Das Tuch des Magiers Version: v1.0
Damals …....Noch einmal, vor dem endgültigen Verlassen der Oase, betrat die Werwölf...
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Das Tuch des Magiers Version: v1.0
Damals …....Noch einmal, vor dem endgültigen Verlassen der Oase, betrat die Werwölfin das Gemach des Magiers. El Nabhal lag mit gebrochenen Augen vor dem Schrank, in dem er seine Zaubertücher aufbewahrt hatte. Das Glückstuch stak wie ein Knebel im alterszerfressenen Mund. Das Haßtuch lag daneben. Nona bückte sich, hob es auf und breitete es über die Fratze des Todes.Schaudernd wandte sie sich sodann zur Tür, ahnend, daß mancher Fluch auch mit dem Tod nicht endet
Was bisher geschah Nach seinem Sieg über Felidae erschafft Landru in Polen Lazarus, den ersten neuenVampir, mit dem Lilienkelch und seinem eigenen Blut. Doch sein Sohn mißrät dank einer Diebstahlsicherung Felidaes. Lazarus folgt einem Zwang: den Lilienkelch zu Felidae zurückzubringen! Nichts kann ihn stoppen, denn sein Körper verbrennt die Energien unglaublich schnell und entwickelt dabei riesige Kräfte. Bei Warschau stellen sich ihm Landru und auch Lilith entgegen, doch er umhüllt sie mit Kelchmagie und besteigt ein Flugzeug Richtung Australien. Landru befreit sich schneller als Lilith aus dem Kokon, kann Lazarus aber nicht mehr einholen. Als schließlich Lilith Sydney erreicht, ist der Kelch wieder in Felidaes Besitz, die sich damit zurückgezogen hat, um ihn zu reinigen. Zuvor hat sie Beth von den Auswirkungen eines Pestkeims, der monatelang die Gefühlswelt der Journalistin auf den Kopf stellte und sie sogar einen Pakt mit Landru schließen ließ, endgültig geheilt. Nun sinnt Landru auf Rache. Nur dem Eingreifen eines Hünen ist es zu verdanken, daß beide Frauen entkommen können. Der geheimnisvolle Mann bringt sie nach England, wo eine lebende Legende auf sie wartet: Robert Craven, der Hexer, inzwischen 137 Jahre alt und an der Schwelle des Todes. Er hat Fee aufgespürt, die Vampirin, deren Biß das Leben verlängert. Sie wird in einer rumänischen Burg von Vampiren gefangengehalten. Craven bittet Lilith, Fee zu befreien. Sie willigt ein. Nach einigen Rückschlägen vernichtet sie die Vampirsippe und erlöst ein ganzes Dorf aus deren Knechtschaft. Doch Fee, die sie mit zurückbringt, hat in der Gefangenschaft den Verstand verloren. Craven verspricht, sich um sie zu kümmern. Vor ihrer Abreise nach Japan, wo sie und Beth eine neue Existenz beginnen wollen, zieht es Lilith zum Geburtshaus ihres Vaters in Schottland. Dort hat sich, durch die tragischen Geschehnisse angelockt, ein Dämon eingenistet, der sich durch die Körper seiner Opfer in unserer Welt halten kann. Auch Lilith wird zu einer seiner Marionettenbis die Geister ihrer Großeltern das Blut ihres Sohnes in ihr erkennen und dem Dämon die Existenzgrundlage entziehen
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit erwacht. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sie sich ihrer wahren Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, obwohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Vater. Seit 268 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestohlen wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Geburt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Menschen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Gleichgeschlechtlich veranlagt, hat sie sich in Lilith verliebt. Dies wurde jedoch durch eine magische Pest ins Gegenteil verkehrt: Unter deren Einfluß hat sie sich mit Landru gegen Lilith verbündet. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Der einzige Weg, einen neuen Vampir zu schaffen, besteht darin, ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lilienkelch trinken zu lassen. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegenseitig umzubringen. Lilith verstößt dagegen und wird gnadenlos gejagt. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Wochen später Hassan N'Dhari und seine Begleiter sahen schon von weitem, daß die Gerüchte, die über El Nabhals Oase kursierten, der Wahrheit entsprachen. Diese Insel im Sandmeer war verlassen. Man hatte sie geradezu überstürzt aufgegeben. Die weiße Stadt erhob sich nur noch wie ein geisterhaftes Monument aus der Mitte schattenspendender Dattelpalmhaine, eingehüllt in eine ans Unheimliche grenzende Stille. Selbst der allgegenwärtige Wind schien sich vor ihr zu teilen und zu versuchen, sie zu umgehen. Die Männer murrten hinter ihren Tüchern. Sie fühlten ähnlich wie N'Dhari. Seit zwei Nächten waren sie unterwegs. Die unverhältnismäßig hohe Zahl an Lasttieren, die bisher noch keinerlei Gewicht außer Wasservorrat trugen, verriet das eigentliche Begehren der Ankömmlinge. Sie waren Plünderer. Hassan N'Dhari hatte sie entlang unsichtbarer Pfade geführt. Er kannte am besten die verläßlichen, ehernen Richtmarken, an denen sich der erfahrene Reisende orientierte. Nur für Unkundige sah eine Dünung wie die andere aus, war brütende Hitze überall dieselbe Zumutung und enthielt die Weite, die sich von Horizont zu Horizont spannte, keinerlei unterscheidbare Größe. Hassan N'Dhari war ein Weißer mit leichten negroiden Merkmalen, was ihn als Angehörigen einer niederen, seinen Begleitern aber immer noch himmelhoch überlegenen Kaste auswies. Er war in der Wüste groß geworden. Für ihn stellte sie eine nie endende Herausforderung und einen schier unerschöpflicher Quell uralter Schätze und Geheimnisse dar. Und hier war ein neues Rätsel entstanden.
Er zügelte sein Reittier, das jeden Uugouya (mauretanische Währung: 100 Uugouya (UM) entsprechen etwa dem Gegenwert eines VAMPIRA-Romans), den er dafür ausgegeben hatte, wert war. Für Rasse und Ausdauer hatte N'Dhari ein Auge. Nicht nur bei Kamelen. Er beschattete die offene, nicht vom Haupttuch bedeckte Gesichtspartie und überlegte, woran sich die warnende Stimme seines Instinkts störte. Sie waren zu viele, selbst um andere, die ihnen vielleicht zuvorgekommen waren, zu fürchten. Dennoch entschied er, sich um einen Kontrakt mit den Ahnen zu bemühen. Er mißtraute plötzlich der Einfachheit ihres Vorhabens. Vielleicht gab es Krankheiten, von verendetem Vieh und Leichen hervorgerufen. Man mußte damit rechnen, daß hier gestorben worden war. Die Gerüchte wußten von grausamen Vorkommnissen, ohne daß etwas wirklich Glaubhaftes als Ursache angeführt worden wäre. Mit dem stumpfen Ende der Peitsche brachte Hassan sein Kamel dazu, Vorder- und Hinterläufe einzuknicken, damit er bequem absteigen konnte. Seine Leute ließen ihn nicht aus den Augen, als er ein paar mitgebrachte Opfergaben im Sand vergrub und sich um Zwiesprache mit den Ahnen bemühte, die einen wichtigen Platz in seinem Leben und seinem Glauben einnahmen. Er war kein Moslem, er war Animist und überzeugt, daß alle Dinge eine Seele hatten, die auch befragt werden konnte. Keine Sekunde ließ er die in der Hitze flimmernde Oase aus seinen kohleschwarzen Augen. Als er sich endlich wieder erhob, umkrampfte seine linke Faust den Ziegenlederbeutel, der Tierzähne, Knochen, Wurzeln, bestimmte Kräuter und Federbüschel enthielt. Das gris-gris schützte N'Dhari nicht nur vor sämtlichen Krankheiten, sondern viel mehr noch vor den sie auslösenden bösen Geistern oder dem gewalttätigen Zauber neidender Menschen. Kraft und Zuversicht der Ahnen durchströmte ihn jedoch nicht so überzeugend wie gewohnt, und seine Begleiter schienen dies zu spüren. Wieder ging ein Raunen durch die Karawane. Er bemühte sich um Autorität, kehrte in den Sattel zurück, trank einen Schluck lauwarmes Wasser und zeigte dann entschlossen nach vorn. Niemand weigerte sich wirklich. Aber in vielen Augen stand Beunruhigung, während sie in die so stille Oase einritten. Das Tor in der Stadtmauer stand offen. Im Näherreiten meinte N'Dhari plötzlich, Stimmen zu hören. Sie klangen unwirklich wie das bloße Echo von Worten, die irgendwann gesprochen und dann von unbekannter Kraft festgehalten worden waren. Niemand sonst schien es zu vernehmen, und der Maure hütete sich, darauf aufmerksam zu machen. Er ritt an der Spitze der Karawane in eine Stadt, die von niederschmetternder Fremdheit war. Dieses Fluidum war von der ersten Sekunde an fühlbar, aber erst nach einer gewissen Strecke durch die engen Gassen fanden sich greifbare Hinweise, daß es hier tatsächlich nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Keinerlei Flugsand hatte sich bislang ins Straßenbild verirrt. Dafür sah N'Dhari, als er einen größeren Platz erreichte, etwas, das er zunächst falsch deutete. Er glaubte einen geborstenen Brunnen vor sich zu haben, als er die braune Flüssigkeit sah, die den Platz vereinnahmte und unter Wasser setzte. Sein Kamel stand bereits in der brackigen Brühe, und obwohl N'Dhari alles vermied, was von seinen Leuten als Unsicherheit ausgelegt werden konnte, mußte er hinnehmen, daß das Tier diesen Vorsatz sabotierte. Es bewegte sich plötzlich, als befände sich unter seinen Hufen kein steinernes Pflaster mehr, sondern Ja, dachte der Maure, um Fassung ringend, was? Seine Hände klammerten sich um den Knauf des Sattels. Unwillkürlich drehte er den Kopf und spähte zu den nachdrängenden Gestalten. Innerhalb der Gassen hatten sie nur hintereinander reiten können. Dieser Platz nun lud, trotz
Überschwemmung, dazu ein, auszuschwärmen. N'Dhari unterdrückte die hinter seiner Kehle lauernde, dringende Warnung an seine Männern. Es hätte ihn endgültig bloßgestellt und sich nachteilig beim späteren Teilen der Beute auswirken können, falls er dann nicht mehr der Anführer gewesen wäre. Der Umgang mit diesem Haufen Verwegener erforderte Sensibilität. Es waren genügend Mörder darunter, die für ein paar Koums der eigenen Großmutter den Hals umgedreht hätten. Dann schrie er doch: Zurück! Er selbst riß gleichzeitig die Zügel herum, aber außer einem wehklagenden, dumpfen Laut aus dem Maul des Kamels bewirkte er damit nichts. Das kräftige Tier schien sich irgendwo verhakt zu haben. Mit allen vier Läufen gleichzeitig. Es bäumte sich unter seinem Reiter auf, als wollte es ihn abwerfen, um ohne diesen Ballast vielleicht doch noch einen Weg zu finden, sich aus eigener Anstrengung zu befreien. N'Dhari krallte sich fluchend fest. Er kannte viele derbe Flüche. Sie rollten wie Kieselsteine über seine Zunge. Im nächsten Moment zog er seinen Dolch aus dem Gürtel und schwang sich mit akrobatischer Leichtigkeit aus dem Sattel. Klatschend landete er in der Brühe, die ihm selbst nicht über die Knie reichte. Aber sie spritzte nach oben und den Seiten weg. Für einen winzigen Moment glaubte N'Dhari dort, wo er landete, bis zum Grund hinabblicken zu können. Dann schwappte die Flüssigkeit zurück in den für einen Lidschlag gestampften Krater. Der Untergrund war weich und schwammig. Nicht das erhoffte harte Pflaster, überhaupt nichts, was ernsthaften Halt versprochen hätte Noch in derselben Sekunde begriff N'Dhari die Panik des Tieres. Etwas hielt auch ihn fest. Was ist? rief ein ehrgeiziger kleiner Tagedieb namens Faraga. Er bediente sich des berberischen Zenaga, das auch N'Dhari sprach. Steckt Ihr in der Klemme, Beidan ? N'Dhari war lange genug mit ihm unterwegs, um zu wissen, daß die übertrieben vorgebrachte Fürsorge in Wahrheit Verhöhnung war. Er hatte noch nicht viele Worte mit Faraga gewechselt so wenig wie mit jedem der eilig rekrutierten Begleiter, aber es hatte genügt, ein recht vollständiges und wenig vorteilhaftes Bild von Faraga zu zeichnen. Der auf die schiefe Bahn geratene Sohn eines schwarzen Oasenbauers schien sich nicht mit der Rolle eines Befehlsempfängers abfinden zu wollen. Sein Mienenspiel blieb hinter dem Tuch verborgen. Aber das Glitzern der Augen verriet genug. N'Dhari fand selbst in seiner prekären Lage genügend Zeit, dies zu erkennen. Gleichzeitig sah er neben sich sein Kamel versinken. Es stieß ein Serie schrecklicher, den Untergang vorausahnender Töne aus. Sie sorgten für Aufruhr unter den anderen Tieren. Und unter N'Dharis Begleitern. Mawiya, einer der Verläßlicheren, schien die Situation intuitiv zu begreifen. Er lenkte sein eigenes Reittier blitzschnell auf N'Dhari zu, beugte sich zu ihm hinab und reichte ihm den Arm. Festhalten, Herr! Der Beidan hielt immer noch den Dolch in der Faust, wußte aber nicht, wogegen er damit eigentlich vorgehen sollte. Da war kein Feind aus Fleisch und Blut, gegen den zu kämpfen lohnte. Da war nur dieser Boden, der sich unbegreiflicherweise N'Dhari ließ den Dolch fallen und griff mit beiden Händen nach Mawiyas ausgestrecktem Arm. Sofort zwang der Schwarze sein Kamel durch Tritte in die Lenden zur Umkehr. Der Ruck gab N'Dhari das Gefühl, bei lebendigem Leib auseinandergerissen zu werden. Ein Reflex verleitete ihn beinahe, die Finger zu spreizen und loszulassen. Er konnte es gerade noch verhindern. Im nächsten Moment landete Mawiya neben ihm in der Brühe. Er schlug mit dem Gesäß auf. In seinem Gesicht war ratloses Entsetzen geronnen. Das braune Wasser schwappte kurz über ihn und benetzte ihn überall mit einem klebrigen, öligen Film. Aufbrüllend wischte sich Mawiya über die Augen, als hätte ihm jemand Säure darüber geträufelt. Auch sein Kamel begann zu schreien. Die Töne ähnelten dem von N'Dharis Reittier, und als dieser kurz den Blick wandte, machte sich ein immer größeres Entsetzen in seinem Herzen breit. Das erste Kamel war bereits bis zum Sattel eingesunken, während N'Dhari sich zwar festgehalten fühlte, aber im Grunde kaum tiefer einsank. Lag es am immensen Gewicht der Tiere? Er streckte nun seinerseits den Arm aus und versuchte, Mawiya vom Boden hochzuziehen. Er scheiterte. Mawiyas Gebrüll schwoll noch an. Er riß sich von N'Dhari los und versuchte aus eigener Kraft hochzukommen. Mit den Armen tauchte er in die Brühe. Er wollte sich hochstemmen, aber auch er scheiterte, und dann hielt etwas das
wurde an seinen zappelnden Bewegungen deutlich auch noch die Hände fest! N'Dhari fühlte das Grauen wie eine finstere Woge auf sich zukommen. Seine Zunge gab ein paar scharfe Befehle an die anderen aus seiner Gefolgschaft, aber sein Verstand wußte bereits, daß jede Maßnahme zu spät kam. Um seine Knöchel herum begann es zu brennen. Ein Gefühl, als schnitte etwas heiß und häßlich in sein Fleisch. Er bedauerte, den Dolch fallengelassen zu haben. Übelkeit kroch aus seinem Gedärm bis hinauf in die Kehle. Die Klinge hätte ihm helfen können, sein Leiden zu verkürzen. Und das von Mawiya … Was für ein verrückt-verzweifelter Gedanke! Warum sollte er sich jetzt schon aufgeben? Was ist los mit mir? Faraga! schrie er, bemüht, seine Stimme wieder in die Gewalt zu bekommen. Er mußte sehr laut rufen, um Mawiyas und die Panik der Tiere zu übertönen. Von seinem Kamel ragten nur noch Hals und Kopf aus der trüben Brühe. Faraga, schießt! Natürlich hatten sie Feuerwaffen bei sich aber ebenso natürlich kam Faragas Rückfrage: Worauf? Was geschieht bei euch? Er hatte sich wie die anderen in die Gasse, aus der sie gekommen waren, zurückgezogen. Dorthin reichte die Überschwemmung (oder was immer es war) noch nicht. Schießt! Dort, wo mein Kamel versinkt! Erlöst es und zielt auch auf die unmittelbare Umgebung! Etwas ist dort. Etwas hält uns fest Faraga lachte wild und heiser. Dann zog er selbst seinen Karabiner, lud durch, legte an und schoß. Die Kugel zerschmetterte den als einziges noch erkennbaren Schädel des Kamels und verwandelte ihn in eine von Blut und Knochensplittern entstellte Fratze. Die Schreie dieses mißhandelten Wesens verstummten. Das Wasser um es herum begann zu brodeln, als würde es von unterirdischer Glut zum Kochen gebracht. Weiter! schrie N'Dhari. Schieß weiter! Faraga lud erneut durch. Aber bevor er die nächste Kugel absenden konnte, geschah etwas an Scheußlichkeit kaum Überbietbares. Es lenkte kurzzeitig von allem anderen ab. Auch von Mawiyas an Furcht und Hysterie gewinnenden Schreie. N'Dhari unterdrückte unter dem Eindruck des Geschehens die eigene zunehmende Hoffnungslosigkeit und die immer mehr um sich greifende, zu seinen Füßen wurzelnde Qual. Das erschossene Kamel kehrte zurück. Es kehrte zurück! Wie von der Plattform eines Fahrstuhls getragen, kam es nach oben, umspült von gischtendem, kochendem, in höllischem Aufruhr befindlichen Wasser! Eine blutige, aus dem schützenden Fell geschälte, tote Masse N'Dhari übergab sich auf der Stelle. Die Übelkeit war nicht länger beherrschbar. Er krümmte sich und entleerte den Inhalt seines Magens. Dort, wo Erbrochenes auftraf, bildeten sich kleine, schillernde Blasen. N'Dhari hoffte, daß sie nie zerplatzen würden. Er hatte die durch nichts belegte, aber sehr intensive Befürchtung, daß daraus etwas hervortreten könnte, was seinen Verstand endgültig im Wahnsinn stranden ließe. Hufschlag verriet, daß seine Gefolgschaft aus Mordbrennern und Räubern begonnen hatte, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Faraga hielt noch aus, und N'Dhari dachte schon, er müßte sein Urteil über ihn eventuell revidieren, als ihm klar wurde, was den Sohn eines Harratin und einer Abid ausharren ließ. Er will wissen, was mit uns geschieht, mit Mawiya und mir, dachte N'Dhari. Das Gewehr! rief er ihm zu. Gib mir dein Gewehr, wenn du schon nicht selbst Er verstummte.
Faraga hockte in seinem Sattel und hielt den Karabiner mit beiden Händen. Er wirkte absolut furchtlos, als wähnte er sich dort, wo sein Kamel stand, absolut sicher. An N'Dhari vorbei starrte er auf das tote, aber dennoch aufrecht und steif dastehende Kamel. Nur am Schädel klebten noch Fetzen von Fell und Haar. Der Rest war ihm noch bei lebendigem Leib abgezogen worden. Aber, dachte N'Dhari, das ist nicht alles. An den Läufen hatte sich eine seltsame, tönerne Schicht gebildet, die nun langsam wieder nach unten zurückging und auch nur blutiges Fleisch hinterließ. Ein begonnener Prozeß schien wieder rückgängig gemacht zu werden. Warum? Weil es tot ist, wisperte fremde, unerhörte Logik in N'Dharis Verstand. Es will nichts Totes. Ihm begehrt nach Lebendigem! Wandten sich seine Ahnen an N'Dhari, oder gar die schreckliche Seele dieses Tümpels selbst? Warum schützte ihn sein gris-gris nicht? Neben dem Anführer der Plünderer verstummte endlich (endlich?) auch Mawiya. Er verstummte, weil seine tuchumwickelten Lippen gurgelnd unter dem Spiegel des Tümpels verschwanden. Weil ölig-zäher Schleim ihm die Lunge verklebte. Mawiya reckte verzweifelter als N'Dhari es je beobachtet hatte das Kinn nach oben, um mit dem Mund zurück zur Oberfläche zu gelangen. Er schaffte es nicht. Nur seine Nase und manchmal die Augen, die nicht mehr wie sehend wirkten, kamen unter den hektischen Bewegungen an die Oberfläche. N'Dhari versuchte alles, um mit den Armen zu Mawiya zu reichen. Doch die Entfernung war zu groß. Hilflos, selbst in den schwammigen Boden betoniert, mußte er mitansehen, wie bald nur noch das Haupttuch zu sehen war. In diesem Moment donnerte ein neuerlicher Schuß. Etwas Verheerendes hackte in das verschwindende Tuch. N'Dharis Kopf ruckte herum. Er sah Faraga, der den Karabiner im Anschlag hielt und nun wieder sinken ließ. Im selben Augenblick spürte N'Dhari, wie die Fessel unter ihm zwar immer noch Bestand hatte, aber er nun ebenfalls einzusinken begann. Als hätte er eine hauchdünne, tragende Membrane verletzt. Faszinierend, sagte Faraga. Er redete nicht sonderlich laut, aber er durfte sich sicher sein, daß er N'Dharis ungeteilte Aufmerksamkeit genoß. Bis auch das Brackwasser an der Stelle von Mawiyas Verschwinden zu brodeln begann. Ich habe ihm Schlimmeres erspart oder? fügte Faraga lobheischend hinzu. N'Dhari würgte es auch nach dem Erbrechen noch hinter dem Kehlkopf. Er zweifelte nicht, daß Faraga aus einem weit erbärmlicheren Gefühl als echtem Mitleid heraus gehandelt hatte. Wirf mir ein Seil zu! forderte N'Dhari ihn auf. Die plötzliche Gefaßtheit war ihm selbst unheimlich. Er fühlte auch keinerlei Schmerz mehr. Nur Taubheit überall dort, wo die trübe Flüssigkeit ihn umspülte. Faraga reagierte nicht. Auch deshalb nicht, weil seine Augen gebannt dorthin starrten, wo er Mawiyas nasses Grab wußte. N'Dhari preßte die Lippen zusammen. Er wußte jetzt endgültig, daß er nichts von Faraga zu erwarten hatte. Ein Betteln um Hilfe kam nicht in Frage. Das Wasser stand ihm schon bis zur Hüfte. Dort, wo der Tümpel in erneuten Aufruhr geraten war, geschah etwas beinahe schon Vorhersehbares, was jedoch die Grauenhaftigkeit nicht milderte. Mawiya kehrte zurück. Die überschwemmte Fläche spie ihn aus, als wäre ihr der Appetit auch an ihm verdorben worden. Die Kugel hatte ihm fast den Schädel weggesprengt. Er schien nur noch von dem Tuch zusammengehalten zu werden. Die restliche Kleidung war verschwunden, als wäre sie in einem Säurebad aufgelöst worden. Gleiches betraf Mawiyas Haut dort, wo sich die tönerne Substanz wieder zurückgezogen hatte. N'Dhari hatte noch keinen gehäuteten Menschen gesehen. Er krümmte sich unter der Vorstellung, daß er unter dem Wasserspiegel bereits ebenfalls so aussehen könnte, auch wenn er nichts dergleichen fühlte … Im nächsten Moment zuckte ein aberwitziger Gedanke durch sein gepeinigtes Hirn. Die rötlich-lehmige Schicht, die Mawiyas Körper nun wieder verließ und zurück ins Wasser floß, wirkte auf N'Dhari aus unerfindlichem Grund nicht wie der eigentliche Verursacher der Häutung. Vielmehr wie der Versuch, Mawiya eine neue Haut zu verleihen. Der Tote bildete zusammen mit dem Kamelkadaver die Demonstration purer, unbarmherziger Macht. Wie eine Plastik des Bösen schwammen beide auf der Oberfläche des Tümpels, getragen von unsichtbaren Kräften und unfähig, in sich zusammenzusinken, wie es natürlich gewesen wäre. Hier geschah nichts mehr im Rahmen der Normalität. Dieser Rahmen war gesprengt. Ein Zittern durchlief N'Dharis Innerstes. Das gris-gris verschwand unter Wasser, als hätte sich das Ziegenleder genügend vollgesogen. Der vermeintliche Schutz entpuppte sich als wirkungslose Illusion. Wirkungslos zumindest in Bezug auf etwas dergestalt Starkes.
Das Wasser erreichte N'Dharis Brust, und er hatte das Gefühl, sein Herz würde zu schlagen aufhören. Aber dies war vergebliche Sehnsucht. Er schaute zu Faraga, der den Blick unverwandt erwiderte. Der junge Dunkelhäutige erweckte jetzt den Anschein, als sei er selbst der Götze, der dies alles initiiert hatte. Aber das konnte nicht sein. Schon in Bir el Khza'im hatten auch Gerüchte kursiert, die davon sprachen, diese Oase habe unter der Knute eines mächtigen Magiers gelitten. N'Dhari hatte jedoch die reale Gefahr, die sich immer noch dahinter verbarg, zweifellos unterschätzt. Es war sein Fehler. Er konnte die Schuld daran auf niemanden abwälzen, auch nicht auf Faraga, der sich fraglos aus sehr egoistischen Gründen am Schicksal des Karwanenführers weidete. Niemand sonst war als Beobachter der Tragödie geblieben, nur er. Um sich zu vergewissern, daß ich nicht doch noch entkomme, dachte N'Dhari kühl. Anschließend wird er die Plünderung leiten; falls ihm dann noch Leute zur Verfügung stehen. Erwartest du, daß ich dich auch erschieße? fragte Faraga zu ihm herüber, als N'Dhari das Wasser nicht nur sprichwörtlich bereits bis zum Halse stand. Der Maure empfand die bloße Frage als weitere Demütigung. Er antwortete nicht. Faraga antwortete für ihn. Du hoffst vergeblich, sagte er und bewies mit den nächsten Worten, daß er ähnliche Schlüsse wie N'Dhari gezogen hatte. Es mag dir grausam erscheinen, aber ich will sehen, was geschieht, wenn der Tümpel etwas Lebendiges verschlingt. Fahr zum Scheitan! keuchte N'Dhari. Erstes brackiges Wasser schäumte durch seine Lippen. Er spie es aus und fühlte dennoch, wie es die gesamte Mundflora erst abtötete und anschließend durch neue, unbekannte, nicht für Menschen bestimmte Bakterienstämme ersetzte. Ekel überschwemmte ihn noch stärker als die Zeit davor. Einen so schrecklichen Tod hatte er für sich persönlich nie in Erwägung gezogen. Er verspürte das brennende Verlangen, Faraga für seinen Verrat büßen, ihn nicht davonkommen zu lassen. Gleichzeitig wußte er jedoch, daß dies ein frommer, unerfüllbarer Wunsch bleiben würde. Noch einmal hob er die Lippen über den Spiegel des von einem bösen Geist beseelten Tümpels. Faraga! fauchte er. Deine Mutter trieb es mit einer Hyäne, dein Vater mit dummen Schafen; Das Resultat bist du! Verflucht seist du, Erbärmlicher Schleimig-zähe Flüssigkeit schwappte in seinen Mund und erstickte weitere Versuche, Faraga vielleicht doch noch zu provozieren. N'Dharis Gesicht wurde taub. Der schwammige Grund saugte ihn tiefer. Die Augen wurden blind und unbeweglich und taten weh, ehe auch sie einfach aus N'Dharis Verfügbarkeit verschwanden. Sekundenlang fühlte er sich wie in einer undurchdringlichen Kapsel eingeschlossen. Sein Geist, sein Bewußtsein, all das, was ihn ausmachte, war in dieser welkenden, absterbenden, schrumpfenden Hülle gefangen. Dunkelheit. Stille. N'Dhari hörte auf, Schmerz zu empfinden. Alles, was zu diesem Gefühl früher in der Lage gewesen wäre, war inzwischen von der umgebenden, morastigen Substanz narkotisiert. Er fragte sich, ob er auch ausgespien würde. Ob der Tümpel ihn ebenfalls wieder nach oben tragen und in die Gruppe Gehäuteter einreihen oder ob ein anderer Gedanke sich bewahrheiten würde. Ihm begehrt nach Lebendigem Wem? Die Antwort gab der Schlamm, der ihn erstickte. Der Schlamm, der ihn neu kleidete. Und ihn neu formte. Faraga sah zu, wie N'Dhari von der Bildfläche verschwand, während verächtliche Gedanken den Kopf des Kastenlosen erfüllten. N'Dhari kannte nicht einmal einen Bruchteil dessen, was Faraga tatsächlich auf dem Kerbholz hatte, sonst hätte er ihn gewiß niemals in seine engere Wahl gezogen. Ein kleines, böses Lächeln stahl sich unter das Tuch, das immer noch die untere Hälfte von Faragas Gesicht verhüllte. Dieses Lächeln gehörte nur ihm, wie jeder hinterhältige, niederträchtige Gedanke, der durch seine Ganglien kroch. Er wartete. Er hielt den Karabiner in den Fäusten und fragte sich, ob es richtig gewesen war, zuzulassen, was mit N'Dhari geschah. Faragas Zweifel resultierten nicht aus Reue, sondern ausschließlich aus einem gesunden Selbsterhaltungstrieb. Vielleicht das einzig Gesunde in ihm … Hufschlag lenkte ihn ab. Aus der Gasse näherte sich ein anderer Angehöriger dieses bunten Haufens, der ausgezogen war, eine verlassene Oasenstadt zu plündern und zu brandschatzen.
Ursprünglich kein allzu riskantes Unternehmen. Inzwischen sah es jedoch anders aus. Was ist? rief ein undurchschaubarer, älterer Fulbe namens Matam. Wo ist Hassan ? Sein Blick glitt an Faraga vorbei auf die Monumente des Grauens. Matam verstummte. Trotz der Schußverletzung und der Häutung des seiner Kleidung beraubten Körpers bis hinauf zum Hals war Mawiya zweifelsfrei zu identifizieren. Der Tümpel hat ihn verschluckt, erwiderte Faraga mit fester Stimme. Ich versuchte ihn zu retten, aber es war unmöglich. Etwas Schreckliches lauert da unten … Er wies zu Mawiyas Leichnam und dem Kamelkadaver. Wo sind die anderen? Sie warten am Tor. Matams Stimme war tonlos geworden. Seinen erfahrenen Augen war nie etwas Vergleichbares untergekommen. Das ist gut, sagte Faraga. N'Dhari hat mir mit seinen letzten Atemzügen die Befehlsgewalt übertragen. Das ist schlecht, widersprach der Fulbe und ließ zunächst offen, ob er Faragas erste oder zweite Äußerung meinte. Faragas Finger krampften sich um den Karabiner. Scharf fixierte er den Angehörigen eines sagenumwobenen Stammes. Schlecht? Sie sind nicht freiwillig geblieben, sagte Matam. In seinen Augen schwamm eine seltsame Leere. Immer wieder blickte er zu den von einer unerklärlichen Kraft gehaltenen Toten. Als wir das Stadttor erreichten, war es verschlossen. Verschlossen? Faraga tadelte sich im stillen selbst wegen dieser papageienhaften Reaktion. Matam nickte. Von uns wurde es nicht geschlossen. Das weiß ich. Faraga richtete sich in seinem Sattel auf. Seine Augen suchten die Stelle, wo N'Dhari verschwunden und bis jetzt nicht wieder aufgetaucht war. Er entschied, dieses Kapitel als abgeschlossen zu betrachten. Narren! schimpfte er. Wolltet ihr wirklich fliehen? Wovor? Es war N'Dharis letzter Wunsch, daß wir uns nicht der Angst ergeben! Alles, was wir tun müssen, ist, diesen Tümpel zu meiden! Wir werden unser Unternehmen ausführen, wie geplant. Danach werden wir uns um das Tor kümmern, das der Wind zugeworfen hat … Welcher Wind? fragte der Fulbe. Faraga unterdrückte das Verlangen, auch ihn aus dem Weg zu räumen. Er hätte ihn nur zu erschießen und ins Wasser zu werfen brauchen. Den Rest würde vermutlich das Unbekannte erledigen, das sich hier verbarg. Du wirst sehr viel Überredungskunst benötigen, sie zu halten und neu für das Vorhaben zu begeistern, sagte Matam in verändertem Ton. Faraga horchte auf. Und dich? fragte er. Wie ist deine Position? Der Fulbe starrte ein letztes Mal, wie es schien zu Mawiyas Leichnam, ehe er antwortete: Ich denke, der Weg hierher war zu strapaziös, um jetzt aufzugeben. Es gibt gute und böse Geister. Überall. Wir müssen uns vor ihnen in acht nehmen oder mit ihnen arrangieren. Sie haben ihre Opfer bekommen, vielleicht sind sie damit zufrieden. Faraga fragte sich, ob Matam auch nur ahnte, daß er gerade seinen Kopf gerettet hatte. Komm , sagte er. Ich rede mit ihnen! Er dirigierte sein Kamel von dem Flecken fort, wo es die ganze Zeit auf dem Trockenen gestanden hatte. Unbehelligt verließen sie den Ort des entsetzlichen Geschehens. Kurz darauf sprach Faraga auf die am Tor Wartenden ein. Sie hatten inzwischen versucht, es gewaltsam aufzubrechen, aber es war ihnen mißlungen. Faraga beobachtete zwei der Plünderer bei dem Versuch, die Mauer zu überklettern. Sie waren schon fast oben, und auch energischste Rufe hielten sie nicht zurück. Was wollt ihr ohne die Kamele? Wir werden das Tor gemeinsam öffnen. Steigt herab! Ich habe mit euch zu reden! Sie hielten nicht einmal kurzzeitig inne. hatten Seile dabei, um sich auf der glatten Außenseite herabzuhangeln. Wenig später hatten sie den Grat der Zinnen überwunden und verschwanden aus Faragas Sicht. Ein Dutzend andere starrte ihn an. Die Angst war allgegenwärtig, und Faraga wunderte sich zum erstenmal, wie nüchtern-optimistisch er selbst immer noch ihre längst von düsterer Magie geprägte Lage einschätzte.Er teilte ihnen mit, was er schon Matam als N'Dharis letzten Wunsch verkauft hatte. Die Eingesperrten zu überzeugen, hatte er sich offenbar zu einfach vorgestellt. Sie überraschten ihn mit einer schier unüberwindlichen Mauer aus Angst und Hysterie. Außer dem Fulben schien niemand bereit, sich länger als nötig dem bösen Zauber dieses Ortes auszusetzen für keine Schätze der Welt.
Als dies klar wurde, wechselte auch Matam die Fronten. Nur mit Faraga wollte er den weiteren Aufenthalt nicht wagen. Verbittert sah Faraga seine Felle davonschwimmen. N'Dharis Tod hatte ihm von gelinder Genugtuung abgesehen keinerlei Nutzen eingebracht. Stumm beobachtete er die kurz unterbrochenen, nun aber unermüdlich fortgesetzten Versuche, das Tor aufzubrechen. Von den beiden Plünderern, die das Hindernis kletternd überwunden hatten, war nichts mehr zu sehen oder zu hören. Alle Rufe blieben unerwidert. Schließlich versuchte man es mit Feuer. Decken und anderes, leicht brennbares Material wurde vor dem massiven Holztor aufgeschichtet und angezündet. Faraga zweifelte nicht, daß ein solches Vorgehen von Erfolg gekrönt werden mußte, und er behielt recht, ohne sich darüber freuen zu können. Bald brannte das Tor lichterloh. Die Seele des Holzes ächzte und knisterte und ergab sich schließlich dem feigen Anschlag. Mit aus den naheliegenden Häusern geholten zusätzlichen Werkzeugen rückten sie dem verkohlten Hindernis zu Leibe. Es barst unter Axthieben und Hammerschlägen. Als die Öffnung groß genug war, quollen die Männer, die nie wieder unerschrocken an ein Werk gehen würden, nach draußen. Sie waren von den Kamelen gestiegen und zerrten diese an den Zügeln durch die rauchenden Tortrümmer. Faraga zögerte lange, ihnen zu folgen. Er war immer noch unentschlossen, als erneut Matam zu ihm zurückkehrte. Zu Fuß. Er hatte sich das Tuch vom Haupt gerissen und starrte Faraga aus Augen an, in denen mehr Grauen leuchtete als dort, wo er auf Mawiyas Leichnam geblickt hatte. Was ist? schrie Faraga ihn an. Du siehst aus, als hättest du den Scheitan Sumpf! keuchte der Fulbe. Die Haine sind verschwunden. Draußen ist nur Sumpf und Morast wie in der Stadt …! Die anderen waren trotzdem nicht zu bremsen. Sie versuchen ihn zu durchqueren. Es scheint feste Wege zu geben, aber ich … Aber du glaubst es nicht, erriet Faraga, weiß wie eine Wand. Matam schwieg verbissen. Wo ist dein Kamel? Ich habe es draußen angebunden. Habt ihr noch etwas von denen, die nach drüben kletterten, gesehen? Matam schüttelte fahrig den Kopf. Faraga ritt an ihm vorbei, stieg vom Sattel, kletterte über einen herabgestürzten Balken und spähte durch die Reste des Tores nach draußen. Er sah nichts von dem, was Matam behauptet hatte. Überall wuchsen dieselben schattenspendenden Palmgewächse wie schon bei ihrer Ankunft. Man sieht es erst, wenn man draußen ist , murmelte Matam verstört. Verhext ; Alles ist verhext ; Faraga wollte etwas erwidern, als ihn ein orkanartiger Windstoß erfaßte und zurückschleuderte. Benommen lag er am Boden und sah mit an, wie sich das niedergebrannte Tor aus Asche, Rauch und Trümmern neu erschuf. Sekunden später erhob es sich vor Faraga, als wäre ihm nie auch nur ein Splitter geraubt worden. Matam verschwand wahnsinnig schreiend und mit den Armen fuchtelnd in einer der Gassen.Als Faraga sich erhob, brach sein Kamel tot zusammen und begrub ihn fast unter sich. Von jenseits der Mauer drang ersticktes Röcheln aus menschlichen und tierischen Kehlen. Faraga holte sich sein Gewehr und klammerte sich daran fest, als böte es wahrhaftigen Halt. Tatsächlich überkam auch ihn jetzt ein lange geleugnetes Gefühl völliger Verlorenheit. Matam hatte recht: Diese Oase war verhext, und es schien, als hätte sie nur auf eine Horde wie die Plünderer gewartet Eine aus den Augenwinkeln wahrgenommene Bewegung lenkte Faragas Blick auf sich. Er zuckte herum. Dann schoß er, ohne zunächst zu begreifen, daß der Bolzen nur leise klickend auf eine volle Patrone aufschlug ; wieder und wieder Aus aufgerissenen Augen starrte er auf das, was sich ihm näherte, und hörte die entstellte Stimme, die ihm schmeichelte: Wogegen sträubst du dich? Wovor hast du Angst? Du bist willkommen … Einer wie du ist stets willkommen Das Grauen sickerte wie flüssiges Pech in Herz und Hirn. Seine Augen schienen sich mit atmender Schwärze zu füllen. Er schrie. Er schrie, bis der Boden unter ihm weich und schwammig wurde, das hervorbrechende Wasser ihn häutete und der Schlamm ihn liebkoste. Als all dies bewältigt und darüber noch eine Weile verstrichen war, dämmerte ihm schließlich, daß es nun Zeit wurde, ein Anhänger der Stille zu werden. Sechs Monate später, Mandschurei, China Die schlanke Frau mit dem knospenden Körper eines Mädchens an der Schwelle zum Erwachsenwerden seufzte, während sie versuchte, Befriedigung zu finden. Sie war nicht bei der Sache, aber das lag nicht nur an der eigenen Nervosität. Der junge, weißhaarige Schüler auf ihr stellte sich allzu derb und phantasielos an. Lutor , fauchte sie, als es ihr endgültig zuviel wurde. Grob stieß sie ihn von sich weg. Entweder du gibst dir ein Quentchen mehr Mühe, oder du trollst dich auf der Stelle!
Betroffen hielt er inne. Seine Albinoaugen schwammen in einem Übermaß jenes Sekrets, das die Menschen Tränen nannten. Doch auch Lutor wußte nicht, wieviel Mensch er noch war, und weil er darunter litt, war er hier. Sein erigiertes Glied verlor alle Würde. Es erschlaffte. Du hast es nötig , konterte er empört. Du liegst nur da und …. Nona schlug ihm ins Gesicht, obwohl er nicht völlig unrecht hatte. In ihrer Vorstellung zog sie mit Krallen schreckliche Wunden durch sein weiches, weibisches Gewebe, als gälte es, das Feld für eine dunkle Saat zu bestellen. Doch um dies wahrzumachen, fehlten noch einige Tage und Nächte. Beim nächsten Vollmond würde sich dann zeigen, ob die von ihrem Mentor empfangenen Lektionen gefruchtet hatten. Nona bezweifelte es. Sie verehrte Chiyoda, aber sie war nicht wie er. Sie würde nie die höheren Stufen seiner Lehre erklimmen, obwohl sich auch in ihr vieles danach sehnte, dem kannibalischen Drang zu entsagen. Dem Fluch, der während der hellsten Mondphase ein dichtes Haarkleid um den sündhaften Körper wob und ihn mit grausamen Details entmenschte. Nur Chiyoda war die totale Verweigerung an das Elementare gelungen. Sonst kannte Nona niemanden mit vergleichbaren Erfolgen. Daß sie in dieser Situation ausgiebigst darüber nachdachte, bewies, wie ungeschickt sich Lutor tatsächlich angestellt hatte. Die Werwölfin bedauerte, sich überhaupt mit ihm eingelassen zu haben. Aber das Albinoide hatte sie gereizt, und um Chiyodas Lehre auch nur nahe zu kommen, galt es, verstärkt die unblutigen Triebe zu pflegen Wehmütig wechselten Nonas Gedanken zu Landru. Seit sie ihm einen Besuch bei der in Neu-Delhi ansässigen Vampirsippe abgestattet und ihn über die dramatischen Ereignisse in El Nabhals Oase informiert hatte, waren ihre Wege wieder auseinandergedriftet. Wie stets. Kurze, unvergeßliche Intermezzos .Als sie sich zu erinnern versuchte, wann sie diesem charismatischen Vampir zum allerersten Mal begegnet war, sprang Lutor erbost über ihr Schweigen auf, raffte seine Kleidung zusammen, schlüpfte in die mönchsähnliche Kutte und schleuderte ihr zum Abschied noch ein paar aufgebrachte Beschimpfungen entgegen. Sie ließ ihn ziehen, genoß es anschließend regelrecht, allein zu sein. Später stand sie auf und unterzog sich einer intensiven Waschung, um den Geruch des Rüden loszuwerden. In einer Kutte, ähnlich der seinen, suchte sie dann Chiyoda auf.Er meditierte, und sie wartete, bis er von selbst auf die veränderten Strömungen seiner Umgebung reagierte. Ah, meine Lieblingsschülerin , wandte sich die zerbrechlich wirkende Gestalt ihr zu. Chiyoda hockte auf seidenen Kissen, umgeben von betörendem Räucherwerk. Ich habe es nie verstanden, entgegnete Nona, wie eine so schlechte Schülerin zugleich dein Liebling sein kann. Wärest du so schlecht, wie du dich machst, müßte ich darüber nachdenken. Aber du bist nur nachlässig. Das ist etwas anderes und hat mit dem Feuer deiner Jugend zu tun. Meiner Jugend? Nona lachte amüsiert. Du weißt, wie alt ich wirklich bin. Wie alt man wirklich ist, entscheidet nicht die Zeit und nicht der Körper – nur der Geist, der ihm innewohnt. Sie winkte ab. Ich bin nicht zum Philosophieren gekommen. Wofür denn? Ich habe dich schon oftmals gefragt und tue es jetzt wieder: Weißt du etwas über den Ursprung unserer Art? Wie hat alles begonnen? Chiyoda lächelte sanft. Er sah aus wie ein Greis und erinnerte dennoch nicht im mindesten an El Nabhal, der sich immer wieder mit magischen Tüchern künstlich verjüngt hatte. Auch El Nabhal hatte Macht aus den unsichtbaren Gezeitenwirkungen gezogen. Wie die Wölfe, die einst Menschen waren . Nona verdrängte die Gedanken an jenen, mit dem sie lange in krankhafter Haßliebe verknüpft gewesen war. Sie hatte sich von ihm befreit. Auslöser der Tat war gewesen, daß El Nabhal den Gefallen zu sabotieren versuchte, den sie Landru versprochen hatte.(siehe VAMPIRA 19: Wolfsmond) Warum interessiert dich der Ursprung mehr als das Unheil, das unsere Art verbreitet? Muß man nicht die Wurzeln kennen, um die Ursache zu beseitigen? Jetzt wirst du philosophisch. Als ob dich das schrecken würde; Chiyodas vertiefte sein Lächeln. Sich diesen Mann bei Vollmond durch eine Landschaft hetzend vorzustellen, war ein Unding. Er hat es tatsächlich geschafft , dachte Nona warm. Er hält seine Sucht im Zaum. Und sie selbst? Wollte sie dem Bösen überhaupt entsagen? Es bot so viele Vorteile. Wildheit ohne moralisches Korsett konnte so lustvoll sein Nein, das tut es nicht. Aber ich weiß keine verbindliche Antwort auf deine Frage. Es hat mich nie interessiert, denn das Wissen, nach dem du strebst, ist nicht nötig, um sich zu befreien. Glaube und vertraue mir. Du hast nicht einmal eine Theorie? fragte Nona enttäuscht. Es gab eine Zeit, da eine Wölfin Menschen säugte, sagte Chiyoda mit einigem Zögern. Vielleicht nahm es damals seinen Beginn. Die Milch könnte das Ungestüm, das uns so oft zum Fluch gereicht, übertragen haben. Später dann . Das klingt mir zu simpel, unterbrach sie ihn. Ich sehe schon, ich muß nach anderen Quellen Ausschau halten. Sie sagte es ohne jede Herablassung. Er sollte spüren, daß ihr Respekt ihm gegenüber nicht gelitten hatte. Er wiegte das von schütterem grauen Haar und Bart umkränzte Haupt. Suche die Quelle in dir. Erklimme die nächste Stufe. Irgendwann wirst du erkennen, wie unwichtig der Anfang allen Übels ist. Das Ende zählt. Und beenden kannst du es nur in dir selbst Er blieb zurück, als sie nach draußen ging, um in der kalten Dämmerung durch die Gärten des Tempels zu wandern. Den narbigen Mond ließ sie keinen Moment aus dem Auge und er sie auch nicht. Ein neues Haus ist immer besser (buddhistischer Lehrsatz)
Gegenwart, Japan Hafen und Meer erinnerten an Sydney, aber sobald man den Blick entlang der Küste und weiter ins Inselinnere schweifen ließ, ging jede erhoffte Vertrautheit verloren. Bei ihrer Ankunft hatte sich das Labyrinth der Hochhäuser als hektisch pulsierender Nistplatz des Kommerzes präsentiert ; nun, nach Einbruch der Dunkelheit, verwandelten sich Tokios Wohnviertel beinahe in Dörfer. Beth streckte den Arm aus und zeigte hinunter tief hinunter in die Bucht. Es gibt Pläne, dort unten einen gewaltigen Turm zu errichten, mehr als 600 Meter hoch und von der Form eines spitz nach oben zulaufenden Doms. Millenium Tower nennen sie das Projekt. Als ich darüber las, habe ich gelächelt. Jetzt, da ich all dies vor mir sehe, fürchte ich fast, sie könnten es ernst meinen.Was wäre schlimm daran? fragte Lilith. Sie saßen in bequemen Sesseln, die ihnen nicht gehörten. Nichts hier gehörte einem von ihnen wirklich. Es war ein Versteck, und es war der erste Abend im Land der aufgehenden Sonne.Obwohl sie beide müde von den Erlebnissen in Schottland und dem anstrengenden Flug waren, fanden sie keinen Schlaf. Nichts, erwiderte Beth. Und alles. Die Japaner stehen auf dem Standpunkt, Grenzen seien da, um überwunden zu werden. Ihre Architekten, Ingenieure und Techniker erproben ständig neue Projekte. Die wenigsten werden realisiert. Man lernt hier aus seinen Fehlschlägen. Auch darin sehe ich nichts Schlechtes. Beth drehte den Kopf. Ihr Gesicht, von kurzem blonden Haar umrahmt, wirkte auf anziehende Weise fremdartig. Lilith empfand zärtliche Gefühle bei der Betrachtung. Sie waren sich lange nicht mehr richtig nahe gewesen. Und vielleicht bot Tokio in dieser Hinsicht sogar eine Chance. Hier mußten sie wieder enger zusammenrücken, hier kannten sie niemanden. Es war ein Neubeginn. Es ist beängstigend, sagte Beth. Sie blickte in Liliths Richtung, aber sehr viel sehen konnte sie von ihr nicht. Es war dunkel im Penthouse. Sie hatten alle Lichter gelöscht, um von keinem Reflex in den Scheiben bei der Betrachtung des atemberaubenden Panoramas gestört zu werden. Wäre es nicht Anfang Februar und empfindlich kalt in 350 Metern Höhe gewesen, hätte sie es draußen auf der Terrasse genossen. Habe ich je erwähnt, daß es mich vor rohem Fisch graust? fuhr Beth fort. Wie kommst du gerade darauf? Man ißt hier fast nur rohes Zeug! Für mich keine Umstellung. Lilith entblößte die Zähne und fuhr mit der Zungenspitze speziell über jene, die in bestimmter Situation zu wachsen vermochten. Ich weiß. Ich beobachte dich schon den ganzen Abend. Allmählich kenne ich die Vorzeichen, wenn es bei dir anfängt. Anfängt? Lilith versuchte ihrer Stimme nicht anmerken zu lassen, daß sie sich ertappt fühlte. Deine Augen. Ich sehe es an deinen Augen .Lilith schwieg eine Weile. Im Dunkel für sie nicht existent tastete sie nach der Hand der Freundin. Beth sträubte sich nicht, als Lilith ihre Finger in die ihren flocht.Was hältst du davon, wenn wir etwas für dich zu essen bestellen und ich heute ebenfalls zu Hause esse? Zu Hause Beth drehte ihr Gesicht zurück zum Fenster, hinter dem ein Abgrund gähnte. Das Häusermeer zu Füßen des SchinreiBuildings erinnerte an einen Tumor, und es schien, als würde es Zeit brauchen, herauszufinden, ob diese Geschwulst gut- oder bösartig war. Dann ging ein plötzlicher Ruck durch Beth, als sie begriff, worauf Lilith hinauswollte. Ich bin nicht sonderlich hungrig, sagte sie leise. Aber du ? Ja, bestätigte Lilith. Sie drückte Beth' Hand fester. Beth MacKinsay war mittlerweile sechsundzwanzig. In ihrem Reporter-Job hatte sie viel erlebt und gesehen. Sie wußte, wo es lang ging. Auch privat, denn gerade im persönlichen Bereich hatte sie es sich immer schwerer als nötig gemacht. Vor Lilith war sie mit einer ein Jahr jüngeren Holländerin liiert gewesen. Zwei Jahre hatte die Beziehung zu Seven van Kees gehalten. Lilith wußte alles darüber, aus einer Zeit, als sie noch ausnehmend viel über solche Dinge miteinander gesprochen hatten. Plötzlich entzog Beth ihre Hand. Sie stand auf. Ich bin müde, sagte sie, als wüßte sie nicht, wonach Lilith hier in der Fremde dürstete. Aber sie wußte es genau. Sie war leicht zu durchschauen. Ich lege mich schlafen. Kommst du auch? Noch nicht. Lilith blieb sitzen. Nie war ihr bewußter als in diesem Augenblick gewesen, was Freundschaft bedeutete. Wieviel es mit gegenseitigem Respekt zu tun hatte. Beth blieb stehen. Du bist eingeschnappt, sagte sie. Nein, entgegnete Lilith, obwohl sie noch mit sich rang, ob dies nicht doch der Fall war. Es wäre schön, wenn du nachkämst, sagte Beth. Ich spüre dich gern. Aber ich möchte nie wieder ohne wirkliche Not das für dich sein, was ich war, als es keine andere Möglichkeit gab Verstehst du das?
Sie spielte auf die Geschehnisse in Llandrinwyth an. Dort hatte Lilith ihr Blut getrunken, weil es für sie die einzige Nahrung in einem Dorf von Toten gewesen war.(siehe VAMPIRA 10:Das Dorf der Toten) Ich denke, ja. Dann komm. Ich friere. Lilith stand auf. Die Temperatur innerhalb des Penthouse war auf permanente 22 Grad Celsius geregelt. Wenn Beth tatsächlich fror, dann hatte es mit einem Mangel an Zuwendung zu tun. Auch wenn sie wenig darüber sprach, schienen ihr die traumatischen Vorkommnisse im Haus der Marionetten immer noch zu schaffen zu machen. Sie war an den Blutkreislauf eines Dämons angeschlossen gewesen, der ihr Herz für die Dauer dieser Symbiose angehalten hatte.(siehe VAMPIRA 31: Der Blutschädel) Möglicherweise wurzelte darin ihre ausgeprägte Abscheu, was Blut im allgemeinen und das eigene Blut im speziellen anging. Lilith schlang den Arm um Beth' Hüfte und lotste sie durch die weitläufige, im Grunde unbezahlbare Wohnung, die sie keinen einzigen Yen an Unterhalt kostete. Ein anderer hatte dies übernommen. Aus Dank. Ganz kurz irrten Liliths Gedanken noch einmal zu Fee und Robert Craven zurück. Dann konzentrierte sie sich völlig auf das sinnliche Geschenk von Beth' Nähe. Sie spürte die Bereitschaft der Freundin, ein anderes Bedürfnis als das Lebensnotwendige zu stillen. Es gab zwei Schlafräume, aber die Betten waren in beiden gleich hart und gewöhnungsbedürftig. Auf dem Weg dorthin kamen sie an dem Ziergarten vorbei, der die klaren Linien der Einrichtung mit lebhaftem Grün bereicherte. Dicke, pastellfarbene Matten bedeckten die Böden der Räume und Korridore. An beweglichem Mobiliar prägten verschiedene niedrige Lacktischchen mit Kissen als Sitzgelegenheiten das Bild. Neben jedem dieser Kissen stand eine gepolsterte Konstruktion zum Aufstützen des Arms. Die einzelnen Zimmer waren großzügig geschnitten, nur die Korridore erwiesen sich als schmale Schläuche. Immer mehr erschien die Wohnung Lilith wie ein Refugium, das den Lärm und die Schattenseiten des Hexenkessels draußen fernhielt. Das Schinrei-Building – zumindest das oberste seiner hundert Stockwerke – erinnerte an eine Insel im Sturm. Zugleich ahnte Lilith jedoch, daß Beth noch ihre Probleme mit dieser Einschätzung hatte. Sie hatte nicht nur am meisten, sie hatte alles aufgegeben. Ihre Arbeit in Sydney, ihre dortige Wohnung, und wenn schon keine echten Freunde, so doch viele Bekannte. Hier kannte sie bislang nur Lilith. Bereust du es? fragte die Halbvampirin, als sie eine Wand beiseite schob, um in den dahinter befindlichen Schlafraum zu gelangen. Zugleich aktivierte sie mit einem kurzen Schalterdruck dezentes Licht, das sowohl Beth' als auch ihren eigenen Körper umschmeichelte. Liliths Schatten blieb verschwommen, aber daran nahm hier niemand Anstoß. Was? Dich mit einem Zwitterwesen wie mir eingelassen zu haben. Wie selbstverächtlich du klingst. Lilith sah, daß ihre Taktik aufging. Indem sie eigenen Zwiespalt entblößte, lenkte sie Beth etwas von deren Selbstzweifeln ab. Meinst du, es gäbe keinen Anlaß? Doch, aber den gab es immer. Du und Duncan, ihr habt mich schon vor einem Jahr aus meinem Heile-Welt-Trip gerissen. Vom ersten Tag an. Ich weine meiner damaligen Unwissenheit, was die heimliche Herrschaft der Vampire angeht, nicht hinterher. Ich möchte nie wieder eines dieser Schafe sein, die nichts von den Wölfen im Schafspelz ahnen. Es ist nur, daß es immer schwerer wird, Geborgenheit zu finden. Mir geht es nicht anders. Ich weiß. Lilith zog Beth zu sich heran. Ihre Lippen berührten einander sanft. Atem verschmolz mit Atem. Es war ein Genuß, sich dem Spiel der Zungen hinzugeben. Worte verloren ihre Bedeutung. Beth entspannte sich, und Lilith schälte sie aus dem Kleid, das sie schon bei ihrer Ankunft getragen hatte. Ich möchte mich erst frisch machen, löste sich Beth noch einmal aus der Umarmung. Nur in der Unterwäsche wechselte sie in den angrenzenden Raum mit seinen exotischen Utensilien, der Toilette, die fast ebenerdig in den Boden eingelassen war und nur in ungewohnter Hockstellung benutzt werden konnte. Das Bidet machte nur Sinn als Entgegenkommen an die westliche Kultur. Lilith beobachtete, wie Beth die Dessous abstreifte und sich vom weichen Strahl der Dusche verwöhnen ließ. Dabei verspürte sie selbst Sehnsucht nach Hygiene. Ein Impuls verwandelte den Symbionten, der ihr als Kleidung diente, in einen die Taille umschlingenden Gürtel. Auf Zehenspitzen folgte Lilith der Freundin, die nichts dagegen hatte, als sie zu ihr in die geräumige Duschzelle stieg. Beth hatte kleine, apfelförmige Brüste, während Liliths Busen üppig und dennoch straff wirkte. Von Frau zu Frau hatte sie oft gespürt, daß Beth sie darum beneidete. Sie selbst empfand den zierlichen Körper der Freundin als ausgesprochen reizvoll und erotisch und zeigte es ihr jetzt auch wieder, indem sie jede erreichbare Stelle unter dem prasselnden Kunstregen mit Küssen bedeckte. Beth erwiderte die Leidenschaft schürenden Berührungen zunächst mit den Fingern, was Lilith noch mehr erregte. Auch sie grub die Hände in die festen Pobacken der Freundin und führte dann vorsichtig einen Finger in den warmen Schoß ein.
Beth stöhnte lauter. Lilith drehte sie so, daß sie ihr den Rücken bot. Von hinten liebkoste sie ihre Brustwarzen, knetete ihren Busen und leckte mit der Zunge das Rückgrat hinab, das sich deutlich unter der Haut abzeichnete. Beth beugte sich vor und hielt sich an der messingglänzenden Armatur fest. Sie erzitterte, als Lilith hinter ihr kniete, die Pobacken etwas auseinanderzog und das rosige Fleisch ihrer Scham mit den Lippen berührte. Beth schwankte, als stünde sie kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Warmes Wasser rann über Liliths verzücktes Gesicht. Sie vergaß, worüber sie sich unterhalten hatten, und sie vergaß, wo sie waren. Beth Körper erschien ihr wie ein Stück Heimat, das man überall mit hinnehmen konnte. Ihr Finger fand den Rhythmus, und Sekunden später schrie Beth ungehemmt ihren Orgasmus hinaus. Lilith richtete sich auf. Busen an Busen umarmten sie sich eine Weile stumm. Beim späteren Abfrottieren revanchierte sich Beth bei Lilith. Die Zärtlichkeiten fanden ihre Fortsetzung auf dem Futon, wurden aber spürbar sanfter. Eng aneinandergeschmiegt verrieten Beth' Atemzüge bald, daß sie eingeschlafen war. Lilith wartete noch ein paar Minuten, ehe sie sich vom Lager stahl. Seltsam gelöst und doch nicht zufriedengestellt wechselte sie dorthin zurück, wo sie gemeinsam mit Beth das Panorama von Hafen und Stadt betrachtet hatte. Sie erinnerte sich an die quälend lange Fahrt vom Narita Airport hierher. Sie erinnerte sich der Stimmen ihrer Großeltern, bevor der sterbende Dämon sie in Schottland freigegeben hatte. Cloe ihr Baby Was für ein krankes Leben lebe ich eigentlich? dachte sie erschüttert. Manchmal kam sie sich vor wie Landrus mißglückte Schöpfung, deren Körper in fünf Tagen ein ganzes Menschenleben verbrannt hatte. Nur daß bei ihr nicht der Körper welkte, sondern der Verstand immer neuen Zerreißproben unterzogen wurde. Freunde kamen, Freunde gingen. Beth war die einzige Konstante in ihrem Leben. Als Feind war es Landru. Würde er sich ihr weiter widmen oder konzentrierte er sich inzwischen ausschließlich auf die Verfolgung Felidaes? Wußte er, daß sie wieder im Besitz des Lilienkelchs war? Nach den Ereignissen in Polen mußte er es schlußfolgern, aber es war unwahrscheinlich, daß er nicht auch noch ein gewisses Augenmerk für Lilith übrig hatte. Lilith wußte, daß sie ihn eines Tages töten mußte , je eher, desto besser. Sie machte ihre Gedanken frei von ihm. Der Symbiont schmiegte sich um ihre Haut. Als sie die Balkontür öffnete, begleitete er sie nach draußen. Er begleitete sie überall hin. Lilith zog die Tür hinter sich in den Magnetverschluß zurück. Noch während sie auf die Brüstung zuging, zweifelte sie, ob ihr Vorhaben so kurz nach der Ankunft in einem fremden Land wirklich klug war. Dennoch setzte sie sich auf das niedrige Geländer und ließ sich einfach nach vorn kippen. In die dunkle, kalte Tiefe, in der verstreute Lichter wie ferne Sterne glommen. Die ersten hundert Meter fiel sie wie ein Stein, berauscht von der Möglichkeit, den Sturz nicht aufzuhalten. Dann transformierte sie und lenkte ihren veränderten Körper auf ledrigen Schwingen vom Schinrei-Building, das wie ein Bolide aufragte, fort in die noch junge Nacht. Millionenfacher Pulsschlag lockte und beseitigte die letzte Hemmschwelle. Daß der Mond in voller Pracht am Himmel stand, beunruhigte Lilith nicht im mindesten. Andere durchaus . Sie träumte von schuppiger, harter Schlangenhaut. Einem Kokon, der ein Ungeheuer umpanzerte und verwahrte. Einem Loch in dieser Schale, aus der zwei haarfeine Drähte hervorschnellten und sich an ihren Augäpfeln vorbei in den Bereich hinter den Höhlen bohrten. Es brannte, als sich die Fremdkörper in ihrem Gehirn verankerten. Der Schmerz war so groß, daß sie ihre Finger spreizte und den Dolch fallen ließ, den sie gerade erhoben hatte, um das Ungeheuer hinter der Schlangenhaut zu töten. Gedämpftes, böses Lachen, wehte aus dem Panzer zu ihr empor. Schmerz weitete sich zur erlösenden Explosion, und dann. Beth erwachte. Es war nicht das erstemal, daß sie von diesem Traum heimgesucht wurde. Auch während der fast besinnlichen Tage auf Cravens Residenz hatte sie damit zu schaffen gehabt. Sie wußte bis heute nicht, wie Felidae ihre völlig verdrehte, auf Landru fixierte Gefühlswelt wieder in die ursprünglichen Bahnen gelenkt hatte. Beth besaß keine Erinnerung an das, was dem Durchbohrtwerden gefolgt war. Irgendwann hatte sie sich in ihrem Hotelzimmer wiedergefunden . Ihre Hand tastete über den Futon. Als sie begriff, daß sie allein war, richtete sie sich auf. Lilith war gegangen, und für den Moment wußte sie die damit verbundenen Gefühle nicht auf die Reihe zu bringen. Sie erhob sich und streifte einen bereithängenden Kimono über. Der Stoff legte sich kühl auf ihre Haut und half ihr, in die Realität zurückzufinden. Sie schlüpfte in Lederpantoffel und verließ den Schlafbereich. Im Wohnraum knipste sie das Licht an. Ihr Blick verweilte kurz auf einer kunstvoll an die Papierwand gemalten Schrift, die ihr Lilith übersetzt hatte: Kabe ni mimi ari, shoji ni me ari - Die Wände haben Ohren, die Schiebefenster haben Augen. Dann sah sie, daß die Tür zur Terrasse entriegelt war. Ohne einen Gedanken an die Kälte zu verschwenden, ging Beth nach draußen. Auch hier war Lilith nicht mehr. Sie hatte es auch nicht erwartet. Nachdenklich starrte sie in den Schlund der Tiefe. In Augenblicken wie diesen wurde ihr klar, daß sie anfangen mußte, Lilith mit anderen Augen zu betrachten. Es würde schwerfallen, denn das, was jetzt dort draußen in der frühen Nacht unterwegs war, war womöglich etwas völlig anderes als das, was ihr gerade höchste Wonnen bereitet hatte … Nachdem diese Erkenntnis zu wirken begann, kehrte sie fröstelnd ins Penthouse zurück und tat bis zu Liliths Rückkehr kein Auge mehr zu.
Lilith ließ lange auf sich warten. Sie wurde aufgehalten. Um 16.20 Uhr war die Sonne untergegangen. Um 18.20 Uhr, zwei Stunden später, traf Katsushika Hukosai letzte Vorbereitungen für die bevorstehende Zusammenkunft. Seit kurzem tanzte er auf zwei Hochzeiten, doch bisher hatten sich die Termine miteinander vereinbaren lassen. Heute würde es eng werden. Der 28jährige Yakuza knöpfte nervös das Hemd zu und verhüllte damit die Ausläufer einer Tätowierung, die ihn als Angehörigen der Triaden auswies. Hukosai war von kleiner, stämmiger, aber ungeheuere Energie ausstrahlender Statur. Er sah beträchtlich älter und reifer aus, als er es die Zahl seiner Lebensjahre vermuten ließ. Der dunkle Anzug, weiteres Markenzeichen seiner Zunft, verstärkte diesen Eindruck noch. Mit einer für ihn eher untypischen ledernen Aktenmappe verließ er schließlich seine Wohnung im Stadtteil Shimbashi und fuhr mit der U-Bahn zum Imperial Hotel am Hibiya Park. Der Kaiserpalast lag nördlich des Hotels, auf der anderen Seite der öffentlichen Grünfläche. Hukosai wurde bereits von Hariki Miata, dem Boß der Gang, in seiner Privatsuite erwartet. Wie üblich hatte der feiste Miata den Arm um seine europäische Übersetzerin gelegt, die mit Sicherheit kein Höschen unter dem Nichts von einem Kleid trug. Deutlich waren unter dem dünnen Stoff die dunklen Höfe ihrer Brustwarzen zu erkennen. Hukosai kannte Miatas Vorlieben und gönnte ihm jeden Zeitvertreib. Der Yakuza-Boß hatte ihn damals, als Hukosai seine Arbeit und jede Hoffnung verloren hatte, wie einen Sohn aufgenommen. Hukosai hatte es bis heute nicht vergessen, und vielleicht war dies der einzige Grund, warum er sich ihm trotz drastisch veränderter Rolle immer noch verpflichtet fühlte. Gleichzeitig wußte er nicht, wie lange er Miata noch stützen und dessen vorprogrammierten Fall aufhalten konnte. Möglicherweise würde die heutige Nacht bereits Aufschluß darüber geben. Hukosai versuchte zu verdrängen, daß dies dann das unwiderrufliche Todesurteil für Miata darstellte, falls dieser sich wie ein Narr gebärden und nicht über die von Hukosai so sorgsam errichtete Brücke gehen würde … Was ist? fragte Miata schläfrig. Du hast es sehr dringend gemacht. Ich hoffe, du strapazierst meine Großmut nicht mit Nebensächlichkeiten. Ich war gerade dabei .Er verstummte. Nicht, weil ihn etwas aus dem Konzept gebracht oder unterbrochen hätte. Er schien einfach der Ansicht zu sein, genug gesagt zu haben. Seine Hand kraulte den Hals des Mädchens, das auch nur die Wahl hatte, sich die ungeschlachten Berührungen gefallen zu lassen oder zu sterben. Katsushika Hukosai empfand keinerlei Mitleid mit ihr, und er hoffte, daß Miata die alles versprechenden Blicke, mit denen sie einen Verbündeten zu gewinnen versuchte, nicht wahrnahm. Es hätte ihn zweifellos zutiefst gekränkt. Es ist wichtiger als alles, was du dir vorstellen kannst, sagte Hukosai mit einer Kühle, die Miata schlagartig aus seiner Schläfrigkeit aufschreckte. Er war es nicht gewohnt, daß Hukosai oder irgendein anderer in dieser Weise mit ihm sprach. Das Mädchen schrie auf, als er sie grob von sich stieß und Verschwinde! fauchte. Sie gehorchte. Sie wollte nicht sterben. Nachdem sie den Raum durch die Tür, hinter der Miatas Leibwächter postiert waren, verlassen hatte, winkte der Boß Hukosai näher zu sich. Seine ohnehin von Fett geschmälten Augen waren zu dünnen Schlitzen geworden. Was ist in dich gefahren? fragte er leise, aber in dem Hukosai nur allzu vertrauten Ton, von dem er wußte, daß Miata seinen immer noch vorhandenen Stachel ausgefahren hatte. Hukosai konnte es ihm nicht verdenken. Er nahm es, im Gegenteil, als Zeichen der Hoffnung. Dein Ton gefällt mir nicht, Katsushika, fuhr Miata fort und starrte auf Hukosais unversehrte Hände, die ebenso wenig verstümmelt waren wie seine eigenen. Ein Hammer und ein scharf geschliffener Meißel sorgten dafür, daß ein Yakuza, der einen Fehler machte, mit einem seiner Finger dafür bezahlte. Weder Hukosai noch sein Boß hatten solche Schande vorzuweisen. Ich hoffe, fuhr Miata fort, du zwingst mich nicht, ein Pfand als Entschuldigung von dir anzunehmen. Sag endlich, worum es geht! Hukosai öffnete zunächst schweigend die mitgebrachte Ledertasche. Er zog einen prallgefüllten, zugeklebten Umschlag heraus, den er Miata überreichte. Sein Boß wog ihn nachdenklich in der Hand. Was ist das? fragte er. Ein Brief? Geld? Geheime Unterlagen? Meine Kündigung im weitesten Sinne , erwiderte Hukosai. Dann spürte er die leise Erschütterung, die durch Hariki Miata lief. Früher hätte sie ihn entsetzt, aber diese Zeit würde nicht wiederkehren. Bevor sich noch mehr Zorn in Miatas Züge graben konnte, sagte Hukosai: Du warst immer wie ein Vater zu mir, und es hat mich mit Stolz erfüllt, zu den engsten deiner Vertrauten ernannt zu werden. Ich glaube, ich gab dir nie Anlaß, mich zu strafen oder auch nur wütend auf mich zu blicken. Er wartete kurz, ob er Zustimmung in Miatas Miene fand, und fuhr dann, nicht wirklich fündig geworden, fort: Deshalb, nur deshalb wage ich zu hoffen, daß du mir eine letzte Bitte erfüllst. Miata sah auf ihn herab wie auf einen urplötzlich zum Schwachsinnigen mutierten, sehr, sehr kranken Menschen. Du mußt den Verstand verloren haben, wirklich. Sonst wüßtest du, daß niemand kündigen kann nicht einmal ich. Hukosai nickte. Das weiß ich.Und trotzdem …Und trotzdem bitte ich dich um diesen Gefallen. Ich weiß, daß du unverzüglich meinen Tod veranlassen wirst. Ich könnte mir auch nicht vorstellen, welches Versteck mich normalerweise schützen sollte. Aber in diesem ganz speziellen Fall bitte ich dich noch einmal eindringlich: Lies, was in diesem Umschlag steht und nimm es ernst!Danach mußt du entscheiden, welchen Weg du gehen willst. Miata wollte das Kuvert aufreißen, aber Hukosais Geste ließ ihn innehalten. Nein, warte, bis ich gegangen bin!
Gegangen? Miatas Gesicht verzerrte sich. Du erwartest, daß ich dich nach dieser Ansprache gehen lasse? Ich bitte dich darum. Der Umschlag knisterte, als Miatas Faust sich darum schloß. Sonst hörte man sekundenlang nichts mehr. Geh!sagte Miata unvermittelt. Aber erwarte keine Schonung! Du weißt nicht, wie sehrdu mich gerade enttäuscht hast ! Miatas Wink peitschte Hukosai förmlich aus dem Raum. Er ging, ohne ein weiteres Wort. Die Tasche ließ er zurück. Er brauchte sie nicht mehr. Er wußte, daß er zurückkehren mußte und hoffte inständig, daß Miata dann nicht mehr da sein würde, sonst .. Hariki Miata ahnte nichts von seinen Beweggründen. Er wartete nach Hukosais Abgang noch fast fünf Minuten, ehe das Leben in seinen Körper zurückkehrte. Dann riß er den Umschlag auf und holte den Inhalt heraus. Ein handschriftlicher Brief, ein Paß mit Miatas Bild, aber einem völlig fremden Namen und ein Flugticket nach Paraguay, auf eben diesen Namen lautend, fielen ihm entgegen. Fassungslos las er die beigefügte Nachricht. Als einer seiner Leibwächter hereintrat, schrie er ihn wieder zur Tür hinaus. Erneut las er den Zettel. Ich habe einen großen Teil Deines Vermögens auf ein südamerikanisches Konto transferiert. Den Namen der Bank, ihren genauen Sitz und das Kennwort, mit dem Du Zugang erhältst, findest Du am Ende des Briefes. Dein Flug geht noch diese Nacht, und ich bitte Dich inständig, mir zu vertrauen. Du bist nicht mehr der Boß dieser Gang. Andere, die ein Auge auf jeden von uns halten, haben so entschieden, und da ich nun zu ihnen gehöre, kann ich mich ihnen nicht mehr widersetzen. Flieh! Du mußt es als Flucht betrachten, sonst ist Dein Leben nichts mehr wert. Warte nicht, bis ich zurückkehre. Denn wenn ich es tue und Dich noch antreffe, wird Dein Tod schrecklicher als alles, was Du Deinen schlimmsten Feinden angetan hast. Vernichte diesen Brief, ohne Spuren zu hinterlassen. Du ahnst nicht, was ich dabei riskiere Der Strom fiel gleich hinter der Otemachi-Station aus. Kreischend traten Bremsmechanismen in Kraft und brachten den Zug der Marunouchi Linie zum Stehen. Die Notbeleuchtung flackerte kurz und erlosch dann ebenfalls. Es wurde stockfinster, so daß es für einen Moment den Anschein hatte, als würde alles Leben in den Abteilen erst in der Bewegung gerinnen und dann einfach verlöschen. Die Fahrgäste suchten ihr Heil in Disziplin. Bedachte man die Serie von Attentaten in den letzten Monaten, war dies eine schier übermenschliche, hier aber kaum auf Staunen treffende Leistung. Hukosai war einer der wenigen, die sich von ihren Sitzen erhoben. Er verwünschte seine Skrupel, die ihn zu Miata getrieben hatten. Er hätte längst an der Zusammenkunft teilnehmen müssen, und jetzt ? Seine Hände schabten über die geschlossenen Türflügel des Waggons und hielten am Spalt, der beide verband, inne, als könnte er ihn mit bloßer Muskelkraft auseinanderziehen. Er gab dem immer unzähmbarer werdenden Drang ein kleines Stück nach. Seine Augen reagierten und vermittelten ihm eine für Menschen sonst nur mit Hilfe modernster Technik mögliche Sichtweise seiner Umgebung. Er stöhnte unterdrückt, weil er das Gefühl hatte, innerlich bersten zu müssen. Er hatte den Mond gesehen, als er das Hotel verlassen hatte und zur nächsten U-Bahn-Station gelaufen war. Noch hatte er zu wenig Übung im Umgang mit dem Neuen. Schon beim Betreten des pünktlich einlaufenden Zuges war er von einem ersten Schwindelgefühl gepackt und förmlich auf eine der Bänke gestaucht worden. Wäre nichtrs dazwischen gekommen, hätte er den Stadtteil Akihabara und sein dortiges Ziel in weniger als einer halben Stunde erreicht. Nun war etwas dazwischen gekommen, und Hukosai fühlte ein seltsames Fieber in sich wühlen. Durch die Decke des Waggons und viele Meter Stahlbeton glaubte er den Mond über sich schweben zu sehen. Er atmete lauter. Qualvoller. In seinen Eingeweide fraß ein erst kürzlich erwachter, aber bereits wohlbekannter Hunger. Die Finger immer noch im Spalt, warf er den Kopf nach rechts und links und ließ die Wärmemuster der anderen Fahrgäste auf sich einwirken. Die stoische Ruhe, mit der sie dasaßen und auf eine Weiterfahrt des Zuges warteten, machte ihn fertig. Nicht einmal aus einem der lahmgelegten Lautsprecher konnte eine Stimme dringen, die auch nur den ungefähren Zeitpunkt der ersehnten Fahrtfortsetzung benannte. Wenn es noch lange dauerte Es dauerte. Der Mond machte Katsushika Hukosai verrückt. Merkte denn außer ihm niemand, wie sich dieser Koloß langsam durch das Gestein senkte und die Decke des Zuges einzudrücken begann? Er stieß sich von der Tür ab und überlegte, ob er eine der Scheiben einschlagen sollte. Entsprechendes Werkzeug war vorhanden. Aber es hing genau neben der Hinweistafel, auf der Verhaltensmaßregeln für einen Fall wie diesen aufgelistet standen. Nur daß sie im Dunkel nicht einmal ich zu lesen vermag, dachte Hukosai sarkastisch. Ein Ton, der ihn selbst erschreckte, rollte durch die sonst nur von vereinzelten Unterhaltungen durchbrochene Stille. Dieser Ton kam aus seinem Bauch und löste einen weiteren, ununterdrückbaren in seiner Kehle aus. Ein Mann in Hukosais unmittelbarer Nachbarschaft drehte den Kopf in seine Richtung. Er konnte ihn nicht sehen, aber ein beunruhigter Zug prägte sich um seinen Mund. Hukosai zwang sich, ihn nicht weiter zu beachten. Der Mond schmolz sich durch das dünne Blech der Decke.
Hukosai kehrte auf die Sitzbank zurück, um wieder mehr Abstand zwischen sich und diesen magischen Koloß zu bringen. Die Schlangen in seinem Gedärm fauchten von Sekunde zu Sekunde tollwütiger. Ein altes Mütterchen seufzte: Hoffentlich dauert es nicht mehr lange. Ich war nur meine Enkelin besuchen, und … Sie merkte, daß ihr niemand zuhörte. Hukosai war die Ausnahme. Er hatte das unangenehme Gefühl, jedes in diesem Abteil gesprochene Wort aufzufangen. Von allen Seiten hagelte es auf ihn ein. Er wartete förmlich darauf, daß diese ätzenden Phrasen kleine Haarrisse in seine Haut schlugen, und daß das, was er unter allen Umständen unter der Oberfläche halten wollte, hervorplatzen würde. Dies war nicht der Ort, es zuzulassen. Es gab Regeln. Er durfte nicht Tatsukete!preßte Hukosai unbewußt hervor. Jemand neben ihm hatte den Hilferuf gehört und beugte sich in seine Richtung. Ist Ihnen nicht gut? Hukosai fauchte den Träger einer altmodischen Hornbrille an: Halt's Maul! Er wollte es nicht. Er wollte kein Aufsehen erregen, aber dieser kleine Arschkriecher … Überlegen Sie sich, was Sie sagen, schnappte der Brillenträger beleidigt zurück. Ich wollte nur freundlich Ich reiße dir die Leber aus dem Leib! zischte Hukosai leise in sein Ohr. Leber mundet mir von allem am besten. Ich hoffe, du hast sie nicht allzu häufig begossen, Blödmann! Der Mann gab einen erstickten Schrei von sich und taumelte von der Bank hoch. In der Dunkelheit stieß er gegen eine Frau auf der gegenüberliegenden Seite. Sie schlug nach ihm und fuchtelte mit den Armen. Warum bleiben Sie nicht sitzen? Wo wollen Sie hin? Haben Sie nicht gehört, was er zu mir sagte?wehrte sich der Gescholtene. Wer? Er! Hukosai amüsierte sich nur Sekunden über das von ihm entfachte Tohuwabohu. Plötzlich ergriff ihn ein Schwindel, tausendmal hartnäckiger als der vorherige und wie ein lautlose Sprengung in ihm widerhallend. Danach war nichts mehr, wie es sein sollte. Der Mond, der durch das Dach gekommen war, berührte seinen Schädel und schmolz sein Gehirn. Katsushika Hukosai brüllte wie das Tier, das in ihm entartete. Ohne die geringste Kontrolle über das erwachende Ungetüm begann er zu morden. Gleich als es dunkel geworden war, war er ihr durch seine Nervosit ät aufgefallen. Lilith saß ganz am Ende des Großraumabteils. Sie hatte irgendwo in der Stadt ein Opfer gefunden, einen blutjungen Japaner, etwas kleiner als sie. Er hatte Esprit besessen, wie sie nachdem sie mit ihm in seine winzige Wohnung gegangen war feststellen konnte. Auch sein Blut schien sich durch ein exotisches Aroma auszuzeichnen, doch was das anging, so räumte Lilith ein, konnte es sich ebenso gut um pure Einbildung handeln. Enola war gerade achtzehn geworden, auf dem Land aufgewachsen und zu den Wochenenden auch immer wieder dorthin zurückkehrend. Mit einem nicht ganz nachvollziehbaren Stolz hatte er Lilith erklärt, woher sein Name kam. Seine Großeltern mütterlicherseits stammten ursprünglich aus Hiroshima. Als am 6. August 1945 der amerikanischer Bomber Enola Gray über der Stadt hinwegflog und den Tod ausklinkte, hatten sie sich zufällig mit ihrer Tochter weit weg bei Verwandten aufgehalten … Es war die einzige Anekdote mit traurigem Touch gewesen, die Enola zum besten gegeben hatte. Lilith hatte ihm beim Verlassen das Geschenk erotischer Träume hinterlassen. Sie selbst hatte nach dem Zusammensein mit Beth kein Verlangen verspürt, mit ihm zu schlafen. Sein Blut hatte ihr gereicht. Gesättigt und zu träge, um den Rückweg im Flug zurückzulegen, aber auch aus reiner Neugier hatte sie sich dem verschlungenen Netz der U-Bahnen anvertraut, um zum Schinrei-Building zurückzugelangen. Und nun entpuppte sich, nach der außerplanmäßigen Fahrtunterbrechung, einer der einheimischen Mitreisenden als Stoff knirschte. Ein gräßlicher Schrei löste das bis dahin überwiegend disziplinierte Warten auf. Der Schrei eines Sterbenden. Lilith sprang von ihrem Sitz auf und sah, wie der nervöse Typ, den sie eine Zeitlang nach dem Ausgehen sämtlicher Lichter beobachtet hatte, seine Pranken in den Brustraum eines neben ihm sitzenden Mannes gebohrt und mit einem einzigen schnellen Ruck geöffnet hatte. Geöffnet. Der Mörder sah verändert aus. Jetzt gab er preis, was er war. Vollmond, echote es durch Liliths Bewußtsein. Plötzlich erinnerte sie sich, selbst dem Mond eine Weile entgegengeflogen zu sein. Sein silbriges Licht hatte sie wie ein hauchdünnes Gewebe umfangen. Aufhören! Nicht ihr Ruf, sondern der inzwischen röchelnd erstorbene Schrei davor hatte das Grauen in die Gesichter der Fahrgäste gemeißelt. Alle schrien plötzlich wild durcheinander, so daß Lilith zunächst zweifelte, ob ihr Ruf den Adressaten
überhaupt erreicht haben könnte. Der wölfische Mörder wandte sich von seinem Opfer ab, dessen Brust etwas wie warmer Nebel entstieg. Der Mann zuckte noch ein wenig, als er zu Boden rutschte. Niemand sah ihn. Niemand außer Lilith und dem, der ihn auf dem Gewissen hatte. Gewissen? Lilith wußte, daß dieser Gedanke bereits im Ansatz falsch war. Sie stieß zwei, drei Mitreisende, die ihr den Weg verstellten und mit ausgestreckten Armen durch die Schwärze tasteten, beiseite. Hände, die nach ihr greifen wollten, streifte sie mühelos ab. Die haarige Gestalt in dem von unmenschlicher Muskulatur zerfetzten Anzug starrte ihr entgegen. Die Physiognomie eines Wolfes wurde von buschigen, über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Augenbrauen, gebleckten, rötlich schimmernden Zähnen und weit hinten am Kopf sitzenden Ohren beherrscht. Die Grundfärbung der sichtbaren Haut war gelblich. Seine Augen, mit denen er Lilith erstaunt taxierte, glommen in wahnsinnigem Licht. Natürlich war ihm aufgefallen, wie sicher sie sich durch das Abteil bewegte. Für sie war das Dunkel hell wie der lichte Tag. Wer bist du? Seine Stimme scharrte durch die Luft wie eine im Dreck wühlende Pfote. Einen Moment fuhren seine Pranken scheinbar sinnlos am eigenen Rumpf entlang. Das Blut des Opfers verteilte sich über die Reste des Anzugs. Lilith war nicht bereit, auch nur ein Wort der Erklärung abzugeben, was ihre Person anging. Gleichzeitig war sie entschlossen, diese Bestie nicht weiter wüten zu lassen. Keine Minute war seit dem Mord verstrichen. Überall kauerten Menschen, einige schrien durcheinander und verlangten, die Ursache des abgebrochenen Schreis zu erfahren. Noch eine Minute, und hier würde ein höllisches Spektakel entbrennen! Sie verfluchte den Zufall, der sie schon wieder in den Brennpunkt eines Geschehens gelenkt hatte, das sich nur nachteilig auswirken konnte. Tokio durfte nicht schon in der ersten Nacht zu einem Pflaster wie Sydney werden, wo Vampire und verwandte Geschöpfe über sie Bescheid wußten. Es gab enge Bande zwischen Vampir und Werwolf. Landru und Nona belegten dies, obwohl Lilith nicht wußte, ob sich deren Verhältnis tatsächlich verallgemeinern ließ. Um jedes Risiko auszuschalten, gab es nur eine Möglichkeit: Sie mußte diese mörderische Kreatur töten ; auch im Interesse der hier eingepferchten Menschen! Ein einziges Mal hatte Lilith bisher gegen Werwölfe gekämpft und war unterlegen. Aber es hatte sich um ein ganzes Rudel gehandelt, so daß sie am Ende froh sein durfte, daß ihr die Flucht gelungen war. Hier kam Flucht nicht in Frage. Ein knapper Gedanke leitete die Metamorphose ein, die dem Werwolf halbwegs Aufschluß über ihre Beschaffenheit geben würde. Ihr Körper veränderte sich ruckartig. Sie mußte es tun, um überhaupt ihre Chance zu bewahren. Lächelnd zeigte sie Zähne und machte ihm überdies ein Kompliment: Hajime mashite. Es hat mir gefallen, wie du die Langeweile überbrückst. Darf ich mich anschließen? Arigat! knurrte er. Sein Brust hob und senkte sich in extremem Tempo. Saugend verschwand der Atem in einem Rachen, der danach gierte, endlich anderes zu tun zu bekommen. Wer bist du? Du sprichst fließend meine Sprache, aber etwas an dir Ich gehöre der hiesigen Sippe an. Sie kam näher. Auch der Werwolf ging ihr entgegen, statt zurückzuweichen. Zwei Menschen, die sein Vorwärtsdrängen behinderten, rasierte er mit brutalen Prankenhieben zur Seite. Einer davon prallte mit dem Hals gegen eine der vertikalen Haltestangen und brach röchelnd zusammen. Sofort füllten neue Schreie das Abteil. Lilith hoffte inständig, daß der Stromausfall noch lange genug andauerte, um diese Angelegenheit unerkannt zu regeln. Du bist hier geboren? schnarrte der Werwolf zweifelnd. Lilith sah, wie schwer es ihm fiel, den in seinem Herzen entflammten Blutdurst zu bezähmen. Aber sie verließ sich weiter darauf, daß sie gewisse Attribute einer Asiatin, wenn auch nicht reinblütig, aufwies. Ihre leicht schräg stehenden Augen. Der blasse Teint, die pechschwarzen Haare Natürlich. Zwei Schritte trennten sie noch voneinander, und Lilith mußte erkennen, daß das Mißtrauen nicht wie erhofft beizulegen war. Hilf mir! dachte sie in Richtung des Symbionten. Es war Routine. Wie seine Verweigerung dann und wann und offenbar auch hier. Er mag keine Wölfe er mochte sie schon in Mauretanien nicht Sie verwandelte sich endgültig in das, was sie eigentlich nur zur Hälfte darstellte. Laß es uns gemeinsam tun! flüsterte sie kehlig und hob die Hände, als wollte sie damit den Bestienmund liebkosen. Danach könnten wir Als sie an den behaarten Ohren zupacken und seine Fratze mit einem Ruck auf den Rücken drehen wollte, tänzelte er zufällig oder instinktiv zur Seite. Lilith blieb keine Zeit, sich zu vergewissern, ob er ihr Vorhaben durchschaut hatte. Er aber bewies, daß er keinerlei Interesse an einem Bündnis verspürte und lediglich irritiert durch ihre unerwartete Anwesenheit war. Vielleicht war dies sein Revier. Wie klar waren die Grenzen in einer 12-Millionen-Stadt wie Tokio
abgesteckt? Wie mächtig war die hiesige Vampirsippe? Welchen Status besaßen Menschen, die bei Vollmond zu Wölfen transformierten? Waren sie am Ende eingebunden in die Hierarchie? Liliths Gedanken stockten, als die Menschbestie in einem sinnlosen Akt ein weiteres Leben auslöschte. Noch ehe sie reagieren konnte, hatte der Werwolf eine verängstigt ins Dunkel starrende Frau im traditionellen Kimono von der Bank gezerrt und ihr die schutzlose Kehle durchbissen. Sekundenlang schien er im Rausch des durch die eigene Kehle rinnenden Blutes besänftigt. Er achtete auch nicht mehr auf Lilith, und sie nutzte diese Momente, von denen sie nicht mehr sicher war, ob sie tatsächlich eine Chance boten. Sie hütete sich, das Wesen zu unterschätzen, das auch den düsteren Funken eines Keims in sich trug. Ohne Warnung sprang sie ihn an. Der Blutrausch betäubte seine Instinkte. Sie landete auf seinem breiten Rücken, dessen Behaarung sich künstlich und wie Stroh anfühlte. Sie packte sofort zu. Fauchend ließ er von seinem zweiten Opfer ab und fuhr herum. Liliths Klaue trennte Fell oder Haut auf und zog eine dunkel leuchtende Spur über Gesicht und das aufgerissene Maul. Seine wulstig gewordenen Lippen platzten. Blut spritzte und vermischte sich mit dem seines Opfers. Was geschähe, wenn sich sein und mein Blut vermählten? fragte Lilith sich, nicht wirklich bewußt, sondern als Gedanke eingebunden in diesen Kampf auf Leben und Tod. Sie erhielt von nirgendwoher Antwort, aber auch so wußte sie, daß sie dies auf jeden Fall vermeiden sollte. Im nächsten Moment traf sie ein unglaublicher, besessen ausgeführter Schlag, der sie von ihm weg durch das halbe Abteil trieb. Sie landete auf dem Schoß eines Ahnungslosen, der sie protestierend festzuhalten versuchte. Vielleicht war es sein Glück, daß es ihm nicht gelang. Im nächsten Moment lief ein Ruck durch den Zug. Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte heller Schein durch das Zuginnere und brannte eine Momentaufnahme des Grauens in die Netzhäute der Fahrgäste. Lilith nahm reflexartig ihr Metamorphose zurück, die sie für Unbedarfte ebenfalls als Ungeheuer ausgewiesen hätte. Sie suchte nach dem Werwolf und sah gerade noch behaarte Beine durch ein aufgebrochenes Oberlicht verschwinden. Im neuerlichen Dunkel bahnte sie sich den Weg durch sich übergebende, kreischende, gegen die Scheiben trommelnde Menschen, denen der kurze Augenblick genügt hatte, um zu begreifen, welche Greuel sich mitten unter ihnen abgespielt hatten. In diesem Moment fuhr der Zug endgültig wieder an und beschleunigte rasch. Kaltes Licht stabilisierte sich und ließ die Panik überschwappen. Lilith setzte ihren Weg fort, erreichte die Luke, stieß sich mit beiden Füßen ab und umklammerte den Rand der Öffnung. Sie glaubte nicht, daß in diesem Moment jemand sonderlich auf sie achtete. Die Fahrgäste wichen von den beiden Leichen zurück, während Lilith sich mit einem Klimmzug aufs Dach des Waggons hieven wollte. Ihr Kopf war schon draußen, und sie hatte gerade Zeit, einmal vor und zurück zu blicken, ehe sie sich wieder nach unten fallen lassen mußte, um nicht von den in rasender Folge auftauchenden, extrem niedrigen Deckenstreben des Tunnels zerschmettert zu werden. Sie konnte gerade noch wegtauchen und unternahm danach keinen zweiten Versuch mehr. Sie hoffte, daß dem Werwolf genau das widerfahren war, was sie hatte vermeiden können: Die niedrig hängenden Eisenträger zerlegten alles, was bei dieser Geschwindigkeit auf sie prallte! Was haben Sie da oben gemacht? Ein blasser Japaner richtete den Finger wie ein klageführender Staatsanwalt gegen sie. Jetzt erst merkte sie, wie ihre Knochen im Leib schmerzten. Dennoch kümmerte sie sich um jeden einzelnen der Insassen, die den Zusammenprall mit der Bestie überlebt hatten. Als sie Minuten später den Umsteigebahnhof Awajicho erreichten, lastete Stille über dem Abteil. Lilith stieg als einzige aus der haltenden Bahn. Als sie sich umblickte, sah sie, daß der Strom der Neuzusteiger unmittelbar ins Stocken geriet. Dann hallten die erwarteten Schreckensschreie durch die Katakomben. Plötzlich taumelte Lilith aus der Richtung, in die sie sich entfernte, ein Mann mit blutüberströmtem Gesicht entgegen. Er kam aus einem der anderen Waggons desselben Zuges. Lilith begriff, daß der Werwolf das halsbrecherische Manöver offenbar doch unversehrt überstanden hatte. Es schien ihm gelungen zu sein, in einen der hinteren Wagen auszuweichen und dort seinen Drang auszuleben ,schrille Geräusch von Trillerpfeifen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen Trupp Uniformierter, die im Laufschritt den Bahnsteig entlang hetzten. Lilith wich sofort nach links auf eine Treppe aus und von dort aus, von einem Menschenstrom getragen, nach oben. Erst draußen im Freien kam sie allmählich zur Besinnung. Sirenen heulten in der Nacht. Keine Wölfe, dachte sie apathisch. Scham setzte ihr zu. Vielleicht hätte sie diese Eskalation der Gewalt verhindern können, wenn … Sie ersparte sich eine Schuldzuweisung. Deprimiert machte sie sich auf den Heimweg zum Schinrei-Building. Der Einzug ins Land des Lächelns hätte desillusionierender nicht beginnen können. Noch ehe sie aber das Hochhaus erreichte, geschah etwas Irritierendes. Lilith bewegte sich durch eine menschenleere Straße, als sie plötzlich innehielt. Neben Straße und Bürgersteig verlief eine hohe Mauer. Schriftzeichen verrieten, daß es sich um einen hiesigen Friedhof handelte.
Lilith blieb stehen. Für flüchtige Momente fühlte sie sich von dem umfriedeten Gelände angezogen, ohne daß sie zu sagen vermochte, was konkret sie daran lockte. Zwar gab es im Gegensatz zu Friedhöfen westlicher Prägung wenig zu fürchten, aber ihr fiel auch nichts ein, was von speziellem Interesse für sie hätte sein können. Sie setzte ihren Weg fort. Als ein Tor in Sicht kam, wurde die Versuchung noch einmal drängender. Sie trat näher an das kunstvoll geschmiedete Portal und sah durch die Stäbe auf das an eine eigenständige, niedrige kleine Stadt erinnernde Areal. Vereinzelt flackerten ein paar Totenlichter. Als sie erneut das Verlangen spürte, die Schwelle zu übertreten, riß Lilith sich gewaltsam los und setzte ihren ursprünglichen Weg fort. Sie wollte nur heim. Eine halbe Stunde später berichtete sie Beth von ihrem wölfischen Rendezvous. Mauretanien Die einzige Bewegung in der Leere waren sie. Ihre beiden Jeeps folgten einer unsichtbaren Straße. Der Wind hatte ein halbes Jahr Zeit gehabt, die letzten Andeutungen einer Piste unkenntlich zu machen. Ein ortskundiger Begleiter war nicht aufzutreiben gewesen. Nirgends. In Bir el Khza'im regierte, was das Ziel der vierköpfigen Expedition anging, der blanke Aberglaube. Der bevorstehende Vollmond schien die Tapferkeit eines jeden außer Kraft zu setzen. Isaak Dyadik hatte einspringen müssen. Obwohl gebürtiger Franzose, floß in seinen Adern eine exotische Mischung, die noch in der glorreichen Kolonialzeit wurzelte. Sein Vater hatte dem diplomatischen Korps angehört, seine Mutter, eine Senegalesin, der islamischen Kadiriyya-Bruderschaft. Er hatte sich den genauen und schnellsten Weg zur ElNabhal-Oase erklären lassen. Von einem Karawanenführer, der ihn mit allen Mitteln der Überredungskunst von seinem Vorhaben hatte abbringen wollen. Die Oase, behauptete er, sei von jeher Sitz eines übermächtigen, blutrünstigen Magiers gewesen und die Wüste in der Umgebung der Oase von Kreaturen des Bösen verseucht. Trotz dieser Warnung hatte weder Dyadik noch ein anderer Beteiligter der Expedition gekniffen. Immerhin hatten sie die schon im Vorfeld beschwerliche Reise auf sich genommen, weil ihnen die aberwitzigen Gerüchte über die aufgegebene Geister-Oase zu Ohren gekommen waren. Nachrichtenagenturen hatten schon vor einem halben Jahr von einem Strom verwirrter Flüchtlinge berichtet, die aus der Wüste in Bir el Khza'im eingetroffen waren. Einige dieser Menschen behaupteten, vor einem Hexer geflohen zu sein, der sie unter seiner Herrschaft gehalten hatte. Daß dies offizielle Nachforschungen zur Folge gehabt hatte, war nach den jüngsten Eindrücken der Expedition eher fraglich. Offenbar hatte die Regierung des Sahara-Staates genügend andere Sorgen. Überall, wo man nachgefragt hatte, war man auf Unverständnis gestoßen. Aber beinahe ebenso leicht war es gewesen, die Genehmigung für eigene Untersuchungen zu erhalten. Debra Wingrove, eine blonde, überaus attraktive Engländerin, saß neben Dyadik in dem vorausfahrenden Jeep. Der in respektvollem Abstand nachfolgende Wagen war mit Jean Sutri und Claude Malpas besetzt. Man versuchte den Staubfahnen zu entgehen, doch völlig gelang dies nicht. Selbst in dem von Dyadik gelenkten Fahrzeug nicht. Immer wieder blickte er verstohlen zu der von ihm angeheuerten englischen Kollegin, um herauszufinden, wie sie mit den Unannehmlichkeiten zurechtkam. Sie hielt sich respektabel, zumal keiner der Wagen eine Klimaanlage besaß. Es war schrecklich heiß im Innern. Man mußte die Lüftung einschalten, um die Hitze wenigstens zirkulieren zu lassen. Allerdings dominierte das Gefühl, daß anstelle von Frischluft ausschließlich Sand hereinkam. Sie waren die ganze Nacht durchgefahren und hatten sich am Steuer abgelöst. Zwei Jeeps boten im Fall der Fälle eine höhere Sicherheit, waren aber auch schon zum Transport der umfangreichen geologischen Ausrüstung unabdingbar. Was Dyadik im Laufe der bisherigen Reise vor allem an Debra Wingrove zu schätzen gelernt hatte, war ihr Verzicht auf Spekulationen. Sie gingen Gerüchten nach, die sich bei genauem Hinsehen als bloße Phantasien der leicht beeindruckbaren Einheimischen entpuppen konnten. Wirklichen Sinn machte die Suche nach Erklärungen erst, wenn man dem Rätsel gegenüberstand. Falls es existierte, konnte es sich zur wissenschaftlichen Sensation aufblähen, aber es reichte, sich an Ort und Stelle darüber Gedanken zu machen. Dyadik, der das Unternehmen leitete, gehörte einer Abteilung des französischen Forschungsministeriums an. Er hatte Debra Wingrove bei ihrer Anheuerung auf ihre Verschwiegenheitspflicht hingewiesen. Damit hatte sie keine Probleme. Trotz ihrer relativen Jugend von Anfang Dreißig besaß sie bereits große Reputation in ihrem Beruf. Sie hatte bislang immer im Auftrag größerer Institute gearbeitet, trotzdem fiel ihr die Unterordnung in eine von Männern dominierte Gruppe nicht schwer. Wie schlafend saß sie neben Dyadik. Sie hatte die Augen geschlossen, was vernünftig war. Trotz der Sonnenbrille trat mit der Zeit ein an Schneeblindheit erinnernder Effekt auf. Deshalb mußte auch hin und wieder gewechselt werden. Gegen Mittag tauchte endlich ein dunklerer Fleck am Horizont des Sandmeeres auf. Dyadik stieß seine Begleiterin sachte mit dem Ellbogen an und wies nach vorn. Gleichzeitig teilte er dem anderen Jeep seine Beobachtung über CB-Funk mit. Sutri bestätigte. Debra Wingrove nahm den Feldstecher zu Hilfe und preßte ihn gegen die Augen.
Ihr anhaltendes Schweigen veranlaßte Dyadik zu der Frage: Wie sieht es da vorn aus? Schon irgend etwas Besonderes zu erkennen? Debra Wingrove schwieg weitere Sekunden, ehe sie mit dunkler Stimme antwortete: Ich habe so etwas Verrücktes noch nie gesehen Was sind das für Bäume?Es war die Stimme von Claude Malpas, der die Frage über CB stellte. Dyadik erwiderte nachdenklich: Es erinnert an Mangrovenwälder. Ich habe sowas mal im Gezeitenbereich tropischer Flachküsten gesehen. Auch da gab es dieses dichte Geflecht aus oberirdischen Wurzeln … Er schien seinen eigenen Worten zuzuhören. Debra Wingrove begriff mit einer kleinen Gänsehaut, daß genau das eingetreten war, was zumindest sie im stillen gehofft hatte: Sie waren keinem Hirngespinst, sondern phantastischer Realität gefolgt. Die um die verwaiste Oase rankenden Gerüchte reichten nicht an die Wahrheit heran – aber nicht, weil sie übertrieben, sondern weil sie der Wirklichkeit nicht einmal annähernd gerecht wurden! Ein Sumpf, murmelte Debra. Ich sehe kein einziges typisches Palmgewächs. Als hätte es nie welche gegeben. Das mit den Mangroven stimmt. Aber woher ; Sie brach ab. Dyadik steuerte den Jeep bis unmittelbar an den Rand des Waldes. Kurz darauf hielt das zweite Fahrzeug neben ihnen. Sie stiegen aus.Nebeneinander gingen sie noch etwas näher an das unerklärliche Phänomen heran. Der bewaldete Sumpf, der sich vor ihnen ausbreitete, besaß die Ausmaße der erwarteten Oase. Nebel hing zwischen den lianenartigen Wurzeln. Der Boden verschwand überall unter einer geschlossenen Wasserdecke, deren Tiefe nur geschätzt werden konnte. Bei aller Beunruhigung, die der Anblick auslöste, nährte er doch auch noch anderes in den Ankömmlingen. Sie hätten sich nie der Wissenschaft verschrieben, wenn nicht gerade das scheinbar Unerklärliche besonderen Reiz auf sie ausgeübt hätte. Trotzdem sagte Dyadik: Wir müssen die Lage neu überdenken. Niemand, auch ich nicht, hätte das erwarten können. Trotz der Gerüchte, die von einer Verschlammung der Oase erzählten. Ich glaube nicht, daß wir über die optimale Ausrüstung verfügen, um uns damit auseinanderzusetzen. Am besten stimmen wir gleich darüber ab, ob es nicht vernünftiger ist, nach Einbruch der Nacht zurückzufahren. Um uns mit einer geeigneteren Ausrüstung zu versorgen? fragte Debra. Ja. Würde es nicht reichen, wenn sich ein Jeep auf den Weg macht? Drei Augenpaare musterten sie nachdenklich an. Wer sollte Ihrer Meinung nach hierbleiben? erkundigte sich Jean Sutri. Mir würde es nichts ausmachen. Debras Blick hing weiter an den Nebelschwaden, die zwischen den gewagten Wurzelkonstruktionen schwebten. Trotzdem es heller Tag war, reichte die Sicht nicht tiefer als etwa zwanzig Meter in den grotesken Wald hinein. Scheinbar unzusammenhängend fügte sie hinzu: Irgendwo da drin muß sich die verlassene Stadt befinden. Ich fürchte, erwiderte Dyadik, der sich verantwortlich für die Gruppe fühlte, es könnte sich noch viel mehr darin befinden. Wie meinen Sie das?wollte Malpas wissen. Sie waren keine richtigen Freunde. Das gemeinsame Interesse schweißte sie zusammen. Aber Debra hatte in der kurzen Zeit die Erfahrung gemacht, daß dies keine schlechte Basis war. Wichtig war, daß die Chemie zwischen ihnen stimmte, und das schien der Fall zu sein.Ich finde, wir sollten alle umkehren, meldete sich Sutri erneut zu Wort, und vernünftig vorbereitet allewieder herkommen. Ich weiß, daß die Fahrt kein Honigschlecken ist. Aber wenn es mit einem Jeep zu einer Panne kommt, haben wir genau das Schlamassel, das wir vermeiden wollten. Dyadik schien sich dieser Meinung anzuschließen, obwohl ihm das Bedauern über die extremen Schwierigkeiten, die sich ihnen in den Weg stellten, ins Gesicht geschrieben stand. Wir können uns im Randgebiet etwas umsehen, sagte er. Aber ich sehe keine Chance, ohne Risiko in den Sumpf einzudringen ; so sehr es mich, wie ich offen zugebe, reizen würde.Sie diskutierten eine Weile. Je deutlicher wurde, daß die Mehrheit sich für eine vorläufige Umkehr entscheiden würde, desto nervöser wurde die Geologin. Sie konnte ihre Unzufriedenheit nicht verhehlen. Vielleicht spielte auch die gerade zurückliegende Strapaze eine Rolle, daß sie diesen Wüstentrip nicht schon wieder auf sich nehmen wollte. Sehen wir uns, wie besprochen, dort um, wo es ungefährlich ist, schloß Dyadik. Danach ruhen wir uns aus und überdenken das Ganze noch einmal. Ich glaube nicht, daß wir zu wesentlich anderen Überzeugungen kommen werden, aber warten wir ab. Am günstigsten treten wir den Rückweg sofort nach Einbruch der Dunkelheit an. Einwände? Ja, sagte Debra. Aber ich glaube nicht, daß es etwas ändert. In Zweierteams marschierten sie den Rand des mysteriösen Sumpfes ab und hielten Kontakt über Walkie-talkie. Nach einer Stunde erreichte unverhofft Dyadiks Fluchen das in der anderen Richtung unterwegs befindliche Duo Malpas/Sutri: Verdammt! Ist sie übergeschnappt? Sie läuft mitten hinein in den Sumpf. Sie watet schon bis zu den Knien in der Brühe … Und, Himmel, sie hört nicht auf mich! Ich hole sie zurück. Ich … Damit brach der Kontakt ab. Der Köder war gelegt.
Isaak Dyadik wußte nicht, was in Debra Wingrove gefahren war. Sie hatte, was die Fortsetzung der Expedition anging, ihre eigene kontroverse Meinung vertreten. Aber das war ihr gutes Recht. Es änderte nichts daran, daß er sie für ausgesprochen intelligent und vernünftig gehalten hatte. Bis zu dem Moment, als sie in einem unbeachteten Moment in den Sumpf gelaufen war und auf keinen Zuruf reagierte! Debra! rief Dyadik dennoch, ehe er das Walkie-talkie einschaltete und die andere Gruppe verständigte. Seien Sie keine Närrin! Sie gehen unter ! Sie drehte sich nicht einmal um. Als hätte sie etwas ins Auge gefaßt, das jeden Moment verschwinden konnte, wenn sie es nicht sofort untersuchte, bewegte sie sich mit ausgreifenden Schritten tiefer in das stehende Gewässer hinein. Dyadik verschwendete keine Zeit. Er informierte die anderen und lief dann der einzigen Frau des Teams hinterher. Daß sie nicht weiter als bis zu den Knien einsank, erleichterte ihm die Entscheidung. Gleichzeitig wußte er, daß dies jeden Augenblick anders werden konnte, je weiter Debra sich entfernte. Der Boden unterhalb des Wasserspiegels war seltsam schwammig. Über seine Beschaffenheit ließ sich keine Aussage machen. Dyadik hatte erst nach dem kurzen Orientierungsmarsch Proben entnehmen wollen. Vor ihm verschwand Debra hinter einer Nebelbank. Und Dyadik machte zwei weitere bestürzende Beobachtungen: Zum einen verursachte seine Verfolgung keinerlei Geräusch. Eine unheimliche Stille lag über dem Sumpfwald. Das zweite war, daß er plötzlich hängenblieb. Keine zehn Meter hinter dem Rand des Sumpfes stürzte er fast, weil beide Schuhe gleichzeitig irgendwo haften blieben. Beinahe artistisch bewahrte er das Gleichgewicht. Debra war verschwunden. Als Dyadik zurückblickte und die Wüste durch die Baumlücken schimmern sah, begriff er erst richtig, wie hochgradig unnatürlich dieser Sumpf war. Er versuchte, die Füße freizubekommen, hatte aber den Eindruck, daß er je mehr er sich anstrengte nur um so tiefer einsank. Auch dieser Vorgang spielte sich in einer solch gespenstischen Stille ab, daß er einen plötzlichen Hörsturz in Betracht zog. Die Geräusche des eigenen Körpers existierten weiterhin. Alles, was von außerhalb hätte kommen müssen, war regelrecht ausgeblendet. Dyadik konnte die aufsteigende Panik kaum noch unterdrücken. Der Boden gab nun immer schneller unter seinem Gewicht nach. Die von den Bäumen herabhängenden, lianenähnlichen Wurzeln baumelten allesamt außerhalb seiner Reichweite. Er riß das Walkie-talkie an den Mund und keuchte: Wo bleibt ihr? Kommt! Ich bin hier auf Treibsand gestoßen und werde – Er verstummte, weil das Gefühl übermächtig wurde, sich die ausgestoßenen Worte nur einzubilden. Als er das Gerät auf Empfang schaltete, kam nicht das leiseste Geräusch heraus. Kälte umspülte sein Herz. Bis dorthin reichte die Brühe bereits. Hinzu kam, daß er plötzlich zu wissen glaubte, daß er nicht einfach versank, sondern sich dort unten etwas befand, was an ihm entlangtastete. Zur Kälte gesellte sich Hitze. Ein Brennen. Dyadik spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Der Schmerz raubte ihm fast die Besinnung. Aber dann nahm er unvermittelt wieder ab. Dyadik tauchte die Hände ins Wasser und suchte verzweifelt nach einem Halt, an dem er sich selbst wieder hätte herauswinden können. Er fand nur etwas, das auch die Hände nicht mehr losließ. Das ihn immer schneller und immer entschiedener in die Tiefe saugte. So nahe war er dem Tod noch nie gewesen. Und schrecklicher konnte er sich sein Sterben auch nicht vorstellen. War Debra auch in eine solche Falle geraten? Noch einmal irrte sein Blick zum Waldrand. Von Satri und Malpas war noch nichts zu sehen. Er machte sich nichts mehr vor: Selbst wenn sie jetzt noch auftauchten, würde es für ihn zu spät sein. Drei Sekunden später schwappte die Brühe über seinem Kopf zusammen, und Dyadik lernte seinen Mörder kennen. Da! Der Jeep hielt knirschend im Sand. Malpas zeigte mit zitterndem Arm zwischen die dichtstehenden Bäume, die Mangroven zwar ähneln mochten, aber ebenso wahrscheinlich keine waren. Aber sich darüber den Kopf zu zerbrechen blieb keine Zeit. Sie stiegen aus. Sutri riß vom Rücksitz ein ineinander geschlungenes Seil mit sich. Es war eine instinktive Handlung. Was ist mit ihm passiert? keuchte Sutri. Wie sieht er denn aus? Er muß hingefallen sein. Er ...Malpas verstummte. Fast mechanisch drangen sie in den Sumpf ein und wateten auf Dyadik zu, dessen Gestik eindeutig war: Er saß irgendwo fest. Malpas redete sich gerne ein, daß ein Sturz die Erklärung für Dyadiks absonderliches Aussehen war. Was wäre sonst auch in Frage gekommen?
Er war völlig in Schlamm getaucht, stand bis zu den Lenden im Wasser und wandte ihnen den Rücken zu. Wo ist Debra? Malpas blieb stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Er hatte die Frage stellen wollen Zum erstenmal bemerkte er die Stille. Jean! versuchte er es erneut aber das Gefühl, das Wort nur in seinem Gehirn formuliert zu haben, nahm erschreckende Stärke an. Im selben Moment drehte sich der, den sie anhand der bloßen Umrisse für Dyadik hielten, zu ihnen um und begann sich rapide zu verformen. Er schrumpft, dachte Malpas ungläubig. Die Gestalt war noch gesichtslos. Als wäre Dyadik mit einer zähen Masse übergossen worden, bei der es sich aber unmöglich um harmlosen Schlamm handeln konnte. Das Zeug schien sich vor ihren Augen zusammenzuziehen und den darunter befindlichen Körper zu stauchen. Gleichzeitig begriff Malpas, daß nicht nur er, sondern auch Sutri stehengeblieben war. Etwas hielt sie fest. Etwas formte vor ihnen aus einem Batzen Lehm ein Wesen mit entfernt menschlichen Konturen … Malpas schüttelte den Gedanken ab, von dem er glaubte, ihn nie gedacht zu haben. Er begann einzusinken. Er schrie nach Sutri, Sutri schrie nach ihm. In absolutem Schweigen. Sutri sah aus wie ein jämmerliches Fischwesen, das zum Sterben an Land gespült worden war. Dasselbe, dachte Malpas hysterisch, denkt er sicher über mich. Ehe sich der Sumpf über ihm schloß, beobachtete er, wie er selbst enden würde. Allerdings ohne zu wissen, daß dasselbe Schicksal auch ihm und Sutri beschieden war. Dyadiks Verwandlung war abgeschlossen. Geifernd hangelte er sich entlang der Luftwurzeln auf sie zu. Debra Wingrove schrie, seit der verführerische Bann von ihr abgefallen war, immer wieder Dyadiks Namen. Ihr Begleiter war verschwunden, und sie erinnerte sich kaum noch, daß sie von ihm weggelaufen war. Dichter Nebel umwogte sie. Nein, korrigierte sich die Geologin, kein Nebel. Etwas Lebendiges. Etwas, das ihre Stimme erstickte, kaum daß sie in die Welt jenseits des Mundes eindrang! Die Stille in diesem Sumpf war fataler als alles, was überhaupt vorstellbar war. Die Geologin bewegte sich darin wie ein Fremdkörper und steter Unruheherd. Ihr Herzschlag, ihr Atem und als Höhepunkt ihr verzweifeltes Rufen schienen immer wieder ein ihr unbekanntes Gleichgewicht zu gefährden. Es wird mich dafür bestrafen, dachte sie, kaum noch verblüfft über die merkwürdigen Form, die ihr Denken angenommen hatte. Sie hatte nie erwartet, einmal an den Rand des Wahnsinns getrieben zu werden. Debra bildete sich ein, den Boden schmatzen zu hören. Da sie immer wieder bis zu den Knien im Wasser und dem darunter befindlichen weichen Grund einsank, waren Geräusche zwangsläufig – dennoch blieben sie aus. Die Wüste war schreiend laut gewesen gegen diesen Ort, dem ein fast greifbares Unheil innewohnte. Wir hätten nie herkommen dürfen, dachte sie, ohne anzuhalten. Sie wußte nicht mehr, wann die Stille begonnen hatte. Gleich nachdem sie die ersten Bäume hinter sich gelassen hatte und auf die Tücher zugegangen war? Es gibt keine Tücher, stellte sie richtig. Die im Wind flatternden, hübschen bunten Stoffe waren purer Einbildung entsprungen. Als Debra nach einem von ihnen hatte greifen wollen, waren die Trugbilder erloschen. Es gab auch keinen Wind. Sie watete weiter. Sie hatte sich noch nie so beschmutzt gefühlt. Die Brühe war entsetzlich, und doch konnte sie nichts anderes tun, als weiterzugehen. Der weiche Boden federte unter ihr, als hätte jemand unter dem Wasserspiegel mit Matten einen künstlichen Pfad angelegt, dem sie intuitiv folgte. Der Schatten, den die untypische Vegetation warf, verhalf zu keiner Kühlung. Die stickige Luft stand buchstäblich, und Debra hatte das Gefühl, daß sie ihre Lunge mit dem, was sie ihr bot, betrog. Bei abrupten Bewegungen wurde ihr schwarz vor Augen. Trotzdem drang sie weiter in den Nebel ein, der die düstere Verwunschenheit dieses Ortes unterstrich. Als die Mauer vor Debra auftauchte, wußte sie sofort, daß sie zu der ehemaligen Oasenstadt gehörte. Dort, wo sich ein offenes Tor abzeichnete, schien der Nebel etwas lichter. Debra ging darauf zu. Das Gelände schien anzusteigen. Nur noch bis knapp über die Knöchel versank sie im Schlick. Innerhalb der Häusergassen wucherte ein ähnlich monströses Geflecht wie draußen vor der Stadt. Kein Mensch konnte hier noch leben. Was war der Grund dieser Überschwemmung und aller daraus resultierender Folgen? Debras Gesicht rötete sich, als sie sich daran erinnerte, daß letztlich auch sie gekommen war, um darauf eine Antwort zu geben. Aber sie konnte es nicht. Es kam keine Antwort, die mit dem zu tun hatte, was sie studiert und erlernt hatte.
Hinter einer der offenen Türen, zu denen sie blickte, glaubte sie Bewegung zu erkennen. Aber ihr Körper gehorchte nicht, als sie stehenbleiben wollte. Sie ging weiter und fühlte die Blicke, die ihr folgten. Als sie an sich hinabschaute, sah sie, daß ihre Kleidung bis zu den Knien verschwunden war, als hätte jemand die Hose mit einem scharfen Messer abgetrennt. Reste von seltsam prickelndem Schlamm bedeckten die schlanken Waden. Ansonsten war keine Auffälligkeit zu entdecken, obwohl Debra das unbestimmte Gefühl hatte, es müßte noch etwas geben. Sie ging weiter, bis ihr eine Gestalt in den Weg trat, vor der sie an jedem anderen Ort der Welt mit Grausen geflohen wäre. Das gnomenhafte, mit Häßlichkeit geschlagene Wesen erinnerte mehr an ein sonderbares Tier als an ein Geschöpf menschlicher Herkunft. Mit hektischen, unkontrolliert erscheinenden Bewegungen tänzelte es vor Debra hin und her, ließ glibbernden Speichel aus dem von Ohr zu Ohr reichenden Maul rinnen und musterte sie begehrlich aus schräg stehenden, weißen Augen. Es war über und über behaart. Die Hände und Füße waren im Verhältnis zum Körper viel zu groß geraten. Die langen, spitz zulaufenden Ohren waren fast an den nach hinten fliehenden Schädel angelegt. Bei manchen Bewegungen spreizten aber auch sie sich zeitweise ab. Wer bist du? hörte Debra sich fragen. Der Gnom kicherte. Dein Lotse, Herzliebchen! Dein Lotse Dann hör auf, mich so anzuglotzen! Das Weiß füllte sich mit schlammigem Braun. Verzeih, Herzliebchen! Debra flüchtete endgültig in den Glauben, dies alles könne gar nicht wirklich passieren. Vielleicht war sie im Sitz des Jeeps eingenickt. Vielleicht hatten sie die tatsächliche Oase noch gar nicht erreicht … Sie hätte die Stimme des Gnomen gar nicht hören dürfen. Aber die Stille schien innerhalb der Stadt aufgehoben. Oder? Im Traum war alles möglich. Wozu darüber nachgrübeln? Wohin willst du mich führen? fragte sie. Du wirst schon sehen, Herzliebchen. Du wirst schon sehen … Er ging voraus, in der sicheren Annahme, sie würde ihm folgen. Ehe sie sich in Bewegung setzte, rief sie ihm nach: Wie heißt du? Hast du einen Namen? Der Gnom kicherte, ohne innezuhalten. Ich hatte einen Namen. Ich bin ein verzauberter Prinz. Küß mich, dann verrate ich ihn dir! Es zog ihr die Spucke im Mund zusammen. Gleichzeitig verzehrte sie sich nach seinem abstoßenden Mund. Warte Er wartete nicht. Später, Herzliebchen. Gedulde dich. Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen Irgendwo in ihr stieg Übelkeit empor. Dennoch sagte sie: Ich komme. Durch enge, von fremdartigen Sumpfgewächsen eroberte Gassen ging es tiefer in die Stadt. Erst vor einem Gebäude, das an einen versunkenen Palast erinnerte, hielt der Gnom inne und wies mit ausgestrecktem, dürren Arm zum Eingang. Da hinein! Da hinein! Kommst du nicht mit? Ich darf nicht. Ich bin zu niedrig für dies feine Haus. Geh du. Geh! Was soll ich dort? Wirst schon sehn. Wirst .. Er verstummte. Seine Grimasse ordnete sich sekundenlang zu einem unendlich reinen, anmutigen Antlitz, bei dem nicht einmal die immer noch vorhandene Behaarung störte. Seufzend wandte sich der Gnom in eine der Seitengassen. Halt!wollte Debra schreien. Was ist mit dem versprochenen Kuß? Es würgte sie. Sie betrat das Haus, in dessen Schatten insektenhafte Bewegung zu sehen und zu hören war. Als rieben Chitinpanzer aneinander oder zirpten kaninchengroße Grillen Überall war Niedergang und Moder und Schlamm. Eine träge, stinkende Masse wälzte sich in unaufhörlichem Fluß die steinerne Treppe aus dem nächsthöheren Stockwerk, wohin es auch Debra zog, herab. Zugleich drang ein Winseln wie von einem eingesperrten Hund an ihr Gehör. Auch dies kam von oben. Debra tastete die Wand entlang, um sich zusätzlichen Halt auf den glitschigen Stufen zu verschaffen. Ihre nackten Füße lösten sich schmatzend aus dem zähen Brei. Als sie oben ankam, war das Wimmern nicht mehr zu überhören. Debra folgte ihm und gelangte über einen schmalen Gang zu einem Zimmer, dessen Tür nur angelehnt war. Sie drückte sie auf und entdeckte die Ursache der qualvollen Töne. Auf einem Stuhl, dessen vier Beine wie einzementiert in der dunklen Masse standen, saß ein zugleich ent- und gefesseltes Wesen. Debra hatte noch nie einen Werwolf gesehen (nicht einmal an dessen Existenz geglaubt aber war dies nicht immer noch ihr Traum!), dennoch assoziierte sie den Gefangenen sofort mit einem dieser Ausgeburten menschlicher Phantasie.
Der Geschundene sah auf, kaum daß die Tür aufschwang. Blanker Haß sprühte Debra entgegen, und sie wußte nicht, warum. Plötzlich sprang hinter ihr der Gnom hervor, stürmte den Raum und malträtierte den Gefangenen mit Tritten, die das eine oder andere kraftlose Fauchen auslösten. Warum tust du das? fragte Debra, die einen Stich in der Herzgegend spürte und verzweifelt nach einer Antwort suchte, ob ein solches Detail Bestandteil eines Traumes sein konnte. Er soll es dir sagen! Er soll es dir sagen! drängte der Gnom, ohne in seinen Schikanen innezuhalten. Was soll er mir sagen? Der Gnom erstarrte. Dann sprang er auf den Schoß der entkräfteten Mischgestalt und legte seine dürren Hände um deren Hals. Es sah kindisch aus. Aber der Wolfsmensch röchelte gequält auf. Hör auf! Debra machte einen drohenden Schritt in den Raum hinein. Der Gnom warf den Kopf herum und heulte weinerlich: Bring ihn zum Reden! Vielleicht sagt er es dir! Wenn nicht Was? Debra trat mit dem Fuß auf. Sie konnte sich nicht vorstellen, in Wirklichkeit Mitleid für einen Gefangenen wie diesen aufzubringen. Er will ihren Aufenthalt von mir erfahren, sagte der Werwolf an Stelle des Gnomen. Es klang, als hätte er die Frage tausendmal gehört und tausendmal beteuert, die Antwort nicht zu kennen. Er wird hier verrotten! unterstrich der Gnom den Groll, den er aus unbekannten Gründen gegen dieses Wesen hegte. Seit vier Monaten halten wir ihn hier in unserer Gewalt. Er kann sich nicht mehr rückverwandeln ; auch nicht zwischen den Mondphasen! Es tut gut, ihn leiden zu sehen. Oh, wir lassen ihn nicht verhungern. Er darf fressen, was kein anderer will. Er bekommt die rohen Innereien der Kadaver, die der Sumpf freigibt. Es gibt genug. Wir lassen ihn nicht hungern noch dürsten. Du siehst es. Du siehst, wie freundlich wir mit ihm umgehen. Viel zu freundlich. Ich füttere ihn persönlich, wann immer die Zeit es erlaubt. Würde er reden, wäre er frei sofort. Es geht nicht um ihn, nicht um ihn Wessen Aufenthalt? fragte Debra schaudernd. Frag du ihn! Sag ihm, daß er fort kann, sobald er uns Ich weiß es nicht! fauchte der Werwolf und bäumte sich so heftig in seinen Fesseln auf, daß der Gnom von seinem Schoß herunter in die zähe Masse fiel, die aber erstaunlicherweise vollständig von ihm abperlte und keine Spuren auf seinem kurzen Fellhaar hinterließ. Der Gnom erhob sich kichernd. Komm, mein Herzliebchen Um ihn kümmerst du dich später. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen! Debra erinnerte sich, diesen Spruch schon einmal gehört zu haben. (Ein Kuß. Wann bekomme ich meinen Kuß?) Sagtest du nicht, du wärest zu niedrig für dieses feine Haus? zitierte sie ihn. Trotzdem bist du mir gefolgt! Bin ich das? Sagte ich das? Dann folge jetzt mir Er rannte aus dem Zimmer. Der Werwolf bebte vor Haß. Aber die Fesseln hielten stand. Seit Monaten. Debra fragte sich, ob sie das glauben konnte. Sie folgte dem Gnom, der vor einer offenen Tür stehenblieb und mit den Fäusten gegen die Wand daneben klopfte. Das war ihr Gemach. Wenn du es durchschreitest, findest du ihn. Der Rest wird sich ergeben Er ließ die Schultern fallen wie ein alter, alter Mann und trottete davon. Begleitest du mich nicht? Nein. Ich bin zu niedrig für dieses Zimmer. Wir sehen uns später Sie sah ihm nach, bis er am Ende des Gangs verschwand. Als sie sich der Tür zuwandte, bemerkte sie, daß die zähe, ekelerregende Masse hier stärker floß. Sie kam aus dem Raum dahinter und breitete sich von dort aus über das ganze Haus. (Die ganze Stadt.) Debra betrat das Gemach. Es sah nicht anders aus als die anderen Bereiche des palastartigen Gebäudes. Fäulnis und Untergang schwebten wie greifbare Geister in den Ecken und Nischen. Es war hell und zugleich dunkel genug, um diese Gespenster zu binden. Debra bewegte sich weiter mit nackten Füßen durch den Schleim, geradewegs auf die Verbindungstür zum angrenzenden Raum zu. Dort machte sie eine Entdeckung, die ihr viel mehr an die Nieren ging als der gefolterte Wolfsmensch. Am Boden vor einem halb verfallenen Schrank lag ein Toter. Er war weder mumifiziert noch verwest und doch beides in nie gesehener und die Natur verhöhnender Weise. Aus dem schwärenden Leib des Toten quoll das, worauf Debra überall in der Stadt gestoßen war und was sich wahrscheinlich sogar jenseits der Stadtmauer unter dem Wasserspiegel des Sumpfes fortsetzte … Und es stank entsetzlich hier. Aber das Schlimmste war, daß der Tote sie anzustarren schien. Daß diese verdorrten Augen es waren, denen sie sich schon seit Betreten der Stadt unaufhörlich ausgesetzt fühlte!
Sie ging ihm entgegen. Sein Mund stand offen. Ihm entströmte nichts. Das Dunkle, Verderbte brach aus einer einzigen Wunde, dort, wo sich das Herz befunden haben mußte. (Nicht mehr befand?) Debra ging neben ihm in die Knie. Eine Weile betrachtete sie den schwarzen Leichnam schweigsam. Dann sank sie nach vorn und holte sich den Kuß, den der Gnom ihr verweigert hatte. Tokio Als Katsushika Hukosai verspätet den Ort der Zusammenkunft erreichte, waren nur noch wenige seiner Art anwesend. Der Alpha-Wolf, zu dessen Rudel Hukosai seit kurzer Zeit zählte, gehörte dazu und erwartete ihn voller Zorn. Hukosai wußte nicht, daß genau dieser Rudelführer seit vielen Jahren gegen den Waffenstillstand mit der ortsansässigen Vampirsippe opponierte und der Meinung war, die von den Gezeiten des Mondes abhängigen Rudel müßten endlich eine eigene Machtstruktur durchsetzen nicht nur intern, sondern auch nach außen. Der Zwischenfall, den Hukosai nun in seiner Not als Entschuldigung seiner Verspätung anführte, löste eine unerwartete Zuwendung des Alpha-Wolfs aus, obwohl Hukosai nicht viel mehr als seine Schwüre und ein paar Allerweltsverletzungen als Beweis herzeigen konnte. Du bist sicher, daß ein Vampir dich angriff? vergewisserte sich der eindrucksvoll im fahlen Licht posierende Tomakai. Er gab sich ganz, wie er sich auch fühlte: unüberwindlich, unersättlich und zugleich in allen Listen des echten Wolfes beschlagen. Er wäre nie zum Alpha aufgerückt, hätte sich dies anders verhalten. Todsicher, erwiderte Hukosai. zufrieden, daß sich Tomakai nicht nach Hariki Miata erkundigte. So wie er jetzt dachte und fühlte, hoffte Hukosai förmlich, daß Miata die Chance zu fliehen ungenutzt verstreichen lassen würde. Von dem Menschen, der den feisten Boß der Gang in sentimentaler Anwandlung hatte schonen wollen, war Hukosai bereits mondweit entfernt Mauretanien Ihre Zunge berührte etwas Elektrisierendes. Debra zuckte zurück und tastete mit spitzen Fingern in die Mundhöhle des Toten. Als sie das Knäuel berührte, überkam sie ein überwältigendes Glücksgefühl. Zugleich schien ihr Bewußtsein jedoch einen Schlag zu erhalten, der es in einen ferneren Winkel ihres Gehirns zurücktrieb. Benommen richtete sie sich auf. Sie sah die Umgebung plötzlich mit anderen Gefühlen denselben Augen, aber einer ganz anderen Einstellung. Bedauernd blickte sie auf den Leichnam hinab, dessen Wunde aufgehört hatte, diesen zähen Schleim auszustoßen. Behutsam faltete sie sodann das seidenzarte Tuch auseinander, öffnete ihr Hemd und legte sich das Gewebe um Hals und Schulter. Danach wurde die Euphorie noch größer. Debra hatte das Gefühl, nun endlich etwas bewegen zu können, was sie sich seit langem ersehnte. Sie ging zu einer Truhe auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Die Truhe war eisenbeschlagen, und in all der Zeit schien die träge, dunkle, klebrige Masse, die sonst alles überdeckte, immer einen Bogen darum gemacht zu haben. Das Holz war unversehrt. Wie der Inhalt, der sich Debra erschloß, als sie ohne besondere Kraftanstrengung den Deckel hob. Sekundenlang starrte sie hinein und verflocht die Gedanken des anderen mit ihren. Dann begann sie damit, alles, was sie noch am Leibe trug, auszuziehen. Sekundenlang blickte sie an ihrem Körper hinab, auf die Attribute ihrer Weiblichkeit, als sähe sie sie zum erstenmal. Mit anderen Augen. Zögernd strich sie über ihre Brüste, berührte die Warzen, deren Höfe sich sofort verhärteten, und genoß die Hitze, die gleichzeitig in ihrem Schoß aufblühte, wie ein ganz neues, nie erlebtes oder längst vergessenes Gefühl. Dann rief irgend etwas in ihr sie zur Ordnung. Sie war nicht hier, um sich der Lust zu ergeben. Nur der Rache. Rache? Als sie die amazonenhafte Rüstung aus der Truhe zog und jedes einzelne Teil mit großer Sorgfalt anlegte, fühlte sie sich wieder völlig als Bestandteil eines Traums. Allerdings wuchs die Einsicht, daß es längst der rachsüchtige Traum eines anderen war. Sie gürtete ein kostbares Schwert mit silberner Klinge, schulterte einen runden Schild und band sich einen zweiten Gürtel um, an dem ein mit Pfeilen gefüllter Köcher befestigt war. Als letzte Waffe nahm sie einen schlichten Langbogen. Armreifen, Ringe und Ketten komplettierten den Schmuck der Kriegerin. Als letztes nahm das aus dem Mund des Toten befreite Tuch, formte es wie einen Lendenschurz und verknüpfte es mit den Gürteln. So ausstaffiert wandte sie sich einem Spiegel zu und sog zugleich die Luft ein, als sei dies der erste tiefe Atemzug, den sie sich seit langer Zeit gönnte. Ihr Busen wogte. Er war ihr fremd.
Ihre Augen funkelten. Sie waren ihr fremd. Auch die Gedanken, die sie aus dem Gemach des Toten lenkten, gehörten zu keinem Bruchteil ihrer selbst, auch wenn sie sich dies wünschte. Draußen wartete der Gnom. Ah, Hassan Sie schürzte die Lippen. (Hassan?) Sie schmeckte das Leben dieses Körpers wie das größte Geschenk auf Erden. Der Gnom senkte den Kopf, als fürchtete er, von ihr zertreten zu werden. Sein freches Maul hielt er im Zaum. Sie ging an ihm vorbei in das Zimmer, wo der Gefangene hockte. Als er sie verwandelt eintreten sah, verdunkelte sich sein matter Blick völlig. Ich weiß es nicht Ich weiß, sagte Debra, zog das Schwert, holte aus und schlug ihm den Kopf ab. Der Gnom gluckste enttäuscht, als er den blutigen Schädel davonrollen sah. Aber er sagte nichts. Was er wußte, hat er längst verraten, sagte die Gestalt an seiner Seite. Sind die anderen bereit? Bereit, Herr! Dann los! Ich habe schon zuviel Zeit verloren Im Lager der Werwölfe herrschte Aufbruchstimmung. Die einst von El Nabhal Verstoßenen waren fast sämtlich fortgegangen; nur noch eine Handvoll jener, die nach Nonas Abschied nicht wußten wohin und sich den Ausgestoßenen angeschlossen hatten, waren da. In den ersten Wochen nach El Nabhals Tod waren Späher zur Oase geschickt worden, weil man sich erhoffte, die Stadt vielleicht für sich einnehmen zu können. Aber von denen, die zurückgekehrt waren, hatte man erfahren, daß der Geist des Magiers offenbar immer noch für Schrecken sorgte. Selbst unter Schrecklichen, wie sie es waren. Danach hatte sich das Lager mehr und mehr aufgelöst. Von den wenigen Karawanen, die sich noch in die Gegend verirrten, konnte auf Dauer niemand existieren. Zu Zeiten des Vollmonds wagte sich inzwischen überhaupt niemand mehr in die Nähe, so daß man bereits dazu übergegangen war, außerhalb der Drangzeit Überfälle auf Nomaden anzuzetteln, diese gefangen zu halten und dann, wenn es nötig wurde, zur Jagd freizulassen. Auf Dauer eine völlig unhaltbare Situation. Deshalb waren jetzt auch die letzten entschlossen, sich einen besseren Ort zum Ausleben ihres Triebs zu suchen. Der eine oder andere mochte auch dazu neigen, Nona zu folgen. In dieser Nacht wurde, nachdem man zwei armselige Opfer verfolgt, gestellt und unter sich aufgeteilt hatte, viel darüber geredet. Man trauerte den alten Zeiten nach. Bis Motorengeräusch und durch die Wüste geisterndes Licht sie in ihrem grausigen Schmaus innehalten und Hoffnung auf ein zusätzliches Mahl keimen ließ. Der Wagen fuhr langsam. Aber er kam genau auf das Feuer des Lagers zu. Ein Unwissender. Oder ein Lebensmüder … El Nabhal stoppte den Wagen kurz vor den Zelten und tauchte das Lager in das aufgeblendete Fernlicht. Niemand war zu sehen, dennoch zweifelte er nicht, daß sie da waren. Sie versteckten sich. Er stieg aus. Inzwischen spielte er die Klaviatur dieses weiblichen Körpers so perfekt, als wäre es sein eigener. Er war es geworden. Sein wahrer Körper würde nun endlich die Ruhe finden, die ihm gebührte. Monatelang hatte ihn nur der Haß aufrechterhalten. In dem Moment, als Nona damals ihre Klaue wie einen Dorn in sein Herz gebohrt und ihm sterbend das Glückstuch in den Mund gestopft hatte, während ihr das Haßtuch die nötige Willenstärke verlieh, war etwas geschehen, was El Nabhal selbst überraschte. So viele Jahre hatte er das Alter betrogen, sich die Kraft seiner Tücher und die Magie des Mondes zunutze gemacht, um sich immer wieder wenigstens für Stunden zu verjüngen – und im Tode hatte er erkennen müssen, daß es andere Wege gab, die Zeit und die Begrenztheit der eigenen Existenz zu betrügen. Das magische Tuch in seinem Mund hatte es ihm ermöglicht, im Tod zu überleben. Grotesk. Sein Bewußtsein war in das Tuch geglitten, nicht erloschen. Zunächst war er ein Gefangener gewesen. Blind und taub. Aber die Magie, die er dereinst selbst in das Tuch gewebt hatte, nährte und bewahrte ihn vor dem völligen Untergang. Verquickt mit seinem Haß auf Nona war in Tagen, Wochen und Monaten etwas ganz Besonderes entstanden. Auch ohne Augen und Ohren hatte er gelernt, Einfluß auf seinen toten Körper und die ihn umgebende Welt zu nehmen. Zersetzenden Einfluß.
Gesehen und gehört hatte er erst wieder, als das erste Opfer im Sumpf seines Körpers versunken war. Alles war sein Körper geworden. Die gesamte Oase. Die Stadt. Jedes Wesen, das sich in diese Sphäre wagte, hatte er in sich vereinnahmt, gewogen und stets für zu leicht befunden, seinen Haß auch über die Oase hinaus zu tragen. Bis sie gekommen war. Sie, die immer noch neben ihm existierte, weil er ihre Angst und ihr Wissen und das Gefühl der Gesellschaft nach Wochen völliger Isolation auskostete. El Nabhal blendete die Scheinwerfer ab und schaltete den Motor des Jeeps aus. Dann stieg er aus. Das Tuch, das seinen Geist beherbergte, rieb über die Schenkel seines wunderschönen Gastkörpers. Als er selbst noch warmes Fleisch und Blut und Knochen gewesen war, hätte er diese Frau gern besessen. Inzwischen dürstete ihm nur noch nach einem. Sühne. Die ihn hintergangen hatte, sollte bezahlen. Sie hatte alles zerstört. Alles. Es war ihm nicht möglich, wirklich in das Gehirn der Geologin zu wechseln und das Tuch damit bedeutungslos zu machen. Aber solange Debra Wingrove damit geschürzt war, konnte er sie nach Belieben lenken. Er konnte sogar den Pulsschlag erhöhen oder drosseln und im Extremfall ganz zum Stillstand bringen. Natürlich wollte er dies nicht. Sie war die optimale Wahl für das, was er beabsichtigte. Sie war klug und trotz ihres geringen Alters bereits in vielen Teilen der Welt herumgekommen. Anders als die primitiven Plünderer oder Einheimische, die sich nach dem Niedergang zu nahe an die Oase gewagt hatten Es war wichtig. Noch wußte er nicht, wohin sich die Verräterin abgesetzt hatte. Die Werwölfe, die im Laufe der Monate zur Oase gekommen waren, um die Verhältnisse auszukundschaften, hatten nichts über ihren Verbleib gewußt. El Nabhal hatte sie getötet. Den letzten hatte er den Gnomen zur Unterhaltung überlassen, nachdem klar war, daß auch er zu den Ausgestoßenen gehörte, die nicht zu Nonas Rudel gehört hatten. Vergeblich hatte El Nabhal auf die Rückkehr eines ihrer Vertrauten gewartet. Und nun hoffte er, ihn zu finden. Trotz der inzwischen vergangenen Zeit. Hallo! rief er. Er ließ Debras Stimme schwach klingen, und er war überzeugt, daß auch ihre sonderbare Tracht diejenigen, die wie das Feuer verriet noch hier hausten, nicht davon abhalten würden, sich näher mit der vermeintlich Wehrlosen zu befassen. Provozierend wiegte die Frau, die vor kurzem noch Debra Wingrove gewesen war, die Hüften. Das Licht der Scheinwerfer illuminierte das Tuch um ihre Lenden und ließ deutlich erkennen, daß sie nichts darunter trug als das blonde Haar ihrer Scham. Der Bogen lag im Wagen griffbereit. Ebenso der Köcher. Nur das Schwert baumelte an ihrer Hüfte herab. Der Schild, mit einem breiten Lederband an ihrem Oberarm befestigt, deckte ihren Rücken. Einst hatte El Nabhal die Rüstung Nona zum Geschenk machen wollen. Silber, ursprünglich so geschmiedet, daß es nur ihr nichts anzuhaben vermochte – inzwischen lechzte dieses Metall aber förmlich nach ihrem Fleisch. Möglicherweise witterten die Wergestalten seine Nähe. Silber war ihr Verhängnis. Vielleicht weil sein Glanz dem des Mondes so sehr ähnelte Hallo! rief der geliehene Mund erneut. Ist da niemand? Ich suche den rechten Weg! Kann mir niemand helfen? Da lösten sie sich aus den Schatten der Zelte. El Nabhal zählte kaum noch ein halbes Dutzend, das ausgeharrt hatte. Solch furchtbare Fratzen enthüllte das flackernde Lagerfeuer, daß das andere Bewußtsein neben ihm halb wahnsinnig vor Entsetzen zu werden drohte. Er mußte beruhigend darauf einwirken. Natürlich ließ er zu, daß sich Debras Gesicht vor Schrecken verzerrte. Sie sollten an ihre Überlegenheit glauben. Als ihm der Zeitpunkt günstig schien, zog er den Bogen aus dem offenen Fenster, legte einen Pfeil auf die Sehne und schoß ihn blitzschnell ins Herz des vordersten Werwolfs. Bei ihm war er überzeugt, einen Ausgestoßenen und keinen von Nonas Rudel vor sich zu haben. Der Getroffene verendete unter schrillem Geheul. Seine wölfischen Attribute schmolzen in Sekundenschnelle dahin. Ein nackter Männerkörper blieb zurück, dessen letzte Reflexe den Pfeilschaft mit einer Faust umschlossen, aber nicht mehr imstande waren, ihn herauszuziehen, sondern nur noch abbrachen. Der Vorfall schockte die anderen Bestien bis ins Mark. Ihr Vormarsch geriet ins Stocken. Die Opferhaltung der Frau stellte sich als fürchterlicher Irrtum heraus. Ein neuer Pfeil lag bereits auf der Sehne, auch wenn das nächste Ziel noch nicht anvisiert schien. Sie duckten sich zähnefletschend. Drei davon gehörten zu Nonas aufgelöstem Rudel. Die anderen beiden starben unter einem wahren Pfeilhagel. El Nabhal feuerte die todbringenden Geschosse in unmenschlich schneller Folge ab. Dann gab er den Gnomen, die sich hinter ihm verborgen hielten, das verabredete Zeichen, sich um die Überlebenden zu kümmern. Falls sie wußten, wohin sich Nona gewandt hatte, würden sie es nicht für sich behalten können.
Es gab Foltern, die jeden zum Reden brachten. Auch Monster. Der tote Magier in seinem Tuch war zuversichtlich. Tokio Hariki Miata war wie üblich nicht bei der Sache, obwohl sich seine Dolmetscherin alle Mühe gab, ihn nicht zu langweilen. Sie war es gewöhnt, daß er beim Liebesspiel kaum einen Finger rührte. Er lag einfach auf dem Rücken, den Kopf mit ein paar Kissen abgestützt, während sie ihn mit Lippen, Brüsten und engem Schoß traktierte. Dabei trank und rauchte er und sah sich einen alten Schwarzweißfilm im Fernsehen an. Ab und zu rülpste er, als könnte er damit seine Trägheit in Worte fassen. Auf seine bleiche Brust war die Zahl 8-9-3 tätowiert. Ya-ku-za. Die schlechtestmögliche Zahlenkombination eines verbreiteten Kartenspiels Als er spürte, daß es nichts werden würde, obwohl das Mädchen, das er wie eine Sklavin hielt, sich anstrengte, schickte er sie mit harscher Geste fort. Sie wirkte erleichtert. Der Yakuza-Boß starrte dem Körper nach, der den Raum verließ mehr als einen solchen hatte er nie in ihr gesehen. Er drehte sich zur Seite und vertiefte sich mehr in das Geschehen auf der Mattscheibe. Aber er fand keinen Zugang zur Handlung. Nervös stand er auf und trat ans Fenster. Draußen wälzte sich der nächtliche Verkehr vorbei. Miata hatte Weisung erteilt, nach Katsushika Hukosai, der sein Geld und sein Vertrauen veruntreut hatte, zu suchen. Er wollte den Kopf dieser größten Enttäuschung seines Lebens! Als die Tür hinter ihm aufging, machte er sich keine Sorgen. Auf seine Leibwache war Verlaß. Um so verblüffter war er, als plötzlich der Todeskandidat vor ihm stand. Katsushika Warum hast du nicht auf mich gehört? fragte der Wahnsinnige, aber er schien kein wirkliches Bedauern darüber zu empfinden. Wie bist du ?setzte Miata an. Ich sagte doch, ich würde zurückkehren, unterbrach ihn Hukosai, der ihn immer in so vielem an seinen eigenen Werdegang erinnert hatte. An die Zeit, als Miata noch selbst zu den Hungrigen gehörte, die mit allen fairen und unfairen Mitteln die Führung einer Gang an sich gerissen hatten. Hukosai wirkte verändert. Nicht äußerlich, aber was seine Aura anging. Miata hätte nie geglaubt, daß er sich vor diesem Mann ekeln könnte. Nun trat genau dies ein, und ein Teil davon war Ekel gegen sich selbst. Wie fett du geworden bist, höhnte Hukosai. Er hatte die Kleidung gewechselt. Sein Anzug wirkte teurer als die Kleidung, die Miata zu tragen pflegte. Fett und selbstgefällig. Ein Fossil. Zeit, Jüngeren Platz zu machen Hukosai sprach all das aus, was Miata selbst längst wußte und was ihn manchmal nachts schweißgebadet auffahren ließ. Auch die innere Struktur der Yakuza hatte sich verändert. Ausländer drängten auf den florierenden Markt des Menschenhandels, der Schutzgelderpressungen und der Auftragsmorde. Die alten Drohgebärden und der um die Organisation gewobene Mythos wirkten nicht mehr. Überall waren die klaffenden Risse sichtbar. Dem Nachwuchs gehörte die Zukunft. Miata wollte es nicht akzeptieren. Vielleicht war er ein Fossil. Aber eines mit Zähnen Er überlegte, wie er an seinen Revolver kommen konnte, der dort lag, wo er seine Kleidung abgestreift hatte. Langsam ging er auf Hukosai zu. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich ankleide ? Wozu? Stirbst du lieber in Kleidern? Miata lachte wie unter Atemnot. Hukosais Direktheit knebelte seine Hoffnung, als Sieger aus dieser Konfrontation hervorzugehen. Vielleicht, sagte er und setzte seinen Weg fort. Vor dem Bündel blieb er stehen. Er versuchte, aus Hukosais Miene abzulesen, was geschehen würde, wenn er sich bückte. Der ein paar Schritte entfernt stehende Mann sagte: Ich werde morgen den Geldtransfer rückgängig machen. Einen Teil davon werde ich für deine Bestattung aufwenden. Der Rest gehört deinem Nachfolger. Miata beugte sich vor. Seine Fingerspitzen berührten die Unterhose. Dir?ächzte er. Du hast nichts begriffen. Hukosai schüttelte den Kopf. Miata stieg tapsig in die Wäsche. Was begriffen? Daß die Yakuza nur die Spitze des Eisbergs ist. Miata wußte nicht, wovon er redete. Es war ihm egal. Er hob das Hemd auf.
Es gibt Dinge, von denen du nicht einmal ahnst, daß sie existieren sonst hättest du dich nie so sorglos in dein Lotterleben ergeben, fuhr Hukosai fort. Erleichtert nickte Miata. Solange Hukosai redete, war alles in Ordnung. Er schlüpfte in die Anzughose. Nicht die Yakuza kontrolliert die Geschäfte in dieser Stadt, sagte sein nächtlicher Besucher. Etwas hält die Yakuza im Auge. Wir sind geduldet. Und neben denen, die alles kontrollieren, gibt es solche wie mich, die aus den stärksten Gang-Mitgliedern rekrutiert werden. Immer wenn sich eine Lücke in den Rudeln auftut, holen sie sich einen, der bewiesen hat, daß er kämpfen und sich durchsetzen kann … So bin ich zu ihnen gekommen. Rudel? echote Miata. Plötzlich war er sicher, daß Hukosai unter Drogen stand. Daß er all das nur wagte, weil ihm etwas den Verstand zerfressen hatte. Miata lupfte die Jacke. Darunter lag der Gürtel mit dem Revolver. Geschickter, als er selbst es erwartet hätte, gelang es ihm, beides aufzuheben und sich aufzurichten. Er zuckte zusammen, als er sah, daß Hukosai lautlos neben ihn getreten war. Aber er hielt keine Waffe in Händen, und damit war das Spiel entschieden. Du bist ein Narr, Katsushika, sagte Miata und richtete die Mündung auf Hukosais Bauch. Dann drückte er ab. Noch nie war ihm ein Schuß lauter erschienen. Er wich zurück, um Hukosai fallen zu sehen. Der Getroffene wankte, blieb aber stehen. Und dann verwandelte er sich, um diese Bruderschaft von einem viel zu Satten zu befreien. Tage später Beth kehrte von ihrer Jobsuche ins Penthouse zurück. Der Frust stand ihr ins Gesicht geschrieben. Wieder nichts? erkundigte sich Lilith. Sie hatte vor sich ein aufgeschlagenes Telefonbuch und ein Branchenverzeichnis liegen und keine Mühe, die japanische Schriftsprache zu entziffern. Es ist immer dasselbe, seufzte Beth. Es klang beinahe, als hätte sie bereits resigniert. Man verweist auf meine mangelnden Sprachkenntnisse, und verdammt man hat ja auch recht damit. Zum Arbeiten hätte ich mir kein schlechteres Land aussuchen können. Ich komme mir vor wie ein Legastheniker, der sich als ernstzunehmender Journalist bewirbt. Lilith nahm sie in den Arm. Ich würde dir gerne helfen. Und wie? Du kannst nicht ständig mit mir herumziehen und für mich die Dolmetscherin Das habe ich auch nicht vor. Aber wenn du einverstanden bist, wage ich ein Experiment mit meinen hypnotischen Fähigkeiten. Ich habe es zwar noch nie versucht, aber ich denke, das, was mir vorschwebt, müßte machbar sein Wovon redest du? Denkst du etwa, du schaust mir einmal tief in die Augen und Hokuspokus kann ich perfekt Japanisch sprechen? Natürlich nicht. Ein wenig mußt du deinen Grips schon selbst anstrengen. Aber ich kann versuchen, mittels Hypnose deine Bereitschaft zu erhöhen, Neues aufzunehmen und zu behalten. Super-Learning, entfuhr es Beth verblüfft. Bitte? Soweit ich weiß, gab es schon Versuche in dieser Richtung. Irgendwie wird durch Hypnose das Bewußtsein erweitert, so daß man Informationen viel leichter aufnehmen kann und einmal Gelerntes nicht mehr vergißt. Na bitte. Versuchen wir es also? Wann fangen wir an? Beth mußte nicht lange überlegen. Von mir aus sofort. Einverstanden. Lilith nahm Zettel und Füllfederhalter und schrieb ihr eine Adresse in der Stadt auf. Was ist das? erkundigte sich Beth. Eine Abendschule. Während ich meinen Vergnügungen fröne, wirst du ab sofort büffeln! Beth überlegte kurz. Sie begriff, daß Lilith sich wirklich Gedanken gemacht hatte, wie sie ihr die Fremde ein wenig vertrauter machen konnte. Fang an, sagte sie schließlich. Schenk mir das Quentchen Verstand, das mir zum Genie noch fehlte! Lilith grinste breit. Das mußt du falsch verstanden haben. Ich sagte nicht, daß ich zaubern kann Epilog Morgennebel hing über dem Tal, in das sich die tempelähnlichen Gebäude des Sanktiariumsduckten. Graue Dämmerung sickerte durch die Eisblumen, die sich an den Fenstern gebildet hatten. Chiyoda rief Nona zu sich und stellte ihr einen Neuankömmling vor, der den dunklen Trieben entsagen wollte. Es wird dich interessieren, was seine Beweggründe sind, empfing ihr Mentor sie und wies auf einen unsicher wirkenden Mann.
Das ist Nihombashi. Er kommt aus Tokio, wo ein Krieg auszubrechen droht. Ein Krieg? fragte Nona belustigt. Zwischen solchen, die traditionell stets unblutig nebeneinander lebten, nickte Chiyoda. Dann ließ er Nihombashi erzählen. Nona hörte aufmerksam zu. Besonders, als der japanische Werwolf die Vampirin beschrieb, die den lokalen Konflikt ausgelöst hatte. Unmöglich, war ihr erster Gedanke. Aber dann kamen ihr Zweifel. Und sie beschloß, sich an Ort und Stelle zu überzeugen, ob tatsächlich Landrus Erzfeindin Lilith Eden in Tokio für Aufsehen sorgte … ENDE des ersten Teils
Kaiser, Shogune und Samurai Nippons Historie in Zahlen 660 v. Chr. Mythisches Datum. Begründung des Kaiserhauses durch Jimmu-tenn, einem Abkömmling der Sonnengöttin Amaterasu. 1. Jh. n. Chr. Erste Erwähnung Japans in chinesischen Chroniken. Kulturelle Einflüsse durch Einwanderer aus Korea und China. 300 - 645 n. Chr. Yamato-Zeit, Blüte in der Asuka-Zeit (552-645), Beginn der Staatsbildung von Süd-Honshu und Nord-Kyushu aus. Auch die Zeit der Hügelgräber, die als Kaisergräber gelten. Seit dem 6. Jh. Buddhismus wird Staatsreligion. Kunst, Staatsverwaltung, Schrift, Hofleben orientieren sich an chinesischen Vorbildern. 710-784 Nara-Zeit, der Zen-Buddhismus in Japan erreicht seine Blüte. Die erste feste Hauptstadt wird mit Heijky, dem heutigen Nara, gegründet. Entstehung der Chroniken des Kaiserhauses. Übernahme chinesischer Kenntnisse der Keramik- und Seidenherstellung. 794-1192 Heian-Zeit, Kioto wird neue Hauptstadt und bleibt bis 868 Sitz des Kaisers, der immer mehr Macht einbüßt. Japan erlebt die Blüte höfischen Lebens. Die Fujiwara, eine Adelsfamilie, bestimmen das politische und kulturelle Klima. 1192-1333 Kamakura-Zeit. Nach dem Sieg der Familie Minamoto über die rivalisierende Taira-Familie Einführung des shogunAmtes (Oberster Feldherr), dessen Inhaber faktisch die Herrschaft über Japan ausübt. Beginn der Samurai-Kultur und einer das ganze Land umfassenden Militärverwaltung (Bakufu). 1274, 1281 Mongolische Invasionsversuche werden abgewehrt. Japan gerät als einziges Land Ostasiens nie unter eine chinesische Oberherrschaft. 1338-1573 Muromachi-Zeit. Die Familie Ashikaga übt das Shogunat mit Sitz in Kioto aus. 1467 stürzt das Land in einen mehr als hundertjährigen Bürgerkrieg. Als 1543 die Portugiesen landen, kommt es zur Einführung von Feuerwaffen. Die Portugiesen werden missionarisch tätig. 1568-1600 Das Reich wird durch Oda Nobunaga, Toyotomi Hideyoshi und Tokugawa Ieyasu geeint. 1592 und 1598 starten Versuche zur Eroberung Koreas. Ab 1597 beginnt die Verfolgung von Christen. Man trifft erste Maßnahmen zur Abschottung des Reiches nach außen und etabliert einen Ständestaat.
1600 Tokugawa Ieasus siegt bei Sekigahara und wird 1603 zum shogun ernannt. Mit Edo wird das heutige Tokio Sitz des Shogunats. Ab 1639 kommt es nun tatsächlich zur Abschließung des Reiches, das Christentum wird verboten, die letzten Missionare ausgewiesen und der Aufbau des straff organisierten Ständestaats vollendet. Begrenzten Handel dürfen nur noch Niederländer, Koreaner und Chinesen treiben. Erst 1853/54 erzwingt der Amerikaner Matthew Perry mit seinen Schwarzen Schiffen eine Wiederöffnung Japans und einen Handelsvertrag. 1868 Offizielle Rückgabe der Macht des shoguns an den Kaiser (Meiji), erkämpft von den Samurai Süd- und SüdwestJapans. Edo (Tokio) wird nun Hauptstadt. 1868-1912 Meiji-Zeit. Modernisierung und Industrialisierung Japans. 1877 wird der Samurai-Stand abgeschafft, nachdem ein Heer von Wehrpflichtigen einen Aufstand der Samurai niederschlug. 1889 tritt die erste Verfassung in Kraft, ein Jahr später findet sich das erste Parlament zusammen. Japan führt siegreiche Kriege: 1894/95 gegen China (die Insel Taiwan wird annektiert), 1904/05 gegen Rußland. Japan erhält Südsachalin sowie Liaotung. Stärkung der Stellung in Korea und der Mandschurei. 1902 wird eine Allianz mit England geschlossen. 1912-1926 Regierungszeit von Kaiser Taish. 1914 erklärt Japan dem Deutschen Kaiserreich den Krieg, erobert Tsingtao und besetzt Mikronesien. 1918-1932 Parteienkabinette. Das allgemeine Wahlrecht für Männer tritt 1925 in Kraft. 1921/22 wird Japan zur Flottenbegrenzung, zur Rückgabe erpreßter Rechte in China und zum Truppenrückzug aus Sibirien gezwungen. England beendet seine Allianz mit Japan. Im Jahre 1923 sucht eine Erdbebenkatastrophe Tokio und Yokohama heim. 1926-1989 Regierungszeit Kaiser Hirohitos. 1933 tritt Japan aus dem Völkerbund aus. 1937-1945 Krieg gegen China. 1940 Dreimächtepakt mit Deutschland und Italien. April '41 Neutralitätsvertrag mit der UdSSR, Juli '41 Besetzung Südostchinas, amerikanisches Handelsembargo. Mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour im Dezember '41 fordert Japan Amerika heraus und löst den pazifischen Krieg aus. Im August 1945 erfolgt die amerikanische Antwort mit dem Abwurf von Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, danach kapituliert Japan. 1945-1952 erfolgt während der amerikanische Besatzungszeit die Demokratisierung Japans. Von 1946-1948 finden Kriegsverbrecherprozesse in Tokio statt. Schließlich kommt es 1951 zum Friedensvertrag. 1956 werden diplomatische Beziehungen zur UdSSR aufgenommen, 1972 zur Volksrepublik China. 1989 stirbt Kaiser Hirohito. 1990 besteigt Akihito den Thron. Beim Regierungswechsel 1993 widerwillige Bekenntnis zu Gräueltaten während der Eroberungszüge in Asien. Die weltweite wirtschaftliche Rezession hat auch Japan nicht verschont. Eine wirtschaftliche und politische Umbesinnung beginnt ebenfalls 1993, als die fast vier Jahrzehnte dauernde Einparteienherrschaft durch bislang eher kurzlebige Koalitionsregierungen abgelöst wird. Zu Beginn der 90er Jahre kommt es nach der Erdbebenkatastrophe von 1923 wiederum zu schrecklichen Verwüstungen.
Vorschau Der Traum der Geisha von Adrian Doyle Ungewollt hat Lilith in Tokio einen Krieg zwischen Vampiren und Werwölfen entfacht. Noch belauern sich beide Parteien, aber es ist nur noch eine Frage von Stunden, wann der Sturm losbrechen wird. Nona kommt gerade zurecht, um zwischen den Feinden zu vermitteln. Doch sie steht allein gegen eine Mauer aus Haß und Rachsucht. Rache treibt auch Nonas Schatten an: El Nabhal. Der Geist des Magiers, in einem seiner Tücher gefangen, bedient sich fremder Körper, um seiner Mörderin zu folgen. Und als er von der Lage in Tokio erfährt, nutzt er die Gelegenheit. Im Leib einer Vampirin führt er Liliths Werk fort. Das Töten hat gerade erst begonnen