Anne de Groot
Das Testament der Lady Abigail Irrlicht Band 405
…er ist gar nicht tot, dachte Linda, von Grauen überm...
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Anne de Groot
Das Testament der Lady Abigail Irrlicht Band 405
…er ist gar nicht tot, dachte Linda, von Grauen übermannt. Er will mich umbringen. Sie sah die scheußliche Fratze näher kommen, immer näher. Und plötzlich verwandelte sie sich in Deans schöne Züge. Dean, der sich über sie neigte, um sie zu küssen. Seine Lippen preßten sich auf die ihren, bis sie keine Luft mehr bekam, bis sie nicht mehr schreien konnte. Jerry, durchzuckte es sie noch. Jerry, warum hilfst du mir nicht? Dann versank alles in schwarze Nacht…
Der graue, wolkenverhangene Himmel war nicht dazu angetan, Linda in ^Hochstimmung zu versetzen. Ein kleines Sonnenzwinkern hätte sie im Moment ganz gut gebrauchen können, denn immerhin kurvte sie einer ungewissen Zukunft entgegen. »Yellow Bird«, wie sie ihren kleinen gelben Wagen getauft hatte, hielt sich auch bei diesen Kurven tapfer. Er schnaufte zwar hin und wieder und hustete wie eine Nebelkrähe, aber immerhin quälte er seine betagten PS ganz wacker die Küstenstraße hinauf und hinunter. Im Moment ging es hinunter, und zwar in rasanter Fahrt, rechts von ihr gähnte ein Abgrund, nur durch eine lächerliche kleine Mauer gesichert, und links wuchs eine Felswand in den Himmel. Linda unterdrückte einen Seufzer. Sie mußte verrückt gewesen sein, sich auf so ein ungewisses Abenteuer einzulassen. Was versprach sie sich davon, zu wildfremden Menschen zu fahren, auch wenn es zufällig ihre Verwandten waren? Jetzt begann es zu allem Überfluß auch noch zu regnen, und »Yellow Bird« liebte nasse, glitschige Straßen überhaupt nicht. Linda verlangsamte das Tempo des Wagens und stellte nach einer letzten Kurve aufatmend fest, daß im vor ihr liegenden Tal eine kleine Ortschaft auftauchte. Mit einem Schlag verbesserte sich ihre Laune. Sie hielt Ausschau nach einem Gasthof, fand auch bald auf dem Marktplatz ein altes, wenig verlockend aussehendes Haus mit dem finsteren Namen »Zum schwarzen Mond«. Sie parkte den Wagen direkt davor, stieg mit Karte und Brief bewaffnet aus und streckte die vom langen Sitzen schmerzenden Beine. Die Luft hier war frisch und kühl. Man spürte die Nähe des Meeres. Ein leichter Wind fuhr ihr durchs
Haar, und es regnete nur noch wenig. Gerade soviel, daß es sich wie ein feuchter Schleier über ihr Gesicht legte. Sie öffnete die schwere Tür, die ein gepeinigtes Quietschen von sich gab, ging durch einen dunklen Vorhang und stand dann in einem muffig riechenden Raum. Im Dämmerlicht nahm sie undeutlich drei Gestalten wahr, die an der Theke standen. »Hallo!« grüßte sie forsch. Drei bärtige Gesichter wandten sich ihr zu und starrten sie an, als hätten sie noch nie ein junges Mädchen in Jeans und weißer Regenjacke gesehen. Hinter der Theke tauchte eine hagere Gestalt auf. Die schmutzig-weiße Schürze ließ Linda vermuten, daß es sich um den Wirt handelte. »Hallo!« grüßte er wortkarg zurück. »Ich hätte gern eine Tasse Tee«, meinte Linda mit ihrem reizendsten Lächeln. »Tee?« echote der Wirt mit angewiderter Miene. E$ war klar, daß er von diesem Getränk wenig hielt. Dann öffnete er eine Tür und brüllte ihren Wunsch ins Dunkel. Linda hatte an einem der Holztische Platz genommen, steckte sich eine Zigarette an und entfaltete die Karte. Sie spürte, daß die Männer sie beobachteten, kümmerte sich aber nicht weiter darum. »Ihr Tee, Miß!« Der Wirt stellte eine einfache Porzellantasse mit einer bräunlichen Flüssigkeit vor sie hin. Er blieb am Tisch stehen und blickte auf die Karte. »Haben Sie sich verfahren?« »Ich hoffe nicht!« Linda blickte ihn mit ihrem offenen Lächeln an. »Ich möchte nach Schloß Merville. Das liegt doch hier in der Gegend?« Es wurde plötzlich so still im Raum, als hielten alle den Atem an.
Der Blick, mit dem der Wirt Linda ansah, war äußerst merkwürdig. Sie schüttelte ein leichtes Unbehagen ab und wiederholte ihre Frage. »Sie sind schon richtig hier«, sagte der Wirt schwerfällig. Er neigte sich zu ihr und starrte ihr aufdringlich ins Gesicht. »Sind Sie verwandt mit den Mervilles?« »Lady Merville ist eine Tante von mir«, erklärte Linda. »Ist es noch weit bis zum Schloß?« »Mit dem Auto höchstens eine halbe Stunde«, murmelte der Wirt. »Wenn Sie an der Küste langfahren, können Sie es nicht verfehlen.« »Eine bessere Straße gibt es wohl nicht?« »Es gibt nur die eine Straße, wenn Sie mit dem Auto fahren«, sagte der Wirt. Linda zahlte für den Tee und brach auf. Sie wollte möglichst noch vor Einbruch der Dunkelheit im Schloß sein. Diese schwierige Küstenstraße zu fahren, war schon bei Tag riskant genug. Der Wirt begleitete sie bis vor die Tür. Als sie schon hinter dem Steuer saß und starten wollte, blickte er durch das Seitenfenster. »Jetzt weiß ich auch, wieso Sie mir gleich so bekannt vorkamen«, sagte er mit eigenartig gepreßter Stimme. »Sie sehen genauso aus wie Lady Merville, als sie noch eine junge Frau war.«
*
Linda wunderte sich nicht weiter über die Bemerkung des Wirtes. Warum sollte sie ihrer Tante nicht ähnlich sehen? Immerhin war sie die Schwester ihrer Mutter, die leider vor zwei Jahren an einer heimtückischen Krankheit gestorben war.
Eigenartig, daß Ma überhaupt keinen Kontakt mit ihrer einzigen Schwester hatte, grübelte Linda. Ob sie zerstritten gewesen waren? Sie wußte es nicht. Wenn Linda gefragt hatte, hatte ihre Mutter nur ausweichende Antworten gegeben. Jetzt hatte sie ganz überraschend von Tante Abigail eine Einladung erhalten und war sofort aufgebrochen. Sie hatte in London ja sowieso nichts zu versäumen. Es waren Semesterferien. Außerdem brannte sie vor Neugierde, ihre fremden, adeligen Verwandten kennenzulernen. Zudem hatte die Einladung Lady Mervilles einen äußerst befremdlichen Nachsatz gehabt. »Komm, so schnell du kannst«, hatte sie geschrieben. »Ich brauche dich!« Die Worte waren mit flüchtiger Schrift aufs Papier geworfen, wie jemand schreibt, der in höchster Eile ist. Jetzt, wo Linda darüber nachdachte, fand sie es wirklich sehr merkwürdig. Zwar hatte die Tante nie versäumt, ihr zum Geburtstag ein kostbares Geschenk zu senden, aber sonst hatte sie sich nie um sie gekümmert. Warum verlangte sie jetzt so dringend nach ihrer Gegenwart? Auf all meine Fragen werde ich ja bald eine Antwort haben, beruhigte sich Linda. Aber die Straße hier war wirklich eine Katastrophe! Sie warf einen beunruhigenden Blick auf das Gestrüpp seitlich der Straße. Ein phantastisches Versteck für irgendwelche Straßenräuber, überfiel es sie. Zum Glück war sie keine ängstliche Natur, und wenn sie jetzt ein leichter Schauer überlief, kam das sicher nur daher, weil sie übermüdet war. Da, waren das nicht die Türme der Burg, die wie schwarze Zeigefinger gen Himmel ragten? Ihr Herz machte einen freudigen Sprung. Sie war am Ziel, hatte es fast geschafft. Die paar Serpentinen würde der Wagen auch noch schaffen.
Der steinige Weg entfernte sich vom Meer, ging zwischen mannshohem Gestrüpp und verkümmerten Bäumen dahin. Es wurde plötzlich so dunkel, daß Linda die Scheinwerfer einschalten und das Tempo verlangsamen mußte. Sie sah, wie die Türme näher rückten und spürte Erregung in sich aufsteigen. Bisher war ihr Leben in geraden, ein wenig langweiligen Bahnen verlaufen. Kam jetzt endlich das Abenteuer, nach dem sie sich zeitlebens gesehnt hatte? Wie hypnotisiert starrte sie die Türme an. Plötzlich ging es haarscharf in eine Kurve. Der Wagen schleuderte leicht. Linda riß das Steuer herum, blickte auf den Weg und stieß einen erschrockenen Schrei aus. Nur einige Meter von ihr entfernt lag die Gestalt einer Frau. Linda bremste so scharf, daß sie nach vorn geschleudert wurde. Sie sprang aus dem Wagen und lief zu der offensichtlich ohnmächtigen Frau hin. Ein scharfer kalter Wind warf sich ihr entgegen, riß an ihrem Haar und nahm ihr den Atem. Trotzdem kämpfte sie sich weiter. Im Gebüsch raschelte es gespenstisch, fern war ein leichtes Brausen zu hören. Der Schrei der wilden Möwen klang bis zu ihr her. Linda lief verzweifelt. Immer näher kam sie der regungslosen Gestalt, die im diffusen Licht der Dämmerung unwirklich aussah. »Kann – ich Ihnen helfen?« Schwer atmend neigte sie sich über die Frau und spürte, wie sich alles in ihr vor Entsetzen sträubte. Sie blickte in das starre Antlitz einer Schaufensterpuppe. Das ist eine Falle, überfiel es sie siedendheiß. Mit einem ersticken Stöhnen warf Linda sich herum und raste zum Wagen zurück.
Linda gehörte nicht zu den Mädchen, die beim Anblick einer Maus auf den nächsten Stuhl springen. Horrorfilme entlockten ihr höchstens ein amüsiertes Lächeln, und an irgendwelche Geister glaubte sie nicht. Doch jetzt verspürte sie zum ersten Mal in ihrem jungen Leben echtes Grauen. Sie erwartete jeden Moment einen Überfall. Im Geiste spürte sie schon rohe Fäuste, die sie zu Boden rissen. Schon glaubte sie den heißen Atem eines Verfolgers im Nacken zu spüren, sein Keuchen zu hören. Doch da war nichts als ihr eigenes wildes Atmen, der heftige Wind und der klagende Schrei der Möwen. Endlos kamen ihr die wenigen Meter bis zu ihrem Auto vor. Keuchend, am Ende ihrer Kräfte, warf sie sich in den Wagen, versuchte sofort zu starten. Als der Wagen nicht gleich ansprang, überkam sie Panik. Gewaltsam zwang sie das Zittern ihrer Hände zur Ruhe und versuchte es noch einmal. Diesmal sprang »Yellow Bird« sofort an. Der Wagen schoß vorwärts. Lindas Blick hing an der Straße. Gleich mußte die Puppe kommen. Sie würde einfach darüber hinwegfahren. Sie konnte es nicht riskieren, darum herum zu fahren und vielleicht mit den Vorderrädern in die Büsche zu geraten. Ihre Hände umklammerten das Steuer. Jetzt war sie dicht vor der Stelle. Doch wo war die Puppe? Ein keuchender Laut entrang sich ihrer Kehle. Die Puppe war fort. Jemand mußte sie weggenommen haben, als sie zum Wagen zurückrannte. Eisiges Entsetzen überströmte sie. Also war doch jemand dagewesen. Jemand, der sie genau beobachtet hatte. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, daß sie so schnell war.
Doch wer konnte ein Interesse daran haben, sie zu überfallen? Außer den Mervilles wußte doch niemand, daß sie kam. Und sie hoffte nicht, daß die Mervilles zu den Leuten gehörten, die ihre Gäste mit solchen makabren Scherzen empfingen. Sicher hat das alles gar nicht mir gegolten, versuchte Linda sich zu beruhigen. Falls es sich um irgendwelche Räuber gehandelt hat, was wäre bei mir schon groß zu holen? Das bißchen Waisenrente, das ich bekomme, würde selbst bei einem Bettler Mitleid erwecken. Lindas Gedanken wurden abgelenkt, denn jetzt näherte sie sich einer hohen, düsteren Mauer, die den Weg abschnitt. Das kunstvolle schmiedeeiserne Tor war einladend geöffnet, so daß Linda den Wagen ungehindert in den gepflasterten Innenhof lenken konnte. Nur wenige Laternen verstreuten ein gelbliches Licht. Dahinter ragten dunkle Mauern auf. Das mußte das Schloß sein. Sie bedauerte, daß sie nicht mehr erkennen konnte, denn es war plötzlich finster geworden. Aber wenigstens war sie bei ihren Verwandten heil angekommen und »Yellow Bird« ebenfalls. Mit einem tiefen, befreienden Seufzer stieg Linda aus und schaute sich um. Keine Menschenseele war zu sehen. Hier wehte der Wind nicht ganz so heftig, doch der klagende Schrei der Möwen klang ganz nah. Sie hörte auch das leise Rauschen, das ähnlich klang, wie wenn der Wind in den Blättern der Pappeln spielte. Das Meer muß ganz nah sein, dachte Linda hoffnungsvoll. Sie freute sich, ihre Ferien am Meer verbringen zu dürfen. Es war doch eigentlich nett von ihrer Tante Abigail gewesen, sie einzuladen. »Hallo!« erklang es plötzlich hinter ihr.
Erschrocken fuhr sie herum und sah sich einem jungen, schlanken blonden Mann gegenüber, der ihr jetzt beide Hände entgegenstreckte. »Sie müssen Kusine Linda sein«, sagte er mit warmer, angenehm klingender Stimme. »Herzlich willkommen auf Schloß Merville!«
*
Lord Dean Merville, so hatte sich der junge Mann vorgestellt, führte sie in die Halle. Im Kamin brannte ein behagliches Feuer und warf sein zuckendes Licht über die Köpfe einiger unheimlich aussehender ausgestopfter Tiere, die als Jagdtrophäen an den Wänden hingen. »Komm, setz dich an den Kamin«, sagte Dean liebenswürdig. »Du wirst nach der langen Fahrt erschöpft sein. Hoffentlich hattest du eine gute Fahrt?« »O ja, danke!« Angenehm berührt ließ Linda sich in dem Sessel vor dem Kamin nieder. Ihr Cousin Dean schien ja ganz reizend zu sein. Er setzte sich ihr gegenüber. Sein Gesicht lag im Halbschatten. Trotzdem konnte Linda feststellen, daß seine klaren Züge von fast klassischer Schönheit waren. Mit dem metallisch schimmernden halblangen blonden Haar hätte er wie ein Mädchen gewirkt, wäre nicht die kraftvolle Männlichkeit gewesen, die er ausstrahlte. Wie er dort vorn leicht vornübergeneigt im Lehnstuhl hockte, wirkte er wie eine straffgespannte Stahlfeder und voller Energie. »Die Fahrt war angenehm, bis auf einen kleinen Zwischenfall«, erzählte Linda. Sie berichtete von der Schaufensterpuppe auf dem Weg, die sie für eine verletzte
Frau gehalten hatte, und während sie sprach, merkte sie, wie kindisch und albern das alles klang. »Bist du sicher, daß deine angegriffenen Nerven dir nicht einen Streich gespielt haben?« meinte Dean, während es um seine Lippen belustigt zuckte. »Wenn man lange unterwegs ist, ermüdet man leicht und man bildet sich Dinge ein…« »Aber es war eine Schaufensterpuppe, das könnte ich beschwören«, entgegnete Linda heftig. »Dann werde ich hingehen und sie mir ansehen.« Dean stand auf, aber Linda sagte schnell: »Das wird keinen Sinn haben, als ich weiterfuhr, war sie plötzlich nicht mehr da.« »Tatsächlich?« Dean lachte lautlos, und Linda mußte gegen ihren Willen mitlachen. »Das hört sich für jemanden, der nicht dabei war, schrecklich albern an«, gab sie zu. »Ach, reden wir nicht mehr darüber. Es ist ja weiter nichts passiert, nur, daß ich einen ganz gehörigen Schrecken bekommen habe.« »Das tut mir leid!« Sein Gesicht hatte sich verdüstert. Er warf ihr einen forschenden Blick zu. »Du siehst nicht aus wie jemand, der leicht zu erschrecken ist.« »Nein!« Linda lächelte. Sie schlang die Hände um die Knie und erinnerte sich daran, daß sie noch immer ihre Jeans trug, was ihr neben Deans Eleganz, er hatte einen braunen Samtanzug und ein weißes Rüschenhemd an, unpassend vorkam. Neben ihm fühlte sie sich verschmutzt und unwohl, und sie hätte sich gern umgezogen und frisch gemacht. Dean schien ihre Gedanken zu spüren. »John kümmert sich um dein Gepäck«, meinte er zuvorkommend. »Wir werden noch einen Whisky zusammen trinken, dann zeige ich dir deine Räume.« Geschmeidig stand er auf und trat an einen jener rustikalen, fast schwarzen Schränke, mit denen die Halle vollgestopft war.
Lindas Blick wanderte unterdessen umher. Der große Raum war halbhoch mit dunklem Holz vertäfelt, was seinen düsteren Eindruck noch unterstrich. Der Anblick der zahlreichen ausgestopften Tiere war auch nicht dazu angetan, Freundlichkeit zu verbreiten. »Mein Vater war ein großer Freund der Jagd«, erklärte Dean, der ihre Blicke bemerkt hatte. »Dieser Eber dort…«, er deutete auf den mächtigen Kopf eines Wildschweins, »ist Papa letzten Endes zum Verhängnis geworden. Er hatte ihn wohl nicht richtig getroffen«, fuhr Dean im Plauderton fort. »Der todwunde Eber brachte sein Pferd zu Fall, und Vater stürzte so schwer, daß er bald darauf starb.« »Wie schrecklich«, flüsterte Linda erschauernd. Schnell nahm sie den Blick von dem gräßlichen Her fort, das ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte. »Entschuldige, ich hätte dir diese Geschichte nicht erzählen sollen«, meinte Dean ruhig. »Du bist ganz blaß geworden. Hier, trink einen Schluck Whisky. Das wird dir guttun. Trinken wir auf deine glückliche Ankunft!« »Ich muß mich für die freundliche Einladung bedanken«, sagte Linda. »Ist Tante Abigail nicht da? Ich würde sie gern begrüßen.« Deans schönes Gesicht wurde ernst. Er lehnte am Kamin und hielt das Whiskyglas zwischen den Händen. »Mama fühlt sich leider gar nicht wohl«, meinte er in bedauerndem Ton. »Das tut mir leid. Was fehlt ihr denn?« »Schwer zu sagen«, seufzte er. »Vielleicht eine Influenza? Sie kränkelt schon seit längerer Zeit. Wir werden nachher zu ihr gehen. Aber nur ganz kurz. Sie braucht vor allem Ruhe.« »Da bin ich ja in einem ungünstigen Augenblick gekommen«, meinte Linda betroffen. »Das würde ich nicht sagen.« Dean lächelte auf sie herab. »Ich bin ja da und kann mich um dich kümmern. Zwar habe
ich erst vor kurzem erfahren, daß ich eine Kusine habe, aber jetzt, wo ich dich sehe, bin ich angenehm überrascht«, sagte er leise. Ein reizender Mensch, sagte sich Linda und vergaß für einen Moment, daß sie solche charmanten Männer im Grunde nicht mochte. Jemand, der zuviel und zu bereitwillig lächelt, hat eine Menge zu verbergen, hatte sie bisher immer geglaubt. Doch auf Dean traf das gewiß nicht zu. Er schien eben ein vollkommener Gentleman zu sein. Dean zog einige Male an einer dicken seidenen Kordel. Gleich darauf teilte sich ein dunkelbrauner Samtvorhang im Hintergrund der Halle, und ein älterer Mann mit eisgrauem Haar kam ins Blickfeld. »Das ist John, unser Butler«, stellte Dean vor. »John, führe Miß Linda bitte auf ihr Zimmer. In einer halben Stunde wünsche ich dann das Dinner.« »Sehr wohl, Mylord!« Er verneigte sich leicht gegen den jungen Mann und wandte dann Linda den Blick seiner hellen, fast farblosen Augen zu. »Würden Sie mir bitte folgen, Miß Linda?« Während sie hinter dem Diener die teppichbelegten Stufen hinaufschritt, hatte sie das peinliche Gefühl, von Dean beobachtet zu werden. Ein leises Frösteln überlief sie, das sie sich nicht erklären konnte. Wahrscheinlich war sie nur übermüdet und hungrig, und ihre Nerven waren überreizt. All das Fremde, das auf sie einströmte, mußte erst einmal verkraftet werden. Von der Galerie oben warf sie einen Blick in die Halle zurück. Dean stand vor dem Kamin und stocherte mit gesenktem Kopf in der Glut. Sein schönes ebenmäßiges Gesicht sah aus wie in Blut getaucht. Wieder überflutete Linda dieses seltsame, unerklärliche Unbehagen. Bis Johns Stimme sie aufstörte.
»Ihr Zimmer, Miß. Das Gepäck habe ich bereits hinaufgebracht.« Er hatte eine der unzähligen dunklen Türen auf dem Gang geöffnet. Linda folgte ihm neugierig und stieß einen entzückten Schrei aus. Sie stand in dem elegantesten Boudoir, das sie jemals gesehen hatte.
*
Nachdem John sich diskret entfernt hatte, hatte Linda Zeit, sich in Ruhe umzusehen. Die goldbedruckten Seidentapeten schimmerten im Glanz der Wandlampen, die wie goldene Rosen geformt waren, aus deren Blütenkelchen das Licht fiel. Das gobelinbestickte Bett trug einen roten Seidenhimmel und sah herrlich bequem aus. Linda strich leicht mit der Hand über die rosé-angehauchte seidene Bettwäsche und sagte sich, daß sie hier bestimmt wundervoll schlafen würde. Rot war in diesem Raum die beherrschende Farbe, von den dunkelroten Samtvorhängen an den Fenstern, dem Teppichboden in gleicher Farbe, bis zu den etwas helleren zierlichen Möbeln aus Rosenholz. Auf dem Damensekretär am Fenster stand in einer weißgoldenen Porzellanvase ein herrlicher Strauß dunkelroter Rosen. Wer mochte die Rosen hierhergestellt haben, fragte sich Linda. War es vielleicht Dean? Sie spürte bei diesem Gedanken eine leise Erregung in sich aufsteigen. Ob Dean noch frei ist? fragte sie sich plötzlich. Kaum anzunehmen bei einem so gutaussehenden, charmanten
jungen Mann, der dazu offensichtlich in den besten Verhältnissen lebte. Sicher werden die Mädchen Schottlands bei jedem Fest ein Wettrennen auf ihn veranstalten. Bestimmt ist er schon in festen Händen. Bei diesem Gedanken streifte sie flüchtiges Bedauern. Um sich abzulenken, öffnete sie die Tür neben dem Kleiderschrank und blickte in ein elegantes schwarzgekacheltes Bad mit rosenholzfarbenen Garnituren. Schnell streifte sie die Kleider ab und ging unter die Dusche. Herrlich war es, das heiße Wasser auf der Haut zu spüren und sich den ganzen Reisestaub abspülen zu können. Sie löste auch das schulterlange Haar, das sie der Bequemlichkeit halber im Nacken zusammengebunden hatte, und wusch es leicht durch. Als sie dabei war, es trocken zu fönen, hörte sie im Nebenraum Schritte. »Ist da jemand?« Sie steckte nur den Kopf durch die Tür und sah ein junges braunhaariges Mädchen in schwarzem Kleid und Rüschenschürze. »Ich bin Nancy«, knickste das Mädchen, »und soll Ihnen beim Auspacken helfen. Was möchten Sie zum Dinner anziehen?« »Irgend etwas«, meinte Linda gleichgültig. Sie machte sich nicht viel aus eleganten Kleidern, lief am liebsten in Jeans herum, die auch gut zu ihrem sportlichen Typ paßten. Doch dann erinnerte sie sich an Deans elegante Aufmachung und zeigte auf den bunten Zigeunerrock, zu dem sie mehrere Blusen besaß. »Dazu vielleicht die weiße Spitzenbluse?« schlug sie vor, doch Nancy schüttelte ernsthaft den Kopf. »Die rote Seidenbluse hier paßt besser«, meinte sie und legte beides ordentlich über das Bett.
Danach packte sie schnell und geschwind Lindas Sachen aus, die diese ungewohnte Fürsorge als wohltuend empfand. Immerhin fühlte sie sich doch etwas abgespannt. Am liebsten wäre sie gar nicht mehr zum Dinner hinuntergegangen und hätte sich in das herrliche Himmelbett verkrochen, um gründlich auszuschlafen. Doch natürlich ging das nicht. Sie konnte Dean, der sicher auf sie wartete, nicht vor den Kopf stoßen. Linda war schnell mit dem Anziehen fertig. »Nicht übel!« sagte Linda lächelnd zu ihrem Spiegelbild, das das Antlitz eines hübschen, lebensfrohen Mädchens zurückwarf, mit gleichmäßigen Zügen und wachen, intelligenten Augen. An der Tür klopfte es. »Sind Sie fertig, Miß Linda?« hörte sie eine Stimme, die sie als die von John wiedererkannte. »Ich komme!« Sie öffnete die Tür und sah sich tatsächlich dem Butler gegenüber. John starrte sie an. Sein Gesicht schien eine Schattierung blasser zu werden. Dann wandte er sich ab. »Bitte, folgen Sie mir«, bat er mit eigenartig flacher Stimme. »Lord Merville erwartet Sie schon.« Das Dinner zu zweit verlief heiter und in bester Stimmung. Dean war ein amüsanter Plauderer, der Linda mehrmals zum Lachen brachte. »Ich habe einige Semester Medizin studiert«, erzählte Dean heiter, während er sorgfältig sein Lammkotelett zerteilte. »Leider hatte ich einige Kontroversen mit meinem Professor und habe die ganze Sache dann an den Nagel gehängt.« »Und was machst du jetzt?« Linda genoß die überraschend guten Speisen. Sie war in dieser Hinsicht nicht verwöhnt. Das Essen in der Mensa war meistens darauf abgestimmt, viele hungrige Mägen zu füllen.
»Ich studiere natürlich weiter«, lächelte Dean, trank einen Schluck von dem Moselwein und fuhr aufgeräumt fort: »Meine ganze Vorliebe gehört der Forschung. Ich habe mir ein Labor eingerichtet. Wenn es dich interessiert, zeige ich es dir gern.« »Natürlich interessiert mich das. Ich finde es großartig«, sagte Linda lebhaft. »Wo ist denn dein Labor. Hier im Schloß?« »Im Westturm«, erklärte Dean. »Immerhin sind manche Experimente riskant, und ich möchte ja keine Menschenleben gefährden. Ma ist in dieser Hinsicht auch ein wenig ängstlich«, fügte er mit seinem charmanten Lächeln hinzu. »Bei der kleinsten Explosion fürchtet sie, die ganze Burg könnte in die Luft fliegen.« »Bei diesen dicken, soliden Mauern dürfte das schwierig sein«, lachte Linda, durch die herrlichen Speisen und den ungewohnten Weingenuß in übermütige Stimmung versetzt. Es fehlte nicht viel und sie wäre Dean um den Hals gefallen, um ihm zu sagen, daß sie ihn einfach bezaubernd fand. »Wieviel Räume gibt es hier eigentlich im Schloß?« versuchte sie, auf den Boden der Tatsachen zurückzufinden. »Eine ganze Menge«, winkte er ab. »Die meisten sind unbewohnt. Das ganze obere Stockwerk steht leer. Falls du also mal über dir Geräusche hören solltest…«, er zwinkerte ihr vielsagend zu, »kann es sich nur um die berühmten Geister von Merville handeln.« »Tatsächlich?« Linda lachte. »Welch ein Jammer, daß ich nicht an Geister glaube.« »Jedes anständige Schloß hat seine Geister«, belehrte Dean sie in heiterem Ton. »Aber so hübschen jungen Mädchen wie dir tun sie todsicher nichts.« »Danke!« Linda strahlte ihn an. »Für einen Cousin machst du ganz reizende Komplimente. Es ist wirklich schade, daß wir uns erst jetzt kennenlernen.«
»Wir haben eine Menge Zeit versäumt!« Zu ihrer Überraschung griff er nach ihrer Hand und küßte sie. Dann hob er das Gesicht und blickte sie an. Er hatte dunkle, fast schwarze Augen, die im eigenartigen Kontrast zu seinem hellblonden Haar standen. Sein Blick löste eine leise Unruhe in ihr aus. »Linda«, sagte er weich. »Wenn du es noch nicht weißt, muß ich es dir jetzt sagen. Wir sind nicht Vetter und Kusine. Streng besehen sind wir eigentlich überhaupt nicht miteinander verwandt.« »Ja, aber…« Linda erholte sich nur schwer von der Überraschung, die seine Worte bei ihr ausgelöst hatten. Sie saßen jetzt im grünen Salon, einem kleinen, intimen Raum mit viel Chippendale und behaglichen grünen Polstermöbeln und Vorhängen. Durch die geöffnete Terrassentür kam ein leichter kühler Wind, der den frischen herben Geruch des nahen Meeres trug. »Unsere Mütter waren doch Schwestern!« platzte Linda heraus. Dean schwieg. Er rauchte eine Zigarette. Sein abwesender Blick hing an der Tür. »Wir sind doch verwandt. Unsere Mütter waren Schwestern«, wiederholte Linda. »Unsere Mütter?« Dean lächelte schmal. »Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ein kleiner Junge war. Sie ist ertrunken. Tagelang hat man nach ihrer Leiche im Meer gesucht. Aber, das Meer gibt seine Opfer so schnell nicht wieder her.« Er seufzte, gab sich einen Ruck und fuhr dann in normalem Tonfall fort: »Lady Abigail ist nicht meine leibliche Mutter. Sie ist die zweite Frau meines Vaters.« »Das wußte ich nicht!« Flüchtig streifte Linda der Gedanke, daß es hier eine Menge Geheimnisse gab, von denen sie keine Ahnung hatte.
»Sie ist mir trotzdem eine gute Mutter gewesen. Wir verstehen uns ausgezeichnet«, versicherte Dean schnell. »Sie hat sich so auf dein Kommen gefreut. Schade, daß sie so plötzlich krank wurde.« »Ich würde sie gern begrüßen«, bat Linda. »Gut, gehen wir zu ihr. Aber erwarte nicht zuviel. Das Sprechen strengt sie an.« Dean war sofort aufgestanden und nahm ihre Hand. Sie durchquerten die verdunkelte Halle, die jetzt am Spätabend noch düsterer wirkte, und schritten die Treppe hoch. Nicht weit von Lindas Zimmer öffnete Dean eine Tür. »Bist du wach, Ma?« fragte er leise und in dem behutsamen Tonfall, mit dem man Kranken begegnet. »Ich bringe dir Linda!« »Oh!« Vom Bett in der Ecke kam ein schwacher Seufzer. Nur eine der Wandlampen brannte und verbreitete mattes Licht. Dieser Raum war ähnlich kostbar eingerichtet wie der von Linda, nur die Farben waren anders. Die abgestuften Brauntöne der Sessel, Vorhänge und Teppiche paßten gut zu den Mahagonimöbeln. Linda neigte sich über die Gestalt im Himmelbett. »Grüß dich, Tante Abigail! Wie geht es dir?« »Danke, nicht besonders«, seufzte die Kranke. »Schön, daß du da bist. Und wie hübsch du geworden bist. Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher.« »Danke«, sagte Linda erstaunt. Sie hatte ihrer Mutter überhaupt nicht ähnlich gesehen, aber wahrscheinlich hatte die Tante das vergessen. Es mußte Jahre her sein, daß sie ihre Schwester gesehen hatte. »Sprich nicht so viel, Ma, es strengt dich zu sehr an«, sagte Dean mahnend. »Besser, du schläfst jetzt.«
Linda nahm in dem Raum einen eigenartigen Geruch wahr, wie nach abgestandenem Rauch und Alkohol. Sie blickte die Lady an und mußte eine leise Enttäuschung niederkämpfen. Ihre Mutter hatte die Schönheit ihrer älteren Schwester gerühmt. Doch vor sich sah sie eine alte, verblühte Frau mit scharfen, fast groben Gesichtszügen und gelblichem Teint. Was haben die Jahre aus ihr gemacht? dachte Linda erschüttert. Vielleicht ist es auch die Krankheit. Sie sieht wirklich sehr elend aus. »Hoffentlich hast du eine schöne Zeit hier«, murmelte die Lady. »Dean wird sich um dich kümmern, da ich es ja nicht kann. Dean ist ein guter Junge, ich hoffe, ihr werdet euch verstehen.« Wie aufgesetzt und gekünstelt sie sprach. Sie mußte wirklich sehr krank sein. Linda war froh, als sie wieder draußen vor der Tür stand. Der schreckliche Geruch im Krankenzimmer hatte ihr Übelkeit bereitet. Sie schämte sich ein wenig, daß sie dieser alten, kranken Frau im Moment nicht mehr Gefühle entgegenbrachte als eine unerklärliche Abneigung. Daher beschloß sie auf der Stelle, sich besonders liebevoll um sie zu kümmern, und alles zu tun, damit sie wieder gesund wurde. »Ich glaube, ich lege mich jetzt auch zur Ruhe«, sagte Linda auf dem Flur zu Dean. »Es war doch alles ein bißchen viel.« »Du mußt todmüde sein«, nickte er lächelnd. »Ich wünsche dir eine besonders schöne Nacht, und vergiß nicht, was du träumst, geht in Erfüllung.« »Hoffentlich träume ich dann etwas Angenehmes«, scherzte das junge Mädchen. »Gute Nacht, Dean!« »Gute Nacht!« Er neigte den Kopf, als ob er sie küssen wollte.
Impulsiv wich Linda zurück und floh auf ihr Zimmer. Ihr Herz pochte plötzlich wie rasend, und sie wünschte sich, sie wäre nicht so schnell vor Dean davongelaufen. Ob er mich wirklich küssen wollte? überlegte sie. Oder habe ich es mir nur eingebildet? Linda trat auf den Balkon. Sie hoffte, etwas von ihrer neuen Umgebung sehen zu können. Doch die Nacht war dunkel. Schwarze Wolkenfetzen jagten über den Himmel. Hin und wieder blitzte geisterhaft ein Stern auf. Noch immer wehte der Wind mit unverminderter Heftigkeit. Noch immer schrien die Möwen ruhelos, klagend. Ein unheimlicher Ort, dachte Linda. Wo wohnen wohl die nächsten Menschen? Wie viele Leute gab es überhaupt hier im Schloß? War sie mit Dean und der kranken Tante allein? Linda ließ die Balkontür offen. Die Luft war trotz der Kühle herrlich. Es würde ihr guttun, jetzt eine Zeitlang frische, unverbrauchte Seeluft zu atmen nach all der stickigen Großstadtluft. Das Bett war in der Tat herrlich bequem. Linda kuschelte sich wohlig zurecht und war fast augenblicklich eingeschlafen.
*
Wie lange Linda geschlafen hatte, wußte sie nicht. Als sie plötzlich wach wurde, herrschte noch tiefe Finsternis. Irgendein Geräusch hatte sie geweckt. Sie versuchte sich zu erinnern, was es gewesen war. Hatte sie nicht ein Klopfen gehört? Mit angespannten Sinnen lauschte sie in die Dunkelheit. Doch alles war still, bis auf das ferne Brausen des Meeres.
Vielleicht war die Balkontür zugeschlagen? Oder irgendein Fensterladen hatte geklappert? Linda versuchte wieder einzuschlafen. Aber unwillkürlich lauschte sie noch immer. Da, da war es wieder, dieses leise Tappen. Es kam von oben. Linda hielt entsetzt den Atem an. Ja, kein Zweifel! Dieses leise Tappen waren Schritte. Über ihr ging jemand langsam hin und her. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Wer konnte das sein? Hatte Dean nicht behauptet, die Räume oben wären unbewohnt? Linda kroch tiefer unter die Decke. Wer mochte dort oben ruhelos herumgehen, mitten in der Nacht? Vielleicht das Schloßgespenst, dachte Linda. Sie kicherte nervös. Doch dann erinnerte sie sich, daß Gespenster wohl kaum Lärm machten. Sie waren einfach da, still, weiß und erschreckend, aber ihre Schritte hörte man nicht. Jetzt war es still. Gleich darauf hörte man ein dumpfes Schlurfen, als würde ein Stuhl zurechtgerückt. Ob sie mal nach oben gehen und nachsehen sollte, wer dort sein Unwesen trieb? Allein schon der Gedanke jagte ihr einen Angstschauer über den Rücken. Sie würde morgen mit Dean darüber sprechen. Sicher gab es für diese unheimlichen Geräusche eine ganz einfache Erklärung. Jetzt war es auch wieder still. Sicher ist auch der Schloßgeist müde geworden, dachte Linda mit einem Anflug von Galgenhumor. Entschlossen drehte sie sich auf die Seite und versuchte, weiterzuschlafen. Noch lange lag sie wach und ertappte sich immer wieder dabei, daß sie auf die Schritte lauschte.
Aber sie hörte nichts mehr.
*
Ein strahlender Morgen verdrängte die Schatten der Nacht. Der Himmel war von einem so reinen, tiefen Blau, als hätte es nie Wolken gegeben. Schon um sechs Uhr in der Frühe hatte Nancy Linda geweckt und gefragt, ob sie mit dem jungen Herrn ausreiten wollte. Und ob Linda wollte! Bei diesem schönen Wetter mußte es ein Genuß sein, auszureiten! Eilig machte sie sich frisch und trat auf den Balkon. Sie sah Dean zwischen zwei wundervollen Rappen im Burghof stehen. »Hallo, Dean!« Sie winkte ihm ausgelassen zu. »Ein herrlicher Tag!« »Extra für dich bestellt«, lachte er zurück. »Beeil dich, die Pferde werden schon ungeduldig.« Reitkleidung besaß Linda nicht. Sie krempelte einfach die Jeans auf, zog einen weißen Pulli an, und ihre blauen Gummistiefel mußten als Reitstiefel herhalten. »Was für herrliche Tiere!« Linda klopfte dem einen Rappen zärtlich den Hals. »Wie heißt du denn, mein Schöner?« »Adonis«, antwortete Dean. »Linda, du kannst doch reiten?« »Ein bißchen!« Sie lächelte zu ihm auf. »Aber große Kunststücke darfst du nicht von mir erwarten.« »Dann nimmst du Adonis«, bestimmte Dean. »Mit schönen Frauen geht er immer sehr sanft um. Lux ist viel temperamentvoller und unbändiger. Er läßt sich nur von mir zähmen.« Linda betrachtete die Rappen. »Sie sehen sich unheimlich ähnlich. Man kann sie kaum unterscheiden.«
»Ich kann es!« Dean half ihr beim Aufsteigen und reichte ihr die Zügel. »Ich reite am besten vor, Adonis folgt dann von ganz allein. Hast du gut geschlafen, Linda?« »Teils, teils!« Sie erinnerte sich plötzlich an die Schritte in der Nacht. Jetzt, bei Tageslicht besehen, kam ihr das gar nicht mehr so furchtbar vor. »Nur die Person, die über mir wohnt, hatte wohl ihre schlaflose Nacht«, meinte sie heiter. »Es wohnt niemand über dir«, sagte er betroffen. »Aber ich habe ganz deutlich Schritte gehört«, beharrte sie. »Vielleicht war es doch euer berühmter Schloßgeist?« Sie lachte, doch bei einem Blick in sein Gesicht verstummte sie irritiert. Für Sekunden lang verzerrten sich seine Züge in ohnmächtigem Zorn. Gleich darauf entspannten sie sich wieder. Dean lächelte. »Du mußt geträumt haben«, sagte er sanft. »Bestimmt nicht, ich war hellwach!« »Das glaubt man oft, wenn man träumt«, widersprach er hartnäckig. »Wie kannst du Schritte hören, wenn die Räume über dir seit Jahren unbewohnt sind? Wahrscheinlich hast du etwas anderes gehört, das Klappern eines Fensterladens oder eine Balkontür.« »Möglich!« gab Linda nach. Sie hatte keine Lust, gleich an ihrem ersten Morgen mit Dean zu streiten. Sie fand es nur seltsam, daß er ihr absolut ausreden wollte, Schritte gehört zu haben. »Reiten wir zum Meer?« lenkte Linda ab. »Gern, wenn du willst!« Geschmeidig glitt er in den Sattel und ließ das Pferd im Schritt gehen. Lindas Rappe folgte gehorsam, genau wie Dean es gesagt hatte. Ihr Blick streifte die grauen Mauern der Burg. Jetzt im hellen Sonnenlicht wirkten sie viel weniger düster. An jeder Seite wurde der mächtige Bau von einem Turm begrenzt. Sie wollte
Dean bitten, einmal mit ihr hinauf zu gehen. Sicher hatte man von dort oben eine herrliche Aussicht. Sie verließen den Burghof durch ein schmales Tor, das in die hohe Mauer eingelassen war. Gleich nachdem Linda sich hinter den Mauern befand, hatte sie das Gefühl, freier zu atmen. Der leicht unebene Weg schlängelte sich zwischen dichtem Gestrüpp und halbhohen verkrüppelten Bäumen dahin. »Ist sie eigentlich sehr alt, eure Burg?« wollte Linda wissen. »Dreihundert Jahre alt«, versetzte Dean mit Stolz in der Stimme. »Und sie war immer im Besitz der Mervilles.« Jetzt klang noch etwas anderes in seiner Stimme, etwas wie eine düstere Warnung. Doch als er sich zu ihr umwandte, war sein Gesicht glatt und schön. »Es klappt ja ganz gut mit dir und Adonis«, sagte er freundlich. »Da können wir einen leichten Trab wagen.« Wie rücksichtsvoll ist er, dachte Linda, angenehm berührt. Natürlich werde ich nie so reiten können wie er. Eine königliche Haltung hat er. Ich bin schon froh, wenn ich oben bleibe, in welcher Haltung auch immer. Der Weg hier war nicht gerade eben. Mal ging er steil bergan, um dann genauso unangenehm steil bergab zu führen. Dann wurde die Landschaft unwirtlicher. Dicke, häßlich aufragende Steine verdrängten mehr und mehr das Gestrüpp, das wenigstens hin und wieder eine kleine Blüte gezeigt hatte. Auf einer Anhöhe zügelte Dean sein Pferd. Er winkte ihr, an seine Seite zu kommen. Linda hörte das leise Rauschen des Meeres und spürte den Geschmack von Salz auf den Lippen. Und da war das Meer, endlos scheinend, majestätisch in seiner Größe.
Es war ein atemberaubender Anblick, bis zum Horizont war nichts als das leichtbewegte, graugrüne Wasser mit den weißglitzernden Schaumkronen. Schön, dachte Linda. Wunder-wunderschön ist das. Plötzlich hatte sie das Gefühl, an einem Ort zu sein, nach dem sie sich heimlich immer gesehnt hatte. Hatte sie das alles nicht schon in ihren Träumen gesehen? Oder lag ihr die Liebe zum Meer im Blut. Hatten ihre Vorfahren nicht hier gelebt, in dem kleinen Küstenstädtchen Oblan? Sie spürte, wie Dean seinen Arm um ihre Schultern legte. Dann spürte sie den Hauch eines Kusses auf ihrer Wange. Wie erwachend hob sie das Gesicht und blickte direkt in seine dunklen, brennenden Augen. »Linda«, sagte er weich, und seine Stimme war nur ein Flüstern, »ich mag dich, Linda!« »Das freut mich.« Sie wandte spröde das Gesicht ab. Mit aller Gewalt wappnete sie sich gegen die Verzauberung, die von ihm ausging. Nicht allein von ihm. Auch diese wilde, ursprüngliche Gegend weckte eine nie gekannte Erregung in ihr. Doch sie war nicht hergekommen, um sich Hals über Kopf in ein Liebesabenteuer zu stürzen. Sie war einmal verliebt gewesen, und das hatte ihr gereicht. Da sie nicht übel aussah und ein freimütiges, offenes Wesen hatte, war sie niemals ohne Verehrer gewesen. Aber einer von ihnen hatte sie so weit interessiert, daß sie sich näher mit ihm hätte einlassen wollen. Sie hoffte nicht, daß in dieser Einsamkeit der einzige Mann weit und breit den Fehler machen würde, sich in sie zu verlieben. »Zuerst war ich gar nicht glücklich über deinen angekündigten Besuch«, sagte Dean neben ihr. »Besonders, da
mir sehr schnell klar wurde, daß Ma gewisse Pläne und Absichten damit verbindet.« »Was für Absichten?« unterbrach Linda ihn erstaunt. »Danach fragst du sie besser selber«, wich Dean aus. »Wollen wir zurückreiten? Das Frühstück wartet.« »Ich wäre gern noch bis zum Meer hinuntergegangen.« »Ein andermal«, versprach Dean. Er führte sie einige Meter weiter und ließ sie hinabblicken. Hier fiel die Küste steil bergab und war mit spitzen gefährlich gen Himmel ragenden Felsblöcken übersät. »Wer hier hinabstürzt, ist verloren«, murmelte er. »Auch das jetzt so friedlich aussehende Meer ist voll von diesen spitzen Felsbrocken.« Wie düster sein Gesicht plötzlich wirkte. Ob er an seine verstorbene Mutter denkt? fragte sich Linda. Sie starrte in die dunkle Tiefe hinab, und ein leises Frösteln überlief sie. Warum zeigte ihr Dean ausgerechnet diese Stelle? Wollte er ihr Angst machen? »Du darfst niemals allein hierher gehen«, sagte er in warnendem Ton. »Kann man hier nicht schwimmen?« fragte sie enttäuscht. »Nur wenn man die Strömungen und Felsen kennt wie ich.« Er wandte ihr den Blick zu und lachte sein gewohntes, charmantes Lachen. »Du bist mir also auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert, vergiß das nicht!« So scherzhaft diese Worte auch ausgesprochen waren, der Blick seiner Augen blieb ernst, fast drohend. Als sie zur Burg zurückritten, erwartete sie eine Überraschung. Vor dem Hauptportal stand ein fremder Wagen.
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»Großer Gott!« Dean zügelte so gewaltsam seinen Rappen, daß er stieg. Er schien über irgend etwas äußerst aufgebracht zu sein. »Doyle!« rief er schrill. Sofort kam ein halbwüchsiger Junge herangewetzt. Er war barfuß, trug ausgefranste Hosen und hatte ein verkniffenes Gesicht. »Bring die Pferde in den Stall!« befahl Dean. »Vergiß nicht, sie ordentlich trocken zu reiben und sie zu versorgen.« »Doyle ist unser Stalljunge«, wandte Dean sich erklärend an Linda. »Dean, Liebling!« klang plötzlich eine helle Frauenstimme auf. Eine grazile Gestalt kam mit wehenden roten Locken angestürmt und warf sich Dean lachend an den Hals. »Du, ich freue mich ja so irrsinnig, dich zu sehen!« »Das ist kein Grund, mich gleich zu erwürgen.« Unwillig löste Dean ihre Hände von seinem Nacken. »Was hast du denn, bist du schlecht gelaunt?« Der Blick des jungen Mädchens fiel auf Linda. Ihre dunklen Augen wurden rund vor Staunen. »Wer ist denn das? Du hast schon Besuch?« »Meine Kusine Linda«, stellte Dean vor. »Das ist Jessica Walstone, eine alte Freundin von mir.« »Hallo!« Jessica nickte ihr flüchtig und ohne große Begeisterung zu. »Ich wußte gar nicht, daß Dean eine Kusine hat.« »Wann bist du denn gekommen?« fragte Dean. »Wir!« verbesserte Jessica heiter. »Jerry ist auch da. Wir sind höchstens eine Viertelstunde hier. Hast du uns nicht erwartet? Wir hatten doch verabredet, in den Semesterferien zu kommen.« »Ich habe es vergessen«, murmelte Dean. »Es ist so viel geschehen.«
»Was denn?« Jessicas Blick streifte Linda. »Hoffentlich nichts Unangenehmes.« »Ma ist erkrankt. Ich muß euch bitten, leise zu sein.« »Jerry wird sie schon gesundpflegen«, lächelte Jessica. »Er hat seinen Doktor mit Auszeichnung gemacht.« »Er war ja schon immer ein Streber«, meinte Dean mit dünnem Lächeln, doch seine Stimme war nicht ohne Neid. Sie traten in die Halle. Linda kam sich in diesem Moment etwas überflüssig vor. Gleichzeitig aber war sie erleichtert, nicht mehr mit Dean allein zu sein. Es überraschte sie, mit welcher Herzlichkeit Dean den Freund beglückwünschte. Diese Jessica war sicher rasend in ihn verliebt. Sie hing nur so an seinen Lippen und überging Linda in einer Art, die schon kränkend war. Ob sie auf mich eifersüchtig ist? fragte sich Linda. Der Gedanke belustigte sie. Da der Tag so schön war, servierte John das Frühstück auf der Terrasse. Erst jetzt sah Linda den hinteren Teil des Schlosses. Von der breitangelegten Veranda blickte man in einen bezaubernden englischen Park, dessen verwilderte, ursprüngliche Natürlichkeit seinen Reiz ausmachte. »Ein Jammer, daß du nicht fertig studiert hast«, sagte Jerry gerade in bedauerndem Ton zu Dean, während er sorgfältig seine Ham and eggs zerteilte. »Du warst von uns allen weitaus der Begabteste.« »Glücklicherweise habe ich es nicht nötig, mich mit einem Doktorgrad zu schmücken«, versetzte Dean trocken. »Ich kann auch so genug.« »Aber dieses Pseudowissen ist gefährlich«, beharrte Walstone. »Im Grunde bist du nicht mehr als ein Heilpraktiker. Du wirst niemals eine seriöse Tätigkeit ausüben können.«
»Dazu hätte ich auch keine Zeit«, beharrte Dean. »Die Verwaltung unseres Besitzes nimmt mich voll und ganz in Anspruch.« »Hat Lady Abigail dir denn alles übertragen?« wollte Jessica wissen. Deans Miene zeigte tiefstes Bedauern. »Mas Gesundheitszustand verbietet ihr, sich weiterhin um diese Dinge zu kümmern.« »Wie schnell manchmal so etwas geht«, seufzte Jessica. »Bei unserem letzten Besuch war sie doch noch ganz wohl.« »Wenn du willst, werde ich mich gern um sie kümmern«, bot Jerry an. »Nicht nötig!« Dean warf ihm einen kalten Blick zu. »Ich bin durchaus in der Lage, mit einer harmlosen Influenza fertig zu werden. Außerdem verabscheut Ma graduierte Ärzte. Sie will nur mich sehen.« Ein peinliches Schweigen entstand. Die Gäste widmeten sich mit betonter Aufmerksamkeit ihrem Frühstück. Außer dem Klappern des Geschirrs und dem Summen der Insekten herrschte vollkommene Stille. Linda aß sehr wenig. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Jerry Walstone. Er war größer als Dean und besaß die kraftvolle Selbstherrlichkeit, die sie bei jungen Männern schon immer verabscheut hatte. Er hatte klare, ein wenig grobe Züge mit hellen, durchdringenden Augen unter einem dunkelblonden, leichtgekrausten Haarschopf. Seine vollen roten Lippen verrieten Sinnlichkeit. Seiner durchtrainierten Gestalt sah man den Sportler an. Ich könnte ihn mir gut als Holzfäller vorstellen, dachte Linda, mit leichtem Widerwillen seine kräftigen Hände betrachtend. Aber als Arzt im weißen Kittel?
Jerry mußte bemerkt haben, daß sie ihn beobachtete. Er hob das Gesicht und starrte sie mit seinen hellen Augen durchdringend an. »Darf man fragen, was du so treibst, wenn du keine weitläufigen Verwandten besuchst?« fragte er in einem Ton, der vor Spott nur so triefte. Gegen ihren Willen errötete Linda tief. »Ich studiere Publizistik«, sagte sie herb, »falls du weißt, was das ist.« »Also eine angehende Reporterin«, grinste Jerry. »Da müssen wir ja auf der Hut sein. Sonst finden wir unsere Lebensgeschichte demnächst in irgendeinem Käseblatt wieder.« »Ich glaube kaum, daß deine Lebensgeschichte für irgend jemanden interessant ist«, sagte Linda scharf. »Woher willst du das wissen? Du kennst mich ja gar nicht!« »Man braucht nicht unbedingt ins Wasser zu springen, um zu wissen, daß es naß ist!« »Gib es ihm nur ordentlich!« Dean griff lächelnd nach ihrer Hand und drückte die zärtlich. »Unser lieber Jerry hat so viel Zartgefühl wie ein Preisboxer. Daher hat er auch keine großen Erfolge beim weiblichen Geschlecht zu verzeichnen.« »Hör auf, auf dem armen Jerry herumzuhacken«, sagte Jessica unwillig. Sie warf Linda einen unfreundlichen Blick zu. »Bleibst du länger hier? Es ist ziemlich überraschend für uns, eine Kusine Deans vorzufinden, von der wir bisher keine Ahnung hatten.« Linda wurde rot. Sie kam sich plötzlich wie ein Eindringling vor. »Linda bleibt für immer hier«, erklärte Dean plötzlich zur Überraschung aller. »Ihr sollt die ersten sein, die es erfahren. Linda und ich werden heiraten!«
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Linda starrte Dean überrumpelt an. Wie konnte er so etwas nur sagen? Hatte er plötzlich den Verstand verloren? Ein leichtes, kaum merkliches Augenzwinkern von ihm beruhigte sie. Er hatte nur Spaß gemacht. Wahrscheinlich wollte er seine Freunde bestrafen, Linda so unfreundlich begegnet zu sein. Aus diesem Grunde war sie auch bereit, sein kleines Spielchen mitzuspielen. »Da kann man ja nur gratulieren«, ließ Jerry sich in gehässigem Ton vernehmen. »Es erstaunt mich nur, wie schnell das alles gelaufen ist. Sicher war es Liebe auf den ersten Blick.« Jessica stieß einen erstickten Laut aus, warf Messer und Gabel hin und rannte in den Park. »Da hast du es!« Jerry warf seinem Freund einen Blick zu, als hätte er große Lust, ihn umgehend an einem der dicken Bäumen aufzuknüpfen. »Lauf Jessy nach und erklär ihr die Sache«, befahl er barsch. »Wie ich sie kenne, ist sie imstande, sich in den nächsten Bach zu werfen.« »Jessy ist doch eine ausgezeichnete Schwimmerin«, meinte Dean ungerührt. »Aber natürlich kann ich nicht zulassen, daß sie sich ihr hübsches neues Kleid ruiniert.« In aufreizender Gelassenheit entfernte er sich vom lisch und folgte Jessicas Spuren. »Nun zu dir!« Jerry knüllte gewaltsam seine Serviette zusammen. Er starrte Linda unter gesenkten Brauen an. »Macht dir wohl unheimlich Spaß, einem anderen Mädchen den Mann wegzuschnappen?« sagte er grob. »Ich weiß zwar nicht, warum meine Schwester gerade auf diesen halbseidenen Gentleman so wild ist, und finanziell sind wir auch so gestellt, daß wir nicht nach anderer Leute Vermögen schielen müssen,
aber sie hat sich Dean nun mal in den Kopf gesetzt. Und ich werde nicht zulassen, daß irgendein karrieresüchtiges Partygirl das Glück meiner kleinen Schwester kaputt macht.« Linda verschlug es den Atem. Noch nie hatte es jemand gewagt, so grob zu ihr zu sprechen. Sie warf ihm einen so glühenden Blick zu, der jeden anderen im Handumdrehen in ein Häufchen Asche verwandelt hätte. Doch einem so hartgesottenen Typ wie diesem Jerry war wohl nicht so leicht beizukommen. »Ich finde, Dean ist alt genug, um zu wissen, was er tut«, sagte sie mit ihrer kältesten Stimme. »Und soviel mir bekannt ist, ist Jessica nicht mit Dean verheiratet. Es besteht also nicht das geringste Besitzrecht ihrerseits.« »Es gibt auch moralische Rechte«, konterte Jerry. »Wenn man schon von Moral spricht, muß man auch selbst welche besitzen«, gab Linda eiskalt zurück. »Und mit Menschen, die weder Moral noch Kinderstube besitzen, möchte ich nicht das geringste zu tun haben.« »Welche Überwindung muß es dich da kosten, morgens in den Spiegel zu blicken«, höhnte der junge Mann. Linda wandte sich schweigend ab. Einen Augenblick länger und sie hätte diesem unverschämten Menschen die Teekanne samt Inhalt an den Kopf geworfen. Sie rannte in ihr Zimmer und brach in zornige Tränen aus. Noch nie war sie von einem menschlichen Wesen so beleidigt worden. Sie hoffte nur, daß Dean Manns genug war, diese hysterische Jessica samt ihres impertinenten Bruders vor die Tür zu setzen. Ja, sie war auch böse auf Dean. Mußte er denn alles so auf die Spitze treiben? Welcher Teufel hatte ihn geritten, als er behauptete, er wollte Linda heiraten? Er hatte es doch wohl nicht ernst gemeint? In Linda erstarrte alles vor Entsetzen.
Nein, versuchte sie sich zu beruhigen. Das wäre ja Wahnsinn. Wir kennen uns doch erst seit einigen Stunden. Man kann sich doch nicht Hals über Kopf in eine Ehe stürzen? Wozu auch? Langsam beruhigte sie sich. Sie wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser und beschloß, Lady Abigail einen Besuch abzustatten. Mit einem Seufzer ging sie ins Bad. Als sie in den Spiegel blickte, um sich das Haar zu kämmen, erschrak sie furchtbar. Quer über den Kristallspiegel war in blutroter Schrift das Wort »Gefahr« geschrieben. Alles in ihr erstarrte vor Entsetzen. Jemand war in ihrem Badezimmer gewesen. Ein Scherz? dachte sie. Aber wer erlaubte sich solche makabren Scherze mit ihr? Verstört blickte sie sich um. Alles war aufgeräumt und ordentlich. Nirgendwo das Zeichen einer Gefahr. Doch auf dem Spiegel schrie ihr in blutroten Lettern das Wort »Gefahr« entgegen. Blutrot? dachte Linda. Ahnungsvoll öffnete sie ihr Kosmetiktäschchen, nahm den Lippenstift heraus, schraubte ihn auf und stellte fest, daß er halb zerquetscht war. Der unbekannte Täter hatte also ihren Lippenstift benutzt. Wie albern! Dieser Jessica wäre so etwas zuzutrauen, dachte sie, während sie sich bemühte, die roten Spuren mittels eines Streifen Toilettenpapiers vom Spiegelglas zu entfernen. Vielleicht hatte sie von John längst erfahren, daß ich hier bin und ihre Überraschung vorhin nur geheuchelt? Dean konnte es nicht gewesen sein. Sie war ja die ganze Zeit mit ihm zusammen gewesen. Sie traute ihm auch nicht zu, zu solchen albernen Mitteln zu greifen, ganz abgesehen davon, daß er überhaupt kein Motiv besaß.
Wenn sie es sich recht überlegte, war Dean der einzige Lichtblick hier, und der Gedanke, ihn zu heiraten, kam ihr mit einem Male gar nicht so abwegig vor. Dann verließ sie ihr Zimmer, um Tante Abigail zu besuchen. Kurz vor ihrer Tür zögerte sie. Es war so still im Schloß, wie ausgestorben kam es ihr vor. Dean war sicher draußen mit seinen Gästen beschäftigt, und die Dienstboten mochten sich in den Küchenräumen aufhalten. Es war für sie die Gelegenheit, sich einmal um die oberen Räumlichkeiten zu kümmern. Sie mußte einfach wissen, ob sie sich die nächtlichen Geräusche nur eingebildet hatte. Leise ging Linda den Flur entlang, traf am Ende auf eine Treppe, die im Dunkeln lag und steil nach oben zu führen schien. Sie wollte gerade hinaufgehen, als sie Schritte hörte. Erschrocken preßte sie sich in die Nische der nächsten Tür und wartete mit angehaltenem Atem. Jeden Moment erwartete sie, eine gespenstische Gestalt in lang herabwallendem weißem Gewand die Treppe herunterkommen zu sehen. Gleichzeitig erinnerte sie sich aber daran, daß Geister wohl kaum solchen Lärm machen und sich für ihr Herumwandeln ganz sicher nicht diese helle Morgenstunde aussuchen würden. Trotzdem konnte sie es nicht, verhindern, daß eine Gänsehaut ihr über den Rücken lief und ihr Herz wie verrückt zu klopfen begann. Sekunden später hätte sie vor Erleichterung fast lauf aufgelacht. Es war Nancy, die die Treppe herabkam. Mit beiden Händen umklammerte sie ein Frühstückstablett. »Hallo!« Linda vertrat ihr so schnell den Weg, daß das Stubenmädchen mit einem Aufschrei zurückwich. »Ach, Sie sind es, Miß«, stammelte sie dann, wachsbleich im Gesicht. »Haben Sie mich aber erschreckt.«
»Das tut mir leid!« Linda blickte sie aufmerksam an. »Was haben Sie denn dort oben gemacht? Wem haben Sie das Frühstück serviert?« »Was für ein Frühstück?« fragte Nancy naiv. »Da oben ist doch niemand.« »Eben!« Linda lachte. »Deswegen frage ich ja. Sie kommen mit einem Tablett von oben, wo niemand wohnt?« »Das Tablett!« Nancy starrte darauf herab, als sähe sie es zum ersten Mal und müßte sich darüber wundern, wie es in ihre Hände geraten war. »Ach!« rief sie dann mit gekünsteltem Lachen. »Das hatte ich ganz vergessen. Ich habe es von Lady Merville mitgenommen. Oben war ich dann, um zu lüften. Lord Merville hat mir aufgetragen, auch die unbewohnten Räume hin und wieder zu lüften, und heute ist ein so schöner Tag.« Nancy knickste und war dann wie der Wind die Treppe hinunter. Ihre Worte hatten absolut glaubwürdig geklungen. Trotzdem hatte Linda das Gefühl, Nancy in tiefste Verlegenheit gebracht zu haben. Irgend etwas hat das Mädchen zu verbergen, grübelte sie, als sie den Flur entlang zu Lady Abigails Zimmer zurückging. Vielleicht hat sie einen heimlichen Freund, mit dem sie sich dort oben trifft? Natürlich, dachte Linda mit einem Seufzer der Erleichterung. Das würde auch die nächtlichen Schritte erklären. Warum soll so ein kleines Stubenmädchen nicht seine Geheimnisse haben?
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»Komm nur!« klang es mürrisch zurück. Die Tante schien nicht gerade bester Laune zu sein. Trotz der fortgeschrittenen Morgenstunde waren die Vorhänge im Zimmer zugezogen, so daß ein unwirkliches Dämmerlicht herrschte. Als erstes nahm Linda auf dem Nachttisch das leere Frühstückstablett wahr. Die Krankheit hatte Tante Abigail also nicht den Appetit verschlagen, und außerdem mußte Nancy ganz schamlos geflunkert haben. Lindas Theorie vom heimlichen Verehrer, der in den unbewohnten Räumen des Schlosses herumgeisterte, schien also zu stimmen. »Soll ich nicht die Vorhänge öffnen?« schlug Linda heiter vor. »Heute ist ein so herrlicher Tag. Der Sonnenschein wird dir guttun.« »Nein!« rief die Tante schrill. »Zu helles Sonnenlicht schadet meinen Augen«, sprach sie eilig weiter. »Setz dich zu mir, Linda. Was habt ihr unternommen, erzähle mir doch.« »Wir sind ausgeritten, und Dean hat mir das Meer gezeigt«, berichtete Linda. »Das Meer«, seufzte die Kranke. »Ich liebe das Meer. Ich wünschte, ich könnte es noch einmal sehen. Aber das werde ich wohl nicht mehr erleben.« Ihr Stimme erstarb in einem tiefen Seufzer. »Sprich nicht so!« Von tiefem Mitleid überwältigt, neigte Linda sich über das bleiche Antlitz der Lady. »Du wirst wieder ganz gesund werden«, sagte sie optimistisch. »Ich werde dir dabei helfen.« »Du bist ein liebes Mädchen, Linda«, sagte die Kranke in jammerndem Ton. »Wie sehr erinnerst du mich an meine Schwester Mary-Ann. Wie sehr habe ich es immer bedauert, daß sich Mary-Ann so ganz von uns gelöst hat.« »Warum eigentlich?«
»Wir lebten in verschiedenen Welten«, murmelte die alte Dame. »Aber das kann doch nicht der einzige Grund gewesen sein«, beharrte Linda, die endlich der Wahrheit auf die Spur kommen wollte. »Frag mich nicht, das alles ist so lange her!« Tante Abigail starrte Linda mit seltsam scharfen Augen an. »Wie gefällt dir eigentlich Lord Merville?« »Meinst du Dean?« Linda fand es eigenartig, daß die Tante von ihrem eigenen Sohn als von Lord Merville sprach. Aber das mochte in Adelskreisen so üblich sein. »Ich finde Dean sehr nett!« »Dean ist etwas Besonderes«, prahlte die Lady. »Er sieht „blendend aus, ist intelligent und reich. Jedes Mädchen würde sich glücklich schätzen, ihn zum Mann zu bekommen.« »Diese Jessica Walstone an erster Stelle«, stichelte Linda. »Jessica Walstone ist hier?« Erschrocken ließ sich die Lady zurückfallen und zog die Decke bis zum Kinn. Ihre Blicke irrten zur Tür. »Laß sie bloß nicht zu mir«, flüsterte sie heiser. »Ich will niemanden sehen. Niemanden, hörst du?« »Magst du Jessica nicht?« Halb und halb freute Linda sich, in der Tante eine Verbündete zu haben, wenn sie auch ihr Benehmen übertrieben fand. »Ich mag es nicht, wie sie dem Lord nachstellt«, sagte die Lady finster. »Sie ist keine Frau für Dean. Einfach schamlos, wie sie sich ihm an den Hals wirft.« »Vielleicht gefällt das Dean?« »Bestimmt nicht. Glaub mir, Dean hat ganz andere Pläne!« Die Lady griff nach ihrem Arm und preßte ihn mit erstaunlicher Kraft. »Ich bin alt und krank«, meinte sie in jammerndem Ton. »Das einzige, was mich noch am Leben hält, ist die Sorge um Dean. Ich will sein Glück gesichert sehen, verstehst du das, Linda?«
»Ja, Tante Abigail!« »Dann wirst du auch meinen innigsten Herzenswunsch begreifen.« »Ich glaube, ich muß jetzt gehen«, versuchte Linda das Gespräch, das gefährlich zu werden begann, abzubrechen. »Erst hörst du mich an!« Die Hand der Lady hielt sie so fest, daß Linda schon Gewalt hätte anwenden müssen, um loszukommen. Flüchtig wunderte sie sich, daß eine Kranke über solche Kräfte verfügte, und zum ersten Mal argwöhnte sie, daß die Tante vielleicht gar nicht so krank war, wie sie tat. »Du, liebe Linda, und Dean, ihr beiden seid die einzigen Menschen auf der Welt, die mir noch etwas bedeuten«, seufzte die Tante in mitleiderweckendem Ton. »Du bist die Tochter meiner einzigen Schwester, und Dean ist mir ans Herz gewachsen wie ein leiblicher Sohn. Um euer Glück gesichert zu sehen, möchte ich alles tun.« Ihre Worte klangen eigenartig gestelzt, als hätte sie sie wie eine Bühnenrolle einstudiert. Dabei starrte sie Linda an, als wollte sie sie hypnotisieren. »Um mein Glück brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte Linda betont forsch, obwohl ihr sehr unbehaglich zumute war. »Ich werde schon mit allem fertig.« »Begreifst du denn immer noch nicht, was ich ausdrücken will?« fragte die Lady mit leiser Ungeduld. »Ich möchte dich und Dean als glückliches Paar vereint sehen.«
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»Oh!« Mehr brachte Linda im Augenblick nicht hervor. Sie kam sich vor wie in einer Falle.
Tante Abigail schien es zu genügen. »Überlege es dir gut«, sagte sie mit falscher Freundlichkeit. »Ich glaube, Dean ist nicht abgeneigt. Er findet dich entzückend.« »Ich ihn auch«, platzte Linda heraus und wußte im gleichen Augenblick, wie falsch ihre Bemerkung war. Wenn sie einmal heiraten wollte, was im Augenblick noch nicht zur Diskussion stand, dann bestimmt keinen Mann, den sie entzückend fand. »Ich finde nur, es ist alles noch zu früh, darüber zu reden«, sagte sie, ihren ganzen Mut zusammennehmend. »Dean und ich, wir kennen uns ja kaum.« »Ich bitte dich nur, nicht zu lange zu warten«, versetzte die Lady in klagendem Ton. »Meine Stunden sind gezählt.« Linda war froh, als sie endlich das Zimmer verlassen konnte. Sie kam sich überrumpelt vor, in die Enge getrieben. Hatte man sie hierhergelockt, um sie mit Dean zu verheiraten? Heimlich stahl sie sich die Treppe hinunter. Um nichts in der Welt wollte sie Deans impertinenten Gästen begegnen. Sie schaffte es auch, ungesehen bis in den Burghof zu kommen, blickte sich dann suchend um. Wo war »Yellow Bird«? Jemand mußte ihn in die Garage gebracht haben. Sie hatte den Schlüssel ja nicht abgezogen. Unangenehm, daß sie nicht einmal wußte, wo sich die Garagen befanden. Sie vermutete, in der Nähe der Pferdeställe. Sie rannte los, gleichzeitig wissend, wie albern sie sich benahm. Es verfolgte sie doch niemand. Warum also rannte sie so irrsinnig? Da waren die Pferdeställe und daneben, genau wie vermutet, die steinernen, nüchternen Bauten einiger Garagen. Die Stahltüren waren nicht verschlossen. Ein sachter Druck genügte, sie hochschnellen zu lassen. Da stand auch »Yellow
Bird« ganz bescheiden neben einem imposanten silbergrauen Bentley. Welch ein Wohlbehagen war es, hinter dem vertrauten Steuerrad Platz nehmen zu können und zu wissen, daß es sie innerhalb weniger Augenblicke in die Freiheit entführen könnte. In die Freiheit? Welch eigenartiger Gedanke. War sie denn hier nicht frei? Linda drückte auf den Anlasser, doch der kleine gelbe Wagen gab nur ein unwilliges Geräusch von sich. Ihm schien es in der komfortablen Garage zu gefallen, und offensichtlich dachte er nicht daran, sich auf weitere strapaziöse Abenteuer einzulassen. Linda brach der Schweiß aus. Sie hatte den Benzinkanal und alle anderen Stellen, die einen Wagen am Fahren hindern konnten, kontrolliert. Alles war in Ordnung. Es mußte an den Kerzen liegen. »Was machen Sie denn da, Miß?« klang plötzlich eine Stimme auf. Sie fuhr herum und sah Doyle im Eingang stehen. Mit mißtrauischen Blicken schlenderte er näher. »Wollen Sie weg?« »Ich wollte nur ein wenig spazierenfahren. Aber der Wagen springt nicht an«, sagte sie gereizt. »Verstehst du etwas von Autos?« »Kann schon sein!« »Was meinst du, ob es an den Kerzen liegt?« Doley zuckte gleichgültig die Achseln. »Wundert mich, daß es das klapprige alte Ding überhaupt bis hier geschafft hat.« »Yellow Bird ist ausgezeichnet gefahren«, versetzte Linda beleidigt. »Wer?« »Yellow Bird, mein Auto!«
Doyle grinste breit. »Verrückte Idee, ein Auto gelber Vogel zu nennen. Aber irgendwie lustig.« Er blickte sie mit erwachendem Interesse an. »Ich bin zwar kein Mechaniker, aber ich will gern zusehen, ob ich dem komischen Vogel da nicht wieder auf die Sprünge helfen kann. Vielleicht bitten Sie inzwischen Lord Merville, Sie spazierenzufahren?« »Nein, ich warte lieber! Wie lange kann es ungefähr dauern?« »Schwer zu sagen. Aber schnell wird es bestimmt nicht gehen.« »Jedenfalls vielen Dank im voraus!« Linda lächelte ihn herzlich an. »Du bekommst auch eine schöne Belohnung, Doyle!« Zu ihrer Verwunderung wurde Doyle blutrot. Es schien selten vorzukommen, daß jemand freundlich zu ihm war.
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Zum Dinner gab es Lammkoteletts, junge grüne Böhnchen und winzige Kartöffelchen. Dazu einen herben, köstlichen Weißwein. Trotz des ausgezeichneten Essens war die Atmosphäre bei Tisch gespannt. Nur Dean schien nichts davon wahrzunehmen. Er aß und trank mit dem besten Appetit. Voller Wohlgefallen ruhte sein Blick auf den beiden jungen Damen. »Wißt ihr, daß ihr einen herrlichen Kontrast abgebt«, meinte er heiter. »Eine dunkle und eine rothaarige Schönheit. Wäre ich Paris, würde es mir schwerfallen, mich zu entscheiden, wem ich den Apfel überreichen würde.« »Reich’ lieber die Weinflasche her«, knurrte Jerry. »Mein Glas ist leer.«
»Wie unaufmerksam von mir, verzeih!« Lächelnd ließ Dean den Wein in Jerrys Glas fließen, wollte auch Linda nachschenken, doch sie dankte. »Ich bin an alkoholische Getränke nicht gewöhnt«, glaubte sie, sich entschuldigen zu müssen. »Schon ein Glas Wein steigt mir zu Kopf.« »Du ziehst wohl Limonade vor?« spottete Jessica. »Frauen, die Limonade trinken, sind selber Limonade«, brummte Jerry. »Leere Fässer tönen am lautesten«, konterte Linda. Dean lachte herzlich. »Gegen Linda kommst du nicht an, lieber Jerry. Sie ist sehr schlagfertig. Ich finde es wundervoll, wenn sich bei einer Frau Schönheit und Geist vereinen. Aber streitet bitte nicht, meine Lieben. Nicht an diesem herrlichen Abend! Wir wollen uns auf die Terrasse setzen.« Er nahm Lindas Arm und führte sie hinaus. »Du hast den armen Doyle ganz schön in Verlegenheit gebracht«, sagte er wie beiläufig. »Den ganzen Tag hat er sich herumgequält, dein Wägelchen in Ordnung zu bringen. Du brauchst es mir doch nur zu sagen, wenn du irgendwohin fahren willst. Ich bringe dich, wohin du möchtest.« »Ich wollte Rücksicht auf deine Gäste nehmen«, murmelte Linda. »Ach, Jessica und Jerry fühlen sich hier wie zu Hause. Sie werden auch ohne uns zurechtkommen.« Er drückte verstohlen ihren Arm. »Bitte verbiete es mir nicht, dich zu begleiten. Es würde mir so viel Freude machen, dir alles zu zeigen. Wohin wolltest du eigentlich?« »Nach Oblan«, gestand Linda mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. »Ich dachte, ich könnte dort jemanden aufspüren, der meine Großeltern gekannt hat.« »Was versprichst du dir davon?«
»Ich weiß es nicht«, zögerte sie. Sie empfand Deans Worte fast als Vorwurf. Hatte sie denn etwas Unrechtes getan? »Vielleicht habe ich es noch nicht deutlich genug ausgedrückt«, sagte Dean in einschmeichelndem Ton. »Ich möchte hier dein Beschützer sein, dein Freund. Einfach jemand, auf den du dich voll und ganz verlassen kannst. Versprich mir, daß du nichts ohne mich unternimmst. Ich möchte nicht, daß dir etwas passiert.« »Danke, Dean!« Linda fühlte sich geschmeichelt, gleichzeitig ein wenig beunruhigt. Lag in Deans Fürsorge nicht auch eine Spur Tyrannei? Doch trotz aller Selbständigkeit, sehnte sich insgeheim nicht jede Frau nach einem Mann, an den sie sich anlehnen konnte? Würde Dean dieser Mann für sie sein? Für immer hierzubleiben, das wäre schon herrlich, sann Linda, mit halbem Ohr dem Geplauder der anderen folgend. Ich habe diese herbe Landschaft auf den ersten Blick ins Herz geschlossen. Dean hatte sie mit Gebäck und Wein versorgt. Er entschuldigte sich und meinte, er müßte schnell mal nach seiner Mutter sehen. Es wurde still in der Runde. Jessica rauchte und ließ nervös ihren Fuß wippen. Der Abend war angenehm warm. Insekten schwirrten ums Windlicht. Ganz plötzlich klang ein Schrei auf, so grauenvoll, daß ihnen das Blut in den Adern erstarrte. Der Schrei brach ganz plötzlich wieder ab. Linda war aufgesprungen. »Wer war das?« flüsterte sie bebend. »Da hat doch eine Frau geschrien!« »Ach, das kann auch eine Katze gewesen sein«, meinte Jerry leichthin. »Oder ein Nachtvogel«, lachte Jessica. »Welche Frau sollte hier wohl schreien?«
»Vielleicht war es ein Hilfeschrei?« Linda fröstelte. Sie erinnerte sich plötzlich an die Schaufensterpuppe auf dem Weg und welches Grauen sie damals empfunden hatte. Ob sie den beiden davon erzählen sollte? Aber wahrscheinlich würden sie ihr genausowenig glauben wie Dean. »Du hast wohl keine besonders guten Nerven?« meinte Jerry bissig. »Na ja, eine Großstadtpflanze!« Jessica lachte ihr schrilles, nerventötendes Lachen. »Es gibt eine Menge Geräusche hier, die dir fremd vorkommen müssen«, sagte Jerry. Sein Tonfall war jetzt bedeutend sanftmütiger. Wahrscheinlich hielt er sie für eine Hysterikerin, mit der man behutsam umgehen mußte. Dean kam zurück. Seine Miene war sorgenvoll. »Ma fühlt sich gar nicht wohl«, sagte er mit schwerem Seufzer. »Ich bin bei ihr geblieben, bis sie einschlief.« Linda neigte sich vor und blickte ihm ins Gesicht. »Gibt es hier Katzen?« fragte sie voll geheimer Spannung. »Katzen?« Dean krauste die Stirn. »Wir haben einen Schrei gehört«, sagte Linda schnell. »Jerry hat behauptet, der Schrei käme von einer Katze.« »Schon möglich!« Dean strich sich über die Stirn, um sie zu glätten. Sein schönes Gesicht leuchtete blaß in der Dunkelheit. »Es gibt eine Menge wildernder Katzen hier in der Gegend«, murmelte er. »Bei schönem Wetter kommen sie bis ans Schloß.« Linda sehnte sich plötzlich nach ihrem Bett, nach Ruhe, nach tiefem, erquickendem Schlaf. Sie stand auf und verabschiedete sich mit einigen konventionellen Floskeln. Linda konnte lange nicht einschlafen. Immer wieder ertappte sie sich dabei, daß sie auf Geräusche lauschte. Doch sie hörte nichts. Trotzdem hatte sie das eigenartige Gefühl, daß dort oben jemand sein mußte.
Ruhelos wälzte Linda sich hin und her. Es war schlimm, wenn man erst einmal anfing mit dem Grübeln, konnte man nicht mehr einschlafen. Sie wollte sich ein Buch aus der Bibliothek holen. Das Lesen würde sie auf andere Gedanken bringen. Sie schlüpfte in ihren weißen Frotteemantel und öffnete lautlos die Tür. Totenstill war es auf dem Flur. Nur die Wandlampen brannten. Linda schlich bis zur Treppe und blickte in die Halle hinab. Auch hier brannte nur die Nachtbeleuchtung. Gespenstisch hoben sich die Konturen der ausgestopften Tiere von der Wand ab. Wie unheimlich alles im Halbdunkeln wirkte! Ein leiser Schauer überlief sie und sie bereute schon, ihr Zimmer verlassen zu haben. Doch dann sagte sie sich, daß es albern war, sich zu fürchten. Entschlossen ging sie die Treppe hinunter. Die Halle durchquerte sie sehr schnell. Ein wenig unheimlich war ihr doch zumute, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Direkt neben dem greulichen Eber brannte eine Wandlampe. Seine Augen leuchteten im Licht tückisch auf. Erschauernd wandte Linda den Blick ab, hastete auf die Tür zur Bibliothek zu. Gerade wollte sie nach der Klinke greifen, als sie von drinnen ein Geräusch hörte. Erschrocken hielte sie inne. Jetzt bemerkte sie auch einen schwachen Lichtschimmer unter der Tür. Es mußte jemand in der Bibliothek sein. Wahrscheinlich Dean, dachte Linda. Ob er noch arbeitet? Um keinen Preis wollte sie ihm jetzt begegnen, mitten in der Nacht. Doch zum Weglaufen war es zu spät. Sie hörte, wie sich Schritte der Tür näherten.
In jähem Impuls verbarg sie sich hinter dem Vorhang. Ihr Herz klopfte heftig und laut. So laut, daß sie Angst hatte, es könnte jemand hören. Mit angehaltenem Atem wartete sie, blickte dabei vorsichtig durch den Spalt des Fenstervorhangs. Mit leisem Knarren ging die Tür auf. Dean verließ das Zimmer. Nein, es war ja gar nicht Dean. Linda traf es wie ein Schlag. Es war Lady Abigail!
*
Ohne einen Laut von sich zu geben, starrte Linda der Gestalt nach. Sie traute ihren Augen nicht. Die todkranke Lady Abigail wanderte nachts im Haus herum? Das gab es doch nicht. Sie träumte nur. Natürlich, wahrscheinlich lag sie längst im Bett und schlief und bildete sich ein, Lady Abigail gesehen zu haben. Linda biß sich fest auf die Lippen. Nein, sie träumte nicht. Der Schmerz war echt. Es war alles Wirklichkeit. Ein wenig schwankend ging die Lady auf die Treppe zu, in der rechten Hand eine halbvolle Flasche Brandy. In Lindas Kopf funkte es. Langsam dämmerte ihr, was das alles zu bedeuten hatte. Sie war fassungslos, entsetzt. Lady Abigail war eine heimliche Trinkerin! Also war das ihre Krankheit. Deshalb durfte auch niemand zu ihr. Wahrscheinlich schämte Dean sich seiner Mutter, die dem Trunk verfallen war. Er wollte nicht, daß alle Welt davon erfuhr. Jetzt wurde Linda auch klar, warum sie immer Alkohol gerochen hatte, wenn sie ins Zimmer der Lady kam. Die Tante bemühte sich, leise zu sein. Sie wollte nicht entdeckt werden, das war klar.
Taktvoll wartete Linda, bis die leisen Schritte vollends verstummt waren. Erst dann wagte sie es, nach oben zu gehen. Sich jetzt noch in der Bibliothek ein Buch zu holen, dafür fehlten ihr die Nerven. Linda wollte gerade ihre Zimmertür öffnen, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Ehe sie Zeit fand, sich umzudrehen, verspürte sie einen schmerzhaften Schlag auf dem Hinterkopf. Ein dumpfes Stöhnen entrang sich ihren Lippen. Sie spürte nur noch, wie sie fiel, fiel, dann schwanden ihr die Sinne.
*
Der helle Schein einer Lampe stach Linda in die Augen. Langsam klärte sich ihr Blick. Sie sah Dean, der sie voll tiefer Sorge ansah. »Linda, Liebling, wie fühlst du dich?« fragte er behutsam. »Besser?« »Was – war denn?« Sie versuchte sich zu erinnern. Aber das war schwer. Der Kopf tat ihr weh, so weh, daß sie vor Schmerzen hätte schreien können. »Du hast geschrien, und da sind wir gleich gekommen«, sagte Dean. »Du mußt hingefallen sein. An deinem Hinterkopf ist eine kleine Wunde.« »Warum muß sie auch mitten in der Nacht herumrennen«, sagte Jessica unwillig. »Ich habe so wunderbar geschlafen. Jetzt finde ich bestimmt stundenlang keine Ruhe.« Erst jetzt bemerkte Linda, daß Dean nicht allein war. Auch Jessica stand neben dem Bett und Jerry. In seinem gestreiften Bademantel und den nackten Beinen sah er so komisch aus, daß Linda gelacht hätte, wären nicht ihre Kopfschmerzen gewesen.
Jetzt erinnerte sie sich auch wieder. Sie war nach unten gegangen und hatte Lady Abigail gesehen, die angeblich todkrank war. Als sie dann in ihr Zimmer zurückwollte, hatte jemand sie niedergeschlagen. »Ich – bin nicht gefallen«, sagte sie mühsam. »Jemand hat mich niedergeschlagen.« »Was sagst du da?« fuhr Dean auf. Jessica lachte nur spöttisch. »Sie will sich doch nur interessant machen. Jemand hat sie niedergeschlagen? Was für ein Blödsinn. Wer sollte das denn gewesen sein? Vielleicht der Geist von Merville?« »Halt endlich mal deinen Mund«, fuhr ihr Bruder sie grob an. Er neigte sich über Linda. Sein wildes, gewalttätiges Gesicht wirkte plötzlich ganz sanft. »Hast du jemanden gesehen?« »Nein«, sagte Linda nach unmerklichem Zögern. Von Lady Abigail wollte sie lieber nicht sprechen. Sie konnte die Tante doch nicht bloßstellen. »Mein Gott, wer sollte dich niedergeschlagen haben?« Dean schien fassungslos. In seinen dunklen Augen war ein schwer bestimmbarer Ausdruck, war es Zorn oder Angst? »Was hast du überhaupt auf dem Flur gemacht?« »Ich konnte nicht schlafen und wollte mir ein Buch holen«, sagte Linda müde. »Plötzlich bekam ich einen Schlag auf den Kopf. Mehr weiß ich nicht.« »Bist du ganz sicher, daß es ein Schlag war?« fragte Dean eindringlich. »Du könntest dich auch irgendwo gestoßen haben.« »So ein Theater!« spottete Jessica. »Ich gehe jedenfalls wieder zu Bett. Erst hört sie Schreie, dann schreit sie selber. Das ist doch zu albern.« Auch Jerry verschwand grußlos. Doch er kam nach wenigen Minuten zurück und brachte Verbandszeug mit. Er bat Dean, Lindas Kopf zu halten und untersuchte die Wunde sorgfältig. Dabei ging er so behutsam und rücksichtsvoll vor, daß Linda
ihm im stillen Abbitte tat. Seine groß aussehenden Hände konnten sehr zart sein. »Die Wunde rührt von einem stumpfen Gegenstand her«, sagte er nüchtern. »Es ist nur eine kleine Platzwunde, ein Pflaster genügt.« Er blickte sie eindringlich an. »Gut möglich, daß du dich irgendwo gestoßen hast.« »Ja, aber…!« Vor seinem starren Blick verstummte sie eingeschüchtert. »Möglich ist es schon«, setzte sie nachgiebig hinzu. »Ich glaube nicht, daß du eine Gehirnerschütterung hast, aber besser, du bleibst morgen im Bett«, sagte Jerry, ganz vorsorglicher Arzt. »Jetzt hast du dich aber genug aufgespielt«, sagte Dean verärgert. »Linda muß jetzt schlafen.« Jerry ging ins Bad und kam mit einem Glas Wasser zurück. Er schob Linda eine Tablette zwischen die Lippen und ließ sie Wasser nachtrinken. »Die Schmerzen werden gleich nachlassen, und du wirst herrlich schlafen«, sagte er freundlich. »Danke!« Linda lächelte ihn an. Einen Herzschlag lang tauchten ihre Blicke ineinander, selbstvergessen, träumerisch. Dann riß Jerry sich los. Er war blaß geworden. Mit einem gemurmelten Gruß verschwand er. Linda hörte Dean reden. Sie verstand kein Wort. Vor ihren Augen drehte sich alles. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, so heftig ging ihr Herzschlag. Sie spürte Deans kühle Lippen auf ihrer Stirn und ertappte sich bei dem Gedanken, wie sich Jerrys Lippen anfühlen mochten. Er muß heiße Lippen haben, dachte sie. So heiß wie der Blick seiner Augen. »Schlaf gut, Liebling, morgen früh schaue ich wieder nach dir!« Dean winkte ihr zu und verschwand dann.
*
Obwohl Nancy sich bemühte, leise wie ein Kätzchen zu sein, erwachte Linda doch. Auf ihre impulsive Art fuhr sie hoch, wollte mit einem Ruck in den neuen Tag hinein und stöhnte auf. »Was ist denn, Miß?« Erschrocken eilte Nancy zu ihr. »Eigene Dummheit!« Mit gequältem Lachen hielt Linda sich den Kopf. »Ich hatte ja meine Verletzung ganz vergessen. Tut höllisch weh!« »Ich habe davon gehört«, sagte Nancy. »Wie ist das denn bloß passiert?« »Muß wohl im Dunkeln gegen die Wand gelaufen sein«, murmelte das junge Mädchen. »So?« Nancy blickte sehr skeptisch drein. Sie schüttelte das Kopfkissen auf, daß Linda sich anlehnen konnte. »Warum sind Sie denn rückwärts gelaufen?« fragte sie beiläufig. »Rückwärts?« meinte Linda irritiert. Dann lachte sie auf. »Schlaukopf! Natürlich muß ich rückwärts gelaufen sein, sonst hätte ich die Wunde ja an der Stirn. Ja, was macht man nicht alles, wenn man halb im Schlaf ist.« »Sie sind wohl eine Schlafwandlerin?« forschte das Stubenmädchen. »Dann sollten Sie aber nachts Ihre Tür abschließen, damit Sie nicht in Versuchung kommen. Es ist gefährlich, zu nachtschlafender Zeit durch das Schloß zu laufen.« »Wieso ist es gefährlich, im Schloß herumzulaufen?« wollte Linda wissen. »Das haben Sie doch am eigenen Leibe verspürt.«
»Am Kopf«, seufzte Linda. »Langsam fange ich an, doch an Geister zu glauben. Aber ich finde es unfair von ihnen, über mich herzufallen. Ich habe ihnen doch nichts getan.« Nancy kam zu ihr zurück und starrte sie mit großen Augen an. »Es hat Sie also doch jemand überfallen?« flüsterte sie entsetzt. »Sie haben sich gar nicht gestoßen.« »Das war schlecht möglich. Ich stand vor der Tür und wollte sie gerade öffnen, als ich den Schlag erhielt.« »Oh, Miß!« »Reg dich nicht auf, ich lebe ja noch«, sagte Linda trocken. »Komm, setz dich mal zu mir! Ich muß dich etwas fragen.« Nancy nahm widerstrebend Platz, schielte aber halb ängstlich, halb sehnsüchtig nach der Tür hin, als suchte sie nur eine Gelegenheit zu verschwinden. »Der Geist, von dem ich eben sprach, vielleicht kennst du ihn?« fragte Linda. »Ich?« Nancy wurde blaß. Ein Zittern überlief sie. »Es gibt doch keine Geister«, flüsterte sie. »Auch nicht da oben?« Linda zeigte an die Zimmerdecke. Dann griff sie nach Nancys Arm und hielt sie fest, damit sie ihr nicht entwischen konnte. »Sei mal ehrlich, Nancy, wen hast du da oben versteckt? Ist es ein Freund von dir? Du kannst es mir ruhig sagen. Ich verrate dich bestimmt nicht.« »Ich – ich habe doch gar keinen Freund«, stammelte Nancy, abwechselnd rot und blaß werdend. »Was denken Sie von mir, Miß. Ich bin ein anständiges Mädchen.« Sie weinte fast. Linda mußte sie beruhigen. »Du kannst mir aber nicht einreden, daß dort oben niemand wohnt«, fuhr sie dann fort. »Wenn Sie etwas gehört haben, dann waren es sicher die Mäuse«, sagte Nancy verlegen. »Aha, und den Mäusen hast du dann auch das Frühstück gebracht, wie?«
Nancy wand sich unter ihren forschenden Blicken. »Ich – ich kann nicht mehr sagen«, stotterte sie. »Jetzt nicht! Aber – wenn ich Ihnen einen Rat geben darf…« Nancy blickte sich scheu um, als fürchte sie einen Lauscher. In ihrem blassen Gesicht zuckte es vor Angst. »Gehen Sie weg von hier, Miß«, raunte sie dann, allen Mut zusammennehmend. »Sie wären besser gar nicht hergekommen. Mehr kann ich nicht sagen.« Nancy huschte zur Tür, riß sie auf und stieß einen erstickten Schrei aus. Vor ihr stand Lord Merville.
*
»Hysterische Person!« Unwillig schloß Dean die Tür hinter dem Stubenmädchen. Mit liebenwürdigem Lächeln trat er näher. »Wie geht es dir, Darling? Du frühstückst gerade? Hoffentlich störe ich dich nicht!« »Ich habe sowieso keinen Appetit«, sagte Linda mit Leidensmiene. »Mein Kopf tut furchtbar weh!« »Armer Liebling!« Er ließ sich auf der Bettkante nieder und streichelte ihre Hand. »Bleib nur hübsch brav im Bett. Ich werde dir Gesellschaft leisten. Ich möchte gern mit dir sprechen.« »So? Worüber denn?« »Über uns beide«, sagte er, ihr gefühlvoll die Hand küssend. »Endlich, endlich finde ich Gelegenheit, mit dir allein zu sprechen.« »Warum reitest du nicht mit Jessica aus?« versuchte Linda abzulenken. »Es ist so schönes Wetter!«
»Mußt du von Jessica sprechen, in diesem Moment?« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Jessica bedeutet mir nichts. Du brauchst auf sie nicht eifersüchtig zu sein.« »Eifersüchtig, ich?« Linda hätte fast laut herausgelacht. Doch dann sagte sie sich, daß Dean darüber bestimmt beleidigt, sein würde. »Ich finde Jessica sehr hübsch.« »Neben dir verblaßt sie wie ein Gänseblümchen neben der Rose!« »Oh, oh!« lachte Linda. Sie fand es zwar sehr schmeichelhaft, mit einer Rose verglichen zu werden, aber der Vergleich hinkte. Jessica war alles andere als ein Gänseblümchen. »Das laß nur nicht Jessica hören«, warnte sie. »Sie ist imstande und kratzt mir die Augen aus.« Dean nahm ihre Hand und preßte sie gegen seine Brust. »Was kann ich dafür, wenn dieses Herz nur für dich schlägt«, hauchte er gefühlvoll. »Für Jessica empfinde ich Freundschaft, weiter nichts. Wenn sie sich mehr erhofft, ist das ihre Sache. Ich finde nur, wir sollten sie nicht länger auf die Folter spannen und schnell mit der Wahrheit herausrücken.« »Mit der Wahrheit?« echote Linda ahnungsvoll. »Dean, was hast du vor?« »Da der Gesundheitszustand meiner Mutter kein großes Fest zuläßt, schlage ich vor, wir heiraten im kleinen Kreis. Das ist dir doch recht, mein Liebling?« Linda schluckte. »Wir – heiraten…«, stammelte sie. »Dean, das kann doch nicht dein Ernst sein.« »Natürlich sollst du ein herrliches weißes Kleid haben«, fuhr Dean unbeirrt fort, den Blick träumerisch in die Ferne gewandt. »Die Rappen werden die Hochzeitskutsche ziehen, und in der Dorfkirche soll man meine schöne junge Braut bestaunen. Wir werden sehr, sehr glücklich sein.« »Dean, hör auf!« rief Linda verzweifelt. »Mit solchen Dingen scherzt man nicht.«
Verwundert sah er sie an. »Ich scherze nicht, Kleines«, sagte er liebevoll. »Es ist mir bitterster Ernst. Ich will, daß du meine Frau wirst.« »Aber ich, Dean, du hast mich gar nicht gefragt, ob ich dich heiraten will«, stammelte sie verwirrt. »Meine Güte, Dean, wir kennen uns doch kaum. Denk doch nur an all die vielen unglücklichen Ehen, die Hals über Kopf geschlossen werden. Ich mag dich gern, Dean, bestimmt, aber heiraten, zum Heiraten gehört doch ein wenig mehr.« In seinen schwarzen Augen funkelte es auf, ob vor Ärger oder Leidenschaft war schwer zu sagen. Doch seine Stimme klang unvermindert sanft, als er fortfuhr: »Linda, ich biete dir mein Schloß, mein Vermögen und mein Herz. Was willst du noch mehr? Ich bin ganz sicher, eines Tages wirst du mich genauso lieben, wie ich dich liebe.« »Ach, so einfach ist das nicht!« stieß sie hervor. »Dean, bitte, vergiß dieses Gespräch. Wir wollen es beide vergessen. Man kann so etwas doch nicht erzwingen. Ich habe dir gesagt, daß ich dich gern habe. Aber, sei mir nicht böse, Dean, lieben werde ich dich niemals.« »Kein Wort glaube ich dir«, sagte Dean leise. »Kein einziges Wort.« Sein lächelndes Gesicht neigte sich über sie, seine Hände hielten ihre Schultern, daß sie sich nicht wehren konnte. »Dean, bitte nicht!« flüsterte sie schwach. »Dean!« Er preßte seine Lippen so gewaltsam auf ihren Mund, daß es fast weh tat. Linda preßte die Lippen zusammen. Sie verspürte einen so heftigen Widerwillen, daß ihr übel wurde. »Das hättest du nicht tun dürfen«, sagte sie bebend. »Du hast meine Hilflosigkeit ausgenutzt. Das war gemein. Geh jetzt! Ich will allein sein.«
»Ich – ich weiß auch nicht, was über mich gekommen ist!« Aufstöhnend barg er das Gesicht in den Händen. »Ich konnte einfach nicht anders, ich liebe dich doch so sehr.« »Das gibt dir kein Recht, anderen deinen Willen aufzwingen zu wollen.« Sie war noch immer zutiefst empört, fühlte aber bereits wieder Mitleid mit ihm. Es schien ihm ehrlich leid zu tun. Es mußte schlimm sein, in jemanden verliebt zu sein, der diese Liebe nicht erwiderte. Jessica fiel ihr ein, und sie fragte sich, in welchen Teufelskreis sie hier geraten war. »Bitte, sage Jessica nichts davon«, bat er, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Wenn sie erfährt, daß du mich abgewiesen hast, werde ich sie überhaupt nicht mehr los.« »Dean!« sagte sie in plötzlichem Entschluß. »Ich werde abreisen Dean!« »Nein!« Für einen Moment lang wirkte sein Gesicht so wild und verzweifelt, daß sie erschrak. »Verlaß mich nicht«, bat er flehend, ihre Hand mit Küssen bedeckend. »Wenn du mich schon nicht lieben kannst, so laß uns wenigstens Freunde bleiben. Aber geh nicht fort, Linda, bitte, geh nicht fort.« »Sie wären besser gar nicht hergekommen«, klangen Nancys Worte in ihr nach. Warum hatte Nancy das gesagt. Was wußte sie? Hatte Nancy das Wort »Gefahr« auf ihren Spiegel geschrieben? Ein eisiger Schauer fuhr ihr über den Rücken. Eine unbestimmte Furcht machte ihr die Kehle eng. Jemand hat mich in der Nacht niedergeschlagen, durchzuckte es sie. Wer war es? Dean, Jerry, oder die schöne Jessica? Gewaltsam riß Linda sich zusammen. Alles wird eine ganz simple Erklärung haben, versuchte sie sich zu beruhigen. Ich sollte aufhören, darüber nachzudenken. Zuviel Grübeln macht
Kopfschmerzen, und mein Kopf schmerzt auch ohne das genug. »Warum sagst du nichts? Kannst du mir wirklich nicht verzeihen, Linda?« Dean blickte sie flehend an. »Denk doch an Ma! Sie braucht dich«, preßte er hervor. »Wir alle hier brauchen dich. Ich verspreche dir auch, nie wieder von Liebe zu reden, selbst wenn es mir das Herz zerreißt.« »Gut, Dean, ich bleibe vorerst«, sagte sie erschöpft. Sie sah das erleichterte Aufleuchten in seinem Gesicht und wußte im gleichen Moment, daß ihre Entscheidung falsch gewesen war.
*
Kurz vor Mittag erschien Jerry. Mit mürrischem Gesichtsausdruck untersuchte er ihre Wunde und erneuerte das Pflaster. Es tat etwas weh, aber Linda biß die Zähne zusammen. »Du wirst bestimmt mal ein guter Arzt«, sagte sie lächelnd, als er sie versorgt hatte. »Das hoffe ich!« Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sein finsteres Gesicht so hell, wie in Sonnenschein getaucht. Dann war es wieder dunkel wie ein Novembertag. »Wenn du magst, kannst du morgen aufstehen«, murmelte er. »Aber sei noch vorsichtig, keine großen Anstrengungen und so.« Er wollte gehen, strebte eilig der Tür zu, als ihn ihre leise Stimme zurückhielt. »Jerry, warte noch!« »Ja?« Unwillig blickte er sich nach ihr um. »Was gibt es denn?« fragte er nicht gerade freundlich.
»Ich möchte mit dir über Tante Abigail sprechen«, sagte Linda. »Kann man ihr nicht helfen?« »Du hast doch gehört, was Dean gesagt hat«, meinte er mit leisem Spott. »Sie will außer Dean niemanden sehen, ganz sicher nicht einen fertigen Arzt.« »Jerry, kennst du Deans Mutter gut?« »Was heißt gut, ich habe sie ein paarmal gesehen und fand sie ganz in Ordnung. Eine bezaubernde alte Dame. Übrigens«, er lachte kurz und ein wenig geniert auf. »Du siehst ihr ein bißchen ähnlich.« »Bin ich wirklich so häßlich?« entfuhr es Linda. »Häßlich?« meinte er gedehnt. »Man ist nicht häßlich, wenn man ein paar Falten im Gesicht hat. Lady Merville ist auch heute noch schön. Ihr jungen Mädchen bildet euch wohl ein, glatte Haut und Grübchen genügen, um schön zu sein. Aber die Schönheit bei einem Menschen muß von innen heraus strahlen wie bei Lady Abigail. Wenn ich gesagt habe, daß du ihr ähnlich siehst, müßte das ein Kompliment für dich sein.« Linda erinnerte sich an die gelbliche Haut der Lady, an die scharfen, groben Gesichtszüge und erschauerte. Jerry mußte eine seltsame Auffassung von Schönheit haben. Möglich war auch, daß sich die Tante in der Zwischenzeit sehr verändert hatte. Linda überlegte, ob sie Jerry von ihrer nächtlichen Begegnung erzählen sollte. Aber konnte sie ihm vertrauen? Mußte sie nicht fürchten, daß er es sofort Dean erzählen würde. Er kannte Dean länger als sie, und die beiden schienen eng befreundet. Dazu hing er an Jessica, wie ein älterer Bruder an seiner jüngeren bildhübschen Schwester hängt. Bestimmt würde er alles tun, Jessicas Glück zu sichern.
*
»Ich muß jetzt gehen«, sagte Jerry ungeduldig. »Ich muß Jessica trösten. Dean hat uns eben eröffnet, daß er dich und keine andere heiraten will.« Er neigte sich über sie. Sein hartes Gesicht sah unglücklich, verletzt und tief enttäuscht aus. »Gratuliere!« sagte er herb. »Das war eine schnelle, saubere Arbeit. Wozu Jessica Jahre gebraucht hat, das hast du in wenigen Tagen geschafft.« Er ging mit schweren Schritten zur Tür. »Jerry!« schrie sie auf. »Jerry, warte doch!« Eilig streifte sie die Decken ab und lief ihm nach. »Das stimmt doch alles nicht!« rief sie atemlos. »Dean hat gelogen!« »Er will dich nicht heiraten?« »Doch!« schluchzte Linda auf. »Dean will mich heiraten. Er hat mich deswegen hart bedrängt. Aber ich, ach, Jerry, hilf mir doch! Du mußt doch fühlen, daß ich Dean nicht liebe. Es tut mir leid, aber ich liebe ihn nicht.« »Um so schlimmer«, sagte er düster. »Dann ist es also nur der Besitz hier, Deans Reichtum! Wenn Dean mir nicht gleichgültig wäre, würde ich ihn bedauern. Es muß schlimm sein, seines Geldes wegen geheiratet zu werden.« »Jerry, traust du mir so etwas wirklich zu?« rief sie bebend. Ihr schönes, unglückliches Gesicht rührte ihn sekundenlang. Auch der Tonfall ihrer Worte war so echt, daß er unsicher wurde. Er wartete, wartete voll geheimer, schmerzlicher Spannung auf das erlösende Wort von ihr. Wenn sie sagte: »Ich werde Dean nicht heiraten«, war alles gut. Aber Linda schwieg. Sie sah ihn nur an. Er ging schnell hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. »Jerry!« flüsterte Linda. »Oh, Jerry!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte verzweifelt.
Einen Moment lang hatte sie geglaubt, er würde sie verstehen. Wie konnte er nur so etwas von ihr glauben? Sie würde sich doch niemals für Geld verkaufen. Wie sehr mußte er sie verachten, daß er das von ihr annehmen konnte. Und sie hatte geglaubt… ja, was hatte, sie sich nur eingebildet? Hatte sie wirklich gedacht, daß Jerry sie mochte? Er sah in ihr doch nur die Rivalin seiner Schwester. Schon allein deswegen durfte sie ihm nicht trauen. Er würde alles tun, um Jessica glücklich zu sehen. Wem kann ich überhaupt hier trauen? fragte sich Linda in jäher Verzweiflung. Sie blickte sich in dem schönen, kostbar eingerichteten Zimmer um. Plötzlich kam es ihr wie ein Gefängnis vor. Ihre Augen schauderten vor all dem Rot um sie herum zurück. Eigenartig, wie plötzlich Dean sich in mich verliebt hat. Sicher, das kommt vor, aber warum hat er es so eilig mit dem Heiraten. Warum bedrängt mich auch Tante Abigail immerzu, Dean zu heiraten? Sie hatte gesagt, sie wollte ihre einzigen Verwandten gut versorgt wissen. Das alles klang absolut plausibel. Doch plötzlich glaubte Linda nicht mehr, daß dies das einzige Motiv war. Es muß noch einen anderen Grund geben, grübelte sie. Wenn ich nur wüßte, welchen? Ich werde es herausfinden, sagte sie sich in jähem Entschluß.
*
Linda war absichtlich nicht zum Frühstück hinuntergegangen. Sie wollte mit Nancy sprechen. Sie ahnte, daß das Mädchen
mehr wußte, als es zugab und wollte es einmal tüchtig ins Gebet nehmen. Sie hatte schon geduscht und ein rosefarbenes Morgenkleid übergestreift, das herrlich bequem war. Die Wunde am Hinterkopf spürte sie kaum noch. Hungrig war sie auch, und sie freute sich, als endlich an die Tür geklopft wurde. Das wird Nancy mit dem Frühstück sein, dachte sie, eilte zur Tür und schloß auf. »Guten Morgen, Miß«, sagte der Butler John. »Ich bringe das Frühstück!« »Sie, John?« Linda starrte ihn unangenehm überrascht an. »Da ist doch Nancys Aufgabe.« John stellte das Tablett sorgsam auf dem Nachttischchen ab. »Nancy ist nicht da«, sagte er auf seine einsilbige Art. »Wo ist Nancy denn? Hat sie ihren freien Tag?« John räusperte sich. »Sie hat ihn sich einfach genommen«, sagte er mit leisem Vorwurf. »Das sieht Nancy aber gar nicht ähnlich«, meinte Linda betroffen. »Sie war doch immer willig und hilfsbereit. Sicher wird sie gleich wiederkommen!« »Das ist kaum anzunehmen!« John stelzte zum Fenster und öffnete die Fensterflügel. »Sie ist über alle Berge, die Nancy! Wir haben in ihrem Zimmer nachgesehen. All ihre Sachen sind weg.« »Warum denn nur?« »Wahrscheinlich war es ihr hier zu einsam. Kein junges Mädchen hält es hier lange aus.« John wandte sich zur Tür. Er war wohl der Ansicht, zuviel Worte über eine so unbedeutende Sache wie ein Stubenmädchen verloren zu haben. An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Kommen Sie zum Lunch herunter, Miß Styler?« »Ja, John!« sagte Linda mechanisch.
Sie setzte sich auf den Bettrand und starrte das Frühstückstablett an, ohne es zu sehen. Nancy ist fort, einfach so? dachte sie. Ich habe doch noch gestern mit ihr gesprochen. Warum hat sie nichts davon gesagt? Sie versuchte, sich ihr Gespräch mit Nancy in Erinnerung zu rufen. Es mußte einfach etwas mit Nancys Verschwinden zu tun haben, davon war sie überzeugt. Kein Stubenmädchen verließ den Dienst Hals über Kopf und ohne Monatslohn. Ein Unbehagen stieg in Linda auf und ließ sie frösteln. Ob Nancy etwas passiert ist? fragte sie sich besorgt. Sie erinnerte sich plötzlich, wie ängstlich das Mädchen ausgesehen hatte, als sie mit ihr sprach. Doch sie hat ja ihre Sachen mitgenommen, beruhigte sich Linda sofort. Nein, passiert ist Nancy sicher nichts. Aber sie ist geflohen. Wovor ist Nancy geflohen, vor wem? Linda blickte sich um. Die Kehle wurde ihr eng. Die Wände schienen plötzlich näher zu rücken, immer näher, als wollten sie sich auf sie stürzen. Sie spürte, wie alles in ihr kalt und starr vor Angst wurde, wußte aber gleichzeitig, daß alles nur Einbildung war. Sie stürzte ans Fenster und rang nach Atem. Langsam, ganz allmählich wurde ihr besser. Aber die Angst blieb, jagte ihr winzige Kälteschauer über den Rücken. Sie wußte plötzlich, sie spürte es ganz deutlich, daß sie in Gefahr war. Es war nur ein Gefühl in ihr, etwas wie eine innere Stimme, erklären konnte sie es nicht. In der kurzen Zeit hier waren zu viele Dinge auf sie eingestürmt, für die sie keine Erklärung hatte. War Nancy aus Angst vor ihren Fragen geflohen? Vielleicht hatte sie doch etwas zu verbergen gehabt. Vielleicht hatte sie doch oben einen Freund versteckt gehalten. Wer sagte ihr denn, daß Nancy die Wahrheit gesprochen hatte?
Linda trat auf den Balkon. Sie blickte in den Burghof hinunter und sah Dean und Jessica zusammen fortreiten. Jessica saß ausgezeichnet im Sattel. Ihr rotes Haar leuchtete in der Sonne wie eine Fackel. Sie wandte den Kopf zu Dean und sagte etwas, das Linda nicht verstehen konnte. Aber ihren Gesichtsausdruck konnte sie sehr deutlich erkennen. Er zeigte schwärmerische, hingebungsvolle Bewunderung. Sie sind fort, dachte Linda erleichtert. So schnell werden sie nicht wiederkommen. Jetzt konnte sie ungestört die oberen Räume in Augenschein nehmen. Leise trat sie auf den Flur und lauschte. Im Schloß war es totenstill. Sie wußte nicht, wo Jerry war, aber das war auch nicht wichtig. Vor Jerry hatte sie keine Angst. Aber sie mußte sich beeilen, bevor John kam, um das Frühstückstablett abzuholen. All ihren Mut zusammennehmend, huschte sie die steile dunkle Treppe hinauf. Sie mündete in einen dunklen Flur mit mehreren Türen. Linda sah, daß die Treppe noch höher führte, wahrscheinlich zu den Dachkammern. Aber der Raum über ihrem Zimmer mußte sich hier befinden. Sie blickte den dunklen Flur hinunter, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Sollte sie wirklich da hinuntergehen? Was versprach sie sich eigentlich davon? Finden würde sie sowieso nichts. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, daß es irgendeinem Menschen Spaß machen konnte, sich hier zu verstecken. Außerdem würden die Türen wohl abgeschlossen sein. Aber ihre Neugier war stärker als ihre Angst. Entschlossen tappte sie weiter, bis sie sich ungefähr in der Höhe ihres Zimmers befand. Hier mußte es sein. Sie blieb stehen und sah
eine dunkle Tür, die sich schattenhaft von der verblichenen Wandbemalung abhob. Linda blickte sich um und lauschte. Ihr Herzschlag ging wie rasend. Unheimlich war es hier oben, so einsam und unheimlich, daß ihr angstvolle Schauer über den Rücken jagten. Warum lief sie nicht einfach fort, zurück in ihr behagliches Zimmer? Linda kämpfte mit sich, kämpfte gegen diese Ängste an, die sie überfluteten und rang sie dann tapfer nieder. Mit bebenden Händen griff sie nach der Klinke. Zu ihrer Verwunderung gab sie nach. Der Raum war nicht abgeschlossen. Sie öffnete die Tür und ging hinein. Enttäuscht blickte sie sich um. Das Zimmer war leer. Nirgendwo auch nur die Spur eines Bewohners. Die Fensterläden waren geschlossen und ließen nur durch einen Spalt ein wenig Tageslicht hinein. Lindas Herzschlag beruhigte sich. Sie ärgerte sich über sich selber. Wozu all die Aufregung, dachte sie, voller Abneigung die billigen Möbel betrachtend, die man irgendwo ausrangiert haben mochte. Wahrscheinlich hatten diese Räume früher als Dienstbotenzimmer gedient. Tief enttäuscht wollte sie sich zum Gehen wenden, als sie wie angewurzelt stehenblieb und zum Bett zurückblickte. Das Bett war frisch bezogen. Wenn niemand hier wohnte, warum war dann das Bett bezogen? Alarmiert trat sie näher. Sie betastete die Bettwäsche und stellte fest, daß sie kein bißchen klamm oder muffig war, wie es bei längerem Gebrauch unausbleiblich gewesen wäre. Sie war auch nicht vergilbt, sondern blendend weiß und strömte einen leisen Lavendelduft aus. Noch ein anderer, bitterer Geruch lastete im Raum, für den Linda keine Erklärung hatte.
Das Bett sieht aus, als wäre es erst kürzlich benutzt worden, überlegte Linda. Nancy mußte gelogen haben. Sie neigte sich über das Kopfkissen und entdeckte ein langes dunkles Haar. Mit spitzen Fingern nahm sie es auf und betrachtete es. Es könnte von mir sein, dachte sie befremdet. Aber es mußte zu einer Frau gehören. »Das ist doch zu albern«, sagte Linda laut zu sich selber. »Sich über ein dummes Haar den Kopf zerbrechen.« Wenn jemand hier oben geschlafen hatte, was ging das sie an. Schließlich hatte sie an andere Dinge zu denken. »Ist die Aussicht nicht herrlich?« Dean stand hinter ihr. Sie spürte seinen heißen Atem in ihrem Nacken, vergaß ihn dann. Die Aussicht war wirklich märchenhaft. Von der Plattform des Westturms blickte man auf die welligen Hügel der Dünen bis hinunter zum Meer, das mit schäumenden Wogen gegen die Steilküste brandete. Der Himmel darüber war blau, klar und kühl wie ein Aquamarin. Weiße Möwen segelten darüber hin wie Schmetterlinge. In der Ferne zog ein Schiff seine Bahn. »All das lege ich dir zu Füßen!« sagte Dean schweratmend. »Ein Königreich für deine Liebe, Linda! Willst du wirklich noch immer nein sagen?« Sie blickte sich unwillig zu ihm um. »Dean, du hast versprochen, nie mehr davon anzufangen«, sagte sie bekümmert. »Entschuldige!« Er lachte ein wenig grell. »Ich vergesse es nur immer wieder. Schau mal hinunter.« Er legte den Arm um ihren Nacken und zwang sie, in den Burghof hinabzusehen.
»Wer hier hinabstürzt, von dem bleibt nicht viel übrig«, murmelte Dean. »Was glaubst du, Linda! Spürt man den Aufprall noch, oder ist man schon vorher tot?« »Hör auf, solche schrecklichen Sachen zu reden«, meinte sie unwillig. »Wer sich hier hinabstürzt, müßte ja schon verrückt sein. Komm doch nicht immer mit solchen Geschichten. Willst du mir absichtlich Angst machen?« »Vielleicht?« lächelte Dean. »Vielleicht hoffe ich, daß du dich ängstlich an meine Brust wirfst«, spottete er. »Warte darauf lieber nicht. So leicht bin ich nicht zu erschrecken.« »Ich weiß!« er seufzte tief auf. »Darum liebe ich dich ja auch. Wir beide würden ein prächtiges Paar abgeben. Ich werde nie verstehen, warum du mich nicht willst.« Linda schwieg. Sie blickte in den Burghof hinab, und ein leises Frösteln strich ihr über den Rücken. Warum hatte Dean das eben gesagt? Es tat ihr schon leid, Dean gebeten zu haben, sie hier hinaufzuführen. Jetzt konnte sie nicht einmal mehr die herrliche Aussicht genießen. Er hatte ihr alles gründlich verdorben. »Liebst du einen anderen?« quälte er weiter. »Nein!« Sie wandte sich heftig zu ihm um. »Kannst du mich nicht endlich damit zufrieden lassen? Ich liebe weder dich noch einen anderen. Wahrscheinlich werde ich überhaupt nicht heiraten.« »Das wäre aber schade bei einem so hübschen Mädchen«, lächelte er. »Komm, es ist sehr zugig hier oben. Du könntest dir leicht eine Erkältung holen. Ich zeige dir jetzt mein Labor. Falls dich das interessiert, natürlich!« »Sicher sehe ich es mir gern an«, sagte Linda aufatmend. Sie hatte schon befürchtet, Dean würde böse werden. Aber wenigstens war er nicht nachtragend.
Sie gingen die steile Wendeltreppe hinab. Die Stufen hallten unter ihren Schritten. Hin und wieder war in die dicke Wand ein kleines vergittertes Fenster eingelassen, durch das Licht fiel. Unten hielt Dean an und zog ein Schlüsselbund aus der Jackentasche. Er schloß die Eisentür auf, die dem Eingang gegenüber lag. Sie kamen in eine kleine Diele mit Stühlen, einem Tisch mit Zeitschriften. Sie sah aus wie das Sprechzimmer eines Arztes. Linda wunderte sich, aber sie sagte nichts. Neugierig folgte sie Dean in den angrenzenden Raum, dessen Fenster zum Innenhof lagen. Starr vor Staunen blickte Linda sich um, sah die hohen Glasschränke mit blitzenden Instrumenten, den großen Schreibtisch, die berühmte Couch. Es war die vollkommene Nachbildung eines ärztlichen Sprechzimmers. »Phantastisch!« sagte sie beeindruckt. »Du könntest hier ja glatt als Arzt praktizieren. Hast du das etwa vor?« »Als Arzt nicht, dazu fehlt mir der Titel«, meinte er heiter, einen eigenartigen Glanz in den Augen. »Als Heilpraktiker werde ich mir einen Namen machen. Eines Tages werden die Menschen in Scharen zum Schloß pilgern, um von mir geheilt zu werden.« Zuerst glaubte Linda, er machte Spaß, doch dann sah sie den fanatischen Eifer in seinem Gesicht und erschrak. Dean war ja besessen von seiner Idee. »Jetzt zeige ich dir meine Giftküche«, sagte Dean voller Stolz. Er öffnete eine weitere Tür. Es war ein langer, schmaler Raum, in dessen Mitte ein großer Tisch stand. Auf dem Tisch gab es Kocher mit Reagenzgläsern, aus denen es brodelte, zischte und dampfte. Die Wände bestanden aus Regalen, die mit Fläschchen, Gläsern und Tiegeln aller Art angefüllt waren.
»Wenn du mal ein Schlafmittel brauchst…« Dean griff nach einem Glas mit hellblauen Körnchen. »Ein Löffel davon und du schläfst so gut, daß du nie wieder wach wirst«, grinste er. »Ach, du machst ja nur Spaß!« Linda lachte, aber sie spürte ein tiefes Unbehagen. Sie fragte sich, wie es einem Menschen Spaß machen konnte, Gift zu fabrizieren. »Du solltest lieber eine Salbe erfinden, die die Falten wegzaubert«, scherzte sie mühsam. »Dann würden dir alle Frauen der Welt ein Denkmal setzen.« »Mit solchen albernen Dingen beschäftige ich mich nicht«, wies er sie zurecht. »Aber ich habe hier eine Heilsalbe entwickelt, die garantiert heilt, ohne eine Narbe zurückzulassen.« Er öffnete einen Tiegel und hielt ihr ein braunes, greulich stinkendes Zeug unter die Nase. Allein schon vom Geruch wurde Linda übel. Sie blickte auf die Tür am Ende des Raumes. »Wohin führt die Tür?« fragte sie von dem geheimen Wunsch beseelt, nur fort aus diesem fürchterlichen Zimmer zu kommen. »Das ist nur ein Abstellraum!« winkte Dean eilig ab. »Völlig uninteressant. Komm, gehen wir!« Auch er schien es plötzlich eilig zu haben, von hier fortzukommen. Linda folgte ihm. Hinter ihr zischte und brodelte es. Es klang so bedrohlich, als würde jeden Augenblick etwas explodieren. Ganz plötzlich klang ein Wimmern auf, so entsetzlich, daß Linda das Blut in den Adern erstarrte. Erschrocken griff sie nach Deans Arm. »Was war das?« wisperte sie verstört. »Was denn?« »Da hat doch jemand gestöhnt, ich habe es ganz deutlich gehört!«
»Du wirst die automatische Wasserzuleitung gehört haben«, sagte er schroff. »Diese alten Rohre ächzen und stöhnen fürchterlich. Ich muß sie bei Gelegenheit erneuern lassen.« Als Linda endlich wieder im Burghof stand und frische Luft atmen konnte, fühlte sie sich so erleichtert, als wäre sie einer schweren Gefahr entronnen. »Heute müßte man Schwimmen gehen«, sagte Linda sehnsüchtig. »Jetzt bin ich schon so lange hier und habe noch kein einziges Mal geschwommen.« »Eine gute Idee«, sagte Dean lächelnd. »Leider habe ich keine Zeit. Ich muß noch arbeiten. Aber Jessica wird dich sicher gern begleiten. Jessica ist eine richtige Wasserratte. Bei ihr bist du in den besten Händen.« »Was ist eigentlich aus Nancy geworden?« fragte Linda. »Hat sie sich wieder gemeldet?« »Nancy?« Dean stutzte sekundenlang. »Ach, du meinst das Stubenmädchen?« sagte er gleichgültig. »Nancys Mutter ist schwer erkrankt, und sie mußte ganz plötzlich hin und sie pflegen. Warum fragst du? Wolltest du etwas von Nancy?« »Ich fand es nur eigenartig, daß sie so über Nacht verschwunden ist.« »Was ist daran eigenartig? Sie mußte eben sehr schnell weg«, entgegnete Dean gereizt. »Ich selber habe sie mit meinem Wagen zur Bahn gebracht. Es war an dem Morgen nach deinem Unfall. Nancy wollte sich noch von dir verabschieden, aber du schliefst fest.« Damit mußte Linda sich zufriedengeben. Es klang ja auch alles sehr glaubwürdig. Zu Lindas Überraschung war Jessica sofort bereit, mit ihr zum Meer zu gehen. Sie bemerkte, daß sich auch Jerry darüber wunderte, denn der Blick, mit dem er seiner Schwester nachsah, war nachdenklich, fast ein wenig mißtrauisch. Doch
dann fuhr er ungerührt fort, in der Zeitung zu lesen. Die Mädchen liefen nach oben, um ihr Badezeug zu holen. Doyle stellte für sie zwei alte, aber noch brauchbare Fahrräder hinaus, dann konnte es losgehen. Es war ein herrlicher Tag zum Radeln. Sie sprachen kaum während der Fahrt. Auf Lindas Fragen gab Jessica nur kurze einsilbige Antworten, so daß Linda es bald müde wurde, eine so einseitige Konversation aufrecht zu halten. Doch beim Anblick des Meeres ging ihr das Herz über. »Herrlich ist das! Wunderschön!« rief sie begeistert. »Sieh nur, Jessica, wie sich der blaue Himmel im Meer spiegelt, es schimmert selber ganz blau. Wir bleiben bis zum Abend hier, ja? Hier ist es so friedlich! Ach, am liebsten würde ich ein Zelt aufschlagen und hier wohnen, weitab von allen Menschen.« Jessica warf ihr Fahrrad ins Dünengras, streifte sie dann mit einem merkwürdigen Blick. »Damit würde Dean aber nicht einverstanden sein«, sagte sie bitter. Sie breitete ihr Badetuch aus und ließ sich sichtlich erschöpft darauf nieder. »Ach, Dean, Dean, was kümmert mich Dean«, lachte Linda sorglos. »Ich habe gehört, am Meer soll man doppelt so schnell braun werden wie anderswo.« Linda packte die Flasche mit dem Sonnenöl aus, blickte Jessica dann abwartend an. »Was machen wir zuerst, schwimmen oder sonnen. So ein kühles Bad wäre jetzt nicht schlecht. Dann könnte ich mich nachher einreiben.« »Du willst wieder zurück nach London?« fragte Jessica gedehnt und zweifelnd. »Das wird Dean niemals zulassen.« »Sei so lieb und laß Dean aus dem Spiel«, bat Linda. »Der Tag ist viel zu schön dafür. Ich glaube, ich springe zuerst ins Wasser. Kommst du mit?«
»Muß ich wohl. Du kennst ja die Badestelle nicht.« Mürrisch streifte Jessica die Shorts ab. »Komm!« Sie erreichten einen schmalen Streifen Sandstrand, der von mächtigen grauen Findlingen begrenzt wurde. »Das ist unsere Badestelle«, sagte Jessica. »Aber sei vorsichtig, es wird hier gleich ganz tief.« Sie streckte probeweise die Fußspitze ins Wasser und schüttelte sich. »Ganz schön kalt!« Sie bückte sich, tauchte die Hände ins Wasser und kühlte sich ab. Dann kletterte sie auf einen der Findlinge und sprang mit elegantem Kopfsprung in die Fluten. Linda war kein Feigling. Aber zu ihren Grundsätzen gehörte, niemals in ein unbekanntes Gewässer zu springen. Sie ließ sich einfach so hineinfallen. Das kristallklare Wasser trug herrlich. Linda tauchte und genoß das unbeschreibliche Gefühl, sich frei zu fühlen, keine Probleme zu haben, keine Ängste, in diesem Moment fiel alles von ihr ab, was sie bedrückte. Keuchend tauchte sie wieder auf, rieb sich das Wasser aus den Augen und blickte sich nach Jessica um. Wo denn, um Himmels willen, war ihr roter Schopf. So weit, daß sie nicht mehr zu sehen war, konnte sie doch nicht sein. Ob sie schon wieder an Land war? Wassertretend blickte Linda zum Ufer zurück, doch auch da war keine Spur von dem Mädchen. »Jessica?« rief sie laut »Jessi, wo steckst du denn?« Nichts, keine Antwort. Nur das Rauschen des Meeres war zu hören. »Jessica!« Linda blickte sich wild um. Angst kroch in ihr hoch. Es würde dem Mädchen doch nichts passiert sein? Sie schwamm ein Stück weiter. »Jessica!«
Nichts rührte sich. Eine Möwe schoß kreischend über ihren Kopf hinweg. Sie ist ertrunken, dachte Linda in panischem Entsetzen. Vielleicht ist sie beim Tauchen mit dem Kopf gegen einen Felsbrocken geprallt und ohnmächtig geworden. »Jessica!« Linda schluchzte angstvoll auf. Wenn ihr etwas passiert war, wie sollte sie dann Jerry jemals wieder unter die Augen treten. Jerry, der seine Schwester so abgöttisch liebte, er würde ihr das nie verzeihen. Sicher würde er ihr die Schuld geben. Schließlich war es ihre Idee gewesen, zum Schwimmen zu fahren. Nein, ohne Jessica konnte sie nicht zurück. Sie mußte sie suchen. Linda schwamm mit verzweifelter Kraft weiter. Plötzlich ragte etwas weiter von ihr ein dunkler Gegenstand aus dem Wasser. Ob das Jessi war? Sie hielt darauf zu. Nichts war zu hören, als das Geräusch ihres heftigen Atmens und das stetige Schreien der Möwen. Doch dann hörte sie noch etwas anderes. Es klang wie eine Frauenstimme. Ganz richtig. Jemand rief ihren Namen. Sie warf sich herum und sah fern am Ufer Jessica stehen. Jessica, die ihr mit beiden Armen verzweifelt zuwinkte. Vor Erleichterung traten ihr die Tränen in die Augen. Jessica lebte, ihr war nichts geschehen. Jetzt verstand sie auch, was sie ihr zurief. »Komm zurück, Linda!« schrie Jessica. »Komm sofort zurück!« »Ja, ja!« rief Linda und lachte laut vor Erleichterung, winkte mit der Hand, zum Zeichen, daß sie verstanden hatte. Sie schwamm zurück. Eigenartig, mußte sie plötzlich denken. Warum hat sie denn nicht geantwortet, als ich nach ihr rief? Wieso ist sie an Land geschwommen, ohne mir etwas davon zu sagen? Und wieso habe ich nichts davon bemerkt?
Linda schwamm mit ruhigen, gleichmäßigen Zügen. Erst nach einer Weile merkte sie, wie wenig sie vorwärtskam. Das Meer war ruhig, aber irgendeine tückische Kraft schien sie immer weiter hinauszuziehen. Sie sah Jessica wie eine Irre am Ufer hin und her springen und mit den Armen rudern. Was hatte sie nur? Was wollte sie ihr mitteilen? Linda schwamm mit verzweifelter Kraft, strengte sich doppelt an. Die Arme wurden ihr schwer und begannen zu schmerzen. Sie war zwar eine gute Schwimmerin, aber wie lange würde ihre Kraft ausreichen. Würde sie es schaffen, bis zum Ufer zurückzukommen? Ich muß es einfach schaffen, sagte sich Linda. Nur jetzt keine Panik! Nein, Linda machte sich nichts vor. Das Ufer war noch immer weit weg, und ihre Kräfte begannen nachzulassen. Sie erinnerte sich an die tückischen Strömungen, von denen Dean gesprochen hatte. Sie mußte in eine solche geraten sein. Wie konnte sie mit ihren schwachen Kräften gegen die mächtige Flut des Wassers ankommen? Eine grenzenlose Müdigkeit überkam sie. Warum lasse ich mich nicht einfach treiben, dachte sie, überschwemmt von dieser trügerischen, einlullenden Gleichgültig. Sich treiben lassen und dann versinken, vergehen in dieser gläsernen Tiefe, ist das nicht wie einschlafen? Sie hörte ihren Namen rufen. Doch jetzt war es nicht Jessicas Stimme. Die Stimme war dunkler, rauher, etwas Zwingendes ging von ihr aus. Sie blickte zum Ufer hin und sah Jerry, Jerry, der sich die Kleider vom Leib riß, und dann auf sie zuschwamm, in langen, gleichmäßigen unaufhaltsamen Stößen. Was will Jerry? durchzuckte es sie heiß. Will er mich daran hindern, ans Ufer zu gelangen? Ihre Gedanken verwirrten sich.
Sie sah Dean, der vorgab, in sie verliebt zu sein. Und Jessica liebte Dean, Jerry war Jessicas Bruder und hatte ein Interesse daran, seine Schwester glücklich zu sehen. Ich bin es, die allen hier im Weg steht, dachte Linda, von Angst überwältigt. Aber warum. Was habe ich ihnen getan. Ich wollte doch nicht, daß Dean sich in mich verliebt. Jerry kam näher und näher wie ein Verhängnis. Sie wußte ja, wie stark er war. Sie hatte es immer gewußt. Und sie war schwach. Was konnte sie gegen ihn ausrichten. Sie konnte sich wehren, ja! Leicht würde sie es ihm nicht machen. Sie wollte sich an ihn klammern, gemeinsam mit ihm untergehen. Wäre das nicht ein schöner Tod? Linda spürte, wie kräftige Arme nach ihr griffen. Sie wehrte sich verzweifelt, schrie, Wasser drang ihr in den Mund und nahm ihr den Atem. Wie wild schlug sie um sich, spürte dann noch einen furchtbaren Schlag, der ihr die Besinnung raubte. Dann fühlte sie nichts mehr.
*
Es war wie in einem Traum. Sie schwamm in einer gläsernen Tiefe, sah über sich Gesichter, hörte Menschen reden und konnte selbst nichts sagen. Ist das der Tod? dachte sie verwundert. Ich dachte immer, wenn man tot ist, hört, sieht und spürt man nichts mehr. Das war Jerry! Sein wildes, männliches Gesicht war verzweifelt, und Jessica weinte. Ihr hübsches Gesicht war vom Weinen verquollen und auf ihrer Wange brannte ein rotes Mal, als hätte sie jemand geschlagen.
»Linda! Wie fühlst du dich, Linda?« Jerry fragte das. Seine Stimme klang so sanft wie damals, als er ihr das Pflaster aufgelegt hatte. Jetzt neigte sich Jerry über sie, preßte seine Lippen auf ihren Mund. Wie warm seine Lippen waren, wie warm. Linda hielt ganz still. Ein köstliches Gefühl durchströmte sie. Sie trank seinen Atem, als wäre es das Leben selber, das sie in sich einsog. Ich liebe ihn, dachte sie, halb wachend, halb träumend. Ich liebe Jerry, nicht Dean. Wenn er mich doch immer so halten, so küssen würde wie jetzt, in diesem Moment. »Linda; sag doch etwas«, bat er mit schwankender Stimme. »Erkennst du mich? Bist du in Ordnung?« Linda lächelte. Was für dumme Fragen er stellte. Natürlich erkannte sie ihn. Ihr Herz hatte ihn auf den ersten Blick erkannt. Sie sah das aufgeregte Zucken in Jessicas Zügen, hörte ihre nervöse Stimme, die sich verteidigte. »Es war dumm von ihr, so weit hinauszuschwimmen«, sagte Jessica. »Wenn man die Strömungen hier nicht kennt, ist das gefährlich.« »Wenn sie ertrunken wäre, glaubst du, deine Probleme wären damit gelöst?« »Ich wollte das nicht, bestimmt nicht!« beteuerte Jessica. »Ich schwamm um den Felsen herum wie immer, und dann sah ich den Koffer. Es war gar nicht so einfach, den Koffer an Land zu bringen. Wie mag er hierhergekommen sein. Ob er von einem gestrandeten Schiff stammt?« »Er sieht nicht aus wie ein Seemannskoffer«, sagte Jerry. »Welcher Seemann würde ein schwarzes Kleid mit weißem Spitzenschürzchen tragen?« Linda richtete sich auf. Mit einem Schlag konnte sie wieder klar denken. Sie merkte, daß sie am Ufer lag. Nein, sie war
nicht ertrunken. Jerry hatte sie auch nicht umgebracht. Er hatte ihr das Leben gerettet. »Du – hast…?« Sie starrte ihn an, ihre Lippen bebten. Mehr brachte sie im Moment nicht heraus. Aber in ihren Augen stand alles, was sie sagen wollte. »Ja, ich habe dich aus dem Wasser gezogen«, meinte Jerry mit grimmigem Lächeln. »Leicht hast du es mir nicht gemacht. Wie eine Wilde hast du dich gewehrt.« »Ich dachte, ich glaubte…!« »Schon gut«, winkte er ab. »Ich verstehe ja, du warst in Panik geraten. Da weiß man nicht mehr, was man tut. Warum bist du eigentlich so weit hinausgeschwommen?« »Ich – ich wollte Jessica suchen! Sie war auf einmal verschwunden. Ich hatte Angst, ihr wäre etwas passiert«, stammelte sie. Jerry warf seiner Schwester einen unbeschreiblichen Blick zu. »Da hast du es. Nur gut, daß ich im rechten Moment gekommen bin. Ich hatte gleich ein ungutes Gefühl.« »Es war keine Absicht von mir, bestimmt nicht«, verteidigte Jessica sich schreiend. »Wir schwimmen doch immer um den Felsen herum, ich habe geglaubt, Linda würde mir folgen. Linda, habe ich dir nicht gesagt, du sollst mir nachschwimmen?« »Ja, ich erinnere mich!« Linda griff nach dem Badetuch und zog es enger um sich. »Alles ist meine Schuld«, sagte sie demütig. »Hoffentlich habe ich dir nicht weh getan?« Jerry musterte sie besorgt. »Ich mußte dir einen leichten Schlag auf den Kopf geben, damit du dich abschleppen ließest. Trotzdem hast du eine Menge Wasser geschluckt. Aber lange warst du nicht ohnmächtig. Auf meine Wiederbelebungsversuche hast du sofort reagiert.«
Wiederbelebungsversuche? Linda schluckte, wurde brennend rot. Und ich habe geglaubt, er würde mich küssen, dachte sie beschämt. Wie dumm von mir. Warum sollte ausgerechnet Jerry mich küssen wollen? Er mag mich doch gar nicht. Ihr Blick fiel auf den Koffer, der neben Jessica lag. Sie erinnerte sich, daß die beiden eben über den Koffer gesprochen hatten. »Was ist mit dem Koffer?« fragte sie. »Ich fand ihn im Wasser«, entgegnete Jessica. Sie lachte leicht auf. »Zuerst dachte ich, ich hätte einen Schatz gefunden. Deswegen war ich auch so aufgeregt, daß ich dich ganz vergessen habe.« Verächtlich trat sie mit der Fußspitze gegen den Koffer, daß der Deckel aufsprang. »Aber es sind nur Klamotten darin. Scheußliche schwarze Kleider und Strümpfe. Wahrscheinlich hat sich hier jemand auf bequeme Art seiner alten Sachen entledigen wollen.« »Laß mal sehen!« Linda spürte, wie ihr Herz vor Erregung schneller zu klopfen begann. Mit spitzen Fingern griff sie nach einem weißen Stück Stoff, das vor Nässe triefte. Eine Welle von Entsetzen stieg in ihr hoch. Sie hielt ein Spitzenhäubchen in der Hand. Genauso eins, wie Nancy es getragen hatte.
*
»Mein Gott, ich glaube, die wird wieder ohnmächtig!« Jerry fing Linda, die mit wachsbleichem Gesicht zurückfiel, gerade noch in seinen Armen auf. Nein, dachte Linda, von innerem Grauen geschüttelt. Es können nicht Nancys Sachen sein. Wenn es Nancys Koffer wäre, würde das bedeuten…!
Sie wagte nicht, weiterzudenken. Nein, Nancy war ganz sicher nichts passiert. Sicher war sie längst in ihrem Dorf und pflegte ihre kranke Mutter. Dean hatte das gesagt, und Dean würde sie doch niemals anlügen. Ein leises, klagendes Wimmern entwich ihren Lippen. Sie zitterte am ganzen Leib. »Beruhige dich«, sagte Jerry sanft. »Es ist ja alles gut. Das ist nur der Schock. Aber du gehörst jetzt ins Bett, so schnell wie möglich. Ich werde dich zu Adonis auf den Sattel nehmen.« »Ich kann doch mit dem Rad fahren«, widersprach Linda matt. »Kommt nicht in Frage, damit du mir unterwegs umkippst, wie?« Trotz ihres Widerstrebens nahm er Linda wie ein Kind auf den Arm und trug sie nach oben. »Was soll mit dem anderen Fahrrad geschehen?« rief Jessica ihnen nach. Ihre Stimme klang zornig. Es schien ihr nicht zu passen, daß Jerry sich Lindas so liebevoll annahm. »Jerry, antworte doch!« »Laß es doch einfach stehen«, rief er über die Schulter hinweg. »Hier ist doch weit und breit keine Menschenseele, die etwas stehlen könnte.« Mit zärtlicher Kraft hob er Linda in den Sattel, saß dann hinter ihr auf. Er ließ Adonis im Schritt gehen. Es war für Linda ein unbeschreiblich neues und erregendes Gefühl, seine festen starken Hände um ihre Taille zu fühlen, seine breite Schulter zu spüren, an die man sich einfach nur anlehnen brauchte, um sich geborgen zu fühlen. Sie spürte, wie sein Atem ihre Wange streifte, spürte den starken, guten männlichen Geruch, der von ihm ausging. Ich möchte immer so weiter reiten, an nichts anderes mehr denken, wünschte sich Linda. Ich höre, wie sein Herz klopft, so stark, so fest! Wenn ich ihm doch ins Herz schauen könnte,
dann wüßte ich, ob er etwas für mich empfindet, ob er soviel für mich empfindet, daß ich ihm vertrauen kann. Jessica überholte sie und fuhr ihnen voraus. Ihr rotes Haar wehte wie eine Brandfackel. Sie haßt mich, dachte Linda. Sie hätte mich kaltlächelnd ertrinken lassen. Ich glaube einfach nicht, daß sie zufällig zum Ufer zurückgeschwommen ist. Sie hat sich mit Absicht versteckt, um mich in die Irre zu führen. Ich bin von lauter Feinden umgeben, dachte Linda erschauernd. Jerry, gehört Jerry auch zu meinen Feinden? »Wirst du es Dean erzählen?« fragte Jerry. »Nein, lieber nicht«, sagte Linda schnell. »Sonst läßt er mich nie mehr allein fort. Wir sagen ihm einfach, mir wäre nicht gut gewesen.« »Das ist nicht einmal gelogen«, seufzte sie. »Ich fühle mich wirklich miserabel. Jerry, manchmal wünsche ich mir, ich wäre nicht hierhergekommen.« »Tatsächlich? Wo hier so glänzende Zukunftsaussichten auf dich warten?« spottete er. »Du bist undankbar, Linda! Welchem Mädchen wird es schon geboten, Besitzerin von Schloß Merville zu werden?« Linda lachte gepreßt. »Du sagst das, als hätte ich mich längst entschieden.« »Hast du das nicht? Welches Mädchen vermag es wohl, sich Deans Charme und Reichtum zu entziehen?« sagte er hart. »Dean. Wohin er auch kam, flogen ihm die Mädchenherzen zu. Und ich Narr habe ihm auch noch Jessica vorgestellt. Ich habe mir eingebildet, Jessica wäre zu intelligent, um auf seinen Pseudocharme hereinzufallen. Ich scheine nicht viel von Frauenherzen zu verstehen.« Jerry schwieg. Aber sein Schweigen war nur eine der Atempausen, in der man seine Gedanken ordnet.
»Von Anfang an habe ich geahnt, daß es mit den beiden nicht gutgeht«, sprach er dann langsam weiter. »Aber Jessica hat sich Dean nun mal in den Kopf gesetzt. Dabei glaube ich nicht einmal, daß sie ihn liebt. Es ist eine gehörige Portion Eitelkeit bei ihr. Jessica will einfach den begehrtesten Junggesellen Schottlands haben. Daß eine andere ihn ihr wegschnappt, verwindet sie nie.« Ich muß ihm die Wahrheit sagen, dachte Linda. Ich muß ihm sagen, daß ich Dean nicht heiraten will, unter keinen Umständen. Doch inzwischen waren sie im Burghof angelangt. Dean kam ihnen entgegen, befremdet darüber, daß sie zusammen zurückkamen. »Es ist dir doch nichts passiert?« fragte er besorgt, Linda vom Pferd helfend. »Jessica ist eben nur so an mir vorbeigefegt. Habt ihr gestritten?« »Ich fühlte mich nicht wohl«, sagte Linda. »Wahrscheinlich habe ich zuviel geschwommen.« »Ganz blaß bist du, mein Armes.« Dean nahm sie bei den Schultern und blickte sie in liebevoller Sorge an. »Hoffentlich hast du dir keine Erkältung geholt? Am besten, du legst dich eine Stunde hin. John soll dir einen Grog bringen.« Er zeigte sich so freundlich besorgt, daß Linda ein richtig schlechtes Gewissen bekam. Trotzdem bedauerte sie, daß die Gelegenheit, mit Jerry zu sprechen, verpaßt war. Jerry ging bereits mit Adonis in Richtung Stall, um das Pferd unterzustellen. Sie schaute ihm nach, und plötzlich, wie unter einem Zwang, wandte auch er den Kopf. Ihre Blicke trafen sich und Linda spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. In seinem Blick loderte ohnmächtiger Zorn und noch etwas anderes: Traurigkeit.
*
»Oh, Jerry, nicht! Nicht so hoch, Jerry!« rief Linda lachend. »Ich werde ja ganz schwindelig!« Es war ein verrücktes, erregendes Gefühl, so zwischen Himmel und Erde zu schaukeln, von Jerrys kräftigen Händen angeschoben zu werden, immer schneller, immer höher. »Na, warte, das wirst du mir büßen!« Lachend hielt er die Schaukel mit den Händen auf und hielt sie fest. »Komm, laß mich los, Jerry!« Sie zappelte ärgerlich mit den Beinen. »Jerry, sei kein Spielverderber!« »Zuerst wird Abbitte getan!« Er hielt sie bei den Schultern und bog ihren Kopf zurück. Hilflos lag sie in seinen Armen, fühlte sich plötzlich ausgeliefert. Eine süße Schwäche machte ihr die Glieder schwer. Über sich sah sie sein dunkles, leidenschaftliches Gesicht, seine Lippen, die näher kamen. Sie sah ihn mit weit offenen Augen an, und in ihrem Blick war etwas, das ihn erbeben ließ. Aufstöhnend preßte er seine Lippen auf ihren Mund, küßte sie mit jäher, leidenschaftlicher, fast verzweifelter Glut, spürte dann, wie sie seinen Kuß erwiderte, zögernd zuerst, doch dann rückhaltlos sich selbst gebend, alles gebend, sich verströmend in einem einzigen leidenschaftlich flammenden Gefühl. »Linda!« Er sah sie an, die hellen, zwingenden Augen voller Glanz. »Ich liebe dich«, sagte er leise, verhalten, als schämte er sich, seine Gefühle laut auszusprechen. »Oh, Jerry!« Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Wange. Ich liebe dich, sang ihr Herz. Sie sprach es nicht aus, aber er las es in dem leuchtenden Blick, den sie ihm zuwandte. Blau waren ihre Augen, so blau, als hätte der Himmel seine ganze
Farbe in ihnen verloren. Und eine Zärtlichkeit schimmerte in ihren Augen, die ihn schwach und selig zugleich machte. »Mein Jerry!« Sie fuhr mit den Fingerspitzen durch sein wildgelocktes Haar, mußte ihn berühren, ihn streicheln, um zu wissen, daß er wirklich war, daß sie dieses Glück nicht träumte. »Dein für immer!« Er küßte die heißen roten Lippen voll bebender Zärtlichkeit. »Wir müssen mit Dean sprechen«, sagte er zwischen zwei Küssen. »Er darf sich keine Hoffnungen machen.« »Dean weiß, daß ich ihn nicht heiraten werde«, lächelte sie. »Er weiß es lange. Ich liebe ihn nicht.« »Aber mich liebst du, mich? Sag es doch!« drängte er. »Sehr! Ich liebe dich sehr, grenzenlos! Glaubst du mir nicht?« »Hm! Ich möchte gern. Wenn ich es auch nicht verstehe. Was findest du an mir? Dean sieht viel besser aus als ich, ist reicher, charmanter! Ein Schloß wie Merville kann ich dir nicht bieten.« »Du bist dumm, ich will doch gar kein Schloß«, lächelte sie. »Ich bin nie reich gewesen, und was man nicht hat, vermißt man auch nicht.« Sie schmiegte sich in seine Arme, fand es herrlich, einmal richtig mit jemandem reden zu können, mit jemandem, der ihr zuhörte, der sie liebte. »Das alles hier ist viel zu groß für mich, erschreckend groß«, fuhr sie heiter fort. »All die leeren Räume, die auf Menschen zu warten scheinen, die niemals kommen, jagen mir Angst ein. Manchmal, wenn ich wach liege, bilde ich mir ein, Schritte über mir zu hören. Dabei weiß ich genau, daß über mir niemand wohnt.« »Du sollst von jetzt ab an mich denken, dann hörst du auch keine Schritte«, sagte er zärtlich.
»Da!« Linda schrak zusammen, blickte sich um. »Hast du es nicht gehört, Jerry?« flüsterte sie angstvoll. »Ich fürchte, wir werden belauscht. Ich habe ganz deutlich ein Rascheln gehört.« »Du wirst ein wildes Kaninchen gehört haben«, beruhigte er sie. »Ein Kaninchen!« Sie lachte vor Erleichterung auf. »Davon gibt es hier sicher eine ganze Menge. Wer sollte auch sonst hier herumschleichen? Dean ist fortgefahren und Jessica…« »Wäscht sich die Haare«, lächelte Jerry. »Das ist eine Zeremonie, die sich über Stunden hinzieht. Du, Linda, ich finde, wir sollten unsere Zeit besser nutzen, als über wilde Kaninchen zu reden.« Linda fand das auch. Hand in Hand wanderten sie durch den Park. Es gab ja soviel zu erzählen, soviel, was sie noch nicht voneinander wußten. Endlich konnte Linda sich vom Herzen reden, was sie seit langem bedrückte. Sie sprach auch über Tante Abigail. »Ich fürchte, sie ist dem Alkohol verfallen«, sagte sie. »Erinnerst du dich an die Nacht, in der ich niedergeschlagen wurde? Ich wollte mir in der Bibliothek ein Buch holen, da sah ich Tante Abigail. Sie hatte sich eine Flasche Brandy geholt und mit nach oben genommen.« »Lady Merville und Brandy?« lachte Jerry erstaunt. »Das kann ich mir kaum vorstellen. Du mußt dich getäuscht haben, Linda! Vielleicht hast du das alles nur geträumt?« »Ich weiß doch, ob ich wache oder träume«, wehrte sie sich. »Ich ging dann nach oben, wollte in mein Zimmer, als ich diesen furchtbaren Schlag erhielt. Als ich Nancy davon erzählte, hat sie ganz eigenartig reagiert. Sie hat mir geraten, von hier wegzugehen. Kurz danach ist Nancy selber verschwunden. Und dann haben wir den Koffer mit ihren Sachen gefunden.«
»Woher willst du wissen, ob es Nancys Koffer war?« fragte er sanft. Er nahm ihr Gesicht zwischen seine großen, guten Hände und blickte sie forschend an. »Linda, hast du öfters solche Ängste und Vorstellungen?« »Wie meinst du das?« Er küßte sie zärtlich auf die Stirn. »Ich meine, du sollst nicht soviel grübeln. Wenn du wieder vor irgend etwas Angst hast, kommst du zu mir, und ich küsse dir deine Ängste fort.«
*
Linda hatte sich gleich nach dem Dinner zurückgezogen. Sie wollte mit ihren Gedanken allein sein. Es war unerträglich für sie, neben Jerry sitzen zu müssen und ihre Liebe nicht zeigen zu dürfen. Wie gern hätte sie ihre Hand in die seine geschoben, um zu fühlen, daß er ihr nahe war. Aber Jerry hatte gesagt, ihre Liebe sollte noch ein Geheimnis bleiben. »Wir müssen es Dean schonend beibringen. Es wird ein schwerer Schlag für ihn sein.« Sie hatte gleich das Licht gelöscht und versucht, Schlaf zu finden. Aber die Gedanken kreisten unablässig in ihrem Kopf. Besonders der Gedanke an Nancy verfolgte sie. Sie wollte Jerry bitten, insgeheim Nachforschungen anzustellen. Wenn Nancy bei ihrer Mutter war, dann war ja alles in Ordnung. Es konnte doch nicht schwierig sein, das herauszufinden. Stöhnend warf sie sich von einer Seite auf die andere. Ihr Kopf schmerzte von all den Gedanken. Dieser bohrende Schmerz hinter ihrer Schläfe war kaum zu ertragen. Ob sie nicht Dean bitten sollte, ihr eine Schmerztablette zu geben? Sonst würde sie bestimmt die halbe Nacht wachliegen.
Linda schlüpfte in ihren weißen Morgenmantel und trat auf den Flur. Die Männer mußten noch auf sein. Schon in der Halle hörte sie Stimmen. Sicher tranken sie noch ein Glas zusammen, ehe sie sich auch zur Ruhe begaben. Linda wollte gerade die Tür zur Bibliothek öffnen, als ihr Name fiel. Wie angewurzelt blieb sie stehen und lauschte. »Ich lasse mir Linda nicht wegnehmen!« hörte sie Deans hohe, ein wenig hysterische Stimme. »Ich lasse mir von dir nicht alles kaputtmachen.« »Gratuliere zu deinem Nachrichtendienst«, spottete Jerry. »Der funktioniert ja ausgezeichnet.« »Linda ist viel zu gutmütig und harmlos, um dein Spiel zu durchschauen!« rief Dean haßerfüllt. »Du bildest dir wohl ein, ich würde Jessica nehmen, wenn Linda sich für dich entscheidet.« »Wäre das nicht für alle Teile die beste Lösung?« meiste Jerry kühl. »Zwei glückliche Paare, ein Happy-End wie in einem Roman. Wir könnten eine Doppelhochzeit feiern.« »Versuche nicht, mir einzureden, daß du in Linda verliebt bist! Du willst ihr Geld, nichts anderes«, keuchte Dean. »Und du? Willst du mir vielleicht einreden, du willst Linda ihrer schönen blauen Augen wegen heiraten?« Jerry lachte spöttisch auf. »Liebe? Du weißt ja gar nicht, was das ist. In deinem Leben gibt es nur einen Menschen, den du liebst, und das bist du selber.« »Das ist nicht wahr. Ich liebte Linda, seit ich sie sah. Es war Liebe auf den ersten Blick.« »Wie bei Jessica«, sagte Jerry mit Kälte. »Jessica bekommt eine Mitgift, die sich sehen lassen kann. Aber im Vergleich zu Lindas Erbe ist das natürlich ein Pappenstiel.« »Woher weißt du von Lindas Erbe?«
»Von Jessica! Weißt du nicht, daß Jessica mir alles erzählt? Ich bin ihr Bruder, und sie hängt an mir.« »Ich habe es Jessica nur gesagt, um ihre Gefühle zu schonen«, verteidigte sich Dean. »Keine Frau verträgt es, einer anderen wegen verlassen zu werden. Wenn aber Geld im Spiel ist, viel Geld, so findet sie sich leichter ab. In Wirklichkeit besitzt Linda keinen Pfennig. Ich habe das alles nur erfunden. Weshalb auch sollte Lady Abigail ihr so viel Geld hinterlassen. Es gibt also keinen Grund für dich, Linda weiterhin nachzustellen. Am besten, du reist auf der Stelle ab.« »Das könnte dir so passen. Ich soll abreisen, damit du hier leichtes Spiel hast«, höhnte Jerry. »Ich kenne dich doch, Dean Merville! Du würdest nie eine Frau heiraten, die keinen Pfennig besitzt. Das kannst du dir gar nicht leisten, bei all den Schulden, die du hast.« Zitternd, außer sich vor Verzweiflung, löste Linda sich von der Tür. Sie mochte nichts mehr hören. Sie hatte bereits zuviel gehört. Keuchend, außer sich erreichte sie ihr Zimmer, ließ sich aufs Bett fallen und lag dort mit wildklopfendem Herzen, mit vibrierenden Nerven, die zum Zerreißen gespannt waren. Oh, Jerry, Jerry, wie konntest du mir das antun? schrie es in ihr. Du hast nicht von Liebe gesprochen, nur von Geld. Du denkst nur an Jessicas Glück. Mein Glück ist dir gleichgültig. Nur um Jessica glücklich zu sehen, nimmst du sogar das Opfer auf dich, mich zu heiraten. Wie Schuppen fiel es Linda plötzlich von den Augen. Jerry, wie unfreundlich, wie abweisend hatte er sich zuerst ihr gegenüber gezeigt. Dann mußte er von Jessica erfahren haben, daß sie eine reiche Erbin war. Daraufhin hatte er sich an sie herangemacht, ihr Liebe vorgegaukelt und im Grunde nur eiskalt sein Ziel verfolgt.
Das nennt man, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, durchzuckte es Linda in aufquellender Bitterkeit. Jerry bekam eine Frau mit viel Geld und Jessica ihren vergötterten Dean. Das alles hatte Dean mit seiner unheilvollen Lüge angerichtet. Oder war es keine Lüge? Wollte Tante Abigail ihr wirklich etwas vererben? Ich müßte sie selbst fragen, dachte Linda, scheute aber im gleichen Moment vor diesem Gedanken zurück. Schließlich war sie keine Erbschleicherin und wollte auch nicht dafür gehalten werden. Man mußte schon sehr wenig Zartgefühl besitzen, um solche Dinge wie Erbschaft einer Leidenden gegenüber zu erwähnen. Ich will ja auch gar nichts von ihr, dachte Linda todunglücklich. Wenn Jerry mich lieben würde, wie ich ihn liebe, mehr brauchte ich nicht. Oh, Jerry! Ihr Herz schmerzte, wenn sie an ihn dachte, war wund vor Schmerz und Enttäuschung. Sie hatte in seinen Augen Liebe gelesen. Konnten Augen lügen? Als er bei ihr war, da war alles gut, richtig und selbstverständlich gewesen. Konnte ihr eigenes Herz sich so getäuscht haben? Linda weinte. Sie fror vor innerer Kälte und Einsamkeit. Sie hatte geglaubt, einen Menschen gefunden zu haben, dem sie vertrauen konnte. Konnte sie Jerry jetzt noch vertrauen? Stunde um Stunde lag sie wach und konnte keinen Schlaf finden. Ein langgezogenes, qualvolles Stöhnen wurde laut, brach dann ganz plötzlich ab. Linda hielt den Atem an. Was ist das? dachte sie in panischer Angst. Da hat doch eben ein Mensch gestöhnt. Oder waren es wieder die wilden
Katzen? Nein, ich bin sicher, es war ein Mensch. Katzen schreien anders, sie schreien wie Kinder. Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet, dachte sie. Vielleicht war ich schon halb im Schlaf, ohne es zu merken. Sie war versucht, sich die Decke über die Ohren zu ziehen, um nichts mehr hören zu müssen. Da! Es traf sie wie ein Schlag. Wieder klang das entsetzliche Stöhnen auf. Sie lauschte mit wildpochendem Herzen, während ihr Schauer der Angst über den Rücken glitten. Tante Abigail, dachte sie plötzlich. Es kann nur Tante Abigail sein: Wenn ihr nun etwas passiert ist? Ich muß nachsehen. Ich kann nicht einfach liegenbleiben und tun, als hätte ich nichts gehört. Wenn es aber nicht Tante Abigail ist, dachte sie angstvoll. Wenn es nur ein Trick ist, mich hier aus dem Zimmer zu locken? Jetzt war es wieder still. Doch die Stille jetzt erschien Linda noch unerträglicher als das Stöhnen eben. Sie mußte einfach nachsehen, was mit Tante Abigail war. Ohne es wirklich zu wollen, stieg Linda aus dem Bett und schlüpfte in den Morgenmantel. Es ist wirklich albern von mir, solche Angst zu haben, dachte sie bebend. Hier schlafen doch alle, und wenn jemand stöhnt, dann nur ein Mensch, der in Not ist. Allen Mut zusammennehmend, ging sie auf den Balkon. Nur ein leiser Wind regte sich, fuhr ihr kühlend über die heiße Stirn, über die heißgeweinten brennenden Augen. Ich brauche ja nur eben nachzusehen, ob Tante Abigail schläft, sagte sich Linda. Dann gehe ich wieder zurück in mein Zimmer. Leise ging sie zwei Zimmer weiter, die leer standen, und kam dann bis zu Tante Abigails Balkontür. Sie stand weit offen, so
daß sie ungehindert hineinblicken konnte. Der matte Schein einer Wandlampe erhellte notdürftig den Raum. Ob Tante Abigail im Bett lag? Linda konnte es nicht sehen, der beigefarbene Seidenhimmel des Bettes war herabgelassen. Vorsichtig schlug sie den Bettvorhang ein wenig zur Seite. Nur schattenhaft nahm sie eine Gestalt wahr, einen Kopf, der seltsam bleich aus den Kissen leuchtete. »Tante Abigail?« hauchte Linda. »Geht es dir gut, Tante Abigail?« Nichts, keine Antwort, nicht der Hauch eines Atems war zu spüren. Von der regungslosen Gestalt ging etwas Erschreckendes aus. Der kalte Hauch des Todes. Eisige Angst durchströmte Linda. Am liebsten wäre sie auf der Stelle umgekehrt und geflohen. Doch irgend etwas zwang sie, sich tiefer über die Kranke zu neigen. Sie konnte doch nicht einfach weglaufen. Sie mußt wissen, was mit Tante Abigail… Linda versuchte, ihr ins Gesicht zu schauen und fuhr mit gellendem Aufschrei hoch. Sie hatte in das starre Antlitz der Schaufensterpuppe gesehen.
*
In panischem Entsetzen war Linda auf den Flur gelaufen. Dean mußte ihren Schrei gehört haben, denn er kam ihr entgegen, fing sie in seinen Armen auf. »Linda, Liebes! Was ist denn?« Sanft streichelte er ihren Rücken, preßte die haltlos Schluchzende zärtlich an sich. »Beruhige dich doch! Ich bin ja bei dir. Komm, wir gehen in mein Zimmer, sonst wecken wir noch die anderen auf.«
Liebevoll auf sie einredend führte er sie in einen großen Raum, der in zarten Pastellfarben gehalten war, die gut zu Deans lichtvoller Schönheit paßten. »Hattest du einen schlechten Traum?« Er führte sie zu der taubenblauen Couch und ließ sich mit ihr darauf nieder. »Erzähle es mir doch«, sagte er freundlich. »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Hier geschieht dir nichts.« »Dean! Dean, es war so schrecklich!« Sie hob das tränenüberströmte Gesicht zu ihm auf und starrte ihn an. »Tante Abigail, ich war bei ihr, in ihrem Zimmer.« »Mitten in der Nacht?« warf er verwundert ein. »Warum denn, um Himmels willen.« »Ich konnte nicht schlafen und hörte sie stöhnen«, berichtete Linda stockend. »Dann wollte ich nachsehen, ob ich ihr helfen kann. Ich ging zu ihr, neigte mich über ihr Bett und da, da…!« Sie stockte. Noch einmal überfiel sie mit aller Macht das Grauen, das sie gespürt hatte. »Dean!« Sie starrte ihn aus weiten, angsterfüllten Augen an. »Es war nicht Tante Abigail, die im Bett lag!« stieß sie bebend hervor. »Es war die Schaufensterpuppe!« »Mein Gott!« Für Sekunden spiegelte sein Gesicht fassungsloses Entsetzen wider. »Das ist doch nicht möglich«, sagte er tonlos. »Glaubst du mir nicht?« Ihre Blicke irrten über sein Gesicht. »Dean, du mußt mir glauben«, flehte sie verzweifelt. »Ich sage die Wahrheit. Laß uns zusammen hingehen und nachsehen.« »Beruhige dich erst mal. Du bist ja außer dir!« Mit einem hellen, sehr weichen Tuch putzte er ihr die Tränen ab, küßte ihr brüderlich die Stirn, stand dann entschlossen auf. »Warte, ich bringe dir etwas, das deine Nerven beruhigt.« Dean verschwand hinter einer Tür, die wahrscheinlich zum Bad führte.
Linda hatte sich so weit beruhigt, daß sie sich umsehen konnte. Sie war vorher noch nie in Deans Zimmer gewesen und war überrascht von der Eleganz und Kostbarkeit der Einrichtung, die eines Prinzen würdig gewesen wäre. Linda stand auf, um ein Portrait näher zu betrachten, und als sie nah davor stand, hatte sie das eigenartig beklemmende Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. »Gefällt dir das Bild?« Sie fuhr herum. Hinter ihr stand Dean, ein eigenartiges Lächeln im Gesicht. »Es ist ein Jugendbildnis meiner Stiefmutter«, meinte er heiter. »Die Ähnlichkeit mit dir ist frappierend. Geht es dir besser, Linda?« Sie nickte, ihr Blick fiel auf das Glas in seiner Hand. Es enthielt eine milchige, harmlos aussehende Flüssigkeit. »Was ist das?« »Ein harmloser Beruhigungssaft. Du wirst danach herrlich schlafen und keine bösen Träume mehr haben.« »Danke, du bist sehr lieb!« Linda nippte von dem Getränk. Es schmeckte überraschend gut. »Aber ich habe nicht geträumt, bestimmt nicht! Wir müssen uns jetzt um deine Mutter kümmern. Vielleicht geistert sie hilflos irgendwo im Schloß herum. Sie ist doch krank.« »Trink erst dein Glas aus!« Sanft führte er sie zu dem Sofa zurück, sah zu, wie sie das Glas leerte. »Du hast längst erkannt, wie es um Lady Abigails Krankheit bestellt ist?« fragte er traurig. Linda fühlte sich so leicht und unbeschwert, als hätte sie Flügel bekommen. Sie hatte das Gefühl, ihn trösten zu müssen. »Das kommt doch in den besten Familien vor«, sagte sie in leichtem Ton. »Dean, du solltest deine Mutter in eine Anstalt bringen. Vielleicht kann sie noch geheilt werden.«
»Ich habe lange mit mir gekämpft, ob ich es tun soll«, sagte Dean. »Aber ich fürchte, ich habe jetzt keine andere Wahl mehr. Es wird ja immer schlimmer mit ihr. Sie muß jetzt eine Entziehungskur machen.« »Das ist vernünftig«, stimmte Linda ihm zu. »Allein schafft man das nicht. Du, dein Getränk ist phantastisch. Ich fühle mich unheimlich gut. Was ist eigentlich darin?« »Mein Geheimnis«, lächelte Dean. »Ich habe es aus Kräutern hergeteilt, die eine Frau aus dem Dorf für mich sammelt. Möchtest du noch ein Glas?« »Gern!« sie strahlte ihn an. »Nett, daß du nicht mit mir schimpfst. Schließlich habe ich deine Nachtruhe gestört. Aber wo steht es eigentlich geschrieben, daß man jede Nacht schlafen muß! Man kann doch genauso gut mal gemütlich zusammen sitzen und plaudern. Oder ein Fest feiern. Ein Fest, mit Musik und Tanz!« Sie stand auf und machte einige übermütige Tanzschritte. »Ich tanze leidenschaftlich gern«, summte sie. »Weißt du, daß wir noch niemals zusammen getanzt haben?« »Das können wir gleich nachholen.« Dean trat an einen der Schränke, betätigte einige Knöpfe und Musik klang auf. »Play Bach!« »Meine Lieblingsmusik«, jubelte Linda. Dean faßte sie um die Taille, und sie legte ihm die Hände auf die Schultern. Lachend, ausgelassen schwangen sie herum. Linda hatte das Gefühl, zu schweben. Der Raum kreiste vor ihren Augen. Sie tanzte durch eine gläserne, bunte unwirkliche Welt mit Farben, die ihre Augen blendeten. »Dean, du tanzt göttlich«, flüsterte sie berauscht. »Manchmal kommst du mir wie ein junger Gott vor, Dean. Bei dir bin ich ein anderer Mensch. Wie verzaubert fühle ich mich. Ach, ich könnte immer so weitertanzen mit dir, die ganze Nacht.«
»Möchtest du nicht lieber mit Jerry tanzen?« fragte er sanft. »Du liebst ihn doch, nicht wahr?« »Ja, ich liebe Jerry«, sagte sie mit glücklichem Lachen. »Aber dich liebe ich auch, Dean! Ich liebe euch alle.« »Seid ihr wahnsinnig, solchen Lärm zu machen, mitten in der Nacht?« Jerrys zorniges Gesicht tauchte im Türspalt auf. Sein Blick fiel auf Linda, die selbstvergessen in Deans Armen lag, sich an ihn schmiegte. Seine Augen weiteten sich fassungslos. Linda stieß bei seinem Anblick einen entzückten Schrei aus. »Jerry, Liebling!« schrie sie und machte Miene, ihm um den Hals zu fallen. »Willst du nicht mit uns feiern? Es ist so lustig!« »Du bist ja betrunken!« Mit angewiderter Miene stieß er sie von sich, warf einen feindseligen Blick auf Dean. »Das hast du ja fein hingekriegt«, stieß er verächtlich hervor, wandte sich um und knallte die Tür hinter sich zu. »Was hat Jerry denn nur?« Linda starrte ihm entgeistert nach. »Du mußt jetzt auch schlafen«, sagte Dean fürsorglich. »Sonst hast du morgen einen schweren Kopf.« Er begleitete Linda in ihr Zimmer und deckte sie liebevoll zu. Einen Moment lang sah sie noch sein Gesicht über sich, verschwommen, wie in Nebel zerflossen. Dann sank sie in tiefen, traumlosen Schlaf wie in einen Abgrund.
*
Als Linda am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich sterbenselend. Sie hatte wahnsinnige Kopfschmerzen.
Als John kam und ihr das Frühstück brachte und dabei die Vorhänge öffnete, preßte sie wimmernd das Gesicht in die Kissen. Das helle Tageslicht stach schmerzhaft in ihre Augen. »Schließ die Vorhänge wieder«, bat sie matt. »Und nimm das Frühstück fort. Ich habe keinen Hunger.« »Möchten Sie lieber unten im Eßzimmer frühstücken, Miß?« fragte der Butler. »Nein, ich möchte noch schlafen!« »Aber es ist fast Mittag«, wandte John ein. »Bitte, geh jetzt, laß mich allein!« Linda wartete ungeduldig, bis er das Zimmer wieder verlassen hatte. Dann schloß sie erleichtert die Augen und versuchte weiterzuschlafen. Was war eigentlich in der Nacht passiert? versuchte sie sich zu erinnern. Ich muß fürchterliche Träume gehabt haben. Daher auch diese Kopfschmerzen. Dean, Dean war auch in meinem Traum, grübelte Linda. Und Tante Abigail. Sie lag in ihrem Bett und hatte sich in eine Schaufensterpuppe verwandelt. Was man sich doch für verrückte Sachen zusammenträumen kann! Es klopfte leise an die Tür. »Darf ich hereinkommen, Linda?« hörte sie Deans Stimme. »Ja«, seufzte sie. »John hat mir gesagt, daß du dich nicht wohlfühlst«, sagte Dean. »Hoffentlich bekommst du keine Grippe?« »Ich habe rasende Kopfschmerzen«, stöhnte sie. »Sei so lieb und bring mir eine Tablette.« »Ich will dir gern etwas gegen deine Kopfschmerzen bringen, aber keine von diesen schrecklichen Tabletten«, sagte er in sanft verweisendem Ton. »Sie nehmen nur den Schmerz für den Augenblick, aber heilen nicht. Mein Mittel ist viel besser.« »Ganz egal, was es ist«, sagte Linda seufzend, »Hauptsache es hilft. Wie geht es denn Tante Abigail?«
»Ich hoffe gut«, sagte Dean. »Auf dein Anraten hin habe ich sie heute morgen fortgebracht. Ich habe das beste Sanatorium ausgesucht, was es bei uns in dieser Hinsicht gibt. Es wird zwar ein irres Stück Geld kosten, Ma dort heilen zu lassen, aber was bedeutet schon Geld, wenn es um die Gesundheit eines Menschen geht.« Dean erhob sich. Sein schönes Gesicht wirkte entspannt und heiter, nur der Blick seiner Augen war eigenartig fern. Im Grunde war er wohl ein Träumer oder ein Phantast. »Ich hole dir jetzt dein Mittel«, sagte er freundlich. »Übrigens, Jerry ist ganz plötzlich abgereist. Es war ihm wohl zu eintönig hier. Schade, daß er seine Schwester nicht mitgenommen hat. Ich wäre viel lieber allein mit dir, Linda!« Er sagte noch etwas, aber Linda nahm es nicht mehr wahr. Seine Worte hatten sie mitten ins Herz getroffen. Jerry ist fort, konnte sie nur denken. Er ist fortgefahren, ohne sich von mir zu verabschieden. Lähmende Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Jerry war fort, wahrscheinlich für immer! Was habe ich denn erwartet? dachte sie in aufquellender Bitterkeit. Liebe? Jerry hat mich nie geliebt. Ich war für ihn nur ein Mittel zum Zweck, weiter nichts. Aber sie hatte ja noch Dean. Er war ihr Freund, er liebte sie. Er war da, wenn sie ihn brauchte. Er fuhr nicht einfach fort und ließ sie allein, wie Jerry. Wenn ich doch Dean lieben könnte, sagte sich Linda, wie einfach wäre dann alles. Warum nur mußte ich mein Herz an diesen falschen, verbrecherischen Jerry hängen, der mich im Stich läßt, wenn ich ihn brauche. Dean kam zurück. Sein schönes Gesicht leuchtete. Er setzte ihr ein Glas an die Lippen und sagte mit leiser, sanfter Stimme: »Gleich wirst du dich besser fühlen, liebste Linda! Du wirst
keine Schmerzen mehr haben, nichts mehr spüren, was dich bedrückt. Du wirst einfach nur glücklich sein.« Wie kann ich glücklich sein, ohne Jerry, dachte Linda. Doch sie nippte gehorsam an dem Glas, wenn sie auch nicht an Deans Wundermittel glaubte. In diesem Moment hätte sie wer weiß was getan, um den bohrenden Kopfschmerzen und den quälenden Gedanken zu entfliehen. Sie leerte das Glas in einem Zug. Gleich darauf fühlt sie sich besser. »Dean, du bist wirklich ein Zauberer!« sagte sie dann und ein glückliches Gefühl breitete sich in ihr aus. So frisch und neugeboren fühlte sie sich, daß sie die ganze Welt hätte umarmen können. Da sie das nicht konnte, begnügte sie sich mit Dean, umarmte und küßte ihn stürmisch und beteuerte, daß sie ihn wie einen Bruder liebe. »Nur wie einen Bruder?« meinte er bekümmert. »Ich hätte dir viel mehr zu geben.« »Ach, Dean, sei doch nicht traurig«, lächelte sie. »Du bist ein so lieber Mensch, und ich habe dich wirklich furchtbar gern. Aber mein Herz gehört nun mal Jerry, daran läßt sich nichts ändern.« »Aber Jerry ist fort«, wandte er ein. »Vielleicht kommt er niemals wieder.« »Wenn ich Jerry nicht bekomme, gut, dann ende ich eben als alte Jungfer. Komm, du! Mach nicht so böse Augen!« Sie tätschelte ihm liebevoll die Wange. »Du wirst eine andere finden, die besser zu dir paßt. Oder heirate doch Jessica. Sie liebt dich so, wie du es verdienst.« »Zwingen kann ich dich ja nicht«, würgte er hervor. »Reden wir nicht mehr darüber.« Dean trat ans Fenster und blickte hinaus. Er wandte ihr den Rücken zu. »Übrigens«, sprach er mit eigenartig flacher Stimme weiter, »dein kleiner gelber Wagen ist fertig. Doyle
hat es schließlich doch noch geschafft. Wenn du also spazieren fahren möchtest…!« »Oh, Dean, das ist eine gute Nachricht. Ich danke dir!« Mit einem Satz war sie aus dem Bett. Barfuß, im wallenden himmelblauen Neglige lief sie auf den Balkon. Ja, da stand »Yellow Bird« vor den Garagen. Und die Sonne schien warm. Es war ein herrlicher Tag. Es müßte ein Vergnügen sein, bei diesem herrlichen Wetter auf Entdeckungsreise zu gehen. Als sie ins Zimmer zurückkam, war Dean fort. Linda duschte und zog sich dann in Windeseile an. Sie fühlte sich blendend, war voller Tatendrang. Am liebsten hätte sie etwas ganz Verrücktes getan. »Mein Herz ist bei Jerry, mein Herz ist nicht hier«, sang sie laut und ausgelassen. »Warum, liebster Jerry, gingst du fort von mir.« Linda kicherte. »Ich bin ja eine richtige Dichterin«, sprach sie laut mit sich selber. Sie zog die geliebten Jeans an und darüber eine blauweißkarierte Bluse mit weißen Spitzen, die ihr bezaubernd stand. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, daß sie heute besonders gut aussah. Die Wangen rosig überhaucht, und die blauen Augen funkelten nur so vor Lebensfreude. Was brauchte sie noch? Die Schultertasche, etwas Geld. Jetzt konnte es losgehen. Aber wohin? Ich könnte Nancy besuchen, dachte sie. Nancy freut sich bestimmt. Ich werde Dean nach der Adresse fragen. Sie lief zu Deans Zimmer und klopfte an. Nichts, keine Antwort! Er mußte weggegangen sein. Oder hatte sie sein »Herein« überhört? Sie öffnete die Tür. »Dean?« rief sie probeweise. »Dean, bist du da?« Alles blieb still. Wahrscheinlich war Dean im Labor und arbeitete. Lindas Blick fiel auf das Bild. Fasziniert trat sie näher. Das bin doch ich, dachte sie. Wie kommt mein Bild
hierher in Deans Zimmer? Hat er mich heimlich aus dem Gedächtnis gemalt? Aber warum trage ich ein so altmodisches Kleid? Nein, das bin ich gar nicht. Das mußt Tante Abigail sein. Was haben die Jahre aus Tante Abigail gemacht. Ach, egal, ich will jetzt endlich fahren. Ausgelassen tanzte sie die Treppe hinunter, strauchelte, wäre fast gefallen, fing sich dann lachend wieder und fand das ungeheuer lustig. Erst im letzten Moment bemerkte sie Jessica im schwarzen Reitkostüm. Sie stand am Fußende der Treppe und starrte Linda aus schmalen Augen an.
*
»Was ist denn mit dir los?« fragte Jessica scharf. »Bist du schon am hellichten Tag betrunken?« »Betrunken?« lachte Linda. »Sei nicht dumm, Jessica. Ich bin nur lustig. Darf man denn nicht lustig sein hier? Oh, Jessi!« Sie fiel der Überraschten um den Hals und küßte sie auf die Wange. »Liebste Jessi, schau doch nicht so finster drein, wie der böse Eber da oben an der Wand!« lachte Linda. »Mir jagst du keine Angst ein. Weißt du was? Ich schenke dir Dean und Schloß Merville dazu. Aber laß uns doch Freundinnen sein.« »Ich brauche keine Geschenke!« Jessica stieß sie so heftig von sich, daß sie strauchelte und gegen das Treppengeländer taumelte. »Man kann nur das verschenken, was einem gehört«, stieß sie haßerfüllt hervor. »Was bist du doch für eine Närrin, Linda Styler!« fuhr sie höhnisch fort. »Bildest du dir wirklich ein, Dean wäre in dich verliebt?« Sie lachte so verächtlich, daß es Linda eiskalt über den Rücken lief.
»Dean liebt mich und wird mich immer lieben!« stieß Jessica in bösem Triumph hervor. »Dich will er doch nur deines Vermögens wegen heiraten.« »Tatsächlich?« lachte Linda, bekam vor lauter Lachen Tränen in den Augen. »Ihr haltet mich wohl alle für eine amerikanische Dollarprinzessin, wie? Dabei bin ich arm wie eine Kirchenmaus.« »Stell dich nicht dumm!« Jessica starrte sie mit flammenden Augen an. »Sag nur, daß du nichts von Tante Abigails Testament weißt! Sie hat dich zu ihrer Haupterbin eingesetzt.« »Nein, Jessica, das ist nicht wahr«, widersprach Linda heiter. »Warum auch sollte Tante Abigail so etwas tun? Sie kennt mich doch kaum. Dean hat das alles erfunden, um einen zwingenden Grund zu haben, mit dir Schluß zu machen. Jessi, sei mir nicht böse. Es tut mir von Herzen leid, daß ich dir das sagen muß, aber es ist die Wahrheit.« »Warum dann?« Jessicas schönes Gesicht verzerrte sich. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Ihr dunkler Blick irrte über Lindas Züge. »Was hast du mit ihm gemacht? Hast du ihn verhext? Für Dean gab es bisher nur mich. Er hat andere Mädchen nicht mal angesehen. Bis du gekommen bist und alles zwischen uns kaputt gemacht hast. Warum bist du überhaupt hierhergekommen?« schrie sie in jäher Verzweiflung aus. »Warum konntest du nicht bleiben, wo du warst?« »Tante Abigail hat mich gebeten, zu ihr zu kommen«, sagte Linda. »Jessi, begreif doch endlich, daß ich nichts mit Dean zu tun haben will.« »Das sagst du mir ins Gesicht, mir?« schrie Jessi mit kippender Stimme. »Du bildest dir wohl ein, ich wüßte nicht, was in der Nacht passiert ist? Jerry hat mir alles erzählt. Du warst in Deans Zimmer, lagst in seinen Armen und hast dich von ihm küssen lassen. Schon wegen Jerry könnte ich dich
hassen. Wie konntest du ihm Liebe vorspielen und ihm das antun? Dean genügt dir nicht. Du mußtest auch noch Jerry den Kopf verdrehen.« »Sei endlich still!« Linda preßte die Hände gegen die Ohren. Plötzlich verschwamm Jessicas haßerfülltes Gesicht vor ihren Augen. Sie hatte das entsetzliche Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der Raum drehte sich vor ihren Augen. Dann sah sie den Eber. Die kleinen, tückisch funkelnden Augen starrten sie an. In seinem Blick lag nackte Mordlust. Er ist gar nicht tot, dachte Linda, von Grauen übermannt. Er will mich umbringen.
*
Linda lief und lief. Sie hörte hinter sich das wütende Schnaufen des Ebers, das näher kam, immer näher. Verzweifelt versuchte sie, schneller zu laufen. Aber die Beine waren ihr schwer wie Blei. Sie hatte das Gefühl, förmlich am Boden zu kleben. Von Angst getrieben hastete sie weiter. Doch sie kam kaum vorwärst. Als sie sich umwandte, erstarrte alles in ihr vor Grauen. Das Untier war nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Sie sah das tückische Glitzern der kleinen Augen, die mächtigen Hauer blitzten bedrohlich. In rasender Schnelligkeit kam der Koloß auf sie zu. Linda stand vor Entsetzen versteinert, unfähig sich zu bewegen. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, brachte aber keinen Ton hervor. Dann spürte sie noch, wie sie zu Boden geschleudert wurde. Ein furchtbarer Schmerz durchraste ihren Körper. Das ist der Tod, dachte sie noch. Dann dachte sie gar nichts mehr.
Linda erwachte schweißgebadet. Sie zitterte am ganzen Körper. Noch immer klang der Schrecken des Traumes in ihr nach. Ein furchtbarer Traum, dachte sie schaudernd. Gut, daß ich wach geworden bin. Noch immer ganz verwirrt, richtete sie sich auf. Ihr Kopf schmerzte, und ihre Kehle fühlte sich wund und trocken an. Im Zimmer war es dunkel. Es mußte tief in der Nacht sein. Die Balkontür stand offen. Die weißen Voilegardinen blähten sich im Wind wie die Segel eines Schiffes. Ruft da nicht jemand? Sie fuhr hoch, hielt den Atem an und lauschte. Fern hörte sie den klagenden Schrei der Möwen. Sie hörte das Donnern der Brandung. Es mußte jetzt Flut sein. Dann plötzlich – ein Schrei wie in höchster Not. »Linda! Linda!« Jemand rief nach ihr. Es war eine Frauenstimme. Nein! dachte Linda in jäher Panik. Ich bilde mir das nur ein. Wer sollte nach mir rufen, mitten in der Nacht? Nein, ich träume noch. Ich werde nicht aufstehen. Ganz sicher werde ich nicht aufstehen, um nachzusehen. Wenn wirklich jemand nach mir ruft, ist es eine Falle. Wimmernd preßte sie die Hände gegen die Ohren, um nichts mehr hören zu müssen. Doch der Schrei klang in ihr nach, jagte ihr Schauer der Angst über den Rücken. Sie konnte es nicht länger ertragen. Dean, dachte sie. Nur Dean kann mir helfen. Sie warf sich den Morgenmantel über, lief mit zitternden Knien zu seinem Zimmer und klopfte. »Dean!« flüsterte sie angstvoll. »Dean, darf ich hereinkommen?« Ohne seine Antwort abzuwarten, klinkte sie die Tür auf, tastete nach dem Lichtschalter. Die Deckenleuchte flammte auf.
»Dean, sei mir nicht böse, wenn ich dich geweckt habe«, flüsterte Linda. »Aber ich…!« Sie blickte zum Bett hin und stellte befremdet fest, daß es leer war. Dean war nicht im Zimmer. Linda schloß die Tür. Ich werde auf Dean warten, dachte sie. Irgendwann muß er ja kommen. Wo mag er nur sein. Ob er jetzt noch arbeitet, mitten in der Nacht? Linda war jetzt hellwach. Sie hatte auch keine Angst mehr. Sie trat ans Fenster und öffnete die tiefblauen Samtvorhänge einen Spalt. Im Westturm blinkte Licht. Also war Dean in seinem Labor und arbeitete. Langsam wanderte Linda durch den Raum. Sie war barfuß, aber der weiche blausilberne Teppich fühlte sich angenehm warm unter ihren Fußsohlen an. Die schreckliche Szene mit Jessica fiel ihr plötzlich ein. Habe ich sie auch nur geträumt? Was ist danach passiert? Ich bin wohl ohnmächtig geworden. Aber wieso eigentlich? Vorher fühlte ich mich doch ausgezeichnet. Ich fühlte mich so wohl, daß ich spazierenfahren wollte. Irgend etwas stimmt nicht mit mir, dachte Linda in jäher Panik. Was ist eigentlich geschehen. Ich muß versuchen, mich zu erinnern. Ich muß versuchen, Klarheit in meine Gedanken zu bekommen, sonst werde ich noch wahnsinnig. Ich weiß noch, ich fühlte mich miserabel, erinnerte sie sich schwerfällig. Dann gab Dean mir etwas zu trinken. Sein berühmtes Wundermittel. Aber es half. Ich fühlte mich mit einem Schlag besser, wie berauscht fühlte ich mich. »Bist du betrunken, am hellichten Tag?« hörte sie Jessicas Stimme. Linda stand wie erstarrt. Die Gedanken arbeiteten fieberhaft hinter ihrer Stirn. Was war Traum, was Wirklichkeit? Sie wußte es nicht. Dean mußte ihr etwas gegeben haben, was das
Erinnerungsvermögen auslöschte und euphorische Stimmung hervorrief. Er will mir seinen Willen aufzwingen, erkannte Linda in plötzlicher Klarheit. Was hat er mir gegeben, Rauschgift? Bruchstückweise kam die Erinnerung zurück. Sie sah Jessicas verzerrtes Gesicht, hörte ihre Stimme, haßerfüllt, außer sich. »Dean will nur dein Erbe!« schrie Jessica. »Lady Abigail hat dich zu ihrer Haupterbin gemacht.« Und Jerry, Jerry war fortgegangen, weil er sie in Deans Armen fand, er glaubte sich von ihr verraten, betrogen. Ich muß wissen, was Wahrheit ist und was Lüge, dachte Linda. Wenn Tante Abigail wirklich ein Testament zu meinen Gunsten gemacht hat, so kann es nur hier sein, in Deans Zimmer. Lindas Blicke irrten durch den Raum, blieben an dem Portrait Lady Abigails haften. Warum hängt das Bild gerade dort, über der Vitrine, dachte sie. Über dem Marmorkamin würde es viel besser aussehen. Es mußte auch früher dort gehangen haben. Über dem Kamin war ganz deutlich ein heller rechteckiger Fleck. Linda trat näher an das Bild heran, schob es ein wenig beiseite und stellte fest, daß die Wand dahinter kaum verblichen war. Das Bild konnte erst kurze Zeit dort hängen. Vorsichtig griff sie mit der Hand hinter den Rahmen, tastete die Wand ab und spürte eine Unebenheit. Ein Safe! durchzuckte es sie. Hier muß ich dem Geheimnis auf die Spur kommen. Wenn Dean nichts zu verbergen hätte, hätte er nicht das Bild an einen anderen Platz gehängt. Linda spürte, wie ihr Herz schmerzhaft zu klopfen begann. Wieder überflutete sie Angst. Wenn jemand mich entdeckt, dachte sie. Ich habe kein Recht, hier herumzuschnüffeln. Sie eilte zum Fenster und stellte fest, daß im Westturm noch immer Licht brannte.
Von Dean hatte sie also keine Überraschung zu erwarten. Vorsichtig schob Linda einen Stuhl neben die Vitrine und kletterte hinauf. Sie schob das Bild ein Stück beiseite. Da war tatsächlich eine Tür, etwa einen halben Quadratmeter groß. Doch um die Tür zu öffnen, mußte sie das Bild abnehmen. Es war ziemlich schwer. Linda brauchte alle Kraft, um es unbeschädigt auf den Boden zu stellen. Alles in ihr fieberte jetzt vor Erregung. An der Seidentapete war kaum etwas zu sehen, nur eine quadratische Einbuchtung, etwas kleiner als das Format des Bildes. Sie tastete mit den Fingerspitzen darüber, klopfte dagegen. Nichts, rührte sich. Doch sie war sicher, daß eine kleine Tür in die Wand eingelassen war. Wenn sie dagegenklopfte, klang es hohl. Doch wie konnte man die Tür öffnen? Mit den Fingerspitzen fuhr sie über die kaum sichtbare Einkerbung, spürte plötzlich einen Widerstand, etwas wie einen kleinen Hebel. Als sie dagegendrückte, sprang wie durch Zauberhand die Tür auf, so schnell, daß sie erschrocken zurückzuckte. Wie rasend ging jetzt ihr Herzschlag. Die Erregung machte ihr die Kehle eng. Doch sie riß sich zusammen, achtete nicht weiter darauf. Ihre Hand glitt in die dunkle, schmale Öffnung der Tür, und plötzlich hielt sie ein Bündel Briefe in der Hand. Sie waren mit einem kleinen Seidenband zusammengebunden. Liebesbriefe, dachte Linda enttäuscht. Mein Gott, dazu habe ich mir all diese Mühe gemacht? Plötzlich glaubte sie, Schritte zu hören. In fliegender Hast schloß sie das Türchen, hängte das Bild davor und barg die Briefe im Ausschnitt ihres Morgenmantels. »Linda!« Überrascht blieb Dean auf der Schwelle des Zimmers stehen. Er trug einen weißen Arztkittel. Sein schönes
Gesicht war bleich, von Müdigkeit gezeichnet. »Was machst du hier, mitten in der Nacht?« preßte er verstört hervor. »Ich habe auf dich gewartet.« »Ja?« Mißtrauisch fragend glitt sein Blick über ihre Züge. »Kannst du nicht schlafen?« »Ich hatte furchtbare Alpträume«, sagte Linda wahrheitsgemäß. »Ich wollte dich bitten, mir von deinem Schlafmittel zu geben. Neulich hat es mir so wunderbar geholfen.« »Gern!« Seine Gesichtszüge entspannten sich. Dean lächelte. »Aber willst du nicht lieber zu Bett gehen? Ich bringe es dir gleich.« »Hoffentlich macht es dir nicht zuviel Mühe?« »Für dich ist mir keine Mühe zu groß«, meinte er charmant. »Das weißt du doch, Linda! Wenn du doch endlich einsehen würdest, wie gut ich es mit dir meine«, fuhr er mit monotoner Stimme fort. »Wenn es einen Menschen auf der Welt gibt, der dich glücklich machen kann, so bin ich es.« Seine dunklen Augen flammten auf. Ein fanatisches Feuer brannte in ihnen. »Warum wehrst du dich noch immer gegen ein Gefühl, das stärker ist als dein Wille?« sagte er sanft. »Warum willst du nicht einsehen, daß du zu mir gehörst? Das Schicksal hat dich hierhergeführt, damit du mich findest. Willst du dich gegen das Schicksal auflehnen?« Er ist wahnsinnig, durchzuckte es Linda. Und ich bin allein mit ihm. Sie versuchte, ihr Entsetzen hinter einem Lächeln zu verbergen. Rückwärts näherte sie sich der Tür. »Geh jetzt auch schlafen«, flüsterte sie heiser. »Du siehst sehr müde aus, Dean. Ich glaube, ich kann auch ohne ein Mittel Schlaf finden. Gute Nacht.« Sie stürzte auf den Flur, hatte das entsetzliche Gefühl, daß tausend Hände nach ihr griffen. Endlich erreichte sie ihr Zimmer, drehte zweimal den Schüssel im Schloß, fiel dann auf
ihr Bett und lag dort mit klopfendem Herzen und hämmernden Pulsen. Etwas drückte schmerzhaft gegen ihre Brust. Die Briefe. Wenn Dean entdeckt, daß sie fehlen, bin ich verloren, dachte Linda in wachsendem Entsetzen. Sie wagte nicht, Licht zu machen. Mit pochendem Herzen lauschte sie auf ein Geräusch. Linda nahm das Päckchen und steckte es unter die Matratze. Sie schlüpfte unter die Bettdecke und streckte sich aus. Das kühle Linnen tat ihrer Haut gut. Langsam beruhigten sich ihre flatternden Nerven. Wenn ein Testament existiert, muß es dort hinter dem Bild verborgen sein, überlegte sie. Sie nahm sich vor, ein anderes Mal nachzusehen. Irgend etwas stimmt nicht mit den Menschen hier. Ich weiß nur noch nicht was. Aber herausfinden werde ich es. Da bin ich sicher. Linda löschte das Licht. Sie wollte jetzt endlich schlafen. Morgen würde sie die Briefe zurückbringen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Sie schloß die Augen und versuchte, einzuschlafen. Es war jetzt sehr still. Nur die üblichen Nachtgeräusche waren zu hören. Trotzdem hatte Linda plötzlich das beklemmende Gefühl, nicht allein im Zimmer zu sein. Sie ahnte es mehr, als sie es wahrnahm. Da mußte ein Mensch sein, ganz in ihrer Nähe. Sie spürte einen fremden Atem. Grauen breitete sich in ihr aus. Vergebens kämpfte sie gegen die würgende Angst an, die in ihr hochstieg. Sie blickte zum Fenster hin und sah, daß sich der Samtvorhang bewegte. Jemand mußte hinter dem Vorhang stehen. Entsetzt fuhr sie hoch. »Ist da jemand?« flüsterte sie heiser. Wie gebannt starrte sie zum Fenster hin, und plötzlich wuchs eine dunkle Gestalt vor ihr auf. Sie wollte schreien, ihr ganzes
Entsetzen, ihre Angst hinausschreien. Da preßte sich eine kräftige Hand auf ihren Mund und nahm ihr den Atem.
*
»Still! Sei um Himmels willen still!« Sie erkannte Jerrys Stimme. »Niemand soll erfahren, daß ich hier bin.« »Jerry!« Linda schluchzte vor Erleichterung auf. »Oh, Jerry, bist du es wirklich? Du hast mir einen Todesschreck eingejagt.« »Das tut mir leid!« Er schloß sie fest in die Arme, streichelte ihren Rücken, bis sich das Zittern ihrer Glieder gelegt hatte. »Es ging nicht anders, Liebste«, flüsterte er. »Ich mußte heimlich kommen. Ich mußte mich verstecken, weil ich befürchtete, Dean würde dich vielleicht in dein Zimmer begleiten.« »Ich fürchtete schon, ich würde dich niemals wiedersehen«, wisperte sie. »Ich dachte, du hättest mich verlassen, für immer.« »Das hatte ich auch vor«, sagte er rauh. »Ich war schrecklich wütend, als ich dich mit Dean erwischte. In dem Moment habe ich geglaubt, du hättest nur mit mir gespielt. Ich wollte dich niemals wiedersehen.« »Du weißt doch, daß ich nur dich liebe. Was war denn mit Dean und mir? Sag es mir doch. Ich erinnere mich nicht mehr.« »Ich hätte gleich wissen müssen, daß irgend etwas nicht stimmt«, sagte er leise. »Du warst so ganz anders in der Nacht, gar nicht mehr du selber. Linda, hat Dean dir damals etwas gegeben, ein Rauschmittel vielleicht?«
»Er gibt mir etwas gegen meine Kopfschmerzen«, sagte Linda. »Danach fühlte ich mich immer besonders gut. Wie berauscht fühle ich mich…« »Etwas Ähnliches habe ich mir gedacht«, sagte er grimmig. »Ich habe Dean unterschätzt. Er ist weitaus gefährlicher, als ich geglaubt habe!« »Dean und gefährlich?« Linda war versucht zu lachen. »Dean ist der liebenswürdigste Mensch, den ich kenne, außer dir natürlich«, scherzte sie verhalten. »Ich wollte nach Hause fahren«, sagte Jerry. »Ich hatte einfach genug von alldem hier. Es war ein blinder, vielleicht auch glücklicher Zufall, daß ich unterwegs Nancys Bruder traf. Er wollte zum Schloß und Nancy holen, weil ihre todkranke Mutter nach ihr verlangte.« »Aber Nancy müßte doch längst zu Hause sein«, meinte Linda befremdet. »Du sagst es«, antwortete er düster. »Aber Nancy ist nie zu Hause angekommen!« »Glaubst du, es ist ihr etwas passiert?« fragte sie ahnungsvoll. »Ich fürchte, ja!« »Oh, Jerry, erinnerst du dich noch an den Koffer, den Jessica gefunden hat?« »Ich denke die ganze Zeit daran.« »Ob Nancy sich ins Meer gestürzt hat?« wisperte Linda bebend. »Ich kann es kaum glauben. So etwas traue ich ihr nicht zu. Welchen Grund sollte sie auch gehabt haben?« »Freiwillig hat sie sich ganz sicher nicht ins Meer gestürzt«, sagte Jerry erbittert. »Da wird wohl jemand nachgeholfen haben, der allen Grund hatte, daß die arme Nancy verschwand.«
Linda erschauerte. »Sag nicht so schreckliche Sachen. Du machst mir Angst. Wer sollte ein Interesse daran haben, die arme kleine Nancy umzubringen?« »Vielleicht wußte sie zuviel?« »Oh, Jerry! All das ist so furchtbar! Warum gehen wir nicht einfach fort von hier?« »Nichts wäre mir lieber. Aber wir können Jessica nicht allein lassen. Liebling, warte noch ein paar Tage, bis sich alles aufgeklärt hat. Wir müssen einfach herausbekommen, was hinter allem steckt.« »Das Testament der Lady Abigail«, flüsterte Linda. »Jerry, glaubst du, daß es existiert?« »Ich glaube, daß dieses Testament der Schlüssel zum Geheimnis ist«, sagte er bedeutungsvoll. »Linda, ich will versuchen, mit Lady Merville selber zu sprechen.« »Das kannst du nicht. Dean hat sie fortgebracht, in ein Sanatorium.« »Weißt du, in welches?« fragte er erregt. »Nein! Aber ich kann ihn ja fragen.« »Eigenartig, daß Dean alles hinter unserem Rücken arrangiert hat«, meinte Jerry nachdenklich. »Er schämte sich wohl seiner Stiefmutter«, sagte Linda. »Niemand sollte erfahren, in welchem Zustand sie ist. Ich selber habe ihm geraten, Lady Abigail zu einer Entziehungskur in ein Sanatorium zu schicken.« »Hoffentlich kann man ihr dort helfen.« Jerry schloß sie zärtlich in die Arme. »Ich muß jetzt gehen, Linda-Liebling! Ich werde mich irgendwo im Schloß verbergen. Zimmer gibt es ja genug. Aber bitte, verrate niemandem, daß ich hier bin. Ich habe meine Gründe dafür.« »Oh, Jerry, jetzt, wo ich weiß, daß du in der Nähe bist, geht es mir bedeutend besser«, flüsterte sie.
Auch Jerry konnte sich nur schwer von ihr lösen. Er küßte sie, legte in diesen Kuß all die brennende Liebe, die ihn durchströmte und schwor sich in diesem Moment alles zu tun, um Linda glücklich zu machen. Jerry verschwand über den Balkon. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie Jerry nichts von den Briefen erzählt hatte. Nun, sie werden nicht wichtig sein, beruhigte sie sich. Aber wenn sie unwichtig sind, warum hat Dean sie dann so sorgfältig versteckt? Unruhe stieg in Linda auf. Mit einem Mal glaubte sie, nicht schlafen zu können, wenn sie nur wüßte, von wem die Briefe waren. Sie machte Licht und zog das schmale Bündel unter der Matratze hervor. Linda blickte auf die Adresse und stellte fest, daß die Briefe an Lady Abigail gerichtet waren. Als sie auf den Absender blickte, weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen. »Ann-Mary Styler«, las sie in wachsender Erregung. Die Briefe waren von ihrer Mutter.
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Jetzt hatte Linda keine Hemmungen mehr, die Briefe zu lesen. Ma wird mir verzeihen, dachte sie. Ich verstehe nur nicht, warum sie all die Jahre behauptet hat, keinen Kontakt mit ihrer Schwester Abigail zu haben? Voller Spannung entfaltete Linda die hellblauen Briefbögen, las einen Brief nach dem anderen und wunderte sich, daß alle Briefe nur ein Thema hatten, sie selber. Welch übertriebener Mutterstolz, dachte sie belustigt. Doch je länger sie las, desto merkwürdiger kam es ihr vor. Die Briefe waren fast eine Biographie ihres Lebens. Noch eine
Besonderheit fiel Linda auf. Alle Briefe trugen das Datum ihres Geburtstages, den zwölften Mai. Ein Brief für jedes Jahr. Linda las den Brief, in dem sie sechzehn Jahre alt geworden war. Linda ist jetzt eine junge Dame geworden, stand dort in der ruhigen, gleichmäßigen Schrift ihrer Mutter. Sie wird Dir, liebste Abigail, mit jedem Tag ähnlicher. Wie sehr fühle ich mit Dir, daß Dir in deiner Ehe Kinder versagt blieben. Aber bitte, betrachte es nicht als eine Strafe des Himmels. Ich allein weiß, welches Opfer es Dich gekostet hat, auf das Glück verzichten zu müssen, Deiner Tochter Mutter zu sein. Lord Merville hätte doch nie das Kind eines anderen Mannes bei sich geduldet, und Linda hätte sich in dieser vergifteten Atmosphäre von Haß und Eifersucht niemals zu diesem prächtigen Menschenkind entwickelt, zu dem sie nun geworden ist. Linda ließ den Briefbogen sinken. Sie spürte, wie ihr Herz in schnellen Schlägen zu klopfen begann. Die Erregung machte ihr die Kehle eng. Langsam wurde ihr klar, was das alles zu bedeuten hatte, und diese Erkenntnis erschütterte sie zutiefst. Sie war Lady Abigails leibliche Tochter.
*
»Du siehst elend aus«, sagte Jessica beim Frühstück. »Ich habe schlecht geschlafen«, murmelte Linda abwesend. Sie fühlte sich furchtbar. Dean weiß alles, mußte sie immerzu denken. Warum hat er mir nie etwas gesagt? Als sie Schritte hörte, hielt sie den Atem an. Ihre Nerven zitterten vor Erregung.
Dean, dachte sie erschrocken. Wenn er gemerkt hat, daß die Briefe fehlen…? »Darf ich abräumen?« erklang Johns Stimme. Linda stieß einen erleichterten Seufzer aus. Es ist John, nicht Dean, dachte sie. Eine kleine Galgenfrist bleibt mir noch. Vielleicht gelingt es mir nachher, die Briefe unbemerkt zurückzubringen. Dann muß ich mit Dean sprechen. Ich muß ihn dazu bringen, mir freiwillig alles zu erzählen. Lady Abigail meine leibliche Mutter? Noch immer hatte sie sich mit der Tatsache nicht abgefunden. Alles in ihr sträubte sich gegen diesen Gedanken. Vergebens bemühte sie sich, für die arme Person, die dem Trunk verfallen war, ein Gefühl der Liebe aufzubringen. Doch wenn sie ehrlich war, mußte sie sich eingestehen, daß diese Lady Abigail ihr nicht mal sympathisch war. Linda schämte sich deswegen ein bißchen. Sie nahm sich vor, doppelt freundlich gegen die Lady zu sein und alles zu tun, um sie wieder gesund zu machen. Dieser Entschluß gab ihr Kraft. Ich werde Dean um ihre Adresse bitten, nahm sie sich vor. Unter dem Vorwand Kopfschmerzen zu haben, entfernte sie sich von Jessica und lief auf ihr Zimmer. Hastig barg sie das Bündel Briefe unter der Bluse und stand dann herzklopfend vor Deans Tür. Sie hatte sich vorgenommen, Dean unter einem Vorwand aus dem Zimmer zu schicken und die Briefe dann schnell an ihren Platz zu legen. Doch auf ihr Pochen antwortete niemand. Sie trat ein und stellte fest, daß Dean nicht hier war. Erleichtert verstaute sie die Briefe, stellte fest, daß dort noch andere Papiere lagen. Sie hatte jetzt nicht die Nervenkraft, sie zu lesen. Sie wollte erst mit Tante Abigail sprechen.
Dean wird ausgeritten sein, dachte sie. Vielleicht ist er auch in seinem Labor. Sie lief zuerst zu den Ställen und sah, daß keines der Pferde fehlte. Nun, dann würde sie Dean bestimmt im Westturm finden. Als Linda die dunkle schwere Eisentür des Westturms betrachtet hatte, stieg Unbehagen in ihr auf. Eine innere Stimme warnte sie, weiterzugehen. Dieses seltsame Labor jagte ihr Angst ein. Warum wartete sie nicht einfach, bis Dean ins Schloß kam? Mein Gott, ich benehme mich wirklich zu albern, wies Linda sich zurecht. Was soll mir schon passieren? Tapfer rang sie ihre Angst nieder und öffnete die Tür. Dumpfer Modergeruch schlug ihr entgegen. Im Halbdunkeln versuchte sie die Tür zu Deans Labor zu entdecken. Wenn sie abgeschlossen war, wollte sie sofort wieder gehen. Doch die Klinke gab unter ihren Händen nach. Mit leisem Knarren öffnete sich die Tür. Linda stand in Deans Sprechzimmer. Niemand war da, keine Spur von Dean, doch die Tür zum Labor war nur angelehnt. Wahrscheinlich experimentierte Dean dort herum. Sie stieß die Tür weit auf. »Dean?« rief sie probeweise. »Dean, bist du da?« Nur das gespenstische Zischen und Brodeln war zu hören. Aus einem bauchigen Glasbehälter stieg bläulicher Dampf auf. In einem schmalen Reagenzglas brodelte es giftgrün. Eine unheimliche Szenerie, dachte Linda. Wie gebannt hingen ihre Blicke an einem großen Heizkessel, in dem eine Uhr tickte. Der rote Zeiger der Uhr kletterte langsam aber stetig höher, zeigte zweihundert Grad an. Sie wandte sich um, als plötzlich ein anderer, entsetzlicher Laut an ihr Ohr drang: Das langgezogene Stöhnen eines Menschen.
Sekundenlang stand Linda wie erstarrt, hörte, wie das Stöhnen abebbte und dann erstarb. War es nicht damals ähnlich gewesen? durchzuckte es sie. »Es sind die alten Rohre«, hatte Dean gesagt. Wenn es jetzt aber Dean selber war? Lindas Blicke irrten zu der schmalen Tür, von der aus das Stöhnen gekommen war. Es war doch möglich, daß Dean etwas zugestoßen war. Vielleicht lag er hilflos hinter der Tür und wartete, daß jemand kam. Mühsam, mit aller Kraft rang Linda ihre Angst nieder. Sie riß sich zusammen und ging auf die Tür zu, obwohl alles in ihr vor Angst bebte. Langsam öffnete sie die Tür und blickte in einen dunklen Raum, von dem Dean behauptet hatte, daß es ein Abstellraum war. Dean hat die Wahrheit gesagt, dachte Linda im ersten Moment. Sie wollte sich zurückziehen, als sie ein leises Stöhnen hörte. Entsetzt wollte sie sich umwenden, fliehen, als sie hörte, wie jemand ihren Namen flüsterte.
*
Nein, dachte Linda, versteinert vor Entsetzen. Ich träume nur. Ich bilde mir das alles nur ein. Ihre Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen, gewöhnten sich langsam daran. Undeutlich nahm sie einige Möbelstücke wahr, ein Schrank, ein Tisch, ein Spülbecken, ein Bett, und auf dem Bett regte sich etwas. »Linda!« hauchte die fremde matte Stimme. »Linda!«
»Wer sind Sie?« Zitternd vor Angst neigte Linda sich über die Gestalt, über das Gesicht, das bleich aus den Kissen leuchtete. Mehr konnte sie nicht erkennen. Es war zu dunkel. Dieser Raum mußte doch ein Fenster haben! Lindas Blicke irrten umher, stießen auf ein schwarzes Tuch, sie ging darauf zu und riß daran, zerrte in jäher Panik daran, bis es zu Boden fiel. Helligkeit blendete sie. Instinktiv deckte sie die Hände vor die Augen. Als sie sie fortnahm, sah sie ein schmales, vergittertes Fenster. Linda blickte sich in dem kleinen Raum um. Er sieht aus wie ein Krankenzimmer, durchzuckte es sie. Selbst der eigenartige Geruch nach Äther und Desinfektionsmitteln fehlte nicht. Ein Krankenzimmer mit einem Patienten! Grauen überflutete sie. Jerry, dachte sie. Jerry, wo bist du? Warum hilfst du mir nicht? Vom Bett her kam ein klagender Laut. Etwas rührte sich in ihrem Herzen. Mitleid wallte in ihr auf. Hier war ein Mensch, der sie brauchte, der Hilfe nötiger hatte als sie selber. »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte sie stockend, neigte sich über das bleiche schattenhafte Gesicht und hatte im gleichen Augenblick das merkwürdige Gefühl, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. »Linda!« Die Kranke bewegte mühsam die Lippen, wollte mehr sagen und brachte es nicht fertig. Ihr schwarzes langes Haar lag wie ein Fächer ausgebreitet über dem Kissen. In ihren Augen brannten die Pupillen haarscharf wie Stecknadelköpfe. Sie steht unter Drogen, wußte Linda im gleichen Moment. Das war Dean. Nur er kann es gewesen sein. Aber warum hat er diese arme Person hier eingesperrt. Wer ist sie? Ich muß sie
kennen. Ihre Züge sind mir vertraut. Sie muß früher sehr schön gewesen sein. Jetzt war ihr Gesicht vom Leiden gezeichnet. Die Kranke hob matt die Hand, bedeutete Linda, näher zu kommen. Linda neigte sich so dicht über sie, daß sie den schwachen Atem im Gesicht spüren konnte. »Linda!« klang es wie ein verwehender Hauch an ihre Lippen. »Geh fort, flieh! Dean will…!« Sie wandte leicht den Kopf. Schreck weitete ihre Augen. Sie starrte an Linda vorbei zur Tür, als würde sie jemanden sehen. In diesem Moment fiel es Linda wie Schuppen von den Augen. Tante Abigail, durchfuhr es sie in jäher, schmerzhafter Klarheit. Diese Ähnlichkeit mit mir! Sie muß Lady Merville sein. Aber was hat sie plötzlich? Warum ist sie so verstört. Wie unter einem Zwang wandte auch Linda den Kopf und erstarrte. Sie sah Dean, Dean im weißen Arztkittel, ein teuflisches Lächeln im Gesicht.
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Von seinem Versteck aus sah Jerry, wie John den Frühstückstisch abräumte. Sein Magen rebellierte. Er hatte schrecklichen Hunger und ärgerte sich über den gewissenhaften Diener. Warum habe ich Linda nicht gebeten, mir ein Sandwich hinzulegen? dachte er wütend. An solche Nebensächlichkeiten denkt man eben nicht. Ob ich ins Dorf fahren soll, um mir etwas zu essen zu holen? Mit hungrigem Magen macht es keinen Spaß, Räuber und Gendarm zu spielen.
Nein, er wagte es nicht, sich für längere Zeit zu entfernen. Besser er versuchte, Linda zu erwischen. Sie konnte ihm sicher etwas besorgen. Jerry wartete, bis der langsame Butler mit seiner Arbeit fertig war. Er überlegte, wie lange John brauchen würde, um bis in die Küche zu gelangen, dann spurtete er los. Ungesehen erreichte er die Halle, hastete die Treppe hinauf und blickte in den halbdunklen Flur. Aus der Richtung von Jessicas Tür hörte er sentimentale Schlagermusik. Vor Lindas Tür lauschte er, doch er hörte keinen Laut. Verlegen erinnerte er sich, daß er unrasiert war. Hoffentlich bekommt Linda bei meinem Anblick keinen Schreck, dachte er. Dann öffnete er die Tür, ohne vorher anzuklopfen. Der Raum war leer. Doch der schöne Raum schien ihm erfüllt von Lindas Atem, von ihrer reizvollen Gegenwart. Jerry trat ans Fenster, und plötzlich sah er Linda. Sie kam aus dem Stall, lief auf den Westturm zu. Wahrscheinlich suchte sie Dean. Sie wollte ihn ja nach Lady Mervilles Adresse fragen. Sicher würde es nicht lange dauern, bis sie zurückkam. Die Minuten verstrichen. Jerrys Augen hingen am Westturm. Langsam wurde er nervös. Was machte Linda solange dort? Sie war allein mit Dean, und Dean war unberechenbar. Jerry ertrug das Warten nicht länger. Er mußte wissen, was dort im Turm vorging. Doch wie konnte er ungesehen dorthin gelangen? Er wußte, daß es einen Geheimgang zum Westturm gab, der direkt vom Schloß aus hinführte. Doch nur Dean besaß die Schlüssel zu diesen Türen. Wenn er Glück hatte, fand er die Türen jetzt unverschlossen. Jerry hastete nach unten. Irgendeine unsichtbare Macht trieb ihn zu höchster Eile. Vielleicht war es auch nur die Ahnung drohenden Unheils?
Er wußte plötzlich, daß Linda in Gefahr war, in höchster Gefahr.
*
Dean schloß die Tür, preßte den Rücken dagegen, versperrte sie mit seiner ganzen Breite. Er hatte die Hände in den Taschen seines Arztmantels vergraben. In seinen dunklen Augen flackerte ein düsteres Feuer. »Welch hübsches Zusammentreffen«, sagte er mit einer Stimme, die unverändert sanft klang, doch einen höhnischen Unterton hatte. »Mutter und Tochter in Liebe vereint. Nun, habt ihr euch ausgesprochen, alles vom Herzen geredet? Hat sich die arme Lady Abigail über ihren bösen, bösen Stiefsohn beklagt?« »Sie ist ja nicht einmal mehr fähig zu reden«, fuhr Linda auf. Der Zorn verdrängte ihren Schrecken, den ihr Deans plötzliches Auftauchen versetzt hatte. »Was hast du mit ihr gemacht? Warum hast du sie hier eingesperrt und mir eine völlige Fremde als Lady Abigail vorgestellt?« »So viele Fragen auf einmal!« Er hob spöttisch die Brauen. »Die Antwort ist einfach. Meine geliebte Stiefmutter war mit meinen Plänen nicht einverstanden. Ich mußte sie einfach eine Zeitlang aus dem Weg räumen, denn sie wollte meine Heirat mit dir, liebste Linda, mit allen Mitteln verhindern.« »Das hättest du dir sparen können«, sagte Linda mit Kälte. »Ich hätte dich niemals geheiratet.« Dean lächelte sein eigenartiges, weltfremdes Lächeln. »Dabei habe ich mir solche Mühe um dich gegeben«, sagte er seidenweich. »Doch ich habe dich wohl unterschätzt. Schon
am ersten Tag mußte ich feststellen, daß du nicht so leicht zu beeinflussen warst.« Linda machte einige Schritte auf ihn zu, starrte ihn aus weiten Augen an. »Du hast das alles angezettelt?« flüsterte sie heiser. »Du hast versucht, mich in Angst und Schrecken zu versetzen? Warum, Dean? Was habe ich dir getan? War ich nicht immer freundlich zu dir? Habe ich dich nicht gern gehabt, wie einen Bruder?« Sein Gesicht veränderte sich, verzerrte sich in jähem Haß. »Du hast dich meinen Plänen widersetzt«, stieß er bebend hervor. »Dann hast du dich in Jerry verliebt, das war dein größter Fehler.« Er warf einen haßerfüllten Blick auf die Kranke. »Sie ist an allem schuld! Sie hat meinen Vater beeinflußt, mich zu enterben, damit sie alles ihrem Bankert zukommen lassen kann.« Vom Bett her kam ein klagender Laut, »Lüge«, ächzte die Kranke. »Hör nicht auf ihn, Linda! Er ist nicht bei Sinnen.« »Schweig!« schrie Dean wild. »Ich habe mehr Verstand als ihr alle zusammen. Ich bin ein Genie! Die Welt wird noch von mir reden. Eines Tages wird mir die Welt zu Füßen liegen, mich anbeten wie einen Heiligen! Jeder, der es wagt, sich mir und meinem Genie in den Weg zu stellen, muß sterben. Die Wissenschaft verlangt Opfer.« Er ist wirklich wahnsinnig, durchzuckte es Linda. Mein Gott, wie kommen wir nur hier heraus? Ich muß versuchen, ihn zu beruhigen. Ruhig muß ich bleiben, ganz ruhig. Gewaltsam zwang sie ihre bebenden Nerven zur Ruhe, machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. »Dean«, sagte sie so freundlich wie es ihr möglich war. »Dean, laß uns in Ruhe über alles reden. Wenn man dir Unrecht getan hat, werden wir es in Ordnung bringen. Ich lege keinen Wert auf Schloß Merville. Ich will auch kein
Vermögen. Du sollst alles bekommen, was du willst. Aber laß uns jetzt gehen, bitte, Dean!« »Ich glaube dir kein Wort!« Sein wilder Blick irrte über ihre Züge. »Ich weiß genau, was ihr vorhabt. Ihr wollt mich in die Anstalt sperren wie meine arme Mutter. Mein Vater hat sie auf dem Gewissen, er hat sie in eine Anstalt sperren lassen, weil Lady Abigail ihm den Kopf verdreht hat.« Er starrte Linda voller Haß an. »Du bist genau wie sie. In jedem Zug deines Gesichtes finde ich Abigails verfluchte Schönheit wieder. Ich hatte gehofft, Jessicas Eifersucht wäre groß genug, dich aus dem Weg zu räumen. Doch sie war zu feige. Mir allein bleibt es, das Werk zu vollenden.« Er zog seine rechte Hand aus der Tasche des Arztkittels. Eine Spritze blitzte auf. Alles ging rasend schnell. Plötzlich schnellte sein Arm vor und stieß zu. Linda schrie auf. Ein scharfer, brennender Schmerz durchzuckte ihren Oberarm. Sekundenlang wurde es ihr schwarz vor Augen. Verschwommen hörte sie Deans infernalisches Gelächter. »Ihr werdet jetzt wunderbar schlafen«, höhnte er. »Es tut mir sehr leid, daß ich mein eigenes Werk zerstören muß, aber bald werde ich Geld genug haben, alles wieder schöner und besser aufzubauen. Niemand wird mich belangen. Ein Unglücksfall, werden die Zeitungen schreiben. Die Explosion in Dean Mervilles Labor kostete zwei Menschenleben!« Sein irres Lachen hallte von den Wänden wider. Dean stürzte hinaus, raste zu dem Heizkessel, drehte an Knöpfen und Hebeln. Dampf zischte heraus, eine dichte Wolke von Qualm hüllte ihn ein. »Ich habe alles mit angehört!« sagte Jerrys Stimme hinter ihm. Entsetzt, ungläubig fuhr er herum.
Jerry trat langsam auf ihn zu. »Dein Spiel ist aus, Dean Merville«, sagte er, eiserne Entschlossenheit in der Stimme. »Du wirst dein Leben hinter Gefängnismauern beschließen.« »Nein!« keuchte Dean. »Niemand kann mir etwas beweisen. Ich werde alles abstreiten.« »Du hast Nancy umgebracht«, sagte Jerry. »Man hat ihre Leiche im Meer gefunden.« »Du lügst!« keuchte Dean. »Das Meer gibt seine Beute nicht wieder her. Ich werde behaupten, daß Nancy Selbstmord begangen hat. Sie ist freiwillig von den Klippen gesprungen.« »Nachdem du sie betäubt hast, nicht wahr?« sagte Jerry drohend. »Bei einer Obduktion wird sich nachweisen lassen, welches Gift du ihr verabreicht hast.« »Nancy war dumm!« rief Dean mit höhnischem Lachen. »Sie redete zuviel. Wenn sie den Mund gehalten hätte, würde sie noch heute leben. Alle, die sich mir in den Weg stellen, müssen sterben. Auch du, Jerry Walstone. Jeden Moment wird dieses Labor hier explodieren. Fahr mit deiner Linda zur Hölle!« Dean warf sich nach vorn, stürzte auf die Tür zu. Als Jerry ihm nachlief, sah er, daß er die Treppen zum Turm hinaufhetzte. Ich werde mich später um ihn kümmern, dachte Jerry. Wichtiger ist, Linda und Lady Merville zu retten. Wenn Dean die Wahrheit gesprochen hat, wird es höchste Zeit, sie hier herauszubringen. »Jerry!« Linda schrie bei seinem Anblick erleichtert auf. »Bist du in Ordnung?« Er nahm die halb Ohnmächtige in die Arme, preßte sie sekundenlang an sich. »Dean hat mir eine Spritze gegeben«, stammelte sie. »Aber ich glaube, er hat nicht richtig getroffen. Vielleicht dauert es auch noch, bis es wirkt.« »Kannst du allein gehen?«
»Ja, ich versuche es. Ich muß es…!« Linda konnte nur noch lallen. »Lady Abigail…!« preßte sie hervor. »Ich kümmere mich um sie.« Jerry nahm die Kranke auf seine Arme, kämpfte sich mit aller Kraft durch den erstickenden Nebel, der das Labor erfüllte. Ein bedrohliches Fauchen, Zischen und Knattern war zu hören. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis alles in die Luft flog. Jerry fand Linda besinnungslos vor der Türschwelle, stieg über sie hinweg, raste in den Hof und ließ die Lady dort sacht zu Boden gleiten. Von Angst gejagt hetzte er zurück, nahm Linda hoch, die schlaff in seinen Armen lag, und brachte sie hinaus. Ein entsetzliches Krachen dröhnte auf. Die Glasscheiben der Fenster barsten. Dichter Rauch quoll aus der Hexenküche. Wo war Dean? Jerrys Blicke irrten an dem Turm hoch, trafen auf eine schlanke, hochaufgerichtete Gestalt. Dean. Er stand hoch oben auf dem Türm. Sein blondes Haar wehte im Wind. »Dean!« schrie Jerry aus Leibeskräften. »Dean, komm herunter, ehe es zu spät ist.« Dean gab keine Antwort. Sein Gesicht war zu einem wilden triumphierenden Lächeln verzerrt. »Dean!« schrie Jerry. »Dean, sei doch kein Narr!« Eine donnernde, furchtbare Explosion verschlang den Schrei seiner Stimme. Vor Jerrys entsetzten Augen stürzte der Westturm wie ein Kartenhaus zusammen und riß Dean mit in die Tiefe.
*
Ein tragischer Unglücksfall, schrieben die Zeitungen. Der junge vielversprechende Forscher Dean Merville hat bei seinen gefährlichen Experimenten den Tod gefunden. Niemand sonst ahnte etwas von der Tragödie, die diesem Unglücksfall vorausgegangen war. Die sterblichen Überreste des jungen Lords ruhten jetzt in der Gruft der Mervilles, wo sein ruheloser Geist hoffentlich den Frieden finden würde, der ihm im Leben versagt geblieben war. Aber Nancy lebte! Ein Fischerboot hatte die völlig Entkräftete aufgelesen und in ein Krankenhaus gebracht, wo sie sich langsam von dem ausgestandenen Schrecken erholte. Auch Lady Abigail gewann langsam wieder Kräfte. Mit Lindas Einverständnis hatte sie Schloß Merville der schottischen Regierung zum Verkauf angeboten. In Zukunft würde der alte Besitz ein Museum sein, das sicherlich viele interessierte Touristen anlocken würde. Jerry und Linda wollten Lady Abigail zu sich nehmen, doch die alte Dame hatte liebenswürdig aber bestimmt abgelehnt. »Ich werde in meinem kleinen Landhaus Ruhe und Frieden finden. Wenn ihr mich besuchen wollt, so kommt, so oft ihr könnt. Ich werde mich herzlich darüber freuen.« Linda löste den Haushalt auf, schickte den Butler John in Pension und gab den anderen Angestellten eine großzügige Gehaltszahlung. Sie besuchte auch Nancy und erfuhr von ihr, daß Dean ihr gedroht hatte, sie umzubringen, falls sie Linda etwas von der falschen Lady Abigail verraten würde. »Ich habe versucht, Sie heimlich zu warnen, Miß.« »Dann warst du es auch, die das Wort Gefahr auf den Spiegel geschrieben hat?« erinnerte sich Linda. Nancy nickte. »Als ich erfuhr, daß jemand Sie niedergeschlagen hat, wußte ich, daß ich nicht länger schweigen durfte. Doch der junge Lord hatte unser Gespräch belauscht. Er zwang mich, eine Art Saft zu trinken. Dann muß
mich das eisige Meerwasser wohl zur Besinnung gebracht haben. Ich hatte Glück, daß mich ein Fischerboot aufgefunden hat.« Nancy erschauerte. »Ich mag gar nicht mehr daran denken«, flüsterte sie. »Ich werde Dr. Walstone heiraten. Möchtest du nicht mit uns kommen und für uns arbeiten? Ich habe vor, meinem Mann in der Praxis zu helfen und werde für den Haushalt wenig Zeit haben«, schlug Linda ihr vor. Ein heller Glanz trat in Nancys Augen, daß Linda tief gerührt war. »Ich komme, sobald meine Mutter mich entbehren kann«, sagte Nancy glücklich. »Ich komme ganz bestimmt.« Am Abend vor ihrer Abreise hatten sie noch ein ausführliches Gespräch miteinander. Auf Lindas Verlangen hatte man die häßlichen ausgestopften Tiere auf den Dachboden gebracht und dabei auch die Schaufensterpuppe entdeckt, die Dean für seine makabren Scherze verwendet hatte. »Im Grunde kann einem Dean leid tun«, sagte Lady Abigail mit leiser Stimme. »Er war von seiner Mutter her erblich belastet. Sie war die Tochter eines armen Fischers, und Lord Merville hat sie ihrem Vater praktisch abgekauft. Sie fand sich nicht mit den geänderten Verhältnissen zurecht und versank in Schwermut. Als Dean drei Jahre alt war, stürzte sie sich von den Klippen ins Meer. Ihr Leichnam ist niemals gefunden worden. Um das Kind zu schonen, hat man ihm damals erzählt, seine Mutter wäre im Krankenhaus gestorben. Irgendwie muß Dean dann später doch die Wahrheit entdeckt haben.« Die Lady seufzte. Ein Schleier legte sich über ihre Augen. »Von dem Tag an verfolgte er seinen Vater und mich mit Haß. Er glaubte, wir hätten seine Mutter in den Tod getrieben. Es war unmöglich, ihm klarzumachen, daß zu dem Zeitpunkt noch nichts zwischen uns war.« Ein wehmütiges Lachen legte sich um die Lippen der Lady.
»Damals war die glücklichste Zeit meines Lebens. Ich war verliebt in den jungen Zeitungsredakteur unseres Städtchens.« Sie warf einen lächelnden, schmerzlichen Blick auf das junge schöne Paar vor sich. »Wir waren so glücklich verliebt wie ihr jetzt, meine Kinder. An dem Tag, an dem Frank McLean mit dem Auto tödlich verunglückte, erfuhr ich, daß ich ein Kindchen von ihm erwartete.« »Arme Mama!« Linda umarmte sie spontan und küßte ihr liebevoll die Wange. »Das muß furchtbar für dich gewesen sein.« Linda hatte sie zum ersten Mal Mama genannt. Lady Abigail traten Tränen des Glücks in die Augen. Es dauerte eine Weile, bis sie fähig war, weiterzusprechen. »Ein Schicksalsschlag folgte dem anderen«, fuhr sie mühsam fort. »Unser Vater starb an einer Blutvergiftung, und Mutter mußte sich einer schwierigen, kostspieligen Magenoperation unterziehen. Lord Merville war für uns der rettende Engel. Er hatte sich leidenschaftlich in mich verliebt und versprach, alle Kosten zu bezahlen. Nur das Kind, das ich erwartete, wollte er nicht zu sich nehmen.« Sie blickte Linda aus tränenfeuchten Augen an. »Verzeihst du mir, daß ich dich, meine Tochter, geopfert habe?« »Ich habe ja nichts entbehrt«, flüsterte Linda erschüttert. »Ich hatte die liebevollsten Eltern, die man sich wünschen kann’.« »Meine Schwester Mary-Ann wußte, daß sie nach einigen Fehlgeburten kinderlos bleiben würde«, fuhr die Lady in ihrem Bericht fort. »Sie war überglücklich, dich, zu bekommen, und auch ihr Mann, der Lehrer Stanton Styler, hatte nichts dagegen. Nachdem mein armer Mann verunglückt war und auch MaryAnn nicht mehr lebte, wollte ich alles an dir wieder gutmachen«, seufzte Abigail. »Ich schrieb das verhängnisvolle Testament, das dich zur Haupterbin neben Dean machte. Alles
andere weißt du ja, Linda, meine Tochter! Kannst du wirklich verstehen, verzeihen?« »Von ganzem Herzen«, sagte Linda innig. Ihr aufleuchtender Blick flog zu Jerry, der ihren Blick voll zärtlicher Liebe erwiderte. »Besonders da ich dir das große Glück meines Lebens zu verdanken habe.« »Verzeihst du mir auch?« Jessica trat auf Linda zu, ein unsicheres Lächeln im Gesicht. »Ich habe mich ganz schön blöd benommen«, murmelte sie reuevoll. »Wenn ich mir vorstellte, daß ich Deans Frau geworden wäre…!« Sie erschauerte, brach dann in leises Weinen aus, als Linda sie umarmte. »Wein dich ruhig aus«, sagte Linda tröstend. »Eines Tages wirst du auch das Glück finden, das du verdienst. Ich habe es dir schon einmal angeboten und hoffe, diesmal wirst du es mir nicht abschlagen. Wollen wir nicht versuchen, Freundinnen zu sein, Jessi?« »Ach, du!« Jessica lächelte unter Tränen zu ihr auf. »Sogar mehr als bloße Freundinnen«, scherzte sie mühsam. »Jetzt, wo du meinen Bruder heiratest, werden wir sogar Schwägerinnen. Jerry hat wirklich unverschämtes Glück.« »Das kann man wohl sagen«, strahlte Jerry. »Das ist eben die ausgleichende Gerechtigkeit, die das Leben manchmal hat. Wer sich das Glück so heiß erkämpfen muß wie wir, hat wohl eine Belohnung verdient.« Linda lächelte. Ihre Blicke tauchten tief ineinander und sprachen die zärtliche innige Sprache einer großen Liebe. Sie wußten, daß nichts auf der Welt sie mehr trennen konnte.