nicht zu ändern. Ich brauche ein paar Stunden Schlaf und dann nichts wie weg hier.« »Wohin willst du gehen?« »Erst zum Flugplatz. Dort werde ich die Ohren spitzen. Ich glaube nicht, daß sie es an die große Glocke gehängt haben. Es war alles recht geheim, bevor es platzte.« »Die Bank öffnet erst in ein paar Stunden«, erklärte Margareta. »Schlaf jetzt und mach’ dir keine Sorgen. Ich werde mich um alles kümmern.« Ich schaffte es bis zum großen weißen Bett und war weg wie ausgeblasen. Ich wußte schon, daß ich nicht allein war, ehe ich die Augen aufschlug. Ich hatte nichts gehört, aber ich fühlte die Gegenwart des anderen. Langsam setzte ich mich auf und sah mich um. Er saß in einem Stuhl am Fenster. Nichts war unge wöhnlich an ihm. Er trug einen braunen Tropenanzug, hatte eine kalte Zigarette im Mund und ausdruckslose Züge. »Zünden Sie ruhig an«, sagte ich. »Kümmern Sie sich gar nicht um mich.« »Danke«, erwiderte er mit dünner Stimme. Er nahm ein Feuerzeug aus einer Innentasche und zündete an. Ich stieg aus dem Bett. Das versetzte meinen Besucher 111
in hektische Betriebsamkeit. Statt des Feuerzeuges hielt er eine Pistole in der Hand. »Ich wollte Sie nicht erschrecken, Mister«, sagte ich entschuldigend. »Es wäre mir lieber, wenn Sie alles langsam und über sichtlich tun, Mr. Legion.« Er hustete und ließ die Augen nicht von mir. »Meine Nerven sind nicht mehr das, was sie waren.« Die Mündung zeigte unentwegt auf mich. »Für welche Seite arbeiten Sie?« fragte ich. »Wie ist es, kann ich meine Schuhe anziehen, oder haben Sie Angst vor dem Kleinkaliber in meinen Socken?« Er senkte die Pistole. »Ziehen Sie sich ganz an, Mr. Legion.« »Tut mir leid«, meinte ich. »Das ist schlecht möglich ohne Kleider.« Er runzelte die Stirn. »Meine Jacke wird ein wenig eng sein, aber es muß reichen.« Ich setzte mich wieder aufs Bett. »Ich werde mir jetzt eine Zigarette nehmen. Versuchen Sie mich nicht gleich niederzuschießen.« Ich griff nach der Packung am Tisch und zündete eine an, während seine Augen mir wachsam folgten. »Warum seid ihr nicht auf den Gedanken gekommen, ich sei tot?« »Wir haben das Haus durchsucht. Keine Leiche.« »Ihr verdammten Stümper«, sagte ich. »Warum habt ihr nicht herausgefunden, daß ich ertrunken bin?« »Die Möglichkeit wurde in Betracht gezogen, aber wir machten die Routineüberprüfungen trotzdem.« »Netter Zug von Ihnen, daß Sie mich ausschlafen lie ßen. Wie lange sind Sie schon hier?« »Erst ein paar Minuten.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Und in weiteren fünfzehn brechen wir auf.« 112
»Was wollen Sie noch von mir?« fragte ich. »Alles, was euch interessiert hat, habt ihr in die Luft gejagt.« »Das Department hat noch ein paar Fragen an Sie.« »Hören Sie, ich bin nur eine unbedeutende Nummer und verstehe von dem Zeug gar nichts. Ich hab’ es nur verhökert, das ist alles.« »Damit keine Zweifel über die Situation entstehen«, sagte er, »und um bedauerliche Mißverständnisse zu vermeiden: Ich habe nur den Auftrag, Sie zu bringen – lebend, wenn möglich. Wenn es den Anschein hat, daß Sie mir durch die Lappen gehen oder in falsche Hände geraten, muß ich das Ding hier gebrauchen.« Nachdenklich schlüpfte ich in die Schuhe. Meine Chancen standen jetzt noch am besten, solange nur ein Wachhund um mich herumschwänzelte. Aber ich hatte das Gefühl, daß er abdrücken würde, Waffenschein oder nicht. Er stand auf. »Wir gehen jetzt ins Wohnzimmer, Mr. Legion.« Ich schritt an ihm vorbei durch die Tür. An der Wohnzimmeruhr sah ich, daß es bereits elf war. Ich hatte fünf oder sechs Stunden geschlafen. Margareta mußte jeden Augenblick zurückkommen … »Ziehen Sie das an.« Ich nahm die Jacke, zwängte mich hinein und betrach tete mich in dem großen rechteckigen Spiegel, der über dem niedrigen Sofa hing. »Ich bin noch nicht ganz auf der Höhe«, erklärte ich. »Gewöhnlich …« Das Telefon läutete. Ich musterte meinen Wachhund erwartungsvoll. Er schüttelte den Kopf. Wir warteten, bis es wieder schwieg. »Wir gehen jetzt«, sagte er. »Gehen Sie voraus, bitte! Wir nehmen den Lift nach unten und verlassen das Haus 113
durch den Dienstboteneingang …« Er brach ab und starr te auf die Tür. Ein Schlüssel fand den Weg ins Schloß. Die Pistole kam hoch. »Nicht schießen«, krächzte ich rasch. »Es ist das Mäd chen, das hier wohnt.« Ich drehte mich um. »Das war nicht sehr weise, Mr. Legion«, sagte er. »Tun Sie nichts mehr, was mich nervös macht.« Ich beobachtete die Tür in dem Spiegel gegenüber. Der Knopf drehte sich. Die Tür ging auf … und ein schmächtiger, braunhäutiger Kerl in weißem Hemd und weißen Hosen kam herein. Während er die Tür zustieß, wechselte eine kleine Automatik seine Hände. Mein ge genwärtiger Eigentümer hantierte an der Waffe, die un ablässig auf mein Zentrum gerichtet war. »Bleiben Sie ruhig stehen, Legion«, murmelte er und wandte sich dem Neuankömmling zu. Im Spiegel beo bachtete ich, wie der Mann in Weiß sich abmühte, uns beide in Schach zu halten. »Das Ding hier hat eine Zusatzsicherung«, sagte mein Mann zu dem Neuen. »Sicher haben Sie schon mal davon gehört. Wir ließen Informationen darüber durchsickern. Ich halte den Abzug zurück. Wenn meine Hand er schlafft, geht es los. Wenn ich Sie wäre, würde ich also nicht einfach losballern.« Der Schmächtige schluckte. Er sagte nichts. Aber man sah ihm an, daß er mit einigen raschen Überlegungen beschäftigt war. Vermutlich hatte er in etwa die gleichen Instruktionen wie mein anderer Kumpel: mich, wenn möglich, heil ins Hauptquartier zu bringen. »Wer ist der Vogel?« fragte ich meinen ersten Anwär ter. Meine Stimme klang eine halbe Oktave schriller als sonst. »Ein Sowjetagent.« 114
Ich musterte den Mann im Spiegel. »Unsinn«, sagte ich. »Der sieht aus wie ein Kellner aus der Chilikneipe. Vermutlich ist er wegen unserer Bestellung hier!« »Sie reden zuviel, wenn Sie nervös sind«, knurrte mein Mann zwischen den Zähnen. Sein Revolver schwankte nicht. Mein Blick hing an seinem Abzugsfin ger und lauerte auf das erste Anzeichen des Erschlaffens. »Unentschieden würde ich sagen«, äußerte ich schließ lich. »Vielleicht sollten wir nochmals von vorne begin nen. Ihr geht beide ‘raus und …« »Halten Sie die Klappe, Legion.« Mein erster Anwär ter musterte mich starr. »Tut mir leid. Es sieht so aus, als müßte ich …« »Sie wollen mich doch nicht einfach über den Haufen schießen«, stieß ich hervor. Im Spiegel hatte ich bemerkt, wie die Tür zentimeterweit aufging. »Sie ruinieren nur Ihre Jacke …« fuhr ich rasch fort. »Und außerdem wäre es ein großer Fehler. Jedermann weiß doch, daß russische Agenten untersetzte Typen sind mit breiten Backenkno chen und …« Lautlos glitt Margareta in den Raum, war mit zwei Schritten bei dem Weißgekleideten und zog ihm eins mit der schweren Handtasche über. Der Mann stolperte und feuerte eine Ladung in den Vorleger, bevor ihm die Au tomatik aus den Händen fiel. Mein erster Kumpel zog ihm noch eins über mit der Pistole, wirbelte herum und zischte gerade laut genug für mich: »Sei vernünftig.« Er steckte die Waffe ein, aber ich wußte, daß er sie ver dammt rasch hervorziehen konnte. Zu Margareta sagte er: »Sehr gut gemacht, Miß. Ich werde ihn aus Ihrem Zimmer schaffen lassen. Mr. Legion und ich waren gerade im Aufbruch begriffen.« Margareta sah mich an. Verzweifelt suchte ich nach 115
einer passenden Bemerkung. Ich mußte sie heraushalten. Augenscheinlich war auch mein FBI-Kumpel bereit, sie nicht zu belästigen, wenn ich mitspielte. Andererseits war das sicher meine letzte Chance. Jeder weitere Schritt brachte mich nur tiefer ins Netz. Der Agent wartete dar auf, daß ich dem Mädchen eine beruhigende Erklärung gab. »Alles in Ordnung, Liebling«, log ich. »Das ist Mr. Smith … von der Botschaft. Wir sind alte Bekannte.« Ich schritt an ihr vorüber zur Tür. Ich hatte die Hand bereits am Griff, als ich einen dumpfen Schlag hinter mir ver nahm. Ich fuhr herum, gerade rechtzeitig, um dem vor wärtstaumelnden FBI-Kumpel eins aufs Kinn zu verpas sen. Margareta sah mich aus großen Augen an. »Wer sind diese Männer?« fragte sie. »Was …?« »Das erzähle ich dir später. Jetzt muß ich hier ‘raus und verschwinden, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Und zwar rasch.« Ich zog den schwarz-gold gemusterten Zylinder aus der Tasche und gab ihn ihr. »Um ganz sicher zu gehen«, erklärte ich, »schick mir das nach. An John Jones, Itzen ca.« »Gut.« Margareta nickte. Sie brachte eine Einkaufsta sche und einen Karton aus dem Vorraum. »Deine Sa chen.« Aus ihrer Handtasche nahm sie ein Bündel Schei ne und gab sie mir. Ich nahm sie in die Arme. »Hör zu, Liebling. Sobald ich fort bin, gehst du zur Bank und hebst fünfzigtausend ab. Verschwinde hier. Verschwinde aus Peru. Sie können dir zwar nichts anhängen. Du hast nur ein paar aufdring liche Typen niedergeschlagen, die in deine Wohnung eindrangen. Aber wie’s so schön heißt: Aus den Augen, aus dem Sinn! Schick deine neue Adresse c/o Poste Rest 116
ante, Basel, Schweiz. Ich melde mich, sobald es möglich ist.« Sie wollte widersprechen, aber ich machte ihr klar, daß mein Entschluß feststand. Zwanzig Minuten später schritt ich glattrasiert und bis an die Zähne bekleidet mit fünftausend in der einen Tasche und einer 32er Kaliber in der anderen die belebte Straße hinunter. Niemand beach tete mich. Es war ein beschwerlicher Weg nach Itzenca, jenem kleinen Ort, in dessen Umgebung ich das Rettungsboot verborgen hatte. Ich schätzte, daß ich es in einer Woche schaffen konnte. Foster hatte seine Heimreise vor drei Jahren angetre ten, doch mochten für ihn im Schiff nur ein paar Wochen vergangen sein. Das Rettungsboot war ein kleiner Käfer im Vergleich zum Mutterschiff. Aber es war schnell. Wenn ich erst einmal an Bord war, konnte ich Abstand zu den Männern gewinnen, die mich mit ihren Kanonen bis ins Schlafzimmer verfolgten. Ich hatte das Boot gut getarnt. Die eingeborenen Trä ger, die mir bei der Tarnung und Entladung geholfen hat ten, waren schweigsame Typen. Wenn General Smales Soldaten von dem Boot erfahren hätten, würden sie dar über gesprochen haben. Und falls er wirklich davon wuß te – nun, wir würden ja sehen … XII Vorsichtig, wie ich war, schlich ich mitten in der Nacht an das Boot heran. Aber ich hätte mir die Anschleicherei ersparen können. Das Boot war unberührt. Warum Sma les Männer es nicht gefunden hatten, blieb mir ein Rätsel. Es war ein langer, mühsamer Weg von Lima bis zum 117
Versteck gewesen, aber ich hatte ihn ohne Schwierigkei ten geschafft. Einmal hörte ich die Nachricht aus einem Radio in ei ner kleinen Bar. Weder der Angriff auf die Insel, noch meine Flucht wurden erwähnt. Es schien, daß alle Partei en bestrebt waren, die Sache zu vertuschen. In Itzenca ging ich zum Postamt und holte das Päckchen mit Fosters Gedächtniszylinder ab, das Margareta mir nachgesandt hatte. Während ich den Inhalt überprüfte und mich ver gewisserte, daß es nicht abgefangen und um ein paar de tektorfreundliche Beigaben verbessert worden war, fühlte ich etwas um meine Beine streichen. Ich blickte hinunter und entdeckte eine grau-weiß gescheckte Katze, die ei nen halbwegs sauberen, aber sehr hungrigen Eindruck machte. Entweder ich war in der Nacht durch ein Feld von wildem Baldrian gekrochen, oder sie war verliebt in die Art, wie ich sie kraulte. Jedenfalls wich sie nicht mehr von meiner Seite. Sie folgte mir aus Itzenca, lief mir meist ein paar Schritte voraus und war die erste an Bord. Ich hielt mich nicht unnötig auf. Alles Wichtige über die Bedienung des Bootes hatte ich schon früher einem der Instruktionsstäbe entnommen. Sobald die Luke zu war, betätigte ich die Kontrollen und zog eine Spur durch die Atmosphäre, die sämtliche Alarmsysteme zwischen Washington und Moskau ausgelöst haben mußte. Natürlich wußte ich nicht, wie lange die Reise dauern würde. Aber sicher hatte ich Zeit genug, mich mit dem Boot vertraut zu machen, meine Erinnerungen aufzufri schen und mir einen Plan für die Landung auf Fosters Welt Vallon zurechtzulegen. Doch zuerst genoß ich ein Schauspiel, das für mich ganz allein ablief und das ich mir keinesfalls entgehen lassen wollte: der Anblick der 118
kleiner werdenden Erde. Ich ließ mich vor dem Schirm in einen Stuhl fallen und stellte ihn auf den großen leuchtenden Ball ein, der mein Heimatplanet war. Ich hatte gehofft, einen letzten Blick auf meine Insel zu erhaschen; aber die ganze He misphäre war in Wolken gehüllt. Der Mond jedoch kam groß ins Blickfeld und wuchs während der nächsten Vier telstunde, bis er den ganzen Schirm ausfüllte und seine gewaltige Nähe ein Gefühl des Unbehagens verursachte. Ich bediente die Regler, und die tote Welt schwang aus dem Blickfeld. Wieder sah ich den rasch im All ver schwindenden Planeten. Das Rettungsboot war perfekt ausgerüstet, vom be quemen Quartier bis zu einer zufriedenstellenden Aus wahl von Nahrungsmitteln. Ich konnte sie mit einer An zahl von Knöpfen an einem Tisch im Kontrollraum her beizaubern. Diesen Trick hatte mein Vorgänger mit dem Bärengebißschmuck offenbar nicht herausgefunden. Während meiner ersten Landung auf der Erde und meiner häufigen Rückkehr, um verkäufliche Sachen auszuladen, hatte ich mich mit den meisten Annehmlichkeiten des Schiffes angefreundet. Nun schwelgte ich in einem dampfenden Bad mit zyklisch gereinigtem Wasser, trocknete mich mit Wegwerfhandtüchern, die in parfü miertem Alkohol verpackt waren, fütterte anschließend die Katze und mich und legte mich danach auf ein Zwei wochenschläfchen nieder. In der dritten Woche war ich annehmbar ausgeschla fen und ausgeruht. Die Wunden von meinen Konflikten mit dem sogenannten Gesetz waren verheilt. Ich trauerte den Dingen nicht länger nach, die ich zurückgelassen hatte: weder der Insel, noch dem Geld auf den Banken in Lima und der Schweiz. Selbst Margareta nicht. Ich be 119
fand mich auf dem Weg zu einer neuen Welt, und es hat te wenig Sinn, alten Ballast mitzuschleppen. Die Katze war ein Geschenk des Himmels. Das fand ich bald heraus. Ich taufte sie Itzenca, nach dem kleinen Ort, in dem sie mich adoptiert hatte, und ich redete stun denlang auf sie ein. Ich finde, es ist ein feiner Unter schied, ob man zu jemandem spricht oder nur mit sich selber nuschelt. Letzteres wird nach den ersten paar Ta gen langweilig, aber Zwiegespräche sind immer interes sant. So bekam Itz also eine ganze Menge zu hören, wäh rend wir zu den Sternen flogen. »Sag mal, Itz«, sagte ich, »wo hättest du denn dein Kistchen gern? Vielleicht hier vor dem TV-Schirm? Seit wir das Sonnensystem verlassen haben, wird der Platz praktisch kaum benützt, und du hättest hier deine Ruhe. Was meinst du?« Nein, meinte Itzenca mit einer koketten Schwanzbe wegung und schritt zu einer Kiste, die ich nie entladen hatte. Ich zog eine Schachtel mit allerlei Zeug hervor und schob ihr Sandkistchen an die Stelle. Sofort verlor Itzen ca das Interesse daran und machte sich über die volle Schachtel her, die von der Bank fiel und ihren Inhalt – kleinere Gegenstände aus Khaff und Metall – auf den Boden verstreute. »Komm sofort her, du Miststück«, rief ich, »und hilf mir, das Zeug aufzuräumen!« Aber Itz war hinter einem mattschimmernden silber nen Ding her, das noch immer rollte. Rasch hechtete ich hinterher. Das war das Gedächtnis von jemandem! Ich sank auf eine Bank, um den Zylinder zu untersu chen. »Wo, zum Teufel, kommt das her, Itz?« Itz sprang auf meinen Schoß und stupste mit ihrer Na se gegen das Objekt. Ich versuchte, mich drei Jahre zu 120
rückzuerinnern an die Stunden, da ich das Boot mit all den interessanten Dingen beladen hatte. »Nun mal langsam, Itz. Wir müssen angestrengt nach denken. Da war ein ganzes Regal mit leeren Zylindern in der Gedächtnisübertragungsabteilung, wo wir die drei Skelette fanden. Ja, jetzt erinnere ich mich! Den hier ha be ich aus dem Aufzeichner gezogen. Das bedeutet, daß er benützt wurde, aber keinen Farbcode mehr erhalten konnte. Ich zeigte ihn Foster, als er seine eigene Auf zeichnung suchte. Er wußte natürlich nicht, daß ich ihn aus der Maschine genommen hatte, und hielt ihn für leer. Aber ich wette, jemand hat sein Gedächtnis hier gespei chert und mußte verschwinden, bevor die Aufzeichnung markiert werden konnte. Andererseits könnte es natürlich auch ein leerer Spei cher sein, der gerade in die Maschine gesteckt wurde, als hier der Rummel los ging … Aber hat Foster nicht etwas erzählt von einem verwundeten Kameraden, dem er Erste Hilfe leistete, als er erwachte? Erste Hilfe für einen Val lonier würde auf jeden Fall eine komplette Gedächtnis aufzeichnung bedeuten. Ist dir nun klar, was ich hier in meiner Hand halte, Itz?« Sie sah mich fragend an. »Das ist das einzige Überbleibsel des Fremden, den Foster begraben hat. Sein Kumpel – Ammaerln, glaube ich, hat er ihn genannt! In diesem Zylinder ist alles, was dem Alten Sünder einst durch den Kopf ging. Demnach ist der Kerl so tot auch wieder nicht. Ich wette, seine Fa milie wird für die Aufzeichnung einiges springen lassen und dazu noch höchst dankbar sein. Kein schlechter Trumpf im Ärmel für den Fall, daß auf Vallon nicht alles nach Plan geht.« Ich stand auf. Itz folgte mir zur Schlafcouch. Ich legte 121
den Zylinder in die Lade zu Fosters Gedächtnis. »Wie Foster wohl zurechtkommt ohne sein Gedächt nis? Was meinst du, Itz? Er behauptete, diese Aufzeich nung wäre nur eine Kopie des Originals, das in OkkHamiloth aufbewahrt wird. Aber meine vallonische All gemeinbildung enthält keine Informationen über Ge dächtniskopien. Er muß eine ziemlich bedeutende Per sönlichkeit sein, wenn sein Gedächtnis so fürsorglich gespeichert wird.« Plötzlich erstarrte ich. Die Farben auf Fosters Zylin der! »Teufel! Die königlichen Farben!« Ich setzte mich heftig nieder. »Itzenca, altes Mädchen, es sieht so aus, als kämen wir in die obersten Kreise der vallonischen Ge sellschaft! Wir pflegten ausgedehnten Umgang mit einem Mitglied des vallonischen Adels!« Während der folgenden Tage versuchte ich vergeblich immer und immer wieder, mit Foster Kontakt aufzuneh men. Wie sollte ich ihn auf seinem Planeten finden? Ich mußte versuchen, in der vallonischen Umwelt Fuß zu fassen. Dann erst konnte ich mit meinen Nachforschun gen beginnen. Ich mußte vorsichtig sein. Mit der vallonischen All gemeinbildung, die ich mir angeeignet hatte, sollte es mir nicht schwerfallen, die Rolle eines Valloniers zu spielen, der ein paar Jahrhunderte Reisen hinter sich hatte – was nicht ungewöhnlich war. Möglicherweise war illegale Einwanderung auf Valien auch so wenig beliebt wie auf der guten alten Erde. Es mochte daher besser sein, die interessanten Details meiner wirklichen Herkunft für mich zu behalten. Als erstes brauchte ich einen neuen Namen. Ich über legte mehrere Möglichkeiten und entschied mich dann 122
für »Drehen«, was so gut wie jeder andere vallonische Zungenbrecher klang. Ich untersuchte die Kleiderkam mer, die zur Standardausrüstung eines Rettungsbootes gehörte. Da gab es pelzbesetzte parkaartige Anzüge für Ausflüge auf Welten wie Pluto und feine seidene klimati sierte Einmannüberzieher für Spaziergänge auf der Ve nus. Dazwischen fand ich eine Auswahl von Gewändern, die an das alte Griechenland erinnerten. Die mußten das Neueste auf Vallon gewesen sein, als Foster seine Welt verließ. Sie sahen bequem aus. Ich wählt eines in einer unaufdringlichen Farbe und machte mich mit dem Schneid- und Säumgerät an die Arbeit. Ich wollte nicht gleich mit schlechtsitzender Kleidung unnötige Auf merksamkeit erregen, wenn ich meinen ersten Valloniern über den Weg lief. Itzenca sah mir interessiert zu. »Aber was mache ich mit dir auf Vallon?« fragte ich sie. »Die einzige Katze auf dem Planeten!« Ich kramte in meinem vallonischen Gedächtnis. »Du wirst dich mit einem Iggrfn als Freund abfinden müssen. Aber sie sind ein wenig schwierig, was ihre Persönlichkeit anbelangt.« Als ich mit meinen neuen Kleidern fertig war, durch stöberte ich das Handarbeitszeug und wählte ein Stück Khaffit – eine kupferartige vallonische Legierung, die fast so dauerhaft war wie Khaff, nur leichter zu bearbei ten. Die notwendigen Werkzeuge fand ich in einem Schränkchen. »Keine Angst«, sagte ich zu Itz. »Du wirst auch nicht ohne Kleider an Land gehen müssen. Darin wirst du un widerstehlich aussehen.« Ich setzte sie auf den Werktisch und begann einen Streifen aus dem Khaffit zu schneiden, formte ihn zu einem Ring und bastelte einen einfachen Gleitverschluß. Nach einer ausführlichen Mahlzeit ver 123
brachte ich den Abend damit, »ITZENCA« in das neue Halsband zu gravieren. Dann legte ich es ihr an, und es schien ihr gar nichts auszumachen. »Na also. Wenn wir jetzt auf die Vallonier keinen Eindruck machen, dann liegt es an den Valloniern.« Itzenca schnurrte. Wir spazierten in den Beobachtungsraum. Fremde, ferne Sternsysteme funkelten in farbigem Glanz. »Es wird bald soweit sein«, stellte ich fest. Das Anflugsignal ertönte schrill. Ich beobachtete das Bild der gewaltigen grünen Welt auf dem Schirm, an de ren einem Horizont der grelle Glanz eines weißen Riesen hervorbrach, während die gegenüberliegende Seite im Reflektionslicht des blauen, äußeren Planeten schimmer te. Die Reise war fast zu Ende, und meine Zuversicht nicht mehr ganz so groß. In ein paar Minuten setzte ich den Fuß auf eine unbekannte Welt, und was mochte nicht alles geschehen! Ich besaß nicht mal einen Paß, aber ich hatte wirklich keinen Grund, den Teufel an die Wand zu malen. Ich brauchte doch nur meine wahre Identität in den Hintergrund zu drängen und meinen vallonischen Hintergrund zu meiner Identität zu machen. Trotzdem … Nun lag Vallon direkt unter uns mit einer verschleier ten, graugrünen Landschaft, die hell unter dem Licht der gewaltigen mondartigen Schwesterwelt Cinte lag. Ich hatte die Landeautomatik auf Okk-Hamiloth, die Haupt stadt Vallons, eingestellt, da ich annahm, daß auch Foster dieses Ziel gewählt hatte. Vielleicht fand ich dort seine Spur. Die Stadt erstreckte sich unter uns – ein ausgedehntes Netz bläulich schimmernder Straßen. Keine Kontrollen kümmerten sich um mich. Das war jedoch ganz normal. 124
Ein kleines Schiff auf Automatiksteuerung brauchte kei ne zusätzlichen Anweisungen. Ein wenig besorgt rekapi tulierte ich alles noch einmal: Ich war Drehen, ein Bürger der Zwei Welten, endlich zurückgekehrt von einer über durchschnittlich langen Fernwanderung, und brauchte dringend Instruktionsstäbe, um mich über die neuesten Entwicklungen der Heimatwelt zu informieren. Außer dem benötigte ich eine Aufenthaltsmöglichkeit. Meine Sprache war vom langen Nichtgebrauch nicht mehr ganz so flüssig, und die einzigen Souvenirs, die ich mitbrach te, waren eine Garnitur etwas mitgenommener Eingebo renenkleidung von meiner letzten Landung, eine wunder liche Waffe von der gleichen Welt und ein kleines Tier, an dessen Begleitung ich mich gewöhnt hatte. Der Landering war nun deutlich am Schirm erkennbar und wuchs uns entgegen. Es gab eine kleine Erschütte rung und wir standen. Die Schleuse öffnete sich. Ich blickte hinaus auf die helle Stadt, die sich weit hinaus auf die Hügel erstreckte. Mit einem tiefen Atemzug sog ich die würzige Luft ein, die voll von längst vergessenen Ge rüchen war, und das Vallonische in mir trug eine Woge schmerzlichen Gefühls der endlichen Heimkehr nach langer Zeit hoch. Ich begann die Pistole zu gürten und ein paar Dinge zusammenzupacken, beschloß aber dann, erst auf das Empfangskomitee zu warten. Ich rief Itzenca, und wir verließen das Boot. Wir überquerten die gepflegte Grün fläche, schritten unter den Lichtern des großen Tores durch, mit dem der Weg hinauf zu den hellerleuchteten Terrassen begann. Niemand war zu sehen. Helles Cinte licht lag über den Gärten und Wegen, über den Terrassen und den breiten Straßen dahinter. Aber nirgends sah ich 125
Menschen. Ich lehnte mich an eine niedrige Mauer aus geschliffenem Marmor und versuchte, mir das zu erklä ren. Es war zwar fast Mitternacht, und die Nächte auf Vallon dauerten etwa achtundzwanzig Stunden. Dennoch war das Fehlen jeglicher Betriebsamkeit verwunderlich. Das war ein wichtiger Hafen. Fahrplanmäßige Schiffe, Privatjachten, Regierungsfahrzeuge – sie alle liefen OkkHamiloth an. Aber nicht heute nacht. Itzenca und ich spazierten über die Terrasse und ge langten in einen Erfrischungsraum. Die niedrigen Tische und weichen Couchen standen leer im rötlichen Licht, das von der Decke strömte. Ich hielt den Atem an und lauschte: Totenstille. Nicht einmal das Summen eines Moskitos war zu vernehmen. Diese lästigen Insekten wa ren längst ausgetilgt worden. Die Tische warteten einla dend im sanften Licht. Wie lange schon? Ich setzte mich und versuchte nachzudenken. Ich hatte mir eine ganze Reihe von Plänen zurechtgelegt. Aber mit einem verlassenen Raumhafen hatte ich nicht gerechnet. Wie sollte ich Erkundigungen nach Foster einholen, wenn niemand da war, den ich fragen konnte? Ich verließ den leeren Erfrischungsraum und erreichte eine Wiesenterrasse. Eine breite Front hoher pappelähn licher Bäume bildete eine dunkle Wand jenseits eines stillen Teichs. Dahinter ragten ferne Türme mit farbigen Lichtern hoch. Eine breite Straße führte auf die Hügel zu. Hundert Meter von mir stand ein kleines Fahrzeug am Straßenrand. Darauf steuerte ich jetzt zu. Es war ein niedriger, offener Zweisitzer, chromblit zend und violett gepolstert. Ich glitt in den Sitz und un tersuchte die Armaturen, während Itzenca auf den Ne bensitz sprang. Es war ein einfacher Hebelmechanismus: 126
eine Lenkstange. Es sah ganz einfach aus. Ich versuchte es. Lichter flammten auf, das Gefährt erbebte, hob sich ein paar Zentimeter und schwebte über die Straße. Ich bewegte die Lenkstange und glitt nach einigen hastigen Bewegungen auf die fernen Türme zu. Das System gefiel mir nicht besonders. Ich hätte ein Volant und ein paar gute alte Fußpedale vorgezogen. Aber es war immer noch besser als ein Fußmarsch. Zwei Stunden später hatten wir die Stadt durchkreuzt und nichts gefunden. Sie hatte sich nicht verändert, soweit mein vallonisches Gedächtnis sich daran erinnerte, nur, daß alle Menschen verschwunden waren. Die Parks und Boulevards waren gepflegt, die Brunnen und Teiche blitzten, und die Lichter brannten – doch nichts regte sich. Die automatischen Staubschlucker und Luftfilter würden in alle Ewigkeit hier alles sauberhalten, aber es war niemand da, die Perfektion zu genießen. Ich hielt an, betrachtete stumm das farbige Lichterspiel eines Wasser falls und überlegte. Vielleicht fand ich in einem der Häu ser einen Hinweis. Ich verließ das Fahrzeug und betrat das nächste Gebäude, einen hohen Block aus rötlichem Kristall. Drinnen stand ich in einer großen Halle, in rosa Licht getaucht. Das Schnurren der Katze und mein eige ner Atem waren die einzigen Laute. Ich folgte einem Korridor und kam durch mehrere lee re Räume, alle im alten vallonischen Stil eingerichtet. Die Wände in Jade getäfelt, Brokatvorhänge in schillern den Farben, feurig flammende Teppiche. In einem der Zimmer fand ich einen Mantel aus Halbsamt, den ich mir umhing. Ich fror ein wenig, und der Spaziergang unter den allgegenwärtigen Geistern der Vergangenheit trug nicht gerade zu meiner Erwärmung bei. Wir stiegen eine 127
breite Wendeltreppe hinauf und fanden wieder leere Räume. Ich dachte an die Leute, die sie einst benutzt hat ten. Wo steckten sie jetzt? Ich entdeckte ein klarinettenartiges Instrument und versuchte ein paar Noten. Es gab einen tiefen, weichen Ton von sich, der in den verlassenen Korridoren ein Echo fand. Es klang etwa so, wie ich mich fühlte: traurig und verlassen. Ich ging hinaus auf die Terrasse, hoch über den Gärten, lehnte mich an eine Balustrade und sah hin auf zur strahlenden Scheibe Cintes, die gigantisch, von der vierfachen Größe des Mondes, am vallonischen Himmel hing. »Wir haben den weiten Weg umsonst gemacht«, sagte ich seufzend zu Itzenca, die um meine Beine strich und tröstend hochblickte. Nach der langen Spannung und Er wartung fühlte ich mich plötzlich so leer wie die stum men Zimmer des Hauses. Ich saß auf der Balustrade, lehnte mich zurück an die schimmernde Wand, setzte die Klarinette an und blies ein paar traurige Töne. Was gewesen war, war nicht mehr. Die Pavane für eine tote Prinzessin kam mir in den Sinn, und während ich sie spielte, überkam mich eine hilflose Sehnsucht nach Herrlichkeiten, die ich nie gekannt hat te … Als ich fertig war, ließ mich ein Geräusch aufblicken. Vier große Männer in grauen Umhängen kamen mit dem drohenden Schimmer von Stahl aus den Schatten des Hintergrundes. Ich hatte die Klarinette fallen lassen und war auf den Beinen. Die Balustrade verhinderte meinen totalen Rück zug. Die vier verteilten sich. Der vorderste hielt einen wenig ermunternden Knüppel in der Hand. Er sagte et 128
was zu mir in unverständlichem Kauderwelsch. Ich sah ihn fragend an und versuchte krampfhaft zu überlegen. Er schnappte mit den Fingern. Zwei der anderen drangen auf mich ein und faßten nach meinen Armen. Ich ballte die Fäuste in aller Abwehrbereitschaft, entspannte mich aber dann doch. Schließlich war ich nur ein Tourist, Dre hen mit Namen. Unglücklicherweise schwang der Anfüh rer den Knüppel, bevor sich meine Fäuste sichtbar ent ballt hatten. Der Schlag traf mich am Unterarm. Ich schrie auf und sprang zurück in die Hände der anderen. Mein Arm war tot bis zur Schulter. Ich probierte ein paar Tritte, aber auch das tat mir sofort leid, denn die Männer trugen Rüstungen unter den Umhängen. Der Knüppeltyp sagte etwas und deutete auf die Kat ze … Es war höchste Zeit, daß ich zur Vernunft kam. Ich entspannte mich und gab meinem anderen Ego eine Chance. Ich horchte auf den Rhythmus der Sprache: Kein Zweifel, sie sprachen vallonisch – durch Jahrhunderte entstellt, aber ich konnte es verstehen. »… Musiker nicht etwa ein Eigentümer!« sagte einer. Lachen. »Wessen Mann bist du, Pfeifer? Welche sind deine Farben?« Ich krümmte meine Zunge akrobatisch, um ihren Dia lekt zu treffen. Es schien mir eine grobe Verfälschung des Vallonischen, wie ich es kannte, aber es gelang mir doch zu antworten: »Ich … bin ein … Bürger … Vallons.« »Ein herrenloser Abtrünniger?« Der Anführer hob den Knüppel und sah mich drohend an. »Was ist das für ein erbärmlicher Dialekt, den du da brabbelst?« »Ich war … lange auf Reisen«, stotterte ich. »Ich bitte 129
… um Instruktionsstäbe … und um … eine Unterkunft.« »Eine Unterkunft sollst du haben«, sagte der Mann. »Im Männerbau auf Rath-Gallion.« Er winkte, und Handschellen schnappten um meine Gelenke. Er wandte sich um und ging. Die anderen schoben mich hinter ihm her. Ich erhaschte einen letzten Blick auf Itzencas Schwanz, der über der Balustrade verschwand. Vor dem Gebäude wartete ein langes graues Luftfahr zeug. Sie stießen mich in den Rücksitz und stiegen ein. Gleich darauf blieben die Türme Okk-Hamiloths hinter uns zurück, als wir über die Hügel brausten. Während der kurzen Rauferei hatte ich meinen Um hang verloren und fror nun erbärmlich. Ich lauschte auf die Gespräche der Männer, und was ich hörte, war alles andere als ermutigend. Die Kette zwischen meinen Ge lenken klirrte leise. Ich hatte das dumpfe Gefühl, daß ich mit diesem Geräusch noch recht vertraut werden würde. Meine idealistische Vorstellung über eine Integration in diese neue Welt war überraschend schnell wahr gewor den: Ich war in einer sozialen, gesicherten Stellung ange langt. Ich war ein Sklave. XIII An diesem Abend gab es ein Festbankett auf RathGallion. Ich schlürfte in der Küche meine Suppe und überflog in Gedanken noch einmal das neueste Potpourri, das ich heute zum besten geben sollte. Ich befand mich erst ein paar Wochen auf dem Gut, hatte mich aber schon zu Eigentümer Gopes Lieblingspfeifer emporgerackert. Wenn ich in dem Tempo weitermachte, brachte ich es bald zu einer Einzelkammer im Sklavenbau. 130
Sime, der Feinbäcker, klopfte mir auf die Schulter. »Spiel was Lustiges, Drehen«, sagte er, »und der Rest Zuckerguß ist dein.« »Mit Vergnügen, guter Sime«, antwortete ich. »Ich löffelte rasch die Suppe aus und griff nach meiner Klari nette. Ich hatte ein halbes Dutzend fremdartiger Instru mente versucht, aber ich mochte die Klarinette noch im mer am liebsten. »Was möchtest du hören?« »Eines der ausländischen Lieder, die du auf deinen Reisen gelernt hast«, rief Cagu, der Leibwächter. Ich spielte die Beer Barrel Polka. Sie hämmerten auf den Tisch und schrien begeistert, als ich fertig war. Sime gab mir den Glasurtopf und sah mir zu, wie ich ihn aus kratzte. »Warum beanspruchst du nicht den Rang des ersten Pfeifers, Drehen?« meinte Sime. »Der Tölpel ist dir nicht gewachsen. Dann wärst du ein Freier und könntest fast als Gleichberechtigter bei uns in der Küche sitzen.« Ich leckte die letzten Spuren Glasur von meinen Fin gern und stellte den Topf zur Seite. »Ich würde gern auf gleicher Stufe stehen mit solch einem exzellenten Bäcker wie du es bist, guter Sime«, erklärte ich. »Aber was kann ich als Sklavenpfeifer schon erreichen?« Sime blinzelte erstaunt. »Du mußt den ersten Pfeifer herausfordern«, sagte er. »Jeder hier wird zustimmen, wenn ich sage, daß du ein Meister bist. Hab also keine Furcht vor dem Ausgang der Probe. Du wirst sicher ge winnen.« Er sah die Versammelten auffordernd an. »Ist es nicht so, Leute?« »Dafür verbürge ich mich«, sagte der Suppenmeister zustimmend. »Wenn du verlierst, nehme ich die Schläge für dich entgegen.« 131
»Nicht so rasch, ihr Leute«, wandte ich ein. »Wie kann ich die Stellung eines anderen beanspruchen?« Sime fuchtelte mit den Armen. »Du bist in der Tat auf langer Wanderung gewesen, Pfeifer Drehen. Weißt du wahrhaftig so wenig von den Gebräuchen der Welt? Man könnte dich für einen dieser cinteschen Ketzer halten.« »Es ist wie ich euch berichtet habe, meine Freunde. In meiner Jugend waren alle Menschen frei, und der König regierte in Okk-Hamiloth …« »Es ist nicht gut, von diesen Dingen zu reden«, flüster te Sime. »Nur Eigentümer kennen ihre vorangegangenen Leben, obwohl es Gerüchte gibt, daß vor langer Zeit auch einfache Männer ihr Leben aufzeichneten und sorgsam aufbewahrten. Wie du dazu gekommen bist, frage ich nicht. Sprich nicht davon. Eigentümer Gope ist ein arg wöhnischer Herr. Aber auch edelmütig und achtbar«, fügte er hastig hinzu, wobei er sich in der Runde umsah. »Ich werde nicht mehr davon reden, guter Sime«, ver sprach ich. »Aber ich bin lange fort gewesen. Sogar die Sprache hat sich so verändert, daß meine Zunge alle Mü he damit hat.« Sime stieß die Luft aus den aufgeblasenen Backen und runzelte die Stirn. »Wo soll ich nur beginnen?« sagte er zögernd. »Alle Dinge gehören den Eigentümern. Das ist nur recht und billig.« Er blickte um Zustimmung hei schend in die Runde. Die anderen nickten. »Menschen mit wenig Geschicklichkeit und Können gehören eben falls zum Besitz, und das ist gut so, sonst würden sie als herrenlose Streuner verhungern, wenn sie nicht vorher den Grauen Wächtern in die Hände fielen.« Er machte ein beschwörendes Zeichen und spie auf den Boden. Die anderen taten es ihm gleich. »Geschicklichkeit hingegen ist Voraussetzung für den 132
Status des Freien. Jeder wird nach seinen Fähigkeiten bewertet. Ich bin Lord Gopes Oberster Feinbäcker, weil kein anderer meine Fähigkeiten übertrifft.« Er sah sich herausfordernd um. Niemand widersprach. »Und so ist es mit uns allen.« »Und wenn einer daherkommt und den Platz eines an deren fordert«, warf Cagu ein, »dann muß er sich der Probe unterziehen.« »Das heißt«, erklärte Sime und zupfte an seinem Schurz, »dieser Emporkömmling eines Bäckers muß ge gen mich antreten. Und alle in der Halle werden darüber richten. Wer den Sieg davonträgt, ist fortan der Oberste Feinbäcker. Der andere erhält ein Dutzend Schläge für seine Anmaßung.« »Aber hab keine Furcht, Drehen«, meinte Cagu. »Ein Oberster Pfeifer ist nur gut für fünf Schläge. Allenfalls ein Hofmeister beansprucht noch niedrigeren Rang unter den Freien. Und außerdem hat der gute Suppenmeister sich erboten, die Schläge für dich entgegen zu nehmen.« Ein Brüllen kam von der Tür. Rasch griff ich nach meiner Klarinette und eilte hinter dem Diener her. Eigen tümer Gope liebte es nicht, wenn er auf Sklavenpfeifer warten mußte. Ich trat in den großen Kreis innerhalb des ringförmigen, speisenbeladenen Tisches. Der Oberste Pfeifer kam eben mit einer Serie kaum erträglicher Töne aus einem dudelsackähnlichem Instrument zum stürmi schen Finale. Er war ein dürrer, schielender Kerl, der die Sklavenpfeifer gern herumkommandierte. Er stolzierte auf und ab und bearbeitete die verschiedenen Luftsäcke, daß das Gekreische durch Mark und Bein ging. Eigentümer Gope musterte ihn finster. Er griff nach einem schweren Messingkrug und erhob sich halb, wäh rend er ausholte. Der Musikant sah ihn rechtzeitig kom 133
men und duckte sich. Der Krug traf einen der geblähten Luftsäcke, einen gelben mit grünen Quasten, der mit ei nem blökenden Ton zerplatzte. »Genug des Gedudels!« brüllte Eigentümer Gope. »Bevor die Hügelgeister solchem Quäken ein Ende ma chen!« Dann entdeckte er mich. »Ali, mein lieber Duchen, oder Dienen«, rief er. »Du bist ein Pfeifer nach meinem Herzen! Blas diesem Quäker den Marsch, bevor uns der Wein in den Bechern versäuert.« Ich verbeugte mich tief, setzte an und legte los mit dem One O’Clock Jump. Dem stürmischen Gebrüll nach zu schließen, mochten sie es. Ich spielte Little Brown Jug und als Draufgabe String of Pearls. Gope klopfte auf den Tisch, und es wurde ruhig. »Wahrlich, der außergewöhnlichste Sklave in ganz RathGallion!« rief er. »Wärst du nicht ein Sklave, würde ich auf dein Wohl trinken.« »Mit Eurer Erlaubnis, Eigentümer?« fragte ich. Gope sah mich erstaunt an und nickte dann gnädig. »Sprich, Dochen.« »Ich fordere den Rang des Obersten Pfeifers. Ich …« Rufe überdröhnten meine Worte. Gope grinste breit. »So sei es«, erklärte er. »Stimmen wir gleich ab, oder müssen wir noch mehr von dem unerträglichen Gedudel hören, bevor wir unseren guten Dochen zum Obersten Pfeifer ernennen?« »Ernennen!« rief jemand. »Das Gesetzt verlangt die Probe«, wandte ein anderer unsicher ein. Gope hieb mit der Faust auf den Tisch. »Schafft mir Iylk, den Obersten Pfeifer her!« rief er. »Samt seinen elenden Luftsäcken!« 134
Der Pfeifer erschien gleich darauf und fingerte nervös an seinem Instrument. »Die Stelle des Obersten Pfeifers ist ab sofort frei«, erklärte Gope mit lauter Stimme. Der Pfeifer drückte er schreckt einen rosa Sack, der ein leises Quieken von sich gab. » … da der frühere Oberste Pfeifer in ein neues Amt aufgestiegen ist«, führte Gope weiter aus. Ein blauer Sack stöhnte verloren in dem Gebrüll und Gejohle. »Macht diesen Luftsäcken den Garaus!« rief Eigentü mer Gope. »Ihr Gequäke soll niemals wieder auf RathGallion erschallen. Und vernehmt es alle: Der einstige Pfeifer ist nun Oberster Narr des Hauses. Die zerschnit tenen Säcke seien das Zeichen seines neuen Amtes.« Brüllendes Lachen mischte sich mit fröhlichen Rufen und schrillen Pfiffen. Freiwillige stürmten vor und mach ten sich über die farbigen Säcke her, die mit letzten Miß tönen ihr Leben aushauchten. Ein Sklavennarr wickelte dem Expfeifer das zerfranste Instrument um den Kopf. Ich spielte Mairzy Doats, und der einstige Pfeifer ver suchte behutsam, seine ersten Possen. Eigentümer Gope wand sich vor Lachen. Ich setzte mit Dipsy Doodle fort, und der neue Narr, hingerissen vom Erfolg, hüpfte und schnitt Grimassen und tanzte und torkelte, daß die schlaf fen Säcke flogen und die ganze Versammlung Tränen lachte. »Welch ein Tag für Rath-Gallion!« schrie Gope. »Bei den Hörnern des Meeresgottes, mein sind ein Fürst der Pfeifer und ein König der Narren! Ich erkläre sie zu Zehnhiebmännern, und beiden ist von nun an ein Platz an der Tafel gewährt!« Der Narr und ich brachten noch drei Nummern vor, dann gestattete uns Gope, am fernen Ende des Tisches 135
auf einer harten Bank Platz zu nehmen. Ein Tischsklave brachte uns volle Teller. »Gut gemacht, wackrer Drehen«, flüsterte er mir zu. »Vergiß uns Sklaven nicht ganz in deinem neuen Amt.« »Keine Angst«, erwiderte ich, berauscht vom Duft ei nes gewaltigen Stück Bratens. »Ich werde abends bei Cinteaufgang auf einen kleinen Imbiß zu euch kommen.« Ich blickte mich in der barbarisch aufgeputzten Halle um und sah alles mit anderen Augen. Ein wenig Sklave rei, und man lernte die bescheidensten Freiheiten schät zen. Alles, was ich über Vallon zu wissen glaubte, hatte sich als falsch erwiesen: Die vergangenen Jahrhunderte hatten alles verändert, und nichts zum Besseren. Das Val lon, das Foster kannte, lag im Staub dieser Jahrhunderte begraben. Die alten Paläste und Villen lagen verlassen. Niemand benützte die Raumhäfen mehr. Und das alte Gedächtnisspeicherungssystem war ebenfalls vergessen. Ich konnte mir nicht vorstellen, welches Verhängnis die ses Zentrum eines galaktischen Imperiums so weit zu rück in einen mittelalterlichen Abgrund geschleudert ha ben konnte; aber es war geschehen. Bis jetzt hatte ich nicht die geringste Spur von Foster entdeckt. Meine Fragen hatten mich nicht einen Schritt weitergebracht. Vielleicht hatte es Foster nicht geschafft. Ein Unfall im Raum konnte seine Ankunft verhindert haben. Oder er war auf der anderen Seite des Planeten gelandet. Vallon war eine riesige Welt und nun ohne aus reichende Kommunikationsmittel. Vielleicht war Foster auch tot. Ich konnte hier steinalt werden, ohne die Ant worten auf meine Fragen zu finden. Ich erinnerte mich an meine eigene Enttäuschung, als meine Illusionen in jener Nacht in Okk-Hamiloth ver pufften. Wie sehr mußte es erst Foster erschüttert haben! 136
Und nun saßen wir beide im selben Boot: voll Erinne rungen an das alte Vallon und voll Bitterkeit über die traurige Gegenwart. Und Fosters Gedächtnis, das ich als Mitbringsel bei mir hatte, konnte ich mir höchstens als nettes Souvenir an den Hals hängen, obwohl es alles andere als eine über flüssige Kopie war, denn die Speicher in Okk-Hamiloth blieben allen verschlossen. So wichtig es auch für Foster sein mochte, es gab auf dem ganzen Planeten keine be nutzbare Übertragungsmaschine. Trotzdem – ich mußte Foster finden. Und wenn es … Eigentümer Gope summte laut und unmelodisch vor sich hin. Ich wußte, was es bedeutete, und machte mich zum Spielen bereit. Oberster Pfeifer zu sein war wahr scheinlich auch kein Honiglecken. Aber ich war wenig stens kein Sklave mehr. Ich hatte noch ein schönes Stück Weg vor mir. Es schien voranzugehen. Eigentümer Gope und ich kamen recht gut miteinander aus. Er war ein schlauer alter Fuchs, und es gefiel ihm, solch einen ungewöhnlichen Pfeifer in seinem Haus zu haben. Von den Grauen Wächtern – einer Art unabhän giger Polizei, die auf eigene Faust arbeitete – hatte er von meiner Landung auf dem verlassenen Raumhafen erfah ren. Er warnte mich vor unvorsichtigen Offenbarungen meiner Kenntnisse über das frühere Vallon. Die ganze Sache war tabu – besonders, was die alte Hauptstadt und die Regierungspaläste anbelangte. Kein Wunder, daß mein Auftauchen an diesen verbotenen Orten die Wäch ter sofort auf die Beine gebracht hatte. Gope nahm mich überall hin mit. Mit dem Flugwagen, dem Bodenfahrzeug oder der Flußbarke. Es gab eine ganze Menge Fahrzeuge. Aber trotz ihrer einfachen Be 137
dienungsweise wußten nur wenige damit umzugehen. Die Flugwagen waren am günstigsten, weil sie keine Straßen brauchten. Doch Gope zog Bodenfahrzeuge vor. Es schien ihm viel Spaß zu machen, mit neunzig, hundert Sachen auf den zum Teil noch intakten Straßen dahinzu brausen. Eines Nachtmittags, ein paar Monate nach meiner Be förderung, kam ich kurz vor der Abfahrt in die Küche. Ich sollte mit Eigentümer Gope und seinem üblichen Ge folge nach Bar-Ponderone reisen. Das war ein großes Gut, hundertfünfzig Kilometer nördlich von Rath-Gallion in der Richtung Okk-Hamiloths. Sime und die übrigen Sklaven packten mir Leckerbissen ein und bereiteten mich auf eine stürmische Fahrt vor. Die Straße dorthin war ein Lieblingskind der Überlandpiraten. »Ich verstehe nicht«, meinte ich, »warum Meister Go pe den Wagen nicht bewaffnet und das Wegelagererge sindel einfach niedermacht. Jedesmal, wenn er sein Gut verläßt, riskiert er sein Leben.« Die Jungs waren entsetzt. »Selbst diese piratisierenden Abtrünnigen würden es nicht im Traum wagen, das Le ben eines Vallonen anzutasten, guter Drehen«, führte Sime aus. »Alle Eigentümer im ganzen Umkreis würden sich zusammentun und Jagd auf solche Schurken ma chen. Nein, keiner würde so tief sinken, einem anderen alle Leben zu rauben.« »Die Piraten wissen selber gut genug, daß sie in ihrem nächsten Leben vielleicht einfache Gefolgsleute sein werden, vielleicht sogar Sklaven«, warf der Oberste Mundschenk ein. »Denn du mußt wissen, guter Drehen, wenn ein Mitglied einer Piratenbande den Wechsel er fährt, dann bringen die anderen den Neuen zu einem Gut, auf dem er heranreifen kann …« 138
»Wie häufig erleidet man den Wechsel?« fragte ich. »Das ist recht unterschiedlich. Einige mit großen kör perlichen und inneren Kräften überdauerten drei- bis vierhundert Jahre. Aber der Durchschnittsvallone schaff te nur achtzig bis hundert Jahre.« Sime hielt nachdenk lich inne. »Es kann auch weniger sein. Ein anstrengen des, aufregendes, gefahrenvolles Leben bringt das Alter früher als ein friedvolles, geruhsames. Auch ungewöhnli che Veränderungen können ein Leben ungemein verkür zen. Ein Verwandter von mir, der in die Große Felswüste tief im Süden verschlagen worden war und drei Wochen lang mit einem Beutel Wein als einziges Nahrungsmittel auskommen mußte, erlitt nach nur vierzehn Jahren den Wechsel. Als man ihn fand, war sein Gesicht zerfurcht und sein Haar ergraut, wie es deutliche Vorzeichen des Wechsels sind. Und bald darauf erlitt er einen Anfall und schlief einen Tag und eine Nacht. Als er erwachte, war er ein Neuer: jung und ohne Wissen.« »Hast du ihm nicht gesagt, wer er war?« »Nein!« Flüsternd fuhr Sime fort: »Eigentümer Gope schätzt dich sehr, guter Drehen, und mit Recht. Dennoch gibt es Dinge, über die man besser nicht spricht …« »Ein Neuer nimmt einen Namen an und lernt eine Kunst, die ihm gut und recht erscheint«, erklärte der Oberste Metzger. »Mit seiner Fertigkeit kann er sich hocharbeiten. Wie du es getan hast, guter Drehen.« »Habt ihr keine Gedächtnismaschinen … oder Instruk tionsstäbe?« bohrte ich weiter. »Kleine schwarze Stäbe. Man hält sie an die Schläfe und schon …« Sime machte eine abwehrende Geste. »Ich habe von diesen Zauberstäben gehört. Verbotene Überbleibsel der schwarzen Künste …« »Unsinn«, fuhr ich dazwischen. »Du glaubst doch 139
nicht an Zauberei, oder, Sime? Die Stäbe sind nichts wei ter als wissenschaftliche Errungenschaften deines Vol kes. Wie es geschehen konnte, daß das Wissen eurer Vorfahren in Vergessenheit geriet …« Sime hob abwehrend die Hände. »Guter Drehen, dring nicht weiter in uns. Diese Dinge sind verboten.« »Schon gut, Freunde. Vielleicht sollte ich mir die Schnüffelei abgewöhnen.« Ich begab mich zum Wagen, um auf Eigentümer Gope zu warten. Eines war klar: Ich wußte wesentlich mehr über die Geschichte Vallons als seine Bewohner. Ich konnte ebensogut versuchen, aus meinen Erfah rungen einige Schlüsse zu ziehen. Die wahrscheinlichste Theorie schien mir, daß ein plötzlicher sozialer Umsturz zum Zusammenbruch der wichtigen Kulturträger, der Instruktionstechniken und Gedächtnisspeicherung, ge führt hatte. Das vallonische Gesellschaftsgefüge mußte sich, seiner fundamentalen Stützen beraubt, unaufhaltsam verändert haben, verändert in ein feudales Staatsgebilde, wie es vielleicht fünfzigtausend Jahre früher, vor dem Beginn der Gedächtnisspeicherung, existiert hatte. Die Menschen, die sich nun vor realen und vielfach auch eingebildeten Gefahren schutzsuchend auf den Gü tern der Eigentümer zusammenrotteten und die alten Vil len und Städte wie die Pest mieden, wußten nichts von Sternenreisen und dem alten vallonischen Glanz. Wie Sime hatten sie kein Bedürfnis, auch nur davon zu reden. Vielleicht konnte ich auf dem größeren Gut BarPonderone mehr in Erfahrung bringen. Ich war erpicht auf die Fahrt. Rath-Gallion hing mir zum Hals ‘raus. Es war ein kleines, uninteressantes Anwesen, das sich über einen Raum von etwa dreißig Quadratkilometer erstreck te und damit ein halbes Dutzend ländlicher Dörfer um 140
faßte, in denen die Gefolgschaft wohnte. Und natürlich Gopes großes Haus. Aber das war auch alles. Man mußte hier verkümmern. Gope erschien endlich mit Cagu, zwei weiteren Leib wächtern, vier Tänzerinnen und einem extra großen Ge schenkkorb. Sie stiegen alle ein, und der Fahrer lenkte den schweren Wagen auf die Straße hinaus. Ich atmete auf. Endlich Neuland. Vielleicht würde ich auf BarPonderone etwas über Foster erfahren. Wir kurvten etwa mit siebzig eine gewundene Berg straße hinab. Ich saß vorn neben dem Fahrer, spielte ner vös mit meiner Klarinette und ließ die Straße nicht aus den Augen. Der Fahrer hielt den Geschwindigkeitshebel mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden und fuhr auch wie ein solcher. Es war nicht allein seine Schuld: Gope drängte zur Eile. Als wir mit kreischenden Rädern um eine Kurve ka men und der Fahrer mit bleichem Gesicht um die Herr schaft über den Wagen kämpfte, sahen wir plötzlich ein anderes Fahrzeug dreihundert Meter vor uns quer über die Straße geparkt. Der Fahrer klammerte sich an den Bremshebel. Hinter uns brüllte Eigentümer Gope: »Piraten! Nicht langsamer werden!« »Aber, aber, Meister Gope …«, stieß der Fahrer hervor. »Wir rammen die Schurken, wenn es sein muß!« rief Gope. »Nur nicht anhalten!« Die Mädchen im Rücksitz kreischten erschrocken. Die Diener jammerten. Der Fahrer verlor vor lauter Augenrollen fast die Kontrolle über den Wagen. Dann biß er deutlich hörbar die Zähne zusammen, schaltete die Anti kollisionsautomatik ab und brachte den Gashebel auf An schlag. Einen langen Augenblick starrte ich wie gelähmt 141
auf das heranwachsende Hindernis, dann griff ich nach den Kontrollen, an die sich der Fahrer mit halber Toten starre klammerte. Ich holte aus und versetzte ihm einen Kinnhaken, der ihn kooperativ zur Seite rücken ließ. Ich faßte die Lenkstange. Es war verteufelt schwierig, in die ser Stellung zu steuern, aber immer noch besser, als mit über hundert Sachen in das Hindernis zu krachen. Der blockierende Wagen blieb stur wie ein Huhn auf den Eiern sitzen. Noch hundert Meter, fünfzig. Ich riß das Gefährt nach rechts auf die Bergwand zu. Der Pirat rollte zurück, um uns den Weg abzusperren. In dem Au genblick steuerte ich hart nach links, passierte das Hin dernis mit einem guten Zentimeter Zwischenraum, schoß am Straßenrand entlang mit dem linken Rad über dem Abgrund und war im nächsten Moment wieder auf der Straßenmitte. »Gut gemacht!« rief Cagu. »Aber sie werden uns verfolgen!« brüllte Gope. »Mörder! Meuchlerisches Gesindel!« Der Fahrer schlug die Augen auf. »Klettere über mich!« schnappte ich. Er gehorchte mit unverständli chem Gebrummel, und ich glitt in seinen Sitz, ohne den Beschleunigungshebel loszulassen. Wir rasten auf eine Kurve zu, und ich warf einen raschen Blick auf den Rück-Beobachter: Die Piraten hatten den Wagen herum gedreht und machten sich an die Verfolgung. »Schneller!« befahl Gope. »Es ist nicht mehr weit bis Bar-Ponderone. Sechs, sieben Kilometer vielleicht …« »Wie schnell sind sie?« rief ich nach hinten. »Schneller als wir«, erklärte Cagu frisch-fröhlich. »Und wie ist die Straße?« »Ausgezeichnet«, antwortete Gope. »Gerade und eben. Wir haben die Berge hinter uns.« Wir kamen kreischend aus der Kurve. Vor uns die Ge 142
rade, aus der eine Serpentinenstraße abzweigte. »Was ist das?« rief ich. »Ein kurvenreicher Weg«, keuchte der Fahrer. »Er führt auch nach Bar-Ponderone, aber es dauert länger.« Ich bremste abrupt und schaffte es gerade noch. Auf heulend raste das Gefährt den steilen Weg hinauf zwi schen die Hügel. Gope brüllte auf. »Bei allen Geistern! Du bist mit den Schurken im Bund …!« »Wir haben keine Chance auf der Geraden!« rief ich. »Nicht, wenn’s auf die Geschwindigkeit ankommt!« Ich hatte alle Hände voll zu tun. Die scharfen S-Kurven wanden sich zwischen spitzen Felsklippen durch mit prächtigen Ausblicken auf ein weites, grünes Hügelland. Aber ich hatte keine Zeit für das Panorama. Aufgeregte Rufe aus dem hinteren Teil des Wagens richteten meine Aufmerksamkeit auf die Verfolger, die eben in den Ser pentinenweg einbogen. »Können sie uns den Weg abschneiden?« rief ich. »Nein«, antwortete Gope. »Außer sie haben Verbün dete vor uns. Aber diese Schurken arbeiten sicher allein.« Während dieser Fahrt wurde ich zu einem Virtuosen mit Bremshebel, Gashebel und Lenkstange. Unter ständi gem Kreischen der Räder in den engen Kurven preschten wir höher und höher. Der Piratenwagen kam dennoch ständig näher. Vor uns tauchte ein Tunnel auf. »Werft etwas aus dem Wagen, sobald wir im Tunnel sind«, rief ich. »Alles, was entbehrlich ist!« »Meinen Mantel«, schrie Gope. »Und den Geschenk korb.« Einer der Diener fing zu wimmern an, und die Mäd chen fielen mit schrillen Jammerrufen ein. »Ruhe!« brüllte Gope. »Helft mit, oder ich werfe euch 143
hinaus, beim Barte des Seeteufels!« Wir rasten in den Tunnel hinein. Das Brüllen des Fahrtwindes drang ins Innere, als das Hinterverdeck auf schwang. Gope und Cagu stemmten den schweren Ge schenkkorb hoch und stießen ihn hinaus. Ein Mantel, ein Weinkrug, Schuhe und gemischtes Obst folgten. Im näch sten Augenblick wurde es wieder hell, und wir jagten in eine Kurve. Nicht weit hinter uns tauchten die Piraten aus der Tunnelöffnung auf. Gopes schwarz-gelber Mantel hing quer darüber, von Obstresten übersät. Teile des Korbes schleiften unter dem Fahrgestell. Der Wagen schaukelte heftig, und ein Zipfel des Mantels rutschte zur Seite und verschaffte dem Fahrer gerade noch rechtzeitig freie Sicht. »Pech«, sagte ich. »Wir haben eine schnurgerade Stra ße vor uns, und mit meiner Weisheit ist’s auch vorbei …« Die Verfolger holten rasch auf. Ich hielt den Gashebel ganz im Anschlag, aber der andere Wagen war einfach schneller. Kaum noch hundert Meter. Jetzt fünfzig. Gleich darauf fuhren wir Seite an Seite. Ich bremste un merklich, bis seine Vorderräder überholt hatten, dann schlug ich scharf ein. Ein berstendes Geräusch, und ich brauchte alle Kraft, die Lenkstange zu halten, als wir von dem schwereren Wagen zurückprallten. Erneut setzte er zum Überholen an. Schulter an Schulter rasten wir mit hundertdreißig einen steilen Abhang hinab. Ich bremste hart, schnitt scharf nach links, streifte sein Hinterrad und blieb zurück. Er bremste ebenfalls. Das war ein Fehler. Das schwere Gefährt kam ins Schleudern. In Zeitlupe hob es hinten ab, während die Nase eine Wolke von Staub aufpflügte. Der Korb löste sich, der Mantel flatterte wie ein sterbender Vogel. Das Piraten fahrzeug schien einen Augenblick lang zu schweben, bevor es mit aufgestellten Rädern über den Abhang ver 144
schwand. Allein rasten wir den Rest des Weges hinab und quer durch eine bewaldete Ebene auf die Türme von Bar-Ponderone zu. Rufe erklangen vom Rücksitz. Meister Gope lehnte sich vor und hieb mir auf die Schulter. »Bei den neun Augen des Hügelgeistes!« brüllte er. »Es war meister haft! Der Fürst der Pfeifer ist auch ein Fürst der Fahrer! Heute nacht sitzt du an meiner Seite an der Ringtafel in Bar-Ponderone als hunderthiebrangiger Oberst Fahrer, so wahr ich Eigentümer Gope bin!« »Halb so wild«, sagte ich. »Ich bin anderen Verkehr gewöhnt.« Ein wenig schwach klammerte ich mich an den Lenker. Es war Wahnsinn gewesen, den schwereren Wagen anzurempeln. Aber es hatte geklappt und mir eine neuerliche Beförderung eingebracht. Ich kam flott voran. »Und daß mir niemand eine Mordanklage erhebt«, fuhr Gope fort. »Ich dulde nicht, daß dieser großartige Fahrer-Pfeifer in den Kerker wandert. Von euch allen verlange ich, daß über diesen Vorfall geschwiegen wird! Diese Schurken sind in ihrer Schurkerei einen Schritt zu weit gegangen.« Das kam mir auch erst jetzt in den Sinn. Töten war hier das größte und verabscheuungswürdigste Verbre chen, weil man nicht ein Leben vernichtete, sondern alle Leben eines Menschen. Die Strafe war lebenslängliches Eingemauertsein – ein Leben lang zwar nur, aber für mich bereits zuviel. Ich hatte nur das eine Leben. Das Leben hier war ein nicht ungefährliches Spiel; aber es sah so aus, als gehörte die Welt dem Wagemutigen … Den ersten Tag auf Bar-Ponderone verbrachte ich damit, mich auf den Straßen und in den großen Gebäuden um zusehen, um nach Foster Ausschau zu halten. Ebensogut 145
hätte ich unter den Leibdienern des Schahs von Afghani stan nach einem alten Schulfreund suchen können. Trotzdem hielt ich die Augen offen. Bei Sonnenuntergang war ich nicht viel klüger als vorher. Ausgestattet mit dem letzten Schrei eines valloni schen Krausenumhanges, saß ich mit Freund Cagu, dem Obersten Leibwächter, und Eigentümer Gope an einem kleinen Tisch auf der ersten Terrasse des Palastes der Lustbarkeiten, Bar-Ponderones größtem Festgebäude. Es sah etwa so aus, wie sich ein Hollywoodproduzent einen Nachtklub des einundzwanzigsten Jahrhunderts vorstel len mochte – komplett mit neun Tanzsälen auf fünf Stockwerken, Schwimmbecken, Springbrunnen, zweitau send Tischen, Musikern, Mädchen, Wirbel, farbigen Lichtern und auserlesenen Fressalien. Alle Gefolgsränge von Fünfzighieb aufwärts hatten Zutritt. Nach dem Hinterwäldlerdasein auf Rath-Gallion war das hier recht ordentlich. Cagu war ein mürrisch aussehender alter Knabe, der aber das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Sein Gesicht sah aus wie ein mittleres Schlachtfeld nach einem Bom benteppich. Seine Nase war so flachgehämmert, daß sie im Profil gar nicht mehr in Erscheinung trat. »Wo bist du nur in all die Raufereien geraten, Cagu?« fragte ich ihn. »Ich kenne dich jetzt drei Monate, und es gab nie einen Anlaß für einen Kampf.« »Hier.« Er grinste und entblößte ein paar zerschlagene Vorderzähne dabei. »Diese Großgüter sind eine feine Sache, guter Drehen. Hier spielt sich immer was ab.« »Aber wie fängst du es an? Schlägst du auf der Straße Radau?« »Nein. Die Jungs kommen her, trinken und sehen sich um, wo sich etwas tut, und …« 146
»Du meinst, sie fangen hier im Speisesaal eine Raufe rei an?« »Sicher. Gutes Publikum. Mordsspaß.« Ich hob mein Glas, schwenkte es Cagu zu und hatte es im nächsten Augenblick im Schoß, als jemand heftig ge gen meinen Arm stieß. Ich blickte auf und gewahrte ein zweites Schlachtfeldgesicht. »Wer ist der Tölpel, Cagu?« krächzte er und stocherte mit einem Silberzahnstocher in einem Backenzahn, wo bei seine Augen zwischen Cagu und mir hin- und her wanderten. Cagu erhob sich und knallte ihm eine Rechte in den Wanst. Dieser knickte nach vorn, umklammerte Cagu und warf mir einen verärgerten Blick zu. Cagu stieß ihn von sich und hielt ihn sich vom Leib. »Langsam, Mull«, sagte er. »Laß die Finger von mei nem Freund. Er ist der größte Pfeifer im Land und Ober ster Fahrer noch dazu!« Mull massierte seinen Magen und setzte sich neben mich. »War schon besser gewesen, dein Schlag, Cagu.« Dann wandte er sich mir zu. »Tut mir natürlich leid. Hielt dich für einen der Jungs.« Er winkte einem vorübereilen den Dienersklaven zu. »Bring meinem Freund neue Klei der. Aber beeil dich.« »Macht es den Gästen nichts aus, wenn ihr hier zwi schen den Tischen eure Schwergewichtskämpfe aus tragt?« fragte ich. »Ich meine, solange nicht mehr als nur ein Glas durch die Luft fliegt, ist es ja nicht schlimm. Das kann auch in jeder Kneipe in Manhattan passieren. Aber wenn das ganze Menü …« »Wir gehen natürlich auf den Platz.« Er deutete in eine Richtung und musterte mich genauer. »Wo kommst du her, Pfeifer? Wohl zum erstenmal in einem Palast, wie?« 147
»Drehen war lange auf Reisen«, warf Cagu ein. »Er ist in Ordnung. Hör zu, da waren diese Piraten hinter uns her und …« Cagu und Mull entpuppten sich als prächtige Mär chenerzähler, während ich mich ernsthaft mit dem Trin ken beschäftigte. Obwohl ich an meinem ersten Tag auf Bar-Ponderone nichts über Foster erfahren hatte, war dieser Ort ein besserer Ausgangspunkt als Rath-Gallion. Auf dem Gut befanden sich zwei größere Städte und mehrere Dörfer. Unter der Bevölkerung konnte ich viel leicht am ehesten jemanden finden, mit dem sich über Geschichte plaudern ließ. Oder jemand, der Foster kannte. »He!« knurrte Mull. »Sieh an, wer da kommt!« Ich folgte seinem Blick. Drei Grizzlybärgestalten tänzelten auf den Tisch zu. Einer von ihnen, ein Zweimeterzehn typ, langte nach Cagu und Mull und knallte ihre Köpfe zusammen. Ich sprang auf, holte aus … und war gleich darauf von Glühwürmchen umgeben, die rasch verlösch ten. Ich setzte mich auf und schlug mit dem Kopf gegen ein Hindernis. Stöhnend befreite ich meinen Fuß aus den Stuhlspros sen und kroch unter dem Tisch hervor. Ein Dienersklave half mir auf die Beine und klopfte den Staub von mir. Der Zweimeterzehntyp lümmelte in einem Stuhl und nickte. »Du solltest dich nicht mit Kerlen wie diesem Mull sehen lassen«, meinte er. »Cagu hat uns aufgeklärt, daß du nur ein Pfeifer bist. Aber so wie du aus dem Stuhl hochkamst …« Er zuckte die Schultern und wandte seine Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen zu. Ich überprüfte meine diversen Gelenke, schob die 148
Kinnlade hin und her und betastete den Nacken. Nichts war kaputt. »Hab ich dir das zu verdanken?« fragte ich. »Ja.« Ich ging zu seinem Stuhl, suchte mir den günstigsten Punkt und räuspert mich. »He, du!« Er wandte sich zu mir und ich legte alles, was ich hat te, in eine rechte Gerade gegen sein Kinn. Er kippte nach hinten, streckte die Füße hoch, passierte das Geländer, ohne daß es ihn wesentlich bremste, und fiel zwischen zwei Tische. Ich sah ihm nach. Ein paar Leute blickten mißbilligend zu mir hoch. »Tut mir leid, Freunde«, erklärte ich. »Er muß ausge rutscht sein.« Ein Ruf drang vom Boden hoch. Ich entdeckte einen freien Kreis in der Menge zwei Stockwerke tiefer, wo sich zwei gewichtige Typen in die Fresse schlugen. Einer von ihnen war Cagu. Sein Gegner stürzte zu Boden. Ein anderer trat in den Ring an seine Stelle. Ich machte mich auf den Weg zur Arena. Cagu prügelte sich noch mit zwei weiteren, bevor er zusammenklappte und aus dem Ring geschleift wurde. Ich zerrte ihn in einen Stuhl, zwängte ein Glas in seine Faust und sah den Kämpfenden zu. Es war nicht schwer herauszufinden, warum sie ihre zerschlagenen Gesichter als Berufssymbol vor sich her trugen. Sie kämpften ohne jede Verteidigung. Sie standen sich gegenüber und hie ben so fest wie möglich zu, bis einer umfiel. Es war nicht sehr einfallsreich; aber die Zuschauer waren begeistert. Cagu kam nach einer Weile zu sich und erzählte mir die ses und jenes über die Kämpfer. »Sie sind alle nicht übel«, führte er aus. »Aber es ist nicht mehr so wie früher, als ich noch jung war. Da hätte 149
ich drei von der Sorte mit der Linken hingestreckt. Der einzige, mit dem es vielleicht nicht ganz so einfach ge wesen wäre, ist Torbu.« »Welcher ist das?« »Ich hab ihn am Ring noch nicht bemerkt. Wahr scheinlich wird er zum Schluß kommen und aufräumen mit allem, was noch auf den Beinen steht.« Weitere Gladiatoren drängten sich zum Ring, legten ihre bunten Umhänge und Wämser ab und stürzten sich ins Getümmel. Andere gingen zu Boden, wurden aus dem Weg gezerrt und wieder auf die Beine gebracht. Nach einer Stunde war die Schlange der Wartenden zusammengeschrumpft. Die beiden Kämpfer im Ring droschen sich, umklammerten einander, holten erneut aus und verfehlten ihr Ziel. Die Menge johlte. »Wo bleibt Torbu?« fragte Cagu verwundert. »Vielleicht ist er gar nicht zum Fest gekommen«, gab ich ihm zu bedenken. »Aber ja doch! Du hast ihn selbst gesehen! Er war es doch, der dich unter den Tisch geschlagen hat!« »Oh, der?« »Wo ist er hin?« »Als ich ihn zum letztenmal sah, lag er ziemlich still am Boden«, erklärte ich. »Wie das?« »Ich lasse mich nicht gern von jedem Dahergelaufenen unter den Tisch prügeln. Ich hab ihm eine verpaßt.« »He!« brüllte Cagu. Seine Augen leuchteten auf. Er sprang auf die Beine. »Nicht so rasch«, rief ich. »Was …?« Cagu stürmte an den Ring, holte aus und legte den er sten Kämpfer flach, drehte sich um und räumte den ande ren aus dem Weg. Er streckte beide Arme über den Kopf. 150
»Rath-Gallion hat einen Champion!« brüllte er. RathGallion nimmt jede Herausforderung an!« Er winkte mir heftig zu. »Hier ist unser Meister, Drehen, er …« Ein Aufbrüllen ließ uns herumfahren. Torbu stieß sich einen Weg durch die Menge. Sein Gesicht war rot, sein Haar noch immer zerrauft. »Nur nicht so voreilig!« rief er. »Ich bin der Champi on hier …« Er holte gegen Cagu aus, verfehlte ihn aber, weil dieser sich duckte. »Hah, hört Leute!« rief Cagu. »Unser Junge hier, Dre hen, hat ihm ein Ding verpaßt, daß ihm seine große Schnauze für eine Weile verging! Er ist der neue Cham pion.« »Ich war nicht vorbereitet!« schrie Torbu. »Ein Zu fallstreffer, weiter nichts.« Er wandte sich an die auf merksame Menge. »Ich binde mir das Schuhband, ver steht ihr? Und da kommt dieser Kerl daher …« »Vorwärts, Drehen!« rief Cagu und winkte mir erneut zu. »Wir zeigen’s ihm!« Torbu fuhr herum und traf Cagu mit einem vollen Schwinger. Der alte Kämpfer knallte hart auf, glitt ein Stück über den Boden und lag still. Ich sprang auf. Man zerrte Cagu zum nächsten Tisch und hob ihn in einen Stuhl. Ich drängte mich durch die Menge. Ein Mann beugte sich über Cagu. Als er sich wieder auf richtete, war sein Gesicht schneeweiß. Ich stieß ihn zur Seite und faßte nach dem Handgelenk des Leibwächters. Kein Puls. Cagu war tot. Torbu stand mit offenem Mund im Ring. »Was …?« begann er. Ich drängte ein paar Zuschauer aus dem Weg. Er sah mich kommen, duckte sich und holte aus. Ich duckte mich ebenfalls und schlug hoch: ein mu stergültiger Kinnhaken. Er taumelte zurück. Ich folgte und hieb rechts und links gegen seinen Leib, unterlief 151
seine wilden Schwinger und hämmerte eine Serie gegen seinen Schädel. Danach stand er mit glasigen Augen und schlaffen Armen, und ich legte alles, was ich hatte, in eine frontale Gerade. Er fiel wie ein Klotz. Keuchend sah ich zu Cagu hinüber. Sein vernarbtes Gesicht war wachsbleich und seltsam verändert – erfüllt von Frieden. Irgend jemand half Torbu auf die Beine und führte ihn aus dem Ring. Welch ein Abend! Nun brauch te ich nur noch die Leiche zu nehmen und zu gehen … Ich trat zu Cagu, den man auf den Boden gelegt hatte. Vor Entsetzen verstummte Menschen standen rundum. Torbu kniete neben dem reglosen Körper. Eine Träne tropfte von seiner Wange hinab auf Cagus Gesicht. Tor bu wischte sie mit seiner großen, narbigen Hand fort. »Es tut mir leid, alter Freund«, sagte er leise. »Das hab ich nicht gewollt.« Ich hob Cagu hoch und nahm ihn auf die Schulter. Während des ganzen Weges zum Ausgang am anderen Ende der großen Halle war es totenstill im Palast der Lustbarkeiten. Mein keuchender Atem und das Plät schern der Brunnen und das Quietschen meiner gelben Plastikschuhe waren die einzigen Geräusche. Im Quartier der Leibwache legte ich Cagu auf eine Bank. Ein Dutzend Kraftmeier starrten stirnrunzelnd auf den reglosen Körper. »Cagu war ein guter Mann«, sagte ich barsch. »Jetzt ist er tot. Er starb wie ein Vieh … für nichts und wieder nichts. Das bedeutet das Ende aller seiner Leben, nicht wahr, Jungs? Wie gefällt euch das?« Mull sah mich wütend an. »Du redest, als wären wir schuld«, knurrte er, »Cagu war auch mein Freund!« »Wessen Freund war er vor tausend Jahren?« schnapp 152
te ich. »Was ist er einst gewesen … damals, vor langer Zeit? Was wart ihr? Vallon war nicht immer so barba risch. Es gab eine Zeit, wo jeder einzelne sein eigener Eigentümer war.« »Du bist nicht in der Bruderschaft …« begann einer. »So nennt ihr das? Aber das ist auch nur ein anderes Wort für ein altbekanntes Übel. Ein Oberboß schwingt sich als Diktator auf …« »Wir haben unseren Kodex«, stellte Mull fest. »Wir halten den Eigentümern die Stange. Das ist unser Job. Aber nicht, hier herumzustehen und einem hergelaufenen Lästerer zuzuhören.« »Ich lästere nicht«, knurrte ich. »Ich rebelliere. Ihr Burschen habt es in den Fäusten, mehr aus euch zu ma chen, als Narren, die sich zur Belustigung der Oberen ge genseitig totschlagen. Warum fordert ihr nicht euer Recht? Eure angestammten Rechte, die ihr in der Vergangenheit hattet! Oder wollt ihr alle so enden wie Cagu?« Aufgebrachtes Stimmengewirr folgte meinen Worten. Torbu kam mit geschwollenem Gesicht herein. »Haltet mal die Luft an«, sagte Torbu. »Was ist hier los?« »Der Kerl hier versucht uns gegen die Eigentümer aufzuhetzen«, sagte einer. »Er will, daß wir mit den Fäusten losstürmen … auf Eigentümer Qohey und die anderen.« Torbu kam auf mich zu. »Du bist ein Fremder hier in Bar-Ponderone. Cagu war der Meinung, daß du in Ord nung bist. Und du hast mich nicht schlecht fertiggemacht. Das ist alles schön und gut, und ich trage dir nichts nach. Aber fang hier keinen Ärger an. Wir haben unseren Eh renkodex und unsere Bruderschaft. Das genügt uns. Ei gentümer Qohey ist nicht schlimmer als andere auch. 153
Und der Kodex bindet uns an ihn!« Ich schüttelte den Kopf. »Hört zu! Ich kenne die Ge schichte eurer Welt. Ich weiß, wie es früher war und wie es wieder werden könnte. Aber ihr müßt die Macht an euch reißen. Ich kann euch zu dem Schiff führen, mit dem ich gekommen bin. Darin befinden sich Instrukti onsstäbe genug, um euch zu zeigen …« »Schluß damit,« fiel mir Torbu ins Wort. Er machte ein beschwörendes Zeichen. »Wir halten uns aus diesem Zauberspuk heraus. Wer mit frevelnden Fingern nach den Dingen greift, die tabu sind …« »Blödsinn! Das ganze Tabugeschrei soll euch nur von den Städten fernhalten, damit ihr nicht seht, was euch entgeht …« »Hör auf mit dem Gerede, Drehen, knurrte Torbu. »Oder willst du, daß wir dich den Grauen Wächtern übergeben?« »Diese Städte«, bohrte ich weiter, »stehen da draußen, vollkommen leer und so perfekt wie am ersten Tag. Und ihr lebt in diesen Wanzennestern hinter dicken Mauern, damit ihr vor den Grauen und den Abtrünnigen sicher seid.« »Wenn du hier anschaffen willst«, warf Mull ein, »warum gehst du nicht zu Qohey?« »Warum gehen wir nicht alle zu Qohey?« rief ich. Torbu schüttelte den Kopf. »Das wirst du schon allein tun müssen. Und jetzt geh, Drehen. Ich werde dir keine Schwierigkeiten machen. Ich weiß, wie dir das mit Cagu an die Nieren geht. Aber treib es nicht zu weit!« Ich wußte, daß es keinen Sinn mehr hatte. Sie waren starrköpfiger als ein Gespann von Eseln – und hatten nicht viel mehr Grips. Torbu winkte, und ich folgte ihm nach draußen. 154
»Du möchtest den Spieß gern umdrehen, hm? Ich weiß, wie es ist. Du bist nicht der erste, der solche Ideen im Schädel hat. Aber wir können dir nicht helfen. Du hast natürlich recht, es ist alles nicht mehr so wie früher. Aber es gibt eine Legende, daß eines Tages der Rthr wiederkommen wird. Und dann wird alles wieder recht.« »Was ist der Rthr?« »Eine Art Oberster Eigentümer. Es gibt jetzt keinen Rthr. Aber vor langer Zeit, als wir unsere ersten Leben lebten, da gab es einen Rthr. Er war Eigentümer von ganz Vallon. Alle lebten frei und alle konnten damals ihr Le ben behalten …« Torbu hielt inne und musterte mich wachsam. »Sag zu keinem, was ich dir erzählt habe«, fuhr er fort. »Es ist ein Geheimnis der Bruderschaft. Es ist so etwas wie eine Hoffnung für uns. Inzwischen bleiben wir unse rem Kodex treu und der Bruderschaft. Eines Tages viel leicht wird der Rthr zurückkommen.« »Gute Träume«, sagte ich trocken. »Und während ihr schön vor euch hinträumt, haut euch einer den Schädel ein, wie es Cagu geschehen ist.« Ich wandte mich ab. »Hör auf mich, Drehen. Es ist Unsinn, gegen das Sy stem anzurennen! Es ist zu mächtig für einen oder für einen kleinen Haufen wie wir. Aber …« Ich blickte auf. »Ja?« »… wenn du unbedingt deinen Hals riskieren willst, geh zu Eigentümer Gope.« Abrupt wandte er sich ab und ließ mich stehen. Zu Gope gehen? Warum nicht? Was hatte ich schon zu verlieren? Ich machte mich sofort auf den Weg. Ich stand in Gopes Räumen und versuchte meine Erre gung weiter anzuheizen, um meinen voreiligen Schritt 155
nicht zu bereuen, der mich mitten in der Nacht hierherge trieben hatte. »Mit Eurer Hilfe oder ohne«, sagte ich, »werde ich mir die Antworten holen.« »Ja, wackrer Drehen«, antwortete er ruhig aus seinem zeremoniellen Stuhl. »Das sehe ich. Aber es gibt Dinge, die du nicht weißt …« »Ah, wenn Ihr mich nur zum Raumhafen bringen wolltet, ehrenwerter Gope. Dort habe ich genügend In struktionsstäbe, um meine Behauptungen zu beweisen, und andere interessante Dinge …« »Es ist verboten. Verstehst du noch immer nicht …« »Ich verstehe viel zuviel«, schnappte ich. Er ruckte hoch. »Gib acht, mit wem du sprichst, Dre hen! Ich bin Eigentümer …« »Habt Ihr Cagu vergessen?« unterbrach ich ihn. Viel leicht könnt Ihr Euch erinnern, wie er noch jung war, unverbraucht, strahlend wie ein Gott aus den alten Le genden. Ihr kennt sein Leben wie kein anderer. War es ein gutes Leben? Ist es den Erwartungen der Jugend auch nur ein wenig gerecht geworden?« Gope schloß die Augen. »Schweig«, flüsterte er. »Du tust unrecht …« »›Und die Tode, die sie fanden, hab’ ich wohl gese hen, und die Leben, die sie lebten, waren mein‹«, zitierte ich. »Seid Ihr stolz darauf? Wie ist es mit Euch selbst? Habt Ihr Euch nie gefragt, was Ihr früher gewesen wart … in der Großen Zeit?« »Wer bist du?« fragte Gope und sah mich starr an. »Du sprichst altvallonisch, du schürst das alte verbotene Wissen auf und forderst die obersten Mächte selbst her aus …« Er stand auf. »Ich könnte dich einmauern lassen, Drehen. Ich könnte dich den Grauen Wächtern auslie 156
fern, was noch hundertmal schlimmer wäre.« Er schritt rastlos auf und ab. Nach einer Weile hielt er vor mir. »Es steht schlecht um unsere schöne Welt«, sagte er. »Die Legenden berichten, daß die Menschen einst wie die Götter auf Vallon lebten. Es gab einen höchsten Mei ster, Rthr von Vallon. Es geht die Prophezeiung, daß er wiederkommen wird …« »Eure Legenden sind die reine Wahrheit, das kann ich Euch versichern. Aber ihr dürft nicht darauf warten, daß etwas geschieht. Vallon war einst eine großartige Welt, und sie könnte es wieder sein. Jetzt ist es, als läge ein Bann über dem Land. Eure Städte, Straßen und Fahrzeu ge, sie warten auf euch, aber ihr habt Angst, und wollt es nicht wissen. Was hat euch erschreckt? Was ist nur ge schehen, das ein so perfektes System zusammenbrechen ließ? Warum können wir nicht alle einfach nach OkkHamiloth gehen, die Archive benützen und jedem zu rückgeben, was sein rechtmäßiges Eigentum ist …?« »Das sind frevelnde Worte«, meinte Gope. »Es muß doch jemand dahinterstecken. Wer kann es nur sein?« Gope dachte nach. »Es gibt einen, der über uns allen steht, der Oberste Eigentümer, Eigentümer aller Eigen tümer, Ommodurad genannt. Wo er sich aufhält, weiß ich nicht. Dieses Geheimnis kennen nur seine Vertrauten.« »Wie sieht er aus? Wie kann ich an ihn herankom men?« Gope schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn selber nur ein einziges Mal gesehen, und er war verhüllt. Er ist ein gro ßer, schweigsamer Mann. Man sagt …« Gope senkte sei ne Stimme zu einem Flüstern, » … daß er mit Teufels werk alle seine Leben behalten hat. Eine Aura des Grau ens umgibt ihn …« 157
»Alles Geschwätz«, fuhr ich dazwischen. »Er ist nur ein Mensch wie andere auch. Ein gutes Schwert bohrt durch seine Aura wie nichts.« »Dieses leichtfertige Reden vom Tod gefällt mir nicht. Es reicht aus, wenn der Täter übler Taten das eine Leben in Mauern verbüßt.« »Erst müssen wir ihn finden. Wie komme ich an ihn heran?« »Durch jene Eigentümer, die seine Vertrauten sind, er fahren wir kleinen Eigentümer seine Anordnungen.« »Können wir einen von ihnen auf unsere Seite kriegen?« »Niemals. Magische Bande knüpfen sie an ihn.« »Papperlapapp! Viele kleine Tricks machen den gro ßen Zauberer! Wie komme ich mit einem dieser hohen Tiere zusammen?« »Nichts leichter als das. Ein Fahrer und Pfeifer von deinen Fähigkeiten kann sich seinen Platz aussuchen.« »Wie ist es mit der Leibwächterei?« »Nein, das ist keine Stellung für einen Mann von dei nen Fähigkeiten, guter Drehen«, sagte Gope abwehrend. »Sicherlich wärst du dem Eigentümer am nächsten, aber es ist gefährlich und eine blutige Sache, einen Leibwäch ter zu fordern. Das ist so, als würdest du den Eigentümer selbst fordern.« »Was sagt Ihr?« rief ich aus. »Einen Eigentümer for dern?« »Beruhige dich, guter Drehen.« Gope starrte mich un gläubig an. »Kein einfacher Mann würde verrückt genug sein, einen Eigentümer zu fordern. « »Aber es wäre möglich?« »Um die Wahrheit zu sagen – wenn du deines Lebens müde bist, wenn du all deiner Leben müde bist, ist es kein schlechterer Abgang als andere auch. Aber du mußt 158
eines bedenken, guter Drehen: Ein Eigentümer ist ein ausgebildeter Krieger. Kein geringerer als wiederum ein Eigentümer kann also hoffen, zu bestehen. Es ist ein Kampf mit blankem Stahl, und dem Ruhm des Eigentü mers angemessen, daß er allein zum Beweis seiner Fä higkeiten das Risiko des Todes auf sich nimmt.« Gope richtete sich stolz auf. »Und die Leibwachen?« fragte ich. »Sie kämpfen …« »Mit den blanken Händen, guter Drehen. Ein Tod wie Cagus ist ein seltener und betrüblicher Unfall.« »Er hat dieses ganze verdammte Narrenspiel ins rechte Licht gerückt. Eine mächtige Zivilisation wie die valloni sche – wie konnte sie nur so verkümmern?« »Und doch ist es schön, zu leben, ganz gleich, wie die ses Leben aussieht …« »Das glaube ich nicht – und Ihr ebensowenig. Wie fange ich es an, einen Eigentümer zu fordern? Und welchen?« »Steh ab von deinem Ansinnen, guter Drehen …« »Wo finde ich den erstbesten Gefolgsmann des großen Meisters?« Gope seufzte resigniert. »Hier in Bar-Ponderone. Ei gentümer Qohey. Aber …« »Und wie stellt man das an?« »Es ist dein sicherer Tod …« »Sagt mir, wie ich die Herausforderung vorbringe, oder ich kneife ihn morgen abend beim Festbankett öf fentlich in die Nase.« Gope ließ sich schwer in seinen Stuhl fallen. Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Wenn ich es dir nicht sage, wird es ein anderer tun, Aber einen solchen Pfeifer, wie du es bist, werde ich wohl nicht so bald wie derfinden.«
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XIV
Kostbare tiefrote Vorhänge dämpften das Sonnenlicht, das in die riesige, gewölbte Audienzhalle fiel. Stimmen gemurmel erfüllte den Raum, in dem Höflinge und Bitt steller unruhig auf das Erscheinen des Eigentümers war teten. Zwei Monate waren vergangen, seit Gope mir er klärt hatte, wie die formelle Herausforderung an einen Eigentümer vorgebracht wurde. Er machte mir auch klar, daß es der einzige Weg sei und daß es wenig Sinn habe, wenn ich Qohey einfach auflauerte und niedermachte. Selbst wenn es ein fairer Kampf war, würden seine Leibwachen über mich herfallen, bevor ich dazu kam, mich als der neue Boß vorzustellen. Jeden Morgen verbrachte ich drei Stunden in der Rüstkammer in Rath-Gallion und trug mit Gope und ein paar Leibwachen Übungskämpfe aus. Das Fünfzehnki loschwert handhabte ich wie ein alter Haudegen – eine Minute lang. Mit der Technik war ich dank meines zu sätzlichen vallonischen Gedächtnisses perfekt vertraut. Was mir keine Instruktionsstäbe gegeben hatten, waren die nötigen Muskeln, um die Technik praktisch anzu wenden. Nach fünf Minuten hing mir die Zunge heraus, während Gope frisch-fröhlich plaudernd auf mich los hämmerte. »Du bist wacker angestürmt, guter Drehen. Aber du hast noch viel zu lernen, was die Ausdauer betrifft.« Und er ging wieder auf mich los. So verbrachte ich den ersten Nachmittag damit, mich auf den Beinen zu halten und im Rückwärtsgang vor ihm herzustolpern, das Schwert in beiden, bald gefühllosen Händen. Schließlich ging ich zu Boden – und das war’s dann. Gope und die anderen lachten Tränen und schleppten 160
mich schließlich auf mein Zimmer. Am nächsten Morgen holten sie mich erneut heraus. Wie Gope schon sagte, es war keine Zeit zu verlieren – und nach zwei Monaten war ich zu jeder Schandtat be reit. Gope sagte mir auch, daß Eigentümer Qohey ein großer Kerl sei, aber das kümmerte mich wenig. Besser als ein kleiner, der unter der Klinge durchlief. Ein Raunen ging durch die Wartenden in der Au dienzhalle. Am fernen Ende des Raumes öffnete sich ei ne Tür. Einige Leibdiener traten ein, gefolgt von einem Zweimeterzehngorilla, der auf das Podium zuging und sich den Anwesenden zuwandte … Er war gewaltig: Mit einem Hals, so dick wie meine Schenkel, und Zügen, die aus Granit gehauen schienen. Er zog den roten Umhang von seinen Schultern und griff mit einem knorrigen Arm, der einer Eiche im besten Al ter ebensogut als Wurzel hätte dienen können, nach dem Zeremonienschwert, mit dem einer der Diener sich ab mühte. Er nahm das Schwert, setzte sich, stellte es zwi schen seine Beine und lehnte sich darauf. »Wer hat etwas vorzubringen?« grollte er. Das war mein Stichwort. Ich brauchte nur noch den Mund aufzumachen. Daß Primo Camera neben ihm einen schmächtigen Eindruck gemacht hätte, sollte mich nicht aufhalten. Ich räusperte mich und tat einen halben Schritt nach vorn. »Ich habe eine Kleinigkeit«, begann ich. Niemand hörte zu. Ganz vorn drängte sich ein großer Kerl in schwarzem Umhang durch die Menge. Alle reck ten ihre Hälse, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Er erreichte die freie Fläche vor dem Audienzstuhl, schüttel te den Umhang vom Arm und hielt ein blankes Schwert 161
in der Rechten. Qohey maß ihn einen langen Augenblick, dann winkte er einem Diener. Dieser räusperte sich und verkündete: »Bar-Ponderone hat eine Forderung erhalten. Die Streitfrage wird sofort entschieden!« Er machte, daß er aus dem Weg kam, als Qohey sich erhob und den roten Umhang abstreifte. Ich drängte mich näher. Auch der schwarze Herausforderer warf den Umhang zur Seite und stand Qohey in hautengem Wams gegen über. Er war muskulös, aber Qohey ragte wie ein Baum über ihn. Ich war nicht ganz sicher, ob ich froh oder traurig dar über sein sollte, daß man mir solcherart die Initiative ent rissen hatte. Wenn der Mann in Schwarz Sieger blieb, würde ich dann gegen ihn noch etwas zu bestellen ha ben? Er war wesentlich kleiner als Qohey; aber man konnte nie wissen … Qohey zog sein mächtiges Eisen blank und wirbelte es, als hielte er nur ein Golfschläger in der Hand. Der kleine Herausforderer verhielt sich abwartend. Er begann mir leid zu tun. Er hatte wenig Chancen. Ich erreichte endlich die vorderste Reihe der Zuschau er. Der Herausforderer wandte sich halb um, und ich sah sein Gesicht. Siedendheiß fühlte ich es in mir aufsteigen. Der Mann in Schwarz war Foster! In der Totenstille stellten die beiden sich zum Kampf. Ihre Schwertspitzen berührten den Boden in zeremoniel lem Gruß. Dann zuckte Qoheys Klinge wie eine Schlan ge hoch. Foster bog sich zur Seite und machte seinerseits einen Ausfall, der Qohey zum Rückzug zwang. Mein Herz begann wieder zu schlagen. Es war ein ungleiches 162
Kräfteverhältnis, doch es schien Foster nicht zu stören. Mich allerdings sehr. Ich jagte Lichtjahre hinter ihm her und kam gerade rechtzeitig zu seinem Begräbnis! Qoheys Klinge schwirrte auf Fosters Kopf zu. Fast mühelos wehrte Foster ab. Wisch! Klirr! Qohey hieb Schlag auf Schlag, und Foster spielte mit ihm. Plötzlich zuckte Fosters Arm vor. Blut rötete Qoheys Handgelenk. Ein Seufzen ging durch die Menge. Foster sprang vor, zog die Klinge hoch … und strauchelte! Qohey stürzte sich auf ihn, und einen Augenblick lang standen sie Brust an Brust. Dann wirkte sich Qoheys überlegene Kraft aus. Foster taumelte zurück. Er hatte Schwierigkeiten, sein Schwert hochzubringen. Qohey griff erneut an, und Fo ster parierte unbeholfen gerade über dem Handschutz. Er stolperte … und fiel. Qohey sprang über ihn und hob das Schwert … Ich riß meines halb aus der Hülle und machte einen Schritt vor. »Schafft den Mann fort«, polterte Qohey. Er senkte sein gewaltiges Schwert, wandte sich ab und verließ den Raum. Mehrere Leibwächter verteilten sich zwischen Foster und der Menge. Ich sah, wie er sich schwerfällig bemühte, auf die Beine zu kommen. Dann schob man mich zurück. Etwas stimmte hier nicht! Foster hatte sich plötzlich wie ein Betrunkener verhalten. Hatte Qohey ihm irgend etwas verpaßt? »Ist dir nicht etwas aufgefallen?« fragte ich den Mann neben mir. »Aufgefallen? Ja, Meister Qohey ließ Gnade vor Recht ergehen! Statt sofort ein Ende zu machen, ließ er Gnade walten …« »Ich meine, am Kampf selbst.« Ich hielt ihn am Arm fest, als er sich abwenden wollte. 163
»Daß dieser unverschämte Halunke es wagte, seine Hand nach Bar-Ponderone auszustrecken, das ist ver wunderlich genug«, schnappte er. »Gib mich frei, Frem der.« Ich gab ihn frei und versuchte zu überlegen. Was soll te ich nun tun? Ich klopfte einem der Leibwächter auf die Schulter. »Was geschieht mit dem Mann?« fragte ich. »Auf den warten vier Wände für seine Anmaßung!« »Er wird eingemauert?« »Ja. Nur ein kleines Loch bleibt offen … damit sie ihn füttern können.« Der Mann lachte. »Wie lang …?« »Er wird es überleben. Keine Angst. Nach dem Wech sel hat Eigentümer Qohey einen Neuen …« »Quatsch nicht!« fuhr ein zweiter Wächter dazwi schen. Die Menge verlor sich langsam. Die Aufmerksamkeit der Wachen ließ nach. Zwei Diener machten sich am Kampfplatz zu schaffen. Verwundert beobachtete ich ihre seltsamen Bewegungen. Es war, als pflückten sie unsichtbare Blumen. Höchst eigenartig! Ich ging hin und sah etwas schim mern. Einer der Diener kam auf mich zu und winkte mich zurück. Ich schob ihn zur Seite und griff nach dem schimmernden Etwas. Ein hauchdünner Draht! Ich griff tiefer und stieß auf weitere Fäden. Die Diener hatten mit ihrer Tätigkeit aufgehört und sahen mir zu. Das ganze Kampfgebiet war von unsichtbaren Drähten bedeckt, die sich in halbmeterhohen Schlingen hochwanden. Jetzt wunderte es mich nicht mehr, daß Foster gestol pert war und das Schwert kaum hochgebracht hatte. Und in dem Dämmerlicht hatten selbst die vordersten Zu schauer nichts bemerkt. Meister Qohey war kein Stümper 164
mit der Klinge, aber er verließ sich nicht allein darauf. An der Unterlippe kauend stand ich da. Da hatte ich endlich Foster gefunden, aber es nützte weder mir noch Vallon viel. Er war auf dem Weg in den Kerker, wo er bis zum Wechsel bleiben würde. Und die Gesetzte ver langten, daß drei Monate verstrichen, bis Qohey wieder gefordert werden durfte. Aber nach allem, was ich gese hen hatte, war ich ganz froh, daß heute nichts draus ge worden war. Mit mir wäre er auch ohne Netze rasch fer tig gewesen. Ich mußte die Zeit nützen und üben. Vielleicht konnte ich in der Zwischenzeit Foster eine Botschaft … Ein gewaltiger Schlag auf den Rücken wirbelte mich herum. Vier Leibwächter umringten mich mit Knüppeln in Händen; Fremde, soweit es mich betraf, aber am ande ren Ende des Raumes sah ich Torbu, der zu mir herüber blickte. »Er ist mir aufgefallen, als er nach seinem Schwert griff«, sagte einer der Wächter. »Er stellte eine ganze Menge Fragen …« »Schnall es los und laß es fallen«, befahl ein anderer. »Mach keinen Ärger!« »Was soll das alles?« knurrte ich verärgert. »Ich habe ein Recht, bei der Audienz ein zeremonielles Schwert zu tragen …« »Auf ihn, Jungs!« Die vier hoben ihre Knüppel und kamen heran. Den ersten Schlag wehrte ich mit dem Arm ab, dann explodierte mein Gesicht in rasendem Schmerz, und ich ging unter mörderischen Schlägen zu Boden. Undeutlich erkannte ich, daß man mich irgendwohin schleppte. Da waren scharfe Stimmen, Fragen und neuer Schmerz. Und dann nach langer Zeit Dunkelheit, Stille und Schlaf. 165
Ich erwachte stöhnend. Es klang dumpf. Mit der Hand fühlte ich Fels zu meiner Rechten, gleichzeitig stieß mein linker Ellbogen gegen Stein. Instinktiv setzte ich mich auf und prallte mit dem Kopf gegen einen weiteren Stein. Mein neues Apartment schien eng zu sein. Behutsam be tastete ich mein Gesicht und zuckte zusammen. Der Na senrücken fühlte sich anders an, als ich ihn in Erinnerung hatte. Ich lag still und versuchte herauszufinden, wie der Schmerz verteilt war. Da war die Nase, wahrscheinlich flach geschlagen, und dann die Augen, vermutlich blau schimmernd. Mit der linken Schulter stimmte etwas nicht, aber es schien nichts gebrochen. An den Knien fühlte ich verkrustetes Blut. Natürlich, das paßte zu der vagen Erinnerung, daß man mich durch mehrere Räume schleifte. Ich atmete tief durch. Mit der Brust schien alles okay. Den Händen fehlte nichts, und die Zähne hatte ich auch noch alle. Der Schaden mußte geringer als der Schmerz sein. Aber wo, zum Teufel, war ich? Der harte, kalte Boden trug nichts zu meiner Besserung bei. Was ich brauchte, war ein großes sanftes Bett und eine kleine sanfte Schwe ster, eine warme Mahlzeit und einen kalten Drink … Foster! Ich knallte mit dem Kopf gegen denselben Stein. Stöhnend lag ich ruhig, fuhr mit der Zunge über die trockenen, aufgeschlagenen Lippen und die Stoppeln unter der Nase, Ich war frischrasiert zur Audienz er schienen. Es mußte also einige Zeit vergangen sein. Sie hatten Foster fortgeschafft, um ihn einzumauern … Einmauern! Ich fuhr zum drittenmal gegen den Stein über mir. Plötzlich war das Atmen gar nicht mehr so ein fach. Ich war eingemauert, irgendwo in den Grundfesten 166
der gigantischen Türme von Bar-Ponderone. Fast war es mir, als spürte ich das zermalmende Gewicht … Ich atmete tief und versuchte mich zu entspannen. Eingemauert war nicht dasselbe wie lebendig begraben – wenigstens nicht genau. Es war nur die moderne valloni sche Methode für lebenslänglich … ein Lebenslänglich! Hier sollte ich bis zu meinem Wechsel vor mich hinmo dern, um dann als Neuer und Sklave in Qoheys Küchen oder Ställe zu wandern. Aber die ahnten es ja nicht, daß der einzige Wechsel, der mir hier drin je widerfahren würde, der Tod war. Irgendwie mußten sie mir etwas zum Knabbern zu kommen lassen, das bedeutete ein Öffnung. Ich tastete den rauhen, kalten Stein entlang und entdeckte ein qua dratisches Loch von vielleicht zwanzig Zentimeter Sei tenlänge knapp unterhalb der Decke. Ich griff hinein, fand aber kein Ende der kompakten Wände. Wie dick die Mauer war, ließ sich nicht feststellen. Mit einem lauen Gefühl ließ ich mich zurücksinken und versuchte zu überlegen … Ich wachte erneut auf, als etwas auf meine Brust fiel. Ich griff danach: ein Stück hartes Brot. Ein scharren des Geräusch, und ein zweiter Gegenstand plumpste auf mich. »He!« schrie ich. »Laßt mich hier ‘raus! Ich bin anders als ihr! Ich habe nur ein Leben! Ich sterbe hier …!« Atemlos lauschte ich. Die Stille war vollkommen. »Hallo! Hört doch zu, ihr macht einen Fehler!« Ich gab es auf, als meine Kehle zu schmerzen anfing. Die Leute, die den Gefangenen das Essen brachten, hat ten schon zuviel Geschrei gehört, um noch darauf zu ach ten. Ich griff nach dem zweiten Gegenstand: eine Was 167
serflasche aus Plastik. Ich nahm einen Schluck, und frag te mich, ob Verdursten nicht vorzuziehen wäre. Dann probierte ich das Brot: Es war hart und ohne Geschmack. Kauend lag ich in der Finsternis und setzte mich mit ei nem interessanten Problem auseinander: Wie das wohl mit den sanitären Anlagen gedacht war! Traumhafte Aussichten für den Lebensabend. Als globaler Befreier war ich eine Niete. Ich hatte nicht mal Foster helfen können. Wo mochte er wohl sein? Wahrscheinlich in der nächsten Loge. Aber er hatte auf meine Rufe nicht geantwortet. Welche Ironie! Da rennt man Lichtjahre, um in einem Loch wie diesem zu enden! Ich dachte an die versäumten Steaks und das versäumte Leben … Und dann dachte ich, daß ich sie vielleicht nur ver säumte, weil ich hier tatenlos herumlag! Was tun? Erst mal die Zelle genau untersuchen. Bewegen war schmerz voll, aber das war jetzt gleichgültig. Ich tastete die Wän de ab und schätzte die ungefähre Größe. Der Raum war etwa einen Meter breit, einen halben hoch und zwei Me ter lang; nicht gerade eine Luxuskabine. Bis auf ein paar Mörtelrillen waren die Wände ziemlich glatt. Die Steine selbst waren groß, etwa fünfunddreißig oder vierzig Zen timeter mal einen Meter. Ich kratzte versuchsweise am Mörtel: steinhart. Wie hatten sie mich hier wohl hereingebracht? Ein paar der Steine mußten frisch gesetzt sein. Oder es gab eine Tür. Ich fand aber nichts, so weit ich mit den Hän den auch tastete. Vielleicht am anderen Ende? Ich versuchte mich umzudrehen. Es ging nicht. So war das also gedacht: Ich sollte hier ruhig liegen bleiben und geduldig auf das Brot und Wasser von oben warten. Nicht mit mir! 168
Ich rollte auf die Seite, nahm die Beine hoch, bis sie fest an die Brust gedrückt waren, begann mich nach un ten zu arbeiten – und blieb stecken. Ich schob die Beine höher. Der Schmerz an den ohnehin schon angeschabten Knien und Schienbeinen war beträchtlich. Ich stemmte die Hände gegen Boden und Decke und preßte meinen Körper gegen die Beine … Es ging nicht. Der rauhe Stein schabte mir die Haut vom Rücken. Ich schob meine Knie auseinander. Das schaffte mir ein wenig Raum, und ich kam ein paar Zen timeter vorwärts. Erschöpft hielt ich inne und schnappte nach Luft, was nicht leicht war. Meine Brust war zwischen meinen Schenkeln und der Steinwand im Rücken eingeklemmt. Eine interessante Frage tauchte auf: sollte ich umkehren oder weitermachen? Ich versuchte die Beine zu bewegen, aber das hatten sie nicht besonders gern. Weder vor noch zurück waren die Aussichten erfreulich. Also vorwärts, und zwar rasch, bevor ich anfing, steif zu werden. Ich biß die Zähne zusammen und schob. Nichts ge schah. Ich schob erneut und schürfte mir die Hände blu tig. Aber ich saß fest. Keuchend hielt ich inne. In plötzli cher Platzangst rammte ich die Hände gegen Boden und Wand. Die Panik verlieh mir Kräfte für einen gewaltigen Ruck nach vorn. Das Blut meines aufgeschürften Rük kens war ein gutes Gleitmittel. Mit dem Kopf zwischen den Knien stak ich erneut fest. An Atmen war gar nicht mehr zu denken, und meine Wirbelsäule mußte jeden Augenblick brechen. Aber das spielte keine Rolle. Sollte sie brechen! Und wenn ich mir alle Haut von den Kno chen schabte und verblutete, ich hatte nichts zu verlieren. Ich ruckte erneut. Mein Hinterkopf knirschte und mein Hals knackste verdächtig – dann war ich durch. Die erste 169
Runde war gewonnen. Es dauerte eine Weile, bis ich mich von der Anstrengung erholte und mir über den angerichteten Schaden Klarheit verschafft hatte. Mein Rücken hatte am meisten abge kriegt. Am Hinterkopf befand sich eine verdammt emp findliche Stelle, und Arme und Beine fühlten sich ziem lich lädiert an. Aber ansonsten ging es mir großartig: Ich konnte atmen und mich bewegen – was wollte der Mensch mehr! Aber ich durfte keine Zeit verlieren. Wenn man mich eingemauert hatte, galt es, den Stein zu finden, so lange der Mörtel noch halbwegs weich war. Ich tastete die Wand über meinem Kopf ab und fand eine Rille, in der der Mörtel unter meinen Fingernägeln wegbröckelte. Sie verlief um einen dreißig mal vierzig Zentimeter großen Stein. Nach einer halben Stunde hatte ich blutige Finger und mehr als einen Zentimeter geschafft. Aber ohne irgendein Werkzeug kam ich nicht weiter. Ich versuchte den Ver schluß der Wasserflasche zu zerbrechen. Aber der brach nicht, und sonst hatte ich nichts in der Zelle. Vielleicht konnte ich den Stein samt Mörtel hinaus schieben, wenn ich alles dransetzte. Ich stemmte mich gegen die Wände und schob, bis das Blut in meinen Oh ren dröhnte. Aber es hatte keinen Zweck. Die nächsten Minuten lag ich erschöpft und überlegte. Ein Geräusch schreckte mich auf. Im nächsten Augenblick stapften vier kleine Pfoten auf meinem Bauch hoch und verhielten vor meinem Kinn. Es war Itzenca, die Katze.
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XV
Eine Weile war ich geneigt, das ganze einfach für ein Wunder zu halten. Dann überlegte ich, daß es ein hüb sches Problem in der Wahrscheinlichkeitsrechnung gäbe. Es war sieben Monate her, seit wir uns so unerwartet auf der Terrasse in Okk-Hamiloth getrennt hatten. Wo wäre ich als Katze hingegangen? Und wo hätte ich nach mir gesucht – nach meinem alten Kumpel von der Erde? Itzenca schnüffelte an meinem Ohr. »Du hast schon recht«, sagte ich, »der Duft ist nichts für zartfühlende Nasen, aber sicherlich einzigartig auf Vallon. Und hier in dem engen Raum dürfte der Gestank von Schweiß und Blut ziemlich durchdringend sein.« Itz schien es nichts auszumachen. Sie marschierte um meinen Kopf herum und wieder zurück, setzte versuchs weise eine Pfote auf mein Kinn und schnurrte wie ein mittlerer Generator. Das Gefühl der Zuneigung, das ich in diesem Augenblick für die Katze empfand, übertraf alle meine bisherigen großen Leidenschaften. Ich wühlte in ihrem Fell und fummelte an dem Khaffithalsband, das ich ihr im Schiff gebastelt hatte. Ich knallte gegen die Decke und merkte es nicht. In nerhalb von Sekunden hatte ich das Halsband los und das steife Khaffit zu einer über zwanzig Zentimeter langen behelfsmäßigen Klinge zurechtgebogen. Als zum drittenmal Brot und Wasser durch das Loch fiel, hatte ich rundum gute zwanzig Zentimeter tief ge kratzt. Der Mörtel war in der Zwischenzeit hart gewor den, aber ich war ziemlich sicher, daß ich es fast ge schafft hatte. Ich rastete und machte mich dann an einen Versuch, den Stein zu lockern. Ich schob mit aller Kraft, aber es war nicht mehr viel 171
Kraft übrig. Ich rastete erneut und versuchte es wieder. Ich holte tief Atem. Es konnte nur noch eine dünne Mör telschicht sein, die den Stein hielt. Jedes Gramm Gewicht zählte, das ich dagegenstemmen konnte. Der Block bewegte sich eine Spur. Jetzt! Ich schob mit aller Macht. Der Stein gab schar rend nach. Ich lauschte, aber es blieb alles ruhig. Erneut stemmte ich mich dagegen. Der Stein glitt aus der Öff nung und fiel mit einem dumpfen Poltern draußen auf den Boden. Ich kletterte sofort hinterher. Welch ein Ge nuß, wieder aufrecht zu stehen … Meine weiteren Schritte hatte ich bereits überlegt. So bald Itzenca draußen war, tastete ich nach dem Brot und der Wasserflasche. Danach nahm ich den Mörtelstaub, den ich herausgekratzt hatte, setzte den Stein in die Öff nung und verkittete die Rillen so gut es ging. Der Brotund Wassermann hatte sicher ein Licht, und ich wollte nicht, daß er Verdacht schöpfte. Ich hatte vor, Fosters Aufenthalt zu erkunden, und ich brauchte Zeit, ihn her auszuholen. Ich bewegte mich einen Gang entlang, wobei ich die Schritte zählte und mit einer Hand mit der Wand in Kon takt blieb. Die Finsternis war vollkommen. Alle Meter mündeten schmale Seitengänge, wahrscheinlich die Schächte für die Nahrungsmittelzuteilung. Nach einund vierzig Schritten erreichte ich eine Holztür. Sie war nicht verschlossen, aber ich öffnete sie nicht. Ich war noch nicht bereit dazu. Ich machte mich auf den Rückweg, ging an meiner Zelle vorüber und stand neun Schritte weiter vor einer nackten Wand. Dann untersuchte ich die Seitengänge; einheitliche Zweimetersackgassen mit den Futteröffnungen zu beiden 172
Seiten. Vor jedem der Löcher rief ich leise Fosters Na men, erhielt aber keine Antwort. Überhaupt vernahm ich keine Anzeichen, daß sich außer mir und Itz noch etwas Lebendes in diesem Gewölbe befand. War ich tatsächlich allein hier? Damit hatte ich nicht gerechnet. Foster mußte in einem dieser gemütlichen Junggesellenapartments sein. Ich hatte das halbe Universum durchquert, um ihm auf den Fersen zu bleiben, und ohne ihn würde ich nicht aus Bar-Ponderone weichen. Meinen Berechnungen nach war es an der Zeit, daß der Essenträger auftauchte. Ich tastete mich in eines der Seitenlöcher. Itzenca folgte mir. Ich war ziemlich sicher, daß sie die Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken würde, nachdem sie ein halbes Jahr damit zugebracht hatte, Ver steck zu spielen. Gleich darauf kam ein scharrendes Geräusch von der Tür, und ich drückte mich eng an die Wand. Licht fiel auf den Boden, wahrscheinlich nur ein schwacher Schein, aber mir schien es wie ein Sonnen aufgang. Schritte folgten, und ich hielt den Atem an. Ein Mann in der Uniform einer Leibwache kam mit einem Körbchen in der Hand an meinem Versteck vorbei. Ich wagte wieder zu atmen. Jetzt mußte ich sehen, wo er an hielt. Ich schlich auf Zehenspitzen zum Hauptkorridor und riskierte einen Blick. Er verschwand in einem der Seitengänge. Ich huschte näher. Gleich darauf hörte ich ihn zurückkommen. Ich drück te mich flach an die Wand. Er schlurfte an mir vorbei und verschwand durch die Tür. Finsternis und Stille waren wieder meine Wächter. Ich kam mir vor wie einer, der eben zu einer Party erschienen ist, die erst morgen statt findet. Der Essenbringer hatte nur an einer Zelle angehal ten – an meiner. Foster war nicht hier. 173
Es war eine lange Zeit, bis der Essenträger wiederkam, aber ich nützte sie so gut es ging. Erst mal brauchte ich den Schlaf, den ich in meiner netten Grabkammer ver säumt hatte. Als ich erwachte, fühlte ich mich bedeutend frischer. Der Wächter war der erste Schritt in die Frei heit. Denn ich brauchte Kleider, und er war der einzige Lieferant. Wenn meine innere Uhr stimmte, war es fast soweit … Die Tür knarrte, und ich machte mich schleunigst dünn. Der Wächter stapfte herein. Ich warf mich auf ihn. Ich schaffte es nicht ganz so leise, wie ich es gern gehabt hätte, denn er fuhr herum, ließ Brot und Korb fallen und fummelte an seinem Gürtel nach dem Knüppel. Er hatte keinen Knüppel, der mich aufhielt. Mit einer traumhaften Rechten mitten ins Volle brachte ich ihn zum Kippen. Noch im Fallen war ich auf ihm. Sein Kopf schlug auf. Das hörte sich an wie ein Gummischlauch, der über eine Pampelmuse rollte. Er rührte sich nicht mehr. Ich zerrte ihm die Kleider vom Leib und zog sie selbst an. Dann riß ich seine Schärpe in Streifen und fesselte ihn. Er war nur bewußtlos. Bis zur nächsten Essenzeit konnte er sich hier geruhsam erholen. Und ich hatte vor, bis dahin längst über alle Berge zu sein. Ich öffnete die Tür und trat hinaus in den schwach erleuchteten Korri dor. Itzenca eilte vor mir her. Wir erreichten eine massive Tür. Sie war verschlossen. Deshalb kehrten wir wieder um und versuchten es in einem Seitenkorridor. Er führte mehrere Stufen hinauf und mündete in einen dunklen Raum. Licht fiel durch einen Türspalt. Durch denselben Spalt erhaschte ich einen Blick in das Innere. Zwei Män ner in den speckigen Tuniken der Küchensklaven waren 174
mit einem großen Kessel beschäftigt. Ich stieß die Tür auf. Die beiden sahen mir er schrocken entgegen. Ich eilte um den beladenen Tisch herum, faßte einen schweren Schöpflöffel und ließ ihn auf den Kopf des ersten Kochs sausen, als dieser gerade einen Warnruf ausstoßen wollte. Der zweite, eine Bulle, wollte zu seinem Hackmesser greifen; aber ich erreichte ihn mit zwei Sprüngen und legte ihn neben den ersten. Ich riß einen Schurz in passende Teile, fesselte, und knebelte die beiden und schaffte sie in die Vorratskam mer. Ich sammelte Vallonier für den Winter wie ein Eichhörnchen Nüsse. In der Küche hatte sich inzwischen nichts verändert. Ein Stapel Brotlaiber in der Nähe des Ofens weckte un angenehme Erinnerungen. Ich stieß ihn um und griff nach einem Messer. Damit säbelte ich große Stücke val lonischer Hammelkeule ab, warf Itzenca eines zu und überlegte kauend meine nächsten Schritte. Eigentümer Qohey beizukommen, würde nicht leicht sein; aber er war es, der die Antworten auf meine Fragen hatte. Wenn es mir gelang, seine Räume zu erreichen, und wenn man mir nicht in die Quere kam, bevor ich die Wahrheit aus ihm herausgepreßt hatte, dann konnte ich vielleicht Foster befreien und ihm die erfreuliche Nach richt bringen, daß einer Übertragung seines Gedächtnis ses nichts mehr im Wege stand. Das heißt, wenn er die nötigen Geräte auftreiben konnte und man seine Matrize nicht in der Zwischenzeit aus dem Rettungsboot gemaust hatte. Vier Wenns und ein Könnte – aber immerhin so etwas wie ein Plan. Erst mußte ich Qoheys Räumlichkeiten fin den und dort eindringen. Die Uniform der Leibwache reichte als Verkleidung sicherlich aus. 175
Ich stopfte den letzten Bissen Fleisch in den Mund und sprang auf. Ich mußte einen Ort finden, an dem ich mich waschen und rasieren konnte … Die hintere Tür flog auf. Zwei Leibwachen kamen la chend herein. »He, Koch! Stell das Fleisch zu für …« Der vorderste hielt inne und starrte mich an. Ich erwi derte seinen überraschten Blick. Es war Torbu. »Drehen! Wie bist du …« Er brach ab. Der zweite Wächter kam heran und musterte mich. »Du bist kein Bruder des Wachstandes«, begann er. Ich langte nach dem Hackmesser, das der Küchen sklave nicht mehr erreicht hatte, und wich ein wenig zu rück, bis ich den großen Wandschrank im Rücken spürte. Der Wächter nahm seinen Knüppel aus dem Gürtel. »Halt ein, Blon«, sagte Torbu. »Drehen ist in Ord nung.« Er musterte mich genauer. »Ich hielt dich für er ledigt. Die Jungs haben ganze Arbeit geleistet.« »Ja«, knurrte ich. »Und besten Dank für dein hilfrei ches Eingreifen.« »Das ist der Schurke, den wir einmauerten!« stieß Blon hervor. »Er darf nicht entkommen!« Torbu hielt ihn zurück. »Einen Augenblick, Blon«, sagte er. Die Situation bereitete ihm sichtlich Unbehagen. »Hört zu, ihr zwei!« rief ich rasch. »Ihr behauptet doch, daß ihr von dem System überzeugt seid, daß alles fair und sauber zugeht und der Eigentümer da oben sitzt, weil er der bessere Mann ist! Ich weiß, das mit Cagu war hart, aber so ist das Leben, nicht wahr? Doch wie steht es mit der Sache in der Audienzhalle? Darüber versucht ihr möglichst nicht nachzudenken, habe ich recht?« »Der Eigentümer hat ein Recht …«, begann Blon. »Es gefiel mir nicht, was er mit den Drähten machte, 176
Blon«, sagte Torbu. »Und dir auch nicht. Auch den mei sten der Jungs nicht …« »Ich kann mich auch nicht erinnern, daß man mir viel Chance gelassen hätte«, warf ich ein. »Ein paar von eu ren Freunden werde ich einen kleinen Besuch abstatten. Bei Gelegenheit …« »Ich hab mich da ‘rausgehalten, Drehen«, stellte Tor bu fest. »Es geschah auf Anordnung des Eigentümers«, erklär te Blon. »Was sollte ich tun? Ihm vielleicht sagen …« »Vergiß es«, sagte ich. »Das nehme ich dir gerne ab. Ich verlange nicht viel. Nur eine kurze Unterredung mit dem Eigentümer – ohne die Drahtnetze natürlich.« Torbu schlug mit der Faust in die flache Hand. »Ja, das wäre ein Ding!« Er wandte sich an Blon. »Man sieht’s ihm nicht an, Blon, aber er hat einen mächtigen Schlag. Er könnte es sogar mit dem Feuerdrehen auf nehmen, dessen Namen er trägt. Wenn er mit der Klinge auch so gut ist …« »Gib mir eine«, unterbrach ich ihn, »und zeig mir den Weg in seine Räume.« »Der edle Eigentümer wird den Narren auseinander nehmen wie nichts und eine Erklärung von uns haben wollen«, meinte Blon. »Ich glaube nicht, daß er viel von Kerlen hält, die plötzlich bewaffnet in seiner Schlaf kammer auftauchen, wenn sie eben noch sicher einge mauert waren.« »Wir sind von der Bruderschaft des Wachstandes«, erwiderte Torbu. »Wir haben nicht viel, aber wir haben unseren Kodex. Darin ist von Drähten keine Rede. Wenn wir unseren Prinzipien nicht treu bleiben, sind wir nicht mehr als Sklaven.« Er wandte sich zu mir. »Komm mit, Drehen. Wir gehen in den Wachraum. Dort kannst du 177
dich waschen und eine Klinge wählen. Wenn du schon alle deine Leben aufs Spiel setzten willst, dann soll es gerecht zugehen.« Torbu sah zu, wie mich die Männer mit einer Leibwa chenkampfkluft ausstatteten. Meine Worte hatten ihn unbehaglich und nachdenklich gemacht. Wenn ich verlor, hatte sich nicht viel geändert, außer daß das Unbehagen wieder schwand und die Bedingungen des Kodex erfüllt waren. Aber wenn ich gewann … Es war ein feines Gefühl, sich in dem sauberen Rüst zeug aus hartem Leder und Stahl bewegen zu können. Torbu eilte voran, und fünfzehn Wachen folgten. Wir begegneten nur ein paar Palastdienern. Sie starrten uns aus sicherer Entfernung an und nahmen ihre Tätigkeit wieder auf. Wir durchquerten die leere Audienzhalle, stiegen eine breite Treppe hoch und folgten einem teppichbelegten Korridor bis vor eine Doppeltür. Zwei Wachen in roten Palastuniformen hielten uns an. Torbu klärte sie auf. Sie zögerten, aber sie öffneten, als Torbu entschlossen vor trat. Die Pracht des Raumes nahm mir den Atem. Gopes Staatspalais wirkte ausgesprochen dürftig daneben. Hel les Cintelicht fiel durch große Fenster. Ich sah ein Bett und jemanden darin. Ich schritt zum Bett, nahm die Zu decke und schleuderte sie mit einem kräftigen Ruck auf den Boden. Eigentümer Qohey setzte sich langsam auf – ein Muskelgebirge. Er starrte mich an. Sein Blick wan derte zur Eskorte hinter mir … Wie ein Tiger sprang er aus dem Bett und stürmte auf mich los. Mir blieb keine Zeit, nach dem Schwert zu greifen. Ich kam ihm entgegen, holte mit der Rechten aus 178
und schlug sie ihm gegen das Kinn. Ich wirbelte herum. Qohey wankte, aber er blieb auf den Beinen. Mehr hatte ich nicht zu bieten. In dem Schlag war alles drin gewesen, und er stand noch. Ich durfte ihn nicht zur Be sinnung kommen lassen. Ich sprang hinter ihm her, ver paßte ihm ein paar in die Nieren und eine ans Kinn, als er sich umdrehte, hämmerte eine Rechte und eine Linke in seinen Magen. Ein Träger fiel von der Spitze der Golden Gate Brücke und zertrümmerte jeden Knochen in mir. Ich war tot. Ich schwebte mitten im Donner einer gewaltigen Brandung. Gleich darauf war ich in der Hölle, denn rotglühende Dreizacke stocherten in mir herum. Blinzelnd öffnete ich die Augen, während sich das Donnern langsam entfernte. Eigentümer Qohey lehnte am Fuß des Bettes. Er atmete heftig. Ich mußte ihn um jeden Preis besiegen. Irgendwie schaffte ich es, auf die Füße zu kommen. Meine Brust mußte eingedrückt sein, und der linke Arm war nicht der meine. Ich taumelte auf Qohey los. Er sah mich nicht. Er schien Schwierigkeiten zu haben mit der Luft. Ich hatte seine Innereien nicht umsonst behämmert. Ich markierte einen Punkt hinter dem rechten Ohr, holte aus und schaffte eine Punktlandung, die ihn mit einem Knirschen von Kieferknochen zu Boden schleuderte. Ich ließ mich auf den Bettrand fallen und rang nach Luft. Ich versuchte, die tanzenden Lichter zu ignorieren, deren Umlaufbahn immer enger wurde. Nach einer Weile sah ich, daß Torbu vor mir stand. Er hatte die Katze unter dem Arm. Beide grinsten. »Habt Ihr irgendwelche Befehle, Eigentümer Drehen?« Endlich fand ich meine Stimme wieder. »Weckt ihn auf und setzt ihn in einen Stuhl. Ich möchte mit ihm re den.« 179
Ex-Eigentümer Qohey schien eine Menge dagegen zu haben, aber als Torbu und ein paar andere kräftige Kerle ihm die Situation in der Zeichensprache klarmachten, wurde er kooperativer. »Steig von seinem Kopf, Mull«, ordnete Torbu an. »Und du mach das Seil locker, Blon. Eigentümer Drehen braucht ihn in redseliger Stimmung.« Ich kam eben mit der Überprüfung meiner Rippen zu Ende, nachdem ich auszusortieren versucht hatte, wie viele gebrochen und wie viele nur verbogen waren. Qo hey blickte mich wütend an. »Ich habe ein paar Fragen an dich, Qohey. Wenn mir die Antworten nicht gefallen, werde ich mich dafür ein setzen, daß du in den Kellergewölben unten Quartier be ziehst. Ich habe eben selbst eine gemütliche Einzimmer wohnung freigemacht. Kein besonderer Ausblick, aber ruhige Gegend.« Qohey grunzte etwas. Offensichtlich hatte er Schwie rigkeiten mit dem gebrochenen Kiefer zu sprechen. »Der Mann in Schwarz«, fuhr ich fort, »der dich for derte, wo ist er jetzt?« Qohey grunzte erneut. »Hilf nach, Torbu«, sagte ich. »Wir wollen doch se hen, ob das nicht seine Aussprache verbessert.« Torbu trat den ehemaligen Eigentümer gegen das Schienbein. Qohey bäumte sich auf und sah ihn wild an.»Halt sie zu rück«, murmelte er. »Den Emporkömmling, den du suchst, wirst du hier nicht finden.« »Warum nicht?« »Ich habe ihn fortbringen lassen.« »Wohin?« »An einen Ort, von dem du ihn samt deinen Abtrünni gen nicht mehr zurückholen wirst.« »Drück dich genauer aus!« Qohey spie auf den Boden. 180
»Torbu fand deine Bemerkung bezüglich der Abtrün nigen nicht sehr erfreulich. Ich bin sicher, er brennt dar auf, dir zu zeigen, wie wenig es ihm gefällt. Wenn ich dir also einen Rat geben darf, fang an zu reden, bevor wir deine Lebensspanne um alle weiteren kürzen.« »Selbst diese Schweine würden es nicht wagen …« Ich nahm das spitze Messer, das zu meinem Rüstzeug gehörte, und setzte es ihm an die Kehle. Ein sanfter Druck, und ein schmales, rotes Rinnsal fand den Weg über seinen Hals. »Rede«, sagte ich ruhig. »Oder ich schneide dir die Kehle mit eigener Hand durch.« Qohey hatte sich in den Stuhl gedrückt, soweit es die Lehne zuließ. »Hol ihn dir doch, Mordbube«, stieß er höhnisch her vor. »Hol ihn dir aus dem Kerker des Eigentümers aller Eigentümer.« »Erzähl weiter«, ermunterte ich ihn. »Der Oberste Eigentümer verlangte, daß man ihm den Sklaven in den Saphir-Palast an der Küste des Flachen Meeres bringe.« »Hat dieser Oberste Eigentümer einen Namen? Und woher wußte er von ihm?« »Lord Ommodurad«, krächzte Qohey mit einem wachsamen Blick auf Torbus Fuß. »Ich selbst berichtete ihm von dem Fremden.« »Wann brachte man ihn hin?« »Gestern.« »Kennst du den Saphir-Palast, Torbu?« »Sicher«, erwiderte Torbu. »Aber der Ort ist tabu; ein Nistplatz der Dämonen und Hexer. Man sagt, daß ein Fluch auf …« »Dann werde ich allein hineingehen«, erklärte ich und 181
nahm das Messer von Qoheys Kehle. »Aber vorher muß ich noch zum Raumhafen in Okk-Hamiloth.« »Sicher, Eigentümer Drehen. Der Hafen ist kein Pro blem. Zwar behaupten manche, es wäre auch dort nicht alles geheuer, aber das ist Unsinn. Nur die Grauen Wäch ter treiben sich in der Gegend herum.« »Mit denen werden wir fertig«, stellte ich fest. »Ruf fünfzig deiner besten Männer zusammen und schafft ein paar Luftfahrzeuge herbei. In einer halben Stunde ist al les bereit!« »Was geschieht mit ihm?« fragte Torbu. »Schließt ihn ein, bis ich zurückkomme. Wenn ich es nicht schaffe, hat er eben Pech gehabt.« XVI Die Dämmerung brach schon herein, als wir neben dem Raumboot landeten. Es stand noch genau so, wie ich es vor sieben irdischen Monaten verlassen hatte: die Schleuse offen, die Einstiegleiter ausgefahren, die Innen beleuchtung an. Es gab keine Geister an Bord, aber die Gerüchte hatten Besucher ebenso wirksam abgehalten. Selbst die Grauen blieben den Geisterschiffen fern. »Ihr werdet doch nicht in dieses verfluchte Schiff stei gen, Eigentümer Drehen?« fragte Torbu, die Finger be schwörend erhoben. »Es ist von Kobolden bemannt …« »Alles nur Propaganda. Wo meine Katze hingeht, gehe auch ich hin. Da!« Itzenca kletterte die Leiter hoch und war bereits im Boot verschwunden, als ich mich an die erste Sprosse machte. Die Augen der Wachen folgten mir ängstlich, als ich in das erleuchtete Innere trat. Der schwarz-gold ge musterte Zylinder, in dem sich Fosters Gedächtnis be 182
fand, lag in der Tasche, die ich beim Aussteigen zurück gelassen hatte. Auch der andere, noch nicht mit Farben versehene. Das war Ammaerlns Gedächtnis. Irgendwo in Okk-Hamiloth mußte eine Maschine sein. Zusammen mit Foster würde ich sie finden. Auch die 38er Automatik lag noch an ihrem Platz. Ich schnallte den alten Ledergürtel um. Meine bisherigen vallonischen Erfahrungen sagten mir, daß es keine schlechte Idee wäre, sie mitzunehmen. Die Vallonier hat ten dem nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Für Unsterbliche ist ein einfaches Messer verderblich ge nug.» Komm schon, meine Schöne«, sagte ich zu Itzenca. »Hier ist nichts mehr, das wir brauchen können.« Wieder auf der Rampe angekommen, wandte ich mich an die Führer meiner kleinen Streitmacht. »Mein nächstes Ziel ist der Saphir-Palast«, erklärte ich. »Wem das zu gefährlich erscheint, der soll jetzt aus steigen. Sagt das weiter!« Torbu schwieg einen Augenblick nachdenklich. »Es gefällt mir nicht, Eigentümer«, sagte er. »Aber ich komme mit. Und die anderen auch.« »Es gibt kein Zurück mehr, wenn wir erst auf dem Weg sind«, sagte ich fest. »Und das hier …« Ich hob die Pistole und feuerte einen Schuß ab. Sie schraken alle zu sammen. »Wenn ihr das hört, dann kommt so schnell ihr könnt.« Die Männer nickten und stiegen in die Wagen. Ich nahm die Katze unter den Arm und kletterte ins Füh rungsfahrzeug neben Torbu. »Es ist eine halbe Fahrstunde bis zum Palast«, erklärte er. »Möglicherweise haben wir mit den Grauen Ärger. Aber mit denen werden wir fertig.« Wir hoben ab und steuerten nach Westen. In niedriger 183
Höhe glitten wir über die Hügel. »Was geschieht, wenn wir dort sind, Boß?« fragte Torbu. »Wir sehen uns um und stellen fest, wie Ommodurad reagiert.« Der Palast lag unter uns mit einem Gewirr blauer Türme. Jenseits funkelte das Abendrot im unbewegten Spiegel des Flachen Meeres. Vor dreitausend Jahren, als Foster auszog, um seine Identität auf einer fremden Welt zu ver lieren, hatte es wohl nicht anders ausgesehen. Aber mei ne Männer kümmerten sich nicht um das gewaltige Schauspiel und um die Wunder, die ihre Vorfahren voll bracht hatten – ihre Vorfahren, die sie selber waren. Gleichmütig lebten sie in ihrer feudalen Gesellschaft, die in krassem Gegensatz zu den Errungenschaften der Ver gangenheit stand. Ich drehte mich zu meiner Schlägertruppe um. »Ihr glaubt also, daß Dämonen und Hexer ganz Vallon vom Betreten dieses Ortes abhalten. In diesem Fall gibt es kein Protokoll für den Empfang eines neuen Eigentümers im Blauen Palast. Mit ein wenig Glück und einer guten Portion Sturheit könnte man also trotz der Kobolde hier auftauchen und aus purer Höflichkeit dem obersten Boß seine Aufwartung machen, nicht wahr?« »Was ist, wenn sie einfach über uns herfallen, bevor wir unsere Aufwartung machen können?« fragte einer der Leibwächter. »Dazu brauchen wir eben Glück, das nur dem Tüchti gen hold ist«, antwortete ich. »Noch eine Frage?« Torbu ließ seinen Blick über die Männer schweifen. Schulterzucken und ein Grunzen da und dort waren alles. Er sah mich auffordernd an. »Die Jungs sind bereit.« 184
Wir senkten uns langsam auf die weiten Wiesen hinab, und noch immer erhob niemand Einspruch. Dann ragten die Türme über uns hoch, und wir entdeckten einen Hau fen Männer, der sich hinter den Stahltoren des Großen Pavillons formierte. »Ein Empfangskomitee«, sagte ich. »Bleibt ganz ru hig. Je weiter wir auf die sanfte Tour kommen, desto we niger Arbeit gibt es für uns.« Unsere Fahrzeuge landeten in beeindruckender Forma tion. Torbu und ich kletterten ins Freie. Die Leibwächter folgten, bildeten eine Formation, und so marschierten wir auf die Tore zu. Itzenca, unser Maskottchen, lief hinterher. Noch immer keine sichtbare Aufregung bei den Palast wachen. Wir erreichten das Tor, das sich von selbst öffnete. »Hinein«, sagte ich. »Aber haltet die Augen offen!« Die uniformierten Männer im Inneren beobachteten uns neugierig, hielten aber Abstand. Auf einer breiten, blaugeflasterten Straße hielten wir an und warteten. Nun war der Augenblick gekommen, da uns jemand will kommen heißen sollte. Aber das schien nicht so recht zu klappen. Die Atempause war verständlich. Seit etwa 2900 Jahren hatten hier keine offiziellen Empfänge mehr stattgefunden. Es währte gute fünf Minuten, bis ein vollgerüsteter Typ in geblähtem rosa Umhang die Palaststufen herabeil te und auf uns zukam. »Wer ist es, der in solcher Stärke in den Saphir-Palast Einlaß begehrt?« fragte er mit einem Blick auf meine Gefährten. »Ich bin Eigentümer Drehen, mein Freund«, schnappte ich. »Das ist meine Ehrengarde. Hat der Große Eigentü mer einem treuen Lehnsmann keinen erfreulicheren 185
Empfang zu bieten?« Das dämpfte ihn ein wenig. Er entschuldigte sich halbherzig und murmelte etwas über Anordnungen. Er nickte einem seiner Männer. Der kam heran und sprach mit Torbu. Dieser wiederum sah mich fragend an, die Hand am Schwert. »Was soll das?« fragte ich. »Wohin ich gehe, folgen auch meine Männer.« »Es ist eine Frage des gesellschaftlichen Ranges«, meinte der rosaumhangene Empfangschef. »Gefolgsleute haben nicht en masse Zutritt zu Lord Ommodurad, dem Eigentümer der Eigentümer.« Ich verdaute das, und mir fiel keine passende Aus flucht ein. »Schön, Torbu«, stimmte ich schließlich zu. »Halte die Jungs zusammen und benehmt euch. Wir sehen uns in einer Stunde. Oh, und paßt mir gut auf Itzenca auf!« Der Empfangschef plärrte ein paar Befehle, und eine Sechsmann-Garde geleitete mich die Stufen hinauf in den Großen Pavillon. Ich erwartete den üblichen barbarischen Pomp eines feudalen Empfangszimmers mit Musikanten, Narren und zeremoniellen Wachen. Statt dessen betrat ich ein Büro, etwa fünf mal sechs Meter, geschmackvoll eingerichtet, mit blauem Teppichboden. Vor einem Block aus blauge ädertem grauem Marmor mit einem Kristallhalter mit Federkielen und Fußraum für einen Riesen hielt ich an. Der Riese kam geschmeidig hoch. »Was wünschst du?« »Ich bin Eigentümer Drehen, Hoher Eigentümer«, sag te ich. Etwas an Ommodurad ließ mich zu einer Maus zusammenschrumpfen, die im Begriff war, auf den Käse zu verzichten. Qohey war schon groß gewesen für meine 186
Begriffe, aber dieser Oberboß hier übertraf alles. »Du ignorierst die Geister«, bemerkte er. »Ich bin nicht abergläubisch«, antwortete ich. »Kommen wir zur Sache«, fuhr er fort. »Warum bist du hier?« »Ich wurde in diesen Tagen Eigentümer in BarPonderone«, erklärte ich. »Und es schien mir nur recht und billig, Euch meine Aufwartung zu machen, Lord Ommodurad.« Er nickte leicht und wandte sich an den Anführer der Garde, die mich in den Raum geleitet hatte. »Quartiere für den Gast und sein Gefolge.« Er war nicht der gesprächige Typ, wie Gope bereits angedeutet hatte. Sein Blick weilte bereits nicht mehr auf mir, sondern war nach innen gerichtet, versunken in der Betrachtung unergründlicher Wahrheiten. Ich wagte es, ihn noch einmal zu stören. »Ah, verzeiht mir …« Ommodurads Blick richtete sich auf mich. »Ich hatte einen Freund … guter Junge, aber ein bißchen impulsiv. Er scheint den früheren Ei gentümer von Bar-Ponderone gefordert zu haben …« Ein Zucken der Brauen war Ommodurads einzige Re aktion, aber die Luft war plötzlich spannungsgeladen. Die sechs Wachen erstarrten impulsiv, und ich fühlte ihre Gegenwart bedrohlich beengend. Zu weit gegangen, dachte ich resigniert. »… und da dachte ich, ich könnte vielleicht Eure Ex zellenz bewegen, mir bei der Auffindung meines Freun des zu helfen«, schloß ich lahm. Eine endlose Minute lang bohrten sich seine Augen in die meinen. Dann hob er den Finger einen halben Zentimeter. Die Wachen ent spannten sich. »Quartiere für den Gast und sein Gefolge«, wiederhol 187
te Ommodurad. Dann zog er sich zurück … reglos. Ich war entlassen. Stumm begleitete ich meine Eskorte und bemühte mich, meine Erregung nicht zu zeigen. Ommodurad hatte einen Grund, schweigsam zu sein. Ich ging jede Wette ein, daß er sich an die Vergangenheit erinnerte. Er sprach perfektes Altvallonisch. Es war 27 Uhr. Stille herrschte im Saphirpalast. Ich be fand mich allein in dem prunkvollen Schlafraum, den mir der Große Eigentümer zugeteilt hatte. Nicht, daß ich un zufrieden damit war, aber ich würde nichts Wesentliches herausfinden, wenn ich drin blieb. Niemand hatte mir untersagt, meine Räume zu verlassen. Ich mußte die Ge legenheit beim Schopf packen und mich ein wenig umse hen. Ich schnallte die 38er um und verließ das Zimmer. Der Korridor war kaum erleuchtet. Eine Wache stand am jenseitigen Ende, beachtete mich aber nicht. Ich schlug die andere Richtung ein. Keiner der Räume war verschlossen. Es gab kein Ar senal und keine Archive im Palast, mit denen Untertanen des Großen Eigentümers etwas anfangen konnten. Alles war leicht zugänglich, ein Faktum, das Neugier im all gemeinen rasch zunichte macht. Die Wachen beobachte ten mich, als ich vorbeikam, aber sie hielten mich nicht auf. Ich erreichte Ommodurads Büro, und im Cintelicht sah ich die konzentrischen Kreise der Zwei Welten in gehämmertem Gold an einer Wand aus schwarzem Mar mor. Im Zentrum ragte ein Knauf wie der Griff eines Schwertes in Schwarz und Gold einen Viertelmeter aus der Wand. Es war das erstemal, daß ich dem vertrauten 188
Symbol auf Vallon begegnete, und es berührte mich, als hätte ich eine längst verlorene Spur wiedergefunden. Ich sah mich weiter um in den Räumlichkeiten und begegnete kaum jemand. Es sah so aus, als hätte der Große Eigentümer angeordnet, mich ungehindert herum schnüffeln zu lassen. Der Gedanke war nicht beruhigend. Dann kam ich in eine rotverhangene Halle, in dem ein Wachtrupp vor einer elfenbeinweißen Tür stand – die gleichen sechs Typen, die mich heute zu Ommodurad geleitet hatten. Hinter dieser Tür schien jemand ein si cheres, behagliches Leben zu führen. Sechs Augenpaare wandten sich mir zu. Zum Ver schwinden war es zu spät. So schritt ich gemächlich auf sie zu. »Sagt mal, Freunde«, flüsterte ich, »wo ist hier das gewisse Örtchen … ihr wißt schon.« »Jeder Schlafraum ist damit ausgestattet«, erklärte ei ner schroff und fingerte liebevoll an seiner Klinge. »Ehrlich? Ist mir gar nicht aufgefallen.« Ich wandte mich ab. Ich kam mir vor wie eine Maus im Katzenreich, der das Miauen noch nicht so leicht von der Zunge ging. Im Erdgeschoß fand ich Torbu und seine Kohorte. »Wir sind noch immer in Feindesland«, sagte ich ein dringlich. »Ihr müßt jederzeit bereit sein.« »Keine Angst, Boß«, erklärte Torbu. »Die Jungs ha ben alle ein Auge auf die Tür und eine Hand am Schwert.« »Habt ihr irgend etwas Interessantes erfahren?« »Nein. Diese Palastkerle halten nicht viel von Fragen.« »Haltet trotzdem die Ohren offen. Wenigstens zwei Mann bleiben die ganze Nacht wach.« »Ihr könnte Euch darauf verlassen, edler Drehen.« In meinem Schlafraum ließ ich mich in einen Lehn stuhl fallen und überdachte, was ich gesehen hatte. 189
Erstens: Ommodurads Räume mußten sich, wenn mich nicht alles täuschte, über mir befinden, und zwar zwei Stockwerke höher. Zweitens: Ich fand nichts Wesentliches heraus, wenn ich nur durch die Korridore marschierte. Und drittens: Ich hätte es besser wissen sollen, als die se Festung mit meinen paar Männern und einer 38er stürmen zu wollen. Foster befand sich hier. Qohey hatte es gesagt, und die Reaktion des Großen Eigentümers be stätigte es. Was war nur an Foster, das ihn für diese Leu te so wichtig machte? Eine interessante Frage, die ich ihm nur stellen konnte, wenn ich ihn fand. Und dazu mußte ich mir was Besonderes einfallen lassen. Ich begab mich an das breite Doppelfenster und blick te hoch. Im Licht des vollen Cinte beobachtete ich die kunstvoll gemeißelte Fassade, eine Reihe von Fenstern über mir und einem Balkon in der nächsten Etage, auf den Licht aus dem Inneren heraus fiel. Das mußte Om modurads Schlafzimmer sein, wenn meine Kalkulationen stimmten. Es sah ganz leicht aus. Ich überdachte es. Riskant, gewiß, aber der Überra schungseffekt war auf meiner Seite. Morgen konnte es vielleicht zu spät sein. Außerdem war eine solche Klet terpartie für vallonische Begriffe ein absurdes, weil viel zu riskantes Unterfangen. Ein kleiner Fehlgriff konnte eine lange Reihe von Leben beenden. Grübeln brachte mich nicht weiter. Jetzt war der Au genblick der Tat gekommen. Ich schob den großen Schrank so lautlos es ging gegen die Tür. Das würde ei nen überraschenden Besucher eine Weile aufhalten. Ich lud die Automatik und kletterte aus dem Fenster. Ein paar Wolken hatten sich hilfreich vor die helle Scheibe Cintes geschoben. Das reiche Zierwerk machte es leicht, 190
nach oben zu steigen. Ich machte einen Bogen um das Fenster, für den Fall, daß gerade ein Schlafloser den ro mantischen Ausblick genoß. Dann erreichte ich den Bal kon und hielt einen Augenblick inne, um Kräfte zu sam meln. Danach schwang ich mich über das Geländer. Der Balkon war schmal. Sechs Glastüren führten her aus, drei davon erleuchtet und mit schweren Vorhängen verhängt. Ich versuchte einen Blick ins Innere zu erha schen, aber das erwies sich als unmöglich. Das Ohr dicht an das Glas gepreßt, glaubte ich Ommodurads tiefen Baß zu vernehmen. Der Bär war in seiner Höhle. Ich schlich zu den dunklen Türen. Bereits die erste war nicht verschlossen. Das stockdunkle Innere war nicht einladend. Ich faßte die Pistole fester und wagte mich vor. Ein Stück des Vorhanges streifte mich. Ich hatte die Pistole im Anschlag und den Rücken zur Wand. Ich brauchte eine Weile, um mich daran zu erinnern, daß ich ein Haudegen von der Erde war, der sich in ei nem kurzen Leben mehr Schwierigkeiten aufgeladen hat te als die meisten Vallonier in einer halben Ewigkeit. Und daß ich dabei war, meinen Freund Foster herauszu holen, ihm sein Gedächtnis wiederzugeben und die Zwei Welten wieder so einzurichten, wie sie ausgesehen hat ten, als Troja noch nicht von den Griechen belagert wur de. Ich hörte Ommodurads Stimme nun deutlicher, aber ich verstand seine Worte nicht. Ich schlich an der Wand entlang und fand eine Tür. Aber ich hatte kein Glück. Sie war verschlossen. Gele gentlich schnappte ich ein Wort auf: »… ring … Okk-Hamiloth … Speicher …« Das hörte sich ganz so an, als ob es für mich interes 191
sant wäre. Aber wie näher herankommen? Einer Einge bung folgend, tastete ich über die niedrige Decke. Meine Finger glitten über den Rand einer Verschlußplatte für einen Schacht. Die Platte maß einen halben Meter im Geviert und besaß weder Scharniere noch Riegel. Ich ruckte kräftig daran. Mit einem lauten Knirschen und einer Wolke von Staub wich sie der rohen Gewalt. Ich griff in die Öffnung und stieß auf nichts als rohe Boden bretter. Es war noch nicht zu spät umzukehren, machte ich mir klar. Ich konnte ein paar Stunden in dem köstlichen wei chen Bett verbringen und morgen in aller Freundschaft von Ommodurad scheiden. Es war immer noch früh ge nug, in ein paar Monaten mit genügender Unterstützung aus dem ganzen Landkreis das Drachennest mit Gewalt auszuheben. Ich verfolgte den Gedanken nicht weiter. Statt dessen zwängte ich mich in die Öffnung und kroch den Schacht entlang. Nach einer Biegung wurden die Stimmen plötz lich lauter. Ich sah auch gleich, warum: Vor mir befand sich eine Luftklappe, durch deren Gitter Licht fiel. Ich kroch bis zur Öffnung. Durch das Gitter sah ich drei Männer. Ommodurad stand mit dem Rücken zu mir, seine mächtige Gestalt bis zum Hals in Purpur. Sein Blick ruh te auf einem rothaarigen Typ, der einen Amtsstab in Händen hielt und mit begieriger Grimasse auf den dritten starrte. Der dritte war Foster. Foster stand wie ein See mann, der sich gegen den Sturm stemmte. Seine Hände waren gefesselt. Sein Blick, der nicht von dem Rotkopf wich, war von der Sorte, wie sie Holzfäller haben, wenn sie die Axt ansetzen. »Von diesen Verbrechen weiß ich nichts«, sagte er. 192
Ommodurad verschwand aus meinem Blickfeld. Der Rote winkte, und Foster ging steif aus dem Gemach. Ich hörte eine Tür zufallen. Eine Menge Ideen wirbelten mir durch den Kopf, und ich versuchte sie in aller Eile auszu sortieren. Ein paar schieden automatisch aus. So hatte es zum Beispiel nicht viel Sinn, »Haltet den Dieb«! zu ru fen. Auch konnte ich jetzt meine Männer nicht alarmie ren und Ommodurads Zimmerflucht stürmen. Das schied aus. Was ich hingegen brauchte, waren mehr Informatio nen. Dafür mußte ich meine Lage ausnützen. Ich tastete über die Klappe und fand Halteklammern an den Ecken. Sie waren leicht zu lösen. Ich nahm das Gitter ab und legte es neben mich, dann steckte ich vor sichtig den Kopf aus der Öffnung. Der Raum schien leer zu sein. Worauf wartete ich noch? Ich kletterte in den Raum und brachte das Gitter wie der in die alte Position – für alle Fälle. Es war eine prunkvolle Kammer, ein königliches Ge mach mit roten Vorhängen. Ich sah mich um, öffnete ein paar Läden und Schränke, fand aber nichts Aufschlußrei ches. Ich öffnete eine der Glastüren zum Balkon, für den Fall, daß es auf einen schnellen Rückzug ankam. Noch eine Tür befand sich im Raum. Sie war verschlossen. Das gab meiner planlosen Suche einen losen Plan: Ich brauchte einen Schlüssel. So durchstöberte ich weitere Läden und Fächer, schließlich ein kleines Schränkchen neben einer großen Couch, und da war er. Mehr noch: Er paßte. Der Raum war dunkel. Ich tastete nach dem Licht schalter und schloß die Tür hinter mir. Als das Licht auf flammte, fand ich mich in der Hollywood-Vorstellung 193
einer Hexenküche wieder. Die fensterlosen Wände waren mit Büchern vollgestopft. Eine schwarze Zimmerdecke lauerte wie eine riesige Fledermaus über dem dunkelpo lierten Holzboden. Auf schmalen Tischen häuften sich Instrumente und noch mehr Bücher. An der jenseitigen Wand stand eine reichgepolsterte Couch mit einem helmartigen Gerät an einem Ende, das den Eindruck ei nes Haartrockners aus einem Kosmetiksalon erweckte. Ich wußte sofort, was das war: eine Gedächtnisübertra gungsmaschine. Die letzte, die ich gesehen hatte – damals auf dem Fern-Wanderer – war ein Standardmodell gewesen. Hier vor mir stand nun die Luxusausführung mit Spezialpol sterung, Chromleisten und Zusatzarmaturen. Das brachte mich der Lösung eines meiner Probleme einen gewalti gen Schritt näher. Jetzt brauchte ich nur noch Foster aus den Händen Ommodurads zu befreien, ihn in diese Kammer zu führen … Mit einmal fühlte ich mich müde, hilflos, allein und verwundbar wie ein frischgelegtes Ei. Ich hatte nicht die Spur eines Plans. Ich wußte nicht einmal, worum es ging, welches Interesse Ommodurad an Foster hatte und war um er sich hier draußen mit einem Schutzwall aus Aber glauben und magischen Kinkerlitzchen umgab! Und warum steckte ich mitten in diesem Schlamassel? Das war die einzige Frage, die ich beantworten konn te. Weil ich einst einen Freund hatte, der mich aufrichte te, als ich dabei war, am Leben zu verzweifeln. Wir hat ten ein wundersames Abenteuer zusammen erlebt, das mir Reichtum einbrachte und die Erkenntnis, daß es nie mals zu spät ist, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Ich war hinter ihm hergeflogen, als zu Hause die Luft 194
zu dick wurde, und hatte ihn in noch schlimmerer Lage wiedergefunden. Er kam aus einem Exil zurück, wie es noch kein Mensch vor ihm ertragen hatte, nur um eine barbarische Welt vorzufinden, auf der alle schönen Erin nerungen begraben waren. Er war in Ketten, ohne Freun de und ohne Hoffnung. Aber das alles hatte ihn nicht ge brochen. Nur in einem Punkt irrte er. Da war ein Funke Hoff nung – ich. Ich war hier und frei, hatte eine Pistole und im Augenblick sogar noch einen Fluchtweg … Es war besser, jetzt in den Schacht zurückzuklettern. Ich eilte zur Tür, schaltete das Licht ab, öffnete vorsich tig … und erstarrte. Ommodurad war zurück. Er riß den roten Umhang von den Schultern und warf ihn beiseite. Mit großen Schritten trat er zur Wandbar. Ich wagte nicht, die Tür zu schlie ßen. Gebannt starrte ich durch den Spalt. »Aber mein Lord«, hörte ich den Rothaarigen sagen, »ich weiß, daß er sich zu erinnern vermag. Laßt mich nur machen. Ich bringe ihn zum Reden …« »Nein«, grollte Ommodurads Stimme. »Ich werde morgen sein Gehirn ausdrücken wie einen Schwamm …« »Ah, Meister, gebt mir nur eine Stunde … morgen im Zeremonienraum. Ich werde ihn umringen mit den Em blemen der Vergangenheit …« »Genug!« Ommodurads Faust hämmerte auf die Bar, daß das Glas tanzte. »Auf solch kümmerliche Ignoranten wie du stützt sich ein mächtiges Imperium! Das ist eine Verhöhnung der Götter.« Er stieß das Glas zur Seite. Sein Kopf zuckte zu dem kauernden Mann herum. »Aber ich gewähre dir die Gunst. Und jetzt aus meinen Augen, Narr!« Der Rothaarige verbeugte sich grinsend und ver 195
schwand. Ommodurad schritt eine Weile brummend auf und ab und starrte in die Nacht hinaus. Er bemerkte die offene Balkontür und schloß sie fluchend. Ich hielt den Atem an, aber es folgte keine Überprüfung der übrigen Türen. Er zog seine Kleider aus, rollte sich auf die große Couch, schaltete das Licht ab und war fünf Minuten spä ter fest eingeschlafen. Eines hatte ich wenigstens herausgefunden: Ich hatte nur bis morgen Zeit, Foster zu befreien. Nicht viel, aber da es ohnehin aussichtslos war, machte es kaum einen Unterschied. Ich überflog mein Repertoire an Möglichkeiten für den nächsten Schritt: Ich konnte versuchen, auf Zehenspitzen durch den Raum zu schleichen und in den Schacht zu rückzuklettern, ohne den Riesen auf dem Bett zu wecken. Oder ich konnte durch die Balkontür entwischen … Eine verrückte Idee stieg mir in den Kopf. Ich nahm die beiden Zylinder aus der Tasche, die Hunderte von Jahren von Erinnerungen zweier Männer enthielten. Der schwarz-goldene gehörte Foster. Aber der andere war das Eigentum eines Fremden, der vor dreitausend Jahren im All gestorben war. Dieser kaum sieben Zentimeter lange Zylinder enthielt das Gedächtnis eines Mannes, der Fosters Vertrauter ge wesen war. In seiner Zeit war er ein Mächtiger, ein Herr scher, der wußte, was auf dem Schiff geschah, welchen Zweck die Expedition hatte und was auf Vallon zur Zeit seiner Abreise vorgegangen war. Ich brauchte dieses Wissen, wenn ich eine Chance ha ben wollte. Auch Ommodurads Interesse an Foster konn te mir nur der Zylinder erklären. Die Bedienung war einfach. Ich stopfte den Zylinder 196
in die Halterung seitlich an der Maschine, legte mich nieder und stülpte den Helm über meinen Kopf. In einer Stunde etwa würde ich aufwachen, ausgestattet mit ei nem zusätzlichen Gedächtnis, über das ich verfügen konnte. Es wäre Wahnsinn, die Gelegenheit nicht zu nutzen. Diese Maschine war vermutlich die einzige auf Vallon, die es noch gab. Ich rückte den Helm zurecht. Einen Augenblick lang ein stechender Schmerz. Dann Dunkelheit … XVII Ich stand vor der königlichen Couch, auf der Qulqlan, der Rthr lag, und sah, daß die ersehnte Stunde gekom men war, denn er litt den Wechsel … Die Zeitskala zeigte die dritte Stunde der Totenwache. Alle an Bord schliefen, außer mir. Es galt, rasch zu handeln. Bis zur Tagwache mußte es getan sein. Ich rüttelte den Schlafenden, der einst der Rthr gewe sen war – und nun kein König mehr, da er den Wechsel erlitten hatte. Er erwachte langsam und sah mit den un getrübten Augen des Neugeborenen um sich. »Steh auf!« befahl ich ihm. Und der König gehorchte. »Folge mir!« sagte ich. Er begann mir Fragen zu stel len, wie sie es alle taten, die nach dem Wechsel aufwach ten. Aber ich hieß ihn schweigen. Wie ein Lamm folgte er mir, und ich führte ihn zum Gehege der Jäger, die begie rig meines Kommens harrten. Ich nahm den Arm Qulqlans und hielt ihn in das Ge hege. Die Jäger setzten sich daran fest und zeichneten 197
ihre Beute. Er beobachtete sie mit großen, unwissenden Augen. »Was du jetzt fühlst, ist Schmerz, Unwissender«, sprach ich. »Etwas, das du noch oft erfahren wirst.« Als sie von ihm abließen, stellte ich das Zeitschloß. In meinen Räumen kleidete ich den Arglosen in ein einfaches rotes Gewand und führte ihn zum Beiboot … Aber der Fluch der Götter, der auf mir lastet, wollte es, daß einer vor mir da war. Ich zögerte nicht. Lautlos stieß ich ihm den Dolch in den Rücken und verbarg die Leiche hinter dem Podest einer Säule. Aber kaum war das getan, erschienen andere wie von magischer Hand herbeigeführt. Sie begehrten zu wissen, warum der Rthr des Nachts wanderte und in die Farben Ammaerlns von Bros-llyond gewandet war. Da kam Verzweiflung über mich, daß mein großer Plan zu solch einem Ende kom men sollte. Doch ich tat in gespieltem Zorn kund, daß ich, Am maerln, der Wesir und Begleiter des Rthr, mit meinem Herrn ein vertrauliches Gespräch führte. Doch sie ließen nicht ab, allen voran Gholad. Und dann fand einer den Toten, und sie umringten mich dro hend. Da zog ich die lange Klinge blank und hielt sie an die Kehle Qulqlans. »Steht ab von mir, oder euer König fin det ein Ende«, sprach ich. Das fürchteten sie, und sie wichen zurück. »Glaubt ihr wahrhaftig, daß ich, Ammaerln, der wei seste der Weisen, hierhergekommen bin aus Leidenschaft zum Fern-Wandern?« rief ich wütend aus. »Lange habe ich diese Stunde vorbereitet: der König allein auf einer Jacht, fern von seinem Hof; allein mit seinem getreuen Wesir sollte er den Wechsel erleiden. So soll das alte Un 198
recht wiedergutgemacht werden.« »Es gibt Männer, die sind zum Herrschen geboren. Ich bin einer von ihnen! Lange hat dieser jetzt Neuerwachte mir die Erfüllung versagt. Aber seht: Mit einem Streich vermag ich das Schicksal zu erfüllen.« »Eine grüne, fruchtbare Welt liegt unter uns, bevölkert von primitiven Stämmen. Ich will nicht Blutrache nehmen an einem, der aus dem Wechsel kommt. Aber er soll dort unten sein Leben verbringen. Und mögen die Götter ihn wieder zum König emporheben, wenn es ihr Wille ist …« Aber es waren nur Narren unter ihnen. Sie zogen ihre Klingen. Ich schrie ihnen entgegen, daß sie alle, alle an der Größe und Macht teilhaben sollten. Sie hörten nicht auf meine Worte, sondern stürmten auf mich ein. Da stieß ich mit der Klinge nach der Kehle Qulqlans. Doch Gholad warf sich dazwischen und starb an seiner Statt. Dann drangen sie auf mich ein, und ich focht gegen drei Wütende. Sie empfingen viele Wunden, doch sie ließen nicht ab von mir. Am Ende fanden sie alle drei durch mein Schwert den Tod. Aber der Rthr und ein paar seiner Getreuen waren verschwunden. Wut überkam mich, daß gewöhnliche Männer meine Pläne zu durchkreuzen vermocht hatten. Im Raum der Gedächtniscouch würde ich sie finden. Dort würden sie versuchen, dem Unwissenden jene Erin nerung an den Ruhm vergangener Zeiten zurückzugeben, die ich ihm nach so langer Planung vorenthalten wollte. In schrecklichem Zorn kam ich über sie. Sie waren nur zwei, die mir Schulter an Schulter den Eintritt verwehr ten. Ihre kümmerlichen Dolche vermochten nichts gegen meine lange Klinge auszurichten. Ich stach sie nieder und eilte zur Couch, um den schwarz-goldenen Zylinder des Qulqlan und damit den Rthr für immer zu vernichten … 199
Ein Geräusch ließ mich innehalten. Eine furchtbare Gestalt taumelte mir entgegen. Stahl blitzte in der bluti gen Faust Gholads, den ich tot geglaubt hatte. Im näch sten Augenblick spürte ich die Pein zwischen meinen Rippen … Gholad lehnte schlaff an der Wand. Sein Gesicht war grünlich über der blutbesudelten Tunika. Luft kam pfei fend aus seiner verletzten Kehle, wenn er sprach. »Ist es noch nicht genug, Verräter? Du hattest das Vertrauen des Königs«, flüsterte er. »Hast du kein Erbarmen mit ihm? Herrschte er nicht gerecht und glanzvoll in Okk-Hamiloth?« »Hättest du mich nicht meiner Bestimmung beraubt, mörderischer Schurke«, krächzte ich, »wäre dieser Glanz mein gewesen!« »Du hast seine Hilflosigkeit ausgenützt«, keuchte Gho lad. »Gib ihm die Chance, sein Gedächtnis wiederzuer langen, das kostbarer ist als sein Leben.« »Ich fühle neue Kraft in meine Arme strömen. Erst wenn ich ihn erledigt weiß, werde ich zufrieden sterben.« »Du warst einst sein Freund«, flüsterte Gholad. »Du hast an seiner Seite gefochten, als ihr beide jung wart. Hast du das vergessen? Und nun läßt du ihn hier in die sem Schiff des Todes, allein und ohne Erinnerung …« »Er ist die Beute der Jäger!« rief ich triumphierend. »Mit ihnen wird der Rthr dieses Grab teilen bis ans Ende aller Zeiten!« Dann sammelte ich alle Kraft in mir und erhob mich … aber als meine Finger nach dem Gedächtniszylinder des Königs greifen wollten, spürte ich den Griff von Gho lads Händen, die mich festhielten. Meine Kraft reichte nicht aus. Kopfüber fiel ich in den endlosen Abgrund des Todes, aus dem es keine Rückkehr … 200
Ich erwachte und lag lange Zeit ganz still in der Dun kelheit. Die Bruchstücke eines seltsamen Traumes von Gewalt und Mord entschwanden meiner Erinnerung. Ein Hauch der Bitterkeit war noch deutlich spürbar. Aber ich hatte Wichtigeres zu tun, als Träumen nachzuhängen. Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich an die letzten Sekunden erinnern konnte. Ich hatte mich hingelegt und den Helm aufgesetzt … Aber es hatte nicht funktioniert. Ich dachte angestrengt, versuchte ein neues Reservoir an Erinnerungen zu entdecken. Nichts. Vielleicht war mein irdisches Gehirn zu fremdartig für die Übertragung einer vallonischen Gedächtnisaufzeichnung. Na, wenig stens hatte ich mich ausgeruht. Aber jetzt war es an der Zeit, etwas zu unternehmen. Erst mußte ich wissen, ob Ommodurad noch schlief. Ich wollte mich aufsetzen. Nichts geschah. Ich hatte mich zu bewegen versucht, und kein Muskel hatte sich gerührt. Das war eine lächerliche Situation. Ich brauchte mich nur aufzusetzen. Ich … Nichts. Ich lag in der Finsternis und mühte mich ver zweifelt ab, einen Arm zu bewegen, den Kopf zu drehen. Es war, als hätte ich keinen Arm und keinen Kopf – nur ein Gehirn, das frei in der Dunkelheit schwebte. Da wa ren keine physischen Empfindungen mehr, nur ein kör perloses Gehirn. Dann, mit einemmal, wurde ich meiner Existenz be wußt – nicht in Form der mechanischen Funktion von Knochen und Muskeln, sondern als neuro-elektrisches Feld in einem lebenden Gehirn. Ich begann mich zu rechtzufinden. Ich befand mich in einem Zellenblock in der linken Hälfte. Die Masse des Neuralgewebes ragte 201
gigantisch über mir auf. Und »ich« … »ich« war auf das elementare Ego reduziert, das als materielles Zubehör »meine« Arme besaß, und »meinen« Körper, »mein« Gehirn. Befreit von allen Stimulanzien von außen, konn te ich nun das Konzept meiner Existenz erfassen: Ich war nichts weiter als ein insubstantieller Zustand in einem immateriellen Kontinuum, das durch Aktivität neuraler Strömungen im Großhirn entstanden war, wie ein magne tisches Feld im Raum durch Elektrizität entsteht. Und ich wußte, was geschehen war. Ich hatte meinen Geist der Invasion eines fremden Gedächtnisses geöffnet. Dieser andere Geist hatte von den Sinneszentren Besitz ergriffen und mich in diese dunkle Zelle zurückgedrängt. Ich war ein Vertriebener, in meinem eigenen Schädel. Ich war tiefer und vollkommener eingemauert, als es die massiven Steine von Bar-Ponderone je vermocht hät ten. Mit den wesenlosen Fingern der Vorstellung pochte ich gegen die Wände, die mich umgaben, suchte nach einem Lichtschimmer, nach einem Ausweg. Und fand keinen! Ich begann logisch zu überlegen. Ich mußte die Eindrücke meiner Umgebung analysie ren, Kanäle suchen und anzapfen, durch welche Impulse der Empfindungsnerven flossen. Unendlich vorsichtig tastete mein Selbstkonzept um sich. Hier waren die unendlichen Reihen der Zellen, dort die Sturzbäche der Flüssigkeit und die dichten Kabel des Gewebes. Und dort … Eine Barriere. Glatt und uneinnehmbar türmte sich ein Wall auf, fremd und unergründlich. Der Invasor! Ich zog mich zurück. Es hatte wenig Sinn, wenn ich meine Kräfte vergeudete. Ich mußte einen geeigneten 202
Angriffspunkt finden und die ganze Kraft meiner überle benden Identität an diesem Punkt einsetzen, bevor auch sie schwand und die Abstraktion, die sich Legion nannte, für immer verlorenging. Keine Gefühle beeinflußten mich mehr, der reine In tellekt kämpfte um sein Überleben. Keine Furcht lähmte mich. Kalt schätzte ich meine Möglichkeiten ab. Ich ent deckte einen unbenutzten Kanal in meinem eigenen Selbst-Feld. Einen Augenblick zuckte ich fast vor der Struktur der gespeicherten Daten zurück, aber dann erin nerte ich mich. Ich war im Wasser, dem Tode nahe, während ein Sol dat mit angelegtem Gewehr auf mein Auftauchen warte te. Und plötzlich: Eine Flut von Daten, die mit kalter, logischer Präzision die Kräfte meines Körpers dirigier ten, und ich überlebte. Ich hatte das vergessen. Das Wunder war vom Be wußtsein verdrängt worden. Das Geheimnis übermensch licher Kräfte und Ausdauer hatte unter der Bewußtseins zensur begraben gelegen. Aber nun wußte ich es wieder: Das waren die Überlebensdaten, mit denen alle alten Val lonier aus der Epoche der Zwei Welten vertraut waren und die mir der Instruktionsstab mit den allgemeinen In formationen vermittelt hatte. Denn nun war das Ego frei von unterbewußten Ein wirkungen und Neurosen. Die Ebenen des Geistes lagen offen vor mir, die Regionen der Träume, der instinktiven Furcht, die Verbindungskanäle zu allen überlagernden Emotionen. Ohne noch eine Sekunde zu zögern, besetzte ich das Gebiet der gespeicherten vallonischen Informationen. Dann näherte ich mich wiederum der Barriere, breitete mich aus, sondierte … 203
»… abscheulich primitiv …« Ich taumelte zurück unter der Wucht des Gedankens. Dann griff ich erneut an, besser vorbereitet diesmal. Ich wußte, was ich tun mußte. Ich fand einen schwachen Punkt und setzte an. »… unerträglich … verkümmert … auslöschen …« Augenblicklich stieß ich nach, passierte den Schild und setzte mich an einem optischen Eingangszentruni fest. Der fremde Geist schlug wütend zurück, aber es war zu spät. Vorsichtig modulierte ich die Impulse, Schwin gungen im Lambda-My-Bereich. Im nächsten Moment konnte ich sehen. Mein fragiles Ego-Konzept geriet einen Augenblick ins Wanken, als ich den Zustrom der äußeren Eindrücke zu integrieren versuchte. Aber dann bildete sich ein Gleichgewicht, und ich starrte durch das eine Auge, das ich dem Eroberer wieder abgejagt hatte. Ich erlebte eine Überraschung! Der Körper lag nicht mehr auf der Couch. Helles Ta geslicht fiel in Ommodurads Schlafraum, durch den sich mein Körper ohne mein Wissen bewegte. Das Blickfeld wanderte über die Couch. Ommodurad war verschwunden. Ich erkannte, daß der gesamte linke Gehirnlappen durch den Verlust des Auges ohne primären Orientierungssinn war und geschwächt auf sekundäre Sinne zurückgriff. Ich zog mich für einen Augenblick von meinem optischen Stützpunkt zurück, legte einen vorübergehenden Trauma block auf die Zugangsnerven, um zu verhindern, daß der Eindringling wieder davon Besitz ergriff, und konzentrier te meine Kräfte auf die aurikulären Kanäle. Das war ein fach. Augenblicklich koordinierte mein Auge seine Ein drücke mit jenen, die über die Gehörnerven flossen, und 204
ich hörte meine Stimme einen Fluch ausstoßen. Der Körper schritt durch einen düsteren Korridor. Der Blick fiel auf zwei Wachen, die überrascht zurückstarrten und nach den Waffen griffen. »Ihr wagt es, Lord Ammaerln den Weg zu versper ren?« schnappte meine Stimme. »Zur Seite, wenn euch euer Leben teuer ist.« Der Körper schritt zwischen ihnen durch eine Mar mortreppe abwärts und erreichte den Raum, in dem das goldene Symbol der Zwei Welten an der schwarzen Wand prangte. Im Stuhl des Obersten Eigentümers an der runden Ta fel saß Ommodurad mit einem finsteren Blick auf den Rothaarigen. Zwischen ihnen stand Foster gefesselt. Ommodurad wandte sich um, sein Gesicht wurde bleich, dann dunkelrot. Er sprang auf. Der Blick meines Auges richtete sich auf Foster. Fo ster starrte mich ungläubig an. »Mein Lord Rthr«, vernahm ich meine Stimme. Das Auge erfaßte die Fesseln. Mein Körper fuhr entsetzt zu rück. »Du übernimmst dich, Ommodurad!« rief meine Stimme. Ommodurad kam mit erhobenem Arm auf mich zu. »Wag es, mich anzurühren, thronräuberischer Hund!« donnerte meine Stimme. »Bei den Göttern, bedenke, wen du vor dir hast!« Tatsächlich hielt Ommodurad inne und starrte for schend in mein Gesicht. »Ich kenne dich als Emporkömmling, als Drehen, als kleinen unwichtigen Eigentümer«, erwiderte er. »Aber es scheint mir, daß noch ein anderer aus deinen Augen blickt!« 205
»Ein teuflisches Verbrechen ist dafür verantwortlich«, erklärte meine Stimme. »Aber du sollst wissen, daß dein Herr und Lord Ammaerln vor dir steht, im Körper dieses Primitiven!« »Ammaerln …!« Ommodurad fuhr wie unter einem Schlag zusammen. Mein Körper wandte sich zu Foster. »Mein Herr«, be gann meine Stimme. »Ich schwöre Euch, daß dieser Hund für seinen Verrat sterben wird!« »Er ist ein Unwissender, ein Eindringling!« unterbrach Ommodurad mich. »Er ist nicht mehr Rthr. Du hast es jetzt nur noch mit mir zu tun!« Mein Körper wirbelte herum. »Beherrsche deine Zun ge, wenn du am Leben bleiben willst.« Ommodurad griff nach seinem Dolch. »Du magst Ammaerln von Bros-Ilyond sein oder nicht. Aber wisse, daß ich jetzt auf Vallon die Macht ausübe!« »Und was ist mit ihm, der einst Qulqlan war? Was willst du von ihm, wenn er doch unwissend ist?« »Meine Geduld ist zu Ende!« brüllte der Große Om modurad. »Denkst du, ich lege in meiner eigenen Burg vor jedem Narren Rechenschaft ab?« Damit stürmte er auf meinen Körper los. »Ist Ommodurad ein so großer Narr, daß er die Macht Ammaerlns vergißt?« sagte meine Stimme leise. Ommo durads riesige Gestalt hielt erneut an. Sein forschender Blick traf mein Gesicht. »Der Rthr hat ausgespielt. Und du ebenfalls, erbärmli cher Stümper«, fuhr meine Stimme fort. »Die kurzen Monate – oder sind es Jahre? – der Anmaßung sind vor bei.« Meine Stimme wurde lauter: »Wisse, daß ich, Am maerln der Große, zurückgekehrt bin, um meine Herr schaft in Okk-Hamiloth anzutreten!« 206
»Monate?« donnerte Ommodurad. »Wahrhaftig scheint etwas Wahres an den Erzählungen der Grauen Wächter zu sein, die da sagen, ein böser Geist wäre zu rückgekehrt, um mich heimzusuchen! Monate sagst du?« Er warf den Kopf zurück und lachte – ein ersticktes, keh liges Lachen, das fast wie ein Schluchzen klang. »Höre, Dämon, Irrer oder verfluchter Prinz aus der Vergangenheit: Dreißig Jahrhunderte habe ich hier in meiner Einsamkeit gebrütet. Nur ein einziger Schlüssel trennte mich von einem Imperium!« Ich fühlte den Schock, der den Invasor lähmte, und griff erneut an. Aber mein Eifer machte mich sorglos. Der Invasor erholte sich und griff seinerseits an. Zu spät erkannte ich, daß er in mein Bewußtsein vordrang und über die gespeicherten Daten hinweghuschte. Ich wich zurück, um eine Information abzuschirmen – und verlor, was ich gewonnen hatte. Trotzdem eroberte ich wichtige Daten zurück, die es nun zu interpretieren, integrieren und mit bekannten Fakten in Relation zu setzen galt. Daraus erwuchs ein komplexes Gefüge von Beziehun gen, die zu einer Erweiterung des Bewußtseins führten. Auf das geistige Bild Fosters prägte sich nun ein neues – das von Qulqlan, Rthr von ganz Vallon und Herrscher über die Zwei Welten! Andere Bilder aus den Gedanken des Eindringlings waren nun in meinem, Legions, irdischem Bewußtsein. Die Speicher, die tief unter der legendären Stadt OkkHamiloth die Gedächtnisse aller Bürger Vallons bargen und vom Rthr seihst versiegelt waren – ein Siegel, dessen Schlüssel nur in seinem Geist zu finden war! Ammaerln war es gewesen, der den König zu dieser Fernwanderung veranlaßte und ihm nahelegte, die königliche Gedächt nisaufzeichnung mitzunehmen. 207
Qulqlans Zustimmung hallte in meinem Bewußtsein nach und Ammaerlns geheime Befriedigung über das Voranschreiten seiner Pläne. Der Wechsel, der den Rthr auf dem Schiff überraschte, weit draußen im Raum – und der Handstreich des We sirs! Und dann die Narren, die ihn im Rettungsboot ent deckt hatten, und alles, alles zunichte machten! Dort setzten meine eigenen Erinnerungen ein: wie Fo ster erwachte, ohne den geringsten Verdacht, und das Gedächtnis des sterbenden Ammaerln aufzeichnete. Wie er vor den Jägern floh. Wie ich, ein Primitiver, das Ge dächtnis fand, das drei Jahrtausende bei den neolithi schen Gebeinen gelegen hatte. Und wo es sich jetzt be fand – in der Hüfttasche des Körpers, in dem ich steckte; aber ebenso unerreichbar, als wäre es Millionen Kilome ter entfernt! Aber ich hatte auch einen zweiten Zylinder mitge bracht, die Gedächtnismatrize von Fosters jahrtausen dealtem Feind. Ich hatte seinen Feind wieder zum Leben erweckt und ihm einen Körper verschafft – meinen Körper! Foster, einst der Rthr, hatte aller Logik zum Hohn überlebt und war von den Toten zurückgekehrt: als letzte Hoffnung einer Großen Zeit … Nur, um durch meine Hand jetzt ein Ende zu finden! »Dreitausend Jahre«, hörte ich meine Stimme sagen. »Dreitausend Jahre haben die Menschen Vallons ohne ihr Gedächtnis gelebt. Dreitausend Jahre, in denen der Glanz Vallons in Speichern schlummerte, zu denen es keinen Schlüssel gab.« »Ich allein«, sagte Ommodurad, »trug den Fluch des Wissens. Bereits zur Zeit des Rthr nahm ich meine Ge 208
dächtnisaufzeichnung aus dem Speicher, um vorbereitet zu sein, wenn er fiel. Aber was hat es mir eingebracht?« »Und jetzt willst du seinen leeren Geist zwingen, die Speicher zu öffnen?« »Ich weiß, es ist ein hoffnungsloses Unterfangen«, er widerte Ommodurad. »Erst dachte ich, er verstellte sich nur, weil er des Altvallonischen mächtig ist. Aber er weiß nichts. Er ist nur eine Schale, und es dürstet mich, sie zu zerbrechen, um die Verhöhnung der Hoffnungen dreier Jahrtausende zu beenden.« »Niemals!« erwiderte meine Stimme scharf. »Einst hatte ich das Exil für den Neuerwachten bestimmt. Und dabei bleibt es!« Das Gesicht Ommodurads verzerrte sich vor Wut. »Und ich werde deines anmaßenden Geschwätzes mü de!« »Warte!« knurrte meine Stimme. »Würdest du den Schlüssel fortwerfen?« In der folgenden Stille ließ Ommodurads starrer Blick nicht von mir. Ich sah meine Hand hochkommen. In ihr war Fosters Gedächtniszylinder. »Die Zwei Welten liegen in meiner Hand«, stellte meine Stimme fest. »Hier ist der Schlüssel und hier ist die Macht. Der unwissende Körper dort mag zerstört werden!« Ommodurads Blick hielt meinen fest. Dann sagte er: »So mag es geschehen.« Der Rothaarige zog lächelnd einen langen Dolch aus seinem Gürtel. Ich durfte nicht länger warten … Durch die feinen Verbindungskanäle sandte ich den ganzen Rest der gespeicherten Energie meines Geistes. Ich fühlte den Feind zurückweichen, aber nur für einen Augenblick. Dann schlug er mit vernichtender Kraft zu 209
rück. Zu spät – ich hatte den Schild passiert und teilte meine geballte Energie auf in Tausende kleiner Funken und Ströme, die überall zugleich vordrangen, neue Ener giequellen erschlossen … Ein Schlag puren, mörderischen Grimms erschütterte meine Existenz. Schild an Schild rang ich mit dem Ein dringling. Doch er war stärker. Wie eine zersetzende Flüssigkeit fraß sich das massive Personalitätsgefüge unzähliger Generationen in mein ausgebreitetes Ego-Feld. Langsam, zögernd, kämpfend zog ich mich zurück. Da war ein schattenhafter Eindruck eines erstarrten Körpers mit leblosen Augen und das Echo einer dröhnenden Stimme, die rief: »Rasch! Den Eindringling!« Jetzt! Ich stürmte das rechte optische Zentrum. Die feindlichen Gedanken flackerten irr, als die Dun kelheit auf sie niederfiel. Ich vernahm das Schreien mei ner Stimme und sah in rasender Pantomime das Gesche hen, das den Invasor bedrohte: Der Rothaarige kam mit dem Dolch auf mich zu … Und dann zersplitterte der fremde Geist und ver schwand aus meinem Bewußtsein. Ich taumelte unter der plötzlichen Erkenntnis: Ich war allein in meinem Schädel. Das Gehirn lag vor mir, dun kel und leer. Ich marschierte entlang der Hauptnerven stränge, erreichte die Großhirnrinde … Qual! Ich krümmte mich. Gefühle stürmten auf mich ein. Der Besitz von Armen, Beinen wurde bewußt. Ich riß beide Augen auf, sah verschwommene Gestalten. In meiner Brust tobte ein entsetzlicher Schmerz … Keuchend lag ich am Boden. Und ich wußte, was ge schehen war: Der Rothaarige hatte zugestoßen. Und der fremde Geist in mir war unter dem Schock der Schmerz 210
zentren zusammengebrochen, hatte mir das rasende Neu rosystem überlassen. Wie durch einen roten Schleier sah ich die riesige Ge stalt Ommodurads über mir. Sie hielt den Zylinder in der Hand. Nicht weit von mir hatte Foster den Rotkopf mit seinen Ketten in würgendem Griff. Ommodurad war mit einem Schritt heran, entriß Foster den Rothaarigen und ging mit dem Dolch auf Foster los. Dieser sprang mit der Behendigkeit einer Katze zurück und schlug mit den Handschellen nach dem Messer, das in hohem Bogen durch den Raum fiel. Ommodurad wich mit einem Fluch zurück, während der Rotkopf den Dolch aufhob, der ihm entfallen war. Foster stolperte zurück und hob abwehrend die Arme. Mit übermenschlicher Anstrengung bewegte ich meine Arme und erreichte die Lederhalfter. Der Eindringling hatte wohl von dem Zylinder erfahren; doch den Besitz der Pistole hatte ich zu verbergen vermocht. Es war ein schmerzvoller Prozeß, die Waffe zu ziehen, aber ich schaffte es. Ich richtete die Waffe auf das flammende rote Haar – und feuerte. Ommodurad hatte seinen Dolch wieder und wandte sich Foster zu, der, über und über mit dem Blut des Rot haarigen befleckt, langsam an die Wand zurückwich, an der die goldenen Kreise schimmerten – das Symbol der Zwei Welten! Ich fühlte Dunkelheit über mich kommen, aber da war ein nagender Gedanke. Einer, den ich in dem komplexen Muster des Eindringlings gefunden hatte. Der Knauf, der aus dem Zentrum der Ringe ragte, einem Schwertgriff gleich … Das Schwert des Rthr, einst vor undenklicher Zeit das Schwert eines Kriegerkönigs, nun versiegelt in einer 211
Scheide aus Stein, verschlüsselt mit dem Bewußtseins kodex des Rthr, daß kein anderer es je zu unedlen Zwek ken benützen konnte. Noch einmal gelang es mir, die nahende Schwärze zu rückzudrängen. Ommodurad kam mit dem Dolch in der Hand auf den Unbewaffneten zu.»Foster«, krächzte ich. »Das Schwert …« Fosters Kopf ruckte hoch. Ich hatte Englisch gespro chen. Ommodurad kümmerte sich nicht um die unbe kannten Worte. »Ziehen Sie … das Schwert … aus dem Stein! … Sie sind … Qulqlan … der Rthr … von Vallon!« Ich sah, wie er den verzierten Griff faßte. Ommodurad sprang mit einem Wutschrei auf ihn los … Das Schwert glitt leicht aus dem Stein – ein Meter zwanzig blitzenden Stahls. Ommodurad hielt inne und starrte auf die gefesselten Hände, in denen die legendäre Klinge lag. Langsam sank er in die Knie und beugte sein Haupt vor dem Herrn. »Ich ergebe mich, Qulqlan«, stammelte er. »Und erbit te die Gnade des Rthr!« Hinter mir stampften Füße über den Boden. Undeut lich nahm ich Torbu wahr, der meinen Kopf hob, und Foster, der sich über mich beugte. Sie sagten etwas, das meine Ohren nicht mehr erfaßten. Meine Beine waren kalt, und die Kälte kroch höher. Ich spürte Hände an meinem Körper, und die kühle Berührung von Metall an den Schläfen. Ich wollte reden, wollte Foster erklären, daß ich endlich die Antwort ge funden hatte, die mir immer wieder entglitten war. Ich wollte ihm erklären, daß alle Leben gleich lang waren, wenn man sie aus der verkürzenden Perspektive des To des betrachtete, und daß das Leben, wie die Musik, kei 212
ner Erklärung bedarf, nur einer bestimmten Symmetrie. Aber ich schaffte es nicht. Ich versuchte, den Gedan ken festzuhalten und mit mir zu nehmen in die kalte Lee re, auf die ich zutrieb. Doch er entglitt mir. Es gab nur noch mein Existenzbewußtsein, allein in der Leere. Die Winde, die durch die Ewigkeit wehten, zerstoben die letzten Fäden des Ego. Ich war eins mit der Dunkelheit … XVIII Ich erwachte im Morgenschimmer einer freundlichen Welt. Spitzenvorhänge flatterten vor großen Fenstern, und eine Abteilung Wolken ritt über den weiten, blauen Himmel. Ich wandte den Kopf und sah Foster neben mir in ei ner kurzen weißen Tunika. »Das ist ein komisches Kostüm, Foster«, sagte ich. »Aber Sie sehen nicht schlecht darin aus. Allerdings sind Sie älter geworden. Sie sehen fast schon aus wie fünf undzwanzig.« Foster lächelte. »Willkommen auf Vallon, mein Freund«, sagte er auf englisch, und er tat sich ein wenig hart mit den Worten, als hätte er sie längere Zeit nicht mehr benützt. »Vallon«, murmelte ich. »Dann war es also kein Traum!« »Betrachte es als einen Traum, Legion. Dein Leben fängt heute erst an.« »Da war etwas«, sagte ich. »Etwas, das ich tun mußte. Aber es scheint nicht wichtig zu sein. Ich fühle mich frei …« Eine Gestalt erschien hinter Foster. 213
»Gope«, rief ich aus und fügte zögernd auf vallonisch hinzu: »Sie sind doch Gope, nicht wahr?« Er lachte. »Den Namen trug ich einst«, erklärte er. »Aber mein wirklicher Name ist Gwanne.« Ich sah an mir hinab und entdeckte, daß ich die gleiche Tunika wie Foster trug, nur daß sie von hellem Blau war. »Wer hat mich in das Kleid gesteckt?« fragte ich. »Wo sind meine Hosen?« »Dieses Kleidungsstück steht Euch besser«, meinte Gope. »Kommt, betrachtet Euch im Spiegel.« Ich rollte mich auf die Beine und ging zu dem großen Spiegel. »Nein, das kann ich unmöglich sein«, begann ich, und starrte mit offenem Mund auf das Spiegelbild. Ein dunkelhaariger Herkules erwiderte meinen Blick. Ich machte den Mund zu … und sein Mund schloß sich eben falls. Ich bewegte einen Arm, er bewegte einen Arm. Ich wirbelte zu Foster herum. »Was … wie … wer …?« »Der sterbliche Körper, der einst Legion war, erlag seinen Wunden«, erklärte er. »Aber Legions Geist wurde aufgezeichnet. Wir mußten Jahre warten, um diesem Geist ein frisches Leben zu geben.« Fassungslos wandte ich mich wieder dem Spiegel zu. Der junge Riese sah mir ebenso fassungslos entgegen. »Ich erinnere mich«, flüsterte ich. »Ich erinnere mich an ein Messer in meiner Brust … und an einen rothaarigen Mann … und an den Obersten Eigentümer. Und …« »Er wurde verbannt für seine Verbrechen, bis der Wechsel über ihn kam«, berichtete Gope. »Lange mußten wir warten, ehe es soweit war.« Ich blickte erneut in den Spiegel. Zwei Gesichter sah ich darin, und beide waren jung. Eines von den beiden war ganz unten zu meinen Füßen, und es gehörte zu einer 214
Katze, die ich einst als Itzenca gekannt hatte. Das andere, höhere, war das eines Mannes, der mir einst als Ommo durad gegenübergestanden hatte. Aber jetzt war es ein junger, strahlender Ommodurad, nicht älter als zwanzig. »In den leeren Zylinder haben wir Euren Geist über tragen«, sagte Gope. »Er schuldete dir ein Leben, Legion«, sagte Foster. »Sein eigenes hatte er verwirkt.« »Vielleicht sollte ich schreien und strampeln und nach meiner alten widerwärtigen Fratze verlangen«, murmelte ich nachdenklich und musterte mein Spiegelbild wohlge fällig. »Aber wenn ich ehrlich bin, hat auch ein Leben als Mr. Universum seine Reize.« »Der Keim des Alterns war in deinem alten Körper«, sagte Foster. »Aber nun hast du ein langes Leben vor dir.« »Kommt jetzt«, sprach Gope. »Ganz Vallon will Euch die Ehre erweisen!« Er schritt voran zu dem großen Fen ster. »Du wirst an meiner Seite an der großen Ringtafel sit zen«, erklärte Foster, »Und danach liegen zwei ganze Welten vor dir, die wir zu ihren alten Glanz emporfüh ren.« Ich blickte auf das sanfte grüne Land, das sich mit Hügeln und Wäldern bis zum Horizont erstreckte. Über eine weite Wiese kam eine lange, bunte Reihe von vallo nischen Edlen geritten, Männer und Frauen auf Reittieren von schwarzer Farbe, oder von hellgelber mit weißen Mähnen und Schweifen, die wie Einhörner der alten Sa gen anmuteten. Mein Blick glitt zu den blauen Türmen empor, die im Licht der großen, weißen Sonne leuchteten. Von irgend wo kam der Klang von Trompeten und harmonischer, 215
elektronischer Musik. »Das ist ein Angebot nach meinem Herzen«, sagte ich. »Das schlage ich nicht ab.« ENDE
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