Stefan Ljungqvist
Monstergeheimnisse Das Silberkästchen
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Stefan Ljungqvist
Monstergeheimnisse Das Silberkästchen
© 2009 SchneiderBuch verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH, Gertrudenstraße 30-36, 50667 Köln Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Die schwedische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Monsterflickan Bok ett – Blodsband« im Damm Förlag, Forma Publishing Group AB, Schweden Text Copyright © Stefan Ljungqvist 2006 Illustrationen Copyright ©Johan Egerkrans 2006 Übersetzung aus dem Schwedischen: Dagmar Lendt Umschlaggestaltung/Satz: Hohl & Wolf, Hainburg Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm ISBN 978-3-505-12545-4
Stefan Ljungqvist
Monstergeheimnisse Das Silberkästchen Deutsch von Dagmar Lendt
Für Ximena, Mathias, Daniella, Jonathan und Jack. Und alle Kinder.
Inhalt Spieglein, Spieglein … Das Monster im Schrank Das Monster unter dem Bett Das Scheusal Der Brief Die Monsterbehörde Die erste Begegnung Die Monsterabteilung Träume werden Wirklichkeit Lauf um dein Leben Zutritt verboten Das Kräftemessen Nach dem Sturm
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Spieglein, Spieglein …
»Ich hasse dich«, sagte Mira und sah dem blassen Mädchen direkt in die Augen. Das Mädchen starrte mit leerem Blick zurück. Ihre Lippen bewegten sich, als versuchte sie zu antworten, aber falls sie etwas sagte, war es so leise, dass Mira es nicht hören konnte. Das Einzige, was sie hörte, war die Unsicherheit in ihrer eigenen Stimme und das Surren von Mamas Nähmaschine in der Küche. »Keiner mag dich«, sagt Mira leise, und eine einsame Träne lief langsam die Wange des Mädchens hinunter. Die Uhr, die über dem Spiegel hing, tickte unregelmäßig, und die Luft im Zimmer war heiß und stickig. Zwei dunkle Vorhangschals hingen schief vor dem zersprun genen Fenster und sperrten die glühende Nachmittagssonne aus. Plötzlich fiel Mira das Atmen schwer. »Warum bist du überhaupt da?«, sagte sie zu dem Mädchen und ballte die Faust hinter ihrem Rücken. In der Hand hielt Mira einen glatten weißen Stein, den sie im Sommer am Strand gefunden hatte. In einem Glas auf dem Schreibtisch lagen noch mehr solcher Steine. 7
Das Mädchen stand einfach da mit ihren zotteligen schwarzen Haaren und ihrem langen Hals und glotzte. »Warum kannst du nicht einfach sterben?«, sagte Mira und machte die Augen zu, um das Mädchen nicht länger sehen zu müssen. Vor ihrem inneren Auge sah sie Bilder, die in rascher Folge vor beizogen. Sie sah das Mädchen, das ganz allein in der letzten Bank im Klassenzimmer saß. Kriss und einige der anderen Kinder in der Klasse zeigten mit dem Finger auf sie und schnitten Grimassen, sobald die Lehrerin ihnen den Rücken zudrehte. Sie sah das Mädchen draußen auf dem Schulhof mit klebri gem Kaugummi im Haar. Ein Stück weiter weg stand Kriss mit einem Mädchen aus der Sechsten und flüsterte. Sie versuchten nicht einmal zu verheimlichen, dass sie ihr den Kaugummi ins Haar geklebt hatten. Und sie sah sich selbst, wie sie in ihrem Bett lag und sich jeden Abend in den Schlaf weinte. Ich … Mira schluckte und holte tief Luft, so als müsse sie Kraft sammeln, um sich selbst zu überzeugen. Ich bin ganz normal. Ich bin genau wie alle anderen, dachte sie und schlug die Augen auf. Sie blickte dem Mädchen gera dewegs ins Gesicht, das genauso aussah wie ihr eigenes. »Hör auf zu glotzen! Du bist diejenige, die hässlich und komisch ist, nicht ich!« Überall wo Mira hinschaute, blickte auch das Mädchen hin. Und egal, wie Mira sich bewegte, das Mädchen machte es ihr nach. Da plötzlich hatte Mira genug. Sie trat einen Schritt zurück, weg von dem Mädchen, und machte die Augen wieder zu. Dann warf sie den Stein, den sie in ihrer Hand hielt. Das Mädchen 9
löste sich in tausend Scherben auf, als der Spiegel vor Mira mit einem lauten »Klirr!« zersprang. »Mira!« Aus der Küche kam das Geräusch von einem Stuhl, der um kippte, gefolgt von schnellen Schritten, mit denen Miras Mutter durch die Diele angerannt kam. Mira warf einen finsteren Blick auf den Wandschrank und den eisernen Schlüssel, der im Schlüsselloch steckte, bevor sie auf Knien zwischen die Scher ben sank und sich die Ohren zuhielt. Die Tür zu ihrem Zimmer wurde mit einer solchen Wucht aufgestoßen, dass die Uhr an der Wand herunterfiel und zer brach. Auf der Schwelle stand Miras Mutter, mit Lockenwicklern im Haar und wildem Blick, und starrte erst ihre Tochter an und dann auf die Reste des Spiegels, die auf dem Fußboden ver streut lagen. Mira kroch in sich zusammen und beobachtete, wie Mamas zusammengekniffene Augen dunkel wurden vor Wut, während sie ins Zimmer trat. Als sie Miras Arm packte und sie über den Fußboden zum Wandschrank zerrte, machte Mira die Augen zu und biss die Zähne zusammen, denn sie wusste, dass alles nur noch schlim mer werden würde, wenn sie sich wehrte. Ihre Mutter war so wütend, dass sie Mira ohne ein einziges Wort in die Dunkelheit stieß und die Tür hinter ihr zuknallte. So heftig, dass sich der Schlüssel von ganz allein im Schloss umdrehte. Mira blinzelte konzentriert, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Das taten sie auch schnell, denn für Mira war der düstere Wandschrank nichts Neues. »O weh, o weh, o weh, sieben Jahre Pech …«, jammerte Miras Mutter, während sie begann, die Scherben aufzusam meln. »Was für ein Elend.« Ja, dachte Mira, es ist wirklich ein richtiges Elend. Aber sie 10
hatte sich ihre Mutter nicht ausgesucht, und es war schließlich nicht allein ihre Schuld, dass sie nicht miteinander klarkamen. Wie sehr Mira sich auch anstrengte, damit es zwischen ihnen klappte, war doch immer alles falsch, was sie tat. Es schien ein fach nichts zu nützen. An manchen Tagen hatte Mira das Ge fühl, dass sowieso alles egal war. Eigentlich hatte sie inzwischen auch gar keine Lust mehr, sich Mühe zu geben. Doch trotzdem dachte sie nicht daran, ein fach so aufzugeben. Noch nicht. Sie würde weiterkämpfen! Mira verkroch sich zwischen den Kleidern, die ganz hinten in dem Wandschrank hingen. Der dünne Lichtstreifen, der durch den Spalt unter der Schranktür hereinkroch, reichte bis zu einem kleinen silbernen Kästchen, das dort im Dunkeln stand. Mira hatte das Silberkästchen in diesem Frühjahr bekommen, am Abend vor ihrem elften Geburtstag. Sie erinnerte sich so deutlich an diesen Abend, als wäre es erst gestern gewesen. Nach den Spätnachrichten hatte es an der Tür geklingelt, und als Mira öffnete, verschlug es ihr vor Staunen glatt die Sprache. Vor der Tür standen zwei schwankende Stapel mit Geschenken von Verwandten, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Die Geschenke waren in die eigenartigsten Papiere eingewi ckelt, die Mira jemals gesehen hatte. Einige in durchsichtigem Papier und andere in Papier, auf dem kleine Härchen wuchsen. Einige waren sogar in Schleim- und Pfefferpapier eingeschla gen, aber das war noch gar nichts gegen die Geschenke selbst! Aus einem kleinen, runden Beutel hörte man die sanfte Stimme von einem Buch, das sich selbst vorlas, und in einem pyrami denförmigen Paket, das auf der Spitze des einen Stapels balan cierte, lag eine unsichtbare Fischschuppenpuppe, eingewickelt in transparente Plastikfolie. Mira hatte es geschafft, ein paar der Geschenke auszupacken, bevor ihre Mutter nachsehen kam, was denn da los war. Doch leider hatte sie keines davon behalten dürfen. 11
Miras Mutter hatte sehr merkwürdig reagiert. Zuerst war sie böse geworden und hatte einen ganz roten Kopf bekommen, und dann hatte sie kurzerhand beschlossen, alles wegzuwerfen. Aber bevor ihre Mutter alle Geschenke hinunter zum Müllcon tainer tragen konnte, war es Mira gelungen, eine kleine drei eckige Dose mit übel riechendem Angstpulver aus dem Stapel zu greifen und zu verstecken. Daraufhin war sie sofort in ihr Zimmer gelaufen und hatte die Tür hinter sich zugemacht. Und da stand es plötzlich vor ihr: das Silberkästchen. Auf der Fensterbank hinter den Gardinen, die im Durchzug wie wild flatterten. Als sie zum Fenster gegangen war, hatte sie den Sprung in der Scheibe und die kleinen lehmigen Fuß- und Handabdrücke auf der Fensterbank entdeckt. Da hatte sie gewusst, dass jemand Ungewöhnliches das Kästchen dort hingestellt haben musste. Für sie. Der Inhalt des Kästchens hatte alles verändert. Er hatte Mira darauf gebracht, sich zu fragen, wer sie war und woher sie eigentlich kam. Und obwohl sie beschlossen hatte, dass das Kästchen ihr Geheimnis bleiben sollte, konnte sie es nicht las sen: Sie fragte ihre Mutter, ob sie adoptiert war. Die hatte bestätigt, was Mira bereits vermutete – ihre Mutter war gar nicht ihre richtige Mutter. Sie hatte Mira lediglich bei sich aufgenommen, nachdem Miras echte Mama plötzlich krank geworden und ihr Papa verschwunden war. Aber viel mehr als das hatte Miras Adoptivmutter auch nicht erfahren, und außer dem fand sie es unwichtig. Sie weigerte sich sogar, noch mehr Fragen über Miras Eltern zu beantworten. Schließlich war sie ja jetzt Miras Mutter. Von da an hatte Mira ihr jeden Abend versprochen, sie wei terhin »Mama« zu nennen. Aber nachts hatte sie von einem Le ben zusammen mit ihren richtigen Eltern geträumt. 12
Und jedes Mal, wenn Mira am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte sie sich so sehr nach ihnen gesehnt, dass ihr das Herz wehtat. Da hatte sie begriffen, dass etwas mit ihr passiert war. Doch Mira war nicht die Einzige, die sich verändert hatte. Auch ihre Adoptivmutter benahm sich seit einiger Zeit anders. Sie war oft gereizt und mürrisch. Und das sollte eines Tages noch viel schlimmer werden … Ihre Mutter hatte eine Einladung an alle Mädchen aus Miras Klasse geschickt und für diesen schönen Sonntag eine Geburts tagsfeier im Garten hinter dem Haus vorbereitet. Aber wenn sie Mira vorher gefragt hätte, dann hätte Mira ihr sagen können, wie es war – dass nämlich niemand kommen würde, ganz egal, wie oft sie fragte. Dann hätte Mira nicht im Garten sitzen und sich schämen müssen, während sich ihre Mutter immer mehr aufregte. Am Ende war die Schlagsahne auf der Torte in der Sonne sauer geworden, und ihre Mutter hatte die Geduld verloren. Sie hatte die Partyhüte und bunten Plastikteller in einen schwarzen Müllsack gestopft und anschließend die schal gewordene Li monade in die Blumenbeete gekippt. Danach hatte Mira für den Rest des Tages auf ihrem Zimmer bleiben müssen. In diesem Moment hatte sie begriffen, dass zwischen ihr und ihrer Adoptivmutter etwas kaputtgegangen war. Etwas, das nie wieder richtig heil werden konnte. Und seitdem war kein Tag vergangen, an dem Mira sich nicht nach ihren richtigen Eltern gesehnt hatte. Mira kroch unter einen alten Wintermantel und zog das Silber kästchen in den Lichtstreifen. Sie legte die Finger auf den versteckten Mechanismus an der Seite des Kästchens und drückte darauf. Der mit Samt bezogene Deckel zitterte leicht, bevor er sich mit einem klickenden Ge räusch öffnete. Mira nahm das abgegriffene Schwarz-WeißFoto von ihrer Mama und ihrem Papa heraus. 13
Obwohl ihr Papa nicht wie ein gewöhnlicher Vater aussah, vor allem wegen des dichten Fells und des Schwanzes, liebte Mira sie beide, und sie dachte oft darüber nach, was sie tun konnte, um ihre Eltern endlich wiederzufinden. Mira legte das Foto auf den Schrankboden und holte eine vergilbte Papierrolle heraus, auf der ganz oben in verschnörkel ter Schrift das Wort Familienstammbaum stand. Auf der rechten Seite des Papiers, unter der Überschrift Monster, waren eine Menge merkwürdiger Namen wie Herr Skrackeltopus und Frau Millermopp ganz eng nebeneinander in winzig kleine Kästchen geschrieben. Auf der linken Seite des Blattes standen mindes tens genauso viele Namen unter der Überschrift Menschen, und hier hießen die Leute ganz normal: Andersson und Svensson. Mira hatte mehrere Tage gebraucht, bis sie endlich ihren eigenen Namen gefunden hatte, aber schließlich entdeckte sie ihn am äußersten Ende eines Zweiges ganz oben am Rand des Blattes. Und als sie ganz genau hinschaute, fand sie ein klitze kleines Kästchen neben ihrem, in dem der Name Sylvester stand, geschrieben in dünner, kaum lesbarer Tinte. Seitdem ver ging kein Tag, an dem Mira sich nicht fragte, ob sie wohl einen Bruder hatte. Es fühlte sich ganz unwirklich an. Mira legte die Papierrolle mit dem Stammbaum neben das Foto ihrer Eltern und fuhr mit dem Zeigefinger über den Rü cken des ledergebundenen Buches, das auf dem Boden des Kästchens lag. Das dritte und vorletzte der vier Symbole, die in das schwarze Leder auf der Vorderseite eingraviert waren, be gann zu glühen und ließ die Luft vibrieren. Kleine grellweiße Blitze zuckten zwischen ihren Fingern und den Symbolen auf, als sie das Buch aus dem Kästchen nahm. Und obwohl Mira es schon oft getan hatte, konnte sie sich im mer noch nicht richtig an das Kribbeln gewöhnen, das von den Symbolen in ihre Finger ausstrahlte, den Arm hinauf bis zum Herzen wanderte und dort mit einem kleinen Kitzeln verschwand. 14
Mira atmete ein paarmal tief durch, dann schlug sie das Buch auf und blätterte durch die ersten Seiten. Der Text war mit einer Art silberner Tinte geschrieben, die sich über das Papier schlän gelte, und beschrieb die Verwandlung, die Mira seit ihrem zehn ten Geburtstag jede Nacht Punkt zwölf Uhr durchmachte. Sie hatte seitdem Hunderte von Verwandlungen erlebt, aber sie erinnerte sich noch ganz genau an das allererste Mal: Ihre Haare waren so schnell gewachsen, dass es auf der Kopfhaut gebrannt hatte, ihre Nägel waren im Handumdrehen lang, gelb und spitz geworden, und ihre Zähne waren so rasant gewach sen, dass es in ihrem Kiefer geknackt hatte. Aber obwohl das schon viele Nächte her war, hatte sich Mira immer noch nicht daran gewöhnt. Jede Verwandlung fühlte sich anders an, und es verging keine Nacht, in der sie nicht hoffte, dass es endlich auf hörte und sie genau wie alle anderen wäre. Mira seufzte und blätterte weiter. Sie übersprang ein paar Sei ten, die praktische Ratschläge zur Körperpflege enthielten – zum Beispiel Rezepte für Haarentfernungsmittel und für Zahn creme zum Putzen von Reißzähnen sowie eine Liste über gutes Werkzeug zum Schneiden von Krallen aller Art. Sie spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief, als sie zu dem Kapitel kam, das sie gesucht hatte. Diese Seiten berichteten über eine ganz spezielle Fähigkeit. Sie waren viel persönlicher geschrieben, sogar so persönlich, dass darin mehrere Male ihr Name erwähnt wurde. Mira hatte die Seiten sehr sorgfältig gelesen, sich aber nie getraut auszu probieren, ob sie die Fähigkeit tatsächlich besaß, so wie es das Buch behauptete. Der Text beschrieb, wie sie zwischen ihrem Wandschrank und einem fremden Wandschrank reisen konnte. Dazu musste sie einen Gegenstand in der Hand halten, der dem Besitzer oder der Besitzerin des anderen Schranks gehörte, und gleichzeitig fest an diese Person denken. Obwohl Mira dieses 15
Kapitel schon unzählige Male gelesen hatte, zog sie unwillkür lich die Augenbrauen hoch. Das Ganze klang unglaublich! Die restlichen Seiten im Buch waren so blank, dass sie sich darin spiegeln konnte. Aber manchmal kam es ihr so vor, als könnte sie schwache Schatten unter der Oberfläche erkennen, so als befänden sich Buchstaben unter der milchweißen Spie gelschicht. Doch sobald sie meinte, einen Buchstaben entziffern zu können, war er auch schon wieder verschwunden. Mira schlug das Buch zu, legte es auf den Schrankboden neben die anderen Sachen und beugte sich nach vorn. Sie nahm eine silberne Taschenuhr aus der Kiste, die schwach in ihrer Hand blinkte, sobald sie sie bewegte. Im Deckel der Uhr war ein winziger Text kreisförmig eingraviert, ein Text, den sie schon hundertmal gelesen hatte und inzwischen auswendig kannte. Sie folgte dem Text auf dem Deckel mit dem Finger, wäh rend sie die Worte leise vor sich her sagte: »Mira, hüte dich vor der Monsterbehörde. Onkel Lupus.« Mira hatte sich oft gefragt, wer dieser Onkel war und wie er wohl aussah. Sein Name klang auf jeden Fall außergewöhnlich. »Lupus«, flüsterte sie. Diesen Namen würde sie sicher nie vergessen. Sie öffnete den Deckel der Uhr und betrachtete den Zeiger, der sich mutig in Richtung Mitternacht vorwärtskämpfte. Aber es war noch lange bis dahin, und mit ein bisschen Glück lag sie bereits im Bett und schlief, bevor die Verwandlung begann. Der Gedanke an die Verwandlung bedrückte sie, und plötz lich fühlte sich die Uhr in ihrer Hand schwer an, obwohl sie so klein war. »Ich …« Mira ließ die Uhr los und flüsterte erstaunt vor sich hin, als hätte sie gerade erst den Inhalt der Worte verstanden: »Ich bin nicht wie alle anderen.« Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. »Ich bin ein …«, 16
begann sie, schaffte es aber nicht, das letzte Wort auszuspre chen. Sie saß stumm im Dunkeln und überlegte eine Weile, be vor sie die Worte mit dem Mund formte, ohne dass ein Ton he rauskam: Ich bin ein Monster.
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Das Monster im Schrank
Mira schlug die Augen auf und blickte zur Decke. Es war Mor gen. Sie war hellwach und fühlte sich munter, obwohl sie die ganze Nacht unruhig geschlafen hatte. Ihre Mutter hatte sie erst weit nach neun Uhr am Abend aus dem Wandschrank gelassen und ohne Essen ins Bett geschickt. Kein Wunder also, dass Mira jetzt einen Bärenhunger hatte. Sie setzte sich auf und knipste die Lavalampe auf der Fens terbank neben ihrem Bett an. Das grüne Licht der Lampe ver trieb die Dunkelheit aus den Ecken und machte es leichter auf zustehen. Mira setzte die Füße auf den kalten Fußboden, streckte sich und gähnte. Sie stand auf und blieb eine Weile vor dem Bett stehen, während sie daran dachte, was gestern passiert war. Da kam ihr die Idee, einen Blick in den Spiegel zu werfen, aber statt in ihr eigenes Spiegelbild zu schauen, starrte sie nur gegen die kahle Wand. Enttäuscht schüttelte sie den Kopf. Es war Montag und Zeit für die Schule. Mira drehte sich um, griff nach der Bettdecke und schüttelte 18
sie auf, bevor sie sie über dem Bett ausbreitete. Als sie dasselbe mit dem Kopfkissen machen wollte, füllte sich die Luft über ihr plötzlich mit weißen Daunen. Das Kissen hatte offenbar ein Loch. Mira hielt es hoch und betrachtete es, während die Daunen auf sie herabschwebten wie Schneeflocken. Auf der Rückseite des Kissens befanden sich links und rechts jeweils fünf breite Risse! Sie sahen so aus, als stammten sie von langen Krallen. Mira hatte letzte Nacht wirklich unruhig geschlafen … Sie warf das Kopfkissen auf den Fußboden und seufzte resi gniert. Dann hockte sie sich hin und begann, die Daunen zurück in das Kissen zu stopfen. Als sie damit fertig war, trug sie das Kissen so leise und vorsichtig zum Wandschrank, wie sie nur konnte, öffnete die Schranktür und schaute hinein. Dort sah es genauso aus wie am Abend zuvor. Sie streckte sich bis tief in den Schrank und versteckte das zerrissene Kissen über einem anderen hinter einer alten Reisetasche. Danach schloss sie leise die Tür, drehte sich um und zog sich an.
Es klingelte zum Unterricht. Mira stand ganz vorn in der Schlange vor dem Klassenzimmer und wartete darauf, dass die Lehrerin kam. Sie presste die Schulbücher fest an ihre Brust, während sie nervös über die Schulter nach Kriss Ausschau hielt. Kriss stand etwas weiter hinten in der Schlange und flüsterte gerade einem Mitschüler etwas ins Ohr, während sie Mira an starrte. Sie grinste fies, als sie merkte, dass Mira in ihre Rich tung sah. 19
»Du bist eklig und hässlich«, sagte sie so laut und deutlich, dass es alle hören konnten. »Ein richtiges Monster.« Der Rest der Klasse verstummte und sah zu Boden. Kriss blickte in die Runde und betonte: »Das finden alle.« Mira wandte sich ab und biss die Zähne zusammen. Wo blieb nur die Lehrerin? Kriss trat aus der Reihe und stellte sich hinter Mira, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie roch süßlich nach billigem Parfüm. »Wieso gibt’s dich eigentlich?«, zischte sie zwischen zu sammengebissenen Zähnen hervor, sodass die Spucke nur so spritzte. Dabei zog sie Mira an den Haaren. In diesem Moment ging die Tür zum Klassenraum auf. Die Lehrerin kam heraus und streckte dem ersten Kind in der Reihe die Hand entgegen, genauso wie sie es jeden Morgen tat. Aber Mira blickte nicht einmal hoch, sondern rannte an ihr vorbei, geradewegs ins Klassenzimmer. »Mira, was ist denn los?«, rief ihr die Lehrerin nach, doch Mira lief, ohne zu antworten, einfach weiter zu ihrem Platz ganz hinten an der Wand. Im Moment wollte sie mit nieman dem reden. Die Lehrerin machte ein bekümmertes Gesicht und zuckte mit den Schultern. Dann streckte sie die Hand aus und begrüßte die nächste Schülerin. »Guten Morgen, Frau Karlsson.« Kriss lächelte ihr aller freundlichstes Lächeln und ging ins Klassenzimmer. Mira starrte auf die Tischplatte, während die restlichen Schü ler nacheinander hereinkamen und sich auf ihre Plätze setzten. Ihre langen schwarzen Haare hingen von ihrem Kopf herab und verbargen ihr Gesicht. Als sich ihr letzter Klassenkamerad setzte, schloss sie die Augen. Obwohl sie sich nach Kräften dagegen wehrte, stahl sich eine Träne unter ihren Wimpern hervor und lief ihr über die Wange. Sie tropfte im selben Moment auf den Tisch, in dem die Lehrerin die Tür schloss. 20
»Willkommen zu einer neuen spannenden Woche!« Die Leh rerin stellte sich vor die Tafel und machte ein geheimnisvolles Gesicht. »In dieser Woche wird viel passieren …« Die Klasse ver stummte und hörte interessiert zu, sogar Mira hob den Blick. »… doch wenn etwas passieren soll, muss man selbst aktiv werden.« Mira holte einen Bleistift heraus und begann, auf der Tischplatte herumzumalen, während die Lehrerin weitersprach: »Wenn man ein Problem hat, kann man nicht einfach darauf warten, dass es ein anderer für einen löst.« Mira fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Ihre Kopf haut tat immer noch ein bisschen weh und erinnerte sie an all die Male, die Kriss gemein zu ihr gewesen war. Ich halte das nicht mehr aus, dachte sie, und ihr Gesicht wurde plötzlich fins ter. Sie senkte den Blick und starrte auf das Gekritzel auf der Tischplatte vor ihr. Ganz unbewusst hatte sie das dritte Symbol gezeichnet, das auf der Vorderseite des schwarzen Buches ein graviert war. »Wir haben lange genug darauf gewartet, dass der Hausmeis ter uns hilft, und jetzt werden wir die Sache selbst in die Hand nehmen!«, sagte die Lehrerin und machte ein listiges Gesicht. »Problem …«, murmelte Mira verbissen und warf einen bö sen Blick zu Kriss. Ein Blitzen erschien in ihren Augen und ließ sie entschlossen aussehen. Kriss hatte ja gesagt, dass Mira ein Monster war. Höchste Zeit, dass Mira ihr zeigte, wie recht sie damit hatte! Die Lehrerin konnte sich jetzt nicht mehr länger zurückhal ten, streckte die Arme nach den hellgrünen Wänden aus und rief feierlich: »Wir werden das Klassenzimmer neu streichen!« Alle jubelten und klatschten begeistert in die Hände. Alle außer Mira, die mit ihren Gedanken ganz woanders war. Sie plante, die besondere Fähigkeit auszuprobieren, von der in dem Buch die Rede war. Vielleicht schon heute Nacht, wenn 21
sie verwandelt war. Von jetzt an würde sie Kriss’ Albtraum sein und nicht umgekehrt. Mira stand rasch auf, als es zur Pause klingelte, denn sie wollte unbedingt vor Kriss auf dem Korridor sein. Sie drängte sich an einigen Mitschülern vorbei, die in der Tür standen und quatschten, und sah sich noch einmal nach Kriss um, bevor sie hinausging. Der Korridor füllte sich mit Kindern. Mira klemmte ihre Bü cher unter den Arm und lief zu den Kleiderhaken. Der Haken von Kriss war der Klassentür am nächsten, und ihre Mütze lag oben auf der Ablage – genau wie Mira es gehofft hatte. Sie sah sich um, weil sie sichergehen wollte, dass niemand sie beobach tete, aber ihre Sorge war unnötig. Die Kinder auf dem Gang waren vollauf damit beschäftigt, nach draußen auf den Schulhof zu gehen, während sie laut durcheinanderredeten und lachten. Niemand achtete auf Mira. Wie immer. Vorsichtig nahm sie die Mütze von der Ablage herunter und holte tief Luft. Sie hoffte, dass sie finden würde, wonach sie suchte. Mira atmete aus und zog ein langes blondes Haar aus der Mütze, bevor sie sie wieder an ihren Platz zurücklegte. Lä chelnd ging sie zu ihrem eigenen Kleiderhaken ganz hinten im Gang, während sie das Haar um ihren Zeigefinger wickelte. Es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass sie lächelte. Aber es war kein freundliches Lächeln, eher ein Grinsen. Ein breites, rachsüchtiges Grinsen.
Die Sonne war schon lange untergegangen, und ein bleicher Vollmond war an ihre Stelle getreten. Weit, weit in der Ferne hörte man einen traurigen Hund jaulen. 22
Mira saß auf ihrem Bett und starrte in die Dunkelheit, wäh rend sie nervös an Kriss’ blondem Haar zupfte, das immer noch um ihren Zeigefinger gewickelt war. Vor ihr auf der Bettdecke lag das schwarze Buch, aufge schlagen an der Stelle, wo die eigenartige Fähigkeit beschrieben wurde, von einem Schrank in einen anderen zu reisen. Mira hatte den Text immer wieder gelesen, seit sie am Nachmittag aus der Schule gekommen war, und sich genau gemerkt, was sie tun musste. Sie fühlte sich bereit. Neben dem Buch lag die silberne Taschenuhr, ihr Deckel war geöffnet. Der kleine Zeiger zeigte fast senkrecht auf die Zwölf, während sich der große gerade an der Elf vorbeikämpfte. Nur noch ein paar Minuten bis Mitternacht. Mira legte das Buch und die Taschenuhr auf den Nachttisch und kletterte aus ihrem Bett. Sie stand einen Moment ganz still und lauschte, hörte aber kein anderes Geräusch als das pfei fende Schnarchen ihrer Mutter im Zimmer nebenan. Mira war tete noch ein Weilchen und warf einen letzten Blick zur Uhr auf dem Nachttisch. Dann ging sie zum Wandschrank. Sie drehte den Eisenschlüssel herum, und im selben Moment begann die Verwandlung: Mira machte einen Katzenbuckel, als sich die schwarzen Haare durch die fester werdende Haut press ten. Sie sträubte sich, als ihre Nägel krumm über ihre Finger spitzen hinauswuchsen und gelb wurden. Dann hockte sie sich hin und ließ über sich ergehen, wie die Knochen in ihrem Kör per größer wurden, die Mundwinkel sich nach hinten zogen und die raubtierhaften Zähne freilegten. Nach weniger als einer Mi nute hatte Mira sich erholt. Sie stand auf und fuhr sich mit der Hand durch die langen schwarzen Haare, die vor ihrem Gesicht herunterhingen. Dann atmete sie tief durch und richtete den Blick auf den Schrank. Mira öffnete die Tür und dachte ein letztes Mal an Kriss, als die Haarsträhne um ihren Finger in einem ultravioletten Blitz 23
aufflammte und als Asche zu Boden fiel. Die plötzliche Hitze ließ Mira zusammenzucken, und sie rümpfte die Nase, als ihr der Geruch von verbranntem Haar in die Nasenlöcher kroch. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und trat hinein ins Dunkle. Die Tür hinter ihr schloss sich lautlos von allein. Mira stand ganz still und wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Aber sie spürte sofort, dass es geklappt hatte, dass sie wirklich die Fähigkeit besaß, von einem Schrank zum anderen zu reisen. Sie befand sich tatsächlich in einem fremden Wandschrank! Jetzt musste sie sich beeilen, denn laut Buch blieben ihr nur zwölf Minuten Zeit, um auf demselben Weg zurückzureisen, auf dem sie gekommen war. Mira atmete schwer, während sie zur Tür ging und sie vor sichtig aufstieß. Obwohl es in dem Zimmer dahinter dunkel war, konnte sie das Bett, in dem Kriss schlief, genau erkennen. Ihre langen blonden Haare waren auf dem Kopfkissen ausge breitet. In ihrem Arm hielt sie ein abgenutztes Kuscheltier, und an der rosa Tapete neben dem Bett hing ein Poster, das einen weißen Strand im Sonnenuntergang zeigte. Im ganzen Zimmer roch es schwach nach süßem Parfüm und Haarspray. Jetzt ist es so weit, dachte Mira und stieg aus dem Schrank. Sie würde nie mehr Angst vor Kriss haben müssen. Von nun an würde es Kriss sein, die Angst hatte! Die Uhr an der Wand hinter dem Bett zeigte fünf nach zwölf.
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Das Monster unter dem Bett
Kriss träumte von den Sommerferien. Sie träumte vom strah lend blauen Himmel in Griechenland, von der Sonne und vom Baden. Die Bilder waren so echt, dass sie die Wärme der Sonne auf ihren Wangen beinahe spürte. Sie drehte sich im Schlaf auf die andere Seite und lächelte. Mira stand neben dem Bett und betrachtete die schlafende Kriss. Mira atmete schwer, beinahe keuchend. Sie war nicht mehr richtig sie selbst. Ihr Fell juckte, und die Spucke in ihrem Mund schmeckte furchtbar, aber innen drin war sie immer noch dasselbe Mädchen. Ein Mädchen, das genau wie alle anderen sein wollte. Von jetzt an würde alles anders werden, das spürte sie. Ihr ganzer Körper zitterte vor Energie. Mira knurrte dumpf und biss die Zähne zusammen, ehe sie sich über Kriss beugte.
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Vor dem Hochhaus, in dem Kriss wohnte, stand ein grauer Lie ferwagen im Parkverbot. Er stand erst seit ein paar Minuten dort. Hinten im Lieferwagen saß Agent Vargas und starrte durch seine dicken Brillengläser auf einen Monitor. Plötzlich beugte er sich nach vorn und hörte auf, Kaugummi zu kauen. »Das Signal ist stärker geworden. Ich glaube wirklich, dass hier was ist«, sagte er und schob seine Brille zurück, die ihm beinahe von der Nase gerutscht wäre. »Es kommt aus der Woh nung im zweiten Stock.« Er begann wieder zu kauen. Durch den dampfenden Kaffee, der auf dem Armaturenbrett stand, war die Windschutzscheibe beschlagen. Inspektor Tempelman wischte die Feuchtigkeit ab und starrte aus zusam mengekniffenen Augen auf das Haus. Währenddessen klickerte er ununterbrochen mit einem Kugelschreiber aus grauem Plas tik, auf dem das Wort Monsterbehörde stand. »Wir warten noch ein paar Minuten«, sagte er und blickte auf seine Uhr. Es war fünf nach zwölf. »Supersignal!«, schrie plötzlich Agent Vargas und sprang von seinem Sitz auf. Inspektor Tempelman stand schon draußen auf dem Bürger steig neben dem Lieferwagen. Er hatte den Blick fest auf Kriss’ Haus gerichtet. Zwischen seinen trockenen Lippen klemmte eine schwelende Zigarettenkippe. »Dann wollen wir mal wieder«, sagte er verbissen und warf die Kippe auf den rissigen Asphalt. Er trat die Glut aus, bevor er zur Rückseite des Lieferwagens ging und die Türen öffnete. In voller Monsterjägermontur sprang Vargas aus dem Liefer wagen. Auf seiner Nase trug er eine Zoombrille, die als automa tisches Vergrößerungsglas diente und dafür sorgte, dass seine Augen riesig aussahen. Das Mondlicht ließ sie außerdem grün schimmern. In der einen Hand trug Vargas einen blinkenden 26
Monstersucher, in der anderen eine große Tasche, in der sich eine Menge spitzer und unheimlicher Gegenstände befanden (typische Monsterjägersachen!). Tempelman nahm einen Monstersack und eine Handvoll Sahnebonbons aus einer Schublade im Lieferwagen. Manche Monster waren ganz verrückt nach Sahnebonbons, deshalb wa ren sie der perfekte Köder, wenn man eine Falle stellen wollte. Der Monstersack war groß und schwer, aber sehr wirkungs voll. Darin hatte so gut wie jedes Monster Platz, und außerdem war er mit dem stärksten Schlafmittel präpariert, das die Mons terbehörde zur Verfügung hatte. Das Mittel brachte das Monster im Sack dazu, sofort einzuschlafen – jedenfalls für eine Weile. Tempelman ging voran, er nahm mit jedem Schritt zwei Trep penstufen auf einmal, ohne mit der Wimper zu zucken. Direkt hinter ihm ging Vargas, den Blick fest auf den grünen Punkt geheftet, der auf dem Monstersuchgerät anzeigte, wo sich das Monster aufhielt. »Noch eine Etage«, keuchte Vargas und versuchte, auf der Treppe nicht zu stolpern. Er kaute immer noch auf seinem Kau gummi, obwohl er schon lange keinen Geschmack mehr hatte. Tempelman war bereits im zweiten Stock angelangt, hatte ein Ohr an die Wohnungstür gelegt und horchte gespannt. »Hörst du was?«, fragte Vargas, als er oben ankam. Aber bevor Tempelman antworten konnte, hatte sich Vargas ebenfalls vorgebeugt und hielt sein Ohr an die Tür. »Sie schlafen«, antwortete Tempelman und lächelte. Das hier würde kinderleicht werden.
In derselben Sekunde, in der sich Mira über Kriss beugte, um sie zu erschrecken, begann Kriss sich im Bett herumzuwälzen. 28
Sie träumte immer noch, aber der strahlend blaue Himmel hatte sich verdunkelt, und aus dem Tag war Nacht geworden. Sie war nicht mehr in Griechenland, sondern auf dem Gang vor dem Klassenzimmer, und sie war nicht allein. Auf der anderen Seite des Korridors stand ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren. Kriss drehte sich im selben Moment im Bett um, in dem das Mädchen im Traum anfing, auf sie zuzugehen. Die langen schwarzen Haare hingen vor ihrem Gesicht herunter und ver bargen es, aber Kriss wusste trotzdem, wer es war. »Mira!«, schrie sie, und im selben Moment begann sich das Mädchen in ihrem Traum zu verwandeln. Mira bekam einen solchen Schreck, als Kriss im Schlaf ihren Namen rief, dass sie beinahe ohnmächtig geworden wäre. Sie wich einen Schritt zurück. Kaum stand Mira nicht mehr neben ihr, schien sich Kriss zu beruhigen, und bald schon schlief sie wieder tief und fest. Mira verhielt sich so still wie möglich und beobachtete Kriss, während ihr Herz unmenschlich schnell gegen ihre Brust hämmerte. Da hörte sie es: anhaltende kleine Pfeiftöne und ein Flüstern vor der Wohnung. Eine Klinke wurde heruntergedrückt, und die Wohnungstür ging auf. Jemand war gerade dabei einzubrechen! Mira durfte keine Zeit verlieren! Nicht auszudenken, wenn sie entdeckt würde! Instinktiv warf sie sich auf den Boden und kroch unter Kriss’ Bett. Im selben Moment waren in der Diele schwere Schritte zu hören. Mira hechelte wie ein Hund, die lilablaue Zunge hing ihr aus dem Mundwinkel, und sie presste sich flach auf den Fußbo den. Es war eng unter dem kleinen Bett, sie war schließlich viel größer als sonst. Mira hielt die Luft an und konnte gerade noch den Schwanz einziehen, als auch schon die Tür zu Kriss’ Zimmer aufging. »Hier drinnen muss es sein«, flüsterte Vargas. Er hatte sich 29
die Tasche mit den Monsterjägersachen über die Schulter ge worfen und hielt den Monstersucher in der Hand. Der Sucher hatte aufgehört zu blinken, stattdessen leuchtete das grüne Licht jetzt durchgängig. Das Monster war also ganz in der Nähe. Die beiden Männer nickten sich zu und schlichen in das dunkle Zimmer. Mira keuchte unter dem Bett und biss sich auf die Zunge, um ja kein Geräusch von sich zu geben. Inspektor Tempelman blieb stehen und horchte angestrengt, bevor er eine Taschenlampe aus seiner Uniformjacke zog, mit der er langsam und konzentriert den Raum ableuchtete. Er lä chelte, als der Lichtkegel auf Kriss’ Bett fiel. »Ich glaube, hier haben wir was«, sagte er und schaute Var gas an, der immer noch verbissen Kaugummi kaute. Die Männer betrachteten Kriss, die ruhig dalag und schlief. Tempelman packte den Monstersack fester und riss die Augen auf. »Sie müsste sich jede Minute verwandeln, es ist schon nach zwölf!«, sagte Agent Vargas und stellte die Tasche auf dem Bo den ab. Er legte den Monstersucher daneben und begann, in der Tasche herumzuwühlen. Es dauerte nicht lange, da hatte Vargas den Monsterkontroll ator gefunden. Der knatterte, als er ihn anschaltete, und ein knisternder blauer Blitz flackerte zwischen den beiden Anten nen oben auf dem Gerät. »So, dann wollen wir mal sehen«, sagte Vargas und richtete sich auf. Er ging zum Bett und bewegte den Kontrollator über Kriss hin und her. Die Luft vibrierte vor statischer Elektrizität. Die sorgte dafür, dass sich sämtliche Haare auf Miras Körper auf richteten. Plötzlich schlugen die Zeiger bis an den Anschlag aus, es knatterte ein letztes Mal, und dann erlosch das Gerät. 30
»Unglaublich«, staunte Vargas und riss den Mund so weit auf, dass sein Kaugummi herausfiel und auf dem Fußboden landete – genau vor Miras Gesicht. »So was hab ich noch nie gesehen!« Tempelman warf sich nach vorn und zog den Monstersack über Kriss. Sie konnte gerade noch die Augen aufschlagen und ihn ganz kurz ansehen, als sie auch schon wieder einschlief. Das Schlafmittel wirkte bei Kriss ungewöhnlich stark. Während Tempelman kontrollierte, ob Kriss auch wirklich eingeschlafen war, packte Vargas schweigend die Ausrüstung zusammen. Als sie fertig waren, füllte Tempelman ein Exemplar des Formulars MJ12: Monsterquarantäne und Tiefenanalyse aus und legte es auf das Bett – als Information für Kriss’ Eltern. Zwar regten sich einige Eltern hin und wieder darüber auf, wenn die Monsterbehörde ihnen die Kinder wegnahm, aber die meisten warteten geduldig, bis sie einen endgültigen Bescheid von der Monsterbehörde bekamen, was nach Tempelmans Mei nung auch das Klügste war. Soweit er wusste, gab es nicht viele Eltern, die ein Monster am Hals haben wollten. Es war einfach besser so, und vor allem war es schon immer so gewesen: Monster und Menschen sollten jeweils unter sich bleiben. Tempelman warf sich den Sack mit Kriss darin über die Schulter und verließ gemeinsam mit Vargas so leise wie mög lich die Wohnung. Sie wollten die Eltern des Mädchens auf kei nen Fall unnötig wecken. Mira kroch aus ihrem Versteck unter dem Bett hervor. Sie war immer noch so erschrocken, dass ihre Hände zitterten und sich die Haare entlang der Wirbelsäule kräuselten. Aber sie hatte es über standen. Und auf eine merkwürdige Art hatte sie sich an Kriss gerächt, wenn auch nicht ganz so, wie sie es sich gedacht hatte. Als sich Mira aufrichtete, entdeckte sie das weiße Formular auf Kriss’ Bett. Neugierig beugte sie sich vor und las den 31
Namen, der ganz oben auf dem Blatt stand, direkt über der Telefonnummer: Monsterbehörde. Mira erstarrte und dachte an die Warnung, die Onkel Lupus in den Deckel der silbernen Taschenuhr eingraviert hatte. Nach einer Weile bekam ihr Blick einen entschlossenen Aus druck. Sie bückte sich und hob den Kaugummi vom Fußboden auf. Sie würde sich vor ihnen hüten, das auf jeden Fall, aber die sollten sich auch ein bisschen vor ihr hüten. Schließlich war sie das Monster.
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Das Scheusal
Über dem alten Betongebäude, in dem sich die Monsterbehörde befand, ging die Sonne auf. Doktor Duval stand in seinem Labor am Stahltisch vor dem Fenster und kratzte sich an der Narbe über seiner Augenbraue, während das Neonschild draußen an der Wand neben dem Fens ter beharrlich summte und den Raum in ein unnatürliches grü nes Licht tauchte. Duval blinzelte und nahm das Reagenzglas, das er vorbereitet hatte, aus dem Gestell. Er sah gespannt aus, als er einen Tropfen Blut von dem blonden Mädchen in die durchsichtige Flüssigkeit fallen ließ, die sich in dem Reagenzglas befand. Falls sich die Flüssigkeit grün färbte, war die Probe positiv. Dann war das Mäd chen ein Monster. Andernfalls war es nur ein ganz normales Kind. Der Doktor hielt das Reagenzglas gegen das Licht und drückte den Abspielknopf des Anrufbeantworters, während er wartete. Nach einem lang gezogenen Piep folgten eine Weile Stille und Geknister, bis schließlich eine nervöse Frauenstimme auf dem Band zu hören war. 33
»Äh … ja, guten Morgen, mein Name ist Isabel Millman, ich bin die Mutter von Kriss Millman.« Die Frau auf dem Band zog die Nase hoch, ehe sie mit zittriger Stimme weitersprach. »Ja, also ich kenne ja die Gesetze und alles, aber ich würde doch gerne wissen, warum Sie meine Tochter mitgenommen haben. Sie ist wirklich kein Monster, sie ist ganz brav und auch eine gute Schülerin. Ich verlange, dass Sie mich sofort anrufen und mir sagen, wo ich sie abholen kann, sonst …« Duval drückte auf die Stopptaste, und die Frauenstimme brach ab. Dann umklammerte er das Reagenzröhrchen so fest, dass das Glas zersprang. »Das Mädchen ist bloß ein Kind, ein ganz normales Kind!« Die rote Flüssigkeit lief ihm durch die Finger. Sie war ein bisschen trübe und roch nach altem Scheuerlappen, aber grün war sie definitiv nicht. »Blödmänner!«, murmelte er vor sich hin und stapfte wütend aus dem Labor. Er ging geradewegs in den Pausenraum, weil er wusste, dass er sie dort finden würde. Der runde Tisch im Pausenraum war voll besetzt. Inspektor Tempelman prahlte vor ein paar interessiert zuhörenden Agen ten lauthals von dem Mädchen, das sie gefangen hatten, und von dem überhitzten Kontrollator. Vargas saß daneben und wie derholte alles, was Tempelman sagte. Dieses Monster war etwas ganz Besonderes, da waren sie sich sicher. Die beiden waren so in ihre Geschichte vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, wie Doktor Duval mit finsterem Gesichtsaus druck auf sie zuging. Seine Augen waren vor Wut derart weit aufgerissen, dass sie so aussahen, als würden sie jeden Moment herausfallen. Die anderen Agenten duckten sich und senkten die Köpfe, als Duval sich dem Tisch näherte. 34
»Das Mädchen ist ein Kind!«, brummte der Doktor und unterbrach den Inspektor. Er sah Tempelman fest in die Augen, doch der starrte zurück, ohne eine Miene zu verziehen. Im Pau senraum wurde es totenstill. »Wissen wir«, sagte Vargas selbstsicher und erhob sich. Er stellte sich vor Tempelman und grinste Duval an, ehe er weiter sprach. »Nachts jedoch, da verwandelt sie sich …«, er hob die Hände vors Gesicht und krümmte die Finger, als wären es Klauen, und entblößte dazu seine Eckzähne, »… in ein furcht bares Monster!« Große Schweißflecken wurden unter seinen Achseln sichtbar, als Vargas die Arme hob. Er lachte so laut über seine Monster darstellung, dass ihm beinahe die Luft wegblieb und er sich wieder hinsetzen musste. »Aber damit ist jetzt Schluss, denn wir haben sie dingfest gemacht.« Vargas verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er sah zufrieden aus, holte tief Luft und genoss den belebenden Duft von frisch gebackenen Zimtschnecken. Doktor Duval schaute ihn ernst an. »Ich wollte damit sagen, dass sie ein ganz normales Kind ist. Die Probe blieb rot, sie kam nicht mal in die Nähe von grün.« Duval richtete den Blick auf Tempelman und starrte ihn durchdringend an. »Und was ist mit dem Kontrollator?«, sagte Tempelman ver suchsweise. »Die Messzeiger gingen bis an den Anschlag, sie kann kein normales Kind sein …« Er kratzte sich am Kopf. »Sie muss ein Monster sein!«, unterstützte Vargas ihn. »Wir haben so etwas vorher noch nie erlebt. Wir glauben sogar, dass sie das spezielle Monster sein könnte … dass wir es gefunden haben …« »… das Scheusal«, ergänzte Tempelman. Beide sahen Doktor Duval erwartungsvoll an. Duval schnaubte höhnisch, machte auf dem Absatz kehrt und ging. An der Tür drehte er sich ein letztes Mal um. »Sie haben 36
einen Fehler gemacht, meine Herren, vielleicht sogar Ihren letzten …« Er lächelte schief, als er den Raum verließ. Als Duval zurück ins Labor kam, glühten seine Wangen. »Das Scheusal, pah! Was glauben die beiden eigentlich, wer sie sind? Wenn jemand das Monster findet, dann ja wohl ich. Schließlich bin ich der Chef der Monsterbehörde.« Er wanderte im Labor auf und ab und redete laut mit sich selbst. Das machte er jedes Mal, wenn er sich aufregte. Er wurde immer aufgebrachter, je mehr er an das Scheusal dachte, das Monster, von dem man vermutete, dass es die Zukunft verän dern und aus dieser eine Welt machen würde, in der Monster und Menschen gemeinsam miteinander leben konnten. Er hatte viel von diesem Monster reden gehört, seit er bei der Monsterbehörde angefangen hatte. Die Kinder in der Abteilung flüsterten davon, wenn sie glaubten, dass niemand sie hörte, und einige von ihnen behaupteten sogar, dass sie es in ihren Träumen gesehen hatten. Er dachte an den Vortrag, den er letzte Woche vor ein paar neuen Agenten gehalten hatte. Zuerst einmal hatte er den Neu lingen erklärt, wie wichtig es war, dass sie lernten, die Träume der Kinder genau zu analysieren. Denn obwohl jeder weiß, dass die allergrößten Fantasien in den Träumen geboren werden, ha ben viele nicht begriffen, dass es die Fantasie ist, durch die das Monster zum Leben erwacht. Im weiteren Verlauf des Vortrags hatte er über die Natur des Menschen gesprochen und erklärt, dass alle Menschen eine an dere, dunklere Seite in sich haben. Eine Seite, die normalerweise anderen Menschen verborgen bleibt. Aber bei einigen Kindern entwickelt sich diese Seite so stark, dass das Kind gar nicht an ders kann, als seine Träume nachts auszuleben, um sie nicht län ger in sich tragen zu müssen. 37
Ein ganz heller Kopf hatte gefragt, ob es auch erwachsene Monster gebe. Duval hatte sich geärgert, dass er den Agenten dies erklären musste: Der wichtigste Grund dafür, dass es so wenige erwachsene Monster gab, war der, dass die meisten Kinder ihre Fantasie verloren, sobald sie älter wurden. Aber er hatte betont, dass es auch ein paar Menschen gab, die sich weigerten, erwachsen zu werden, und dass einige von denen sich sogar für immer in Monster verwandelten. Das hatte er selbst in einigen alten schwarz-weißen Dokumentarfilmen gese hen, die er ganz hinten im Archiv der Monsterbehörde unter Spinnweben und irgendwelchem alten Krempel gefunden hatte. Aber, so hatte er den Agenten abschließend erklärt, erwachsene Monster waren außerordentlich selten. Normalerweise waren es Kinder, die sich verwandelten. »Genau, die Kinder!« Es war Zeit, die Medizin auszuteilen. Duval überlegte weiter, während er den Korridor entlang ging. Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn alle Erwachse nen den ganzen Tag lang träumten? Dann würde überhaupt keine Ordnung mehr herrschen. Er wagte kaum, daran zu den ken, was passieren konnte, falls der Fantasie freien Lauf gelas sen würde. Doktor Duval nahm eine Spritze vom Medizinwagen und drückte den Kolben hinein, bis ein Tropfen aus der Nadelspitze kam und glitzernd zu Boden fiel. Dann öffnete er die Tür zur Monsterabteilung und summte dabei die Melodie aus der Fernsehreklame der Monsterbehörde. In der Abteilung befanden sich im Moment über zwanzig Pa tienten, alles Kinder, und einige wenige machten immer noch jede Nacht Punkt zwölf eine Verwandlung durch, obwohl sie bereits die Medizin bekamen. Diejenigen, die das Medikament einnahmen, hörten allmählich auf, sich nachts zu verwandeln, aber es war nicht ungewöhnlich, 38
dass Doktor Duvals Behandlung bei ihnen andere Nebenwir kungen hervorrief, wie zum Beispiel Fieber, Ausschlag und Schwindel. Die gefährlichste Nebenwirkung hatte Doktor Duval jedoch mit voller Absicht in das Medikament eingebaut: Sobald die Kinder erst einmal angefangen hatten, die Medizin zu nehmen, mussten sie damit den Rest ihres Lebens weitermachen, sonst wurden sie sehr krank. Häufig sogar sterbenskrank. Sylvester schaute hoch, als die Tür zur Abteilung aufging. Er war ein kleiner, sommersprossiger Junge mit nachtschwarzen Haaren und einer ganz besonders lebhaften Fantasie. Er war noch nicht sehr lange in der Abteilung, aber schon abhängig von dem Medikament des Doktors, dem Monstroxin, wie Duval selbst das Mittel nannte. Sylvester sah nervös zu, wie der Doktor mit einer Spritze in der Hand den Gang entlang auf ihn zukam. Die meisten anderen schliefen so früh am Morgen noch, nur Sylvester nicht. Er stand immer so zeitig auf, wie er nur konnte, um zu malen. Oft malte er das, was er die Nacht davor geträumt hatte. Und letzte Nacht hatte er wieder von dem schwarzhaarigen Mädchen geträumt. Er ließ den Pinsel fallen und drehte den Kopf zur Seite. Dok tor Duval war dicht vor der Gittertür seiner Zelle stehen geblie ben und hielt die Spritze hoch. »Sylvester«, sagte er und sah ihn ernst an. »Zeit für deine Medizin.« Sylvester schluckte hart und wich zurück, als der Doktor den Schlüssel ins Schloss steckte.
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Der Brief
Mira schreckte aus dem Schlaf hoch. Das Klappern des Brief kastens hatte sie geweckt. Sie hatte verschlafen. Normalerweise saß sie schon am Frühstückstisch, wenn die Post kam, aber das hier war kein normaler Morgen. Allerdings war es auch keine normale Nacht gewesen. Die Reise zu Kriss’ Kleiderschrank und zurück hatte sie unglaublich viel Kraft gekostet. Aber sie hatte es noch recht zeitig wieder zurück in ihren eigenen Schrank geschafft, be vor die Zwölfminutenfrist verstrichen war. Sie war so müde gewesen, als sie nach Hause kam, dass sie nicht einmal die Kraft gehabt hatte, sich ins Bett zu legen, sondern einfach auf dem Fußboden des Wandschranks liegen geblieben und einge schlafen war – mit dem Silberkästchen im Arm, als wäre es ein Kuscheltier. Noch immer lag Mira dort und dachte nach, als sie die schlurfenden Schritte ihrer Mutter in der Diele hörte und kurz darauf den dumpfen Ton des Fernsehers in der Küche. Ihre Mutter hatte die Morgennachrichten eingeschaltet. 41
Mira hatte keine Lust, heute in die Schule zu gehen. Sie drehte das Gesicht zur Schranktür und rollte sich zusammen. Gerade als sie die Augen zumachen und wieder einschlafen wollte, sah sie, dass eine schmale Scherbe vom Spiegel hinter der Leiste unter der Schranktür steckte. Mira streckte sich und zog die Scherbe, so vorsichtig es ging, heraus, um sich nicht zu schneiden. Sie hielt sie hoch und schaute hinein. Obwohl die Scherbe sehr schmal war, konnte sie ihr halbes Gesicht darin sehen. Mira starrte auf das Spiegelbild in der Scherbe und seufzte. Die Person, die ihr da entgegenblickte, kannte sie in- und aus wendig. Es war die andere, die ihr Sorgen machte. Die, die nur nachts zum Vorschein kam. Mit einem Ruck wurde plötzlich die Schranktür aufgerissen. Mira zuckte zusammen und ließ vor Schreck die Scherbe fallen. Sie hatte sich geschnitten. Dunkles Blut quoll aus einer Wunde auf der Innenseite der Hand, genau neben dem Daumen. »Was hat das hier zu bedeuten?« Miras Mutter hielt einen Brief von der Schule in der Hand. »Und was machst du eigent lich hier im Schrank?« Einen Augenblick lang sah sie ein biss chen verwirrt aus, aber sie hatte sich schnell wieder gefasst. »Träumst du etwa schon wieder vor dich hin?« Mira verbarg die Hand hinter ihrem Rücken und blickte hoch. Die Wunde tat ganz schön weh, und ein paar Tränen auf ihren Wangen glänzten verräterisch, als die Strahlen der Mor gensonne den Schrank erreichten. Mira hatte keine Ahnung, was in dem Brief der Schule stand. »Deine Lehrerin schreibt, dass du in der letzten Zeit immer so traurig warst.« Miras Mutter legte den Kopf schräg und run zelte die Stirn. »Stimmt das?« Mira antwortete nicht. Sie sah ihrer Mutter direkt in die Au gen und versuchte, nicht zu weinen, weil sie wusste, dass sie damit alles nur noch schlimmer machen würde. 42
»Jetzt will die Lehrerin morgen mit uns sprechen«, sagte die Mutter und wedelte mit dem Brief vor Miras Nase herum. »Wa rum kannst du dich nicht einfach mal benehmen? Du hast mir nie was anderes als Probleme gemacht!« Sie schrie so laut, dass sie puterrot im Gesicht wurde und fast keine Luft mehr bekam. »Und was ist das hier? Noch mehr Ärger?« Mit der anderen Hand hielt ihre Mutter einen silberfarbenen Briefumschlag hoch. Über die Adresse hatte jemand mit schwungvoller Handschrift An Mira persönlich geschrieben. Sie ließ den Briefumschlag vor Mira auf den Schrankboden fal len und strich ihre Haare zurück. »Ist wohl so ein alberner Liebesbrief, auf den du gewartet hast. Warst du etwa deswegen so traurig in der Schule?« Jetzt sah ihre Mutter richtig schadenfroh aus. »Oder hast du einen Korb gekriegt? Solltest du nicht langsam wissen, dass sich die Jungs nicht für dich interessieren? Eine Schönheit bist du ja nun nicht gerade.« Mira sank in sich zusammen. Dann nahm sie den Briefum schlag hoch und drehte ihn um. Er hatte keinen Absender, aber sie wusste Bescheid. Sie spürte es am ganzen Körper. Der Brief war von Onkel Lupus! Bei dem Gedanken an ihn machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer, und die Härchen auf ihren Armen stellten sich vor Erwartung auf. »Ich muss jetzt zur Arbeit, beeil dich«, sagte Miras Mutter und zog das Kleid zurecht, das über ihrem Bauch hoch-gerutscht war. »Du musst in zwanzig Minuten in der Schule sein.« Als sie auf dem Weg in die Diele war, hörte Mira sie vor sich hin schimpfen: »Ich hätte diese Göre nie zu mir nehmen dürfen, sie ist ein richtiges Monster geworden. Was soll ich nur mit ihr machen?« Mira öffnete ihre geballte Hand. Die Wunde tat nicht mehr weh, was nicht erstaunlich war, denn … sie war schon wieder geheilt! 43
»Komisch …«, murmelte Mira, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und stand auf – mit dem Silberkästchen unter dem Arm und dem Brief in der Hand. Sie trat aus dem Schrank und stellte das Kästchen aufs Bett. Die silberne Taschenuhr auf dem Nachttisch zeigte fünf Minu ten vor acht. In einer Viertelstunde begann der Unterricht. Sie setzte sich aufs Bett und strich mit den Fingern über das Siegel auf der Rückseite des Briefumschlags. »Mamas Bruder«, sagte sie laut vor sich hin und lächelte, während sie den Umschlag öffnete. Der Brief war in derselben Handschrift geschrieben wie die Adresse auf dem Umschlag. Die großen, geschwungenen Buch staben neigten sich so weit nach rechts, dass es beinahe so aus sah, als würden sie gleich einen Purzelbaum auf dem Papier machen. Miras Blick wanderte ganz ans Ende des Briefes. Die Unter schrift war gar nicht zu übersehen. »Onkel Lupus«, las sie, und ihr wurde ganz warm ums Herz. Sie spürte, wie es immer schneller klopfte, während sie es sich auf dem Bett bequem machte, die Knie hochzog und zu lesen begann. Liebe Mira, hoffentlich geht es Dir gut. Rufus’ Krallen sind letzte Woche mehr als zwei Zentimeter gewachsen, und ich vermisse Dich so sehr, dass mein Herz knirscht. Eigentlich sind die Regeln ja so, dass ich Dir nur zu Deinem Geburtstag schreiben darf und in ungeraden Wochen mit zwei Mittwochs statt einem Montag, aber nun ist etwas so Wichtiges passiert, dass ich es trotzdem tue. Wenn ich könnte, würde ich vorbeikommen und es 44
Dir persönlich erzählen, aber Du weißt ja, wie das ist. Ich darf Dich erst besuchen, wenn Du dreizehn geworden bist oder Dich zum ersten Mal gehäutet hast, je nachdem, was zuerst eintrifft (es sei denn, Du besuchst mich vorher, natürlich, aber das ist etwas ganz anderes). Nach dem letzten Satz folgten nur noch leere Zeilen, bis zur Unterschrift ganz unten auf der Seite. Zuerst dachte Mira, dass Onkel Lupus nicht mehr geschrie ben hatte, aber als sie sich über das Papier beugte und ganz ge nau hinsah, bemerkte sie, dass hinter dem letzten Satz in dün ner, fast unsichtbarer Tinte das Wort Fortsetzung stand. Kaum hatte Mira es gelesen, wurden die Buchstaben in den Zeilen über der Unterschrift gelöscht, und stattdessen tauchten völlig neue Worte auf. Mira schüttelte den Kopf, bevor sie begann, den neuen Text zu lesen. Sie war all diese Merkwürdigkeiten überhaupt nicht gewohnt. Die Monsterbehörde hat Deinen Bruder Sylvester geholt! (Als wäre es nicht schon schlimm genug, was mit Deinen Eltern passiert ist, als Du noch klein warst.) Ich bin so besorgt, dass ich gar nicht weiß, was ich machen soll. Sylvester braucht Hilfe. Wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, in die Monsterbehörde hineinzukommen, würde ich das selbstverständlich tun, aber es gibt keine. Ich kenne kein einziges Monster, das dort war und jemals zurückgekehrt ist. Ich fürchte, Sylvester ist verloren. Was, wenn sie jetzt hinter Dir her sind? Ich würde es nicht ertragen, Dich auch noch zu verlieren, deshalb riskiere ich es und schicke 45
Dir diese Warnung (Du weißt ja sicher, was mit mir passiert, wenn jemand vom Rat der Ältesten herausbekommt, dass ich Dir diesen Brief geschickt habe, oder?). Mira, hüte Dich vor der Monsterbehörde! Onkel Lupus P.S. Du hast doch das Buch noch, das der dreizehige
Flügelklepper an Deinem Geburtstag auf der
Fensterbank abgelegt hat, oder?
Es gehörte Deinen Eltern. D.O.
Mira fühlte sich froh und traurig zugleich. Sie freute sich darüber, dass sie tatsächlich einen Bruder hatte und dass der Familien stammbaum, in dem sein Name neben ihrem geschrieben stand, stimmte. Aber sie war traurig, dass man ihn gefangen hatte. Und dann war da dieser Satz über ihre Eltern. Ihr stiegen Tränen in die Augen, wenn sie nur an sie dachte und daran, was mit ihnen passiert sein mochte. Mira holte das Buch hervor und legte es auf ihren Schoß. In stinktiv berührte sie die beiden ersten Symbole auf der Vorder seite, während sie eine Weile einfach nur stumm dasaß und an ihre Mama und ihren Papa dachte. Sie merkte, wie ihr Herz einen Hüpfer machte, als sie den Brief ihres Onkels an die Brust drückte. Sie musste einfach herausfinden, was mit ihrer Familie ge schehen war! Und bei ihrem Bruder würde sie anfangen! »Sylvester«, flüsterte sie unwillkürlich und überlegte, wie er wohl aussah. Mira wurde schon wütend, wenn sie nur an die Monsterbehörde und die unangenehmen Typen dachte, die Kriss mitgenommen 46
hatten. Nicht, dass sie sich um Kriss Sorgen machte, die bekam sicher, was sie verdiente, aber um ein Haar wäre sie selbst ge fangen worden. Das hätte wirklich ins Auge gehen können. Mira las noch einmal die eine Zeile in dem Brief: Wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, in die Monsterbehörde hineinzu kommen, würde ich das selbstverständlich tun. Sie steckte die Hand in die Hosentasche und fühlte zwischen ihren Fingern plötzlich wieder den Kaugummi, der dem Mann in Kriss’ Zimmer auf den Fußboden gefallen war. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit! Sie knetete gedan kenverloren an dem Kaugummi herum und überlegte. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr war sie über zeugt, dass es in der Tat einen Weg gab, in die Monsterbehörde zu gelangen … Sie packte ihre Sachen in einen Rucksack und achtete sorg fältig darauf, nichts zu vergessen. Sie war nicht sicher, ob sie jemals wieder hierher zurück kehren würde.
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Die Monsterbehörde
Inspektor Tempelman saß immer noch im Pausenraum, ob wohl es schon halb zehn Uhr vormittags war. Er konnte nicht schlafen. Er hielt eine Nadel in der einen und eine Garnrolle in der an deren Hand. Der Monstersack lag zusammengeknüllt auf sei nem Schoß. Er hatte einen Riss bekommen, als Tempelman das blonde Mädchen damit eingefangen hatte. Das Mädchen, von dem Duval behauptete, es sei gar kein Monster. Die ganze letzte halbe Stunde hatte der Inspektor damit zugebracht, den Riss zu flicken, aber trotzdem war der Sack immer noch nicht wieder heil. Tempelman kratzte unkonzentriert mit dem Zeigefinger an der Nadelspitze und versank tief in Gedanken. Er begriff einfach nicht, wie Vargas sich nach so einem Missgeschick schlafen legen konnte. Er selbst konnte nach dem, was passiert war, nicht mal an Schlaf denken. Der Monsterkon trollator hatte sich noch nie geirrt, und Tempelman konnte sich partout nicht vorstellen, dass er es diesmal getan haben sollte. 48
Er dachte an den Test, den Duval mit dem Mädchen gemacht und der ergeben hatte, dass sie ein völlig normales Kind war. Aber er glaubte ganz einfach nicht, dass das möglich war. Ir gendetwas stimmte da nicht. Er würde selbst ein paar kleine Tests mit ihr machen müssen, bevor er sich überzeugen ließ, dass er einen derart groben Fehler begangen hatte. Geistesabwesend blickte Tempelman an die Wand gegen über, während er den Monstersack an seinem Gürtel befestigte. Er hielt die Nähnadel noch in der Hand, als er aufstand. Die Garnrolle fiel auf den Fußboden und rollte unter den Kaffee automaten. Tempelman ging auf den Korridor und dann nach links zum Sicherheitsraum, in dem Duval das Mädchen eingesperrt hielt. Obwohl er unglaublich müde war, musste er unbedingt heraus finden, wie die Dinge wirklich lagen! Er war keineswegs so sicher wie Duval, dass es sich um einen Irrtum handelte. Als er am Sicherheitsraum ankam und den Code eingeben musste, um die Tür zu öffnen, steckte er die Nadel in seine Uni formtasche. Die Tür glitt mit einem zischenden Geräusch auf, als sich das Ventil, das die normale Luft von dem Zimmer fern hielt, öffnete und wieder schloss. Tempelman betrat das Zimmer und setzte eine Atemmaske auf. Der kleine silberfarbene Behälter mit Sauerstoff baumelte um seinen Hals, während er kurze Atemzüge durch die dünnen Schläuche machte, die an seiner Nase befestigt waren. An einem Haken neben der Tür hingen noch mehr dieser Apparate. Tempelman hasste es, durch den Apparat atmen zu müssen, aber das war absolut notwendig. Die Luft in dem Sicherheits raum wurde nämlich in regelmäßigen Abständen mit Schlafmittel vollgepumpt. Das entsprach den Vorschriften, denn die meisten Monster wurden ziemlich wütend, sobald sie merkten, dass sie eingesperrt waren. 49
Das Schlafmittel sorgte immerhin dafür, dass sie sich ein bisschen beruhigten. Aber es war schwer, wenn nicht unmög lich, sie zum Schlafen zu bringen. Denn sie taten alles, um so lange wach zu bleiben, wie es nur ging. Dieses Mädchen hier schlief jedoch wie ein kleines Lamm. Tempelman holte die Nadel aus der Tasche, ging zu Kriss und beugte sich über sie. Vorsichtig hob er ihre schlaffe Hand an und griff nach ihrem Zeigefinger. Er sah weg, während er Kriss mit der Nadel in die Fingerspitze stach, und kniff die Au gen zusammen, als er einen Tropfen Blut herausdrückte. Dann nahm er ein Glasröhrchen aus dem Ständer und mischte den roten Blutstropfen mit der Flüssigkeit. Als er fertig war, setzte er sich hin und wartete. Kriss wachte davon auf, dass ihre Nase juckte. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, und ihr war ein bisschen übel. Sie rieb sich die Augen, setzte sich auf und starrte den Mann an, der vornübergebeugt auf einem Hocker vor ihrer Pritsche saß und das Gesicht in seinen Händen verbarg. Kriss zuckte zusammen, als sie im Spiegel an der Wand neben dem Mann ihr bleiches Spiegelbild sah. Sie trug nicht ihre eigenen Kleider, sondern einen grauen Morgenmantel, der nach Krankenhaus roch. »Bin ich im Krankenhaus?«, wunderte sie sich und schaute fragend zu dem Mann. Genau genommen fühlte sie sich ja wirklich ein bisschen schlecht. »Du bist nur ein ganz normales Kind …«, murmelte Tempelman, ohne den Kopf zu heben. Kriss beugte sich näher zu ihm, um zu hören, was er sagte, während sie sich in dem Raum umschaute. Auf dem Tisch hin ter dem Mann standen eine Flasche mit Riechsalz und ein Stän der mit einem Reagenzglas, in dem sich eine rote Flüssigkeit befand. Neben dem Mann auf dem Fußboden lag ein Sack, der 50
ziemlich merkwürdig aussah. Der Mann kam Kriss irgendwie bekannt vor. Sie war sich sicher, dass sie ihn schon mal irgendwo gesehen hatte. »Mama?«, rief sie ganz leise. Aber der Mann antwortete nicht. Er saß einfach mit dem Kopf in den Händen da und hatte die Augen geschlossen, wäh rend er immer wieder dieselben Worte sagte. Kriss spürte, wie die Übelkeit nachließ. Sie gähnte und fühlte sich sofort wieder schläfrig, obwohl sie eben erst aufgewacht war. Aber vor allem bekam sie langsam Angst. »Ich will meine Mama«, sagte sie und zog die Wolldecke ganz bis unters Kinn. Agent Vargas schloss die Tür seines Zimmers in der Monster behörde. Es war eine lange Nacht gewesen, und nach Duvals Strafpredigt im Pausenraum fühlte er sich völlig erschöpft. Er seufzte und blickte zum Fernseher, der an der grauen Wand gegenüber dem Bett festgeschraubt war. Er hatte nicht einmal Lust, die Morgennachrichten zu sehen. Vargas ging zum Waschbecken und drückte einen Klecks Zahnpasta auf seine Zahnbürste. Er putzte zuerst die obere und dann die untere Zahnreihe genau gleich lange, bevor er sich auszog. Er gähnte und faltete die Uniform zu einem perfekten Quadrat, dann ging er zum Kleiderschrank und legte sie in das unterste Fach für die Schmutzwäsche. Im Schrank hingen sechs saubere Uniformen auf Kleiderbügeln. Eine für jeden Wochentag, der noch übrig war. Vargas machte die Schranktür zu, während er sich fragte, ob er nach dem Irrtum, der ihm und Tempelman in der Nacht pas siert war, bei der Monsterbehörde bleiben durfte. Er seufzte und kroch unter seine Bettdecke. Das war un wahrscheinlich, denn die Monsterbehörde stellte sehr hohe 52
Anforderungen. Vargas schüttelte den Kopf, um ihn von den vielen Gedanken zu leeren, die darin umherschwirrten, und stellte den Wecker. Dann drehte er sich auf die Seite und schlief sofort ein.
Obwohl Mira überhaupt nicht viel wog, knarrte der Boden in dem engen Wandschrank beunruhigend, als sie sich unter sechs gleichen Uniformen duckte, die ordentlich aufgereiht über ihrem Kopf hingen. Es roch nach Scheuerpulver und altem Schweiß. Der Kaugummi, den sie benutzt hatte, um in diesen Schrank zu reisen, war verbrannt und in ihrer Hand zu Asche zerfallen. Die qualmte immer noch, deshalb schloss sie die Hand zu einer Faust und erstickte so die Glut. Vorsichtig öffnete Mira die Schranktür einen Spaltbreit und spähte hinaus. Das Zimmer war dunkel, obwohl es Vormittag war. Das einzige Geräusch, das man hörte, klang wie tiefe Atemzüge. Mira saß eine Weile ganz still da und lauschte. Hin und wie der wurde das Atmen durch ein Schnarchen ersetzt, das zwi schen den kahlen Betonwänden widerhallte. Nach ein paar Minuten war sie sicher, dass derjenige, der sich in diesem Zimmer befand, tief und fest schlief, und so wagte sie sich aus dem Schrank. Beinahe wäre sie direkt in ein Paar Stiefel gestiegen, das davorstand. Sie bückte sich und fegte die Asche von ihrer Hand in einen der Stiefel, dann griff sie nach ihrem Rucksack und blickte sich um. Der Wecker auf dem Tisch neben dem Bett zeigte kurz nach halb zehn, das rote Licht der Ziffern fiel auf das Gesicht des Mannes und verlieh ihm ein unheimliches Aussehen. 53
Miras Blick wanderte weiter durch das Zimmer und blieb bei dem Codeschloss oberhalb der Türklinke hängen. Sie hatte eine kleine grellrote Leuchtdiode über den Tasten entdeckt und be griff, dass sie den Türcode brauchte, um aus dem Zimmer he rauszukommen. Während sie noch überlegte, hörte sie schnelle Schritte und das scharfe Geräusch von Pfoten und Krallen vor der Zimmer tür. Plötzlich kam ihr der Raum viel zu klein vor. Es war, als ob die grauen Betonwände immer näher kämen und es keinen Ausweg gäbe. Mira spürte, wie ihr der kalte Schweiß an den Haarwurzeln ausbrach und ihre Handflächen nass wurden. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann zog sich ihr Magen zusammen, und ihr Herz begann schnell und unregelmäßig zu schlagen. Aber sie konnte den Blick nicht von der Leuchtdiode abwenden und stand wie gelähmt da, als der Hund auf der anderen Seite der Tür zu bellen und zu kratzen begann. In ihrem Kopf gab es nur einen Gedanken: Ich will nicht entdeckt werden. Wieder und wieder dachte sie diesen Satz, während sie die Augen so fest zumachte, wie sie nur konnte. Da endlich gab der Hund Ruhe. Es war, als hätte er ihre Bitte gehört. Vorsichtig öffnete Mira die Augen und wich zurück. Ihre Panik ließ allmählich nach, und sie konnte wieder klar denken. Der Mann im Bett hinter ihr wälzte sich herum, während draußen an der Tür offenbar jemand den Code für das Türschloss eintippte. Die Ziffern auf der Tastatur an der Innenseite der Tür leuchteten nacheinander grün auf: erst eine Drei und eine Acht in schneller Folge, dann eine Vier und noch eine Acht. Achtunddreißig, achtundvierzig, wiederholte Mira stumm für sich selbst. Im selben Augenblick, als die Leuchtdiode oberhalb der Tasta tur von Rot auf Grün umsprang und die Tür aufging, stürzte Mira 54
vorwärts und versteckte sich hinter der Tür. Der Mann im Bett setzte sich auf, als das Licht aus dem Korridor ins Zimmer fiel. »Was gibt’s?«, fragte Agent Vargas verschlafen und rieb sich die Augen. Mira konzentrierte sich ganz fest darauf, nicht entdeckt zu werden, während sie den Rucksack an ihre Brust presste. »Routinekontrolle«, antwortete der Wachmann und betrat das Zimmer, wobei er gleichzeitig den Hund von der Leine ließ. »Sie hat auf irgendetwas hier drinnen reagiert.« Der Wachmann zeigte auf die Hündin, die zu den Stiefeln vor dem Schrank lief und daran zu schnüffeln begann. »Ist Ihnen was Ungewöhnliches aufgefallen?«, fragte der Wachmann weiter und spähte ins dunkle Zimmer. Dann nahm er eine Taschenlampe vom Gürtel und knipste sie an. Mira presste sich an die Wand und machte sich hinter der Tür so klein, wie sie nur konnte, während der Wachmann durch das Zimmer leuchtete und Vargas jetzt richtig wach wurde. »Hör auf damit!«, brüllte Vargas den Hund an, der auf einem seiner Stiefel herumkaute. Mira hielt sich ganz, ganz dicht an der Wand und umklam merte ihren Rucksack. Der Wachmann zuckte zusammen und blendete aus Versehen Agent Vargas mit der Taschenlampe. »Lampe aus!«, schrie der und machte die Augen zu, ehe er den Kopf wegdrehte. Mira spähte genau im selben Moment hinter der Tür hervor, in dem der Wachmann die Taschenlampe ausknipste. Das war ihre Chance! In Windeseile flitzte Mira hinter dem Wachmann vorbei hinaus auf den Korridor, zögerte eine Sekunde und rannte dann nach rechts. Hinter sich hörte sie den Hund bellen, als er die Verfolgung aufnahm. Das Geräusch ihrer Schritte genügte dem Hund, um so fort ihre Spur zu finden. Ein paar Meter vor sich sah sie eine graue 55
Tür mit einem kleinen quadratischen Fenster, vor dem sich ein Gitter befand. Gerade als sie das Codeschloss mit der roten Leuchtdiode über der Klinke entdeckte, hörte sie den Wachmann hinter sich im Korridor rufen: »He da, stehen bleiben!« Die erste Ziffer war eine Drei. Sie leuchtete grün auf, als Mira die Taste drückte. Der Hund war jetzt so nahe, dass sie ihn rie chen konnte. Ihr Herz pochte wie wild. Ohne zu zögern, drückte sie eine Acht, gefolgt von einer Vier und noch einer Acht. Als die Leuchtdiode über den Tasten von Rot auf Grün sprang, hörte man ein zischendes Geräusch. Mira warf einen Blick über die Schulter zurück und sah direkt in die Augen des Hundes, der zum Sprung ansetzte. Ohne nachzudenken, stieß sie die Tür auf und warf sich ins Zimmer. Polternd landete sie auf dem Fußboden, während ihr Rucksack in eine Ecke flog. Die Tür schloss sich direkt vor der Nase des Hundes, der deutlich hörbar auf dem Metallfußboden aufschlug und zu winseln begann. Mira holte tief Luft, dann stand sie auf und blickte sich um. Auf der Pritsche vor Mira saß Kriss in einem grauen Mor genmantel und starrte vor sich hin. Sie sah verschlafen aus. »Was glotzt du so?«, sagte Mira und senkte den Kopf. Allein bei dem Anblick von Kriss wurde ihr mulmig. Aber sie war nicht die Einzige, die sich unwohl fühlte. »Mira, bist du das?«, schniefte Kriss und rieb sich die Augen, bevor sie sie noch weiter aufriss. Aber sie starrte nicht länger auf Mira, sondern auf Inspektor Tempelman, der nun aus dem Schatten an der gegenüberliegenden Wand trat. Er schlich sich hinter Miras Rücken an, den Monstersack in den Händen. »Kriss, was …«, begann Mira, aber bevor sie dazu kam, den Satz zu Ende zu sprechen, hatte Tempelman ihr den Monster sack auch schon über den Kopf gezogen.
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Die erste Begegnung
Doktor Duval stellte die Tasse mit heißem Kakao auf dem Tisch vor sich ab und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er machte kleine Atemzüge durch die dünnen Schläuche, die in seiner Nase steckten, und vermied es, durch den Mund zu atmen. Während dessen massierte er seine Schläfen mit den Fingerspitzen. Er be kam immer Kopfschmerzen, wenn er reinen Sauerstoff atmete, aber er atmete lieber Sauerstoff als die mit Schlafmittel gefüllte Luft im Sicherheitsraum. Neben der Tasse lag eine krakelige Zeichnung von einem Mädchen mit rabenschwarzen Haaren. Auf der anderen Seite des Tisches war ein Mädchen mit genau solchen Haaren mit groben Lederriemen auf einem Stuhl festgeschnallt. Ihr Kopf lag auf den Schultern, und sie atmete schwer. Sie schlief. Das würde sie auch noch eine ganze Weile tun, denn das Schlafmit tel in dem Monstersack war sehr viel stärker als das in der Luft hier drinnen. Der Doktor war besorgt. Er konnte nicht verstehen, wie es dem schwarzhaarigen Mädchen gelungen war, unbemerkt in die 57
Monsterbehörde einzudringen, und dazu noch bis in den Si cherheitsraum. Auch Tempelman hatte keine Erklärung dafür, obwohl er es war, der das Mädchen gefangen hatte. Von Agent Vargas hatte er seit dem Gespräch im Pausenraum am Morgen nichts mehr gesehen. Die beiden hatten bestimmt schon wieder einen Fehler ge macht, und er würde es der Direktion erklären müssen. Als oberster Chef war Duval verantwortlich für die Sicherheit in der Monsterbehörde. Die Direktion würde nichts anderes ak zeptieren als eine detaillierte Erklärung für das, was passiert war. Und man würde eine Garantie von ihm verlangen, dass so etwas nie mehr vorkam. Das Problem war, dass Duval ihnen nichts davon liefern konnte. Aber vielleicht war das auch gar nicht notwendig – falls sich herausstellte, dass dieses Mädchen vor ihm das war, was er sich erhoffte. Duval nahm die Zeichnung vom Tisch und hielt sie vor sich hoch. Eine gewisse Ähnlichkeit war da. Es konnte durchaus sein, dass sie das Mädchen war, von dem der kleine Junge in der Abteilung manchmal träumte. Er legte die Zeichnung wieder auf den Tisch zurück, beugte sich nach vorn und blies in den heißen Kakao. Es wurde Zeit, das schwarzhaarige Mädchen zu wecken. Denn ihm war es lie ber, dass die Kinder wach waren, wenn er ihnen Blut abnahm. Duval erhob sich von seinem Stuhl und holte eine kleine Glasflasche mit Riechsalz aus der Brusttasche, während er um den Tisch herumging und sich hinter Mira stellte. In seinem Bauch kribbelte es vor Erwartung, als er ihr die Flasche unter die Nase hielt. Mira erwachte von dem Duft heißer Schokolade, trotzdem stach ihr etwas unangenehm in die Nase. Es war ein unheimliches Gefühl. Normalerweise fand sie, dass Kakao wunderbar roch, 58
aber das Riechsalz machte sie schwindelig und trieb ihr die Tränen in die Augen. Ihr Hals fühlte sich verschleimt an, und sie musste husten, als sie versuchte, tief Luft zu holen. Mira sah auf ihre Arme und begriff, dass sie festsaß. Sie hatte keine Ahnung, wie das passiert sein konnte. Sie wusste nur noch, dass sie in diesen Raum gehechtet war und es im letzten Moment geschafft hatte, den Zähnen des Hundes zu entkom men. Dann hatte sie Kriss entdeckt, und plötzlich war alles schwarz geworden. Vorsichtig versuchte sie, die Arme zu bewegen, aber vergeb lich. Sie wollte gerade kräftiger ziehen, als sie einen feuchten Atem in ihrem Nacken spürte. »Wer bist du?«, flüsterte Duval sanft in ihr Ohr. »Mira«, antwortete Mira, ohne nachzudenken. »Mira«, wiederholte Duval und zog die Buchstaben ihres Namens in die Länge, während er um den Stuhl herumging und sich vor sie stellte. Mira sah hoch und starrte ihn durch die Haarsträhnen an, die ihr vor dem Gesicht hingen. Duval lächelte. Sein Lächeln sah freundlich aus – bis er nä her herankam. Erst da bemerkte sie, dass sich sein Mund verzog und zu einem widerlichen Grinsen wurde. »Was ich wirklich wissen möchte, ist, wie du hier hereinge kommen bist …«, fuhr Duval fort, während er seine langen wei ßen Finger ausstreckte und die Haare aus Miras Gesicht strich. Mira zuckte zurück und hörte beinahe auf zu atmen. Ihr Blick wurde von der Narbe über Duvals Augenbraue angezogen. Sie sah ihm in die Augen, und sein gläserner Blick ließ sie schaudern. »Also, wie bist du hier hereingekommen?« Mira schaute weg und schloss die Augen, aber es nützte nichts. Duvals Blick hatte sich auf der Innenseite ihrer Augenli der festgebrannt. Sie presste die Lippen zusammen und senkte den Kopf. »So, du willst also nicht antworten?«, sagte Duval und richtete 59
sich auf. Er holte tief Luft, und es zischte schauerlich, als der Sauerstoff durch die Schläuche strömte. Mira schüttelte den Kopf und Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Nicht traurig sein«, sagte Duval und wischte eine Träne von ihrer Wange. »Ich will nur eine kleine Blutprobe nehmen, du wirst kaum etwas spüren.« Mira öffnete die Augen und sah die Spritze in Duvals Hand. Sie konnte die Nadel deutlich erkennen, obwohl die Tränen ihren Blick verschleierten. Als Duval ihr in die Armbeuge stach, zuckte Mira so heftig zusammen, dass ihr die Riemen in die Unterarme schnitten. Das Blut quoll pulsierend aus dem kleinen Einstichloch und ver mischte sich mit der durchsichtigen Flüssigkeit in der Spritze. Als das Röhrchen voll war, leckte sich Duval die Lippen und zog die Nadel wieder heraus. Er wich ein paar Schritte zurück und drehte Mira den Rücken zu. Dabei bemerkte er nicht das Blut, das langsam aus den schmalen Wunden lief, die die Rie men in ihre Arme geschnitten hatten. Aber es spielte eigentlich auch keine Rolle, denn selbst wenn er es gesehen hätte, hätte er kein Mitleid mit ihr gehabt. Für ihn war Mira nichts weiter als ein Monster. Duval löste die Nadel von dem Glasröhrchen und legte sie auf den Tisch. Dann schüttelte er die Ampulle, sodass sich die Flüssigkeit ordentlich mit dem Blut vermischte, und steckte sie in seine Brusttasche. Durch den Stoff klopfte er vorsichtig da gegen, denn er hatte das Gefühl, dass dies hier vielleicht etwas ganz Besonderes war. Mira starrte Duval durch die Haare an, die ihr wieder vors Gesicht gefallen waren. Aber sie schwieg, denn ihr war klar, dass nichts, was sie sagte, ihr hier heraushelfen konnte. Sie musste etwas tun, um zu entkommen. Sie machte die Augen zu und versuchte sich zu konzentrie ren. Langsam fühlte sie sich etwas schläfrig, und als die Tür zum Sicherheitsraum mit einem Zischen aufging, nutzte sie 60
instinktiv die Gelegenheit und füllte ihre Lungen mit der nor malen Luft, die hereindrang. »Was ist mit ihr?« Inspektor Tempelman betrat den Raum und nickte in Miras Richtung, ohne Duval aus den Augen zu lassen. Er rückte den Monstersack zurecht, der an seinem Gür tel hing, während sich die Tür hinter ihm langsam schloss. »Sie weigert sich zu reden«, sagte Duval und sah zur Uhr an der Wand hinter Miras Rücken. »Sie sind zu früh. Habe ich nicht gesagt, dass ihr um elf Uhr kommen sollt?« Tempelman schaute auf die Zeiger der Uhr. Sie standen auf ein paar Minuten vor elf und bewegten sich so langsam, dass es tatsächlich so aussah, als würden sie es nicht rechtzeitig schaffen. Tempelman blickte auf seine eigene Uhr und gähnte. Auf der war es genau elf. Er tat, als hätte er Duvals Kommentar nicht gehört, und hoffte, dass Vargas bald kam, damit er nicht allzu lange mit dem Doktor allein sein musste. »Und die Blonde?«, fragte Tempelman. »Die schläft immer noch«, antwortete Duval, ohne überhaupt in Kriss’ Richtung zu schauen. Während er sich umdrehte, fuhr er fort: »Wenn Vargas kommt, kann er sie wecken und die Ereig nisse der letzten vierundzwanzig Stunden aus ihrem Gedächtnis radieren. Danach kann er sie nach Hause fahren, sie ist ja schließlich nur ein Kind. Wir müssen an unseren Ruf denken.« Doktor Duval ging zur Tür, und während er am Sicherheits schloss den Code eintippte, drehte er sich zu Tempelman um. Er grinste, als die Tür hinter ihm aufglitt. »Vergessen Sie nicht, Ihre Atemmaske aufzusetzen. Sie ha ben sich schließlich schon genug Fehler geleistet!« Duval ging hinaus auf den Korridor, während Tempelmans Blick finster wurde. Er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Zähne knirschten, während er sich fragte, wie lange Duval ihm und Vargas wohl noch ihr Missgeschick vorhalten würde. »Behalten Sie einfach die Mädchen im Auge, bis ich aus dem 61
Labor zurück bin. Das sollten Sie ja wohl schaffen«, sagte Du val mit einem schiefen Lächeln, bevor sich die Tür zwischen ihnen schloss und das Gespräch beendete. Tempelman schaute wieder auf die Uhr und dann zu Mira, die ihre Augen geschlossen hatte. Sie sah aus, als ob sie schlief. Er konnte nicht begreifen, wie das schwarzhaarige Mädchen es geschafft hatte, in die Monsterbehörde einzudringen. Es war reiner Zufall, dass er den Lärm auf dem Gang gehört hatte und den Monstersack bereithalten konnte, ehe sie in den Sicher heitsraum gestürmt kam. Er fragte sich, ob sie auch nur ein normales Kind war oder vielleicht doch ein Monster. Aber das würden sie sicher bald herausfinden. Tempelman stellte sich vor den Tisch und betrachtete Mira forschend. Sie bewegte sich keinen Millimeter. Es dauerte nicht lange, dann bemerkte er das Blut an ihren Unterarmen und entdeckte die Wunden, die die Lederriemen verursacht hatten. Er beugte sich vor und öffnete die Schnallen. Dabei fluchte er über Duval, denn die Riemen saßen viel zu fest. Er fand, dass Duvals Methoden manchmal unnötig grausam waren. Es wurde sogar gemunkelt, dass Duval heimlich Experimente mit den Patienten in der Monsterbehörde durchführte. Dabei waren es doch Kinder, mit denen sie es zu tun hatten! Auch wenn sie manchmal richtige Monster sein konnten. Obwohl das Mädchen ein Eindringling war, beschloss Tempelman, sie nicht wieder festzuschnallen. Jedenfalls nicht, bis Vargas zurückkam. Er sah zu dem blonden Mädchen auf der Pritsche, das immer noch schlief. Wahrscheinlich würde das auch noch eine Weile so bleiben. Das Schlafmittel schien bei ihr ungewöhnlich gut zu wirken. »Was soll schon passieren?«, sagte Tempelman zu sich selbst und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Mira. Der Inspektor 62
seufzte schwer. Er hatte seit gestern Morgen kein bisschen Schlaf bekommen, und jetzt war schon Mittag. Er griff zu dem Becher auf dem Tisch und nahm einen ordentlichen Schluck Kakao, auf dem inzwischen eine glibberige Haut schwamm. Das Schlafmittel in der Luft füllte seine Lungen, und er musste husten. Aber trotzdem merkte er nicht, dass er vergessen hatte, das Atemgerät anzulegen. Es war eine lange Nacht gewesen. Er reckte sich und gähnte. Mira öffnete ein Auge und beobachtete Tempelman. Als sie merkte, dass er nicht hinsah, versuchte sie, ihre Arme zu bewe gen. Dabei war sie so vorsichtig, dass es kaum zu sehen war. Aber es reichte aus, dass sie ganz sicher sein konnte, nicht mehr festgebunden zu sein. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass sie frei war, machte sie die Augen wieder zu und wartete. Tempelman zwinkerte mit den Augenlidern, um sich wach zu halten. Er war so müde, dass er alles nur noch verschwommen wahrnahm. Es war, als würden sich seine Lider ganz von allein schließen … Das war das Letzte, was er denken konnte, bevor er einschlief. Er kippte nach vorn auf die Tischplatte und warf seinen Be cher um. Der Kakao lief langsam über die Zeichnung und tropfte auf den Fußboden. Mira zuckte bei dem Lärm zusammen und schlug die Augen auf. Als sie sah, dass Tempelman hingestreckt auf dem Tisch lag, fasste sie einen Plan. Sie hoffte nur, dass sie ihn durchfüh ren konnte, bevor Duval zurückkam.
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Die Monsterabteilung
Mira erhob sich vom Stuhl und reckte sich. Sie war frei! Sie holte tief Luft und betastete die Wunden an ihren Armen, die bereits abgeheilt und mit Schorf bedeckt waren. Jetzt juckten sie ganz schrecklich. »Danke«, sagte sie leise und ging an Tempelman vorbei. Er lag mit dem Gesicht in der Kakaopfütze auf dem Tisch und schnarchte laut. »Danke, dass Sie mich losgebunden haben.« Mira zögerte eine Weile, aber schließlich drehte sie sich um und sah zu Kriss, die auf der Pritsche weiter hinten im Raum schlief. Auch wenn sie nicht vorhatte, Kriss zu retten, wollte sie ihr doch wenigstens eine Chance geben. Mira nahm eines der Atemgeräte vom Haken neben der Tür und ging zu Kriss hinüber. Es war ein merkwürdiges Gefühl, neben ihr zu stehen und ihr beim Schlafen zuzusehen. Es erin nerte Mira an die Nacht in Kriss’ Zimmer. Aber da war sie ver wandelt gewesen. Jetzt war sie ganz sie selbst, und sie bekam ein schlechtes Gewissen, wenn sie daran dachte, was sie in der 64
Nacht mit Kriss hatte machen wollen. Obwohl Kriss es wirklich verdient gehabt hätte … Mira beugte sich über sie und setzte ihr die Atemmaske auf. Wäh rend Kriss tiefe, zischende Atemzüge durch die Schläuche machte, holte Mira ihren Rucksack, der in einer Ecke gelandet war, als sie sich ins Zimmer gestürzt hatte. Sie öffnete ihn und kontrollierte, ob noch alles da war. Dann drehte sie sich zur Tür um. In dem Moment hörte sie Kriss’ verschlafene Stimme hinter sich: »Mira, bist du das wirklich?« Mira blieb stehen. Kriss’ Stimme ließ wieder all diese schrecklichen Gefühle in ihr hochkommen. »Geh nicht, bitte, geh nicht weg«, sagte Kriss und begann zu weinen. Mira stand mit dem Rücken zu Kriss und hatte die Augen ge schlossen. Auf der Innenseite ihrer Lider sah sie in schneller Folge Bilder vorüberziehen. Sie sah das Mädchen, das ganz allein in der letzten Bank im Klassenzimmer saß. Kriss und ei nige der anderen Mädchen zeigten mit dem Finger auf sie und schnitten Grimassen, sobald die Lehrerin ihnen den Rücken zudrehte. Sie sah das Mädchen draußen auf dem Schulhof mit klebri gem Kaugummi im Haar. Ein Stück weiter weg stand Kriss mit einem Mädchen aus der Sechsten und flüsterte. Sie versuchten nicht einmal zu verheimlichen, dass sie ihr den Kaugummi ins Haar geklebt hatten. Sie sah sich selbst, wie sie in ihrem Bett lag und sich jeden Abend in den Schlaf weinte. »Entschuldige«, sagte Kriss mit zittriger Stimme. Mira schluckte und holte tief Luft, bevor sie antwortete. »Ich wollte einfach normal sein, ich wollte genauso sein wie alle anderen. Aber am liebsten wollte ich eine richtige Freundin ha ben, eine, die mich so mag, wie ich wirklich bin.« Mira drehte 65
sich um und sah Kriss an. »Doch du hast dafür gesorgt, dass niemand es auch nur versucht hat.« Kriss senkte den Blick und wurde rot, denn sie begriff, dass ein »Entschuldige« niemals die Wunden in Miras Herz heilen konnte, die sie ihr zugefügt hatte. Kriss konnte nur eins tun. Sie konnte Mira versprechen und sich selbst fest vornehmen, so etwas nie wieder zu tun. Gegenüber niemandem. »Verzeih mir«, sagte Kriss nun, weil ihr die Worte fehlten, die beschreiben konnten, was sie fühlte. Sie hob den Blick und sah Mira in die Augen. Und es lag etwas in ihrem Blick, an dem Mira erkennen konnte, dass Kriss es ehrlich meinte. Dass sie alles bereute, was sie Mira angetan hatte. »Ich verzeihe dir«, sagte Mira und zog die Augenbrauen hoch. »Aber vergessen werde ich es nie.« Mira schüttelte lang sam den Kopf. Sie sah, wie Kriss die Tränen übers Gesicht lie fen. »Ich will das alles einfach hinter mir lassen«, sagte Mira, während sie sich den Rucksack aufsetzte, »und weitergehen.« Mira drehte sich um und ging zur Tür. Sie hörte Kriss hinter sich schluchzen, aber sie hatte keine Zeit zu verlieren. Dank Tempelman hatte sie noch eine Chance bekommen, ihren Bru der zu retten. Und die wollte sie nutzen! Mira wusste, dass Kriss es allein schaffen würde. Sie waren schließlich nicht hinter Kriss her. Es war Mira, die sie haben wollten. Sie konzentrierte sich und tippte den Code am Türschloss ein. Dabei hielt sie die ganze Zeit den Atem an und hoffte, dass man den Code noch nicht geändert hatte. Mira war erstaunt, aber er leichtert, als die Tür aufglitt. Vorsichtig spähte sie den Korridor entlang und dachte immer wieder denselben Gedanken: Ich will nicht entdeckt werden. Ich will nicht entdeckt werden. Doch von dem Hund fehlte jede Spur. Als sie sich überzeugt hatte, dass der Korridor leer war, schlich sie vorsichtig unter den summenden Neonröhren weiter. Die tauchten die dicken 66
Türen, an denen sie vorbeikam, in einen gelblichen Schein. Nach kurzer Zeit erreichte sie eine Kreuzung. Mira seufzte erleichtert, als sie die Schilder an der Wand ent deckte. Ihr Blick wurde geradezu magnetisch auf das Schild zur Monsterabteilung gezogen, das in einen grauen Gang zeigte, in dem eine defekte Neonröhre blinkte. Während sie den Gang hinunterschlich, horchte sie aufmerk sam auf Geräusche, aber das Einzige, was sie hörte, waren die dumpfen Laute von Jazzmusik, die aus einem kaputten Laut sprecher an der Decke kamen. Ganz hinten im Gang, dort wo das Licht der Neonröhre nicht mehr hinkam, versperrte ihr eine Schwingtür aus schwarzem Glas und Gummi den Weg. Ein Me tallschild, auf dem das Wort Monsterabteilung eingeprägt war, baumelte an einer einzigen Schraube an der Tür. Mira holte tief Luft und trat ein. Obwohl sich mehrere Neonröhren an der Decke befanden, war es dunkel hier drinnen. Die schmalen Gänge vor ihr waren vom Fußboden bis zur Decke mit kaputten Fliesen verkleidet, und zu beiden Seiten gab es rostige Gittertüren. Es roch nach Schimmel. An der Wand neben der Tür befand sich ein Waschbecken, und auf dem Regal darüber stand eine Schachtel mit Gummi handschuhen, neben der ein Schlüsselbund lag. Der Wasserhahn war nicht ganz zugedreht, und jeder Tropfen, der auf das schmutzige Porzellan traf, hallte im Gang wider. Mira drehte den Wasserhahn zu, dann nahm sie den Schlüs selbund vom Regal und begann, den Gang hinunterzugehen. An der ersten Gittertür, an der sie vorbeikam, war mit Klebe band ein handgeschriebenes Namensschild befestigt. Darunter hing an einer dünnen Schnur ein Schreibheft. Isak Numan las Mira auf dem Schild. Auf der Vorderseite des Schreibhefts stand, dass Isak elf Jahre alt war und an etwas litt, das Mons trum grobium hieß. 67
Plötzlich hatte Mira das Gefühl, beobachtet zu werden, und ihr wurde eiskalt. Sie drehte den Kopf und entdeckte den Jun gen hinter der Gittertür. Er war groß und dünn und räusperte sich die ganze Zeit, während er sie anstarrte. Seine tiefen Au genhöhlen, die eingefallenen Wangen, die ungesunde bleiche Haut und die vorgewölbte Stirn gaben ihm ein erschreckendes Aussehen. Als Mira ihn anschaute, schloss er die Augen und senkte den Kopf. »Hab keine Angst«, sagte Mira und bemühte sich, Augen kontakt zu ihm zu bekommen. »Ich weiß, wie es ist, anders zu sein …« Sie suchte nach den richtigen Worten, aber ihr fielen keine anderen ein als die, die ausdrückten, was er wirklich war. Also beschloss sie, es geradeheraus zu sagen: »… ein Monster zu sein.« Der Junge stand unbeweglich da und schwieg. Mira begriff, dass er Angst vor ihr hatte. Also wich sie ein paar Schritte zu rück und drehte sich um. Sie dachte an Sylvester, während sie weiter den Gang hi nunterging und die Namen an den Türen las, an denen sie vor beikam: »Robin, Evina, Emil, Mohammed.« Gleichzeitig hörte sie ängstliche Schluchzer aus den Kammern hinter den Gitter stäben. Es war, als würden die Kinder allein deswegen schon unruhig, weil jemand da war und ihre Namen aufrief. Sie schwieg, aber trotzdem wurde das Schluchzen immer lauter, sodass sie sich schließlich die Ohren zuhalten musste. Am Ende stand sie vor der Zelle, in der ihr Bruder gefangen gehalten wurde. »Sylvester Astrakan«, las sie auf dem Schild an der Tür. Vor sichtig spähte sie zwischen den Gittern hinein. Auf einem ungemachten Bett ganz hinten an der Wand saß ein kleiner sommersprossiger Junge mit nachtschwarzem Haar. Er hatte die Knie bis unters Kinn hochgezogen und konnte nicht 68
älter sein als sechs oder sieben Jahre. Er sah ihr so ähnlich, dass es keinen Zweifel gab: Er war ihr Bruder.
Das Geräusch von Agent Vargas’ Stiefeln donnerte durch den Korridor vor dem Sicherheitsraum, in dem die Mädchen gefan gen gehalten wurden. Er ging schnell und entschlossen, denn er war spät dran. Heute Morgen hatte er nur wenige Minuten gebraucht, um sich eine neue Uniform anzuziehen, nachdem der Wachmann den Eindringling vor seinem Zimmer entdeckt hatte. Aber als er hinaus auf den Korridor kam, hatte Tempelman bereits ein dün nes schwarzhaariges Mädchen mit dem Monstersack eingefan gen. Duval hatte entschieden, dass das dunkelhaarige Mädchen zusammen mit dem blonden Mädchen im Sicherheitsraum untergebracht werden sollte. Zumindest so lange, bis sie sich von dem starken Schlafmit tel im Monstersack so weit erholt hatte, dass er seine Tests mit ihr machen konnte. Als Duval ihm und Tempelman bis elf Uhr freigegeben hatte, war Agent Vargas in sein Zimmer gegangen und hatte sich wie der hingelegt. Im Gegensatz zu Tempelman brauchte er mehr als zwei Stunden Schlaf pro Schicht, um klar denken zu kön nen, und das hier war nicht das erste Mal, dass er verschlafen hatte. Agent Vargas schaute auf die Uhr und seufzte, ehe er vor der Tür zum Sicherheitsraum stehen blieb. Die Uhr zeigte bereits Viertel nach elf. 69
Plötzlich spürte er etwas Klebriges unter den Sohlen seiner Stiefel. Er seufzte laut auf und starrte auf die braunen Fußspu ren vor dem Sicherheitsraum. Er rümpfte die Nase, während er sich bückte und den Finger in das braune Zeug auf dem Fußbo den steckte. Es roch süß, beinahe wie Kakao. Vargas spürte, dass etwas nicht stimmte. So schnell er nur konnte, gab der Agent die Ziffern auf dem Codeschloss an der Tür ein. Als die sich öffnete, schaute er in den Raum. Es dauerte nicht lange, bis er entdeckte, dass das schwarzhaarige Mädchen verschwunden war. Aber dass das blonde Mädchen auf der Pritsche an der Wand wach war, sah er nicht. Kriss lag mit dem Gesicht zur Wand und verhielt sich so still, wie sie konnte. Sie wagte kaum zu atmen, weil sie Angst hatte, dass der Mann ihre zischenden Atemzüge durch die Schläuche bemerken könnte. Aber ihre Sorge war unbegründet. Vargas betrat den Raum und riss die Augen weit auf. Tempelman lag mit dem Oberkörper auf der Tischplatte und schnarchte. Vom Tisch tropfte immer noch Kakao auf den Fußboden. Kreuz und quer durch den Raum zogen sich braune Fußspuren, genau solche, wie Vargas sie draußen im Korridor gesehen hatte. Vargas zögerte keine Sekunde, als ihm klar wurde, dass es die Fußspuren des Eindringlings waren. Er rannte aus dem Raum und weiter durch den Korridor, den Fußspuren hinterher. Jetzt hatte er endlich eine Chance, zu beweisen, was in ihm steckte! Nachdem Vargas den Raum verlassen hatte, öffnete Kriss die Augen und richtete sich auf. Sie blickte sich um, bevor sie die Füße auf den kalten Zementfußboden setzte und aufstand. Ob wohl ihre Augen rot und geschwollen waren, sah sie entschlos sen aus. Ihr Blick war auf den Monstersack gerichtet, der an Tempelmans Gürtel hing. Sie hatte gesehen, wie er Mira mit dem Sack eingefangen hatte. Und sie erinnerte sich undeutlich 70
daran, dass er mit ihr dasselbe getan hatte, bevor er sie zu die sem schrecklichen Ort brachte. Sie lächelte bitter und löste den Sack von seinem Gürtel. Jetzt war er an der Reihe, im Sack zu landen! Und sobald sie mit ihm fertig war, würde sie sich wieder ins Bett legen. Denn sie wusste, dass man nicht hinter ihr her war. Mira war es, die sie haben wollten. Kriss hoffte, dass dieser Albtraum vorbei sein würde, wenn man sie das nächste Mal weckte.
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Träume werden Wirklichkeit
Mira und Sylvester sahen einander durch die Gittertür seiner Zelle an. Plötzlich hob Sylvester den Kopf und machte ein ängstliches Gesicht. »Hab keine Angst«, flüsterte Mira und versuchte, so freund lich wie möglich zu klingen, denn sie sah, dass der Junge beun ruhigt war. Sie griff zum Schlüsselbund und probierte, den ersten Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken. Er hatte einen schwarzen Gummirand an dem Ende, das sie mit dem Daumen hielt. Plötzlich glaubte Sylvester, etwas gehört zu haben, doch si cher war er sich nicht. Das Geräusch war jedenfalls nicht von dem schwarzhaarigen Mädchen gekommen, das vor ihm stand. Es hatte sich eher so angehört, als käme es von weiter hinten im Korridor, von irgendwo hinter ihrem Rücken. »Probier den Schlüssel mit dem roten Rand«, sagte Sylvester nervös und versuchte, das Mädchen auf der anderen Seite des Gitters anzulächeln. Mira sah hoch, während sie mit dem Schlüsselbund hantierte. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor es ihr endlich gelang, den 72
Schlüssel mit dem roten Gummirand ins Schloss zu stecken. Sie atmete auf und drehte den Schlüssel herum. Das Schloss knirschte ein wenig, dann glitt die Tür auf. »Danke«, sagte Mira und steckte den Schlüsselbund in ihre Tasche. Sie ging in die Zelle und fühlte sich innerlich ganz warm, obwohl sie ungeheuer nervös war. Als Sylvester sie so aus der Nähe sah, wurde ihm schwinde lig. Er konnte kaum glauben, dass das, was gerade passierte, Wirklichkeit war, und musste sich in den Arm kneifen, um si cher zu sein, dass er nicht träumte. »Ich glaube, wir haben uns schon mal getroffen …«, sagte er und zupfte nervös an seiner Decke, als Mira näher kam. »In meinen Träumen«, ergänzte er und verglich Mira mit seinen Zeichnungen an der Wand, um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich sie war, die vor ihm stand. »Jetzt treffen wir uns in Wirklichkeit«, antwortete Mira und trat ans Bett. Sie legte ihre Hand auf seine und lächelte. Seine Haut fühlte sich glatt und kühl an. Sylvester lächelte vorsichtig zurück und sah Mira tief in die Augen. »Ich wusste, dass jemand kommen würde«, sagte Sylvester ernst. »Ich habe es gefühlt.« Mira drückte seine Hand, während sie die Wand hinter Syl vesters Bett betrachtete. Sie war fast vollständig von Zeichnun gen bedeckt, und auf fast allen war Mira abgebildet. Nur auf einer nicht. »Wer ist das?«, fragte sie und zeigte auf eine Zeichnung, auf der ein großer, blasser Mann zu sehen war. »Träumst du auch von ihm?« Der Mann trug einen altmodischen zweireihigen Anzug mit Weste. Er hatte Sommersprossen im Gesicht und sein langes schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Ja, manchmal träume ich von ihm. Das ist mein Onkel, der Bruder meiner Mutter …«, antwortete Sylvester. 73
»Lupus«, sagte Mira. Sylvester sah sie erstaunt an. »Kennst du ihn?« »Nein, nicht persönlich …«, erwiderte Mira und setzte ihren Rucksack auf dem Bett ab. »Noch nicht.« Mira zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und griff hinein. Sie fühlte nach, ob das Foto, das Buch und die Dose mit dem Angstpulver noch in dem Silberkästchen lagen, bevor sie hastig die Papierrolle mit dem Familienstammbaum hervor holte. In der Eile bemerkte sie nicht, dass das vierte und letzte Symbol auf der Vorderseite des Buches in Sylvesters Gegen wart sanft schimmerte. Sylvester sah Mira dabei zu, wie sie den Stammbaum vor ihm auf dem Bett ausrollte. Sie zeigte auf ihren Namen ganz oben am Rand. Zuerst las er ihren Namen stumm für sich selbst, dann sprach er ihn laut und deutlich aus: »Mira.« Mira nickte und zeigte auf seinen Namen in dem winzigen Kästchen neben ihrem. Er beugte sich vor, während sie auf Lu pus’ Namen im Kästchen neben dem Namen ihrer Mutter zeigte. Er war so undeutlich geschrieben, dass man ihn fast nicht lesen konnte. Es sah tatsächlich so aus, als hätte jemand versucht, ihn auszuradieren, aber er war noch da. »Wir sind Geschwister«, flüsterte Mira in Sylvesters Ohr, während sie gleichzeitig das Schwarz-Weiß-Foto ihrer Eltern aus dem Rucksack holte und es ihm gab. Und da begriff Sylves ter, dass sie recht hatte. »Mama«, sagte er und berührte das Gesicht der Frau auf dem Foto. »Und der daneben mit dem Fell und dem langen Schwanz, das ist Papa«, sagte Mira und rollte das Papier mit dem Fami lienstammbaum wieder zusammen, bevor sie es zurück in ihren Rucksack steckte. Sylvester drückte das Foto an seine Brust, ihm stiegen Trä nen in die Augen. 74
Er hatte seine Eltern noch nie gesehen, und ihm waren sogar schon Zweifel gekommen, ob er überhaupt je welche gehabt hatte. »Du kannst das Foto behalten …«, sagte Mira und berührte Sylvesters Wange. Er zögerte keine Sekunde und steckte es so fort in seine Brusttasche. »Und dann ist es vielleicht besser, wenn du das hier nimmst, für alle Fälle …« Mira hatte die drei eckige Dose aus dem Rucksack geholt und hielt sie ihm hin. »Puh, wie das stinkt! Was ist das?«, fragte Sylvester. »Angstpulver. Ich habe es zum Geburtstag bekommen«, ant wortete Mira und sah ihm fest in die Augen. »Nein, das kannst du behalten!«, sagte Sylvester und rümpfte die Nase. Er sah Mira an und merkte, wie die Unruhe in seinem Bauch wuchs. Nervös hob er den Blick und schaute über ihre Schulter. Wieder hörte er dieses seltsame Geräusch … Mira sah, wie sich Sylvesters Gesicht veränderte. Er schien plötzlich Todesangst zu haben.
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Lauf um dein Leben
»Hast du das gehört?«, fragte Sylvester und sprang aus dem Bett. Er versteckte sich hinter Mira. »Da draußen?« Mira drehte sich zu der Gittertür um und erschrak, als sie das Geräusch von Schritten hörte, die auf dem Gang näher kamen. »Schnell, versteck dich!«, sagte sie und zog Sylvester am Arm. Der Junge legte sich der Länge nach auf den Fußboden und rollte sich zu den Wollmäusen unter das Bett. Miras Herz klopfte laut, als sie sich bückte und den Rucksack hinterherschob. »Er kann jeden Moment hier sein«, flüsterte Sylvester und unterdrückte ein Niesen. Mira blickte nervös zur Tür und umklammerte die Dose mit dem Angstpulver in ihrer Hand. Sie keuchte panisch, als sie sich ebenfalls auf den Fußboden legte und zu Sylvester unters Bett kroch. Er rutschte ganz an die Wand, damit sie genügend Platz hatte. »Er findet uns bestimmt …«, flüsterte er und legte seinen Arm um Miras Taille. »Schhh«, machte Mira und hob den Deckel von der Dose. 76
Sylvester umklammerte Mira, so fest er konnte, und schloss die Augen, denn er wollte sie nicht verlieren. Als die Schritte verstummten, wagte er vorsichtig einen Blick – und erschrak. Mit weit aufgerissenen Augen schauten nun beide zu dem Schatten, der in die kleine Zelle fiel. »Sind irgendwelche braven Kinder hier?« Die Stimme klang dunkel und kräftig. Sie hatte einen herrischen Unterton. »Oder nur kleine Monster, so wie immer …« Agent Vargas trat in den Raum hinein und sah das unge machte Bett. Er lachte selbstsicher. »Ihr habt euch wohl unter dem Bett versteckt, oder? Ist das nicht der Ort, wohin ihr euch normalerweise verkriecht?« Mira griff in die Dose und nahm eine Prise Angstpulver zwi schen die Finger. Vargas trat näher an das Bett heran. Bei jedem der schweren Schritte, die den Staub auf dem Fußboden hoch in die Luft wirbelten, keuchte Sylvester auf. Vor dem Bett blieb Vargas stehen. Seine schmutzigen Stiefel waren nun so dicht vor Miras Gesicht, dass sie sie riechen konnte. »Nein, nein, nein …«, schluchzte Sylvester und presste sich an Miras Rücken. Mira hob die Hand mit der Prise Angstpulver. Ihr Herz raste, und das Atmen fiel ihr schwer. Da beugte sich Vargas herunter und schaute unter das Bett – und eine Sekunde lang starrte er Mira direkt in die Augen. Miras Angst war nun so groß, dass sie kaum mehr denken konnte. Instinktiv schleuderte sie ihm das Pulver mitten ins Gesicht. Vargas schrie auf, fing an zu husten und stolperte rück wärts. In Nase und Hals juckte es wie verrückt, und außer dem fühlte es sich so an, als hätte er die Augen voller Sand. Er taumelte immer weiter zurück, während er sich gleichzei tig die Augen rieb und dreimal hintereinander laut nieste. Da passierte es. 77
»Ahhh! Haarige Spinnen! Macht sie weg!« Vargas schrie und fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum. »Hilfe!« Er stolperte und fiel hintenüber, knallte auf den Fußboden und schrie wie am Spieß, bis keine Luft mehr in sei nen Lungen war – solche Angst hatte er. Mira schlug das Herz bis zum Hals, denn sie war überhaupt nicht auf das vorbereitet, was da passierte. Sie hatte das Angst pulver schließlich noch nie vorher benutzt. Sylvester ließ ihre Taille los und hielt sich die Ohren zu, bis Vargas aufhörte zu schreien. Erst war alles still, dann hörten sie ein leises Schluchzen. Mira spähte unter dem Bett hervor und sah, dass Vargas sich in eine Ecke des Raumes verkrochen hatte. Er saß einfach nur da und zitterte. Sie dachte an den Zettel, der an der Dose befestigt gewesen war, als sie das Pulver bekommen hatte: Warnung! Wirklich ungeheuer wirksam! Erst jetzt begriff sie, was die schwarzen, schnörkeligen Buchstaben bedeuteten. Obwohl Vargas’ Augen die ganze Zeit geschlossen waren, hatte er das gesehen, wovor er sich am allermeisten fürchtete. So als wäre es tatsächlich da. »Beeil dich!«, sagte sie und zog Sylvester am Ärmel, wäh rend sie unter dem Bett hervorkroch. Sylvester schob den Rucksack vor sich her und krabbelte ebenfalls heraus. Nachdem er aufgestanden war, nahm Mira ihn bei der Hand und lief los. Sylvester hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten, und hielt sich krampfhaft an Miras Rucksack fest. »Lauf!«, schrie sie und schubste ihn von sich. »Lauf um dein Leben!« Aber Sylvester blieb stehen. Er weigerte sich, sie zu verlas sen, jetzt, wo sie sich endlich getroffen hatten. Mira begriff, dass er es sich nicht anders überlegen würde, aber sie wusste 78
auch, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und schloss die Gittertür hinter sich. Vargas saß immer noch in der Ecke der Zelle und zitterte. Mira griff zum Schlüsselbund. Vargas blickte hoch, als die Tür ins Schloss fiel, und sah Mira durch das Gitter an. Seine Augen waren blutunterlaufen und gla sig und immer noch voller Angst. Aber er reagierte auf das Ras seln der Schlüssel, und plötzlich wechselte sein Gesichtsaus druck von Angst zu Wut. »Neeeiiin!«, schrie er und sprang so hastig auf, dass die Schweißtropfen durch den Raum spritzten. »Den roten, nimm den roten Schlüssel, Mira!«, rief Sylvester voller Panik und zeigte auf den Schlüsselbund. Mira fummelte mit den Schlüsseln, während Vargas schwankend auf die Tür zuging. Er war immer noch schwach nach dem Schock, aber fest entschlossen, es bis zur Tür zu schaffen. »Mach schnell, er kommt!«, schrie Sylvester und hielt sich die Augen zu. Im selben Moment, als Vargas das Gitter mit seinen riesigen Händen packte, drehte Mira den Schlüssel um. Vargas brüllte vor Wut, als das Schloss zuschnappte, und streckte sich nach Sylvester aus. Mira konnte ihren Bruder gerade noch rechtzeitig wegziehen, bevor Vargas seinen Arm zu fassen bekam. »Komm!«, sagte sie und nahm Sylvesters Hand, während Vargas hinter ihnen tobte. Sie waren erst ein paar Schritte gelaufen, als Mira die ande ren Kinder entdeckte. Sie standen an ihren Türen und umklam merten die Gitterstäbe mit ihren bleichen Händen. Mira wurde langsamer und versuchte, den Blicken der Kin der auszuweichen, an denen sie vorbeiliefen. »Wir müssen sie rauslassen …«, bat Sylvester und zog an Miras Hand. 79
Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Er sah sie bittend an, aber sie musste gar nicht überredet werden. Sie wusste, dass er recht hatte. Über Sylvesters Schulter hinweg schaute Mira zu seiner Zel lentür. Vargas schien aufgegeben zu haben. Jedenfalls stand er nicht mehr am Gitter. Mira sah auf den Schlüsselbund, den sie immer noch in der Hand hielt. Dann sah sie Sylvester an und nickte. Schnell liefen sie von Zelle zu Zelle und schlossen nachei nander alle Türen auf. Erst als sie die Schwingtüren aus Glas und Gummi erreicht hatten, blieben sie stehen und sahen sich ein letztes Mal zu den Kindern um, die an den offenen Türen standen und herausschauten. Einige von ihnen hatten sich sogar schon hinaus auf den Gang getraut. Ihnen am nächsten stand der große dünne Junge mit den ein gefallenen Wangen und sah sie an. Er räusperte sich immer noch ununterbrochen, aber diesmal lächelte er dabei. »D-danke«, stotterte er und winkte ihnen zu. Mira winkte zurück und nahm Sylvesters Hand. Dann verlie ßen sie die Monsterabteilung. Für immer.
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Zutritt verboten
Doktor Duval stand im Labor und wusch seine Hände mit Chlor. Das Mittel roch scharf, und er rümpfte die Nase, obwohl er den Geruch gewohnt war. Dann spülte er die Hände mit kochend heißem Wasser ab und rieb sich das Gesicht, während er in den Spiegel über dem Waschbecken schaute. Sofort nachdem er aus dem Sicherheitsraum gekommen war, hatte er das Atemgerät abgenommen. Aber die Kopfschmerzen, die er bekommen hatte, als er sich mit Mira unterhielt, waren immer noch da. Und das, obwohl er ein paar starke Schmerzta bletten geschluckt hatte. Duval warf seinem Spiegelbild einen aufmunternden Blick zu. Er musste mit hundertprozentiger Sicherheit wissen, ob diese Mira tatsächlich ein Monster war! In diesem Fall würde er ihr sofort eine ordentliche Dosis Monstroxin spritzen. Auf der Kante des Waschbeckens stand schon eine plastikumhüllte Pa ckung mit einigen braunen Medizinflaschen. Diesmal würde er kein Risiko eingehen! 81
In Duvals Augenwinkeln zuckte es nervös, so wie immer, wenn er spürte, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Er nahm an, dass es mit Mira zu tun hatte und dass sie tat sächlich ein Monster war. Er hoffte, dass sie sogar dieses eine, ganz spezielle Monster war – dass er das Glück gehabt hatte, das Scheusal zu fangen. Das würde auch erklären, wie es dem Mädchen gelungen war, unbemerkt in die Monsterbehörde einzudringen. Es ging das Gerücht, dass das Scheusal die unglaublichsten Fähigkeiten besaß. Aber die meisten bezweifelten, dass es überhaupt existierte, denn bisher hatte noch niemand auch nur einen Schatten von ihm gesehen. Doch Duval zweifelte nicht. Er spürte, dass es das Scheusal gab, und dass es seine Aufgabe war, es zu finden und unschädlich zu machen! Duval nahm das Probenröhrchen aus der Brusttasche und setzte es in den Analyseapparat. Der Apparat war eine Spezial anfertigung, um monströse Entwicklungsstadien messen zu können. Er hatte das Gerät selbst erfunden, es war ebenso ein fach wie genial. Man brauchte nur eine Blutprobe des Kindes hineinzugießen und zu warten. Die Ergebnisse des Apparates waren immer exakt, aber er benutzte ihn nur in besonderen Fäl len, weil die Analyse so zeitaufwendig war. Diesmal war sie jedoch dringend erforderlich, denn bei dem einfacheren Test, den er bereits mit dem schwarzhaarigen Mädchen gemacht hatte, war ein völlig falsches Ergebnis herausgekommen. Ihr Blut er forderte offenbar einen neuen, sehr genauen Test. Duval streifte sich das Alarmband, das zu dem Apparat ge hörte, über das Handgelenk und überprüfte, ob es funktionierte. Er starrte abwesend auf den Apparat, während sein Zeigefinger über dem Startknopf schwebte. Sein Blick klebte an der Lampe, die angehen würde, sobald die Analyse abgeschlossen war. Sie würde rot leuchten, wenn das Mädchen ein gewöhnliches Kind 82
war, und grün, wenn es sich bei ihr um ein Monster handelte. Und falls die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie das Scheusal war, würde gleichzeitig der Alarmgeber aktiviert werden, den er um sein Handgelenk trug. Nach einigen Sekunden schreckte er auf und schüttelte den Kopf. Das schiefe Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, als er auf den Startknopf drückte. Der Apparat stieß eine Rauchwolke aus, als Duval ihn an schaltete, und begann dann, leise zu summen. Duval ging zu der großen Eisentür in der dunklen Ecke ganz am anderen Ende des Labors. Er hatte ein bisschen Zeit, bis die Analyse fertig war. Geheime Experimente. Zutritt verboten! stand mit roten Buchstaben auf der Metalltür vor ihm. Als er sie öffnete, quietschte sie so laut, dass es in den Ohren wehtat. »Ich muss dringend die Scharniere ölen«, murmelte er und trat ins Dunkel. Es roch nach Schwefel. Doktor Duval drückte auf den Lichtschalter, der sich direkt neben der Eisentür befand. Die Neonröhren an den Wänden unterhalb der Rampe, auf der er stand, flackerten kurz, bevor sie ansprangen. Sie leuchteten durch das Bodengitter in der Rampe und warfen lange, kriechende Schatten an die Decke über ihm. Duval wartete, bis die Lampen aufgehört hatten zu flackern, dann klopfte er mit dem Finger an das Glas des Druckmessers, der neben dem Lichtschalter angebracht war. Der Zeiger hinter dem Glas hüpfte jedes Mal, wenn Duvals Fingernagel auf die Scheibe schlug. »Scheint in Ordnung zu sein …«, murmelte er vor sich hin. Er rüttelte an der Gittertür vor der Wendeltreppe, die hinunter auf den Boden unterhalb der Rampe führte. Sie zitterte, gab aber nicht nach. Duval nickte zufrieden und ging auf die Rampe hinaus, die an Stahlseilen von der Decke hing, hoch über dem 83
Fußboden seiner Experimentierkammer. Alles war still, bis auf das Echo seiner Schritte und das zischende Geräusch des neuen, nicht erprobten hypoallergenen Monstroxins, das in einem offe nen Tank unter ihm blubberte. Er hatte diesen Teil des Labors geräuschisolieren lassen, damit niemand zufällig etwas hörte, was ihn nichts anging. Denn die meisten Experimente, die er hier drinnen durchführte, hatte das Direktorium der Monsterbe hörde nicht genehmigt. Doch das war nicht das Einzige, was er vor ihnen geheim hielt. Duval hatte nämlich begonnen, an einem anderen Ort ein neues, viel moderneres geheimes Labor zu bauen, und jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis es endlich fertig war. Er plante, einige der Kinder dorthin zu bringen, um genauere Untersuchungen mit ihnen anzustellen. Aber das war im Mo ment nicht so wichtig. Jetzt musste er sich erst mal um das dun kelhaarige Mädchen im Sicherheitsraum kümmern und um das Experiment, das er machen wollte. Das neue Mittel war noch nicht fertig, aber Duval wollte es trotzdem schon ausprobieren. Er musste nur noch entscheiden, an wem. Die Auswahl war groß. Duval lächelte listig und ging auf die Stahlpritsche am Ende der Rampe zu, auf der er seine Versuchspersonen für gewöhn lich festschnallte. Dort angekommen, rieb er sich die Hände, und ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Er hatte sich entschieden, an wem er das Mittel testen würde, und er konnte kaum erwarten, dass es Nachmittag wurde. Duval drückte vorsichtig auf den schwarzen Gummi schlauch, der in dem Kupfergenerator unter der Pritsche steckte. Sofort tropfte eine bläuliche Flüssigkeit aus einem kleinen Loch im Schlauch. »Hatte ich das nicht repariert?«, sagte er vorwurfsvoll zu sich selbst und schnaubte. 84
Während Duval sich bückte und in der Werkzeugkiste kramte, die neben der Pritsche stand, tropfte die Flüssigkeit auf das Stahlgitter der Rampe unter seinen Füßen und lief durch die Lö cher. Ein paar Tropfen fielen sogar tief hinunter auf den Fußbo den, ehe Duval schließlich das schwarze Isolierband gefunden hatte. Er grunzte, als er das Loch im Schlauch mit dem Isolier band flickte. Dann warf er die Rolle zurück in die Werkzeug kiste und seufzte. Merkwürdig, dass die Dinge nie so funktio nierten, wie sie sollten. Er hatte es langsam satt, dass der Gene rator, der das Mittel durch die Tanks pumpte, alle naslang ka puttging. Aber das war es wohl, was ein Experiment so span nend machte – dass nie richtig sicher war, wie es ausgehen würde. Besonders nicht für denjenigen, an dem man es auspro bierte. Aber mit ein bisschen Strom würde er den Generator schon wieder zum Laufen bringen. Duval drehte an seinem Alarmband am Handgelenk und leckte sich die Lippen. Er griff zu zwei Kabeln mit Metallklemmen an den Enden. Die Kabel waren mit einer alten Auto batterie verbunden, die neben der Pritsche stand. Er sah den Kupfergenerator an und grinste. »Wollen wir doch mal sehen, ob wir den hier zum Leben er wecken können …«, sagte er und führte die Klemmen zusam men. Sofort schlugen Funken, und obwohl er es schon viele hundert Male gemacht hatte, zuckte er vor Erwartung zusam men und machte ein gespanntes Gesicht, als es knisterte. Manchmal fühlte er sich selbst wie ein neugieriges Kind.
Mira und Sylvester liefen Hand in Hand den Korridor hinunter, der von der Monsterabteilung wegführte. Sie hatten die Stelle 85
passiert, an der sich die Gänge kreuzten, und waren auf dem Weg zum Ausgang, in die Freiheit und zu ihren Eltern. Noch waren sie auf niemanden gestoßen, der sie aufgehalten hätte. Doch plötzlich blieb Sylvester stehen und wurde kreidebleich im Gesicht. »Ich habe meine Medizin vergessen!«, sagte er und ließ Miras Hand los. Mira lief noch ein paar Schritte, bevor sie ebenfalls stehen blieb, während Sylvester die Hände auf die Knie stützte und keuchte. »Was für eine Medizin?«, fragte Mira und sah ihn ungedul dig an. Sylvester wurde rot und blickte zu Boden. »Das Monstroxin. Ohne das schaffe ich es nicht.« Mira ging zu ihm und umarmte ihn. Sie wussten beide, dass sie eigentlich keine Zeit dafür hatten, aber ihnen blieb keine andere Wahl. »Weißt du, wo wir genug Medizin für dich finden?« »Ja«, antwortete Sylvester, ohne sie anzusehen. »Im Labor des Doktors.« Ihm lief ein Schauer über den Rücken, wenn er nur daran dachte. »Dort stellt er es her.« Er hob den Blick und versuchte, mutig auszusehen. »Weißt du, wo das Labor ist?«, fragte Mira und trat einen Schritt zurück. »Ja, ich war schon öfter dort und …« Sylvester beendete den Satz nicht, sondern streckte die Hand nach Mira aus. »Dann komm, wir müssen uns beeilen«, sagte Mira und nahm seine Hand. »Hier ist es«, sagte Sylvester, nachdem sie um die letzte Ecke des Korridors gebogen waren. Das Labor des Doktors befand sich ungefähr zehn Meter von ihnen entfernt hinter einer grauen Eisentür. Sie blieben 86
gleichzeitig stehen, und aus den Augenwinkeln sah Mira, dass sich Sylvester auf einmal klein machte und ein paar Schritte zurückwich. »Keine Angst«, sagte Mira und nahm ihn wieder an die Hand. Sie merkte, dass er zitterte, und drückte seine Hand noch fester. »Was auch immer passiert, ich bin bei dir.« Sylvester nickte. Er stand eine Weile ganz still und starrte nur auf die Tür. Mira wartete, ohne etwas zu sagen. Schließlich machte Sylvester einen Schritt auf die Tür zu und drehte sich zu Mira um. Sie sah die Entschlossenheit in seinen Augen hinter all der Angst und verstand. Nun hieß es: jetzt oder nie! Mira schob die Tür auf und betrat Duvals Labor. Sylvester blieb ganz dicht hinter ihr und umklammerte ihre Hand. Obwohl es früher Nachmittag war, wurde das Labor von einem grünli chen Schein erleuchtet, der von dem Neonschild vor dem Fens ter kam. Mira blickte auf den Analyseapparat, der auf dem Stahl tisch vor dem Fenster stand und eifrig vor sich hin summte. Es war heiß und feucht in dem Labor. »Schau mal«, sagte Sylvester leise und zeigte auf eine Pa ckung mit mehreren braunen Glasfläschchen, die auf dem Waschbecken stand. »Die Medizin.« Er ließ Miras Hand los, ging zum Waschbecken und hob die Packung hoch. »Das müsste reichen«, sagte er. Ängstlich ging er zurück zur Tür. »Für wie lange denn?«, sagte Mira und stellte sich ihm in den Weg. Sie legte den Kopf schräg und sah ihn fragend an, während sie den Rucksack öffnete. Sylvester rieb sich die Stirn und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Mindestens zwei Wochen, glaube ich …«, sagte er und schaute unruhig über die Schulter zurück. Mira hielt den Rucksack auf, während Sylvester die Packung hineinlegte. Dann hängte sie ihn sich wieder auf den Rücken 87
und ging weiter in den Raum hinein. »Also wäre es am besten, wir finden noch mehr Medizin …«, sagte sie und ging zu einem großen grünen Blechschrank am Fenster. »Hier ist bestimmt keine mehr«, antwortete Sylvester nervös und bewegte sich auf die Tür zu, während sich Mira hinhockte und eine der Schranktüren öffnete. Die Tür klemmte zuerst und ging dann mit einem schauerlichen Knarren auf. »Komm, lass uns gehen!« Unruhig kratzte Sylvester mit dem Zeigefingernagel an seinem Daumen. »Aber hast du nicht gesagt, dass Duval hier seine Medizin herstellt?« Mira nahm einen großen Glasbehälter heraus, der eine Art Eidechse mit flauschigem weißem Fell enthielt, die in einer rosa schimmernden Flüssigkeit lag. »Doch«, antwortete Sylvester, während Mira das Glas hin und her drehte, sodass die Flüssigkeit darin plätscherte. »Und wo lagert er sie dann?« Sie stellte das Glas auf dem Linoleumfußboden ab, der scharf nach eingetrocknetem Putz mittel roch, und drehte sich zu Sylvester um. »Da.« Sylvester senkte den Blick und zeigte auf die schwere Eisentür, die im Schatten am anderen Ende des Labors ein Stück offen stand. Ein schwaches bläuliches Licht fiel durch den schmalen Spalt. Mira kniff die Augen zusammen und las die roten Buchstaben, die auf die Metalltür aufgedruckt waren. »Geheime Experimente. Zutritt verboten!«, sagte sie laut – genau in dem Moment, als es hinter der Tür aufblitzte.
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Das Kräftemessen
Mira stieß die Eisentür vorsichtig mit der Schulter auf und spähte hinein. Sylvester stand hinter ihr und schloss vorsichtshalber die Augen, während er sich krampfhaft an ihrem Pullover festhielt. Doktor Duval stand einige Meter von der Tür entfernt auf der Rampe, die sich hoch über dem Fußboden befand. Er hatte ih nen den Rücken zugedreht und in den Händen hielt er zwei Ka bel, die an den Enden qualmten. Der Lärm von den Generatoren und der blubbernden Flüssigkeit in dem Labor war fast nicht auszuhalten. »Er ist hier«, flüsterte Mira ihrem Bruder zu, ohne Duval aus den Augen zu lassen. Sie merkte, wie Sylvester ihren Pullover fester packte, und drehte sich zu ihm um. »Wo ist die Medizin?« Sylvester öffnete die Augen und antwortete mit zitternder Stimme: »Eine Treppe tiefer.« Er verstummte. Tränen rollten ihm über die Wangen. »Und du kommst wirklich nicht ohne die Medizin aus?«, fragte Mira ernst und zog ihn an sich. 89
»Nein«, schluchzte Sylvester in Miras Armen. »Dann haben wir keine Wahl, wir müssen mehr davon ho len.« Mira sah entschlossen aus. »Du wartest hier. Es ist viel leicht besser, wenn ich es selbst versuche.« »Nein!«, antwortete Sylvester ängstlich, und im selben Mo ment blitzte es wieder. Sie wurden von dem bläulichen Schein angeleuchtet, der durch den Türspalt fiel und Sylvester so sehr erschreckte, dass er zurückwich und sich noch fester an Mira klammerte. »Lass mich nicht allein!«, flüsterte er. »Ich lasse dich niemals allein«, sagte Mira und spürte, wie ihr das Herz wehtat. Sie nahm ihn bei der Hand und drehte sich zur Tür um. Syl vester drückte ihre Hand ganz fest, als sie wieder durch den Türspalt schaute. Links von der Eisentür sah sie die Wendel treppe, die nach unten zum Medizinschrank führte. Zwischen ihr und der Treppe befand sich lediglich eine Gitterpforte. Mira warf einen schnellen Blick zu Duval, der immer noch an der selben Stelle auf der Rampe stand, in jeder Hand ein rauchendes Kabel. Er drehte ihnen weiterhin den Rücken zu und schien mit sich selbst zu sprechen. Mira verstand einzelne Wörter wie »Expe riment« und »Nebenwirkungen«, aber der Lärm von den Appa raten im Labor übertönte die Wörter dazwischen. Sie hoffte, dass sie die Treppe hinunterschleichen konnten, ohne dass er etwas merkte. Mira machte einen Schritt in den Raum hinein und blickte über das Geländer der Rampe, auf der sie stand. Tief unten an der hinteren Wand sah sie einige Blechschränke, auf die rote Warndreiecke gesprayt waren. Mira drehte sich um und schaute Sylvester an, der direkt hinter ihr stand. »Der Medizinvorrat«, flüsterte er und nickte. Er starrte wie gebannt auf Duval, der nun irre kicherte und 90
abermals die Kabelenden aneinanderführte. Mira folgte dem Blick ihres Bruders. Sie zuckten alle beide zusammen, als es wieder blitzte. Diesmal jedoch konnte sich Sylvester nicht länger beherr schen und schrie vor Angst laut auf. Obwohl es nur ein dünner Schrei war, der kaum das Geräusch der brodelnden Flüssigkeit in den Tanks unter ihnen übertönte, reichte er aus. Duval drehte den Kopf in die Richtung, aus der der Schrei ge kommen war, und entdeckte Mira und Sylvester. Zuerst dachte er, er sähe Gespenster, aber dann wurde ihm klar, dass die beiden echt waren. »Das Monstermädchen …«, sagte er und schnaubte. Er ließ die Arme sinken, bekam einen finsteren Blick und rief: »Sylves ter, halte dich von ihr fern!« Duval kam auf sie zu. Er hatte immer noch die beiden Kabel in den Händen. Sie ringelten sich wie schwarze Schlangen hin ter ihm über die Rampe. »Niemals. Sie sind das Monster, nicht Mira!«, schrie Sylves ter und umklammerte seine Schwester. Mira wich zurück und drückte Sylvester fest an sich. »Ich lasse nicht zu, dass Sie ihn noch einmal anfassen, er ist mein …« »Dein?«, fauchte Duval dazwischen. Seine Augenbrauen zuckten. »… Bruder«, vollendete Mira den Satz und biss die Zähne zusammen. Sie drehte den Kopf zur Seite und wich seinem bohrenden Blick aus. Da blieb Duval stehen. Er war jetzt nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. »Aber wenn ich nicht gewesen wäre …«, Duvals Lippen wurden schmal, und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem hässlichen Grinsen, »… würde es ihn gar nicht mehr geben. Ich habe ihm mit meiner Medizin das Leben gerettet.« 91
»Das ist nicht wahr!«, schrie Sylvester. Der Pony hing ihm in die Augen. Sein Gesicht war kalkweiß. Mira hob den Blick im selben Moment, als Duval sich zu ihnen vorbeugte und zischte: »Du undankbarer Rotzbengel! Du wagst es, mir zu trotzen, nach allem, was ich für dich getan habe?« Seine Pupillen waren dunkelrot geworden, und die Ader an seinem lin ken Auge war so prallvoll mit Blut gefüllt, dass sie aus der Schläfe herausragte. »Ich habe mein Leben der Aufgabe gewidmet, böse Träume zu verjagen und eine ordentliche Welt zu erschaffen, eine Welt, die es wert ist, darin zu leben«, sagte er und kam näher. »Eine Welt ohne Monster.« Hinter seinem Rücken sprühten und zischten Funken. »Und du dankst es mir auf diese Art?!« Duvals Gesicht verzerrte sich zu einer teuflischen Grimasse, als er die Arme nach Sylvester ausstreckte. Mira reagierte instinktiv und stieß Sylvester zurück, während sie sich gleichzeitig auf Duval stürzte. Es gab einen ohrenbe täubenden Knall, als Mira die Metallklammern berührte, die an den Enden der Kabel saßen. Es schüttelte sie heftig, als der Strom durch ihren Körper fuhr, und in einem Funkenregen fiel sie vornüber zu Boden. Duval wich zurück und ließ die Kabel los, die neben Mira auf der Rampe landeten. Es klingelte Sylvester in den Ohren, als er den Kopf von dem rußigen Stahlgitter hob. Er blickte hoch und sah Mira leblos vor Duvals Füßen auf der Rampe liegen. Aus ihren Kleidern stieg immer noch schwarzer Rauch. »Mira!«, schrie Sylvester und fühlte das Blut durch seine Adern rasen. Er konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten. »Sie hat uns verlassen …«, sagte Duval und klopfte ein wenig Ruß von seinem Kittel. Er blickte höhnisch auf Miras Körper zu seinen Füßen. »Jetzt sind nur noch wir beide übrig …« Er grinste. Weder Duval noch Sylvester bemerkten, dass Miras Lider für den Bruchteil einer Sekunde flatterten. 92
Im selben Moment, als Duval einen Schritt auf Sylvester zuging, heulte der Alarmgeber an seinem Handgelenk los, und ein grelles Licht begann zu blitzen, das ihn vollkommen über rumpelte. Da riskierte Mira es. Sie warf sich nach vorn und griff nach Duvals Beinen. Der flatterte mit den Armen in der Luft herum und versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden, aber Mira drehte sich mit letzter Anstrengung auf die Seite und brachte ihn zu Fall. Duval knallte gegen das Geländer der Rampe, bevor er kopfüber hinunterfiel. »Neeeiiiin!«, schrie er, während er auf die blubbernde Flüs sigkeit im Tank unter ihm zustürzte und das Alarmgerät an sei nem Handgelenk jaulte und blitzte. Das Scheusal, war das Letzte, was Duval denken konnte, be vor er in den Tank mit dem neuen Experimentiermittel plumpste, unterging und verschwand. Mira rollte sich auf den Rücken. Sie schaute zu den Schatten an der Decke hinauf, bevor sie den Blick auf ihre Hände rich tete und sah, dass sie vom Ruß ganz schwarz waren. Sie war völlig erschöpft, aber froh, am Leben zu sein. Erleichtert schloss sie die Augen und holte tief Luft. Es roch verbrannt. Als Mira die Augen wieder aufschlug, sah sie Sylvesters liebes Gesicht vor sich. Ihr Kopf lag auf seinem Schoß. »Wir müssen hier weg«, sagte er und legte ihr die Hand auf die Stirn. »Meinst du, du schaffst das?« Er runzelte die Augenbrauen und sah besorgt aus. Mira horchte in sich hinein. Sie fühlte sich völlig okay, und das trotz allem, was sie durchgemacht hatte. »Wie lange habe ich so dagelegen?«, fragte Mira und setzte sich auf. »Überhaupt nicht lange«, erwiderte Sylvester und half ihr, 93
aufzustehen. Es war eine wackelige Angelegenheit, hier oben auf der Rampe zu stehen, so hoch in der Luft. »Und der Doktor?«, fragte Mira, während sie sich den Ruck sack umhängte. Sylvester zeigte nach unten, und Mira spähte über das Ge länder. Die Flüssigkeit im Tank blubberte nicht mehr, aber alle zwei Sekunden blitzte tief unter der Oberfläche ein Licht auf. »Jetzt aber nichts wie weg«, sagte Mira und nahm Sylvester bei der Hand. Die beiden Geschwister lächelten sich an und liefen in die Freiheit.
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Nach dem Sturm
»Nun, es war ja ganz offensichtlich, dass Duval sich bei dem Mädchen geirrt hat.« Inspektor Tempelman stand vor der Reihe der Männer in grauen Anzügen, die um den langen Tisch im Direktorenzimmer saßen. »Ganz zu schweigen von der Einbre cherin, die ich gefangen habe!« Er hatte gerade die Ereignisse des letzten Tages geschildert, ohne dass seine Stimme zitterte oder sein Blick flackerte. »Aber nach einem solchen Fehler ein fach zu verschwinden, anstatt dazubleiben und die Konsequen zen zu tragen …« Tempelman zog eine Grimasse und zuckte mit den Schultern. »… das finde ich unverantwortlich.« Er seufzte und schüttelte den Kopf, dann streckte er die Arme aus, um das Gewicht seiner Worte zu unterstreichen. Doch wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass seine eine Augenbraue zuckte. Das tat sie immer, wenn er log. »Selbstver ständlich war das Mädchen ein Monster, wie hätte sie es sonst fertigbringen können, die Luft im Sicherheitsraum zu atmen, ohne einzuschlafen?« Die zwölf Männer am Tisch nickten und murmelten zustimmend. 95
»Ich meine, kein normales kleines Mädchen würde es schaf fen, mir einen Monstersack über den Kopf zu ziehen.« Tempelman lachte vielsagend und reckte sich. »Na ja, ich freue mich jedenfalls über Ihre Entscheidung und bedanke mich für die Beförderung.« Er stützte sich lässig auf die Tischkante. »Ich werde mein Allerbestes für die Monsterbehörde tun, gerade jetzt, wo ich ihr oberster Chef geworden bin.« Tempelman lächelte, und seine weißen Zähne blitzten in dem grellen Licht der Neonröhre an der Decke. »Ich habe nicht die Absicht, Sie zu enttäuschen …«, sagte er und ließ den Satz in der Luft schweben, während er die Mitglieder des Direktoriums einen nach dem anderen ansah, »… so wie Doktor Duval es getan hat.« Vargas schlug die Autotür zu und atmete auf. Er drehte den Rückspiegel zurecht, dann stopfte er den Gedächtnisradierer und das Formular, das er von den Eltern zurückbekommen hatte, in eine Tasche auf dem Beifahrersitz. Er drehte den Zündschlüssel um und legte den ersten Gang ein. Der graue Lieferwagen spuckte eine dunkle Abgaswolke aus, bevor er einen Satz machte und von dem Parkplatz neben dem Hoch haus rollte, in dem Kriss wohnte. Vargas warf einen letzten Blick hinauf zu Kriss’ Zimmer im zweiten Stock, bevor er auf die Straße bog. »Das war das letzte Mal, dass ich eine Erinnerung ausradiert habe«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen, während er versuchte, die Nachrichten im Radio einzustellen. »Absolut das letzte Mal.«
Die getönten Glasscheiben in Doktor Duvals neuem Labor wa ren beschlagen. Der Raum war erfüllt von einem feuchten 96
Dampf, der langsam zur Decke stieg. Ein schwarzer Gummi schlauch schlängelte sich in einer Ecke des Labors über den Zementfußboden. Nachdem er in den Tank gefallen war, hatte Doktor Duval eine Stunde lang kochend heiß geduscht und sich mit Stahlwolle abgeschrubbt. Aber anscheinend wollten weder die Farbe noch der schreckliche Gestank von dem unerprobten hypoallergenen Monstroxin verschwinden. Duval griff zum Wasserhahn und drehte die Dusche ab. Er senkte den Blick und sah an seinem bleichen Körper hinunter, der mit Blasen und roten Pusteln übersät war. Die Blasen hatten einen bläulichen Farbton, bei dessen Anblick es ihm vor Unbe hagen kalt den Rücken hinunterlief. Außerdem war das Weiße in seinen Augen gelb geworden, und ihm fielen die Haare aus. Ein ganzes Knäuel Haare verstopfte bereits den Abfluss, sodass das gefärbte Wasser eine große Pfütze bildete, die ihm bis über die Knöchel reichte. Aber Duval war immer noch klar im Kopf. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sein Verstand sogar noch klarer geworden war. Er hatte angefangen, Stimmen in seinem Inneren zu hören. Diese Stimmen waren es, die ihn aus seiner misslichen Lage gerettet und es ihm ermöglicht hatten, aus der Monsterbehörde zu fliehen. Jetzt forderten sie Rache. Duval drehte den rostigen Kaltwasserhahn auf und schloss die Augen. »Das Scheusal …«, fauchte er, während das eiskalte Wasser über seinen bleichen Körper plätscherte. Er sah das dünne schwarzhaarige Mädchen so deutlich vor sich, als stünde sie leibhaftig dort. »Du kannst weglaufen, aber du wirst dich nie wieder vor mir verstecken können.« Duval bekam eine Gänse haut, während er sich unter dem kalten Wasser hin und her drehte. »Ich werde unter jedem Bett und in jedem Kleider schrank nach dir suchen.« Dann hielt er es nicht länger aus, drehte den Wasserhahn ab und sank auf die Knie. Er fror so sehr, dass er am ganzen Kör per schlotterte, und jedes Mal, wenn ein Tropfen auf seinen 97
Rücken fiel, zuckte er zusammen. Er ballte die Fäuste. »Ich werde dich finden, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«
Mira hob den Stift von der Ansichtskarte auf ihrem Schoß und atmete tief durch. Sie unterdrückte ihre Tränen und steckte die Karte in den Rucksack, der neben ihr auf der Bank stand. Ihre Finger waren von der Tinte ganz verschmiert, und sie fror. Nach Sonnenuntergang war es draußen richtig ungemütlich gewor den, und jetzt hatte es auch noch angefangen zu regnen. Die Tropfen prasselten auf das Blechdach über ihren Köpfen. »Willst du sie nicht einwerfen?«, fragte Sylvester und rutschte dichter an sie heran. »Nein …«, antwortete Mira und scharrte mit dem Fuß im Sand. Sie senkte den Blick und dachte an ihre Adoptivmutter. Bestimmt saß sie gerade zu Hause am Küchentisch, machte sich Sorgen und fragte sich, wo Mira wohl war. »Vielleicht später.« Aber dann fiel ihr wieder ein, wie sie an dem Morgen, als Mira von zu Hause weggelaufen war, in der Diele vor sich hin geschimpft hatte: Ich hätte diese Göre nie zu mir nehmen dür fen, sie ist ein richtiges Monster geworden. Mira trat nach einem Stein, der vor ihr auf der Erde lag, run zelte die Stirn und fügte hinzu: »Oder nie!« Mira stand auf und schaute wieder einmal auf den Fahrplan. »Nur noch eine halbe Stunde, dann kommt der Bus …« »Das hast du vor fünf Minuten auch schon gesagt«, erwiderte Sylvester und seufzte. Er fror ebenfalls, außerdem hatte er nasse Füße. Aber vor allem machte er sich Sorgen. Er wusste nicht, was passieren würde, wenn die Medizin alle war. »Woran denkst du?«, fragte Mira und legte den Kopf schräg. Sie zog die Augenbrauen hoch und sah Sylvester an. 98
Sylvester fand, dass sie traurig aussah, besonders jetzt, wo der nasse Pony an ihrer Stirn klebte. »An nichts«, sagte er und drehte den Kopf zur Seite. »Quatsch, ich sehe doch, dass du an was denkst.« Mira ging einen Schritt auf ihn zu und machte ein ernstes Gesicht. »Ich denke an Mama … und Papa«, log Sylvester und sah zu Boden. »Glaubst du wirklich, dass wir sie jemals finden werden?« Mira schwieg und sah ebenfalls zu Boden, denn sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Doch sie wünschte sich genau das so sehr: endlich ihre Eltern zu finden! »Ich hoffe«, sagte sie schließlich und setzte sich wieder auf die Bank. Sylvester dachte nicht mehr an die Medizin. Er spürte nur, wie sein Herz vor Sehnsucht schmerzte. »Ich hoffe es auch.« Mira legte ihre Hand auf seine und lächelte. Seine Haut fühlte sich weich und kühl an. Sylvester lächelte ebenfalls, und so saßen sie da und hielten sich aneinander fest, bis die hellen Scheinwerfer des Busses endlich am Horizont auftauchten.
Onkel Lupus versuchte, in dem kleinen Wohnwagen, der wie wild wackelte, die Balance zu halten, als Rufus zur Begrüßung auf die gold gelockte Wahrsagerin zuraste. »Nein, Rufus, nein!« Die Wahrsagerin saß auf einem riesigen Salonsofa aus feuer rotem Plüsch und lachte herzlich. »Das macht nichts, Lupus, lass ihn doch Guten Tag sagen!« Rufus stieß eine verschnörkelte Vase mit Mandelblütenzwei gen um und rammte die alte Jukebox, die leise eine Elvis-Platte spielte, woraufhin die Nadel aus der Rille hüpfte. 99
Die schwarze Kristallkugel auf dem Tisch vor der Wahrsage rin erzitterte, sprang aus ihrem Gestell und rollte mit erschre ckender Geschwindigkeit auf die Tischkante zu. Die Frau machte eine schnelle Bewegung und bekam die Kugel gerade noch zu fassen, als Rufus auch schon bei ihr war. Er hechelte heftig und die Zunge hing ihm aus dem Maul. »So ist es fein«, sagte die Frau mit den smaragdgrünen Au gen und setzte die Kristallkugel wieder vor sich auf den Tisch. Sie rollte die Ärmel ihrer Bluse auf und kraulte Rufus hinter den Ohren. Er leckte ihr die Hand und bellte, während sein Schwanz begeistert hin und her peitschte. »Hast du was gesehen?«, fragte Onkel Lupus und öffnete den Deckel seiner Taschenuhr. »Es wird schon dunkel.« Er ging zum Tisch und beugte sich über die Kristallkugel. Hinter dem dunklen Glas im Innern wallte dicker Rauch und zeigte ein undeutliches Bild von Mira und Sylvester, die in der Dämmerung an einer Bushaltestelle auf der Bank saßen. Nach einigen Sekunden bewegten sie sich sogar. Es war, als sähe man einen Film in einem alten Fernseher. Mira und Syl vester saßen zitternd da, während der Regen auf das Blechdach über ihnen prasselte. »Sie sind unterwegs«, sagte Lupus und lächelte. Er streichelte Rufus über den Kopf. »Sie sind endlich unterwegs nach Hause.«
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Mira wäre so gerne wie alle anderen. Doch das ist sie nicht. Nicht, seitdem ES angefangen hat: Jede Nacht um zwölf verwandelt sich Mira von einem ganz normalen Mädchen in ein echtes Monster! Als an ihrem elften Geburtstag plötzlich ein geheimnisvolles silbernes Kästchen mit Hinweisen auf ihre wirkliche Herkunft in ihrem Zimmer steht, beschließt Mira, sich auf die Suche zu machen. Sie will herausfinden, wo sie herkommt. Doch schon bald gerät sie in die Fänge von gefährlichen Monsterjägern … Monstermäßig spannende Fantasy