Frank Beddor
Das Spiegellabyrinth
Roman
Deutsch von Gyldan Stern,
Edgar Müller und
Dagmar Andrea Sivas
Deut...
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Frank Beddor
Das Spiegellabyrinth
Roman
Deutsch von Gyldan Stern,
Edgar Müller und
Dagmar Andrea Sivas
Deutscher Taschenbuch Verlag
Meiner Nichte Sarah gewidmet, wegen ihres Sinns für das Wunderbare
Deutsche Erstausgabe
November 2005
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München www.dtv.de
© 2004 Frank Beddor
Titel der englischen Originalausgabe:
›The Looking Glass Wars‹ (Egmont, London 2004)
© 2005 der deutschsprachigen Ausgabe:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
e-Book by Brrazo 10/2008
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlagbild: © Branislav Hetzel
Illustration auf der Rückseite und im
Innenteil: © Christina Craemer
Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten
Gesetzt aus der Goudy Old Style 11/13,25'
Druck und Bindung: Kösel, Krugzell
Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany • ISBN 3-423-24500-x
Ein Wort der Warnung an meine Leser: Die wahre Geschichte von Wunderland ist voll Blutvergießen, Mord, Rache und Krieg. Ich entschuldige mich im Voraus bei allen, die manche Szenen in diesem Buch erschütternd finden mögen, aber es war mir wichtig, alles so wiederzugeben, wie es sich tatsächlich zuge tragen hat. Die besonders Sensiblen unter den Lesern werden sich vielleicht lieber an die klassische Mär chenerzählung von Lewis Carroll halten. Frank Beddor
»Die Wirklichkeit lässt der Fantasie eine Menge Spielraum.« John Lennon
»Ein Mensch ohne Fantasie hat keine Flügel.« Muhammad Ali
»Fantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.« Albert Einstein
»Die Fantasie ist die Herrscherin der Welt.‹ Napoleon
Prolog
Oxford, England. Juli 1863. Alle hielten es für Hirngespinste, und sie hatte mehr Hänseleien und Spott von anderen Kindern und mehr Vorträge und Strafmaßnahmen von Erwachse nen über sich ergehen lassen, als einer Elfjährigen zuzumuten war. Aber jetzt, nach vier Jahren, war sie gekommen: ihre letzte und größte Chance, ihnen al len zu beweisen, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Immerhin hatte ein Universitätsdozent genug von ihrer Erzählung gehalten, um ein Buch daraus zu machen. Sie saß auf einer Decke am Ufer des Cherwell, zu sammen mit Reverend Charles Dodgson, neben des sen Ellbogen ein geplünderter Picknickkorb stand. Sie hielt das Buch in den Händen. Er hatte es selbst geschrieben und illustriert, sagte er. Es war schön schwer und fasste sich gut an, gewichtig. Es war in braunes Papier eingeschlagen und mit einem schwarzen Band verschnürt. Dodgson sah sie ge spannt an. Ihre Schwestern Edith und Lorina jagten am Ufer Elritzen. Sie knüpfte das Band auf, schlug vorsichtig das Papier zurück. »Oh!« ›Alice’ Abenteuer unter der Erde‹? Was für ein Titel war das denn? Und warum war ihr Name falsch geschrieben? Sie hatte Dodgson gesagt, wie man ihren Namen richtig buchstabierte, hatte ihn sogar für ihn aufgeschrieben. »Von Lewis Carroll?«, las sie mit zunehmender Besorgnis.
»Ich finde, das klingt heiterer, als gleich zu schreiben, dass es von einem Geistlichen verfasst worden ist.« Heiterer? Sie hatte ihm wenig Heiteres erzählt. Aus Besorgnis wurde große Unruhe, aber sie sagte nichts dazu. Wichtig war nur, dass er ihre Erlebnisse im Wunderland getreulich nach ihren Schilderungen niedergeschrieben hatte. Sie schlug das Buch auf und bestaunte die grob beschnittenen Seiten, die saubere Schönschrift. Aber die Widmung bestand aus einem Gedicht, in dem ihr Name schon wieder falsch geschrieben war, und das muntere Reimschema erschien ihr nicht angemessen, wenn man bedachte, welcher Stoff damit eingeleitet wurde. Sie blätterte zum ersten Kapitel und hatte plötzlich das Gefühl, als wäre ihr Innerstes ausgehöhlt wor den wie die Pampelmuse, die Dekan Liddell jeden Morgen zum Frühstück löffelte, wonach nur zwei nackte, breiige Schalenhälften übrig blieben. Ein Kaninchenloch hinab! Wo kam denn auf einmal die ses lästige weiße Kaninchen her? »Alice, stimmt etwas nicht?« Sie blätterte weiter, Seite um Seite. Der Teich der Tränen, die Raupe, ihre Tante Redd: alles war ent stellt, ins Lächerliche gezogen. »Sie haben aus General Doppelgänger, dem Oberbefehlshaber des Königlichen Heers, zwei dicke Jungen mit albernen Mützen gemacht!« »Ich gebe zu, dass ich mir einige Freiheiten mit
deiner Geschichte herausgenommen habe – um sie zu unserem Gemeinschaftswerk zu machen, wie ich es dir angekündigt hatte. Erkennst du den Hausleh rer wieder, den du mir einmal beschrieben hast? Er wird vom weißen Kaninchen verkörpert. Die Idee kam mir, als mir auffiel, dass sich die Buchstaben seines Namens zu WEISSES KANINCHEN zusam mensetzen lassen. Hier, ich zeige es dir.« Dodgson nahm einen Bleistift und ein Notizbuch aus der Innentasche seines Gehrocks, aber sie wollte es nicht sehen. Es stimmte, er hatte tatsächlich ange kündigt, dass es ihr gemeinsames Buch werden wür de, seines und ihres, und sie hatte Kraft daraus ge schöpft – Kraft zum Ertragen der Demütigungen, de nen man ausgesetzt war, wenn man auf Wahrheiten bestand, die niemand anders glauben wollte. Aber was sie jetzt in den Händen hielt, hatte mit ihr nichts zu tun. »Sie meinen, Sie haben das absichtlich getan?«, fragte sie. Die Grinsekatze? Die verrückte Teegesellschaft? Er hatte ihre Erinnerungen an eine Welt voller Hoff nungen und Zukunftsversprechen und Gefahren ge nommen und in Fantastereien verwandelt, in alber nen Kinderkram. Er hatte sich einfach eingereiht in die lange Liste von Leuten, die ihr nicht glaubten, und das hier – dieses dumme, unsinnige Buch – war nur seine Art, sich über sie lustig zu machen. In ih rem ganzen Leben war sie noch nie so hintergangen worden.
»Nun wird mir nie jemand glauben!«, rief sie. »Sie haben alles kaputtgemacht! Sie sind der grausamste Mensch, der mir je begegnet ist, Mr Dodgson, und wenn Sie auch nur ein Wort von dem geglaubt hät ten, was ich Ihnen erzählt habe, dann wussten Sie, wie grausam das ist! Ich will Sie nie wieder sehen! Nie, nie wieder!« Sie floh, ohne sich um Edith und Lorina zu küm mern, die nun allein nach Hause gehen mussten, oh ne sich um Reverend Dodgson zu kümmern, für den Kinder Seelen direkt aus Gottes Händen waren und ihr Lächeln eine Himmelsmacht, für den es kein schöneres Ziel gab, als seine gesamte Kraft einer Aufgabe zu widmen, deren einzige Belohnung im ge flüsterten Dank und im zarten Hauch der reinen Lip pen eines Kindes bestand. Reverend Dodgson war erschüttert und wusste sich auf den Vorfall keinen Reim zu machen. Er hob das Buch auf, das noch warm von Alice Liddells Berührung war, und ahnte nicht, dass er ihr damit so nahe war wie später nie wieder.
ERSTER TEIL
1
zwölf Jahren hatten scheußliche Massaker die V orTürschwelle eines jeden Wunderländers mit Blut
besudelt. Doch inzwischen erfreute sich das Königinnenreich eines zaghaften Friedens. Der Bürgerkrieg war nicht der längste in der überlieferten Geschichte gewe sen, aber zweifelsohne einer der blutigsten. Denjenigen, die sich ein wenig zu bereitwillig in das allgemeine Mordbrennen gestürzt hatten, fiel es schwer, sich in das Leben im Frieden einzufügen. Nach Ende der Feindse ligkeiten liefen sie in den Straßen von Wundertropolis Amok und brandschatzten und plünderten, bis Königin Genevieve sie einfangen und zu den Kristallminen ab transportieren ließ – einem Gewirr von Stollen, die in einen weit entfernten Berghang getrieben worden waren, wo diejenigen, die sich nicht an die Regeln eines anstän digen Miteinanders halten wollten, in fensterlosen Schlafsälen hausten und dem gnadenlosen Berg in Schwerstarbeit Kristall entrissen. Auch nachdem diese Leute nicht mehr frei herumlie fen, ähnelte der Frieden im Wunderland in keiner Weise demjenigen vor dem Krieg. Ein Drittel der Quarzgebäude von Wundertropolis musste wieder aufgebaut werden. Das elegante türkisfarbene Amphitheater war während eines Luftangriffs beschädigt worden, ebenso zahllose Türme und Kirchtürme mit ihren glühenden, spiegelnden Oberflächen aus Pyrit. Und nicht alle Kriegsnarben waren so deutlich sicht 17
bar. Obwohl Königin Genevieve die Geschicke ihres Reiches mit Umsicht lenkte und auf das Wohlergehen ihrer Untertanen bedacht war, blieb die Monarchie ge schwächt. Die Koalition der Farben zerbrach allmählich. Die Matriarchinnen der Familien Karo, Kreuz und Pik neideten Genevieve ihre Macht. Eine jede meinte, das Wunderland besser als die Königin regieren zu können. Eine jede wartete nur auf eine Gelegenheit, ihr das Zepter entwinden zu können, und behielt die anderen Farben misstrauisch im Blick, damit sie nicht womöglich den ersten Zug machten. Nach zwölf Jahren war das Alltagsleben im Wunder land jedoch wieder zu einer Art Normalzustand zurück gekehrt. Gesetzt den Fall, Sie wären durch die schim mernden Straßen von Wundertropolis spaziert und hätten sich am Anblick seiner gezackten Kristallgebäude und Ladenfronten erfreut, gesetzt den Fall, Sie hätten unter wegs Rast gemacht und bei einem Straßenhändler ein Feuertörtchen erstanden und sein auf der Zunge explo dierendes Aroma genossen, Sie wären nie auf die Idee gekommen, dass zur gleichen Zeit in gewissen Hinter gassen, auf gewissen Freiflächen Vorkehrungen getroffen wurden: dass dort Militärmanöver mit Regimentern von Kartensoldaten durchgeführt, Truppentransporter herge stellt, Angriffs- wie Verteidigungswaffen entwickelt und getestet wurden. Und Sie wären in Ihrer Ahnungslosig keit nicht allein gewesen. Ohne irgendwelche Gedanken an Krieg stand Prinzessin Alyss mit ihrer Mutter, Königin Genevieve, auf dem Balkon des Herzpalastes. Die Stadt befand sich mitten in überschäumenden Festlichkeiten. Von überall her, vom Ewigwald bis zum Tal der Pilze, war das Volk herbeige 18
strömt, um den siebten Geburtstag seiner zukünftigen Königin zu feiern, die im Moment schier verrückt vor Langeweile wurde. Alyss war sich darüber im Klaren, dass es weit schlimmere Schicksale gab, als Königin des Wunderlandes zu werden, aber selbst eine zukünftige Monarchin will nicht ständig nur das tun, was von ihr erwartet wird – etwa stundenlang herumsitzen und Pomp über sich ergehen lassen. Lieber hätte sie sich mit ihrem Freund Dodd in einem der Türme des Palastes versteckt, Lachgummis aus dem Fenster geworfen und zugeschaut, wie sie unten auf die Gardisten klatschten. Dodd hätte das mit den Lachgummis nicht gefallen – die Garde ver diente eine bessere Behandlung, hätte er gesagt –, aber dadurch wäre es nur noch lustiger geworden. Wo steckte Dodd überhaupt? Sie hatte ihn den ganzen Vormittag über noch nicht gesehen, und es war nicht nett, dem Geburtstagskind an seinem Geburtstag aus dem Weg zu gehen. Sie suchte ihn unter den Zuschauern der Erfinderparade unten auf dem gepflasterten Gehweg. Keine Spur von ihm. Wahrscheinlich machte er irgendwo anders etwas Lustiges; ganz gleich was, es konnte nur lustiger sein, als hier festzusitzen und sich die merkwür digen Apparaturen irgendwelcher Tüftler ansehen zu müssen. Nanik Schneeweiss, der Hoflehrer, hatte ihr er klärt, dass die meisten Leute stolz auf die Erfinderparade waren, mit der ganz Wunderland der Königin einmal im Jahr seine Fertigkeit und Findigkeit vorführte. Wenn Ge nevieve bei der Parade etwas sah, das sie besonders ge lungen fand, dann gab sie es in den Herzkristall – den zehn Meter hohen, sechzehn Meter breiten schimmern den Edelstein auf dem Palastgelände, der die Quelle aller Schaffenskraft war. Was im Kristall aufging, wurde ins Weltall ausgestrahlt und regte in anderen Welten die Fan 19
tasie an. Wenn ein Wunderländer vor Königin Genevieve auf einem Brett mit zwei Rädern und einem Lenker her umkurvte und sie diese merkwürdige Erfindung in den Kristall gab, dann brachte wenig später die eine oder an dere Zivilisation einen Roller hervor. Dennoch fragte Alyss sich, was an der ganzen Sache so toll war. Hier herumstehen zu müssen, bis einem die Füße weh taten – es war die reinste Strafe. »Wenn Vater nur hier wäre.« »Er muss jeden Moment aus Grenzland zurückkom men«, sagte Königin Genevieve. »Aber da außer ihm ganz Wunderland hier versammelt ist, schlage ich vor, du versuchst den Leuten zuliebe dem Ganzen etwas abzu gewinnen. Das dort drüben ist recht interessant, meinst du nicht?« Sie sahen zu, wie ein Mann vom Himmel herab schwebte. An seinem Rücken war etwas befestigt, das wie ein großer hohler Pilzhut aussah. »Es hat was«, sagte Alyss, »aber pelzig fände ich es noch besser.« Und zack, war das Pilzgerät mit Pelz bedeckt, und sein Erfinder krachte zu Boden. Königin Genevieve runzelte die Stirn. »Er ist spät dran«, sagte Alyss. »Er hat versprochen, dabei zu sein. Ich verstehe nicht, wie er so kurz vor mei nem Geburtstag wegfahren kann.« Er hatte durchaus seine Gründe, wie die Königin nur zu gut wusste. Der Nachrichtendienst hatte darauf hin gewiesen, dass sie womöglich schon zu lange gewartet hatten: Unbestätigte Berichte deuteten darauf hin, dass Redds Einfluss beständig zunahm und ihre Truppen sich zum Angriff rüsteten, und Genevieve war nicht länger überzeugt, dass ihr Heer sich entsprechend zu verteidigen 20
wusste. Sie wartete ebenso sehnsüchtig wie Alyss auf die Rückkehr von König Nolan, aber sie war fest entschlos sen, die heutigen Festlichkeiten zu genießen. »Oh, schau mal«, sagte sie und zeigte auf eine Frau, die im Gehen mit den Hüften wackelte und einen großen Reifen um ihre Leibesmitte kreisen ließ. »Das sieht doch vergnüglich aus.« »Mit kleinen Springbrunnen dran wäre es noch lusti ger«, sagte Alyss, und prompt spritzten aus winzigen Lö chern im Ring Wasserfontänen, während die verblüffte Erfinderin weiterwackelte, damit er oben blieb. »Auch wenn du Geburtstag hast, Alyss«, sagte Gene vieve, »Angeben gehört sich nicht.« Der Pelz auf dem allerersten Fallschirm der Geschichte verschwand. Die Springbrunnen auf dem eben erfunde nen Hula-Hoop-Reifen gingen aus. Die Macht der Imagi nation hatte sie erscheinen und wieder verschwinden las sen. Fantasie war ein wichtiger Bestandteil des Lebens im Wunderland, und Alyss besaß die stärkste Fantasie, die je bei einer Siebenjährigen beobachtet worden war. Aber wie jede eindrucksvolle Gabe konnte auch ihre Fan tasie zum Guten wie zum Schlechten benutzt werden, und die Königin empfand leichte Besorgnis. Seit dem letzten Zwischenfall war nicht einmal ein Umlauf des Thurmitmondes vergangen: Weil sie wegen irgendeiner kindischen Taktlosigkeit über den Karobuben erbost ge wesen war, hatte Alyss ihm glitschige, flitschige Wür melchen in die Hosen fantasiert. Der Karobube hatte er klärt, da fühle sich »irgendwas« komisch an, nach unten gesehen und festgestellt, dass seine Hosen sich bewegten, lebendig waren. Seitdem wurde er von Alpträumen ver folgt. Alyss behauptete, es nicht mit Absicht getan zu haben, was nach Genevieves Ansicht durchaus stimmen 21
mochte: Alyss besaß noch nicht die volle Kontrolle über ihre Fantasie. Andererseits wäre ihr jede Ausrede recht gewesen, um die Schuld von sich abzuwälzen. »Du wirst die mächtigste Königin sein, die es je gege ben hat«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Das ganze Land wird im Glanz deiner Fantasie erstrahlen. Aber, Alyss, du musst noch viel dafür tun, dass sie sich entsprechend den Leitprinzipien der Herzdynastie entwickelt – Liebe, Ge rechtigkeit und Dienst am Volk. Eine schrankenlose Fan tasie ist schlimmer als überhaupt keine. Sie kann viel mehr anrichten. Denk daran, was mit deiner Tante Redd passiert ist.« »Ich weiß«, sagte Alyss verdrießlich. Sie hatte ihre Tante Redd nie kennen gelernt, doch so lange sie zurück denken konnte, waren ihr Geschichten über sie erzählt worden. Sie machte sich nicht die Mühe, das alles ver stehen zu wollen; das war sterbenslangweiliges Zeug für Historiker. Aber sie wusste durchaus, dass es nicht gut war, so wie Tante Redd zu sein. »So, das waren genug Vorträge für den Geburtstag ei ner Prinzessin«, sagte Königin Genevieve. Sie klatschte in die Hände, und der Fallschirm und der Hula-HoopReifen gingen, sehr zur Freude ihrer Erfinder, in den Herzkristall ein. Ein leeres Paar Stiefel von König Nolan kam durch die Balkontür geschwebt und begann vor der brütenden Prin zessin zu tanzen. Königin Genevieve sagte: »Alyss.« Etwas in ihrem Tonfall ließ das Mädchen aufschrecken. Die Stiefel polterten zu Boden. »Es ist alles in deinem Kopf«, seufzte die Königin. »Denk immer daran, Alyss. Was auch geschieht, es ist alles in deinem Kopf.« 22
Ihre Worte waren Ermahnung und ein Ausdruck von Hoffnung zugleich: Königin Genevieve, die sich der fins teren Mächte bewusst war, die irgendwo im Ödland der Schachbrettwüste zugange waren, wusste, dass Glück und Zufriedenheit nicht ewig währten. Früher oder später würde das Wunderland angegriffen werden, und wenn das Reich dann bestehen wollte, würde es alle Fantasie brauchen, die Alyss besaß – und noch einiges mehr.
23
2
Nolan und seine Männer hetzten ihre Troll K önig doggen im Galopp einen schmalen Gebirgskamm im Äußeren Wilden Bestiarien entlang. Trolldoggen wa ren Vierbeiner, die vorn wie eine Bulldogge gebaut wa ren, deren Hinterteil jedoch schmal und schwanzlos aus lief. Sie hatten flache Schnauzen mit faustgroßen Nüstern und träge blinzelnde Augen. Für innerländische Reisen gab es schnellere Verkehrsmittel, aber für Reisen nach Grenzland hatten sie sich als am effektivsten erwiesen – sie waren die einzigen Lebewesen, die gleichzeitig einen Mann und als Geschenke dienende Weine und Kristalle tragen konnten und es doch in annehmbarer Geschwin digkeit durch das unwegsame Gelände des Äußeren Wil den Bestiarien schafften. König Nolan war nicht sonderlich erpicht auf diese Reise gewesen. Er hatte sie zum Wohl des Königinnen reichs unternommen. Eine Unterredung in letzter Minute mit König Arch von Grenzland, um ihn für eine Allianz ihrer beiden Länder gegen Redd zu gewinnen. Solche Unterredungen zu führen war natürlich Genevieves ange stammtes Recht, aber sie hatte es für klüger gehalten, stattdessen ihren Mann zu schicken: Grenzland war ein Königreich; König Arch hielt nichts von Königinnenrei chen. Eine Frau, so seine erklärte Meinung, hatte auf dem Thron nichts zu suchen. König Arch empfing Nolan, als sei ihm allein schon sein Anblick zu viel. »Warum sollte ich eine Allianz ein 24
gehen wollen?«, fragte er, nachdem ihm Nolan die Grün de gerade dargelegt hatte. »Redd würde es nie wagen, Grenzland anzugreifen.« »Weil wir Nachbarn sind, Arch. Sollte Redd die Macht über Wunderland gewinnen, bekommt sie wahr scheinlich Lust auf mehr, und dann wäre Grenzland ihr nächstes Ziel.« »Ach, ich denke doch, dass ich mich gegen eine Frau auch ohne Allianz noch verteidigen kann.« Arch schnipp te mit den Fingern, und eine wohlgerundete Kurtisane trat hinter einem glitzernden Vorhang hervor, um ihm die Schultern zu massieren. »Abgesehen davon, dass es gegen meine Prinzipien verstößt, mit einem Königinnenreich zusammenzuarbeiten. Ich will nicht, dass die lachhaften Sitten eures Landes auf die weibliche Bevölkerung von Grenzland abfärben. Das Letzte, was ich brauche, sind Frauen mit irgendwelchen Rosinen im Kopf, von wegen sie sollten lieber ›etwas mit ihrem Leben anfangen‹, an statt sich um ihre ehelichen Pflichten zu kümmern.« »Ich würde mir eher darum Sorgen machen, welchen Einfluss ein von Redd regiertes Wunderland auf dein gesamtes Volk hat«, sagte König Nolan. König Arch machte tief in seiner Kehle ein Geräusch, ein zweifelndes Grunzen. »Ehrlich, Nolan, du steigst nicht gerade in meiner Achtung, wenn du dich immer dermaßen von deiner Frau herumkommandieren lässt.« König Nolan hatte noch nie das Gefühl gehabt, von Genevieve herumkommandiert zu werden. Er liebte seine Frau zum Teil gerade wegen ihrer Stärke, ihrer umsichti gen Erfüllung genau jener Pflichten, von denen Arch meinte, nur ein Mann dürfe sie schultern. Für Nolan kam nichts an die Liebe seiner zärtlichen, willensstarken Kö nigin heran. 25
»Also«, sagte Arch. »Ihr bekämt militärische Unter stützung bei der Verteidigung gegen eure Feinde, und was bekäme ich? Welche Vorteile hätte das Volk von Grenzland von diesem angestrebten Zusammenschluss?« »Ich kann euch Kristallabbaurechte innerhalb unserer Grenzen anbieten, dazu die halbjährliche Zahlung von einer Million Holithsteinen und die Unterstützung durch unser Heer, sollte sich dazu je die Notwendigkeit ergeben.« König Arch stand auf; die Unterredung war beendet. »Ich werde es mir überlegen und euch meine Entschei dung nächste Woche mitteilen lassen.« Nolan wollte unbedingt rechtzeitig zu Alyss’ Geburtstag im Herzpalast ankommen und machte darum aus der Rei se mit seinen Männern ein Rennen; sie ritten, so schnell sie konnten, und legten keine Rast ein. Noch lag ein hal ber Tagesritt vor ihnen. Den Gebirgskamm hatten sie inzwischen weit hinter sich, sie galoppierten über eine staubbedeckte Ebene. Auf einer Bergkuppe, der Herzpa last war schon am Horizont sichtbar, zügelte Nolan seine Trolldogge. Ein Windstoß trug – so bildete er sich jeden falls ein, denn sie waren noch ein ganzes Stück vom Pa last entfernt – die Klänge von Festlichkeiten, Musik und Gelächter heran. Seine Männer schlossen zu ihm auf. »Was gibt es?« »Sie wird mir nie verzeihen, dass ich das Fest ver säumt habe.« »Ich glaube, die Königin würde Euch alles verzeihen.« »Nicht die Königin. Die Prinzessin.« »Ach so. Mit ihr werdet Ihr Ärger kriegen.« Die Männer lachten. Mit Alyss würde König Nolan in der Tat Ärger kriegen, aber es würde welcher von der 26
angenehmen Sorte sein. Selbst wenn sie schmollte, war sie für ihn immer noch das reizendste Geschöpf der Welt. »Hü!« Mit einem verstärkten Gefühl der Dringlichkeit trieb der König seine Trolldogge an, heimwärts, herzwärts.
27
3
Schneeweiss stellte die Bücher und Arbeits N anik bögen für die morgendlichen Unterrichtsstunden
seines Schützlings zusammen. Nun, da sie sieben gewor den war, stand Alyss die vorschriftsgemäße Ausbildung zur Königin bevor. »Und es ist nicht leicht, eine Königin zu sein«, mur melte Nanik Schneeweiss vor sich hin. »Diese Tätigkeit bringt enorme Verantwortlichkeiten mit sich. Man muss Rechtskunde und Staatskunde und Ethik und Morallehre studieren. Man muss die Fantasie zur Förderung von Frieden und Harmonie ausbilden, und zwar den Prinzi pien der Weißen Imagination entsprechend, denn Schwarze Imagination will ja nun wirklich niemand ha ben. Und dann muss man es auch noch durch das Spie gellabyrinth schaffen.« Nanik Schneeweiss rezitierte in der Einsamkeit der Bibliothek des Herzpalastes aus ei nem alten wunderländischen Text, ›In reginam spera mus‹: »›Für eine jede künfftige Königin existiret ein eig nes spiegellabyrinth. Das labyrinth muss von der künffti gen Königin erfolgreich durchschritten werden, fürdass sie den vollen umfang ihrer Vorstellungskraft erreiche und solchermaßen die regirungsfähigkeit erlange.‹« Der Lehrer fügte mit einem Seufzer hinzu: »Und wo sich das Spiegellabyrinth befindet, wissen allein die Raupen.« Nanik Schneeweiss war ein Albino, einen Meter acht zig groß, mit blaugrünen Adern, die sichtbar unter seiner Haut pulsierten, und Ohren, die ein bisschen groß geraten 28
waren – dermaßen empfindliche Ohren, dass er das Flüs tern von jemandem hören konnte, der drei Straßen ent fernt war. Er war hochintelligent, hatte jedoch die Ange wohnheit, Selbstgespräche zu fuhren, was nicht wenige Leute befremdlich fanden, vor allem Mitglieder der Fa milien Karo, Pik und Kreuz, die ihm nicht verziehen, dass er seit Jahrzehnten statt ihrer Töchter die Herztöch ter unterrichtete. Nanik kümmerte es jedoch wenig, was andere über ihn dachten. Er unterhielt sich gern mit ge bildeten Leuten, und weil es nicht viele Leute gab, die so gebildet waren wie er, führte er eben Selbstgespräche. »Alles Gute zum Geburtstag, zum Geburtstag viel Glück!« Nanik stieß eine Doppeltür auf, die in die königlichen Gärten hinausführte, und der vielstimmige Gesang wäre seinen überaus feinen Ohren schmerzhaft laut vorge kommen, hätte es sich um ein anderes Lied für eine ande re Prinzessin gehandelt. Aber was zum Lobe von Alyss geschah, konnte ihm gar nicht zu viel sein. Unter den im Garten versammelten Gästen, die in den Gesang der reichlich vorhandenen Sonnenblumen, Tulpen und Mar geriten mit einstimmten (Blumen besaßen die schönsten Singstimmen Wunderlands), erspähte Nanik verschiede ne Angehörige der Farbfamilien – er verbeugte sich vor der Karodame, als ihre Blicke sich begegneten – sowie General Doppelgänger, den Oberbefehlshaber des könig lichen Heeres, der sich unversehens in die Zwillingsges talten der Generäle Doppel und Gänger teilte, um dem Lied statt einer gleich zwei Stimmen zu leihen. Nanik verneigte sich vor der blauen Raupe – diesem Wahrsten der Wahrsager, Magischsten aller Magier, Weisesten der Weisen –, die zusammengerollt in einem Winkel des Gartens saß und ihre Wasserpfeife rauchte, während ein 29
Gwynuk – ein kleines Wesen mit dem Körper eines Pin guins und dem zerknitterten Gesicht eines alten Mannes – auf ihrem Rücken herumwatschelte. »Watscheln ist eine unterschätzte Kunst«, hörte Nanik den Gwynuk zur Raupe sagen. »He, lass mich mal ziehen.« »Ahem hmm hmm«, grollte die Raupe, die ihre Pfeife nie mit Gwynuks teilte, nicht einmal zu einem solchen Anlass wie dem Geburtstag von Prinzessin Alyss. »Rau chen ist ungesund.« »Es ist wahrhaftig ein besonderer Tag, wenn eine Raupe den ganzen Weg vom Tal der Pilze herunter kommt, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen«, mur melte Nanik Schneeweiss vor sich hin und sah zu, wie zwei Trolldoggen eine riesige Torte zu Alyss zogen, auf der anstelle von Kerzen ein Schwarm Tattelfinken glüh te und mit den Flügeln schlug. Neben dem Geburtstags kind stand die Königin und hinter ihr Mac Rehhut, ein führender Agent des unter dem Namen »Modisterei« bekannten Elite-Sicherheitsdienstes und persönlicher Leibwächter der Königin. Angetan mit dem zur Stan dardausrüstung der Modisten gehörenden Rucksack, einem langen Mantel, breiten Armbändern und dem Zy linderhut, den er nur bei gewaltsamen Auseinanderset zungen abnahm, blieb er als Einziger in der Menge ru hig und wachsam. Das Lied verklang. Die Gäste applaudierten, und Kö nigin Genevieve sagte: »Wünsch dir etwas, Alyss.« »Abgesehen davon, dass ich mir wünsche, Vater wäre nie auf diese Reise gegangen«, verkündete Alyss, »wün sche ich mir, für einen Tag Königin zu sein.« Die Krone ihrer Mutter erhob sich in die Lüfte und schwebte auf Alyss’ Kopf zu. Die Gäste lachten – alle außer Mac Rehhut, der nie lachte. 30
»Mac Rehhut«, seufzte Nanik, »sogar Sie sollten ab und zu fünf gerade sein lassen und ein bisschen vergnügt sein.« »Du wirst noch früh genug Königin werden«, sagte Genevieve zu ihrer Tochter. Die Imaginationskraft der Königin war nicht gerade schwach, und die Krone schwebte zurück auf ihren Kopf. Alyss bemerkte Nanik an der Tür zur Bibliothek und beschloss, sich einen kleinen Spaß zu gönnen. Es war das Mindeste, was sie tun konnte, bis sie Dodd fand. Sie flüs terte: »Möchten Sie etwas Torte, Nanik Schneeweiss?« Der Lehrer nickte, und sie brachte ihm ein Stück Torte auf einem essbaren Teller aus Schokolade. »Alles Gute zum Nichtgeburtstag«, sagte sie. »Es ist Rosinen-Sahnetoffee-Torte mit Erdnussbutter, Nougat und Fruchtknallern. Die allerbeste.« Nanik starrte das Tortenstück an. »Ja, ahm … danke, Alyss. Ich fürchte jedoch, du wirst nicht mehr so nett zu mir sein, wenn wir erst mit dem Unterricht angefangen haben.« »Ich brauch überhaupt keinen Unterricht«, sagte Alyss. »Ich imaginiere einfach, dass ich alles weiß, und schwupps, schon weiß ich es; also brauchen Sie mir kei nen zu geben.« Nanik stocherte in dem Kuchen herum und untersuch te ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Mein liebes Kind«, sagte er, »man kann sich nicht alles herbeifanta sieren, weil man gar nicht alles kennt, was man sich her beifantasieren könnte. Genau da setzt der Unterricht an. Glaub mir, ich kenne mich damit aus. Ich habe deine Großmutter und deine Mutter unterrichtet, und jawohl, ich habe auch die Frau zu unterrichten versucht, deren Namen wir hier nicht nennen wollen – nämlich deine Tante Redd –, aber ersparen wir uns das.« 31
Nicht im Geringsten überzeugt, dass er das wirklich tun sollte, führte Nanik die Kuchengabel zum Mund. Er kaute einmal, zweimal, aber irgendetwas stimmte nicht; die Masse schien sich in seinem Mund zu bewegen. Alyss brach in Lachen aus. Nanik spuckte den halb zer kauten Bissen in seine Hand und sah, dass es keine Torte mehr war, sondern eine Hand voll Würmelchen. »Reingelegt!«, rief Alyss und rannte davon. Der Streich mit den Würmelchen war nicht nett gewe sen, ganz und gar nicht, aber Nanik war bereit, zu verge ben und zu vergessen. Alyss war jung, sie hatte noch viel zu lernen. In gewisser Weise mochte sie an Redd erin nern, aber er war zuversichtlich, dass sie als Erwachsene anders sein würde. Dafür würde er schon sorgen. Außer dem musste Alyss sich ja schließlich irgendwie beschäf tigen, das konnte er ihr schlecht vorwerfen. Es gab im Palast kaum Kinder in ihrem Alter. Er warf einen letzten Blick in die Gärten. Die blaue Raupe war irgendwohin verschwunden. Die Generäle Doppel und Gänger steckten wieder in einem Körper und unterhielten sich – beziehungsweise General Doppelgän ger unterhielt sich mit Dodds Vater, Justus Anders, dem Hauptmann der Palastgarde. Mac Rehhut folgte der Kö nigin wie ein schützender Schatten und war so aus druckslos wie immer. Nanik zog sich in die Bibliothek zurück, wo Bilderbü cher aus Alyss’ frühester Kindheit neben einer zehnbän digen Chronik des Bürgerkriegs standen, die aus ver schiedenen Blickwinkeln geschrieben war – von den Kartensoldaten, die an der Front gekämpft hatten, über Angehörige der Schachkämpfermiliz, General Doppel gänger und seine Offiziere bis hin zu Königin Genevieve persönlich. Die Chronik enthielt auch eine Aufstellung 32
sämtlicher Gefallener in den verschiedenen Schlachten sowie Erläuterungen der Strategien, die so viele Leben gefordert hatten. Nanik nahm den ersten Band der Chro nik aus dem Regal und legte ihn zu den anderen Büchern und Arbeitsblättern, die er für Alyss’ Unterricht zusam mengestellt hatte. Das Buch beinhaltete einen Katalog der von Redd begangenen Gräueltaten – Folter, die Ab schlachtung Gefangener, Massengräber. Der Lehrer hatte Redds Abgleiten ins Diabolische immer als sein persön liches Versagen betrachtet, als Folge seines erzieheri schen Scheiterns. »Es ist nie zu früh für eine künftige Königin, sich mit den Schattenseiten der Staatslenkung vertraut zu ma chen«, sagte er sich.
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4
Nolan und seine Männer hatten das Äußere K önig Wilde Bestiarien hinter sich gelassen. Sie passier ten einen schmalen Streifen des Ewigwalds und presch ten nun durch die östlichen Außenbezirke von Wun dertropolis, eine beinahe ländliche Gegend, wo Bauern wohnten und Leute, denen das Großstadtleben zu hek tisch war – als ihre Trolldoggen plötzlich scheuten und sich auf die Hinterbeine stellten. Überall in der friedli chen Landschaft lagen, auf den ersten Blick harmlos wir kend und zum Teil in den bereits länger werdenden Schatten verborgen, Redds Kartensoldaten, in sauberen, flachen Stapeln, jeder zweiundfünfzig Soldaten stark, bereit für Befehle. »Redds Karten sind gestapelt.« Also spielte König Archs Entscheidung, wie immer sie ausfallen mochte, keine Rolle mehr; Wunderland konnte es sich nicht mehr leisten, ein oder zwei Wochen auf sei ne Antwort zu warten. »Wir müssen den Palast warnen«, sagte König Nolan. Einer seiner Männer zog einen Spiegelkommunikator aus seiner Satteltasche und begann auf der Tastatur eine verschlüsselte Nachricht zu tippen. Hätte der Soldat noch die »Senden«-Taste drücken können, wäre seine Nach richt auf einem Kristallschirm im Sicherheitskontroll zentrum des Herzpalastes erschienen. Aber mit einem Geräusch, das dem Ritschratsch einer Schere glich, fä cherte sich ein Kartenstapel auf, der im nahe gelegenen 34
Unterholz verborgen gewesen war, und umzingelte den König und seine Männer. Die Luft war erfüllt von den Kriegsschreien von Redds Soldaten und dem Todesrö cheln aus den Kehlen von König Nolans Männern. Der Spiegelkommunikator fiel auf einen Felsen und zerbrach, sein Besitzer war tot, bevor das Gerät noch aufschlug. Die Wunderländer standen einer fünffachen Über macht gegenüber. Im Zentrum des Gefechts ließ König Nolan sein Schwert wirbeln, immer noch hoch oben auf seiner Trolldogge, als eine Gestalt in einem scharlachro ten Umhang durch das Getümmel schritt, ohne dass je mand Hand an sie legte, und ihm das Herz mit ihrem spitzen Zepter durchbohrte. »Meine Königin …«, ächzte er und brach tödlich ge troffen zusammen. Blut rann aus seinen Mundwinkeln. »Meine Königin …«
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reingelegt, reingelegt! Feixend ließ R eingelegt, Alyss den stirnrunzelnden Nanik Schneeweiss mit seinen halb gekauten Würmelchen zurück und lief in den Issa-Saal des Palastes, wo sie endlich Dodd Anders fand, der dort in Habtachtstellung auf sie wartete. Er machte ein Gesicht, als würde er, wenn nötig, auch sein ganzes Leben lang auf sie warten. »Wo hast du denn gesteckt?«, fragte sie atemlos. »Ich dachte schon, du willst mich ignorieren.« »Ich musste dir schließlich ein Geschenk besorgen, oder nicht? Warum bist du gerannt?« »Einfach so.« »Aha.« Dodd war klar, dass sie irgendetwas angestellt hatte – sie stellte immer irgendetwas an –, aber er beließ es dabei. Er gab ihr ein Schächtelchen, das mit rotem Band verschnürt war, und verneigte sich. »Herzlichen Glückwunsch, Prinzessin.« »Lass den Blödsinn.« Alyss mochte es nicht, wenn ihr bester Freund sich vor ihr verbeugte, und das wusste er auch. Hatte sie ihm nicht schon unzählige Male gesagt, dass er es gefälligst bleiben lassen sollte, auch wenn er dreimal ein Bürgerlicher war? Er war drei Jahre und vier Monate älter als sie. Fand er es etwa gut, sich vor einem jüngeren Mädchen zu vernei gen? Und was war überhaupt so schlimm oder gering daran, ein Bürgerlicher zu sein? Es gab Dodd die Frei heit, außerhalb der Palastmauern herumzustromern, und 36
dagegen hätte Alyss selbst ganz und gar nichts gehabt. So eigensinnig und unternehmungslustig sie auch war, bisher hatte sie den goldenen Käfig noch nie verlassen, den der Herzpalast für sie darstellte. Sie machte das Geschenk auf und starrte auf einen glänzenden, scharfen, dreieckigen Zahn hinab, der in der ausgepolsterten Schachtel lag. »Ein Jabberwockzahn«, sagte Dodd. »Du hast das Ungeheuer doch hoffentlich nicht selbst getötet?« Jabberwocks waren gewaltige, grausame Kreaturen, die in der Vulkaneinöde lebten – einem Land voll aktiver Vulkane, Lavaströme und giftige Dämpfe ausstoßender Geysire, das zu betreten höchst gefährlich war. Aber Dodd war alles zuzutrauen. Schon seit er sich mit drei Jahren die viel zu große Uniformjacke seines Vaters an gezogen hatte, stand sein weiterer Lebensweg fest. Dodd wollte nichts lieber als in die Fußstapfen seines Vaters treten, der sich im Bürgerkrieg durch seine Tapferkeit ausgezeichnet hatte und zur Belohnung von der Königin höchstpersönlich zum Hauptmann der Palastgarde beför dert worden war. Nun stand Dodd in seiner eigenen wap penbestickten Gardistenuniform vor Alyss. »Nein, ich habe den Jabberwock nicht getötet«, sagte er. »Ich hab den Zahn in einem Laden gekauft.« »Ich werde ihn für immer behalten«, sagte Alyss. Sie fädelte den Zahn auf ihre Halskette. Sie war mit Dodd zusammen aufgewachsen und konnte sich an keine Zeit ihres Lebens erinnern, in der er nicht ihr Abenteuer gefährte gewesen war. Neben ihrem Bett bewahrte sie einen holografischen Kristall auf, der ihn zeigte, wie er ihr mit vier Jahren einen Kuss auf die Wange gab, wäh rend sie in ihrem königlichen Kinderwagen saß. Im Hin 37
tergrund standen Hofbeamte und runzelten die Stirn. Wa rum sie so missbilligend guckten, hatte Alyss nie ver standen, aber sie hielt den Kristall trotzdem in Ehren. Dodd wurde jedes Mal verlegen, wenn sie ihm die Ho lografie zeigte, also zeigte sie sie ihm oft. Ihm war klar, warum die Hofbeamten die Stirn runzelten: wegen der Gewichtigkeit der Klassenunterschiede und weil man besser mit seinesgleichen Umgang pflegte. Alyss scherte sich vielleicht nicht um solche Sachen, aber Justus An ders hatte seinem Sohn die Situation dargelegt, und Dodd begriff, dass es zum Dasein eines erfolgreichen Gardisten gehörte, sich an das zu halten, was als schicklich angese hen wurde, und es nicht zuzulassen, dass seine Gefühle für irgendjemanden – vor allem für Alyss – seine Pflicht erfüllung gefährdeten. »Du wirst die Prinzessin niemals heiraten dürfen, Dodd«, hatte sein Vater erklärt, mitfühlend und sogar ein bisschen stolz, dass die Prinzessin an seinem Sohn Gefal len gefunden hatte. »Sie wird eines Tages deine Königin sein. Du kannst ihr deine Zuneigung zeigen, indem du ihr so gut dienst, wie es dir nur möglich ist, aber heiraten muss sie jemanden von den Farben, und in ihrem Alter gibt es da nur den Karobuben. Es tut mir leid, Dodd, aber die Prinzessin und du … so werden die Karten nicht fal len.« »Ich verstehe, Vater.« Aber das war nur die halbe Wahrheit gewesen; Dodds Kopf verstand, nicht jedoch sein Herz. »Musst du nicht noch irgendwelche militärischen Übungen machen?«, fragte Alyss gerade. »Üben kann nie schaden, Prinzessin.« »Hör auf, mich so zu nennen. Du weißt, dass ich das nicht ausstehen kann.« 38
»Ich kann nie vergessen, wer und was du bist, Prinzes sin.« Alyss schnalzte mit der Zunge. Manchmal konnte Dodds Ernsthaftigkeit wirklich ermüdend sein. »Ich habe eine neue militärische Übung für dich. Wir tun beide so, als würden wir uns auf einem Fest vergnügen. Musik spielt, es gibt massenhaft leckeres Essen, und du und ich fangen zu tanzen an.« Sie hielt ihm ihre Hand hin. Dodd zögerte. »Nun komm schon.« Er legte einen Arm um Alyss’ Taille und bewegte sich mit ihr sanft im Kreis herum. Er hatte die Prinzessin noch nie berührt – jedenfalls nicht so. Sie duftete nach süßer Erde und nach Puder. Es war ein sauberer, zarter Duft. Rochen alle Mädchen so oder nur Prinzessinnen? Eine eingetopfte Sonnenblume in der Zimmerecke begann ihnen ein Ständchen zu bringen. »Das ist keine militärische Übung«, sagte er und un ternahm einen zaghaften Versuch, sich zu befreien. »Ich befehle dir, nirgendwo anders hinzugehen. Wäh rend wir tanzen, kommen Redd und ihre Soldaten ins Zimmer gestürzt. Es handelt sich um einen Überra schungsangriff. Alles schreit und flieht. Menschen ster ben. Aber du bleibst ruhig. Du versprichst mir, mich zu beschützen.« »Du weißt, dass ich dich beschützen würde, Alyss.« Er war erhitzt und ein wenig benommen. Die Prinzessin war ihm ganz nahe. Er konnte ihren Atem auf der Wange spüren. Er war der glücklichste Junge im ganzen Reich. »Und dann kämpfst du gegen Redd und ihre Solda ten.« Er wollte sie nicht loslassen, aber er tat es doch, schwang drohend sein Schwert. Er focht mit seinen ima 39
ginären Feinden, wirbelte umher und duckte sich weg, wie Mac Rehhut es tat, den er oft beim Kampftraining beobachtete, um von ihm zu lernen. »Und nach vielen gefährlichen Situationen«, erzählte Alyss, »in denen dein Leben an einem seidenen Faden hing, besiegst du die Soldaten und durchbohrst Redd mit deinem Schwert.« Dodd war ganz bei der Sache, als er sein Schwert in die Luft stieß, wo er sich Redd vorstellte. Er tat so, als würde er sein Werk betrachten, die um ihn herum ver streuten erschlagenen Feinde, und steckte sein Schwert in die Scheide zurück. »Ich bin gerettet«, fuhr Alyss fort, »aber erschüttert von dem, was ich gerade miterleben musste. Du beru higst meine Nerven, indem du mit mir tanzt.« Wieder begann die Sonnenblume in der Ecke mit ih rem Ständchen. Diesmal ergriff Dodd Alyss, ohne zu zögern, und wirbelte sie im Zimmer herum. Er hatte sich mitreißen lassen, obwohl er wusste, was sein Vater davon halten würde. Er schwelgte in Gefühlen, die er nie hätte zulassen dürfen. »Wirst du mein König sein, Dodd?« »Wenn es Euch gefällt, Prinzessin«, sagte er in dem Versuch, nonchalant zu sein, »ich –« »Heda, Diener, putz meine Stiefel!«, rief jemand im Flur. »Tu, was ich dir sage!« Dodd trat schnell von Alyss zurück und nahm Habt achtstellung ein. »Wascht meine Weste, macht mein Bett, pudert meine Perücke!«, brüllte der Jemand. Der zehn Jahre alte Karobube, Stammhalter seiner Familie, kam in den Issa-Saal marschiert. Als er Alyss und Dodd erblickte, blieb er stehen. 40
»Was machst du da?«, fragte Alyss ihn. »Ich übe mich darin, eine herrschaftliche Persönlich keit zu sein, was denn sonst?« Der Karobube hätte ein hübscher Junge sein können, wäre da nicht seine flegelhafte Art gewesen und die Tat sache, dass er das ausladendste, rundeste Hinterteil von ganz Wunderland besaß. Es sah aus, als ob er ein bom bastisches Kissen hinten in der Hose stecken hätte. Au ßerdem hatte er die alberne Angewohnheit, eine lange, weiß gepuderte Perücke zu tragen, weil er gehört hatte, dass die reichen Leute anderer Welten gepuderte Perü cken trugen. Er musterte die leere Schachtel und das Ge schenkband auf dem Boden und besah sich den Jabber wockzahn, der an Alyss’ Halskette hing. »Die Frage ist«, sagte er, »was macht ihr da?« Weder Alyss noch Dodd antworteten. »Spielst wohl Liebespaar mit der Prinzessin, was?« Er lachte und trat an Alyss heran, berührte den Jabberwock zahn, der an ihrer Kehle baumelte. »Fass ihn nicht an«, drohte Dodd. »Liebste Prinzessin, wenn wir älter sind und du meine Frau bist, schenke ich dir Diamanten und noch mehr Di amanten und keine verfaulten Zähne von irgendwelchen blöden Tieren.« »Geh doch bitte einfach«, bat Alyss. »Lass sie in Ruhe«, sagte Dodd. »Im Ernst.« Der Karobube wandte das Gesicht dem Gardistensohn zu. Er legte einen Finger an die Lippen und tat so, als müsse er überlegen. »Lass mal sehen … ach, jetzt hab ich’s. Ene mene mu, ich bin wichtiger als du.« Dodd ließ seine Fäuste fliegen und schlug den Karo buben zu Boden, dass er mit verrutschter Perücke alle viere von sich streckte und überhaupt nicht mehr wie ei 41
ne hochrangige Persönlichkeit aussah. Dodd wappnete sich zum Kampf, aber der Karobube machte, dass er auf die Füße kam, und rannte aus dem Zimmer und den Flur zu den königlichen Gärten hinab. »Wir müssen abhauen, wenn wir keinen Ärger kriegen wollen«, sagte Alyss. »Er wird dich bei seinem Vater verpetzen.« Es gehörte sich ganz und gar nicht für einen Gardisten, aber Dodd packte Alyss bei der Hand und zog sie zu ei ner lebensgroßen Statue von Königin Issa, Alyss’ Ur großmutter. Er drückte auf den Rubin vorn in Issas Kro ne, und in der Wand öffnete sich eine Tür, der Zugang zu einem der vielen Personaltunnel, die unter dem Herzpa last verliefen. »Wo gehen wir hin?«, fragte Alyss. »Wirst du schon sehen.« Hand in Hand liefen sie den Tunnel hinab, an Gardis ten vorbei, die zu ihren Wachtposten unterwegs waren, und an Dienern, die Platten mit Lachgummis, warmen Wunderkringeln und Feuertörtchen schleppten.
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man eine Königin ist, kann selbst die heiters W enn te Konversation an einem Festtag zu einer Dis
kussion unangenehmer Themen führen. In den königli chen Gärten befand sich Genevieve unversehens mitten in einem Gespräch mit der Kreuzdame und der Pikdame über den unerwünschten Einfluss von Geheimbünden der Schwarzen Imagination auf die Jugend des Wunderlan des. »Angeblich trinken sie das Blut von Jabberwocks«, sagte die Pikdame. »Also ich finde es abscheulich, dass die Jugend von heute den Frieden und die Harmonie, die derzeit im Kö niginnenreich herrschen, als etwas Selbstverständliches betrachtet«, erklärte die Kreuzdame. »Es ist fast so, als würde sie die Verhältnisse einfach nur des Umstürzens wegen umstürzen wollen.« »Wir haben die Modisterei darauf angesetzt; sie hat bereits zahlreiche dieser Gruppen unterwandert«, infor mierte Königin Genevieve sie. »Tatsächlich?« Die Kreuzdame unterstützte jedes Bestreben, das Ge nevieves Thron ins Wanken bringen konnte. Sie lächelte die Königin an und beschloss einigermaßen widerwillig, ihre Förderung schwarzimaginativer Gruppierungen ein zustellen. In ebendiesem Moment wurde der Karobube, der ge rade einen herzförmigen Flur zu den Gärten entlanglief, 43
unvermittelt hochgehoben, so dass ihm die Perücke schon wieder schief über dem Gesicht hing. Er strampel te mit den Füßen und versuchte sich loszuwinden. »Wozu die Eile, kleiner Mann?«, fragte Nanik Schneeweiss. »Was plagt dich denn?« »Der kleine Mann sind ja wohl Sie!«, sagte der Karo bube. »Hmm, nun ja … im großen Plan des Kosmos bin ich ein kleiner Mann. Wir sind alle recht klein, wenn man es von dieser Warte aus sieht. Gutes Argument, mein Jun ge.« Der Karobube hatte keine Ahnung, wovon der Weiß käse da sprach, und es war ihm auch egal. »Lassen Sie mich runter, Sie Lehrer!« Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, ver suchte er seine Perücke zurechtzurücken, was damit en dete, dass sie fast genau verkehrt herum saß. Dann be richtete er, wie aus heiterem Himmel Dodd hinter einem Bücherregal hervorgeschossen war und ihn niederge schlagen hatte, so dass seine Strumpfhosen nun ganz schmutzig waren. Dabei hatte er doch nur der Prinzessin beistehen wollen, die der nicht zum Adel gehörende Dodd zu küssen versucht hatte, und nun war er auf dem Weg, seinem Vater und Königin Genevieve davon zu erzählen, damit sie Dodd in die Kristallminen deportieren ließen, was gewiss keine zu harte Bestrafung für ein so schweres Verbrechen war. »Das sind schwere Verbrechen«, stimmte Nanik Schneeweiss zu. »Aber findest du nicht, dass es allmäh lich Zeit wird, dich den Verantwortlichkeiten deines Standes zu stellen?« Der Junge wurde misstrauisch. »Kann schon sein.« »In deinem Alter solltest du zum Verhängen einer 44
Strafe nicht mehr die Hilfe deines Vaters brauchen. Ich werde den Missetäter aufspüren und zu dir bringen. Geh und iss eine ordentliche Portion Feuertörtchen und erzäh le niemandem von diesem schrecklichen Vorfall, bis ich wieder da bin. Du wirst die Königin mit deiner wohler wogenen Bestrafung von Dodd überraschen, da bin ich mir ganz sicher.« Nanik sah zu, wie der Junge den Weg zu den königli chen Gärten hinunterstolzierte und sein rundes Hinterteil dabei hin- und herwackelte. Mit seinen hoch empfindli chen Ohren hatte Nanik Schneeweiss alles gehört, was im Issa-Saal vorgefallen war. Erst als er sich davon über zeugt hatte, dass der Karobube seinen Eltern nichts von der Bagatelle erzählte, erst als er hörte, wie der Junge gierig ein Feuertörtchen verschlang, machte er sich auf die Suche nach Alyss und Dodd. Er legte den Kopf schief und lauschte in die Ferne. Er hörte, wie sich ein Ehepaar über seine bevorstehende Safari durch das Äußere Wilde Bestiarien unterhielt. Er hörte drei Straßen weiter einen Mann flüstern. Und dann hörte er ein Durcheinander un tertäniger Stimmen. Seinem Gehör folgend, machte er sich auf den Weg aus dem Palast hinaus. Alyss und Dodd liefen eine Reihe von Personalgängen entlang. Alyss, der es ziemlich Spaß machte, lachte krei schend; Dodd hingegen war von geschäftsmäßigem Ernst, bis er mit der Schulter eine Tür aufstieß und sie hinaus ins Tageslicht von Wundertropolis traten. Zum ersten Mal in ihrem Leben befand sich Prinzessin Alyss außerhalb der Palastmauern. »Hui.« Es war eine ausgelassene Szene: Wunderländer tanz ten, musizierten, führten kleine Stücke auf. Ein Ladenbe 45
sitzer erkannte Alyss, fiel auf die Knie und wünschte ihr respektvoll Gesundheit und ein langes Leben. Als sie sahen, wer unter ihnen weilte, folgte ein Wunderländer nach dem anderen seinem Beispiel, und in weniger als einer halben Minute standen Alyss und Dodd inmitten einer sich verbeugenden, ehrerbietigen Menge. »Ahm, ja«, sagte Dodd laut und an niemand Bestimm tes gerichtet, »sie sieht der Prinzessin Alyss sehr ähnlich, nicht wahr? Aber sie heißt Stella. Sie ist ein ganz ge wöhnliches Mädchen.« Die Leute hoben die Köpfe und sahen einander an. Wie konnte dieses schöne Mädchen mit den sanften Au gen und den schwarzen Haaren, das wie die Prinzessin gekleidet war, nicht Alyss sein? Ihre Verwirrung legte sich erst, als Nanik Schneeweiss auf der Bildfläche er schien. Wenn der Hoflehrer nach ihr suchte, dann musste es Prinzessin Alyss sein. Als sie Nanik erblickte, rief Alyss: »Lauf!« Aber der gelehrte Albino war ziemlich schnell und hätte sie im Nu eingeholt, wären aus seinem Talar nicht plötzlich die flu oreszierenden Federn eines Tattelfinken gesprossen, so dass der Stoff sich um ihn herum aufblähte und ihn in die Luft hob. »Alyss, nicht!« Dodd warf einen Blick nach hinten. »Was –« »Das war eigentlich gar nicht meine Absicht«, sagte Alyss. So sollte sie ihre Imagination nicht einsetzen, das wusste sie genau. »Ich wollte bloß, dass er uns nicht kriegt.« Für einen winzigen Moment stellte sie sich Na nik wieder ohne Federn vor, und zack!, war es so. Nanik fiel auf den schlammigen, durchweichten Gras boden und versuchte schlitternd und rutschend sicheres Pflaster zu erreichen, aber da waren Alyss und Dodd 46
schon über alle Berge. Sie liefen gepflasterte Wege hin ab, sausten durch schmale Gassen und überquerten Hauptverkehrsstraßen. Schließlich wichen die polierten Ladenfronten und glitzernden Straßen der Hauptstadt einem Wäldchen. Die Bäume und Blumen zirpten über rascht, als sie die Prinzessin erblickten, gaben sich mög lichst voll erblüht und nahmen ihre Zweige und Blüten blätter aus dem Weg, wenn Alyss und Dodd vorbeiliefen. Die beiden sprangen über Felsen und Bachläufe, bis sie zu einem Abhang kamen und nicht weiterkonnten. Alyss sah von den Felsen in die Tiefe hinab. Unten erstreckte sich eine Wasserfläche, die auf allen Seiten von einem Kristallrand umgeben war. »Was ist das?«, flüsterte Alyss teils aus ehrfürchtigem Staunen und teils, weil sie nicht wollte, dass Nanik sie mit seinem feinen Gehör aufspürte. »Der Teich der Tränen wird er genannt«, antwortete Dodd ebenfalls flüsternd. »Es heißt, wenn man hinein fällt, landet man außerhalb von Wunderland, aber wirk lich wissen tut es niemand. Es sind schon Leute hinein gesprungen, aber nie ist jemand zurückgekehrt.« Alyss sagte nichts. »Manchmal kommen Leute her und warten auf die Rückkehr derjenigen, die hineingefallen sind. Sie weinen und lassen ihre Tränen ins Wasser tropfen. Daher sein Name.« Alyss starrte auf das Wasser hinab. Das war un gerecht. Wie konnte die Welt an ihrem Geburtstag so traurig sein? Sie versuchte sich vorzustellen, was sie tun würde, wenn Dodd oder ihr Vater oder ihre Mutter in den Teich der Tränen fielen. Wie würde ihr Leben sein ohne sie? Aber sie schaffte es nicht. Ihre Fantasie ließ sie im Stich. 47
»Wir sollten umkehren«, sagte Dodd. »Jawohl, jawohl«, sagten die Bäume und Büsche. Man würde nach ihnen suchen, das war Alyss klar, vielleicht sogar Mac Rehhut persönlich. Sie konnte nicht weglaufen davor, wer und was sie war. »Wenn wir einfach zurückgehen und so tun, als ob gar nichts passiert ist«, sagte sie, »vielleicht ist dann auch gar nichts passiert.« Dodd lieh ihr seine Uniformjacke – keine kleine Ges te, wenn man bedachte, was sie ihm bedeutete, und Alyss wusste das. Sie trug sie über ihrem Kopf wie ein Kopf tuch, um zu vermeiden, dass sie von Passanten erkannt wurde; ergänzt wurde die Tarnung von einer Raupen maske, die sie sich herbeifantasierte. Damit Nanik ihre Spur nicht aufnehmen konnte, schwiegen Dodd und sie während der Rückkehr zum Pa last, die ihnen viel kürzer vorkam, als ihre Flucht gewe sen war. Sehr bald gingen sie die Reihe prächtiger Springbrunnen entlang, die zum Haupttor führte. Alyss konnte hinter dem verschlossenen Eingang den schillern den Herzkristall sehen, der seine weißen Wolken aus Imaginationsenergie ausstieß. »Miau.« Ein Kätzchen mit goldenem Fell rieb sich an ihrem Bein. »Wo kommst du denn her?« Sie hob das Kätzchen auf. Es hatte ein Geschenkband um den Hals, und an dem Band war eine Karte mit einem schlichten Gruß befestigt: HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH, ALYSS! »ES hat mich trotz meiner Tarnung erkannt.« »Von wem ist es?« »Steht nicht drauf.« Dodd sah sich um, weil er wissen wollte, wer so groß zügig gewesen war, aber von den vielen Leuten, die die 48
Festlichkeiten vor dem Palast genossen, schenkte ihnen niemand die geringste Beachtung. »Es lächelt«, sagte er. »Ich wusste gar nicht, dass Kat zen lächeln können.« »Es lächelt, weil es sich freut, bei mir zu sein.« Alyss wollte ihr neues Schoßtier gar nicht mehr loslassen. Die Wachen am Haupttor kannten Dodd Anders, sag ten jedoch, dass sie seine Freundin nicht ohne entspre chende Genehmigung einlassen könnten. Alyss nahm ihre Maske ab. »Bitten untertänigst um Verzeihung, Prinzessin«, sag ten die Gardisten und schlossen das Tor prompt auf. »Wir hatten Euch hier nicht erwartet. Bitte verzeiht.« »Ich verzeihe Ihnen unter einer Bedingung«, verkün dete Alyss. »Sie dürfen niemandem sagen, dass Sie Dodd und mich außerhalb des Palastes gesehen haben. Kann ich mich auf Ihr Schweigen verlassen?« »Selbstverständlich, Prinzessin.« »Kein Wort.« Die Wachen verneigten sich. Alyss und Dodd betraten den Palast. Kaum war das Tor hinter ihnen verriegelt, sprang das Kätzchen vom Arm der Prinzessin und sauste die Halle hinunter. »Mieze, nein!« Aber das Kätzchen rannte weiter, als wüsste es genau, wo es hinwollte, als hätte es Dinge zu erledigen, Verab redungen einzuhalten. Was in der Tat zutraf.
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Genevieve zog sich für eine kurze Ruhe K önigin pause in ihre Privatgemächer zurück und überließ es ihren Gästen, sich selbst zu beschäftigen. Wortlos folgte ihr Mac Rehhut und stand im Flur Wache. Die Gemächer der Königin bestanden aus drei mitein ander verbundenen Räumen. Einer davon war mit gepols terten Sofas und riesigen Kissen angefüllt, auf die Ihre Hoheit sich zur Entspannung betten konnte; ein anderer war ein Ankleidezimmer, Unterbringungsort für die zahl reichen Prunkgewänder und Amtstrachten der Königin; und der dritte war ein Badezimmer, das mit quastenge schmückten Vorhängen aus einem Stoff versehen war, wie es ihn so üppig nur im Königinnenreich gab. Genevieve betrachtete ihr Gesicht im Badezimmer spiegel. An diesem Geburtstag ihrer Tochter kam sie sich ganz alt vor. Es war gar nicht so lange her, da hatte sie selbst mit der Ausbildung zur Königin angefangen. Sie sah Fältchen in den Augenwinkeln und neben dem Mund, die ein Jahr zuvor noch nicht dort gewesen waren. Es war ein Jammer, dass die Imagination ihre Grenzen hatte, dass sie das körperliche Erscheinungsbild nur zu einem gewissen Maß beeinflussen konnte und man sich nicht wieder jung fantasieren konnte. Was war das für ein Geruch? Ein bekannter, süß scharfer Duft. Sie sah eine bläuliche Rauchfahne und folgte ihr in den Salon, wo sie die blaue Raupe antraf, die sich um ihre Wasserpfeife geringelt hatte und verträumt 50
vor sich hin paffte. Normalerweise wäre Genevieve zor nig gewesen, wäre irgendjemand, von einer Riesenlarve ganz zu schweigen, ungeladen in ihr Allerheiligstes ein gedrungen. Aber die Raupe war keine gewöhnliche Rie senlarve. Es gab acht Raupen im Wunderland, jede von einer anderen Farbe. Es waren die großen Orakel dieser Weltgegend, die schon zu Anbeginn des Königinnenrei ches alt gewesen waren. Sie dienten dem Herzkristall und kümmerten sich nicht sonderlich darum, wer auf dem Thron saß, solange nur der Kristall sicher war. Es hieß, dass sie in die Zukunft sehen konnten, aber in letzter Zeit ignorierten immer mehr Mitglieder der Farben die Pro phezeiungen der Raupen und behaupteten, dass ein Ver trauen darauf nichts als dummer Aberglaube sei, ein Überbleibsel aus weniger zivilisierten Zeiten. Die Rau pen mischten sich nicht aktiv in Regierungsangelegenhei ten oder in die Rivalitäten zwischen den Farben ein, aber sie hatten nichts dagegen, Genevieve einen Blick in die Zukunft werfen zu lassen, wenn es um die Sicherheit des Herzkristalls ging. »Ich danke Ihnen für Ihr heutiges Kommen, Raupe«, sagte sie. »Es ist eine Ehre, jemanden von solcher Weis heit zu Gast zu haben. Wir sind alle zutiefst dankbar – vor allem Alyss.« »Ahem hmm hmm«, brummte die Raupe und stieß ei ne Rauchwolke aus. Der Rauch nahm die Form eines Schmetterlings mit ausgebreiteten Flügeln an und verwandelte sich dann in eine wirre Abfolge von Szenen. Genevieve sah eine rie sige Katze, die sich putzte. Sie sah etwas, das wie ein Blitzstrahl aussah. Sie sah Redds Gesicht. Dann formte sich der Rauch erneut zu einem Schmetterling. Der Schmetterling klappte die Flügel zusammen, und Gene 51
vieve erwachte auf dem Sofa, den Geruch von abgestan denem Tabakrauch in der Nase. Die Raupe war ver schwunden. Mac Rehhut und ein Walross in einer zwei Nummern zu kleinen Smokingjacke beugten sich über sie. »Ihr müsst ohnmächtig geworden sein«, sagte der Walrossbutler. »Ich hole Euch etwas Wasser.« Das Walross eilte aus dem Raum. Die Königin blieb einige Momente lang still, dann sagte sie: »Die blaue Raupe war hier.« Mac Rehhut runzelte die Stirn und legte eine Hand auf die Krempe seines Zylinders. Seine Augen suchten den Raum ab. »Ich bin mir nicht sicher, was sie mir gezeigt hat«, sagte Genevieve. »Ich werde General Doppelgänger und die übrige Mo disterei informieren. Wir werden Verteidigungsmaßnah men gegen alle nur erdenklichen Eventualitäten vorberei ten.« Einmal nur hätte Königin Genevieve gern in der dau ernden Wachsamkeit nachgelassen, die aufrechtzuerhal ten sie jede Stunde eines jeden Tages gezwungen war, um die Sicherheit von Wunderland zu gewährleisten. Die Vorhersagen der Raupen waren so vage. Manchmal spie gelten ihre Visionen nur Möglichkeiten wider, die finste ren Wunschträume jener, die sie gar nicht zu verwirkli chen gedachten. Aber Genevieve durfte kein Risiko ein gehen, nicht wenn es Redd betraf. »Stellen Sie sicher, dass unter den Gästen keine Unru he entsteht«, sagte sie. »Selbstverständlich.« Mac verneigte sich und verließ den Raum. Genevieve war froh, einen solchen Leibwächter zu 52
haben. Mac Rehhut konnte eine Klinge (oder auch meh rere zugleich) schneller und präziser führen als jeder an dere auf der Welt. Er war flink und akrobatisch. Wenn ihn Dutzende von Kanonenkugelspinnen zugleich angrif fen, wirbelte er so durch die Luft, dass ihn keine Einzige traf. Aber trotz all seiner Fertigkeiten konnte er die Kö nigin nicht immer und überall schützen. Wie hätte er ah nen können, dass die Vorsichtsmaßnahmen, die er gerade ergreifen wollte, sich als nutzlos erweisen würden – dass es bereits zu spät war?
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Fest hatte sich in den südlichen Speisesaal ver D aslagert, die meisten Gäste waren bereits nach Hause
gegangen. Das Walross bewegte sich um die lange Tafel herum, an der Königin Genevieve und die Farben saßen. »Ein Stück Zucker zum Tee, die Dame? Einen Trop fen Honig zum Tee, der Herr?« Genevieve lächelte höflich in die Runde, ohne den Vorgängen um sich herum viel Beachtung zu schenken. Ihre Gedanken waren bei der Warnung der Raupe und der Tatsache, dass König Nolan seit Stunden hätte zurück sein müssen und sie noch nichts von ihm gehört hatte. Ah, aber da kamen Alyss und Dodd. Was sie wieder an gestellt hatten, wusste allein Issas Geist. »Na, wenn das nicht das Mädchen der Stunde ist«, sagte sie. »Und wo habt ihr zwei gesteckt?« »Nirgends.« Alyss setzte sich mit unschuldiger Miene. Sie warf Dodd einen warnenden Blick zu – sag nichts –, und der nahm, so gelassen er konnte, seinen Posten als Gardist ein, genau seinem Vater gegenüber. Der Karobube fun kelte die beiden an. Er hatte Feuertörtchenkrümel auf den Wangen, vorn auf dem Wams und in der Perücke. Er machte gerade den Mund auf, um Dodds Strafe zu ver künden, da trat schlammbedeckt und gefiedert Nanik Schneeweiss ein. »Nanik!«, entfuhr es Königin Genevieve. »Was ist denn mit Ihnen passiert?« 54
»Ach, das ist halb so schlimm, würde ich sagen. Mein Talar hat gewisse – wie soll ich sagen? – vogelhafte Ei genschaften entwickelt, und auf einmal schwebte ich in der Luft. Glücklicherweise bin ich bald in eine Schlammpfütze gestürzt, aus der herauszukommen es jedoch einigen Erfindungsreichtums bedurfte.« Königin Genevieve blinzelte. »Alyss!« »Es war keine Absicht«, sagte Alyss. »Es ist einfach passiert –« Der Karobube sprang auf und zeigte mit einem Wurst finger auf Dodd. »Er hat es gewagt, meine adlige Person zu schlagen und Prinzessin Alyss zu entführen, und der Schmutz an ihren Schuhen beweist eindeutig, dass sie den Palast verlassen haben! Ich verlange, dass der Bür gerliche in die Kristallminen deportiert wird!« Die Farben fingen alle zugleich zu reden an, grummel ten missbilligend oder schnaubten ungläubig. »Nun beruhige sich alles bitte wieder«, sagte Königin Genevieve. »Nanik, ist das wahr?« »Nicht ganz«, antwortete Nanik. »Aber ich fürchte, die Kinder haben tatsächlich kurz das Grundstück verlas sen.« »Dodd Anders!«, bellte der Hauptmann. »Du kommst auf der Stelle her!« »Jawohl.« »In die Kristallminen!«, beharrte der Karobube mit vollem Mund und sprühte der Pikdame Krümel in die Haare. Der Karofürst erhob sich wie zu einer feierlichen An kündigung. »Gute und freundliche Königin, zum Aus gleich dieses unglückseligen Zwischenfalls erwarte ich eine Erhöhung von Land und Einkünften. Der Name mei ner Familie ist bis zur Unkenntlichkeit befleckt worden 55
durch das, was meinem Sohn durch die Hände dieses … dieses … Burschen widerfahren ist!« Er zeigte auf Dodd. Die Kreuzdame flüsterte ihrem Gatten ins Ohr: »Als ob noch jemand den Namen seiner Familie schädigen könnte, bei diesem Sohn.« Der Kreuzfürst prustete amüsiert. »Einen Moment mal!«, rief der Pikfürst und erhob sich. »Wenn die Karos mehr Land und Geld zugespro chen bekommen, dann wir wohl auch!« Königin Genevieve bekam allmählich Kopfschmerzen. »Es wird keine Erhöhung von Land und Einkünften ge ben, für niemanden.« Die Farben protestierten, die Stimmen erhoben sich in hitzigem Streit. Alyss’ Kätzchen kam in den Saal spa ziert. »Meine Katze!«, rief Alyss. Der Saal verfiel in Schweigen. »Deine –«, fragte Königin Genevieve, aber mehr be kam sie nicht heraus, bevor ein gewaltiger, grollender Erdstoß den Palast erschütterte. Kelche und Leuchter bebten, und das Kätzchen begann sich auf grausige Wei se zu verwandeln; seine Glieder dehnten und streckten sich, bis es auf zwei muskulösen Beinen stand. Die Vor derbeine hatten sich in zwei drahtige, kräftige Arme ver wandelt, und die Vorderpfoten waren Pranken, mit Kral len so scharf und lang und breit wie Fleischermesser. Sein Gesicht blieb katzenhaft, mit einer flachen rosa Na se, Schnurrhaaren und geifernden Reißzähnen. Das war kein niedliches Kätzchen mehr. Das war der Kater – Redds Killer, halb Mensch, halb Katzentier. Bevor General Doppelgänger oder der Hauptmann re agieren konnten, sogar bevor Mac Rehhut sich in mes serwirbelnde Aktion stürzen konnte, ertönten draußen 56
vor dem Speisesaal Schreie und eine Explosion. Die schweren Flügeltüren flogen auf, eine Wand stürzte ein, und eine Rotte von Redds Kartensoldaten kam mit erho benen Schwertern durch die gesprengte Öffnung ge stürmt. Mitten in dem zerborstenen Stein und zersplitterten Holz stand eine alptraumhafte Version von Genevieve, eine Frau, die Alyss noch nie zuvor gesehen hatte. »Kopf ab!«, kreischte die Frau. »Runter mit ihren blö den, nichtsnutzigen Köpfen!«
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Ausbildung der Soldaten hatte viel Zeit und D ieMühe gekostet. Es ärgerte Redd sehr, dass so vie
le Dummköpfe behaupteten, Schwarze Imagination zu praktizieren, aber nicht begriffen, welches Ausmaß an Arbeit nötig war, um sie einigermaßen zu beherrschen. Oder es mangelte ihnen an Ehrgeiz, an dem Ansporn durch Rachegelüste und lodernden Hass, der dazu bei trug, dass die Schwarze Imagination sich voll in ihnen entwickeln konnte. Doch solche Leute waren nie die dis zipliniertesten Mitglieder des Königinnenreichs gewesen. Redd war vor Jahren aus Wunderland verbannt worden und seither gezwungen, in einer heruntergekommenen Festung auf dem Einsamen Berg mitten in der Schach brettwüste zu leben – riesige vereiste Schneefelder, die sich mit schwarzen Felsflächen abwechselten, was aus der Luft wie ein riesiges Schachbrett aussah –, und sie hatte sich eine Streitmacht aus Deserteuren, Söldnern und Mördern zusammensuchen müssen. Viele von ihnen wa ren die Zweien und Dreien im Wunderlandkartenspiel gewesen, Kartensoldaten, die kaum mehr gewesen waren als Kanonenkugelspinnenfutter. Zum Glück hatte Redd auch Vieren, Fünfen und Sechsen zur Verfügung und einen bunten Haufen Exilwunderländer, die nicht zum Kartenspiel gehörten und die sich in ihrer schönen, strah lenden Heimat nie zu Hause gefühlt hatten. Wie viele Male in den vergangenen Jahren hatte sie ih re Ausbildungslager in der Hoffnung besichtigt, eine 58
vielversprechende Kriegsmaschinerie mit Reihen gut ausgebildeter, blutdürstiger Soldaten zu erblicken? Drei hundertsiebenundvierzig Mal. Und wie viele Male war sie enttäuscht worden, weil sie nur unfähige Einfaltspin sel zu sehen bekommen hatte, die durch schludrige, un durchdachte Militärmanöver stolperten? Dreihundert sechsundvierzig Mal. Einmal hatte sie eine Sechs ange troffen, einen Leutnant, der irgendeine zurückgebliebene Zwei zusammenstauchte, die ein flaumiges Meer schweinchen im Arm hielt. »Ich sag Ihnen, Sie sollen schwarze Gedanken herauf beschwören, und Sie kommen mir mit so was!«, hatte der Leutnant gebrüllt. »Ist ein Meerschweinchen böse? Hal ten Sie ein Meerschweinchen für die Verkörperung allen Übels?« »Vielleicht … wenn es ein richtig böses Meerschwein ist.« »Und? Sieht das hier wie ein richtig böses Meer schwein aus?« Der Leutnant und die Zwei hatten das Meerschwein chen beäugt, das im angewinkelten Arm des Soldaten saß und neugierig mit der Nase zuckte. »Das ist kein richtig böses Meerschwein!«, hatte der Leutnant gebrüllt. Obwohl sie jeden Mann brauchte, den sie kriegen konnte, hatte Redd die Zwei einen Kopf kürzer machen lassen. Dank der Stärke ihres unversöhnlichen Willens und der Ausbildung, der die Soldaten bei jedem Aufgehen des Mondes zehn Stunden lang unterworfen wurden, war ihre Armee schließlich doch bereit. Sie entschied sich für Alyss’ siebten Geburtstag als günstigsten Zeitpunkt für einen Angriff. Wunderland würde seine künftige Königin 59
feiern. Welcher Zeitpunkt konnte besser sein, sich zu holen, was ihr zustand? Sie würde den Wunderländern ihre künftige Königin schon geben, aber eine andere, als sie erwarteten. Sie sandte Sucher – todbringende Geschöpfe mit den Körpern von Geiern und den Köpfen von riesigen Insek ten – zur Luftaufklärung aus. Sie hatte sie selbst gezüch tet und trainiert. Ihre Truppen machten sich bereit, schärften Klingen, luden Blitzbälle. Redd stand vor ihnen auf den zerklüfteten Felsen des Einsamen Berges. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie alles Böse umarmen, und warf ihre Stimme in den Wind. »Viele Jahre ist es her, dass meine eigene Familie mich gezwungen hat, die Annehmlichkeiten meiner Heimat hinter mir zu lassen. Ich wurde aus der Machtpo sition entfernt, in die ich hineingeboren worden war. Ihr alle habt eure Heimat aus dem einen oder anderen Grun de verlassen müssen, und gemeinsam haben wir das Le ben in diesem unwirtlichen Land ertragen. Wo sonst hät ten wir überleben können? Aber das alles ist jetzt vor’ bei. Heute werden wir zum Land unserer Geburt zurück kehren und es nach unseren Vorstellungen neu formen – oder besser gesagt nach meinen Vorstellungen. Heute werden wir Geschichte schreiben. Aber …«, und hier schaute sie finster auf ihre Truppen hinab, die sich am Fuße des Berges versammelt hatten, »wenn es unter euch welche gibt, die zweifeln, die sich ihrer Bereitschaft, für meine Sache zu sterben, nicht sicher sind, dann mögen sie jetzt vortreten. Sie werden von der heutigen Schlacht entschuldigt, bis sie kampfbereit sind, und können bis dahin eine Tasse Tee trinken.« Und Redd tat etwas höchst Ungewöhnliches: Sie lä chelte. Allerdings waren ihre Gesichtsmuskeln es nicht 60
gewohnt, auf diese Weise beansprucht zu werden, und die Soldaten fanden, dass Redd nie ein böseres Gesicht gemacht hatte. Keiner war so dumm, vorzutreten. »Dann also auf zum Sieg!«, rief Redd. Sie musste es ihrer Lumpenarmee lassen: Die Soldaten mochten nicht die Fantasiebegabtesten sein, sie mochten Anfänger sein auf dem Gebiet der Schwarzen Imaginati on, aber das Töten hatte jeder Einzelne von ihnen gut gelernt. Ebenso geschickt mit dem Schwert wie mit Mes sern, Streitkolben, Speeren und Blitzbällen, hatten sie wenig Mühe, die Grenzposten von Wunderland zu über winden, und Redd sorgte persönlich dafür, dass keine Alarmdepeschen den Palast erreichten; sie leitete sie alle kraft ihrer Imagination ins Nichts um. Auch mit den Wachtposten im Inneren des Landes wurden sie schnell fertig. Kaum angekratzt marschierten sie in Wundertro polis ein, blutrote Wolken und heulende Winde im Rü cken. Bei ihrem Anblick ließen die Wunderländer, die eben noch gefeiert hatten, von ihren Vergnügungen ab und flohen in die vermeintliche Sicherheit ihrer Häuser. Alle, die älter als zwölf waren, erinnerten sich noch an die Verheerungen des Bürgerkriegs zwischen Redd und Genevieve. Sie wussten, warum Redd gekommen war. Der Palast kam in Blickweite, und der Herzkristall war das einzige helle Licht in der Finsternis, die Redd mit brachte. Sie befahl ihren Truppen, den Palast zu umzin geln. Vor ihrem Inneren Auge der Imagination sah sie ihren gefährlichsten Gefolgsmann in Gestalt eines Kätz chens herzförmige Flure entlanglaufen, an Wachtposten vorbei, die sagten: »He, schaut euch die niedliche Katze an« oder »Komm, miez-miez-miez«. Aber die Mieze war auf einer Mission und blieb nicht stehen. Sie erreichte 61
das Sicherheitskontrollzentrum und verwandelte sich vom Katzentier zum Killer. Der Kater durchbrach die verriegelte Tür und überraschte die fünf Gardisten, die vor den Kristallmonitoren lümmelten. Mit einigen weni gen Schwüngen seiner kräftigen Arme schleuderte er sie wie Lumpenpuppen zu Boden, wo sie schlaff und blutend liegen blieben. Er riss den Hauptschlüssel vom Hosen bund des ranghöchsten Wachsoldaten, steckte ihn in das Steuerpult und legte einen Sperrschalter nach dem ande ren um. Im gesamten Herzpalast fuhren Riegel zurück, schwangen Türen und Tore auf, und Redds Truppen stürmten hinein. Der Kater verwandelte sich in ein Kätz chen zurück und wanderte zum südlichen Speisesaal wei ter, wo die Feiernden immer noch ahnungslos zusam mensaßen. Redd betrat den Palast zum ersten Mal, seit sie eine junge Frau gewesen war – den Palast, in dem sie auf die Welt gekommen war und den Großteil ihrer Kindheit verbracht hatte, ihren Palast –, und der ganze Schmerz und Groll, den sie so viele Jahre lang zu beherrschen ver sucht hatte, kochte über. Mit jedem Schritt, den sie sich ihrer Schwester näherte, wurde sie wütender und wüten der. Dann war sie eben ein »böses Mädchen« gewesen, na und? Dann hatte sie eben mit synthetischen Kristallen und imaginationsfordernden Substanzen experimentiert, na und? Dann war ihr der ganze Quatsch von wegen Lie be, Gerechtigkeit und Dienst am Volk eben egal gewe sen, na und? Sie war eben sie selbst. Warum hatten ihre Eltern das nicht respektieren und sie in Ruhe lassen kön nen, anstatt zu versuchen, die Prinzessin aus ihr zu ma chen, die sie gar nicht sein konnte? Warum hatten sie sie nicht einfach lieb haben können, so wie sie eben war? Der Tag, an dem sie von der Thronfolge ausgeschlos 62
sen wurde, kehrte mit der vollen Wucht seiner tödlichen Bitterkeit zu Redd zurück. Die ach so kluge Königin Theodora verkündete, dass sie einer so aufsässigen Tochter nicht gestatten konnte, über das Land zu herrschen. Genevieve sollte Königin werden – nicht sie! Redds Züge entglitten ihr, verzerrten und spannten sich, so gewaltig war ihr Zorn. Sie hatte immer zu Neid, Wutanfällen und bitterem Hass geneigt, aber nun hatte sie bis an ihr Lebensende genug Nahrung für alle drei, und sie hegte und pflegte sie, bis … Bis sie sich ihrem Groll überließ und in das Schlafge mach ihrer Mutter schlüpfte. »Nicht einmal du kannst wegnehmen, was mir von Geburts wegen zusteht«, flüsterte sie böse und legte ihrer Mutter einen tödlichen rosa Pilz auf die Zunge. Genährt vom Speichel der Königin, arbeiteten seine Wurzeln sich die Kehle der schlafenden Herrscherin hinab und legten sich um ihr Herz, fester und fester. Schließlich schob sich der Pilzhut aus ihrem Mund und zeigte an, dass das Herz zu schlagen aufgehört hatte. Ihren Vater ließ Redd leben – er war schon immer ein schwacher, nutzloser Mann gewesen. Nach der Ermor dung seiner geliebten Theodora verlor Tyman den Verstand; er schlurfte ziellos durch den Palast und unter hielt sich mit seiner toten Frau. Und Redd hätte den Thron besteigen können, hätte herrschen können mit der ganzen ihr angeborenen Kraft – wäre da nicht ihre anma ßende Schwester gewesen. Es war fast schon zum La chen: Die brave, tugendsame Genevieve war ernsthaft der Überzeugung, dass der Thron ihr zustand. Redd be waffnete ihre Getreuen, und Genevieve organisierte die ihren. Sie prallten zusammen. Menschen starben, Häuser wurden dem Erdboden gleichgemacht. Redd wusste, dass 63
ihre Imagination stärker als Genevieves war, aber ihre Truppen waren in der Minderzahl, und sie hatte keinen einzigen Modisten an ihrer Seite, niemanden, der es mit Mac Rehhut aufnehmen konnte. Das war lange her. Jetzt hatte sie den Kater. Sie hatte die Sucher. Doch diese Wunde – die Schmach, von ihrer jüngeren Schwester besiegt und aus Wunderland ver bannt worden zu sein – hatte die Zeit ganz und gar nicht geheilt. Schäumend vor Wut lief Redd zum südlichen Speise saal, ohne auf die Explosionen links und rechts von sich oder auf die Palastwachen zu achten, die unter den Hän den ihrer Soldaten fielen. Ein Blitzball detonierte unmit telbar vor ihr, aber sie kümmerte sich nicht um den Rauch und die Flammen. Sie stand in den Trümmern, endlich Auge in Auge mit ihrer Schwester, und schrie durchdringend los. Sie würde sie alle umbringen.
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der Explosion warf Alyss mitsamt ih D ieremWucht Stuhl um, und sie lag immer noch am Boden
und hustete – überall flogen Staub und Splitter herum –, als sie sah, wie eine Horde von Redds Kartensoldaten und grimmigen Ex-Wunderländern über unschuldige Höflinge und Zivilisten herfiel. »Nein!« Eine Hand legte sich über Alyss’ Mund. Es war Dodd. Er zog sie mit sich unter den Tisch. »Sei still, sonst kriegen sie dich auch. Rühr dich nicht vom Fleck.« Alyss hatte nicht vor, sich vom Fleck zu rühren, und würde keinesfalls unter dem Tisch hervorkommen. Zu viel Schreckliches spielte sich um sie herum ab. Aber Dodd war da. Bei ihr. Solange Dodd und ich zusammen bleiben … Sofort nach der Explosion lief General Doppelgänger hinter einen schweren Vorhang und zog einen Hebel an einer in den Boden eingelassenen Vorrichtung. Die schwarzen Bodenfliesen des Saals klappten auf, und eine Armee weißer Schachkämpfer kam zum Vorschein – Springer, Türme, Läufer, Bauern. Die Schachkämpfer stürzten sich in die Schlacht gegen die angreifenden Kar tensoldaten. Klingen wirbelten, Leiber fielen. General Doppelgänger teilte sich in die Zwillingsgestalten der Generäle Doppel und Gänger, und diese beiden teilten sich ebenfalls wieder, so dass nun zwei Generäle Doppel 65
und zwei Generäle Gänger gegen Redds Soldaten kämpf ten. Alyss begriff gar nicht, dass die bösartige Frau, die dort »Schlagt ihnen den Kopf ab!« schrie, ihre Tante Redd war. Sie hielt nach ihrer Mutter Ausschau. Da! Sie wehrte Redds Soldaten ab, immer gleich zwei oder drei zugleich. Alyss hatte gar nicht gewusst, dass ihre Mutter sich aufs Kämpfen verstand. Sie zuckte jedes Mal zu sammen, wenn Genevieve beinahe getroffen wurde, und sah, wie die Königin sich neue Waffen herbeifantasierte – Schwerter, Säbel, Streitkolben –, wann immer ihr eine aus der Hand geschlagen wurde. Sie war immer mit vier Waffen zugleich bewaffnet und schwang zwei davon nicht mit den Händen, sondern mit ihrer Imaginations kraft, um sich vor Angriffen von hinten zu schützen. Aber warum setzte sie ihre Imaginationskraft nicht gleich direkt gegen die Kartensoldaten ein? Alyss ver suchte es selbst, schloss die Augen und stellte sich vor, wie die Soldaten leblos in der Saalmitte übereinander lagen. Doch allein mit der Kraft der Fantasie konnte man niemanden töten, der den Willen zu leben hatte. Als sie die Augen wieder öffnete, herrschte immer noch Chaos im Saal, fielen weiße Bauern und Türme und vereinzelt auch ein Springer unter den Händen des Feindes. Immer noch erfüllten Schmerzensschreie die Luft. Etwas krachte auf die Tischplatte. Dodd legte einen Arm um sie, als könnte sie das vor Schaden bewahren. »Ganz still, ganz still«, flüsterte er. Sie drängte sich an ihn. Sie wollte nichts mehr sehen, wollte ihr Gesicht an Dodds Schulter vergraben und es erst wieder heben, wenn das Grauen vorbei und alles wieder wie vorher war. Mac Rehhut nahm seinen Zylinder vom Kopf, hielt ihn an der Krempe und machte eine kräftige, schnelle Hand 66
bewegung. Der Hut verflachte sich und teilte sich in mehrere sichelförmige Rotorklingen, die in der Mitte zusammengehalten wurden. Er schleuderte die Waffe durch den Raum, und die wirbelnden Klingen mähten den Feind nieder, bevor sie sich in den Verputz der gege nüberliegenden Wand senkten. Eine Vier zog die Waffe aus der Wand. Aber Macs Hut zu werfen erforderte eine Technik, die sich so schnell nicht meistern ließ, und jedes Mal, wenn der Sol dat versuchte, die rasche Schleuderbewegung aus dem Handgelenk zu machen, fiel die Waffe nur klirrend zu Boden. Mac kämpfte sich in großen Sprüngen zu seinem Zy linder durch, sein langer Modistenmantel flatterte hinter ihm her. Seine stählernen Armbänder schnappten auf, wirbelnde Rotorklingen schossen heraus. Aus seinem Rucksack schoben sich Klingen und Korkenzieher ver schiedener Länge und Stärke. Die Vier verzweifelte langsam, während Mac sich nä herte. Der Zylinder fiel zum letzten Mal klirrend zu Bo den. Mac hob die Waffe auf und überprüfte kurz, ob sie beschädigt worden war. »Man muss erst lernen, damit umzugehen«, sagte er. »Hier, so macht man das.« Es waren die letzten Worte, die der Soldat je hörte. Redd schlenderte durch das Chaos, ohne einen Kratzer abzubekommen. Jedes Mal, wenn ein weißer Bauer den Fehler machte, sie anzugreifen, schnalzte sie mit einem langen, knochigen Finger in seine Richtung, und er flog sich überschlagend gegen eine Wand oder auf eine Speerspitze. Es bereitete ihr nicht wenig Stolz, zu sehen, wie gut der Kater sich im Nahkampf machte. Mit seinen 67
Krallen hieb er tödliche Löcher in die Schachkämpfer und erledigte problemlos ebenso viele Gegner wie Mac Rehhut. Auch war sie erfreut, wie eilig es die Farben hat ten, sich ihr zu unterwerfen. Kaum hatte sie das Köpfen aller Anwesenden befohlen, da trat der Karofürst schon tapfer vor, verneigte sich und sagte: »Eure Hoheit, wir bedauern, dass wir Eure Gegenwart so lange entbehren mussten, und sind überglücklich, Euch wieder bei uns zu sehen.« Die Piks und Kreuze wollten ebenfalls nicht mit Verbeugungen und vorzüglicher Hochachtung zurückste hen. Also beschloss Redd, sie am Leben zu lassen. Vor läufig jedenfalls. Und der junge Karobube, der hatte et was. Er stand dort unter dem schützenden Arm seines Vaters, ein hübscher Bursche mit einem fetten Hinterteil und einer schmutzigen Perücke, und wirkte eher neugie rig als ängstlich, als wollte er so viel wie möglich von den Gewalttaten um sich herum lernen. Wer weiß, viel leicht würde er sich noch als nützlich erweisen. Der Hauptmann der Palastgarde hieb und stach wie ein Wilder auf die angreifenden Kartensoldaten ein. Er rette te mehrere Schachkämpfer, die kurzzeitig durch eine Horde von Zweien in Bedrängnis kamen, und als er eine Lücke vor dem Kater entdeckte, stürzte er sich hinein und holte mit dem Schwert aus. Dodd sah, was sich dort anbahnte. »Schau dir das an«, sagte er voller Stolz auf den Mut und die Fertigkeiten seines Vaters. Aber der Kater hatte keine Mühe, mit Justus Anders fertig zu werden. Mit dem Handrücken schlug er ihn zu Boden, so dass ihm das Schwert entglitt und scheppernd außer Reichweite rutschte. Der Kater hob den Haupt mann hoch und versetzte ihm einen Prankenhieb. 68
»Nein!« Bevor Alyss ihn noch zurückhalten konnte, schoss Dodd unter dem Tisch hervor, packte das Schwert seines Vaters und griff mit einem lauten Schrei den Kater an. Der Killer grinste nur und schickte ihn mit einem leichten Hieb zu Boden. Sechs weiße Schachkämpfer drangen auf ihn ein und hinderten ihn daran, dem Jungen den Rest zu geben. Dodd beugte sich schluchzend über seinen toten Vater. Seine rechte Wange blutete aus den vier parallelen Wun den, die die Krallen des Katers hinterlassen hatten. Alyss fing, allein unter dem Tisch, ebenfalls zu wei nen an. Von Anfang an waren ihr Tränen über die Wan gen gerollt, aber sie schienen jemand anderem zu gehö ren, nicht ihr; als reagierte ihr Körper auf die grausige Szene, bevor ihr Gehirn sie noch begreifen konnte. Nun erfasste sie schrecklicher Kummer, und ein Weinkrampf schüttelte sie. Der Hauptmann ist tot. Dodd hat mich im Stich gelassen. Warum ist Vater überhaupt auf diese Rei se gegangen? Und wo ist Mutter? Wo ist – Ein Gesicht tauchte vor ihr auf: schwarze, tief liegende Augen, zerfurchte und ungesunde Haut, verfilzte Haare. »Hallo, kleine Nichte.« Alyss wurde unter dem Tisch hervorgeholt und an ihren eigenen langen, schwarzen Haaren in die Höhe gehalten. »Du also solltest Königin werden, ja?«, sagte die Frau unbeeindruckt. »Tante Redd?« »Ebendiese.« »Lass sie gehen, Redd.« Das war Genevieve. »Du willst mir sagen, was ich zu tun habe?«, höhnte Redd. »Sieh dich um. Du hast die längste Zeit Befehle erteilt.« 69
»Bitte. Lass sie gehen.« Redd verlor die Geduld. »Du weißt, dass ich sie nicht gehen lassen werde. Das hast du dir selbst eingebrockt, Königin Genevieve. Ich kann es mir nicht leisten, ir gendwen von der Herzdynastie am Leben zu lassen – außer mir, versteht sich.« »Du kannst mich an ihrer Stelle haben.« »Dumme kleine Schwester. Dich hab ich doch schon. Und übrigens, falls du immer noch mit deinem König rechnest, muss ich dir leider mitteilen, dass er nicht nach Hause kommen wird. Nie mehr.« Redds Zepter stieß eine rote Rauchwolke aus, in deren Mitte eine Reihe von Bildern aufflackerte: König Nolan und seine Männer, die auf ihrem Rückweg zum Herzpa last in einen Hinterhalt gerieten; Redd, die über ihn her fiel und ihn mit ihrem scharfen Zepter tötete. »Vater!«, schrie Alyss. »Ach, mein Liebster«, keuchte Genevieve und ließ achtzehn Kegel mit messerscharfen Stahlspitzen auf Redd zuschnellen, die träge eine Hand hob. Die Kegel blieben in der Luft stehen und krachten dann zu Boden. Der schwere Kronleuchter über Redds Kopf löste sich und stürzte auf sie zu. Redd machte eine Handbewegung, als wollte sie eine Mücke vor ihrem Gesicht verscheu chen, und der Leuchter zerfiel zu Staub. »Ist das alles, was du kannst, Schwesterchen?«, lachte Redd. Eine Reihe zweispitziger Speere wirbelte auf sie zu. Sie schlug sie nacheinander zur Seite, gelangweilt von der eigenen Macht, angeödet von Genevieves Nervereien. »Genug gespielt«, fauchte sie. Redd presste den Zeigefinger auf ihren Daumenballen, und Alyss fing zu würgen an, bekam auf einmal keine 70
Luft mehr. Es spielte keine Rolle, dass ihre Mutter ver sagt hatte, sie selbst musste sich etwas einfallen lassen, etwas imaginieren. Aber sie konnte sich nicht konzentrie ren. Ein großes Käserad rollte gegen Redds Fuß. Ein Paar Pantoffeln tanzte in der Luft. Redd lachte. »Mit der Fantasie wolltest du Königin werden?« Alyss glaubte vor Luftmangel jeden Moment zu exp lodieren. Sie tastete nach dem Jabberwockzahn an ihrer Halskette und trieb seine Spitze so fest in Redds Unter arm, wie sie konnte. Er blieb stecken. »Au!« Redd ließ sie los, und Alyss fiel zu Boden. Bevor sie noch richtig Luft geholt hatte, rannte sie mit ihrer Mutter schon einen Flur entlang. Ihre Füße berührten kaum den Boden. Sie stürzten in die Privatgemächer der Königin, vorbei an den Sofas und Polsterstühlen, an den Amtsro ben in der Garderobe und weiter zum Badezimmer, wo – – der Kater vor ihnen stand. Er tat einen Satz auf sie zu. Schon schien ihrer beider Ende nahe, aber da schoss etwas am Kopf der Prinzessin vorbei und dem Kater in die Brust. Er brach zu ihren Füßen zusammen. Mac trat über das Untier und zog seinen Zylinder aus der tödli chen Wunde. »Nehmen Sie Alyss und gehen Sie«, sagte Königin Genevieve und zeigte auf den Spiegel. »So weit fort wie nur möglich.« »Aber Eure Hoheit –« »Ich komme nach, wenn und sobald ich kann. Sie müssen für die Sicherheit der Prinzessin sorgen, bis sie alt genug zur Regentschaft ist. Sie ist die einzige Chance, dass ein friedliches Wunderland bestehen bleibt. Ver sprechen Sie es mir.« 71
Mac neigte den Kopf. Seine Lebensaufgabe war es, die Königin zu beschützen. Solange Genevieve noch am Leben war, hätte er bleiben und gegen den Feind kämp fen müssen. Aber er wusste, Wunderlands Zukunft hing davon ab, dass Alyss überlebte. Das Königinnenreich war wichtiger als eine einzelne Königin. Er hob den Blick zu Genevieves Gesicht. »Ich verspreche es«, sagte er. Genevieve kniete sich vor ihrer Tochter hin. »Was auch passiert, ich werde immer bei dir sein, Schatz. Auf der anderen Seite des Spiegels. Und vergiss nie, wer du bist. Hast du mich verstanden?« »Ich will bei dir bleiben.« »Ich weiß, Alyss. Ich hab dich lieb.« »Nein! Ich bleibe hier!« Alyss warf die Arme um ihre Mutter. Eine Wand stürzte ein, und da stand Redd mit einem Zug Kartensoldaten hinter sich. »Ach, wie süß. Ich will auch kuscheln«, sagte sie und kam auf sie zu, wobei sie alles andere als kuschelig aussah. Mac packte Alyss und sprang in den Spiegel. Gene vieve zerschmetterte das Glas mit ihrem Zepter und wandte sich zu Redd um. Aus dem Augenwinkel sah sie etwas Unglaubliches: Der Kater, der mit einem klaffen den Loch in der Brust auf dem Boden lag, machte die Augen auf. Seine Wunde schloss sich, und er sprang sie an. Im selben Moment fantasierte Genevieve einen wei ßen Energiestrahl herbei und schleuderte ihn gegen den Kater, der zum zweiten Mal starb. Die Kartensoldaten stürzten vor, um die Königin anzugreifen, aber Redd hielt sie zurück. Sie riss dem Kater den gezackten Blitz heraus und wirbelte ihn wie einen Tambourstab herum. Er färbte sich rot in ihrer Hand. 72
»Nun, Schwesterherz, was kann ich sagen? Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass es mich betrübt, von dir Abschied zu nehmen.« Sie rammte den Blitz in den Fußboden. Dutzende schwarzer Rosen wuchsen aus der Einschlagstelle/ihre Dornenranken wickelten sich um Genevieve, zerstachen ihr die Haut und fesselten sie. Die Rosenblüten öffneten und schlossen sich, zahnbewehrte Mäuler, die nach kö niglichem Fleisch gierten. »Kopf ab«, rief Redd und zog den Energieblitz aus dem Boden. »Nein!« Genevieve kämpfte gegen die Rosenstiele an. Ihr Volk würde Redd preisgegeben sein. Und Alyss … war nur ein Kind. Redd schwang den Blitz mit roher Gewalt. Genevieves Kopf fiel zur einen Seite, ihr Körper zur anderen, und ihre Krone rollte über den Boden wie eine heruntergefal lene Münze. Redd nahm die Krone und setzte sie auf. »Die Königin ist tot. Lang lebe die Königin … ICH!« Der Zug Kartensoldaten brach in Hochrufe aus. Redd trat dem Kater in die Seite, der mit heraushän gender Zunge auf dem Boden lag, ein Bild des Todes. »Steh auf! Du hast immer noch sieben Leben übrig.« Der Kater öffnete blinzelnd die Augen. »Finde Alyss und töte sie.« Mit einem Winken ihrer Hand war der Spiegel wieder ganz. Der Kater sprang hindurch und machte sich auf die Jagd nach der letzten lebenden Vertreterin der königli chen Familie außer Redd.
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Wunderland waren Spiegel als öffentliche Ver I nkehrsmittel gang und gäbe. Jeder Spiegel diente als
Zugang zum Kristallkontinuum, einem Netz von Verbin dungen, das jede Wunderländern und jeder Wunderlän der durch den einen Spiegel betreten und durch einen anderen wieder verlassen konnte. Richtspiegel führten an bestimmte Stellen (zum Beispiel zur Ecke Wundertropo lisdamm/Tymanstraße). Ungerichtete Spiegel gestatteten den Reisenden, ihren Bestimmungsort frei zu wählen, vorausgesetzt, dass es dort Spiegel gab, aus denen sie hervortreten konnten. ›In reginam speramus‹ stellt fest: »Wie ein Unter Wasser befindlicher körper dazu neiget, zur Oberfläche emporzusteigen, besitzet ein körper, der einen Spiegel betritt, den drang, hinaus reflektirt zu wer den.« Es bedurfte einer gewissen Geschicklichkeit, innerhalb des Kontinuums zu bleiben und sich die grundlegenden Navigationsfertigkeiten anzueignen. Ein wenig erfahre ner Reisender betrat vielleicht einen Spiegel bei sich zu Hause, um einen Freund am anderen Ende der Stadt zu besuchen, nur um aus einem Spiegel bei seinem unmit telbaren Nachbarn herausreflektiert zu werden. Verlege ne Entschuldigungen folgten, und betrat er dann erneut den Spiegel seines Nachbarn, wurde er möglicherweise im Haus des Nachbarns seines Nachbarn herausreflek tiert, dann im nächsten Haus und so weiter, bis er schließlich bei seinem Freund am anderen Ende der Stadt 74
ankam. Mit der Zeit und etwas mehr Erfahrung schaffte er die Strecke irgendwann mit weniger Zwischenstopps. Fernverkehr via Kristallkontinuum war eine anstrengen de Angelegenheit und gelang nur den erfahrensten Rei senden. Aber die Fertigkeiten für den Nahverkehr konnte praktisch jeder erlangen. Der Spiegel in den Privatgemächern der Königin je doch war nicht mit dem restlichen Kontinuum verbun den. Es handelte sich um einen Notausgang, einen Richt spiegel, den die königliche Familie und ihre Vertrauten im Ernstfall benutzen konnten. Er setzte den Reisenden tief in einem Wald ab. Der Austrittsspiegel war in einem verschwiegenen Gebüsch verborgen. Nachdem Alyss das Kontinuum betreten hatte, warf sie einen Blick zum zitternden Bild ihrer Mutter zurück, das zunehmend kleiner wurde zwischen den leuchtenden, kristallinen Oberflächen, an denen Mac und sie sich ent langbewegten. Ihre Mutter explodierte in tausend Scher ben, tausend Genevievesplitter, die aufflackerten – »Mut ter!« – und verloschen. Alles schien vorbei, für immer. Eine schwarze Leere schoss von hinten auf sie zu, wie es immer dann geschah, wenn ein Richtspiegel zerstört und damit sein festgelegter Bestimmungsort gelöscht wurde. Wohin brachte das Kontinuum sie jetzt? Wohin, wo hin, wohin? Immer näher kam die Leere, holte auf, und – – Alyss erwachte, immer noch in Macs Armen, und ih re Wange schlug immer wieder gegen seine Schulter. Plötzliche Schläfrigkeit war eine bekannte Nebenwir kung des Spiegelverkehrs auf Junge und Unerfahrene. Alyss und Mac befanden sich nicht länger im Konti nuum; sie rannten durch einen stockfinsteren Wald. Vor und hinter sich konnte Alyss nichts erkennen; dass sie 75
sich in einem Wald befanden, wusste sie nur, weil sie ringsum das Flüstern der Bäume hörte. Es fing zu regnen an, der Wind frischte auf, und dann brach ein Gewitter los. Wie konnte Mac sehen, wohin er lief? Über sich hörte sie ein klagendes Heulen. »Sucher«, sagte Mac mehr zu sich selbst. Ja, Sucher. Sie verrieten ihren Verfolgern, wo sie wa ren. Denn sie wurden eindeutig von irgendjemandem oder irgendetwas verfolgt. Mac konnte hören, wie hinter ihnen etwas durchs Unterholz brach, hörte das Splittern von Zweigen und Platschen von Pfützen. Nach einer Zeit, die Alyss ewig vorkam, öffnete sich der Flüsterwald zu einer weiten freien Fläche, und sie kamen an einen jähen Abgrund. Alyss brauchte einen Moment, um zu erkennen, wo sie waren: an der Klippe über dem Teich der Tränen, wo sie vor kurzem erst mit Dodd gestanden hatte. Wenn Dodd jetzt nur hier gewesen wäre! Das Wasser war schwarz und aufgewühlt. Auf einmal begriff sie. »Niemand kommt je zurück«, sagte sie und schaute verzweifelt in den Teich. »Aber du wirst zurückkehren«, sagte Mac. »Du musst.« In diesem Moment brach der Kater auf die Lichtung und stürzte sich auf sie. Mac sprang. Der Kater erwischte die Prinzessin am Ärmel des Geburtstagskleides und riss ihn mit seinen Krallen ab, aber das war alles, was er be kam. Alyss stürzte, fest an Mac Rehhut geklammert, auf die Wasserfläche zu.
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nach unten ausstrecken!«, rief Mac und hielt F üße sich so gerade, wie es nur ging. Sie durften der Wasseroberfläche möglichst wenig Fläche bieten, sonst konnten sie daran zerschmettert werden wie an einer Di amantwand. Alyss blieb kaum Zeit, seiner Anweisung nachzu kommen, da schossen sie schon in den Teich hinein. Sie wurde aus Macs Armen gerissen. Er griff nach ihr, aber sie geriet in Panik, schlug um sich, und dann war sie au ßer Reichweite. Während sie immer tiefer sank, machte sie die Augen auf, sah nichts als Schaum und aufwallen de Luftblasen und kniff sie wieder zu, weil sie sich dem Unbekannten nicht stellen wollte. Gerade als sie dachte, dass sie den Atem nicht länger anhalten konnte und in den Tiefen unweigerlich ertrinken musste, wurde sie langsamer und stieg wieder auf, wurde mit der gleichen Wucht und Geschwindigkeit nach oben geschleudert, die ihr Sturz gehabt hatte. Wuuusch!, war sie aus dem Wasser heraus und in der Luft, wurde aus einer schmutzigen Pfütze in der Mitte einer breiten Straße herauskatapultiert. Menschen in ein tönigen Kleidern und mit merkwürdig anonymen Gesich tern bevölkerten die Gehwege. Sie applaudierten ihr. Lauter hüpfende und Rad schlagende und jonglieren de Leute. Und … waren das Soldaten? Offensichtlich hielt man Alyss für das Mitglied einer fahrenden Trup pe, die Purzelbäume schlagend und Pirouetten drehend 77
am Rande einer Militärparade ihre Kunststücke vorführ te. »Bravo! Bravo!«, jubelte die Menge. Fünf runde schwarze Hüte, ein Spazierstock mit El fenbeinknauf, eine Schildpattbrille, eine zusammenge rollte Zeitung, eine Kartoffel und zwei Teller mit Nie renpastete erhoben sich in die Luft und schwebten im Kreis herum. Die zusammengerollte Zeitung knallte ge gen einen Jungen, der auf den Schultern seines Vaters saß, und eine Frau bekam eine Pastete ins Gesicht. In ihrer Verwirrung begriff Alyss überhaupt nicht, dass ihre eigene Fantasie es war, die diese Gegenstände zum Flie gen gebracht hatte. Sie sah immer wieder zu der Pfütze, voller Hoffnung, dass auch Mac noch auftauchen würde. Dann spritzten Räder durch die Pfütze. Es war eine offe ne goldene Kutsche, gezogen von acht Pferden, deren Geschirr mit Edelsteinen geschmückt war, und Alyss sah, dass eine Frau in der Kutsche saß und der Menge zu winkte – es musste eine Königin sein, eine Königin! »Mutter?« Möglich war es. Vielleicht war Genevieve vor ihr in dieser Welt angelangt. Wenn es jeder konnte … Und wenn man in der einen Welt Königin war, dann wurde man in einer anderen vielleicht auch als Königin aner kannt. Alyss ließ die Pfütze links liegen und eilte der Kutsche nach. Im selben Moment plumpsten Hüte, Brille, Spazierstock, Kartoffel und Nierenpastete zu Boden. »Mutter! Mutter, warte!« Sie schlängelte sich durch die paradierenden Soldaten auf die Kutsche der Königin zu. Die Soldaten knufften und pufften sie. »Verschwinde, Gör.« »Weg da, Drecksbalg.« 78
Sie merkte es kaum. Sie holte die Kutsche allmählich ein. Gleich würde ihre Mutter sie sehen und Befehl ge ben, sie auf das Lederpolster in der vergoldeten Karosse zu heben, gleich würden sie wieder zusammen sein, Mut ter und Tochter wieder vereint, gleich würde es für die Schrecken der letzten halben Stunde eine Erklärung ge ben. Bestimmt würde ihre Mutter sagen, dass es nur eine Prüfung gewesen war, Alyss’ erste Prüfung als künftige Königin, weiter nichts. Sie war bis auf dreißig Meter an die Kutsche herange kommen, als diese das Ende der Paradestrecke erreichte, unvermittelt in eine Seitenstraße einbog und ihre Ge schwindigkeit erhöhte, während eine Reihe Soldaten die Straße absperrte, damit ihr niemand folgen konnte. Mit allem Stolz, den Alyss aufbringen konnte, und bewaffnet mit dem festen Glauben an ihre Berufung (sie war schließlich eine Prinzessin) näherte sie sich den Soldaten. »Wo fährt die Kutsche hin?« Keine Antwort. Hatten sie sie vielleicht nicht gehört? Sie wollte ihre Frage schon wiederholen, da ließ sich ei ner der Soldaten dazu herab, in ihre Richtung zu schauen, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen (als hätte ihm jemand einen fauligen Rettich unter die Nase gehal ten), war er ganz und gar nicht beeindruckt. Alyss sah an sich hinab. Ihr Kleid war zerrissen von des Katers Kral len und nass vom Teich der Tränen: Sie bot einen wüsten Anblick und sah ganz und gar nicht königlich aus. »Zum Buckingham-Palast. Was denkst du denn?«, sagte er. Aber Alyss dachte gar nichts, alles geschah viel zu schnell, als dass sie daraus schlau wurde. Der Bucking ham-Palast war einfach nur der Ort, wohin ihre Mutter fuhr. 79
»Und wo ist der Palast?«, fragte sie. »Du weißt nicht, wo der Buckingham-Palast ist?« »Wenn Sie es mir nicht sofort sagen, werde ich dafür sorgen, dass Sie ernste Schwierigkeiten bekommen.« Das amüsierte den Soldaten. »Ach ja? Und warum sollte ich dir sagen, wo der Palast ist? Vielleicht hast du ja einen Anschlag auf die Königin vor.« »Ich bin Prinzessin Alyss. Die Königin ist meine Mut ter, und …« »Deine – Na so was.« Der Soldat wandte sich an sei nen Nebenmann, der alles mit angehört hatte. »He, George. Die Kleine hier sagt, die Königin war ihre Mut ter.« »Was du nicht sagst«, rief George und wandte sich wiederum an seinen Nebenmann. »Timothy, hast du das gehört? Die Königin ist die Mutter von der Kleinen da. Dann müssen wir sie wohl mit unserem Leben beschüt zen.« »Seid gegrüßt, Hoheit«, sagte Timothy und verbeugte sich. Die Soldaten lachten. Nichts war schlimmer, als seine Fantasie im Zorn ein zusetzen, das wusste Alyss durchaus, aber diese Soldaten waren einfach zu frech. Es mochte daran liegen, dass ihr Zorn alles verzerrte, oder an dieser blöden fremden Stadt; ihre Fantasie, dass die Münder der Soldaten zugenäht wären, bewirkte jedenfalls stattdessen, dass die Nähte ihrer Jacken und Hosen aufrissen. In dem Glauben, dass ihnen vor lauter Lachen die Uni formen geplatzt waren, lachten die Soldaten umso mehr. Alyss’ Zorn verflog, ließ sie traurig und voller Zweifel zurück. Konnte es sein, dass die Frau in der Kutsche gar nicht ihre Mutter war? Hatte sie nicht mit eigenen Augen 80
gesehen, wie ihre Mutter in tausend Scherben zersprun gen und nur Schwärze, nur Leere übrig geblieben war? Und warum hatte ihre Fantasie sie im Stich gelassen? Ohne es zu merken, war sie von den Soldaten wegge gangen. »Mac?«, rief sie. Aber um sie herum waren nur Fremde, die in Grüpp chen herumstanden und redeten oder eilig irgendwohin strebten. Um sie herum waren nur die geschwärzten, schmutzigen, nach Pferdekot stinkenden Straßen. »Mac!« Sie musste wieder zu der Pfütze zurück, die sie in die se Welt gespien hatte. Vielleicht brachte diese Pfütze sie wieder mit Mac zusammen oder sogar nach Wunderland zurück. Alyss ging die Straße wieder zurück. Doch über all wimmelte es von Pfützen. Wenn sie nun schon an der richtigen vorbeigegangen war? Nichts wollte ihr bekannt vorkommen. Konnte sie bei der Verfolgung der Kutsche eine solche Strecke zurückgelegt haben? Wenn sie die Pfütze nun nie mehr fand? Und was würde geschehen, wenn die Sonne durch die Wolken brach? Vielleicht blieb sie besser stehen und dachte einmal in Ruhe über das Geschehene nach … Nein, bloß nicht. Ihr Vater ermordet. Ihre Mutter höchstwahrscheinlich tot. Die Kehle des Hauptmanns zerfetzt. Und Dodd, ihr bes ter Freund … Bloß nicht darüber nachdenken. Bloß nicht! Gefangen an diesem fremden Ort. Allein. – Schluss damit! Sie musste jetzt stark sein. Sie war eine Prinzessin und die künftige Königin von Wunderland. Sie durfte nicht weinen wie ein kleines Kind. Sie lief zur nächstbesten Pfütze, sprang und landete mitten darin, spritzte sich und eine Dame und einen Herrn nass, die gerade vorbeigingen. 81
»Igitt! Grundgütiger!«, protestierte die Frau. Der Mann machte Anstalten, Alyss nachzusetzen, aber sie lief bereits auf die nächste Pfütze zu. Sie sprang mit ten hinein und spritzte einen eleganten jungen Herrn, der gerade von einem Besuch bei seinem Schneider kam, von oben bis unten voll. »Pfui Teufel! Allein dieser Binder ist mehr wert als du schreckliches Gör!« Alyss sprang von einer Pfütze zur anderen, kniff fest die Augen zu, wenn sie absprang, und fantasierte sich mit aller Kraft zurück nach Wunderland, aber wenn sie die Augen wieder öffnete und das Wasser in alle Richtungen spritzte, war sie immer noch in dieser fremden Welt. Die Verpflichtungen einer Prinzessin … Sie waren ihr oft lästig gewesen, aber sie waren besser als das. Sie würde nie wieder nach Hause zurückfinden, nie nie NIE WIEDER! Von sämtlicher Hoffnung verlassen, sprang sie in ei ner Pfütze auf und ab und schrie »Nein! Nein! Nein!« dazu, bis man unmöglich sagen konnte, was ihre Tränen waren und was Pfützenwasser. »Nimmst du gerade ein Bad, oder was?«, fragte ein Junge, der aus sicherer Entfernung zusah. Sie hörte auf zu springen und schniefte. Der Junge trug graue Hosen mit Flicken an den Knien, einen Geh rock, der ihm viel zu groß war und dessen Schöße ihm bis zu den Fersen reichten, sowie verschlissene Leder schuhe ohne Schnürsenkel. »Ich bin Prinzessin Alyss von Wunderland«, sagte sie trotzig. »Klar, und ich bin Prinz Quigly von Chelsea. Verrück te Klamotten, die du da anhast.« Sie sah auf ihr feuchtes, verdrecktes Geburtstagskleid 82
hinab: Es war mit Rüschen besetzt, schmal in der Taille und unterhalb ihrer Knie zu hinderlicher Weite aufge bläht, der Kräuselkragen hoch und schlotterig. Es war mit Herzen geschmückt, in Farben, die es nur in Wunderland gab, und selbst dort bekam man das Kleid kaum zu se hen, da es nur einmal im Jahr aus der Garderobe der Prinzessin geholt und ihren neuen Maßen angepasst wur de, damit sie es auf dem Fest tragen konnte. »Andere habe ich nicht«, sagte sie und fing wieder zu weinen an. Quigly betrachtete sie einen Moment lang. So nass und schmutzig und verheult sie war, sie hatte etwas Fas zinierendes. Sie wirkte strahlender als ihre Umgebung. Als habe sie ein Licht in ihrem Inneren, dessen sanfter Schein durch ihre Poren drang. »Dann kommt mal mit, wenn Ihr trockene Kleider be vorzugt, Majestät«, sagte er. Er ging davon. Alyss zögerte. Einen halben Block weiter wandte Quigly sich um. »Na los!«, rief er und winkte, damit sie ihm folgte. Sie sah sich ein letztes Mal nach Mac um und ließ ihre Pfütze zurück. Sie konnte es sich nicht leisten, ganz ohne einen Freund zu sein.
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noch so umfassendes Trainingspensum der K ein Modisterei hatte Mac darauf vorbereiten können, wie es war, durch den Teich der Tränen gesaugt zu wer den. Nachdem er mit einem Salto aus einer Pfütze he rausgesprungen und mit der Geschicklichkeit einer … nun, Katze auf den Füßen gelandet war, gehorchte er ganz seinem Selbsterhaltungstrieb. Sein Rucksack fuhr das übliche Waffenarsenal aus. Aus seinen Stahlarmbän dern schossen die Rotorklingen. Er griff nach seinem Zylinder, aber der war weg. Das war schlecht. Sehr schlecht. Der Zylinder war sein Markenzeichen, die Waf fe, in deren Beherrschung er am meisten Arbeit und Mü he gesteckt hatte. Und wenn er sich die schockierten und entsetzten Gesichter der Passanten so ansah, würde er den Zylinder wahrscheinlich auch brauchen. Er befand sich in Paris, Frankreich, im Jahre 1859 und stand mitten auf einer breiten Hauptstraße, die als die Champs-Elysees bekannt war. Sein plötzliches Erscheinen sorgte für ein Verkehrschaos. Kutschen wichen nach links und rechts aus; eine fuhr einen Obststand über den Haufen, eine an dere zerquetschte Körbe voller Baguettes. Pferde wieher ten nervös auf, und die Pariser verschluckten sich bei seinem Anblick an ihrem Mokka. Wer war dieser merkwürdig gekleidete Mann, aus des sen Rucksack Messer und übergroße Korkenzieher rag ten? Was waren das für rotierende Klingen an seinen Handgelenken? 84
Mac behielt die Pfütze im Blick, aus der jeden Mo ment der Kater oder Redds Soldaten gesprungen kom men konnten. »Alyss?« Aber sie war nirgendwo zu sehen. Das war noch schlimmer, als keinen Zylinder mehr zu haben. Da waren sie nur so kurz im Teich der Tränen gewesen, da hatte er nur eine einzige Aufgabe gehabt, eine einfache Aufgabe – auf die künftige Königin des Wunderlandes aufzupas sen –, und er hatte zugelassen, dass sie ihm entglitt. Sie musste durch das Portal irgendwo anders hingesaugt worden sein. Männer kamen auf ihn zu – Männer in Uniform und mit kleinen, festen Mützen auf dem Kopf. Sie sahen ver blüfft und mehr als nur ein wenig besorgt aus. Er ließ seine Armklingen zuschnappen und floh, nicht weil er Angst vor ihnen hatte, sondern weil er Angst davor hatte, ihnen womöglich etwas anzutun. Selbst hier, in einer an deren Welt, wollte er sich an den Ehrenkodex der Mo disterei halten, der besagte, dass Kampfkünste nur gegen jemanden verwendet werden durften, der erwiesenerma ßen ein Feind war, und auch dann nur im nötigen Um fang. Wenn er Prinzessin Alyss wiederfinden wollte, war es außerdem das Beste, er lenkte so wenig Aufmerksam keit auf sich wie möglich und tauchte unter. Sein Modistenmantel blähte sich hinter ihm, als er quer über die Champs-Elysees in eine Wohnstraße rann te. Er war schneller und wendiger als seine Verfolger und hätte sie mit Leichtigkeit abgehängt, nur kannte er sich in Paris nicht aus. Immer wieder glaubte er ihnen entkom men zu sein, weil sie nicht mehr zu sehen waren, nur um dann festzustellen, dass sie eine Abkürzung durch eine Seitenstraße genommen hatten und nun vor ihm waren. 85
Er musste sie endgültig loswerden. Er blieb stehen und wartete. Als sie zehn Schritt entfernt waren, ließ er seine Armklingen herausschnellen, machte ein paar Scheinan griffe, und sie stoben auseinander und suchten Schutz, wo sie ihn finden konnten, in Cafes, Brasserien, Patisse rien und Boulangerien. Mac ließ die Klingen zuschnap pen und lief weiter. Diesmal folgte ihm niemand. Er versteckte sich am Ufer der Seine unter einer Brü cke, bis es dunkel wurde und er sich leichter unbemerkt durch die Stadt bewegen konnte. Er hatte vor, die Straßen abzugehen und jede Gasse, jeden Hinterhof der ganzen Stadt nach der Prinzessin zu durchsuchen. Er würde sich Karten besorgen und zur Not diese ganze Welt systema tisch absuchen, von Stadt zu Stadt und Land zu Land schleichen wie ein Phantom. Das verlangte das Verspre chen, das er Genevieve gegeben hatte, der von ihm zu rückgelassenen Königin. Im Schutz der Nacht bewegte er sich durch die Straßen, fing am einen Ende der Stadt an und arbeitete sich lang sam zum anderen vor. Und nun, wo er die Gelegenheit hatte, es zu bemerken, sah Mac, dass manche Menschen einen Schimmer um sich hatten. In der Vermutung, dass sie vom Schein der Imagination durchflutet waren, folgte er einem schimmernden Mann die Rue de Rivolt hinab zu einem bescheidenen Laden, über dessen Eingangstür ein Holzschild in Form eines Zylinders hing. Vielleicht han delte es sich um einen Stützpunkt der Modisten und Mo distinnen dieser Stadt. Er folgte dem Mann in das Ge schäft. Dort wimmelte es von allen nur erdenklichen Hü ten – Melonen, Schottenmützen, Feze, Baskenmützen: eine Vielfalt von Modellen, die selbst Mac beeindruckte. Er nahm einen Zylinder und machte seine geübte Hand bewegung, aber der Hut behielt seine harmlose Form. 86
Ein kleiner Herr mit einem dünnen Schnurrbart kam näher. »Bonsoir, monsieur. Est-ce que je peux vous aider?« »Ich komme aus Wunderland«, sagte Mac. »Ich bin Leiter der dortigen Modisterei.« Er wartete, baute darauf, dass die Bedeutung, die Bedeutsamkeit dieser Worte sich dem Ladenbesitzer von allein erschloss. »Il est bien, ce chapeau«, sagte der Mann und zeigte auf den Zylinder. Mac legte ihn wieder hin. »Ich bin auf der Suche nach Prinzessin Alyss. Sie ist irgendwo hier in dieser Welt gelandet, ist genau wie ich durch ein Portal hierher ge kommen und …« Aber der Ladenbesitzer erkannte Alyss’ Namen ganz offensichtlich nicht und verstand nichts von dem, was Mac sagte. Als der Mann versuchte, ihm die Vorzüge einer bestimmten Baskenmütze zu erläutern, verließ Mac das Geschäft. Doch er würde es woanders probieren. Er vertraute niemandem mehr als Menschen, die mit Kopf bedeckungen zu tun hatten. Ein paar Türen weiter kamen drei Männer aus einem Cafe. Sie waren angetrunken. Als sie Mac und seine merkwürdige Aufmachung erblickten, blieben sie ver blüfft stehen und stierten ihn an. »Je n’aime pas les etrangers«, sagte einer der Männer. Mac brauchte keine Französischkenntnisse, um die Feindseligkeit in seiner Stimme zu hören. Der Mann deu tete einen Faustschlag gegen Mac an, und seine Kumpa ne lachten. Mac rührte sich nicht. »Ich habe nicht vor, mit Ihnen zu kämpfen«, sagte er. »Non?« »Nein.« 87
Der Mann stieß Mac vor die Brust, der aber blieb ste hen, ein Musterbeispiel an Selbstbeherrschung. »Qu’est ce qu’il y a dans le sac?«, fragte der Mann und zeigte auf Macs Rucksack. »Donnez-moi le sac.« Er tat einen Schritt auf Mac zu und griff nach dem Rucksack. Nur ein Feind würde versuchen, an seine Waffen zu kommen. Der Modist aktivierte die Armklingen und wich rasch zurück, um etwas Raum zu gewinnen. Er griff in seinen Rucksack und ließ eine Hand voll Dolche fliegen. Die Dolche nagelten einen der Männer mit den Hemds ärmeln an einen Holzkarren: eine Zurschaustellung von Kampfkünsten, die den dreien hoffentlich zeigte, dass er sie alle töten konnte, wenn er wollte. Weitere Männer kamen aus den umliegenden Cafes gestürzt. Sie umringten Mac – es waren mindestens fünfzehn. Einer von ihnen zielte mit einer Pistole auf seinen Kopf. Mac erkannte die Pistole vage als etwas, das ein klei ner Wunderländer einmal erfunden hatte. Um sich wieder mit ihren Fähigkeiten vertraut zu machen, sah er den Mann an und sagte: »Buh!« Der Mann erschrak und feuerte. Ein rundes Stahlgeschoss raste auf Mac zu, aber er duckte sich mit der Schnelligkeit einer Jabberwockzunge, und es pfiff vorbei. Mac drückte einen Knopf auf seiner Gürtelschnalle, und rund um den Gürtel fuhren geschwungene Säbelklin gen aus. Noch bevor die Klingen in Aktion treten konnten, verstreute die Meute sich, jeder rannte, so schnell er konn te, davon, was jedoch niemanden davon abhielt, später auszusagen, dass er Zeuge geworden sei, wie die unheim liche Gestalt mit ihrer ausgefuchsten Bewaffnung mindes tens zwanzig unschuldige Bürger hingemeuchelt hatte. 88
Die Säbel an Macs Gürtel fuhren wieder ein. Er ließ seine Armklingen zuschnappen und gestattete sich ein flüchtiges Lächeln; zum Glück hatte er niemanden töten müssen. Er bemerkte den großen, prächtig gemusterten Teppich nicht, der sich ihm von hinten näherte, gehalten von sechs der tapfersten Pariser Teppichhändler. Der Teppich schlug ihn zu Boden, und die Männer rollten ihn fest darin ein. Sein Rucksackarsenal durchstach den di cken Flor, aber seine Arme waren fest an seine Seiten gepresst, und er kam weder an seine Gürtelschnalle her an, noch konnte er seine Handgelenke bewegen und die tödlichen Armbänder aktivieren. Die Männer warfen sich den fest verschnürten Mac über die Schultern und trugen ihn zum Palais de Justice. Während er Teppichfasern einatmete, dachte er nicht an seine eigene Sicherheit, sondern allein an Alyss, die Prinzessin, die in einer feindlichen Welt verloren gegan gen war.
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stand am Rand der Klippe und starrte auf D erdieKater schäumende, Wellenringe formende Stelle, an
der Alyss und Mac ins Wasser geklatscht waren. Blitze zuckten über den Himmel, Donner grollte, und es regnete in Strömen. Wenn es etwas gab, das der Kater nicht aus stehen konnte, dann war es Wasser. Regen, Duschen, Bäder; was auch immer – er hasste es, nass zu werden. Er wandte sich ab und stapfte in den Wald zurück, in der Faust den Fetzen von Alyss’ Kleid. »Du hast sie entkommen lassen«, sagte eine Stimme. Der Kater erstarrte. »Sie sind auf und davon«, sagte eine andere. Er wirbelte herum, sah aber niemanden. Der Wald sprach zu ihm, die Bäume und Büsche und Blumen. »Was ist los?«, fragte neben ihm ein Fliederbusch. »Sind wir ein bisschen wasserscheu?« Da lachte der ganze Wald, aber der Kater ließ sich nicht gern zum Gespött machen. Er riss den Flieder mit samt den Wurzeln heraus und warf ihn hin. Der Wald verstummte. Der Kater ging zu einem Baum. »Warst du das eben?« Der Baum sagte nichts. Der Kater sah sich nach links um, dann nach rechts. »Ist niemand anders zu sehen, also musst wohl du mit mir geredet haben.« Immer noch sagte der Baum kein Wort. Es nutzte ihm aber nichts. Der Kater fuhr mit seinen Krallen den Stamm hinunter und riss die Rinde ab. 90
»Aaaah!«, schrie der Baum. Der Kater betrat das Kristallkontinuum wieder durch den Waldspiegel (dessen Wächter, der verschwiegene Busch, nun verschwiegener denn je war) und kam in Ge nevieves Salon heraus. Er stampfte durch das Trümmer feld des Sitzbereichs und einen herzförmigen Flur zum südlichen Speisesaal, stieg dabei achtlos über tote Kar tensoldaten und Gardisten, als hätten sie nie gelebt, nie gelacht, geweint oder sich über etwas gefreut, nie jeman den gehabt, der sie liebte und zu Hause auf sie wartete. Ungeachtet der Explosion, die den Palast erschüttert hatte, und der Toten, die überall auf den Tischen und dem Boden lagen, bot der südliche Speisesaal das Bild eines Festgelages. Redds Soldaten verschlangen Wun derkringel, gebratene Haselmäuse und sonstige Delika tessen, ohne sich weiter mit Tischmanieren aufzuhalten. Da sie Tee nicht viel abgewinnen konnten, hatten sie den palasteigenen Weinkeller geplündert und gossen nun die edelsten Weine, die das Königinnenreich zu bieten hatte, in sich hinein. »Auf die Gesundheit von Königin Redd!« »Auf den Tod von Königin Genevieve!« Diese Trinksprüche machten auf Redd, die mit der blutigen Krone auf dem Kopf in einem Stuhl lümmelte, nur wenig Eindruck. »Nun?«, sagte sie, als sie den Kater erblickte. »Wo sind ihre Köpfe?« Man gestand Redd kein Versagen ein, ohne Schmer zen oder Schlimmeres zu erleiden. Der Kater hielt den Fetzen von Alyss’ Kleid hoch. »Mehr ist von ihnen nicht übrig. Es tut mir leid, Hoheit. Ich konnte mich nicht zu rückhalten.« »Es wäre unklug, sich in einer solchen Situation zu rückzuhalten«, sagte Redd. »Gut gemacht.« 91
Aber ein intriganter, verlogener Charakter wie Redd argwöhnt ständig, dass auch alle anderen um ihm herum intrigieren und lügen. Sie versuchte Alyss mit dem Inne ren Auge ihrer Imagination zu sehen, um die Wahrheit selbst herauszufinden: nichts. Mit Fantasie konnte man den Teich der Tränen nicht durchdringen, sehr zu des Katers Glück. »Sie ist tot?«, fragte jemand hinter einem Vorhang. »Alyss ist tot?« Redd schwenkte die Hand, und der Vorhang schwang zurück und enthüllte Nanik Schneeweiss. »Wenn das nicht mein gelehrter und kluger Lehrer ist«, sagte sie. Nanik Schneeweiss war eine treue Seele, und aus Treue zu Genevieve und Alyss und zur Weißen Imagina tion beschloss er dort und auf der Stelle, sein eigenes Überleben sicherzustellen, indem er Redd beschwichtig te. Er war zwar nur ein Lehrer, aber er schwor sich, diese Herrin der Schwarzen Imagination eines Tages zu stür zen und Wunderland die Segnungen des Friedens zu rückzubringen. Er neigte den Kopf. »Zu Diensten, Eure … Königliche Bosheit.« Redd feixte. »›Eure Königliche Bosheit‹? Ha! Ja, das passt. Ab sofort redet mich jeder mit ›Eure Königliche Bosheit‹ an oder verliert sein Leben. Du da drüben!« »Ja, Eure Ho –«, sagte eine Zwei und wurde umge hend von einer Kralle des Katers durchbohrt. »Du!«, sagte Redd zu einer Drei. »Ahm, j-ja, Eure … Eure Königliche Bosheit?« »Ich will eine Liste sämtlicher mutmaßlicher Sympa thisanten der früheren Königin, die nicht tot in diesem Raum liegen. Ich sehe, dass General Doppelgänger nicht unter den Toten hier ist. Setzt ihn als Erstes auf die Liste. Was den Rest angeht, befragt sie.« Sie richtete ihren 92
Blick auf die Farbfamilien, die aneinander gedrängt bei sammen standen und versuchten, möglichst wenig aufzu fallen. »Sie werden bestimmt gern behilflich sein.« »Aber ja«, erklärte der Karofürst, immer noch eine Hand auf der Schulter des Karobuben. »Absolut«, sagte die Pikdame. »Selbstverständlich, durchaus«, sagten die Kreuzdame und ihr Mann. Redd war nicht dumm. Ihr war klar, dass sich das Kö niginnenreich nicht mit Furcht und Einschüchterung al lein regieren ließ. Die Farben hatten Beziehungen zu dem vermögenden Adel sowie zu einflussreichen Geschäfts leuten und wichtigen Angehörigen des königlichen Mili tärs beziehungsweise seiner Überreste – Beziehungen, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzen wollte. »Es wird sich einiges ändern im Königinnenreich, was für Sie alle vorteilhaft sein könnte«, verkündete Ihre Kö nigliche Bosheit. »Nicht zuletzt, dass ich, da es in der Herzdynastie keine Thronerbin gibt, mir meine Nachfol gerin aus einer der Adelsfamilien wählen werde. Diejeni ge Farbe, die sich als am dienlichsten erweist, darf mit nichts rechnen, aber sie wird zumindest eine größere Chance auf den Thron haben als die anderen.« Sie gestat tete sich ein Lächeln, das nicht nur der Pikdame weit grausiger erschien als die vielen Toten im Saal, und das Redd, um der Wahrheit gerecht zu werden, nur unter kör perlichen Schmerzen aufzusetzen vermochte. »Ich darf doch davon ausgehen, dass Sie nichts dagegen haben, wenn ich mir so Ihre Ambitionen zunutze mache?« »Aber nein«, erklärte der Karofürst. »Absolut nicht«, sagte die Pikdame. »Selbstverständlich nicht, durchaus nicht«, sagten die Kreuzdame und ihr Mann. 93
Die Farben bemühten sich sehr, alle aufzuzählen, de nen die Flucht gelungen war, und nannten Bauern, einen Turm, einen Springer und zahlreiche Kartensoldaten. »Dodd Anders ist geflohen!«, tat der Karobube lauter als die anderen kund. »Und wer ist Dodd Anders?«, fragte Redd. »Er ist in Prinzessin Alyss verliebt, tut aber so, als wä re er’s nicht. Er ist der Sohn von einem Gardisten. Der dort ist sein Vater.« Der Karobube zeigte auf Justus An ders, der tot am Boden lag. Redd näherte sich dem Karobuben. Die schurkischen Soldaten hielten im Feiern inne. Der Kater stand reglos da. Niemand wusste, was Redd tun würde. »Du bist einer von der hilfsbereiten Sorte, nicht wahr?«, sagte sie und kniff ihn in die Wangen wie eine liebevolle Großmutter. Ihr Griff hinderte ihn an einer Antwort. »Setzt Dodd Anders’ Namen mit auf die Liste«, befahl sie und ließ ihn los. Auf den Wangen des Karobuben bil deten sich kleine Blutergüsse. Redd nahm die Krone vom Kopf und warf sie Nanik zu. »Bereitet die Krönungsfei erlichkeiten vor. Beim Herzkristall. Jetzt gleich. Die Far ben werden komplett daran teilnehmen – es sei denn na türlich, sie möchten sich lieber zur letzten Ruhebetten.« Umgeben von Nanik Schneeweiss, dem Kater, den Far ben und denjenigen ihrer Soldaten, die noch nüchtern genug waren, dass sie stehen konnten, sowie einigen, die es nicht mehr konnten, stand Redd im Palasthof vor dem Herzkristall und erhob ihre Stimme zum Gewitterhimmel. »Ich bin bereit, all jenen zu vergeben, denen es wäh rend meines Exils wohlergangen ist und die wenig zu meiner Rückkehr beigetragen haben. Mit folgender Aus 94
nahme: Ein jeder, der einem Sympathisanten der vorheri gen Königin oder einem Anhänger der Weißen Imagina tion hilft oder ihm Unterschlupf gewährt, wird gnadenlos aufgespürt, ins Gefängnis geworfen, unaussprechlichen Foltern unterzogen und anschließend exekutiert. Jetzt setz mir die Krone auf.« Nanik Schneeweiss trat rasch vor, um ihrem Wunsch nachzukommen, aber Redd ging es nicht schnell genug. Auf eine Krümmung ihres Fingers hin schlüpfte ihm die Krone aus den Händen und landete auf ihrem Kopf. »Das Königinnenreich sei wieder mein«, verkündete sie und legte beide Hände auf den Herzkristall. Ein Energiestoß schüttelte sie. Der Kristall verfärbte sich von weiß zu rot – zu einem so tiefen und grellen Rot, dass Nanik und die übrigen Zuschauer den Blick abwenden oder die Augen schließen mussten, um nicht zu erblinden. Redd hatte sich die Macht des Herzkristalls zu Eigen gemacht.
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Generäle Doppel und Gänger und die wenigen D ieanderen Überlebenden des Reddschen Angriffs
mieden das Kristallkontinuum, weil das kristalline Ver bindungsnetz womöglich schon in der Hand der Invaso ren war. Sie flohen zu Fuß zum Ewigwald und fanden in einer kleinen Lichtung Unterschlupf, deren umstehende Bäume Alarm schlagen würden, wenn sich Feinde näher ten. Die Gesunden stützten die Verwundeten, aber alle litten sie unter der Niederlage und dem Verlust derer, die zurückgeblieben waren. »Wir müssen uns schleunigst formieren«, drängte Ge neral Doppel. »Bevor Redd ihre Herrschaft gefestigt hat«, stimmte General Gänger ihm zu. Der weiße Springer nickte. »Unsere einzige Chance, ein Heer aufzustellen, haben wir jetzt«, fuhr Doppel fort. »So ungünstig der Zeitpunkt auch erscheinen mag.« Die drei richteten ihren Blick auf die wie betäubt wir kenden Soldaten, die sich in den Schutz des Waldes schleppten. »Meine Läufer und ich sind bereit, Leib und Leben für das Wohl des Königinnenreiches einzusetzen«, sagte der Springer. »Und wir werden Wunderländer finden, die mit uns gegen Redd kämpfen, verlassen Sie sich drauf.« Der Springer versammelte seine Läufer und ihre Bau ern um sich. »In der Hauptstadt ausschwärmen«, befahl 96
er. »Findet alle, die bereit sind, für die Weiße Imaginati on zu kämpfen, und sagt ihnen, wo wir unser Lager auf geschlagen haben. Sie müssen sich heimlich und auf ei gene Faust zu uns durchschlagen. Aber versichert euch vorher, dass sie wirklich auf unserer Seite sind; sonst verratet ihr uns, und wir sind verloren.« Unter den Soldaten, die sich im Wald gesammelt hatten, saß jemand, der gar kein Soldat war – nur ein untröstli cher Junge, der unter einem Baum zusammengesunken war und herzzerreißend weinte, ohne sich darum zu sche ren, ob Redd persönlich ihn vielleicht hörte. Die Generä le hätten es besser verstanden, einen wütenden Jabber wock zu beruhigen als ein trauerndes Kind. »Ihr hättet mich nie hierher bringen dürfen«, klagte Dodd. »Ich hätte sie nie im Stich lassen dürfen.« »Es gab nichts, was du hättest tun können, mein Sohn«, sagte General Doppel. »Du wärst getötet worden«, sagte General Gänger. »Dann wäre ich wenigstens an der Seite meines Vaters gestorben! Ich hätte Alyss beschützen können!« »Wenn Mac nicht für ihren Schutz sorgen konnte –« »– dann hätte es auch niemand anders geschafft, fürch te ich.« Dodd wischte sich die Nase. »Es tut uns aufrichtig leid«, sagten die Generäle Dop pel und Gänger im Chor. »Ich habe meinen Vater verloren … und Alyss!« Die Generäle senkten die Köpfe und brauchten einen Moment, um etwas zu sagen. »Wir alle haben Prinzessin Alyss verloren –« »– und teilen deinen Kummer, was das betrifft.« Dodd bezweifelte es. Sie konnten unmöglich wissen, 97
wie ihm zumute war – wie einsam er auf einmal war, so einsam, dass es ihn fast zerriss. Sie hatten vielleicht ihre Prinzessin verloren, für ihn aber war Alyss weit mehr als das. Sollte er die lebhafte, liebliche Alyss nie mehr wieder sehen? Ihr nie mehr seine Träume vom Soldaten ruhm anvertrauen? Wozu jetzt überhaupt noch träumen? Und dann sein Vater … Er konnte es kaum fassen: Er würde seinen Vater niemals wieder sehen. Wo die bei den Menschen gewesen waren, die er am meisten ge liebt hatte auf der Welt, war jetzt nichts mehr, blankes Nichts. »Es tut uns leid«, sagten die Generäle erneut. Aber sie konnten sich mit dem trösten, was von ihrem Heer noch übrig war; sie ließen ihn dort sitzen und schritten über die Lichtung, um den Verwundeten Trost zuzusprechen und alle für ihre Tapferkeit zu loben. Dodd hatte keine Ahnung, wann er eingeschlafen war. Er hätte schwören können, die ganze Nacht über kein Auge zugetan zu haben, bis er am Morgen mit einem Ruck er wachte und eine Idee in seinem Kopf loderte und der Entschluss, sie auszuführen, schon feststand. Als die Ge neräle auf ihn zukamen, riss er sich gerade das Wappen vom Gardistenmantel, und sie sahen zu, wie er den Man tel links herum anzog und ihn kräftig mit Erde abrieb, bis es praktisch unmöglich war, zu erkennen, dass er Gardistenuniform trug. »Was hast du vor?«, fragte General Doppel. »Wenn es zu spät ist, etwas für Alyss zu tun, dann kann ich wenigstens noch etwas für meinen Vater tun.« Die Generäle wechselten einen besorgten Blick. »Ich werde seinen Leichnam holen«, sagte Dodd. »Der Hauptmann der Palastgarde verdient eine Beerdigung, 98
die seinem Rang angemessen ist, und ich werde dafür sorgen, dass er sie bekommt.« »Du kannst nicht dorthin zurück«, sagte General Gänger. »Wieso nicht?« »Nun«, sagte General Doppel, »wer sagt, dass sein Leichnam überhaupt noch dort ist, und –« »– und Redds Soldaten sind überall«, schloss General Gänger. »Du kannst es gar nicht schaffen.« »Ich geh trotzdem.« »Aber wir verbieten es dir!« Dodd Anders hatte die Rangordnung stets respektiert, die Disziplin, die von Militärangehörigen verlangt wurde, aber nun bellte er auf einmal: »Wer seid ihr, dass ihr es mir verbieten wollt? Fließt in euren Adern etwa AndersBlut?« »Ich gehe mit, wenn es Ihnen recht ist, Generäle.« Der weiße Turm. Dodd schlug das Herz bis zum Hals. Sein Atem ging kurz und schnell. Der Schachkämpfer kam herüber und stellte sich neben ihn. Dodd kannte den Turm nicht sonderlich gut, aber er war einverstanden. Jemanden bei sich zu haben konnte nicht schaden. Die Generäle schüttelten die Köpfe und waren gegen ihren Willen beeindruckt vom Charakter des Jungen, ob wohl sein Vorhaben der blanke Unsinn war. In stiller Übereinkunft nahmen sie die exakt gleichen Orden von ihren Uniformen, das Vierfache Herz in Kristall und Edelstein, und hielten sie Dodd hin. »Für deinen Vater«, sagte General Gänger. »Mit unserer vorzüglichen Hochachtung«, sagte Gene ral Doppel. Dodd nahm die Orden und steckte sie sorgfältig ein. Seine Unterlippe bebte. Er wandte sich ab und eilte in den Wald. 99
»Passen Sie gut auf ihn auf«, sagten die Generäle zu dem Schachkämpfer. Dem Turm war klar, dass er in der Hauptstadt leicht zu erkennen sein würde, also griff er sich beim Verlassen des Lagers eine Decke und legte sie sich über die Zinnen. So sah er wie ein x-beliebiger armer Schlucker aus. Leise und wachsam machten Dodd und er sich auf den Weg zum Herzpalast. Sie fanden Wundertropolis praktisch ausgestorben vor. Kleine Rotten von Redds Soldaten lungerten vor aufge gebenen Kneipen herum, betrunken vom Wein, und schi kanierten die wenigen Wunderländer, die sich noch auf die Straße wagten und die mit gesenkten Köpfen dahin eilten, um nicht aus Versehen die Nase in unerfreuliche Angelegenheiten zu stecken. Dodd und der Turm gingen den Soldaten wei testmöglich aus dem Weg. Sie gelangten ohne Zwischen fall zum Palast und fanden ihn zu ihrer Überraschung völlig unbewacht vor. »Wo ist der Herzkristall?«, fragte der Turm. Dodd sah sich im Hof um. Wie düster er dalag – ein sam und verlassen, ohne das Licht des mächtigen Kris talls. Plötzlich kam eine Gestalt aus dem Palast gehuscht. Dodd und der Turm griffen nach ihren Schwertern, aber sie brauchten sie nicht. Die Gestalt – ein Mann – schien sie nicht zu bemerken; schwer beladen mit Kelchen und Tellern rannte er vorbei und verschwand. Wieder trottete ein Mann aus dem Palast und über den Hof, er trug eine Spieldose und mehrere Kissen. Dodd sah den Turm an. Was war hier los? In den dunklen Fluren des Palastes stießen sie auf Plünderer, die hastig und schweigend ein paar Andenken 100
an das einstige Herrscherhaus zusammenklaubten. Ein Mann rannte mit einem von Alyss’ alten Spielzeugen vorbei: einem Glas mit Glühwürmelchen. Dodd wollte dem Dieb schon ein Bein stellen, aber der Turm legte ihm eine Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf: Dodd musste sich auf das konzentrieren, weswegen er gekommen war. Wie die Plünderer huschten Dodd und der Turm durch die Festsäle und Salons. Sie sahen viele von Redds Sol daten besinnungslos auf den Tischen und am Boden lie gen. Aber von Redd oder dem Kater keine Spur. Sie nä herten sich dem südlichen Speisesaal, stiegen über tote Kartensoldaten und Gardisten. »Dieser Geruch.« Dodd hielt sich eine Hand vor die Nase. »Drinnen wird’s noch schlimmer werden«, sagte der Turm. Sie fanden den Speisesaal verlassen vor, der Gestank schreckte die Plünderer wohl ab. Der Turm blieb an der Tür stehen und schüttelte den zinnenbewehrten Kopf über das Gemetzel, das hier stattgefunden hatte. Aber so grausig der Anblick auch war, Dodd sah nur den Leich nam seines Vaters. Er stand über ihm und weinte still. »Wir sollten uns beeilen«, sagte der Turm leise. Dodd wischte sich über das Gesicht und nickte – mehr sich selbst zu als dem Turm, ein Nicken, mit dem er sich überzeugen wollte, dass er die Stärke besaß, dies zu tun. Sie trugen Justus Anders in den Garten hinaus, nah men abgebrochene Stuhllehnen als Schaufeln und fingen zu graben an. Es war keine leichte Arbeit. Sie schwitzten, ihre Muskeln taten weh. Aber schließlich war die Grube groß genug. Als der Hauptmann in der Erde lag, zog Dodd die Orden aus der Tasche, die ihm die Generäle 101
gegeben hatten, und legte sie seinem Vater auf die Brust. Zaghaft, mit zitternden Händen begann er Erde in das Grab zu schaufeln. Nein! Es war unmöglich! Mit anzusehen, wie die Erde auf seinen Vater fiel, auf den Mann, der ihn gezeugt hat te, war schlimmer als alles, was er je erlebt hatte. Ein Schrei drängte sich aus seiner Kehle, er warf die impro visierte Schaufel hin und lief davon, versteckte sich in einem Winkel des Gartens. Wie konnte er noch am Le ben sein? Warum war er noch am Leben, wenn doch alle, die er geliebt hatte, tot waren? Langsam wurde er ruhi ger. Wie sollte er leben und warum? Das waren die Fra gen, die beantwortet sein wollten. Die einzigen Fragen. Als er schließlich aus seinem Versteck trat, war sein Vater begraben. Der Turm hatte sich um alles geküm mert. Um fast alles. »Möchtest du das machen?«, fragte er und hielt Dodd ein Samenkorn hin: den Jenseitssamen. Dodd nahm den Samen und warf ihn auf das Grab sei nes Vaters. Sofort schlug der Samen Wurzeln, und ein großes, wunderschönes Blumenarrangement wuchs em por, das die Gestalt von Justus Anders nachformte, le bendiges Gedenken. »Danke«, sagte Dodd leise. Der Turm nahm den Dank wortlos entgegen. Er ent deckte keine Spuren von Tränen auf den Wangen des Jungen. Dodds verkniffene Züge sahen eher zornig aus denn traurig. Sie standen zu einem letzten Gruß gemeinsam am Grab. »Er war ein guter Mensch«, sagte der Turm, »ein tap ferer und ehrenwerter Mann.« Dodd schnaubte bitter. »Ja, und das hier ist der Dank dafür.« 102
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fand, dass Quigly Gaffer der netteste in der A lyss Bande von Waisenkindern und Ausreißern war,
und das nicht nur, weil er ihr gegenüber so aufmerksam war. Er war zu allen freundlich. Er war kaum je mürrisch und niedergeschlagen und hielt mit seiner lebhaften, zu versichtlichen Grundeinstellung auch bei den anderen die Stimmung hoch, wenn es nicht genug zu essen gab, wenn es kalt und regnerisch war und wenn sie wieder einmal aus einem schützenden Hauseingang fortgejagt worden waren. Mit anderen Worten: Quigly gab ihnen Hoffnung, wenn das Leben besonders hoffnungslos war. Dabei hatte er mindestens genauso viel Schlimmes erlebt wie die an deren. Als er an jenem ersten Tag in London neben ihr her ging, hatte er gesagt: »Prinzessin, erzähl doch mal etwas von dir!« Und Alyss hatte ihr beklagenswertes Schicksal mit einer Bitterkeit vorgetragen, von der sie selbst über rascht war. »Ich habe gesehen, wie mein Vater, der Gemahl der Königin von Wunderland, umgebracht wurde. Die Köni gin, meine Mutter, ist tot. Beide wurden von meiner Tan te ermordet. Aber selbst wenn sie noch am Leben wären … ich kann nie mehr nach Hause zurückkehren!« »Ich war auch dabei, als meine Eltern umgebracht wurden«, sagte Quigly. »Wir waren in unserer zweispän nigen Kutsche unterwegs, als ein paar Räuber uns anhiel ten. Sie beschlossen, dass ihnen unser Anblick nicht ge 103
fiel, und erschlugen meinen Vater mit einem Knüppel. Meine Mutter wurde mit demselben Knüppel erschlagen, während sie um Gnade flehte. Ich wäre sicher auch zu Tode geknüppelt worden, wenn ich nicht in die Dunkel heit davongelaufen wäre und mich versteckt hätte, wäh rend die Diebe meiner Mutter die Ringe von den Fingern zu zerren versuchten. Wir haben also etwas gemeinsam, Prinzessin, denn unsere Eltern sind allesamt gründlich tot.« Alyss hätte sich andere Dinge vorstellen können, die sie lieber mit ihm gemeinsam gehabt hätte. Sie wusste es zwar noch nicht, und Nanik Schneeweiss hätte es ihr ge wiss auch auf andere Art beigebracht, aber was sie von Quigly Gaffer lernte, sollte ihr eines Tages als Königin sehr nützen. Lektion Nummer 1b in Naniks sorgfältig entwickeltem Lehrplan war die Erkenntnis, dass das Leben für die mei sten Bewohner des Universums keineswegs bloß aus le ckeren Feuertörtchen und Fruchtknallern bestand. Das Leben war ein ständiger Kampf gegen Not, Hunger, Un gerechtigkeit, Korruption, Misshandlungen und andere Widrigkeiten. Schon das bloße Überleben, ganz zu schweigen von einem Überleben in Würde, war helden haft. Nach einer Niederlage tapfer weiterzuleben war das mutige Handeln von vielen. Und um eine gute Königin zu sein, musste man die Gefühle derer verstehen, die we niger Glück als man selbst hatten. »Wegen dem Kleid brauchst du dir gar nichts zu den ken«, sagte Quigly. »Ich hab schon an deinem Gebabbel gemerkt, dass du nicht von hier bist.« »Wieso?« »Du hast so einen komischen Akzent. Habe ich noch nie gehört.« 104
»Wahrscheinlich ist er wunderländisch.« »Genau. Du hast ja gesagt, du kommst aus dem Wun derland«, lachte Quigly. »Warum erzählst du mir nicht ein bisschen von dort?« Also fing Alyss an zu erzählen, und je mehr sie erzähl te, desto mehr erwärmte sie sich für ihr Thema. Der kal te, unpersönliche Tonfall, in dem sie vom Tod ihrer El tern erzählt hatte, wurde bald abgelöst von einer tiefen Wehmut und Sehnsucht nach dem, was so plötzlich und unerwartet zur Vergangenheit für sie geworden war. Be stimmt hätte sie heute sogar die Erfinderparade nicht mehr so langweilig gefunden, wenn sie nur auf dem kö niglichen Balkon hätte stehen können, um sie zu beo bachten. »Siehst du die Lampe da?«, fragte sie und zeigte auf eine der Gaslaternen neben der Straße. »Die ist in Wun derland erfunden worden, aber das Licht kam dort nicht von einer offenen Flamme, sondern aus einer gläsernen Birne, und man brauchte bloß einen Schalter umzulegen, um sie zum Leuchten zu bringen.« Sie beschrieb den Herzpalast, die singenden Blumen in den Königlichen Gärten und das Kristallkontinuum. »Ich will ja nicht angeben«, sagte sie, »aber ich habe eine sehr starke Fantasie.« »Das kann man wohl sagen.« »Denkst du vielleicht, ich erfinde das alles?« Quigly gab keine Antwort. Alyss heftete den Blick auf eine einsame Löwenzahnblüte, die zwischen zwei Pflas tersteinen hervorleuchtete, und stellte sich das gelbe Ding singend vor. Sie musste ihre ganze Fantasie einsetzen, und es dauerte auch viel länger als in Wunderland. Aber schließlich begannen sich die Blütenblätter zu bewegen, und aus dem Inneren kam ein dünnes Stimmchen. 105
»Lalalala, lalalala, lalalala, laaaaaah.« Mehr konnte Alyss aus dem Löwenzahn beim besten Willen nicht herauslocken, aber Quigly war trotzdem beeindruckt. Er hatte schon von solchen Zauberkünstlern gehört, die ihre Stimme »werfen« konnten, so dass es klang, als ob eine andere Person oder ein Gegenstand am anderen Ende des Zimmers sprächen, während der Zau berkünstler neben einem stand und sich nicht von der Stelle bewegte. »Prima Trick.« »Das ist kein Trick.« Und dann fügte Alyss traurig et was hinzu, was ihr gerade eingefallen war: »Weißt du, heute ist mein Geburtstag.« »Herzlichen Glückwunsch, Prinzessin.« Alyss spürte, wie ihre Augen nass wurden und der Kummer ihr den Hals zuschnürte. »Ach, das kommt nicht in Frage«, sagte Quigly, »am Geburtstag wird nicht geweint. Komm, du musst ein paar von meinen Freunden kennen lernen. Die werden dich aufmuntern.« Also machten sie sich auf den Weg zur London Bridge, wo sie in einer düsteren Gasse im Schatten der Brücke eine zerlumpte Bande von Kindern im Alter von fünf bis zwölf Jahren antrafen, die auf alten Kisten he rumsaßen. »Hört mal her!«, verkündete Quigly. »Ich bringe euch eine Neue! Sie wird jetzt bei uns bleiben.« Die Kinder betrachteten Alyss ohne Interesse. Sie hat ten schon viele Neue kommen und gehen sehen. Die Zu sammensetzung der Gruppe änderte sich ständig. Da kam jemand und teilte mit ihnen für ein paar Tage oder Wo chen das Brot, und dann verschwand er und wurde nie wieder gesehen, und niemand wusste, ob er eingesperrt 106
oder in ein Heim gesteckt oder aber umgebracht worden war. Quigly stellte Alyss seine Freunde vor. »Der Große ist Charlie Turnbull. Der daneben mit dem Muttermal auf der Nase ist Andrew MacLean – der hat auch keine El tern mehr. Das da ist Otis Oglethorpe, der ist von zu Hause weggelaufen, weil seine Mutter tot ist. Und jetzt zu den Damen. Da hätten wir Francine Forge, Esther Wilkes und Margaret Blemin – alle drei Vollwaisen. So, und jetzt möchte ich euch allen Prinzessin Alice vom Wunderland vorstellen. Sie ist durch eine Wasserpfütze zu uns gekommen, und ich möchte sehr bitten, dass ihr euch in Gegenwart Ihrer Hoheit anständig benehmt!« »Aus einer Wasserpfütze?«, sagte Charlie Turnbull und lachte. »Eine feine Prinzessin aus dem Wunder land!« Quigly machte sich gar nicht erst die Mühe, das zu er klären. Er wühlte in einem Haufen Lumpen und zog eine Hose, eine Bluse und eine Männerjacke heraus. »Hier«, sagte er und legte sie Alyss hin. »Die werden dir passen. Du kannst ja nicht dauernd in deinen nassen Klamotten rumrennen.« Da hatte er sicher Recht. Aber wo sollte sie sich um ziehen? »Tut mir leid, Prinzessin«, erklärte Quigly, »aber An kleidezimmer haben wir noch nicht auf den Straßen von London.« Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich in aller Öf fentlichkeit auszuziehen. Um nicht verlegen zu werden, tat sie so, als wäre das durchaus üblich. Die Bluse passte nicht schlecht, aber die Hose und die Jacke waren zu groß. Als sie fertig war, legte sie ihr Geburtstagskleid neben den Stapel mit Kleidern und Decken, von dem sich 107
jeder bedienen konnte, der etwas brauchte. Auch ihre Geburtstagsschuhe aus Wunderland streifte sie ab und steckte ihre Füße in ein Paar Stiefel, die Quigly für sie ausgegraben hatte. »So, und jetzt lasst mal sehen, was wir heute zu essen haben«, sagte Quigly zu seinen Kumpanen. Daraufhin zogen die Kinder verschiedene kleine Mün zen und Lebensmittel aus ihren Taschen – ein paar Pen nys, eine fast leere Brieftasche, ein großes Stück Käse, Würstchen und ein gebratenes Hühnerbein. Otis Oglethorpe zog einen Laib Brot hervor, der unter seinem Mantel versteckt war, und Charlie Turnbull hatte sogar eine halbe Fleischpastete unter der Mütze. »Und was ist mit dir?«, fragten sie Quigly. »Was hast du mitgebracht?« »Immerhin die Prinzessin.« »Die können wir aber nicht essen!«, sagte Charlie Turnbull. »Ganz im Gegenteil. Das ist nur ein weiteres hungriges Maul, das gestopft werden muss.« »Das werden wir morgen schon ausgleichen«, erklärte Quigly. »Die Prinzessin und ich werden euch noch genug mitbringen, keine Sorge.« Charlie sah Alyss unfreundlich an. Quiglys Freunde kennen zu lernen war alles andere als aufmunternd. Die Lebensmittel wurden in acht Portionen geteilt. Der Käse und die Würstchen waren überhaupt nicht so wie in Wunderland. Der Käse war irgendwie matschig, und das Würstchen schmeckte nach Mehl. Die Fleischpastete, dachte Alyss, schmeckte wie ein alter Strumpf. Nach dem Essen kuschelten sich Andrew, Francine und Margaret, die jüngsten der Waisenkinder, auf dem Kleiderhaufen zusammen, um zu schlafen. Charlie mach te sich ein Bett aus drei alten Kisten und einer zerrisse 108
nen Bettdecke. Otis legte sich einfach so auf den Boden und deckte sich mit seinem Mantel zu. Esther Wilkes schlief im Sitzen ein. Sie lehnte mit dem Rücken an einer Mauer, und ihre Beine ragten vor ihr in die Gasse. Alyss konnte nicht schlafen. Sie versuchte es mit Gwynuk-zählen. Ein Gwynuk, zwei Gwynuks, drei Gwy nuks. Aber es half nichts. »Kannst du nicht schlafen, Prinzessin?« Quigly leiste te ihr noch ein bisschen Gesellschaft. »Tagsüber verteilen wir uns«, erzählte er, »um zu betteln oder zu stehlen, je nachdem. Francine, Andrew und Margaret arbeiten zu sammen. Zwei von ihnen lenken die Leute ab, und der Dritte stiehlt ihnen was aus der Tasche. Manchmal zie hen wir auch durch die Läden und fragen nach Lebens mitteln, die sie wegwerfen wollen. Aber am Abend tref fen wir uns immer hier und teilen, was wir ergattert ha ben. Ich weiß nicht, ob wir auf diese Weise tatsächlich besser durchkommen, und Charlie rückt auch nicht im mer alles raus, was er sich geschnappt hat – er weiß nicht, dass ich das weiß, also sag ihm nichts –, aber ins gesamt ist es doch irgendwie schöner in einer Bande. Es wird oft ein bisschen einsam, so ohne Familie.« »Ja, das glaube ich gern«, sagte Alyss. »Na ja«, sagte Quigly und rollte sich auf dem Boden zusammen. »Jetzt muss ich schlafen.« Er benutzte die Hände als Kopfkissen. »Ich hab den anderen verspro chen, dass es morgen was Besonderes gibt. Ich habe gro ße Pläne für dich und mich. Nacht, Prinzessin.« »Gute Nacht, Quigly.« Es dauerte nicht lange, und Alyss war allein mit dem gleichmäßigen Atmen der schlafenden Straßenkinder. Francine murmelte etwas vor sich hin und kuschelte das Gesicht an Andrews Arm, Charlie fing an zu schnarchen. 109
Alyss starrte hinauf in den Himmel, jene unendliche Weite, die sie immer als Beweis dafür genommen hatte, welche wunderbaren Möglichkeiten ihr offen standen. Vier Gwynuks, fünf Gwynuks, sechs … Heute Nacht schien der Himmel ganz leer und niedrig. Es war kein Stern zu sehen. Sieben Gwynuks, acht Gwynuks, neun Gwynuks … Da sie als Letzte eingeschlafen war, wachte Alyss auch zuletzt auf. Sie rieb sich noch den Schlaf aus den Augen, als ihr Quigly eine kleine weiße Blume vor die Nase hielt, die er mit der Wurzel ausgegraben hatte. »Meinst du, du kannst noch mal diesen Trick ma chen?« Es dauerte einen Augenblick, ehe sie verstand, was er meinte: die singende Blume. »Ein Trick ist das nicht.« »Ja, schon gut. Aber kannst du’s noch mal machen?« »Ich weiß nicht … Wahrscheinlich schon.« »Dann mach mal.« Es dauerte noch länger als am Abend zuvor, und sie musste sich noch mehr konzentrieren, aber am Ende zirp te die Blume tatsächlich ein Liedchen. »Juhu!« Quigly tanzte mit der Blume durch die Gasse. »Wo sind denn die anderen?«, fragte Alyss. »Die sind längst unterwegs und tun ihre Arbeit, Prin zessin. Wird Zeit, dass wir auch anfangen.« Er führte sie zu einer geschäftigen Kreuzung, wo sie aber trotzdem halbwegs geschützt waren. Alyss sollte bloß auf einer Kiste sitzen, erklärte er, und die Blume zum Singen bringen, wenn er ihr zuzwinkerte. Dann fing er plötzlich an zu schreien. »Was ist das, meine Damen und Herren?«, brüllte er aus Leibeskräften, um die Aufmerksamkeit der vorbeige 110
henden Londoner zu erregen. »Na? Das ist die einzige singende Blume der Welt! Das ist es, was Sie hier sehen! Das Blumenmädchen hier ist den ganzen Weg aus Afrika gekommen, um Ihnen dieses seltene Stück vorzuführen. Ich weiß schon, es sieht bloß wie ein Gänseblümchen aus, aber dieses Gänseblümchen kann singen! Na, wer will das Blümchen singen hören? Kommen Sie, meine Damen, treten Sie näher!« Tatsächlich gelang es ihm, ein paar Neugierige zum Stehenbleiben zu bewegen. Als genug Leute versammelt waren, zwinkerte er Alyss zu, und sie brachte das Gänse blümchen zum Singen. Es waren nur ein paar Takte, aber das genügte vollkommen. Die Menschenmenge hielt es für Zauberkunst. Rasch machte Quigly die Runde und hielt seinen Hut auf. »Schenken Sie uns ein paar Pennys, meine Damen und Herren! Nicht jeder hat Gelegenheit, die singende afrika nische Blume zu sehen. Nur zu, der Transport aus Afrika ist nicht billig!« Tatsächlich warf jeder der Anwesenden ihm ein paar Pennys in seinen Hut. An diesem Tag schaffte Alyss noch vier weitere Vor stellungen, immer zur vollen Stunde, dann musste sie aufhören. Jeder Auftritt der singenden Blume war an strengender als der zuvor. Aber sie hatten ohnehin schon mehr Geld zusammen, als Quigly je auf einmal gesehen hatte. Sie kehrten zu ihrer Gasse unter der Brücke zu rück. Die anderen waren gerade dabei, ihre Taschen zu leeren – ein paar Pennys klimperten heraus, eine kaputte Uhr, etwas Käse, eine Salami und ein paar gekochte Kar toffeln. »Und was habt ihr mitgebracht?«, fragte Charlie. »Nicht viel«, sagte Quigly und holte eine Unmenge von Münzen aus seinen Taschen. 111
Die anderen konnten es gar nicht glauben. Wo hatten Quigly und Alyss bloß so viel Geld her? Quigly war nicht bereit, es zu verraten; er wollte das Geheimnis der Prinzessin für sich behalten. »Morgen bringen wir wieder so viel«, sagte er. »Die Prinzessin und ich, wir haben ein prima System. Mehr braucht ihr nicht zu wissen. Charlie, Otis – kommt mit. Jetzt gehen wir einkaufen, und dann feiern wir ein Fest, das keiner von uns je vergisst.« Nachdem die anderen zu Bett gegangen waren, erklärte Alyss ihrem neuen Freund, dass sie es gar nicht nötig hatten, den ganzen Tag an einer Straßenecke zu stehen, um Geld zu verdienen. »Ich kann einfach so viel zusammenfantasieren, wie wir brauchen«, sagte sie. »Ich bin gern bereit, so viel auszugeben, wie du be schaffen kannst«, sagte Quigly. »Wie du das machst, ist mir ganz egal, Prinzessin.« Also versuchte Alyss die Münzen zu imaginieren, die sie im Verlauf des Tages gesehen hatte. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie die Taschen ihrer Jacken füll ten. Aber sie war noch zu erschöpft von ihrer Arbeit mit der Blume, und noch ehe sie auch nur eine einzige Mün ze herbeifantasieren konnte, fing Quigly laut an zu la chen. »Dein Gesicht!«, sagte er. Er versuchte ihren Ge sichtsausdruck nachzuahmen, eine in angestrengter Kon zentration ziemlich komisch verzerrte Miene. Alyss fand das überhaupt nicht lustig. »Na schön, dann eben nicht«, sagte sie. »Dann stelle ich mir eben keinen Haufen Geld für dich vor.« »Ach, komm, Prinzessin. Jetzt sei doch nicht so. Ich 112
hab dich nicht auslachen wollen. Wir sehen alle manch mal ein bisschen komisch aus. Und manche von uns se hen sogar immer komisch aus. Mach nur weiter und stell dir vor, was du willst.« Aber Quigly konnte nicht aufhören zu lachen, und Alyss versuchte weder in dieser noch in irgendeiner an deren Nacht, sich einen Berg Geld vorzustellen. Wenn er’s nicht anders haben will, müssen wir’s eben auf die mühsame Art machen. Und so verbrachten sie ihre Tage weiter an Straßenecken. Sie ließ mit der Kraft ihrer Fantasie die Blume singen, und er sammelte das Geld beim Publikum ein. Aber mit jedem Tag schien ihre Fantasie schwächer zu werden, und ihre Vorstellungen mit der Blume wurden seltener. Je länger sie in dieser nassen, trübseligen Stadt war, des to weniger vermochte sie an ihre Fantasie zu glauben. Sie ist nicht so stark, wie Mutter gedacht hat. Und ist es auch nie gewesen. Jeden Tag versuchte sie sich mindestens zweimal den Ort vorzustellen, an dem Mac sich aufhielt. Jedes Mal scheiterte sie und sah nichts. Das Innere Auge der Imagi nation? Sie hatte offenbar nicht genug Training gehabt. Schließlich schrumpfte ihre Kraft so weit, dass sie nur noch eine einzige Blumen-Vorstellung am Tag schaffte. Quigly sorgte dafür, dass sie an einem Ort stattfand, wo sie ein möglichst großes Publikum hatten – am Feier abend, wenn die Massen von der Arbeit nach Hause strömten. Jeden Abend, nach dem von den eingenommenen Pennys bezahlten Essen, baten Andrew, Margaret und Francine sie, ihnen etwas vom Wunderland zu erzählen. »Bitte, bitte, bitte«, bettelten sie. 113
Sie ließen sich von Alyss in die helle Kristallwelt der Herzpaläste, Walrossbutler und riesigen, Pfeife rauchen den Raupen versetzen und konnten dort den täglichen Daseinskampf, die Armut und das Elend, in dem sie leb ten, für eine Weile vergessen. Otis, Quigly und Esther ließen sich nicht so weit ins Wunderland hineinziehen wie die jüngeren Kinder, aber sie hörten auch ganz gern zu und lauschten ihren Geschichten wehmütig. Nur Char lie Turnbull machte von Anfang an klar, dass er ihr kein Wort glaubte. »Alles blühender Unsinn!«, erklärte er nachdrücklich. Alyss erzählte Andrew, Francine und Margaret auch von Mac Rehhut, diesem großartigen Kämpfer. Wenn sie ihn an ihrer Seite gehabt hätte, sagte sie, dann wäre sie Quigly und den anderen wohl nie begegnet. Um Macs Fähigkeiten deutlich zu machen, beschrieb sie die ver wundeten Kartensoldaten, die mit aufgerissenen Leibern im Herzpalast am Boden lagen, die Hände auf ihre Wun den pressten und doch nicht verhindern konnten, dass ihnen das Blut zwischen den Fingern hervorquoll. »Kennst du wirklich so einen Mann?«, fragte Marga ret. »Einen, der so viele Feinde besiegen kann?« »Ja, natürlich.« »Das ist eine Lüge«, sagte Charlie. »Aber der größte Kämpfer von Wunderland wird Dodd Anders sein«, fuhr Alyss fort. »Er ist tapfer, lie benswert und intelligent. Und hübsch ist er auch. Er wird genauso ein guter Kämpfer wie Mac. Ich habe ihm im mer geholfen, wenn er seine Schwertübungen machte. Ich habe Schilde in verschiedenen Farben hochgehalten, und wenn ich eine Farbe gerufen habe, musste er mit dem Schwert danach stoßen. Ich hab dabei natürlich nicht stillgehalten, sondern die Schilde geschwenkt und 114
vorwärts und rückwärts bewegt, damit es recht schwer für ihn war. Dodd ist mein bester Freund, und … nein … ich meine, er war es.« Alyss warf einen verzweifelten Blick auf die schmut zige Gasse. »Ja, er war mein bester Freund.« »Erzähl weiter!«, sagte Andrew, nachdem sie eine Weile stumm geblieben war. »Nein«, sagte Alyss mit bedrückter Stimme. »Ich will nicht mehr über Wunderland reden.« Dann kam der Tag, an dem ihre Fantasie völlig ver sagte. Es war Feierabend, und Quigly, der große Markt schreier, hatte wieder einmal eine große Menschenmenge versammelt, die die singende afrikanische Blume sehen wollte. Quigly zwinkerte, und Alyss begann sich vorzu stellen, dass die Blütenblätter sich öffneten und schlossen wie Lippen, dass die Blume ihre Stimme fand und zu singen begann. Ein hübsches Schlaflied, zum Beispiel, oder – Aber es passierte rein gar nichts. Alyss fantasierte mit aller Macht. Sie drückte beide Hände auf ihren Magen und stöhnte. Manche Zuschauer dachten schon, sie müss te sich übergeben. Sing, Blume! Eine Minute verging. Dann noch eine. Alyss begann unter ihren schmutzigen, zerrissenen Kleidern zu schwit zen. Sing, Blume, sing! Ärgerlich murmelnd zerstreute die Menge sich wieder. Manche fluchten sogar. »Sie braucht nur etwas Unterstützung! Das ist alles«, rief Quigly, hielt seinen Hut hin und bat um Geld. »Jeder zwei Pennys, und die Blume wird singen, wie Sie es noch nie gehört haben!« 115
Niemand warf etwas in den Hut. Ein vornehmer Herr drohte sogar mit der Polizei. Das war Quigly zu viel. Rasch nahm er Alyss bei der Hand und rannte mit ihr davon. Die Blume und ihre Kiste ließen sie schmählich zurück. »Tut mir leid«, sagte Alyss, als sie in Sicherheit waren und anhalten mussten, um wieder zu Atem zu kommen. »Was war denn los?« »Ich weiß nicht«, sagte Alyss. Sie hatte schreckliche Angst. Es war, als hätte sie ihr Augenlicht oder ihr Gehör verloren. »Vielleicht funktioniert meine Fantasie immer weniger, je länger ich von Wunderland weg bin.« »Hmm«, sagte Quigly. »Es tut mir leid, Quigly.« »Mir tut es auch leid, Prinzessin.« Es war das erste Mal, dass sie ihn wütend sah. Sie hat te ihn im Stich gelassen. Sie hatte auch Francine, Marga ret, Andrew, Esther, Otis und Charlie im Stich gelassen. Es war das erste Mal, dass sie jemanden im Stich gelas sen hatte, der sich auf sie verließ, und sie fühlte sich ganz elend. Schweigend gingen sie in die Gasse unter der Brücke zurück, um die anderen Kinder zu treffen. Auf dem Weg besuchten sie noch zwei Kneipen, den Fisch im Kessel und den Graubärtigen Seemann, und baten um milde Gaben. Aber alles, was man ihnen gab, war etwas altes Brot. Andrew kam ihnen entgegengerannt. »Heute Abend wollen wir eine gebratene Ente«, rief er schon von wei tem. »Mit Orangensoße. Ich und Francine und Margaret und Otis haben noch nie Ente gegessen.« Quigly warf Alyss einen kurzen Blick zu und sagte dann, Ente sei absolut grässlich. »Da entgeht euch 116
nichts«, behauptete er. »Aber ich muss euch sowieso was sagen: Ab sofort müssen wir wieder selbst für unseren Lebensunterhalt sorgen. Jeder muss sehen, was er krie gen kann, und abends wird dann geteilt.« »Was soll das heißen?«, rief Charlie. Anstelle einer Antwort drehte Quigly seine Taschen um, die leer und hässlich aus seiner Jacke heraushingen wie graue Zungen der Armut. »Also … Was habt ihr mitgebracht?« »Ich habe nichts«, sagte Charlie. »Was ich gestohlen habe, hab ich zum Frühstück gegessen, und dann habe ich nichts weiter besorgt, weil ich dachte, wir gehen wie der einkaufen.« Bei den anderen war es genauso. »Nun, zumindest haben wir unsere Brotkrusten«, sagte Alyss. »Eine sehr herzhafte Mahlzeit«, sagte Quigly und ver suchte, nicht zu niedergeschlagen zu klingen. Er teilte das Brot in acht Portionen und behauptete, satt zu sein, noch ehe er seinen Anteil aufgegessen hatte. Aber es ent ging Alyss nicht, dass seine Fröhlichkeit nur vorge täuscht war, vielleicht sogar etwas höhnisch. Als die anderen schon schliefen, lag Alyss noch lange wach. Ich muss mir etwas einfallen lassen. Warum habe ich die Blume bloß nicht zum Singen gebracht? Meine Fantasie war nicht stark genug. Ich muss mir etwas ein fallen lassen. Ich muss, ich muss, ich muss. »Ich glaube, ich weiß, wie wir uns wieder so viel Essen wie früher beschaffen können«, erklärte sie Quigly am Morgen, »aber wir brauchen Charlie, Otis und Esther dazu.« »Was immer du sagst, Prinzessin.« 117
Er schien nicht allzu begeistert zu sein und wollte gar nicht viel mit ihr reden. Aber wenn wir erst richtig satt sind, wird er bestimmt wieder fröhlich. Sie suchte sich die beste Jacke aus dem Kleiderhaufen und benutzte ihre Spucke, um sich Gesicht und Hände zu waschen. Mit einem Bleistift schrieb sie eine Einkaufslis te auf ein Stück Papier, dann ging sie mit den anderen zu einer Metzgerei, an der sie und Quigly oft vorbeigekom men waren. »Ihr versteckt euch hier hinter der Kutsche und wartet auf mein Zeichen«, sagte sie und betrat den Laden. »Kann ich etwas für dich tun, junge Dame?« Der Metzger war ein großer, fleischiger Mann mit rotem Ge sicht, der eine blutbespritzte Schürze trug. »Ich soll meiner Mutter diese Sachen hier mitbrin gen«, sagte sie höflich und gab ihm die Einkaufsliste. »Hm. Das ist ja eine Menge. Kannst du das alles tra gen?« Sie lächelte. »Der Kutscher kommt gleich, der hat noch was zu erledigen.« Ihr Lächeln überzeugte den Metzger. Selbst die wid rigsten Umstände können die Ausstrahlung einer echten Prinzessin nicht unterdrücken. »Na, dann wollen wir mal sehen. Hier heißt es, acht Pfund Kalbskeule und einen Lammrücken …« Er nahm ein großes Beil vom Ladentisch und ging durch eine Tür in den hinteren Raum. Darauf hatte Alyss gewartet. Sie gab den anderen ein Zeichen. Die Kinder schlichen so leise wie möglich her ein und rissen die Würste, Schinken und Hühner vom Haken, die im Schaufenster hingen. Alyss schob ihnen noch mehr in die Arme, als sie zu beladen waren, um weiter zugreifen zu können. 118
»He!« Der Metzger ließ die Kalbskeule fallen und kam aus dem Hinterzimmer gerannt. Die Kinder schossen pfeil schnell hinaus und liefen in alle Richtungen davon. »Hoppla!« Ein vorbeikommender Polizist schnappte Alyss am Kragen ihrer Jacke. Sie schlüpfte heraus und rannte in ihren schäbigen Kleidern davon, so dass alle sehen konnten, dass sie nur ein Straßenkind war. Sie kam auch nicht weit. Schon nach wenigen Schrit ten hatte sie der Polizist erneut eingeholt, und diesmal hielt er sie besser fest. »Loslassen!«, schrie sie und stellte sich vor, dass dem Mann ein Tattelfink ins Gesicht flog oder ihm die Hand blutig pickte, aber nichts dergleichen geschah. Quigly war am Ende der Straße stehen geblieben und schaute zu ihnen zurück. Unter jedem Arm trug er ein Hühnchen, und seine Taschen quollen über vor Würsten. Vielleicht würde er sie ja retten? Würde er seine eigene Freiheit aufs Spiel setzen und sich etwas einfallen lassen, um sie zu befreien? Würden sie vielleicht beide entkom men? Aber nein. Er wandte sich um und rannte davon. Alyss sollte nie erfahren, ob sie die Einzige aus der Bande war, die an diesem Tag festgesetzt wurde (das war sie), aber noch ehe sie ins Waisenhaus Charing Cross verfrachtet worden war, wo sie bleiben würde, bis die Liddells sie adoptierten, und lange bevor ihr klar wurde, dass sie Quigly Gaffer nie wieder sehen würde, kam sie zu der Erkenntnis, dass es sich nicht lohnte, sein Herz an andere Menschen zu hängen. Sie ließen einen ja doch nur im Stich. Sie verrieten einen, indem sie weggingen. Alyss versuchte ihre Ohren zu verschließen, als die Aufseherin im Waisenhaus die Tür zu einem Schlafsaal 119
öffnete, in dem zwei Reihen Pritschen standen. Er war voller kreischender, streitender, jammernder, durchein ander rennender Kinder. »Das ist dein neues Heim«, sagte die Aufseherin.
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von einer wütenden Menge brachten die V erfolgt Teppichhändler ihren Gefangenen zum Amtsge
richt im Palais de Justice. Die Leute schubsten und drängten, um ja recht gut sehen zu können, was vorging. Die Luft im Saal wurde bald heiß und stickig. Es waren einfach zu viele Menschen in dem bescheidenen Raum. Die Männer stellten den Teppich aufrecht mitten im Saal ab, direkt vor der Nase des Richters. Ein Kichern ging durch die Reihen der Rechtsanwälte, Gerichtsreporter und Protokollführer. »Quest-ce qu’il y a?«, fragte der Amtsrichter, der das gar nicht lustig fand. Der Staatsanwalt, ein Mann mit Backenbart und schwarzer Robe, erhob sich und sagte eine Menge Dinge auf Französisch, die Mac im Inneren des Teppichs nur ganz gedämpft vernahm und in der Mehrzahl auch nicht verstand. »Ou est le prisonnier?«, fragte der Amtsrichter ärger lich. Der Staatsanwalt zeigte auf den zusammengerollten Teppich, und wieder begannen die Besucher zu lachen. Der Amtsrichter holte tief Luft und warnte den Staatsan walt, das Gericht nicht zum Narren zu halten. Der Staats anwalt entschuldigte sich und sagte, das sei keineswegs seine Absicht gewesen, aber der Angeklagte sei tres dan gereux und der Teppich das einzige Mittel gewesen, um ihn unter Kontrolle zu bringen. 121
Ein Zeuge trat vor und erklärte, der Gefangene sei im Besitz von übermenschlichen Kräften und äußerst ge walttätig. Die Zuschauer, von denen keiner den Kampf in der Rue de Rivoli tatsächlich gesehen hatte, riefen laut stark: »C’est vrai! C’est vrai!« Der Richter hingegen hatte von seinem Platz aus schon viel vom Leben gesehen und war nur wenig beein druckt. Er fragte sich, wann er wohl endlich in sein Stammcafe Le Chien Dyspeptique gehen könnte, um sich ein paar Lammkoteletts zu gönnen, ein bisschen Käse mit Weißbrot und einen schönen Bordeaux. »Je voudrais voir le prisonnier«, sagte er. Der Ankläger räusperte sich mehrmals und sagte schließlich, dass er es bei allem schuldigen Respekt für keine besonders gute Idee halte, Mac aus der Teppichrol le zu befreien. Der Richter schnaubte verächtlich und erklärte, wenn der Staatsanwalt den Gefangenen nicht augenblicklich aus dem Teppich heraushole, werde er wegen Missachtung des Gerichts ins Gefängnis beför dert. Daraufhin wurde die Teppichrolle der Länge nach auf den Boden gelegt. Die Zuschauer schoben und dräng ten sich nach vorn, sie spürten, dass sich gleich etwas Dramatisches ereignen würde. Sie irrten sich nicht. Kaum war Mac aus seinem engen Gefängnis entlassen, da sprang er auf und twink!, durch schnitten seine Armklingen die Luft. Er zog einen Dolch aus dem Rucksack, schleuderte ihn und durchbohrte da mit ein Gemälde über dem Kopf des Amtsrichters, was diesen klugen Mann veranlasste, schleunigst unter sei nem Richtertisch in Deckung zu gehen. Noch ehe die Polizisten sich zum Eingreifen ent schließen konnten, wirbelte Mac zum Fenster hinaus, landete auf dem Bürgersteig und rannte davon. Die Zu 122
schauer liefen ans Fenster, um noch einen Blick auf den geheimnisvollen Mann zu erhaschen. Auch der Richter spähte vorsichtig über die Tischplatte, um zu sehen, ob sein Leben noch in Gefahr war. Jetzt, so fand er, hatte er seine Lammkoteletts im Chien Dyspeptique aber wirklich verdient. Gerüchte begannen sich zu verbreiten. Die Leute er zählten von einem Mann mit schwirrenden Messern an den Handgelenken, der plötzlich aus Pfützen auftauchte. In den folgenden Wochen wurde Mac immer wieder ge sichtet, aber es gab keine offiziellen Bestätigungen, und so wurde er zur Legende. Zivilisten behaupteten, er kön ne gewiss ein ganzes Regiment niedermachen. Militärs diskutierten die Frage, was Napoleon wohl alles noch geleistet hätte, wenn er diesen Mann in seinen Reihen gehabt hätte. Kleine Jungen ahmten in ihren Spielen sei ne Heldentaten nach. In den Salons legten gebildete Da men und Herren ihre gewohnte Wohlerzogenheit ab und versuchten seine akrobatischen Sprünge, Pirouetten und sogar Purzelbäume zu imitieren. Die Dienstmädchen ver sammelten sich in den düsteren Küchen und erzählten einander von seinen romantischen Abenteuern. Allesamt hatten sie sich in ihn verliebt und waren sich einig, dass eine Frau ihm das Herz gebrochen haben musste. Nur unerwiderte Liebe, davon waren sie fest überzeugt, konn te einen Mann zu solchen Taten veranlassen. Und ehe sie zu Bett gingen, stellten sie Kerzen für ihn in die Fenster. Wäre Mac in der Lage gewesen, bei Nacht über Frank reich zu fliegen, hätte er überall diese flackernden Lich ter der Sehnsucht gesehen – winzige, helle Pünktchen in der kalten Finsternis, die ihm den Weg wiesen zu den Herzen der Frauen. Ob er davon Gebrauch gemacht hätte, ist allerdings fraglich. Denn Mac quälte sich mit einem 123
höchst ungewohnten Gefühl: dem der Untauglichkeit. Er hatte das Versprechen nicht gehalten, das er Königin Ge nevieve gegeben hatte. Er hatte versagt.
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den anderen Kindern im Waisenhaus kam M itAlyss gar nicht gut aus. Ja, auch diese Kinder
hatten Leid und Kummer erfahren, aber trotzdem spielten sie dauernd Fangen, Verstecken oder Himmel und Hölle, wenn sie nicht gerade stritten. Es war alles so kindisch und unreif. Die Trauer um ihre Eltern, die Wut auf Redd und die Sorge um Dodd beschäftigten Alyss ununterbro chen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht für alber ne Spiele begeistern. Die Aufseherinnen nahmen ein besonderes Interesse an ihr, und das trug noch mehr dazu bei, dass die ande ren sie ablehnten. Es war nicht zu übersehen, dass sie eine sehr schöne junge Frau werden würde. Die Aufse herinnen hielten es nicht für undenkbar, dass sie in Ge sellschaftskreise aufsteigen könnte, die Waisenkinder sonst nur höchst selten erreichten, und das war für Charing Cross nicht ganz unwichtig. Es gab immer wohlhabende Familien, die auf der Suche nach einem schönen Kind waren. Ein solches Kind konnte ein gu tes Licht auf das Waisenhaus werfen, und das wieder um konnte die Spendenbereitschaft in den besseren Kreisen erhöhen. Nur das Gerede vom Wunderland störte die Aufseherinnen, und Alyss wurde häufig des wegen ermahnt. »Das existiert doch alles nur in deinem Kopf, junge Dame. Niemand will eine Tochter, die ständig solchen Unsinn plappert. Wenn du nicht für immer hier in Cha 125
ring Cross bleiben willst, solltest du so schnell wie mög lich mit diesen lächerlichen Fantastereien aufhören.« Dr. Williford, der für Charing Cross zuständige Arzt, hörte sich die Fantastereien geduldig an. »Ich bin sicher, dass du viel Schlimmes erlebt hast«, sagte er schließlich. »Dinge, die ein junges Mädchen nicht sollte durchmachen müssen. Aber du kannst dich nicht in diesen Fantasiegeschichten verstecken. Du musst akzeptieren, was dir geschehen ist, Alice, und du sollst wissen, dass du nicht allein bist im Unglück. Versuch dich auf die Dinge einzulassen, die du in deiner Umge bung siehst und hörst, denn das ist die Realität. Es be steht immer noch die Aussicht, dass du ein normales, erfülltes Leben führen kannst, Alice.« Danach erzählte sie Dr. Williford nichts mehr. Sie verbrachte ihre Tage damit, am Fenster zu sitzen und auf einen schmutzigen, mit welkem Laub bedeckten Hof hi nunterzusehen. Und dort fand eine der Aufseherinnen sie an jenem Tag, der (wieder einmal) alles ändern sollte in ihrem Leben. »Alice, ich möchte dich Reverend Liddell und seiner Frau vorstellen.« Alyss wandte sich von dem rußigen Fenster ab und be trachtete das Ehepaar, das da stand – die Frau mit den harten Augen und dem unsicheren Lächeln und den di cken Pastor im Gehrock mit seinen ledernen Handschu hen. Alle Fremden schienen ihr gleich auszusehen: kalt, unerreichbar und unheimlich. »Hübsch ist sie wirklich«, sagte Mrs Liddell, »aber es schadet sicher nichts, sie mal tüchtig abzuschrubben. Und eine anständige Frisur könnte sie auch brauchen.« »Ganz recht«, sagte Reverend Liddell.
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Die Liddells wohnten in Oxford, der Reverend war De kan des Christ Church College. Aber auch diesmal brach te die Veränderung ihrer Lebensumstände neuen Ärger. Kaum hatte Alyss das Waisenhaus verlassen, da merkte sie auch schon, dass ihr neues Leben kaum angenehmer sein würde. »Kein Wort mehr davon!«, schalt Mrs Liddell, als Alyss ihren neuen Geschwistern von der Erfinderparade erzählte. »Tiere können nicht sprechen«, schimpfte sie bei an derer Gelegenheit. »Tiere sind dumme, stumme Ge schöpfe.« »Blumen können nicht singen, sie haben gar keinen Kehlkopf«, erklärte sie, als Alyss von den schönen Stimmen der Blumen erzählte. »Wenn du weiter solchen Unsinn redest, muss ich dir den Mund mit Kernseife auswaschen.« »Ich bin eine Prinzessin«, erwiderte Alyss. »Und ich warte darauf, dass Mac kommt und mich rettet. Dann wirst du schon sehen!« »Alice«, sagte Mrs Liddell, »wenn du je etwas gelten willst in der Gesellschaft und wenn du uns auch nur die geringste Dankbarkeit dafür erweisen willst, was wir für dich getan haben, dann hör auf, uns lächerlich zu machen mit deinen Geschichten. Du musst alles so wie die ande ren machen und mit beiden Beinen fest auf der Erde ste hen. Sonst machst du der Familie Schande.« Zur Strafe schickte Mrs Liddell sie in ihr Zimmer, wo Alyss oft tagelang, einmal sogar eine ganze Woche lang bleiben musste. Sogar das Essen wurde ihr aufs Zimmer gebracht. Alyss war das nur recht. Dann brauchte sie die ande ren wenigstens nicht zu sehen! 127
Aber das war ein Trugschluss. Zwar durfte sie ihr Zimmer nicht verlassen, aber das bedeutete nicht, dass ihre neuen Schwestern sie nicht besuchen durften, und am zweiten Nachmittag ihres Stubenarrests kamen Edith und Lorina zu ihr, setzten sich auf ihr Bett und starrten sie an. Alyss bemühte sich, sie zu ignorieren. Sie saß am Tisch und versuchte angestrengt, sich an jeden Edelstein zu erinnern, der den Herzpalast schmückte, und an jeden einzelnen herzförmigen Flur. An den Wänden hingen schon Dutzende von Zeichnungen des Palastes. Vierzehn Stufen führen vom Innenhof in den Ballsaal, insgesamt gibt es siebzehn Bäder und – »Warum malst du zur Abwechslung nicht mal was an deres?«, fragte Lorina. »Weil ich nicht vergessen will, wo ich herkomme.« »Dann solltest du vielleicht lieber das Waisenhaus ma len!«, kreischte Edith und rannte lachend mit Lorina davon. Alyss blieb mit dem Bleistift in der Hand am Tisch sitzen. Was die denken, sollte mir völlig egal sein. Aber das höhnische Gelächter hatte ihr doch einen Stich ver setzt. Sie spürte … ja, was eigentlich? Verlegenheit? Scham? Prinzessinnen lassen sich genauso ungern ver spotten wie andere Leute. Alyss schob die Zeichnung weg, die für immer unvollendet bleiben sollte. »Also schön, Mädchen«, erklärte Miss Prickett, die Gou vernante der Familie Liddell. »Nachdem Alice heute das erste Mal bei uns im Unterricht ist, wollen wir ihr Glück wünschen und sie ermutigen, recht fleißig zu arbeiten.« Alyss saß mit Edith und Lorina am Esstisch. Vor ihr lagen Bleistift und Papier. Auf der Anrichte stand eine Schultafel, und auf der Schultafel stand: »Willkommen, Alice Liddell!« 128
»Mein Name schreibt sich nicht so«, sagte Alyss. Miss Prickett sah erst die Tafel an und dann Alyss. »Nein? Dann sei doch bitte so nett und zeig mir, wie man ihn schreibt. Diesmal will ich es noch durchgehen lassen, Alice, aber in Zukunft darfst du nicht mehr so einfach herausplatzen. Heb bitte die Hand, wenn du etwas sagen willst, damit ich dich aufrufen kann.« Mit hocherhobenem Kopf und starrem Blick ging Alyss zur Tafel, wischte das »ice« weg und schrieb »yss« stattdessen. Edith und Lorina fingen laut an zu lachen. »Jetzt reicht es!«, schimpfte Miss Prickett. »Alice, zur Übung schreibst du deinen Namen hundertmal an die Tafel. A-L-I-C-E, verstanden? Du kannst jetzt gleich an fangen.« Da stand sie also mit rotem Kopf an der Tafel und schrieb, während Miss Prickett mit dem Unterricht an fing. Edith und Lorina schielten an ihren Büchern vorbei zu ihr, warfen sich Blicke zu und kicherten. Alyss wünschte ihnen Würmelchen in die Haare, Kno ten in die Zungen und Siegellack auf die Augenlider. Aber nichts davon geschah. Es hat keinen Sinn. Weiße Imagination oder Schwarze Imagination, ganz egal. Ich kann nichts mehr herbeifan tasieren. Neunundneunzigmal hatte sie A-L-I-C-E ge schrieben. Und weil Miss Prickett gerade nicht zu ihr hinsah, schrieb sie jetzt A-L-Y-S-S auf die Tafel und wollte sich wieder hinsetzen. Miss Prickett drehte sich zur Tafel um. »Einen Mo ment! Wahrscheinlich hältst du dich für sehr schlau, jun ge Dame. Aber ich werde dir gleich zeigen, wohin es führt, wenn man sich für so schlau hält. Wisch die Tafel ab, und fang noch einmal von vorn an! Und diesmal schreibst du wirklich hundertmal A-L-I-C-E. Fang an!« 129
Alyss gehorchte, denn sie hatte keine Lust, weiter auf diese Weise zur Schau gestellt zu werden. »Vielleicht kannst du dir jetzt endlich merken, wie dein Name geschrieben wird«, sagte Miss Prickett trium phierend, als Alyss fertig war. Alyss kehrte zu ihrem Platz zurück, und als sie sich setzte, wisperte Lorina: »Die komische Alice.« Und weil Alyss jedesmal anfing, von Wunderland zu erzählen, wenn andere Kinder mit ihr redeten, verbreitete sich die se Einschätzung auch außerhalb der Familie Liddell. »Sie hält sich wohl für was Besseres«, höhnten die Kinder. »Nennt sich eine Prinzessin!« Alyss musste sich Beleidigungen anhören, die sie hef tig zurückgab und die oft auch in Raufereien ausarteten. Immer wieder kehrte sie mit Schrammen und blauen Fle cken nach Hause zurück, zerkratzt und gedemütigt. Sie versuchte, die Kränkungen einfach zu überhören, aber allmählich plagten sie Zweifel. Hatten die anderen denn alle Unrecht? Irgendwann war sie es müde, ihre Über zeugungen gegen die Liddells, deren Freunde und alle anderen zu verteidigen. Ist es denn möglich, dass jeder, dem ich begegne, sich irrt und nur ich allein Recht habe? Viel einfacher, wenn ich alles vergesse. Hatte sie sich viel leicht nur eingebildet, dass sie in einer anderen Welt eine Prinzessin gewesen war? Und wenn ich das alles nur ge träumt habe, als ich mal mit Fieber im Bett lag? Aber dann geschah etwas ganz Simples und doch Wunderbares. Sie fand ein freundliches Ohr – oder, bes ser gesagt, deren zwei. Sie gehörten dem Reverend Charles Lutwidge Dodgson, dem Mathematikdozenten von Christ Church. Er war ein schüchterner, sanfter Mann vom Typ bescheidenes Veilchen, wohnte im Col lege und kam gelegentlich zu den Liddells zum Tee. Er 130
war Amateurfotograf und machte Aufnahmen von ihren Töchtern. Alyss posierte im Garten für ihn. Sie trug ein helles Kleid mit weiten Ärmeln, weiße Söckchen und Lackschuhe. Sie schaute rechts neben die Kamera und lächelte stolz und schüchtern zugleich, so als teilten sie ein Geheimnis. Aber erst bei einem Bootsausflug nach Godstow er zählte sie ihm von Wunderland. Sie hatten Rast gemacht und saßen im Gras, während Edith und Lorina unten am Wasser herumhüpften. »Willst du nicht mit deinen Schwestern spielen?«, fragte Reverend Dodgson. Alyss machte sich schon längst nicht mehr die Mühe, Außenstehenden zu erklären, dass sie keine Schwestern hatte. »Nein«, sagte sie. Dodgson hielt das für eine bezaubernde Antwort. »Aber warum nicht?« »Wenn man mal eine Prinzessin war und einem die Thronfolge gewaltsam geraubt worden ist, dann kann man sich wegen ein paar Fischen und Algen im Wasser nicht aufregen.« Der Reverend lachte. »Wovon um alles in der Welt redest du, Alice?« Soll ich es ihm sagen? Wird er mir glauben? Er ist ir gendwie anders als die anderen Leute. Soll ich es noch ein letztes Mal versuchen? Der Zwang, den sie sich auf erlegt hatte, wich von ihr, und die Erinnerungen sprudel ten nur so aus ihr heraus, als müsste sie sie laut ausspre chen, um sich selbst von ihrer Wahrheit zu überzeugen. Als sie Dodd erwähnte, fing Reverend Dodgson an, sich Notizen zu machen. Dodd – Dodgson. Der Junge, das war er selbst! Der Reverend war sehr geschmeichelt, dass er Teil ihrer Traumwelt zu sein schien. 131
»Du hast die bemerkenswerteste Fantasie, die mir je begegnet ist«, sagte er. Alyss wusste es besser. Sie hatte mit ihrer Fantasie schon lange nichts mehr erreicht. »Lass mich sehen, ob ich dich richtig verstanden ha be«, sagte Dodgson. »Die Leute können also durch die Spiegel reisen? Sie können zum einen hineingehen und kommen bei einem anderen wieder heraus?« »Ja. Ich hab es hier auch probiert, aber es hat nicht funktioniert.« Sie sah zu, wie er in sein Notizbuch kritzelte. »Wollen Sie wirklich ein Buch über Wunderland schreiben, Mr Dodgson?« »Ich denke schon. Das wird dann unser Buch sein. Deins und meins, Alice.« Alyss nickte. Das Buch würde beweisen, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Sie brauchte sich nicht auf zugeben. Jedenfalls jetzt noch nicht.
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ZWEITER TEIL
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besonders verlassenen Gegend zwischen I ndemeiner Ewigwald und dem Äußeren Wilden Bestiarien lag das berüchtigte Straf- und Arbeitslager Blaxik. Weil sie bei Redd in Ungnade gefallen waren, mussten Män ner und Frauen, die noch vor kurzem kinderliebe, recht schaffene Bürger von Wunderland gewesen waren, täg lich siebzehn Stunden in einer schlecht belüfteten Fabrik für die Königin schuften. Zu essen gab es nur Bläh-Reis, ein bei den Armen sehr beliebtes Nahrungsmittel, weil sich die Körner im Magen aufblähten, so dass man sich schon nach wenigen Bissen satt fühlte. Vor kurzem war angeordnet worden, dass jeder Wun derländer eine mindestens ein Meter hohe Statue von Redd in seinem Haus haben musste. Die Statue musste aus Kristall und Porzellan gemacht sein und bildete das Kernstück des sogenannten »Redd-Schreins«. Die Ein haltung des Dekrets wurde durch überraschende Hausbe suche von Redds Soldaten erzwungen. Jeder, der sich nicht daran hielt, und jeder, dessen Statue nicht in tadel losem Zustand war, wurde nach Blaxik verschleppt. Es entsprach Redds mittelmäßigem Sinn für Ironie, dass sie dort gezwungen wurden, ebensolche Statuen herzustel len, bis der Tod sie ereilte. Aber heute war die Produktion der Redd-Statuen un terbrochen worden. Aufständische hatten das Lager an gegriffen. Explosionen erschütterten die Baracken. Leuchtraketen erhellten die Nacht und beleuchteten 136
kämpfende Gestalten. Kartensoldaten von Redds ultra moderner, technologisch hochgerüsteter Armee, die »Das Blatt« genannt wurde, versuchten den Angriff abzuweh ren. Das hätte eigentlich gar kein Problem sein dürfen, schließlich waren die Aufständischen nur ein zusammen gewürfelter Haufen von ehemaligen Herz-Soldaten und Wunderland-Zivilisten. Aber die Angreifer besaßen einen gerechten Zorn, der manchmal eine bessere Waffe ist als militärische Stärke; außerdem fand sich in ihren Reihen ein Mann, der sich jederzeit zweiteilen und seine Gegner damit überraschen konnte: General Doppelgänger. An seiner Seite kämpften ein weißer Springer, ein weißer Turm und zahlreiche Bauern. Die Rebellen nannten sich Alyssier, zu Ehren der jungen Prinzessin Alyss, die vor der Thronbesteigung umgebracht worden war. In Fleisch und Blut war Prinzessin Alyss zwar nicht bei ihnen, aber als Symbol für die früheren (wenn auch unvollkomme nen) Zeiten der Unschuld war sie äußerst lebendig. Sie war der Inbegriff aller Hoffnungen auf die Rückkehr von Glück und Frieden. Unter den Alyssiern gab es einen jungen Rebellen, der sich durch besondere, fast selbstmörderische Tapferkeit auszeichnete. Er hielt sich zwar meistens abseits von den anderen, wenn sie nicht kämpften, aber das nahmen die Alyssier gerne in Kauf. Hauptsache, er stand auf ihrer Seite – jeder, der ihn hatte kämpfen sehen, wusste, dass es besser war, ihn zum Verbündeten zu haben als zum Gegner. Dieser Rebell war es, der sich bei der Schlacht von Blaxik aus den Reihen der Alyssier löste und ohne Rück sicht auf die eigene Person vorstürmte. Mit blitzendem Schwert schlug er sich einen Weg durch Redds Karten soldaten. Diese Soldaten sahen im Ruhezustand wie 137
normale Spielkarten aus (wenngleich wesentlich größer). Doch jetzt fächerten sie sich auf, als hätte ein unsichtba rer Pokerspieler sie mit unheimlicher Geschwindigkeit auf einem gigantischen Kartentisch ausgebreitet. Jede Karte wurde zu einem Soldaten mit Gliedmaßen aus Stahl und einem Gehirn, das zu wenig anderem in der Lage war, als Befehlen zu folgen. Diese Kampfmaschinen waren fast doppelt so groß wie ein gewöhnlicher Bürger von Wunderland. Der junge Rebell ließ sich davon nicht abschrecken. Er zielte mit seinem Schwert auf den einzigen verwundba ren Punkt, eine kleine, kreisförmige Stelle zwischen Brustpanzer und stählernen Halssehnen, und mit jedem Treffer zerstörte er eine der Kampfmaschinen. Funken flogen, und sie brach tot zusammen. Mitten im Gefecht feuerte er eine Kanonenkugelspin ne auf das Fabriktor und sprengte es damit auf. Während er auf die Soldaten einhieb, konnten Dutzende von Skla venarbeitern in den Ewigwald flüchten. Eine brennende Baracke beleuchtete den jungen Re bellen: kantig und hübsch, mit vier langen Narben auf der rechten Gesichtshälfte. Dodd Anders. Erst vierzehn Jahre alt, aber ein Kämpfer wie kaum ein anderer. Es waren ein paar Jahre vergangen, seit Redd den Herz palast überfallen hatte, und das Chaos, das ihre Macht übernahme ausgelöst hatte, war zu einer Neuen Ordnung geworden. Viele Bürger, die eine Schreckensherrschaft voraussahen, hatten sofort nach Redds Putsch ihre Sa chen gepackt und versucht, nach Grenzland zu emigrie ren, jenem unabhängigen Königreich, das von Wunder land durch das unbewohnte, von Urwald bedeckte Äuße re Wilde Bestiarien getrennt war. Aber entweder hatten 138
diese Flüchtlinge die Grenzbeamten von Grenzland nicht ausreichend geschmiert oder Redd hatte ein heimliches Abkommen mit König Arch, dem Herrscher von Grenz land, getroffen, jedenfalls gelang es kaum jemandem, Wunderland zu verlassen. Sie alle waren im Land gefan gen und mussten Redds Zorn über sich ergehen lassen. Ganze Familien wurden in Arbeitslager verschleppt oder gleich umgebracht. Als sich das herumsprach, flohen vie le zu den Aufständischen in die Wälder. Redd hatte beschlossen, das Königinnenreich von ihrer Festung auf dem Einsamen Berg aus zu regieren. Die Festung war eine ständige Erinnerung an die Jahre ihres Exils und die ungerechte Verbannung durch ihre liebe verstorbene Schwester und diente dazu, ihre Wut immer neu zu entzünden. Kurz nach der Krönung hatte sie den Herzkristall in aller Heimlichkeit in die Festung gebracht, wo er jetzt in seiner geheimen Schatzkammer lag und ihr Kraft gab. Ruhelos ging sie auf und ab, während ihr Nanik Schneeweiss aus ›In reginam speramus‹ vorlas, das sie mit der Hilfe des ehemaligen Hauslehrers umschreiben wollte. »… das Königinnenreich war immer ein naives, opti mistisches Land«, las Nanik. »Es schien, als würde es von Mädchen und Jungen –« »Von Kindern«, korrigierte die Königin. »– von Kindern regiert, die ihre kindlichen Spielsa chen erst noch weglegen und sich der harten Wirklichkeit stellen mussten.« »Gut«, sagte Redd. »Und jetzt schreibst du: einer Wirklichkeit, in der nur die Grausamsten überleben, wo ein Jabberwock den anderen frisst, sozusagen.« Die Spitze von Naniks Federkiel eilte über den könig lichen Papyrus. Der Kater betrat den Raum. 139
»Ja?«, sagte Redd. »Blaxik ist überfallen worden«, fauchte der Kater, »und die Sklaven konnten fliehen. Die Angreifer waren Alyssier.« Redd ballte die Fäuste, und die Gegenstände im Raum begannen zu zittern. Die Alyssier! Sie waren eine Warze im Antlitz ihrer Regentschaft, ein Dorn in der Faust ihrer Macht. Warum hatte das Blatt sie nicht längst beseitigt? Waffen und Möbel, alles im Raum, was nicht festge schraubt war, begann unter ihrer Wut zu vibrieren. Nanik Schneeweiss und der Kater, die genau wussten, dass Redd keine Niederlagen vertrug, liefen hastig hinaus. »Aaaaaaaaaaah!«, brüllte Redd. Sie stand im Zentrum eines Wirbelsturms, in dem Stühle, Lampen, Schwerter, Speere, Teller und Bücher herumflogen, eines Wirbel sturms, der aus den Tiefen ihrer hasserfüllten Fantasie emporgeschossen war. Blaxik war überfallen worden? Die Sklaven befreit? Dafür mussten Köpfe rollen. Nach ihrem Erfolg in der Schlacht von Blaxik, während das Adrenalin noch in ihren Adern kreiste, riskierten Dodd und der weiße Turm einen Ausflug nach Wun dertropolis. Der Turm tarnte sich mit einem langen Man tel und einer Kapuze, aber Dodd war nicht bereit, sich vor seinen Feinden zu verstecken. »Ich erinnere mich an die Zeit, als die Wunderländer sich noch um ihre Stadt kümmerten«, sagte der Turm, als sie durch den Müll wateten, der die Bürgersteige bedeck te. »Damals war alles sauber, und an den Straßenrändern blühten Blumen und Sträucher, die immer ein fröhliches Lied vor sich hin summten.« Er warf einen Blick zur Sei te, wo nichts als verdorrtes Unkraut stand. Alle Pflanzen 140
in der Stadt waren tot, mit Naturtod™ vernichtet, einem Herbizid, das Redd eigens für diesen Zweck hatte her stellen lassen. »Außerdem konnte man früher an jeder Straßenecke frische Feuertörtchen kaufen. Ach, wie ich diese Feuertörtchen vermisse.« Dodd nickte. Er hatte seine eigenen Erinnerungen: die glitzernden, kristallinen Gebäude aus der Zeit von Köni gin Genevieve, die schillernden Farben der schlanken Türme, die regelmäßig geputzt und poliert wurden. Wundertropolis war eine helle, strahlende Metropole ge wesen, die vorwiegend von gesetzestreuen, hart arbeiten den Bürgern bewohnt war. Jetzt war alles mit Ruß und Staub bedeckt. Armut, Krankheit, Schmutz und Verbre chen hatten sich von den finsteren Winkeln aus über alle Viertel verbreitet und waren auch auf den ehemals präch tigen Boulevards und Alleen zu Hause. Alles, was hell und glänzend war, musste sich heute verstecken. »Lass uns die Straßenseite wechseln«, sagte der Turm. Dodd sah, warum: Vor ihnen war ein Streit ausgebro chen – zwei ausgemergelte Wunderländer waren im Beg riff, einen dritten zu attackieren. Wahrscheinlich ein missglückter Deal mit imaginationsfördernden Substan zen. Dodd und der Turm hatten schon mehrere solcher Prügeleien beobachtet. Es war besser, wenn man sich da nicht einmischte und keine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Sie kamen zu einer Straßenecke, an der gebratene Gwynukspieße feilgeboten wurden und mehrere KristallHehler ihre gestohlenen Waren verkauften. Dodd ver suchte sich den Duft der frischen Feuertörtchen ins Ge dächtnis zu rufen, die es früher hier gab. Hatte ihm sein Vater nicht an dieser Straßenecke mal ein besonders le ckeres gekauft? Aber sein Gedächtnis ließ ihn im Stich, 141
es gelang ihm nicht, den Törtchenduft heraufzubeschwö ren. Er fand keinen Zugang zur Vergangenheit. Der Straßenlärm mit seinen Rufen und seinem Fahr zeuggetöse war von einer körperlosen Stimme unterlegt, die aus den überall angebrachten Lautsprechern drang. Redd hat immer Recht, sagte sie. Am Anfang war Redd, und sie wird bei uns sein alle Tage. Überlebensgroße Holografien mit dreidimensionalen Gesichtern verkünde ten die neuesten Erlasse und Steuergesetze. Aus allen Ritzen im Pflaster, allen Schlaglöchern auf der Straße und allen Rissen in den verfallenden Häusern kam eine schauerliche Musik, die den Verfall von Wundertropolis untermalte. Es war ein endlos wiederholter Lobgesang, dessen Text die Königin selbst verfasst hatte. Redd al lein, hieß es darin, sei die Retterin von Wunderland. »Ich wünschte, wir könnten zur Ruhe zurückkehren«, sagte Dodd seufzend. »Es wäre so schön, mal einen gan zen Tag Stille zu hören. Kannst du dich noch daran erin nern?« »Ja. Aber du kennst ja die neuen Gesetze.« Der Turm imitierte Redds Stimme, »jedwede Stille wird hiermit verboten. Stille führt zu Gedanken, und die führen zum Widerspruch und zum Aufruhr.« Nicht, dass es noch viele Aufrührerische gegeben hät te. Wie sie beide wussten, wurde jeder, der Redd kriti sierte, alsbald verhaftet und verschwand auf Nimmer wiedersehen. Die Schlacht von Blaxik lag jetzt schon etwas zurück, und ihr Blut hatte sich abgekühlt. Es gab verschiedene Orte, die sie aufsuchen konnten, wenn sie vorsichtig wa ren. »Wie wäre es mit einem Jabberwock-Kampf?«, fragte der Turm. Im Amphitheater konnte man zusehen, wie die 142
riesigen, zähnefletschenden Bestien aufeinander losgin gen. Der Hass, den sie dabei zeigten, wurde fast noch von dem übertroffen, den ein Teil der Zuschauer für den anderen empfand. Dodd schüttelte den Kopf. »Da gibt es immer diese sinnlosen Prügeleien. Ich kann es nicht leiden, wenn ich mich still davonschleichen muss, ohne wenigstens ein paar von Redds Soldaten kampfunfähig zu machen.« »Dann vielleicht zur Großen Statue?« Wieder schüttelte Dodd den Kopf. Das fünfzig Meter hohe Standbild von Königin Redd erhob sich auf einem Hügel am westlichen Stadtrand. Von der Aussichtsplatt form im Kopf der mit Achat verkleideten Statue konnte man weit ins Land hinaussehen, und Dodd hatte das Ge fühl, dass es seinen Rachedurst verstärkte, wenn er sich gewissermaßen im Kopf seiner mächtigen Feindin be fand. Aber heute hatte er dazu keine Lust. »Lass uns ein fach spazieren gehen«, sagte er. Sie kamen an den mit Brettern vernagelten Läden am Redd-Boulevard und den Pfandleihern am Redd-Platz vorbei und standen bald vor dem gewaltigen Komplex der Redd-Luxusappartements, deren Slogan Wenn Sie hier wohnen würden, wären Sie jetzt schon zu Hause kaum jemanden überzeugt hatte: Noch nicht einmal die Hälfte der Wohnungen schien vermietet zu sein. Sie war fen einen Blick in das Redd-Kasino, wo die Wunderlän der nicht nur ihre letzten Kristalle verwetten, sondern auch ihr Leben als Einsatz beim Würfelspiel drangeben konnten. Als sie am Herzpalast vorbeikamen, der jetzt verfallen war und von drogensüchtigen Hausbesetzern bewohnt wurde, beschleunigte Dodd seine Schritte. Schließlich erreichten sie die Fünf Türme Redds. Es soll te das höchste Bauwerk des Universums werden, eine 143
senkrechte, mit spitzen Kristallen verkleidete Stahlsäule, von der in schwindelnder Höhe fünf spitze Türme aufra gen sollten. Die Fünf Türme sollten die Hand und die Finger der Königin symbolisieren, die alles im Griff hat te. Vorläufig war es nur eine Baustelle. »Glaubst du, sie wird es je zu Ende bauen?«, fragte der Turm. Dodd verzog das Gesicht. »Ich finde, wir sollten ihr keine Gelegenheit dazu geben.« Überall, wo sie hinkamen, hingen Plakate, auf denen die Wunderländer aufgefordert wurden, sich den ver schiedenen Gesellschaften für Schwarze Imagination an zuschließen, die blühten und gediehen, während die Weiße Imagination verboten war und von ihren Anhän gern nur im Geheimen ausgeübt werden konnte. Jeder, der als Anhänger der Weißen Imagination denunziert wurde, war verloren. Er wurde zur Verbannung in die Kristallminen verurteilt, wo er sich zu Tode arbeiten musste. »Was ist das für eine schreckliche Welt«, fragte der Turm voller Zorn, »wo Freunde und Nachbarn sich ge genseitig denunzieren? Wo Kinder ihre Eltern anzeigen, weil sie zum Geburtstag keinen Anfängerkasten für Schwarze Imagination gekriegt haben, und sie damit un menschlichen Torturen aussetzen? Redd ist es doch völ lig egal, ob die Kinder die Wahrheit sagen.« »Wahrscheinlich ist es ihr lieber, wenn sie es nicht tun«, sagte Dodd. Der Turm nickte. Erneut ahmte er Redd nach: »Denn das entspricht viel mehr der Schwarzen Imagination! Mein Reich beruht auf Betrug und Gewalt!« »Und auf Unsicherheit.«
Der Turm schnaubte voller Verachtung. »Genau. Die
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Gesetze sind höchst verschieden, je nachdem, wer man ist. Jemand aus der Kreuz- oder Pik-Familie kann sich jederzeit mit einer Spende für den persönlichen Kristall fonds der Königin freikaufen, während es für den ge wöhnlichen Bürger keine Hoffnung gibt: Er wird unwei gerlich in die Minen geschickt und dort zu Tode ge schunden.« Schließlich kehrten sie um und machten sich auf den Weg zurück in den Ewigwald. Sie hatten genug gesehen. »Ich kann dir sagen, was das für eine Welt ist«, sagte der Turm als Antwort auf seine eigene Frage. »Das ist eine Welt, die nicht dauern kann.« »Nein«, sagte Dodd. Aber er dachte schon gar nicht mehr an den Aufstieg und Fall von Königinnen oder die Zerstörung der öffentlichen Moral. Er dachte an etwas viel Persönlicheres, an den Grund, warum er jeden Mor gen aufstand: Er dachte daran, wie er den Kater töten würde.
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Rehhut verließ Paris innerhalb von zweiund M acdreißig Stunden nach seiner Flucht aus dem Palais
de Justice und durchsuchte ganz Frankreich nach Alyss. Nach Wochen fruchtloser Nachfragen gelangte er schließ lich nach Cannes. Es war Mitte August, und der Sommer war auf dem Höhepunkt. Er hatte noch gar kein Hutge schäft aufgesucht, als er in einer kleinen Straße in der Nä he des Hafens einen Passanten zu seinem Begleiter sagen hörte: »Ah, regarde cela! Pauvre petit chapeau claquel« Mac hatte inzwischen genug Französisch aufge schnappt, um zu wissen, dass chapeau »Hut« bedeutete. Während die Männer ihren Weg fortsetzten, drehte er sich nach dem Hut um. Er entdeckte einen Zylinder, der in einer Pfütze schwamm, und wusste sofort, dass es sich um seinen Hut handelte. Wie war er dort hingeraten? Mac untersuchte die Pfütze. Sie hätte in der Hitze längst verdunstet sein müssen, aber das war sie nicht. Es zeigten sich auch keinerlei Spuren irgendeiner Verdunstung an ihren Rändern. Die Pfütze war wie aus Quecksilber. Die Sonne schien ihr nichts anhaben zu können. Mac hatte schon eine Menge Pfützen studiert, seit er in dieser Welt war, und sich bei jeder gefragt, ob sie ihn vielleicht nach Wunderland zurückbringen könnte, wenn er Prinzessin Alyss erst einmal gefunden hatte. Bei kei ner dieser Pfützen hatte er irgendwelche Besonderheiten bemerkt. Aber diese war anders. Er bückte sich vorsich tig, um ja nicht hineinzutreten, und hob seinen Hut auf. 146
Der Zylinder war nass, sah aber sonst intakt aus. Mac machte eine Bewegung mit dem Handgelenk. Zack, da waren die sichelförmigen Klingen! Der Hut funktionierte also noch, obwohl er tropfnass war. Mit einer weiteren Handbewegung verschwanden die Klingen wieder im Hut. Mac setzte ihn auf und fuhr mit den Fingern über die Krempe, wie ein Dandy, der sich gleich in die fröhli chen Abenteuer der Nacht stürzen wird. Dann machte er einen Test. Er hob einen Stein auf, ließ ihn in die Pfütze fallen und … Schwupps! Der Stein war verschwunden. Das Wasser hatte ihn eingesaugt. Jetzt war Mac ganz sicher. Die Pfütze war ein Portal! Der Teich der Tränen war offensichtlich der einzige Weg, auf dem man Wunderland verlassen konnte. Aber es gab möglicherweise zahlreiche Rückkehrportale, Pfüt zen irgendwo auf der Welt, die durch Wasseradern mit dem Tränenteich verbunden waren wie die Arme eines Oktopus mit dem Kopf. Nach diesen Pfützen musste er Ausschau halten. Jedes noch so kleine Gewässer, das sich an einer Stelle befand, wo es nicht hingehörte, konnte ein Rückkehrportal sein. Drei Tage später, in Monaco, entdeckte er eine weitere solche Pfütze. Sie befand sich am Rand der sonnenüber fluteten Strandpromenade. Und diesmal kam ihm ein be unruhigender Gedanke: Was, wenn Alyss ein solches Portal entdeckt hatte? Was, wenn sie allein nach Wun derland zurückgekehrt war? Wahrscheinlich war das nicht. Es war noch nie jemand zurückgekehrt, der in den Teich der Tränen getaucht war. Aber Alyss war kein gewöhnliches Mädchen. In gar kei ner Hinsicht. Und wenn sie nach Wunderland zurückge kehrt war, dann war sie in großer Gefahr. Ihr Fantasie 147
muskel war noch nicht stark genug. Sie brauchte Übung und Training, und das würde Redd nicht zulassen. Ohne seine Hilfe war Alyss verloren, womöglich schon tot. Um das Portal zu testen, nahm er einen Dolch aus dem Ruck sack und ließ ihn in die Pfütze fallen. Wuuuusch! Der Dolch war verschwunden. Mac klappte seinen Zylinder zusammen, bis er nur noch aus einem Stapel Klingen bestand, und verstaute ihn in einer gepolsterten Innentasche seines Mantels. Er hatte nicht die Absicht, ihn erneut zu verlieren. Und wenn er sich nun geirrt hatte? Wenn seine Theo rie falsch war? Wenn diese Pfütze gar nicht in den Teich der Tränen zurückführte, sondern irgendwo anders hin? In diese Pfütze zu treten war ziemlich riskant. Er konnte ja sonst wo herauskommen! Aber um der Prinzessin und des Königinnenreichs willen musste er dieses Risiko ein gehen.
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ein Wutanfall erst mal vorbei ist und man W enn sich wieder beruhigt, tut einem oft leid, was man
im Jähzorn gesagt hat. Es wird einem plötzlich bewusst, dass die Dinge, die man herausgebrüllt hat, gar nicht so unbedingt wahr sind und dass man seine Angehörigen, Freunde, den Ehemann oder die Geliebte nur schrecklich gekränkt hat. Dann möchte man die eigenen Worte nur allzu gern ungesagt machen. Bei der elfjährigen Alyss und dem rasenden Zorn, der sie an einem Julitag des Jahres 1863 am grünen Ufer des River Cherwell bei einem Picknick mit kaltem Huhn und Nudel salat überfiel, war das allerdings überhaupt nicht der Fall. Ungeduldig hatte sie darauf gewartet, dass der Reve rend Charles Dodgson endlich das Buch über ihr Leben in Wunderland schreiben würde, hatte sich ausgemalt, wie dumm all diejenigen dann aussehen würden, die an ihr gezweifelt hatten und ihre Geschichten nicht hören wollten. Aber als Dodgson ihr schließlich am River Cherwell das erste Exemplar des Buches überreichte, als sie feststellen musste, dass es so gut wie gar nichts mit ihr zu tun hatte und dass er alles, was sie ihm erzählt hat te, mit voller Absicht zu einer albernen NonsensGeschichte verdreht hatte, da erfüllte sie bis in die letzte Haar- und Fingerspitze eine so kochende Wut, dass sie beinahe geplatzt wäre. Was für ein grausamer, übler Scherz! Wie konnte er nur? Jetzt ist meine letzte Chance dahin! Er hat sie mir gestohlen. 149
Es war ihr voller Ernst, was Alyss dann sagte, und sie bereute ihre Worte auch später niemals: »Sie sind der grau samste Mensch, der mir je begegnet ist, Mr Dodgson, und wenn Sie auch nur ein Wort von dem geglaubt hätten, was ich Ihnen erzählt habe, dann wussten Sie, wie grausam das ist! Ich will Sie nie wieder sehen! Nie, nie wieder!« Sie ließ den verblüfften Dodgson am Flussufer sitzen und hörte den ganzen Weg nach Hause nicht auf zu ren nen. Sie stürmte ins Haus und schlug die Tür so heftig hinter sich zu, dass Mrs Liddell erschrak. »Du bist schon zurück?« Aber Alyss stürzte mit zornigem Gesicht an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Dieser herzlose, grausame Mann! Was soll ich jetzt machen? Ich kann doch nicht mein ganzes Leben als komische Alice verbringen. Sie rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer und sperrte die Tür ab. »Alice?«, rief Mrs Liddell, die ihr gefolgt war. »Wo sind Edith und Lorina? Wo ist Mr Dodgson? Was ist ge schehen?« Aber Alyss weigerte sich, zu antworten oder aus ihrem Zimmer zu kommen. Sie hörte gar nicht, dass Mrs Lid dell an ihre Tür pochte und vergeblich den Türknopf zu drehen versuchte. Auch der strenge Befehl: »Mach auf der Stelle die Tür auf!« drang nicht an ihr Ohr. In ihrem ganzen Körper pulsierte eine rasende Wut, und plötzlich fing sie an, die Bilder vom Herzpalast von den Wänden zu zerren und methodisch in Fetzen zu reißen. Nie wie der. Mich an nichts mehr erinnern. Alles auslöschen. Ich will keine komische Alice mehr sein. Die komische Alice muss sterben. Ja, das war eine Lösung: Sie musste ihr Fantasieleben aufgeben, das alle so lächerlich fanden, und sich auf die Welt einlassen, die um sie herum exis tierte. Sie musste wie alle anderen werden. 150
Mrs Liddell hatte aufgehört, die Zimmertür zu bear beiten, und aus der Eingangshalle hörte man Stimmen. Dodgson und ihre Schwestern mussten zurückgekehrt sein. Dieser schreckliche Mann! »Alice, komm herunter!«, rief Mrs Liddell. »Mr Dodgson ist da!« »Ich will ihn nicht sehen!« Als sie daran dachte, was dieser sogenannte Freund der Familie getan hatte, und sich an das idiotische Buch in ihren Händen erinnerte, wurde sie erneut wütend. Er hat mich reingelegt! Der Mann hat kein Herz! In seiner Brust steckt ein Eisklumpen! Alyss trat mit dem Fuß in den Haufen Papierschnipsel am Boden, so dass sie hochwirbelten. Was war das? Im Spiegel hatte sich etwas bewegt. Es war keine Spiegelung ihrer selbst. Es war überhaupt nichts aus ih rem Zimmer. Nein! Es war Genevieve. Sie trug das Kleid, in dem Alyss sie zuletzt gesehen hatte, allerdings ohne die Krone. »Du darfst nie vergessen, wer du bist, Alyss«, sagte sie. »Sei still!«, schrie Alyss und warf ein Kissen nach dem Spiegel. Ihre Mutter – oder wer immer die Frau im Spiegel sein mochte – wusste ja gar nicht, was sie in den letzten vier Jahren durchgemacht hatte. Als sie wieder hinsah, war der Spiegel leer und spie gelte nur noch das Zimmer. Aber es war natürlich ohne hin niemand drin gewesen. Das war ja lächerlich! Ihre Fantasie hatte ihr einen Streich gespielt. Schluchzend sank Alyss zu Boden. Umgeben von den Überresten der zerrissenen Papierpaläste kuschelte sie sich zusammen und schlief nach kurzer Zeit ein. 151
Als sie am nächsten Tag ihr Zimmer verließ, war der Raum sorgfältig aufgeräumt. Die Papierschnipsel waren verschwunden, und auch sonst hatte sie alle Spuren der Verwüstung beseitigt. Die Liddells saßen beim Frühs tück. Sie bemerkten die Veränderung an Alyss sofort, hätten aber nicht sagen können, worin sie bestand. Edith und Lorina hörten abrupt auf zu kauen, fast fiel ihnen das Rührei aus den Mündern. Dekan Liddell hörte auf, sein Brötchen zu buttern, und Mrs Liddell goss sich immer noch weiter Tee in die Tasse, als diese längst überlief. Erst als das Hausmädchen anfing, den Tisch abzuwi schen, merkte sie überhaupt, was sie getan hatte. »Du hast ja das Kleid an«, sagte sie staunend. Es han delte sich um ein Musselinkleid, das Mrs Liddell schon vor Wochen für Alyss gekauft hatte, das Alyss aber nie anziehen wollte, weil sie fürchtete, darin gewöhnlich auszusehen. »Ja, Mutter.« »Du siehst … sehr hübsch darin aus«, sagte Mr Lid dell. »Danke, Vater.« Die Veränderung lag nicht bloß in dem Kleid. Sie war sehr viel grundlegender. Es war ihre Haltung: die Nei gung des Kopfes, der graziöse Schwung ihrer Arme, die behutsamen Schritte. Die Liddells waren so bezaubert von ihrer Erscheinung, dass sie gar nicht bemerkten, dass Alyss sie zum ersten Mal »Mutter« und »Vater« genannt hatte.
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machte einen Schritt in die Pfütze, aber seine M acSchuhsohle traf auf keinen Boden. Er taumelte in die Tiefe und fiel immer weiter hinunter, bis sein Sturz plötzlich aufhörte. Eine Weile schwebte er in der Tiefe, dann schoss er genauso schnell wieder nach oben, wie er hinabgestürzt war. Als er die Oberfläche wieder erreich te, war er im Teich der Tränen. Das Wasser war bewegt, und die Wolken über ihm wirbelten heftig. Er schwamm an das kristallene Ufer, wobei er scharf Ausschau nach irgendwelchen Zeichen von Redd und ihren Mordbanden hielt. Vorsichtig stieg er aus dem Wasser und näherte sich dem nächsten Baum, einem kläglichen alten Stamm mit sperrigen, blattlosen Ästen. »Ist Prinzessin Alyss nach Wunderland zurückge kehrt?«, fragte Mac. »Hast du sie aus dem Teich kom men sehen?« »Prinzessin Alyss ist tot!«, sagte der Baum mit großer Lautstärke, als wollte er damit eine unsichtbare Macht zufrieden stellen, die jedes Wort hörte und bei der leises ten Provokation grausam zuschlagen würde. »Ich habe keinerlei Hinweise auf ihren Tod.« »Prinzessin Alyss ist tot!«, wiederholte der alte Baum noch lauter, setzte aber flüsternd hinzu: »Redds Gläserne Augen sind überall. Es ist gefährlich zu reden. Die Prin zessin ist nicht wiedergekommen.« Mac wusste zwar nicht, was die Gläsernen Augen sein 153
mochten – Redd hatte sie erst kürzlich auf das Königin nenreich losgelassen –, aber er hatte nicht die Absicht, ihre Bekanntschaft zu machen. Solange er bei Kräften war, gebot ihm seine Pflicht, in die andere Welt zurück zukehren und nach der Prinzessin zu suchen. Er würde sie finden und sie in den Künsten einer Kriegerkönigin unterweisen, so wie er es mit ihrer Mutter getan hatte. Dann konnten sie beide nach Hause zurückkehren und sich den Problemen dort – unter anderen den Gläsernen Augen – widmen. Er tauchte in den Teich der Tränen zurück, die Schwerkraft des Portals, die ihm allmählich vertraut wurde, sog ihn hinab. Auch das kurze Schweben in der Tiefe kannte er mittlerweile. Dann folgte das Herz-im Hals-Gefühl, als er wie eine Rakete nach oben und aus einer unscheinbaren Pfütze herausschoss, die sich hinter einem kleinen Stall in der Nähe von Budapest, der Hauptstadt von Ungarn, befand, wie er später feststellte. Drei völlig desinteressierte Ziegen waren die einzigen irdischen Wesen, die sahen, wie seine schlanke Gestalt aus der sonnenüberglänzten Pfütze heraussprang und si cher auf den Füßen landete. Mac fragte sich, ob es ihm im Laufe der Zeit wohl ge lingen würde, im Teich der Tränen so zu navigieren, dass er den Ort seines irdischen Auftauchens ein bisschen ge nauer bestimmen konnte als bisher. Es würde wahr scheinlich etwas schwieriger sein als das Reisen im Kris tallkontinuum. Wasser war ein schweres Element, darin zu manövrieren verlangte mit Sicherheit viel Geschick, Ausdauer und Stärke. Aber diese Fragen konnten warten. Jetzt begann die weltweite Suche nach Alyss wirklich, und die konnte wohl Jahr und Tag dauern. Er heftete sich auf die Spur verschiedener Menschen, 154
die eine schimmernde Aura der Fantasie besaßen. Er war überzeugt, dass ihn einer dieser Menschen unweigerlich zur Prinzessin von Wunderland führen würde, die in die ser irdischen Welt stärker schimmern musste als jeder andere. Der Agent besuchte Hutgeschäfte in Spanien, Portu gal, Belgien, Österreich, Bayern, Italien, Preußen, Grie chenland und der Schweiz (um nur einige der von ihm bereisten Länder zu nennen). Im Jahre 1864, als er be reits fünf Jahre gesucht und den europäischen Kontinent zweimal durchquert hatte, nahm er in Calais die Fähre und fuhr nach England. › Alice im Wunderland‹ kannte damals noch niemand, denn das Buch war noch gar nicht veröffentlicht worden. Hätte er ein Jahr später gefragt, hätten die Leute in den Hutgeschäften und Kurzwarenlä den, wo er sich erkundigte, wohl gleich gewusst, wen er meinte – allerdings hätte man sich mit Sicherheit darüber gewundert, dass er einer Romanfigur nachstellte, und ihn am Ende wahrscheinlich für einen Verrückten gehalten. Diesem Schicksal entging er, man versuchte ihm ledig lich alle möglichen Hüte zu verkaufen und machte ihm Komplimente über seinen Zylinder. Als das Buch von Reverend Charles Dodgson ein Jahr später tatsächlich erschien, war der Agent schon wieder weit von Englands Küsten entfernt. Ruhelos durchstreifte Mac die Welt. Aus seinen Rock taschen quollen abgenutzte, bekritzelte Landkarten, auf denen verzeichnet war, wo er schon gesucht hatte. Er wurde immer mehr zur Legende. Die Sprachen, in der sie erzählt wurde, wechselten so oft wie die Länder, die er bereiste. Afrikaans, Hindi, Japanisch und Schwyzer dütsch waren darunter. Auch die Einzelheiten der Ge schichte wechselten ständig, aber im Kern blieb sie im 155
mer dieselbe: Es war der Mythos vom einsamen Kämp fer, der etliche bemerkenswerte Fähigkeiten und höchst kuriose Waffen besaß und auf der Suche nach einer Prin zessin von einem Erdteil zum anderen reiste. Ein wenig rätselhaft war allenfalls, dass er sich bei seiner geheim nisvollen Suche vor allem auf die Verkäufer von Hüten und anderem Kopfputz verließ. Weder der fliegende Händler, der in seinem Beduinenzelt gestrickte Käppchen feilbot, war vor ihm sicher noch die schnippischen Ver käuferinnen in den feinen Hutgeschäften in Prag. Auch in Amerika, wo gerade ein blutiger Bürgerkrieg sein Ende nahm, wurde Mac gesichtet, in den Straßen von New York und Massachusetts ebenso wie in den ver schneiten Hügeln Vermonts und auf den eisbedeckten Karrenwegen von Delaware, Rhode Island, New Hamp shire und Maine. Er zog durch Mexiko, Brasilien und Argentinien, streifte sogar die äußersten Ränder der Ant arktis und schlug dann einen großen Bogen zurück nach Kalifornien und Oregon. Die Reise nach Kanada und Alaska, der kleine Sprung nach Sibirien und die Erfor schung von Asien verstanden sich danach von selbst. Schließlich, in der dritten Aprilwoche des Jahres 1872, dreizehn Jahre nachdem er Alyss verloren hatte, betrat Mac einen Laden in einem geschäftigen Bazar in Ägyp ten, im Schatten der großen Pyramide von Gizeh. »Ich suche Prinzessin Alyss von Wunderland«, sagte er zu dem Ladenbesitzer. »Ich gehöre zu Wunderlands Modisterei. Jedwede Information, die Sie über den der zeitigen Aufenthaltsort der Prinzessin besitzen, wäre mir nicht nur äußerst willkommen, sondern wird zur rechten Zeit auch gebührend belohnt.« Er hatte diese Worte nun schon so oft und so völlig er folglos wiederholt, dass kein vernünftiger Mensch mehr 156
geglaubt hätte, dass sie überhaupt je eine nützliche Ant wort hervorrufen könnten, und eigentlich erwartete Mac auch nicht, dass ausgerechnet dieser Ägypter in seinem blauen Kaftan irgendwelche Informationen besaß. Aber diesmal erlebte er eine Überraschung. Der Mann winkte ihn ins Innere seines düsteren Ladens und zeigte auf ein Buch, das zwischen einer aus Sandstein gemeißelten Sphinx und einem Korb mit getrockneten Kamelzungen stand. Er nahm das Buch herunter, wischte mit dem Är mel den Wüstensand ab und reichte es Mac. Es war eine englische Ausgabe von ›Alice im Wunderland‹. Der Name war falsch geschrieben, aber … Wunder land? Sie musste es sein. Es war seine Alyss! Wer denn sonst? Das Mädchen auf den Illustrationen sah ihr über haupt nicht ähnlich, aber ein Zufall konnte es nicht sein. Es war offensichtlich, was jetzt zu tun war. Um Alyss zu finden, musste Mac den Autor des Buches ausfindig machen: Lewis Carroll.
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eine Kanonenkugel raste Dodd durch das glit W iezernde Kristallkontinuum. »Jaaa! Juhuu!«
Passanten, die ihm ausweichen wollten, wurden in Sei tengänge gesogen und in den Spiegeln von wildfremden Leuten oder üblen Kaschemmen herausgespiegelt, wo sie nie hatten landen wollen. »Jahaa!«, brüllte Dodd. »Kommt doch, wenn ihr mich haben wollt!« Vier Gläserne Augen jagten hinter ihm her. Sie sahen aus wie gewöhnliche Bewohner von Wunderland, aber in ihre Augenhöhlen waren farblose spiegelnde Kristalle eingesetzt. Sie gehörten zu einer künstlichen Rasse mit überragender Sehstärke, Kraft und Geschwindigkeit, die vor allem für den Kampf Mann gegen Mann taugte. Sie patrouillierten im Kristallkontinuum mit dem Auftrag, jeden zu liquidieren, der vielleicht ein Alyssier sein könnte. Ihre Patrouillen hatten die Bewegungsfreiheit der Aufständischen wirkungsvoll eingeschränkt und die wichtigsten Nachrichtenverbindungen des Widerstands praktisch lahm gelegt. Die Übertragung von Botschaften mit Handspiegeln war immer nur bei kurzen, verschlüs selten Berichten möglich gewesen, weil die Nachrichten jederzeit von jedermann abgefangen werden konnten. Wollte man wirklich heikle alyssische Informationen befördern, verwendete man Kuriere, die durch das Kris tallkontinuum eilten. Aber das war vor den Gläsernen Augen gewesen. Wer jetzt noch als Kontinuum-Kurier 158
arbeitete, war früher oder später ein toter Mann. Einen Kurierauftrag zu übernehmen war fast eine Selbstmord aktion. Dodd Anders hatte mehr Kurieraufträge hinter sich als jeder andere Alyssier und meldete sich immer freiwillig, wenn es galt, geheime Informationen zu über mitteln. Der Anlass für den jetzigen Auftrag war sehr dringend: Bei Redds Truppen war erhöhte Aktivität beo bachtet worden, und General Doppelgänger befürchtete einen unmittelbar bevorstehenden Angriff auf einen alys sischen Außenposten in den Ausläufern der Snark-Berge. Der Außenposten musste gewarnt werden. Wuuuusch! Dodd flog durch das Kontinuum, aber die Gläsernen Augen holten immer mehr auf. Diese lebensge fährlichen Verfolgungsjagden, bei denen es auf Geschick lichkeit im Navigieren ebenso wie auf Schnelligkeit an kam, waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen Dodd so etwas wie Glück empfand. Es war ihm gleichgültig, dass er dabei getötet werden konnte. Er diente der Sache, und er hatte das Gefühl, seiner Rache näher zu kommen. Vor ihm zersplitterte das Kontinuum in zahllose Rich tungen. Er warf in letzter Sekunde sein Körpergewicht nach links und machte eine scharfe Kehrtwende. Dann sah er zurück. Eins der Gläsernen Augen hatte die Kurve nicht mehr gekriegt. Jetzt waren nur noch drei übrig. Die musste er allerdings rasch loswerden, ehe sich andere an der Jagd beteiligten. Dodd ließ sich ein bisschen trudeln, um dem Feuerha gel der Gläsernen Augen auszuweichen, zog sein Schwert und nahm es fest in beide Hände. Mit großer Willensanstrengung brachte er sich zu einem abrupten Halt und drehte sich um. Das hatten die Gläsernen Augen nicht erwartet. Sie rasten direkt auf ihn zu, und das Vor derste spießte sich selbst auf. 159
Noch ehe die beiden restlichen Gläsernen Augen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatten, entspannte Dodd seinen Körper und überließ sich der Anziehungskraft des nächsten Spiegels, der ihn augenblicklich aus dem Kon tinuum heraussaugte. Dodd wurde in der Eingangshalle eines großen Wohn blocks herausgespiegelt. Im Bruchteil einer Sekunde presste er sich dicht an die Wand neben dem Spiegel. Die beiden Gläsernen Augen kamen aus dem Spiegel geflogen und zischten an ihm vorbei. Dodd zerschlug den Spiegel mit seinem Schwertknauf, und noch während die Scherben und Splitter herabriesel ten, quetschte Dodd sich durch eine Scherbe, die kaum größer war als der Zeh eines Jabberwocks, zurück ins Kontinuum. Diesen Trick beherrschten die Gläsernen Augen noch nicht. Als sie es versuchten, gelangten nicht ihre ganzen Körper ins Kontinuum zurück, sondern nur die Teile, die sich in dem kleinen Bruchstück gespiegelt hatten. Während er durch den schnell verschwindenden kristallenen Seitengang des Kontinuums raste und das Nichts, das aus dem zerschlagenen Spiegel resultierte, ihm dicht auf den Fersen war, drehte sich Dodd noch ein letztes Mal um und sah hinter sich ein Gläsernes Auge mit einem halben Gesicht, einer Schulter und sonst nicht mehr viel. Das andere hatte zwar noch Kopf und Rumpf, es fehlten ihm aber die Arme. Beide waren so ge schwächt, dass sie kaum noch vorankamen und das Nichts sie nach wenigen Augenblicken verschluckte. Auch Dodd wäre Teil des Nichts geworden, hätte er sich nicht schleunigst wieder in den Hauptstrom des Kontinuums eingeklinkt und sich von ihm forttragen las sen. Er legte eine beträchtliche Strecke in Richtung sei 160
nes Bestimmungsortes zurück und hielt dabei Ausschau nach einem Spiegel in der Nähe der Snark-Berge. Dort verließ er das Kontinuum und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. Aber der Überschwang, den er bei der Verfolgungsjagd empfunden hatte, verschwand, noch ehe er sein Ziel erreichte. Er hatte wieder gänzlich sein übli ches verschlossenes Wesen angenommen, als er vor den Kommandanten des Außenpostens trat und ihm Meldung von dem möglicherweise bevorstehenden Angriff mach te. Auftrag erledigt. Und jetzt? Er konnte in den Ewig wald zu General Doppelgänger zurückkehren, aber der würde wahrscheinlich nur mit den anderen herumsitzen und über Strategie und Taktik reden. Alles war besser, als herumzusitzen. Also riskierte Dodd noch einen Ausflug ins Konti nuum, kam beim Flüsterwald heraus und durchquerte ihn, bis er zum Teich der Tränen gelangte. Er kam öfter hierher, setzte sich auf die Felsen, die über dem Wasser aufragten, und dachte über das Leben nach, das ihm be schieden war. Genau wie sein Vater hatte er einst an die Prinzipien der Weißen Imagination geglaubt – Liebe, Gerechtigkeit und Gemeinsinn. Aber jetzt wusste er es besser: Sich höheren Werten zu verpflichten brachte nichts ein. Sie trugen ihren Lohn keineswegs in sich selbst, wie sein Vater immer gesagt hatte. Was konnte das für ein Lohn sein, wenn andere alles töteten und zer störten, was man liebte? Es war unvorsichtig gewesen, zum Teich der Tränen zu kommen. Das unnötige Risiko hätte er nicht eingehen sollen. Er musste am Leben bleiben. Um Rache zu üben.
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gab sich nun die größte Mühe, die Welt zu A lice akzeptieren, in der sie lebte. Sie weigerte sich,
Dodgson zu sehen, wenn er ins Haus kam. Ihre Ableh nung schmerzte ihn, und so kam er immer seltener und schließlich gar nicht mehr. Das Buch, das er geschrieben hatte, wurde unter dem Titel ›Alice im Wunderland‹ ver öffentlicht. Es war allgemein bekannt, dass es von ihren fantastischen Geschichten inspiriert worden war – was zum Anlass vieler Neckereien wurde –, aber sie hatte sich den Ansichten und Gebräuchen der Zeit so mühelos angepasst und imitierte die Neigungen anderer Mädchen in ihrem Alter so überzeugend, dass alle, die sie anfangs gnadenlos verspottet hatten, jetzt ihre Freundinnen sein wollten. Mrs Liddell fand zwar nie heraus, warum Alice nach jenem schicksalhaften Nachmittag am River Cherwell so wütend gewesen war, aber vom Benehmen ihrer Tochter seither war sie mehr als entzückt: Dodgsons Kritzeleien hatten Alice nicht etwa geschmeichelt, sondern schienen ihr vielmehr die Augen dafür geöffnet zu haben, wie lä cherlich ihr Gerede vom Wunderland gewesen war. Sie distanzierte sich von dem Buch und seinem Verfasser, und Mrs Liddell hielt das für einen Hinweis, dass sie er wachsen wurde. Und das wurde sie allerdings. Es kam, wie die Aufseherinnen des Waisenhauses von Charing Cross vorhergesagt hatten: Seit ihrem sechzehn ten Geburtstag sahen junge Männer von Rang ihr bewun 162
dernd nach, wenn sie sonntags mit ihrer Mutter und ihren Schwestern die High Street herunterkam. Man gab sich Mühe, ihren Namen herauszufinden, und lud sie zu Par tys ein, wo man ihr mit Charme und Weitläufigkeit zu imponieren versuchte. Und Miss Liddell ihrerseits zeigte keinen Mangel an Intelligenz. Manche der jungen Män ner fanden sie sogar ein bisschen zu klug und gebildet. Sie war eine sehr bewanderte junge Frau, die höchst prä zise Ansichten hatte. Die Entwicklung der Regierungspo litik und die Verantwortung, die mit der militärischen Stärke Großbritanniens einherging, waren ihr genauso wenig fremd wie die Rolle von Handel und Industrie in der Monarchie, die Fürsorge für die Armen und Entrech teten, die Sensationsmacherei in der Fleet Street und die Mängel des Rechtssystems, die der berühmte Autor Charles Dickens vor kurzem schonungslos aufgedeckt hatte. Viele wohlhabende Dandys – selbst jene, denen es un behaglich war, mit einer Frau zu reden, die klüger war als sie selbst – bedauerten sehr, dass sie bloß adoptiert war. Denn das bedeutete, dass man sie leider nicht heiraten konnte. Natürlich hielten es diese Burschen für selbstver ständlich, dass Miss Liddell überglücklich gewesen wäre, einen von ihnen zu heiraten. Doch sie war nicht eben leicht zu beeindrucken und neigte auch nicht dazu, sich zu verlieben. Die Wechselhaftigkeit ihres Schicksals hat te sie gelehrt, ihre Gefühle für andere unter Kontrolle zu halten: Es war gefährlich, andere lieb zu gewinnen, dabei fügte man sich unweigerlich Verletzungen zu. Sie plau derte zwar mit den jungen Männern und ließ sich zu Bäl len und Empfängen einladen, aber dies geschah mehr, weil sich ihre Mutter so darüber freute, als aus Zunei gung zu den Verehrern. 163
Reverend Dodgson veröffentlichte sogar noch eine Fortsetzung zu › Alice im Wunderland‹. Sie hieß › Alice hinter den Spiegeln‹. Erneut fand sein Geschreibsel beim breiten Publikum großen Anklang. Alice las das Buch gar nicht erst, aber kurz vor der Veröffentlichung geriet sie, ganz gegen ihren Willen, noch einmal in die Gesell schaft des Autors. Oxford war keine große Stadt, und sie war Dodgson oft genug auf der Straße oder auf dem Uni versitätsgelände begegnet, hatte sich aber gehütet, mit ihm zu reden oder sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Sie grüßte höflich, wie es die guten Manieren ver langten, und das war auch schon alles. Doch kurz nach Alice’ achtzehntem Geburtstag hielt Mrs Liddell die Zeit für gekommen, der Nachwelt zu dokumentieren, was für eine reizende junge Frau ihre Tochter geworden war. Sie bat Alice, sich für ein weite res dieser fotografischen Porträts zur Verfügung zu stel len, die inzwischen so populär waren. Und sie bat Dodg son, die Aufnahme zu machen. »Mutter, bitte! Du weißt doch, dass ich ihn nicht sehen möchte«, sagte Alice. »Es kann vorkommen, dass eine Dame einen Herrn nicht mag«, sagte Mrs Liddell. »Aber sie darf es niemals so deutlich zeigen.« Also ließ sich Alice zu der Porträtaufnahme überre den. Am vereinbarten Tag hörte sie, wie Dodgson das Haus betrat und im Wohnzimmer seine Gerätschaften aufbaute. Dieser abscheuliche Mensch! Wieso begreift er nicht, was er mir angetan hat? Soll ich ihm vergeben? Ich kann, kann, kann es nicht. Muss aber höflich sein. Bloß schnell soll es gehen. Rein ins Zimmer und schnell wie der raus. 164
Alice konnte ihre Gefühle nicht ganz verbergen, und als Mrs Liddell sie rief, eilte sie mit der Ungeduld eines Menschen, der von starkem Termindruck geplagt wird, hinunter. »Guten Tag, Mr Dodgson«, sagte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Dort sank sie in sich zusammen. Die Hände auf dem Schoß, den Kopf leicht in Richtung der rechten Schulter geneigt, beäugte sie Dodgson mit finsterer Miene. Der Reverend, ziemlich irritiert durch ihr Benehmen, machte so schnell wie möglich seine Aufnahme, und sie erhob sich. »Vielen Dank, Sir«, sagte sie, wobei sie ihn nicht an sah, und verließ eilig den Raum. Als Alice zwanzig wurde, drängte Mrs Liddell sie, aus der großen Schar ihrer Verehrer einen Ehemann auszu wählen. »Aber ich fühle nichts für sie«, sagte Alice. »Für kei nen von ihnen.« Sie schüttelte heftig den Kopf, um damit die ungewollte Erinnerung an einen Jungen abzuschüt teln, den sie vor langer Zeit zurückgelassen hatte. Nicht an ihn denken! Ich darf nicht an ihn denken! Eines Samstags besuchte die Familie Liddell ein Frei luftkonzert auf der Christ Church Meadow. Sie wollten gerade ihre Plätze einnehmen, als sich ein junger Mann näherte und sich Dekan Liddell vorstellte. Es handelte sich um Prinz Leopold, Königin Victorias jüngsten Sohn, der eigens aufs Christ Church College geschickt worden war, damit Dekan Liddell seine Hochschulbildung im Auge behalten konnte. Der Familie seines akademischen Lehrers begegnete er jetzt zum ersten Mal. Mrs Liddell wurde ganz zappelig, als sie vorgestellt wurde. 165
»Und diese jungen Damen«, sagte Dekan Liddell, als er seine Töchter vorstellte, »sind Edith, Lorina und Alice. Sagt Prinz Leopold guten Tag, Mädchen!« Alice hielt dem Prinzen die Hand zum Kuss entgegen, und er schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen. »Ich fürchte, die können Sie nicht behalten, Hoheit«, sagte Alice. Und als er nicht begriff, was sie meinte, er läuterte sie: »Meine Hand. Ich fürchte, die brauche ich noch.« »Ach! Ja. Dann muss ich sie wohl zurückgeben. Aber falls einmal ein Aufbewahrungsort dafür gebraucht wer den sollte …« »Dann werde ich an Sie denken, Hoheit.« Prinz Leopold bestand darauf, dass die Liddells neben ihm sitzen sollten, und setzte sich zwischen Mrs Liddell und Alice. Als das Konzert mit einem Mozart-Potpourri begann, beugte er sich zu Alice hinüber und flüsterte ihr ins Ohr: »Potpourris kann ich nicht leiden. Sie gleiten so oberflächlich über die Werke dahin, ohne je in die Tiefe zu gehen.« »Es gibt viele Menschen, die genauso sind«, flüsterte Alice zurück. Mrs Liddell, die zwar nicht verstand, was gesagt wur de, aber sehr wohl bemerkte, dass etwas vorging, warf ihrer Tochter einen eindringlichen Blick zu, den diese allerdings nicht zu deuten wusste. Der Prinz unterhielt sich das ganze Konzert hindurch über eine Vielzahl von Themen mit seiner Sitznachbarin. Er fand, dass Miss Liddell ganz anders als andere junge Mädchen war, die nur über Mode und Samtschleifchen redeten, mit den Wimpern klimperten und von ihm erwarteten, dass er sie anschmachtete. Miss Liddell gab sich keine große Mühe, ihn zu beeindrucken, sie erweckte vielmehr den Ein 166
druck, dass es ihr herzlich egal sei, was er von ihr dachte, und das gefiel ihm ausnehmend gut. Und ihre Schönheit … ja, ihre Schönheit war gar nicht zu übersehen. Insge samt, dachte er, war sie ein köstliches, rätselhaftes Ge schöpf. Kaum war das Konzert vorbei und Leopold gegangen, da konnte Mrs Liddell endlich laut sagen, was sie die ganze Zeit gedacht und Alice durch ihre Blicke mitzutei len versucht hatte. »Er ist ein Prinz! Ein Prinz von königlichem Geblüt! Und er hat sich in dich verguckt, da bin ich ganz sicher!« »Aber Mutter! Wir haben doch nur geredet. Ich habe mich mit ihm unterhalten wie mit jedem anderen Men schen.« Aber die Ehrfurcht und Begeisterung ihrer Mutter kannten keine Grenzen. Außerdem schien Alice Leopold plötzlich überall zu begegnen. Wenn sie durch die Christ Church Gallery ging, fand sie ihn vor einem alten Ölge mälde, wenn sie in die Bodleian Library ging, blätterte er selbstvergessen in Gibbons ›Verfall und Untergang des Römischen Reiches‹, einem Werk, das sie zur Gänze ge lesen und äußerst interessant gefunden hatte. Hübsch ist er schon, dachte sie. Und offensichtlich gebildet. Aber das traf natürlich auch auf manch anderen jungen Herrn zu, der sich um ihre Aufmerksamkeit bemühte. Doch zumindest zwirbelte er sich nicht ungeduldig den Schnurrbart, wenn sie ihm sagte, dass besser für die Ar men gesorgt werden müsse. »Eine Nation sollte man immer danach beurteilen, wie sie mit ihren schwächsten und unglücklichsten Kindern umgeht«, erklärte sie eindringlich. »Wenn Großbritan nien wirklich das größte Königreich der Welt werden soll, dann dürfen wir nicht nur mit unserer Flotte und 167
unserer Armee oder unserer tüchtigen Industrie protzen. Wir müssen durch unser gutes Beispiel führen, und dazu gehört es, dass wir unseren eigenen Bürgern Schutz und Wohltätigkeit angedeihen lassen.« Prinz Leopold lauschte ihren Ausführungen stets ernsthaft und aufmerksam und erwog sie mit großem In teresse. Er widersprach ihr nie, stimmte ihr aber auch niemals zu. Mutter hat wahrscheinlich Recht. Es gibt sicher Schlimmeres, als einen Prinzen zu heiraten. Aber obwohl sich Alice bemühte, etwas für Leopold zu empfinden, ließ ihr Herz sich doch nicht überzeugen. Drei Monate nach dem Konzert auf der Christ Church Meadow machten sie eine Kutschpartie nach Boar’s Hill, und Prinz Leopold sagte: »Ihr Herr Vater hat mir gesagt, dass Sie morgen Nachmittag das Waisenhaus von Banbu ry aufsuchen möchten. Wenn Sie erlauben, würde ich Sie gern begleiten. Man weiß ja nie, in was für Schwierigkei ten eine junge Dame an solchen Orten geraten mag.« »Wenn Sie es für das Richtige halten, Euer Hoheit.« Er bot an, sie in seiner Kutsche hinzufahren, aber Ali ce sagte, sie ginge lieber zu Fuß. »Man sieht auf diese Weise viel mehr von der Stadt. Man entdeckt kuriose kleine Läden oder wirft einen Blick in einen winzigen Garten, von dem man bisher nichts gewusst hat. In der Kutsche fährt man an solchen Schätzen vorbei.« Alice nahm auch die kleinsten Regun gen des menschlichen Geistes nicht für selbstverständ lich, sondern betrachtete alles als kleines Wunder, und der Prinz hatte begonnen, sie dafür zu lieben. In Banbury war Alice sofort von jauchzenden Waisen kindern umringt, die sich an ihren Rockzipfel hängten. 168
Alice lachte, führte sechs Unterhaltungen gleichzeitig und schien Prinz Leopold vor den rußigen Wänden, den blassen Gesichtern der Aufseherinnen und den grauen Kleidern der Waisenkinder noch strahlender und schöner als sonst. Während sie das Waisenhaus besichtigten, folgte ihnen eine ganze Horde von Kindern, und ein klei ner Junge weigerte sich beharrlich, den linken Daumen von Alice wieder loszulassen, den er fest umklammert hielt. Alice bat um eine detaillierte Beschreibung der Prob leme, mit denen das Waisenhaus zu kämpfen hatte. Die Aufseherinnen erzählten, dass die Dielenbretter verfaul ten, weil die Sickergruben zu klein waren und die Ab wässer an einigen Stellen den Boden bedeckten. Sie zeig ten ihr das eingefallene Dach der Krankenstation und die abgenutzten Matratzen, so durchgelegen, dass sie dünn wie Oblaten waren. Und sie zeigten ihr die leere Speise kammer, in der lediglich zwei Säcke mit Bohnen und Reis standen. »Die Kinder haben seit zwei Wochen nur noch Reis und Bohnen gegessen«, sagte eine der Frauen. »Es hieß, wir würden ein paar Rinderknochen kriegen. Aber bisher ist nichts gekommen. So etwas passiert leider häufig.« Prinz Leopold hatte schon seit einer ganzen Weile ge schwiegen. Jetzt räusperte er sich. »Was ist denn mit den Behörden, die für die Versorgung von Banbury zuständig sind?«, fragte er. »Sorgen sie nicht dafür, dass die Kinder die nötigen Lebensmittel und Kleider erhalten?« »Der Oberaufseher ist sehr wählerisch, wenn es darum geht, wer welche Lebensmittel erhält, Euer Hoheit«, er klärte die Frau. »Er sagt, wir nehmen zu viele Kinder auf, und meint, dass sie es nicht alle verdienen. Der hier zum Beispiel …«, sie zeigte auf den kleinen Jungen, der sich 169
an Alice’ Daumen festhielt, »… hat ein erstaunliches Ta lent zum Stehlen. Aber meistens klaut er nur Essen, we gen des ständigen Hungers. Die Kinder sind immer alle so hungrig.« Sie machte eine umfassende Geste, die alle Kinder um sie herum einschloss. Alice schaute den kleinen Jungen an und dachte an Quigly Gaffer. Was wohl aus ihm geworden war? Und aus den anderen? Andrew, Margaret und Francine waren damals noch kaum in der Lage, sich selbst anzuziehen. Es schien kaum vorstellbar, dass sie auf der Straße über lebt hatten, ohne die Liebe und Fürsorge einer Familie. Der traurige, gedankenverlorene Ausdruck auf ihrem Gesicht hatte eine starke Wirkung auf Leopold. »Ich werde mit der Königin reden«, sagte er nach einer Weile. »Ich glaube, wir sollten eine Untersuchungskommission einrichten und in der Zwischenzeit die Lebensmittelzutei lungen aufstocken. Klingt das gut?« »Es klingt nach einer Großzügigkeit, wie man sie im Reich der Lebenden selten findet«, sagte die Frau. »Nun ja«, sagte der Prinz. »Ich möchte jedenfalls vermeiden, dass einer von euch hier sie etwa im Toten reich suchen muss.« Die Waisen blinzelten, ohne etwas zu sagen. Sie konn ten kaum glauben, was sie gehört hatten: Königin Victo ria und Prinz Leopold wollten sich für sie einsetzen! Die Aufseherinnen bedankten sich ein ums andere Mal, wäh rend Alice zusah und lächelte. Und das war aller Dank, den er begehrte. Auf dem Heimweg machten sie eine Pause im Botani schen Garten der Universität, und während Alice auf ei ner Bank saß, kniete Prinz Leopold plötzlich vor ihr auf dem Boden. »Ganz egal, wie Sie sich entscheiden«, sagte er, »Sie 170
sollen wissen, dass ich Sie in künftigen Jahren bei Ihren guten Werken mit Freuden unterstützen werde, Alice. Aber ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich dies als Ihr Ehemann tun darf.« Alice begriff nicht. »Ich bitte Sie, mir die Hand zum Bund der Ehe zu rei chen«, erläuterte Leopold. »Aber … Hoheit, sind Sie sicher?« »Das ist nicht ganz die Antwort, auf die ich gehofft habe, Alice. Sie sind eine sehr ungewöhnliche Frau, und ich wäre stolz, mich Ihren Ehemann nennen zu dürfen. Allerdings müssen Sie wissen, dass Sie als Bürgerliche den Titel Prinzessin nicht führen können und auch keine Ansprüche auf die königlichen Liegenschaften besitzen.« »Ja, gewiss.« Eine Ehe mit Prinz Leopold? Wieder spürte sie eine längst begrabene Sehnsucht nach einem, der … Nein, nein, nein! Denk an was anderes. Sei realis tisch. Ihre Mutter würde sich über diese Ehe freuen. Sie würde es um ihrer Mutter und ihrer Familie willen tun. »Ich nehme an, Leopold.« Sie ließ sich küssen und spürte, wie die kühle Dämme rung sich auf sie herabsenkte. »Mit der Königin habe ich bereits gesprochen«, sagte der Prinz, »und den Segen deines Vaters habe ich auch schon erhalten. Zur Ankündigung der Verlobung geben wir ein Fest.« Wenn sie Zeit zum Nachdenken gehabt hätte, wäre ihr die Idee vielleicht albern vorgekommen, und sie hätte sie nicht ausgesprochen. Aber die Worte hatten eine ganz eigene Kraft, und erst als Alice sie ausgesprochen hatte, wurde ihr bewusst, wie passend ihr Vorschlag war. »Können wir nicht einen Maskenball geben?« Ja, das war das Richtige: ein Maskenball zur Feier der 171
Verlobung zwischen dem Waisenmädchen und Prinz Le opold von England.
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mühselige Nachforschungen führten Mac L ange, schließlich zum Christ Church College in Oxford. Eines Mittags um zwölf Uhr dreißig stand er vor einem Junggesellenquartier am Tom Quad. Seit dreizehn Jahren war er Alyss nicht mehr so nahe gewesen wie jetzt. Auf der anderen Seite der Tür befand sich Charles Dodgson alias Lewis Carroll. Er klopfte. »Wer ist da?«, fragte eine Stimme. »Mein Name ist Mac Rehhut. Ich gehöre zur wunder ländischen Modisterei und bin auf der Suche nach Prin zessin Alyss.« Auf der anderen Seite der Tür entstand eine lange Pau se, dann sagte die Stimme: »Ich w-weiß nicht, wer Sie geschickt hat, aber das ist gar nicht k-komisch. Wir ha ben S-Sonntag, Sir, d-das ist k’kein Tag für AAlbernheiten.« Mac blieb lange genug vor der Tür stehen, um zu mer ken, dass Dodgson nicht öffnen würde. Schmink! Die Klingen an seinem Armband zerschnit ten die Luft. Er ließ sie durch die Tür fahren, und das Holz splitterte. Gelassen trat Mac durch die Öffnung in einen warmen, gemütlichen Raum, wo ein Feuer im Ka min brannte. Dodgson saß an seinem Schreibtisch und schrieb, fuhr aber zusammen, als er den Luftzug spürte und Mac plötzlich im Raum stehen sah. Erschrocken sprang er auf, verschüttete seinen Tee und ließ den Fe derhalter fallen, der das auf dem Schreibtisch aufge schlagene Journal mit Tintenflecken bedeckte. 173
»Ich m-muss d-doch s-sehr b-bitten –«, stieß Dodgson hervor und wich rückwärts in eine Ecke des Zimmers zurück. Mac klappte seine Armklingen zusammen. Der Mann vor ihm hatte die schimmerndste Aura, die er je gesehen hatte. »Wo ist Prinzessin Alyss?« »W-w-wer?« »Prinzessin Alyss von Wunderland. Ich weiß, dass Sie Kontakt mit ihr gehabt haben. Ich bin im Besitz Ihres Buches.« Als Mac in die Tasche seines Modistenmantels griff, begann Dodgson zu wimmern. »N-nein! B-bitte n-nicht!« Mac hatte nur nach dem Exemplar von ›Alice im Wunderland‹ greifen wollen, das er seit seiner Entdeckung in Ägypten stets mit sich herumtrug. Er ließ das Buch in der Tasche stecken, ging zum Schreibtisch und blätterte in Dodgsons Journal. »Wissen Sie, wer ich bin?« »Ich … Ich g-glaube, ich weiß, wer Sie s-sein sollen. Aber komisch f-finde ich d-das überhaupt nicht. Hat AAlice Sie geschickt, um mich zu v-verhöhnen?« »Ich habe viele Jahre nach der Prinzessin gesucht – ihr halbes Leben lang oder länger – und kaum Fortschritte dabei gemacht. Aber jetzt habe ich Sie gefunden, und damit –« »D-das kann nicht Ihr Ernst s-sein.« »Oh, doch. Das meine ich sehr ernst. Ich werde sie finden, ob Sie mir nun sagen, wo sie ist, oder nicht. Bes ser für Ihre Gesundheit wäre es, wenn Sie mir helfen.« »A-aber ich habe sie in den letzten neun Jahren kkaum je gesehen. Sie will m-mit mir n-nichts mehr zu tun haben.« Mac überlegte. Der wehmütige Tonfall ließ vermuten, dass der Reverend die Wahrheit gesagt hatte. 174
»Wo finde ich sie?«, fragte Mac. »Sie wohnt im D-Dekanat hier am Christ Church Col lege.« Mac wollte gerade fragen, wo das Dekanat war, als sein Blick auf die Zeitung fiel, die neben dem Journal lag. Eine der Schlagzeilen weckte seine Aufmerksamkeit: ALICE IM WUNDERLAND TRITT IN DEN STAND DER EHE
Lewis Carrolls Muse Alice Liddell
wird Prinz Leopold heiraten
Alice Liddell? »Sie hat einen anderen Namen angenommen?«, sagte er laut – mehr zu sich selbst als zu Dodgson, der auch nichts dazu sagte. Es lag eine besondere Dringlichkeit in seiner Stimme, als er fragte: »Wo ist das Dekanat?« »Im nächsten Hof. Die b-blaue Tür, aber …« »Aber was?« »Sie ist gegenwärtig im K-K-Kensington Palace und b-berei-tet sich auf –« Mac schnappte sich die Zeitung und rannte los. Im Laufen überflog er den Artikel. Warum hatte die Prinzes sin einen anderen Namen angenommen? Wie konnte sie vorgeben, eine gewöhnliche junge Bürgerin dieses Lan des zu sein, die demnächst heiraten wollte? Er hatte nicht gewusst, in welcher Verfassung er die Prinzessin vorfin den würde. Eine junge Frau, die noch nicht bereit war, ihr Schicksal zu erfüllen? Eine Frau, die von ihrer eige nen Stärke noch überzeugt werden musste? Der die Ent schlossenheit einer Kriegerkönigin noch fehlte? Mit so etwas hatte Mac gerechnet. Womit er nicht gerechnet hatte, war dies.
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Kensington Palace. Mac rannte zum Haupttor und hielt nicht an. »Halt!«, rief eine der Wachen. Mac sprang über das Tor und duckte sich auf den Bo den. Einer der jungen, kindergesichtigen Wachsoldaten, die auf dem Hof patrouillierten, erschrak fast zu Tode. Er stolperte, sein Gewehr ging los, und – peng! Mac wurde vom Aufprall der Kugel herumgewirbelt. Angeschossen worden war er noch nie. Ungläubig fasste er sich an die Schulter. Der Wachsoldat starrte ihn wie gelähmt an und wusste nicht, was er tun sollte. Schrille Pfeifsignale ertönten. Von überall hörte man rennende Schritte. Wütend bellende Wachhunde stürmten heran. Mac blieb nichts übrig, als davonzulaufen. Die Kugel hatte Muskeln, Knochen und Sehnen seiner Schul ter zerschmettert. Er konnte den rechten Arm nicht mehr bewegen, der schlaff an seiner rechten Seite herabhing. Mit seiner freien Hand drückte Mac fest auf die Wunde, um die Blutung zu stillen. Mit einiger Mühe gelang es ihm dennoch, über die Palastmauer zu klettern und in eine dunkle Seitenstraße zu flüchten. Er hatte schon fast zwei Drittel des Weges zurückgelegt, als er entdeckte, dass er in einer Sackgasse war. Die Hunde hatten seine Spur aufgenommen, und jetzt erschienen drei Soldaten am Eingang der Straße und ver sperrten den Rückweg. Sie hielten die Gewehre mit den blitzenden Bajonetten im Anschlag und kamen langsam auf die Stelle zu, wo sich Mac im Schatten versteckte. Ohne Zweifel wären ihnen ein paar Dolche oder Kor kenzieher in die Eingeweide gefahren, wenn Mac keinen anderen Ausweg gesehen hätte. Aber als die Wachen schließlich das Ende der Straße erreichten, fanden sie die Sackgasse leer. Lediglich eine Pfütze war auf dem Pflas 176
ter, wo man sie nicht erwartet hätte. Die Hunde bellten sie an und schnupperten knurrend daran, ehe sie das glit zernde Wasser aufleckten.
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dreizehn Jahren der Unterdrückung war die N ach Moral der Alyssier auf einen Tiefpunkt gesun
ken. Sie lebten unter Bedingungen, die man nicht einmal Schlamm fressenden Würmelchen hätte zumuten mögen. Und wozu? Jeder Tag zeitigte neue Desertionen und Si cherheitsrisiken. Niemand wollte es offen aussprechen, aber insgeheim war jedermann überzeugt, dass ihnen kein großer Sieg wie der bei Blaxik mehr gelingen wür de. Redd aus Wunderland zu vertreiben war einmal ein realistisches Ziel gewesen, aber jetzt waren die Alyssier nur noch eine Hand voll unkoordiniert agierender Kampfgruppen, die lediglich unbedeutende Ziele in ab gelegenen Teilen des Reiches angreifen konnten – einen Außenposten etwa, der Jabberwock-Aktivitäten in der Vulkaneinöde beobachtete, oder einen Stützpunkt am Rand der Schachbrettwüste. Redd hatte bekannt machen lassen, dass alle Überläu fer der Rebellen belohnt würden. Einzeln oder zu zweit ergaben sich die Alyssier dem Blatt und verrieten die Standorte alyssischer Lager. Die Lager wurden dann mit Blitzbällen und Kanonenkugelspinnen beschossen, ehe sie von Redds Rosen-Rollern endgültig platt gemacht wurden – mächtigen schwarzen Panzerfahrzeugen aus Onyx, die auf schwarzen, zahngespickten Rosenketten fuhren. Von den Überläufern hörte man nie wieder, aber jene Alyssier, die selbst an Desertion dachten, redeten sich ein, dass ihre früheren Kameraden wahrscheinlich zu 178
sehr damit beschäftigt waren, ihre Belohnung zu verju beln, um noch einmal von sich hören zu lassen. In Wirk lichkeit wurden die Alyssier, die sich ergaben, an Händen und Füßen gefesselt, ehe man ihnen die Brust und die Glieder aufschlitzte, um den Appetit der fleischfressenden Rosen anzuregen. Dann wurden sie in Gruben geworfen, wo die Rosen sie bei lebendigem Leibe verschlangen. Im ältesten der alyssischen Lager, tief im Ewigwald, hatte General Doppelgänger wieder einmal seine Berater zusammengerufen. Das Lager wurde durch einen Kreis von gewaltigen, raffiniert aufeinander ausgerichteten Spiegeln geschützt, die sowohl den Wald als auch den Himmel spiegelten. Nach außen sah man nur Bäume und Wolken, die sowohl Redds keineswegs alles sehendes Inneres Auge als auch zufällig durch den Wald kommen de Kartensoldaten vollkommen täuschten. Die Spiegel waren nicht mit dem Kristallkontinuum verbunden. Wa chen patrouillierten rings um das Lager, und ein Spie gelmeister war verantwortlich dafür, dass die Spiegel immer im richtigen Winkel standen. Je nach Lichteinfall, Wolkenbewegung und Jahreszeit mussten sie vorsichtig hin und her gedreht werden. Wenn man nicht zufällig direkt vor einem der Spiegel stand und sein eigenes Spiegelbild sah, was angesichts der komplizierten Über lappung der Spiegel und der zahlreichen Brechungen recht unwahrscheinlich war, blieb einem das Lager voll kommen verborgen. »Sie bietet einen kleinen Teil von Wunderland – wahrscheinlich im Äußeren Wilden Bestiarien, aber das steht noch nicht fest –, wenn dafür alle Widerstandshand lungen eingestellt werden«, sagte ein feister junger Bur sche, der sich in einen schmalen Sessel gezwängt hatte und einen langen Umhang trug, wie er bei den jungen 179
Männern der Farbfamilien Mode war. »Wir genießen volle Autonomie und dürfen uns selbst regieren, müssen allerdings auf den Namen Alyssier verzichten. Einen Eid auf Redd oder die Schwarze Imagination müssen wir nicht leisten, aber Weiße Imagination dürfen wir auch nicht praktizieren. Sie hat ein Gipfeltreffen vorgeschla gen, um die Einzelheiten auszuarbeiten.« »Warum hat sie gerade Sie ausgewählt, um die Bot schaft zu überbringen?«, fragte der weiße Turm. Wenn er der falschen Königin gegenübergestanden hätte, hätte er gewusst, was zu tun war. Redd hätte die Antwort der Alyssier auf der Spitze seines Schwertes gefunden. Der feiste junge Mann rückte seine gepuderte Perücke zurecht. Es war niemand anderes als der Karobube, der inzwischen zum schwabbeligen Gecken geworden war. Sein fülliger Hintern quoll zwischen dem Kissen und den Armlehnen des Sessels heraus. »Das weiß ich auch nicht«, sagte er. »Ich habe gerade meine Perücke gepudert, als sie plötzlich in meinem Spiegel erschien. Sie muss wohl gedacht haben, dass ich ein vernünftiger Mann bin, weil ich aus einer adeligen Familie stamme.« »Klingt verdächtig«, sagte der Springer. »Sind Sie si cher, dass Ihnen nicht einer von Redds Spionen gefolgt ist?« »Bitte! Ich bin doch kein Anfänger. Ich kenne mich aus mit konspirativen Methoden.« Der Turm grunzte. »Es ist in jedem Fall ein Trick«, sagte er. Der Karobube hatte das Vermögen seiner Familie seit der Machtergreifung Redds verdoppelt. Seine feine Beo bachtungsgabe hatte ihm gute Dienste erwiesen in einer Gesellschaft, wo nur die schlauesten, eigennützigsten und 180
gegenüber ihren Freunden illoyalsten Geschäftemacher Erfolg hatten. Als kleiner Junge hatte er die Karodame oft zu Redds Festung auf dem Einsamen Berg begleitet. Es war immer sehr lehrreich gewesen. Er hörte die Kom plimente, mit denen seine Mutter der Königin schmei chelte; er sah die seltenen Edelsteine, mit denen sie klei ne Zugeständnisse erkaufte; er beobachtete Redds Ver handlungen mit Waffenhändlern und Zirkusdirektoren, die in der Vulkaneinöde Jabberwocks für Schaukämpfe in der Arena einfangen wollten. Seine Einstellung war daher nicht alyssisch, sondern karobübisch; denn das Einzige, was ihn interessierte, war sein Profit. Redd ließ es zu, dass er die Alyssier heimlich mit Lebensmitteln versorgte; im Gegenzug musste er ihr Informationen über die Pläne der Aufständischen liefern – Informationen, die er stets so manipulierte, dass sie nur teilweise zutrafen; denn wenn die Alyssier endgültig be siegt worden wären, hätte er seine beste Einnahmequelle verloren. Seine Methoden waren indirekt und labyrin thisch, und seine Profitmargen riesig. Wenn er von einer Auslieferung Kanonenkugelspinnen aus der Fabrik er fuhr, verkaufte er diese Information umgehend an frag würdige Individuen, die vor keinem Verbrechen zurück schreckten und die Lieferung sogleich in ihren Besitz brachten. Natürlich trat er dabei nicht selbst auf, sondern bediente sich eines Gläsernen Auges, das er für seine Zwecke neu programmiert hatte. Wenn der Diebstahl erfolgt war, informierte seine Kreatur die Behörden und ließ die Verbrecher verhaften. Die Verhöre dauerten meist ziemlich lange, und wenn die Beamten endlich herausgekriegt hatten, wo die Beute versteckt war, hatte der Karobube sie längst abgeholt und zu Wucherpreisen an die Alyssier verkauft. 181
»Meinen Sie, wir sollten dem Gipfeltreffen zustim men?«, fragte General Doppelgänger. »Ich glaube nicht, dass wir eine andere Wahl haben.« »Was sagen Sie, Springer?« »Man kann ihr nicht trauen. Aber ich folge Ihren Be fehlen, wie immer sie lauten mögen.« General Doppelgänger seufzte und teilte sich. Dann marschierten die Generäle Doppel und Gänger nervös auf und ab. Es gab noch andere, die eigentlich bei dieser Konferenz hätten anwesend sein sollen. Der königliche Sekretär zum Beispiel, Nanik Schneeweiss, hatte nicht kommen können; es war schwierig für ihn, sich aus der Umgebung von Redd zu entfernen, ohne Verdacht zu erwecken. Und bei Dodd Anders wusste nie jemand, wo er sich aufhielt. Er ging seine eigenen Wege, und niemand hatte je gewagt, ihn zu fragen. Er war den anderen ein wenig unheimlich. »General Doppel?« »Ja, General Gänger?« Die beiden Generäle standen sich gegenüber und sa hen sich an. Dann nickten sie beide, sie waren zu einer Entscheidung gelangt. Das Wort ergriff General Doppel. »Natürlich trauen wir Redd ebenso wenig wie alle an deren, aber wir sind derselben Ansicht wie der Karobube. Unsere Streitkräfte werden täglich schwächer. Bald wird Redd überhaupt kein Abkommen mehr mit uns treffen müssen.« »Dann werde ich die Konferenz arrangieren«, sagte der Karobube und versuchte vergeblich, sein Hinterteil aus dem Sessel zu lösen. »Ich freue mich schon darauf, wenn wir endlich mal wieder alle zusammen auf vernünf tigen Möbeln sitzen können. Könnte … mir … vielleicht … bitte … mal … jemand helfen?« 182
Ihren geheimen Notfallplan erwähnten die Generäle nicht. Er bestand darin, die besten Kämpfer und die intel lektuelle Elite der Alyssier heimlich nach Grenzland zu führen und ein Bündnis mit König Arch zum Sturz von Redd zu schließen. Der Preis für die Unterstützung mit Waffen und Truppen war sehr hoch: die Einführung der männlichen Erbfolge in Wunderland. Die Generäle woll ten den Notfallplan vorläufig auch vor ihren Beratern geheim halten, weil sie hofften, es würde nie notwendig werden, diesen Weg zu beschreiten.
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stand auf den Felsen über dem Teich der Trä D odd nen. Ob es der Wind oder etwas anderes war, hät
te er selbst nicht zu sagen gewusst, aber plötzlich fiel eine Träne von seiner Wange hinab in den See. Wie er doch seinen Vater vermisste! Er wünschte sich, er könnte auch heute noch an das Königinnenreich glauben wie damals, als er noch klein war, als er mit Prinzessin Alyss im Palast gespielt und Königin Genevieve regiert hatte. Aber diese Jahre der Unschuld und Verspieltheit gehör ten der Vergangenheit an. Damals war er ein anderer ge wesen und nicht der Mann, der jetzt hier am See stand. Er wollte sich schon abwenden, als er etwas im Wasser entdeckte: einen Kopf, einen schwimmenden Mann, der sich mühsam in Richtung des Ufers beweg te. Die Bäume, Büsche und Blumen begannen wild durcheinander zu schnattern, und Dodd stürmte eilig den steilen Abhang hinunter. Er stolperte mehrmals und fiel hin, aber das war ihm gleichgültig. Der Mann im Wasser schwamm nur mit einem Arm, es war nicht weiter erstaunlich, dass es ihm schwer fiel, ans Ufer zu kommen. Aber auch nach all den Jahren erkannte Dodd ihn sofort. »Sie sind Mac Rehhut!« »Ja.« Er half Mac aus dem Wasser und sah, dass der Agent schwer verletzt war. Sein Hemd war zerrissen, seine rechte Schulter war blutüberströmt. Knochensplitter rag 184
ten aus einer tiefen Fleischwunde. Dodd zog sein Hemd aus und legte dem Verwundeten einen Druckverband an. »Ich bin Dodd Anders. Mein Vater war der Haupt mann der Palastgarde.« »Ich erinnere mich an dich.« »Wir haben gedacht, Sie wären tot. Es hieß, der Kater –« »Ob ich lebe oder tot bin, ist irrelevant. Es geht nur um die Prinzessin. Ich werde das Versprechen, das ich Königin Genevieve gegeben habe, erfüllen, so gut ich kann. Prinzessin Alyss ist am Leben. Sie ist zu einer jun gen Frau herangewachsen, die alt genug ist, um ihren rechtmäßigen Platz als Königin einzunehmen.« Dodd hatte sich längst abgewöhnt, sich von bösen Wendungen des Schicksals überraschen zu lassen. Zu viel Schlimmes war in den vergangenen Jahren gesche hen. Aber Mac Rehhut, der aus dem Teich der Tränen auftauchte? Und Prinzessin Alyss war noch am Leben? Es war kaum zu glauben! »Es ist lange her, dass etwas Gutes passiert ist!«, sagte er und starrte Mac ungläubig an, bis ihm plötzlich be wusst wurde, dass er den Verletzten schleunigst in Si cherheit bringen sollte. Mac brauchte dringend ärztliche Behandlung, und er durfte nicht hier im Freien herumste hen. Eine Reise im Kontinuum wollte Dodd nicht riskieren. Sie würden sich zu Fuß auf den Weg machen müssen. Der verletzte Agent stützte sich schwer auf seinen jungen Begleiter, während sie sich durch den Flüsterwald schleppten und schließlich die verkommenen Außenbe zirke von Wundertropolis erreichten. »Sie werden die Stadt nicht wiedererkennen«, sagte Dodd. 185
Tatsächlich erkannte Mac eine ganze Menge der alten Gebäude, aber er konnte sich nicht damit aufhalten, Be dauern über ihren Verfall zu empfinden. Er war erschöpft und brauchte dringend Schlaf. Ein paar Mal musste er stehen bleiben, um sich auszuruhen. Er spürte seinen rechten Arm nicht mehr. »Es ist nicht mehr weit«, sagte Dodd, als sie schließ lich zum Rand des Ewigwalds kamen. Nach einiger Zeit stießen sie auf alyssische Posten, die einen Teil des Waldes bewachten. Die Alyssier blieben ungläubig stehen, als sie den Agenten sahen. Ihre Blicke glitten von seinem Gesicht zu seinen Handgelenken und seinem Rücken. Sie verbeugten sich und traten beiseite. »Sie sind zur Legende geworden«, erklärte Dodd. »Sie und Prinzessin Alyss.« Sie betraten das alyssische Lager durch eine Lücke zwischen zwei Spiegeln. Die alyssischen Soldaten, denen sie begegneten, verstummten ehrfürchtig. Die Nachricht von der Rückkehr Macs verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Schließlich erreichten die beiden Männer das Zelt, wo der Springer, der Turm und General Gänger zusahen, wie General Doppel den Sessel festhielt, aus dem der Karo bube sich gerade herauszuwinden versuchte. »Hhh’rmph!« Beim Anblick von Mac war in den Gesichtern der Schachkämpfer und des Generals Gänger eine Mischung von Überraschung, Erstaunen, Verwirrung und Freude zu lesen. General Doppel erkannte ihn erst, als sich der Karobu be endlich aus dem Sessel befreit hatte, seine schmerzen den Hinterbacken massierte und das Möbelstück lautstark verfluchte. »Um in dieses verdammte Möbel zu passen, darf man nicht größer als ein Zwerg-Gwynuk sein.« 186
Dann bemerkte auch er den legendären Agenten. »Mac Rehhut«, sagten die Generäle Doppel und Gän ger gleichzeitig. »Holt die Ärztin!«, rief Dodd. Der Springer lief aus dem Zelt und kehrte nur Sekun den später mit der Ärztin zurück, die ebenso beeindruckt von Mac war wie die anderen, sich aber trotzdem nicht hindern ließ, ihre Arbeit zu machen. Sie berührte Macs Wunde mit einem Glühstab, um sie zu reinigen und die Blutung zu stillen. Dann schnallte sie ihm eine U förmige Manschette von kombinierten NRG-Knoten und Schmelzkernen über die Schulter und ließ sie dreißig Se kunden lang einwirken. Das genügte, um die zersplitter ten Knochen, die zerrissenen Nerven, Adern, Muskeln und Sehnen zu reparieren. Als sie die Manschette wieder entfernte, brauchte sie nur noch ein Stück neuer Haut aus dem Labor auf die offene Wunde zu schweißen. Mac erprobte seine Schulter, indem er den Arm krei sen ließ. Während seine Kraft langsam zurückkehrte, er zählte er, was geschehen war, nachdem er mit Alyss in den Teich der Tränen gestürzt war. »Soll das heißen, dass die Prinzessin noch lebt?«, hauchten die Generäle Doppel und Gänger. »D-das ist doch lächerlich«, stotterte der Karobube, der Macs Bericht mit wachsender Sorge zugehört hatte. »Übrigens, ich bin der Karobube. Sie erinnern sich ohne Zweifel. Bei Ihrer bedauerlichen Abreise aus Wunder land war ich noch ein Junge. Nichts für ungut, ich trauere um Prinzessin Alyss genauso wie jeder andere hier, aber die Zustände haben ein kritisches Stadium erreicht. Wir haben keine Zeit, einem Phantom nachzujagen.« »Von mir hieß es doch auch, ich sei tot«, sagte Mac. »Ich sage euch, dass Prinzessin Alyss am Leben und alt 187
genug ist, zurückzukehren und ihren rechtmäßigen Platz als Königin einzunehmen.« Er stand auf. »Ich werde mich sofort aufmachen, um sie zu holen.« »Nein, lassen Sie mich gehen!«, sagte Dodd. »Es ist meine Pflicht, die Prinzessin zu schützen.« »Um damit eine menschenwürdige Zukunft unseres Landes zu sichern, ich weiß«, sagte Dodd. »Aber denken Sie doch an Ihren Zustand! Sie sind gerade erst wieder genesen!« Mac gab keine Antwort, sondern ließ nur seine Schul ter kreisen. »Mit Ihrer Erfahrung und Ihren Fähigkeiten sind Sie viel wertvoller für die Alyssier, als ich es je sein könnte«, sagte Dodd. »Bleiben Sie hier und helfen Sie den Gene rälen, alles für die Rückkehr der künftigen Königin vor zubereiten. Alyss wird eine einsatzbereite Armee brau chen.« »Habt ihr nicht etwas vergessen?«, jammerte der Ka robube. »Wir sind doch übereingekommen, auf alle alys sischen Aktivitäten ab sofort zu verzichten!« »Wenn wir die Prinzessin wiederhaben«, sagten die Generäle Doppel und Gänger, »gibt es auch andere Opti onen.« Mac überlegte. Trotz der Arbeit der Ärztin würde sei ne Schulter bestimmt noch zwei Tage brauchen, ehe sie sich wieder völlig normal anfühlte. Ein bisschen Nach denken und ein paar strategische Diskussionen würden ihm gut tun. Und dem Königinnenreich wahrscheinlich auch. Er gab Dodd die durchweichte Zeitung mit den Einzelheiten der Verlobungsfeier von Alyss. »Um das Portal für die Rückkehr zu finden, musst du nach Wasser suchen, wo eigentlich keins sein sollte.« Dodd nickte. Am Ausgang blieb er noch einmal ste 188
hen. »Hier hat sich viel verändert. Es gibt Dinge, die Sie wissen müssen, um uns zu helfen. Die Generäle werden Ihnen alles erzählen.« In der Tat gab es Dinge, die Mac erfahren musste. Die Modisterei war verboten worden. Sie war immer eine der Stützen der Weißen Imagination gewesen, und Redd hat te sie sofort zerschlagen. Lehrlinge und Meister – Hut macher, Krempenbieger, Gürtler – waren mitten in der Nacht überfallen und umstandslos umgebracht worden. Die Gläsernen Augen hatten sie einfach abgeschlachtet. Das galt auch für eine junge Frau, die nicht selbst zur Modisterei gehört, sondern nur die Bücher geführt hatte. Mac hatte sie sehr gern gehabt.
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zwanzigjährige Alice Liddell bewegte sich an D iemutig von einer Gruppe von Gratulanten zur
nächsten. Das schwarze Haar floss üppig über ihre Schul tern, ihre weiße Haut schimmerte wie Elfenbein im Licht der kristallenen Kronleuchter, und die Schleppe ihres langen Seidenkleids glitt durch den Ballsaal wie flüssiges Silber. Die prominentesten Mitglieder der englischen Gesellschaft waren zu ihrer Verlobungsfeier gekommen – Herzöge und Herzoginnen, Grafen und Gräfinnen –, und alle hatten ihre Gesichter hinter Masken verborgen, genau wie Alice. Am nächsten Tag würden die Gazetten ausführlich über den Ball berichten, damit auch die Waschfrauen, Laufburschen, Kneipenbesitzer, Köche, Dienstmädchen und anderen Angehörigen der niederen Schichten, die ihr Leben lang von morgens bis abends für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten, an dieser Welt des Luxus und des Vergnügens teilhaben konnten, in der Alice Liddell jetzt lebte. Irgendwie habe ich immer noch das Gefühl … ja, was? Eine Rolle zu spielen? Ja. Nach all den Jahren. Aber bei einem Maskenball spielen die anderen wenigs tens auch eine Rolle. »Miss Liddell!« Die Herzogin von Devonshire lächel te Alice huldvoll an. »Ihr Kleid ist wundervoll, ganz wie man es erwarten würde. Und Ihre Maske auch – aber was stellt sie eigentlich dar, meine Liebe?« Alice’ Maske war in der Tat sehr schlicht: Sie bestand 190
nur aus gewachstem Papier auf einem Rahmen aus Draht mit ausgeschnittenen Löchern für Mund und Augen. »Ich bin jede Frau«, sagte Alice. »Weder hässlich noch schön, weder reich noch arm. Ich könnte jede Frau sein, jede beliebige Frau.« Leopold trat heran und bat seine Braut um den nächs ten Tanz. Er trug eine ähnlich einfache Maske wie Alice, aber sie war für die anderen Gäste nicht so verblüffend. Es war ein Porträt seines eigenen Gesichts, das ein Hof maler sorgfältig auf die Maske gemalt hatte. »Meine Liebe«, sagte er und reichte ihr die Hand, um den Tanz zu eröffnen. Das Orchester spielte einen langsamen Walzer, und das Paar tanzte durch den Saal, während die Gäste die Tanzfläche freihielten und zusahen. Unter den vielen Augen, die ihnen folgten, war auch das Augenpaar eines Fremden, der durch das Fenster hereinsah. Prinz Leopold war kein guter Tänzer. Er war nicht eben leichtfüßig, und seine Drehungen waren nicht sonderlich schwungvoll. Alice war beinahe dankbar dafür. Es verringerte ihre Schuldgefühle ein bisschen. Dass er nicht in jeder Hin sicht vollkommen war, ließ es nicht ganz so schlimm erscheinen, dass sie ihn noch immer nicht liebte. Der Walzer fand seinen Abschluss, und der Prinz ent deckte, dass Königin Victoria am Ende des Saals die Stirn runzelte. »Ich glaube, ich muss mich um Mutter kümmern«, sagte er hastig und küsste Alice die Hand. Er streifte seine Maske ab und legte sie auf einen klei nen Tisch. Der Fremde, der durch das Fenster geblickt hatte, betrat den Saal und nahm sie unbemerkt an sich. Alice hatte kaum an ihrem Wein genippt, als ihr plötz lich jemand auf die Schulter tippte. Sie wandte sich um und sah ihren künftigen Ehemann, der seine Maske wie 191
der aufgesetzt hatte und die Hand ausstreckte, um sie erneut zum Tanz zu führen. »Schon wieder da?«, sagte sie. »Aber was ist mit der Königin?« Der Mann mit der Maske gab keine Antwort. Das Or chester begann eine neue Melodie, und er führte sie auf die Tanzfläche, legte ihr einen Arm um die Taille und wirbelte sie herum. Ihre Schritte fügten sich so nahtlos zusammen, als hätten sie ihr ganzes Leben miteinander getanzt. Den Gästen entging das nicht. Sie machten Platz für das Paar und spendeten Beifall. Alice merkte, dass der Mann, mit dem sie tanzte, nicht ihr Verlobter sein konnte. »Sie sind nicht Leopold«, lach te sie. »Halleck, sind Sie das?« Halleck war der beste Freund des Prinzen. Der Fremde schwieg. »Wer verbirgt sich hinter dieser Maske?« Immer noch schwieg der Fremde. Alice streckte die Hand aus und nahm ihm die Maske ab. Es erschien das Gesicht eines hübschen jungen Mannes mit Mandelaugen und einer Nase, die mehr als einmal gebrochen worden zu sein schien. Sein Haar war staubig und ziemlich zer zaust. »Kenne ich Sie?« »Ihr habt mich einst gekannt«, sagte der Fremde und wandte ihr seine rechte Gesichtshälfte zu. Sie erblickte vier parallel verlaufende lange Narben, die rosa aus sei ner Haut hervorleuchteten. Sie blieb abrupt stehen. »Aber …?« Sie spürte eine Unruhe hinter sich. Prinz Leopold und Mrs Liddell erschienen an ihrer Seite. Sie wandte sich um, doch der Fremde war plötzlich verschwunden. »Wer war der Mann?«, fragte Leopold. 192
»So ein ungehobelter Bursche«, rief Mrs Liddell auf geregt. »Ich bin sicher, er ist ein völliger Niemand.« Sie hatte den Prinzen noch nie so aufgeregt gesehen. »Alice, sag dem Prinzen, dass dieser Mann niemand war.« »Ich … ich weiß nicht«, sagte Alice. »Ich weiß nicht, wer das war. Bitte entschuldigt mich. Ich brauche drin gend etwas frische Luft.« Sie eilte hinaus auf den Balkon. Das konnte doch nicht er gewesen sein. Er kann es nicht sein. Er existierte doch gar nicht.
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Kater lag auf dem Rücken im Saal der Erfin D erdungen und schlug spielerisch mit der Pfote nach
einem Seil, das von der Decke herabhing. Rund um ihn herum standen die Prototypen früherer Erfindungen von Königin Redd in geschmackvoll ausgeleuchteten, mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Nischen: ein Sucher mit dem Körper eines Tattelfinken und dem Kopf eines Würmelchens; ein vertrockneter Strauch, der das erste Opfer von Naturtod™ gewesen war; ein Zweier-Soldat aus dem Blatt, der zur Hälfte aus Stahl und zur Hälfte aus Fleisch bestand und noch weitaus weniger schnell und viel verletzlicher gewesen war als die Kartensoldaten, die schließlich in Serie gegangen waren; ein Modell des Ro sen-Rollers; ein Gläsernes Auge, das noch keine Augäp fel, sondern einen einzelnen stabförmigen horizontalen Sehkristall hatte; und sogar ein Versuchsmodell des Ka ters selbst, mit sehr viel kleineren Krallen und (wie der Kater fand) längst nicht so gut aussehend und elegant wie das Endergebnis. Der Kater konnte stundenlang mit dem Seil spielen – es machte ihm großen Spaß, mit der Pfote danach zu schlagen, es festzuhalten und wieder loszulassen oder die Krallen damit zu polieren. Er hatte gerade glücklich zu schnurren begonnen, als plötzlich Redds Stimme ertönte. »Kater, komm doch mal in die Beobachtungskuppel!« Wenn man zu Redd gerufen wurde, bedeutete das normalerweise, dass man mit Schimpfwörtern überhäuft 194
wurde und sämtliche Fehler zu hören kriegte, die man je begangen hatte. Aber diesmal hatte Redds Stimme ir gendwie anders geklungen, beinahe nett, so als hätte sie eine kleine Überraschung für ihn. Und das wurde auch Zeit. Er verdiente wirklich mal eine Belohnung. Schließ lich war er ja derjenige, der die Wunderländer in Schach hielt und für die nötige Disziplin sorgte. Die Beobachtungskuppel war die oberste Ebene der Festung auf dem Einsamen Berg – über einem glatten, polierten Marmorboden erhob sich eine Kuppel aus tele skopischen Glasscheiben, die einen kompletten Rund blick auf Wunderland ermöglichte. Der Kater hüpfte mit einem munteren Miauen in die Kuppel, aber dann ver düsterte sich seine Stimmung blitzschnell: Der Walross butler und der Karobube waren ebenfalls anwesend. Wa rum die Königin diesen fetten Opportunisten in ihrer Ge genwart duldete, würde der Kater nie verstehen. »Ich habe ein bisschen in meinen Erinnerungen ge kramt«, säuselte Redd. »Könntest du mir bitte noch mal erzählen, wie du die kleine Alyss damals vor vielen Jah ren in blutige Fetzen gerissen und in den Tränenteich geworfen hast, Kater?« Irgendetwas stimmte nicht. Der Kater konnte es rie chen. Das selbstzufriedene Grinsen des Karobuben war noch ein bisschen selbstzufriedener als sonst, und das Walross hatte ihn überhaupt nicht angeschaut, als er in die Kuppel kam, sondern nur die Leuchter auf dem lan gen Kristalltisch in der Mitte des Raumes mit dem nöti gen Staub bedeckt, genauer gesagt: immer denselben Leuchter bestäubt vor lauter Nervosität. »Ich bin der Prinzessin und Mac Rehhut durch das Kristallkontinuum gefolgt«, sagte der Kater. »Dann ge langte ich zu den Felsen –« 195
Ein Band von ›In reginam speramus‹ kam durch die Luft geflogen und prallte gegen seinen Kopf. »Au! Also … ich verfolgte sie durch die Wälder, bis ich zu den Felsen am Teich der Tränen –« Der Staubbeutel des Butlers flog in seine Richtung. Der Kater sah ihn kommen und duckte sich in letzter Se kunde. Der Beutel explodierte hinter ihm an der Scheibe. »– am Teich der Tränen kam. Und Mac –« Ein Sessel schoss auf ihn zu. Er sprang beiseite. »– versuchte, von den Felsen … ins Wasser zu sprin gen –« Lavabrocken kamen auf ihn zugeflogen. Er duckte sich, um einem auszuweichen, nur um von einem ande ren umso heftiger getroffen zu werden. »– au! Ich schlug Mac zu – aua! – Boden, und dann – auauau! – riss ich ihn und Alice in Stücke, und – au! – dann hab ich die Fetzen ins Wasser geworfen.« Er sank zu Boden, erschöpft und gekränkt. Redd stell te sich dicht vor ihn hin. »Kater! Du lügst. Du hast mich dreizehn Jahre lang belogen. Ich habe gerade erfahren, dass Alyss noch am Leben ist und Mac sich in Wunderland aufhält.« Hinter ihr stand der Karobube, schlürfte affektiert ein Gläschen Likör und spreizte dabei den kleinen Finger ab. »Dass du lügst, ist natürlich völlig in Ordnung«, sagte Redd. »Bloß mich solltest du lieber nicht anlügen! Wie es scheint, gibt es für Leute, die schlau genug sind, es he rauszufinden, einen Weg, um aus dem Teich der Tränen zurückzukehren nach Wunderland.« Die linke Hand der Königin krümmte sich zu einer haarigen Tatze. Sie durchbohrte den weichen Bauch des Katers mit spitzen Krallen und stieß ihm den Zeigefinger 196
ins Herz. Der Kater gurgelte und krümmte sich, Blut schoss ihm aus dem Maul, und dann starb er. Das Walross gab sich alle Mühe, den Vorgang zu ig norieren, und verteilte eifrig mit beiden Vorderflossen Staub auf dem Tisch. Der Karobube kicherte, schrak aber jäh zusammen, als das Likörglas aus seiner Hand sprang und der Inhalt sich über den Kopf des Katers ergoss. Der Kater hustete, prustete und öffnete die Augen. »Mach nicht so ein Theater!«, sagte Redd zu ihm. »Du hast schließlich immer noch sechs Leben übrig. Aber wenn du mich noch einmal anlügst, hast du bald keins mehr. Und jetzt steh auf und wisch dir das Kinn ab.« Der Kater stand auf, leckte sich die Pfote und wischte sich Blut und Likör vom Kinn und vom Schnurrbart. »So«, sagte Redd, »und jetzt sage ich euch, was wir machen. Der Kater und eine Kompanie von Elitesolda ten, die ich persönlich aussuchen werde, verlassen Wun derland durch den Tränenteich und machen sich auf die Suche nach Alyss. Du wirst meiner Nichte den Kopf ab beißen, abhacken oder abreißen und ihn mir dann brin gen. Der entscheidende Punkt ist, dass der Kopf runter muss. Wenn du ohne ihn zurückkommst, muss ich davon ausgehen, dass du versagt hast und Alyss noch lebt. Das wäre dann dein Ende. Wenn du aus Angst nicht zurück kommst und dich zu verstecken versuchst, werde ich Kil ler hinter dir herschicken, die dir deine sechs restlichen Leben einzeln wegnehmen.« Der Kater verbeugte sich. »Ich danke Euch, dass Ihr so gnädig seid, Eure Königliche Bosheit. Ich werde Euch nicht noch einmal enttäuschen.« »Nein, das wirst du gewiss nicht.« Der Kater ließ sich vom Karobuben darüber informie ren, wo Alyss sich aufhielt, dann führte er seine Mord 197
bande zu den Felsen über dem Teich der Tränen. Es gab kein Geräusch außer dem Wind, der durch die stummen Bäume strich, und dem Schlagen ihrer kriminellen Her zen. Sie stürzten sich in den Teich und überließen sich dem Sog des Portals. Sie tauchten in einer Pfütze im Inneren des englischen Parlamentsgebäudes auf und schossen durch die bunten Scheiben eines neugotischen Fensters hinaus auf die Straßen von London. Klirrend fielen die farbigen Scher ben zu Boden, als sie auf dem Bürgersteig landeten.
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Brautkleid stand Alice vor einem bodenlan I ngenihrem Spiegel in der Sakristei von Westminster Ab
bey. In weniger als einer halben Stunde sollte sie, ohne dass sie ihrem Bräutigam bisher ihr Herz geschenkt hätte, mit einem Prinzen vermählt werden und in die höchsten Ränge des Königreichs aufsteigen. Doch ihre Zukunft schien ihr immer noch genauso unsicher, wie sie es im mer gewesen war. Die mächtige Orgel der Kathedrale erklang, und alles im Raum begann zu vibrieren, aber Alice merkte es kaum. Sie streckte ihre Hand nach dem Spiegel aus, bis ihre Finger die kalte Oberfläche berührten. So stand sie Fingerspitze an Fingerspitze mit ihrem Spiegelbild. Hatte sie etwas anderes erwartet? Hatte sie gedacht, ihre Hand würde in den Spiegel eintauchen? Lächerlich. Es klopfte, und Mrs Liddell trat ein. Sie hielt ihre Rö cke gerafft, damit sie nicht auf dem Steinboden schleif ten. Alice war froh, dass sie nicht mehr allein war mit ihren Gedanken. »Es ist so weit, meine Liebe. Ich kann es immer noch kaum glauben!« »Ich auch nicht«, hauchte Alice und täuschte atemlose Aufregung vor. Sie küsste ihre Mutter auf die Wange, und dann gingen sie zusammen in die Vorhalle hinaus, wo die Brautjungfern warteten. Auch Dekan Liddell, der seine Tochter zum Altar führen würde, stand hier. »Wenn du das nächste Mal mit mir sprichst«, sagte 199
Mrs Liddell, »wirst du mit einem Prinzen verheiratet sein.« »Und du wirst die Schwiegermutter eines Prinzen sein.« »Beim bloßen Gedanken daran wird mir schwindlig! Du machst mich sehr glücklich, Alice.« Mit einer letzten Umarmung ging Mrs Liddell davon, um ihren Platz ganz vorn in der Kirche bei den übrigen Familienmitgliedern einzunehmen. Der Hochzeitsmarsch wurde gespielt, und die Braut jungfern schritten mit ihren Begleitern durch den Mittel gang. Alice spähte zu den Gästen hinaus. Königin Victo ria und ihr Hofstaat saßen auf den vordersten Bänken auf der rechten Seite. Einige Reihen Gardesoldaten schirmten die königliche Familie vom Rest der Festgäs te ab. Die Kathedrale war bis auf den letzten Platz ge füllt. Im hinteren Teil der Kirche machten sich Reporter eifrig Notizen. Die meisten Gäste hatten sich halb um gedreht und warteten auf das Erscheinen der Braut. Aber sie zögerte noch. Sie wollte die Gelegenheit nut zen, um die Hochzeitsgäste zu beobachten. Und warum? Weil sie jemanden suchte, ein ganz bestimmtes Gesicht. Sie fragte sich, ob er wohl wieder auf genauso rätselhaf te Weise auftauchen würde wie bei ihrer Verlobung. War er das nicht dort im Schatten unter der linken Em pore? Sie konnte sein Gesicht nicht deutlich erkennen, aber – Jetzt reichte Dekan Liddell ihr den Arm. Sie war ja verrückt. Warum quälte sie sich wegen eines Fremden? Bloß weil er ein paar Narben in seinem hübschen Gesicht hatte? Bestimmt gab es Hunderte von Männern mit sol chen Narben. Das bedeutete gar nichts. Wahrscheinlich war der Mann bei der Verlobungsfeier bloß irgendein 200
Neider gewesen, der Leopold mit seinen Tanzkünsten ärgern wollte. Sie legte die Hand auf den Arm ihres Va ters. »Alice, mein Liebes«, sagte der Dekan. »Wenn ir gendein anderes Mädchen in die königliche Familie ein heiraten würde, würde ich mir sicher Gedanken machen, ob sie dem auch gewachsen ist. Aber bei dir ist das an ders. Ich glaube, du wirst Prinz Leopold nicht nur glück lich machen und seine Liebe bewahren, du wirst ihn dar über hinaus auch zu einer Kraft machen, die Gutes be wirkt. Du hast ihn mehr gelehrt, als ich das je könnte, auch wenn ich sein Lehrer bin. Er kann wirklich stolz auf dich sein.« »Danke, Vater.« Gemessenen Schrittes betraten Vater und Tochter die Kathedrale. Alice’ Gesicht zeigte nichts von der inneren Unruhe, die sie plagte, seit sie auf dem Maskenball mit dem Fremden getanzt hatte. Niemand, der sie sah, wäre auf die Idee gekommen, dass sie an etwas anderes als an die bevorstehende Zeremonie dachte. Prinz Leopold heg te jedenfalls keinen Zweifel daran. Mit umgeschnalltem Degen stand er in seiner Gala-Uniform neben dem Erzbi schof am Altar. Dekan Liddell führte seine Tochter an Leopolds Seite, küsste sie leicht auf die Wange und setz te sich dann neben seine Frau auf die Bank. Leopold lächelte seine Braut an. Es war ein so schüch ternes, glückliches und hingerissenes Lächeln, dass es sie ganz überwältigte. Sie fürchtete allerdings, dass sie sei ner Verehrung nie würde gerecht werden können. Dass sie ihn nicht liebte, machte ihr weniger Angst als die Tat sache, dass er sie so sehr liebte. Sie wandte ihr Gesicht dem Erzbischof zu. Hinter ihr raschelten Kleider, die Kirchenbänke knackten, und irgendjemand musste sich 201
räuspern. Der Erzbischof erhob seine Stimme, aber Alice hörte kaum ein Wort von dem, was er sagte. »Sofern hier jemand um ein Hindernis weiß, warum diese beiden nicht rechtmäßig verbunden werden sollen als Mann und Frau, so möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen«, erklärte der Erzbischof gerade. Alice hatte ein starkes Bedürfnis, zu der Stelle unter der Empore zu blicken, wo sie den Mann mit der Narbe gesehen zu haben glaubte. Jenen Mann, dessen Namen sie aus ihrem Gedächtnis zu tilgen versucht hatte und auf dessen Nicht-Existenz ihr ganzes künftiges Glück in England beruhte. Der bloße Gedanke an diesen Namen konnte alles gefährden. Plötzlich hörte sie ihre eigene Stimme. Sie wiederholte die Worte des Priesters, ohne dass sie deren Bedeutung erfasste. Das Eheversprechen. Ich habe ewige Liebe und Treue geschworen. Und jetzt verspricht Leopold, mich zu lieben … Sie stand wie erstarrt, während die Stimmen der beiden Männer ihre Wechselrede begannen. Dann geschah etwas Merkwürdiges. Es schien, als hät te ein gewaltiges Gewitter unmittelbar vor dem Losbre chen allen Sauerstoff aus dem riesigen Kirchenschiff ge sogen, um sich dann um so heftiger zu entladen. Alice schwor später, sie habe gespürt, dass sich da draußen et was zusammenballte, noch ehe die großen Fenster auf beiden Seiten der Kathedrale splitterten und Dutzende von schrecklichen Kreaturen hereinbrachen. Als die Eindringlinge auf dem scherbenübersäten Bo den landeten, brach eine Panik aus. Die Hochzeitsgäste rannten schreiend zum Ausgang, manche fielen auf die Knie und flehten um göttlichen Schutz. Sekunden nach dem Klirren der Scheiben war Königin Victoria von ihrer Leibwache umringt und durch eine 202
Seitentür in Sicherheit gebracht worden, die sonst nur vom Erzbischof benutzt wurde. Dieser folgte ihr mit atemlosen Gebeten. Prinz Leopold legte den Arm um seine Braut, um sie vor dem Angriff zu schützen, aber sie schüttelte ihn gedankenlos ab. Entsetzt sah sie zu, wie eine große, katzenähnliche Bestie sich ihren Weg zu ihr bahnte. Polizisten und Offiziere, die sich dem Tier in den Weg stellen wollten, wurden reihenweise aufgeschlitzt und beiseite gefegt, und während sie dem Wüten des Monsters zusah, stieg eine Erinnerung in ihr auf. Sie er kannte das Ungeheuer. Es stammte aus einem Traum, den sie längst vergessen geglaubt hatte. Und wenn es dieses schreckliche Tier wirklich gab, dann … Reglos und ungeschützt stand sie vor dem Altar, wäh rend das Blutvergießen voranschritt. Das waren nicht die Kartensoldaten, die sie aus Wunderland kannte. Sie ken nen? Es gibt sie doch gar nicht. Prinz Leopold und sein Freund Halleck kämpften hel denhaft gegen vier der großen, stählernen Kreaturen, de ren Brust- und Rückenpanzer mit den Symbolen eines Kartenspiels gekennzeichnet waren: Kreuz, Pik und Ka ro. Die beiden Männer waren geübte Fechter, aber Alice sah sofort, dass sie kaum eine Chance hatten. Bitte, dach te sie, lass Leopold mit dem Leben davonkommen. Was immer sonst passiert, er soll nicht – Der Kater setzte zum Sprung an. Alice rührte sich immer noch nicht von der Stelle. Sie streckte nur den Arm aus. Sie wollte ihn anfassen, sie wollte ein für alle mal wissen, ob die Bestie real war. Und – Ich hab’s doch gewusst! Es war tatsächlich der Mann mit den Narben gewesen, denn jetzt war er da! Er sprang auf Alyss zu und riss sie zur Seite. Der Kater landete genau da, wo sie gestanden 203
hatte, und zertrümmerte den Altar mit seinen gewaltigen Tatzen. Jetzt rannte sie. Der Fremde, dessen Namen sie noch immer nicht zu denken wagte, hielt ihre Hand. Er zog sie mit einem Sprung durch eins der zerbrochenen Fenster hinaus auf die Straße. Der Kater und seine Kampfmaschinen sprangen hinter ihnen her. Auf der Straße herrschte Chaos, die Leute rannten durcheinander und schrien. Eine der KillerKarten fiel auf die Schleppe des Brautkleids, und Alice wurde mit einem Ruck zum Stehen gebracht. Mit einem einzigen Schwerthieb durchschlug der Mann mit den Narben die Schleppe, dann wirbelte er herum und durch trennte das Zaumzeug, mit dem ein scheuendes Pferd an seiner Kutsche festhing. »He!«, protestierte der Kutscher. »Was soll das?« Aber der junge Mann saß schon auf dem Pferd, zog Alice zu sich hinauf und galoppierte mit ihr davon. Der Kater nahm die Verfolgung auf. Seine starken Beine machten ihn schneller als jedes irdische Tier. Die Killer-Karten waren bewaffnet mit Blitzbällen, und der Reiter schlug einen wilden Zickzackkurs ein, um den Geschossen auszuweichen und den Verfolgern kein sicheres Ziel zu bieten. Die Blitzbälle trafen die Häuser links und rechts, und die Mauern erbebten heftig. Alice war ganz schwindlig, aber sie hatte doch das Ge fühl, dass ihr Retter ein bestimmtes Ziel im Sinn hatte. Denn manchmal riss er das Pferd zurück, wenn sie über eine Straßenkreuzung gestürmt waren, und schlug eine andere Richtung ein. So galoppierten sie an verwirrten Passanten und fluchenden Kutschern vorbei durch die Stadt. 204
Der Mann wusste tatsächlich, wohin er wollte. Er hatte sich den Weg von seinem Ausgangsportal zur Westmins ter Abbey genau gemerkt. Und jetzt waren sie ihrem Ziel schon sehr nahe. Sie hatten nur noch ein paar Straßen vor sich, als ein Blitzball kaum zwanzig Meter entfernt in einen leeren Polizeiwagen einschlug und ihn in Brand setzte. Ihr Pferd scheute und warf sie ab. Zum Glück lan deten sie auf einem Berg Kohlköpfe, die auf dem Karren eines Händlers lagen. Sie sprangen rasch auf die Straße und liefen weiter, wobei der Mann Alice hinter sich her zog. »Wohin laufen wir?«, keuchte sie. »Ihr werdet schon sehen!« Dann zeigte er auf eine Pfütze. Und das, was sie dann sagte, war Alice noch lange peinlich. Es entfuhr ihr ganz automatisch, während sie Hand in Hand mit ihrem Retter auf die Pfütze zulief und schließlich hineinsprang: »Aber mein Kleid! Das wird ja ganznass!« Und wusch!, tauchten sie hinunter, hinunter, hinunter. Längst hatte sie die Hand ihres Retters verloren. Das konnte doch gar nicht sein! Das konnte nicht wahr sein. Aber doch – es geschah! Und als sie auf der anderen Sei te zur Oberfläche emporschoss, nachdem sie sich unter solchen Mühen selbst überzeugt hatte, dass es das Land auf der anderen Seite nicht gab, da sprach sie den Namen des Mannes aus, dem sie ihr Leben verdankte – Dodd Anders. Und ihre Lungen füllten sich mit Wasser.
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DRITTER TEIL
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Schneeweiss wartete am Ufer des Tränen N anik teichs mit zwei Trolldoggen. Die blaugrünen
Adern auf seiner gelehrten Stirn pulsierten ängstlich un ter der dünnen Haut. Es war nicht einfach für ihn gewe sen, hier herzukommen. Seit sie von Mac Rehhuts Rück kehr erfahren hatte, war Redd tyrannischer denn je ge worden und verlangte, dass er jeden Tag viele Stunden damit zubrachte, das heilige Buch von Wunderland ›In reginam speramus‹ umzuschreiben. Ständig sah sie ihm über die Schulter und kontrollierte, ob er jedes ihrer gif tigen Worte auch genau notierte. Er hatte ganze Seiten des ursprünglichen Textes streichen und durch Sprüche der bösen Königin ersetzen müssen. Es schien, als sei Ihre Königliche Bosheit der Überzeugung, dass sie auch Prinzessin Alyss vernichten könnte, wenn sie nur genü gend Passagen zerstörte, aus denen Königin Genevieve einst Kraft geschöpft hatte. »Du fühlst dich nicht wohl?«, hatte Redd gefaucht, als er sich an diesem Tag dafür entschuldigt hatte, dass er seinen Verpflichtungen als Schreiber nicht nachkommen könne. »Ist mir doch egal, ob du dich wohl fühlst! Ich werde dir zeigen, was es heißt, wenn man sich nicht wohl fühlt!« »Aber meine Hand ist völlig verkrampft und braucht ein wenig Schonung«, sagte Nanik. »Bei allem untertä nigsten Respekt … könnten Eure Königliche Bosheit die neuen Texte nicht einfach imaginieren, statt mich alles schreiben zu lassen?« 208
Redd lachte und zeigte ihre spitzen schwarzen Zähne. »Nanik Schneeweiss, du bist ja gar nicht so feige, wie ich gedacht habe. Wenn ich dich nicht ohnehin für den unwahrscheinli chen Fall leben ließe, dass ich die ganzen Überlieferun gen, die du in deinem blassen Schädel aufbewahrst, wo möglich doch einmal brauche, würde es mir beinahe leid tun, wenn du stirbst. Du hast Urlaub bis zum Aufgang des Roten Mondes, dann erwarte ich dich in der Beo bachtungskuppel.« Und so war er zum Teich der Tränen gerannt. Das Ri siko war ihm durchaus bewusst: Redd brauchte nur mit ihrem Inneren Auge der Imagination nach ihm zu suchen, dann war er erledigt. Wenn sie ihn hier entdeckte, würde sie sofort wissen, was los war. Aber ihm blieb keine an dere Wahl; er musste herkommen. Konzentrische Wellen kräuselten plötzlich das Was ser: eine Erschütterung tief unter der Oberfläche. »Um der Weißen Imagination willen«, sagte der Haus lehrer, »hoffentlich war Dodd erfolgreich.« Eine der Trolldoggen knurrte zustimmend. Die Wellen im Teich wurden größer. Sie schienen von einem Punkt auszugehen, an dem Blasen aufstiegen. Dann durchbrach ein Kopf die Wasseroberfläche: Dodd Anders. Er schnappte nach Luft und sah sich wild nach allen Seiten um. Aber er war allein. »Ist sie da?« »Nein. Ich dachte –« Noch etwas kam langsam an die Oberfläche: Prinzes sin Alyss in einem schneeweißen Kleid. Sie trieb mit dem Gesicht nach unten im Wasser, und ihr Körper war leblos und schlaff. Der Lehrer rannte zum Wasser hinun ter und half Dodd, die Prinzessin an Land zu ziehen. 209
»Was ist mit ihr los?«, fragte Dodd. Nanik legte sein großes Ohr an die offenen Lippen der jungen Frau. »Sie hat zu viel Wasser geschluckt. Ich höre es in ihrem Bauch gluckern.« Wie es einem königlichen Hauslehrer wohl anstand, trug Nanik in den Falten seines weiten Talars stets zahl reiche wissenschaftliche und medizinische Gerätschaften mit sich herum. Jetzt zog er einen weichen, biegsamen Schlauch aus der Tasche, den er ein Stück weit in Alyss’ Kehle einführte. Dann begann er am anderen Ende aus Leibeskräften zu saugen. Viermal füllte sich der Schlauch mit Wasser, viermal spuckte es Nanik aus. Schließlich krümmte sich Alyss zusammen und fing an zu atmen. Sie erbrach einen halben Liter Wasser und hus tete sich zurück ins Bewusstsein. Als sie die Augen aufschlug, brach ein Lilienbeet in der Nähe in spontanen Willkommensgesang aus. Ver wirrt und benommen setzte Alyss sich auf, ihre ganze Brust tat ihr weh von der Husterei. »Nanik Schneeweiss«, flüsterte sie. Die Ohren des Hauslehrers zuckten vergnügt. »Zu Eu ren Diensten, Prinzessin.« Sie wandte sich ihrem Freund aus Kindertagen zu, und ein zartes Lächeln spielte um ihre Lippen und Augen. »Dodd Anders.« Dodd erstarrte. Es war wie die Erinnerung an eine längst vergessene Wunde, als Alyss seinen Namen sagte. »Woher kommt die Musik?«, fragte sie. Die Lilien sangen noch lauter, bewegten fröhlich ihre Blütenblätter und wiegten sich auf ihren Stängeln. »Blumen haben doch keine Kehlköpfe.« »Was ist denn ein Kehlkopf?«, fragten die Blumen und lachten. 210
Es war, als träumte sie einen tröstlichen Traum, und ein paar Minuten lang genoss sie ihn aus ganzer Seele. Dann machte sie ein entschlossenes Gesicht und wappne te sich gegen die üppigen Farben und Formen, die sie umgaben. »Das alles ist nicht real«, sagte sie. »Ich sollte mich nicht so lebhaft an Dinge erinnern, die es gar nicht gibt. Und ihr und das alles hier kann nun mal nicht exis tieren.« Nanik runzelte die Stirn. »Warum denn nicht?« »Darum!« Keine sehr gute Antwort, das war ihr be wusst. »Kein Mensch wird verstehen –« »Wir müssen uns beeilen«, sagte Dodd. Und in der Tat: Auf dem Teich waren neue Wellen zu sehen. Dodd und Nanik hoben Alyss hoch und setzten sie ha stig auf eine der beiden Trolldoggen. Möglicherweise ein wenig zu rasch, denn sie fiel gleich wieder herunter. Has tig stand sie auf und setzte sich erneut auf den Rücken des Tieres, allerdings verkehrt herum. Dodd und Nanik warfen sich einen besorgten Blick zu: Das sollte ihre Kriegerkönigin sein? »Ihr müsst Euch andersrum draufsetzen«, sagte Dodd. Die Wellen im Teich waren größer geworden und schäumten. Dodd und Nanik halfen Alyss, sich richtig hinzusetzen. Dann sprang Dodd vor ihr auf die Trolldog ge und nahm die Zügel, Nanik kletterte auf das andere Tier, und just als die Wasseroberfläche sich teilte, galop pierten sie in den Wald davon. Nur Alyss schaute sich um und sah den Kater und sei ne restliche Mordbande aus dem Teich der Tränen auf tauchen. Vielleicht hatte sie noch eine Chance, nach London zurückzukehren und Leopold zu heiraten, die liebende Tochter von Dekan und Mrs Liddell zu sein und jenes Leben zu führen, das sie sich so hart erkämpft hatte. 211
Hier war alles so unsicher. Merkwürdig, als sie noch klein war, hatte sie so dringend nach Wunderland zu rückkehren wollen, und jetzt war ihr bei dem Gedanken höchst unbehaglich zumute. Aber was grübelte sie über haupt? Die Vorstellung, dass sie zu ihrem unschuldigen Leben in England zurückkehren könnte, war doch ohne hin eine Illusion. Der Teich der Tränen, Redd und der Kater – wo auch immer sie hinging, ihre Feinde würden sie finden und töten. Das Flüstern der Bäume und Büsche verstummte, und das Krachen abgebrochener Äste kam näher. Es übertön te sogar die schweren Tritte der Trolldoggen. Die Chan cen, ihren Verfolgern zu entkommen, waren gering. Alyss schlang die Arme fester um Dodd. »Sie sind schneller als wir«, sagte sie. »Gut! Dann müssen wir eben kämpfen!« Dodd warf die Dogge herum und hatte kaum Zeit, sein Schwert zu heben, als er sich auch schon im Gefecht mit zwei Kar tensoldaten befand. Alyss verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. »Alyss!«, schrie Nanik. Aber der Kater stand bereits vor ihr und grinste sein schreckliches Grinsen. »Wie groß du geworden bist«, zischte er. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch ein ganz kleines Mädchen.« Er zeigte er neut seine Zähne. Sie versuchte wegzulaufen, aber er holte sie mit einem Schlag seiner Pfote zurück. Er fauchte, und sein Schwanz zuckte heftig. Wieder versuchte sie wegzulaufen, und diesmal versetzte er ihr einen Hieb mit der Pfote, der sie zu Boden warf. Er spielte mit ihr, wie ein Kätzchen mit einer Küchenschabe spielt, ehe es seinem Opfer den Rest gibt. 212
Alyss wusste, was sie jetzt tun musste. Sie musste et was zu ihrer Verteidigung imaginieren, das war ihre letz te, verzweifelte Chance. Aber ihr Fantasiemuskel war erschlafft, es war schon so lange her, dass sie … Egal, ich muss es versuchen. Also versuchte sie es, zitternd vor Angst und vor Anstrengung. Aber es nutzte nichts. Es geschah einfach nichts. Der Kater hob seine Tatze, um zuzuschlagen. Alyss warf einen Blick auf das Letzte, was sie jemals sehen würde: Dodd, der gerade sein Schwert in einen Karten soldaten hineinstieß, während die anderen ihn umso hef tiger angriffen, und Nanik, der bebend und bleich auf sie zustürzte. »Ich bin Wissenschaftler, kein Krieger«, rief Nanik und warf sich zwischen sie und den Kater. »In einer geis tigen Auseinandersetzung könnte ich vielleicht …« »Das wird der Königin aber gar nicht gefallen«, fauch te der Kater, »wenn ihr Privatsekretär sich in eine dynas tische Säuberung einmischt.« Er hob seine Pfote, und die Krallen funkelten in der Sonne. Nanik presste seine Augen fest zu und sagte: »Jeder Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichför migen Bewegung in geradliniger Bahn, solange er nicht durch von außen wirkende Kräfte gezwungen wird, die sen Zustand zu ändern«, als ob er der brutalen Gewalttä tigkeit des Katers tatsächlich mit seiner Geisteskraft Ein halt gebieten könnte. Und dann rezitierte er gleich noch ein paar weitere Weisheiten. Er war selbst erstaunt, wie viel Zeit ihm dafür blieb, denn normalerweise brauchte der Kater nur wenige Sekunden, um seine Opfer zu zer fleischen. Alyss war genauso verblüfft wie der Hauslehrer, aller dings aus anderen Gründen. Denn ihre Augen waren weit 213
offen, und so konnte sie sehen, dass genau in dem Au genblick, als der Kater seine Tatze auf Nanik niedersau sen ließ, fünf weiße Bauern aus ihrem Versteck in den Ästen herabsprangen und den Schlag auffingen. Zwei blieben tot liegen, aber die anderen nahmen den Kampf auf. Dann erhob sich eine ganze Batterie weißer Schach kämpfer in Tarnkleidung aus dem Unterholz, und das Gefecht im Flüsterwald begann. Alyss zog Nanik am Ärmel. »Oh«, sagte er und öffnete die Augen. »Verlasst diesen Ort!«, rief ein weißer Turm. »Wir halten die Stellung! Aber ihr müsst hier weg!« Obwohl er sich in einem Kampf auf Leben und Tod mit einer PikSieben befand, gelang es dem Turm, sich knapp vor Alyss zu verbeugen. »Prinzessin.« Dodd kam auf einer Trolldogge angaloppiert und hob Alyss hinter sich in den Sattel. Nanik kletterte auch noch hinauf, und zu dritt ritten sie tiefer hinein in den Wald, während das Klirren der Waffen und das Ächzen und Schreien der Kämpfer hinter ihnen zurückblieben. Alyss warf noch einen letzten Blick zurück auf den rasenden Kater und die tapferen Schachkämpfer, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um sie zu retten. »Die meisten werden es nicht überleben«, sagte Dodd und trieb ihr Reittier in Richtung Wundertropolis. »Aber für den Augenblick seid Ihr sicher.«
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längst da sein.« S ie»Ichmüssten habe Sie ja gewarnt«, sagte der Karobube und
warf sich ein paar getrocknete Haselmausfüßchen in sei nen unersättlichen Schlund. »Man kann auf das Beste hoffen, aber man muss mit dem Schlimmsten rechnen.« »Sie müssten längst da sein«, wiederholte General Doppelgänger und ging im Zelt auf und ab, was seine Besorgnis nicht zu mindern schien, denn er spaltete sich alsbald in die Doppelgestalt der Generäle Doppel und Gänger. Deren Gemüter ließen sich aber genauso wenig beruhigen, und so verschmolzen sie wieder zu einem. »Es würde mich nicht überraschen, wenn Dodd bei seinem Vorhaben scheitert«, sagte der Karobube. »Wir sollten lieber die Alternativen prüfen, die uns noch blei ben. Unsere Möglichkeiten, die Zukunft selbst zu bestimmen, werden täglich geringer.« Er warf einen unsicheren Blick auf Mac Rehhut, der reglos in einer Ecke des Zelts saß und auf einen hologra fischen Kristall in seiner Hand starrte. Seit ihm General Doppelgänger vom blutigen Ende der Modisterei erzählt hatte, hatte er kein Wort mehr gesprochen. Ab und zu drückte er auf die Rückseite des Kristalls, und das Holo gramm wurde lebendig: eine lachende junge Frau, die in neckendem Ton etwas sagte. Den Karobuben machte das alles nervös. Was ging in Mac vor? War er womöglich verrückt geworden in den dreizehn langen Jahren seines Exils mit den vielen rätsel 215
haften Erlebnissen und Abenteuern? Ein Verrückter mit so tödlichen Fähigkeiten … Um seine Ängste zu beschwichtigen, versuchte der Karobube den Agenten in ein kleines Gespräch zu verwi ckeln. »Sagen Sie, Mac. Bei Ihren Reisen, haben Sie da feststellen können, wo es die besten Obsttörtchen gibt?« Ungeheuer langsam drehte Mac sich um und blinzelte ein paar Mal, als müsse er seine Augen erst darauf ein stellen, eine Gestalt mit gepuderter Perücke wahrzuneh men. Der Karobube lachte verlegen. »War ja nur so eine Frage. Die Warterei ist so langweilig.« Er hielt Mac seine Tüte hin. »Mögen Sie ein paar Haselmausfüßchen?« Mac wandte den Blick ab, ohne etwas zu sagen. Von draußen ertönte plötzlicher Jubel. Mac stand auf, steckte seinen holografischen Kristall ein und verließ eilig das Zelt. General Doppelgänger und der Karobube hasteten hinter ihm her, und wenn es je einen erfreulichen Anblick für einen trauernden Agenten der Modisterei gab, dann war es dieser: Prinzessin Alyss, offenbar heil und gesund, umringt von glücklichen Alyssiern, Gwynuks und Tattel finken und bejubelt von allen Bäumen des Waldes. Ein willkommener Anblick, aber Mac zeigte kaum eine Ge fühlsregung – ein kleines Aufwärtszucken des Mundes, mehr nicht. Er und Dodd warfen sich einen Blick zu, in dem viel Respekt lag. »Ist das … Mac?«, fragte Alyss, als sie seinen Zylin der in der Menge erspähte. Die Alyssier machten ihm Platz, damit er zu ihr treten konnte. »Ich freue mich, Euch wohl zu finden, Prinzessin.« Alyss warf einen Blick auf ihre Umgebung. »Ich weiß nicht, ob ich mich wohl befinde«, sagte sie. »Ich zweifle 216
eigentlich eher daran.« Mac senkte den Kopf. »Ja, es gibt keine Entschuldi gung dafür, dass ich Euch verloren habe, und ich über nehme die volle Verantwortung. Wenn Ihr beschließt, mich wegen meines Versagens zu degradieren oder aus Eurem Dienst zu entlassen, werde ich mein Schicksal anstandslos hinnehmen. Aber es gibt viel zu tun, wenn Ihr Euch gegen Redd durchsetzen wollt.« Alyss seufzte, und als sie das Wort erneut ergriff, klang sie zu ihrer eigenen Überraschung wie eine veritab le Monarchin: »Es ist nicht überraschend, dass Sie sich für Ihr ›Versagen‹, wie Sie es nennen, die Schuld geben. Aber ich tue das nicht. Wer sagt denn, dass nicht ich es war, die Sie damals verloren hat? Ich wollte nur sagen, das alles hier …«, sie machte eine Handbewegung, die das ganze Hauptquartier der Alyssier umfasste, »… ist ein ziemlicher Schock für mich nach all diesen Jahren.« Mac trat zur Seite, als General Doppelgänger herbei eilte, sich mehrmals verbeugte und sich dann zweiteilte. »Prinzessin Alyss!«, riefen die Generäle Doppel und Gänger gleichzeitig. »Wir sind überglücklich, Euch wie der bei uns zu haben. Willkommen, willkommen!« Die versammelte Menge war so damit beschäftigt, die Rückkehr von Alyss zu feiern, dass niemand die dunkle Wolke bemerkte, die das Gesicht des Karobuben beim Anblick der verloren geglaubten Thronfolgerin überzog. Aber er wäre nicht der Karobube gewesen, wenn er nicht sofort versucht hätte, die überraschende Wendung der Dinge zu seinen Gunsten zu nutzen. Er kräuselte seine Lippen zu einem Lächeln, und als er ein momentanes Nachlassen des Begrüßungstrubels spürte, drängte er sich robust durch die Menge. »Platz da für einen Herrn von Rang«, rief er. »Aus 217
dem Weg, gemeines Volk!« Bei jedem seiner Watschelschritte schubste sein volu minöses Hinterteil links und rechts Leute beiseite. Schließlich hatte er Alyss erreicht und machte einen arti gen Kratzfuß. »Ah, Prinzessin! Meine Verehrung! Gewiss erinnert Ihr Euch an Euren liebsten Spielgefährten aus Kinderta gen, den Karobuben?« Alyss warf Dodd einen Blick zu, aber der konzentrier te sich darauf, an seinem Schwertgriff herumzuzupfen. Der Karobube ergriff ihre Hand und küsste sie. »Ich sehne mich seit Ewigkeiten nach Euch, meine Prinzessin. Ihr erinnert Euch ja gewiss, dass wir heiraten sollten? Um Euer Andenken zu ehren, habe ich all diese Jahre keine Frau genommen, und heute bin ich darüber sehr froh. Ich darf doch davon ausgehen, dass Ihr mich immer noch haben wollt – denn gewiss seid Ihr mit meiner statt lichen Erscheinung genauso zufrieden wie ich selbst.« Er drehte sich nach links und rechts, um ihr die ganze Fülle seiner rundlichen Figur zu zeigen. Ob es nun die wenig appetitliche Gestalt des Karobu ben oder die vielen erwartungsvollen Gesichter waren oder alles zusammen, hätte Alyss selbst nicht zu sagen gewusst. Jedenfalls war ihr plötzlich alles zu viel. »Ich …«, sagte sie. »Wenn ich mich vielleicht für ei nen Augenblick hinlegen könnte … Ich bin plötzlich so müde.« »Die Prinzessin braucht ein Bett!«, schrie ein Gwy nuk. »Die Prinzessin braucht ein Bett!«, wiederholte eine Herz-Zwei, und während der weiße Springer und sein Bauer davoneilten, um das Nötige zu besorgen, wieder holte ein Alyssier nach dem anderen die frohe Botschaft, 218
so als wäre die Tatsache, dass die Prinzessin ein Bett brauchte, ein weiteres bedeutungsvolles Ereignis, auf das niemand zu hoffen gewagt hatte.
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Alyss in seinem Zelt ein wenig ruhte, W ährend berief General Doppelgänger einen Kriegsrat in
der alyssischen Einsatzzentrale ein. Die Einsatzzentrale war vor allem zentral, denn sie befand sich mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung. Vier Edelsteinschreib tafeln mit Selbstlöschfunktion dienten als Wände. In der Mitte schwebte ein schwerer Kristalltisch mit passenden Stühlen. In dieser luftigen Umgebung waren sämtliche militärischen Unternehmungen der Alyssier der letzten Jahre geplant, diskutiert und organisiert worden, und hier versammelten sich jetzt auch Nanik Schneeweiss, der weiße Springer, der Karobube, Dodd und Mac Rehhut. »Aber kann sie uns auch anführen?«, fragte General Doppelgänger. »Sie muss«, sagte Mac. »Was für ein Wahnsinn!«, rief der Karobube. Als er sah, wie Mac ihn anstarrte, verbesserte er sich sogleich: »Ich meine, was für ein Wahnsinn … bei aller ergebenen Respektlosigkeit!« »Es steht außer Frage, dass sie innerhalb der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung steht, so viel Schulung und Training braucht wie nur möglich«, erklärte Nanik Schneeweiss. »Alles, was ich sehe«, sagte der Karobube, »ist eine junge Frau, die mit der Kraft ihrer Imagination noch nicht mal einen Fruchtknaller herbeizaubern könnte, geschwei ge denn mit Redd um das Königinnenreich kämpfen.« 220
Der General nickte nachdenklich. »Was sagen Sie, Springer?« »Sie ist die Prinzessin. Die rechtmäßige Thronfolge rin. Wenn sie bereit ist, uns zu führen –« »Wenn sie in der Lage ist, meinen Sie«, knurrte der Karobube. »– dann müssen wir ihr folgen, wenn wir wahre Alys sier sein wollen.« Dodd blieb bei solchen Konferenzen meist stumm und folgte den Diskussionen über die beste Strategie, über die richtige Interpretation der Geheimdienstberichte und über die Rangordnung mit kaum unterdrücktem Ärger und Unwillen: Sie waren die selbsternannten Retter des Kö niginnenreichs und sollten nicht herumreden, sondern Redd aktiv bekämpfen. »Ich frage mich«, sagte er, und die bloße Tatsache, dass er überhaupt einmal den Mund aufmachte, weckte sofort die Aufmerksamkeit aller, »ich frage mich, woher Redd eigentlich wusste, wo Alyss sich aufhielt.« Und er starrte den Karobuben an. »Was soll das heißen?«, rief der. »Soll das eine Be schuldigung sein?« »Und wenn es so wäre?« »Aber meine Herren«, sagte der General. »Dann«, fauchte der Karobube, »brauchte ich nicht länger darüber nachzudenken, ob du ein Idiot bist. Denn dann wüsste ich es genau.« Dodd sprang auf, die Hand auf dem Schwertknauf. »Halt!«, rief Nanik Schneeweiss. »Wir haben schon genug Probleme. Wenn wir jetzt unter uns anfangen zu streiten, verlieren wir den Kampf gegen Redd ganz be stimmt.« Der Karobube kicherte selbstgefällig. »Meine Herren, 221
ich will nicht streiten. Ich habe großen Respekt vor den Leistungen dieses jungen Mannes auf dem Schlachtfeld, aber von Politik versteht er nun mal überhaupt nichts. Mit dem Schwert ist er halt sehr viel flinker als mit sei nem Verstand.« »Und Sie sind besser beim Perückepudern«, rief Dodd. »Wenn es darauf ankommt, an unserer Seite zu kämpfen, sind Sie immer gerade woanders.« Der Karobube wedelte mit der Hand. »Lassen Sie ihn glauben, was er will, meine Herren. Mir geht es aus schließlich um Alyss. Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass sie unsere verlorene Prinzessin ist, aber ich glaube nicht, dass sie körperlich oder imaginativ in der Lage ist, einen Angriff auf Redd anzuführen.« »Es dauert bestimmt eine Weile«, bestätigte Nanik. »Und sie müsste ins Spiegellabyrinth gehen«, sagte Mac. »Ja, das auch«, sagte Nanik. Der Karobube warf die Hände in die Luft. »Ihr wollt doch nicht mit dem alten Blödsinn wieder anfangen?«, fragte er ungläubig. »Es ist doch längst bewiesen, dass das Spiegellabyrinth gar nichts bringt. Redd ist auch nicht durch das Labyrinth gegangen.« »Ein Grund mehr, warum sie besiegt werden kann«, sagte Nanik. »General, ich flehe Sie an!«, rief der Karobube. »Las sen Sie uns diesen Unsinn beenden, solange noch Zeit ist. Lassen Sie uns zu dem Gipfeltreffen gehen, zu dem uns Redd einlädt. So eine Gelegenheit kommt nie wieder.« »Keine Königin kann ihre ganze Kraft erlangen, wenn sie nicht durch das Labyrinth geht«, sagte Nanik. Der Karobube verlor endgültig die Fassung. »Ja, ja, ja«, brüllte er. »Rennt doch alle zum Labyrinth! Los, 222
lasst uns alle zu diesem blöden Spiegellabyrinth rennen, während hier unsere Existenz auf dem Spiel steht!« »Wir können da nicht einfach hinrennen«, erklärte Nanik Schneeweiss tadelnd. »Nur die Raupen wissen, wo das Labyrinth sich befindet. Alyss muss sich mit den Raupen treffen.« »Aber die Raupen haben das Tal der Pilze nicht mehr verlassen, seit Redd die Macht ergriffen hat«, sagte der weiße Springer. »Dann wird sich Alyss eben dorthin begeben müssen.« »Aber nicht ohne militärische Eskorte«, sagte Dodd. Der Karobube zog sich die Perücke übers Gesicht und sprach in die dicken, gepuderten Locken hinein. Seine Stimme war nur noch gedämpft hörbar: »Wenn ihr sie in eine Konfrontation hineintreiben wollt, die sie nicht ge winnen kann, dann kann ich nur sagen: Möge der Geist von Issa jedem helfen, der eurer Führung anheim fällt. Ihr schickt sie in den sicheren Tod.« »Warum sind Sie eigentlich so darauf aus, dass wir ei nen Kompromiss mit Redd schließen?« Die Frage kam von Dodd. Aber der Karobube vergrub sein Gesicht nur noch tiefer in seiner Perücke und stöhnte. »Nanik«, sagte der General, »sollten Sie nicht allmäh lich zum Einsamen Berg zurückkehren, damit Redd nicht misstrauisch wird?« »Ich gehe nicht mehr zurück. Der Kater hat mich bei Alyss gesehen. Mein Platz ist jetzt hier, an ihrer Seite.« Es wäre schön gewesen, auch künftig einen Spion an Redds Hof zu haben, aber der General sah ein, dass Na nik Recht hatte. »Nun ja, auf jeden Fall sind wir froh, Sie jetzt ständig zu unserer Verfügung zu haben.« Naniks Ohren zuckten, und einen Augenblick später hörten es alle: Es näherte sich jemand, und zwar ziemlich 223
rasch. Mac stand auf und legte die Hand an die Krempe seines Zylinders, auch Dodd sprang kampfbereit auf. Aber es war nur der weiße Turm, der böse zerkratzt und zerhauen von seinem Gefecht mit dem Kater aus dem Flüsterwald heimkehrte. »Ihr habt’s geschafft«, sagte er lächelnd, als er Dodd sah. »Ihr habt’s geschafft! Wir holen die Ärztin.« Der Turm winkte ab. »Mir geht’s gut. Alles nur ober flächliche Wunden. Wir haben allerdings vier Fünftel unserer Kämpfer verloren. Und haben dem Kater kein einziges Leben nehmen können. Aber die Prinzessin ist in Sicherheit, ja?« Dodd nickte. »Das ist die Hauptsache.« Der Turm ließ sich auf ei nem freien Stuhl nieder. »Also? Was hab ich verpasst?« »Nun ja«, sagte General Doppelgänger, »die meisten von uns sind der Ansicht, dass Alyss durch das Spiegel labyrinth gehen muss, wenn sie Redd erfolgreich heraus fordern will. Allerdings habe ich mich dazu noch nicht geäußert.« Der Karobube spähte hoffnungsvoll hinter seiner Pe rücke hervor. »Ich meine, wir sollten Alyss Gelegenheit geben, mit den Raupen im Tal der Pilze zu sprechen«, sagte General Doppelgänger. »Dann kann sie selbst entscheiden, ob sie sich die Labyrinth-Probe zutraut.« »O nein«, stöhnte der Karobube und versteckte sein Gesicht wieder hinter seiner Perücke. »Aber bis dahin …«, sagte der General und riss dem Karobuben die Perücke vom Gesicht, »… können Sie Redd mitteilen, dass wir an ihrem Gipfeltreffen gern teil nehmen. Vorausgesetzt, die Einladung gilt noch, obwohl 224
Alyss jetzt wieder da ist.« Und noch ehe die anderen pro testieren konnten, sagte der General: »Unsere Verantwor tung gegenüber der Sache verlangt es, dass wir eine Al ternative haben, falls die Prinzessin versagt.« »Sie wird nicht versagen«, erklärte Dodd. »Das werde ich nicht zulassen.«
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Roter Mond war aufgegangen. Sein blutiges R edds Licht brannte von einem düsteren Himmel auf die Schachbrettwüste herunter, wo die Fabrik, in der Redds Kriegsmaschinen hergestellt wurden, ununterbrochen schwarze, giftige Rauchwolken ausstieß. Der Kater schlich durch die unterirdischen Gänge der Festung auf dem Einsamen Berg. Seine Stimmung fand er in den heftig wirbelnden Wolken über der Wüste ge spiegelt, als er den kristallenen Spiralgang betrat, der zur Beobachtungskuppel hinaufführte. Dort wartete Redd auf ihn und wollte Beweise dafür sehen, dass ihre Nichte, Prinzessin Alyss, nicht mehr unter den Lebenden weilte. Der Kater sah der Unterredung nicht eben zuversicht lich entgegen. Er betrat die Beobachtungskuppel und fand die Königin vor der teleskopischen Scheibe, die auf Wundertropolis gerichtet war, während der Walrossbutler die übrigen Scheiben polierte. Redd stand mit dem Rücken zu ihm. Ohne sich umzu drehen, sagte sie: »Ich sehe dich, Kater, aber was ich nicht sehe, ist der Kopf meiner Nichte«, und noch ehe er eine Silbe zu seiner Verteidigung ausstoßen konnte, durchbohrte sie ihn mit ihrem Zepter. Das Walross fuhr erschrocken zusammen und wat schelte hastig zum Ausgang. »Oh, mir fällt gerade ein, dass ich –« »Bleib, wo du bist!«, brüllte Redd. »Ja, Eure Königliche Bosheit, es gibt auch hier noch 226
sehr viel zu tun«, sagte das Walross und polierte hektisch die Scheiben. Der Kater schwankte auf den Hinterbeinen. Das Zep ter ragte aus seinen blutigen Eingeweiden. Theoretisch war es natürlich ein Vorteil, neun Leben zu haben. Aber jeder Tod, den er sterben musste, war schmerzhaft. Manchmal wünschte sich der Kater, er hätte nur ein Le ben. Er fiel zu Boden und war tot. Redd marschierte neben seiner Leiche hin und her. Schließlich ergriff sie das Zepter und zog es heraus. Die Augen des Katers begannen zu flackern, und die Wunde in seinem Bauch heilte. Mühsam erhob er sich und leckte sich wieder sauber. »Nun sag schon, warum du diesmal versagt hast!«, be fahl die Königin. »Die Alyssier waren zuerst bei ihr. Wir haben sie durch den Teich der Tränen verfolgt, aber sie waren schneller –« »Alyss in Wunderland? Das ist vollkommen inakzep tabel!«, kreischte Redd, und erneut spürte der Kater den tödlichen Stich ihres Zepters in seiner Brust. Das Walross blubberte entsetzt, ließ seinen Putzlappen fallen, bückte sich und stieß sich den Kopf an einer der Teleskop-Scheiben an. Redd versuchte Alyss mit ihrem Inneren Auge zu or ten, sah aber nur ein verwirrendes Chaos von Blättern und Bäumen. Offensichtlich ein Wald. Aber es gab viele Wälder in Wunderland. »Wo ist Nanik Schneeweiss? Ich wünsche den könig lichen Sekretär zu sehen, und zwar sofort.« »Es tut mir leid, Eure Königliche Bosheit«, sagte das Walross und rieb sich den Kopf. »Es tut mir wirklich 227
sehr leid, aber Nanik Schneeweiss ist nicht hier. Es hat ihn niemand mehr gesehen, seit –« »Er ist zu den Alyssiern übergelaufen.« Der Kater hat te das Bewusstsein zurückerlangt und sah zu, wie seine Wunde heilte. »Keine weiteren schlechten Nachrichten aus deinem Munde, mein kätzischer Freund«, sagte Redd drohend. Sie schwenkte ihr Zepter, und der Kater, der eben noch am Boden gelegen hatte, stand plötzlich aufrecht. »Komm mit.« Sie fegte mit klappernden Absätzen über den Marmor boden. Mit einem schiefen Blick auf das Walross folgte der Kater ihr den Spiralgang hinunter durch dämmrige Räume zum Vakuumschacht, der sie ins tiefste Innere der Festung katapultierte. Dort betraten sie eine riesige Halle, in der eine ganze Armee von Gläsernen Augen in Reih und Glied angetreten war und auf Befehle wartete. Ehe sie den Mund aufmachte, projizierte Redd ihr wutverzerrtes Gesicht auf die holografischen Schautafeln und Plakat-Kristalle von Wundertropolis, und die Wun derländer hielten in ihren Tätigkeiten inne, um die Worte zu hören, die sie auf dem Einsamen Berg herausspuckte. »Meine getreuen Untertanen, es ist eine Hochstaplerin in unserer Mitte, die Anspruch auf den Thron erhebt. Sie nennt sich Prinzessin Alyss. Wir erwarten, dass sich alle Amtspersonen und Bürger von Wunderland an den Be mühungen, sie gefangen zu nehmen, beteiligen, so dass sie hingerichtet werden kann. Sie befindet sich in einem unserer Wälder. Wenn sie bis Monduntergang nicht ge fasst ist, werde ich alle Wälder in Wunderland abbren nen. Wer zu ihrer Ergreifung beiträgt, wird mit dem Wis sen belohnt, dass er für immer in meiner Gunst steht.« Damit verschwand Redds Gesicht von den Anzeigeta 228
feln und wurde wieder von der üblichen Reklame für Redds Hotel & Kasino, die Redd-Luxusappartements und Jabberwock-Kämpfe ersetzt, sowie regelmäßigen Auf forderungen, alle Anhänger der Weißen Imagination bei den Behörden anzuzeigen. Die Bewohner von Wunder land kehrten an ihre Arbeit zurück, und es gab durchaus einige unter ihnen, die begierig waren, die Gunst von Redd zu erlangen, und alles tun würden, um Alyss zu finden und auszuliefern. Am Einsamen Berg marschierten die letzten Gläsernen Augen hinaus in die Wüste. Redd drehte sich zum Kater um und befahl mit einer Stimme, die in dem riesigen Raum widerhallte: »Sag dem Karobuben, dass er seine Loyalität jetzt ein für al lemal beweisen muss.«
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hatte keineswegs die Absicht zu schlafen, sie A lyss brauchte nur ein wenig Ruhe und Abstand, um
die Dinge zu überdenken. Wie viel Zeit war vergangen, seit sie neben Prinz Leopold in Westminster Abbey ge standen hatte? Es schien so schrecklich lange her zu sein. Was mochte aus ihm geworden sein? Und die Liddells? Was glauben sie, was mit mir passiert ist? Sie hatte die Liddells lieb gewonnen, vielleicht so wie ein Gefangener seinen Wärter liebt, aber es war Liebe gewesen, das wusste Alyss inzwischen. All das brachte natürlich keine Lösung für ihre Prob leme, und sie war erleichtert, als Nanik mit einem Stapel sorgfältig zusammengelegter Kleider das Zelt betrat. »Zieht das an, Hoheit«, sagte er. »Ich werde draußen auf Euch warten.« Es war eine alyssische Uniform, alles andere als maßge schneidert, sondern behelfsmäßig wie alles, worüber die Alyssier in Wunderland noch verfügten, seit es von Redd beherrscht wurde. Die Bluse und die Hosen passten farblich nicht zusammen. Die Webart der Nanofasern war nach wunderländischen Maßstäben nicht gerade erstklassig, aber als sie den Stoff zwischen den Fingern rieb, spürte Alyss sofort, dass er glatter und weicher war als die feinste Seide in England. Es handelte sich um eher bescheidene Kleider, wie sie zu Zeiten von Genevieve wohl nur die Armen ge tragen hatten. Aber eine Besonderheit hatten sie: Auf dem rechten Blusenärmel war ein weißes Herz aufgestickt. 230
Alyss zog ihr Brautkleid aus und legte es, zerrissen, wie es war, sorgfältig auf das Feldbett des Generals. Dann zog sie die alyssische Uniform an. Sie hätte gern gewusst, wie sie darin aussah, aber es gab keinen Spiegel im Zelt. Es bleibt mir gar nicht anderes übrig, dachte sie, als mich der Zukunft zu stellen, was immer sie für mich be reithält. Sie holte tief Luft, nahm die Schultern zurück und trat aus dem Zelt. Nanik kam eilig herbei, ergriff ihre Hände und strahlte. Er musterte sie von oben bis unten, und was er sah, schien ihm sehr zu gefallen. »Und wenn Ihr die Satteldecke einer Trolldogge tra gen müsstet, Prinzessin Alyss, Ihr würdet immer noch königlich aussehen.« »Danke, Nanik, aber –« »Kein Aber! Ihr seid gerade erst zu uns zurückgekehrt, und es ist noch viel zu früh, um Eure zweifellos vorhan denen Zweifel mit diesem Feigling von einem Wort zu bezeichnen. Heute gibt’s kein Wenn und Aber!« Alyss lächelte, allerdings mehr mit dem Mund als mit dem Herzen. »Schön, dass Sie noch ganz der Alte sind, Nanik Schneeweiss. Es tut gut, das zu sehen. Nach unse rem Zusammenstoß mit dem Kater hatte ich schon be fürchtet, Sie wären jetzt auch so ein Mann der Tat, der sich für die Subtilitäten des Intellekts nicht mehr interes siert.« »Ich ein Mann der Tat? Ts, ts. So etwas überlasse ich anderen. Natürlich bin ich noch der alte Nanik Schnee weiss, Alyss. Gerade weil ich alt bin, bin ich noch der Alte. Ich habe schon die Großmutter Eurer Urgroßmutter betreut, und –« »Ja, ich weiß.« 231
»– ich habe genügend politischen Aufruhr gesehen, um ein Dutzend Köpfe zu füllen. Mich hat nichts davon verändert. Ich gebe zu, diese Geschichte mit Redd ist das Schlimmste, was ich bisher erlebt habe, aber ich bin viel zu alt, um mich zu ändern. Genug jetzt, ich bin zwar ein faszinierendes Thema, aber wir haben zu tun. Kommt mit!« Er führte sie zu einer Sitzgruppe aus ehemaligen Mu nitionskisten und setzte sich auf einen Behälter, der ein mal funkelnagelneue Blitzbälle aus Redds Fabrik enthal ten hatte. Sein weiter Talar breitete sich rings um ihn aus und reichte bis zum Boden, so dass er wie ein kleiner schwarzer Vulkan mit weißem Kopf aussah. Ein junges Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren, einem Le dermantel und einem schwarzen Homburg auf dem Kopf brachte Tee auf einem Tablett. Sie war so voller Ehr furcht in Gegenwart von Alyss, dass sie kein einziges Mal den Blick hob. »Die ist aber schüchtern«, sagte Alyss, nachdem das Mädchen wieder gegangen war. »Normalerweise nicht. Sie ist hier im Lager geboren. Es ist Eure Gegenwart, die sie so einschüchtert. Wisst Ihr, wie sich die Leute hier nennen?« Alyss schüttelte den Kopf. Woher sollte sie das wis sen? »Die Alyssier.« Nanik buchstabierte es für die Prinzessin, und ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen. Alyssier? Nein, sie ver langen wirklich zu viel von mir. »Ich glaube, ich verkraf te das alles nicht.« Nanik musterte sie einen Augenblick. Dann begann er zu erzählen, was sich in den letzten dreizehn Jahren alles verändert hatte in Wunderland. Seine Ohren zuckten bei 232
jedem Geräusch, und obwohl er in seiner Weisheit zu fast jedem Thema etwas zu sagen hatte, gab es doch viele Dinge, die selbst er nicht wusste. Die meisten davon be trafen sie selbst. Und deshalb versuchte sie, ihm das Un erklärliche zu erklären, als es an ihr war, zu erzählen, was sie in den vergangenen dreizehn Jahren erlebt hatte. »Ich musste alle meine Erinnerungen an Wunderland aufgeben«, sagte sie. »Um in einer Welt zu überleben, die mir nicht glauben wollte, musste ich meine Seele vor ihnen verschließen. Ich habe mich lange dagegen ge wehrt, aber schließlich wurde es …« »Also deshalb wolltet Ihr heiraten?« Alyss nickte. »Ein Teil von mir wird für immer dieser anderen Welt angehören.« »Eine kluge Erkenntnis. Man kann nicht so lange an ei nem Ort leben, ohne etwas davon in seinem Inneren mit zunehmen. Aber das hier ist Eure rechtmäßige Heimat, Prinzessin. Wunderland ist der Ort, wo Ihr hingehört.« »Wirklich?« Sie sah sich unsicher um. Wie können sich diese Leute Alyssier nennen, wenn ich mich doch kaum selbst alyssisch fühle? Es ist alles zu viel. Sie ver langen zu viel. »Ich habe das Gefühl, dass ich nirgends mehr ganz hingehöre. Und was ist mit der Familie, die ich zurückgelassen habe? Was ist mit Leopold, dem Mann, den ich heiraten sollte?« »Wenn wir demnächst Gelegenheit dazu haben, wer den wir uns der Menschen annehmen, die Euch aufgezo gen haben«, sagte Nanik. »Was diesen Leopold angeht, so fürchte ich, dass wir nichts für ihn tun können. Es gibt Wichtigeres als die Liebe eines einzelnen Mannes, ob er nun zu dieser Welt gehört oder der anderen.« Sie wurden beobachtet – Alyss entdeckte Dodd, der hinter einem Zelt stand und sie unverwandt anstarrte. Sie 233
hob die Hand und wollte ihm zuwinken, aber er duckte sich weg und verschwand. »Ihr habt eine starke Fantasie, Alyss«, sagte Nanik. »Die Alyssier werden sie bei ihrem Freiheitskampf brau chen, und das Schicksal des Königinnenreichs hängt da von ab. In der kurzen Zeit, die uns bleibt, ist es meine Aufgabe, Euch nach den Grundsätzen der Weißen Imagi nation im Gebrauch Eurer Fantasie zu unterrichten und Euch ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen zu zeigen.« »Meine Fantasie ist fort«, sagte Alyss. Naniks große Ohren rollten sich erschrocken zusam men. »Eure Fantasie kann gar nicht fort sein, Prinzessin, denn es gibt keinen Ort, wo sie hinkönnte. Sie steckt in Euch drin, ob Ihr wollt oder nicht. Ihr werdet es sehen. Ihr seid, genau wie Eure Mutter, zur Kriegerkönigin ge boren.« Hier stockte der kluge Hauslehrer, denn ihm fiel ein, wie sich Alyss verkehrt herum auf die Trolldogge gesetzt hatte. Sie war verwirrt gewesen, natürlich. Schließlich war sie gerade erst aus dem Teich der Tränen aufgetaucht. Ja, es war besser, die Dinge positiv zu se hen. »Ihr werdet an der Seite Eurer Armee kämpfen«, sagte er, »und Ihr werdet Redd herausfordern, weil nur Ihr die Stärke habt, sie zu besiegen.« »Eine Kriegerkönigin?«, sagte Alyss sarkastisch. »Was weiß ich denn von Waffen und Kriegskunst? Das einzige Schwert, das ich je in der Hand hatte, war ein Spielzeugschwert, als ich und Dodd noch Kinder waren.« »Wenn Ihr das Spiegellabyrinth erfolgreich durch schreitet, werdet Ihr als Kriegerkönigin daraus hervorge hen. Das Labyrinth wird die Kräfte freisetzen, die in Euch schlummern.« Alyss schüttelte zweifelnd den Kopf. »Wie das genau geschieht, weiß ich auch nicht«, sagte 234
Nanik. »Im heiligen Buch heißt es einmal: Nur die kann ins Spiegellabyrinth eintreten, für die es bestimmt ist. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem Ihr mir erzählt, was Ihr darin erlebt habt.« »Ich weiß nicht, Nanik. Ich weiß es wirklich nicht.« War es nicht denkbar, dass sie gar nicht mehr die rechtmäßige Thronfolgerin war? Früher eine Prinzes sin, aber jetzt nicht mehr. Die Tradition ist abgerissen. Die Jahre und Erlebnisse in jener anderen Welt trenn ten sie von der kleinen Prinzessin, die sie einst gewe sen war. Sie war nicht die junge Frau, die sie hatte werden sollen. Redd hat an jenem schrecklichen Nachmittag gleich zwei Generationen von Herrsche rinnen ausgelöscht. »Erzählen Sie mir von Dodd.« Diesmal schwieg Nanik lange. »Seit Redds Macht übernahme ist keiner von uns derselbe. Aber manche von uns haben sich mehr verändert als andere. Was Dodd Anders für ein Mann geworden ist, solltet Ihr vielleicht lieber selbst herausfinden.« Der Hauslehrer sprang auf die Füße. »Wir werden bald eine Reise ins Tal der Pilze unternehmen. Dort werden die Raupen Euch unterwei sen. Trinkt Euren Tee aus, sammelt Eure Gedanken, und dann werden wir mit der Lektion beginnen, zu der wir vor dreizehn Jahren nicht gekommen sind.« Alyss sah zu, wie Nanik davoneilte. Ohne ihren Tee auch nur anzurühren, erhob sie sich und wanderte ziellos durchs Lager. Die Alyssier kamen aus ihren Zelten und verneigten sich, wenn sie an ihren Edelsteinfeuern vorbeiging. Man che riefen: »Hoch Alyss!«, andere wünschten ihr Glück: »Möge das Licht der Weißen Imagination über Wunder land scheinen, meine Prinzessin!« 235
Alyss versuchte so optimistisch wie möglich auszuse hen, um ihnen Hoffnung zu machen. Alyssier. Sie nennen sich Alyssier. Das muss man sich einmal vor’ stellen! Plötzlich stand sie vor einem Zelt. Nicht irgendeinem Zelt, sondern seinem. Ihre Füße mussten sie von allein hier hergeführt haben. Sie zögerte. Sollte sie rufen? Nicht nötig. Da trat er schon aus dem Zelt. »Guten Tag«, sagte sie. Dodd nahm Haltung an. »Prinzessin?« Sie hatte ihn aus der Fassung gebracht – das sah sie sofort. »Hast du vorhin etwas gewollt?«, fragte sie, »als ich mit Nanik –« »Hat er Euch gesagt, dass wir eine Reise ins Tal der Pilze machen müssen?« »Ja.« Eigentlich hatte sie auf eine andere Antwort ge hofft, auch wenn sie selbst nicht wusste, aufweiche. »Glaubst du wirklich, dass ich euch in die Schlacht gegen Redd führen kann?« »Ja.« »Dann glaubt es immerhin einer. Ich glaube es nicht. Ich fürchte, für das, was die Alyssier sich von mir erhof fen, ist es zu spät. Ich würde dich bitten, mich wieder nach Hause zu bringen, aber ich weiß einfach nicht mehr, wo das ist.« Sie war plötzlich unendlich traurig und wünschte sich dringend, dass jemand sie in den Arm genommen hätte. Aber ihr verlorener Gesichtsausdruck schien Dodd nicht weiter zu kümmern. Ganz im Gegenteil, er wurde eher noch kälter. »Kommt, ich muss Euch etwas zeigen!«, sagte er ruppig. 236
Er führte sie aus dem Lager und hinaus in das Däm merlicht zwischen den Bäumen. Wäre es nicht um die Zukunft des Königinnenreichs gegangen und wäre Dodd nicht so kalt und abweisend gewesen, hätte sie sich fast einbilden können, dass sie zu einem jener harmlosen Abenteuer aufbrachen, die sie als Kinder erlebt hatten.
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marschierte durch den Ewigwald D erundKarobube trug einen Korb in der Hand.
»Meine Loyalität soll ich beweisen? Hab ich das nicht immer und immer wieder getan? Habe ich nicht jeden Verräter angezeigt, der es gewagt hat, ihre Waffen zu stehlen? Habe ich sie nicht über die alyssischen Aktivitä ten informiert? Wenn sie doch nur einmal ihre üble Lau ne in den Griff kriegen würde! Ein Gipfeltreffen – das wäre die ideale Lösung gewesen. So hätte ich das ge macht. Ich hätte den Alyssiern die Autonomie verspro chen, vielleicht sogar einen eigenen Staat. Das hätte sie beruhigt und eingelullt. Dann hätte ich die Prinzessin geheiratet, und so hätte Königin Redd die Alyssier mit meiner Hilfe ganz friedlich unter Kontrolle gebracht. So muss man die Dinge regeln. Aber diese Verrückten wol len ja alle bloß kämpfen.« Ein goldfarbenes Kätzchen streckte seinen Kopf aus dem Korb. »Lass das!«, sagte der Karobube. »Du solltest lieber unsichtbar bleiben.« Er legte dem Kätzchen seine fette Hand auf den Kopf und versuchte es in den Korb zurückzudrücken. Aber das Kätzchen fauchte, zeigte die Zähne und schlug mit den Krallen nach ihm. »Au!« Er warf den Korb weg und sog an seiner blu tenden Hand. Die Bäume in seiner Nähe kicherten leise. Das Kätzchen schlug mit dem Schwanz hin und her, 238
blieb aber stumm. Eigentlich war das eine sehr gute Ge legenheit, dachte der Karobube. Er hatte seinen schlimm sten Rivalen im Sack! So ein kleines Kätzchen zu besei tigen konnte ja nicht so schwer sein. Dann würde sich die Königin ganz auf ihn und seinen Rat verlassen müssen, und er konnte sie zu Unternehmungen überreden, aus denen er noch mehr Profit schlagen würde. Aber was sollte dann aus dem jetzigen Plan werden – dem Über fall? Und was, wenn ihn Redd gerade in diesem Moment mit ihrem Inneren Auge beobachtete? Nein, er wartete lieber noch ein bisschen. Sich das Kätzchen gleich jetzt und hier vom Hals zu schaffen war zu riskant. Aber bei der nächsten Gelegenheit … Er hob den Korb wieder auf und setzte seinen Weg durch den Wald fort. Der Schwanz des Kätzchens strich über seine Hand. Er blieb stehen und sah sich um. Wo war das alyssische Hauptquartier doch gleich noch mal? Er hatte jedes Mal Schwierigkeiten, es wiederzufinden. Ein bisschen weiter nach links vielleicht? Ja, nach links. Nachdem er hundert Schritte gegangen war, kam er zu dem Ergebnis, dass es doch die andere Richtung sein musste. Aber nachdem er zweihundert Schritte in die an dere Richtung gegangen war, fand er immer noch keinen Hinweis, dass er dem Lager irgendwie näher gekommen war. Er hatte sich verlaufen. Das Kätzchen fauchte in seinem Korb. Aber dann hatte er Glück: Ein Sonnen strahl spiegelte sich auf einer Kristallwaffe, und der Ka robube entdeckte zwei alyssische Posten, die das Haupt quartier bewachten. Aha! Er wusste doch, dass er ganz in der Nähe war. Aber vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er sich tatsächlich verlaufen hätte? Schließlich konnte es jetzt zu unkontrollierter Gewalt kommen. Ja, er war sogar ziemlich sicher, dass es dazu kommen würde! 239
Er näherte sich den Wachtposten mit behutsamen Schritten. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, bis es fast so weiß war wie seine geliebte Perücke. »Wir müssen die Sicherheitsvorkehrungen verbessern«, sagte er zu den Soldaten. »Jetzt, wo Alyss bei uns ist, brauchen wir noch mehr Patrouillen. Ich habe Verstärkung angefordert.« »Wenn Ihr das für nötig haltet.« »Das ist ja wohl offensichtlich.« »Jawohl.« »Ist der Spiegelmeister in der Nähe?« »Nein, zur Zeit nicht.« »Na gut.« Der Karobube verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Er hatte angefangen zu schwitzen und seine Kopfhaut juckte entsetzlich. »Ir gendeine Vorstellung, wann er wieder zurückkommt?« »Nein.« »Ach.« Der Karobube merkte, wie das Kätzchen im Korb sich ungeduldig bewegte. »Ich, äh … Ich habe hier etwas für ihn.« Die Soldaten sagten nichts. »Wollt ihr es euch einmal ansehen?« Vielleicht wäre dem Soldaten, der auf das Angebot einging, noch aufgefallen, dass der Karobube zitterte wie ein Wackelpudding. Aber sobald der unglückliche Bur sche sein Gesicht über den Korb hielt, um zu sehen, was wohl darin war, rissen ihm starke Arme den Kopf ab. Der Karobube ließ den Korb fallen und machte einen Schritt rückwärts. Heraus sprang der Kater in voller Lebensgrö ße, stürzte sich auf den zweiten Posten und machte ihm den Garaus. Eine Welle von Panik ging durch die Büsche und Bäume. Der Kater wandte sich dem Karobuben zu, Blut triefte von seinen Krallen. »Ruf das Blatt!« 240
Der Karobube griff mit fahrigen Fingern in die Ta sche, zog eine Kristallpfeife heraus und blies hinein. Nichts. Den Pfiff konnte nur das Blatt hören. Es dauerte nur eine Minute, dann waren im Wald die scherengleichen Schritte des Blatts zu vernehmen: drei komplette Kompanien, insgesamt 156 Soldaten. »Ich, äh … Ich glaube, ich bleibe lieber hier draußen«, sagte der Karobube. »Ich möchte nicht, dass General Doppelgänger oder die anderen mich mit dir sehen.« Dem Kater war das nur recht. Der feige Karobube würde ihm bloß im Weg sein. »Mach, was du willst«, rief er und stürzte sich mit den hohen Karten des Blatts auf die alyssischen Zelte, während die niedrigen Karten da mit begannen, die Spiegel zu zerschlagen, mit denen das Lager getarnt war.
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hatte ihr nicht gesagt, dass sie den Wald ver D odd lassen würden. Sie hätten jemandem Bescheid
geben sollen, Nanik, dem General oder Mac. Als Zehn jähriger hatte Dodd immer darauf bestanden, militärische Disziplin einzuhalten. Aber Dodd war so anders gewor den. Er ist nicht mehr so, wie ich ihn gekannt habe. Er ging mit schnellen Schritten vor ihr her, und sie musste fast rennen, um ihn nicht aus den Augen zu ver lieren. Ab und zu drehte er sich um und überprüfte, ob sie noch hinter ihm war, aber er hätte wirklich ein biss chen rücksichtsvoller sein können. Sie kamen zu einer heruntergekommenen Stadt, an de ren Rand sie heute schon einmal vorbeigelaufen waren. Ist das wirklich meine ehemals strahlende Stadt? Ich kann es kaum glauben. Die Pfandleihen, die Straßensper ren des Militärs, das Getöse der Propagandalautsprecher mit ihren Redd-Parolen, das Flackern der Reklametafeln für Produkte und Attraktionen, von denen Alyss noch nie gehört hatte. Das einzige Gebäude, das Alyss erkannte, war das Aplu-Theater, wo sie früher Auftritte der Fröhli chen Frettchen gesehen hatte, einer Komödiantentruppe, die ihre Eltern sehr schätzten. Jetzt waren die Türen ver nagelt, und das Gebäude war dem Verfall preisgegeben. Die wenigen Wunderländer, die ihnen begegneten, huschten ängstlich und voller Scham durch die Straßen wie Schatten. Dodd wartete auf sie. Aber als sie ihn eingeholt hatte, 242
sah sie, dass der Grund dafür nicht etwa plötzliche Höf lichkeit war. »Dort ist Euer Zuhause«, sagte Dodd. »Redd hat die Mauern stehen lassen, damit jeder sehen kann, wie tief die Weiße Imagination gefallen ist.« Alyss wurde fast schwindlig beim Anblick der Ruinen. Zahllose Erinnerungen an den alten Herzpalast wirbelten in ihr auf. In den Fluren habe ich mit Vater Verstecken gespielt. Und er hat mich immer erwischt, weil er mich zum Lachen gebracht hat. »Wenn man die Buchstaben umdreht, kann man aus meinem Namen auch ›Alnon‹, ›Onnal‹ oder ›Lonan‹ machen«, hat er gesagt. Und dann hab ich gelacht und gesagt: »Das sind doch gar keine richtigen Wörter.« Und da wusste er, wo ich war, und hat mich gefangen. Und es gab alle möglichen Winkel, wo ich mich ver stecken konnte, um Vater und Mutter zu beobachten. Einmal hab ich gesehen, wie er ihr den Nacken massiert hat, als sie auf dem Thron saß, und sie hob das Gesicht, damit er sie küsste. »Können wir auch hineingehen?« »Wenn wir vorsichtig sind.« Der Palast und der Park schienen verlassen – keine Wunderländer rannten mehr mit Besteck oder goldenen Bechern unter dem Arm davon, es war alles längst aus geplündert. Dennoch lockerte Dodd sein Schwert in der Scheide und senkte seine Stimme zu einem Flüstern, als er Alyss zur Eingangstür führte. »Es gibt immer wieder völlig verarmte und verzwei felte Einwohner, die sich hier einnisten«, sagte er. »Aber früher oder später sterben sie am Missbrauch von imagi nationsanregenden Drogen, oder Redd schickt sie in die Kristallminen.« 243
Als sie sich durch die eingeschlagene Tür gezwängt hatten, spürte Dodd sein Herz heftiger schlagen. Seit er vor vielen Jahren zusammen mit dem Turm seinen Vater hier begraben hatte, hatte er den Palast nicht mehr betre ten, aus Angst vor den Gefühlen, die der traurige Anblick auslösen würde. Er hielt das Gesicht abgewandt, als sie die große Eingangshalle betraten. Die Wände der ehemals schönen Räume waren mit Schmierereien bedeckt, und die wenigen Überreste von Möbeln, die sich noch fanden, lagen in verkohlten Hau fen da. Anscheinend hatten sie als Brennstoff für offene Feuer gedient. »Die Leute haben gleich nach diesem schrecklichen Tag alles gestohlen«, sagte Dodd. »Deshalb ist es so leer hier.« Alyss streckte die Hand aus und berührte die kalten Steinwände. »Es ist gar nicht leer«, sagte sie. Ganz im Gegenteil. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie lauter Quietschbeeren auf den Boden fantasiert hatte. Das Walross ist darauf ausgerutscht und hat den ganzen Tee verschüttet. Am Ende war der Butler selber voller Quietschbeerensaft. Und im Vorzimmer des Thronsaals fiel ihr wieder ein, wie sie hier eine Sperre errichtet und Zoll von den Dienern verlangt hatte. Wer mir keine Lachgummis oder Feuertörtchen geschenkt hat, durfte nicht durch. In den Schutthaufen auf dem Korridor, der zum südli chen Speisesaal führte, lagen immer noch die Skelette von Schachkämpfern und Kartensoldaten. Und im Spei sesaal selbst waren die Knochenhaufen noch höher. Hier waren keine Feuerstellen zu sehen, auch die Hausbeset zer hatten sich in dieser Halle des Todes nicht aufhalten mögen. Die Luft schien seit über einem Jahrzehnt von 244
niemandem mehr geatmet worden zu sein. Die Wände zeigten noch die Spuren des Angriffs, aber Waffen waren keine zu sehen. Vermutlich hatten Plünderer sie mitge nommen. Tränen liefen Alyss übers Gesicht. Sie wandte sich zu Dodd um, weil sie wissen wollte, ob er auch weinte, aber in der Dunkelheit war das nicht zu erkennen. »Dein Vater …?«, flüsterte sie. »Liegt im Garten begraben.« Die Stimme des jungen Mannes klang gepresst. Er at mete gleichmäßig und tief, um ruhig zu bleiben. Seine Trauer war zu Wut geworden. Er wollte auf etwas ein schlagen. Er wollte jemand anderen den Schmerz und Verlust spüren lassen, den er hier empfand. Und zwar nicht irgendjemanden. Er wusste genau, wem er das heimzahlen musste: dem Kater. Plötzlich bückte sich Alyss und hob ein kleines Stück Knochen vom Boden auf, das an einer dünnen Kette be festigt war. »Erinnerst du dich noch daran?« Dodd zögerte. Das konnte doch nicht sein – »Du hast es mir selbst geschenkt. Ich habe gesagt, ich würde es für immer behalten.« Es war der Jabberwockzahn, den er ihr zum Ge burtstag geschenkt hatte. Sie legte sich die Kette um den Hals. Der Zahn hing direkt über ihrer Kehle. »Ich habe dir noch gar nicht dafür gedankt, dass du mir das Leben gerettet hast … vielen Dank also.« Er zuckte zurück, als hätte sie ihn geschlagen. »Dodd, ich weiß, dass es schwierig ist, sich nach all diesen Jahren wieder zu sehen. Es ist so viel geschehen. Wir sind beide zu ganz anderen Erwachsenen geworden, als wir es erwartet hatten. Aber gerade von dir hätte ich einen freundlicheren Empfang erwartet.« »Es tut mir leid, wenn ich Euch enttäusche.« 245
»Das habe ich nicht gesagt. Es ist nur … wir waren doch Freunde, Dodd. Mehr als Freunde. War das nicht der Grund, warum du mich selbst aus dieser anderen Welt zurückgeholt hast?« »Um mit dem Kater zu kämpfen und Redd zu besie gen, würde ich alles tun.« Alyss schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »Hast du deshalb auf dem Maskenball mit mir getanzt? War das auch, um Redd zu besiegen? Oder den Kater?« Dodd gab keine Antwort. Alyss wandte sich ab und musterte ihr Spiegelbild in einer kleinen Scherbe, die noch im Rahmen des großen Spiegels auf der Ostseite des Saals hing. »Wenn ich dir so egal bin, warum hast du mich dann hier hergebracht?« »Ich habe nie gesagt, dass Ihr mir egal wärt«, sagte Dodd rasch und hielt dann inne. Er biss sich auf die Lip pen und setzte noch einmal neu an. »Ich habe Euch hier hergebracht, weil ich Euch daran erinnern wollte, was Redd getan hat. Um Euren Wunsch nach Rache zu ent zünden. Ihr seid das Mittel meiner Rache. Ihr dürft mir gar nichts anderes bedeuten.« »Ich bin gerührt.« Ihre Finger spielten mit dem Jab berwockzahn an ihrer Kehle. Nimm ihn doch einfach ab! Nimm ihn ab und zeig ihm, dass er dir auch nichts bedeu tet, wenn er – Ihr Spiegelbild begann plötzlich Wellen zu schlagen und verwandelte sich in ein Abbild von Redd. »Schön, dass du zu Besuch gekommen bist, Alyss! Und jetzt: run ter mit deinem Köpfchen!« Dodd packte Alyss am Arm und zerrte sie mit einem Ruck zur Seite. Keinen Augenblick zu früh! Das Glas zerbrach in tausend kleine Splitter, die wie Dolche auf Alyss zuflogen. Der Boden bebte unter ihnen, die Wände 246
wackelten, und die schweren Deckenbalken ächzten und stöhnten. Kalk, Mörtel und Ziegelsteine fielen herunter. Sie rannten, die Arme schützend über dem Kopf, aus dem Raum, sprangen über Mauerreste und duckten sich durch zusammengebrochene Türstöcke, während der alte Palast endgültig einstürzte. Immer wieder flogen ihnen kleine Steine wie Hagelkörner um die Ohren und peitsch ten gegen ihre Beine. Nur mit Müh und Not kamen sie heil ins Freie. Alyss rang hustend nach Luft und wischte sich den Staub vom Gesicht. Wo eben noch der Herzpalast ge standen hatte, war jetzt nichts als ein Haufen Trümmer. »Sie zerstört alles!«, sagte Dodd. Verzweiflung, Trotz und Hoffnung – Alyss spürte al les gleichzeitig. »Nein, das wird sie nicht!«, sagte sie. Nicht, solange sie da war.
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stimmte nicht im Ewigwald. Die Bäume E twas schrien, und die Tuttelfinken kreischten, es war ein einziger großer Jammer. Die Ursache war rasch zu er kennen. Zahllose Bäume und Büsche waren abgehackt und herausgerissen worden. Zertrampelte Blumen lagen stumm auf dem Boden. Eine Spur der Verwüstung zog sich quer durch den Wald, und die wenigen übrig geblie benen Blätter riefen eine Warnung: »Nicht weiter! Nicht weiter!« Ein ungewohntes Geräusch erfüllte den Wald, ein me chanischer Marschtritt. Endlose Kolonnen von Gläsernen Augen rückten auf das Hauptquartier der Alyssier vor. Als sie näher kamen, fanden Dodd und Alyss die Leichen der erschlagenen Wachen. Die Spiegel, die das Lager geschützt hatten, waren zerstört. Einige standen noch, andere lagen zersplittert am Boden. »Nanik!«, hauchte Alyss. »Was ist aus ihm und den anderen geworden?« Sie machte einen Schritt vorwärts, aber Dodd packte sie am Arm und hielt sie zurück. »Wir können nicht nä her herangehen. Es ist zu gefährlich.« Sie waren schon zu nahe. Ein Gläsernes Auge schoss aus einem Dickicht vor ihnen heraus. Die tödlichen Klin gen an seinen Händen waren auf Alyss gerichtet. Dodd sprang auf sie zu und riss sie zu Boden. Das Gläserne Auge verfehlte sein Ziel und krachte mit dem Kopf ge gen einen wuchtigen Baumstamm, jetzt hat er mir schon 248
wieder das Leben gerettet. Aber schon stürmten neue Feinde heran. Dodd focht mit zwei Schwertern gleichzei tig. Alyss konzentrierte ihre ganze Kraft und versuchte sich vorzustellen – ja, was? Dass die Gläsernen Augen tot umfielen? Für immer abgeschaltet wurden? Kann man sie nicht einfach stoppen? Ich muss mich konzentrieren, konzentrieren. Sie richtete ihre Fantasie auf Dodd, ver suchte sich vorzustellen, dass er noch geschickter und stärker wäre, aber die Gläsernen Augen waren genau für diese Art Kämpfe gebaut worden. Und sie waren in der Überzahl. Dodd würde sich bald selbst nicht mehr vertei digen können, geschweige denn sie. Eine Waffe. Ich brauche unbedingt eine Waffe. Alyss kroch zu dem Gläsernen Auge, das reglos neben dem Baum lag. Es musste doch eine Waffe gehabt haben. Sie griff nach dem avocadoförmigen Gegenstand, der am Gürtel des Feindes hing. Alyss wusste nicht, dass sie eine der neuesten Erfindungen Redds in der Hand hielt, eine Peitschenschlangengranate, aber der Mechanismus war leicht zu durchschauen. Sie riss den Sicherungsring ab und warf die Granate in Richtung der Gläsernen Augen. Die Granate explodierte, und Dutzende von schlan gengleichen, elektrisch geladenen Drähten sprangen her aus. Dodd ließ sich auf den Boden fallen und rollte zur Seite. Sssh! Wie Peitschenhiebe fielen die Drähte über die Gläsernen Augen her. Einer der Angreifer wurde am Kopf getroffen, es gab einen Kurzschluss, und das Glä serne Auge sank zischend zu Boden. Sssh! Sssh! Sssh! Dodd und Alyss sprangen auf und rannten davon, so lange die elektrischen Schlangen noch wirkten. Eine fri sche Gruppe von Gläsernen Augen löste sich aus ihrer 249
Marschkolonne und machte sich zwischen den rauchen den Baumstümpfen und abgebrochenen, herunterhängen den Ästen an die Verfolgung. Das Stampfen ihrer Stiefel kam näher. Dodd hob sein Schwert und nahm seine letzten verbliebenen Kräfte zu sammen, die Büsche neben ihm rauschten und – – nicht die Gläsernen Augen, sondern die Generäle Doppel und Gänger auf galoppierenden Trolldoggen bra chen daraus hervor. Dodd versuchte seinen Schwerthieb zu stoppen, zu spät. General Doppel riss instinktiv seine Waffe hoch, und die Schwerter klirrten laut aneinander. »Dodd!«, rief General Doppel. »Alyss!«, rief General Gänger. Der weiße Springer, der Turm und ein Zug weißer Bauern kamen aus dem Wald. »Wir sind in der Nähe geblieben, um die Prinzessin zu suchen«, erklärte der Turm. »Obwohl wir kaum noch Hoffnung hatten.« Jetzt kamen die Gläsernen Augen von allen Seiten an geschossen, und Dodd und die Schachkämpfer schlugen wild um sich. Die beiden Generäle positionierten sich links und rechts neben Alyss, so dass die Prinzessin von den Trolldoggen geschützt wurde. Konzentrier dich, Alyss. Aktiviere deine Imagination. Mit einem Kriegsschrei, der wie berstender Stahl klang, stieß ein Gläsernes Auge die Bauern beiseite und wollte sich auf Alyss stürzen, aber General Doppel sprang von seiner Trolldogge und schoss eine Kanonen kugelspinne ab. Die Spinne riss dem Angreifer ein gro ßes Stück synthetisches Fleisch aus der Brust und ver senkte ihre Kiefer in die virtuellen Eingeweide. Die rei terlose Trolldogge scheute und galoppierte davon. Dodd war in ein Gefecht mit einem anderen Gläsernen 250
Auge verwickelt und trat ihm kräftig zwischen die Beine. Das Gläserne Auge, das an dieser Stelle gar keine emp findlichen Körperteile besaß, blickte verdutzt nach unten. Diese momentane Verwirrung genügte Dodd, um nach den Zügeln der Trolldogge zu greifen, die an ihm vorbei preschte. Das Tier rannte weiter und schleifte ihn hinter sich her, bis es ihm schließlich gelang, sich in den Sattel zu schwingen. »Prinzessin! Fangt!« Alyss wandte sich um und fing die Waffe, die der weiße Springer ihr zuwarf – eine »Tymanshand«, ein kurzes Schwert mit fünf Klingen. Sie hob die Waffe ge rade noch rechtzeitig, als ein Gläsernes Auge auf sie zu sprang. Eine Klinge bohrte sich in die linke Augenhöhle des Angreifers, und das Gläserne Auge fiel ihr vor die Füße. Der weiße Turm gab ihm den Rest. Dann kam Dodd angeritten und hob Alyss hinter sich in den Sattel. »Haut ab!«, rief der Turm. »Wir werden sie schon noch ein Stündchen aufhalten!« Inmitten der tobenden Schlacht musste Dodd lächeln. Ein kleiner Scherz unter alten Haudegen. Die Generäle Doppel und Gänger verschmolzen mit einander, gaben ihrem Reittier die Sporen und verließen an der Seite von Dodd und Alyss das Schlachtfeld. »Mac und Nanik sind schon unterwegs, um den Noteinstieg freizumachen«, keuchte General Doppelgänger. Aber sie konnten noch so schnell reiten, ihre Verfolger ließen nicht locker. Schon jetzt waren ihnen neue Gläser ne Augen dicht auf den Fersen.
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war es natürlich denkbar, dass irgendein T heoretisch unerfahrener Kontinuum-Reisender den Noteinstieg
der Alyssier entdeckte, indem er zufällig dort hinausge spiegelt wurde. Aber die Verbindung zwischen dem Ein stieg und dem Kontinuum war so labyrinthisch, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zufalls absolut mini mal war. Der geheime Zugang bestand aus einem so komplexen Netz von strategisch platzierten Spiegeln, dass bisher kein Nicht-Alyssier auch nur ahnte, dass er überhaupt existierte. Mac und Nanik zerrten hastig die stachligen Zweige eines dürren Schlehenstrauchs beiseite, um den Einstieg freizulegen. Es handelte sich um einen großen, alten Spiegel mit geschliffenen Kanten. Er befand sich in ei nem Teil des Waldes, den selten jemand aufsuchte. Mac schob seinen Kopf durch das Glas und spähte nach links und rechts ins Kontinuum. Als General Doppelgänger, Dodd und Alyss auf ihren Trolldoggen angaloppiert ka men, zog er ihn wieder zurück. »Alles klar«, sagte er. »Ich gehe zuerst«, sagte Dodd und sprang ohne ein weiteres Wort in den Spiegel. »Rasch!«, sagte Nanik mit zuckenden Ohren. »Ich hö re, dass unsere Feinde sich nähern.« Der Hauslehrer führte Alyss durch die Oberfläche des Flüssigkristalls und hinein ins Kontinuum. General Dop pelgänger folgte, Mac bildete die Nachhut. 252
Es war erst das zweite Mal, dass Alyss im Kontinuum reiste. Im ersten Augenblick sauste sie verzaubert von der Schönheit der leuchtenden Wände dahin und konnte mühelos mit Dodd und den anderen Schritt halten. Aber sobald ihr bewusst wurde, dass sie so gut wie keine Er fahrung mit dieser Fortbewegungsart hatte, kam sie ins Stolpern, schwebte nach oben, wurde zur Seite gezogen, verlor die Kontrolle und stieß mit General Doppelgänger zusammen. »Ihr müsst Eure Willenskraft konzentrieren und schwere Gedanken denken«, rief der General, »sonst werdet Ihr hinausgespiegelt.« Schwere Gedanken? Was …? Der General ließ sie los. Oh, oh. Wieder verlor Alyss an Geschwindigkeit und wäre aus dem Kontinuum herausgesaugt worden, wenn Mac sie nicht festgehalten hätte. Mit der Prinzessin im Schlepptau steuerte er auf Nanik zu. »Haltet Euch an ihm fest«, wies er sie an. Das tat sie dann auch und reiste fortan huckepack durchs Kristallkontinuum. »Achtung! Gläserne Augen von hinten!« Ohne langsamer zu werden, nahm Mac seinen Zylin der ab, der sich sofort in eine Scheibe aus rotierenden Klingen verwandelte, und schleuderte ihn den Gläsernen Augen entgegen, die hinter ihm herrasten. Die Klingen schlitzten den Gläsernen Augen, einem nach dem ande ren, die Hälse auf und kehrten dann zu ihm zurück. Aber schon kamen neue Gläserne Augen heran. Sie feuerten Blitzbälle. Diesmal benutzte Mac seinen Zylinder als Schild. Er ließ die Klingen so schnell rotieren, dass die Blitzbälle 253
von ihrer Bahn abgelenkt wurden und in Nebengängen verschwanden. Wenn er allein gewesen wäre, hätte er kehrtgemacht und die Verfolger direkt angegriffen, aber seine Pflicht verlangte, bei Alyss zu bleiben und sie zu schützen. Er verlangsamte das Tempo. Die Säbelklingen an seinem Gürtel fuhren aus, und als die Verfolger nahe genug waren, drehte er eine Pirouette. Halbiert, fein ge hackt und in Scheiben geschnitten wurden die Gläsernen Augen aus dem Kontinuum gesaugt und durch irgend welche Spiegel hinausreflektiert. »Noch mehr Gläserne Augen!«, rief Dodd. Diesmal kamen sie von vorn. »Aus dem Weg!«, schrie General Doppelgänger. Dodd ließ sich an den oberen Rand des Kontinuums treiben, und der General feuerte eine Kanonenkugelspin ne auf die Angreifer ab. Auf halbem Weg sprang die Ku gel auf, die Spinne entfaltete ihre langen, klebrigen Beine und krallte sich damit an den Armen der Gläsernen Au gen fest, während ihr zangenähnliches Maul zubiss. Wusch!, wurden die Gläsernen Augen aus dem Konti nuum gesaugt. Aber die Kanonenkugelspinne wütete weiter, und Dodd musste sich ihr in den Weg stellen, um zu verhin dern, dass sie sich auf Alyss stürzte. Schon hatte die Spin ne seine Arme und Beine gepackt, und obwohl sie kon struktionsbedingt keine lange Lebenszeit hatte, sondern bald in sich zusammensinken würde, blieben ihr doch noch genügend Kräfte, um Dodd zu töten. Jetzt öffneten sich ihre Zangen und näherten sich seinem Zwerchfell. Konzentrier dich, lass dir etwas einfallen! Plötzlich bildete sich aus dem Nichts eine rosa Häkel decke, überzog die scharfen Kanten des Spinnenmauls und schnürte es zu. 254
»Ha!«, jubelte Alyss begeistert. Die Decke hatte sie fantasiert. Vergeblich versuchte die Spinne, das fremde Objekt von ihrem Maul wegzureißen. Sie musste Dodd loslas sen, und er erlegte sie mit einem einzigen Schwertstreich. »Haben Sie das gesehen?«, fragte Alyss und krallte sich an den Umhang des Hauslehrers. »Das habe ich fan tasiert.« »Ja«, sagte Nanik. »Sehr eindrucksvoll.« Noch eindrucksvoller wäre es allerdings, dachte der Lehrer, wenn Alyss gleich ein glückliches Ende für die sen ganzen Alptraum imaginiert hätte. Denn es kamen schon wieder neue Gläserne Augen, gleichzeitig von vorn und von hinten. Und General Doppelgänger hatte keine Kanonenkugelspinnen mehr.
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das heißen – sie war nicht da? Wo soll sie W asdennsollsonst gewesen sein?«
Bei jedem zweiten Wort schlug Redd ihr Zepter auf den Boden und ließ kurzstämmige fleischfressende Klet terrosen daraus hervorwachsen. Der Kater und der Karo bube mussten ständig herumspringen, um zu verhindern, dass sich die gefährlichen Rosen an ihren Beinen hoch rankten. »Vielleicht ist der Karobube gar nicht so loyal, wie Ihr dachtet«, sagte der Kater. Redd wandte sich dem feisten Schönling zu. »Es scheint fast so«, sagte sie. »Meine Königin – ich meine Eure Königliche Bosheit, die führenden Alyssier waren im Lager versammelt und hätten ohne weiteres beseitigt werden können, wenn der Kater nicht so auf Alyss fixiert gewesen wäre.« »Ich hatte ihm befohlen, sich auf Alyss zu konzentrie ren!« »Ich glaube nicht, dass sie so gefährlich ist, wie –« »Wer hat dich denn gefragt!«, bellte Redd. Sie hob das Zepter, und das spitze Ende zeigte genau auf die Kehle des Karobuben. »Hast du vielleicht auch neun Leben?« Der Karobube musste schwer schlucken. »Nein, ich habe nur eins, und das ist Euch geweiht, Königliche Bos heit.« »Hmmph.« Redd ließ ihr Zepter herumwirbeln wie ein misslauniger Polizist seinen Knüppel und stellte es dann 256
neben sich. »Kater, sag mir, was macht diese leere Blitz ball-Kiste da auf dem Flur?« Auf den Flügeln von Redds Fantasie schwebte eine leere Munitionskiste über den Boden. »Ach, die?« Der Kater hatte nur darauf gewartet, dass sie danach fragte. Jetzt war der Karobube endgültig dran. »Die und zahlreiche andere haben wir im alyssischen Lager gefunden. Ich habe die Herstellerkennzeichen ge prüft. Die Blitzbälle sind vor dreieinhalb Mondzyklen aus Eurer Fabrik in der Schachbrettwüste gestohlen wor den. Die Diebe wurden gefasst, verhört und bestraft, aber die zwölf gestohlenen Munitionskisten waren nicht da, wo sie gesagt hatten.« »Komm jetzt zur Sache, Kater, sonst geht es dir schlecht!« Der Kater verbeugte sich diensteifrig. »Eure König liche Bosheit haben die Diebe auf Grund von Informa tionen des Karobuben gefasst. Ihr erlaubt ihm, mit den Alyssiern Handel zu treiben. Wie sollen die Rebellen in Besitz solcher Waffen gekommen sein, wenn nicht durch ihn? Er wusste, wer die Diebe waren, wahr scheinlich wusste er auch, wo sich die Waffen befan den.« »Interessante Theorie«, sagte Redd nachdenklich. »Al so hat mein wohlgenährter Freund die Freiheiten, die ich ihm gewährt habe, missbraucht, um meine Feinde gegen mich zu bewaffnen?« »Aber nein! Keineswegs!«, rief der Karobube. »Das ist doch lächerlich, Eure Königliche Bosheit.« »Wir werden gleich sehen, ob das lächerlich ist.« Wieder zeigte die scharfe Spitze des Zepters auf die Kehle des Karobuben. Aber Redd hatte unbewusst weiter an Alyss gedacht, und jetzt erblickte ihr Inneres Auge die 257
Prinzessin plötzlich auf einer Lichtbahn von schimmern den Kristallen. »Sie ist im Kristallkontinuum!«, kreischte Redd. »Zer schlagt sofort alle Spiegel! Jeden einzelnen!« Redds wütendes Gesicht erschien mit einem Schlag auf allen öffentlichen Anzeigetafeln von Wundertropolis. »Jeder Spiegel im Königinnenreich ist zu zerstören. Und zwar SOFORT!« Aber ihre Wut war so groß, dass die meisten Spiegel zersprangen, noch ehe die Wunderländer auch nur einen Finger rühren konnten. In allen Kneipen und Rauschgifthöhlen ebenso wie in den Häusern gewöhnlicher Bürger und den umzäunten und von Sicherheitsdiensten bewach ten Villen der Aristokraten explodierten die Spiegel. Übereifrige Beamte, aber auch Rowdys, die jede Gele genheit zur Gewalttätigkeit wahrnahmen, rannten durch die Straßen und zertrümmerten Schaufensterscheiben und alles andere, was auch nur im Entferntesten an einen Spiegel erinnerte.
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saßen in der Falle. Gläserne Augen hinter ihnen, S ieGläserne Augen vor ihnen. Sie waren so gut wie tot.
Das Kontinuum … verschwindet! Mit jedem Spiegel, der im Königinnenreich zerschla gen wurde, wurden die kristallinen Bahnen des Konti nuums kürzer. Auch die Gläsernen Augen, die auf Alyss und die anderen zurasten, wurden jetzt vom schwarzen Nichts verfolgt. Und das Nichts holte rasch auf. Vom Nichts verschlungen zu werden hieß, selbst zu nichts zu werden. Aber sie würden zumindest nicht lei den. Man spürte nichts, wenn man zu nichts wurde. Das Nichts überholte die Gläsernen Augen, erfasste die Nachhut und verschlang ihre Reihen von hinten. Bald waren die Angreifer alle verschwunden. Und das Nichts kam immer schneller auf sie zu. »Hat jemand einen Taschenspiegel?«, fragte Dodd. Alyss und die anderen sahen ihn verständnislos an. Ei nen Taschenspiegel? Wozu brauchte er einen – »Schnell!« Nanik griff in die Falten seines Talars und zog einen Spiegel hervor, der kaum größer war als der Flügel eines Tattelfinken. Dodd griff danach. Kein Wunderländer hat te je versucht, was er jetzt tun würde. Es war bisher noch nie nötig gewesen. Er hielt den Spiegel in einem bestimmten Winkel, so dass ein Teil des Kontinuums sich darin spiegelte und auf diese Weise wiederhergestellt wurde. Während das Kon 259
tinuum hinter ihnen verschluckt wurde, baute der be scheidene kleine Spiegel es vor ihnen wieder auf, zumin dest ein kurzes Stück. Aber was nutzte es ihnen? Waren sie dazu verurteilt, in diesem winzigen Überrest des Kon tinuums durchs schwarze Nichts zu rasen? In diesem Bruchstück, das eigentlich gar kein Kontinuum mehr war, wie Nanik ihnen sicher erläutert hätte, wenn er die nötige Muße gehabt hätte, weil es mit nichts mehr ver bunden war. Waren sie dazu verdammt, in diesem be weglichen Prisma gefangen zu bleiben, bis sie verhungert waren oder Dodd aus schierer Erschöpfung den Spiegel fallen ließ? Was ist das? Das ist doch … ja, das ist ein Ausweg! Zumindest ein Spiegel im Königinnenreich war also doch heil geblieben. Vor ihnen im Nichts, gar nicht allzu weit weg, lag eine helle Kristallbahn. Wo sie ehemals mit dem Kontinuum verbunden gewesen war, war jetzt nichts mehr. »Dodd!« »Ja, ich seh es!« Mit ein paar geschickten Drehungen des Handspiegels manövrierte er ihren Abschnitt des Kontinuums in Rich tung der Lichtbahn und hakte ihn daran fest. Das zusätz liche Licht und das Spiel der durchscheinenden Farben waren allein schon wie der Tanz des Lebens. Dodd, Na nik, Alyss, General Doppelgänger und Mac verließen das Kontinuum in derselben Reihenfolge, wie sie es betreten hatten. Die Landschaft, in der sie sich befanden, glich dem Inneren eines riesigen Kraters. Schwaden von Schwefel dunst trieben träge vorbei, heiße Feuerzungen leckten aus kleinen Erdspalten, und überall floss brodelnde, heiße Lava über die Felsen: Sie waren in der Vulkaneinöde. 260
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Gänsemarsch wanderten sie auf halber Höhe an I meinem großen Krater entlang, Mund und Nase mit
Stoff aus Naniks Talar bedeckt, um sich vor Flugasche und giftigen Dämpfen zu schützen. Es war zu heiß, um zu reden, fast auch zu heiß, um zu atmen. Seit sie in die Vulkaneinöde hinausgetreten waren, war kein Wort ge sprochen worden. Dodd hatte vorgeschlagen, den Aus gang, durch den sie gekommen waren, zu zertrümmern, man konnte ja nie wissen. Redds teuflischen Einfalls reichtum durfte man nicht unterschätzen. Ein Überbleib sel des Kristallkontinuums konnte sie auf die Idee brin gen, dieses vollständig wiederherzustellen, um ihre Beute umso schneller einzuholen. Jetzt, da der Ausgangsspiegel zerstört war, würden Redd und ihre Häscher sich zu Fuß oder mit Pferden fortbewegen müssen. »Der Spiegel ist wahrscheinlich von Wilderern aufge stellt worden, die Jabberwocks gejagt haben«, hatte Na nik vermutet. »Glücklicherweise wussten Redds Helfers helfer wohl nichts davon, sonst wären wir immer noch im Nichts.« Er schauderte bei dem Gedanken. »Wenn Redd uns im Kontinuum gesehen hat, dann beobachtet sie uns jetzt vielleicht immer noch«, sagte General Doppelgänger. »Da kann man nichts machen«, sagte Mac. Dodd war ungeduldig geworden. »Wir sollten hier nicht rumstehen und quatschen, sondern uns auf den Weg machen.« 261
Nanik, der genaue Karten des Königinnenreichs im Kopf hatte, übernahm die Führung zum Tal der Pilze. Während sie am felsigen Abhang des Kraters entlang wanderten, mussten sie auf jeden Schritt achten. Sie wa ren Tausende von Metern hoch, und der Weg war äußerst gefährlich. »Aaah!« Ein harter Lavabrocken traf General Doppelgänger an der Schulter. Die Alyssier blieben stehen und sahen zum Rand des Kraters empor. Erneut kamen Felsbrocken von oben. Der Vulkan war in Bewegung. Nein, nicht der ganze Vulkan. Nur ein Teil des Ab hangs war in Bewegung geraten. Ein Erdrutsch. Der Boden unter ihren Füßen gab nach, und sie wur den in eine schwarze Schlucht hinuntergerissen. General Doppelgänger war halb verschüttet, Nanik steckte mit dem Kopf im Geröll, während seine Beine in der Luft zappelten, aber es gelang ihm, hustend und spuckend wieder auf die Füße zu kommen, bevor er erstickte. Alyss war auf einem Kiesbett gelandet, aber weil sie die Leichteste war, hatte das Geröll sie nicht verschlungen. Mac und Dodd klopften sich Lavastaub von den Ärmeln, als sei so ein Erdrutsch eine alltägliche Sache. »Sind alle da?«, rief General Doppelgänger. »Alyss? Alles in Ordnung?«, fragte Dodd besorgt. Ja, hier bin ich, dachte Alyss, mit zerrissener Bluse, aufgescheuerten Ellenbogen und Knien, und von oben bis unten mit schwarzem Lavastaub überpudert. Aber sie wollte nicht, dass die anderen sie für ein Zierpüppchen hielten. »Ja«, rief sie laut. Schließlich sollte sie eine Krieger 262
königin werden und Redd besiegen. »Wir werden beo bachtet.« Tatsächlich spähten aus einer dunklen Höhle direkt neben ihnen zwei gelbgrüne Augen hervor. Noch ehe irgendjemand etwas sagen konnte, schoss zwischen zwei Felsen auf der anderen Seite der schuppige Kopf eines Jabberwocks hervor. Das gigantische Reptil schlug mit seiner gespaltenen Zunge nach Nanik, brannte ein Loch in seinen Talar und versengte dem Gelehrten die zarte Haut. »Aaaaaaaaah!« Selbst in dieser heißen Umgebung konnten Alyss und die anderen den heißen, stinkenden Atem des Reptils spüren. Das Ungeheuer riss das Maul auf und zeigte die Zähne, an denen blutige Fleischfetzen hingen, eine Drohgebärde, die völlig überflüssig war, denn die Alys sier waren schon erschrocken genug. Schrittweise wichen sie zurück. Der Jabberwock machte einen Sprung auf sie zu und spuckte einen Feuerball nach Alyss. Sie warf sich auf den Boden, und der Feuerball explodierte hinter ihr an einer Felswand. Der kurze Lichtblitz erhellte die Höh le auf der anderen Seite, und die Alyssier erkannten, dass die gelbgrünen Augen darin einem kleinen Jabberwock gehörten, der zwischen abgenagten Knochen in seinem Nest saß. »Sie beschützt ihr Junges!«, sagte Nanik. »Deshalb ist sie so aggressiv.« Die Jabberwock-Mutter erhob sich auf die Hinterbei ne, um erneut anzugreifen, aber jetzt riss Mac seinen Zy linder herunter und schleuderte ihn gegen die Felsen über der Höhle. Die Klingen fuhren heraus und zerschmetterten die Felsen. Abstürzendes Gestein begrub den Höhlenein 263
gang, und die Jabberwock-Mutter stieß einen Schre ckenslaut aus. Ohne sich weiter um die Alyssier zu küm mern, fing sie an, das Geröll am Höhleneingang mit ihren Krallen beiseite zu schaufeln, um ihr Junges zu retten. Die Alyssier eilten auf dem Grund der Schlucht davon. Keiner erwähnte es, aber sie wussten, dass ihnen von den Jabberwocks weiterhin Gefahr drohte, solange sie in der Vulkaneinöde blieben.
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hatte Nanik keine FeuerkristalÜ berraschenderweise le in seinem Talar, und so mussten sie ihr Feuer auf altmodische Weise mit Streichhölzern und etwas trocke nem Reisig entzünden. Die Vulkaneinöde lag hinter ih nen, und sie hatten ihr Lager an einem breiten Fluss auf geschlagen. Dodd wickelte frische Blätter um Naniks Brandwunde und befestigte sie mit einer Ranke. Nanik versuchte sei nen Arm zu bewegen und schnitt dabei so schreckliche Grimassen, dass Dodd grinsen musste. Mit einem Blick auf General Doppelgänger sagte er: »Möglicherweise werden wir den Arm amputieren müssen.« Nanik verstummte vor Entsetzen. »Sie können doch gewiss mit einem Arm genauso gut unterrichten wie mit zweien, nicht wahr?« Naniks Mund ging auf und zu, aber kein Ton kam her aus. Dodd und General Doppelgänger prusteten laut her aus. »Ich habe bloß Spaß gemacht«, sagte Dodd. »Der Arm bleibt dran, und die kleine Wunde verheilt bestimmt rasch.« »Oh! Haha! So ein kleiner Scherz kann nicht scha den«, sagte Nanik nervös. »Da erträgt man die Strapazen viel besser. Haha!« Trotzdem hielt er seinen verletzten Arm dicht an den Körper gepresst, bis Dodd und der General sich schlafen gelegt hatten. Erst dann gewann er die gewohnte Fassung 265
zurück und setzte sich neben Alyss. »So, Prinzessin, wenn es Euch recht ist, können wir jetzt endlich die Schulstunde abhalten, die wir immer wieder verschieben mussten. Zum Glück kann ich die nötigen Bücher alle samt auswendig.« Alyss nickte gehorsam, obwohl sie wahrlich keine Lust auf eine Schulstunde hatte. Der ganze Tag war ihr eine Lektion gewesen – eine Lektion im Überleben. »Ich werde meine Augen kurz schließen, wenn Ihr ge stattet, um meine Gedanken zu ordnen und das geeignete Material herauszusuchen«, erklärte Nanik. »Es dauert nur eine Sekunde.« Doch sobald der Lehrer die Augen geschlossen hatte, sank sein Kopf herunter, und er fing an zu schnarchen. Bei jedem Atemzug öffneten und schlossen sich seine Ohren. Alyss lächelte müde und deckte ihn mit seinem Talar zu. Dann setzte sie sich auf die andere Seite des Feuers, um ihn ungestört schlafen zu lassen. Wie damals in ihrer ersten Nacht bei den Straßenkindern in London war sie viel zu aufgewühlt, um zur Ruhe zu kommen. Wie hatte ihre Fantasie bloß funktioniert, als sie noch klein war? Wie war es ihr gelungen, alle möglichen Ge genstände aus der Tiefe ihrer Imagination zu erschaffen? Mit der Häkeldecke hatte sie Glück gehabt. Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, so ein Ding zu erfinden, sondern wollte bloß Dodd vor den klebrigen Fängen der Spinne beschützen. Mac saß auf der anderen Seite des lodernden Feuers und reinigte seine Waffen. Sein Zylinder lag neben ihm. Er schnallte nacheinander das linke und das rechte Klin genarmband vom Handgelenk und wischte die Messer mit Blättern sauber. Alyss hatte noch nie einen Agenten der Modisterei ohne seine Armbandklingen gesehen. Er 266
sah eigentlich ganz wie ein normaler Wunderländer aus. Und als er jetzt auch noch seinen Mantel auszog und ne ben sich ins Gras legte, wirkte er vollends gewöhnlich. Ohne seinen Mantel und seine auffälligen Waffen gab es nichts, was ihn von einem normalen Mann unterschied. Er muss doch auch seine Hoffnungen, Träume, Sehnsüchte und Sorgen gehabt haben. Merkwürdig, dass ich so we nig über einen Mann weiß, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, mich und meine Familie zu schützen. Mac ertappte sie dabei, dass sie ihn anstarrte, und sie lächelte verlegen. Er arbeitete weiter. Wie hat meine Fantasie bloß funktioniert? Aber genau das war das Problem. Sie konnte sich gar nicht daran er innern, dass ihre Fantasie »funktionierte«. Sie war ein fach da. »Mac?« »Ja, Prinzessin?« »Wenn Sie gegen irgendwen kämpfen, also sagen wir mal in einer Schlacht, was denken Sie da?« Mac überlegte. »Nichts, Prinzessin. Dann denke ich gar nichts.« »Sie sagen sich also nicht: jetzt werfe ich meinen Zy linder, und dann greife ich mit den Klingen an meinem Arm an oder so etwas?« »Nein.« »Nein«, wiederholte Alyss. »Natürlich nicht. Es ge schieht einfach. Ihr Körper weiß von ganz allein, was er tun muss.« Mac nickte. Es geschieht unbewusst. Um etwas herbeizuwünschen, muss der Wunsch so tief sitzen, dass keine Selbstzweifel aufkommen können. Die Kraft der Fantasie muss ganz selbstverständlich und unbezweifelbar sein. 267
Mehrere Mondstunden vergingen, und am Anfang war sich Alyss ihrer Bemühungen, etwas herbeizufantasieren, viel zu bewusst. Ein Teller, ein Schwert, eine Krone. Ein Teller, ein Schwert, eine Krone. Sie wiederholte sich die se Wörter immer und immer wieder, aber keine Krone erschien. Ein Tellerrand tauchte für kurze Zeit einmal auf, aber er verschwand sofort wieder. Ein Schwert er schien ebenfalls, aber nur in Umrissen und ohne Details, so als wäre es nicht genau genug imaginiert worden. Allmählich brannte das Feuer nieder, bis nur noch glimmende Holzscheite blieben. Alyss wurde müde, ihr Kopf wurde leer, und sie fiel in eine Art Trance. Ein gro ßer Glassturz erschien in der Luft, wie man ihn benutzt, um einen Kuchen damit abzudecken. Alyss betrachtete ihn ohne Erstaunen. Sie neigte den Kopf nach links, und der Glassturz kippte ebenfalls leicht nach links. Sie neig te den Kopf nach rechts, und der Glassturz machte das selbe. Dann ließ sie ihn ohne jede Kopfbewegung über das Feuer herabsinken. Vom Sauerstoff abgeschnitten, erstickte das Feuer, und der Glasdeckel löste sich auf. Alyss strahlte – sie hatte nicht nur etwas imaginiert, sondern den Gegenstand ihrer Vorstellung auch noch genau so dirigiert, wie sie wollte. Das muss ich üben. Ich muss … oh. Er hat es gesehen. In der Tat hatte Mac den Vorgang beobachtet. Er neig te respektvoll den Kopf. Dann ertönte plötzlich ein dumpfes Aufschnarchen, und Nanik fuhr aus dem Schlaf hoch. »Ohne das Feuer ist es ziemlich kalt, nicht wahr«, sagte er bibbernd.
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die Spiegel des Königinnenreichs zerschlagen A lswaren, richtete sich Redds Wut wieder gegen den
Karobuben. »Ich gewähre dir Freiheiten, die kein anderer genießt. Und warum? Weil es mir nutzen soll. Ich habe dich glau ben lassen, dass du selbstständig tun und lassen kannst, was du willst. Im Austausch solltest du mir Informatio nen beschaffen. Als Königin steht es mir zu, aus allen Geschäften den größten Nutzen zu ziehen, und es erfreut mich nicht im Geringsten, mein Freund, dass du von Verrat profitieren wolltest.« »Eure Königliche –« Redd machte eine Handbewegung, und der Karobube flog rücklings an eine der teleskopischen Scheiben in der Beobachtungskuppel. Der Schwanz des Katers zuckte vergnügt. »Was soll ich bloß mit dir machen?«, fragte Redd. »V-vielleicht könntet Ihr –«, begann der Karobube zu stottern, und der Kater hob eine Pfote: »Ich hätte einen Vorschlag!« »Das war eine rhetorische Frage, ihr Dummköpfe«, sagte die Königin. »Die beantwortet man nicht! Seit wann brauche ich eure Hilfe, wenn ich jemanden quälen will?« Diesmal wussten der Kater und der Karobube, dass es klüger war, die Klappe zu halten. Redd glitt über den glänzenden Boden bis dicht an den 269
Karobuben heran, streichelte über seine Perücke und nahm eine der langen Locken in die Hand, um sie zu be trachten. Dann packte sie plötzlich zu, riss ihm die Locke vom Kopf und schleuderte sie auf den Boden. Die Locke lag eine Sekunde auf dem schimmernden Marmor, dann begann sie plötzlich zu wachsen. Sie wur de größer und größer, und immer haariger dazu. Dann bekam sie Arme und Beine. Am Ende war sie zweimal so groß wie der Karobube. »Nun, Bube, willst du meinem Perückenmonster nicht Guten Tag sagen?« »Guten Tag«, sagte der Karobube gehorsam, aber da hatte ihm das Perückenmonster schon einen Hieb in den Magen versetzt. Er klappte zusammen und schnappte nach Luft. Das Perückenmonster hob ihn auf und schleu derte ihn quer durch den Raum. Er landete mit einem dumpfen Aufprall, der seinem Gewicht entsprach. Mit einem Sprung war das Monster neben ihm, hob ihn hoch, stellte ihn auf die wackligen Füße, hielt ihn mit einer Hand aufrecht und begann ihn mit der anderen systema tisch zu ohrfeigen. Der Kater sah zu und schnurrte grinsend, aber sein Vergnügen wurde jäh unterbrochen, als Redds Stimme voller Wut und Unglauben losschrie. Redd hatte ihr Inne res Auge auf Alyss gerichtet, und eigentlich hätte sie gar nichts sehen sollen, denn Alyss hätte längst Teil des Nichts sein müssen. Stattdessen sah sie die Prinzessin, Mac Rehhut und die anderen durch die verbrannten, schwarzen Lavafelsen der Vulkaneinöde wandern. »Sie ist gar nicht tot!«, kreischte Redd. »Alyss ist noch am Leben!« Auch der Karobube hörte die Worte, aber es dauerte eine Weile, bis sein malträtiertes Gehirn sie begriff. Zwi 270
schen den Schlägen des Monsters presste er mühsam her aus: »Sie – gehen – zum – Spiegellabyrinth!« Redd hob die Hand, und das Perückenmonster hörte auf, den Karobuben zu prügeln. »Ich bin wohl einfach zu weichherzig, sonst würde ich die Idee weit von mir weisen, dass du jemals etwas von wie auch immer gearteter Bedeutung zu sagen haben könntest.« Der Karobube hatte Glück, dass Redd nie aufgepasst hatte, wenn ihr Nanik in ihrer Jugend etwas beizubringen versucht hatte. Er ahnte, dass sein Wissen um das Spie gellabyrinth ihm jetzt helfen konnte. Aber er gedachte Redd sein Wissen nur scheibchenweise zur Verfügung zu stellen. Sein Überleben konnte sehr wohl davon abhän gen, dass er Redd seine Informationen nicht gleich alle auf einmal zukommen ließ. »Das Spiegellabyrinth, Eure Königliche Bosheit. Wenn sie das Labyrinth durchschreitet, wird Alyss ihre volle Stärke erreichen, und ihre Fantasie kann Eurer dann durchaus überlegen sein.« »Aber den Herzkristall habe ich! Ohne ihn kann sie ih re volle Kraft nicht entfalten!« »Ich wiederhole nur, was ich von Nanik Schneeweiss gehört habe, Eure Königliche Bosheit.« Er hätte Nanik nicht erwähnen sollen. Redd wurde schon wieder wütend. Der Karobube warf einen raschen Blick auf das Perückenmonster. Es lag vollkommen still, so als wäre es nie lebendig gewesen. So weit, so gut. »Und was wäre, wenn ich an ihrer Stelle durch das Labyrinth ginge?«, fragte Redd. »Ah, sehr klug, Eure Königliche Bosheit. Wenn Ihr durch das Labyrinth geht, seid Ihr noch viel mächtiger. Ich bin sicher, dann könnte Alyss Euch niemals besiegen.« 271
Was der Karobube über das Spiegellabyrinth wusste, hätte in das dritte Nasenloch eines Gwynuks gepasst – und die waren wirklich kaum sichtbar. Als er noch ein kleiner Junge war, hatte er oft gehört, wie seine Mutter sich darüber ärgerte, dass Prinzessin Genevieve durch das Labyrinth gegangen und Königin geworden war. Sie wusste allerdings nicht, dass man nicht allein dadurch schon Königin werden konnte. Keiner aus der KaroFamilie war von Nanik Schneeweiss unterrichtet worden, deshalb wussten sie auch nicht, dass nur diejenige das Labyrinth betreten konnte, für die es bestimmt war. Aber wie so viele privilegierte junge Männer von Stand hatte der Karobube keine Ahnung, wie unwissend er war. »Wir werden gleich sehen, ob du Recht hast«, sagte Redd. »Bringt mir ›In reginam speramus‹!« Das Walross watschelte herein. »Hier ist es, Eure Kö nigliche Bosheit. ›In reginam –‹« Das Buch flog ihm aus den Flossen und schwebte vor Redd in der Luft, während sie darin blätterte und nach einer Erwähnung des Spiegellabyrinths suchte. Es war keine zu finden. Alles, was sie fand, waren die Ränder herausgerissener Seiten und ihre eigenen Worte in Na niks Handschrift. »Pah!« Sie schlug das Buch wütend zu, und schon flog es in Richtung des Butlers. Der duckte sich rasch, und das Buch schlidderte über den Boden in den Spiralgang hin aus. »Ich hole es, Königliche Bosheit«, sagte der Walross butler und lief dem Buch hinterher. Er konnte sich nie schnell genug aus Redds Gesellschaft entfernen. Redd schlenderte zum Karobuben und lächelte. Ihre Nonchalance war furchteinflößend. »Und jetzt, mein un 272
würdiger Diener, wirst du mir erzählen, wo das Spiegel labyrinth sich befindet.« »Aber ich weiß es doch nicht!« Redds Finger zuckten, und der Karobube glaubte das Perückenmonster ebenfalls zucken zu sehen. »Die Alyssier wissen es auch nicht!«, sagte er rasch. »Denen müssen es die Raupen sagen!« Die Raupen: diese lästigen, überdimensionierten Kriech tiere. Redd hatte sie eigentlich gleich nach ihrer Machter greifung abschaffen wollen. Ihre altmodischen Prophezei ungen waren einfach höchst überflüssig und ärgerlich und erzeugten außerdem Widerspruchsgeist bei den Untertanen. Aber jedes Mal, wenn sie die Biester angreifen wollte, sa hen die Raupen sie kommen und verschwanden wie blauer Rauch. Deshalb hatte sie ihre Wut an den Pilzen austoben müssen, die das Viehzeug so liebte. Doch ein Angriff auf das Tal der Pilze würde ihr jetzt gar nichts nützen. »Ich habe beschlossen, Alyss mit den Raupen reden zu lassen«, erklärte sie hoheitsvoll. »Wir werden das kleine Herzchen genau beobachten, und sobald sie weiß, wo das Spiegellabyrinth sich befindet, werden wir angreifen, damit ich hineingehen kann. Kater, lass die Sucher los!« »Und was wird aus dem da?«, fragte der Kater ent täuscht. »Der könnte sich noch als nützlich erweisen.« Der Karobube lächelte Redds Killer spöttisch an. Der Kater war an all dem Ärger schuld. Dieser elende De nunziant war schuld an den blauen Flecken, die er überall spürte. Irgendwann würde er’s dem verdammten Katzen vieh noch mal eintränken. »Du scheinst deine Leben ja nicht sehr zu schätzen, mein lieber Kater«, sagte die Königin, »sonst würdest du meine Befehle ein bisschen rascher befolgen, oder?« 273
Während der Kater davonlief, um die Sucher loszulas sen, richtete Redd ihr Inneres Auge auf Alyss. Ach, es würde herrlich grausam werden! Die zimperliche Alyss würde ihre persönliche kleine Reiseführerin zum Spiegel labyrinth und damit zum Instrument ihres eigenen Unter gangs werden. Eine wirklich köstliche Gemeinheit. Der Kater konnte das hysterische Kreischen der Su cher schon hören, ehe er das Ende des Korridors erreicht und die schwere Tür zu dem Gewölbe aufgestemmt hatte, das aus dem Berg herausgemeißelt war. Es war unmög lich, die eigenen Schritte zu hören, weil die Schreie der Sucher so laut waren. Das Gewölbe wurde von den glü henden Kristallen, die in die Wände eingelassen waren, nur schwach erhellt. Hunderte von Käfigen hingen von der Decke herunter, und in jedem Käfig hockten mehrere Sucher. Das waren Redds Spürhunde, die sie aus Miss trauen und Paranoia geschaffen hatte. Sie hatten Körper wie Raubvögel, und ihre Köpfe sahen aus wie die von Blut saugenden Insekten. Der Kater ging unter den Käfigen hin und her und hielt den Suchern das Hochzeitskleid hin, das Alyss in Westminster Abbey angehabt hatte. Er lockte die Sucher mit seinem Duft, und die Spürhunde streckten ihre Rüs sel durch die Gitterstäbe und schnüffelten gierig. Als er sie genügend aufgestachelt hatte, legte der Ka ter einen Hebel am Fußboden um, und eine Wand wich zur Seite, die von außen wie ein Teil des Berges aussah. Die Käfige öffneten sich, und die Sucher flogen mit wil den Schreien hinaus in die Nacht.
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Alyssier traten aus einem kleinen Wald und D iestanden auf einem Bergrücken. Vor ihnen er
streckte sich das Tal der Pilze. Die Sonnen gingen am Horizont unter, und ihre letzten Strahlen beleuchteten die Pilze, die von einem Ring blauer Berge umgeben waren. Die Farben der Pilze waren alle verschieden, sie reichten von einem kräftigen Rosa und einem energischen Braun bis zu einem durchscheinenden zarten Gelb. Das Licht der untergehenden Sonnen spielte mit diesen Farben und ihren Schatten, so dass die Alyssier einen Anblick von strahlender Schönheit genossen. Die Farben des Tals stärkten die Hoffnung in ihren Herzen, und für einen Augenblick schien es undenkbar, dass Redd sie würde aufhalten können. Zahlenmäßig wa ren sie ihrer Gegnerin weit unterlegen, aber sie waren stark und entschlossen. Sie glaubten an ihre Sache. Doch dieser Optimismus dauerte nur einen Moment. Als sie ins Tal hinabstiegen, mussten sie feststellen, dass die Landschaft nicht mehr so schön war, wie sie einst gewesen sein mochte. Kahle Pilzstümpfe zeigten das Wüten von Redds Soldaten; heruntergerissene Pilzhüte bedeckten den Talboden. Stumm führte Nanik die Alyssier durch die geschände te Pilzlandschaft bis zu einer Lichtung, wo sie auf fünf große, zusammengerollte Raupen stießen, die eine enor me Wasserpfeife rauchten. Jede Raupe saß auf einem Pilz, der dieselbe Farbe wie sie selbst hatte: rot, orange, 275
gelb, violett und grün. Die Raupen zeigten keinerlei Überraschung, als die Alyssier die Lichtung betraten. »Der Große Raupen-Rat«, erklärte Nanik den anderen flüsternd. Dann trat er vor und sagte mit lauter Stimme: »O ihr Weisen, wir sind eurer Hilfe bedürftig. Wir –« Die orangefarbene Raupe hob ihr rechtes Vorderbein, als wollte sie psst! sagen, und alle anderen Beine auf der rechten Seite wiederholten nacheinander die Geste. »Wir wissen, warum ihr da seid.« »Was wären wir denn für Orakel, wenn wir nicht ein mal das wussten?«, sagte die gelbe Raupe. Die Wasserpfeife gurgelte leise, die violette Raupe nahm einen tiefen Zug, rollte die Augen nach hinten und ließ den Rauch aus den Nasenlöchern strömen. Dodd und General Doppelgänger tauschten einen un sicheren Blick. Mac stand verteidigungsbereit da. Er hielt eine Hand an der Krempe seines Zylinders und musterte die Umgebung für den Fall, dass es Ärger gab. »O weise, alles sehende Raupen«, sagte Nanik, »wir entbieten euch unseren demütigen und respektvollen Gruß und hoffen inständig, dass –« »Hm«, sagte die grüne Raupe, »das kommt mir vor wie ein Dejà-vu.« »Na, so was!«, sagte die gelbe Raupe. »Liegt das viel leicht daran, dass du das alles vorhergesehen hast?« »Ja, genau! Du hast Recht!« Der Raupen-Rat kicherte. »Wir bedauern unendlich, dass auch eure Heimat unter Redds Schreckensregiment gelitten hat«, fuhr Nanik fort. »Da ihr wisst, wer wir sind und warum wir gekommen sind, wisst ihr gewiss auch …« An dieser Stelle fielen die Raupen in seine Ausfüh rungen ein und sagten im Sprechchor: »… dass wir hier 276
sind, um das Königinnenreich zu retten, der rechtmäßi gen Königin zum Thron zu verhelfen und die Jahre der Tyrannei zu beenden.« Die Fähigkeit, in die Zukunft (oder in die mögliche Zukunft) zu sehen, machte die Raupen nicht immer zu angenehmen Gesprächspartnern. »Habt ihr uns was zu futtern mitgebracht?«, fragte die orangefarbene Raupe. »Vielleicht ein paar Feuertörtchen?«, sagte die gelbe Raupe hoffnungsvoll. »Nun ja«, sagte Nanik und durchsuchte seinen Um hang nach Törtchen, fand aber keine. Ich werde ein Dutzend Feuertörtchen imaginieren. Das ist eine gute Übung. Alyss fing gerade an, sich zu konzentrieren, als eine Reihe von blauen Rauchringen über dem Pilzdickicht aufstieg. »Das ist Blauw, er ruft Alyss zu sich«, sagte die oran gefarbene Raupe. »Er wird ihr alles sagen, was sie wis sen muss.« Der Große Raupen-Rat verstummte und paffte seine Wasserpfeife, als ob seine Mitglieder sich auf diese Wei se untereinander verständigen könnten. »Geht nur, Alyss«, sagte Nanik. »Das ist schon in Ordnung.« Die Prinzessin folgte den Rauchringen durch das Di ckicht der Pilze, bis sie zu einem halb zerstörten Tempel kam. Über der Tür standen die Worte: Hat Lao’tse den Schmetterling geträumt oder der Schmetterling Lao’tse? Davor, auf einem blauen Pilz, saß die blaue Raupe, die eine eigene Wasserpfeife rauchte. »Vielen Dank, dass Sie mich empfangen«, sagte Alyss mit einer Verbeugung. »Ahem hmm, hmm«, brummte die Raupe und stieß ei 277
ne blaue Rauchwolke aus, in der Prinz Leopold erschien. Der Prinz ging aufgeregt in einem Londoner Salon hin und her, während seine Mutter, Königin Victoria, in ei nem Sessel saß und sich Luft zufächelte. Auch Dekan Liddell und seine Frau waren anwesend. Sie saßen steif und dicht beieinander auf einem Sofa, deutlich einge schüchtert von der Anwesenheit der Königin. Alyss war klar, dass die Szene mit ihr zu tun hatte. Warum hätte sie ihr das Orakel sonst zeigen sollen? Es war offensichtlich, dass Leopold sich Sorgen um seine verschwundene Braut machte. Zumindest hat er überlebt! Aber war es die Ver gangenheit, was sie sah? Oder die Gegenwart? »Selbst in jener Welt«, sagte die Raupe, »wo niemand wusste, wer Ihr wart, solltet Ihr einen Prinzen von könig lichem Geblüt heiraten. Wie es scheint, lässt das Schick sal nicht zu, dass Ihr Euch verleugnet.« »Ich wollte mich gar nicht verleugnen, mein Herr.« Die Raupe runzelte die Stirn und sog an ihrer blauen Wasserpfeife. »Nennt mich Blauw.« »Oh. Gern. Also, Blauw: Ich wollte gar nichts ver leugnen. Aber die Zeit, in der ich nicht in Wunderland war, hat mich sehr verwirrt. Ich habe so viel durchge macht, und ständig laufe ich nur vor denen davon, die stärker sind als ich. Das kommt mir nicht gerade sehr … königlich vor.« »Ahem hmm, mmmh«, sagte Blauw, und in der Rauchwolke, die er aus seiner Raupenlunge stieß, er schienen die Worte: Manchmal ist es tapferer wegzulau fen. »Wenn Ihr weglauft, lebt Ihr länger und müsst mehr Unsicherheiten und Schwierigkeiten ertragen«, psalmo dierte die Raupe. »Es wäre doch viel einfacher für Euch, aufzugeben. Ihr braucht an Eurer Tapferkeit nicht zu zweifeln, Prinzessin Alyss. Wer vor seinen Feinden da 278
vonläuft, bis er stark genug ist, ihnen entgegenzutreten, ist sowohl klug als auch tapfer.« Komisch, mir kommt es wie Feigheit vor. »Wissen Sie, warum ich hier bin?« »Ihr sucht das Spiegellabyrinth, genau wie vor Euch Eure Mutter.« Alyss sagte nichts. Sie erinnerte sich, wie überrascht sie gewesen war, als ihre Mutter sich so beherzt in den Kampf gestürzt hatte. Sie muss auch einmal so vor Blauw gestan den haben wie ich jetzt – Und die Zukunft des Königinnen reichs war damals genauso durch Redd gefährdet wie jetzt. Blauw schien zu wissen, was sie dachte. »Alyss, Eure Mutter war eine Kriegerkönigin, das habt Ihr auf bittere Weise erfahren. Sie ist durch das Labyrinth gegangen, um den Thron zu besteigen und das Beste aus dem zu machen, was in ihr angelegt war. Aber ihre Kraft reichte nur bis zu einem gewissen Punkt. Redd war von Anfang an die Stärkere. Doch Ihr, Alyss, besitzt die Kraft von Generationen. Wenn Ihr im Labyrinth besteht, werdet Ihr spüren, wie stark Ihr seid.« »Und wenn ich die Prüfung nicht bestehe?« Blauw ignorierte die Frage. »Alles, was bisher ge schehen ist, musste sein, wenn Ihr die stärkste Königin werden sollt, die Wunderland je hatte. Es war notwendig, um die Vernunft und Mäßigung zu erzeugen, die Ihr als Hüterin des Herzkristalls braucht. Mac Rehhut wird euch zu jemandem führen, der weiß, wo man das Labyrinth findet. Sucht einen Rätsel-Laden. Ihr werdet den Schlüs sel zum Labyrinth erkennen, wenn Ihr ihn seht, aber dazu müsst Ihr nach Wundertropolis zurückkehren.« Blauw bildete ein »O« mit seinen Lippen und stieß einen dicken Rauchring aus, der die Prinzessin vollständig einhüllte.
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Als Alyss erwachte, war sie allein. Sie ging durch die Pilze zurück zu Dodd und den anderen. Die Mitglieder des Raupen-Rats saßen immer noch zusammengerollt auf ihren Pilzen und schmauchten zufrieden. Ihr Ge sichtsausdruck veränderte sich nicht, als Alyss zurück kam, aber die Alyssier sahen ihr erwartungsvoll entge gen. »Wir müssen zurück nach Wundertropolis«, sagte sie. Die anderen stöhnten. »Das heißt ja, sich direkt in die Höhle des Jabber wocks zu begeben!«, erklärte Nanik. »Oder den Sucher in seinem Nest aufzustören, oder –« Die grüne Raupe stieß eine zarte Rauchwolke in Rich tung des Hauslehrers aus, der sich merklich entspannte, als ihn der Rauch einhüllte. »Nun ja«, lächelte er leicht verträumt. »Wenn es sein muss, dann gehen wir eben nach Wundertropolis.« »Wohin genau?«, fragte Dodd. »Er sagte, Mac könne uns zu jemandem bringen, der weiß, wo das Spiegellabyrinth ist.« Die anderen wandten sich dem Agenten zu, aber auch der schien verblüfft. »Ich? Woher soll ich denn so jemanden kennen?«, sagte er leicht ärgerlich. »Ich bin seit dreizehn Jahren nicht mehr in Wundertropolis gewesen. Die Leute, die ich mal gekannt habe, sind entweder tot oder sie verste cken sich vor den Behörden.« Nanik, der immer noch unter dem Einfluss des aroma tischen Rauchs stand, legte Mac eine Hand auf die Schul ter. »Entspannen Sie sich, mein Lieber. Das Orakel sagt so etwas doch nicht zum Spaß oder weil es sich gern re den hört. Es gibt bestimmt einen Grund. Entspannen Sie sich und denken Sie gründlich nach.« 280
Also dachte Mac nach. Was hätte er damals vor drei zehn Jahren getan? An wen hätte er sich gewendet? Wo hin wäre er gegangen? »Es gibt da einen Treffpunkt«, sagte er schließlich. »Ich weiß nicht, ob er noch existiert. Aber da bin ich immer hingegangen, wenn die offiziellen Stellen nicht über die Informationen verfügten, die ich gebraucht ha be.« »Na, dann gehen wir dorthin!«, sagte General Doppel gänger. »Ja, lasst uns endlich aufbrechen«, drängte Dodd. Ihm war es egal, ob sie den Sucher in seinem Nest störten. Ganz im Gegenteil, ihm war das nur recht.
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das bequeme Reisen im Kristallkontinuum O hne war es ein langer, erschöpfender Marsch nach Wundertropolis. Da sie keine weiteren Jabberwocks tref fen wollten, machten die Alyssier einen großen Bogen um die Vulkaneinöde, und erstaunlicherweise verlief ihre Wanderung gänzlich ohne Zwischenfälle. Sie sahen kein einziges Gläsernes Auge und auch keinen Kartensoldaten. Schließlich standen sie in einer verkommenen Gasse der Stadt vor einem verlassenen Gebäude. »Wo ist es denn nun?«, fragte General Doppelgänger. »Da drüben!« Mac zeigte auf die andere Straßenseite, wo gerade zwei betrunkene Wunderländer aus einer Kel lerkneipe heraufkamen und auf die Straße hinausstolper ten. »Das da?«, sagte General Doppelgänger. »Das Lokal sieht aber recht … fragwürdig aus.« »Es ist das einzige, das ich kenne«, sagte Mac. Er warf seinen Gefährten einen prüfenden Blick zu: Nanik mit seinem Talar, General Doppelgänger, Dodd und die Prin zessin in ihren alyssischen Uniformen. Die Tatsache, dass sie keine gewöhnlichen Wunderländer waren, ließ sich beim besten Willen nicht verbergen. Betonen musste man sie aber auch nicht unbedingt. Daher nahm der Agent seinen Zylinder ab, faltete ihn zusammen und schob ihn in seine innere Manteltasche. Den Mantel legte er sich über den Arm, so dass er die tödlichen Klingen jederzeit griffbereit hatte. »Seid ihr bereit?«, fragte er. 282
Alyss nickte, und die Gefährten überquerten die Straße und betraten die Taverne. Am Eingang blieben sie einen Augenblick stehen, um sich an das Dämmerlicht zu ge wöhnen, was dem Wirt und einem zahnlosen alten Schmuggler am Tresen Gelegenheit gab, sie gründlich zu mustern. Die anderen Gäste waren zu sehr mit ihren Ge tränken beschäftigt, um die Neuankömmlinge groß zu beachten. Viele konnten sich kaum auf den Hockern hal ten, und manchen war der Kopf auf den Tisch gesunken. »Wir müssen uns nicht unbedingt zur Schau stellen«, sagte Dodd. »Wir sollten uns lieber setzen.« Sie setzten sich um den nächstbesten Tisch, und der Wirt machte eine Kopfbewegung zu einer dunklen Ecke des Lokals hin, aus der gleich darauf ein Mädchen mit einem langen Mantel und einem schwarzen Homburg trat. Sie kam an den Tisch und bat um die Bestellungen der Alyssier. Ist das nicht …? Ja! Das ist das schüchterne Mäd chen, das mir im Lager den Tee gebracht hat. »Du?«, sagte Nanik überrascht. »Ja, ich«, bestätigte das Mädchen. »Aber … wie … Ich verstehe nicht …« Es war das erste Mal, dass jemand Nanik nach Worten ringen sah. »Liebes Kind«, sagte er schließlich, »ich weiß nicht, wie du den Überfall auf unser Lager überlebt hast, und natürlich freut es mich, dich am Leben zu sehen, aber … was tust du ausgerechnet hier? Du bist doch viel zu jung, um in einem solchen Lokal zu arbeiten.« »Ich bin dreizehn. Alt genug, denke ich. Ich bin froh, dass ich überhaupt arbeiten kann.« Alyss warf Dodd einen Blick zu, und sein fragender, leicht verstörter Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass sie 283
beide dasselbe dachten. Ist das die Person, die wir treffen sollen? Ein bloßer Zufall kann das doch nicht sein. Aber das Mädchen war noch so jung, gar nicht das, was sie erwartet hatten. »Wie gut kennst du die Stadt?«, fragte General Dop pelgänger. Das Mädchen zuckte die Achseln. »Ganz gut, würde ich sagen.« Mac hatte eine kleine Tätowierung unter dem linken Ohr des Mädchens entdeckt: ein halb verstecktes blaues »M«. Sein Gesicht wurde feindselig. »Sie ist ein Bastard. Die Tochter einer Zivilistin und eines Modisten. Solchen Mischlingen kann man nicht trauen.« »Mac –«, begann Nanik. »Ich brauche Ihr Vertrauen nicht«, sagte das Mädchen. »Ich diene der Prinzessin … wenn sie es mir erlaubt.« Mit einer kaum merklichen, für die anderen Gäste nicht wahrnehmbaren Verbeugung wandte sie sich an Alyss. »Zu Euren Diensten, Prinzessin. Ich bin HomburgMolly.« Alyss neigte ebenfalls den Kopf. »Wir suchen einen Rätsel-Laden. Kennst du den?« »Ich glaube, ja.« »Woher sollen wir wissen, dass sie uns nicht in eine Falle lockt?« Die Frage kam von Mac. »Dafür gibt’s keine Garantie.« »Mac, ich glaube, wir haben von diesem Mädchen nichts zu befürchten«, sagte Nanik. »Und wenn ich mir die anderen Gäste so ansehe, kann es bestimmt nichts schaden, eine Freundin in dieser Spelunke zu haben.« Immer mehr Gäste erwachten allmählich aus ihrer Be täubung und hoben die Köpfe. Alyssier waren hier gar nicht willkommen, das zeigten die zahlreichen drohenden 284
Blicke. Der zahnlose Schmuggler verließ seinen Platz an der Theke und eilte hinaus. »Na, wo will der jetzt wohl hin?«, fragte Dodd sarkas tisch. »Wenn Sie Angst haben«, sagte Molly zu Mac, »brau chen Sie ja nicht mitzugehen.« »Angst?« »Das passiert jedem mal.« »Trödel nicht rum, Mädchen«, rief der Wirt. »Sie sollten lieber was bestellen«, sagte Molly. »Bring uns, was du willst, Mädchen«, sagte Nanik, »wir wollen ja nicht, dass du Ärger kriegst.« Molly ging an die Theke und musste sich eine Serie von Beschimpfungen wegen ihrer angeblichen Faulheit anhören, während der Wirt fünf angeschlagene Krüge mit einem schaumigen, dampfenden Gebräu füllte. Nanik schüttelte den Kopf. »Was ist das bloß für eine Welt, in der eine Dreizehnjährige als Kellnerin in so ei ner Taverne arbeiten muss, um zu überleben.« »Sie ist ein Bastard«, wiederholte Mac, als ob diese Tatsache alles andere unwichtig machte. »Wir hatten einige Mischlinge im Hauptquartier«, sag te General Doppelgänger. »Als die Modisterei aufgelöst wurde, haben etliche Agenten bei uns gelebt. Da wurden viele Mischlinge geboren. Sie sind keineswegs so illoyal, wie Sie glauben.« »Die denken doch bloß an sich selbst.« »Sie sagt, sie kennt den Rätsel-Laden«, erklärte Alyss, und es wurde still am Tisch. »Sie ist die Einzige, die Blauw gemeint haben kann. Seht euch doch um! Da ist sonst niemand.« »Immer unter der Voraussetzung, dass dies wirklich der richtige Ort ist«, sagte Dodd. 285
Aber Alyss war nicht bereit, ihre Entscheidung noch einmal zu ändern. Dies war der richtige Ort, und Molly war die richtige Person. »Ganz sicher«, sagte sie. Molly kam mit den Krügen zurück und stellte sie auf den Tisch. »Wohl bekomm’s!«, sagte sie. »Seht Ihr das Plakat dort, Prinzessin? Das für Redds Hotel & Kasino?« »Ja, Molly.« »Das ist eine falsche Wand. Dahinter ist ein Notaus gang, den wir benutzen, wenn eine Razzia stattfindet. Das Blatt ist schon auf dem Weg hierher.« »Das haben wir unserem zahnlosen Freund zu verdan ken«, sagte Dodd. In der Tat bog gerade eine Abteilung Kartensoldaten, ge führt von dem zahnlosen Schmuggler, in die Gasse ein. Das unverkennbare metallische Rasseln der marschierenden Stahlbeine hallte von den Häusern wider. Als man es auch in der Taverne hörte, war es fast schon zu spät. Die Solda ten stürmten herein, und die jäh ernüchterten Gäste ver suchten zu fliehen und kippten dabei Tische und Bänke um. Dodd, General Doppelgänger und Mac bildeten einen Verteidigungsring, um Alyss zu schützen. Die ersten bei den mit gezogenen Schwertern, während Mac seine Armklingen rotieren ließ. Molly duckte sich unter den gierigen Händen der Angreifer weg, ließ die messer scharfen Klingen ihres Homburgs kreisen und führte die Alyssier zu der Geheimtür. Hageldicht fielen die Schwerthiebe um sie herum, aber in eng geschlossener Formation erreichten sie das Plakat, Molly schob es bei seite, und die Alyssier verschwanden in dem dunklen, feuchten Tunnel dahinter. Molly betrat den Geheimgang als Letzte und versperr te ihn hinter sich mit einer soliden Stahltür. 286
Die Straße, auf die sie kurz darauf hinaustraten, war völlig verlassen. Keine Spur mehr von dem Getümmel, das hinter ihnen lag. Es hätte ein ganz gewöhnlicher Abend in Wundertropolis sein können. Die Alyssier blie ben stehen und holten erst einmal tief Luft. Molly aber lief sofort weiter die Straße hinunter. Sie schien genau zu wissen, wo sie jetzt hinmussten. Die Alyssier sahen ihr nach, bis das Mädchen sich plötzlich umdrehte und rief: »Na, was ist? Kommt ihr jetzt oder nicht?«
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war eine der berühmtesten Stra D ießenSmaragdallee der Hauptstadt. In der Regierungszeit von
Genevieve und davor war sie ein großer Boulevard mit eleganten Stadthäusern, feinen Läden und teuren Restau rants gewesen. Aber als sich die Nebenstraßen immer mehr zum Tummelplatz von Hehlern, Händlern mit ima ginationsanregenden Substanzen und anderen Kriminel len entwickelten, zogen sich die wenigen wohlhabenden und privilegierten Bürger von Wundertropolis, die es noch gab, in gut bewachte Villen am Stadtrand zurück. Heute war die Smaragdallee nur noch eine Ansammlung von verfallenen Bürgerhäusern, Imbissbuden und Müll haufen. An zahlreichen Kreuzungen brannten improvisierte Öfen mit Feuerkristallen, an denen Obdachlose sich wärmten. Ihre gemurmelten Unterhaltungen verstumm ten, als ein seltsamer kleiner Trupp an ihnen vorbeikam und vor einem Laden Halt machte, dessen staubige Schaufensterscheiben schon seit vielen Mondzyklen nicht mehr geputzt worden waren. »ZZLES & RÄT« war alles, was die Alyssier noch auf dem Ladenschild entziffern konnten. Die große Ein gangstür, durch die bequem zwei Trolldoggen nebenein ander hätten eintreten können, war abgeschlossen. Dodd schlug mit der Faust an die Tür. »Ich glaube nicht, dass da jemand drin ist«, sagte Ge neral Doppelgänger. 288
Naniks Ohren zuckten. »Ich höre Ärger kommen.« Er war blasser als gewöhnlich, zog ein Schwert aus seinem Talar und umfasste es mit beiden Händen. Dann hörten sie es alle. Der finstere Himmel wurde noch finsterer, und Redds Roter Mond wurde von einem großen Schwarm kreischender Sucher verdunkelt. Als die Sucher mit schauerlichem Geschrei angriffen, stoben die Obdachlosen in wilder Flucht auseinander. Dodd, Alyss, Nanik und der General hieben mit ihren Schwertern auf die Blutsauger ein, während Mac seinen Hut zwischen sie schleuderte. Zischend schnitten die Klingen hinein in den Schwarm. Zahlreiche verletzte und tote Sucher fielen zu Boden, während der Zylinder zu Mac zurückkehrte. Auch Molly hatte ihren Hut flach ge macht und benutzte ihn als Schild und Waffe zugleich, mit der sie die Geschöpfe aufspießte, wenn sie mit hung rigen Insektenmäulern aus dem Himmel auf sie herab stießen. »Aaaah!« Einer der Sucher hatte Dodd an der Schulter erwischt und stieß ihn zu Boden. Sein Schwert rutschte ihm aus der Hand und schlidderte außer Reichweite. Der Sucher kreiste über ihm und stürzte mit ausgestreckten Krallen auf ihn herab. Gerade noch rechtzeitig stieß Alyss sein Schwert mit dem Fuß zu ihm hin. »Da!«, stieß Dodd mit zusammengebissenen Zähnen hervor und spießte das Scheusal auf. Er rollte zur Seite, während der Sucher sein Leben aushauchte, und entdeck te zu seiner Freude den Turm und den Springer, die ihnen mit einem Zug überlebender Schachkämpfer zu Hilfe kamen. »Ich hoffe, ihr nehmt es uns nicht allzu übel, dass wir immer ohne Anmeldung kommen«, sagte der Turm. 289
»Wir sind den Suchern gefolgt«, ergänzte der Springer. Dodd war wieder aufgesprungen und kämpfte jetzt Seite an Seite mit dem weißen Turm. Sie richteten ihre Schwerter gerade rechtzeitig gen Himmel, um einen wei teren Sucher aufzuspießen, der mit einem schrecklichen Heulen sein Leben aushauchte. Jetzt kam eine Division von Redds Blatt aus einer Seitenstraße. Einige der Kar tensoldaten waren mit KG52 bewaffnet, automatischen Kartengebern, die pro Sekunde zweiundfünfzig messer scharfe Geschosse in Form und Größe gewöhnlicher Spielkarten abfeuern konnten. Sie hatten die Smaragdal lee kaum betreten, als sie auch schon eine erste Salve dieser Rasierklingenkarten auf die Alyssier abfeuerten. »Volle Deckung!«, schrie General Doppelgänger, und die Alyssier warfen sich auf den Boden. Nur Alyss und Molly pressten sich flach an die Fassade des RätselLadens, als die ersten Messer vorbeizischten. Sie wären womöglich getroffen worden, wenn Mac nicht wieder aufgesprungen wäre und die restlichen Rasierklingenkar ten mit seinen rotierenden Armklingen abgewehrt hätte. Eine weitere Salve der KG52 folgte, aber diesmal schloss die Prinzessin die Augen und legte den Kopf zu rück. Die tödlichen Karten flogen in hohem Bogen über sie weg. Dank Alyss’ Imagination wurden alle Alyssier von einer unsichtbaren Luftglocke um sie herum be schützt. Die Rasierklingenkarten trafen stattdessen die über ihnen kreisenden Sucher, von denen viele mit auf geschlitzten Hälsen herunterplumpsten. Doch die Soldaten kamen immer näher, und Mac schleuderte seinen rotierenden Hut in Richtung des Rät sel-Ladens. Die Klingen schnitten ein sauberes rundes Loch in die Scheibe des Schaufensters, das gerade groß genug war für Alyss. 290
»Geht!«, rief er. »Geht in den Laden!« General Doppelgänger teilte sich und machte Front gegen die herandrängenden Kartensoldaten. Dodd sprang an seine Seite. »Wir halten die Kerle schon auf«, rief er. »Ihr müsst nur das Labyrinth finden!« Es sind einfach zu viele. Auch mit der Unterstützung der Schachkämpfer sind wir verloren. Molly zog sie am Ärmel. Ich habe keine Wahl. Ich muss gehen. Ehe sie Molly durch das Loch folgte, imaginierte Alyss noch eine umfassende Ladehemmung bei den KG52 und hoffte inständig, dass ihre Fantasie dafür aus reichte. Denn sie konnte nicht länger warten. Die Solda ten hatten die Alyssier erreicht, und der Nahkampf war in vollem Gange. Eilig schlüpfte Alyss durch die Schau fensterscheibe. Wie es für ein Geschäft dieser Art richtig und ange messen war, war der »ZZLE & RÄT«-Laden selbst als Rätsel angelegt. Die hohen Regale bildeten ein kleines Labyrinth von Durchgängen und Sackgassen. Alyss und Molly irrten darin umher, ohne etwas zu finden. Die Re gale waren alle leer. Sie begannen Schränke zu öffnen und rissen Schubladen auf. »Was suchen wir eigentlich?«, schrie Molly. Wegen des heftigen Schwerterklirrens von draußen konnte Alyss ihre Stimme kaum hören. Weiß ich auch nicht genau. Aber dann wurde ihr Auge von einem klei nen blauen Blitz getroffen. Sie blickte nach oben und sah es: Auf dem höchsten Regal des Ladens lag ein schim mernder Kristall. Der Schlüssel zum Spiegellabyrinth, aus irgendeinem Grund wusste sie das einfach. »Da oben!« »Ich hol ihn!« 291
Molly war kaum die Hälfte des Regals hinaufgeklet tert, als es zu schwanken begann. Molly sprang hinunter und wich dem umstürzenden Regal aus, aber der Kristall befand sich im freien Fall. »Neiiiin!«, schrie Alyss. Wenn der Kristall zerbrach, war das Königinnenreich womöglich für immer verloren. Die Prinzessin stürzte sich mit ausgestreckten Armen in die Flugbahn des kostbaren Kristalls. Das schwere Bücherregal krachte zu Boden und zer brach in drei Teile. Aber Alyss hielt den Kristall sicher in ihren Händen. Sie drehte ihn hin und her und überlegte, wie er wohl funktionierte. Was soll ich jetzt –? Da flog mit einem Schlag die Ladentür auf, und wäh rend sie immer noch den blauen Kristall umklammerte, segelte Alyss rückwärts durch einen bisher unsichtbaren Spiegel, der so angemalt war, dass er aussah wie ein Teil der Wand. Das Gefecht hatte sich von der Straße ins Innere des Ladens verlagert. Aber Wunderlands rechtmäßige Prin zessin schwebte in ihrem Spiegel, und das Schlachtge tümmel erstarrte vor ihren Augen. Die Zeit blieb einfach stehen. Da war Dodd mit erhobenem Schwert, doch der Hieb traf die unter seiner Klinge erstarrte Zwei nicht. Mac, dessen rotierende Gürtelklingen zwei Vieren und eine Zwei gleichzeitig in Schach hielten, blieb mitten im Sprung hängen. Die beiden Generäle wollten Nanik zu Hilfe kommen, der aus irgendwelchen Gründen sein Schwert eingebüßt hatte. Und direkt vor ihr stand Molly, die völlig verblüfft auf die Stelle starrte, wo die Prinzes sin verschwunden war. Alyss sah das alles wie durch einen Schleier, und trotz der tödlichen Bedrohung für die Alyssier, trotz der Unsi 292
cherheit ihrer eigenen Zukunft fühlte sie sich beinahe heiter, als sie jetzt hinabtauchte ins Spiegellabyrinth.
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weich auf den Füßen. Sie stand inmitten S ieeineslandete Raumes, der wie ein Gefängnis aussah, ein Spiegelgefängnis. Zu allen Seiten gab es Spiegel, die ins Unermessliche zu reichen schienen, und egal in welche Richtung sie sich wandte, immer sah sie ihr Spiegelbild, das sich in die gespiegelte Ferne hinein unendlich wie derholte. »Das soll ein Labyrinth sein?«, fragte sie sich laut und bekam nicht nur ihre eigene Stimme zu hören, sondern einen ganzen Chor aus Stimmen, die alle die ihre waren. Die Spiegel reflektierten nicht nur ihr Abbild, sie gaben auch ihre Stimme wieder. Irgendetwas stimmte nicht – abgesehen davon, dass sie sich nicht in einem Labyrinth befand. Es muss der falsche Schlüssel gewesen sein, aber … Seltsam, sieht aus wie ich und doch auch wieder nicht. Das Spiegelbild direkt vor Alyss war irgendwie verzerrt, unscharf. Sie streckte ihre Hand aus, und – das Spiegelbild packte sie und zog sie zu sich hinein. »Wir müssen uns beeilen«, sagte das Spiegelbild. »Es gibt eine Menge zu tun und einen Haufen Leute zu besu chen. Und wir haben nur sehr wenig Zeit.« »Aber …« Alyss wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Spiegelbild ließ ihren Arm nicht los und zerrte sie eilig vorbei an Spiegelgängen, die sich gabelten und in weite Ferne hineinwanden, vorbei an verspiegelten Ni schen und Sackgassen. Sogar der Boden war aus Spie 294
gelglas. Mal wurde sie in die eine, mal in die andere Rich tung geführt. Alyss war sicher, dass ihr Spiegelbild diesen komplizierten Weg nur wählte, um sie zu verwirren. Hof fentlich muss ich nicht zurückfinden. Denn das war aus sichtslos; Alyss hatte jegliche Orientierung verloren. Das Spiegelbild brachte sie zu einer Stelle, die ein Ru heplatz zu sein schien, ein verspiegelter Raum, breiter als die Korridore, durch die sie gekommen waren. »Warte hier«, sagte das Spiegelbild. »Gleich wird sich jemand um dich kümmern.« »Geh nicht weg!« Aber Alyss war bereits allein. Oder doch nicht? Ihr Ebenbild blickte ihr von jeder Oberfläche entgegen. »Hallo?«, sagte sie, und wieder fiel ein ganzer Chor von Stimmen ein – die Stimmen ihrer Spiegelbilder. Sie streckte die Hand nach demjenigen aus, das ihr am nächsten war, aber ihre Finger konnten das Spiegelglas nicht durchdringen und stießen dumpf gegen die kühle Quecksilberoberfläche. Hätte ich ihr vielleicht folgen sollen? Doch Alyss war sich nicht mehr sicher, in welche Richtung das Spiegel bild verschwunden war. Stell dir einen Weg hinaus vor. Das ist es wohl, was ich tun soll. Wahrscheinlich ist es eine Prüfung. Alyss sammelte gerade all ihre Imaginati onskräfte, als sie durch ihre zusammengekniffenen Au genlider jemanden aus weiter Ferne auf sich zukommen sah. Immer näher kam die Gestalt, und noch bevor Alyss das Gesicht der Frau ausmachen konnte, erkannte sie de ren Kleider. »Mutter!«, rief sie, und ihre Spiegelbilder ebenso. Genevieve war so gekleidet, wie ihre Tochter sie zu letzt gesehen hatte, nur die Krone fehlte. Sie trat direkt an die andere Seite des Spiegels hin. 295
»Alyss«, sagte Genevieve, und das wehmütige, stolze Lächeln, das über das Gesicht der toten Königin huschte, trieb ihrer Tochter Tränen in die Augen. »Sie ist so schön geworden, wie ich es mir immer vor gestellt habe«, sagte da die Stimme eines Mannes. Alyss drehte sich um und entdeckte ihren Vater, der sie aus einem der Spiegel anstelle ihres Ebenbildes an strahlte. »Vater!«, rief sie und rannte zu ihm hin, um ihn zu umarmen. Das Labyrinth und Redd und der Herzkristall sind mir egal! Ich will, dass wir alle wieder zusammen sind! Ich will meine Familie zurück haben! ICH WILL MEINE FAMILIE ZURÜCKHABEN! Aber Alyss konnte den Spiegel nicht durchschreiten. »Was bedeutet das?«, rief sie weinend. »Wo seid ihr?« »Wir sind in dir, Liebling«, sagte Nolan. Genevieve stieß einen kleinen Seufzer aus. »Wenn wir Redd besiegen, kann wahrlich niemand behaupten, wir hätten keine Opfer dafür gebracht. Aber manchmal frage ich mich, ob er uns nicht zu viel abverlangt hat.« »Allen, die für die Weiße Imagination kämpfen«, füg te Nolan hinzu. »Ja, gewiss«, sagte Genevieve. »Der Weg zu einem so bedeutsamen Sieg muss wohl immer mit Niederlagen und Rückschlägen gepflastert sein.« Mit einem mitfühlenden Blick schritt Nolan von einem Spiegel zum nächsten, um an die Seite seiner Frau zu treten. Er legte seinen Arm um sie und küsste sie auf die Stirn, was sie zu trösten schien. »Es ist gut, Alyss«, sagte Genevieve, »dass du es auf dich genommen hast, deine Imagination zu schulen. Du bist auf dem besten Weg, deine Gabe der imaginativen 296
Kraft und Kontrolle auszuschöpfen. Aber was du bislang über dich erfahren und entdeckt hast, reicht nicht aus. Noch nicht.« »Sieh sie doch an.« Nolan lachte leise in sich hinein. »Sie ist erwachsen. Sie hat es nicht mehr nötig, dass ihre Eltern ihr sagen, was sie tun soll. Alyss, mein Liebes, wenn du nur halb so viel Vertrauen in dich setzt, wie an dere dies tun, wirst du deinen Weg finden.« Das königliche Paar wandte sich um und ging davon, immer tiefer hinein in den Spiegel. »Wartet!«, rief Alyss. »Geht nicht weg!« Aber Genevieve und Nolan schritten unbeirrt weiter. »Wartet doch! Werde ich euch jemals wieder sehen?« Sie blieben stehen, von dieser Frage offensichtlich überrascht. »Immer und immer und immer wieder«, antwortete Nolan. »Wenn du weißt, wo du nach uns suchen musst«, sagte Genevieve. Dann waren sie verschwunden, und Alyss’ Ebenbild erschien wieder im Spiegel. Da verließen sie die Kräfte. Sie fiel auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Nie würde sie über den plötzlichen und schrecklichen Verlust ihrer Eltern hinwegkommen, nie sich mit der Lücke abfinden, die ihr Tod hinterlassen hatte. Wie könnte ich? Wie könnte das irgendjemand? Und ihr Schluchzen wurde um ein Viel faches verstärkt, denn ihre Spiegelbilder weinten mit ihr. Irgendwann war das Schlimmste vorbei, und von Alyss’ Weinkrampf blieben nur noch ein gelegentlicher unver mittelter Schluchzer oder ein plötzliches tiefes Seufzen. Jemand berührte ihre Schulter. 297
»Hab dich! Du bist dran.« Alyss hob den Kopf und entdeckte ein kleines Mäd chen. Ist das … aber wie …? Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und rieb sich die Augen, um ganz sicher zu sein. Sie sieht genauso aus wie ich. Sie war es: Prinzessin Alyss, im Alter von sieben Jah ren und angetan mit ihrem Geburtstagskleid. »Ich soll dich fangen?«, fragte Alyss. Das Mädchen schnalzte ein wenig ungehalten mit der Zunge. »Hast du denn noch nie Fangen gespielt?« »Doch … aber das ist schon eine Weile her.« Die Prinzessin erhob sich. Es passiert einem nicht alle Tage, dass man sein jüngeres Ich trifft. Wer wusste schon, wo das hinführen würde. »Gut«, sagte sie. »Dann lauf.« Fröhlich kreischend stürmte das Mädchen davon, den Gang hinunter. Alyss rannte ihr nach, und wie ein Blitz sauste das Paar durch die Gänge des Spiegellabyrinths. Sosehr Alyss sich noch einen Moment zuvor ihrem tiefen Kummer hingegeben hatte, so ausgelassen stürzte sie sich jetzt in das Vergnügen des Spiels und lachte jedes Mal laut auf, wenn sie ihr jüngeres Ich fast gefangen hätte. Als sie an eine Ecke des Labyrinths kam, sprang die jün gere Alyss dahinter hervor und drehte der Prinzessin eine lange Nase. »Ha! Fang mich doch!« Sie hielten sich den Bauch vor Lachen, so dass sie kaum weiterlaufen konnten, und als die Kleine stehen blieb, um Atem zu schöpfen, legte Alyss ein wenig an Tempo zu und holte sie ein. »Jetzt hab ich dich!«, rief sie und kitzelte das Mäd chen. »Nein, nicht! Aufhören! Aufhören!« Die jüngere Alyss quietschte vor Vergnügen, denn na 298
türlich wusste die Prinzessin, wo sie am kitzligsten war. Aber plötzlich wurde das Mädchen ernst, schob Alyss’ Hände zur Seite und richtete den Blick auf etwas ganz am Ende eines breiten Korridors. Alyss wandte sich um, um zu sehen, was es war: ein mit Diamanten reich be setztes Zepter, auf dessen Spitze ein weißes Kristallherz saß. »Glaubst du, dass du das Zepter holen kannst?«, fragte das Mädchen. Es sah ganz einfach aus. Alyss musste dazu nur bis zum Ende des Gangs gehen. »Warum nicht?« Die Wände des Korridors bestanden aus Spiegelpanee len, die genau gegenüber voneinander aufgereiht waren. Alyss trat zwischen das erste Paar, und ihre Spiegelbilder begannen sich zu drehen, schneller und immer schneller, bis sie eine Art Strudel bildeten – und Alyss sich nicht länger im Spiegellabyrinth befand. Sie stand in einem nebulösen Nichts, während um sie herum ein Wirbel sturm aus Bildern toste. Aber waren es wirklich nur Bil der? Sie sahen so echt aus, und die Gestalten darin … ihre Worte und Gesten taten so weh, als stammten sie von Wesen aus Fleisch und Blut. »Kopf ab! Schlagt ihr den Kopf ab!« Redd fuhr auf die Prinzessin los. Alyss sprang zur Sei te, und ihr Herz schlug wild – Da tauchte Dodd Anders als Junge vor ihr auf, er trug seine Gardeuniform und bekam von seinem Vater Justus gerade Unterricht in der Etikette der Palastgarde erteilt. Aber auch diese beiden verschwanden plötzlich. Dann stand Quigly Gaffer vor ihr, zeigte auf sie und lachte ihr ins Gesicht, als wäre sie das Lächerlichste, was er je ge sehen hätte. 299
»Hör auf«, sagte sie. Zu Quigly gesellten sich indes noch alle übrigen Lon doner Waisen – Charlie Turnbull, Andrew MacLean, Otis Oglethorpe, Francine Forge, Esther Wilkes und Margaret Blemin – sowie einige der Aufseherinnen vom Waisenhaus Charing Cross. »Hört auf!«, schrie sie. Das Gelächter der Kinder hallte noch in Alyss’ Ohren, als ihr Anblick schon verblasst war und sie auf eine stumme, aber sehr verwirrende Szenerie starrte, in der sie und Prinz Leopold, umgeben von ihren vier Kindern, so hatte es zumindest den Anschein, zusammen mit Dekan und Mrs Liddell im Ewigwald ein Picknick abhielten. Zwei der Kinder waren noch sehr klein, hatten aber die Gesichter von Genevieve und Nolan. Alyss wollte nach ihrer Familie rufen, doch ihr versagte die Stimme. Der Kater stand neben ihren Lieben, die sorglos beim Pick nick saßen, und leckte sich die blutigen Pfoten, bis ein Tropfen zu Boden fiel und sich in ein aufgewühltes blu tiges Meer verwandelte, in dem ihre Familie unterging. Auch die anderen Alyssier waren da – Dodd, Nanik, Ge neral Doppelgänger, die Schachkämpfer. Alle würden sie ertrinken. Dann floss das Meer durch eine offene Tür ab und trug ihre Freunde und ihre geliebte Familie mit sich davon. Über der Tür leuchtete ein Ausgangsschild, und daneben stand der Walrossbutler. »Ach du meine Güte«, sagte das Walross. »Es kann nur noch schlimmer werden, Prinzessin. Das müsst Ihr Euch nicht antun. Das ist wirklich nicht nötig. Bitte, ich flehe Euch an, geht, solange Ihr noch könnt.« Mit seiner linken Flosse winkte er sie eindringlich zum Ausgang. Aber Alyss wusste es besser. Das Labyrinth hatte ihr all diese Dinge gezeigt, um sie zu zermürben, sie verletz 300
barer zu machen bei dem, was sie als Nächstes zu bewäl tigen hätte. Und sie war entschlossen, sich dem zu stel len, was immer es sein mochte. Sie wandte dem Walross den Rücken zu, setzte einen Fuß in das Nichts vor sich und befand sich wieder im Spiegellabyrinth, in dem Gang, der auf das Zepter zu führte. Es war ihr gelungen, das erste Paar der Spiegelpaneele zu passieren. Sie ging weiter. Kaum war sie zwischen das zweite Paar Spiegel getreten, löste sich das Labyrinth erneut auf, und sie fand sich im südlichen Speisesaal des Kristallpa lastes wieder, wo Redds brutaler Überfall stattgefunden hatte. Ich hätte weglaufen sollen, fliehen. »Das muss ich nicht mit ansehen«, sagte sie. Alle im Saal starrten auf das Kätzchen, das sich gerade in den Kater zu verwandeln begann, als – »Nein!«, schrie Alyss. Eine Explosion ließ die Türen auffliegen, und Redd und ihre Soldaten stürmten in den Saal. Alyss war ge zwungen, den Schrecken dieser frevelhaften Stunde er neut mit anzusehen, den Mord an Dodds Vater, die Zer störung ihres Zuhauses und Redds Versuch, sie selbst zu ermorden. Einmal war schon zu viel! Niemand sollte ein solches Grauen erleben müssen! Niemand! Sie sah mit stetig wachsendem Zorn zu, wie ihr siebenjähriges Ich und Mac durch den Notausgang des Palastes entkamen (oh, die furchtbare, endgültige Trennung von ihrer Mut ter!) und Genevieve sich daraufhin umdrehte, um ihrer Schwester allein die Stirn zu bieten. Und dann sah sie, was sie bis dahin noch nie gesehen hatte: ihre Mutter, die von Redds fleischfressenden Rosen gefesselt wurde, und 301
Redd, die ihrer Mutter mit einem einzigen Hieb ihres roten Blitzstrahls den Kopf abschlug. Die Mörderin mei ner Eltern! »Aaaah!« Sie stürzte auf Redd zu, rasende Wut in ihrem Herzen. Aber der Weg zu Redd zog sich in die Länge, und plötz lich rannte der dreiundzwanzigjährige Dodd neben ihr her und stieß mit vor Zorn bebender Stimme hervor: »Hass macht dich stark. Es gibt keine Gerechtigkeit au ßer der Gerechtigkeit der Rache. Die einzige Möglich keit, Redd zu besiegen, liegt darin, in deinem Zorn auf zugehen.« Der Kater sprang ihnen in den Weg, und Dodd jagte sein Schwert in die Bestie, immer wieder, ein ums andere Mal. Aber sein Zorn schien nicht verebben zu wollen, egal wie oft er Redds bösartigen Spießgesellen tötete. Alyss war fast auf Schwerteslänge an Redd herange kommen – endlich –, als der Kopf ihrer Mutter plötzlich die Augen öffnete und zu sprechen anhob. »Wut nährt sich von der Schwarzen Imagination, Alyss. Lässt du deiner Wut freien Lauf, so wirst du zur bloßen Schachfigur der Schwarzen Imagination. Aber glaub mir, sie triumphiert vielleicht für eine gewisse Zeit, doch niemals bis in alle Ewigkeit.« »Aber sieh, was mit dir geschehen ist!«, erwiderte Alyss. »Ja, sieh mich an. Es sollte dir zu denken geben, dass ich diejenige bin, die dir das rät.« Der Druck des Hasses auf Alyss war jedoch zu groß. »Es sagt mir, dass du schwach warst und deshalb verlo ren hast!«, schrie sie, riss Redds Zepter an sich und schlug den Kopf ihrer Tante mit einem einzigen Streich ab, gerade so, wie diese Genevieve getötet hatte. 302
Da versanken Redd und die Rosen im Boden, und Alyss fand sich in einem kreisrunden Saal wieder, dessen Wände aus teleskopischem Glas es ihr ermöglichten, die Schachbrettwüste und Wundertropolis in ihrer Ganzheit zu betrachten. Nanik kam in den Saal geeilt, ein geöffnetes Buch in Händen, und las mit eindringlicher Stimme daraus vor: »Fleg lubra messingplagree bono plam. Tyik grrsplee nuff rosh ingo.« »Nanik?« »Zixwaauit! Zerglgrgl! Fffghurgl grgl!« Der Lehrer fuhr fort, Unsinn zu deklamieren, und wurde immer aufgeregter, weil Alyss nicht begriff. Da blickte sie in einen Spiegel. Und statt ihrer normalen Ge sichtszüge sah sie Redd. Sie war zu Redd geworden. »NEIN!« Sie zerschlug den Spiegel, und ihre ganze Umgebung – der kreisförmige Saal, der Nonsens redende Nanik – zersplitterte in tausend Scherben. Sie stand wieder vor dem Eingangsspiegel zum Labyrinth; auf der anderen Seite des Spiegels war beim Zusammenprall der alyssi schen Soldaten und Redds Truppe immer noch die Zeit angehalten. »Warum bin ich hier? Was bedeutet das alles?« »Ahem, hmm.« Eine Rauchwolke vernebelte ihr den Blick. Sie drehte sich um und entdeckte die blaue Raupe, die ihre Wasser pfeife paffte. »Es bedeutet, dass Ihr versagt habt, Prinzessin.« »Ich –« Ich darf nicht versagen. Das Labyrinth ist für mich gedacht. »Aber –« »Ihr wart nicht in der Lage, das Labyrinth zu durch schreiten. Für uns alle ist das bedauerlich, aber es ist 303
nicht zu ändern. Ihr müsst durch den Spiegel hinausge hen und weiterkämpfen.« Eine Niederlage kommt nicht in Frage. Das kann nicht sein. Lieber wäre sie sonstwo gewesen, aber sie konnte jetzt nicht hinausgehen. Nicht mit einer Niederlage. »Auf keinen Fall«, sagte sie. »Damit finde ich mich nicht ab.« Und bevor Blauw ihr noch Rauch ins Gesicht blasen konnte, lief sie schon tief in das Labyrinth hinein. Bald fühlte sie sich verloren, aber es war noch nicht alles ver loren, solange sie hier blieb. Noch konnte sie gewinnen. Sie würde gewinnen. Denn was würde sonst geschehen mit – Eine Gestalt kam mit großen Schritten auf sie zu. »Mac!« Oh, sie war so froh, ihn zu sehen. Aber der Agent sag te nichts, eilte ihr nur mit erhobenem Schwert entgegen. »Halt! Was–« Sie musste sofort handeln. Sie stellte sich ein Schwert in ihrer Hand vor, und noch ehe sie wusste, wie ihr ge schah, kämpfte sie mit dem legendären Mann – er der Angreifer, und sie von ihrer eigenen Verteidigung über rascht, die darauf baute, seinen Bewegungen spiegelbild lich zu folgen. Mac ließ schließlich sein Schwert sinken, trat zur Seite und sagte anerkennend: »Gut.« Er bewertete sie also, schloss Alyss, er trainierte ihre kämpferischen Fähigkeiten – oder vielmehr, er schulte ihre Imagination, die ihren kämpferischen Fähigkeiten diente. Als aber ein zweiter Mac Rehhut auftauchte … Muss ich mit beiden kämpfen? Zusätzlich zu ihrem Schwert bewaffnete Alyss sich mit einer Tymanshand. Sie parierte die Angriffe der bei den Macs. Kling! Wann immer einer der beiden eine Be 304
wegung machte, die sie nicht kannte, eignete sie sich die se rasch an und stellte sie sich als Teil ihres eigenen Re pertoires vor. Allerdings würde es nicht ausreichen, sich in ihrer Fantasie in eine bessere Schwertkämpferin zu verwandeln; sie musste ihre Imagination auf andere Wei se einsetzen, denn jetzt erschienen ein dritter und ein vierter Mac, dann ein fünfter und sechster. Während sie mit einem die Klingen kreuzte, stellte sie sich vor, dass gleichzeitig auch alle anderen jeden Schlag spürten. Aber die Methode erwies sich bald als unzulänglich, da immer mehr Macs auftauchten, und so beschwor sie ihre zahllo sen Spiegelbilder, ihr zu helfen. Sie sprangen aus ihren Spiegeln heraus, und für jeden Mac Rehhut stand jetzt eine Alyss zum Kampfbereit. »Ausgezeichnet«, sagte einer der Macs, und bei die sem Stichwort legten die Modisten ihre Schwerter zur Seite und aktivierten ihre Armklingen und Zylinder. Ich werde müde, wie lange kann ich wohl noch … Sie imaginierte Rasierklingenkarten, die aus den Är meln ihrer Uniform herausschossen, aber die Modisten wehrten sie mühelos ab. Nie zuvor hatte Alyss ihre ima ginativen Kräfte derart präzise, derart intensiv oder über eine solch lange Zeit hinweg eingesetzt. Erschöpft. Da sie ihre bevorstehende Niederlage spürte, ließ sie aus ihren Ärmeln Pfropfen einer dicklichen, gummiarti gen Masse hervorschießen. Die Gummipfropfen setzten die rotierenden Klingen der Modisten außer Gefecht, und im selben Augenblick holte Alyss tief Luft und erzeugte beim Ausatmen einen so heftigen Wind, dass alle Mo disten umgeblasen wurden und über die ganze Kampf arena verteilt auf dem Boden lagen. Der Kampf war vorbei. Alyss stand allein zwischen 305
den besiegten Modisten, die Spiegelbilder waren in ihre Spiegel zurückgekehrt. »Kontrolle und Macht sind nicht alles«, sagte einer der Macs. »Werdet Ihr die Vermittlerin, durch die eine Sache triumphiert, die bedeutsamer ist als jeder Einzelne. Dann werdet Ihr vielleicht des Herzkristalls würdig sein.« Die Modisten rappelten sich auf, verbeugten sich und verschwanden dann in den verschiedenen Gängen des Labyrinths. Nach einer kurzen Verschnaufpause war Alyss wieder von Stärke und Kraft erfüllt, fühlte sich bes ser als vor der Auseinandersetzung mit den Modisten. Besser, als ich mich seit langem gefühlt habe – viel leicht besser denn je. Es fühlte sich ziemlich genau so an wie vor ihrem siebten Geburtstag, als sie noch glaubte, zu allem in der Lage zu sein und dass die Welt ein schöner Ort sei. Was war das? Ein quietschendes Geräusch, als würde etwas hochge hievt. Und Stimmen. Sie folgte den Geräuschen und stieß am Ende eines schmalen Durchgangs auf Dodd, Nanik, Mac, General Doppelgänger, den Springer und den Turm, die mit auf dem Rücken gefesselten Händen auf dem Boden knieten, die Köpfe in eine riesige Guillotine eingespannt. Redd und der Kater standen an dem Hebel, der das Fallbeil herabsausen lassen würde, und warteten auf sie. »Aber ich habe dich doch getötet«, sagte Alyss. »So?« Redd wandte sich an den Kater. »Warum hat man mich nicht davon unterrichtet?« Der Kater zuckte mit den Schultern. Ist das wahr oder nur Einbildung? Es kann nicht wahr sein, denn sie ist ja tot, also bringe ich niemanden in Ge fahr, wenn ich gehe. Einfach gehe. 306
Aber Alyss konnte nicht gehen; der Anblick der ge fangenen Alyssier hielt sie zurück. Sie konnte es nicht riskieren, egal wie unwirklich diese Szenerie auch sein mochte. Ganz abgesehen davon, dass Redd möglicher weise mehrere Leben hatte, wie konnte sie sicher sein, dass jemand, der sein Leben im Labyrinth verloren hatte, nicht draußen weiterlebte? »Ich werde dich noch einmal töten, wenn es sein muss«, sagte Alyss und trat vor. »Durchaus möglich«, sagte Redd, »aber das wird dei ne Freunde nicht retten.« Alyss fantasierte erneut Pfropfen der klebrigen Sub stanz herbei, die aus ihren Ärmeln herausschießen, an der Mechanik der Guillotine haften bleiben und so das Fall beil am Herabsausen hindern sollten. Nichts. Sie imaginierte, wie sich das Beil in Wasser verwan delte und sich über die Köpfe der Alyssier ergoss. Nichts. Redd lachte. »Das Schöne an alldem hier«, sagte sie, mit einer Handbewegung, die das ganze Labyrinth um fasste, »ist, dass ich in der Lage bin, deine Imagination mit meiner außer Kraft zu setzen. Ich muss mir nur vor stellen, dass sie machtlos ist. Ah, wenn das draußen nur auch so leicht ginge! Aber genug der Plauderei. Wenn du schon sterben musst, und das musst du, dann willst du es bestimmt gleich hinter dich bringen. Ohne dich bedeuten diese Gestalten hier keine Gefahr für mich. Es gibt nur eine Möglichkeit, sie zu retten: Gib dich ge schlagen. Du tätest gut daran. Denn ich werde dich letztlich ohnehin töten. Dann seid ihr alle tot, du und deine Freunde. Um mir aber die Mühe zu sparen, lasse ich dir die Wahl.« 307
Doch wie konnte Alyss sicher sein, dass Redd ihre Freunde wirklich am Leben ließ, wenn sie sich opferte, ganz zu schweigen davon, dass sie sie freiließ? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass Redd die Alyssier eben falls umbringen würde, sobald Alyss tot war, einfach weil es in ihrer Macht stand? Andererseits – wenn Redd ihre Freunde, aus einer nie da gewesenen Milde heraus, tat sächlich verschonte? Sie hatten über dreizehn Jahre ohne Alyss für die Weiße Imagination gekämpft. Wenn durch ihr Opfer die Zusage für ein längeres Leben ihrer Freun de zu bekommen war, war es dann nicht ihre Pflicht, sich zu opfern? Vielleicht gelänge es ihnen ja, zu fliehen; Mac könnte einen Weg finden. Der Geist der Weißen Imagi nation würde sie immer begleiten. Er lebte nur so lange, wie sie lebten. In dem Glauben, den letzten Akt ihres kurzen, be schwerlichen Lebens zu vollziehen, kniete Prinzessin Alyss vor ihrer Tante nieder. »Auf mein Königinnentum«, sagte Redd und hob ihr Zepter. Aber in dem Augenblick, als die kalte Klinge Alyss’ zarten Nacken berührte – sssh! –, löste sich die Szenerie auf, und die Prinzessin stand vor dem Zepter mit dem weißen Herzen. Habe ich …? Habe ich wirklich …? Sie griff nach dem Zepter und wurde, als ihre Finger es umschlossen, durch das Labyrinth in den Rätsel-Laden katapultiert, mitten hinein in die Turbulenzen des Kamp fes, der jetzt wieder zwischen den Alyssiern und Redds Soldaten tobte.
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Schlüssel zum Spiegellabyrinth pulsierte in D erstrahlendem Glanz. Alyss war überrascht, ihn in
ihrer Hand zu sehen, aber eine Thronfolgerin verließ das Labyrinth niemals mit weniger, als sie es betreten hatte – zu hoffen war allerdings, dass sie es mit mehr verließ. Mit dem leuchtenden Würfel in der einen und dem Zepter mit dem weißen Herzen in der anderen Hand be wegte sich Alyss unerschrocken inmitten des Kampfes. Eine Vier versuchte sie anzugreifen, aber Alyss blies sie um, so dass sie rücklings durch eine Wand des RätselLadens krachte. »Prinzessin!«, rief Homburg-Molly. »Sie hat das Zepter!« Fast wäre Nanik in seiner Freude von einer Zwei aufgespießt worden, wäre Molly ihm nicht mit ihrem Hut beigesprungen. Zwei Dreien rissen sich von Mac los, aber noch bevor er reagieren konnte, hatte Alyss schon mit zwei Bewe gungen die Spitze ihres Zepters in die medaillongroße Stelle oberhalb ihres Brustharnischs gebohrt. Die Karten soldaten kippten um, unschädlich gemacht, als ein Su cher in den Laden geschwirrt kam und Alyss den leuch tenden Würfel aus der Hand riss. Molly wollte schon ihren Hut nach der Kreatur schleudern, doch Alyss sagte: »Lass ruhig. Wir brauchen ihn nicht mehr.« Sie hörte, wie die Sucher durch die Luft entschwanden, um zum Einsamen Berg zurückzukehren. Und nun zu den 309
übrigen Kartensoldaten. Alyss stieß ihr Zepter auf den Boden, und es zerbarst in viele kleinere Zepter, die alle gleich aussahen. Sie machte eine schwungvolle Handbe wegung, und die Zepter bohrten sich in die verletzbarste Stelle eines jeden Kartensoldaten, die einer nach dem an deren tot umfielen. Und so herrschte urplötzlich Frieden zwischen den Alyssiern und den Soldaten des Blatts. Dodd, General Doppelgänger, die Schachkämpfer – alle wandten sich nun ihrer Prinzessin zu. Die Weiße Imagination hatte sich so klar in ihr herauskristallisiert – die noch unbestimmt leuchtende Kraft, die sie schon als Kind besessen hatte, wurde nun nicht mehr gedämpft von Unreife, Unsicherheit und Widerstreben –, dass sie wie eine Sonne zwischen ihnen stand, strahlend vor neu ge wonnener Stärke. Jeder noch vorhandene Zweifel der Alyssier an Alyss’ Fähigkeiten, sie anzuführen, war bei ihrem Anblick verflogen. »Ich glaube, sie ist so weit, was meint ihr?«, sagte der Turm. Die Alyssier jubelten alle, bis auf Dodd, für den die Gelegenheit, sich zu rächen, noch nie so nah gewesen war. Alyss’ leuchtende Aura wurde zu einem gleichmä ßigen Schimmern, während sie ihren Freund aus Kinder tagen musterte. Die Erfahrungen im Labyrinth hatten sie vorsichtiger gemacht, was sein Verhalten betraf. Hat er es nicht zugegeben, damals, als er mich zum Palast brachte? Hat er nicht gesagt, dass er vor allem auf Rache sinnt? Ist sie ihm wichtiger als das Ziel, die Weiße Imagination wieder an die Macht zu bringen und Wunderland wieder zu seinem früheren Ruhm zu verhel fen? Ich werde ein Auge auf ihn haben müssen. So wie auf jeden, der sich durch Hass der Schwarzen Imaginati on als Beute anbot. 310
»Das Blatt wird noch mehr Soldaten schicken«, warn te General Doppelgänger. »Sollen sie nur kommen«, erwiderte Alyss. Sie verließ den Rätsel-Laden, und die Alyssier folgten ihr. Sie ging bis zur Mitte der Smaragdallee und sah zu den verwahrlosten Gebäuden und Türmen empor, als könnte sie den Schmerz dieser unbeseelten Bauwerke spüren. Der Tribut, den Redds Herrschaft von ihrem ge liebten Wundertropolis gefordert hatte, war hoch. Dann richtete sie ihre Imagination auf die großen holografi schen Bildschirme, die es überall in der Stadt gab. Ohne die geringste Anstrengung stellte sie sich ihr eigenes Ge sicht anstelle der üblichen Werbebilder und in Aussicht gestellten Belohnungen vor. »Ich laufe nicht länger vor dir davon, Redd. Jetzt ist es an dir, das Weite zu suchen.« Und während Alyss diese Worte auf der Smaragdallee aussprach, ertönten sie auch von den holografischen Ta feln in allen Straßen. Die Einwohner von Wunderland hielten in ihren rechtmäßigen und unrechtmäßigen Be schäftigungen inne und starrten auf diese wunderschöne Frau, die von den Bildflächen herunter zu ihnen sprach, auf denen sie bislang nur Redd zu sehen bekommen hat ten. Nicht wenige von ihnen wünschten sich, dass die Herrscherin der Schwarzen Imagination an der Macht bliebe, weil sie wussten, wie sie in einer Welt wie der ihren Profit machen konnten, aber die meisten feierten im Stillen Alyss’ Erfolg, wenn sie ihr auch noch nicht laut zuzujubeln wagten.
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suchen?« Redd lachte schallend. Sie I chsaß– indasderWeiteBeobachtungskuppel und hatte Alyss’
Auftritt mit angesehen. »Diese unangemessene Zuver sicht wird ihr den Tod bringen.« »Heute wird Wunderland Alyss endgültig loswerden«, bestätigte der Karobube und blähte seinen ohnehin schon aufgeblähten Bauch noch weiter auf. Er war vielleicht ein bisschen zu sehr darauf aus, Redd zufrieden zu stellen, denn sie warf dem Perückenmonster einen Seitenblick zu. »Ich … ich bitte inständig um Verzeihung, meine Stimme erhoben zu haben, Eure Königliche Bosheit.« »Du kannst so viel bitten, wie du willst, du gepuderter Idiot. Wenn ich nicht bald in das Spiegellabyrinth eintre ten kann, wird dir das gar nichts helfen.« Der Kater grinste und leckte sich die Schnurrhaare. Karofürst und Karodame, Kreuzfürst und Kreuzdame und Pikfürst und Pikdame – die zusammen Redds Kriegskabinett bildeten – scharrten mit den Füßen, räus perten sich und vollführten überhaupt jeden nervösen Tick, der einem zur Verfügung steht, wenn man sich im Unklaren darüber ist, wie man sich bei seinem launischen und unberechenbaren Anführer einschmeicheln kann. »Eure Königliche Bosheit?«, wagte sich die Kreuzda me vor. »Bei allem gebotenen Respekt, selbst wenn Alyss keine Gefahr darstellt, sind wir dennoch der Über zeugung, dass Ihr den Herzkristall an einen sichereren Ort bringen solltet.« 312
Redd hielt dies für komisch – geradezu für erbärmlich komisch –, denn weder die Kreuzdame noch die anderen Kabinettsmitglieder wussten, wo sich der Herzkristall befand. »Wir?«, protestierte die Karodame. »Die Kreuzdame hat nur in ihrem eigenen Namen gesprochen, Eure Kö nigliche Bosheit.« »Genau!«, sekundierte der Pikfürst. Und Redd erkundigte sich mit hochgezogenen Augen brauen bei der Kreuzdame: »Wolltest du mir gerade mit teilen, was ich tun sollte?« »Ich bitte um Vergebung, Eure Königliche Bosheit. Ich sprach von …« »Du glaubst, meine Stärke reiche nicht aus, um den Herzkristall zu schützen? Willst du mir tatsächlich sagen, mein Königinnenreich sei in Gefahr?« »Nein, natürlich nicht. Ich meinte nur …« Die Kreuzdame hatte Glück, dass die erstickten Schreie der heimkehrenden Sucher sie unterbrachen. Der Kater verschwand aus der Kuppel und war schon wieder zurück, bevor Redd auch nur ungeduldig werden konnte. In seiner Pfote hielt er den leuchtenden Würfel, den Schlüssel zum Spiegellabyrinth. Redd streckte ihre Hand aus, und der Würfel flog hinein. »Auf jeden Fall«, sagte sie und drückte an dem Würfel herum, presste ihn von allen Seiten, drehte ihn mal in die eine, mal in die andere Richtung, »braucht sich keiner von euch Gedanken um den Herzkristall zu machen. Er ist nicht in der Festung. Warum funktioniert das hier nicht?« Der Karobube trat vor. »Wenn Ihr gestattet, Eure Kö nigliche Bosheit.« Er nahm den Würfel in die Hand, drückte an ihm her 313
um, presste ihn von allen Seiten, drehte ihn mal in die eine, mal in die andere Richtung. Dann hob er ihn ans Ohr und schüttelte ihn, lauschte nach losen Teilen im Inneren, während Redd sich an ihr Kabinett wandte. »Ich weigere mich, diese Festung zu verlassen. Es sä he nach Feigheit aus, obgleich ich doch nichts zu furch ten habe. Wenn Alyss mich angreifen will, umso besser. Ich werde ihr ein Ende bereiten. Aber niemand soll be haupten, Königin Redd seien die Gefühle ihrer Unterta nen egal. Alyss würde euch nicht so verwöhnen wie ich! Wenn es euch hilft, soll das Blatt die Festung sichern. Der Kater wird sich um die Gläsernen Augen kümmern.« »Eure Königliche Bosheit?«, wandte der Kater ein und lenkte mit einem Nicken die Aufmerksamkeit auf den Karobuben, der immer noch an dem Kristallwürfel her umdrückte. »Was ist?«, fragte der. »Er ist nicht kaputt. Es dauert nur einen Augenblick, bis der Kode entschlüsselt ist, aber ich habe es gleich. Er ist nicht kaputt, sage ich.« »Das will ich hoffen«, zischte Redd durch schmale, blutleere Lippen. Sie rauschte aus der Kuppel, den Spiralgang hinunter und durchquerte die lichte Fläche des Ballsaals, der noch nie benutzt worden war. Die Mauer am anderen Ende des Saals war mit einem riesigen Mosaik aus Quarz und Achat verziert, das das Gesicht der Königin darstellte, und als Redd vor ihm stand, öffnete sich der Mund, und sie betrat den geheimen Durchgang, den nur sie und der Kater kannten. Dieser Durchgang führte zu einem Bal kon, von dem aus man in das ausgehöhlte Herz der Fes tung blicken konnte. Hier, im Innersten der Festung, von Trägern gestützt, leuchtete seit Redds Machtergreifung der Herzkristall in dunklem Karmesinrot. Redd beugte 314
sich über die Brüstung des Balkons und legte ihre Hand auf den Kristall; seine Kraft durchflutete sie, stärkte sie für den bevorstehenden Kampf.
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Alyss wurde gesehen, wie sie in einem P rinzessin Gasthaus in der Nähe des Stadtzentrums einen Krug Apfelwein bestellte. Sie wurde gesehen, wie sie in der Tymanstraße einen Gwynukspieß aß und dann die Straße vor den Redd-Luxusappartements entlangschlenderte. Sie wurde beobachtet, wie sie an einer Safari im Äußeren Wilden Bestiarien teilnahm und sich an vielen anderen Orten mit einer Unzahl von Dingen beschäftigte. Aber die Gläsernen Augen und Kartensoldaten, die ausgesandt wurden, um all diese Alysse zu vernichten, konnten nichts gegen sie ausrichten, waren es doch alles nur Ge spinste, lebendig gewordene Spiegelbilder, Erscheinun gen, die der Imagination der echten Alyss entsprungen waren und die sie im ganzen Königinnenreich verteilt hatte, um Redds alles durchdringenden Blick in die Irre zu führen. Während Redds Streitkräfte noch mit diesem Ablen kungsmanöver beschäftigt waren, gelangten Alyss und ihre Begleiter an den äußersten Rand der Schachbrett wüste. Das karierte Land breitete sich vor ihnen aus. Auf halber Strecke erhoben sich die Ausläufer des Einsamen Berges. Der weiße Springer und der weiße Turm küm merten sich um ihre Männer, verbanden deren Wunden, die sie bei dem Scharmützel auf der Smaragdallee erlitten hatten, wiesen sie an, noch einmal die Munition zu über prüfen und sicherzustellen, dass sämtliche Waffen an ständig funktionierten. Dodd hielt sich ein wenig abseits 316
und musterte das Schwert, das in seinem Schoß lag, als wolle er sich vergewissern, dass es in der Lage war, das zu tun, was er sich vorgenommen hatte: den Kater um seine Leben zu bringen. Alyss hätte sich eigentlich ganz darauf konzentrieren sollen, eine solide Militärstrategie zu entwickeln, aber sie konnte nicht anders, als hin und wieder zu Dodd hinüberzusehen. Er will nicht auf mich hören. Er will auf niemanden hören. Was, wenn ich einen zweiten Kater herbeifanta siere, gegen den er kämpfen kann? Würde ihn das von seinem Hass heilen? »Alyss?« »Ja?« An den Gesichtern von Nanik Schneeweiss, Mac Reh hut, Homburg-Molly und General Doppelgänger konnte sie erkennen, dass sie etwas nicht mitbekommen hatte. »Wie haben noch ein großes Stück Wüste vor uns«, meinte Nanik und deutete auf die in der Ferne gelegene Festung. »Und das Problem, den Einsamen Berg zu stürmen, der sich so perfekt zur Verteidigung eignet«, fügte Gene ral Doppelgänger hinzu. »Wir brauchen ein Heer, das größer ist als Redds.« Ich darf keinen Hass schüren. Ich werde keinen Kater herbeifantasieren. »Unser Ziel ist es, Redd zu stürzen«, erwiderte Alyss laut genug, dass Dodd sie hören konnte. »Unser Ziel ist der Herzkristall, nicht Rache.« Dodd sah nicht von seinem Schwert auf. Er hat mich gehört. Ich weiß, dass er mich gehört hat. »Da, wo Redd ist, werden wir auch den Herzkristall finden«, sagte Nanik. »Sie wird immer in seiner Nähe bleiben wollen, um ihre Stärke voll auszuschöpfen.« »Könnt Ihr ein Heer von der Größe imaginieren, wie 317
wir es brauchen?«, erkundigte sich General Doppelgän ger. »Ich weiß es nicht.« Mehrere Versionen ihrer selbst herbeizufantasieren war eine Sache, aber eine ganze Ar mee? »Ihr müsst es versuchen«, sagte Nanik. Sie sah die anderen an. Mac verbeugte sich ehrerbie tig, ohne ein Wort zu sagen. Molly nickte gespannt. Die Schachkämpfer beobachteten sie, warteten. Selbst Dodd sah herüber. Um eine ganze Armee heraufzubeschwören, musste sie außerordentlich konzentriert und genau sein. Abertausende von Details bei den Uniformen und Aus rüstungen – wäre auch nur ein einziges davon nicht le bensecht genug imaginiert, würde es das ganze Vorhaben gefährden, und ihre Imagination hätte versagt. Sie fühlte sich vielleicht stärker als je zuvor, aber würde ihre Stärke ausreichen? Ihr Zepter zeigte die Intensität ihrer Bemühungen. Das weiße Kristallherz an seinem oberen Ende begann zu leuchten, immer heller und heller, es blitzte und zischte und verwandelte sich in eine Wolke elektrischer Ladung, aus der energiegeladene Blitze schossen, die um Alyss herum in den Boden einschlugen. Als dieses Feuerwerk vorüber war und Alyss ihren Blick wieder auf ihre Um gebung richtete, weg von ihren inneren Visionen, sah sie auf eine riesige Armee von alyssischen Soldaten, die sich hinter ihr formierten. Sie konnte das Ende des Heeres nicht erkennen, so viele waren es. Ich hab’s geschafft. Ich – Jemand lachte. Alyss drehte sich um. »Entschuldigung, Prinzessin Alyss«, sagte HomburgMolly und schlug sich mit der Hand auf den Mund, konnte ihr Lachen aber dennoch nicht unterdrücken. 318
Was war in das Mädchen gefahren? Nanik, der nicht zu denen gehörte, die sofort glaubten, was sie sahen, ging auf Alyss’ imaginierte Armee zu, um sie genau in Au genschein zu nehmen. »Ah.« Die Armee bestand aus Spielzeugsoldaten, Figürchen, die nicht größer als die Ohren des Hoflehrers waren. »Die Prinzessin ist zu weit vom Herzkristall entfernt«, sagte er. »Von hier aus kann sie Redd nicht bezwingen.« General Doppelgänger teilte sich in die beiden zwil lingsgleichen Gestalten des Generals Doppel und des Generals Gänger, und die beiden marschierten in perfek tem Gleichschritt auf und ab. »Nun, irgendwie müssen wir zu ihr gelangen!«, meinte General Doppel. »Aber ohne eine Armee, die aus normal großen Solda ten besteht«, wandte General Gänger ein, »sind wir ver loren.« Nun war es an Alyss, ihre Soldaten näher zu betrach ten. Ihr waren sie ganz brauchbar erschienen. Seltsam, wie einem die Perspektive einen Streich spielen kann. Sie hob zwei der Spielzeugsoldaten auf und stellte sich vor, wie sie auf ihrer Hand hin- und hermarschierten. »Ich habe eine Idee«, erklärte sie.
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Festung war umgeben von Regimentern des D ieBlatts, die aus dem Königinnenreich zusammen
gezogen worden waren und nun bereitstanden, Redds Burg zu verteidigen. Ihre Mannschaften bildeten die Frontlinie, und dahinter standen in zweiter Reihe der Verteidigung ein Zug Gläserner Augen nach dem ande ren. Sowohl die Kartensoldaten als auch die Gläsernen Augen waren mit dem ganzen Arsenal an Waffen ausge rüstet, das ihnen in Redds Wunderland zur Verfügung stand – Blitzbälle, Peitschenschlangengranaten und Ka nonenkugelspinnen, KG52 sowie alle Arten von Messern und Schwertern. Wie immer bei Sonnenaufgang eines neuen Tages nahm Redd in der Beobachtungskuppel ein Frühstück aus würzigen, knusprigen Tattelfinkbeinen zu sich. Der Kater und die Mitglieder des Kabinetts, von denen seit dem Mittag des vorangegangenen Tages keiner etwas geges sen hatte, sahen mit gierigem Blick zu, aber niemand sagte ein Wort. Der Karobube hatte sich klugerweise ent schuldigt und die Kuppel verlassen, allerdings weniger seines knurrenden Magens wegen als vielmehr deshalb, weil er fürchtete, Redd könnte sehen, wie er den Schlüs sel zum Spiegellabyrinth noch immer erfolglos bearbeite te. Als Redd gerade in das letzte der Tattelfinkbeine biss und mit dem neuen Tag der letzte Fetzen der Morgen dämmerung schwand, entdeckten es alle im selben Au 320
genblick: eine alyssische Armee, die es mit der ganzen Bevölkerung des Königinnenreichs aufnehmen zu kön nen schien, sammelte sich in geringer Entfernung und wartete auf das Zeichen zum Angriff. Wie auch Redds Streitkräfte waren die Alyssier mit Blitzbällen, Peit schenschlangengranaten, Kanonenkugelspinnen und KG52 ausgerüstet. »Woher hat Alyss eine solch riesige Armee?«, fragte die Pikdame. »Das bringt ihnen nichts außer einer höheren Zahl an Toten«, fauchte Redd. An der Spitze ihres Heeres saß Alyss rittlings auf einer Trolldogge. Sie hob den Arm, hielt ihn einen Moment lang über dem Kopf und führte ihn dann in einer raschen Bewegung nach unten. Die Alyssier stürmten in Richtung Festung. »Die erste Runde – los!«, befahl Redd. Das Blatt schoss Blitzbälle und Kanonenkugelspinnen auf die herannahenden Alyssier ab – viele von ihnen Volltreffer, die ganze Kolonnen des Feindes hätten aus löschen müssen. Die Kartensoldaten drängten dem Sperrfeuer nach und stürmten in den Rauch und die Flammen hinein. Von ihrem sicheren Platz in der Kup pel aus beobachtete Redd die Szenerie voller Zuver sicht, aber als der Rauch sich verzog, sah sie, dass ihre Soldaten von winzigen Alyssiern überrannt worden wa ren. Die Waffen des Blatts hatten keinerlei Wirkung gezeigt, und die Miniaturarmee setzte ihren Ansturm auf die Festung fort. Redds Gesicht verzerrte sich, als ihr plötzlich klar wurde, was passiert war. »Wie konnte ich nur so dumm sein?« Der Kater überlegte noch, ob es sich um eine rhetori 321
sche Frage handelte, als Redd brüllte: »Es ist alles nur ein Konstrukt!« Sie machte eine Armbewegung, und Alyss’ Armee begann zu schimmern: Für einen Moment wurden die Milliarden kleiner Energiepunkte sichtbar, aus denen sie bestand, bevor sie sich in nichts auflöste. Redd suchte das Königinnenreich mit ihrem Inneren Auge der Imagi nation ab. »Wo bist du, Alyss? Wo ist meine liebe kleine Nichte?« Alyss und die anderen konnten die Explosionen und die scharfen, metallischen Geräusche hören, als das Blatt auf die illusionäre Armee zustürmte, die von der anderen Seite aus auf die Festung zumarschierte. Bis jetzt war der Vormarsch des kleinen Trupps unter Deckung erfolgt; zur Tarnung gegen Redds Späher waren sie immer nur über die schwarzen, aus Teer und vulkanischem Gestein bestehenden Felder der Schachbrettwüste vorgerückt. Um aber in die Festung einzudringen, hatten sie keine andere Wahl, als sich dem Kampf auf freiem Feld zu stellen. Im Schutz eines schwarzen Felsens verwandelte Mac mit einer Handbewegung seinen Zylinder in Klingen und schleuderte sie gegen die Kartensoldaten und Gläsernen Augen, die den Eingang der Festung bewachten. Noch während die Waffen durch die Luft schwirrten, aktivierte er seine Armklingen und griff an. Molly drückte ihren Hut zu dem klingenbesetzten Schild zusammen und übernahm gemeinsam mit Dodd die linke Flanke, wäh rend die Generäle Doppel und Gänger sich rechts hielten. Die Schachkämpfer folgten. »Wir müssen dem Herzkristall schon ganz nahe sein«, sagte Alyss zu Nanik. Der Hoflehrer sah sie an, die Ohren fragend gespitzt. 322
»Ich fühle es … ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.« Die Prinzessin streckte beide Arme aus, so dass ihre zehn Finger in Richtung des Kampfes vor ihr deuteten. Leuchtend helle Energiestrahlen schossen aus ihren Fin gern und hefteten sich an die Kartensoldaten und Glä sernen Augen, bis jeder und jedes von ihnen an einem Strahl hing, dessen anderes Ende noch mit Alyss’ Fin gern verbunden war. Dann hob die Prinzessin ihre Hän de über den Kopf, und die Kartensoldaten und Gläser nen Augen wurden hilflos in die Höhe gezogen, wo sie sie durch die Luft wirbelte. Irgendwo in der Schach brettwüste regnete es kurz darauf Kartensoldaten und Gläserne Augen. Noch dröhnten den Alyssiern die Ohren vom Lärm der Blitzballe, die über Alyss’ imaginierter Armee explodier ten, aber sobald sie in die Festung eingedrungen waren, legte er sich. Die Stille konnte nur eines bedeuten. »Sie weiß Bescheid«, sagte Alyss. »Seht Ihr sie?«, fragte Nanik. Alyss spürte, dass sie dem Herzkristall sehr nahe war. Bislang hatte sie es nicht vermocht, in die Ferne zu se hen, aber jetzt erkannte sie Redd vor ihrem Inneren Auge der Imagination klar und deutlich, Redd, die in einem großen, offenen Raum vor einem Spiralgang stand und Alyss mit einem kalten Lächeln auf den Lippen zuwink te. Der stetige Puls des Herzkristalls befand sich hinter der Königin, doch er war irgendwie verdunkelt. »Sie wartet auf mich«, sagte Alyss. »Zur Sicherheit sollten wir uns aufteilen«, drängte General Doppel. »Zwei Zielscheiben sind schwerer zu bekämpfen«, stimmte General Gänger zu, »und wir können Redd um 323
zingeln, sollte es nötig werden. Nanik, Turm, Molly, ihr kommt mit uns.« »Ich bleibe bei der Prinzessin«, widersprach Molly. Die Blicke gingen hin und her. Das Mädchen zeigte sich unnachgiebig, und für einen Streit blieb keine Zeit. »Lasst sie«, meinte Alyss. Die Generäle verneigten sich: ganz wie die Prinzessin wünschte. »Springer, Mac und Dodd werden Euch ebenfalls be gleiten«, sagte General Doppel – und da erst bemerkten sie, dass Dodd gar nicht mehr bei ihnen war. »Wo ist er hin?«, fragte General Gänger. Den Kater suchen. Alyss sah ihn vor ihrem Inneren Auge, wie er vorsichtig durch einen Korridor schlich. Was, wenn er Redd über den Weg läuft? Er wird versu chen, gegen sie zu kämpfen, und er wird verlieren. Sie wechselte einen besorgten Blick mit Nanik. Auch er wusste, warum Dodd sie verlassen hatte. Und Dodds selbstsüchtiger Wunsch nach Vergeltung konnte die Chancen der Alyssier auf den Sieg gefährden. »Wir werden die Bauern unter uns aufteilen«, schlug General Doppel vor. »Wir treffen uns beim Herzkristall«, sagte Alyss. »Haltet Ausschau nach einem Spiralgang.« Die Generäle verbeugten sich. »Und möge sich bis da hin schon der Friede der Weißen Imagination über das Königinnenreich gelegt haben.« Alyss nutzte ihr Inneres Auge, um Homburg-Molly, Mac Rehhut und die Schachkämpfer durch die Festung zu führen. Ihr kam es so vor, als sei sie schon einmal hier gewesen. Ohne auch nur einmal zu zögern, dirigierte sie sie durch die Gänge, sie marschierten geradewegs auf Redd zu, während anderswo, immer auf der Hut vor den 324
Horden von Kartensoldaten, die durch die düsteren Hal len und Korridore patrouillierten, Dodd den Kater jagte. »Hierher, miez, miez. Hierher, miez, miez, miez.« Er war bereits durch die unteren Stockwerke der Fes tung geschlichen, hatte das Gewölbe der Sucher und den leeren Saal der Gläsernen Augen aufgespürt und arbeitete sich nun systematisch Stockwerk für Stockwerk in die Höhe. Der Gang vor ihm wand sich wie ein Korkenzieher nach oben, wo sein Blick nicht mehr hinreichte. Er hätte auch eine der Abzweigungen einschlagen können, die zu seiner Linken und Rechten abgingen, aber irgendetwas – ein Gefühl, ein Instinkt – trieb ihn vorwärts. Keine drei Trolldoggenlängen mehr von dem Ballsaal entfernt, in dem Redd auf Alyss wartete, vernahm er hinter einer Tür zu seiner Rechten dringliche, gedämpfte Stimmen. Es kümmerte ihn nicht, ob er gleich eine der letzten Hand lungen seines Lebens vollbringen würde. Es kümmerte ihn rein gar nichts als der Wunsch, seiner pelzigen Ne mesis gegenüberzutreten. Mit einem Fußtritt öffnete er die Tür und stieß auf– Nicht den Kater, sondern auf den Karobuben und den Walrossbutler, die sich hier vor der Schlacht versteckt hatten. Sie sprangen beide hoch, aber der Karobube er holte sich rasch von seinem Schreck. Er zog ein kleines Messer aus seiner Westentasche und fuchtelte damit vor dem Walross in der Luft herum. »Ha! Ja! Jetzt haben wir dich! Issa sei Dank, dass du gekommen bist«, sagte er zu Dodd. »Ich dachte schon, ich müsste sie alle eigenhändig umbringen. Hoi! Ha! Ha!« Dodd ließ sich nicht zum Narren halten, vor allem weil er sah, dass der Karobube bei all dem Gefuchtel ver suchte, den Schlüssel zum Spiegellabyrinth in der Tasche seiner engen Hose verschwinden zu lassen. 325
Für Dodd war jeder, der mit den Mördern seines Va ters kollaboriert hatte, ein Feind. »Es gibt für einen Ver räter nur einen gerechten Lohn«, sagte er und zückte sein Schwert, um dem Karobuben einen tödlichen Hieb zu versetzen – Das unverkennbare Schnurren. Er wirbelte herum und sah den Kater in der Tür stehen. »Und was ist mein gerechter Lohn?«, fragte die Bestie. Dodd stieß kein Kriegsgeheul aus, auch keinen Schrei, der den Angriff markierte, sondern ging einfach mit er hobenem Schwert auf den Kater los. Der sprang zur Sei te, so dass Dodds Klinge ins Leere stieß und klirrend ge gen die Steinwand prallte. In diesem Augenblick hieb der Kater mit seinen Krallen auf Dodds Schulter ein und zer riss ihm die Alyssieruniform. Dodd selbst trug nur Schrammen davon; auf seiner blassen Haut bildeten sich vier dünne Blutrinnsale. Es hätte schlimmer kommen können. »Eine kleine Aufmerksamkeit, die zu denen in deinem Gesicht passt«, sagte der Kater und zeigte auf die Narben auf Dodds Wange. Dodd täuschte eine Bewegung nach links vor, und als der Kater nach rechts sprang, um auszuweichen, drehte er sich rasch herum und stach mit einem Fingerknöchelde gen – eine alte Wunderlandwaffe, die man ähnlich wie einen Schlagring über die Finger schob – auf die Bestie ein. Ein kleines Stückchen des Katerfells saugte sich mit Blut voll, aber es war keine tödliche Wunde. Der Kater machte einen Satz nach vorn und landete in einer elegan ten Bewegung auf seinen Vorderpfoten, während er Dodd mit den Hinterpfoten einen Tritt verpasste, der ihn zu Boden gehen ließ. 326
Als der Karobube und das Walross sahen, dass die Tür frei war, rannten sie hinaus und jeder in eine andere Richtung davon, auf der Suche nach einem neuen Ver steck. Von Mac und Molly schützend in die Mitte genommen, hatte Alyss den Spiralgang fast schon erreicht, als sie innehielt. »Was ist los, Prinzessin Alyss?«, fragte Molly. Vor ihrem Inneren Auge sah sie den Kater einen Satz machen. Sie sah, wie Dodd zurückrollte und wieder auf die Füße kam, lädiert und blutend, aber so entschlossen wie eh und je. »Dodd«, rief sie. »Er –« Aber in diesem Moment wurden sie von einigen pat rouillierenden Kartensoldaten entdeckt, die auf sie zu stürzten. Wir müssen uns beeilen. In der dicken Mauer gleich neben Alyss tat sich eine Tür auf, die in einen der vielen ungenutzten Räume der Festung führte, und kaum waren sie, Molly, Mac und die anderen hindurchge schlüpft – die Kartensoldaten waren nur noch wenige Schritte entfernt, eine Drei sogar schon in der Türöffnung –, fantasierte Alyss die Tür weg. Die Tür verschwand, und die Drei blieb halb in der Mauer stecken, während die übrigen Kartensoldaten unverrichteter Dinge auf der anderen Seite zurückblieben. Dodd. Sie lenkte ihr Inneres Auge auf ihn, sah, wie er dem Kater mit seinem Schwertknauf ins Gesicht schlug. Ich sollte ihm helfen. Sie imaginierte einen zweiten Dodd. Nicht um seine dunklen Triebe zu unterstützen, sondern um sein Überleben zu sichern. »Ich kann das allein!«, schrie er, als er sein Doppel entdeckte. 327
Er hieb auf sein imaginiertes Selbst ein, was dem Ka ter die Chance gab, ihn wegzustoßen und Boden wettzu machen. Das Doppel verschwand, und der Kater ging lauernd auf Dodd zu, die Vorderpfoten erhoben, um zum Schlag auszuholen. Das war unklug. Denn Dodd nutzte die Pfoten als Angriffsflächen; mit dem Schwert in der einen Hand und dem Fingerknöcheldegen in der anderen stach er gleichzeitig zu, und bevor der Kater noch den Rückzug antreten konnte, trieb er ihm sein Schwert tief und fest in den Brustkorb. Der Kater ging leblos zu Bo den. »Steh auf!«, schrie Dodd. »Steh auf, steh auf, steh auf!« Es schien ihm, als warte er neun Leben lang darauf, dass der Kater aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte. Er sah, wie die Augenlider der Bestie zuckten, und wieder stieß er sein Schwert in das Brustfell. Er wusste nicht, dass Genevieve und Mac bereits je eines der Leben des Katers ausgelöscht hatten, und Redd sogar drei weitere. Nun, da er begonnen hatte, nun, da er die Rache gekostet hatte, auf die er so lange gewartet hatte, geriet er in einen wahren Taumel der Wut und Ungeduld, alles hinter sich zu bringen. »Los! Steh auf!« Dodd hatte ganz seinen Gefühlen nachgegeben und es versäumt, sich auf die Klugheit des Katers einzustellen. Er stand über der Kreatur und lauerte auf deren kleinste Bewegung. Aber während er wieder zu Kräften kam, hielt der Kater so still, als wäre er tot, so dass seine erste Bewegung nicht ein Zucken der Augenlider war, sondern ein Tatzenhieb quer über Dodds Oberschenkel, mit dem er ihm die bislang tiefste Wunde zufügte. »Aaah!« 328
Dodd wich zurück. Blut schoss aus seiner zerfetzten Hose und lief ihm das Bein hinunter. Langsam, fast gemächlich erhob sich der Kater. Seine Wunden waren verheilt, und er grinste. Er schien wie neu geboren zu sein und stärker als je zuvor, während sich Dodds Verletzungen allmählich bemerkbar machten – seine Reaktionen wurden langsamer, und die Schulter, das Bein und die Brust pulsierten vor Schmerz. Der Kater kam auf ihn zu, und zum ersten Mal in diesem Kampf wich Dodd zurück, ein Flüstern von Niederlage in seinem Kopf. Alyss war endlich vor dem Ballsaal angelangt, in dem Redd sie erwartete. Ich sende dir die Hoffnung, zu über leben, Dodd, weil du nichts anderes von mir annehmen würdest. Bitte lass nicht zu, dass deine dunklen Triebe alles überdecken, was es an Gutem in dir gibt. Sie wollte gerade in den Ballsaal treten, als eine Horde Gläserner Augen ihre Soldaten aus dem Hinterhalt überfiel, und Mac, Molly, der Springer und die Schachkämpfer plötz lich um sie herum um ihr Leben fochten. Redd will, dass ich ihr allein entgegentrete. Kling! Swiiisch! Sie sind sich so ähnlich … Die Art und Weise, wie Mac und Molly kämpften, die besondere Art, wie sie sich drehten, wie sie traten, herumwirbelten, boxten und ihre Modistereiwaffen einsetzten, ähnelten sich wirklich sehr. Molly kämpft wie ein richtiges Mitglied der Modisterei … Aber diese Gedanken waren so flüchtig, wie Gedanken es nur sein können, und als Alyss den Ballsaal betrat, überließ sie die Alyssier ihrem Kampf und konzentrierte sich ganz auf ihre Tante, der sie erst zum zweiten Mal in ihrem Leben von Angesicht zu Angesicht gegenüberste hen sollte. 329
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hatte das Vordringen ihrer Nichte in die Fes R edd tung mit wachsendem Ärger beobachtet. Das Mäd chen – denn etwas anderes war Alyss für sie nicht, nur ein verzogenes Gör, das im Spiel einer erwachsenen Frau mitmischen wollte – besaß einige Dreistigkeit. Wie konn te Alyss allen Ernstes glauben, sie sei die Erbin der Kro ne? Welch verquerer Gedankengang hatte sie zu dieser Überzeugung gelangen lassen? Bereits Genevieve hätte den Thron nie besteigen dürfen, wie sollte da ihre Toch ter Königin werden? Nein, dachte Redd. Sie selbst war immer die rechtmäßige Monarchin gewesen, und an die sem Tag würde sie es für alle Zeiten unter Beweis stel len! Alyss trat in den Ballsaal. Endlich: Prinzessin Alyss höchstpersönlich. Das Problem war nur, dass es deren acht gab. Acht Prinzessinnen. Welche war die echte? »Glaubst du wirklich, dass solche Spielchen dich ret ten werden?«, zischte Redd, und von ihrem Zepter schoss ein ganzes Bukett fleischfressender Rosen an einer lan gen Ranke auf eine der Prinzessinnen zu. Doch es glitt durch sie hindurch, ohne irgendeine Wirkung zu zeitigen. Eine zweite Ranke aus Rosen, deren zahnbewehrte Mäu ler gierig schnappten, flog auf eine andere Alyss zu – wieder wurde kein Schaden angerichtet. Ich darf nicht wütend werden, ich darf nicht wütend werden. Die echte Alyss stand als dritte von links in der Reihe und hielt es für ein großes Glück, ihre Doppelgän 330
gerinnen imaginiert zu haben, denn sie stellte fest, dass sie für einen Moment wie gelähmt war beim Anblick Redds. Habe ich meine Wut nicht im Labyrinth besiegt? Ich darf nicht wütend werden. Und es wird auch nicht geschehen. Ich muss mich zusammenreißen. Dennoch spürte sie, wie der Zorn wieder in ihr hochstieg, die alten Gefühle des Verlassenseins nach dem Tod ihrer Eltern, die Ungerechtigkeit nahezu aller Dinge. »Ich habe keine Zeit für solche Albernheiten«, sagte Redd. »Die echte Prinzessin Alyss soll vortreten.« Die Königin schickte genug dornige Rosenranken los, um alle acht Alysse auf einmal zu attackieren. Sieben von ihnen wurden von den Rosen durchbohrt, ohne Schaden zu nehmen. Die echte Alyss hingegen neigte den Kopf auf eine bestimmte Weise, woraufhin die an greifende Ranke sich zusammenknäuelte und so in sich verhedderte, dass sie verwelkte und starb. »Wir gehören doch zu einer Familie«, sagte Alyss. »Hat das irgendetwas zu bedeuten?«, schnaubte Redd. »Eine Familie«, wiederholte Alyss, mehr um sich selbst davon zu überzeugen als Redd. »Erzähl mir nichts von Familie! Du bist von deinen Eltern nie verstoßen worden!« »Ich wäre lieber von ihnen verstoßen worden, als zu sehen zu müssen, wie sie ermordet wurden.« »Oh, wie tugendhaft!« Aus Redds Mund schossen nun lodernde Flammen, aus denen zwei Jabberwocks sprangen. Mit jedem Atem zug ließen sie Feuerzungen in Alyss’ Richtung schnellen. Die Prinzessin wehrte die Flammen nach beiden Seiten hin ab, und mit einer Bewegung ihres Zepters zertrüm merte sie die Jabberwocks in unzählige Energiepartikel. Noch während die Teilchen durch die Luft wirbelten und 331
sich auflösten, feuerte Alyss eine Salve Blitzbälle auf Redd ab, die bisher nur einen kleinen Teil ihrer Kraft zu ihrer Verteidigung einsetzte – in der Absicht, Alyss aus der Reserve zu locken und zu sehen, wozu sie in der La ge war, wo ihre Stärken und Schwächen lagen. Wie eine griesgrämige Gouvernante, die ein paar Kerzen löscht, erstickte sie die Blitzbälle, noch bevor diese sie erreich ten, indem sie Daumen und Zeigefinger in der Luft zu sammendrückte. Jedes Mal – ZZZ! – verglühte ein Blitzball vorzeitig. Alyss spürte, wie der Herzkristall seine Strahlen bis zu ihr aussandte, sie ganz erfüllte. Er ist hinter jener Wand verborgen, dort hinten. Redd, die in seiner Nähe geblie ben war, um ihre ganze Kraft auszuschöpfen, hatte damit bewirkt, dass auch Alyss’ Kräfte gestärkt wurden. Alyss schoss zwei Blitzbälle auf das Mosaik aus Quarz und Achat, und es brach krachend auf. Der rote Schein des Herzkristalls erfüllte den Raum. Redd ließ alle Vorsicht fahren. »Er gehört mir!«, schrie sie. »Der Kristall gehört mir!« Sie sandte X-förmige Klingen aus, die auf Alyss zu wirbelten, und die Prinzessin hatte alle Hände voll zu tun, um nicht in Scheiben geschnitten oder platt gewalzt zu werden. Sie wich mal nach links, mal nach rechts aus, sprang vor und zurück, aber sobald sie einer Attacke der X-Klingen erfolgreich ausgewichen war, kam auch schon die nächste Ladung auf sie zu: eine ganze Armee von Waffen, die nicht von Soldaten bedient werden mussten. Zu ihrem Schutz imaginierte sie einen Kokon aus Weißer Imagination um sich herum. Sie versuchte die Schneiden stumpf zu machen, was die Klingen aber nicht davon abhielt, auf sie zuzuwirbeln. Ich muss in die Offensive gehen. 332
Während sie noch immer den X-Klingen auswich, ka tapultierte sie ganze Blätter von Rasierklingenkarten aus ihren Ärmeln und auch ein paar Kanonenkugelspinnen. Sie war zu sehr damit beschäftigt, sich zu verteidigen, als dass sie sehen konnte, ob sie irgendeine Wirkung erziel ten. Dann ballte sie eine Hand zur Faust und schlug da mit in ihre andere Hand: Die herumwirbelnden Klingen fielen zu Boden, unschädlich gemacht. Jetzt stand sie aber vor einem anderen Problem, denn der Raum war plötzlich gedrängt voll mit riesigen, schweren, schwar zen, mit Nägeln gespickten Rädern, die auf sie zurollten. Dieses Mal reagierte Alyss nicht so langsam. Sie imagi nierte, dass sich die alptraumartigen Räder in Quadrate verwandelten, und schon waren sie arretiert, die Nägel blieben im Boden stecken. Ich kann nicht zulassen, dass Redd mich fortwährend bombardiert. Ich werde nie zum Angriff übergehen kön nen, wenn ich immer nur kontere. Sie fantasierte eine seltsame Bombe herbei – eine, die nicht zerstörte, sondern erschuf. Sie explodierte zu Redds Füßen, und um die Königin herum bildete sich ein glän zender Käfig aus einer extrastarken Legierung Weißer Imagination. »Du glaubst, du kannst mich einsperren?« Redd lachte und trat aus ihrem Miniaturgefängnis heraus, als existiere es gar nicht. Hinter ihr leuchtete der Herzkristall nicht länger gleichmäßig rot, er veränderte seine Farbe jetzt ständig, von Rosa über Weiß zu Rot oder Rot-Weiß marmoriert. Tante und Nichte standen in einem Wirbelsturm aus Schwarzer und Weißer Imagination, deren Winde um sie herumpfiffen, es knallte und zischte, und elektrische Strom stöße und Leuchtteilchen schossen in alle Richtungen. 333
Verleih mir Kraft, Herzkristall. Gib mir … Eine ihrer Kanonenkugelspinnen hatte wohl ihr Ziel völlig verfehlt, denn auf einmal waren Dodd und der Ka ter durch ein riesiges Loch in der aufgerissenen Mauer zu ihrer Rechten zu sehen. Ich hätte den Blick nicht von Redd abwenden sollen, nicht einmal für einen – Alyss drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um ei nen gigantischen Blitzball auf sich zukommen zu sehen. Rasch imaginierte sie selbst auch einen, und die beiden Bälle kollidierten. Wuuummm! Der Aufprall sandte enorme Druckwellen durch den Raum. Redd blieb ungerührt stehen, aber Alyss wurde zurückgeschleudert und zu Boden geworfen. Wie konnte sich die Lage nur so schnell ändern? Gerade noch war sie auf den Beinen, verteidigte sich erfolgreich gegen ihre Tante, und schon im nächsten Au genblick lag sie am Boden und sah wie die Niederlage in Person aus. Gerade noch waren Dodd und der Kater ebenbürtige Gegner; im nächsten Moment holte der Ka ter aus, um Dodd seine Pranke in die Eingeweide zu schlagen. Dodd blickte trotzig dem Tod ins Auge – »Dodd!«, rief Alyss und imaginierte reflexartig eine KG52 in seine Hand, als ihr irgendetwas einen Schlag auf den Kopf versetzte. Ein schwarzer Schleier legte sich über ihre Imagination, und sie verlor das Bewusstsein. Damit war der Weg für Redd frei, der aufstrebenden Prinzessin endlich ein Ende zu bereiten.
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und frierend erwachte Alice in ih S chweißbedeckt rem Bett. Prinz Leopold, Mrs Liddell und der De
kan sahen auf sie herab. In ihren Gesichtern spiegelten sich gleichermaßen Sorge und Erleichterung. »Wo bin ich hier?«, fragte Alice verwirrt. »Das«, antwortete Mrs Liddell, »ist dein Bett. Du bist zu Hause, Kindchen.« »Du hast uns einen gewaltigen Schrecken eingejagt, mein Liebes«, fügte Prinz Leopold hinzu. »Erinnerst du dich noch an das, was passiert ist?« Erinnere ich mich? Sie wagte nicht zu antworten. »Du bist in der Kirche ohnmächtig geworden und lagst seither in einer Art Delirium.« Nein! Unmöglich! »Ich war doch in Wunderland«, er widerte sie. Mrs Liddell verzog ein wenig das Gesicht. Dekan Lid dell räusperte sich. »Das Wunderland aus Carrolls Buch?«, erkundigte sich Leopold gutmütig. »Es ist dort überhaupt nicht wie im Buch!« Die Heftigkeit ihrer Reaktion erfüllte ihre Familie mit Sorge. Es ging ihr nicht gut. Sie war noch zu schwach, um sich so aufzuregen. »Alice«, sagte Mrs Liddell, »du warst sehr krank. Wir lassen dich besser noch ein wenig ruhen.« »Ich sehe bald wieder nach dir«, versprach der Prinz. Leopold und die Liddells wandten sich zur Tür. Aber 335
sie können nicht einfach so gehen. Noch nicht. Nicht, wenn sie so verwirrt war, so – sie musste es sich einge stehen – enttäuscht. Nichts von alldem war echt gewe sen? Der erwachsene Dodd, mein Gespräch mit der blauen Raupe, das Spiegellabyrinth? Sie setzte sich im Bett auf. »Aber …«
»Was ist denn?«, fragte der Dekan.
»War ich wirklich die ganze Zeit hier?«
»Natürlich.«
Kann das alles nur ein Fiebertraum gewesen sein? Sie
fiel in ihre Kissen zurück. Wie kann es sein, dass das al les gar nicht passiert ist? »Das ist ein Trick, Alyss!«, rief Dodd, der mit einer KG52 bewaffnet durch die Wand trat. »Was auch immer du siehst, es ist ein Konstrukt! Es ist nicht echt!« Genauso plötzlich, wie er gekommen war, war er auch wieder verschwunden – zurück durch die Wand. Weder die Liddells noch Leopold hatten den Zwischenfall be merkt. Alyss musterte sie nun etwas genauer, und jetzt, da sie Bescheid wusste, konnte sie die Milliarden Energie teilchen erkennen, aus denen sie bestanden. Da spürte sie etwas in ihrer Hand: das weiße Herzzepter. Dodd hat also überlebt. Im Angesicht des Todes hatte Dodd tatsächlich nicht gezögert, die KG52 einzusetzen, sobald sie sich in seiner Hand materialisiert hatte. Statt sein eigenes Leben zu verlieren, nahm er dem Kater ein weiteres, so dass der Bestie nur noch ein einziges Leben zur Verfügung stand. Alyss zerstörte das Konstrukt um sich herum. Das Bett und die Möbel, die Liddells, Prinz Leopold – alles ver schwand, und sie lag wieder auf dem Fußboden des Ball saals auf dem Einsamen Berg. Redd stand über ihr und schwang ihr Zepter, um Alyss den Kopf abzuschlagen. 336
Ich bin nicht verrückt, ich bin es nicht, ich bin nicht verrückt, aber ich bin WÜTEND! Als Redds Zepter nur noch einige wenige Wunder landzentimeter über Alyss’ schönem Hals schwebte, blies sie der bösen Königin so scharf ins Gesicht, dass die in die Luft geschleudert wurde. Alyss sprang auf die Füße. Redd flog immer noch, als Alyss aus ihrem Zeigefinger einen Energiestrahl feuerte. Er blieb an Redd haften, so dass Alyss nur ihren Finger hin und her zu bewegen brauchte, um Redd gegen die beiden noch verbliebenen Mauern des Ballsaals zu schmettern. Redd war völlig desorientiert, ihre Visionen verpufften und verblassten, stellten immer weniger eine Bedrohung für Alyss dar, deren Fähigkeiten sich proportional zu ihrem Selbstver trauen zu steigern schienen. Es ist unrealistisch, nicht zornig zu werden, nie wü tend zu sein oder aufgebracht. Es ist nur eine Frage des richtigen Maßes. Zorn erfüllte sie, aber er beherrschte sie nicht, auch wenn Alyss willens war, Redd so lange gegen die Mau ern zu schleudern, bis diese boshafte Frau starb – was ein ziemlich brutaler Tod gewesen wäre, aber es gelang Redd, sich von dem Energiestrahl, der sie festhielt, zu befreien, indem sie ihn mit dem spitzen Ende ihres Zep ters durchtrennte und sich zu Boden fallen ließ. Nun war es an Alyss, ihre Tante in die Defensive zu drängen. Sie schleuderte ein Pack Rasierklingenkarten nach dem anderen nach Redd. Sie imaginierte explodie rende Kanonenkugelspinnen, die die ganze Aufmerk samkeit ihrer Tante erforderten. Die schwarzen, gefräßi gen Rosenranken, die Redd auf die Prinzessin hetzte, waren schnell zerquetscht, die Blitzbälle und die eigen ständig agierenden wirbelnden Klingen, die Redd losließ, 337
mühelos abgewehrt, die Strahlen schwarzer Energie (Al yss fühlte sich geschmeichelt, denn ihre Tante hatte die Idee von ihr übernommen) von Alyss’ eigenen weißen Energiestrahlen einfach in der Luft festgehalten, so dass sie sich nicht mehr regten. Sowohl Alyss als auch Redd mochten durch die Nähe des Herzkristalls stärker geworden sein, aber Alyss konn te sehen, dass sie die Überlegene war. Dies musste auch Redd gedämmert haben, denn sie gab ihre ausgefallenen Visionen auf und lief, über alle Maßen frustriert und ge nervt, mit erhobenem Zepter auf Alyss zu. Sie schwangen ihre Zepter wie Schwerter, zwei mäch tige Kriegerinnen, in einen schönen altmodischen Nah kampf verwickelt. Über ihnen und um sie herum glitzerte und knallte und zischte und rauchte es in einem wahren Gewitter ihrer Imaginationskräfte. So schnell wie der Flügelschlag eines Tattelfinken hakte Alyss nun das wei ße Herz ihres Zepters in die knorrige Krümmung von Redds Zepter und riss dieses zu Boden, wo sie es mit einem Stoß weiß glühender Imaginationskraft zur Explo sion brachte. Soll ich sie töten oder … aber was soll mit ihr gesche hen, wenn ich es nicht tue? Sie wird eine Bedrohung dar stellen, solange sie am Leben ist. Was soll ich tun? Was soll ich … Redd ballte ihre Hände zu Fäusten. »Ich bin stärker als du, Redd.« »Du wirst mich nicht besiegen!«, schrie Redd. Alyss machte sich auf einen weiteren Angriff gefasst und erkannte zu spät, was geschah. Ungläubig sah sie, wie Redd sich mitten in den Herzkristall hineinstürzte. Krrrrrkkkkchsss! Hissszzzzll! Krrrch! Zzzzssszz! Der Kristall knackste und glühte. Er begann zu beben 338
und ein leises, gleichmäßiges Summen von sich zu ge ben, das immer intensiver und lauter wurde. Der Kater, dem nur noch ein Leben blieb und der durch den mit einer KG52 bewaffneten Dodd hart bedrängt war, sah, in welche Richtung die Imaginationskraft floss. Er fauchte und rannte zum Herzkristall. Dodd schoss ihm eine Ladung Rasierklingenkarten hinterher, aber die Bes tie war zu schnell und sprang in den Kristall hinein. Des sen heftiges Beben erschütterte die ganze Festung auf dem Einsamen Berg, der Einsturz schien nahe – Das Dröhnen verstummte. Auf einmal war alles ruhig. Der Herzkristall glühte gleichmäßig weiß. Die von General Doppel und General Gänger ange führten Trupps Alyssier hatten sich vereinigt und die Gläsernen Augen besiegt. Es hatte allen die Sprache ver schlagen, und so standen sie stumm da inmitten der be täubenden Stille, die solch großen und unerwarteten Er eignissen folgt. Denn in der langen Geschichte des Köni ginnenreichs war noch nie jemand in den Herzkristall gesprungen, und niemand wusste, was dies für die Zu kunft verhieß.
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Doppel war der Erste, der sich wieder fing. Er G eneral sah Dodd auf dem Boden sitzen, keuchend und vol ler Blut – seinem eigenen wie auch dem des Katers. »Ruft einen Arzt!« »Nicht nötig, mein Herr. Wirklich nicht. Ich habe hier genau das Richtige.« Der Walrossbutler stieg über tote Gläserne Augen und ging zu Dodd. In den Flossen hielt er einen Koffer, der einen Glühstab enthielt, mit dem man Wunden reinigen und Blutungen stillen konnte, eine Manschette miteinander verknüpfter NRG-Knoten und Schmelzkernen sowie eine Spule künstlich hergestellter Haut und einen Laserbrenner. Das Walross verbeugte sich vor Alyss, erfreut darüber, dass ihm das Schicksal diese Gelegenheit bot. »Ich begrüße Eure Rückkehr von ganzem Herzen, Königin Alyss«, sagte er. Das brachte Alyss wieder zu sich. Nie zuvor hatte je mand sie »Königin« genannt. Das Walross begann Dodds Wunden zu versorgen. Ausdruckslos starrte Dodd auf den Herzkristall. Unmöglich zu wissen, was er denkt. Freut er sich über das, was geschehen ist? Ist seine Rache gestillt oder – Plötzlich entstand am Eingang zum Ballsaal einige Unruhe, denn Karodame und Karofürst, Kreuzdame und Kreuzfürst sowie Pikdame und Pikfürst drängten sich durch die versammelten Schachkämpfer und eilten mit einem Ausdruck großer Erleichterung auf Alyss zu. »Wir hörten einen Heidenlärm«, sagte die Karodame, 340
»und als es vorüber war, kamen wir, so schnell wir konn ten, hierher und wagten kaum zu hoffen –« »Euer Sieg macht unsere tiefsten Hoffnungen für das Königinnenreich wahr«, schloss der Pikfürst. »Ja«, fuhr die Karodame fort. »Absolut. Es war schrecklich – die Tyrannei, unter der uns diese Frau lei den ließ.« »Redd hat uns als Geiseln gehalten, Königin Alyss«, erläuterte die Kreuzdame. »Ach, wirklich?«, sagte Alyss und sah Nanik zwei felnd an. »Na ja, weniger unser Körper wurde gefangen gehal ten als unser Denken«, gab die Kreuzdame zu. »Hätten wir Redd nicht gehorcht, wie es alle anderen Wunderlän der tun mussten, wären wir in die Kristallminen ge schickt worden.« »Und es erfüllt mich mit Scham, sagen zu müssen«, fügte die Karodame hinzu, »dass wir Karos, eine Adels familie, deren Stammbaum so weit zurückreicht, von der ehemaligen Königin am erbärmlichsten behandelt wur den.« »Ihr?« Der Kreuzfürst lachte schallend. »Meine Gattin und ich litten ganz gewiss mehr als irgendjemand aus eurem Klan, und ich –« »Sagt doch die Wahrheit!«, rief die Pikdame. »Wenn hier irgendjemand den Titel des am schlimmsten Miss handelten für sich beanspruchen kann, dann sind dies mein Gatte und ich.« Daraufhin begannen sie sich alle gleichzeitig zu erei fern, bis Alyss einen Finger auf ihre Lippen legte und alles verstummte. »Sobald es die Umstände erlauben, wird ein Tribunal eingerichtet werden, das untersucht, ob Sie sich während 341
Redds Regentschaft ehrenhaft verhalten oder ob Sie sich vielmehr gewisser Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben«, erklärte Alyss. »Kriegsverbrechen?«, stotterte die Pikdame. Der weiße Springer und seine Bauern umringten die Farbfamilien. »Aber derjenige, der vielleicht die größte Schuld trägt, ist nicht hier«, sagte Nanik Schneeweiss. »Meinen Sie diesen Burschen?« Es war der Turm, der das gesagt hatte. Alle drehten sich um und sahen, wie er den Karobuben hereinführte. »Er hatte sich in einer Klei derkammer verkrochen, wo er sich um den ganzen Spaß hier bringen wollte.« »Lass mich los, du … du Schachmann!« Der Karobu be schüttelte den Turm ab, zog mit einem heftigen Ruck seine Weste glatt, rückte seine Perücke zurecht und ver beugte sich vor Alyss. »Königin Alyss, ich habe nichts anderes getan, als Euch zu dienen, so gut ich konnte. Ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt, um für Euch diese Festung zu unterwandern. Lang regiere die Weiße Imagi nation!« Inzwischen hatte das Walross Dodds Wunden verbun den, der nun zum Karobuben hinüberhumpelte. Wortlos zog er dem beleibten Burschen den Schlüssel zum Spie gellabyrinth aus der Tasche. »Wie … wie kommt der da hinein?«, stammelte der Karobube. »Wie konntest du nur, Bube?«, stieß die Karodame hervor. »Schande! Was für eine Schande!« »Wie haben wir uns in unserem einzigen Sohn ge täuscht!«, jammerte der Karofürst, obwohl er und seine Gattin von den Aktivitäten ihres Buben gewusst hatten. Alyss zeigte auf die Füße des Karobuben, und eine 342
Aufbaubombe explodierte genau dort und errichtete ein Miniaturgefängnis um ihn herum. Im Tumult des Kampfes war Redds Krone zu Boden gefallen. Nanik hob sie auf. »Walross, wenn Sie bitte –« »O ja, sicher!«, sagte das Walross sofort. »– das hier polieren und für Alyss’ Krönung vorberei ten könnten.« Dann wandte sich der Hoflehrer an die junge Königin. Es gab nur noch wenig, was er Alyss beibringen konnte, das sie nicht schon die Lebenserfahrung gelehrt hatte. Gedankenverloren sah sie auf den Herzkristall. »Alyss?« »Was wird geschehen? Sollen wir ihnen jemanden hinterherschicken?« Nanik dachte lange nach, bevor er antwortete. »So wie wir Redd kannten, existiert sie wahrscheinlich nicht mehr. Aber genauso wie unsere Fantasie in den Kristall eingeht, um in anderen Welten Imaginationen hervorzu bringen, so wird gewiss auch ihr Geist in ihn eingehen und für alle Zeiten eine beseelte Macht bleiben. Der Sprung in den Kristall hat sie unsterblich gemacht. Wel che Gestalt sie in Zukunft annehmen wird, vermag ich nicht zu sagen. Aber ich fürchte für das Universum.« Alyss erwiderte nichts. Sie hing noch immer ihren Ge danken nach. Ich hätte sie töten sollen, ich – »Und jetzt … zu der Familie, die Euch in dieser ande ren Welt aufgezogen hat.« »Ja?« »Etwas sagt mir, dass sie sich um ihre verschwundene Tochter Sorgen machen.« Naniks Ohren zuckten schel misch. »Natürlich bin ich nur ein gelehrter Albino, und Ihr müsst nicht auf mich hören, aber ich würde Euch ra 343
ten, eine Alice Liddell aus Fleisch und Blut und mit einer eigenen Persönlichkeit zu imaginieren. Schafft Euch mit dem Reichtum Eurer Imagination eine Zwillingsschwes ter und entsendet sie, das Leben zu leben, das nicht län ger Eures ist.« Kann ich das? »Aber wie? Und … bin ich dazu über haupt fähig?« Nanik lächelte. Vielleicht gab es doch noch etwas, was er Alyss beibringen konnte. »Seht Euch um«, sagte er. »Seht, was Ihr zustande gebracht habt. Ich hätte gedacht, Ihr hättet inzwischen gelernt, dass Ihr zu allem in der Lage seid.« Seinen Anweisungen folgend, legte Alyss die Hände auf den Kristall und – Popp! Zzzz! – eine Explosion weißen Lichts brach über sie herein, alle hielten sich die Augen zu, und Alyss in seinem Zentrum, in einer synergetischen Umarmung mit dem Kristall, imaginierte die Millionen von winzigen Details, die alle zusammengenommen Alice Liddell ausmachten, bis hin zu den Poren ihrer Haut. Und plötz lich schoss irgendwo im Umland von Oxford, England, eine erwachsene Frau aus einer scheinbar gewöhnlichen Pfütze, sehr zum Erstaunen einer durstigen Gans. Nach mehreren Wochen, die sie auf Kosten von Prinz Leopold in London verbracht hatten, waren die Liddells wieder nach Oxford zurückgekehrt. Sie setzten sich gera de zum Abendessen, als Alice durch die Haustür herein kam. Unter lauten Rufen der Verwunderung und Erleich terung, unter Staunen und Freude und all den anderen angenehmen Regungen, die Alice’ wundersame Rück kehr auslöste, erzählte sie ihnen, wie sie ihren Entführern entkommen war (einer Bande schottischer Dockarbeiter, die darauf aus war, die königliche Familie zu erpressen, 344
behauptete sie), eine Heldentat, die sie selbst als nicht weiter bemerkenswert abtat. Alice war lange fort gewesen, und weil er zu der Überzeugung gelangt war, dass er sie nie wieder sehen würde, hatte sich der Prinz in eine andere verliebt – Prin zessin Helene von Waldeck. Alice war über Leopolds neue Liebe weniger bestürzt als ihre Mutter. Es dauerte nicht lange, da heiratete sie einen Mann, der besser zu ihrem Stand passte – Reginald Hargreaves, Schatzmeister im College ihres Vaters. Und bald darauf vermählten sich auch Prinz Leopold und Prinzessin Helene. Solange sie lebten, hegten Alice und Prinz Leopold Zuneigung füreinander. Und vielleicht in Erinnerung an ihre innige Verbindung nannte Alice einen ihrer Söhne Leopold und der Prinz seine einzige Tochter Alice. Von da an lebten alle glücklich und zufrieden, bis auf Mrs Liddell vielleicht, die Reginald Hargreaves zwar gut lei den konnte, aber ach, wie wunderbar wäre es doch gewe sen, wenn Alice einen Prinzen geheiratet hätte!
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der desolaten Zustände im KöniginnenA ufgrund reich kam Leine pompöse Feier nicht in Frage,
und so hielt Alyss ihre Krönungszeremonie kurz und knapp. Ihr einziges Zugeständnis in Richtung großes Tra ra war, dass sie das Ereignis auf allen Bildschirmen und Werbetafeln von Wundertropolis übertragen ließ. Die ganze Bevölkerung sollte wissen, dass es eine neue Kö nigin gab. Keiner der Bildschirme, keine der Werbetafeln würde jemals wieder Belohnungen für diejenigen Wun derländer versprechen, die Anhänger der Weißen Imagi nation verrieten, oder für Redds zahlreiche Produkte und Erfindungen werben. Die neue Königin und ihre Gefolgschaft – Dodd, Na nik, Mac, Molly, General Doppelgänger, der Turm und der Springer – zogen sich nach der Krönung in die Beo bachtungskuppel auf dem Einsamen Berg zurück. »Was ist denn das?«, fragte Homburg-Molly und ver zog das Gesicht beim Anblick des großen haarigen Dings, das vor einer teleskopischen Scheibe hockte. Das Walross watschelte durch den Raum und reichte ein Tablett mit gefüllten Weinkelchen herum. »Ach, das ist das Perückenmonster«, erklärte es, »ein Spielzeug, das dem Karobuben gehört. Haben Sie noch nie ein Perü ckenmonster gesehen?« »Es ist hässlich, und ich mag es nicht«, erwiderte Molly. Das Walross stimmte in diesem Punkt völlig mit ihr überein. Es war hässlich. 346
Mit der Zeit würde ein neuer Herzpalast an der Stelle des alten erbaut werden. Sein Garten würde das Grab von Dodds Vater umschließen, und es sollten darin Denkmä ler für Königin Genevieve, König Nolan und die zahllosen tapferen Alyssier errichtet werden, die unter Redds tyranni scher Herrschaft ihr Leben gelassen hatten. Aber der Wie deraufbau Wunderlands würde auch einiges an Wachsam keit erfordern. Sämtliche Gläsernen Augen und Kartensol daten mussten aufgespürt und vernichtet werden, sofern sie nicht neu programmiert werden konnten. Zwar mochten im Land wieder die Prinzipien der Weißen Imagination herr schen, aber Probleme würde es, wie zu Genevieves Zeiten, immer geben. Die Anhänger der Schwarzen Imagination mussten unter Beobachtung gestellt werden; Bürger, die synthetischen Kristallen oder imaginationsstimulierenden Substanzen verfallen waren, mussten resozialisiert wer den; diejenigen, die durch korrupte Geschäftspraktiken reich geworden waren, mussten sich einem besseren Ar beitsethos verpflichten oder ihr Geschäft schließen. »Königin Alyss?« »Ja?« Es war Mac Rehhut. Er schien Mühe zu haben, die richtigen Worte zu finden. »Ich habe mich … mein Le ben der Aufgabe gewidmet, Euch und Eure Mutter zu beschützen. Ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand, und wenn ich den Anforderungen meiner Ver pflichtung nicht immer gerecht geworden bin …« »Sie haben mehr getan, als eine Königin jemals erwar ten könnte.« Der Modist verbeugte sich dankbar. »Ich möchte Euch auch weiterhin zu Diensten sein, dennoch habe ich eine etwas unkonventionelle Bitte. Ich würde gern … eine Auszeit nehmen.« 347
Der Mann ist also doch nicht vollkommen von seiner Arbeit erfüllt, vielleicht hat er tatsächlich noch andere Interessen und Vorlieben. Alyss rief sich in Erinnerung, wie er an jenem Abend am Feuer gesessen hatte, als sie zum ersten Mal ihre Imaginationskraft steuern konnte – wie normal er ohne seine Waffen ausgesehen hatte. Ja, es wird ihm gut tun, eine Zeit lang als ganz normaler Wun derländer zu leben, nicht als der legendäre Mac Rehhut, sondern als ganz gewöhnlicher Mann. »Ich hatte gehofft, Sie würden die Modisterei wieder aufbauen«, sagte sie. »Das werde ich auch, meine Königin. Sobald ich in den Dienst zurückkehre.« Er spielte mit dem Gedanken, ihr seine Beweggründe darzulegen – den Verlust einer Frau, die zu betrauern er bislang noch keine Zeit gefun den hatte. Aber es fehlten ihm die Worte. Der Kummer lähmte seine Zunge. »Wer wird in der Zwischenzeit mein Leibwächter?«, fragte Alyss. Mac richtete den Blick auf Homburg-Molly. »Allen Schutz, den Ihr braucht, findet Ihr bei ihr.« Überrascht sah Molly hoch, begann zu strahlen und tippte sich dann an den Hut. »Mac, Sie sind sowohl ein Mann als auch ein Modist, und wenn Sie für sich persönlich Zeit brauchen, so soll sie Ihnen auf jeden Fall gewährt sein. Sie sollen Ihre Auszeit haben.« »Danke, Königin Alyss.« Damit zog er sich zurück, und Molly, die vor Freude auf und ab hüpfte, begleitete ihn hinaus. Die jüngste Kö niginnenleibwächterin aller Zeiten! Das Mädchen bom bardierte Mac mit Fragen, während Alyss einen Blick auf Nanik Schneeweiss und General Doppelgänger warf, die 348
in ein Streitgespräch über den gesundheitlichen Nutzen von Quietschbeersaft vertieft waren. Der weiße Springer stachelte den Hoflehrer an, während der Turm Partei für den General ergriff – keiner der beiden Schachkämpfer interessierte sich wirklich für das Thema, doch sie fanden großen Gefallen daran, zwei gefeierte Wunderländer beim Streiten beobachten zu können. Dann fiel Alyss’ Blick auf Dodd, der allein vor einer teleskopischen Scheibe stand und hinaus auf die Trümmer des Herzpa lastes sah. Sie ging zu ihm. »Ich werde ihn wiederaufbauen«, sagte sie. Dodd nickte. »Niemand wird vergessen werden, Dodd. Weder dein Vater noch der niedrigste Kartensoldat, niemand.« Wieder nickte er. »Ich schulde Euch großen Dank.« Er tätschelte die KG52, die an seinen Schenkel geschnallt war. »Ich bin froh, dass du nicht zu stolz warst, sie zu be nutzen.« »Ich hätte sie besser einsetzen sollen.« Sie verstand. Er hatte zwar den Kater getötet, aber ei gentlich war der Kater entkommen. Ob die Auseinander setzung mit der Bestie ausgereicht hatte, die Schlinge der Schwarzen Imagination um Dodds Hals zu lösen, ihm den Stachel des Hasses zu ziehen, der sein Leben so lan ge bestimmt hatte, würde erst die Zukunft zeigen. Alyss hoffte, dass er seine Wut hinter sich lassen könnte. Sie wünschte sich, dass der Junge, den sie einst gekannt hat te, endlich wieder in dem Mann zum Vorschein käme. Wir werden uns vielleicht wieder besser kennen lernen und die Liebe aufleben lassen, die wir einst füreinander empfanden – eine Liebe, die, obwohl wir jung waren, keineswegs kindlich war. Der Jabberwockzahn, den er ihr 349
gegeben hatte … Ich werde ihn an einer Kette um den Hals tragen, um ihm zu zeigen, dass ich nichts vergessen habe. Er wird ein Talisman sein gegen seine dunklen Triebe. Sie wandte sich von Dodd Anders ab und erblickte in einem Spiegel ihr Ebenbild. Sie erinnerte sich an den Moment im Spiegellabyrinth, als sie hier in diesem Saal stand und anstelle ihres eigenen Spiegelbildes Redds Ge sicht sah, das sie aus ebendiesem Spiegel heraus anstarr te. Doch nun kräuselte sich ihr Ebenbild und verschwand, und vor ihr standen Genevieve und Nolan, die Arme um einander gelegt, und lächelten voller Stolz. Der Fortbe stand des Königinnenreichs, der siegreiche Staatsstreich der Alyssier, zukünftige Erfolge oder Misserfolge – alles begann bei Alyss, das schien Genevieves und Nolans Gegenwart zu sagen, bei der Macht und der Weisheit, die in ihr ruhten, der mächtigsten Königin, die Wunderland je hatte. »Es ist alles in deinem Kopf«, sagte Genevieve. »Ich weiß«, erwiderte Alyss, und ungeachtet der Schrecken der Vergangenheit, ungeachtet der Ungewiss heit, die die Zukunft barg, hätte sie diesen Moment für nichts in der Welt hergegeben. »Ist das nicht wunder bar?«
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