Ken Conagher
Das Totenschiff Ronco Band Nr. 290/39
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 ...
82 downloads
707 Views
782KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Ken Conagher
Das Totenschiff Ronco Band Nr. 290/39
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Fährt zusammen mit Shita auf einem Fischkutter und lernt die Seefahrt von ihrer üblen Seite her kennen. Kapitän Harvest – Gerät sich mit seinem Eigner in die Haare, weil er eine andere Meinung vertritt. Henry Lafitte – Ein zwielichtiger Geschäftsmann in New Orleans, der seine Finger in allen möglichen dunklen Angelegenheiten stecken hat. Less Vickers – Bricht zusammen mit drei Kumpanen aus dem Staatsgefängnis von Baton Rouge aus. Manuel Fangio – überlebt als einziger ein Massaker und einen Sturm.
Das Totenschiff 3l. Mai 1881 Es ist eigenartig, welche Karten das Schicksal ausspielt. Als Lobo und ich von Don Correone den Auftrag übernahmen, seinen Sohn zu suchen, konnten wir nicht ahnen, was sich daraus entwickeln würde. Wir fanden Don Correones Sohn und brachten ihn zu seinem Vater zurück. Aber wir fanden mehr, viel viel mehr. Wir fanden die Spur zu dem großen Unbekannten, zu dem Mann, der aus dem Dunkel heraus dabei war, ein grauenhaftes Geschäft zur Blüte zu bringen: den Anbau von Mohn und den Verkauf jenes Saftes, dessen Genuß den Menschen in ein Paradies entführt, das in der Hölle endet – Opium. Dieser Mann war Andrew Hilton. Jetzt, da ich diese Zeilen niederschreibe befindet sich dieser Mann nicht mehr im Dunkel der Anonymität. Die Karte, die mir das Schicksal zuspielte, verbarg sich in der Nachricht einer simplen Brieftaube. Sie war von den Mohnfeldern der Sierra Hidalgo aufgestiegen, um dem Mann im Dunkel eine wichtige Nachricht zu überbringen. Er wird den Inhalt dieser Nachricht nie erfahren, weil ein Raubvogel über die Taube herfiel. Ich fand sie – und mit ihr die Nachricht, die sie Andrew Hilton überbringen sollte. Wonach ich in den letzten Monaten gesucht hatte, das verriet mir die Nachricht: den Wohnort meines größten Feindes – jenes Mannes, der meinen Sohn Jellico hatte entführen lassen. Andrew Hilton lebt in Santo Domingo, in der mexikanischen Provinz Chihuahua. Dorthin hatte er sich nach seiner Flucht aus den Staaten zurückgezogen – und von dort aus hatte er wiederum begonnen, sein verbrecherisches Lebenswerk fortzusetzen: Geld zu scheffeln, durch Intrige, Bestechung, Gewalt, Terror Enteignung, Landraub und – so nebenbei – Opiumhandel. Noch etwas hat die Nachricht der Brieftaube offenbar werden lassen. In dem engen Kreis um Hilton scheinen Machtkämpfe
ausgebrochen zu sein. Um was es sich da im einzelnen handelt, weiß ich nicht, aber ich habe den Eindruck, daß Hiltons bisherige uneingeschränkte Führungsposition zumindest leicht erschüttert ist. Lobo und ich haben die Hazienda Don Correones verlassen und reiten ostwärts. Unser Ziel: Santo Domingo in Chihuahua. Seit ich weiß, wo sich Hilton aufhält, kann ich wieder hoffen. Denn es geht ja um meinen Sohn Jellico. Endlich habe ich die Spur, nach der ich solange gesucht habe. Heute abend rasten wir in einem Arroyo, und ich habe mir wieder mein Tagebuch vorgenommen. Ich will von der Geschichte des Totenschiffs berichten – einer recht merkwürdigen Geschichte, die mich für einen kurzen Zeitabschnitt meines Lebens in die mir fremde Welt der Fischer, Seeleute und Hafenhaie versetzt hatte …
1. Sommer 1865, New Orleans. Seit vierzehn Tagen fuhren mein Bastardhund Shita und ich zur See, und ich schätze, wir waren für diesen Job so geeignet wie ein Krokodil, dem man das Lassowerfen beizubringen versucht. Wir hatten auf einem Fischkutter angeheuert. Wie ich das heute sehe, war es bei mir wohl eher Neugier, meine Nase mal in Salzluft zu stecken und mich auf der offenen See umzusehen, in diesem Fall im Golf von Mexiko. Viel gab's nicht zu sehen – Wasser und Himmel, Himmel und Wasser. Wasser in jeder Menge, in allen Schattierungen und in vielerlei Bewegung, mal sanft und friedlich, mal ruppig und stürmisch. Je nach Fang blieben wir kürzere oder längere Zeit draußen. Wenn wir nach New Orleans zurücksegelten und unsere Füße wieder an Land setzten, hatten Shita und ich eine Weile Gleichgewichtsstörungen. Wir standen auf festem Boden, hatten aber immer noch das Gefühl, schwankende Schiffsplanken unter uns zu haben. Bei Shita sah das nicht sehr elegant aus. Er lief nicht, sondern er schaukelte. Uns waren also Seebeine gewachsen. Aber das verlor sich nach ein paar Stunden wieder.
Die Besatzung des Fischkutters bestand aus einem Haufen von Schweinigeln, die allem Anschein nach nur eins im Kopf hatten: Weiber! Nicht Frauen – ich betone das –, sondern Weiber, nämlich die Hafenhuren von New Orleans. Dieses Thema war unerschöpflich, und was ich da zu hören kriegte, ließ die Bräune meiner Gesichtshaut oft genug noch dunkler werden. Schlicht gesagt, ich wurde rot. Der größte Sauigel war der Koch, ein Kerl namens Mortimer, ein ausgemergelter Typ mit eng zusammenstehenden Augen, einer Geiernase, schlechten Zähnen und einem Spitzkinn. Nach seinen Reden zu urteilen mußte er über die Potenz eines nimmermüden Zuchtbullen verfügen und in allen Hafenstädten der Welt dementsprechend eine zahlreiche Nachkommenschaft haben, um die er sich natürlich nicht kümmerte. Seine Kochkünste standen in einem diametralen Verhältnis zu seinen Liebeskünsten, seine Kombüse war ein Schweinestall und daher ein Paradies für Kakerlaken, Maden, Mehlwürmer, Schaben und Ratten. Gegen die Ratten führte Shita einen erbitterten Kampf, der aber nie enden würde, weil im Hafen stets Ersatz an Bord huschte. Mit Mortimer hatte ich gleich am ersten Tag Krach, als ich für die Kerle das Essen ins Vorderschiff bringen sollte. Die nannten mich Moses, weil ich von der Seemannschaft noch keine Ahnung hatte und allenfalls als Backschafter zu gebrauchen war. Ein Backschafter ist so eine Art Prügelknabe, dessen Aufgabe darin besteht, Geschirr zu reinigen und das Essen von der Kombüse zu holen, Kartoffeln zu schälen und dem Koch zur Hand zu gehen, kurzum ein Job, der so stumpfsinnig ist, daß ihn auch ein Vollidiot ausüben könnte. Ich war achtzehn Jahre alt, gesund, kräftig und keineswegs auf den Kopf gefallen. Der Backschafter Job stank mir gewaltig, aber wie überall, wo man noch ein Neuling ist, fängt man ganz unten bei der Dreckarbeit an. Es war Mittag – wir befanden uns bereits draußen auf See –, und ich schleppte aus der Kombüse einen Kessel mit einer stinkenden, aber brühendheißen Suppe zum Vorschiff. Das heißt, ich wollte es, aber Mortimer stellte mir, als ich aus dem Kombüsenschott trat, ein Bein. Ich knallte Vierkant an Deck, ließ natürlich den Kessel los, um
mich nicht zu verbrühen, und damit war die stinkige Suppe beim Teufel. Sie breitete sich über den Decksplanken aus, und das war mit den Fischresten, Bohnen, Kakerlaken, Maden und allen möglichen anderen Zutaten, ein ziemlicher Schmierkram. Ich stand fluchend auf und stellte fest, daß ich mir die Knie aufgeschlagen hatte. Mortimer meckerte wie ein Ziegenbock und schrie höhnisch: »Ich sag's ja! Zu dämlich, so einen Scheißkessel ins Vorschiff zu bringen. Aber den Weibern unter die Röcke fassen, das können diese jungen Hüpfer!« Shita hatte nichts gegen die stinkige Suppe, er verputzte sie im Handumdrehen und leckte die Planken sauber. »He!« schrie Mortimer. »Dein Scheißköter frißt die Suppe auf!« Bei diesem Mortimer gab es allerlei Wortzusammensetzungen, die mit jenen sechs Buchstaben begannen. »Und wo krieg ich jetzt eine neue Scheißsuppe her?« schrie er mich an. »Soll ich mir die vielleicht aus der Harnröhre massieren?« War das ein widerlicher Kerl. Ekel stieg in mir hoch. Aber noch mehr Wut. Ich warf einen Blick nach achtern. Kapitän Harvest – der beste Mann auf diesem verlausten Eimer – war unter Deck gegangen. Nur der Rudergänger stand am Steuer. Er grinste schmierig. Shita begann zu knurren. Ich marschierte auf Mortimer los. Ich war bereit, eine Menge einzustecken und neue Erfahrungen zu sammeln. Aber ich war nicht bereit, mich schikanieren zu lassen, nicht von solchen Dreckskerlen wie Mortimer. »Hör gut zu, du Ratte!« knurrte ich ihn an. »Noch ein Wort, und du fliegst außenbords. Du hast mir ein Bein gestellt, darum ist das passiert. Und wenn du meinst, auf mir herumtrampeln zu können, dann bete vorher noch ein Vaterunser, denn es wird dein letztes sein. Verstanden, du Miststück?« Er starrte mich mit offenem Mund an, und ich konnte seine miesen Zahnstummel betrachten. Die sahen aus wie angeknapperte, schwarze Fingernägel. Da konnte sich einem glatt der Magen umdrehen. »Mach's Maul zu!« fuhr ich ihn an.
Er klappte seine Luke dicht, griff nach rechts – er stand im Kombüsenschott –, und hatte plötzlich ein Fleischermesser in der Hand. Der sollte sich wundern! Mein rechter Fuß zuckte hoch, krachte unter sein Handgelenk und beförderte das Fleischermesser in einem wirbelnden Bogen zur Decksmitte. Dort blieb es federnd stecken. Shita beschnüffelte es, nieste, drehte dem Griff sein Hinterteil zu, hob ein Bein und sorgte dafür, daß der Griff abgeduscht wurde. Mortimer vergaß sein schmerzendes Handgelenk. Er stierte auf die Pfütze, aus der der Messergriff aufragte, und kriegte Glotzaugen, als Shita, wie vom Land her gewohnt, mit den Hinterbeinen scharrte, um mit der vermeintlichen Erde das Mäntelchen der Reinlichkeit über die Pfütze zu decken. Aber wir waren nicht an Land, sondern auf See, und Shitas Scharren auf den Planken des Fischkutters war so nutzlos wie ein Segel ohne Wind. Das Unsinnig-Witzige dieses Scharrens kapierte Mortimer, wie ich genau sehen konnte. Er stützte sich am Kombüsenschott ab, warf den Kopf zurück und schickte sich an, seine menschliche Überlegenheit über die natürlichen Reaktionen eines Vierbeiners durch ein wieherndes Lachen kundzutun. Ich stopfte ihm dieses Lachen in den Mund zurück. Meine Faust krachte unter sein spitzes Kinn, und damit entschwand er in der Kombüse. Dort blieb er auch. Er war keiner von der harten Sorte. Und wenn er mal mit einem Messer zustach, dann bestimmt nur von hinten. Aus dem Schott zum Vordeck schoß Jack Jigger, der Decksälteste dieser Crew von salzdurchtränkten Haifischfressern. Er war so breit wie groß, sah aus wie ein Seehund und hatte auch einen dementsprechenden Schnauzbart, der jetzt vor Erregung zitterte. »Wo bleibt das Fressen?« brüllte er. »Fällt heute aus«, sagte ich. Er prallte zurück und kriegte tückische Augen. »Halt's Maul«, sagte er. Ich zuckte mit den Schultern. Er hatte mich etwas gefragt, und ich
hatte ihm geantwortet. Dafür sollte ich das Maul halten. Diese Haifischfresser hatten eine Logik, die ich erst noch ergründen mußte. Auf See war eben alles anders. Er entdeckte den entleerten Kessel, der zu einem der Speigatten gerollt war. Diese Speigatten sind Löcher im Knick zwischen Schanzkleid und Deck, durch die überkommendes Seewasser wieder außenbords fließen soll. »Leer, wie?« sagte er. »Wo ist die Suppe?« Ich schwieg, da ich ja das Maul halten sollte. »Wo ist die Suppe?« brüllte er. Ich schwieg weiter. Sein Blick fiel auf das Fleischermesser, das immer noch im Deck steckte. Das waren eben gute, massive Planken, die nichts durchließen. Die Pfütze hatte sich nur nach Steuerbord verlagert, weil der Wind von Backbord einfiel und der Kutter Lage schob, das heißt, nach Steuerbord, also nach rechts, überlag. Er tigerte zu dem Messer und riß es aus den Planken. Er roch an dem Griff und runzelte die Stirn. Die war nicht sehr hoch, eben wie bei einem Seehund. Nach einer bedeutsamen Weile sagte er: »Stinkt nach Pisse!« Da hatte er recht. An Land hätte er es nicht gerochen. Shita hätte wahrscheinlich auch den Griff verbuddelt. Jack Jigger wog das Messer in der Hand und warf es außenbords. Vielleicht verschluckte es ein Haifisch. Shita knurrte ihn an. »Halt's Maul«, sagte Jack Jigger zu meinem Hund. Shita knurrte weiter, nur einen Ton heller, aber um so gefährlicher. Im Schott zum Vordeck tauchten die anderen Kerle auf. Sie sahen alle nicht sehr fröhlich aus. Denn sie warteten auf ihren Mittagsfraß. »Maul halten!« brüllte Jack Jigger wütend. Ich sagte: »Sei friedlich, Jigger. Mit Anbrüllen erreichst du bei diesem Hund gar nichts. Der geht dir an die Kehle und säuft dein Blut. Und damit wir alle hier an Bord wissen, woran wir sind, möchte ich eins klarstellen. Von dem Job an Bord eines Fischkutters verstehe ich nichts. Aber ich werde es lernen. Wer aber mir oder meinem Hund auf die Zehen tritt, muß damit rechnen, daß er was vor
die Schnauze kriegt – wie Mortimer, der mir ein Bein gestellt hat, als ich die Suppe ins Vordeck bringen wollte. Kapitän Harvest hat mich angeheuert, und ich werde meine Arbeit tun. Nur warne ich jeden von euch, der meint, mich herumschubsen zu können. Versuch's mal, Jigger. Wir können das hier und sofort aushandeln. Aber ich warne dich und jeden von euch. Noch einmal! Ich habe ein paar Jahre bei den Apachen verbracht und ein paar schmutzige Tricks gelernt, um überleben zu können. Ich habe gut gelernt.« Jack Jigger, einen Kopf kleiner als ich, aber um eine Schulter breiter, hatte mit zusammengekniffenen Augen zugehört. Er dachte nicht lange nach, sondern handelte sofort. Er wollte es eben gern wissen. Außerdem hat niemand an Bord eines Schiffes einem Decksältesten eine Predigt zu halten – mit Ausnahme des Kapitäns. Aber der war ich nicht. Ich brauchte gar nichts zu tun, weil Shita Jack Jigger abfing. Er sprang dem kleinen bulligen Mann an die Kehle und riß ihn um. »Halt, Shita!« schrie ich. Shita verharrte zitternd, den Fang um die Kehle Jack Jiggers geschlagen. Die anderen Kerle waren ins Vordeck zurückgewichen. Ich sah nur ihre Köpfe. »Zurück, Shita«, befahl ich. Shita zog sich zurück, geduckt, mit hochgezogenen Lefzen, verhalten knurrend. Sein gefletschter Fang sah prächtig aus. Jack Jigger war grau wie das Großsegel über uns. Ich grinste ihn kalt an. »Na? Ist die Sache jetzt klar, Jigger?« »Denke schon«, murmelte er und richtete sich ächzend auf. Von dieser Stunde an war ich nicht mehr Backschafter, sondern lernte, wie ein Kutter gesegelt wird und welche Knochenarbeit geleistet werden muß, die See abzuernten. Wir fischten mit Schleppnetzen, und das bei jedem Wetter. Der Fang wurde gekehlt und sofort in Fässern gepökelt, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Kapitän Harvest hielt uns in Trab. Er war ein harter, zäher Brocken mit schlohweißem Bart, einer ebensolchen Mähne, eisblauen Augen und einem verwitterten Granitgesicht. Er segelte den Kutter mit den Fingerspitzen und war ein Seemann, der für
seinen Beruf Instinkt, Begabung und ein Leben voller Erfahrungen mitbrachte. Vor hundert und mehr Jahren wäre er wahrscheinlich einer der verwegensten Freibeuter in der Karibik gewesen. Er war ein Mann, den ich von Anfang an akzeptiert hatte. Wir waren uns im Fischereihafen von New Orleans begegnet. Ich war mit Shita auf den Kais herumgeschlendert und hatte zugeschaut, wie zwei Fischkutter – einer war die »Marygold« von Kapitän Harvest – einliefen, vertäuten und ihren Fang an Land brachten. Kapitän Harvest hatte mich angesprochen und gefragt, ob ich einen Job suchte. Dabei hatte er Shita die Ohren gekrault. Warum nicht? hatte ich mir gesagt. Und so war ich »Moses« auf der »Marygold« geworden. Für fünfundzwanzig Dollar im Monat bei freier Unterkunft und Verpflegung und ein Prozent Beteiligung am Fangergebnis. Später kriegte ich mit, daß ich beim besten Kapitän und Fischer der Fischereiflotte von New Orleans angeheuert hatte. Übrigens lief ich nicht mehr mit meinem Waffengurt herum. Navy-Colt und Spencer-Karabiner lagen in einer Backskiste unter meiner Vordeckskoje. Nur mein Messer trug ich weiter im Stiefelschaft. Ich lernte schnell. Der Kutter war einmastig und führte hinter dem Mast ein Gaffel-Großsegel und darüber ein Gaffel-Toppsegel sowie vor dem Mast von außen nach innen den hohen Jager, den Klüver und die Fock. Bei mittlerem Wind führten wir alle fünf Segel. Wenn es ruppiger wurde, segelten wir mit gerefftem Großsegel und der Fock. Mit mir waren wir neun sogenannte »Hands« für alle Segelmanöver und die Arbeit mit den Netzen. Die See war frei und grenzenlos wie die Prärien, an die ich oft genug dachte, wenn der Wind über das Wasser fächerte. Die Enge an Bord wiederum war etwas, das ich kaum zu ertragen vermochte – genausowenig wie die von ihren Liebeserlebnissen schwafelnden Kerle, deren Primitivität kaum zu überbieten war. Und der Gestank. Wir rochen nach Fisch aus allen Knopflöchern. Alles stank nach Fisch – die Kojen, die Seegrasmatratzen, die Decken, die Schapps, das Vordeck, die Kammern, einfach alles.
Ich war entschlossen, diesen Job durchzustehen, ob es nun stank oder ob mir das Schwadronieren der Hands zum Halse heraushing. Denn es war schon faszinierend, was ein Schiff unter Segeln tut, wenn es sich nur durch die Windkraft fortbewegt. Das war Abenteuer, ein Sich-Messen mit den Elementen Wasser und Wind, ein ständiger Kampf, ein immerwährendes Wachsein und Beobachten, um nicht von den Elementen überrascht zu werden. Aber dann begegneten wir dem Totenschiff.
2. Wir waren den dritten Tag in See und standen etwa zwanzig Meilen südöstlich der Mississippi-Mündung. Bisher hatten wir hervorragende Fangergebnisse gehabt, und alles wies darauf hin, daß es auch am vierten Tag so bleiben würde. Dann wollte Kapitän Harvest nach New Orleans zurücksegeln. Den Hands juckte auch schon wieder das Fell, seit drei Tagen nicht mehr bei den Hafenhuren gewesen zu sein. Sie taten geradeso, als seien sie mit diesen Schlampen verheiratet und wurden von wilder Eifersucht geplagt, die Sündenpfuhle ihrer jeweiligen Gespielinnen von anderen Liebhabern besetzt vorzufinden – was bestimmt der Fall sein würde, denn schließlich lebten diese Ladys ja von ihrem Gunstgewerbe. Am Morgen des vierten Tages war die Stimmung gereizt, wozu auch Mortimers Kaffee beitrug, den Jack Jigger, der Deckälteste, mit Recht als Mauleselpisse bezeichnete. Mortimer wiederum zählte daraufhin auf, was Jack Jigger alles sei und kriegte schließlich von Jigger einen Seestiefel ins Kreuz, als er ihn als Krone seiner Beleidigungen einen verhurten, gottverdammten Rammler nannte, der sich nicht scheute mit seiner Gorillagroßmutter ins Bett zu steigen. Den Fäusten Jack Jiggers entging er durch die Flucht in die Kombüse, in die er sich einschloß. Dafür ließ Jack Jigger seine Wut an Abraham Smith aus, der zwei Jahre jünger als ich war und von Jigger beschuldigt wurde, mit Mortimer während der Zeit auf See dann und wann die Koje zu teilen oder in der abgeschlossenen
Kombüse Mann und Frau zu spielen. Wie gesagt, ich war in einen feinen Haufen geraten. Das Bürschchen Abraham Smith war ein bleichgesichtiges mageres Etwas mit dem Gesicht einer vergreisten Ratte. Mortimer war mir schon widerlich genug, aber gegen Abraham Smith war er ein harmloser Kirchengänger. Ich sah zu, wie Jack Jigger mit Abraham Smith die Vordecksplanken aufwischte, stand auf von der Gemeinschaftsbank und ging nach draußen aufs Mitteldeck. Ich schlug das Schott hinter mir zu, um das Greinen der Ratte mit dem alten Gesicht nicht mehr hören zu müssen. Achtern stand Kapitän Harvest und starrte durch einen Kieker nach Backbord voraus. Er stand wie ein Monument, an dem man sich festhalten konnte. Wir segelten Südkurs bei Wind von Osten. In einer halben Stunde würden wir die Fangnetze auswerfen. Die Sonne war wie ein glutroter Ball über die östliche Kimm gerutscht und gab der See jene Färbung, die an schmelzendes Gold erinnert. Kapitän Harvest ließ den Kieker sinken, rieb sich die Augen, sah mich und winkte mich heran. Ich enterte den Niedergang zum Achterdeck hoch und sagte: »Guten Morgen, Sir!« Er lächelte, und sein Gesicht zersprang in hundert und mehr Falten. »Guten Morgen, mein Junge. Du hast doch gute Augen, oder?« »Glaub schon, Sir.« Er reichte mir den Kieker und sagte: »Backbord voraus, was siehst du da?« Ich hob das Spektiv und suchte die Kimm ab. Drei, vier Daumenbreiten links vom Bugspriet zeichneten sich an der Grenze zwischen Himmel und See zwei hauchdünne Nadelspitzen ab. »Zwei Masten, Sir«, sagte ich. »Aber nicht unter Segeln.« Er nickte zufrieden und sagte zu dem Rudergänger: »Mac, welcher Kurs liegt an?« »Genau Süd, einhundertachtzig Grad, Sir.« »Neuer Kurs einhundertfünfundsiebzig, Mac.« »Aye, aye, Sir, neuer Kurs einhundertfünfundsiebzig.«
Der Kutter luvte etwas an, und ich sprang mit zwei anderen Männern der Besatzung an die Schoten, um sie etwas dichter zu holen. Wir segelten genau auf die beiden Mastspitzen zu. Kapitän Harvest purrte die Restmannschaft aus dem Vordeck, ließ aber nicht das Fanggeschirr klarieren. Es ist etwas Seltsames, wenn sich Schiffe auf offener See begegnen. Auch das erinnerte mich irgendwie an Begegnungen auf endloser, weiter Prärie. Seit drei Tagen hatten wir ringsum uns kein Schiff gesehen, da waren nur Einsamkeit und Weite gewesen. Man hatte das Gefühl, völlig allein zu sein. Ich konnte mir ungefähr vorstellen, welche Stimmungen bei Mannschaften entstanden, die wochenlang auf See waren oder gar in windstille Zonen gerieten. Die mußten weiß Gott anfangen zu spinnen und sich gegenseitig auf die Füße zu treten. Wehe dem Kapitän, der dann seine Mannschaft nicht eisern in der Hand hatte. Jetzt standen die Männer an der Backbordreling und starrten schweigend voraus auf die beiden Masten, die immer weiter aus der Kimm hochwuchsen. Zuerst begriff ich nicht, warum sie nichts sagten, sondern nur stumm starrten. Dann murmelte Jack Jigger neben mir: »Da springt doch glatt der Hering aus der Pfanne – der hat nicht einen Fetzen Tuch gesetzt!« Das hatte ich zwar auch schon gesehen, aber mir nichts weiter dabei gedacht. Ja, das war es: Ein Schiff hier draußen im Golf von Mexiko sollte eigentlich unter Segeln sein. Der Zweimaster dort vorn trieb. Er ankerte nicht, das war hier wegen der Meerestiefe gar nicht möglich. Jack Jigger schniefte und zog sich die Hosen hoch. Er blickte über die Schulter nach achtern und sagte: »Und der Alte segelt da auch noch hin.« »Na und?« fragte ich. Er blickte aus seinen kleinen, tückischen Augen zu mir hoch und runzelte die Stirn. »Die Sache stinkt!« »Wieso denn?«
»Weil sie eben stinkt, verdammt noch mal«, erwiderte er. »Wer das nicht kapiert, ist ein Blödmann, klar?« »Dann ist Kapitän Harvest also ein Blödmann, oder?« »Halt's Maul, du Tintenfisch!« knurrte mich Jack Jigger an. »Red nicht über Sachen, die du nicht verstehst.« »Verstehst du sie denn?« Er schielte mich wütend an. »Ein Schiff ohne Segel«, fauchte er, »so was gibt's nicht, klar? Das ist wie 'n Fisch ohne Flossen oder 'ne Hure ohne – ohne …« »Bett«, schlug ich schnell vor, um ihm weitere Details anatomischer Art zu ersparen. »Hahaha!« meckerte Mortimer, der Koch, der aus dem Schutz seiner Kombüse wieder aufgetaucht war. »Halt's Maul!« fuhr ihn Jack Jigger an. O Gott, war das ein geistvoller Dialog! Bei Jack Jigger gab's nur Maulhalten oder stumpfsinnige Feststellungen, daß es etwas, was es nicht gab, eben nicht geben durfte. Und doch gab es das Schiff mit den zwei Masten, aber keiner Besegelung. Es war eine Brigg, ein Schiff mit einem schlanken Rumpf. Es hätte Rahsegel führen müssen, aber die Segel waren an den Rahen aufgetucht. Die Brigg trieb quer zum Wind, das war jetzt deutlich zu sehen. Ihr Rumpf war schwarz. Diese Farbe veranlaßte Jack Jigger zu der dumpfen Bemerkung: »Schwarz wie der Satan!« Ich hatte nichts gegen den schwarzen Rumpf, im Gegenteil. Die dunkle Farbe betonte die scharfen, rassigen Konturen des Schiffskörpers und mußte im Kontrast zu den – jetzt leider nicht gesetzten –, hellen Rahsegeln eine phantasische Gesamtwirkung erzielen. Ich verbiß mir eine Bemerkung. Jack Jigger hätte wieder mit »Halt's Maul« reagiert und mir erklärt, daß ich davon nichts verstünde. Allesamt sahen die Kerle jetzt aus, als müßten sie mit unserer »Marygold« nunmehr geradewegs in die Hölle segeln. Statt sich zu freuen, in dem Einerlei der See einem Schiff zu begegnen, hatten sie Leichenbittermienen aufgesetzt und schienen den Weltuntergang zu
erwarten. Immer mehr Einzelheiten der Brigg wurden deutlich. Etwas ließ mich nun auch stutzen. Ich konnte niemanden an Bord entdecken. Bei uns drängelten sich die Männer an der Backbordreling, aber bei der Brigg rührte sich nichts, weder vorn noch mittschiffs noch achtern. Dieser Zweimaster erweckte den Eindruck, als sei er unbemannt. Wer es sagte, kriegte ich nicht mit, weil ich die Brigg beobachtete. Einer der Männer sagte: »Ein Totenschiff!« Er sagte es mit jener Grabesstimme, bei der einem kalte Spinnenbeine über den Rücken laufen. Das Jüngelchen Abraham Smith, das grün und blau geschlagen neben Mortimer stand, begann zu schluchzen. Jack Jigger reagierte wie immer. »Schnauze, du abgewischter Puppenheini!« zischte er. Abraham Smith zuckte zusammen und hielt sich an Mortimer fest. Und der umschlang ihn, brüderlich oder nicht, als sei er bereit, mit seinem Spielknaben die letzte Ölung zu empfangen. In diese verwirrende Situation peitschte die harte Stimme von Kapitän Harvest. »Jigger! Jolle klar zum Aussetzen! Dalli, dalli!« Jack Jigger stöhnte auf. Mortimer ließ seinen Liebling los und hastete zurück in die Kombüse. Abraham Smith wankte greinend zum Vordeckschott, um sich zu verholen. Die Stimme des Kapitäns holte ihn zurück. »Das ist ein Alle-Mann-Manöver, Smith! Hier wird jede Hand gebraucht!« Die »Marygold« passierte das Heck der Brigg. »Emperador« stand dort in Goldbuchstaben. Vergoldet war auch die Zierleiste, die sich oben am Rumpf um das ganze Schiff herumzog. Wir liefen ein Stück ab und luvten an, bis die »Marygold« im Wind Steuerbord querab der Brigg lag. Der Zweimaster dümpelte in den Wellen. Das Steurruder bewegte sich leer im Seegang, kein Mensch war zu sehen. Kapitän Harvest nahm ein Blechdings, das wie eine Tüte geformt war, setzte es an den Mund und brüllte die Brigg mit seiner Donnerstimme an.
Von der obersten Rah des Fockmastes vorn flatterten zwei Möwen erschreckt hoch und flogen nordwärts davon. Das war alles. Jack Jigger flüsterte: »Das waren die Seelen der Toten.« Offensichtlich meinte er damit die beiden Möwen. Ich grinste ihn an. »Nur zwei?« sagte ich. »Und wo sind die anderen? Oder meinst du, zwei Möwen reichen für die ganze Crew der Brigg aus?« Dieses Mal erwiderte er gar nichts. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, seine Gesichtsfarbe war fahl. »Jigger!« Das war wieder die scharfe Stimme des Kapitäns. »Verdammt! Ist die Jolle endlich klar?« Ich konnte es Jack Jigger deutlich ansehen, daß er sich am liebsten tief unten im Schiff – in der Bilge – verkrochen hätte. Das Schlimme war, daß Miene und Verhalten des Decksältesten auf die anderen Kerle abfärbten. Sie vermieden es, zu Kapitän Harvest hinzuschauen und rührten sich nicht. Eine Meuterei war das nicht, dazu hatten sie viel zuviel Angst vor dem Kapitän. Aber genausoviel Angst schienen sie vor der Brigg zu haben, die einer als »Totenschiff« bezeichnet hatte. Sie warteten ganz einfach ab, wie Jigger, der als Deckältester gleichzeitig auch so eine Art Bootsmann war, weiter reagieren würde. Inzwischen lief Kapitän Harvest die Galle über. Mit ein paar Sätzen war er auf dem Mitteldeck, schnappte sich Jack Jigger vorn am Hemdausschnitt und lüftete den gewiß nicht leichten Mann mit eiserner Hand von den Deckplanken hoch. Jigger zappelte. »Hör zu, Mister Jigger«, grollte der Kapitän, »ich pflege meine Befehle nur einmal zu geben! In drei Minuten ist die Jolle ausgesetzt, oder du gehst baden und kannst zu Fuß nach New Orleans zurückmarschieren!« Das wirkte. Die Jolle lag sogar in weniger als drei Minuten längsseits der »Marygold«. Jetzt hatten alle mit angepackt. Kapitän Harvest hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und musterte mit seinen eisblauen Augen die Crew seines Kutters.
»Wer pullt freiwillig mit zu der Brigg hinüber?« Ich trat vor – und blieb der einzige Freiwillige. »Scheißkerle«, murmelte Kapitän Harvest verächtlich. Sein rechter Zeigefinger stach vor. »Smith«, der Zeigefinger wanderte weiter, »O'Brien, Ricalle, Dryer und Milton – ihr besetzt mit Ronco die Jolle! Bringt die Jakobsleiter aus und ab mit euch!« »Mir – ist so schlecht«, stammelte Abraham Smith, der Junge mit dem vergreisten Rattengesicht. Kapitän Harvest sagte kalt: »Du kannst dich als abgemustert betrachten, Smith. Verschwinde vom Deck, sonst wird mir auch noch schlecht.« Abraham Smith schlich mit hängenden Schultern zum Niedergang ins Vordeck und verkroch sich. Kapitän Harvest grinste plötzlich. »Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz auf See«, sagte er beinahe zuckersüß. »Danach geht ein Schiff, das von seinen Offizieren und der Mannschaft verlassen worden ist, in den Besitz dessen über, der es findet und in den Hafen einbringt. Die Reederei, zu der das Schiff gehört, darf natürlich Ansprüche anmelden, muß dann aber das Schiff von dem Finder zurückkaufen. Den Wert einer Brigg – ganz abgesehen von ihrer Ladung –, brauche ich wohl keinem von euch näher zu erläutern. Möchte jemand für Smith einspringen?« »Ja, ich, Sir«, sagte Jack Jigger heiser. »Sehr schön«, lobte Kapitän Harvest. »Dann wollen wir uns die Brigg mal näher ansehen.« Zurück an Bord blieben nur der gefeuerte Abraham Smith, Mortimer und ein Mann namens Croof. Zumindest Mortimer und Croof hatten ziemlich lange Gesichter. Wenn Kapitän Harvest später in New Orleans den Kuchen aufteilte, würden sie allenfalls ein paar Krümel einstecken dürfen. Da war ich als wirklich echter und erster Freiwilliger schon besser dran, und schon jetzt konnte ich den Mienen der anderen entnehmen, wie der Neid und die Mißgunst an ihnen nagten. Auf einmal waren sie auch furchtbar eifrig, Jack Jigger allen voran. Zurück blieb natürlich auch Shita. Er reagierte heute gelassen, als ich in die Jolle abenterte. Vielleicht hatte er sich daran gewöhnt.
Sonst war er immer ziemlich wild geworden, wenn ich dann und wann zur Jollenbesatzung gehört hatte und für kürzere oder längere Zeit nicht an Bord war, weil die Netze klariert werden mußten. Jigger und ich pullten als Schlagleute. Kapitän Harvest saß an der Pinne und steuerte die Jolle einmal dicht um die Brigg herum. Der Zweimaster war tadellos in Schuß, von außen jedenfalls. Noch einmal rief Kapitän Harvest die Brigg an. Aber wieder erfolgte keine Reaktion. Ich saß auf der Backbordducht am Schlag und warf Jack Jigger einen kurzen Blick zu. Seine Miene war eine eigenartige Mischung von Gier und Angst. »Wir gehen an der Steuerbordseite längsseits«, sagte Kapitän Harvest. »Ruder an!« Wir pullten wieder, und Kapitän Harvest brachte die Jolle längsseits der Brigg. Um aufentern zu können, hatten wir nicht allzu dicke Taue mitgenommen, an deren Ende Haken geknotet wurden. Ich nahm eins zur Hand, schoß es wie eine Wurfleine – oder Lasso – in mehreren Buchten auf, hielt das eine Ende mit der Linken fest und schleuderte mit der Rechten die aufgeschossenen Buchten samt Haken nach oben. Wie bei der Wurfleine zog der schwere Haken die Buchten auseinander, das Tau lief sauber aus. Der Haken faßte oben um die Umbörderung des Schanzkleides und saß fest, als ich an dem Tau zerrte. Kapitän Harvest nickte mir zu und lächelte. »Wie ich dich kenne, willst du wahrscheinlich als erster entern, nicht wahr?« fragte er. »Aye, aye, Sir.« »Einverstanden. Und wer entert nach Ronco?« »Ich«, sagte Jack Jigger. »Ebenfalls einverstanden«, sagte Kapitän Harvest. »Jigger, du nimmst die Jakobsleiter mit und belegst sie oben irgendwo, damit wir nicht alle hier wie die Affen herumturnen.« »Aye, Sir«, sagte Jack Jigger und legte sich die Jakobsleiter über die Schulter. Ich hatte bereits nach dem Tau gegriffen und enterte Hand über Hand auf. Die Beine stützte ich an der schwarzen Bordwand ab. Als
ich die Scheuerleiste erreichte, hatte ich es geschafft. Ich hielt mich am Schanzkleid fest und trat auf der Scheuerleiste nach links, um Jack Jigger Platz zu machen. Dann schaute ich über das Mitteldeck der Brigg und erstarrte. Auf den Planken lagen drei verkrümmte Gestalten. Neben mir keuchte Jack Jigger am Tau hoch und reckte den Kopf über das Schanzkleid. Er mußte sich auf die Zehenspitzen stellen, um drüber wegsehen zu können. Er ächzte nur, als er die drei Gestalten erblickte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, war er wieder weg. Ich habe nie wieder einen Menschen so schnell an einem Tau nach unten flitzen sehen. Er krachte wie eine Bombe in die Jolle und durchbrach glatt eine Ruderbank – zum Glück die unbesetzte Ducht vorn am Bug. »Weg! Schnell weg!« brüllte er. »Das Schiff hat die Pest an Bord!« »Die Pest! Die Pest!« schrien die anderen Kerle durcheinander und griffen nach den Riemen. »Ruhe!« donnerte Kapitän Harvest. »Seid ihr übergeschnappt?« Die tobten da unten in der Jolle wie die Irren herum. Jack Jigger, kreidebleich, hatte schon nach einem Bootshaken gegriffen und versuchte, die Jolle von der Bordwand abzustoßen. Der Vorsteven schwenkte von der Bordwand weg. Kapitän Harvest schnappte sich das Tau, an dem Jigger und ich hochgehangelt waren, und hielt es fest. Er war rot vor Wut. »Enter ab, Ronco!« rief er zu mir hoch. Ich warf noch einen kurzen Blick auf die drei verkrümmten Gestalten. Die waren tot, das stand fest. Es waren der Kleidung nach Seeleute. Unter dem einen sah ich eine eingetrocknete Blutlache. »Ich will weg hier!« heulte Jack Jigger und rührte wie von Sinnen mit dem Bootshaken im Wasser herum, während die vier anderen die Riemen in die Runzeln knallten und ohne ein Kommando abzuwarten, einfach lospullten. Natürlich fingen sie Krebse, wie man das nennt. Das heißt, jeder pullte seinen eigenen Schlag, sie gerieten sich gegenseitig ins Gehege, zwei Riemenblätter schnitten unter und brachten die Jolle zum Schaukeln.
Kapitän Harvest hielt eisern das Tau fest. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun, obwohl er wahrscheinlich am liebsten diese fünf Idioten zu Brei geschlagen hätte. Ich enterte ab. Wenn es nach den fünf Kerlen gegangen wäre, hätten die mich glattwegs und rücksichtslos auf der Brigg zurückgelassen. Ich sprang achtern in die Jolle, stolperte und fiel Kapitän Harvest um den Hals. Er bewahrte mich davor, außenbords zu kippen. Dann ließ er das Tau los – es blieb bei der Brigg zurück –, schnappte sich ein Tauende und drosch damit auf die völlig durchgedrehten Kerle ein. Jawohl, die brauchten die Peitsche, um wieder Vernunft anzunehmen. »Riemen auf!« brüllte er sie an. »Jigger, nimm deinen Platz als Schlagmann ein, verdammt noch mal! Seid ihr Männer oder gottverdammte Hottentotten? Jigger, dir werde ich noch den Marsch blasen!« Jack Jigger stieg über die Duchten nach achtern und setzte sich neben mich. Wir trieben etwa zehn Yards querab der Brigg. Kapitän Harvest schlenkerte das Tauende und durchbohrte mit seinen eisblauen Augen Jack Jigger. Gefährlich leise sagte er: »Nun schieß mal los, Jigger. Wieso hat die Brigg die Pest an Bord, he?« »Da – da waren drei Tote«, flüsterte Jack Jigger. »Na und?« »Die – die hatten die Pest. Ro-Ronco kann das bezeugen!« »Kann ich nicht«, sagte ich entschieden. »Ich habe nur drei Tote gesehen, das ist alles. Ob die an der Pest gestorben sind, kann man wohl erst feststellen, wenn man sie untersucht hat. Da wir das nicht getan haben, solltest du besser das Maul halten, Jigger, statt hier Behauptungen von dir zu geben oder Unsinn zu phantasieren.« Jack Jigger starrte mich giftig an. Kapitän Harvest grinste. »Na, Jigger, wie ist das mit der Pest? Hast du schon mal'n Pestkranken gesehen?« »N-nein.« Jack Jigger war ziemlich sauer. »Dann sind die eben an was anderem krepiert, an 'ner Seuche oder so was.«
O'Brien, der auf der Ducht hinter mir saß, sagte: »An der Cholera sind die krepiert.« »Sonst noch was?« fragte Kapitän Harvest höhnisch. »An was ihr krepieren werdet, ist mir schon jetzt klar. Da gibt's nur zwei Möglichkeiten – an eurer Angst oder an eurer eigenen Dummheit. Jigger sieht drei Tote, und schon hat er die Hosen voll.« »Sehn Sie doch selbst nach«, sagte Jack Jigger tückisch. Kapitän Harvest fixierte ihn mit einem eisigen Blick – schweigend, bis Jack Jigger den Kopf senkte. Dann sagte der Kapitän: »Das möchte ich überhört haben, Jigger. Oder spekulierst du darauf, mit der Jolle und dann mit der ›Marygold‹ abhauen zu können, während ich auf der Brigg bin?« »So was würde ich nie tun.« »Aber Ronco wolltet ihr zurücklassen, nicht wahr?« »Das ist ganz was anderes!« stieß Jigger hervor. Kapitän Harvest beherrschte sich. Eisig erwiderte er: »Ein Deckältester, der einen seiner Kameraden im Stich läßt, ist noch weniger wert als die Ratten an Bord, Jigger. Es ist wohl mein Fehler, daß ich das nicht eher erkannt habe. Aber auf einen solchen Scheißkerl kann ich auch verzichten. Wenn wir einlaufen, kannst du deinen Seesack packen und zusammen mit Smith abmustern, verstanden?« »Aber …« »Ich will nichts mehr hören«, unterbrach ihn Kapitän Harvest scharf. »Oder willst du gleich hier von Bord gehen? Dann bitte sehr! Ich habe nichts dagegen!« Jack Jigger schwieg. »Klar bei Riemen!« befahl Kapitän Harvest. »Ruder an!« Wir pullten zur »Marygold« zurück. Ich blickte an dem steinernen Gesicht des Kapitäns vorbei zur Brigg. Der Mann, der über einer Blutlache gelegen hatte, ging mir nicht aus dem Kopf. Die »Emperador«, barg ein Geheimnis, und zwar ein blutiges. Das hatte nichts mit einer Seuche zu tun. Seuchen entstehen nicht von heute auf morgen, das war mal sicher. Und wenn, dann war noch lange nicht gesagt, daß alle dahingerafft wurden. Immer hatte es Menschen gegeben, die von einer allgemein
ansteckenden Krankheit verschont geblieben waren. Nein, dort an Bord der Brigg mußte sich ein anderes Drama abgespielt haben. Es mußte ganz plötzlich eingetreten sein. Hatten Piraten die Brigg geentert?
3. Der Mississippi, der »Vater der Wasser«, wie er genannt wurde, wälzt seine ungeheuren Wassermassen unterhalb von New Orleans durch fünf Flußmündungen, die wie die Fangarme einer Riesenkrake aussehen, in den Golf von Mexiko. Sie und unzählige kleinere und größere Mündungsarme haben im Lauf von Jahrtausenden das Mississippi-Delta geschaffen und angeschwemmt – eine Landschaft von Bayous, das sind die Wasserläufe, die vom Mississippi abzweigen, Seen, Sümpfen, Morast und Dschungel. Wer sich in diesem Gebiet verirrte, hatte eine winzige Chance, zu überleben – und unzählige Möglichkeiten, ins Jenseits zu gelangen. Ein Fehltritt, und der Sumpf verschlang ihn. Ein Schlangenbiß, und das Gift besorgte den Rest. Ein Tritt auf einen vermodernden Baumstamm – und ein Alligator schnappte zu. Der Stich einer Mücke, und das Sumpffieber zerfraß den Körper. Hier war alles feindlich – das Klima, die Natur, die Tiere. Und doch lebten in dieser Hölle Menschen, die sich zurechtfanden. Sie kannten sogar Wege – ohne die fünf großen Mündungsarme zu benutzen –, wie man durch Bayous und Dschungel von der zerrissenen Küstenlandschaft nach New Orleans, und natürlich wieder zurück, gelangen konnte. An demselben Tag, an dem die Männer der »Marygold« bei aufgehender Sonne die Brigg sichteten, brannte an dem schmalen Sandstrand der Barataria Bai südlich von New Orleans im frühen Morgengrauen ein riesiges Feuer. Vier Männer hatten es entzündet. Bärtige Gestalten, die verwegen genug aussahen, sich eine Sumpfviper um den Hals zu binden. Das Feuer unterhielten sie bereits seit den Mitternachtsstunden. Zuerst waren sie sehr gelassen gewesen. Als aber die frühen Morgennebel über die See zogen, wurden sie zunehmend nervöser.
Dabei war ein offenes Feuer am Strand weiß Gott kein Grund, unruhig zu werden, noch dazu an einer Stelle des Mississippi-Deltas, an der die Welt zu Ende war. Einen heimlichen Beobachter brauchten sie hier nicht zu befürchten. Sie hätten hier nackend Kopfstehen, Kinder schlachten, Poker spielen oder sich gegenseitig die Zähne ziehen können – niemand hätte das interessiert, niemand hätte sich hierher getraut, niemand hätte diese Stelle überhaupt von Land her gefunden. Von See her war das etwas anderes. Und von dorther schienen sie auch etwas zu erwarten, denn immer wieder blickten sie über das unendliche Wasser, das in den Nachtstunden viel klarer vor ihnen gelegen hatte als jetzt in den Frühnebeln. »Da ist was schiefgegangen«, sagte einer der Männer, ein vollbärtiger Riese in Lederkleidung. »Die haben den Kasten nicht gefunden, verdammt. Dabei hat ihnen der Boß genau gesagt, auf welcher Position sie lauern sollten.« »Abwarten«, sagte einer der anderen drei mit stoischer Ruhe. Er hatte eine Handvoll Kieselsteine aufgesammelt und beschäftigte sich damit, die Steine einzeln ins Wasser zu werfen. Dabei zielte er jeweils auf die Stelle, wo der letzte Stein versunken war und die Kreise sich auf dem Wasser ausbreiteten. Wurf für Wurf erzeugte ein schmatzendes Blubbergeräusch. »Mann, hör doch endlich auf«, sagte der bärtige Riese. »Warum denn?« »Du machst mich verrückt mit dieser dämlichen Werferei!« »He! Seid mal ruhig!« rief einer der anderen. Er stand dicht am Wasser und lauschte. Jetzt hörten sie es alle. Gleichmäßiger Ruderschlag tönte aus dem Nebel zu ihnen herüber. »Sie sind es«, sagte der bärtige Riese. Aus den Nebelschwaden schob sich der Umriß eines großen Bootes heraus, wurde deutlicher, und sie sahen die Rücken der Männer an den Riemen, die sich exakt vor und zurückbewegten. Es waren acht Männer, je vier auf jeder Bootsseite. Ein Mann saß hinten an der Pinne. Er stand jetzt auf und rief: »Los, noch zwei kräftige Schläge! Hol
weg – hol weg! Riemen ein!« Knirschend lief das Boot auf dem Sand auf. Sechs Männer sprangen in das flache Wasser und zogen zusammen mit den vier Männern, die das Feuer unterhalten hatten, das Boot höher auf den Strand. »Alles klar?« fragte der bärtige Riese den Bootssteurer, der im Boot geblieben war. Der grinste. »Und ob!« Er klopfte mit den Fingerknöcheln der Rechten auf eine der beiden eisenbeschlagenen Kisten, die zwischen der Steuer und der ersten Ruderducht standen. In die Seitenwände der beiden Kisten war ein Wappen mit einer Krone eingebrannt worden: Der bärtige Riese nickte zufrieden. Viele Worte wurden nicht mehr gewechselt. Die Männer hoben die beiden Kisten aus dem Boot und trugen sie über den Strand zum Rand des Dschungels. Dort wurden sie auf Maultiere geladen. Die sechs Rudergäste schoben das Boot in tieferes Wasser, schwangen sich hinein und nahmen die Riemen auf. Der bärtige Riese und der Bootssteurer winkten sich kurz zu. Dann tauchte das Boot wieder in den Nebelschwaden unter. Die vier Männer löschten das Feuer und verschwanden mit den Maultieren und ihrer Last im Dschungel der Barataria Bai. * Wir liefen am Nachmittag mit der »Marygold« in den kleinen Fischerhafen von New Orleans ein. Am Vormittag nach dem Ereignis mit der Brigg hatten wir noch die Schleppnetze ausgeworfen, aber wider Erwarten kaum etwas gefangen. Es war geradezu lächerlich, diesen plötzlichen Mißerfolg auf das »Totenschiff« zurückzuführen. Aber die Männer auf der »Marygold« taten es. Mit einem abergläubischen Fanatismus sondergleichen waren sie davon überzeugt, daß der »Pesthauch« der verlassenen Brigg die Fische vertrieben hätte. Das war Jack Jiggers Formulierung gewesen.
Mit viel idiotischer Phantasie orakelten die Hands an dieser Version weiter herum und brachten immer neue Blüten hervor. Die albernsten und absurdesten Behauptungen wurden aufgestellt. Sie faselten von Fischmännern, Seejungfern. Sirenen und Meergöttern, denen sie allesamt unterstellten, die Besatzung der Brigg aufgefressen zu haben. Die drei Toten, die Jigger und ich gesehen hatten, seien von ihnen auch abgemurkst, aber nicht gefressen worden, weil sie schon satt gewesen seien. Dieser ganze Unsinn steigerte ihre Angst zur Hysterie. Aus diesem Grunde hatte Kapitän Harvest den Fischfang abgebrochen, um nach New Orleans zurückzusegeln. Mit dieser verrückten Mannschaft war zur Zeit nichts mehr anzufangen. Ich selbst wurde wie ein Aussätziger betrachtet, da ich es gewagt hatte, eine andere Ansicht zu vertreten. Daß sich erwachsene Männer – mit Ausnahme des widerlichen Abraham Smith – zu derartigen Verrücktheiten steigern könnten, war für mich eine neue Erfahrung. Ich gelangte zu der nüchternen Erkenntnis, daß ich in einem solchen Haufen nichts mehr zu suchen hatte. Die weitere Entwicklung beschleunigte meinen Entschluß, abzumustern. Zunächst luden wir nach dem Festmachen unseren Fang aus. Jack Jigger und Abraham Smith schlichen von Bord, ihre Seesäcke auf dem Buckel. Sie wandten sich auf Anweisung von Kapitän Harvest zum Lohnbüro, um sich ihre letzte Heuer auszahlen zu lassen. Der Eigner der »Marygold« war nämlich Mister Henry Lafitte, ein Franco-Amerikaner, der außer der »Marygold« noch sechs andere Fischkutter, eine kleine Werft sowie mehrere Saloons im Hafenviertel besaß. Mit dem Verschwinden der beiden im Lohnbüro nahm die Geschichte um die verlassene Brigg draußen im Golf von Mexiko einen neuen, eigenartigen Verlauf. Den Anstoß gaben Jack Jigger und Abraham Smith, die im Lohnbüro nichts Besseres zu tun hatten, als loszutratschen. Und die Hampelmänner von Clerks im Lohnbüro hatten ebenfalls nichts Besseres zu tun, als zu Mister Lafitte, ihrem Boß, zu rennen und ihm die Geschichte brüh warm zu erzählen – nicht nur ihm. Innerhalb
kürzester Frist war das »Totenschiff« Gesprächsthema Nummer eins im Hafengebiet. Aus dem »Totenschiff« wurde ein »Geisterschiff«, ein »Seelenverkäufer«, ein »Fliegender Holländer«, ein »Pestschiff« und was weiß ich. Und prompt stiefelte Mister Lafitte über die Kaianlagen und stieg an Bord. Vom Scheitel bis zur Sohle war er das, was man mit einem Lackaffen bezeichnet. Auch ein Spazierstöckchen hatte er, ein dünnes Dings mit geschnitztem Elfenbeinknauf. Unter Mister Lafittes Nase prangte ein dünnes schwarzes Bärtchen. Er war schlank, elegant, verlebt, parfümiert und hatte jettfarbene harte Augen. Das war so der Typ, der mich schon allein durch sein Äußeres dazu reizte, ihn in den Hintern zu treten. Außerdem näselte er und wirkte damit noch arroganter, als er ohnehin schon war. An Bord unseres Fischkutters war er so fehl am Platz wie ein Papagei in einem Horst von Seemöwen. Ich ärgerte mich über meine sogenannten Bordkameraden, die sich mit linkischen Kratzfüßen und Verrenkungen verbeugten, als dieser Stinkstiefel, ohne sie eines Blickes zu würdigen, an ihnen vorbei zum Achterdeck ging. Ostentativ behielt ich die Hände in den Hosentaschen. Shita hatte auch wieder den richtigen Riecher und begann lauthals sein Knurrkonzert. Er mochte kein Parfüm. Die Duftwolke war eine Beleidigung für seine empfindliche Nase. Mister Lafitte warf ihm einen indignierten Blick zu, runzelte die Stirn – und blieb tatsächlich stehen. Ich hatte den Eindruck, daß es ihm nicht paßte, einen Hund an Bord eines seiner Schiffe zu sehen. Vielleicht meinte er, auch noch für einen Hund eine Heuer bezahlen zu müssen. Jedenfalls fragte Mister Lafitte mit seiner näselnden Stimme: »Wem gehört dieses häßliche Vieh?« Mortimer, dieser Widerling, der ganz in der Nähe stand, fühlte sich angesprochen und deutete mit dem Daumen auf mich. »Dem da, Sir«, sagte er.
Mister Lafitte geruhte, mich anzusehen. Er ließ sein Stöckchen wirbeln, was er wohl für vornehm hielt, und schnarrte: »Hunde haben an Bord meiner Schiffe nichts zu suchen, verstanden?« »Ratten auch nicht«, sagte ich vieldeutig. »Was soll das heißen?« fuhr er mich an. »Das soll heißen«, erwiderte ich, »daß mein Hund ein Rattenfänger ist, der mit diesen Biestern hier an Bord ganz schön aufgeräumt hat. Wie bekannt sein dürfte, sind Ratten keineswegs appetitliche Haustierchen. Wenn sie es an Land schon nicht sind, dann trifft das erst recht für ihre Existenz an Bord eines Schiffes zu. Sie sind Allesfresser und daher äußerst schädlich. Was sie von unserer Fangbeute anknabbern, kann man nur noch wegwerfen. Außerdem habe ich gehört, daß sie Seuchen übertragen sollen. Für mich steht außer Frage, daß ein Hund, der es versteht, Ratten zu fangen, an Bord eines Schiffes von unschätzbarem Wert ist.« Sie standen alle da, als seien sie von einem Zauberstab berührt und zu stummer Bewegungslosigkeit verwandelt worden. Nur Kapitän Harvest hatte Lachfältchen in den Augenwinkeln, wie mir ein kurzer Seitenblick verriet. Bei Mister Lafitte stellte ich ein nervöses Zucken des schwarzen Oberlippenbärtchens fest. Er stierte mich völlig perplex an. Offensichtlich schien er anzunehmen, ich sei aus einem Irrenhaus ausgebrochen. Das kannst du haben, dachte ich, und grinste einfältig. Viel lieber hätte ich Shita auf seine dämlichen weißen Gamaschen gehetzt, die er über den schwarzen Lackstiefeln trug. Shita schien schon ganz wild auf die Dinger zu sein. Er schielte sie an und hatte tückische Augen. Mister Lafitte erwachte aus seiner Erstarrung und sagte spitz: »Ich habe es nicht nötig, mir Belehrungen über Hunde und Katzen anzuhören. Wer bist du überhaupt?« Obwohl ich wußte, wer er war, stellte ich mich dumm und erwiderte: »Wer bist du denn?« Er lief rot an vor Wut. »Mister Harvest!« schrie er. Der Kapitän trat näher. »Bitte?«
»Wer ist dieser freche Bursche?« Er klopfte erregt mit seinem Stöckchen an sein rechtes Hosenbein. »Das ist Ronco«, erwiderte Kapitän Harvest ruhig. »Einer meiner besten Leute, obwohl er erst seit etwa vierzehn Tagen an Bord ist. Ronco, dieser Gentlemen, der dich angesprochen hat, ist Mister Lafitte, der Eigner der ›Marygold‹.« »Hallo, Sir«, sagte ich freundlich. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Darf ich Ihnen auch meinen Hund vorstellen? Er heißt Shita und ist, wie ich bereits betonte, ein ausgezeichneter Rattenfänger.« Mister Lafitte gab's auf mit mir. Es war wohl auch unter seiner Würde, mit »diesem frechen Burschen« über Hunde und Ratten zu diskutieren. Statt dessen ging er nun auf Kapitän Harvest los. »Was habe ich da in meinem Büro gehört, Mister Harvest?« Der Kapitän zuckte mit den breiten Schultern. »Keine Ahnung! Um was handelt es sich denn?« »Um diese Dingsda – äh – diese Brigg!« Kapitän Harvest zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Und? Wissen Sie etwas über die Brigg?« »Hier stelle ich die Fragen!« fauchte Mister Lafitte gereizt. »Bitte sehr«, sagte Kapitän Harvest gleichmütig. »Also, was ist mit der Brigg?« »Nichts. Wir entdeckten sie heute bei Sonnenaufgang. Die Segel waren aufgetucht. Sie trieb etwa zwanzig Meilen südöstlich der Mississippi-Mündung. Ich ließ die Jolle aussetzen, um mir das Schiff näher anzusehen, zumal es verlassen schien. Drei Tote lagen an Deck. Leider streikten meine Leute – bis auf Ronco –, die Brigg weiter zu untersuchen. Das ist alles.« »Sie haben unverantwortlich gehandelt, Mister Harvest«, erklärte der Lackaffe Lafitte mit näselnder Stimme. Der Kapitän musterte seinen erregten Eigner kühl. »Ich fahre seit über vierzig Jahren zur See«, sagte er, »und brauche wohl kaum über die Verantwortlichkeiten eines Schiffsführers oder Kapitäns aufgeklärt zu werden, Mister Lafitte. Dabei möchte ich Sie auf folgendes hinweisen. Es hätte sein können, daß die Brigg aus irgendeinem Grunde manövrierunfähig war. Dann
ist es nach alter seemännischer Tradition meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Hilfe anzubieten und zu leisten. Es kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein, hier von unverantwortlicher Handlungsweise zu sprechen. Diesen Vorwurf weise ich in aller Form zurück, Sir.« »Das Schiff war verseucht!« schrie Mister Lafitte und fuchtelte mit seinem lächerlichen Stöckchen herum. »So?« fragte Kapitän Harvest gedehnt. »Wer sagt das denn?« »Dieser Dings – äh – Pigger oder Jigger, den Sie gezwungen haben, abzumustern.« Der Kapitän verschränkte die Arme über der Brust. In seiner Stimme schwang ein leises Grollen mit. Er sagte: »Jigger ist ein Vollidiot, der Behauptungen aufstellt, die nicht bewiesen sind. Wenn Sie das Geschwätz eines solchen Narren für bare Münze nehmen, erübrigt sich jede weitere Diskussion. Ich muß mich allerdings fragen, unter was für einem Eigner ich als Kapitän fahre, wenn dieser Eigner aufgrund der Hirngespinste eines Einfaltspinsels meint, mir Unverantwortlichkeit vorwerfen zu müssen.« »Ich muß doch schon sehr bitten, Mister Harvest. Wie reden Sie denn mit mir?« »Ich rede so, wie mir der Schnabel gewachsen ist, Sir. Wenn Ihnen das nicht paßt, dann sagen Sie es. Es steht Ihnen frei, den Seemann Jigger als Kapitän der ›Marygold‹ einzusetzen, wenn Sie der Ansicht sind, dieser Mann sei zur Schiffsführung qualifizierter als ich.« »Ja, begreifen Sie denn nicht«, schrie Mister Lafitte, »was Sie für eine Gefahr heraufbeschwören, wenn Sie eine Seuche nach New Orleans einschleppen?« Bevor Kapitän Harvest darauf etwas erwidern konnte, sagte ich laut und deutlich: »Unsinn! Hören Sie auf, von einer Seuche zu faseln, Mister Lafitte. Ich bin ziemlich sicher, daß die drei Toten, die ich gesehen habe, nicht an einer Krankheit gestorben sind.« Mister Lafitte war zu mir herumgefahren. »Was sagst du da?« »Das, was Sie gehört haben«, erwiderte ich kalt. »Einer der drei Toten lag über einer Blutlache. Von Medizin verstehe ich so viel, um zu behaupten, daß Blut doch wohl nur durch Verletzungen aus dem Körper austritt, nicht durch eine Krankheit, es sei denn, ein
Lungenkranker hustet Blut. Nein, dieser Mann über der Blutlache ist offensichtlich abgemurkst worden. Bei den beiden anderen konnte ich das nicht erkennen, weil sie in einem ungünstigen Winkel zu mir lagen. Aber sie waren verkrümmt. Ihre Haltung entsprach Menschen, die ganz plötzlich vom Tod überrascht wurden, durch eine unerwartete Kugel etwa. Nach dem Bild, was sich mir geboten hat, läßt sich der Schluß ziehen, daß die Brigg überfallen wurde. Falls Sie jetzt damit argumentieren wollen, ich verstünde davon nichts, möchte ich Ihnen gleich entgegenhalten, daß ich in dem verdammten Krieg, den wir hinter uns haben, zu viele Tote gesehen habe. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich kenne die Haltung von Menschen, die von einer Kugel umgerissen wurden. So, das war's. Ihre Vorwürfe gegenüber dem Kapitän sind völlig unberechtigt.« »Du Lümmel!« kreischte Mister Lafitte. »Du gottverdammter Lümmel! Du wagst es, dem Eigner dieses Schiffes Belehrungen zu sagen? Du bist entlassen! Du kannst abmustern! Das wäre ja noch schöner, daß mir solche Burschen wie du auf der Nase herumtanzen!« »Geht klar«, sagte ich. »Und was den gottverdammten Lümmel betrifft, weise ich Sie darauf hin, daß ich mir Beleidigungen immer nur einmal bieten lasse. Ich warne Sie. Bei der nächsten Beleidigung stopfe ich Ihnen Ihr lächerliches Bärtchen in den Hals, Sie geschniegelter Gamaschenhengst!« Ich drehte mich zu Kapitän Harvest um. »Entschuldigung, Sir. Tut mir leid, wenn Sie wegen mir Ärger mit diesem Hanswurst haben. Bei Ihnen wäre ich gern weiter an Bord gefahren – wenn es Ihr Schiff wäre. Ich habe viel gelernt bei Ihnen. Herzlichen Dank.« »Schon gut, mein Junge«, sagte Kapitän Harvest. »Verschwinde!« schrie Mister Lafitte hysterisch. »Oder ich lasse dich von Bord prügeln!« »Langsam, Mister«, sagte ich, »mich prügelt keiner von Bord. Ich wüßte nicht, wer. Sie vielleicht? Mit Ihrem Stöckchen? Lassen Sie das lieber sein. Im übrigen gehe ich freiwillig.« Ich wandte mich zum Vordeck. »Einen Moment, Ronco.« Die Stimme von Kapitän Harvest hielt mich zurück. Ich drehte mich um. »Sagtest du eben, du gehst
freiwillig?« »Jawohl, Sir.« »Du brauchst aber nicht. Mister Lafitte hat nicht das Recht, dir den Job zu kündigen, das ist eine vertragliche Vereinbarung zwischen ihm und mir. Wer bei mir an Bord fährt oder nicht, ist ausschließlich meine Angelegenheit, in die mir der Eigner nicht hineinzureden hat.« Ich blickte zu Mister Lafitte hinüber. Der kochte vor Wut und hatte rote Flecken auf seinem verlebten Gesicht. Ich sah wieder Kapitän Harvest an. »Danke, Sir«, sagte ich. »Aber ich möchte abmustern.« Kapitän Harvest nickte. »Verstehe. Vergiß nicht, deine ausstehende Heuer im Lohnbüro zu kassieren. Mach's gut, mein Junge.« Ich holte meine wenigen Sachen aus dem Vordeck, darunter natürlich meine Waffen – den Spencer-Karabiner und meinen Navy Colt. Als ich an Deck zurückkehrte, war Mister Lafitte verschwunden. Kapitän Harvest war wohl im Achterdeck in seiner Kammer. Ich sah ihn nicht. Die Kerle der »Marygold« lümmelten an Deck und grinsten dreckig. Mortimer hatte das Pech, sich mir herausfordernd in den Weg zu stellen. Ich donnerte ihm den Kolben des SpencerKarabiners unter das spitze Kinn, ohne lange herumzufackeln. Da er an der Gangway gestanden hatte, ging er baden. Zwischen Pier und Bordwand klatschte er ins Wasser und planschte brüllend herum. Mit Mortimer hatte es angefangen, mit Mortimer hörte es auf. Ich drehte mich noch einmal um und musterte die Kerle. Das dreckige Grinsen war ihnen vergangen. »Wenn ihr heute abend euren Fraß haben wollt, müßt ihr diesen Hurenbock schon aus dem Wasser fischen. Oder meint ihr vielleicht, ich tu das?« Damit ging ich von Bord.
4. Im Lohnbüro herrschte ziemlicher Andrang. Außer der »Marygold« waren noch andere Fischkutter eingelaufen, hatten ihren Fang
ausgeladen, und die Tintenkleckser waren damit beschäftigt, aufgrund der Fangergebnisse die Prämien pro Kopf der verschiedenen Besatzungen zu errechnen. Ich hatte Zeit. Shita wartete draußen. In dem Lohnbüro herrschte ein entsetzlicher Mief, eine Mischung von Tabakgeruch, Schweiß und Fischgestank. Die Clerks saßen an Schreibtischen, die hinter einem langen Tresen aufgestellt waren. Der Clerk, der unter anderem für die »Marygold« zuständig war, hieß Nathan Scott und hatte sich wohl seinen Boß zum Vorbild genommen. Ob er auch weiße Gamaschen trug, konnte ich nicht sehen, aber sonst war er genauso geschniegelt wie Mister Lafitte, war ebenso blasiert und hatte seine dunklen Haare mit Pomade an den Schädel geklatscht. Ich hatte bereits vor einer Woche bei ihm meinen Heuerlohn abgeholt und dieses Stinktier kennengelernt. Er mochte mich nicht und ich ihn auch nicht. Wir würden wieder viel Spaß miteinander haben. Aber ich war noch nicht dran. Also setzte ich mich artig auf eine Bank und wartete geduldig. Zwei Themen beherrschten das allgemeine Palaver der Fischer und Seeleute in dem Lohnbüro. Das eine Thema hing mir nachgerade zum Hals heraus: das »Totenschiff«. Die Spekulationen blühten weiter und erregten die Gemüter. Jack Jigger hatte genau wie ich drei Tote gesehen, aber anders als ich darauf reagiert. Während ich eine Erklärung mit dem Verstand zu finden versuchte, stand für ihn bereits seine idiotische Version von der Seuche fest und wurde je nach Phantasie weiter ausgewalzt. Ich hörte nicht mehr hin. Das andere Thema, über das man sich unterhielt, wurde mit weitaus weniger Phantasie ausgeschmückt. Es handelte sich um den Ausbruch von vier Kerlen aus dem Staatsgefängnis in Baton Rouge, das etwa siebzig Meilen nordwestlich von New Orleans am Mississippi liegt. Daß Zuchthäusler ausbrechen, passiert immer wieder. Aber in diesem Fall – so hörte ich – ging es um vier besondere Galgenvögel, und zwar um Kerle, die hier in New Orleans im Hafenviertel als Zuhälter, Spieler und Kneipenwirte eine bestimmende Rolle gespielt
haben sollten. Angeblich waren sie von einem anderen Kumpan verpfiffen worden. Man hatte ihnen eine Reihe von Morden nachweisen können. Der Strick war ihnen wohl sicher, wenn ihre Verfahren vor den Richter kamen. Bei diesem Thema ereiferte man sich darüber, wie es hatte passieren können, daß die Kerle ausgekniffen waren. Sie sollten bei ihrem Ausbruch zwei Posten erschlagen und drei andere schwer verletzt haben. Einer der Seeleute im Lohnbüro erzählte, er kenne einen der Ausbrecher, einen gewissen George Hankins, der eine Kneipe direkt am Hafen gehabt habe. Er habe schon immer gewußt, sagte er, daß dieser Hankins Dreck am Stecken haben müsse, das sei ein ganz brutaler, rücksichtsloser Kerl gewesen. Wenn es dem gelänge, nach New Orleans zurückzukehren, würde in der Hafengegend die Hölle los sein, vor allem für die Seeleute, denn man habe den Verdacht, daß Hankins in seiner Kneipe Seeleute verschwinden ließe, um sie an die Kapitäne von Seelenverkäufern zu verhökern. Auch mit einer Preßgang arbeite der Schweinehund zusammen, die brave Männer in den Hafengassen nachts zusammenschlage und auf Schiffe verschleppe. Die drei anderen Kerle, so vernahm ich, hießen Less Vickers, Humphry LeCoer und Pernell Gatland. Nach den Gesprächen hier im Lohnbüro zu urteilen, mußte Less Vickers wohl noch um ein paar Kaliber übler als seine Kumpane sein. Angeblich besaß er mehrere Bordelle und außerdem eine kleine Armee von Hafenhuren, die nicht in festen Häusern »arbeiteten«, sondern sich auf offener Straße anboten und ihre Liebhaber in schlampigen Mietunterkünften bedienten. Einen Teil des Erlöses für ihre Liebesdienste mußten sie an Less Vickers abführen. Taten sie das nicht, wurden sie von Less Vickers mit hundsgemeinen Methoden an ihre Abgabepflichten erinnert. Bis ich bei Nathan Scott an der Reihe war, hatte ich aus den Gesprächen eine ganze Menge über die Unterwelt von New Orleans gelernt. Ich hätte nicht behaupten können, daß es mir gefiel. Diese Stadt war zum Kotzen. Genauso wie Nathan Scott.
»Was willst du?« fuhr er mich an, als ich an dem Tresen stand. Er wußte genau, was ich wollte, genauso wie er wußte, daß ich abgemustert hatte, denn Kapitän Harvest hatte längst die Auszahlungsbelege ins Lohnbüro gegeben. »Ich möchte meine Heuer abholen«, sagte ich friedfertig. »Mein Schalter ist geschlossen«, erklärte er giftig. »Ich hab jetzt Pause.« »Wie schön für Sie«, sagte ich. »Und wie lange wird die Pause dauern?« »Eine Stunde.« »In einer Stunde wird das Lohnbüro geschlossen«, sagte ich. »Das würde bedeuten, daß Sie mir also heute die Heuer nicht mehr auszahlen.« Ich drehte mich zu den drei Männern um, die neben mir auf der Bank gewartet hatten und nach mir dran waren. Sie gehörten zu einem der anderen Fischkutter Lafittes. »Ihr kriegt heute kein Geld mehr«, sagte ich. »Mister Scott geruhte soeben mir mitzuteilen, daß er jetzt eine Stunde Pause habe. Danach ist das Lohnbüro geschlossen.« Einer der drei Männer stand auf. Er war so breit wie eine Großsegelrah, hatte die Hemdsärmel aufgekrempelt, und ich entdeckte, daß er herrliche Tätowierungen auf Händen und Unterarmen hatte. Dieser Bursche war genau der Richtige, um sich mit Nathan Scott anzulegen – ich hatte nämlich keine Lust dazu. Mit wiegendem Schritt ging er auf den Tresen zu. »Was denn, Pause? Der spinnt wohl«, sagte er grollend. Er stützte die Arme auf den Tresen und funkelte Nathan Scott an. »Hör zu, du Pinscher! Wenn du jetzt eine Stunde Pause machst, schlag ich dich zusammen und stopf dich in 'ne Schublade von deinem Scheißschreibtisch verstanden? Hier wird jetzt Lohn ausgezahlt, dazu bist du da. Im Heuervertrag steht, daß wir unseren Lohn nach Einlaufen und Ausladen im Hafen in Empfang nehmen können. Also heraus mit den Bucks, oder ich nehme den Saftladen hier auseinander!« »Soll das eine Drohung sein?« empörte sich Nathan Scott. »Wird jetzt die Heuer ausgezahlt oder nicht?« brüllte der breitschultrige Mann.
Die anderen Clerks an den Schreibtischen ruckten mit den Köpfen hoch und starrten nervös zu uns herüber. Eine Tür prallte auf, und der Bürovorsteher Williams erschien. Er hatte einen Zwicker auf der Nase und zur Schonung seiner Manschetten schwarze Stulpen über den Unterarmen, die bis zum Ellbogen reichten. »Was ist denn hier los?« fragte er schrill. »Was hier los ist?« grollte der Kleiderschrank neben mir. »Das fragen Sie mal Ihren Pomaden-Scott! Der will uns keine Heuer auszahlen, weil er jetzt eine Stunde Pause hätte, sagt er. Und in einer Stunde ist der Laden hier dicht, was soviel bedeutet, daß wir morgen wieder antanzen können, verdammt noch mal!« Der Bürovorsteher hüstelte, und sein Kneifer wackelte. »Was soll das, Scott?« fragte er ungehalten. »Sie können doch jetzt nicht eine Stunde Pause einlegen. Sind Sie krank?« »Der und krank?« höhnte der Kleiderschrank. »Daß ich nicht lache! Schikanieren will uns der Pinscher, und das lassen wir uns nicht bieten!« Er knallte die Faust auf den Tresen, und das krachte, als sei eine Haubitze abgefeuert worden. Dem Bürovorsteher rutschte vor Schreck der Zwicker von der Nase. Er konnte ihn gerade noch auffangen. »Bitte, beruhigen Sie sich doch, lieber Mann«, sagte er nervös. »Selbstverständlich wird Ihnen Mister Scott sofort die Heuer auszahlen. Bitte nennen Sie Ihren Namen und das Schiff, auf dem Sie fahren.« »Buckman, John Buckman von der ›Eurydika‹«, erwiderte der Kleiderschrank. »Aber ich bin noch nicht dran, sondern der Mister hier neben mir.« Mister Williams setzte den Kneifer auf die Nase und fixierte mich. »Name, Schiff?« fragte er. »Ronco von der ›Marygold‹«, sagte ich, »aber das weiß Mister Scott.« Mister Williams zuckte zusammen, und sein Kneifer begann wieder zu wackeln. »Oh«, sagte er, »Sie sind das also.« Er trat hastig zwei Schritte zurück. Offensichtlich befürchtete er, von mir angesteckt zu werden
– von der Pest oder sonst einer Seuche. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte ich. »Sie – Sie haben doch die Pesttoten gesehen!« stieß er hervor. »Nein«, sagte ich. »Habe ich nicht, zum Teufel.« In dem Lohnbüro war es still geworden. Ich wurde mit einer Mischung von Angst und Neugier angestarrt. »Hören Sie auf, den Unsinn, den Jack Jigger hier verzapft hat, weiter zu verbreiten. Er und ich haben weiter nichts als drei Tote gesehen. Wer behauptet, sie seien von der Pest dahingerafft worden, ist entweder ein Lügner, der darauf scharf ist, New Orleans in Panik zu versetzen, oder er ist ein gemeingefährlicher Irrer, den man einsperren müßte.« »Aber Mister Lafitte hat gesagt …« »Was Mister Lafitte gesagt hat, interessiert mich nicht«, unterbrach ich ihn schroff. »Er war nicht dabei, und wenn er den Quatsch von Jack Jigger glaubt, dann frage ich mich nur, wo bei ihm der Verstand sitzt!« »Wie reden Sie denn von unserem Boß, junger Mann?« sagte Mister Williams empört. »Da hört sich doch alles auf. Sie wurden mir überhaupt als ein renitenter Bursche geschildert. Hier bestätigt sich das wieder. Es ist einfach unerhört …« Dieses Mal unterbrach ihn John Buckman. »Mann, nun halten Sie doch bloß mal die Luft an! Ist hier ein Lohnbüro oder 'ne verdammte Quatschbude oder was? Ich hab die Schnauze voll, hier noch lange warten zu müssen. Zahlen Sie den jungen Mister hier aus, und halten Sie keine Predigten, die niemanden interessieren!« Na endlich. Ich quittierte achtundzwanzig Dollar, bedankte mich bei John Buckman und verließ das Lohnbüro. Jetzt stand ich vor der Wahl, New Orleans zu verlassen oder mir einen neuen Job zu suchen. Ich neigte dazu, das erstere zu tun, war mir aber noch nicht ganz schlüssig. Irgendwie hatte ich das Gefühl, noch auf etwas warten zu müssen. Auf was, das wußte ich nicht. * Zu diesem Zeitpunkt waren die vier Ausbrecher aus dem
Staatsgefängnis von Baton Rouge noch immer auf freiem Fuß. Seit vier Tagen hatten sie nichts anderes getan, als sich nahezu ununterbrochen durch die Uferwildnis des Mississippi nach Südosten durchzukämpfen. Sie waren durch Morast und Sümpfe gewatet und hatten unzählige Bayous durchschwommen. Den Fluchtweg durch den Dschungel hatten sie sich mit einer Axt freigeschlagen, die sie außer einem Gewehr und einem Revolver aus dem Staatsgefängnis hatten mitgehen lassen. Sie trugen noch ihre Anstaltskleidung, aber die war jetzt zu einer schmutzstarrenden Hülle geworden, von der sie den eingetrockneten Dreck regelrecht abbröckeln konnten, so dick saß der auf dem Drillichstoff. Eins hatten sie gemeinsam – die harten, kalten Augen. Und natürlich ihre verbrecherische Energie, die jetzt darauf ausgerichtet war, zu überleben. Sie waren Typen, die im Krieg ohne weiteres mit Quantrill hatten reiten können. Die Härte, Brutalität und Rücksichtslosigkeit hätten sie dafür mitgebracht. Aber sie hatten auf das Kriegsspielen verzichtet und statt dessen ihre dunklen Jobs in New Orleans aufgebaut. Trotz des Krieges hatten sie wie die Maden im Speck gelebt. Sie kannten nur ihre eigenen Bedürfnisse. Der Krieg zwischen dem Norden und dem Süden hatte sie einen Dreck gekümmert. Mangels anderer brutaler oder fähiger Konkurrenz hatten sie sich in den Kriegsjahren recht schön mausern können und waren so etwas wie die lokalen Größen in der Unterwelt des Hafenviertels von New Orleans geworden – bis sie ihr fünfter Partner in die Pfanne gehauen hatte. Damit hatte sich dieser Mann die »Früchte« ihrer bisherigen Tätigkeit unter den Nagel reißen können. Less Vickers hatte alle Zuhälter, deren Schäfchen und die Bordellbesitzer kontrolliert. Humphry LeCoer, ein ehemaliger Spieler, war der Boß mehrerer Spielhöllen gewesen, in denen natürlich das Glück manipuliert wurde. George Hankins hatte sich mit Menschenverschleppung befaßt und Pernell Gatland, ebenfalls Kneipenwirt, war ungekrönter Boß eines Hehler- und Schmuggelrings gewesen. Um in einer Hölle zu überleben, ist Haß aller Wahrscheinlichkeit
nach eine der stärksten Medizinen. Dem Henkerstrick waren sie entgangen. Jetzt trieb sie der Haß weiter. Der Mann, der sie verraten hatte, war schon so gut wie tot. Sein Plan, sie auszubooten, wäre gut gewesen, wenn sie tatsächlich gebaumelt hätten. Aber jetzt waren die Bestien aus ihren Käfigen ausgebrochen und bewegten sich auf New Orleans zu. Pernell Gatland führte sie. Er war als ehemaliger Schmuggler mit der Dschungelwildnis des Mississippi vertraut. Sie hätten sich keinen besseren Scout wünschen können. Die drei anderen wußten, daß sie ohne seine Erfahrungen verloren gewesen wären. Bei Convent, das etwa auf der Hälfte zwischen Baton Rouge und New Orleans am rechten Mississippiufer liegt, verließen sie das Sumpfgelände und strolchten auf eine einsam gelegene Farm zu. Ihre Gesichter waren von Moskitostichen verschwollen, sie waren am Ende ihrer Kräfte, ihre Füße spürten sie nicht mehr, der Hunger wütete in ihren Mägen, sie waren verschwitzt, verdreckt, zerlumpt, aber trotz ihres desolaten Zustands bereit, ihre letzten Kräfte für eine mörderische Gewaltaktion einzusetzen. Ihr erstes Opfer wurde der vierzehnjährige Farmerssohn, der am Ufer gesessen und gefischt hatte. Jetzt lag er mit leeren, weit aufgerissenen Augen halb im Wasser. Pernell Gatland hatte ihn mit der Axt getötet – von hinten natürlich. Das Absurde an diesem Totschlag war, daß genau zu diesem Zeitpunkt ein etwa ein Yard langer Kaimanfisch angebissen hatte und am Haken hing. Da der Junge bei dem Hieb in den Schädel wie im Reflex die Hände um die Angelrute gekrampft und sie beim Vornüberkippen unter sich begraben hatte, spielte sich nun ein weiteres blutiges Drama im Flußwasser ab. Der Kaimanfisch, ein Fischräuber und Kämpfer mit einer langen, gefährlichen Krokodilschnauze, tobte wie wild herum und versuchte, das Ding in der Schnauze loszuwerden. Er riß, zerrte, peitschte das Wasser, sackte weg, schnellte sich hoch, stieß in die Tiefe – und dann passierte etwas, das geradezu gespenstisch aussah. Der Junge wurde samt Angel ruckweise ins Wasser gezogen und verschwand. Dann verlagerte sich der Kampf des tobenden Kaimanfisches mit der Strömung weiter flußabwärts. Ab und zu
tauchte der tote Körper des Jungen noch auf. Vielleicht riß irgendwann die Angelschnur oder die Angelrute löste sich aus den verkrampften Händen. Den vier Männern konnte das gleichgültig sein. Im Grunde war die Mordtat völlig sinnlos, der Junge hätte sich nie zur Wehr gesetzt und aus Angst die Männer auch nie verraten. Aber gerade das befürchteten sie. Sie befürchteten, entdeckt zu werden. Und darum mordeten sie. Es war Vormittag. Den Farmer überraschten sie in einem Schuppen, wo er ein Wagenrad reparierte. Auch in diesem Fall töteten sie lautlos, aber zweckmäßig, weil sie durch Schüsse niemanden alarmieren wollten, weil sie sowieso zu wenig Munition hatten, und weil sie befürchten mußten, daß Gewehr oder Revolver versagten, denn beide Waffen waren mehr als einmal beim Durchqueren der Bayous naß geworden. Der Farmer starb, ehe er begriff, was überhaupt mit ihm geschah. Ein Faustschlag schleuderte ihn gegen einen Balken, der sein Genick brach. Mit dem Messer des Farmers bewaffnete sich Less Vickers. Sonst hatte der Farmer keine weiteren Waffen bei sich gehabt. Die vier Männer blieben in dem Schuppen und warteten. Abwechselnd rauchten sie aus der Maiskolbenpfeife, die sie bei dem Toten gefunden hatten. Ihr nächstes Opfer wurde ein Hund, dem George Hankins einen Vorschlaghammer auf den Kopf schmetterte. Er war schnüffelnd in den Schuppen eingedrungen und fand keine Zeit mehr, Laut zu geben. In dem Farmhaus sang eine helle Frauenstimme. Sie hörten das Klappern von Töpfen. Aus dem Stall gegenüber dem Farmhaus waren Schnauben und Hufescharren zu vernehmen. Auf den Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen des Schuppens fielen, tanzten Staubteilchen. Irgendwo krähte ein Hahn. Less Vickers beobachtete durch ein Astloch das Farmhaus. Er war schlank und breitschultrig. Seine Augen waren so kalt wie die eines Fisches, aber seit er die Frauenstimme gehört hatte, lag ein unruhiges Schimmern in diesen Augen. Er stand wie ein geducktes Raubtier an
dem Astloch. Aus dem Kamin am Farmhaus kräuselte Rauch hoch. »Amos!« rief die Frauenstimme. »Der Kaffee ist fertig!« Amos würde nie wieder Kaffee trinken. »Amos!« Etwa drei Minuten verstrichen. »Amos! Bist du noch im Schuppen? Der Kaffee ist fertig! Bist du schwerhörig?« Eine Minute verstrich. Eine schlanke, blonde Frau erschien in der Tür des Farmhauses, beschattete die Augen gegen die grelle Sonne und blickte zu dem Schuppen hinüber. Sie trug einen langen Baumwollrock und eine Bluse, unter der sich ihre runden Brüste abzeichneten. Less Vickers leckte sich über die Lippen und glitt lautlos zu der Schuppentür. Er winkte den drei anderen zu, Deckung zu nehmen. George Hankins und Humphry LeCoer duckten sich hinter den Farmwagen. Pernell Gatland verschwand hinter einer Werkzeugkiste. »Amos! Was soll das?« rief die Frau ungeduldig. Die Dielen unter dem Vordach knarrten. Schritte näherten sich dem Schuppen, kleine, energische Schritte. Die Schuppentür wurde auf gestoßen. Die Frau trat ein – zwei, drei Schritte – und blieb entsetzt stehen. Sie schrie nicht. »Amos«, flüsterte sie. Less Vickers legte ihr von hinten den linken Arm um den Hals, drückte zu, riß mit der Rechten die Bluse und Rock entzwei, warf die Frau zu Boden und wälzte sich über sie. Die Frau wurde von allen vier Männern vergewaltigt und danach von Less Vickers erstochen. Die Farm war fest in den Händen der vier Verbrecher. Ermordet hatten sie einen Jungen, einen Mann und eine Frau sowie einen Hund. Das war ihnen so leicht von der Hand gegangen wie das Totschlagen einer Fliege. Die Vergewaltigung der Frau geschah so nebenbei, weil es sich gerade ergab. Seit ihrer Festnahme hatten sie keine Frau mehr gehabt. Sie fingen sechs Hühner ein, drehten ihnen die Hälse um und feierten eine Freßorgie. Dazwischen – bis die Hühner gar waren –
nahmen sie das Farmhaus auseinander, kleideten sich neu ein und vervollständigten ihren Waffenbesitz um eine doppelläufige Schrotflinte, einen Sharps-Karabiner und einen Navy Colt mit der entsprechenden Munition. An Bargeld kassierten sie etwas mehr als zweihundert Dollar. Eine silberne Brosche, zwei goldene Eheringe und eine Korallenkette steckten sie ebenfalls ein. Noch am Vormittag brachen sie wieder auf, um sich ein sicheres Versteck in der Flußwildnis zu suchen und sich erst einmal von den Strapazen der viertägigen Flucht zu erholen. Sie plünderten die Lebensmittel und nahmen auch die drei Pferde des Farmers samt Sätteln, Satteltaschen und Decken mit. Jetzt hatten sie alles, was sie brauchten, um auch die weitere Wegstrecke nach New Orleans bewältigen zu können – bis auf ein viertes Pferd. Eine Stunde später hatten sie es. Es gehörte einem Wanderprediger, dem sie begegneten, als sie – um eine Flußschleife abzukürzen –, ein kurzes Stück der Frachtstraße nach New Orleans benutzten. Das war natürlich riskant, aber sie waren ja nicht mehr unbewaffnet. Der Wanderprediger hatte das Sündenbabel New Orleans hinter sich gelassen und befand sich auf dem Weg nordwestwärts. Er war ein Eiferer, der ungeachtet seiner Mißerfolge in dem Sündenbabel nunmehr sofort mit einer Predigt über die Sünden der Fleischeslust, Trunksucht und Völlerei begann und die vier fremden Männer aufforderte, auf Gottes Pfaden zu wandeln. Er war zu weltfremd, um zu begreifen, daß er tauben Ohren predigte. Genausogut hätte er auch vier Wölfe ansprechen können, um sie zu einem gottgefälligen Leben zu bekehren. Er war schneller tot, als er »Amen« sagen konnte. Less Vickers schoß ihm eine Kugel in den Kopf. Empört stellten sie fest, daß der Gottesmann mit nicht mehr Gepäck gereist war als einer Bibel, einem kleinen metallenen Kruzifix, einer Decke, einem Stück Hartfleisch und zwei Dollar, dreißig Cents. Aber immerhin hatten sie nun das vierte Pferd, ein sanftes, lammfrommes Tier, das in geduldiger Demut den brutalen
Besitzwechsel hinnahm.
5. Ich hatte mir mit Shita am Rande des Hafens in einem leerstehenden Frachtschuppen einen Platz für die Nacht gesucht. Das mußte genügen, denn ich wollte meine Barmittel zusammenhalten und hatte im übrigen keine Lust, viel Geld für ein mieses verwanztes Massenquartier voller schnarchender, stinkender Kerle auszugeben. Es wurde eine fürchterliche Nacht, – nicht wegen des Notquartiers, sondern weil ein mörderischer Sturm von Süden her über New Orleans hinwegfegte. Bereits am Abend hatte der Himmel im Süden eine Färbung angenommen, die nichts Gutes versprach. Die Luft war drückend gewesen, und die Menschen hatten sich gereizt angeknurrt. Ich erwachte, weil Shita winselte und der Schuppen unter den Sturmstoßen wie ein Kartenhaus wackelte und wankte. Als das Dach wegflog, wurde es für Shita und mich Zeit, einen Quartierwechsel vorzunehmen. Aber wohin? Es schüttete in Strömen, der Sturm heulte und pfiff, Blitze zuckten vom Himmel, denen sofort das Grollen und Krachen des Donners folgte. Die Welt schien unterzugehen. Eins war mir sofort klar: nur weg vom Hafen. Der aus dem Golf heranorgelnde Sturm drückte riesige Wassermassen in das Mündungsdelta des Mississippi, der Fluß stieg und stieg. An den Kais entdeckte ich Männer, die wie die Irren arbeiteten. Fuhrwerke rasselten heran, von denen Sandsäcke, Balken und Pfähle abgeladen und zu den Kais geschleppt wurden. Man war dabei, die Hafenmauer abzusichern. Erst wollte ich mich verdrücken, aber dann kriegte ich Gewissensbisse, kehrte zum Unwillen Shitas wieder um und packte mit an. Meine Waffen deponierte ich in einer Hafenkneipe, deren Wirt keiner von den Halsabschneidern war und den ich kannte. Als er
hörte, daß ich draußen mithelfen wollte, spendierte er mir einen doppelten Whisky. Auch Shita ließ ich bei ihm. Es wurde eine Nacht, die ich nicht so leicht vergessen werde. Wir bekämpften etwas, was im Grunde gar nicht zu bekämpfen war. Einen Sturm hatte noch niemand aufhalten können und eine Flutwelle auch nicht. Vor der elementaren Wucht dieser Naturgewalten waren wir so nichtig und winzig wie Ameisen, deren Bau mit einem Tritt zerstört werden kann. Ich arbeitete Schulter an Schulter mit Seeleuten, Fischern und Männern aus der Hafengegend. Auch Soldaten und Männer der Bürgermiliz packten mit an. Ganz flüchtig sah ich einmal Kapitän Harvest mit seinem sturmzerzausten weißen Haar. Von den Kerlen der »Marygold« entdeckte ich niemanden. Wahrscheinlich hatten sie sich bei ihren Huren verkrochen. Auch Mister Lafitte ließ sich nicht blicken, obwohl ja vor allem seine Werft, Kontor und Lagerräume am Hafen in erster Linie gefährdet waren. Aber Männer seines Schlages ließen ja immer andere für sich arbeiten, und wo gefährliche Knochenarbeit verlangt wurde, da waren sie bestimmt nicht zu finden. Wie zur Verteidigung einer Festung vor dem Ansturm eines Feindes wurden Bollwerke und Schutzdämme errichtet. Den ersten Schutzdamm bildeten die Sandsäcke entlang der Uferstraßen. Wo es sich ergab, wurden die Sandsäcke an ihren Rückfronten mit Bohlen und Balken verkeilt. Nach Aufbau dieser ersten Verteidigungslinie wurde eine zweite an den Straßen errichtet, die in die Stadt führten. Die Gebäude, die unmittelbar am Hafen lagen, erhielten vor Türen, Kellereingängen und Fenstern Verschalungen. Das alles spielte sich im Brausen des Sturms, im zuckenden Licht der Blitze, im Krachen des Donners und Rauschen des Regens ab. Dazwischen klatschten und brandeten die Wellen des Mississippi gegen die Ufermauern, warfen Fontänen hoch und versprühten riesige Gischtschleier. Es gab keinen unter uns, der nicht bis auf die Haut durchnäßt war und dem nicht das Wasser in den Stiefeln stand. Wir verständigten uns durch Brüllen und durch Handzeichen bei dem Höllenkrach. Der Mississippi stieg unaufhörlich. Die Marke des letzten
Flußhochwassers war längst überschritten. Gegen drei Uhr morgens wurde eine dritte Verteidigungslinie hinter der zweiten errichtet und der erste Damm noch weiter erhöht. Um diese Zeit brachen die Festmacherleinen von einigen Schiffen – entweder waren sie durchgescheuert worden oder das ewige Rucken hatte die Poller herausgerissen –, und zwei von ihnen wurden von riesigen Wellen unterwandert, hochgehoben und wie Kinderspielzeug über den Damm geschleudert. Sie krachten auf das Kaipflaster, barsten auseinander und zerquetschten zwei Männer, die dort gearbeitet hatten. Bei den Arbeiten an dem vorderen Damm waren bereits drei Männer in das tobende Wasser gestürzt und auf Nimmerwiedersehn verschwunden. Jetzt hatte der Sturm also fünf Menschenleben gefordert, und es schien, als würde er durch diese fünf Opfer besänftigt. Denn eine Stunde später ließ die Wucht der Angriffe nach, und der Pegelstand kletterte nicht weiter. Es war geschafft. Ich wankte total erschöpft und quitschnaß zu der Hafenkneipe, wo ich Waffen und Shita zurückgelassen hatte. Daniel Harper, der Wirt, packte mich in einen Waschbottich mit heißem Wasser, ließ meine Sachen an einem Ofen trocknen und hatte nichts dagegen, mich danach auf einem Sofa in seinem Office schlafen zu lassen. * Shita, selbst ausgeschlafen, weckte mich gegen neun Uhr am Morgen, und ich beschimpfte ihn, daß er mich nicht schlafen ließ. Aber auf meine Müdigkeit nahm mein Hund keine Rücksicht. Er war voller Tatendrang und erwartete von mir das Gleiche. Also stand ich auf, stieg in meine inzwischen trockenen Sachen und marschierte durch die Küche in den Kneipenraum. Für den gutmütigen Daniel mußte ich so etwas wie ein verlorener Sohn sein, denn er bugsierte mich, als ich mich verabschieden wollte, an einen Tisch und sorgte dafür, daß ich mich mit Spiegeleiern und gebratenem Speck vollstopfen konnte. Dazu kriegte ich einen Kaffee, der mir den Schweiß ins Gesicht trieb, weil er ihn mit Whisky
angereichert hatte. Er setzte sich zu mir und sah grinsend zu, wie ich die Eier vertilgte. »Weißt du schon das Neueste?« fragte er. Ich schüttelte verneinend den Kopf, weil ich den Mund voll hatte. »Euer Totenschiff liegt auf einer Sandbank vor der Shell Beach. Der Sturm heute nacht muß den Kasten drauf getrieben haben.« Ich starrte ihn an und ließ die Gabel sinken. Das war wirklich eine Neuigkeit. Bei der Schufterei heute nacht hatte ich gar nicht mehr an die Brigg gedacht. »Aber das ist noch nicht alles«, sagte Daniel Harper. »Man erzählt sich, die ›Emperador‹ sei in Mexiko beheimatet gewesen und habe irgendwelche Kostbarkeiten – Kronjuwelen oder so was – an Bord gehabt.« »Kronjuwelen?« fragte ich entgeistert. »Kronjuwelen«, sagte Daniel und nickte gewichtig. Dann grinste er über sein ganzes gutmütiges Gesicht und fügte hinzu: »Stell dir mal vor, ihr hättet den Kasten hoppgenommen. Dann könntest du jetzt in einer goldenen Badewanne sitzen und mit Brillanten und Edelsteinen Murmeln spielen.« Da hatte er recht, obwohl ich mir ein Bad in einer goldenen Wanne und das Murmelspielen mit Brillanten und Edelsteinen nicht so recht vorstellen konnte. Da wären mir eine riesige Ranch und eine Pferdezucht schon lieber gewesen, aber jeder hat eben seine eigenen Träume. »Ja«, sagte Daniel, »die Kronjuwelen und die anderen Klunker sollen von Kaiser Maximilian stammen, verstehst du?« Ich gestand, daß ich das nicht verstünde. »Ganz einfach«, sagte Daniel. »Der Maximilian ist irgend so ein Graf oder Herzog aus Europa und für die Mexe genau das, was das rote Tuch für den Stier ist. Und wenn er helle ist, merkt er, daß sein Thron wackelt. Und darum sieht er erst mal zu, daß er seine Kostbarkeiten als Fluchtgepäck vorausschickt, bevor er selbst türmt. Täte ich auch. Bei uns hier ist nämlich schon bekannt, daß Präsident Juarez, der wegen ihm abgesägt wurde, nun seinerseits wieder den Maximilian aus Europa als Kaiser will. Das ist Politik, verstehst du?«
Das, so sagte ich, verstünde ich nun allerdings. Bitte sehr, was hatte ein Maximilian aus Europa als Kaiser auf dem Thron von Mexiko zu suchen? Nichts, gar nichts! Da hätte ich genausogut auf dem Thron sitzen können, oder Daniel, oder Kapitän Harvest. »Mein lieber Mann«, sagte ich, »da war also ein Schatz an Bord der Brigg. Wenn das der geschniegelte Lafitte erfährt, kriegt er glatt einen Schlaganfall.« Daniel schüttelte den Kopf. »Kriegt er nicht. Seine Kapitäne wollten heute morgen schon auslaufen, um die Brigg zu untersuchen. Er hat es ihnen verboten – weil die Brigg ein Pestschiff sei. Und die anderen Schiffseigner hat er ebenfalls gewarnt, die Finger von der Brigg zu lassen, eben wegen der Pest. Er hat erklärt, die Sache mit den Kronjuwelen sei ein Quatsch und ein wildes Gerücht. Viel schlimmer sei, durch Berührung mit dem Schiff die Pest nach New Orleans einzuschleppen.« Da war sie wieder, diese verdammte Behauptung, die Brigg sei von der Pest verseucht. Wenn sie wirklich stimmte, dann war Mister Lafittes Warnung, die Finger von dem Schiff zu lassen, durchaus richtig und wegen der Gefährlichkeit der Pest wirklich ernst zu nehmen. Nun erschien mir Mister Lafitte weiß Gott nicht als der Mann, der sich wegen einer eventuellen Pestverseuchung seiner Mitbürger den Kopf zerbrach. Der nicht, der dachte nur an sich selbst. Natürlich, bei dem ersten Verdacht, daß hier in New Orleans ein Mensch an der Pest erkrankt sei, würde dieser Mister Lafitte die Flucht sonstwohin ergreifen. Aber es gab bisher keinen Pestverdächtigen, und ich war der Ansicht, daß es auch nie einen geben würde. Genau aus diesem Grunde wurden Mister Lafittes Bemühungen, die Seuchenversion zu verbreiten, immer fragwürdiger. Irgendwie gewann ich den Eindruck, daß Lafittes Eifer in dieser Richtung zweckbedingt war. Er verfolgte damit ein Ziel. Aber welches? Daniel räusperte sich. »Glaubst du, daß die Brigg pestverseucht ist?« »Unsinn«, erwiderte ich. »Es gibt überhaupt keinen Beweis dafür. Was Lafitte redet, ist völlig aus der Luft gegriffen. Was weißt du eigentlich über diesen Kerl?«
Daniel Harper wiegte den Kopf. »Nicht viel. Er tauchte vor ein paar Jahren hier im Hafenviertel auf und eröffnete innerhalb sehr kurzer Zeit mehrere Saloons. Später erwarb er die Werft und wurde Eigner der Fischkutter. Ich kann den Kerl nicht ausstehen. Man munkelt allerlei über ihn, nur nichts Gutes.« »Was denn so?« »Na ja, das sind eben Gerüchte. Er soll dunkle Geschäfte betreiben, die ihm das eigentliche Geld bringen. Die Werft floriert ganz gut, aber das ist nicht sein Verdienst. Er hat nur einen guten Schiffszimmermann, den er sich aus Boston geholt hat. Man sagt, die Werft und das Bereedern der kleinen Fischkutterflotte betreibe er nur, um als seriöser Geschäftsmann zu wirken. Dagegen gelten seine Saloons als Treffpunkte von allem möglichen Gesindel. Ich bin der Meinung, daß man den Kerl nicht mit der Kneifzange anfassen kann.« »Na bitte«, sagte ich, »und ein solcher Mann verbreitet das Märchen von einem pestverseuchten Schiff.« Daniel Harper nickte und wechselte das Thema. »Was hast du jetzt vor, mein Junge?« »Ich weiß es noch nicht. Viel hält mich nicht in New Orleans. Ich gehöre nicht in eine Stadt.« »Du könntest mir helfen – in der Küche, am Tresen und im Schankraum.« Das war das ehrliche Angebot eines ehrlichen Mannes, aber ich schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, Daniel. Ich glaube, ich wäre ein schlechter Gehilfe. Hier hätte ich immer das Gefühl, eingesperrt zu sein.« »Schade«, sagte Daniel. »Aber überleg's dir. Einen Job habe ich immer für dich, vergiß das nicht.« Ich versprach ihm, das nicht zu vergessen, bedankte mich für das herrliche Frühstück und seine Fürsorge für mich, und dann ging ich. * Ein strahlend blauer Himmel empfing mich. Es war, als sei der nächtliche Sturm nur ein Spuk gewesen. Allerdings sah es bei den Kais und den Hafenanlagen noch böse aus. Man war schon wieder
dabei, die Schutzdämme abzubauen und Ordnung zu schaffen. Der Wasserspiegel war weiter zurückgegangen. Am French Market nahe der Fähre, wo sich die Verkaufshallen befinden, sah es besonders wüst aus. Hier, wo der Mississippi eine Schleife von nahezu neunzig Grad bildet, hatten die Wassermassen, die in die Mündung drückten, Schlamm, entwurzelte Sträucher und Büsche, Astwerk und sonstiges Treibgut in unvorstellbaren Mengen angetrieben und abgelagert. Es stank bestialisch. Ich bog in die Esplanade Street nach links ab – Shita begleitete mich natürlich –, und so sah ich den Mann mit dem Stern an der Brust, der ein Pferd hinter sich her führte, über dessen Rücken ein Toter lag. Der Mann mit dem Stern war der Town Marshal. Er wirkte müde und hatte ein verkniffenes Gesicht. Vor dem Office band er das Pferd an und rief seine Deputys heraus. Sie luden den Toten ab. Leute versammelten sich um das Office. Ich entdeckte auch meinen besonderen Freund – Mister Lafitte. Aus den Gesprächen entnahm ich, daß jemand den Toten auf der Frachtstraße nach Baton Rouge gefunden und den Marshal benachrichtigt hatte. Der hatte ihn abgeholt und hierhergebracht. Der Tote hatte ein Schußloch im Kopf. Die Deputys legten ihn auf eine Trage, banden ihn fest und stellten die Trage schräg aufrecht an die Officewand. »Kennt jemand den Mann?« fragte der Marshal. Ein dicker Kerl drängte sich vor und nickte eifrig. »Jawohl, Marshal, das ist dieser verrückte Wanderprediger«, sagte er. »Der hat uns doch hier fast über eine Woche lang in den Ohren gelegen, daß der Weltuntergang nahe sei und wir unsere Sünden bekennen sollten.« Der Marshal runzelte die Stirn. »Hatte er ein Pferd?« Der Mann nickte wieder. »Das hatte er, und zwar einen lammfrommen Gaul, der noch nicht mal mit dem Schweif wedelte, wenn ihm die Bremsen auf dem Hintern saßen.« Ein paar Leute lachten. Der Marshal drehte sich zu ihnen um, und sie verstummten. Er
sagte: »Das Lachen wird euch vergehen. Ich habe mir ein paar Spuren angesehen. Zu dem Toten führten die Spuren von drei Pferden, von ihm weg waren es dann vier Pferde. Ich habe die ersteren Spuren zurückverfolgt. Sie führten zu der Farm von Jakob Harrison. Harrison lag erschlagen in seinem Wagenschuppen. Seine Frau wurde vergewaltigt und erstochen. Von dem Sohn Harrisons fehlt jede Spur. Auch ein Hund wurde erschlagen. Im Farmhaus sieht's aus, als hätten dort Verrückte gehaust. Die Pferde Harrisons fehlen. Ein paar Hühner wurden geschlachtet und gebraten. Die Federn liegen überall herum.« Die grauen Augen des Marshals wanderten über die Menge, die sich vor dem Office angesammelt hatte. »Wenn ihr mich nach den Mördern fragt, dann dürfte eins als ziemlich sicher gelten: es waren vier Männer. Vier Männer sind auch vor einigen Tagen aus dem Staatsgefängnis von Baton Rouge ausgebrochen, wie ihr wohl alle wißt, und zwar die euch allen bekannten Vickers, Hankins, LeCoer und Gatland, die den Strick mehrfach verdient hatten. Offensichtlich haben sie vor, nach New Orleans zurückzukehren.« »Sie hätten die Spuren sofort verfolgen und die Mörder stellen sollen!« rief ein Mann schrill. »So? Hätte ich?« sagte der Marshal höhnisch. »Nein, Mister, ich hatte eine andere Idee, die mir erfolgversprechender erschien. Ich werde ein Aufgebot zusammenstellen, und ich hoffe, daß Sie, Mister, sich als erster freiwillig melden!« Innerhalb von drei Minuten war der Platz vor dem Office leer. Auch Mister Lafitte hatte die Flucht ergriffen. Ich hatte noch sein Gesicht sehen können. Es war schneeweiß gewesen. Der Ausdruck in seinen Augen hatte mich an eine in die Enge getriebene Ratte erinnert. »Na, junger Mann?« fragte mich der Marshal und musterte den Colt an meinem rechten Schenkel sowie den Spencer-Karabiner, auf den ich mich stützte. »Sind Sie an der Jagd auf die vier Mörder interessiert, weil Sie nicht wie die anderen weggerannt sind?« Ich grinste ihn an. »Wenn andere rennen, bleibe ich immer stehen, Marshal. Ich tu nämlich immer das Gegenteil von dem, was die anderen tun.«
»Ein Dickschädel, wie?« »Wahrscheinlich.« Der eine Deputy brummte: »So einer fehlt uns gerade noch in unserer Sammlung – jung, große Klappe und nichts dahinter, aber Schießeisen schleppt er schon mit sich herum.« »Mister«, sagte ich ruhig, »ich weiß nicht, wie alt Sie waren, als Sie zum ersten Male eine Waffe in der Hand hatten. Aber ich weiß sehr genau, wie das bei mir gewesen ist. Ich war sieben Jahre alt, als ich einen Sharps-Karabiner, Modell 1848, in der Hand hatte. Und mit dem erschoß ich einen Comanchero, der einen anderen Jungen, dessen Mutter und mich an die Indianer verkaufen wollte. Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Mister, oder wollen Sie noch mehr darüber erfahren, warum ich Waffen trage?« Der Deputy schluckte und sagte gar nichts mehr. »Bringt den Toten zum Coroner«, sagte der Marshal ärgerlich, »und du, Mike, hältst gefälligst die Klappe, wenn ich mich mit jemandem unterhalte, der vielleicht in unserem Aufgebot mitreiten wird.« Die beiden Deputys nahmen die Bahre auf und zogen ab. »Ich reite nicht mit Ihnen, Marshal«, sagte ich, »denn jetzt habe ich meinen Dickschädel. Vorhin schwankte ich noch. Aber als Ihr Deputy sprach, wurde ich wieder mit jener Voreingenommenheit und Dummheit konfrontiert, die ich so hasse. Mit solchen Männern will ich nichts zu tun haben. Ich wünsche Ihnen viel Glück, Marshal.« Ich rief Shita, tippte an die Hutkrempe und wandte mich zu den Mietställen im Osten der Stadt.
6. Das Pferd, das ich erstand, war ein stämmiger, grauer Wallach, etwa drei Jahre alt, der wohl nicht allzu schnell, aber sicherlich ausdauernd sein würde. Dazu kaufte ich Zaumzeug, Sattel, Satteltaschen, Satteldecke und Scabbard. Bis auf fünfundzwanzig Dollar herrschte damit Ebbe in meinem Geldbeutel. Aber ich hatte wieder ein Pferd unter mir und nicht mehr die schwankenden Planken eines Schiffes. Das war mir den Schwund in der Kasse
schon wert. ich verließ die Stadt ostwärts, um mich an der Küste der Shell Beach umzusehen, wo die Brigg auf einer Sandbank gestrandet sein sollte. Das Schiff ließ mich nicht los, vor allem jetzt nicht, nachdem mir Daniel Harper erzählt hatte, was sich angeblich an Bord der »Emperador« befinden sollte. Mir fiel auch ein, daß »Emperador«, soviel wie »Kaiser« bedeutete. Bestand da ein Zusammenhang zu diesem Kaiser Maximilian? Fast hätte ich die Hufschläge überhört, die hinter mir aufklangen. Instinktiv lenkte ich den Wallach nach rechts zwischen das Buschwerk, das mich verbarg. Der Wallach gehorchte, ohne zu mucken. Nur Shita begann zu knurren. Ich stieß einen Zischlaut aus, und da schwieg er, warf allerdings einen vorwurfsvollen Blick zu mir hoch. Eine Minute später wußte ich, warum er geknurrt hatte. Er mußte es gewittert haben. Über den Pfad jagte Mister Lafitte. Er ritt auf einem herrlichen Morgan-Hengst, und er ritt, als seien tausend Teufel hinter ihm her. Daß dieser Lackaffe überhaupt reiten konnte, war für mich schon eine Überraschung. Was er hier, östlich der Stadt, am Rand der Sumpfwildnis der Shell Beach, zu suchen hatte, war die nächste Überraschung. Denn Mister Lafitte war sonst ganz und gar der Typ, den man eher in Spielsaloons und gewissen Etablissements anzutreffen pflegt, nicht aber dort, wo die rauhe und manchmal tödliche Wildnis beginnt. Ich war ziemlich perplex. Shitas »Wuff-Wuff« unterbrach meine Gedanken. Er hatte ganz recht, wenn er meinte, daß wir uns jetzt an seine Fersen heften sollten. Ich lenkte den Wallach auf den Pfad zurück und folgte dem verklingenden Hufschlag. Der Wallach setzte sich in Trab, als sei er sich bewußt, daß wir dem Morgan-Hengst und seinem Reiter folgen müßten. Aus dem Trab heraus ging er in einen schaukelnden Galopp über, und da merkte ich, daß er einen raumgreifenden Schritt hatte. Nicht schlecht, dachte ich. Shita hechelte hinter uns her. Dieser Hund war froh, wieder festen
Boden unter den Füßen zu haben. Der Sumpf zu beiden Seiten des Pfades ging in Hügelland über, dann folgte wieder Sumpflandschaft. Das wechselte mehrere Male. Der Wallach hatte aufgeholt, und ich mußte ihn zügeln. Auch da gehorchte er wieder. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Ich begriff, daß ich ein gutes Pferd gekauft hatte, und gar nicht mal teuer. Fast zu spät registrierte ich, daß plötzlich die hämmernden Hufe vor uns verstummt waren. Wir befanden uns wieder auf festem Boden. Ich entdeckte auf einem Hügel vor uns einen Mann in Lederkleidung, der wie ein Riese aus einem Gebüsch herauswuchs, ein Gewehr hochriß und feuerte. Die Kugel pfiff links an meinem Ohr vorbei. Der Wallach drehte abrupt nach rechts ab und jagte im gestreckten Galopp zwischen zwei andere Hügel. Ein weiterer Schuß klatschte hinter uns in einen Baumstamm. Dann waren wir in Sicherheit. Teufel, hier war die Luft eisenhaltig. Ich angelte meinen Karabiner aus dem Scabbard, zügelte den Wallach, glitt aus dem Sattel und kletterte den linken Hügel hoch. Unter einem Busch blieb ich liegen und linste zu dem anderen Hügel hinüber. Der Mann war verschwunden. Ich wartete und lauschte. Nichts. Ich blickte zurück in die Mulde. Der Wallach stand wie aus Stein gehauen. Shita saß rechts neben ihm auf den Hinterpfoten und japste. Kein Wunder. In den vierzehn Tagen an Bord der »Marygold« hatte er kaum Auslauf gehabt. Ich steckte meinen Hut auf den Gewehrlauf und hielt ihn hoch. Der Riese – jetzt erinnerte ich mich, daß er einen Vollbart gehabt hatte – reagierte nicht. Hatte er sich abgesetzt? Ich stand auf, bereit, mich sofort hinzuwerfen, wenn es dort drüben aufblitzen würde. Kein Schuß fiel. Ich stieg den Hügel hinunter und überlegte. Sollte ich auf den Spuren Lafittes weiterreiten – sie führten nach Osten – oder mich direkt nach Süden wenden, zur Shell Beach, wo irgendwo die Brigg vor der Küste liegen mußte. Die Brigg reizte mich mehr, die seltsamen Wege des Mister Lafitte weniger, obwohl der schießende Riese mit dem Vollbart, der
offensichtlich den Trail des Lackaffen abgeschirmt hatte, gleichfalls meine Neugier erregte. Irgendwie formte sich in mir eine Überlegung, daß vielleicht Mister Lafitte und die Brigg zusammenhingen. Aber da war noch etwas. Ich sah plötzlich das schneeweiße Gesicht und den gehetzten Ausdruck in den Augen des Mister Lafitte vor mir, als der Marshal neben der Leiche des Wanderpredigers von den vier Kerlen berichtet hatte, die aus dem Staatsgefängnis von Baton Rouge ausgebrochen waren und nur Tote hinter sich zurückgelassen hatten. Kannte Mister Lafitte diese vier Mörder? Verbarg er sie etwa hier in der Sumpfwildnis der Shell Beach? Wollte er sie jetzt warnen, daß ein Aufgebot des Marshals von New Orleans – wie groß es auch immer sein mochte –, nach den vier Verbrechern suchen würde? Ich schüttelte alle diese Gedanken ab, stieg in den Sattel meines Wallachs und ritt südwärts. Das Geheimnis um die gestrandete Brigg faszinierte mich. Vielleicht stimmte es, daß sie einen Schatz des mexikanischen Kaisers an Bord hatte. Ich war neugierig, abenteuerlustig und verwegen genug, dieses Geheimnis ergründen zu wollen. * Die vier Männer hockten in einem Versteck unmittelbar am Strand der Shell Beach. Es war Abend. Weit draußen im Chandeleur Sound lagen die Umrisse eines gestrandeten Zweimasters. Pernell Gatland, der Kneipenwirt und frühere Schmuggler, berichtete, was er in der Stadt erkundet und erfahren hatte. »Das Schwein hat sich gesundgestoßen«, sagte er. »Unsere Unternehmen werden von ihm kontrolliert, unsere Leute müssen an ihn sechzig Prozent ihrer Einnahmen abführen. Er hat alles fest im Griff, dieser Precksack. Wer sich damals von unseren Leuten widersetzte, wurde abgeräumt – für immer.« Er blickte Less Vickers an. »Bei dir muß es am schlimmsten gewesen sein, Less. Ich hab mich in den Puffs umgesehen. Von deinen Leuten habe ich keinen mehr entdeckt.« Less Vickers fluchte. »Der Lump kassiert sechzig Prozent, sagst
du?« »Exakt.« »Hast du ihn gesehen?« Pernell Gatland, ein Mann mit einem brutalen Gorillagesicht, schüttelte den Kopf. »Er soll zur Zeit nicht in der Stadt sein. Jemand hat ihn wegreiten sehen.« Er schwieg einen Moment und sagte dann: »Wir haben Mist gebaut.« »Wieso?« fragte Less Vickers. »Sie haben diesen dämlichen Pfaffen gefunden. Wir hätten ihn im Sumpf verschwinden lassen sollen. Angeblich hat der verdammte Marshal von der Frachtstraße aus dann unsere Spuren zurückverfolgt und auch den Farmer und seine Alte entdeckt. Jetzt stellt er ein Aufgebot gegen uns zusammen.« »Soll er«, sagte Less Vickers kalt. »Hier findet uns kein Aas. Sie werden uns nordwestlich der Stadt suchen, wir sind bereits südöstlich. Hier jemanden zu finden, gleicht der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Außerdem ist uns bekannt, daß sie bisher noch nie jemanden geschnappt haben, der aus dem Kasten in Baton Rouge ausgebrochen ist und schlau genug war, sich im Mündungsgebiet des Mississippi zu verstecken. »Gibt's sonst noch was zu berichten?« Pernell Gatland nickte. »Etwas sehr Merkwürdiges.« Er deutete auf den gestrandeten Zweimaster draußen im Chandeleur Sound. »Allem Anschein nach handelt es sich bei dem Schiff dort draußen um eine mexikanische Brigg, die nach Europa segeln sollte.« »Na und?« fragte Less Vickers. Pernell Gatland grinste. »Man erzählt sich in New Orleans, an Bord der Brigg befinde sich ein Schatz.« Humphrey LeCoer, der Spieler, ein schlanker, sehniger Mann mit einem Pokergesicht, kniff die Augen zusammen. »Was für ein Schatz?« »Von Kaiser Maximilian. Dem soll es in Mexiko allmählich ein bißchen zu schwül werden. Sein Thron wackelt, wie man so schön sagt. Und darum sieht er zu, seine Schätze außer Land zu schaffen, bevor der große Krach losgeht.« Sie blickten alle zu der gestrandeten Brigg hinüber, deren Umrisse
allmählich in der Abenddämmerung verschwammen. Ihre Augen glitzerten. »Mann«, sagte George Hankins ehrfürchtig. Less Vickers sagte: »Und wo steckt die Besatzung des Zweimasters? Das Schiff ist doch gestrandet.« »Ja, heute nacht bei dem Sturm«, erwiderte Pernell Gatland. »Die Besatzung soll schon draußen auf See nicht mehr an Bord gewesen sein. Man sagt, sie sei an irgendeiner Seuche krepiert. Ein Fischkutter soll die Brigg verlassen und treibend auf See entdeckt haben. Aber man habe wegen der Seuche nicht gewagt, an Bord zu gehen und die Brigg zu übernehmen.« »Scheiß auf Seuche«, sagte Less Vickers verächtlich. »Die haben Schiß in der Hose gehabt, die Leute von dem Fischkutter. Wir werden das Schiff untersuchen. Da ist einmal der Schatz. Falls der wirklich existiert, reißen wir ihn uns unter den Nagel. Wenn nicht, ist das auch kein Beinbruch. Aber wir haben ein Schiff. Wenn es auf Sand aufgelaufen ist, muß es nicht unbedingt kaputt sein.« »Wir kriegen doch mit vier Mann den Zweimaster nicht wieder seeklar«, sagte Humphry LeCoer. »Wir nicht«, erwiderte Less Vickers. »Aber George wird in New Orleans wie in alten Zeiten eine Crew rekrutieren. Schaffst du das, George?« »Klar«, sagte George Hankins. »Na also.« Less Vickers nickte zufrieden. »Mit diesen Kerlen holen wir die Brigg vom Sand herunter, und dann geht's ab nach Mittel- oder Südamerika, wo keiner darauf scharf ist, uns einen Strick um den Hals zu legen. Aber vorher statten wir einem gewissen Gentleman einen Besuch ab und nehmen ihn aus. Schließlich brauchen wir Betriebskapital, und im übrigen schuldet uns der Schweinehund alles das, was er sich von unseren Geschäften angeeignet hat. Wir werden ihn wie eine Zitrone ausquetschen. Und dafür, daß er uns verpfiffen hat, besorgen wir ihm dann eine Freikarte in die Hölle. Hat jemand einen besseren Vorschlag?« Die drei anderen schüttelten die Köpfe. Sie waren einverstanden und brachen sofort auf. Was sie jetzt brauchten, war ein Boot, um zu der Brigg hinausrudern zu können. Sie ritten den Strand der Shell
Beach ab und stießen auf eine Fischerhütte, vor der Netze aufgespannt waren. Ein Boot war auf den Strand hochgezogen worden. Der Fischer war alt und grau und verwittert. Er hatte nicht den Hauch einer Chance gegen die vier gewalttätigen Kerle. Sie traten die Tür ein und fielen zu viert über den alten Mann her, der an dem kleinen Herd gestanden und Fisch gebraten hatte. Less Vickers stieß ihm ein Messer in die Brust – jenes Messer, das er dem Farmer abgenommen und mit dem er bereits die Frau ermordet hatte. Dieses Mal schleppten sie den Toten in die Wildnis hinter dem Strand und vergruben ihn. Die vier Pferde stellten sie in dem kleinen Schuppen neben der Fischerhütte unter. Dann schoben sie das Boot ins Wasser, sprangen hinein und ruderten los. Der Fisch in der Pfanne verbrannte. * Ich war verdammt leichtsinnig gewesen, mich nach Süden zu wenden und in ein Gebiet zu reiten, das mir so fremd wie der Mond war. Ich war in einem Irrgarten gelandet und mußte zusehen, nun wieder herauszufinden. Mehr als einmal korrigierte der graue Wallach meine Fehler und wandte sich entgegen meiner Meinung in eine Richtung, die ich bestimmt nicht eingeschlagen hätte. Er schien in dieser Hölle geboren worden zu sein. Jedenfalls wußte er mit sicherem Instinkt, wohin er seine Hufe zu setzen hatte, ohne daß wir auf Nimmerwiedersehn im Sumpf versanken. Ich war in Schweiß gebadet und erschlug Hunderte von Stechmücken, die über meine ungeschützten Körperstellen herfielen. Am schlimmsten setzten sie mir im Nacken zu, so daß ich mir schließlich eine Decke überhängte, unter der mich nun wiederum die Hitze garkochte. Der Graue benutzte Tierpfade, wie ich bald bemerkte. Sie schlängelten sich kreuz und quer durch die Sumpfwildnis, manchmal
hatte ich den Eindruck, um Meilen wieder zurückzureiten. Erst am Abend erreichten wir die Küste. Der graue Wallach hatte eine Meisterleistung vollbracht. Ich glitt aus dem Sattel, streifte meine Sachen ab und stürzte mich ins Wasser. Auch Shita nahm ein Bad. Der Wallach kühlte sich nur den Bauch. Links und rechts von uns zogen sich Sandstrand hin, der keineswegs gerade verlief, sondern unzählige Buchten und Landzungen aufwies. Zehn bis zwanzig Yards hinter dem Strand begann die teilweise undurchdringliche Wildnis. Dem Strand vorgelagert waren Sandbänke und eine Vielzahl von Inseln aller Größen. Ein angenehmer, auflandiger Wind wehte, der mich rasch trocknete. Auf der Grenze zwischen Sandstrand und Wasser trippelten Wasservögel entlang und pickten sich heraus, was die See ihnen bot – Muscheln, winzige Krebse, Würmer, Strandschnecken. Weiter draußen segelten Möwen dicht über das Wasser und stießen immer wieder nieder, um nach Fischen zu schnappen. Nach der stickigen, nach Moder und Fäulnis riechenden Luft der Sumpfwildnis atmete ich hier die frische salzige Seeluft. Es wurde rasch dunkel, und ich beschloß, die Suche nach der Brigg erst am nächsten Tag fortzusetzen. Es hatte keinen Zweck, in der Dunkelheit am Strand entlangzureiten. Wenn mich mein Orientierungssinn nicht im Stich ließ, mußte die »Emperador« weiter östlich liegen. Ich entzündete ein kleines Feuer und fing mit der Hand ein paar Fische aus einem Wasserloch, das sie bei dem ablaufenden Wasser nicht mehr rechtzeitig verlassen hatten. Ich hatte gesehen, daß sich auch die Möwen aus solchen Reservoirs bedient hatten. Die Fische nahm ich aus, wie ich es an Bord der »Marygold« gelernt hatte, steckte sie auf angespitzte Stöcke und briet sie über der Glut. Shita war ganz verrückt nach Bratfisch und knurrte die Fische an den Bratstöcken unentwegt an. Bevor er meine Portion wegfraß, holte ich Nachschub. Die Tümpel und Wasserlöcher waren voll mit diesen Fischen. Plötzlich ging Shita ab wie eine Gewehrkugel, westwärts am Strand entlang. Die Dunkelheit verschluckte ihn. Ich hörte ihn bellen,
aber nicht wütend. Ich stand auf und trat vom Feuer weg. Die Ohren des Wallachs spielten. Er blickte in die Richtung, in die Shita verschwunden war. Shita verbellte etwas, rückte aber wieder näher. Ich lauschte und hörte gleichmäßigen Ruderschlag. Shita flitzte heran und tanzte erregt um mich herum. Dann war er wieder weg. Ich hörte, wie er ins Wasser patschte. Was sollte das? »Shita, zurück!« rief ich verhalten. »Guten Abend, mein Junge!« ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit. Der Schatten eines Bootes tauchte auf. Ein Mann saß darin und trieb das Boot mit ein paar kräftigen Schlägen auf den Strand. Es war Kapitän Harvest. Ich lief zum Wasser, ziemlich verblüfft. Mit allem Möglichen hatte ich gerechnet, aber nicht damit, hier meinen Kapitän zu treffen. »Sie, Sir?« sagte ich, immer noch verdattert. »Unternehmen Sie eine Mondscheinfahrt längs der Küste, ohne die ›Marygold‹?« Kapitän Harvest lachte. Mir wurde richtig wohl bei diesem Lachen. »He! Ist das eine Begrüßung?« rief er. »Mhm – riecht gut! Gibt's heute abend Bratfisch á la Ronco? Fällt da für einen müden, hungrigen und alten Mann auch ein kleines Fischchen ab?« »Natürlich, Sir. Sie sind herzlich eingeladen.« Ich half ihm aus dem Boot und zog es etwas höher auf den Strand. Er dehnte und reckte sich, grinste und schlug mir auf die Schulter. »Fein, dich wiederzusehen, mein Junge!« Er kniff ein Auge zusammen und blinzelte. »Soll ich mal raten, was du hier unten an der Shell Beach treibst?« »Fische braten«, sagte ich und kniff auch ein Auge zu. »Ha!« sagte Kapitän Harvest. »Der Fisch heißt nicht zufällig ›Emperador‹ wie?« »Erraten«, sagte ich. »Und Ihre Mondscheinfahrt, Sir, dient der Erforschung desselben Fisches, richtig?« Kapitän Harvest lachte dröhnend. »Erraten! Also tun wir uns zusammen, Partner, einverstanden?« »Einverstanden, Sir.«
»Hör auf mit dem ›Sir‹, mein Junge. Ich heiße Timotheus Harvest. Meine Leute zu Hause nannten mich Timo, in Ordnung?« »In Ordnung, Timo.« Wir gingen zum Feuer und hockten uns hin. Ich prüfte meine Bratsteckfische und überreichte einen Fisch meinem neuen Partner. Wir hätten Vater und Sohn sein können. Anders herum: einen solchen Vater hätte ich gern gehabt. Er strahlte Ruhe, unbedingte Zuverlässigkeit und Vertrauen aus. Das alles paarte sich mit Mut, Lebenserfahrung und jenen Qualitäten, die einen Mann berechtigen, andere Männer zu führen. Mannsbilder wie Kapitän Timotheus Harvest waren das Salz dieser Erde. Er sagte: »Unsere gute ›Marygold‹ hat keinen Kapitän mehr. Kapitän Harvest kommandiert ab heute mittag jene Nußschale dort.« Er nickte zu dem Boot hin. »Ich hab mir das Ding gekauft, aber nicht von Lafitte, diesem stinkenden Haifisch. Mit dem hatte ich heute morgen ein Tänzchen, weil ich ihm gegenüber zu bezweifeln wagte, daß die Brigg verseucht sei. Der hätte vor Wut beinahe sein Stöckchen zerbissen, dieser lausige Hering. Dafür hat er mich gefeuert. War mir sowieso recht. Die Kerle an Bord taugten nichts. Einige von ihnen, zum Beispiel Mortimer und Jack Jigger, waren mir von Lafitte regelrecht aufgedrängt worden. Lafitte selbst, o Mann, das reinste Brechmittel! Manchmal hätte ich mich selbst anspucken können, als Kapitän unter solchem Eigner zu fahren. Irgendwas ist faul mit dem Kerl, oberfaul. Warum versucht er, die Brigg als Seuchenschiff zu verteufeln?« »Genau das hab ich mich auch gefragt«, erwiderte ich. »Er ist übrigens heute vormittag wie ein Besessener aus der Stadt geritten, ostwärts, hier in die Gegend der Shell Beach.« »Teufel! Und?« »Ich verfolgte ihn und kriegte plötzlich auf dem Trail, den er geritten war, Zunder von einem Gewehrschützen, einem bärtigen Riesen in Lederkleidung. Ich drehte ab und quälte mich hierher durch. Die Brigg war mir wichtiger als Lafitte.« »Richtig«, sagte der Kapitän. »Seit dem Gerücht mit dem Schatz des mexikanischen Kaisers wurde ich nämlich auch nachdenklich.
Oder noch nachdenklicher als zuvor, als du sagtest, die drei Toten an Bord der Brigg hätten dagelegen, als seien sie erschossen worden. Ich schätze, die Brigg wurde überfallen.« »Dann ist der Schatz weg.« »Vielleicht. Aber die Brigg ist noch da, herrenlos, nicht mehr bereedert. Wer sie flottkriegt, ist ihr neuer Reeder und Eigner, verstehst du? Das ist ein Schiffchen, sag ich dir, genau das Richtige für den alten Harvest. Hast du die Linien von dem Schiff gesehen? Zucker! Ein Schmuckstück! Ein Renner bei jedem Wetter und jedem Wind! Möchte wissen, wer die Hübsche gebaut hat. Mit der segelst du dem Teufel zwei Ohren ab. Hast du den Steven gesehn? Geschwungen wie die Brüste einer Frau – und spitz! O Mann, ist das ein Schiff!« Ja, das war Kapitän Harvest, ein Vollblut-Seemann. Er pfiff auf den Schatz. Das Schiff war für ihn die Frau, er hatte es sogar mit ihr verglichen. Er war total verliebt. Und er war der richtige Mann für diese Frau, das wurde mir klar. Wir an Land brachten manchmal eine ähnliche Besessenheit für die Linien eines Pferdes auf. Ich verstand ihn, ich verstand ihn absolut. Das Schiff war für ihn ein lebendes Wesen, ein Wesen voller Kraft und Saft. Ich konnte mir vorstellen, wie er die Brigg segeln würde – mit den Fingerspitzen, mit der Sensibilität, die ein rassiges Schiff brauchte, mit Verwegenheit, mit dem trotzigen Mut des erstklassigen Seemanns, der dem Wind zwischen die Zähne spuckte. Und wenn es so sein sollte, würde er mit diesem seinem Schiff die letzte Reise antreten – und lachend untergehen. So wie er jetzt lachte und fragte: »Verstehst du das?« Ich sagte: »Aye, aye, Sir.« Und grinste und fügte hinzu: »Vergiß deinen Fisch nicht, Timo. Kalt schmeckt er wie Ratte, die Mortimer in die Suppe geschnipselt hat.« Sein Lachen hätte eine müde Vogelscheuche zum Tanzen bringen können.
7. Wir pullten ostwärts, von der Küste so weit abgesetzt, daß wir sie
gerade noch erkennen konnten. Shita war bei uns. Meinen Wallach hatte ich so angehobbelt, daß er sich losreißen konnte, wenn ich nicht mehr zurückkehrte. Vielleicht würde er anderthalb Tage warten, vielleicht länger. Aber dann würde er sich befreien können. Aber ich schwor mir, dieses Tier nicht sich selbst zu überlassen. Es hatte mich durch die Sumpfwildnis gebracht, und ich war ihm einiges schuldig. Der Mond verschwand hinter Wolken, und damit wurde es um uns zappenduster. Kapitän Harvest mußte in seinem Kopf einen unsichtbaren Kompaß haben. Wir hatten jeder einen Riemen, und er dirigierte mich. »Hol stärker aus, Söhnchen«, sagte er und ging nur leicht mit meinem Schlag mit. Ich saß auf der Backbordducht des Bootes. Nach meinem Gefühl wandten wir uns jetzt mehr seewärts. Mit solchen leichten Kursveränderungen steuerte der Kapitän das Boot dem imaginären Ziel – der Brigg – zu. Für mich war das reine Hexerei. »Scheiße«, sagte der Kapitän, »hier setzt der Strom ein, schräg gegenan. Du mußt jetzt kräftiger durchholen, Söhnchen!« Vorn am Bug gurgelte das Wasser. Ich zog meinen Riemen durchs Wasser – vor und zurück, vor und zurück. In der Runzel, in der die Lederumkleidung des Riemens lag, ruckste und quietschte es bei jedem Schlag. »Gut so, Söhnchen«, sagte Kapitän Harvest, »du pullst wie ein uralter Bootsgast, der schon zu Nelsons Zeiten bei der glorreichen englischen Navy die Kommandanten an Land oder an Bord ihrer Fregatten oder stolzen Dreidecker gebracht hat. Du wirst noch mal Admiral, mein Junge, wetten?« Ich wurde kein Admiral. Und Kapitän Harvest hätte seine Wette verloren. Ich wurde nur ein Armeescout und dann ein Geächteter. Sind die Wege eines Menschen nicht seltsam? Zwei Stunden nach Mitternacht erreichten wir die Sandbank, auf der die Brigg aufgelaufen war. Bis heute ist mir schleierhaft, wie Kapitän Harvest das fertiggebracht hat. In totaler Finsternis auf einer See, die leer von jeder Markierung ist, eine bestimmte Sandbank zu finden – wobei noch eine Stromversetzung ständige Kursänderungen
verlangte –, das war schlechthin die Spitze navigatorischer Kunst. Ich verstand es, Spuren zu lesen. Aber die sah ich, die konnte ich deuten. Hier jedoch war ein Nichts um mich herum. Und in diesem Nichts von Luft und Wasser hatte Kapitän Harvest unbeirrbar unser Ziel gefunden. Er hatte nicht ein einziges Mal geschwankt, ein bißchen mehr, nach Backbord oder Steuerbord zu gehen. Ich war stumm vor Staunen. Die Brigg lag etwas nach Steuerbord über. Wir gingen an der Backbordseite längsseits. Kapitän Harvest pochte auf die Außenbordplanke, bohrte, tastete – ich mußte an einen Pferdehändler denken – und brummte: »Tadellos in Ordnung, die Lady, alles bestens. Gesundes Holz, kein Muschelbewuchs. Verhol nach achtern, Söhnchen!« Irgendein Strom setzte gegenan. Weiß der Teufel, ich fühlte mich verunsichert und gar nicht wohl in meiner Haut. Bitte sehr, da war zwar die Bordwand, also ein festes Etwas, aber sonst herrschte um uns Schwärze, unter uns plätscherte und gurgelte es, und sonst spürte ich um mich nur die Ahnung von etwas Ungewissem, nicht Faßbarem. Der Strom drückte uns an die Bordwand. Ich brauchte nur dagegenan zu pullen. Wir schurrten an der Bordwand längs, bis Kapitän Harvest am Heck der Brigg irgend etwas zu fassen kriegte – einen Tampen, der herunterbaumelte. Wir vertäuten das Boot achtern. Ich packte mir Shita auf die Schulter, Kaptän Harvest nahm eine Öllampe mit. Dann enterten wir an dem Tau hoch, ich als erster. Auf dem Achterdeck sprang Shita von meiner Schulter und begann herumzuschnüffeln. Dann knurrte er. Kapitän Harvest riß ein Schwefelholz an und entzündete die Öllampe. Ihr Licht fiel auf eine Gestalt, die verkrümmt an Deck lag und von Shita angeknurrt wurde. Das fing ja wieder gut an. »Ruhig, Shita«, sagte ich. Shita zog sich zurück und schnüffelte weiter. Die Gestalt war mausetot. Brustschuß, wie sich herausstellte. »Na also«, brummte Kapitän Harvest. »Die Brigg wurde
überfallen.« Mehr Tote fanden wir nicht an Deck. Wahrscheinlich hatte der Sturm sie außenbords gespült. So ganz ungerupft war die Brigg von dem Sturm nicht geblieben, aber das mochte bei dem schwachen Licht der Öllampe täuschen. Die sonst sauber aufgeschlossenen Enden von Fallen, Schoten und Brassen wirkten wie ein verfilztes Knäuel unzähliger Schlangenleiber. Ich entdeckte eine Rah, die sich vom Mast gelöst hatte und an Deck gekracht war. Aber die Hauptsache war wohl, daß die Brigg im Rumpf keinen Schaden genommen hatte und der Kiel unbeschädigt geblieben war. Das würde sich herausstellen. Nach kurzer Erkundung des Oberdecks beschlossen wir, uns zunächst in den Räumen des Achterschiffs umzusehen. Wenn überhaupt, so meinte Kapitän Harvest, dann mußte dort der angebliche Schatz irgendwo verborgen sein. Neben dem Steuerrad achtern führte ein Niedergang nach unten. Shita knurrte ununterbrochen, und das hätte mich eigentlich warnen sollen. Aber ich dachte, daß er damit sein Mißfallen ausdrückte, wieder an Bord eines Schiffes zu sein. Da die Brigg nach Steuerbord krängte, befanden wir uns auf einer schiefen Ebene und tasteten uns in einer etwas verrenkten Haltung nach unten. Von einem Gang führten mehrere Türen zu den verschiedenen Kammern, die, wie mir Kapitän Harvest erklärte, den Offizieren und eventuellen Gästen vorbehalten waren. Mit sicherem Instinkt steuerte er die Offiziersmesse an und stieß die Tür auf. Mit einem erstaunten Ausruf blieb er stehen und winkte mir. Ich trat näher. Des Kapitäns Öllampe beleuchtete einen Mann in zerfetzter Uniform. Sein Schädel war blutverkrustet. Er starrte uns aus dunklen Augen an, bewegte den Kopf und schien uns etwas sagen zu wollen, konnte es aber nicht, weil er geknebelt war. Außerdem war er an den festgeschraubten Messetisch gefesselt. Shita kläffte wie verrückt. Hinter uns sprangen zwei Türen auf. Licht blendete uns. Undeutlich sah ich vier Männer. Leider waren sie bewaffnet. »Zurück in die Messe«, sagte eine kalte Stimme, »und du da mit
den Schießeisen, laß ja die Fingerchen von der Kanone, sonst gibt's einen Knall, und du fällst um.« Damit war ich wohl gemeint, denn Kapitän Harvest war unbewaffnet. Ich hob beide Hände leicht an. Shitas Knurren wurde bösartig. Einer der Kerle senkte die Waffe und zielte auf meinen Hund. »Nicht!« schrie ich. »Zurück, Shita, verdammt noch mal!« Shita wich in die Messe zurück. Wir folgten ihm. Die vier Männer rückten nach und stellten ihre Lampen ab. Jetzt war es fast taghell in dem Raum. »Setzen!« befahl einer der vier, ein schlanker, breitschultriger Mann mit kalten, harten Augen, einem messerscharfen Mund und einem gespaltenen Kinn. Wir setzten uns auf die lederbezogene Bank, die um den Messetisch herumführte. Dem gefesselten Mann wurde der Knebel gelöst, dann nahm ihm einer auch die Fesseln ab. Er wurde hochgerissen und auf die Bank gestoßen. Sie mußten ihn mißhandelt haben. Ich sah jetzt die Schwellungen in seinem Gesicht und die aufgeplatzten Lippen. Ich musterte die vier Männer und brauchte nicht viel Menschenkenntnis, um sie in die Kategorie der harten Burschen einzustufen. Das war milde ausgedrückt. Sie waren Raubtiere. Der Mann mit dem Spaltkinn blickte den Kapitän an und sagte: »Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich Sie schon in New Orleans gesehen, in der Hafengegend. Sie sind Kapitän Harvest, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte Kapitän Harvest einsilbig. Ich merkte, daß er eine ganz schöne Wut im Bauch hatte. »Und wer ist der blonde Bursche?« fragte der Kerl. »Ronco«, erwiderte Kapitän Harvest. »Er ist bei mir an Bord gefahren. Und da wir gerade bei der Vorstellung sind – mit wem haben wir das Vergnügen?« Der Mann mit dem Spaltkinn grinste kalt. »Gut, daß Sie das fragen, Kapitän, denn so erfahren Sie gleich, daß wir nicht lange fackeln, falls einer von Ihnen den wilden Mann spielen möchte. Mein Name ist Vickers, Less Vickers. Das dort ist Mister LeCoer, neben ihm steht Mister Hankins und neben Mister Hankins befindet sich Mister Gatland.«
»Aha«, sagte Kapitän Harvest, »die vier Gentlemen, die aus dem Staatsgefängnis aus Baton Rouge ausgebrochen sind.« »Richtig«, sagte Less Vickers. »Und der Mister dort, den wir fesseln und knebeln mußten, als Sie an Bord stiegen, heißt Manuel Fangio, seines Zeichens erster Offizier auf dieser stolzen Brigg und einziger Überlebender eines Überfalls und des nächtlichen Sturms, der die Brigg auf diese Sandbank beförderte. Hat eine Menge Glück gehabt, der Mex. So, nun erzählen Sie mal, Kapitän, was Sie hier an Bord wollten?« »Einen Schatz heben«, sagte Kapitän Harvest. »Aber den haben Sie ja wohl jetzt, oder?« »Leider nicht«, erwiderte Less Vickers im gemütlichen Plauderton, der aber in keiner Weise darüber hinwegtäuschte, daß er ein eiskalter Killer war. »Aber das ist halb so schlimm, weil wir uns den Schatz holen werden.« »Und wo, wenn ich fragen darf?« »Sie dürfen, mein lieber Kapitän, Sie dürfen. Den Schatz hat ein gewisser Mister Lafitte aus New Orleans, der den Überfall auf die Brigg ausführen ließ. Das hat uns Mister Fangio freundlicherweise erzählt. Bevor er mit einem bösen Kopfstreifschuß von den Füßen geräumt und dann für tot gehalten wurde, hörte er einen der Piraten den Namen seines Bosses und Auftraggebers nennen: Henry Lafitte.« »Der Drecksack«, knurrte Kapitän Harvest. »Sie kennen ihn?« fragte Less Vickers interessiert. »Er war mein Eigner.« »War? Ist er es nicht mehr?« »Er hat mich gefeuert, weil ich es wagte, seine Version, diese Brigg sei verseucht, anzuzweifeln.« »Das hat er getan«, sagte Less Vickers dozierend, »um zu verhindern, daß sich jemand näher mit dieser Brigg beschäftigt. Dann wäre nämlich die Seuchenversion geplatzt, es hätte Nachforschungen gegeben, und vielleicht wäre man dann auf unseren guten Mister Lafitte aufmerksam geworden. Es gibt ja manchmal seltsame Zufälle – so wie jenen, daß Sie der Brigg einen Besuch abstatteten. Ich freue mich, Sie und Mister Ronco an Bord begrüßen zu können.« »Na so was«, sagte Kapitän Harvest verdutzt. »Sie freuen sich?
Das begreife ich nicht.« »Ganz einfach«, sagte Less Vickers. »Sie sind als ausgezeichneter Seemann bekannt. Sie, Mister Fangio und Mister Ronco werden von mir angeheuert. Meine Freunde und ich haben die Absicht, dieses ungastliche Land zu verlassen und nach Mittel- oder Südamerika zu gehen. Mit der Brigg. Meine Freunde und ich sind die Eigner, und Sie sind der Kapitän, Mister Harvest. Ich vertraue Ihnen mehr, als dem Mex. Ganz abgesehen davon war ich entzückt zu hören, daß Sie unseren ehrenwerten Mister Lafitte einen Drecksack nannten. Diese Einstellung, so nehme ich an, wird unsere Zusammenarbeit außerordentlich erleichtern, denn auch meine Freunde und ich halten nicht sehr viel von Mister Lafitte, genauer gesagt, wir haben es ihm zu danken, daß wir in dieses häßliche Gefängnis in Baton Rouge gesperrt wurden.« »Na, das klingt ja alles sehr schön«, sagte Kapitän Harvest. »Fast zu schön. Darf ich Ihren Worten entnehmen, daß wir frei sind, Mister Vickers?« »So halb und halb, Kapitän. Endgültig frei sind Sie alle drei erst, wenn wir in Mittel- oder Südamerika an Land gehen. Sie können dann die Brigg behalten. Ist das ein honoriges Angebot?« »Sehr honorig«, sagte Kapitän Harvest. Er und ich wußten, daß wir am Ende der Seereise über die Klinge springen würden. Solange mußten wir mit den Wölfen heulen. »Allerdings sehe ich da noch ein Problem«, fuhr Kapitän Harvest fort. »Und welches?« »Mit Senor Fangio und Ronco werde ich die Brigg kaum flottkriegen, und für die späteren Manöver reichen drei Männer auch nicht aus.« »Wie viele Männer brauchen Sie?« »Sechs bis acht, falls Sie auch mit anpacken.« »Kein Problem, Kapitän. Die besorgt Ihnen mein Freund George Hankins. Er kennt sich in diesem Metier bestens aus, nicht wahr, George?« »Und ob«, erwiderte George Hankins grinsend, und ich erinnerte mich, was ich im Lohnbüro über diesen Kerl gehört hatte. »Das war's dann wohl«, sagte Less Vickers. »Mister Gatland wird
Ihnen hier an Bord Gesellschaft leisten, Gentlemen, während Sie sich bemühen werden, Ordnung an Bord zu schaffen. Übrigens rate ich keinem, außenbords zu springen – wegen der Haie. Aber das wissen Sie wohl selbst. Ihr Boot, Kapitän, müssen wir leider beschlagnahmen.« »Hab ich mir gedacht«, brummte Kapitän Harvest. »Und Ihren Colt leider auch, Mister Ronco. Schnallen Sie Ihren Waffengurt vorsichtig ab, lassen Sie ihn fallen, und schieben Sie ihn bitte zu Mister Gatland.« Ich tat es. Less Vickers sagte: »Dann wünsche ich Ihnen eine vergnügliche Zeit, Gentlemen. Ich schätze, daß wir spätestens morgen nachmittag zurück sind – mit dem Schatz, der gewünschten Crew und natürlich mit Mister Lafitte, mit dem wir dann auf unserer Fahrt nach Süden noch viel Spaß haben werden.« Er lachte kalt. Es klang, als klirrten Eissplitter aneinander. »Ruhen Sie sich ein paar Stunden aus, Gentlemen, damit Sie morgen frisch an die Arbeit gehen können. Sie werden ja selbst bemerkt haben, wie wüst es an Deck aussieht. Die Brigg ist übrigens sonst unbeschädigt, wir haben alles untersucht.« Er nickte uns zu. Dann verließen sie die Messe und verriegelten die Tür. Wir hörten Ihre Schritte an Oberdeck, kurz darauf ertönte Ruderschlag. Pernell Gatland schien oben zu bleiben. Wir vernahmen, wie er hin und her ging. »Dem reiß ich noch den Achtersteven auf«, sagte Kapitän Harvest grimmig. Er erhob sich und ging zu dem Mexikaner. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Senor Fangio, wenn auch unter Umständen, die ich bedauere, die ich um so mehr bedauere, weil ich Ihre jetzige Situation hätte verhindern können.« Manuel Fangio blickte ihn erstaunt an. Kapitän Harvest nickte und sagte: »Ja, vorgestern früh entdeckten wir Ihre treibende Brigg. Ich pullte mit meiner Jolle und ein paar Männern heran. Leider meldete sich an Bord niemand, und meine Leute hatten Angst, Ihr Schiff zu untersuchen. Wegen der drei Toten, die an Deck lagen, meinten sie, Ihr Schiff sei pestverseucht. Ich konnte die Kerle nicht zwingen, dennoch an Bord zu gehen.« »Vorgestern früh war ich noch bewußtlos«, sagte Manuel Fangio.
Er hatte ein gutgeschnittenes, braungebranntes Gesicht. »Ein paar Stunden vorher waren wir überfallen worden. Ein scheinbar in Seenot befindliches, größeres Boot tauchte vor uns auf. Wir stoppten und boten unsere Hilfe an. Sie ruderten längsseits, enterten, und dann krachte es auch schon. Wir wurden völlig überrumpelt. Das andere hat Ihnen ja dieser Vickers erzählt. Diese vier Kerle erschienen vor etwa drei Stunden. Ich war froh, denn ich dachte, man habe die gestrandete Brigg von der Küste her entdeckt und wollte sich um die Schiffbrüchigen kümmern. Statt dessen stiegen diese Galgenstricke an Bord und fielen über mich her. Sie wollten wissen, wo der Schatz sei. Erst dachte ich, sie wollten mich umbringen. Als ich dann den Namen Lafitte nannte, wurden sie friedlicher. Wer sind diese Männer Kapitän?« »Todeskandidaten, die aus dem Gefängnis in Baton Rouge ausgebrochen sind. Lafitte hatte sie ans Messer geliefert, derselbe Lafitte, der Ihre Brigg überfallen ließ. Na, jetzt wollen sich die Kerle diesen Verbrecher Lafitte schnappen und ausnehmen. Bis morgen nachmittag haben wir viel Zeit, den Spieß umzudrehen. Wie geht's Ihrem Kopf, Senor Fangio?« »Brummschädel«, sagte Manuel Fangio lakonisch. Er blickte uns nachdenklich an. »Sie wollten sich den Schatz ebenfalls holen, nicht wahr, Senores?« »Sie kennen das Seerecht, Senor Fangio«, erwiderte Kapitän Harvest, »danach gehört ein verlassenes Schiff samt seiner Ladung demjenigen, der es findet. Da Sie noch an Bord sind, kann die Brigg nicht als verlassen gelten, also hätte ich auch nicht das Recht, mir irgend etwas von diesem Schiff oder seiner Ladung anzueignen. Vielmehr tritt jetzt der Fall ein, daß ich alles zu tun habe, um zu helfen. Genügt Ihnen diese Antwort?« »Ich danke Ihnen, Kapitän. Sie sind ein ehrenwerter Mann.« Manuel Fangio schien sichtlich erleichtert zu sein. Sehr leise sagte er: »Von morgen mittag ab wird im Laufe der nächsten achtundvierzig Stunden eine zweite mexikanische Brigg, die ›El Rey‹, auf einem bestimmten Kurs und in einem bestimmten Abstand an New Orleans vorbeisegeln – eine Art Ersatzschiff, falls der ›Emperador‹ etwas passieren sollte. Man vermutet Spitzel in der
Umgebung des Kaisers. Daß diese Vermutung zutrifft, beweist der Überfall auf die ›Emperador‹. Lafitte muß erfahren haben, wann die Brigg auslauten und welchen Kurs sie nehmen würde. Alles andere war dann ein Kinderspiel.« Er blickte uns an. »Sie wollen mir wirklich helfen?« »Darauf können Sie sich verlassen«, erwiderte Kapitän Harvest und wandte sich an mich. »Was sagst du dazu, Söhnchen?« »Dumme Frage, Timo«, sagte ich und grinste ihn an. »Wir haben doch beide ein Hühnchen mit unserem Freund Lafitte zu rupfen.« Ich griff in meinen Stiefelschaft und zog mein Messer heraus. »So ganz unbewaffnet sind wir nicht. Wenn wir morgen an Deck aufklaren, werde ich bei günstiger Gelegenheit dieses Messerchen dem Halunken Gatland auf die Gurgel drücken. Diese günstige Gelegenheit müßte sich daraus ergeben, daß ihr den Kerl mit irgend etwas beschäftigt, so daß er nicht auf mich achtet. Ganz einfach.« »Teufel«, sagte Kapitän Harvest und lachte dröhnend.
8. Pernell Gatland, der Kerl mit dem brutalen Gorillagesicht, hatte eine Stinklaune und entpuppte sich als roher Menschenschinder. Die verbindliche, geschmeidige Art des Less Vickers hatte er nicht – und auch nicht dessen kalten Verstand. Er scheuchte uns am Morgen brüllend aus der Messe – wir hatten gar nicht einmal so schlecht geschlafen, er wohl nicht –, und er brüllte weiter, als er uns an Deck hatte und meinte, uns befehlen zu müssen, was zu tun sei. Dieser Hurensohn hatte meinen Waffengurt umgeschnallt und wedelte mit meinem Navy Colt herum, um seinen Befehlen Nachdruck zu verleihen. Kapitän Harvest gähnte ihn an und sagte: »Halbe Fahrt, Mann. Hör auf zu brüllen. Und was zu tun ist, das wissen wir selbst. Oder bist du schon mal zur See gefahren?« »Maul halten!« brüllte Pernell Gatland. »Hier habe ich das Kommando! Und wenn du alter Krüppel nicht parierst, dann blase ich dir ein Loch durch den Schädel!«
»So? Und wer bringt euch dann von hier weg, mein Freund? Keiner, nicht wahr? Weißt du zum Beispiel, wie man ein Schiff, das auf eine Sandbank aufgebrummt ist, wieder runterkriegt? Nein, das weißt du nicht. Also sei friedlich.« »Erzähl's mir mal«, sagte Pernell Gatland. Kapitän Harvest warf mir einen blitzschnellen Blick zu und nickte unmerklich. Es war soweit. »Weißt du, was ein Spill ist?« fragte der Kapitän den Gorilla. »Nein, weißt du nicht. Da vorn auf der Back steht ein Spill. Komm mit, damit ich dir das erklären kann. Mit dem Ding werden Anker aus dem Grund gehievt …« Er redete und redete und zerrte Gatland mit nach vorn zur Back. Ich brauchte nur hinterher zu gehen – auf leisen Sohlen. Gatland war reichlich sorglos. Er wähnte uns unbewaffnet und eingeschüchtert und beging damit den Irrtum aller oder fast aller Verbrecher, anzunehmen, daß wir nicht den Mumm hätten, der Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Solche Aktivität billigte er allenfalls Gesetzesbeamten zu, die darauf geschult waren. Aber nicht uns naiven Seeleuten. Ich hatte es ziemlich leicht. Kapitän Harvest erklärte ihm die Funktion des Spills, das man auch dazu benutzen konnte, mittels eines ausgefahrenen Ankers und Muskelkraft ein Schiff von einer Sandbank herunterzuziehen. Pernell Gatland erhielt seine Lehre. Ich schlich hinter ihn, schlang meinen Arm um seinen Hals und drückte ihm die Messerschneide auf die Gurgel. Ich tat es nicht sehr sanft. Warum auch? »Laß fallen«, sagte ich, »oder ich verhelfe dir zu einer schnellen Höllenfahrt!« Der Colt polterte auf die Planken. Kapitän Harvest nahm Maß und hieb ihm die Faust unter das Kinn. Mein Messer hatte ich schnell weggezogen. Gatland flog in meine Arme und riß mich fast um. Ich ließ ihn los, und er fiel wie ein nasser Sack auf die Planken. Dieser Timotheus Harvest hatte einen Schlag am Leib, mit dem man Büffel fällen konnte. Gatland hatte glasige Augen und ein schiefes Kinn. Geschah ihm
recht. Manuel Fangio war zur Stelle und fesselte den Kerl. »Das hat gutgetan«, sagte Kapitän Harvest und streichelte die Knöchel seiner Rechten. Ich nahm dem Kerl meinen Waffengurt ab und hob meinen Colt auf. Die »Emperador« war fest in unserer Hand. »Ich geh mal in die Kombüse und setz Kaffee auf«, sagte ich. »Außerdem hab ich Hunger. Ihr auch, wie?« »Dieses Söhnchen hat doch immer die besten Ideen«, sagte Kapitän Harvest und grinste breit. * Zwei Stunden später kriegten wir Besuch – nicht den, den wir erwartet hatten. Drei Männer pullten von Land her auf die Sandbank zu. Ich beobachtete sie durch einen Kieker und erkannte in dem einen der Männer jenen bärtigen Riesen in der Lederkleidung, der auf mich geschossen hatte, als ich Mister Lafitte auf den Fersen war. Mysteriös. Was wollten die? Dachten die vielleicht, hier sei noch ein Schatz an Bord? Auf jeden Fall waren wir bestens gerüstet. Manuel Fangio hatte festgestellt, daß Less Vickers und die drei anderen Kerle etwas sehr Wichtiges übersehen hatten, als sie die Brigg nach dem Schatz durchsuchten. Die kleine Waffenkammer. Sie lag ganz achtern hinter der Kapitänskammer gewissermaßen unter Verschluß, und nur der Kapitän und sein erster Offizier hatten zu ihr Zugang. Die Tür in die Waffenkammer war getarnt in die Wandvertäfelung der Kapitänskammer eingebaut. Da waren europäische Militärgewehre, amerikanische Spencer, Colts, Pistolen – ein richtiges kleines Waffenarsenal mit der dazugehörigen Munition. Wir waren bis an die Zähne bewaffnet. Pernell Gatland hatten wir schnell unter Deck geschafft, schwer
gefesselt und geknebelt, an Tauwerk war ja genug an Bord vorhanden. Der Kerl kochte vor Wut, daß wir es geschafft hatten, ihn hereinzulegen. Wir drei verteilten uns an Oberdeck. Ich plazierte mich hinter der Steuersäule des Ruderrads, Kapitän Harvest blieb im Niedergang zum Achterdeck, und Manuel Fangio verzog sich hinter das Kombüsenschott. Wir hatten vereinbart, daß ich den Reigen eröffnen sollte, wenn sie an Deck waren. Ich konnte ihr Palaver schon von weitem hören. Daraus war zu schließen, daß sie keineswegs damit rechneten, jemanden an Bord der gestrandeten Brigg anzutreffen. Sie benahmen sich wie Sonntagsruderer bei einer Kahnfahrt, nur daß sie nicht sangen. Das Boot schurrte an der Backbordseite entlang. Dann flog ein Tau mit einem Haken hoch. Kurz darauf schwang sich der bärtige Riese über das Schanzkleid, schaute sich kurz um und half dem zweiten Kerl hoch. Dann entwickelten sie eine emsige Tätigkeit. Ich staunte nicht schlecht. Die beiden Männer am Schanzkleid hievten zusammen ein Faß nach dem anderen an Deck – Pulverfässer, zwölf Pulverfässer. Dann folgten noch ein paar Rollen Zündschnüre. Damit war alles klar. Sie beabsichtigten, die Brigg in die Luft zu sprengen. Als der dritte Kerl über das Schanzkleid kletterte und an Deck sprang, schnellte ich aus meiner Deckung hoch, den Colt im Anschlag und rief: »Stützt den Himmel, Freunde! Wer es nicht tut, hat Pech gehabt. Die Haie haben heute noch nicht gefrühstückt!« Sie waren viel zu überrascht, um an Gegenwehr zu denken. Außerdem tauchte hinter ihnen Manuel Fangio auf, und neben mir erschien Kapitän Harvest, beide mit Spencer-Karabinern im Hüftanschlag. Die Kerle waren mit Colts bewaffnet. »Schnallt ab«, sagte ich, »das ist für euch gesünder. Und keine falsche Bewegung!« Sie behandelten ihre Waffengurte mit den Colts wie rohe Eier. Auch diese drei Männer wurden gefesselt. Allmählich entwickelte
sich die Brigg zum Kriegsschiff. Pulver hatten wir jetzt genug, nur keine Kanonen. Der bärtige Riese faßte sich als erster. »Dich kenn ich doch!« fauchte er mich an. »Richtig«, sagte ich, »wir kennen uns. Und es ist nicht gerade die feine Art, einen friedlichen Reiter mir nichts, dir nichts mit Blei zu bepflastern. Nach dem Gesetz war das ein Mordversuch.« »Leck mich«, sagte der bärtige Riese sehr unfein. Kapitän Harvest trat näher und sagte: »Ein unfreundlicher Mensch.« Er grinste mich an. »Wir könnten dieses saubere Kleeblatt wieder in das Boot zurückverfrachten, an die Duchten fesseln und vier Pulverfässer dazugeben.« »Und natürlich die Zündschnüre mit einer Brenndauer von etwa fünf Minuten.« Ich grinste zurück. »Natürlich«, sagte Kapitän Harvest. »Oder sollten wir besser sechs Pulverfässer nehmen?« »Vier reichen. Eins stellen wir in die Mitte, die anderen drei binden wir den Kerlen unter ihren Hintern fest.« »Hm, gute Idee.« Kapitän Harvest prüfte den Wind. »Auch gut, der Wind ist ablandig. Der treibt das Boot ein Stück auf die See hinaus. Vielleicht sollten wir aber die Brenndauer der Zündschnüre auf etwa acht Minuten erhöhen. Was meinst du?« Ich nickte zustimmend. »Das ist für uns sicherer, nicht wahr?« »Richtig«, sagte Kapitän Harvest, »und die drei Kerle haben drei Minuten mehr Zeit, über Ihre Sünden nachzudenken.« Der bärtige Riese war bleich geworden, den beiden anderen Galgenvögeln schlotterten bereits die Glieder. »Das – das könnt ihr nicht tun!« stieß der Riese hervor. »Das ist Mord.« »Du arbeitest für Lafitte, nicht wahr?« fragte ich. »J-Ja.« »War das auch Mord, als er diese Brigg hier überfallen und die Besatzung niedermetzeln ließ? Oder wie nennst du das?« fragte ich kalt. »Und die beiden Schüsse auf mich? Waren die als freundliche Begrüßung gedacht?« »Als Warnung.«
»Diese Warnung sollte ein Kopfschuß sein, mein Freund. Ich hatte lediglich Glück. Na gut. Ihr solltet im Auftrag Lafittes die Brigg sprengen. Warum?« »Er befürchtet, daß jemand die Brigg untersuchen und feststellen könnte, daß sie überfallen wurde. Meine beiden Freunde und ich haben mit der ganzen Sache nichts zu tun. Wir haben nur die beiden Schatztruhen …« Er biß sich auf die Zunge und schwieg. »Ich glaube, wir mannen zuerst die Pulverfässer in das Boot«, sagte Kapitän Harvest grimmig. »Nein!« schrie einer der beiden anderen Kerle, die bisher geschwiegen hatten. »Wir haben die Truhen nur in Empfang genommen, drüben an der Barataria Bai. Dann haben wir sie ins Versteck gebracht. Das ist alles.« »Welches Versteck?« fragte ich. »Es liegt an einem Binnensee drüben auf der Shell Beach.« Kapitän Harvest warf Fangio einen Blick zu und grinste. »Gut für uns, Senor Fangio«, sagte er. »Wir brauchen hier nur zu warten. Ich verwette meine Seestiefel, daß uns Vickers und Genossen die beiden Truhen frei Schiff liefern.« »Hoffentlich«, sagte Manuel Fangio. Wir sperrten die drei Kerle in der Vorpiek ein, vorn, ganz unten im Schiff. Dieser Raum war besser abgesichert als eine Gefängniszelle, Das Boot, mit dem sie hergepullt waren, versenkten wir. Die Pulverfässer und Zündschnüre schafften wir unter Deck. Wenn Vickers mit seinen Kumpanen zurückkehrte, brauchten sie nicht gleich zu sehen, daß sich etwas an Oberdeck verändert hatte. Die Pulverfässer hätten verraten, daß etwas nicht stimmte. Jetzt brauchten wir tatsächlich nur noch zu warten. * Henry Lafitte hatte eine unruhige Nacht gehabt – ohne einen der üblichen Betthasen. Diese Nächte waren zwar meist auch sehr unruhig oder besser gesagt, im gewissen Sinne anstrengend, aber eben doch auch sehr angenehm. Nein, in dieser Nacht hatte Mister Lafitte schlechte Träume gehabt, durch die immer wieder vier
Gestalten gegeistert waren – mit gezückten Dolchen und gefletschten Zähnen. Diese Zähne wiederum waren auch zu Dolchen geworden und aus Gesichtern herausgewachsen, die sich plötzlich in Wolfsköpfe verwandelt hatten; Mister Lafitte erwachte schweißgebadet, und als er sich aufrichtete, hatte er das Gefühl, zu einem Eisblock zu erstarren. Einer lehnte an der Tür, George Hankins, und säuberte sich mit einem spitzen Messer die Fingernägel. Der zweite, Humphry LeCoer, stand am Fenster und spielte mit der Gardinenschnur. Less Vickers saß lässig an der kleinen Bar, die Lafitte in seinem Schlafzimmer hatte, und schwenkte die Eiswürfel in einem Whiskyglas. »Nett hast du es hier, Henry«, sagte er, »wirklich hübsch und alles so gediegen – Seidentapeten, Edelholzbar, echte Teppiche, na, und deine Lotterwiese, aus Frankreich, wie?« Henry Lafitte brachte nichts weiter als ein Ächzen hervor. »Er freut sich gar nicht«, sagte Humphry LeCoer und knüpfte eine laufende Schlinge in die Gardinenschnür. »Ob er was gegen uns hat? Was meinst du, Less?« »Er hat sich erschreckt, Humphry«, sagte Less Vickers und goß Whisky über die Eiswürfel. Genüßlich probierte er. »Hm, sehr gut, schmeckt ausgezeichnet, besser als die Affenpisse in dem Staatshotel von Baton Rouge.« Mister Lafitte begann mit den Zähnen zu klappern. »Aber, aber«, sagte Less Vickers, »was ist mit dir, lieber Henry? Hast du Schüttelfrost?« Es wurde an die Tür geklopft. George Hankins glitt zur Seite. »Sir, das Frühstück«, sagte eine Männerstimme. Less Vickers nickte Lafitte zu. »Er darf eintreten.« Dann blickte er kurz zu George Hankins hinüber. »Halt dich bereit, George, aber erst, wenn er drin ist und das Frühstück abgestellt hat. Ich hab Hunger.« Er wechselte den Blick zu Lafitte, und jetzt waren seine Augen von eisiger Kälte. »Ruf ihn rein, Henry!« »Herein!« rief Lafitte mit zitternder Stimme. Die Tür ging auf, ein Neger in Livree erschien, ging an George
Hankins vorbei, stutzte, als er Humphry LeCoer am Fenster sah, sagte: »Guten Morgen, Sir!« und setzte das Frühstückstablett auf einem Nebentischchen ab. Dann starb er mit einem Messerstich im Rücken. George Hankins ging zur Tür, schloß sie, kehrte zurück und schob den Toten unter das breite Bett Lafittes. Henry Lafitte erbrach sich. Less Vickers stand auf und inspizierte das Frühstückstablett. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, was seh ich da alles – Kaviar, Oliven, eins, zwei, drei Sorten Käse, Schinken, zwei gekochte Eier, ts, ts, und das feine Porzellan, sag mein lieber Henry, ist bei dir der Reichtum ausgebrochen? Als wir uns leider trennen mußten, lebtest du viel spartanischer:« Er pflückte eine Olive aus einem Schälchen und steckte sie in den Mund. Dann bestrich er einen Toast mit Butter und häufte Kaviar darüber. »Bedient euch, Freunde, unser guter Henry hat bestimmt nichts dagegen. George, es ist besser, wenn du jetzt die Tür abriegelst, damit uns keiner mehr stört, nicht wahr, mein lieber Henry?« Der »liebe Henry« war grün im Gesicht und um mindestens zehn Jahre gealtert. »Es riecht hier gar nicht mehr angenehm«, sagte Humphry LeCoer mißbilligend. Er umging das Erbrochene, nahm eine Perserbrücke und deckte sie über das, was Mister Lafitte von sich gegeben hatte. Dann widmete er sich ebenfalls dem Frühstück, und zu dritt knobelten sie aus, wer von ihnen ein Ei essen durfte. Less Vickers und George Hankins gewannen und köpften die beiden Eier. Dafür fiel Humphry LeCoer über den Schinken her. Zu diesem Zeitpunkt war Mister Lafitte nahe daran, einer Herzatakke zu erliegen. Zehn Minuten später tupfte sich Less Vickers mit der Damastserviette die Lippen ab und sagte: »Vielleicht sollten wir jetzt über den geschäftlichen Teil sprechen, mein lieber Henry. Oder was meinst du?« »Was wollt ihr?« Humphry LeCoer rieb Daumen und Zeigefinger der rechten Hand gegeneinander.
»Bucks, Piepen, Moneten, Puseratzen, Money-Money, mein lieber Henry«, sagte er. »Du bist doch groß im Geschäft, wie wir hörten.« »Ich hab alles auf der Bank.« »George«, sagte Less Vickers, »ist dein Messer schön scharf?« »Wie'n Rasiermesser.« »Dann schneid ihm das linke Ohr ab.« George Hankins schob sich einen Toast in den Mund, wischte sein Messer an der Tischdecke ab und ging grinsend und schmatzend auf das Bett zu. »Nein«, röchelte Lafitte und schob sich an der Rückwand hoch, »dort, hinter dem Bild, da ist ein Safe! Nehmt alles, was drin ist.« Das Bild war ein Ölgemälde in einem dicken Goldrahmen. Es stellte eine vollbrüstige Nymphe dar, die auf einem Delphin durch ein grünes Meer ritt. »Scheußlich«, sagte Less Vickers. »Dein Geschmack hat nachgelassen, Henry. Mach's kaputt, Humphry!« Humphry LeCoer nahm das Bild ab und zerfetzte mit einem Frühstücksmesser das Leinen. Dann zerschmetterte er den Goldrahmen an der linken Kante der Bar. Er wollte zu dem Safe gehen, aber Less Vickers stoppte ihn. »Das wird unser lieber Henry tun«, sagte er. »Es wird überhaupt Zeit, daß er sein Heiabettchen verläßt.« Henry Lafitte stieg aus dem Bett, in dem bequem zwei Pärchen Platz gehabt hätten, und schlich zu dem Safe. Im Nachthemd sah Mister Lafitte ziemlich lächerlich aus. Er drehte an zwei Knöpfen, und es klickte. Dann zog er die Safetür auf. Less Vickers war lautlos hinter ihn geglitten. Lafitte griff in den Safe, und als er die Hand zurückzog, schlug ihm Less Vickers den Coltlauf aufs Handgelenk. Eine Derringer fiel auf den Teppich. »Dieses Schwein«, sagte George Hankins. Less Vickers zog Lafitte zu sich herum und hieb ihm zwei kurze Haken auf die Leber. Lafitte knickte zusammen. Less Vickers riß das Knie hoch, es krachte unter das Kinn Lafittes, und Lafitte brach zusammen. Der Safe war mit Banknotenbündeln vollgestopft. Sie zählten erst
gar nicht. In einem Kleiderschrank fand Hankins einen Koffer, der knapp ausreichte, die Bündel aufzunehmen. Ein Beutel aus Saffianleder, den sie im Safe fanden, enthielt Brillanten. Es waren hochkarätige Stücke, wie LeCoer fachmännisch feststellte. »Phantastisch«, sagte er. »Unser lieber Henry hat sich wirklich gemausert. Hättest du das gedacht, Less?« »Raffgierig war er immer«, sagte Less Vickers und beobachtete aus schmalen Augen, wie Henry Lafitte zu einem Sessel kroch, sich hochzog und setzte. »Hör zu, du Ratte«, sagte er zu Lafitte, »wenn du denkst, wir seien jetzt zufrieden, dann bist du schief gewickelt. Wo hast du den Schatz aus Mexiko, den deine Kerle von der Brigg heruntergeholt haben?« Henry Lafitte zuckte zusammen. »In – in meinem Versteck im Gebiet der Shell Beach«, flüsterte er. »Zieh dich an!« befahl Less Vickers. »Wir reiten zusammen hin. Wird das Versteck bewacht?« »Ich hab dort fünf Leute.« »Gut.« Less Vickers blickte zu George Hankins hinüber, der den Koffer zuschnallte. »Wir brechen sofort auf, George, und verplempern unsere Zeit nicht mehr damit, noch eine Crew zusammenzustellen. Wir nehmen die fünf Kerle von Lafitte mit. Das muß reichen.« Sie verließen zusammen mit Lafitte das Gebäude über eine Hintertreppe – so wie sie auch eingedrungen waren. Den erstochenen Neger würde kaum jemand finden. Wer schaute schon unter ein so breites Bett?
9. Die »fünf Kerle von Lafitte« waren nur noch zwei, und die begriffen zu spät, daß ihr Boß nicht mehr freier Herr seiner Entschlüsse war. Und wenn Lafitte gehofft hatte, seine fünf Kerle würden rechtzeitig schalten und ihn herauspauken, so sah er sich getäuscht. Die zwei Posten in dem Versteck an dem Binnensee waren rasch entwaffnet. Das Versteck war eine Blockhütte inmitten eines Schilfdschungels
auf einer Halbinsel, die sich im Ernstfall gut zur Landseite hin verteidigen ließ. Außerdem stand immer der Fluchtweg über den See offen, der durch mehrere kanalartige Flüsse und Bayous mit dem Golf verbunden war. Les Vickers musterte grinsend die beiden Schatztruhen mit den eingebrannten Wappen. Dann wandte er sich an Lafitte und sagte: »Du sprachst von fünf Leuten, mein lieber Henry. Aber hier sind nur zwei. Wie ist das zu verstehen?« Lafitte schien etwas verwirrt zu sein. »Sie hätten längst zurück sein müssen.« Less Vickers zog die Augenbrauen hoch. »Zurück? Von wo?« »Ich gab ihnen den Auftrag, die verdammte Brigg zu sprengen«, erwiderte Henry Lafitte. Less Vickers prallte zurück. Er sah aus, als hätte er einen Schlag vor den Schädel erhalten. »Was sagst du da?« Auch George Hankins und Humphry Le Coer, die in den beiden Schatztruhen wühlten, zuckten herum. Ihre Gesichter waren bösartig verzerrt. »Was habt ihr denn?« flüsterte Lafitte entsetzt. »Du hast die Brigg sprengen lassen?« fragte George Hankins heiser. »Ja.« George Hankins schlich auf Lafitte zu, die Finger wie Krallen gespreizt. »Dafür erwürge ich dich, du Bastard!« keuchte er. »Dir quetsche ich die Luft aus der Gurgel.« Lafitte wich zurück, sein Bärtchen auf der Oberlippe zuckte. »Halt, George!« sagte Less Vickers. »Laß ihn, er kriegt noch sein Fett. Vergiß nicht, daß wir Pernell an Bord zurückgelassen haben. Wenn er aufgepaßt hat, dann sind, die drei Kerle von Lafitte längst Haifischfutter.« »Dein Wort in des Teufels Ohr«, knurrte George Hankins. Less Vickers wandte sich an Lafitte. »Die drei von dir sind wahrscheinlich mit einem Boot zu der Sandbank gerudert. Hast du sonst ein Fahrzeug hier?« Lafitte nickte. »Einen einmastigen Fischkutter.« »Wo liegt er?«
»Vorn am Steg.« »Gut«, sagte Less Vickers, »bringt die Truhen an Bord. Dann segeln wir zu der Brigg.« * Ich starrte zu der Küste hinüber und war unruhig. Ich grübelte über etwas nach, und als ich es endlich begriff, fluchte ich. »Hast du schlechte Laune, Söhnchen?« fragte Kapitän Harvest. »Wir sind Vollidoten«, erwiderte ich wütend. »Wieso?« »Weil sie gewarnt sind.« »Wer?« »Less Vickers und seine beiden Kerle, verdammt noch mal!« »Verstehe ich nicht«, brummte Kapitän Harvest, »wer soll sie denn gewarnt haben?« »Lafitte.« »Na und?« Ich stöhnte. Kapitän Harvest war im Moment nicht sehr helle. »Sie haben ihn sich geschnappt«, sagte ich. »Dann schleppen sie ihn zu dem Versteck, wo sich die beiden Schatztruhen befinden. Dort hat Lafitte bestimmt noch Posten zurückgelassen. Und diese Posten werden aller Wahrscheinlichkeit nach Lafitte erzählen, daß die drei anderen Kerle, die die Brigg sprengen sollten, noch nicht zurück sind. Zwangsläufig werden das auch Vickers und die beiden anderen erfahren. Die Brigg sollte doch ihr Fluchtschiff sein, kapierst du das nicht?« Kapitän Harvest pfiff durch die Zähne. »Jetzt begreife ich.« »Nein, du hast noch nicht alles begriffen!« Ich war ziemlich in Fahrt. »Das kann nämlich bedeuten, daß sie ihren ursprünglichen Plan aufgeben, verstehst du? Wenn sie die Tatsache als gegeben hinnehmen, daß die drei Kerle die Brigg wirklich gesprengt haben, dann hat es für sie keinen Zweck mehr, hier zu erscheinen. Und das bedeutet, daß sie auf Nimmerwiedersehn mit den beiden Schatztruhen irgendwo in der Flußwildnis verschwinden. Aus, vorbei, Punktum!«
»Verdammt«, murmelte Kapitän Harvest, und nun hatte auch er begriffen. »Wir hätten das Boot von den drei Kerlen nicht versenken sollen«, sagte ich. »Wir hätten sofort mit ihnen zu dem Versteck an dem Binnensee pullen müssen, um die Schatztruhen sicherzustellen. Dort hätten wir auch Vickers und seine Kumpane samt Lafitte in Empfang nehmen können.« Manuel Fangio hatte zugehört, und war ziemlich bestürzt. Aber das half nun alles nichts. Wir hatten ein Brett vor dem Kopf gehabt – und jetzt saßen wir auf der Brigg fest, konnten nicht vor und zurück, hatten kein Boot und waren nun echte Schiffbrüchige. »Wir könnten ein Floß zimmern«, sagte Kapitän Harvest, »um an Land zu kommen.« »Klar«, sagte ich höhnisch. »Aber bis dahin sind die Verbrecher mit den Schatztruhen längst über alle Berge.« Kapitän Harvest hätte mir am liebsten eine gescheuert. Manuel Fangio ging zum Steuerhaus und kehrte mit einem Fernglas zurück. Er kletterte an den Wanten des Großmastes hoch, setzte das Glas an die Augen und suchte die Küste ab. Er war sehr schnell wieder unten an Deck. »Ein Boot!« sagte er erregt. »Ein einmastiges Fahrzeug!« Kapitän Harvest riß ihm das Glas aus der Hand und schaute hindurch. »Tatsächlich«, murmelte er. Er fuhr zu mir herum. »Wenn sie das sind, muß Gatland an Deck und den Harmlosen mimen. Hol ihn, Söhnchen!« Ich holte den Kerl mit dem Gorillagesicht. »Hör zu, Bursche«, sagte Kapitän Harvest grimmig, »es könnte sein, daß deine Kumpane zurückkehren. Wenn du ein Wort davon verlauten läßt, daß wir uns Lafittes drei Kerle geschnappt haben, bist du ein toter Mann. Genauso tot bist du, wenn du verrätst, daß wir hier das Kommando übernommen haben. Ist das klar?« »Und was kriege ich dafür?« »Mildernde Umstände bei der Gerichtsverhandlung«, sagte ich kalt. »Kapitän Harvest und ich verbürgen sich dafür. Such's dir aus. Lebenslänglich ist immer noch besser, als am Halse in die Länge
gezogen zu werden.« »In Ordnung«, sagte Pernell Gatland heiser. Ich schnitt seine Fesseln durch. Er rieb sich die Handgelenke und starrte mich verdrossen an. So ganz traute ich ihm nicht. Kapitän Harvest schien das Gleiche zu denken. »Ich warne dich, Gatland«, sagte er. »Die erste Kugel fängst du ein, das ist ein Versprechen. Und es ist mir scheißegal, ob du unbewaffnet bist. Ich habe dich gewarnt, vergiß das nicht.« »Schon gut, schon gut«, murmelte Pernell Gatland, »ich bin ja nicht schwerhörig.« Das Boot mit dem Segel schob sich näher. Es wurde Zeit für uns, unsere Deckungen aufzusuchen. Wir verteilten uns genauso wie beim Empfang der drei Kerle Lafittes. Pernell Gatland brachte auf Befehl des Kapitäns eine Jakobsleiter an der Backbordseite aus. Ich überprüfte meine Waffe – meinen eigenen Colt und noch einen anderen Revolver aus der Waffenkammer, den ich in meinen Gürtel steckte. Eine Viertelstunde später rief Pernell Gatland: »Ho, Less! Alles klar bei euch?« »Bei uns ja!« tönte es zurück. »Und bei dir?« »Alles in Ordnung!« brüllte Gatland. »Die drei Kerle von Lafitte hab ich zur Hölle geschickt! Die wollten die Brigg sprengen, diese Hurensöhne!« Johlendes Lachen schallte über das Wasser. Sie gingen längsseits, und Pernell Gatland nahm die Vorleine wahr, die sie hochschleuderten. Ich beobachtete ihn. Er belegte die Leine an einer Klampe am Backbordschanzkleid und schielte über die Schulter zu Kapitän Harvest, der sich im Niedergang zum Achterdeck befand. Als erster erschien Less Vickers am Schanzkleid und schwang sich darüber. Er stand noch nicht an Deck, da tauchte George Hankins auf. »Vorsicht, Falle!« brüllte Pernell Gatland und warf sich auf die Planken. Der Kapitän feuerte. Gatland zuckte unter dem Einschlag zusammen und krümmte sich.
Less Vickers' Rechte fuhr zum Colt. Ich schoß. Meine Kugel schlug in seine rechte Schulter. Er wurde herumgestoßen und brach in die Knie. Aus der Kombüse stach ein Feuerstrahl. George Hankins, noch auf dem Schanzkleid, griff sich an die Brust und brüllte laut auf. Er taumelte, und ich hörte ihn ins Wasser stürzen. Ich sprang hinter der Steuersäule vor. Less Vickers lag am Boden und griff mit der Linken zum Colt. Sein Gesicht war wutverzerrt. »Pfoten weg!« schrie ich ihn an und richtete den Colt auf ihn. Seine Linke zuckte zurück. Er starrte zu mir hoch. Kapitän Harvest und Manuel Fangio stürzten zum Backbordschanzkleid und zielten mit ihren Waffen auf die Kerle im Boot. »Wer Widerstand leistet, wird erschossen!« rief Kapitän Harvest mit seiner Donnerstimme. »Entert einzeln auf, dalli, dalli, oder es kracht!« George Hankins rief gellend um Hilfe. Ich hörte ihn wie wild im Wasser herumplanschen. »Haie!« schrie einer unten im Boot. Kapitän Harvest feuerte mit der Spencer, auch Manuel Fangio schoß. Es war ein Höllenlärm. Less Vickers versuchte es noch einmal. Ich war rechtzeitig heran und trat ihm den Colt aus der Hand. Dann schlug ich ihm meinen Coltlauf an die Schläfe. Er war wie ein wildes Tier. Erst jetzt hatte er genug und streckte sich. Ich wirbelte herum. Pernell Gatland lehnte sitzend am Schanzkleid und stierte zu mir herüber. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand. Sein Gesicht wurde plötzlich wächsern, sein Kopf sackte nach vorn, langsam rutschte sein Körper zur Seite Weg. Pernell Gatland war tot. Ich sprang zum Schanzkleid. George Hankins wurde von den Haien angegriffen. Die Abwehrschüsse des Kapitäns und Manuel Fangios konnten die Bestien nicht abhalten. Die Männer in dem kleinen Einmaster waren so geschockt, daß sie nichts mehr unternahmen. Sie stiegen einzeln an Deck. Humphry LeCoer ließ sich widerstandslos entwaffnen. Lafitte und seine beiden
Kerle waren unbewaffnet. Ich verband den Schulterdurchschuß von Less Vickers. Dann sperrten wir alle in der Vorspiek ein. Pernell Gatland übergaben wir der See. Ich blieb an Bord. Kapitän Harvest und Manuel Fangio segelten mit dem Einmaster und den beiden Schatztruhen zu dem Treffpunkt, wo sich die »El Key« befinden sollte. * Am Abend kehrte Kapitän Harvest allein zurück. Er stieg grinsend an der Jacobsleiter hoch, mit einem Koffer. Er öffnete ihn, ohne einen Ton zu sagen, und ich bestaunte die gebündelten Banknoten. »Was soll das?« fragte ich. »Können wir behalten, Söhnchen«, sagte Kapitän Harvest. »Das Zeug hat Lafitte gehört. Less Vickers und seine Kerle hatten es ihm abgeknöpft.« »Ich will es nicht haben«, sagte ich frostig. »Ich auch nicht«, sagte Kapitän Harvest und lachte dröhnend. Er knallte den Kofferdeckel zu, hob den Koffer an und schleuderte ihn außenbords. Er hieb mir die Pranke auf die Schulter. »Ich wollte nur mal sehen, wie du reagierst, Söhnchen!« Er griff in seine Hosentasche, angelte einen Lederbeutel heraus und hielt ihn mir hin. »Und was ist das?« fragte ich mißtrauisch. »Deine Belohnung. Für deine tatkräftige Mithilfe, den Schatz Kaiser Maximilians wieder zurückzuholen. Du kannst es nehmen, Söhnchen. Ohne dich hätten weder Fangio noch ich es geschafft. Ich hab auch so einen Beutel erhalten. Sind Goldmünzen drin. Außerdem habe ich wieder ein Schiff.« Er blickte sich um, ein harter Mann, der jetzt ein weiches Gesicht hatte, weil ihm eine Geliebte geschenkt worden war. Ich gönnte sie ihm. Ich gönnte sie ihm von ganzem Herzen. Die Verbrecher lieferten wir beim Marshal in New Orleans ab. Sein Deputy, der mich angestänkert hatte, sagte gar nichts mehr. Nach seiner Miene zu urteilen, hatte er ein Essigfaß ausgetrunken. Meinen grauen Wallach fand ich am Strand wieder. Dort auch
trennte ich mich von Kapitän Harvest, der mit einer Crew zur Brigg weitersegelte. Ich blickte ihm lange nach. Er stand achtern am Steuer, und sein weißes Haar flatterte im Wind. Dann ritt ich westwärts. Shita raste bellend vor uns her …
ENDE
Vorschau Die Sekunden vor einer tödlichen Entscheidung dehnen sich wie eine Ewigkeit. So erschien es Andrew Hilton, als die Feuerzunge an der Mündung des Revolvers vor ihm aufflammte. Fast bildete er sich ein, die Kugel auf sich zufliegen zu sehen. Dann wurde er getroffen, und alles ging wieder furchtbar schnell. Die Wucht der Kugel schleuderte ihn mitsamt seinem Stuhl nach hinten. Er sah den Schatten der Lampe an der Decke. Sonderbarerweise hatte er keine Schmerzen, nur ein leises Pochen spürte er, das immer schwächer wurde, fast wie ein Herz, das nicht mehr schlagen möchte. Plötzlich hatte er Angst. Ihm war kalt, so kalt, daß er eine Gänsehaut hatte. Seine Zähne begannen, aufeinanderzuschlagen. Dann beugte sich sein Gesicht über ihn – das Gesicht seines Mörders … Die Jagd auf Ronco geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 291 dieser großen deutschen Western-Serie:
Auch Mörder müssen sterben.