Nr. 169
Das Treffen der Einsamen Der Lordadmiral und sein Sohn auf Arkon I - im Bann des Ischtar-Memory von Ernst Vlce...
68 downloads
685 Views
293KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 169
Das Treffen der Einsamen Der Lordadmiral und sein Sohn auf Arkon I - im Bann des Ischtar-Memory von Ernst Vlcek
Auf den Stützpunkten der USO, den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man Oktober des Jahres 2843. Lordadmiral Atlan, der seit seinem Besuch auf Komouir, dem auf der galaktischen Eastside gelegenen Fundort wertvoller Schwingkristale, gerade eine Serie von lebensgefährlichen Abenteuern hinter sich hat, die ihn und seine Begleiter zu hilflosen Spielbällen im Strudel unheimlicher Kräfte machten, entscheidet sich, kaum daß er die Sicherheit seines Hauptquartiers erreicht hat, erneut auf die Reise zu gehen – und zwar diesmal alein und als »Privatmann«. Grund für das Unternehmen Atlans ist das Wirken eines geheimnisvollen Fremden namens Chapat, der dem Lordadmiral sehr ähnlich sieht und der seit seiner Auffindung auf dem Mond Gostacker schnell von sich reden macht, als er auf Kantanong, dem Show-Planeten der Galaxis, erstmals auftritt. Lordadmiral Atlan fliegt nach Kantanong, um den Fremden zu treffen, doch er kommt zu spät. Chapat ist verschwunden. Atlan folgt der Spur des Flüchtigen. Er findet Chapat im Bann der Träume und wird selbst in diesen Bann geschlagen. Dies wiederum führt zum TREFFEN DER EINSAMEN …
Das Treffen der Einsamen
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Lordadmiral im Bann des Ischtar-Memory. Chapat - Atlans Begleiter in die ferne Vergangenheit. Orbanaschol III. - Unrechtmäßiger Herrscher von Arkon. Arbantola - Organisator des »Treffens der Einsamen«. Ethan-Khor - Ein zwielichtiger Arkonide. Perpeteon - Ein glückloser Komiteeführer.
1. Er fand sich plötzlich in einem seltsamen Garten wieder. Doch es war kein Garten, wie er ihn kannte. Seine Erinnerung sagte ihm, daß er sich gerade noch an Bord der TRAUMPALAST befunden hatte, bedrängt von Zharadin und seinen Leuten, die ihn mit Gewalt unter die Haube der Illusionsmaschine steckten … Und jetzt träumte er von diesem seltsamen Garten, der ganz und gar unwirklich war. Da war, wie schon gesagt, die Fremdartigkeit der Pflanzen. Aber auch, wie sie arrangiert waren und die Tatsache, daß sich einige Meter über ihm eine Decke spannte, ließen ihm diese Umgebung unrealistisch erscheinen. Dazu kam noch die Musik. Und vereinzelt waren andere Geräusche zu hören, die aber immer verstummten, wenn er lauschte. So als wolle sich jemand vor ihm verstecken. Was war das für ein Traum? Eine Hoffnung keimte in ihm auf, entflammte vehement. Er wußte, daß die Illusionsmaschine durch sein Ischtar-Memory programmiert worden war. »Mutter?« fragte er in die Stille hinein, die nur von einschmeichelnden Klängen unterbrochen wurde. Warum bekam er keine Antwort? Er war sicher, daß da noch jemand außer ihm war. Andererseits – wenn es sich bei seinem Erlebnis nur um einen Traum handelte, war es, der Unlogik der Träume gehorchend, ganz normal, daß er keine Antwort erhielt. Er streckte den Arm nach einer handtellergroßen Blume aus, berührte zaghaft ein rosafarbenes Blütenblatt. Die Blüte bot
einen leichten Widerstand. Plötzlich verkrampfte sich seine Hand. Er umschloß damit die Blüte, riß sie vom Stengel, zerquetschte sie in seiner Hand. Die Blüte war real! Er öffnete die Hand und blickte auf die zerknitterte Blume. Es war nicht seine Absicht gewesen, sie zu verstümmeln. Es war eine Affekthandlung gewesen. Impulsiv, wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm, hatte er nach der Blume gegriffen. Und jetzt fühlte er sie. Konnte man so real träumen? Plötzlich ertönte von irgendwo eine Stimme. Jemand rief etwas Unverständliches. Chapat wirbelte herum. Er sah niemand. Aber dann bemerkte er hinter einem Strauch eine Bewegung. »Mutter?« fragte er wieder. Und: »Ischtar?« Atmen. Das Scharren von Füßen. Er rannte zu dem Strauch. Sah eine Gestalt in einem bunten Umhang flüchten. Er hielt an. Er wollte den Unbekannten nicht erschrecken, indem er ihn verfolgte. »Mutter, wenn du es bist …« Chapat vollendete den Satz nicht. Er vernahm in seinem Rücken raunende Stimmen. Er lauschte und stellte fest, daß sich die Stimmen in einer unbekannten Sprache unterhielten. Nur – seltsam, daß er dennoch einige Wortfetzen verstand. Es dauerte nicht lange, dann hatte sich sein Gehör so weit verfeinert, daß er einen ganzen Satz aufschnappen konnte. »Eine ganz verkorkste Seele, der alte Knabe …« »Mutter?« fragte er jetzt in der anderen Sprache. »Ich bin es, dein Sohn.« Er lauschte. Jemand kicherte schrill. Jemand anderer, zweifellos ein männliches
4 Wesen, sagte: »Ja, das mit der verkorksten Seele ist unbedingt richtig. Wenn ein so alter Knabe nach seiner Mutter ruft, dann stimmt einiges mit ihm nicht. Wenden wir uns einem anderen zu …« Chapat wurde bewußt, daß mit »alter Knabe« nur er gemeint sein konnte. Denn er trug immer noch die Maske, die ihn zu einem alten, bärtigen Mann machte. Er sah in der Richtung eine Bewegung, aus der die zwei verschiedenen Stimmen gekommen waren. Machte einen Schritt in sie. Blieb wieder stehen. Zwei grotesk anzusehende Wesen waren dort aufgetaucht, warfen ihm, Grimassen schneidend, seltsame Blicke zu, entfernten sich. Beide waren sie humanoid – Menschen. Grotesk wirkten sie nur durch ihre Maskerade. Das eine Wesen war eine Frau. Sie trug überhaupt keine Kleider, sondern war am ganzen Körper raffiniert geschminkt. Das Gesicht war eine Maske aus leuchtendem Rot und Grün, die Augen waren gelb eingefaßte Ovale. Der Mann trug einen Phantasiehelm, an dem überall sinnlose Mechanismen in Bewegung waren. Sein Gewand war lang und wallend, vom unteren Saum hingen kleine, goldene Glöckchen, die melodisch bimmelten. Er trug eine Halskrause, die mechanische Elemente aufwies und mit dem Helm verbunden war. Als hätten diese beiden das Startzeichen gegeben, tauchten jetzt überall ähnlich seltsame Gestalten aus Verstecken auf. Chapat wurde von ihnen mehr oder weniger ignoriert. Die Blicke einiger erwiderte er herausfordernd und angriffslustig. Das brachte ihm aber nur ein, daß man ihm aus dem Wege ging und die Augen vor ihm senkte. In welche skurrile Gesellschaft war er da geraten? Was für einen unsinnigen Traum bescherte ihm sein Ischtar-Memory? Mutter, was bezweckst du mit diesem Traum! riefen seine Gedanken intensiv. Keine Antwort. Und so kam er immer mehr zu der Überzeugung, daß diese Geschehnisse nur bedingt mit Ischtar zu tun
Ernst Vlcek hatten. Zharadins Illusionsmaschinen hatten die Entfaltung irgendwelcher Kräfte in dem Ischtar-Memory bewirkt und sie wahrscheinlich entartet. War das wirklich nur ein Traumerlebnis? Die Blume hatte er berühren können. Und wie stand es mit den Menschen? Da war ein großer, schlanker Jüngling, der Chapat verstohlen beobachtete, aber erschrocken wegblickte, als er sich ertappt fühlte. Er trug ein enganliegendes, weißes Gewand. Sein Gesicht, die Hände und die unter dem Hosensaum hervorschauenden nackten Füße waren dagegen grellbunt geschminkt. Sein Mund war schmal, aber nach oben gewölbte Striche mit roter Farbe gaben ihm den Ausdruck eines Grinsens. Bunte Ringe verliehen den melancholisch blickenden Augen einen Funken von Fröhlichkeit. Chapat ging auf ihn zu. Der Junge begann leicht zu zittern. Es sah aus, als wolle er flüchten, bringe aber die Kraft dazu nicht auf. Als Chapat bis auf einen Schritt an ihn herangekommen war, erstarrte der Junge zur Bewegungslosigkeit. Sein Mund war verkrampft. Chapat räusperte sich und fragte: »Darf ich Sie berühren?« Er sagte es in der anderen Sprache, so daß er verstanden werden konnte. Doch anscheinend hatte ihn der Junge mißverstanden. Er taumelte, riß den Mund krampfartig auf, ein Röcheln kam aus seiner Kehle. Seine Glieder begannen konvulsivisch zu zucken. Die Umstehenden wichen erschrocken zurück. Als Chapat den Stürzenden auffangen wollte, schrie jemand: »Nicht berühren! Er würde es nicht überleben.« Der Junge fiel in ein Blumenbeet. Chapat wurde von starken Armen zur Seite gezerrt. Es waren zwei Roboter, die den Jungen auf eine Bahre legten und mit ihm verschwanden. Die Neugierigen verstreuten sich wieder in alle Richtungen, verschwanden hinter den Blumenarrangements, tuschelten miteinander. Kein Zweifel, daß sie den Vorfall disku-
Das Treffen der Einsamen tierten. »Er hat sich übernommen, der arme Junge«, hörte Chapat eine Frau ohne besondere Anteilnahme sagen. »Es wird noch mehr Opfer geben«, sagte jemand anderer. »Ich finde, wenn man sich nicht in der Lage fühlt, unter Menschen gehen zu können, sollte man lieber zu Hause bleiben. Nicht wahr, meine Liebe?« »Ja, ja. Diese Seelendemaskierungen sind, wie soll ich sagen, irgendwie obszön. Mein Oglund nennt alle, die daran teilnehmen, pervers – und schließt sich in seinen eigenen Wänden ein.« »Ihr Oglund ist dekadent!« »Freilich, das ist er. Darum höre ich nicht auf ihn.« »Man kann zu diesen Treffen stehen, wie man will. Ein gesellschaftliches Ereignis sind sie auf jeden Fall. Man sieht Leute, die sonst das ganze Jahr über kaum aus ihren Unterkünften kommen …« Chapat belauschte das Gespräch nicht weiter. Er sah zwischen den Pflanzen einen weißhaarigen Mann mit albinotischem Aussehen, der wie er selbst ungeschminkt war. Er erschien ihm wie ein rettender Engel: Der einzige normale Mensch in einer Horde Verrückter. Chapat eilte auf ihn zu. Der andere hatte ihn ebenfalls längst entdeckt, taxierte ihn mit intelligenten Augen. Als Chapat ihn erreicht hatte, sprach der andere ihn in Interkosmo an. »Chapat? Ich bin Atlan.« Er packte Chapat während des Sprechens am Arm und führte ihn durch den künstlich angelegten Garten. »Wir erregen bereits einiges Aufsehen. Komm, wir suchen uns einen verschwiegenen Platz, wo wir unsere Lage ungestört besprechen können.«
2. »Wo sind wir hier? Was sind das für Leute, die sich schminken wie Clowns? Träumen wir nur? Oder sind diese Erlebnisse Realität? Sind Sie in Fleisch und Blut hier?
5 Oder bilde ich mir das nur ein?« Atlan machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Eines nach dem anderen. Gehen wir methodisch vor und untersuchen wir eine Frage nach der anderen.« Sie hatten hinter dem künstlichen Garten einen Korridor gefunden und waren ihm gefolgt. Sie probierten ihr Glück an einer Reihe von Türen, bis sie einen wohnlich eingerichteten, aber verlassenen Raum fanden. Der Inhaber dieser Wohnung »vergnügte« sich wahrscheinlich mit den anderen Maskierten im Garten. »Gut«, stimmte Chapat zu, »beschäftigen wir uns also zuerst mit einer Frage. Wo sind wir?« »Ich ahne es bereits«, erwiderte Atlan. »Aber ich möchte mir zuerst Gewißheit verschaffen, bevor ich darüber spreche. Gehen wir noch weiter zurück. Wie sind wir überhaupt hergekommen?« Chapat erzählte Atlan, wie Zharadin ihm das Ischtar-Memory entwendete und er auf Broelgir flüchtete und sich bei dem Mädchen Kerilla Vhotan versteckte. Nachdem er Maske gemacht hatte, kehrte er an Bord der TRAUMPALAST zurück, fiel Zharadin in die Hände und wurde in die Illusionsmaschine gesteckt, deren Programmierung auf dem Ischtar-Memory beruhte. Atlan nickte. Er erzählte seinerseits, wie er Chapat auf eigene Faust bis nach Broelgir gefolgt war. Als er mit Zharadin konfrontiert wurde, wollte er den Besitzer der TRAUMPALAST bluffen. Doch dieser wußte, daß Atlan ohne Wissen der USO handelte und überließ ihn dem gleichen Schicksal wie zuvor Chapat. »Die Frage, ob wir träumen oder die Realität erleben, läßt sich wohl nicht hundertprozentig beantworten«, fuhr Atlan fort. »Zharadins Illusionsmaschinen können nur Traumerlebnisse vermitteln, aber durch das Ischtar-Memory ist ein unbekannter Faktor hinzugekommen, der diese Träume unwahrscheinlich realistisch erscheinen läßt. Wenn ich einen Gegenstand dieser Traumwelt be-
6 rühre, dann kann ich ihn spüren. Ich fühle, ob er kalt oder warm ist. Ich kann mir die Finger daran verbrennen. Wenn ich ihn in die Hand nehme, dann hat er für mich Gewicht.« Atlan klopfte gegen die Wand. »Sie ist so fest, als bestünde sie aus Materie. Wenn ich mit aller Wucht dagegenschlage, kann ich mir die Knöchel brechen. Die Wand ist für mich undurchdringlich.« »Also Realität!« Atlan wiegte den Kopf. »Ganz möchte ich mich nicht festlegen. Sagen wir es lieber so, daß diese Wand, alles in dieser Welt, auch die Lebewesen, der Gesetzmäßigkeit unserer Körper unterworfen sind.« Chapat betastete seinen Körper. »Warum bemühen Sie sich, die Dinge zu umschreiben? Glauben Sie etwa, daß wir nicht in unseren eigenen Körpern hier sind?« »Auch darauf kenne ich keine endgültige Antwort«, sagte Atlan ausweichend. »Als mich Zharadins Leute zur Illusionsmaschine zerrten, da sah ich dich – deinen Körper – unter der zweiten Traummaschine liegen. Obwohl du zu diesem Zeitpunkt gleichzeitig auch schon hier warst. Einigen wir uns also darauf, daß wir mit unserem Ich-Bewußtsein hier sind. Der Körper, in dem unser Ich ist, könnte auch eine naturgetreue Materieprojektion sein.« »Daran könnte etwas Wahres sein«, meinte Chapat. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Angenommen, wir sind wirklich nicht in unseren ureigensten Körpern hier – und Ihre Beobachtung scheint das zu bestätigen. Angenommen, unser Bewußtsein wurde nur in eine Materieprojektion verpflanzt. Dann brauchen wir nur diese Scheinkörper aufzugeben, und unser Bewußtsein würde sofort wieder in unsere Körper in den Illusionsmaschinen zurückkehren.« Atlan runzelte die Stirn. »Darauf würde ich mich lieber nicht verlassen. Zharadin hat diesbezüglich einige Andeutungen gemacht. Er sagte mir, daß einer der Techniker bei einem Experiment in
Ernst Vlcek der Traumwelt den Tod fand. Und Zharadin warnte mich, daß, wenn ich im Traum mein Leben verlieren würde, auch in der Realität tot wäre.« »Ein Bluff!« behauptete Chapat. »Möglich«, gab Atlan mit süßsaurem Lächeln zu. »Aber die Probe aufs Exempel möchte ich nicht machen. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das durch das Ischtar-Memory ausgelöst wurde. Ich jedenfalls weiß nicht genügend über das IschtarMemory Bescheid, um Spekulationen über seine Möglichkeiten anstellen zu können.« Während er das sagte, beobachtete er Chapat. Dieser wich Atlans Blick aus. »Das alles bringt uns nicht weiter«, rief er schließlich ungehalten aus. »Lassen wir das Ischtar-Memory aus dem Spiel, es kann uns nicht weiterhelfen. Für mich sind diese Geschehnisse phantastisch, geradezu unfaßbar. Aber dennoch habe ich das Gefühl, daß alles Realität ist.« »Mir ergeht es ebenso«, sagte Atlan. »Dann gehen wir eben von der Voraussetzung aus, daß wir für jede unserer Handlungen die Konsequenzen wie in der Realität tragen müssen. Ein falscher Schritt kann den Tod bedeuten. Seien wir also auf der Hut.« »Damit stehen wir wieder am Anfang – bei der Kardinalfrage. Wo sind wir?« Atlan betrachtete ihn zweifelnd. »Weißt du es wirklich nicht? Du beherrscht doch die Sprache dieser Leute.« »Das schon, aber ich weiß nicht, um welche Sprache es sich handelt. Könnte ich Rückschlüsse auf unseren Aufenthaltsort ziehen, wenn ich es wüßte?« »Allerdings«, antwortete Atlan. Er setzte sich in Richtung Tür in Bewegung. »Sehen wir uns etwas um, solange wir noch die Möglichkeit dazu haben. Irgendwann wird man entdecken, daß wir Fremde sind, und wird unsunter die Lupe nehmen. Bis dahin möchte ich wenigstens herausgefunden haben, wo genau – und in welcher Zeit wir uns befinden.« Chapat folgte ihm auf den Korridor hin-
Das Treffen der Einsamen aus. »Wollen Sie mir denn nicht verraten, um welche Sprache es sich handelt?« »Arkonidisch.«
3. Als sie den leicht geschwungen verlaufenden Korridor entlanggingen, kamen ihnen Maskierte entgegen. Es waren Einzelgänger, die untereinander auf Distanz blieben und sich abwandten, als sie an Atlan und Chapat vorbeikamen. Nur einer, ein Mann mit einer violetten Perücke und einem Spiegel vorm Gesicht, blieb stehen und kehrte ihnen sein Spiegelgesicht zu, als sie an ihm vorbeikamen. »Sie suchen Kontakt?« erkundigte er sich mit gedämpfter Stimme. »Zumindest suchen wir nicht die Einsamkeit«, antwortete Atlan im Vorübergehen. Als sich Atlan nach einer Weile umdrehte, stand der Unbekannte mit der Spiegelmaske immer noch da und starrte ihnen nach. Sie erreichten den Lift. Die Kabine hielt. Drinnen stand ein von Kopf bis Fuß in einen Kapuzenmantel verhülltes Wesen. Als sie zustiegen, flüchtete die vermummte Gestalt mit einem spitzen Schrei in den Korridor. »Ist das ein Irrenhaus?« wunderte sich Chapat, als sie im Lift hinauffuhren. »Ja und nein«, sagte Atlan knapp. »Ein Irrenhaus auf einer Arkon-Welt?« bohrte Chapat weiter. Atlan zuckte die Schultern. »Wenn man will, kann man vermutlich den ganzen Planeten als Irrenhaus bezeichnen. Richtiger ist aber, daß wir die eigenwillige Mentalität dieses Volkes nicht verstehen.« Sie stiegen auf dem Dach des Gebäudes aus dem Lift. Auch hier war ein kunstvoller Park angelegt worden. Es war Nacht. Am wolkenlosen Himmel bildeten die Sterne unbekannte Konstellationen. Atlan blieb stehen, blickte zum Nachthimmel hoch.
7 »Eigentlich hätte ich erwartet, bekannte Sternbilder zu sehen«, sagte er beunruhigt. »Aber anscheinend ist es schlimmer mit uns gekommen, als ich dachte. Nicht nur der Raum bildet eine Barriere zu unserer Realität, sondern auch die Zeit …« »Sie sprechen dauernd in Rätseln«, meinte Chapat ungehalten. »Wissen Sie nun, wo wir sind, oder nicht?« Atlan setzte sich wortlos in Bewegung. Chapat folgte ihm mit verkniffenem Gesicht. Er sah in diesem Moment wie ein schrulliger, mürrischer alter Mann aus. Zwischen den Büschen und Sträuchern tauchten gelegentlich Maskierte auf, manchmal zu zweit und zu mehreren, zumeist aber allein; sie warfen ihnen scheue Blicke zu. Atlan begab sich mit Chapat zum Rand des Daches. Eine fünf Meter hohe Panzerglaswand, die oben noch zusätzlich durch eine Energiebarriere abgesichert war, trennte sie vor dem Abgrund. Atlan setzte sich auf einen großen Felsbrocken aus Urgestein, hinter dem in einem schmalen Rinnsal ein künstlicher Bach gurgelte. Chapat stellte sich an die Panzerglaswand, stützte die Hände darauf und blickte auf das herrliche Panorama hinaus, das sich ihm bot. Etwa hundert Meter unter ihm war ein mit vielen Scheinwerfern beleuchteter Park mit Wiesen, Bauminseln und geometrisch angeordneten Wegen. Dazwischen standen trichterförmige Gebäude, die fensterlos und ungefähr so groß waren, wie das Gebäude, auf dessen Dach sie sich befanden. Diese Gebäude erschienen Chapat wie mit der Spitze in den Boden gebohrte Kreisel. Sie durchmaßen in ihren Grundmauern etwa dreißig Meter, in ihrem oberen Abschluß, am Dach, jedoch gut siebzig Meter oder mehr. Chapat drehte sich kurz zu Atlan um. »Diese Gebäude erinnern mich irgendwie an mein Ischtar-Memory«, sagte er scheu, so als erscheine ihm dieser Vergleich selbst absurd. »Ist es möglich, daß ein Zusammenhang besteht …? Ich meine, kann diese Traumwelt nach den Daten des IschtarMemory geformt worden sein?«
8 »Deine Unwissenheit ist geradezu beängstigend, Chapat«, sagte der Arkonide. Er deutete durch die Panzerglaswand. »Was du hier siehst, ist eine typische arkonidische Wohnsiedlung, die Trichterbauten sind Wohnhäuser. Wenn ich richtig zähle, dann ser. Wenn ich richtig zähle, dann sind insgesamt elf von ihnen über den Park verstreut. Eine beachtliche Zahl. Es handelt sich hier also um eine mittelgroße Stadt.« »Eine Stadt nennen Sie das?« wunderte sich Chapat. »Du hast recht, der Ausdruck Stadt ist unzutreffend. So etwas gibt es auf Arkon I nicht. Auf dem Wohnplaneten der Arkoniden ist alles dezentralisiert.« »Wir sind demnach auf Arkon I. Sind Sie sicher?« »Ziemlich«, meinte Atlan. »Ich kenne diesen Planeten zu gut, um mich zu täuschen. Und dennoch erscheint mir vieles fremdartig.« »Natürlich, weil diese Welt – und wenn sie noch so sehr Arkon I ähneln mag – nur das Produkt eines Traumes ist«, sagte Chapat. Atlan ging darauf nicht ein. »Um die Mentalität der Arkoniden, denen wir in den unteren Räumen begegnet sind, besser verstehen zu können, mußt du erst einmal mehr über ihre Gesellschaftsordnung kennenlernen, Chapat.« Atlan machte eine Pause, und als Chapat schwieg, fuhr er fort: »Ich sagte schon, daß auf Arkon I alles dezentralisiert ist. Die Wohnsiedlungen sind locker über den ganzen Planeten verstreut, Energiestraßen und Rohrbahnen verbinden sie miteinander. Dazwischen liegen ausgedehnte Parks, durch die man oft tagelang wandern kann, ohne einem anderen Arkoniden zu begegnen. Die Arkoniden sind im Grunde genommen Einzelgänger und legen sehr viel Wert auf die Intimsphäre des Individuums. Natürlich ist das im allgemeinen nicht so kraß, daß alle Arkoniden ein Eremitendasein führen, sonst wäre das Große Imperium schon längst zerfallen. Eine Zivilisa-
Ernst Vlcek tion ohne Kontakte der Individuen miteinander wäre nicht denkbar. Zumindest nicht für humanoide Wesen in diesem Stadium der Evolution. Aber die Arkoniden meiden diese zwischenmenschlichen Kontakte, wo es nur geht. Das hat dazu geführt, daß sich viele Arkoniden so sehr abgekapselt haben, daß sie weltfremd geworden sind, daß sie krank werden, wenn sie in große Menschenansammlungen geraten, hysterische Anfälle bekommen, wenn man sie nur nur berührt.« »Ich verstehe«, sagte Chapat. »Unter solche Neurotiker und Psychopathen sind wir geraten. Es scheint sich hier um eine Wohnsiedlung zu handeln, in der man all diese schrulligen Typen zusammengepfercht hat.« Atlan wollte etwas sagen, als drei Männer zu ihnen traten. Einer von ihnen war ein besonders großer und hagerer Arkonide. Er trug eine einfache Kombination, nur sein Gesicht war bronzefarben geschminkt, das Haar war unter einem breitkrempigen Hut versteckt. Die Lippen leuchteten grün, ebenso die Augen, die groß und starr wirkten: kein Zweifel, er trug grüngetönte Haftschalen. Atlan hätte die drei kaum beachtet, wenn sich nicht ihr Verhalten so grundlegend von dem der anderen Hausbewohner unterschieden hätte. Sie kamen zielstrebig heran – und plötzlich hielt jeder von ihnen einen Paralysator in der Hand. Chapat duckte sich zum Sprung, aber Atlan hielt ihn zurück. »Welchem Umstand verdanken wir Ihre geschätzte Aufmerksamkeit?« erkundigte sich Atlan mit falscher Höflichkeit. »In erster Linie der Tatsache«, sagte der Grünäugige, und das von ihm gesprochene Wort lief gleichzeitig wie ein Film in Arkonidischer Schrift über die Haftschalen; auf diese Weise unterhielt er sich offenbar mit jenen psychisch Geschädigten, zu denen er nicht sprechen durfte, um bei ihnen keinen hysterischen Anfall zu provozieren, »daß Sie gegen die guten Sitten verstoßen. Es sieht so aus, als legten sie es darauf an, dieses Treffen der Einsamen unter allen Umständen zu
Das Treffen der Einsamen stören.« »Das ist bestimmt nicht unsere Absicht«, erwiderte Atlan. »Ehrlich gestanden zählen wir uns auch zu Einsamen. Wir wissen nicht, wohin wir gehören.« »Warum präsentieren Sie sich dann so entblößt?« fragte der Grünäugige anklagend. »Weil es uns nicht geniert, wenn man unser wahres Gesicht sieht«, antwortete Atlan. Der Grünäugige rang nach Atem. »An die anderen haben Sie dabei wohl nicht gedacht! Und überhaupt! Wenn Sie nur gegen die Maskenpflicht verstoßen hätten, könnte ich darüber hinwegsehen. Ich würde es bei einer Verwarnung belassen. Schließlichwollen wir alle kein Aufsehen. Und ich als Veranstalter am wenigsten.« »Eben«, fiel ihm Chapat ins Wort. Werden Sie nicht frech, flimmerte es in arkonidischer Schrift über die Haftschalen des Veranstalters. Laut sagte er: »Sie sind aber so weit gegangen, andere Gäste durch ihr herausforderndes Verhalten zu beleidigen. Einer hat durch die Androhung der körperlichen Berührung sogar einen Nervenzusammenbruch erlitten.« »Das war nicht meine Absicht«, beteuerte Chapat. »Aber eben das bezweifeln wir«, sagte der Arkonide, der rechts von dem Grünäugigen stand. »Wir haben nämlich den anonymen Hinweis erhalten, daß die Wedezu während dieses Treffens der Einsamen einen Sabotageakt in Addin-Forum planen.« Zumindest erfuhr Atlan auf diese Weise, daß diese Wohnsiedlung Addin-Forum hieß. Das war schon etwas. Vielleicht konnte er während der Befragung sogar noch mehr interessante Informationen herausbekommen. »Was immer auch Sie unter Wedezu verstehen, wir haben damit nichts zu tun«, erklärte Atlan. »Wir sind nach Addin-Forum gekommen, weil wir Anschluß suchen.« »Der Kerl will sich über uns lustig machen, wenn er behauptet, noch nie etwas von den Wedezu gehört zu haben«, sagte der Mann, der links von dem Grünäugigen stand. »Warum so lange Reden halten, Ar-
9 bantola. Paralysieren wir sie einfach und übergeben wir sie der Exekutive.« »Keine Namen, Sie Narr«, herrschte der Grünäugige seinen Begleiter an. Er beruhigte sich sofort wieder. An Atlan gewandt, fuhr er fort: »Zeigen Sie uns Ihre Einladung, damit wir Ihre Aussagen überprüfen können.« Atlan und Chapat wechselten einen Blick. Sie waren sich darin einig, daß sie nun die Initiative an sich reißen mußten, bevor sich die Situation noch mehr verschärfte. »Tja, unsere Einladung …«, begann Atlan schleppend, um Zeit zu gewinnen. »… die habe ich«, ertönte da eine Stimme im Rücken der drei Arkoniden mit den Paralysatoren. Sie wirbelten wie auf Befehl um ihre Achse. Atlan und Chapat sprangen zur Seite, als sie den Mann mit der Spiegelmaske vor dem Gesicht auftauchen sahen. Er war es auch gewesen, der Atlans Satz vollendete. Im nächsten Augenblick zuckten Blitze auf. Atlan sah von seinem Versteck hinter dem Felsblock aus Urgestein, wie Arbantola, der sich als Veranstalter des Treffens der Einsamen bezeichnet hatte, sich blitzschnell zu Boden warf. Seine beiden Begleiter versuchten, ihn mit ihren Körpern zu schützen – und sprangen geradewegs in das Energiefeuer aus der Waffe des Spiegelträgers. Während sie in den Energieladungen vergingen, suchte Arbantola das Weite. »Alarm!« schrie er dabei. »Überfall!« Da brach das Chaos unter den Gästen aus, die hergekommen waren, um Kontakte zu Gleichgesinnten zu knüpfen und den Anschluß an die Gesellschaft zu finden. Statt dessen fanden viele von ihnen den Tod.
4. Atlan nahm den beiden Toten die Paralysatoren ab. Einen davon warf er Chapat zu, der ihn geschickt auffing. »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Chapat. »Keine Ahnung«, antwortete Atlan wahr-
10 heitsgetreu. »Aber am besten, wir verschwinden schleunigst aus diesem Gebäude, bevor die regulären Truppen eintreffen. Denen möchte ich am wenigsten in die Hände fallen.« Atlan hatte sich überlegt, daß es zu schweren diplomatischen Verwicklungen führen konnte, wenn seine Anwesenheit auf Arkon I bekannt wurde. Immerhin stand er als Chef der USO den Terranern näher als den Arkoniden und hatte zu seinem Volk kaum noch Beziehungen, so daß er als Abtrünniger angesehen wurde. Hinzu kam noch, daß er nicht wußte, in welcher Zeit sie sich befanden. Die Gegenwart war dies auf keinen Fall, denn sonst wären ihm die Sternbilder am Himmel von Arkon I nicht so fremd erschienen. Welches Datum man auch immer schrieb, zuerst einmal mußten sie unerkannt bleiben und untertauchen. Die Maskierten und Geschminkten ranntenziellos durcheinander. Sie verkrochen sich in Gebüschen, rannten gegen die Panzerglasbarriere an, klammerten sich verzweifelt an andere, rangen mit diesen … Ein Geschrei hob an, dazwischen ertönte das Trampeln unzähliger Schritte. »Es brennt!« Der Ruf war nur undeutlich in dem Stimmengewirr zu hören. Aber gleich darauf tauchten Roboter mit Feuerlöschgeräten auf. Durch Öffnungen drang aus den unteren Geschossen Rauch. Atlan suchte vergebens nach dem Spiegelträger, der ihnen aus der Patsche geholfen und zwei der Arkoniden, die sie bedrohten, kaltblütig erschossen hatte. Er war nirgends zu sehen. Das ließ Atlan vermuten, daß dem Unbekannten gar nichts an ihrer Befreiung gelegen hatte, sondern daß er einfach einen Vorwand zu einem Streit suchte. Und dieser war das Zeichen zum Angriff gewesen. Plötzlich deutete Chapat nach vorne. Dort wir ein Vermummter mit einer Spiegelmaske. Daneben tauchte ein zweiter auf. Sie erschossen zwei Frauen, nur weil sie ihnen den Weg versperrten. Jetzt waren überall Männer mit Spiegeln
Ernst Vlcek vor den Gesichtern zu sehen. Kein Zweifel, daß sie alle zusammengehörten. Aber was bezweckten sie mit dem Überfall auf dieses Gebäude, in dem sich die Einsamen von Arkon trafen? Atlan und Chapat bahnten sich rücksichtslos einen Weg zu einem der Lifte. Doch als sie den Schacht erreichten, mußten sie erkennen, daß er unbenützbar gemacht worden war. Eine Explosion hatte das Lifthaus in Trümmer gerissen. Ringsum lagen Verwundete, die von Robotern notdürftig verarztet wurden. Atlan paralysierte kurzerhand einen Spiegelträger, der einen der Medo-Roboter zerstrahlen wollte. »Zur Treppe!« rief Atlan Chapat zu. Die erste Treppe, zu der sie kamen, war von einer Energiebarriere versperrt. Dahinter stand ein Spiegelträger mit einem Strahlengewehr. Sie hasteten weiter. Auch die nächste Treppe war durch eine undurchdringliche Energiebarriere unbenützbar gemacht worden. Atlan wollte schon weiterlaufen, als er eine interessante Beobachtung machte. Ein Spiegelträger kam mit einem halben Dutzend Maskierter zu der Treppe. Sie wurden nicht mit Waffengewalt vorangetrieben, sondern kamen offensichtlich freiwillig mit. War es möglich, daß die Spiegelträger den Überfall hauptsächlich nur deswegen inszenierten, weil sie unter den psychisch Labilen nach Verbündeten suchten? »Steck den Paralysator weg, Chapat«, trug Atlan seinem Gefährten auf. »Wir werden uns den Überläufern anschließen.« Chapat befolgte Atlans Befehl und folgte ihm. Sie erreichten die Treppe gerade, als die Energiebarriere zusammenfiel und die Maskierten durchmarschierten. »Nehmt uns mit!« rief Atlan. »Wir sind auf eurer Seite.« Als er durch die Strukturlücke in der Barriere schlüpfen wollte, stellte sich ihm ein Spiegelträger entgegen, drückte ihm den Lauf seines Strahlers in den Bauch. »Hier ist Endstation!« kam eine gedämpf-
Das Treffen der Einsamen te Stimme hinter der Spiegelmaske hervor. Der Finger um den Abzug spannte sich. Atlan glaubte schon, daß der Strahlenschuß seinem Traumerlebnis ein Ende machen würde. Jetzt würde es sich gleich herausstellen, ob vom Tod im Traum auch sein Körper in der Realität betroffen war. In letzter Sekunde mischte sich ein anderer Spiegelträger ein. »Halt!« gebot er dem Wachtposten. »Ich habe die beiden schon eine Weile beobachtet. Vielleicht sind sie uns noch nützlich. Wir nehmen sie mit.« Atlan atmete auf. Er durfte mit Chapat passieren. »Wißt ihr denn überhaupt, worauf ihr euch da einlaßt?« fragte einer der Spiegelträger Atlan, während sie eilig die Treppe hinunterhasteten. Bevor Atlan eine Antwort geben konnte, wandte sich einer der Maskierten um, der sich angesprochen fühlte, und sagte: »Wir kämpfen mit euch für bessere Lebensbedingungen auf unserer Heimatwelt und gegen alle Fremdrassen, die das Volk der Arkoniden bedrohen. Wir wollen Wedezu sein, weil wir meinen, daß nur eine starke Opposition den unfähigen Imperator zu einer vernünftigen Politik zwingen oder ihn zu Fall bringen kann.« »Schön gesagt«, meinte der Spiegelträger mit leichtem Spott. »Aber ich wollte es eigentlich von dir hören.« Dabei deutete er auf Atlan. Dieser sagte: »Auf mich trifft dasselbe zu. Ich habe die gleichen Beweggründe.« Als das Wort »Imperator« gefallen war, zuckte Atlan wie elektrisiert zusammen. Er hoffte, daß der Name des regierenden Imperators von Arkon fallen würde, damit er daraus auf die Zeit schließen konnte, in die sie verschlagen worden waren. Doch in dieser Hinsicht wurde er enttäuscht. Sie befanden sich bereits in den unteren Stockwerken des Trichterhauses, als einer der Spiegelträger sein Armbandgerät auf volle Lautstärke drehte. Aus dem winzigen Lautsprecher ertönte eine verzerrte, schnar-
11 rende Stimme: »Die Truppen haben bereits die gesamte Wohnsiedlung umstellt. Wenn wir siegen wollen, müssen wir einen Ausfall aus Addin-Forum versuchen.« Der Spiegelträger schaltete das Armbandgerät wieder aus und sagte zu den verstört blickenden Arkoniden, deren geschminkte Gesichter wie lächerliche Clownmasken wirkten: »Jetzt könnt ihr beweisen, wie ernst es euch mit eurem Schwur war. Gleich könnt ihr kämpfen und zeigen, ob ihr für eure Ideale auch sterben wollt. Ihr werdet versuchen, den Sperrgürtel der Soldaten mit Waffengewalt zu sprengen.« »Das ist heller Wahnsinn«, entfuhr es Atlan. Er bekam einen Stoß in den Rücken. Dann hörte er eine Stimme dicht an seinem Ohr sagen: »Mund halten! Laß diese Idioten ins Verderben rennen. Das betrifft dich nicht. Mit euch beiden haben wir etwas ganz anderes vor.« Im Erdgeschoß waren bereits zwei Dutzend »Einsame« versammelt, die Albantolas Einladung zu einem »geselligen Beisammensein und persönlichem Kennenlernen« gefolgt waren. Sie hatten sich in einem Gemeinschaftsraum versammelt und diskutierten die Vorgänge von außerhalb der Wohnsiedlung. Spiegelträger waren keine zu erblicken. Atlan und Chapat erfuhren auch bald den Grund dafür. Sie wurden von den »Einsamen« abgesondert und von ihren Bewachern in einen anderen Raum geführt, der einer Waffenkammer glich: Fahrbare Geschütze, Minen, Bomben, Granatwerfer und Handstrahler der verschiedensten Ausführungen waren hier in großer Zahl gestapelt. Alles Angriffswaffen, und nicht gerade die neuesten Modelle. Neben den Waffen lagen Helme mit Gesichtsspiegeln bereit, wie sie Atlans und Chapats Bewacher trugen. »So«, sagte der eine von ihnen aufatmend und nahm seine Spiegelmaske ab. Darunter
12 kam ein jugendliches Arkonidengesicht zum Vorschein. Er grinste Atlan an, die rötlichen Augen zwinkerten ihm zu. Der andere Spiegelträger demaskierte sich ebenfalls, legte seine Waffen ab. »Ich bin Kalhorm«, stelle er sich vor. »Falls ihr Waffen besitzt, dann laßt sie besser hier zurück.« Er war doppelt so alt wie sein Kamerad, hatte ein alltägliches Gesicht und wirkte durchschnittlich. Ein nichtssagender Typ, den man sofort wieder vergaß, kaum daß man ihn sah. Wahrscheinlich war die Durchschnittlichkeit seine beste Tarnung. Atlan wollte schon seinen Paralysator hervorholen. Doch da sagte Chapat: »Wir sind unbewaffnet.« Kalhorm warf ihm einen undefinierbaren Blick zu und stellte dann fest: »Ein seltsamer Akzent, den ihr sprecht.« Atlan nahm keine Stellung dazu. »Los, verschwindet endlich«, verlangte der jugendliche Arkonide. »Ich möchte die Waffen verteilen, damit sich endlich etwas tut. Die Soldaten werden noch stutzig, wenn sie nicht auf Widerstand stoßen.« Kalhorm gab Atlan und Chapat einen Wink. Sie folgten ihm durch eine Tür, fuhren im Lift in ein Kellergeschoß und gingen dann durch einen Tunnel. Nach einigen hundert Metern kamen sie wieder zu einem Lift, in dem sie in ein anderes Wohngebäude hochfuhren. In einer der obersten Etagen stiegen sie aus. Kalhorm führte sie ein Stück den Trichterbau umlaufenden Ringkorridor entlang, sperrte dann eine Tür auf und betrat den dahinterliegenden Raum. »Hier wohne ich«, sagte er, während er zum Fernsehapparat ging und ihn einschaltete. »Gleich wird es Extranachrichten über den heroischen Sieg der Regierungstruppen über die extremistischen Wedezu geben.« Er zeigte zum erstenmal die Andeutung eines Lächelns. Da es aber noch nicht zu einer Unterbrechung des Hauptprogramms gekommen war, widmete er sich wieder seinen beiden Besuchern.
Ernst Vlcek »Nehmt Platz«, sagte er. »Ich könnte mir vorstellen, daß ihr Unterschlupf benötigt. In diesem Gebäude sind noch einige Wohnungen frei, die unter falschen Namen laufen. Wenn euch damit geholfen ist, könnt ihr die Namen mitsamt den Wohnungen übernehmen.« »Das ist mehr als ich erträumt habe«, meinte Atlan. »Nur – ich weiß nicht, ob wir den Preis dafür bezahlen können. Ehrlich gestanden, sind wir völlig mittellos.« Kalhorm sah ihn durchdringend an. Nachdem er Atlan eine Weile studiert hatte, sagte er: »Ihr Gesicht ist Kapital genug. Es ist nicht in Hyperquarzen aufzuwiegen. Wenn auch alles andere an Ihnen stimmt, dann sind Sie unser Mann.« »Was ist mit meinem Gesicht?« fragte Atlan ahnungsvoll. »Später.« Kalhorm machte eine Schweigen gebietende Geste und konzentrierte sich auf die Geschehnisse auf dem Bildschirm. Das laufende Programm war unterbrochen worden. Ein Sprecher erschien, der eine LiveEinblendung über eine Aktion der Regierungstruppen gegen eine arkonfeindliche Untergrundorganisation ankündigte. Gleich darauf rollte das Geschehen auf dem Bildschirm ab. Das Arkon-Fernsehen setzte eine Reihe von Kameras ein, so daß durch Szenenwechsel und geschickten Bildschnitt zusätzlich Dramatik erzielt wurde. Dabei war der Kampf zwischen den Truppen und den Spiegelträgern an sich schon dramatisch genug – wenngleich er nach wenigen Minuten entschieden war. Die Spiegelträger stürmten in breiter Front aus dem brennenden Trichterbau, in dem es nun ständig zu schweren Explosionen kam. Die Spiegelträger waren bis an die Zähne bewaffnet, fuhren schwere Geschütze auf, feuerten jedoch blindlings drauflos. Die regulären Truppen hatten kaum Mühe mit ihnen. Die Spiegelträger fielen reihenweise. Der Sprecher nannte es einen »Vernichtungsschlag gegen die arkonfeind-
Das Treffen der Einsamen lichen Mächte im allgemeinen und den Todesstoß für die Organisation der WdZ«. Als der ungleiche Kampf schon fast zu Ende war, flog der brennende Trichterbau in die Luft. Die Druckwelle war so stark, daß das Zimmer, in dem Atlan, Chapat und Kalhorm saßen, erbebte. Der Fernseher fiel aus. »Wir haben genug gesehen«, meinte Kalhorm dazu. »Allerdings«, sagte Atlan gepreßt. »Sie haben Dutzende unschuldiger Arkoniden in den Tod geschickt.« »Sie sind für einen guten Zweck gestorben«, erwiderte Kalhorm ungerührt. Erklärend fügte er hinzu: »Diese Männer haben ein durch und durch sinn- und nutzloses Leben geführt. Sie waren Parasiten der Gesellschaft. Neurotiker, Psychopathen, so sehr degeneriert, daß sie außerhalb der arkonidischen Gemeinschaft lebten, isoliert, ohne Kontakt zur Realität. Sie haben sie ja kennengelernt. Heute aber haben sie ihr Leben in den Dienst einer guten Sache gestellt. Sie sind als Helden gestorben. Sie glauben mir nicht?« »Ich weiß nur, daß Sie diese Unschuldigen als Kanonenfutter verwendet haben«, erwiderte Atlan. »Sie ließen sie in den Tod laufen, um selbst ungeschoren zu bleiben. Die Soldaten sollten glauben, daß es sich dabei um Terroristen handelte. Aber irgendwann wird der Schwindel auffliegen.« »Genau das wollen wir damit bezwecken«, sagte Kalhorm. »Es wird sich herausstellen, daß die Soldaten Unschuldige getötet haben. Da es via Fernsehen über alle drei Arkon-Welten ausgestrahlt wurde, läßt sich dieser Skandal nicht mehr vertuschen. Dadurch büßt der Imperator viel von seinem Prestige ein – und wir Wedezu gewinnen an Macht. Diese sogenannten Unschuldigen werden als Märtyrer in die Geschichte eingehen. Sie haben ihrem nutzlosen Leben im Tode einen Sinn geben können. Ist das nicht genug?« Atlan ärgerte sich über den Zynismus des anderen. Er war so wütend, daß er sich bei-
13 nahe hätte gehen lassen – wenn ihn sein Logiksektor nicht zur Vernunft gerufen hätte. Willst du dich für die Probleme dieser Traumwelt über deine persönlichen Interessen hinaus engagieren? Maßt du dir denn an, einen Traum verändern zu können? Die Polemik seines Extrasinns forderte geradezu zu einer Entgegnung heraus. Doch Atlan ließ sich nicht dazu hinreißen, denn sein Extrasinn hatte ihm auch in Erinnerung gerufen, daß er vor allem zuerst mit seinen eigenen Problemen fertig werden mußte. Und die alles entscheidende Existenzfrage war immer noch: Traum oder Wirklichkeit? Atlan fragte über die dröhnenden Gedanken in seinem Kopf hinweg: »Welche Ziele verfolgen die Wedezu eigentlich?« »Wie der Name unserer Organisation schon sagt – WdZ ist bekanntlich die Abkürzung für Wegbereiter der Zukunft –, wollen wir den Arkoniden eine bessere, glorreiche Zukunft bieten. Um das zu erreichen, müssen wir aber zuerst einmal Orbanaschol III. vom Thron stürzen.« OrbanascholI. Dieser Name hallte in Atlans Kopf nach. Er hörte sich sagen, daß er unter diesen Umständen Kalhorms Mann sei, Kalhorm erwiderte, daß er eigentlich nichts anderes erwartet habe, doch bedürfe es noch verschiedener Formalitäten, um ein Wedezu zu werden, man müsse seine Loyalität zur Organisation beweisen, durch Taten am besten … und so weiter und so fort. Kalhorms Ausführungen prallten fast ungehört an Atlan ab. Er war wie in Trance, sagte zu allem ja, erklärte sich damit einverstanden, eine Art Eignungstest über sich ergehen zu lassen. Oder war es eine Mutprobe? Atlan wollte sich so schnell wie möglich zurückziehen und seine Gedanken sammeln. Die Erwähnung von Orbanaschol III. hatte alles andere vorerst als unwichtig erscheinen lassen. Wenn es stimmte, daß Orbanaschol III. der Imperator des großen Imperiums war, dann war Atlan mit Chapat in eine Zeit
14
Ernst Vlcek
verschlagen worden, in der er gerade als junger Kristallprinz um den Thron von Arkon kämpfte. Das warf neue, in ihrer ganzen Tragweite noch nicht zu erfassende Probleme auf. Es war phantastisch! Verständlich, daß Atlan froh war, als Kalhorm sie in die ihnen zugeteilten Wohnräume entließ. Atlan wollte in Ruhe über alles nachdenken können. Die Antwort auf die in ihm nagende Frage: Traum oder Realität? war wichtiger denn je geworden. Dazu kam aber noch etwas. Zuerst war es ein unscheinbarer Gedanke, der sich jedoch ausweitete, bis er beinahe schon zu einem Trauma wurde: Die Angst vor einem Zeitparadoxon!
5. Chapat war gar nicht damit einverstanden, daß sich Atlan wortlos in seine Wohnräume zurückzog. Es gab einiges, das Chapat gerne zur Sprache gebracht hätte. Ihm war schon während des Gesprächs mit Kalhorm aufgefallen, daß sich Atlans Verhalten plötzlich wandelte. Er war auf einmal in sich gekehrt, schien kaum etwas um sich wahrzunehmen. Auch wollte Chapat Aufklärung darüber, warum Atlan von einem Moment zum anderen seine Gesinnung änderte. Zuerst verdammte er Kalhorms Organisation, dann befürwortete er wieder ihre Methoden und Ziele. Chapat hielt es nicht lange allein aus. Das Warten zermürbte ihn, zehrte an seinen Nerven. Als er sich endlich entschloß, Atlan aufzusuchen, ging die Tür auf, und Atlan kam herein. »Ich bin dir einige Erklärungen schuldig, Chapat«, sagte er. »Ich könnte mir vorstellen, daß dir meine Zusicherung an Kalhorm, mit den Wedezu zusammenzuarbeiten, nicht gefällt.« »Zumindest bin ich der Meinung, daß es wichtigere Dinge für uns gibt, als dieser illegalen Organisation zu helfen«, erwiderte Chapat kühl. »Zum Beispiel, wie wir in un-
sere Realität zurückgelangen könnten.« »Das ist ein Fernziel«, meinte Atlan. »Unser vordringlichstes Problem ist es, zu überleben, deshalb müssen wir zuerst diese Realität bewältigen, in der wir augenblicklich leben. Kalhorms Untergrundorganisation kann unsdabei helfen. Wir brauchen Verbündete. Auf uns allein gestellt, kommen wir nicht weit. Denke daran, daß wir hier sterben können wie in der Realität des Jahres 2843.« »Ja, ich vergesse es schon nicht«, sagte Chapat unwillig. »Aber aus welchem Grund verlassen Sie sich so sehr auf Kalhorm? Wer sagt, daß er nicht doppeltes Spiel mit uns treibt.« »Auf seine Ehrlichkeit verlasse ich mich erst gar nicht«, erklärte Atlan. »Aber mir ist nicht entgangen, daß er großes Interesse an uns hat. Kannst du dir denken, warum er unter all den ›Einsamen‹ ausgerechnet uns beide als Partner ausgesucht hat?« »Keine Ahnung. Vermuten Sie einen besonderen Grund?« »Es ist mehr als nur bloße Vermutung – ich habe schon fast Gewißheit. Es kann nur so sein, daß Kalhorm eine Ähnlichkeit zwischen mir und jemandem erkannte, der Orbanaschol III. abgrundtief haßt.« »Und wer ist das?« »Ich selbst.« Chapat starrte Atlan verblüfft an. Atlan meinte lächelnd: »Ich werde es dir erklären. Du erinnerst dich, daß mir viel daran lag, zu erfahren, in welche Zeit wir verschlagen wurden. Ich wußte von Anfang an, daß wir uns nicht auf dem Planeten Arkon I der Gegenwart befanden. Als Kalhorm sagte, daß zur Zeit Orbanaschol III. regiert, traf mich das wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Orbanaschol III. regierte nämlich etwa im Jahre 10 500 von Arkon. Von der Realität aus gesehen, in der unsere Körper in den Illusionsmaschinen liegen, ist das zwölftausend Jahre in der Vergangenheit.« »Zwölftausend Jahre?« wiederholte Chapat fassungslos. In seinem Gesicht zuckte es.
Das Treffen der Einsamen »Aber … damals war ich noch nicht einmal geboren …« Er verstummte. Atlan wartete, daß er dem noch etwas hinzufügte und so etwas mehr von dem Geheimnis seiner Person lüftete. Doch Chapat schwieg. »Du warst damals noch nicht geboren, aber ich lebte bereits«, sprach Atlan weiter. »Aber damit nicht genug. Orbanaschol III. ist mein Onkel, der nach dem Tode meines Vaters unrechtmäßig den Thron von Arkon bestieg. Orbanaschol III. jagte mich damals durch die ganze Galaxis, um mich töten zu lassen … Das heißt, genau besehen, dürfte der Kampf zwischen uns beiden gerade den Höhepunkt erreicht haben. Mein jüngeres Ich, Chapat, ficht in diesem Augenblick irgendwo in der Galaxis einen erbitterten Existenzkampf.« »Das ist … phantastisch«, kam es über Chapats Lippen. »Ich bin sicher, daß Kalhorm meine Ähnlichkeit mit denen aus dem Geschlecht der Gonozals erkannt hat«, fuhr Atlan fort. »Die Wahrheit ahnt er sicherlich nicht im entferntesten. Vielleicht hält er mich für einen weitschichtigen Verwandten des ehemaligen Imperators, der vor den Schergen Orbanaschols auf der Flucht ist. Möglich aber, daß er die Ähnlichkeit mit meinem Vater als Zufall nimmt. Auf jeden Fall ist sie ihm nicht entgangen, und sicherlich möchte er sie für seine Organisation ausnutzen.« »Und Sie heißen das gut?« »Mir ist jedes Mittel recht, um Orbanaschol zu schaden.« »Glauben Sie denn, daß Sie das überhaupt können?« fragte Chapat. »Sie sind nicht der Atlan dieser Zeit, sondern – der Traumatlan. Es ist schwer, sich vorzustellen, daß Sie Ihrem jüngeren Ich helfen können. Denn auf unsere Realität bezogen, hätten Sie dies vor zwölftausend Jahren getan, könnten sich daran erinnern und würden die Auswirkungen Ihrer Tat auf spätere Ereignisse kennen … Ach, es ist zum Verrücktwerden. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.«
15 »Schalte ab, Chapat«, meinte Atlan lächelnd. »Mir ist es vor kurzem so ähnlich ergangen. Ich möchte nicht intensiv über die Auswirkung meiner doppelten Anwesenheit in dieser Zeit nachdenken. Aber mit einigen Problemen muß ich mich doch befassen. Eines davon ist, daß ich Orbanaschol III. nicht in die Hände fallen darf. Ich muß sogar darauf bedacht sein, meine Existenz vor ihm geheimzuhalten. Denn schon das Wissen um mich könnte die Geschichte verändern …« »Jetzt gleiten Sie schon wieder in das gefährliche Thema der Zeitparadoxa ab«, ermahnte Chapat. Atlan machte ein verzweifeltes Gesicht. »Leider bleibt mir das nicht erspart. Es besteht die Gefahr eines besonders verhängnisvollen Zeitparadoxons. Nämlich, daß ich mir selbst begegne.« Chapat wurde blaß. »Das müssen Sie unter allen Umständen verhindern!« Atlan lächelte geheimnisvoll. »Es wäre allerdings interessant … ein faszinierendes Experiment …« Er verstummte und wurde sofort wieder ernst. »Du hast natürlich recht, Chapat. Es wäre unverantwortlich, eine Begegnung mit meinem jüngeren Ich zu provozieren. Ich muß sogar alles unternehmen, um sie zu verhindern. Um das zu können, muß ich mich aber über das genaue Datum und die aktuellsten Ereignisse im Großen Imperium informieren.« »Das leuchtet mir ein«, sagte Chapat. »Die Informationen, die ich zur Vermeidung eines Zeitparadoxons benötige, kann ich mir aber nicht beschaffen, indem ich einfach Arkoniden befrage«, fuhr Atlan fort. »Ich brauche eine sichere Quelle.« »Und woran denken Sie?« »An das Geheimarchiv von Orbanaschol III. Nur dort finde ich alle Daten, die ich benötige.« »Ein Todeskommando, nehme ich an«, sagte Chapat trocken. »Mit der Unterstützung der Wedezu könnten wir es schaffen. Kalhorm gegenüber können wir diesen Coup als eine Art Auf-
16
Ernst Vlcek
nahmeprüfung hinstellen.« Chapat nickte bedächtig. »Selbst ohne Kalhorms Unterstützung müßten unsere Chancen gut stehen. In Ihrer Erinnerung sind sicherlich noch einige Informationen über die Gegebenheiten auf Arkon I, die uns die Sache erleichtern werden.« »Und wie steht es mit deiner Erinnerung, Chapat?« »Ich verstehe nicht.« Chapat versteifte sich. In seine Augen trat ein Ausdruck von eisiger Ablehnung. »Nun, dann will ich dir behilflich sein.« Atlan beobachtete sein Gegenüber genau. »Uns verbindet etwas miteinander, Chapat. Das ist die Erinnerung an Ischtar. Mehr will ich dazu nicht sagen. Denke darüber nach.« Chapats Gesichtsausdruck nach zu schließen, schien er Atlans Rat zu beherzigen und nachzudenken. Aber er schwieg weiterhin.
6. Kalhorm ließ die beiden Besucher nur widerwillig in seine Wohnung. »Ich habe Ihnen doch deutlich genug erklärt, daß wir keinen Kontakt zueinander aufnehmen dürfen, bis die Razzia abgeschlossen ist, Amtos«, sagte er zu Atlan. Amtos war der Name, unter dem Atlan sich in der Wohnung eingemietet hatte. Chapat wurde unter dem Namen Ecridian geführt. »Niemand darf erfahren, daß zwischen uns eine Verbindung besteht. Kehren Sie sofort in ihre Unterkünfte zurück. Die Soldaten können jeden Augenblick auftauchen.« »Keine Sorge, wir wollen Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten«, beruhigte Atlan ihn. »Ganz im Gegenteil, wir wollen aus Addin-Forum verschwinden und erst wiederkommen, wenn sich die Lage beruhigt hat.« Kalhorm blickte von einem zum anderen. »Das ist Wahnsinn«, meinte er dann. »Sie kommen nicht durch den Sperrgürtel der Truppen. Wenn man Sie auf der Flucht erwischt, machen Sie alles nur noch schlimmer.
In Addin-Forum sind Sie sicher.« »Sie kennen bestimmt einen Weg, um aus der Wohnsiedlung zu gelangen«, behauptete Atlan. »Die WdZ muß schließlich mit der Möglichkeit rechnen, ihre Leute nötigenfalls schnell und unbemerkt von hier fortzuschaffen.« Kalhorm schluckte. »Warum wollen Sie fort? Ich versichere Ihnen, daß Sie hier in Sicherheit …« »Darum geht es nicht«, unterbrach Chapat ihn, dessen Aussprache des AltArkonidischen noch akzentreicher als die Atlans war. »Wir müssen etwas erledigen. Und zwar schnellstens. Wir können nicht damit warten, bis die Truppen aus AddinForum abgezogen werden.« »Worum geht es also?« fragte Kalhorm. »Sie haben bei unserem ersten Gespräch selbst verlangt, daß wir eine Eignungsprüfung ablegen müssen«, erklärte Atlan. »Dies wollen wir sofort hinter uns bringen. Wir haben vor, in das Geheimarchiv von Orbanaschol III. am Fuß des Hügels der Weisen einzudringen. Und dazu brauchen wir Ihre Unterstützung.« »Sie sind verrückt!« sagte Kalhorm inbrünstig. »Haben Sie denn eine Ahnung, welche Sicherheitsmaßnahmen getroffen wurden, um das Regierungszentrum des Großen Imperiums zu schützen?« »Natürlich«, sagte Atlan. »Ich weiß sogar ziemlich gut Bescheid.« »Woher …?« Atlan hob lächelnd die Hand. »Keine Indiskretionen, Kalhorm«, bat er. Bisher hatte der Arkonide noch keine lästigen Fragen gestellt. Er schien gar nicht genau wissen zu wollen, woher Atlan kam und wer er war. Kalhorm machte sich seine eigenen Gedanken darüber. Und er drang auch jetzt nicht in Atlan. »Entschuldigen Sie, Amtos«, sagte er. »Aber sind Sie wirklich so naiv, anzunehmen, daß Sie trotz aller Sperren in Orbanaschols Archiv einbrechen können? Noch dazu ohne geeignete Ausrüstung!« »Sie, Kalhorm, könnten uns die Ausrü-
Das Treffen der Einsamen stung beschaffen.« »Ich muß hierbleiben.« »Sie könnten Ihre Mittelsleute verständigen …« Kalhorm warf die Arme verzweifelt in die Luft. »Wollen Sie es sich nicht doch noch überlegen? Was erwarten Sie sich eigentlich von dem Einbruch in das Geheimarchiv?« »Einiges«, meinte Atlan lächelnd. »Zum Beispiel, einige interessante Informationen, die auch für die Wedezu wertvoll sein könnten. Andererseits möchten wir die Dinge ins Rollen bringen. Wir möchten der WdZ beweisen, daß wir wertvolle Verbündete sind. Also, wie ist es, Kalhorm, werden Sie uns helfen, aus Addin-Forum zu gelangen?« Kalhorm wurde nachdenklich. Er schien zu überlegen. Endlich hatte er eine Entscheidung getroffen. »Ich werde Ihnen helfen«, versprach er. »Und zwar werde ich Sie nicht nur aus Addin-Forum hinausschleusen, sondern Ihnen auch die Adresse eines Mannes nennen, der sie in Ihrem Vorhaben unterstützt. Der Mann heißt Ethan-Khor und wohnt im Tabbos-Atrium, ganz in der Nähe vom Geheimarchiv. Wenden Sie sich an ihn. Ich werde ihn von Ihrem Kommen unterrichten lassen. Mehr kann ich nicht für Sie tun.« Atlan klopfte ihm auf die Schulter. »Das ist mehr, als ich erwartet habe, Kalhorm.«
* Alle Bewohner von Addin-Forum standen unter Hausarrest. Man durfte die Wohnsiedlung zwar ungehindert betreten, wenn man sich ausweisen konnte, aber niemand durfte sie ohne besondere Genehmigung verlassen. Atlan und Chapat benötigten keine solche Genehmigung. Der Wedezu fuhr mit ihnen im Lift in das Kellergeschoß und führte sie unter Umgehung der dort aufgestellten Wachtposten zu einem Luftschacht, der mit einem aufgelassenen Rohrbahntunnel verbunden war.
17 Der Luftschacht war gut getarnt, so daß ihn nur Eingeweihte finden konnten. Als Kalhorm die Verschlußklappe abgehoben hatte, erklärte er ihnen, was sie zu tun hatten. Sie sollten zum Ende des Schachtes hinunterklettern, bis sie in den von Osten nach Westen führenden Tunnel kamen. Dort mußten sie sich links halten und zwei Kilometer in Richtung Westen gehen. Dann würden sie an eine Trennwand stoßen. Der Tunnel war vor vielen Jahren schon zugemauert worden. Es gab aber eine Klappe am rechten Tunnelrand, die sich durch Körperwärme öffnen ließ. Dahinter lag eine Garage für Rohrbahnzüge, von der aus sie direkt in eine stark frequentierte Rohrbahnstation kamen. Es sei möglich, daß dort Zivilbeamte auf Streife waren, sagte Kalhorm, doch würden diese vor allem die Ein- und Ausgänge im Auge behalten. Trotzdem sollten sie vorsichtig sein. Atlan versicherte, daß er diesen Ratschlag beherzigen würde. Bevor er jedoch vor Chapat in den Luftschacht stieg, verlangte er von Kalhorm eine Waffe und wenigstens einen Scheinwerfer, damit sie sich den Weg leuchten könnten. »Unser Waffenarsenal wurde längst beschlagnahmt«, erwiderte Kalhorm kühl. »Außerdem ist es besser, wenn Sie unbewaffnet sind. Da können Sie wenigstens keine Dummheiten machen. Aber mit einer Lichtquelle kann ich Ihnen dienen. Etwa fünf Meter unterhalb des Einstiegs gibt es im Luftschacht eine Vertiefung. Dort sind, zusammen mit einigen anderen Ausrüstungsgegenständen, die Ihnen aber nichts nützen, auch einige Taschenlampen untergebracht. Nehmen Sie sich eine davon. Aber nur eine! Und rühren Sie die anderen Sachen nicht an.« Atlan begann mit dem Abstieg. Chapat folgte ihm. Einige Sekunden lang fiel von oben schwacher Lichtschein zu ihnen herab. Dann erlosch dieser, als Kalhorm die Öffnung verschloß.
18 Fünf Meter unter dem Einstieg fand Atlan tatsächlich ein Fach mit den beschriebenen Ausrüstungsgegenständen. Er nahm eine Taschenlampe und leuchtete hinein. Außer der Taschenlampe nahm er nur noch einen handgezeichneten Plan an sich, in dem das Rohrbahnnetz rings um den Hügel der Weisen eingezeichnet war – mitsamt allen aufgelassenen Tunneln, die schon längst in Vergessenheit geraten waren. Atlan nahm diesen Plan mit, weil er glaubte, daß er ihnen noch einmal von Nutzen sein könnte. Der Abstieg dauerte nicht besonders lange. Dann standen sie in dem Rohrbahntunnel. Sie hielten sich an Kalhorms Anweisungen und wandten sich nach links. Ihre Schritte hallten gespenstisch in dem fünf Meter durchmessenden Tunnel. Im Schein der weit strahlenden Taschenlampe sah Atlan Kritzeleien an den Wänden; zumeist politische Parolen irgendwelcher obskurer Vereinigungen. Er las und vergaß sie sofort wieder. Nur eine der Parolen prägte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis ein. Tod dem Imperator Gonozal VII. – die Wegbereiter der Zukunft. Atlan stieß Chapat an und sagte mit leicht belegter Stimme: »Das war mein Vater.« »Wurde er ermordet?« »Offiziell verunglückte er bei einem Jagdunfall.« »Glaubst du, daß die WdZ dahinterstecken könnte?« Atlan registrierte es zufrieden, daß Chapat ihn duzte. Hatte er das mit seiner Anspielung auf Ischtar erreicht? Vielleicht taute Chapat nun endlich etwas auf und gab einige seiner Geheimnisse preis. »Ich muß gestehen, daß ich bis jetzt noch nie etwas von den Wegbereitern der Zukunft gehört habe«, antwortete Atlan. »Wahrscheinlich haben sie auch zu Zeiten meines Vaters nur ein Schattendasein geführt, wie jetzt unter Orbanaschol III. Nein, es ist sicher, daß mein Onkel beim Tod meines Vaters nachgeholfen hat.«
Ernst Vlcek Sie gingen schweigend weiter. Die Parole hatte wehmütige Erinnerungen in Atlan geweckt. Er mußte stark gegen seinen Extrasinn ankämpfen, damit dieser ihn nicht übermannte und ihn völlig in den Bann seiner Jugenderinnerungen zog. Es war jetzt nicht der Augenblick, das alles wieder zu durchleben. Aber immerhin wurde Atlan dadurch wieder mit der Frage konfrontiert, in welche Zeit des 105. Jahrhunderts von Arkon sie verschlagen worden waren. Oder schrieb man bereits das 106. Jahrhundert? Befand sich sein jüngeres Ich noch unter der Obhut des Bauchaufschneiders Fartuloon auf dem Planeten Gortavor – und wußte es noch nichts von seinem Status als Kristallprinz? Erwarb sein jüngeres Ich gerade die ARK SUMMNIA und somit den Logiksektor? Möglicherweise aber befand sich sein jüngeres Ich bereits illegal auf Arkon I, um zum großen Schlag gegen Orbanaschol III. auszuholen … Atlan mußte es in Erfahrung bringen. Dieses Wissen, das es ihm ermöglichte, ein Zeitparadoxon zu vermeiden, war jedes Risiko wert. Sie kamen zum Ende des Tunnels. Chapat fand die Klappe in der Mauer, drückte seine Handflächen minutenlang dagegen. Die Klappe sprang mit leisem Quietschen auf. Atlan schaltete die Taschenlampe ab. Sie kletterten durch die Öffnung und verschlossen sie hinter sich wieder. Sie fanden sich in einer weitläufigen Halle, die in ein diffuses Licht gehüllt war. Die Rohrbahngarnituren zeichneten sich vor dem helleren Grund als schwarze Schemen ab. Arbeitsgeräusche drangen zu ihnen. Vorsichtig schlichen sie weiter. Plötzlich setzte sich eine der Rohrbahngarnituren langsam in Bewegung. Über den Lautsprecher hörten sie, daß dieser Zug außer Plan eingeschoben werden sollte, um die anderen Linien zu entlasten. Atlan war es egal, welches Ziel dieser Zug anfuhr. Er wollte erst einmal von hier fort und eine große Entfernung zwischen sich
Das Treffen der Einsamen und Addin-Forum bringen. Sie sprangen auf den fahrenden Zug auf, versteckten sich, bis er in die nächste Station einfuhr. Dort war es für sie ein leichtes, sich unter die anderen Fahrgäste zu mischen.
* Sie brauchten später nur noch einmal umzusteigen, um einen Zug zum Tabbos-Atrium zu erwischen. Die Strecke war über tausend Kilometer lang, und die Fahrt dauerte etwa zwei Stunden. Terra-Stunden, versteht sich. Atlan konnte die verstrichene Zeit allerdings nur schätzen, weil er sich aller Gegenstände »Made on Terra« entledigt hatte. In ihren Wohnungen hatten sie auch arkonidische Kleidung gefunden, so daß sie nicht weiter auffielen. Chapat trug immer noch seine Altmännermaske. Atlan benutzte die Fahrt dazu, Chapat über das Leben auf Arkon und die arkonidische Geschichte zu informieren. Was letzteres betraf, mußte er einiges jedoch in Frage stellen, weil er das genaue Datum nicht kannte und so nicht sicher sein konnte, ob manche geschichtlichen Ereignisse schon stattgefunden hatten, oder noch in der Zukunft lagen. Von Atlans und Chapats Warte aus gesehen, war natürlich die Relativzukunft gemeint … In einem Punkt war Atlan jedoch sicher. Der Krieg gegen die Methanatmer, die Maahks, tobte noch immer. Er hörte es aus verschiedenen Gesprächen der Reisenden heraus, die jedoch mit keinem Wort Orbanaschols Kriegstaktik zu kritisieren wagten. Die Kritik hoben sie sich für zu Hause auf, wenn sie sicher waren, nicht bespitzelt zu werden. »Aufgrund meiner Erfahrungen in AddinForum hätte ich eigentlich angenommen, daß sich alle Arkoniden voneinander abkapseln«, sagte Chapat leicht verwirrt. »Nun sehe ich aber, daß sich oftmals wildfremde Menschen miteinander unterhalten.« »In Addin-Forum war das Problem der Isolierung besonders kraß«, erwiderte Atlan.
19 Und er revidierte an einigen Beispielen Chapats Bild von einem Planeten der Eremiten. Sicherlich legten die Arkoniden, besonders die Bewohner der drei Arkon-Welten, viel Wert auf die Wahrung ihrer Intimsphäre. Aber das hinderte sie nicht daran, sich zu geschäftlichen und gesellschaftlichen Anlässen zu treffen. Es gab Lokale, wo jeder einzelne Gast seine eigene Nische bekommen konnte. Es gab aber auch solche, wo, von Computern gesteuert, man Plätze an Tischen von wildfremden Leuten zugewiesen bekam. Das waren aber Experimentalfälle, Versuche, der quälenden Einsamkeit zu entfliehen. Unter diesem Aspekt waren auch Reisebekanntschaften zu sehen. Man gab sich betont umgänglich, nur um sich dann vielleicht tageoder wochenlang zu Hause einzuschließen. Man fiel von einem Extrem ins andere, gab sich ausgelassen, lebte schnell und ausgiebig einige Zeit, nur um sich dann in sein Schneckenhaus zurückzuziehen. Die Bewohner der anderen Sonnensysteme, vornehmlich die Pioniere, kannten das Problem der Vereinsamung nicht mehr. Auch der arkonidische Adel war davon nicht betroffen. Es gab ganze Bibliotheken, die mit Tausenden von Wälzern über die rauschenden Feste der Adeligen von Arkon I gefüllt waren. Chapat hörte Atlan begierig zu, als dieser ihm über die früharkonidische Geschichte erzählte. Atlan war sich aber nicht ganz sicher, ob Chapats Aufmerksamkeit nicht nur gespielt war. Hatte er vielleicht all diese Informationen schon längst vom Ischtar-Memory erhalten? Wußte Chapat nicht schon längst, daß eigentlich Arkon III die Ursprungswelt der Arkoniden war, daß dieser Planet aber bald für die rasch anwachsende Bevölkerung zu klein wurde und man zwei Planeten aus ihren Bahnen riß und auf die Umlaufbahn des dritten Planeten brachte? Seitdem sind alle drei Arkon-Welten unverändert 620 Millionen Kilometer von der großen, weiß leuchtenden Sonne entfernt und stehen zueinander wie die Eckpunkte eines gleichschenkeligen
20 Dreiecks. Wußte Chapat das wirklich nicht? Arkon I war der Wohnplanet mit seinen dezentralisierten Wohnsiedlungen aus Trichterbauten, die bis zu 500 Meter hoch waren. Dazwischen hatten die Planeten-Ingenieure Prachtparks angelegt, wie sie die Natur nicht schöner hätte erschaffen können. Auf Arkon I war auch das Regierungszentrum untergebracht. Man nannte es »Hügel der Weisen«, weil der Kristallpalast, der eigentliche Sitz des Imperators, zusammen mit allen Nebengebäuden inmitten einer künstlich angelegten Gebirgslandschaft stand. Seit Orbanaschol III. mit seinen Beratern im Kristallpalast residierte, war die Bezeichnung »Hügel der Weisen« aber ziemlich unpassend. Die 2. Arkon-Welt war der Handels- und Industrieplanet, gleichzeitig auch der Sitz der Kolonialverwaltung. Die Arkon-Welt Nummer 3 war der Kriegsplanet. Obwohl alle Daten über diesen Planeten strengster Geheimhaltung unterlagen, wußte Atlan, daß es sich um einen fast zur Gänze ausgehöhlten Himmelskörper handelte, in dem in erster Linie gigantische Raumschiffswerften untergebracht waren. »Auf Arkon III befindet sich darüber hinaus aber auch die Keimzelle jener Robotanlage, aus der später einmal der Robotregent hervorgehen wird«, schloß Atlan. »Ich weiß nicht, was ich von deinen Ausführungen halten soll«, meinte Chapat skeptisch, als Atlan geendet hatte. »Immerhin besteht die Möglichkeit, daß sie nicht authentisch sind.« »Sie sind authentisch, darauf kannst du dich verlassen«, sagte Atlan etwas von oben herab. »Denn erstens habe ich in jungen Jahren in dieser Zeit gelebt. Und zweitens kenne ich aus unserer Realität die Geschichtsaufzeichnungen der Arkoniden dieser Zeit.« »Dann solltest du dir aber überlegen, daß wir womöglich auf eine andere Wahrscheinlichkeitsebene verschlagen wurden, in der die Geschehnisse der Realität überhaupt keine Gültigkeit haben«, erwiderte Chapat ironisch. »Wir leben in einem Traum, Atlan, da
Ernst Vlcek ist alles möglich.« Und damit waren sie wieder bei ihrem Problem angelangt: Waren sie in einer geträumten Vergangenheit, die vom IschtarMemory willkürlich geformt worden war, oder hatten sie eine Zeitreise in die »reale« Vergangenheit unternommen?
7. Tabbos-Atrium gehörte zu den größten Trichterbauten von Arkon. Es war ein Monumentalbau, 500 Meter hoch, an seinem Fuße mit 50 Metern Durchmesser extrem schmal, wölbte er sich geschwungen empor, so daß er an seinem oberen Ende weit ausladend war und dort einen Durchmesser hatte, der seiner Höhe entsprach. Alle Wohneinheiten öffneten sich auf die Innenseite zu Terrassen mit Parks, die stufenförmig angeordnet waren. Der freie Raum im Zentrum des Wohnbaus, das Atrium, blieb nicht ungenützt. Eine raffinierte Einrichtung von Energieprojektoren ließ die Schaffung von Energiesphären zu, in denen sich die Bewohner zu gemeinsamen Veranstaltungen treffen konnten. Hier wohnten nur wohlhabende Bürger, Regierungsmitglieder, die dem Imperator nahestanden, bewährte Offiziere mit ihren Familien; viele Adelige hatten hier Zweitwohnungen. Einige Appartements wurden von der Regierung für reisende Diplomaten freigehalten. Je höher man wohnte, desto angesehener war man. Ethan-Khor gehörte die halbe Etage im zehnten Stock. Er war um fast einen Kopf kleiner als Atlan, schlank, und seine Haut wies überall bronzefarbene Pigmente auf, die wie Sommersprossen aussahen. Er puderte sich, um die »Sommersprossen« zu überdecken, doch kamen sie immer wieder durch. Er ließ Atlan und Chapat während ihres kurzen Aufenthalts wissen, daß er von hohem Adel war und immerhin beim Imperator so angesehen, daß er im Kristallpalast nach Belieben ein und aus gehen konnte. »Dann würde Ihrem Stand eher eine
Das Treffen der Einsamen Dachterrasse entsprechen«, meinte Atlan nicht ohne Spott. »Wie wahr«, meinte Ethan-Khor seufzend. »Aber was tut man nicht alles für die Organisation.« »Damit sind wir beim Thema«, griff Atlan den Faden auf. »Sie wissen, warum wir hier sind.« »Ich bin unterrichtet worden. Es ist heller Wahnsinn, was Sie vorhaben. Aber bitte, es ist Ihr Leben, das Sie wegwerfen.« »Ihre Ratschläge sollten sich darauf beschränken, uns den Einbruch ins Archiv zu erleichtern«, sagte Chapat ungehalten. »Warnungen haben wir genug gehört. Es sieht fast so aus, als wollten Sie uns von unserem Vorhaben abhalten. Ist Ihre Organisation nicht an Informationen interessiert?« Ethan-Khor war eingeschnappt. Er wandte sich ab und ging zu einem Tresor inmitten seines Arbeitszimmers, der im Boden versenkt werden konnte. »Ich habe hier einen Plan der äußeren Anlagen des Archivs«, sagte er pikiert. »Hier sind alle Zugänge eingezeichnet. Sie werden von Kralasenen bewacht …« »Ist der Blinde Sofgart auf Arkon I?« fiel ihm Atlan ins Wort. Er konnte seine Neugierde einfach nicht länger zügeln. Ethan-Khor warf ihm einen zurechtweisenden Blick zu, ließ sich aber doch dazu herab, seine Frage zu beantworten. »Der Blinde Sofgart ist irgendwo in der Galaxis gerade auf Menschenjagd.« Jagte der Bluthund von Orbanaschol III. gerade ihn, den jungen Atlan? Ethan-Khor fuhr fort: »Außer den Kralasenen gibt es natürlich noch eine Reihe technischer Fallen, über die ich im einzelnen nicht Bescheid weiß. Aber ich habe hier ein Armband-Ortungsgerät, das auf die Frequenz der Warnanlage abgestimmt ist. Damit können Sie bei richtiger Handhabung die Fallen aufstöbern. Das trifft aber nur auf den Außenring zu. Was Sie im eigentlichen Archiv erwartet, kann ich Ihnen nicht verraten. Aber lassen Sie sich überraschen … Ach ja, ehe ich es vergesse, Ihr
21 Kontaktmann ersuchte mich, Ihnen auch Waffen zu beschaffen. Sie werden Ihnen heute abend an dieser Stelle übergeben, die auf dem Plan als Kreuz eingezeichnet ist. Jetzt muß ich Sie leider verabschieden. Ich habe gesellschaftliche Verpflichtungen.«
* Der »Hügel der Weisen« erhob sich vor ihnen als gewaltiges Massiv. Die Prachtstraßen zogen sich als flimmernde Lichterbänder zum höchsten Gipfel hinauf – zum Kristallpalast. Atlan und Chapat waren von Tabbos-Atrium quer durch die Parks, den frequentierten Wegen immer ausweichend, auf ihr Ziel losmarschiert. Warntafeln verkündeten, daß das Verlassen der gekennzeichneten Wege auf eigene Gefahr geschah. Das beunruhigte Chapat, doch Atlan behauptete, daß hier Gefahr nur durch die Patrouillen drohe, aber denen würden sie ja nicht gerade in die Arme laufen. Erst am Ende des öffentlichen Parks, am Fuß des »Hügels der Weisen«, wo das Gelände uneben wurde und der Boden immer felsiger, hatte Orbanaschol Fallen aufgestellt. Sie waren alle in dem Plan eingezeichnet, den Ethan-Khor ihnen ausgehändigt hatte. Nach vier Arkon-Stunden würde dieser sich selbst entzünden und zu Asche werden. Sie hatten nicht viel Zeit. »Wir sind gleich da«, raunte Atlan seinem Gefährten zu. »Dort ist die senkrechte Felswand, aus der in einer Höhe von zwanzig Metern zwei Kriechbäume ragen. Darunter soll unser Kontaktmann mit den Waffen auf uns warten. Von dort ist es kaum mehr zweihundert Meter zum Geheimarchiv.« Zehn Meter von der bezeichneten Stelle entfernt, machten sie Halt, um die Lage zu erkunden. Es konnte immerhin sein, daß Kralasenen bis hierher vorgedrungen waren. Chapat versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. »Ich sehe niemanden«, sagte er. »Es scheint gar niemand da zu sein.«
22 »Irrtum!« ertönte da eine Stimme hinter ihnen. Sie wirbelten herum. Dort waren fünf Soldaten der regulären Truppen aufgetaucht. Sie trugen entsicherte Strahlenkarabiner, nur ihr Anführer, der zwei Schritte abseits stand, hatte einen kleinen Blaster in der Hand. »Ich dachte schon, daß ihr nicht mehr kommen würdet«, sagte er. »Ethan-Khor, dieser Hund, hat uns verraten«, stieß Chapat wütend hervor. »Ach?« tat der Offizier erstaunt. »Von diesem verarmten Edelmann haben wir diesen Wink bekommen.« Als er dies sagte, hatte Atlan bereits den Paralysator in der Hand, von dem nicht einmal Kalhorm etwas gewußt hatte, denn sonstwäre auch Ethan-Khor darüber informiert gewesen. Chapat reagierte ebenfalls blitzschnell. Ehe die Soldaten begriffen, was überhaupt geschah, brachen sie zusammen. Als die Gelähmten am Boden lagen, bestrich Chapat sie noch zusätzlich mit einem breitgefächerten Paralysestrahl. »Jetzt müssen wir sehen, wie wir allein zurechtkommen«, meinte Atlan. »Aber wenigstens haben wir den Plan des Archivs und das Ortungsgerät.« Sie pirschten sich durch die Dunkelheit, bis sie zu einem Höhleneingang kamen. In einer Tiefe von zwanzig Metern wurde er von einem massiven Stahltor versperrt. »Das ist der Haupteingang«, stellte Atlan mit einem Blick auf den Plan fest. »Fünfzig Meter weiter ist das Kralasenentor. Dort findet in einer halben Stunde die Wachablösung statt. Vielleicht ist das unsere Chance.« Sie schlichen weiter, wichen zwei Fallen aus und hielten sich im toten Winkel der auf Gehirnströme jeder Art reagierenden Fernsehkameras. Atlan legte Chapat die Hand auf den Mund, als von ganz nahe ein Geräusch kam. Sie drückten sich noch tiefer in den Schatten der Felsen. Plötzlich teilten sich die Zweige eines Strauches. Ein Schatten trat heraus. In diesem Augenblick trat eine ferngesteuerte Strahlenkanone in Aktion. Atlan und Chapat
Ernst Vlcek sahen im Schein der Energieentladung für Sekundenbruchteile ein verschrecktes Tier, das an terranisches Rotwild erinnerte. Gleich darauf war es unter dem konzentrierten Strahlenbeschuß verglüht. Dann war wieder alles still. Nicht viel später hatten sie das Kralasenentor erreicht. Die Wachablösung fand gerade statt. Eine Abteilung von Kralasenen entfernte sich. Die Männer grölten, fluchten und machten auch auf andere Weise deutlich, daß sie von Disziplin nichts hielten. Eine andere Abteilung von Kralasenen verschwand durch das schmale Tor, das gerade so hoch war, um einen mittelgroßen Arkoniden aufrecht durchgehen zu lassen. Atlan formte beide Hände zu einem Trichter, hielt sie an den Mund und gab gackernde Laute von sich. Er erinnerte sich gerade, daß in den Gärten auf dem »Hügel der Weisen« eine Rebhuhnart gehalten wurde, deren Fleisch bei den Adeligen von Arkon als besonderer Leckerbissen galt. Normale Sterbliche kamen an diese Leckerbissen nicht heran. Atlan imitierte das Gackern dieser Tiere gekonnt. Und der Erfolg blieb nicht aus. Drei Kralasenen blieben außerhalb des Tores zurück, beratschlagten sich und kehrten um. Sie wollten sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, ihren Speisezettel zu bereichern. Atlan ließ sie bis auf wenige Schritte herankommen, dann sprang er gleichzeitig mit Chapat auf. Zwei der Kralasenen paralysierten sie. Den dritten, der viel zu verblüfft war, um an Gegenwehr zu denken, hielten sie in Schach. Dann schlüpften sie nacheinander in die Uniformen seiner paralysierten Kameraden. »Wir werden dich begleiten«, raunte Atlan dem Kralasenen zu und drückte ihm den Lauf des erbeuteten Strahlers in den Rücken. »Ein falscher Ton, und du bist erledigt.« Atlan verstaute den Strahler in der Jackentasche und folgte ihm durch das Tor in den Felsbunker. Hinter ihnen schloß sich das Tor, das von der tieferliegenden Kom-
Das Treffen der Einsamen mandozentrale aus ferngesteuert wurde. Atlan wußte, daß die Unterkünfte der Kralasenen links lagen. In dem geradeaus führenden Korridor würden sie keine zwanzig Schritte weit kommen, sondern im Atomfeuer von selbstzündenden Strahlern verglühen. Deshalb dirigierte er den Kralasenen nach rechts. Selbst wenn sie beobachtet wurden, fiel das nicht auf, denn die Kralasenen konnten sich im Außenring frei bewegen. Natürlich Atlan drängte auf eigen den Gefhr. Kralasenen hinter einer Biegung des Ganges in einen leeren Raum. Als er mit einem Blick auf das Armband-Ortungsgerät feststellte, daß es hier keinerlei technische Einrichtungen gab, schlug er den Kralasenen mit einem gezielten Handkantenschlag ins Genick nieder. »So, jetzt können wir uns freier bewegen«, sagte der Arkonide aufatmend. »Wie geht es weiter?« wollte Chapat wissen. »Es gibt nur einen Weg vom Außenring ins Zentrum, wo das Archiv ist«, sagte Atlan und illustrierte seine Worte, indem er mit dem Finger den zu gehenden Weg auf dem ausgebreiteten Plan abfuhr. »Nur ein einziger Korridor ins Zentrum weist keine Fallen auf und wird auch nicht überwacht. Den nehmen wir.« »Seltsam, daß man gerade in diesem Zugang keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat«, gab Chapat zu bedenken. »Nicht, wenn man sich in Orbanaschols Mentalität hineinversetzt«, erwiderte Atlan. »Er mißtraut allen, natürlich auch dem Blinden Sofgart und seinen Kralasenen. Deshalb wird er sich eine Möglichkeit vorbehalten haben, in sein Archiv zu gelangen, ohne daß ihm jemand nachschnüffeln kann.« Sie setzten ihren Weg fort, darauf bedacht, nicht in eine der tödlichen Fallen oder Energiesperren zu tappen. Der Plan leistete ihnen gute Dienste; Atlan entdeckte mit dem Ortungsgerät keine einzige Falle, die nicht auch eingezeichnet gewesen wäre. Zweimal wären sie jedoch beinahe patrouillierenden Kralasenen in die Arme ge-
23 laufen. Zum Glück fanden sie aber jedesmal einen Unterschlupf, so daß sie nicht entdeckt wurden. Endlich hatten sie dann den Korridor erreicht, der zum eigentlichen Archiv führte. Sie hatten in ihm bereits fünfzehn Meter zurückgelegt, als sich Atlan, einem unbestimmten Gefühl folgend, umdrehte. »Chapat!« entfuhr es ihm unwillkürlich, als er das Ungeheuer erblickte, das ihnen lautlos folgte. Chapat reagierte sofort und schoß. Doch das Scheusal absorbierte die auftreffende Energie mühelos und setzte seinen Weg unbeirrt fort. »Wir können dieses Ding nicht töten, Atlan!« rief Chapat entsetzt.
8. Sie rannten, was ihre Beine hergaben. Dennoch kam das Ungeheuer immer näher. Es war eine Raubkatze von drei Metern Länge und mit einem rötlich fluoreszierenden Fell. Der Schädel erinnerte Atlan an den eines Säbelzahntigers, die faustgroßen Augen funkelten mörderisch. Sie erreichten das Ende des Korridors. Chapat wollte sich nach rechts in einen Seitengang flüchten. Doch Atlan riß ihn am Arm auf die andere Seite herum. »Da – ein Schott!« rief er Chapat zu. Sie erreichten das Schott, warfen es hinter sich zu. Gerade als Atlan das Handrad herumdrehte, prallte das Ungeheuer mit voller Wucht gegen das stählerne Hindernis. Das Schott erbebte, aber es hielt. Atlan atmete auf. Chapat grinste. »Vor dem haben wir vorerst Ruhe«, meinte er. Atlan lauschte. Hinter dem Schott war es still geworden. Das hieß, bisher hatte das Ungeheuer noch nicht den geringsten Laut von sich gegeben, so daß aus der Stille nicht viel zu schließen war. Aber immerhin rannte es nicht wieder gegen das Schott an. »Suchen wir weiter«, meinte Atlan. »Das Archiv kann nicht mehr weit sein.«
24 Sie verließen den Raum durch einen schmalen Gang. Chapat ging voran. Als er das Ende des Ganges erreichte, prallte er zurück. »Verdammt!« stieß er hervor. »Da ist noch so ein Scheusal.« Atlan konnte einen Blick in den Seitengang machen und sah, daß von beiden Seiten riesige Raubkatzen auf sie zukamen, die mit ihren Körpermassen fast den gesamten Korridor ausfüllten. Er wirbelte herum, doch da sah er sich mit einem dritten Untier konfrontiert, das sich lauernd an sie heranpirschte. »Wie ist das möglich?« fragte Atlan. Sie hätten es zumindest hören müssen, wenn es dem Ungeheuer gelungen wäre, das Schott hinter ihnen zu durchbrechen. Abgesehen davon, wäre es selbst einem so kräftigen Lebewesen nicht möglich gewesen, ein Stahlschott einfach zu durchschlagen. Oder war es intelligent? Hatte es den Mechanismus bedient? Die Ungeheuer verursachten keinerlei Geräusche, während sie sich ihren Opfern näherten. Sie Stille war unheimlich. Atlan konnte nur Chapats und seinen Atem hören. Und dann war da noch das Fauchen einer Energiewaffe. Chapat hatte das Feuer auf eines der Ungeheuer eröffnet. Als er den Strahler aber für einen Moment absetzte, mußte er feststellen, daß er dem Untier nicht einmal eine Verletzung hatte zufügen können. »Diese Bestien sind unverwundbar!« Atlan warf einen Blick auf sein Ortungsgerät. Es schlug nach drei Seiten hin aus. Da erkannte er die Wahrheit. »Das sind keine Lebewesen aus Fleisch und Blut«, erklärte er Chapat, »sondern Energieerscheinungen.« »Bedeutet das, daß wir durch sie hindurchgehen können, als seien sie aus Luft?« wollte Chapat wissen. »Sollen sie uns nur durch ihren Anblick einschüchtern?« »Das wäre wohl zu billig«, erwiderte Atlan. »Ich glaube eher, daß sie so mit tödlicher Energie geladen sind, daß man schon durch die geringste Berührung zu schmoren
Ernst Vlcek beginnt. Und jeder unserer Strahlenschüsse lädt sie noch mehr auf.« »Dann sind wir verloren.« »Ich möchte dennoch einen Durchbruch versuchen«, sagte Atlan. Eines der Ungeheuer war nur noch fünf Meter von ihnen entfernt. »Wenn wir das Feuer aus unseren beiden Waffen auf eine der Bestien konzentrieren, könnten wir sie vielleicht zurückdrängen.« Sie beschlossen, das am weitesten entfernte Energieungeheuer im linken Gang unter Beschuß zu nehmen. Die Waffen im Anschlag, rannten sie der Erscheinung entgegen. Drei Meter davor drückten sie die Strahler ab. Sie mußten die Augen schließen, als die grellen Blitze durch den Korridor zuckten. Hitze schlug ihnen entgegen. Das Metall der Wände begann zu schmelzen. Als Atlan eine kurze Feuerpause einlegte, sah er, daß das Energieungeheuer über sieben Meter von ihnen entfernt war. Aber schon kam es wieder näher. »Es klappt, Chapat!« triumphierte Atlan. »Wir müssen nur nachsetzen.« Atlan spürte, wie ihm die Hitze der Wände gegen das Gesicht schlug, als sie vordrangen. Aber er verbiß den Schmerz, als seine Haut versengt wurde. Chapats falscher Bart und seine Perücke wurden von der Hitzestrahlung noch mehr in Mitleidenschaft gezogen. Aber er achtete nicht darauf. Hier stand ihr Leben auf dem Spiel. Sie hatten das Energieungeheuer bis in einem Raum zurückgedrängt, wo es an eine Wand zurückwich. Diesen Augenblick nutzten beide, um aus dem Korridor zu entkommen. Als sie in den Raum gelangten, in den aus verschiedenen Seiten ein halbes Dutzend Gänge wie jener mündeten, den sie gerade verlassen hatten, entdeckten sie ein doppelt mannshohes Schott, hinter dem eine Art Schaltraum zu liegen schien. Ohne lange zu überlegen, rannten sie darauf zu. Atlan schlug das Schott hinter ihnen zu, drehte das Handrad herum. Kurz darauf wurde das Schott erschüttert, als eines der
Das Treffen der Einsamen Ungeheuer aus geballter Energie dagegenrannte. Atlan hörte einen Aufschrei hinter sich. Er wirbelte herum, die Waffe schußbereit. Chapat stand breitbeinig da. Zu seinen Füßen lag eine gekrümmte Gestalt, deren Fingern gerade ein Strahler entglitt. »Ich konnte nicht anders, Atlan«, sagte Chapat entschuldigend. »Der Alte hätte mich getötet …« Atlan beugte sich über den Sterbenden. Er wirkte uralt. Sein Körper war kraftlos, sein Gesicht bar jeglichen Ausdrucks. Nur in seinen hellroten Augen loderte unbändiger Haß. »Bist du der Archivar?« fragte Atlan. Der Alte senkte die Lider wie als Bejahung der Frage. »Ich …«, kam es über seine Lippen. Er schloß die Augen, sammelte seine Kräfte und setzte noch einmal zum Sprechen an. »Ich habe«, begann er erneut, »vorgesorgt, daß ihr … nicht lebend von hier … entkommt. Die Ungeheuer werden so lange … das Archiv bewachen, bis … bis alle Energiereserven verbraucht sind. Und ihr … könnt … könnt nichts dagegen tun, denn ich habe … habe … Schaltanlagen … zerstört …« Der Alte war tot. Die Energieungeheuer rannten neuerlich gegen das Schott an. Atlan sah mit Entsetzen, daß sich durch die Wucht des Schlages eine Delle gebildet hatte. Irgendwann, daran zweifelte er nicht, würde es den Energieungeheuern gelingen, das Schott einzurennen. Ihnen standen alle Energien aus den Atommeilern dieser Station zur Verfügung. Das Deckenlicht begann zu flackern. Die Beleuchtung einiger Armaturen fiel zeitweise aus. Wieder krachte eines der energetischen Ungeheuer gegen das Schott. Eine zweite Ausbuchtung entstand. Und dann kam das Krachen auch aus anderen Richtungen. »Sie versuchen, von allen Seiten in das Archiv einzudringen«, sagte Chapat gehetzt. »Was können wir dagegen tun?«
25 »Zuerst muß ich mich mit den Schaltungen vertraut machen«, erklärte Atlan. Das war eine Lüge, denn er war mit der arkonidischen Technik so weit vertraut, daß ihm diese Schaltzentrale kaum Rätsel aufzulösen gab. Aber er wollte unter allen Umständen sein Vorhaben ausführen und sich zumindest die wichtigsten Informationen beschaffen. Das durfte er Chapat nicht sagen, denn der wäre damit bestimmt nicht einverstanden gewesen. »Es wird sich schon ein Ausweg finden«, behauptete Atlan.
* Atlan arbeitete fieberhaft. Er hatte gehofft, sich in Muße die Informationen aus den Speichern zu holen, die er für ihre Lagebestimmung benötigte. Darüber hinaus hatte er sogar damit spekuliert, Material aus Orbanaschols Archiv zu beschaffen, das er seinem jüngeren Ich zuspielen konnte, um diesem im Kampf gegen den Imperator zu helfen. Aber daraus wurde nun nichts mehr. Dennoch wollte sich Atlan nicht allein damit begnügen, das heutige Datum zu erfahren. Um das zu erreichen, hätte er sich nur an die Video-Auskunft von Arkon I zu wenden brauchen. Er wollte persönliche Daten über Orbanaschol haben und Daten über dessen dunkle Machenschaften, um daraus auf den Aufenthaltsort seines jüngeren Ichs schließen zu können. Diese Informationen würde ihm keine Auskunftei geben können, sie bekam er nur aus Orbanaschols Privatarchiv. »Los, Chapat, schalte alle Geräte ein, die dir unter die Hände kommen«, herrschte Atlan seinen Sohn an. Atlan sah Chapat wie einen Irren von einer Schaltkonsole zur anderen laufen. Bildschirme leuchteten auf, Instrumente zeigten irgendwelche Aktivitäten an. Chapat kümmerte sich nicht um die Funktionen, die er auslöste. »Ich habe es!« rief Atlan aus, als er auf
26 die persönlichen Aufzeichnungen Orbanaschols über die letzten Tage stieß. Das Datum beachtete er nicht, es war unmaßgeblich. Ihn interessierten nur Orbanaschols Kommentare zu den kosmischen Ereignissen dieser Tage. Und von diesen wiederum nur solche, die der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt waren. Vor drei Tagen hatte die arkonidische Flotte bei einem Gefecht mit den Maahks dreißig Kampfschiffe verloren. Atlan versuchte sich an ein solches Ereignis zu erinnern. Aber wahrscheinlich war diese Niederlage streng geheim gehalten worden, so daß er nichts davon erfahren hatte. Denn nicht einmal sein Logiksektor konnte ihm darüber Auskunft geben. Atlan rief die aktuellsten Informationen unter dem Stichwort »Kralasenen« ab. Aber darunter fand sich nichts Wissenswertes. Wahrscheinlich wußte Orbanaschol III. über das Wirken der Kralasenen weniger als manche seiner Vertrauensleute, denn der Blinde Sofgart gestattete dem Imperator keinen Einfluß auf seine Söldnertruppe. Atlan begann zu schwitzen. Gerade als er schon an Aufgabe dachte, huschte eine kurze Notiz über den Bildschirm des Lesegeräts. Der Blinde Sofgart kündigt die Entsendung eines Kuriers an. Er hat Atlan noch nicht stellen können, ist aber dem Zentralorgan des Quaddin-Körpers auf der Spur und somit dem Stein der Weisen einen Schritt nähergekommen … Ich bin trotzdem skeptisch … Das genügte Atlan. Er kannte jetzt fast den genauen Zeitpunkt, in dem er mit Chapat in der Vergangenheit herausgekommen war. Der Blinde Sofgart mußte unmittelbar vor der Auffindung des Quaddin-Körpers sein. Vielleicht war er sogar schon in dessen Besitz, denn die Archivaufzeichnung war drei Tage alt, und einige Tage waren sicherlich auch vergangen, bis die Nachricht Orbanaschol III. erreichte. Atlan fühlte sich von einer schweren Last befreit. Die Angst vor einem Zeitparadoxon
Ernst Vlcek schwebte nicht mehr wie ein Damoklesschwert über ihm. Er wußte, daß sein jüngeres Ich viele Lichtjahre von hier entfernt war. Dennoch durfte er nicht leichtsinnig werden. Er hätte ja schon vorher auf die Tatsache bauen können, daß er sich nicht an eine Begegnung mit sich selbst erinnerte, eine solchealso auch überhaupt nicht stattfinden konnte. Doch hatte die Zeit ihre Tücken, und man durfte sich nicht blindlings darauf verlassen, daß das, was man als Vergangenheit kannte, nicht korrigiert werden konnte. Er erinnerte sich an Chapats Worte, daß sie möglicherweise in eine andere Wahrscheinlichkeitsebene verschlagen worden waren. Verhielt es sich so, dann standen allen Zeitparadoxa Tür und Tor offen … Chapat rief ihn in die Gegenwart zurück – das heißt in die relative Gegenwart. »Ich habe alle erreichbaren Anlagen aktiviert«, rief Chapat verzweifelt. »Aber die Ungeheuer bekommen immer noch genügend Energien. Es kann sich nur um Minuten handeln, bis ein Schott durchbrochen ist.« Atlan begab sich zu der Schaltwand, von wo aus die Verteidigungsanlagen kontrolliert werden konnten. Dabei warf er einen kurzen Blick zum Schott. Es glühte unter dem Ansturm des energetischen Ungeheuers bereits tiefrot. »Was hast du vor?« fragte Chapat, als Atlan das Schema der Verteidigungsanlagen studierte und gleich darauf einige Tasten zu drücken begann. »Ich nehme die Ungeheuer unter Beschuß«, sagte Atlan knapp. »Das habe ich mir auch schon überlegt«, meinte Chapat. »Aber es hat keinen Sinn. Du kannst die Ungeheuer nicht eliminieren. Sie nehmen alle Energien in sich auf und werden dadurch nur unüberwindlicher.« Atlan ließ sich in seiner Tätigkeit nicht stören. Er registrierte es zufrieden, als die Verteidigungsanlagen rund um das Archiv zu feuern begannen. Auf den Monitoren waren die Energieentladungen zu sehen.
Das Treffen der Einsamen »Ich habe entdeckt, daß alle Anlagen – auch die Projektoren, die die Energieungeheuer speisen – von ein und derselben Energiequelle versorgt werden. Wenn diese Energiequelle wegen Überlastung zusammenbricht, dann haben auch die energetischen Ungeheuer zu existieren aufgehört.« »Daran habe ich nicht gedacht«, gestand Chapat. Atlan hatte sämtliche Strahlenwaffen aktiviert und auf die Energieungeheuer einjustiert. Am Anfang hatte das zur Folge, daß die Ungeheuer unglaubliche Energiemengen zugeführt bekamen, die in ihnen komprimiert wurden und sich mit elementarer Gewalt gegen die Schotte entluden. Diese verglühten förmlich, die Ungeheuer stürmten von allen Seiten in das Archiv. Doch schon zeigte sich eine Auswirkung von Atlans Taktik. Die energetischen Körper der Ungeheuer begannen zu flimmern, ihre Bewegungen wurden unkontrolliert. Die Verteidigungsanlagen feuerten pausenlos weiter. Der Zeiger des Energiemeßgerätes pendelte dem Nullpunkt entgegen. Die Energiereserven waren bald erschöpft. Die Beleuchtung begann zu flackern. Instrumente fielen aus. Das Feuer der automatischen Strahlenwaffen wurde schwächer, erlosch schließlich ganz. Es wurde dunkel im Archiv. Nur noch die energetischen Ungeheuer flimmerten schwach. Schließlich versiegten auch ihre Energien. Es gab keine einzige Lichtquelle mehr im Archiv. »Das wäre geschafft«, sagte Atlan aufatmend in die Dunkelheit. »Jetzt müssen wir machen, daß wir von hier Fortkommen, bevor der Energieausfall behoben ist.« Sie ertasteten sich ihren Weg durch die Dunkelheit. Es fiel ihnen nicht schwer, auf der gleichen Route, auf der sie hergekommen waren, wieder in den Außenring zurückzugelangen. Dort rannten die Kralasenen wie aufgescheuchte Ameisen durcheinander. Wahrscheinlich hatten sie einen totalen Energieausfall vorher noch nie erlebt. Atlan und Chapat mischten sich unter sie und gelang-
27 ten, da sie immer noch Kralasenenuniformen trugen und im Licht der Taschenlampen nicht erkannt wurden, ungehindert ins Freie. In einem günstigen Augenblick sonderten sie sich von den anderen ab und verschwanden im Dunkel der Nacht. Als sie in dem allgemein zugänglichen Teil des Parks waren, legten sie erst einmal eine Rast ein und wechselten ihre Kleider. »Was unternehmen wir als nächstes?« wollte Chapat wissen. »Unsere Möglichkeiten, etwas zu unternehmen, sind bescheiden«, meinte Atlan säuerlich. »Am besten, wir nehmen uns Ethan-Khor vor und befragen ihn eindringlich darüber, welches schändliche Spiel er mit uns getrieben hat.« »Das wäre mir ein Herzenswunsch!« Sie machten sich auf den Weg zum Tabbos-Atrium, jedoch nicht, ohne ihre Umgebung aufmerksam im Auge zu behalten. Obwohl sie darauf gefaßt waren, daß sich der Verräter Ethan-Khor nach Bekanntwerden ihrer Flucht gegen alle Eventualitäten abgesichert hatte, stolperten sie dennoch in die Falle. Sie konnten auch nicht ahnen, daß der gesamte Bezirk um den Trichterbau von regulären Armeetruppen abgeriegelt worden war. Bevor sie noch einen ihrer Gegner zu Gesicht bekommen hatten, wurden sie von einem Paralysestrahl aus dem Hinterhalt kampfunfähig gemacht. Dreihundert Meter davon entfernt, konnte ein in Angstschweiß gebadeter Ethan-Khor in seinem Apartment endlich aufatmen. Die WdZ hätte ihn kaltblütig eliminiert, wenn die beiden Fremden noch einmal entkommen wären.
9. So kannte das Große Imperium den mächtigen Imperator: Auf dem Kristallthron sitzend, in prunkvolle Gewänder gehüllt. Den Rücken leicht an der Lehne, aber den Kopf etwas nach vorne gebeugt. Eine angespannte Ruhestellung einnehmend: locker wirkend, dennoch
28 lauernd, ständig zum Sprung bereit, um sich auf seine Feinde zu stürzen, wenn es sein mußte; ein Beschützer seines Volkes und ein Eroberer. Der markante Kopf, von silbernem Haar umrahmt, war erhoben. Der Blick geradeaus gerichtet, in unbestimmte Fernen und doch alles in nächster Nähe sehend. Augen, in denen alles war, was Augen ausdrücken konnten. Die Linke hatte er entspannt auf der Armstütze liegen, die Finger mit kostbaren Ringen überladen. Die Rechte hielt das Zepter umspannt, das an seiner Spitze eine Kristallkugel trug. In dieser Kristallkugel flimmerte ein Miniaturabbild der Galaxis, die von einem gleichschenkeligen Dreieck umschlossen war. Die Eckpunkte des Dreiecks wurden von grün-blauen Kugeln gebildet: die drei Arkon-Welten. Dieses Bild von Orbanaschol III. ging in die ganze Galaxis hinaus. Es war seine liebste Pose, die er unbewußt auch dann einnahm, wenn er im Kreise seiner engsten Vertrauten konferierte. Aber vor seinen engsten Vertrauten nahm er kein Blatt vor den Mund. »Verdammt, bin ich denn nur von lauter Idioten umgeben!« herrschte er die Staatsmänner und Offiziere an, die seinen Thron katzbuckelnd umstanden. Es gab auch einige unter ihnen, die es aufgrund ihrer Leistung wagen konnten, gegen den Imperator aufzumucken, doch sie wußten, daß es keineswegs klug war, Orbanaschol III. in einer seiner Schimpftiraden zu unterbrechen. »Die arkonidische Flotte ist unschlagbar! höre ich meine Strategen dauernd sagen. Und dann erleidet sie gegen diese methanatmenden Barbaren, diese Tiere von Maahks, eine Niederlage nach der anderen. Wo sind die Zeiten, da ein Admiral Thetaran mit zwanzig Kampfschiffen einen Verband mit der fünffachem Anzahl von Schiffen der Methanatmer aufgerieben hat? Die Voraussetzungen waren damals die gleichen wie heute. Unser Kriegspotential wurde im Ver-
Ernst Vlcek hältnis zu dem der Methanatmer sogar noch verstärkt. Aber wahrscheinlich liegt es daran, daß es heute keinen Admiral Thetaran mehr gibt. Die arkonidische Flotte ist immer noch unschlagbar. Es muß also an den Flottenkommandanten liegen.« Orbanaschol III. machte eine Pause, um zu Atem zu kommen. Einer der Admirale wollte diese Gelegenheit nutzen, um die Militärs zu rechtfertigen. »Verzeihen Sie meinen Einwand, Imperator. Aber ich muß doch darauf hinweisen, daß die Gründe für die letzten unbedeutenden Niederlagen viel differenzierter sind, als Ihr sie darstellt. Das Große Imperium expandiert ständig. Grenzen, die heute noch Gültigkeit haben, sind morgen schon längst überholt. Der Kriegsapparat ist behäbiger, kann sich den ständig wechselnden Verhältnissen nicht so rasch anpassen …« »Sage ich doch, daß der arkonidische Kriegsapparat behäbig geworden ist!« donnerte der Imperator. »Das Große Imperium wächst ständig, doch es gewinnt nicht an Masse. Wenn das so weitergeht, wird unser Reich bald mit einer gigantischen Qualle zu vergleichen sein. Und irgendwann wird diese Qualle zusammenfallen, weil das Militär nicht in der Lage ist, ihr Lebenshilfe zu geben. Und das liegt einzig und allein an den Offizieren, denn unser Kriegspotential wächst mit dem Imperium, nur die Männer, die es handhaben, wachsen nicht mit. Solange nicht einmal die innere Sicherheit unseres Sternenreichs gewährleistet ist, solange nehme ich mir die Freiheit, zu sagen, daß ich von lauter Idioten umgeben bin. Und Sie gehören dazu, Admiral!« Nun glaubte der Innenminister, einen Einwand wagen zu dürfen. »Erlaubt mir, Imperator, dazu etwas zu sagen …« Orbanaschol III. grunzte zustimmend. Der Minister fuhr fort: »Die Statistik hat eindeutig bewiesen, daß die prozentuelle Sicherheitsquote den höchsten Stand seit Eurer Thronbesteigung er-
Das Treffen der Einsamen reicht hat …« »Und wie war es vorher, während der Regierungszeit meines Bruders?« fragte der Imperator schnell. Der Minister fühlte sich offenbar unbehaglich, während er sagte: »Leider fehlen mir darüber Angaben, so daß ich keine Vergleichsmöglichkeiten habe. Aber selbstverständlich könnte ich …« »Interessiert mich nicht«, sagte Orbanaschol III. schroff. »Ich weiß ohnehin, was dabei herauskommt. Es ist auch völlig belanglos, wie hoch die prozentuale Sicherheit im Imperium ist. Damit will man nur über die beängstigenden und bedrohlichen Vorgänge auf Arkon I hinwegtäuschen. Ich bin sicher, daß der Vorfall in Addin-Forum, in Prozenten ausgedrückt, von den Statistikern als völlig unbedeutend gewertet wird. Tatsache aber ist, daß uns damit eine bislang kaum in Erscheinung getretene Untergrundorganisation empfindlich geschadet, ja uns direkt lächerlich gemacht hat. Wie steht es nun, verehrter Minister? Haben Sie die WdZ zerschlagen?« Der Minister für innere Sicherheit fühlte sich noch unbehaglicher. »Noch nicht, Imperator. Wir … wurden getäuscht.« »Heraus mit der Sprache! Gestehen Sie Ihr Versagen in vollem Umfang ein.« Der Minister versuchte, die Niederlage zu retuschieren. Orbanaschol filterte bei sich jedoch folgende Tatsachen heraus: Die Wedezu hatten einen Wohntrichter in Addin-Forum überfallen, in dem gerade ein Treffen der Einsamen stattfand. Die Truppen wurden alarmiert, umstellten die Wohnsiedlung. Es kam zum Kampf mit den vermeintlichen Terroristen, die an Spiegelmasken zu erkennen waren. Sie wurden fast alle im Kampf getötet, die Überlebenden peinlichen Verhören unterzogen. Dabei stellte es sich heraus, daß es sich durchweg um harmlose Mitläufer handelte, oder überhaupt um Unschuldige, die unter Drogen standen und überhaupt nicht wissen konnten, worum es ging. Die Rädelsführer entkamen.
29 »Ich habe dazu nicht viel zu sagen, die Tatsachen sprechen für sich«, sagte Orbanaschol mit gefährlicher Ruhe. Dann donnerte er los: »Aber wenn diese Untergrundorganisation nicht binnen drei Tagen mit allen ihren Rädelsführern ausgehoben worden ist, dann werden Köpfe rollen, Herr Sicherheitsminister.« Niemand im Thronsaal zweifelte daran, daß der Imperator seine Drohung wahrmachen würde. »Nun zu einem anderen Punkt«, sagte Orbanaschol III. nach einer Weile. »Es geht dabei wiederum um die innere Sicherheit unseres Imperiums, die Sie mit Ihrem Leben garantieren, meine Herren. Erinnern Sie sich an diesen Schwur! Man führe den Kurier des Blinden Sofgart herein.«
* Der Auftritt des Kuriers war kurz. Er überbrachte dem Imperator eine Videospule und durfte dann wieder gehen. Orbanaschol III. wollte sich später noch mit ihm unter vier Augen unterhalten. Ein Videogerät wurde gebracht und das Band abgespielt. Der Absender war der Blinde Sofgart, Orbanaschols Bluthund. Er hatte das Band selbst besprochen und berichtete, daß er der Spur des Steins der Weisen mit großem Erfolg bis ins Schwarze System nachgegangen sei. Es gelang ihm, das Zentralorgan des Quaddin-Körpers noch vor Atlan zu finden. Nun glaubte er, mit Hilfe des Zentralorgans endgültig in den Besitz des Steins der Weisen zu kommen. Gleichzeitig damit werde er auch in der Lage sein, endlich seine Hauptaufgabe zu erledigen: nämlich Atlan, der Ansprüche auf den Thron von Arkon stellte, zu töten. Als der Projektionsschirm erlosch, gratulierten die Politiker und Offiziere dem Imperator zu diesem schönen Erfolg. Orbanaschol lächelte wissend auf seine Vertrauten hinab. »Lauter Intriganten«, sagte er und regi-
30 strierte es amüsiert, daß sich alle über diesen Ausspruch empört zeigten. »Ihr wißt alle ganz genau, daß es sich bei Sofgarts Bericht nicht um eine Erfolgsmeldung handelt. Daß er das Zentralorgan besitzt, bedeutet noch überhaupt nichts. Noch besitzt er nicht den Stein der Weisen. Und ihr freut euch darüber, daß es so ist, weil ihr einem anderen diesen Erfolg nicht gönnt. Das Wohl des Imperiums ist euch völlig egal. Jeder von euch denkt nur an seinen persönlichen Erfolg.« Die Männer protestierten, versicherten, daß sie an den Blinden Sofgart glaubten und im Interesse aller hofften, daß er den Stein der Weisen finden würde. Im nächsten Augenblick jedoch schon zeigten sie ihre wahre Einstellung zum Führer der gefürchteten Kralasenen. Sie machten zuerst nur schüchtern Bedenken geltend: Sofgart wäre viel erfolgreicher, wenn er mit der Flotte zusammenarbeiten würde. Doch er war es, der auf eigene Faust arbeitete, um den Ruhm nicht mit anderen teilen zu müssen. Als sie sahen, daß der Imperator ihren Ausführungen interessiert lauschte, wurden sie mutiger, kritisierten den Kralasenenführer offen, griffen ihn an. Mit den ihm zur Verfügung stehenden Machtmitteln hätte Sofgart schon längst Erfolg haben müssen. Nicht nur, was die Auffindung des Steins der Weisen betraf – er hätte auch schon längst den mit unzulänglichen Mitteln kämpfenden Atlan zur Strecke bringen müssen. Der Blinde Sofgart war ein Versager! Oder gar ein Verräter? Vielleicht braute sich in dieser Richtung etwas hinter dem Rücken des Imperators zusammen … Der Kurier könnte darüber vielleicht Auskunft geben. Er hatte sich wahrscheinlich lange Zeit in unmittelbarer Nähe Sofgarts aufgehalten. Freiwillig würde er natürlich nicht auspacken. Aber ein Verhör konnte Wunder bewirken. Orbanaschol III., von Natur aus allem und jedem gegenüber mißtrauisch, stimmte zu. Der Kurier wurde zu einer eingehenden Befragung in die Folterkammer gebracht.
Ernst Vlcek Aber das genügte seinen Vertrauten nicht. Sie haßten den Blinden Sofgart – und intrigierten weiter gegen ihn. »Sofgart hat viele Erfolge aufzuweisen, das sei unbestritten«, meinte einer heuchlerisch und fügte sofort ein »Aber« an: »Aber warum versagt er gerade immer dann, wenn es um diesen Atlan geht? Möglich, daß dieser Bursche ein überragendes strategisches Genie ist …« »Er ist ein erbärmlicher Wurm!« fiel der Imperator dem Sprecher ins Wort. »Er ist ein Emporkömmling! Ein Schwindler! Es ist mir unverständlich, daß es noch niemandem gelungen ist, mir seinen Kopf zu bringen. Ein ganzes Imperium gegen einen einzigen Mann! Und der eine bleibt immer wieder Sieger. Noch deutlicher kann die Unfähigkeit meiner Leute wohl nicht demonstriert werden.« »Darf ich berichtigen, Imperator«, bat der Kriegsminister. »Ihr selbst wart es, der den Blinden Sofgart beauftragte, Atlan zur Strecke zu bringen. Ihr gabt ihm alle Vollmachten, die der Kralasenenführer dahingehend anwandte, uns bei der Jagd auf diesen Renegaten auszuschalten. Sofgart allein trägt die Verantwortung.« Orbanaschol konnte nicht umhin, dem Minister recht zu geben. Und er sprach das aus, was ihm seine Berater in den Mund gelegt hatten: Wenn Atlan kein alles überragendes Genie war, dann war der Blinde Sofgart ein Versager! Er drückte diese Überlegung aber in anderen Worten aus. »Es wird langsam Zeit, daß Sofgart meinen Befehl ausführt und mir Atlans Kopf bringt. Atlan ist keine Gefahr für das Imperium, er ist nichts als eine winzige Stechmücke. Aber auch Stechmücken können unangenehm werden.« Bei sich dachte Orbanaschol, daß er wohl keine ruhige Minute haben würde, solange Atlan nicht zur Strecke gebracht war. Ob es sich nun um den echten Thronerben handelte oder nicht – Orbanaschol wollte seinen Kopf haben. Um jeden Preis. Denn je länger Atlan seine Mückenstiche austeilte, desto stärker
Das Treffen der Einsamen und giftiger wurden sie. Und wer wußte es schon, irgendwann würde er so stark sein, um seinen, Orbanaschols, Thron zum Wanken zu bringen. Dazu durfte es nicht kommen. Atlan mußte schnellstens ausgeschaltet werden. Obwohl der Blinde Sofgart bisher an dieser Aufgabe gescheitert war, kannte Orbanaschol keinen geeigneteren Mann dafür. Er würde ihm noch eine Frist gewähren. Bis dahin mußte Sofgart mit einem Erfolg aufwarten und ihm entweder den Stein der Weisen oder Atlans Kopf präsentieren.
10. Der Richter war schlechter Laune, weil er es heute wieder mit einem Dutzend Dutzendfälle zu tun bekommen würde. Er hatte die Hoffnung auf eine steile Karriere schon längst aufgegeben. Früher war er der Meinung gewesen, daß er es durch Eifer und Tüchtigkeit und Imperiumstreue zu etwas bringen konnte. Oberster Scharfrichter von Arkon, das wäre schon was gewesen! Doch bald mußte er einsehen, daß ihm eine Fähigkeit abging, die ein Garant für eine Karriere war: er konnte nicht intrigieren. Nachdem er eingesehen hatte, daß ihm diese wesentlichste Voraussetzung für ein hohes Staatsamt abging, fand er sich schnell damit ab, zeit seines Lebens Urteile im Schnellverfahren zu fällen. Manchmal wurde er als Untersuchungsrichter für diffizilere Fälle herangezogen. Aber das besserte seine Laune nicht. »Ihr Name?« »Ich heiße Amtos.« »Und Sie wohnen in Addin-Forum?« »Jawohl.« Der Delinquent stand aufrecht vor der Richterbank, hinter der neben dem Richter vier weitere Beamte saßen. Einer davon war einer von zwölf Komiteeführern, die als »Hüter der Ordnung, der Moral und guten Sitten« auf Arkon eingesetzt waren. Trotz dieser hochtrabenden Bezeichnung waren es gewöhnliche Spitzel, die die wohl schmut-
31 zigste Arbeit im Dienste Orbanaschols verrichteten. Perpeteon, so hieß der Komiteeführer, hatte den verdächtigen Amtos und dessen Freund Ecridian, der dem Untersuchungsrichter gleich darauf vorgeführt werden sollte, in der Nähe vom Tabbos-Atrium aufgegriffen. Perpeteon neigte sich zum Ohr des Richters und flüsterte ihm zu: »Amtos war während des Massakers der Wedezu in AddinForum.« Der Richter räusperte sich. »Amtos, gehören Sie zu jenen kontaktarmen Arkoniden, die sich von der Gesellschaft absondern und sich irgendwelchen obskuren Organisationen anschließen?« »Ich gehöre keiner Organisation an.« »Hm, ich meine natürlich Organisationen im weitesten Sinn. Zum Beispiel die Klubs der Einsamen.« »Ich zähle mich nicht zu den Einsamen. Ich bin alles andere als kontaktarm.« Der Richter blickte auf seine Unterlagen. »Wie lange haben Sie Ihre Wohnung in Addin-Forum nicht mehr verlassen?« Der Delinquent zögerte kurz. »Seit zwei Tagen nicht mehr.« »Gehen Sie oft außer Haus?« »Ja.« »Wie oft?« »Das ist schwer zu sagen.« »Gehen Sie wenigstens einmal am Tag fort? Oder gehen Sie am Tag mehrmals in dem Wohnbau, in dem Sie wohnen, ein und aus?« »Das ist unterschiedlich. Manchmal kommt das schon vor.« »In letzter Zeit auch?« »Jawohl.« »Wie kommt es dann, daß Sie in den letzten Tagen keiner der Hausbewohner gesehen hat?« »Das mag daran liegen, daß die anderen sich in ihren Unterkünften verkriechen …« »Wie kommt es, daß sich keiner der Bewohner an Ihr Gesicht erinnern kann? Alle Befragten behaupteten, Sie noch niemals ge-
32
Ernst Vlcek
sehen zu haben.« »Wenn ich nach den Mitbewohnern gefragt würde, würde ich auch niemanden von ihnen wiedererkennen.« »Vielleicht deshalb, weil Sie erst zugezogen sind?« »Ich bin schon viele Jahre in Addin-Forum gemeldet.« »Die Wohnung ist auf den Namen Amtos gemeldet. Aber ist das auch Ihr Name?« »Jawohl.« »Weisen Sie sich aus.« »Ich habe meine Papiere leider nicht bei mir. Aber …« Der Richter winkte ab. Er hatte vom Komiteeführer den Auftrag bekommen, den Delinquenten unter allen Umständen ordnungsgemäß in Untersuchungshaft zu nehmen. Dafür reichten die Indizien bereits aus. Er wollte die Verhandlung nicht unnötig in die Länge ziehen. »Das genügt«, sagte er. »Wir werden Sie in Untersuchungshaft nehmen, solange Ihre Identität nicht einwandfrei erwiesen ist. Den nächsten Fall, bitte.« Amtos, alias Atlan wurde abgeführt. Minuten später rollte die nächste Verhandlung nach dem gleichen Schema ab. Nur war diesmal der Delinquent Ecridian, alias Chapat. Auch er wurde in Untersuchungshaft genommen. Als die beiden von einer Eskorte abgeführt wurden, die aus Soldaten bestand, die dem Komiteeführer Perpeteon unterstanden, glaubten beide, noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Man hielt sie für harmlose Tagediebe, dachten sie, die man routinemäßig einsperrte, ohne ihnen irgendwelche politische Bedeutung beizumessen. Ihre Hoffnungen sanken jedoch jäh, als man sie in ein Verhörzimmer brachte.
* »So, jetzt reden wir einmal ein offenes Wort miteinander«, sagte Perpeteon, der sie schon erwartete.
Er sah zu, wie die beiden in Verhörstühle gesetzt und angeschnallt wurden. Er überprüfte den Sitz der Arm- und Fußschellen, nickte zufrieden und schickte seine Leute hinaus. »So, jetzt reden wir einmal offen miteinander«, sagte er wieder. »Sie wiederholen sich«, meinte Chapat spöttisch. Perpeteon, der an einem Schaltpult stand, drückte einen Hebel nieder. Chapat schrie auf, als seinen Körper elektrische Stöße durchrasten. »Ein Vorgeschmack dessen, was Sie unter Umständen erwartet«, sagte Perpeteon grinsend. »Glauben Sie nur nicht, mich könnten Sie so leicht hinters Licht führen wie den dämlichen Richter. Ich weiß, was gespielt wird. Was hatten Sie beim Tabbos-Atrium zu suchen.« »Wir waren zu Besuch«, antwortete Atlan, »bei einem guten Bekannten.« »Name?« »Ethan-Khor.« »Was wollten Sie von ihm?« »Es war ein Höflichkeitsbesuch.« »Worüber sprachen Sie miteinander?« »Über die Vorfälle in Addin-Forum. Über das schreckliche Blutbad, das die Wedezu dort angerichtet haben.« »Sie sagen das, als würden Sie das Vorgehen der Terroristen verdammen.« »Natürlich. Das muß wohl jeder loyale Arkonide.« »Ethan-Khor sprach aber anders über Sie. Er deutete sogar an, daß Sie bei dem Überfall zu den Spiegelträgern gehört haben könnten. Erst durch seinen Hinweis sind wir auf Sie gestoßen.« »Ethan-Khor soll uns verraten haben?« tat Atlan erstaunt. »Was für einen Grund sollte er haben …« Perpeteon setzte Atlans Stuhl unter Strom. Atlan tat ihm nicht den Gefallen, zu schreien. Er biß die Zähne zusammen und gab keinen Laut von sich. »Tapfer, tapfer«, sagte der Komiteeführer spöttisch. »Aber das war erst die erste Stufe.
Das Treffen der Einsamen Wenn Sie weiter so beharrlich lügen, dann werde ich nicht umhin kommen, die Stromstärke zu erhöhen. Einer meiner Leute hat Sie wiedererkannt, Amtos! Sie fielen einer Patrouille in die Hände. Das war in der Nähe des Hügels der Weisen, und Sie sagten sofort, daß nur Ethan-Khor Sie verraten haben könnte. Leugnen hilft Ihnen nichts.« »Ah«, rief da Chapat, der Atlan eine Verschnaufpause gönnen wollte. »Ihre Leute sind demnach schon aus der Paralyse aufgewacht.« »Was hatten Sie beim Hügel der Weisen zu suchen?« schoß Perpeteon seine nächste Frage ab, ohne auf Chapats Bemerkung einzugehen. Atlan und Chapat wechselten einen verwunderten Blick. War es möglich, daß Perpeteon noch nicht wußte, was in Orbanaschols Geheimarchiv vorgefallen war? Atlan konnte sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. Auf Arkon I wurden von Orbanaschol unzählige Geheimtruppen unterhalten, die alle miteinander wetteiferten, aber in dem Konkurrenzkampf um die Gunst des Imperators nicht daran dachten, zusammenzuarbeiten. Und so kam es öfters dazu, daß die eine Seite nicht wußte, was die andere tat. Ähnlich mußte es sich in diesem Fall verhalten. »Wir machten nur einen Spaziergang«, antwortete Chapat. Das trug ihm einige Stromstöße ein. Diesmal gab auch er keinen Laut von sich. »Ich werde Sie noch zum Reden bringen«, behauptete Perpeteon. »Dessen können Sie gewiß sein. Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, können Sie in den Genuß der Folter aller Grade kommen. Sie können aber auch mit mir zusammenarbeiten. Niemand braucht etwas davon zu erfahren. Warum, glauben Sie, habe ich meine Leute hinausgeschickt?« »Damit Sie Ihren sadistischen Neigungen ohne unliebsame Zeugen frönen können«, sagte Atlan. Perpeteon wollte aufbrausen, doch er faßte sich schnell wieder. »Ich gebe Ihnen die Möglichkeit, für mich
33 zu arbeiten, ohne daß Sie Ihre Funktion bei der WdZ aufgeben müssen«, sagte er verschwörerisch. »Sie meinen, als Doppelagenten?« »Sie würden dem Imperium einen großen Dienst erweisen«, fuhr Perpeteon fort: »Und es würde sich für Sie lohnen. Ich habe einen direkten Draht zum Imperator. In zwei Stunden bin ich zu einer Audienz geladen und könnte bei ihm für Sie ein gutes Wort einlegen.« »Und wenn wir gar nicht jene sind, für die Sie uns halten?« meinte Atlan. »Ich irre mich nicht«, sagte Perpeteon, »und schätze Sie richtig ein. Ich bin meiner Sache absolut sicher.« »Sie verlangen von uns nichts weiter, als daß wir Ihnen die gesamte Organisation der WdZ mitsamt ihren Führern ausliefern, wenn ich Sie recht verstehe.« »Richtig.« Atlan tat, als wolle er überlegen. Er fragte sich, warum Perpeteon sie mit Samthandschuhen anfaßte. Es mußte einen bestimmten Grund haben, warum er sich ihrer selbst annahm und dabei keine drastischen Maßnahmen anwandte. »Gewähren Sie uns eine Bedenkzeit?« fragte Atlan. »Aber ja!« rief Perpeteon großzügig. »Sie haben fünf Stunden Zeit. Wenn ich von der Audienz beim Imperator zurückkomme, möchte ich aber Ihre Entscheidung hören.« »Und Sie werden Stillschweigen über unseren Handel bewahren?« »Das werde ich schon im eigenen Interesse tun«, versicherte Perpeteon. »Meine eigenen Leute werden nichts davon erfahren. Sie glauben, daß es sich bei Ihnen um harmlose Mitläufer handelt. Und dabei soll es bleiben.« »Ich hoffe, Sie halten Wort«, sagte Atlan zufrieden.
* Der Komiteeführer ging und schickte die Wachtposten herein. Sie befreiten Atlan und
34 Chapat von den Folterstühlen und führten sie ab. Die beiden hatten den kurzen Augenblick, den sie allein waren, dazu benutzt, sich in Interkosmo zu beraten. Atlan hatte keine Lust, auf Perpeteons Rückkehr zu warten. Denn danach würde sich ihre Lage zweifellos verschlechtern. Er konnte dem Komiteeführer keine Informationen über die Wedezu beschaffen, weil er sie nicht besaß. Und obwohl Ethan-Khor sie verraten hatte, wollte er sich bei der Untergrundorganisation noch nicht auf gleiche Weise revanchieren. Die Soldaten führten sie durch einen Korridor. Es waren drei Mann, die ihre Strahler wie bei einer Parade geschultert hatten. Sie kamen zu einer Energiesperre, die die Verhörräume von der Abteilung mit den Verhandlungssälen trennte. Die Energiebarriere fiel zusammen, richtete sich hinter ihnen wieder auf. Chapat warf Atlan einen fragenden Blick zu: jetzt? Atlan schüttelte leicht den Kopf. Er wollte auf eine bessere Chance warten. Diese bot sich ihnen gleich darauf. Links von ihnen sah Atlan einen Gang, der in den Innenhof des Trichtergebäudes führte. Neben Einsatzfahrzeugen standen auch einige Privatgleiter herum. Einem dieser Gleiter entstieg gerade ein mit Orden behangener Offizier, sein Pilot öffnete ihm beflissen den Ausstieg. Atlan gab Chapat einen versteckten Wink. Einer ihrer Bewacher schien jedoch etwas bemerkt zu haben. Er wandte sich Atlan zu – da traf ihn dessen geballte Faust am Kinn. Als Atlan sich dem nächsten widmen wollte, sah er verblüfft, daß Chapat sie beide erledigt hatte. Er bückte sich gerade nach den Strahlern, warf Atlan einen zu. »Wie hast du die beiden so rasch erledigt?« wunderte sich Atlan, während sie dem Ausgang zuhasteten. »Kannst du zaubern?« »Vielleicht«, war alles, was Chapat dazu sagte. Zu mehr war auch keine Zeit. Denn der dekorierte Offizier hatte sie bemerkt und
Ernst Vlcek sofort erkannt, daß mit ihnen etwas nicht stimmte. Er rief seinem Piloten etwas zu, zückte seinen Strahler. Chapat hatte keine andere Wahl, als ihn zu erschießen. Atlan feuerte auf den Piloten, der hinter dem Gleiter in Deckung gehen wollte. Er erwischte ihn jedoch nur am Bein. Der Verwundete ging hinter dem Gleiter in Deckung. Atlan und Chapat hatten keine Gelegenheit mehr, sich um ihn zu kümmern. Denn in diesem Augenblick heulte eine Alarmsirene auf. »Schnell weg, bevor sie den Luftraum abriegeln!« rief Atlan und schwang sich ans Steuer. Chapat warf sich von der anderen Seite mit einem Hechtsprung in den Gleiter, gerade, als er steil vom Boden abhob. Atlan steuerte das Fluggefährt mit Höchstbeschleunigung fast senkrecht in den Himmel. Die Innenwände des Trichterbaues schossen an ihnen vorbei – und dann hatten sie den freien Luftraum erreicht. Als Atlan sich kurz darauf umdrehte, sah er, daß sich über das Gebäude ein glockenförmiger Energieschutzschirm spannte. »Das war knapp«, meinte Chapat erleichtert. »Aber wenn ich es mir recht überlege, weiß ich nicht, was ich mit meiner wiedergewonnenen Freiheit anfangen soll. Ich habe so das Gefühl, daß man uns von nun an keine ruhige Minute gönnen wird.« »Wenn es nötig ist, können wir uns immer noch in die aufgelassenen Rohrbahntunnel verkriechen«, tröstete Atlan ihn.
11. »Ich hoffe, Sie haben gute Nachrichten für mich, meine Herren«, sagte Orbanaschol III. zur Begrüßung der zwölf Komiteeführer, die gekommen waren, um ihren Imperator über den neuesten Stand ihrer Spitzeltätigkeit zu informieren. »An schlechten Neuigkeiten habe ich für heute genug gehört.« Perpeteon schluckte. Er wußte, daß er viel diplomatisches Geschick aufwenden mußte, wollte er nicht die Wut seines Souveräns zu spüren bekommen. Am besten war es, wenn
Das Treffen der Einsamen er sich erst gegen Schluß der Sitzung zu Wort meldete, weil Orbanaschol dann vielleicht durch die Erfolgsmeldungen der anderen gnädig gestimmt worden war. Aber auch die anderen Komiteeführer hatten keine Sensationsmeldungen anzubieten: Ein Dutzend harmloser Demonstranten waren verhaftet worden, die wegen des Versagens der Truppen bei dem Gemetzel im Addin-Forum protestierten – man sollte sie wieder laufen lassen, nachdem man sie zuerst unter Druck gesetzt und ihnen gehörig Angst eingejagt hatte; natürlich waren sie unter Beobachtung zu halten. Orbanaschol III. hörte sich die Berichte gelangweilt an. Es handelte sich zumeist um Fälle, mit denen man ihn zu anderen Zeiten gar nicht belästigt hätte. Die Komiteeführer hätten die Urteile selbst fällen können. Aber wahrscheinlich wollten sie ihm schmeicheln, indem sie seine Meinung einholten, erreichten aber nur, daß sich sein Unmut steigerte. Perpeteon merkte es mit wachsendem Unbehagen. Orbanaschol III. fällte an diesem Nachmittag nur fünf Todesurteile und sprach für drei Dutzend seiner Gegner die Verbannung aus. Es hatte Zeiten gegeben, da war das Verhältnis von Todesurteilen und Verbannung genau umgekehrt. »Nun, Perpeteon, was haben Sie mir zu melden?« fragte der Imperator. Der Komiteeführer schreckte hoch, als Orbanaschol ihn direkt ansprach. Nun war die Reihe an ihm. Perpeteon referierte zuerst über die allgemeine Lage in seinem Bezirk. Als er merkte, daß er Orbanaschol damit langweilte, tastete er sich vorsichtig an das brisante Thema heran. Er erzählte zuerst, daß er von einem anonymen Anrufer einen Hinweis auf zwei Verdächtige erhalten hatte, die sich in der Nähe des Hügels der Weisen herumtreiben. Natürlich ging er der Sache nach. Die beiden Verdächtigen wurden in der Nähe von Orbanaschols Geheimarchiv gestellt, konnten ih-
35 re Häscher jedoch überwältigen und flüchten. »Zwei Männer?« sinnierte Orbanaschol. »Und Sie haben sie laufenlassen, Perpeteon? Wußten Sie, daß das Archiv von zwei Männern überfallen wurde?« »Nein«, gestand Perpeteon überrascht. »Soviel ich weiß, wird das Archiv von Kralasenen bewacht – und die arbeiten nicht mit mir zusammen. Ich habe Euch schon unzählige Male auf die mangelnde Bereitschaft der Kralasenen zur Zusammenarbeit hingewiesen, mein Imperator, aber …« »Soll das heißen, daß Sie mich für Ihr Versagen verantwortlich machen wollen!« herrschte Orbanaschol den Komiteeführer an. »Das wäre wohl der Gipfel der Frechheit.« »Nein, keineswegs, Imperator«, beeilte sich Perpeteon zu sagen. »Ich wollte nur klarstellen, daß ich von dem Überfall auf Euer Geheimarchiv gerade erst erfahren habe. Hätten mich die Kralasenen informiert, wäre wohl alles ganz anders gekommen … Aber selbstverständlich habe ich die beiden Verdächtigen dann doch gestellt. Ich fand auch heraus, wer der anonyme Anrufer war. Es handelt sich um Ethan-Khor, einen verarmten Adeligen, der eine der untersten Etagen von Tabbos-Atrium bewohnt. Er besitzt zwar einen Passierschein, der es ihm ermöglicht, sich auf dem Hügel der Weisen aufzuhalten und sogar den Kristallpalast zu betreten, doch haben wir ein wachsames Auge auf ihn, weil er in dem Verdacht steht, für die Wegbereiter der Zukunft zu arbeiten. Er ist so harmlos wie diese gesamte Organisation, deshalb sah ich bisher noch keinen Grund, ihn zu verhaften.« »Hat diese harmlose Organisation nicht das Spektakel in Addin-Forum verursacht?« fragte Orbanaschol spöttisch. »Ja, das schon«, mußte Perpeteon zugeben. »Doch Addin-Forum liegt nicht in meinem Bezirk.« Bei diesen Worten warf er dem zuständigen Komiteeführer einen bezeichnenden Blick zu. Dann fuhr er fort: »Selbstverständlich wollten wir Ethan-Khor
36 sofort zur Rechenschaft ziehen. Doch der Vogel ist ausgeflogen. Ich kann Euch jedoch versichern, mein Imperator, daß wir ihn bald finden werden. Und dann Gnade ihm!« »Wollen Sie mich wirklich mit der Schilderung der Schurkereien eines jeden Halunken aus Ihrem Dienstbereich belästigen, Perpeteon«, sagte Orbanaschol grimmig. »Wenn Sie nichts Interessanteres zu berichten haben, dann halten Sie den Mund.« »Ich erwähne Ethan-Khor nur, weil zwischen ihm und den beiden Verdächtigen ein Zusammenhang besteht«, sagte Perpeteon schnell. »Wie schon gesagt, konnten wir der beiden habhaft werden. Sie nennen sich Amtos und Ecridian. Doch sind diese Namen offensichtlich falsch. Ich unterzog diese beiden einem vorsichtigen Verhör, das lediglich dem Zweck diente, ihre Identität zu erhellen. Vor allem dieser Amtos scheint mir von der Person her interessant.« »Halten Sie keine langen Reden, Perpeteon«, unterbrach ihn Orbanaschol. »Haben Sie herausgefunden, um wen es sich handelt?« »Nicht direkt«, meinte Perpeteon. »Aber ich habe von ihm Fotos gemacht. Wenn Ihr Euch eines ansehen wollt, Imperator, dann werdet auch Ihr erkennen, daß dieser Mann allein von der Erscheinung her interessant ist.« Orbanaschol III. war nicht davon überzeugt. Er nahm das Foto mürrisch entgegen. Ein einziger Blick darauf weckte jedoch sein Interesse. Zuerst war er erschrocken. Der Mann auf dem Bild sah seinem toten Bruder zum Verwechseln ähnlich. Im ersten Augenblick war er sicher, ein Bild von Gonozal VII. vor sich zu haben. Doch das war unmöglich, denn er, Orbanaschol III., hatte der Beisetzung seines Bruders persönlich beigewohnt. »Ist das Amtos?« fragte Orbanaschol gedankenverloren. »Ja, so nennt er sich«, antwortete Perpeteon. »Aber das kann nicht sein richtiger Name sein, wie Ihr mir sicher zustimmen werdet, mein Imperator.«
Ernst Vlcek Orbanaschol nickte. Während er weiterhin auf das Foto starrte, überlegte er fieberhaft. Konnte es sich bei diesem Mann, der Gonozal VII. so ähnlich sah, vielleicht um dessen Sohn Atlan handeln? Um den Kristallprinzen, der immer dreister und lästiger wurde? Nach reiflichem Überlegen kam Orbanaschol zu der Ansicht, daß es sich nicht um Atlan handeln konnte. Der Mann auf dem Foto war viel zu alt. Aber es konnte sich um einen unbekannten, bisher nicht in Erscheinung getretenen Verwandten handeln, der irgend etwas anzetteln will. Der Zeitpunkt seines Auftritts war jedenfalls günstig gewählt. Der Boden von Arkon war geradezu prädestiniert für Intrigen, und besonders rund um den Kristallpalast blühten sie – nein, wucherten sie in beängstigendem Maße. Plötzlich lächelte Orbanaschol. Er würde sich schnellstens dieses lieben Verwandten gebührend annehmen. Perpeteon hatte gute Arbeit geleistet und ein Sonderlob dafür verdient, daß er die Ähnlichkeit des Mannes mit derer aus dem Geschlecht der Gonozals sofort erkannt hatte. »Sie haben richtig gehandelt, indem Sie diesem Mann eine besondere Behandlung zuteil werden ließen, mein lieber Perpeteon«, lobte der Imperator. »Es könnte ganz leicht sein, daß er etwas Besonderes ist. Ihre Aufmerksamkeit soll belohnt werden. Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen.« Seltsam, dachte Orbanaschol, daß sich Perpeteon über die Belobigung gar nicht zu freuen schien. »Ich fürchte, ich verdiene Eure Anerkennung nicht, Imperator«, sagte der Komiteeführer unglücklich. »Warum denn auf einmal so bescheiden?« wollte Orbanaschol wissen. »Es ist nämlich so …« Perpeteon mußte sich räuspern, weil es ihm die Stimme versagte. »Den beiden Verhafteten ist, gleich nachdem ich mit ihnen gesprochen habe, die Flucht gelungen …« »Was?« Orbanaschols Gesicht überzog sich mit Zornesröte. »Sie haben diese beiden
Das Treffen der Einsamen Männer wieder laufenlassen?« »Ich wollte mich gerade auf den Weg zum Kristallpalast machen, als mir die Flucht der beiden gemeldet wurde«, versuchte Perpeteon zu erklären. Doch Orbanaschol hörte ihm nicht mehr zu. »Wachen!« schrie er. »Packt diesen Versager und bringt ihn zum Scharfrichter.« Orbanaschol verzog angewidert das Gesicht, als Perpeteon ihm zu Füßen fiel und um Gnade winselte. Er war froh, als die Wachen ihn aus dem Thronsaal gezerrt hatten. Als er mit den anderen elf Komiteeführern allein war, hob er das Foto hoch, so daß alle es sehen konnten. »Findet diesen Mann!« verlangte er. »Ich muß ihn unter allen Umständen haben, koste es, was es wolle. Sein Bild soll über alle Fernsehstationen ausgestrahlt werden, es soll von allen Plakatwänden leuchten. Jeder Arkonide muß ihn sofort erkennen, wenn er ihm begegnet. Ein Kopfgeld wird den Anreiz, ihn zu fangen, noch zusätzlich erhöhen. Bringt mir diesen Mann – und zwar lebend. Ich muß herausfinden, wer er ist und welche Pläne er hat.«
12. Kleiden Sie Ihre Seele! Die Leuchtschrift über dem Geschäftsportal explodierte, aus den Lichtkaskaden formte sich ein neuer Slogan. Sie sind nackt, solange Sie Ihr Gesicht nicht bedecken! In Ihrem Gesicht spiegelt sich die Seele. Die Worte zerrannen, und die Lichter formten sich zu einer neuen Überschrift mit anderem Sinn. Geben Sie ihrer Seele keine Blöße. Verändern Sie Ihr Gesicht! Die Hintertür des Salons öffnete sich, und zwei Männer traten ein. Der Maskenbildner schenkte ihnen sofort seine Aufmerksamkeit. Sein taxierender Blick stellte fest, daß der eine von ihnen keine potentielle Kundschaft
37 war. Er brauchte seine Seele nicht mehr einzukleiden, denn er trug einen wallenden Vollbart. Der andere jedoch … »Aber, meine Herren«, begrüßte sie der Maskenbildner mit leichtem Tadel. »Warum kommen Sie durch den Hintereingang. Es ist ungewöhnlich, daß …« »Sie müssen mich verstehen«, sagte einer der beiden Männer, jener, der keinen Bart trug. »Die Menschenmassen vor Ihrem Salon flößen mir Furcht ein. Ich ertrage ihre durchdringenden Blicke nicht, habe ständig das Gefühl, daß sie aus meinem Gesicht meine geheimsten Gefühle lesen können. Darum kam ich durch den Hintereingang. Meister, geben Sie mir ein neues Gesicht, ein schönes Kleid für meine Seele.« »Ich habe vollstes Verständnis für Sie«, sagte der Maskenbildner mitfühlend. »Wenn Sie mir bitte in die Kabine folgen wollen, damit ich Ihnen meine Physiognomie-Kollektion zeigen kann.« Er ging voran in eine der Nischen. Die beiden Männer folgten ihm. Der Maskenbildner schaltete einen Fernsehapparat ein und wählte einen Kanal, auf dem gerade eine Sendung lief, in der Sonderlingen Lebenshilfe gegeben wurde. Solcherart Berieselung wirkte Wunder auf die komplexbeladene Kundschaft. Der Maskenbildner wollte gerade das Projektionsgerät mit den Dias über seine Kollektion an verschiedenen Gesichtsmasken hervorholen, als die Fernsehsendung unterbrochen wurde. »Dieser Mann wird gesucht!« sagte eine kräftige Männerstimme. Und dann wurde das Foto eines Arkoniden gezeigt. Der Maskenbildner blickte vom Bildschirm zu seinem Kunden. Seine Augen wurden vor Überraschung groß, und er stammelte verblüfft: »Aber … das sind doch Sie!« »Stimmt genau«, erwiderte Atlan. Und Chapat hielt plötzlich seinen Lähmstrahler in der Hand und paralysierte den Seelenverkleider, bevor dieser seine erste Überraschung abgelegt hatte.
38 »Sorge dafür, daß ich nicht gestört werde, Chapat«, bat Atlan seinen Gefährten und nahm am Schminktisch Platz. Chapat verließ die Kabine und sperrte beide Eingänge des Maskenbildnersalons ab. Nach einer Viertelstunde trat Atlan aus der Schminkkabine. Er war ein anderer. Seine Stirn war breiter und fliehend, buschige Augenbrauen und stark hervortretende Backenknochen ließen die Augen fast verschwinden. Sein breiter, etwas schiefer Mund war mit wulstigen Lippen ausgestattet, das breite Kinn wies eine senkrechte Kerbe auf. »So würde dich nicht einmal Ischtar wiedererkennen«, scherzte Chapat, zeigte dabei jedoch nicht einmal die Spur eines Lächelns. Chapat machte in letzter Zeit immer wieder solche und ähnliche Anspielungen, so daß Atlan das Gefühl hatte, daß er ihn aushorchen wollte. Doch Atlan war nicht bereit, sich die Würmer aus der Nase ziehen zu lassen, ohne von Chapat Informationen zu erhalten. Erst wenn Chapat sein Schweigen brach, wollte auch er sprechen. »Hoffentlich durchschauen auch Orbanaschols Schergen nicht meine Maskerade«, erwiderte Atlan. Sie wandten sich dem Ausgang zu. Gerade als Chapat aufschloß, näherten sich dem Geschäft zwei Uniformierte. »Es war zu erwarten, daß man alle Maskenbildnersalons besonders unter die Lupe nehmen wird«, meinte Atlan. »Aber warum konnte sich das nicht um einige Minuten verzögern.« »Am besten, wir trennen uns und tun so, als ob wir nicht zusammengehörten«, schlug Chapat vor. »Treffen wir uns an der Rohrbahnstation Helsgeth-Süd.« Atlan nickte kaum merklich und wandte sich nach links. Chapat, ein alter Mann mit einem dichten Vollbart, ging nach rechts. »He, ihr beiden!« Weder Atlan noch Chapat kümmerten sich um die beiden Uniformierten. Die schienen einen Augenblick lang unschlüssig, dann hefteten sie sich an Chapats Fersen.
Ernst Vlcek Atlan merkte es aus den Augenwinkeln. Als ihm die beiden Uniformierten den Rücken zukehrten, drehte er sich in ihre Richtung. Er zückte den Paralysator und verbarg ihn unter seinem Umhang. Die beiden Uniformierten hatten Chapat eingeholt. Sie sprachen ihn an, Chapat antwortete. Als er über ihre Schultern blickte und sah, wie Atlan mit dem Lähmstrahler Ziel nahm, sprang er zur Seite. Atlan drückte ab. Die beiden Uniformierten zuckten unter dem unsichtbaren Paralysestrahl zusammen. Die Leute wichen schreiend zurück. Von Chapat fehlte bereits jede Spur. Atlan tauchte ebenfalls in der Menge unter. Als er die Rolltreppe zur subplanetaren Anlage der Rohrbahnstation hinunterfuhr, ertönte aus den Lautsprechern eine befehlsgewohnte Stimme. »Achtung! Achtung! Im Gebiet der Rohrbahnstation Helsgeth befinden sich zwei Kriminelle. Sie haben zwei Beamte der Exekutive niedergeschossen und schrecken sicherlich nicht davor zurück, abermals Gebrauch von ihren Waffen zu machen. Die Passagiere werden ersucht, Ruhe zu bewahren und sich auf Verlangen der Beamten auszuweisen. Es ist die Pflicht eines jeden, verdächtige Personen sofort zur Anzeige zu bringen. Es besteht kein Grund zur Panik. Wir haben das Gebiet umstellt. Die beiden Verbrecher können uns nicht entkommen.« Trotz der Aufforderung, die Ruhe zu bewahren, brach in den subplanetaren Anlagen ein Tumult los. Atlan behielt in der Tasche seines Umhangs die Hand am Drücker des Paralysators, während er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Er erblickte Chapat in der Station und gesellte sich zu ihm, ohne zu zeigen, daß sie sich kannten. Überall tauchten jetzt Soldaten auf und sicherten die Ausgänge ab. »Sollen wir es überhaupt riskieren, die Rohrbahn zu benützen?« fragte Chapat leise. »Die Züge werden bestimmt scharf kontrolliert.« »Hier werden wir früher oder später auf
Das Treffen der Einsamen jeden Fall entdeckt«, erwiderte Atlan ebenso verhalten. »Wir müssen weg von hier.« Eine Rohrbahngarnitur fuhr in die Station ein. Ohne die Geschwindigkeit merklich zu drosseln, donnerte der Zug durch die Station. Ein Gemurre erhob sich unter den Wartenden. »Jetzt sitzen wir fest«, sagte Chapat niedergeschlagen. »Sie lassen die Züge einfach durchfahren.«
* Atlan holte den Plan über das Rohrbahnnetz hervor, in dem die aufgelassenen Tunnel eingezeichnet waren. Er war ihm von Perpeteon nicht abgenommen worden. Atlan konnte sich aber denken, daß der Komiteeführer eine Kopie davon angefertigt hatte. Doch das störte ihn nicht sonderlich. Sie befanden sich in einer Zwangslage, und die stillgelegten Rohrbahntunnels waren ihre einzige Chance, ihren Verfolgern doch noch entkommen zu können. »Es gibt einen aufgelassenen Tunnel, der parallel zu diesem verläuft«, erklärte Atlan, nachdem er den Plan studiert hatte. »Er ist nur fünfhundert Meter von hier entfernt.« Der nächste Zug fuhr durch die Station. Atlan und Chapat blickten zur Anzeige. Der nächste Zug würde in sechs Minuten die Station passieren. »Wir können es schaffen«, erklärte Chapat und schwang sich auch schon über die Barriere auf den Bahnkörper. Atlan folgte ihm. Ein Raunen ging durch die Menge. Die Leute schrien durcheinander. »Da sind die Verbrecher!« »Sie laufen in den Tunnel!« Soldaten tauchten auf. »Halt! Stehenbleiben, oder wir schießen!« Atlan und Chapat feuerten die Paralysatoren, die sie in dem gestohlenen Gleiter gefunden hatten, blindlings in die Menge ab. Sie besaßen auch Strahlenwaffen, doch wollten sie diese nicht einsetzen, um keine Unschuldigen zu gefährden.
39 Bevor die Soldaten das Feuer erwidern konnten, waren Atlan und Chapat im Tunnel verschwunden. Als sie darin eine Strecke von etwa hundert Metern zurückgelegt hatten, tauchten hinter ihnen die ersten Soldaten auf. Zuerst schienen sie die Verfolgung aufnehmen zu wollen. Doch dann kehrten sie nach einigen Metern wieder um. »Die haben Angst, vom nächsten Zug zermalmt zu werden«, meinte Chapat mit boshaftem Lachen. »Das gibt uns einen Vorsprung«, sagte Atlan zufrieden. Sie liefen unbeirrt weiter. Als sie sich nach einer Weile umdrehten, sahen sie, daß das Signal auf rot geschaltet worden war. Jetzt wagten es die Soldaten, die Verfolgung aufzunehmen. »Haben wir noch keine fünfhundert Meter zurückgelegt?« fragte Chapat keuchend. »Mir kommt es vor, als seien es schon viel mehr.« »Ich verlasse mich lieber auf meinen Extrasinn«, erwiderte Atlan. »Und der meint, daß wir noch nicht am Ziel sind. Aber wir haben es gleich geschafft.« Ein Scheinwerfer blitzte hinter ihnen auf, hüllte sie für Sekunden in blendendes Licht. Atlan hatte seinen Paralysator mit dem Strahler vertauscht. Er blieb stehen, nahm kurz Ziel und drückte dann ab. Ein gebündelter Energiestrahl geisterte für Sekundenbruchteile durch den Tunnel auf die Soldaten zu – und fand sein Ziel: Der Scheinwerfer explodierte. Die Soldaten erwiderten das Feuer nicht, offenbar um die Rohrbahnanlagen nicht zu beschädigen. »Ich glaube, wir haben es geschafft«, sagte Atlan keuchend und blieb stehen. Weit hinter ihnen ertönte das Zugsignal. Die Rohrbahngarnitur tauchte auf – und kam in der Station zum Stillstand. Soldaten kletterten auf die Fanggitter am Bug, und der Zug setzte sich wieder langsam in Bewegung. Die im Dreieck angeordneten Scheinwerfer wurden eingeschaltet. Sie leuchteten aber
40 nicht lange. Diesmal war es Chapat, der sie mit einem Energiestrahl zum Schmelzen brachte. Dabei verwundete er auch zwei Soldaten, die den Halt verloren und in die Druckluftkissen unter dem Rohrbahnzug gerieten. Ihre Todesschreie gellten gespenstisch durch den Tunnel. Atlan bestrich inzwischen die eine Wand mit einem konzentrierten Energiestrahl. Die Kunststoffverschalung schmolz, darunter kam Eisenbeton zum Vorschein. Atlan schmolz auch durch diesen ein Loch. »Geschafft!« stellte er schließlich zufrieden fest, als er die Betonwand durchstoßen hatte. »Jetzt brauchen wir die Öffnung nur noch zu vergrößern, dann sind wir gerettet.« Inzwischen war der Zug bis auf zweihundert Meter herangekommen. Die Soldaten forderten sie über Megaphon zur Aufgabe auf. Atlan schwitzte. Er hatte mit dem Strahler ein Loch in die Wand gebrannt, das groß genug war, um sie durchzulassen. Sie mußten aber warten, bis der so geschaffene Durchschlupf sich abkühlte. Der Zug mit den Soldaten glitt unaufhaltsam näher. »Verdammt, wir können nicht länger warten«, schimpfte Chapat, riß sich seinen Umhang von der Schulter und warf ihn über den Rand des ausglühenden Betons. Sofort breitete sich ein Geruch nach versengter Kunstfaser aus. Chapat wartete nicht länger, stützte sich kurz auf den mit seinem Umhang umwickelten Rand der Öffnung und schwang sich hindurch. Atlan folgte ihm mit einem Hechtsprung und landete auf ihm. Sie rappelten sich auf und drangen in den in völliger Dunkelheit liegenden Tunnel ein. »Halte du dich rechts, Chapat«, forderte Atlan den Kameraden auf. »Ich suche die linke Wand ab. Falls wir auf eine Abzweigung stoßen, benützen wir sie.« »Wohin führt der Tunnel?« wollte Chapat wissen. »Er verläuft etwa zwei Kilometer geradeaus, bevor er von einem befahrenen Tunnel
Ernst Vlcek gekreuzt wird«, antwortete Atlan. »Ich habe aber auf dem Plan gesehen, daß es auf dieser Strecke gut ein halbes Dutzend Schächte und Querverbindungen gibt, von denen manche in die Kanalisation führen. Dorthin möchte ich.« Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Auch von ihren Verfolgern war noch nichts zu hören. Wahrscheinlich hatten sie das Loch noch nicht entdeckt. Möglicherweise waren sie mit dem Zug sogar daran vorbeigefahren. »Da ist eine Tür!« rief Chapat plötzlich. »Aber sie ist versperrt. Soll ist das Schloß zerstrahlen?« »Was für eine Frage!« Chapats Waffe blitzte auf. Ein Geräusch wie das Quietschen einer sich öffnenden Tür folgte. Atlan kam zu Chapat herüber, der sich durch den dahinterliegenden Raum tastete. »Es scheint sich um eine Art Gerätekammer zu handeln«, meinte Chapat. »Falsch geraten!« sagte eine fremde Stimme. Ein Lichtstrahl blitzte auf und blendete beide. »Dies war einmal eine Gerätekammer. Jetzt befindet sich hier ein Geheimgang zu einem der Verstecke der WdZ.« »Haben Sie uns denn erwartet?« fragte Atlan und hob die Hand vor die Augen. Der Unbekannte kicherte und senkte denLichtstrahl, um Atlan und Chapat nicht zu blenden. »Als die Truppen den gesamten Komplex von Helsgeth hermetisch abriegelten, zogen wir sofort unsere Schlüsse«, ertönte es aus der Dunkelheit. »Ethan-Khor – er mußte übrigens wie Sie in der Versenkung verschwinden – schickte uns aus, um in diesem Tunnellabyrinth nach Ihnen zu suchen. Er freut sich auf ein Wiedersehen mit Ihnen.« »Ich kann nicht sagen, daß dies auf Gegenseitigkeit beruht«, sagte Atlan und sprang blitzschnell nach vorne. Seine Hände bekamen einen Stoff zu fassen. Er schlug blind zu. Ein Stöhnen zeigte ihm an, daß er gut gezielt hatte. Die Taschenlampe fiel polternd zu Boden. Gleich
Das Treffen der Einsamen darauf folgte ein schlaffer Körper. Atlan nahm die Taschenlampe an sich und beleuchtete das Gesicht des Bewußtlosen. Er hatte es vorher noch nie gesehen. »Warum hast du ihn niedergeschlagen?« erkundigte sich Chapat. »Unsere Lage ist nicht so rosig, daß wir die Hilfe der WdZ ausschlagen können. Ethan-Khor hätte uns sicherlich geholfen.« »Wer weiß«, meint Atlan. »Er hat uns schon einmal verraten. Wenn ich mich an ihn wende, dann aus eigener Initiative. Keineswegs möchte ich mich von ihm oder sonst einem Wedezu herumschubsen lassen. Vielleicht möchte sich Ethan-Khor nur die Belohnung verdienen, die Orbanaschol auf uns ausgesetzt hat.« Atlan leuchtete den Raum mit der Taschenlampe aus. Er maß nur zwei mal drei Meter. Im Hintergrund gab es jedoch eine siebzig Zentimeter hohe und fast ebenso breite Öffnung. Atlan leuchtete in sie hinein. Dahinter verlief ein horizontaler Schacht, der so niedrig war, daß man sich darin nur auf allen vieren fortbewegen konnte. Nach zehn Metern mündete er in einen senkrechten Schacht. »Mal sehen, wohin der Weg führt«, meinte Atlan und kroch in den Schacht hinein. »Was machen wir mit dem Bewußtlosen?« rief Chapat ihm nach. »Sollen wir ihn nicht mitnehmen? Wir könnten ihn aushorchen und so vielleicht einige interessante Informationen erhalten.« »Laß ihn liegen«, riet Atlan. »Er würde uns nur in Versuchung führen. Solange wir aus eigener Kraft weiterkommen, möchte ich mit der WdZ nichts zu schaffen haben.«
13. Sie pirschten sich vorsichtig an die Lichtquelle heran, die Waffen schußbereit. Doch dann erkannten sie, daß alle ihre Vorsichtsmaßnahmen überflüssig gewesen waren. Der Raum war leer. »Die Vögel sind ausgeflogen«, stellte Atlan fest und steckte den Paralysator zurück
41 in den Gürtel. Der Raum war asymmetrisch. Die Grundform war ein spitzwinkeliges Dreieck, aber es gab überall Vorsprünge und Wandnischen. In letztere waren Schränke und Regale eingebaut, die Reste von technischer Ausrüstung enthielten. Offenbar waren die Geräte in aller Eile ausgebaut und abtransportiert worden. Man hatte nur die wichtigsten Dinge mitgenommen. Atlan und Chapat durchsuchten den Raum. »Das muß der Unterschlupf der Wedezu gewesen sein«, meinte Chapat. »Aber die Kerle haben nichts Brauchbares zurückgelassen. Und schon gar nichts zum Beißen. Nicht einmal eine einzige Konservendose ist zu finden. Dabei habe ich ganz ordentliches Magenknurren.« »Wir werden schon etwas zu Essen beschaffen«, tröstete ihn Atlan. »Warum mögen die Wedezu den Stützpunkt so überstürzt geräumt haben?« fragte Chapat wie zu sich selbst. »Der Boden wird ihnen zu heiß geworden sein.« »Dann sollten wir auch besser verschwinden.« »Ich glaube, wir haben uns eine kurze Rast verdient.« Atlan ließ sich auf eine leere Kiste sinken. »In der Kanalisation sind wir immer noch am sichersten. Auf der Oberfläche läuft die Fahndung nach uns auf vollen Touren. Die auf uns ausgesetzte Kopfprämie wird die Bevölkerung dazu animieren, sich tatkräftig an der Jagd zu beteiligen. Selbst wenn man uns nicht sofort erkennt, wären wir auf der Oberfläche ständig in Gefahr. Die Jagd auf uns ist so weit gediehen, daß jeder Fremde darauf gefaßt sein muß, denunziert zu werden.« Chapat erwiderte darauf nichts. Eine Weile brüteten sie schweigend vor sich hin. Dann sagte Chapat: »Ich frage mich, was gerade mit unseren in der Gegenwart zurückgebliebenen Körpern passiert.« »Sie sind immer noch in den Traumma-
42 schinen«, sagte Atlan überzeugt. »Andernfalls würde unser Gastspiel in der Vergangenheit schon beendet sein.« »Ich könnte mir nichts schöneres wünschen«, sagte Chapat inbrünstig. »Die ständige Ungewißheit über unser Schicksal macht mich noch verrückt. Bei jedem Schritt, den ich tue, muß ich mich fragen, was er mir bringt. Können wir nun hier den Tod finden? Ich meine, ist unsere Existenz auch in unserer Gegenwart in Frage gestellt, wenn wir hier sterben? Das möchte ich zu gerne wissen.« »Du kannst es leicht herausfinden, indem du dich töten läßt«, schlug Atlan vor. »Ich für meinen Teil möchte es nicht so genau wissen.« »Du tust ja gerade so, als würde dir die Ungewißheit überhaupt nichts ausmachen«, sagte Chapat ärgerlich. »Ganz so ist es wiederum nicht«, erwiderte Atlan mit einem schwachen Lächeln. »Ich habe mich nur von Anfang an darauf eingestellt, daß ich diesen meinen Traumkörper nicht sterben lassen darf, wenn ich in der Gegenwart weiterleben will. Überleben ist alles. Hast du denn keinen Selbsterhaltungstrieb, Chapat?« »Das habe ich mich manchmal selbst schon gefragt«, antwortete Chapat zu Atlans Überraschung. »In mir herrscht manchmal ein furchtbarer Widerstreit von Gefühlen. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken an Selbstvernichtung, dann wieder ist der Wunsch in mir übermächtig, meinen Weg bis zum Ende weiterzugehen.« Chapat verstummte plötzlich, als hätte er sich dabei ertappt, wie er zuviel über sich ausplauderte. »Welches Ziel verfolgst du denn eigentlich, Chapat?« fragte Atlan trotzdem geradeheraus. »Habe ich denn ein Ziel?« fragte Chapat und starrte ins Leere. »Du müßtest es wissen.« »Ich weiß so wenig …« »Auch nicht, woher du kommst?« Atlan wartete eine geraume Weile. Als er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: »Du
Ernst Vlcek mußte dir aber dessen bewußt sein, daß du dich in vielen Dingen von den normalen Sterblichen unterscheidest. Allein der Besitz des Ischtar-Memory macht dich zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit. Oder macht es dich zu einem Sklaven?« Ohne seinen melancholischen Gesichtsausdruck zu verändern, machte Chapat eine blitzschnelle Bewegung. Ehe Atlan sich versah, hatte ihm Chapat unter die Bluse gegriffen und den Zellaktivator gepackt, den er an einer Kette um den Hals trug. Chapat hielt den Zellaktivator hoch. »Was ist das?« fragte er. Atlan sagte es ihm. »Was passiert, wenn du den Zellaktivator verlierst?« fragte Chapat weiter. »Ich bin dann ein toter Mann«, antwortete Atlan ernst. Chapat erwiderte seinen Blick und ließ den Zellaktivator wieder los. »Ich möchte das Ischtar-Memory auch nicht verlieren«, sagte Chapat dann. Er deutete damit an, daß sein Leben daran hing, doch Atlan war sich noch immer nicht klar, ob seine Abhängigkeit zum Ischtar-Memory eine symbolische war, oder ob dieser mysteriöse Kreisel, Produkt einer überragenden Technik, die Wirkung eines Zellaktivators hatte. Eine Art Unsterblichkeit mußte Chapat auf jeden Fall besitzen, wenn er aus der Verbindung zwischen Ischtar und ihm, Atlan, hervorgegangen war. »Manchmal glaube ich, daß du überhaupt nichts über deine Herkunft weißt, Chapat«, sagte Atlan. Chapat reagierte nicht. Er starrte geradeaus in unergründliche Fernen. Atlan bohrte weiter. »Einmal machst du den Eindruck eines uralten, abgeklärten Mannes. Dann wiederum bist du so naiv wie ein Kind. Selbst in unserer Gegenwart hast du dich manchmal so ungeschickt benommen, als kämest du aus einer ganz anderen Zeit, als gehörtest du nicht in dieses Universum.« Das entlockte Chapat ein bitteres Lächeln. »Mir ist vieles aus deiner Zeit unsagbarfremd, Atlan«, sagte er. »Dann ahnst du etwas über deine Abstammung?«
Das Treffen der Einsamen »Ich bin voll von Ahnungen. Aber Wissen besitze ich kaum.« Atlan war nahe daran, die seit langem in ihm nagende Frage auszusprechen: Wenn Chapat sein Sohn war, der aus der Verbindung zwischen ihm und Ischtar hervorgegangen war, wie konnte er dann noch im Jahre 2843 nach Christi am Leben sein und einen strahlend jungen Körper besitzen? Immerhin hatte die Zeugung vor zwölftausend Jahren, in der Zeit, in die sie mit ihren Traumkörpern verschlagen worden waren, stattgefunden. Von ihrem augenblicklichen Standpunkt aus gesehen, war Chapat noch nicht geboren. Atlan wagte es aber dann doch nicht, sein Gegenüber darauf direkt anzusprechen. Er fragte nur: »Glaubst du, daß du die Unsterblichkeit besitzt?« Und wie nicht anders zu erwarten, war Chapats Antwort eine ausweichende. »Meine Seele ist auf Wanderschaft, seit ich geboren wurde.« Das ließ viele Interpretationen zu. Ihre Unterhaltung wurde j äh durch ferne Geräusche unterbrochen. Atlan schaltete die Lichtquelle ab, die den Unterschlupf der WdZ ausleuchtete, und arbeitete sich daraufhin lautlos in dem horizontalen Schacht bis zum nächsten Tunnel vor. Dort sah er im Licht von Scheinwerfern Uniformierte, die Gasmasken trugen.
* »Warum tragen sie Atemmasken?« fragte Chapat, als er an Atlans Seite auftauchte. »Haben sie etwa vor, die subplanetaren Anlagen mit Giftgasen vollzupumpen?« »Es sieht ganz so aus«, meinte Atlan. »Es ist besser, wir warten die Beantwortung dieser Frage nicht erst ab. Ich möchte auch gar nicht erst herausfinden, ob es den Soldaten möglich ist, die gesamte Kanalisation unter Gas zu setzen.« »Das heißt, du willst zur Oberfläche«, sagte Chapat. »Aber das ist das, was sich die
43 Soldaten von ihrer Aktion erwarten.« »Wir haben keine andere Wahl.« Atlan zog sich im Schacht zurück. Als er den nächsten senkrechten Schacht erreichte, kletterte er in ihm auf der Eisenleiter hoch. Chapat folgte ihm unter leisen Protesten. Er war vor allem auf Atlan wütend, weil dieser von sich aus handelte, ohne seine Meinung eingeholt zu haben. Atlan schätzte, daß sie etwa fünfzig Meter unter dem Bodenniveau waren. Anhand des Planes stellte er im Schein der Taschenlampe fest, daß über ihnen eine größere Wohnsiedlung aus über dreißig Trichterbauten war. Das ließ ihnen die Hoffnung, vielleicht doch unbemerkt untertauchen zu können. Die Wohnsiedlung besaß ein Einkaufs-, Vergnügungs- und ein Kommunikationszentrum. Hier würde es den Truppen schwerer als anderswo fallen, die Fahndung nach den Gesuchten wirkungsvoll durchzuführen. Der Schacht endete in einem Quergang. Atlan erkannte noch rechtzeitig, daß sich hier Uniformierte aufhielten. Er schaltete die Taschenlampe beim ersten Geräusch aus und kletterte im Dunkeln weiter. Als er den Kopf durch den Schacht steckte, sah er in dreißig Meter Entfernung schemenhafte Gestalten, die im Licht eines Scheinwerfers am Boden hantierten. Ihre Stimmen klangen über die große Entfernung und wegen ihrer schalldämpfenden Atemmasken kaum verständlich zu ihnen herüber. Atlan konnte sich aber denken, was sie vorhatten. Sie wollten Gasbomben entzünden! Ohne lange zu überlegen, schoß er aus dem Paralysator einen breitgefächerten Strahl auf sie ab. Die Körper der drei Gasmaskenträger begannen zu zucken. Atlan hatte getroffen. Doch es war bereits zu spät. Aus einem tellerförmigen Behälter ringelten sich grünliche Rauchschwaden. Das Gas schien schwerer als Luft, denn es breitete sich zuerst dicht über dem Boden aus. Aber es kam mit rasender Geschwindigkeit auf sie zu. »Raus hier!« rief Atlan und schwang sich
44 aus dem Schacht. »Wir müssen weiter nach oben, denn das Giftgas breitet sich in die Tiefe aus.« Er rannte bereits im Gang in die entgegengesetzte Richtung des sich rasch entleerenden Gasbehälters davon. Chapat folgte dichtauf. Sie erreichten den nächsten Schacht und kletterten in ihm hoch. Plötzlich hielt Atlan jedoch inne. »Zurück!« befahl er Chapat, der nicht sofort begriff. Doch dann sah er im Licht von Atlans Taschenlampe, wie sich von oben eine grüne Giftgaswolke auf sie herabsenkte. Chapat ließ sich die vier Meter einfach hinunterfallen und brachte sich aus dem Schachtbereich in Sicherheit. Gleich darauf fiel Atlan herab, landete federnd auf den Beinen und kam sofort wieder hoch. »Hoffentlich ist der nächste Schacht noch nicht verseucht!« Sie hatten Glück. Fünfzig Meter weiter kamen sie zu einem Schacht, der zwanzig Meter in die Höhe führte. In ihm zeigten sich noch keine Giftschwaden. Chapat kletterte vor Atlan hoch, immer drei Sprossen auf einmal nehmend. Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Endlich hatten sie den nächsthöheren Quergang erreicht. Doch hier gab es kein Weiterkommen. Von beiden Seiten wälzten sich Wolken aus grünem Gas auf sie zu. In einer der Wolken erblickte Chapat zwei schattenhafte Gestalten. Sie wateten bis zur Brust in dem Giftgas. Aber sie waren ungefährdet, denn sie trugen Gasmasken. Chapat schoß mit dem Paralysator auf sie. Er traf. Die beiden Gestalten taumelten mit konvulsivisch zuckenden Gliedern. Chapat hatte bewußt nur einen schwachen Paralysestrahl abgeschossen, um die Gegner nur teilweise zu lähmen. Sie versuchten jetzt verzweifelt, sich auf den Beinen zu halten. Chapat stürmte bedenkenlos nach vorne. Wegen seiner Körpergröße reichte ihm die Giftgaswolke nur bis knapp unter die Brust. Er drang in sie ein und bewegte sich dann vorsichtiger, um das Gas nicht aufzuwirbeln
Ernst Vlcek und zu verhindern, daß es seine Atemwege erreichte. Trotzdem hielt er noch zusätzlich den Atem an. Er erreichte die beiden Uniformierten, die noch immer um ihr Gleichgewicht rangen. Dem einen von ihnen riß er kurzerhand die Atemmaske vom Gesicht und stülpte sie sich über. Atlan hatte längst seine Absicht durchschaut und tat es ihm gleich. Er erreichte den zweiten Gasmaskenträger. Dieser hatte jedoch seinen Körper noch so unter Kontrolle, daß er Atlans erstem Angriff ausweichen konnte. Atlan stolperte, tauchte mit dem Kopf in die Giftgaswolke. Obwohl er den Atem anhielt, fühlte er, wie ihn ein Schwindel erfaßte. Er verlor die Orientierung, wußte nicht mehr, wo oben und unten war. Er hielt sich für verloren. Da wurde er am Genick gepackt und hochgehoben. Sein Blick klärte sich. Etwas schob sich vor sein Gesicht, er atmete reine Luft. Chapats Augen blitzten hinter der Klarsichtscheibe der Atemmaske schalkhaft auf. »Um ein Haar hättest du dich unfreiwillig schlafen gelegt«, kam seine gedämpfte Stimme durch die Atemmaske, während er Atlan mit beiden Händen die zweite erbeutete Gasmaske ans Gesicht preßte. »Danke«, murmelte Atlan und befestigte die Maske. »Jetzt haben wir noch eine Chance, dieser teuflischen Falle zu entrinnen.« Ohne auf weitere Gegner zu stoßen, suchten sie sich ihren Weg durch die Giftgaswolken zu den höheren Regionen. Sie erreichten einen trockengelegten Sammelbehälter, in den anscheinend die gesamte Kanalisation eines Wohnbaus mündete. Atlan holte noch einmal seinen Plan zu Rate, dann wählte er einen Schacht aus, den sie hochkletterten. Sie kamen in einem Keller heraus, legten ihre Atemmasken ab und reinigten ihre Kleider vom Schmutz. Dann riefen sie den Lift und fuhren in ihm bis ins Erdgeschoß des Wohnbaus hoch. Als sie aus dem Lift stiegen, fuhr ihnen der Schreck gehörig in die Glieder. Überall waren Kralasenen!
Das Treffen der Einsamen
* Chapat wollte schon nach der Waffe greifen, doch Atlan hielt ihn zurück. »Nur ruhig Blut, Chapat«, beruhigte Atlan ihn. »Das sind alles Kralasenen vom Innendienst und keine Agenten im Einsatz. Ich glaube, das Schicksal hat uns geradewegs in ein Anwerbebüro dieser berüchtigten Söldnertruppe geführt.« »Du sagst das, als wäre es ein Glücksfall«, meinte Chapat unbehaglich. »Ist es auch, mein Sohn«, sagte Atlan, bemüht, keine Betonung auf das Wort »Sohn«zu legen, so daß es wie eine stereotype Redewendung klang. »Wir sollten diesen Wink des Schicksals aufgreifen und uns anwerben lassen.« »Die Kralasenen werden uns sofort an Orbanaschol ausliefern«, gab Chapat zu bedenken. »Das befürchte ich nicht. Im Gegenteil, sie werden uns vor den regulären Truppen beschützen. Diese Söldnertruppe ist völlig autark und untersteht nur dem Blinden Sofgart.« »Ich weiß nicht …« In diesem Augenblick wurde ein Wachtposten auf sie aufmerksam, der sie bisher nur oberflächlich beobachtet hatte. »He, ihr da! Was steht ihr wie die Ölgötzen da. Zeigt mal euren Passierschein.« Atlan näherte sich ihm selbstbewußt und sagte: »Wir besitzen keinen Passierschein.« »Unsinn«, sagte der Kralasene. »Hier kommt keine Zivilperson ohne Passierschein herein.« »Wir betrachten uns auch nicht mehr als Zivilpersonen, sondern als Kralasenen«, erwiderte Atlan kaltschnäuzig. »Wie wir hereingekommen sind, ist unsere Sache. Betrachte es als eine Art Aufnahmeprüfung.« Der Kralasene blieb unbeeindruckt. Er hatte sein Armbandgerät ins Auge gefaßt. Plötzlich weiteten sich diese vor Überraschung.
45 »Ihr seid bewaffnet«, stellte er fest und brachte gleichzeitig seinen Strahler in Anschlag. »Los, geht vor mir her. Mal sehen, was wir alles zutage fördern, wenn wir euch genauer unter die Lupe nehmen.« Atlan und Chapat ließen sich ohne Widerstand abführen. Sie wurden in einen Untersuchungsraum geführt, wo sie sich völlig entkleiden mußten. Atlan mußte sogar seinen Zellaktivator abliefern. Nackt, wie sie waren, wurden sie in einen Diagnoseraum geführt und dort auf ihre körperliche und geistige Gesundheit untersucht. Dann brachte man sie vor eine dreiköpfige Rekrutierungskommission. Atlan atmete auf, als er ihre Habseligkeiten mitsamt seinem Zellaktivator auf einem Tisch vor den drei Offizieren liegen sah. »Ihr wollt also Kralasenen werden«, meinte der mittlere der drei Uniformierten. »Wißt ihr denn überhaupt, worauf ihr euch da einlaßt?« »Wir sind Kämpfernaturen und suchen das Abenteuer«, antwortete Atlan großspurig. »Ich habe gehört, daß man bei den Kralasenen nicht viele Fragen stellt.« Der Sprecher der Rekrutierungskommissare grinste. »Gut, keine Fragen mehr. Aber einige Eignungstests werdet ihr schon über euch ergehen lassen müssen. Schließlich nehmen wir nicht jeden bei uns auf. Ihr werdet beweisen können, ob ihr zu kämpfen versteht.« Der Offizier entließ sie mit einem Wink. Atlan rührte sich jedoch nicht von der Stelle. »Ist noch was?« »Ja. Bekommen wir unsere persönlichen Gegenstände nicht zurück?« »Nachdem ihr die Tests bestanden habt.« »Ich möchte die Kette mit dem Anhänger aber sofort wiederhaben.« Der Offizier nahm den Zellaktivator in die Hand. »Dein Talisman?« »Jawohl.« »Was bedeutet er dir?« »Mein Leben hängt an ihm.« »Nun, wenn er dir so viel bedeutet, dann
46
Ernst Vlcek
wirst du bei den Tests kämpfen, als ginge es um dein Leben. Ich behalte ihn solange.« Atlan sah ein, daß hier nichts zu machen war. Er konnte dem Kralasenen nicht die wahre Bedeutung des Aktivators verraten. Atlan machte kehrt und verließ mit steifen Bewegungen, wie eine Marionette, den Raum. Wenn er den Zellaktivator nicht innerhalb von 62 Stunden zurückbekam, dann würde es sich zeigen, ob er in diesem Traumkörper für immer den Tod finden konnte.
14. Atlan war immer noch völlig nackt. Er fand sich auf der endlosen Ebene einer unbekannten Welt wieder. War dies ein Traum innerhalb des permanenten Traumzustandes? Oder eine Illusion innerhalb der Realität einer fernen Vergangenheit? Wie dem auch war, Atlan konzentrierte sich auf die augenblicklichen Gegebenheiten. Ob Illusion oder nicht – sein Leben konnte vom Ausgang dieser Geschehnisse abhängen. Er mußte seinen Zellaktivator wiederhaben! Er kannte die Spielregeln. Hundert Meter von ihm entfernt stand ein mit einem Lendenschurz bekleideter Hüne. Er war mit einer Streitaxt bewaffnet. Ein mörderischer Barbar. Genau zwischen ihnen, also fünfzig Meter von Atlan entfernt, steckte eine Lanze im Boden. Auf ein Zeichen hin durften sich die beiden Gegner in Bewegung setzen. Der Kampf konnte beginnen. Atlan mußte trachten, zuerst die Lanze zu erreichen, um so eine Waffe zu erhalten und wenigstens eine theoretische Chance gegen den Hünen zu haben. Das Zeichen ertönte. Atlan setzte sich in Bewegung. Er rannte um sein Leben. Doch da erkannte er, daß sein Gegner schneller war als er. Atlan führte das darauf zurück, daß sein Gegner wahrscheinlich von einer Welt mit viel höherer Schwerkraft kam. Das brachte ihm einige Nachteile ein, weil er seine Be-
wegungen bei einer Schwerkraft von einem Gravo nicht so kontrollieren konnte wie unter den gewohnten Bedingungen. Aber es brachte ihm den Vorteil ein, Atlan den Weg zu seiner Waffe abschneiden zu können. Als Atlan noch sieben Meter von der Lanze entfernt war, schwang der Hüne seine Axt und zertrümmerte mit einem einzigen Hieb den Schaft. Er hatte solche Wucht in den Schlag gelegt, daß er von ihm mitgerissen wurde und sich einmal um seine Achse drehte. Bevor er die Orientierung wiederfand, erreichte Atlan ihn. Er sprang den Hünen von der Seite an und hieb ihm die Faust gegen die Schläfe. Ein absolut tödlicher Schlag, doch der Hüne war so robust, daß er nur kurz in die Knie ging. Er schüttelte Atlan ab und holte mit der Streitaxt zum tödlichen Schlag aus. Atlan erwischte den Schaftteil mit der Lanzenspitze und schleuderte ihn gegen den über ihn gebeugten Barbar. Die Lanzenspitze bohrte sich ihm zwischen den buschigen Augenbrauen in die Stirn. Das Bild erlosch. Atlan war von absoluter Dunkelheit umgeben. Eine unpersönliche Stimme sagte: »Reaktionstest mit Auszeichnung bestanden. Die Testperson wird zum Zweikampf mit einem Gegner aus Fleisch und Blut zugelassen. Dabei bestehen für die Versuchsperson gute Überlebenschancen.«
* Ebenso hatte die Beurteilung bei Chapats erstem Test gelautet. Chapat war über die Wendigkeit des barbarischen Hünen erstaunt. Aber er konnte noch schneller laufen. Er erreichte die Lanze und spießte seinen fiktiven Gegner darauf auf. Jetzt hatte er es aber nicht mit einer Illusion zu tun. Sondern sein Gegner war aus Fleisch und Blut. Jeder von ihnen war mit einer Energiepeitsche ausgerüstet, deren Schlagkraft sich beliebig einstellen ließ. Chapat stellte die Energiepeitsche auf »tödliche Wirkung« ein, weil er annahm,
Das Treffen der Einsamen daß das bei den Kralasenen am meisten Eindruck machen würde. Zwischen ihm und seinem Gegner, den er nur als verschwommenen Schemen erkennen konnte, gab es eine Unzahl von Barrieren – Energiefelder, die leichte elektrische Schläge austeilten –, die es erst einmal zu überwinden galt. Chapat befand sich in einem regelrechten Labyrinth, und er wußte nicht, ob sich sein Gegner hier auskannte. Er setzte dies aber voraus. »Nur einer von beiden Kämpfenden kann sich qualifizieren. Das ist der überlebende Sieger!« verkündete die Lautsprecherstimme. Dann begann der Kampf. Das heißt, die Kämpfenden mußten zuerst einmal den Weg zueinander finden. Chapat konnte nicht einmal soviel von seinem Gegner erkennen, um beurteilen zu können, ob es ein menschliches Wesen war. Möglicherweise hatte man auch ein wildes Tier auf ihn angesetzt. Durch die Energiebarrieren hindurch schien es, als verändere der Gegner ständig seine Gestalt. Gelegentlich blitzte es auf, wenn Chapat gegen eine Barriere stieß. Den Schmerz verspürte er kaum. Aber er ärgerte sich, weil das Minuspunkte gab. Seine einzige Genugtuung war, daß es auch drüben bei seinem Gegner aufblitzte. Chapat konnte nie abschätzen, wie weit der andere noch von ihm entfernt war. Manchmal glaubte er, ihn schon in Reichweite seiner Energiepeitsche zu haben, dann wieder schien er in unerreichbare Fernen entrückt zu sein. Plötzlich aber hatte Chapat das Gefühl, daß sie beide auf dem richtigen Weg zueinander waren. Er holte mit der Peitsche aus, um im entscheidenden Augenblick zuschlagen zu können. Und dann war es soweit. Chapat ließ die Peitsche nach vorne schnalzen. Sein Gegner handelte im gleichen Sekundenbruchteil. Zu spät erkannte Chapat, wen er da vor sich hatte: Es war Atlan. Er konnte sich nur noch, ebenso wie Atlan, abducken, um das Ärgste zu verhindern.
47 Die Striemen der beiden Energiepeitschen verschlangen sich ineinander. Es kam zu einer gewaltigen Energieentladung, deren Rückschlag Chapats Körper schmerzhaft durchraste. Er war dennoch zufrieden, denn keiner von ihnen war von der Peitsche des anderen getroffen worden. Das gerechte Urteil lautete: »Unentschieden!« Und beide wurden als rücksichtslose, kompromißlose Gegner eingestuft, brachten also die grundsätzlichen Voraussetzungen, die von Kralasenen verlangt wurden, mit. Später teilte man ihm mit, daß die Energieentladung der Peitschen so gedrosselt worden war, daß sie keine tödliche Wirkung mehr entfalten konnte.
* Atlan und Chapat wurden noch einer Reihe weiterer Tests unterzogen, die ihnen all ihr Können und ihren Mut abverlangten. So wurden sie in einen dunklen Raum gesperrt, in dem nur Atemluft für fünf Minuten war. In dieser Zeit mußten sie einen versteckten Druckanzug finden und anziehen. Atlan schaffte es in zwei Minuten und siebzehn Sekunden. Chapat benötigte vier Minuten. Beide Leistungen wurden gewürdigt. Man gestand ihnen, daß andere Testpersonen eine Frist von einer Viertelstunde zuerkannt bekämen. Von ihnen, die sie sich in den beiden ersten Tests so ausgezeichnet bewährt hätten, verlangte man jedoch Sonderleistungen. Zwischen den einzelnen Prüfungen durften sie rasten und sich stärken. Dennoch fühlte Atlan sich immer schwächer werden. Er kannte auch den Grund dafür: Ohne die zellregenerierende Wirkung des Aktivators verfiel sein Körper rasch. Schon nach vierundzwanzig Stunden stellten sich die ersten Schwächeanfälle ein. Während eines Tests brach Atlan einmal zusammen. Es galt, in einem Raum mit ständig stei-
48
Ernst Vlcek
gender Gravitation ein demontiertes Strahlengeschütz zusammenzubauen. Selbstverständlich wurde ein Bauplan beigelegt. Als die Schwerkraft auf sechs Gravos angestiegen war und Atlan nur noch ein halbes Dutzend Einzelteile einzubauen hatte, wurde ihm plötzlich schwarz vor den Augen. Er verlor das Bewußtsein. Er kam auf einem Diagnosebett in der Krankenstation wieder zu sich. Fühlte sich aber trotz der normalen Schwerkraft von einem und fünf Hundertstel Gravos nach wie vor schwach. »Die Untersuchung hat einen Kräfteverfall ergeben«, sagte der Offizier der Rekrutierungskommission, der bei ihm zu Besuch war. »So beeindruckt mich deine anfänglichen Leistungen haben, so enttäuscht bin ich jetzt von dir. Hast du Drogen genommen, um deine Leistungsfähigkeit zu steigern?« Atlan schüttelte den Kopf. »Es ist etwas anderes. Ich brauche meinen Talisman, um wieder zu Kräften zu kommen.« Der Offizier versteifte sich. »Ich verabscheue jede Art von Aberglauben. Ich werde dich darin nicht unterstützen. Entweder du kommst auch so durch, oder du krepierst. Deinen Talisman bekommst du erst nach den Tests zurück.«
* Atlan wurde aus der Krankenstation entlassen. Als er in die Unterkunft kam, die er mit Chapat teilte, erschrak dieser bei seinem Anblick. »Du scheinst um Jahre gealtert zu sein!« »Es wird noch schlimmer kommen, wenn ich meinen Zellaktivator nicht zurückerhalte.« »Kannst du nicht wenigstens noch vierund_ zwanzig Stunden durchhalten«, drang Chapat in ihn. »Ich habe in Erfahrung gebracht, daß die Tests dann abgeschlossen sein werden und wir danach sofort nach Arkon III gebracht werden sollen. Das ist unsere Chance, Orbanaschols Häschern zu entwi-
schen, Atlan!« Atlan nickte schwach. Er griff sich unter die Achsel und beförderte eine Phiole hervor. »Die habe ich in der Krankenstation entwendet«, sagte er mit krächzender Stimme. »Der Kommissar hat mich auf die Idee gebracht, als er mir Doping vorwarf.« »Ist das ein Aufputschmittel?« Atlan nickte. »Es wird für einige Zeit das letzte aus mir herausholen. Danach wird mein körperlicher Verfall aber noch schneller vorangetrieben. Ich hoffe aber, daß ich solange durchhalte, bis ich meinen Zellaktivator zurückbekomme.«
* Atlan fühlte sich auf einmal energiegeladen wie nie zuvor. Er wußte aber, daß das nur Strohfeuer war. Darum konnte er die nächsten Tests kaum erwarten. Er mußte sie hinter sich bringen, bevor die Wirkung des Aufputschmittels nachließ und er endgültig schlapp machte. Zwei Stunden später wurde die nächste – und letzte – Testreihe in Angriff genommen. Man sagte ihnen, daß es sich hier um Sonderprüfungen handelte, die nur besonders intelligente Bewerber über sich ergehen lassen mußten, die eventuell als Führungskräfte in Frage kamen. Atlan hätte sich dümmer angestellt, wenn er vorher etwas davon geahnt hätte. Aber nun war nichts mehr daran zu ändern. Er und Chapat bestanden auch die Intelligenztests zur Zufriedenheit der Kommissare. Nun stand ihrer Aufnahme in die Söldnertruppe der Kralasenen nichts mehr im Wege. Sie durften in ihre Unterkunft zurückkehren und sich von den Strapazen zuerst einmal erholen, bevor sie der Kommission wieder vorgeführt wurden. Sie bekamen eine Nummer, unter der sie aufgerufen wurden. Atlan schaffte es gerade noch bis in die Unterkunft, dann brach er endgültig zusammen. Chapat legte ihn aufs Bett und bot sich
Das Treffen der Einsamen an, ein weiteres Aufputschmittel zu beschaffen. Doch Atlan winkte ab. Er war nun schon über fünfzig Stunden ohne Zellaktivator, und in diesem Stadium des körperlichen Verfalls halfen ihm keine Drogen mehr. »Ruh dich vorerst aus«, sprach Chapat ihm zu. »Wenn wir aufgerufen werden, hast du dich sicherlich so weit erholt, daß du vor die Kommission treten kannst. Nicht mehr lange, dann bekommst du deinen Zellaktivator zurück – und wir fliegen nach Arkon III.« Atlan brachte noch ein schwaches Nicken zusammen, dann senkte sich Dunkelheit über seinen Geist.
15. Orbanaschol III. hatte wieder einen seiner Wutanfälle, die sich in letzter Zeit immer mehr häuften. Genauer gesagt, seit dem Tage, an dem ihn der glücklose Perpeteon auf den Fremden aufmerksam gemacht hatte, der Ähnlichkeit mit einem Gonozal hatte. Seit er dessen Foto zu Gesicht bekommen hatte, wurde er immer nervöser und unerträglicher. »Wer war denn dieser Idiot, der die mißlungene Aktion in der Kanalisation von Helsgeth geleitet hat?« brüllte der Imperator. Bevor ihm jemand Antwort geben konnte, fuhr er fort: »Nein, sagt es mir nicht. Ich will seinen Namen nicht hören. Bringt mir seinen Kopf auf einem Tablett!« In diesen Tagen saßen die Köpfe jener locker, die nicht gerade unentbehrlich für den Imperator waren. Orbanaschol III. tobte noch eine geraume Weile, bevor er wieder für vernünftige Argumente empfänglich war. Und damit kam die Sprache wieder auf das beliebteste Thema der Intriganten am Hofe von Arkon: den Blinden Sofgart. »Es sind schon lange keine Nachrichten mehr aus dem Schwarzen System eingetroffen«, meinte einer vorsichtig. »Dabei wäre es wichtig zu wissen, ob der Blinde Sofgart endlich den Stein der Weisen gefunden hat.«
49 Das verursachte bei Orbanaschol III. eine Assoziation zu einem Namen, der ihm schwer im Magen lag: Atlan, der angebliche Sohn von Gonozal VII., der nach dem Thron von Arkon strebte. Und beinahe lieber als eine Erfolgsmeldung im Zusammenhang mit dem Stein der Weisen hätte Orbanaschol III. gehört, daß dieser Rebell zur Strecke gebracht worden war. »Ohne eine unbewiesene Behauptung aufstellen zu wollen, möchte ich doch die Vermutung aussprechen«, lautete die überaus geschraubte und vorsichtige Äußerung eines Günstlings, »daß wir mit Hilfe der Kralasenen den Fremden schon längst festgenommen hätten.« »Warum wälzt man nun alle Schuld auf die Kralasenen ab«, sagte der Imperator. »Wäre Sofgart hier, würdet ihr vorsichtiger in euren Äußerungen sein.« »Wäre der Blinde Sofgart hier, wurden sich die Kralasenen an der Jagd nach dem Fremden beteiligen«, berichtigte ein Berater des Imperators. »Tun sie es denn nicht?« »Nun, die Kralasenen nehmen von uns keine Befehle entgegen. Bei ihren seltsamen Gepflogenheiten würde es mich nicht einmal wundern, wenn sie den beiden Flüchtigen Unterschlupf gewährten …« Das stimmte den Imperator nachdenklich. Er mußte bei sich selbst eingestehen: So abwegig war der Gedanke nicht. Deshalb erließ er mit sofortiger Wirkung den Befehl, daß die Kralasenen bei der Jagd nach den beiden Flüchtigen den regulären Truppen jegliche Unterstützung zu gewähren hatten.
* Chapat stützte Atlan, der schwankend dastand. Zum Glück wurde bei den Kralasenen auf militärische Disziplin kein sonderlicher Wert gelegt. Denn strammstehen hätte Atlan in seiner Verfassung nicht können. Zusammen mit ihnen wurden fünfundzwanzig andere Neulinge in die Reihen der Söldnertruppe aufgenommen. Das Raum-
50 schiff, das sie nach Arkon III bringen sollte, war startbereit. Um Atlan drehte sich alles. Er hörte die Worte des Rekrutierungskommissars, doch er verstand sie nicht. »Jetzt bekommst du gleich deinen Zellaktivator zurück«, raunte ihm Chapat zu. Atlan wartete. Doch es verging eine Ewigkeit, ohne daß ihm die Kette mit dem Zellaktivator umgehängt wurde. »Es ist eine Verzögerung eingetreten«, berichtete Chapat. »Die Aushändigung des Privateigentums wurde unterbrochen. Der Kommissar berät sich mit anderen Kralasenen … Jetzt wendet er sich wieder uns zu.« In Atlans Ohren war ein Dröhnen. Am liebsten hätte er sich in die erlösende Bewußtlosigkeit geflüchtet. Doch da klang eine befehlsgewohnte Stimme an sein Ohr. »Kralasenen, uns ist eine Schmach widerfahren, die in unserer ruhmreichen Geschichte keine Parallele kennt … Imperator hat angeordnet … alle Neulinge einer Prüfung durch die regulären Truppen unterzogen werden.« Das war für Chapat das Zeichen zum Handeln. Mit den Worten: »Wenn uns die Kralasenen nicht schützen können, werden wir uns selbst helfen!« sprang er zu dem Tisch, auf dem ihr Privateigentum lag. Er nahm zwei Strahler und Atlans Zellaktivator an sich. Zurück bei Atlan, hängte er ihm den Zellaktivator um und drückte ihm einen Strahler in die schlaffe Rechte. »Wir müssen um unser Leben kämpfen!« schärfte er dem völlig apathisch wirkenden Arkoniden ein. Unter den frisch vereidigten Söldnern brach ein Tumult los. Chapats Worte hatten sie, die selbst Verfolgte oder Gesetzesbrecher waren, aufgestachelt. Sie stürzten sich ebenfalls auf die Waffen. Ein Kampf zwischen ihnen und den alteingesessenen Kralasenen entflammte, ohne daß jemand sagen konnte, wer den ersten Schuß abgegeben hatte. Chapat schoß sich den Weg zu einem
Ernst Vlcek Ausgang frei, den kraftlosen Atlan am Arm mit sich ziehend. Ihnen schloß sich einer der neuen Rekruten an. »Verschwinde!« forderte ihn Chapat auf. »Jeder muß selbst sehen, wie er durchkommt.« Der andere ließ sich nicht abschütteln. Grinsend entledigte er sich einer Kunststoffmaske, die er vor dem Gesicht trug. Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, war Chapat nicht minder fremd. »Ohne mich schafft ihr es nie«, sagte er. »Erkennst du mich nicht wieder? Natürlich nicht. Als wir uns kennenlernten, war ich geschminkt. Ich bin Arbantola, der das Treffen der Einsamen in Addin-Forum veranstaltete.« »Und?« fragte Chapat unbeeindruckt. »Ich bin der Chef der WdZ«, erklärte Arbantola. »Ich habe mich bei den Kralasenen nur eingeschleust, um euch herauszuhauen. Wir brauchen Leute wie euch.« Atlan hatte sich einigermaßen erholt. Er hatte Arbantolas Worte verstanden und wollte protestieren. Doch Chapat kam ihm zuvor. »Bringen Sie uns hier heraus, Arbantola«, verlangte er. »Wir müssen zuerst ins Waffenlager eindringen«, erklärte Arbantola, während er sie durch ein Stiegenhaus in die Tiefe führte. »Dort zünden wir eine Bombe, um das Chaos im Kralasenenlager perfekt zu machen. In dem Durcheinander können wir leicht entkommen.« Atlan wollte wieder protestieren. Doch die Strapazen der Flucht hatten ihn so geschwächt, daß er endgültig das Bewußtsein verlor.
* »Wo bin ich?« Atlan blickte verwirrt um sich. Chapat beugte sich lachend zu ihm hinunter. »Wir sind an Bord eines Raumschiffes«, meinte er vergnügt, »das Lebensmittel nach Arkon I gebracht hat und gleich nach Arkon
Das Treffen der Einsamen II starten wird. Die Wedezu haben uns zu dieser Fluchtmöglichkeit verholfen.« »Das begreife ich nicht«, sagte Atlan verständnislos. »Warum sollen uns die Wedezu plötzlich helfen, nachdem sie uns an Orbanaschols Truppen verrieten.« »Man hat uns nicht wirklich verraten«, erklärte Chapat. »Arbantola, der Anführer der Wedezu, hat mir gesagt, daß man uns nur an die Truppen auslieferte, um uns zu testen. Man wollte herausfinden, ob wir dichthalten könnten. Wir haben diesen Test bestanden. Und wäre uns die Flucht aus eigener Kraft nicht gelungen, hätte man uns befreit. Arbantola war es auch, der uns bei der Flucht aus dem Kralasenenlager half. Aber davon weißt du nichts mehr, du bist vorzeitig umgekippt. Wie fühlst du dich jetzt?« Atlan griff nach seinem Zellaktivator. Er sagte: »Wie neugeboren. Wie lange war ich bewußtlos?« »Zwei Arkon-Tage. Ich habe mich inzwischen mit Arbantola lange und ausführlich unterhalten. Er hat große Dinge mit uns vor. Aber ich weiß nicht recht, ob wir mitmachen sollen. Die Methoden der WdZ sagen mir überhaupt nicht zu. Das sind ganz Radikale.« »Das habe ich schon während des Massakers in Addin-Forum gemerkt«, sagte Atlan, »als sie Dutzende von Unschuldigen bewußt in den Tod schickten. Da sind mir Orbanaschols Methoden fast lieber.« »Es kommt noch viel schlimmer«, sagte Chapat ernst. »Bei den Gesprächen mit Arbantola erfuhr ich, daß die Wegbereiter der Zukunft es sich zum Ziel gesetzt haben, alle anderen Intelligenzvölker zu unterdrücken. Und wenn sie sich nicht unter die Herrschaft der Arkoniden stellen, sollen sie kompromißlos ausgerottet werden. Du kannst recht haben, daß sich Orbanaschol III. neben Arbantola geradezu human ausnimmt. Ich sagte ihm aber nicht ins Gesicht, was ich von ihm halte, sondern machte gute Miene zum bösen Spiel. So haben wir wenigstens erreicht, daß wir von Arkon I fortkommen.«
51 »Das ist schon etwas wert«, meinte Atlan. »Was ist, freust du dich denn nicht darüber?« »Doch«, versicherte Atlan. »Aber …« »Aber was?« »Ich kann mich nicht so recht über unsere Flucht freuen, solange Arbantolas Organisation nicht zerschlagen ist.« »Wenn wir erst einmal auf Arkon II sind, können wir uns immer noch überlegen, wie sich die Wedezu ausschalten lassen«, versuchte ihn Chapat zu trösten. »Ich bin ganz deiner Meinung, daß man Arbantola das Handwerk legen sollte. Aber zuerst müssen wir in Sicherheit sein.« »Wir könnten diese schmutzige Arbeit Orbanaschols Truppen überlassen«, sagte Atlan. »Du willst Orbanaschol einen Wink geben?« »Extremisten wie die Wedezu sind mir ein Greuel. Da ziehe ich Orbanaschols Regime noch vor.« »Ganz deiner Meinung. Aber wie willst du Orbanaschol verständigen?« Atlan deutete auf das Bildsprechgerät in ihrer Kabine. »Wenn wir noch nicht gestartet sind, können wir das Kralasenenlager leicht über Normalfunk erreichen. Ich kenne ihre Frequenz und sehe auch keine Schwierigkeit darin, den Interkom in einen Sender umzubauen.« »Du glaubst doch nicht, daß wir für unseren Verrat von den Kralasenen Dank erwarten dürfen?« »Nein. Sie sollen auch nicht erfahren, von wem der Tip kommt.« Atlan machte sich sofort am Interkom zu schaffen. Dabei fuhr er fort: »Notiere dir alle Informationen, die du von Arbantola erhalten hast. Vor allem Namen und Adressen. Die wichtigsten Informationen funken wir an die Kralasenen, so daß es ihnen nicht schwerfallen wird, die gesamte Organisation in einem Handstreich zu zerschlagen. Ich würde mich dann bedeutend wohler fühlen. Wie stehst du dazu?« »Einverstanden.« Chapat grinste. Er wurde aber sofort wieder ernst und fügte hinzu:
52
Ernst Vlcek
»Glaubst du, daß wir wirklich in der Lage sind, durch unser Eingreifen die Vergangenheit zu verändern?«
* Atlan hatte so lange über den provisorischen Sender auf der Kralasenenfrequenz gefunkt, bis von der Kommandozentrale des Frachters das Startzeichen kam. Jetzt sahen sie dem Zeitpunkt der ersten Transition entgegen, die nötig war, um Arkon II zu erreichen. »Bist du schon einmal in einem Raumschiff mit Transitionsantrieb geflogen, Chapat?« frage Atlan. Chapat versteifte sich augenblicklich. Er preßte die Lippen zusammen, daß sein Mund einen schmalen Strich bildete. »Keine Bange, ich will dich nicht aushorchen«, erklärte Atlan leicht belustigt. »Ich möchte mich nur vergewissern, ob du Bescheid weißt, was während der Transition passiert. Für jemanden, der das noch nicht durchgemacht hat, ist der Transitionsschock doppelt schmerzhaft …« »Ich brauche keine diesbezüglichen Ratschläge von dir«, sagte Chapat barsch. Aus der Rundrufanlage kam das Warnsignal. Es wiederholte sich noch zweimal –
dann fand die Transition statt. Dabei wurde das Raumschiff entstofflicht, in den Hyperraum abgestrahlt und in Nullzeit an den Zielkoordinaten des Normaluniversums wieder verstofflicht. Für Lebewesen entstanden dabei ziemlich schmerzhafte Nebeneffekte, die je nach der im Hyperraum zurückgelegten Strecke stärker oder schwächer spürbar wurden. Für den Flug von Arkon I nach Arkon II war nur eine kurze Transition nötig, dementsprechend gering war auch der Entzerrungsschmerz. Als alles vorbei war, stellte Atlan erleichtert fest, daß Chapat den Hypersprung ziemlich gut überstanden hatte. Er wollte eine anerkennende Bemerkung machen, als ihre Kabinentür aufflog. Ein Mann mit einem entsicherten Blaster in der Hand erschien darin. »Jetzt haben wir euch doch noch erwischt!« schrie er. Sein Gesicht war eine wutverzerrte Fratze. In seinen Augen war ein mörderisches Funkeln. Er konnte die Waffe jede Sekunde abdrücken.
ENDE
ENDE