Durch den beschaulichen Ort Kingsmarkham geht eine Welle der Gewalt: gegen Frauen, gegen Mißliebige jeder Art - und sog...
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Durch den beschaulichen Ort Kingsmarkham geht eine Welle der Gewalt: gegen Frauen, gegen Mißliebige jeder Art - und sogar gegen die Polizei. Zuerst verschwinden kurz nacheinander zwei junge Mädchen. Als sie nach wenigen Tagen scheinbar unbeschadet wieder zurückkehren, weigern sie sich, über ihre Erlebnisse Auskunft zu geben. Da wird ein Sittlichkeitsverbrecher aus der Haft entlassen, und sofort sind den braven Bürgern von Kingsmarkham die Zusammenhänge klar. Der Unmut gegen den ehemaligen Häftling schlägt hohe Wellen, es kommt zu Protesten und Tumulten, und eine Bürgerwehr wird gebildet, die so brutal vorgeht, daß schließlich ein Polizist ums Leben kommt. Und dann verschwindet, spurlos und geheimnisvoll, die dreijährige Sanchia, das Töchterchen eines wohlhabenden Ehepaars. Angesichts der öffentlichen Erregung fällt es Wexford und seinem Assistenten Bürden immer schwerer, Ruhe zu bewahren und jeden dieser eigenartigen Fälle mit zäher Genauigkeit und geduldigen Fragen zu durchleuchten. Denn eines ist Wexford inzwischen klar geworden: Irgendwo besteht ein Zusammenhang zwischen den Ereignissen um die drei verschwundenen Mädchen. Da wird der Vater der kleinen Sanchia ermordet aufgefunden. Und Wexford befindet sich plötzlich mitten in einem mörderischen Strudel aus Angst, Gewalt und Gefühlskälte. Erneut ist Ruth Rendell ein brillant erzählter Kriminalroman gelungen -schärfer und schonungsloser, anrührender und abgründiger denn je: ein Triumph! Ruht Rendell, auch unter dem Pseudonym Barbara Vine erfolgreich und als »Königin der Kriminalliteratur« gefeiert, ist mit ihren zahlreichen Romanen eine der ganz großen englischen Autorinnen. Dreimal schon erhielt sie den Edgar-Allan-Poe-Preis und zweimal den »Golden Dagger Award«. 1997 wurde sie mit dem »Grand Masters Award« der Crime Writers Assoc iation of America, dem renommiertesten Krimipreis überhaupt, ausgezeichnet und darüber hinaus von Königin Elizabeth II. in den Adelsstand erhoben. Ruth Rendell, die am 17. Februar 2000 ihren siebzigsten Geburtstag feiert, lebt in Suffolk.
Ruth Rendell
Das Verderben
Den »Kinderkreuzzug« nannte er es, als alles vorbei war, weil Kinder eine so große Rolle darin spielten. Doch eigentlich ging es überhaupt nicht um Kinder. Kein einziges trug körperlichen Schaden davon, keinem war etwas getan worden, keines hatte über das in seinem Alter normale Maß hinaus weinen müssen, nicht einmal das. Der erlittene seelische Schmerz, das emotionale Trauma und die psychische Schädigung - nun, das war etwas anderes. Wer weiß, welchen Eindruck ein bestimmter Anblick auf Kinder ausübt? Und wer kann sagen, welche Handlungen solche Eindrücke nach sich ziehen? Wenn überhaupt. Vielleicht sind sie ja, wie man früher glaubte, charakterbildend. Sie machen uns stark. Das Leben ist schließlich hart, und darüber sollte man sich am besten schon in jungen Jahren klarwerden. Jede Kindheit ist unglücklich, sagt Freud. Allerdings, überlegte Wexford, ist die eine unglücklicher als die andere. Diese Kinder, die Kreuzzügler, waren Zeugen. Viele meinen, man sollte nie zulassen, daß Kinder Zeugen werden. Und es gibt ja auch Gesetze, die sie vor der Ausbeutung durch die Gerichtsbarkeit schützen. Aber wer will verhindern, daß sie etwas sehen, daß sie überhaupt erst Augenzeuge werden? Seine Tochter Sylvia, die Sozialarbeiterin, sagte, nach allem, was sie schon gesehen hatte, glaube sie manchmal, alle Kinder sollten ihren Eltern gleich nach der Geburt weggenommen werden. Andererseits würde sie selbst sich mit Händen und Füßen wehren, falls irgendein übereifriger Sozialarbeiter versuchen würde, ihr ihre eigenen Kinder wegzunehmen. Die Kinder, um die es in Wexfords Fragen und Ermittlungen ging, stammten von überallher aus Kingsmarkham und 3 den umliegenden kleinen Ortschaften, aus einem Sozialwohnungsgebiet, das die Zeitungen mit ihrem derzeitigen Lieblingsausdruck als »verrufen« bezeichneten, aus dem Millionärsviertel, das bei ihnen »im Grünen« lag, und aus der Mittelschicht dazwischen. Sie trugen die Vornamen - waren gelegentlich sogar darauf getauft worden -, die in den achtziger und neunziger Jahren beliebt waren: Kaylee und Scott, Gary und Lee, Sascha und Sanchia. In einer bestimmten Klasse der St.-Peter-Grundschule in Kingsmarkham war es taktlos, nach dem Namen des Vaters zu fragen, weil die meisten Kinder nicht recht wußten, wer ihre Väter waren. Auch wenn diese Kindergeneration
mit Kartoffelchips, Pommes frites, Schokolade und Fertigmahlzeiten aufgezogen worden war, war es trotzdem die gesündeste, die das Land je besessen hatte. Hätte eins dieser Kinder jemals eine Ohrfeige verpaßt bekommen, so hätte es den Übeltäter vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezerrt. Seelische Grausamkeit war eine andere Geschichte, keiner kannte sich so recht aus mit ihr, obwohl viele sie jeden Tag zu schreiben versuchten. Das älteste Kind, für das Wexford sich interessierte, war schon fast keines mehr. Sie war sechzehn, alt genug zum Heiraten, aber nicht zum Wählen, alt genug, um von der Schule abzugehen, wenn sie sich dafür entschied, und auch ihr Elternhaus zu verlassen, wenn sie das wollte. Ihr Name war Lizzie Cromwell.
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An dem Tag, an dem Lizzie von den Toten zurückkehrte, waren Polizei, Familie und Nachbarn schon dabei, nach ihrer Leiche zu suchen. Sie bearbeiteten das offene Land zwischen Kingsmarkham und Myringham, durchkämmten die Hügel und streiften durch den Wald. Obwohl bereits April, war es kalt und naß, und es blies ein schneidender Nordostwind. Ihre Aufgabe war nicht angenehm,- keiner lachte oder machte Witze, und es wurde wenig gesprochen. Unter den Suchenden befand sich auch Lizzies Stiefvater, doch ihre Mutter war zu erschüttert, das Haus zu verlassen. Am Vorabend hatten die beiden im Fernsehen einen Aufruf durchgegeben, Lizzie möge doch wieder nach Hause kommen, und an ihren etwaigen Entführer oder Angreifer appelliert, sie freizulassen. Ihre Mutter sagte, sie sei erst sechzehn, was bereits bekannt war, und habe Lernschwierigkeiten, was noch nicht bekannt war. Ihr Stiefvater war ein gutes Stück jünger als ihre Mutter, vielleicht zehn Jahre, und sah auch sehr jung aus. Er hatte langes Haar und einen Bart und trug mehrere Ohrringe, alle im selben Ohr. Nach der Fernsehausstrahlung riefen einige Leute auf dem Polizeirevier von Kingsmarkham an und gaben ihrer Vermutung Ausdruck, Colin Crowne habe seine Stieftochter ermordet. Eine Anruferin behauptete, er habe sie auf dem Baugrundstück an der York Street vergraben, etwa eine Viertelmeile vom Muriel Camp-den Estate entfernt, einer Siedlung des sozialen Wohnungsbaus, wo die Crownes mit Lizzie wohnten. Eine andere sagte zu Sergeant Vine, sie habe Colin Crowne zu Lizzie sagen hören, er würde sie umbringen, weil sie »dumm wie Bohnenstroh« sei. 4
»Leute, die zum Fernsehen gehen und über ihre vermißten Kinder reden«, meinte eine Anruferin, die sich weigerte, ihren Namen zu nennen, »sind immer die Schuldigen. Es ist immer der Vater. Wie oft hab' ich das schon erlebt. Und wenn Sie das nicht wissen, haben Sie bei der Polizei nichts zu suchen.« Chief Inspector Wexford hielt sie für tot. Nicht weil es die anonyme Anruferin gesagt hatte, sondern weil sämtliche Indizien darauf hindeuteten. Lizzie hatte keinen Freund, war alles andere als frühreif, hatte einen niedrigen IQ und war ziemlich langsam und schüchtern. Drei Abende zuvor war sie zusammen mit ein paar Freundinnen mit dem Bus ins Kino nach Myringham gefahren, nach dem Film hatten die beiden anderen Mädchen sie aber allein nach Hause fahren lassen. Sie hatten gefragt, ob sie noch mit in die Disco käme, doch Lizzie hatte gesagt, dann würde ihre Mutter sich Sorgen machen - ihre Freundinnen glaubten, Lizzie hätte es bei der Vorstellung selbst mit der Angst bekommen -, und so hatten sie sich an der Bushaltestelle von ihr getrennt. Es war kurz vor halb neun und wurde schon dunkel. Um Viertel nach neun hätte sie zu Hause in Kingsmarkham sein müssen, aber sie kam dort nicht an. Um Mitternacht hatte ihre Mutter dann die Polizei verständigt. Wäre sie ein - nun ja, ein etwas anderes Mädchen gewesen, hätte Wexford der Angelegenheit nicht soviel Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn sie eher wie ihre Freundinnen gewesen wäre. Selbst in Gedanken zögerte er etwas bei dem Ausdruck, denn er hielt sich gern an seine eigenen Standards politischer Korrektheit, in Gedanken wie in der Rede. Er wollte es nicht auf die Spitze treiben, wollte keine lächerlichen Ausdrücke wie etwa »intellektuell herausgefordert« benutzen, aber auch nicht unsensibel sein und ein Mädchen wie Lizzie Cromwell schwachsinnig oder zurückgeblieben nennen. Abgesehen davon war sie weder das eine noch das andere, sie konnte lesen und schreiben, zumindest einigermaßen, besaß ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und war selbständig. Am hellen Tag 5
jedenfalls. Trotzdem hätte man sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht an einer abgelegenen Straße allein lassen dürfen. Aber bei welchem Mädchen hätte man das schon gedurft? Wexford hielt sie also für tot. Von irgend jemandem ermordet. Colin Crowne hatte ihm auf Anhieb nicht besonders gefallen, allerdings hatte er keinen Grund, ihn des Mordes an seiner Stieftochter zu verdächtigen. Zugegeben, ein paar Jahre vor der Heirat mit Debbie Cromwell war Crowne wegen tätlichen Angriffs auf einen Mann vor einem Pub verurteilt worden, und danach noch
einmal, weil er ein Auto entwendet und weggefahren - mit anderen Worten, gestohlen - hatte. Aber was besagte das schon? Nicht viel. Wahrscheinlicher war, daß jemand angehalten und Lizzie angeboten hatte, sie mitzunehmen. »Würde sie mit Fremden mitfahren?« hatte sich Vine bei Debbie Crowne erkundigt. »Manchmal dauert es, bis sie was kapiert«, hatte Lizzies Mutter erwidert. »Dann sagt sie ja und nein und lächelt ein bißchen - lächeln tut sie viel, sie ist ein glückliches Kind -, aber man weiß nie, ob es, na ja, angekommen ist. Stimmt's, Col?« »Ich hab' ihr gesagt, sie soll nicht mit Fremden reden«, sagte Colin Crowne. »Ich hab's ihr gesagt bis zum Geht nicht-mehr, und was tut sie? Lächelt, nickt, lächelt noch mal, und dann sagt sie was ganz was anderes, irgendwas Bescheuertes, zum Beispiel, daß die Sonne scheint, oder sie fragt, was es zum Abendbrot gibt.« »Sag nicht bescheuert, Col«, bat die Mutter, offensichtlich verletzt. »Du weißt schon, was ich meine.« Als sie drei Nächte verschwunden und der dritte Tag angebrochen war, machten sich Colin Crowne und die Nachbarn zu beiden Seiten der Crownes im Muriel Campden Estate dann auf die Suche nach Lizzie. Wexford hatte bereits mit ihren Freundinnen gesprochen und mit dem Fahrer des Busses, den sie hätte nehmen sollen, und Inspector Bürden und 6
Sergeant Vine hatten Dutzende von Autofahrern befragt, die die Straße täglich um etwa diese Uhrzeit befuhren. Als der Regen sich zu einem Wolkenbruch verstärkte, was gegen vier Uhr nachmittags geschah, blies man die Suche für diesen Tag ab, verabredete aber, sie gleich bei Tagesanbruch wieder aufzunehmen. In Begleitung von Detective Constable Lynn Fancourt fuhr Wexford in die Puck Road, um sich noch einmal mit Colin und Debbie Crowne zu unterhalten. Als die drei Straßen und die Häuserblocks auf der Grünfläche dazwischen in den sechziger Jahren zwischen dem oberen Abschnitt der York Street und der Westseite der Glebe Road auf einem offenen Grundstück, das man heute als »grüne Wiese« bezeichnen würde, gebaut worden waren, hießen sie noch York Estate. Der damalige Vorsitzende des Wohnungsbauausschusses, der in seiner Schulabschlußprüfung den Sommernachtstraum und den Sturm bearbeitet hatte und auf sein dort gewonnenes Wissen stolz war, benannte die Straßen nach Personen aus diesen zwei Shakespeare-Stücken: Oberen, Ariel und Puck. Letztere stellte für Bewohner, Polizei und örtliche Behörde seit
jeher ein Problem dar, da sie der ortsansässigen Jugend Gelegenheit bot, einen unschuldigen Namen mittels Farbsprühdose und minimaler Anstrengung in eine Obszönität zu verwandeln. Muriel Campden hatte länger als irgend jemand sonst den Vorsitz (wie es heute geschlechtsneutral heißen muß) des Bezirksrates von Kingsmarkham innegehabt, und als sie starb, wurde York Estate nach ihr benannt. Es waren Bestrebungen im Gange, auf der Grünfläche gegenüber dem Sozialamt -einem Gebäude, das kürzlich die Bezeichnung Gemeindezentrum erhalten hatte - ein Standbild von ihr zu errichten. Die eine Hälfte der Bevölkerung war dafür, die andere vehement dagegen. »Ich hätte gedacht, die Siedlung ist schon Denkmal genug«, meinte Wexford, während er das Dreieck aus gedrungenen Sechziger-Jahre-Häusern betrachtete, aus deren Mitte sechs 7
Stockwerke hoch ein Wohnsilo mit Flachdach hochragte. Die Ariel, Oberon und Puck Road wirkten wie aus porösen Schlackensteinblöcken erbaut, die die Nässe vieler regenreicher Winter aufgesaugt und dadurch einen kohlschwarzen Farbton angenommen hatten. »Paßt sehr gut zu Muriel Campden. Sie war ja eine dunkle, graue, düstere Person.« Er deutete auf das schon wieder verunstaltete Straßenschild am oberen Ende der Puck Road. »Sehen Sie sich das an. Man sollte doch meinen, es wird ihnen irgendwann langweilig.« »Schlichter Spaß für schlichte Gemüter, Sir«, sagte Lynn in dem Moment, als die Tür aufging und die Bewohnerin von Nummer 47 sie zu Nummer 45 hereinließ. Die Nachbarin, eine gewisse Sue Ridley, geleitete sie zu Debbie und Colin Crowne hinüber, die einträchtig nebeneinander auf dem Sofa saßen. Beide rauchten, und beide verfolgten gerade eine Ratesendung im Fernsehen beziehungsweise starrten auf den Bildschirm. Bei ihrem Eintreten sprang Debbie auf und kreischte: »Sie haben sie gefunden! Sie ist tot!« »Nein, nein, Mrs. Crowne, es gibt noch nichts Neues. Es hat sich noch nichts getan. Darf ich mich setzen?« »Machen Sie, was Sie wollen«, entgegnete Colin Crowne in seinem üblichen mürrischen Ton. Er steckte sich eine Zigarette an und gab seiner Frau ohne zu fragen ebenfalls eine. Die Luft in dem kleinen Raum war bereits rauchgeschwängert. Der Regen schlug unaufhörlich an die Scheiben. Auf dem Bildschirm wußte ein Quizteilnehmer auf die Frage, ob Oasis eine Stadt in Saudi-Arabien, eine
Popgruppe oder ein Kino im West End war, keine Antwort. Debbie Crowne bat ihre Nachbarin quengelnd, noch eine Tasse Tee zu machen, ach bitte, Sue, sei so gut. Wexford, der mit seinem Team bereits alle relevanten Fragen gestellt hatte, war eigentlich eher gekommen, um Mrs. Crowne zu versichern, daß getan werde, was man könne, als um weitere Auskünfte von ihr einzuholen. Er erkundigte sich aber noch einmal nach den Namen auswärtiger Verwandter 8
oder Freunde, zu denen Lizzie eventuell gegangen sein könnte. Jemand hätte jedoch ohne Zeitung, Radio und Fernsehen auf einer Insel der Äußeren Hebriden festsitzen müssen, um von Lizzies Verschwinden und der polizeilichen Suchaktion nichts mitzubekommen. Trotzdem fragte er nach. Nur um etwas zu sagen, um Debbie Crowne von ihren schrecklichen Befürchtungen abzulenken. Es klingelte gerade in dem Moment an der Tür, als Sue Ridley den Tee in vier Henkeltassen hereinbrachte, in denen noch die Teebeutel schwammen. Die Milch war bereits im Tee, Löffel gab es keine. Sie stellte die Tassen dicht nebeneinander auf dem Tisch ab und ging an die Tür, um zu öffnen. Dabei sagte sie, es sei bestimmt ihr Lebensgefährte, der vom Suchtrupp zurückkam. Ihr lauter Ausruf ließ Wexford zusammenschrecken. »Du böses Mädchen, du, wo hast du bloß gesteckt?« Alle erhoben sich, die Tür ging auf, und ein Mädchen kam mit triefenden Haaren und Kleidern herein - sie sah aus, als wäre sie gerade aus der Wanne gestiegen. Debbie Crowne schrie auf und warf schreiend die Arme um ihre Tochter, ungeachtet der klatschnassen Kleider. »Mir ist kalt, Mum«, sagte Lizzie zähneklappernd mit einem wäßrigen Lächeln. »Mir ist unheimlich kalt.« Sie war wohlbehalten wieder da, offensichtlich auch unversehrt, und alles andere zählte vorerst nicht. Wexford verabschiedete sich und wies Mike Bürden und Lynn Fancourt an, mit Lizzie zu reden, nachdem sie heiß gebadet hatte. Er selbst sollte sie am nächsten Tag und den darauffolgenden Tagen noch mehrmals befragen, weil ihre Antworten alles andere als zufriedenstellend waren. Anders ausgedrückt, sie weigerte sich - oder war außerstande - zu sagen, wo sie gewesen war. Davon erwähnte er nichts, wußte er nichts, als er - früher als gewöhnlich - um sechs Uhr sein Haus betrat, erzählte seiner Frau aber, daß Lizzie Cromwell gefunden worden war. »Das heißt, anscheinend ist sie aus eigenem Entschluß zu
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rückgekommen. Sie bringen es bestimmt um neun in den Nachrichten.« »Wo war sie denn?« fragte Dora. »Keine Ahnung. Mit irgendeinem Jüngling unterwegs, nehme ich an. So ist es doch meistens. Es hat gar nichts zu bedeuten, wenn die Eltern nicht wissen, daß es einen Knaben gibt.« »Bei uns war es wahrscheinlich genauso. Sylvia und Sheila hatten bestimmt Freunde, von denen wir gar nichts wußten, und dann noch die, von denen wir wußten. Apropos, Sylvia bringt Robin und Ben über Nacht zu uns. Neil ist irgendwo unterwegs, und sie hat ja diesen neuen Job.« »Ah ja, den Telefonnotdienst bei The Hide. Ich wußte gar nicht, daß sie da auch nachts hinmuß.« »Mir wäre lieber, sie müßte es nicht. Es ist doch viel zuviel für sie. Schließlich arbeitet sie tagsüber ja auch noch. Ich glaube kaum, daß sie ihr bei The Hide viel bezahlen.« »Ich könnte mir vorstellen«, meinte Wexford, »daß sie bei The Hide überhaupt nichts zahlen.« Er telefonierte gerade mit Bürden, als seine ältere Tochter mit den Enkelsöhnen ankam. Bürden hatte sich bei ihm gemeldet, wutentbrannt über Lizzie Cromwells Weigerung, den Mund aufzumachen. »Heißt das, sie will nicht verraten, wo sie war?« »Ich dachte schon, sie könnte gar nicht reden. Ich dachte wirklich, sie ist stumm. Na, ganz normal ist sie ja wohl auch nicht, oder?« »Sprechen kann sie«, sagte Wexford reserviert. »Ich habe sie gehört.« »Ach, ich auch - inzwischen schon.« »Und sie ist so normal wie Sie auch oder jedenfalls so normal wie die meisten Leute dort. Sie ist nur eben kein Genie.« Wexford räusperte sich. »Wie Sie und Ihresgleichen«, fügte er boshaft hinzu, denn Bürden war gerade Mitglied bei Mensa geworden, mit einem IQ von 152, wie man munkelte. »Wieso sagt sie nicht, wo sie gewesen ist?« 9 »Keine Ahnung. Aus Angst. Aus Sturheit. Will nicht, daß ihre Mum und der Ohrring-Kerl was erfahren, nehme ich an.« »Na gut, wir probieren es morgen noch mal.« Wexfords Tochter Sylvia war Sozialarbeiterin. Sie hatte als reiferes Semester noch Soziologie studiert, nachdem sie mit achtzehn geheiratet hatte. Die beiden Jungs, die aus der Küche gerannt kamen, als ihr Großvater gerade den Hörer auflegte, stammten aus dieser Ehe. Wexford begrüßte die beiden,
bewunderte ein neues Nintendo und einen Gameboy und fragte, ob ihre Mutter noch hier sei. »Die quatscht mit Gran«, sagte Ben abschätzig, als wollte er damit ein zutiefst unsoziales Benehmen geißeln. Eltern haben unter ihren Kindern immer einen Liebling, wenngleich sie, wie im Fall von Wexford, stets darauf bedacht sind, diese Vorliebe zu verbergen. Er hatte die Bevorzugung seiner jüngeren Tochter nie verhehlen können, war sich dessen voll bewußt und versuchte es daher immer wieder. Sylvia gegenüber war er überschwenglicher, versäumte es nie, ihr bei jedem Treffen einen Kuß zu geben, hörte aufmerksam zu, wenn sie ihm etwas erzählte, und tat so, als machte es ihm nichts aus, wenn sie ihm auf die Nerven ging. Denn Sylvia fehlte die charmante Art ihrer Schwester, und obwohl sie recht nett aussah, hatte sie nichts von Sheilas Schönheit. Sie war eine rechthaberische, schulmeisternde und oft aggressive Feministin mit der Gabe, ins Fettnäpfchen zu treten, eine Nörglerin und eine unbegabte Ehefrau, aber Expertin in Sachen Kindererziehung. Im übrigen hatte sie - und das wußte Wexford - das Herz auf dem rechten Fleck und ein enormes soziales Gewissen. Er traf sie am Küchentisch sitzend an, einen Becher Tee vor sich, wie sie ihrer Mutter gerade einen Vortrag über häusliche Gewalt hielt. Dora hatte offensichtlich die klassische Frage gestellt, die Sylvias Meinung nach von Ignoranz gegenüber dem ganzen Thema zeugte: »Aber wenn ihre Männer sie schlagen, warum verlassen sie sie dann nicht?« »Die Frage ist mal wieder typisch«, sagte Sylvia gerade, »für 10
eine Frau, die keine Ahnung hat, was in der Welt eigentlich vorgeht. Ihn verlassen, sagst du. Wo soll sie - sprechen wir mal nur von einer - wo soll sie denn hin? Sie ist doch abhängig von ihm, sie hat ja nichts Eigenes. Sie hat Kinder - soll sie ihre Kinder mitnehmen? Klar, er verprügelt sie, er bricht ihr die Nase und schlägt ihr die Zähne aus, aber danach sagt er jedesmal, es tut ihm leid, er wird es nie wieder tun. Sie will, daß alles normal bleibt, will die Familie nicht auseinanderreißen - ach, hallo, Dad, wie geht's?« Wexford küßte sie, sagte, alles in Ordnung, und erkundigte sich, wie die Arbeit am Krisentelefon denn ginge. »Notruf heißt das bei uns. Ich habe Mutter gerade davon erzählt. Also, es bricht einem wirklich das Herz, das alles. Und mit das Schlimmste ist die Haltung der Öffentlichkeit dazu. Es ist wirklich unglaublich, aber viele Leute finden es immer noch komisch, wenn ein Mann eine Frau schlägt. Es ist ein Witz, wie auf diesen blöden Urlaubspostkarten. Die sollten mal einige von
den Verletzungen sehen, die wir zu sehen kriegen, ein paar Narben. Und was die Polizisten anbelangt...« »Moment mal, Sylvia.« Wexfords gute Vorsätze verflüchtigten sich. »Wir haben hier in Mid-Sussex ein Programm zum Thema häusliche Gewalt, das heißt, wir behandeln es absolut nicht als Bestandteil des ehelichen Alltags, wenn Frauen zu Hause tätlich angegriffen werden.« Seine Stimme wurde lauter. »Im Moment läuft gerade ein Projekt an, mit dem wir Freunde und Nachbarn ermutigen wollen, Fälle von häuslicher Gewalt zu melden. Es heißt Hurt-Watch, und falls du davon noch nichts gehört hast, ist das ein Fehler.« »Schon gut, reg dich nicht auf. Aber du mußt zugeben, daß das alles noch recht neu ist. Das gibt es erst seit kurzem.« »Für mich hört es sich an wie die Stasi oder der KGB«, meinte Dora. »Die entfesselte Bevormundung, jeder braucht ein Kindermädchen.« »Mutter, und wenn schon, was ist dagegen einzuwenden, wenn sich ein Kindermädchen um einen kümmert? Ich hätte mir oft gewünscht, mir eins leisten zu können. Manche von
11 diesen Frauen sind vollkommen hilflos, um die hat sich nie jemand geschert, bis das mit den Frauenhäusem anfing. Und falls das noch nicht genug Beweis für den Bedarf ist: Es gibt überhaupt nicht genügend Frauenhäuser, es gibt nicht einmal annähernd genug, um den Bedarf zu decken...« Wexford ging leise aus dem Zimmer, um seine Enkel zu suchen. Die Knabenschule lag am Stadtrand von Myfleet, und am nächsten Morgen chauffierte Wexford sie dorthin, bevor er zur Arbeit fuhr. Sein Weg führte ihn durch das Flußtal der Brede, unterhalb von Savesbury Hill und am Waldrand von Framhurst Great Wood entlang. Sooft er diesen Weg fuhr, verspürte er große Dankbarkeit darüber, daß die im Vorjahr geplante Umgehungsstraße aufgrund des Regierungswechsels auf Eis gelegt worden war. Newbury war bereits fertig, aber Salisbury würde nie gebaut werden und Kingsmarkham auch nicht (wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von »nie« sprechen konnte). Es war ungewöhnlich, sich über Sparsamkeit zu freuen und erleichtert zu sein, wenn man sich etwas nicht leisten konnte, doch war dies ein seltenes Beispiel dafür. Die Gelbe Köcherfliege war gerettet, ebenso der Landkärtchenschmetterling. Man könnte sogar sagen, bestimmte Arten von Wildtieren hätten von der geplanten Umgehungsstraße profitiert, denn die Dachse hatten ihre alten Baue behalten und neue, eigens für sie konstruierte dazu bekommen, während der Schmetterling sich nun von zwei Nesselplantagen ernähren konnte statt nur von einer.
An der Stelle, an der die Umgehungsstraße anfangen sollte, hatte man schon mit den Arbeiten begonnen und den Erdboden mit Schaufelbaggern und Aushubmaschinen umgesetzt. Wie es schien, hatte niemand die Absicht, das Terrain in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, und Gras und Wildpflanzen waren über die neue Landschaft aus Erdwällen und Abhängen gewachsen, so daß diese Hügel und Täler in zukünftigen Jahren ganz natürlich wirken würden. So 12
lautete jedenfalls Wexfords Kommentar zu der seltsamen Szenerie. »Und in ein paar hundert Jahren, Grandad«, sagte Robin, »denken die Archäologen vielleicht, diese Hügel wären die Grabstätten eines alten Stammes.« »Wahrscheinlich«, meinte Wexford, »das leuchtet ein.« »Tumuli«, sagte Robin, das Wort auskostend, »so werden sie sie nennen.« »Freust du dich?« fragte Ben. »Worüber? Daß sie die Umgehungsstraße nicht gebaut haben? Ja, doch, ich freue mich sehr. Es hat mir gar nicht gepaßt, daß sie die Bäume gefällt und die Hecken rausgerissen haben. Mir haben die Straßenarbeiten nicht gefallen.« »Mir schon«, sagte Ben. »Mir haben die Bagger gefallen. Wenn ich groß bin, fahre ich Schaufelbagger, und dann grab' ich die ganze Welt um.« Es war die schönste Jahreszeit, obwohl es Anfang Mai, also in einem Monat, noch üppiger und blumenreicher wäre. Doch schon jetzt im April trugen die Bäume einen grünen und hellgelben Schleier, und im Framhurst Great Wood, der im Mai mit einem Glockenblumenteppich überzogen sein würde, zeigten sich schon Schöllkraut und Eisenhut hellgolden auf dem Waldboden. Nachdem er die beiden am Schultor abgesetzt und abgewartet hatte, bis sie ins Gebäude gebracht worden waren, fuhr er davon. Unterwegs dachte er über kindliche Vorlieben nach, über die Schönheit der Natur und die Frage, wann Kinder zum erstenmal davon berührt werden. Mädchen früher als Jungs, dachte er, Mädchen schon mit sieben, während Jungen die Landschaften, Flüsse und Hügel, den Anblick der Niederungen in der Ferne und die Wolken am hohen Himmelszelt erst weit im Teenageralter bemerken. Und doch waren die großen Naturdichter alle Männer gewesen. Natürlich hatte Sylvia vermutlich recht, und es hatte auch große Dichterinnen gegeben dazu geboren, ohne Anerkennung zu bleiben und ihre Süße an die Wüstenluft zu verschwenden. Nun, vorerst hatte er mit einem Mädchen zu reden, das sich 12
aus der Schönheit von Weideland, Dachsen und Schmetterlingen vielleicht etwas machte oder auch nicht, das jedoch recht liebenswert schien und auch dann noch zaghaft lächelte, wenn ihr Stiefvater sie ausschimpfte und sie bis auf die Haut durchnäßt war. Kein wilder Teenager, keine Rebellin. Sie saß auf dem Wohnzimmersofa in der Puck Road Nummer 45 und sah sich gerade einen Trickfilm über Dinosaurier an, der für halb so alte Kinder gedacht war und fmassic Larks hieß. Oder starrte darauf, ohne richtig hinzusehen, dachte Wexford. Nur um ihn oder Lynn Fancourt nicht ansehen zu müssen. Auf ein Nicken von Wexford hin griff Lynn nach der Fernbedienung auf dem Tisch. »Das schalten wir jetzt aus, Lizzie. Jetzt ist es Zeit zum Reden.« Während der rosafarbene Brontosaurus verblaßte und der Pterodaktylus mit dem kleinen Ichthyosaurus im Maul flimmernd verschwand, stieß Lizzie einen mißbilligenden Laut aus, eine Art schnaubenden Protest. Sie starrte weiter unverwandt auf den leeren Bildschirm. »Aus der kriegen Sie nichts raus«, sagte Debbie Crowne. »Die ist so stur, da können Sie auch gleich an die Wand hinreden. « »Wie alt bist du, Lizzie?« fragte Wexford. »Sechzehn ist sie.« Debbie ließ ihrer Tochter keine Chance zu antworten. »Im Januar ist sie sechzehn geworden.« »Wenn das so ist, Mrs. Crowne, wäre es vielleicht am besten, wenn wir uns mit Lizzie allein unterhalten.« »Was, ohne daß ich dabei bin?« »Nur bei einem Kind unter sechzehn ist es gesetzlich vorgeschrieben, daß ein Elternteil oder eine verantwortliche erwachsene Person zugegen ist.« Ohne den Kopf zu drehen, ließ sich Lizzie plötzlich vernehmen: »Ich bin kein Kind.« »Seien Sie bitte so gut, Mrs. Crowne.« »Okay, wie Sie wollen. Aber sie wird nichts sagen.« Debbie 13
Crowne schlug sich die Hand vor den Mund, als sei ihr gerade etwas eingefallen. »Und wenn sie doch was sagt, dann sagen Sie's mir, ja? Ich meine, sie hätte ja weiß Gott wo sein können, mit wer weiß wem. Man kann nie wissen, stimmt's? Ich meine, sie könnte ja auch schwanger sein.« Lizzie stieß den gleichen Laut aus wie vorhin, als man ihr Video ausgeschaltet hatte. Mit den Worten: »Brumm du nur hier rum. Ich finde, sie gehört untersucht«, ging Debbie Crowne aus dem Zimmer und machte die Tür etwas zu forsch hinter sich zu. Das Mädchen rührte sich nicht.
»Du warst drei Tage weg von zu Hause, Lizzie«, sagte Wexford. »So was hast du noch nie gemacht, stimmt s?(* Schweigen. Lizzie senkte den Kopf noch weiter nach unten, so daß ihr Gesicht vom herunterhängenden Haar völlig verdeckt war. Es war hübsches Haar, rotgolden, lang und wellig. An den Händen auf ihrem Schoß waren die Fingernägel abgebissen. »Du bist nicht allein gegangen, oder? Hat dich jemand mitgenommen, Lizzie?« Als klar war, daß sie auch diese Frage nicht beantworten würde, sagte Lynn: »Egal, was du getan hast und wohin du gegangen bist, niemand wird dich bestrafen. Hast du Angst, du kriegst Ärger? Kriegst du aber nicht.« »Niemand wird dir was tun, Lizzie«, sagte Wexford. »Wir wollen bloß wissen, wo du hingegangen bist. Wenn du weggegangen bist, weil du mit jemandem Zusammensein wolltest, den du magst, hattest du ein Recht darauf. Daran kann dich niemand hindern. Aber, weißt du, alle haben dich gesucht, die Polizei und deine Eltern und deine Freunde haben dich alle gesucht. Also haben wir jetzt auch ein Recht. Wir haben ein Recht darauf zu wissen, wo du warst.« Wieder kam das Brummen, ein langgezogener Laut wie unter Schmerzen. »Ich verstehe ja, daß du es mir vielleicht nicht sagen willst«, sagte Wexford. »Ich kann auch gehen. Dann könntest du mit Lynn allein sein. Du könntest mit Lynn reden. Hättest du das gern?« Da hob sie den Blick. Ihr Gesicht, ein recht hübsches, rund 14
liches Gesicht mit Sommersprossen auf Nase und Stirn, war ausdruckslos, ihre blaßblauen Augen starrten ins Leere. Sie befeuchtete sich die schmalen, rosaroten Lippen. Sie legte die Stirn in Falten, als konzentrierte sie sich sehr, als ginge die intellektuelle Anstrengung aber über ihre Kräfte. Dann nickte sie. Kein gewöhnliches Nicken mit mehrmaligen Auf-und-Ab-Bewegungen des Kopfes, sondern nur einmal, ruckartig, fast schroff. »Also gut.« Wexford ging aus dem Zimmer in den Flur hinaus, einen schmalen Durchgang, in dem ein Fahrrad und ein Kasten leere Flaschen standen. Er klopfte an eine Tür am anderen Ende und wurde in eine Wohnküche gebeten. Colin Crowne war nirgends zu sehen. Seine Frau saß auf einem Barhocker an der Anrichte in der Eßecke, trank Kaffee und rauchte. »Möglicherweise kann Ihre Tochter mit Detective Constable Fancourt allein eher sprechen.« »Wie Sie meinen, aber wenn sie nicht mal mit ihrer eigenen Mutter spricht
»Was würden Sie davon halten, wenn sich herausstellt, daß sie mit einem Freund zusammen war?« »War sie aber nicht«, sagte Debbie Crowne und drückte ihre Zigarette in einem Unterteller aus, »also kann ich auch nichts davon halten.« »Dann lassen Sie es mich anders formulieren. Hätte sie vielleicht Angst vor den Folgen, wenn Sie herausbekommen, daß sie mit einem Freund zusammen war?« »Hören Sie, sie hat keinen Freund. Das wüßte ich. Ich weiß immer genau, wo sie ist - jede einzelne Minute. Muß ich auch, sie ist nicht - na, Sie wissen ja, wie sie ist. Sie ist ein bißchen - also, man muß sich um sie kümmern.« »Trotzdem war sie am Samstag abend mit ihren Freundinnen allein unterwegs, und obwohl sie mit ihnen in Myringham war, haben sie sie allein nach Hause fahren lassen.« »Das hätten sie nicht dürfen. Wie oft hab' ich ihnen eingeschärft, sie sollen Lizzie nicht sich selbst überlassen. Ihnen hab' ich's gesagt und ihr auch.« 15 »Sie sind sechzehn, Mrs. Crowne, sie tun nicht immer das, was man ihnen sagt.« Nun verlegte sie sich auf ein Thema, das ihr offenbar mehr am Herzen lag. »Aber was ist, wenn sie doch schwanger ist, wie ich gesagt habe, dann muß man sie untersuchen, dann muß man sich doch um sie kümmern. Mal angenommen, er hat ihr was getan, wir wissen doch nicht, was er ihr getan hat.« »Wollen Sie damit andeuten, sie wurde vergewaltigt?« »Nein, das nicht, natürlich nicht, das wüßte ich doch.« Wenn sie also keinen Freund hat und nicht vergewaltigt wurde, wie sollte sie dann schwanger sein? Er fragte es nicht laut, sondern ging wieder ins Wohnzimmer, nicht ohne vorher anzuklopfen. Dort saß Lynn, doch das Mädchen war verschwunden. »Ich hätte sie schlecht davon abhalten können, Sir. Sie wollte nach oben in ihr Zimmer, und daran konnte ich sie ja nicht hindern.« »Nein. Für heute lassen wir es gut sein.« Im Wagen draußen fragte er, was bei dem Gespräch herausgekommen war, falls es überhaupt ein Gespräch gewesen war. »Hat sie etwas gesagt?« »Einen Haufen Lügen hat sie mir aufgetischt, Sir. Ich weiß, daß es gelogen war. Es war, als ob sie - na ja, als hätte sie begriffen, daß sie irgendwas sagen muß, damit wir sie in Ruhe lassen. Ihr Pech ist, daß sie eine ziemlich beschränkte Phantasie hat, aber sie hat's versucht.«
»Was für tolle Geschichten sind ihrer beschränkten Phantasie denn eingefallen?« »Sie hat im Regen an der Bushaltestelle gewartet. Eine Dame - so hat sie sich ausgedrückt - eine Dame kam im Auto vorbeigefahren und bot ihr an, sie mitzunehmen, doch sie lehnte ab, weil Colin ihr gesagt hatte, sie soll sich nie von Fremden im Auto mitnehmen lassen. Weil der Bus nicht kam und es in Strömen goß, ging sie in ein unbewohntes Haus mit vernagelten Fenstern das Haus mit dem Apfelbaum, nennt 16
sie es - und setzte sich dort auf den Boden, um abzuwarten, bis es aufhörte zu regnen »Ist doch nicht zu glauben!« »Was hab' ich gesagt? Ich hab's auch nicht geglaubt.« »Wie ist sie hineingekommen?« »Die Tür war nicht verschlossen. Sie hat sie aufgestoßen. Und als der Regen aufgehört hatte und sie wieder zur Bushaltestelle gehen wollte, kam sie nicht mehr heraus, weil jemand vorbeigekommen war und sie eingesperrt hatte. Sie blieb drei Tage und drei Nächte ohne Essen dort drin, konnte sich aber Wasser aus der Leitung besorgen und fand ein paar Decken, in die sie sich einwickeln konnte, um sich warmzuhalten. Dann wurde die Tür wieder aufgeschlossen, sie entkam und nahm den Bus nach Hause.« Obwohl niemand Lizzies Geschichte Glauben schenkte, lohnte es doch die Mühe, nach Myringham zu fahren und sich die Sache anzusehen. »Das müssen Sie aber doch nicht, Sir«, sagte Lynn. Damit meinte sie, es war unter seiner Würde. »Das kann ich doch machen.« »Entweder das oder wieder ab an den Schreibtisch«, meinte Wexford. Vine hatte mit den Freundinnen Hayley Lawrie und Kate Burton gesprochen, die beide behaupteten, sie hätten Lizzie bis an die Bushaltestelle gebracht. Sie hatten versprochen, sie nicht allein zu lassen, und das hatten sie doch auch nicht, nur für fünf Minuten, der Bus sollte in fünf Minuten kommen. Hayley sagte, inzwischen wünsche sie sich, sie wäre bei Lizzie geblieben, bis der Bus kam, aber Kate meinte, es sei doch egal, Lizzie wäre ja nichts passiert. Die Bushaltestelle lag gleich neben dem Kino, in dem sie gewesen waren, aber schon am Ortsrand von Myringham an der alten Straße nach Kingsmarkham. Als erstes fiel Wexford das verfallene Haus auf. Die Bushaltestelle befand sich direkt davor. Alle Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Hälfte 16 der Dachschieferplatten fehlte, und das Gartentörchen hing nur noch an einer einzigen Angel. Das Haus stand in einem überwucherten Garten, in dem das
einzig Schöne ein pink-rosa blühender Kirschbaum war. Kein Apfel, wie Lizzie gesagt hatte, sondern eine Japanische Kirsche. Die Haustür war vor etwa zwanzig Jahren in einem aggressiven dunkelgrünen Farbton gestrichen worden, und inzwischen blätterte die Farbe ab. Wexford drehte den schwarz angelaufenen Messingknopf und drückte dagegen. Dabei überlegte er, was er von Lizzie halten sollte, falls die Tür nachgab. Doch sie war verschlossen. Sie gingen hinten ums Haus. Hier hingen die Bretter an einem Fenster lose herunter, vielleicht hatte auch jemand den Versuch unternommen, sie zu entfernen. Wexford entschied kurzerhand: »Wir gehen hier hinein. Und danach lassen wir das Fenster wieder ordentlich zunageln. Tun wir dem Besitzer den Gefallen, wer immer es sein mag.« Vielleicht war Lizzie auf diesem Weg hinein- oder herausgelangt oder beides. Die Öffnung war groß genug, daß kleine oder zierliche Menschen sich durchquetschen konnten, doch für Wexford mußte Donaldson sie mit Hilfe von Werkzeugen aus dem Autokofferraum erweitern. Wexford trat über das Fensterbrett hinein, Lynn und Donaldson folgten. Drinnen war es kalt und feucht und roch modrig. Unter den abgelösten Bodenbrettern waren schwarze Löcher zu sehen, in denen teilweise Ölpfützen standen. Die meisten Möbel waren längst herausgeschafft worden, nur ein kleines schwarzes Roßhaarsofa war in dem Raum zurückgeblieben, in dem sie jetzt waren, und in dem eisernen Korb im Kamin lagen leere Chipstüten und Zigarettenkippen. Die Tapete hing in langen gekringelten Streifen von den Wänden. Abgesehen von der Küche war im Erdgeschoß nur noch ein anderes Zimmer, an dessen angeschimmelten Wänden zwei Ölbilder hingen, das eine zeigte einen Hirsch, der aus einem Teich trank, das andere ein präraffaelitisch angehauchtes Mädchen, das an einem Strand Muscheln sammelte. Decken 17
waren nirgends zu sehen. Nun blieb noch das Obergeschoß zu erforschen. Vorher wollte sich Wexford das schäbige Küchengelaß genauer ansehen. Er drehte an beiden Wasserhähnen. Aus einem kam gar nichts, aus dem anderen tröpfelte blutrotes Rostwasser. Aus dem hatte Lizzie nicht getrunken. An der hinteren Tür steckte kein Schlüssel im Schloß, und sie war nicht verriegelt. Über die Türeinfassung waren Holzlatten genagelt. Durch die Haustür war Lizzie ebenfalls nicht hereingekommen, denn sie war von innen verriegelt. Die Riegel waren verrostet und hätten sich ohne Werkzeug nicht zurückschieben lassen. »Meinen Sie, die Stufen halten, Lynn?« erkundigte sich Wexford. »Sieht aus, als hätte sich jemand mit der Spitzhacke daran zu schaffen gemacht.«
»Gerade noch, Sir.« Lynn betrachtete ihn, nicht die Treppe, etwas abschätzend, als zweifelte sie eher an seinen athletischen Fähigkeiten als an der Stabilität von Trittflächen und Setzstufen. Offensichtlich hatte man den Versuch gemacht, die Trittflächen zu erneuern, sie zu entfernen oder die ganze Konstruktion zu erweitern, und das Vorhaben dann aufgegeben, aber erst als die Treppe schon teilweise demoliert war. Wexford ließ Lynn vorausgehen, weniger aus Höflichkeit, sondern weil er wußte, daß er so, wenn er rückwärts fiel, nicht auf eine kleine, zierliche Frau fallen würde, die vermutlich keine fünfzig Kilo wog. Er trat behutsam auf, hielt sich dabei vielleicht unvorsichtigerweise an dem wackligen Geländer fest und gelangte sicher nach oben. Seine Mühe wurde durch den Anblick einer großen, grauen Decke belohnt, die über eine Art Wassertank oder dergleichen, jedenfalls einen großen, würfelförmigen Gegenstand gebreitet lag. Ansonsten waren die beiden kleinen Dachzimmer absolut leer. »Kann ja sein, daß sie sich in die eingewickelt hat«, sagte Lynn und streckte Wexford die Hand entgegen, die durch die Berührung mit der Decke feucht geworden war. »Obwohl sie ein bißchen muffig riecht.« Über ihnen war durch ein Loch im 18 fleckigen Verputz der Rand einer Dachplatte zu sehen und dahinter ein Stück blauweißer Himmel. „Vielleicht hat sie Leitungswasser im Bad getrunken«, sagte Wexford, »wenn es hier ein Bad gibt.« Er schüttelte den Kopf. „Kann schon sein, daß sie hier war, aber keine drei Tage.« „Ist das denn so wichtig, Sir?« fragte Lynn, als sie sich die gefährliche Treppe wieder hinunter wagten. »Ich meine, sie ist doch wieder da, und es fehlt ihr nichts. Geht es uns was an, wo sie gesteckt hat?« »Vielleicht nicht. Vielleicht haben Sie recht. Ich würde es eben einfach nur gern wissen.« Bürden gegenüber drückte er sich am nächsten Tag ähnlich aus, als der Inspector Einwände gegen Wexfords Interesse an so einer trivialen Sache erhob. Sie waren nicht auf dem Revier, sondern hatten sich nach der Arbeit auf ein feierabendliches Bier im Olive and Dove getroffen. »Mir scheint, ich habe heute überhaupt nicht gearbeitet«, meinte Wexford, »bloß verdammte Formulare ausgefüllt.« »Vielleicht sind wir ja drauf und dran, das Verbrechen zu besiegen.« »Sie machen Witze. Ich nehme nicht an, daß an Lizzie Cromwell eine Straftat verübt wurde oder daß sie selbst eine verübte, aber ich würde es doch gern
wissen. Drei Tage war sie weg, Mike, drei Tage und drei Nächte. In dem Haus war sie nicht - nun gut, eindeutig feststellen können wir das nur, indem wir ihre Fingerabdrücke abnehmen und das Haus mit der Lupe untersuchen, aber ich weiß, daß sie nicht dort war. Sie wäre gar nicht reingekommen, und wenn, wäre es ihr nicht gelungen, es zu verlassen und das Fenster wieder in den Zustand zu versetzen, in dem wir es vorfanden. Sie log, als sie sagte, sie hätte aus dem Wasserhahn getrunken, sie log, als sie sagte, daß sie sich in die Decke gewickelt hätte, und sie log, als sie sagte, sie sei eingesperrt und dann wieder herausgelassen worden. Sie war also überhaupt nicht dort. Ich frage mich, ob es einen Sinn hat, einen Aufruf an diese Frau zu richten, die ihr angeboten hat, sie mitzunehmen.« 19 »Das war vielleicht auch gelogen.« »Stimmt. Vielleicht.« Wexford kippte den letzten Rest seines Bieres hinunter. »Wo war sie dann?« »Bei einem Mann. Diese Dinger sind immer bei einem Mann, das wissen Sie doch. Die Tatsache, daß ihre Mutter behauptet, es gäbe keinen Freund, heißt überhaupt nichts, und wenn sie sagt, sie hätte gar keine Gelegenheit gehabt, jemanden kennenzulernen, heißt das auch nichts. Es ist völlig egal, wie ein Mädchen aussieht oder wie schlicht von Gemüt sie ist - schon gut, schauen Sie nicht so, Sie wissen, was ich meine -oder wie schüchtern und so weiter, der Fortpflanzungstrieb in diesen jungen Dingern ist dermaßen stark, daß die unwahrscheinlichsten Kandidaten zusammentreffen wie - wie Magnete.« »Ich hoffe, in dem Fall gibt es keine Fortpflanzung, obwohl ich zugebe, daß es am wahrscheinlichsten ist, daß sie mit einem Mann zusammen war, mit einem Jungen. Damit wissen wir aber immer noch nicht, wo.« »Bei ihm natürlich.« »Aha, aber da liegt doch das Problem. Wenn er in ihrem Alter ist, wohnt er aller Wahrscheinlichkeit nach noch bei seinen Eltern oder einem Elternteil und vielleicht Geschwistern. Wenn er älter ist, ist er vermutlich verheiratet oder lebt, wie man sich heute ausdrückt, >in einer Beziehung«. Die anderen Beteiligten wüßten von ihrem Verschwinden. Jemand hätte uns verständigt.« »Er hätte sie auch mit in ein Hotel nehmen können.« »Drei Tage und drei Nächte, Mike? Hat er es so üppig? Nein, ich sehe nur eine Möglichkeit: Er lebt allein, hat ein Zimmer oder eine Wohnung, und dorthin hat er sie mitgenommen. Er behielt sie die ganzen drei Tage und drei Nächte bei sich, und niemand im Haus oder in der Wohnanlage hat sie zu Gesicht
bekommen. Die Sache gefällt mir nicht so recht, ich glaube eigentlich auch nicht dran, aber wir wissen ja, was Sherlock Holmes sagte.« Bürden hatte es schon zu oft von Wexford gehört, um nicht 20
Bescheid zu wissen. »Wenn alles andere unmöglich ist, muß das, was übrigbleibt, so sein - oder so ähnlich.« Er holte noch eine Runde Getränke. Er würde es nicht sagen, jedenfalls jetzt noch nicht, aber er hatte von Lizzie Cromwell die Nase voll, die ganze Geschichte langweilte ihn. Wexford war seiner Meinung nach drauf und dran, sich schon wieder in etwas zu verrennen, bloß daß es früher, wenn er so einen Fimmel gehabt hatte, um bedeutsamere Ereignisse gegangen war. Falls Bürden jedoch hoffte, als er mit den beiden Biergläsern zum Tisch zurückkehrte, Wexford würde sich einem neuen Gesprächsthema zuwenden, wurde er enttäuscht. »Als ihre Freundinnen sie an der Bushaltestelle stehenließen, wartete sie demnach darauf, daß dieser Kerl im Auto vorbeikam, stimmt's? Aber wieso an einer Haltestelle? Wieso nicht an einem warmen und trockenen Ort wie einem Café?« »Weil sie vor ihren Freundinnen so tun mußte, als würde sie auf den Bus warten«, sagte Bürden abschließend und hoffte, damit habe es sein Bewenden. »Sie haben genug von der Sache, stimmt's? Ich weiß es, das merke ich. Nun, ich will Ihnen nicht mehr lang auf die Nerven gehen. Ich glaube, Sie haben recht mit Ihrer Erklärung, weshalb sie an der Bushaltestelle gewartet hat, aber ich will doch noch ein bißchen nachbohren. Wieso wollte sie, daß ihre Freundinnen glauben, sie wartet auf den Bus?« »Damit sie das mit dem Freund nicht rauskriegen.« »Aber warum sollen sie es nicht erfahren? Wäre sie denn nicht stolz auf einen Freund? Besonders auf einen mit Auto und eigener Wohnung? Sie hätte sich doch auf sie verlassen können. Ihrer Mutter hätten sie es bestimmt nicht verraten.« »Vielleicht ist er verheiratet.« »Dann könnte er sie nirgendwohin mitnehmen«, sagte Wexford, und obwohl Bürden auf die nächste Phase seiner Ausführungen wartete, ließ er sich nicht weiter darüber aus. »Das Hurt-Watch-Treffen ist morgen früh«, sagte er statt dessen. »Sie wissen doch? Um Punkt zehn. Southby wird auch da sein, falls ich Ihnen das noch nicht gesagt habe.« 20
Beim Gedanken auf die bevorstehende Begegnung mit dem zukünftigen stellvertretenden Chief Constable stöhnte Bürden leise auf. Operation
Safeguard, wie das Projekt ursprünglich geheißen hatte, interessierte ihn herzlich wenig. Seine persönliche Meinung war, was immer innerhalb der eigenen vier Wände vor sich ging, gehörte auch dorthin und sollte so wenig wie möglich in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzes fallen. Doch da er wußte, wie Wexford dazu stand, hielt er den Mund. Am nächsten Morgen, eine halbe Stunde vor dem geplanten Beginn der Versammlung, kam eine Frau auf dem Weg zur Arbeit ins Revier, um zu melden, sie habe Lizzie Cromwell am vergangenen Montag abend an der Bushaltestelle gesehen. Es war reiner Zufall, daß sie überhaupt mit Wexford sprechen konnte. Er kam in dem Moment mit Barry Vine am Empfang in der Eingangshalle vorbei, als sie mit dem diensthabenden Sergeant sprach. Trotzdem sagte Barry sein übliches Sprüchlein, er würde sich schon darum kümmern, es sei doch nicht nötig, daß Wexford... Daß ich mir mein hübsches Köpfchen darüber zerbreche, dachte Wexford, sagte es aber nicht laut. »Gehen wir hinauf in mein Büro«, sagte er. 21
2
Inzwischen war Freitag, und Lizzie war am Dienstag nachmittag zurückgekommen. Diese Tatsache teilte Wexford Mrs. Pauline Ward mit, überrascht, daß sie es noch nicht wußte. »Darf ich fragen, warum Sie nicht schon früher gekommen sind?« »Ich habe ihr Foto erst gestern abend gesehen. Es war in der Zeitung, in die die Krabbe eingewickelt war.« »Wie bitte?« »Hören Sie, ich habe keine Zeitung abonniert. Ich meine, keine Tageszeitung. Ich sehe mir auch keine Fernsehnachrichten an. Ich sehe fern, aber nicht die Nachrichten. Das regt mich nur auf. Wenn es nicht um Grausamkeiten in Albanien geht oder Kinder, die in einem Feuer zugrunde gehen, dann sind es erschlagene Seehundbabys. Das tu' ich mir gar nicht mehr an.« »Die Krabbe, bitte, Mrs. Ward.« Sie war Mitte Fünfzig, chic gekleidet, der Rock zwar etwas zu kurz und die Augenlider zu blau, aber ansonsten eine ansehnliche, gepflegte Frau, die in einem dunkelblauen, spiegelblank polierten Audi vorgefahren war, den sie auf dem für den zukünftigen stellvertretenden Chief Constable reservierten Parkplatz abgestellt hatte. Wenn sie - wie in diesem Moment - lächelte, waren ihre schönen, strahlendweißen Zähne zu sehen. »Ach ja, die Krabbe«, sagte sie. »Also, gestern abend nach der Arbeit fuhr ich auf dem Nachhauseweg bei dem guten Fischgeschäft in der York Street
vorbei. Ich hatte zum Abendessen Besuch eingeladen und brauchte noch eine Vorspeise, also dachte ich mir, eine Krabbe wäre doch was Feines, und 22 der Fischhändler packte sie mir in diese Zeitung ein. Es war, glaube ich, die Times. Na jedenfalls, als ich meine Krabbe auspackte und das Foto sah, fiel mir wieder ein, daß ich sie am Montag abend gesehen hatte.« »Aha. Und als Ihre Freundin kam, sprachen Sie mit ihr darüber?« »Mit ihm^, sagte Mrs. Ward. »Ein Er, es ist mein Freund.« Sie hörte sich an wie eine Frau, die sich kaum die Mühe machen würde, für einen weiblichen Gast eine Krabbe zu besorgen. »Äh, nein, habe ich nicht. Hätte ich das sollen?« »Er hätte Ihnen vielleicht gesagt, daß man Lizzie Cromwell gefunden hat. Das heißt, falls es ihn nicht auch davor graust, sich die Nachrichten anzusehen.« Pauline Ward warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Keine Ahnung. Über solche Sachen reden wir nicht.« Fast hätte sie unwillig den Kopf zurückgeworfen. »Wollen Sie das mit Montag abend denn nicht hören?« Wexford nickte. »Also gut. Ich leite im Heaven-Spent-Einkaufszentrum in Myringham den Crescent Minimarket. Samstags haben wir bis halb neun geöffnet. Als ich ging, war es zwanzig vor neun. Ich mußte noch abschließen und zu meinem Wagen gehen, und so war es schließlich schon zehn vor, als ich an der Bushaltestelle vorbeifuhr.« Wexford unterbrach sie. »Wie kommt es, daß Sie sich bei der Uhrzeit so sicher sind?« »Bin ich immer, auf die Minute genau. Ich schaue ständig auf die Uhr. Na ja, auf die Armbanduhr. Ich sah, wie spät es war, als ich aus dem Geschäft ging, und warf einen Blick auf die Digitaluhr an der Midland Bank, als ich gerade losfuhr, und die zeigte acht Uhr vierundfünfzig an. Ich dachte, das kann doch nicht sein, so spät ist es doch noch nicht, und verglich es mit meiner Armbanduhr und der Uhr im Auto - ich wußte, daß beide auf die Sekunde genau gehen -, und auf beiden war es acht Uhr neunundvierzig. Na, dachte ich, ich gehe in die Midland und sage es ihnen - was ich am Dienstag auch 22 tat. Und bis ich es zu Ende gedacht hatte, das mit der Bank, meine ich, kam ich bereits an der Bushaltestelle vorbei, an der das Mädchen stand, und dachte, armes Ding, steht da im Regen und wartet auf den Bus. Soll ich fragen, ob sie mitfahren will, dachte ich, aber dann dachte ich, lieber nicht, man kann ja nie wissen, stimmt's?«
Das war also nicht die Frau, die Lizzie angeboten hatte, sie mitzunehmen, und deren Angebot abgelehnt worden war. Aber zehn vor neun... Hatte das Mädchen tatsächlich zwanzig Minuten an der Bushaltestelle gewartet? »Sind Sie sich ganz sicher, daß es zehn vor neun war?« »Habe ich doch gesagt, oder? Ich merke mir immer die Uhrzeit. Wieso wollen Sie das alles eigentlich wissen, wo sie doch zurückgekommen ist?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Mrs. Ward.« Sie stand auf. »Wollen Sie sich nicht bei mir bedanken? Ich hätte ja nicht herkommen müssen. Wäre ich auch nicht, wenn ich nicht zufällig diese Krabbe gekauft hätte.« Er brachte sie hinunter, und am Ausgang drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Sie haben da ein Problem mit Ihrer Einstellung, wissen Sie. Darum sollten Sie sich mal kümmern.« Wexford verkniff sich das Lachen, bis sie weg war. Er hatte durchaus ein Problem, aber nicht mit seiner Einstellung. Vielmehr ließ er sich in geradezu lächerlicher Weise auf diese Geschichte mit Lizzie Cromwell ein. Sie war wieder da, wie ihm von allen Seiten immer wieder versichert wurde, sie war mit einem Freund unterwegs gewesen, aber nun war sie wieder da, und nichts Schlimmes war passiert. Hatte der Freund sie zwanzig Minuten an der Bushaltestelle warten lassen? Im Regen? Vielleicht. Schon möglich. Da fiel ihm plötzlich ein -und die Vorstellung war alles andere als willkommen -, daß Lizzie, niedlich, auf kindliche Weise hübsch, nicht besonders hell im Kopf und vermutlich höchst naiv, genau die Art von Person war, die ein gewissenloser Mensch ausnutzen würde. Ging sie auf eine Art Sonderschule? Und wenn nicht, 23
warum nicht? Und wäre diese Schule überhaupt der richtige Ort, um bei ihr Selbstvertrauen und Lebenstüchtigkeit herauszubilden? Wexford bezweifelte es. Doch er beschloß, sich von Lizzie, ihren Problemen und ihrer Familie abzuwenden. Es war nicht Sache der Polizei. Polizeiressourcen und das Geld des Steuerzahlers waren darauf verschwendet worden, aber das war nichts Neues. Man mußte schon froh sein, daß kein Verbrechen stattgefunden hatte, daß es keine Toten und nicht einmal Verletzte gab, und nachdem es so gut ausgegangen war, würden manche sogar behaupten, Zeit und Ausgaben hätten sich gelohnt. Also, adieu, Lizzie Cromwell, wollen wir hoffen, daß du nicht schwanger bist. Die Hurt-Watch-Versammlung ging ohne besondere Vorkommnisse, ja sogar zufriedenstellend vonstatten. Zur Abwechslung waren sich Wexford und
Malcolm Southby einmal einig. Beide wollten häusliche Gewalt als ernstzunehmendes Verbrechen priorisieren (Southbys Ausdruck, mit dem Wexford nicht einverstanden war), und beide fanden die Idee gut, Frauen als deren Opfer mit Mobiltelefonen und Funkempfängern auszustatten. Allein ihnen das Bewußtsein zu vermitteln, daß die Polizei hinter ihnen stand, war schon ein Schritt in die richtige Richtung. »Und was ist mit den Opfern, die uns noch nie angerufen haben?« fragte Karen Malahyde. »In diesem Bereich gibt es eine Menge Heimlichtuerei, wissen Sie. Ein Großteil dieser Frauen würde fast alles tun, um nicht zugeben zu müssen, daß sie Opfer sind.« »Ich weiß nicht, was wir dagegen tun können, Sergeant Malahyde«, gab Southby zurück, der mit dem Geld der Steuerzahler recht knauserig umging, »außer jedem weiblichen Wesen im Einzugsgebiet von Kingsmarkham teure elektronische Geräte zur Verfügung zu stellen.« Sogar wenn er eine Sache unterstützte, konnte sich der zukünftige stellvertretende Chief Constable den Sarkasmus kaum verkneifen. Er führte es weiter aus. »Oh, Verzeihung, natürlich nur denen, die in einer festen Beziehung leben.« Er gackerte über seinen eigenen Witz. 24 Karen fand es nicht lustig, verzog das Gesicht aber kaum und blickte nur finster drein; dabei bemerkte sie mißbilligend, daß einige ihrer Kollegen liebedienerisch lächelten. »Das ist ja alles schön und gut, Sir.« Sie traute sich nicht recht zu sagen, das sei ja alles recht witzig, da sie wußte, daß ihr »Sir« nicht alles rechtfertigte. »Aber müssen wir nicht noch mehr tun, um herauszufinden, wo die Opfer sind? Ich meine, diejenigen, die um jeden Preis verheimlichen wollen, was mit ihnen passiert?« »Dazu haben wir doch Hurt-Watch, Karen«, sagte Wexford und erntete einen komischen Blick von Southby, weil er ihren Vornamen benutzt hatte. »Wir machen per Anzeige im Courier darauf aufmerksam und verteilen Handzettel an alle Haushalte. Ein Vertreter der Polizei - einer von uns hier - geht in Newsroom South-East auf Sendung und spricht darüber. Ich sehe im Augenblick nicht, was wir sonst noch tun können.« »Okay. Danke, Sir. Es ist nur - die ganze Geschichte nimmt momentan immer mehr zu - trotzdem, danke.« Wexford hatte sich während des einstündigen Treffens auf das Thema konzentriert, und es war ihm auch nicht schwergefallen, über Southbys witzige Bemerkung nicht zu lächeln. Sobald es vorbei war, schlich sich der Gedanke wieder ein: Apropos Heimlichtuerei, was hatte es eigentlich mit
diesem Freund auf sich, der vor Lizzies Freundinnen sowie vor ihren Eltern versteckt werden mußte, und wieso wollte sie sich jetzt nicht zu ihm bekennen? The Hide war vermutlich nicht das langweiligste und uninteressanteste Gebäude in ganz Kingsmarkham. Das Muriel-Campden-Wohnsilo war noch häßlicher, und einige Büroblocks waren trister, doch unter den größeren Häusern auf eigenem Grundstück war The Hide in der Kategorie langweiliger Häuser, die keinen zweiten Blick verdienten, ohne Konkurrenz. Daß die wenigsten dem Haus einen zweiten Blick geschenkt oder es überhaupt bemerkt hätten, war ein wesent 25 licher Gesichtspunkt gewesen, als Griselda Cooper und Lucy Angeletti beschlossen hatten, es als Zentrum und zeitweiliges Zuhause für die Opfer häuslicher Gewalt zu erwerben. Es war wichtig, daß das Haus unscheinbar wirkte, aber so, als hätte es nichts zu verbergen, langweilig, ohne unheimlich auszusehen, und von einer Düsterkeit, die keine Kommentare herausforderte. Früher hatte es die Hausnummer 12 im Kingsbrook Valley Drive getragen, doch das Schild war entfernt, ein Schild mit dem Namen »The Hide« nicht angebracht worden. Die Nummer war nicht im Telefonbuch eingetragen, nur die Notrufnummer war bekannt. In jeder Telefonzelle in Kingsmarkham, Stowerton, Pomfret und auf den Dörfern hing ein Kärtchen mit der Notrufnummer von The Hide. Allerdings stand auf der Karte nicht, wo sich das Haus befand oder wozu es diente, noch wer dort Zuflucht suchte und auch fand. Als sie mit der Arbeit beim Notruf anfing, hatte Sylvia Fairfax fast als erstes die Frage gestellt: »Wozu die Heimlichtuerei?« »In neun von zehn Fällen«, sagte Griselda Cooper, »kommen Ehemänner und Partner oder Freunde, eben die, die für den Mißbrauch verantwortlich sind, und suchen sie. Auf die Art wird es ihnen schwerer gemacht, sie zu finden. Nicht unmöglich, aber schwerer.« »Aber sie finden her?« »Manche schon. Wir hatten einen da, der ist über die Mauer gekommen. Die ist zwar drei Meter hoch und hat obendrauf Stacheldraht, aber er hat es geschafft. Danach haben wir den Stacheldraht durch Natodraht ersetzt.« Es gab einen riesengroßen Garten. Gitterwerk erhöhte die Mauern zwischen The Hide und den Hausnummern 10 und 14 im Kingsbrook Valley Drive. Abgesehen davon, daß der Rasen gemäht und die Büsche gelegentlich gestutzt wurden, war der Garten ungepflegt. Für die Kinder gab es eine
Schaukel und ein Klettergerüst, und Lucy Angeletti, die die finanziellen Mittel für The Hide auftrieb, wollte genügend Geld zu 26 sammenbringen, damit ein richtiger Spielplatz angelegt werden konnte. Die Nachbarn in Nummer 10 und 14 und auch in Nummer 8 und 16 hatten von dieser Absicht Wind bekommen und bemühten sich nun nach Kräften, der Sache einen Riegel vorzuschieben. The Hide und dessen Bewohnerinnen waren im Kingsbrook Valley Drive nicht gerade beliebt. Die Leute fanden, es stelle eine Gefahr für den Frieden in der Gegend dar und locke das Verbrechen an. Das Haus selbst, ein großer, quadratischer Kasten ohne Seitenflügel, Giebel oder Veranda war 1886 von einem Mann mit vielköpfiger Familie gebaut worden, der Kosten hatte sparen wollen. Nicht einmal das Dach war von der Straße her auszumachen, obwohl es nicht ganz flach war es lag hinter einer kahlen Backsteinmauer versteckt, die über den Fenstern im dritten Stock um das Haus verlief. Als Baumaterial waren Ziegel in einem stumpfen Rotbraun verwendet worden, und die einzige Zierde war die gelbbraune Verblendung, mit der die flachen Schiebefenster abgesetzt waren. Das Ganze wurde halb verdeckt von den im Vorgarten dominierenden Lorbeerbüschen sowie von zwei Stechpalmen, Friedhofsbäumen, deren Blätter nie abfielen, sondern mit der Zeit nur dunkler und staubiger wurden. Drinnen sah es ganz anders aus: Pastellfarben, hübsche Vorhänge und Bilder an den Wänden. Eigentlich waren es eher Plakate als Bilder. Lucy hatte die glorreiche Idee gehabt, mehrere Bögen Geschenkpapier zu kaufen, auf denen Blumenbilder, Weltkarten oder Die Dame mit dem Einhorn abgebildet waren, und sie rahmen zu lassen. Das Mobiliar stammte aus Trödelläden oder war von Sponsoren beigesteuert worden, und der Fußbodenbelag kam aus dem Teppichlager an der Stowerton Road, wo die Ware wegen Feuerschadens billig zu haben war. Ständig mangelte es an Geld. Lucy hatte schon graue Haare vor lauter Sorgen, ob sie genügend finanzielle Mittel zusammenbekäme, damit The Hide weiterexistieren konnte - obwohl ihr Haar sich vielleicht sowieso verfärbt hätte, da vorzeitiges Ergrauen bei ihr in der Familie lag. 26 Am Geldmangel lag es, daß Sylvia und Jill Lewis und Da-vina Crewe nicht dafür bezahlt wurden, daß sie am Telefon mit den Frauen sprachen, die um Hilfe und manchmal auch um Zuflucht baten. Im Idealfall hätte die Notrufnummer von einem anderen Ort aus betrieben werden sollen. Doch einen anderen Ort gab es nicht. Griselda Cooper wohnte im Haus und Lucy
Angeletti in einer Einzimmerwohnung in Stowerton. Außer den zwei Zimmerchen im Keller von Kingsbrook Valley Drive Nummer 12 besaß The Hide keine Büroräume. Die beiden Telefone, die von Jill und Davina, manchmal von Griselda und Lucy und nun auch von Sylvia betreut wurden, befanden sich in einem Raum im Obergeschoß neben Griseldas winziger Wohnung. Platz war so kostbar, daß die beiden anderen Räume auf diesem Stockwerk in möblierte Zimmer für geflohene Frauen umgewandelt worden waren, mit zwei Einzelbetten in einem und drei Betten und einem Klappbett im anderen. Ideal war es nicht, aber etwas Besseres konnten sie nicht bieten. Einen Aufzug gab es nicht. Sylvia mußte sich die drei Treppen vom Erdgeschoß hochquälen, wo sich die Wohnzimmer befanden, Gemeinschaftsraum und Fernsehzimmer, Kinderspielzimmer, Küche und Waschküche, durch den ersten und zweiten Stock, die ganz mit möblierten Zimmern und Bädern besetzt waren - der Einbau von zusätzlichen Badezimmern stand dringend an, sobald Lucy die Mittel bekam - und nach oben zu den Telefonen. Normalerweise spielten Kinder auf der Treppe. Das durften sie eigentlich nicht, auch nicht die Geländer herunterrutschen, doch wenn das Spielzimmer überfüllt war und es regnete, blieb ihnen kaum etwas anderes übrig. An zwei Abenden pro Woche, und zwar nicht immer denselben Abenden, arbeitete Sylvia von sechs Uhr bis Mitternacht in The Hide. Normalerweise war ihr Mann dann zu Hause, um sich um die beiden Söhne zu kümmern, und falls er einmal verhindert war, konnte sie sie zu ihren Eltern bringen. Sie hatte die Aufgabe teils aus sozialem Gewissensdruck 27 und dem Engagement für die Sache der Frau übernommen, teils um ein wenig aus dem Haus zu kommen. Wenn sie zu Hause war, schwiegen Neil und sie sich gegenseitig an, wandten sich nur indirekt über ihre Kinder aneinander oder stritten. Ihrer Mutter und ihrem Vater erzählte sie nie, wie es um ihre Ehe stand, sprach darüber jedoch mit Freundinnen, und Griselda Cooper wurde für sie rasch zu einer Freundin. Griseldas Schicht endete, wenn Sylvia übernahm, doch manchmal blieb sie noch eine halbe Stunde oder länger, um zu reden. Sie war gut zwölf Jahre älter als Sylvia, alleinstehend und hatte einen Liebhaber, der beneidenswert oft mit ihr ausging oder mit ihr fortfuhr, wenn sie einmal ein Wochenende frei hatte. Sylvia konnte sich den Anflug von Neid nicht verkneifen, obwohl Griselda keine Kinder hatte und nie welche haben würde. Eines Abends
erzählte sie Griselda von ihrer Ehe, daß sie und Neil sehr jung geheiratet und zu spät entdeckt hatten, daß sie überhaupt nicht zueinander paßten. »Zu spät?« fragte Griselda, die geschieden war. »Ich kann die Familie doch nicht auseinanderreißen. Eine Trennung wäre für meine Kinder verheerend.« »Das hört sich an wie das, was unsere Anruferinnen sagen. Er hat sie gerade fast umgebracht und wird es wieder tun, sie weiß es, will aber die Familie nicht auseinanderreißen.« Als das Telefon klingelte, hob Griselda ab. »Hier ist der Notruf von The Hide. Was kann ich für Sie tun?« Sie sprach im ruhigsten, wärmsten und beruhigendsten Ton, den sie zuwege brachte, also sehr ruhig, warm und beruhigend. Sylvia konnte spüren, daß es am anderen Ende der Leitung still blieb - wie so oft. Plötzlich verließ die Frauen der Mut oder sie wußten nicht, was sie sagen sollten, oder - was am schlimmsten war - der Herr des Hauses war ins Zimmer gekommen, in dem das Telefon stand. Griselda wartete. »Was kann ich für Sie tun?« wiederholte sie und sagte dann: »Wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Wollen Sie mir nicht sagen, was das Problem ist? Was Sie sagen, wird vertraulich behandelt.« 28 Nach zehn Minuten beharrlichen Wartens legte sie bedauernd auf. »Ich konnte sie atmen hören«, sagte Griselda. »Ich hörte sie seufzen. Jetzt hoffe ich bloß, daß sie wieder anruft. Das macht sie vielleicht, und dann gehst du ran.« »Was du da gesagt hast, bevor der Anruf kam«, sagte Sylvia, »von dem Mann, der die Frau fast umgebracht hat, aber sie will die Familie nicht auseinanderreißen - Neil hat mir nie ein Haar gekrümmt. Und weißt du, hier zu arbeiten und mir das alles anzuhören, von diesen Frauen zu hören, was sie alles durchgemacht haben, hat mir gutgetan. Ich meine, es hat meiner Ehe tatsächlich gutgetan.« »Mach keine Witze.« »Als ich neulich von hier nach Hause gefahren bin, es war natürlich mitten in der Nacht, und ins Bett ging - o ja, wir schlafen in einem Bett, verrückt, nicht? -, und mich neben ihn gelegt habe, er schlief schon, schlief friedlich wie ein Kind, da dachte ich, du warst immer so freundlich zu mir und sanft und geduldig, und ich habe es nie zu schätzen gewußt. Und da - habe ich den Arm um ihn geschlungen und lag neben ihm und umarmte ihn. Das habe ich seit Jahren nicht mehr getan
»Ist ja gut«, sagte Griselda, »wein doch nicht. Na gut, weine nur, wenn es dir guttut.« Sie legte den Arm um Sylvia, aber nur für einen Augenblick, weil das Telefon schon wieder läutete. Einer Textildesignerin, die in Pomfret lebte und arbeitete, war der gesamte Lagerbestand gestohlen worden. Die Kollektion, bestehend aus Steppmänteln und Westen, Bettdecken und Überwürfen sowie Batikwandbehängen, Kleidern, Tischdecken und Servietten war im Keller untergebracht gewesen, der vor zwei Jahren zu einer Werkstatt umgebaut worden war. Das Kellerfenster war vergittert und die Außentür doppelt abgeschlossen, doch das Fenster des Garderobenraums, eines schrankgroßen Kabuffs mit Toilette und Mini-Waschbecken, stand offen. Wer immer durch dieses Fenster gekommen war, 29
mußte zierlich und gelenkig gewesen sein und hatte offenbar die gesamte Beute durch ebendiese Öffnung hindurch nach draußen geschafft. »Oder hat die Tür von innen entriegelt und aufgeschlossen«, sagte Inspector Bürden, »das Zeug hinausgebracht, ist dann noch einmal hinein, um die Tür zu verriegeln und abzuschließen, und durch das aufgebrochene Fenster geflüchtet.« »Ich würde es nicht schaffen«, meinte Wexford bekümmert. »Nicht einmal, wenn es doppelt so groß wäre.« Er sah Bürden skeptisch an, dessen neuer braungrauer Anzug die schlanke Figur noch betonte. »Und ich möchte mal vermuten, Sie auch nicht, Mike. Haben die dort ein Kind reingeschickt? Eine Art Oliver Twist?« »Wer weiß? Wir haben keine Fingerabdrücke gefunden außer denen der Besitzerin und ihres Lebensgefährten. Sie schätzt den Wert der verschwundenen Sachen auf fünfzigtausend Pfund.« »Ach tatsächlich? Ich dachte immer, diese Kunsthandwerker nagen am Hungertuch. Es heißt doch, die verdienen mit Putzengehen mehr Geld als mit ihrer edlen Stickerei, Keramik, Batik etcetera.« »So hoch hat sie es geschätzt. Das will aber nicht heißen, daß sie es auch dafür verkaufen kann. Übrigens, bevor ich's vergesse, wir hatten noch einen Anruf von einer Mutter, deren Tochter verlorengegangen ist.« Wexford schlug mit beiden Fäusten auf die Schreibtischplatte. »Warum sagen Sie mir das erst jetzt?« Bürden gab keine Antwort. Immer penibel auf seine äußere Erscheinung bedacht, fummelte er an seiner ebenfalls braungrauen, jedoch dezent
dunkelrot und hellblau gemusterten Krawatte herum und sah sich suchend nach einem Spiegel um. Ein winziges Exemplar hatte sonst immer zwischen Tür und Karteikasten an Wexfords gelber Wand gehangen. »Der ist weg«, sagte Wexford ungehalten. »Ich mag keine Spiegel. Ich schaue morgens zum Rasieren hinein, notge 30 drungen, und das reicht mir für den ganzen Tag. Ich bin doch kein Dressman.« »Offensichtlich nicht«, erwiderte Bürden, der inzwischen den besten Blick auf Gesicht und Hals studierte, den ihm die Glasscheibe über Wexfords ChagallDruck bot. »Ich weiß gar nicht, was mit dieser Krawatte los ist, ständig verrutscht sie.« »Meine Güte, dann nehmen Sie sie eben ab. Oder Sie machen es wie ich und tragen zwei Krawatten abwechselnd -montags, mittwochs und freitags die blaue und dienstags und donnerstags die rote, und nächste Woche dann umgekehrt. Und jetzt sagen Sie mir vielleicht endlich, was mit dem vermißten Mädchen los ist.« Bürden nahm Wexford gegenüber am Schreibtisch Platz. »Es ist wahrscheinlich gar nichts mit ihr los, Reg. Wissen Sie, daß in diesem Land mehr als vierzigtausend Teenager als vermißt gelten? Natürlich wissen Sie das. Na, jedenfalls wird die hier nicht vermißt, sie ist kein Kind mehr, sie ist achtzehn und hat sich vermutlich das gleiche geleistet wie Lizzie Cromwell.« »Und das wäre?« »Damit meine ich, sie ist mit einem Knaben abgehauen oder besucht Freunde oder ist ausgestiegen oder sonstwas.« »Was soll das heißen, 'ausgestiegen«?« »Sie studiert irgendwo. Am Wochenende kam sie hierher nach Hause, ging Samstag abend aus und wurde seither nicht mehr gesehen.« »Früher«, sagte Wexford, »hat die Universität ihren Studienanfängern untersagt, am Wochenende nach Hause oder sonstwohin zu fahren. Schade, daß sie das aufgegeben haben. Ich nehme an, ihre Mutter weiß, daß sie nicht einfach wieder an die Uni zurückgefahren ist - gab es vielleicht einen Streit in der Familie?« »Sie behauptet nein. Das Mädchen ist auch nicht zurückgefahren. Barry hat sich in ihrem Wohnheim und bei der Tutorin erkundigt.« »Wie heißt sie, und wo wohnt sie?« 30
»Sie heißt Rachel Holmes und wohnt in der Oval Road in Stowerton. Die Mutter, Mrs. Rosemary Holmes, ist geschieden und wohnt allein, wenn das Mädchen nicht da ist. Sie ist Sprechstundenhilfe bei Dr. Akande.« Sich von seinem Spiegelbild losreißend, einem geisterhaften Gesicht, das sich hinter Chagalls fliegendem Liebespaar schwach abzeichnete, begann Bürden seine Ausführungen. Rachel war am Samstag abend etwa um acht aus dem Haus gegangen, um sich mit ein paar Freunden in einem Pub zu treffen. Ihre Mutter wußte weder in welchem Pub, noch wohin Rachel danach gegangen war, vermutlich in eine Diskothek oder zu einer Freundin nach Hause. Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie vor zwei oder drei Uhr morgens zurück sein würde. »Als sie jünger war«, hatte Mrs. Holmes zu Sergeant Barry Vine gesagt, »habe ich ihr ein Handy mitgegeben, und sie hat mich angerufen und gesagt, wo sie gerade war. Das geht aber nicht mehr, wenn sie über achtzehn sind, nicht wahr? Schließlich ist sie jetzt Studentin. Was sie dort macht, weiß ich nicht, weiß nicht, wann sie dort abends nach Hause kommt. Was soll ich mir also hier Sorgen machen, wenn sie spät dran ist? Ich mache mir aber natürlich trotzdem Sorgen. Samstag nacht habe ich kein Auge zugetan.« »Sie hat uns also heute angerufen, richtig?« fragte Wexford. »Rief an und kam vorbei, um eine Vermißtenmeldung aufzugeben.« »Wieso hat sie so lange gewartet?« »Keine Ahnung. Vine hatte den Eindruck, das Mädchen ist eine von diesen aufsässigen Teenagern, die ihrer Mutter aufs Dach steigen würde, wenn sie sie als vermißt meldet, während sie bloß irgendwo ist und sich einen flotten Lenz macht.« Wexford saß einen Augenblick schweigend da. Er wollte auf keinen Fall zulassen, daß ein einzelner, nicht besonders wichtiger Fall zwanghaft wurde, überhandnahm und ihn gedanklich vereinnahmte. Doch war ihm auch bewußt, daß man 31
seinen Charakter nur schwer ändern kann, besonders in seinem Alter. So war er nun einmal, und der Versuch, eine Veränderung herbeizuführen, würde seiner Persönlichkeit möglicherweise völlig grundlos Zwang antun. »Sie haben doch nicht etwa vor, Mrs. Holmes einen Besuch abzustatten?« fragte Bürden fast spöttisch. »Barry hat die Sache im Griff.« »Ich habe vor, noch einmal bei den Crownes und Lizzie Cromwell vorbeizuschauen.« Wexford stand auf. »Wäre doch höchst interessant, wenn sie die Holmes' oder die beiden Mädchen einander kennen.«
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»Nein, die kennen wir nicht.« Debbie Crowne spuckte die Worte geradezu aus. »Die ist doch viel zu fein für uns, oder? Solche wie die wollen mit unsereins nichts zu tun haben.« Da Rachel Holmes und ihre Mutter in einem Reihenhaus in einer Nebenstraße wohnten, in einem bescheidenen Häuschen, das um einiges kleiner war als das, in dem er sich gerade befand, wunderte sich Wexford über die feine Unterscheidung, die Mrs. Crowne machte. Gleichzeitig wußte er, daß er nicht ganz ehrlich zu sich war. Es gab einen Unterschied. Rosemary Holmes war Eigentümerin ihres Hauses und übte eine Bürotätigkeit aus, Rachel ging auf die Universität. Falls sie früher zur Arbeiterschicht gehört hatte, war Mrs. Holmes inzwischen um einige Stufen höher gestiegen, während die Crownes immer noch da waren, wo sie angefangen hatten. Irgendwie mochte er diese Abstufungen nicht, wußte jedoch, daß sie eine feste Tatsache waren und nicht etwa kulturspezifisch oder - wie manche behaupteten - auf dieses Land beschränkt. »Ist Lizzie mit Rachel auf dieselbe Schule gegangen?« Kaum hatte er es gesagt, war ihm klar, daß er sich damit gewaltig vertan hatte. Lizzie warf ihm einen ihrer finsteren Blicke zu, mit hängendem Kopf, aber nervös nach oben spähenden Kaninchenaugen. Ein Ausdruck, den man normalerweise bei Kindern sah, die halb so alt waren wie sie. Ihre Mutter sagte: »Sie sagten doch, sie sind zwei Jahre auseinander. Für jemanden in ihrem Alter sind das Jahrhunderte.« »Aber Lizzie geht doch auf die Gesamtschule in Kingsmarkham«, insistierte er, »wie Rachel früher auch?« »Und noch ein paar tausend andere dazu. Außerdem ist sie 32
im Förderzweig für Lernschwache.« Debbie Crowne beäugte ihn mit dem gleichen Ausdruck wie ihre Tochter. »Das ist so ziemlich das unterste Ende.« Trotzdem mußten die beiden über mehrere Jahre hinweg an der gleichen Schule gewesen sein, vielleicht sogar über vier Jahre. War das die Verbindung? Bevor das Gespräch fortgesetzt wurde, kam Colin Crowne ins Zimmer. Wexford betrachtete ihn prüfend, während Mrs. Crowne über Lizzie sprach, ihre Befürchtungen bezüglich dessen wiederholte, was Lizzie während ihrer Abwesenheit zugestoßen sein mochte, und in verdrossenem Ton die Möglichkeit abstritt, Lizzie könnte schwanger sein. Dabei sah sie immer wieder zu ihrem Mann hinüber.
Die meisten Leute hätten Colin Crowne als gutaussehend bezeichnet. Er war groß und schlank, dunkelhaarig und dunkeläugig, mit straffen, scharfgeschnittenen Zügen. Doch die Länge seiner Haare und der Bart, vielleicht nur das Resultat einer Woche Nichtrasieren, sowie das dreifache Ohrring-Arrangement ließen ihn etwas finster aussehen. Die blasse Erscheinung seiner Frau, ihr verkniffenes Gesicht und das spröde, wirre Haar standen in einem fast grotesken Gegensatz zu dem jugendlich-sinnlichen Eindruck, den er bot. Wexford erinnerte sich wieder an ihren Auftritt im Fernsehen, wo Crowne einen redegewandten Appell um Lizzies Rückkehr durchgegeben hatte, dabei unverwandt in die Kamera gestarrt und seine Worte deutlich und scheinbar echt bewegt ausgesprochen hatte, während seine Frau danebensaß, sich auf die Lippen biß und nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte. Wenn es auch nicht stimmte, wie die Anruferin behauptet hatte, daß diejenigen, die im Fernsehen um die Rückkehr eines vermißten Kindes flehen, oft selbst am Tod dieses Kindes schuldig sind, so lag wohl doch ein Körnchen Wahrheit darin. Es hatte bereits Fälle gegeben, in denen Eltern, die später des Kindesmordes für schuldig befunden wurden, die Zuschauer mit ihren Gefühlsausbrüchen über das Verschwinden 33 dieses Kindes zu Tränen gerührt hatten. Ein derartiges Verhalten war auch nicht unbedingt scheinheilig, denn diese Leute verspürten tatsächlich Kummer, echte Emotionen und manchmal auch bittere Reue. Denn was sollte mehr weh tun und mehr Reue hervorrufen als eine Mordtat? Doch Lizzie war nicht tot, Lizzie war zurückgekommen. Wexford hatte absolut keinen Grund, Crowne die Schuld an ihrer dreitägigen Abwesenheit zuzuschieben oder ihn für irgend etwas in diesem Zusammenhang verantwortlich zu machen. Nachdem er kurz mit sich zu Rate gegangen war, beschloß er, Lizzie auf das verfallene Haus in Myringham anzusprechen. Selbst wenn sie es Lynn Fancourt im Vertrauen gesagt haben sollte, hatte sie nicht um Verschwiegenheit gebeten. Im übrigen war sie wohl nie dort gewesen. Einem Mädchen wie ihr konnte man wegen einer Lüge vielleicht keinen Vorwurf machen, doch gelogen hatte sie. Sanft wandte er sich an sie. »Lizzie, du warst gar nicht in dem Haus dort neben der Bushaltestelle, stimmt's? Du hast« - er suchte nach einem Ausdruck, den sie verstehen konnte -»der Polizistin gesagt, daß du drei Tage in dem Haus gewesen bist und dich in Decken eingewickelt hast, ja? Du hast ihr ge-
sagt, du hättest Wasser aus der Leitung getrunken, aber das hat nicht gestimmt, oder?« An der Art, wie Colin und Debbie Crowne reagierten, besser gesagt, nicht reagierten, sah er, daß ihnen die gleiche Geschichte aufgetischt worden war. Wahrscheinlich hatte Lizzie ihr Lügenmärchen nicht deswegen für sich behalten, weil sie Angst hatte, es ihrer Mutter und ihrem Stiefvater zu erzählen, sondern weil sie es sich erst ausgedacht hatte, kurz bevor sie es Lynn offenbarte. Vermutlich hatte sie vor Debbie Crowne die ganze Geschichte noch einmal zum besten gegeben, nachdem er und Lynn gegangen waren. Und nun rief sie mit der allzu vehementen Entrüstung einer Lügnerin: »Doch, es hat gestimmt! Ich war wirklich dort!« »Aus den Leitungen kam kein Wasser, Lizzie. Es war dort auch sehr kalt. Eine Decke war zwar da, aber die war feucht.« 34 »Ich war aber dort!« Crowne sagte gereizt: »Na bitte, da haben Sie Ihre Antwort. Was wollen Sie denn noch?« Eine ganze Menge. Aber es wäre nutzlos und vielleicht sinnlos, weiter darauf zu bestehen. Und doch war sich Wexford plötzlich sicher, daß sie tatsächlich in dem Haus gewesen war, zwar bestimmt nicht drei Tage und Nächte, doch sie war dringewesen, sie kannte es. Sie hatte die Decke gesehen und zumindest versucht, Wasser aus der Leitung zu bekommen. War Rachel ebenfalls dort gewesen? Bürden hatte angedeutet, es sei eigentlich nicht nötig, daß Wexford in die Oval Road nach Stowerton fuhr. Hier handele es sich um einen völlig anderen Fall von Vermißtenmeldung als bei Lizzie Cromwell, da Rachel älter war, die meiste Zeit nicht zu Hause lebte und eine intelligente junge Frau war, die ihr eigenes Leben durchaus selbständig meisterte. Doch bisher hatten alle Nachforschungen nichts ergeben. Sie hatte sich bei keinem Verwandten gemeldet, und anscheinend war sie auch nicht bei Freunden untergekrochen. Ein nochmaliger Anruf bei der University of Essex ergab lediglich, daß sie zu der Vorlesung, an der sie morgens um zehn hätte teilnehmen sollen, nicht erschienen war. Inzwischen kristallisierte sich aber ein anderes Bild heraus. Rachel hatte offenbar nie die Absicht gehabt, direkt zum Pub zu fahren, sondern hatte vorher noch bei einer Freundin in Framhurst vorbeischauen wollen. Weil die Buslinie zwischen Framhurst und Stowerton eingestellt worden war, als man mit den Arbeiten an der Umgehungsstraße begonnen
hatte, war mit Caroline Strangs Mutter vereinbart worden, daß diese sie auf ihrem Nachhauseweg von der Arbeit um acht an der Kingsmarkham Road, fünf Minuten von der Oval Road entfernt, abholen würde, mit ihr Caroline in Framhurst einsammeln und die beiden Mädchen dann zum Rat & Carrot fahren würde. Vine hatte mit Mrs. Strang gesprochen und erfahren, daß sie wegen eines Verkehrsstaus ein paar Minuten nach acht am 35 Treffpunkt angekommen war, wo sie geparkt und gewartet hatte. »Immer kommen sie zu allem zu spät, diese Mädchen. Ich weiß Bescheid, ich habe selbst zwei, und ich dachte mir, ich bin lange vor Rachel dort, obwohl ich spät dran war.« Sie hatte zehn Minuten gewartet und war dann weggefahren. »Ich wäre ja zu ihr nach Hause gefahren, aber ich wußte nicht, wo sie wohnt. Die Telefonnummer habe ich, aber nicht die Adresse.« Caroline Strang vermutete, Rachel habe sich vertan und sei direkt ins Rat & Carrot gefahren. Trotzdem rief sie bei ihr zu Hause an, bevor sie loszog, bekam aber keine Antwort. Sie nahm natürlich an, daß niemand an den Apparat ging, weil Rachel auf dem Weg ins Pub und ihre Mutter aus war. Vine sprach mit den anderen drei jungen Leuten, mit denen Caroline und Rachel an jenem Abend verabredet waren. Sie sei eben nicht gekommen, sagten alle, ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen. Sie nahmen an, Rachel habe es sich eben anders überlegt. Vine schloß daraus, daß sie tatsächlich sehr lässig umgingen mit Dingen wie Vergeßlichkeit, Unentschlossenheit oder einem Anruf, um Bescheid zu geben oder sich zu entschuldigen, wenn sich für den Abend etwas Besseres ergeben hatte. Da noch die Möglichkeit bestand, daß Rachel mit dem Bus nach Kingsmarkham gefahren war, hatte Vine mit den Busfahrern gesprochen. In den Bussen der Linie Stowerton-Kingsmarkham-Pomfret gab es keine Schaffner, dort nahmen die Fahrer das Geld in Empfang und stellten die Fahrkarten aus. Vine zeigte den Fahrern des Acht-Uhr-Zehn- und des AchtUhr-Zweiunddreißig-Busses Rachels Foto. Keiner konnte sich an sie erinnern, doch der eine sagte, er würde sich bestimmt nicht an sie erinnern, und der andere meinte, er könne sich Gesichter so schlecht merken. Dies ließ Wexford zu der Überzeugung gelangen, daß Rachel gar nicht im Bus gesessen hatte, denn sie wäre jedem Mann aufgefallen - ein außergewöhnlich attraktives 35 Mädchen mit üppigem dunklen Haar, großen schwarzen Augen und sinnlichen Zügen, vollen Lippen, einem runden Kinn und hoher, glatter Stirn,
die sie von ihrer gutaussehenden Mutter geerbt zu haben schien. Rosemary Holmes sah aus wie vierzig oder jedenfalls kaum älter. Wexford konnte sich vorstellen, daß sie oft Komplimente von Leuten bekam, die sie und ihre Tochter für Schwestern hielten. Ihr dunkles Haar war geflochten und im Nacken zum Kranz gesteckt, eine altmodische Frisur, die gut zu ihrem ovalen Gesicht paßte. Sie war sehr schlank und hatte lange, wohlgeformte Beine. Dr. Akande hielt seine Sprechstundenhilfe offensichtlich gut versteckt, dachte Wexford, denn diese Frau wäre ihm sicher aufgefallen, wenn er sie im Gesundheitszentrum gesehen hätte. In Gedanken hatte er das Crownsche Heim mit diesem hier verglichen: Ersteres war zwar recht sauber, verriet jedoch, daß sich seine Bewohner nicht sonderlich für ihre Umgebung interessierten. Rosemary Holmes' Haus dagegen war geschmackvoll, wenn auch nicht teuer eingerichtet. Sorgfältig gepflegte Zimmerpflanzen wuchsen grün und üppig in Trögen auf beiden Fensterbrettern im Wohnzimmer, auf dem Tisch stand eine große, bauchige Vase mit orangefarbenen Tulpen, und an einer Wand waren vom Boden bis zur Decke maßgefertigte Bücherregale angebracht. Die britische Landbevölkerung mochte immer noch klassenbewußt sein, doch ihrem Elitedenken und ihrem Minderwertigkeitsgefühl lag eine etwas verquere Logik zugrunde. Obwohl er wußte, daß es falsch war, konnte Wexford nicht umhin, die beiden Fälle gedanklich miteinander zu verknüpfen und sich nun einzureden, weil Lizzie nach drei Tagen und drei Nächten zurückgekommen war, würde Rachel ebenfalls zurückkommen, und zwar nach dem gleichen Zeitraum, also morgen nachmittag, Dienstag nachmittag. Er konnte Mrs. Holmes' Befürchtungen daher nicht teilen, und als sie in diesem Augenblick sagte: »Ich muß immer denken, ich sehe sie nie wieder«, fühlte er sich seltsamerweise wie im Besitz höheren Wissens, geheimer Informationen, und fände es grausam, ihr 36
diese nicht zu offenbaren. Doch so war es natürlich nicht, er wußte nichts. Es gab keinen Grund, das Verschwinden des einen Mädchens mit dem eines anderen in Verbindung zu bringen. Ihr zu sagen, alles würde gut, sie solle sich nur keine Sorgen machen, wäre rücksichtslos, herzlos, denn wer kann schon von sich behaupten, er hätte öfter recht als unrecht? »Haben Sie vor«, fragte sie ihn, »nach ihr - zu suchen? Ich meine, wie sie es manchmal im Fernsehen zeigen - so in einer Reihe - mit Stöcken? Wo sie so äh, auf die Erde schlagen?« Sie rang die Hände. Wexford verstand sehr wohl,
worauf sie hinauswollte: Das täten sie nur, wenn Grund zu der Annahme bestand, daß ihre Tochter tot war. Karen Malahyde ersparte ihm die Antwort. »Dazu ist es noch zu früh, Mrs. Holmes. Warten wir noch eine Weile ab. Rachel wird ja erst seit Samstag abend vermißt, das sind noch keine achtundvierzig Stunden.« Nach einem etwaigen Freund hatten sie sich schon erkundigt. Vine hatte danach gefragt, und nun tat Karen es ebenfalls. »Sie sagten, sie hätte im Moment keinen Freund, aber was war früher, als sie noch hier bei Ihnen wohnte und zur Schule ging?« Rosemary Holmes nannte zwei Namen, die sie anderen Polizeibeamten gegenüber bereits erwähnt habe. Falls sie ungehalten war, es wiederholen zu müssen, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie wollte unbedingt helfen und hätte klaglos alles getan, um dazu beitragen zu können, daß ihre Tochter gefunden wurde. »Und Sie, Mrs. Holmes?« Karen stellte die Frage sehr vorsichtig. »Haben Sie auch eine Beziehung?« »Ich habe einen Freund, ja. Aber Sie glauben doch wohl nicht... ?« »Im Augenblick glauben wir eigentlich überhaupt nichts«, sagte Wexford und überlegte, daß nichts weiter entfernt von der Wahrheit sein könnte als dies. »Wir stellen Fragen und werten die erhaltenen Informationen aus. Beim gegenwärtigen Stand der Ermittlungen können wir die Namen und 37 Adressen von allen Ihren Freunden und denen Ihrer Tochter gut gebrauchen, Mrs. Holmes.« Sie nannte ihnen einen Arzt mit Praxis in Flagford, mit dem sie jetzt seit etwa einem Jahr eine Beziehung habe. Sie verbrächten manchmal gemeinsam das Wochenende. Rachel, sagte sie in einem Ausbruch von Offenheit, könne ihn nicht leiden, allerdings habe sie bisher keinen der Freunde ihrer Mutter leiden können. So hoch war der gesellschaftliche Stellenwert eines Arztes, daß Wexford Dr. Michael Devonshire sofort über jeden Verdacht stellte, ihn nach rascher Selbstermahnung aber dann wieder mit einbezog. Auch ein Mann der Medizin war ein Mann, und man konnte schließlich nie wissen. »Sie gingen Samstag abend ebenfalls aus, Mrs. Holmes?« Sie errötete leicht. »Äh, ja. Darf ich fragen, woher Sie das wissen?« »Als Caroline Strang etwa fünf vor halb neun hier anrief, waren Sie nicht da.« »Michael und ich waren zum Essen gegangen. Ich weiß, es ist lächerlich, aber ich habe solche Schuldgefühle, weil ich unterwegs war, als - als mit Rachel weiß Gott was geschah.«
»Wußten Sie von der Vereinbarung mit Mrs. Strang?« Rosemary Holmes erwiderte etwas verlegen: »Ich wußte, daß jemand sie an der Kingsmarkham Road abholen sollte. Sie hat es mir gesagt. Ich dachte, es wäre ein - äh, einer von den Jungs, mit denen sie verabredet war.« Plötzlich brach es aus ihr heraus: »Man kann die jungen Leute doch nicht davon abhalten, oder? Man kann sie ja nicht die ganze Zeit beaufsichtigen.« Und wieder gab sie sich eine Blöße. »Wahrscheinlich ist es ja nicht wichtig, ich will nur sagen, wir haben durchaus unsere Probleme, Rachel und ich. Sie ist ein wunderbares Mädchen, wirklich ein feiner Mensch, und ich verstehe mich bestens mit ihr, aber sie sich nicht so gut mit mir. Das ist bei Leuten in ihrem Alter aber doch ganz normal, oder?« »Ganz normal, Mrs. Holmes«, sagte Karen. Als sie wieder im Wagen saßen, meinte Wexford, sie solle mit Michael Devonshire sprechen, vielleicht erwischte sie 38
ihn noch vor seiner Abendsprechstunde. »Obwohl er offenbar ein Alibi mit Rachels Mutter hat. Meinen Sie, es lohnt sich, daß wir uns das Haus in Myringham noch mal ansehen?« »Aber Rachel war doch gar nicht in Myringham, Sir.« Karen klang überrascht. »Soviel wir wissen.« »Es ist bestimmt bloß Zufall, daß Lizzie Cromwell am vorletzten Samstag als vermißt gemeldet wurde und Rachel Holmes letzten Samstag spurlos verschwand.« »Wir mögen aber keine Zufälle, richtig? Wir wissen, wenn Ereignisse aufeinander oder einem bestimmten Muster folgen, dann besteht zwischen diesen Ereignissen meist ein Zusammenhang.« Karen wirkte skeptisch. Recht hat sie, dachte Wexford, recht hat sie. Er mußte es sich aus dem Kopf schlagen, das Verschwinden der beiden Mädchen miteinander zu verknüpfen. Es hatte keinen Sinn, noch einmal zu dem verfallenen Haus zu fahren, und ebensowenig gab es eine konkrete Verbindung zwischen den Mädchen - außer der Tatsache, daß sie auf dieselbe Schule gegangen waren. Außer daß sie beide jung, hübsch, ungebunden und weiblich waren. Außer daß sie an zwei aufeinanderfolgenden Samstagen verschwunden waren... Schluß jetzt, schalt er sich, doch als er Bürden nach der Arbeit traf, schlug er für ihr feierabendliches Bier, auf das sie zweimal die Woche gingen, wenn sie es zeitlich einrichten konnten, das Rat &. Carrot vor statt des Olive and Dove.
Bürden musterte ihn argwöhnisch. »Sie ist dort aber doch nie angekommen, Rachel Holmes, meine ich. Was immer mit ihr passiert ist, hat sich in Stowerton zugetragen. Als sie auf den Bus wartete.« »Wie Lizzie Cromwell«, sagte Wexford. »Sie haben keinen Grund, die beiden miteinander in Verbindung zu bringen, absolut keinen. Wir wissen, daß Rachel nicht auf den Bus hätte warten sollen, sondern darauf, daß sie abgeholt wurde. Aber die sind ja so verschlafen, diese jungen Dinger, vergeßlich wie alte Leute. Also, wenn Lizzie Crom 39
well tot aufgefunden worden wäre und Rachel Holmes danach erst verschwunden wäre, hätte ich gesagt, Sie haben recht. Nein, das ist nur wieder mal eine von Ihren fixen Ideen. Ich dachte, das hätten Sie aufgegeben, aber Sie sind genauso schlimm wie früher.« »Kann ein Leopard aus seinem gefleckten Fell?« kam Wexfords rhetorische Frage, »oder ein Äthiopier aus seiner schwarzen Haut?« »Wenn ich das gesagt hätte, hätten Sie mich einen Rassisten genannt.« Die erste Bushaltestelle in der Nähe des Kingsbrook Valley Drive lag am östlichen Ende der High Street. Von dort waren es zu Fuß etwa zehn Minuten bis zum Rat & Carrot, einem überladenen viktorianischen Bau an der Kreuzung zwischen Kingsbrook Valley Drive und Savesbury Road. Es war zwar überwiegend eine Wohngegend, doch gab es neben dem Pub noch zwei Läden: einen kleinen Supermarkt und ein Schmuckgeschäft. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Apotheke. Inzwischen hatten alle geschlossen, und der Juwelier hatte die wertvollen Sachen aus dem Schaufenster genommen und den Metallrolladen heruntergezogen. Es war ein Viertel mit bunt zusammengewürfelten Häusern: Bungalows aus den dreißiger Jahren standen neben schon fast hochherrschaftlichen Villen, Wohnblocks aus den Siebzigern wechselten mit düsteren Bauten aus dem späten neunzehnten Jahrhundert ab. Das Rat &. Carrot war die örtliche Stammkneipe. Vor nicht allzulanger Zeit hatte das Pub noch Duke of Albany geheißen, doch da der Name von den tonangebenden Kräften für altmodisch und bedeutungslos befunden wurde, hatte es diesen neuen Namen bekommen. Diejenigen, die es umtauften, fanden ihn amüsant. Leider verpaßten ihm die Einheimischen schon nach einem halben Jahr den Spitznamen Rotten Carrot, was soviel wie »Zur vergammelten Karotte« heißt, und der blieb an ihm hängen. Offensichtlich war man bemüht, den Gästen alles zu bieten, 39
was man sich von einem Pub nur wünschen konnte, sowie darüber hinaus eine ganze Menge Extras, auf die wohl kein Mensch gekommen wäre. »Richtige« Mahlzeiten wurden im Restaurant sowie in der Bar serviert, Imbiß und Sandwiches waren den ganzen Tag über zu haben, und außerdem veranstaltete das Pub eine eigene Lotterie und verteilte Rubbellose als Preis an diejenigen, die errieten, wie viele Pints pro Tag ausgeschenkt wurden oder wieviel Geld für wohltätige Zwecke seit Weihnachten in der Bar gesammelt worden war. Dienstag und Donnerstag abends traf sich der Ratten-HardRock-Club. Kinder waren gern gesehene Gäste im Rattenkönig-Kinderzimmer, wo Orangensaft und Coke verkauft wurden, oder bei schönem Wetter draußen auf dem Spielplatz, der mit einem riesigen lila Dinosaurier, einem gigantischen Yogi-Bär, zwei Klettergerüsten und einer großen Comicfigur ausgestattet war, in deren Bauch Tischchen und Stühlchen angeordnet waren. Wie Wexford treffend bemerkte, konnte man es niemandem verübeln, wenn einem dabei völlig entging, daß der Hauptzweck einer Schankwirtschaft der Verkauf alkoholischer Getränke war. Er trat mit Bürden durch den Haupteingang unter einem Schild hindurch, auf dem die Gäste informiert wurden, daß der Wirt ein gewisser Andy Honeyman war. Zwischen Tafeln, auf denen abwechselnd für Riesenfrühstück, Volkstanzgruppen und einen Talentwettbewerb (Wer wird das nächste Spiee Girl?) geworben wurde, bahnten sich die beiden einen Weg hinein. »Hier in der Gegend möchte ich nicht wohnen«, sagte Bürden verdrossen. »Die Sommerabende müssen ja ein Alptraum sein.« »Ach, herrje«, erwiderte Wexford, während er ihre Getränke an einen Tisch trug, »mitten wir im Leben sind mit Karaok' umfangen. Das könnte Ihnen übrigens auch passieren. Das Pub an Ihrer Straße ist doch frei verpachtet. Lassen Sie bloß einen neuen Wirt kommen, und schon haben Sie aus Ihrem Wohnzimmerfenster freie Sicht auf Comicfiguren und Spiee Girls in spe, die die halbe Nacht herum trällern.«
40 Mit dem Glas in der Hand besah sich Bürden eingehend die Örtlichkeit und tat, als hätte er nichts gehört. Der Schankraum war höchst farbenfroh dekoriert. An den Wänden wechselte rot-goldene Velourtapete mit imitierter Faltwerktäfelung ab, es gab eine Reihe von Bildern mit rehäugigen Mädchen, herumtollenden Kätzchen, versonnen dreinblickenden Hunden und Bergpanoramen, und die Bestuhlung war in Schwarz und Gold gestrichen und mit blaßgelbem Polsterstoff bezogen. Das Mädchen, das herumging und
die bereits blitzsauberen Tische abwischte, trug hautenge knallrote Leggings und Ohrringe, die ihr bis aufs Schlüsselbein herunterhingen. Außer ihr und den beiden Polizeibeamten war nur noch ein bärtiger, etwa vierzigjähriger Mann im Schankraum, den sie mit Andy anredete und der auf einem Barhocker hinter dem Tresen saß und Spotting Life las. Bürden schüttelte bedächtig den Kopf, als fragte er sich, wie weit es mit der Welt schon gekommen war. »Rachel Holmes«, sagte er. »Unbegreiflich! Was hat ein Mädchen wie sie in so einer Spelunke verloren?« »Diese Frage stellen ihr wohl eine Menge Männer«, meinte Wexford ernsthaft. »Was? Ach so, ich verstehe. Richtig. Aber ehrlich, ein attraktives Mädchen aus gutem Hause, das auf die Universität geht - was sieht sie hier drin eigentlich?« »Ihre Freunde, nehme ich an. Na, nichts hat sie gesehen, weil sie gar nicht hier war. Aha, da kommt noch Kundschaft. Sehr schön. Ich muß sagen, ich sitze nicht gern allein im Pub, und Sie?« Zwei Männer waren hereingekommen, dicht gefolgt von einem Mann und einer Frau. »Um ehrlich zu sein, mir ist es lieber«, sagte Bürden. »Ich mag es gern ein bißchen stiller.« Wexford grinste, denn mit der Antwort hatte er schon gerechnet. »Da fällt mir gerade etwas ein. Mrs. Strang hatte, sich verspätet, sie kam erst ein paar Minuten nach acht zu dem vereinbarten Treffpunkt - vor dem Flag, stimmt's? -, sagen wir, frühestens um fünf nach acht. Angenommen, Rachel hatte 41 sich nicht verspätet, sondern traf Punkt acht oder sogar ein paar Minuten vor acht dort ein. Und jemand anders kam angefahren, bot ihr an, sie mitzunehmen, und sie willigte ein.« »Wieso denn? Sie wartete doch auf Mrs. Strang.« »Stimmt. Aber mir ist da etwas eingefallen...« Er unterbrach sich und rutschte etwas zurück, um eine Gruppe Frauen durchzulassen, die das Rat &. Carrot gerade durch die Schwingtüren betreten hatten. Sie waren zu viert, zwei junge und zwei im mittleren Alter, und Wexford fiel sofort auf, wie vorsichtig und ängstlich sich fast alle vier verhielten. Diejenige, die in Richtung Tresen vorausgegangen war, eine dünne, ziemlich attraktive junge Frau in Jeans und abgetragenem Pulli, deren langes Haar hinten mit einem Chiffontuch zusammengebunden war, trug eine entschlossene Miene zur Schau, als hätte sie vor dem Hereinkommen die Zähne zusammengebissen und sich geschworen, ihr Vorhaben um jeden Preis durchzuführen. Ihren ganzen Mut zusammengekratzt, dachte er.
Die anderen folgten ihr und stellten sich nebeneinander an die Theke. Die Schwarzhaarige räusperte sich, was jedoch keine Wirkung auf Honeyman hatte, der den Blick auf sein Sporting Life geheftet hielt. Es folgte eine kurze Stille, dann - Wexford hörte, wie sie den Atem einzog sagte sie in einer Tonlage, die vermutlich höher lag als ihre normale Stimme: »Wir würden gern etwas trinken. Bitte zwei Gläser Weißwein und zwei Lager and Lime.« Der Wirt klappte vernehmlich seine Zeitung zu und hob den Kopf. »Sie sind von dem Haus da oben, stimmt's?« Sie trat näher an die Theke. »Was?« »Na, von dem Haus mit den Frauen, die ihren Männern abgehauen sind. Von da kommen Sie doch.« Eine der Älteren sagte wacker: »Das ist ja eine komische Formulierung. Na, und wenn schon, was ist dabei?« »Das werd' ich Ihnen sagen, was dabei ist. Ich bedien' Sie nicht, das ist dabei.«
42 Die Schwarzhaarige war ganz blaß geworden. Wexford glaubte ihre Hand auf dem Tresen zittern zu sehen. »Das können Sie nicht machen«, sagte sie. »Aus welchem Grund denn?« »Da brauch' ich keinen Grund. Fragen Sie jeden, ob ich nicht das Recht habe, mich zu weigern, wenn ich jemanden nicht bedienen will.« »Das hat er allerdings«, murmelte Bürden. Wexford nickte. Er bezweifelte, daß die Frauen sich auf eine Auseinandersetzung einlassen würden, und er behielt recht. Sie sagten nichts mehr, sondern wandten sich um und gingen auf den Ausgang zu. »Gehen Sie lieber auf die High Street, wo Sie niemand kennt«, rief ihnen der Wirt nach. »Da werden Sie bedient, bis man rauskriegt, wo Sie herkommen.« Die Schwarzhaarige drehte sich um und rief durchdringend: »Scheißkerl!« »Sehr charmant«, sagte Honeyman, als die Tür hinter ihnen zuschwang. »Haben die Herren das gehört? Sehr damenhaft, finden Sie nicht?« Wexford stand auf und trat an den Tresen, und nachdem er noch zwei Krüge Bier bestellt hatte, gab er sich als Polizeibeamter zu erkennen und zeigte seinen Dienstausweis. Honeyman sagte etwas zu eilfertig: »Ich war doch im Recht, oder? Ich brauche keinen Grund, wenn ich jemanden nicht bedienen will.« »Sie waren im Recht, aber Sie müssen doch einen Grund gehabt haben, und ich frage mich schon die ganze Zeit, welchen.« Der Wirt schenkte die zwei Bierkrüge nach. »Die gehen aufs Haus.«
»Nein, das tun sie nicht, trotzdem danke.« Wexford zog einen Fünfpfundschein hervor und legte ihn bedächtig hin. »Wir sind hier, um Sie nach dem vermißten Mädchen zu fragen, Rachel Holmes, aber erzählen Sie mir doch zuerst mal das mit den Frauen, ja?« »Die wohnen in einem Haus am Kingsbrook Valley Drive, 43
gleich da oben an der Ecke.« Honeymans ganze Haltung hatte sich verändert, war verbindlich und schmeichlerisch geworden. Sogar seine Stimme war anders, hatte den breiten südenglischen Zungenschlag abgelegt und einen etwas gespreizten Ton angenommen. »Geschlagene Frauen sind das, wenn Sie wissen, was ich meine. Behaupten sie jedenfalls. In Wirklichkeit haben ihre Männern ihnen höchstens ein bißchen auf die Finger geklopft, wenn sie aufmüpfig waren.« »Aha, verstehe. Und wieso sind Sie auf sie sauer?« »Das will ich Ihnen sagen. Vor paar Wochen waren zwei von denen hier, und da kommt so ein armer Kerl rein und greift sich die eine und bittet sie heimzukommen. Die hat ihn mit den Kindern sitzenlassen, also, ich bitte Sie. Natürlich spurt die nicht, kann man sich ja denken, oder? Hat sie wahrscheinlich noch nie. Also wehrt sie sich und stößt ihn weg, und er fängt an, sie zu vertrimmen, war ja praktisch dazu gezwungen, und wie sich die andere einmischt und ihn mit den Fäusten traktiert, mußte ich dazwischen gehen. Raus mit euch, hab' ich gesagt - hätten Sie doch auch, oder? -, alle miteinander, und laßt euch hier nicht wieder blicken. Eigentlich tat's mir leid, ihn auch rauszuschmeißen, er schien ein recht ordentlicher Kerl. Wissen Sie was? Na ja, natürlich wissen Sie's. Wenn früher die Leute geheiratet haben, mußte die Frau versprechen, daß sie ihm gehorcht. Ein Jammer, daß man das geändert hat, wenn Sie mich fragen.« »Ich glaube nicht, daß ich Sie gefragt habe, Mr. Honeyman«, sagte Wexford unverblümt. »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, Sie in irgendeiner Sache um Rat fragen zu wollen.« Er sah Honeyman blinzeln und unmerklich zusammenschrecken. »Aber Sie sollten sich einen guten Rat geben lassen: Nächstes Mal verständigen Sie uns, wenn ein recht ordentlicher Kerl in Ihrem Lokal eine Frau vertrimmt. Und jetzt möchten Sie mir vielleicht sagen, ob dieses Mädchen Ihres Wissens je hier war.« Honeymans Gesicht war tiefrot angelaufen. Er war vermutlich froh, etwas ansehen zu können, was ihn ablenkte. Er 43
starrte auf das Foto, das ihm Wexford hinhielt, und brummte dann: »Keine Ahnung, ich kann mich nicht erinnern.« Bürden, der ebenfalls an die Theke getreten war, sagte: »Soll das heißen, Sie haben sie hier Samstag abends nie mit ihren Freunden gesehen? Sieht gut aus, nicht wahr? Nicht gerade ein Gesicht, das man leicht vergißt.« »Kann sein, daß ich sie gesehen habe.« Die breite Aussprache und der schmollende Ton waren zurückgekehrt. »Vielleicht so vor zwei, drei Monaten. Sie war mit ein paar anderen Jugendlichen da - na ja, ich meine nicht direkt Jugendliche«, fügte er rasch hinzu, als ihm einfiel, was das Gesetz über den Ausschank von Alkohol an Minderjährige vorschrieb. »Die waren alle über achtzehn - und haben auch alle was Warmes gegessen.« »Aber diesen Samstag abend haben Sie sie nicht gesehen?« »Definitiv nicht.« Honeyman schüttelte den Kopf, um seiner Verneinung heftigen Ernst zu verleihen. »Sylvia arbeitet dort«, sagte Wexford, als er mit Bürden wieder draußen war und sie sich The Hide näherten. »Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das schon erzählt habe. Unter anderem macht sie Telefondienst beim Notruf. Haben Sie schon einmal eine Frau geschlagen?« »Selbstverständlich nicht«, erwiderte Bürden schockiert. »Was für eine Frage!« »Ach, ich weiß nicht. Ich auch nicht. Wußten Sie, was Barry letzthin zu mir sagte? >Alle Männer schlagen ihre Frauen irgendwann mal«, hat er gesagt. Ich war einigermaßen verblüfft.« »Mein Gott.« Bürden klang entsetzt. »Ich hoffe und vertraue doch darauf, daß wir keinen Frauenschläger im Team haben. Das wäre ja noch schöner, wo Hurt-Watch gerade in Gang gekommen ist. Übrigens, wie wollen wir die Piepser und Handys eigentlich verteilen? Daß häusliche Gewalt in allen Gesellschaftsschichten vorkommt, wissen wir ja, aber wie viele Verfahren wegen Gewalt gegen Ehefrauen und Freundinnen hat es in unserer Gegend denn gegeben? Herzlich wenige. Das heißt aber vermutlich nicht, daß die zwi 44
schengeschlechtlichen Beziehungen hier idyllischer verlaufen oder die Männer umgänglicher sind, sondern lediglich, daß die Frauen uns nicht angerufen und um Unterstützung gebeten haben.« »Wie finden wir also diejenigen, die in Gefahr sind? Wollen Sie das damit sagen? Vielleicht, indem wir die Leute konsultieren, die dieses Haus führen.« Draußen vor The Hide blieb Wexford stehen und sah zu den Fenstern hinauf, die im Erdgeschoß fast vollständig von den üppigen Lorbeergewächsen im Vorgarten verdeckt waren. Aus einem Fenster im obersten Stockwerk
musterte ihn ein weißes, von schwarzem Haar umrahmtes Gesicht, in dem er die Frau erkannte, die Andy Honeyman angeschrien hatte. »Wir müssen nach einer bestimmten Methode vorgehen. Wir können doch schlecht eine Anzeige in den Courier setzen und allen, die sich darauf melden, kostenlose Kommunikationssysteme anbieten. Wie Southby schon sagte, da würde wohl die gesamte weibliche Bevölkerung eins haben wollen.« Bürden interessierte sich offensichtlich wenig dafür. »Wo wir gerade von der weiblichen Bevölkerung sprechen«, fragte er, »was ist Ihnen vorhin eingefallen?« »Eingefallen?« »Sie sagten doch, Ihnen sei etwas eingefallen wegen Rachel, die auf Mrs. Strang wartete. Ich nehme an, Sie sind auf eine Lösung gekommen.« »Ach ja, richtig. Aber so weit würde ich nicht gehen. Ich habe mich nur gefragt, ob Rachel und Mrs. Strang sich überhaupt schon einmal begegnet sind. Ich meine, ob sie einander erkennen würden?« Bürden schien verwirrt. Er warf Wexford einen finsteren Blick zu und meinte, er ginge jetzt wohl besser nach Hause, seine Schwiegereltern seien zu Besuch da und er habe sich bereits entsetzlich verspätet. Wexford ging ebenfalls nach Hause. Burdens Bemerkungen ließen ihm keine Ruhe, während er sein Abendessen verzehrte und auch danach, als ein 45
Fernsehdokumentarfilm über die europäische Einheitswährung seine Aufmerksamkeit nicht zu fesseln vermochte. Operation Safeguard und das ergänzende Hurt-Watch-Projekt konnten nur funktionieren, wenn er und seine Mitarbeiter den Gesamtkomplex häusliche Gewalt gründlich untersuchten. Ein groteskes Bild entstand vor seinen Augen: fünfhundert Mobiltelefone und Funkrufempfänger, die alle in seinem Büro, womöglich gar auf seinem Schreibtisch landeten, und er hatte nicht die geringste Ahnung, welche Frauen nun berechtigt waren, eines zu bekommen, und welche einen Affront darin sähen, daß man ihnen etwas anbot, was im Grunde zur Verteidigung und zum Schutz gegen die Männer gedacht war, mit denen sie zusammenlebten. Und sobald diese Hürde überwunden war - wie sollte die Polizei auf einen Anruf von einem dieser Telefone aus reagieren? Zum Wohnsitz der Anruferin fahren und den Täter festnehmen. Ganz einfach. Bloß daß es meistens nicht so klar und unmißverständlich war. Sie würde sagen, sie wolle nicht, daß gegen ihn Anklage erhoben wurde, sie wolle nicht, daß er weggebracht wurde, er sei doch der Ernährer, er habe versprochen, es nie wieder zu tun, es täte ihm leid,
er schäme sich, sie hätte die Polizei nicht rufen sollen, sie sei bloß verängstigt und gekränkt gewesen und habe sich nicht mehr zu helfen gewußt, aber sie wolle doch die Familie nicht auseinanderreißen... Er mußte mit Sylvia darüber sprechen. Außerdem war da noch die Sache mit dem vermißten Mädchen, Rachel Holmes. Dora lag anscheinend recht viel an der langweiligen Fernsehsendung, also konnte er nicht abschalten. Da es abends noch bis nach acht hell blieb, ging er in den Garten hinaus, spazierte ein wenig herum und setzte sich schließlich auf dem gepflasterten Rondell, dem Mittelstück von Doras Rosengarten, auf einen der französischen Cafehausstühle, die Sheila ihnen zu Weihnachten geschenkt hatte. Die hocheleganten Dinger mit ihren blaßgrauen Metallschnörkeln, Windungen und Spiralen luden allerdings nicht gerade zum Verweilen ein. Über ihm wurde der Himmel zusehends blauer, 46 und ein rotgelber Fesselballon, der momentan wahrscheinlich Pomfret passierte, kam langsam in seine Richtung geschwebt, er konnte sehen, wie die Passagiere ihm zuwinkten. Oder jemand anderem. Wexford winkte zurück und fiel dabei fast von seinem bedrohlich schwankenden Stühlchen. Morgen war Dienstag, und am Nachmittag würde Rachel Holmes zurückkommen. Beide Mädchen hatten dieselbe Schule besucht, beide waren unter Zwanzig, beide waren -wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise attraktiv, jede war Kind einer geschiedenen Mutter, beide hatten auf den Bus gewartet, die eine auf der Rückkehr vom abendlichen Ausgehen mit Freundinnen, die andere in Erwartung eines solchen Abends. Beide waren an einem Samstag verschwunden, und zwar an aufeinanderfolgenden Samstagen. Trotzdem würde Bürden die Schlußfolgerung lächerlich finden. Wexford stellte sie jedesmal an, wenn ihm das Mädchen in den Sinn kam. Es hinderte ihn daran, sich um Rachel die Sorgen zu machen, die er sich eigentlich machen sollte. Hinderte es ihn aber auch daran, alle nur erdenklichen Schritte zu unternehmen und Maßnahmen zu ergreifen, um sie zu finden? Hätte er beispielsweise Rosemary Holmes ins Fernsehen bringen sollen? Hätte er in der Gegend zwischen Stowerton und Kingsmarkham eine Suchaktion einleiten sollen? Die Frage, die er sich vielleicht stellen sollte, lautete: Hätte er es getan, wenn Lizzie Cromwell nicht vor genau einer Woche als vermißt gemeldet worden und drei Tage und drei Nächte später wieder nach Hause gekommen wäre?
Als der Ballon über ihn hinwegschwebte, kam eine leichte Brise auf, die das junge Laub zauste und einen Schauer von Blütenblättern vom Birnbaum fallen ließ. Der hübsche Stuhl war dermaßen unbequem, daß man ihn für ein Folterinstrument hätte halten können. Zwölf Stunden unter grellem Licht darauf zu sitzen und die Fragen des Inquisitors zu beantworten ... Mein Gott, dachte er. Er stand auf und ging ins Haus, fest entschlossen, gleich morgen früh mit Caroline Strangs Mutter zu sprechen. 47
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Am Dienstag nachmittag um zwei begann die Suche. Es waren zehn uniformierte Beamte, einige davon als Verstärkung vom Kriminaldezernat in Myringham, sowie sechzehn Gemeindemitglieder, alles Nachbarn und Freunde der Holmes', die sich freiwillig gemeldet hatten. Rosemary Holmes wollte mitkommen, doch Wexford riet ihr davon ab. Obwohl nichts darauf hindeutete, war er immer noch überzeugt, daß Rachel im Lauf des Nachmittags auftauchen würde, und was er am Vormittag in Framhurst erfahren hatte, bestärkte ihn noch in dieser Überzeugung. Olga Strang war Rachel noch nie begegnet, hatte nicht einmal ein Foto von ihr zu Gesicht bekommen. Die beiden Mädchen hatten sich an der Universität kennengelernt und nicht, weil sie nur fünf Meilen voneinander entfernt wohnten oder die gleiche Schule besucht hatten. Für sie war Rachel eine Fremde und umgekehrt. »Wie hätten Sie denn wissen sollen, wer sie ist?« hatte Wexford gefragt. »Sie sollten sie im Auto mitnehmen, aber wie hätten Sie sie denn erkannt?« »Sie meinen, ob sie ein gelbes Band trug und ich eine große rote Rose? Nichts dergleichen. Ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht, ich war einfach dort und sie hätte auch dort sein sollen, war es aber nicht.« Mrs. Strang, eine schusselige Frau, die anscheinend nicht in der Lage war, sich länger als zwei Minuten zu konzentrieren, machte ganz den Eindruck, als ob alles in ihrer Umgebung und womöglich gar das Leben selbst sie zermürbte und ihr auf die Nerven ging. In dem Cottage, das sie mit ihrem Mann und drei Kindern bewohnte, herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander, Papiere und Kleider waren wild verstreut, auf 47 den Stühlen stapelten sich Zeitungen und Zeitschriften, benutzte Tassen und Gläser waren neben Vasen mit verwelkten Blumen abgestellt und dort vergessen worden, und ein eingeschaltetes Bügeleisen stand mit
rotglänzendem Lämpchen hochkant zwischen einem offen daliegenden Brotlaib und einem aufgerissenen Päckchen Entkalker. Sie selbst, im transparenten Morgenmantel über Bluse und Slip, hatte sich offenbar gerade ans Bügeln machen wollen, denn sie hielt ein zerknittertes rotes Stoffteil in der linken Hand, vermutlich einen Rock oder eine Hose. Ohne den Griff zu lockern, setzte sie sich auf die Tischkante, knüllte das rote Ding noch mehr zusammen und fuhr sich dabei mit der Rechten durch ihr wirr abstehendes, rotgoldenes Haar. »Ich will Sie gar nicht lang aufhalten«, sagte Wexford. »Ich sehe ja, daß Sie gleich zur Arbeit wollen.« Er konnte den Blick nicht von dem Bügeleisen losreißen, das sich ihren Musselinrüschen bedrohlich zu nähern schien, während sie nervös hin und her schaukelte. »Wußte Rachel denn, was für ein Auto Sie fahren? Und die Farbe?« »Ach, weiß ich doch nicht, das kann ich Ihnen nicht beantworten.« »Hatte Caroline sie Ihnen denn beschrieben?« »Da müssen Sie sie schon selbst fragen. Ich weiß es nicht mehr.« Plötzlich hellte sich ihre Miene auf, und sie lächelte. »Ich wußte, daß sie dunkle Haare hat. Ich hielt nach einem dunkelhaarigen Mädchen Ausschau. Und Caroline sagte auch, sie sehe sehr gut aus.« »Mrs. Strang, gleich versengen Sie sich Ihren - äh, Morgenmantel an dem Bügeleisen.« »Wirklich? Ach Gott! Danke. Caroline ist nicht da, die ist wieder im College, aber Sie können sie ja dort anrufen und sie fragen. Oder ich könnte. Ich muß jetzt den Rock bügeln, bitte entschuldigen Sie mich, ich bin schon spät dran...« Er hatte genug erfahren. Was die Frau betraf, die sie abholen sollte, so wußte Rachel von ihr nur, daß sie im mittleren Alter war und einen Wagen fuhr. Jemand war um acht aufge 48
kreuzt und hatte sie mitgenommen, und als Rachel fragte: »Mrs. Strang?« oder etwas Ähnliches, hatte diese Frau bejaht, war auf das Mißverständnis eingegangen und hatte es sich zunutze gemacht. War es die gleiche Frau, die auch Lizzie Cromwell angeboten hatte mitzufahren? Und hatte Lizzie, obwohl sie es geleugnet hatte, das Angebot angenommen? Auf diese verwegene Vermutung hin zu handeln wäre kriminell. Eine Suche mußte eingeleitet werden, und falls Rachel am darauffolgenden Tag immer noch nicht wieder aufgetaucht war, würde er Rosemary Holmes vor die Fernsehkameras stellen. Doch sie kam bestimmt nach Hause. Sie würde in der Oval Road einfach hereinspazieren. Nicht
verwirrt, auch nicht bis auf die Haut durchnäßt, sie würde einfach hereinspazieren und nach dem hysterischen Anfall ihrer Mutter schlicht fragen, was das ganze Getue solle. Oder sie tauchte an ihrer Universität auf, wo sie eine Menge Dinge würde erklären müssen. Wexford wandte sich seiner Post zu und griff als erstes nach dem Schreiben, das zuoberst auf seinem Schreibtisch lag. Wenn einen jemand in einem Brief mit Vornamen anredet und mit »Liebe Grüße« unterzeichnet, kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß es sich bei dem Schreiber um einen guten Freund handelt. Der vor Wexford liegende Ausdruck einer E-Mail begann zwar mit »Lieber Reg« und endete mit »Liebe Grüße Brian«, doch hätte er Brian St. George, den Chefredakteur des Kingsmarkham Courier, nicht in diese vertrauliche Kategorie eingeordnet. Schon der Anblick des Schreibens beunruhigte ihn. In seinen bisherigen Briefen hatte sich St. George jedenfalls weder konstruktiv gezeigt, noch hatte er die Polizeistrategie auf irgendeine Weise unterstützt. Er betrachtete das Blatt erst, ohne seine Lesebrille aufzusetzen, und sah einen Augenblick lang nur glasig-verschwommene Buchstaben tanzen. Doch da er wußte, daß es nichts half, setzte er nach kurzem Zögern die Brille auf, um St. Georges Brief zu lesen. 49 Lieber Reg, Es ist mir zur Kenntnis gelangt, daß Henry Thomas Orbe, der berüchtigte Pädophile, Ende dieser Woche aus der Haft entlassen werden soll. Seine Heimatadresse ist nach wie vor Muriel Campden Estate in Kingsmarkham, und aus zuverlässiger Quelle erfuhr ich, daß er beabsichtigt, in dieses Haus zurückzukehren, das gegenwärtig von seiner Tochter und deren Lebensgefährten bewohnt wird, wenn er am 17. April das Gefängnis verläßt, in dem er während der vergangenen neun Jahre eingesessen hat. Nun leben in Muriel Campden Estate zahlreiche Familien mit kleinen Kindern, für die Orbe zweifellos eine Bedrohung darstellt. Ich habe daher die Absicht, in der nächsten Ausgabe des Courier eine Titelgeschichte herauszubringen, um interessierte Kreise von Orbes Rückkehr zu unterrichten. Sie stimmen mir gewiß zu, daß dieser Orbe ein gefährlicher Mensch ist und kein Kind sicher, solange er frei herumläuft. Ihre Meinung dazu interessiert mich sehr. Falls die Polizei von Mid-Sussex mir eine Erklärung zu Orbes gegenwärtiger Situation und vielleicht zu den
generellen Vorkehrungen bei der Freilassung von Pädophilen zukommen lassen möchte, drucke ich sie mit Vergnügen ab. Mit den allerbesten Wünschen Liebe Grüße, Brian Wexford seufzte. Ihm war nicht nur schleierhaft, was St. George dazu bewog, ihn mit Vornamen anzureden und den Brief so vertraulich zu beenden, sondern auch ein Rätsel, weshalb diesem Menschen überhaupt daran lag. Bei ihrem letzten Treffen - im Zusammenhang mit der geplanten Umgehungsstaße von Kingsmarkham hatte es eine Geiselnahme gegeben - war Wexford dem Chefredakteur des Courier gegenüber entsetzlich (aber gerechtfertigterweise) unhöflich gewesen und hatte sich dafür eine Menge Scherereien eingehandelt. Die Antwort lag auf der Hand: St. George wollte etwas von ihm. Seine Zustimmung?
50 Er beschloß kurzerhand, nicht auf das Schreiben zu reagieren. Schließlich konnte er, selbst wenn er gewollt hätte, St. George und den Courier an ihrer Mission nicht hindern. Nur durch eine einstweilige gerichtliche Verfügung wären sie davon abzuhalten. Er versuchte, sich an Orbe zu erinnern, doch fiel ihm nur das Foto eines rattengesichtigen Mannes mit fliehendem Kinn und hoher Stirn ein, das er vor langer Zeit in der Zeitung gesehen hatte. Das wollte aber nicht viel heißen. Auf diesen vergrößerten Schnappschüssen sah jeder schrecklich aus. An Orbe als Mensch hatte er überhaupt keine Erinnerung. Allerdings war das Verbrechen damals nicht in der Kingsmarkhamer Gegend begangen worden, und er hatte ihn auch nicht persönlich verhaftet. Er überlegte gerade, ob er wohl in der Lage wäre, Orbes Lebenslauf oder Akte an seinem Computer aufzurufen und den hübschen blauen Bildschirm, über den Wolken schwammen und Vögel flogen, mit nützlichen Informationen zu füllen, als Barry Vine eintrat. »Wie geht es mit der Suche nach Rachel Holmes voran?« fragte Wexford. »Nichts Neues, Sir. Aber ich wollte Ihnen was anderes sagen. Sie wissen doch, daß es wieder einen Kleiderdiebstahl gegeben hat?« »Ach ja. In der First Gear Boutique.« »Also, wir haben jemanden für alle beide, für First Gear und die Designerin. Sie hatten recht mit der Annahme, die hätten sich mit einem Kind Zutritt verschafft. Eine Art Oliver Twist, sagt sie, wie Bürden mir erzählt hat. Ich weiß zwar nicht, wie alt Oliver Twist war - ich muß zugeben, ich kenne weder das Buch noch den Film -, aber dieses Kind ist vier.« Eine Weile sagte Wexford gar nichts. Orbes Gesicht, das Gesicht, an das er sich erinnerte, tauchte wie in einem Bilderrahmen wieder in seinem Kopf auf,
und er fragte sich, was eigentlich schlimmer war - ein kleines Kind sexuell zu mißbrauchen oder ihm das Einbrechen und Stehlen beizubringen. Selbstverständlich ersteres, da gab es gar keine Frage, und doch... 51
»Soll das heißen, dieser Schurke - wie heißt der überhaupt?« »Flay. Patrick Flay. Er wohnt in der Glebe Road.« »Dieser Patrick Flay hat einen vierjährigen Jungen durch das Oberlicht geschickt und ihn angewiesen, wie er die Tür aufmachen soll?« »Nicht ganz, Sir«, sagte Vine. »Ein Mädchen. Es war seine eigene Tochter, und während es beim erstenmal ein Oberlicht war, glaube ich, daß sie beim zweitenmal zum Katzentürchen hinein ist.« »Zum Katzentürchen}« »Ja, Sir. Das ist eine Art Klapptür an Angeln, die die Katze mit dem Kopf aufstößt, um »Ich weiß, was es ist.« Wexford schüttelte eher bekümmert als ungehalten den Kopf. »Bevor die Dinger erfunden wurden, hat man ein Loch in die Tür gemacht, und es heißt, Isaac Newton hätte für seine Katze ein Loch ausgeschnitten, und als sie Junge bekam, hätte er noch mal sechs Löcher ausgeschnitten.« Vine starrte ihn verblüfft an. »Muß der bescheuert gewesen sein.« »Na ja, eigentlich nicht. Einen Genieklub wie Mensa gab es zwar damals noch nicht, aber er war genauso intelligent wie Mr. Bürden. Er war ein großer Physiker, hat unter anderem die Schwerkraft entdeckt. Aber das ist es ja selbst sehr kluge Menschen können in mancher Beziehung dämlich sein. Die Geschichte glaube ich aber nicht recht. Die habe ich Ihnen nur erzählt, um zu zeigen, daß ich weiß, was ein Katzentürchen ist. Wo ist Flay jetzt? Unten?« »Er hat seinen Anwalt verständigt, der ist unterwegs.« »Ich hoffe doch sehr, daß Sie die Kleine nicht auch hergebracht haben?« Vine sah leicht beleidigt aus. »Ich habe sie bei ihrer Mutter gelassen, Sir. Ich habe mit ihr gesprochen »Im Beisein ihrer Mutter, hoffe ich?« »Natürlich. Die Mutter behauptet, sie wüßte von nichts, 51 aber die Kleine - sie heißt Kaylee, K-A-Y-L-zwei-E - erzählte mir, ihr Daddy hätte ihr Handschuhe verpaßt und gesagt, es sei kalt und sie sollte sie unbedingt anbehalten. Sie seien rausgegangen und hinten um das Haus herum, wo ihr Daddy das Türchen gezeigt hätte, das der >Miezekatze< gehörte, ich zitiere, und er hätte gesagt, sie darf niemandem verraten, was sie
da macht, und darum wollte sie es mir auch nicht verraten. Aber danach hätte sie von ihrem Daddy ein Dracula bekommen.« »Ein WA S ?« »Eine Art Eiscreme«, sagte Vine. Sie gingen zusammen nach unten. Unterwegs erkundigte sich Wexford, ob man die verschwundenen Textilien schon gefunden hätte, was Vine verneinen mußte. Flay, ein fünfundzwanzigjähriger Mann, der sein rötliches Haar in einer Rastafrisur trug, obwohl er weiß war und nur über spärlichen Haarwuchs verfügte, saß rauchend am Tisch im Vernehmungsraum und wartete auf das Eintreffen seines Anwalts. Constable Martin Dempsey saß mit dem Rücken zur Wand auf einem Stuhl neben der Tür, den gleichmütigen Blick auf die Tischbeine gerichtet. Vine schaltete das Aufnahmegerät ein und sagte: »Chief Inspector Wexford und Sergeant Vine haben um vier Uhr zweiundfünfzig den Raum betreten. Ebenfalls anwesend sind Constable Dempsey und Patrick John Flay.« »Bevor mein Anwalt nicht hier ist, sag' ich kein Wort«, meinte Flay. Wexford gab keine Antwort. Er saß kaum eine Minute, als Lynn Fancourt den Anwalt hereinführte. Den jungen Mann hatte Wexford zwar noch nie gesehen, wußte jedoch, daß es sich um James Beamish von Praetor, Beamish &. Green in der High Street in Kingsmarkham handelte. Vine stellte seine Ankunft fest und begann Flay zu befragen, dessen verdrossene Miene sich erwartungsfroh aufgehellt hatte, sobald sein Anwalt neben ihm saß. Sein Lächeln verwandelte sich in Gelächter, als Vine ihn nach seiner Tochter fragte. »Da liegen Sie schon mal falsch. Das ist gar nicht meine, die ist von mei 52
ner Frau. Ich bin sozusagen ihr Stiefdaddy. Die war schon auf der Welt, wie wir zusammengezogen sind.« »Sie scheinen ein gutes Verhältnis zu ihr zu haben «, sagte Wexford. »Was, zu Kaylee? Klar doch. Ich liebe Kinder.« »So sehr lieben Sie Kaylee, daß Sie ihr beibringen, in anderer Leute Häuser zu gehen und deren Eigentum zu stehlen?« »Ich weiß gar nicht, von was Sie reden«, sagte Flay mit einem breiten Grinsen. »Wenn Sie das glauben, was Ihnen ein vierjähriges Gör erzählt, praktisch ein Kleinkind, dann sind Sie bescheuert. Die hat vielleicht Phantasie, die Kaylee. Was die für Geschichten erzählt, sag' ich Ihnen! Andere Leute würden es Lügen nennen. Na ja, ich nicht, ich bin ja ein toleranter Mensch, aber ein anderer würde dem Gör eine scheuern, wenn es so'n Quatsch verzapft wie Kaylee.«
»Sie haben sie also keine Handschuhe anziehen lassen und sie durch ein Oberlicht in die Garderobe des Hauses gesteckt und dann durch ein Katzen türchen in den Keller des Hauses?« Wexford war sich im klaren darüber, wie lächerlich das alles klang. Ein Außenstehender hätte die Erheiterung fast für gerechtfertigt gehalten, mit der Flay nun den Anwalt ansah und grinsend den Kopf schüttelte. »Sie haben ihr nicht beigebracht, das Fenster zu öffnen und das gestohlene Gut nach draußen zu schaffen?« »Ach woher denn. Sie machen wohl Witze!« »Kaylee wurde also nicht beigebracht, ins Haus einzusteigen und das Eigentum des Besitzers zu entwenden?« Beamish hob träge den Blick. »Mein Mandant hat Ihre Frage bereits verneint, Mr. Wexford.« Wexford überlegte, wie er seine Fragen anders formulieren könnte, als Lynn Fancourt ihm eine Nachricht hereinbrachte. Er warf nicht einmal einen Blick darauf, so sicher war er sich, daß es die Mitteilung von Rachel Holmes' Rückkehr war, sprach jedoch ins Aufnahmegerät, er werde den Raum nun verlassen, Lynn übernehme für ihn. Draußen entfaltete er den Zettel. Kein Wort über Rachel, sondern eine Nachricht 53
vom zukünftigen stellvertretenden Chief Constable, in der er gebeten wurde, ihn dringend anzurufen. Es war natürlich auch noch etwas früh für Rachels Rückkehr. Falls sie zur gleichen Zeit zurückkam wie Lizzie Cromwell damals, wäre sie nicht vor sechs in Stowerton. Von seinem Büro aus rief er sofort Southby an. »Orbe«, sagte die Stimme, die ihre abgehackten Sätze immer herausbellte. »Henry Thomas Orbe. Sagt Ihnen das was?« Wäre er auf dem laufenden gewesen, wenn St. George ihm nicht den Brief geschrieben hätte? Wexford hätte nie gedacht, daß er einmal Grund haben würde, dem Chefredakteur des Kingsmarkham Courier dankbar zu sein. »Ein Kinderschänder, Sir«, sagte er wie aus der Pistole geschossen. »Er hat neun Jahre gesessen und wird nächsten Freitag entlassen.« »Richtig.« Southby klang etwas enttäuscht. »Ich dachte mir nur, Sie sollten wissen, daß das hiesige Käseblatt eine von diesen »Geschichten im Interesse der Öffentlichkeit- herausbringen will. Am Freitag. Ich gehe davon aus, daß es ohne Zwischenfälle vonstatten geht.« Southby hatte also ebenfalls einen Brief von St. George bekommen. Ich möchte wissen, ob der mit Lieber Malcolm angefangen hat, dachte Wexford. Er
schaltete den Computer ein, und nach einigen falschen Operationen, die ziemlich beängstigende Ermahnungen auf dem Bildschirm zur Folge hatten, gelang ihm der Zugriff - verhaßte Computersprache, aber nichtsdestotrotz eine Quelle des Stolzes, wenn man den richtigen Begriff erwischt hatte - auf Henry Thomas Orbe. »Geboren am 20. Februar 1928«, las er, »in South Woodford, London El8, als dritter Sohn von George und Annie Orbe aus Churchfields, South Woodford. Besuch der Grafschaftsoberschule Buckhurst Hill bis zum Alter von sechzehn Jahren. 1949 und erneut 1952 wegen schwerer Unzucht zu einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten für das erste und achtzehn Monaten für das zweite Vergehen verurteilt. 1958 wegen schwerer Unzucht mit einem Minderjährigen zu einer achtjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.« 54 Von der eintönigen Wiederholung fast ebenso angewidert wie von der Erbärmlichkeit der Delikte, drückte Wexford nun die Bild-ab-Taste und stellte erneut fest, daß es funktionierte. Die Taste führte den Befehl tatsächlich wie angekündigt aus, was seiner Erfahrung nach bei Computeroperationen durchaus nicht immer der Fall war. Diesmal jedoch tat das Gerät, was er wollte, und auf dem Bildschirm erschien die letzte Seite von Orbes jämmerlichem Sündenregister. Wexford schnappte nach Luft. Vor neun Jahren war der Mann wegen Totschlags ins Gefängnis gekommen, nachdem er für seine Beteiligung an der Vergewaltigung eines zwölfjährigen Jungen mit Todesfolge ursprünglich sogar zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden war. Außer ihm waren noch zwei Männer beteiligt gewesen, von denen der eine das gleiche Strafmaß wie Orbe erhalten hatte, der andere acht Jahre. In der Akte war weder die Rede von Orbes Ehe oder Ehen noch von einer Tochter. Wexford stellte fest, daß er inzwischen ein alter Mann von über siebzig sein mußte. Ob er für Kinder noch eine Gefahr darstellte? Man müßte den Mann wohl kennen und sich viel besser mit Pädophilie auskennen als er, um diese Frage beantworten zu können. Eins stand jedoch fest: Irgend etwas stimmte nicht mit einer Gesellschaft, die so ein Monster, selbst ein mattes, gealtertes, gebrochenes Monster in eine Gemeinde entließ, in der der Anteil der kleinen Kinder größer war als irgendwo sonst in der Umgebung. Um neun wußte er, daß er sich geirrt hatte und daß Rachel Holmes' Verschwinden nicht nach dem Muster von Lizzie Cromwell ablaufen würde. Gewissensbisse plagten ihn, als wäre er schuld daran, daß sie nicht zurückgekommen war. Er war froh, von seiner Hoffnung und Überzeugung zu niemandem außer zu Bürden etwas gesagt zu haben. Auf diese Weise
würde es unter ihnen bleiben. Er versuchte, es dadurch wettzumachen, daß er vorschlug, die Suche auch nach Einbruch der Dunkelheit fortzusetzen, mußte dann aber einsehen, daß 55
es unmöglich war, weil die Nacht finster und mondlos war und es heftig regnete. Vine, den er kurz vor dem Schlafengehen noch anrief, sagte ihm, er habe Patrick Flay laufenlassen müssen. Mangels ausreichender Beweise für eine Anklageerhebung war er verpflichtet, den immer noch lachenden Mann in Begleitung seines Anwalts gehen zu lassen. Wexford blieb eine Weile am Fenster neben dem Treppenaufgang stehen und sah in die Nacht hinaus. Er hatte die Angewohnheit, so hinauszustarren, wenn alles still und ruhig war, und hatte amüsiert festgestellt, daß Sylvia das ebenfalls tat. Vielleicht war das Gen der meditativen Himmelsbetrachtung erblich. Der Regen fiel unablässig wie lange silberne Nadeln in der Dunkelheit. Da fielen ihm König Lears Worte wieder ein, mit denen dieser sich dafür tadelt, dem Schicksal der Obdach- und Mittellosen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben - ihr armen Nackten, die ihr des tückischen Wetters Schläge duldet -, den Frauen, die sich hilfesuchend an Sylvia wandten, den zu Opfern gemachten Kindern wie Kaylee Flay und dem vermißten Mädchen. Aber das lag inzwischen wahrscheinlich schon tot in einem Wassergraben. Wenn es nach Sergeant Vine gegangen wäre - der im Gegensatz zu Sylvia Fairfax da nicht differenzierte -, hätten Leute wie die Flays überhaupt keine Kinder kriegen dürfen, und falls sie sie unter Umgehung des Gesetzes doch bekamen, hätten sie sie nicht aufziehen dürfen. Wozu gab es eigentlich ein staatliches Fürsorgesystem, wenn nicht, um Kinder vor Typen wie Patrick Flay zu schützen? Wozu gab es Pflegestellen und Adoptionsmöglichkeiten, wenn diese Verfahren nicht besser angewendet wurden? Als er in der Erdgeschoßwohnung in der Glebe Road ankam, die untere Hälfte eines schäbigen, heruntergekommenen Hauses, traf er Patrick Flay und Kaylees Mutter zu Hause an. Das kleine Mädchen wurde, als er mit ihr zu reden anfing, auf dem fleckigen, durchgesessenen Sofa zwischen die beiden geklemmt und hatte keine Möglichkeit zu entkommen. Die 55
Kleine war ein Mischlingskind; ihre Mutter war so hellhäutig, sommersprossig und rothaarig wie Patrick, Kaylee dagegen hatte einen dunkelbraunen Lockenkopf, dunkelbraune Augen und leicht olivfarbene Haut. Unter dem linken Auge war ein dunkler Fleck zu sehen, eine Prellung,
die letztesmal nicht dagewesen war, und Vine war sich so sicher, als hätte er den Schlag selbst niedergehen sehen, daß einer von diesen beiden sie ins Gesicht geschlagen hatte. Jackie Flay vielleicht, aber vermutlich eher Patrick, und Vine wußte auch, weshalb ihr dieser Schlag verabreicht worden war. Ein erstickendes Gefühl der Ohnmacht und Frustration hinderte ihn fast am Sprechen, und am schlimmsten, wie er Wexford später sagte, war das Bewußtsein, nichts dagegen tun zu können. »Sie können das Jugendamt verständigen«, sagte Wexford. »Es gäbe doch triftige Gründe, den Flays damit zu drohen, daß das Kind in Pflege gegeben wird. Also, was ist passiert?« »Kaylee sagte mir, es sei nichts passiert. Sie ist ein intelligentes Kind, wissen Sie. Ich meine, wirklich ein helles Köpfchen. Sie behauptet einfach, es sei alles gar nicht wahr, sie hätte es sich ausgedacht. Mit anderen Worten, genau was Flay sagte. Und dann hatte der den Nerv, zu ihr zu sagen: >Du weißt ja, was dir passiert, wenn du lügst, Kaylee!< Dabei grinste er wieder auf diese eklige Art.« »Und die Mutter?« »Die saß einfach da und hatte Schiß. Sie verstehen schon. Die sah aus, als würde sie alles sagen und tun, bloß um Flay nicht zu reizen. Wahrscheinlich hat sie die Kleine noch festgehalten, während Flay sie verhauen hat. Ich kann ihn direkt hören: >Du sagst, du warst es nicht, du warst nie da drinnen verstanden? Sonst fängst du gleich noch eine!<« Wexford schüttelte den Kopf. »Jackie Flay wird vielleicht genauso gequält. Und das Schlimmste daran ist, daß Flay das Kind wahrscheinlich wieder dazu bringen wird. Er gewöhnt sie dran, und bald denkt sie gar nicht mehr daran, die Wahrheit zu sagen - die arme kleine Olivia Twist.« 56
Vines düstere Miene hellte sich ein wenig auf. »Wie ging die Geschichte eigentlich aus, Sir? Mit diesem Oliver Twist?« »Er wurde von einem feinen alten Herrn gerettet, der sich durch einen erstaunlichen Zufall als sein eigener Großvater entpuppte.« »Das wird Kaylee nicht passieren.« »Wohl kaum, obwohl sie vermutlich genausowenig weiß, wer ihre Großväter sind, wie Oliver damals.« Vine ließ sich dies durch den Kopf gehen, schürzte die Lippen und nickte. »Wie kommt eine Frau eigentlich dazu, diesen Flay zu heiraten? Wenn sie überhaupt verheiratet sind. Wie kommt eine Frau dazu, sich mit dem zusammenzutun? Will sie sich schikanieren lassen und ihr Kind noch dazu?«
»Sie begeben sich auf gefährliches Terrain, Barry, wenn Sie fragen, wieso die Leute einander heiraten. Es ist ein Rätsel. Aber ich bezweifle, daß viele Leute sich absichtlich schikanieren lassen, außer es sind Masochisten, und davon gibt's nicht viele. Es ist doch so: Die Menschen wollen als Paar leben, oder wie es heutzutage heißt, -in einer Beziehung-. Und die meisten würden lieber eine schlechte Beziehung haben als gar keine. So ist das nun mal. Übrigens - das war doch nicht ernst gemeint, als Sie sagten, Sie hätten Ihre Frau geschlagen, oder?« »Ich? Ach so. Doch, aber nur das eine Mal. Sie hat mich gehauen, und da hab' ich zurückgehauen. Mehr war da nicht.« Wexford hatte fast den ganzen Vormittag in der Oval Road verbracht, wo Rosemary Holmes, die Lizzie Cromwells Geschichte kannte, vielleicht ebenfalls damit gerechnet hatte, ihre Tochter würde am Abend des Vortages zurückkommen. Doch Rachel war nicht nach Hause gekommen, und Rosemary war verzweifelt, ging unruhig im Zimmer auf und ab und warf sich plötzlich in einen Sessel, wo sie in heftige Tränen ausbrach. Wexford fragte sich, wieso um alles in der Welt er geglaubt hatte, dieser Vermißtenfall würde gut ausgehen, nur weil der von Lizzie ein gutes Ende genommen hatte. Zum 57
Glück hatte er seine lächerliche Ahnung nicht die Suche beeinträchtigen und die Ermittlungen ernstlich behindern lassen. Gleich nach Tagesanbruch hatte der Suchtrupp wieder angefangen, die vom Regen durchnäßten Felder zu durchkämmen. Sie waren zwar froh über den Schutz im stillen Schatten des Waldes, doch solange nicht mehr als ein leichter Nieselregen niederging, drängten sie weiter. Karen Malahyde und Lynn Fancourt hatten die Nachforschungen über Rachels unmittelbaren Freundeskreis hinaus ausgedehnt und auch mit ehemaligen Schulkameraden gesprochen. Eben waren sie beim Vater des Mädchens, Rosemarys geschiedenem Ehemann, und erfuhren, daß er seine Tochter seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte. Michael Devonshire, der Allgemeinarzt in Flagford, war mit Rosemary nicht nur essen gegangen, sondern gab auch bereitwillig zu, daß er fast die ganze Nacht mit ihr verbracht und das Haus am nächsten Morgen um fünf verlassen hatte. Inzwischen wurde Rachel seit vier Nächten und fast vier Tagen vermißt. Beklommen setzte Wexford für fünf Uhr nachmittag eine Pressekonferenz an sein Widerwille resultierte aus der Gewißheit, daß Brian St. George zugegen sein würde -, und bei dieser Gelegenheit würde Rosemary Holmes in einem Aufruf um Rachels Rückkehr bitten. Zunächst schreckte sie davor zurück,
weigerte sich sogar kategorisch. Sie habe sich zuwenig in der Gewalt, sagte sie zu Wexford, sie würde alles verderben. »Das macht doch nichts«, erwiderte er sanft. »Ich möchte jetzt nicht zynisch klingen, aber je mehr Gefühl Sie zeigen und je... nun ja, je aufgeregter Sie wirken, desto größer könnte der Erfolg sein.« »Aber das ist den Zuschauern doch egal. Die wollen einfach nur glotzen.« »Da wäre ich mir nicht so sicher, Mrs. Holmes. Es gibt eine Menge Leute, die echtes Mitgefühl mit Ihnen haben.« Und ihre Reize werden wohl ebenfalls ihre Wirkung aus 58
üben, dachte er, sagte es aber nicht laut, ihr hübsches, jugendliches Gesicht und ihre angenehme Stimme, von ihrer Figur und ihren Beinen ganz zu schweigen. Wir leben in einer Welt, in der man mit gutem Aussehen alles erreicht, in der Jugendlichkeit hoch im Kurs steht. Die Journalisten würden bessere und längere Geschichten schreiben, weil diese Frau schön war und eine Stimme wie eine Shakespeare-Schauspielerin hatte. Die Fotografen würden sich mehr Mühe geben, und die Fernsehkameras wären einsatzfreudiger. Ob das alles Rachel zurückbrachte? Das konnte ihm niemand sagen. Um halb fünf wurde Rosemary Holmes mit dem Wagen abgeholt. Wexford stellte anerkennend fest, daß sie sich für den Anlaß trotz ihrer schrecklichen Aufregung sorgfältig gekleidet hatte und ein schwarzes Kostüm mit pinkweiß-gemusterter Bluse trug. Sie hatte sich für die Kameras sogar geschminkt. Ihr Haar war frisch gewaschen, und die Nägel hatte sie perlrosa lackiert. St. Georges Reporter glotzte sie an, als hätte er noch nie im Leben eine gutaussehende Frau gesehen. Die Kameras rückten näher, noch bevor sie ihren Platz am Tisch zwischen Wexford und Bürden eingenommen hatte. »Sehen Sie mal hier herüber, Rosemary!« »Drehen Sie den Klopf bloß ein kleines Stückchen, Rosemary!« »Danke, großartig. Nur eins noch, Rosemary, dann bin ich fertig.« Wieso konnten sie sie eigentlich nicht Mrs. Holmes nennen, dachte Wexford zähneknirschend. Dachten sie, wenn sie sie mit Vornamen ansprachen, würde das ihre Angst verringern, sie entspannen, sie glücklicher machen? Eine Unverschämtheit war das. Er lauschte, während sie mit ihrer vollen, wohltönenden Stimme, die Augen niedergeschlagen, ihren Appell an die Öffentlichkeit richtete. »Wenn Sie meine - meine geliebte Tochter festhalten, lassen Sie sie bitte gehen, lassen Sie sie wieder zu mir. Bitte, haben Sie doch Mitleid mit uns, sie ist alles, was
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ich habe, und ich - ich bin alles, was sie hat. Bitte. Sie ist ein so schönes, liebes, kluges Mädchen, sie hat in ihrem kurzen Leben keinem etwas getan. Bitte, lassen Sie sie zu mir zurück An dieser Stelle versagte Rosemary Holmes die Stimme, und sie brach in Schluchzen aus. Ihr Hals bebte, ihre hübschen Hände flogen an ihr Gesicht und vor ihre weinenden Augen. Wexford half ihr aufzustehen und brachte sie hinaus. Er schickte nach Tee und ließ sie in der Obhut von Lynn Fancourt in seinem Büro zurück. Obwohl Bürden den Rest der Pressekonferenz leiten würde und er selbst dabei eigentlich nicht gebraucht wurde, ging er wieder hinunter und kam gerade noch rechtzeitig, um zu hören, wie jemand - nicht der Reporter des Courier - in schneidendem Tonfall fragte, ob es stimmte, daß Henry Thomas Orbe am nächsten Tag entlassen wurde und nach Hause in die Oberon Road zurückkehrte. »Es werden nur Fragen beantwortet, die im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Rachel Holmes stehen«, erwiderte Bürden barsch. Der Reporter ließ sich nicht beirren. »Kommt er morgen früh raus?« »Nein«, sagte Bürden vollkommen wahrheitsgetreu. Orbes Entlassung war nicht für Donnerstag, sondern für Freitag angesetzt. »Damit ist die Pressekonferenz beendet. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.« Wexford ging nach oben. Wie fühlte man sich eigentlich als Pädophiler? Wenn man Sex mit kleinen Kindern wollte? Etwas in ihm sagte ihm, wenn man es sich vorstellen konnte, so wie man es sich vorstellen konnte, Sadist oder Leichenschänder zu sein, wenn man es sich wirklich bildlich ausmalen konnte, dann würde man es verstehen. Alles verstehen heißt alles verzeihen sollte man eigentlich abändern in Sich vorstellen können heißt verstehen und das mit dem Verzeihen streichen. Im Vaterunser, das er seit vierzig Jahren weder in der Kirche noch sonstwo gesprochen hatte, gab es diese Stelle: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. 59
Unseren Schuldigern, nicht denen, die sich gegen andere versündigen. Er konnte die Vergehen gegen andere nicht vergeben, und Gott, falls es ihn gab, sollte es auch nicht tun. Religiöse Menschen würden so etwas vielleicht Gotteslästerung nennen. In seinem Büro spielte er mit dem Gedanken, nach Hause zu gehen, und steckte schon ein paar Papiere in die teure Ledermappe - ebenfalls ein Geschenk von Sheila. Ließ sie ihn und Dora solche Sachen eigentlich je selber kaufen? -, Schreibarbeiten, die er zu Haus erledigen konnte, nolens Velens. Das
Telefon klingelte, aber er wagte nicht einmal daran zu denken, nicht abzuheben. Eine Stimme, die er nicht kannte, weil es immer andere waren, sagte: »Ich habe hier eine Mrs. Holmes für Sie am Apparat, Sir.« Und dann die schöne Stimme, die er erst vor einer knappen halben Stunde gehört hatte, als sie um die Rückkehr ihrer Tochter gefleht hatte: »Rachel ist hier. Sie war zu Hause, als ich zurückkam. Ich bin ja so glücklich, ich kann es immer noch nicht glauben, aber es ist wahr, sie ist wieder da.« 60
5 Sie hatte sich zwar um vierundzwanzig Stunden verspätet, doch sie war zurückgekommen. Wexford empfand ein merkwürdiges Gefühl der Genugtuung, weil er recht gehabt hatte, insbesondere weil sie ganz offensichtlich unversehrt war, ein schönes Mädchen, groß und schlank, mit makelloser Haut und dunklem, glänzendem Haar. Allerdings war ihr deutlich anzumerken, daß sie alles andere als erfreut über seine und Karen Malahydes Anwesenheit war. Sie hätte gut auf sie verzichten können. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dachte Wexford, wäre die Polizei nie über ihre Rückkehr informiert worden. Er konnte fast ihre Gedanken lesen, konnte sich vorstellen, daß sie gedacht hatte, jetzt gehe ich einfach ganz still und leise wieder nach Essex, dann kann Mum es ihnen sagen, wenn ich weg bin. Es geht sie nichts an, es ist meine Sache. Zur Begrüßung hatte sie ihnen laut und verdrossen eröffnet, sie habe schlimme Kopfschmerzen. »Dann sollten Sie zum Arzt gehen«, sagte Wexford. »Das sollten Sie sowieso.« Rachel war feuerrot angelaufen. »Ich brauche keinen Arzt. Ich habe bloß Kopfschmerzen. Mir hat niemand etwas getan.« Was sie damit sagen wollte, war klar. Doch sie erklärte es trotzdem, den Blick auf Karen Malahyde geheftet. »Das ist bloß, weil ich eine Frau bin. Bei einer Frau wird immer angenommen, daß sie vergewaltigt worden ist. Na schön, bin ich aber nicht. Das wüßte ich nämlich.« Die Bemerkung fand Wexford recht seltsam. Wie hätte sie es denn nicht wissen können? Wie könnte überhaupt jemand es »nicht wissen«? »Hat man Sie in irgendeiner Weise körperlich angegriffen?« 60
»Nein. In gar keiner Weise.« Den verächtlichen Ton in ihrer Stimme bildete er sich nicht ein. Sie gehörte zu diesen cleveren Mädchen, denen von klein auf eine hohe Meinung von sich
selbst anerzogen worden war und deren Selbstvertrauen sich in jungen Jahren in Verachtung für all diejenigen zeigt, die sie, was die Intelligenz betrifft, unter sich ansiedeln. Polizeibeamte gehören in diese Kategorie, dachte er mit verstohlener Belustigung. »Ich dachte an eine Blutuntersuchung. Hat man Ihnen was zum Einnehmen gegeben?« »Keine Ahnung«, gab sie heftig zurück. »Ich weiß nicht, was man mir gegeben hat, ich kann mich nicht mehr erinnern. Aber eine Blutuntersuchung mache ich nicht. Und wenn Sie jetzt an Aids denken, ich habe doch gesagt, ich bin nicht vergewaltigt worden.« Daran hatte er gar nicht gedacht. »Ich hätte gern, daß Sie ein Arzt untersucht.« »Das will ich nicht, und das mach' ich nicht.« Schroff sagte sie: »Ich geh' nicht zum Arzt, und ich laß' auch keinen Arzt an mich ran. Ich hasse Ärzte. Die können mir gestohlen bleiben. Wenn ich was brauche, geh' ich zu einem Heilpraktiker. Chinesische Medizin oder Kräuterheilkunde.« »In dieser Situation würde ein Kräuterheilkundler wohl kaum etwas ausrichten können«, meinte Wexford trocken. Er dachte an Rosemary Holmes' Freundschaft mit ihrem Arzt. War das der Grund für Rachels Abneigung gegen die Schulmedizin? Schon möglich. »Wenn Sie so strikt gegen einen Arztbesuch sind, kann ich Sie nicht dazu zwingen. Aber jetzt erzählen Sie uns vielleicht, wo Sie gewesen sind.« Es war ein wunderbares Geländer aus tiefrotem Mahagoniholz, wie gemacht zum Herunterrutschen. Im Lauf eines Jahrhunderts war es von zahllosen Händen - viele davon behandschuht - blank gerieben worden, in den Anfangsjahren der Treppe auch von einem halben Dutzend Dienstmädchen. Das Geländer schwang sich als ununterbrochener Holzfluß sanft 61
vom obersten Stockwerk bis zum Keller, ohne Unterbrechung, doch mit unterschiedlicher Neigung, denn während es an den langen Hauptstücken der Treppe in einem Winkel von fünfundvierzig Grad abfiel, verlief es an den Biegungen ein kurzes Stück beinahe senkrecht und lief an den Treppenabsätzen waagrecht aus. Am zweiten Treppenabsatz mußte Sylvia, die mühsam nach oben kam, rückwärts ausweichen, als ihr der ausgestreckte Fuß eines etwa sechsjährigen Kindes entgegen gesaust kam, das sich mit beiden Händen am Geländer festhielt und aus Leibeskräften kreischte. Sylvia hatte schon oft gedacht, daß Gekreische offenbar eine natürliche Begleiterscheinung war, wenn die unter Siebenjährigen sich vergnügten. Der Schwung reichte aber anscheinend nicht ganz aus, um den Kleinen über die Waagrechte am
Treppenabsatz bis zum nächsten abschüssigen Stück zu tragen, denn er winkte Sylvia zu und schrie: »Schubsen Sie mich mal an, Miss!« So redeten die Kinder in The Hide sie und Lucy und Griselda normalerweise an, wie Lehrerinnen. Entschlossen, ihn nicht zu tadeln, aber doch einen Unfall befürchtend, streckte sie die Hand aus und versetzte ihm einen leichten Schub in den Rücken. »Fester«, sagte er. »Los.« Sylvia schob ein klein wenig stärker, und der kleine Junge rutschte die Gerade entlang und sauste laut kreischend auf das nächste abschüssige Stück hinab. Sie sah ihm zu, wie er die Biegung erreichte und das gefährlichere Stück, den senkrechten Geländerabschnitt, sicher passierte, dann ging sie die letzte Treppe hoch. Lucy saß im Notrufzimmer, die Telefone standen still. »Ich bin doch nicht allein heute, oder?« »Ich fürchte, ja«, sagte Lucy. »Jill hat Grippe, und Davina macht nicht mehr mit. Sie sagt, einen unbezahlten Job kann sie sich nicht leisten, das verstehe ich auch.« »Und was mache ich?« fragte Sylvia, »wenn beide Telefone gleichzeitig klingeln?« 62
»Das kommt Gott sei Dank selten vor, wir sind ja nicht in der Großstadt. Und wenn, dann läßt du die eine eben warten. Du mußt selbst beurteilen, welche.« »Und wenn sie ihre Handys bekommen, kriegen wir noch mehr Anrufe, was? Obwohl wir uns darüber wohl nicht beklagen sollten.« Lucy lachte. »Stimmt, aber ich weiß, was du meinst. Ich überlaß dir jetzt das Feld.« Als sie weg war, blieb Sylvia am Fenster stehen und sah in den Garten hinunter und in das Nachbargrundstück und in die, die dahinterlagen, all die großen, buschbestandenen, üppig mit Bäumen bepflanzten Gärten, die durch Stein- oder Ziegelmauern, Zäune mit Kletterpflanzen oder Zypressenoder Eibenhecken voneinander getrennt waren. Bis auf diesen waren all die grünen Gärten menschenleer, nur ein Mann war irgendwo beim Rasenmähen. Das Brummen der Maschine, mit der ihr Besitzer den regenfreien Tag ausnützte, war kaum zu vernehmen. Im Garten von The Hide turnten zwei von ihren Müttern beaufsichtigte Kleinkinder auf dem Klettergerüst herum, während die größeren Kinder die Schaukel okkupierten. Sie sah den Geländerrutscher in den Garten kommen, in der Hand einen rot-weiß-blauen Fußball. Er ließ ihn ins Gras fallen und kickte ihn so kräftig gegen den Stamm eines blühenden Kirschbaums, daß ein Schauer von Blütenblättern herunterrieselte.
Offensichtlich behagte ihm die rosarote Dusche, denn er versetzte dem Baum noch einen, diesmal etwas heftigeren Tritt, und als die erwünschte Wirkung eintrat, stieß er sein berühmtes Kreischen aus. Sie wandte sich wieder ins Zimmer um. Zwei Wände waren von Zeitungsausschnitten über Fälle von häuslicher Gewalt bedeckt. Große, schwarze Buchstaben, große, krasse Fotos, eine Frau mit eingefallenem Gesicht und blauem Auge, eine andere mit aufgesprungener Lippe, ein bekannter schwarzer Boxer, der beim Lächeln sein strahlendes Gebiß zeigte, ein ebenso berühmter weißer Fußballer mit seiner berüchtigten finsteren Miene. Ersterer hatte seine Freundin für den Rest 63
ihres Lebens in den Rollstuhl befördert, letzterer seine Frau aus Versehen mit Fausthieben gegen den Kopf getötet. An der Wand über dem Tisch mit den Telefonen hingen ein Kalender und ein großes Pappschild, auf dem die vier Frauenhäuser in der Gegend detailliert dargestellt und die verfügbaren Räumlichkeiten eingetragen waren. Augenblicklich war die Lage so, daß im Haus in Kingsmarkham überhaupt kein Platz war und in Myringham auch nicht, doch das kleinere Haus in Sewingbury hatte noch ein Zimmer frei, und das abgelegenste, eine ehemalige Pension außerhalb von Lewes, hatte zwei. Sylvia hatte die Fälle an der Wand schon mehrmals durchgelesen und brachte sich jetzt für die Zeiten, in denen nichts zu tun war, immer ein Buch mit. Als das Telefon nach einer Viertelstunde klingelte, schreckte sie auf. Sie nahm den Hörer ab. »The Hide. Was kann ich für Sie tun?« Eine kultivierte, sanfte, schüchterne Frauenstimme sagte: »Ich bin aber keine von diesen mißhandelten Frauen, wissen Sie.« »Gut«, sagte Sylvia freundlich. »Möchten Sie mir vielleicht sagen, was für ein Problem Sie haben? Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich habe jede Menge Zeit. Was Sie sagen, wird absolut vertraulich behandelt.« Sie hörte heftiges Einatmen und Ausatmen, bevor die Frau wieder etwas sagte. »Ich wüßte gern, ob Sie mir vielleicht einen Psychiater empfehlen können.« Sylvia stutzte. »Hier ist der Notruf von The Hide. Sind Sie sicher, daß Sie die richtige Nummer gewählt haben?« »O ja«, sagte die Frau. »Ich weiß, wer Sie sind, und hätte gern, daß Sie mir einen Psychiater empfehlen. Mein Mann sagt, er hört auf, mich zu schlagen, wenn ich mich von einem guten Psychiater behandeln lasse.«
»Vieles weiß ich einfach nicht mehr«, sagte Rachel Holmes. »Das müssen Sie eben einfach akzeptieren. Ich habe so eine Art Gedächtnisausfall. Das ist wahrscheinlich der Schock.« 64
»Na, dann mal los mit den Dingen, die Sie noch wissen«, sagte Karen Malahyde trocken. Wenn dieses Mädchen unverschämt sein und sie fertigmachen wollte, konnte sie ebenfalls ätzend werden. »Fangen Sie noch mal ganz am Anfang an, okay? Am Samstag abend um acht. Um acht sollten Sie doch von Mrs. Strang abgeholt werden?« »Das wissen Sie doch alles«, sagte das Mädchen. »Sie wollen doch nicht etwa, daß ich das alles wiederhole, oder? Ich war früh dran. Als der Freund meiner Mutter anrief, dachte ich mir, ich mach' mich besser aus dem Staub.« Die letzte Bemerkung wurde von einem verstimmten Blick in Richtung ihrer Mutter begleitet. »Nachdem ich nicht so oft nach Hause komme, hätte ich erwartet, daß sie wenigstens mal auf einen Abend mit ihm verzichtet »Aber, Rachel«, wandte Rosemary schwach ein, »du wolltest doch selbst ausgehen, du hattest gesagt, du willst ausgehen.« »Ach, was soll's?« Rachel schien ihrem Groll gerade freien Lauf lassen zu wollen, als Karen Malahyde sich rasch und ziemlich barsch einschaltete: »Also, jetzt noch mal zurück zu Samstag abend, okay?« »Ich bin ein paar Minuten vor acht aus dem Haus gegangen.« Nun war Rachel verärgert. »Ich war an der Bushaltestelle gegenüber vom Flag, als es gerade acht wurde. Dort hab' ich mich hingesetzt und gewartet. Ich hätte gedacht, das alles wäre ziemlich offensichtlich.« Unwillkürlich mußte Wexford wieder daran denken, daß Mrs. Holmes vor nicht ganz einer Stunde gesagt hatte, ihre Tochter sei ein »gutes, liebes, kluges Mädchen«. Klug mochte sie wohl sein. »Wußten Sie, was für ein Auto Mrs. Strang hat, welche Farbe, welches Fabrikat?« fragte er. Das Mädchen stieß einen ungeduldigen Seufzer aus, aber wenigstens redete sie nun vernünftiger. »Ich weiß, ich hätte mich vorher erkundigen sollen. Ich hätte mich erkundigen sollen, wie die Frau aussieht, hab' ich aber nicht, und dafür bin ich bestraft worden, stimmt's?« 64
»Sie müssen es ja wissen«, meinte Wexford gleichmütig. »Weiß ich auch. Ein Wagen kam angefahren und blieb stehen. Eine Frau saß am Steuer - äh, so um die Fünfzig, glaub' ich. Vielleicht älter, was weiß ich.« Rachel sagte es mit der Gleichgültigkeit der Achtzehnjährigen für alles, was
jenseits der Fünfunddreißig lag. »Sie kurbelte das Beifahrerfenster runter, und ich ging rüber und sagte hallo oder so, ich heiße Rachel, und sie sagte: »Steigen Sie ein, Rachel«, und ich stieg ein. Ich dachte eben, es sei Mrs. Strang, ich nahm es einfach so an. Als ich mich setzte, sagte sie, sie hieße Vicky, aber ich wußte ja nicht, wie Mrs. Strang heißt, oder?« »Mrs. Strang heißt Olga.« »Schade, daß mir das keiner vorher gesagt hat. Na ja«, meinte sie erstaunlich gnädig, »woher hätten sie es auch wissen sollen, stimmt's? Jedenfalls habe ich Vicky zu ihr gesagt, und wir haben geredet, und da habe ich wohl nicht genau aufgepaßt, wohin wir fuhren. Und wenn, dann hätte das auch nicht viel genützt. Ich kenne die Dörfer nicht, ich war noch nie in Framhurst, also hätte ich auch nicht gemerkt, wo sie hinfährt. Es war jedenfalls auf dem Land, mit Feldern und Wald. Ich habe mit ihr geredet, sie wollte alles über mich wissen »Was, sie wollte, daß Sie von sich erzählen?« »Ja, und ich bin drauf reingefallen. Ich erzählte ihr, daß meine Eltern geschieden sind und ich bei meiner Mutter lebe, daß ich im Juni neunzehn werde und auf die Uni gehe - ach, und alles mögliche über meine Freunde und was ich gern mache und meine Interessen und so.« Als sie plötzlich lachte, klang es wütend, als machte sie sich über sich selbst lustig. »Vicky war eine gute Zuhörerin«, sagte sie bitter. »Wo hat sie Sie hingebracht?« »Keine Ahnung. Darauf hab' ich gar nicht geachtet. Wissen Sie, ich vertraute einfach darauf, daß sie mit mir zu sich nach Hause fährt, um Caroline abzuholen. Sie erzählte von Caroline. Inzwischen ist mir natürlich klar, daß sie über Caroline reden konnte, weil ich zuerst von ihr erzählt und gesagt hatte, 65
wir hätten uns im ersten Semester in Essex kennengelernt und dann festgestellt, daß wir nicht weit voneinander wohnen, und daß Caroline Lateinamerikanistik studiert und ich Anthropologie. Sie erzählte, Carolines Spanisch sei deswegen so gut, weil sie als Kind ein Jahr in Spanien gelebt hätten, und ich sagte, das hätte ich gar nicht gewußt, dabei stimmt es überhaupt nicht, das hatte sie alles erfunden - aber jetzt verstehen Sie, wieso ich ihr vertraut habe, oder?« »Was geschah, als ihr am Ziel wart?« Rachel seufzte. »Wenn ich Ihnen nur sagen könnte, wo es war, oder das Haus beschreiben könnte, aber das kann ich nicht. Ich erinnere mich vage, das Haus hatte vorn eine Schindelfassade und einen Tannenbaum - äh, so eine Art Weihnachtsbaum -, aber das ist alles. Ich hab' nicht so genau hingesehen, ich
wußte ja nicht, daß ich es mir merken müßte. Vicky schloß die Haustür auf, und wir gingen rein. Dann rief sie: »Caroline!«, als ob Caroline irgendwo wäre und sich fertigmachte. Meine Güte, sie war eine gute Schauspielerin, ich hätte schwören können, daß ich Carolines Stimme hörte.« Sie sah ihre Mutter an. »Kann ich ein Glas Wasser haben?« Glücklich über jeden Befehl, den sie für ihre endlich zurückgekehrte Tochter ausführen konnte, schoß Rosemary Holmes aus ihrem Sessel hoch. Karen beobachtete sie mit sorgsam kaschierter Mißbilligung, als sie mit einem hohen Glas mit Eiswürfeln und einer Flasche Perrier wieder hereinkam. Ohne ein Wort des Dankes nahm Rachel es ihr aus der Hand, kippte das Eis in einen Aschenbecher und füllte das Glas mit Wasser. »Soll ich weitererzählen?« »Ich bitte darum«, sagte Wexford. »Vicky hat gesagt, ich soll mich setzen, und das tat ich, und dann bot sie mir was zu trinken an, und ich hab' angenommen, was ein großer Fehler war, aber das wußte ich ja nicht.« »Wie groß?« fragte Karen. »Sie hat was reingetan. Ich mußte was...« »Ach, Rachel...!« Ein schmerzerfüllter Aufschrei kam von Rosemary Holmes herüber. 66 »Ich hab' dir doch gesagt, sie haben mir nichts getan!« Rachel schrie sie beinahe an. »Jedenfalls nicht das, was du denkst. Mach doch nicht so ein Theater!« Offenbar merkte sie, welchen Eindruck ihr Wutausbruch auf die Polizeibeamten hatte, sah ihre ruhige Aufmerksamkeit, hinter der sich Mißbilligung verbergen mochte, und senkte die Stimme. »Ich bat um einen Wodka mit Tonic oder Limonade, und sie brachte ihn mir. Sie selbst wollte nichts trinken, weil sie Caroline und mich ja zum Rotten Carrot fahren wollte. Ach ja, ich hab' ihr gesagt, wo wir hinwollen, Gedanken lesen konnte sie nicht. Mein Drink schmeckte wie ein ganz normaler Wodka-Tonic und hatte auch keine komische Wirkung, jedenfalls nicht sofort. Allmählich wunderte ich mich aber doch, wieso Caroline so lange brauchte, es waren bestimmt schon zehn Minuten. Wir hatten uns auf halb neun im Rotten Carrot verabredet, und es war schon viel später. Vicky bot mir noch was zu trinken an - >den Drink auffrischen« nannte sie es -, aber ich wollte nichts mehr, ich fühlte mich schon ein bißchen benebelt. Und dann kam dieser Mann ins Zimmer. Zuerst dachte ich, er wäre Carolines Bruder, obwohl er dafür
schon ein bißchen zu alt war. Er war vielleicht dreißig, so ein kleiner, schmächtiger Typ mit komischen Augen.« »Was heißt komisch?« Einen Augenblick dachte Karen, Rachel würde sie gleich anschreien, sie solle doch im Wörterbuch nachschauen, so verächtlich war ihr Blick, doch sie stieß nur einen ihrer unwilligen Seufzer aus. »Seltsam», sagte sie, »durchdringend und doch irgendwie stumpf. Wie Steine. Er hatte eine ziemlich hohe Stimme, und wenn er redete, hat er einen nicht angesehen.« Sie nippte an ihrem Mineralwasser und stellte das Glas ab. »Aber danach weiß ich nichts mehr, ich kann mich nicht erinnern, was passiert ist, bis mitten am nächsten Tag, bis mitten am Sonntag.« »Ach, Rachel!« rief Rosemary erneut aus. »Ach, Rachel«, äffte ihre Tochter sie nach. »Ich hab' dir 67 doch gesagt, daß mich niemand - angefaßt hat. Granny würde »belästigt« sagen.« Sie sah Wexford mit einem Blick an, als wollte sie ihn mit in die Granny-Kategorie einbeziehen. »Ich lag auf einem Bett, und Vicky - ich bin mir sicher, daß es Vicky war und nicht er - hatte mir Jeans und Pulli ausgezogen. Hemd, BH und Unterhose hatte ich noch an, und sonst hat mir auch niemand etwas getan. Okay? Ist das klar? Vicky brachte mir eine Tasse Tee und sagte, ich soll aufstehen, baden und mich anziehen.« Sie zögerte. »Das hab' ich gemacht«, sagte sie. »Na ja, erst hab' ich mich gewehrt und gefragt, wo ich überhaupt bin, und gesagt, sie soll mich nach Hause bringen. Aber dann hab' ich gemerkt, daß ich da unmöglich raus konnte - sie hatte mich eingeschlossen und wollte mich erst rauslassen, nachdem ich gebadet hatte -, also hab' ich's eben gemacht. Ich hab' mir gedacht, ich kann besser abhauen, wenn ich sauber und angezogen bin. Vicky hatte meine Jeans mitgenommen und mir einen Rock hingelegt, ein ziemlich langes, ausgestelltes Teil, also, scheußlich, aber ich wollte ja schließlich nicht in Unterhosen raus, also hab' ich ihn angezogen und bin raus, und da saß er - sie nannte ihn Jerry -, und sie sagte, ich soll Mittagessen machen.« »Sie hat Ihnen gesagt, Sie sollen das Mittagessen machen?« fragte Wexford in neutralem Ton. Das ungläubige Staunen stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich sollte Mittagessen machen, abräumen und spülen. Ich sagte: »Das soll wohl ein Witz sein«, und ich würde jetzt nach Hause gehen, sie soll mich sofort heimfahren. Ich wußte, daß es ein Verbrechen ist, jemanden gegen seinen Willen mitzunehmen und einzusperren, und das sagte ich ihnen auch, und
Vicky meinte: »Na, so ein Pech« oder was in der Richtung. Ich versuchte, zur Haustür zu laufen - ich bin dann auch zur Haustür gelaufen, aber die war dreifach abgeschlossen, also hab' ich's an einem Fenster probiert, aber die waren alle verriegelt, und ich glaube, doppelt verglast waren sie auch. Ich hab' Ihnen noch gar nicht gesagt, daß mir furchtbar schlecht 68
war, es war wie ein gigantischer Kater mit elenden Kopfschmerzen und so einem Zittern und Beben. Am Ende hab' ich dann gemacht, was sie wollte. Ich fragte, ob ich ein Schmerzmittel haben könnte, und sie gab mir zwei Kapseln. Ich sah, wie sie sie aus der Packung nahm, also wußte ich, sie waren okay.« Wieder ließ sie dieses bittere Lachen vernehmen. »Dann hab' ich Kartoffeln geschält und Blumenkohl gewaschen - ich bin keine besonders gute Köchin, ich mußte ja nie kochen.« Rachel sah ihre Mutter vorwurfsvoll an, wie sie sie früher angesehen haben mußte, sooft auch nur andeutungsweise der Vorschlag gemacht wurde, sie könnte vielleicht lernen wollen, wie man ein Ei kocht oder ein Kotelett brät. »Die ganze Zeit haben sie mich beobachtet, Vicky und Jerry. Na, jedenfalls haben wir Mittag gegessen, und dann hab' ich abgewaschen, und Vicky sagte, ich soll den Staubsauger holen und die Schlafzimmer saubermachen, aber nicht ihr Schlafzimmer, denn die Tür war abgeschlossen. Ich sagte: >Wenn ich das mache, kann ich dann heimgehen?«, und Vicky sagte: »Mal sehen«, also hab' ich die Zimmer saubergemacht, und als ich wiederkam, gab sie mir einen Riesenberg von Jerrys Socken und sagte, die solle ich reparieren. »Stopfen« nannte sie es, und ich hatte keine Ahnung, wie das geht »Rachel«, unterbrach Wexford sie, weil er es nicht mehr aushielt, »»haben Sie schon mal den Roman Die verfolgte Unschuld von Josephine Tey gelesen?« Sie sah ihn erstaunt an. »Was?« »Darin geht es um ein junges Mädchen, das zwei Frauen beschuldigt, von ihnen entführt und zur Hausarbeit gezwungen worden zu sein. Fälschlich beschuldigt. In Wirklichkeit war sie mit einem Mann unterwegs, den sie in einem Hotel aufgegabelt hat. Der Roman wird manchmal in den Abschlußprüfungen verwendet.« Eine so intensive, glühende Röte, wie sie sich nun über Rachels Gesicht ausbreitete, bekam er selten zu sehen. Doch er wußte, daß nicht nur Scham und Schuldgefühle erröten las 68
sen. Der Lüge verdächtigt zu werden kann einen genauso wirkungsvoll rot anlaufen lassen.
»Haben Sie ihn gelesen?« fragte er, diesmal etwas freundlicher. »Ja, hab' ich«, erwiderte sie. »Und?« Rachels Stimme klang hoch, beinahe hysterisch. »Also, Sie kommen hier an und - und wollen, daß ich mit Ihnen rede, und ich - ich erzähl' Ihnen alles und jetzt - wo ich's getan hab' - glauben Sie mir nicht! Jetzt beschuldigen Sie mich, ich hätte alles aus einem Buch!« »Haben Sie seine Socken denn gestopft?« fragte Karen mit kaum verhohlenem Schmunzeln. »Nein, weil ich das nicht kann! Ich weiß nicht, wie das geht! Dafür hab' ich Essen gemacht und meine Jeans und meinen Pulli in die Waschmaschine gesteckt und das Geschirr gespült, und dieser Jerry hat die ganze Zeit kein Wort gesagt und mich bloß angeglotzt. Wieso glauben Sie mir eigentlich nicht?« »Nur weiter«, sagte Wexford. »Aber nicht, wenn die Frau da mich auslacht.« »Ich lache doch gar nicht«, sagte Karen. »Sie fanden es doch bestimmt selber ziemlich absurd, seine Socken stopfen zu müssen. Haben Sie versucht zu fliehen?« »Die hatten kein Telefon, jedenfalls hab' ich keins gefunden. Ich hab' alle Fenster probiert. Ich wollte sehen, ob mich jemand bemerkt, aber da war niemand, es war ja bloß eine verlassene Landstraße. Autos fuhren zwar vorbei, aber die Fahrer konnten mich nicht sehen. In der Nacht bin ich aufgestanden, aber Vicky hatte meine Zimmertür abgeschlossen. Ich hätte versuchen können, das Fenster aufzubrechen, aber es war vergittert.« »War es ein Bungalow?« »Nein - oder doch, es war ein einstöckiges Haus. Aber groß, es hatte viele Zimmer. Am Montag ging es mir besser, die Kopfschmerzen hatten sich gelegt. Vicky weckte mich früh 69 und sagte, ich soll den Kühlschrank abtauen und den Backofen reinigen. Dann sollte ich Jerry sein Frühstück ans Bett bringen. Das war das einzige Mal, daß Vicky mich anfaßte. Sie schüttelte mich und schlug mich ins Gesicht, damit ich aufwache. Ich hatte - mich hat noch nie jemand geschlagen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, ich weiß nicht, wie man sich wehrt, wenn einen jemand schlägt. Ich bin total erschrocken. Ich brachte Jerry sein Frühstück auf einem Tablett, Haferflocken und Toast mit Honig und eine Orange. Er saß im gestreiften Schlafanzug im Bett, nahm das Tablett und bedankte sich. Das war das einzige Mal, daß er was zu mir gesagt hat, er redete sonst nur mit Vicky.«
Rachel schien ihre Zurückhaltung vergessen zu haben und wurde gesprächig; es sprudelte geradezu aus ihr heraus. »Ich hab' den ganzen Tag Hausarbeit gemacht und gekocht, wohl weil ich mir dachte, dann lassen sie mich gehen. Ich bekam reichlich zu essen, und Vicky bot mir Drinks an, aber ich nahm nichts, falls sie wieder mit irgendwas gepanscht waren. Aber dann hab' ich was Dummes gemacht. Als ich mich am Dienstag plötzlich nicht gut fühlte, ich bekam nämlich meine Tage, und Vicky um ein Schmerzmittel bat, kam wieder die Packung zum Vorschein. Sie hatte aber daran rumgefummelt, sie hatte irgendwelche Kapseln mit Betäubungsmitteln so durch das Plastik gedrückt, daß die Folie nicht aufgerissen ist. Das hat mich getäuscht; ich hab' also zwei genommen, und die hatten die gleiche Wirkung wie beim erstenmal, bloß schlimmer. Ich weiß nicht mehr, was ich an dem Tag eigentlich noch gemacht hab', ich kann mich an gar nichts mehr erinnern, vielleicht hab' ich Hausarbeit gemacht, was gegessen, keine Ahnung, aber als ich wieder aufwachte, war es heute mittag, und ich lag da« - sie sah etwas verlegen in Wexfords Richtung -»äh, ich sah ganz schön schlimm aus, und neben mir lag ein Päckchen Tampax und meine Jeans und mein Pulli. Mir war furchtbar elend, aber Vicky zwang mich, die Betttücher zu waschen. Sie hängte sie selber auf, sie wollte mich nicht nach draußen lassen. Und dann ungefähr um sechs sagte 70
sie, ich könnte nach Hause gehen. Ich hatte so einen Kater, daß ich kaum was sehen konnte. Jerry war nicht da. Vicky schloß die Haustür auf und brachte mich zum Auto, es war das gleiche, mit dem wir auch gekommen waren. Da hätte ich weglaufen können, aber mir war so übel, und außerdem dachte ich, daß das ja sowieso nichts bringt. Ich ließ mich wieder zurückfahren, und sie setzte mich an der Stelle ab, wo sie mich mitgenommen hatte.« Nicht Wexford oder Karen Malahyde gelang es, Rachel doch noch dazu zu überreden, sich ärztlich untersuchen zu lassen, sondern Lynn Fancourt, die anscheinend den richtigen Ton traf oder eine gewisse Verbundenheit zu wecken vermochte. Vielleicht lag es auch nur daran, daß Lynn ihr altersmäßig näher stand. Aber nicht zu diesem Devonshire, sagte sie und verzog das Gesicht wie bei einem unangenehmen Geruch. Also ging sie zu Dr. Akande, dem sie - nach weiterem Murren und Widerspenstigkeit - gestattete, einen Bluttest zu machen und ihr in die Augen und in den Rachen zu schauen. »Ich glaube, man hat ihr Rohypnol gegeben«, sagte Wexford. »Akande hat zwar keine Rückstände entdeckt, aber es ist praktisch nicht nachzuweisen, und inzwischen hätte sie es sowieso wieder ausgeschieden.«
Bürden hob erstaunt die Augenbrauen. »Ist das diese Vergewaltigungsdroge? Kein Geruch, kein Geschmack, und in einen Drink gemixt, wirkt es betäubend, und am nächsten Tag hat das Opfer einen wahnsinnigen Kater, kann sich aber nicht erinnern, was passiert ist.« »So ungefähr.« »Dann informieren wir uns doch, wer hier in der Umgebung Rohypnol verschrieben bekommen hat, und damit hat sich der Laden.« »Nicht ganz«, sagte Wexford. »Rohypnol ist heute nur auf Rezept erhältlich, genauer gesagt, auf Privatrezept, obwohl es noch bis vor kurzem rezeptfrei über den Ladentisch ging.« 71 Bürden, der die ganze Zeit nicht nervös, sondern eher gemächlich auf und ab gegangen war und überlegt hatte, ließ sich nun auf der Kante von Wexfords Schreibtisch nieder. »Wieviel von ihrer Geschichte glauben wir ihr eigentlich? Ich meine, hat sie uns weniger die Hucke voll gelogen als Lizzie Cromwell?« Wexford schwieg und dachte nach. Anfänglich hatte er ihr nicht geglaubt. Grund seiner Skepsis waren zum Teil die Parallelen zu Die verfolgte Unschuld gewesen, einem seiner Lieblingsbücher, doch im Laufe von Rachels Erzählung waren ihm nach und nach Zweifel an seiner Skepsis gekommen. Inzwischen war er soweit, daß er ihr fast glaubte. Der Tatsache, daß Rachel von einer Frau mittleren Alters in ein Haus irgendwo auf dem Lande gebracht worden war, konnte er Glauben schenken. Auch daß sie betäubt und eingesperrt wurde, war möglich. Aber der schweigsame, starräugige Jerry und die Aufforderung, Rachel solle kochen und die Hausarbeit machen und vor allem dem Mann die Socken stopfen, das alles mußte ihrer Phantasie entsprungen sein. »Wieso eigentlich die Hucke? Wieso nicht die Ohren?« fragte er nebenbei. »Was weiß ich. »Die Hucke voll lügen< ist eben so ein Ausdruck, eine Redewendung. Was sind Sie für ein Kümmelspalter! Sie hätten Professor in Oxford werden sollen.« »Vielleicht hätte ich das«, meinte Wexford versonnen. »Na, immer noch besser die Hucke voll gelogen, als das Hirn vernebelt, meinen Sie nicht auch?« Wexford sah zu, wie er erneut auf und ab ging, sich ans Fenster stellte, gegen das ein Windstoß plötzlich Hagelkörner peitschte. »Sie hat diese beiden Leute ziemlich anschaulich beschrieben«, sagte er. »Die Frau etwa um die Fünfzig, grauhaarig, blauäugig, mit Ehering, übergewichtig - allerdings ist für dieses Mädchen jeder normale Mensch übergewichtig.« Wexford zog den Bauch ein, wie alle, wenn sie darüber reden, ob jemand dick oder dünn ist. »Der Mann
etwa dreißig, klein, sie sagt, etwa einssechzig, dunkles, spärliches Haar und diese erstarrten Augen. Auf diesen Merkmalen beharrt sie felsen 72
fest, sie hat sie mir gegenüber zweimal wiederholt und Lynn die gleiche Beschreibung gegeben. Ich glaube ihr.« Offensichtlich fasziniert von den Hagelkörnern, die gegen die Scheibe prallten, wandte Bürden nicht einmal den Kopf herüber. »Ist das denn so wichtig? Es ist ja nichts passiert. Man hat ihr nichts getan. Hat ihr wahrscheinlich gar nicht geschadet, dem verwöhnten Fräuleinchen, mal zu kochen und sauberzumachen und so weiter.« »Jetzt reden Sie aber Unsinn, Mike. Ihnen brauche ich doch wohl nicht zu sagen, daß es eine schwere Straftat darstellt, jemanden gegen seinen Willen mitzunehmen und festzuhalten. Ganz zu schweigen davon, daß sie betäubt wurde. Und das ist ja nun mit zwei jungen Frauen passiert. Das ist Freiheitsberaubung. Selbstverständlich ist das wichtig.« »Na gut. Da haben Sie recht. Soll das heißen, Sie glauben, daß diese Vicky auch Lizzie entführt hat?« »Sie erinnern sich, daß sie sagte, eine Frau hätte ihr angeboten, ob sie mitfahren wolle, doch sie hätte abgelehnt? Nun, ich glaube, sie hat doch eingewilligt und wurde ebenfalls in dieses Haus gebracht, zum gleichen Zweck, was immer das war.« »Ob die Frau und der Mann vielleicht Mutter und Sohn waren?« »Keine Ahnung. Schon möglich.« Wexford mußte an die seltsamen Beziehungen denken, mit denen er im Rahmen seiner Arbeit in Berührung kam, bizarre Kombinationen ungleicher Charaktere und ziemlich unmögliche Altersverbindungen. Er hatte nicht vor, im vorliegenden Fall irgendwelche oberflächlichen Schlußfolgerungen zu ziehen. »Was zum Teufel gibt's da eigentlich zu glotzen?« fragte er. »Haben Sie noch nie Hagelkörner gesehen?« »Kommen Sie, sehen Sie sich das mal an.« Wexford stand auf. Durch den strömenden Regen konnte er zwei Menschen erkennen, die sich vor dem Hagel in einen Ladeneingang geflüchtet hatten. Beide trugen vorn und hinten am Körper Reklametafeln, wobei die der Frau in Form eines 72 Mädchens, die des Mannes in Form eines Jungen geschnitten war. Gesichter, Haare und Kleidung waren ziemlich realistisch aufgemalt, und die eine Tafel trug die Aufschrift: Rettet unsere Kinder, die andere Pädophile raus. Der Sturm legte sich ebenso plötzlich, wie er angefangen hatte, und die beiden traten auf
den Gehweg hinaus und überquerten die Straße. Dabei hoben sie die Hände in die Höhe, um den Verkehr anzuhalten. Ohne auf das Hupen und Schreien der Autofahrer zu achten, erreichten sie das Polizeirevier auf der anderen Straßenseite, wo sie stehenblieben und zu den Fenstern hinaufsahen. Wexford rieb den Dunst von der Scheibe, den sein Atem gebildet hatte. »Der Mann ist Colin Crowne«, sagte er. »Wie die Frau heißt, weiß ich nicht, aber die ist auch vom Muriel Campden Estate, aus der Oberon Road, glaube ich.« »Wohin Orbe morgen wieder zurückkehrt«, sagte Bürden apokalyptisch. »Sollen wir dorthin gehen und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen?« »Und uns vorher mit diesen beiden kurz unterhalten.« Doch als sie schließlich auf den Vorplatz gelangten, waren die beiden Leute mit ihren Tafeln in Kindergestalt bereits verschwunden. Ohne ersichtlichen Grund war der Muriel Campden Estate so angelegt worden, daß die Häuser sich nicht gegenüberstanden, sondern auf allen drei Seiten des Straßendreiecks nach innen gingen, auf den flachen Turm, das Wohnsilo, in der Mitte. Aus den Fenstern im zweiten Stock dieses Gebäudes war in Höhe der Schlafzimmerfenster der umliegenden Häuser ein Transparent gehängt worden, auf dem die gleichen rot und schwarz gemalten Buchstaben wie auf den beiden Reklametafeln zu sehen waren. Wie ein Gürtel umspannte es das Wohnsilo, ging fast ganz herum und verkündete allen, die aus den Fenstern sahen oder vorübergingen: Pädophile raus. Hände weg von unseren Kindern. Die Plakatträger waren nirgends zu sehen. Die Tulpen in den etwas erhöht angelegten Blumenbeeten 73
am Fuß des Wohnsilos hatte der Hagel völlig zerschlagen. Die orange-grün gestreiften gefransten Blüten lagen geknickt und zerquetscht auf dem bleichen, kalkigen Erdreich. Und von den rosablühenden Straßenbäumen, den Kirschen und Pflaumen, hatte der Hagelsturm in einem gewaltigen Schauer sämtliche Blütenblätter gefegt. Sie lagen auf den glitschigen Gehwegen, und in der gleißenden Sonne, die plötzlich herausgekommen war, leuchteten sie perlmuttfarben. Weit hinter den dunkelgrauen Häusern, den anthrazitfarbenen Mauern und Dächern leuchteten die grünen Wiesen so hell, daß einem die Augen weh taten. Wexford läutete in der Oberen Road Nummer 16 an der Haustür. Direkt davorstehend, brauchte er nur den Kopf etwas zu drehen, um die volle Wucht des Transparents, das in etwa zwanzig Meter Entfernung aufgehängt war, in sich aufzunehmen. Von jedem Haus im Dreieck war es gleichermaßen zu sehen. Dafür hatten die Demonstranten schon gesorgt. Durch sorgfältige
Planung und strategische Plazierung hob sich an dieser Stelle das Wort »Pädophile« jedoch besonders deutlich hervor. Die Frau, die ihm die Tür öffnete, wirkte wie sechzig, war aber vermutlich erst vierzig. Ihre äußere Erscheinung ließ darauf schließen, daß sie sich nie die geringste Mühe gemacht hatte, sich zu pflegen, nie von der Möglichkeit gehört hatte, sich die Fingernägel zu feilen oder zu säubern, das Haar sauberzuhalten, zum Zahnarzt zu gehen, die Kleider zu bügeln und angenehm zu riechen. Ihr Gesicht glänzte fettig, und ihr Haar, vom gleichen stumpfen Dunkelgrau wie der Verputz des Hauses, wurde hinten von einem Gummiband zusammengehalten. Ihr Kleid, zu dem eigentlich ein Gürtel gehört hätte, sah in Form und Stil aus wie von ihrer Großmutter geerbt; dazu trug sie faltige braune Strümpfe und Pantoffeln. Ihr Geruch, bemerkte Bürden später, erinnerte ihn sehr an eine Hamburgerbude am Markttag in der Queen Street. Ihre Zähne - an ihre Zähne wolle er nicht mehr denken, meinte er, die wolle er sich ganz schnell aus dem Kopf schlagen. 74 »Ms. Orbe?« fragte Wexford. »Ms. Suzanne Orbe?« »Ja. Was wollen Sie?« »Chief Inspector Wexford und Inspector Bürden von der Kriminalpolizei Kingsmarkham. Dürfen wir einen Augenblick hereinkommen?« Sie trat zur Seite, und als sie im Haus waren, knallte sie die Tür zu. »Als ob ich nicht schon genug am Hals hätte«, stellte sie klagend in den Raum, »mit dem Pack da draußen.« Im Wohnzimmer saß ein Mann und starrte auf den Bildschirm. Von den Neuankömmlingen nahm er nicht die geringste Notiz, Suzanne Orbe hätte auch allein ins Zimmer treten können, obwohl er auch sie nicht beachtete - was ihn betraf, war überhaupt niemand hereingekommen. »Sie rechnen damit, daß Ihr Vater am Freitag hierher nach Hause kommt - das heißt morgen?« erkundigte sich Wexford. »Ich nehm's an«, sagte sie. »Wo soll er denn sonst hin, der alte Sack?« Auf diese Bemerkung hin rührte sich der Mann in der anderen Ecke des Zimmers. Er wandte den Blick von der Mattscheibe, drehte den Kopf um und starrte in ihre Richtung. Suzanne Orbe stellte ihn lustlos vor: »Das ist mein Verlobter.« Keiner der beiden Polizisten beachtete ihn. »Wir rechnen zwar nicht damit, daß es Probleme gibt«, sagte Bürden mit einer Zuversicht, die er nicht verspürte, »aber ich lasse Ihnen mal diese Nummer da.« Er schrieb sie auf und reichte ihr den Zettel. »Wenn es nötig sein sollte, können Sie sich an mich wenden, an Inspector Bürden. B-U-R-D-E-N - haben Sie das verstanden?«
Sie nickte. Jede Loyalität gegenüber ihrem Vater vergessend - oder vielleicht hatte Wexford ihren Tonfall falsch interpretiert -, stieß sie ein verärgertes »ha« aus und sah genervt zur Decke. Da ließ sich der Mann in der Ecke vernehmen. »So ist es recht, Mädel«, sagte er und fügte in einem derart rachelüsternen und fiesen Ton hinzu, daß Wexford direkt zusammen 75 zuckte: »Typen wie der gehören in die Gaskammer. Oder auf den Stuhl.« Wieder draußen in der relativ gesunden Luft, äußerte Bürden die Vermutung, Suzanne Orbes Verlobter sei wohl entgangen, daß die Todesstrafe in diesem Land schon seit über dreißig Jahren abgeschafft war. Der bezog seine ganze Lebensweisheit aus dem Fernsehen und hatte aus dieser Quelle schon so viel transatlantische Kultur absorbiert, daß er glaubte, im Vereinigten Königreich wäre es möglich, in der Gaskammer oder auf dem elektrischen Stuhl zu enden. »Hauptsache, die beiden überlassen den elenden Orbe nicht dem Pöbel«, sagte Wexford. »Das soll hoffentlich ein Witz sein«, sagte Bürden streng. »Das hoffe ich auch. Es gibt keinen Pöbel, nur ein Transparent. Wir müssen das Ganze von der positiven Seite betrachten.« Wexford sah sich um. Die Sonne hatte sich verzogen, doch es war immer noch heller Tag, und über den blauen Himmel huschten Wolken. Das Transparent flatterte in der Brise. In zwei Gärten waren recht zivilisiert und gesetzestreu aussehende Männer gerade beim Rasenmähen. »Kein besonders anheimelnder Ort«, sagte er, »aber doch recht ordentlich, nicht wahr? Bequem, rustikal, viel frische Luft. Nicht das Höchste, könnte aber schlimmer sein. Kaum oder nur wenig Vandalismus. Wenn sie vom Gartenbauamt Bäume pflanzen, werden sie nicht wieder rausgerissen. Die Tulpen sind vom Hagel beschädigt, nicht von Menschenhand. Das ist doch ein himmelweiter Unterschied zu den Sozialwohnungsblöcken in den Großstädten, von denen man immer liest, meinen Sie nicht? Wo alte Leute um ihr Leben bangen müssen, wenn sie aus dem Haus gehen, oder sich gar nicht erst hinaustrauen, wo Straßenbanden durch die Gassen ziehen und die Anwohner mit Drogen handeln.« »Klar. Worauf wollen Sie hinaus?« »Na, genau darauf - wollen wir hoffen, daß es so bleibt. Und jetzt schauen wir bei Familie Crowne vorbei, ja?« 75
Natürlich war das Transparent auch aus diesem, zur Straße hin gelegenen Wohnzimmer zu sehen. Lizzie Cromwell saß am Fenster und starrte es an, als erwarte sie, daß es sich verformte, herunterfiel oder daß sich jeden Moment noch aufsehenerregenderes Material dazugesellen würde. Wexford, der sich weder von der verrauchten Luft noch von Debbie Crownes verdrossener Miene und ihrem Kopf voller heißer Lockenwickler abschrecken ließ, zog sich neben Lizzie einen Stuhl heran und begann ihr auseinanderzusetzen, was sich an dem Samstag vor zwei Wochen tatsächlich zugetragen hatte. »Nachdem du zwanzig Minuten auf den Bus gewartet hattest, bist du mit einer Frau im weißen Auto davongefahren, die dich in ein Haus auf dem Land gebracht hat. Dort war auch ein Mann. Sie hießen Vicky und Jerry. Sie gaben dir was zu trinken, so daß du schläfrig wurdest und viel von dem vergessen hast, was dann mit dir geschah. Ich habe doch recht, Lizzie, oder nicht?« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Wie gesund und blühend sie aussah, dachte er, mit ihrem leicht geröteten Gesicht und den leuchtenden, wissenden Augen. »Darf ich nicht sagen.« »Wer hat gesagt, du darfst es nicht sagen? Die Frau, die dich mitgenommen hat? Der Mann, dieser Jerry?« Lizzie kam nicht dazu, ihm zu antworten. Debbie Crowne stellte sich zwischen Wexford und ihre Tochter, und es roch plötzlich stark nach überhitztem Haar. Er sah, daß sie zitterte. »Was ist los, Mrs. Crowne?« »Ich werd' Ihnen sagen, was los ist. Schwanger ist sie, das ist los. Er hat meine Tochter geschwängert.« 76 Wexfords erste Reaktion war: »So früh läßt sich das noch nicht sagen. Es ist doch erst zwei Wochen her.« »Wo leben Sie eigentlich?« fuhr Debbie Crowne ihn an. »Hinterm Mond? Ich hab' doch den Test gemacht! Einen Schwangerschaftstest zum Selbermachen, falls Ihnen das was sagt. Den hab' ich gemacht, und sie ist schwanger. Hätte ich ihn letzte Woche gemacht, war' das gleiche dabei rausgekommen. Und was tun Sie jetzt, wenn man fragen darf?« »Um etwas tun zu können, wäre es uns eine große Hilfe«, sagte Bürden, »wenn Lizzie uns verriete, was wirklich mit ihr passiert ist.« »Die hat doch Angst! Der hat sie vergewaltigt, und jetzt hat sie Angst, daß er ihr was tut.« Bei dem Wort »vergewaltigt« flatterten Lizzies Augenlider, als hätte ihr jemand plötzlich etwas Heißes oder ein grelles Licht direkt vors Gesicht gehalten. Ihr Kopf schnellte ruckartig zurück.
»Als du dort warst, hast du da viel geschlafen, Lizzie?« fragte Wexford. »Haben sie dir was zu trinken gegeben, damit du einschläfst?« »Weiß ich nicht«, sagte sie. »Ich soll nichts sagen. Ich werd' bestraft, wenn ich was sage.« Bürden sah Colin Crowne an, der gerade ins Zimmer gekommen war. »Du wirst nicht bestraft, Lizzie. Niemand wird dich bestrafen. Wenn du uns von den Leuten erzählst und von dem Haus, in dem du warst, und uns sagst, wo es war, werden sie geschnappt und bestraft. Das verstehst du doch sicher, ja?« »Lassen Sie sie doch in Ruhe!« schrie Debbie Crowne plötzlich. »Das geht doch nicht, daß Sie sie in ihrem Zustand auch 77 noch einschüchtern. Womöglich hat sie noch eine Fehlgeburt!« Sicher das Beste, was passieren kann, dachte Wexford und schalt sich gleich darauf für seine Gefühllosigkeit. »Niemand schüchtert Lizzie ein«, setzte er an, doch der Rest seines Satzes ging unter, denn nun legte Lizzie los, und er vergaß ganz, daß er sie einmal für unterwürfig und nicht rebellisch gehalten hatte. »Nein, hab' ich nicht, keine Fehlgeburt. Ich bekomme mein Baby, ich will mein Baby. Dann kann ich nämlich weg von hier und eine Wohnung kriegen und mit meinem Baby leben. Dann kann ich weg von dir und von dem da und hab' meine eigene Wohnung und - und kann glücklich sein!« Ihr Gesicht verzog sich, und sie brach in Tränen aus. »Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben«, sagte Debbie Crowne. »So ein Quatsch. Ihr Baby will die kriegen! Die Pille danach hätte sie kriegen sollen. An dem Tag, wo sie zurückgekommen ist, wenn sie da gleich die Pille danach genommen hätte...« »Dann säße sie jetzt nicht in der Scheiße«, sagte Colin Crowne. »Hucke«, sagte Wexford am nächsten Morgen. »Ich habe im Wörterbuch nachgeschlagen. Die Hucke ist der Rücken - denken Sie nur an huckepack und die Hucke vollügen heißt soviel wie jemandem Lügen aufbinden. Interessant, finden Sie nicht?« Bürden warf den Kingsmarkham Courier schwungvoll auf Wexfords Schreibtisch. »Es bestätigt nur meine Ansicht, daß Sie ein Pedant sind. Haben Sie schon in die Zeitung geschaut?« Mit einem Anflug jenes Gefühls, das man gewöhnlich als »ganz anders« bezeichnet, sagte Wexford: »Wieso? Hätte ich das sollen?« Er wußte, was er wahrscheinlich zu sehen bekäme, aber nicht, wie schlimm es sein würde.
»Ach Gott«, sagte er, »ich frage mich, was das soll. Was verspricht sich St. George eigentlich davon?« 78 »Eine Auflagensteigerung vermutlich. Die kann er weiß Gott gebrauchen.« Die Schlagzeile lautete: ORBE AUF FREIEM Fuss, und darunter stand zu lesen: KINGSMARKHAMER KINDERSCHÄNDER DARF NACH HAUSE. Eltern mit kleinen Kindern (las Wexford) werden ab dem nächsten Wochenende in Furcht und Schrecken leben müssen, denn sie wissen, daß Thomas Orbe, rechtskräftig verurteilter Pädophiler und Kindermörder, wieder mitten unter ihnen weilt. Nachdem er von einer fünfzehnjährigen Gefängnisstrafe neun Jahre verbüßte, wird Orbe (71) heute in seinem Haus in der Oberon Road auf dem Muriel Campden Estate in Kingsmarkham zurückerwartet, das er vor fast zehn Jahren verlassen hatte. »Er hätte es nur dadurch noch genauer bezeichnen können, daß er die Hausnummer angibt«, sagte er düster. »Warum er das wohl nicht getan hat?« Allem Anschein nach gab Orbe, obwohl inzwischen ein alter Mann, selbst zu, daß er immer noch eine Gefahr für Kinder darstellen könnte. Sein Haus in der Oberon Road, in dem momentan seine Tochter Ms. Suzanne Orbe und deren Lebensgefährte Mr. Garry Wills wohnen, liegt direkt neben dem einzigen öffentlichen Park von Kingsmarkham mit Kinderspielplatz. Solange Orbe nicht per gerichtlicher Verfügung untersagt wird, sich an den Orten aufzuhalten, die von Kindern frequentiert werden, wie eben York Park, wird der bei unseren Jüngsten sehr beliebte Platz höchstwahrscheinlich verlassen daliegen, und das während der besten Jahreszeit für das Spiel im Freien... »Sein Stil oder der Stil seines Reporters ist unerträglich, mal ganz abgesehen vom Inhalt«, sagte Wexford. »Allein dieses Wort >Pädophiler
auch nur ein einziges Kind wohnt, von vornherein strenger bestraft werden sollten - das alles, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Ach ja, und er meint - der Artikel ist übrigens diesmal von St. George persönlich - er meint, die Regierung würde nicht schnell genug handeln und was eigentlich aus den Maßnahmen geworden sei, die angeblich zur Überwachung entlassener Pädophiler ergriffen wurden? Es könnte kaum schlimmer sein.« »Na, ich weiß nicht. Er hätte ja auch die Zwangskastration propagieren können.« Wexford warf die Zeitung auf den Fußboden, wo er sie nicht mehr sehen konnte. »Ich habe noch einmal über die Sache mit dem Transparent nachgedacht, Mike. Können wir sie eigentlich per Gesetz dazu zwingen, es abzunehmen?« »Das bezweifle ich. Wenn es deswegen Probleme gibt, dann schon. Dann wäre es ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung. Aber es hat ja keine Probleme gegeben.« »Noch nicht. Orbe ist auch noch nicht zu Hause, aber heute kommt er. Gestern nacht habe ich vom Muriel Campden Estate geträumt und bin laut schreiend aufgewacht, unter dem Turm wäre eine Bombe versteckt. Dora dachte schon, ich wäre verrückt geworden. Was machen wir denn mit Lizzie Cromwell?« »Das ist doch jetzt eine Aufgabe für Lynn, meinen Sie 79 nicht? Lynn soll mal nachsehen, ob sie herauskriegen kann, was wirklich passiert ist. Rachel Holmes ist prima mit ihr ausgekommen, wieso dann nicht auch Lizzie?« »Die beiden sind doch völlig verschieden, Mike. Ist aber eine gute Idee. Lynn könnte Mrs. Crowne dazu bringen, daß sie mit Lizzie zum Arzt geht, das ist erst mal das Wichtigste. Erst wenn es amtlich ist, glaube ich, daß sie in der zweiten Woche schwanger ist.« Die Suche nach dem Haus mit der Schindelfassade und dem großen Weihnachtsbaum hatte zwar noch nicht begonnen, aber Wexford, der sich in der umliegenden Gegend recht gut auskannte, hatte schon darüber nachgedacht. Er hatte sich Dörfer vorgestellt, mit ihren Kirchen und zusammengedrängten Cottages, den größeren Häusern und Dorfplätzen mit Kriegerdenkmälern, und war auf mehrere Bungalows gestoßen, die in Frage kämen - allerdings stand keiner von ihnen für sich allein in der offenen Landschaft. Sich ausgedehnte Landschaften mit Straßen und Feldwegen, sanft geschwungenen Tälern und anschwellenden Hügeln vorzustellen war schon schwieriger. Deshalb war er am Vorabend in der Gegend herumgefahren, in der ursprünglich die neue Umgehungsstraße hatte gebaut werden sollen.
Insgeheim gestand er sich, daß es ihm Spaß machte, dort hinzufahren und sich umzusehen. Es war ein wohliges, fast körperliches Vergnügen, die Bäume ausschlagen zu sehen, die noch im vorigen Jahr hatten gefällt werden sollen, die Vögel ihr Abendlied singen zu hören und auf dem schmalen Sträßchen durch Framhurst Great Wood zu fahren und dabei auf den langgestreckten, stillen Lichtungen die winzigen Blüten von Schöllkraut und Buschwindröschen auf dem Waldboden zu erspähen. Er war sogar am Waldrand stehengeblieben und hatte den Wagen ein Weilchen geparkt, während er überlegte, daß hier an genau dieser Stelle - womit er und jeder andere in Kingsmarkham gerechnet hatte - inzwischen eine breite Hauptverkehrsader ein zerstörtes Tal durchschneiden könnte. Es tat gut, dachte er manchmal, einfach dazusitzen, 80 zu schauen und sich zu freuen, es verschaffte ihm stille Genugtuung. Als er dann den Wagen wieder anließ und in Richtung Framhurst, Savesbury und Myfleet davonfuhr, fühlte er sich belebt und voller Tatendrang. Auf der ganzen Fahrt über die Landstraßen, einige davon waren nur schmale Feldwege zwischen hohen Böschungen voller Primeln und Schlüsselblumen, hielt er Ausschau nach einem Haus, auf das Rachel Holmes' Beschreibung zutraf. Zwar tragen in Sussex viele Häuser eine Schindelfassade, doch gab es davon in dieser Gegend nicht viele, und noch weniger waren Bungalows. Auf seiner einstündigen Erkundungstour, auf der er in einer Richtung bis Myringham und in der anderen bis Stringfield gekommen war, hatte er nur zwei entdeckt, von denen eins mitten in einem Weiler lag und ohnehin zwei Stockwerke hatte. Bei dem anderen, am Rand der Hügellandschaft gelegen, waren bis auf eine Zypressenhecke auf dem Grundstück überhaupt keine Bäume in der Nähe. Das war am Vorabend gewesen. Am nächsten Morgen beschloß er, Rachel mitzunehmen, wenn er mit Karen Malahyde in südlicher Richtung auf Entdeckungsreise ging - vorausgesetzt, Rachel hatte ihr Versprechen gehalten und war noch nicht wieder an die University of Essex zurückgekehrt. Sylvia war kaum zehn Minuten in The Hide, als es an der Tür klingelte. Sie war eigentlich gar nicht eingeteilt, es war auch nicht ihre Zeit, sondern ihr freier Tag, den sie bei ihrem regulären Job noch gutgeschrieben hatte. Sie war zu Hause gewesen und hatte den Vormittag im Garten verbringen und nachmittags ins Kino gehen wollen, als Lucy Angeletti angerufen und gesagt hatte, Jill Lewis habe immer noch Grippe und sie selbst einen Termin beim Wohnungsamt in Myringham und ob Sylvia nicht so lieb sein und kommen
könnte? Bloß ein paar Stunden, bis Griselda sie um drei Uhr ablösen würde. Sie hatte natürlich zugesagt und ihre Mutter angerufen, um sie zu bitten - für den Fall, daß sie sich verspätete -, die Jungs von der Schule abzuholen, und war um elf hergekommen. 81 Als sie selbst noch klein gewesen war, etwa mit zehn, hatte sich niemand etwas dabei gedacht, sie allein aus der Schule nach Hause gehen zu lassen. Keiner hätte es für unvorsichtig gehalten, daß sie auch gleich ihre kleine Schwester mit nach Hause nahm. Aber heute hatten alle Angst, ihre Kinder auch nur fünf Minuten aus den Augen zu lassen. Und noch mehr Angst hätten sie gehabt, wenn sie heute morgen den Courier gelesen hätten, wie Sylvia, die sich die Zeitung zusammen mit einer Tasse Tee mit ins Bett genommen hatte. Vermutlich hatte es, als sie klein war, auch schon Kinderschänder gegeben und bestimmt genauso viele - die menschliche Natur ändert sich ja nicht -, doch erfuhr man damals selten davon, wogegen heutzutage hinter jedem Busch und an jeder Ecke einer zu lauern schien. Sie hängte gerade ihren Regenmantel im Korridor auf, und weil bis auf die zwei Dreijährigen auf der Treppe niemand da war, schien es naheliegend, daß sie an die Tür ging. Als sie schon die Hand am Riegel hatte, fielen ihr die Anweisungen wieder ein, die sie bei ihrer kurzen Schulung für diese Aufgabe bekommen hatte. Sei vorsichtig, wenn du die Tür aufmachst, sieh vorher durch den Spion, leg die Kette vor. Es könnte ein gewalttätiger Ehepartner oder Lebensgefährte sein, der die Frau sucht, die er tätlich angegriffen hat und die vor ihm geflüchtet ist. Also zog Sylvia die Hand zurück, legte die Kette vor, schob die kleine runde Kappe über dem Spion weg und spähte hindurch. Eine alte, sehr aufgeregt wirkende Frau war zu sehen. Sylvia hakte die Kette aus und öffnete. Die Frau hielt ihr ein Klemmbord entgegen, auf dem ein Stapel Papiere befestigt war. Es hörte sich an, als hätte sie ihren Text mühsam auswendig gelernt. »Vielleicht möchten Sie auch den Antrag der Anwohnergemeinschaft von Kingsbrook unterschreiben? Wir erheben Einspruch gegen das Wohnhaus, wo ein Kinderspielplatz geplant ist.« »Sprechen Sie von The Hide?« fragte Sylvia. »So heißt das ja wohl, ja. Aber vielleicht möchten Sie sich 81 erst einmal die Informationen durchlesen, die ich hier habe. Darin wird die ganze Situation erklärt und wieso die Anwohner von Kingsbrook so entschieden dagegen sind.«
Sylvia hatte Mühe, nicht in Lachen auszubrechen. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, atmete tief durch und sagte höflich: »Das hier ist The Hide.« »Das hier? Dieses Haus?« Die Frau klang wie vor den Kopf geschlagen. Um sich wieder zu fassen, flüchtete sie sich - wie so viele - in wirre Anschuldigungen. Die hatte sie vorher nicht eingeübt. »Woher soll man das denn wissen? Da steht doch gar kein Name und keine Hausnummer. Also, das gehört doch gesetzlich verboten, daß ein Haus keine Hausnummer hat.« »Stimmt. Ich werd's der Polizei melden«, sagte Sylvia, machte die Tür zu und brach in Gelächter aus. Sie würde es der Polizei melden, sie würde es ihrem Vater sagen, wenn sie ihn heute abend sah. Er würde sich köstlich amüsieren. Sie ging die Treppe hoch. Auf dem ersten Treppenabsatz kam ihr eine Schwarze mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau aus einem der Zimmer entgegen. Schwarze waren in Kingsmarkham und Umgebung selten, obwohl inzwischen mehr hier wohnten als noch vor einem Jahr. Sylvia überlegte, woher die Frau wohl kam und was ihr widerfahren war. Sie war groß und hatte einen majestätischen Gang; ihr geflochtenes Haar war um den Kopf gewunden und oben zu einer Krone aufgesteckt. Sylvia sagte hallo und daß es ja schon wieder regnete und ging weiter ins oberste Stockwerk. Dort saß Lucy Angeletti und sprach gerade am Telefon. Es hörte sich nicht so an, als handelte es sich um einen Krisenanruf. »Also gut, danke«, hörte sie Lucy sagen. »Wenn heute morgen jemand vorbeikommt, zeige ich den Brief, den ich gekriegt habe. Auf Wiederhören.« Sylvia sah sie fragend an. »Eine Morddrohung«, klärte Lucy sie auf. »Natürlich anonym. Du hast meine Frau. Wenn sie nicht heimkommt, bring ich dich um, du Schlampe.« 82 »Hast du da eben die Polizei angerufen? Schicken sie jemanden her?« »Aber nicht deinen Vater«, lachte Lucy. »Der ist viel zu hochrangig. Also, ich mach mich mal auf den Weg, okay? Übrigens muß jeden Moment eine neue Frau ankommen. Sie hat die Nacht auf der Polizei in Pomfret verbracht, mit ihrem Baby und einem Zweijährigen. Sie bekommt unser letztes freies Zimmer, und danach weiß ich auch nicht, was wir machen sollen. Jetzt muß ich aber rüber nach Myringham.« Vom Fenster aus sah Sylvia die Frau im Taxi ankommen. Sie wußte, daß sie dafür vom Sozialamt einen Gutschein ausgestellt bekommen hatte. Das winzige Baby lag in dem Tragegurt, den die Frau um ihre magere Brust trug, wie in ein Vogelnestchen gebettet. Das Kleinkind weinte und drückte sich die geballten Fäuste auf die Augen. Lucy kam ihr auf der Treppe draußen
entgegen und nahm den mitgebrachten Koffer vom Rücksitz des Taxis, ohne daß ihr der Fahrer dabei zu Hilfe kam. In dem Gutschein, vermutete Sylvia, war ein Trinkgeld nicht inbegriffen. Sie sah zu, wie das Taxi zwischen den strauchbestandenen Böschungen zurücksetzte und saß bereits wieder am Schreibtisch, als das Telefon anfing zu klingeln. »The Hide. Was kann ich für Sie tun?« Schweigen. Gewöhnlich war es entweder still, oder man hörte einen hastigen Redeschwall. Den meisten Frauen war der Anruf peinlich. Obwohl ohne Schuld, schämten sie sich. Schließlich beklagten sie sich bei Außenstehenden über den Mann, den sie sich als Lebenspartner ausgesucht hatten. Oft begannen sie mit Entschuldigungen für sich oder den Mann, der sie verprügelt hatte. Während das Schweigen anhielt, dachte Sylvia an die Frau, mit der sie letzthin abends gesprochen hatte, deren Mann sie mißhandelt hatte, weil er behauptete, sie sei wahnsinnig, und der damit erst aufhören wollte, wenn sie sich von ihrem Wahnsinn heilen ließe. Nachdem sie ihr Herz ausgeschüttet hatte, hatten sie nichts mehr von ihr gehört, und Sylvia hatte keine Möglichkeit zu erfahren, ob sie ihren Ratschlag, zur Polizei zu gehen, befolgt hatte. 83 Sie wiederholte: »Hier ist The Hide. Was kann ich für Sie tun?« Plötzlich fragte eine Stimme: »Ist dort vielleicht der Frauenhilfsbund?« »Nein, hier ist der Notruf von The Hide. Wir bieten den gleichen Service an wie der Frauenhilfsbund. Kann ich etwas für Sie tun?« »Was können Sie - was würden Sie denn für mich tun?« Sylvia schlug einen sehr behutsamen Ton an. »Wollen Sie mir nicht erst sagen, wo das Problem liegt? Hat Ihnen jemand weh getan?« »Es war gestern abend. Bevor er zur Arbeit ist. Im Moment ist er dort, um elf kommt er wieder, vielleicht auch schon früher. Erst dachte ich, er hätte mir den Arm gebrochen, aber ich glaube nicht. Wenn ich ihn bewegen kann, ist er doch nicht gebrochen, oder? Ich hab' überall Blutergüsse, und mein Gesicht sieht furchtbar aus.« Sylvia sah auf die Uhr. Es war fast halb elf. Sie fragte nicht, weshalb die Frau nicht schon früher angerufen hatte, warum sie so lange gewartet hatte. Sie konnte nur ahnen, was es sie an Überwindung gekostet hatte, überhaupt anzurufen, ihren Stolz und ihre Privatsphäre aufzugeben und einer Fremden zu offenbaren, wie weit es mit ihrer Ehe gekommen war.
»Am besten gehen Sie zum nächsten Revier. Sind Sie in Kingsmarkham?« Die Frau wollte ihre Adresse nicht nennen, spürte Sylvia, vernahm aber ein widerstrebendes, zustimmendes Murmeln. »Sagen Sie mir Ihren Namen?« »Lieber nicht.« »In Ordnung. Wie Sie möchten. Das macht nichts. Gehen Sie jetzt zum Polizeirevier von Kingsmarkham. Wissen Sie, wo das liegt? In der High Street, gleich oben an der Pomfret Road, gegenüber von der Tabard Road. Ich rufe dort an und sage, daß Sie kommen. Werden Sie das tun?« »Ach, ich weiß nicht...« »Ich rufe an, sobald ich aufgelegt habe, und sage ihnen, sie sollen in einer halben Stunde mit Ihnen rechnen.« 84 »Wiederhören«, sagte die Stimme unvermittelt. »Danke. Wiederhören.« Der Hörer wurde aufgelegt, das Freizeichen ertönte. Sylvia hatte keine Möglichkeit zu erfahren, ob die Anruferin ihren Rat befolgen würde, doch sie rief auf der Polizei von Kingsmarkham an, sprach mit Sergeant Camb, den sie seit ihrer Teenagerzeit kannte, und kündigte ihm die Ankunft einer Frau mit arg zugerichtetem Gesicht an, Name unbekannt. Kaum hatte sie den Hörer aufgelegt, klingelte es erneut. Diesmal war es ein Mann. »Verdammte Schlampe«, sagte die Stimme. »Du frigide lesbische Kuh. Weißt du, was ich mit dir mache? Ich werd' dir...« Sylvia hielt den Hörer mit ausgestrecktem Arm von sich. Dabei bemerkte sie, daß ihre Hand zitterte, ihr ganzer Arm bebte. Lucy hatte gelacht, als sie ihr letztesmal davon erzählt hatte, und gesagt, das kenne sie schon, dieses Zittern und Beben, das hätte sie auch gehabt, aber irgendwann würde es sich legen. Sylvia würde sich an diese Anrufe schon noch gewöhnen und mit der Zeit lernen, damit umzugehen. Ein Schwall von Obszönitäten ergoß sich aus dem Hörer. Sylvia legte ihn hin und holte tief Luft. War es der Mann der Frau, die ihren Namen nicht hatte nennen wollen? War er nach Hause gekommen, während sie noch gesprochen hatte? Sylvia hoffte inständig, daß sie sich täuschte. Das war das Schlimmste an dieser Aufgabe, daß man selten, eigentlich fast nie erfuhr, wie es ausgegangen war, daß man nicht wußte, wie die nächste Phase im gefährlichen Leben der Anruferin verlief. Etwa eine halbe bis Dreiviertelstunde lang kamen keine Anrufe. Dann klingelte das Telefon. Vielleicht weil es so lange still gewesen war, kam ihr das Klingeln lauter und durchdringender vor als gewöhnlich. Ein schriller Klingelton, dann eine weiche, gebildete Stimme.
»Ich heiße Anne. Meinen Nachnamen möchte ich nicht nennen.« 85 »Schon gut«, sagte Sylvia. »Möchten Sie mir sagen, was Sie für ein Problem haben?« Zögern, dann in einem leicht verwirrten Ton: »Es ist doch immer das gleiche Problem, oder?« »Im Grunde schon, ja vielleicht. Die Details sind unterschiedlich. Normalerweise geht es um eine Frau, der man weh getan hat, aber nicht immer. Manchmal geht es nicht um körperlichen, sondern um seelischen Mißbrauch.« Ihr Lachen klang unheimlich, kalt und hohl, es war das freudloseste Lachen, das Sylvia je gehört hatte. »Oh, an dem, was mir weh tut, ist nichts Seelisches, glauben Sie mir.« »Ich würde Ihnen gerne helfen«, sagte Sylvia. Sie benutzte den Vornamen, an den sie nicht recht glaubte: »Ich würde Ihnen wirklich gern helfen, Anne. Möchten Sie mir nicht sagen, was los ist?« »Dazu müßte ich Sie sehen, ich müßte mit jemandem unter vier Augen sprechen, es ist eine lange Geschichte und würde Tage oder Wochen dauern.« Sie hielt inne, und es folgte eine Pause. Sylvia lauschte ihrem Schweigen und konnte leichte Atemgeräusche ausmachen. Dann drang ein herzzerreißender, verzweifelter Hilfeschrei, wie ihn Sylvia noch nie gehört hatte, aus dem Hörer, dünn und klagend: »Was soll ich bloß tun?« »Sind Sie in Kingsmarkham?« »Ja.« »Ist sonst noch jemand im Haus?« »Er ist im Garten. Das Baby ist bei ihm. Ich kann sie durchs Fenster sehen. O Gott, er kommt herein, ich muß jetzt aufhören, ich hätte Sie nicht anrufen sollen. Jetzt will er bestimmt wissen, mit wem ich gesprochen habe - was soll ich sagen?« »Rufen Sie wieder an, wenn Sie allein sind«, sagte Sylvia im ruhigsten Ton, den sie zuwege brachte. »Ich lege jetzt auf.« Keine Antwort. Der Hörer war aufgelegt worden. Sylvia saß über ihren Schreibtisch gebeugt, den Kopf in die Hände ge 85 stützt. Er hatte sie ziemlich mitgenommen, dieser Anruf. Es war bisher der schlimmste gewesen. Besonders erschreckend kam ihr vor, daß es eine Frau aus der Mittelschicht war - Sylvia gestand es sich widerstrebend ein -, eine
Frau, die womöglich behütet aufgewachsen war, in diesem Land, in dieser Stadt lebte und im Tonfall einer Gefangenen oder eines Folteropfers sprach. Als sie sich vorstellte, wie der Mann ins Zimmer kam, ihr den Hörer aus der Hand riß und ihr mit der freien Hand ins Gesicht schlug, überlief sie ein Schauer. Bei dieser Aufgabe brauchst du einen Drink, dachte sie manchmal, aber das ging nicht, sie wußte, wohin es führte, mitten am Tag zu trinken. Sie sagte sich, daß es außer »Anne« auch noch andere gab, um die man sich kümmern mußte, und rief sicherheitshalber noch einmal auf der Polizeistation von Kingsmarkham an, doch eine Frau mit mißhandeltem Gesicht war dort nicht angekommen. »Beschreiben Sie mir doch noch einmal das Haus«, sagte Wexford. Sie saßen in Karen Malahydes Auto. Karen chauffierte, Rachel Holmes saß neben ihr auf dem Beifahrersitz und Wexford auf dem Rücksitz. »Ich hab's Ihnen doch schon gesagt.« Eines mußte man Rachel lassen, vor der Polizei hatte sie keine Angst. »Es stand ganz für sich, drumherum waren Felder und Wälder, keine anderen Häuser, es hatte Schindeln über die ganze Vorderfront -na ja, nicht überall, nur im oberen Teil, der Rest war aus rotem Ziegelstein - und einen großen Baum im Vorgarten. Eine Kiefer, glaub' ich, vielleicht eine Waldkiefer.« »Letztes Mal haben Sie behauptet, eine Tanne, ein Weihnachtsbaum.« »Na, das ist eine Kiefer doch auch, oder? Ich weiß es nicht, ich weiß bloß, was ich gesehen hab'. Ich hab' immer wieder drüber nachgedacht, ich hab' die Augen zugemacht und versucht, es mir bildlich vorzustellen, und seh' immer eine Art Weihnachtsbaum.« Damit meinte sie, daß es sich um einen Nadelbaum han 86
delte, aber Wexford korrigierte sie nicht. Er wußte, wie leicht sie aus dem Konzept zu bringen war und dann in mürrisches Schweigen verfiel. Wenn er nur auch wüßte, wie man sie in eine heitere und mitteilungsfreudige Stimmung versetzen könnte! »Also, Rachel«, sagte er, »während Sie dort eingesperrt waren, konnten Sie sich doch denken, daß man nach Ihrer Freilassung die Polizei einschalten würde. Haben Sie darüber einmal nachgedacht?« »Manchmal dachte ich, ich werde überhaupt nicht mehr freigelassen.« »Na gut, aber Sie haben uns auch zu verstehen gegeben, daß Ihre schlimme Lage Ihnen nicht besonders viel angst gemacht hat. Während Sie bei Vicky und... äh, Jerry waren, dachten Sie doch bestimmt daran, daß die Polizei Sie
zur gegebenen Zeit darum bitten würde, Ihre Umgebung so genau wie möglich zu beschreiben. Haben Sie sich zum Beispiel gemerkt, was Sie aus den Fenstern sehen konnten?« Rachel schniefte. Sie hatte die etwas unschöne Angewohnheit zu schniefen, wo andere vielleicht die Schultern gezuckt hätten. »Die haben mir dieses Zeug gegeben, das wissen Sie doch. Sie sagten doch auch, was es war. Davon kam mein Gedächtnis ganz durcheinander. Na, jedenfalls konnte man nur Felder sehen. Mehr war da nicht, bloß meilenweit lauter Felder. « Sie fuhren von Stowerton in südlicher Richtung nach Flagford. An dieser Straße gab es nur wenige unbebaute Stellen, allerdings standen die Häuser alle weit auseinander, jedes war von seinem Nachbarn etwa eine Viertelmeile entfernt. Die Gebäude hatten unterschiedliche Baustile: Es gab Bauernhäuser und ehemalige Witwensitze, Cottages, ausgebaute Scheunen, moderne Villen und am Ortsrand von Flagford sogar ein paar oberflächlich als Herrenhäuser getarnte Wohnblocks, jedoch wenig Bungalows. Rachel machte ein verdrossenes Gesicht, was Wexford darauf zurückführte, daß sie entweder gerade an Dr. Devonshires Haus oder an dem Gesundheitszentrum vorbeifuhren, in dem er seine Praxis hatte. 87 Sich im Dorf selbst länger aufzuhalten lohnte sich nicht, denn Rachel behauptete steif und fest, daß das Haus, in das sie gebracht worden war, von freiem Feld umgeben war. Karen fuhr über Seitensträßchen und schmale Feldwege, durch den Wald und weiter ins Hügelland hinauf. Die geschwungenen sanften Hügel und die Bergregionen wurden nur von Schafen bewohnt. Weit und breit war kein Haus in Sicht. Außerdem behauptete Rachel steif und fest, daß sie nirgendwo hier in der Gegend gewesen war. »Ich hab' gesagt, Felder«, meinte sie, »Felder und Wälder, und hügelig war es auch nicht.« »Da kann man lange suchen«, sagte Karen knapp, »bis man hier in der Gegend was findet, was nicht hügelig ist.« Sie konnte Rachel nicht leiden, hatte Wexford bemerkt, und ließ sich ihre Abneigung auch anmerken, eine Haltung, die der Sache nicht unbedingt förderlich war. »Fahren Sie weiter«, sagte er. »Halten Sie sich nördlich von den Hügeln.« Südwestlich von Pomfret gelangten sie zu einem Haus, auf das Rachels Beschreibung haargenau zutraf, glaubte Wexford jedenfalls. Ein Bau dieser Art wurde gewöhnlich als Bungalow im Chalet-Stil bezeichnet, weil das Obergeschoß aus einem einzigen, direkt unter dem Dach liegenden Raum
bestand. Das Haus stand für sich an einer abgelegenen Straßenkreuzung, wobei es sich bei den Straßen lediglich um schmale Feldwege handelte. An der oberen Hälfte des Hauses waren muschelförmige Schindeln angebracht, während das untere Stockwerk aus hellroten Ziegeln gemauert war. Vor den Fensterscheiben waren Gitter, und die Haustür war ein einziger bleiverglaster Anachronismus. Im Vorgarten mit Rasen und Kiesauffahrt stand ein hoher, schöner Baum, der ungefähr die Form einer Pappel hatte und offensichtlich laubtragend war, denn er begann gerade auszuschlagen: Sein elegantes Astwerk war mit einem feinen, zartgrünen Hauch bedeckt. Vielleicht eine ursprünglich aus den Sumpfgebieten Louisianas stammende Sumpfzypresse, dachte Wexford und äußerte seine Vermutung. 88 »Ich hab' gesagt, eine Kiefer«, sagte Rachel störrisch. »Eine Kiefer oder Tanne. Einigen wir uns auf eine Konifere, ja?« / »Warum hat die dann keine - wie heißt das? Nadeln, stimmt's - warum hat die keine Nadeln?« Wexford wurde es allmählich zu dumm. »Könnte dies das Haus sein?« »Nein«, erwiderte Rachel, »es sieht total anders aus.« »Es entspricht aber Ihrer Beschreibung«, sagte Karen. »Die Haustür stimmt nicht. Ich weiß, über die Haustür hab' ich nichts gesagt, aber jetzt fällt's mir wieder ein, und die hier stimmt nicht. Der Baum stimmt nicht, und die Tür und die Schindeln haben die falsche Farbe. Und«, fügte Rachel auftrumpfend hinzu, »es lag nicht an einer Kreuzung.« Sie brachten sie nach Hause. Sie war offensichtlich erleichtert. Am Sonntag würde sie nach Colchester an die University of Essex zurückkehren und ihr Erlebnis mit Vicky und Jerry im Haus mit der Kiefer hinter sich lassen. Falls das Haus, das sie beschrieben hatte, überhaupt existierte, wie Karen auf der Rückfahrt nach Kingsmarkham bemerkte. Falls es das Haus gab. Sie hatte zwar mehr Phantasie als Lizzie Cromwell, aber nicht viel mehr. »Was ist diesen beiden Mädchen passiert, das sie uns unbedingt verheimlichen wollen?« fragte Wexford. »In Lizzies Fall offensichtlich eine Vergewaltigung.« »Das glaube ich nicht.« In Karens Blick lag eine gewisse Enttäuschung, als hätte sie ihn bis dahin für einen Mann gehalten, der eine Vergewaltigung ernst nahm, ihre Meinung nun aber leider ändern müsse. »Sie ist aber schwanger, Sir.« »Soweit wir wissen. Und wenn - man kann auch auf andere Art und Weise dazu kommen.« Wexford sah sie scharf an. »Nächstes Mal, Sergeant
Malahyde, tragen Sie Ihre Abneigung gegen das Mädchen etwas weniger deutlich zur Schau, ja? Für eine - wie Sie sicher sagen würden - emotionale Beteiligung ist in der Polizeiarbeit kein Platz.« 89 In den vergangenen zwei Jahren hatte kein Allgemeinarzt in der Region einem Patienten Rohypnol verschrieben. Und selbst wenn es der Fall gewesen wäre, hätte man den Namen des oder der Betreffenden bestimmt nicht erfahren. Sämtliche Apotheker in Kingsmarkham, Stowerton und Pomfret sagten, sie hätten das Mittel zwar vorrätig gehabt, würden es aber nicht mehr führen. Keiner hatte Belege, aber vier von ihnen bewahrten Belege dieser Art sowieso nicht auf. Während Rachel Holmes in der Landschaft herumgefahren wurde, um der Polizei bei ihren Ermittlungen zu helfen (oder sie zu behindern), stellte die Hausärztin der Crownes Lizzies Schwangerschaft offiziell fest. Genauer gesagt, Debbie Crowne und ihre Tochter behaupteten, sie habe sie offiziell festgestellt. Wexford gegenüber verweigerte die Ärztin jegliche Auskunft über ihre Patientin. Lizzie hatte einige lange Gespräche mit Lynn Fancourt geführt, für die sie inzwischen eine gewisse »Schwärmerei« entwickelt hatte. »Wenn ich erwachsen bin, möchte ich auch Polizist werden«, sagte sie - eine Bemerkung, die Lynn so mitleiderregend fand, daß dieser hartgesottenen jungen Frau fast die Tränen kamen. »Polizistin, Lizzie«, sagte sie freundlich. »Polizistin, wollte ich sagen.« »Du bist aber doch schon erwachsen, oder? Erst wenn man erwachsen ist, kann man Babys bekommen.« Schön wär's! »Wenn ich eine eigene Wohnung kriege, könnte Mum ja kommen und sich um mein Baby kümmern, solange ich meine Ausbildung zum Polizist mache ich meine, zur Polizistin. Ihn würde ich nicht in die Nähe von meinem Baby lassen, aber Mum wäre schon okay.« Lynn berichtete Wexford von Lizzies offenkundig heftiger Abneigung gegen Colin Crowne. Sie vermutete dahinter sexuellen Mißbrauch. Lizzies Schwangerschaft machte sich allmählich bemerkbar, was absurd war, wenn die Empfängnis erst vor zwei Wochen stattgefunden hatte. Doch als Lynn sie nach Colin Crowne fragte und - ermutigt durch das sichtliche 89 Vergnügen des Mädchens, sämtliche Fehler von Colin aufzuzählen, »die ganzen gemeinen Sachen«, die er sagte und tat -auf eine eventuelle sexuelle
Beziehung zwischen ihr und ihm anspielte, lachte Lizzie so ungläubig und zeigte sich so offensichtlich verblüfft über die Vorstellung, daß sie fast aufgab. Doch vielleicht waren ihre Andeutungen zu indirekt gewesen. Sie kam deutlicher zur Sache. »Dem würde ich eine reinhauen, die er so schnell nicht vergißt, wenn er mir zu nahe kommt«, sagte Lizzie aggressiver, als Lynn sie je erlebt hatte. Noch mehr als ihr beharrliches Leugnen überzeugte Lynn jedoch ihr wiederholtes Gelächter. Sie regte sich nicht im geringsten auf. Rachels Geschichte schien sie andererseits zu beunruhigen. Davon wollte sie nichts hören. Ihr Märchen von den drei Tagen und Nächten in dem verfallenen Haus hatte sie aufgegeben und behauptete statt dessen nun, sie sei überhaupt nie dort gewesen, es sei nur ein »Traum«. Es hatte sie aber auch niemand in irgendein anderes Haus mitgenommen, sondern sie war durch die Landschaft gewandert und hatte in Scheunen und unter Hecken geschlafen. Um sich vor ihm in Sicherheit zu bringen. Um sich vor Colin in Sicherheit zu bringen, der behauptet hatte, sie sei ein Schwachkopf. Immer hackte er auf ihr herum, bloß weil sie nicht besonders schlau war. »Mochtest du Jerry leiden, Lizzie?« fragte Lynn. Sie seufzte erleichtert auf, als Lizzie - abgelenkt durch ihre Abneigung gegen Colin - erwiderte: »Ich kenn' keinen Jerry. Aber Vicky war schon in Ordnung.« Es war der einzige Durchbruch, allerdings kein besonders großer. 90
7 Es war dunkel, als Thomas Orbe, allseits Tommy genannt, nach Hause in die Oberon Road zurückkehrte. Er kam zu Fuß vom Bahnhof, und weil diejenigen, die sich für seine Rückkehr interessierten, sicher waren, er würde im Taxi oder in einem Streifenwagen oder sogar in einem Gefängniswagen kommen, ging seine Ankunft unbemerkt vonstatten. Der letzte Zug brachte ihn nach Kingsmarkham, und es war kurz nach halb zwölf, als er an dem Haus klingelte, dessen Mieter er war. Bestimmt hatte er einmal einen Schlüssel besessen, der jedoch während der neun Jahre, die er im Gefängnis verbracht hatte, verlorengegangen war. Das Haus lag im Dunkeln, als sei es unbewohnt. Seine Tochter Suzanne öffnete ihm die Tür. Er trat wortlos ein, und sie machte die Tür hinter ihm zu. »Du bist älter geworden«, sagte er, als sie Licht gemacht hatte. »Denkst du vielleicht, du nicht?«
Sechs Jahre war es nun her, seit sie ihn zum letztenmal besucht hatte. Ihr behagten die Blicke nicht, die sie im Knast geerntet hatte. Alle wußten, weswegen er dort saß, und sie ließen es ihn spüren. Aber wieso sollten sie es an ihr auslassen? Sie konnte doch nichts dafür. Nun sah sie zu, wie er ins Wohnzimmer ging und aus dem Fenster schaute. Er wußte, daß aus den Fenstern des Wohnsilos etwas hing, war vorhin aber nicht stehengeblieben, um es beim Schein der einsamen Straßenlaterne und der wenigen Lichter in den Wohnungen zu betrachten. Die Straßenlaterne brannte immer noch, würde jedoch in zwanzig Minuten ausgehen. Ohne jede Gefühlsregung las er die Aufschrift auf dem Transparent. Er war 91 ziemlich gefühllos geworden und reagierte auf nichts, wollte nichts außer am Leben bleiben, obwohl er nicht hätte sagen können, weshalb er am Leben hing. Als ein Gefängnispfarrer einmal zu ihm gesagt hatte, er sei in Gefahr, seine Seele zu verlieren, hatte Tommy nur die Schultern gezuckt. Jetzt sagte er zu seiner Tochter: »Was soll das Ding?« Sie gab keine Antwort. Er konnte das Wort »Pädophile« ausmachen, und falls er zusammenfuhr, sah man es nicht. Er wandte sich vom Fenster ab und sagte: »Der Kerl da von dir, ist der noch hier?« »Das ist mein Verlobter«, sagte sie. Tommy Orbe lachte. Sein Gelächter hörte sich an wie ein Instrument, das schon lange nicht mehr benutzt worden war. Es war, als spräche er eine Sprache, die er auf dem Schoß seiner Mutter erlernt hatte, die aber seit Jahren schon von einem härteren Idiom überlagert war. In dem stillen, fast dunklen Haus hallte es ein wenig wider. »Dein Bett hab' ich hergerichtet«, sagte sie und fügte hinzu, »hinten.« »Habt euch mein Zimmer genommen, was? Du und dein Verlobter?« Das letzte Wort sprach er mit unverhohlener Verachtung aus. »Essen und trinken will ich nichts«, sagte er, als hätte sie ihn gefragt. Er nahm den Koffer, den er im Eingang abgestellt hatte, und ging nach oben, ohne zur besseren Orientierung mehr Licht zu machen. Seine Tochter wartete unten an der Treppe, bis er verschwunden war. Dann öffnete sie die Haustür und sah auf die stille, menschenleere Straße hinaus, auf die Häuserreihen, das Wohnsilo und das Transparent, das sanft im Wind flatterte. Als Schlag Mitternacht die Straßenlampen ausgingen, schloß sie die Haustür ab, verriegelte sie und legte die Kette vor. Dann ging sie ebenfalls zu Bett.
In dem geräumigen, unpraktischen, recht ansehnlichen und unvollständig modernisierten ehemaligen Pfarrhaus, in dem sie mit ihrem Mann und den beiden Söhnen wohnte, lag Syl 92 via wach und machte sich Sorgen um The Hide. Die Frau, die am Morgen (inzwischen war es gestern morgen) gekommen war, hatte mit ihren Kindern das letzte verfügbare Zimmer belegt. Was sollten sie tun, wenn die nächste Anruferin um Zuflucht bat? Wenige Stunden nach der Ankunft der Frau hatte eine andere angerufen und voller Hoffnung und Unschuld gefragt: »Kann ich vielleicht bei Ihnen wohnen? Kann ich mein Baby mitbringen?« Und als Sylvia sich genauer nach ihrem Problem erkundigt hatte, hatte sie gefragt: »Würde ich denn eine Wohnung bekommen, für mich und mein Baby?« Manche hatten derartig optimistische Erwartungen, andere beinahe gar keine. Manche wollten nur ein geduldiges Ohr, einen Menschen, dem sie sich anvertrauen konnten, während es immer wieder welche gab, die dachten, nachdem sie nun schon einmal den ersten kleinen Schritt gemacht hatten diesen riesigen, enormen, fast unmöglichen Schritt -, würde alles andere schon folgen: Man würde für eine ausreichende Unterbringung sorgen, das Gericht für sie einschalten, den Mann als Verursacher ihrer Schwierigkeiten bestrafen, verwarnen und dazu bewegen, sich so zu verhalten, wie sie es von ihm erwartet hatten, als sie sich mit ihm zusammentaten. Was wurde eigentlich aus denen, die anriefen, dann aber nicht zur Polizei oder irgendwelchen sozialen Einrichtungen gingen? Die mit dem arg zugerichteten Gesicht zum Beispiel? Und was war aus der Frau namens Anne geworden, die so schrecklich verbittert gelacht hatte, als Sylvia von seelischem Mißbrauch sprach, und die so entsetzt geklungen hatte, als sie ihren Mann aus dem Garten hereinkommen sah? Was war ihr zugestoßen, als er sie zur Rede stellte und vielleicht erfuhr, mit wem sie telefoniert hatte? Hatte er sie wieder geschlagen? Sie wieder verletzt? Und was war mit dem Baby, von dem sie gesprochen hatte? Sylvia machte sich Sorgen, sie lag die ganze Nacht wach neben dem netten, freundlichen, langweiligen Mann, den sie schon lange nicht mehr liebte. Genauso unwahrscheinlich, wie daß er die Hand gegen 92 sie erheben würde, dachte sie, war es, daß er sich in jenen interessanten, aufregenden und charmanten Liebhaber verwandelte, für den sie ihn gehalten hatte, als sie ihn heiratete. Viele von diesen brutalen Ehemännern und Partnern, »Verlobten« und Freunden waren charmante Männer - höflich,
rücksichtsvoll und geradezu reizend zu allen außer zu den Frauen, mit denen sie zusammlebten. Sylvia fragte sich, woher das wohl kam. Sie hatte ihren Vater nach seiner Meinung gefragt, als sie am Vorabend Robin und Ben abgeholt hatte. »Vielleicht, um ihr wahres Verhalten zu verschleiern«, hatte er geantwortete. »Bloß würdest du diese Erklärung psychologisch für so fragwürdig halten, daß ich es mich nicht zu sagen traue.« »Ja, das kann es nicht sein«, hatte sie in ihrer wegwerfenden Art gesagt. »Das ist lächerlich.« Und gleich darauf hatte sie sich wie so oft gewünscht, sie wäre netter zu ihm gewesen. Er bemühte sich redlich, so zu tun, als liebte er sie ebensosehr wie ihre jüngere Schwester. Sie merkte, wie er sich bemühte, was jedoch nicht dazu führte, daß sie ihm gegenüber Zärtlichkeit empfand. Sie fand, daß er Sheila nicht vorziehen sollte. Wieso tat er es? Sie liebte ihre Söhne beide gleich, sie machte zwischen ihnen keine Unterschiede, weil sie tatsächlich keinen dem anderen vorzog. Als hätte sie ihn nicht so angefahren, hatte er einfach weitergeredet. »Für nächsten Mittwoch ist ein Treffen anberaumt. Der zukünftige Stellvertretende und ich und ein paar Leute von der regionalen Kriminalpolizei und eine gewisse Griselda Cooper von The Hide. Dabei wollen wir Möglichkeiten diskutieren, wie wir die Mobiltelefone den Frauen zukommen lassen können, die sie brauchen.« Er zog sie ins Vertrauen, dachte sie, er bemühte sich darum, über Dinge zu reden, von denen er dachte, daß sie sie interessierten. »Kennst du Ms. Cooper?« Der für ihn untypische Gebrauch der Anrede »Ms.« fiel ihr 93 auf. Zweifellos um ihr zu schmeicheln. »Klar kenne ich sie«, sagte sie spitz. »Wir haben schließlich keine hundertköpfige Schar von Mitarbeiterinnen, leider.« Jetzt, als sie wach neben Neil lag, mußte sie wieder an ihre scharfe Antwort denken. Sie war zu alt, um sich so aufzuführen. Was war eigentlich mit ihr los, daß sie nicht einmal mit ihrem eigenen Mann und mit ihrem Vater auskommen konnte? Mit ihrer eigenen Mutter übrigens auch nicht. Mit Kindern kam sie großartig zurecht. Mit Armen, Benachteiligten, sozial Ausgegrenzten konnte sie ausgezeichnet umgehen. Das sagten alle. Wieso dann nicht mit ihrem freundlichen, nachsichtigen Vater? Da schoß ihr auf einmal ein so gewagter und kühner Gedanke durch den Kopf, daß sie sich im
Bett aufsetzte. Hatte sie denn nicht immer behauptet, hatte man ihr nicht in der Therapie beigebracht, daß es unter solchen Umständen angebracht war, die Dinge »auszudiskutieren«? Warum diskutierte sie es mit ihrem Vater nicht einfach aus? Sie sagte es laut vor sich hin und weckte Neil dabei fast auf. »Was ist denn los?« brummte er. »Stimmt was nicht?« Wenn sie ihm gegenüber ihre Differenzen zur Sprache brachte, endete es immer damit, daß er erwiderte, es gäbe doch gar nichts zu bereden, sie paßten nun einmal nicht zueinander, das sei alles, müßten um ihrer Söhne willen aber zusammenbleiben. Sie sah im düsteren Halbdunkel der Morgendämmerung hinüber auf seine geschlossenen Augen, die Stirnfalten, die sich nie glätteten, und beugte sich dann über ihn, um ihn sanft auf die Wange zu küssen. Er lächelte im Schlaf. Dieses Lächeln trieb ihr Tränen in die Augen, und sie dachte, wenn er schläft, liebe ich ihn immer noch. Sie legte sich wieder hin und schmiegte sich dicht an ihn. Es war ein wunderschöner Tag, seit einem Monat der erste wirklich schöne Tag. Der Himmel war blau, die Sonne schien, und jedes Grashälmchen, jedes neue Blatt, jede Frühlingsblume leuchtete, frisch genährt vom wochenlangen Regen. Wexford und Dora hatten vor, mit dem Zug auf einen Ein 94 kaufsbummel nach London zu fahren, die Bonnard-Ausstellung in der Täte Gallery zu besuchen und sich abends Sheila in der Neuinszenierung von Somerset Maughams Home and Beauty im Theatre Royal am Haymarket anzusehen. Weil das Wetter so schön war, gingen sie zu Fuß zum Bahnhof und besprachen unterwegs, ob sie gleich nach dem Vorhang gehen müßten, um den letzten Zug nach Hause zu erreichen, oder ob das Stück so früh zu Ende wäre, daß sie mit Sheila noch Zeit für ein Glas Sekt in ihrer Garderobe hätten. Bürden war in seinem Garten. Seine Frau hatte rings um ein penibel angelegtes Blumenbeet eine Buchsbaumeinfassung gepflanzt, und er mußte nun entscheiden, wie er sie stutzen wollte. Sollte er sie eckig oder spitz zulaufend schneiden? Oder jeden einzelnen kleinen Busch in eine Kugel verwandeln? Er bezweifelte, ob er zu letzterem in der Lage wäre. War es zum Schneiden denn nicht überhaupt noch viel zu früh im Jahr? Vielleicht sollte er bloß die hervorstehenden Blättchen abschnippeln. Er beschloß, die Sache zu vertagen und statt dessen den Rasen zu mähen. Im Muriel Campden Estate war das Straßenschild neu gestrichen und der Bogen im P von Puck wiederhergestellt worden. Lange würde es nicht so
bleiben, wie Hayley Lawrie zu Kate Burton sagte, während sie zu den Crownes schlenderten, wo sie Lizzie Cromwell fragen wollten, ob sie mit in das neue Einkaufszentrum in Myringham käme. Kate war gerade sechzehn geworden und wollte sich von den fünfzig Pfund, die ihr Vater, ihre Stiefmutter und ihre beiden Halbbrüder ihr geschickt hatten, ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Lizzie, die seit ihrer Entführung nicht mehr zur Schule gegangen war und auch nicht die Absicht hatte, wieder hinzugehen, meinte, sie könnte nicht mitkommen, denn sie sei schwanger und müsse ruhen. Die beiden Mädchen staunten über die Neuigkeit, staunten, waren entzückt und tief beeindruckt. Genaue Einzelheiten wurden verlangt. Wer, warum und wann? Kaum hatte Lizzie zu erzählen begonnen, als Colin Crowne ins Zimmer trat und sich unterwegs am Stummel 95 der letzten Zigarette eine neue anzündete. Er hatte Lizzie sagen hören, sie könne nicht mitkommen, und weil er sie gern loswerden wollte, meinte er, sie sei ja wohl blöde, oder was? Natürlich müsse sie mitgehen, es würde ihr guttun, schließlich sei es doch nicht mehr wie in den »alten Zeiten«. Kate, die in Colin verknallt war, warf ihm schmachtende Blicke zu, die er jedoch nicht beachtete, weil er andere Eisen im Feuer hatte. Als die Mädchen fort waren, gingen er und seine Frau - ein Status, den sie sich durch Annahme seines Nachnamens selbst verliehen hatte - ein paar Häuser weiter, um Brenda Bosworth, Mutter von drei kleinen Kindern, einen Besuch abzustatten. Die kleinen Bosworths waren mit ein paar anderen Kindern vom Estate unbeaufsichtigt im York Park beim Spielen. Colin, Debbie und Brenda Bosworth marschierten die Puck Road hinunter in die Oberon Road und klingelten an Tommy Orbes Haustür. Suzanne schob die Riegel zurück und öffnete die Tür, behielt die Kette aber vorgelegt. Dadurch stand die Tür etwa fünfzehn Zentimeter weit offen. »Wo ist er?« fragte Colin Crowne. »Was geht Sie das an?« entgegnete Suzanne. »Ist er da drin?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« »Wir wollen eine klare Antwort auf eine klare Frage.« Brenda Bosworth schob Colin mit dem Ellbogen beiseite und versuchte, hinter Suzanne einen Blick in den Hausflur zu erhaschen. »Und die Frage lautet«, rief sie theatralisch, »wo ist Thomas Orbe, der berüchtigte Pädophile?«
»Ach, verpißt euch doch alle«, sagte Suzanne und knallte ihr die Tür vor der Nase zu. Unbeirrt gingen sie hinten um die Doppelhaushälfte herum, Colin vorneweg, die beiden Frauen hintendrein. Zwischen der Seitenwand und dem Zaun, der den Garten vom Nachbargrundstück trennte, befand sich ein Tor aus Maschendraht auf einem Holzrahmen. Colin stieß es auf, und sie betraten den Garten hinter dem Haus. Der bot einen verblüf 96 fenden Kontrast zu den Gärten auf beiden Seiten, die säuberlich mit Rasen und Blumenbeeten angelegt waren. Im Garten der Orbes wucherten Brennesseln, Disteln und Sauerampfer ebenso üppig wie in den benachbarten Gärten Tulpen und Goldlack. Mitten im Unkraut, an der Stelle, wo die Nachbarn auf der einen Seite ein Vogelbad aufgestellt hatten, lag ein verrostetes eisernes Bettgestell. Colin, Debbie und Brenda nahmen von all dem jedoch keine Notiz. Nachdem sie beim Vorbeigehen zum Wohnzimmerfenster, das nach vorn hinausging, hinübergespäht und gesehen hatten, daß die Vorhänge zugezogen waren, steuerten sie jetzt auf die Verandatür zu. Dahinter sahen sie Garry Wills, den Mann, den sie als Suzannes Verlobten kannten, vor dem Fernseher sitzen und einen wesentlich älteren Mann, der überhaupt nichts tat, sondern nur die gegenüberliegende Wand anstarrte. Er war klein und gedrungen, hatte ein aufgedunsenes, dickliches Gesicht und stahlgraues, erstaunlich langes, üppiges Haar. Große, dickgeäderte Hände lagen schlaff auf seinem Schoß, die Fingernägel so dick und gelb wie Hufe. Er trug graue Flanellhosen, die viel zu groß für ihn waren, und ein viel zu jugendliches, blauweiß gestreiftes T-Shirt. Debbie Crowne trommelte ans Fenster. Garry Wills wandte den Kopf und sah sie grimmig an. Der andere Mann rührte sich überhaupt nicht, sondern starrte weiter vor sich hin, selbst seine Hände blieben absolut reglos auf seinen knochigen Knien liegen. »Wir haben Sie schon gesehen, Tommy Orbe«, kreischte Debbie. »Wir wissen, daß Sie's sind.« »Wir wissen, daß Sie da drin sind«, sagte Colin, als hätte sich Orbe in einem Wandschrank versteckt. »Glauben Sie bloß nicht, Sie kommen damit durch.« Suzanne Orbes Verlobter wandte den Blick wieder auf den Bildschirm. Orbe rührte sich nicht. Er sah aus wie seine eigene Wachsfigur. Unschlüssig, wie sie sich weiter verhalten sollten, gingen Colin und Debbie Crowne und Brenda Bosworth wieder vors Haus, wo sie auf der Straße zwei Frauen be 96
gegneten, die an Besenstielen befestigte Pappschilder vor sich hertrugen. Auf dem einen stand Pädophiler hau ab, auf dem anderen Schützt unsere Kinder. Das Transparent war immer noch wie ein Gürtel rund um den Turm gespannt. Colin überredete die Frauen, sich ihm, Debbie und Brenda anzuschließen, woraufhin sie sich gemeinsam auf den Weg zum York Park machten, um ihre Kinder einzusammeln, die auf Schaukeln, Wippen und Klettergerüsten spielten, und sie unter Protestgeschrei zurück in die Oberon Road mitzunehmen. Bis auf Brenda Bosworth versammelten sich alle vor dem Haus der Orbes, um »Verbannt den Pädo« und »Rettet unsere Kinder« zur Melodie von »Men of Harlech« zu singen. Schon bald tauchten an den Fenstern der Wohnsilos Köpfe auf, und die Nachbarn kamen aus ihren Häusern, um ihre Reihen zu vergrößern. Brenda Bosworth ging in ihr Haus zurück, und rief den Kingsmarkham Courier an. Im Redaktionsbüro war niemand bis auf eine Frau, die die Kleinanzeigen annahm. Von ihr bekam Brenda Brian St. Georges Privatnummer. Brenda rief ihn an und fragte - mit einiger Verachtung für das Blatt, das bloß einmal pro Woche erschien -, wie sie die Independent Television News verständigen könne. Darum würde er sich schon kümmern, sagte St. George und warf seine Pläne, den Tag beim Gelände Jagdrennen zu verbringen, froh über den Haufen. Ein Zugunglück, das sich aufgrund einer falschen Weichenstellung auf der Strecke zwischen Bath und Bristol ereignet hatte, beherrschte an jenem Samstag auf Kosten fast aller anderer Meldungen die Presse. Fast aller, denn zur gleichen Zeit, als sich die Lokomotive des Regionalzugs in den letzten Waggon des Intercity Paddington-Bristol bohrte, ging in einem Pub in Belfast eine Bombe hoch, bei der es zwar keine Toten, aber vier Verletzte gab. Fernsehen und Rundfunk zeigten daher kaum Interesse an dem Tumult in Kingsmarkham, und obwohl Sunday Minor wie auch Mail on Sunday auf Brian St. Georges hektische Bemühungen wohlwollend reagierten, die 97 Story als großen Aufmacher zu betrachten, erschien am nächsten Tag nichts von ihm Verfaßtes auf ihren Seiten. Weil am Samstag nachmittag ein Fußballspiel von internationaler Bedeutung stattfand, das einen Fernsehsender von zwei bis fünf in Beschlag nahm, waren die meisten Bewohner der Puck, Ariel und Oberen Road ihrerseits vom Spiel in Beschlag genommen und nicht sonderlich geneigt, sich dem Feldzug von Colin und Debbie Crowne und Brenda Bosworth anzuschließen.
»Ein ziemlich müder Reinfall«, lautete der Kommentar eines friedliebenden Nachbars der Orbes, der das Crowne-Bosworthsche Treiben beobachtet und so lange er es ausgehalten hatte - dem Sprechchor gelauscht hatte. Um fünf vor zwei, also kurz bevor das Fußballspiel beginnen sollte, ging er hinüber zur York Street, wo er auf die beiden Streifenpolizisten Martin Dempsey und Lydia Wingate traf. Sie begleiteten ihn zurück in die Oberen Road und empfahlen den singenden Bannerträgern, nach Hause zu gehen. Colin Crowne stritt sich noch ein Weilchen mit ihnen herum, und die Kinder, die aus dem York Park weggebracht worden waren, jammerten, weil sie kein Mittagessen bekommen hatten, und verlangten lautstark nach Essen. Doch um Viertel nach zwei waren alle abgezogen beziehungsweise hatten sich »in ihre Behausungen zurückgezogen«, wie Constable Dempsey es ausdrückte. Er und Lydia Wingate betraten das Wohnsilo und fuhren mit dem Aufzug in den zweiten Stock hinauf, wo sie bei John und Rochelle Keenan an die Wohnungstür trommelten. Martin Dempsey verlangte von den beiden, das Transparent einzuholen. Er erwartete Widerstand, traf jedoch auf demütige Einwilligung - John Keenan hätte sich auf alles eingelassen, solange er sein Fußballspiel gucken konnte -, und als Dempsey und Wingate wieder auf dem Weg in die York Street waren, hatte Keenan Rochelle zu den Nachbarn geschickt, und gemeinsam hatten sie den Stoffstreifen mit der aufwieglerischen Aufschrift entfernt. An der Ecke warf Dempsey
98 einen Blick zurück und stellte zu seiner Überraschung und Genugtuung fest, daß es verschwunden war. Die ganze Zeit über hatte Tommy Orbe sich kein einziges Mal am Fenster oder an der Tür der Oberon Road Nummer 16 gezeigt. Um vier wagte sich Suzanne Orbe heraus und kam eine Dreiviertelstunde später mit zwei gefüllten Einkaufstüten zurück. Die Straße war wie ausgestorben, keine Menschenseele war unterwegs, weil sich alle - auch ihr Vater und ihr Verlobter - das Fußballspiel ansahen. Um sieben verließ Garry Wills das Haus allein, um wie gewohnt ins Pub zu gehen, doch anstatt das Crown and Anchor in der York Street aufzusuchen, seine Stammkneipe, hielt er es für klüger, ins etwas weiter entfernte Rat & Carrot zu gehen, wo ihn keiner kannte. In den Sonntagszeitungen wurde ausführlich über Bombenexplosion und Zugunglück berichtet. Wexford brachte sie mit der morgendlichen Tasse Tee nach oben zu seiner Frau, die nach der langen Nacht noch ein wenig liegenblieb, vergewisserte sich aber zuerst, daß nichts über Orbe darinstand.
Eine Meile entfernt, im Straßendreieck mit dem Wohnsilo in der Mitte, war noch alles ruhig. Das Transparent war verschwunden. Die Gardinen am vorderen Fenster in der Oberon Road Nummer 16 blieben zugezogen. Um zehn lag Colin Crowne noch im Bett, um seinen Rausch auszuschlafen, Ergebnis einer Zechrunde bei Brenda Bosworth und deren Liebhaber und Wohnungsgenossen Miroslav Zlatic, die bis in die frühen Morgenstunden gedauert hatte. Brenda und Miroslav schliefen ebenfalls noch, so daß die beiden kleinen Jungen und das kleine Mädchen allein aufgestanden waren, sich ihr Frühstück selbst gerichtet hatten und in den York Park marschiert waren, zusammen mit zwei kleinen Keenans und drei Kindern namens Hebden aus der Ariel Road. Der Samstag war einer der vergnüglichsten Tage in Lizzie Cromwells bisherigem Leben gewesen, denn endlich war sie einmal so richtig gefeiert und bewundert worden. Hayley hatte ihr ein Eis gekauft, und Kate, nachdem sie ihnen allen von ihrem Geburtstagsgeld ein Mittagessen spendiert hatte, 99 überredete sie, einen Wodka mit schwarzer Johannisbeere zu trinken, »um sie aufzumuntern«. Jetzt, wo sie schwanger sei, müsse sie gut auf sich aufpassen, sagten die beiden. Nach mehreren verbotenen Drinks in einem Pub, das sich rühmte, nie geschlossen zu sein, gingen sie wieder in die Wohnung von Kates Mutter in der Stowerton Road, aßen Fisch mit Pommes frites und Erbsenpüree, das Kates Bruder Darryl besorgt hatte, und sahen sich das Video von L.A. Confidential an. Lizzie war erst kurz vor Mitternacht nach Hause gekommen. Sie rechnete mit Ärger, doch es kam keiner, denn wie Debbie treffend meinte: »Dafür ist es ja wohl zu spät, oder?« Und Colin sagte: »Was soll man den Brunnen zudecken, wenn das blöde Kind schon reingefallen ist.« Der nächste Tag ließ sich dann fast genausogut an, denn kurz nach zehn kamen Kate und Hayley mit einem weiteren Mädchen namens Charlotte vorbei. Diese Charlotte, abgesehen davon, daß sie über einsachtzig groß und mit ihrem roten Haar, das ihr bis auf die Taille reichte, atemberaubend schön war, kannte auch Hunderte von Jungs, darunter vier, die alle Motorräder hatten und aus Pomfret herüberkommen wollten, um sich um elf mit ihnen am Musikpavillon zu treffen. Die vier Mädchen gingen in die High Street hinunter, kauften in dem einzigen Geschäft, das sonntags geöffnet hatte, Schokoriegel und Kartoffelchips und machten sich dann auf den Weg in den Park.
Die schönen Hoffnungen wurden nicht erfüllt, weil die Jungs sich nicht blicken ließen. Lizzie, Kate, Hayley und Charlotte lungerten geraume Zeit beim Musikpavillon herum, verzehrten die Chips und die Schokoriegel und legten sich schließlich ins Gras, um Lizzies Bericht über den Ursprung ihrer Schwangerschaft zu lauschen. Jedesmal, wenn sie die Geschichte erzählte, berichtete sie den Hergang der Erlebnisse anders,- inzwischen hatte sie schon drei potentielle Kindsväter erfunden. Als Hayley dies auffiel und sie sie darauf hinwies, meinte Lizzie, sie solle sich nicht mit ihr anlegen, in ihrem Zustand dürfe sie sich nämlich nicht aufregen. 100 Als klar war, daß die Jungs nicht kommen würden, standen alle auf und zottelten zurück. Nicht den gleichen Weg wie zuvor, weil sie dann bei der High Street herauskämen, sondern über den Kinderspielplatz in dem Teil des Parks, der dem Muriel Campden Estate am nächsten lag. Ein kleiner Keenan und ein kleiner Bosworth waren auf der Schaukel, ein weiterer Bosworth und zwei Hebdens kletterten auf dem Gerüst herum, und der Rest kickte einen Ball herum. Die vier Mädchen blieben stehen, und Hayley sagte, sie würde jetzt die Rutschbahn runterrutschen, denn als Kind hätte sie es sich nie getraut. Die meisten Häuser in der Oberon Road gingen nach hinten auf den Park hinaus, doch nur von den Hausnummern 14 bis 19 konnte man den Spielplatz direkt einsehen. Als Hayley das zweite Mal herunterrutschte, sah sie an einem der oberen Fenster einen Mann stehen, der offenbar zu den Kindern auf dem Spielplatz herunterstarrte. Es war nicht die Nummer 16 und auch nicht Tommy Orbe, sondern der Mann im übernächsten Haus mit der Nummer 18, der am gestrigen Nachmittag die Polizei geholt hatte. Tony Mitchell war zwar fünfzehn Zentimeter größer als Orbe und zwanzig Jahre jünger, doch von solchen Nebensächlichkeiten ließ sich Hayley nicht beirren. Mit erhobenen Armen und Beinen sauste sie die Rutsche herunter und schrie: »Der Pädo! Der Pädo ist da oben und beobachtet uns!« Die anderen Mädchen stimmten in ihr Geschrei ein und die Kinder auch, da ihnen die Geräte, die der Spielplatz zu bieten hatte, inzwischen langweilig waren. Mit Hayley an der Spitze steuerten sie auf den Muriel Campden Estate zu, setzten sich in Trab und kreischten: »Der Pädo, der Pädo!« Sie trampelten über den Verbindungsweg zur Oberon Road, und Lizzie ihren Zustand vergessend - immer mit dabei. Neun Kinder und vier Teenager, alle aus Leibeskräften brüllend, können einen Heidenlärm veranstalten. In der Oberon Road und der Puck Road erschienen Köpfe an den Fenstern, Türen
flogen auf, und Leute traten in ihre Vorgärten heraus, um nachzusehen, was los war. »Der alte Pädo steht da an seinem Fenster und beobachtet 101 die Kinder«, keuchte Charlotte, und Lizzie rief ebenso atemlos: »Der beobachtet sie, und dann kommt er runter und schnappt sie sich!« Brenda Bosworth, die sich einen Mantel über ihr Nachthemd gezogen hatte, kam heraus, stieß einen lauten Schrei aus und packte ihren Sean, ihren Dean und ihre Kelly, preßte alle drei in mütterlicher Umarmung an sich, ließ sie aber wieder los, als Colin Crowne sämtliche Kinder in sein eigenes Haus zu treiben begann und erklärte, dort wären sie in Sicherheit, bis »etwas unternommen wird«. Er knallte die Haustür hinter ihnen zu, und dann marschierten Debbie und er zur Hausnummer 16 hinüber. Inzwischen standen John und Rochelle Keenan bereits auf dem Rasen, der das Wohnsilo umgab, wo sich ein Dutzend anderer Leute zu ihnen gesellte. Zwei junge Männer hatten sich sogar bewaffnet, der eine mit einem Bleirohr, der andere mit einem Ziegelstein. Die Pappschilder mit Pädophiler hau ab und Schützt unsere Kinder tauchten wieder auf, getragen von Joe Hebden und einem seiner Kumpel, der eigentlich vorbeigekommen war, um über einen fünfundzwanzig Jahre alten Triumph Herald zu reden, den er für zweihundert Pfund verkaufen wollte. Der Mensch mit dem Triumph Herald war nur der erste von vielen Ortsfremden, die sich mit ins Getümmel stürzten. Wie sie davon erfahren hatten, wie die Kunde sie erreicht und aufgestachelt hatte, blieb ein Rätsel. Doch zu dem Zeitpunkt, als sich die Mehrheit der Muriel-Campden-Eltern auf dem Rasen versammelt hatte - wo Brenda Bosworth sich in einer flammenden Rede über »diese Bedrohung in unserer Mitte« an sie wandte -, strömten bereits Leute aus allen Teilen von Kingsmarkham in die Ariel Road, die meisten zu Fuß, einige jedoch in Autos oder auf Motorrädern sowie eine Gruppe in einem Minibus. Tony Mitchell, der Friedensstifter, den Hayley irrtümlich für Tommy Orbe gehalten hatte, sah alles, unternahm diesmal aber nichts. Als er gestern abend draußen gewesen war und seinen Vorgarten gegossen hatte, war eine alte Frau vor 101 beigekommen, hatte ihn angespuckt und ihn einen Quisling genannt - einen Beinamen, dessen Bedeutung er aufgrund seiner jungen Jahre nicht begriffen hatte. Gefallen hatte ihm die Sache nicht, auch nicht, daß seine Nachbarin von Nummer 19 ihm den Rücken zugekehrt hatte, als er ihr einen guten Abend
gewünscht hatte. Er hatte daher beschlossen, sich bedeckt zu halten. Seiner Frau sagte er, sie solle sich da nicht einmischen, und sie versprach es ihm. Sie ging nur kurz über die Straße ins Wohnsilo, borgte sich den Camcorder ihrer Schwester Rochelle Keenan und begann von einem der oberen Fenster aus, die ganze Sache auf Videofilm aufzunehmen. In den drei Straßen drängten sich inzwischen die Autos. Leute, die über die Zufahrtsstraße von der York Street hereinfahren wollten, behielten die Hand auf der Hupe und beugten sich rufend aus den Autofenstern. Unter ihnen war auch Brian St. George, der seinen Wagen kurzerhand mitten auf der Straße stehenließ und sich zu Fuß auf den Weg in die Oberon Road machte. Die Menge auf dem Rasen jubelte Brenda Bosworth applaudierend zu, und zwei Männer kamen auf die Idee, sie auf den Schultern zur Nummer 16 zu tragen, um dort Aufstellung zu nehmen. Dort standen sie nun, flankiert von den Bannerträgern, während sich etwa hundert Leute hinter ihnen versammelten. Es ging immer noch sehr geordnet zu, die Menge sang lediglich noch einmal die Slogans, diesmal zur Melodie von »Abide With Me«, weil ein Fan von Manchester United den Vorschlag gemacht hatte und nicht etwa, weil Sonntag war. Wer den ersten Ziegelstein warf, ließ sich nicht genau feststellen. Die Ziegel lagen im Vorgarten von Oberon Road Nummer 21, dessen Bewohner an dem Tag nicht zu Hause waren, schon bereitgelegt für den Bau einer Mauer, die ihren Rasen vom Gehweg trennen und den Maschendrahtzaun ersetzen sollte. Der Maurer hatte die Steine, mit Plastikplane abgedeckt, am Freitag dort liegenlassen. John Keenan zog die Plane weg, doch ob er tatsächlich einen Ziegel aufhob, konnte niemand sagen. Jemand nahm jeden 102 falls einen und schleuderte ihn in Richtung Nummer 16. Dieser erste Stein, der dicht an Brenda Bosworths Ohr vorbeiflog, sorgte dafür, daß ihre zwei Träger sich duckten und die Bannerträger sich zurückzogen, verfehlte jedoch sein Ziel und knallte gegen die Vorderfront des Orbeschen Hauses statt durch die Fensterscheibe. Von dem Lärm bekamen alle einen Schreck, und die Menge zögerte. In dem Moment stellte ein Mann namens Carl Meeks fest, daß weniger Kinder anwesend waren, als hätten dasein sollen. Insbesondere sein eigener Sohn fehlte. Er rief aus: »Wo ist mein Scott?«, worauf John Keenan in den Aufschrei einstimmte: »Was ist mit meinem Gary passiert?«
Brenda Bosworth sprang ihren Trägern von den Schultern, vergewisserte sich mit einem raschen Blick, daß ihre Kinder ebenfalls fehlten, und kreischte: »Er hat sie! Der Pädo hat sie bei sich da drinnen!« Die kleinen Bosworths, Keenans, Hebdens und Scott Meeks waren allesamt im Haus der Crownes. Jeder von ihnen hätte ohne weiteres die Haustür aufmachen und abhauen können, doch sie zogen es vor, zu bleiben und sich damit zu verlustieren, die in der Küche entdeckten Kartoffelchips zu verdrücken und eins von Colin Crownes Pornovideos zu gucken. Colin hatte sie dort eingeschlossen, aber das wußte niemand, und Colin selbst hatte es irgendwie ganz vergessen. Er fing also auch an zu schreien, Orbe hätte die Kinder, und warf ebenfalls einen Ziegelstein. Der verfehlte sein Ziel nicht, sondern flog durch die Fensterscheibe ins Haus Nummer 16. Ein Hagel von Ziegeln folgte, und als die Ziegel aufgebraucht waren, warf die Menge mit Steinen aus den Blumenbeeten um das Wohnsilo. Im Haus der Orbes konnte man jemanden kreischen hören. Es war Suzanne, doch Linda Meeks behauptete, sie habe die Stimme ihres Sohnes Scott erkannt, Woraufhin die Menge auf das Gartentor von Nummer 16 zudrängte, es eintrat, den windigen Maschendrahtzaun niedertrampelte und sich vor der Haustür zu einem menschlichen Rammbock formierte. Die Polizei traf in dem Moment ein, als die Tür zu Bruch 103 ging. Suzanne hatte sie verständigt, als der erste Ziegelstein geworfen wurde. Sie hätte schon früher angerufen, hätte ihr Verlobter nicht erklärt, wenn ihm einer gesagt hätte, jemand, der zu ihm gehörte, würde einmal die Polizei rufen, hätte er es nicht geglaubt. Was Orbe dachte, wußte keiner. Er saß schweigend auf seinem Stuhl und tat überhaupt nichts, außer ab und zu aufzustehen und sich noch eine Tasse Tee zu machen. Zwischen neun Uhr morgens und drei Uhr nachmittags hatte er bereits fünfzehn Tassen getrunken. Die Polizei trieb die Menge auseinander und nahm John Keenan, Brenda Bosworth und Miroslav Zlatic fest, die wegen Aufwiegelung und Sachbeschädigung belangt werden würden. Ein Schreiner wurde beauftragt, die Haustür von Oberon Road Nummer 16 wieder instandzusetzen und die zertrümmerten Fenster mit Brettern zu vernageln. Sergeant Joel Fitch führte mit den Bewohnern des Hauses ein langes Gespräch über die Situation und ihre Aussichten, oder besser gesagt, er redete in Orbes Anwesenheit, doch ob Orbe zuhörte und sich dafür interessierte, stand auf einem anderen Blatt. Sollte er bleiben, wo er war, oder anderswohin gebracht werden? Und wenn
ja, wohin? Ein Polizeirevier wäre vielleicht der beste, wenn auch nur ein zeitweiliger Zufluchtsort für ihn. Aber nicht in Kingsmarkham, wo nur zwei Zellen zur Verfügung standen, in denen gegenwärtig John Keenan und Miroslav Zlatic saßen. Brenda war schon wieder entlassen worden, weil sich sonst niemand um ihre Kinder kümmern konnte. Diese Kinder und auch die kleinen Keenans und Hebdens wurden erst ein paar Stunden später entdeckt. Als Debbie und Colin und Lizzie schließlich nach Hause kamen, hatten sie sich bereits aus dem Staub gemacht, nicht ohne zuvor alles Eßbare im Haus vertilgt und die fünfhundert zollfreien Zigaretten, die Colin von einem Tagesausflug nach Frankreich mitgebracht hatte, eingesackt zu haben. Dann waren sie zum Schwimmen ans Kingsmarkhamer Wehr hinuntergegangen. Als sich die Lage wieder beruhigt hatte, trat Shirley Mitchell aus ihrem Haus auf die Grünfläche, um den Abfall aufzusam 104 mein, der im Lauf des Nachmittags dort weggeworfen worden war, und in eine Plastikmülltüte zu stecken: Chipstüten und Schokoladenpapierchen und ein paar Coladosen. Keiner hörte ihr wütendes Brummen über diese ignoranten Typen, die zu dämlich waren, ihre eigene Umwelt zu schonen. Etwas später trat ein Mann mit einem Koffer in der Hand aus der Oberon Road Nummer 16. Es war Suzanne Orbes Verlobter, der sich auf den Weg zum Bahnhof machte, um den letzten Zug nach London zu erwischen. Er hatte einen Kumpel in Balham, bei dem er wohnen konnte. Wenn sich die Situation »beruhigt« hatte, käme er vielleicht wieder zurück, sagte er zu Suzanne, doch wie die Dinge im Augenblick lagen, war ihm der Streß einfach zuviel. Wexford sah sich das Ganze im Fernsehen um zehn vor neun in den Sonntagabendnachrichten an. Ein Großteil der gefilmten Berichterstattung stammte von einem Amateurvideo, was auch erwähnt wurde, allerdings ohne Namensnennung. Er fand es nicht gerade konstruktiv, daß in der Meldung auch ein Bild von Thomas Orbe gezeigt wurde, eins von diesen Fotos aus dem Verbrecheralbum, auf denen der Abgebildete wie ein mieser, niederträchtiger Schläger aussieht. Aber natürlich war Orbe vermutlich genau das, dachte er mit einem Seufzer und hoffte, er müßte ihm nicht begegnen, fürchtete jedoch, daß es bald dazu käme. Der Anblick des Orbeschen Hauses, selbst als es bereits mit Brettern vernagelt worden war, erschütterte Dora zutiefst. So etwas wäre damals, als sie
hergezogen war und Kingsmarkham ein ruhiges, gesetzestreues, friedliches Städtchen gewesen war, undenkbar gewesen. »So gesetzestreu nun auch wieder nicht«, sagte Wexford. »Aber nicht wie heute, Reg, das mußt du doch zugeben.« »Natürlich. Und was machen wir jetzt mit diesem Kerl, diesem Orbe? Sollen wir ihn etwa bis in alle Ewigkeit einsperren?« »Wäre das nicht das Beste? Wenn ich nur an ihn denke, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.« »Das geht uns allen so«, sagte Wexford. 105 Im Muriel Campden Estate überschlugen sich die Gerüchte. Shirley Mitchell habe fünftausend Pfund für ihr Video bekommen, sie habe zehntausend Pfund bekommen, sie habe nicht mehr als fünfhundert Pfund bekommen, sie habe gar nichts bekommen. Es sei gar nicht ihr Video gewesen, das ausgestrahlt worden war, sondern ein anderes, von einem professionellen Kameramann aufgenommen, den die Keenans heimlich in ihre Wohnung gelassen hätten. Tony Mitchell habe höchstpersönlich die Filmkamera seiner Schwägerin zertrümmert, und das Ende vom Lied sei, daß er und Shirley sich trennten. Orbe habe sich die Kinder geschnappt, aber Colin Crowne hätte sie gerettet. Oder: Nur die Bosworth-Kinder seien geschnappt worden, und Miroslav Zlatic habe die Rettung bewerkstelligt. Orbe habe Selbstmord begangen oder hätte Suzanne gesagt, er beabsichtige, Selbstmord zu begehen. Weit davon entfernt, für irgend etwas belangt zu werden, solle Brenda Bosworth für eine Tapferkeitsmedaille vorgeschlagen werden. Alle diese Geschichten breiteten sich wie ein Lauffeuer aus. Wichtiger und gefährlich war jedoch eine, die ab Montag morgen die Runde machte. Bei dem Mann, den man am Vorabend um halb zehn aus der Oberon Road Nummer 16 hatte weggehen sehen, handele es sich nicht um Suzannes Verlobten, sondern um Orbe selbst. Ein Nachbar der Keenans wußte es ganz genau, weil er Garry Wills um zehn an seinem Schlafzimmerfenster hatte stehen sehen. Ein anderer älterer Mann, einer der ursprünglichen Bewohner des Muriel Campden Estate, wollte Orbe erkannt haben. Sein Gang und die Art, wie er den Koffer in der linken Hand hielt, seien wirklich ganz unverwechselbar. Wohin war er gegangen? Niemand wußte es, doch das hinderte keinen am Herumspekulieren. 105
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»In zwanzig Fahrtminuten um Kingsmarkham herum gibt es kein Haus, auf das Rachels Beschreibung zutrifft«, sagte Wexford. »Das hat sie sich ausgedacht. Aus irgendeinem Grund will sie verhindern, daß wir Vicky und Jerry finden.« »Wenn Vicky und Jerry überhaupt existieren«, meinte Bürden. »Vicky schon. Beide Mädchen bestätigen die Existenz von Vicky. Was ist also wahr und was falsch? Mit Sicherheit falsch ist, daß Lizzie erst seit zwei Wochen schwanger ist, es sind eher drei Monate. Und mit Sicherheit wahr ist, daß Rachel ihre Verabredung im Rotten Carrot einhalten wollte, durch irgend jemanden oder irgend etwas jedoch daran gehindert wurde. Beide Mädchen wurden irgendwohin gebracht, allerdings nicht unbedingt an den gleichen Ort. Wer immer Lizzie mitgenommen hat, jagte ihr gehörig Angst ein. Wenn sie etwas verriete, würden sie sie finden und sie bestrafen, so in der Art. Bei Rachel konnten sie damit aber nicht landen, also frage ich mich, ob sie eventuell etwas getan hat, während sie bei diesen Leuten war, für das sie sich schämt und von dem sie nicht will, daß es ans Licht kommt.« »Wir haben eine Chance, es herauszufinden, wenn sie noch ein Mädchen entführen.« »Das sei ferne.« »Sie sagen mir doch immer, woher solche Sachen sind«, sagte Bürden. »Ich meine, Ausdrücke, Zitate, Redewendungen. Wetten, Sie wissen nicht, woher das ist, was Sie da gerade gesagt haben.« »Woher was ist?« »Das sei ferne.« 106 »Was? Ach, ich verstehe. Na, und woher ist es?« »Paulus. Aus dem Apostel Paulus. Er sagte es andauernd in seinen Briefen.« »Woher wissen Sie das denn?« »Na ja, ich weiß es eben.« Wexford hatte damit gerechnet, daß am Samstag abend wieder ein Mädchen entführt wurde. Während er in London war und auch am nächsten Tag während der Krise im Muriel Campden Estate waren seine Gedanken immer wieder zu Rachel und Lizzie, zu Vicky und Jerry und zu dem rätselhaften Haus gewandert, und es hätte ihn überhaupt nicht gewundert, wenn er am Morgen von der Entführung eines weiteren Mädchens erfahren hätte. Doch es hatte sich nichts ereignet. Und die Frage, was nun mit Orbe geschehen sollte, überwog alle anderen Überlegungen. Im Muriel Campden Estate war alles ruhig. Miroslav Zlatic und John Keenan erschienen gerade vor dem Magistratsgericht von Kingsmarkham, doch
Wexford war klar, daß sie auf Bewährung freigelassen oder mit Strafvorbehalt verwarnt und bis zur Mittagszeit auf freien Fuß gesetzt werden würden. Was geschähe, wenn Orbe sich draußen vor der Oberon Road Nummer 16 blicken ließ? Er konnte ja nicht bis in alle Ewigkeit dort eingeschlossen bleiben. Und man konnte nie wissen, wann es so einem Unruhestifter vom Estate in den Sinn kommen würde, seine Kinder seien in Gefahr, und er daraufhin einen neuerlichen Angriff auf das Haus startete. Allmählich begann Wexford, seine Meinung zu revidieren, die Sozialwohnsiedlung unterscheide sich von ihren großstädtischen Gegenstücken und die Bewohner seien alle gesetzestreue Bürger. Andererseits - würden sich nicht die meisten Eltern von kleinen und unter zehnjährigen Kindern in Furcht und Zorn erheben, wenn ein Orbe sich unter sie mischte? Superintendent Rogers von der uniformierten Truppe hatte ihm mitgeteilt, Orbe habe bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis aus freien Stücken um Schutz gebeten. Er könnte nicht garantieren, sagte er, daß er keine Gefahr mehr dar 107 stellte. Er könnte nicht sagen, was passiere, wenn er Zugang zu Kindern hätte. Jedenfalls hatte er Spaß daran - wenn schon nichts Schlimmeres -, sie zu betrachten. Es bereitete ihm großes Vergnügen, sie zu beobachten, und er sah eigentlich nicht ein, weshalb er sich dieses Vergnügen versagen sollte. Schließlich kam dadurch niemand zu Schaden. Abgesehen von dem Jungen, der gestorben war - ein, wie er eingestand, tragischer Unfall -, behauptete Thomas Orbe, er habe nie jemandem Schaden zugefügt. Er gehörte zu jenen Pädophilen -»>Pädos<«, sagte Wexford vernichtend, »ein neues Wort in unserer Sprache« -, die der festen Überzeugung waren, daß Kinder, auch sehr kleine Kinder, sexuelle Beziehungen wollen, genießen und brauchen. »Der Kleine hat mich darum gebeten, hat mich direkt dazu gedrängt«, lautete sein Hauptargument. Und falls Wexford geneigt gewesen war, Orbe gegenüber Mitleid zu empfinden, lag es an dieser Haltung mehr als an allem anderen, daß er unerbittlich wurde. »Bösartig« war ein Ausdruck, der heutzutage dauernd fiel und dem er mit Skepsis begegnete, aber daß Orbe und sein Tun bösartig waren, soviel war ihm klar. Und als er hörte, wie Orbe seine Taten nach all dieser Zeit sogar noch rechtfertigte, als er hörte, daß der alte Mann sich deswegen immer noch Ausflüchte zurechtlegte, verspürte er die gleiche Wut wie die Bewohner des Muriel Campden Estate. Wenn seine Enkel in der Nähe von Orbe wohnten, würde er dann nicht genauso reagieren wie diese Leute?
Trotzdem - und wenn auch nur im Interesse der öffentlichen Ordnung und des zivilisierten Benehmens - mußte der Kinderschänder genauso vor seinen Nachbarn geschützt werden, wie kleine Jungen vor ihm geschützt werden mußten. Superintendent Rogers plädierte dafür, ihn nach Myringham zu verbringen, entweder auf das dortige Polizeirevier oder ins Polizeihauptquartier von Mid-Sussex. Beide hatten Räumlichkeiten, die auf seine zeitweilige Unterbringung eingerichtet werden konnten. Denn, meinte Rogers, so abscheulich der Mann und seine Taten auch sein mochten, er hatte (wie es der 108 Superintendent ausdrückte) »der Gesellschaft seine Schuld bezahlt« und war praktisch gesehen ein Unschuldiger, dessen Unterbringung in einer Zelle nur zu rechtfertigen war, wenn diese in gewisser Weise seinen Bedürfnissen angepaßt wurde. Der zukünftige stellvertretende Chief Constable wollte, daß man ihn dort ließ, wo er war, nämlich in seinem eigenen Haus. Zumindest vorläufig. Seine Theorie lautete: Sobald die Rädelsführer, in diesem Fall John Keenan, Miroslav Zlatic und Brenda Bosworth, vor Gericht erschienen, verhandelt und streng verwarnt worden wären, gäbe es keine weiteren Probleme. Schließlich sei dies hier eine Gemeinde mit einer Landbevölkerung, deren direkte Vorfahren auf Dörfern und Weilern in Cottages gewohnt, ihre Schafe gehütet und sich um das Wild des Großgrundbesitzers gekümmert hatten. Solche Leute seien naturgemäß gesetzestreu, friedliebend und tolerant. »Im übrigen«, meinte er, »werden sie sich daran gewöhnen. Sie werden es akzeptieren. Sie werden sehen, daß ihren Kindern nichts passiert, und dann wird sich alles beruhigen.« Detective Constable Lynn Fancourt hatte zu Lizzie Cromwell ein nettes Verhältnis entwickelt, wenngleich dies von ihrer Seite aus von Mitgefühl, von Lizzies Seite aus von Schmeichelei gekennzeichnet war. Lizzie sprach Lynn mit Vornamen an und fühlte sich privilegiert, ja sogar verwegen dabei. Am Montag nachmittag war es Lynn im Laufe eines entspannten Gesprächs schließlich gelungen, Lizzie das Eingeständnis abzuringen, daß sie sich tatsächlich von einer Frau namens Vicky hatte mitnehmen lassen. Außerdem hatte Lynn erfahren, daß Vicky ein weißes Auto fuhr, Kennzeichen und Marke unbekannt. Das war ein Triumph für Lynn, und sie beschloß, es dabei bewenden zu lassen. Statt dessen wandte sie sich wieder Lizzies Schwangerschaft zu, die sie ausdrücklich mißbilligte und deren Beendigung sie befürwortete, und zwar so rasch wie möglich.
Debbie meinte, das sei ja komisch, aber sie habe gerade die 109 Sozialarbeiterin verpaßt, die Lizzie einen Besuch abgestattet hatte, um sie zur Teilnahme an einem neuen Projekt aufzufordern. Lizzie sei stolz, zu den auserwählten Mädchen zu gehören. Nein, sagte Debbie, von Lizzies Schwangerschaft habe sie nichts verlauten lassen und Lizzie auch nicht, das sei doch wohl nicht nötig und ginge die Sozialarbeiterin eigentlich auch nichts an. Inzwischen hatte Lynn bereits richtig geraten, daß es sich bei dem Projekt um eine Initiative des Kingsmarkhamer Jugendamts handelte, die Schwangerschaften von Teenagern verhindern sollte. Die Kampagne trug den Titel »Projekt Säuglings-Simulator«, und als Lynn zu Lizzie ins Wohnzimmer hinüberging, sah sie sie mit einer Babypuppe auf dem Schoß dasitzen. Die Puppe trug einen Strampelanzug über der Wegwerfwindel und weiße Söckchen. »Ich soll ihn die Woche über behalten«, sagte Lizzie. »Er heißt Jodi.« Sie schien etwas verwirrt. Mit gutem Grund, dachte Lynn. Sie fragte. »Ist das so eine Art Roboter?« Dann fiel ihr ein, daß Lizzie mit dem Ausdruck wohl nichts anfangen konnte, und sagte: »Kann er schreien und pinkeln, und muß er gefüttert werden und all so was?« »Er hat schon ein bißchen geschrien. Ich hab' ihn frisch gewickelt. Ich lern' ihn jetzt richtig versorgen.« Lynn stellte fest, daß Lizzie - und Debbie vielleicht auch -nicht ganz mitgekriegt hatte, worum es ging. Indem man ausgewählten oder freiwilligen Kandidatinnen die Puppe zur Verfügung stellte, sollte den heranwachsenden Mädchen vor Augen geführt werden, wieviel Arbeit, Schlafmangel und umfassende Verantwortung die Pflege eines Babys mit sich brachte. Auf diese Weise würden sie es sich vielleicht zweimal überlegen, bevor sie sich auf ungeschützten Geschlechtsverkehr einließen. Lizzie sah es dagegen als Training für die Zukunft. »Na, ich fürchte, da hast du ein paar schlaflose Nächte vor dir«, sagte Lynn. »In der wievielten Woche bist du denn?« Sie
109 fragte es leichthin, in freundlichem statt kommandierendem Tonfall, und Lizzie, die damit beschäftigt war, in fodis unergründliche blaue Augen zu starren, antwortete ebenso lässig: »In der vierzehnten, glaub' ich, sagt Mum jedenfalls. Seit Februar hab' ich's nicht mehr gehabt.«
Diese letzte Bemerkung mit einiger Schwierigkeit deutend, jedoch ziemlich sicher, daß sie richtig geraten hatte, fragte Lynn: »Jerry hatte damit aber nichts zu tun, oder?« Lizzies undeutlich gemurmelte Antwort ging in einem plötzlichen Schluchzer von Jodi unter, der - wie es echte Babys in der Tat tun - ohne Vorwarnung zu schreien begonnen hatte. Mit den Worten, sie müsse ihm die Flasche holen, übergab sie Lynn den Roboter und ging hinaus. Detective Constable Fancourt befand sich plötzlich in der lächerlichen Lage, mit einer greinenden Babypuppe dazusitzen, über deren Plastikbäckchen Wasser tröpfelte und die ein jämmerliches Gewimmer ausstieß. Sie stand auf und ging hin und her, wie sie sich erinnerte, es bei ihrer Mutter mit ihrem kleinen Bruder gesehen zu haben. Jodi schluchzte und weinte aber immer noch und schlug mit den Ärmchen um sich. Als Lizzie wieder hereinkam, hatte sein Geschrei ohrenbetäubende Ausmaße erreicht. Sie nahm ihn zärtlich in die Arme, murmelte ihm etwas zu und steckte ihm den Sauger in den Mund. Ein süßes Lächeln trat auf ihre Lippen, während der Roboter saugte, und als sie sich Lynn zuwandte, sprachen aus ihrem Blick soviel Liebe und Stolz, daß Detective Constable Fancourt fast erschrocken zurückwich. Sie jetzt noch weiter zu befragen hieße, die Ausübung eines heiligen Ritus zu unterbrechen. Mit diesem Plastikding auf dem Schoß war Lizzie Erdmutter, Priesterin und der Inbegriff heiliger Mutterschaft zugleich. Lynn wartete also ziemlich verlegen ab, bis die Flasche ausgetrunken war, beschloß dann aber, etwas zu sagen, als Lizzie anfing, Jodis Windel zu entfernen und ihm eine neue anzulegen. So sehr einen die Hingabe des Mädchens auch rührte -seltsamerweise mußte Lynn bei dem Anblick an verwaiste 110 Entchen denken, die sich bei entsprechend früher Prägung an eine Hündin als Ersatzmutter hängen -, bei diesen hygienischen Maßnahmen konnte niemand sentimental werden. »Du wolltest mir doch von Jerry erzählen, Lizzie«, sagte sie. »Er hat mich nie angefaßt«, sagte Lizzie. »Nie angefaßt und nie was gesagt.« Da merkte sie, daß sie sich verraten hatte, und fuhr sich erschrocken mit der Hand an den Mund. »War es ein schönes Haus?« fragte Lynn ganz nebenbei. Nachdem sie Jodi wieder in seine Tragetasche gelegt hatte, warf Lizzie ihr einen gereizten Blick zu. »Darf ich nicht sagen, das wissen Sie doch. Sonst schnappen die mich und bestrafen mich. Die bohren mir Löcher in die Knie
und brechen mir die Finger. Und wenn die mir weh tun, könnte ich mein Baby verlieren, sagt Mum.« »Deiner Mum hast du es also erzählt?« »Nein, hab' ich nicht«, rief Lizzie. »Ich hab' bloß gesagt, daß ich auch gern so einen schönen Bungalow hätte, so modern und weit draußen auf dem Land und nicht gleich am nächsten Haus dran.« »Und Jerry hat nie mit dir gesprochen, stimmt's?« »Kein Wort hat der gesagt«, rief Lizzie bitter, »aber das tun so Leute ja nie. Dei hat nie was gesagt. Bloß immer »Liiiziie, Liiiziie«.« Gerade als sie um eine Erklärung bitten wollte, wurde Lynn von Debbie unterbrochen, die, angelockt durch Lizzies Lautstärke, zur Tür hereinkam. »Was ist los? Was haben Sie jetzt schon wieder zu ihr gesagt?« »Ich wollte mich gerade verabschieden, Mrs. Crowne. Lizzie hat mir sehr geholfen.« »Ach ja? Na, es geschehen doch noch Zeichen und Wunder. Aber jetzt noch was anderes, ich dachte mir, Sie und Ihre Leute wüßten vielleicht gern, daß der alte Pädo weg ist. Aha, das haben Sie nicht gewußt, stimmt's?« Debbie lächelte selbstgefällig. »Komisch, daß die Polizei nie weiß, was alle Welt sonst weiß. Abgehauen ist er, schon gestern abend. Ein Haufen Leute haben es gesehen. Einen Koffer hatte er dabei, so einen 111 mit Rädern, und gerannt ist er, als wäre der Teufel hinter ihm her, und hat den Koffer hinter sich hergezogen. Glaub' kaum, daß den einer aufgehalten hätte, oder? Gut, daß wir den los sind, den Dreckskerl, kann ich da bloß sagen. Fragen Sie mich aber nicht«, fuhr sie fort, als hätte Lynn sie gefragt, »wo er hin ist, ich hab' nämlich keine Ahnung. Hoffentlich hat er sich unter den Zug geschmissen, aber dann gäb's ja eine Leiche. Was mich dabei wundert, also, der ist doch der Verbrecher, der gehört doch aufgehängt, aber vor Gericht gestellt haben sie den armen John und die Brenda und den Mirodingsbums.« Als Wexford von diesem Gespräch erfuhr, sagte er: »Wenn sie glauben, daß er weg ist, um so besser. Auf diese Weise haben wir wieder ein bißchen Ruhe. Früher oder später kriegen sie raus, daß er noch da ist, aber solange er nicht aus dem Haus geht - was er bestimmt nicht tun wird -, gibt es keinen Ärger.« »Ich dachte, Sie wären Southbys Meinung«, sagte Bürden. »Bin ich gewissermaßen ja auch. Aber ich weiß, daß die Masse auf der ganzen Welt gleich ist, in Großstädten wie in der ländlichen Idylle, und daß sie alle der Psychologie des Pöbels unterliegen. Sollen wir noch mal losfahren und nach einem Bungalow Ausschau halten?«
Inzwischen wußten sie, daß es sich um einen Bungalow handelte. Ausgeschlossen, daß beide Mädchen logen, nicht in diesem speziellen Punkt. Lizzie hatte ihn als »modern« bezeichnet. Schindeln konnte man also vergessen. Orbe, meinte Lynn, würde unter »modern« alles verstehen, was während seiner Lebenszeit gebaut wurde, doch für Lizzie war es alles, was nicht älter als zehn Jahre war. Und dieser Bungalow stand ganz für sich, ohne direkte Nachbarn. Sie hatten sie gebeten, mitzufahren und ihn ihnen zu zeigen, doch Lizzie hatte sich geweigert. Sie fühle sich nicht gut, sagte sie, und sie habe Angst vor einer Fehlgeburt. Ihre Mum habe auf einer Lastwagenfahrt über eine holprige Straße mal eine »in Gang gebracht«. Sie fuhren entlang der ungebauten Umgehungsstraße in die 112 Dörfer, bis hinauf nach Myfleet und dann Richtung Süden nach Flagford, Pickvale und Sayle. Drei Bungalows kamen in die engere Wahl, von denen einer sehr bald ausschied. Niemand, nicht einmal Lizzie Cromwell, würde einen umgebauten Eisenbahnwagen als »modern« oder »hübsch« bezeichnen, selbst wenn der Umbau erst kürzlich erfolgt war und der Waggon allein am Ende eines Feldwegs stand. Anders verhielt es sich mit dem Bungalow am Ortsrand von Pickvale. Strenge Bauvorschriften untersagten dort neue Bauten außer auf einem Platz, auf dem vorher schon ein Haus gestanden hatte. Bei dem Bungalow waren vermutlich die Reste des ursprünglichen Cottage irgendwo innen erhalten, außen war es jedoch makellos elfenbeinfarben verputzt, weiß gestrichen und mit schwarzen Brettern verschalt. Sonst war kein Haus zu sehen. Der Garten war frisch angelegt, kahl und arbeitssparend, mehr gepflasterte Fläche als Rasen, und Bäume und Büsche waren von einer nicht besonders hoch wachsenden Sorte. Nachdem Bürden an der Haustür geklingelt hatte, warteten sie. Eine junge Frau machte ihnen auf, hinter ihr stand ein junger Mann. Sobald er sie sah, wußte Wexford, daß es nicht das gesuchte Haus war. Sie zeigten ihre Dientstausweise vor, die das junge Paar ernsthaft musterte. Falls die beiden keine vollendeten Schauspieler waren, war es nicht gelogen, als sie sagten, daß sie keine Vicky kannten, noch nie von einem Jerry gehört hatten und daß ihr Auto ein schwarzer BMW sei, der sich zwar momentan in ihrer Garage befände, den Wexford und Bürden sich aber gern ansehen könnten. Auf der Fahrt durch Pickvale in Richtung Sayle meinte Bürden, die ganze Sache sei Zeitverschwendung. Es sei doch niemandem etwas passiert, Rachel und Lizzie seien sicher wieder zu Hause, und den Mädchen selbst sei
offensichtlich sehr daran gelegen, daß keine weiteren Schritte unternommen wurden. »Und damit hat sich der Laden, was?« Wexford hatte aus dem Fenster auf die Wiesen am Rande der Hügellandschaft gesehen, wandte sich nun aber um. »Zweimal wurde gegen das 113 Gesetz verstoßen, und zwar in eklatanter Weise. Zwei junge Frauen wurden ihrem Heim und ihren Familien gewaltsam entrissen und tagelang unrechtmäßig festgehalten. In zwei Fällen wurden unter enormen Kosten für den Steuerzahler polizeiliche Ermittlungen angestellt, und Sie behaupten, es sei nichts passiert.« Bürden hätte ihm gern gesagt, er solle sich doch nicht so aufregen, unterließ es jedoch wegen Donaldson, ihrem Fahrer, dessen Zunge diskret sein mochte, dessen Ohren es aber nicht waren. Statt dessen sagte er: »Die Ermittlungen fortzusetzen würde den Steuerzahler doch nur noch mehr kosten. Und wozu? Was für ein Wexford fiel ihm ins Wort. »Sehen Sie mal! Da ist es!« Donaldson fuhr seitlich auf den Grasstreifen. Sie waren vor einem Haus stehengeblieben, das sie schon einmal gesehen hatten. Weil es an der Vorderfront keine Schindeln hatte, war es jedoch ausgeschieden. Der Bungalow namens Sunnyhill stand tatsächlich auf einem flachen, mit Heidekraut und kleinen Wacholderbüschen bepflanzten Hügel, der auch sonnig gewesen wäre, wenn der Himmel nicht gerade stark bedeckt gewesen wäre. Mitten auf dem Rasen vor dem Haus wuchs zwar keine Konifere, wie Rachel behauptet hatte, aber ein laubwechselnder Baum mit Blättern, wie sie Wexford noch nie gesehen hatte, hellen, gelbgrünen Blättern in Form eines mit einem Dreieck verbundenen Quadrats. Als Rachel dort war, waren diese Blätter natürlich erst Knospen gewesen. Falls sie dort gewesen war, falls dies das Haus war. »Das haben wir doch schon gesehen«, sagte Bürden. »Es war uns keinen zweiten Blick wert.« »Weil es der falsche Baum ist und keine Schindeln dran sind. Aber jetzt wissen wir, daß Rachel gelogen hat, und Lizzie hat von Schindeln und einem Baum nichts gesagt. Genau so ein Haus würde einem Mädchen wie Lizzie gefallen.« Es war strahlend weiß und hatte eine rosafarbene Haustür, einen unpassenden georgianischen Säulenportikus und ein Dach mit jadegrünen Dachpfannen. Die Garage war in einem
114 separaten Häuschen untergebracht, hatte ebenfalls ein Ziegeldach und zwei kleine Fenster mit Rautenmuster. Als Rachel das Haus, in dem sie gewesen war, als Bungalow im Chaletstil mit einer Vorderfront aus Schindeln und rotem Ziegelstein beschrieben hatte, hätte sie sich kaum weiter von der Wahrheit entfernen können. War das ihre Absicht gewesen? Es als sein Gegenteil zu beschreiben? Es war wieder eine Enttäuschung, obwohl sie diesmal sogar hineingingen, sich setzten und eine halbe Stunde lang mit Mrs. Pauline Chorley sprachen, einer Frau in den Fünfzigern, groß, dünn, mit aschblond gefärbtem Haar und mit einem Geschäftsmann verheiratet, der jeden Tag nach London pendelte. Dort sei er jetzt und käme erst um halb acht nach Hause. Mrs. Chorley war eine begeisterte Gärtnerin, die einen Großteil ihrer Zeit mit Gartenarbeit zubrachte und damit, ihr Haus in makellosem Zustand zu erhalten. Die Außenseite hatte sie letztes Jahr eigenhändig gestrichen und fand, daß es im Grunde schon wieder nötig war. Weiß sei in diesem Land eigentlich nicht das richtige, weil es vom Regen ja so verwaschen wurde, aber sie liebe Weiß, sie sei direkt verrückt danach, könne gar nicht genug davon bekommen. Diese Vorliebe zeigte sich auch bei der Möblierung des großzügigen, offenen WohnEß-Bereichs, bei den strahlendweißen Tüllgardinen, den weißen Teppichböden, Kissen und flauschigen Teppichen und ihren eigenen Kleidern, der frostweißen Spitzenbluse und den glänzend weißen Pumps. Zur vollen Pracht erblühte ihr Faible für Weiß in der Küche, die durch Doppelglastüren zu sehen war und so glitzernd weiß war wie Eisberge in einem Eismeer. Allerdings nicht im Garten. Dort brauchte sie Farbe, was ein Blick durch die Verandatüren bestätigte: das Leuchten der rosa- und orangefarbenen Azaleen, dazu das grelle Gelb von Gemswurz und Kaiserkronen. Ungefragt nannte ihnen Mrs. Chorley die Namen. »Was ist das da vorn für ein Baum?« »Lyriodendron tulipifera«, sagte sie mit perfekter Aussprache. 114 Wexford meinte, hoffentlich könne er sich das merken, bezweifelte es jedoch. Ob der Baum auch einen gewöhnlichen Namen habe? »Der tulpenblütige Leierbaum, nehme ich an.« Mrs. Chor-ley sagte es so angewidert, als fragte sie sich, wie jemand so tief sinken könne, die Flora in Alltagssprache zu bezeichnen. Sie hatte ihnen bereits gesagt, daß sie noch nie von Vicky oder Jerry gehört habe und seit Monaten keinen Besuch mehr gehabt habe. »Ich habe doch gar keine Zeit, Einladungen zu geben. Mit dem
Garten und dem Haus bin ich vollkommen ausgelastet. Ob ich fahre? Auto, meinen Sie? Mein Mann, ja. Ich habe es nie gelernt.« Und doch war da noch etwas, sagte Wexford, als sie auf dem Rückweg nach Kingsmarkham waren, etwas, das ihm entgangen war oder das er hätte fragen sollen. »Diese Frau hätte die beiden Mädchen bestimmt nicht im Haus haben wollen«, sagte Bürden. »Ausgeschlossen. Die hätten ihr ja womöglich den Teppichboden schmutzig gemacht. Mir tut bloß dieser Chorley leid, der arme Teufel.« »Wirklich? Dabei habe ich Sie in Haushaltsdingen eigentlich immer für ziemlich pingelig gehalten.« »Ein verrückter Fanatiker bin ich nicht«, sagte Bürden etwas verschnupft. »Danke für die Blumen.« »Was ist es, was haben wir vergessen zu fragen?« rätselte Wexford, aber Bürden konnte es ihm nicht sagen. Lynn Fancourt war seit drei Jahren bei der Polizei, ehrgeizig und voller Hoffnungen auf Beförderung. Sie war fünfundzwanzig, sah aber viel jünger aus. Ihr Gesicht war rund und rosig, ihre Augen leuchteten porzellanblau, und ihr kurzgeschnittenes, dickes braunes Haar mit den Ponyfransen erinnerte an eine altmodische Topffrisur. Die meisten Leute hielten sie für achtzehn, und ein Betrunkener, den sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet hatte, fragte sie einmal, ob ihre Eltern eigentlich wüßten, wo sie sich nachts herumtrieb. Ihr Zuhause - etwa zweihundert Meilen entfernt 115 von diesen Eltern - lag im Obergeschoß eines Hauses in Framhurst, dazu gehörte ein Unterstellplatz für ihren Ford Fiesta in einer Ecke des Gartens. Gewöhnlich fuhr Lynn mit dem Auto zur Arbeit, doch in letzter Zeit - seit der Rückkehr von Rachel Holmes - war der Fiesta auf dem Unterstellplatz stehengeblieben. Lynn war die halbe Strecke mit dem Bus gefahren und das restliche Stück zu Fuß gegangen. Der Nachhauseweg wurde sorgfältiger geplant. Eines Abends ging sie etwa eine halbe Meile zu Fuß bis zu einem einsamen Wegstück an der Pomfret Road und wartete an der Bushaltestelle nicht gerade mit ausgestrecktem Daumen, aber mit hoffnungsvollem Blick auf eine Mitfahrgelegenheit. Ein andermal nahm sie die Straße nach Flagford, wo wenig Verkehr herrschte und die Fahrbahn von überhängenden Zweigen verdunkelt wurde.
Der Fahrer eines Lieferwagens, des einzigen Fahrzeugs, das anhielt, sah sie dermaßen lüstern an und war so widerwärtig, daß sie ihn auch abgewiesen hätte, wenn sie wirklich eine Mitfahrgelegenheit gesucht hätte. Im allgemeinen fuhr sie am Ende immer mit dem Bus, doch an dem Tag, als sie Lizzie besucht und Jodi, das virtuelle Baby, gesehen hatte, ließ sie sich das erstemal mitnehmen. Es erschien ihr naheliegend, sich nur in ein Auto zu setzen, das von einer Frau chauffiert wurde. Diese hier war im mittleren Alter, grauhaarig und freundlich, ihr Wagen ein cremefarbener Honda. Da sie die Frau nicht bis vor ihre Haustür führen wollte, hatte Lynn sie gebeten, sie in Savesbury abzusetzen. Ihre Aufregung steigerte sich, als die Fahrerin das erstemal falsch abbog und auf die alte Umgehungsstraße zuzusteuern schien. Doch sie hatte sich bloß verfahren - »Ich habe überhaupt keinen Orientierungssinn, meine Liebe!« -, und zehn Minuten später wurde Lynn mitten auf der Dorfstraße von Savesbury abgesetzt. Sie winkte dem davonfahrenden Honda fröhlich nach. Dann mußte sie die zwei Meilen zu Fuß nach Hause laufen. 116 Etwa zwei Stunden später - Wexford wollte eben ins Bett gehen - klingelte das Telefon. Jemand hatte sich verwählt, und er legte gerade den Hörer auf, als ihm die Frage wieder einfiel, die er Mrs. Chorley zu stellen vergessen hatte. Es war vielleicht nicht so sehr eine Frage als vielmehr die Feststellung, daß in dem Haus etwas fehlte; er hatte es unbewußt bemerkt, aber nicht kommentiert. Es hatte dort kein Telefon gegeben. Jedenfalls hatte er keins gesehen. Er war darin geübt, auf fehlende Dinge genauso zu achten wie auf vorhandene, und ein Telefon hatte er nicht gesehen. So etwas war heutzutage so selten, daß es geradezu an Exzentrik grenzte. Rachel Holmes hatte gesagt, in dem Haus, in das sie gebracht worden sei, habe es kein Telefon gegeben, zumindest habe sie keins entdecken können... Während er dastand und grübelte, klingelte sein eigenes Telefon. So spät noch! Wahrscheinlich wieder die Frau mit der falschen Nummer. Er hob ab und hörte eine Stimme, die er schon jahrelang nicht mehr gehört hatte, die verängstigte Kinderstimme seiner erwachsenen, pragmatischen, beherrschten Tochter Sylvia: »Ach, Dad, es ist was ganz Furchtbares passiert. Ich weiß, ich bin dumm, aber - könntest du kommen, Dad? Bitte?« 116
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Er zog statt seines Tweedjacketts einen Pullover an und war eine Viertelstunde später bei The Hide. Dort hatte er Schwierigkeiten hineinzukommen, weil die Frau an der Tür ihn irrtümlicherweise für einen wütenden Ehemann auf der Suche nach seiner Frau gehalten hatte. Nach wortreichen Entschuldigungen und erleichtertem Gelächter kam er gerade in dem Moment an, als Sergeant Fitch und Constable Dempsey den Mann festnahmen, den Sylvia dabei beobachtet hatte, wie er den Draht auf der Mauerkrone durchschnitt. Quincy Miller hatte sie durchs ganze Haus gejagt und geschrien: »Tracy, wo steckst du? Ich krieg' dich schon noch!« Dabei hatte er Türen eingetreten und einer Frau einen Faustschlag versetzt, die er noch nie gesehen hatte und folglich unmöglich mit seiner Frau verwechselt haben konnte. Tracy und ihre beiden Töchter in den Bettchen neben ihr schliefen währenddessen friedlich, Wexford fand Sylvia schließlich im Notrufzimmer im obersten Stockwerk, wo sie einen Tee trank und sich von ihren beiden Begegnungen mit Miller erholte, der ersten, als er beim Durchqueren des Gartens nach oben gesehen und ihre Blicke sich gekreuzt hatten, und der zweiten, als er in dieses Zimmer gestürzt war, sie wild geschüttelt und ihr Obszönitäten an den Kopf geworfen hatte. Wexford nahm sie in die Arme und hielt sie lange tröstend fest. Nachdem sie sich eine Weile an ihn geklammert hatte, sagte sie schluchzend: »Ach, Dad, und ich dachte, ich wäre hart im Nehmen. All die Jahre bei der Sozialfürsorge »Niemand«, erwiderte er, »ist so hart im Nehmen. Glaub mir.« 117 Sie dachte an ihren Vorsatz, sich mit ihm auszusprechen, und daß das nun nicht mehr nötig schien. Angst und Schrecken wichen einer großen Ruhe und Wärme, die sie wie nach einem heißen, kräftigen Getränk durchströmte. Sie nahm seine Hand und hielt sie ganz fest. »Zeig mir das Haus«, sagte er. »Was ist das für eine Liste da oben? Woher sind denn die ganzen Zeitungsausschnitte?« Und als sie für ihn eine kleine Führung durch das Zimmer gemacht hatte: »Was sagst du eigentlich, wenn du dich am Telefon meldest? Was machst du?« Sie erzählte ihm von »Anne«, die vor ein paar Tagen völlig verängstigt angerufen hatte, von dem Mann, der anscheinend ins Zimmer gekommen war, und wie der Hörer aufgeknallt wurde, und von der Frau, deren Mann ihr angeboten hatte, sie nicht mehr zu schlagen, wenn sie einen Psychiater aufsuchte. Das waren ihre mißlungenen Fälle gewesen, also erzählte sie ihm auch von ihren Erfolgen und Siegen. Als es auf Mitternacht zuging und Jill
kam, um sie abzulösen, meinte Wexford, sie solle doch ihren Wagen stehenlassen, er würde sie nach Hause bringen, und Neil könnte sie ja herfahren, wenn sie wieder Dienst hatte. Also hatte er sie den ganzen Weg nach Hause aufs Land gefahren, etwa zehn Meilen außerhalb von Kingsmarkham, hatte sie ins Haus begleitet, war dann selbst heimgefahren und ein paar Minuten vor zwei neben Dora ins Bett geschlüpft. Weil er sich erschöpft und leicht benommen fühlte, hatte er beschlossen, am nächsten Morgen zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Frische Luft und Bewegung, der Gesundheit wegen, wie ihm Dr. Akande immer ans Herz legte. Außerdem war es ein wunderschöner, warmer, windstiller Tag, die Sonne angenehm dunstverhangen. Er überlegte, wie schön es doch aussah, wenn die Gehwege mit abgefallenen Blüten und grünen, pollenbestäubten Blumen übersät waren statt mit leeren Tüten und Zigarettenstummeln. Trotz der durchwachten Nacht - er hatte nach dem Heimkommen nicht mehr viel geschlafen - war es ein höchst befriedigender Abend gewesen: Er war 118 mit der Zuneigung dieser schwierigen älteren Tochter belohnt worden, die er - wie sich mit einigem Glück hoffentlich bald zeigen würde - ebensosehr liebte wie ihre jüngere Schwester. Auf dem Polizeirevier lief er vor lauter Übermut alle vier Treppen hoch, statt mit dem Aufzug zu fahren. Als erstes fiel sein Blick auf eine Notiz, die auf seinem Schreibtisch lag. Aktion gegen Sexualstraftäter hieß es da). Das Innenministerium kündigte diese Woche ein verbessertes System zur Identifizierung von und zum Umgang mit hochgefährlichen, wieder in die Gesellschaft entlassenen Triebtätern an. Zu diesem Zweck soll ein neuer, landesweiter Lenkungsausschuß eingerichtet werden, der sich aus Vertretern des Innenministeriums, der Vereinigung leitender Polizeibeamter und der Vereinigung der leitenden Mitarbeiter in der Bewährungshilfe sowie auf die Behandlung von Sexualstraftätern spezialisierten Therapeuten zusammensetzt. Dieser neue Ausschuß hat sich folgendes zum Ziel gesetzt: - Hochgefährliche, schwer integrierbare Sexualstraftäter noch während der Haftzeit zu identifizieren und die Pläne für ihre Freilassung zu prüfen - Die Betreuung dieser Täter nach der Haftentlassung zu überwachen - Die Erwägung eventuell notwendiger Finanzmittel, um die voraussichtlichen Zusatzkosten für ihre Unterbringung bereitstellen zu können. Verständlicherweise existieren in der Öffentlichkeit beträchtliche
Vorbehalte gegen die Art und Weise, in der einige hochgefährliche Sexualstraftäter wieder in die Gesellschaft entlassen wurden... Das kann man wohl sagen, dachte Wexford bei sich und überlegte, daß diese ganze Aktion für Orbe zu spät kam. Aber vielleicht hatten sich die Dinge im Muriel Campden Estate inzwischen etwas beruhigt. Er war felsenfest davon überzeugt, 119 daß der Mensch die Fähigkeit besaß, eine Situation zu akzeptieren, indem er sich an sie gewöhnte. Falls Orbe stillhielt, und natürlich würde er stillhalten, falls er als hochgefährlicher Triebtäter vorerst nur tiefstapelte, würden seine Nachbarn bestimmt nichts weiter tun, als ihn und die Seinen zu ächten und eine gewisse Distanz zu wahren. Der Eintritt von Karen Malahyde unterbrach ihn in seinen Grübeleien. »Es wird schon wieder ein Mädchen vermißt, Sir.« »Aha, weggezaubert in einen hübschen Bungalow mit einem Baum davor, nehme ich an?« witzelte er und bereute seine Bemerkung sofort. Karen lächelte nicht. »Das glaube ich nicht, Sir. Diesmal ist es ernst, es handelt sich um ein Kind. Die Kleine ist noch keine drei Jahre alt.« Ploughman's Lane ist die Millionärszeile von Kingsmarkham. Einem Besucher mag die Straße jedoch eher wie ein breiter Feldweg durch ein Waldgebiet vorkommen. Die Wälder von Sussex gehören mit zu den schönsten in England, denn die Bäume sind hier höher und üppiger belaubt, auch gibt es eine größere Artenvielfalt, darunter den Schneeball und den Wolligen Schneeball. Am schönsten sind die Buchen mit ihren fedrigen, wie Flügel gespreizten Zweigen und den Stämmen, glatt und silbergrau wie Seehundfell, und besonders sauber und adrett sehen die Weißeichen mit den runden Kronen aus, deren natürliche Form den Anschein erweckt, als hätte ein Formschnittkünstler sie bearbeitet. Die Hügel groß im Süden des Lands Stehen am weiten Meer, Und dort möcht' ich gehn im Hochwald, Ich wünsche es mir so sehr, Und die Männer, die mit mir Knaben warn, Gehn neben mir einher. Genauso war Wexford jedesmal zumute, wenn er hier heraufkam, obwohl es die See natürlich nicht gab, die lag in zwan 119
zig Meilen Entfernung, außerdem stand dieser Wald heute voller Häuser, was allerdings auch schon für damals galt, als er noch ein kleiner Junge war. Es waren nur noch mehr dazugebaut worden. Trotzdem entdeckte man die meisten erst bei genauem Hinsehen, wenn man durch ein Gehölz oder Wäldchen spähte in der Annahme, daß sich hinter den Bäumen ein Gebäude verbarg, weil ein Törchen darauf hinwies, ein Briefkasten und vielleicht sogar ein Name wie Woodland Lodge oder The Beeches. Sylvia hatte früher hier oben gewohnt, als Neil mit seiner Firma auf der Höhe des Erfolges gestanden hatte, doch selbst damals hatte ihr Haus zu den bescheideneren Exemplaren gehört. Das Haus, dem er nun einen Besuch abstatten kam, zählte zu den prächtigsten; die höchsten Bäume standen auf dem Grundstück, es hatte die längste Auffahrt und war von der Straße am wenigsten einsehbar. Im Umkreis von einer Meile war kein größerer Gegensatz zu finden als zwischen diesem Anwesen und der Glebe Road oder dem Muriel Campden Estate. Selbst Leute, die nicht radikal eingestellt waren, bemerkten ihn sofort und begannen unwillkürlich, sich unwohl in ihrer Haut zu fühlen. Jedesmal wenn er hier herauffuhr, mußte Wexford an diesen Gegensatz denken, und während sie die Zufahrt zu Woodland Lodge entlangfuhren, die eher einem Landsträßchen als einer Garageneinfahrt glich, blickte er sich um und wurde sich wieder einmal bewußt, wie ungerecht das Leben doch war. Sie erreichten schließlich das Haus, das fast an ein Herrenhaus erinnerte, eine funktionale, rote Backsteinvilla von etwa 1910 mit weißen Verblendungen, Flügelfenstern und einer eisenbeschlagenen Eichentür. Offensichtlich handelte es sich bei der großen Doppelgarage um eine umgebaute ehemalige Remise. Bevor er ausstieg, stellte er fest, daß es von hier aus fast unmöglich war, die Nachbarhäuser zu sehen oder den Nachbarn Einblick zu gewähren. Diese Eigenschaft von Woodland Lodge in der Ploughman's Lane - vorteilhaft für Häusermakler, wünschenswert für Hauskäufer - wäre bei den polizeilichen Ermittlungen hinderlich. 120 Schon bevor er eingelassen wurde und den verzweifelten Eltern gegenüberstand, war ihm klar gewesen, daß er es diesmal mit etwas völlig anderem zu tun hatte als bei den Entführungen von Lizzie Cromwell und Rachel Holmes. Die Tochter der Familie Devenish hatte man nicht gefragt, ob sie mitfahren wolle, oder sie weggelockt - sie war nachts aus ihrem eigenen Bettchen, ihrem eigenen Zimmer in ihrem Elternhaus geholt worden. Das mußte aber nicht unbedingt heißen, daß die Cromwell- und Holmes-Episoden nicht Vorboten oder Proben für diese gewesen waren.
Stephen Devenish hatte Wexford und Karen Malahyde eingelassen. Er gab sich sehr fürsorglich und war anfangs sehr darauf bedacht, daß seine Frau nicht von den Ermittlungen behelligt wurde. Sie könne ihnen nichts sagen, meinte er, dazu sei sie viel zu aufgeregt, er wünsche nicht, daß sie belästigt werde, daß sie noch mehr durchmachen müsse. Alles, was sie ihnen sagen könne, könnten sie auch von ihm erfahren. »Ich fürchte, ich muß auch mit Mrs. Devenish sprechen, Sir«, sagte Wexford. »Wir werden sie aber nicht aufregen. Ich bin sicher, sie wird uns helfen wollen.« Devenish, der eine angenehme Art hatte, nicht aggressiv oder anmaßend war, lächelte bedrückt, während er Wexfords Worte mit einem zustimmenden Nicken quittierte. Er führte sie in einen prächtig ausgestatteten Salon, von dem sich Verandatüren auf eine Terrasse und einen Rasen hin öffneten. Daran angrenzend standen ausgewachsene, sogar uralte Bäume, die lange vor dem Bau des Hauses schon dort gestanden hatten, aber gerade so hoch waren, daß sie das sanft geschwungene, blaue Hügelland in der Ferne nicht verdeckten. In der Mitte eines dreisitzigen, mit cremefarbenem Satinstoff bezogenen Sofas saß eine kleine, schmale Frau mit dem erschöpften Gesicht und den riesigen Augen einer fliehenden Füchsin. Diese Ehe, erkannte Wexford sofort, war ein Beispiel für jenes nicht ungewöhnliche Phänomen, bei dem ein großgewachsener und blendend aussehender Mann eine reizlose und unscheinbare Frau geheiratet und mit ihr eine funktio 121 nierende Ehe aufgebaut hatte. Stephen und Fay Devenish waren, wie er bereits wußte, beide sechsunddreißig, doch während er aussah wie Anfang Dreißig, hätte man sie für fünfundvierzig halten können. Als sie eintraten, stand sie auf und streckte die Hand aus -die Geste einer wohlerzogenen Frau, die mehr braucht als die schreckliche morgendliche Entdeckung, um ihre guten Manieren zu vergessen. Mit leiser, weicher Stimme sagte sie: ».Danke, daß Sie gekommen sind, das ist sehr freundlich von Ihnen.« »Setz dich doch, Liebling«, sagte Devenish. »Du darfst dich nicht aufregen, du mußt deine Kräfte aufsparen.« Wofür, fragte sich Wexford, sagte dann aber laut: »Ihre Tochter ist drei Jahre alt, ist das richtig?« »Genau gesagt, zweidreiviertel«, antwortete Devenish. »Und sie heißt - einen Moment - Sanchia?« »Genau.«
»Haben Sie noch andere Kinder, Mr. Devenish?« »Zwei Söhne. Die sind in der Schule. Ich habe sie heute morgen in die Schule geschickt, ich hielt es für das beste. Sie heißen Edward und Robert und sind zwölf und zehn Jahre alt.« Karen sagte: »Würden Sie uns bitte sagen, was gestern abend und heute früh hier geschehen ist, Mrs. Devenish?« Obwohl die Frage an seine Frau gerichtet war, beeilte sich Devenish zu sagen: »Gestern abend war ein ganz normaler Abend, ein völlig normaler Abend an einem Wochentag. Was dann in der Nacht passiert ist, war so - so entsetzlich, so furchtbar.« Er setzte sich neben seine Frau, nahm ihre Hand und zog sie auf seine Knie herüber. Neben ihr wirkte er doppelt so groß wie sie, ein kräftiger, aber nicht dicker Mann von dunklem Typ mit einem Kopf wie Lord Byron und den attraktiven Zügen jenes Dichters. »Um sieben ging Sanchia schlafen wie immer, und meine Frau las ihr noch eine Geschichte vor; es war alles vollkommen normal.« 122 »Ich ließ das Schlafzimmerfenster offen«, sagte Fay Devenish mit verzweifelter Stimme, als würde sie eine schreckliche Sünde gestehen. »Es war so ein schöner Abend, da ließ ich das Fenster offen. Es schien mir nicht riskant, hier doch nicht, nicht in England, im Sommer.« »Nun, mein Liebling«, sagte Devenish, »du weißt ja, du machst manchmal dumme Sachen.« Er sprach in einem liebevollen, fast neckenden Ton, doch Wexford war überrascht. Nicht »wir machen doch alle mal dumme Sachen«, sondern »du machst dumme Sachen«, du bist die Idiotin, du hast Schuld. »Wir gehen gleich mal nach oben und sehen uns Sanchias Zimmer an«, sagte er. »Haben Sie während der Nacht irgend etwas Ungewöhnliches gehört?« »Ich höre nie etwas. Ich nehme eine Schlaftablette, bevor ich zu Bett gehe.« Eine überraschende Eröffnung von einem so kräftigen, gesund aussehenden Mann. »Dann schlafe ich wie ein Murmeltier. Ich brauche meine Nachtruhe, ich habe einen anstrengenden Job.« »Als was, Mr. Devenish?« »Ich bin Hauptgeschäftsführer von Seaward Air«, erläuterte Devenish. Das war eine der wichtigsten transeuropäischen Fluggesellschaften, die vom Flughafen Gatwick aus operierte. »Dort müßte ich jetzt eigentlich sein, aber natürlich...« Mit einer hilflosen Geste hob er die Hände.
»Und Sie haben während der Nacht nichts gehört, Mrs. Devenish? Nehmen Sie ebenfalls Schlaftabletten?« Sie schüttelte den Kopf und sah Wexford mit einem so unverstellt flehenden Blick an, daß er sich abwenden mußte. Doch er mußte weiterfragen. »Um welche Uhrzeit wacht Sanchia denn gewöhnlich auf?« Wieder war Sanchias Vater derjenige, der das Wort ergriff. »Um sechs. Ab und zu auch um halb sieben, aber sehr selten.« Er lächelte Wexford wie unter Familienvätern an. »In dem Alter wachen sie ja früh auf.« »Sie dachten also, sie würde eben wie sonst ab und zu etwas 123 länger schlafen?« fragte Karen. »Um wieviel Uhr gingen Sie in ihr Zimmer?« Devenish wollte gerade antworten, aber Karen insistierte: »Mrs. Devenish?« »Ich - wir - wir haben ein bißchen verschlafen.« Sie sah ihren Mann an, als wollte sie um Erlaubnis bitten, fortfahren zu dürfen. Er nickte ihr aufmunternd zu. »Als ich aufwachte, war es sieben. Ich stand auf und ging schnell zu Sanchia hinüber. Ich dachte, sie läge bestimmt schon seit einer Stunde wach und ich hätte sie nicht gehört. Wenn sie dagewesen wäre, wäre sie aufgestanden und zu uns hereingekommen, das kann sie nämlich, aber daran dachte ich in dem Moment gar nicht. Ich lief in ihr Zimmer, das Bett war leer und - ach Gott - ich dachte, - ich dachte »Reg dich nicht auf, Liebling«, sagte Devenish. »Versuch, ruhig zu bleiben. Du weißt doch, es ist nicht gut, wenn du dich aufregst. Ich werde zu Ende erzählen.« Er nahm wieder die Hand seiner Frau und zog sie dicht an sich. »Wir dachten, Sanchia wäre aufgestanden und nach unten gegangen. Das hatte sie zwar noch nie getan, aber sie entwickeln sich ja so schnell in dem Alter, immer gibt es etwas Neues... Na, jedenfalls war sie nicht unten. Wir suchten nach ihr, wir durchsuchten sogar den Garten, obwohl wir abends alle Türen abgeschlossen haben und sie immer noch abgeschlossen waren. Diese Tür« - er deutete auf die Verandatür - »war abgeschlossen und der Schlüssel wie immer abgezogen worden.« Er nickte. »Von mir«, sagte er, als wäre kein anderes Familienmitglied in der Lage, einen Schlüssel aus dem Schloß zu ziehen. Wexford stand auf. »Dann sehen wir uns jetzt Sanchias Zimmer an, wenn es Ihnen recht ist.« Das Haus war wunderschön, makellos gepflegt, mit dem original erhaltenen, kunstvoll geschnitzten und auf Hochglanz polierten dunklen Holzwerk. Die großzügige Eingangshalle und die breite Treppe waren vollständig mit
dichtflorigem, elfenbeinfarbenem Teppichboden ausgelegt. Merkwürdig, dachte Wexford. Daß die kinderlose, schon ältere Mrs. Chorley alles in 124 makellosem Weiß haben wollte und es hingebungsvoll pflegte, war nachvollziehbar, aber ein Ehepaar mit drei Kindern, von denen das älteste noch nicht einmal im Teenageralter war? Trotzdem strahlte alles vor Sauberkeit. Vermutlich hatte Mrs. Devenish jeden Tag eine Zugehfrau oder sogar eine Hausangestellte, die im Haus wohnte. Während sie die Treppe hochgingen, erkundigte er sich danach. »Um all diese Dinge kümmert sich meine Frau«, sagte Devenish stolzgeschwellt. »Sie ist eine großartige Hausfrau. Anders würde ich es auch nicht haben wollen.« Dabei lächelte er, um zu zeigen, daß er scherzte. Im Obergeschoß war ebenfalls alles in Elfenbeinfarben gehalten, und auf dem Treppenabsatz standen Möbel von der Art, wie sie nur reiche Leute besitzen: ein paar zierliche, weiß gestrichene und vergoldete Stühle, eine Blumenbank mit einem riesigen Blumenarrangement und eine pinkfarbene Chaiselongue. An einer Tür rechts davon war ein Emailleschildchen angebracht mit der Aufschrift: Sanchias Zimmer. Devenish öffnete, und sie gingen hinein. Die Mutter des vermißten Kindes hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte leise. »Setz dich, Liebling«, sagte Devenish. »Du wärst besser nicht mit heraufgekommen. Das ist doch alles viel zuviel für dich.« Er hob den Blick und sah Wexford bedeutungsvoll an, doch was dieser Blick bedeuten sollte, war unmöglich zu sagen. »Meine Frau ist nicht sehr robust.« Mit dem Ausdruck schien Devenish viel mehr vermitteln zu wollen als die übliche, wenn auch etwas altmodische Bedeutung. Erholte sie sich gerade von einer Krankheit? War sie etwa herzkrank? Wexford wurde nicht recht schlau daraus. Er begutachtete das Zimmer, das im hinteren Teil des Hauses lag und von dessen Fenstern aus man den Garten überblickte. Hier war der Teppichboden rosa, und das Himmelbettchen hatte rosafarbene Vorhänge. Offensichtlich war es so belassen worden wie zum Zeitpunkt, als das Kind es verlassen hatte, als es herausgetragen worden war: Die rosaweiß ge 124 blümte Daunendecke war zurückgeschlagen, und am Fußende türmte sich eine Kuscheltiermenagerie - mehrere Bären, ein Hund, zwei Kätzchen und eine Giraffe. Eins der Fenster stand immer noch offen. Es war breit genug, daß ein Erwachsener durchgepaßt hätte. Das andere war eher eine Art Glastür und führte - wie Wexford beim Aufschließen und Öffnen feststellte - auf einen
Balkon mit schmiedeeisernem Geländer. Er trat hinaus. Bis zum Boden waren es zwar nur etwa viereinhalb Meter, aber für einen Sprung mit einem Kind im Arm immer noch zu hoch. »Normalerweise wäre das Bett inzwischen natürlich schon gemacht«, sagte Devenish offenbar als Entschuldigung. »Aber unter den gegebenen Umständen dachte ich Darauf gab Wexford keine Antwort, falls eine Antwort überhaupt erforderlich war. »Gibt es irgendwo auf dem Grundstück eine Leiter?« fragte er Devenish, der mit ihm auf den Balkon getreten war. »Ich fürchte, ja. Es ist so eine ausziehbare. Sie steht in der Garage, die - das ist wohl ebenfalls meine Schuld - die nicht abgeschlossen war. Wissen Sie, in so einer Gegend, also, in einer Kleinstadt auf dem Lande, in einer besseren Wohngegend sollte man doch wohl denken, daß man nicht jeden Abend die Garage abschließen muß.« »Und ich fürchte, die bessere Wohngegend ist genau der Grund, weshalb man es muß«, versetzte Wexford trocken. Devenish zuckte die Achseln. »Können wir das Fenster jetzt zumachen? Ihre Leute haben alles gemacht, Fingerabdrücke abgenommen und was weiß ich, und einem Beamten habe ich auch die Garage und die Leiter gezeigt.« Wexford setzte sich neben Fay Devenish. Sie hatte immer noch den Kopf zwischen den Händen, ließ sie nun aber sinken und sah ihn mit verstörtem, tränenverschmiertem Gesicht an. »Mrs. Devenish«, sagte er, »was für ein Kind ist Sanchia? Mit ihren zweidreiviertel Jahren spricht sie bestimmt schon recht gut und hat eine kräftige, klare Stimme?« Er dachte an die Kinder, die man mit ihren Müttern immer im Supermarkt 125 antraf. Unter allen Stimmen sind die von Dreijährigen am ohrenbetäubendsten. »Und seit anderthalb Jahren kann sie auch laufen, nicht wahr?« Nach einigem Zögern sagte Fay Devenish: »Mit dem Laufen hat sie spät angefangen, erst mit anderthalb.« Ihre Stimme klang monoton, ohne Modulation, als stünde sie unter Drogen. »Sie spricht auch nicht viel, jedenfalls nicht so viel, wie sie sollte.« »Liebling, das hört sich ja an, als wäre mein Kind zurückgeblieben.« Seine freundliche, gefällige Art milderte die harsche Zurechtweisung etwas ab. »Sanchia gehört eben zu den Kindern, die recht spät mit dem Sprechen anfangen, Chief Inspector. Meine Söhne konnten beide mit einem Jahr laufen
und haben mit zwei fließend gesprochen. Vielleicht liegt es ja daran, daß Sanchia ein Mädchen ist.« Damit, daß Karen nun vernehmlich Luft holte, hatte Wexford schon gerechnet, trotzdem warf er ihr einen beschwichtigenden Blick zu. »Könnte es denn sein, daß sie sich von einem Fremden aus dem Bett nehmen und aus ihrem Zimmer eine Leiter hinuntertragen läßt? Würde sie sich wehren? Sie würde doch sicher schreien?« Der Vater meinte, das könne er nicht beantworten, und Wexford fragte sich, wieviel Zeit er tatsächlich mit seinen Kindern verbrachte. Nahm Seaward Air ihn so in Anspruch, daß er sie zwar morgens kurz sah, dann aber gewöhnlich erst nach Hause kam, wenn sie schon im Bett waren? Unter ersticktem Schluchzen sagte Fay Devenish: »Sie ist so ein liebes, freundliches kleines Mädchen, sie würde - sie würde wohl mit jedem mitgehen, der - der nett zu ihr ist.« Mit diesen Worten brach sie vollends in Tränen aus, wiegte sich schluchzend hin und her. Ihr Mann nahm Wexfords Platz ein und legte den Arm um sie. Es brauchte nicht ausführlich dargelegt zu werden. Chief Constable Montague Ryder hatte sich am Telefon etwas vage ausgedrückt, aber alles Nötige gesagt, und obwohl Wexford 126 weder Namen noch Einzelheiten genannt hatte, verstanden Karen, Bürden und Vine ihn ebensogut, wie er Ryder verstanden hatte. In diesem Stadium war es ratsam, die Entführung von Sanchia Devenish aus der Presse herauszuhalten, sie vorerst als Geheimsache zu behandeln. Also kein Fernsehauftritt von Stephen und Fay Devenish mit dem bittenden Aufruf, ihnen ihr Kind zurückzugeben -für Wexford eine gewisse Erleichterung, da er allmählich das Gefühl hatte, ein weiterer Appell, nach den Crownes und Rosemary Holmes, wäre etwas peinlich. Außerdem setzte er seine Hoffnungen auf Vicky und Jerry. Ganz egal, was Lizzie und Rachel erzählt hatten, Vicky und Jerry kamen in beiden Geschichten vor. Sie existierten tatsächlich. »Jemand muß wohl zur University of Essex«, sagte Bürden, »und aus Rachel die Wahrheit herausbekommen. Wenn sie erfährt, daß eine Dreijährige entführt worden ist, wird sie bestimmt aufhören zu lügen.« Wexford schüttelte den Kopf. »Nein, Mike, das reicht nicht. Ich will sie hierhaben. Karen fährt nach Colchester und bringt sie her. Sie kann sich von ihrer Studienleiterin die Erlaubnis holen, oder von ihrer Tutorin oder wie das
heißt. Ein Tag wird reichen. Ich chauffiere sie eigenhändig herum, bis sie das Haus findet und diese Leute identifiziert.« »Und wenn sie sich weigert herzukommen?« »In dem Fall«, meinte Wexford, »werde ich sie wegen Rechtsbeugung belangen. Sie ist über achtzehn, sie ist eine erwachsene Frau.« Vicky war ganz offensichtlich sehr überzeugend, vielleicht sogar recht einnehmend. Wäre es ihr sonst gelungen, Lizzie in ihr Auto zu locken und der weitaus intelligenteren Rachel weiszumachen, sie sei die Mutter einer Freundin? Und »konnte sie es« vielleicht gut mit Kindern? War sie die Art Frau, bei der ein kleines Kind sofort Zutrauen faßte, mitging, sich unbefangen fühlte? Eine, die sagte: »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht«, und sie kommen glücklich voller Vertrauen herbei? Denn wenn es sich nicht 127 um so eine Rattenfängerin handelte, da war Wexford sich sicher, dann mußte es jemand sein, den Sanchia kannte, verwandt oder mit der Familie befreundet, ein häufiger Gast im Haus an der Ploughman's Lane. Unwahrscheinlich, eigentlich schwer vorstellbar, daß so jemand mitten in der Nacht eine Leiter aus der Garage holte, hinaufkletterte, durch das Fenster stieg, das schlafende Kleinkind weckte und es mitnahm, ohne daß dieses Kind einen einzigen Mucks machte. Etwas später am selben Tag fuhr er noch einmal zu Woodland Lodge, um Stephen Devenish eine Liste - eine sehr kurze Liste - von Verwandten und Freunden abzuringen, die Sanchia kannte und häufig sah. »Abringen« war der passende Ausdruck, denn Devenish gab sie ihm nur äußerst unwillig. Von diesen Leuten, behauptete er steif und fest, sei niemand auch nur im entferntesten fähig, ein Kind zu entführen, und schon gar nicht sein Kind. Er vermittelte den seltsamen Eindruck eines Menschen, vor dem seine wenigen Freunde in Ehrfurcht erstarrten, den sie zutiefst respektierten oder sogar fürchteten. Aber dann lächelte er, und Wexford kam nicht zum erstenmal der Gedanke, daß er gar nicht so erschüttert war, wie er eigentlich hätte sein sollen. Er stellte sich vor, wie ihm zumute gewesen wäre, wenn Sylvia oder Sheila aus ihren Bettchen geholt worden wären, als sie noch keine drei Jahre alt waren. Wut und Fassungslosigkeit hätten von ihm Besitz ergriffen, Panik und Schmerz. Doch dieser Mann lächelte, wenn auch bekümmert. Na ja, die Menschen waren eben verschieden, damit mußte man leben. Und manchen gelang es sehr gut, ihre Gefühle zu kaschieren.
Devenish gab ihm seine Liste und Fay Devenish die ihre. Der Ehemann sah sich an, was seine Frau aufgeschrieben hatte und schüttelte den Kopf. »Schau mal hier, Liebling, da steht Gerard Morgan und Sarah Pilgrim und - warte mal - Carmel Finn, wer immer das ist. Von diesen Leuten war doch seit Jahren keiner mehr hier im Haus - jedenfalls nicht, seit Sanchia auf der Welt ist.« Wie in einer ähnlichen Situation am Morgen lächelte er, um seine Worte abzumildern. »Das hätte ich nicht zugelas 128 sen.« Die Hand seiner Frau wurde tröstlich gedrückt. »Von denen kannte Sanchia keinen, sie wäre bestimmt nicht mitgegangen. Ihre häßlichen Fratzen hätten sie zu Tode erschreckt.« Bei seinen letzten Worten brach Fay Devenish erneut in Tränen aus. Wexford nahm die Listen, wobei er sich fragte, ob sie ihm viel nützen würden. »Sie haben doch sicher ein aktuelles Foto von Sanchia«, sagte er. Das hatten sie nicht. Vielleicht ein Familienfoto, meinte Devenish zweifelnd, einen Schnappschuß, aber wohl kaum eine Porträtaufnahme. Wexford sah die beiden erstaunt an und erinnerte sich an die Zeit, als er selbst ein junger Vater gewesen war. Das Fotografieren hatte noch nicht zur fast wöchentlichen Routine gehört wie heute, trotzdem hatten er und Dora ihre Töchter regelmäßig treu und brav fotografiert. Und dabei waren sie alles andere als gutsituiert gewesen... Als Devenish ihn in einen Raum geführt hatte, den er als Arbeitszimmer bezeichnete, und er mit ihm allein war, fragte ihn Wexford, ob er irgendwelche Feinde hatte. »Feinde?« Stephen Devenish klang, als handelte es sich um eine groteske Unterstellung. »Haben Sie jemals Drohungen erhalten?« »Ja, natürlich. Ein Mann in meiner Position erhält eben Drohungen.« Wexford fand dies eine erstaunliche Antwort. »Wirklich?« »Ich meine - Drohbriefe habe ich ein paar bekommen, voll mit Obszönitäten, in denen der Schreiber sagt, er will mich umbringen.« »Sie nehmen das ja sehr auf die leichte Schulter, Mr. Devenish. Haben Sie uns davon benachrichtigt? Haben Sie diese Briefe aufgehoben?« »Weder das eine noch das andere. Hören Sie, ich weiß, daß ich Mitarbeiter habe, Untergebene sozusagen, oder ehemalige Mitarbeiter, die mich nicht mögen. Aber daß sie deswegen mein Kind entführen, also das ist doch ziemlich weit hergeholt, meinen Sie nicht?« 128
Wexford blieb ihm die Antwort schuldig. Wenn es um menschliches Verhalten ging, wußte er, war nichts weit hergeholt. Er sah sich im Zimmer um. Ein Hort der Männlichkeit und doch fast die Karikatur eines Arbeitszimmers, ein Büro, in dem Männerangelegenheiten getätigt wurden, Männerarbeit, Männergeschäfte, in dem ein Mann aber auch in Dingen schwelgen konnte, die Frauen völlig fremd waren. Ein Bühnenbildner hätte für ein Stück über einen Industriemagnaten oder Politiker vielleicht etwas Ähnliches geschaffen. Das gesamte Mobiliar war groß und schwer, das Holz Mahagoni mit Messingbeschlägen, die Bezüge aus hellbraunem Leder. Keine Fotos, keine Blumen, keine Kalender. Gekreuzte Schwerter in Lederscheiden hingen an einer Wand, dazwischen ein offener Dolch. Ein antikes Steinschloßgewehr ruhte in einer Glasvitrine, in einer zweiten daneben ein großer, toter, womöglich ausgestopfter Fisch. Vor dem Fenster hing statt der Gardinen eine Jalousie, und auf der eisernen Platte vor dem schwarzen Marmorkamin stand ein Kaminbesteck aus blankpoliertem Messing. »Was meinten Sie mit ehemalige Mitarbeiter, Mr. Devenish?« »Ach, nur daß ich einen Kerl wegen Unfähigkeit und Alkohol rausschmeißen mußte. Er war der Geschäftsführer. Dem hat es natürlich nicht gepaßt, kann man sich ja denken. Und dann noch andere. Aber das würde jetzt wirklich zu weit führen.« »Ich hätte trotzdem gern den Namen des Geschäftsführers, Sir.« Wieder draußen in der Plougham's Lane, sah sich Wexford die Auffahrten zu den Häusern auf beiden Seiten von Woodland Lodge an, die jeweils gute fünfzehn Meter von dem Devenish-Anwesen entfernt lagen. Vine hatte mit den Bewohnern bereits gesprochen, von denen während der Nacht keiner etwas gehört oder gesehen hatte. Er und Lynn waren immer noch dabei, systematisch von Haus zu Haus Befragungen anzustellen. 129 Kaum war Wexford wieder im Büro, rief der Chief Constable erneut an. »Wann erscheint eigentlich Ihr Lokalblättchen, Reg?« »Das von Kingsmarkham, Sir, nicht meins. Der Courier kommt immer Freitagmorgen raus.« »Ach so. Dieses Mädchen, das erste, das entführt wurde, Lizzie Crowne heißt die doch, nicht?« »Lizzie Cromwell«, berichtigte Wexford. »Lizzie Cromwell. Ich gehe davon aus, daß Sie nicht vorhatten, sie zu dem kleinen Mädchen zu vernehmen?«
Wovon man nicht alles ausgehen kann, dachte Wexford, und sich dabei so glasklar ausdrücken kann, ohne die Sache beim Namen zu nennen. »Nein, Sir.« »Gut so.« Lizzie Cromwell war nicht direkt begriffsstutzig, auch nicht geistig zurückgeblieben und kam keinesfalls als Kandidatin für eine Anstalt in Frage. Doch sie war langsam, naiv und hatte einen ziemlich niedrigen IQ. Devenish hatte bestritten, daß seine Tochter noch nicht so weit sei wie andere Kinder in ihrem Alter, doch das war nicht anders zu erwarten. Offenbar hatte alles, was mit ihm in Beziehung stand - seine Frau, seine Kinder, sein Zuhause - perfekt zu sein. Trotzdem, mit anderthalb laufen zu lernen, war ziemlich spät, besonders heutzutage, wo Babys mit allem immer früher dran waren, und wenn eine seiner Töchter mit fast drei noch nicht hätte sprechen können, dachte Wexford, hätte er sich ernsthaft Sorgen gemacht. Gab es eine Verbindung? War Sanchia von der gleichen Person entführt worden wie Lizzie, weil die beiden etwas hatten, was diese Person an unintelligenten Menschen mochte oder brauchte oder was sie anzog? Ein unangenehmer Gedanke. Und falls es so war, wieso hatten dann die gleichen Leute, vorausgesetzt es waren die gleichen, die hochintelligente Rachel Holmes entführt? Er hätte zu gern gewußt, wie das Kind aussah, doch in Ermangelung eines Fotos - das Familienbild hatte er abgelehnt - hatte er keinerlei Vorstellung. 130 An dem Abend wurde Rachel von Karen nach Hause gebracht. Sie hatte erst nicht mitkommen wollen, hatte sich rundheraus geweigert, bis Karen ihre Überredungskünste aufgab und ihr statt dessen knapp mitteilte, wessen sie belangt werden konnte. Sie sprach zunächst mit der Tutorin, dann mit dem Leiter ihrer Fakultät und schließlich mit dem Vizekanzler höchstpersönlich, bis Rachel verdrossen nachgab. Die Fahrt dauerte ziemlich lang, denn obwohl man nicht nach London hineinfahren mußte, um von Colchester nach Kingsmarkham zu gelangen, staute sich der Verkehr auf der M25 zwischen Brentwood und der Queen-Elizabeth-II-Brücke über die Themse und dann noch einmal auf der M2. Es war kurz vor neun, als sie Stowerton erreichten, wo Karen sie bei ihrer Mutter absetzte. Wexford sagte, er wolle gleich morgen früh mit ihr reden. Er hatte persönlich alle Leute auf den Listen der Devenishs angerufen, auch die drei, die Sanchia laut Devenish überhaupt nicht kannten. Alle klangen unschuldig, schockiert und voller Mitgefühl. Wexford bat sie, zu niemandem etwas über das
Gespräch mit ihm verlauten zu lassen, wozu sie sich auch verpflichteten, doch konnte man sich in einer solchen Situation eigentlich nicht auf die Diskretion der Leute verlassen. Die meisten Bewohner des Muriel Campden Estate glaubten, daß Orbe nicht mehr in Nummer 16 wohnte. Der Mann, den man von dort hatte weggehen sehen, war bestimmt Orbe selbst gewesen - wer denn sonst? Blieb nur die Frage, wohin er gegangen war. Darauf gab es viele verschiedene Antworten, alle spekulativer Natur. Colin Crowne behauptete, man habe ihn ins regionale Kriminaldezernat außerhalb von Myringham gebracht. Dort gäbe es genug Platz, sogar Suiten seien drin, das wisse er ganz sicher. Eigentlich gehörte Orbe in eine Zelle gesperrt, aber das täten die nicht, dazu seien sie zu schwach. Die würden ihn in einer Suite wohnen lassen, mit Luxusbad und Einbauküche. Brenda Bosworth meinte, auf so eine ehemalige Gesundheitsfarm sei er geschickt worden, von 131 denen einige - wie allgemein bekannt war - in Unterbringungseinheiten für hochgefährliche Sexualstraftäter umgebaut worden waren, die ihre Strafe abgesessen hatten. Nach Meinung von Tony Mitchell, dem Friedensstifter, hatte Orbe irgendwo weit weg, wahrscheinlich im Norden, im Rahmen des Zeugenschutzprogramms der Regierung eine Wohnung bekommen, aber John Keenan meinte, als Zeuge von was denn und so etwas gäbe es sowieso nur in Amerika. Seine Frau Rochelle favorisierte eher die Selbstmordtheorie. Deshalb sei er am Samstag abend weggegangen: um sich umzubringen. Seine Leiche würde man vermutlich im Fluß oder an einem Baum im Cheriton Forest aufgeknüpft finden, und damit aus und fertig, weg mit dem Abschaum. Miroslav Zlatic sagte gar nichts, da er - obwohl bereits seit einem Jahr im Lande - noch immer kein Wort Englisch konnte, fuchtelte aber wild herum und fluchte auf Serbokroatisch. Leben und leben lassen, sagte Sue Ridley, der tut keinem mehr was, der ist zu alt und zu abgehalftert. Übereinstimmend waren jedoch alle der Meinung, daß Orbe nicht mehr unter ihnen weilte. Von Suzanne und ihrem Verlobten hatte keiner was gesehen. Die schämen sich und trauen sich nicht mehr aus dem Bau, sagte Debbie Crowne. Und dann sah Joe Hebden auf dem Nachhauseweg von der Arbeit in der Oberon Road einen Mann aus Nummer 16 treten und zwei Milchflaschen auf die Stufe stellen. Einen kleinen, alten Mann mit uraltem Babygesicht und grauem Haarschopf, der ein T-Shirt trug und viel zu weite Hosen. Er huschte eilig zurück und knallte die Tür zu, als hätte ihn jemand mit einer Waffe
bedroht, aber zuvor hatte Hebden noch sehen können, wer es war: Tommy Orbe, ohne jeden Zweifel. Hebden ging, wie er sich ausdrückte, schnurstracks wieder heim und hängte sich sofort an die Strippe. 132
10
Ihre Mutter hatte sich den Vormittag freigenommen und war zu Hause geblieben, um bei ihr sein zu können. Wie bei einem Kind, dachte Wexford entrüstet, als könnte sie nicht auf sich selbst aufpassen. Dabei war das Mädchen überhaupt nicht nett zu ihr. Das Familienleben bei denen mußte die Hölle sein. Was für eine Erleichterung, als Rachel zum Studieren fortgegangen war. »Es wird Zeit, daß Sie uns die Wahrheit sagen, Rachel«, sagte er. »Das ist Ihnen ja wohl klar, nicht? Sie wissen, daß das Mädchen, das seit neuestem vermißt wird, ein Kind von noch nicht ganz drei Jahren ist?« »Die hätten sie nicht genommen.« »Rachel, mein Liebling, wie kannst du dir da so sicher sein?« Rosemary stellte die Frage im freundlichsten Ton. Vielleicht hatte es sich angehört, als wollte sie eine Minderbemittelte beschwichtigen, denn Rachel fuhr sie wütend an: »Weil sie ihnen nichts genützt hätte. Weil ich dort war und diese Leute kenne. Im Gegensatz zu dir.« Karen sah aus, als wollte sie gleich sagen, was weißt du denn schon, hielt sich nach einem Seitenblick auf Wexford jedoch zurück. »Trotzdem, ich glaube, Sie wissen, wo dieses Haus ist, in das sie Sie gebracht haben.« »Sie wissen genau, wie es aussieht«, sagte Wexford, »und ehrlich gesagt paßt die Beschreibung, die Sie uns gegeben haben, auf keins der Häuser hier in der Umgebung. So ein Haus gibt es nicht. Es gibt kein Haus und keinen Bungalow mit Schindeln auf der Vorderseite und einem Nadelbaum im Vorgarten.« Und mit einem Blick auf ihr störrisches, gereiztes Gesicht fuhr er fort: »Allerdings ist in Sayle ein Haus mit 132 einem hohen Laubbaum im Vorgarten, ein rosafarbenes Haus namens Sunnyhill, einstöckig, hellrosa mit grünen Dachpfannen.« Rachel Holmes neigte, zweifellos zu ihrem eigenen Verdruß, sehr zum Erröten. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, konnte jedoch nicht verbergen, daß sie rosa anlief wie Mrs. Chorleys Bungalow, wodurch ihr abwehrendes »Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden« besonders wirkungslos wurde.
Sie schniefte, warf einen argwöhnischen Blick auf ihre Mutter und wandte sich ab. Weil sie nicht wußte, wo sie hinschauen sollte, starrte sie sehnsüchtig auf die Tür, als wünschte sie sich, Teppich und Dielen würden sich auftun und sie in eine alles verbergende Unterwelt aufnehmen. »Mrs. Pauline Chorley«, fuhr Wexford mit erbarmungsloser Entschlossenheit fort. »Was können Sie uns über sie sagen?« »Nie gehört!« Die Menschen würden weniger lügen - oder lernen, es etwas geschickter anzustellen -, wenn sie begriffen, wie leicht es für einen erfahrenen Ermittler ist, sie zu durchschauen. Am Anfang, als sie freiwillig aufs Polizeirevier gekommen war und ihre Geschichte erzählt hatte, hatte er ihr eine Zeitlang auch geglaubt, hauptsächlich weil sie Opfer war und anscheinend kein Motiv hatte, nicht die Wahrheit zu sagen. Und während sie jetzt so vehement protestierte, begriff er, daß sie noch nie von Pauline Chorley gehört hatte, Pauline Chorleys Haus aber sehr gut kannte. »Ich denke, Sergeant Malahyde hat Ihnen schon gesagt, daß wir noch einmal mit Ihnen herumfahren möchten, diesmal nach Sayle, um zu sehen, ob Sie das Haus wiedererkennen.« »Okay. Mir egal«, brummte Rachel. Sie richtete sich auf, und etwas von ihrer vorherigen Selbstsicherheit kehrte zurück. »Ich muß aber heute abend wieder zur Uni. Bloß damit Sie's wissen.« »Hättest du denn gern, daß ich mitfahre nach Sayle, Liebling?« fragte Rosemary Holmes. 133 Wexford überlegte, ob er mit Sylvia je so demütig und einschmeichelnd geredet hatte. Er hoffte nicht, wahrscheinlich nicht, denn offensichtlich funktionierte es nicht, wie Rachel soeben demonstrierte, die wütend zu ihrer Mutter herumfuhr. »Nein, das hätte ich nicht gern. Ich bin doch kein Kind mehr!« Schwer zu sagen, wem die Gegenüberstellung peinlicher war - Pauline Chorley oder Rachel Holmes. Falls das Ganze keine bizarre Verschwörung war, irgendein geschickt eingefädeltes Komplott - was Wexford eigentlich nicht annahm -, waren sich die beiden noch nie begegnet. Wie alle Menschen, die ein sehr behütetes Leben geführt haben, hegte Mrs. Chorley nun die Befürchtung, man werde sie eines Verbrechens anklagen, das sie nicht verübt hatte, nicht einmal im Traum, dessen sie aber noch Jahre später verdächtigt werden könnte. Rachel stand einfach da und ließ betreten den Kopf hängen. Sie reagierte kaum, sondern starrte nur plötzlich auf den weißen Teppich, auf
eine ganz bestimmte Stelle etwa in der Mitte des Wohnzimmers. Es war, als suchte sie etwas, das dort sein sollte, aber nicht dort war. Nur eine Technik, um sich der Situation zu entziehen, schloß Wexford und bestand darauf, daß sie sich den Rest des Hauses ansahen. Als sie wieder im Wagen saßen, gab sie allerdings zu, daß Mrs. Chorley zwar nicht Vicky, ihr Haus aber das richtige war. Dorthin war sie an jenem Samstag abend vor zwei Wochen von Vicky gebracht worden. In diesen Räumlichkeiten war sie betäubt worden, hatte kochen und Socken stopfen müssen, in eins dieser Schlafzimmer war sie zum Schlafen geschickt worden und hatte »angemessene« Kleidung bekommen. Abgesehen davon, daß die beiden Frauen etwa im gleichen Alter waren, sagte sie, hatten Vicky und Mrs. Chorley jedoch nichts gemeinsam. Vom Äußeren her waren sie vollkommen unterschiedliche Typen. Vicky konnte Auto fahren, Mrs. Chorley nicht. Mrs. Chorley war sichtlich nervös, während Vicky vor nichts zurückschreckte. 134 «Das Haus haben Sie saubergemacht?« fragte Wexford und erinnerte sich an seine Zweifel, als er diese Erklärung zum erstenmal gehört hatte. »Diese weißen Teppichböden?« »Ja, diese Teppichböden. Und die blöden Möbel und den ganzen Kram hab' ich abgestaubt. Und gekocht und so. Hab' ich Ihnen doch gesagt. Und versucht, dem Kerl seine Socken zu stopfen.« Wexford ging noch einmal ins Haus. Pauline Chorley öffnete äußerst zaghaft die Tür und war entsetzt, ihn noch einmal zu sehen. Sie wurde weiß, und weil er glaubte, sie würde gleich in Ohnmacht fallen, trat er eilig zu ihr. »Setzen Sie sich doch hin, Mrs. Chorley. So ist es gut. Glauben Sie mir, gegen Sie besteht nicht der geringste Verdacht. Ich halte Sie ebenfalls für das Opfer völlig skrupelloser Leute. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen.« Während ihr dünnes, verhärmtes Gesicht wieder Farbe bekam, stieß sie ein nervöses, leises Lachen aus. »So, wie ich mich hier aufführe«, sagte sie, »wie ein verrücktes Huhn und vor Aufregung fast umkippe, wundert es mich, daß Sie mich nicht für verdächtig halten.« »Das gibt's nur im Fernsehen«, erwiderte er. »Wollen Sie mir helfen? Beantworten Sie mir noch ein paar Fragen?« Sie nickte. »Haben Sie und Ihr Mann in letzter Zeit Urlaub gemacht?« »Woher wissen Sie denn das?« »Sagen wir, ich habe es geraten.« »Ja. Wir waren zwei Wochen auf Zypern und kamen Ende letzter Woche wieder.«
»Und während dieser Zeit hat jemand Ihr Haus betreut, stimmt's? Sie wollten Ihr schönes Haus« - Gott verzeih mir, dachte er - »nicht leerstehen lassen, weil das vielleicht Einbrecher angelockt hätte, also meldeten Sie sich auf eine Anzeige, in der jemand Hausbetreuung anbot. Die Frau hieß Vicky Sowieso und hatte erstklassige Referenzen.« Mrs. Chorley starrte ihn perplex an. »Sie hieß Victoria Smith und hatte tatsächlich gute Referenzen, die ich mir aber 135 dummerweise nicht zeigen ließ. Sie war so - so praktisch und bodenständig und nett und offenbar auch eine ausgezeichnete Hausfrau, daß ich - nun ja, es war wahrscheinlich wirklich dumm von mir.« Daß du die Referenzen nicht überprüft hast, dachte er, behielt es aber für sich. »Und was ist mit Jerry? War das ihr Mann oder ihr Sohn?« »Von einem Jerry weiß ich gar nichts. Sie kam allein, sie war einen ganzen Tag und eine Nacht vor unserer Abreise hier, damit ich ihr alles zeigen konnte, Sie verstehen schon, aber einen Jerry hat sie nicht erwähnt.« Sie stellte die Frage sehr zaghaft, als rechnete sie nicht mit einer Antwort. »Was - was hat sie denn ausgefressen?« »Ich fürchte, das darf ich Ihnen nicht sagen.« »Ach so.« Er konnte ihre Erleichterung spüren, denn eigentlich wollte sie es gar nicht wissen, es wäre vielleicht zu unappetitlich. Doch fragen mußte sie, ihr Mann erwartete bestimmt von ihr, daß sie fragte. Er konnte ihre Gedanken förmlich hören. »Geben Sie mir bitte ihre Adresse, Mrs. Chorley?« »Aber natürlich, gern.« Er war sich sicher, daß sie falsch war, obwohl sie ganz korrekt aussah, eine ganz gewöhnliche Anschrift in Myringham, in einer ärmlichen Straße mit Reihenhäusern zwischen Busbahnhof und - paradoxerweise - Polizeirevier. Aber sicher eine Adresse, auf die diese Victoria Smith - ach, tatsächlich Smith, wie glaubwürdig - beim Konsultieren eines Stadtplans oder einer Straßenkarte gekommen war. Er bedankte sich bei Mrs. Chorley, versprach, sie auf dem laufenden zu halten, und stellte ihr an der Tür noch eine letzte Frage. »Ein Telefon? Aber sicher haben wir eins. Es steht in meinem Schlafzimmer. Ich benutze aber meistens ein Mobiltelefon, das nehme ich auch mit hinaus in den Garten.«
Falls noch etwas gefehlt hatte, um Rachels Bericht zu untermauern, so war es das. Das Telefon stand im ehelichen Schlafzimmer, und diese Tür hatte Vicky immer abgeschlos 136 sen gehalten. Er ging zurück zum Wagen. Heute abend hatte Mrs. Chorley ihrem Mann sicher einiges zu erzählen, wenn er von seiner langen Fahrt von der Arbeit zurückkam. Ob er wohl ein Mann war, der sich dafür interessierte und lachte und unbedingt wissen wollte, wie die Geschichte ausging? Oder einer, der nur auf eine Ausrede wartete, um seine Frau ausschimpfen und für ihre Nachlässigkeit schelten zu können? Rachel saß mit zusammengekniffenen Lippen und gerunzelter Stirn auf dem Rücksitz. »Kann ich jetzt wieder nach Essex?« »Tut mir leid, Rachel«, sagte Karen, »wir hätten gern noch ein paar Fragen beantwortet.« Sie saß am Steuer. »Zurück zum Revier, Sir?« Wexford nickte stumm. Sie nahmen den Rückweg durch Pomfret. Nach etwa zehn Minuten sagte Rachel: »Ich hab' aber doch gar nichts getan. Sie haben kein Recht, mich festzuhalten.« Als weder von Wexford noch von Karen eine Antwort kam, wiederholte sie das Gesagte etwas herausfordernder. »Sie haben sich nach Kräften bemüht, die Polizei in ihrer Arbeit zu behindern«, sagte Wexford ruhig. »Seien Sie froh, daß Sie deswegen nicht angezeigt werden.« Tasneem Fowler war pakistanischer Abstammung, geboren in West-London, mit siebzehn an einen Engländer verheiratet und mit noch nicht einmal zwanzig Mutter zweier Kinder. In den Gruppentherapiesitzungen, die Griselda Cooper ab und zu hielt, hatte sie den anderen erzählt, daß sie die Brutalität ihres Ehemannes seit Jahren ertragen und, wenn er sie schlug, was Samstag abends recht häufig vorkam, nie die Polizei gerufen hatte. Sie hatte Angst, daß Terry Fowler, ihr Ernährer, sonst mitgenommen und die Familie auseinandergerissen würde. Als er ihr aber den Unterkiefer gebrochen und drei Zähne ausgeschlagen hatte - vorher hatte er ihr immer nur einen ausgeschlagen -, hatte sie sich nach einem einwöchigen 136 Krankenhausaufenthalt nicht nach Hause getraut und war ins Hide gekommen. Danach hätte es für sie eigentlich besser aussehen müssen, und in vieler Hinsicht tat es das auch. Ihr kaputtes Gebiß war ordentlich gerichtet worden, von der Gemeindeverwaltung Kingsmarkham hatte man ihr eine Wohnung
zugesagt, und an der Universität in Myringham hatte sie sich zum Studium eingeschrieben. Doch als sie ins Hide kam, hatte sie ihre beiden Söhne zurücklassen müssen. Die beiden waren erst sechs und vier und verstanden sich recht gut mit ihrem Vater, der ihnen nie ein Haar gekrümmt hatte. Tasneem lebte offiziell von ihrem Mann getrennt und wartete auf die Scheidung, doch ohne eigenen Wohnsitz hatte sie keine Chance, das Sorgerecht für Kim und Lee zugesprochen zu bekommen. Was sie bei der Gruppentherapie nicht hatte verlauten lassen, war die Tatsache, daß sie jeden Tag mit Maria Michaels, ihrer Freundin und ehemaligen Nachbarin in der Ariel Road telefonierte, um sich nach den Jungen zu erkundigen und zu fragen, wie es ihnen ging und manchmal auch, ob sie sie vielleicht schon vergessen hätten. Entweder rief sie vom Münztelefon im Flur von The Hide an, oder Maria meldete sich bei ihr. Tasneem traute sich nicht, ihre Kinder zu Hause zu besuchen, und deren Vater erlaubte ihnen nicht, herzukommen und sie zu besuchen. »Wenn Sie möchten, gehe ich sie besuchen«, bot Sylvia ihr an. »Ich sage einfach, ich bin Sozialarbeiterin. Na ja, ich bin ja Sozialarbeiterin.« »Das ist sehr nett von Ihnen.« »Ich weiß, wie mir zumute wäre, wenn ich von meinen Jungs getrennt wäre.« Sylvia kamen die Tränen, doch sie beherrschte sich. Am nächsten Tag ging sie zum Muriel Campden Estate und verschaffte sich in der Ariel Road Nummer 27 Zutritt, indem sie behauptete, sie käme von der städtischen Familienfürsorge. Terry Fowler war ein schmächtiger Kerl und sah so zerbrechlich aus wie seine Frau. Sylvia, eine stattliche, hochgewach 137 sene, kräftige Frau, dachte sich, wenn er ihr zu nahe kommen sollte, würde sie ihm gehörig eins draufgeben, sie würde sich nichts bieten lassen. Doch sie wußte auch, daß sie sich da etwas einredete. Männer sind nun einmal stärker als Frauen, und mißhandelte Frauen sind oft so demoralisiert, daß sie nicht einmal den Versuch machen, sich zur Wehr zu setzen. Er war zwar klein, aber aggressiv wie ein Kampfhahn. So ein verhinderter Feldwebel, dachte Sylvia, einer, der nicht die geringste Chance hatte, in eine derartige Position zu gelangen, jedoch insgeheim von Macht träumte und davon, andere herumzukommandieren. Setzte er diese Träume in die Tat um, indem er seine kleinen Söhne unterdrückte? Das glaubte sie eigentlich nicht. Sylvia gegenüber schlug er einen knappen, barschen Ton an und bellte sein »ja«, »nein«, »genau« heraus, doch mit den Kleinen ging er freundlich und geduldig um. Der Mensch ist doch ein seltsames Wesen.
Als sie schon im Korridor stand und gerade wieder gehen wollte, sagte Kim, der ältere Junge: »Unsere Mummy ist fort und kommt nie wieder.« Das zerreißt einem doch fast das Herz, dachte Sylvia, während sie über die Oberon Road zurückging. Das würde sie ihr nicht erzählen. Sie hatte gehofft, mit den beiden einen Augenblick allein sein zu können, um ihnen zu sagen, daß ihre Mutter ihnen alles Liebe schickte, doch es hatte sich nicht ergeben. Von zu Hause aus rief sie im Hide an und erzählte Tasneem, sie sei in der Ariel Road gewesen und es sei alles in Ordnung, die Kinder seien gesund und glücklich. Dabei widerstand sie der Versuchung, zu lügen und zu sagen, sie vermißten ihre Mutter und ließen sie grüßen. Das ginge nicht. Nach dem Telefongespräch mit Sylvia blieb Tasneem in der großen Eingangshalle im Hide mit dem Hörer in der Hand reglos sitzen. Als Sylvia gesagt hatte, die Jungen seien glücklich, hatte sie in der Herzgegend einen richtigen körperlichen Schmerz verspürt. Daß sie gesund waren, war etwas anderes, das war gut, aber daß sie glücklich waren, also glücklich ohne sie, tat ihr mehr weh als alles andere, es war schlimmer, als 138 wenn Terry sie mit Faustschlägen ins Gesicht traktierte. Aber vielleicht hatte Sylvia sich das ausgedacht, vielleicht glaubte sie, Tasneem würde es gern hören, daß Kim und Lee glücklich waren. Maria Michaels hatte so etwas nie gesagt. Sie erzählte immer nur, die Kinder seien okay. Mehr nicht, nur okay. Doch Tasneem verstand; okay bedeutete, sie waren nicht krank oder in Gefahr, und mehr verlangte sie gar nicht. Sie nahm noch einmal den Hörer vom Wandtelefon, warf zwanzig Pence ein und wählte Marias Nummer. Besser, sie erledigte es gleich, bevor sich wie so oft am Abend eine Schlange vor dem Telefon bildete. Maria meldete sich. Sie war Tasneems Freundin und eine nette Frau, hatte aber die merkwürdige Angewohnheit, jedem ihrer Sätze ein »mein Liebling« anzuhängen. »Glücklich, mein Liebling? Wer hat dir denn das gesagt? Eine Sozialarbeiterin? Die Sozialfuzzis halt dir mal schön vom Leib, mein Liebling. Mehr brauch' ich ja wohl nicht zu sagen!« »Du meinst also, sie sind nicht glücklich?« Jetzt zu denken, sie wären unglücklich, war genauso schlimm. »Na, das hab' ich nicht gesagt, mein Liebling. Aber du weißt doch, wie Kinder sind. Denen fehlt ihre Mummy, klar doch, also sind sie nicht gerade im siebten Himmel. Du, jetzt hab' ich aber noch was Neues für dich. Der alte Pädo ist wieder da, dieser Orbe. Kennst du gar nicht, was? Als der ins Ge-
fängnis kam, warst du ja noch gar nicht hier, mein Liebling, dafür bist du noch zu jung, aber jetzt ist er leibhaftig zurückgekommen.« »Was ist ein Pädo?« fragte Tasneem. »Ein Pä-do-philer, na, das ist so einer, der mit Kindern rummacht, bloß daß der auch noch eins umgebracht hat.« Tasneem fing an zu weinen. Sie heulte und schluchzte und schlug den Kopf gegen die Wand, bis Lucy Angeletti herunterkam, um nachzusehen, was los war. Nachdem sie in ihrer genauen Beschreibung von Vicky und Jerry zahlreiche Einzelheiten wie Augenfarbe und Kleidung 139 der beiden aufgeführt und auch ihr Alter annähernd geschätzt hatte, betonte Rachel noch einmal nachdrücklich, sie sei während ihres Aufenthaltes im Haus Sunnyhill zu Hausarbeit, Kochen und Sockenstopfen gezwungen worden. »Das hat aber nichts mit Die verfolgte Unschuld zu tun«, sagte sie verdrossen. »Es war wirklich so.« Sie zuckte die Achseln, als wäre sie ziemlich genervt von der ganzen Angelegenheit. »Jerry hat die ganze Zeit kein Wort gesagt, der saß bloß da und glotzte mich an. Ich will Ihnen aber noch was sagen, was mir ehrlich gesagt gerade wieder eingefallen ist. Vicky ging's nicht gut. Ich meine, irgendwas stimmte mit der nicht. Die hat viel gehustet und wurde schnell müde. Deswegen habe ich dann auch...« »Deswegen haben Sie was, Rachel?« »Schon gut. Ist nicht so wichtig.« Wexford sah sie scharf an, denn er glaubte, es könnte durchaus wichtig sein. Doch sie hatte ihnen schon geholfen, von ihr hatten sie mehr erfahren als von allen anderen. Er bat sie, den Wagen zu beschreiben. Die Autonummer wußte sie natürlich nicht, konnte ihm aber sagen, daß er »mittelgroß« und - wie sie es überraschenderweise ausdrückte - »mittlerer Preisklasse« gewesen war: ein weißer, besser gesagt, cremefarbener Wagen mit Automatik. »Und jetzt will ich wissen, weshalb sie Sie gehen ließen und wie das vor sich ging.« »Einfach so«, sagte sie auf ihre verdrießliche Art. »Ich hatte noch staubgesaugt und abgestaubt und sagte dann, ich würde jetzt gehen. »Ich geh' dann jetzt«, sagte ich, und Vicky meinte bloß, na gut, sie würde mich zurückfahren.« »Einfach so?« sagte Wexford. »Sie haben Sie entführt, haben Sie regelrecht eingesperrt und betäubt, haben Sie arbeiten lassen und behandelt wie eine Magd, aber als Sie sagten, Sie wollten gehen, haben sie nicht protestiert, sondern waren gleich einverstanden.« »Jerry nicht«, erwiderte sie. »Jerry hat nie was gesagt.«
»Richtig. Also Vicky. Vicky war einfach einverstanden?« 140 »Sag' ich doch.« »Ich frage mich nur, was in dem Haus sonst noch passiert ist, Rachel. Haben Sie etwas beschädigt oder jemanden verletzt? Haben Sie etwas getan und sich dann gedacht, Sie könnten deswegen Ärger bekommen? Ist es das?« »Gar nichts hab' ich getan!« rief sie. »Sie nennen mich hier kriminell, aber was man mir angetan hat - daran sollten Sie mal denken. Was man mir angetan hat.« »Schon gut, Rachel. Vicky hat Sie also nach Hause gefahren?« »Nein, hat sie nicht, bloß bis zur Bushaltestelle, dort hat sie mich abgesetzt, und dann hab' ich stundenlang auf den Bus nach Kingsmarkham gewartet. Kann ich jetzt wieder nach Essex, oder ist das zuviel verlangt?« »Sie können gehen.« Als sie weg war, sah sich Wexford die tagsüber zusammengetragenen Informationen an. Entfernte Verwandte und Freunde der Familie Devenish konnten offenbar vom Verdacht ausgeschlossen werden. Abgesehen davon kam der nützlichste Hinweis von den Leuten gegenüber von Woodland Lodge, einem Ehepaar namens Wingrave. In der Nacht von Sanchias Entführung hatte Moira Wingrave einen Wagen aus der Devenish-Einfahrt fahren sehen. Das war etwa um zwei Uhr morgens gewesen. Ein Hoch auf schlaflose Mitmenschen, dachte Wexford, die nicht wie Stephen Devenish Schlaftabletten nahmen. Die wachsame Moira Wingrave hatte durch ihre Schlafzimmergardinen hindurch Autoscheinwerfer gesehen, war aufgestanden und hatte nachgesehen, nicht weil sie Verdacht schöpfte, sondern einfach so, um zu gucken, um sich von den quälenden Stunden der Schlaflosigkeit abzulenken. Und natürlich hatte sie auf die Uhr gesehen, was sie im übrigen die ganze Nacht hindurch mindestens einmal pro Stunde getan hatte. Als sie schließlich langsam und vorsichtig, um ihren Mann nicht zu wecken, ans Fenster gelangt war, hatte der Wagen die Auffahrt von Woodland Lodge gerade verlassen. Die Schein 140 werfer schienen ihr grell ins Gesicht, blendeten sie, ließen sie fast blind werden, so daß sie die Farbe nicht hatte erkennen können, geschweige denn Fabrikat und Kennzeichen. Auch konnte sie nicht sagen, ob ein Mann oder eine Frau am Steuer gesessen hatte.
Von den Nachbarn hatte sonst keiner etwas gesehen. Niemand hatte von Woodland Lodge irgendwelche Geräusche gehört. Und doch war ein kleines Kind dort von einem Fremden aus dem Haus getragen worden, war aus dem Schlaf gerissen, aus dem Bettchen gehoben, eine Leiter hinuntergetragen und in ein fremdes Auto gesetzt worden - alles ohne einen einzigen Schrei von sich zu geben. Ihr Entführer hätte ihr den Mund zuhalten können,- sie hätte sich bestimmt mit Händen und Füßen gewehrt. Er - oder sie - hätte sie vielleicht geknebelt, sie in einem Sack weggetragen. Wexford ließ sich diese schauerlichen Bilder durch den Kopf gehen, glauben wollte er sie jedoch nicht. »Der Fall vom Kleinkind, das in der Nacht nicht schrie«, sagte er. »Man hätte sie ja auch betäuben können«, sagte Bürden auf seine düstere Art. »Wir wissen, daß Vicky Drogen einsetzt. Hat sie womöglich Rohypnol bekommen?« »Dazu mußte sie aber trotzdem von jemandem geweckt werden, den sie nicht kannte. Sie mußte trotzdem in ein fremdes Gesicht schauen, das auf sie herunterblickte. Hat sie dieser Fremde vielleicht geknebelt, während er ihr irgendein Mittel spritzte? Übrigens wohnt an der Adresse in Myringham ein junges Paar. William Street ist ein aufgemotztes ehemaliges Slum zwischen Kittchen und Busbahnhof. Jetzt wohnen Yuppies in diesen schlampig gebauten Cottages, die für zehn Jahre gedacht waren und nun schon etwa hundert halten.« »Schlampig«, sagte Bürden. »Wie Vickys und Jerry Verhältnis, falls sie eins haben. Das paßt ja.« »Tut es eben leider nicht. Die Bewohner haben nie von ihnen gehört.« Bürden, der intuitive Spekulationen gewöhnlich Wexford 141 überließ, verblüffte diesen mit der Bemerkung: »Ich frage mich, wieso sie sich ausgerechnet William Street ausgesucht hat? Gibt es im ganzen Land überhaupt eine William Street, die kein schäbiges Dreckloch ist? Wieso sich diese Adresse raussuchen?« »In London gibt es eine William Street, in Knightsbridge, sehr mondän, aber ich weiß schon, was Sie meinen. Könnte das vielleicht heißen, daß es zwischen ihr und dieser Straße eine Verbindung gibt? Daß sie früher dort gewohnt hat oder ihre Eltern oder jemand, den sie sehr gut kannte? Und daß sie sie deswegen ausgesucht hat?« »Jemand mit beschränkter Phantasie würde das tun. Vielleicht lohnt es sich, von Haus zu Haus einmal herumzufragen. Schade, daß wir kein Foto haben. Und keine Autonummer.«
»Mit Foto und Autonummer hätten wir sie bereits gefunden, Mike. Aber fragen wir doch von Haus zu Haus herum. Beziehungsweise das sollen die in Myringham machen. Das ist ja bei denen praktisch um die Ecke.« Wexford stand auf. »Es ist schon spät, und morgen früh haben wir das Hurt-WatchTreffen.« Um zwei hatte Detective Sergeant Vine mit Moira Wingrave gesprochen, und sie hatte ihm erzählt, was sie in der vorigen Nacht gehört hatte. Vine, kein leicht erregbarer, sondern eher ein zurückhaltender Mann mit Pokermiene, hatte sich seine Freude anscheinend doch anmerken lassen, als er von ihr den einzigen handfesten Hinweis aus der Schinderei eines ganzen Nachmittags erhalten hatte. Denn als er gegangen war und sie sich erst geärgert hatte, weil sie nicht mehr gesehen und gehört hatte und wütend auf sich war, weil sie nicht auf die Autonummer geachtet hatte, bekam sie nun allmählich das Gefühl, einen wichtigen Beitrag zu den Ermittlungen geleistet zu haben. Wenn sie Glück hatte, kam sie vielleicht sogar ins Fernsehen oder wenigstens in den Kingsmarkham Courier. 142 Das müßte allerdings ein bißchen gedeichselt werden, überlegte sie, doch dann fiel ihr ein, daß der Polizist gesagt hatte, alles Besprochene sei vertraulich zu behandeln und er sei ihr sehr verbunden, wenn sie es für sich behalten würde. Doch die Nachricht vom Verschwinden der kleinen Devenish käme bestimmt im Radio und im Fernsehen, und sobald es erst einmal »Allgemeingut« war - Moira war so angetan von diesem Ausdruck, daß sie ihn laut wiederholte -, konnte sie es nach Herzenslust herumerzählen und vor allem die bedeutende Rolle herausstreichen, die sie bei den Ermittlungen in dem Entführungsfall gespielt hatte. Auf ihren vier Fernsehapparaten konnten die Wingraves jeden erdenklichen Sender empfangen. Moira fand eine Nachrichtensendung um drei und eine weitere um Viertel vor fünf, während einer der zahlreichen Rundfunksender um fünf vor vier eine Zusammenfassung der Meldungen bot. Merkwürdigerweise brachte keiner etwas über das verschwundene Kind. Moira verspürte daraufhin eine Mischung von Aufregung, die einzige Eingeweihte zu sein - abgesehen natürlich von den Eltern - und Entrüstung über die Unfähigkeit der Medien. Später würde ihr Mann den Londoner Evening Standard mit nach Hause bringen, doch sie ging jede Wette ein, daß darin nichts über diese - wie hieß sie gleich wieder - Sasha oder Sandra Devenish stand.
Die Frau, die zweimal wöchentlich bei ihr putzte, erschien um vier. Tracy Miller ging jeden Tag putzen, seit ihre beiden Töchter zur Schule gingen; um neun Uhr morgens fing sie an und war so gefragt, daß sie immer erst nachmittags zu Moira kommen konnte. Das war ziemlich lästig, weil Bryan Win-grave nämlich immer Punkt sechs zurückkam und Tracy nicht im Haus haben wollte, aber was blieb Moira übrig? Sie brauchte nun mal eine Putzfrau, selbst eine mit einem Gesicht wie Cindy Crawford, der Figur einer Sechzehnjährigen und langem, schwarzem Haar, das ihr in einem Zopf über den Rücken hing. Tracy war überhaupt etwas rätselhaft. Mittlerweile arbei 143 tete sie schon ein halbes Jahr bei ihr, und noch immer hatte Moira keine Ahnung, wo sie wohnte, ob sie einen Mann hatte oder mit ihrem Freund zusammenlebte, ob sie Kinder hatte oder keine. Dadurch erschien sie ihr irgendwie anonym, heimatlos, isoliert, eine Frau, die sich nach ihrem nützlichen Tagwerk auch in einen Schrank hätte einschließen können -wie den Staubsauger, mit dem sie so resolut hantierte. Jedenfalls wirkte sie wie eine Einsiedlerin, ohne Freunde, zurückhaltend und still. Sie sprach nur, wenn man das Wort an sie richtete, und Moira hatte ja auch was Besseres zu tun, als sich mit ihrer - wie sie Tracy genannt hätte, wenn sie nicht gefürchtet hätte, sie zu verlieren - Putze zu unterhalten. Heute jedoch sprach sie mit Tracy, und zwar nicht nur über Fingerabdrücke auf den Spiegeln oder daß sie sich das Beistelltischchen noch einmal vornehmen sollte. Sie mußte es einfach loswerden, und es Tracy zu erzählen hieß soviel, wie seine Geheimnisse einer Wand anzuvertrauen. Sie hörte zu, staubte dabei einfach weiter ab, und erst als Moira geendet hatte, sagte sie schlicht: »Die arme Mutter.« »Äh, ja, genau das sagte ich auch zu dem Polizisten, die arme Mutter, sagte ich. Aber wenn es nicht Allgemeingut wird, wie wollen die denn dann den Schuldigen schnappen?« »Keine Ahnung«, meinte Tracy. Kurz darauf kam Bryan nach Hause und brachte die Abendzeitung mit. Keine Geschichte von einem vermißten Kind -Moira hatte es schon geahnt -, und in den BBC-Nachrichten um sechs kam auch nichts darüber. Um sieben zahlte sie Tracy ihre fünfundzwanzig Pfund aus, begleitete sie hinaus und vergaß dabei, ihr zu sagen, sie solle aber ja kein Wort darüber verlauten lassen. Wem sollte die es schon erzählen? Jedenfalls niemandem von Belang. Liebe Güte, es war schließlich bloß eine Putzfrau.
Die stille, verschwiegene Tracy ging nach Hause in den Kingsbrook Valley Drive, eine Adresse, die Moira Wingrave sehr überrascht hätte, und in ein Haus, von dessen Bestimmungszweck sie nicht einmal wußte, daß es ihn gab. Häusli 144 che Gewalt gehörte laut Mrs. Wingrave in die »Privatsphäre«, war also eine Sache zwischen Ehegatten, eine Privatangelegenheit, über die es Stillschweigen zu bewahren galt. Tracy schloß die Haustür auf und ging durch das Haus zu der Spielecke im Garten hinaus, wo sie um diese Zeit höchstwahrscheinlich ihre Kinder antreffen würde. Doch sie fand nur Tasneem Fowler, die nach dem Abmarsch der kleinen Mädchen die Spielsachen aufräumte. Tracys Töchter, teilte sie ihrer Mutter mit, schauten sich drinnen ein Video an und seien schon im Nachthemd und fertig zum Schlafengehen. »Danke, du bist super«, sagte Tracy. Bei Leuten, die sie gern hatte, war sie recht gesprächig. »He, stell dir vor, oben in der Millionärszeile wird ein Kind vermißt. Die alte Schachtel, wo ich arbeite, hat's mir erzählt. Ein kleines Mädchen, noch keine Drei, aus einem von den größten Häusern da oben. Da sieht man mal wieder, daß Geld nicht glücklich macht.« »Vermißt?« sagte Tasneem. »Ein Kind?« »Ich sag' doch, ein kleines Mädchen. Sandra Sowieso heißt sie. Schöner Name, findest du nicht? Wenn ich noch mal eins kriege, aber auf keinen Fall von dem, um Gottes willen, hätte ich nichts dagegen, sie Sandra zu nennen.« Doch Tasneem hörte ihr gar nicht zu. »Das war der Pädo!« schrie sie gellend auf. »Das ist doch da, wo meine Kinder sind. Die hat der Pädo geschnappt!« 144
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Es war ein wunderschöner Morgen, der Himmel war blau, und die Sonne schien durch einen zarten Dunstschleier. Im Muriel Campden Estate war bis auf den Vogelgesang aus dem Park alles ruhig und still. Die wenigen Leute, die zur Arbeit gingen, standen gerade auf. Kurz nach sieben kam der Milchwagen vorbeigefahren, und der Milchmann stellte auf die Stufen vor den meisten Türen ein oder zwei Flaschen - keine gläsernen Halbliterflaschen mehr, sondern Plastikbehälter zu einem Liter. Eine halbe Stunde später kam der sechzehnjährige Darren Meeks, einen gestohlenen Einkaufswagen vor sich her schiebend, und trug die Zeitungen aus. Maria Michaels, die um halb neun zur Arbeit mußte, holte ihr Exemplar der Sun von der Matte an der Haustür und nahm es mit in die Küche, um ihre
Tasse Tee und ihr Croissant fertig zu frühstücken. Das Telefongespräch, das sie am Vorabend mit Tasneem Fowler geführt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf, obwohl sie mit niemandem darüber gesprochen hatte außer mit Monty Smith, ihrem Lebensgefährten. Es hatte sich auch keine Gelegenheit dazu ergeben, da es bereits halb elf war, als Tasneem sie endlich erreicht hatte, nachdem sie am Münztelefon in The Hide ewig hatte anstehen müssen. Das vermißte kleine Mädchen war bestimmt die Titelgeschichte der Sun, da war sich Maria ganz sicher. Irrtum. Es fehlte nicht nur auf der Titelseite, sie konnte es auch sonst nirgends finden. Was ging hier vor? Sie brachte eine Tasse Tee nach oben zu Monty, der arbeitslos war und deshalb noch im Bett lag, und fragte ihn, was er davon halte. »Das ist nicht in Ordnung.« Monty nahm ihr Tee und Zeitung ab. »Die halten das geheim. Nichts im Fernsehen, und 145 jetzt in der Zeitung auch nichts. Wie wäre uns denn zumute, wenn wir Kinder hätten?« »Wir wären verrückt vor Angst, mein Liebling. Daran ist aber nicht die Zeitung schuld, denke ich, sondern die Polizei.« »Die halten immer zu den Verbrechern«, sagte Monty. »Pädos, Vergewaltiger, Räuber, Diebe, Mörder, was du willst, die können nie was falsch machen.« »Man sollte die Leute warnen. Ich ruf nur schnell noch Rochelle an, bevor ich zur Arbeit geh', mein Liebling. Ach, du meine Güte, schau mal, wie spät es ist, jetzt muß ich aber los.« Maria rief also Rochelle Keenan an, und weil sie sich nicht mehr an den Namen erinnern konnte, den Tasneem ihr genannt hatte, erzählte sie ihr, ein Kind namens Shawna oder Shana werde vermißt und die Polizei lege die Hände in den Schoß. Nachdem sie aufgelegt hatte, rief Rochelle bei Brenda Bosworth an, wobei sie die Geschichte etwas ausschmückte, um sie für das Ohr dieser sensationslüsternen Frau akzeptabler zu machen, und erzählte ihr, Tommy Orbe habe ein Baby aus dem eigenen Bettchen im eigenen Zimmer geschnappt und es in einem gestohlenen Auto entführt. Als Brenda wissen wollte, warum davon nichts im Fernsehen oder im Minor gekommen sei, meinte Rochelle, die Polizei wolle eben nicht zugeben, daß sie Orbe frei in der Gegend herumlaufen ließ. Es war Brenda, die in diesem Moment auf die Idee mit dem Namen für sich und Miroslav, Colin Crowne, Joe Hebden und die Keenans kam, den die Zeitungen später aufgreifen würden. »Es wird Zeit, daß die Kingsmarkhamer Sechs in Aktion treten«, sagte sie.
Sie kam persönlich vorbei, um Shirley Mitchell die Nachricht zu überbringen (die es schon von ihrer Schwester gehört hatte) und zu verkünden, daß die Kingsmarkhamer Sechs sich nun versammelten. Drohend reckte sie die Faust zum Haus der Orbes hinüber und ging weiter, um die Hebdens, die Meeksens und die Crownes zu verständigen. Shirley ging nach 146 oben und sah aus dem hinteren Schlafzimmerfenster, von wo aus sie einen guten Blick auf den hinteren Garten der Orbes hatte. Der sah jedoch aus wie sonst auch, das rostige Bettgestell war immer noch da, allerdings halb verdeckt vom Unkraut, das inzwischen etwa dreißig Zentimeter gewachsen war. Ihr Mann wollte gerade zur Arbeit gehen. Sie sagte ihm, Orbe und Suzanne hätten ein Baby gestohlen, ein kleines Mädchen namens Sarah, und hielten es bei sich im Haus versteckt. »Orbe interessiert sich nicht für Mädchen«, sagte Tony Mitchell. »Der hatte es immer mit Jungs.« »Dann hat er sich eben geändert. Die Zeit im Gefängnis hat ihn verändert.« »So ein Quatsch«, meinte Tony. »Dann könntest du genauso sagen, du wärst jetzt scharf auf Frauen. Misch dich da bloß nicht ein. Kümmer dich lieber um deinen eigenen Kram. Als ob ich dir das nicht schon tausendmal gesagt hätte.« Gerade als er auf die Bushaltestelle in der York Street zusteuerte und nicht mehr zu sehen war, versammelte sich in der Oberon Road eine Menschenmenge, mit Brenda Bosworth an der Spitze. Inzwischen brannte die Sonne herab, der Dunst hatte sich verzogen, und zwanzig Stimmen durchbrachen die Stille im Sprechchor: »Her mit Orbe! Her mit Orbe!« Wexford war vollauf damit beschäftigt, die fortgesetzte Suche nach Sanchia Devenish zu organisieren, und konnte deshalb nicht am Hurt-Watch-Treffen teilnehmen. Bürden ging an seiner Stelle hin. Seit halb neun war Wexford im Büro, um zu überprüfen, welche Fortschritte beim Aufspüren von Vicky Smith gemacht worden, oder besser gesagt, nicht gemacht worden waren. Burdens Vorschlag folgend, hatte Barry Vine mit zwei Kollegen aus Myringham in der William Street eine systematische Befragung durchgeführt, bei der jedoch nichts herausgekommen war. Niemand hatte die beschriebene Frau im mittleren Alter und den jungen Mann erkannt, keiner von einer Vicky oder einem Jerry gehört. Bis zu zwanzig Jahre alte
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Wählerverzeichnisse hatten sie durchforstet, bei der Überprüfung der einzigen Victoria in der William Street jedoch festgestellt, daß diese vor zwei Jahren verstorben war. Wexford unterbrach die Lektüre und dachte nach; mit halbgeschlossenen Augen und gefalteten Händen dasitzend, überlegte er, was einen wohl dazu bewog, eine bestimmte falsche Adresse zu wählen. Vielleicht weil sie früher in der Straße gewohnt hatte oder regelmäßig auf dem Weg zur Arbeit dort vorbeikam oder dort zur Schule gegangen war oder weil ein Elternteil dort wohnte oder ein Kind oder weil sie dort zum Zahnarzt oder Arzt oder zur Fußpflege ging. Als er jedoch herausbekommen hatte, daß in der William Street weder ein Arzt noch ein Zahnarzt, noch eine Fußpflege praktizierte und daß es dort keine Schule gab und nie gegeben hatte, mußte er umdenken. Es war natürlich durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß Vicky sich die Adresse ganz einfach auf einem Stadtplan von Myringham herausgepickt hatte. So würde er jedenfalls vorgehen in dem unwahrscheinlichen Fall, daß er einmal eine falsche Adresse brauchte. Wie konnte er die Frau sonst finden, nachdem es so nicht geklappt hatte? Seine Betrachtungen wurden vom Läuten des Telefons unterbrochen. Es war Sylvia. Höchst ungewöhnlich - sie rief ihn sonst nie im Büro an. Er verkniff sich die Frage, was los sei, ob mit ihrer Mutter alles in Ordnung sei, und sagte nur munter: »Hallo, Liebes.« »Dad, wurde in Kingsmarkham ein Kind als vermißt gemeldet, ein kleines Mädchen?« Etwas in seiner Brust krampfte sich zusammen. »Warum fragst du?« »Paß auf, eine von den Frauen in The Hide hat es auf ihrer Arbeitsstelle erfahren und es mir gesagt, als ich gestern abend dort ankam. Na ja, nicht direkt gleich, erst nachdem ich schon zwei oder drei Stunden dort war. Ich war im Notrufzimmer, und sie hat vor dem Schlafengehen noch kurz hereingeschaut. Es war schon elf, sonst hätte ich dich noch angerufen.« 147 Es widerstrebte ihm, das wohlgehütete Geheimnis preiszugeben, auch - oder vielleicht gerade - gegenüber einem Mitglied seiner Familie. »Stimmt.« Er zögerte. »Ein kleines Mädchen wird vermißt. Aus ganz bestimmten Gründen wird es noch nicht veröffentlicht. Wir hoffen, daß wir sie finden, dann braucht die Öffentlichkeit es gar nicht zu erfahren.« »Haben diese Gründe vielleicht mit Thomas Orbe zu tun?« »Die Frage kann ich dir nicht beantworten, Sylvia.«
»Es ist nur - seine Nachbarn, dieser Mob, der vor ein paar Tagen ausgerastet ist - die wissen alle Bescheid. Eine von unseren Frauen hat es einer Freundin erzählt, die im Muriel Campden wohnt, und inzwischen hat es sich dort herumgesprochen.« »Ach Gott. Danke, daß du es mir gesagt hast, Sylvia«, sagte Wexford und fügte hinzu: »Du hast womöglich eine ziemlich unerfreuliche Situation abgewendet.« Was er eigentlich hatte sagen wollen, verkniff er sich, nämlich daß sie sie mit Sicherheit hätte abwenden können, wenn sie ihn schon am vorigen Abend angerufen hätte. Doch weil ihr Verhältnis noch nie so gut gewesen war wie in letzter Zeit, ließ er es bleiben. Er konnte sich jetzt nur mit Superintendent Rogers verbinden lassen und ihm vorschlagen, sofort ein paar von seinen Leuten in die Oberon Road zu schicken. Für die öffentliche Ordnung war zwar die uniformierte Truppe zuständig, aber er könnte durchaus auch selbst hinfahren - warum nicht? Wo arbeitete diese Frau, die die Sache mit Sanchia Devenish erfahren und die Information weitergegeben hatte? Er hätte Sylvia danach fragen sollen. Zweifellos in der Plough-man's Lodge oder im Winchester Drive, jedenfalls in der Nähe der Familie Devenish. Zu spät, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, dachte er, während Donaldson ihn die High Street entlang chauffierte und dann in die York Street einbog. Er rechnete damit, lange vor dem Eintreffen im Muriel Campden Estate schon Sprechchöre oder Gesang oder einfach nur Gebrüll zu hören, doch es herrschte Schweigen, oder viel 148 mehr geheimnisvolle Stille, als wären hier selbst die normalen Alltagsgeräusche einer geschäftigen Kleinstadt auf dem Lande gedämpft. Die Zufahrt auf die im Dreieck angelegten Straßen wurde von einem Streifenwagen im wohlbekannten Knallrot, Blau und Kanariengelb der örtlichen Polizeibehörde blockiert, der auf der Straße quergestellt war. Den uniformierten Beamten am Steuer erkannte Wexford nicht. Zu Donaldson sagte er: »Den Rest gehe ich zu Fuß.« Für Anfang Mai war es recht heiß. Inzwischen brannte die Sonne herunter, weiß auf den Gehwegen, schwarz im Schatten. Vor sich konnte er eine Menschenmenge sehen, und auf halber Strecke an der Oberon Road stand ein Krankenwagen, der in dem Moment, als er an der Nummer 20 vorüberging, mit heulenden Sirenen losfuhr. Beim Anblick des Orbeschen Hauses stutzte er. Die Fensterscheiben, die die Gemeinde erst am Vortag erneuert hatte,
waren schon wieder eingeworfen, die Haustür war völlig hin, und irgend jemand hatte es irgendwie geschafft, einige Dachplatten vom Dach zu entfernen. Draußen vor dem Gartentor stand Sergeant Joel Fitch, und vor dem gähnenden Loch, das die Haustür hinterlassen hatte, eine Polizistin namens glaubte er - Wendy Brodrick. Die zusammengedrängte Menge hatte sich auf die Rasenfläche zurückgezogen und starrte herüber. »Wer war das in dem Krankenwagen?« fragte er Fitch. »Suzanne Orbe, Sir. Ein Ziegel hat sie am Kopf getroffen. Die haben mit den gleichen Ziegeln geschmissen wie am Sonntag. Jemand hat alle wieder aufgeschichtet, und sie haben sich einfach bedient.« »Heutzutage wird alles wiederverwertet«, meinte Wexford. »Bloß ein Glück, daß das kleine Mädchen nicht drin war, Sir. Die hätten sie wohl umgebracht.« »Wo ist Mr. Rogers?« »Drinnen bei Orbe. Er bringt ihn jetzt raus. Ah, da kommt ja der Wagen.« Die Menge, die sich bisher ruhig verhalten hatte, begann zu murren. Das Geräusch verstärkte sich, ebbte dann ab und 149 schwoll erneut an, bis eine Frau schrie: »Mich bringt keiner in der Grünen Minna weg!« Es war Brenda Bosworth, Arm in Arm mit Miroslav Zlatic, der sich seinerseits bei Lizzie Cromwell eingehängt hatte. Hätte die Oberon Road Nummer 16 eine Garageneinfahrt gehabt, wäre alles einfacher gewesen, doch im Muriel Campden Estate gab es nur eine Reihe von abschließbaren Garagen am unteren Ende der Ariel Road, wo diese in die York Street mündete. Der Fahrer mußte den großen Wagen direkt am Randstein vor der Nummer 16 parken, und kaum hatte er die Handbremse gezogen, drängte sich die Menge auch schon um ihn. »Treten Sie zurück«, sagte Fitch mit seiner volltönenden Stimme, ohne jedoch zu schreien. »Gehen Sie jetzt alle nach Hause. Hier haben Sie nichts zu suchen.« Doch die Menge dachte gar nicht daran, nach Hause zu gehen, zog sich allerdings ein wenig zurück, so daß niemand mehr den Wagen berührte. Der Fahrer, ein schlanker, mittelgroßer Mann mit kurzgeschnittenen goldenen Locken, stieg aus und bugsierte die Kingsmarkhamer Sechs und ihre Gefolgsleute mit Unterstützung von zwei weiteren uniformierten Polizisten wieder zurück auf die Rasenfläche. »Homo«, sagte Colin Crowne zu dem Fahrer. »Schaut euch dem seine Haare an. Die dreht er sich mit Lockenwicklern auf, die Schwuchtel.«
»Perverso«, sagte Monty Smith. »Homo und Perverso«, dabei lachte er über seinen eigenen Witz. »Deswegen halten sie's mit dem Pädo«, sagte Brenda. »Das sind doch alles Homos und Perversos, alle miteinander. Ich sag' nur: Gleich und gleich gesellt sich gern.« Lizzie Cromwell kreischte vor Lachen und drückte Miroslavs Arm. Auf der anderen Seite der Rasenfläche, an ihrem Fenster im zweiten Stock des Wohnsilos, beugte sich Rochelle Keenan - wieder im Besitz ihres Camcorders weit aus dem Fenster, um ganz sicherzugehen, daß ihr für ihren Videofilm auch nichts entging. 150 Wexford ging an Fitch vorbei, sagte »Verzeihung« zu Constable Wendy Brodrick und betrat das ramponierte Haus. Die zertrümmerte Tür schob er halbwegs vor. Hier waren die meisten Ziegelsteine gelandet. Überall lagen Glasscherben. Als er vorsichtig auftrat, knirschte das Glas unter seinen Füßen. So klein war das Haus, daß er die Stimme kaum erheben mußte, um mit den anderen im Wohnzimmer zu sprechen. »Brauchen Sie Hilfe, George?« Rogers rief ihm zu, er solle hereinkommen. Wexford stieß die Tür auf. Dort saß Tommy Orbe mit Rogers im Beisein eines hochgewachsenen Constable und eines etwas kleineren. Wäre Wexford gefragt worden, ob er Orbe für emotional halte, hätte er gesagt, bestimmt empfinde der Mann nichts mehr, weder für sich selbst noch für sonst jemanden. Doch er hätte sich geirrt. Orbe weinte. Um sein eigenes Elend oder um seine verletzte Tochter? Sicher nicht um seine Vergangenheit und seine Verbrechen. Tränen kullerten ihm über die faltigen braunen Wangen, und er machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. »Jetzt nehmen Sie sich doch zusammen«, sagte Rogers energisch, aber nicht unfreundlich. »Wir müssen Sie hier rauskriegen. Oder sonst jemanden.« Wexford wußte, was er damit meinte. »Wir könnten einen Mantel über - tut mir leid, ich weiß Ihren Namen nicht... ?« »Dixon, Sir.« »Wir könnten Dixon doch einen Mantel über den Kopf ziehen - meinen Regenmantel, wenn Sie möchten. Es war sowieso dumm, an einem Tag wie heute einen Regenmantel anzuziehen -, und wir könnten ihn dann zwischen uns hinausführen.« »Richtig«, sagte Rogers. Unmöglich, einem weinenden Mann gegenüber kein Mitleid zu empfinden, hätte Wexford noch vor einer Woche behauptet, doch für Orbe empfand er
keins. Bei seinem Anblick mußte er die Muskeln anspannen, um sich nicht angewidert zu schütteln. Unmöglich, sich - wenn man überhaupt über 151 Vorstellungskraft verfügte - in seiner Nähe nicht vorstellen zu müssen, was er getan hatte, daß er Lust dabei empfunden hatte, sich rücksichtslos über andere hinwegzusetzen. »Er ist ein bißchen größer als Sie«, sagte er an Orbe gerichtet und bemühte sich, so distanziert wie möglich zu klingen. »Aber mit bedecktem Kopf merkt man es nicht so. Also, versuchen wir es?« »Und was ist mit mir?« Orbe wischte sich die Augen mit seinem Ärmel trocken. »Das machen wir doch alles für Sie.« Rogers war ungehalten. »Wenn wir Glück haben, verschwinden die da draußen, sobald Dixon weg ist, und Sie können sich in einem anderen Wagen still davonmachen.« »Davonmachen wohin?« Orbe sah unruhig von einem zum anderen. Rogers meinte, sie würden sich schon etwas einfallen lassen. Er hatte sich die Hand an einer Glasscherbe geschnitten und blutete. Wexford, der manchmal den Eindruck hatte, er sei der einzige Mensch auf der Welt, der noch Stofftaschentücher benutzte, gab ihm sein sauberes weißes Exemplar. Er zog seinen Regenmantel aus, sie hüllten Dixon hinein und deckten Kopf, Gesicht und Schultern zu, um ihn unkenntlich zu machen. Orbe fing wieder an zu weinen und starrte verzweifelt auf den Mann in seiner Verkleidung. Da Wexford und Rogers beide stattliche Männer waren, wirkte der zwischen ihnen eingeklemmte Dixon kleiner als seine einszweiundsiebzig. Kaum war die Haustür aufgestoßen worden, ertönte lautes Gejohle aus der Menge; es hörte sich an wie das Jaulen von Jagdhunden, die ihre Fährte aufnehmen, dachte Wexford. Als er mit Rogers und Dixon auf den Fußweg herunterkam, trat Constable Brodrick zur Seite, um sie vorbeizulassen. Acht Polizisten hielten mit verschränkten Händen die Menschenmenge zurück, konnten das Gejohle aber nicht unterbinden. Während sich Wexford in Nummer 16 aufgehalten hatte, war das Transparent wieder aufgetaucht, ebenso die bei 151 den Reklametafeln mit dem Mädchen- und dem Jungenbild; das eine trug der dicke Carl Meeks, über dessen Bauch es fast im rechten Winkel abstand, das andere Joe Hebden. Die Menge begann zu skandieren: »Pädo raus, Pädo raus, Pädo raus ...
Wexford und Rogers bahnten sich mit Dixon in der Mitte einen Weg bis zum Gartentor, während die Menschenmenge heftig zog und drängte und gegen die verschränkten Hände und die breiten Rücken stieß, um schließlich in dem Moment durchzubrechen, als Dixon in den Wagen geschoben wurde. Rogers sprang neben ihm hinein, und als Wexford zurücktrat, bog der Fahrer bereits vom Gehweg ab. Einen Moment hatte er sich gefragt, ob sie vorhatten, ihn anzugreifen, und ob er sich gegen sie zur Wehr setzen müßte, doch stellte sich bald heraus, daß sich keiner für ihn interessierte. Er hätte genausogut ein Torpfosten oder ein Laternenpfahl sein können. Brenda Bosworth, Monty Smith und John Keenan und andere, die er nicht namentlich kannte, hatten sich an den Wagen gehängt, griffen nach den Türriegeln, trommelten an die Scheiben und kreischten die Insassen an. Der Fahrer mußte anhalten, während Fitch und zwei Constables sie wegzogen, wobei Monty Smiths Faust in Fitchs Gesicht landete. Für diesen tätlichen Angriff wurde Monty von Constable Dempsey sofort mit einem triumphierenden »Ab in den Knast!« festgenommen. Der Wagen bewegte sich weiter, nahm allmählich Fahrt auf und fuhr auf die York Street zu. Wexford schickte Wendy Brodrick ins Haus und sagte, er würde einen Wagen kommen lassen, mit dem Orbe weggebracht werden konnte, sobald die Luft rein war. Er legte keinen Wert darauf, Orbe noch einmal zu sehen. In seiner Nähe zu sein war deprimierend, vielleicht weil er selbst auch ein Mann war. Sich als Frau in seiner Nähe aufzuhalten war vermutlich einfacher. Andererseits waren Frauen aber auch Mütter... Er ging quer über die Rasenfläche, froh, sich seines Regenmantels für einen nützlichen Zweck entledigt zu haben, noch dazu an einem Tag, der der bisher wärmste des Jahres zu wer 152 den versprach. Nur Brenda Bosworth, Miroslav Zlatic und Lizzie Cromwell standen noch auf dem Rasen, und als sie ihn näher kommen sahen, zogen sie immer noch Arm in Arm -ebenfalls von dannen. Lizzie kicherte und streckte ihren anschwellenden Bauch vor. Wexford beschloß, ihnen zu folgen, bis sie sicher in ihren Häusern in der Puck Road angelangt waren. Daß weitere Verhaftungen erfolgen würden, war unwahrscheinlich. Diese Leute strafrechtlich zu belangen wäre hoffnungslos, weil höchst fraglich war, ob sie gegeneinander aussagen würden. Die restlichen Polizeibeamten fuhren in ihren Autos weg; Monty Smith nahmen sie gleich mit. Wendy Broderick war in Nummer 16 verschwunden, und als Wexford wieder einen Blick über die Schulter warf, sah er den rot-
gelb-blauen Wagen, der die Zufahrtsstraße blockiert hatte, draußen vorfahren. Nicht besonders schlau, nicht die optimalste Art, Aufmerksamkeit zu vermeiden, dachte er sich und blieb entnervt stehen. Zum Glück stand niemand mehr auf dem Rasen, und auch die Frau mit dem Camcorder war hineingegangen und hatte ihr Fenster zugemacht. Er war nur einen Augenblick abgelenkt gewesen und hatte die drei Leute vor sich nicht beobachtet. Auf einen lauten Schrei hin fuhr er herum und rannte in ihre Richtung. Fest ineinander verklammert, wälzten sich Brenda Bosworth und Lizzie auf der Erde, halb auf dem Gehweg, halb im frisch bepflanzten Gemeindebeet. Lizzie wimmerte, Brenda knurrte bedrohlich, in der Faust ein blondes Haarbüschel des Mädchens. Miroslav stand einfach da, hielt die Arme verschränkt und schüttelte den Kopf. In dem Moment wurde Wexford einiges klar, plötzlich löste sich so manches Rätsel. Er packte Brenda an den Armen, um sie wegzuziehen, während Lizzie sich umklammert hielt und nach vorn gebeugt versuchte, ihren geschwollenen Bauch zu schützen. Als Brenda - allerdings erfolglos - Wexford mit den Füßen wegstoßen wollte, mußte er ihr Einhalt gebieten und nahm sie in den Schwitzkasten. Solchermaßen befreit und nicht sonderlich mitgenommen, rappelte sich Lizzie erst ein 153 mal auf die Knie hoch und schließlich in die Hocke. Ihre Knie waren aufgeschürft, und sie hatte Erde im Gesicht. Sie erwartete wohl Hilfe von Miroslav, denn sie streckte ihm die Hand hin, damit er ihr auf die Füße half, doch er sah in die andere Richtung und tat so, als interessiere er sich sehr für ein neues Motorrad, das im Vorgarten von Nummer 42 geparkt stand. »Geh jetzt nach Hause, Lizzie«, sagte Wexford, Brenda immer noch fest im Griff. »In fünf Minuten komme ich, um mit dir zu reden.« Er lockerte seinen Griff und stieß Brenda in Richtung ihres Gartentors. Miroslav trottete verlegen hintendrein. Sobald sie in ihrem Garten war, wandte Brenda sich zu Wexford um und sammelte schon Spucke im Mund. »Tun Sie's nicht«, riet ihr Wexford. Anstatt zu spucken, sagte sie: »Das war eine unsittliche Annäherung, so wie Sie mich gepackt und festgehalten haben. Das werd' ich der Polizei melden.« »Ich bin die Polizei«, erwiderte Wexford, »also halten Sie den Mund und gehen Sie rein.« Sie knallte die Tür hinter sich zu, daß das ganze Haus erzitterte. Ausgesperrt und offensichtlich ohne eigenen Schlüssel, sah Miroslav Wexford ebenso hilfesuchend an wie Lizzie vorher ihn. Wexford ging achselzuckend davon.
Hinter ihm trommelte Miroslav ans Wohnzimmerfenster. Das Blumenbeet, ein einziges Durcheinander von zertrampelten Stiefmütterchen und geköpften Primeln, war völlig ruiniert. Wexford hob ein violett-orangefarbenes Stiefmütterchen auf und steckte es sich ins Knopfloch. Da die Haustür der Crownes nur eingeklinkt war, klingelte er kurz, trat gleich ein und sah, wie ihre Mutter Lizzie gerade mit einem Waschlappen und einer Schüssel Seifenwasser das Blut von den Knien wusch. »Schicken Sie sie lieber zum Arzt«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß was Schlimmes passiert ist, aber es ist besser, auf Nummer Sicher zu gehen.« »Diese Schlampe«, sagte Debbie Crowne. »Dieses Biest. 154 Führt sich auf wie ein Tier. Die bring' ich um, der stech' ich die Augen aus.« »Wenn Sie mit Lizzies Wunden dann fertig sind, Mrs. Crowne, würde ich gern mit ihr unter vier Augen reden.« Erstaunlicherweise zog Debbie ohne Widerrede ab. Wexford machte die Tür hinter ihr zu, obwohl er nicht verhindern konnte, daß sie am Schlüsselloch lauschte. Lizzie warf ihm einen ihrer trotzigen Blicke zu, mit vorgeschobener Unterlippe und grimmig gerunzelter Stirn. »Du bist im vierten Monat schwanger, Lizzie, stimmt's?« begann er. Sie nickte, immer noch grimmig dreinschauend. »Und Miroslav Zlatic ist der Vater, richtig? Du hast dich ab und zu mit ihm in dem alten Haus in Myringham getroffen, weil das der einzige Ort war, an dem ihr allein sein konntet. Daher wußtest du auch von der Decke. Die war zweifellos praktisch. Brenda hat es herausbekommen, als ihr drei vorhin zurückgegangen seid, stimmt's?« »Ich weiß aber nicht, wie«, sagte Lizzie naiv. »Er hat mich so angefaßt, als er dachte, sie guckt nicht, aber sie hat wahrscheinlich doch geguckt. Das war's bestimmt. Und dann ist sie ausgerastet. Verlier' ich jetzt mein Baby?« »Das glaube ich auf gar keinen Fall. So leicht verliert man ein Baby nicht. Meinst du, daß er jetzt Brenda verläßt und mit dir zusammenzieht, wenn es geboren ist?« Lizzie schüttelte den Kopf. »Der kann doch nicht mal reden. Das einzige, was der gesagt hat, war »Liiizziiie, Liiizziiie«. Woher soll ich wissen, was der im Sinn hat?« Wexford überlegte, daß Miroslav im Grunde ausgesorgt hatte. Wer weiß, wie viele junge Frauen er in dieses verfallene Haus mitgenommen und schweigend mit ihnen geschlafen hatte? Zweifellos hatte er nicht die Absicht, jemals Englisch zu lernen. »Und nachdem wir jetzt alles über dich und Miro-
slav und dein Baby wissen, erzählst du mir vielleicht, was in dem hübschen rosa Bungalow in Sayle wirklich geschehen ist, der dir so gefallen hat. Hast du für diese Leute die Hausarbeit gemacht? Hast du für sie genäht und gekocht?« 155 Sie nickte und senkte wieder den Blick, offenbar um ihre zerkratzten Knie zu betrachten. »Vicky und Jerry. Sie sagten, wenn du jemandem erzählst, was mit dir geschehen ist, suchen sie dich und bestrafen dich. Ist das richtig?« Wieder dieses langsame Nicken. Doch er merkte, daß seine Vermutungen und die Schlußfolgerungen, die er daraus zog, sie tief beeindruckt hatten. Wie hatte Brenda erraten, was sich zwischen ihr und Miroslav abgespielt hatte? Und wie hatte er, Wexford, das alles so mühelos herausbekommen? Als ob er dabeigewesen wäre, als ob allein er - als einziger von allen -Miroslavs Sprache sprechen könnte. Der Blick, den sie ihm nun zuwarf, war voller Staunen, ja Respekt. Unschuldig, naiv und langsam, wie sie war, unterschied sie sich von ihresgleichen dadurch, daß sie Intelligenz an anderen bewunderte, ehrfürchtig bewunderte. »Sie werden dich nicht bestrafen, Lizzie, das können sie gar nicht. Das lasse ich nicht zu. Am besten hilfst du mir, ihnen das Handwerk zu legen, indem du mir alles sagst, was du sonst noch weißt.« Sie sagte nichts, sah ihn aber weiter bewundernd an. »Ein kleines Mädchen ist verschwunden, Lizzie. Das weißt du, deshalb warst du ja mit den anderen auf dem Rasenplatz draußen. Aber vielleicht weißt du nicht, daß sie noch keine drei Jahre alt ist. Tommy Orbe hat sie nicht mitgenommen, das ist lauter Unsinn, den sich jemand ausgedacht hat. Ausgedacht, weil sie Angst vor ihm hatten. Aber jetzt ist er fort, und das kleine Mädchen ist immer noch verschwunden. Glaubst du, daß Vicky und Jerry sie haben?« »Sie könnte aber nicht den Haushalt machen«, sagte Lizzie. »Stimmt. Aber das war nicht alles, was du gemacht hast, oder?« »Also, so was wie Miroslav hat er nicht mit mir gemacht.« »Nein, na gut. Ich verstehe schon. Warum haben sie dich gehen lassen?« »Ich war nicht die richtige. Ich konnte ihnen nichts recht 155 machen. Staubsaugen kann ich, aber nicht kochen oder Sachen stopfen. Vicky sagte: >Du bist dumm, mit dir wird das nichts.« Und dann hat sie mich mit ihrem Auto zurückgefahren.« »Was meinte sie damit, >mit dir wird das nichts?« Was wird nichts?«
»Keine Ahnung. Hat mir niemand gesagt.« »Wie sah sie denn aus?« Er rechnete damit, daß sie »ganz normal« oder »wie eine alte Frau eben« sagte, die übliche Reaktion einer unaufmerksamen Beobachterin. Statt dessen stellte er fest, daß Lizzie in gewissem Sinn mehr wahrgenommen hatte als Rachel Holmes. »Sie hatte keine Haare«, sagte Lizzie. »Sie war kahl. Sie hatte eine Perücke auf, eine riesige, graue Perücke, aber ich hab' sie mal ohne gesehen. Da hing die Perücke an einem Ständer in ihrem Schlafzimmer, und da hab' ich ihren Kopf ohne Haare gesehen.« »Was ist bei dem Treffen herausgekommen?« »Nicht viel«, sagte Bürden. »Wann kommt schon was raus, wenn Southby das Heft in der Hand hat? Diese Griselda Cooper hat ein paar nützliche Vorschläge gemacht, wie man die Handys verteilen könnte, aber unser Stellvertretender wollte davon nichts wissen. Er hat einen Ausschuß einberufen« -Bürden verzog angewidert das Gesicht - »ich zitiere, zur Begutachtung und Revision des Kommunikationsprojekts für Opfer häuslicher Gewalt. Und wissen Sie was - ich bin mit von der Partie.« Wexford lachte. »Was ist mit der Einheit, die sie in Myringham aufbauen? Da sollen zwanzig Beamte speziell geschult werden, habe ich gehört.« »Ich bin nicht dabei«, sagte Bürden, »zu hoher Dienstgrad, Gott sei Dank, aber Karen - wir werden die nächsten drei Monate also ohne sie auskommen müssen. Irgendwelche heißen Spuren zu Vicky und Jerry?« »Lizzie Cromwell hat mir was Interessantes erzählt.« Wex 156 ford gab ihm eine kurze Beschreibung seiner morgendlichen Aktivitäten und erzählte Bürden dann von der Perücke. »Rachel sagte, Vicky kam ihr krank vor, sie hatte Husten. Also, welche Krankheit führt dazu, daß einer Frau die Haare ausgehen?« »Kreisrunder Haarausfall«, sagte Bürden wie aus der Pistole geschossen. »Ja, aber woher dann der Husten? Ist es nicht wahrscheinlicher, daß sie eine Chemotherapie hinter sich hat? Sie hat Krebs und wurde deswegen mit Chemotherapie behandelt, die, wie so oft, zu völligem Haarausfall führte.« »Vielleicht, aber ich weiß nicht, wie uns das weiterhelfen sollte. Sie können ja nicht zu Akande gehen oder ins hiesige Krankenhaus und fragen, wie viele von ihren Patienten in den letzten Wochen eine Chemotherapie bekommen haben. Beziehungsweise, fragen können Sie schon, aber Sie werden keine Antwort bekommen.«
»Wie steht's, Mike, gehen wir zum Mittagessen? Am besten in der Kantine, da geht es schneller. Und dann will ich noch einmal zu den Devenishs; vielleicht kommen Sie mit.« Die Kantine im obersten Stockwerk hatte sich in den Jahren, seit Wexford angefangen hatte, sehr gemausert. Um nicht dort essen zu müssen, hatte er früher meistens auswärts gegessen oder sich, wenn besonders viel zu tun war, Sandwiches kommen lassen und später die unterschiedlichen Arten von internationalen Gerichten zum Mitnehmen. Heute standen in der Kantine Pasta, Curry und Risotto auf der Speisekarte. »Eine traditionelle Steak-und-Nieren-Pastete sieht man heutzutage überhaupt nicht mehr«, sagte Bürden wehmütig. »Ist Ihnen das schon aufgefallen?« »Natürlich ist es mir aufgefallen. Aber das darf ich sowieso nicht essen.« Bei der Erwähnung der Diät, die er selten befolgte, mußte Wexford an seinen Arzt und an die anderen Allgemeinärzte in der Gemeinschaftspraxis denken. Mit seinem Tablett voll Tagliatelle und Salat, dazu einer winzigen Creme Caramel ge 157 seilte er sich zu Sergeant Vine, der sich einen Tisch mit Wendy Brodrick teilte. »Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?« Wexford nahm Platz und erklärte dem Sergeant seine Theorie. »Ich glaube nicht, daß Sie mit diesen Ärzten viel Freude haben werden, Barry, aber es besteht doch eine Chance, schließlich ist ein kleines Kind in Gefahr.« »Ich werd's versuchen, Sir. Ich weiß nicht, ob Sie die Resultate aus dem Labor schon gesehen haben, aber die haben die Leiter aus der Garage der Devenishs untersucht und sind sich so gut wie sicher, daß sie niemand vom Fleck bewegt hat, geschweige denn rauf geklettert ist.« »Wieso sind die sich da sicher?« schaltete sich Wendy Brodrick ein. »Es ist eine nagelneue Leiter, die in Plastikhülle verpackt gekauft wurde. Devenish entfernte die Hülle und legte die Leiter einfach in der Garage auf den Boden. Man kann die Umrisse im Staub sehen, und es besteht kein Zweifel, daß sie nie bewegt wurde. Es sind nur Devenishs Fingerabdrücke dran, und zwar nur auf der obersten Sprosse.« »Genau. Diese Leiter wurde nicht benutzt, wohl aber vielleicht eine andere.« »Was, in einer gewöhnlichen Limousine transportiert? Unmöglich. Wir müssen mal sehen, was wir Moira Wingrave noch entlocken können.« Wexford wandte sich an Wendy Brodrick, die eine klebrige, graue Masse verspeiste, bei der es sich wohl um Risotto handelte. »Was haben Sie mit Orbe gemacht?«
»Ich habe ihm ein paar Sachen zusammengepackt und ihm eine Tasse Tee gemacht, und als die Luft rein war, sind wir gefahren. Mr. Southby sagte, ich sollte ihn ins Hauptquartier nach Myringham bringen.« »Haben die denn dort Platz für ihn?« »Sie haben ein Zimmer mit Bad. Ihn in eine Zelle zu stecken wäre doch nicht fair, oder? Schließlich hat er seine Schuld bezahlt.« 158 Wexford ignorierte Vines Schnauben und Burdens humorloses »Pah!« »Dann gesellt er sich also zu den übrigen hundertzehntausend rechtskräftig verurteilten Pädophilen im Lande. Immerhin sind nur vier Prozent davon im Gefängnis. Man mag gar nicht dran denken, stimmt's? Also denken wir meistens auch nicht dran. Was haben Sie gemacht? Ihn hierher gebracht und weitere Instruktionen abgewartet?« »Ich bin hintenherum gefahren, so daß er gar nicht aussteigen mußte. Mr. Southby kam gerade aus seiner Besprechung und sagte, ich soll ihn nach Myringham fahren. Äh, Sir, eigentlich sagte er, ich soll ihn so schnell wie möglich loswerden.« Wexford nickte. Das sah Southby ähnlich, im Weitergeben des Schwarzen Peters war er Experte. Überlaßt das Thema häusliche Gewalt einem Auschuß und schickt den Kindermörder ein paar Meilen weiter. »Hat man Sie gesehen, als Sie ihn herbrachten?« fragte er. »Sicher nicht. Ich war vorsichtig, und es waren auch nicht viele Leute unterwegs. Er saß auf dem Rücksitz. Abgesehen von den Leuten im Muriel Campden Estate würden ihn auch nicht viele erkennen, Sir.« Tracy Miller von dem vermißten Kind zu erzählen war ihr damals ziemlich harmlos erschienen. Erst danach, als sie nachts nicht schlafen konnte, meldeten sich bei Moira Wingrave Schuldgefühle. Die Gewissensbisse setzten ihr auch den ganzen Morgen noch zu, und beim Anblick von Stephen Devenish, der das Tor zu seiner Garagenauffahrt öffnete, verstärkten sie sich noch. Und so wußte sie, als sie die beiden Polizeibeamten in ihrer Auffahrt auf das Haus zusteuern sah, schon Bescheid. Sie waren gekommen, um ihr Vorhaltungen zu machen oder noch Schlimmeres. Es war aber weder in den Nachrichten noch in der Zeitung heute morgen etwas darüber gekommen... Sie mußte ihnen aufmachen, da half alles nichts. Den großen Polizisten erkannte sie wieder, den anderen hatte sie 158 noch nie gesehen, nahm jedoch an, daß er ebenfalls Detective war, trotz seines eleganten Anzugs im feinen Hahnentrittmuster und der dunkelgrünen
Seidenkrawatte. Sie mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht zu sagen: »Ich war's, ich hab's getan, ich habe es herumerzählt.« Doch sie schienen sich dafür überhaupt nicht zu interessieren. Sie wollten lediglich von ihr wissen, was für ein Auto sie um drei Uhr morgens aus der Devenish-Einfahrt habe kommen sehen, und das hatte sie ihnen ja schon alles erzählt, dachte sie jedenfalls. Der große, dessen Anzug nicht annähernd so schön war, sondern ausgebeult und vermutlich reinigungsbedürftig, dazu in einem Farbton, den sie immer »anzuggrau« nannte, sagte zu ihr, sie solle die Augen zumachen und versuchen, sich den Wagen noch einmal genau ins Gedächtnis zu rufen, wie er aussah, welche Farbe er hatte und wie die Person aussah, die ihn gefahren hatte. Sie fühlte sich ziemlich unbehaglich, in Gegenwart dieser beiden die Augen zu schließen. Besser gesagt, verletzlich. Es kam ihr so vor, als könnten sie viel mehr von ihr sehen, wenn sie sie nicht sehen konnte. Es war fast so, wie wenn man sich die Kleider auszöge. Die Augen fest geschlossen, lief Moira rot an. Sie konnte nichts sehen, nur Röte und kleine schwarze Flecken, doch obwohl das Auto auf dem vorgestellten Bildschirm nicht auftauchte, fielen ihr plötzlich doch zwei Dinge ein. »Ich dachte, es würde gleich den Torpfosten rammen«, sagte sie. »Fast hätte ich das Fenster aufgemacht und hinausgeschrien, sie sollen aufpassen. Ich hätte es fast getan, aber mein Mann schlief ja.« »Sie dachten also nicht, daß es jemand Fremdes war, ein Eindringling etwa?« wollte der mit der grünen Seidenkrawatte wissen. »Sie nahmen nicht an, daß es jemand war, der dort nicht hingehörte?« »Na ja, ich wußte es nicht. Ich sah, daß es ein fremdes Auto war. Ich dachte mir, vielleicht haben sie Besuch von Freunden. Obwohl sie nicht gerade viele Freunde haben.« 159 Der Große nickte. »Und was war das andere?« »Welches andere?« »Was Ihnen noch einfiel. Sie sagten, Sie erinnerten sich an zwei Dinge.« »Na, eben das. Daß ich dachte, es sei ein Freund von ihnen.« Der mit der grünen Krawatte sagte: »Wer saß im Auto?« »Nur die Person, die gefahren ist. Glaube ich jedenfalls. Den Rücksitz konnte ich nicht sehen.« »War es ein Mann oder eine Frau?« Moira versuchte es wieder mit der Augen-zu-Methode. Diesmal fiel es ihr leichter und war weniger peinlich. Vor ihr tauchte tatsächlich ein Bild auf. Sie hätte es nicht für möglich gehalten. Vielleicht lag es daran, daß sie jetzt entspannt war. Aber war es ein Mann oder eine Frau gewesen? Nur ein Um-
riß, eine Silhouette, ein Kopf ohne Gesicht. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich weiß es einfach nicht. Ich glaube, es war ein Mann, aber es hätte auch eine Frau sein können.« »War in dem Wagen eine Leiter, Mrs. Wingrave? Damit eine Leiter hineinpaßte, müßten entweder der Kofferraum oder die beiden Rückfenster offengestanden haben. Haben Sie so etwas gesehen?« Moira schüttelte den Kopf. »Das Baby war doch auf dem Rücksitz, oder? Da war doch kein Platz für die Leiter.« »Sie haben das Baby also auf dem Rücksitz gesehen?« »Weiß ich nicht.« Inzwischen war sie verstimmt. »Sie haben doch gesagt, das Baby war auf dem Rücksitz, dann muß es wohl so gewesen sein.« Sie überquerten die Straße und gingen unter den überhängenden Zweigen die Auffahrt hoch. Stephen Devenish machte ihnen auf und fragte, während er beiseite trat, um sie hereinzulassen, ob es etwas Neues über sein vermißtes Kind gebe. »Wir gehen einer Reihe von Hinweisen nach«, sagte Bürden. Er wußte, wie unbefriedigend sich das für einen schmerz 160 gebeugten Vater anhören mußte, doch was sollte er sonst sagen? Es hatte immerhin den Vorteil, daß es stimmte. Devenish, fanden er und Wexford gleichermaßen, wirkte um einiges gefaßter als Rosemary Holmes damals, als ihre Tochter verschwunden war. Selbst die Crownes waren in der gleichen Situation einer Panik näher gewesen als dieser gemessene, höfliche Mann, der sie ins Arbeitszimmer führte, wo seine Frau auf dem lederbezogenen Sofa lag, zugedeckt mit einer Autodecke. Der Raum war so sehr ein Inbegriff von Männlichkeit, streng und düster, daß Wexford sich gedacht hätte, eine Frau würde sich darin unwohl fühlen. Trotzdem hatte Fay Devenish offenbar beschlossen, hier zu entspannen und auszuruhen. »Liebling«, richtete sich ihr Mann sanft an sie, »wir haben Chief Inspector Wexford für heute nachmittag doch erwartet, nicht wahr?« Er wandte sich an Bürden. »Und Sie sind...?« »Inspector Bürden.« »Guten Tag! Wir wollen Sie nicht bedrängen, aber wir sind natürlich sehr besorgt... Meine Frau ist gestürzt. Es geht ihr aber schon besser.« Die Frau auf dem Sofa sah krank aus. Ihr Gesicht war nicht direkt weiß, sondern eher grau, und trotz der warmen Decke zitterte sie. Sie setzte sich mühsam auf, wobei sie die Decke bis unter ihr Kinn zog. Die Hände, die die
Kante umklammerten, erinnerten an die mitleiderregenden Hände eines Äffchens, das sich krampfhaft an den Gitterstäben seines Käfigs festhält. »Sie brauchen sich doch nicht aufzusetzen, Mrs. Devenish«, sagte Wexford. »Am besten ruhen Sie sich jetzt aus. Hat Ihr Arzt Sie schon untersucht?« In letzter Zeit empfahl er anscheinend allen Leuten, sich in medizinische Obhut zu begeben. Sie schüttelte erst den Kopf und nickte dann. »Aber selbstverständlich hat dich der Arzt untersucht, Liebling«, sagte Devenish, löste behutsam ihre dünnen, grauen Finger und bettete sie auf die Decke. »Versuch dich zu ent 161 spannen, so ist es gut.« Er streichelte ihre Wange und strich ihr das Haar aus der Stirn. »Du kannst dem Chief Inspector nichts sagen, was ich ihm nicht auch sagen könnte.« Wexford nickte. »Mr. Devenish, es ist völlig ausgeschlossen, daß Sanchias Entführer Ihre Leiter benutzte, um zu ihrem Fenster hinaufzusteigen. Und höchst unwahrscheinlich, daß er oder sie eine eigene Leiter mitgebracht hat. Unseren Ermittlungen zufolge ist es ebenso unwahrscheinlich, daß sich jemand von außen Zugang zu Sanchias Zimmer verschafft hat. Wer immer sie wegbrachte, hat es von innen bewerkstelligt. Nun gab es aber keinerlei Hinweise auf einen Einbruch oder auf gewaltsames Eindringen. Wer hat außer Ihnen noch einen Hausschlüssel?« »Gar niemand«, sagte Devenish. Bürden, der Mühe hatte, den Blick von Fay Devenish loszureißen, fragte: »Keine Putzfrau, Sir, kein Gärtner?« »Der Gärtner kommt nie ins Haus, und die Hausarbeit macht meine Frau selbst.« Die Überraschung auf ihren Gesichtern blieb ihm nicht verborgen, denn wie um sich zu verteidigen, fügte er hastig hinzu: »Sie wäre sicher die erste, die Ihnen erklärt, daß der Haushalt ihre Aufgabe ist, nachdem sie ja keinen Beruf hat. Es ist ihr recht so, und sie wollte auch nie eine Hilfe.« Der rechtfertigt sich zu eifrig, dachte Wexford. Was war er denn von Beruf. Generaldirektor - oder so etwas ähnliches -einer Fluggesellschaft. »Und Ihre Söhne?« Wie aufs Stichwort traten, nachdem irgendwo eine Tür geöffnet und wieder geschlossen worden war, die beiden Knaben ins Zimmer. Zaghaft blieben sie in der Tür stehen, als rechneten sie damit, dort drinnen etwas sehen zu müssen, was keiner von ihnen sehen wollte. Robert, der jüngere, sah zu seiner Mutter hinüber und schnell wieder weg. Edward, der ältere, schon so groß
wie ein ausgewachsener Mann, aber mit einem weichen, empfindsamen Kindergesicht, richtete den Blick auf Stephen Devenish und ballte plötzlich unerwar 162 tet beide Fäuste. Merkwürdig, dachte Wexford, als ob er ihn schlagen wollte. Nein, als ob er noch ein, zwei Jahre warten und ihn dann schlagen wollte. Doch Devenish lächelte die beiden wohlwollend an. Er trat auf sie zu und legte jedem einen Arm um die Schultern. »Sie haben keinen Schlüssel«, sagte er. »Groß sind sie, aber noch nicht alt genug für einen Hausschlüssel, hab' ich recht, Jungs?« Da sagte Fay Devenish zum erstenmal etwas. Bei ihrem Sturz mußte sie sich am Mund verletzt haben, denn sie lispelte. Wexford sah, daß sie beim Sprechen Mühe hatte. »Eine von den Nachbarinnen hat sie von der Schule abgeholt, und sie kamen hinten zur Küchentür herein. Tagsüber schließen wir die hintere Tür nicht ab.« »Aber nachts doch?« »Natürlich. Immer.« Es klang ungewöhnlich nachdrücklich, fast als fürchtete sie, es könnte darüber irgendein Zweifel bestehen. Die Kinder hatten sich aus den Armen ihres Vaters herausgewunden und waren aus dem Zimmer gegangen. Devenish lächelte bekümmert. »Sie werden viel zu schnell groß.« »Wenn jetzt niemand einen Schlüssel hat«, sagte Bürden, »hatte vielleicht früher jemand einen? Schlüssel kann man ja auch nachmachen lassen.« Fay Devenish drückte ihr Gesicht in das Kissen, auf dem ihr Kopf ruhte. Ihr Mann zog die Decke über ihre Schultern hoch und sagte zu den Polizeibeamten: »Ich möchte, daß meine Frau sich jetzt ausruht. Wir können ja im Wohnzimmer weiterreden.« Es mochte ihr zwar nicht gutgehen, doch ihren hohen Standard hatte sie beibehalten. In dem hübschen Zimmer war staubgewischt worden, die Möbel glänzten, und in den Vasen steckten frische Blumen. Die Luft war erfüllt vom Duft des weißen und lila Flieders, der in einer chinesischen Vase prangte. Ihre kleine Tochter war verschwunden, doch sie arrangierte immer noch die Blumen, polierte die silbernen Ziergegenstände und schüttelte die Sofakissen auf. 162 »Setzen Sie sich doch«, sagte Devenish. »Ich würde Ihnen ja gern Tee anbieten, aber wie Sie sehen, ist meine Frau kaum in der Lage, welchen zu machen.«
Und Sie können nicht? Wexford sagte es nicht laut. »Ich hatte den Eindruck, Mr. Devenish, Sie haben uns hier hereingeführt, um uns zu sagen, daß doch einmal jemand einen Schlüssel hatte. Habe ich recht?« »Ja. Mir ist das aber ziemlich - nun, ich hätte es Ihnen schon früher sagen sollen.« »Soll das heißen, daß diese Person nicht auf Ihrer Liste von Verwandten und Freunden stand?« Um die Sache herunterzuspielen, stieß Devenish ein leises, abwehrendes Lachen aus. »Ich rücke wohl besser damit raus, nicht? Sie ist eine Freundin von meiner Frau, und offen gesagt, also um wirklich ehrlich zu sein - ich kann sie nicht ausstehen. Besser gesagt, sie war ihre Freundin, aber nach einigen sehr unangenehmen Zwischenfällen - mehr brauche ich wohl nicht zu sagen habe ich schließlich »Ein Machtwort gesprochen, Mr. Devenish?« »Also, ich bitte Sie.« Zum erstenmal zeigte sich Devenish irritiert. »Ich wollte sagen, ich konnte meine Frau davon überzeugen, daß sich diese Person nicht als Freundin eignet, besonders im Umgang mit den Kindern. Damals hatten wir nur die beiden Jungs, aber trotzdem »Wie heißt sie?« fragte Bürden. Nun mußte Devenish mit der Sprache herausrücken. »Es ist eine gewisse Miss Andrews, Jane Andrews. Sie wohnt in Brighton. Die Adresse habe ich nicht, aber die steht bestimmt im Telefonbuch. Sie hatte den Schlüssel, weil sie vor ziemlich langer Zeit einmal - Robert war damals erst drei - hier gewohnt und sich um das Haus gekümmert hat, solange wir im Urlaub waren. Die Idee war natürlich von meiner Frau. Wir hatten damals eine Katze, die hat sie auch versorgt. Bald danach kam ich mit meiner Frau überein, daß es am besten wäre, den Kontakt zu ihr abzubrechen. Ich verlangte meinen Schlüssel zurück, den sie mir natürlich auch gab, aber das 163 heißt ja nicht, daß sie ihn nicht hat nachmachen lassen, oder?« Wexford nickte. Er würde diese Jane Andrews zwar aufsuchen und der Sache nachgehen, allerdings interpretierte er Devenishs Einlassungen als Paranoia. Außerdem sah er den Mann nun in einem anderen Licht. Kann ein normaler Mensch mit einer gesunden Lebenseinstellung eine Freundin im Verdacht haben, sich hinterrücks Schlüssel zu seinem Haus machen zu lassen? Er wechselte abrupt das Thema. »Ich nehme doch an, Sie haben keine weiteren Drohbriefe erhalten, Mr. Devenish?« »Ach, die. Nein, das hätte ich Ihnen gesagt.«
»Nun, vorher haben Sie es uns auch nicht gesagt, Sir.« »Ich hielt sie für nicht so wichtig«, erwiderte Devenish. »Da wurden Sie wohl eines Besseren belehrt«, warf Bürden ein. »Es bedeutet doch, daß Sie einen Feind haben, nicht wahr? Glauben Sie, der Verfasser dieser Briefe wäre imstande, Sanchia zu entführen? Enthielt einer davon eine Drohung, sich an Ihnen durch ein Mitglied Ihrer Familie rächen zu wollen?« »In einigen wird angedroht, meine Frau zur Witwe und meine Kinder zu Waisen zu machen, wenn Sie das unter Rache an meiner Familie verstehen. Es stand nichts davon drin, ihnen Schaden zuzufügen.« Was für eine außergewöhnliche Terminologie, dachte Wexford, während sie hinausbegleitet wurden. Die Sätze hatten einen biblischen Ton an sich, wie aus einem Psalm. Aus einem dieser grausigen, blutrünstigen Psalmen voller Feuer und Schwefel, in denen ganze Stämme niedergemetzelt werden. Von irgendwoher weit weg hörte er eine Kuckucksuhr fünfmal schlagen. 164
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Die lose in einer Gruppe angelegten Straßen hießen alle nach geometrischen Figuren - Rhombus, Oval, Pyramid und Rectangle -, was seltsamer wirkte als Blumen- oder Mädchennamen oder die Namen von Schlachtfeldern. Den Grund dafür wußte niemand, und da die Straßen vor mehr als hundert Jahren gebaut und benannt worden waren, würde man es wahrscheinlich nie erfahren. Die Pyramid Road hatte mit Ägypten, Bergspitzen und Königsgräbern überhaupt nichts zu tun. Wie ihre Gefährtinnen war es ein armseliges, schäbiges Sträßchen mit armseligen, schäbigen Häusern ohne Vorgärten und Bäume, die ursprünglich als Quartiere für die Arbeiter in den Kalksteinbrüchen errichtet worden waren. Solche Seitenstraßen fanden sich überall in englischen Landstädtchen, doch waren sie in keinem Reiseführer und auf keiner Postkarte abgebildet. Diese hier gehörte zum Einbahnstraßensystem von Stowerton und verband einen Kreisverkehr mit der Zufahrt zur Einkaufszone. Schwerlaster dröhnten vom frühen Morgen bis nach Mitternacht hier entlang. In den Nachtstunden war die Straße wegen des Verkehrs und gegen den Willen der Anwohner hell erleuchtet, doch jetzt, am frühen Nachmittag eines sonnigen Maitags, waren die Lichter ausgeschaltet. Das Haus, in dem Trevor Ferry wohnte, war in Form und Größe zwar fast identisch mit dem von Rosemary Holmes und lag nur zwei Straßen weiter, doch bestand zwischen beiden ein himmelweiter Unterschied. Ihr Haus sah aus, als hätte sie gleich nach ihrem Einzug vor vielleicht zehn Jahren damit
begonnen, es zu verschönern und seither nicht davon abgelassen. Es war gemütlich, fast opulent, mit Büchern und 165 Blumen und Musikgeräten ausgestattet, und der beschränkte Raum war optimal genutzt. Beim Betreten von Trevor Ferrys Haus zitierte Bürden, der sich am Sonntag abend mit seiner Frau den Film angesehen hatte, im Geiste den ersten Satz aus Wer hat Angst vor Virginia Woolf »Was für ein Dreckloch!« Obwohl Ferry - wie Bürden gleich erfahren sollte - schon seit fast einem Jahr dort wohnte, waren im Wohnzimmer immer noch die Kisten und Kästen vom Umzug aus seinem früheren Haus aufgetürmt. Die wenigen Möbelstücke Kaminsessel und ein kleines Sofa mit hölzernen Armlehnen, ein Klapptisch und etliche Rattanhocker - schien er einzig und allein zu dem Zweck dort aufgestellt zu haben, möglichst viel fernsehen zu können. Um zwei Uhr nachmittags saß er vor dem Fernseher, in dem aber keine Sportsendung von internationalem Interesse lief, keine Politik, nicht einmal eine Quizsendung, sondern wo eine fröhliche junge Frau zu sehen war, die vorführte, wie man Croissants backte. Ferry sah aus wie so viele Langzeitarbeitslose: abgestumpft, ständig müde und nie so recht wissend, was er mit sich anfangen sollte. »Ich hab' nicht mehr gearbeitet, seit sie bei Seaward Air meinten, sie müßten mich »freistellen««, sagte er. »Hübscher Ausdruck, finden Sie nicht? »Wir müssen Sie freistellen«, als ob ich drum gebeten hätte, daß sie mich entlassen. Das ist jetzt schon zwei Jahre her, und wissen Sie, auf wie viele Stellen ich mich seither beworben habe? Dreihundert. Na ja, genau gesagt, dreihunderteinundzwanzig.« »Sie haben also keinen Grund, Stephen Devenish besonders zugetan zu sein?« Ferry schaltete den Fernseher in dem Moment aus, als Bürden ihn gerade darum bitten wollte. Er war relativ klein und übergewichtig, mit dem ungesunden Fett des Biertrinkers und Fast-Food-Essers. Sein Gesicht war bleich und aufgedunsen, und er befleißigte sich des unklugen Tricks vieler kahlwerdender Männer, sich lange Haarsträhnen über die nackte Platte zu kämmen, um diese zu kaschieren. Die Augen, die Bürden mit einem verwirrenden Starren fixierten, waren von 165 einem hellen Toffeebraun, das Weiße darin blutunterlaufen. Bürden, der die Antwort des Mannes zu wissen glaubte, wunderte sich, als Ferry sagte: »Wieso? Was hat er denn jetzt schon wieder getan?« Bürden zögerte. »Was glauben Sie denn, was er getan hat, Mr. Ferry?«
»Damit meine ich bloß, wem hat er denn jetzt einen Tritt gegeben? Oder - zu wem war er denn jetzt schon wieder gemein oder unbeherrscht?« »Als charmant würden Sie ihn also nicht beschreiben?« »Das kann er auch sein.« »Gegenüber Frauen?« »Also, was man heute so sexhungrig nennt, ist der nicht. Eins muß man ihm lassen, seiner Frau ist er treu ergeben. Kann schon sein, daß in ihm auch was Gutes steckt. Ich hab' Sie gefragt, was er getan hat.« »Ich weiß, Mr. Ferry«, sagte Bürden, der in diesem Ton nicht mit sich reden ließ. »Ich habe Sie schon gehört. Es geht nicht darum, was er getan hat, sondern was ihm angetan wurde.« Noch war es zu früh, das vermißte Kind Ferry oder sonstwem gegenüber zu erwähnen. »Jemand hat ihm Drohbriefe geschickt. Anonyme Briefe.« »Na, so was«, sagte Ferry und sah plötzlich viel glücklicher aus. »Und mit was drohen die ihm da?« Bürden blieb die Antwort schuldig. »Er hat eine kleine Tochter. Sie ist fast drei. Haben Sie sie schon mal gesehen?« An Ferrys Gesichtsausdruck, an seinem offenkundigen Desinteresse merkte er sofort, daß dieser Mann nichts mit der Entführung von Devenishs Kind zu tun hatte. Ferry sagte: »Seine Frau hat sie in Kingsmarkham mal mit ins Büro gebracht die haben dort ein Büro und eins in Gat-wick und noch eins in Brighton. Ich war zufällig gerade dort. Ich kann nicht behaupten, daß ich mir viel aus Kindern mache, und was Babys betrifft »Ich nehme an, Sie beziehen Arbeitslosenhilfe, Mr. Ferry?« »Ja, tu' ich, wenn das die Polizei was angeht. Und so, wie ich 166 es sehe, beziehe ich die wahrscheinlich, bis die Rente kommt. Zum Glück hat meine Frau einen Job.« Ferrys Stimme hatte einen schneidenden, sarkastischen Ton angenommen. »Zum Glück haben wir keine Kinder, keine kleinen Töchter. Sie hat wieder mit Unterrichten angefangen, als Devenish mich freigestellt« hat. Hatte natürlich keine Lust. Welche feine Dame, die im Kingsbrook Valley Drive wohnt, hätte das schon? Noch dazu muß sie auf dem Privatsektor arbeiten, was weniger Gehalt bedeutet.« »Sie erwähnten gerade Leute, zu denen Mr. Devenish unfreundlich war oder denen gegenüber er die Beherrschung verloren hat. Können Sie mir da vielleicht ein paar Namen nennen?« Ferry stieß ein hartes Lachen aus. »Das wären viel zu viele. Die Antwort ist: praktisch jeder, der mit ihm in Kontakt kam.«
Jane Andrews war gerade beim Einkaufen, doch ihre Mutter war zu Hause, eine geschwätzige und höchst redegewandte alte Dame, die Wexford innerhalb von zehn Minuten erzählt hatte, daß sie zweiundsiebzig und Witwe sei und seit vierzig Jahren in dieser viktorianischen Villa wohne (und auch beabsichtige, darin zu sterben), daß sie zwei Töchter habe, Jane und Louise, daß Louise ebenfalls verwitwet sei und Jane zweimal verheiratet und zweimal geschieden sei, ein Sachverhalt, den Mrs. Probyn darstellte, als handelte es sich um die Symptome einer lebensbedrohlichen Krankheit. »Meine Töchter haben beide kein besonders glückliches Leben geführt, Chief Inspector. Die arme Jane gehört zu diesen sogenannten Karrierefrauen, die das Eheglück den Anforderungen ihres Berufs geopfert hat. Sie macht irgendwas mit PR, was - wie mein verstorbener Gatte immer sagte - proportionale Repräsentation bedeutet, heutzutage aber soviel wie Public Relations, was immer das heißen mag.« »Hat sie schon immer bei Ihnen gewohnt?« »Du liebe Güte, nein. Eine Wohnung nach der anderen hat sie gehabt, und sozusagen einen Ehemann nach dem anderen. 167 Aber als mein Mann starb - ich bin fest überzeugt, daß sein Geisteszustand etwas labil war, der Arme -, hinterließ er ein merkwürdiges Testament.« Dies sagte Mrs. Probyn in der Manier einer altmodischen Geschichtenerzählerin, die ihrem Publikum gerade eine gar geheimnisvolle und spannende Mär zum besten geben will. Nach einer Kunstpause fuhr sie fort: »Meine Tochter Louise ist eine reiche Frau. Ihr verstorbener Mann ließ sie in überaus gesicherten Verhältnissen zurück. Wenigstens muß sie nicht arbeiten. Man könnte sagen, ihr einziges Unglück - abgesehen davon, daß sie ihn verloren hat natürlich -, ist ihre Kinderlosigkeit. So sehe ich das jedenfalls. Aber ich schweife ab. Vernünftigerweise fand mein Mann, daß er ihr nichts zu vererben brauchte, und das hätte er in bezug auf die gute Jane auch finden können, da sie sich ihre Suppe zum großen Teil selbst eingebrockt hat, muß ich schon sagen. Tja, weit gefehlt. In seinem Testament verfügte er, daß dieses Haus - das seit vierzig Jahren mein Zuhause ist - auf Jane übergeht. Ich bekam nur lebenslanges Wohnrecht. Mit anderen Worten, ich darf für die Dauer meines Erdenlebens hier wohnen, tatsächlich aber gehört es Jane. Na! Was sagen Sie jetzt?« Wexford hatte nicht die Absicht, seine Meinung darüber zu äußern, wobei seine Hauptüberlegung war, daß er es an Jane Andrews' Stelle vorgezogen hätte, weiterhin woanders zu wohnen, statt mit dieser geschwätzigen
Giftnudel zusammenzuziehen. Das Eintreffen eines Neuankömmlings ersparte ihm jedoch einen beschwichtigenden Kommentar. Zunächst dachte er, es sei ein Mann, und dieser Eindruck hielt ein paar Sekunden lang vor. Ein ziemlich feminin wirkender Mann, das schon, mit Stupsnase und vollen Lippen, mit etwa einsachtzig aber doch recht groß und auch flachbrüstig. Doch dann sah er ihre Hände und bemerkte das Fehlen eines Adamsapfels. Sie sagte etwas zu ihrer Mutter und streckte ihm dann zur Begrüßung die Hand hin. Als sie guten Tag sagte, klang ihre Stimme tief und ziemlich rauh. Mit ihren Jeans, dem weißen Hemd und den Turnschuhen war sie 168 eigentlich nicht männlicher gekleidet als andere Frauen auch, und ihr Haar war einfach modisch kurz geschnitten. Die Täuschung verflog. Er schätzte sie auf Ende Dreißig. Sie war sehr schlank und recht attraktiv. Etwas Make-up hätte nicht geschadet, denn ihre Haut war nicht besonders gut, und auf ihren Wangen saßen winzige Aknenarben. Sie hatte zwei schwere Einkaufstaschen den Hügel heraufgetragen, und ihr Gesicht glänzte vor Anstrengung. Sie setzte sie ab und ließ sich breitbeinig in einen Sessel fallen. Wexford stellte sich vor und fragte sie nach ihrer Freundschaft zu Fay Devenish. Dabei äußerte er die Vermutung, sie besitze immer noch einen Schlüssel zu Woodland Lodge. Bevor sie antwortete, legte sie ihrer Mutter nahe, sie allein zu lassen. »Sie hat ihr eigenes Wohnzimmer«, sagte sie, nachdem die alte Dame mit beleidigter Miene abgerauscht war. »Und das hier ist es nicht. In diesem großen Haus ist genug Platz, daß zwei Frauen darin wohnen können, ohne sich dauernd über den Weg zu laufen.« Sie lächelte, um die barsche Bemerkung etwas abzumildern. »Sie halten mich jetzt wahrscheinlich für gemein. Tut mir leid. Dabei bin ich selber schuld, daß ich hier eingezogen bin. Ich hätte bleiben sollen, wo ich war, oder das Angebot meiner Schwester annehmen, zu ihr zu ziehen. Sie wohnt nicht weit von hier.« Weil ihm dazu nichts einfiel, schwieg Wexford. »Was haben Sie mich gerade über Fay gefragt?« »Ich sagte, Sie sind wohl eine Freundin von ihr.« »War ich früher einmal«, sagte sie, »aber jetzt nicht mehr.« »Gab es eine Auseinandersetzung?« »Nicht zwischen ihr und mir, wenn Sie das meinen.« »Dann zwischen Ihnen und ihrem Mann?«
»Sagen wir mal so: Er hat etwas dagegen, daß sie Freundinnen hat. Er sagte, sie solle sich nicht mehr mit mir treffen und - auch keinen Kontakt mehr mit mir haben. Er ist eifersüchtig. Er ist sogar eifersüchtig auf seine eigenen Kinder. Und mehr werde ich dazu auf keinen Fall sagen.« 169 Kein Polizist, der etwas taugt, läßt sich von dieser oft geäußerten Bemerkung abwimmeln. »Wie eifersüchtig? Wollen Sie damit sagen, er kann seine Kinder nicht leiden? Was ist mit dem kleinen Mädchen?« Wexford sprach bewußt in der Gegenwartsform. »Kann er sie auch nicht leiden?« »Davon habe ich nichts gesagt. Ich sagte, er sei eifersüchtig. Im übrigen habe ich Sanchia nie gesehen. Ich weiß nur, daß es sie gibt, das ist alles. Die Jungs habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.« Wexford fiel auf, daß sie ihren Versprecher nicht bemerkt hatte. Er betrachtete sie nachdenklich. »Was ist aus dem Schlüssel geworden, Miss Andrews?« »Aus welchem Schlüssel?« »Dem Schlüssel, den Sie von den Devenishs bekamen, als Sie in ihrem Haus wohnten und sich um die Katze kümmerten. « »Das ist doch schon Jahre her.« »Etwa sieben Jahre.« Wexford beobachtete sie aufmerksam und sah, daß ein Muskel in ihrem linken Augenwinkel zu zucken begonnen hatte. Ein fast unmerkliches, leichtes Zittern, doch sie hob die Hand und faßte mit einem Finger hin, um es zu unterdrücken. »Hatten Sie irgendeinen Grund, sich den Schlüssel nachmachen zu lassen?« Zu prompt und zu entrüstet erwiderte sie: »Das wäre unredlich, und unredlich bin ich nicht. Ich möchte jetzt wirklich nicht mehr sagen über die Devenishs, wenn Sie also nichts dagegen haben »Besitzen Sie einen Wagen, Miss Andrews?« »Aber natürlich«, sagte sie. Sie klang verärgert, aber mehr noch - auch nervös? Die meisten Leute waren nervös, wenn sie von der Polizei befragt wurden. Ob schuldig oder unschuldig, sie waren auf der Hut. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie mitten in der Nacht in die Ploughman's Lane fuhr, ihr Auto in der Auffahrt von Woodland Lodge abstellte, das Haus betrat und nach oben ging, ein Kind, das sie noch nie gesehen hatte, aus dem Bett 169 chen hob und dafür sorgte, daß es nicht laut losschrie - er versuchte, es sich vorzustellen, was ihm nicht gelang. Aber noch etwas stimmte da nicht...
»Miss Andrews«, sagte er, »ich muß sagen, eines finde ich doch recht seltsam.« Er sah auf seine Uhr. »Ich vernehme Sie jetzt seit einer Viertelstunde, und Sie haben mich noch nicht gefragt, wieso, Sie haben mich nicht nach dem Grund meines Kommens gefragt. Ich finde das doch recht merkwürdig, Sie„ nicht?« Ihre Antwort kam sofort, ohne Zögern. »Ich brauchte gar nicht zu fragen. Weil das Baby der Devenishs vermißt wird, weil Sanchia vermißt wird.« »Aber woher wußten Sie das?« »Es stand doch in der Zeitung, es kam im Fernsehen.« »Nein, da irren Sie sich. Übrigens - woher wissen Sie eigentlich, daß sie Sanchia heißt, wenn Sie seit sieben Jahren keinen Kontakt mit Mrs. Devenish hatten?« Der Muskel an ihrem Auge begann wieder zu zucken. Sie schloß kurz die Augen, öffnete sie wieder und sah Wexford direkt ins Gesicht. Auf eine Art, dachte er, wie einen im gewöhnlichen gesellschaftlichen Umgang niemand ansieht. »Nun, Miss Andrews?« »Fay hat es mir natürlich gesagt. Sie rief mich an und sagte es mir.« »Sie stehen also doch miteinander in Verbindung, obwohl Sie eben etwas anderes behauptet haben?« Jane Andrews verkrampfte die Hände im Schoß. »Stephen weiß nicht, daß wir miteinander telefonieren. Früher hat sie mir immer alles erzählt. Das war Stephen absolut zuwider. Er redete ihr ein, ich sei lesbisch und - und hätte es auf sie abgesehen. Es wäre ja zum Lachen, wenn es nicht so dumm und falsch wäre. Ich war verheiratet, ich war sogar zweimal verheiratet. Hätte ich das wohl getan, wenn ich lesbisch wäre?« Während des ganzen Gesprächs war sie nicht so lebhaft gewesen wie jetzt. Ihr bleiches Gesicht hatte plötzlich Farbe be 170 kommen, und ihre Augen waren so hell, daß es aussah, als stünden Tränen darin. Auf dem Nachhauseweg machte Wexford kurz in der Ploughman's Lane halt. Das Haus, in dem Sylvia gewohnt hatte, bevor sie mit Neil und den Jungen richtig hinaus aufs Land gezogen war, lag drei Häuser weiter von Woodland Lodge, falls dieser Ausdruck überhaupt auf ein Viertel paßte, in dem die einzelnen Grundstücke etwa knapp fünfzig Meter voneinander entfernt lagen. Ihm hatte das behagliche, bescheidene Haus, eins der kleinsten in der Gegend, schon immer gefallen, mit seinen quaderförmigen Bausteinen, den
funktionalen Giebeln und dem schlichten Garten mit den wohlbedacht plazierten Bäumen. Die Leute, die es gekauft hatten, hatten eine Doppelgarage und eine verglaste Veranda anbauen lassen. Das Bauplanungsamt hatte es wohl genehmigt, vermutete er und dachte wehmütig an die frühere Schlichtheit und Großzügigkeit. Die Schönheit der Bäume hier oben hätte man nur durch Abholzen zerstören können - der Blutbuchen, deren Rotgold im Mai am schönsten erstrahlte, der blühenden Roßkastanien und der Eichen, bei denen die gelbgrünen Blätter gerade sprossen. Laburnum House hatte das Anwesen damals geheißen und den Namen anscheinend behalten. Der Goldregen, nach dem es benannt war, war noch voller Knospen, die gelben Blüten würden sich in ein paar Tagen zeigen. Er hatte Goldregen nie leiden können, seit sie die dreijährige Sylvia schnell ins Krankenhaus hatten bringen müssen, nachdem sie im Garten ihrer Großmutter eine heruntergefallene Samenkapsel gegessen hatte. Da kam ihm ein merkwürdiger Gedanke: Als Eltern waren sie damals gleich von Anfang an über das Wohl und Wehe ihres Kindes informiert worden. Innerhalb von Minuten hatten er und Dora erfahren, daß man Sylvias Magen ausgepumpt hatte, daß es ihr gutging, daß sie bald über dem Berg wäre. Die Devenishs wußten nichts über den Verbleib ihrer Tochter, ihr Wohlergehen, ihren seelischen Zustand, ja nicht einmal, ob sie überhaupt noch am Leben war. 171 In Woodland Lodge machte ihm Edward, der ältere Junge, auf. Ohne Wexfords Frage abzuwarten, sagte er: »Meine Mutter schläft, und mein Vater ist im Garten.« »Dann gehe ich hinten herum, ich finde deinen Dad schon.« Während er über den schmalen Weg ging, der hinters Haus führte, überlegte Wexford, weshalb ein zwölfjähriger Junge so förmlich von seinen Eltern sprach, statt seine eigenen, zärtlicheren Kosenamen zu verwenden. Wie kam man eigentlich zu so einem Rasen? Der hier sah aus wie grüner, kurzrasierter Filz. Stephen Devenish stand mittendrin und war gerade dabei, die Grasnarbe um ein großes Rosenbeet herum mit einer Gartenschere zu stutzen. Heute schössen ihm wirklich seltsame Gedanken durch den Kopf, überlegte Wexford, während er auf ihn zuging, Spekulationen, nie dagewesene Vorstellungen. Wieso um alles in der Welt bekam er zum Beispiel plötzlich das Gefühl, er wäre Devenish lieber begegnet, ohne daß dieser mit einem gefährlichen Gerät bewaffnet war? Der Mann war doch charmant,
freundlich, höflich, geduldig und gesittet, oder etwa nicht? Nicht immer. Nicht, wenn er über Jane Andrews redete. Als könnte er Wexfords Gedanken lesen, kam er sofort auf sie zu sprechen, während er die bedrohliche Waffe ins Gras legte. »Ich fürchte, ich war in meiner Ausdrucksweise ein bißchen grob, als ich letzthin mit Ihnen über Miss Andrews sprach.« Er lächelte sein allgegenwärtiges, selbst unter widrigsten Umständen verfügbares Lächeln. »Sie hat es ja nur gut gemeint. Aber kein Mann sieht es gern, wenn sich eine Fremde zwischen ihn und seine Frau stellt, oder? Eine Intervenientin, nennt man es nicht so?« »Wenn es um Scheidungsfälle geht, Mr. Devenish«, erwiderte Wexford. »Es ist die weibliche Entsprechung von Ko-Re-spondent.« »Tatsächlich?« »Und was Fremde betrifft, wie Sie es nennen - die meisten Frauen haben Freundinnen, abgesehen von den Ehepaaren, die sie und ihre Partner als Freunde bezeichnen.« 172 »Wir nicht«, versetzte Devenish. »Wir haben uns beide. Wir brauchen sonst niemanden. Kommen Sie doch ins Haus.« Wexford folgte ihm. Sie gingen durch die hintere Tür in eine Art Wirtschaftsraum und von dort in eine große, gut ausgestattete, pieksaubere Küche. In der Eß- oder Frühstücksecke war für vier Personen zum Abendessen gedeckt, mit weißem Tischtuch statt der einfachen Platzdeckchen, Silberbesteck statt Messern und Gabeln mit Horngriff und mit Blumen in einer Vase. Wieder mußte er denken, wie merkwürdig es doch war, daß Fay Devenish dies alles ohne Hilfe bewerkstelligte und dazu anscheinend auch dann noch in der Lage war, wenn ihr Töchterchen vermißt wurde und sie selbst aufgewühlt und verzweifelt war und ihr Arzt ihr offensichtlich etwas zur Beruhigung gegeben und Ruhe verordnet hatte. Er wollte gerade etwas in diesem Sinne sagen, nämlich daß er ehrlich gesagt beunruhigt war, daß er gewissermaßen im dunkeln tappte, verwirrt und etwas ratlos war. Niemand wäre in dieses Haus gelangt, ohne einzubrechen, andererseits hätte aber auch niemand eine Leiter mitbringen können. Am wesentlichsten war, daß kein Fremder Sanchia hätte mitnehmen können, ohne daß die Kleine geschrien und dadurch ihre Eltern geweckt hätte. Er wollte es sagen, er war drauf und dran, es zu sagen, als Stephen Devenish plötzlich völlig unerwartet in bittere Tränen ausbrach. Er warf die Arme über den ordentlich gedeckten Tisch, ließ den Kopf sinken und fing an zu schluchzen.
Er zitterte unter Schluchzern, seine Schultern hoben und senkten sich, und seine Hände verkrampften sich ineinander. Überrascht und völlig sprachlos setzte Wexford sich ihm gegenüber hin und wartete geduldig ab. Er hätte nichts tun können, er wußte ja kaum, weshalb er überhaupt gekommen war. Vielleicht nur um diesen Mann wiederzusehen, dieses Haus wiederzusehen. Er sah sich um, betrachtete eingehend seine Umgebung. Dichtgedrängt auf den Arbeitsflächen standen Küchengeräte wie Dampfkochtopf, Reistopf und Pastamaschine. Ein Messerblock aus dunklem Hartholz enthielt 173 sieben oder acht Messer mit Horngriff. An den Wänden hingen blauweiße Porzellanteller von Royal Kopenhagen und etliche Delfter Kacheln, ein Kalender mit Ansichten vom Schottischen Hochland und eine Kuckucksuhr. Als er kürzlich hier im Haus gewesen war, hatte er sie leise in der Ferne schlagen hören. Nun sprang plötzlich ein buntbemalter Kuckuck heraus und schlug schnabelklappend sechsmal an. Beim vierten »Kuckuck« hob Stephen Devenish den Kopf. Er hatte die ganze Zeit mit den Fäusten auf den Tisch getrommelt und dabei das Pfefferfäßchen und die Blumenvase umgestoßen. Eins der Gläser fiel um und rollte auf den Boden. Wexford stand auf und füllte ein anderes mit Leitungswasser. Ruhig sagte er: »Hier, trinken Sie das« und fragte sich, wieso er es nicht über sich brachte, dem Mann die Hand auf die Schulter zu legen, wieso sein Widerwille, Devenish zu berühren, fast an Abscheu grenzte. »Ich bin ein Idiot.« Devenish richtete sich auf und nahm das Wasser. »Es hat mich überkommen. Ich muß immer wieder denken, ich sehe sie nie wieder, sie ist tot.« Sein Gesicht war trocken. Er hatte geweint, ohne Tränen zu vergießen. »Ich werde sie auf dieser Welt nie wiedersehen, das sind die Worte, die mir ständig im Kopf herumgehen.« »Man darf im Leben die Hoffnung nie aufgeben.« Die abgedroschene Redensart kam Wexford sonst eigentlich nie über die Lippen. »Ja, aber ist es das Leben? Ist es nicht wahrscheinlich eher der Tod?« Zitternd holte Devenish Luft. »Tut mir leid, daß ich die Fassung verloren habe. Wissen Sie, ich liebe mein kleines Mädchen. Ich will sie großwerden sehen.« Wexford blieb danach nicht mehr lange. Beim Verlassen der Küche kam ihm ein völlig widersinniger Gedanke: Als erstes, gleich nach dem Aufwachen, würde Fay Devenish - wie es von ihr erwartet wurde? - das zerknitterte, von Fingerabdrücken verunstaltete Tischtuch glattstreichen und den Tisch neu decken.
174 Er war zwar schon so oft spät nach Hause gekommen, daß Dora ihm keine Vorwürfe mehr machte und nicht einmal etwas sagte, doch er rechnete mit einer mißbilligenden Äußerung seiner älteren Tochter. Sylvia hatte auf dem Heimweg von ihrer Arbeit im Sozialamt von Kingsmarkham beschlossen, ihrer Mutter einen Besuch abzustatten, und nun saßen die beiden nebeneinander auf dem Sofa und tranken Wein. Doch anstatt ihm Vorhaltungen zu machen, schien ihr sehr daran gelegen, sich zu verteidigen. »Ich muß fahren, Dad, ich trinke also ganz bestimmt nur ein Glas.« Lächelnd erwiderte er: »Mein Liebes, ich kann mir nicht vorstellen, daß du absichtlich das Gesetz übertreten würdest.« Sie errötete erfreut. »Wirklich? Das ist lieb von dir.« »Wenn du kurz Zeit hast, würde ich dich gern etwas fragen, was vielleicht in den Bereich Kinderpsychologie fällt.« Dora sprang auf. »Ich mache dir nur schnell dein Abendessen in der Mikrowelle heiß, Reg.« »Nein, laß doch. Das mache ich gleich.« Er verspürte plötzlich Abneigung gegen die Vorstellung, sich von ihr bedienen zu lassen. »Setz dich«, sagte er. »Bleib hier.« Sylvia trank ihren Wein aus und stellte das Glas hin. »Ich bin keine Psychologin, Dad, ob für Kinder oder sonst was, obwohl ich sagen muß, daß man mich ständig für eine hält. Ich habe nur während des Studiums ein Seminar belegt.« »Das genügt völlig«, sagte ihr Vater. »Darwin sagte - hoffentlich kriege ich das jetzt richtig hin -: >Der Mensch verspürt instinktiv die Neigung zum Sprechen, wie wir am Gebrabbel unserer Kinder feststellen können; wohingegen kein Kind die Neigung verspürt, zu backen, zu brauen oder zu schreiben.« Jetzt sag mir mal, in welchem Alter du bei einem Kind erwarten würdest, daß es mit Sprechen anfängt.« Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung - mit anderthalb oder mit zwei? Wenn du damit richtige Wörter und Sätze meinst. Robin war schon über zwei, aber Ben hat schon gesprochen, lange bevor er zwei war. Wahrscheinlich weil sein Bruder dauernd mit ihm geredet hat.« 174 »Du hast sehr früh sprechen gelernt, Sylvia«, schaltete sich Dora ein. »Mit anderthalb konntest du schon alles sagen. Sheila war später dran.«
»Komisch, wie eine Mutter sich so was merkt. Ich nicht, mir ist es vollkommen entfallen. Was meinst du, was sind die Gründe, wenn ein Kind mit zweidreiviertel Jahren kaum spricht?« »Zweidieiviertel. Dann ist es ja fast drei.« Sylvia musterte ihn ungläubig. »Eine Hirnschädigung schließen wir aber aus, nicht?« »O ja, ganz bestimmt.« »Dann ist es vielleicht taub. Das ist durchaus möglich, aber mit zweidreiviertel hätte man so etwas heutzutage doch untersucht und herausgefunden. Es könnte natürlich auch eine emotionale Störung vorliegen. Tasneem Fowler bei uns in The Hide sagte mir, als ihr jüngerer Sohn auf die Welt kam, hörte der ältere zwei Monate auf zu sprechen.« »Vorher hat er aber gesprochen, oder?« vermutete Wexford. »Er war eifersüchtig auf den Neuankömmling, und das hat seine Sprechfähigkeit behindert.« »Wahrscheinlich. Du denkst da bestimmt an einen speziellen Fall, Dad. Aus was für einem Umfeld kommt das Kind denn?« »Mittelschicht, sagen wir, obere Mittelschicht, jede Menge Geld, schönes Zuhause, und das ist noch untertrieben, leibliche Eltern, leben zusammen, offensichtlich harmonisch, zwei ältere Brüder. Ich würde sagen, ein sehr geliebtes, sehr erwünschtes Kind.« »Das ist mir schleierhaft«, sagte Sylvia. »Irgendwo habe ich gelesen, daß Einstein erst mit drei angefangen hat zu sprechen«, meinte Dora. »Mutter, was um alles in der Welt soll das denn jetzt beweisen?« Als Sylvia gegangen war, sah er sich die Neun-Uhr-Nachrichten an und dann eine Sendung über eine neue Art von Umweltaktivisten, sogenannte Ökokrieger. Ein paar dieser 175 Leute hatten im Rahmen ihres erbitterten Kampfes gegen Genmanipulation auf einem Feld in Shropshire den Weizen ausgerissen und in Somerset einen Obstgarten vergiftet. Der Weizen war genetisch behandelt, um noch lockerluftigeres Brot zu bekommen, und die Äpfel waren rotbackiger als gewöhnlich und hatten kein Gehäuse. Als er gerade einen Querschnitt durch so einen gehäuselosen Apfel betrachtete, kam Dora herein und sagte, sie wolle morgen die Wintersachen in die Reinigung bringen und könne seinen Regenmantel nirgends finden. »Ach Gott«, sagte er, »den habe ich einem gewissen Dixon geliehen, damit er ihn sich über den Kopf zieht und sich als Kinderschänder ausgibt.«
Dora warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. »Dann hol ihn dir wieder. Den solltest du nicht verlieren, es ist ein Bur-berry.« Sie schaltete den Fernseher aus, und sie gingen zu Bett. Er hatte oft interessante Träume, aber selten Alpträume. Dieser Traum, der sich unverzüglich einstellte, versetzte ihn und Dora um viele Jahre in die Vergangenheit zurück, als sie noch jung und ihre Kinder noch sehr klein waren. Er saß bei Dora und sah bewundernd zu, wie sie ihr langes, dunkles Haar bürstete - eigentlich ein ganz gewöhnliches romantisches Klischee -, als sie sich plötzlich an ihn wandte, um ihm gelassen mitzuteilen, ihr Baby Sheila sei verschwunden, sei aus ihrem Bettchen gestohlen worden. Als sie in ihr Zimmer gekommen sei, habe sie das Bettchen leer vorgefunden. Sein Kummer und seine Verzweiflung waren grenzenlos gewesen. Er war durchs Haus gelaufen und hatte nach Sheila gerufen, hatte sie angefleht, doch zurückzukommen, war auf die Straße gerannt, hatte die ganze Stadt, die ganze Welt, aufgeweckt. Und dann kam im Traum wie so oft ein Szenenwechsel, und er befand sich plötzlich in einem Fernsehstudio, wo er von einem dämonischen Kerl - verkörpert von Peter Cushing - interviewt wurde. Er bat ihn inständig, den Entführern eine Nachricht zukommen zu lassen mit dem Angebot, 176 Sheila freizukaufen. Der Preis - und das war das Schlimmste, das absolut Schrecklichste, Beschämendste - war seine ältere Tochter Sylvia. Nehmt sie, hörte er sich sagen, und gebt mir Sheila wieder. Dann wachte er schweißgebadet und zitternd auf. Um Mitternacht stieg Lynn Fancourt, die abends mit ihrem Freund im Kino gewesen und danach im Rat &. Carrot noch etwas getrunken hatte, in ein Auto ein, das am nördlichen Ende der York Street für sie angehalten hatte. Eigentlich hatte es an der roten Ampel angehalten. Lynn tippte an die Scheibe auf der Beifahrerseite und fragte, ob sie mitfahren könne. Am Steuer saß eine Frau, die ein sehr junger Mensch als mittelalt bezeichnet hätte, und der Beifahrer war ein etwa dreißigjähriger Mann. Sie seien unterwegs nach Myringham, sagte der Mann, könnten sie aber gern in Framhurst absetzen, wenn sie das wolle. Im Lauf des Gesprächs merkte Lynn bald, daß etwas Merkwürdiges vor sich ging, aber nicht das Merkwürdige, dem sie auf der Spur war. Als der Mann den Vorschlag machte, auf dem Rastplatz an der alten Umgehungsstraße zehn Minuten haltzumachen, dachte sie schon, es ginge um Drogen, und war sich nicht sicher, wie sie reagieren sollte, falls illegale Substanzen zum Vorschein
kamen. Sollte sie sie wegen unerlaubten Drogenbesitzes festnehmen? Von ihrem Mobiltelefon aus auf dem Revier anrufen? Doch sie irrte sich. Der Wagen hielt an, und die beiden kamen zu ihr auf den Rücksitz, offensichtlich mit amourösen Absichten. Auf Lynns Abwehrtaktik hin meinte die Frau, sie habe vollstes Verständnis, am besten sollten sie wohl direkt nach Hause fahren, wo sie es sich für ihren flotten Dreier etwas bequemer machen könnten. Lynn begriff, daß sie sie für eine Prostituierte gehalten hatten, ein neues, aber durchaus nicht unbekanntes Phänomen in Kingsmarkham. Sie hatte es ganz und gar sich selbst zuzuschreiben: ans Autofenster tippen, noch dazu bei Rotlicht - es entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Die Leute waren 177 eigentlich ganz nett, freundlich und locker, und als Lynn sagte, sie hätte es sich inzwischen anders überlegt, fuhren sie sie trotzdem bis nach Framhurst und gaben ihr ihre Telefonnummer, falls sie es sich noch mal überlegen wollte. Seit über einem Jahr hatte Wexford nun schon nicht mehr die Lokalzeitung abonniert. Mit Brian St. Georges Berichterstattung über die Geiselaffäre anläßlich des Baus der Umgehungsstraße hatte ihm der Kingsmarkham Courier mehr Ärger bereitet, als jemand seiner Meinung nach am Frühstückstisch erleiden sollte. Um sich Derartiges künftig zu ersparen, hatte er die Zeitung abbestellt. Weder die Times noch der Independent könnte ihn je so in Rage versetzen, und so hielt er sich an sie. Doch seit seinem erleichterten Verzicht auf den Courier hatte sein Zeitungsverkäufer einige neue Zeitungsjungen eingestellt, die größtenteils nichts taugten. Wenn es regnete, ließen sie die Zeitungen naß werden, und wenn einmal nicht die richtige oben auf dem Stapel lag, lieferten sie aus, was ihnen gerade in die Finger kam, ob es nun eine Boulevardzeitung war oder die Financial Times. Alles andere als das, was er mit der Schrift nach oben auf seiner Türmatte liegen sah, hätte Wexford liebend gern akzeptiert. Unter dem Adler mit der Schriftrolle im Schnabel, auf der in Frakturschrift der Name des Courier prangte, sprang ihm die Titelgeschichte ins Auge. Er schloß die Augen, mußte sie aber notgedrungen wieder aufmachen. »WO IST SANCHIA?« fragte die Schlagzeile in den größten römischen Lettern, die die Drucker des Courier zur Verfügung hatten, und darunter kaum weniger verwegen und riesig: »ORBE FINDET UNTERSCHLUPF BEI DER POLIZEI«. Was in der darunter abgedruckten Story stand, konnte er sich denken, noch bevor er sie las. Die Quintessenz war ihm in dem Moment eingefallen, als er
die Schlagzeilen gesehen hatte: Ein kleines Mädchen war verschwunden, diese Meldung wurde geheimgehalten, und während man Orbe hatte verschwinden lassen - es war eine großangelegte Verdunk 178 lungsaktion im Gange. St. Georges Kommentar - der als Verfasser zeichnete hatte er allerdings nicht vorausgesehen: Thomas Henry Orbe war gegenwärtig auf dem Polizeirevier von Kingsmarkham in einer frisch renovierten, »mit allen Annehmlichkeiten ausgestatteten« Zelle untergebracht. Zwei Fotos waren in den Text eingegliedert, das klassische, das Orbe bei seiner Freilassung aus dem Gefängnis zeigte und inzwischen überall zu sehen war, und ein Porträtfoto von Sanchia Devenish, das er noch nie gesehen hatte. Offensichtlich war es aufgenommen worden, als sie etwa ein halbes Jahr alt war, denn es zeigte ein Baby, dessen runder, beinahe haarloser Kopf auf einem spitzenbesetzten Kissen ruhte. Ein verschwommenes, vermutlich stark vergrößertes Bild. In der Ecke war eine Erwachsenenhand zu sehen - die von Fay Devenish? -, dazu das Seitenteil eines Kinderwagens oder Sportwägelchens. Wie ein verstimmter Bär vor sich hin knurrend, nahm Wexford die Zeitung mit in die Küche und setzte Teewasser auf. Instinktiv - wie heutzutage den meisten Menschen, wenn sie erstaunt, erfreut, schockiert oder entsetzt sind kam ihm der Gedanke, jemanden anzurufen. Aber wen? Southby natürlich. Zum zukünftigen stellvertretenden Chief Constable hielt er so wenig Kontakt wie möglich. Superintendent Rogers? Den wachhabenden Sergeant auf dem Revier? Als er Dora den Tee nach oben gebracht und bemerkt hatte, es regne schon wieder, das Thema seines verschollenen Regenmantels aber nicht mehr erwähnt hatte, kam er schließlich auf den altbewährten Bürden zurück. »Ich hab's gesehen«, sagte Bürden. »Ich dachte, Sie hätten das Käseblättchen abbestellt.« »Habe ich auch. Sie haben wieder mal die falschen Zeitungen geliefert.« »Dann geht's Ihnen wie mir. St. George muß gesehen haben, wie Wendy Brodrick mit Orbe hereinfuhr. Sicher ist er draußen herumgestrichen oder hat in einem geparkten Wagen gelauert. Sie waren bloß fünf Minuten da.« 178 »Lange genug. Wo hat er das Bild von Sanchia aufgetrieben?« »Weiß der Himmel. Für uns konnten diese Devenishs kein Foto erübrigen, aber St. George kriegt eins. Nicht, daß es uns interessiert hätte, ein Kind mit einem halben Jahr sieht völlig anders aus als mit zweidreiviertel Jahren. Mit
dem Foto, das St. George hat, findet man Sanchia genausowenig, wie wenn man eins von Ihnen oder von mir abdrucken würde.« Nachdenklich meinte Bürden: »Vielleicht haben die Devenishs es ihm ja gar nicht gegeben. Sie wissen doch, daß sie beim Courier diese Wettbewerbe veranstalten, angeblich zu wohltätigen Zwecken - wer ist der Kerl mit den größten Füßen, ein schauderhaftes Frettchenrennen oder die MissKingsmarkham-Wahl, bis die Feministinnen der Sache Einhalt geboten... Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob Sanchia vielleicht mal in einer Baby-Show war und gewonnen hat und sie deswegen das Bild von ihr gemacht haben. Sie war doch ein hübsches Baby, nicht?« Diese für Bürden recht untypischen Worte berührten Wexford so tief, daß sein Ärger sofort verflog. Daß Bürden die Vergangenheitsform verwendet hatte, versetzte ihm einen schmerzhaften Stich, der ihn verstummen ließ. Die arme Kleine, dachte er, bitten wir Gott oder die Schicksalgöttin oder die Furien, daß derjenige, der sie mitgenommen hat, gut zu ihr ist. »Sind Sie noch dran?« fragte Bürden. »Ja.« Wexford räusperte sich. »Die Devenishs sind aber doch keine Leute, die ihre Tochter in einer Baby-Show auftreten lassen würden, oder?« »Was weiß ich, was für Leute es sind. Mich dürfen Sie nicht fragen, fragen Sie lieber St. George.« »Das habe ich auch vor«, sagte Wexford und fügte dann mit untypischer Schadenfreude hinzu: »Ich überlege mir schon noch eine Strafe für ihn.« 179
13
Diesmal begann der Ärger nicht weit von den Häusern von Trevor Ferry und Rosemary Holmes in der Rectangle Road in Stowerton, wo Joe Hebdens Bruder mit seiner Freundin, deren zwei Kindern und seinen beiden eigenen wohnte. David Heb-den war der Fahrer des Lieferwagens, der die aktuelle Ausgabe des Courier druckfrisch an alle Zeitungshändler in Kingsmarkham, Stowerton und Pomfret auslieferte, und seine Runde begann um sechs Uhr morgens. Des Lesens nicht mächtig, war er jedoch in der Lage, die Überschriften auf den Sportseiten zu entziffern. Was an diesem regennassen Morgen im Courier seine Aufmerksamkeit auf sich zog, war einer der wenigen Namen, die er lesen konnte, zufällig derselbe, auf den die jüngste Tochter seiner Freundin getauft war. David Hebden war der kleinen Sanchia sehr zugetan. Obwohl sie nicht von ihm stammte, mochte er sie lieber als seine eigenen Kinder, die, wie er fand, zwischen ihm und seiner Exfrau standen. Eine angstvolle halbe Stunde lang
dachte er schon, ihr sei etwas Schreckliches zugestoßen. Wieso sollte ihr Name sonst in der Zeitung stehen? Da er es nach Möglichkeit vermied, andere Leute zu bitten, ihm vorzulesen, sagte er gegenüber dem Zeitungshändler nichts davon und wurde nur jedes Mal aufgeregter und frustrierter, wenn sein Blick auf den geliebten, in schrecklich großen Buchstaben gedruckten Namen fiel. Als er nach Hause kam, schliefen noch alle. Er lief schnell nach oben, um nach Sanchia zu sehen, fand sie neben ihrer Mutter im Bett, in das sie nach seinem Weggehen gekrochen sein mußte, und weckte mit seinen Freudenjuchzern das ganze Haus. Sanchias Mutter Katrina nahm ihm die Zeitung ab und las 180 die Geschichte vor. Nach einer Weile kamen auch die anderen Kinder und setzten sich aufs Bett, weil sie in der Unterbrechung der Routine eine willkommene Abwechslung sahen. »Die Polizei sollte sich was schämen«, sagte Katrina. »Da wird das kleine Ding seit Montag vermißt, und was machen die? Nicht etwa nach ihr suchen oder vielmehr nach ihrer Leiche, o nein, die machen aus dem Polizeirevier ein Hotel mit allen Annehmlichkeiten, damit es der Pädophile auch recht bequem hat.« »Mum, was ist ein Pädophiler?« wollte die sechsjährige Georgina wissen. »Wer lang fragt, geht lang irr. Ich ruf jetzt gleich Joe und Charlene an, Dave. Oder mach du das, es ist deine Pflicht, die haben ein Recht drauf, es zu erfahren.« Seit Orbes Abgang aus dem Muriel Campden Estate hatten sich die Aufregung und der Zorn zum größten Teil gelegt. Ein anderes Ereignis hatte die Gemüter der Bewohner von Puck, Ariel und Oberon Road erhitzt: Colin Crownes tätlicher Angriff auf Jodi, das virtuelle Baby, und dessen nachfolgende Zerstörung. Zugetragen hatte es sich einen Tag bevor Lizzie Cromwell Jodi dem Jugendamt hätte zurückgeben sollen. Nach ihrem Kampf mit Brenda Bosworth und nachdem alle außer Miroslav selbst die Tatsache anerkannt hatten, daß er der Kindsvater war, hatte Lizzie offensichtlich das Interesse an Jodi verloren. Dem Pflegen, Füttern und Wickeln, dem Schlafenlegen und wieder Hochnehmen und dem ständigen Geknuddel war rasch die totale Gleichgültigkeit gefolgt, und Jodi - um den sich zum erstenmal in seinem kurzen Leben niemand kümmerte, denn er war als Neugeborener zu ihr gekommen -, fing an zu schreien. Er schrie und
schluchzte und heulte, und als der Schreimechanismus abgelaufen war, spulte sein Tonband zurück, und er fing von vorn an. »Du kannst ihn doch nicht einfach weglegen«, schimpfte Debbie. 181 Colin sagte gar nichts. Er unternahm auch nicht den Versuch, Jodi ruhigzustellen, indem er seine Batterien herausnahm oder ihn mit etwas zudeckte. Um neun Uhr abends, nachdem der Roboter geschlagene sechs Stunden geschrien hatte, packte er ihn an den Beinen und knallte ihn gegen die Badezimmerwand. Jodis Gliedmaßen, sein Mechanismus und sein hübsches, feingearbeitetes Köpfchen fielen in Einzelteilen in die Badewanne, wo Colin noch zusätzlich auf ihnen herumtrampelte. Lizzie war es egal, sie fand die ganze Sache langweilig, mußte es aber der Sozialarbeiterin erklären. Colin war an dem Tag nicht zu Hause, weil er sich im Jobcenter arbeitslos melden mußte. Die Sozialarbeiterin meinte, so etwas sei ihr ja noch nie untergekommen und was für eine Mutter Lizzie wohl abgeben würde, wenn sie erst einmal ein richtiges Baby hatte? Natürlich müßten sie oder ihre Mutter oder ihr Stiefvater für einen Ersatz von Jodi aufkommen und ob ihr überhaupt klar sei, wieviel so ein virtuelles Baby kostete? Colin kam nach Hause und sagte, nur über seine Leiche würden sie ihn dazu bringen, dafür zu zahlen, daß er so eine blöde Scheißpuppe kaupttgemacht hatte, und Debbie meinte, sie würde es aus Prinzip auch nicht tun. Das mit der Leiche sei übrigens kein Witz, meinte Colin, denn bei ihm sei bereits ein Ausschlag ausgebrochen, rings um die Taille herum und bis über den Hintern hinunter. Keiner hätte eine Ahnung, was für einen Streß er mit dem Unding im Haus durchgemacht habe, weiß Gott, wie es mit einem echten Baby wäre. Die Nachricht von diesem ungerechtfertigten Anspruch des Jugendamts von Kingsmarkham breitete sich im Muriel Campden Estate wie ein Lauffeuer aus. Fast alle schlugen sich auf die Seite der Crowne-Cromwells, mit Ausnahme von Monty Smith, Maria Michaels und den Mitchells. Monty Smith, dessen Strafe auf Bewährung ausgesetzt worden war und der eine unbeschreiblich große (von Maria geliehene) Summe berappen mußte, weil er Sergeant Fitch einen Faustschlag versetzt hatte, war der Ansicht, wenn er mit einer un 181 gerechten Geldstrafe belegt wurde, wieso sollten andere dann ungeschoren davonkommen? »Wie baut man eine Benzinbombe?« hatte Colin Crowne am Vorabend im Rat & Carrot von Joe Hebden wissen wollen.
»Was? Du hast sie wohl nicht alle!« »Nein, ich hab's im Fernsehen gesehen. Irgendwo in Algerien oder im Irak, irgendwo da unten haben sie Benzinbomben auf die Regierung geschmissen. Und da dachte ich mir, das sollte man hier mal bei der Stadtverwaltung machen, da würden die aber aufwachen.« Ein Mann, den keiner kannte, sagte: »Man füllt Benzin in eine Flasche, zum Beispiel eine Milchflasche.« »Wir kriegen aber keine Milchflaschen mehr«, wandte Colin ein. »Stimmt. Es geht aber mit jeder Flasche, Hauptsache, sie ist nicht aus Plastik. Man füllt sie und stopft oben einen Lappen rein. Dann tränkt man den Lappen mit Paraffin, egal ob rosa oder blaues, und hält ein Streichholz dran und schmeißt sie weg. Man muß sie aber gleich wegschmeißen und nicht noch lang rummachen, sonst fängt man Feuer. Die Mühe braucht ihr euch aber nicht zu machen. Wenn ihr eine wollt, kann ich euch eine besorgen. Für die Dinger gibt's einen Markt.« »Das war bloß ein Witz«, sagte Joe. Der Mann lachte nur und sagte, er würde ihnen eine Runde ausgeben und ihnen dann gern etwas zeigen wollen. Joes Frau Charlene wurde von ihrem Schwager am nächsten Morgen um halb acht angerufen. Daß das Kind immer noch vermißt wurde, interessierte sie nicht sonderlich. Das wußte sie, alle im Muriel Campden Estate wußten es im Gegensatz zu den Medien. Aber Orbe auf dem Polizeirevier von Kingsmarkham versteckt! Und auch noch luxuriös untergebracht! Charlene behauptete immer gern, die Welt sei unterteilt in die, die etwas tun, und die, die nichts tun, und sie gehöre zu denen, die etwas tun. Sie zog sich an, schnappte sich einen Regenschirm und trat aufs Dreieck hinaus, um an sämtliche Türen zu klopfen. 182 Es gibt dicke Männer, die fest und kompakt sind wie Carl Meeks, breitschultrig und mit Trommelbauch, straff wie in ein Korsett geschnürt, wenn es auch wenig nützt, und dann gibt es dicke Männer, deren Fettleibigkeit zu fließen oder wie in einer dünnen Hülle herumzuwabbeln scheint, so daß der kleinste Nadelstich genügen würde, um sie in einen zusammengefallenen Ballon zu verwandeln. Brian St. George, Chefredakteur des Kingsmarkham Courier, gehörte zur letztgenannten Sorte, und gegenwärtig ergoß sich seine fließende Körperlichkeit über die Armlehne von Wexfords Sessel und versank wie eine Flutwelle am Rand des Schreibtischs. Sein Hemd hätte eigentlich weiß sein sollen, sah jedoch wie immer aus, als wäre es mit
einer schwarzen Jeans und einem roten T-Shirt gewaschen worden. Falls er eine Krawatte dabeihatte, steckte sie wahrscheinlich in seiner Tasche. Seit er kahl geworden war, hatte er sein Resthaar ganz lang wachsen lassen, so daß sein Kopf, wenn man ihn - wie Wexford momentan - von oben betrachtete, wie ein riesiges weißes Gänseblümchen mit einer rosiggelben Mitte aussah. Brian St. George war ins Polizeirevier gebeten worden und der Aufforderung auch nachgekommen, weil ihm die Vorstellung, der Chief Inspector könne ihn in den Räumen des Courier aufsuchen, doch nicht recht behagte, hatte sich in diesen Sessel gesetzt und wurde nun in die Mangel genommen. Er verteidigte sich wacker und wortreich, teils weinerlich, teils aggressiv, und beteuerte immer wieder, er sei quasi zum »Improvisieren« gezwungen, da die Polizei von Kingsmarkham ihm ja nie was sagte. »Die Kingsmarkhamer Sechs««, sagte Wexford angewidert. »Das stammt gar nicht von mir«, erwiderte Brian St. George abwiegelnd. »Das ist rachsüchtig, damit wollen Sie mich bestrafen. Sie wissen genau, daß Sie nicht fair zu mir sind, Reg.« »Nennen Sie mich nicht so.« »Oh, ich bitte um Verzeihung. Ich hatte immer gedacht, wir sind hier alles alte Freunde. Sie Reg, ich Brian. Das ist 183 doch völlig übertriebene Förmlichkeit, so wie Sie mich >Mr. St. George« nennen.« »Von mir aus, sagen Sie dazu, wie Sie wollen, aber unter diesem Dach halten wir uns an Förmlichkeit. Wenn Sie dachten, Orbe sei hier, warum haben Sie dann Ihren alten Freund nicht angerufen und nachgefragt? Nein, sparen Sie sich die Antwort. Weil Sie ein Dementi bekommen hätten, und ein Dementi war das letzte, was Sie hören wollten. Denn dann hätten Sie ja keine Story gehabt.« St. George verlagerte seine schlaffe Masse um ein paar Zentimeter. Zwischen zwei Knöpfen an seinem Hemd öffnete sich ein Spalt, und ein kreisrundes Stück haarige, rosafarbene Haut kam zum Vorschein. Wexford versuchte, nicht hinzusehen. Der Chefredakteur des Kingsmarkham Courier holte eine Packung Marlboro hervor, sah sich vergeblich noch einem Aschenbecher um und zündete sich dann trotzdem eine Zigarette an. »Hier ist rauchfreie Zone«, sagte Wexford. »Das war aber noch nie«, protestierte St. George. »Seit wann denn?« »Seit heute früh um neun.« Wexford warf einen Blick auf seine Uhr, die drei Minuten nach neun zeigte. »Kommen Sie schon, machen Sie die Kippe aus.«
Langsam und mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns drückte St. George seine Zigarette aus. »Die Story ist in sämtlichen überregionalen Blättern«, flehte er. »Die Mail hat es als Titelgeschichte aufgemacht.« »Bloß weil Sie es ihnen gesagt haben. Offenbar ist hier den ganzen Abend das Telefon heißgelaufen. Das muß alles dementiert werden. Orbe ist nicht hier. Orbe war haargenau fünf Minuten hier, draußen auf dem Parkplatz in einem Auto. Ich nehme an, Sie haben gesehen, wie er hergefahren wurde.« »Ich bekenne mich schuldig, Euer Ehren.« St. George brachte ein Lausbubenlächeln zustande. »Und gaben Ihr Gedankenkonstrukt an die Medien weiter, 184 aber spät genug, daß sie dem Courier nicht mehr die Schau stehlen konnten.« »Na, was hätten Sie denn an meiner Stelle getan, Reg? O Verzeihung, ich meine Mr. Wexford.« »Mich wie ein verantwortungsvoller Bürger verhalten, aber so was ist Ihnen ja völlig fremd. Jetzt ist es zu spät, um noch etwas zu unternehmen. Wir können nur hoffen, daß dadurch kein Schaden angerichtet wurde. Woher haben Sie das Foto von Sanchia?« »Meine Quellen darf ich nicht offenlegen, das wissen Sie.« »Ich rede nicht von Ihren Quellen, ich rede von einem Foto, das Sie entweder von den Eltern des Kindes bekommen oder irgendwann mal selbst aufgenommen haben.« »Als ihr Vater die große Gehaltserhöhung bekommen hat, so um die Hunderttausend. Wir haben damals eine »Dicker Fisch-Geschichte darüber gebracht. Sie wissen schon: »Wie rechtfertigt Flugtycoon massive Gehaltserhöhung?«« »Und was hat das mit Sanchia zu tun?« »Das Private kommt an, das wissen Sie doch. Trautes Familienleben und so. Zufällig hatte unser Fotograf draußen Mrs. D. mit dem Baby gesehen. Dadurch haben wir ja eigentlich auch erst ihren Vornamen erfahren, als wir das Fotoarchiv durchsahen. Die nannten sie ja alles mögliche, Sasha und Sarah und was weiß ich.« Wexford musterte ihn voller Verachtung. »Wir werden Ihrer Zeitung in Zukunft keinerlei Auskünfte mehr zukommen lassen, egal zu welchem Thema; weisen Sie Ihre Mitarbeiter also an, daß die Reporter, die sonst zweimal wöchentlich zur Pressebesprechung hereinkommen, nicht mehr erwünscht sind.«
Am ganzen Körper wabbelnd, rappelte St. George sich mühsam hoch. »Also, hören Sie mal, das können Sie doch nicht machen. Das ist ja unerhört, ich werde mich an den Chief Constable wenden.« Doras Worte hallten Wexford im Ohr, als St. George sagte: »Das ist ja wie bei der Stasi, wie beim KGB ist das.« 185 »Mir egal, und wenn es wie bei den Taliban ist«, gab Wexford zurück. Jeder weitere Kommentar wurde durch das Geräusch von zerberstendem Glas unterbrochen, das von unten heraufdrang. Es hörte sich an, als wäre in einem der unteren Stockwerke eine Scheibe zertrümmert worden. Wexford trat an sein Fenster und sah hinaus. Er blieb einen Augenblick reglos stehen, dann drehte er sich herum und winkte Brian St. George zu sich herüber. »Kommen Sie her! Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben«, sagte er. Um halb neun wußte die gesamte Bevölkerung von Kingsmarkham und der umliegenden Dörfer, daß ein Kind vermißt wurde und ein berüchtigter Kinderschänder unter Polizeischutz stand. Das Gerücht, Orbe habe Sanchia Devenish getötet, den Mord gestanden und auf dem Polizeirevier in Kingsmarkham Unterschlupf gefunden, um nicht von den rechtschaffenen Eltern vor Ort in Stücke gerissen zu werden, wurde von einer Bewohnerin der Glebe Road in die Welt gesetzt. Sie war selbst Mutter zweier Kinder, von denen das ältere von einem Mann aus Stowerton zu unzüchtigen Handlungen genötigt worden war. Mit ihrer Halbschwester Jackie Flay, Jackies Tochter Kaylee und einem halben Dutzend Nachbarn machte sie sich zu Fuß auf den Weg - es war nicht mehr als eine Viertelmeile - und stieß unterwegs auf eine Abordnung, die von Stowerton herüberkam. In diesem Demonstrationszug trugen alle rasch improvisierte Papierbanner mit der Aufschrift Her mit Orbe oder Rettet unsere Babys. Wenn es nur weitergeregnet hätte, sagte Wexford später, dann hätte die ganze Demonstration verhindert werden können, da viele von diesen Leuten nur ungern naß geworden wären. Doch der Regen hatte sich um Viertel vor acht gelegt und strahlendblauem Himmel, hellem Sonnenschein und kräftigem Nordwestwind Platz gemacht. Die beiden Gruppen trafen sich zufällig draußen vor dem Jobcenter, wo sie eine Zeitlang innehielten, um sich zu sam 185 mein. Auf dem Mäuerchen saßen bereits die Schulschwänzer von der Gesamtschule Kingsmarkham, die üblichen lustlosen Teenager. Sie waren noch gar nicht richtig wach, weil sie von ihren Eltern früh geweckt und zur Schule geschickt worden waren. Da sie fanden, daß in diesem Mistkaff
sowieso nie was passierte, waren sie hocherfreut über die Aufforderung, im Protestzug mitzumarschieren. Als sich gerade wieder alle in Bewegung gesetzt hatten und in die High Street einbogen, hielt der aus Stowerton kommende Bus vor dem Olive and Dove an, und David Hebden stieg aus, zusammen mit Katrina und deren Töchtern Georgina und Sanchia sowie seinen Söhnen Grant und Jason; die Kinder hatten sie aufgrund dieser weitaus wichtigeren Unternehmung gar nicht erst zur Schule geschickt. Nachdem ihr Vorhaben von dem Plakat, das der kleine Grant trug, abgelesen war (vorne zwei händchenhaltende Kinder mit Rettet die Kleinen, hinten Kopf ab für alle Pädos), wurden sie von der Gruppe aus der Glebe Road mit offenen Armen empfangen, und der ganze Trupp, der mittlerweile auf dreißig angewachsen war, marschierte die High Street entlang und an St. Peter's vorbei. So gesittet führten sie sich auf, daß die Constables Lydia Wingate und Leslie Wilson, die gerade auf Streife waren, an der Kingbrook Bridge den Verkehr anhielten, damit sie die Straße überqueren konnten. Inzwischen strömte eine noch größere Menge vom Muriel Campden Estate in die York Street. Aus verschiedenen Gründen wie Schwangerschaft, schlichter Vorsicht, echter Krankheit und Furcht vor der Zahlung weiterer Geldstrafen oder gar Inhaftierung abwesend waren Lizzie Cromwell und ihr Stiefvater, Suzanne Orbe, Sue Ridley sowie Pete McGregor und Monty Smith. Aber Brenda Bosworth marschierte mit Miroslav Zlatic an der Spitze, gefolgt von den Hebdens, den Keenans, Carl und Linda Meeks, Maria Michaels und Shirley Mitchell sowie Tasneem Fowlers Mann Terry mit Kim und Lee. Viele trugen in der Hand etwas, was wie volle Einkaufstaschen aussah, doch war daran an sich nichts besonders 186 Verdächtiges, und als Lydia Wingate sie sah, fiel ihr nicht einmal auf, daß es sich um die Bewohner des Muriel Campden Estate handelte, denen sie am vergangenen Wochenende begegnet war. Vor dem Heaven-Spent-Einkaufszentrum schlossen sie sich dem Protestzug aus Stowerton und der Glebe Road an. Als die Brüder Joe und David Hebden einander sahen, fielen sie sich, vom Gefühl überwältigt, in die Arme, umarmten sich und tatschten sich gegenseitig auf den Rücken - beide hatten sie Mitte Dreißig werden müssen, bis ihnen so etwas einfiel. Diese brüderliche Liebesbezeugung ging den ungefähr fünfzig versammelten Leuten sehr zu Herzen, und sie applaudierten johlend, bevor sie in Richtung Polizeirevier weiterzogen.
Nach der Ankunft der Muriel-Campden-Kohorte war allerdings Schluß mit dem gesitteten Marschieren. Hier zeigte sich der Kontrast zwischen der erschöpften, ermatteten Altstadt und der vitalen, energiegeladenen Neustadt, es war, als hätte die alte eine stimulierende Injektion erhalten, die Feuer in ihre Adern strömen ließ, denn alle begannen beim Weitergehen zu singen erst leise, dann schwollen ihre Stimmen in einem ständigen Crescendo allmählich an. Zur Melodie von »Stand by Your Man« intonierten sie »Steht zu den Kids, und sagt ihnen, daß ihr sie liebhabt...« Wer für die geistreiche Übersetzung von Tammy Wynettes Song verantwortlich zeichnete, wußte anscheinend niemand, später war aber die übereinstimmende Meinung zu hören, es sei Brenda Bosworth gewesen. So schritten sie auf der östlichen High Street voran, ein Trupp von Leuten aller Altersgruppen zwischen zwei und vierzig Jahren, eine Abordnung von Jugendlichen, das Jüngste im Sportwägelchen, der älteste mit Glatze und Bauchansatz, und sangen dabei diesen vielleicht bekanntesten Countrysong, den die meisten aber wohl ziemlich altmodisch fanden. Sie trugen ihre Tasche und Transparente, und die helle Sonne schien auf sie herunter, und der Wind wehte das Haar der Frauen in alle Richtungen. Kurz nach neun kamen sie am Git 187 ter vor dem Polizeirevier von Kingsmarkham an. Das Tor stand offen, der Parkplatz - um die Ecke gerade noch erkennbar - stand voller Autos, und niemand war zu sehen. Der Protestzug zögerte. Carl Meeks sagte später bei der polizeilichen Vernehmung, sie seien etwas überrascht gewesen, niemanden zu sehen. Der leere Platz war unheimlich. Und sogar die große Flügeltür war geschlossen. Wäre jemand herausgekommen, irgendein »verantwortlicher Amtsträger«, dann hätten sie ihm - oder ihr - ihre Sache vortragen können. Dann hätten sie, sagte Carl Meeks, die Beamten ersucht, Orbe woandershin zu bringen, irgendwohin, nur weg von Kingsmarkham. Es war aber niemand herausgekommen. Wenn nicht die Autos auf dem Parkplatz gewesen wären, hätte man meinen können, es war gar niemand im Gebäude. Wer führte sie in den äußeren Hof, wo lediglich ein Streifenwagen und ein nicht gekennzeichnetes Polizeifahrzeug parkten? Wieder wurde die Vermutung geäußert, es sei Brenda Bosworth gewesen, obgleich sich niemand daran erinnern konnte. Eins war jedoch sicher: Sobald sie das Tor passiert hatten, hörten sie auf zu singen. Es wurde still. Shirley Mitchell kam es so vor, als sei die ganze Stadt zum Schweigen gebracht worden, der Verkehr
verstummte, und selbst das Amselmännchen im Ahornbaum auf dem Vorplatz unterbrach sein Lied. Schweigend gingen sie bis auf wenige Meter auf die Treppenstufen und die Flügeltür zu. Dort blieben sie stehen, um die Frau, die sie zu ihrer Sprecherin erkoren hatten, durchzulassen: Brenda Bosworth, die sich untypischerweise etwas weiter hinten in der Menschenmenge befunden hatte und sich jetzt nach vorn arbeiten mußte. Unterdessen öffnete sich im Polizeirevier ein Fenster, und Sergeant Joel Fitch streckte den Kopf heraus. Was er hatte sagen wollen, mit welchen Worten er sie ermahnt hätte, ihnen geraten hätte, doch nach Hause zu gehen oder sich zu zerstreuen, erfuhr man nie, denn bei seinem Anblick brannte bei Maria Michaels die Sicherung durch. Sie erkannte ihn sofort - nicht so sehr als den Urheber von Monty Smiths Unan 188 nehmlichkeiten, sondern als den Grund, daß Monty sich ihre gesamten Ersparnisse bei der Cooperative Bank geliehen hatte, um seine Geldstrafe bezahlen zu können. Sie griff tief in die mitgebrachte Marks & SpencerTasche, holte einen Ziegelstein hervor und schleuderte ihn auf Sergeant Fitch. In ihrer Jugend war Maria bei den County-of-Sussex-Wettkämpfen von 1984 Meisterin im Kugelstoßen geworden und konnte immer noch weiter und besser werfen als die meisten Männer. Zu seinem und ihrem Glück verfehlte sie Fitch, aber nur weil er sich duckte. Der Stein flog durch den linken Fensterflügel, wo sein Kopf gewesen war. Der kurzen, erschrok-kenen Stille folgte lautes Gejohle, und der Sprechchor setzte erneut kräftig ein. »Her mit, her mit Orbe, Orbe, Orbe!« Diesmal erklang die Melodie von »Colonel Bogey« und ließ die Vorübergehenden vor dem Tor draußen innehalten. Vielleicht fühlten sich die Demonstranten durch das Publikum stimuliert, denn dem ersten Ziegelstein folgte ein Hagel von Dosen und Steinen, von denen jedoch nur einer ein Fenster traf und eine Scheibe zertrümmerte. Die übrigen knallten gegen das Mauerwerk oder landeten harmlos in dem Beet mit verblühtem Goldlack am Fuß der Mauer. Sie bewirkten jedoch, daß etwa ein halbes Dutzend Polizeibeamte aus der Flügeltür auf die Menschenmenge zugerannt kamen. Gleichzeitig öffnete Superintendent Rogers die Balkontür in der Mitte der Vorderfront des Gebäudes und trat auf den Balkon hinaus, ein Megaphon in der Hand, zu beiden Seiten einen Beamten. »Her mit Orbe, her mit Orbe, Orbe, Orbe!« Als man das Polizeirevier in den frühen sechziger Jahren entworfen hatte, war der Balkon zu ebendiesem Zweck dort angebracht worden: damit ein
hochrangiger Polizeibeamter dort stehen und eine Abordnung ermahnen, zurechtweisen oder beruhigen konnte. Inzwischen hatte man Witze darüber gemacht, Vergleiche mit Justizpalästen in südamerikanischen Zwergstaaten waren angestellt worden, wo immer mit einer Revolution zu rechnen war. Bis heute war der Balkon 189 nie benutzt worden, und George Rogers hatte sich vom nächstbesten, in diesem Fall Detective Constable Archbold, helfen lassen müssen, um die Balkontür überhaupt aufzubekommen. Als er schließlich hinaustrat, sah er sich einer viel größeren Menge gegenüber als erwartet. Etwa fünfzig Leute waren es, die seine Beamten da zurückhielten, indem sie eine Kette bildeten und sich gegen sie drängten. Es waren keine Geschosse mehr geflogen, und beim Anblick von Rogers mit Fitch zur einen, Archbold zur anderen Seite ebbte der Sprechchor zu leisem Gemurmel ab, zu einem wütendem Summen wie von schwärmenden Bienen. Ein Stockwerk darüber stand Wexford mit Brian St. George am Fenster. Nachdem er gehört hatte, was sich unten zutrug, hatte er das Fenster geöffnet, weil er befürchtete, von fliegenden Glassplittern getroffen zu werden. Der letzte, den er in dieser Situation bei sich haben wollte, war St. George, aber er konnte den Mann ja schlecht aus dem Gebäude weisen, sozusagen in den aufgerissenen Rachen der Protestler, und ihn schon gar nicht im Revier herumstreifen lassen, damit er sich alles mögliche zum Fräße beschaffen konnte. Früher hätte Rogers oder ein anderer in seiner Position die Aufruhrakte verlesen. Statt dessen sprach er in sein Megaphon: »Personen, die Geschosse geworfen haben, werden zur Rechenschaft gezogen. Es wird Festnahmen geben. Für alle anderen gilt: Gehen Sie jetzt nach Hause. Orbe ist nicht hier und war nie hier. Es wurde auch kein Kind getötet. Sie wurden von falschen Zeitungsberichten in die Irre geführt. Orbe stellt für Ihre Kinder absolut keine Gefahr dar. Ihre Kinder sind vollkommen sicher.« »Wo ist er denn dann?« rief jemand aus der Menge. »Ich bin nicht befugt, Ihnen das zu sagen«, sagte Rogers. »Da drin bei Ihnen ist er! Sie decken ihn!« »Her mit, her mit Orbe, Orbe, Orbe!« »Wie fänden Sie es denn, wenn ein Kindermörder und Vergewaltiger neben Ihren Kindern einziehen würde? Ist das in Ordnung? Ist das fair?« Das kam von Brenda Bosworth. »Wie 189
fänden Sie es denn, wenn die Polizei ihn beschützt und alle Mums und Dads zu Kriminellen stempelt?« Trotz seiner Abneigung gegen sie mußte Wexford zugeben, daß sie nicht unrecht hatte. Wie hätte er es denn gefunden, als seine Töchter klein waren? Und überhaupt - wie wäre Rogers selbst denn zumute, Rogers, der spät geheiratet hatte und zwei Kinder unter zehn hatte? Rogers hatte die Situation ungeschickt gehandhabt. Das hätte Wexford aber nur Bürden gegenüber verlauten lassen und dann auch nur unter vier Augen, doch Bürden war nicht da. Irgendwie hatte er sich an diesem Morgen verspätet. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn er gegenüber St. George Kritik an Rogers äußerte! Eigentlich sollte Rogers jetzt wieder hineingehen, dachte er, und die Sache auf sich beruhen lassen. Seine Festnahmen vornehmen, falls er die Schuldigen fand. Wexford überlegte, was für ein lächerliches Wort »Wurfgeschoß« war und daß es seine ursprüngliche Bedeutung - ein Gegenstand, der geworfen wurde - verloren hatte. Genauso ein lächerlicher Ausdruck wie Marschflugkörper, der mit einem Marsch überhaupt nichts zu tun hatte, sondern eine Art Rakete, eine Projektilbombe nuklearen oder sonstigen Ursprungs war, die im Kriegszustand abgeschossen wurde. Seltsam, überlegte er später, daß er es in genau diesem Augenblick gedacht hatte und noch seltsamer, daß er und nur er allein Zeuge dessen wurde, was als nächstes geschah. Von unten herauf hörte er Rogers' etwas schwächliches Abschlußwort: »Ich wiederhole - Orbe ist nicht hier. Er wohnt nicht mehr in Ihrer Nähe und befindet sich auch nicht in diesem Polizeirevier.« Die Männer im Vorhof redeten der Menge zu, doch jetzt zurückzugehen, und bugsierten sie mit sanfter Gewalt durch das Tor auf den Gehsteig hinaus. Der Sprechchor war verstummt, war zu einem leisen Gemurmel abgeebbt. Rogers trat wieder hinein, gefolgt von Fitch und Archbold, und die Balkontür ging zu. Wexford wollte gerade das Fenster schließen. Statt dessen machte er es noch weiter auf und sah hinunter. 190 Sergeant Ted Hennessy war aus der Flügeltür getreten und steuerte über den Vorhof auf das Tor zu. Um die angedrohten Festnahmen vorzunehmen? Oder hatte er sich zuvor außer Sicht- und Hörweite im rückwärtigen Teil des Gebäudes aufgehalten und kam in diesem Augenblick ahnungslos aus einem ganz anderen Grund heraus? Später machte sich Wexford bittere Vorwürfe, weil er den Blick von den Demonstranten abgewandt und zu Hennessy hinübergesehen hatte, denn dadurch hatte er es versäumt, mit eigenen Augen
zu beobachten, was ihm später dann berichtet wurde. Allerdings sah er, wie das Ding im hohen Bogen aus der Menschenmenge flog, sah, wie es eine unidentifizierbare Hand verließ und schrie - zu spät - auf: »Vorsicht! Auf den Boden!« Er sah die dünne Flammenschicht, während die hell leuchtende Flasche flog, und obwohl sie weit unter ihm war, duckte er sich und zog St. George mit sich zu Boden. Andernfalls hätte ihn die Explosion umgeworfen. Es war eher ein donnerndes, ohrenbetäubendes Dröhnen als ein Krachen, ein lautes Zischen wie bei einem Wirbelsturm, der die Luft einsaugt. Aber nicht laut genug, den Schrei vom Vorhof zu übertönen. Ein entsetzlicher, fast unmenschlicher Schrei war es, ein Geräusch, wie man es sich von einem gewaltsam sterbenden Tier vorstellt. Wexford rollte sich auf den Rücken. Er tastete nach St. George, doch der war inzwischen aufgestanden, streckte den Kopf aus dem Fenster und schrie aus Leibeskräften: »Ich hab's gesehen! Ich hab' alles gesehen!« Wexford sprang auf. Überall lagen Glasscherben, knirschten unter seinen Schuhsohlen. Das Fenster war hin. Auf dem Vorplatz unter ihm brannte ein Auto, eine Flammensäule erhob sich zischend in die Luft. Die Menge war zurückgewichen, auf dem Gehsteig hockten Leute oder lagen herum. Wexford sah Bürden auf dem Weg zur Arbeit von der Straße hereinkommen, langsam, die Hände zum Gesicht erhoben, kam er über den inzwischen menschenleeren Vorplatz. Möglicherweise unbemerkt von ihm, strömte die Pressemeute mit Kameras und Mikrofonen hinter ihm herein. 191 Für den Mann, der dicht neben dem Auto gestanden hatte, kam jede Hilfe zu spät. Er war verschwunden. Er war in diesem Inferno und verbrannte zusammen mit Metall, Chrom und Leder, irgendwo im Inneren der zischenden, lodernden Flammen, der wild herumwirbelnden Spirale aus weißem und schwarzem Rauch und dem erstickenden Gestank von verbrennendem Benzin. Aus der Menge, die immer noch von der Polizeikette zurückgehalten wurde, erhob sich ein Stöhnen. Wexford hatte es die Sprache verschlagen, er war unfähig, auch nur das dumpfe, kummervolle Stöhnen auszustoßen, das von den Leuten auf dem Gehweg herübertönte. Er sah die Presseleute näher kommen, Blitzlichtgewitter, von irgendwoher erscholl das Heulen von Feuerwehrsirenen. Da wandte er sich zu St. George um und tat etwas, was er noch bei niemandem getan hatte. Er packte ihn hinten am Jackenkragen, wie man einen ungehorsamen Hund im Genick packt, und trieb ihn in Richtung Tür.
»Ich hab' alles gesehen!« keuchte St. George, halb erstickt. »So ein Glück!« 192
14
Der Tod von Ted Hennessy hatte bei den Medien keine Zurückhaltung bewirkt. Ihre Autos drängten sich in der Savesbury Road, im Winchester Drive und in der Ploughman's Lane, wo sie an der Zufahrt von Woodland Lodge ihr Lager aufschlugen. Wexford setzte kurzfristig eine Pressekonferenz an und bemühte sich nach Kräften um eine Antwort auf Fragen wie: Warum haben Sie diese Entführung geheimgehalten? Sind Sie sicher, daß Thomas Orbe nichts mit dem vermißten Kind zu tun hat? Vergeblich wiederholte er die schlichte Wahrheit: daß Orbe im Laufe seiner erbärmlichen Karriere niemals Interesse an Mädchen gezeigt hatte. Er war des Mißbrauchs von Knaben überführt und hatte wegen Totschlags an einem Jungen eine Haftstrafe verbüßt, war im ursprünglichen Wortsinn also ein Päderast. »Er hat aber doch geheiratet, oder?« wollte eine junge Frau von einer überregionalen Boulevardzeitung wissen. »Er hat eine Tochter.« »Seine Opfer waren immer männlichen Geschlechts«, erwiderte Barry Vine, der mit Wexford auf dem Podium saß. »Orbe hat mit dem Verschwinden von Sanchia Devenish nichts zu tun.« Wer nicht das Haus der Familie Devenish belagerte oder bei Hennessys Witwe vor der Tür campierte, richtete seine Angriffe gegen Suzanne Orbe, die in der Oberon Road Nummer 16 ihrer Genesung entgegensah. Ein vollkommen aus der Luft gegriffenes Gerücht war in Umlauf gekommen, Suzanne sei ein frühes Opfer ihres Vaters gewesen, sei als Kind bestimmt selbst mißbraucht worden, eine unglückliche Partnerin beim 192 Inzest. Den Kopf noch im dicken Verband, trat sie durch die provisorische Tür aus dem mit Brettern vernagelten Haus und schrie ihnen entgegen: »Er hat mir kein Haar gekrümmt, ihr ekligen Scheißkerle! Der arme alte Sack hätte sich ja nie an den dreckigen Gören vergriffen, wenn ihm meine Mum nicht abgehauen wäre. Das war's, davon ist er verrückt geworden nach den dreckigen Gören. Und jetzt verpißt euch und laßt uns in Ruhe!« In der Ploughman's Lane hatte Fay Devenish um halb acht die Lokalzeitung von der Fußmatte hereingeholt. Bevor Stephen Devenish auch nur einen Blick darauf werfen konnte, klingelten die Reporter bei ihm schon an der Tür, hämmerten heftig dagegen, und sein Telefon begann zu läuten und hörte nicht mehr auf. Er ging wohlweislich nicht an die Tür. Einer von den
Presseleuten kletterte auf das Garagendach und versuchte, durch ein Oberlicht hereinzugelangen. Er hätte Kaylee Flay bei sich haben sollen, bemerkte Wexford, als er davon erfuhr. Devenish rief ein Taxi, um sich zum Polizeirevier fahren zu lassen. Wenn er sein eigenes Auto herausgeholt hätte, wäre die Meute über ihn hergefallen und hätte sich Zutritt zum Haus verschafft. Die Taxifirma hieß All The Sixes und pendelte mit ihren Fahrzeugen regelmäßig zwischen der Stadtmitte von Kingsmarkham, dem örtlichen Bahnhof und den Dörfern hin und her. Da der Chauffeur zwischen den Medienleuten und den geparkten Autos nicht durchkam, ließ er sein Taxi stehen und ging zu Fuß weiter. Reporter umringten ihn, einige hängten sich sogar an seine Fersen und bestürmten ihn zu verraten, wer sein Fahrgast sei, wohin er ihn fahren sollte und sie doch einen Moment mit Sanchias Vater reden zu lassen. Der Taxifahrer kam sich vor wie im Film. Er spielte mit dem Gedanken, von den Reportern ein schönes Sümmchen dafür zu verlangen, daß er Mr. Devenish gefangenhielt, doch dann fiel ihm ein, daß er dafür seinen Job verlieren könnte, und im übrigen muß ein Held - ob Sheriff, Hauptaugenzeuge oder Fahrer der Postkutsche - sich auch heldenhaft verhalten, 193 den Mund halten, stark sein und wacker zur Rettung schreiten. Also bemühte er sich, nicht auf sie zu achten, ging beherzt auf die Haustür zu und läutete. Devenish streckte erst den Kopf aus einem Fenster und kam dann heraus. Der Taxifahrer sagte beruhigend: »Halten Sie sich jetzt ganz dicht bei mir, Sir, und sagen Sie nichts, dann kriegen wir das schon hin. Ich nehme Ihren Arm und bringe Sie durch dieses Pack von Paparazzi - Sie haben doch nichts dagegen, oder?« Devenish sagte, er hätte nichts dagegen, beziehungsweise schrie es, denn jedes seiner Worte ging in den Fragen der Pressemeute unter, in Fußgetrappel und dem Klicken und Blitzen der Kameras. Der Taxifahrer übernahm das Kommando, nicht ohne dafür zu sorgen, daß sein grimmiges Gesicht auf die Bilder geriet, während er Devenish geschickt zu dem wartenden Taxi geleitete. Zitternd sank Devenish auf den Rücksitz. »Danke. Haben Sie vielen Dank. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte.« Die Meute setzte ihnen nach, doch es gelang dem Chauffeur, sie abzuschütteln. Als sie auf dem Revier ankamen, gab ihm Devenish ein stattliches Trinkgeld und ging durch die ramponierte Flügeltür hinein. Der
Chauffeur fuhr zweimal im Kreis um den Vorplatz herum, um einen genauen Blick auf die zertrümmerten Fenster und die rußgeschwärzte Vorderseite der Polizeistation zu erhaschen. Wenn er später Zeit hatte, würde er mit dem Fotoapparat wiederkommen. Stephen Devenish verlangte Wexford zu sprechen. Nein, der Chief Inspector erwarte ihn zwar nicht, er, Devenish, dächte aber, er würde ihn trotzdem empfangen, und im übrigen denke er gar nicht daran, denen dort draußen in den Rachen zu laufen wie ein Fuchs einer Hundemeute. Der diensthabende Sergeant schickte ihn im Aufzug nach oben und sagte, Wexford würde ihn dort abholen. Devenish hatte gerade den zweiten Stock erreicht, als die ersten Presseautos auf den Vorplatz gefahren kamen. In Wexfords Dienstzimmer beklagte er sich zwar nicht über 194 die Aufdringlichkeiten der Medien, schrie aber weiter, und zum erstenmal sah Wexford die Anzeichen seines berühmten Jähzorns. Devenish ließ die Fäuste auf den Tisch krachen. »Hat dieser Pädophile etwa mein Kind?« »Beruhigen Sie sich doch bitte, Mr. Devenish.« »Ich verlange eine Antwort!« »Bitte, setzen Sie sich. Gut. Ich verstehe Ihre Aufregung. Mir ginge es unter den Umständen genauso. Aber - nein, Orbe hat Ihr Kind nicht.« »Woher wollen Sie das wissen? Woher sind Sie sich da so sicher?« »Wir haben das Verschwinden Ihrer Tochter geheimgehalten«, sagte Wexford, »weil wir nämlich genau das befürchteten, was jetzt eingetreten ist. Es ist ein unglücklicher Zufall, daß Orbe zum Zeitpunkt ihres Verschwindens in der Gegend war, aber mehr steckt nicht dahinter. Es gibt keine Verbindung - ich hoffe, das verstehen Sie nun.« »Wo ist er dann jetzt?« »Das darf ich Ihnen nicht sagen, tut mir leid. Aber er ist nicht in diesem Gebäude, er ist nicht einmal in dieser Stadt.« Wexford war es müde, den Leuten zu erklären, daß Orbe es auf Knaben abgesehen hatte; trotzdem wiederholte er für Sanchias Vater, was er schon so oft gesagt hatte. »Thomas Orbe interessiert sich nicht für Mädchen. Er ist Päderast.« »Das ist ja eklig! Da wird einem ja schlecht.« Pech, dachte Wexford, beides kann man eben nicht haben. »Wir tun, was wir können, um Sanchia zu finden«, sagte er, »und ich kann Ihnen versichern, was Sie hoffentlich trösten wird, sie ist nicht in der Hand eines uns bekannten Pädophilen. Ich meine, landesweit. Kein Pädophiler hat Ihr Kind. In solchen Fällen sind die Schuldigen oft gestörte Personen, meistens
eine Frau, die kurz davor ihr eigenes Kind verloren hat oder selbst keine Kinder bekommen kann. Deshalb wollte ich von Ihnen und Ihrer Frau auch unbedingt die Namen aller Ihrer Freunde und Bekannten, für den Fall, daß sich unter ihnen eine solche Person befindet.« 195 Wexford glaubte, im Gesichtsausdruck des Mannes eine winzige Veränderung entdecken zu können, kaum mehr als ein Flackern, eine schwache Veränderung in der Iris seiner Augen, eine kaum wahrnehmbare Spannung um die Mundwinkel. Ohne weiter darauf einzugehen, kam er von Sanchias potentiellem Kidnapper auf die Lage in Woodland Lodge in der Nacht ihrer Entführung zu sprechen. »Es geht eigentlich nicht darum, Mr. Devenish«, sagte er, »wer eventuell einen Schlüssel hat oder sich anderweitig Zutritt zu Ihrem Haus verschaffen könnte, sondern darum, wer dazu in der Lage wäre, ohne daß Sie oder Ihre Frau und Ihre Söhne dadurch aufgeschreckt würden oder Sanchia sich dabei muckste. Können Sie mir glaubhaft versichern, daß ein Fremder Ihr Töchterchen nachts aus dem Bett holen, sie aufwecken oder hochnehmen kann, ohne daß sie schreit oder nach Ihnen ruft?« »Ich weiß nicht.« Wexford sah sich zu der nächsten Frage gezwungen. Er mußte ein für allemal Klarheit darüber haben, ob und inwieweit Sanchias Intelligenz und Sinneswahrnehmungen beeinträchtigt waren. »Ich nehme doch an, daß sie schreien kann? Sie sagten, sie spricht kaum, aber sie kann doch sprechen, oder?« »Natürlich kann sie sprechen«, entgegnete Devenish ungewöhnlich heftig. »Sie ist ja nicht stumm. Was wollen Sie damit sagen? Daß sie verblödet ist?« »Nein, Mr. Devenish, das behaupte ich nicht. Aber Sie müssen selbst zugeben, daß die ganze Sache höchst merkwürdig aussieht. Hat sich schon ein Arzt oder Psychologe darüber geäußert, wieso Sanchia mit zweidreiviertel Jahren immer noch nicht spricht? Hat jemand einen Erklärung dafür?« »Wir haben niemand darum gebeten«, sagte Devenish. Er hatte sich inzwischen beruhigt, die Röte war aus seinem Gesicht gewichen und der alte Charme war zurückgekehrt. Sein Ton war gelassen, er hatte sein typisches leichtes Lächeln aufgesetzt. »Wir haben es nicht für nötig gehalten. Sie ist eben ein Spätentwickler. Verzeihen Sie, aber gehört das denn hier 195 her? Davon, daß Sie herauskriegen, wieso sie nicht spricht, werden Sie sie auch nicht finden.«
»Wenn ich vor einem Rätsel stehe, möchte ich, daß es gelöst wird«, erwiderte Wexford ruhig. »Ich möchte auch das Rätsel dieser Drohbriefe lösen, die man Ihnen geschickt hat. Neid schafft Feinde, und es gibt sicher viele, die Sie beneiden. Als Sie zum Beispiel Ihren heutigen Job bekamen und später, als Sie eine stattliche Gehaltserhöhung erhielten, muß es doch Leute gegeben haben, die Ihretwegen übergangen wurden. Vielleicht gibt es auch Leute, die wegen eines tatsächlichen oder eingebildeten Fehlverhaltens der Fluggesellschaft sauer sind und ihren Groll auf Sie als den Vertreter des Unternehmens übertragen. Sie verstehen doch, was ich meine.« »O ja, natürlich. Aber da ist nichts dran.« In Devenishs leicht zu durchschauenden Zügen zeichneten sich Lüge und Wahrheit immer sofort ab. Momentan log er, da war Wexford sich sicher. Auch Sturheit ließ sich in diesen dunklen Augen erkennen. Es ging ihm nicht nur ums Lügen, er wollte das Gesagte auch nicht weiter ausführen. Es war nichts dran, er hatte keine Feinde, und damit basta! Raum für Einwände oder gutes Zureden gab es da nicht. »Ihnen ist anscheinend nicht recht klar«, sagte Devenish ausgesucht höflich, »daß Leute, die solche Briefe verschicken, verrückt sind. Die brauchen dazu keinen Grund. Bei denen reicht es, daß sie irgendwas in der Zeitung lesen, und schon rasten sie aus. Das sind Verrückte.« »Mir ist klar, daß es oft, wenn auch nicht immer zwingend so ist, Sir. Und jetzt will ich etwas von Ihnen wissen, was Sie möglicherweise ähnlich irrelevant finden, was es, versichere ich Ihnen, jedoch nicht ist.« Wexford machte eine bedeutungsvolle Pause und sah den anderen unverwandt an. »Haben Sie einen zweiten Wohnsitz?« »Was, ein Häuschen auf dem Lande, meinen Sie wohl? Wir wohnen bereits auf dem Land. Und eine Wohnung in London haben wir auch nicht.« »Dann brauche ich wohl auch nicht zu fragen, ob ein so of 196 fenkundig hingebungsvoller Gatte wie Sie heute oder schon seit seiner Heirat ein Verhältnis mit einer anderen Frau hat?« Falls Devenish den ironischen Unterton in Wexfords Stimme und seinen untypischen Gebrauch der dritten Person bemerkt hatte, ließ er es sich nichts anmerken. »Chief Inspector, das soll wohl ein Witz sein.« Devenish lächelte und schüttelte gleichzeitig den Kopf wie über eine ganz unglaubliche Geschichte. »Das ist doch nicht Ihr Ernst.« »Durchaus, Sir«, sagte Wexford ungerührt. »Ich finde es eigentlich gar nicht so lustig. Heute früh ist hier ein Mann auf entsetzliche Weise ums Leben
gekommen. Sie werden entschuldigen, wenn ich mich vorab darauf konzentriere.« Die sterblichen Überreste von Ted Hennessy lagen in der Leichenhalle aufgebahrt. Er war vierunddreißig fahre alt geworden, vier davon bei der Kriminalpolizei in Myringham beschäftigt gewesen. Verheiratet, zwei Kinder, wie man aus der Presse erfahren konnte. In der Todesnachricht in einer überregionalen Zeitung - zwar nicht auf der ersten Seite, sondern unter der Rubrik Geburten, Hochzeiten und Todesfälle -hießt es, er sei der geliebte Ehemann von Laura und Vater von Jonathan und Kate gewesen. Die Benzinbombe, die ihn tötete, hatte jemand aus der Menge heraus geworfen. Hennessy wäre normalerweise gar nicht in Kingsmarkham gewesen, er war zur Verstärkung von Wexfords geplagtem Team gekommen. Die traurige Ironie bei der Sache war, wenn man so wollte, daß Orbe und die Devenishs schuld an seiner Anwesenheit waren. »Ich sehe darin keine Ironie«, bemerkte Bürden. »Nein, Sie haben recht«, meinte Wexford. »Was ich sagen wollte, er war eigentlich aus gar keinem richtigen Grund hier. Nur weil ein paar Leute sich unmöglich aufgeführt haben.« Er ließ sich nicht weiter darüber aus. Um die Mittagszeit hatte er eine Verabredung mit Brian St. George. Der Chefredakteur des Kingsmarkham Courier war nicht auf der Pressekonferenz erschienen, und Wexford konnte sich schon den 197 ken, warum. Jedenfalls vermutete und hoffte er, den Grund zu kennen. St. George hatte »es alles gesehen« - und zwar direkt. Sein Glück war gewesen, daß er gesehen hatte, wie die Benzinbombe geworfen wurde. »Ich behaupte nicht, daß ich es tatsächlich gesehen habe, Reg«, begann St. George. Er wirkte nervös. »Nicht direkt gesehen. Das wollte ich damit eigentlich nicht sagen.« »Was wollten Sie dann damit sagen?« »Äh, ich sah sie ins Ziel gehen.« »Mit »Zieh meinen Sie wohl Sergeant Hennessy.« Wexford konnte seinen Zorn kaum noch bändigen. »Für einen Journalisten haben Sie eine reichlich unpassende Ausdrucksweise. Wollen Sie das womöglich in Ihrem Käseblatt so schreiben?« Wenn man St. George an einer empfindlichen Stelle treffen konnte, dann mit einem Angriff auf seine Schreibkünste. Er zuckte leicht zusammen. Die Hände über die kahle Gänseblümchenstelle auf seinem Kopf gelegt, sah er Wexford
finster an. »Ich hab' nicht gesehen, wer sie geworfen hat«, sagte er. »Das wollte ich nie behaupten. Und wenn«, fügte er verwegen hinzu, »würde ich nicht damit herausrücken. Ich will mich doch nicht exponieren, Reg, nicht in meiner Position.« »Nennen Sie mich nicht Reg«, sagte Wexford. Als Hennessys Witwe Laura die Nachricht von seinem Tod erhielt, sagte sie: »Ich hab' immer gewußt, daß der Job ihn mal umbringt, aber doch nicht so, nicht so.« Bis zum nächsten Morgen war der Platz vor dem Polizeirevier wieder sauber, das ausgebrannte Auto - ehemals im Besitz von Constable Archbold abtransportiert und die zertrümmerten Fensterscheiben mit Brettern vernagelt. Es hatte mehrere Festnahmen gegeben, und gegen ein halbes Dutzend Leute, unter ihnen Brenda Bosworth, Maria Michaels und David Hebden, wurde wegen mutwilliger Sachbeschädigung Anklage erhoben. Barry Vine und Lynn Fancourt mußten die Suche nach Sanchia Devenish aufgeben, um mit zwei Kollegen vom Regionalen Kriminaldezernat denjenigen aus der 198 Gruppe auf dem Gehsteig aufzuspüren, der die Benzinbombe geworfen hatte, durch die Hennessy zu Tode gekommen war. Es war eine Sache, sich nicht als Zeuge zu melden, wenn es darum ging, daß ein Stein geworfen und ein Fenster zertrümmert wurde, jedoch etwas ganz anderes, wenn als Folge davon ein Mensch gestorben war. Nicht jeder hatte, um mit Wexford zu sprechen, solchen Schiß wie Brian St. George. Die Leute waren äußerst mitteilsam, und von überallher aus Stowerton, Kingsmarkham und dem Muriel Campden Estate trafen die Hinweise ein. Das Problem lag darin, daß niemand mit Sicherheit sagen konnte, wer überhaupt eine Benzinbombe gehabt, geschweige denn, wer sie geworfen hatte. Eins wußten sie: Hennessys Mörder war mitten unter ihnen gewesen, war einer von ihnen, war mit ihnen die High Street entlang marschiert, hatte mit ihnen geredet und »Steht zu den Kids« mit ihnen gesungen. So mußte es gewesen sein, aber dann verstummten sie plötzlich und sahen Barry und Lynn hilflos an. Sie konnten nicht absolut sicher sagen, es sei der und der gewesen, wären auch nicht bereit, es zu beschwören, sie dachten eben nur... Man will ja schließlich nichts mit absoluter Sicherheit behaupten, wenn am Ende womöglich jemand lebenslang ins Gefängnis muß. Andy Honeyman, der Wirt des Rat & Carrot, gab großzügig Auskunft. Wie Barry gegenüber Michael Bürden später bemerkte, hätte man meinen können,
er sei dabeigewesen, hätte alles gesehen und sich Notizen gemacht und Fotos geschossen. Schließlich stellte sich heraus, daß er in seiner Bar ein Gespräch mitgehört hatte: »Der Typ sagte: >Wie baut man eine Benzinbombe ?< Jetzt frag' ich Sie, würden Sie das ernst nehmen? Und der andere, der hat's auch nicht ernst genommen. >Was?< sagt er, >du spinnst wohl< oder >du hast sie wohl nicht alle- oder so ähnlich. Recht hat er, dachte ich, ich wußte ja nicht, wie das noch enden sollte. Und dann kam ein anderer Typ dazu »Moment mal«, unterbrach ihn Vine, »ich kann diese 199 ganzen Typen nicht auseinanderhalten. Sie wissen nicht vielleicht zufällig, wie die heißen?« .»Klar weiß ich, wie die heißen«, sagte Andy Honeyman. »»Der erste Typ, der war dieser Colin, äh, Colin Cromwell -nein, Crowne. Ihr Ex hieß Cromwell, aber der da heißt Crowne. Und der andere Typ war Joe Hebden. Die wohnen beide da auf diesem Schandfleck in der Landschaft, dem Muriel Campden Estate. Äh, wie gesagt, dann kam ein anderer Typ dazu »Wie hieß der denn?« »Fragen Sie mich nicht. Den hatte ich noch nie gesehen. Wer's war, weiß ich nicht, aber ich weiß, was er gesagt hat. Der hat ihnen nämlich erklärt, wie man eine Benzinbombe bastelt - man nimmt eine Flasche, füllt sie mit Benzin, den Rest können Sie sich denken. Er sagte, es gäbe einen Markt für die Dinger, was wohl soviel heißt, daß die Leute sie kaufen. Dann sagte er, selbermachen wäre zu umständlich, wo er sie doch liefern könnte. Da haben übrigens jede Menge Leute zugehört. Also, dieser Fowler war auch da, der mit der Negerfrau, die ihm davongelaufen und zu dem Haufen Schlampen gezogen ist, The Hide heißt es, wo sie hin ist. Ich weiß schon, wie es bei mir heißen würde.« Barry befragte daraufhin Colin Crowne, Joe Hebden und Terry Fowler. Colin wollte wissen, woher er denn bitteschön Benzin kriegen sollte, er hätte ja nicht mal ein Auto - als wäre der Besitz eines Kraftwagens das einzige Kriterium für den Zugang zu einem Zapfhahn. Er konnte sich nicht mehr an das Gespräch im Rat & Carrot erinnern und war der Überzeugung, Andy Honeyman habe es sich ausgedacht. Jedenfalls sei er bei dem Protestmarsch überhaupt nicht dabeigewesen, sondern habe mit Gürtelrose das Bett gehütet; darunter leide er übrigens immer noch, was sogar ein Halbblinder sehen könne. Joe konnte sich an das Gespräch nicht mehr erinnern, und Terry sagte, er habe das Wort »Bombe« zwar gehört, wisse aber nichts mehr von einem Typen, der Ratschläge erteilt haben sollte, wie man eine bastelte. Colins rhetorische Frage 199
brachte Barry jedoch auf eine Idee, und am nächsten Tag begann er, an jeder Tankstelle in der Stadt und der ganzen Umgebung Ermittlungen anzustellen. Lynn fuhr nach Hause, stellte ihren Wagen ab und wartete dann verloren und verlassen aussehend an der Straße nach Savesbury, bis sie schließlich vom vierten Auto und der ersten Frau am Steuer das Angebot, sie mitzunehmen, akzeptierte. Die Frau hatte kein graues Haar oder vielmehr doch, allerdings war es rot gefärbt, sie war eher dünn als kräftig gebaut und bestimmt nicht über fünfundvierzig. Sie fuhr Lynn nach Kingsmarkham zurück und setzte sie wie gewünscht vor St. Peter's ab. Lynn blieb nichts anderes übrig, als mit dem Taxi nach Hause zu fahren, und sie überlegte, ob sie den Fahrpreis als Spesen geltend machen könnte. Die gerichtliche Untersuchung der Todesursache von Ted Hennessy wurde eröffnet und wieder vertagt. Wexford und Bürden gingen gemeinsam hinaus, und Wexford zog die dünne Regenhaut über, die er vor vielen Jahren für einen Irlandurlaub gekauft hatte. »Ich kann irgendwie an nichts anderes mehr denken als an den armen Kerl«, sagte er. »Seine Frau sagte es ja, es ist nicht so sehr, daß er gestorben ist, obwohl das schlimm genug ist, sondern die Art, wie er gestorben ist. Tod durch Verbrennen - was Schlimmeres kann man sich eigentlich nicht vorstellen.« »Den kriegen wir noch«, sagte Bürden mit einem etwas tadelnden Blick auf die Regenhaut. »Kein Zweifel - ob ihn oder sie, die kriegen wir noch.« »Ich fürchte, in der Rache sehe ich nicht viel Trost, Mike.« Sie gingen die High Street entlang, wo die Sonne hell auf die nassen Bürgersteige schien, auf Pfützen und wahre Seen quer über die ganze Fahrbahn. Ein Auto fuhr mit zu hoher Geschwindigkeit vorbei und sprühte einen Wasserschwall hoch, der Burdens Hosenbeine knapp verfehlte. An der roten Ampel beugte sich der Fahrer ohne ersichtlichen Grund über den Beifahrersitz und drohte ihnen mit der geballten Faust. 200 »Gehen wir doch ins Europlate und trinken einen Kaffee«, schlug Wexford vor. Das Europlate war vor einem halben Jahr eröffnet worden. Sein Name hatte allerdings nichts mit der Europäischen Währungsunion zu tun, sondern bezog sich ausschließlich auf die Speisekarte, ein sinnig ausgewähltes Angebot an Hauptgerichten aus der Nationalküche jedes EU-Mitgliedstaates. Es gab schwedische Fleischklößchen, spanische Tortillas, griechischen Hirtensalat, Irish Stew, deutsche Würstchen, Croque Monsieur und das gute, alte englische Roastbeef. Das Problem war nur, daß alles nach Chinapfanne
schmeckte. Der Koch war angeblich Chinese, obwohl niemand behaupten konnte, ihn je zu Gesicht bekommen zu haben, um dies zu bestätigen. Als Wexford das letztemal hiergewesen war - er zog das Lokal der Kantine im Polizeirevier vor -, hatte er nach türkischem Konfekt gefragt und eine ziemlich mürrische abschlägige Antwort bekommen. Das Europlate war ganz in Gelb und Blau gehalten. Die Tischdecken waren dunkelblau, und jede Serviette trug in der Mitte den Sternenkreis, das Emblem der Europäischen Union. Sie bestellten Kaffee und bekamen gratis je ein Stückchen dänischen Plunder dazu. Bürden lehnte mit einem skeptischen Lächeln ab, doch Wexford hatte Mühe, dem mit Zucker und gehackten Nüssen bestreuten und mit Aprikosenmarmelade gefüllten Gebäck zu widerstehen und erlag schließlich der Versuchung. »Ich nehme es«, sagte er. »Ich weiß, ich sollte eigentlich nicht, aber ich brauche was zum Trost. Eine furchtbare Woche, was? Es wird noch eine Untersuchung der Ereignisse vom letzten Donnerstag früh geben, und das Ergebnis wird sein, daß der arme alte Rogers seinen Hut nehmen muß.« »Das mit der Benzinbombe konnte man ja nicht ahnen. Wer rechnet bei uns hier schon mit Benzinbomben? Wir sind doch nicht in Seoul, wir sind doch nicht« - Bürden zögerte und überlegte, wo sie sonst noch nicht sein könnten »in Jakarta. « 201 Wexford sah versonnen auf sein Plunderstückchen hinunter. Es war das erste Gebäck dieser Art seit über einem Jahr und vermutlich für das nächste Jahr das letzte. »Wie Sie wissen, war ich gestern bei Seaward Air. Am Hauptsitz in Gatwick, nicht in Brighton oder im hiesigen Zweigbüro. Ich habe mit Devenishs Assistentin und mit seiner Sekretärin gesprochen - zwei verschiedene Damen übrigens, er ist ja ein sehr wichtiger Mann - und mit dem gegenwärtigen Geschäftsführer. Er ist bei allen beliebt, alle sagen, er ist ein guter Chef, sehr fair, freundlich, aber ohne zu vertraulich zu sein.« »Und?« »Nun ja, es gibt ein >und<. Die Sekretärin erwähnte seine jähzornige Art, von der ich letzthin auch Anzeichen beobachten konnte. Sie hat sie gegen andere gerichtet gesehen, nicht gegen sie selbst. Offensichtlich gab es da einen Zwischenfall, bei dem er jemanden aus seinem Büro geworfen hat. Der Mensch hatte sich gewaltsam Zutritt verschafft, um sich darüber zu beschweren, daß Seaward einen Verwandten von ihm schlecht behandelt hat. Das war vor zwei oder drei Jahren, als sie noch nicht dort arbeitete, doch sie hatte gehört, er habe den Mann eigenhändig hinausgeworfen - hochkantig, wie man so schön
sagt. Es hieß sogar, der andere habe sich dabei eine Rippe gebrochen. Aber das ist alles nicht amtlich. Seinen Namen weiß sie nicht, und ich fand auch keinen, der ihn mir sagen konnte.« »Nach allem, was Sie sagen, scheint er ja doch sehr beliebt«, sagte Bürden. »Sie zeichnen ein völlig anderes Bild von ihm als Trevor Ferry.« »Sie sagten ja selbst, es ist verständlich, wenn Ferry kein gutes Wort für ihn übrig hat.« Wexford aß sein Plunderstückchen vollends auf und tupfte mit den Fingern die letzten Krümel vom Teller. Nach einem vorsorglichen Blick über die Schulter sagte er leise: »Ich glaube, Devenish hat seine Tochter selbst entführt.« Bürden sah ihn nur wortlos an. »Ich weiß nicht, warum er es tat oder wo er sie hingebracht 202 hat oder wo sie jetzt ist, aber ich glaube, sie ist in Sicherheit und er hat sie irgendwo versteckt.« »So etwas in der Richtung dachte ich auch«, sagte Bürden. »Er tut mir zu aufgewühlt, er hat sogar geweint. Er hat vielleicht nur so getan als ob, wie Kinder sagen. Ich habe keine Tränen gesehen. Manchmal wirkt er sehr erschüttert über das Verschwinden seiner Tochter, dann wieder berührt es ihn offensichtlich nicht sonderlich.« Bürden nickte. »Er hält sie bei jemandem versteckt, meinen Sie doch wohl?« »Zunächst«, sagte Wexford, »dachte ich natürlich an eine Freundin. Er ist jung, sieht gut aus, ist wohlhabend. Seine Frau sieht älter aus, als sie ist, und wirkt müde. Außerdem redet er mir zuviel über seine glückliche Ehe. Die Existenz einer Freundin hätte mich nicht überrascht.« »Sie meinen, er hatte vor, seine Frau wegen der Freundin zu verlassen, wollte das Kind aber behalten? Und das Kind ist bei ihr in einem sicheren Versteck, das er sich leisten kann?« »So ungefähr. Es gibt aber keine Freundin, Mike. Irgendeiner von diesen Dutzenden von Leuten, mit denen wir geredet haben, wüßte Bescheid, falls er ein Verhältnis hätte. Ich weiß alles, was es über ihn zu wissen gibt, ich weiß sogar, daß er seine Frau auf einer Betriebsweihnachtsfeier kennenlernte, als er Hauptgeschäftsführer bei Southern Cross Rail Link war und sie die Privatsekretärin des Vorstandsvorsitzenden. Ihn umgibt auch nicht der Hauch eines Skandals. Er war anscheinend noch nicht einmal Mittagessen mit einer anderen Frau. Einer von den Verkaufsleitern bei Seaward versicherte, daß er höchstens eine Nacht pro Jahr nicht bei seiner Familie verbringt, und dann
liegt es daran, daß er an einer Geschäftsbesprechung in Brüssel oder Frankfurt teilnehmen muß. Am Sonntagmorgen geht er mit der ganzen Familie zur Messe in St. Peter's. In der Schule seiner Söhne verpaßt er keinen Elternabend und nimmt die beiden oft zu Sportveranstaltungen mit. Zu ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag hat er seiner Frau einen Memoire-Ring mit Saphiren und Dia 203 manten geschenkt und zum sechsunddreißigsten vor etwa einer Woche ein neues Auto. Sie mag alt und müde aussehen - tut mir leid, wenn das gefühllos klingt -, aber er liebt sie.« Wexford wischte sich den Mund mit dem EUSymbol ab. »Er scheint einer der seltenen Männer zu sein, die absolut monogam sind, und zwar nicht aus Notwendigkeit oder Vorsicht, sondern aus Neigung.« »Ich kann Ihnen versichern, daß ich monogam aus Neigung bin«, versetzte Bürden heftig. »Sie wissen schon, was ich meine. Er würde nicht einmal einer Frau auf der Straße hinterherschauen. Oder anders gesagt, er begeht nicht einmal im Geiste Ehebruch. Er ist ein hingebungsvoller Gatte. Wollen Sie noch einen Kaffee?« »Von mir aus. Und doch hat dieser Heilige, den Sie mir da beschreiben, seine Tochter gekidnappt, die zufällig auch die Tochter seiner geliebten Gattin ist?« »Ein Heiliger ist er nicht. Heilige sind weder arrogant und überheblich noch rücksichtslos gegenüber anderen, was er alles ist«, entgegnete Wexford. »Der Kidnapper, wie Sie ihn nennen, war der Kleinen so gut bekannt, daß sie nicht schrie oder weinte, als sie ihn sah. Er wußte genau, wo sie war. Er brauchte nicht ins Haus einzubrechen, weil er bereits drin war.« Wexford machte der Bedienung ein Zeichen, indem er die leere blaugelbe Kaffeekanne hochhielt. »Er fuhr in einem Auto mit ihr weg, das Mrs. Wingrave von gegenüber nicht erkannte und daher für das eines Fremden hielt. Sie erkannte es aber nicht, weil es das Auto war, das Devenish seiner Frau erst zwei Tage vorher geschenkt hatte.« Bürden schien unbeeindruckt. »Na gut, und wohin brachte er das Kind mit dem neuen Auto seiner Frau?« »Jedenfalls nicht zu Verwandten oder Freunden. Und zu einer Freundin auch nicht. Das Auto wurde inzwischen gründlich untersucht. Peach und Cox waren sofort dort und brachten es hierher. Laut Mrs. Devenish wurde es, seit sie es geschenkt bekommen hat, nicht gefahren. Seit Sanchia verschwunden ist, hat sie das Haus nicht verlassen. Wir werden 203
also bald sehen.« Wexford füllte ihre Tassen mit frischem Kaffee. Er nahm einen Plunderkrümel mit einem Nußstückchen obendrauf vom Teller und steckte ihn in den Mund. »Sanchia hätte aufrecht im Wagen gesessen, nicht in einem Bettchen gelegen. Sie ist ja fast drei.« »Und hätte deshalb angeschnallt in einen Kindersitz gehört.« »Die Mühe hat er sich wohl kaum gemacht. Meine Güte, das ist doch wirklich belanglos! Egal, ob sie in einem Kindersitz saß oder nicht, sie war jedenfalls dort und muß irgendwelche Spuren hinterlassen haben, Haare, Textilfasern, Fingerabdrücke. Nun wollte er vermutlich nicht allzu lange abwesend sein, für den Fall, daß seine Frau aufwacht. Er ist derjenige, der Schlaftabletten nimmt; nicht sie, obwohl ich kaum annehme, daß er an dem Abend welche genommen hat. Ich glaube also, er fuhr mit Sanchia nur ein kurzes Stück und traf sich dann mit einem Komplizen mit Auto, der ihm die Kleine abnahm und sie dahin fuhr, wo sie jetzt ist.« »Nicht im Fluß oder irgendwo vergraben, wollen wir hoffen«, sagte Bürden. »Wer weiß? Er kam hier im Taxi an, außer sich vor Wut und Verzweiflung. Er legte den Kopf auf den Küchentisch und weinte. Man weint und wütet und verzweifelt, aber auch aus Reue, stimmt's? Nicht nur aus Kummer.« Am Eingang des Polizeireviers trafen sie Constable Dixon, dessen goldene Locken seit der Schmuggelaktion mit Orbe sogar noch rigoroser gestutzt waren. Colin Crownes und Monty Smith' spöttische Bemerkungen waren ihm höchst peinlich gewesen, mehr noch als die häufig gestellte Frage, wie es denn so sei am anderen Ufer. Zu Wexford, der sich gerade aus seiner Plastikregenhaut schälte, sagte er: »Ich habe Sie schon gesucht, Sir. Sie wollen wahrscheinlich wissen, wo Ihr Regenmantel geblieben ist. Der war die ganze Zeit im Muriel Campden. Ich habe ihn Jim Donaldson gegeben, während er in der Ariel Road parkte und auf Sie wartete.« 204 Kurz vor der Mittagszeit erreichte Barry Vine die letzte Tankstelle auf seiner Liste. Das einzige Gebäude im Dorfzentrum von Bredeway war so gebaut, daß es sich möglichst harmonisch in die ländliche Umgebung einfügte. Die beiden Zapfsäulen waren grün gestrichen, auf dem Vorplatz standen Blumenkübel mit Azaleen und Stiefmütterchen, und das Gebäude selbst hatte ein Reetdach. Der Inhaber, der drinnen an der Kasse thronte und über eine Theke mit Schokoriegeln und Pfefferminzpastillen am einen Ende und CDs und Disney-Videos am anderen gebot, fragte Vine, ob ihm das Arrangement gefalle, und beschrieb es als umweltfreundlich. Vine versprach sich zwar nicht viel davon, fragte aber trotzdem, ob letzten Donnerstag jemand dagewesen
sei, relativ früh am Morgen, auf jeden Fall vor acht, um sich ein Gefäß mit Benzin füllen zu lassen, einen Kanister vielleicht oder einen Eimer. »Sie meinen, weil denen das Auto irgendwo auf der Straße verreckt ist?« »Kann sein. So haben sie sich wohl ausgedrückt.« Der Inhaber stellte eine Menge Fragen, rief nach hinten zu seiner Frau, die er auch noch fragte, und tischte Vine eine Reihe von Theorien auf, bis er schließlich damit herausrückte, daß es die Bredeway-Tankstelle gar nicht hätte sein können, weil die morgens erst um halb neun aufmachte. Vine fuhr nach Kingsmarkham zurück, holte Constable Archbold ab, und zusammen nahmen sie die zweite Phase des Unternehmens in Angriff: sich in den Haushaltswarengeschäften zu erkundigen, die Paraffin verkauften. Das große Tor an der Doppelgarage stand offen. Beide Autos waren weg, das von Devenish und das seiner Frau. Der Rasen vor dem Haus war mit roten Blütenblättern bedeckt, die vom Kastanienbaum gefallen waren. Wexford läutete an der Haustür, und als niemand kam, läutete er noch einmal. Im Obergeschoß ging ein Fenster auf, und Fay Devenish streckte den Kopf heraus. 205 »Können wir Sie kurz sprechen, Mrs. Devenish?« Sie ließ sie ungern herein, das war offensichtlich, wußte aber keine Ausrede. Die Unfähigkeit der meisten Angehörigen der Mittelschicht, nein zu sagen, war für die Polizei von enormem Vorteil, dachte Wexford oft. In der Psychotherapie wurde immer behauptet, man bringe den Patienten bei, daß es für ihr Selbstwertgefühl und ihren Seelenfrieden weder nötig noch wünschenswert war, ständig alles zu akzeptieren. Ja zu sagen war konziliant, entsprang dem kraftlosem Wunsch, anderen zu gefallen und sich einzuschmeicheln. Manchmal fragte er sich, welche Auswirkungen es wohl auf die Arbeit der Polizei hätte, wenn eine Generation von Leuten aufwuchs, denen man beigebracht hatte, Aufforderungen und Einladungen abzulehnen. Fay Devenish gehörte ganz offenkundig nicht zu ihnen. Sie sagte zwar nicht gerade, es sei schön, sie zu sehen, war aber drauf und dran. Ihr Mann arbeite heute nur den halben Tag. Ob sie ihnen Tee oder Kaffee anbieten könne? Ob es ihnen etwas ausmachen würde, wenn sie sich ins Arbeitszimmer setzten, da das Wohnzimmer noch nicht »gemacht« sei? Sie trug eine Art Hausfrauentracht, wie sie Wexford schon seit vierzig Jahren nicht mehr gesehen hatte: Eine altmodische Kittelschürze zum Wickeln verdeckte Bluse und Rock, und auf dem Kopf hatte sie ein rotkariertes Staubtuch zu einem Turban gebunden.
Ihr Gesicht war blaß und glänzend, ohne Make-up. Lippenstift, Puder und Wimperntusche wurden vermutlich erst aufgetragen, wenn die Hausarbeit beendet war und der Gatte zurückerwartet wurde. Ja, dann würde sie sich anziehen und anmalen und sich frisieren wie eine Hausfrau in der Werbung der fünfziger Jahre. (»Sei immer frisch und adrett für ihn und zieh etwas Hübsches an, wenn er nach einem schweren Arbeitstag heimkommt.«) Doch dann fiel Wexford wieder ein, daß ihr kleines Kind, ihre einzige Tochter, ihre Dreijährige vermißt wurde, und er stellte erschrocken fest: Das alles paßte überhaupt nicht zusammen. 206 Sie gingen ins Arbeitszimmer, wo Fay bei Wexfords letztem Besuch auf dem Ledersofa gelegen hatte. Nun setzte sie sich auf die Sofakante und sah die beiden erwartungsvoll an. So sehr entsprach sie der Beschreibung, die er Bürden gegeben hatte - müde und viel älter wirkend, als sie war -, daß er sich für einen Augenblick fragte, was ein cleverer, gutaussehender, wohlhabender und erfolgreicher Mann wie Devenish eigentlich an ihr fand: ein vorzeitig gealtertes Gesicht und schlaffe Augenlider. Wie würde sie wohl mit fünfzig aussehen? »Mrs. Devenish«, begann er, »ich glaube, Sie wissen, daß wir Ihren neuen Wagen untersuchen und bestimmten Labortests unterziehen. Sie selbst haben ihn nicht gefahren, aber hätte jemand anders damit fahren können?« »Ich würde mein Auto nicht ausleihen«, sagte sie mit ihrer leisen, fast kindlichen Stimme. »Nicht einmal Ihrem Mann?« Er glaubte, sie zusammenzucken zu sehen - aber wieso sollte sie? »Mein Mann hat seinen eigenen Wagen. Er braucht nicht mit meinem zu fahren.« »Ich glaube, Sie haben eine Freundin namens Jane Andrews«, schaltete sich Bürden ein. Sie zögerte. »Früher einmal.« »Aber inzwischen nicht mehr?« Wexford forschte in ihrem Gesicht nach Anzeichen von Bestürzung oder Verschlossenheit, konnte aber nichts erkennen. »Woran ist die Freundschaft zerbrochen? Macht es Ihnen etwas aus, es uns zu sagen?« »Wir haben uns auseinanderentwickelt«, sagte sie. »Das kommt manchmal vor bei Freunden.« »Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt?« Ihr gequälter Ausruf kam unerwartet. »Warum muß ich Ihnen das denn sagen? Was hat das mit meiner Kleinen zu tun?«
»Wann haben Sie Miss Andrews zuletzt gesehen, Mrs. Devenish?« »Das ist lang her. Vor sechs oder sieben Jahren.« Plötzlich 207 wurde sie gesprächig. »Sie wollten wissen, wie wir uns kennengelernt haben. Wir haben beide Betriebswirtschaft studiert. Das ist jetzt siebzehn Jahre her. Es ist so, mein Mann kann sie nicht leiden. Er hält nichts von ihr; sie war nämlich zweimal verheiratet und ist zweimal geschieden.« Sie mußte ihre verblüfften Blicke bemerkt haben. War die komplizierte Ehegeschichte einer Freundin Grund genug, die Freundschaft zu lösen? »Ich glaube nicht, daß es in einer Ehe möglich ist, eine Freundin zu behalten, wenn der Partner sie nicht mag.« Sie hörte sich unsicher an. »Ganz egal, ob es der Mann oder die Frau ist, meinen Sie nicht?« »Ich würde gern noch einmal auf die Nacht zurückkommen, in der Sanchia verschwunden ist, Mrs. Devenish.« Wexford betrachtete sie eine Weile schweigend. Mit ihrer altmodischen Art und ihren überholten Vorstellungen von der Ehe, ihrer Hausfrauenkluft und ihrer Nervosität, der Angst vor etwas Unbestimmtem, die sie zu umgeben schien, war sie ihm ein Rätsel, und wie er zu ihrem Mann bereits gesagt hatte, lag ihm daran, daß Rätsel gelöst wurden. Angst läßt, wenn jemand täglich mit ihr lebt, nur bis zu einem gewissen Grad nach und auch nicht für lange, sie zehrt ihr Opfer auf, läßt es alt und erschöpft werden, macht es vielleicht sogar verrückt, tötet es vor der Zeit. Er sah das nicht zum erstenmal. »Sie kommen mir nicht so vor«, sagte er, »als hätten Sie einen besonders tiefen Schlaf. Ich weiß es natürlich nicht, ich bin kein Arzt, aber ich würde sagen, Sie waren bisher ziemlich angespannt, oft nervös, wogegen Ihr Mann im großen und ganzen einen ruhigen, ausgeglichenen, beherrschten Eindruck macht. Und doch höre ich von Ihnen beiden, daß er nachts Beruhigungsmittel nimmt, nicht Sie.« Sie versuchte zu lachen. Es klang kläglich, angestrengt. »Ich sehe vielleicht nicht aus wie eine Tiefschläferin, aber ich bin eine.« »Da er etwas eingenommen hatte und Sie einen tiefen Schlaf haben, hat keiner gehört, wie Ihre Kleine aus ihrem 207 Zimmer geholt und die Treppe hinuntergetragen wurde, direkt an Ihrer Tür vorbei. Denken Sie daran - inzwischen wissen wir, daß sie nicht durch das Fenster nach draußen gebracht werden konnte, sondern an Ihrer Tür vorbei die Treppe hinuntergetragen wurde.«
»Die meisten Mütter«, warf Bürden ein, »oder die meisten Eltern bekommen mit der Zeit einen leichten Schlaf, weil sie nachts immer aufwachen, wenn ihre Babys weinen oder ihre Kinder nach ihnen schreien. Es dauert Jahre, bis sich das wieder gibt, manchmal erst, wenn die Kinder schon groß sind, wenn überhaupt.« »Aber Sie gehören nicht zu diesen Eltern«, fragte Wexford, »obgleich Sie drei Kinder haben?« »Ich habe nichts gehört. Ich habe geschlafen«, sagte sie. Beim Hinausgehen dreht sich Wexford noch einmal um und sagte fast nebenbei: »Mrs. Devenish, wie alt ist Ihr Ältester?« »Zwölf.« »Hm. Er sieht älter aus. Wie viele Kinder heutzutage. Dann kann er also noch lange nicht Auto fahren, nehme ich an?« Sie zögerte. »Er hat es schon versucht - na ja, hier auf dem Vorplatz und in der Auffahrt. Das ist doch nicht verboten, oder? Auf einem Privatgrundstück?« »Nein, das ist nicht verboten, Mrs. Devenish.« »Ums Autofahren reißen sie sich doch alle, und Edward ist schon so groß.« Als sie gerade gehen wollten, überraschte sie sie plötzlich mit der Bemerkung: »Das ist wirklich furchtbar mit dem armen Polizisten, auf so eine schreckliche Art ums Leben zu kommen.« Der Bericht über den weißen VW Golf, Devenishs Geburtstagsgeschenk an seine Frau, bestätigte größtenteils Wexfords Vermutungen. Keine Fingerabdrücke auf dem Lenkrad, an dem immer noch Fetzen der ursprünglichen Plastikschutzhülle klebten. Die Abdrücke von fünf Personen Devenish, seinen Söhnen, Fay Devenish und zweifellos dem Mann, der 208 den Wagen in den Showroom geliefert hatte - befanden sich über den gesamten Innenraum verstreut. Daran war jedoch nichts Außergewöhnliches. Erklärbar nur, falls Sanchia ebenfalls im Auto gesessen hatte, war das Vorhandensein von Babyfingerabdrücken und drei hellen Haaren vom Kopf eines Kleinkindes. Aber hieß das auch, daß sie in der Nacht ihres Verschwindens in dem Wagen fortgebracht worden war? Sicher hatte Sanchia das neue Auto gehörig bewundert, war auf dem Rücksitz herumgekrabbelt, während ihre Brüder vorn saßen und an den Armaturen hantierten, ihre Mutter ihre Freude und Dankbarkeit zum Ausdruck brachte und ihr Vater huldvoll danebenstand. »Können Sie sich einen einzigen Grund denken, wieso Devenish sein eigenes Kind entführen sollte?« fragte Bürden bei einem Drink zwischendurch im
Olive and Dove. »Was ist sein Motiv? Was hätte er überhaupt davon? Ich meine, wenn eine andere Frau im Spiel wäre, mit der er sich eine Zukunft vorstellt, könnte ich ja doch einsehen, daß er das Kind in ihre Obhut gibt. Denn falls er und seine Frau geschieden würden und Fay das Sorgerecht für die Kinder bekäme, hätte er immer noch Sanchia. Ich kann es mir so in etwa vorstellen, trotzdem stimmt es hinten und vorne nicht.« »Einmal angenommen, es würde sich so abspielen, wie hoch wären dann seine Chancen, daß er damit durchkommt?« überlegte Wexford. »Ziemlich gering. Wenn Sanchia nicht schon vorher gefunden wird, dann spätestens, wenn er mit dieser Frau zusammenzieht. Außerdem existiert da keine Frau, und wenn, dann mußten die beiden ihre Existenz mühsam geheimhalten, was eigentlich nur geht, wenn sie diese Entführung schon geplant hatten, als sie ein Verhältnis miteinander anfingen.« Bürden starrte auf die glitzernde dunkle Krone seines Biers wie ein Hellseher in die Kristallkugel. »Wissen Sie was?« sagte er. »Ich glaube nicht an diese Drohbriefe. Die sind bestimmt nur Devenishs plumpe Erfindung, um uns davon abzuhalten, bei ihm nachzuforschen. Wenn er welche bekom 209 men hat, wieso hat er sie dann nicht aufbewahrt? Oder zumindest einen? Das ganze Geschwätz von wegen, sie seien stilistisch ausgefeilt oder das mit der biblisch klingenden Stelle, das hat er doch bloß erwähnt, damit wir ihn für gebildet halten und denken, er wüßte gute Prosa zu schätzen.« »Vielleicht haben Sie recht. Wenn wir wüßten, wieso Sanchia entführt wurde, dann wären wir schon ein gutes Stück weiter, sie zu finden. Es gibt kein Motiv, sie zu entführen und zu verstecken. Keinen Grund, das Kind aus seinem Zuhause herauszureißen und seine Frau diesen Torturen auszusetzen. Ich verstehe, wie es abgelaufen ist, aber so sehr ich mich bemühe, ich finde einfach keine Antwort darauf, warum.« »Haben Sie vielleicht eine Antwort darauf, wieso irgendein Schurke Ted Hennessy hätte töten wollen? Wegen nichts. Bloß weil jemand sich weigerte, Tatsachen zu begreifen, die schon hundertmal erklärt worden sind. Haben Sie darauf eine Antwort? Ich nicht.« 209
15
Als ihr Wagen auf der alten Umgehungsstraße liegenblieb, hatte Lynn den Gedanken, wie sie Vicky in die Falle locken könnte, längst aufgegeben. Immerhin hatte sie nach dem seltsamen Erlebnis mit dem Flotten-DreierPärchen noch einige Versuche unternommen, die aber alle zu nichts geführt
hatten. Vicky, davon war sie inzwischen überzeugt, war untergetaucht, hatte ihren ausgefallenen Plan aufgegeben, junge Frauen für ihre Hausarbeit zusammenzufangen - falls das ihr Motiv gewesen war -, und sich mit oder ohne Jerry in ihrem eigenen Haus zur Ruhe gesetzt, wo immer es sich befand. Außerdem bekam Lynn allmählich ein schlechtes Gewissen. Sie hätte sich nicht ohne Genehmigung auf diese Sache einlassen sollen. Auf dem Heimweg nach Framhurst war sie noch bei Laura Hennessy gewesen. Laura war zwar nicht ihre Freundin und Ted kein Freund von ihr gewesen, doch sie hatten zusammengearbeitet, und Lynn hatte ihn gut leiden können, und im übrigen war es eine schreckliche Tragödie und, wie sie zu Laura sagte, so sinnlos. Zwei kleine Kinder hatten nun keinen Vater mehr, auf dem Haus lastete noch eine hohe Hypothek, und auch wenn die staatliche Entschädigung dafür aufkam, bedrückte es sie doch. Lynn war ziemlich elend zumute, als sie die kleine Reihenhaushälfte in der Orchard Road verließ und daran dachte, was für einen riskanten Beruf sie ausübte, welchen Gefahren sie und ihre Kollegen täglich ausgesetzt waren und wie wenig Dank, oder gar Respekt, sie dafür ernteten. Einen passenden Zeitpunkt für eine Autopanne gibt es eigentlich nie, aber in manchen Momenten wäre es weniger 210 nervenaufreibend als in anderen. An einem dunklen, regennassen Abend, wenn der Freund auf Geschäftsreise ist, der gleichaltrige Berufskollege gerade verbrannt ist und es anscheinend auf der ganzen Welt keinen gibt, mit dem man reden könnte, durfte es nicht passieren. Ein kleiner Trost war die Tatsache, daß der Fiesta nicht auf der Überholspur fuhr, als der Motor abstarb, sondern ganz dicht am Rand und aus keiner Richtung Verkehr kam. Der Motor starb ab, der Wagen rollte aus und schien vollkommen zusammenzubrechen, obwohl natürlich alles heil blieb und er eben nur nicht weiterfahren wollte. Lynn versuchte alles, damit er wieder ansprang, jedoch ohne Erfolg. Technisch war sie nicht besonders begabt. Sie freute sich, daß auf der Straße kein Verkehr herrschte -nur ein Lastwagen fuhr vorbei und danach ein Motorrad -, weil sie sich gar nicht helfen lassen wollte. Das Naheliegende war nun, die Sondernummer des Automobilclubs anzurufen. Die kämen so schnell wie möglich, also sehr schnell, vielleicht in zehn Minuten. Es hatte aufgehört zu regnen, und ein dunstverhangener, orangefarbener Mond zeigte sich. Später war Lynn heilfroh, daß sie ihr Mobiltelefon nicht auf dem Sitz hatte liegenlassen, als sie aus dem Wagen stieg. Um ein Haar hätte sie es dort zurückgelassen, weil sie nicht damit rechnete, es zu brauchen,
während sie draußen neben dem Wagen stand, um ein bißchen frische Nachtluft zu schnappen und auf den Mann vom Automobilclub zu warten. Vermutlich hatte es damit zu tun, daß man ihr in der Ausbildung eingeschärft hatte, sich nie von ihrem Telefon zu trennen. Die Warnblinker des Fiesta funktionierten noch, obwohl der Motor hinüber war. Sie gingen an und aus, an und aus in der Dunkelheit. Es lag an den Bäumen, an dem undurchdringlichen Wald, der die zweispurige Straße in diesem Abschnitt an beiden Seiten säumte, daß alles so finster und geheimnisvoll und - seltsam auf einer nassen Straße bei Nacht -schön aussah. Denn der endlose Regen, der tagtäglich als Sturzbach oder Nieseln, als sanfter Dunst oder gleichmäßiger 211 Guß herunterkam, dieser unablässig strömende Regen hatte die Buchen mit ihren fedrigen Zweigen, die langblättrigen Kastanien, die Linden, Weißbuchen und Eichen so reichlich genährt, daß sie grüner waren, als Lynn sie je gesehen hatte, grüner, üppiger, frischer und ausladender. Da mußte erst ihr Auto liegenbleiben, damit sie die Bäume gebührend bewunderte, dachte Lynn und ging auf den Waldrand zu, um zwischen den Baumreihen hindurchzuspähen, wo der Regen von den glänzenden Blättern tropfte, die im bleichen Mondlicht smaragdgrün aufblitzten. Beim Herannahen eines Wagens drehte sie sich um. Sie nahm an, es sei der Mann vom Automobilclub, doch der war es nicht, sondern ein weißes Auto mit einer Frau am Steuer, die sich zum Beifahrerfenster hinüberbeugte und fragte, ob sie Hilfe brauche. Beinahe hätte Lynn sich bedankt und gesagt, sie habe schon den Automobilclub verständigt, der jeden Moment kommen müsse, doch dann bemerkte sie, daß die Frau im mittleren Alter und kräftig gebaut war und ungewöhnlich üppiges graues Haar hatte. Spannung ergriff sie, straffte ihre Bauchmuskeln, und sie vergaß ihren Vorsatz, nichts auf eigene Faust zu unternehmen. »Eigentlich möchte ich aber nicht allein hier warten, bis die kommen. Wenn Sie mich bloß bis zu einer Tankstelle mitnehmen könnten? Ich kenne mich hier nicht aus, aber man sagte mir, daß es an der Ausfahrt Myfleet eine gibt, die die ganze Nacht geöffnet hat. Das wäre wirklich nett von Ihnen.« Lynn hatte sich noch nie so naiv und kleinmädchenhaft daherreden hören. Die Frau stieß die Tür auf, und sie stieg ein, wobei sie inständig hoffte, daß der Mann vom Automobilclub erst käme, wenn sie schon weg waren. Dann saß sie neben der Frau, die vielleicht Vicky war, die ganz sicher Vicky war, und hatte großes Mitleid mit dem armen Mann vom Automobilclub, der vielleicht
gerade Feierabend machen und nach Hause zu Familie und Abendessen fahren wollte und bei seiner Ankunft am Pannenort feststellen müßte, daß sie das Auto einfach hatte stehenlassen und verschwunden war, und 212 sich dann sicher fragte, was um Himmels willen aus ihr geworden war. Auf das hier würde er aber nicht kommen. Lynn plapperte der Frau noch ein bißchen vor, wie nett sie doch sei und wie schlimm es gewesen wäre, wenn sie nicht gekommen wäre, sie, Lynn, habe nämlich furchtbar Angst so allein auf einer einsamen Landstraße im Dunkeln, man las ja so furchtbare Sachen. Es wurde immer wahrscheinlicher, daß es sich bei der Frau tatsächlich um Vicky handelte, denn sie hatte nicht gewendet, um in Richtung der Ausfahrt Myfleet zu fahren, sondern brauste inzwischen die Umgehungsstraße zum Abzweig Myringham entlang. Beunruhigt wollte Lynn sich aber noch nicht zeigen, denn das hätte nicht zu ihrer vertrauensvollen Kleinmädchenpose gepaßt. Sie hatte Vickys Kopf ganz genau betrachtet und war sich jetzt ziemlich sicher, daß die stark gewellte, üppige Frisur eine Perücke war, hatte sich gründlich im Wagen umgesehen und dabei angemerkt, das sei aber ein schönes Auto. Nun paßte sie genau auf, wohin sie fuhren, und sagte zu Vicky, die Landschaft hier in der Gegend sei ja wirklich schön, das hätte sie gar nicht gewußt. Und dann sagte Vicky das, worauf sie schon gewartet hatte: »Übrigens, ich heiße Vicky.« »Lynn«, sagte Lynn. »Gleich sind wir bei der Tankstelle. Da vorn biegen wir links ab.« Vicky bog links ab und manövrierte den Wagen einen Feldweg entlang, der etwa so breit war wie Lynns Doppelbett. Die regennassen Pflanzenwedel, die auf der steilen Böschung wuchsen, Hirschzungenfarn, Bingelkraut und Aronstab, streiften seitlich am Auto entlang. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, überlege Lynn, um zu sagen, das sähe aber nicht nach dem Weg zur Tankstelle aus, dies wäre die angemessene Bemerkung, im Tonfall wachsender Aufregung hervorgebracht, doch sie unterließ es, und Vicky schien es nicht aufzufallen. Wo waren sie? Über einen etwas verschlungenen Umweg auf dem Weg nach Myringham? Jedenfalls bestimmt gute 212 fünfzehn Meilen von Sayle und dem Bungalow der Chorleys entfernt. Aber schließlich verdiente sich Vicky ihren Lebensunterhalt ja damit, anderer Leute Häuser zu hüten. Seit Rachel Holmes hatte es weitere Sunnyhills gegeben,
mindestens eins, das sie gehütet und in dem sie Jerry versorgt hatte. Dahin fuhr sie jetzt, dachte Lynn, deren innere Spannung sich nun in leisem Keuchen und Luftanhalten manifestierte. Sie sah auf die Uhr. Zehn vor zehn. Liebe Güte, dort übernachten wollte sie nicht, aber wenn es sein mußte... Der Wagen kroch durch das nasse, enge, grüne Tunnelsträßchen, um fast mit einem leisen Seufzer der Erleichterung auf eine etwas breitere Straße herauszuspurten. Dann bog er links ab, und im Scheinwerferlicht sah Lynn ein Straßenschild, das Myringham in fünf und Upper Brede in drei Meilen Entfernung anzeigte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, sich beunruhigt zu geben. »Hier soll die Tankstelle aber nicht sein«, sagte sie. »Die war geschlossen«, entgegnete Vicky. »Die in Upper Brede hat die ganze Nacht auf.« Lynn wollte nicht zu intelligent klingen, andererseits würde übertriebene Dummheit womöglich Argwohn erregen. »Haben die einen Mechaniker oder bloß Zapfsäulen, was meinen Sie?« »Die haben einen Mechaniker«, sagte Vicky. »Keine Sorge. Ich war schon oft dort.« Sie lächelte, als würde sie Lynn ansehen und nicht die vor ihr liegende Straße. »Und jetzt unterhalte mich mal, erzähl mir was von dir. Ich mache mir hier schließlich einige Umstände, dir zu helfen. Dann kannst du wenigstens den Mund aufmachen.« Plötzlich klang sie ziemlich mißmutig und indigniert. Das wäre wohl das Stichwort, dachte Lynn, um es mit der Angst zu tun zu bekommen. Trotzdem tat sie wie geheißen - jedenfalls mehr oder weniger - und tischte Vicky eine völlig frei erfundene Geschichte von einer jungen Frau auf, die bei ihren Eltern in Stowerton wohnte und mit deren Auto nach einem Abend mit einer alten - natürlich weiblichen - Schulkamera 213 din von Kingsmarkham nach Hause unterwegs gewesen war. Sie war neunzehn Jahre alt und hatte, was Vicky nun vielleicht etwas komisch fände, noch keinen Freund. Sie arbeitete als Sprechstundenhilfe in einer Tierarztpraxis in Kingsmarkham, was aber bei weitem nicht so toll war, wie es sich anhörte. Es ging hauptsächlich darum, den Dreck wegzuputzen und Fußböden zu schrubben! Lynn war ziemlich stolz auf sich, daß es ihr gelungen war, ans Ende dieses letzten Satzes ein hörbares Ausrufezeichen zu setzen. »Klingt ja aufregend«, sagte Vicky. Sie hatte sich in der kurzen Zeitspanne von zehn Minuten vollkommen verändert - die freundliche Herzlichkeit war erst Schroffheit und dann kaum verhohlenem Hohn gewichen. Während sie nun in eine andere schmale
Landstraße einbogen und gleich darauf in die Einfahrt eines großen, hellerleuchteten und relativ neuen Hauses fuhren, sagte sie in etwa dem Ton, den eine boshafte Gefängniswärterin gegenüber einer widerborstigen Gefangenen anschlagen würde: »Also dann, steig aus. Aber komm nicht auf dumme Gedanken, ich bin direkt hinter dir.« Lynn war keine besonders gute Schauspielerin und wußte nicht, wie das Mädchen, das sie zu sein vorgab, in dieser Situation reagieren würde. Also gehorchte sie einfach. Wie belemmert kletterte sie aus dem Auto und hastete an die Haustür, die in dem Moment, als die beiden ankamen, von innen geöffnet wurde. Vicky versetzte ihr unvermittelt einen Stoß, so daß sie über den Türvorleger stolperte und beinahe hingefallen wäre. Beinahe, aber nicht ganz. Komisch, daß ihr im gleichen Augenblick etwas einfiel, was Wexford einmal gesagt hatte: Knapp vorbei ist auch daneben, und dann hatte er hinzugefügt, das habe der Herzog von Wellington gesagt, nachdem ihn im Hyde Park jemand mit einem aufs Geratewohl abgegebenen Schuß fast ins Jenseits befördert hätte. Sie stolperte aber nur. Als sie aufsah, kreuzte sich ihr Blick mit einem Paar steingrauer, stumpfer Augen in einem merkwürdig ausdruckslosen Gesicht. Erst dachte sie, das Gesicht 214 sei schief, eine Backe hinge etwas tiefer herunter, doch es war eine Täuschung. Der Mann war etwas größer als sie, dünn, hatte schütteres Haar und war mit einem ziemlich abgewetzten Nadelstreifenanzug bekleidet. Er sah traurig aus, als ob er nie lachen würde, nie lachen könnte, als ob er nicht wüßte, wie man die dazu erforderlichen Muskeln bewegte. Lynn sah über die Schulter zu der reglos dastehenden Vicky hinüber, dann wieder zu dem Mann, der wohl Jerry sein mußte, und sagte das, was die nette, kleine Tierarzthelferin sicherlich in dem Fall gesagt hätte: »Was soll ich hier? Wo bin ich hier eigentlich?« »Fragen nützt nichts«, erwiderte Vicky, »weil ich dir's nicht sage. Wieso auch? Dir bleibt gar nichts anderes übrig. Hier bist du, und hier bleibst du, bis ich entscheide, ob du geeignet bist.« »Geeignet?« fragte Lynn. »Geeignet für meine Zwecke. Und jetzt sag hallo zu Jerry. Haben dir deine Eltern eigentlich keine Manieren beigebracht?« Lynn begrüßte Jerry, der den Gruß mit ausdruckslosem, schweigendem Starren erwiderte.
Keins der Haushaltsgeschäfte, die Paraffin verkauften, öffnete vor halb zehn Uhr morgens. Vine mußte seine Vorstellung überdenken, einer der Unruhestifter habe sein Paraffin am Morgen des Tages gekauft, an dem die Bombe geworfen wurde. Allmählich gelangte er zu der Überzeugung, eine völlig falsche Fährte zu verfolgen,- Benzin und Paraffin waren schließlich so gebräuchlich und weit verbreitet, daß eins von ihnen oder beide gewiß in jedem zweiten Haushalt verfügbar waren. Trotzdem hatte er den ganzen Tag damit zugebracht, in Eisenwarenhandlungen und Haushaltsgeschäften herumzufragen in der Hoffnung, die sich sodann als vergeblich herausstellte, das Verkaufspersonal könnte ihm vielleicht von einem Stammkunden berichten, der häufig Paraffin kaufte. Abends war er wieder im Rat & Carrot, um sich noch ein 215 mal mit Andy Honeyman zu unterhalten. Vine fand es schwer zu begreifen, wie sich jemand merken konnte, was ein anderer gesagt hatte und was die Begleitumstände waren, ohne den Mann dann beschreiben zu können. Entweder log Honeyman, oder es mangelte ihm vollkommen an Beobachtungsgabe, oder er litt unter an Gedächtnisschwund grenzender Vergeßlichkeit, denn er leugnete standhaft, jenen Gast des Rat &. Carrot zu kennen, der Colin Crowne erzählt hatte, wie man eine Benzinbombe herstellte. Ebensowenig konnte er sich daran erinnern, wer außer Colin, Joe Hebden und Terry Fowler noch dabeigewesen war. Von Vine heftig unter Druck gesetzt, rückte er schließlich damit heraus, daß auch eine Frau dabeigewesen war, die er vom Sehen kannte. Sie wohne in der Glebe Road, und er glaube, sie hieß Jackie. Mit alldem konnte Vine aber herzlich wenig anfangen, daher fuhr er wieder zum Muriel Campden Estate, um Colin Crowne und Terry Fowler erneut zu vernehmen. Colin hatte sich schon vor der Bombenwerferei und Ted Hennessys Tod ins Bett gelegt. Die Schmerzen, die ihm seine Gürtelrose bereiteten, dazu noch Miroslav Zlatics Weigerung, ihm zuzuhören oder ihm auch nur ein Zeichen zu geben, daß der Serbe ihn verstand, als Colin von ihm wissen wollte, was dieser denn nun zur Unterstützung von Lizzies Kind beizutragen gedenke, dieser Streß also sei einfach zuviel für ihn gewesen und habe sein Unwohlsein noch verstärkt. Am darauffolgenden Tag sei ihm vom Jugendamt in Kingsmarkham mitgeteilt worden, daß der Wert eines virtuellen Babys mit tausendzweihundertvierundfünfzig Pfund achtzig veranschlagt wurde, daß er Jodi zu ersetzen habe und man die Summe mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bei ihm eintreiben wolle. Colin war klar, daß damit das Grafschafts-
gericht gemeint war und ihm womöglich der Gerichtsvollzieher ins Haus stand. Als Vine kam, wollte er gar nicht aufstehen, doch nachdem ihm Debbie heftig zugeredet hatte, kam er schließlich doch in Trainingshosen und T-Shirt herunter. Vine ließ ihn noch einmal von Anfang an erzählen, daß er 216 allein aus verständlicher Neugier hatte wissen wollen, wie man eine Benzinbombe herstellt. Er persönlich habe als gesetzesfürchtiger Bürger ja keinen Schimmer von diesen Dingen, habe aber eben das eine oder andere schon mal im Fernsehen gesehen, also, wie man Flaschen schmiß, die dann explodierten, und Autos in Brand steckte, und da habe er natürlich wissen wollen, wie so etwas ging. Ein gutes Wort für seinen Nachbarn einlegend, bestätigte er, daß Joe Hebden darüber genauso dachte. »Aber Ihre verständliche Neugier hat Sie nicht so weit geführt, den Namen desjenigen erfahren zu wollen, der Sie instruiert hat?« »Der mich was?« »Der Ihnen gesagt hat, wie es geht?« »Ich hab' ihn doch gar nicht gefragt. Der hat sich einfach eingemischt. Ich hab' den nicht gefragt, wie man so was macht. Wie ich meinen Kumpel gefragt hab', kam der vorbei und hat sich eingemischt.« »Wie sah er denn aus?« wollte Vine wissen. Die Frage hatte er ihm schon einmal gestellt. Colin Crowne gab ihm die gleiche Antwort. »Na, das war eben so ein Typ, in den Zwanzigern, bißchen älter vielleicht, was weiß ich. Kann ich doch nicht wissen, daß ich mir das merken soll, oder?« Bei Terry Fowler machte ihm einer der Söhne die Tür auf. Der andere saß mit seinem Vater auf dem Sofa, während im Fernsehen Crimewatch lief, und aß Tacochips. Das Crownsche Heim war alles andere als makellos, doch dieses Haus hier zählte zu den schmutzigsten und verwahrlosesten, die Vine je gesehen hatte. Seit Terrys Frau ihn verlassen hatte, war hier nicht mehr geputzt worden. Auf dem Fußboden hinter dem Fernseher lag etwas, von dem Vine - sich rasch abwendend - hoffte, daß es sich um Hundescheiße handelte, jedoch befürchtete, daß es menschlichen Ursprungs war. Diesmal konnte Terry ihm ein wenig weiterhelfen. Er kannte diese Jackie über ihre Schwester, deren Sohn mit 216 seinen beiden zur Schule ging. Die Schwestern wohnten nebeneinander in der Glebe Road, mehr konnte er dazu nicht sagen. Daraufhin fingen die beiden
kleinen Fowlers an, ohne jede Scheu oder Schüchternheit von einem anderen Schulfreund zu erzählen, Cousin von irgend jemandem, einem sechsjährigen Jungen, der einen eigenen Computer hatte und im Urlaub in Florida Disneyworld besucht hatte. Vine fand, daß das nun überhaupt nicht dazugehörte - sie durchstreiften die umfangreichen Verästelungen einer ganzen Reihe von Kingsmarkhamer Familien -, und versuchte, das Thema auf Jackie zurückzubringen. Er habe sie erst einmal gesehen, sagte Terry, in Gesellschaft von Charlene Hebden, weiter könne er ihm aber auch nichts sagen. Der sechsjährige Kim Fowler begleitete Vine an die Tür. Er war das, was Vines Großmutter ein altmodisches Kind nannte, und entschuldigte sich für den schmutzigen Fußboden und den überall herumliegenden Staub. »Das hat sonst Mum immer gemacht«, sagte er, »aber die ist fort und hat uns allein gelassen, und jetzt macht es niemand. Dad sagt, Putzen ist was für Frauen, nicht für Kerle.« »Na«, gab Vine zurück, »da gibt's aber ein paar Kerle, die sich Neue Männer nennen, die putzen auch.« »So welche haben wir hier nicht.« Kim reckte sich, um die Tür aufzumachen, und konnte die Klinke knapp erreichen. »Die Jackie hat ein Mädchen, die heißt Kaylee«, sagte er, »und wollen Sie mal wissen, was der ihr Dad gemacht hat? Er hat sie durch ein Katzentürchen getan, damit sie Sachen klaut. Bloß ist er dafür nicht ins Gefängnis gekommen, die haben's ihm nämlich nicht beweisen können.« Tasneem kam in den Notrufraum, gerade als Sylvia nach dem fünften Anruf des Abends den Hörer auflegte. Es war halb elf, stockfinstere Nacht und regnete in Strömen. Sylvia hatte die Jalousie nicht heruntergelassen, und der Regen hing wie ein beweglicher, glitzernder Silberschleier vor der Scheibe. Nach all den beunruhigenden oder erschütternden Anrufen - unter 217 anderem hatte ihr ein Mann mit fanatischer Stimme und irischem Akzent gedroht, er würde kommen und sie sich schnappen und das gleiche mit ihr machen, »was sie mit der heiligen Märtyrerin Agatha gemacht haben« -, war sie immer froh über Besuch von Tasneem oder Tracy oder der Schwarzen mit dem Namen, den sie noch nicht richtig aussprechen konnte, oder der neu dazugekommenen Vivienne. Tasneem stellte sich ans Fenster und sah durch den Schleier aus Wassertropfen in die nasse, schwarze Nacht hinaus. Heute war dort allerdings überhaupt nichts zu sehen, doch wußte Sylvia, daß Tasneem oft hinausstarrte,
ungefähr in die Richtung der York Street und des Muriel Campden Estate, wo Kim und Lee wohnten. »Du weißt nicht zufällig Bescheid über die heilige Agatha, Tasneem?« fragte Sylvia. »Bei den Moslems gibt es keine Heiligen, Sylvia.« »Ach ja, stimmt. Ihr habt Propheten.« Das Telefon klingelte. »Hier ist der Notruf von The Hide«, meldete sich Sylvia. »Was kann ich für Sie tun?« »Mein Freund«, sagte eine atemlose Stimme, »wir sind letzte Woche zusammengezogen - äh, also ich bin bei ihm eingezogen. Er war immer so lieb, er ist wirklich ein netter Mensch, das sagen alle, und er war immer so zärtlich. Aber gestern abend hatte ich mich nach der Arbeit eine halbe Stunde verspätet, weil der Bus nicht kam, und habe ihn nicht angerufen - sind Sie noch dran? Können Sie mich hören?« »Ich bin dran«, sagte Sylvia. »Ich höre. Erzählen Sie weiter.« »Wie gesagt, ich hatte mich eine halbe Stunde verspätet, und als ich reinkam, hat er sich aufgeführt, als hätte ich was ganz Schreckliches getan, als hätte ich irgendwas verbrochen, und hat mich gepackt und wollte wissen, wo ich war und mit wem - liebe Güte, es war schließlich erst halb sieben am Abend -, und dann schlug er mich plötzlich - wumm, wumm - links und rechts ins Gesicht. Ich bin so erschrocken, ich wollte erst gar nicht glauben, was passiert war, außer daß ich 218 jetzt auf der linken Seite einen ziemlichen blauen Flecken habe. Er entschuldigte sich dann gleich, aber dann sagte er, ich solle doch verstehen, er hätte es getan, weil er sich solche Sorgen gemacht hatte.« »Wo sind Sie jetzt?« »Zu Hause, in meiner alten Wohnung. Die habe ich, Gott sei Dank, behalten. Er ist heute den ganzen Abend aus, und da fand ich diese Nummer in einer Telefonzelle und kam hierher, um Sie anzurufen. Wissen Sie, ich verstehe ja, daß er sich Sorgen machte - na ja, bis zu einem gewissen Punkt kann ich's verstehen -, aber man schlägt jemanden doch nicht, wenn man sich Sorgen um ihn macht, oder?« »Manche schon«, entgegnete Sylvia, »wie Sie inzwischen leider auch erfahren haben. Sie meinten gerade, Gott sei Dank hätten Sie Ihre alte Wohnung behalten. Das sagt doch alles.« »Sie finden also, ich soll hierbleiben und nicht zu ihm zurückgehen.« »Das muß ich Ihnen nicht mehr sagen, Sie wissen es schon.«
»Wenn so was passiert, nachdem ich eine Woche mit ihm zusammen bin, wie soll das erst nach einem halben Jahr werden, meinen Sie das damit?« Sylvia sagte, genau das meine sie damit, und wiederholte, die Anruferin wisse die Antwort ja bereits selbst, hätte aber eben noch Bestätigung und Unterstützung gesucht. Sie legte auf und erzählte Tasneem, was sie gerade gehört hatte. »So war Terry auch, ein echt netter Kerl, lieb und zärtlich und so weiter. Allerdings nur von weitem. Wenn man sich dann zusammentut, fängt es an, wenn man in den eigenen vier Wänden mit ihnen allein ist. Deinen Job würde ich auch gern machen, Sylvia, das wäre was, worüber ich richtig gut Bescheid weiß. Terry nannte mich immer dumm, er sagte, außer Kochen und Putzen könnte ich überhaupt nichts, aber wenn ich mich mit was auskenne, dann mit häuslicher Gewalt.« Sylvia nahm ihre Hand und drückte sie. »Du könntest dich 219 für den Notrufdienst ausbilden lassen, Tas, es wird allerdings nicht bezahlt, und du bist doch mitten im Studium. Und wenn du erst mal eine eigene Wohnung hast, wirst du von The Hide nichts mehr wissen wollen.« »Dann bekomme ich doch meine Jungs wieder, ja?« »Ganz sicher«, antwortete Sylvia, obwohl sie sich gar nicht so sicher war; mehr konnte sie aber nicht sagen, weil das Telefon schon wieder klingelte. Es war wieder der Ire mit seinen Drohungen. Sie legte auf, noch ehe er mehr als drei Wörter hatte sagen können, doch es waren drei sehr häßliche Wörter gewesen, und ihre Hand am Hörer zitterte. »So was Dummes, dabei müßte ich mich allmählich daran gewöhnt haben.« »An manche Dinge gewöhnt man sich nie«, sagte Tasneem voller Mitgefühl. »Stimmt. Ich glaube, von dem da erzähle ich meinem Dad, mal sehen, ob wir ihm das Handwerk legen können.« Griselda Cooper streckte den Kopf zur Tür herein und sagte, in der Nordwestecke des Hauses sei das Dach undicht, der Regen käme durch die Decke. Sie habe Vivienne in Tasneems Zimmer verlegen müssen, hoffentlich hätte Tasneem nichts dagegen. Die sagte, sie freue sich über ein bißchen Gesellschaft, und Sylvia erkundigte sich bei Griselda, was man mit der heiligen Agatha angestellt hatte. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich haben sie sie auf den Rost gelegt oder aufs Rad gebunden, irgend so was Scheußliches. Wieso? Will das einer von unseren reizenden Anrufern mit dir machen?«
Daß sie sich mit ihrer Entführerin auf einen Handel eingelassen hatte, dachte Lynn, war wohl der Grund, daß ihr der mit Rohypnol versetzte Drink erspart geblieben war, den Lizzie Cromwell und Rachel Holmes bei ihrer Ankunft verabreicht bekommen hatten. Sie hatte sich nicht gewehrt und auch nicht sonderlich protestiert, nur etwas weinerlich gesagt, ihre Eltern würden sich doch Sorgen machen, aber wenn Vicky ihr 220 verspräche, sie am nächsten Morgen gehen zu lassen, würde sie die Nacht hier verbringen. Ob sie mal kurz ihre Eltern anrufen könnte? Das brachte Vicky zum Lachen. Zu einer Antwort ließ sie sich nicht herab, sondern musterte Lynn bloß von oben bis unten und sagte dann: »Die Hosen, die du da anhast, gehen aber nicht. Morgen früh müssen wir dir was anderes anziehen.« Allerdings durchsuchte Vicky sie nicht und sah auch nicht in ihre Tasche, in der das Mobiltelefon lag. Sie schien ihre Unterwürfigkeit und stillschweigende Duldung für das ganz gewöhnliche Verhalten einer selbständigen Neunzehnjährigen zu halten, denn Vicky war, wie Lynn schon bald feststellte, eine Egomanin von gigantischen Ausmaßen. Sie war nicht wachsam, skeptisch oder gar argwöhnisch, weil sie nur Augen für sich selbst hatte, sich selbst als den Inbegriff von Stärke, Macht und Rechtschaffenheit sah. Und Jerry natürlich dazu. Nachdem sie ihm gegenüber auf einen Stuhl plaziert worden war buchstäblich von Vicky drauf gesetzt worden war, die sie mit einer Hand auf jeder Schulter auf die Sitzfläche gedrückt hatte -, fand Lynn, eigentlich müßte sie sich selbst dazu gratulieren, daß sie keine Angst vor ihm hatte. Nur mit Mühe widerstand sie dem Gefühl von Furcht, das ihr wie ein schleichender Finger am Rückgrat hochkroch, und schüttelte es ab. Es waren vor allem seine Augen, diese Augen, deren Iris von mehr Weiß umgeben zu sein schien als die der meisten Leute, und sein Schweigen, so daß sie schon Zweifel bekam, ob er überhaupt sprechen konnte. Was für eine Art von Laut würde er wohl von sich geben? Seit sie im Haus war, hatte sie an das vermißte kleine Mädchen gedacht, auf Kindergeräusche gehorcht und sich im Zimmer nach Spuren umgesehen, die auf die Anwesenheit eines Kindes hindeuteten. Doch es hatte keine solchen Geräusche gegeben. Wer immer diesen Raum ausgestattet hatte, hatte vor allem eins im Sinn: eine bequeme und wohlisolierte Umgebung. Beige war die vorherrschende Farbe, und an Spiel 220
zeug, ob für Kinder oder für Erwachsene, hatten diese Leute kein Interesse. Hier war Sanchia nicht, außer Vicky war schlauer, als Lynn dachte. Nachdem Jerry sie zehn Minuten anscheinend ohne zu blinzeln angestarrt hatte, stand er auf und begann, im Zimmer umherzugehen, Gegenstände in die Hand zu nehmen und wieder hinzustellen, einen Aschenbecher, ein Zierfigürchen aus Messing in Gestalt einer Schildkröte. Aus einem Blumengesteck in einem Korb nahm er eine blaue Schwertlilie, hielt sie sich an die Nase, schnupperte daran, warf sie dann zu Boden und trat darauf. Zertrat sie nicht einfach, sondern trampelte wie besessen darauf herum und zermalmte sie völlig. Dann ging er zum Fenster hinüber, wo er mit dem Rücken zum Zimmer stehenblieb, obwohl die Vorhänge zugezogen waren. Vicky bückte sich und kratzte die Blütenreste vom Teppich, wo ein dunkelblauer Fleck zurückblieb. »Das kannst du morgen früh saubermachen«, sagte sie zu Lynn. »Wenn du gut ausgeschlafen hast.« Während Jerry Lynn angestarrt hatte und dann im Zimmer umhergestreift war, hatte sie ununterbrochen geredet und eine Art Erklärung abgegeben, jedenfalls so weit, wie sie es Lynn gegenüber für angebracht hielt. Dies sei nicht ihr Haus, sie betreue es für die Besitzer, die in Urlaub seien. Sie sei mit Jerry erst seit drei Tagen hier. Die Besitzer legten Wert darauf, daß ihr Haus makellos in Ordnung gehalten werde, wie Lynn sehen könne. Ihre Aufgabe sei es nun, daß dies so bleibe, aber als erstes würde sie, Vicky, ihr am nächsten Morgen zeigen, wie das Frühstück für Jerry gemacht wurde. »Zeit zum Schlafengehen«, sagte sie. »Liebe Güte, seht nur, es ist ja schon nach elf.« Auf dieses Stichwort hin fuhr Jerry plötzlich heftig herum, als böte das Thema Zeit für ihn eine besondere Faszination. An dem Hemd aus khakigrüner Baumwolle, das bis obenhin zugeknöpft war, ging bei seiner abrupten Bewegung der oberste Knopf auf und enthüllte zwei Pflasterstreifen, die ein Verbandspolster auf seiner Brust bedeckten. Vicky trat zu ihm 221 hin und knöpfte sein Hemd wieder zu. Sie tat es hastig, als wollte sie verhindern, daß Lynn die Pflaster sah. Er ließ sich von ihr versorgen, setzte sich aber, als sie fertig war, im Schneidersitz auf den Boden und lehnte sich an die Vorhänge. Seine Augen schlossen sich, sein Kopf sackte nach vorn - er sah aus, als würde er in dieser Position gleich einschlafen. Lynn war froh, von ihm wegzukommen. Sie ging nach oben, nicht ohne sich dabei das Innere des Hauses gründlich einzuprägen. Im Dunkeln war von außen nicht zu erkennen gewesen, daß das Haus ein zweites Stockwerk hatte,
doch nun wurde sie eine Treppe höher geschickt. Vicky ging hinter ihr und trieb sie vorwärts, wobei sie sagte, sie hätte nicht die ganze Nacht Zeit - unter den gegebenen Umständen eine ziemlich seltsame Bemerkung. Oben angekommen, zeigte Vicky ihr ein Bad, vor dem sie zweifellos Wache bezog, denn als Lynn wieder herauskam, wäre sie fast mit ihr zusammengestoßen. Die Tür zu dem Zimmer, das für sie gedacht war, machte Vicky hinter ihr auf. Danach geschah alles sehr schnell, und erst als es zu spät war, begriff Lynn, wie sehr sie die Frau unterschätzt hatte, denn als sie ins Zimmer trat, hörte sie ein Klicken und einen Schnitt und fühlte ihre Tasche von der Schulter gleiten. Vicky hatte den Riemen mit einer Schere durchschnitten. Lynn wirbelte herum, um Vicky zu packen, bekam aber nur ihre Haare zu fassen und hielt plötzlich die graue Perücke in der Hand. Die Tür wurde ihr vor der Nase zugeschlagen und der Schlüssel im Schloß umgedreht. Vicky war draußen, Lynn drinnen - ohne ihr Mobiltelefon. Eigentlich hatte sie sich ein ganz anderes Szenario ausgemalt. Vicky würde sie in ein Schlafzimmer bringen und neben ihr stehenbleiben, während sie sich auszog und das bereitgelegte Nachthemd überstreifte. Natürlich mit dem Rücken zu ihr wie die prüde Aufseherin, der sie gleichsah. Dann würden ihre eigenen Kleider mitgenommen und die Tür hinter ihr abgeschlossen werden, und sie könnte ihren Anruf tätigen. Doch es hatte sich ganz anders abgespielt. 222 Wexford wäre bestimmt sauer. Er war ein ganz anderer Mensch, wenn er sauer war - kalt und streng und ziemlich verachtungsvoll, allerdings nie unfair. Sie sei noch zu unerfahren, würde er sagen, ein Unternehmen dieser Art mit sich selbst als Lockvogel durchzuziehen. Sie hätte ihn oder Barry Vine vorher informieren müssen, sie hätte fragen sollen. Die Polizisten im Fernsehen wußten immer, wie man Türschlösser knackte, oder brachen sie, wenn sie zur rauhen Sorte gehörten, mit einem schwungvollen Fußtritt auf. Lynn wußte, wenn sie versuchte, die Tür aufzubrechen, würde sie so viel Lärm veranstalten, daß Vicky und Jerry kämen und sie gemeinsam überwältigten. Die Vorstellung, mit Jerry in ein Handgemenge zu geraten, behagte ihr gar nicht. Obwohl sie fest entschlossen war, keine Angst vor ihm zu haben, würde sie vermutlich laut schreien, wenn er sie auch nur mit der Fingerspitze berührte. Sie ging ans Fenster und zog die Vorhänge auf, nachdem sie zuvor das Licht gelöscht hatte. Zuerst konnte sie außer der Tatsache, daß der Regen aufgehört hatte, fast nichts erkennen. Sie öffnete beide Fensterflügel. In dem Zimmer unter ihr war noch Licht, ziemlich weit - etwa sechs Meter - unter ihr
übrigens, denn sie befand sich in einem zusätzlichen Anbau, der wohl erst vor ein paar Jahren hier oben angefügt worden war. Durch den Spalt zwischen den beiden Vorhängen schien das Licht als dünne, gelbe Linie auf das nasse, schwarze Pflaster. Es war weit bis nach unten, zu weit, um hinunterzuspringen, viel zu weit, wenn sie unten auf Beton aufkommen würde. Laken, Gardinen, Decken - keine dieser Möglichkeiten behagte Lynn sonderlich. Sie sah im Wandschrank nach. Er war vollgestopft mit Frauenkleidung, alten Kleidern oder jedenfalls Kleidern eines alten Menschen, die muffig und nach Mottenspray rochen. An zwei Kleidern hingen Gürtel, doch sie sah gleich, daß sie zu schwach für ihr Vorhaben waren. Sie setzte sich auf das Bett und horchte. Im Haus war es still. Bei einem Blick auf ihre Uhr stellte sie fest, daß es fünf 223 vor halb zwölf war. Sie bezweifelte, daß sie es von hier oben hören konnte, wenn die beiden ins Bett gingen, aber sie konnte sehen, wann das Licht ausging. Ob sie im gleichen Bett schliefen? Diese Vorstellung gefiel ihr auch nicht. Es nützte ihr nicht viel, zu wissen, ob sie im Bett waren, solange sie keinen Weg nach draußen finden konnte. Irgendwie mußte sie sich die Gegebenheiten des Zimmers zunutze machen. Es war nicht als Gefängnis gedacht, es war einfach das Gästezimmer. Hier übernachteten die Gäste der Besitzer, benutzten das angrenzende Bad und genossen vermutlich die etwas abgeschiedene Lage ganz oben im Haus. Besonders viel Wert auf Farben und Ausschmückung legten die Besitzer offensichtlich nicht, wohl aber auf Bequemlichkeit. Im Bad hatten weiche, flauschige Handtücher gelegen, dazu gab es neue Seifenstücke und ein Fläschchen teure Badeessenz. Vicky und Jerry hatten Sanchia nicht entführt, soviel war sicher. Es sei denn, sie hatten sie entführt, aber sie war nicht mehr hier, weil... Nein, daran wollte sie gar nicht denken, es gehörte nicht zu ihrer Aufgabe und stand ihr auch nicht zu, daran zu denken. Sie trat noch einmal ans Fenster. Dort unten brannte noch immer Licht. Jerry im Umgang mit einem Kind oder ein Kind in seiner Reichweite - sie mochte es sich gar nicht vorstellen. Vickys Perücke lag immer noch auf dem Boden, innen an der Tür, wo sie heruntergefallen war. Nun, die konnte Vicky sich holen, nachdem sie weg war. Wenn man etwas unbedingt will, sagte sich Lynn, dann schafft man es auch. Schade, daß es hier kein Telefon gab. In Gästezimmern haben die Leute nie Telefon, so gastfreundlich sie sonst auch sein mögen, wohl aber Fernseher, und auch hier stand einer mit einer Antenne aus V-förmig angeordneten Teleskopstäben obendrauf. Auf jeder Seite des Bettes stand eine
Nachttischlampe, eine weitere auf dem Frisiertisch. Lynn ließ sich auf alle viere nieder und kroch unter das Bett. In zwei Doppelsteckdosen steckten je zwei Stecker. Zu welchen Geräten gehörten die anderen? Sie verfolgte das Kabel des einen bis zur Bettdecke und stellte fest, daß es 224 zu einer Heizdecke führte. Das andere gehörte zu einem Radio. Jedes Kabel war zwei Meter lang. Lynn sah sich um. Sie zog die Schubladen am Frisiertisch auf, die jedoch alle leer waren, sauber mit beigefarbenem Papier ausgelegt. Wieder ans Fenster, um nachzusehen, ob das Licht noch brannte. Ja. Jedes Nachttischchen hatte eine Schublade. In dem linken lag die Fernbedienung für den Fernseher, in dem rechten eine ungeöffnete Packung Papiertaschentücher, eine Schachtel Halspastillen, ein Fläschchen Schnupfenspray und eine Nagelschere. Besser als nichts, viel besser. Es nützte ja nichts, sich ein scharfes Messer herbeizuwünschen. Die Kabel an den Nachttischlämpchen und der Antenne waren sehr dünn - aber stark, hoffte Lynn - und reagierten gut auf die kleine, ziemlich scharfe Schere. Bei den kräftigeren Stromkabeln an Heizdecke, Radio und Fernseher sah die Sache anders aus. Lynn arbeitete sich ab, bis ihr rechter Zeigefinger ganz wund war und anfing zu bluten, dabei wurde ihr klar, daß sie es bei dem Kabel am Fernseher nicht schaffen würde. Irgendwo unter sich hörte sie eine Treppenstufe knarren. Sie ging wieder ans Fenster und sah, daß das Licht gelöscht war. Plötzlich wurde sie ganz aufgeregt. In dem Moment kam ihr ein Gedanke, den sie sogleich als dumm verwarf. Die Polizei von Kingsmarkham würde sämtliche Kabel ersetzen müssen, alles reparieren lassen müssen, was sie hier kaputtmachte, nicht die Besitzer, ganz zu schweigen von Vicky und Jerry. Aber was machte das schon, schließlich hatte sie sie gefunden! Sie machte sich daran, die Kabel miteinander zu verknüpfen. Am besten mit Kreuzknoten. Die Knoten beanspruchten ein gutes Stück Leitung. Erst hatte sie geglaubt, sie hätte ein ewig langes Stück zur Verfügung, ungefähr achtzehn Meter für einen Abstand von etwa sechs Metern bis zum Boden, doch dann verbrauchte sie ziemlich viel für die Knoten, und als schließlich alles fest, sicher und gebrauchsfertig war, ergaben sich nur etwa fünf Meter Länge. Und dabei brauchte sie noch ein gutes Stück, um es irgendwo festzubinden. 224 Aber woran? Je weiter vom Fenster entfernt sie es befestigte, desto mehr von diesen fünf Metern würde sie brauchen. Unter dem Fenster befand sich ein
Heizkörper. Lynn begutachtete ihn und sah, daß er an der Wand mit zwei Metallklammern befestigt war und am Boden durch die Rohre, in denen vermutlich Wasser strömte. Es fühlte sich eigentlich recht stabil an. Damit müßte sie eben auskommen. Sie schob das Kabel durch den Flansch an den oberen Heizungsrippen und zurrte es mit einem weiteren, diesmal doppelten Kreuzknoten fest. Erneut horchte sie in die Stille des Hauses. Dann löschte sie das Licht. Im Dunkeln war es zwar schwieriger, aber sicherer. Hätte sie bloß Handschuhe dabei! Sie stellte erst ein Bein auf das Fensterbrett - heilfroh über die Hosen, die Vicky so mißfallen hatten -, dann das andere. Als sie mit baumelnden Beinen auf der Kante saß, wurde ihr klar, daß das Unternehmen einige Entschlossenheit erforderte - nämlich loszulassen und sich vollkommen auf das dünne Kabel zu verlassen. Sogar die dicken Stromkabel von Heizdecke und Radio sahen auf einmal schwach aus. Sie drehte sich um, immer noch das Fensterbrett festhaltend, und legte sich, die Beine ausgestreckt, mit dem Unterleib auf die Fensterkante. Sowohl im Raum wie auch draußen war es stockfinster. Sie ergriff das Kabel mit der rechten Hand, bewegte sich, die Linke immer noch an der Kante, behutsam vom Fenster weg und stützte sich mit beiden Füßen an der Wand ab. Die rauhe Oberfläche fühlte sich an, als sei der Verputz mit einer Kelle bearbeitet worden. Dadurch war ein reliefartiges Muster entstanden, dessen erhobene Stellen zwar höchstens einen Zentimeter vorstanden, das den Füßen aber dennoch besseren Halt bot als eine völlig glatte Oberfläche. Lynn versuchte, mit den Zehen Halt zu finden, doch ihre Schuhe waren steif und hatten Ledersohlen. Sie kletterte ins Zimmer zurück, zog die Schuhe aus und hängte sie sich an den Schnürsenkeln um den Hals. Die Socken wurden ebenfalls abgestreift und dann in die Schuhe gesteckt. Wieder auf dem Fensterbrett durchlief sie den gan 225 zen Prozeß noch einmal und fand es diesmal viel einfacher. Zurückzugehen und noch einmal von vorne anzufangen war vielleicht eine gute Idee gewesen. Jetzt konnte sie die Vorsprünge im Mauerrelief viel besser greifen. Das Schlimmste, wie sie sich schon gedacht hatte, war loszulassen, die linke Hand vom Fensterbrett zu nehmen, nach dem Kabel zu greifen und sich vollkommen darauf zu verlassen. Sie hatte nicht bedacht, daß sich das Kabel dehnen und hin und her schwingen und der Heizkörper ein langgezogenes, ächzendes Knarren von sich geben würde. Aber er hielt. Während sie das
Kabel so fest packte, wie sie nur konnte, bewegte sie den rechten Fuß ein Stück nach unten, dann den linken, dann wieder den rechten. Das Kabel glitt ihr durch die Finger, und sie begann abzurutschen. Verzweifelt versuchte sie, die Wand langsam hinunterzugehen statt zu laufen, doch dann verloren ihre Füße vollends den Halt, sie schwang in etwa drei Metern Höhe in der Luft hin und her und hörte, wie von oben ein Knirschen kam, ein Geklapper, und dann ein schleifendes, zerrendes Geräusch. Lynn sauste hinunter, das Kabel lief ihr heiß brennend durch die Finger, und sie landete, die Beine weit auseinander, auf beiden Füßen. Doch sie war aufrecht aufgekommen und noch heil. Hoch über ihr konnte sie nicht viel erkennen, nur ein weißliches Ding auf dem Fensterbrett, an dem immer noch das Kabel befestigt war. Obwohl sie bloß vierundfünfzig Kilo wog, hatte ihr Gewicht den Heizkörper aus der Wand gerissen. Waren die Rohre ebenfalls verbogen? War auch dann Wasser in ihnen, wenn die Heizung ausgeschaltet war? Sie hatte nicht die Absicht, hierzubleiben und nachzusehen, und mit Bildern von wasserspeienden Rohren und einem überfluteten Haus im Kopf zog sie Socken und Schuhe an und floh. Durch den Seiteneingang und um die Ecke herum nach vorn. Weder im Haus noch sonst irgendwo brannte Licht. Nur wer schon einmal auf dem Land gewohnt hat, besser noch in einem Haus außerhalb eines Dorfes, weiß, wie dunkel es um Mitternacht dort sein kann. Ohne Taschenlampe ist es prak 226 tisch unmöglich spazierenzugehen. Nach einiger Zeit gewöhnt man sich allerdings an die Dunkelheit, merkte Lynn. Totales Schwarz verwandelt sich in Schwarz und Grau, dann in Grau und Schwarz, und dann in verschiedene Monochromtöne wie auf einem sehr alten, sehr dunklen Film. Sie ging die schmale Straße entlang, auf der sie hergefahren waren. An der Kreuzung trat sie dicht an den Wegweiser heran, konnte ihn aber immer noch nicht entziffern. Doch sie hatte sich den Standort auf der Herfahrt gemerkt und würde ihn wiederfinden. Hier ging es links nach Bredeway und zur Brücke über den Fluß. Plötzlich sah sie vor sich auf der rechten Seite Licht und ging, immer dicht an die Hecke gepreßt, darauf zu. Sie hatte weder ihre Tasche noch ihr Mobiltelefon bei sich, aber ihren Dienstausweis. Tragen Sie ihn immer an sich, hatte Barry Vine ihr einmal geraten. Nicht in Ihrer Handtasche oder Ihrer Manteltasche, sondern am Körper, in einer Innentasche. Das hatte sie sich gemerkt, und da war er, direkt an ihrem Herzen, obwohl sich das eigentlich recht dramatisch anhörte.
Das Licht kam aus dem oberen Stockwerk eines reetgedeckten Cottage an der Brücke. Hier war es anscheinend im ganzen etwas heller, denn sie konnte den Namen Bridge Cottage lesen und merkte ihn sich als weiteren Anhaltspunkt für ihren Standort. Sie läutete an der Tür. Niemand machte auf. Sie läutete noch ein paarmal, trommelte an der Tür, nahm den Türklopfer und die Faust zu Hilfe. Sie überlegte sogar, Steine ans Fenster zu werfen, doch dann ginge es womöglich kaputt, und sie wollte nicht noch mehr Schaden anrichten. Hier war niemand zu Hause. Sie hatten das Licht brennen lassen, damit Leute wie sie - oder gefährlichere Leute - annahmen, es sei jemand da. Sie kehrte um, machte das Gartentor hinter sich zu und setzte den Weg über die Brücke fort. Falls Vicky den Lärm gehört hatte, den der aus der Wand gerissene Heizkörper verursacht hatte, würde sie ihr nachsetzen? Vermutlich. Lynn wußte, daß sie mit Vicky allein spielend fertig werden würde. Auf dem Schild links vor ihr stand, 227 hier sei der Ortsrand eines Dorfes, wahrscheinlich Bredeway. Selbst als sie dicht davorstand, konnte sie es nur mit Mühe entziffern: Bredeway. Fahren Sie vorsichtig durch unser Dorf. Na, schön wär's, dachte Lynn. Ihr Auto stand immer noch oben an der Umgehungsstraße, falls es nicht inzwischen jemand geklaut oder angefahren hatte. Das Dorf lag größtenteils im Dunkeln, nur in zwei Cottages brannten Lichter, und ein größeres Haus war hell erleuchtet. Na also, dachte Lynn. Sie konnte den Lärm bereits auf der Straße hören, Musik, Rufen, Gelächter, und als sie durch das Tor in den Garten trat, sah sie im strahlendhellen Vorderzimmer Leute tanzen. Ihren Dienstausweis in der Hand, läutete sie an der Haustür und klopfte noch zusätzlich. Vielleicht hörten sie die Klingel nicht. Ein etwa achtzehnjähriges Mädchen machte ihr auf. Sie wartete Lynns Erklärung gar nicht ab. »O je, tut mir leid«, sagte sie. »Die Leute von nebenan haben schon angerufen und gesagt, sie würden die Polizei holen, und wir haben versprochen, nicht so laut zu sein, aber ich weiß auch nicht, man kommt eben so in Stimmung, nicht? Mein Freund feiert heute seinen zwanzigsten Geburtstag. Ich dachte eigentlich nicht, daß die Polizei tatsächlich kommt. O Mann, ist mir das peinlich »Ich will nur«, sagte Lynn, »Ihr Telefon benutzen, wenn ich darf.« »Aber natürlich dürfen Sie. Kommen Sie rein. Wie wär's mit einem Drink? Es gibt aber bloß noch Wein, Football Red und Football White, der Sekt ist schon alle. Und wir sind auch mucksmäuschenstill, während Sie telefonieren, das versprech' ich.«
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Irgendwann während der Nacht war sie in das Zimmer hinaufgegangen und hatte ihre Perücke geholt. Das komplizierte Gebilde aus blaugrauen Bäuschen und Kringeln und zarten Löckchen saß über einem grimmigen Gesicht, in dem sich die Runzeln und Furchen früh zeigten, falls das Alter, das sie angegeben hatte, stimmte. Sie wirkte viel älter als fünfundfünfzig. Die unberingten Hände sahen geschwollen aus, und die Fesseln quollen über die geschnürten Schuhe. Mit einer rauhen, fast männlichen Stimme wiederholte sie immer wieder, sie habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Sie habe Jerry doch bloß helfen wollen, mehr nicht, für ihn sorgen wollen wie bisher. Wexford sagte nichts. Er wartete noch auf James Beamish. Der Anwalt, der Jerry vertreten sollte, war zehn Minuten zuvor eingetroffen und saß mit seinem Mandanten, Bürden und Detective Constable Cox im Vernehmungsraum nebenan. Jerry Dover hieß er, Vickys Angaben nach. Sie, Victoria Cadbury, war die Schwester seiner verstorbenen Mutter. Die beiden waren aufgewesen, als die zwei Streifenwagen um halb zwei Uhr nachts vorgefahren waren. Jerry wiegte sich im Schneidersitz auf dem Fußboden im Hausflur langsam hin und her und jammerte leise vor sich hin. Vicky hatten sie im Obergeschoß angetroffen, wo sie gerade versuchte, einen schweren eisernen Heizkörper vom Fensterbrett zu ziehen, aber nicht die Kraft dazu hatte. Keiner der beiden hatte Lynn Fancourt verfolgt, Jerry Dover sah aus, als könnte er nicht allein gelassen werden, obwohl Vicky ihn bestimmt sich selbst überlassen hatte, wenn sie zu ihren Vorstellungsgesprächen ging, als sie die eine Nacht im Haus von Mrs. Chor 228 ley verbracht hatte oder später dann auf Opfersuche gegangen war. Wexford hatte nur einen flüchtigen Blick auf ihn werfen können, als er morgens ins Büro gekommen war, doch das hatte genügt, um ihn als wahnsinnig einzustufen, oder korrekter ausgedrückt, als einen schweren Fall von Schizophrenie, den man früher kurzerhand als »schuldunfähig« bezeichnet hätte. Das Haus in Upper Brede war durchsucht worden, und den Garten hatte man gründlich unter die Lupe genommen. Natürlich gab es von Sanchia Devenish keine Spur, und es deutete auch nichts darauf hin, daß sie je dort gewesen wäre. Seit vielen Jahren hatte anscheinend kein Kind dort gelebt oder sich dort auch nur aufgehalten. Das Haus gehörte einem Ehepaar namens Jackson.
Während sie auf einer griechischen Insel Urlaub machten, hatte Vicky Cadbury ihr Haus gehütet. Sie wurden morgen zurückerwartet und würden die Elektrogeräte in ihrem Gästezimmer auseinandergenommen und den Heizkörper aus der Wand gerissen vorfinden. Wexford mußte Lynn Fancourt widerwillig Anerkennung zollen. Immerhin hatte sie das Pärchen auf eigene Faust geschnappt, allerdings unter beträchtlichen Kosten für den Steuerzahler -falls nicht die Hausratsversicherung der Besitzer dafür aufkommen würde. In gewissem Sinn geschah es ihr aber ganz recht, daß ihr Auto, das sie an der alten Umgehungsstraße stehen gelassen hatte, nachts verwüstet und das Radio gestohlen worden war. Zuerst hatte er gedacht, er wäre ganz gern dabeigewesen und hätte gesehen, wie sie Vicky die Perücke heruntergezogen hatte, doch inzwischen taten ihm die beiden bereits leid. Eine tragische, wenn auch groteske Geschichte würde nun herauskommen, dachte er, und gleichzeitig traf auch James Beamish ein, keck und großspurig wie immer. Karen, nicht sehr erfreut darüber, daß sie ihre Schulung zum Thema häusliche Gewalt auf Druck der aktuellen Ereignisse verschieben mußte, sprach ins Aufnahmegerät: »Anwesend sind Victoria Mary Cadbury, Chief Inspector Wexford 229 und Sergeant Malahyde. Mr. James Beamish betrat soeben den Raum. Uhrzeit: neun Uhr zweiunddreißig.« »Ms. Cadbury«, begann Wexford, »oder soll ich Mrs. sagen?« »Miss, Ms. oder Vicky, mir egal, nennen Sie mich, wie Sie wollen, bloß nicht >Mrs.<. Ich war nie verheiratet.« »Haben Sie im April eine junge Frau namens Elizabeth Cromwell entführt, in Ihr Haus mitgenommen und gegen ihren Willen festgehalten? Und haben Sie eine Woche später Rachel Holmes entführt und gegen ihren Willen festgehalten?« Vicky zuckte mit den Schultern. Es waren schwere Schultern, wie man sie nach der Einnahme von Anabolika bekommt. »Na, und wenn schon? Es war gar nicht mein Haus, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich habe ihnen nichts getan, habe ihnen zu essen gegeben, sie von der Straße weggeholt. Wer weiß, was denen zugestoßen wäre, da draußen auf der Straße. Ich habe dafür gesorgt, daß sie sich anständig anziehen, einen Rock statt dieser Hosen.« Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Die haben sich uns gegenüber schlecht benommen. Diese Rachel hat Jerry ein Federmesser reingerammt. Das hat sie in einer Schublade gefunden, man weiß ja nie, was
herumliegt, wenn es nicht das eigene Haus ist, ist zu Jerry hin, der an sich harmlos ist, der keiner Fliege was zuleide tun würde, und hat ihn in die Brust gestochen. Ich dachte schon, sie hätte die Lunge erwischt und er würde gleich verbluten. Danach habe ich sie zurückgefahren, ist doch klar, sobald ich Jerrys Wunde verbunden hatte. Ein Glück, daß ich früher Krankenschwester war! Jerry hätte sterben können.« Deshalb hatte Rachel Holmes also gelogen, dachte Wexford. Weil sie fürchtete, es könnte Ärger geben, wenn herauskam, daß sie Jerry Dover eine Stichwunde zugefügt hatte, dachte sie sich ein Haus mit Schindelfassade aus. »Sie haben diese beiden jungen Frauen also entführt?« »Das sagte meine Mandantin doch gerade, Mr. Wexford«, meinte Beamish. »Nun gut. Und zu welchem Zweck?« 230 »Darauf brauchen Sie nicht zu antworten«, sagte Beamish. »Ich will aber antworten. Sie sollen alle wissen, daß ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen, ich habe denen sogar noch einen Gefallen getan. Ich habe es für meinen Neffen getan.« Herausfordernd sah Vicky erst von Wexford zu Karen und von Karen zu James Beamish hinüber. Sie schien nicht zu begreifen, daß Beamish auf ihrer Seite stand, obwohl man ihr seine Funktion erklärt hatte. »Ich liebe diesen Jungen«, sagte sie. »Kapiert das hier einer? Verstehen Sie, daß man jemanden einfach lieben kann, ohne daß dabei Sex und das ganze Zeug im Spiel ist, auch wenn es nicht mal das eigene Kind ist? Seine Mum und sein Dad sind tot. Ich habe mich um ihn gekümmert, seit das alles anfing. Sie haben ihn ja gesehen, Sie wissen, was ich meine.« Beamish, der ihn nicht gesehen hatte, sah verständnislos drein. Niemand klärte ihn auf. »Er war immer wieder in so Nervenheilanstalten, aber die sind ja schlimmer als die alten Irrenhäuser, und deshalb habe ich ihn die letzten zehn Jahre bei mir behalten. Er lebt bei mir. Ich gebe ihm seine Medikamente und sein Essen, er ißt ja nicht viel. Ich will ja gar nicht behaupten, daß er nicht zerstörerisch ist, das stimmt, aber sonst ist er harmlos.« In einem anderen, schrilleren Tonfall fügte Vicky hinzu: »Ich habe Krebs.« Keiner sagte etwas. Wexford nickte. »Ich sage nicht, ich hatte, sondern ich habe Krebs. So ist das nämlich - einmal Krebspatient, immer Krebspatient. Ich weiß Bescheid, ich sagte ja schon, ich war früher Krankenschwester. Aber es kommt noch schlimmer - ich werde nämlich sterben. Brustkrebs habe ich, man sagt ja immer, man hat den Krebs,
wo er angefangen hat, aber bei mir ist er jetzt in der Lunge. Die sagen, sie wissen es nicht, aber ich weiß es. Ich habe bestenfalls noch ein Jahr.« »Was hat das mit den Entführungen zu tun, Ms. Cadbury?« fragte Karen. »Sie suchten jemanden, der sich um Jerry kümmern würde, 231 nicht wahr?« sagte Wexford. »Eine Art Ehefrau, habe ich recht? Eine junge Frau, die kochen und putzen und seine Sachen flicken kann? Um ihn zu pflegen und zu versorgen?« »Aber nicht für Sex«, stieß Vicky schroff hervor, »Jerry weiß nicht einmal, was Sex ist, und braucht es gar nicht zu wissen. Aber heiraten müßte sie ihn schon, um auf Nummer Sicher zu gehen.« Sie ließ sich nicht weiter darüber aus, was sie mit »auf Nummer Sicher gehen«, meinte. »Es war ziemlich viel drin für die Glückliche. Sie und Jerry sollten mein Haus erben, wenn ich mal nicht mehr bin, ein schönes, modernes Haus mit Waschmaschine und Trockner und Tisch-und Bettwäsche und Besteck und allen Schikanen.« »Haben Sie das den jungen Frauen erklärt?« fragte Wexford trocken. »Hätte ich schon, wenn ich die richtige gefunden hätte. Dann wäre ich mit ihr zu mir nach Guildford gefahren und hätte ihr gezeigt, was sie alles kriegt. Mit der falschen Sorte konnte ich das nicht, oder mit einer, die sich womöglich beschwert hätte. Dann hätten Sie uns doch gefunden, und es wäre Schluß gewesen mit einer Frau für Jerry. So ist es ja jetzt auch gekommen«, fügte sie hinzu, »wo Sie alles kaputtgemacht haben.« Ihr wahnhafter Zustand wurde immer offensichtlicher, je mehr sie redete. Schizophrenie kann auch erblich sein, wußte Wexford, ist es vielleicht in jedem Fall. In den sechziger und siebziger Jahren hatte man die viktorianischen Theorien über vererbten Wahnsinn, über ganze Familien, die davon befallen waren, belächelt. Heute erkannte man allmählich, daß die Autorinnen und Autoren des neunzehnten Jahrhunderts gar nicht so falsch gelegen hatten. »Aber die Mädchen waren nicht geeignet«, sagte er behutsam. »Sie waren nicht ganz das, was Sie suchten, und Sie befürchteten, Sie würden sterben, ohne daß Ihr Neffe jemanden hatte, der für ihn sorgen könnte?« »Also wirklich, Mr. Wexford«, sagte Beamish, »das geht hier aber nicht.« 231 Doch Vicky sah ihm ruhig in die Augen und sagte: »Ja. Ja, genauso ist es.« Erst kam Bürden heraus, dann Wexford. »Total bekloppt, dieser Jerry«, sagte Bürden und verdrehte die Augen. »Der dürfte nicht frei herumlaufen.« »Darf er auch nicht.«
»Freiheitsberaubung«, sagte Bürden in strengem Tonfall, »ist eine sehr schwere Straftat.« »Ich weiß. Seit drei Wochen sage ich Ihnen das. Und es nützt auch nichts zu sagen, es habe ja niemand dabei Schaden erlitten. Morgen werden sie dem Haftrichter vorgeführt und bleiben so lange in Untersuchungshaft, bis die psychiatrischen Gutachten erstellt sind.« Er seufzte. »Rachel Holmes hat Dover mit dem Messer in die Brust gestochen.« »Aha, das ist es also. Ich fragte ihn, was das Pflaster da zu suchen hatte. Als er nicht antwortete, fragte ich noch mal, und da sagte der arme Teufel etwas. Er hielt die Hand darüber und sagte: >Aua, aua.<« Das Ganze war so jämmerlich, dachte Wexford, eine traurige, lächerliche Geschichte. Wenn Vicky Cadbury tot war, wer würde sich dann um Jerry Dover kümmern? Der Staat? Wahrscheinlich lief es eher darauf hinaus, daß er »in die Gemeinschaft« entlassen wurde, bloß daß es gar keine Gemeinschaft gab, nur Nachbarn, die sich vor ihm fürchteten oder ihn wie in früheren Zeiten als Dorftrottel betrachten würden, und am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts würde er schließlich als verrückter Bettler auf der Straße landen. »Für mich ist hier nichts mehr zu tun«, sagte er, »und deshalb werde ich Miss Jane Andrews noch einmal einen Besuch abstatten. Und weil für Sie hier auch nichts mehr zu tun ist, können Sie ja eigentlich mitkommen.« »Mein Daddy hat aber gesagt, ich darf nichts erzählen.« Auf dem Knie ihrer Mutter sitzend und mit deren langem Haar herumspielend, lächelte ihn Kaylee Flay sittsam an. Sie 232 nahm eine von Jackie Flays Haarlocken und wickelte sie sich ein paarmal um den Zeigefinger, während sie Vine einen koketten Seitenblick zuwarf. »Kim Fowler hast du's aber erzählt«, sagte Vine. »Das ist was anderes. Der ist ja ein Junge, keiner von den Großen.« Wie intelligent sie ist, dachte er, diese Vierjährige aus der untersten Gesellschaftsschicht, die sozial fast ausgegrenzt war. Irgendwo hatte er einmal gelesen, entgegen aller Behauptungen über Chancengleichheit in Erziehung und Ausbildung wären die Kinder aus ihrer Schicht wahrscheinlich am wenigsten in der Lage, davon Gebrauch zu machen. Ihn packte die Wut, wenn er in ihr offenes Gesicht und die wißbegierigen Augen sah und wußte, daß sie diese Intelligenz, die eigentlich in die richtigen Bahnen gelenkt werden sollte, dafür einsetzte, die Obrigkeit hinters Licht zu führen. Das war das eigentliche Verbrechen: so ein Kind zu verderben, es zum Handlanger eines Verbrechers
zu machen und Diebstahl in ein Spiel zu verwandeln, bei dem der Erfolg auch noch belohnt wurde. Jackie Flay hatte kein Wort mehr verlauten lassen, seit sie ihm gesagt hatte, sie habe nichts dagegen, daß er Kaylee befragte. Sie saß teilnahmslos da, die Arme um das Kind geschlungen, und drehte den Kopf hin und her, damit Kaylee besser an ihr Haar herankam. Sie schien das ungestüme Streicheln und Ziepen zu genießen. Vine erkundigte sich nach dem Abend, an dem sie im Rat & Carrot gewesen war. War sie allein dort gewesen oder mit Patrick? »Das mag ich nicht, wenn du und mein Dad abends weggeht«, sagte Kaylee. »Aber du weißt doch, daß Tante Josie gleich nebenan war.« »Ich mag Tante Josie nicht.« »Doch Kaylee, natürlich magst du Tante Josie. Du bist aber ein böses Mädchen, wenn du so was sagst.« »Und du bist böse«, erwiderte Kaylee, »wenn du weggehst und mich allein läßt. Und wenn ich jetzt im Feuer verbrenne oder der Pädo kommt und mich mitnimmt?« 233 »Mrs. Flay, ich habe Sie gefragt, ob Sie mit Ihrem Partner an dem Abend zusammen im Rat &. Carrot waren?« »Na, und wenn? Hör auf zu ziepen, Kaylee, du tust mir weh.« »Haben Sie gehört, ob in der Bar jemand erklärt hat, wie man eine Benzinbombe herstellt?« »Ich weiß gar nicht, von was Sie reden«, sagte Jackie. Kaylee rutschte vom Schoß ihrer Mutter auf den Boden herunter, kletterte auf einen anderen Stuhl und saß dort mit baumelnden Beinen. »Mein Daddy«, plapperte sie munter drauflos, »hat zwei Flaschen genommen und so Zeug reingetan, uuuhhh, hat das aber gestunken, und die hat er oben mit Socken zugestopft, das waren meine, die passen mir aber nicht mehr, und dann hat er ein bißchen von dem Zeug aus der Heizung in meinem Zimmer genommen und auf die Socken getan und gesagt, das sind Benzinbomben und damit macht er den Pädo tot, ätsch!« Jackie Flay kreischte laut auf. Mit erhobenem Arm wollte sie sich auf Kaylee stürzen, doch das Kind wich ihr aus, und Vine, der sich fragte, worauf er sich hier eigentlich einließ, riß es in seine Arme und hielt es hoch in die Luft. Mrs. Probyn begleitete gerade jemanden zur Tür, als sie ankamen. Die Frau, die sich eben verabschiedete, sah Jane Andrews so ähnlich, war eine etwas femininere Ausgabe von ihr, daß es sich zweifellos um ihre Schwester handelte. Obgleich der Besuch unerwartet kam, schien Mrs. Probyn
hocherfreut, die beiden zu sehen, und stellte ihnen ihre Tochter in der Tür noch schnell vor: »Meine Tochter, Mrs. Sharpe. Louise, das sind die beiden Polizisten, von denen ich dir erzählt habe, die mit Jane etwas Wichtiges zu besprechen hatten, was ich natürlich nicht hören durfte.« Mit ihrem strahlenden Lächeln zeigte sie dem lieben Kind, daß vom bösen Kind ja auch gar nichts anderes zu erwarten war. Louise Sharpe war rundlicher als ihre Schwester und nicht so elegant; lediglich der sehr teure Schmuck, ein riesi 234 ger Diamant in ihrem Verlobungsring über dem Ehering, die Brillantohrringe und die Cartier-Uhr an ihrem linken Handgelenk ließen darauf schließen, daß sie vermögend war. Abgesehen davon trug sie einen relativ langen, geblümten Rock und ein Baumwollsweatshirt mit dem Firmenzeichen eines bekannten Sportbekleidungsherstellers. Ihr dunkles Haar war unfrisiert und brauchte dringend einen guten Schnitt, und ihr blasses Gesicht war bis auf das verschmierte schwarze Zeug um die Augen herum ungeschminkt. Sie hauchte ihrer Mutter einen flüchtigen Kuß in Richtung Wange zu und meinte, sie müsse unbedingt nach Hause, denn sie wollte das »neue Personal« unter den gegebenen Umständen nicht zu lange sich selbst überlassen. Wexford und Bürden erklärte sie mit jener lächerlichen Redewendung, die so oft verwendet wird, wenn gar kein Austausch stattgefunden hat, es sei nett, sie kennengelernt zu haben, und ging zu ihrem Wagen, einem neuen roten Mercedes. »Ihre Tochter hat ein großes Haus?« erkundigte sich Wexford, während Mrs. Probyn sie in das Wohnzimmer führte. »Louise? O ja, ein riesiges Haus, sechs Schlafzimmer, drei Bäder - nun ja, wie ich Ihnen schon sagte, ist sie sehr betucht.« Mrs. Probyn lachte fröhlich. "Noblesse oblige, Sie verstehen.« Wie die meisten hatte sie offenbar nur eine sehr ungenaue Vorstellung davon, was dieser Ausdruck bedeutete, dachte Wexford. »Ich finde es wichtig, einen guten Eindruck zu machen, Sie nicht? Also, eins muß ich Jane schon lassen, sie macht wirklich das beste aus sich. Früher hatte sie wunderschönes, langes Haar, aber das mußte sie sich ja unbedingt abschneiden lassen. Es machte ihr zuviel Arbeit, sagte sie, na, ich bitte Sie. Louise kommt dagegen meistens ziemlich lumpig daher, ihre Nachlässigkeit in dieser Hinsicht erstreckt sich zum Glück aber nicht auf ihr Haus. Sie hat ein wunderschönes Zuhause, ein wonniges Heim für ein Kind ich sage immer, ein Jammer, daß sie keine eigenen Kinder hat.« »Hat sie nie an Adoption gedacht?« wagte Bürden sich vor.
»Ja, doch, sie versuchte, ein Baby aus einem von diesen Län 235 dern zu adoptieren, aus Rumänien oder Albanien, aus irgend so einem Land im Ostblock, wie es offiziell wohl heißt. Die Papiere hatte sie schon fertig, aber irgend etwas ging schief, fragen Sie mich nicht, was, und dann starb natürlich James, der Arme, ihr Mann.« Mrs. Probyn kicherte und hielt sich wie ein Schulmädchen die Hand vor den Mund. »Aber darüber soll ich ja nicht reden. Jane sagt immer, ich soll nicht soviel klatschen und Familiengeheimnisse ausplaudern. Darauf sage ich dann immer, worüber soll ich denn sonst reden? Womit kenne ich mich denn sonst aus? Ich stehe ja nicht gerade draußen im weiten Leben, oder? Ich verkehre ja nicht in den Chefetagen oder im Wetterzentrum, stimmt's?« Die Antwort wurde ihnen durch das Eintreten von Jane Andrews erspart, die zweifellos vom Kichern ihrer Mutter und deren gehobener Lautstärke alarmiert worden war. Heute war sie gut gekleidet - mit dem kurzen, schwarzen Kleid und der gelben Jacke wirkte sie nun gar nicht mehr männlich -, aber sie blickte entgeistert drein. Sie erbleichte geradezu unter der üppigen Schminke. Wexford, der geglaubt hatte, etwas Kosmetik würde ihr Aussehen verbessern, revidierte nun seine Meinung. Ihr Gesicht glich einer aufgemalten Maske. Diesmal unternahm sie keinen Versuch, Mrs. Probyn aus dem Zimmer zu weisen. »Ich war oben und habe gearbeitet«, sagte sie. »Ich habe die Türglocke nicht gehört.« »Sie haben auch gar nicht geläutet, Jane. Sie kamen gerade an, als Louise gehen wollte und die Tür offenstand.« »Ach, Louise war hier?« Jane Andrews sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, hielt sich aber zurück. »Ich habe sie gar nicht kommen hören«, sagte sie statt dessen nur. »Sie kam mich besuchen.« In ihrer unverhüllten Genugtuung wirkte Mrs. Probyn geradezu senil. »Nicht alle, die in dieses Haus kommen, sind versessen auf deine Gesellschaft, meine Liebe, obwohl es dir vielleicht schwerfällt, das zu begreifen.« Jane Andrews wandte sich Wexford zu. »Weswegen wollten Sie mich sprechen?« 235 Bürden beantwortete ihre Frage. »Miss Andrews«, sagte er ruhig, »wir wissen, daß Ihre Beziehung zu Stephen Devenish nicht sexueller Natur ist. Aber es existiert doch eine Art Beziehung zu ihm, nicht wahr?«
Ihre Reaktion war erstaunlich. Sie brach in Gelächter aus. Ein Lachen, das keinerlei Belustigung in sich trug, nur ungläubige Verwunderung über die Torheit menschlicher Mutmaßungen. Auch Erleichterung lag darin. »Damit hätte ich nie gerechnet«, sagte sie. »Nicht einmal von der Polizei hätte ich das erwartet. Wie kann ich Ihnen bloß begreiflich machen, daß ich Stephen Devenish abgrundtief hasse und verabscheue? Wie kann ich Ihnen erklären, was für ein Dreckskerl er ist?« »Jane, deine Ausdrucksweise«, ließ sich Mrs. Probyn vernehmen. Wexford ignorierte sie. »Das haben Sie bereits getan, Miss Andrews«, sagte er. »Beziehungsweise, Sie haben uns einen starken Eindruck davon vermittelt. Vielleicht gehen Sie jetzt in die Einzelheiten.« Sie zögerte. Ihre eigene Heftigkeit schien ihr einen Dämpfer verpaßt zu haben. »Er ist ein absoluter Dreckskerl«, sagte sie etwas gelassener. »Das sagten Sie bereits. Gibt es auch einen Grund, weshalb Sie das sagen? Oder ist das hier ein Fall von Dr. Fell?« »Wie bitte?« Unverhofft schaltete sich Mrs. Probyn ein. »Ich liebe Sie nicht, Dr. Fell«, zitierte sie. »Den Grund sag' ich nicht, Dr. Fell, doch eins, das weiß ich, Dr. Fell, Ich liebe Sie nicht, Dr. Fell.« Er glaubte, damit hätte sie ihre Tochter verärgert. Zu seiner Verwunderung brachte es sie zum Lachen, ließ sie weniger streng erscheinen. »Das kenne ich ja gar nicht, Mutter«, sagte sie und an Wexford gewandt: »Ich liebe Stephen ganz sicher 236 nicht, ich verachte ihn von ganzem Herzen und kann Ihnen natürlich auch sagen, warum. Er ist ein sexistischer Tyrann, er behandelt Fay wie eine Sklavin, er herrscht in diesem Haus wie ein regelrechter Despot, und ich verabscheue ihn.« »Und vielleicht haben Sie das auch geäußert, Miss Andrews, weshalb Ihre Freundschaft mit seiner Frau in die Brüche ging? Vielleicht ist seine Frau sehr loyal und schätzt die Kritik an ihrem Ehemann nicht, dem sie offensichtlich sehr zugetan ist?« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht. Kann sein, daß es ihr nicht gefallen hat. Jetzt haben sie überhaupt keine Freunde mehr, alle beide nicht. Na ja, er hat vielleicht welche in der Arbeit, Geschäftsfreunde, Berufsbekanntschaften, wenn man solche Leute Freunde nennen kann.«
»Oder vielleicht trifft nichts davon zu. Vielleicht sind sowohl seine Abneigung gegen Sie wie Ihre unbestrittene Abneigung gegen ihn nur vorgetäuscht, um eine Freundschaft und ein Bündnis zu verbergen.« Als sie sich nach vorn beugte, um etwas zu sagen, hob Wexford abwehrend die Hand. »Nein, einen Moment noch, lassen Sie mich bitte ausreden. Ich unterstelle Ihnen nicht, das sagte ich bereits, daß es eine sexuelle Beziehung gibt oder gegeben hat. Vielleicht nützen Sie ihm und er Ihnen. Mehr will ich damit gar nicht sagen. Hätten wir dieses Gespräch aufgenommen und könnten es noch einmal abspielen, würden vielleicht sogar Sie zugeben, daß Sie Ihre Abneigung zu heftig geäußert haben, als daß sie noch glaubhaft erscheinen könnte.« »Falls Sie damit andeuten wollen, wie ich annehme«, erwiderte Jane Andrews wieder etwas aggressiver, »ich, oder ich und Stephen Devenish hätten gemeinsam seine Tochter entführt und würden sie hier festhalten, dann sind Sie wahnsinnig.« »O nein, Jane!« sagte ihre Mutter. »O ja, Mutter! Das wollen sie damit doch sagen.« »Aber du magst Mr. Devenish doch gar nicht. Deswegen bekommen wir ja die nette Fay auch nicht mehr zu sehen, stimmt's? Weil du und Mr. Devenish euch nicht versteht.« 237 Ted Hennessys Beerdigung fand am darauffolgenden Vormittag in St. Peter's statt. Der Chief Constable und sein Stellvertreter waren anwesend, ebenso Wexford mit seinem gesamten Team und die Kollegen vom Regionalen Kriminaldezernat, dazu ein Kabinettsmitglied aus dem Innenministerium sowie Hennessys Cousin, ein bekannter Fernsehkomiker. Nicht wegen des Kabinettsmitglieds, sondern wegen des Komikers wurde die Aufzeichnung des ganzen Ereignisses in den frühen Abendnachrichten der BBC ausgestrahlt. Als Wexford gerade gehen wollte, trat Tony Mitchell auf ihn zu, um zu sagen, wie leid ihm das mit Hennessy tue. »Wir lassen im Muriel Campden den Hut rumgehen, um ein bißchen was zu sammeln für die Witwe von dem armen Kerl.« Er warf Carl Meeks einen bösen Blick zu. »Na ja, einige von uns jedenfalls.« Auf dem Weg zum Auto meinte Wexford zu Donaldson, schon der gute Wille zähle und ob er eigentlich wisse, was aus seinem Regenmantel geworden sei. »Eine gewisse Mrs. Hebden kam vorbei, als ich im Auto wartete, und sagte, Sie seien gerade bei ihr im Haus und wollten zu Fuß zurückgehen, weil zur Abwechslung mal schönes Wetter sei, und ich sollte ihr den Regenmantel geben, sie würde ihn Ihnen bringen.«
»Und - haben Sie ihn ihr gegeben?« »Ja, Sir. Jetzt hoffe ich bloß, daß ich nichts falsch gemacht habe.« Wexford antwortete nicht. Er ging nach oben, wo er schon vor fünf Minuten mit Lynn Fancourt verabredet war. Sie wartete in seinem Büro auf ihn, angespannt und mit hochgezogenen Schultern, und zupfte an ihren Fingernägeln herum. Ohne sich seine Belustigung und unterschwellige Zustimmung im geringsten anmerken zu lassen, hielt er ihr einen fünfminütigen Vortrag darüber, wie unangebracht derartig eigenmächtige Aktionen waren, wie wenig ratsam es war, solche Dinge selbst in die Hand zu nehmen und geheime persönliche Ziele zu verfolgen, sie sei schließlich keine Pri 238 vatdetektivin, sondern Teil eines Teams. Dies sei nicht der richtige Weg, befördert zu werden. So etwas war amateurhaft und nicht besonders clever. Bei den Worten »Privatdetektivin« und »amateurhaft« zuckte Lynn zusammen, sagte aber nichts, sondern reagierte nur ab und zu mit ernstem Kopfnicken. Benzinbomben und Nagelbomben. Patrick Flay gab zu, daß er beides in seiner Küche in der Glebe Road herstellte. In einem Vernehmungsraum auf dem Polizeirevier in Kingsmarkham von Barry Vine nach dem Grund befragt, behauptete er zunächst, es habe ihn eben interessiert, ob er es fertigbrächte, später gestand er jedoch ein, daß er die Bomben gebastelt hatte, um sie zu verkaufen. »Wem wollten Sie sie denn verkaufen?« »Na, Sie würden staunen«, sagte Flay. Er wurde immer zuversichtlicher, daß er sich nichts oder zumindest nichts Strafbares hatte zuschulden kommen lassen. »Für Waffen gibt es einen Markt. Das ist eine Riesenindustrie. Schauen Sie denn nicht fern? Waffenhandel ist weltweit ein Riesengeschäft.« »Dabei geht's um Panzer und Gewehre und Raketen«, wandte Detective Constable Archbold ein, »nicht um lumpiges Benzin in einer Saftflasche.« »So lumpig auch wieder nicht«, sagte Flay, »wenn man überlegt, was es anrichten kann. Komisch, aber wissen Sie, daß es immer schwieriger wird, an Glasflaschen heranzukommen? Heute gibt's bloß noch Dosen oder Plastik.« »Sie wollten mir noch sagen, an wen Sie Ihre Benzinbomben verkauft haben«, sagte Vine. »Wollte ich das? Entschuldigung, aber ich glaub' nicht, daß Sie mich danach gefragt haben. Und überhaupt, verkauft hab' ich gar keine. Hergeschenkt hab' ich eine, als Muster sozusagen, und dann noch eine von meinen
Nagelbomben. Aber«-Flay setzte eine frömmelnde, mitfühlende Miene auf »weil doch da die Tragödie passiert ist, hab' ich meinen gesamten 239 Vorrat vernichtet. Sie können ruhig mein Haus durchsuchen, nur zu.« »Tun wir auch, verlassen Sie sich drauf. Sie haben also nichts dran verdient. Wem haben Sie denn das Muster geschenkt?« »Colin Crowne«, sagte Flay. »Das haben Sie schon mal behauptet. Crowne lag mit Gürtelrose im Bett.« »Kann ich doch nichts dafür. Keine Ahnung, was der damit gemacht hat. Ich hab' sie ihm im Rotten Carrot gegeben, mehr weiß ich auch nicht. Und fragen Sie mich bloß nicht, ob ich gesehen hab', wer sie geschmissen hat - wenn es überhaupt eine von meinen war -, weil ich nämlich gar nicht dort war. Das haben Sie alles von Kaylee, stimmt's? Streiten Sie's bloß nicht ab. Sie haben das alles aus Kaylee rausgekriegt, als ihre Mum mal nicht im Zimmer war, aus der Nase gezogen haben Sie's ihr, dabei ist sie erst vier, und das ist illegal, was Sie da gemacht haben.« »Mrs. Flay war während des gesamten Gesprächs anwesend«, entgegnete Vine steif. »Das können Sie dem Richter erzählen«, meinte Flay, »wenn ich dem Chief Constable was über Sie geschrieben hab'.« Ein Durchsuchungsbefehl wurde ausgestellt und das von Jackie Flay angemietete Haus durchsucht. Gefunden wurde nichts, weder Benzin- noch Nagelbomben noch Diebesgut. 239
17
Beide Jungen sahen ihrem Vater auf sehr unterschiedliche Weise ähnlich, bei jedem war ein anderes Merkmal betont -Edward hatte die Größe, das dunkle, gewellte Haar, die hohe Stirn und die gerade Nase von ihm, Robert seine blauen Augen, den sinnlichen Mund mit den vollen Lippen, die hohen Wangenknochen und die anmutigen Bewegungen. Ihre Mutter schien zu den Erbanlagen nichts beigetragen zu haben, in keinem der beiden jungen Gesichter war eine Spur von ihr zu entdecken. Ob das kleine Mädchen ihr ähnlich sah? Wexford hatte keine Möglichkeit, es in Erfahrung zu bringen. Die Leute im Muriel Campden Estate und in der Gegend um die Glebe Road hatten die Lebenszeugnisse ihrer Kinder nicht nur in dicken Fotoalben aufbewahrt, sondern auch auf Film gebannt. Die Familie Devenish in der Ploughman's Lane besaß ein einziges Bild, und das war von einer Zeitung aufgenommen, als Sanchia noch ein Baby war und im Kinderwagen saß.
»Wir machen keine Fotos von Leuten«, erklärte Edward, falls es denn eine Erklärung sein sollte. »Nur von Orten.« Wexford befragte die beiden einzeln, aber selbstverständlich im Beisein ihrer Mutter. Er bat Edward, sich zunächst an die Nacht zurückzuerinnern, in der Sanchia verschwunden war, die Augen zuzumachen und sich diese Nacht wieder ins Gedächtnis zu rufen, und zwar genau ab dem Zeitpunkt, als er zu Bett gegangen war, und dabei zu überlegen, ob er im Bett noch gelesen hatte, wann er das Licht ausgemacht hatte und wie schnell er eingeschlafen war. Der Junge folgte der Prozedur, nahm Wexford jedenfalls an, und sagte, er lese nicht viel und im Bett sowieso nie. Er habe noch ein Computerspiel gespielt und es aus Versehen eingeschaltet gelassen, so daß es 240 immer noch lief, als er nachts aufwachte, und er aufstehen und es ausschalten mußte. »Was hat dich aufgeweckt?« fragte ihn Wexford. Der Junge erwiderte, er wisse es nicht, und fügte mit der ersten Spur von Einsicht, die er bisher an den Tag gelegt hatte, hinzu: »Man weiß doch nie, was einen aufweckt, denn bis man wach ist, hat es ja schon aufgehört.« Er habe auch nicht gewußt, wie spät es gewesen sei. Vielleicht habe er jemanden die Treppe hinauf- oder hinuntergehen hören. »Davon würdest du doch nicht aufwachen, Edward«, sagte Fay Devenish. »Dad oder ich gehen doch oft rauf oder runter, wenn du schon im Bett bist, und du wachst nicht auf.« »Dann weiß ich auch nicht«, sagte der Junge und warf seiner Mutter einen Blick zu, den Wexford nicht deuten konnte, ablehnend und doch verwirrt. »Wenn ich sage, ich weiß es nicht, dann weiß ich es auch nicht.« »Hast du deine Schwester denn gern?« »Klar. Sie ist doch meine Schwester.« Fay Devenish begann zu weinen. Die meisten zwölfjährigen Jungen, die aufgewachsen waren wie er, in einer solchen Umgebung, wären zu ihrer Mutter hinübergegangen und hätten ihr den Arm um die Schultern gelegt, ihr wenigstens gesagt, sie solle doch nicht weinen, hätten sie irgendwie getröstet. Edward blieb mit versteinertem Gesicht sitzen und wandte sich ab. Sie tupfte sich die Augen trocken und schien angestrengt um Fassung zu ringen. Wexford fragte weiter: »Hast du irgendwann mal gedacht, daß du ohne deine Schwester vielleicht glücklicher gewesen wärst? Wenn deine Schwester zum Beispiel gar nicht auf die Welt gekommen wäre?«
Fay stieß einen leisen Protestschrei aus; es hörte sich an wie das Geräusch, das eine Frau machen würde, wenn sie sich geschnitten hat oder von einem Insekt gestochen wurde. »Verzeihen Sie, Mrs. Devenish, aber ich möchte doch, daß er darauf antwortet.« Sie nickte verzagt.
241 »Edward?« Der Junge, der immer noch keine Miene verzogen hatte, sagte: »Weiß ich nicht. Ich habe mich daran gewöhnt, daß sie da ist.« Er zögerte. »Ich glaube, ich fand es eben komisch, also ich meine, seltsam, daß sie noch kam, wo ich und Robert doch schon so alt waren.« »Du hast aber nie daran gedacht, ihr vielleicht etwas anzutun?« »Chief Inspector, tut mir leid, aber das geht nicht.« Soweit er sich erinnern konnte, hatte Fay sich noch nie so selbstbewußt gezeigt. Ihr Gesicht hatte Farbe angenommen, und ihre Augen leuchteten. »Ich kann hier nicht einfach sitzen und zuhören, wie Sie ihm solche Fragen stellen.« »Ist gut, Mrs. Devenish. Das wär's, Edward.« »Kann ich jetzt gehen?« »Ja, du kannst gehen. Sag deinem Bruder, daß ich ihn als nächsten sprechen möchte.« Er war kleiner als Edward, würde ihn in zwei Jahren aber eingeholt haben. Viele Kinder, besonders Jungen, haben einen forschenden oder verwirrten Gesichtsausdruck, was kaum verwunderlich war, dachte Wexford, wenn man überlegte, in welchem Zustand sich die Welt befand, in der sie lebten. Doch in den Augen dieser beiden lag noch etwas anderes, was sie gemeinsam hatten, was er bei anderen aber noch kaum gesehen hatte: ein Ausdruck von verbitterter Verwunderung, der besonders zutage trat, wenn sie ihre Mutter ansahen. Er fragte Robert nach jener Nacht, doch der Junge konnte sich an noch weniger erinnern als sein Bruder. Auf die Frage, ob er Sanchia gern hatte, erwiderte er: »Eigentlich schon. Ich mochte sie ganz gern.« Wexford fiel die Vergangenheitsform auf, was Fay Devenish vielleicht entgangen war. Doch sie rang erschrocken nach Atem, als Robert sagte: »Sie ist tot, stimmt's? Die Kinder in der Schule sagen, sie ist tot.« »Robert, kennst du eine Freundin deiner Mutter, die Jane heißt? Miss Jane Andrews?« 241
Bevor der Junge antworten konnte, sagte Fay schnell, zu schnell: »Sie ist keine Freundin von mir.« »Robert?« »Ich glaub' ja. Das ist aber schon lang her. Die kommt schon lang nicht mehr zu uns.« Dann habe er keine weiteren Fragen mehr, sagte Wexford. Das Kind ging hinaus, und seine Mutter begann wieder zu weinen. »Sie ist keine Freundin von mir. Das hätten Sie vor meinen Kindern nicht sagen dürfen.« »Ihre Aufregung ist verständlich, Mrs. Devenish, trotzdem muß ich noch ein oder zwei Dinge klären, nachdem ich nun schon einmal hier bin.« »Schon gut, nur hätten Sie das nicht... Ach, es hat ja doch keinen Sinn!« Sie zog ein paar Papiertücher aus der Schachtel auf einem Beistelltischchen, trocknete ihre Augen und schneuzte sich. »Ich weine jetzt nicht mehr. Was wollen Sie wissen?« »Es geht nicht so sehr darum, daß ich etwas wissen, sondern daß ich etwas haben will. Als ich Sie um ein Foto von Sanchia bat, boten Sie mir nur das Familienbild an. Damals habe ich abgelehnt, aber jetzt hätte ich es gern. Es ist besser als gar nichts.« »Mein Mann kann jeden Moment nach Hause kommen.« »Das ist schön. Es ist besser, wenn Sie nicht soviel allein sind. Aber das ist kein Grund, mir das Foto nicht herauszusuchen. Momentan haben wir bloß ein schlechtes, verwackeltes Bild aus dem Courier und nicht einmal das Original.« »Das Bild habe ich in der Zeitung gesehen«, sagte sie wie als Antwort, wie als Erklärung. »Ich habe damals gar nicht gemerkt, daß wir fotografiert wurden.« »Suchen Sie es mir doch gleich heraus.« Die Überzeugung, daß er hier nach Devenishs Rückkehr nichts Sinnvolles mehr würde ausrichten können, ließ ihn drängend werden. »Bitte, Mrs. Devenish.« Sie ging etwas widerwillig. Sie hatten im Wohnzimmer gesessen, und er hörte sie erst ins Arbeitszimmer, dann die 242 Treppe hinauf gehen. Erneut fragte er sich, warum das kleine Mädchen nicht sprechen wollte oder konnte, warum die beiden Jungen so verstörte Augen hatten, und eine ganz neue Frage, ebenfalls unbeantwortet, war, wieso ihre Mutter geweint hatte, als er ihren älteren Sohn danach gefragt hatte, ob er seine Schwester mochte. Und stand sie Jane Andrews inzwischen derart ablehnend gegenüber, daß sie schon bei der Unterstellung, die Frau könnte ihre Freundin sein, in Tränen ausbrach?
Als sie wiederkam, fielen ihm die Veränderungen an ihr auf. Sie hatte sich das Gesicht gepudert, Augen und Lippen geschminkt, Parfüm aufgelegt und elegantere Schuhe angezogen. Irgend etwas war mit ihrem Haar geschehen, damit es fülliger wirkte, und das Ergebnis mit Spray fixiert worden. »Hier«, sagte sie, »ich fürchte, etwas Besseres kann ich Ihnen nicht anbieten.« Ein paar Schnappschüsse. Er erkannte sofort, daß es Zweieroder Gruppenfotos waren, auf keinem Bild war das Kind allein zu sehen, aber für einen genaueren Blick war jetzt keine Zeit. Das Geräusch des Schlüssels in der Tür ließ Fay Devenish aufschrecken. Ihr Mann. »Darf ich die hier mitnehmen?« beeilte sich Wexford zu fragen. »Sie bekommen sie natürlich wieder.« »Ja, nehmen Sie sie.« Sie hätte eine Spionin sein können, die einem feindlichen Agenten gerade Geheimpläne übergeben hatte, so leise und gehetzt klang ihre Stimme, es war eher ein Zischen als ein Flüstern. Sie stand auf und strich ihr Kleid glatt, als wollte sie Müdigkeit, Schmerz und Aufregung daraus tilgen. »Eben wollte ich gehen«, sagte Wexford, als Devenish ins Zimmer trat. Der Mann küßte seine Frau. Es war beileibe kein flüchtiger, beiläufiger Kuß, sondern ein leidenschaftlicher Kuß, die Art Kuß, dachte Wexford, etwas peinlich berührt, die nie in Anwesenheit von Dritten gegeben oder empfangen werden sollte. Devenishs Lippen verweilten auf Fays passivem, halbgeöff 243 netem Mund, bevor er sich langsam von ihr löste. Dann streckte er Wexford die Hand hin und machte freundlich lächelnd die etwas seltsame Bemerkung, er fürchte, sie bereiteten der Polizei ganz schön viel Ärger. Wexford widerstand -wie immer - der Versuchung, zu sagen, er tue doch nur seine Arbeit. Während er zum Wagen zurückging, überlegte er, ob er es sich bloß einbildete oder ob Mrs. Devenish ihn gern noch länger dabehalten hätte, froh gewesen wäre, wenn er sich gesetzt und alles noch einmal durchgesprochen hätte. Und doch hatte sie sich für ihren heimkehrenden Gatten zurechtgemacht und dankbar auf seinen Kuß reagiert. »Ich frage mich, was mit dem älteren Jungen los ist, mit Edward«, sagte Wexford etwas später im Europlate zu Bürden. »Die gehen nicht aus sich heraus, diese Kinder. Sie sind verschlossen und verschwiegen, haben so verstörte Augen. Mir kam sogar schon der Gedanke, ob sie vielleicht mißbraucht werden.« »Vom Vater?« fragte Bürden.
»Würde man wohl annehmen. Hinweise darauf gibt es keine. Kann sein, daß diese ganze Geschichte mit Tommy Orbe mir einen Floh ins Ohr gesetzt hat, es ist ja auch nur so eine Ahnung, ohne jede Grundlage.« »Tatsache ist«, sagte Bürden, »daß Kindesmißbrauch neuerdings in Mode ist. Man kann keine Zeitung aufschlagen, ohne über einen neuen, schrecklichen Fall zu lesen, der sich irgendwo zugetragen hat. Es ist scheußlich, aber so verbreitet ist es nun auch nicht, und Stephen Devenish kann ich mir in der Rolle nicht vorstellen.« »Da bin ich mir nicht so sicher. Er sieht aus, als wäre er fähig zur Gewalt, und wir wissen ja, daß er zum Jähzorn neigt. Was essen Sie denn? Es gibt drei Sorten Hering mit neuen Kartoffeln - das ist was Schwedisches - oder vielleicht ungarisches Gulasch. Ist Ungarn denn in der Europäischen Union?« »Was weiß ich«, meinte Bürden. »Ich sehe gerade die Tagesspezialitäten auf der Tafel. Zum Trinken natürlich Mineralwasser?« 244 »Wenn wir das Kind finden, genehmigen wir uns eine Flasche Veuve Cliquot.« Wexford bestellte Hering mit Kartoffeln und Bürden Bacalhao aus Portugal. »Getrockneter, gesalzener Kabeljau, so eine Art Stockfisch. Das hatten wir letztes fahr an der Algarve. « »Klingt abscheulich. Mrs. Devenish hat mir ein paar Fotos mitgegeben. Möchten Sie sie sehen? Nichts Besonderes, eigentlich bloß verwackelte Familienbilder.« Bürden warf einen flüchtigen Blick auf die Bilder, die Wexford auf dem Tischtuch ausgelegt hatte. »Unbrauchbar, würde ich sagen. Ich weiß gar nicht, warum Sie sich mit denen so viel Mühe geben. Entweder hat Devenish sie entführt oder einer von seinen Söhnen.« »Wenn es einer der Jungen war, ist Sanchia tot.« Bürden sah ihn erstaunt an. »Sie meinen, Devenish hätte sie irgendwo verstecken können, hat vielleicht sogar ein Kindermädchen engagiert und die beiden irgendwo in einer gemieteten Wohnung einquartiert. Das ist eine Möglichkeit. Aber wenn sie einer der Brüder fortgeschafft hat, muß er sie getötet haben. Er wüßte ja nicht, wo er sie verstecken sollte, wollte es wohl auch nicht, denke ich. Er könnte sie fortgeschafft haben, weil er eifersüchtig auf ihre Stellung in der Familie war, und hat sie umgebracht, damit sie ihm nicht mehr im Weg war - und was dann?« »Hat er die Leiche versteckt.« Wexford schenkte ihnen Mineralwasser nach. »Und zwar irgendwo in der Nähe. Seine Mutter sagt, er kann Auto fahren.
Vielleicht. Theoretisch kann er vielleicht ein Auto lenken, aber ich bezweifle doch sehr, daß er in der Lage ist, es bei Nacht aus der Einfahrt zu manövrieren. Beide Jungs sind groß und kräftig, jeder hätte sie tragen können, und wahrscheinlich hätte sie auch nicht geschrien, wenn einer von ihnen sie aus dem Bettchen gehoben hätte. Wenn Edward es getan hat - oder von mir aus auch Robert -, tötete er seine Schwester irgendwo im Garten, erdrosselte sie vermutlich, und damit wären wir wieder bei Ihrer Frage.« 245 »Und was dann? Alle beide sind kräftig genug, um eine Dreijährige ein Stück weit zu tragen, aber ein Grab schaufeln und sie begraben? Wie lange hätten sie dafür gebraucht? Hätten sie überhaupt gewußt, wie sie es anfangen sollen?« Das Essen wurde ihnen vom Besitzer des Europlate gebracht, einem dicken Mann, der aus irgendeinem Grund - obwohl er nicht der Koch war - immer eine gestärkte, makellos weiße Schürze trug. Einige seiner Gäste waren der Meinung, er wolle sich dadurch ein französisches Flair verleihen. In seinem Aussehen vereinte er die angeblich typischen Eigenschaften zahlreicher Mitglieder der Union, denn er war schwarzhaarig und trug einen Schnurrbart wie ein spanischer Stierkämpfer, besaß das gleichmäßige schmallippige Profil des Skandinaviers, die olivfarbene Haut des Griechen und die hohen Wangenknochen des Slawen. Einige behaupteten, er heiße Henri, andere Hendrik oder Heinrich, und gerufen wurde er mit allen diesen Namen. Sein Englisch sprach er jedoch mit dem astreinen Akzent des Tiefland-Schotten, und als er jetzt jedem seinen Teller hinstellte, äußerte er die Meinung, ein bissei Fisch täte ihnen doch gut, aye, ein bissei Futter fürs Gehirn. »Das kann ich jetzt gebrauchen«, sagte Bürden, nachdem Henri sich wieder in die hinteren Gefilde verzogen hatte. »Wir wissen aber, daß es keiner von den Jungs war, nicht? Es muß Devenish sein, jedenfalls meinem noch ungefütterten Gehirn zufolge. Warum er sie entführt hat und wo er sie hingebracht hat, wissen wir nicht, können aber davon ausgehen, wenn er sie entführt hat, ist sie am Leben.« »Väter töten aber auch mal ein Kind, das wissen Sie.« »Klar, ein abscheuliches Verbrechen, aber meistens unbeabsichtigt, infolge schwerster Mißhandlungen. Dazu hatte Devenish keine Veranlassung.« »Sie glauben, daß er dazu keine Veranlassung hatte. Was ist mit Eifersucht? Wenn er in Sanchia den einzigen Menschen sieht, der die Macht hat, sich zwischen ihn und seine Frau zu drängen? Oder ihm seine Frau zu entfremden? Es sieht aus, als
246 wäre er sehr verliebt in seine Frau. Er begrüßt sie leidenschaftlich, als würden sie sich erst seit einem Jahr kennen und wären die letzten sechs Monate voneinander getrennt gewesen. Wir wissen inzwischen eine Menge über diese Leute, Mike, aber sehr wenig über ihre Gefühle. Was wissen wir überhaupt über die Gefühle von anderen, selbst die unserer Familien und Freunde? Devenish konnte Sanchia vielleicht nicht leiden und lehnte sie ab. Vielleicht war sie der Liebling ihrer Mutter, die sie ihren Söhnen vorzog - und auch ihrem Mann?« »Manchmal wünschte ich«, sagte Bürden, »wir hätten es mit ganz normalen Leuten zu tun.« »Gibt es die denn? Merken Sie, daß Sie für Devenish ein mögliches Szenario entworfen haben, Mike? Allerdings glaube ich nicht, daß Sie es beabsichtigt hatten. Er hat alle seine Kinder sexuell mißbraucht, sich jetzt auch über das kleine Mädchen hergemacht. Es spielt sich nachts in ihrem Bett ab. Er nimmt überhaupt keine Schlaftabletten, sondern behauptet es nur gegenüber seiner Frau. In der besagten Nacht stattet er der Kleinen seinen üblichen Besuch ab, tötet sie dabei aus Versehen, trägt ihre Leiche die Treppe hinunter und vergräbt sie im Garten.« »Und was ist mit dem Auto?« »Sie haben recht. Also nicht im Garten. Er fährt mit der Leiche irgendwohin und vergräbt sie.« Bürden legte Messer und Gabel beiseite. Es wischte sich mit einer dunkelblauen Serviette den Mund ab, in deren Mitte das EU-Symbol prangte, und nahm die Speisekarte zur Hand. Plötzlich sagte er: »Jetzt mag ich gar nichts mehr essen. Eigentlich wollte ich den altenglischen Sommerpudding nehmen oder die Zabaione, aber über dem ganzen Gespräch, was Devenish vielleicht getan oder auch nicht getan hat, ist mir der Appetit vergangen. So was Dummes! Normalerweise bin ich gar nicht so.« »Ich nehme einen Nachtisch«, meinte Wexford beherzt. »Ich nehme das sogenannte rod gio, das man mit Sicherheit 246 ganz anders ausspricht. Wie Henri schon sagte, muß ich mein Gehirn füttern.« »Werden Sie ihn verhaften?« »Henri?« »Nein, Devenish natürlich.« »Noch nicht«, sagte Wexford. »Der läuft uns ja nicht davon. Er ist sich vollkommen sicher, daß ihm keiner was kann. Ich würde sagen, das gilt bei
ihm immer bei allem, was er tut. Er weiß alles am besten, er hat immer recht. Devenish weiß, wo's langgeht. Zweifellos liegt darin das Geheimnis seines Erfolges, in der totalen Selbstsicherheit.« »Mal sehen, was aus der berühmten Selbstsicherheit wird«, meinte Bürden boshaft, »wenn wir ihm den Prozeß machen.« »Du weißt doch - ich gehe mit einem Kunden zum Abendessen.« Wenn ihr Mann diese Bemerkung in früheren Zeiten gemacht hätte, und zwar zehn Minuten, bevor er das Haus verließ, um zu dieser Verabredung zu gehen, wäre Sylvia - wie er das nannte - über ihn hergefallen. Sie hatte sich schon mal gegen die Haustür gelehnt, sie zugedrückt, während sie ihm einen Vortrag über ihre Rechte als Frau hielt und ihn belehrte, daß es nicht nur ihre, sondern auch seine Kinder seien. Doch hatte sie gerade einen halben Tag auf einem Seminar mit dem Titel »Seelischer Mißbrauch in Beziehungen« zugebracht, und entweder lag es daran oder vielleicht eher an ihren Erfahrungen in The Hide, daß sie sich fragte, ob die heutige Rednerin sie bei zahlreichen Gelegenheiten wohl des verbalen Mißbrauchs bezichtigt hätte. Das hatte sie ernüchtert, denn eigentlich sah sie sich selbst gern als tugendhaft, aufrichtig und politisch korrekt, und so zwang sie sich zu den freundlichen Worten: »Schon in Ordnung. Ich habe ja heute die kurze Schicht von acht bis Mitternacht. Ich werde Mutter bitten, daß sie Robin und Ben nimmt, ja?« »Ist vielleicht am besten so«, sagte er zerstreut. »Mach's so, wie du denkst. Ich muß gehen, sonst komme ich zu spät.« 247 Was hatte sie denn erwartet? Daß er vor ihr auf die Knie fiel? Einen Abschiedskuß oder auch nur ein Adieu? Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloß. Sie rief ihre Mutter an und packte Schlafanzüge und Kleider zum Wechseln für die Jungen zusammen. Weil sie noch Ferien hatten, brauchte ihr Vater sie nicht zur Schule bringen. Konnte sie sich weiter dazu durchringen, nett zu Neil zu sein, wenn er sich die meiste Zeit so benahm, als wäre sie Luft für ihn? Würden sie je wieder miteinander schlafen? Würde sie überhaupt je wieder mit jemandem schlafen, nachdem sie es sich mit keinem anderen Mann vorstellen konnte? Sie packte ihre Söhne ins Auto und fuhr zu ihrer Mutter. Seltsam, aber häufig war sie so mit der Arbeit beschäftigt, daß sie gar nicht auf das Wetter achtete, und erst jetzt um sechs Uhr abends fiel ihr auf, daß es nicht regnete und ein schöner Abend bevorstand. Der Himmel sah anders aus, eher diesig als klar, und die Wolkenmassen hatten sich in zarte, fedrige Gebilde zerteilt. Bei Vollmond - und ein solcher sollte heute abend aufgehen - war die Arbeit am
Notruftelefon für sie immer weniger anstrengend. Nach einem besonders beunruhigenden Gespräch mit einer Frau am Notruftelefon stellte sie sich dann gern ans Fenster, um den dahinsegelnden Mond zu beobachten und auf die Gärten hinabzusehen, die in sein bleiches, kaltes Licht getaucht waren. Es wirkte wie eine Therapie. Ihr Vater machte es ebenfalls. Vielleicht hatte sie es von ihm übernommen. Sich am andersgeschlechtlichen Elternteil zu orientieren war schlecht, sagte die Psychologin in ihr. An dem Abend hätte sie schwören können, daß der Mond sich bewegte - nun, natürlich tat er das, aber nicht so schnell, daß man die Bewegung hätte sehen können. Therapeuten empfahlen ihren Patienten manchmal, die ruhigen Bewegungen von kreisenden Goldfischen zu beobachten, um den Druck zu lindern, der auf ihnen lastete. Nun, ihr Goldfisch war der Mond. Es würde noch lange nicht dunkel werden. Als sie ankam, wagte sich die ziemlich blasse Sonne gerade wieder hervor. 248 Ihr Vater kam ihr entgegen, um sie zu begrüßen und die Jungen in Empfang zu nehmen. Sie wußte, daß er sich viel Mühe gab, netter zu ihr zu sein, so wie sie sich bemühte, zu Neil netter zu sein, doch auch wenn sie einen gewissen Groll verspürte, daß ihr eigener Vater sich Mühe geben mußte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie erwiderte seinen Begrüßungskuß und fragte sich insgeheim, was mit ihr los war - die Leute in The Hide zum Beispiel, die schließlich lauter Fremde waren, hatten sie alle gern, während ihre eigene Familie... »Bleibst du ein Weilchen?« fragte er sie. »Wir waren gerade im Garten. Es ist dieses Jahr ja fast das erstemal, daß man draußen sein kann. Ich warte noch, bis du wieder weg bist, dann gehe ich mit den beiden zum Fluß hinunter.« Früher hatte sie sich aufgeregt, weil ihre Mutter zusätzlich zu Hausarbeit und Kochen auch noch den Garten versorgte. Diese Art von Feminismus kam ihr jetzt ziemlich antiquiert vor. Daß ihrer Mutter die Dinge, die sie tat, Spaß machten, und daß ihr die Arbeit im Haushalt sehr lag, hatte sie nie in Betracht gezogen. Sie setzte sich in einen Korbsessel, und ihre Mutter brachte ein Tablett mit selbstgemachter Limonade, die Gläser eiskalt und mit Zitronenscheibchen und gezuckertem Rand garniert. »Du hast ja neue Fotos.« Sie hatte nur flüchtig gesehen, daß es sich um Fotos handelte, und erst als sie sie zur Hand nahm, schaute sie richtig hin. »Die gehören deinem Vater, es hat was mit der Arbeit zu tun. Er hat die Hosentaschen auf den Tisch geleert.« Dora lachte. »Wie er es eben immer macht.«
Schlüssel, Kleingeld, ein perfekt gebügeltes, weißes Taschentuch - früher ein Grund mehr für sie, sich dogmatisch über männliche Dominanz auszulassen und diese Fotos. Sie nahm das oberste in die Hand. Das Gruppenfoto einer Familie: Mann, Frau, zwei Jungen, die etwas älter waren als ihre eigenen, und in den Armen der Frau ein Baby. Sie standen im Garten vor einem Haus, das Sylvia auf Anhieb erkannte. Es war in der Ploughman's Lane. Sie hatte einmal ganz in der 249 Nähe gewohnt, wenngleich in einem viel bescheideneren Haus. Dieses hier hieß Woodland Lodge. Sie konnte das Namensschild an der Toreinfahrt zum Haus noch direkt vor sich sehen. Es war wirklich eins der schönsten Häuser in der Gegend. Einmal war sie sogar dringewesen, als sie für irgend etwas gesammelt hatte, und erinnerte sich an den eleganten, breiten Treppenaufgang mit dem geschnitzten Holzgeländer. Diese Leute hatten damals noch nicht dort gewohnt, jedenfalls erkannte sie sie nicht. Die Frau, die sie in der Eingangshalle hatte warten lassen, um einen Fünf-Pfund-Schein zu holen, was schon älter gewesen. Aber das war einige Jahre her, als ihre eigenen Jungen noch klein waren und sie selbst sehr jung war und sie und Neil sich noch gut vertragen hatten... Sie sah sich die Fotos der Reihe nach an. Auf diesem hier war das Baby schon älter, vielleicht um ein Jahr. Es war nicht zu erkennen, ob es ein Mädchen oder ein Junge war, die Haare waren sehr kurz, der Gesichtsausdruck des Kindes war leer, und es trug die übliche Uniform aller modernen Kleinkinder: Trainingshose und Sweatshirt. Mutter und Kind waren allein. Sylvia sah sich das Bild etwas genauer an und legte es dann mit einem Seufzer wieder hin. Wexford kam aus dem Haus und setzte sich ihr gegenüber. Er nahm die Bilder, die sie sich schon angesehen hatte, und beobachtete sie, während sie die restlichen zwei betrachtete. Das Kind war auf keinem genau zu erkennen, weil es sich von der Kamera abgewandt hatte. Der Familienvorstand sah auf diesem Gruppenfoto von allen mit Abstand am besten aus, neben ihm wirkte die Frau mit ihren Söhnen blaß und verschwindend klein, und sein Grinsen war breit, verglichen mit dem scheuen Lächeln der anderen. »Kannst du mir vielleicht sagen, Dad - wie die heilige Agatha gestorben ist?« »Keine Ahnung. Im Wohnzimmer ist ein Märtyrerlexikon.« Er überlegte. »Auf dem dritten Regal von unten, wo die Wörterbücher alle stehen.« Sylvia ging ins Haus und kam mit dem Oxford Book of Mar 249
tyis wieder. Sie schlug es nicht auf, sondern nahm noch einmal eins der Fotos
in die Hand. »Du willst mir wahrscheinlich nicht sagen, wer diese Leute sind?« »Warum möchtest du es denn wissen?» »Bloß weil die Frau ein Opfer häuslicher Gewalt ist. Okay, man sieht keine Blutergüsse oder verheilten Brüche, aber sie ist es, und zweifellos ist dieser grinsende Idiot da der Täter.« Völlig konsterniert wollte er wissen, woran sie das erkennen könne. Er war schon mehrmals bei Fay Devenish gewesen, hatte sie allein oder zusammen mit ihrem Mann erlebt, aber nichts bemerkt. Ihm war natürlich aufgefallen, daß sie eine vollendete Hausfrau der alten Schule war und daß Stephen Devenish die Meßlatte für Sauberkeit in seinem Heim sehr hoch hängte, auch war ihm aufgefallen, daß sie immer unter sich blieben und kaum Freunde hatten, aber das war doch himmelweit davon entfernt... »Woran ich das erkenne? Schwer zu sagen. Ich sehe es eben. So was sieht man, wenn man ständig Frauen in ihrer Situation begegnet. Es ist dieser verletzliche Blick, dieser eingeschüchterte Blick, die Gesichter dieser Frauen haben so etwas Verhärmtes, besonders wenn der Mißbrauch schon über einen längeren Zeitraum hinweg andauert. Schau sie dir noch mal an, Dad, jetzt, wo ich dir das gesagt habe.« Er sah sie sich an. Besonders das Foto, auf dem sie mit ihrer kleinen Tochter allein abgebildet war, im Garten stand, schüchtern lächelte, eine vorsichtige, scheue, sich selbst verleugnende Frau, die sich am liebsten ganz im Hintergrund verkriechen würde, wenn man sie gewähren ließe. Ihre Körpersprache drückte einen gewissen Widerwillen aus, überhaupt fotografiert zu werden, als hätte sie sich nur unter Druck dazu bereit erklärt. Das Kind stand mit dem Rücken zur Kamera und hatte das Gesicht in den langen Rock der Mutter gedrückt. »Zu sehen sind die Blutergüsse nicht«, sagte Sylvia. »Er paßt schon auf, daß er sie dahin schlägt, wo man es nicht sehen 250 kann. Und wenn er mal nicht aufpaßt und auf ihren Armen oder Beinen Spuren hinterläßt, dann verhüllt sie sie mit langen Ärmeln und langen Röcken.« »Ich hätte es wissen sollen«, sagte Wexford. »Ich hätte es selbst sehen müssen.« »Vielleicht muß man besonders geschult sein, um es zu erkennen, Dad. Weißt du, ich kann es nicht nur ihr ansehen, ich sehe es auch ihm an. Diese
Arroganz, der lässige Charme, das Lächeln. Das ist genau der Typ. Na ja, es gibt viele Typen, aber er ist einer davon.« Wexford saß eine Zeitlang schweigend da und ließ sich die Konsequenzen dieser Erkenntnis durch den Kopf gehen. Was bedeutete das für Stephen Devenish? Er war plötzlich ein völlig anderer Mensch geworden, ein Monster, genauso ein Krimineller wie jeder Schläger, der einem Unbeteiligten in einer Kneipenrauferei einen Kinnhaken verpaßt. Falls es stimmte, falls Sylvia recht hatte. Ihm war klar, wie schwer es ihn ankommen würde, Fay Devenish danach zu fragen, und wieviel schwerer ihr die Antwort fiele. '»Erinnerst du dich, daß ich dich vor ein paar Wochen gefragt habe, wieso ein fast dreijähriges Kind den Anschein erweckt, es sei stumm? Und du mir mehrere mögliche Gründe genannt hast?« »Dad, soll das heißen, dieses Kind hier ist die vermißte kleine Sanchia?« Er nickte. »Das ist die Familie Devenish.« »Dann ist die Sache doch völlig klar. Sie spricht nicht, weil sie mit ansehen mußte, wie ihr Vater ihre Mutter geschlagen hat. Ich will damit nicht sagen, daß das eine direkt aus dem anderen folgt, so ä la meine Mutter redet und du schlägst sie, also gehe ich kein Risiko ein und sage erst gar nichts, aber schon so ähnlich. Natürlich ist es viel komplizierter, aber sie tut es, um sich zu schützen - sieh dir doch an, wie sie sich hinter dem Rock der Mutter versteckt. Was ist mit den Jungs? Wie hat es sich auf sie ausgewirkt?« »Ach Gott, Sylvia, wer weiß. Jetzt, wo du es mir gesagt 251 hast, kann ich ja sagen, was ich damals schon gedacht habe, nämlich daß der ältere so aussieht, als könne er es kaum erwarten, bis er alt genug ist, um seinen Vater zu schlagen.« »Vielleicht, aber vielleicht stachelt der Vater die beiden dazu an, sie auch zu schlagen. Ach, mach nicht so ein Gesicht, Dad. Das kommt vor. Und frag mich bitte nicht, wieso sie es sich gefallen läßt. Wo soll sie denn hin? Wohin soll sie denn mit den Kindern? Sie kann sich ja nicht selbst versorgen - nehme ich jedenfalls an -, wer also versorgt sie dann? Und sie erzählt es auch niemandem, weil - ob du's glaubst oder nicht - weil sie sich schämt. Sie schämt sich. Sie hat Angst, daß die Nachbarn es erfahren, daß Freunde es erfahren. Sie schämt sich, denn richtige Frauen, Frauen, die schön genug und clever genug und im Haushalt tipptopp sind, die werden nicht mißhandelt. Die werden bewundert und geliebt und verehrt. Und wenn sie nur so wäre, wenn sie den hohen Maßstab ihres Mannes nur erreichen könnte, dann würde sie auch nicht verprügelt werden.
Wahrscheinlich weiß keiner Bescheid, vielleicht hat sie es auch ihren Eltern erzählt, wenn sie Eltern hat, und die sagen, sie übertreibt, er ist doch ein guter Ernährer, er ist treu, sie würde sich nur künstlich aufregen. Oder sie erzählt es einer einzigen Freundin, und die Freundin sagt, sie soll ihn verlassen, weigert sich aber, sie und ihre Kinder aufzunehmen, und was nützt dann das Ganze?« Jane Andrews, dachte Wexford. Sie wäre diese Freundin und Vertraute. Doch es hatte Streit gegeben, und Jane war fortgeschickt worden - weil sie Bescheid wußte und Devenish nicht ertrug, daß jemand Bescheid wußte? Oder konnte Fay - wie viele, die einer anderen Person ihre intimsten und schmerzlichsten Geheimnisse anvertrauen - die Gegenwart der Frau, der sie sich anvertraut hatte, nicht mehr ertragen? Sylvia blätterte das Buch über Märtyrer durch, hielt inne und verzog gequält das Gesicht. »O Gott, sie hatte eine Art doppelter Brustamputation, man hat ihr die Brüste abgeschnitten. O nein, hätte ich das bloß nicht gelesen!« 252 »Das ist doch schon so lange her«, beruhigte sie Wexford, »oder vielleicht überhaupt nicht passiert.« »So was hatten die Leute im Kopf, stimmt's? Bestimmt haben die solche Dinge gemacht, sonst - sonst würde es ja nicht hier stehen.« »Gewalt und Grausamkeit hat es auf der Welt schon immer gegeben, Sylvia. Indem du mir das über die Familie Devenish gesagt hast, hast du vielleicht ein Stück davon abgewendet. Denk doch daran statt an die heilige Agatha.« Als sie gegangen war, begriff er, daß sie ihm auch gezeigt hatte, wie Sanchias Entführung geplant worden war, wie sie sich abgespielt hatte, die Verzweiflung, jenes letzte, verzweifelte Mittel, die Komplizenschaft der anderen, das endgültige, schmerzliche, aber notwendige Opfer. Ihm war, als entrollte sich vor seinen Augen ein ganzes Panorama von Offenbarungen, Gründen, Konsequenzen und scheinbar endloser Grausamkeit. Er sah das paradoxe Bild vom unschuldigen Opfer, das für schuldig erklärt wurde, und vom skrupellosen Täter, der schuldlos davonkam. Und was um alles in der Welt sollte er bloß dagegen tun? 252
18
Ein glitzerndes Blumenmeer bedeckte seit der vergangenen Woche den Hof vor dem Polizeirevier. Leute, die Ted Hennessy gar nicht gekannt hatten, die ihr Wissen über die Arbeit der Kriminalpolizei aus Fernsehserien bezogen oder die Polizei haßten, sie alle hatten Blumen gebracht und sie in den glatten Zellophanhüllen liegenlassen, auf die der Regen gefallen war und die Sonne
nun heiß brannte. Auf vielen Karten standen die Namen von Bewohnern des Muriel Campden Estate. Wexford, der nach Hennessys Beerdigung gerade zurück ins Büro kam, wunderte sich nicht zum erstenmal über die gegenwärtige Mode, seine Trauer mit eingepackten Blumen zu bekunden. Wann hatte es damit eigentlich angefangen? Wahrscheinlich als sich die Sitte einbürgerte, an der Stelle, wo jemand durch Gewalt oder einen tragischen Unfall ums Leben gekommen war, Blumensträuße niederzulegen. Vor zehn Jahren? Länger noch nicht. Und fast immer war es so, daß man den Menschen, der da gestorben war, kaum oder überhaupt nicht gekannt hatte. Vielleicht war es ein Zeichen von mehr Mitgefühl in der Gesellschaft, was er grundsätzlich sehr unterstützte, aber er fragte sich, wieso niemand auf die Idee kam, die Blumen auszupacken und die Plastikhülle wegzuwerfen, damit all die Rosen und Nelken nicht unbesehen vor sich hin blühten. Er war auf der Beerdigung gewesen, hatte aber keine aktive Rolle gespielt. Nachdem ihm sein Arzt aufgrund seines Gewichts und Alters untersagt hatte, als Sargträger zu wirken, hatte er zugesehen, wie Bürden, Vine, Donaldson und Cox den Sarg mit Hennessy auf ihren Schultern aus dem trostlosen schwarzen Leichenwagen und den Mittelgang von St. Peter's 253 entlang trugen. Die Kranzgabe der Polizei von Mid-Sussex thronte in der Mitte, ein riesiges, knallbuntes Ding aus Rittersporn, Gazanien und Wachsblumen, ausgewählt vom stellvertretenden Chief Constable, während Laura Hennessys Gesteck aus weißem Pfeifenkraut und die beiden herzzerreißenden pinkrosa Röschen von ihren Kindern am Kopfende lagen. Die Ansprache war Southby überlassen worden, der dann das übliche über tapfere Staatsdiener und außergewöhnlich aufopfernde Pflichterfüllung sagte und daß niemand größere Liebe habe denn die, daß er sein Leben ließe für seine Freunde. Der arme Hennessy hatte sein Leben aber für gar niemanden gelassen. Er war nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Beerdigungen machten Wexford depressiv, und zwar nicht nur aus den naheliegenden Gründen, sondern weil sie in den Menschen so viel Scheinheiligkeit und falsche Frömmigkeit an den Tag brachten. Allein beim Anblick von Southby, der halb im Sitzen, halb auf Knien, die Hände über die Augen gelegt, Gebete murmelte, die ihm bestimmt seit der Grundschule nicht mehr über die Lippen gekommen waren, allein davon stieg sein Blutdruck schon ganz gewaltig. Mochten die anderen von ihm aus noch zu Laura auf
einen Sherry und ein Stück Früchtekuchen gehen, wenn sie wollten. Er wollte nicht, und Bürden mit ziemlicher Sicherheit auch nicht. Überall waren Presseleute und Kameras. Jemand blitzte ihm ins Gesicht, als er gerade die Stufen vor der Kirche herunterkam, und für einen kurzen Moment wurde alles schwarz. Er kniff die Augen zu und blieb mit einem plötzlichen Gefühl von Panik stehen, das einen immer überkommt, wenn man blind zu werden glaubt, ob die Blindheit nun echt ist oder nur eingebildet. Bürden berührte ihn leicht am Arm. »Alles in Ordnung?« »Ich glaube schon. Haben Sie schon mal geträumt, Sie hätten etwas ganz Schlimmes mit den Augen? Sie erblinden oder würden erblinden, falls Sie nicht ganz schnell was unternehmen?« 254 Burdens Antwort überraschte ihn. »So was träumt jeder. Jedenfalls alle, mit denen ich bisher gesprochen habe.« »Tatsächlich? Irgendwie tröstet mich das.« In der High Street hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Weiß Gott - wie Wexford es ausdrückte -, was sie dort zu sehen hofften. Vielleicht gehörte es aber in die gleiche Kategorie wie die plastikverhüllten Blumen und vermittelte den Leuten das Gefühl, dabeizusein, nicht ausgeschlossen, sondern Teil dieses Dramas, dieser menschlichen Tragödie zu sein. »»Der Tod eines jeden Menschen macht auch mich geringer- - sind sie deswegen hier?« »Ist das nicht ein bißchen hochtrabend und pathetisch?« meinte Bürden. »Die wollen sich doch bloß alle im Fernsehen sehen.« Als sie an ihnen vorbeigingen, wurden sie von den Passanten angestarrt wie Polizisten vom Mars, nicht wie die vertrauten Gesichter, die jeder von ihnen jeden Tag sehen konnte. Wexford schwieg und dachte über Fay Devenish nach. Er mußte zu ihr, aber jetzt noch nicht. Ein seltsamer Widerwille, ihr erneut zu begegnen, hatte ihn ergriffen, und er überlegte, ob alle mißhandelten Frauen diese Wirkung auf andere hatten. Sie waren nicht erwünscht, sie mußten geächtet werden; indem sie auf diese Art zu Opfern wurden, stellten sie sich außerhalb gewöhnlicher menschlicher Beziehungen. Diese passiven Geschöpfe boten sich geradezu an, verteufelt zu werden. Eine schreckliche Einstellung - er setzte sich nur ein paar Sekunden mit ihr auseinander und verdrängte sie dann sogleich. Er verschob den Besuch bei ihr nur deswegen, weil er vorher noch jemand anderen besuchen wollte. »Kommen Sie herauf.« Er und Bürden bahnten sich vorsichtig eine Gasse durch das Blumenmeer. »Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, mal sehen,
was Sie davon halten.« Inzwischen starben Rosen, Fuchsien und Zinnien unter ihrer Plastikfolie, an den Rändern braun verfärbte Blütenblätter 255 krümmten sich hoch, und ihr Duft durchlief merkwürdige chemische Veränderungen. »>Denn nicht so grell verkehrt sich Duft und Wesen bei Unkraut, als bei Lilien, die verwesen.«« »Ich sehe zwar keine Lilien«, sagte der prosaische Bürden. »Aber ich weiß, was Sie meinen.« »Erstaunlich viele Leute wollen ein Kind adoptieren, nicht wahr?« sagte Wexford, als sie in seinem Büro waren. »Es wird geradezu zwanghaft. Selbst ansonsten gesetzestreue Bürger -hauptsächlich Frauen, obwohl ich mich das kaum zu sagen traue - vergessen ihre Grundsätze und Regeln, an die sie sich bisher gehalten haben, und verstoßen auf alle möglichen Arten gegen das Gesetz.« »Was, Sie meinen, indem sie nach Rumänien fahren, sich ein Waisenbaby holen, Pässe und Geburtsurkunden fälschen, so in der Richtung?« »So in der Richtung. Erinnern Sie sich an Mrs. Louise Sharpe?« »Nein. Sollte ich das?« »Lieber Himmel, Mike, es ist doch erst ein paar Tage her. Jane Andrews Schwester.« »Ach, die. Was ist mit der? Und was ist mit der Geschichte, die Sie mir erzählen wollten?« »Nur Geduld. Würde es Sie sehr wundern zu erfahren, daß Mrs. Sharpe vorbestraft ist?« »In diesem Leben«, versetzte Bürden, »würde mich das bei niemandem wundern. Es würde mich auch nicht wundern, wenn Sie vorbestraft wären.« »Herzlichen Dank. Louise Sharpe ist Witwe »An sich keine Straftat, außer sie hat ihren Alten umgebracht.« »Ich habe keinen Grund anzunehmen, daß sie das getan hat. Er hatte vor zwei Jahren einen Herzinfarkt. Er war knapp unter vierzig, bekam aber einen Herzinfarkt, der ihn das Leben kostete. Sein Name war James Michael Sharpe, er war 255 Steuerberater, ist dann aber groß ins Computergeschäft eingestiegen und hat ein Vermögen gemacht. Sie war achtunddreißig, als er starb, und schwanger. Das Kind, ein Mädchen, mußte per Herz-Lungen-Maschine am Leben erhalten werden und starb schließlich mit zwei Monaten. Sie und ihr Mann hatten geglaubt, sie seien unfruchtbar, und fünf Jahre lang versucht, ein Kind zu
adoptieren, bevor sie endlich schwanger wurde. Die häuslichen Umstände wurden auf ihre Tauglichkeit überprüft, zwei Babys kamen als Anwärter in Frage, oder wie das heißt. In beiden Fällen überlegten es sich die Mütter im letzten Moment doch noch anders. Dann wurde Louise Sharpe schwanger »Woher wissen Sie das denn alles?« »Dank unserem großartigen Computersystem verfügen wir über eine Menge Informationen, wenn jemand vorbestraft ist.« »Sie haben noch gar nicht gesagt, wofür sie bestraft wurde«, brummte Bürden. »Darauf komme ich noch. Ihr Mann starb, und sie verlor das Baby, eine doppelte Tragödie. Was als nächstes kam, weiß ich nicht, weil ich nur die Fakten bekomme, keine Gefühle. Diesen Teil müssen wir uns also dazudenken. Jedenfalls erneuerte sie irgendwann im Jahr darauf ihr Adoptionsgesuch, aber inzwischen war die Situation natürlich ganz anders. Sie war drei Jahre älter und lebte nicht mehr in einer stabilen Ehe. Ihre Chancen, als potentielle Adoptivmutter akzeptiert zu werden, lagen praktisch bei Null.« Als das schwere Dröhnen eines Dieselmotors ertönte, trat Wexford ans Fenster. Er sah auf den weißgrünen Lastwagen der Stadtverwaltung hinunter und auf die grünweiß uniformierten Männer mit den reflektierenden Armbinden, die die Blumen einzusammeln begannen. »Die doch heute steh'n«, sagte er, »und morgen in den Ofen geworfen werden. Bloß daß die hier in den Riesenreißwolf geworfen werden.« »Wovon reden Sie eigentlich?« »Von gar nichts. Achten Sie gar nicht auf mich. Also, 256 zurück zu Mrs. Sharpe. Das erste Kind hieß Nicola, und es war tot. Sharpe, ich sagte es bereits, hatte einen Haufen Geld verdient und seine Witwe in überaus gesicherten Verhältnissen zurückgelassen, wie uns die geschwätzige Mrs. Probyn ja erzählt hat. Nachdem es ihr am nötigen Kleingeld nicht mangelte, fuhr sie also los und kaufte sich ein Baby. In Albanien, um es genau zu sagen, wo man offenbar Zigeunerbabys kaufen kann. Sie hatte Glück, daß sie dort nicht geschnappt wurde - weiß Gott, was aus ihr geworden wäre. Ich stelle es mir nicht besonders angenehm vor, ein paar Jahre in einem albanischen Gefängnis zubringen zu müssen. Statt dessen wurde sie hier geschnappt, nachdem sie versucht hatte, mit dem Paß einzureisen, den sie von dem toten Kind noch hatte, von Nicola.« »Sie hatte einen Paß für ein krankes Baby, das bloß zwei Monate gelebt hat?«
»Reiche Leute fahren mit ihren Kindern doch andauernd ins Ausland. Vielleicht hatte sie vor, mit dem Baby zu verreisen, wenn es ihm besserging, bloß ging es ihm nicht besser, es starb. Louise Sharpe hatte noch Glück, daß sie nicht ins Gefängnis mußte, weil sie das albanische Kind gekauft hatte. Als der psychiatrische Gutachter bei der Gerichtsverhandlung sagte, sie leide unter schweren seelischen Störungen, kam sie mit einer hohen Geldstrafe davon, und Nicola die Zweite fuhr zurück nach Albanien.« »Jetzt weiß ich, worauf Sie hinauswollen«, sagte Bürden. »Hier haben wir eine fertige Adoptivmutter, eine Frau, die sich sehnlichst ein Kind wünscht, die sogar Namen und Geburtsurkunde und Paß für es bereithielt.« »Glaube ich jedenfalls.« »Wollen Sie damit sagen, diese Frau, diese Louise Sharpe, ist bei Nacht in Woodland Lodge eingestiegen und hat Sanchia Devenish entführt? Und wo kommt Devenish ins Spiel? Und Jane Andrews?« »Das kann ich Ihnen auch alles sagen, glaube ich.« 257 Jane Andrews steckte wieder in ihrer »Unisex«-Kluft, das Gesicht ungeschminkt, an den Füßen Turnschuhe. Sie war bereitwillig nach Kingsmarkham gekommen, weil ihr, wie Wexford vermutete, sehr daran gelegen war, ihnen alles zu erzählen, nachdem die Sache vorbei war. Sie hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen, sie konnte nichts ungeschehen machen und mußte nun tun, was sie konnte - für die Freundin, die sie verraten zu haben glaubte, und die Schwester, der sie womöglich nie wieder gutzumachenden Schmerz zugefügt hatte, wenn auch mit den allerbesten Absichten. Den Anwalt, nach dem sie erst verlangt hatte, wollte sie nicht mehr. Sie sagte sogar zu Wexford, sie hoffe, daß nicht mehr Außenstehende als unbedingt nötig in die Sache verwickelt wurden. Statt in einen Vernehmungsraum ging er mit ihr in sein Büro hinauf. Barry Vine und Karen Malahyde waren nach Brighton gefahren, um Louise Sharpe zur Rede zu stellen. »Und Sanchia-Nicola mitzunehmen?« hatte Karen gefragt. »Sie müssen. Das Jugendamt wurde bereits verständigt, und eine Frau von der Adoptionsabteilung in Kingsmarkham wird Sie begleiten. Sanchia muß ihren Eltern auf schnellstem Weg zurückgegeben werden.« Wexford wiederholte diese Worte vor Jane Andrews, als er an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte und sie ihm gegenübersaß. Sie senkte den Blick. »Er wird sie umbringen«, sagte sie leise.
»Stephen Devenish wird seine eigene Tochter umbringen?« »Er wird Fay umbringen. Sie sagten, Sie wissen, warum Fay Sanchia weggegeben hat. Sie mögen eine gewisse Ahnung haben, aber das ganze Ausmaß kennen Sie nicht. Sie sind wie alle Männer, Sie finden es in Ordnung, wenn ein Mann seiner Frau ein bißchen auf die Finger klopft. So nennt man es doch, nicht wahr? Ein bißchen auf die Finger klopfen? Nun, so war es bei denen jedenfalls nicht. Wenn er das, was er ihr angetan hat, mit einem Mann gemacht hätte, systematisch, über Jahre hinweg, immer und immer wieder und immer gewalttätiger 258 und brutaler, wäre er dafür lebenslänglich hinter Gitter gekommen.« Wexford beschloß, es zu ignorieren, daß sie ihn in etwa in die gleiche Kategorie eingeordnet hatte, und sagte: »Sprechen Sie bitte weiter.« »Also gut, ich spreche weiter. Mit Vergnügen! Das erstemal hat er sie auf der Hochzeitsreise geschlagen. Er ertappte sie dabei, wie sie sich mit einem Mann unterhielt, der im gleichen Hotel wohnte. Sie unterhielt sich nur und wagte vielleicht ein bißchen zu lachen. Stephen bat sie, mit ihm aufs Zimmer zu kommen, sie dachte, er wollte mit ihr schlafen, und als sie drin waren, hat er sie so heftig ins Gesicht geschlagen, daß sie hinfiel. Mit anderen Worten, er schlug sie zu Boden. Sie dürfte nicht mit einem anderen Mann allein sein, sagte er, jetzt wüßte sie ja, was dann passiert. Sie weinte schrecklich, sie konnte es nicht fassen, daß er so was tun würde. Sie erkannte ihn gar nicht wieder und weinte und weinte, bis er sagte, es täte ihm leid, es würde nicht wieder vorkommen, er liebte sie nun mal so sehr, daß er rasend eifersüchtig wäre und nichts dafür könnte. Aber natürlich kam es wieder vor. Zu oft, als daß ich es hier alles aufzählen könnte. Selbst ich habe nicht alle Einzelheiten erfahren oder wie oft es passiert ist. Ihre Eltern auch nicht, aber das würde auch nicht viel bringen. Ihre Mutter will nichts, wie sie es nennt, 'Unappetitliches' hören, und ihr Vater fragt, womit sie ihren Mann denn provoziert. Er hat ihr schon beide Arme gebrochen. Einmal hat er sie so brutal aufs Auge geschlagen, daß sie dachten, sie würde blind werden. Er schneidet sie. Er holt ein Messer aus der Küche und sorgt dafür, daß sie ihn dabei sieht, dann zitiert er sie zu sich in dieses unheimliche Arbeitszimmer - immer für ein Vergehen, das er sich ausgedacht oder eingeredet hat - und befiehlt ihr, die Hand auszustrecken, aber nicht, um ihr drauf -zuklatschen, wie Lehrer es früher bei Schulkindern gemacht haben, sondern er schneidet ihr mit dem Messer quer über die Handfläche.
Hinterher ist er natürlich ganz zerknirscht und reumütig 259 und sagt jedesmal, es würde nie wieder vorkommen, gleichzeitig aber ist sie schuld dran, sie treibt ihn dazu. Sie hat einen Liebhaber, mit dem er sie heimlich telefonieren hört, oder ihr Rock ist zu kurz, oder sie ist kokett. Darum haben sie auch keine Freunde. Er schlägt sie, wenn sie mit einem anderen Mann spricht, und ist sogar auf Frauen eifersüchtig, die sie gernhat. Gleichzeitig behauptet er, sie sei verrückt. Ich weiß nicht, wie oft er sie beschimpft hat, sie wäre lesbisch. Sie hat nie einen Job gehabt, denn da könnte sie ja andere Leute kennenlernen, Männer und Frauen. Außerdem muß sie das Haus tadellos sauberhalten und immer selber kochen, das ist ihre Aufgabe, und wenn sie darin nicht perfekt ist, oder er der Ansicht ist, daß sie nicht perfekt ist, gibt er ihr - wie er es nennt - >einen kleinen Klaps<, was soviel heißt, daß er sie zu Boden schlägt und tritt.« Jane Andrews hielt inne, um Luft zu holen. Ihr Gesicht war vor Erregung hochrot angelaufen, und ihre Augen funkelten. Wexford sah, daß sie die Fäuste geballt hatte, als wollte sie auf jemanden losgehen, und er wußte ziemlich genau, wer dieser Jemand war. »Schon gut, Miss Andrews, beruhigen Sie sich. Jetzt wird mir einiges klar. Welche Rolle spielen die Kinder dabei?« Sie antwortete nicht darauf. »Das war schon ziemlich komisch, daß Sie dachten, er hätte eine Freundin. Stephen Devenish ist der treueste Ehemann auf Erden. Er liebt sein Opfer, sie ist die einzige Frau, die er totschlagen kann.« Ihr verbittertes Lachen klang nicht schön. »Sie hat bei der Frauenhilfe angerufen, beim Notruf, wissen Sie, erst kürzlich übrigens -nein, es war nicht die Frauenhilfe, aber so was ähnliches. Er war mit Sanchia gerade im Garten, kam dann aber herein und beschuldigte sie, sie hätte mit einem Liebhaber telefoniert. Er hat so brutal auf sie eingeschlagen, daß sie bewußtlos wurde. Sie war ein paar Minuten weggetreten.« Sie öffnete ihre Fäuste, ließ die Hände erschlaffen und sah ihn dabei erschöpft an. »Fragen Sie bitte nicht, wieso sie bei ihm geblieben ist, ja? Fragen Sie nicht, warum sie ihn nicht verlassen hat oder die 259 Polizei geholt hat oder was weiß ich. Das habe ich sie auch gefragt. Früher.« .»Welche Rolle spielen die Kinder dabei?« wiederholte er. »Na, sie sind da, sie sind dabei. Er hört ja nicht auf, bloß weil seine Söhne dabei sind. Was weiß ich, was er ihnen erzählt. So muß man mit Frauen umgehen, damit sie einem nicht auf der Nase rumtanzen - vermute ich. Oder -
Mummy war mal wieder ungezogen. Irgendwas in der Richtung. Man merkt natürlich, daß es Auswirkungen auf sie hat, sie sind beide auf unterschiedliche Weise gestört.« »Und Sanchia?« »Sanchia ist das Ergebnis einer Vergewaltigung. Jetzt dürfen wir das Wort ja benutzen, nicht? Wenn Männer sich ihren Frauen mit Gewalt aufdrängen? Dazu haben sie ja jetzt kein Recht mehr, stimmt's? Nun, Stephen hat Fay vergewaltigt, als sie krank im Bett lag, weil er sie so furchtbar verprügelt hatte. Sie hatte Schmerzen und flehte ihn an, sie in Ruhe zu lassen, aber er wollte nicht, er sei ein Mann, sagte er, und brauche Sex, sonst würde seine Gesundheit darunter leiden. Also wurde sie schwanger. Als sie im vierten Monat war, trat er ihr in den Bauch. Er wollte nicht noch ein Kind, sagte er. Fay würde das Kind mehr lieben als ihn. Na ja, dieser Tritt hatte nicht die gewünschte Wirkung, und Sanchia wurde geboren. Zum Glück auch noch unbeschädigt. Fay bat ihn inständig, sie nicht mehr zu schlagen, auf den Knien flehte sie ihn an. Wenn du dich benehmen würdest wie eine erwachsene, vernünftige Frau, meinte er, müßte ich dich auch nicht bestrafen. Was ist denn das für ein Benehmen, vor dem eigenen Mann auf die Knie zu fallen? Und dann stieß er sie zu Boden.« Wexford unterbrach sie. »Er hat sie vor dem Kind geschlagen? Vor Sanchia?« »Aber natürlich. Wir durften nicht mehr miteinander befreundet sein, das sagte ich Ihnen schon, aber wir haben telefoniert. Ich war alles, was sie hatte, und viel war das nicht.« Jane Andrews räusperte sich, als befürchtete sie, die plötzliche Heiserkeit in ihrer Stimme könnte eine überwältigende 260 Gefühlsregung verraten. »Ich konnte es ihm nicht auf den Kopf zusagen. Er hätte seine Wut doch nur wieder an Fay ausgelassen. Das war mir klar. Ich hatte schon einmal mit ihm darüber gesprochen, am Anfang, als sie es mir erzählt hatte, also vor etwa sieben Jahren. Ich drohte, ich würde die Polizei holen, und wissen Sie, was er daraufhin gesagt hat? Er hat alles abgestritten, hat behauptet, Fay bilde sich das alles nur ein, sie sei neurotisch oder noch schlimmer, aber zum Glück hätte sie ja einen Mann, der sie verstehen konnte. Er war nicht grob zu mir oder wütend, sondern ganz ruhig und freundlich wie immer, besänftigend, fast väterlich. Bloß daß er es hinterher an Fay ausließ.« »Aber am Ende wurden Sie aus dem Haus gewiesen?« »Als ich draufkam, daß er sie in Roberts Beisein prügelte. Robert war damals erst drei, so alt wie Sanchia jetzt. Es schien beinahe, als täte er es mit Absicht,
damit das Kind es sehen konnte. Nein, nicht beinahe, er tat es wirklich mit Absicht. Er nahm Fay den Kleinen ab und setzte ihn hin, dann ging er auf Fay los, während Robert zusah. Damit er lernt, was mit Frauen passiert, die dumm und unfolgsam sind, sagte er. Na, ich bin auf ihn losgegangen, sagte, so kann es nicht weitergehen, ich hole Fay und die Kinder weg und nehme sie zu mir, weiß Gott, wie das gehen sollte, aber ich meinte es ernst, und das wußte er. Also hat er mir erklärt, ich sei bei ihnen nicht mehr erwünscht. Das hätte mich nun nicht daran gehindert, Fay trotzdem weiter zu besuchen, aber er rächte sich an ihr, er ließ seine Wut an ihr aus, und das konnte ich nicht ertragen. Wie hielten unsere Freundschaft per Telefon aufrecht, anders ging es nicht, und trotzdem hatte Fay die ganze Zeit Angst, er könnte das mit den Anrufen herausfinden. Gewöhnlich rief ich an, aber als das neue System eingeführt wurde, Sie wissen schon, wo man eine bestimmte Nummer wählen kann und erfährt, wer zuletzt angerufen hat, da bekam sie entsetzliche Angst, er würde es damit versuchen und herausbekommen, daß ich angerufen hatte, während sie einmal nicht zu Hause war. Ich mußte ihr versprechen, nur zu 261 ganz bestimmten Zeiten anzurufen, wenn er nicht da war und sie nicht aus dem Haus mußte.« Wexford, der die meiste Zeit schweigend dagesessen und dieser Leidensgeschichte gelauscht hatte, sagte nun: »Wessen Idee war es eigentlich, Sanchia fortzubringen?« Jane Andrews Antwort kam hastig. »Fays. Nicht meine. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen. Sie sagte mir, entweder das oder sie bringt sich um.« »Mit >das< meinen Sie, Sanchia zur Adoption freizugeben, damit sie nicht mit ansehen muß, wie ihre Mutter ständig von ihrem Vater mißhandelt wird? Damit sie in einem glücklichen Zuhause aufwächst, obwohl das bedeutete, daß Mrs. Devenish ihre Tochter nie wiedersehen würde?« »Das meine ich damit, ja. Als sie mit dem Vorschlag ankam, habe ich ihn zunächst für reinen Wahnsinn gehalten und konnte mir nicht vorstellen, wie das überhaupt gehen sollte. Dann fiel mir meine Schwester Louise ein. Sie müssen wissen, das ist Monate her, es mußte gut vorbereitet werden. Louise hat Schlimmes mitgemacht, als sie versuchte, ein Baby aus Osteuropa zu adoptieren, und ich nahm an, sie hätte sämtliche Hoffnungen auf eine Adoption begraben, aber weit gefehlt. Sie sagte mir, ihr läge noch immer viel daran, sehr viel sogar, sie wollte es unbedingt weiter versuchen. Und die Probleme, die ich im Gegensatz zu Fay vorausgeahnt hatte, wie zum Beispiel
Geburtsurkunde, Paß und so weiter für Sanchia zu beschaffen, waren alle geklärt, denn Louise hatte sämtliche Papiere von ihrem toten Baby aufbewahrt.« »War Ihre Mutter in dieses - diesen Plan eingeweiht?« »Meine Mutter weiß nichts davon. Sie weiß nicht einmal, daß Louise ein Kind hat - Louise hat ein Kindermädchen und ein Dienstmädchen, das im Haus wohnt -, und jetzt braucht sie es ja auch nicht mehr zu erfahren, oder?« Jane Andrews hielt plötzlich entsetzt inne. »Ach, die arme, arme Louise«, rief sie, »das bringt sie um, wenn sie dieses Kind auch noch verliert, nach allem, was sie durchgemacht hat »Miss Andrews, eigentlich hätten Sie sich doch denken 262 können, daß dieses ganze Unternehmen zum Scheitern verurteilt war. Es war nicht recht von Ihnen, bei Mrs. Sharpe Hoffnungen zu wecken und sie in dieser Sache zu unterstützen. Das hätte Ihnen doch klar sein müssen.« »Ich sehe das nicht so. Es hätte klappen können, es hat ja auch fast geklappt.« »Auf Sanchia wird es sich doch mit Sicherheit schädlich auswirken.« »Nicht halb so schädlich wie das Leben mit einem gewalttätigen Kriminellen.« Da kam ihr ein beunruhigender Gedanke. »Sie muß doch nicht etwa dorthin zurück, oder?« »Selbstverständlich muß sie dorthin zurück«, entgegnete Wexford mit einem Seufzer. »Ich verstehe es, mir ist die Situation klar. Doch was Mr. Devenish auch getan hat, er ist ihr leiblicher Vater, der mit ihrer leiblichen Mutter in einer scheinbar stabilen Beziehung lebt.« Er hob abwehrend die Hand, als Jane Andrews aus ihrem Sessel hochfahren wollte. »Einen Moment noch, Miss Andrews. Ich höre, was Sie sagen, und ich glaube Ihnen. Aber solange Mrs. Devenish bei uns nicht Anzeige gegen ihren Mann erstattet, können wir gar nichts machen. Und wenn sie Anzeige erstatten wollte, hätte sie es längst getan, meinen Sie nicht? Wie Sie sagen, geht das ja nun schon seit etwa dreizehn Jahren so.« »Muß er denn erfahren, was Fay getan hat? Ich meine, daß sie Sanchia selbst weggebracht hat?« Etwas an der Art, wie sie das sagte, jagte Wexford einen kalten Schauer über den Rücken. Er wollte sich von ihr nicht beeinflussen lassen, wollte Distanz wahren, konnte seine körperliche Reaktion, den heftigen Schauer, der ihn plötzlich durchfuhr, jedoch nicht kontrollieren. Er konnte ihn nur überspielen, indem er ihr möglichst gleichgültig sagte, selbstverständlich müsse man Devenish informieren, und bei sich fügte er
hinzu, daß man das schon längst hätte tun müssen, ebenso wie Sanchia längst hätte abgeholt und ihren Eltern übergeben werden müssen. Diese Dinge mußten nun unverzüglich erledigt werden. Er wollte 263 nicht in Jane Andrews weißes, angsterfülltes Gesicht sehen, konnte es aber nicht vermeiden. Sie wiederholte die Worte, die sie vorhin schon gesagt hatte: »Er wird sie umbringen.« Ein vermißtes Kind seinen Eltern zurückzubringen sollte eigentlich zu den angenehmsten Aufgaben eines Polizisten gehören. Wexford hatte schon mehrmals vermißte Kinder wiedergefunden; sie nach Hause zu bringen, das Gesicht der trauernden Mutter, die Freude des Vaters zu sehen war jedesmal herzbewegend gewesen. Diesmal wäre es anders, ein eigentlich glücklicher Anlaß verwandelt in - was, das wußte er eigentlich auch nicht recht. Entsetzen? Bestürzung? Angsterfüllte Gefahr vielleicht. Doch es mußte sein, und es war seine Aufgabe. Es half nichts, wenn Jane Andrews ihm sagte, es sollten möglichst wenige davon erfahren. Sie mußten es erfahren. Gegen Jane Andrews und Louise Sharpe mußte Anklage erhoben werden, wobei ihm allerdings schleierhaft war, welche Art von Anklage. Jedenfalls hatte es damit keine besondere Eile. Bei den beiden bestand keine Fluchtgefahr. Was Fay Devenish betraf, so brachte er es nicht über sich, über eine weitere Bestrafung nachzudenken, und der Gedanke an ihren Mann war ihm völlig unerträglich. Indem er sich ausdrücklich den ungewöhnlichen Befehl erteilte, diesmal zu improvisieren, ließ er sich von Donaldson zu Woodland Lodge in der Ploughman's Lane chauffieren. Seit Sylvias und dann Jane Andrews' Enthüllungen war er zum erstenmal wieder dort. In diesem neuen Licht betrachtet, sah das idyllische Plätzchen anders aus, es war nicht mehr der friedliche, waldige Winkel von Kingsmarkham, eingebettet zwischen altem Marktflecken und Hügelland, sondern bedrohlich, verschlossen, und die prächtigen Bäume schienen allein deswegen dort zu stehen, um zu verbergen, was sich unter ihrem schützenden Dach abspielte. Und doch würde 263 beim Anblick des Hauses, das sich an diesem schönen, sonnigen Nachmittag behaglich in die kleine, bewaldete Niederung schmiegte, niemand auf die Idee kommen, daß dort drinnen ständig ein Verbrechen verübt wurde, die kontinuierliche, fortwährende Anwendung körperlicher Gewalt gegen ein
wehrloses Geschöpf. So lieblich war der Anblick, so friedlich die Stimmung, daß er einen kurzen Moment Zweifel bekam. Jane Andrews hatte es sich ausgedacht, hatte es erfunden, hatte sich diese Geschichte zusammengereimt, um die Wahrheit zu verschleiern, daß Fay Devenish nämlich ein anderes Motiv gehabt hatte, ihr eigenes Kind herzugeben. Doch sobald er Fay sah - sie war es, die ihm die Tür öffnete -, erkannte er, daß alles stimmte, und war um Worte verlegen. Wenigstens war Stephen Devenish nicht zu Hause, sondern im Büro von Seaward Air in Brighton. Sie sagte es ihm, als hielte sie es nicht für möglich, daß er sie sprechen wollte - als sei er sicher wegen ihres Gatten gekommen. »Ich bin froh über die Gelegenheit, Sie allein sprechen zu können, Mrs. Devenish.« »Meine Söhne kommen bald nach Hause.« Glaubte sie etwa, sich vor ihm schützen zu müssen? »Ich möchte mit Ihnen reden«, sagte er, »ohne Ihre Söhne. Nur mit Ihnen. Ich muß Ihnen etwas sagen.« Sie wußte es. Sie konnte es ihm vom Gesicht ablesen und wurde bleich wie die elfenbeinfarbene Bluse, die sie trug. Einen Moment lang dachte er schon, sie würde in Ohnmacht fallen, und wünschte, er hätte Lynn oder Wendy Brodrick mitgebracht. Doch dann faßte sie sich wieder, brachte sogar ein gequältes Lächeln zustande, und ihm fiel ein, daß sie ja daran gewöhnt war, sich von Schock und Schmerz zu erholen. Er wollte gerade auf das Arbeitszimmer zugehen, wo er schon einmal mit ihr gesprochen hatte, als sie mit gerötetem, geschwollenem Gesicht auf dem Ledersofa gelegen und Probleme mit dem Sprechen gehabt hatte, doch sie legte ihre schmale, leichte Hand auf seinen Arm und sagte: »Nein, nicht da hinein. Bitte, gehen wir nicht da hinein.« 264 Er erinnerte sich, was Jane Andrews über diesen Raum gesagt hatte, dieses Herrenzimmer mit der dunklen Holztäfelung, den Ledermöbeln, den Schwertern und dem Dolch an der Wand - Schauplatz ihrer zahlreichen Verletzungen. Vielleicht wurde sie zur Strafe dorthin gebracht, wenn sie sich ungebührlich benahm oder die an sie gestellten Anforderungen nicht erfüllte. Statt dessen folgte er ihr in einen Raum, der als ihr Revier gekennzeichnet war: die Küche. Auf dem langen Eßtisch, an dem Devenish geweint hatte, stand eine große, üppig mit Obst gefüllte Holzschale - mit hellgelben Äpfeln, dunkelgrünen Birnen, schimmernden Orangen, goldenen Bananen und Trauben wie
Jadeperlen. Alles war blitzsauber, wie nach einem Frühjahrsputz. Zwei Flügelfenster standen offen, und die frischen weißen Gardinen flatterten in der Brise, die die Blättchen an den Kräutern sanft zauste - Basilikum, Salbei, Bohnenkraut und Majoran standen in glasierten Keramiktöpfen auf der Fensterbank. Die bemalten Türchen an der Kuckucksuhr waren geschlossen. Er bedeutete ihr, sich an den Tisch zu setzen, und nahm auf einem Stuhl ihr gegenüber Platz. Er verspürte ungeheure Erleichterung, fast Erlösung, als er feststellte, daß sie keine Spuren von Blutergüssen, keine Flecken oder Narben im Gesicht hatte, denn so konnte er sich einreden, daß es am Ende doch nicht so schlimm war, daß es sich vielleicht doch um Übertreibungen gehandelt hatte. Als ihre Blicke sich trafen, wandte sie sich ab. Dann sagte er es ihr. Er sagte ihr, daß man Sanchia gefunden hatte, daß sie gesund und munter im Hause einer gewissen Louise Sharpe war, daß Mrs. Sharpe sie jedoch nicht entführt hatte. »Das haben Sie selbst getan, Mrs. Devenish.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Sie brauchen mir nicht zu sagen, warum. Ich weiß, warum.« Die Blässe, die drohende Ohnmacht waren vorbei. Sie seufzte nur. »Bringt sie jetzt jemand zurück?« »In etwa einer halben Stunde.« Sie zögerte. Sie scheute sich, es zu sagen, sah sich jedoch 265 dazu gezwungen. Wie eine zähe Masse aus der Tube gedrückt wird, preßte sie die Worte nun mühsam hervor. »Was soll ich meinem Mann sagen?« Das hätte sie sich früher überlegen sollen, wäre eine mögliche strenge Antwort gewesen. Es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, es auszusprechen. »Dazu kommen wir gleich noch. Ihre Freundin Miss Andrews hat mir sehr viel über Sie und Mr. Devenish erzählt. Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine. Wenn es stimmt und Sie das - sagen wir, das Opfer wiederholter körperlicher Gewaltanwendung Sie unterbrach ihn, und jetzt sprudelte es aus ihr heraus. »Sie werden sagen, ich könnte Sie doch verständigen, die Polizei, meine ich, und gegen ihn Anzeige erstatten und ihn vor Gericht bringen, ich könnte doch fortgehen aber wohin soll ich denn gehen? Und dann würde er doch nicht aufhören, nein, er würde nur noch wütender werden, und wo ich auch hinginge, er würde mich finden, das weiß ich. Er hat es gesagt, er sagte, wo ich auch hingehe, er würde mich finden. Es gibt keinen Ausweg, nicht solange er lebt und ich lebe, keinen Ausweg.«
Sie legte die Finger an ihre Augen, berührte ihre Schläfen, wie um ihre Gedanken zu stimulieren, und sagte dann mit einem Ausdruck bemitleidenswerter Verwegenheit, verzweifelter Hoffnung in den Augen: »Die einzige Möglichkeit ist, daß er sich ändert. Vor einem Jahr glaubte ich, er ändert sich, als er mich - da hat er mir vier ganze Wochen lang nichts getan. Es hat nicht angehalten, aber eine Zeitlang war es nicht so schlimm, und dann fing es wieder an, aber ich weiß ja, er war überlastet, es gab Ärger in der Firma, und ich - ich bin nicht immer die Frau, wie er sie erwartet, die Frau, die ein Mann wie er verdient hat, wenn Sie es so wollen. Das weiß ich alles. Vielleicht ändert er sich ja, meinen Sie nicht?« Ohne daran auch nur einen Augenblick zu glauben, erwiderte Wexford: »Der zeitweilige Verlust seiner Tochter mag eine Wirkung haben; vielleicht wird der Schock ihn verändern.« Kann ein Mensch aus seiner Haut heraus? »Aber Mrs. Devenish«, versuchte er es erneut, »Sie brauchen sich diese 266 Behandlung nicht gefallen zu lassen. Was Ihr Gatte Ihnen antut, ist genauso tätliche Gewalt, wie wenn ein Mann auf der Straße einen anderen zusammenschlägt.« »Ich weiß. Aber er weiß es nicht. Er sagt, er liebt mich, ich bin die einzige Frau, die er je geliebt hat. Und es sei seine Pflicht, mich - mich zu züchtigen. Er sagt, das brauche ich, weil ich sonst vollkommen kaputtgehe. Das glaubt er wirklich.« Ihre sonst so leise Stimme steigerte sich zu einem Kreischen. »Was wird er tun, wenn er erfährt, daß ich Sanchia weggebracht habe? Was wird er dann tun?« »Versuchen Sie bitte, ganz ruhig zu bleiben. Ich verstehe Ihre Zwangslage, aber ich bin ja hier, ich werde es ihm sagen. Und die anderen Beamten kommen mit Sanchia und bleiben auch hier.« Es klang alles so schwach, es war so ein dürftiger Kompromiß. Er legte Kraft und Festigkeit in seine Stimme. »Denken Sie bitte daran, was ich gesagt habe. Sie sind nicht verpflichtet, sich das gefallen zu lassen. Wenn er Sie wieder schlägt, steigen Sie ins Auto und fahren direkt aufs Revier. Werden Sie das tun?« Jetzt weinte sie. Von Schluchzern geschüttelt, weinte sie, wie sie nie geweint hatte, als ihr Kind vermißt worden war. Wexford holte ihr ein Glas Wasser. Sie trank in kleinen Schlucken, trug das Glas dann ans Spülbecken, wusch es aus, trocknete es mit einem Geschirrtuch ab und stellte es wieder an seinen Platz. Die hintere Haustür ging auf, und die beiden Jungen kamen von der Schule zurück. Ihr Eintreten bewirkte eine sichtliche Veränderung an ihr. Sie richtete sich auf, schien sich zusammenzunehmen, zwang sich zu einem Lä-
cheln. Doch sie sagten nichts zu ihr, und sie sagte nichts zu ihnen. Sie stand auf und stellte ihnen ein paar Coladosen aus dem Kühlschrank auf den Tisch, dazu einen Teller mit Plätzchen und zwei Tüten Kartoffelchips. Ob Wexford vielleicht einen Tee wolle? Er schüttelte den Kopf. Beide fuhren zusammen, als es an der Tür läutete. Sie stieß einen unterdrückten, ängstlichen Schrei aus. Edward sagte: »Komm schon, Mum, reiß dich zusammen.« 267 Robert ging an die Tür und kam mit Barry Vine, Karen Malahyde, einer jungen Kollegin vom Jugendamt und Sanchia wieder. Beide Jungen schwiegen erschrocken. »Sanchia«, sagte Fay Devenish, und es hörte sich an wie ein Ausruf der Verzweiflung. Die Kleine starrte sie an, drückte sich die Fäuste auf die Augen, wandte sich von ihrer Mutter ab und vergrub ihr Gesicht in Karens Rock. »Könnte vielleicht jemand Tee machen?« Wexfords Aufforderung war an alle gerichtet - sich speziell an die jungen Frauen zu wenden, wagte er nicht. Doch die junge Frau vom Jugendamt kam der Aufforderung nach. »Wo war sie denn?« wollte Edward von seiner Mutter wissen. »Frag bitte nicht.« »Also, du und Dad - ihr spinnt«, sagte Robert. Er nahm sich eine Tüte Kartoffelchips und ging aus dem Zimmer. Barry reichte die Teetassen herum. Sanchia drehte ganz langsam den Kopf, sah ihre Mutter an, steckte sich den Daumen in den Mund und kniff die Augen zu. Keiner wußte so recht, was er sagen sollte. Abgesehen von Karens Bemerkung, es habe schon seit ein paar Tagen nicht mehr geregnet, und der jungen Frau vom Jugendamt, die mit ihrer munteren Sozialarbeiterinnenstimme sagte, die Kuckucksuhr gefiele ihr aber sehr und ob die aus der Schweiz sei, wurde nichts geredet. Just in diesem Augenblick ging das Türchen auf, der Kuckuck kam heraus, klappte mit dem Schnabel und sagte fünfmal: »Kuckuck«. Eine weitere halbe Stunde verstrich, bevor Stephen Devenish nach Hause kam, und alle tranken noch zwei Tassen Tee. Fay bemerkte seinen Wagen als erste, sie schien ihn bereits zu hören, bevor das überhaupt möglich war, als hätte sich durch den Mißbrauch und die Angst ein zusätzlicher Sinn bei ihr herausgebildet, mit dem sie unhörbare Geräusche über große Entfernungen wahrnehmen konnte. Sie versteifte sich, richtete sich starr auf und fing sichtlich an zu zittern. 267 »Also dann«, sagte Wexford. »Bleiben Sie hier. Überlassen Sie es mir.«
Er ermahnte sich, nicht zu vergessen, daß der andere nichts wußte, daß ihn niemand vorgewarnt hatte. Zweifellos liebte er sein Kind, so merkwürdig die Vorstellung bei so einem Monster auch anmutete. Die Menschen waren wirklich unglaublich seltsame Wesen! Er wartete nicht ab, bis Devenish den Schlüssel ins Schloß steckte, sondern trat hinaus auf den Vorplatz. Sanchias Vater stand neben dem schwarzen Jaguar, aus dem er gerade ausgestiegen war, und als er Wexford sah, wandte er sich um und warf ihm sein strahlendes Lächeln zu. »Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Mr. Devenish«, sagte Wexford mit gedämpfter, fester Stimme. »Ihre Tochter wurde gefunden. Sanchia ist wieder hier zu Hause bei ihrer Mutter.« Seine Freude, sein ungeheucheltes Entzücken waren echt. Er jubelte triumphierend, boxte mit beiden Fäusten in die Luft wie ein Sportler, der gerade ein Tor geschossen oder einen Satz gewonnen hat. Er ergriff Wexfords Hand und schüttelte sie ungestüm. Dabei lachte er vor Freude. »Wo ist sie? Was ist denn mit ihr geschehen?« Ein weniger erfreulicher Gedanke kam ihm in den Sinn. »Ist alles in Ordnung mit ihr?« »Es geht ihr anscheinend gut. Gehen wir hinein?« »Aber was ist denn mit ihr passiert?« »Das werde ich Ihnen gleich sagen. Ich werde Sie auch bitten, sehr verständnisvoll, geduldig und nachsichtig zu sein, Mr. Devenish. Gehen wir in Ihr Arbeitszimmer? Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen. Ich bin sicher, Sie können das Wiedersehen mit Sanchia noch zehn Minuten aufschieben.« Devenish hatte ihm den Rücken zugewandt und hörte zu. Er stand am Fenster und schien hinauszusehen, während Wexford redete. Als er es nicht mehr aushielt, sagte Wexford: »Bitte setzen Sie sich doch, Mr. Devenish.« Der andere wandte ihm sein tiefrot angelaufenes Gesicht 268 zu. Die Adern auf seiner Stirn traten dunkel hervor. Er setzte sich auf die Kante des Ledersofas. »Sie ist nicht normal«, sagte er. »Sie ist tatsächlich wahnsinnig. Als wir geheiratet haben, wußte ich nicht, daß sie wahnsinnig ist, habe es aber bald herausgefunden. Für sie ist es ein Segen, daß sie mich hat, sie würde sonst kaputtgehen. Im übrigen ist sie mannstoll. Bei mir nicht, möchte ich hinzufügen, aber bei allen anderen. Na ja, was soll man auch erwarten. Sie ist wahnsinnig.« Wexford befand sich in einer Zwickmühle. Daß Devenish gewalttätig war, konnte er nicht beweisen, obwohl er felsenfest davon überzeugt war. Er
konnte dem Mann nicht befehlen, seine Frau in Ruhe zu lassen, wenn Devenish daraufhin nur leugnen würde, sie jemals tätlich angegriffen zu haben. »Es geht hier nicht um Geistesgestörtheit«, sagte er schließlich, »sie sollte aber auf jeden Fall einen Psychiater aufsuchen »Wofür werden Sie sie belangen? Entführung? Freiheitsberaubung? Sie müßte eigentlich lebenslänglich ins Gefängnis. Das würde ich nicht ertragen, ich liebe sie doch, sie braucht mich.« Statt darauf einzugehen, sagte Wexford: »Vor allem braucht Ihre Frau jetzt Ihr Mitgefühl und Ihre Unterstützung, Sir. Und jetzt gehen Sie hinein zu ihr und Ihrer Tochter.« Inzwischen war Fay Devenish von Karen darüber informiert worden, daß eine speziell im Umgang mit häuslicher Gewalt geschulte Polizeibeamtin sie besuchen und auch jemand vom Jugendamt regelmäßig vorbeischauen würde. Sobald sie gegangen wären, sagte Fay, würde ihr Mann sie umbringen. Als man ihr ein Mobiltelefon anbot, damit sie im Notfall die Polizei oder irgendwelche Sozialdienste verständigen konnte, entgegnete sie, sie hätten drei davon im Haus und ein weiteres wäre sinnlos. Sanchia kroch unter den Tisch und blieb daumenlutschend dort sitzen, kam nach zehn Minuten jedoch hervor und kletterte ihrer Mutter auf den Schoß. »Was habe ich ihr angetan?« fragte Fay. »Hat sie wegen mir jetzt einen seelischen Schock?« »Das glaube ich ganz und gar nicht«, entgegnete die Frau 269 vom Jugendamt. »Das wird schon wieder.« Doch als Devenish mit Wexford hereinkam, fing Sanchia an zu weinen. Kein gewöhnliches Weinen, sondern langgezogene, krampfartig hervorgestoßene Schreie. Fay saß mit gesenktem Kopf da, die Arme um Sanchias Mitte geschlungen, ohne jedoch den Versuch zu machen, sie zu besänftigen. Ihr Mann kam herüber, stellte sich neben ihren Stuhl und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Fay rührte sich nicht. Das Kind weinte weiter, schluchzte jetzt nur noch. »Schon gut, Liebling, ich weiß über alles Bescheid«, sagte Devenish. »Ist nicht so schlimm. Hauptsache, wir haben sie wieder, alles andere zählt nicht.« Sie sah Wexford fragend an und wollte wissen, ob er sie nun verhaften würde. »Darüber reden wir morgen«, sagte er. Hier gab es für ihn nichts mehr zu tun, doch noch nie hatte er einen Schauplatz mit einem so unguten Gefühl verlassen. Er befahl sich, nicht melodramatisch zu sein, sich vor allem nicht einzureden, er überantworte sie damit dem sicheren Tod. Devenish würde sich bestimmt zurückhalten, da
ihm ja klar sein mußte, daß er beobachtet wurde. Es war absurd, sich vorzustellen, sobald er, Vine und die beiden Frauen aus dem Haus wären, würde Devenish sich auf seine Frau stürzen, sie verprügeln und zu Boden schlagen. Und doch - es war nicht vorbei, denn der Mann würde sich niemals ändern. Fay würden wieder die Augen blaugeschlagen und das Gesicht mit Faustschlägen traktiert werden und vielleicht die Knochen gebrochen, zwar vielleicht nicht heute abend oder morgen, aber nächste Woche oder die Woche darauf. Er würde nie damit aufhören, bis sie von ihm wegging oder er sie umbrachte. Und wenn sie von ihm wegging, würde er sie verfolgen. Wexford hatte sich noch nie so ohnmächtig gefühlt. Am nächsten Tag kam er wie versprochen wieder und konnte sie sprechen, ohne daß Devenish dabei war. Vorhin habe seine 270 Kollegin vom Regionalen Kriminaldezernat angerufen, erzählte sie ihm. Zum Glück sei ihr Mann um halb neun ins Büro nach Brighton gefahren. Sergeant Margaret Stamford habe ihr außer dem Handy auch einen Piepser angeboten, die sie aber beide abgelehnt habe, ihr mehrere Möglichkeiten der Unterstützung und Unterbringung aufgeführt für den Fall, daß sie ihren Mann verlassen wollte, und ihr vom Notruftelefon in The Hide erzählt. Vom Jugendamt in Kingsmarkham habe sie - zu ihrer großen Erleichterung - nichts mehr gehört. »Sie werden Sanchia doch nicht in Pflege nehmen, oder? Ich weiß gar nicht, warum ich das sage, denn wahrscheinlich wäre es für sie doch am besten, wenn sie in Pflege käme.« »Mrs. Devenish«, sagte Wexford, »das einzige Vergehen, dessen man Sie bezichtigen könnte, ist die Verschwendung polizeilicher Ressourcen, und um den Papierkram für so einen Fall vorzubereiten« - er lächelte begütigend »müßten noch mehr polizeiliche Ressourcen verschwendet werden. Lassen Sie mich nur noch bekräftigen, was Sergeant Stamford Ihnen ja bereits sagte: Wir können Ihren Mann strafrechtlich nur verfolgen, wenn Sie bereit sind, gegen ihn auszusagen, und das haben Sie ja schon abgelehnt. Ich möchte Sie doch dringend bitten, es sich noch einmal zu überlegen, und falls er wiederum tätlich wird, uns umgehend zu verständigen. Sie können Tag und Nacht jederzeit anrufen. Das haben Sie doch verstanden, nicht wahr?« Sie nickte. »Selbstverständlich«, sagte sie, »das werde ich tun.« Und da wußte er, daß sie es mit keiner Silbe ernst meinte. Also ging er und ließ sie allein, doch die Gedanken an sie ließen ihn nicht los. Er mußte den Rest des Tages ununterbrochen an sie denken, und am nächsten
und am übernächsten Tag auch. Immer wieder überlegte er, was er tun könnte, damit es aufhörte - Wachpolizisten aufstellen, die das Anwesen schichtweise Tag und Nacht bewachten, vor den Fenstern lauern, um Devenish zu erwischen, wenn er das nächstemal auf sie losging. Es war nicht praktikabel, es ging nicht, er 271 hatte nicht genügend Leute zur Verfügung. Er wartete auf einen Anruf, nicht von ihr - dieser Anruf, war er sich sicher, würde nie kommen -, sondern von jemand anderem, womöglich einem ihrer Söhne, der sie verstümmelt, sterbend oder tot aufgefunden hatte. Er war nicht imstande, sich die Szenen vorzustellen, die sich nach seinem Weggang abgespielt hatten, als sie mit Devenish allein war. Oder vielleicht schreckte er vor der Vorstellung zurück. Sie war so klein und zerbrechlich, Devenish dagegen so ein großer, kräftiger Mann, der bestimmt doppelt soviel wog wie sie. Das Schlimme war, daß Devenish das Recht hatte, auf seine Frau wütend zu sein, schließlich hatte sie ihm sein Kind weggenommen, ihn getäuscht, ihn und ihre Söhne belogen. Aber niemand hatte das Recht, seiner Wut mit Brutalität und Schlägen Luft zu machen. »Wenn wir Sanchia finden«, sagte er zu Bürden, »hatten wir gesagt, wollen wir Champagner trinken - erinnern Sie sich? Danach ist mir jetzt nicht zumute, und Ihnen?« »Nicht so recht«, erwiderte Bürden. Hatte er sie wieder geschlagen? Wexford hatte keine Möglichkeit, es in Erfahrung zu bringen. Nach einiger Zeit bat er Margaret Stamford, wieder einmal in Woodland Lodge vorbeizuschauen, was sie auch tat. Diesmal fertigte Fay Devenish sie schon an der Haustür ab. Sie trat kurz vor die Tür, die sie hinter sich zuhielt, und flüsterte, es täte ihr leid, aber ein weiteres Gespräch würde bestimmt nichts nützen. Ihr Mann sei im Haus, sagte sie, und sie müßte ihm irgendwie erklären, wer an der Tür gewesen sei und was sie gewollt habe. Bloß daß sie nichts erklären, sondern irgend etwas erfinden würde, weiß Gott was. Es hörte sich ganz danach an, als wäre Devenish weiterhin gewalttätig. So war es natürlich auch, Wexford hatte nie daran gezweifelt. Was er auch tat, alle Unterstützung oder Hilfe, die er ihr zukommen ließe, würde seine Brutalität nur noch verstärken. Im Courier brachte Brian St. George einen Bericht 271 über die Gerichtsverhandlung, bei der sich Jane Andrews und Louise Sharpe wegen Verschwendung polizeilicher Ressourcen und der Behinderung
polizeilicher Ermittlungen zu verantworten hatten. Wexford fragte sich, was Fay wohl passieren würde, wenn Stephen Devenish den Artikel las. Die weitaus schwerwiegendere Anklage gegen Victoria Cadbury wegen Entführung zweier Frauen und Freiheitsberaubung machte größere Schlagzeilen. Würde dieser Fall Devenish ebenso in Rage versetzen und seine Frau in Gefahr bringen? Schon möglich, doch er hörte nichts. Er erkundigte sich sogar bei Sylvia, ob sie bei ihrer Arbeit am Krisentelefon einmal einen Anruf von Fay Devenish erhalten hatte oder von einer Frau, die Fay Devenish hätte sein können, doch Sylvia konnte sich an nichts erinnern. Wenn im tiefen Frieden zwischen den hohen Bäumen von Woodland Lodge Gewalt verübt wurde, so litt Fay in der Stille. Doch dann, zwei Monate später, war es mit der Stille und dem Frieden vorbei. 272
19
In Brighton versuchte Louise Sharpe zweimal, sich das Leben zu nehmen. Beim erstenmal verließ sie ihr Haus mit den sechs Schlafzimmern, den drei Bädern, dem Swimmingpool und dem im Hause wohnenden philippinischen Dienerehepaar - inzwischen ohne das Kindermädchen -, um an den Strand hinunter und ins Meer zu gehen, bis es über ihrem Kopf zusammenschlug. Sie wurde von einem Schwimmer gesehen und gerettet. Einen Monat später fand ihre Haushälterin sie bewußtlos, nachdem sie eine Packung Schlaftabletten und eine halbe Flasche Gin in sich hineingeschüttet hatte. Der Psychiater, der sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt untersuchte, nannte ihre Handlungen einen Hilfeschrei, doch Louise sagte, sie wolle keine Hilfe, sie wolle nur noch sterben. Das Haus Nummer 16 in der Oberon Road, inzwischen nicht mehr das Zuhause der Orbes, war von den Kingsmarkhamer Sechs und deren Anhängern beträchtlich beschädigt worden, alle Vorderfenster waren zertrümmert, Türfüllungen eingetreten und Dachziegel vom Dach geschlagen. Es dauerte Wochen, bis die Stadtverwaltung Handwerker schickte, und während dieser Wochen wurden Fenster und Haustür mit Brettern vernagelt und das Dach mit einem großen Stück blauer Plastikplane abgedichtet. Eines Nachts, als im Muriel Campden Estate alles schlief, hatte sich ein Graffitikünstler ans Werk gemacht und die gesamte Fassade mit Bildern von blutenden Leichen, enthaupteten Oberkörpern samt dazugehörigen Köpfen und Tierfratzen mit aufgerissenem Rachen verziert und mit pink, gelb, smaragdgrün, preußischblau und 272
scharlachroten grellen Sprayfarben die Worte »Pädo«, »Abschaum« und »Killer« dazugesprüht. Der Kingsmarkham Courier brachte einen Bericht über die trostlose Lage der Obdachlosen, die in Myringham auf der Straße schlafen mußten, während in derselben Stadt und vor allem in Kingsmarkham Wohnraum leerstand. Ganz zu schweigen von der schandbaren Tatsache, daß das Polizeirevier von Kingsmarkham bereits innerhalb von drei Wochen in einen makellosen Zustand zurückversetzt worden war, während Oberon Road Nummer 16 immer noch verkommen und verlottert dastand. Auf der Titelseite prangte dazu ein Farbfoto der Graffitimalerei. Im Muriel Campden Estate wurde wild spekuliert, wem das Haus wohl zugesprochen werden sollte, nachdem die Reparaturen endlich ausgeführt waren. Debbie Crowne hatte es für ihre Tochter Lizzie, Miroslav Zlatic und deren Kind im Auge. Das Thema Heirat scherte sie dabei recht wenig, auch wenn Lizzie anders dazu stand. Sie, Debbie, wolle die beiden nur in einer festen Beziehung sehen mit trautem Familienleben, wie sie Maria Michaels gegenüber verlauten ließ. Ihren ehrgeizigen Plänen lief leider zuwider, daß Miroslav weiterhin mit Brenda zusammen war und daß die Beziehung glücklicher schien als je zuvor - es hieß sogar, daß Brendas Söhne ihn Dad nannten. Mittlerweile war Lizzie beinahe im sechsten Monat und, um mit ihrer Mutter zu sprechen, »ganz schön auseinandergegangen«. Die Sozialarbeiterin kam gelegentlich vorbei, um Lizzie zu beknien, Kurse über Elternschaft und Geburtsvorbereitung zu besuchen, aber die meinte, das müsse sie sich erst noch überlegen. Die Situation war etwas peinlich, weil das Jugendamt von Kingsmarkham gleichzeitig gegen Colin Crowne wegen der Erstattungskosten für Jodi, das virtuelle Baby, prozessierte. Tommy Orbe und seiner Tochter Suzanne war inzwischen eine Wohnung am Ortsrand von Peterborough zugewiesen worden, die sich in einem einstöckigen, speziell auf Rentner 273 und Körperbehinderte zugeschnittenen Wohnblock befand, weit weg von Familien mit Kindern. Doch sobald die Angehörigen der Rentner von Orbes Identität erfuhren, brachten sie ihre Kinder nicht mehr zu Besuch bei den Großeltern, mit dem Ergebnis, daß die übrigen Bewohner des Bungalowblocks Orbe und Suzanne ächteten und ihnen obszöne Briefe schickten. Suzannes Verlobter tauchte nie wieder auf, und nach einiger Zeit verlobte sie sich mit einem der Männer von der Recyclingmüllabfuhr.
Wenn bei einer Straftat einer der ihren getötet oder verletzt wurde, führt die Polizei die Ermittlungen mit besonderem Eifer durch. Bürden und Vine hatten zusammen mit Cox und Lynn Fancourt unzählige Arbeitsstunden mit der Suche nach Hennessys Mörder verbracht. Dabei war ihnen aber lediglich eins gelungen, nämlich Colin Crowne von der Liste der Verdächtigen zu streichen. Patrick Flay erinnerte sich, Miroslav Zlatic »mit einem Wurfgeschoß in der Hand« gesehen zu haben. Am Balkaninstitut der University of the South konnte Vine einen Dozenten auftreiben, der des Serbokroatischen mächtig war und für ihn dolmetschte, doch Miroslav sagte immer noch nichts,offensichtlich war er seiner eigenen Sprache ebensowenig zugeneigt wie dem Englischen. Und da steckte die Sache nun fest, obgleich Bürden und Vine, fest entschlossen, Hennessys Killer zu finden, weiterdrängten und nicht daran dachten aufzugeben, bis sie ihn hatten. Frustriert von Fay Devenish' mangelnder Bereitschaft, ihren Mann wegen tätlichen Angriffs unter Anklage stellen zu lassen oder gegen ihn auszusagen, wollte Wexford es dennoch nicht zulassen, daß die Affäre Devenish im großen Recyclingsbehälter nicht abgeschlossener Fälle verschwand, in den alle ungelösten Familienprobleme geworfen wurden, um am anderen Ende als »dem häuslichen, nicht polizeilichen Bereich zugehörig« wieder aufzutauchen. Statt dessen behielt er die Sache im Auge. Während ihrer an drei Tagen in der Woche 274 stattfindenden Schulung zum Umgang mit häuslicher Gewalt war Sergeant Karen Malahyde bei Fay gewesen, wohlweislich immer dann, wenn deren Gatte nicht anwesend war. Nachdem die Dinge nun wieder ihren gewohnten Gang nahmen, war Stephen Devenish zu seinem beruflichen Engagement für Seaward Air zurückgekehrt und verbrachte acht bis zehn Stunden täglich in den Büros von Gatwick, Brighton oder Kingsmarkham. Da die Jungen noch bis Ende Juli auf ihre Privatschule in Sewingbury gingen, war es relativ einfach, Fay allein anzutreffen. Karen wurde bald ein regelmäßiger Gast in Woodland Lodge und brachte es sogar fertig, während sie bei Fay war, ihre eigenen feministischen Tendenzen, ihren Abscheu vor Hausarbeit und ihre Verachtung für all jene, die sie taten, etwas zu dämpfen. Schließlich, bemerkte sie gegenüber Lynn, war die Frage, ob die arme Frau den Fußboden auch richtig bohnerte, deren geringste Sorge. Sie arrangierte für Fay ein Treffen mit Griselda Cooper, und die drei Frauen verabredeten sich zum Mittagessen im Europlate. Zuvor hatte Fay sich vergewissert, daß ihr Mann an dem Tag einen Probeflug mit einem der neuen
Flyfast 355 Stratoslicer, die Seaward Air gerade gekauft hatte, von Gatwick nach Brüssel und zurück geplant hatte. Das einzig Positive an dem Mittagessen war, daß Fay etwas Farbe ins Gesicht und ein Leuchten in die Augen bekam. Seit Stephen ihr den Umgang mit Jane Andrews untersagt hatte, war sie nicht mehr mit Freunden essen gewesen. Griselda wollte sie überreden, ein Alarmgerät um den Hals zu tragen, doch Fay meinte, Stephen würde es sofort entdecken und kaputtschlagen und sie vermutlich gleich mit dazu. Ein Gutes hatte die Sache aber doch gehabt, sagte Karen, nämlich daß Fay endlich das Gefühl hatte, frei über alles sprechen zu können, was zu Hause vor sich ging. Es war kein dunkles, schreckliches Geheimnis mehr, das nur einer intimen Freundin zugeflüstert werden konnte. Die Nachbarn wußten Bescheid. Operation Hurt-Watch zielte darauf ab, die umliegenden Nachbarn auf die Gescheh 275 nisse aufmerksam zu machen. Karen hatte es Moira Wingrave selbst gesagt und war auf eine nervöse Aber-doch-nicht-bei-uns-Reaktion gestoßen. Moira sagte, es käme überhaupt nicht in Frage, daß sie sich in die Eheangelegenheiten anderer Leute einmischte, noch dazu in einer besseren Gegend wie dieser, andere Bewohner der Ploughman's Lane waren jedoch entgegenkommender und weniger indigniert. »Nicht, daß es irgendwer mitbekommen würde«, sagte Karen zu Wexford. »Es ist schließlich keine Mietskaserne mit papierdünnen Wänden. Er könnte sie totschlagen, und sie würden sie nicht einmal schreien hören. Nicht durch fast zweihundert Meter dichten Regenwald.« Wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, Ökokrieger aufzuspüren und strafrechtlich zu verfolgen, gab Wexford sich seinen eigenen Spekulationen über das hin, was gegenwärtig in Woodland Lodge vor sich ging. Er sprach mit seiner Frau darüber und mit Sylvia. Als er es seiner jüngsten Tochter Sheila gegenüber erwähnte, meinte sie nur, wenn einer der Männer, mit denen sie zusammengewesen war, ihr eine gewischt hätte, dann würde er sich wundern, was ihn erwischt hatte. Wexford wußte, daß es nicht so einfach und unkompliziert war. Für die Affäre Devenish war zwar Karen zuständig, doch suchte er Fay ebenfalls manchmal auf, um ein ruhiges Gespräch mit ihr zu führen und zu erspüren, wie die Dinge momentan lagen; auch hielt er nach Spuren von Mißhandlungen Ausschau, die zu erkennen er von Sylvia gelernt hatte. Nach anderen Spuren suchte er ebenfalls. Seit Sanchias Rückkehr waren in Fays Gesicht keine Blutergüsse zu sehen gewesen, doch sind viele
mißhandelnde Männer so gerissen, den körperlichen Schaden an Stellen zuzufügen, wo die Folgen nicht zu sehen sind. Auch das hatte er mittlerweile gelernt. Umd im Gegensatz zu Karen fiel ihm noch etwas auf: Obwohl es Hochsommer war, trug Fay Kleider mit langen Röcken und langen Ärmeln. Sie war zwar erst sechsunddreißig, zeigte aber nie Arme oder Schultern und trug immer hochgeschlossene Sachen. Das bedeutete vielleicht nicht nur, 276 daß sich an den bedeckten Stellen ihres Körpers Prellungen und Quetschungen befanden, sondern daß Stephen Devenish womöglich auch von ihr verlangte, sich übertrieben züchtig zu kleiden wie eine Shaker-Frau oder eine sittenstrenge Sektiererin. Wenn Wexford sie manchmal fragte, ob alles in Ordnung sei, verstand sie genau, was er meinte, antwortete mit einem schlichten Ja und sagte, er brauche sich um sie keine Sorgen zu machen. Also spürte er weiterhin die wohlmeinenden, eifrigen Gesetzesbrecher auf, die die Felder mit genmanipuliertem Raps und Leinsamen umpflügten, brachte sie zur Strecke und klagte sie der vorsätzlichen Sachbeschädigung an, während er an die Familie Devenish dachte. Ob Stephen Devenish immer noch diese Drohbriefe bekam? Ob es die Drohbriefe überhaupt gegeben hatte? Wexford glaubte nicht so recht an die einstige Existenz obszöner oder anonymer Briefe, von denen der Empfänger behauptet, er habe sie weggeworfen. Vermutlich existierten sie lediglich in Devenishs paranoider Phantasie. Ebensowenig hatte er je herausbekommen, was sich genau abgespielt hatte, als Stephen und Fay nach Sanchias Rückkehr miteinander allein gewesen waren. Sie wollte es ihm nicht sagen, und Karen hatte nur von ihr erfahren, daß Stephen sie öfter als vorher »geisteskrank« nannte. Auch beschied er ihr häufig, sie sei nicht geeignet, sich um seine Kinder zu kümmern, doch ob diese Anschuldigung von Schlägen begleitet wurde, sagte sie nicht. Sanchia hatte angefangen zu sprechen. Anfang Juli wurde sie drei Jahre alt; mittlerweile bildete sie Sätze und entwickelte einen großen Wortschatz. Kinder, die spät mit dem Sprechen anfangen, beherrschen es von Anfang an fließend. Obwohl er wußte, daß seine Logik etwas fragwürdig war, wertete Wexford ihre Sprachentwicklung doch als Zeichen dafür, daß sie nicht mehr mit ansehen mußte, wie ihr Vater ihrer Mutter gegenüber gewalttätig wurde. »So funktioniert das aber nicht, Dad«, wandte Sylvia ein. 276 »Irgendwann mußte sie ja anfangen zu sprechen. Sie wird vermutlich andere Traumata bekommen, entweder hyperaktiv oder völlig apathisch werden
oder schrecklich ungezogen oder zu still - irgend etwas kommt bestimmt.« »Falls er es noch macht.« »Träum ruhig weiter. Er macht es immer noch. Wieso sollte er damit aufhören?« »Was ich daran so erstaunlich finde«, sagte Dora Wexford, »das ist, daß es sich um Leute aus der Mittelschicht handelt - na ja, aus der oberen Mittelschicht, wenn man auf diese ganzen Abstufungen Wert legt. Sie sind sehr vermögend, er verdient doch bestimmt ein paar Hunderttausend im fahr.« »Dreihundertfünfundsiebzigtausend Pfund, genau gesagt«, kam es von Wexford. »Na, siehst du. Wenn sie sich scheiden lassen würden, bekäme sie immer noch eine Menge Unterhalt. Sie könnte das Haus behalten, und er könnte sich was Nettes kaufen, in dem es sich bestimmt genausogut leben läßt. Ich verstehe das nicht.« »Nein, Mutter, das tust du nicht, und deswegen wäre es besser, du würdest dich gar nicht dazu äußern. Häusliche Gewalt kommt in allen Schichten vor, es ist absolut nicht auf die Arbeiterschicht beschränkt, und das meintest du doch damit. Du hast keine Ahnung, wovon du redest.« »Das hat gesessen«, sagte Dora. Wexford lachte. »Eigentlich sollte ich dir verbieten, so mit deiner Mutter zu reden, aber hat nicht mal jemand gesagt, ich glaube, es war Lord Melbourne: »Diejenigen, deren Verhalten der Ermahnung bedarf, sind selten so klug, die Ermahnung zu beherzigen.-« Eine Ansicht, die sich erneut bestätigte, als er Fay eine Woche später in Woodland Lodge aufsuchte. Ihr Gesicht war -ganz ungewohnt bei ihr - stark geschminkt, eine Art festes Puder-Make-up lag dick auf der zarten, blassen Haut, ohne jedoch den großen, blauen Fleck verbergen zu können, der ihre Stirn, die linke Wange und die linke Schläfe bedeckte. Ihr lin 277 kes Auge war violett umrandet, und die Oberlippe war stark geschwollen. Wexford sah sich in der seltenen Lage, größte Verlegenheit zu empfinden. Sie machte ihm auf und rang erschrocken nach Atem, als sie sah, wer es war. Sanchia stand neben ihr und klammerte sich mit beiden Händen an ihren Rock. Ihm war früher schon aufgefallen, daß zwischen den beiden Söhnen und ihrer Mutter überhaupt keine Ähnlichkeit bestand, doch diese Kleine ähnelte ihrer Mutter bis hin zu dem erschrockenen, ängstlichen Blick. Er sah erneut in Fays übel zugerichtetes Gesicht und wußte nicht recht, was er sagen
sollte; irgend etwas mußte er jedoch sagen, er mußte sich zu diesem Anblick äußern. Sie ging ihm voran ins Wohnzimmer und hielt, wie um den offenkundigen Beweis des Entsetzlichen notdürftig zu kaschieren, die Hand über die wunden Stellen. »Ich weiß, daß Sie nicht gegen die Tür gerannt sind oder sich am Kaminsims aufgeschlagen haben«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie es abstreiten oder das Thema schnell fallenlassen. Das kleine Mädchen hielt einen langen Streifen Baumwollstoff in der Hand und stopfte sich das eine Ende in den Mund, während sie ihn mit den an eine fliehende Füchsin erinnernden Augen musterte, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. »Vor ihr kann ich nicht darüber sprechen«, sagte Fay Devenish. »Sie ist aber hier, ich kann sie ja nicht wegschicken.« »Sie können mir wenigstens sagen, ob sie es mit ansehen mußte.« Wieder ein Nicken. Dabei hielt sie die ganze Zeit die Hand an die arg zugerichteten Stellen, das halbgeschlossene Auge. »Mrs. Devenish, ich sagte es ja schon, Sergeant Malahyde ebenfalls, und jeder würde uns beipflichten - Sie brauchen sich diese Behandlung nicht gefallen zu lassen. Sie haben es sich schon zu oft gefallen lassen. Nächstesmal müssen Sie uns verständigen. Unbedingt.« Ein schwerer Seufzer schien ihren ganzen Körper in einer Welle des Leidens zu durchlaufen. »Wenn ich nur eine andere 278 Sprache spräche, in der wir uns unterhalten könnten! Ich wünschte, ich könnte Französisch - ich meine, richtig Französisch. Sprechen Sie Französisch?« Er schüttelte den Kopf. Sie bemühte sich, und ihre Anstrengung wirkte gleichermaßen lächerlich und anrührend. »Ii me cherchera et il me tuera.« Das verstand er. Oder jedenfalls ungefähr. Ihr Mann würde nach ihr suchen, und wenn er sie gefunden hatte, würde er sie umbringen. Noch nie hatte er sich so ohnmächtig und hilflos gefühlt. Er stellte sich vor, wie er Devenish verhaftete, im Beisein seines Anwalts mit ihm sprach und der Mann alles leugnete, wie Fay sich weigerte, gegen ihn auszusagen, und statt dessen mit einer ihrer vorgefertigten Geschichten daherkam, etwa, sie sei gegen die Wand gelaufen oder neige eben zu Unfällen. Gleichzeitig hätte er gern begriffen, was den Mann umtrieb; er wollte wenigstens ansatzweise diese Lebenseinstellung begreifen lernen, die einen großen, kräftigen Mann dazu bewog, eine kleine, zerbrechliche Frau aus einem unwirklichen oder konstruierten Grund heraus mit Fäusten und Fußtritten zu traktieren. Etwa,
weil sie die von ihm gewünschte absolute Perfektion in ihrem Haushalt nicht immer aufrechterhalten oder ihre Kinder nicht im Zaum halten konnte. Es ergab alles keinen Sinn. Es spottete jeglicher menschlicher Würde, Nächstenliebe und Zivilisiertheit. Devenish war natürlich ein Sadist, aber keiner, der sich mit einer masochistischen Partnerin begnügte oder einer, die ihm ihre Schmerzen nur vortäuschte. Wie wäre ihm, Wexford, wohl zumute, wenn Devenish sie umbrachte? Würde er nicht bereuen, daß er nicht mehr unternommen hatte? Aber was konnte er tun? Dafür sorgen, daß Karen sie weiterhin in Woodland Lodge besuchte. HurtWatch und die frisch geschulten Kräfte über diesen klassischen Fall in ihrer Mitte informieren. Dafür sorgen, daß das Sozialamt Bescheid wußte und aufpaßte. Sie so 279 oft wie möglich selbst besuchen, wenn es sicher war. Sie nie vergessen. Die Gedanken immer um sie kreisen lassen. Im Juli machten er und Dora vierzehn Tage Urlaub in Portugal. Als er erfuhr, daß Doras Reisebüro sie für den Flug nach Lissabon auf Seaward Air gebucht hatte, wurde ihm einen Augenblick mulmig. Aber wieso sollten sie eigentlich nicht mit Seaward Air fliegen? Selbst wenn Devenish dadurch Geld in die Tasche floß - was nicht der Fall war -, würden Fay und die Kinder davon ebenso profitieren wie der Hauptgeschäftsführer der Fluggesellschaft selbst. Bürden hatte ihm schon oft gesagt, er neige zur Zwanghaftigkeit. Und jetzt war er auch noch übertrieben emotional. Als sie in Gatwick darauf warteten, daß ihr Flug aufgerufen wurde, machte ihn der Gedanke, Devenish zu begegnen, ziemlich nervös. Allerdings war es höchst unwahrscheinlich. Ein Mann in Devenishs Position würde wohl kaum zwischen den Passagieren der Economy Class herumspazieren und sich leutselig erkundigen, wie sie denn mit dem Service zufrieden seien. Das Problem war, falls Devenish auftauchte und sie entdeckte, würde er sie bestimmt in sein Privatgelaß einladen und Drinks auffahren. Sie womöglich sogar in die teurere Klasse umbuchen. Wexford würde natürlich ablehnen, doch schon die Ablehnung an sich wäre unangenehm. Von Devenish war aber nichts zu sehen, und so bestiegen sie die Maschine ohne besondere Vorkommnisse. Estoril und Sintra waren ein erholsamer Genuß, die Sonne schien zum Glück nicht allzu erbarmungslos, das Essen war gut, das Hotel komfortabel, und so kamen sie am letzten Juliwochenende verjüngt und braungebrannt zurück.
Wexford rief sofort Bürden an, um zu erfahren, was sich getan hatte, ob sich etwas Neues entwickelt hatte und wie die Dinge im allgemeinen standen. »Für den Mord an Hennessy haben wir noch niemanden, wenn Sie das meinen«, sagte Bürden. 280 »Das ist nur ein Teil von dem, was ich wissen will. Wenn Sie jemanden gefunden hätten, wäre es in den englischen Zeitungen gekommen, die ich als braver Bürger jeden Tag gelesen habe.« »Vicky Cadbury wird nie der Prozeß gemacht werden. Sie liegt im Sterben. Weitere Behandlungen seien sinnlos, heißt es, und jetzt geht es eigentlich nur noch darum, ihr Morphium gegen die Schmerzen zu geben. Jerry Dover ist vollends übergeschnappt und in die Anstalt eingewiesen worden.« »Ich nehme an, mein Regenmantel ist noch nicht wieder aufgetaucht?« »Nicht daß ich wüßte. Charlene Hebden behauptet, sie wüßte nichts davon und hätte Donaldson nie im Leben gesehen.« Wexford wollte auf etwas Wichtigeres hinaus und holte tief Luft. »Und Fay Devenish?« »Nichts Neues«, erwiderte Bürden. »Während Sie weg waren, hat Karen sie öfter mal besucht. Anscheinend hat sie rausgefunden, wie genau Devenish sich an Fay dafür gerächt hat, daß sie sein Kind adoptieren lassen wollte. Karen wird es Ihnen selbst sagen. Es ist nicht sehr erquicklich. Ansonsten ist alles normal und beschissen.« »Sie schnappen von den Muriel-Campden-Leuten ja ziemlich wüste Redensarten auf«, bemerkte Wexford in einem mißglückten Versuch, die Stimmung etwas aufzulockern. Er ging wieder an die Arbeit. Das vor kurzem renovierte Polizeirevier funkelte grellweiß in der kräftigen Morgensonne. Die gesamte Fassade war frisch gestrichen, Scheiben und Fensterrahmen waren erneuert worden. Er dachte an Ted Hennessy, der es nicht mehr sehen konnte, aber bestimmt voll Bewunderung gewesen wäre. Wexford erinnerte sich aus einem Gespräch, das sie anläßlich eines Falls einmal geführt hatten, an Hennessys Faible für moderne, innovative Architektur. Karen Malahyde hatte gerade ihren Urlaub angetreten, also mußten die Schreckensmeldungen, die sie für ihn bereithielt, noch warten. Statt dessen sah er sich mit einer Flut von Pa 280 pieren konfrontiert, die mit der Festnahme und den Straftaten von vierzehn Ökokriegern zu tun hatten sowie dem Schaden, den sie im Anbaugebiet
zwischen Flagford und Sayle angerichtet hatten. Bürden kam herein und sagte, soeben habe er erfahren, daß Vicky Cadbury ins Koma gefallen sei, aus dem sie wohl nicht mehr aufwachen würde. Er ließ sich auf der Kante von Wexfords Schreibtisch nieder, und Wexford äußerte sich bewundernd über seinen offensichtlich neuen, sehr leichten Anzug in einem kleidsamen Dunkelkaramelton mit passender Krawatte in Karamel mit schwarzen Streifen. Jetzt müsse man ihn wohl mit Majestät anreden, meinte Wexford und entschuldigte sich, weil er immer noch keinen Spiegel hatte anbringen lassen. Der Schreibkram nahm ihn auch am nächsten Morgen noch bis fast zur Mittagszeit in Anspruch. Vine war bei Flay, um ihn erneut zu vernehmen, Constable Wendy Brodrick sollte im Muriel Campden Estate nach dem Rechten sehen, wo über Nacht plötzlich sämtliche öffentliche Müllbehälter verschwunden waren, während der Inhalt - Papier, Pappe, Flaschen und Dosen - über dem dreieckförmigen Rasenstück verstreut lag, und Wexford dachte schon ans Mittagessen, als erst zum zweitenmal an diesem Morgen sein Telefon klingelte. »Sir, es hat einen Mordfall gegeben«, hörte er Vines Stimme sagen. »Gerade kam die Meldung rein. In der Ploughman's Lane oben. Woodland Lodge.« Später hätte Wexford schwören mögen, sein Herz sei stehengeblieben. Sein Herz war stehengeblieben, der Atem war ihm gestockt, und seine Stimme war weg. Die Zeit stand still. Vine sagte: »Sind Sie noch dran, Sir? Hören Sie mich?« Stimmen kommen wieder, und die Zeit geht weiter. Gesunde Herzen setzen keinen Schlag aus. Es kommt einem nur so vor. Von irgendwoher aus der Tiefe fand Wexford seine Stimme wieder und sagte: »Das habe ich befürchtet. O Gott, ich habe es geahnt. Wo ist die Tote? Im Haus?« »Im Arbeitszimmer«, sagte Vine, »aber nicht Mrs. Devenish ist tot - es ist ihr Mann, Stephen Devenish.« 281
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Die hohen Bäume waren dunkel gefärbt, und ihr Blätterkleid wirkte dichter. Sie erinnerten an Leute mittleren Alters, die noch recht ansehnlich, kraftvoll und sinnlich scheinen, bis man sie neben die makellose Frische der Jugend stellt. Die Bäume brauchten einen solchen Vergleich nicht über sich ergehen zu lassen, denn sie alterten gemeinsam, begannen gemeinsam zu ermüden und trockene, an den Rändern bräunlich verfärbte Blätter zu bekommen. Auch darin dem alternden Menschengeschlecht ähnlich, waren sie von weitem recht schön, aus der Nähe betrachtet jedoch weniger ergötzlich.
Als Wexford aus dem Wagen stieg und zu den Bäumen hinübersah, dachte er an damals, als er zum ersten Gespräch mit den Devenishs heraufgekommen war und sie gerade frisch ausgeschlagen hatten. Stephen Devenish würde das Laub nie braun werden und fallen sehen. Er würde überhaupt nichts mehr sehen. Wexford hielt es nicht für richtig, beim Tod eines Menschen Genugtuung zu empfinden, doch unter anderen Begleitumständen hätte er beim Tod von Devenish geradezu Freude und Dankbarkeit empfunden. Wenn die Begleitumstände nicht gewesen wären... Er hätte viel darum gegeben, wenn sich herausgestellt hätte, daß sie irgendwo anders war, als ihr Gatte sein Ende fand, weit, weit weg, unerreichbar und ohne Möglichkeit herzukommen. Fay ging aber nie weg. Sie war immer hier und so auch jetzt. In der Küche, sagte Lynn Fancourt, die ihn und Bürden hereinließ. Sie saß in ihrem Revier, der Küche, am Tisch und trank Tee. »Wo ist er?« Wexford sagte »er«, denn es schien ihm noch zu kurz nach Devenishs Tod, um »die Leiche« zu sagen. 282 »Im Arbeitszimmer, Sir. Die Kollegen von der Spurensicherung und der Pathologe sind drin. « Man war gerade dabei, alles zu fotografieren. Perry von der Spurensicherung war eifrig damit beschäftigt, alles zu vermessen, und Sir Hilary Tremlett, der Pathologe (für seine Verdienste kürzlich als Lord Tremlett of Savesbury ins Oberhaus erhoben), hockte auf dem dunkelbraunen Teppich und untersuchte die Wunden des Toten. Bei Wexfords Eintreten wandte er den Kopf, stand aber nicht auf. »Er wurde in die Brust gestochen. Drei Stichwunden, bei einer ging das Messer mitten durchs Herz. Bei einer anderen wurde möglicherweise die Lunge durchstochen. Von mir aus können Sie ihn mitnehmen, wenn Sie wollen, ich sehe ihn mir im Obduktionsraum noch genauer an. Ich möchte kein Blut auf die Schuhe bekommen. Die sind nämlich neu.« Der Leichnam lag zur Hälfte auf dem Teppich, zur Hälfte auf dem Parkettfußboden. Anscheinend war Devenish, nachdem er angegriffen worden war, auf die Knie gesunken und dann nach hinten umgekippt. Seine attraktiven Züge waren im Tod so weiß wie das Antlitz einer Marmorbüste. Er war gekleidet wie jemand, der gerade aus dem Haus gehen und zur Arbeit fahren will: dunkelgrauer, perfekt sitzender Anzug, perlgraues Hemd und pinkfarbene Seidenkrawatte mit grauen Querstreifen. Jedenfalls war dies der Anblick, den er an jenem Morgen geboten haben mußte. Inzwischen waren
Anzugjacke und Hemd dunkelrot vom Blut, und die Krawatte war mit einem Muster bespritzt, das an einen Rosenstrauß erinnerte. »Ganz sicher bin ich mir noch nicht«, sagte Lord Tremlett, »aber ich würde sagen, wer immer es getan hat, muß ein gutes Stück kleiner gewesen sein als er. Das wäre aber auch nicht schwer, er war ja ein ziemlicher Brocken.« Zu Wexford aufsehend, sagte er in einem Ton, als sei Körpergröße ein Handikap: »Wie Sie.« »Wann ist er gestorben?« fragte Wexford. »Wußte ich's doch! Darauf habe ich schon gewartet. Ich soll Ihnen jetzt wohl sagen: »Um genau zwölf Minuten nach acht, 283 ein paar Sekunden hin oder her.« Das hätten Sie wohl gern, was? Kann ich aber nicht. Das könnte niemand. Ich kann es nur schätzen.« »Na los, dann schätzen Sie mal«, gab Wexford zurück, den Tremletts Allüren langweilten. »Springen Sie einmal im Leben über Ihren Schatten.« Das hatte Tremlett gar nicht gern. »Durch plumpe Raterei bin ich nicht ins Oberhaus gelangt, sondern durch meinen Ruf, akkurat und gewissenhaft zu sein.« Manche würden behaupten, mit Hilfe von hunderttausend Pfund, dachte Wexford bei sich. »Na gut, wann war es? Ungefähr.« »Ungefähr zwischen halb acht und halb neun heute morgen. Nageln Sie mich nicht fest, das würde ich Ihnen ziemlich übelnehmen. Aber falls Sie's täten, würde ich sagen, vielleicht zwischen Viertel vor acht und halb neun.« Wexford ging hinaus in die Eingangshalle, um Barry Vine zu fragen, wer die Leiche gefunden hatte. »Sie selbst, Sir. Sie hat uns angerufen.« »Wann?« »Kurz nach neun. Sie dachte, er sei zur Arbeit gefahren, und ging hinein, um sauberzumachen.« »Wo waren die Kinder?« »Die beiden Jungs waren zur Schule gegangen. Heute ist der letzte Tag vor den Ferien. Ich nehme an, das kleine Mädchen war bei ihr.« Vine zögerte. »Sie sagt, Devenish hätte heute früh um acht Besuch bekommen. Er habe ihm selbst aufgemacht und ihn ins Arbeitszimmer geführt. Gesehen hat sie ihn nicht, hörte aber eine Männerstimme.« »Mrs. Devenish?« »Genau.« »Das hat sie Ihnen gesagt?« »Es war fast das erste, was sie sagte.« »Aha. Und keine Spur von einer Tatwaffe, vermute ich?« »Im Arbeitszimmer lag kein
Messer, Sir. Ganz offensichtlich wurde doch ein Messer benutzt. In einem Messerblock in 284 der Küche stecken Messer, die aber niemand angerührt hat. Das heißt, seit ich hier bin, hat sie niemand angerührt. Lynn ist in der Küche bei Mrs. Devenish.« An den Messerblock konnte Wexford sich erinnern. Der und die Kuckucksuhr waren die Wahrzeichen dieses Raumes, und in gewissem Sinn auch die Wahrzeichen von Stephen Devenish. »Gut. Ich gehe jetzt zu ihr hinüber.« Er fand sie, wie Vine gesagt hatte, in der Küche, wünschte ihr guten Morgen und drückte seine Bestürzung aus. Dann bedeutete er Lynn, mit ihm in die Eingangshalle zu kommen. Dort fragte er sie, nachdem er die Tür hinter sich zugemacht hatte, ob Fay die Sachen, die sie trug - ein langes, durchgeknöpftes Kleid aus blauer Baumwolle mit weißen Tupfen, dazu blaue Espadrilles mit geflochtenen Sohlen - auch angehabt hatte, als sie ihren toten Mann gefunden hatte. »Ich habe sie danach gefragt, Sir, und sie hat bejaht.« »Wir machen sofort eine Hausdurchsuchung.« Er ging wieder zu ihr hinein. Die Küche war pieksauber und makellos wie immer. Fay Devenish sah wie vor den Kopf geschlagen aus - im buchstäblichen Sinn, so als hätte sie jemand mit einem Schlag auf den Kopf niedergestreckt. Devenish vielleicht. Sie saß etwas vom Tisch abgerückt auf einem der Holzstühle mit runder Rückenlehne, vorwärts gebeugt, mit gesenktem Kopf, und hatte Knie und Füße eng zusammengepreßt. Ihr glattes, hellbraunes Haar hing ihr ins Gesicht. Als sie bei seinem Eintreten aufsah, bemerkte er, daß ihr Gesicht weiß war, als wäre das Blut statt aus ihrem Mann aus ihr gewichen. Wenn eine Frau ihren Mann durch eine Mordtat verloren hatte, leitete Wexford die Fragen, die er stellen mußte, normalerweise mit Beileidsbezeugungen ein. Hier aber schien ihm Mitgefühl fehl am Platze. »Sie haben den Leichnam Ihres Mannes gefunden.« Sie hob erneut den Kopf und sah ihm direkt ins Gesicht. »Ja.« Mehr wollte sie offensichtlich nicht dazu sagen. Mehr 284 hatte sie nicht zu sagen, merkte aber vielleicht, daß er mehr hören wollte, viel mehr, und stieß mit heiserer, halberstickter Stimme hervor: »Ich kann es gar nicht fassen, wissen Sie. Ich finde es völlig unvorstellbar, es kann doch nicht
wahr sein. Ich war es doch, die sterben würde, die umgebracht wird, dachte ich immer Damit drückte sie Wexfords eigene Gefühle aus, seine eigenen Befürchtungen. »Und jetzt ist Stephen tot. Umgebracht. Ich kann es nicht fassen, ich konnte es nicht fassen, als ich - als ich ihn sah. Er war so groß und kräftig und - so voller Leben. Ich kann es immer noch nicht fassen.« »Es ist aber wahr.« »Da war soviel Blut. Wie kann ein Mensch bloß soviel Blut in sich haben?« Sein eigenes Blut erstarrte. Es war Lady Macbeth' Ausruf, der groteske, völlig unangebrachte Kommentar, der dem Schock nach dem Anblick von etwas Entsetzlichem entspringt. »Um welche Uhrzeit fanden Sie den Leichnam Ihres Mannes, Mrs. Devenish?« »Heute früh um neun. Kurz vor neun. Ich ging hinein - um - um das Zimmer zu richten. Gott sei Dank, Gott sei Dank hatte ich Sanchia nicht dabei. Ich hatte sie im Spielzimmer gelassen. Sie schaute sich einen Videofilm an, Der König der Löwen. Einen Videofilm schaute sie sich an, Gott sei Dank!« »Erzählen Sie mir von dem Mann, der Ihren Mann, wie Sie sagten, heute morgen um acht aufsuchte.« Dieses »wie Sie sagten« gefiel ihr nicht, und sie runzelte die Stirn. »Soll das heißen, Sie glauben mir nicht?« »Das wollte ich damit nicht sagen.« Aber vielleicht doch. »Erzählen Sie mir von ihm.« »Ich hörte seine Stimme, gesehen habe ich ihn nicht. Ich dachte - ich dachte, es wäre einer von unseren Nachbarn. Ich nehme an, mein Mann hat ihn hereingelassen. Mein Mann war - er wollte nach Brighton ins Büro, und dieser Mann fährt manchmal mit ihm mit. Der war es, dachte ich.« 285 »Wie heißt denn dieser Nachbar?« Sie wußte es entweder tatsächlich nicht oder sagte, sie wüßte es nicht. »Er wohnt in Laburnum House.« Sylvias ehemaliges Haus. Er versuchte, sich an den Namen der Leute zu erinnern, die es von Sylvia und Neil gekauft hatten. Paulton? Poulson? »Ich sehe, Sie haben sich an der Hand geschnitten«, sagte er. »Ich habe mich nicht geschnitten.« Sie sah ihre Hand verwundert an, als hätte sie sie noch nie gesehen. Quer über die Innenfläche, diagonal, wo die Lebenslinie verlief, war ein langer, tiefer Schnitt. »Es hat ziemlich stark geblutet«, sagte sie.
»Wie ist es denn passiert?« »Das hat Stephen getan.« Sie begann, hysterisch zu lachen, es war fast wie das Gelächter einer Irren, fast opernhaft die Tonleiter hinauf und hinunter. Dabei warf sie sich auf ihrem Stuhl hin und her, stieß gegen den Tisch und schlug lachend und kreischend mit den Händen auf die Tischfläche. »Er hat es getan, er hat es getan, aber er wird es nie wieder tun, nie, nie, nie wieder!« Von dem Lärm alarmiert, kam Lynn herein. »Geben Sie ihr ein Glas Wasser, ja?« bat Wexford. Als es kam, hatte Fay angefangen zu schluchzen. Lynn hielt ihr das Wasser an die Lippen, und zu ihrer beiden Überraschung trank sie gierig. Sie atmete tief ein und stieß die Luft mit einem langen Seufzer aus. Dann tat sie etwas, was um so schockierender wirkte, als sie es vollkommen selbstbeherrscht und gelassen tat. Sie stand auf, hob die Hände, packte die Kuckucksuhr und rieß sie unter Aufbietung erstaunlicher Kräfte von der Wand. Sie mußte eine Weile daran zerren, bis es ihr gelang, dann schleuderte sie das Ding mit aller Macht zu Boden, wo es in Stücke zerschellte. Endlich besiegt, der klappernde Schnabel verstummt, rollte der kecke, kleine Kuckuck aus dem Trümmerhaufen und blieb auf dem Rücken unter dem Tisch liegen. Durch die heftigen Bewegungen hatte ihre Hand wieder zu 286 bluten begonnen. Sie schien aber gar nicht zu bemerken, daß ihr das Blut aus der Handfläche strömte und auf den Boden tropfte. Wexford sagte: »Das muß behandelt werden. Man muß es wahrscheinlich nähen.« Sie zuckte achtlos die Schultern. »Die Uhr hat er gekauft, als wir im Urlaub einmal in Luzern waren. Ich habe sie immer gehaßt. Ich hatte immer das Gefühl, sie - sie mache sich lustig über mein Elend.« Lynn kniete sich hin und begann, die Stücke aufzulesen. Fay sagte: »Sie sind außer mir bestimmt der einzige Mensch in diesem Haus, der so was tut.« »Sie sollten nicht allein sein«, sagte Wexford. »Können wir jemanden kommen lassen, der sich um Sie kümmert?« »Jane«, sagte sie. »Jetzt darf ich Jane ja wiedersehen.« Den Leichnam hatte man weggebracht. Peach, Cox und Archbold hatten das Haus nach blutbefleckter Kleidung durchsucht und nichts Interessantes gefunden. Wexford ging in den Wirtschaftsraum, wo auf einer Arbeitsfläche ein Stapel sauberer Wäsche lag, zusammengefaltet, aber ungebügelt. Neben einem halben Dutzend schneeweißer Hemden, die dem Toten gehört hatten,
erkannte er etwas, das wie ein Baumwollrock aussah, mehrere T-Shirts und noch eins von diesen durchgeknöpften Baumwollkleidern. Die Luken an Waschmaschine und Trockner standen offen. Der Wirtschaftsraum grenzte an die Küche, wo Fay Devenish immer noch saß, Lynn neben ihr. Er sah sich dort um, bemerkte den Messerblock und stellte fest, daß bis auf einen in allen Schlitzen Messer steckten. Sieben Messer. Als Stephen Devenish damals in diesem Raum geweint und die Arme über den Tisch geworfen hatte - waren es da sieben oder acht Messer gewesen? »Packen Sie den Messerblock mal ein«, sagte er zu Cox, »den schicken wir in die Gerichtsmedizin.« Dann wollte er von Fay Devenish wissen, ob in dem Block ein Messer fehlte. »Ich glaube nicht«, sagte sie. »Warten Sie mal. Nein, es sind 287 alle da.« Sie sah ängstlich zu ihm hoch. »Sie glauben, eins von diesen Messern... ?« »Im Moment glaube ich eigentlich noch gar nichts, Mrs. Devenish. Ich habe mich nur gewundert, weil in dem Block zwar acht Schlitze sind, aber nur sieben Messer.« »Es waren immer nur sieben.« Sie sagte es tonlos, ihr hysterischer Anfall war vorüber. »Das hat auch einen Grund. Er war ursprünglich für acht Messer gedacht, aber wenn man alle acht reinsteckt, wird es eng, und wenn man dann eins rausziehen will, kommt das daneben mit heraus. Verstehen Sie?« »Ich denke schon.« Er wartete auf die Bemerkung, daß keins von ihren Küchenmessern dazu hätte benutzt werden können, ihren Mann umzubringen. Sie sei die ganze Zeit in der Küche gewesen, und der Mann, der Stephen Devenish getötet hatte, sei nicht hier hereingekommen. Damit rechnete er, doch statt dessen sagte sie: »Das Messer, mit dem mich mein Mann geschnitten hat - ich weiß gar nicht, woher das war. Es war jedenfalls keins von diesen hier.« Er sagte nichts weiter. Sie würden es bald erfahren, die Gerichtsmediziner würden es ihnen sagen. In der Eingangshalle begegnete er Bürden. »Wo ist die Kleine, Mike?« »Ich habe sie zu einer Nachbarin gebracht. Zu dieser Wingrave. Das ist zwar nicht ideal, aber immer noch besser als hier. Die Schule habe ich auch verständigt, die beiden Jungs gehen in die Francis-Roscommon-Schule in Sewingbury. Ich sagte, ich würde hinfahren und mit dem Schulleiter sprechen, aber der scheint ein ganz vernünftiger Mensch zu sein, er meinte, er
würde es ihnen in einem passenden Moment sagen. Er fährt sie auch nach Hause.« »Ich will nicht, daß sie nach Hause gebracht werden, Mike.« Bürden sah ihn fragend an. »Das heißt, ich will schon, daß sie hergebracht werden, aber sie dürfen nicht mit ihrer Mutter allein gelassen werden. 288 Sie darf keine Gelegenheit bekommen, ihnen etwas zu sagen, und sie dürfen ihr auch nichts sagen. Wir müssen eine andere Lösung finden.« »Denken Sie an den mysteriösen Besucher, von dem sie behauptet, er sei heute morgen hier vorbeigekommen? Das hat sie sich spontan ausgedacht, nicht wahr?« Wexford zuckte die Achseln. Er ging ins Arbeitszimmer und blieb am Fenster stehen. Weil der Raum sich in einem vorstehenden Teil oder Flügel des Hauses befand, konnte man die Haustür zur Linken sehen. War Devenish hier im Zimmer gewesen und hatte den Mann ankommen sehen? Gab es diesen Mann überhaupt? Oder war er die Erfindung einer verzweifelten Frau? Als er wieder geradeaus blickte, sah er Jane Andrews' Auto den langen, grünen Tunnel der Einfahrt hochkommen. Ihre Ankunft munterte ihn auf unerklärliche Weise auf. Besser, sie war hier. Dieser Raum, Stephen Devenishs Todeskammer, war auch der Ort, an dem regelmäßig Gewalt gegen Fay Devenish angewendet wurde. Er war zwar schon durchsucht worden, doch machte sich Wexford noch einmal selbst auf die Suche. In einer Schreibtischschublade entdeckte er eine Peitsche, die Sorte, die wohl auch die Jockeys benutzten, obwohl sich Wexford in Unkenntnis derlei Mittel zur Pferdebändigung nicht ganz sicher war. Eins stand fest: Für ein Pferd hatte Devenish sie nicht verwendet. Eine andere Schublade enthielt nichts außer einem Nußknacker und einem Instrument, das einer Pinzette glich, dessen Verwendungszweck ihm aber nicht klar war. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, daß die oberste Schublade lediglich Papier enthielt, hauptsächlich Briefe in Umschlägen. Das müßte alles noch durchgesehen werden. Später jedoch, nicht jetzt gleich. Er wollte die Schublade gerade wieder schließen, als ihm die Schrift, genauer gesagt, die gedruckte Aufschrift auf dem obersten Umschlag ins Auge fiel. Er war aufgerissen, der Inhalt zweifellos gelesen und wieder zurückgesteckt worden. Die Adresse An Herrn Stephen Devenish, 288
Woodland Lodge, Ploughman's Lane, Kingsmarkham KM2 4ZC hatte ein Computerdrucker geschrieben. Der Brief war in Brighton abgestempelt und auf den 24. Juli datiert. Er nahm den Brief heraus. Der Text stammte ebenfalls aus einem Computerdrucker. Sehr geehrter Mr. Devenish (stand da zu lesen), Ich frage mich oft, ob Sie wissen, was für ein Monster Sie sind. Ein Psychopath, gar kein menschliches Wesen. Das Böse, wie Sie es verkörpern, kommt in der Tat sehr selten vor. Gott sei Dank. Da Gott Seine Rache an Ihnen aber erst üben wird, wenn Sie in Ihrem bequemen, luxuriösen Bett eines natürlichen Todes gestorben sind, hat Er mich dazu ausersehen, Vergeltung zu üben. Ich werde Sie töten. In ein paar Tagen vielleicht schon oder in ein paar Wochen oder Monaten. Doch es wird geschehen. Und es wird schmerzhaft sein, so schmerzhaft wie die Grausamkeiten, die Sie Ihrer armen Frau zugefügt haben. Ich werde sie zur Witwe machen und Ihre Kinder zu Waisen und werde lachen dabei, so wie sie lachen werden. Der Brief trug keine Unterschrift. Er stellte oft amüsiert fest, daß wir Leute, die wir nicht mögen, die wir verachten, oder denen wir mißtrauen, ohne Zögern mit der respektvollen Anrede »sehr geehrt« bedenken. Selbst bei den Verfassern anonymer Briefe verhielt es sich so. Er hatte im Laufe seines Lebens schon viele solcher Briefe gesehen, einen wie diesen allerdings noch nie. Zunächst einmal schien er das Werk einer gebildeten Person zu sein. Der letzte Satz hatte etwas Prophetisches an sich, er klang fast wie die Zeile aus einem Psalm, und die Erwähnung Gottes und die Großbuchstaben für das Pronomen der Gottheit deuteten darauf hin, daß der Verfasser womöglich religiös war. Er beschloß, die Schublade nun doch gleich zu durchsuchen. Zwei weitere Briefe in etwa demselben Ton kamen zum Vorschein. Beide begannen mit Sehr geehrter Mr. Devenish, 289 und beide erwähnten Devenishs »Grausamkeiten« gegenüber seiner Frau, wobei sich der zweite auf seine Angewohnheit bezog, ihr mit einem Messer Schnittwunden zuzufügen. Der eine war auf Anfang Juli, der andere auf Mitte Juni datiert. Devenish hatte also vielleicht gar nicht gelogen, als er im April behauptet hatte, derartige Briefe erhalten, sie jedoch vernichtet zu haben. Vielleicht hatte es viele gegeben, und sie waren regelmäßig eingetroffen. Als Wexford nachmittags zu Woodland Lodge zurückkehrte, traf er nicht zwei, sondern drei Frauen im Wohnzimmer an. Adrett und chic im cremefarbenen Leinenkostüm mit langem Rock saß Jane Andrews mit ihrer Freundin auf einem der Sofas und hielt deren unverletzte Hand, während in
einem Sessel eine Frau saß, die Fay ihm zu seiner Überraschung als ihre Mutter, Mrs. Dodds, vorstellte. Die schmale, verbrauchte Fay im blauen, locker hängenden Baumwollkittelkleid besaß keinerlei Ähnlichkeit mit der großgewachsenen, stattlichen Dame im leuchtendgrünen Kleid mit den passenden hochhackigen Schuhen, der sorgfältig zu einem Goldhelm toupierten Frisur und dem geschickt geschminkten Gesicht. Auf einem Tischchen stand Kuchen, Kekse lagen in einer Silberschale, und irgend jemand hatte eine Kanne Kaffee gemacht. Sie boten Wexford eine Tasse an, der jedoch mit einem Kopfschütteln ablehnte. »Mrs. Devenish, ich würde Sie gern allein sprechen. Vielleicht können Sie Ihre Mutter und Ihre Freundin für zehn Minuten entbehren.« Als er die beiden hinausbegleitete, bat er Lynn im Vorbeigehen, sich kurz zu Fay Devenish hineinzusetzen. Er überlegte rasch, denn nun bot sich eine gute Gelegenheit. Das Arbeitszimmer kam natürlich nicht in Frage. Jane Andrews mochte Stephen Devenish abgrundtief verachtet haben, wäre aber wohl trotzdem kaum geneigt, den Raum zu betreten, in dem er so kurz zuvor eines gewaltsamen Todes gestorben war. Doch das Haus war groß und hatte zahlreiche Zimmer. Hin 290 ter einer Tür entdeckte er ein Spielzimmer, in dem der Fernseher immer noch lief, obwohl der König der Löwen längst vorbei war, und überall Spielsachen verstreut lagen, wo Sanchia sie hatte fallen lassen. Beim nächsten Versuch hatte er mehr Glück. Hier war das Eßzimmer. Neben einem Tisch für zwanzig Personen - hatte die Arme etwa auch noch Dinnerpartys für Devenishs Geschäftskollegen ausrichten müssen? - war noch genügend Platz für Anrichte, Hausbar und zusätzliche Stühle. Er bat die beiden Frauen, sich zu setzen, und sagte dann: »Mrs. Doods, Ihre Enkel werden jetzt gleich aus der Schule hergebracht. Ich finde es keine gute Idee, daß sie hier im Haus bleiben, was meinen Sie? Ihre Tochter braucht jetzt Ruhe. Ich hatte überlegt, ob Sie sie vielleicht ein paar Tage nehmen könnten, nur damit Sie fiel ihm ins Wort. Ihr freundliches Lächeln und der begeisterte Ton in der Stimme veränderte den wenig großmütterlichen Eindruck, den er von ihr gewonnen hatte. »Aber liebend gern würde ich sie nehmen. Eine ausgezeichnete Idee! Mein Mann und ich finden sowieso, daß wir sie nicht oft genug sehen. Ich hätte nichts dagegen, sie einen ganzen Monat zu behalten. Die beiden sind auch sehr gern bei uns.«
»Dann ist das ja in Ordnung. Wenn Sie es nur -« sein Blick bezog sowohl Jane Andrews als auch Mrs. Dodds ein - »so darstellen könnten, als käme die Idee mit der Einladung von Ihnen, ja? Es wäre - nun, es käme so besser an.« »Aber selbstverständlich.« »Dann könnten Sie und Miss Andrews vielleicht schon ein paar Sachen für die beiden zusammenpacken, während ich mit Mrs. Devenish spreche. Sie wissen sicher, was sie brauchen.« Sie saß still da und betrachtete ihre linke Hand, die inzwischen verbunden war. Vielleicht dachte sie daran, daß dies die letzte Verletzung war, die ihr Devenish je beibringen würde. Oder daran, was sie getan hatte? Oder was ihr Retter, dieser Fremde, getan hatte? 291 »Wie spät war es, als Sie die Stimme dieses Mannes hörten, Mrs. Devenish?« »Das sagte ich doch schon, ungefähr acht. Ich war in der Küche und räumte gerade das Frühstück weg. Die beiden Jungs waren bei mir und warteten auf ihre Mitfahrgelegenheit zur Schule.« »Die Abfolge der Ereignisse hätte ich gerne ganz genau, bitte. Ich werde Sie nicht länger in Anspruch nehmen als nötig, ich weiß ja, was für eine Belastung das alles für Sie sein muß.« Fay räusperte sich. Ihr Blick huschte durch das Zimmer, und einen kurzen Moment glaubte Wexford, sie würde gleich fragen, ob Lynn unbedingt dabeisein müsse, doch er irrte sich. Sie seufzte. »Sanchia war um halb sieben wach. Wie immer. Als ich sie hörte, stand ich auf, zog sie an und nahm sie mit herunter. Mein Mann war inzwischen aufgestanden und duschte. Um sieben ging ich zu den Jungs ins Zimmer und weckte sie. Ich mußte dann noch einmal hinein und sie noch mal wecken, das ist immer so. Ich half Sanchia gerade bei ihrem Frühstück, als mein Mann runterkam. Ich habe ihm sein Frühstück serviert. Er will - wollte immer ein warmes Frühstück. Dann kamen die Jungs herunter und bekamen ihre Cornflakes mit Toast. Ich - ich hatte keine Saftorangen mehr da, die sind ja zur Zeit schlecht zu bekommen, deshalb hatte ich gefrorenen Saft genommen, der aber noch nicht ganz aufgetaut war - aber das wollen Sie doch nicht alles hören.« »Ich will alles hören«, sagte Wexford. »Fahren Sie fort.« »Mein Mann frühstückte fertig und ging dann in sein Arbeitszimmer. Das war etwa um Viertel vor acht. Dann hat er mich zu sich hereingerufen - ich - oh, ich möchte nicht
Ihr Gesicht war plötzlich schmerzverzerrt. Sie weinte nicht, ihre Züge verkrampften sich nur zu einer bestürzten, gequälten Grimasse. Es war, als Wexford glaubte es deutlich erkennen zu können - als fragte sie sich, und zwar nicht zum erstenmal, weshalb dieser Mann es für notwendig erachtet hatte, ihr immer und immer wieder Leid und Schmerzen zu 292 zufügen. Warum? War sie denn wirklich so schlecht gewesen, daß sie es verdient hatte? Begütigend sagte Wexford: »Ihr Mann rief Sie zu sich ins Arbeitszimmer, um Sie zu bestrafen, nicht wahr? Weil Sie keinen frischen Orangensaft aufgetragen hatten?« Sie preßte die Lippen zusammen, legte den Kopf schief und sagte dann fast tonlos: »Ja.« »Er hatte ein Messer, aber keins von denen aus der Küche? Ein Messer, das er zufällig bei sich im Arbeitszimmer hatte?« Diesmal kam nur ein Nicken. »Er befahl Ihnen, die Hand auszustrecken - Ihre linke, denn er hatte nicht die Absicht, Ihre Fähigkeit zur Hausarbeit zu beeinträchtigen -, und schnitt Ihnen quer über die Handfläche.« »Ja.« Höchst unpassenderweise und ganz untypisch für ihn merkte Wexford, daß er innerlich frohlockte: Der Mann war tot, war eines gewaltsamen Todes gestorben, war bestraft worden. Er schwieg. Mit bebender Stimme sagte Fay: »Nach der - der Sache mit Sanchia behandelte er mich viel schlimmer als vorher. Jeden Tag gab es - gab es etwas - anderes, Schläge oder Schnitte oder Fußtritte. Edward und Robert haben es mit angesehen, Sanchia auch.« »Jetzt ist es vorbei«, sagte Wexford und fügte bei sich hinzu, wie immer die Wahrheit auch lautete, was immer sich herausstellen würde, damit hatte es nun ein Ende. »Erzählen Sie mir, was geschah, nachdem Ihr Mann Sie geschnitten hatte.« »Ich bin wieder in die Küche gegangen. Nein, zuerst ging ich nach nebenan in die Toilette und wickelte mir das Handtuch von dort um die Hand. Die Jungs sahen den Schnitt nicht, nur meine verbundene Hand. Sie wollten sich gerade auf den Schulweg machen. An den Tagen, an denen ich sie nicht hinfahre, gehen sie ein paar hundert Meter weiter zu der Frau, deren Kinder auf die gleiche Schule gehen. Sie können dort mitfahren. Ich habe sie losgeschickt 292
»Verzeihung - heißt das, Sie gingen mit ihnen bis an die Haustür?« Sie sah ihn zunächst etwas erstaunt an. »Ob ich... ach, jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Nein, ich sagte nur, es sei jetzt Zeit, und verabschiedete mich von ihnen, und sie gingen von der Küche in die Eingangshalle und durch die Haustür hinaus. Ich sah sie nicht direkt weggehen, weiß aber, daß sie gegangen sind. Und dann, fast unmittelbar danach - also, ein paar Minuten später klingelte es an der Haustür. Es war dieser Mann. Ich hörte seine Stimme, dann die Stimme meines Mannes, der etwas zu ihm sagte.« Ihm fiel auf, daß sie Devenish nie Stephen nannte, sondern immer »mein Mann«, so wie eine Sklavin sagen würde »mein Herr«. »Das war also um acht. Haben Sie ihn weggehen hören?« »Ich weiß nicht. Ich dachte, ich hätte die Haustür zufallen hören, aber das hätte auch mein Mann sein können, als er wegging. Doch er war es natürlich nicht.« »Haben Sie sich nicht gewundert, Mrs. Devenish, daß Ihr Mann nichts zu Ihnen sagte, bevor er wegging? Daß er sich nicht von Ihnen verabschiedete?« Ihr brüchiges Lachen hallte erschreckend laut in dem stillen Raum wider. »Würden Sie sich wundern, wenn sich jemand nicht von Ihnen verabschiedet, der Ihnen gerade mit dem Messer die Hand aufgeschlitzt hat?« »Wohl kaum«, sagte Wexford. »Wohl kaum.« Plötzlich sprang sie von ihrem Stuhl auf und sah sich aufgeregt um. »Wo ist denn meine Kleine? Wo ist Sanchia?« »Bei Mrs. Wingrave.« »Ich will sie wieder hierhaben, sie soll zurückkommen! O Gott, denken Sie doch - ich muß nie mehr Angst um sie haben!« »Aber natürlich können Sie sie wiederhaben.« »Ich gehe hinüber und hole sie«, sagte Lynn.
293 Gegenüber und die Auffahrt hoch saß Moira Wingrave in dem kissenbestückten, mit Velourtapeten ausgeschlagenen Raum, ihrem sogenannten »Salon«, ganz allein auf dem Sofa und hatte die Beine hochgelegt, neben sich ein hohes Glas mit etwas, das wie Tomatensaft oder Bloody Mary aussah, und hatte den Fernseher laufen. Sanchia sei auch irgendwo, meinte sie, wahrscheinlich oben bei Tracy. »Ach, in diese Tracy ist sie ganz verliebt. Solche einfachen Leute kommen bei Kindern ja immer gut an.« Lynn fragte sie, ob sie etwa um acht Uhr morgens einen Mann die Auffahrt zu Woodland Lodge hatte hinaufgehen sehen.
»Was für einen Mann denn? Meinen Sie etwa den armen Stephen Devenish?« »Nicht Mr. Devenish. Vielleicht den Nachbarn, der im Laburnum House wohnt?« »Ach, Gerry Paulton. Nein, wieso sollte ich den sehen? Der kennt die Familie Devenish doch gar nicht, oder?« »Ich möchte Sanchia jetzt wieder zu ihrer Mutter bringen.« »Aber bitte. Tun Sie das. Ich bin Kinder nicht gewohnt und weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ich mit ihnen reden soll.« Tracy Miller wußte es. Sie war mit Sanchia gerade bei einem Spiel, das »im Zimmer rundherum« hieß und Moira Wingrave bestimmt mißfallen hätte, denn es bestand darin, daß das Kind auf den Möbeln im Schlafzimmer herumkletterte, ohne mit den Füßen auf dem Boden aufzukommen: Von dem vergoldeten Stühlchen hüpfte es über die Louis-Seize-Stilkommode auf den Frisiertisch mit den elfenbeinfarbenen Seidendrapierungen, um sich abschließend in Tracys ausgebreitete Arme zu stürzen. Inzwischen recht sprachgewandt, meinte Sanchia, sie wolle aber gar nicht nach Hause, sie wolle bei Tracy bleiben, und fing an zu weinen. Es gelang Lynn schließlich, sie mit ein paar Smarties zu bestechen, die sie durch einen glücklichen Zufall auf dem Grund ihrer Tasche entdeckt hatte. Zu Hause angekommen, schloß ihre Mutter sie überschwenglich in die Arme und überschüttete sie mit Küssen, 294 eine Behandlung, die Sanchia zappelnd abwehrte. Sie war gerade zehn Minuten wieder da, als Edward und Robert an der hinteren Tür auftauchten. Ihr Schulleiter hatte sie hergefahren. Wie alle Kinder in ihrem Alter, die in tragische Ereignisse verwickelt sind, sahen sie unbeholfen, verlegen, verloren und hilflos aus. Edward murmelte irgendeine Antwort auf Jane Andrews' Begrüßung. Robert sagte nichts, sondern scharrte verlegen mit den Füßen und fragte dann seine Mutter, ob es was zu essen gäbe. Aus purer Gewohnheit stand Fay auf und holte ein paar Dosen Cola aus dem Kühlschrank, dazu Brot, Butter und Hefeextrakt aus der Speisekammer und von irgendwoher ein paar Marsriegel. Als jedoch ihre Großmutter hereinkam, zeigten sich die beiden so begeistert, wie Wexford sie noch nie erlebt hatte. Er war zufrieden mit seinem Plan und meinte, er müsse nun gehen. Draußen begegnete er Vine, der im Rahmen der Ermittlungen in Sylvias ehemaligem Haus vorgesprochen und von Gerald Paulton, der eben von der Arbeit zurückgekehrt war, erfahren hatte, er fahre immer mit dem eigenen
Wagen nach Brighton. Es stimmte zwar, daß er sich von Stephen Devenish einmal hatte mitnehmen lassen, als sein Wagen bei der Inspektion gewesen sei, doch das war schon über ein Jahr her. »Schlimme Sache ist das. Ich war erschüttert, als meine Frau es mir sagte, einfach erschüttert. Er war so ein netter Kerl, ein ganz feiner Mensch.« »Sie waren also heute morgen etwa um acht nicht in Woodland Lodge, Sir?« Wenn Leute in Romanen von der Polizei vernommen werden, reagieren sie ganz gelassen oder sind nur ein wenig ungehalten. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Gerald Paulton reagierte erschrocken und eingeschüchtert auf Vines Frage. Was um alles in der Welt wollte er denn damit sagen? Was wollte er damit andeuten? »Ich deute überhaupt nichts an, Sir. Es handelt sich um eine reine Routinefrage.« 295 »Dann stehe ich also auf Ihrer Verdächtigenliste!« »Wir haben keine Verdächtigenliste, Mr. Paulton. Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen.« »Na, jedenfalls war ich heute morgen nicht drüben. Ich bin um halb acht aus dem Haus, um zur Arbeit zu fahren. Fragen Sie meine Frau, meine Kinder, das Au-pair-Mädchen, wen Sie wollen.« Zu Hause las Wexford die Kopien der anonymen Briefe, die er in Devenishs Schreibtisch gefunden hatte, immer wieder durch. Die Originale waren zur Untersuchung ins Labor gegangen. Wie viel schwieriger der weitverbreitete Gebrauch von Computern es gemacht hatte, den Verfassern anonymer Briefe auf die Spur zu kommen, dachte er, aber vermutlich hatte man bei der Polizei das gleiche gesagt, als die Schreibmaschine erfunden wurde. Diese Briefe waren ganz offensichtlich das Werk einer Person, die mehr als nur Groll gegen Devenish hegte. Er mußte unbedingt Genaueres über diesen Mann herausfinden, den Devenish angeblich aus seinem Büro gewiesen und die Treppe hinuntergeworfen hatte. Etwas fiel ihm allerdings besonders auf: Wieso hatte Devenish die Briefe aufbewahrt, die im Juni und Juli angekommen waren, nicht aber die früheren? Vielleicht, weil nur in diesen die Mißhandlung seiner Frau erwähnt wurde? Natürlich wußte Wexford nicht, ob es sich tatsächlich so verhielt, es war nur eine Vermutung. In den anderen wurde es vielleicht ebenfalls angesprochen. Andererseits - was lag eigentlich näher, als Devenishs Mörder in seinem eigenen Heim zu suchen? 295
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Beschwichtigungstaktiken behagten Wexford absolut nicht, und er hoffte, bei dem Gespräch mit Brian St. George ohne sie auskommen zu können. Andererseits wollte er vom Chefredakteur des Kingsmarkham Courier Auskünfte erhalten, die nur dieser ihm geben konnte. Wenn nötig, würde er einen Kompromiß schließen und dem Courier wieder die alten Presserechte bei der Polizei von Kingsmarkham einräumen müssen. Doch als er St. George in dessen Büro in der High Street aufsuchte, gab sich der Chefredakteur höchst zuvorkommend, ja fast unterwürfig, und war bereit, alles zu sagen und zu tun, was zur Wiederherstellung des Status quo vonnöten war. »Die >Dicker-Fisch-Story, Mr. Wexford? Für die wir das Foto von Sanchia gemacht haben? So aus dem Stegreif kann ich Ihnen nicht sagen, wann das war, aber meine Assistentin schaut in Null Komma nichts nach. Unser Computersystem hier ist ausgezeichnet.« Von St. Georges ständig wechselnden Assistentinnen schien keine mehr als sechzehn Jahre alt zu sein. Die letzte war ein blondes Pummelchen gewesen, deren Minirock mit knapper Not ihren Hintern bedeckt hatte. Ihre Nachfolgerin war schwarz, einsachtzig groß und hatte ihr rotgefärbtes Haar mit Goldperlenschnüren verlängert. »Siehst du mal nach, ob du die >Dicker-Fisch<-Story mit Devenish findest, Carly-Jo? So vor etwa zwei Jahren. Und mach mir einen Ausdruck davon.« »Haben Sie ein Interview mit ihm gemacht?« fragte Wexford. »Klar doch. Das steht alles in der Story. Für den Bericht 296 über seine Ermordung diese Woche wollen wir Auszüge daraus bringen.« Ziemlich konsterniert fragte Wexford: »Aha, und wieso das?« »Er hatte einiges zu sagen über Feinde. Er hätte sich in seinem Job ein paar Feinde geschaffen, sagte er. Der Geschäftsführer der Fluggesellschaft ist zum Beispiel gefeuert worden, kurz nachdem er die Gehaltserhöhung gekriegt hat. Wegen Unfähigkeit, und laut Devenish war der auch unfähig. Es war wohl von Anfang an hoffnungslos mit dem, der hat der Firma unheimlich viel versiebt.« Trevor Ferry. »Darüber bringen Sie jetzt aber keine Story, möchte ich hoffen«, sagte Wexford ziemlich streng. »Wo denken Sie hin!« St. George setzte eine höchst redliche Miene auf. »Dazu sind wir uns unserer Verantwortung doch viel zu bewußt.« »Na hoffentlich.«
»In der >Dicker-Fisch<-Story haben wir es nicht gebracht. Ich sage Ihnen hier nur, was er mir erzählt hat. War ein sehr netter Kerl, sehr locker, offen und ehrlich und so. In seiner Position bekäme er ziemlich viel Neid zu spüren, sagte er. Sie wissen schon - toller Job, Wahnsinnsgehalt, hübsche Frau, niedliche Kinder, schönes Haus »Ja, ja, schon gut«, sagte Wexford. »Ich weiß.« »So was mögen die Leute nicht, will ich damit bloß sagen, Reg. Es paßt ihnen nicht. Ich meine, wieso soll er was haben und ich nicht, so auf die Art. Das finden sie ungerecht. Aha, da ist ja unsere Story.« Carly-Jo kam mit dem Computerausdruck wieder herein, den sie in einer süßen, schweren Duftwolke vor Wexford hinlegte. Weil ihn die Nase juckte und er schon befürchtete, gleich niesen zu müssen, drückte er vorsichtshalber den Zeigefinger auf die Oberlippe. Die Story, das sah er auf den ersten Blick, brachte wenig Hilfreiches zutage. Es war das Übliche, am Anfang kam eine stichwortartige Beschreibung von Devenishs Lebensstil, gefolgt von einem langatmigen Zitat, mit 297 dem er sein Jahresgehalt von annähernd vierhunderttausend Pfund rechtfertigte. Keine einzige Zeile über Feinde, geschweige denn Drohungen. Kein Wort über den hinausgeworfenen Geschäftsführer. »Weil Sie den Kerl Haß, Lächerlichkeit und Verachtung preisgeben wollten, hatten Sie wohl Angst vor einer Verleumdungsklage.« Wexford legte den Ausdruck wieder hin. »Das ist jetzt aber nicht ganz fair, Reg. Wir sind schließlich keine überregionale Tageszeitung. Die meisten von uns müssen mit den Bewohnern dieser Stadt auskommen. Wir wollen uns auch keine Feinde schaffen. Außerdem spricht doch einiges dafür, zu den Mitwirkenden an unseren Beiträgen weiterhin ein gutes Verhältnis zu pflegen.« »Wieso hat er denn überhaupt etwas von Feinden gesagt? Moment, lassen Sie mich raten. Sie oder Ihr Reporter haben ihn gefragt, ob er welche hätte, ob er bedroht worden sei, ob dieser sogenannte Neid schon konkrete Formen angenommen hätte.« »Soweit ich mich erinnern kann«, gab St. George kleinlaut zu, »erwähnte er tatsächlich, Drohbriefe erhalten zu haben. Worauf ich natürlich sagte, er müsse die Sache sofort der Polizei melden.« »Natürlich«, versetzte Wexford trocken. »So sehen Sie aus.« »Er lachte bloß und sagte, er hätte sie schon weggeschmissen. Es sei lauter Müll, und der beste Ort für Müll sei der Abfalleimer.«
»Wie orginell! Wundert mich nicht, daß Sie daraus keine Story machen konnten. Ich nehme an, außer Trevor Ferry hat er keinen seiner Feinde namentlich erwähnt, oder? Er hatte keine Ahnung, wer ihm beispielsweise die Briefe geschickt hatte?« »Irgendein Kerl ist ihm mal so auf die Nerven gegangen, daß er ihn aus dem Büro schmeißen mußte, aber Namen hat er keine genannt.« 298 Für Bürden war Devenishs Tod bloß eine lästige Angelegenheit, die ihn von der Jagd auf Hennessys Mörder abhielt und das Personal anderweitig einband. Den Benzinbombenwerfer zu finden und vor Gericht zu bringen war seiner Ansicht nach weitaus wichtiger als die Person aufzuspüren, die Stephen Devenish erstochen hatte. Auf seine übliche, ganz spezielle Art hatte er Devenish längst als Bösewicht und Unhold ohne jede Existenzberechtigung abqualifiziert. Zwar wäre er nicht so weit gegangen, den Mörder zu seiner Tat zu beglückwünschen, denn auf Gerechtigkeit hielt er große Stücke, doch widerstrebte es ihm, für die Ermittlungen gute Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen abzustellen, wenn es bei der Suche nach dem Benzinbomber noch soviel zu tun gab. »Ich vermute mal, sie war es, oder?« sagte er zu Wexford bei einem Blitzlunch im Europlate. »Wenn so ein Kerl, der seine Frau verprügelt, die wohlverdiente Strafe bekommt - war es doch immer die gequälte, mißhandelte Frau. Der Spieß wurde einfach umgedreht, das ist alles.« »Tatsache ist, Mike, daß lediglich zwei Prozent aller Morde von mißhandelten Frauen begangen werden, die ihre Partner umbringen.« »Ach, kommen Sie, Reg. Sie hat jahrelang die Zähne zusammengebissen, er hat sie geprügelt und getreten bis zum Gehtnichtmehr, und eines Tages ist der Ofen aus. Sie rastet aus, nimmt das Messer oder das Ding, mit dem er sie geschnitten hat, und macht ihn fertig. Wie du mir, so ich dir und noch eins drauf.« Wexford, der italienische Pasta mit deutschem Spargel verzehrte, schüttelte erst den Kopf, überlegte es sich aber dann und nickte. »Ich will noch viel mehr von ihr wissen. Zuerst möchte ich aber mit den Jungen sprechen. Und dann ist da noch die Sache mit der Tatwaffe.« »Die Tatwaffe haben Sie noch nicht gefunden, oder?« »Es klingt zwar komisch, aber ich weiß nicht. Ich sage, ich weiß es nicht, weil in der Küche nämlich sieben Messer waren. Man könnte natürlich sagen, es hätten acht sein sollen.« 298
»Da kann ich Ihnen jetzt nicht ganz folgen.« »Nein? Also, stimmt es, wenn Fay Devenish sagt, es waren überhaupt nie acht Messer? Oder waren es acht und eins fehlt? Oder wurde eins von den sieben anderen benutzt? Oder stimmt es, wenn Fay sagt, daß keins von den Küchenmessern benutzt wurde? Wenn es eins von den Küchenmessern war, dann kann man drei schon einmal ausschließen, weil sie für diese Art von Verletzungen zu klein sind, und das eine ist ein Sägemesser. Damit bleiben drei übrig.« »Wir werden schlauer sein«, sagte Bürden, »wenn der noble Lord Tremlett Ihnen seinen Obduktionsbefund gibt. Es wird bestimmt nicht schwer sein, die Messer mit den Stichwunden zu vergleichen.« Wexford machte eine, wie Bürden fand, belanglose Bemerkung: »Sie hat eine Spülmaschine.« »Was hat sie? Ich auch. Und Sie auch. Was hat das denn damit zu tun? Ich sehe das ganz einfach so: Sie sind wegen dieser absurden Geschichte mit dem Orangensaft aneinandergeraten, er bestellt sie zu sich, um sie zu bestrafen, schneidet sie, und irgendwie kriegt sie das Messer zu fassen und ersticht ihn. Überall Blut, Unmengen von Blut. Sie steckt ihre Kleider in die Waschmaschine und hat sie schon im Trockner, bevor sie uns ruft. Ihre einzige Zeugin ist ein dreijähriges Kind, das Gott sei Dank nicht einmal dabei war, als der Mord stattfand. Klar wie Kloßbrühe, kein Problem.« Er schob den Teller weg und nahm einen Schluck Wasser. Von dem ganzen Gerede über Messerstiche und Blut war ihm der Appetit vergangen. Wexford schien sich dadurch nie so beeinträchtigen zu lassen, und dennoch - wenn er sich dazu äußern müßte, würde Bürden sich selbst als hartgesottener bezeichnen als den Chief Inspector. »Als er sie zu sich ins Arbeitszimmer gerufen hat«, sagte Wexford bedächtig, »waren die Jungs noch im Haus.« »Sagt sie jedenfalls.« »Sie waren höchstwahrscheinlich noch da, wenn er sie um Viertel vor acht zu sich bestellte, wie Sie es ausdrücken. Sie 299 können aber gar nicht mehr im Haus gewesen sein, als Devenish getötet wurde. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, er hätte sich von ihr dreimal das Messer reinrammen lassen, ohne sich zu mucksen? Vermutlich hat er gebrüllt und geschrien, daß die Wände gewackelt haben.« »Dann hat sie ihn eben nicht gleich getötet, nachdem er sie geschnitten hatte«, sagte Bürden, während er von Henri die Dessertkarte gereicht bekam.
»Nachdem die Jungs aus dem Haus und zu ihrer Mitfahrgelegenheit hinübergegangen waren, ist sie ins Arbeitszimmer zurück und hat es getan. Es muß nicht später als fünf nach acht gewesen sein, wodurch sie genug Zeit hatte, die Kleider zu waschen. Sie hatte vermutlich das rosa Kleid an, das wir bei den frischgewaschenen Sachen gefunden haben. Überlegen Sie mal, sie war in der idealen Lage, jemanden zu erstechen und ungeschoren davonzukommen, da sie die Möglichkeit hatte, die Blutflecken sofort loszuwerden. Und was das Messer anbelangt, das könnte sie irgendwo auf dem riesigen Grundstück vergraben haben. Nehmen Sie einen Nachtisch?« Wexford schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht«, sagte Bürden. Von Catherine Daley, Mutter eines elfjährigen Sohnes und einer zehnjährigen Tochter, erfuhr Karen Malahyde, daß sie an drei Tagen in der Woche ihre Kinder und die beiden Devenish-Jungen nach Sewingbury zur Schule fuhr und sie an zwei Tagen in der Woche wieder abholte. Fay Devenish chauffierte alle vier Kinder an zwei Tagen pro Woche zur Schule und holte sie an drei Tagen wieder ab. Am Morgen von Stephen Devenishs Tod war sie an der Reihe gewesen, die Kinder zur Schule zu fahren, und wie gewöhnlich waren Edward und Robert Devenish um etwa fünf nach acht ins Braemar House in der Ploughman's Lane gekommen. Vielleicht war es auch bereits auf zehn nach acht zugegangen, aber zu spät waren sie nie dran, dafür sorgte Fay schon, denn sie wußte, daß Catherine Daley um Viertel nach acht von zu Hause losfuhr. Die Fahrt dauerte zwanzig Minuten, und beide Mütter legten 300 Wert darauf, daß die Kinder noch reichlich Zeit hatten, bevor es um Viertel vor neun losging. »Wie fanden Sie die Jungen denn?« wollte Karen von ihr wissen. »Wie meinen Sie das?« »Haben sie sich ganz normal benommen? Waren sie aufgeregt? Verängstigt? Schweigsam?« »Also, ich weiß nicht. Edward war vielleicht ein bißchen still. Er ist aber sowieso der ruhigere von beiden. Robert kann manchmal ziemlich aufgedreht sein.« »War er gestern aufgedreht?« »Nein, nicht direkt. Sie waren eigentlich beide ganz normal.« Wexford rief Trevor Ferry an, den gefeuerten Geschäftsführer. Gestern morgen um acht, dem Tag von Stephen Devenishs Tod, habe er noch im Bett gelegen, sagte er. Ob das jemand bestätigen könne? Ja, seine Frau, sagte Ferry. Sonst noch jemand? Sonst sei niemand im Haus gewesen, meinte Ferry
ziemlich griesgrämig. Was Wexford eigentlich dächte? Daß sie ein Au-pairMädchen hätten? »Mr. Ferry, diese Angelegenheit ist weitaus ernster als die, mit der wir es bei unserem letzten Gespräch zu tun hatten. Falls Sie sich an die Namen der Personen erinnern, von denen Sie dachten, sie hätten Grund zum Streit mit Mr. Devenish, dann melden Sie sich bei mir, ja?« Wendy Brodrick hatte in Woodland Lodge übernachtet, und jetzt war Lynn Fancourt dort. Falls Fay sich über die Überwachung wunderte, sagte sie nichts. Sie war mit Sanchia im Spielzimmer, wo wieder ein Disney-Videofilm lief; die Kleine beachtete ihn jedoch gar nicht, sondern spielte mit einem Konvoi in Tarnfarbe bemalter Militärfahrzeuge, die einmal ihren Brüdern gehört haben mußten. Er zeigte ihr nicht das Original, sondern eine Fotokopie des Drohbriefes. Nein, gesehen hatte sie ihn noch nie, wußte jedoch Bescheid über diese Briefe. Stephen hatte eine ganze 301 Menge davon bekommen. Gezeigt hatte er sie ihr nie, immer nur beschrieben. »Ich dachte, er würde mich beschuldigen, sie geschickt zu haben«, sagte sie. »Das tat er aber nie. Sie waren auf Computer getippt, und er wußte, daß ich damit nicht umgehen kann. Er fand sie gut geschrieben, und ich nehme an, daß er mich für zu einfältig hielt, sie geschrieben zu haben. Er sagte immer, ich sei einfältig.« Sie wechselte das Thema. »Meine Söhne wohnen gerade eine Weile bei meiner Mutter. Wußten Sie das?« »Sie sagte, sie wolle sie einladen.« Fay schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung aus. Obwohl Sanchia das Video gar nicht anschaute, es seit Wexfords Eintreten keines Blickes gewürdigt hatte, stieß sie sofort lautes Protestgeschrei aus: »Anmachen, anmachen, anmachen!« War sie zuvor still und stumm gewesen, so hatte sie die verlorene Zeit inzwischen wettgemacht. Sie kam auf ihre Mutter zu und fing an, mit einem Spielzeugjeep auf sie einzuschlagen. »Na, na, ist ja gut«, sagte Fay, »aber du mußt auch hinschauen. Im Moment fühle ich mich außerstande, mit den Jungs fertig zu werden. Sie ist zwar auch ganz schön anstrengend, aber ich will trotzdem nicht von ihr getrennt sein.« »Sie müssen auch nicht mit ihnen fertig werden«, sagte Wexford. »Wo wohnt Ihre Mutter?«
»Meine Eltern. Mein Vater ist noch nicht gestorben. Dachten Sie, er wäre tot? Sie wohnen in Myringham.« Sie nannte ihm eine Adresse. »Werden Sie sie bitten, die beiden noch ein Weilchen zu behalten?« »Vielleicht. Wenn Sie es möchten. Ich will mit Edward und Robert sprechen, Mrs. Devenish. Haben Sie etwas dagegen?« Die Frage schien sie zu überraschen. Sie wirkte plötzlich niedergeschlagen. Als wäre sie durchschaut worden? Oder würde bald durchschaut werden? »Nein, ich glaube nicht.« Ihre Stimme klang matt. »Nein, ich habe nichts dagegen. Würde das denn etwas ändern?« 302 Da sie schon zugestimmt hatte, wollte er darauf nicht antworten. »Ich werde natürlich im Beisein Ihrer Mutter oder Ihres Vaters mit ihnen sprechen.« Als hätte sie ihn nicht gehört oder als wäre es ihr gleichgültig, sagte sie fast verträumt: »Ich habe ihnen nicht gesagt, was los war, bis - nun, bis letztes Jahr, glaube ich. Dann habe ich meiner Mutter erzählt, was Stephen mir antat, und wissen Sie, was sie gesagt hat? Sie sagte: >Du hast ihn bestimmt irgendwie provoziert.« Und mein Vater sagte: »Da ist doch nichts dabei. Früher hieß es, man darf seine Frau mit dem Stock schlagen, solange der nicht dicker ist als ein Daumen.« Dabei lachte er und sagte, das sei doch viel Lärm um nichts. Deshalb habe ich - bin ich in letzter Zeit etwas auf Distanz zu ihnen gegangen. Die Kinder lieben sie heiß und innig.« Er nickte. Manchmal gibt es eben absolut nichts zu sagen. Lynn kam aus der Küche und traf ihn am Eingang. »Sie hat keine Anrufe gemacht, Sir, und der Apparat wurde auf Anrufbeantworter geschaltet. Es kamen aber kaum Anrufe herein. Ich habe nachgesehen.« »Gut gemacht.« Wexfords Lob freute Lynn mehr, als sie selbst es für möglich gehalten hätte. Er ging ins Arbeitszimmer und setzte sich dort hin, um sich die morgendliche Szene noch einmal genau vorzustellen. Falls es stimmte, was Fay Devenish gesagt hatte, falls tatsächlich ein Mann um acht Uhr an die Haustür gekommen und von Stephen Devenish eingelassen worden war, ein Mann, der ein Messer mitgebracht hatte. In einer Aktentasche? In einer Einkaufstasche? Oder hatte er das Messer dort griffbereit vorgefunden? Und kannte Devenish ihn tatsächlich? Devenish war im Arbeitszimmer gewesen, dort, wo er soeben seine Frau verwundet hatte, und hatte einen ihm unbekannten Mann an die Haustür kommen sehen. Es war anzunehmen, daß er sich vor diesem Mann nicht fürchtete oder zumindest glaubte, sich nicht vor ihm fürchten zu müssen.
Sie gingen ins Arbeitszimmer, wo Devenish eine Viertelstunde vorher, vielleicht nur zehn Minuten vorher seine Frau 303 für das abscheuliche Verbrechen, keine Orangen gekauft zu haben, bestraft hatte, indem er ihr mit einem Messer die Handfläche aufgeschlitzt hatte. Mit welchem Messer? Mit demselben Messer? Und wo war es jetzt? Eins war sicher, der Dolch in der Scheide an der Wand war es nicht. Dessen Klinge war vom Rost zerfressen, wie er feststellte, als er ihn herunternahm. Was hatte sich in diesem Raum, dem Herrenzimmer, das Fay so haßte, dem ledermöblierten, schwertbehangenen Raum zwischen diesem Mann und Devenish zugetragen? Waren Drohungen laut geworden? Forderungen? Die Weigerung, sich zu fügen, zu zahlen, oder was? Dann kam das Messer zum Vorschein, und der Mann versetzte Devenish drei Stiche in die Brust. Mit Devenishs Blut besudelt - bestimmt von Devenishs Blut überströmt -, hatte er das Haus verlassen, das blutige Messer mitgenommen und war ungesehen die Straße hinuntergerannt. Wer würde so einer Geschichte Glauben schenken? Und doch - er hatte schon seltsamere Dinge gehört. Er durfte keine Zeit mehr verlieren, sondern mußte unverzüglich Fays Eltern aufsuchen und mit Edward und Robert Devenish sprechen. Der Anruf erreichte ihn am Autotelefon, während Donaldson ihn auf der Straße von Sewingbury nach Myringham Richtung Norden durch die Dörfer chauffierte. Die Verbindung war erst verrauscht und der Ton verzerrt, so daß er nicht ausmachen konnte, wer am Apparat war. Dann kam die Stimme von Trevor Ferry plötzlich klar und fast überlaut durch. »Mir ist da was eingefallen. Sie haben mich doch gefragt, ob ich noch jemanden weiß, der vielleicht sauer auf Devenish ist? Jawohl, es gibt jemanden.« »Tatsächlich?« »Ach, und bevor ich's vergesse, meine Frau ist nach Kingsmarkham aufs Revier gegangen, um denen zu sagen, daß ich an dem Morgen um acht zu Hause und noch im Bett war. Ein Alibi beschaffen, so heißt das bei Ihnen doch, stimmt's?« »Genau so heißt das bei uns, Mr. Ferry«, sagte Wexford und 303 fragte sich, wieso diese Leute so rasch bei der Hand waren und ob sie vielleicht etwas zu verbergen hatten. »Wer ist denn sauer auf ihn?« Wexfords Hoffnungen bekamen einen Dämpfer, als Ferry sagte: »Ich komme nicht mehr auf den Namen«, und erhielten neuen Auftrieb, als er fortfuhr:
»Aber ich kann Ihnen die Geschichte erzählen. Der Kerl sagte, Devenish wäre schuld am Tod seines Bruders.« »Ich komme bei Ihnen vorbei, wenn es geht. Morgen früh.« »Wie früh?« fragte Ferry. »Keine Sorge, bis dahin sind Sie schon auf. Nicht vor halb zehn.« Trevor Ferry verabschiedete sich und legte auf; er klang enttäuscht, daß Wexford nicht sofort angerast kam, um sich seine weltbewegenden Enthüllungen anzuhören. Doch hundert Sensationsgeschichten über Devenishs Fehlverhalten und die Provokationen verletzter Mitarbeiter und unzufriedener Kunden konnten nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß Fays Version der Geschehnisse unglaubwürdig blieb. Nur wenn sich ihre Geschichte irgendwie erhärten ließ, würde sie glaubwürdig, aber wodurch könnte sie erhärtet werden? Die dreistöckige Stadtvilla lag fast im Zentrum von Myringham. Allerdings war Fay Devenish hier wohl kaum aufgewachsen, denn das Haus war ganz neu gebaut. Alles daran sah neu aus, von der frisch gestrichenen weißen Fassade, den leuchtenden Farben und dem blitzenden Glas bis zu den jungen Pflänzchen, die sich in dem blumenkastenartigen Vorgärtchen zu wachsen bemühten. Selbst der Wagen in der Garagenauffahrt war neu, eine erst kürzlich zugelassene zweitürige Limousine im aktuellsten Pinkrosa. Hier gab es anscheinend nichts, was das Interesse von zehn-oder zwölfjährigen Jungen geweckt hätte. Vielleicht machten ihre Großeltern viele Ausflüge mit ihnen. Kaum war Wexford jedoch von Fay Devenishs Vater, einem dürren alten Männ 304 chen, dem sie sehr ähnlich sah, ins Haus gebeten worden, mußte er seine Meinung gründlich revidieren. Das gesamte Haus war ein Paradies für Jungen, und da dieses Arrangement wohl kaum spontan zusammengestellt worden war, nur weil er Mrs. Dodds zufällig gebeten hatte, ihre Enkel einzuladen, mußte er annehmen, daß es hier immer so aussah. Ein Raum, an dem sie auf dem Weg zur Treppe vorbeigingen, wurde vollständig von einer Spielzeugeisenbahn okkupiert. Die meisten eisenbahnbegeisterten Erwachsenen verstecken ihre Modelle im obersten Stockwerk, doch Mr. Dodds hatte seine unten aufgebaut. Auf Kaminsimsen standen ganze Armeen, Spielzeugmenagerien bevölkerten Fensterbänke, am Treppenabsatz gab es eine Videothek mit Monstern, Horrorfiguren und Weltraumgestalten und soweit Wexford durch die offenstehenden Türen erkennen konnte - in jedem Zimmer einen Fernseher.
»Und einen Videorecorder«, ergänzte Mr. Dodds. »Ohne Video hat man ja nicht viel davon, stimmt's? Wir sind erst kürzlich hier eingezogen, hatten früher ein größeres Haus, ich habe es aber trotzdem geschafft, alle meine Sachen hier unterzubringen. Wir haben vier Schlafzimmer, und das vierte ist ganz für meine Modellflugzeuge reserviert. Früher hatte ich auch noch Hunde und Katzen. Das geht hier zwar nicht, aber im Garten hinten haben wir fünfzehn Meerschweinchen, und die Wüstenspringmäuse dürfen bei uns im Schlafzimmer wohnen.« Die beiden jungen Devenishs saßen in dem Raum, den Mr. Dodds als Salon bezeichnete, vor jeweils einem Computer -»Ich habe sechs von den Dingern«, ließ sich ihr Großvater vernehmen -; Edward spielte Solitär auf seinem, Robert konzentrierte sich auf ein Fußballspiel, bei dem, nach den Farben der Spielertrikots zu schließen, Frankreich gerade im Wettstreit mit Brasilien lag. Mrs. Dodds, heute in Scharlachrot mit einem sehr kurzen Rock, saß gelassen daneben und las Vogue. Wexford grüßte sie und sagte hallo zu den Jungs, die ihn aber überhaupt nicht beachteten. 305 Wie war Fay mit diesen Zuständen zurechtgekommen? Hunde und Katzen, Meerschweinchen und Wüstenspringmäuse waren ja in Ordnung, aber Spielzeugsoldaten und Eisenbahnen? Vielleicht war es damals, als sie klein war und die Familie Dodds woanders gewohnt hatte, anders gewesen. Dodds hatte sich diesen jugendlichen Spielereien vielleicht erst seit seinem Eintritt in die zweite Kindheit zugewandt. Edward und Robert genossen das Ganze jedoch offensichtlich sehr, und er hatte nicht nur größte Mühe, sich bei den Jungs durchzusetzen, die Computer »auszuklinken« oder »vom Netz zu nehmen«, oder wie immer es in der Fachsprache heißen mochte, sondern auch bei Mr. und Mrs. Dodds. Mrs. Dodds sagte sogar, es sei schade, wo sie sich doch gerade so amüsierten. Wexford mußte an Fay denken, die ihm gesagt hatte, daß ihre Eltern ihre Klagen über Devenishs Verhalten als viel Lärm um nichts bezeichnet hatten. Um eins konnte man in diesem Raum froh sein - abgesehen von den Computern und dem enormen Fernsehgerät mit Videorecorder deutete nichts auf Mr. Dodds' Vorlieben hin. Keiner der beiden konnte von Lego, Godzilla oder Miniautobahn abgelenkt werden. Beide Großeltern beschlossen dazubleiben, während Wexford mit den Jungen redete, worüber er froh war. Später sollte niemand sagen können, er habe sich unangemessen verhalten. Der große, ältere Junge setzte sich in einen Sessel neben seine Großmutter, der jüngere auf ein Sofa neben seinen Großvater. Ihre Ähnlichkeit mit dem Toten
war direkt unheimlich. Edward hatte bereits das Gesicht eines jungen Lord Byron, attraktiv, wohlgeformt, mit dunklen Augen, kräftigen, vollen Lippen und entschlossenem Kinn. Als Robert seinen Großvater jedoch hilfesuchend ansah, entdeckte Wexford in der Neigung seines Kopfes und der geschwungenen Nase eine Spur von Fay, und irgendwie war dieser winzige Anflug von Ähnlichkeit, der sich wohl bald verflüchtigen würde, von allem am traurigsten... »Ich will von euch wissen, was sich gestern früh zugetragen hat«, begann er, »als ihr aufgestanden seid und zu Mrs. 306 Daley gegangen seid, um zur Schule zu fahren.« Er wartete, bis Edward genickt hatte und Robert es ihm mit einem eifrigen Nicken nachgetan hatte. »Also, ihr seid aufgestanden und seid zum Frühstück heruntergekommen. Was habt ihr gefrühstückt?« »Wir essen immer das gleiche«, sagte Edward. »Orangensaft und Cornflakes äh, Robert nimmt Shreddies - und Toast.« Er sah wie um Zustimmung heischend zwischen ihnen hin und her. »Mache ich es auch richtig?« lautete die unausgesprochene Frage. »Mein Dad bekommt - äh, ich meine, bekam immer ein warmes Frühstück. Eier und Speck, und vielleicht ein Würstchen und Röstbrot und manchmal Pilze.« Ein unmerklicher Schatten huschte über sein Gesicht. Wexford sah vielleicht zum ersten Mal, was mit der Redewendung »er machte ein langes Gesicht« wirklich gemeint war. »Weil Mum keine Orangen zum Saftmachen dahatte, wurde Dad fuchsteufelswild, obwohl sie gefrorenen hatte. Er hat sein Frühstück gegessen und ist ins Arbeitszimmer gegangen, er sagte, er würde jetzt ins Arbeitszimmer gehen, und ging auch rein.« Edward sah seinen Großvater an, und nachdem ihm dieser aufmunternd zugelächelt hatte, fuhr er auf eine Art fort, die dieses ältliche Kind vielleicht nicht erwartet hatte. »Dad rief Mum zu sich ins Arbeitszimmer, und ich - ich hab' die Küchentür zugemacht, ich Wexford sagte: »Sprich bitte weiter, Edward. Ich weiß, was du sagen willst. Es ist schon in Ordnung, du kannst weitererzählen.« Das Kind war verzweifelt. Wexford empfand großes Mitgefühl für ihn, wie er es bei seinen eigenen Enkelkindern nie verspürt hatte, nie hatte verspüren müssen. Robert war schließlich derjenige, der sich einschaltete und seinen Bruder erlöste. Fast barsch sagte er: »Der wollte sie wieder verprügeln. Dad, mein' ich. Immer haut er sie rum und tritt sie.«
Seine Großmutter stieß einen spitzen Schrei aus. »Robert, du böser Junge, wie kannst du nur solche Lügen erzählen!« 307 Robert zuckte die Acheln. Er sah plötzlich Jahrzehnte älter aus, ein altes Männchen wie sein Großvater. »Ich bin froh, daß er tot ist«, bemerkte er rundheraus. Der Bemerkung folgte erneutes Kreischen. Mr. Dodds schüttelte sorgenvoll sein Haupt. »In dem Alter haben sie mächtig viel Phantasie«, sagte er. Wexford mischte sich ein: »Vielleicht lassen wir Edward jetzt weitererzählen. Nur eins, Edward. Hat dein Vater ein Messer aus dem Block in der Küche mitgenommen?« »Glaub' ich nicht. Nein, hat er nicht.« »Während deine Mutter und dein Vater zusammen im Arbeitszimmer waren, hast du da einen der beiden schreien hören?« Hatte er es in Roberts Augen gerade besorgt aufblitzen sehen? Edward sagte: »Nein. Nichts.« Dann sagte Robert: »Ich hab' nichts gehört.« »Erzähle bitte weiter, Edward.« »Mum kam wieder rein«, sagte der Junge nun etwas selbstsicherer, »und hatte um ihre Hand so ein Handtuch rumgewickelt. Das war aus der Toilette nebenan, ein ziemlich großes, aber das Blut kam trotzdem durch. Er hatte sie geschnitten. Du mußt nicht so ein Gesicht machen, Grandma. Ich erzähle keine Lügen, und du weißt das ganz genau. Du willst bloß nicht die Wahrheit hören. Meinst du, uns hat's gefallen?« Er wartete Mrs. Dodds' Antwort gar nicht ab. »Sie nahm ein Stück Stoff und band es sich rum. Dann sagte sie zu mir und zu Robert, es wäre Zeit, zu Mrs. Daley zu gehen. Mrs. Daley fährt uns in die Schule, wenn Mum nicht dran ist«, erklärte er allen, die es vielleicht nicht wußten. »Wir sind raus in den Eingang, und in dem Moment klingelte es an der Haustür. Ich hab' aufgemacht, und da war jemand, der Dad sprechen wollte, ein Mann. Ich sagte, er soll ins Arbeitszimmer gehen, und das hat er gemacht, und dann gingen Robert und ich zu Mrs. Daley rüber.« »Genau«, sagte Robert. 307
22
Die beiden Jungen starrten ihn an, dann wandte Robert den Blick ab. Wenn man wiederholt mit ansehen muß, wie der eigene Vater die eigene Mutter schlägt, wird man die eigene Frau dann später auch schlagen? Solche Grausamkeiten, heißt es, setzen sich von einer Generation zur nächsten fort.
Hatte Stephen Devenishs Vater seine Mutter geschlagen? Wexford schob diese häßlichen Gedanken beiseite - es war sinnlos, weiter darüber nachzugrübeln und fragte Edward, ob er den Mann, den er ins Haus gelassen hatte, beschreiben könne. Der Junge runzelte nachdenklich die Stirn und sah aus, als ob er sich stark konzentrierte. »Es war eben so ein Mann«, sagte er. »Nicht so groß wie Dad. Er hatte Jeans und Jackett und ein Hemd an. Und eine Krawatte.« »Er hatte eine Aktentasche«, sagte Robert. »Der Dolch war in der Aktentasche.« Sein Bruder fuhr unwillig herum. »Woher weißt du das denn? Durch Leder kann man doch nicht durchgucken. Du weißt doch gar nicht, was der in der Aktentasche hatte.« »Könntest du vielleicht schätzen, wie alt er war?« Wexford hielt es für unwahrscheinlich, fast hoffnungslos. Für ein zwölfjähriges Kind ist jeder über fünfundzwanzigjährige Mensch alt. Doch Edward sagte prompt: »Ungefähr so alt wie Dad.« »Ich nehme an, seine Augenfarbe hast du nicht gesehen? Oder seine Haarfarbe?« Robert fing an zu lachen, hampelte auf seinem Sitz herum und stieß mit den Füßen in die Luft. »Seine Haare waren blau, und seine Augen waren rot!« 308 »Blödmann«, sagte Edward. »Bei dir glaubt man nicht, daß du schon zehn bist.« Plötzlich sehr erwachsen, sagte er zu Wexford: »An seine Haare erinnere ich mich nicht, und seine Augen hab' ich nicht bemerkt. Ich mein', ich wußte ja nicht, daß ich es mir merken soll. Er war eben ein Mann, der Dad sprechen wollte.« Auf den Gedanken, ihre Tochter könnte vielleicht des Mordes an ihrem Mann verdächtigt werden, waren Mr. oder Mrs. Dodds offenbar gar nicht gekommen und zeigten daher auch keinerlei Anzeichen von Erleichterung. Statt dessen wirkten sie ziemlich konfus. Wer hätte noch vorgestern gedacht, schienen sie sich zu sagen, daß das ganze Leben so schnell und ohne Vorwarnung auf den Kopf gestellt werden könnte? Mrs. Dodds sah sich auf der Suche nach Ablenkung nervös nach etwas um, womit sie die Stimmung etwas auflockern und den Ernst der Lage abschwächen könnte, und kam auf eine recht banale Idee, auf das universelle, landläufige Allheilmittel, doch sie bot es mit einem triumphierenden Tonfall an: »Wie wär's denn mit einem Täßchen Tee?«
Und Wexford meinte: »Bitte jetzt noch nicht, Mrs. Dodds, wenn es Ihnen recht ist. Ich muß Edward noch ein paar wichtige Fragen stellen.« Er wandte sich dem Jungen zu. »Deine Mutter war also draußen in der Küche, als der Mann ins Arbeitszimmer ging, um mit deinem Vater zu sprechen?« »Ich glaub' schon. Wir sind ja dann weg. Kann sein, daß sie in den Garten ist, aber ich glaub' eher nicht. Sie wollte, daß ihre Hand endlich aufhört zu bluten.« »Wo war Sanchia?« »Bei Mum in der Küche. Mum muß ihr beim Essen immer helfen, weil sie sonst alles auf den Boden schmeißt.« »Ist dieser Mann mit dem Auto hergefahren?« Robert fing wieder an zu lachen. »Der ist in einem Superschnellzug angerast. Mit hundertfünfzig Sachen ist er die Auffahrt hochgesaust.« Das Gelächter des Kindes klang hysterisch, nicht heiter und fröhlich, nicht einmal belustigt. Es war das gackernde 309 Lachen eines Papageis oder Hirtenmainas. Er öffnete den Mund, jedoch ohne zu lächeln, und der Ton kam knatternd heraus. Beunruhigt dachte Wexford an Jane Andrews' Vermutung, alle drei Kinder müßten durch das, was sie zu Hause mit angesehen und gehört hatten, geschädigt sein - nicht nur das kleine Mädchen. »Edward?« hakte er nach. »Er muß zu Fuß gekommen sein«, antwortete der Junge. »Ich hab' jedenfalls kein Auto gesehen. Oder vielleicht hat er es an der Straße stehenlassen, das hab' ich nicht gesehen. Manchmal fahren die Leute nicht bis ans Haus, weil sie nicht wissen, ob sie oben parken können.« »Was hat er zu dir gesagt?« Der Junge dachte nach. »So ungefähr: >Ich möchte gern Mr. Devenish sprechen« oder: >Ich möchte deinen Vater sprechen-, eins von beiden, ich weiß auch nicht mehr.« »Und aus dem Arbeitszimmer hast du nichts gehört, nachdem er hineingegangen war?« »Hab' ich Ihnen doch schon gesagt. Ich sagte, er soll ins Arbeitszimmer gehen, und dann sind wir weg, mein Bruder und ich. Ich hab' die Haustür hinter uns zugemacht, und dann sind wir rüber zu Mrs. Daley.« »Daley, Waley, Scaley«, sang Robert, steckte plötzlich wie ein Baby den Finger in den Mund und jammerte: »Können wir jetzt gehen? Ich will jetzt mit den Flugzeugen spielen, Gran-dad.« »Ihr könnt gehen«, sagte Wexford.
Als er aufs Revier zurückkam, wartete Bürden bereits auf ihn, saß in seinem, Wexfords, Büro, an seinem, Wexfords, Schreibtisch, trank Tee und verspeiste fein säuberlich mit Hilfe einer Papierserviette - ein Schokoladeneclair. »Ich habe heute nicht zu Mittag gegessen. Sie werden es nicht glauben, aber Smith, dieser Schurke, dieser Monty Smith behauptet, jemand hätte die ganze Sache mit dem Bombenwerfer auf Camcorder aufgenommen.« 310 »Ach ja, die Mitchell - wo wohnt die eigentlich? In der Oberon Road? Neben Orbe? Irgendwo in der Gegend - die hat einen Camcorder«, bestätigte Wexford. »Inzwischen nicht mehr. Sie behauptet, sie hätte ihn verkauft, und ich kann ihr nicht das Gegenteil beweisen. Jedenfalls behauptet sie, sie wäre mitten in der Menge draußen gewesen und hätte gar nicht filmen können, und sie hat recht. Monty Smith sagt, er hätte nicht erkannt, wer die ganze Chose gefilmt hat. Colin Crowne hält stocksteif an seiner Behauptung fest, er hätte Flays Benzinbombe in einen Bauschuttcontainer vor der Oberon Road Nummer 2 1 gesteckt -und so ein Container stand tatsächlich dort. Von den Maurern, die den Stapel Ziegelsteine dort liegengelassen hatten, damit die Kingsmarkhamer Sechs sie bei Orbe durch die Scheiben schmeißen konnten. Wenn es stimmt, was Crowne sagt, hat jemand das Ding dort gefunden und eingesteckt.« »Ich bezweifle, daß Crowne was weggibt, geschweige denn wegwirft, wenn er noch Geld dafür kriegen könnte. Ist noch Tee da? Nein? Okay, ich gebe durch, daß sie welchen raufschicken sollen.« Wexford setzte sich und tätigte seinen Anruf. »Wir haben uns in puncto Fay Devenish geirrt«, sagte er. »Hier liegt der seltene Fall vor, in dem der unbekannte Täter tatsächlich an die Tür kam.« Er erzählte Bürden, was sich abgespielt hatte. »Komisch, aber als Fay mir erzählte, es sei ein Mann an der Tür gewesen und sie habe eine Männerstimme gehört, fand ich es wenig glaubwürdig. Da hat sie sich aber was Abgedroschenes überlegt, dachte ich. »Nein, ich war's nicht, ein geheimnisvoller Fremder an der Tür war's.< Ich war mir so sicher, daß wir dafür keine Bestätigung bekommen würden, doch sie kam.« »Und Sie haben die beiden Jungs von ihrer Mutter getrennt, auf daß sie ihnen nicht sage, sie möchten für sie lügen.« Wexford grinste. Ein unerwartetes Glücksgefühl durchströmte ihn. »Ihre Ausdrucksweise gefällt mir, Mike. Es muß daran liegen, daß Sie jetzt Mitglied bei Mensa sind. Sicher, das war der Grund, sie voneinander zu trennen. Ich bin sehr froh
311 darüber. Robert hat es ebenfalls bestätigt. Er sagte, der Mann hätte eine Aktentasche bei sich gehabt.« »In der sich die Tatwaffe und vielleicht ein Regenmantel befanden?« »Vermutlich. Was ich also für Zeitverschwendung gehalten habe, nämlich zu versuchen, herauszufinden, wer diese Drohbriefe geschickt hat und was für eine Eröffnung Trevor Ferry für uns bereithält, ist jetzt tatsächlich wichtig geworden. Jemand hatte etwas gegen Devenish, und dieser Jemand führte seinen Racheakt oder was es sonst war aus.« »Na, dann los, fahren wir zu ihm. Ich komme mit.« »Ich glaube ja nicht, daß da was dran ist«, sagte Ferry. Dieser Satz, so oder anders formuliert, ließ Wexford jedesmal aufhorchen. Er wurde offenbar immer dann benutzt, wenn das Gegenteil zutraf und ziemlich viel »dran« war. Weit weniger scharf war er auf Berichte, die als sensationell oder haarsträubend angepriesen wurden oder nach Einschätzung ihres Erzählers zu unverzüglichen Festnahmen führen würden. Er sagte das, was er unter diesen Umständen immer sagte: »Das werden wir dann schon beurteilen können.« Es war nachmittags um drei, und Gillian Ferry hatte sie hereingelassen. Als Bürden fragte, ob sie heute früher von der Arbeit nach Hause gekommen sei, erwiderte sie, an ihrer Schule hätten vor zwei Tagen die Ferien begonnen. Sie war eine dünne, drahtige Person mit früh gealtertem Gesicht und silbrigen Strähnen im blonden Haar und wirkte bis auf die großen, wütend dreinblickenden grünen Augen in jeder Hinsicht unscheinbar. Sobald sie sie ins Wohnzimmer geführt hatte, wo ihr Mann sich wieder an den kulinarischen Banalitäten im Fernsehen ergötzte, ging sie, wobei sie die Tür etwas zu heftig hinter sich zumachte. Bei dem Knall zuckte Ferry zusammen. Er schüttelte sich, als käme er gerade wieder zu sich und kehrte aus den Gefilden bolognesischer Küchen und toskanischer Festgelage zurück in die reale Welt. »Sie wollen wissen, was mit dem Kerl ist, 311 mit dem Steve Devenish die Rauferei hatte? Das kann ich Ihnen sagen. Es war ungefähr vor zwei Jahren. Nein, es ist länger her, ich war damals ja noch dort, es war ungefähr zu der Zeit, als Steve Devenish die enorme Gehaltserhöhung bekam. Ich glaub' allerdings nicht, daß jemand je von ihm gehört hätte, wenn sie in der Zeitung nicht den Artikel über ihn mit den ganzen Fotos gebracht hätten.«
»Im Kingsmarkham Courier, meinen Sie?« »Im Lokalblatt, ja. Einen dicken Fisch nannten sie ihn und brachten Bilder von ihm und dem Haus, sogar eins von seiner Frau und dem Baby - das war doch das Baby, das vermißt wurde, stimmt's? Also, ungefähr zu der Zeit war es, daß dieser Bursche mit Seaward nach Amsterdam flog - ich glaub', es war Amsterdam -, bloß als er nach Gatwick kam, sagte man ihm und ein paar anderen, daß der Flug überbucht war. Wir hatten mehr Passagiere als Sitzplätze. Es war der Sechzehn-Zehn-Flug, also zehn nach vier Uhr nachmittags. So was passiert nun nicht oft, jedenfalls nicht bei Seaward, aber manchmal eben doch, besonders auf den beliebten Strecken. Die Sache mit Amsterdam also, Schiphol, meine ich - ist, daß man dort billige Flüge in die USA kriegen kann, ich meine billigere. Das hatte der Bursche nun aber nicht vor, der wollte auf ein Wochenende nach Amsterdam und die Sau rauslassen oder was weiß ich, das hatte er jedenfalls vor, bloß daß wir überbucht hatten und jemand dran glauben mußte, Sie verstehen schon, was ich meine.« Ferry sah die beiden Polizeibeamten erwartungsvoll an, offensichtlich rechnete er mit Zustimmung. Wexford gab sie ihm mit einem aufmunternden Nicken. »Wir fingen also an, den Passagieren unsere Angebote zu machen«, fuhr er fort, »Sie wissen schon, so in der Art: Sie verzichten auf Ihren Platz auf diesem Flug und nehmen einen späteren - sagen wir, in drei Stunden -, und wir spendieren dafür ein Dinner im Holiday Inn und eine Flasche Wein. Ein Passagier willigte ein, also blieben noch zwei übrig. Wir haben natürlich den Einsatz erhöht, und der andere Bursche, also 312 nicht dieser, akzeptierte. Dann gab's aber Probleme, denn irgendwie war es so gelaufen - reine Ineffizienz vermutlich -, daß wir für den Sitzplatz, den dieser Bursche für seinen hielt, zwei Tickets ausgestellt hatten. Ich wurde dazugebeten - ich war damals natürlich noch Geschäftsführer bei Seaward -, um mit dem Burschen zu reden, sozusagen unter uns, nahm ihn in ein Büro mit und spendierte ihm einen Drink. Alle anderen waren schon an Bord und startklar. Ich wußte, daß es Ärger geben würde, denn die Flugmeilen wollte er nicht, also hab' ich ihm auf eigene Kappe hundertfünfzig Pfund angeboten, wenn er die spätere Maschine nimmt. Na ja, schließlich hat er akzeptiert, er sagte, das Bargeld nimmt er und läßt sich den Flugpreis zurückerstatten, und ich habe eingewilligt. Er ist dann überhaupt nicht geflogen, sondern hat das Geld hergenommen, um sich im Privatwagen von einem
Chauffeur nach Harwich fahren zu lassen und dann mit der Fähre nach Hoek van Holland überzusetzen.« »Wieso ist er nicht selber gefahren?« fragte Bürden. Es tat nichts zur Sache, doch er wollte es wissen. »Ihm gefiel der Luxus. So drückte er es aus: Luxus. Anscheinend hatte er sich noch nie im Leben im Taxi herumchauffieren lassen, nicht mal in einem blöden Minitaxi, sagte er jedenfalls. Er hat also seinen Wagen und seinen Chauffeur gekriegt, kam aber nie in Hoek an. Der Wagen geriet nicht weit vom Autobahnkreuz Dartford auf der M25 in eine Karambolage, und er und der Fahrer kamen beide ums Leben.« Der Gesichtsausdruck, mit dem Ferry die beiden ansah, war lebhafter als gewöhnlich; offensichtlich war er stolz auf seine dramatische Erzählung. »Was hat das mit der Drohung oder Gefahr für Devenish zu tun?« fragte Wexford. »Darauf komme ich schon noch«, erwiderte Ferry mit dem Talent des Geschichtenerzählers, Spannung zu erzeugen. Er sah viel munterer aus, weniger wie ein Jammerlappen, und sein graues Gesicht hatte Farbe bekommen. »Dieser Bursche /
313 hatte eine Schwester, und die war - oder ist vermutlich immer noch - mit einem ganz schön aggressiven Kerl verheiratet. Wohnt hier in der Gegend, der Kerl.« Wexford war zuversichtlich, alles recht gut auseinanderhalten zu können, vorausgesetzt Ferry kategorisierte seine Hauptpersonen konsequent als »Bursche« und »Kerl«. »Erzählen Sie weiter«, sagte er. »Also, dieser Kerl kannte die Geschichte. Anscheinend hatte der Bursche seine Schwester von Gatwick aus angerufen und ihr die ganze Story erzählt. Also, der war hin und weg, völlig von den Socken war der, daß er das Geld von der Fluggesellschaft eingestrichen hatte. Ich nehme an, er hat es so hingestellt, als hätte er einen besonderen Deal gelandet.« Ferry machte eine Pause, als seine Frau auf einem Tablett drei Henkelbecher mit Tee hereinbrachte. Die Milch wurde im Viertelliterkarton serviert und der Zucker in einer halbleeren Packung. Löffel gab es nicht, und so war es gerade recht, daß keiner Zucker nahm. Gillian Ferry ging ebenso schnell hinaus, wie sie hereingekommen war. Ihr Mann verteilte die Becher, sah sich vergeblich nach einer Abstellmöglichkeit um und gab achselzuckend auf. »Fahren Sie bitte fort, Mr. Ferry«, sagte Bürden.
»Okay. Wo war ich? Ach ja. Also, Sie verstehen, mit Seaward hatte das nichts zu tun, was der Bursche mit seinem Geld machen wollte. Er beschloß, es für einen Wagen mit Privatchauffeur auszugeben, der Wagen hatte einen Unfall, und er ist umgekommen. Daran war aber Seaward doch nicht schuld. Dann könnte man ja auch behaupten, die Fluggesellschaft hätte den Tod des Fahrers verursacht. Dieser Kerl aber, der Schwager und seine Frau, die Schwester, die sahen das ganz anders. Irgendwie haben sie sich Stephen Devenish rausgesucht und ihm die Sache in die Schuhe geschoben.« »Weil Mr. Devenish - könnte man sagen - der oberste Boß von Seaward war?« fragte Wexford. »Genau. Der Kerl sah es so, ich nehme jedenfalls an, daß er es so gesehen hat falls so ein Primitivling überhaupt was 314 sieht: Steve Devenish hat die Firmenpolitik festgelegt - was nur zum Teil stimmte -, und die Firmenpolitik verlangte, daß Flüge überbucht werden sollten und Leute >bestochen<, so nannte er es, also Leute wie sein Schwager in Versuchung geführt würden, indem man ihnen große Geldsummen bot, die ihnen zu Kopfe stiegen und mit denen sie nicht umgehen konnten.« »Das ist ja ein bißchen sehr weit hergeholt, oder?« sagte Bürden. »Völlig daneben ist das«, sagte Ferry. »Aber der Kerl kam zunächst ins Büro von Seaward in Kingsmarkham, wo Steve zufällig gerade war. Er machte einen Riesenaufstand und drohte mit einer Klage. Steve winkte ab und versuchte sogar, den Kerl zu ignorieren, als der sich gewaltsam Zutritt in sein Büro in Gatwick verschaffte. Damals sagte er, er würde die Polizei holen.« »Und - hat er es getan?« »Soviel ich weiß, nein. War auch nicht nötig, denn Steve warf ihn selber raus. War ein kräftiger Bursche, der Steve, wie Sie ja wohl wissen. Dann bekam er einen Brief vom Anwalt dieses Kerls, den Namen weiß ich nicht, in dem stand, daß die Frau von dem Kerl Anspruch auf ein stattliches Schmerzensgeld hätte. Das war natürlich Quatsch. Seawards Firmenanwälte haben ihm schnell den Kopf zurechtgerückt.« Ferry nahm einen großen Schluck Tee und stellte den Henkelbecher ab; auf dem Beistelltischchen entstand ein kreisrunder nasser Fleck. »Als dann aber die Todesdrohungen eintrudelten«, sagte er, »hätte Steve Sie auf jeden Fall verständigen sollen, hat es dann irgendwie aber doch nicht getan. Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, er wollte nicht noch mehr Ärger.« »Was meinen Sie mit Ärger, Mr. Ferry?«
»Na ja, immerhin hat er den Kerl ja aus seinem Büro geschmissen, oder? Ich meine, buchstäblich rausgeschmissen. Und wenn ein großer, kräftiger Typ wie Steve, sozusagen in der Blüte seiner Jahre, so ein mickriges Kerlchen hochhebt /
315 und ihn mit dem Rücken auf den Marmorfußboden schmeißt, tut er ihm damit ganz schön weh, wenn er nicht sogar bleibenden Schaden anrichtet. Der Kerl behauptete, er hätte ihm eine Rippe gebrochen. Weiß ich nicht, ich war nicht dabei. Aber deswegen wollte Steve nicht, daß Ihre Leute gerufen werden.« Vielleicht war dies eine Variation von Rachel Holmes' Geschichte, dachte Wexford. Jemand wird angegriffen, egal ob körperlich oder verbal, jedenfalls unrechtmäßigerweise, verletzt bei der Verteidigung den Angreifer und verschweigt aus Angst vor Konsequenzen den ursprünglichen Angriff oder versucht, ihn zu verschweigen. Dafür sollte man eigentlich einen Namen erfinden - wie wäre es mit »Verteidigung ä la Kingsmarkham«? Er sah zu Ferry hinüber und nickte, gerade als Gillian Ferry wieder ins Zimmer kam. Sie stieß die Tür mit dem Fuß auf, weil sie die Arme voll mit Büchern und Papieren hatte - Schularbeiten, die sie während der Ferien korrigieren mußte? -, doch kam es Wexford so vor, als träte sie aus Wut so heftig dagegen. »Sie sagten was von Todesdrohungen«, sagte er. »Meinen Sie Briefe?« Der Tee war sehr dünn, schwach und lauwarm, und er wünschte, es gäbe eine Topfpflanze in der Nähe, in die er die Tasse heimlich auskippen könnte, sah aber keine. Hier gedieh kein frisches Grün. »Haben Sie welche gesehen?« Ferry schüttelte den Kopf. »Steve hat mir davon erzählt. Das war kurz bevor er mir mitteilte, Seaward würde >mich freistellen«. Netter Ausdruck, nicht? So was nennt man einen Eupho-äh... Euphorismus.« »Euphemismus.« Gillian Ferry sprach es in einem schneidenden Oberlehrerinnenton aus, der ziemlich viel über ihr Verhältnis zu ihrem Mann aussagte, fand Wexford. Sie hatte das Gefühl, intellektuell unter ihrem Stand geheiratet zu haben, und das wurmte sie immer noch. Hatte sie Ferry nur anziehend gefunden, weil er einmal gut betucht und erfolgreich gewesen war? Und hatte sie, nachdem ihr das nicht genügt hatte, seither ständig versucht, an ihm herumzuerzie 315 hen? »Und Sie behaupten, der Schwager habe diese Briefe geschrieben?« fragte er Ferry. »Wer denn sonst? Vielleicht hat auch seine Frau sie geschrieben. Der Kerl konnte ja kaum seinen Namen schreiben, habe ich gehört. Steve lachte nur
darüber. Na ja, ob er später auch nur darüber gelacht hat, weiß ich nicht. Ich war ja schließlich nicht dabei, oder? Ich war ja freigestellt worden. Der Kerl hat auch immer wieder angerufen, bis Steve eine Geheimnummer beantragte und sich aus dem Telefonbuch streichen ließ.« Wexford fand es recht aufschlußreich, daß von allen Leuten, mit denen er über Stephen Devenish gesprochen hatte, Trevor Ferry der einzige war, der ihn bei der Kurzform seines Vornamens nannte. Niemand sonst nannte ihn anscheinend Steve. Und doch hatte dieser Mann, obwohl er etwas anderes vorgab, besonderen Grund, Devenish gegenüber Verbitterung zu empfinden, und war bestimmt nie auf vertrautem Fuß mit ihm gestanden. Es fiel Wexford schwer zu glauben, daß Ferry keinen Groll gegen ihn hegte. »Sie nennen ihn immer >den Kerl««, sagte er. »Wie heißt er denn?« »Ach, hab' ich das nicht gesagt? Meeks heißt er, Carl Meeks.« Zur Überraschung bestand eigentlich kein besonderer Grund, und doch war Wexford überrascht. Er erinnerte sich an Meeks noch von den verschiedenen Störaktionen, die im Muriel Campden Estate stattgefunden hatten: ein relativ kleiner, dicker Mann mit rundem Gesicht und schlaffen Lippen, dessen Frau zu jenen extrem fettleibigen Frauen gehörte, die man hierzulande bis vor kurzem nur recht selten zu Gesicht bekommen hatte. Bürden hatte die beiden im Rahmen der Suche nach Hennessys Mörder vernommen, und Wexford erinnerte sich, daß Bürden ihm sinngemäß zugemurmelt hatte: »Idioten wie ihr bevölkert die Welt mit potthäßlichen Kindern.« Aber aggressiv? Gewalttätig? Daß dieser Mann und diese Frau in der Lage wären, den stilistisch ausgefeilten Brief zu verfassen, den er bei Stephen De 316 venish in der Schreibtischschublade gefunden hatte, schien ihm fraglich. Sie verfügten wohl kaum über die dabei verwendeten sprachlichen Mittel. »Wann genau sind Sie von Seaward weggegangen, Mr. Ferry?« »'Weggegangen«, das gefällt mir.« Ferry stieß ein freudloses Lachen aus. »Das ist fast so gut wie 'freigestellt«. Weg ging ich im Juli vor genau zwei Jahren, hab' mich abgemüht, die Hypothek für mein Haus zu berappen, das zufälligerweise in der Orchard Road in Kingsmarkham lag - hübsche Ecke, falls Sie sie kennen -, aber vergebens, hab' das Haus für viel weniger verkauft, als ich damals dafür zahlen mußte, und dieses Dreckloch hier gekauft.« »Sie wissen also nicht, ob er ab September vor zwei Jahren weiter bedroht wurde?« »Nein, und er kann's Ihnen nicht mehr sagen, was? Vielleicht weiß es seine Witwe.«
Zumindest wissen wir, daß er erst kürzlich noch einen Brief bekam, dachte Wexford. Überrascht hörte er Bürden nach dem Namen der Privatschule fragen, in der Gillian Ferry unterrichtete. »Francis Roscommon in Sewingbury.« »Ganz schön weit«, meinte Bürden. Er dachte an die mit einer Plastikplane bedeckten Fahrräder im Durchgang vor der Tür. »Haben Sie kein Auto mehr?« »Sie fährt mit dem Bus«, sagte Ferry knapp. Fay führte ihn in den Garten hinaus. Es war einer der seltenen Vormittage in jenem kühlen, feuchten Sommer, an denen man ein wenig draußen sitzen konnte. Wenn die Sonne herauskam, war es fast zu heiß, und wenn die Wolken erneut aufzogen und sie verdeckten, war es zu kalt. Auf der breitesten Stelle der Rasenfläche standen unter einem Maulbeerbaum drei Korbstühle um einen Korbtisch gruppiert, so daß es aussah, als wäre er erwartet worden. Doch dann sagte Fay, es kämen immer wieder Nachbarn vorbei. Sie machte ihnen Tee, 317 und sie kondolierten ihr, obwohl ihr nicht ganz klar war, wieviel Mitgefühl sie ihr gegenüber für angebracht hielten, da die meisten von ihnen im Rahmen des Hurt-Watch-Projekts von Polizei und Sozialamt über die Situation mit ihrem Mann informiert worden waren. Für die kleine Sanchia war im Gras eine Decke ausgebreitet, auf der ein Glas mit einer orangengelben Flüssigkeit stand (den Resten nach zu schließen), das sie natürlich umgestoßen hatte, eine geöffnete Coladose, eine Packung Vanillecremeplätzchen und eine weitere mit Schokosplitterplätzchen, dazu jede Menge Spielsachen. Ein fröhliches, behagliches Durcheinander, das Devenish - da war sich Wexford sicher -niemals geduldet hätte. Als er mit Fay durchs Haus gegangen war, hatte er festgestellt, daß es dort bereits drei Tage nach dem Tod des Mannes weniger makellos, weniger aufgeräumt aussah. Um halb elf Uhr morgens standen auf dem Tisch im Wohnzimmer immer noch zwei Gläser mit Weinresten, aus denen sicher am Vorabend getrunken worden war und die über Nacht dort stehengeblieben waren. »Jane ist bis heute abend in Brighton«, erklärte ihm Fay. »Sie war gestern abend hier, und wir haben - ach, fast eine ganze Flasche Wein zusammen getrunken. Ich werde allmählich schlampig, ich habe noch nicht mal aufgeräumt.« Sie fand es immer noch nötig, sich für die Unordnung zu entschuldigen. »Ich weiß gar nicht, was ich ohne Jane täte. Ich mußte so lange ohne sie auskommen.«
Sie sah schon viel besser aus. Es war seltsam, und jemand, der nicht wußte, was in diesem Haus vor sich gegangen war, hätte ihre Veränderung ungeheuerlich gefunden. Ihre Augen strahlten heller, sie hatte eine gute Gesichtsfarbe, sah sogar jünger aus. Er konnte sich denken, daß die Kleider, die sie anhatte, ein kurzer Jeansrock und ein ziemlich tief ausgeschnittenes Oberteil, vor langer Zeit verbannt, aber nie weggeworfen worden waren und nun dankbar hervorgeholt wurden, nachdem der Zensor und brutale Richter fort war. »Heute kommen meine beiden Jungs wieder nach Hause«, 318 sagte sie. »Sie haben mir gefehlt. Es ist schön, sie wiederzuhaben.« »Sie gehen beide in die gleiche Schule, sagten Sie doch, ja?« »Richtig. In Sewingbury. Edward hört nächstes Jahr dort auf und geht nach Oundle.« »Lassen Sie sich von ihnen aber nicht müde machen.« »Ich glaube nicht, daß ich müde werde so wie früher. Ich muß nur die ganze Zeit weinen. Ich fange einfach an zu weinen - ohne Grund.« »Ich glaube, Sie haben jeden Grund dazu«, sagte er und fügte hinzu: »Mrs. Devenish, erinnern Sie sich an die Drohungen, die ein gewisser Carl Meeks gegen Ihren Mann vorgebracht hat? Erinnern Sie sich, daß er erst ins SeawardBüro in Kingsmarkham kam und dann nach Gatwick? Und daß Ihr Mann ihn hinauswarf und ihn dabei angeblich verletzte?« »Im Verletzen von Leuten war er groß«, sagte sie, aber ohne Bitterkeit. »Erinnern Sie sich noch an diese Zwischenfälle?« »Sehr viel hat er mir nicht darüber gesagt. Über seine Arbeit sprach er nicht viel, von diesem Meeks hat er mir aber erzählt. Er war stolz darauf, ihm weh getan zu haben.« »Glauben Sie, Carl Meeks könnte diese Briefe geschickt haben? Darin wurde Ihrem Mann mit dem Tod gedroht, nicht wahr?« »Er sagte, er würde ihn umbringen, ja.« Sie sagte es verträumt, fast als sehnte sie ein lang erwünschtes Ereignis herbei. Dann fügte sie in einem ganz anderen Ton hinzu: »Ich habe ihn einmal so geliebt. Als wir verlobt waren, war er so zärtlich und aufmerksam. Auf unserer Hochzeitsreise hat er mich geschlagen, aber das lag daran, daß er eifersüchtig war, weil ich mich mit einem Mann im Hotel unterhalten hatte, und danach tat es ihm furchtbar leid. Nur hat er auch schon damals behauptet, ich hätte ihn dazu gezwungen, ich wäre schuld daran, weil ich - weil ich herumgeflirtet hätte.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Als sie einen leisen Ton zwischen Schlucken und Schluchzen ausstieß, kam Sanchia 319 zu ihr herüber und hielt ihr zum Trost die Kekspackung entgegen. »Mummy, nicht weinen.« »Mummy weint nicht mehr, Liebling«, sagte Fay, und es stimmte - sie hatte aufgehört zu weinen. Sie legte die Arme um die Kleine und küßte sie auf den Kopf. »Was habe ich doch für ein Glück«, sagte sie. »Schauen Sie doch, was ich alles habe, ich habe meine wunderbaren Kinder, ich bin gesund, ich bin frei, und doch weine ich immer noch. Wissen Sie, ich habe Stephen immer geliebt, irgendwie war die Liebe, die ich für ihn empfand, immer noch da. Er hat sein Bestes getan, sie mir mit Prügeln und Tritten und Schlägen auszutreiben, und am Ende hatte er es auch fast geschafft, doch wenn ich an die Liebe denke, die ich einmal für ihn empfand, muß ich weinen. Und es war schon so - ich war für ihn die einzige Frau, die einzige, die er je geliebt hat, das war wirklich so. Nur hatte er eben - eine seltsame Art, es zu zeigen...« 319
23
Die Bauarbeiter, die mit der Instandsetzung der Oberon Road Nummer 16 beschäftigt waren, saßen auf den Treppenstufen vor der Haustür und machten gerade ihre morgendliche Kaffeepause. Bisher hatten sie lediglich die Dachziegel wieder angebracht, die während des von den Kingsmarkhamer Sechs angezettelten Aufruhrs vom Dach gefallen waren. Die Graffiti waren noch dran - »Abschaum«, »Pädo« und »Killer« zwischen den enthaupteten Körpern und den zähnefletschenden Tiergesichtern, in Rot, Pink, Blau und Gelb gemalt. Den frischen Außenanstrich wollten sich die Bauarbeiter bis zum Schluß aufheben. Wenn es nicht regnete, obwohl es ganz danach aussah, wollten sie heute noch die neuen Scheiben in die oberen Fenster einsetzen. Sie tranken den Kaffee vollends aus und rauchten gerade ihre zweite Zigarette, als draußen ein Kombi vom Gartenbauamt der Kingsmarkhamer Stadtverwaltung vorfuhr. Als Symbol waren seitlich eine weibliche Puppe mit einem Spaten in der Hand und eine männliche Puppe mit einem Blumenstrauß abgebildet. Diese Umkehrung der - wie manche es nennen würden - anerkannten Ordnung war als Reaktion auf die Forderungen der militantfeministischen Fraktion im Stadtrat erfolgt. Der Fahrer des Kombis, mit jungmädchenhaft langen, roten Haaren, und sein Kumpel, der ungefähr im gleichen roten Farbton einen offenen Mund mit heraushängender Zunge auf
sein Handgelenk tätowiert hatte, stiegen aus dem Fahrerhaus und gingen seitlich ums Haus herum nach hinten, um die Lage zu sondieren. Abgeschreckt von dem inzwischen hüfthoch wachsenden Gras, dem riesigen Bärenklau und den mannshohen Disteln, 320 ganz zu schweigen von dem eisernen Bettgestell, kamen sie wieder nach vorn, um mit den Bauarbeitern eine zu rauchen. Der Fahrer sagte, da müsse erst mal ein Schaufelbagger her. Da momentan aber alle städtischen Schaufelmaschinen in Gebrauch seien, würde es mindestens drei Monate dauern, bis einer verfügbar sei und sie in diesem Garten anfangen könnten; im übrigen könne man seiner Meinung nach noch froh sein, wenn man bis Weihnachten damit fertig würde. Außerdem sei da noch das Problem, wie man einen Schaufelbagger überhaupt nach hinten in den Garten von Nummer 16 kriegen sollte. Aus ihrem Fenster im zweiten Stock des Muriel-Campden-Wohnsilos nahm Rochelle Keenan die vier Männer mit ihrem Camcorder auf. Die Stadtverwaltung von Kingsmarkham hatte ihren Angestellten erst kürzlich per Gesetz untersagt, in der Öffentlichkeit zu rauchen, und Rochelle hatte vor, den Film als Teil ihres Rachefeldzugs gegen den Fahrer des Kombis einzusetzen. Vor ein paar Jahren hatte sie einmal eine kurze Affäre mit ihm gehabt, während ihr Mann im Royal Hospital in Stowerton (das demnächst in Prinzessin-Diana-Gedächtnis-Klinik umbenannt werden sollte) an einem Leistenbruch operiert worden war; der Fahrer war derjenige gewesen, der Schluß gemacht hatte, und wenn sie ihm heute begegnete, tat er so, als kenne er sie nicht. Sie sah, wie er sich noch eine Zigarette ansteckte, bevor er sich auf einen Klapphocker setzte, den einer der Bauarbeiter aus dem Haus geholt hatte. John Keenan wußte zwar nichts von der Affäre, ahnte aber etwas, hauptsächlich deswegen, wie Rochelle glaubte, weil Winona, das jüngste der Keenan-Kinder, rote Haare hatte. Er sagte, sobald er die dreihundert Pfund, die es kostete, beisammen hätte, würde er sich so einen DNS-Test zum Selbermachen besorgen und der Sache auf den Grund gehen. Um ganz sicherzugehen, hatte er vorsichtshalber schon einmal versucht, ein Speichelpröbchen aus Winonas Mund zu entnehmen, doch war das Unterfangen daran gescheitert, daß die 320 Kleine es verschluckt hatte. Rochelle hatte keine Ahnung, wer von beiden Winonas Dad war, und es war ihr auch ziemlich egal. Sie interessierte sich viel
mehr für ihr Video und dafür, daß der rotschöpfige Fahrer gefeuert oder zumindest aufs strengste verwarnt wurde. Einen Steinwurf weiter in der Ariel Road - wobei »Steinwurf« im Muriel Campden Estate eher eine Realität des täglichen Lebens war als eine Redewendung - war Maria Michaels mit Miroslav Zlatic verabredet. Er bewunderte kraftvolle Frauen und hatte es irgendwie geschafft, ihr per Zeichensprache, doch ohne Worte zu verstehen zu geben, daß er sich in sie verliebt hatte, als er sie den mächtigen Wurf hatte landen sehen, mit dem sie das Fenster im Polizeirevier zertrümmert hatte. Ihr Rendezvous für den heutigen Morgen sollte in dem baufälligen Haus am Ortsrand von Myringham stattfinden, wohin Miroslav schon Lizzie und vermutlich auch andere junge Frauen gebracht hatte. Den verschmähten Monty Smith im Bett liegenlassend, machte Maria sich auf den Weg zur Haltestelle in der York Street, um mit dem Bus nach Myringham zu fahren. Wexford sah sie, als sein Wagen in die Zufahrtsstraße einbog, ignorierte jedoch ihr fröhliches Winken. Obwohl sie nicht zu den Kingsmarkhamer Sechs gehörte, war sie ziemlich sicher mit verantwortlich für den Sachschaden, der am Tag von Hennessys Tod angerichtet worden war. Das Problem war nur, daß er es nicht beweisen konnte, ebensowenig wie die Beteiligung anderer Leute. Um zu begutachten, was hier vor sich ging, falls überhaupt etwas vor sich ging, ließ er sich von Donaldson den langen Weg die Ariel Road hinauf und die Puck Road entlang chauffieren. Auf dem Straßenschild war der Name der letztgenannten Straße schon wieder verunstaltet worden. »Ich weiß nicht, warum sie sie nicht einfach umbenennen«, sagte er zu Karen Malahyde. »In Titania oder so etwas ähnliches.« »Ob das so eine gute Idee wäre, Sir?« »Was? Ach, wegen Tit... Nein, da haben Sie recht.« 321 Erst spritzten nur ein paar Tropfen an die Windschutzscheibe, dann kam der Regen in Strömen herunter. Donaldson stellte die Scheibenwischer auf Höchststufe, fand es dann aber besser anzuhalten, bis der heftige Schauer vorüber war. Im Obergeschoß der Oberon Road Nummer 2 knallte jemand mit Getöse ein Flügelfenster zu. Wexford rieb die beschlagene Scheibe notdürftig frei, konnte draußen aber trotzdem nichts sehen außer den glitzernden Rinnsalen, nicht einmal die Wandschmierereien an Nummer 16. »Dieser Meeks, Sir«, sagte Karen. »Ich nehme an, der lebt von der Stütze?« »Na, jedenfalls ist er arbeitslos.«
»Lebt von unserem Steuergeld, außerdem habe ich gehört, daß die beide total fett sind.« »Übergewicht hat nichts mit Überfluß zu tun«, wandte Wexford ein. »Es geht weniger darum, daß man weder zu reich noch zu dünn sein kann, sondern um dünn zu sein, muß man reich sein.« »Billiges Essen macht dick«, meinte Donaldson weise, »immer nur Aufläufe und Pommes frites.« Er ließ den Motor an, und schon waren sie wieder unterwegs, nachdem der Regen nachgelassen hatte und es nur noch leicht nieselte. Wexford zog die Regenhaut über. »Ich werde mir wohl einen neuen Regenmantel kaufen müssen«, sagte er an niemanden speziell gerichtet; trotzdem zog Donaldson die Schultern ein wenig hoch. Obwohl ihm niemand die Schuld am Verlust von Wexfords Kleidungsstück gab, beschlich ihn manchmal das Gefühl, doch etwas unachtsam gewesen zu sein. Wenn ihm Charlene Hebden diesmal über den Weg liefe, dachte er, würde er sie darauf ansprechen und die Wahrheit aus ihr herauskriegen, doch da fuhr er bereits an der Oberon Road Nummer 24 vorbei, und Wexford bat ihn, anzuhalten und ihn und Sergeant Malahyde aussteigen zu lassen. Karen Malahyde schien Regen überhaupt nie zu bemerken. Ihre Sachen sahen alle irgendwie wasserdicht aus, sogar 322 Röcke und Blusen, und bei einem Mann hätte man ihre Frisur als Bürstenschnitt bezeichnet. Sie blieb auf dem schmalen Gartenweg stehen, um das Haus in Augenschein zu nehmen, und überließ es Wexford, sich unter das winzige Vordach zu flüchten und die Türglocke zu läuten. Linda Meeks, oft gesichtet bei jenen aufrührerischen Zusammenkünften, war sofort zu erkennen. Sie hätte in der Hierarchie eigentlich wichtig genug sein sollen, dachte er, um die Gruppe zu den Kingsmarkhamer Sieben aufzustocken, wenngleich sie nie zu den Rädelsführern gehört hatte. Die ausladende Frau mit der weichen, wohlgepolsterten Figur sah aus, als würde ihr üppiges, mit Grübchen versehenes, rosaweiß geflecktes Fleisch die Druckstelle halten, wenn ein Finger darauf gepreßt wurde. Am erschrockenen Aufflackern ihrer blaßblauen Augen war zu erkennen, daß sie damit rechnete, von den beiden Polizeibeamten nun zu Sergeant Hennessys Tod vernommen zu werden. Es wäre nicht das erstemal. Trotzdem hatte sie gehofft, das erstemal wäre auch das letztemal gewesen. Wexford hatte das Gefühl, daß es sie sehr beruhigte, als sie von ihm erfuhr, er würde sich mit ihr und ihrem Mann gern über ihren Schwager unterhalten,
der bei einem Autounfall auf der Fahrt nach Harwich ums Leben gekommen war. »Meinen Bruder«, sagte Linda Meeks, »nicht meinen Schwager.« Sie wirkte höchst erleichtert, geradezu fröhlich. »Kommen Sie herein. Möchten Sie eine Tasse Tee?« Wexford sagte, nein, danke, und Karen sagte, nein, nicht jetzt, womit beide zum Ausdruck bringen wollten, daß diese Angelegenheit zu ernst war für ein geselliges Teestündchen. Beide rechneten damit, Meeks mit irgendeinem Dosengetränk und einer Tüte Kartoffelchips vor dem Fernseher anzutreffen, im Muriel Campden Estate eine weit verbreitete Art der Freizeitgestaltung. Statt dessen war Meeks draußen im Garten in einem Schuppen und schreinerte. Es sollte anscheinend ein Tisch werden, denn Beine und Rahmen waren schon fertig, und er schliff nun offensichtlich noch die Tischplatte 323 glatt. Bei ihrem Anblick legte er die Schleifmaschine behutsam auf der Seite ab und kam unter einem eben aufgespannten Regenschirm heraus. Der Garten war vorbildlich angelegt. Wo andere Leute Blumen gehabt hätten, wuchs hier Gemüse. Es war nicht in Reihen wie in einem Schrebergarten angepflanzt, sondern in Grüppchen wie in einer Blumenrabatte: Salatköpfe bildeten einen hübschen Kontrast mit Roter Bete, und statt Klematis kletterten feuerrot blühende Bohnenranken an den Gittern hoch. Als Meeks eine winzige Pflanze entdeckte, die nicht dort hingehörte, ließ er sich vom Regen nicht davon abhalten, sie herauszureißen. »Geh nie an einem Unkraut vorbei«, philosophierte er. Er war ziemlich klein, gedrungener als seine Frau, und seine Fettleibigkeit konzentrierte sich, was bei männlichen Biertrinkern mittleren Alters oft der Fall ist, auf seinen Bauch. Dieser Körperbereich war bei ihm so enorm und stand so weit hervor, daß dem Betrachter dabei ganz unbehaglich werden konnte. Es sah aus, als müßte er seinem Besitzer eigentlich hinderlich sein, als müßte dieser peinlich berührt sein von diesem entstellenden Attribut, beschämt über den grotesken Anblick, den er damit bot. Doch selbst wenn das der Fall war, ließ Meeks sich nichts davon anmerken. Mit kerzengeradem Gang diese ganze Last vor sich hertragend, führte er sie zum Haus zurück, wo er das Unkraut in einen Abfalleimer warf. Im Wohnzimmer hatte Scott, der Sohn, den Fernseher laufen und beschäftigte sich gerade mit einem Videospiel, bei dem der Spieler Punkte gewinnen konnte, wenn er einen Surfer durch die stürmische See dirigierte, ohne ihn mit Inseln, Schiffen oder anderen Hindernissen kollidieren zu lassen. Sein Vater
wollte ihn gewähren lassen - ist doch harmlos, dann hält er Ruhe -, doch Wexford bat ihn, das Gerät auszuschalten und sie allein zu lassen. Scott Meeks, mit dem noch nie jemand in diesem Ton gesprochen hatte, warf Wexford 324 einen finsteren Blick zu und schob die Unterlippe vor, tat jedoch wie geheißen und ging türknallend hinaus. »Ich würde gern auch mit Ihrer Frau sprechen, Mr. Meeks«, sagte Wexford, »aber erst, nachdem wir uns ein bißchen unterhalten haben. Erzählen Sie mir mal von dem Problem mit Ihrem Schwager. Zunächst einmal - wie hieß er denn?« »Jimmy - äh, James wahrscheinlich, James Crabbe.« Vielleicht überraschte es Meeks, daß sich die Polizei endlich dafür interessierte, was seinem Schwager angetan worden war, doch er ließ sich nichts anmerken. Er schien eher erfreut über die Gelegenheit, von einer Sache erzählen zu können, die offensichtlich zu einer Obsession geworden war, denn bevor Wexford eine weitere Frage stellen konnte, ließ er auch schon einen verworrenen Bericht über die fatalen Ereignisse in Gatwick vom Stapel. »Die waren von vornherein gegen ihn, kommen Sie mir bloß nicht damit, die würden keinen Unterschied machen zwischen Passagieren und was weiß ich, die waren fest entschlossen, ihn nicht in die Maschine zu lassen, und ich glaub', das war, weil er kurze Hosen anhatte, kurze Hosen und Sandalen, das hat ihnen gestunken, dafür haben sie ihn büßen lassen, wenn Sie mich fragen, die haben die Leute doch bezahlt dafür, daß sie - wie heißt das noch gleich? daß sie überbuchen und dann »Moment mal, Mr. Meeks«, sagte Karen. »Würden Sie uns vielleicht sagen, woher Sie das alles wissen? Sie waren doch gar nicht dabei, oder?« »Er hat uns angerufen«, sagte Meeks. »Jimmy, mein' ich. Er und Linda standen sich sehr nahe, sie waren nämlich Zwillinge. Es hat sie sehr mitgenommen, daß er auf die Art gestorben ist, das kann ich Ihnen sagen. Ich mein', mich hat es auch erschüttert, aber sie, sie hat es total umgehauen, am Boden zerstört war sie, es hieß schon, sie würde einen Nervenzusammenbruch kriegen. Äh, also, wie ich schon sagte, er hat uns angerufen. Er war ganz hin und weg, im siebten Himmel war der, übergesprudelt ist er sozusagen, von wegen, er hätte 324 von Seaward jetzt das Geld gekriegt und würde sich dafür im Privattaxi zur Fähre kutschieren lassen.«
»Was hatte er denn in Amsterdam vor?« fragte Wexford. Jimmy Crabbe war nicht schwul, dachte er, oder doch? Er würde wohl kaum Käse oder Porzellan kaufen oder sich Rembrandts Nachtwache anschauen wollen. »Wollte er nur Urlaub machen?« »Es war wegen seiner Freundin«, sagte Meeks. »Die hatte drüben einen Job als Kindermädchen. Er wollte mit ihr das Wochenende verbringen, solange die Leute, wo sie arbeitete, verreist waren. Aber er ist nie dort angekommen. Das Mietauto hatte einen Unfall auf der M25 gleich hinter dem Dartford-Tunnel. So ein Riesenlaster hatte sich quergestellt und ihn voll erwischt.« »Daran war aber doch niemand schuld«, sagte Karen. »Wenn überhaupt, dann vielleicht der Lastwagenfahrer oder der Fahrer von dem Mietwagen, aber doch nicht Seaward Air. Die haben ihm doch bloß das Geld gegeben.« Auf wessen Seite stehst du, dachte Meeks jetzt bestimmt. »Die hätten einen armen Mann nicht so in Versuchung führen dürfen«, sagte er salbungsvoll. »Leute wie Jimmy, um die muß man sich kümmern, die muß man beschützen.« »Ihr Schwager war aber doch nicht« - Wexford suchte nach einem halbwegs politisch korrekten Ausdruck und scheiterte kläglich - »er war doch nicht geistig behindert?« Meeks fuhr auf. »Was wollen Sie damit andeuten? Daß Jimmy zurückgehlieben war, wollen Sie das damit sagen? Das hab' ich nie gesagt, nie behauptet. Er wäre noch nirgends gewesen und hätte noch nie was erlebt, sagte er damals, er hätte sich das Auto gemietet, weil er noch nie mit einem Chauffeur im Mietwagen gefahren ist. Er war sechsunddreißig und hatte vor der einen noch nie eine Freundin gehabt. Die von Seaward haben einen armen Menschen in Versuchung geführt, dabei hätten sie ihn lieber ins Flugzeug setzen sollen und sich um ihn kümmern, und die Stewardessen hätten ihm ein Bier und ein Sandwich bringen sollen. Wissen Sie, daß er vorher noch 325 nie in einem Flugzeug geflogen ist? Na ja, in dem ist er dann ja auch nicht mitgeflogen! Das hatte er denen zu verdanken. Diesem Dreckskerl Stephen Devenish - der hat doch die Regeln gemacht, der hat doch allen gesagt, was sie machen sollen.« Linda Meeks steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich hab' dich schreien hören, Carly. Alles in Ordnung?« »Klar ist alles in Ordnung. Ich bin bloß ein bißchen hochgegangen.« »Lassen Sie uns noch ein Weilchen allein, Mrs. Meeks?«
Sie zog sich widerspruchslos zurück, und als die Tür zuging, legte Wexford eine andere Gangart ein und fragte Meeks in knappem Ton, wo er am vergangenen Dienstag um acht Uhr morgens gewesen sei. Meeks machte ein erstauntes Gesicht, konnte den Zusammenhang aber offensichtlich nicht erkennen. »Mit meinem Hund draußen«, sagte er. »Morgens um acht bin ich immer mit meinem Hund draußen.« »Ich sehe aber gar keinen Hund.« »Der ist in der Küche bei Linda.« Wexford erkundigte sich, ob Meeks ein Auto habe und ob ihn unterwegs jemand gesehen habe und erhielt ein »Nein« als Antwort auf die erste Frage und ein »Weiß ich nicht« auf die zweite, modifiziert durch: »Ich geh' um halb acht raus, und da sind noch nicht viele unterwegs. Die Nachbarn hier aus der Gegend haben mich vielleicht gesehen. Ich geh' meistens in den York Park oder auf die Felder raus, da läuft so früh noch keiner rum.« Entweder spielte er Theater, oder der Zweck dieser Nachforschungen kam ihm schlagartig und ziemlich verspätet in den Sinn. »Er ist tot, stimmt's? Dieser Stephen Devenish? Er wurde ermordet.« Da ging ihm ein weiteres Licht auf, ein unangenehm helles Licht. »Denken Sie etwa, ich war's? Ich hätte ihn ermordet?« »Wir denken überhaupt nichts, Mr. Meeks«, sagte Karen. »Wir würden Sie nur gerne von der Liste der Verdächtigen streichen. Sie haben Mr. Devenish bedroht, nicht wahr? Sie 326 riefen ihn an, um ihm zu drohen, und schrieben Drohbriefe, außerdem waren Sie bei Seaward Air und bedrohten ihn.« Carl Meeks schüttelte heftig den Kopf. »Ich hab' keine Briefe geschrieben.« Er schien sich zu einem Geständnis durchzuringen, schloß sogar kurz die Augen, verzog das Gesicht und sagte hastig: »Im Schreiben und Lesen bin ich nicht so toll, hab' den Dreh nie ganz rausgekriegt, ist wohl nicht mein Ding.« Seine Miene hellte sich auf. »Die Frau kann aber lesen und schreiben.« »Dann lassen wir Mrs. Meeks doch jetzt kommen«, sagte Wexford. »Und bring Buster gleich mit«, rief Carl Meeks nach draußen. Sie hatte sich umgezogen, hatte die Leggings und das T-Shirt mit einem geräumigen karierten Kleid vertauscht, einer Art Tischtuch mit Ärmeln. Ihnen zuliebe? Oder weil sie aus dem Haus gehen wollte? Doch es war nicht ihr Anblick, der ihnen mächtig Eindruck machte. Wie ein von einem ausgelassenen Pferd im Geschirr gezogener Gladiatorenwagen wurde sie vom größten Hund hereingezerrt, den Wexford je gesehen hatte. Es schien eine Deutsche Dogge zu sein, von schiefergrauer Farbe, die sich nun losriß und
direkt auf Carl zurannte, um sich mit den Pfoten an seinen Schultern abzustützen und ihm mit der riesigen, schleimigen, dunkelblauen Zunge das Gesicht abzulecken. »Runter, Junge, runter! Laß mich! Jetzt ist es aber genug. Runter mit dir!« »Ich glaube, ich habe genug gesehen«, bemerkte Wexford trocken, »um zu wissen, daß Sie in der Tat einen Hund besitzen. Vielleicht bringen Sie Buster jetzt wieder in die Küche, Mrs. Meeks. Danke.« Er wartete ab, bis sie, vor Anstrengung keuchend, wieder zurückkam, und begann erst zu sprechen, nachdem sie sich gesetzt und ein bißchen verschnauft hatte. »Sie mochten Mr. Devenish nicht besonders, habe ich recht, Mrs. Meeks?« »Ich hatte nichts gegen ihn«, japste sie. Es dauerte eine 327 Weile, bis sie wieder sprechen konnte. Dann sagte sie: »Ich kannte ihn doch gar nicht. Na ja, nur so vom Sehen. Es war ja nicht bloß er dran schuld, sondern die alle bei Seaward.« Nachdem sie nun losgelegt hatte, wurde sie redselig. »Der Fahrer war betrunken, bei dem hat man was weiß ich wieviel Liter Zeugs im Blut gefunden, und die von Seaward haben Jimmy gesagt, zu dem soll er hin, zu diesem Sowieso, der wäre ein guter Fahrer, den könnten sie empfehlen, und was wußte Jimmy denn schon? Er hat gemacht, was sie gesagt haben, und ist dabei umgekommen, die haben ihn umgebracht. Sie wollen wissen, ob ich Stephen Devenish leiden konnte - na, was erwarten Sie denn, wenn jemand den eigenen Mann die Treppe runterschmeißt?« »Wir hörten, er hätte ihn aus seinem Büro hinausgeworfen«, sagte Karen. »Na, dann haben Sie eben falsch gehört. Der hat ihn aus dem Büro geworfen, und dann hat er ihn am Mantelkragen gepackt und an die Treppe geschleift und ihn runtergeschmissen.« »Stimmt das, Mr. Meeks?« Meeks nickte. Er schien jedoch alles andere als erfreut darüber, daß seine Frau ihn in so einen jämmerlichen Licht präsentiert hatte, als einen, der sich im Quadrat herumschmeißen ließ, wie es seinem Angreifer gerade paßte. »Er war ein Dreckskerl«, sagte er schließlich. »Ein Segen, daß er tot ist.« »Sie haben ihn aber nicht umgebracht?« Darauf reagierte Linda Meeks mit einem dünnen Aufschrei. Ihr Mann sagte: »Sie sind gut! Der war doppelt so groß wie ich.« Linda gab ihrem gekränkten Gatten noch eins drauf und sagte mit vollkommen ernster Miene: »Der hätte sich von Carl doch nicht umbringen lassen.«
»Da ist schon was dran«, sagte Wexford später zu Bürden. »Wir wissen ja, wer Devenish erstochen hat, war kleiner als er, also bleibt die Frage bestehen: Warum hat er sich von 328 diesem Menschen, wer auch immer es war, umbringen lassen?« »Ich vermute mal, er wurde überrumpelt. Er hat nicht damit gerechnet.« »Na, Meeks hätte ihn nicht überrumpeln können. Falls Meeks der Fremde war, den Edward Devenish sah und den seine Mutter hörte, war er für Devenish kein Fremder. Kaum wäre er im Arbeitszimmer gewesen, hätte Devenish gewußt, wer er ist und daß er die Absicht hat, ihm etwas anzutun. Wollen Sie behaupten, nachdem Devenish seiner Frau die Hand aufgeschnitten hatte, ließ er das benutzte Messer, das blutbefleckte Messer auf seinem Schreibtisch oder auf einem anderen Tisch liegen? Und als Meeks hereinkam, ließ er es weiter dort liegen, damit der es nehmen und benutzen konnte? Denn das Messer muß dort gelegen haben, Mike. Wer weiß, woher es stammte, vielleicht hatte er immer ein Messer in der Schublade liegen. Wieso nicht? Eine Peitsche hatte er ja auch. Er bewahrte es vielleicht nur dazu dort auf, um seine Frau zu bestrafen, hatte es an jenem Morgen benutzt, und dann? Im Arbeitszimmer war es nicht, aus dem Fenster hat er es auch nicht geworfen - wieso auch?« Nachdenklich meinte Bürden: »Kann sein, daß er sie geschnitten hat, ihr dann das Messer gab und sagte, sie soll es mitnehmen und abwaschen.« »Wissen Sie, woran mich das erinnert? An die Anweisung im Talmud. >Du sollst das Böcklein nicht kochen in seiner Mutter Milch.« Der Verletzung wird noch die Kränkung hinzugefügt.« »Der hätte das fertiggebracht.« »Glaube ich auch.« Wexford saß einen Augenblick schweigend da, in ziemlich freudlose Gedanken über die menschliche Niedertracht versunken. »Inzwischen ist der Bericht über die Messer gekommen, die in der Küche waren. Es sind teure Messer mit Horngriffen. Auf keinem waren Spuren von menschlichem Blut. Ihre Fingerabdrücke sind bis auf zwei auf allen, seine auf keinem.« 328 »Hat eins vielleicht eine Klinge, die in die Wunden paßt?« »Zwei. Sie brauchen aber gar nicht so dreinzusehen. Diese Klingen sind - äh, Standardgröße. Tausende von Messern in Küchen und in Läden haben diese Größe und würden in die Wunden passen. Als Beweis brauchen wir
Devenishs Blut auf einem Messer, und wie ich bereits sagte, war kein Blut drauf. Vielleicht war es eins von diesen Messern, wahrscheinlich aber eher nicht, wahrscheinlich wurde das Tatmesser weggeschafft.« »Von Carl Meeks?« »Vielleicht. Keine Ahnung. Der Tathergang war folgender: Entweder brachte Devenishs Mörder ein Messer mit, und die Klinge an diesem Messer hatte zufällig die gleiche Größe wie eins von den Messern aus dem Messerblock, oder er benutzte das Messer, das Devenish auf dem Schreibtisch liegengelassen hatte, nachdem er Fay damit geschnitten hatte. Eine dieser beiden Möglichkeiten muß es sein. Wenn es so ist, wie Sie sagen, und er Fay das Messer zum Abwaschen gab, konnte sie es dann so sorgfältig waschen, daß alle Spuren des vorherigen Gebrauchs getilgt waren? Warum sollte sie auch? Wahrscheinlicher ist also, daß der Mörder das Messer benutzte und es dann mitnahm.« »Außer im Messerblock steckten nicht sieben, sondern acht Messer.« »Das glaube ich nicht, denn wie Fay schon sagte, sind in dem Block zwar acht Schlitze, aber wenn man acht Messer hineinsteckt, blockieren sie sich gegenseitig. Ich weiß es, ich habe es ausprobiert.« »Und Meeks?« »Wir fragen uns im Muriel Campden Estate systematisch von Haus zu Haus durch, ob ihn einer von den Nachbarn um acht Uhr morgens mit seinem Hund draußen gesehen hat. Der Meekssche Hund ist ein Monstrum von einer Deutschen Dogge, so ein bläulichgraues Geschöpf namens Buster. Nicht gerade die Art Tier, die man übersehen würde. Den sieht man einmal und vergißt ihn nie wieder.« 329 »So, wie es im Moment läuft«, sagte Bürden, »kennen wir die Leute im Muriel Campden bald besser als unsere eigenen Familien.« Es war ein schöner Abend, wenn auch ziemlich schwül. Die Bewohner der Oberon, Ariel und Puck Road und des Wohnsilos saßen auf den Stufen vor ihren Häusern, falls sie eins hatten, oder auf Klappstühlen auf dem Rasen vor dem Wohnsilo, falls sie keins hatten. »Wie auf einem Scheißcampingplatz«, sagte Tony Mitchell, der fand, das Ganze sei ordinär und passe eher zu Leuten, die in Mietskasernen wohnten. Es wurde geklatscht und getratscht. Seit Wochen rätselte man herum, wer die Benzinbombe, die Ted Hennessy getötet hatte, denn nun geworfen hatte, und alle hatten sie eine andere Meinung, je nachdem, auf wessen Seite sie bei persönlichen Rachefeldzügen standen oder je nach Ausmaß ihrer Paranoia.
Nun konnten sie über Carl Meeks reden, ein Thema, das durch die Ankunft von drei Polizeibeamten, die von Haus zu Haus eine Befragung durchführten, noch fesselnder wurde. Maria Michaels sagte, sie säße hier draußen, um ihnen die Mühe zu ersparen, bei ihr zu klingeln. Sie hatte ihre alte Freundin Tasneem Fowler gerade in deren Haus gehen sehen, zusammen mit einer Frau namens Tracy Sowieso, und rief den beiden zu, sie sollten doch rüberkommen auf einen Drink, sobald sie mit ihrem Kram bei Terry und den Kindern fertig wären. Maria ging ins Haus, um noch zwei Stühle zu holen, die sie auf das Rasenstück im Vorgarten stellte, und als sie gerade den dritten holen wollte, begegnete sie Monty Smith an der Treppe, der mit seiner gesamten Habe in zwei Supermarkttüten herunterkam. »Dir schlag ich doch gleich die Fresse ein«, sagte Monty. »Untersteh dich, mein Liebling. Ich bin nicht wie die arme kleine Tasneem.« Erinnerungen an ihre ruhmreichen Kugelstoßzeiten kamen ihr in den Sinn. »Wenn ich mal loslege, 330 weißt du nicht mehr, wo links und wo rechts ist. Laß die Tür gleich offen, ich bringe noch den Stuhl und den Tisch raus.« Verachtet, verschmäht und vor die Tür gesetzt, ging Monty Smith die Oberon Road hinunter in Richtung Bushaltestelle an der York Street. Auf halber Strecke begegnete er Detective Constable Archbold, der wissen wollte, ob er ihn auf ein Wörtchen sprechen könne. Das Wörtchen war die Frage, wo Monty am Dienstag morgen um acht gewesen sei und ob er Carl Meeks mit seinem Hund gesehen hätte. Monty meinte, Archbold mache wohl Witze, vor zehn käme er nie aus den Federn, jedenfalls gewöhnlich nicht, aber wer weiß, was die Zukunft bringe. Auf der Grünfläche war Shirley Mitchell und sammelte von Hand den Abfall ein; die Bierdosen, Chipstüten, Zigarettenkippen, Fisch-und-Chips-Papiere, Imbißbehälter und Taxireklamezettel warf sie in einen Einkaufswagen, den sie mit einer Plastiktüte ausgeschlagen hatte. Als Archbold sie nach Carl Meeks fragte, ließ sie eine endlose Schimpfkanonade über Hundebesitzer los, deren Viecher die Bürgersteige verunreinigten. Dieser Buster sei einer der schlimmsten Übeltäter. Sie habe Mr. und Mrs. Meeks persönlich angeboten, ihnen Schippe, Rechen und Hygienebeutel für die Hinterlassenschaften der Dogge zur Verfügung zu stellen, doch die hätten sie nur ausgelacht. Nein, ob sie Carl Meeks am Dienstag morgen mit dem Hund draußen gesehen habe, könne sie nicht sagen, doch sie sehe ihn jeden Morgen, oder fast jeden Mor-
gen, und das sei auch ein Glück, denn dann könne sie gleich hinausrennen und die Bescherung wegputzen, bevor einer ihrer armen Nachbarn hineintrat. Einer der wenigen Bewohner des Muriel Campden Estate, der nicht draußen saß, war Terry Fowler. Er schaute sich mit seinen Söhnen gerade das Video an, das er vom Weltmeisterschaftsendspiel zwischen Frankreich und Brasilien aufgenommen hatte. Sie hatten damals die Direktübertragung des Spiels gesehen und das Video seither schon zweimal angeschaut. Dies war das drittemal, doch von Fußball konnten 331 Terry, Kim und Lee Fowler nie genug kriegen, besonders wenn es sich um internationale Spiele von diesem Kaliber handelte. Frankreich hatte gerade das erste Tor geschossen, als im Haustürschloß ein Schlüssel zu hören war und Tasneem mit einer fremden Frau ins Zimmer kam. Sie hatte sich nur deswegen ein Herz gefaßt, weil Tracy sie dazu angestiftet und versprochen hatte mitzukommen. Unterwegs waren sie von Lynn Fancourt angehalten und nach Carl Meeks gefragt worden. Beide fanden es recht aufregend, mußten aber bedauernd zugeben, sie wüßten nichts, weil sie nicht hier wohnten, sie machten nur einen Besuch. Bei der Vorstellung, in ihrem eigenen Heim »nur einen Besuch« zu machen, schössen Tasneem Tränen in die Augen, deren Spuren noch zu sehen waren, als sie das Haus betrat und ihrem Mann und ihren Kindern nach acht Monaten zum erstenmal wieder gegenüberstand. »Was willst du denn hier?« sagte Terry, ohne auf Tasneems schüchterne Bemerkung zu achten, das sei ihre Freundin Tracy. »Du denkst, du kannst einfach abhauen, wann du willst, ein ganzes Scheißjahr wegbleiben und dann frech wie Oskar hier reinmarschieren, wie wenn du gerade vom Einkaufen kämst?« Kim und Lee hatten sie bisher keines Blickes gewürdigt. Sie sahen auf den Bildschirm, wo Frankreich gleich das zweite Tor schießen würde. Tracy Miller schaute sich im Zimmer um und sagte: »Ganz schön dreckig hier. Ich möchte wetten, als Tas noch hier wohnte, hat's hier nicht so ausgesehen.« Sie ging zum Fernseher hinüber und schaltete ihn aus. Die Jungen fingen laut an zu jammern. Terry sprang auf, und dann folgte das, was Tracys Vater immer Schlammschlacht genannt hatte. Es fing damit an, daß Terry sie eine Schlampe und eine blöde Kuh nannte, die sich überall einmischte, und sie ihn als brutalen Sack titulierte. Eine Reihe von Schimpfwörtern schloß sich an, wobei Terry Tasneem mit derart plastischen und ausgesuchten At
332 tributen belegte, daß Tracy noch nicht einmal die Hälfte von ihnen kannte. Als die beiden Jungen anfingen zu weinen, blutete Tracy das Herz. Sie dachte, jetzt würde er Tasneem gleich verprügeln, und überlegte schon, ob sie dazwischen gehen sollte - als hätte sie während ihrer eigenen Ehe nicht genug davon abgekriegt -, als Tasneem plötzlich sagte: »Okay, ich gehe. Das war's, jetzt hab' ich endgültig die Schnauze voll.« Kaum waren sie im Hausflur, als der Fernseher schon wieder lief. Terry und Lee setzten sich wieder davor, doch Kim kam ihnen nachgerannt, packte Tasneem an den Hosenbeinen - sie trug den traditionellen Shalwar Kamiz, ein lockeres Ensemble aus Hosen und knielangem Kasack - und schluchzte: »Geh nicht weg. Ich will nicht, daß du gehst.« Tasneem stieß einen kummervollen Schrei aus, aber Tracy sagte mit entschlossener Stimme: »Du hörst jetzt auf zu weinen, mein Schatz. Du und dein Bruder, ihr könnt bald bei eurer Mum wohnen, und alles wird gut.« Weiß Gott, ob es stimmte. Tracy bugsierte Tasneem aus dem Haus und schleppte sie mit knapper Not zu Maria Michaels hinüber. Maria saß auf einem Stuhl in ihrem Vorgarten, vor sich ein elegantes Tischchen, auf dem ein Tablett mit Gläsern, einer Flasche Scotch, einer Flasche Gin, zwei Dosen Ginger Ale und zwei Dosen Orangenlimo stand. Sie begrüßte Tracy, sagte, sie freue sich, sie kennenzulernen, und fragte, was es denn sein dürfe, mein Liebling, Whisky oder Gin? Als Muslimin bat Tasneem um eine Orangenlimo, doch Maria bestand auf etwas Stärkerem, »damit sie einen hochkriegt«. »Na, also, das sagt man doch bloß bei Männern«, erklärte Tracy, doch Maria meinte, na und, und ob Tracy noch nie was von Gleichberechtigung gehört hätte? Beide Frauen legten den Arm um Tasneem, und Tracy hielt ihr den Whisky an die Lippen wie eine Krankenschwester die Schnabeltasse. Dann sagte Maria, sie hätte ihnen was Lustiges zu erzählen, sie würden sich bestimmt ausschütten vor Lachen. Sie hätte Monty Smith an die Luft gesetzt, den faulen Sack, und - was sagt ihr jetzt? - hätte einen anderen. Maria er 332 zählte ihnen gerade, daß Miroslav Zlatic Freiheitskämpfer in Sarajewo gewesen sei, aber dann habe fliehen müssen, weil ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt war, und wie toll er im Bett sei, als Detective Constable Kevin Cox das Gartentörchen aufmachte, den Weg heraufkam und sie nach Carl Meeks fragte.
Maria gab bereitwillig Auskunft. Sie bot Cox einen Drink an, den dieser - mit einem sehnsüchtigen Blick auf den Gin -jedoch ablehnen mußte. Carl Meeks, sagte sie, sei regelmäßig um acht Uhr morgens mit seinem Hund draußen. Was heißen sollte, daß sie ihn auf dem Weg zur Arbeit oft sah, und der Hund sei ja eher so groß wie ein Pferd - aber nicht jeden Tag, mein Liebling, heute morgen zum Beispiel nicht. Heute morgen habe sie einen freien Tag gehabt, sagte sie und lächelte bei der Erinnerung verträumt vor sich hin. »Und letzten Dienstag morgen?« sagte Cox. »Hm, gesehen hab' ich ihn, aber ob es Montag oder Dienstag oder Mittwoch war, kann ich nicht sagen. Wie gesagt, ich sehe ihn nicht jeden Tag. Manchmal geht er auch auf die Felder raus. Oder in den Park.« »Ich hätte gern einen Hund«, sagte Tasneem. »Wenn ich meine Jungs wiederkriege, schaffen wir uns einen Hund an.« »'Aber klar, mein Liebling, und eine Katze und ein Karnickel und einen verdammten Alligator dazu, wenn du willst.« Cox ging. In den restlichen Häusern in der Ariel Road hatte er kein Glück, denn die Bewohner waren ausgegangen, also versuchte er es noch bei den Crownes und Sue Ridley und den Nachbarn nebenan und deren Nachbarn, aber drei davon kannten Carl Meeks überhaupt nicht, nicht einmal vom Sehen, oder behaupteten es jedenfalls, und die Crownes standen immer so spät auf, daß sie ihn nie mit seiner Dogge sahen. Im Meeksschen Haus in der Oberon Road hatte sich Lynn Fancourt inzwischen Darren Meeks vorgeknöpft. Da Darren immer noch die Zeitungen austrug, dachte Lynn, er wüßte vielleicht am besten, wo sein Vater sich am Dienstag 333 morgen aufgehalten hatte. Aber Darren wußte es nicht, denn er fing seinen Rundgang eine Dreiviertelstunde vor acht an. Trotzdem nahm er an, daß sein Dad mit Buster draußen gewesen war. Der Hund veranstaltete so ein Getöse, heulte und bettelte um seinen Spaziergang, daß man ihn schon allein deswegen hinausbrachte, um dann seine Ruhe zu haben. »Also, was gibt's Neues bei Millionärs oben?« erkundigte sich Maria, nachdem sie von Tasneem erfahren hatte, daß Tracy bei einer feinen Dame in der Ploughman's Lane arbeitete. »Der Dreckskerl, den sie da umgebracht haben«, sagte Tracy, »das war auch so einer, der hat sie wüst verprügelt. Keiner wußte was, bis sie ihr eigenes Kind gekidnappt hat, um es ihm aus den Klauen zu reißen, und danach kam alles raus. Die Nachbarn sollten ihn im Auge behalten, hieß es. So ein Blöd-
sinn, nützt doch nichts, wo die Häuser da droben meilenweit voneinander entfernt stehen.« »Na gut, weg mit Schaden«, sagte Maria. »Wahrscheinlich war sie es.« »Weiß ich nicht. Sieht nicht danach aus, sonst würden sie uns doch nicht alle nach diesem Dingsbums fragen.« »Ach, ich glaub', sie war's, mein Liebling. Ich an ihrer Stelle hätte es getan.« Lord Tremletts Obduktionsbericht besagte, daß Stephen Devenish drei Stichwunden in die Brust erhalten hatte und daß diese Stiche in wilder Hast ausgeführt worden waren. Der Stich in die linke Herzkammer hatte ihn schließlich getötet. Eine Frau wäre fähig gewesen, ihm diese Stiche beizubringen, doch ließ sich unmöglich sagen, ob es sich bei dem Täter um einen Mann oder eine Frau gehandelt hatte. Höchstwahrscheinlich war er oder sie kleiner als Devenish, denn der Tote war sehr groß gewesen. Wie er ursprünglich geschätzt hatte, war der Mord zwischen sieben Uhr fünfundvierzig und acht Uhr dreißig begangen worden. Weiter eingrenzen konnte er die Tatzeit nicht. 334 Als Tatwaffe war ein Küchenmesser verwendet worden, dessen Klinge an der breitesten Stelle fünf Zentimeter maß und etwa fünfzehn bis zwanzig Zentimeter lang war. Devenish war ein gesunder, außergewöhnlich kräftiger Mann Mitte Dreißig gewesen, gut gebaut und ohne körperliche Makel oder Narben. Die gerichtliche Untersuchung der Todesursache wurde eröffnet und dann vertagt. Wexford, der bei der kurzen Verhandlung zugegen gewesen war, suchte die Witwe auf und teilte ihr mit, die Beerdigung könne nun jederzeit stattfinden. Jane Andrews traf er ebenfalls in Woodland Lodge an, offensichtlich wohnte sie momentan dort, und Fays Söhne waren mittlerweile auch wieder zu Hause. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber Sanchia kam ihm schon ruhiger, ausgeglichener und vielleicht sogar glücklicher vor. Zum erstenmal fiel ihm auf, daß die Kleine wirklich hübsch war. Mit den rosigen Bäckchen, der samtigen Haut und dem ebenmäßigen Gesicht, den großen, graublauen Augen und dem feinen, glänzenden Haar sah sie wohl genauso aus wie ihre Mutter in dem Alter. Ihr Haar war inzwischen viel länger als damals, als das Familienfoto gemacht worden war, und mit ihrem mädchenhaften, zarten Gesicht würde sie niemand mehr für einen Jungen halten. Sie sah lächelnd zu ihm auf. Und er mußte denken, daß es doch eigentlich schrecklich war, daß der Tod eines Menschen, noch dazu der gewaltsame Tod, so viel Erleichterung und Dankbarkeit bewirken konnte.
Die ganze Familie - auch Jane Andrews, die sozusagen zur Familie gehörte war im Wohnzimmer versammelt, wo die Verandatüren weit offen standen. Die Kinder rannten zwischen Haus und Garten hin und her und trugen Grashälmchen an den Schuhen herein und auf den weißen Teppich. Niemand wehrte ihnen, niemand brauchte ihnen mehr zu wehren. Nachdem sie ihn hereinbegleitet hatte, schlug Jane Andrews der kleinen Sanchia dann aber vor, sie könnte sie doch auf der neuen Schaukel anschubsen, und das Kind nahm ihre Hand und zog sie nach draußen, so daß er mit Fay allein war. 335 In kühlem, sachlichem Ton fragte Fay: »Kann ich ihn einäschern lassen?« »Selbstverständlich. Die Bestattungsfirma kümmert sich um alle Formalitäten. Nur müssen Sie in dem Fall den Totenschein von zwei Ärzten unterzeichnen lassen, glaube ich.« Ihren Gesichtsausdruck konnte er nicht deuten. Es gibt keinen Kunstgriff, dachte er, mit dem sich die Gedanken von einem Gesicht ablesen ließen. Verbrennt ihn, vernichtet ihn, verstreut die Asche, damit ich ihn für immer los bin - waren das ihre Gedanken? Oder wahrscheinlich eher: Ich habe ihn einmal geliebt, früher schien er anders, hätte er doch der sein können, den ich in ihm sah, als wir jung waren... »Wie kommen Ihnen die Jungs vor?« fragte er sie. »In Ordnung.« »Ich möchte noch einmal mit ihnen sprechen, besonders mit Edward - über den Mann, der letzten Dienstag morgen um acht hier war.« Fay nickte, offenbar weder erschrocken noch erfreut. »Ich werde dieses Haus verkaufen. Ich will es zum Verkauf anbieten, wenn« - sie benutzte einen unter den gegebenen Umständen ungewöhnlichen Ausdruck - »sich die Aufregung gelegt hat.« Darauf wußte er nichts zu sagen. »Was ging, hat er den Kindern hinterlassen, wissen Sie. Das Haus läuft auf meinen Namen, warum er das seinerzeit gemacht hat, weiß ich auch nicht, wahrscheinlich um Steuern zu sparen. Er hat immer behauptet, ich könnte nicht mit Geld umgehen. Soll ich Edward jetzt hereinrufen?« »Ich glaube, da kommt er gerade von selber, Mrs. Devenish.« Sie bekam plötzlich etwas Farbe ins Gesicht, es war fast ein Erröten. »Denken Sie jetzt bitte nicht, ich will Sie zurechtweisen, Sie brauchen es sich noch nicht zu merken, aber ich nehme meinen Mädchennamen wieder an. In Zukunft heiße ich Ms. Dodds.«
Edward kam vom Garten herein. Wexford hätte schwören können, daß er in den letzten paar Tagen ein Stück gewach 336 sen war. Er kam allmählich in die Pubertät und sah aus wie ein Teenager. »Setz dich doch, Edward!« Der Junge sah fragend zu seiner Mutter hinüber. Auf ihr zustimmendes Nicken hin setzte er sich kerzengerade in den unbequemsten Stuhl neben ihnen und sah Wexford unverwandt an. »Der Mann, den du an dem Morgen hereingelassen hast, als dein Vater starb, hast du als 'So einen Mann« beschrieben. Ginge das ein bißchen genauer?« Als er sah, daß der Junge nicht recht verstand, was er meinte, half er nach. »Kannst du ihn mir beschreiben? Mach die Augen zu und versuch ihn dir vorzustellen.« Edward schloß die Augen, machte sie dann aber gleich wieder auf. Er sah wieder seine Mutter an und sagte: »Er war ein ganz normaler Mann. Ungefähr in Dads Alter, das hab' ich Ihnen doch schon gesagt.« Er verzog das Gesicht, als würde er angestrengt nachdenken. »Ich glaube, er hatte Jeans an und vielleicht ein Jackett. Ach ja, und er hatte eine Tasche dabei.« »Was für eine Tasche? Eine Aktentasche?« »Eine große Aktentasche«, sagte Edward. »Es läutete also, während du mit Robert in der Eingangshalle warst und gerade zur Haustür wolltest. Die Tür zum Arbeitszimmer deines Vaters ist auf der rechten Seite. War diese Tür geschlossen?« »Ich glaub' schon. Vielleicht war sie auch bloß - äh, angelehnt.« »Aha. Du bist also an die Tür gegangen und hast den Mann mit der Aktentasche davor stehen sehen. Was hat er gesagt? Und was hast du gesagt?« »Ich glaub', ich hab' zuerst gar nichts gesagt. Er sagte: »Ich möchte gern Mr. Devenish sprechen.«« »Hatte er eine tiefe Stimme, eine hohe Stimme, was für eine Stimme hatte er?« »Eine ziemlich tiefe«, sagte Edward. »Eine ganz normale Männerstimme eben.« 336 Fay Devenish hatte sich bemüht, keinerlei Interesse zu bekunden, und den Blick in Richtung Garten gewandt, von wo Jane Andrews, Robert und Sanchia nun langsam aufs Haus zugeschlendert kamen. Doch nun drehte sie sich zu Edward um und beobachtete ihn mit unergründlichem Blick.
Wie auf ein Stichwort hin sagte er, und er sagte es mit der Überheblichkeit eines in Privatschulen erzogenen Kindes wohlhabender Eltern: »Er sprach mit dem hiesigen Akzent. So wie Sie, bloß noch ein bißchen stärker.« Wexford beschloß, nicht darauf einzugehen. Innerlich mußte er schmunzeln. Unmöglich, diesem armen Kind böse zu sein. »War er dick? Dünn? Dunkelhaarig? Blond?« »Ich weiß nicht. Hab' nicht drauf geachtet.« »Es wäre dir doch aufgefallen, wenn der Mann wirklich dick gewesen wäre, oder nicht?« »War er aber nicht. Er war ganz normal.« »Kam dein Vater aus dem Arbeitszimmer, oder hast du die Tür aufgemacht und den Mann hineingeführt?« »Ich hab' die Tür aufgemacht. Ich sagte bloß: >Hier reim, und bin dann mit Robert gegangen. Wir machten die Haustür hinter uns zu wie immer. Wir mußten zu Mrs. Daley rüber und wußten, es würde Ärger geben, wenn wir zu spät kämen.« »Hast du die Tür zum Arbeitszimmer hinter dem Mann zugemacht?« Edward wirkte plötzlich gelangweilt, als hätte er jedes Interesse verloren. »Weiß ich nicht mehr. Kann ich jetzt gehen?« »Ja. Ich will aber noch mit deinem Bruder sprechen.« Ein hoffnungsloses Unterfangen. Robert war so kindisch, wie Edward eigentlich unerfreulicherweise - ernst und erwachsen war. »Er sah aus wie Batman.« »Weißt du noch, was er sagte, Robert?« »Er hat gesagt: >Scherz oder Keks-, und ich hab' gesagt: >Wo ist Godzilla, und da wurde er auf einmal ein Bär, ein schwarzes Fell ist ihm gewachsen, und er hat gebrüllt und seine 337 großen Zähne gezeigt. Und da hab' ich gesagt: »Du bist ja gar nicht Godzilla, du bist das Biest.-« Robert überschlug sich fast vor Gelächter und wälzte sich zu Wexfords größtem Erstaunen lachend und kreischend auf dem Boden. Jane Andrews kam herein, stupste Robert mit der Zehe leicht an und sagte lehrerinnenhaft: »»Steh auf. Na komm, hör auf zu spinnen.« Dies zeitigte eine Wirkung, jedoch nicht unbedingt die gewünschte, denn dem Gelächter des Jungen folgte ein Weinkrampf. Fay legte die Arme um ihn, und er schluchzte an ihrer Schulter. Als ihr Blick sich über seinen Kopf hinweg mit
dem Wexfords kreuzte, konnte dieser nur Leere darin erkennen und trostlose Resignation. Jane war heute zwar in Jeans und Sweatshirt, hatte sich jedoch stark geschminkt und trug Ohrringe, eine lange, silberne Halskette und eine große Armbanduhr mit schwarz-silbernem Zifferblatt. Sie wirkte zufrieden mit sich, froh, etwas zu tun zu haben und sich nützlich machen zu können, die Freundin der Heldin, ihre größte Stütze, ihr Stecken und Stab. »Ich werde so lange hierbleiben, wie Fay mich haben will«, sagte sie, »so lange ich gebraucht werde.« Mit diesen Worten beugte sie sich hinunter, um Sanchia hochzuheben. Doch das kleine Mädchen zeigte beim Anblick ihres Bruders im Arm der Mutter sofort Anzeichen von Eifersucht und stieß Jane beiseite, um neben Robert hochzuklettern. Der schon fast halbwüchsige Edward zögerte nicht lange, doch weil er in Fays Sessel kein Eckchen mehr für sich fand, baute er sich dahinter auf und schmiegte die Wange an ihr Haar. Wexford und Jane Andrews sahen einander an, und Jane lächelte. »Liebesbombardement, wie die Psychologen sagen würden«, meinte sie. 338
24
Eine Stecknadel im Heuhaufen unterscheidet sich im Prinzip nicht allzusehr von einem Messer in etwa vierzig Hektar Waldgebiet, durchsetzt mit Gärten, Strauchwerk und Hecken sowie einem darunter liegenden verzweigten Abflußsystem. Sämtliche Abläufe waren nach dem Messer abgesucht worden, und die Constables Peach und Brodrick waren mit der unerquicklichen Aufgabe betraut worden, den Abfall zu durchsuchen, den Agate PLC, die Kingsmarkhamer Müllabfuhr, an jenem Dienstag morgen an der Ploughman's Lane abgeholt hatte. Lediglich aus einem Haushalt war ein Messer in die Mülltonne gesteckt worden, allerdings die falsche Sorte, ein kurzes Sägemesser. Sämtliche Messer aus Woodland Lodge wurden Fay Devenish zurückgegeben, doch zuvor sah Wexford sie sich - wohl zum zwanzigstenmal - genau an, begutachtete ihre langen, glatten oder gezackten Klingen und die Griffe aus dunkelbraunem oder - in zwei Fällen - ausgebleichtem Horn. Besonders eingehend besah er sich die beiden, eins mit dunklem, das andere mit hellem Griff, deren Klingen in Stephen Devenishs Wunden paßten. »Er muß das Messer in der Aktentasche mitgebracht haben«, meinte Bürden. »Mitgebracht und wieder mitgenommen. Unser junger Freund Edward behauptet, es war eine große Aktentasche. Fragt sich nur, wie groß? Groß
genug, um darin etwas zu verstauen, womit er seine Jacke und Jeans bedecken konnte? Zum Beispiel einen Regenmantel?« »Kommen Sie mir bloß nicht mit Regenmänteln«, sagte Wexford. »Dora nimmt mich am Samstag mit nach London, um einen neuen zu kaufen. Wieder einen Burberry, meint sie. 339 Weiß der Himmel, was die inzwischen kosten.« Er seufzte. »Damit wollen Sie wahrscheinlich sagen, dieser Mensch brachte einen Regenmantel mit, um damit seine blutbefleckte Kleidung zu bedecken. Womöglich war es meiner. Der ist im Muriel Campden Estate verlorengegangen.« »Jetzt seien Sie doch mal ernst! Er mußte seine Kleider ja wohl irgendwie bedecken.« »Anscheinend ist es egal, ob er es getan hat oder nicht«, brummte Wexford mißmutig. »Es hat ihn ja keiner gesehen.« »Stimmt, aber das konnte er doch nicht wissen, oder?« Wexford antwortete nicht darauf. »Carl Meeks hat auch keiner gesehen. Wenn man jemanden überprüfen will, der jeden Tag um die gleiche Zeit eine regelmäßige Aufgabe ausführt, wie etwa mit dem Hund spazierenzugehen oder auch einfach zur Arbeit zu fahren, steht man natürlich vor dem Problem, daß die Leute, die denjenigen dabei sehen, sich nicht mehr erinnern, wann sie ihn gesehen haben. Alle erklären, sie sehen Meeks und sein Riesenvieh Buster oft, aber nicht immer. Und sie können sich nicht erinnern, an welchen Tagen sie ihn tatsächlich gesehen haben. Darren Meeks trug seine Zeitungen aus, weiß es also nicht. Scott lag noch im Bett. An dem Tag war am Morgen zwar noch Schule, doch unser Freundchen Scott ist sicher nicht der Favorit auf der Anwesenheitsliste, vorausgesetzt, es gibt solche Fleißzettel überhaupt noch. Linda Meeks sagt, er geht immer mit dem Hund raus, ohne Ausnahme.« »Reg«, sagte Bürden, »glauben Sie wirklich, Carl Meeks hat Devenish umgebracht? Es ist über zwei Jahre her, daß Devenish ihn die Treppe hinuntergeworfen hat - oder was auch immer er in Wirklichkeit mit ihm angestellt hat. Angenommen, er wollte sich an Devenish rächen, wieso hat er dann so lange damit gewartet?« »Und wenn er tatsächlich so lange gewartet hat, was hat ihn dann letzten Dienstag dazu getrieben? Es kann doch durchaus möglich sein, daß Meeks Devenish irgendwo begegnete, vielleicht sogar in ein Seaward-Büro ging, um es noch mal zu versuchen, und wieder grob hinausbefördert wurde.« 339
»Nein, kann es nicht«, trumpfte Bürden auf. »Das habe ich nachprüfen lassen. Keiner der Mitarbeiter in den Seaward-Büros in Kingsmarkham, Brighton und Gatwick hat seit der Treppenwurf-Szene etwas von Meeks gesehen oder gehört. Möglich, daß Devenish ihn auf der Straße getroffen und beleidigt hat oder etwas ähnliches... « »Wir haben allerdings keinerlei Grund zu dieser Annahme.« »Jetzt will ich Ihnen mal etwas sagen«, meinte Bürden. »Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben.« »Ob ich was bemerkt habe?« »Gillian Ferry.« »Was ist mit ihr?« »Mrs. Ferry ist Lehrerin an der Schule, die auch Edward und Robert Devenish besuchen. Sie unterrichtet Englisch an der Francis-Roscommon-Schule in Sewingbury.« Wexford überlegte. »Stimmt. Ist das denn wichtig?« »Keine Ahnung. Es stellt aber sozusagen eine doppelte Verbindung zwischen den Ferrys und den Devenishs her. Finden Sie das nicht ein bißchen merkwürdig?« Es war kurz nach zehn, als Sylvia den Hörer auflegte. Sie hatte zwanzig Minuten mit einer Frau gesprochen, die zwar angerufen hatte, ihren Namen aber nicht hatte preisgeben wollen. Zum Glück hatte es in der Zwischenzeit keine anderen Anrufe gegeben. Sie stand auf, trat ans Fenster und sah in die Gärten hinaus. Hell leuchteten die Fenster in den Häusern an der Kingsbrook Avenue durch die Dunkelheit. Die Rasenflächen wirkten wie Streifen aus grauem Samt, und die Zypressen sahen aus wie zipfelbemützte Gestalten. Nichts, fand Sylvia, schärfte die Vorstellungskraft so sehr wie die einsamen Stunden am Notruftelefon. Sie hätte so gern jemandem erzählt, was die anonyme Frau ihr gesagt hatte. Griselda durfte es natürlich erfahren oder Lucy - schließlich war Sylvia keine Priesterin und es handelte sich um keine Beichte -, doch Griselda war auf Urlaub, und die überarbeitete Lucy hatte sich wahrscheinlich schlafen gelegt. 340 Eigentlich wollte Sylvia es vor allem ihrem Vater erzählen, allerdings nicht ohne Griseldas oder Lucys Einverständnis. Während sie so dastand und die Rückseiten der Häuser betrachtete, in denen allmählich die Lichter ausgingen, dachte sie über ihren Vater nach, wie aufmerksam er zuhören und wie klug er ihr antworten würde. Wenn sie schon zu ihrem Mann kein besseres Verhältnis
hatte, dachte Sylvia, so doch zu ihrem Vater. Auch etwas Gutes, das The Hide bei ihr bewirkt hatte. Gespiegelt in der schwarzen Scheibe sah sie, wie die Tür hinter ihr aufging und Tracy Miller im rosafarbenen Trainingsanzug eintrat, das lange Haar auf dem Kopf zusammengesteckt. Sylvia drehte sich lächelnd um, froh über ein wenig Gesellschaft. Vor dem Schlafengehen kam Tracy oft noch auf ein halbes Stündchen herein. Ihre Kinder weckten sie morgens immer regelmäßig um sechs. »Ich hatte gerade so einen - so einen bedrückenden Anruf, Tracy.« »Wollte dir so ein Dreckskerl wieder die Titten abhacken?« Sylvia lachte. Sie lachte tatsächlich, was nur bewies, wie abgehärtet man werden konnte oder wie sehr sich mit der Zeit auch die schrecklichsten Vorstellungen abschwächten. »Kein Mann. Es war eine Frau. Ich würde es dir gern erzählen, aber ich darf nicht. Du kennst ja die Regeln. Es ist absolut vertraulich.« »Ich weiß. Bloß weil sie das wissen, weil sie euch vertrauen, rufen euch die armen Dinger ja überhaupt an.« »Hast du beim Notruf angerufen, bevor du hierherkamst?« »Ich? Ich hab' geschlagene zehn Mal angerufen, bevor ich mich getraut habe, den Absprung zu wagen. Da hatte er aber schon die Schranktüren zugenagelt, damit ich nicht an meine Kleider konnte, und meine Schuhe zerschnitten. Eine Woche bin ich barfuß rumgelaufen. Na, du weißt ja, was für einer das ist. Der hat dir ganz schön Angst eingejagt, als er über die Mauer kam, stimmt's?« Sylvia nickte. »Sie hat mich um Rat gebeten, und ich habe 341 ihn ihr gegeben. So gut ich eben konnte. Ich bin ja keine Rechtsanwältin. Mir fiel nur etwas ein, was ich einmal gelernt hatte, und ich riet ihr, vorsichtig zu sein und, wenn es sein muß, zu lügen. War das falsch, Tracy?« »Mich darfst du nicht fragen, Schatz. Was weiß ich denn schon? Was sein muß, muß sein, kann ich da bloß sagen.« Die Krematoriumskapelle war nicht älter als fünf Jahre, die Wände waren hübsch mit Hartholz getäfelt, und die Fenster erinnerten im Stil stark an Chagalls Buntglasfenster. Die dunkelgrünen Leinenvorhänge hatte eine örtliche Kunsthandwerkerin mit himmlischen Gestalten, Galaxien und langschweifigen Kometen bestickt, und als Kanzel diente ein glänzend polierter Metallzylinder, durch dessen sternförmige Ausschnitte mildes Licht schimmerte. Trotzdem war es ein düsterer, trostloser Ort, kalt, kahl und eigentlich für mehr Trauernde gedacht, als die intarsiengeschmückten Ahorn-
bänke je aufnehmen würden. Oft kamen nicht mehr als zehn Trauergäste - wie auch heute, als sich die Angehörigen und ein paar Bekannte versammelten, um Stephen Devenish einäschern zu lassen. Der Mann im Regenmantel, einem Burberry, der seinem eigenen, verlorenen, sehr ähnlich sah, dachte Wexford, war bestimmt ein Vertreter von Seaward Air. Verlegen saß er da, seinen hellgrauen Filzhut auf dem Schoß. Devenishs Assistentin erkannte er wieder, eine chic gekleidete junge Frau in schwarzem Kostüm und sehr hochhackigen schwarzen Lackschuhen, die zwei Reihen hinter ihm saß. Außergewöhnlich, wie ostentativ die Leute es vermieden, sich neben jemanden zu setzen, den sie nicht kannten. Vier Plätze von ihr entfernt saß Trevor Ferry. Nun kann jeder auf eine Beerdigung gehen, ohne dazu eingeladen zu werden. Trotzdem war Wexford überrascht, ihn hier zu sehen. War er gekommen, um zu jubeln und zu frohlocken oder einfach um still zu feiern? Ferry sah nicht in seine Richtung, sondern saß da und starrte das abstrakte Bild 342 an der Wand an, von dem sich schwer sagen ließ, ob es einen Engel oder einen Lebensbaum darstellte. Fay kam mit ihrem Vater und ihrer Mutter herein, Jane Andrews ging mit Edward hinter ihr. Damit war die gesamte Trauergemeinde auch schon versammelt. Devenishs Eltern lebten nicht mehr, und er hatte zwar eine Schwester, aber die war weggeblieben. Blumen gab es nicht, und falls Fay anstelle von Blumen um Spenden für einen wohltätigen Zweck gebeten hatte, wurde auf eine derartige Anregung nicht hingewiesen. Einmal erhob sich der Vertreter von Seaward und schien eine Art Lobrede auf den Verstorbenen halten zu wollen, doch als Fay ihn antippte und ihm etwas zuflüsterte, setzte er sich wieder hin. Lieder wurden keine gesungen. Dezent erklang Händels Wassermusik, ein paar Worte aus dem Gebetbuch wurden gemurmelt, dann wurde der Sarg langsam weggezogen, bis er hinter den beigefarbenen Samtvorhängen verschwand, und Devenishs Leichnam wurde dem Feuer überantwortet. Ohne eventuelle Abschiedsworte oder den feierlichen Schluß der Zeremonie abzuwarten, stand Fay auf und ging, und die kleine Trauergemeinde folgte ihr allmählich hinaus. Der Geistliche, der die Zeremonie abgehalten hatte, sah verlegen aus. Die Musik verstummte. Draußen stieg der Mensch von Seaward in den schwarzen Mercedes, der bereits auf ihn wartete, und wurde davongefahren. Wexford sah sich plötzlich in Gesellschaft von Trevor Ferry den langen Kiesweg entlanggehen.
»Das war vielleicht ein komisches Theater«, meinte Ferry im Plauderton. »Fort mit Schaden, was?« »Meinen Sie, ja?« fragte Wexford belustigt. »Na ja, Sie etwa nicht? Sie wollen wahrscheinlich wissen, was mich hergeführt hat.« »Wenn Sie es mir sagen möchten.« »Bitte, ich schäme mich deswegen nicht. Tatsache ist, ich bin ein armer Mann na, das wissen Sie ja. Ich bin arbeitslos und werde es wahrscheinlich auch bleiben. Mir ist langweilig. Kino kann ich mir nicht leisten, und schon gar nicht 343 die Mitgliedschaft in einem Club. Ich hab' schon ganz viereckige Augen - so nannte man das früher, als ich ein Kind war - vom vielen Fernsehen. Und drum geh' ich ganz gern mal wohin, wo es nichts kostet.« »Zum Beispiel auf Beerdigungen?« »Warum nicht? Auf Hochzeiten kommt man ja nicht, jedenfalls nicht auf die guten. Außerdem - ob Sie's glauben oder nicht, nach allem, was passiert ist tut mir der arme Teufel leid. So schlecht war er doch gar nicht. So ein Ausflug ist mal was anderes, nicht? Manchmal geh' ich zum Bahnhof runter und schau zu, wie die Intercitys durchfahren.« Wexford sagte nichts. Es hatte wieder zu regnen begonnen, ein Tropfen fiel ihm auf die Nase, und er konnte die münzgroßen Flecken auf dem Bürgersteig sehen. »Jedenfalls konnte ich mich mit Ihnen unterhalten. Eine schöne Abwechslung. Was anderes, wo ich noch mitmache, ist die Kingsmarkhamer SaubereStraßen-Nachbarschaftskampagne.« Sie hatten den Parkplatz fast erreicht, wo Donaldson schon auf Wexford wartete. Er drehte sich um und warf einen Blick auf das zuckerhutförmige Krematorium mit den Stahltüren und dem gläsernen Kreuz auf der Spitze. »Wobei?« »Haben Sie davon noch nichts gehört? Wir werden in Gruppen eingeteilt und sammeln dann in bestimmten Gegenden den Abfall ein. Och, bezahlt wird das nicht, das läuft alles ehrenamtlich. Aber man kommt unter die Leute, kann ein bißchen reden. Ich habe ein paar sehr anständige Leute kennengelernt, außerdem bekommt man in der Pause Kaffee und Plätzchen. Dienstag ist immer mein Tag. Der einzige Nachteil ist, daß man verdammt früh anfangen muß - um acht Uhr morgens muß man schon auf dem Rathausvorplatz sein.«
Wexford war so erstaunt und gleichzeitig so entgeistert, wie jemand sich in einem derartig verzweifelten Stadium der Langeweile und Untätigkeit befinden konnte, um über diese Art der Zerstreuung froh zu sein, daß es eine Weile dauerte, bis er Ferrys Worte begriff. Und als er sie dann begriffen hatte, und 344 Ferry meinte, er müsse jetzt aber los zum Bus, bevor es richtig anfinge zu gießen, sagte er nichts außer einem kurzen Abschiedsgruß. Am selben Abend wurden Patrick Flay und Monty Smith bei einem Einbruch in einem Haus im Orchard Drive erwischt. Kaylee hatten sie nicht dabei. Die Nachbarn erkannten Flay wieder, beziehungsweise sie erkannten den Eindringling, den sie gerade eine Glasscheibe aus dem Fenster nebenan schneiden sahen, als den Mann wieder, den sie einmal bei einer Wirtshausschlägerei vor dem York Arms gesehen hatten. Wer immer es sein mochte, sie waren überzeugt, daß er kein Recht hatte, sich Zugang zum Haus ihrer Nachbarn zu verschaffen, und verständigten die Polizei. Es war Viertel vor zwölf. Die Polizei kam leise, gelangte auf dieselbe Art ins Haus, wie Flay und Smith hineingelangt waren, und fand beide Männer im ehelichen Schlafzimmer damit beschäftigt, Schmuck und Ziergegenstände in eine Reisetasche aus Segeltuch zu stecken. Monty Smith meinte, er sei ein gesetzestreuer Mensch, der sich von Patrick Flay nur vom rechten Weg habe abbringen lassen. Flays Frau habe ihm Obdach gewährt, nachdem ihn seine Freundin hinausgeworfen habe. Trotzdem - wäre er nicht aus seinem Heim gewiesen worden und hätte völlig mittellos auf der Straße gestanden, hätte er es nie getan. Flay sagte überhaupt nichts, sondern sprang aus dem Fenster. Das Ergebnis war, daß er sich ein Bein brach, und - während Smith zum Polizeirevier gefahren wurde - im Krankenwagen fortgebracht werden mußte. In der Prinzessin-Diana-Gedächtnis-Klinik, wo er im Streckverband lag, teilte er Bürden am nächsten Morgen mit, daß er außer der einen, die er Colin Crowne geschenkt hatte, zwei Benzinbomben an John Keenan und zwei an Peter McGregor verkauft hatte. »Wer ist Peter McGregor?« »Der Typ, der mit Sue Ridley zusammenlebt, neben den Crownes.« 344 Bürden fiel dazu nichts ein. »Jetzt kann ich's euch ja erzählen«, meinte Flay, »wo ich sowieso für weiß Gott wie lang eingebuchtet werde. Vorher hab' ich nichts gesagt, weil ich Angst hatte, daß die mir die Hölle heiß machen.«
Bürden kam die ganze Sache höchst unwahrscheinlich vor. »Und die Geschichte mit Kaylee und dem Katzentürchen?« »Bevor ich verurteilt werde«, verkündete Flay ziemlich großspurig, »werde ich um Einbeziehung einer ganzen Reihe von Straftaten bitten.« »Na, das glaube ich.« »Ich kann jetzt nicht mehr reden, ich habe Schmerzen. Mein Bein fühlt sich an, wie wenn es brennen würde. Wissen Sie was - seit einer Stunde sind Sie hier und haben mich nicht einmal gefragt, wie's mir geht!« Bürden traf sich mit Wexford zum Mittagessen im Europlate. Wexford sagte, mehr als eine Dreiviertelstunde könne er nicht erübrigen, hoffentlich würde Henri gleich in die Gänge kommen. Der mächtige Glasgower kam wie aufs Stichwort herbeigeeilt, um ihnen die Tagesgerichte aufzuzählen: souffle pomodoio secco und ossobuco d l'oiange. Wexford riet ihm, es zu vergessen. Er nehme den Hecht mit Pellkartoffeln und sein Freund den Lammbraten. »Gut gewählt«, versetzte Bürden und unterließ es zu erwähnen, daß er gar nicht konsultiert worden war. »Wissen Sie was - Jennys Schwester hat eine italienische Freundin, die ihr Leben lang in der Toskana gewohnt hat, ohne je von getrockneten Tomaten gehört zu haben, bis sie sie in einem Restaurant in Soho gegessen hat.« Wexford lachte. »Auf der Beerdigung habe ich Trevor Ferry getroffen.« Er erzählte Bürden von dem Gespräch. »Vom Büro aus habe ich im Rathaus angerufen - na ja, heutzutage heißt es ja nicht mehr Rathaus -, in dem Gebäude, in dem früher die Midland Bank war und wo jetzt die Kingsmarkhamer Saubere-Straßen-Nachbarschaftskampagne untergebracht ist. Was glauben Sie, was die mir gesagt haben?« 345 »Daß Ferry blutüberströmt am vereinbarten Treffpunkt angekommen ist«, sagte Bürden etwas säuerlich. »Das denn doch nicht. Das Gebiet, das sie am Dienstag bearbeitet haben, sagten sie mir, umfaßt Winchester Drive, Harrow Avenue, Eton Gardens und die angrenzenden Straßen.« '»Na und? Winchester Drive liegt der Ploughman's Lane am nächsten, ist aber immer noch eine gute halbe Meile entfernt.« »Stimmt. Ich habe mich eingehend nach der Kampagne erkundigt. Offensichtlich können die Leute in Gruppen oder einzeln arbeiten - das heißt, ein Mann oder eine Frau können selbständig eine Straße bearbeiten. Und letzten Dienstag sind kaum Leute erschienen - das übliche Schicksal dieser Art von Unternehmungen, fürchte ich.«
Bürden überlegte. »Sie wollen damit sagen, Ferry war sich selbst überlassen und hätte, während er allein war, zu Woodland Lodge hinauf entwischen können.« »Ich habe jedenfalls vor, es herauszufinden. Hier kommt ja unser Eurofestmahl.« Eine Flasche Mineralwasser kam ebenfalls. Bürden schenkte jedem ein Glas ein. »Karen ist noch einmal auf ein Wort mit Mrs. Probyn nach Brighton gefahren. Beziehungsweise auf ein paar tausend Wörter. Barry und Lynn sind im Muriel Campden Estate und hoffen immer noch, den Beweis für Meeks' Behauptung zu finden, er sei an dem Dienstag wie gewöhnlich mit dem Hund draußen gewesen. Und falls das nicht stimmt, haben sie die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, jemanden zu finden, der ihn etwa um halb acht ohne den Hund gesehen hat.« Wexford probierte seinen Hecht und nickte voll zurückhaltender Anerkennung. »Nicht schlecht. Die Sache ist aber die, Mike, Ferry hat gelogen. Er log, als er sagte, er wäre am Dienstag um acht Uhr früh im Bett gewesen, und als er mal nicht auf der Hut war, hat er die Lüge vom letztenmal einfach vergessen und die Wahrheit gesagt.« »Sie meinen, er war tatsächlich mit den Saubere-Straßen-Leuten draußen?« 346 »Die Organisatorin hat sich an ihn erinnert. Es erschienen nämlich so wenig Leute, daß sie sich an diejenigen, die doch kamen, genau erinnert. Darunter war übrigens auch Shirley Mitchell.« »Was, die Shirley Mitchell, die zwei Häuser weiter neben den Orbes wohnt?« »Genau die.« »Haben Sie schon mit ihr gesprochen?« »Noch nicht«, sagte Wexford. »Aber wenn sie mir sagt, daß Trevor Ferry gleich verschwunden ist, als sie am Winchester Drive ankamen, lasse ich sein Haus auf den Kopf stellen.« Nachdem sie - auf die Minute pünktlich - wie verlangt auf dem Polizeirevier eingetroffen war, sagte ihm Shirley Mitchell genau das. Sie begann mit ein paar einleitenden Bemerkungen über die Notwendigkeit, eine gute Bürgerin zu sein, und die Bedeutung dessen, was sie »Gemeinschaftssinn« nannte. Müll sei eine Geißel der Menschheit und trage die Hauptschuld an der Zerstörung der Umwelt. Wexford hörte geduldig zu. Dann meinte sie, die meisten Leute, die bei der Kampagne mitmachten, »bleiben irgendwann auf der Strecke«. Trevor Ferry gehöre auch dazu. Sie war der Meinung, er machte nur mit, weil
er dadurch zu einer kostenlosen Mitfahrgelegenheit auf den Hügel kam, um dort die anderweitig unerreichbare Aussicht über die Landschaft und das Flußtal des Kingsbrook genießen zu können. Andauernd drückte er sich. Sie arbeiteten nicht unbedingt immer einzeln, eigentlich war es so gedacht, daß sie in Grüppchen arbeiteten, doch sooft sie mit Ferry zusammenarbeitete, verschwand er immer wieder einmal. Soviel sie wußte, ging er dann heimlich eine schmauchen, was bei der Arbeit nicht gestattet war, da in Kingsmarkham für die städtischen Mitarbeiter, bezahlt oder unbezahlt, in der Öffentlichkeit Rauchverbot herrschte. »Raucher gehören mit zu den schlimmsten Umweltsündern«, sagte sie. »Das ist vielen Leuten gar nicht klar. Die 347 sagen sich, was macht schon die eine Kippe? Aber solche Kippen läppern sich ganz schön zusammen. Und biodingsbums sind sie auch nicht, die sind unverwüstlich.« Wexford merkte, daß er es mit einer Fanatikerin zu tun hatte. »Aber raucht Mr. Ferry denn?« »Was fragen Sie mich«, gab Shirley Mitchell schnippisch zurück. »Ich will gar nichts wissen von seinen ekligen Gewohnheiten. Sie haben mich gefragt, ob er dort war, als ich dort war, und ich sage Ihnen, er war es nicht. Wir sind im Minibus hochgefahren, wir waren bloß zu viert. Er bekam Winchester Drive zugeteilt, ich Harrow Avenue und die beiden anderen den Rest. Na ja, ich hatte mein Werkzeug parat und meine Tüte...« »Was für Werkzeug?« »Wir haben da so eine Art Stab mit einem Stachel oben-dran, und man kann auch noch ein kleineres Ding kriegen -äh, es ist nicht direkt ein Dolch, so würde ich es nicht nennen, eher so eine Art Metallstab, bei dem die Spitze scharf geschliffen ist. Sie können es sich doch vorstellen, so scharf, daß man damit etwas durchbohren und aufheben kann.« Wexford schwieg einen Augenblick und dachte an Devenish und seine Wunden. Nur ein Messer konnte sie verursacht haben, kein Stachel mit einer scharfgeschliffenen Spitze. Trotzdem war die Sache merkwürdig, viel merkwürdiger, als er erwartet hatte. Statt einer Erwiderung bat er sie, ihn einen Augenblick zu entschuldigen, und ging hinaus. Vom nächstgelegenen Telefon aus rief er Barry Vine an. »Schauen Sie mal, ob nach der morgendlichen Säuberungsaktion letzten Dienstag alle Werkzeuge wieder zur Gemeinde zurückgebracht worden sind, Barry. Und wenn nicht, was noch fehlt.«
Shirley Mitchell saß in seinem Büro und starrte wie gebannt auf einen Gegenstand, der vor vielen Jahren einmal als Aschenbecher gedient hatte. Als Wexford zurückkam und ihr gegenüber Platz nahm, schob sie den Aschenbecher etwas weiter von sich weg, als stellte er immer noch eine Gefahr dar. 348 »Wann würden Sie also sagen, haben Sie Mr. Ferry an dem Morgen zum letztenmal gesehen? Sie trafen sich um halb acht, fuhren vermutlich fünf Minuten später mit dem Minibus los und wurden oben abgesetzt um - wann? Um Viertel vor?« »Kurz vor Viertel vor«, sagte sie. »Der Punkt, wo wir abgesetzt werden, ist in der Harrow Avenue. Die anderen gingen mit ihren Werkzeugen gleich los. Ach ja, Ferry hatte auch eine Tasche bei sich.« Wexford spürte, wie sich seine Muskeln anspannten. »Was für eine Tasche? Eine Aktentasche?« »So würde ich's nicht nennen. Die Tasche bringt er immer mit. So ein Ding aus Segeltuch, mit Leder abgesetzt - Korrektur, eher mit Plastik abgesetzt. Würde mich nicht wundern, wenn er darin seine Kippen mitbringt und womöglich eine Flasche. Ich habe ihn bei der Arbeit schon trinken sehen. Ich habe ihn auch Sandwiches essen sehen.« Selbst die letzte Bemerkung hörte sich bei ihr wie ein Verbrechen an. Wexford runzelte die Stirn. »Sie haben ihn also nach sieben Uhr fünfundvierzig eine Zeitlang nicht gesehen? Wann haben Sie ihn dann wiedergesehen?« »Als ich am anderen Ende der Harrow Avenue ankam, wo sie in den Winchester Drive mündet. Ich hatte eine Seite durch und fing dann mit der anderen an. Er hat mir zugewinkt. Sie wollen wissen, wie spät es war? Es war schon neun, wenn nicht gar ein bißchen später.« Als sie gegangen war, teilte ihm Barry Vine mit, daß von den kurzen Stachelwerkzeugen der Bürgerkampagne seit letzten Dienstag morgen eins fehle. Der Verlust sei erst bemerkt worden, nachdem die freiwilligen Helfer bereits auf dem Rathausvorplatz abgesetzt worden waren. Wexford ließ sich an seinem Schreibtisch nieder und las den Obduktionsbericht über Stephen Devenish noch einmal durch. Er hatte ihn mindestens schon dreimal gelesen. Wieder erfuhr er, daß Devenishs Wunden von einem glatten Messer mit einer fünfzehn bis zwanzig Zentimeter langen Klinge stammten. Er war da 348
von ausgegangen, daß das Werkzeug der Bürgerkampagne zylindrisch geformt war und eine scharfe Spitze hatte, ähnlich wie ein Bleistift. Er würde sich eins ansehen müssen. Aber vorher machte er sich noch daran, einen Durchsuchungsbefehl für Ferrys Haus zu beantragen. »Er hätte rechtzeitig dort sein können«, sagte Bürden. »Auch zu Fuß. Bis ungefähr acht hätte er in die Ploughman's Lane und den Weg zu Woodland Lodge hochlaufen, an der Tür klingeln, hineingehen und die Tat begehen können.« »Es ist aber doch etwas knapp, nicht?« Obwohl es seine eigene Idee war, blieb Wexford skeptisch. »Er muß Punkt acht oben angekommen sein, denn Edward und Robert waren um fünf nach schon bei Mrs. Daley. Ich würde ihn nicht direkt sportlich nennen, außerdem geht es immer bergauf.« »Ein sanfter Hang«, sagte Bürden. »Selbst ein völlig unsportlicher Mensch kann in einer Viertelstunde eine halbe Meile zurücklegen. Sobald er erst einmal dort war, hatte er ja jede Menge Zeit. Stephen Devenish wurde zwischen sieben Uhr fünfundvierzig und acht Uhr dreißig getötet, Ferry hätte also durchaus noch ein Weilchen mit ihm herumstreiten können, bevor er die Tat beging.« »Hätte Devenish ihn denn nicht hinausgeworfen wie Meeks damals?« »Das ist doch unwichtig«, meinte Bürden wegwerfend. »Außerdem könnte das Gespräch am Anfang ja auch freundschaftlich gewesen sein. Dann gerieten sie aneinander. Fest steht, daß Ferry es innerhalb der Zeit leicht hätte bewerkstelligen können. Er hatte die Mittel, die Gelegenheit und das Motiv.« »Rache?« »Bitte, Reg, das wissen wir doch schon die ganze Zeit - wer immer es getan hat, tat es aus Rache. Es ist das einzig mögliche Motiv.« »Ich gehe mir jetzt die Stachelspieße ansehen«, sagte Wexford. 349 Das ehemalige Gebäude der Midland Bank in der Brook Road lag gegenüber dem Job Center und der Nationwide-Bausparkasse. Im Rahmen unsensibler Modernisierungsmaßnahmen waren der Säulenportikus und das Parthenonfries entfernt und der Vordereingang durch Schwingtüren aus weißem Metallgitter ersetzt worden, die an den Korb in einer Tiefkühltruhe erinnerten. Hier befand sich das Hauptbüro des Kingsmarkhamer Gartenbauamtes, über dessen Tür das Mann-mit Blumen-und-Frau-mitSpaten-Symbol prangte.
Beim Betreten der Eingangshalle traf Wexford auf Rochelle Keenan, die gerade aus dem Aufzug kam. Dies beeindruckte ihn nur insofern, als ihm dabei einfiel, daß sie eine Verwandte von Shirley Mitchell war, seiner morgendlichen Informantin, eine Schwester oder Schwägerin oder etwas ähnliches. Er ging nach oben in den Raum, in dem die Saubere-StraßenKampagne ihr Büro hatte, und ließ sich die Werkzeuge zeigen, die den freiwilligen Helfern zur Verfügung gestellt wurden. Shirley Mitchell hatte sie präzise beschrieben, und was er sah, überraschte ihn nicht. Es bestand kein Zweifel, daß mit jedem dieser angespitzten Utensilien ein Mensch hätte umgebracht werden können. Das kleinere erinnerte Wexford an etwas, was er zwar noch nie in Wirklichkeit gesehen, wovon er aber schon oft gelesen und gehört hatte: der Eispickel, einst bei amerikanischen Kriminalautoren sehr beliebt. Aber vielleicht sah so ein Ding überhaupt nicht aus wie dieses hier. »Ist das fehlende Gerät noch nicht zurückgebracht worden?« Kopfschütteln. Die Frau, die ihm die Werkzeuge gezeigt hatte, reagierte eher gleichmütig. Aus dem städtischen Fundus verschwand so viel, wenn es der Öffentlichkeit aus verschiedenen Gründen zur Verfügung gestellt worden war - verschwand oder wurde kaputtgemacht -, daß sie sich eigentlich eher wunderte, daß nicht noch mehr fehlte. Ob er beispielsweise schon von der tödlichen Beschädigung von Jodi, dem virtuellen Baby, gehört habe? 350 »Tödlich?« fragte Wexford nach. »Es war doch gar nicht echt.« »Das mag ja sein.« Sie klang eingeschnappt. »Es war aber sehr wertvoll.« Inzwischen hatte man sicher mit der Durchsuchung von Ferrys Haus in der Pyramid Road begonnen. Wexford sagte zu Bürden: »Absolut unmöglich, daß die Wunden in Stephen Devenishs Brust mit einem von diesen Stachelinstrumenten übereinstimmen. Im Obduktionsbericht sind sie haargenau beschrieben. Es war ein Messer, kein Stachel.« »Was ist, wenn man das Ding notdürftig abgewaschen und in ein Handtuch eingewickelt in Ferrys Schlafzimmer findet?« »Ich bezweifle sehr, daß wir es finden. Und selbst dann bleibt die Tatsache bestehen, daß ein Messer mit ganz präzisen Abmessungen benutzt wurde und kein Stachel, gleich welcher Art.« »Jetzt, wo Devenish eingeäschert ist...« »>Zwei Handvoll weißer Staub, in einer Messingurne fest verschlossen« - bloß daß Fay keine schöne Messingurne auf ihn vergeudet hätte. Es bleibt sich aber gleich. Der Obduktionsbericht ist von bestechender Präzision.«
Bürden musterte ihn skeptisch. »Was wollen Sie denn dann finden?« »Möglicherweise gar nichts. Oder vielleicht etwas, was mit Devenishs Tod in keinem Zusammenhang steht. Wissen Sie noch, worauf Sie mich hingewiesen haben, was mir entgangen war? Daß Gillian Ferry Lehrerin an der Schule ist, die die Devenish-Jungen besuchen?« »Sicher weiß ich das noch. Sie unterrichtet Englisch an der FrancisRoscommon-Schule.« »Setzen Sie sich kurz hin, Mike.« Wexford ließ sich auf einer Seite des Schreibtisches nieder und bedeutete Bürden, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Er schob den Aschenbecher weg, den Shirley Mitchell auf seine Seite gestellt hatte. »Gil 351 lian Ferry ist außerdem Robert Devenishs - nun, wir nannten das früher Klassenlehrerin, ich nehme an, heute gibt es eine andere Bezeichnung dafür. Ich kenne mich in diesen Dingen zwar nicht aus, doch ich halte Robert für ein schwergestörtes Kind, ein Kind, auf das sich die Art, wie sein Vater seine Mutter behandelt hat, vielleicht stärker ausgewirkt hat als auf seinen Bruder oder seine Schwester. Hatte er jemanden, dem er sich anvertrauen konnte? Dem er von dem Schrecklichen erzählen konnte, das zu Hause vor sich ging?« »Ich glaube, ich weiß, worauf Sie hinauswollen.« »Ja, er hatte seine Lehrerin, seine Klassenlehrerin. Angenommen, er zog sie ins Vertrauen? Sie hatte bereits allen Grund, Devenish zu hassen, er war schließlich schuld daran, daß ihr Mann seine Stelle verlor und sie wieder arbeiten mußte. Fast jede Frau - übrigens wohl auch jeder Mann - wäre tief berührt, wenn ein Kind erzählt, daß sein Vater ständig über seine Mutter herfällt. Viele würden schockiert und wütend reagieren »Wollen Sie damit sagen, Gillian Ferry hat Devenish umgebracht?« »Nein, Mike. Damit will ich sagen, sie hat die Briefe geschrieben.« 351
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So klein war das Haus und so spärlich möbliert, daß sie bei der Durchsuchung nicht viel Mühe hatten. Kaum eine halbe Stunde nachdem sie begonnen hatten, fanden sie das spitze Werkzeug, das der örtlichen Behörde gehörte. Trevor Ferry hatte gar nicht versucht, es zu verstecken, sondern es zusammen mit einem Hammer und ein paar Schraubenziehern in einer Küchenschublade verstaut. Wenn man es genau nahm, hatte er es gestohlen, tatsächlich aber hatte er es einfach aus Versehen mit nach Hause genommen. Jedenfalls war
schon bei flüchtiger Betrachtung erkennbar, daß das Gerät zwar als tödliche Waffe benutzt werden konnte, als solche aber nicht benutzt worden war. Die Tasche, die Trevor Ferry sowohl am vergangenen Dienstag wie auch gestern bei sich gehabt hatte, ließ sich beim besten Willen nicht als Aktentasche bezeichnen, nicht einmal von einem Zwölfjährigen. Es war eine weiche, formlose Reisetasche, schäbig und ziemlich lädiert, aus dunkelgrünem Segeltuch und mit hellbraunem Plastik abgesetzt. Wexford schenkte sich die Mühe, sie Edward Devenish vorzuführen. Hätte Edward überhaupt eine Aktentasche erwähnt, wenn sein jüngerer Bruder nicht damit angefangen hätte? Ferrys Entrüstung über die Durchsuchung seines Hauses war extrem, er bezichtigte Wexford der »Unloyalität«, ja sogar des »Verrats«, und zwar allein aufgrund der Tatsache, daß sie zusammen ein Krematorium verlassen und ein mehr oder weniger freundschaftliches Gespräch miteinander geführt hatten. »Gemein nenne ich so was, gemein und hinterhältig«, sagte er. »Mir unter dem Deckmantel der Freundschaft vertrauliche Details zu entlocken!« 352 Den letzten Teil ignorierte Wexford. Es war so lächerlich, daß man im Ernst gar nicht darauf eingehen konnte, und erinnerte ihn an Brian St. George. »Sie haben mir freiwillig Auskunft gegeben, Mr. Ferry«, sagte er sanftmütig. »Ich habe Sie nicht darum gebeten.« »Ich hätte wissen müssen, daß man vor euch Typen nicht den Mund aufmachen darf.« »Warum haben Sie mir erzählt, Sie seien morgens um acht noch im Bett gewesen, wenn Sie in Wirklichkeit mit der Sauberkeitskampagne unterwegs waren?« »Weil ich damals schlau genug war, den Mund zu halten. Ich wußte doch, was Sie denken würden, wenn ich gesagt hätte, ich war' um Viertel vor acht im Winchester Drive gewesen. Sie wußten doch schon, daß ich und Steve Devenish uns nicht grün waren. Jetzt kann ich es ja sagen.« »Sie sagten zu mir, ich zitiere: >So schlecht war er doch gar nicht.«« Das Blut stieg Ferry ins Gesicht, überflutete es regelrecht. Es schien sogar bis in seine Augen zu gelangen. »Ich habe ihn gehaßt«, sagte er. »Hat Ihre Frau ihn auch gehaßt, Mr. Ferry?« Viele Männer würden hinter dieser Frage die Andeutung vermuten, es habe zwischen Devenish und Gillian Ferry womöglich sexuelle Beziehungen oder den Wunsch nach sexuellen Beziehungen gegeben. Daran, daß Ferry es nicht so sah, daß er zögerte und sich seine Augen leicht verengten, merkte Wexford,
daß sich ihr Mann schon fast gedacht hatte, sie habe die Drohbriefe geschrieben. Sie war während der Durchsuchung nicht im Haus gewesen und wußte nichts davon. Ihre unterdrückte Wut brach hervor, als sie sah, daß sie die Polizei im Haus hatte, und sie ging auf Ferry los und nannte ihn einen Trottel, einen schlappschwänzigen Trottel ohne Mumm und Grips. »Du bist schwach wie ein Baby! Du bist ein Baby, überhaupt nie erwachsen geworden bist du.« Wexford fand nichts, was auf die Briefe hindeutete, hatte 353 allerdings auch nicht damit gerechnet. Sie hätte wohl kaum Kopien gemacht und sie in einer Akte abgelegt. Sie waren mit dem Computer erstellt worden, doch einen Computer hatte man bei der Durchsuchung nicht gefunden. In diesem Haushalt, in dem das Geld knapp war, hätte es Wexford auch gewundert. Bestimmt hatte sie einen der Computer in der Francis-RoscommonSchule benutzt. Er zeigte ihr den Brief, in dem in der letzten Zeile die Drohung ausgesprochen wurde, Devenishs Frau zur Witwe und seine Kinder zu Waisen zu machen, und fragte, ob sie ihn verfaßt hatte. Sie hielt ihn in der Hand und nahm sich viel Zeit zum Lesen. An ihrem Gesichtsausdruck sah er, daß sie ihr Werk bewunderte. Als sie fertig war, lächelte sie. Voller Trotz bekannte sie ihre Urheberschaft. »Ja, ich habe ihn geschrieben. Ich habe diesem Menschen eine Menge Briefe geschrieben. Mehr als hundert. Hundertsechzehn insgesamt, wenn Sie es genau wissen wollen.« Sie hob den Blick, öffnete die Augen so weit, daß sie ganz durchgeistigt wirkten. Im Dunkeln, da war Wexford sich sicher, würde ihr silbrig blondes Haar Funken sprühen. Als sie anfing zu sprechen, war ihr Gesicht verzerrt. »Ich habe sie geschrieben. Ich habe es richtig genossen, sie zu schreiben. Im Ton hielt ich sie höflich, ja sogar ziemlich förmlich. Alle begannen mit »Sehr geehrter Mr. Devenish«. Sie waren in sehr gutem Stil verfaßt, obwohl ich bezweifle, daß er das zu schätzen wußte.« Ihr Tonfall ließ erkennen, daß sie sich für gewitzt und amüsant hielt. »Ich habe es zu meinem eigenen Vergnügen getan, um mich persönlich zu rächen. Dadurch habe ich mich in vieler Hinsicht besser gefühlt.« Ihr Mann starrte sie entgeistert an und stützte dann den Kopf in die Hände. Gillian Ferry musterte ihn verächtlich. »Aus Liebe zu dir hab' ich's nicht getan«, sagte sie, »bilde dir das bloß nicht ein. Ich hätte dich damals verlassen sollen, als du dich mit deiner Sauferei um den Job gebracht hast, als du dich jeden Tag hast vollaufen lassen - weiß Gott, warum ich es nicht getan habe.« 353
An Wexford gerichtet, sagte sie etwas ruhiger: »Es war nicht wegen ihm. Oder jedenfalls nur ein bißchen. Es war hauptsächlich, weil Devenish so ein Dreckskerl war, der seiner Frau mit der Faust ins Gesicht schlug und sie schnitt und es seine Kinder sehen ließ, der sogar wollte, daß sie es sahen. Robert hat es mir gesagt, ich unterrichte Robert in der Schule, oder habe es jedenfalls versucht, aber einem Kind, das zu Hause einen Alptraum durchmacht, läßt sich ja nicht viel beibringen. Solche Kinder sind nicht direkt aufnahmefähig.« »Er hat Ihnen gesagt, daß sein Vater seine Mutter schlägt?« »»Schlagen« kann man auch dazu sagen. Ich würde es anders nennen. Er hat mir erzählt, wie diese Folter begann. Die Arme hatte einmal ein Messer mit Horngriff in die Spülmaschine gesteckt, und als es wieder herauskam, hatte das Waschmittel oder das heiße Wasser oder was auch immer den Griff ausgebleicht. Dafür hat Devenish sie geschnitten, mit demselben Messer hat er sie geschnitten.« Ihre Augen blitzten zornig auf. »Ich möchte den Kerl treffen, der Devenish umgebracht hat, ich würde ihm gern die Hand schütteln.« Wexford verwarnte sie. Sie hörte ihm gar nicht zu. »Komme ich jetzt ins Gefängnis?« »Wahrscheinlich nicht.« »Schade. Ich ginge nämlich recht gern ins Gefängnis. Es wäre einmal eine Abwechslung von hier und von dem da und der blöden Schule.« Als er nach Kingsmarkham zurückkam, erwartete Lynn Fancourt ihn schon mit der Mitteilung, daß Carl Meeks von der Liste der Verdächtigen gestrichen werden konnte. Zwei Leute waren ausfindig gemacht worden, die sich erinnerten, ihn und Buster am Tag des Mordes an Devenish morgens um acht in den Kingsbrook Meadows draußen gesehen zu haben. Ihr Bericht läge auf seinem Schreibtisch, doch wollte sie ihm noch sagen, daß es sich bei den Zeugen weder um Carls Nachbarn noch um irgendwelche dubiosen Gestalten unter den Kingsmarkhamer Bürgern handelte. Beide seien Hundebesitzer, die 354 ihre Vierbeiner ausgeführt hatten, die Frau sei die Besitzerin der Boutique in der York Street, deren Räumlichkeiten Patrick Flay ausgeraubt hatte, der Mann Collegedozent, der an der Universität in Myringham Informatik lehrte. Im Grunde war es aber Buster, der Carl Meeks aus der Patsche half. Den sah man einmal und vergaß ihn nie wieder, wie sich Wexford ausgedrückt hatte Buster war ein sehr einprägsamer Hund. Die Besitzerin der First Gear Boutique hatte ihn (zusammen mit ihrem Spaniel) an jenem Dienstag zum erstenmal gesehen. Sie wußte es deshalb noch, weil sie am Dienstag
Geburtstag gehabt hatte und sich von ihrem Freund als Geschenk gern eine Deutsche Dogge gewünscht hätte, nur hatte sie eben schon den Spaniel. Buster begann einen Kampf mit dem Tack-Russell-Terrier des Dozenten. Während sie mit menschlichen Wesen recht sanft umgingen, hatten Deutsche Doggen anscheinend die Angewohnheit, sich in kleinere Hunden zu verbeißen, sie in die Luft zu schleudern und zu Tode zu schütteln. Behauptete jedenfalls der Dozent. Er mußte mit Take zum Tierarzt, was ziemlich lästig war, denn an diesem Dienstag sollte er mit dem Kurs an der Sommerakademie in Sewingbury anfangen. Carl Meeks war, wie Bürden sich ausdrückte, aus dem Schneider. Wexford meinte: »Ferry aber nicht, oder? Nicht ganz.« »Wie meinen Sie das?« »Daß er es nicht mit dem Abfallaufspießer getan hat, muß noch nicht heißen, daß er es gar nicht getan hat. Und daß seine Frau die Briefe geschrieben hat, entlastet ihn auch nicht. Er hat immer noch kein Alibi. Er war zur fraglichen Zeit ein paar Gehminuten vom Haus der Devenishs entfernt. Er gibt zu, daß er den Mann haßte. Und noch etwas - er findet das Leben offenbar nicht lebenswert. Was hat er denn zu erwarten? In etwa zwanzig Jahren seine Rente. Seine Frau kann ihn nicht leiden. Er haust in einem Dreckloch. Vielleicht tat er es, weil ihm wie seiner Frau egal ist, was passiert, Hauptsache, eine Veränderung, und wenn es das Gefängnis ist.« 355 »Ist das nicht ein wenig extrem? So benehmen sich die Leute doch eigentlich nicht.« »>So was tut man doch nicht«, wie es bei Ibsen heißt? Vielleicht. Im übrigen haben wir einen viel plausibleren Verdächtigen.« »Ach ja?« Wexford nickte. Dann meinte er, für heute habe er genug und was Bürden von einem Drink im Olive and Dove halte? »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte er. Sie gingen zu Fuß hinüber, immer die High Street entlang. Es war ein milder Abend mit dunstigem Sonnenschein, feucht und windstill. Eine wohltätige Stiftung hielt im Gemeindehaus von St. Peter einen Empfang mit Wein und Käse ab, der dem spärlichen Besucherstrom nach aber kaum Anklang fand. Im Gegensatz dazu strömten bei Geschäftsschluß um sechs die Menschenmassen aus dem Heaven-Spent-Einkaufszentrum, schwerbeladen mit Einkaufstüten, und der tiefen inneren Erfüllung, die das Einkaufserlebnis mit sich bringt. Unter ihnen entdeckte Wexford auch Maria Michaels und Miroslav Zlatic. Er dachte an seinen verlorenen Regenmantel und die trostlose Aussicht, einen
neuen kaufen zu müssen, dann an einen früheren Besuch im Olive and Dove, als eine Zeitung ihn mit einem Bierkrug in der Hand abgelichtet und das Foto mit einer derb-spöttischen Bildunterschrift abgedruckt hatte. Er hatte es nie vergessen und fürchtete, es könnte wieder passieren. Doch das hatte sich damals draußen im Hotelgarten abgespielt, wogegen sie sich heute abend in die stille Abgeschiedenheit des Séparées verziehen würden. »Sie sind sehr still«, bemerkte Bürden. »Ich denke nach. Außerdem glaube ich nicht, daß man »sehr« still sein kann. Man ist entweder still, oder man ist es nicht. Das ist so, als würde man sagen, jemand ist sehr tot.« »Wie Devenish«, sagte Bürden. »Ich glaube, mir ist noch kein Toter begegnet, bei dem so viele Leute froh sind, daß er tot ist. Ohne jede Gegenstimme.« »Daß seine Kinder besonders froh sind, bezweifle ich, 356 Mike. Kinder besitzen die seltene Fähigkeit, auch Eltern zu lieben, die diese Liebe nicht verdienen. Man könnte sagen, Kinderliebe ist etwas ganz Selbstverständliches. Traurig.« Im Garten vor dem Olive and Dove und an der Bar drängten sich an diesem Abend die Menschen, hauptsächlich Leute unter dreißig, viele davon womöglich unter achtzehn. »In den Vereinigten Staaten lassen sie einen den Ausweis zeigen, um festzustellen, wie alt man ist«, sagte Bürden. »Schön und gut, wenn man einen hat. Und wenn man weder Paß noch Führerschein, noch Bahnausweis hat, was dann? Sagen Sie mir jetzt nicht, daß man in Amerika so etwas eben hat, das weiß ich. Tatsache ist, hier hat man es nicht.« Im Séparée saß niemand. Es war so klein und mit dem einen Fenster auf einen Hof voller Bierkästen hinaus auch so schwach beleuchtet, daß es für die Kingsmarkhamer Jugend keinerlei Anreiz bot. Die drei Tische hatten Marmorplatten, und die Sessel waren mit abgewetztem, dunkelrotem Leder bezogen. Ein weiteres Merkmal, das viele hier abschreckte, war das Schild an der Wand mit der Aufschrift: Lassen Sie sich bloß nicht einfallen, hier zu rauchen. Man ging entweder an die Bar und stand Schlange oder klingelte mit einem Messingglöckchen nach der Bedienung. Ansonsten kam hier niemand herein. Sie bestellten sich je ein Bier. Es wurde in Gläsern serviert, was Wexford besonders gefiel, obgleich er früher Krüge bevorzugt hatte. Aus einem Krug hier nannten sie sie Humpen -hatte er seit jenem unrühmlichen Tag nicht
mehr getrunken. Er prostete Bürden mit einem ungewohnten »Cheerio!« zu und nahm einen großen Schluck von seinem Bier. »Cheers«, sagte Bürden. »Ich denke immer über den jungen Edward nach, Edward Devenish. Er hätte seinen Vater töten können. Nachdem er seine Mutter in die Küche kommen sah, mit der blutenden Hand, in die Devenish sie geschnitten hatte. Er hätte ins Arbeitszimmer gehen, das Messer nehmen und seinen Vater erstechen können, ihn sozusagen überrumpeln können. Er ist ein großer, kräftiger Junge, wenn auch 357 nicht so groß wie Devenish, und wir suchen ja jemanden, der kleiner ist als Devenish.« »Und das Blut, Mike? Hat er seine Kleider abgedeckt, bevor er hineinging? Oder sie noch gewaschen, bevor er zur Schule ging? Und was ist mit Robert? War er auch mit drin? Sie vergessen, was ich über die Liebe von Kindern zu ihren Eltern gesagt habe.« »Vielleicht, aber Kinder können ihre Eltern auch töten, Vatermord, das kommt vor. Ach, übrigens, wieso nennen wir einen Vatermörder eigentlich auch Parricida, also Verwandtenmörder?« »Weiß ich nicht«, meinte Wexford ziemlich ungehalten und fügte die ganz untypische Frage hinzu: »Tut das denn etwas zur Sache?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Als sie in Frankreich noch die Todesstrafe hatten, wurden Vatermörder barfüßig und mit verhüllten Gesichtern zur Guillotine geschickt. Das habe ich irgendwo gelesen. Aber Edward und Robert Devenish haben ihren Vater nicht umgebracht.« Er zögerte. »Ich weiß, wer diesen Mord begangen hat. Es war keiner von unseren Verdächtigen. Ich glaube«, fügte er nachdenklich und etwas bedrückt hinzu, »ich habe es immer gewußt.« Bürden sah ihn nur an, ohne etwas zu sagen. »Ich sagte vorhin, ich würde Ihnen eine Geschichte erzählen.« Jemand trug einen Kasten mit leeren Flaschen auf den Hof und ließ ihn krachend zu Boden gehen. Wexford zuckte zusammen. Die Begriffe »still«, ganz zu schweigen von »sehr still«, besaßen als Zustandsbeschreibungen keine Relevanz mehr. Auf dem Land herrschte genausoviel Lärm wie in der Stadt. Er nahm wieder einen Schluck. Das Bier war allerdings immer noch recht gut. »Fay Devenish und ihr Sohn Edward und - in gewissem Sinn - auch ihr Sohn Robert haben uns gesagt, ein Mann, den Edward nicht kannte, sei an jenem Dienstag um acht Uhr morgens an die Haustür von Woodland Lodge gekommen. So ungefähr um die Zeit. Es kann auch zwei, drei Minuten vor oder zwei, drei Minuten nach acht gewesen sein.
358 Außerdem wissen wir, daß Stephen Devenish erstochen wurde, daß ihm irgendwann zwischen sieben Uhr fünfundvierzig und acht Uhr dreißig drei Stiche in die Brust versetzt wurden. Das Szenario sieht so aus: Um sieben Uhr fünfunddreißig oder sieben Uhr vierzig, wiederum grob geschätzt, steht Stephen Devenish - höchst verärgert darüber, daß seine Frau nicht in der Lage war, frischen Orangensaft zu servieren -vom Frühstückstisch auf, verläßt den Raum und begibt sich in sein Arbeitszimmer. Vielleicht macht er die Tür hinter sich zu, vielleicht auch nicht. Fay bleibt mit ihren Söhnen und ihrer Tochter Sanchia in der Küche. Nach etwa fünf Minuten ruft Devenish aus dem Arbeitszimmer - vermutlich von der Tür des Arbeitszimmers aus -nach seiner Frau. Er ruft: >Komm doch her, Fay< oder sogar, wir kennen ihn: >Komm doch mal her, Liebling.« Sie weiß, was jetzt gleich passiert, und die Jungs wissen es wahrscheinlich auch. Trotzdem geht sie. Was bleibt ihr denn anderes übrig? Wenn sie nicht kommt, holt er sie, schleift sie heraus, ein brutaler Akt, den Sanchia mit ansehen müßte. Sie geht also ins Arbeitszimmer. Devenish teilt ihr mit, daß sie bestraft werden muß, daß sie eine hoffnungslose Hausfrau und Mutter ist, daß sie verrückt ist, daß sie noch viel lernen muß und vermutlich noch einen Haufen anderes Zeug. Er sagt, sie soll die Hand ausstrecken, und schneidet ihr quer über die Innenfläche. Sie schreit wahrscheinlich auf. Sie schreit vielleicht sogar laut heraus, laut genug, daß es die Kinder in der Küche hören können. Devenish wischt das Messer an irgend etwas ab - vielleicht an seinem eigenen Taschentuch, das sie dann waschen muß - und sagt, sie soll gehen. Weil ihre Hand heftig blutet, geht sie durch die Eingangshalle in die Toilette, wo sie sie unter das kalte Wasser hält und dann in das Handtuch wickelt, das dort hängt.« »Okay«, sagte Bürden etwas ungeduldig. »Das wissen wir ja alles. Was ist neu dran?« »Warten Sie. Die Tür zum Arbeitszimmer bleibt einen Spalt offen. Fay geht wieder in die Küche, die Hand in das 358 Handtuch gewickelt. Keiner der beiden Jungen fragt, was passiert ist. Sie wissen es. Fay sagt, sie sollen sich fertigmachen für die Schule, es ist der letzte Tag vor den Ferien, und sie wissen ja, daß sie um fünf nach acht bei Mrs. Daley sein müssen. In den nun folgenden fünf Minuten gehen die Jungen in die Eingangshalle, gehen noch mal aufs Klo, waschen sich die Hände und machen sich fertig. Es
klingelt an der Tür. Edward öffnet, und dort auf der Schwelle steht ein Mann, den er noch nie gesehen hat. Dieser Mann ist etwa so alt wie sein Vater -also Mitte bis Ende Dreißig -, trägt Jeans und Jackett und hat eine Aktentasche in der Hand. Er sagt, er sei gekommen, um mit Stephen Devenish zu sprechen. Edward sagt zu dem Mann nur: »Hier rein«, wobei er auf die leicht geöffnete Tür zum Arbeitszimmer deutet. Fay hört in der Küche ebenfalls die Stimme des Mannes, nicht aber die von Edward. Das liegt vermutlich daran, daß die Stimme eines zwölfjährigen Jungen naturgemäß höher und schwächer ist als die eines erwachsenen Mannes. Außerdem kann sich zwar Edward nicht an die genauen Worte des Mannes erinnern, wohl aber Fay. Sie erinnert sich, daß er sagte: »Ich hätte gern Mr. Devenish gesprochen.« Also, ob Devenish inzwischen an die Tür gekommen war oder noch drin war, ohne daß er gesehen wurde, wissen wir nicht. Edward kann sich nicht mehr erinnern, und Robert ist zu jung, um einen verläßlichen Zeugen abzugeben. Aber nun tritt der Mann ins Arbeitszimmer und macht die Tür hinter sich zu. Das ist doch eigentlich recht bemerkenswert. Wenn einen ein Fremder zu Hause besucht und in das Zimmer gebeten wird, in dem man sich befindet, macht er die Tür doch nur dann zu, wenn er dazu aufgefordert wird, nicht wahr? Außer er ist gar kein Fremder, sondern ein guter Bekannter, dem die Vorrechte eines Freundes zugestanden werden, oder jedenfalls ein vertrauter Bekannter.« Bürden nickte. »»Ich würde es noch stärker formulieren«, sagte er. »Die Person, die hereinkommt, ist entweder ein langjähriger Freund oder eine Respektsperson. Ich meine, ich 359 mache die Tür hinter mir zu, wenn ich in Ihr Büro komme, aber Lynn würde es nicht tun. Andererseits würde Southby sie zumachen und der Chief Constable auch.« »Stimmt. Das ist hier aber nicht relevant. Ich glaube, es gibt da noch eine dritte Kategorie. Und in die Kategorie kommt jemand, der zwar ein Bekannter ist, aber kein Freund. Nämlich ein Bekannter, der zu einem Feind geworden ist und als solcher die üblichen gesellschaftlichen Gepflogenheiten oder auch nur die Regeln der Höflichkeit nicht mehr zu beachten braucht. Er oder sie wünscht Abgeschiedenheit und Stille, schließt also die Tür, ohne den Mann dort drinnen um Erlaubnis zu bitten. Die Tür wird geschlossen. Die beiden Jungs gehen aus dem Haus und machen die Haustür hinter sich zu. In der Küche gibt Fay Sanchia ihr Frühstück und versucht, das Blut zu stillen, das immer noch aus ihrer Hand strömt. Sie muß
das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine stecken und die Waschmaschine anwerfen, ganz zu schweigen von Hausputz, Bettenmachen, Einkaufen und der ganztägigen Versorgung einer Dreijährigen. Sie hört nicht, wie Devenishs Besucher aus dem Haus geht, und natürlich hört sie Devenish nicht gehen. Devenish ist ja tot, seine Leiche liegt mit drei Stichwunden in der Brust, darunter der tödlichen ins Herz, auf dem Boden im Arbeitszimmer. Fay nimmt an, er sei zur Arbeit gefahren. Sie räumt auf und putzt die Küche, steckt das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine und schaltet sie ein, hebt Sanchia aus ihrem Hochstuhl und gibt ihr etwas zum Spielen. Irgendwann in der nächsten Stunde geht sie mit ihr ins Spielzimmer und schaltet das Kinderfernsehen für sie an oder ein Video. Dann geht sie nach oben, macht die Betten, sammelt die schmutzige Wäsche ein und nimmt sie zusammen mit dem Handtuch, das sie um ihre Hand gewickelt hatte, mit in den Wirtschaftsraum und steckt sie in die Waschmaschine. »Ich nehme an, alle diese Details zur Haushaltsführung sind wichtig?« brummte Bürden verdrossen. 360 »Ich glaube schon.« Wexford trank sein Bier aus und stellte das Glas hin, wobei er sich überlegte, wieso ein Glas, auch wenn es gar nicht naß ist, immer einen feuchten Ring auf der Tischfläche hinterläßt. Eins der kleinen Rätsel des Lebens, nur hatte er jetzt die großen zu lösen. »So ungefähr um neun«, fuhr er fort, »sieht Fay bei Sanchia im Spielzimmer nach, legt vielleicht eine neue Videokassette ein. Dann geht sie ins Arbeitszimmer, um dort sauberzumachen, hat bestimmt ein Staubtuch dabei und schiebt einen Staubsauger vor sich her. Sie sieht Devenish tot auf dem Fußboden liegen und verständigt uns.« »Schon, aber einen Moment noch«, wandte Bürden ein, »wollen Sie damit sagen, es gab zwei Messer? Eins, mit dem Devenish seine Frau in die Hand geschnitten hatte, und das andere, das der Mann an der Tür mitgebracht hatte? Denn wenn Sie das nicht sagen, heißt es doch, daß der Mann an der Tür keine Tatwaffe mitbrachte, entweder weil er gar nicht vorhatte, Devenish zu töten, oder weil er wußte, daß das Messer dort für ihn bereitlag, was ja absurd ist.« »Damit will ich vielleicht sagen, daß ihm der Gedanke, Devenish umzubringen, erst kam, als sich ihm die Gelegenheit in Gestalt des Messers bot. Vielleicht sagte Devenish etwas Unerhörtes zu ihm, worauf er das Messer nahm und zustach. «
»Okay, das kann sein. Aber wer war dieser geheimnisvolle Mann, den keiner erkannte, der aber so viel Vertrautheit genoß, daß er Devenishs Tür hinter sich zumachen durfte?« »Zunächst einmal«, sagte Wexford, »möchte ich über das Messer sprechen beziehungsweise über die Messer. Wir trinken doch noch eins, nicht? Klingeln Sie mal.« Bürden kam sich vor wie in einer viktorianischen Detektivgeschichte, der Art von Lektüre, die seine Frau ihm bisweilen anempfohl, als er das Messingglöckchen nahm und dreimal kräftig bimmelte. Auf dem Tisch hätte eine Kerze in einem gußeisernen Kerzenhalter mit schneckenförmig gewundenem Griff stecken müssen, oder man hätte wenigstens eine Öllampe aufstellen können. Im Séparée sah es aus, als 361 wären die schmutzigen, ockergelben Wände und das dunkelbraune Holzwerk seit Erscheinen derartiger Geschichten nicht mehr gestrichen worden. Der Barkeeper kam herein, und er hätte nirgendwo anders als ans Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gepaßt - mit dem Ring in der gepiercten Lippe, den verfilzten Rastalocken und dem Tigergesicht, Symbol für bedrohte Tierarten, auf dem Handrücken. Er hatte jedoch eine angenehme Art, nahm ihre Bestellung mit der Höflichkeit der alten Schule auf und kam kurze Zeit später mit den beiden Gläsern und einem kostenlosen Päckchen Cashew-Nüsse - Empfehlung des Hauses wieder. »Ich denke doch nicht, daß es nach Bestechung riecht, wenn wir die annehmen, oder?« fragte Wexford, als der Mann wieder draußen war. »Deswegen behandeln wir ihn ja nicht unbedingt wohlwollender, wenn es um die Schankstundenregelung geht.« Er lachte. »Nun also zu den Messern. Wir wissen beide, daß der Messerblock für acht Messer gedacht ist, aber nur sieben enthielt. Allerdings ist der freie Schlitz zu eng und zu kurz für ein Messer, das breit und lang genug gewesen wäre, um Devenishs Wunden zu verursachen. Es gab kein achtes Messer, und als Fay uns sagte, es habe nie ein achtes Messer gegeben, weil der Block sonst überfüllt gewesen wäre und man die anderen nicht leicht hätte herausziehen können, sagte sie die Wahrheit.« »Das hatten wir doch schon alles durch.« »Stimmt. Alle sieben Messer haben Horngriffe, wobei fünf aber dunkelbraun sind und zwei einen viel helleren, fast beigen Farbton haben. Das passiert, wenn man Horngriffe in der Spülmaschine im Heißwaschgang wäscht. Ich
weiß Bescheid. Ich habe es ausprobiert, und Dora war nicht sehr erfreut, als sie sah, was ich angestellt hatte.« »Schlimm, schlimm«, spottete Bürden, »und das alles im Namen von Wahrheit und Gerechtigkeit.« Ohne auf ihn zu achten, fuhr Wexford fort: »Von Edward Devenish erfuhr ich, daß er wußte, daß es mit einem der Messer im Block passiert war, und Robert Devenish wußte, wie 362 ich inzwischen erfahren habe, daß sein Vater seine Mutter dafür - also, daß sie ein Messer mit Horngriff in die Spülmaschine steckte - in die Hand schnitt. Anscheinend war dies auch das erstemal, daß er Fay schnitt, und das beschädigte Messer brachte ihn überhaupt erst auf die Idee.« »Es war aber nur ein Messer, nicht zwei?« »Robert sagte nur etwas von einem. Es gab aber zwei. Wann wurde also das zweite Messer heiß gespült? Sicherlich nicht vor Devenishs Tod. Fay wurde oft genug grundlos bestraft, sie hätte sich nicht getraut, etwas zu tun, wofür ihr schon einmal die Hand aufgeschlitzt worden war.« »Richtig. Und warum wurde es in der Spülmaschine gewaschen?« Bürden beantwortete seine Frage gleich selbst. »Weil so ein Waschgang über - wie lange? Vierzig Minuten? - vermutlich alle Blutspuren oder Fingerabdrücke, die sich eventuell darauf befanden, gründlich entfernt hätte.« »Die Klinge paßt jedenfalls haargenau in Stephen Devenishs Wunden«, sagte Wexford. »Wollen Sie denn nicht wissen, wer der Mann an der Tür war?« »Ich kenne Sie gut genug, um zu wissen, daß Sie es mir erst sagen, wenn Sie die Zeit für reif halten.« Wexford grinste. Er nahm einen Schluck von seinem frischen Bier und nickte. »Sie erinnern sich, laut Edward war es ein Mann von etwa sechs- oder siebenunddreißig, groß, aber nicht so groß wie sein Vater, in Jeans und Jackett, mit einer Aktentasche in der Hand. Nun ist bei dieser ganzen Geschichte auch eine Frau im Spiel, die ich, als ich sie das erstemal sah, wegen ihrer Frisur, ihrer Größe, ihrer schlanken Figur und ihrer Kleidung und weil sie kein Make-up trug für einen Mann hielt. Zwar nur ganz kurz, ein paar Sekunden nur, nicht länger, doch ich hielt sie für einen Mann.« »Jane Andrews«, sagte Bürden. »Ohne auch nur im geringsten unattraktiv oder, wie man früher sagte, >wie ein Mannweib- auszusehen«, sagte Wexford, »kann sie sich ein männliches Aussehen geben. Sie ist flachbusig, sie ist groß, sie hat die geeignete Frisur. Heutzutage un
363 terscheiden sich Frauen- und Männer Jacketts doch kaum voneinander. Jeans sind für Männer und Frauen gleich. Nehmen wir einmal an, Jane Andrews kleidete sich in Jeans und Jackett und fügte vielleicht noch ein paar andere maskuline Akzente hinzu, Männerschuhe in Größe einundvierzig - vermutlich sowieso ihre Größe -, ein weißes Hemd, Krawatte. Edward sagte, der Mann trug eine Krawatte. Und die Aktentasche. Die meisten Leute assoziieren Aktentaschen mit Männern, obwohl sich diese Vorstellung langsam ändert. Das würde schon reichen. Sie verläßt das Haus in Brighton um sieben oder Viertel nach sieben. Ihre Mutter liegt noch im Bett und schläft und wird dort vermutlich auch die nächsten paar Stunden bleiben. Sonst ist niemand da, der sehen konnte, wie sie geht, oder sich darum kümmern würde, ob sie geht oder nicht. Sie kommt in der Ploughman's Lane an, einer Adresse, die sie sehr gut kennt, obgleich sie seit Jahren nicht mehr dort war. Sie stellt den Wagen irgendwo ab. Vielleicht in Ploughman's Close oder sogar unten am Hügel, wo die Straße auf den Winchester Drive stößt. Sie geht zu Fuß zu Woodland Lodge, die Aktentasche in der Hand, in der sie einen leichten Regenmantel und eine Waffe verstaut hat, denn sie beabsichtigt, Stephen Devenish zu töten. Das ist der Zweck ihres Besuches.« »Was geschah aber dann... ?« »Mit dem anderen Messer? Mit dem Fay geschnitten wurde und das sie danach heiß in der Spülmaschine wusch? Warten Sie's ab. Es ist anzunehmen, daß Jane ein Messer mitbrachte oder womöglich gar eine Schußwaffe. Wieso sie diese Tageszeit wählte, weiß ich nicht. Vielleicht hatte sie bereits versucht, ein Treffen außerhalb des Hauses mit ihm zu vereinbaren, doch er hatte sich geweigert, überhaupt mit ihr zu sprechen.« »Ihr Motiv ist natürlich Zuneigung und Mitgefühl für Fay Devenish?« »Das und die Wut, die sie seit Jahren gegen Devenish hegte. 363 Vielleicht litt sie auch mit ihrer Schwester Louise Sharpe mit »Das wäre dann aber ein sehr unlogisches Mitleid«, ereiferte sich Bürden. »Devenish mag ein Schurke gewesen sein und ein Scheusal, aber niemand könnte behaupten, er sei schuld an Louise Sharpes Problemen.« Wexford seufzte. »Wir haben es hier mit Gefühlen zu tun, Mike, nicht mit Logik.« Er hielt inne, sah auf den Tisch hinunter und sagte dann: »Jane Andrews klingelte an der Haustür, die fast umgehend von Edward geöffnet wurde. Sie erkannte ihn natürlich, aber er erkannte sie nicht. Wie könnte er
auch? Als er sie vor Jahren zum letztenmal sah, hatte sie langes Haar. Mrs. Probyn sagte uns, ihre Tochter habe .wunderschönes langes Haar« gehabt. Zweifellos sagte Jane die paar Worte zu Edward mit tieferer Stimme. Sie geht ins Arbeitszimmer, und Devenish weiß erst nicht, wer es ist. Er sagt guten Tag oder so ähnlich und was er für sie tun könne - nun, für ihn, wie er glaubt. Sie spricht mit ihrer normalen Stimme, und erst da erkennt er sie...« »Warum wirft er sie nicht hinaus?« »Keine Ahnung, Mike. Ein paar Ungereimtheiten sind noch zu klären. Tatsache ist, daß er sie nicht hinauswirft. Vielleicht sucht er ja die Auseinandersetzung. Er hat vielleicht den Verdacht, daß sie mit Fay immer noch in Verbindung ist, er weiß vielleicht, daß dies der Fall ist, und will ihr sagen, was passiert, wenn sie den Kontakt zu seiner Frau nicht abbricht. Und wir wissen ja, was das sein könnte, nicht wahr? Mehr und strengere Bestrafung für Fay. Vielleicht zieht er es auch vor, alles abzustreiten, was Jane sagt, oder sie für verrückt zu erklären, eine seiner bevorzugten Anschuldigungen. Eins können Sie aber mit Sicherheit annehmen: Er glaubt nicht, daß sie gekommen ist, um ihn zu töten. Was er sagt, reizt sie bis aufs Blut. Ein Messer liegt auf dem Schreibtisch. Sie hat zwar eine Waffe dabei, doch wieso soll sie sie benutzen, wenn hier eine griffbereit liegt? Sie nimmt es, überrascht den nichtsahnenden Devenish und ersticht ihn. 364 Sie wischt das Messer ab - woran? An ihrer eigenen Kleidung vielleicht, die sowieso schon mit Blut bespritzt ist -, legt es wieder auf den Tisch, nachdem sie sich schon denken konnte, weshalb es da gelegen hatte und wofür es benutzt worden war und weil sie ja weiß, daß Fay es später wegnehmen und spülen wird. Sie kennt doch ihre Fay. Sie zieht den mitgebrachten Regenmantel über und verläßt das Haus, geht zu ihrem Auto und fährt nach Hause, wo ihre Mutter noch im Bett liegt. Wie hört sich das an? Damit ist doch alles abgedeckt.« »Allerdings. Nur bei dieser Lösung übrigens.« Bürden erhob sein Glas. »Na dann, gratuliere, falls das nicht unpassend klingt.« Wexford nickte. Ohne zu trinken. »Das Problem ist nur«, sagte er, »daß es so nicht war.« 364
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Der neue Regenmantel sah ungemütlich neu aus. Und doch war er an sich nicht unbequem, sondern von ausgezeichneter Paßform, an den Schultern
ausreichend breit und in der Länge gerade richtig. Bürden hätte ihn mit Vergnügen getragen. Bürden liebte seltsamerweise neue Kleider, es war ihm eine Freude, sie das erstemal anzulegen, seine elegante Erscheinung darin zu sehen. Wexford würde es nie begreifen. Für ihn lag das Problem zum Teil an der bloßen Tatsache, daß etwas neu war, daß es neu aussah. Er war kein unsicherer Mensch, er war weder schüchtern, noch war er erpicht darauf, Eindruck zu machen, doch in neuen Sachen hatte er immer das Gefühl, daß alle auf ihn schauten. Mit einer gewissen Wehmut dachte er an seinen alten Regenmantel, der so bequem, so angenehm abgetragen, so sanft lädiert gewesen war. Sogar den unauslöschlichen kleinen Fleck liebte er, einen herzförmigen Klecks aus irgendeiner undefinierbaren Substanz, der sich den Bemühungen der chemischen Reinigung immer standhaft widersetzt hatte. Inzwischen regnete es wieder einmal. Das warme, relativ trockene Wetter hatte nicht länger als einen Tag angehalten. Er würde ihn wohl oder übel anziehen, ihn endlich einweihen müssen. Der leichte Glanzschimmer auf dem Stoff, der steife Kragen waren ihm unbehaglich. Zu Bürden sagte er am Telefon: »Wenn nach dem ganzen Regen auch bloß eine einwöchige Trockenperiode kommt, behaupten die Wassermogule bestimmt, wir hätte eine Dürre, und verdonnern uns zum Wassersparen. Sie werden sehen, wie recht ich habe.« »Und was ist der eigentliche Grund Ihres Anrufs, Reg?« »Wie gut Sie mich kennen!« 365 »Schon möglich. Also, was gibt es Neues?« Wexford sagte es ihm mit tonloser Stimme und schwerem Herzen. Doch Bürden wußte bereits Bescheid. Sie verabredeten sich für später und - nun gut - was sein mußte, mußte sein. Die Gerechtigkeit mußte ihren Lauf nehmen. Der Regen kam so heftig herunter, daß Donaldson den Wagen im Winchester Drive anhalten, unter den Bäumen Schutz suchen und abwarten mußte, bis er ein wenig nachließ. Auf dem Rücksitz machte sich Wexford nicht einmal die Mühe, die angelaufene Scheibe etwas freizureiben, sondern saß da und überlegte, ob er irgend etwas sagen, eine Andeutung machen, eine Vorahnung auf die schrecklichen Risiken geben konnte, um die es hier ging, ohne dadurch seine Karriere, ja seinen Arbeitsplatz aufs Spiel zu setzen. Begriffe wie »lebenslange Haftstrafe« und »unerträgliche Provokation« gingen ihm durch den Kopf. Der Regen prasselte auf das Autodach. Kondenswasser rann an der Scheibe herunter. »Fassen Sie sich noch mal ein Herz, ja?« sagte er mit
ungewohnter Schärfe. »Wir können schließlich nicht den ganzen Tag hier herumsitzen.« Während er es sagte, ließ der Regen ein wenig nach. Das Gedröhne verebbte. Die Scheibenwischer wurden mit den Wasserfluten auf der Windschutzscheibe gerade noch fertig. Donaldson ließ den Motor an und fuhr langsam bergan, wobei das Wasser in Fontänen auf die Gehsteige spritzte, wenn die Räder durch Pfützen rollten. In der Auffahrt streifte der Wagen einen überhängenden Ast, was einen wahren Sturzbach auslöste. Der Verputz an den Außenwänden von Woodland Lodge war vom Wasser dunkelgrau gefleckt. Vor der Treppenstufe am Hauseingang stand eine Pfütze, und Wexford hatte die Wahl zwischen einem würdelosen Sprung und der Aussicht auf aufgeweichte Schuhe. Er sprang. Lynn Fancourts kleiner Hüpfer sah da schon eleganter aus. Der Klang der Türglocke hallte hohl durchs Haus. Obwohl er diese Glocke bestimmt schon ein dutzendmal geläutet hatte, war ihm ihre Lautstärke vorher nie aufgefallen, auch nicht das Echo, das ihr zu fol 366 gen schien. Immerhin, überlegte er beim Warten, war der Kuckuck verschwunden. Jane Andrews kam an die Tür, dicht gefolgt von Sanchia. In langem Rock und Seidenpullover sah Jane heute überhaupt nicht wie ein Mann aus. Ihr Haar wirkte länger, und der Friseur hatte ihr blonde Strähnchen eingefärbt. »Sie erwartet Sie schon«, sagte sie und fügte hinzu: »Sie weiß, weshalb Sie gekommen sind.« »Danke«, erwiderte er, weil er nicht wußte, was er sonst sagen sollte. »Ich fahre mit den Kindern irgendwohin. Mir fällt schon etwas ein, wo wir im Regen hingehen können.« Das Haus sah wie ein Ort aus, an dem Menschen lebten, an dem Frauen und Kinder wohnten, nicht mehr wie ein Museum für Landhauseinrichtungen. Jemand hatte seine Strickjacke über das Treppengeländer gehängt. Die Blumen in der großen chinesischen Vase welkten langsam dahin. In dem großen Wohnzimmer, wo Fay ganz allein saß, lagen zwei, drei Tage alte Zeitungen und Bücher auf dem Beistelltischchen. Als er mit Lynn hereinkam, sprang sie auf. »Bitte setzen Sie sich, Mrs. Devenish.« Mit gedehnter, trauriger Stimme und überhaupt nicht hysterisch sagte sie ganz gelassen: »Sie wissen es, nicht wahr? Ich wußte, daß Sie es rausbekommen. Nur eins möchte ich Ihnen sagen, ich hätte nicht zugelassen,
daß jemand anders dafür die Schuld bekommt. Ich meine, wenn Sie jemanden festgenommen hätten, wäre ich dazwischengetreten.« »Da bin ich mir sicher.« »Ich habe Stephen getötet, natürlich war ich es. Haben Sie das denn nicht schon immer gewußt?« Er wollte ihr nicht eingestehen, daß er es tief im Innersten tatsächlich schon immer gewußt hatte. Oder es jedenfalls immer befürchtet hatte. Er hatte sich einfach nicht damit auseinandersetzen wollen. Hatte er, ausgerechnet er, in den letzten paar Tagen also polizeiliche Ressourcen verschwendet? »Es gab keinen Mann«, sagte er leise, »es gab keinen Frem 367 den an der Tür. Das war nur so eine Geschichte, die sich jeder verängstigte Mensch ausdenken würde, so etwas fällt einem als erstes ein. Ihnen ist es eingefallen und Ihrem Sohn Edward auch - vielleicht gerade weil Sie Mutter und Sohn sind -, nur ging er dabei noch weiter als Sie. Er verlieh dem geheimnisvollen Mann eine Gestalt: Größe und Kleidung und Alter. Sie verliehen ihm nur ein Stimme.« Er räusperte sich. »Edward liebt Sie. Er zögerte nicht lange, für Sie zu lügen. Als er an jenem Morgen in der Schule war und der Schulleiter kam, um es ihm zu sagen, wußte er, glaube ich, daß Sie seinen Vater getötet hatten. Es war so offensichtlich für ihn. Er hätte es auch selbst getan - irgendwann einmal.« Hinter ihm stieß Lynn ein leises Geräusch aus, es klang, als würde sie die Luft einziehen. Fay hatte ihn die ganze Zeit unbewegt angesehen, doch als er von ihrem Sohn sprach, zitterten ihre Lippen. Er wußte, daß er nur weiterredete, um das belastende Geständnis hinauszuzögern, das sie gleich ablegen würde. »Niemand kam an die Tür«, sagte er. »Das hat Edward erfunden, ohne zu wissen, daß Sie es ebenfalls erfunden hatten. Als er sich mit Robert auf den Weg zur Schule machte, war Ihr Mann bereits seit zehn Minuten tot. Nach dem Frühstück zog Ihr Mann das Messer aus dem Block und nahm es mit ins Arbeitszimmer. Daher wußten Sie, was er vorhatte, als er Sie zu sich rief. Sie töteten ihn, nachdem er Sie mit dem Messer geschnitten hatte.« »Ja«, sagte sie. »Hat er einen Schrei ausgestoßen? Laut geschrien?« Er wußte, sie würde ihm nicht antworten. »Aber was hätte es schon gemacht, wenn Edward und Robert und Sanchia ihn gehört hätten? Sie hätten eben zur Abwechslung einmal einen Schrei von ihm statt von Ihnen gehört.« Er sah, wie sie zusammenzuckte. Eine Verurteilung wegen Mordes, überlegte er, zieht eine lebenslange Haftstrafe nach sich. Auf Notwehr zu plädieren
funktioniert nicht immer, funktioniert meistens nicht. Wenn eine Frau wiederholten 368 Mißbrauch anführt und sich dann herausstellt, daß sie bei der letzten Gelegenheit mit Tötung reagierte, werden die Geschworenen wissen wollen, was an diesem letzten Mal so besonders war. Wieso hat sie da getötet, nachdem sie den Mißbrauch die ganze Zeit über sich hatte ergehen lassen? Nach einem Messer greifen und einen unbewaffneten Mann umbringen? Das ist Mord. Es ist ebenso Mord, als wäre ein wildfremder Mensch auf der Straße auf ihn zugetreten und hätte ihn erstochen. Und auf Mord steht lebenslänglich, daran ist nicht zu rütteln, die Unterscheidung zwischen Mord zweiten und dritten Grades wie in den Vereinigten Staaten gibt es nicht. Hier ist Mord gleich Mord, und die Strafe dafür lautet lebenslänglich. »Ich werde Sie jetzt mitnehmen, Mrs. Devenish, und Sie werden sicher einen Rechtsanwalt dabeihaben wollen.« »Sie verhaften mich also?« »Natürlich.« »Ich werde folgendes sagen: Stephen behauptete immer, ich sei - ich sei nervlich labil, und er hatte recht. Als er mich an dem Morgen schnitt, drehte ich durch, ich verlor die Beherrschung, ich weiß nicht mehr, was ich tat und warum ich es tat. Ich muß wohl einfach das Messer gepackt und wie wild auf ihn eingestochen haben. Ich weiß es nicht mehr, es ist alles wie verschwommen, war es jedenfalls in dem Moment. Es heißt doch, man sieht rot. So war es auch, ich sah nur noch rot vor den Augen. Ich verlor den Verstand. Ich sah ihn nicht einmal, als ich zustach.« Sie starrte ihn an, als sähe sie jetzt auch rot, und zitterte am ganzen Körper. »Ich bin durchgedreht«, sagte sie. Er spürte, wie er sich innerlich seufzend entspannte. Es mochte alles gelogen sein, doch das kümmerte ihn nicht. Wenn sie sich an diese Geschichte hielt von der ihr Anwalt, ihr Verteidiger begeistert wäre -, dann wäre sie gerettet. »Jane wird sich um meine Kinder kümmern«, sagte sie im ruhigsten, friedlichsten Ton, den er je von ihr gehört hatte. »Ich weiß, daß ich sie vielleicht lange nicht sehen werde. Bei Jane sind sie gut aufgehoben.« 368
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In den folgenden Monaten ging die Jagd auf Ted Hennessys Mörder zwar weiter, doch gerieten die Ermittlungen in eine Sackgasse. Mittlerweile war bekannt, daß die Benzinbombe entweder von John Keenan oder Monty Smith
oder Joe Hebden geworfen worden war, doch wollten sie weder gegeneinander aussagen, noch gab einer zu, eine Bombe besessen oder damit hantiert zu haben. Mitte Oktober nahm Brenda Bosworth ihre Kinder für eine Woche aus der Schule, um mit ihnen im Wohnwagen ihrer Mutter nach Clacton in Urlaub zu fahren. Sobald sie aus dem Weg war, heirateten Miroslav Zlatic und Maria Michaels in der neuen Brautsuite des Cheriton Forest Hotels mit einem Maximum an Pomp und einem Minimum an Heimlichtuerei. Die hochschwangere Lizzie Cromwell nahm in Begleitung ihrer Mutter an der Hochzeit und dem anschließenden Stehimbiß teil und war überhaupt nicht entrüstet. Miroslav habe, wie sie beim spanischen Sekt in die allgemeine Runde verkündete, sowieso nur wegen der britischen Staatsangehörigkeit geheiratet, außerdem sei Maria viel, viel älter als er. Zwei Wochen später gebar sie auf der Entbindungsstation der PrinzessinDiana-Gedächtnis-Klinik eine Tochter, die sie Millennia nannte. Während des einen Tages und der einen Nacht, die sie dort verbrachte, zog Colin Crowne, der Brenda über Miroslavs Abtrünnigkeit hinweggetröstet hatte, bei dieser ein. Debbie meinte, unter gar keinen Umständen würde sie drei Häuser weiter neben diesem Pärchen wohnen, doch statt der Oberon Road Nummer 16 (die nun von ein paar Meeksschen Vettern bewohnt wurde) teilte das städtische Sozialwohnungsamt, hocherfreut, die Puck Road Nummer 45 369 wiederzubekommen, ihr und Lizzie und Millennia eine Zweizimmerwohnung in Glebe Close zu. Eine weitere Verschiebung fand im Wohnsilo statt, als John Keenan endlich genügend Geld beisammen hatte und sich einen DNS-Test kaufen konnte, bei dem sich dann herausstellte, daß er nicht der leibliche Vater der rothaarigen Wi-nona war. Er mietete sich - was absolut gegen die Regeln des Sozialwohnungsamts war - bei den Mitchells ein Zimmer, um erst einmal zu entscheiden, was aus ihm werden sollte. Shirley Mitchell war, obwohl die Schwester seiner Frau, vollkommen auf seiner Seite. Ihr Mann machte sich ernsthafte Sorgen um sie, denn sie hatte sich mittlerweile darauf verlegt, alle Kinder, die sie beim Wegwerfen eines Schokoriegelpapierchens oder einer leeren Chipstüte erwischte, zu packen und heftig durchzuschütteln. Früher oder später würde sie noch mal eins verhauen und vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen. Tasneem Fowler kam an der Universität von Myringham hervorragend zurecht, wobei sie eine spezielle Begabung für Sozialwissenschaften an den
Tag legte. Und sie hatte eine neue Wohnung bekommen: Das städtische Sozialwohnungsamt hatte ihr eine Einzimmerwohnung nicht weit von Debbie und Lizzie Cromwells neuer Bleibe zugeteilt. Bei ihrer Scheidungsverhandlung hatten sie und Terry das gemeinsame Sorgerecht für Kim und Lee erhalten, jedoch bekam Terry die Kinder zugesprochen. Auf die Frage, bei wem sie wohnen wollten, optierten beide Knaben für ihren Vater. Dadurch, daß sie von früh bis spät arbeitete, verdiente Tracy Miller so viel Geld, daß sie eine eigene Hausreinigungsfirma - genannt Tracy's Treasures mit zehn Angestellten gründen und eine Anzahlung auf ein Haus für sich und ihre Töchter in der Eton Road leisten konnte. Eines Morgens, als Wexford gerade aus einem Haus in der Ariel Road trat, das von dessen Bewohnern als Stützpunkt für ein Kokainhändlersyndikat benutzt worden war, sah er einen 370 Mann aus dem Wohnsilo kommen, der einen Burberry trug. Es war ein beigefarbener Regenmantel mit einem herzförmigen Fleck am linken Saum. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er in dem Mann einen gewissen Peter McGregor erkannte, Lebensgefährte von Sue Ridley und ehemaliger Nachbar der Crownes in der Puck Road. Was er im Wohnsilo zu suchen gehabt hatte, wußte Wexford nicht, und in Anbetracht der allgemeinen Lage war das vielleicht auch gut so. McGregor warf ihm einen gelassenen Unschuldsblick zu, bevor er sich wieder abwandte. Wexford wußte, daß er ihm nichts beweisen konnte. Im übrigen hatte er jetzt den neuen Mantel, der inzwischen schon nicht mehr richtig neu, sondern angenehm abgenutzt und sogar schon ein wenig fleckig war. Er hatte noch einen Besuch zu machen, diesmal in der Harrow Avenue. Donaldson chauffierte ihn hin, weil er jedoch zu früh dran war, ging er zu Fuß den Hügel hinauf und sah mit einem unbestimmten Gefühl der Genugtuung, daß die Maklerfirma am Eingangstor von Woodland Lodge ein »Verkauft«Schild angebracht hatte. Das Anwesen gehörte ihr, es war auf ihren Namen eingetragen. Wenn es Stephen Devenish gehört hätte, wer weiß, ob sie das Geld dafür je bekommen hätte, da man von einem Verbrechen ja nicht profitieren durfte. Inzwischen - neun Monate nach Stephen Devenishs Tod -wohnte sie mit ihren Kindern in Brighton. Sie hatte dort ein Haus gekauft, zwei Häuser weiter neben Jane Andrews. Das Stigma, wegen Totschlags verurteilt worden zu sein, würde ihr ein Leben lang anhaften. Daß sie auf verminderte Schuldfähigkeit plädiert hatte, weil sie durchgedreht war und kaum mehr wußte,
was sie tat, war ihre Rettung gewesen: Sie hatte lediglich eine Bewährungsstrafe bekommen. Bei der Urteilsverkündung hatte der Richter gesagt: »Wir haben gelernt, daß man über Tote nichts Schlechtes sagen soll. De mortuis nil nisi bene. Über die Toten nur Gutes. Es muß aber Ausnahmen von diesem Grundsatz geben. Stephen Devenish hat hart gearbeitet, gut für seine Familie gesorgt und war, wie ich glaube, ein ehrlicher Mensch. Er war in an 371 derer Hinsicht aber auch ein Monster. Diese Frau hat unvorstellbares Leid, Mißhandlungen und Qualen durchgemacht, weil sie einem abscheulichen Bösewicht ausgeliefert war, der sie als Ventil für seine sadistischen Neigungen mißbrauchte.« Louise Sharpe hatte wieder geheiratet. Ihr Gatte war der Mann, der sie aus dem Meer gerettet hatte, als sie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Nun war sie im sechsten Monat schwanger und erwartete Ende Juli ihr Baby. Rachsüchtig wie eh und je, ging Rochelle Keenan mit dem Film, den sie vom Aufruhr in Kingsmarkham gemacht hatte, zur Polizei und behauptete, darin sei ohne jeden Zweifel zu erkennen, daß ihr Gatte John die Benzinbombe geschmissen hatte, die Sergeant Hennessy getötet hatte. Bürden, der sich in der Sache mit ihr auseinandersetzte, war eigentlich ziemlich schockiert. Er dachte, er hätte schon alles gesehen, sei gegenüber allem abgehärtet und durch nichts mehr zu erschüttern. Doch eine Ehefrau, die es darauf anlegte, ihren Mann lebenslänglich hinter Gitter zu bringen, bloß weil der es übelnahm, daß ihm ein Kuckuck ins Nest gesetzt worden war, verstörte ihn dann doch. Er legte den Film in sein Videogerät ein - was blieb ihm anderes übrig? Er war beinahe froh, daß die Wiedergabe nicht viel besser war als bei einer Überwachungskamera in einem Supermarkt, körnige graue Abbilder von kaum erkennbaren Personen. Er sah zwar auch jemanden eine Flasche werfen, in deren Hals ein Lappen gestopft war - er sah insgesamt drei flaschenschleudernde Männer und eine Frau, die einen Ziegelstein warf -, hatte aber nicht die geringste Ahnung, aus wessen Hand die Wurfgeschosse stammten. Trotzdem würde er von dem Versuch nicht ablassen, Hennessys Mörder ausfindig zu machen. Er würde nie aufgeben, sagte er. »Wenn Sie tot sind«, sagte Wexford, »und man Sie aufschneidet, wird man die Inschrift Hennessys Mörder finden in Ihr Herz geritzt sehen.« 371 »Und darunter hoffentlich Hat er.«
»Das hoffen wir alle, Mike«, erwiderte Wexford. In letzter Zeit war er oft recht trübsinnig. Sylvia und Neil hatten endlich beschlossen, sich scheiden zu lassen. Seltsamerweise kamen sie seit dieser Entscheidung so gut miteinander aus wie schon seit Jahren nicht mehr, und manchmal hoffte Wexford, diese neue Einigkeit würde zur Versöhnung führen. Sie wohnten weiterhin im gleichen Haus, wenn auch in verschiedenen Stockwerken; das ehemalige Pfarrhaus war für ein derartiges Arrangement geräumig genug. Die Kinder wußten Bescheid, es schien ihnen aber nichts auszumachen, solange beide Eltern unter einem Dach wohnten. Wenn Neil auszog, dachte Wexford, würde die Sache anders aussehen. Oder wenn es für Neil oder Sylvia jemand anderen gab? »Einen Intervenienten«, hatte Stephen Devenish es, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, genannt. Dora vertrat die Ansicht, solange sie noch beisammen waren, war nichts entschieden, war nichts endgültig. Aber wenn er selbst es still bei sich betrachtete, fragte er sich, wie er wohl dazu stünde, wenn es sich nicht um seine Tochter und seinen Schwiegersohn handelte, um die Eltern seiner Enkelsöhne. Wenn es Fremde wären, würde er dann nicht finden, eine völlige Trennung wäre für alle Beteiligten letztendlich das Beste? Als er abends nach Hause kam, war Sylvia gerade da. Er sprach nie von der bevorstehenden Scheidung, wenn sie nicht davon anfing, was normalerweise der Fall war, besonders wenn die Kinder mit ihrem Vater unterwegs waren. Dann nutzte sie die günstige Gelegenheit, um Neils vielfältige Fehler aufzulisten und manchmal auch - das mußte man ihr lassen - ihre eigenen. Doch an diesem Abend gab sie ihm einen besonders liebevollen Kuß, als er hereinkam, und meinte, sie müsse ihm etwas sagen, sie habe ein Geständnis abzulegen. Wexford wurde etwas beklommen zumute. Wenn ihre Mutter im Zimmer gewesen wäre, wäre das nicht passiert. Keine der beiden Töchter traute sich nämlich, ihre Mutter zu erschrecken, weil sie wußten, daß ihre Zunge scharf und ihre 372 Ansichten streng sein konnten. Ihrem Vater sagten sie dagegen alles. Er war durch nichts zu erschrecken, glaubten sie jedenfalls. Gleich, befürchtete er, würde sie ihm eröffnen, daß sie einen Liebhaber hatte. Oder jemanden kennengelernt hatte, der bald ihr Liebhaber werden würde. Oder daß Neil eine Freundin hatte. Etwas in der Art - wie sollte sonst ein Geständnis aussehen? Es war jedoch etwas ganz anderes.
»Dad«, sagte sie, »weißt du noch, wie du einmal zu mir sagtest, du könntest dir nicht vorstellen, daß ich das Gesetz absichtlich übertrete?« »Ich glaube ja«, sagte er argwöhnisch. »Nun weiß ich zwar nicht, ob ich das Gesetz übertreten habe, aber womöglich habe ich eine Straftat vertuscht.« Sie sah ihn zögernd an. »Ich weiß nicht mehr, ob ich dir je davon erzählt habe, aber als ich beim Notruf von The Hide gerade erst angefangen hatte, rief dort eine Frau an, die sich Anne nannte. Ihr Mann wäre mit dem Baby draußen im Garten, sagte sie, und dann sah sie ihn hereinkommen und hatte Angst, er könnte herausfinden, daß sie mit mir gesprochen hatte.« »Vielleicht hast du mir davon erzählt. Aber sicher nur ganz diskret.« »Ja, also, das muß im April gewesen sein. Sie hatte schreckliche Angst vor ihrem Mann, wollte wie so viele aber nicht von ihm weggehen. Sie hieß überhaupt nicht Anne, natürlich nicht, sie geben ja alle falsche Namen an. Nun, sie rief dann noch einmal an, aber was sie da zu sagen hatte, war etwas ganz anderes. Er mißhandelte sie nicht mehr, das hatte alles aufgehört, sie sagte aber nicht, warum. Sie wollte mich etwas Rechtliches fragen - nun, wie die Rechtsprechung mit mißhandelten Frauen umgeht, die ihre Männer umbringen.« »Nur weiter.« »Zunächst sagte ich, ich wäre keine Anwältin und könnte ihr daher nicht helfen. Ich sagte, The Hide könnte ihr eine Anwältin anbieten - das tun wir, sie macht es gratis -, die sie be 373 raten würde, falls sie diese Nummer anrufen wollte. Und gerade als ich ihr die Nummer geben wollte, sagte sie, das würde sie nicht tun, das wollte sie nicht, sie wollte nur wissen, was die beste Entschuldigung wäre, die eine Frau anführen könne, die ihren Mann umgebracht hat. Ob sie auf Notwehr plädieren könne?« Ein leichter, nicht direkt unangenehmer Schauer durchfuhr Wexfords Körper. »Und was möchtest du mir nun gestehen?« Sylvia sah ihn nachdenklich an. »Ich habe ihr gesagt - was ich wußte. Das heißt, was ich in der kurzen Schulung für den Notruf gelernt habe. Ich sagte, wenn eine Frau ein Messer oder eine Schußwaffe benutzt, um einen unbewaffneten oder schlafenden Mann zu töten, kann sie nicht auf Notwehr plädieren. Und zwar ungeachtet dessen, was er ihr für die Zukunft angedroht hat oder was er ihr in der Vergangenheit angetan hat, weil nämlich das Kriterium der »Unmittelbarkeit < für Totschlag - an den Ausdruck erinnere
ich mich noch -dann nicht gegeben wäre. Die Geschworenen würden es zwar vielleicht verstehen, könnten sie aber nicht freisprechen, und sie bekäme lebenslänglich, weil das die Strafe ist, die auf Mord steht.« »Und?« »Sie sagte, aber was ist, wenn man über das erträgliche Maß hinaus provoziert worden ist. Ich sagte, das könnte sie alles vergessen. Die einzige Möglichkeit wäre, sich aufgrund verminderter Zurechnungsfähigkeit des Totschlags schuldig zu bekennen. Mit anderen Worten, eine Frau dreht durch, nimmt eine Schußwaffe oder so und kann sich nicht mehr beherrschen. Dann wird sie zwar immer als Kriminelle gebrandmarkt sein, muß aber wahrscheinlich nicht ins Gefängnis. So habe ich es ihr gesagt. Und als dann vor ein paar Monaten die Frau, die ich auf dem Foto als mißbraucht erkannt hatte, vor Gericht stand und sich aufgrund verminderter Zurechnungsfähigkeit des Totschlags für schuldig bekannte, fiel mir plötzlich alles wieder ein, was ich gesagt hatte. Da wußte ich, ich wußte es einfach, daß Fay 374 Devenish diese Anne war und daß ich ihr gesagt hatte, wie sie eine lebenslange Haftstrafe für Mord umgehen konnte. Und mein eigener Vater leitete in dem Fall die Ermittlungen. Ich wollte es dir schon längst sagen, hatte aber erst jetzt den Mumm dazu.« Wexford holte tief Luft. Soviel hing davon ab, wann dieser Anruf stattgefunden hatte. Stephen Devenish war am Morgen des 29. Juli gestorben. »Wann war das, Sylvia?« »Wann das war? Warte mal. Es war abends um zehn, das weiß ich noch. Ende Juli, glaube ich. Die Kinder hatten gerade Schulferien bekommen.« »Wann haben die angefangen?« »Ich weiß nicht mehr. >Anne< muß an einem Mittwoch oder Freitag angerufen haben, weil das die Abende sind, an denen ich normalerweise dort bin. Ich meine, es gibt Ausnahmen, aber in der Woche nicht. Ich habe nachgesehen. Dad, sag mir doch, habe ich da etwas Schreckliches getan?« Mittlerweile ernstlich beunruhigt, ging Wexford hinaus, um den Kalender vom letzten Jahr zu holen. Er bewahrte die Kalender immer ein, zwei Jahre auf. Wenn >Anne< vor dem 29. Juli angerufen hatte, hieß das, Fay Devenishs Attacke auf ihren Mann hatte nicht als Reaktion auf die Verstümmelung stattgefunden - vielleicht hatte er sie gar nicht geschnitten, vielleicht hatte sie sich den Schnitt selbst zugefügt -, sondern war vorsätzlicher Mord, womöglich von langer Hand geplant. Wexford schloß die Augen, machte sie
gleich wieder auf, fand den Kalender in seinem Schreibtischfach und nahm ihn mit, las ihn unterwegs und wäre beinahe die letzten vier Treppenstufen hinuntergestürzt. »Sag es mir, Dad«, bat Sylvia. »Spann mich nicht auf die Folter.« »Der neunundzwanzigste, der Tag, an dem Stephen Devenish starb, war ein Dienstag. Das war der letzte Schultag. Deine gewissenhafte Mutter hat es auf dem Kalender vermerkt. Es muß ein Mittwoch oder Freitag gewesen sein, als Fay Devenish dich anrief, es war also entweder Mittwoch, der 375 dreißigste Juli, oder Freitag, der erste August.« Er lächelte sie an. »Du bist noch mal davongekommen.« »Gott sei Dank«, sagte sie, »ich habe ihr aber gesagt, wie sie noch mal davonkommt.« »Ich weiß, Sylvia. Aber da war er schon tot.« Er ging zu ihr hinüber und nahm ihre Hand. »Es ist nichts Schlimmes passiert.«