Martin Walser Das Schwanenhaus
Roman Suhrkamp
Erste Auflage 1980 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main Alle Rechte vorbeha...
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Martin Walser Das Schwanenhaus
Roman Suhrkamp
Erste Auflage 1980 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten Satz: LibroSatz, Kriftel bei Frankfurt Druck: May u. Co., Darmstadt Printed in Germany
1. Als Gottlieb Zürn aufwachte, hatte er das Gefühl, er stehe auf dem Kopf. Offenbar war sein Kopf im Lauf der Nacht immer schwerer und sein Leib leichter geworden. Solange sein Kopf mit diesem Gewicht im Kissen lag, hatte er keine Aussicht, wieder auf die Füße zu kommen. Ich bin das Gegenteil eines Stehaufmännchens, dachte er. Er öffnete die Augen. Er stand nicht auf dem Kopf. Sobald er die Augen zufallen ließ, hatte er wieder das Gefühl, er stehe auf dem Kopf. Plötzlich saß er auf dem Bettrand. Die Füße tief unter ihm auf dem Boden. Die Angst, er werde nicht mehr aufstehen, hatte geholfen. Die Gefahr auszufallen, war für einen weiteren Tag gebannt. Gottlieb Zürn fällt aus! Mit diesem aufschreckenden Satz hatte er es wieder einmal geschafft. Die Schule fällt aus, die Vorstellung fällt aus. Gottlieb Zürn fällt nicht aus. So beschwor er sich. Der Ruck, mit dem er sich hochgerissen hatte, wirkte noch nach. Als Annas Schritte sich mit rasch zunehmender Bestimmtheit der Schlafzimmertür näherten, stand er schon. Obwohl er noch keine Sekunde zu spät dran war, hätte er sich geniert, wenn sie ihn noch im Bett oder auf dem Bett sitzend angetroffen hätte. Er wollte nicht, daß sie vor dem Bett stünde und das Gesicht kriegte, das seine Mutter gekriegt hatte, wenn sie, weil er auf ihre Rufe nicht reagiert hatte, plötzlich vor seinem Bett stand, dieses Gesicht, das ausgedrückt hatte, die Familie werde jetzt also in einer Art selbstverschuldeter Lähmung untergehen. Er bewegte sich, sobald Anna die Tür geöffnet hatte, so leicht wie ein anderer. Aber Anna war gar nicht gekommen, ihn zu holen. Ihr Gesicht zeigte, daß sie schon länger etwas suchte und nicht mehr fähig war, ruhig von Stelle zu Stelle zu schauen, ob es da liege. Den Kopf riß sie immer ein bisschen zu spät in die Richtung, in die sie schon stürmte. Sie schleuderte Wäschestücke durch die Luft, rannte hinaus, den Autoschlüssel suche sie, der Ersatzschlüssel sei auch nicht am Platz. Regina habe sich in der vergangenen Nacht wieder mehrere Male übergeben. Und wieder bis zu 40 Fieber gehabt. Dr. Freisieben sei verständigt. Sie müsse ihm Reginas Urin bringen. Einen Rückfall halte er nach den Antibiotika, die Regina von Dr. Sixt bekommen habe, für unwahrscheinlich. Er werde sich mit Dr. Sixt wieder in Verbindung setzen. Als Anna weggefahren war, ging er zu Regina hinüber. Ihre Gesichtshaut sah grau aus, fast violett. Um den Mund eine fahle ovale Zone. Der Mund zuckte und bebte. Sie würde, wenn er sich beeindruckt zeigte, nicht anders können, als ihre Krankheit mit seiner Beeindrucktheit zu multiplizieren. Also beherrschte er sich. Da er so wenig Wirkung zeigte, fühlte sie sich veranlaßt, deutlich zu stöhnen. Sobald er sie streichelte, wurde ihr Ton passiver, das reine Leid. Alles, was sie in der vergangenen Nacht ohne sein Dabeisein hinter sich gebracht hatte, sollte er jetzt zur Kenntnis nehmen und anerkennen. Er streichelte sie heftiger. Das löste das ersehnte leise Weinen aus. Dieses Weinen hatte fast eine erzählerische Melodie. Drunten klingelte das Telephon. Ihre Augen kippten, sie sah ergeben zur Decke, er durfte gehen. Sicher einer, der sich verwählt hatte. Morgens um acht rief ihn niemand an. Am Samstag vielleicht, wenn die Inserate erschienen waren, aber nicht am Mittwoch, wenn sie noch gar nicht aufgegeben waren. Um zehn, Annahmeschluß! Rosa, was ist, rief er. Nichts Besonderes, sagte sie. Am Freitag komm' ich. Ihre Stimme klang, als strenge sie sich an, die Stimme hell klingen zu lassen. Sie wollte ihn nicht erschrecken. Aber, dachte er juristisch, sie nimmt es billigend in Kauf, daß er bemerke, wie wenig wirklich hell ihre Stimme heute klingt. Sie sei gerade von einem Fest zurückgekommen, jetzt lege sie sich hin, später müsse sie in die Hochschule, eine Klausur, deshalb habe sie gedacht, sie könne ihre Alten auch einmal in aller Herrgottsfrühe anrufen. Ob ihr etwas fehle. Was ihr denn fehlen solle. Das klang fast schon ärgerlich oder tragisch oder patzig
oder vorwurfsvoll oder höhnisch oder.. . Sie freuten sich also auf Freitag, ach so, da sei er ja in Stuttgart, am Freitag und am Samstag, aber am Samstagabend sei er zurück. Als er auflegte, hörte er das Kipptor rucken und ächzen. Anna schleppte zwei Netze und einen Korb Eingekauftes herein. Er wollte ihr verstauen helfen. Sie verbot es, wie erwartet, mit dem Hinweis, dann finde sie nachher nichts mehr. Daß Rosa um diese Tageszeit angerufen hatte, alarmierte sie auch. Seine Schuld. Er hatte den Anruf als etwas Beunruhigendes geschildert. Regina rief so kläglich als möglich nach ihrer Mutter. Anna rannte hinauf. Er ging hinaus. Armin bedeutete er, liegen zu bleiben, kein Spiel heute. Else lag fast rücklings auf der Tischtennisplatte und reckte und streckte sich und fuhr immer wieder blitzschnell zusammen, als wolle sie sehen, ob sie das Morgensonnengold jetzt zwischen ihren Pfoten habe. Er griff ihr im Vorbeigehen an den flaumigen Bauch, sie nahm seine Hand sofort gefangen und ließ sie, den Regeln gemäß, sofort wieder frei. Er sah, daß die Feriengäste noch nicht am Ufer waren, auch der öffentliche Uferweg lag noch verlassen, also ging er hinunter und schwamm seine mittlere Strecke. Das Wasser wäre warm genug gewesen für die Langstrecke, aber ihm fehlte die Ruhe für 40 oder 50 Minuten gleichmäßiger Schwimmbewegung. Bevor er nicht, mit dem Alleinauftrag in der Tasche, das Tor der Leistle-Villa in Stuttgart hinter sich zumachen würde, konnte er Ruhe nur unter Einsatz seiner ganzen Willenskraft fingieren. Auf dem Tisch in der Terrassennische stand noch das FrühStücksgeschirr von Julia. Magda hatte keine Spuren hinterlassen. Kaum saß er, hörte er Frau Schneider rufen: Ellen, sag em Babba, er soll au bidde mei Sonnebrill mitbrenge. Er sprang auf und war im Haus, bevor die Stuttgarter Familie, die zur Zeit die obere Ferienwohnung bewohnte, um die ausschwingenden Wacholderzweige vor der Hausecke bog. So weit, mit Fremden sprechen zu können, war er noch nicht. Als die drunten bei den Liegestühlen waren, also nicht in die Terrassennische sehen konnten, ging er wieder hinaus. Wenn er bloß die Zeit bis zum Samstag raffen könnte. Er hätte jedesmal Tage und Wochen seines Lebens einfach verschenkt, um der entscheidenden Stunde nicht so lange entgegensehen zu müssen. Hatte sein Leben bisher nicht hauptsächlich aus solchem Zuwarten bestanden? Sein Leben war fast zu spannend. Wahrscheinlich war deshalb, seit er als Makler selbständig war, das Bedürfnis, in die Spielbank zu gehen, erloschen. Als er noch Dr. Enderies Angestellter gewesen war, hatte es ausgesehen, als könnte die Roulette-Sucht gefährlich werden. Anna hatte nicht die geringste Neigung zum Spielen, aber sie war, als er noch Jahreskarten hatte für die Banken in Lindau und Konstanz, immer mitgegangen. Er begriff jetzt nicht mehr, warum er sich nicht geniert hatte vor ihr. Immer wieder die gleichen Versprechungen, Ausflüchte, Rechtfertigungen, Zerknirschungen, Zusammenbrüche. Anna kam herunter. Regina sei endlich eingeschlafen. Wo war der Autoschlüssel, fragte er. Anna antwortete, sie habe Regina um elf ein Gelonida gegeben, um zwei ein Gelonida, um drei ein Valium, um sechs ein Gelonida. Das Wichtigste sei, daß Regina zur Ruhe komme. Ob man nicht doch ganz zu Dr. Sixt zurück solle. Daß Dr. Cornelius sich nicht mehr für Regina interessiere, seit Regina durch Annas Übertritt in die AOK kein Privatpatient mehr sei, sei schon allerhand. Sie sprang auf vom Frühstück, rief Dr. Sixt an und zwang den, sich anzuhören, wie sich Regina nach neun Antibiotikawochen befinde. Man hörte an Annas Reaktionen, daß Dr. Sixt das Gespräch viel knapper haben wollte. Als sie auflegte, war sie ruhiger. Dr. Sixt hatte versprochen, Regina heute noch anzuschauen. Der hat sich auch drücken wollen, sagte sie. Sie räumte das Frühstücksgeschirr ab. Gottlieb wollte ihr helfen, spürte aber sofort, daß er, wenn er Geschirr abtrüge, bloß so tue, als wolle er ihr helfen; er wollte
eigentlich gar nicht; aber sie müßte dann eben doch einmal weniger hin und her zwischen Küche und Terrasse; also, greif zu jetzt. Da hatte sie schon alles draußen. Wenn er sich jetzt zur Strafe einen Fetzen Haut von der Fingerkuppe schnitt - er sah auf dem Weg ins Büro eine Schere liegen -, hatte sie auch nichts davon. Aber schülerhafte Lösungen lagen ihm. Er ließ sich in seinen nach allen Richtungen nachgiebigen, ihn sanft schalenden Schreibtischsessel fallen und entfaltete die Zeitung. Was in der Welt passiert, ist zum Glück wichtiger. Und war doch gleich durchgerutscht durch alle Nachrichten und Berichte bis zu den Inseraten. Die las er am liebsten. Rundfunk- und Fernsehprogramme und Inserate waren seine Lieblingslektüre. Auch in alten Zeitungen. Er wollte die Programme nicht sehen und das Inserierte nicht kaufen. Er las gern diese Art Mitteilung. Und heute . . . wäre nicht Anna so völlig auf Regina konzentriert, wäre er sofort hinübergerannt, ihr das vorzulesen: 283. Freiwillige Versteigerung. Infolge Auflösung versteigere ich im Auftrage den RESTHAUSHALT Bansin am Dienstag, den 2. September in Villa Bansin, Mitten, ab 9 Uhr: 1 antik eingel. Schrank, 1 dkl. und altbem. Bauernschrank, 1 Louis-Seize-Kommode, Barock-, Louis-Seize- und Biederm.-Stühle sowie kl. Tischchen, 1 alpenld. dkl. Bauerntruhe,gr. rd. Ausz.-Tisch m. 6 Lehnstühlen,geschw. Füße, 4 rd. und 3 Igl. Tische i. Chippendalestil, 52 Pos. Silber u. versilb. Gegenstände wie ov. Platten, Schalen, Leuchter, Bestecke, vorz. Jugendstil, alte Teppiche wie Buchara, Schirwan, Ferraghan, teilw.besch., 1 Ölgemälde (David Teniers 1610— 1690) unsign., sowie a, Ölgemälde, Stiche, Bibliothek, Porzellan (Berlin), Kupfer, Tischlampen (Jugendstil), grauer Nerz-Mantel und vieles nicht Ermähnte. Besichtigung am Montag, 1. Sept., von 14 bis 18 Uhr. Jürgen Kant, sachverst. Schätzer und Auktionator, Kempten. Er würde Anna das beim Mittagessen vorlesen. Er mußte sein eigenes Samstag-Inserat tippen. Als er es durchgelesen hatte, zerriß er es. Als er wieder tippte, merkte er, daß er das Inserat gar nicht ändern konnte. Die Kollegen Konkurrenten würden grinsen, wenn er die zwei Eigentumswohnungen und die im künftigen Autobahngelände liegende Hof-Mühle mit Brennrecht und eigener Stromversorgung wieder anpries. Sollten sie. Eine Woche später würde da stehen: Einmalige Gelegenheit oder. Die Traumvilla oder Jugendstil-Juwel am Bodensee, 19 Zimmer, jedes Zimmer mit anderer Decke. Meisterwerke der Jugendstil-Stukkatur, Halle (100 qm) mit tropischem Holz getäfert, Hallenfenster (Jugendstil, Buntglas) über zwei Stockwerke, wilhelminische Bauqualität, ursprüngl. Sitz des Direktors der Deutschen Bank, eigener Hafen, 30 Bootsliegeplätze, 1,8 ha Park, eigener Tennisplatz, Uferbreite 65 m, nur für seriöse Interessenten. Alleinauftrag Dr. Gottlieb Zürn (Dr. Enderle-Immobi-lien). Vorausgesetzt, Frau Dr. Leistle war zu gewinnen. Mit der Schwester wäre er fertig geworden. Frau Bansin mußte man nur reden lassen. Ein paar Monate lang hatte er sie einmal pro Woche ausgeführt. Sie war glücklich, für zwei Stunden aus dem Hochhaus, in das die Verwandtschaft sie gesteckt hatte, herauszukommen. Jedesmal hatte sie ihm die Version ihres Schicksals vorgetragen, die ihr gerade noch greifbar war. Einiges blieb sich gleich. Das mochte das Wichtigste sein. Daß sie in der DDR 700 Arbeiter verloren hatte, vergaß sie nie. Sie sagte: Man hat uns in der Ostzone 700 Arbeiter genommen. Dann folgte immer der Satz: Davon haben wir uns nicht mehr erholt. Zum Glück habe sie 1934 den Einfall gehabt: wir kaufen uns etwas am Bodensee! Sonst hätten sie nach 45 überhaupt nichts mehr gehabt. Natürlich sei für sie, die von ihrem Vater her aus der württembergischen Künstlerfamilie Dannecker stamme, nur ein Besitz mit Niveau in Frage gekommen. Die Bankpräsidenten-Villa habe sie gekannt, bevor sie je am Bodensee gewesen sei. In Dresden habe man von dieser Villa gesprochen, weil der Bankpräsident Künstler aus Dresden-Hellerau und Darmstadt an den Bodensee gerufen habe, damit sie sein
Haus schmückten. Das werde ihr jetzt weggenommen. Von den Banausen. Banausen, das gebrauchte sie immer mit einer Bestimmtheit, als handle es sich dabei um einen Volksstamm von unverwechselbarer Eigenart. Daß ihr Eberhärdle das nicht verhindert habe, nicht nur nicht verhindert, daß er das herbeigeführt, verschuldet habe! Gut, man habe ihnen 700 Arbeiter genommen in der Ostzone, aber das ist anderen auch so gegangen, man kann doch wieder anfangen, das ist ihre Meinung, man kann immer anfangen. Bitte, er, Dr. Zürn, gebe das beste Beispiel. Sei er nicht mit ihrem Eberhärdle in dieselbe Schule, in dieselbe Klasse sogar, gegangen, und jetzt, wo sei ihr Eberhärdle und wo Dr. Zürn? Habe ihr Eberhärdle nicht immer glänzende Zeugnisse heimgebracht? Viel besser könnten die von Dr. Zürn auch nicht gewesen sein. Und jetzt, was sei ihr Eberhärdle? Sektenprediger! Sektenschriften senkrecht in die Luft haltend, stehe er in Lindau, Wangen und Ravens-burg an Straßenecken und lächle. Wenn er wenigstens eine andere Gegend aufgesucht hätte für sein blamables Auftreten. Wenn er noch ein bißchen Anstand hätte, war' er zur Fremdenlegion, jawohl! Ach, Herr Dr. Zürn, Ihre Mutter hat es besser getroffen als ich. Sie hat, solang sie lebte, erleben dürfen, wie der Direktor Enderle ihren Buben zum Teilhaber und Nachfolger gemacht hat. So ein kultivierter Mensch wie der Direktor Enderle, befreundet sogar mit dem Karl Erb. Sie sage ihm frank und frei, die Tatsache, daß der Direktor Enderle ihn akzeptiert habe, was habe sie jetzt sagen wollen . . . ach so, ja, der Direktor sei ja, trotz seines schwäbischen Namens, Rheinländer gewesen, wahrscheinlich habe er überhaupt den Bodensee für das Rheinland entdeckt, aber glücklich sei der Direktor Dr. Enderle auch nicht gewesen, ein Makler, wie es keinen mehr gebe, ein Herr, ein Bonvivant eben, und kein Banause, sie habe immer gehofft, ihr Eber-härdle, ob Dr. Zürn dem schon einmal begegnet sei, was er dazu sage, Zeugen Jehovas, vielleicht gibt es ja wirklich ein Leben nach dem Tod, wir müssen doch alle allzu schnell fort von hier, könne es nicht sein, daß ihr Eberhärdle doch den Haupttreffer ziehe, weil nämlich sie und Dr. Zürn, ja sogar der Direktor Enderle habe letzten Endes doch dem Geld nachgejagt, während ihr Eberhärdle an der Ecke stehe und mit religiösen Drucksachen winke, also so eine Schande, dabei hätten Eberhärdle und seine Frau, die übrigens ihn und die Kinder sitzengelassen habe und abgehauen sei mit einem Berliner Spekulanten oder Berlin-Spekulanten, der hat auf jeden Fall vierzig Häuser in Berlin und lebt in der Karibik, besser kann es einer überhaupt nicht machen, weg von den Banausen hier, die Schwiegertochter habe schneller gemerkt als sie, was mit dem Eberhärdle los sei, aber beide haben ihr Lehren erteilen wollen, weil sie in ihrer Verzweiflung manchmal in die Spielbank mußte, ja-jaa, wenn sich das eine Dame nicht mehr leisten darf, dann, Herr Dr. Zürn, haben die Banausen gesiegt, dann verzichtet sie, Frau Beatrice Ban-sin . . . Mit Bansins wäre er zurechtgekommen, obwohl Frau Bansin seinen Schulkameraden Eberhard enterbte, soweit sie konnte, und für geschäftsunfähig erklären ließ. Der vollkommen gutmütige Eberhard hätte seinem Schulkameraden den Alleinauftrag sofort gegeben. Seine Mutter auch. Aber als sie unterschreiben wollte, war sie auch entmündigt. Aus der Tiefe einer unüberschaubaren Verwandtschaft war die Entscheidung gekommen: geschäftsunfähig, ab ins Altersheim nach Maierhöfen. Man hatte es jetzt mit Frau Dr. Leistle zu tun, der jüngsten Schwester. Aber inzwischen hatte er einen solchen Vorsprung vor den Konkurrenten, daß nicht einzusehen war, warum Frau Dr. Leistle jetzt noch einen anderen vorziehen sollte. Er hatte Pläne kopiert, ein Expose entworfen, Fotos gemacht. Keiner der Kollegen Konkurrenten konnte mit einem funkelnden Inserat und einem so gut wie druckfertigen vierseitigen Prospekt-Entwurf plus Insertions-Plan aufwarten. Wenn er diesen Auftrag kriegt, Anna, dann hat sich auch noch die Spielsucht rentiert.
Frau Bansin erinnerte sich noch gut und gern an den Anfänger, an dem vorbei sie ihre Chipstürme schob und holte und schob. Das Telephon schreckte ihn auf. Es war Frau Reinhold. Ja, sagte er so hell und hoch als möglich. Er mußte sich, um dieses ansteigende Jaa zu produzieren, ganz schnell aufrichten. Er wußte, daß seine Stimme, wenn er nur nach dem Hörer griff und seinen Namen sagte, auf die Leute, die ihn anriefen, einen Eindruck machte, der ihm nicht recht sein konnte. Frau Reinhold rief ins Telephon — und bewies ihm, daß ihm der helle Ton gelungen war —: Ihnen scheint es ja gut zu gehen, Herr Dr. Zürn. Ja, rief er im selben Ton, es geht mir einfach ein bißchen zu gut, ich geb's zu. Sie gratuliere. Und sie könne da mitreden, der wichtigste Teil des Wohlbefindens sei nämlich, daß man es sich selber zu verdanken habe. Ach, wissen Sie was, Herr Zürn, ich wollte Ihnen eigentlich nur einen Tip geben, aber das kommt mir jetzt schofel vor, fernmündlich miteinander verkehren, entsetzlich! Sie sehe morgen abend Leute bei sich, wenn er Lust habe, sie würde sich freuen, dann könne sie ihm das persönlich sagen. Es betreffe die Villa Bansin. Für ihn könne ihr Tip unter Umständen interessant sein. Er rannte zu Anna hinüber und rief, jetzt habe er den Alleinauftrag für das Schwanenhaus praktisch in der Tasche. Allerdings müsse er deshalb morgen abend zu den Reinholds. Daß Frau Reinhold ihn deutlich ohne Anna eingeladen hatte, versuchte er zu vertuschen; er hatte das Gefühl, als habe er dadurch darauf hingewiesen. Anna blieb arglos. Sie achtete Frau Reinhold. Voller Bewunderung meldete sie jeden Erfolg, den die drei Reinhold-Kinder in der Schule oder auf Sportplätzen errangen. Die älteste Reinhold-Tochter war Klassenbeste in Magdas Klasse. Wenn Frau Reinhold in der Zeitung als Sängerin gerühmt wurde, las Anna die Lobeshymnen auf die schöne und schön singende Frau Reinhold mit Anteilnahme vor. Für Frau Reinhold gab es Anna wahrscheinlich gar nicht. Daß Anna von Frau Reinhold trotzdem immer mit Bewunderung sprach, hieß für Gottlieb, daß Anna Frau Reinhold überlegen sei; allerdings auf eine Weise, die außer ihm nie jemand wahrnehmen würde. Anna machte nur eine Einschränkung: ihr gefiel nicht, wie Frau Reinhold mit ihrem Mann umging. Der kann einem leid tun, sagte sie. Frau Reinhold trat fast immer ohne ihren Mann auf. Öfter als in Wirklichkeit sah man ihn in der Zeitung, abgebildet mit Bonner oder Stuttgarter Staatssekretären oder NASALeuten aus Houston oder Geschäftspartnern aus Norwalk, Connecticut, denen er zeigte, was er in seinem Werk, das zum Teil den Connecticut-Amerikanern gehörte, gerade wieder entwickelt hatte für den nächsten Satelliten. Gottlieb Zürn war, als Reinholds hierher und in das durch ihn vermittelte Haus gezogen waren, eine Zeitlang Frau Reinholds Tennispartner gewesen. Sie hatte jahrelang nur Männer als Partner akzeptiert. Erst seit sie mit einem jungen Soziologen der Universität Konstanz befreundet war, spielte sie auch mit weiblichen Partnern. Da man diesen Soziologen im Haus Reinhold ein- und ausgehen sah, ohne daß man wußte, was man dazu sagen sollte, sagte man: Frau Reinhold emanzipiert sich. Das Haus, das über der Stadt lag und nach Osten, Süden und Westen einen freien Blick über den See hin bot, hatte sie allein gekauft. Von Dr. Terbohm, der sich scheiden lassen wollte, hatte Gottlieb den Alleinauftrag erhalten, weil er dem Doktor vorschlug, das Haus schon anzubieten, bevor die beabsichtigte Scheidung perfekt sei, dann wisse Dr. Terbohm, was er zu erwarten und seiner Frau zu bieten habe. Gottlieb hatte so verhandelt, weil er gehört hatte, wie furchtbar sparsam die Frau des Arztes sei. Magda, die mit einem der TerbohmSöhne in die Schule ging, hatte immer neue Sparsamkeitsexzesse gemeldet, die die Terbohm-Kinder unter dem Einfluß ihrer Mutter vollbrachten. Bei einem Schulausflug ins Burgundische hatte der Sohn im letzten Bistro Weinreste in einer Flasche gesammelt und mitgenommen für seine Mutter, als Kochwein. Wenn die Terbohm-
Kinder zwischen den Mahlzeiten etwas wollten, mußten sie das Butterbrot oder die Orange der Mutter bar bezahlen. Das Geld dafür mußten sie sich durch Zeitungsaustragen, Autowaschen oder Ferienjobs verdienen. Magda hatte voller Mitleid und Bewunderung von dieser Familie erzählt. Gottlieb Zürn konnte dem Arzt Ratschläge geben, die genau paßten. Der hatte erwähnt, seine Frau habe immer noch Angst, sie werde einmal verhungern. Sie sei die Tochter eines Jenaer Philosophieprofessors, der seine Familie zur Verachtung alles Vergänglichen habe erziehen wollen. So war Gottlieb Zürn Frau Reinholds erster Bekannter geworden. Das Haus hatte sich bewährt, war nach zehn Jahren mehr als das Doppelte wert, also gehörten Reinholds zu den Leuten, denen er ruhig ins Gesicht sehen konnte. Wenn er bloß die Reinhold-Ehe besser beurteilen könnte. Betrog die ihren Mann ununterbrochen oder überhaupt nicht? Der riesige junge Wissenschaftler mit all seinem Bart und Haar wirkte neben ihr wie eine Märchenfigur, die auf die Rückverwandlung zum Prinzen wartet. Ihr Mann sah hilflos und fein aus neben ihr. Gottliebs Kollege und Konkurrent Paul Schatz hatte einmal auf dem Tennisplatz, als sie Frau Reinhold beim Spielen zuschauten, zu Gottlieb herübergesagt: Man könnte zwei Wagner-Sängerinnen machen aus ihr. Wie alles, was Paul Schatz sagte, war das sehr einprägsam und stimmte überhaupt nicht. Aber irgendwie stimmte es doch. Wahrscheinlich stimmte es ganz genau. Die Beziehung zu Frau Dr. Leistle kam sicher durch Herrn Dr. Reinhold. Leistles gehörte ein Chemiewerk zwischen Göppingen und Plochingen. Vielleicht hatte Dr. Reinhold, bevor er nach Amerika gegangen war, bei Leistle gearbeitet. Vielleicht war er sogar verwandt mit Frau Dr. Leistle. Dann hätte Gottlieb schon zwei Drähte zum Objekt. Nein, drei: Schulkamerad Eberhard, dessen Mutter, Gottliebs Spielbank-Genossin, und, über Lissi Reinhold, Dr. Reinhold. Diesmal hatte Paul Schatz keine Chance. Und wenn Schatz keine Chance hatte, wer konnte ihm dann gefährlich werden? Kaltammer! Kaltammer war nicht halb so gefahrlich wie Schatz. Gottlieb Zürn war, nachdem er Anna das Wichtigste mitgeteilt hatte, gleich wieder ins Büro gerannt. Er war aufgeregt. Er wollte rauchen. Aber ohne Alkohol rauchte er nicht mehr. Und Alkohol trank er nie vor dem Abendessen. Er mußte sich durch solche Willensleistungen beeindrucken. Für ihn war es schon etwas wie ein Sieg, wenn er irgendwo auf Paul Schatz traf und den hemmungslos rauchen sah. Der trank an einem Abend eine Flasche Schnaps. Gottlieb Zürn trank nur leichten Wein. Wenn er seine Willensleistungen an sich vorbeiparadieren ließ und sein mehr und mehr von Disziplin bestimmtes Leben mit dem wilden, auf jeden Fall weniger gesunden Leben seines Kollegen Konkurrenten verglich, kam ihm der deprimierende Gedanke, daß Paul Schatz dieses unordentliche oder wilde oder ungesunde Leben vielleicht überhaupt nichts ausmache. Da Schatz oft über seine Eltern redete, wußte jeder, daß die fast neunzig waren und an der österreichisch-ungarischen Grenze lebten, weil sie ihrer Heimat Siebenbürgen so nah als möglich bleiben wollten und das Leben mit Essen und Trinken und Lachen genossen wie ein bukolisches Paar. Schatz selber war zum vierten Mal verheiratet. Man hörte nie, daß er an irgend etwas zu leiden habe. Von sich hatte Gottlieb im Augenblick das Gefühl, er stürze, wenn er sich nicht mit Anstrengung aufrecht halte, geradezu sofort und senkrecht ab. Er spürte, wenn er an sich dachte, nichts als Gewicht, Schwere, Niedertracht. Unsinn, dachte er, Unsinn. Und sprang auf. Er rief Anna zu, er fahre in die Stadt, das Inserat aufzugeben, auch müsse er endlich zum Friseur. In zwei Stunden sei er zurück. Anna bat ihn, leise zu sein, Regina schlafe. Er holte sein Rad durch die Halle aus der Garage, weil man das Aufkippen des Garagentors in jedem Zimmer hörte. Langsam fuhr er am See entlang. Er wollte nichts von sich wissen. Das waren immer die angenehmsten Augenblicke. Der Vormittag dehnte sich in der Hitze. Der Wind zählte die Blätter ohne Hast. Der See,
ein Feld aus gleißenden Furchen. Alles grün und grüngold und gleißend und blendend. Und alles rauscht. Und es scheint auf nichts anzukommen. Unwillkürlich betätigte er die Fahrradklingel. Das im Erklingen sofort wieder verschwimmende Klingelgeräusch weckte eine Legion von Jahren. Die gewaltigen Baumarme, unter denen er gerade durchfuhr, riefen ein Bild aus dem ersten Katechismus herbei: Absalom reitet auf der Flucht vor seinem Vater, gegen den er sich empört hatte, unter solchen Bäumen durch, die hochfliegenden roten Haare wickeln sich um die gewaltigen Äste, das Pferd galoppiert weiter, Absalom hängt an seinen Haaren und . . . Gottlieb Zürn wäre beinah vom Rad gefallen, weil der Asphalt unter diesen Bäumen von den Baumwurzeln zu harten Wellen gewölbt war. Als er Frau Sonntag das Inserat aushändigte, genierte er sich. Nicht viel los zur Zeit, wollte er sagen, aber er brachte es nicht heraus. Die hatte vielleicht gerade das Inserat von Paul Schatz oder das von J. F. Kaltammer entgegengenommen, Inserate, in denen es oft von Schlössern und Villen wimmelte. Paul Schatz belegte jahraus, jahrein das obere Drittel der ersten Immobilienseite. Eine etwas ins Breite gezogene, schwarz gerahmte Bildschirmform, innerhalb derer sich die Einzelanzeigen als schlankere Bildschirmformen abhoben. Im oberen Rand des Gesamtbildschirms erschien immer in ganzer Breite, weiß in schwarz, die Überschrift IMMOBILIEN-SCHATZ. Dazu, auch weiß in schwarz, seine schräge, blitzhaft starke Unterschrift. Neben der Unterschrift, eine altertümliche Siegelform. Auf dem Siegel, kreisförmig, in ehrwürdiger Reichsmarkschrift: Der ehrliche Makler. Und unter den edlen weißen Blitzen der Schatzunterschrift, ganz klein und ruhig: Ich stehe hinter jedem Angebot mit meinem Namen. Das war Schatz. Und das volle rechte Drittel seiner Inseratfläche füllte er mit allgemeinen Aufklärungen. Er spielte sich als Volksaufklärer auf. Dafür bezahlte er jeden Samstag teure Inseratfläche. Der entblödete sich nicht, dem Publikum Gewährleistungs-Entscheidungen des Bundesgerichtshofes mit Aktenzeichen mitzuteilen. Aber das Publikum fiel darauf herein. Wenn Herr Schatz das Aktenzeichen V ZR 22/73) abdruckte und dazu das Datum 29. März 1974, und dann noch mitteilte, daß seit diesem Tag die Vereinbarungen der im Immobiliengeschäft handelnden Parteien, soweit sie die Sachmängelhaftung des Bauträgers beträfen, zugunsten des Käufers ausgelegt würden, glaubte er offenbar selber, er habe der Allgemeinheit wieder wahrhaft gedient. Überschrift letzten Samstag: Der gute Makler bietet einen ganzen Strauß von Leistungen. Gottlieb Zürn ärgerte sich jeden Samstag darüber, daß ihm aus dem Schatz-Inserat Sätze im Kopf blieben. Jeden Samstag las er zwanghaft das SchatzInserat. Gegen .,« seinen Willen las er es sogar mehr als einmal. Da er vor Frau Sonntag nicht auch noch aussprechen wollte, daß wenig los sei in seinem Geschäft, sagte er — und versuchte, es ein bißchen spöttisch zu intonieren —: Diese Anzeige präsentiert nur den kleinsten Teil meines Gesamtangebots. Das war die Zeile, die jedesmal, weiß in schwarz, im unteren Rahmen des Schatz-Inserats stand. Gottlieb ärgerte sich sofort über sich. Wenn er den zitierte, kapitulierte er vor dem. Andererseits konnte sich Frau Sonntag sicher nicht vorstellen, daß er vor einem Paul Schatz in einem anderen Stande als dem der Kapitulation verharren könne. Zwei Eigentumswohnungen in einem Wohnblock in Immenstaad und die verfallende AltMühle mit Brennrecht und eigener Stromerzeugung — Konkurrenz konnte man das nicht nennen. Nächste Woche, Frau Sonntag . . . Sie wohnte nur ein paar Minuten von ihm weg, deshalb war es ihm peinlich, wenn sie Zeugin seiner Erfolglosigkeit wurde. Nächste Woche . . . Nein, laß es. Sie hatte das Inserat schon überflogen und fletschte wie immer ihre Zähne — bei ihr war das Lachen. Außer ihr war im Augenblick nichts in der Sonne in diesem Raum. Die im Nu entblößten Zähne blieben entblößt. Man sah ein bißchen Lippenkehrseite. Ein zweites Rot. Zwischen ihrem
Hals und der Bluse oder ihrem Halsansatz und der Bluse oder ihrem Brustansatz und der Bluse, zwischen ihr und der Bluse war ein Raum, der war voll Licht. Gottlieb konnte nicht wegschauen. Es war, als sei er verloren. Schaute sie ihn an oder sein mageres Inserat? Schauten schon mehr Leute zu, wie er wie ein Elfjähriger etwas von einer Frau sehen wollte, was er nicht sehen durfte. Aber er mußte das sehen. Welch ein Licht, dieses Sommerlicht zwischen ihr und ihrer weißen Bluse. Sie stand nackt in diesem Licht, das zwischen ihr und ihrer Kleidung floß. Er zog seinen Blick ein, kramte in seiner Tasche. Auf Wiedersehen, Frau Sonntag. Auf Wiedersehen, Herr Dr. Zürn. Daß sie eine quieksende Stimme hatte, tröstete ihn nicht. Er war nicht froh, als er wieder im Freien war. Er hatte mehr sehen wollen als den Anfang ihrer Brust. Möglichst viel hatte er möglichst lang sehen wollen. Und er war gleich fünfzig. Wenn er bloß schon unter dem Umhang des Friseurs säße. Unter dem Umhang des Friseurs war er nicht gleich fünfzig, sondern elf oder zwölf oder vierzehn. Er fand, daß das durch das Geburtsjahr bestimmte Alter mit dem wirklichen Alter einer Person fast nie übereinstimmte. Er wußte noch sehr genau, daß er sich, als er zwanzig war, überhaupt nicht als Zwanzigjähriger gefühlt hatte. Damals hatte er geglaubt, er sei viel älter. Und jetzt, da er gleich fünfzig war, fühlte er sich oft wie vierzehn oder fünfzehn. Durch Selbstbeobachtung und Beobachtung anderer war er zu der unbeweisbaren Ansicht gekommen, irgendwann erreiche jeder sein wesentliches Alter, das er dann bis zu seinem Tode beibehalte. Etwa seit er dem Jahrgang nach vierzig war, kam er sich immer häufiger vor wie einer, der noch nicht fünfzehn ist. Wenn er jemanden kennenlernte, fand er bald genug Anlaß, dessen wirkliches Alter unabhängig vom Geburtsjahrgang zu bestimmen. Seit er diese Altersbestimmungen betrieb — natürlich konnte er, wegen der völligen Unbeweisbarkeit seiner Feststellungen, mit keinem darüber sprechen —, sah er, daß die meisten Menschen viel jünger waren, als sie nach ihrem Geburtsjahrgang glauben mußten. Er hatte schon sein Rad umgedreht, um es auf dem Trottoir bis zur Christophstraße zu schieben, als er sah, wie von der Christophstraße Frau Ruß auf die Hofstatt einbog. Er verließ das Trottoir, schwang sich auf das Rad und fuhr wie ein Auto um den Brunnen herum und bog wie ein Auto auf der anderen Seite des Brunnens in die Christophstraße ein. Seit Jahren wich er Frau Ruß aus. Gelang es ihm nicht, so hatte er eine Szene oder zumindest ein Schimpfwort zu gewärtigen. Er hatte ihr einen Bungalow vermittelt, im guten Glauben, der Erwerber komme in den Genuß der 7bAbschrei-bung. Der Verkäufer hatte das ihm gegenüber behauptet. Nachträglich hatte sich herausgestellt, daß der Gesetzgeber zur Dämpfung der Konjunktur vom 1. Mai bis 1. November 1973 den Paragraphen 7b außer Kraft gesetzt hatte, und genau in dem Zeitraum war die Baugenehmigung für dieses Haus erteilt worden. Gottlieb hatte sich nicht auf den Verkäufer, Herrn Rilke, der gerade mit seinem Kunstgewerbeladen Die Truhe bankrott gemacht hatte, hinausreden wollen. Es war sein Fehler. Die ausgesetzte 7b-Abschreibung, mein Gott, sowas mußte man einfach parat haben. Herr Dr. Ruß, der als Zahnarzt an Abschreibungsmöglichkeiten interessiert sein mußte, grüßte ihn zwar nicht mehr, aber er pöbelte ihn nicht an. Frau Ruß dagegen schien ihn ihr und sein Leben lang laut über Straßen und Plätze weg mit Guten Tag Herr Immobilienschwindler verfolgen zu wollen. Oder würde sie nach acht Jahren, wenn die 40% der 7b-Abschreibung aufgezehrt waren, die Verfolgung einstellen? Besonders peinlich war es, daß Frau Ruß eine kleine, fast zwergenhafte Frau war, die an einem etwas zu großen Stock ging. Jeder mußte ihn für einen grauenhaften Kerl halten. Mine so kleine und wackere Frau übers Ohr zu hauen! Immer wenn er Frau Ruß sah, hätte er die Stadt, die ganze Gegend am liebsten für immer verlassen. Falls er den Alleinauftrag fürs Schwanenhaus bekam, konnte er
Frau Ruß eine Entschädigung anbieten für die wegen der entgangenen 60 000 Mark Abschreibung angefallenen Steuern. Nein, nie! Anbrüllen sollte er diese Stockhexe. Jedesmal, wenn er sie sah und von Angst und Hitze befallen wurde, betete er in Gedanken das Hamburger OLG-Urteil vom 25. 6. 75 herunter: Ein Makler ist grundsätzlich nicht verpflichtet, ihm von seinem Auftraggeber gemachte Angaben nachzuprüfen. Er haftet daher für sie auch dann nicht, wenn er die Haftung für Fahrlässigkeit nicht durch Hinzufügung von »unverbindlich« in seinem Angebot ausgeschlossen hat. . . Den Text sollte Paul Schatz einmal veröffentlichen in seinem Samstagsinserat! Gottlieb Zürn gelang es heute, Frau Ruß ungesehen zu entkommen. Als er schon auf die Tür seines Friseurs zuging, fiel ihm ein, daß er morgen zu Frau Reinhold mußte. Und frisch vom Friseur, sah er aus wie aus dem Wachsfigurenkabinett. Er radelte auf der Promenade zurück. Zu Dr. Enderies Zeiten waren am späten Mittwochvormittag immer drei oder vier Kollegen im Garten des Faulen. Pelzes gesessen. Jetzt saß da meistens nur noch, wenn er überhaupt im Land war, Rudi W. Eitel. Er saß auch heute da. Unverkennbar starr. Nach hinten gelehnt. Einen Arm über der Stuhllehne. Den Kopf zurückgeworfen. Den Blick weit über die Promenierenden hinausgerichtet. Und mit ihm am Tisch, die Ellbogen tief in der Tischfläche, der Schaden-Maier, der seinen Architektenberuf nur noch als Schätzer und Gutachter ausübte und - gegen seinen Willen, wie er sagte - zum Spezialisten für die Fehler seiner Kollegen geworden war. Rudi W. Eitel fiel schon durch seine Kleidung auf. Heute leuchtete er rotbraun. Dazu ein violettes Hemd. Dazu eine maisgelbe Fliege mit schwarzem Gekröse; mindestens aus Mexiko. Dazu rotbraune Schuhe. Dazu Socken, maisgelb. Dazu ein breiter brauner Hut. Und umgehängt, eine Kamera. Gottlieb Zürn hatte den Eindruck, Rudi W. Eitels Bärtchen sei seit dem letzten Mal über Wilhelm II. hinaus in Richtung Salvador Dali entwickelt worden. Sobald er den lächerlich weit hinausstarrenden Eitel und den tief in die Tischfläche hängenden Schaden-Maier gesehen hatte, wußte er, daß es sich nicht lohne, wegen Rudi W. Eitel und Schaden-Maier das Rad abzustellen, Platz zu nehmen, Zeit zu versäumen. Da hätte schon Jarl F. Kaltammer oder Paul Schatz sitzen müssen. Aber kurz stehenbleiben mußte er. Schaden-Maier meldete zu Eitels Kopf hinauf: Dr. Gottlieb Zürn bittet um Audienz, Signor. Soll antanzen, sagte Eitel, ohne seine Haltung zu lockern. Hast du gehört, Gottlieble, du darfst antanzen, rief der Schaden-Maier und rief gleich noch dem Fräulein zu, Gottlieb trinke auch den Bermatinger. Am hellen Vormittag, sagte Gottlieb. Ja, wo bleibt er denn, rief Eitel zu Schaden-Maier hin. Um Eitel nicht noch mehr Anlaß zu aufsehenerregenden Rufen zu geben, stellte Gottlieb das Rad an das niedere Mäuerchen und ging zu denen hin. Rudi W. Eitels Haltung lockerte sich nicht. Er reichte die Hand, als sollte Gottlieb sie küssen. Sein linkes Auge schaute ein wenig aus der Bahn. Kam der Ausdruck von Schnödigkeit und Surrealismus daher? Gottlieb, sagte er gewissermaßen schnarrend, immer noch bei der Grund- und Bodentruppe, wa! Meister Schatz hat ja wieder einen schönen Hammer gefietschert im Blatt am Samstag. Jemand, der, wie ich, direkt aus La Jolla kommt, möchte da am liebsten die Birne schütteln. Aber schüttel ich die Birne? No. Schüttel ich nicht. Woisch, was ich schüttel? Rudi Weitel schüttelt das Bäumchen und herab fallen goldene Pfläumchen. So, 'etz woisch, was Rudi Weitel schüttelt, okay?! Und woisch, wo das Bäumchen schtoht? Z'California! Mei Real Estate Inc isch ein Hit, vaschtohsch. Soviel ka i ja gar it fresse, wie i kotza mecht, wenn i dem sein Volkshoch-schul-Special lies! Unverbaubarer Seeblick, wa! Immer noch, ein Laben lang, unverbaubarer Seeblick. Classified Ad, wa! Woisch, was ich in meine Classified Ads fietschere, ha?! CAMEL RACING AT THE DESERT FESTIVAL! DESERT GOLF CLASSIC! RETURN OF FLYING FISH! LAGUNA BEACH ART
FESTIVAL! So wird die Immobilie in Southern California gewürzt. Ja, was glaubsch du denn, wen Franki Boy anruft, wenn er von Hollywood nach Palm Springs moven will? Seinen german friend Rudi! Aber jaa! Wer woiß denn actually die real safe places in Southern California, no störe burglary, no shoplifting, no till-tap! Who has become known for his smashing preventive measures? Rudi Dabbelju Itell! Bezüglich your security arrangements, please feel free to call Rudi W. Eitel, your real estate agent. Unverbaubarer Seeblick, wa! Rudi Weitel hat in seinem Inserat andere Zückerlen. San Marino's voting about 7:1 Re-publican. The John Birch Society maintains an office in San Marino. Das ist die absolute CSU-Mehrheit for ever! Koin Neger weit und breit, aber, weil's einen Fortschritt gibt: Juden und Schwule schon, if they can affortd to pay the dues. Und natürlich, jede Menge Mexikaner zum Schaffen: das mag die Immobilie! Aber unverbaubarer Seeblick? Sein erfolgreichstes Inserat war eins für ein La Jolla Showcase House, six bedrooms, seven baths, immaculate condition, aber jetzt kommt's: das Quartier, wo's liegt, hat eine höhere Scheidungsrate als Hollywood, und das steht drin in seinem Inserat! Er werde seine Agencia Immobiliaria in Las Palmas schließen, weil dort ja auch schon die Piffer das Sagen hätten. Dieser Kontinent hat die Motten. Darum sei er jetzt Mitglied der Broker's Guild of Southern California! Aufnahmegebühr Dollar vierhundert. So 'etz bisch du dra, okay?! See your realtor! Rudi W. Eitel konnte nur laut sprechen. Und dazu machte er scharf, jäh, blitzschnell Bewegungen. Er säbelte jeden Satz durch die Luft. Wenn er nicht sprach, erstarrte er sofort wieder. Man hatte nicht den Eindruck, er höre, was ein anderer sagte. Anfang Februar hatte ihn Gottlieb zum letzten Mal getroffen. Da war Rudi W. Eitel gerade von den Kana-ren gekommen, hatte soviel Spanisch eingeflochten wie jetzt Amerikanisch und hatte gesagt, er möchte nur noch in Ländern leben, in denen es spanisch zugehe. Rudi W. Eitel war aus Biberach. Rudi war, seit er ihn kannte, gleich alt geblieben. In Gottliebs Einteilung war der neunzehn. Der Schaden-Maier war deutlich jünger. Mehr als sechzehn war der nicht und würde der, falls nicht Katastrophen es erzwängen, nie werden. Rudi W. Eitel rief ein-, zweimal im Jahr an. Meistens aus dem Ausland. Er sagte dann, er wolle nur wissen, wie das Wetter am Bodensee sei. Dann drehte er gleich auf volle Touren: Sein Real Estate-Schuppen habe eingeschlagen wie d'Sau. Er gehöre zu dem Kreis von Maklern, der aus Washington angeschrieben worden sei, dem Expräsidenten Ford, der sich in Südcalifornien niederlassen wolle, Angebote zu machen. Aber wenn man Eitel dann im Faulen Pefy oder im Rex traf und die Bedienung kam zum Kassieren, erstarrte er sofort bis zur vollkommenen Abwesenheit und rührte sich erst wieder, wenn man für ihn mitbezahlt hatte. Plötzlich sagte er: Was fietschersch'n du grad? Und bevor Gottlieb sagen konnte: Etwas Sagenhaftes . . . das Schwanenhaus in . . ., rief Rudi: Komm, sim'r luschtig, lasset uns bäten. Das war ein Spiel, das sie öfter gespielt hatten in den vergangenen Jahren: die Aufführung des jeweils letzten Schatz-Inserats mit verteilten Stimmen. Rudi rief: Der gute Makler bietet einen ganzen Strauß von Leistungen. Der SchadenMaier richtete sich nicht auf, hob aber das runde weiße Trauergesicht und sagte so gestelzt als möglich: Wie sehen diese Leistungen nun aus? Rudi W. Eitel darauf, mit dem zierlich schwingenden Amateurcharme: Der Makler legt Ihnen die bunte Palette seines Angebots vor. Es genügte der Schatzsche Wichtigkeits- und Ernstanflug, und alle drei explodierten vor Lachen. Rudi W. Eitel rief, er würde es ja verstehen, wenn der Doktor juris Gottfried Zürn dem Publikum mit Seriositätsfetzen die Augen wischte — Ad majorem professionis gloriam, fügte der Schaden-Maier rasch ein -, aber doch nicht der Selbstausbilder Meister Paul, und eben das sei das einzige erlangbare Motiv: sein Nichtabitur! Nur seines Nichtabiturs wegen ernenne sich unser Tamerlan
aus Temesvar andauernd zum Moses und schwenke Tabortäfelchen. Was soll's, Kameraden, we agree, er lächert uns, okay? Der Schaden-Maier: Tamerlan stimmt nicht, Hindenburg stimmt, der Hindenburg aus Budweis ist er, heißt ja auch Paul. Gottlieb sagte: Ganz genau genommen ist er ein Hindenburg, der sich für einen Bismarck hält. Stimmt, schrie Rudi, stimmt, der ehrliche Makler! Fräulein, zahlen, rief Gottlieb. Zahlen kann er, aber nicht gehen, rief Rudi W. Eitel. Oder ob Gottlieb auch ein solcher Piffer geworden sei wie Meister Paul und das Opportunismusgenie Jarl F. Kaltammer, der, frei nach Kennedy, in JFK-Immobilien umfunktioniert habe . . . Gottlieb sah, daß er nicht sofort wegkomme. Er hatte ja den Friseur ausfallen lassen. Er fing — um die Zeit nicht nur zu verlieren — vom Schwanenhaus an. Was würde Maier, ganz grob, für soundsoein Haus veranschlagen. Der Schaden-Maier ließ sich nichts erzählen über das Schwanenhaus. Herrgottnei, wenn er das nicht kennte, dann wäre er wohl den Butter aufm Brot nicht wert. Also, das Schwanenhaus . . . Helmut, kneif die Gosche zu, rief Eitel. Tu jetzt bloß nicht deiner Schätzer-Allwissenheit zuliebe so, als ob du je was von einem Schwanenhaus gehört hettsch, Mensch! Ich schlag dich zusammen, wenn in unserem intimen Kreis jetzt auch hochgestapelt wird. Wir sind einander nah und verkehren miteinander demgemäß nur mit heruntergelassenen Hosen! s' Gottlieble veranstaltet doch Scherze, so ein Schwanenhaus gibt's nicht, und gab's es, wer hätt's dann nicht? Unser Gottlieble. Weil's nämlich der Bombenkollege Schatz hätte. Kaltammer hätt's, rief der Schaden-Maier mit einer Stimme, die Gottlieb an Kinder erinnerte, die Soldaten nachmachen. Ob sie das denn vergessen hätten, daß der Kollege Kaltammer nicht immer mit Fischblick und starrem Oberkörper eine hassenswerte Partnerin auf Tanzwettbewerben getriezt habe, weil er schließlich — und's sei auch kaum ein Jahrzehntchen her — nicht nur für die Abschaffung der Gesellschaftstänze, sondern der ganzen Gesellschaft gegiftet habe! Ob sie denn die Flugblättlein verdrängt hätten, die er sich mit Unibuben in Konstanz eronaniert habe, sagend, daß Makler Vampire seien und Architekten und Makler nichts als Erfüllungsgehilfen bei der Optimierung der Grundrente des Monopolkapitalisten?! Die ihrerseits, die Grundrente, habe als das eigentliche Geheimnis der Versteinerung des als Ware gehandelten Wohnungsbaus herhalten müssen! Und drum hat doch die Ideologie des Grundeigentums schuld sein müssen an einer Wirtschaftsweise, die auf Fertigung immobiler Werte und deren Individualisierung nach Parzellen ausgerichtet sei. Deshalb war zu fordern die Aufhebung des Privateigentums am Produktionsmittel Boden. Laut Marx plus Kaltammer habe Grundeigentum mit dem wirklichen Produktionsprozeß sowieso nichts zu schaffen. Also müsse zur Seligmachung der Menschheit nur noch ein Feuer angezündet werden: das, in dem die Grundbücher verbrannt werden . . . Der Schaden-Maier konnte sich, wenn er auf Kaltammer zu sprechen kam - und nicht auf den zu sprechen zu kommen, war ihm unmöglich -, nicht mehr fassen. Beide hatten miteinander studiert und dann zusammen ein Büro gehabt. Kaltammer habe, laut Schaden-Maier, nur Ideen entwickelt, die ohne Ludwig XIV. nicht zu verwirklichen gewesen seien. Eben der reine Entwurfsmann, schon auf der Uni, Baustoffkunde I und II, weil unter dem seiner Würde, geschwänzt. Ihr kennt die Geschichte von Frank Lloyd Wright, dem ein Bauherr telegraphiert, Dach undicht, Regen hat schon einen Sessel, Louis-Seize, beschädigt, und Wright telegraphiert zurück: Move it. Das ist Kaltammer, dieselbe Ästhetenarroganz. Was ihn, Maier, nur wundere, sei, daß der sich nicht geniere! Vor ein paar Jährchen sind Architekten Erfüllungsgehilfen des Monopolkapitals und Makler Vampire, und jetzt ist er der geflutschteste Bursche im Geschäft, schmeißt den idealen Firmenverbund aus Makeln, Baubetreuen, Verkauf und Verwaltung. Gottlieb sagte, vielleicht geniere sich
Kaltammer, das wisse man doch nicht. Richtig, rief Rudi W. Eitel, denken wir groß von Jarl F. Kaltammer, der Gesellschaftstanz ist seine Buße! Ja, schaut ihn doch an, wenn er den Pasodoble reißt, den Tango schändet, die blonde Spindel aus dem Reisebüro in den Rumba führt wie ein Schwert, und alles mit dem tauben, unebenen Blaßgesicht und gelben Haaren, gelbhaarig und blaß, aber lateinamerikanisch ambitio-niert bis ins Mark, ein Revolutionstän2er durch und durch . . . Moment, Moment, rief der Schaden-Maier, der Weitel, keine Ahnung! Seit Kaltammers Studentenperiode — Periode! wieherte Rudi und sandte bei gespreizten Fingern madonnenhafte Blicke in die Höhe — seit diese Periode vorbei sei, lasse sich der jeden Freitag mit seinem 2 CV Geizmobil nach Konstanz karren, werde dort von einer Privatmaschine erwartet und ins Burgund hinübergeflogen, jaa! Nur noch Adel, Adel, Adel! Jedes Wochenende, Adel! Burgundischer Adel! Zwei Prinzessinnen! Nicht eine Prinzessin, sondern zwei! Jaa! Für ihn sei Kaltammer ein Graf! Mit seinem changierenden Seidenmantel! Graf Kaltammer. Und er gestatte sich hinzuzufügen: Kaltammer-Aspergillus niger! Nach dem Pilz, der sich in von Kaltammer verschuldeten Gebäuden regelmäßig entfaltet habe. Seit Graf Kaltammer in seinem Büro einen Dipl.-Ing und einen Dipl.-Kauf beschäftige, richte er weniger Schaden an. Aber im Deuxchevaux zur Privatmaschine. Und warum? Benzin bis zum Flugplatz müsse Graf Kaltammer selber bezahlen. Und sparsam sei Graf Kaltammer in einem Ausmaß, von dem selbst sein ausdrucksparendes Gesicht noch keine Ahnung erlaube. Ob es einen Menschen außer Kaltammer gebe, der mit einund-demselben Gesicht lache und schimpfe, lustig und zornig sei? Auch bei den Tanzmeisterschaften, für ALLE Tänze EIN Gesicht, und das wirklich Unheimliche: es paßt immer! Gottlieb war mit dem dritten Glas fertig. Er hätte längst zu Hause anrufen sollen. Dieser Mahnungsreiz verlor sich. Er merkte, daß er rauchte, aber er wollte es nicht merken. Weil Leute um sie herum Platz genommen hatten, hatten sie sich ins Innere verzogen. Speisekarten hatten sie zurückgewiesen. Irgendwann erlosch Rudi W. Eitel. Er sagte nichts mehr, starrte nicht mehr schräg nach oben, sondern schräg nach unten, unter den Tisch. Der Schaden-Maier sagte: Das kenn' ich. Er starrt auf Cäsars Füße. Von jetzt an kriegst du keinen Kontakt mehr mit ihm. Ob wir bei ihm sitzen bleiben oder gehen, ist schnurz, nur zahlen müssen wir für ihn. So saß der Vercingetorix. Als alles verloren war, ist er aus Alesia hinausgeritten und hat sich in voller Rüstung, also mit dem farbigen Helmbusch, zu Cäsars Füßen gesetzt. Cäsar hatte seinen Feldherrnsessel samt Podest auf den Belagerungswall stellen lassen. Vercingetorix spannt sofort, von ihm wird eine möglichst weitgehende Unterwerfung verlangt. Er war doch viel schöner als dieser Cäsar. Cäsar wollte ihn anschauen. Im Blickwechsel hätte Vercingetorix zugeben sollen, daß er nichts, Cäsar aber alles sei. Vercingetorix hat Cäsar nicht angeschaut. Den Blickwechsel hat er dem nicht gegönnt. Er hat sich hingesetzt auf die Plattform, auf der Cäsars Füße standen, und hat auf Cäsars Füße gestarrt. Er hat dem Sieger die Anerkennung des Besiegten verweigert. Und was ist ein Sieg, den der Besiegte nicht zugibt, ha! Cäsar hat gespürt, daß sein Feind durch die Verweigerung des Blickwechsels ausdrücken wollte, wie wenig er sich von Cäsar besiegt fühle, da doch Cäsar nur durch die germanische Reiterei Herr geworden war über die Kelten. Nicht die Römer, die Germanen haben die Kelten besiegt. Darum hat Vercingetorix dem auf die Füße gestarrt. Cäsar hat das nicht vergessen. Fünf Jahre später hat er dem Vercingetorix den Kopf gan2 genau vor seinen, Cäsars Füßen abschlagen lassen. In seinem letzten Augenblick starrte Vercingetorix wieder auf Cäsars Füße. Ich bin sicher, Rudi sieht Cäsars Füße. Gehen wir. Vorher mußte Gottlieb noch die ganze Zeche bezahlen. Dann mußte er noch mit dem Schaden-Maier ins Rex. Würde er nicht mitgehen, wäre der Schaden-Maier beleidigt.
Dann hätte Gottlieb ein paar Stunden verloren, 82 Mark bezahlt und einen beleidigt, der andauernd in der Stadt herumlief und Stimmung machte. Auch für Tips war der gut. Gottlieb konnte sich nicht erinnern, je einen Tip vom Schaden-Maier bekommen zu haben, aber daß es jederzeit möglich war, stand außer Frage. So jemanden beleidigt man nicht. Im Rex legte sich der Schaden-Maier sofort wieder über den Tisch, was, weil er klein war, nicht richtig gelang. Aber die Ellbogen schob er so weit in die Tischfläche hinein, als es gehen wollte. Gottlieb fragte noch einmal, wie Helmut das Schwanenhaus einschätze. Der Schaden-Maier war eine Kapazität und eine Autorität im Schätzen und Bestimmen des Wertes von Bausubstanz. Er war, nach einer Maurerlehre, über den zweiten Bildungsweg Architekt geworden und hatte sich, nachdem die Zusammenarbeit mit Kaltammer nicht gelungen war, nicht mehr ans Bauen, sondern nur noch ans Gutachten, an die Bauschädenschätzung und dergleichen, gewagt. Ich sag es dir, Gottlieb, weil du's bist und weil du weniger gegen mich unternommen hast in den letzten 15 Jahren als jeder andere Erwachsene in dieser Stadt! Ich sage nicht, daß du nichts unternommen hättest gegen mich. Nichts gegen mich zu unternehmen, das wäre zuviel verlangt, klar. Aber wenig, sehr wenig gegen Helmut Maier zu unternehmen, das ist dir gelungen, Gottlieb, wie es keinem anderen in dieser Stadt gelungen ist. Der Kaltammer, der für immer seinen führenden Platz behaupten wird in der hiesigen Maierverfol-gung, hat bewiesen, daß man ein goldener Baulöwe werden kann, wenn man auch keine Dachrinne schadenmeidend führen kann. Das einzige, was er nicht kann: sich schaden. Er kann tun und sagen, was er will, es schadet ihm nicht. Ich bleibe beim Thema, Gottlieb. Ich sage dir voraus, das Schwanenhaus reißt sich Herr Kaltammer unter den Nagel. Du nicht. Der Schatz nicht. Eine päpe Schwabenfamilie erster Klasse läßt sich nicht von einem balkanesischen Mister Drei-prozent imponieren, aber Jarl Graf KaltammerAspergillus niger von der changierenden Seide, der kriegt das Schwanenhaus. Da kannst du machen, was du willst, Gottlieb. Das ist Gesetz. System. Objekte dieser Größe werden einfach auf der Kaltammer-Etage rangiert. Dies ist eine Kaltammergesellschaft. Diese Gesellschaft produziert Kaltammers wie Kalt-ammers Bauten Aspergillus niger produzieren. Und wie Kaltammers Bauten an dem kaltammerschen Aspergillus niger zugrunde gehen, so geht diese Gesellschaft an Kaltammers zugrunde. Aber daß du nicht umsonst gefragt hast: der Leistle-Dame kannst du, da ein Kostenindex angesichts der historischen Substanz keine Rolle spielen kann, vorschlagen, sie könne 2,5 verlangen, VB, das tut ihr gut. Kriegen darf sie für die 3000 Kubikmeter historischen Raums, Baujahr null-fünf, einsacht bis zwei. Substanz, einwandfrei. Gebrauchswert, wegen des feudalen Konzeptes, problematisch. Liebhaberobjekt. Schön, wenn du's kriegen könntest. Zum Wohl, Gottlieb. Ich sage immer: andere reden über ihre Krankheiten, ich rede über Kaltammer. Ich sage dir aber: ich habe noch nie und nirgends gesagt, warum ich über ihn reden muß. Was er mir getan hat, weiß nur ich. Ich bezweifle, daß er es weiß. Als der Schaden-Maier eine Sekunde lang schwieg, sagte Gottlieb zur Seite hin: Mario, zahlen. Er zahlte für beide. Der Schaden-Maier protestierte. Zog mit einem Griff Scheine aus der Tasche, sagte, er werde dieses Lokal nie mehr betreten, wenn man ihn nicht zahlen lasse. Gottlieb, sagte er und schmierte sich in seiner Not den Schweiß mit den zerknäul-ten Scheinen von der Stirn, Gottlieb, Freund, ich beschwöre dich, tu das nicht! Wenn du jetzt zahlst, tust du etwas gegen mich. Gottlieb gab nach. Ecco, rief der Schaden-Maier, nochmal zwei vom selben! Jetzt protestierte Gottlieb. Es sei drei vorbei, zu Hause warteten sie seit Stunden. Der Schaden-Maier zeigte, daß er Gottlieb dieses verfrühte Davonrennen für immer
verübeln werde. Gottlieb setzte sich noch einmal. Keiner sagte etwas. Es war ein stummer Kampf. Dann stand Gottlieb auf, legte dem Schaden-Maier die Hand auf die Schulter und sagte: Helmut, ich muß. Der reagierte wie Eise, wenn man sie zu wenig fest streichelt: er hob die Schulter der Hand entgegen. Das war wie eine Bitte, die vorgebracht wird mit Tränen in den Augen. Gottlieb spürte, daß er eine Wut brauchte, um zur Trennung vom Schaden-Maier fähig zu sein. Der Rudi ist doch allmählich der reine Hochstapler, sagte der Schaden-Maier, findest du nicht. Er tut mir leid, wirklich. Er und ich und du, alle anderen kommen doch sowieso nicht in Frage. Und jetzt ist einer von uns dreien ein Hochstapler. Einer ein Säufer. Er zeigte auf sich. Und einer, auf Gottlieb deutend, ein Kind. Gottlieb bohrte den Zeigefinger in die Schläfe, dann legte er die Hand auf Schaden-Maiers Kopf. Wie alt Gottlieb jetzt sei? Gleich fünfzig, sagte Gottlieb. Das sehe man ihm nicht an. Mach's gut, Helmut, sagte Gottlieb und ging so langsam hinaus, daß der Schaden-Maier hätte rufen können. Rief er nicht, hatte er es sich selbst zuzuschreiben, wenn er jetzt allein sitzen blieb. Er rief nicht. Gottlieb schaute nicht mehr um, weil er sonst wieder zurückgegangen wäre. Daß er es fertig brachte, den sitzen zu lassen, nahm er sich übel. Aber wenn er bei dem sitzen blieb, dann gehörte er dazu. Zu Schaden-Maier und Rudi W. Eitel. Er war erschrocken, als der Schaden-Maier sagte, Eitel, er und Gottlieb gehörten zusammen. Wenn er das nicht gesagt hätte, wäre Gottlieb vielleicht sitzen geblieben. Er schob sein Fahrrad bis dahin, wo der Fußweg begann, auf dem man nicht fahren durfte, schwang sich langsam auf den Sattel und fuhr trotz sausender Gedanken, trotz des dringenden Wunsches, freihändig zu fahren, mit den Händen fest auf der Lenkstange heimwärts. Ihm fiel ein, daß er schon zweimal überrascht gewesen war, den Schaden-Maier zu treffen, weil er der Meinung gewesen war, der sei an Leberkrebs gestorben. Der hielt also Rudi für einen Hochstapler. Natürlich fragte sich Gottlieb auch, ob, was Rudi erzähle, nicht übertrieben sei. Aber da er alles, was Rudi erzählte, wenn der es sagte, irgendwie vor sich sah, glaubte er auch, was Rudi sagte. Es kostete ihn auf jeden Fall Kraft, an dem, was Rudi sagte, zu zweifeln. Er konnte das immer erst versuchen, wenn er Rudi verlassen hatte. In dessen Gegenwart an dem, was der sagte, zu zweifeln, wäre ihm unmöglich gewesen. Rudi ist ein Hidalgo, dachte er und wußte nicht, was er damit meinte. Als Gottlieb vorhin nach der japanischen Kamera hatte greifen wollen, die Rudi umhängen hatte, hatte der gerufen: Nicht, du verbrennst dich. Und als Gottlieb fragend geschaut hatte: Mensch, die ist heiß. Kostet dafür nur Zwei-hundertneunzig. Jetzt hätte Gottlieb Zürn am liebsten alles rückgängig gemacht, was er auf der Terrasse des Faulen Pelzes gesagt hatte. So konnte man doch nicht reden über Paul Schatz. Paul Schatz hatte mehr getan für den guten Ruf des Maklerberufes als irgendein anderer. Es war idiotisch, sich in einem öffentlichen Lokal über Paul Schatz lustig zu machen. Das mußte der doch erfahren. Wenn Gottlieb wenigstens so gedacht hätte, wie er da unter Rudis und Schaden-Maiers Einfluß dahergeredet hatte. Immer bestimmten andere, wie und was gesprochen wurde. Zu ein paar Boshaftigkeiten über Paul Schatz wäre er allzeit bereit gewesen. Aber doch nicht zu einer solchen Verhöhnungs-Schau. Und zwei Tische weiter war ein Rentner mit einer fleckigen Glatze gesessen und hatte eine Wanderkarte studiert. Und hatte einen Stock mit Gummikappe dabei. Und sah aus, als könne er nur noch zittern. Und studiert eine Wanderkarte! Ein Spion. Natürlich ein Spion. Gottlieb wußte, daß zu solchen Vorstellungen kein Anlaß sein konnte. Aber er hatte Angst. Aber Paul Schatzens Volksaufklärer-Pose in den Inseraten war doch lächerlich. Mit Abschluß des notariellen Kaufvertrages läßt sich in aller Regel die sofortige Überschreibung im Grundbuch noch nicht bewerkstelligen. Auf diese Zunftstubensprache fällt das Publikum herein. Paul Schatz ist der Inbegriff des
Maklers in der ganzen Bodenseegegend, des seriösen Maklers. Er riecht überhaupt nicht nach Geschäftemachen. Dabei macht er die größten und die besten Geschäfte von allen Maklern in dem Dreieck Zürich, Stuttgart, München. Es gab keine besser aufgemachten Inserate als die seinen. Kleine Kunstwerke waren das. Ja, war denn Paul Schatz etwa kein Künstler? Hing diesen Sommer etwa keine Ausstellung seiner Bilder im Cavasgen in Lindau? Und wer nicht hinging, war Gottlieb Zürn. Weil er sich lächerlicherweise eine Konkurrenzposition einbildete gegen einen Mann, für den er doch unter der Wahrnehmungsgrenze blieb. Wie hatte er sich bloß von Rudi, diesem nicht ganz durchschaubaren Herumlungerer, zu einem so miesen Verhalten hinreißen lassen können! Rudi W. Eitel existierte, obwohl er aus Biberach war, exterritorial. Unbe-langbar. Gottlieb mußte von sich endlich verlangen, Paul Schatz vernünftig einzuschätzen. Er spürte, wie wenig er dazu bereit war. Warum mußte ausgerechnet er einen Konkurrenten haben, der in jeder Hinsicht besser war als er selbst! Seit Paul Schatz neuerdings auch noch eine Bürgerinitiative für eine seeferne Trasse der Autobahn anführte, gab es überhaupt keine Position mehr gegen ihn. Das ist ein Mann. Der kümmert sich um das Richtige. Und um was der sich alles kümmert! Der schreibt Artikel in der Zeitung, wenn die Bundesbahn, trotz Elektrifizierung, die Schwarzwaldstrecke Offenburg-Konstanz nicht so schnell schafft, wie sie das offenbar sollte oder könnte, aber eben nicht schafft, weil sie ... Gottlieb hatte den überzeugenden Beweisgang des Zugreisenden Schatz schon wieder vergessen. Der schreibt gegen landschaftszerstörende Flußbegradigun-gen und für Altbausanierungen. Und du lebst vor dich hin, egoistisch, häßlich, klein! Ein häßliches, kleines, egoistisches Kind, das sich in der Stunde sechzig Mal anzupassen versucht vor lauter Angst, Schwäche, Gefallsucht. Ein Kind . . . er hatte sich mit aller Kraft beherrscht, als der Schaden-Maier das aussprach. Vielleicht vergaß der seine Entdeckung wieder. Wenn Gottlieb widersprochen hätte, wäre es zu einer Diskussion gekommen, und Gottlieb wäre für immer als Gottlieb, das Kind m Schaden-Maiers Trunkenheits-Oratorien vorgekommen. An Paul Schatz sieht man: nichts lohnt sich so wie Mutigsein. Gottlieb nahm sich vor, endlich auch einmal mutig zu sein. Die meisten Menschen, die er kannte, waren mutiger als er. Anna hatte einmal gesagt, von ihm erfahre man nie, was er denke, sondern nur, was er denke, das die anderen hören wollten. Auch den Kindern gegenüber sei er nichts als taktisch. Das zeige schon verheerende Auswirkungen. Die Kinder hätten sein Verhalten unwillkürlich angenommen und seien schon durch und durch verbogen. Der Vorsatz, endlich auch einmal mutig zu sein, versetzte ihn jetzt schon in eine Art Angst. Er wußte doch, bei ihm würde das Mutigsein anders enden als bei Paul Schatz. Mit einer fürchterlichen Blamage. Oder mit einer Art Vernichtung. Mutigsein. . . das muß man sich leisten können. Irgendwann, ja. Er hatte schon ein Bedürfnis danach. Aber wenn er daran dachte, daß er jetzt endlich einmal mutig hervortreten wolle, kamen ihm sofort alle rundum wie Erwachsene vor. Und er ... Er hätte versuchen müssen, dem Schaden-Maier das mit dem Kind auszureden, ohne daß der das hätte bemerken dürfen. Er war gleich fünfzig. Und durfte keinem Menschen sagen, daß er am liebsten die meisten Leute Erwachsene nennen würde. Die würden glauben, er wolle sich jünger machen, als er war. Das wollte er überhaupt nicht. Na ja, vielleicht um zwei bis vier Jahre. Aber keinesfalls um fünf. Hoffentlich vergaß der Schaden-Maier wieder, was ihm da ein- bzw. aufgefallen war. Daheim kam er von der Gartenseite unbemerkt in sein Büro. Das Haus war voll von prasselnden Klaviertönen. Julia und Czerny. Als sie dann zu durchlichteteren BachInventionen überging, hörte man die auf- und abeilenden Violintöne Magdas aus dem oberen Stock. Wenn beide sich so ungehemmt ihren Übungen hingaben, hieß das, Regina war wach. Er lag angenehm schwer in seinem Schreibtisch-Sessel. Gab es
etwas Künstlicheres, Verletzenderes als Tätigkeit? Eise kam zum Fenster herein, blieb auf der Fensterbank sitzen, schaute sich einen Augenblick völlig unerschüttert im offenen Fensterflügel an, dann legte sie sich in Lauerstellung und spähte in das Gebüsch hinaus. Eine Katze tut immer etwas. Und wenn sie nichts tut, tut sie das. Plötzlich stand Anna neben ihm. Er hatte gehört, wie auf einmal das Klavier direkt hereinprasselte. Aber er war nicht imstande gewesen zu reagieren. Anna war ... ja, war sie so entsetzt, so außer sich, wie sie sich gab? Einfach nicht zum Essen zu kommen. Er sei schlimmer als jedes Kind. Und wie es Regina geht, ist ihm egal, ja?! Er sagte, Eitel und Schaden-Maier . . . Auch das noch! Ausgerechnet mit diesen zwei! Er bat sie, die Predigt zu verschieben. Wie geht es Regina? Dr. Freisieben habe angerufen. Nach seinem und Dr. Sixts Urteil rechtfertige der Urinbefund die von Anna geschilderten Symptome nicht. Er habe Regina sehen wollen. Also sei sie mit Regina hin. Im Wartezimmer fing Regina plötzlich an zu weinen. Anna fragte: Tut es so weh? Anna konnte ihre Tränen auch nicht mehr zurückhalten. Alle Leute starrten die mit ihrem Kind weinende Mutter an. Als Regina sieht, daß ihre Mutter auch weint, lacht sie und fragt, warum die Mutter weine. Deinetwegen, sagt Anna. Darauflacht sie noch mehr. Sie ist wie du, sagte Anna. Dr. Freisieben hat sie untersucht. Er und Dr. Sixt seien der Meinung, daß der roten Quaseln wegen ein Hautfacharzt zugezogen werden soll. Sie sei aber zuerst noch zu Dr. Sixt. Der habe schließlich Regina die längste Zeit behandelt. Jetzt sagt er, mit Nieren, also mit ihm, habe das nichts mehr zu tun. Eher schon mit den Eierstöcken, Regina sei ja ziemlich groß für ihr Alter. Er wolle in diesem Fall nur noch konsiliarisch tätig sein, nur um dem Kind zu helfen. Wie das bis jetzt gelaufen sei, sei typisch für unser heutiges System. Kein Arzt fühle sich für den Fall zuständig. Er persönlich glaube, es handle sich um einen nicht ganz herausgekommenen Herpes. Die Klopfempfindlichkeit deute nur auf Hyperästhesie, nicht auf Nieren. Also wieder zum Hautfacharzt Dr. Landwehr, der am letzten Freitag gesagt hatte: Vielleicht ein Zeckenbiß. Der hatte inzwischen mit dem Nervenfacharzt Dr. Niebergall, der, auf Dr. Landwehrs Anraten hin, am Montag Reginas Reflexe geprüft und für normal befunden hatte, gesprochen. Ohne Ergebnis. Dr. Freisieben, der jetzt betont, daß er diesen Fall nur von Dr. Cornelius übernommen habe, schlägt vor, noch einen anderen Nervenarzt zuzuziehen, da er dem von Dr. Landwehr zugezogenen offenbar nicht ganz traue. Er schlägt Dr. Finkbeiner vor. Für die nächste Nacht hat er Dolviran und Neurobion verordnet. Gottlieb ging mit Anna hinauf. Im Vorbeigehen begrüßte er Julia. Magdas Tür war geschlossen. Regina lag wie kraftlos. Wenn sie redete, bewegte sie kaum die Lippen. Es ging ihr sicher nicht gut. Aber sie konnte es noch darstellen, daß es ihr nicht gutging. Oder unterstellte er das nur, um seine Ruhe zu haben? Wenn man nur wüßte, warum man etwas denkt. Wir müssen jetzt das Sitzbad machen, sagte Anna. Zwanzig Minuten lang müsse sie Regina die äußeren Geschlechtsteile kalt abreiben. Das ziehe die Entzündung nach unten. Das habe ihr Vetter Leonhard empfohlen, als Magda die schlimme Angina hatte. Zuschauen wollte Gottlieb der Prozedur nicht. Wie ernst Anna den Kampf gegen Reginas Krankheit nahm, sah er daran, daß sie ihm nichts mehr zu essen angeboten hatte. Das war noch nie vorgekommen. Eise bemerkte, daß er sich keiner Arbeit zuwenden konnte, sprang vom Fensterbrett auf den Schreibtisch, von da ließ sie sich, nachdem sie mit den zwei gedehnten Vorderpfoten zuerst tastend Quartier gemacht hatte, auf seinem Schoß nieder. Das warme weiche Fellgewicht bewirkte, daß sein Geschlechtsteil reagierte. Daß dieses Teil zu grotesken Reaktionen neigte, war ihm nicht neu. Den Alkohol könnte man auch noch verantwortlich machen. Wenn es nur schon Samstag wäre. Stuttgart, Parierstraße, Dr. Hortense Leistle. Der Schaden-Maier hielt 1,8 oder z Millionen für möglich. Bei 1,8 wären zweimal drei
Prozent 108 000. Auch wenn er nach einer Seite zwei Prozent nachlassen mußte, waren es noch 72 000. Das war fast schon wieder wenig. Aber warum sollte man nicht einen finden, der 2 Millionen zahlte! Dann kriegte er, auch wenn er sich um zwei Prozent herunterhandeln ließ, noch 80 000. Das war eine Summe, die man gelten lassen konnte, eine Zahl, die ihm Wohlgefallen bereitete. Die Aussicht auf 80 000 Mark brachte ihn in Fluß. Paul Schatz war berühmt dafür, daß er über die Provision niemals mit sich handeln ließ. Es hieß, er habe schon mehr als 2 x 3,33% verlangt. Und bekommen! Trotzdem galt Paul Schatz überhaupt nicht als geldgierig. Und er, der meistens nur von einer Seite die Provision ertrotzte — vom Verkäufer oder vom Käufer, je nachdem, ob gerade ein Verkäufer- oder ein Käufermarkt war —, mußte sich für geldgierig halten. Er war es ja auch. Das spürte er an dem schwingenden Schwindel, in den er verfiel, wenn er dachte: 80 000. Die Aussicht auf größere Summen weckte in ihm die Erinnerung an seine Eltern. Er verdiente Geld immer vor den Augen seiner Mutter. Vielleicht ging es Paul Schatz genauso. Jetzt, da er an seine Mutter denken wollte, fiel ihm Paul Schatz ein. Manchmal hatte er Angst, er werde immer, wenn er an seine Mutter denken wolle, an Paul Schatz denken müssen. Je heftiger er sich dagegen wehren würde, desto unauflösbarer konnte die Verbindung seiner Mutter mit Paul Schatz werden. Aber warum bloß, bitte?! Seine Mutter war nie geldgierig gewesen. Daß sie ihr Leben lang nichts anderes hatte tun können, als bis zur völligen Erschöpfung Geld zu verdienen, lag daran, daß sie nie Geld hatte, weil sein Vater ungeeignet gewesen war, Geld zu verdienen; dazu krank und, bevor er fünfzig war, tot. Sie hatte ihr Leben lang die Schulden abtragen müssen, die sich durch die hilflose Geschäftsführung des Vaters angehäuft hatten. Gerade daß sie sich ihr Innerstes noch für Gott hatte freihalten können. Alles sonst diente dem Geldverdienen. Sie verdiente Geld wie jemand, der ins Wasser gefallen ist, Schwimmbewegungen macht. Ihre Kinder wären doch geradezu physisch bedroht gewesen, wenn der Konkurs die Familie aus dem Haus gejagt hätte. Konnte er sich seine Mutter anders als rechnend vorstellen? Immer kopfrechnend. Wechselfälligkeiten memorierend, Schuldzinssummen von vielleicht erwartbaren Einkünften abziehend, Gläubigerposten addierend, so saß sie, mit auf den Tisch gelegten Händen, die einander manchmal kratzten oder sich miteinander beschäftigten wie zwei allein gelassene kleine Tiere. Wenn seine Mutter rechnete, bewegten sich ihre Lippen, als bete sie. Aber es waren Zahlen, die diese Lippen bewegten. Die Augen waren kleiner, als sie von Natur aus gewesen wären. Ein durch Anspannung aller inneren Kräfte immer enger gewordener Blick. Die großen offenen Augen, die sie auf den zwei Fotos hatte, die sie zur Zeit ihrer Heirat als Fünfundzwanzigjährige zeigen, als sie von Wigratsweiler herunter an den See gekommen war, hatte er an ihr nie gesehen. Er konnte sich nur an diese kritische oder leidende Zusammenziehung der Augen erinnern. Seine Mutter war NICHT geldgierig. Er schon. Geld einzunehmen, verschaffte ihm eine Genugtuung. Die Maklerprovision vernichtete jedesmal die Beziehung zwischen ihm und dem Kunden. Mit der Provision war, was er getan hatte, vernichtet. Seine Tätigkeit hatte sich in nichts als Geld verwandelt. Mein Nihilismus, dachte er, und fühlte sich wohl dabei. Wenn er einmal genug Geld hätte, würde er wahrscheinlich anders über das Geld denken. Aber was ist genug Geld? Keine Schulden mehr. Aber das wäre ja die Dummheit selbst. Das hatte er bei seiner Mutter gelernt. Trotzdem kam er sich in seiner ungesicherten Verdienstlage oft vor wie ein Motorbootfahrer, der ein Loch im Bootsboden hat, also schnell fahren muß, damit sich die vordere Bootshälfte, in der das Loch ist, durch die Geschwindigkeit aus dem Wasser hebt, das Wasser also nicht eindringen kann. Sobald er das Tempo verlangsamte, sänke er. Er nannte das sein relatives Boot. Wenn alles gut ginge, würde irgendwann sein Leben nur noch
aus dem Geld bestehen, das er während seines Lebens verdient, aber noch nicht verbraucht hatte. Seine Gedichte waren das einzige, was er vor jener alles Gegenständliche und Inhaltliche vernichtenden Beziehung zum Geld bewahren konnte. Da er fast täglich ein paar Minuten — manchmal auch ein paar Stunden — Gedichte schrieb oder an früheren Gedichten herumbosselte, dachte er öfter unwillkürlich an Verwertung. Aber er erschrak jedesmal, wenn er an so etwas dachte. Die Unverwertbarkeit seiner Gedichte war doch ihre wichtigste Eigenschaft. Und ohne jeden Humor dachte er weiter: abgesehen davon, daß sie wahrscheinlich gar nicht verkäuflich wären. Aber selbst wenn sie es wären . . . verkauft, wären sie wertlos, vernichtet, auch wenn sie vorher einen Wert oder Sinn gehabt hätten. Es waren keine guten Gedichte. Trotzdem konnte er sich nicht einreden, es seien schlechte Gedichte. Gut sind sie sicher nicht. Auch das sagte er sich ohne jeden Humor. In keiner Seelenfalte ließ er eine Gegenmeinung dieses Urteil überleben. Gut sind sie nicht. Aber schlecht auch nicht. Es waren seine Gedichte. Basta. Er hielt sich für nichts lieber als für einen Dichter. Aber er wußte, daß er das niemandem sagen durfte. Sofort sah er sich von Erwachsenen bzw. Experten umstellt, die streng und besorgt auf ihn herabschauten. Er lag in seinem nach hinten gekippten Sessel und schaute zu denen hinauf. Wenn er denen sagte, er sei ein Dichter, wollten sie sicher seine Gedichte sehen, um ihm dann mitzuteilen, ob er ein guter oder ein schlechter Dichter sei. Sagten sie ihm, er sei ein schlechter Dichter, wäre er unglücklich. Auch wollte er hoffen, man sei ein Dichter, unabhängig davon, ob man ein guter oder ein schlechter Dichter sei. Basta. Ihm waren seine Gedichte näher als die der wirklichen Dichter. Mußte nicht jeder seine eigenen Gedichte machen? An den meisten zeitgenössischen Dichtern störte ihn, daß sie sich aussprachen. Jeder wollte den anderen im Gestehen übertreffen. Ihn interessierte, was man durch Aufschreiben verschweigen konnte. Das kam wahrscheinlich von seiner Schüchternheit oder Feigheit oder Unaufrichtigkeit oder Unerwachsenheit. Da war er wieder bei Annas Kritik. Anna behauptete, man wisse bei ihm nie, ob er meine, was er sage, oder ob er, wenn er etwas sage, dadurch verberge, was er meine. So genau empfand Anna. In den Gedichten versuchte er auszudrücken, daß er, wenn er etwas sage, dadurch immer etwas verheimlichen wolle. Gelänge es ihm, auszudrücken, was er verheimlicht, wenn er etwas sagt, dann hätte er ausgedrückt, warum er dichten wollte. Andere bauen ihre Kindereisenbahn bis an die Wände des Hobbyraums oder sammeln Steine, bis die Vitrinen voll sind, oder krümmen sich über Briefmarken, er dichtete, basta. Das war allerdings eine Lieblingstätigkeit, die man verheimlichen mußte. Es gab dafür keinen Verein. Seine Lieblingstätigkeit ertrug keine Zeugen. Auch nicht in der eigenen Familie. Sie brauchte auch keine Zeugen. Der Ton der Verstiegenheit war sein Lieblingston. Aber nur solang, als er mit diesem Ton allein war. Wenn er tatsächlich ein Dichter wäre, auch für andere — das war für ihn schon ein Widerspruch Dichter auch für andere —, würde er wieder den Namen seines Vaters annehmen. Er hatte vor seiner Promotion zum Doktor den Namen seiner Mutter angenommen und hatte deshalb seinem toten Vater gegenüber ein schlechtes Gewissen gehabt. Er hatte damals ein hochgestimmtes Nachtgespräch geführt mit dem schon seit dreizehn Jahren toten Vater. Mon tres eher pere, hatte er ä la Mozart begonnen und hatte geredet, bis er überzeugt war, der Vater sei jetzt damit einverstanden, daß einer seiner Söhne den Namen der Mutter annehme. Leicht hatte er es sich nicht machen dürfen, weil jeder Versuch dieses Vaters, für sich oder seine Kinder ein wenig Halt und Bleibe zu besorgen, von der Umwelt sofort mit Zerstörungsschlägen beantwortet worden war. Daß eins der beiden noch lebenden Kinder seinen Namen ablegen wollte, war wie eine Fortsetzung dessen, was diesem
Vater zu Lebzeiten passiert war. Aber gerade weil es eine Fortsetzung war, hatte Gottlieb seinem Vater die Zustimmung abgerungen. Weltkrieg eins, Gefangenschaft, Krankheit, Bankrott und Tod, bevor er fünfzig war: brandete diese elende Suite nicht in einer Art wildem oder dichterischem Glanz auf, wenn jetzt der Vorletzte auch noch den Namen tilgte? Man muß verschwinden können. Wie sein Vater. Dessen Leben und Sterben war für ihn der Inbegriff des Dichterischen. In der Figur seines Vaters richtete er sich ein Beispiel her von einem, fähig, mit hoffnungslosem Verschwinden einverstanden zu sein. Als der Vater mit offenen Wunden seinem Ende zufaulte, hat er täglich noch den ebenso rasch fortschreitenden geschäftlichen Ruin zur Kenntnis genommen. Er wurde Zeuge seiner vollkommenen Vernichtung. Er soll weder geflucht noch geschrieen haben. Er sei eher gewesen wie ein Hauch. Aber immer schon. Das haben mehrere gesagt, daß er immer leise gewesen sei. Nach allem, was Gottlieb über seinen Vater aufgeschnappt hatte, war ihm der Eindruck geblieben, sein Vater sei etwas Leises und Duftendes gewesen. Obwohl er selber noch erlebt hatte, daß der Vater, als er dahinfaulte, süßlich und widerlich stank, hatte sich bei ihm die Vorstellung durchgesetzt, das Leben seines Vaters sei etwas Leises und Duftendes gewesen. Vielleicht gerade wegen des schlimmen Verlaufs und des stinkenden Endes. Ein braver Metzgermeister hatte zu Gottliebs Mutter mehr als einmal gesagt, ihr Mann sei ein Batsche. Das Wort wurde mit offenem a wie im englischen ivall oder ball gesprochen. Batsche, so nannte man in Mitten einen verformten, vor Ausgetretenheit fassungslos gewordenen Hausschuh. Als Gottlieb Zürn einmal aus Interesse für Paul Schatz ein Buch über Siebenbürger Sachsen und Banat-Deutsche gelesen hatte, war er darin auf den Ausdruck Batschker gestoßen; so habe man dort einen gestrickten Pantoffelstrumpf genannt. So etwas war also sein Vater in den Augen eines seiner Verächter. Wenn er an seinen Vater dachte, dachte er immer an das Schimpfwort des temperamentvollen Metzgermeisters. Wie der hereinstolziert war, hatte er selber noch erlebt, den Zahnstocher im Mundwinkel und eine Ecke der Schürze in den um den Bauch führenden Schürzenbendel gesteckt; wahrscheinlich weil sie ihn, da er immer mit dem Rad in die Wirtschaft kam, die Gottliebs Mutter führte, beim Treten gestört hätte. Seit jener Lektüre ging über Batsche und Batschker auch von seinem Vater eine Verbindung, die er nicht unterbrechen konnte, zu Paul Schatz. Er beneidete Paul Schatz nicht um die Immobilien-AG in Vaduz, die zwei 19Familienhäuser in St. Gallen, die Wohntürme in Chur. Aber daß seine Eltern noch lebten, daß man hier, viele hundert Kilometer von ihnen entfernt, durch die Bemerkungen des Sohnes, die weitererzählt wurden, ein so deutliches Bild von ihnen hatte, als seien sie das römische Ehepaar aus dem Lateinbuch, daß also Paul Schatz alles, was er tat, vor stolz und zufrieden zuschauenden Eltern tat, das fand Gottlieb Zürn beneidenswert. Andererseits, was hätte er seinen Eltern vorführen können? Sein Haus! Jawohl, sein Haus. Wenn die Berufstätigkeit einem ein solches Haus einbrachte, dann . . . dann . . . Das Wort Immobilienhändler hätte in den Ohren seiner Mutter keinen guten Klang gehabt. Sie hätte ihre Augen zusammenge2ogen, als müsse sie in ein schmerzendes Licht schauen, und ihre rechte Hand hätte den linken Handrücken heftiger gekratzt. Immobilienhändler, das wäre für sie fast so schlimm gewesen wie Dichter. Vor keinem Menschen hätte er sein Dichtergeheimnis sorgfältiger hüten müssen als vor ihr. Insofern war seine Mutter geradezu eine Garantin seines Dichtertums, das ja vor allem im Geheimsein bestand. Solange er es keinem sagte, konnte er die Einbildung, er sei ein Dichter, ungeniert pflegen. Aber glauben konnte er es sowenig wie jemand, der von sich sagt: Ich bin schön! sich das glauben kann. Es gibt offenbar Sätze, die müssen andere zu einem sagen. Hoffentlich hatten viele etwas so vollkommen Verschwiegenes, was ihr Wichtigstes
war. Wahrscheinlich waren alle in Wirklichkeit Dichter. Am wenigsten die Armen, die Tag und Nacht bestrebt sein müssen, als solche zu gelten. Im Haus kämpften immer noch Julias Anschläge und Mag-das Striche miteinander. Magda und Julia musizierten, wie Gefangene mit beiden Fäusten anfallhaft und hoffnungslos auf unzerstörbare Türen losschlagen. Er hörte ihr Musizieren als Hilferufe. Wollten sie Musikerinnen werden? Sie mußten wohl. Sonst wäre der Aufwand, dieses hemmungslose Aufgaben- und Zeitversäumen nicht zu verantworten. Ein riskantes Treiben. Das sollte, bitte, Anna, auf sich nehmen. Es war ihr Fach. Er mußte an das Schwanenhaus denken. Am liebsten wäre er sofort wieder hingefahren. Er war süchtig danach, in die Halle zu treten und die verschieden blauen Schwäne auf dem hallenhohen Glasfenster durch die schmalen Wasserwindungen wie vom Licht getrieben auf sich zuschwimmen zu sehen. Links des schilfgesäumten und gewundenen Wasserlaufs, ein nackter Jüngling; rechts, ein nacktes Mädchen; er, in einem noch kränkeren Grün als sie. Beide, soweit auseinander als das Bild es erlaubt. Weshalb beide sich über das ganze Schilfschwänewasserbild hinweg zu einander hinsehnen. Er streckt die Arme und Hände so sehr aus, daß er sie eigentlich brechen oder doch verrenken müßte. Sie greift sich auf das Schmerzlichste mit beiden Händen an den Kopf. Und über dem hohen dreiteiligen Glasbild ging es so anziehend weiter. Ein Glashalbrund, in dem alles vollends zum Sehnsuchtsmuster wurde. Schwäne, Seerosen, Wasser und ein Goldbrände spendender Abendhimmel. Und das hatte er noch nicht zu fotografieren versucht. Für den Prospektentwurf. Auch das hochschlanke Reliefrechteck außen, rechts neben dem Portal, mußte er noch fotografieren. Weniger wegen des Schwans, der da aus steinernen Lianen schaute, als wegen der Schrift, die, mit ausdrucksgierigen Buchstaben, dieses Schwanenrelief umlief. Hichabitetfelicitas, nil mali intret stand da. Wenn er diesen Spruch dem Prospekt als Motto voransetzen wollte, mußte er dokumentieren, daß der Spruch am Haus vorkam, sonst wurde er zum Epigonen Schaden-Maiers. Es gab kein Schaden-Maier-Gutachten ohne ein grimmig-lateinisches Zitat. Ein lateinischer Spruch im Bau- und Immobilienbereich, das war Schaden-Maier! Diese Zitiersucht verriet den zweiten Bildungsweg. Er fühlte sich dem Schaden-Maier sehr verwandt. Aber er hoffte, er könne, was sie gemeinsam hatten, besser verbergen. Er strich den Spruch aus dem Expose. Jetzt die Überschrift. Auf einem seiner Zettel fand er: Einmaliges Jugendstil- Traumjtmel am Bodensee. Kaltammer hätte das ohne Zögern hingesetzt. Ihm fiel der erste Satz eines Paul-Schatz-Exposes ein: Wahrlich, es handelt sich um DAS Angebot des Jahrzehnts. Das war in der Rücksichtslosigkeit der Übertreibung ein Kaltammersatz, aber durch das zunftstubenhaft zinnerne Wahrlich wurde es ein Schatzsatz. Er tippte: Dieses Haus hat weit und breit nicht seinesgleichen. Bei Kaltammer war jeder zweite Bungalow, wenn nur ein Fenetre Anglaise daran klapperte, ein Luxus-Landhaus im engl. Stil. Und mindestens einmal pro Saison handelte es sich bei ihm mit Abstand um eines der schönsten Anwesen im gesamten süddeutschen Raum. Wenn er an solche Sätze dachte, wurde er ganz lahm. Damit konnte er nicht konkurrieren. Sozusagen aus Trotz schrieb er über seinen ersten Satz als Überschrift: JugendstilHaus am See. Er fand, das Wort Villa sei eine Herabwürdigung dieses Hauses. Vielleicht sollte er den Nordostturm noch extra aufnehmen. Wenigstens dessen zwei obere, auf vorspringenden Gesimsen sitzenden Stockwerke mit den senkrechten Ovalfenstern im Linanenrelief. Und die Wandmalerei, entlang der Treppe, die von der Halle hinauf in die Galerie führte! Eine nackte Frau stand auf einem dahinrasenden, gerade startenden Schwan. Offenbar bewirkte sie sein Dahinrasen - sein Hinaufrasen muß man sagen, da er ja von der Halle in die umlaufende Galerie hinaufraste - mit einem dünnen weißen Stab, der von ihren Händen an die Nacken-
stelle führte. Die Frau und ihr Schwan rasen auf einem dunkelgrünen, vom Wind zu Schaum gepeitschten Wasser. Man müßte einen Bildband machen, um dieses Haus zu dokumentieren. Er mußte sich zwingen, Daten nüchtern zu versammeln. 19 Zimmer, 13 Bäder, 622 qm Wohnfläche, Halle, Eßsalon, Jagdsalon, Billardsalon, Musiksalon, Blauer Damensalon, Trinkstube, Sauna, Wirtschaftstrakt, Tennisplatz, Hafen mit 35 Bootsliegeplät5en, alter Baumbestand, Wandmalereien, kunsthandwerkliche Decken in fast allen Zimmern . . . Und wo blieben die Lampen? Und die Tapeten! Goldene Fischgrätformen aufweinrotem Grund! Ob er die Farben des gewaltigen Hallenfensters aufs Foto bringen würde? Im grünen Wasser blaue Schwäne, die, je näher, also je tiefer im Bild, desto heller wurden. Der vorderste, unterste Schwan, praktisch weiß. Und Eberhard Bansin bietet am Ravensburger Bahnhof Er-weckungsschriften an. Und seine Mutter hätte ihre letzten Monate lieber beim Spiel 7/9 und Finale 4/7 verbracht, statt im Altersheim. Und wenn der frühere Gärtner Dionys, der vorläufig noch im Kutscherhaus Wohnrecht hatte, nicht ein Trinker gewesen wäre, der mit zwei Flaschen Müller-Thurgauer leicht zu bestechen war, hätte Gottlieb nicht gewußt, wie er überhaupt in das Juwel hineinkommen sollte. So nah er dem Auftrag gewesen war, durch die beiden Entmündigungen war er wieder weit von ihm entfernt. Er war schon dreimal zum Abendessen gerufen worden. Jetzt riß Julia die Tür auf und sagte in einem lustig-schrillen Zorn: Gottlieb, komm jetzt. Und sich zurückwendend rief sie, der Gottlieb — sie war die einzige der Töchter, die ihn immer häufiger so nannte — hock da, schau in die Luft und seine Familie laß er warten. Auf der Terrasse waren sie dann nur zu dritt. Reginas Fieber nähere sich wieder 39. Magda sei noch in der Küche und mache sich, wie immer, selber was. Eine Zeitlang war es still, dann sagte Anna: Wenn die jetzt nicht kommt, eß ich nicht weiter. Sie hörte auf, drehte sich vom Tisch weg, aber nicht der offenen Tür zu, durch die Magda herauskommen mußte, sondern nach außen, dem Garten zu. Jetzt iß doch, sagte Gottlieb, der Angst hatte, er müsse sich Annas Eßstreik anschließen. Er hatte Hunger. Wenn die vom Tisch wegbleibt, kann ich auch wegbleiben, sagte Anna ins abendliche Grün hinaus. Julia sagte: Kwwaddsch. Gottlieb nickte. Julia sagte - wahrscheinlich um die schnell entstandene Spannung abzuleiten -, Stefan Schatz habe gerade wieder eine ungeheure Schau abgezogen. Als niemand reagierte, sagte sie zu ihrem Vater hin: Du interessierst dich doch sonst so für den, oder? In der neuesten Nummer der Schülerzeitung habe der den Direktor einen Geschenkpapierdemokraten genannt, weil der Direktor abgelehnt habe, auf dem Schulhof das Motzfäßle aufzustellen, das Stefan Schatz in der letzten Nummer gefordert hatte. Sie erinnerten sich doch. Anna erinnerte sich nicht und wollte jetzt nicht an etwas so Unwichtiges erinnert werden. Stefan Schatz, sagte Julia nur noch zu ihrem Vater hin, habe die Spitalkellerei überredet, ihm ein altes Faß zu überlassen, das er auf dem Schulhof aufstellen wolle, damit jeder Schüler und jede Schülerin Zettel und Blätter daranheften könnten, auf denen alles, was ihnen stinke, zu lesen wäre. Stefan Schatz sage, er sei als Hauptmacher der Schülerzeitung draufgekom-men, daß in der Zeitung immer dieselben schrieben, und die schrieben eher um ihrer selbst als um einer allgemeinen Sache willen. Also müsse ein Medium gefunden werden, in dem jeder öffentlich Kritik üben könne, auch wenn er nichts mit Literatur im Sinn habe. Der Direktor habe die Erlaubnis, das Motzfäßle aufzustellen, verweigert, weil Stefans Artikel zeige, daß es ihm nicht um kritische Mitarbeit, sondern um Konfrontation zu tun sei. Stefan beweise das durch sein unentwegtes Personalisieren. Schließlich sei das Schulgesetz für Baden-Württemberg nicht seine, des Direktors, Klausurarbeit. Jetzt schlage in der neuesten Nummer Stefan zurück. Er suche, wenn der Direktor dieses bißchen Demokratiebeginn verweigere, einen anderen, dann aber ganz und
gar öffentlichen Platz in der Stadt für sein Motzfäßle — womöglich mit Hilfe einer Bürgerinitiative-, dann werde eben die ganze Stadt die Klage- und Kritikzettel der Schülerschaft auf dem Landeplatz oder auf der Hofstatt zur Kenntnis nehmen. Ich weiß, du bewunderst ihn, sagte Julia. Ihr dagegen sei die Art, wie der das jetzt durchziehe, nicht mehr sympathisch, obwohl sie glaube, daß er, was die Demokratieechtheit des Direktors angehe, nicht ganz falsch liege. Aber es ist eben doch wieder eine Schau, sagte sie. Gottlieb Zürn spürte, daß er das Thema, Annas wegen, durch Nichtantworten erlöschen lassen mußte. Kaum hatte Julia aufgehört zu sprechen, sprang Anna auf und sagte, sie halte das nicht mehr aus. In diesem Augenblick kam Magda, ihren Teller mit zwei Händen tragend, heraus und setzte sich ohne jeden Aufwand auf ihren Stuhl. Gottlieb wußte, daß Anna von ihm erwartete, er werde Magda irgend etwas Tadelndes, Rächendes sagen. Also sagte er es. Er wählte eine Formulierung, in der vorkam, es sei jeden Tag dasselbe. Das gab allerdings Magda die Gelegenheit, ruhig darauf hinzuweisen, daß sie eben deshalb nicht verstehe, warum man sich darüber aufhalte, wenn sie ihr Essen selber zubereite. Anna wollte protestieren. Gottlieb bat sie, darauf zu verzichten. Hauptsache, sie säßen an einem Tisch, sagte er, auch wenn sie nicht das gleiche äßen. Dieses Vegetariertum, sagte Anna, könne sich Magda jetzt, wo es bald aufs Abitur zugehe, nicht mehr leisten. Das Gehirn brauche . . . Bitte, bitte, sagte Gottlieb. Das Telephon läutete. Julia rannte hin. An ihrem Dialektgrad hörte man sofort, mit wem sie sprach. Jeder in dieser Familie, das hatte ihn schon oft erbittert, stellte sich am Telephon immer sofort und voll und ganz auf den ein, der anrief. Rief ein Norddeutscher an, so verfügte jedes Familienmitglied sofort über die norddeutsche Färbung. Bei Anna hatte er den Eindruck, sie gehe in der instinktiven Sofortanpassung noch weit über das Klangliche hinaus. Die hatte es nötig, ihm Unaufrichtigkeit vorzuwerfen! Bei ihr hörte man nicht nur Landschaften, sondern die Individuen und Charaktere durch, mit denen sie sprach. Sie sprach frech-hell oder düster-sanft, je nach dem Partner. Wenn das fast unverfälschte Hiesige erklang, war Wigrats-weiler am Apparat. Diese Gespräche waren die kürzesten. Julia kam auch schon fröhlich aufgeregt zurück: ihre Cousine, die Wigratsweilerer Julia, sei seit zwei Tagen nicht mehr heimgekommen. Falls sie hier auftauche, bitte Agnes um sofortigen Bescheid. Amtshilfe, dachte Gottlieb. Diese Nachricht war offenbar das erste Tröstliche, was Anna heute zu hören bekam. Die arme Agnes, sagte sie. Warum hast du mich denn nicht an den Apparat geholt. Anna hätte offenbar gern ein bißchen Klage ausgetauscht mit Agnes, und sei es nur, weil sie momentan, da keine der Ihren durchgebrannt war, trotz allem ein bißchen besser dran war als Agnes in Wigratsweiler. Mütter sind auch Menschen, dachte Gottlieb und fühlte sich wohl bei dem Gedanken. Julia fand es echt gut, daß ihre Namensbase untergetaucht sei. Wie Magda das finde? Die zuckte mit einer Schulter. Sie stellte jetzt erst den Suppenteller, der bis zum Rand mit einer weißgrauen, offenbar kalten breiartigen Masse gefüllt war, auf den Tisch und begann, ihn auszulöffeln. Dazu aß sie einen Apfel. Gotdieb dachte: Sie sitzt unter uns wie eine Gefangene. Die arme Agnes, sagte Anna noch einmal in dieser Mischung aus Bedauern und Befriedigung. Unter der Tür erschien Regina und rannte, einen Bogen um ihre Mutter machend, auf Magda zu und klammerte sich an sie und sagte, daß es ein Herpes sei. Aber da war Anna schon bei ihr und zerrte sie ins Haus hinauf. Nur Reginas Erscheinen hatte Magdas Gesicht eine Sekunde lang belebt. Jetzt löffelte sie wieder wie vorher. Es läutete. Julia rannte zur Tür. Magda hatte ihr Löffeln nicht unterbrochen. Julia kam enttäuscht zurück. Nur Antje. Sie will Regina die Aufgaben bringen. Nach ein paar Minuten wurde Anna unruhig. Wieso denn Aufgaben! Regina könne doch keine Aufgaben machen. Sie rannte hinauf. Gleich darauf hörte man, wie sie Antje ziemlich
schroff verabschiedete. Als sie zurückkam, sagte sie, Antje sei droben vor Reginas Bett hin und her getanzt und habe mit halb geschlossenen Augen gesummt: Ich bin die Beste, ich bin die Beste. Herr Gerber habe ihr heute vor der ganzen Klasse gesagt, die Klasse könne sich glücklich schätzen, daß sie Antje Jensen habe, sie sei ein Gewinn für die Klasse. Und weil Regina diesen Triumph nicht miterlebt hat, kommt sie ins Haus, um ihn ihr vorzuspielen. Magda stand auf, nahm ihren leeren Teller und ging. Magda, rief Gottlieb, jetzt bleib doch noch eine Sekunde. Zu was? sagte sie. Er wollte sagen: So halt. Aber sie sah ihn so an, daß er nichts sagen konnte. Der lange dünne Hals schien dieses schwere Gesicht nicht mehr tragen zu können. Jetzt komm doch, sagte er. Sie müsse arbeiten. Was? Ein Referat. Worüber? Madame Bovary. Immer noch Madame Bovary, sagte er leiser. Ja, sagte sie und ging. Schon vor den großen Ferien hatte sie, immer wenn sie sich entzog, gesagt: Ein Referat. Madame Bovary. Schon um Ostern herum, beim Skifahren, hatte sie, wenn sie mit auf die Piste sollte, gesagt: Madame Bovary. Am Anfang hatte er es für Pflichtbewußtsein gehalten. In diesem Augenblick kam draußen im Garten Frau Schneider vom Ufer herauf und legte es, anstatt vorbei- und schnurstracks in die obere Ferienwohnung zu gehen, darauf an, mit Zürns ins Gespräch zu kommen. Sie sei noch einmal drunten gewesen, weil sie gedacht habe, Ellen, die sie ihre im Liegestuhl vergessene Sonnenbrille zu holen geschickt habe und die ohne Sonnenbrille zurückgekommen sei, habe einfach nicht richtig hingeguckt. Aber tatsächlich habe sie die Sonnenbrille, als sie jetzt selber drunten gewesen sei, auch nicht gefunden. Zürns verstünden sicher, da sie selber Kinder hätten, daß ihre Frage, ob Ellen, ohne richtig hinzugucken, gemeldet habe, die Sonnenbrille sei nicht drunten, trotzdem nicht ganz aus der Luft gegriffen gewesen sei. Gottlieb sagte, Frau Schneiders Frage müsse man realistisch nennen, wenn auch bei einem so gut erzogenen Mädchen wie Ellen die generell richtige und nötige Frage ausnahmsweise nicht nötig sei. Aber warum nicht nötig?! Weil Frau Schneider diese um ein Gran zu strenge Frage immer gestellt habe. Die Frage sei also nur überflüssig, weil sie immer gestellt wurde. Wo sie nicht gestellt werde, sei sie auch nicht überflüssig, sondern dringend geboten. Stimmt's? Obwohl er das mehr als Jurist formuliert habe, könne sie als Mutter ihm zustimmen, sagte Frau Schneider. Herr Schneider und Ellen kamen um den Wacholderstrauch herum, um zu sehen, wo ihre Mutti bleibe. Frau Schneider sagte, die Sonnenbrille sei tatsächlich nicht drunten. Des hab ich dir aber g'secht, sagte Ellen. Herr Schneider sagte: Die kann ja net vom Erdbode verschwunde sei, also kommed no, solang ma no ebbes siecht. Frau Schneider und Ellen starrten Herrn Schneider an. Sie begriffen nicht, warum sie noch einmal zu dritt hinunter sollten. Mutter und Tochter wußten, die Sonnenbrille war nicht drunten. Einen Augenblick lang war es still. Über jedem der drei Köpfe der Familie Schneider kochte ein Mückenschwarm im Abendlicht. Die schwere Luft trug plötzlich Glockenschläge vom See herauf, wo gewiß keine Kirchen sind. Die Rosen sahen sofort aus, als seien sie überrascht. Und die Malven, hätte Gottlieb am liebsten gerufen, schaut doch, die Malven drehen die Blüten zum Horchen wie Rehe die Ohren. Aber er hütete sich. Kommed, sagte Herr Schneider. Ellen, hasch du ghörd, was der Papa — das sagte sie anders als am Morgen — gesagt hat. Aber weil sich immer noch niemand rührte und vielleicht nie mehr jemand gerührt hätte, sprang Herr Schneider zwischen Mutter und Tochter, ergriff beide an den Händen und zog sie, laut über die Sonnenbrille redend, zum Ufer hinab. Gottlieb fing an, das Geschirr hineinzutragen. Er dachte mit Bewunderung an Herrn Schneider. Wie der vorgesprungen war. Wie der zugegriffen hatte. Wie der gehandelt hatte. Gottlieb konnte sich nicht erinnern, je so zugegriffen zu haben. Er hätte sich am liebsten auch an der Hand packen lassen von Herrn Schneider, daß er hätte hinabstürmen können
mit denen, um sich wild zu beteiligen an der Suche nach einer unauffindbaren Sonnenbrille. Aber das ging nicht. Das ging ja nicht. Eine Familie sucht die Sonnenbrille, die andere trägt Geschirr hinein. Drinnen stellte er das Geschirr nicht nur ab, sondern brachte es in der Spülmaschine unter. Er wollte Anna, obwohl er keine Lust dazu hatte, helfen. 2. Anna, die sich in Reginas Zimmer ein Bett gerichtet hatte, stürmte herein. Sie hat einen Termin bei Dr. Finkenbein für das EEG, aber sie muß auch Dr. Freisieben Reginas Morgenurin bringen, kann allerdings dort mit dem Auto kaum halten, also wäre sie froh, wenn Gottlieb sie bei Dr. Freisieben aussteigen lassen und mit Regina zu Dr. Finkenbein weiterfahren würde, oder ob er lieber den Urin . . . Nein, nein, er bringe Regina zum EEG. Die Nacht sei furchtbar gewesen, sagte Anna. Man sah es ihr an. Regina sah aus, als hätten ihr eine Nacht lang Gespenster im Gesicht herumgepatscht. Was gestern grauviolette Schatten im Augenumfeld gewesen waren, schien jetzt Farbe zu sein. Die Augen sahen rot daraus hervor. Als Anna aus dem Auto stieg, sagte sie, sie werde nachher zu Dr. Finkenbein hinaufkommen und den Überweisungsschein mitbringen. An der Tür zum Wartezimmer des Nervenarztes war angeschlagen: /. Oktober nicht vergessen, die Krankenscheine zu bringen. Außer ihm und Regina saß noch ein altes, von aller Farbe verlassenes Paar im Wartezimmer. ER sagte zu IHR hin: Ich saach, daß du nich' bist wie sonst. Daß du'n Schwächeanfall gehabt hast. Sie schaute geradeaus, als habe sie nichts gehört. Nach einer langen Zeit sagte sie: Schwächeanfall. Sie sagte das, als sei sie von ihrem Mann tief enttäuscht, als habe sie etwas ganz anderes erwartet. Er, eigensinnig: Ich saache nich' Kollaps. Sie reagierte nicht. Er, fast verzweifelt: Was soll ich denn saachen!? Dann kommt eine Frau mit Hörapparat herein, setzt sich in dem leeren Raum eng neben das Paar, als gehöre sie dazu, und starrt Gottlieb Zürn hemmungslos ins Gesicht. Die Sprechstundenhilfe holt Regina ab. Gottlieb soll nicht mit hinein. Als sie mit Regina zurückkommt, fragt sie nach dem Überweisungsschein. Gottlieb sagt, den werde seine Frau gleich bringen. Die Hilfe sagt, das Kind könne er erst mitnehmen, wenn der Schein da sei. Sie hält tatsächlich Reginas Hand. Das hatte bis zu diesem Augenblick ausgesehen wie Betreuung. Da geht die Tür auf, Anna tritt ein, mit dem Schein, die Hilfe läßt Regina los, man kann gehen. Regina erzählt aufgeregt, wie ihr die Hirnströme gemessen wurden. Zu Hause rennt er in sein Büro. Er muß Kunden anrufen. Er möchte Frau Dr. Leistle am Samstag ein paar beeindruckende Interessenten präsentieren können, damit es ihr leichter falle, ihm den Alleinauftrag zu geben. Den qualifizierten, bitte! Verkäufer, besonders Frauen, glauben immer, sie müßten möglichst viele Makler beschäftigen. Daß dann keiner sich wirklich mit ihrer Sache beschäftigt, ist ihnen kaum klarzumachen. Zuerst rief er seinen Vetter Franz Hörn an, der für die Firma, in der er arbeitete, auch die Liegenschaften besorgt. Erst vor einem halben Jahr hatte Gottlieb der Firma ein Industriegrundstück in Markdorf vermittelt. Er hatte seinem Vetter von der 22 000-Mark-Provision 2200 Mark überwiesen, der hatte sie ihm — womit Gottlieb gerechnet hatte — zurücküberwiesen, also hatte er ihm 120 Flaschen Hagnauer ins Haus geschickt, die waren angenommen worden. Die Sekretärin verband ihn. Gottlieb sagte: Franz, bist du's? Franz sagte: Ach, Gottlieb, du bist's. Ja, er sei's, sagte Gottlieb. Wie es Franz gehe, und Hilde, ob es Hilde auch gutgehe, ob sie eigentlich noch singe, was, immer noch mehr, und davon höre man nichts, vor lauter Hetzerei, man komme ja nirgends mehr hin, und die Kinder, mein Gott, schon gleich ins Abitur, aber so ist es, aus Kinder werden Leut', ist es nicht so, es ist doch so, und wir werden auch nicht jünger, stimmt's oder stimmt's nicht? Ist der Thiele
zufrieden mit dem Markdorfer Platz? Für den müßte er inzwischen gut und gern 10 000 mehr hinlegen. Jetzt hätte Gottlieb tatsächlich das, was Thiele seit Jahr und Tag sucht, also wirklich was ganz was Feins. Gebaut anno nullfünf. In der ganzen Welt liegt so ein Haus kein zweites Mal unter solchen Bäumen, mit einem solchen Hafen, an einem solchen See, Tennisplatz sowieso, also eben Occasion, was Occasion heißt. Wenn Franz und Gottlieb das Richtige tun wollten, müßten sie ihre Häuschen sofort abstoßen und das Anwesen dort kaufen. Ein besseres Geschäft könnten sie in ihrem Leben nicht mehr machen. Und warum tun sie das nicht? Mensch, Franz, Heilandzack! Warum nicht? Er weiß es nicht. Er weiß es wirklich nicht. Ein Notverkauf, Franz! Die Frau Bansin, Franz hat sicher von ihr gehört, die hat alles verdummt, sie und ihr Sohn; 's Eberhärdle, mit Gottlieb in die Schule gegangen, dadurch hat er doch die Hand drauf auf der Occasion. Also Mutter und Sohn haben das Sach' verdummt. Sie hat gespielt, da war kein Segen mehr drauf. Der junge Bansin steht heute als Zeuge Jehovas bei ihnen in Ravens-burg drüben, am Marienplatz, neben sich einen Basset, gell, den kennt Franz, ja, genau, das ist der junge Bansin, der mit dem komischen Hund. So geht es eben, wenn es letz geht. Die haben ja ihre Fabriken im Osten gehabt, 1000 Arbeiter, so um den Dreh, und ohne Fabriken sind die nicht lebensfähig. Webstühle produziert, und zwar in Chemnitz. Bitte, das muß man dem Thiele doch sagen! Wer hier Chemnitzer Zähne aufgebaut hat, hat einfach ein Anrecht darauf, der erste zu sein, wenn ein hauptsächlich von Dresdner Künstlern ausgestattetes Haus zu haben ist. Etwas historisch Einmaliges zieht natürlich Käufer und Kenner an. Gottlieb glaubt, man müßte es für einsneun kriegen können. Dann noch die Renovierung. Die haben ja seit dreißig Jahren nichts mehr richten lassen. Ein neues Dach, neue Heizung, frisch verputzen, vor allem der Hafen hat gelitten, aber mit vierhunderttausend tut einer da viel. Dann hat er was, was er im Handumdrehen ums Doppelte verkaufen kann. Wie Gottlieb Arthur Thiele einschätzt, verkauft der das nie mehr! Ein solcher Bootsnarr und Tennisspieler! Allein wie diese Bäder ausgestattet sind! Säle sind das, Fran2! Thiele das sehen und kaufen ist eins! Womit sie, Franz und Gottlieb, einen guten Lohn verdient hätten. Franz Hörn stöhnte. Oh Gottlieb, sagte er. Also dümmer könne es sich nicht mehr fügen. Auf dem Markdorfer Grundstück werde, weil man nicht alles, was die Zähne brächten, in Zähne investieren könne und weil die zwar immer blühende, aber doch recht spezielle Zahn-Produktion eine Diversifizierung habe geraten erscheinen lassen, ein Werk für eine neue Produktion gebaut. Nur zu Gottlieb gesagt: Surf-Bretter. Da man in Kunststoff firm und Thiele dem Wasser verschworen sei, liege das nahe. Aber die Kapitaldecke werde arg knapp. Man übernehme sich einfach. Das sei seine Meinung. Thiele gehe immer mutwillig, wenn nicht sogar prinzipiell über das, was Franz Hörn für möglich halte, hinaus. Und nun noch ein Engagement von über zwei Millionen, bloß so zum Verwohnen, das sei überhaupt und im Augenblick ganz besonders unmöglich. In fünf Jahren, wenn sie ihr erstes Ziel, jährlich 30 000 Surfbretter zu verkaufen, erreicht hätten, dann könnte man darüber reden . . . Franz, Mensch, unterbrach Gottlieb seinen Vetter, der in der Verwandtschaft als Umstandskrämer und Schwarzseher bekannt war. Franz solle doch Thiele nur einmal den Ball zuspielen, nur so, zur Gaudi. Schließlich wisse Gottlieb von keinem anderen als von Franz, daß Arthur Thiele so was suche und der Mann sei für sowas. Das stimme ja, stimme ja alles, rief Franz Hörn, Thiele fluche jeden Tag über seinen Sichtbetonflachdachbungalow, obwohl der jetzt schön eingewachsen sei. Jeden Tag zitiere Thiele irgendeinen Biobau-apostel, der Studenten in Holz und in Betonzellen testet und nachweist, wie Beton und Kunststoff Geist und Seele kränken. Es sei ergreifend, diesen Mordsmann rufen zu hören: Ich ersticke, in dieser Betonkiste erstick' ich. Also bitte, bitte, rief Gottlieb, und jetzt kann er raus! Allein schon
fünfhunderttausend macht er gut, wenn er im Hafen 30 bis 40 Liegeplätze vermietet, da zahlt jeder die Miete für 10 Jahre voraus, damit er bloß reinkommt. Aber Thiele behält den Hafen für sich, der erklärt ihn zum Versuchsgelände für die Surfbrettentwicklung und finanziert den Preis durch Abschreibung, das ist Thiele, stimmt's?! Gleichsehen täte es ihm, sagte Franz. Aber über einsfünf geht nichts, Gottlieb, das schwör' ich dir. Einsfünfist auch schon Wahnsinn. Jede Mark darüber, Verbrechen. In Markdorf schaffen wir ein-hundertzwanzig Arbeitsplätze, Gottlieb! Jetzt spiele Franz dem Thiele einmal den Ball zu, dann sehe man weiter. Thiele sei gerade in Norwegen, um in Bergen mit einem der führenden europäischen Kieferorthopäden zu verhandeln. Auch ein bißchen zum Angeln, nebenher, der Wassermensch, der er ist. Am Montag sei Thiele zurück. Franz werde ihn sofort informieren, obwohl er fürchte, daß Thiele, wenn er die von Gottlieb geschilderten Zimmer und Bäder sehe, in all seiner Vitalität und Hinreißbarkeit nur noch daran denke, was man da für Feste feiern könne, und einfach zugreife. Etwas zwischen Neuschwanstein und Karinhall schwebe Thiele jetzt vor. Schon die zweite BrekerPlastik hab' er gekauft. Franz werde Thiele natürlich alles sagen, was er von Gottlieb gehört habe. Obwohl Thiele keinen Tag jünger sei als Franz, sei Thiele inzwischen der junge Prinz und Heißsporn, Franz dagegen the eider statesman. Franz komme also, wenn er Herrn Thiele das Anwesen mit größten Vorbehalten schildere, in keinen Konflikt mit der Loyalität gegenüber seinem Vetter. Je mehr er Herrn Thiele warne, desto heißer werde der. Das leuchtete Gottlieb ein. Er bat Franz, Herrn Thiele kräftig zu warnen und Hilde und die Kinder zu grüßen. Dann holte Gottlieb die Mappe Baptist Rauh aus seiner Kartei. Er wußte allerdings von der Telephonnummer bis zum letzten Geschäftsvorgang alles, was diesen Kunden betraf, auswendig. Wie seine Mutter wäre er fast ohne Schriftliches ausgekommen, da sein Gedächtnis wie das seiner Mutter, vor allem wenn es sich um Zahlen handelte, von unerschöpflicher Kapazität zu sein schien. Baptist Rauh sei im Studio. Frau Rauh war so unfreundlich, daß Gottlieb es nicht für Laune halten konnte. Wahrscheinlich haßte sie ihn allmählich, weil er ihren Mann immer wieder zu Grundstückskäufen in der Bodenseegegend animierte. Fünf Grundstücke hatte er Herrn Rauh in den letzten fünfzehn Jahren vermittelt. Das erste noch als Dr. Enderies Angestellter. Frau Rauh, eine geborene Hamburgerin, interessierte sich überhaupt nicht für die Heimat ihres Mannes. Er kam von Hergensweiler. Sie wollte ihn zum Hamburger machen. Aber und das war schlimmer — sie konnte oder wollte überhaupt nicht rechnen. Sonst hätte sie gemerkt, daß die fünf Grundstücke, die zusammen 160400 Mark gekostet hatten, inzwischen 750- oder 800 000 wert waren. Frau Rauh war nie erschienen zu den Besichtigungen oder Protokollierungen, an die sich immer rechte Gelage anschlössen. Als Mannequin für Pelze und Hüte hat sie immerzu Termine in Hamburg und in Berlin. Baptist Rauh sah jedesmal aus, als brauche er Erholung. Er war als Komponist und Textdichter wahrscheinlich von noch mehr Terminen belagert als seine Frau. Herr Rauh sagte, sobald er sich aus Hamburg zurückziehe und auf eines seiner hiesigen Grundstücke ein Haus baue, werde er keine Zigarette mehr anrühren. Dann werde er ein anderes Leben führen, ein anderer Mensch werden, eine andere Musik schreiben. Diese Wende schien er immer dicht vor sich zu sehen. Er schien sich in Hamburg und sonstwo zu schinden nur für die Rückkehr in seine Gegend. Neuerdings war es oft genug er, der Gottlieb anrief und sagte, ob Gottlieb nicht einen Bauernhof habe für ihn oder ein altes eingewachsenes Haus am See. Am liebsten einen Bauernhof am See. Er habe überhaupt keine Lust mehr, selber zu bauen, obwohl ihm in den letzten zwanzig Jahren nichts so anziehend erschienen sei wie das Bauen, wie das Dabeisein, wenn ausgeschachtet wird, fundiert wird, die Wände wachsen. Jetzt fehle ihm dafür auf einmal der Sinn, das Verlangen. Etwas
Altes, am allerliebsten einen alten Hof mit möglichst vielen überflüssigen Gebäuden und abseits, das sei jetzt die Vorstellung, die ihn verfolge. Gottlieb bedankte sich sehr bei Frau Rauh und sagte, er gestatte sich, wenn er dürfe, nachmittags noch einmal anzurufen. Er versuchte, den zwei Sätzen eine geradezu magische, ganz unwiderstehliche Herzlichkeit einzuflößen. Aber das ungerührte Bitte am Hamburger Ende der Leitung ließ ihn an seiner Herzlichkeitskraft zweifeln. Er kippte seine Sesselschale nach hinten und lag reglos. Zu seinem Entsetzen sozusagen stellte er fest, daß er froh war, Baptist Rauh nicht erreicht zu haben. Das passierte ihm öfter, daß er froh war, wenn er einen, den er anrief, nicht erreichte. Er lag mit geschlossenen Augen und sah, wie in Leuchtschrift an einem Hochhaus immer wieder der Satz durchlief: Das größte Glück ist es, wenn ich jemanden anrufe und erreiche ihn nicht. Draußen gingen gerade Schneiders ans Wasser hinab. Offenbar kamen sie vom Tennisplatz. Frau Schneider sagte zu Herrn Schneider: Sodde Ball' sollt ma als nimme nehme. Anna rief in dem Ton, der sofort verriet, daß sie schon überanstrengt sei und im Augenblick nichts als Folgsamkeit ertrage, zum Essen. Den Kaffee, der nach dem Essen getrunken wurde, nahm er heute mit ins Büro. Er mußte sich und der Familie demonstrieren, daß er keine Zeit hatte. Er mußte öfter prüfen, ob er in Gefahr sei, faul zu werden. Wenn er andere beobachtete, sah er, daß sie entweder arbeiteten oder nichts taten, ruhten, sich erholten. Diesen Unterschied kannte er nicht. Er war immer in Gefahr, nicht nur nichts, sondern nie mehr etwas zu tun; deshalb mußte er sich ununterbrochen zwingen, etwas zu tun. Er hütete sich, jene innerste, tiefste, gründlichste Stimmung durchdringen zu lassen, die auf das Geständnis hinauslaufen mußte, er arbeite nie etwas und wolle nie etwas arbeiten und tue immer nur so, als arbeite er. Daß er fast ununterbrochen arbeitete, hatte er nur der Angst vor seiner fürchterlichen Neigung zum Nichtstun zu verdanken. Er mußte heute abend Frau Reinhold über Frau Dr. Leistle ausfragen, dann konnte er morgen Expose und Inserat noch dem Charakterbild anpassen, das ihm Frau Reinhold liefern würde. Um vier Uhr rief er Baptist Rauh an. Er wolle sich den Vorwurf, Herrn Rauh von diesem Objekt nichts gesagt zu haben, nicht machen. Herrn Rauhs Grundstücke ließen sich heute für 800-, vielleicht für 900 000 verkaufen. Für 1,6 oder 1,7 sei vielleicht - er sage ausdrücklich VIELLEICHT -dieses wunderbare Jugendstil-Ding zu kriegen, mit allem süßen Drum und Dran; dem Türmchen, dessen runde Stockwerke — die oberen zwei zumindest - von steinernen Gewächsen mehr umarmt als umrahmt würden; dem sanften Portal, das einen Giebel über sich habe, der an die Haube einer gotischen Madonna erinnere ... er beherrsche sich, er wolle doch Herrn Rauh nicht beunruhigen. Daß er überhaupt anrufe, könne er nur mit seiner eigenen Unruhe rechtfertigen. Seit er das Schwanenhaus gesehen habe, versuche er sich zu beweisen, daß er dieses schönste Ding nicht kaufen könne. Aber jeder dieser Beweise, je klarer er ihm die Unmöglichkeit, selber der Käufer zu sein, vor Augen führe, rufe ihn am Ende auf zu kaufen, zu kaufen, zu kaufen. Er tue jetzt nichts anderes, als Herrn Rauh an seiner eigenen ratlosen Unruhe teilhaben zu lassen. Aus alter gegendmäßiger Verbundenheit. Sagen Sie selber, Herr Rauh, hätte ich Ihnen das verheimlichen dürfen? Baptist Rauh sagte leise, schwach: Nein, Herr Dr. Zürn. Ich danke Ihnen. Gottlieb hörte Herrn Rauh mehrere Male an der Zigarette ziehen. Aber wie, sagte Herr Rauh dann, wie? Das ist es eben, sagte Gottlieb Zürn. Natürlich könnte man den Hafen leicht für 300- oder 400 000 an einen Segelclub loswerden, aber hieße das nicht, die Nase aus dem Gesicht verkaufen?! Eher riete er noch, den Tennisplatz für 80 000 an eins der Hotels zu geben. Also wenn Herr Rauh 700 000 finanzieren könnte, müsse er ihm zuraten. Herr Rauh sprach die Summe leise nach.
Eine Art Erschütterung bemächtigte sich dabei seiner Stimme. Er müsse das Haus sehen. Er wisse nicht, wie er 700 000 finanzieren könne, aber er müsse das Haus mit dem Madonnenhaubenportal und dem Steinlianenturm und so weiter einfach sehen. Und direkt am See? Und einen solchen Hafen? Ja, 70 cm dicke Mauern! Den würde er nie verkaufen! Herr Dr. Zürn, wo denken Sie hin, den Hafen verkaufen! Der Hafen sei doch genau das, was seine Frau endlich dazu bewegen werde, einmal mitzukommen. Sie sei eine Seglerin! Und was für eine! Das wäre die Lösung, sagte Gottlieb. Mein Gott, Herr Dr. Zürn, sagte Baptist Rauh, das ist die Lösung. Endlich! Wenn Bruni mitzieht, bin ich mehr als doppelt so stark. Sie muß das Haus und den Hafen sehen, sagte Gottlieb. Wir kommen, sagte Herr Rauh. Jetzt mußte Gottlieb bremsen, die Lage schildern, das Vorzeitige, aber Berechtigte seines Anrufs, weil er doch einen seiner besten Kunden vor dem großen Trubel benachrichtigt haben wollte. Herr Rauh spricht mit seiner Frau, Gottlieb spricht mit Frau Dr. Leistle, in der nächsten Woche ruft Gottlieb wieder an. Warum erst so spät, sagt Herr Rauh aufgeregt, warum nicht am Samstag, wenn Herr Dr. Zürn aus Stuttgart zurück sei. Gottlieb sagte, er wolle Herrn Rauh gleich auch die Verkaufschancen für die Grundstücke Hochbuch, Motzach, Taubenberg, Rehlings, Hoyerberg konkret offerieren; das koste Zeit, also bis Mittwoch mindestens. Moment, rief Herr Rauh. Ob er mit Bruni nach Zürich fliegen und herüberfahren könne, ob es sich empfehle, das Ding einfach einmal anzuschauen, das könne Herr Dr. Zürn ihm doch schon am Wochenende durchsagen. Gut, also, wir telephonieren am Sonntag! Baptist Rauh, immer noch der alte. Wenn der Feuer fängt, kostet es mehr Mühe, ihn vom Objekt fernzuhalten, als es bei anderen kostet, sie hinzubringen. Anna kam und teilte mit, daß Dr. Freisieben jetzt rate, Regina morgen in die Kinderabteilung des Krankenhauses zu bringen. Das EEG habe nichts Negatives erbracht, aber der Zustand des Kindes sei doch so, daß eine stationäre gründliche Untersuchung nicht länger aufgeschoben werden sollte. Gottlieb fand das richtig. Er werde sofort Frau Ortwein, die ja freitags zum Schreiben komme, anrufen und sie fragen, ob sie am Montag oder Dienstag Zeit habe. Frau Ortwein, die sowieso nur in einem klagenden, schleppenden, immer beleidigten und ein bißchen aufbegehrenden Tonfall sprechen konnte, sagte, das komme ihr aber gar nicht geschickt. Wahrscheinlich wollte sie aus der Änderung des Routinetermins möglichst viel herausschlagen; nichts Materielles; aber Gottlieb sollte sich vielmals entschuldigen und sich vor ihr krümmen. Jeder muß andauernd versuchen, aus allem soviel als möglich herauszuschlagen. Gottlieb sagte: Lassen wir's, Frau Ortwein, kommen Sie morgen. Ja, ob das denn gehe? Dann müsse eben seine Frau Regina allein ins Krankenhaus bringen. Nein, nein, das wolle sie auch nicht, dann rufe sie eben ihre Schwester an in Freiburg, daß die einen Tag früher oder später komme. Aber das kann ich doch nicht verlangen, sagte Gottlieb. Nix da, das wird probiert. Er solle auflegen, sie rufe ihn gleich wieder an. Sie rief gleich wieder an. Es gehe. Ihre Schwester müsse nur noch den Inspektionstermin ihres Autos verlegen. Also dann am Montag. Zuletzt schien es ihr eine reine Freude gemacht zu haben, alles umzudirigieren. Noch nie war ihr schleppender Ton so in Bewegung geraten. Wahrscheinlich hatte er Frau Ortwein immer falsch eingeschätzt und dann auch ihren Sprechton falsch verstanden. Ist das nicht komisch, daß man zu jemandem, dem man Geld gibt, eine unkomplizierte Beziehung zu haben glaubt, während man zu einem, von dem man Geld bekommt, eben deshalb gar keine mehr hat. Wenn man alles, besonders die Logik, dachte er, auf diese Erfahrung gründen würde . . . Anna kam herein mit einem Rosenstrauß, dessen Rosen nach der Mitte zu immer tiefer rot wurden. Sie hielt ihm den Strauß hin. Frau Reinhold finde nur Sträuße
schön, die aus Blumen einer Sorte bestünden, aber keinesfalls dürften diese Blumen dann von einer Farbe sein, sagte Anna. Für solche Daten hatte sie ein genauso unerschöpfliches Gedächtnis wie er für die Daten seiner Kunden. Er zog Anna an sich. Sie streckte den Strauß weit weg, um die Rosen zu schützen. Er ging hinauf, zog seine zitronenfarbene Hose an, das Hemd in dem blassen, fast schon weißen Rosarot und seine cognacfar-bene, tropicalleichte Jacke, die mit einem dünnen schwarzen Gitter gemustert war, das flache Rechtecke produzierte. Da er, wie immer bei solchen Anlässen, viel zu früh fertig war und Anna nicht merken lassen wollte, wie aufgeregt er war, hielt er sich, ohne etwas tun zu können, in seinem Zimmer auf. Er versuchte, sich Frau Dr. Leistle vorzustellen, und landete immer wieder bei einer unwirklich biederen Frauenfigur, frisch vom Friseur, panzerhaftes Kostüm, Rubinbrosche, cremefarbene Seidenbluse, deren Kragen in eine knüpfbare Schleife auslief. Zu allem Überfluß noch ein törtchenhaftes Hütchen mit einem Schleierfetzen. Und auf steinige Art hager. Und was noch? Schnurrbartansatz? Ja. Er hätte ihr noch zwanzig Einzelheiten nachsagen können, er sah sie einfach nicht. Das Gesicht, die Augen . . .? Er brauchte dringend ein paar Daten mehr, damit er, wenn er in der Parierstraße durch eine helle Halle in ein noch helleres Wohnzimmer träte, nicht auch noch mit Überraschungen zu kämpfen hatte. Am liebsten möchte er in seinem Zimmer bleiben dürfen und keinem Menschen sagen müssen, warum er nicht hinaus wolle. Er weiß, warum er nicht hinaus will. Aber seine Gründe sind so lächerlich, so blamabel, daß er sie höchstens auf einer Folter gestehen könnte. Er sehnte sich schon hinaus. Und wie. Aber unter anderen Bedingungen. Doch nicht, wenn er bei Frau Reinhold auftreten mußte. Antreten mußte gegen Frau Reinholds Gäste. Jeder von denen, gut, klug, wohlriechend, verschlossen, attraktiv, unerreichbar. Gottlieb hätte sich am liebsten auf seinen Kirman-Teppich gesetzt. Einen Augenblick lang stellte er sich vor, er könne sich im dichten Rankenwerk seines Teppichs verkriechen. Oder wenigstens darauf herumkriechen. Aber auch das mußte er sich verbieten. Er mußte gehen. Auf dem Kiesplatz stand der immer makellos glänzende schwarzweiße Monteverdi Safari. Mit dieser Autokutsche fuhr der junge Soziologe Frau Reinhold zum Einkaufen, zum Tennisspielen, zum Segeln. Das gleichermaßen für blendendes Kutschieren wie für Steppe und Wüste geeignete Großfahrzeug schien für Fahrten mit dem jungen Soziologen reserviert zu sein. Wenn der allein unterwegs war, fuhr er seinen kleinen Renault, in dem er lustig gebückt und gedrückt aussah. Er war ja ein Riesenkerl. Ein Bernhardiner. Wenn er und die auch zur Supererscheinung tendierende Frau Reinhold im Monteverdi Safari saßen, stimmte alles. Anna wollte nicht verstehen, daß Frau Reinhold ein Auto fuhr, das, wo auch immer es stand, sofort und weithin verriet, daß Frau Reinhold in der Nähe sei. Anna hätte es verstanden, wenn Frau Reinhold sich und den Soziologen verborgen hätte. Anna dachte nicht emanzipativ. Schlimmer, als der zu früh kommende erste Gast zu sein war es, auf die schon als Clique plaudernde Gruppe der vor einem Eingetroffenen zugehen und dabei entscheiden zu müssen, wem in welcher Reihenfolge die Hand hinzustrecken sei. Frau Reinhold nahm die Blumen, erkannte die Konzeption als die ihre, war gerührt. Weil er tatsächlich der erste war, konnte er nicht einfach von Frau Dr. Leistle anfangen, sonst wäre der Eindruck entstanden, er sei nur deshalb so früh gekommen. Frau Reinhold hätte davon anfangen können. Aber sie schickte ihn gleich auf die Terrasse. Die Entschuldigung für sein Zufrühkommen brachte er nicht heraus. Sie hatte gleich gerufen: Giselher, eine Vase! Und wo war Dr. Reinhold? Judith hieß die Tochter, die in Magdas Klasse die Beste war, das wußte er. Benjamin hieß der, der in Julias Klasse mit Stefan Schatz um den ersten Platz kämpfte. Außerdem war er Landesjugendmeister in einer Fechtart. Aber in welcher? Und die
jüngste hieß . . .? War die in Amerika? Anna hatte ihm alles gesagt, aber er hatte nicht aufgepaßt. Er hatte sich wieder einmal den Ernstfall nicht vorstellen können. Dabei gibt es wirklich nichts Einfacheres — und schon gar nichts Billigeres —, wenn man Leuten gefallen muß, als sich ein paar Daten ihrer Kinder zu merken. Wenn er jetzt hätte fragen können, ob es der Tochter, deren Namen er nicht wußte, in Amerika, in der Stadt, die er vergessen hatte, immer noch so gut gefalle bei der Familie, von der Frau Reinhold irgendwo irgendwann etwas berichtet hatte, was Anna erfahren und weitergemeldet und er schon beim Anhören vergessen hatte, wäre der Abend wahrscheinlich gewonnen gewesen. Wenn er endlich einmal einsähe — und sich dementsprechend verhielte -, daß der Ernstfall immer ist. Sobald Frau Reinhold meldete, man sei vollzählig, wandelten die Grüppchen auf die Terrasse und wurden von jetzt an von Giselher und dem italienischen Dienstmädchen, die man Anna rief, bedient. Giselher hatte auch keine Krawatte an. Bei dem fiel das, weil sein Bart den krausen Kopf zur krausen Kugel rundete, nicht auf. Dr. Terbohm und seine junge Frau hatten, als sie ihm die Hand gaben, noch mit Kaltammer gelacht. Kaltammer war, als er Gottlieb sah, noch überraschter gewesen als Gottlieb, als er Kaltammer sah. Kaltammer, in petroleumfarbenem Seidenanzug, hatte eine neben ihm besonders gesund aussehende Baronesse Reitmor dabei. Kaltammer war in Gottliebs Altersfeststellung eine Monstrosität. Gottlieb empfand ihn als Säuglingsgreis. Dazwischen gab es keine Altersstufe, in die er besser gepaßt hätte. Die zweite Frau Terbohm sah noch genauso aus wie vor zwölf Jahren, als sie den Doktor geheiratet hatte. Aber auch damals hatte sie, obwohl sie viel jünger gewesen war, wie eine Neunundzwanzigjährige ausgesehen. Jetzt war sie vielleicht gerade so alt geworden. Sie war also gerade in voller Übereinstimmung mit sich selbst. Sie strahlte, ohne etwas dazuzutun. Es gibt nichts, was ich nicht lieben kann: so eine Ausstrahlung hatte sie. Gottlieb schaute so loyal als möglich zu Frau Reinhold hin und mußte sofort zugeben, daß sie -was er gerade noch für unmöglich gehalten hatte - bestehen konnte. Das Grünspangrün ihrer reinen Seide war so durchsichtig, daß man, soweit man sah, unter ihrem Kleid nichts als sie selbst sah. Allerdings doch wieder so ins Grün-schummrige getaucht, daß man nicht soviel sah, wie man meinte, gleich sehen zu dürfen. Gottlieb Zürn konnte seine Augen nicht hindern, den Abend lang immer wieder auf Frau Reinholds großer Figur auf- und niederzutasten, weil seine Augen sich von ihm einfach nicht sagen lassen wollten, daß man mehr als beim ersten Blick auch beim hundertsten nicht erreiche. Und weil er, um seine Angst und Spannung loszuwerden, rasch viel trank und, wenn er etwas getrunken hatte, nichts, was ihm gerade wichtig war, ganz verschweigen konnte, riß er einmal das Wort an sich und erzählte - und wußte selbst nicht, woher er, was er erzählte, nahm -, sie hätten in diesem Sommer in einer ihrer Ferienwohnungen ein Ehepaar aus Mönchen-Gladbach gehabt, und der Mann, ein Diplom-Physiker, habe 17 Tage hinter einem auf ein Stativ montierten Fernglas verbracht und habe damit Männer und Frauen, aber wahrscheinlich doch eher Frauen als Männer, auf den vorbeifahrenden Booten beobachtet. Sobald etwas Lohnendes entdeckt gewesen sei, habe der Diplom-Physiker es mit Hilfe eines enormen Teleobjektivs fotografiert. Als an einem Samstagabend einer dieser Motorkreuzer zirka 70 Meter draußen geankert habe, sei der Mönchen-Gladbacher erst bei völliger Finsternis heraufgekommen, wie schrill auch seine Frau ihr Heinrisch hinuntergerufen habe. Und am Sonntagmorgen schon ab sieben wieder auf dem Posten. Und den ganzen Sonntag über das nahezu nackte Nichtstun des jungen Paars beobachtet. Wie langsam, zum Beispiel, die einander das Sonnenschutzöl in die Haut gerieben hätten. So langsam eben, daß man nicht mehr habe wegschauen können. Am Nachmittag habe der junge Mann begonnen, sich zu duschen. In halb liegender
Stellung. Auf dem Vorderdeck. Sie habe ihm dazu die Dusche gereicht. Knieend. Dann er ihr die Dusche zurückgegeben. Dann sie ihn eingeseift. Das Einseifen noch langsamer als am Vormittag das Einölen. Dann gebürstet. Immer noch sie ihn. Dann wieder geduscht. Nicht er sich, sondern sie ihn. Und zwar alles an ihm. Dann er sie. Genau so feierlichkeitserzeugend langsam und gründlich wie sie ihn. Zuletzt habe der junge Mann draußen langsam das Fernglas aus ihrer zureichenden Hand genommen und habe hereingeschaut. Der Mönchen-Gladbacher war ihnen aufgefallen. Dann das Fernglas an das Mädchen zurück, aufgestanden, klar Schiff gemacht, Anker gelichtet und langsam fortgefahren. Ihn, Gottlieb Zürn, würde interessieren, was zwei, die einander mit gleich starken Ferngläsern ansehen, dabei für Gesichter machen! Damit schloß er. Also wenn Dr. Zürn nicht erwähnt hätte, daß dieser Voyeur ein Diplom-Physiker aus Mönchen-Gladbach sei, hätte sie, rief Lissi Reinhold, geglaubt, es handle sich um einen Fünfzehnjährigen. Sagen Sie lieber zwölf, sagte Dr. Terbohm in einem Leidenston. Aber Sie haben offensichtlich den Beobachter auch ganz schön beobachtet, sagte Frau Reinhold. Gottlieb Zürn errötete. Er erzählte öfter etwas in dieser Art, um zu erfahren, wie andere, was er tat oder gern täte, beurteilten. Frau Reinhold fand es entzückend, daß Gottlieb Zürn rot wurde. Er hatte das Gefühl, seine Errötung habe sich, als Frau Reinhold auch das noch bemerkte, intensiviert. Er spürte es direkt, daß er jetzt einen hochroten Kopf hatte. Purpurrot wahrscheinlich. Purpurrot bis violett. Wie unter Umständen der Kopf seines Geschlechtsteils, dachte er, konnte er sich nicht enthalten zu denken. Bevor das Angestarrtwerden völlig unerträglich wurde, sagte die Baronesse: Es ist das Abendrot. Das war ein wunderbarer Satz. Alle schauten jetzt nach Westen hinaus, wo die Sonne gerade hinter dem violetten Waldpelz des Bodanrücks abgerutscht war und ein glühendes Theater zurückgelassen hatte. Frau Reinhold sagte: Ist doch schön, wenn einer noch rot wird, der nicht mehr zwanzig, sondern . . . Da Gottlieb glaubte, sie zögere, fühlte er sich verpflichtet zu sagen:. . . gleich fünfzig ist. Ach ja, rief sie, das habe er schon gesagt, als sie sich kennenlernten, vor 10 Jahren. Und, sagte Gottlieb, es ist seitdem immer wahrer geworden. Am jüngsten, sagte Frau Reinhold, sehe ja immer Kaltammer aus. Ob die anderen nicht auch fänden, daß Kaltammer gespenstisch jung aussehe. Gottlieb fand, besser könne man es nicht ausdrücken. Daß der das Tanzen aufgegeben habe, sei ihr unverständlich. Kaltammer sagte: Aber ich werde leider nicht mehr rot. Alle lachten. Gottlieb fühlte sich verurteilt. Nicht fünfzehn, zwölf! Niemand hatte den Mönchen-Gladbacher Diplom-Physiker verteidigt. Giselher sagte, Erikson habe gesagt, das große Handicap der Industrienationen sei es, daß sie wenig Erwachsene hervorbrächten. Lissi wollte das auf Männer eingeschränkt haben. Ihr Mann, den sie übrigens für den Augenblick noch entschuldigen müsse, er spiele heute abend gegen seinen SchachComputer zum ersten Mal im 6. Grad, das ziehe sich offenbar hin - leider falle dadurch auch Judith aus —, ihr Mann habe sie, als man neulich von Jarl gesprochen habe, gefragt, was das wohl für ein Vorname sei, und sie habe, einfach ihrem Gefühl nach, gesagt: vom Niederrhein. Kaltammer hat unheimlich große, wimpernlose Augen. Wenn er sie bewegt, sieht man, wie er sie von da nach da ruckt. Man hat das Gefühl, der Blick treffe, wo er stehenbleibt, mit einem deutlichen kleinen Zimbelschlag auf. Es macht ding. Zu Giselher hingeschaut: ding. Von ihm zur Baronesse, zu Frau Reinhold: ding, ding. Sein Blick schweift nie. Er ruckt von Ziel zu Ziel. Niederrhein trifft es nicht ganz, sagte er. Seinen ersten Vornamen habe er seiner norwegischen Großmutter mütterlicherseits zu verdanken. Prima Ballerina in Kopenhagen, geheiratet vom deutschen Militärattache, mitgenommen nach Warschau, Madrid und so weiter. Aus lauter Heimweh sorgt sie, solang .sie lebt, in der Familie für nordische Namen. In Norwegen sei Jarl eine Art
Häuptlingsbezeichnung. Jedes Tal habe seinen Jarl. Im Englischen sei das Earl, also so eine Art Graf. Gottlieb bewunderte Schaden-Maiers Empfindungsfeinheit. Der hatte das gespürt. Earl Kaltammer, riefen Frau Reinhold und Giselher gleichzeitig. Er sei nie ein Jarl gewesen, habe immer bloß so geheißen, sagte Kaltammer ernster als es nötig gewesen wäre. Dann stoppte er, schaute Frau Reinhold mit gelifteten Brauen ungeheuer bereitwillig an. Die gelben Haare - Rudi hatte recht, sie waren gelb -, die, überall gleich kurz, den Kopf genau faßten, leuchteten im Abendlicht. Ist das nicht komisch, sagte Frau Reinhold, jetzt sehe ich Ihr Blond auf einmal völlig anders. Ihr Blond hat nichts zu tun mit Giselhers Berliner Blond. Kaltammers sei echter. Und erst recht echter als ihr eigenes Hedelfinger Blond. Jarls Blond sei im besten Sinne penetrant. Und erzählte sofort, was ihr wegen ihres doch eher unbeträchtlichen Blonds vor fünfzehn und mehr Jahren in Boston passiert sei, weil sie eben keine Norwegerin, sondern so eine furchtbare Deutsche gewesen sei. Jüdische Taxichauffeure, jüdische Kürschner, jüdische Zahnärzte ... oh je. Und sie müsse wohl, da sie jüdische Freunde auf mehreren Kontinenten habe, nicht extra betonen, daß sie diese Blondinenpogrome nicht aus antisemitischen Motiven schildere. Sie hat zweieinhalb Jahre mit ihrem Mann in Boston gewohnt. In Brookline. Jedes Haus ein Brickstone-Gedicht aus dem 19. Jahrhundert, das summt, sich reimt und wärmt. Und zu 70 Prozent jüdisch. Deswegen wollte ihr Mann ja da wohnen. Wegen der Kinder. Wo Juden in der Mehrheit sind, gibt es die besten Schulen. Und die jüdischen Kinder sind die ehrgeizigsten, das konnte den eigenen nur guttun. Tat es auch. Aber einmal klemmt sich Judith den Finger in die elektrisch schließende Chevy-Scheibe - war man ja nicht gewohnt von Haus aus! -, also mit ihr, am Sonntag, ins Hospital, Judith sofort auf den Schrägen, sie hält ihr das Köpfchen, aber als der den Nagel abhebt, treibt es ihr das Wasser aus den Augen, und er, der schöne Schwarzlockige mit dem Rubinsteinkopf: Hören Sie auf, als ihr unsere Kinder vergast habt, habt ihr auch nicht geflennt. Aber da habe sie doch erst recht heulen müssen. Und was hat ihr Schäferhund nicht alles mitmachen müssen! Das sind ja alles Privatstraßen dort. Und ob man's glaube oder nicht: die Empfindlichkeit war noch so akut, den Hund mußte Lissi doch glatt nach Deutschland zurückschicken. Die Baronesse verstand jetzt überhaupt nicht, wovon Frau Reinhold zuletzt geredet hatte. Es wurde ihr von allen erklärt. Hitler habe Schäferhunde geliebt, deshalb hätten die jüdischen Nachbarn in Brookline gebeten, diesen Schäferhund, bitte, nicht mehr sehen zu müssen. Ach so, sagte die Baronesse. Und wo der Hund dann hingekommen sei? Es war eine Tragödie, sagte Frau Reinhold. Zu ihrer Mutter nach Garmisch habe man den armen Hund transportiert. Nach einem Jahr sei er tot gewesen. Eingegangen, verkümmert, erledigt. Le pauvre chien, sagte die Baronesse in einem so protestierenden Crescendo, daß chien am hellsten und heftigsten ausfiel. Gottlieb bewunderte den Takt, der sie bewogen hatte, ihre Parteinahme für den deutschen Hund in Französisch auszudrücken. Kaltammer sagte: N'en parlons plus. Danach war es einen Augenblick still. Nur Kaltammer ruckte seinen Blick. Dr. Terbohm räusperte sich und fragte, wie Frau Reinholds Hund geheißen habe? Tristan. Alle nickten, als habe er, nach allem, was man gehört hatte, gar nicht anders heißen können. Er habe einmal einen Yorkshire Terrier gehabt, sagte der Doktor, der hieß Winston. Dann erzählte er, was ihm mit Winston in Passau passiert war. Er sagte, er erzähle das, obwohl Barbi, wenn er diese Geschichte erzähle, ihm immer vor allen Leuten sage: Du weißt nicht, wie du wirkst, wenn du diese Geschichte erzählst. Ja, sagte Barbi fünfmal so laut wie er, er woiß es au it, aber bitte, no zua, vazell din Win-ston-Porno. Er erzählte ihn. Gottlieb konnte Dr. Terbohm nicht zuhören, weil er Barbi anstarren mußte. Ihre Brüste reichten, von links und von rechts, weit in den Ausschnitt des wild gemusterten Romantikkleides herein. Keine
Frage, an diesem Abend gab es keine Stelle, die ansaugender sein konnte. Aber Frau Reinhold und Dr. Terbohm hatten rechtzeitig jeden, der dahin schauen würde, mit dem Fluch ewiger Pubertät bedroht. Dabei hatte sicher jeder Barbi schon beim Surfen zugeschaut. Da trug sie, von Schnüren gehalten, vier gleich große winzige Dreiecke, zwei oben und zwei unten. Goldene, blaßrote oder blaßgrüne. Vor ein paar Tagen hatte Gottlieb sie beobachtet, wie sie bei wüstem Wetter zwei kräftigen Orientalen das Surfen gezeigt hatte. Die konnten sich keine Sekunde auf ihren Brettern halten, während sie überhaupt keine Probleme hatte. Sie hielt immer wieder bei einem der immerzu aus dem Wasser Kletternden an. Dazu ließ sie einfach das Segel an einer Hand flattern. Das Brett verhielt sofort, und Brett und Segel an ihrer Hand wirkten wie ein Pferd, das wartet, daß die Reiterin wieder aufspringe. Dann, das Segel her, der Wind greift zu, sie wirft sich weit nach hinten, das Haar im Wasser schleifend, rauscht sie ab. Frau Reinhold kreischte. Und schon lachten alle. Zum Glück lachten die so laut, daß es auf einen mehr oder weniger nicht ankam. Giselher lachte am gewaltigsten. Wenn Bernhardiner lachen könnten, würden sie so lachen. Giselher lachte nicht nur furchtbar laut, sondern auch furchtbar langsam. Das Langsame war das Erschütternde. Plötzlich fing Frau Reinhold wieder zu kreischen an, aber deutlich höher als beim ersten Mal. Sie zeigte in die Mitte zwischen Giselhers weit auseinanderstehende Beine. Seine Jeansnaht war genau da gerissen, wo sie nicht reißen durfte. Da war nun, gelb verpackt, doch soviel herausgequollen, daß er das eigentlich selber als Erleichterung hätte spüren müssen. Daß Frau Reinhold eine ausgebildete Sängerin war, hörte man auch noch, wenn sie kreischte. Barbi sagte, nach diesem Erfolg werde sie gegen ihres Mannes Winston-Porno nichts mehr sagen. Sie sei eben prüde, das wisse sie, seit sie mit diesem Frauenarzt verheiratet sei. Giselher rief: Anna! Serviette! Anna brachte ihm eine. Für heute sei er außer Gefecht, sagte er, als er die Serviette so in den Bund gesteckt hatte, daß sie weit über den Schaden läppte. Il faut celebrer les faux baptemes, sagte Kaltammer und trank Giselher zu. Dr. Terbohms Geschichte habe ihn daran erinnert, daß er einmal einen Angestellten, ja, eigentlich schon fast einen Kompagnon gehabt habe — Leute aus der Branche wie Dr. Zürn wüßten wahrscheinlich, wen er meine —, dieser sein vorübergehender FastKompagnon, der sich inzwischen zu einem seiner aufmerksamsten Feinde entwickelt habe — wirklich, der verfolge ihn wie Nero die Christen —, dieser hervorragende Kaltammerverfolger also sei ein solches Mitleidsgenie gewesen, der habe die Hunde in der Nachbarschaft regelmäßig durch Masturbation aus ihrer sexuellen Not befreit. Da könne man genauso wie bei Dr. Terbohms Terrier-Geschichte fragen, ob der Befreier nicht auch sich selbst etwas zuliebe getan habe. Gottlieb Zürn sah, daß Kaltammer seinen Blick deutlich zu ihm herruckte. Offenbar war das die Sekunde, sich wieder ins Spiel zu bringen. Er konnte die Geschichte durch Erwähnung des Namens würzen. Das war eine Situation, die ihm entsprach. Er durfte eine deutliche Erwartung erfüllen. Nichts tat er lieber. Ohne jedes Zögern setzte er in Kaltammers Geschichte ein, was ihr noch fehlte: Schaden-Maier. Er hätte auch den Namen seiner Mutter oder seines Vaters preisgegeben in einer solchen Situation. Auch den eigenen. Tun zu können, was ein anderer wollte, das machte ihn vollkommen willenlos. Nicht aus Uneigennützigkeit fügte er sich so gern. Es befriedigte ihn doch. War es Selbstlosigkeit? Der Erfolg dieser Geschichte, samt Entlarvung Schaden-Maiers, wäre ohne Dr. Reinholds Auftritt mäßig geblieben. Aber mit Dr. Reinhold und der ihrer Mutter stürmisch nachwachsenden Judith kam die schwarze Labradorhündin Wunni. Und Wunni schaffte sich sofort zu Giselher hin und, einmal dort, wollte sie unbedingt mit der Schnauze unter die Serviette. Und Dr. Terbohm, prompt: Jetzt gibt's Schaden-
Eier. Das gab das große, das mit Schrecken gewürzte Lachen. Barbi sagte, Dr. Terbohm in die Rippen boxend, daß der quiekste: Also woasch, du bisch au ain. Kaltammer gab sich peinlich überrascht. Daß ein Mädchen, das man sofort international assoziiere, diesen zähneziehenden Dialekt spreche! Dialekte seien peinlich, der hiesige sei schmerzlich. Barbi sagte: Etz brich dr no kain ab. Kaltammer hatte sich gleich beim ersten Ton die Ohren zugehalten. Kaltammer sagte leise - das hieß: ich sag es leise, aber ich muß es sagen -, der hiesige Dialekt und die hiesige Bevölkerung seien ihm gleich schwer erträglich. Daß es einzelne gebe — er verbeugte seinen langen Oberkörper weit zu Barbi hin -, die über alle Schrecken solcher Herkunft triumphierten, sei aufregend wie alles, was gegen die Wahrscheinlichkeit gehe. Die hiesige Normalmentalität, diese auf sich selbst stolze Tapsigkeit, diese sich andauernd spreizende Biederkeit. . . Dr. Terbohm zog Barbi an sich und sagte: Du bist durch Heirat Westfälin! . . . und man müsse doch zugeben, sagte Kaltammer, bei allem Verständnis, das man neuerdings für das Provinzielle aufzubringen bereit sei, was hier dann tatsächlich laufe, sei Zugereisten zu verdanken. Giselher, selber Berliner, wollte das nicht abstreiten; aber er, der in Konstanz als Provinzforscher tätig ist, könne beweisen, daß es politisch-historische Umstände seien, die an der auftrumpfungssüchtigen Zurückgebliebenheit der Leute hier schuld seien. Frau Reinhold, die, seit ihr Mann und ihre älteste Tochter sich in die Runde gesetzt hatten, dichter neben Gottlieb saß, flüsterte ihm zu: Das wäre jetzt ein Thema für IHN. Gottlieb nickte einfach. Er wußte nicht, wovon sie sprach. Wenn ER da wäre, hätte Kaltammer es nicht gewagt, so gegen den Dialekt zu sprechen. Und noch leiser, richtig verschmitzt: Wenn ER gekommen wäre, hätte ich Jarl gar nicht einladen dürfen, stimmt's? Gottlieb nickte, ohne zu wissen, was sie meinte. Aber er ahnte es jetzt. Von wem konnte sie denn so sprechen, wenn nicht von IHM?! Haben Sie SEINE Ausstellung gesehen? Jetzt war es sicher. Er, das war Paul Schatz. Wollte sie sich lustig machen über Gottlieb? Laut sagte sie jetzt in die Runde, als gebürtige Hedelfingerin könne sie jeden verstehen, der unter Dialekten leide, aber sie warte schon den ganzen Abend darauf, daß jemand von der Ausstellung im Cavaygen anfange! Daß die, außer ihrem Mann, keiner versäumt habe, setze sie voraus. Kaltammer stand ziemlich jäh auf. Die Baronesse und er müßten seit einer Stunde gegangen sein. Aber es solle nicht so aussehen, als ob er sich wegschleichen wolle, um nichts sagen zu müssen über die Bilder seines Kollegen, die er für genial halte; das wage er zu sagen auch im Namen der Baronesse, die ja selber eine Malerin werden wolle oder schon sei. Julienne, qu'est ce que tu aimes plus, etre ou naitre? Naitre, sagte sie. Bien sür, sagte er. Es sei ein Jammer, daß dieser Mann seine ebenso herkulische wie zarte Phantasie an einen so schrecklichen Beruf wie den des Immobilienhändlers verschwende. Andererseits, wie wäre es um diese Branche bestellt, wenn ER nicht wäre. Daß man das Grausen, Makler zu sein, kleinhalten könne, sei am meisten dem Wirken dieses Mannes zu verdanken. Aber vielleicht dürfe er, Kaltammer, schon gar nicht mehr mitreden, weil er sich doch zurückgezogen habe auf die eher besinnlich-kustodische Tätigkeit eines burgundischen Schloßmaklers. Was hierzulande gebaut werde, sei weder zu bewohnen noch zu verkaufen, ohne daß man an seiner Seele Schaden nehme. Nach dem 18. Jahrhundert sei eben nichts mehr gebaut worden. Der Bürger habe nie bauen gelernt. Also sei es nicht nur Maklers Schuld, daß er zu tun habe mit nichts als Scheußlichkeit. Also, ER lebe hoch! Wir hoffen, ER komme heil zurück aus Wien. Gottlieb war es während dieser Sprüche eng geworden. Flucht nach vorne, dachte er und sagte: Wer damals SEINE Rede an Dr. Enderies Grab gehört habe oder eine SEINER Reden in Sachen Autobahn, oder wer einen SEINER Artikel gelesen habe, in denen ER der Bundesbahn die Leviten lese oder den Bauern oder der
Naturschutzbehörde, dem Oberschulamt, der Bootsmotorenindustrie, der Bodenseewasserversorgung, der Architektenkammer, den Verbänden der Jäger, der Angler und und und, der wisse, daß ER nicht nur ein begnadeter Maler, sondern auch ein wahrhafter Wörterschmied sei. Kaum sei man mit IHM einmal auf die heutige Gastgeberin zu sprechen gekommen, habe ER sofort und absolut sicher geprägt: Man könnte ZWEI Wagner-Sängerinnen machen aus ihr. Darum trinke er, Gottlieb Zürn, auf IHN. Ein Riß Schweigen im Redegeräusch, dann rief Lissi Reinhold: Hoffen wir nur, ER habe das Stimmvolumen gemeint! Dann lachte sie mit ihrem ganzen geschulten Volumen los, daß man eine Zeitlang nichts mehr sagen mußte, so anhörenswert war dieses Lachen. Niemand lachte mit. Gottlieb hatte das Gefühl, daß er etwas sagen müßte. Kaltammer und seine Julienne gingen jetzt. Er bugsierte sie hinaus. Zuletzt drehte er sich noch um, verneigte sich, lächelte allen noch einmal zu, dann spielte er, wie er sich von jedem hier losreißen müsse: mit einer südamerikanischen Heftigkeit drehte er sich auf einem Fuß, winkte über den Kopf zurück, fort waren sie. Den Beifall muß er noch gehört haben. In der dann übrigbleibenden Stille fragte Frau Reinhold, ob Gottlieb über den Maklerberuf auch so denke wie Kaltammer. Gottlieb sagte, der Maklerberuf mache ihn glücklich, weil er aus nichts bestehe als aus der Person, die ihn ausübe. Kaltammer habe diesen Beruf immer schon gehaßt. Gottlieb Zürn erinnerte daran, daß Kaltammer im Jahr der demokratischen Entzündung mit Konstanzer Studenten Flugblätter zur Abschaffung des Maklerberufs verfaßt und verteilt habe. Das habe die SPD auch getan, sagte Giselher gemütlich. Welche SPD, fragte Gottlieb so scharf als möglich zurück. Die vom Parteitag 73, in Hannover, sagte Giselher. Eben, sagte Gottlieb, die gibt's doch gar nicht mehr. Sie können doch nicht sagen, die SPD habe etwas gegen den Maklerberuf. . . Gehabt, habe ich gesagt, brummelte Giselher. Mein Gott, gehabt oder nicht gehabt, schrie Gottlieb mehr als er rief, habe aber nicht mehr, während der Herr, der sich da gerade auf einem Fuß verabschiedet habe wie der Pferdefußbesitzer persönlich, immer, immer noch diese Verachtung eines Berufes predige, mit dem er Millionen verdiene. Die SPD dagegen, lieber Herr Soziologe, das könnten Sie sich ruhig einmal hinter Ihre grünen Ohren schreiben, die SPD hat, zusammen mit der dafür zu lobenden FDP, die Neuordnung des Maklerrechts eingeleitet, um einer seit Jahrzehnten kasuistisch sich hinschleppenden Rechtsfortbildung durch nicht immer erleuchtete Gerichte endlich ein Ende zu machen. Das sogenannte stille Berufsverbot, das auf Hannover folgte, ist überwunden, während das kulturrevolutionäre Dandytum im reinseidenen Schöße einer beifallklatschenden Bourgeoisie immer noch Triumphe feiert, flattiert von einer bodenlosen, weil bodenverachtenden, sich gleichwohl grün dünkenden Soziologie. Also er fühle sich jetzt zum Glück schon längst nicht mehr attackiert, sagte Giselher schmunzelnd. Das liegt an Ihnen, schrie Gottlieb. Schade, daß der Herr, der sich einen burgundischen Schloßmakler zu nennen beliebe, aber wahrscheinlich seinen Millionenumsatz zu 95 Prozent als Veranstalter von Großbauten-Betonsilos mache, die er dann zimmerchenweise an von ihm als Spießer verachtete deutsche und Schweizer Bürger verkaufe, deren Dialekte ihm innerstes Ohrenweh bereiteten, schadeschade, daß der hier seine Berufsschelte, seine zynische, ohne Widerspruch habe abziehen dürfen! Gottlieb Zürn, selbst Makler, habe ja schlecht widersprechen können, von einem inzwischen vielleicht zur Vernunft gekommenen Soziologen hätte man es eher erwarten können... Ende der Debatte, sang Frau Reinhold hoch hinaus. Obwohl, fuhr sie normal sprechend fort, ich sogar weiß, daß ER Ihnen auch zustimmen würde. Sie haben praktisch in SEINEM Namen gesprochen. Ist Ihnen das bewußt? ER hätte natürlich nicht geschrieen, klar. ER schreit nicht. Lissi, entschuldige, sagte mit seiner leisen
Stimme Herr Dr. Reinhold, da ich nicht von Anfang an dabei war, sag mir nur schnell, wer ist ER? Typisch mein Mann! rief Lissi Reinhold. Ich weiß genau, daß du schon da warst, als heute abend zum ersten Mal von IHM gesprochen wurde. Heute wurde nämlich erst unglaublich spät von IHM gesprochen. Trotzdem, sagte Dr. Reinhold, wisse er immer noch nicht, wer ER sei, sie möge es ihrem dummen Mann verzeihen. Das ist unverzeihlich, nicht sofort zu wissen, daß von IHM gesprochen wird, wenn von IHM gesprochen wird. Herr Dr. Zürn nehme es ihr gewiß nicht übel, wenn sie jetzt mitteile, daß sie Kaltammer erst eingeladen habe, nachdem ER abgesagt habe. ER habe plötzlich nach Wien fliegen müssen. Zu einem Professor. Eine dringende Untersuchung, die hoffentlich nichts Böses erbringe. Sie finde, es gebe zur Zeit keinen, der die altmeisterliche Technik beherrsche wie ER. Die winterliche Uferpartie bei Langenargen, fahl, ungewiß, und plötzlich diese nur ein bißchen zu große Frauenbrust, fleischfarben und fest, am kalten Strand. Oder die urtümlich eingewachsene Argenmündung in schwerem Gewitterlicht, und genau im entscheidenden Feld, wo das Wasser nicht mehr Argen und noch nicht See ist, taucht dieses nackte Damenbein auf, schräg nach oben, aber nicht ganz gestreckt und mit Schuh, wieder die schreiende menschliche Fleischfarbe in sonst reiner Natur. Oder das kleine überirdisch leuchtende Himmel- und Wasserbild, in dem dann diese menschliche Zunge den Ausschlag gibt, die so rot und graziös, und diesmal gar nicht schrecklich, im Wasser schwimmt, als gehöre sie da hin und genösse es, als genösse sie überhaupt alles. Aber am besten habe ihr das Malvenbild gefallen. Der Malvenstock mit den drei hohen Stengeln. Die Blüten von hell rosa bis violett. Und aus der obersten Blüte schaut ER selbst. Paul Schatz, flüsterte Gottlieb rasch zu Dr. Reinhold hinüber. Anna brachte zum letzten Mal etwas zum Essen. Nach dem Lachs mit Senfsauce, von dem Jarl F. Kaltammer gesagt hatte, er sei fast so gut wie sein von ihm selbst gebeizter Gravet Lachs, nach den in Parmaschinken gewickelten grünen Feigen und den diversen Käsesorten gab es jetzt eine Mousse. Die schluckte man so langsam als möglich und sprach noch ein wenig über SEINE Bilder. Plötzlich war Herr Dr. Reinhold verschwunden. Er war noch leiser gegangen, als er gekommen war. Judith dehnte und streckte sich und sagte: Giselher, bleibst du über Nacht? Dieses Sichstrecken schreckte Gottlieb auf. Er sagte, er sei zwei Stunden länger geblieben, als er vorgehabt habe. Wir auch, sagte Dr. Terbohm. Wird au wohr si, sagte Barbi und stand schon und griff sich selber, ohne daß Gottlieb verstand, wozu, in ihren Ausschnitt. Jetzt saß nur noch die Frau von Dr. Cornelius. Sie sagte, sie erlebe die Zeitdifferenz diesmal ungeheuer stark. Frau Reinhold intonierte die Schlußweise. Nett, daß man sich wieder einmal gesehen habe. Diesmal dürfe es aber nicht mehr so lange dauern bis zum nächsten Mal. Sie seien auf jeden Fall da die nächste Zeit. Wir telephonieren dann. Muß ja ein doller Abend gewesen sein, sagte Judith. Frau Reinhold sagte, es sei unverantwortlich, daß Judith, die übermorgen zum ersten Mal öffentlich auftrete, in Konstanz, mit dem Bodensee-Symphonie-Orchester, jetzt noch auf sei. Immer diese Vorwände, hörte man noch von Judith. Das Auto ließ er im Freien. Ohne ein Licht anzumachen, schlich er ins Haus. Sobald er lag, flüsterte Anna: Du kommst spät. Sie fragte noch, wie es gewesen sei. Er sagte, Dr. Cornelius und Frau seien zurück aus Amerika. Und, was sage jetzt Dr. Cornelius zum Verlauf der Krankheit? Ach, sagte Gottlieb, der sei praktisch noch gar nicht ansprechbar gewesen. Wegen der Zeitdifferenz. Ausrede, sagte sie und drehte sich um. Es war zu warm im Zimmer. Schwül. Er schlich zur Balkontür, öffnete sie ganz. Als er wieder lag, spürte er, daß er sich nicht entspannen konnte. Er lag, als sei er aus etwas total Sprödem. Auf seiner linken Seite zog sich etwas immer mehr zusammen. Er konnte nichts dagegen tun. Anna hätte ihn lösen können. Aber dazu müßte sie zugeben,
daß er da sei. Es war schon erbitternd, wie wenig sie ihn bemerkte. Er dachte, daß er ununterbrochen etwas Geschlechtliches brauchen könnte. Es müßte nichts Besonderes sein. Nur etwas, das der Tatsache entspräche, daß er das Zimmer mit einer Frau teile. Diese Tatsache konnte doch, solang Anna im Zimmer war, keine Sekunde lang außer Kraft gesetzt werden. Und was könnte nicht alles aus dieser Tatsache folgen! Daß dieser Tatsache so selten und gewissermaßen nur anfallsweise entsprochen wurde, verursachte jene Art Schmerz, die durch einen Mangel entsteht. Sei vorsichtig jetzt! Du willst nur in eine Richtung denken, bis du rücksichtslos genug bist, die arme Anna zu überfallen. Du willst dich in Stand setzen, eheliche Gewalt zu gebrauchen, gib's zu. Die manus-Ehe Alt-Roms praktizieren, was! Beim Hinausgehen hatte er Lissi berührt. In der Hüftgegend. Er war auf eine Schnur gestoßen. Was trug sie an dieser auf bloßer Haut um die Hüften geschlungenen Schnur? Warum hat sie Frau Dr. Leistle nicht erwähnt? Warum hat sie so über Schatz gesprochen? Warum hat sie sich damit zuerst nur an ihn gewendet? Hat sie ihn demütigen wollen? Weit weg hörte er ein Gewitter. Es beruhigte ihn, daß sein verkrampftes Daliegen auch eine Wetterursache haben konnte. Also mußte er nur warten, bis das Gewitter da sein und sich entladen würde, Regen niedergehen würde, dann würde sich auch in ihm alles lösen. Wahrscheinlich wird Frau Reinhold im Lauf des Tages anrufen, sich vielmals entschuldigen und ihm dann die nötigen Tips für die Verhandlung mit Frau Dr. Leistle geben. Er schlief ein. Träumte. Mit Paul Schatz ging er einen Bergweg hinauf. Links des Wegs fiel die Wiese steil hinab, rechts hinauf ging ein Rain mit Haselbüschen. Herbst. Sie stapften langsam aufwärts, als wolle jeder dem anderen den Weg leicht machen. Aber der andere sollte nicht den Eindruck haben, man halte ihn nicht für fähig, rüstiger auszuschreiten. Dieses friedliche Aufwärtsgehen beendete Gottlieb Zürn dadurch, daß er plötzlich nicht mehr ging, sondern, ohne die Füße zu bewegen, weiterrückte. Mit dicht geschlossenen Füßen ruckte, rutschte er bergauf. Durch seinen bloßen Willen. Weil er Paul Schatz zum Staunen bringen wollte. Und als er sah, daß Paul Schatz staunte, hielt er ein. Sich durch nichts als Konzentration so vorwärtszurucken und dabei anstrengungslos lächelnd zu Schatz hinzuschauen, war so anstrengend gewesen, daß er fürchtete, er werde gleich keine Luft mehr kriegen. Ein paar Schritte gingen sie wieder langsam nebeneinander her, da hob Gottlieb mit einem sanften Ruck ab und schwebte vor Paul Schatz her und hätte ihm gern die Hand gereicht und ihn emporgezogen zu sich. Mit Paul Schatz zu schweben und zu wissen, daß dieses gemeinsame Schweben ihm, Gottlieb Zürn, zu verdanken sei, das wäre das Höchste gewesen. Aber zu der dieses Schweben ermöglichenden Konzentration gehörte, daß er den Atem anhielt — das geringste Atmen würde sofort zum Sturz führen — und zum Atemanhalten gehörte ein Andenkörperpressen der Arme, also konnte er Paul Schatz die Hand nicht reichen. Als er sich nicht mehr in der Luft halten konnte, gelang ihm gerade noch eine Landung neben Paul Schatz, die aussah wie freiwillig. Er erwachte und war starr vor Atemnot. Es dauerte, auch als er wach war, noch ein paar Augenblicke, bis er wieder Atem zu holen vermochte. Er durfte zuerst nur ganz wenig Luft holen. Einen tiefen Atemzug, das spürte er, hätte er noch gar nicht ausgehalten. Das Gewitter war schon in der Nähe. Er sollte aufstehen, an die frische Luft gehen. Aber wo war die? Die Luft, die er einatmete, blieb ohne Effekt. Dieses nichts bewirkende Atmen machte ihn mutlos. Er mußte Frau Reinhold liebenswürdig finden, erst dann konnte er auf Erleichterung hoffen. Aber sie wäre doch die erste, die jeden einen Neurotiker nennen würde, der sich zwänge, jemanden lieben zu wollen, in dessen Gegenwart jede Sekunde zur Schrecksekunde wird. Ihr Wesen ist Übertreibung. Wen sie nicht mißhandeln kann, verehrt sie. Von denen, die sie
mißhandelt, erwartet sie Verehrung. Sie ist die vollkommene Laune. Am attraktivsten sähe sie aus mit einer Mundharmonika, über die sie simpel spitzbübisch in die Kamera blickt. Zu Anna dagegen würde nichts so wenig passen wie eine Mundharmonika. Überhaupt, der Blick in die Kamera wäre bei Anna undenkbar. Anna ist das Gegenteil des Menschen, der auftritt. Sobald überhaupt ein Mensch ins Haus kommt, ist sie nicht mehr sie selbst. Solang die Ferienwohnungen belegt sind, meidet sie das Klavier. Aber im Herbst, aber im Winter, da setzt sie sich hin, dann ist es, als öffne sich mitten im Wald der Boden zu einer Kluft, und aus einer sonst nirgends vorkommenden Tiefe ströme die Musik. Also manchmal ärgert es ihn schon, daß sie so sehr Eise ähnelt, die auch sofort verschwindet, wenn Fremde kommen. Herr Dr. Reinhold ist vielleicht ähnlich wie Anna. Er hat überhaupt nichts gesagt. Seine Frau spricht immer über ihn weg, an ihm vorbei. Die Baronesse hat ihn wenigstens noch gefragt, wie das Spiel gegen den Computer ausgegangen sei. Der Computer habe gemeldet I lose. Ob Lissi ihm sagt, daß Gottlieb ihr beim Hinausgehen wie unabsichtlich an die Hüfte gegriffen hat? Er hatte sich nicht beherrschen können. Lieber sterb' ich, als daß ich da nicht hinlang', hatte er gedacht. Aber da war die Hand schon dort. Und er hatte in Kauf genommen, daß sie auch noch die Absichtlichkeit der Berührung spüre. Sie hatte ihn nicht auf die Hand geschlagen. Obwohl er auf ihrer Haut auf diesen interessanten zarten Strick gestoßen war, hatte er die Hand gleich wieder weggebracht. Ob es Dr. Reinhold recht war, wenn man ein bißchen nach seiner Frau griff? Was man alles nicht weiß! Vielleicht hatte sie auch geglaubt, es sei Giselhers Hand. Natürlich! Er hatte nach ihr gegriffen, um ihr die Illusion der Unwiderstehlichkeit zu vermitteln. Sie mußte ihm helfen, den wichtigsten, schönsten Auftrag seines Lebens zu bekommen. Kein anderer Makler hatte soviel Anrecht auf diesen Auftrag wie er. Er war kein Baulöwe, der Betonsilos baute! Er hatte keine Verwaltungsfirma für Miethäuser und Zweitwohnungen in Vaduz. Er hatte zwei Ferienwohnungen im Haus und ein Einfamilienhäuschen in Immenstaad. Das waren Notgroschen. Er war immer noch der reine Makler. Er produzierte nichts. Das demütigte ihn und machte ihn stolz. Diese Herren Kaltammer, Schatz und Konsorten mit ihren Firmen in Vaduz oder Zug! Die könnten doch alle längst von den Zinsen leben. Aber sie machen immer weiter. Bauen bösartige Häuser und spielen den feinen Max! Verboten gehört das! Nein, verboten gehört das überhaupt nicht. Sie wollen eben Geld. Immer mehr Geld. Geld ist das beste gegen den Tod. Weil Zahlen entscheidend sind. Weil die Zahlen, mit denen man die Zeit zählt, falsch konzipiert sind. Man braucht Gegenzahlen. Zeit vergeht! Kwwaddsch! Sie akkumuliert. Mit jeder Sekunde, die angeblich vergeht, gibt es eine Sekunde mehr in der Welt. Aber die Empfindung, daß Zeit vergehe, hat sich durchgesetzt. Das Verlustdenken herrscht. Darum braucht man Geld. Gewinn. Immer mehr. Das Geld ist das Positive. Vielleicht weil es noch jünger ist. Als Anschauungsform. Es ist die universalste bis jetzt. Anarchisten wie Kaltammer scheffeln Geld, sind märchenhaft geizig. Der tadellose Großmensch Schatz läßt keiner Witwe auch nur einen Zehntelprozent nach. Und ist berühmt für Kommunal-Sinn, Güte und so weiter. Wenn man soviel Geld verdient hätte, daß es für zehn Lebenszeiten reichen würde, hätte man wahrscheinlich das Gefühl, durch ein offenes Tor ins vollkommen Freie zu schauen. Geld, das hieße, leben ohne Stoppuhr und Peitsche. Geld, das wäre das Gefühl von Unsterblichkeit. Wenn er zehnmal soviel Geld hätte wie er voraussichtlich noch brauchte in seinem Leben, dann hätte er unwillkürlich das Gefühl, sein Leben dehne sich in die Zukunft aus. Kein Geld zu haben, schneidet ab. Und diese Überanstrengung, kein Geld zu haben! Schon mit etwas Geld muß man sich nicht so anstrengen, ein guter Mensch zu sein. Man kann sich gehen lassen. Es kann einem ja keiner was. Was hat er wieder alles gequatscht bei Reiiv holds. Ein Satz schlimmer als der andere. Er hört
jeden Satz. Kaltammer hat nie etwas von selbst gesagt. Ihn muß man bitten, etwas zu sagen. Er muß nicht imponieren. Jeder weiß, wie groß die Etage im Ritter-Haus ist, auf der seine Büros liegen. Gottlieb hatte auch noch dahingeplaudert, Tochter Julia müsse, um ihren Jeansreißverschluß zu schließen, auf dem Boden liegen, mit einer Zange die Reißverschlußzunge fassen und so, auf dem Rücken liegend, die Luft anhaltend, den Bauch einziehend, den Reißverschluß zuziehen. Dabei habe sie, als man am letzten Sonntag in die Birnau wollte, dem Reißverschluß die Zunge abgerissen, die Hose sei nicht mehr zu schließen gewesen, eine andere habe sie nicht angezogen — es gebe ja immer nur eine, die wirklich fit sei —, also habe sich ein Streit entzündet, der der Familie dann letzten Endes den Konzertbesuch versaut habe. Deshalb, Frau Reinhold, haben wir Sie leider am Sonntag nicht hören können. Wir waren nach einer halben Stunde so zerstritten, und zwar alle mit allen —, es ging nichts mehr. Davon war nichts wahr. Er konnte nur hoffen, daß Judith es nicht in der Schule weitererzählte. Julia würde vereisen vor Verletztheit, wenn sie von dieser Verleumdung erführe. Aber er mußte so etwas erzählen. Er brauchte Geld, war angewiesen auf Frau Reinhold, mußte sich also dafür entschuldigen, daß er am letzten Sonntag gefehlt hatte, als sie in der Birnau sang. Jetzt leistete er Abbitte bei Julia. Es wäre ja nicht schlimm, Julia, wenn du dich rücklings auf den Boden legen und den Reißverschluß mit der Beißzange zuziehen und dabei die Reißverschlußzunge abreißen und dadurch einen Streit verursachen und den Konzertbesuch der Familie verhindern würdest. Julia, vergib deinem Vater, der, wie du vielleicht schon gemerkt hast, Schwierigkeiten hat, einer zu sein. Der gelbhaarige Millionärsanarchist im olivgrünen Seidenanzug hat es nicht nötig, solche Klimmzüge zu machen. Der scharfe Druck unter Gottliebs Brustbein schien jetzt zu sieden. Wo der linke Arm auflag, schmerzte er. Ein einziger Schmerzbalken. Gottlieb legte ihn über den Kopf, nach oben hinten. Dadurch wurde er leichter. Für ein paar Minuten. Inzwischen war das Gewitter da. Über Haus und Garten. Es blitzte und gleichzeitig knallte der schärfste Donner. Dann prasselte auch schon der Regen herab. Der Regen schlug förmlich ein auf das Haus. Aber Gottlieb Zürns linke Seite entspannte sich immer noch nicht. Draußen ging es auch noch weiter. Er hörte in der Ferne schon das nächste Gewitter kommen. Wieder dauerte es, bis es da war, bis der Regen herabprasselte. Fünfmal kam in dieser Nacht das Gewitter. Fünfmal konnte der Regen. Gottlieb lag hellwach, zählte mit. Nicht, daß ihn die Klemme links beunruhigt hätte. Die kannte er. Er empfand sie nicht als Krankheit. Eher als etwas Persönliches, Bestimmendes. Je länger er sich mit dem Abend bei Reinholds beschäftigte, je öfter er alle Sätze, seine eigenen und die der anderen, abhörte, desto starrer wurde er. Er ersetzte die Sätze, die er gesagt hatte, durch andere. Er verbesserte seine Sätze, konnte mit keiner Version zufrieden sein. Er hatte ja nicht nur Giselher angeschrieen, sondern auch Lissi Reinhold. Sie hatte ihm Redeverbot erteilen müssen, so hatte er gebrüllt! Und daß Kaltammer von Lissi jedes Wort, das Gottlieb nach Kaltammers Weggang herausgebrüllt hatte, erfahren würde, war auch sicher. Sie würde sogar die Lautstärke sängerisch parodistisch darstellen. Er konnte den Abend um- und umstellen, zu retten war nichts mehr. Er wußte aus Erfahrung, daß er noch mindestens zwei Wochen lang die Sätze dieses Abends — seine und die der anderen — als Schmerz verspüren werde. Nach zwei Wochen verfliegt der Abend allmählich und mit ihm der Schmerz. Aber noch schlimmer als das Gesagte ist ja das Ungesagte! Daß man soviel verschweigen muß. Und das wird nicht nur ihm so gehen. Er muß annehmen, daß die anderen sich genauso verstellt haben wie er. Stell dir das vor. Die denken über dich mindestens so wie du über die denkst. Damit hört sich doch alles auf. Alles. Es kann nicht sein. Es ist unmöglich, daß die über ihn denken, wie er über sie. Das wäre nicht auszuhalten. Von der Illusion, daß die
anderen über dich nicht denken, wie du über sie, lebt der menschliche Umgang. Aber er denkt doch gar nichts Schlimmes über die anderen! Was er da über Kaltammer herausgebrüllt hat, könnte er jederzeit durch das Gegenteil ersetzen. Könnte er? Jetzt schon. Nachdem er gesagt hat, was er gesagt hat. Aber vorher mußt du das sagen können. Auf die Frage, ob du den Maklerberuf auch so schlimm findest wie Kaltammer, MUSST du lächelnd, wie Dr. Enderle in prekären Situationen pflegte, zurückfragen: Künnt ihr misch nit wat Leischte-ret frajen. Dann lachen alle und die Unterhaltung geht zum Thema Robbenfang, Walfang, rigorose Sowjets, unheimliche Japaner, Dias ... So einfach wäre das, wenn . . . wenn . . . Am liebsten wäre er jetzt aufgestanden, wenn er nicht hätte fürchten müssen, Anna zu wecken. Offenbar will dieser Herr Schatz den winzigen Rest der Menschheit, der noch nicht bereit war, vor ihm, dem Schönsten, Stärksten, Größten, Männlichsten, Vernünftigsten bewundernd in die Knie zu gehen, jetzt durch eine an das Gewölbe der Öffentlichkeit projizierte Krebskrankheit bezwingen: er ist also nicht nur der Gesündeste, sondern auch noch der Kränkste! Gottlieb fühlte sich zu der Meinung ermächtigt, Paul Schatz sei ihm im Leben so sehr in allem vorangegangen, daß diese Rangordnung auch dem Tod gegenüber beibehalten werden dürfe. Es gelingt dir überhaupt nicht, das Bedauern überwiegen zu lassen, dachte Gottlieb. Ihm fiel seine derzeitige Lieblingsmusik, die Eroica, ein. Einer stirbt vor dir. Glück und Schauder. Erfüllte er nicht, wenn er über Schatz per Tod triumphierte, das Gesetz? War er jetzt nicht fast ein Profi? Nein, eben nicht. Kaltammer war, als er sagte, er hoffe nur, daß Schatz heil aus Wien zurückkomme, wirklich bewegt. Das sind eben Menschen. Wie falsch wieder, wie lächerlich voreingenommen, tendenziös, übelnehmerisch, bösartig war vorher deine Überlegung, Reiche könnten sich mehr leisten, müßten sich nicht so anstrengen, menschlich zu sein u.s.w. Siehe Kaltammer! Der nimmt teil. Der IST ein Mensch. Du noch nicht. Noch lange nicht. . . Aber sosehr er sich zu kritisieren versuchte, er konnte nichts dagegen tun, daß er sich jetzt wohler fühlte. Richtig wohl fühlte er sich. Vielleicht auch, weil jetzt kein Gewitter mehr in der Luft war und das Morgenlicht hereindrang und ein nuschelnder Regen alles verwischte. 3. Den Schildern folgend, fanden sie das Krankenhaus. Eine Betonburg, wie von einem anderen Stern in diesen Wald gefallen. Manches war, wahrscheinlich dem Wald zuliebe, grün gestrichen. Der Arzt rauchte, solange sie bei ihm waren, als werde er in einer halben Stunde hingerichtet. Das wirkte entspannend auf Gottlieb Zürn. Er hatte das Gefühl, mit dem Arzt auf einer Stufe zu stehen. Regina hatten sie vorher in der Kinderabteilung, in der die Betonwände von Kindern bunt verziert worden waren, abliefern müssen. Anna sollte erzählen. Sie berichtete. Der Ton war, weil er so an sich hielt, sich spürbar dämpfte, alarmierend ernst. Eigentlich trommelte Anna. Leise und inständig. Also wenn er der Arzt gewesen wäre, er wäre sofort hinuntergerannt in die Kinderstation und hätte sich dieses Kindes angenommen. In der Nacht vom 13. auf 14. Juni, kolikartige Bauchschmerzen. Am nächsten Morgen, Blutschleim im Urin. Ein paar Tage später, heftige Blasenschmerzen. Am 20. Juni, Besuch beim Nierenfacharzt Dr. Sixt. Röntgenaufnahmen. Es zeigen sich zwei winzige weiße Fleckchen in der Blase. Am 21., Blasenspiegelung unter Vollnarkose. Der Arzt hatte Fremdkörper vermutet. Außer einer Blasenentzündung kein Befund. Verordnung von 50 Stück Eusaprim. Am 20. Juli, erneute Vorstellung bei Dr. Sixt. Der Urin ist noch nicht in Ordnung. Dr. Sixt: Wir wollen doch heilen, nicht nur bessern. Weitere 50 Eusaprim verordnet. Am 22. Juli, auf dem Rücken, ein fünfmarkstückgroßer roterhabener Fleck. Juckreiz. Wird mit Heilerde behandelt. Wird größer. In der Nacht
nach dem 3. Tag der erneuten Eusaprimbehandlung, Erbrechen, Kopfschmerzen. Am 24. Juli, 39 Fieber, weiteres Erbrechen. Der Kinderarzt Dr. Cornelius diagnostiziert Darmgrippe, verordnet Perenterol. Die Frage, ob der inzwischen noch größer gewordene Fleck eine Folge der Eusaprimbe-handlung sein könne, verneint er. Der Fleck sei Folge eines Insektenstichs. Ab 28. 7., kein Fieber mehr. Der Juckreiz jetzt rings um die Taille, allgemeine Berührungsempfindlichkeit der Haut. In der Nacht vom 10. zum 11. August, diffuse Schmerzanfälle. Dr. Cornelius spricht von einer Nervenentzündung, verordnet Baycillin und Neurobion. Der noch größer gewordene Fleck wird innen blaß, am Rand aber feuerrot. In der Nacht vom 11. zum 12. August, wieder Schmerzanfälle. Dr. Cornelius überweist, weil er in Urlaub fährt, den Fall an Dr. Freisieben. In den Tagen nach dem 12., deutliche Besserung. Die Berührungsempfindlichkeit der Haut bleibt. Am 24. August abends, Kopfschmerzen. Der Kinderarzt Dr. Freisieben überweist wegen der roten Qua-seln an den Hautfacharzt Dr. Landwehr. Am 25. August besieht sich Dr. Landwehr den roten Fleck und spricht von einem Zeckenbiß. Zeigt in einem Buch das Bild eines roten Flecks, der dem Fleck auf dem Rücken der Tochter sehr ähnlich ist. Dr. Landwehr hält eine Hirnhautirritation für möglich. Überweisung an den Nervenarzt Dr. Niebergall. Der prüft am 28. August die Reflexe, findet alles normal. Am gleichen Tag macht Dr. Freisieben ein Blutbild. Kein Befund. Die Schmerzen nehmen zu. Dr. Niebergall verordnet Gelonida. Dr. Cornelius, vom Urlaub zurück, kann oder will sich nicht mehr einschalten. Am 29. 8. fängt das Kind wieder an zu erbrechen wie in der ersten Juniwoche. Am 30. gelingt es, den Nierenfacharzt Dr. Sixt noch einmal einzuschalten. Dr. Freisieben, der betont, nur in Vertretung von Dr. Cornelius zu handeln, verschreibt Peremesin und Cibalen. Am 31. macht Dr. Finkbeiner, der Nervenarzt, den Dr. Freisieben vorgeschlagen hat, das EEG. Kein Befund. Dr. Freisieben und Dr. Sixt beschließen die Überweisung in das Krankenhaus. Im Augenblick ist das Kind zwar elend, hat aber keine Schmerzen mehr, auch das Erbrechen hat aufgehört. Der Arzt hatte sich Notizen gemacht. Er stellte nur eine Frage, und die, nach Gottliebs Eindruck, auch nur, weil er in Annas Sprachgebrauch das Wort Quaseln durch Quaddeln ersetzen wollte. Ob die roten Quaddeln noch sichtbar seien? Nein, sagte Anna, die seien seit dem Morgen des 27. August verschwunden. Gottlieb glaubte nicht, daß Anna das Angebot, Quaddeln statt Quaseln zu sagen, überhaupt wahrgenommen hatte. Sie war ganz bei der Sache, auch bedeuteten ihr Töne mehr als Worte. Sie gingen noch einmal hinunter, versuchten bei den Schwestern nachhaltiges Wohlwollen zu erwirken und die zwei anderen Kinder, eine fast schon genesene Griechin und eine schwer verunglückte Ailingerin, für Regina einzunehmen. Die Griechin Theano, deren Vater, als sie eintraten, gerade ging, wollte sie gleich wieder vertreiben. Regina begriff zuerst, warum. Da ihr Vater nicht mehr da sei, wolle sie nicht, daß von Regina gleich Vater und Mutter da seien, insbesondere weil Regina selber ja noch keine Stunde da sei. Los, los, rief sie und stampfte in ihrem Bett, gehen! Regina bat ihre Eltern zu gehen. Sie sahen ein, daß sie Regina am meisten nützten, wenn sie sofort gingen. Auf der Bundesstraße bog Gottlieb nicht nach Westen, sondern nach Osten ein. Er wollte mit Anna nach Mitten, ins Schwanenhaus. Weißt du noch, am Hochzeitstag, als wir für eine Stunde aus der Verwandtschaft ausscherten und auf Eberhärdles Einladung Kaffee tranken im Wintergarten, scharf beobachtet von der Dame Bansin? Als wir aufatmend zurückkehrten in den Duft der Verwandten, erzählten wir, daß die gnädige Frau die ganze Kaffeezeit über nur Fragen gestellt habe, um herauszubringen, ob ihr Eberhärdle in der Entwicklung hinter Gottlieb zurück sei. Offenbar hatte es sie
alarmiert, daß ein ehemaliger Klassenkamerad des Sohnes heiratete, während der immer noch am liebsten allein herumexperimentierte. Ihm wurde jedesmal schummrig, wenn er in den Schatten der hohen Bäume eintauchte. Was am See unter solchen Bäumen auf grünen Polstern für Häuser standen! Wieviel Toskana! Und was für Steinbaukastenhäuser! Und die Bäume hatten die Bauherrn mitgebracht von dort, wo sie ihr Geld gemacht hatten, von Sumatra, Kenia, Canada, Georgien. Er parkte das Auto weit vom Tor. Man kann nie wissen. Die Fußgängerpforte war offen. Hoffentlich war Dionys da. Am Telephon hatte sich niemand gemeldet. Dionys' Frau ging nicht ans Telephon, das wußte Gottlieb. Und Lydia, die Tochter, war in Vancouver. Beim letzten Besuch hatte Dionys gesagt, Lydia werde ihre Mutter hinüberkommen lassen. Vancouver! Im letzten Winter, Schnee bis zu den Fenstern des ersten Stocks. Zum Glück wohne Lydia im zweiten. Gottlieb kannte Dionys Dummler seit eh und je. Den größten Teil seines Lebens war Dionys Küfer in einer Mittener Weinhandlung gewesen. Und hatte diese schöne, blasse, hochdeutsch sprechende Frau und die genauso schöne, genauso hochdeutsch sprechende Tochter. Mutter und Tochter waren immer durch den Ort gegangen, als sei das Wetter schlecht und sie seien fremd hier oder beleidigt. Dionys war wegen eines Wirbelsäulenleidens, das er sich in den Kellern zugezogen hatte, Hausmeister bei Bansins geworden. Er ging jetzt gebogen wie jemand, der seine Fußspitzen mustert oder vor einem barbarischen Richter steht. Gottlieb wartete, damit das Schwanenhaus wieder auf Anna wirken konnte. Der Giebel über dem Portalvorbau mit seinen schwermütigen Kurven und der Nordostturm mit den von Lianen-Reliefs umwucherten oberen Stockwerken kamen Gottlieb heute vor wie eine Frau und ein Mann, die sich nebeneinander gestellt haben. Die Tür zum Wirtschaftstrakt war offen. Sie gingen durch zur Halle. Ein riesiges Spinnweb hatte sich zum Teil von der Decke gelöst und hing wie eine Schmutzgeisterfahne meterlang über die Treppe, an der entlang die nackte Frau mit ihrem weißen Stab den Schwan nach oben starten läßt. Als Anna von der dramatisch stillen Spinnwebfahne wieder geradeaus auf das Südfenster schaute, auf dem, von Bach Windungen, Schilf und immer weißeren Schwänen getrennt, die zwei Nackten standen mit ihrer direkt ansteckenden Sehnsüchtigkeit, las er Anna den im oberen Fensterhalbrund in harmvollen Buchstaben umlaufenden Text vor, den er schon vor mehr als 20 Jahren entziffert hatte, als Eberhard Bansin ihn zum ersten Mal mit ins Schwanenhaus genommen hatte: nu bräht im aber sinfriunt der sivan/ eine kleine gefüege seitiez./ stns kleinoetes er da liez./ ein swert, ein hörn, ein vingerlin\ hin fuor Loherangrm.\ wel wir dem maere reht tuon,\ so was er Parziväles suon. Damals hatte sich herausgestellt, daß Eberhard selbst diesen Spruch noch nie buchstabiert hatte. Eberhard interessierte sich nur für Chemie. Er machte in seinem Souterrainlabor Versuche, die er an der Schule wiederholen mußte. Mehrere Professoren diskutierten mit ihm vor den Schülern, die auf Eberhard stolz waren, auch wenn sie von dem, was er mit seinen fahrigen Bewegungen dann an die Tafel warf, nichts verstanden. Eberhard war das Genie. Als erster von allen hatte er das Gesicht voller Pickel gehabt, und am längsten; auch jetzt noch, an der Ravensburger Straßenecke, wo er den Wachtturm schwenkt und Leute, die seinem edlen Basset etwas zuwerfen wollen, bittet, es nicht zu tun, da er dieses Tier für internationale Ausstellungen konkurrenzfähig halten müsse. Gottlieb hörte Dionys Dummlers Stimme. Aus dem Billard-Salon. Gottlieb schaute hinein und sah, wie Dionys, von einem farbigen Schwan verfolgt, rückwärts zur Tür her kam. Der wütende Schwan würde seinen harten Schnabel Dionys im nächsten Augenblick in das der Körperkrümmung wegen unrettbare Gesicht schlagen. Es war ein ausgewachsenes Tier, aber so hellbraun gefleckt wie die ganz jungen Schwäne,
die noch im Kielwasser oder gar auf dem Rücken ihrer Mutter schwimmen! Gottlieb rief: Dionys, komm! Dio-nys griff hinter sich, Gottlieb reichte ihm die Hand, zog ihn heraus, schloß die Tür gerade noch, bevor der fauchende, hochgereckte Wüterich Dionys erreicht hatte. Jetz' luag no den dumme Siach a, sagte Dionys. Obwohl er sicher seit 30 oder 40 Jahren in der Gegend lebte, hörte man noch, daß er ursprünglich aus dem Bayerischen gekommen sein mußte. Ohne dich hätt' er mir den Ohrring stibitzt, sagte Dionys und grinste. Den winzigen goldenen Ring sah man, seit Dionys so gebeugt ging, deutlicher als früher. Jetzt müsse er auf seine alten Tage hin noch Tierwärter spielen. Frau Leistle sei eben viel zu gutherzig. Dem Tierschutzverein, der wegen eines Umbaus im Tierheim Raumprobleme habe, zu erlauben, das Viechzeug hier unterzubringen! Und er hat das Gfrett! Dieser Baraber da sei von seinen Alten vertrieben worden, weil er die braunen Flecken nicht verloren habe, obwohl er schon lang so groß sei, daß er hätte weiß werden müssen. Praktisch sei das jetzt ein Erwachsener, der ein Kind geblieben sei. Das sei das Gefährlichste. Jetzt sei der schon so bösartig, daß er mit niemandem mehr auskomme. Dionys habe versucht, ihm ein Haubentaucherjunges, das auch eingeliefert worden sei, zur Pflege zu geben, damit er was zu tun habe. Der hätte es sofort umgebracht, wenn Dionys nicht mit einem Bengel dazwischen wäre. Auch mit kranken Enten, die sich überhaupt nicht rühren, hat es Dionys probiert, der hat auf alles die gleiche Wut. So ein Tier gehört erlöst, sagte Dionys. Gottlieb Zürn wollte Anna vorstellen, aber Dionys duldete das nicht. Als ob er Anna nicht kennen täte! Gottlieb solle sich einmal an den Kopf greifen. Lydia sei doch auch zum Professor Eisele in die Klavierstunde gegangen, genau wie Anna, wenn's auch bei Lydia ganz gegen die Natur gegangen sei, das Klavierspielen, nur ein Zwang, von der Mutter her, die eben alles, was sie für vornehm gehalten habe, an dem Kind hatte ausprobieren müssen, bis es dem zuviel geworden sei, und jetzt sei Lydia in Vancouver. Aber sie lasse ihre Mutter nachkommen. Da kenne sie nix. Und die fahre. Übermorgen. Den Hund lasse sie da. Lydia habe geschrieben, die Mutti, ja, aber nicht der Hund. Von ihm, dem Vater, hab' sie nix geschrieben. Aber er war' auch nicht gefahren. Nicht für viel Geld ginge er nach Vancouver. Er komme schon durch hier. Nur Bubi mache ihm Sorgen. Mit Hunden habe er's nie können. Heute nacht sei der schon wieder fort. Und noch nicht da. Anna fragte, was es für einer sei. Ein Spaniel, sagte Dionys. Ja, die sind so, sagte Anna, wir haben auch einen gehabt. Weißt du noch, Gottlieb, in der Nacht, nachdem der Präsident Kennedy ermordet worden ist, ist Flori zum ersten Mal fort und dann immer wieder. Gottlieb wunderte sich wieder über Annas Gedächtnis. Das war eigentlich kein Gedächtnis mehr, sondern die vollkommene Unfähigkeit, etwas zu vergessen. Er drückte Dionys die Plastiktasche mit den zwei Flaschen in die Hand. Also, Gottlieb, rief Dionys, Gottlieb, Gottlieb, was machst jetzt auch du wieder! Das war' doch nicht nötig gewesen! Was Anna dazu sage! Aber so sei eben der Gottlieb! Immer schon. Er wisse noch gut, wie der Gottlieb als kleiner Spunt, ihm, als er noch beim Zanolari geküfert habe, für 5 Pfennig jedes Faß putzte. Und wie! Picobello! So sauber wie nicht so schnell ein anderer. Die größten Fässer. Für 5 Pfennig, Anna! Und heut ist er ein Doktor und verdient, was er will. Recht hat er! Dumm war' er, wenn er's nicht tat. Dionys hängte die Tasche mit den Flaschen an die Türklinke, horchte schnell und sagte: Da los' bloß, sobald der Kerle alloa ischt, ischt er brav. Dann holte er aus einer Tasche seines blauen Kittels eine Bierflasche, öffnete sie und trank sie unter schrecklichen Verdrehungen, ohne abzusetzen aus. Weil es mühsam war, sich so zu verdrehen, daß er trinken konnte, trank er, wenn er sich einmal in diese Lage gebracht hatte, offenbar soviel, als jeweils zu kriegen war. Gottlieb fragte, ob es etwas Neues gebe. Am Dienstag, die Versteigerung, sagte
Dionys. Im Blauen Salon. Den Schlüssel habe das Gericht. Am Mittwoch komme Frau Dr. Leistle persönlich. Gottlieb sagte, am liebsten wäre er um die Wege, wenn Frau Dr. Leistle komme. Er besuche sie ja morgen in Stuttgart, mache alles ab. Ob sie denn mit jemandem verabredet sei hier? Ja, mit einem Herrn Schatz, habe die Sekretärin der Frau Doktor gesagt. Mit einem Herrn Schatz, rief Gottlieb. Das sei insofern lustig, als er doch morgen den Auftrag abhole in Stuttgart. Und Schatz sei ein Kollege bzw. Konkurrent. Was will sie denn mit dem noch, sagte Gottlieb. Überhaupt sei der doch krank! Der sei doch in Wien! Er drehte sich um und herum. Am liebsten hätte er geweint. Hei-jei-jei, sagte er. Und noch einmal: Hei-jei-jei. Und zu Anna: Also kommt es drauf an, morgen. Mit Dionys machte er ab, daß er in der Nähe sei, wenn Frau Dr. Leistle sich hier mit Schatz treffe. Sicher sei sicher. Und Dionys habe sich, sobald der Auftrag Gottliebs sei, sowieso ein 13. Monatsgehalt verdient. Da geb's keine Widerred'. Ob sie jetzt noch schnell einen Gang durchs Haus machen dürften. So lang sie wollten. Nur nicht im Parterre. Da sei alles voll Viecher. Igel auf Parkett! Mövsn auf Marmor! Er schüttelte den Kopf. Er gehe ins Souterrain, Hasen füttern. Gottlieb zog Anna an sich und ging, sie eng an sich pressend, als müsse sie ihm gegen Schatz helfen, mit ihr die breite Treppe hinauf und durch die einzelnen Zimmer mit den farbigen Wänden und den Decken voller Gipsgewächse. Laß nur, sagte er, diesmal zeig ich dem, wo der Barthel den Most holt. Laß nur. Er zog sie in das Zimmer mit dem Wandgemälde, auf dem die nackte Leda neben dem aufgerichteten und zu ihr aufschauenden Schwan stand. Obwohl Leda den Schwan zu sich herzog, schaute sie nicht hin zu dem, der sich an ihre linke Seite drängte, sondern nach rechts hinunter auf den Boden, wo gerade zwei Eier zerbrochen waren, und herauspurzelten vier Kinder. Die Geburt Helenas, sagte Gottlieb. Eigentlich wollte er dazusagen, er habe das im Lexikon nachgeschlagen. Er stellte sich so nahe neben Anna, daß er sie ein wenig berührte. Er wollte sie mobilisieren. Gegen Schatz. Für sich. Die Sonne schien bis auf Ledas Füße und die vier Kinder. Das brachte das kleine Wiesenstück, von dem Leda eine Blume gepflückt hatte, zum Leuchten. Einen Schritt hinter der mächtig und leicht stehenden Leda zeigte der Schilfsaum Ufer an. Wenn Anna den Augenblick empfand wie er, müßte sie die winzige Tuchfühlung um ein bißchen verstärken. Dann könnte er ihre Nähe auch ein bißchen deutlicher suchen. Dann wieder sie. Dann wieder er. Kein Möbel mehr im Raum. Aber am Kachelofen noch eine Ofenbank. Anna, eine Ofenbank. Ohne daß Anna reagiert hätte, tat er, als komme er ihr dadurch, daß er wie Leda auf dem Bild das Standbein wechsle, unabsichtlich näher. Aber Anna reagierte nicht. Laß nur, sagte er und legte den Arm um sie und zog sie an sich. Sie sagte, auf die uninteressanteste Stelle des Bildes, auf die vier Ausgeschlüpften, hinweisend: Genauso viel wie bei uns. Er ließ den Arm fallen. Daß sie ihn an sich zöge, wie Leda den an ihr hochschmeichelnden Schwan, war, weil sie nur auf die Kinder schaute, nicht zu erwarten. Leda schaut zwar auch nur auf die Kinder. Aber trotzdem zieht sie den Schwan noch zu sich hin. Mit beiden Händen. Er drehte sich um, wußte nicht, wohin mit dem Unmut, machte ein paar heftige Schritte, stand vor einer Schranktür und mußte, um den Schritten nachträglich einen Sinn zu geben, die Tür öffnen. Er tat also, als interessiere er sich dafür, wie dieser Einbauschrank ausgestattet sei. Zu seiner Überraschung war in der Rückwand des Schrankes noch eine Tür. Das ist ja wie in Reginas Narnia-Chronik, dachte er, öffnete und fand sich auf der untersten Stufe einer kleinsten Wendeltreppe; er kletterte in ihr hinauf und war einen Stock höher wieder in einem Wandschrank, stieß die Tür auf und war in dem Zimmer mit der roten Tapete, auf der immer zwischen sechs schräg ansteigenden
Ammonshörnern eine nackte, mit Edelsteinketten umschlungene Frau stand, deren Kopf vor dem sechsten Ammonshorn immer so placiert war, daß die Steinwindungen des Horns wie ein heidnischer Heiligenschein wirkten. Er hatte keine Lust mehr, Anna dieses Zimmer zu zeigen. Als sie heimkamen, leuchtete ihnen von der Haustür ein Anschlag entgegen. Julia sei mit Armin auf den Hundeübungsplatz gegangen. Magdalena fanden sie auf dem Sofa liegend, reglos, zur Decke starrend. Auf der Sofalehne, als sei sie ein Schmuckstück der Sofagestaltung, kauerte Else. Irgendwie wirkte Magda, weil die Katze über ihr kauerte, bemitleidenswert. Auf den Eintritt ihrer Eltern reagierte sie nicht. Daß sie nicht Violine spielte, wenn Julia nicht Klavier spielte, war nichts Neues. Gottlieb hatte manchmal den Eindruck, Magda spiele nur, um zu verhindern, daß Julia auf dem Klavier weiter sei als sie auf der Violine. Anna setzte sich sofort zu Magda und fragte, was ihr fehle. Was soll mir denn fehlen, sagte sie, ohne jeden Aufwand. Ob sie gegessen hätten. Sie schon, Julia nicht. Warum sie jetzt so daliege. So halt. Wenn ihr nichts fehle, könne sie doch genausogut sitzen! Zu was? fragte Magda. Anna schaute zu Gottlieb hin. Gottlieb sagte: Geh doch ein bißchen an die frische Luft. Magda sagte: Zu was? Cui bono, dachte Gottlieb. Hatte sie in letzter Zeit nicht öfter mit dieser Gegenfrage reagiert? Jetzt laß sie halt, sagte Gottlieb in einem friedenstifterischen Ton. Aber Anna ertrug es nicht, daß Magda, zur Decke starrend, liegen blieb. Vielleicht fehle ihr was. Magda reagierte nicht mehr. Sonst habe sie nie eine Sekunde Zeit und jetzt liege sie so da, sagte Anna fast schon verzweifelt. Magda, komm, jetzt steh halt auf. Wasch dir die Haare. Zu was? sagte Magda. Weil du sie seit drei Wochen nicht mehr gewaschen hast und heute Freitag ist. Magda reagierte nicht mehr. Mein Gott, ich werde noch wahnsinnig in diesem Haus, rief Anna, stand auf und ging in die Küche. Gottlieb rief, weniger tröstend als triumphierend, so schnell werde man nicht wahnsinnig. Sie werde sich wundern, wie lange das daure, bis sie wahnsinnig werde. Er ging in sein Büro hinüber, setzte sich in seinen Sessel, kippte ihn und sah die Hundsrosen an, die durch das offene Fenster hereinhingen, daß es aussah, als seien sie Giraffen und neugierig. Morgen wird Judith Reinhold ihr erstes Konzert geben. Seine Kinder mußte man schieben wie Schubkarren; wenn er eine Sekunde lang aussetzte, blieben sie an Ort und Stelle liegen. Die Kinder anderer Leute zogen ungeheuer an. Die schleiften förmlich noch ihre Eltern mit. Vielleicht erlebte er das nur so, weil er gehofft hatte . . . was hatte er gehofft? Wahrscheinlich irgend etwas Märchenhaftes, Blödsinniges, Rettendes. Wahrscheinlich wollte er nur noch im gekippten Sessel liegen und warten, bis die letzten Fremden abgereist sind, und dann einen Winter lang Geld zählen. Er wollte nicht in dröhnenden Werkshallen nach Luft schnappen. Die Kinder sollten auch nicht in solchen Hallen nach Luft schnappen. Mehr wußte er nicht. Würde er nicht wissen. Wollte er nicht. Bastabastabasta. Ihn regten diese Wespen auf. Die Wespen stürmen das Haus. He, du, Verteidiger! Er sprang auf, erschlug die Wespen, warf sie hinaus. Jetzt war es ruhig. Draußen bog Frau Constabler um die Ecke. Ihr Mann kam, solange die Familie hier Ferien machte, übers Wochenende von Baustellen, wo man, wie er Anna mitgeteilt hatte, sich nur brüllend verständigen konnte. Frau Constabler rief ganz langsam: Isolde, isch geh mal eben einkaufen. Isolde rief herauf: Ja-a. Frau Constabler rief noch langsamer: Aber ihr macht da kein Quatsch. Und Isolde rief genauso: Ne-ee. Die wunderbare Harmonie der Familie Constabler aus Solingen. Was für eine unerschütterliche Frau! Diese fabelhafte Langsamkeit! Und Isolde, für sich und drei Geschwister antwortend, der vollkommene Widerhall! Was für ein Nachmittag. Auf dem Stück See, das die Eichenäste freigaben, fand die Handlung statt. Leichtes Gewell, in das die Sonnenstrahlen schlagen. Und jeder Strahl, der einschlägt, zersprit2t in Gefunkel. Und diese Funkelfontänen wandern, während
andauernd neue Strahlen neue Funkelfontänen erzeugen, mit den leichten Wellen vor leichtem Wind nach Nordost. Ist das etwa kein leidenschaftlicher Tag? Magda! Man müßte in Eichenkronen klettern, dort eine Hütte bauen, vom Rauschen umgeben. Oder im Licht stehen wie Leda, die Hände beim Schwan, den Blick auf den Kindern. Aber doch nicht diese ausgestreckte Totenstarre auf einem kalten Sofa! Oder hatte sie recht? Er sollte sich längst hüten. Daß Lissi Reinhold nicht anrief, bewies ihm, wie wenig er sich gestern abend gehütet hatte. Sein Tonband hatte nicht einen einzigen Anruf registriert. Sollte er sie anrufen? Sie wollten mir doch einen Tip geben, gnädige Frau, betreffend Frau Dr. Leistle, die Präsidenten-Villa, um 18.19 geht nämlich mein Zug, ich bin morgen auf neun bestellt . . . Aber wenn sie nicht anrief, konnte er auch nicht anrufen. Wieder mußte er die Sätze des Abends und der Nacht durchnehmen und durch bessere ersetzen. Das mit den zwei Wagner-Sängerinnen war wahrscheinlich der schlimmste Fehler gewesen. Reiner Rohrkrepierer. Wie sie gelacht hatte. Sie konnte auf die Idee gekommen sein, er habe den Satz zitiert, weil er ihn für eine Beleidigung halte. Wenn er aber glaubte, mit diesem Satz Paul Schatz denunzieren zu können, mußte er selber der Ansicht sein, der Satz beziehe sich auf das Körper-, nicht auf das Stimmvolumen. Und damit war er der Beleidiger! Er hatte den Satz gesagt. Vor Zeugen. Diesen Satz hätte es nicht gegeben, würde es nicht geben, wenn er nicht ausgesprochen worden wäre. Und er hatte ihn ausgesprochen. Und das furchtbare Lachen, in das Lissi hatte ausbrechen müssen, hatte ihm bewiesen, wie schlimm dieser Satz für sie war. Und er dachte noch an einen Tip! An Protektion! Wahrscheinlich hatte sie, anstatt ihn anzurufen, nach Stuttgart telephoniert und gesagt: Hortense, diesen Dr. Zürn kannst du vergessen. Der einzige, der diesen Auftrag verdient, ist ER, gib ihn IHM, wenn ER, was Gott gebe, heil aus Wien zurückkommt. Zum Glück werden reiche Leute, wenn es um ein Geschäft geht, sehr sachlich. Das war seine Chance. Sollte Frau Dr. Leistle doch prüfen, wer für dieses Haus der bessere Makler war. Armin winselte draußen. Er ließ ihn ein. Der ging sofort in die Knie, legte sich so flach als möglich hin. Das tat er, wenn er Angst hatte. Wahrscheinlich war er Julia auf dem Übungsplatz davongelaufen und hatte jetzt Angst vor Vergeltung. Genau wie ich, dachte Gottlieb. Du hast mich, aber wen habe ich, dachte Gottlieb. Diesen Satz hatte einmal Ludwig zu ihm gesagt, den er auch nicht mehr hatte. Der war im Bankgewerbe so aufgestiegen, daß er Gottlieb notwendigerweise hatte aus den Augen verlieren müssen. Gottlieb beruhigte Armin, versprach ihm Hilfe gegen Julias Zorn und nahm ihn mit auf die Terrasse, wo Anna das Essen gerichtet hatte. Else kauerte immer noch über Magdas Kopf. Als sie beim Kaffee waren, traf Julia ein, erhitzt und fast weinend vor Wut und Enttäuschung, weil ihr Armin schon auf dem Weg zum Übungsplatz einfach davongerannt war. Nur weil ein Leichtmotorrad, das vorbeifuhr, eine Fehlzündung gehabt hatte. Und sie hatte den ganzen Sommer geübt, Armin schußfest zu machen! So ein blöder, dummer, feiger, unmöglicher Hund! Das wird überhaupt nie ein Hund, rief sie. Armin legte sich immer noch flacher. Nur die Augen drehte er herauf. Ein elender Blick. Gottlieb versuchte zu vermitteln. Armin habe nun einmal eine schwere Kindheit gehabt. Abgeliefert im Asyl, monatelang hinter Gittern. Wahrscheinlich hat er etwas mit einem Knall erlebt, womit er nicht fertig wird. Kwwaddsch, sagte Julia. Sie verlange, daß er endlich mit seiner Kindheit fertig werde. Andauernd blamiere sie sich mit diesem infantilen Viech! Gottlieb sagte seinen Standardsatz: Dafür ist er der schönste Hund der Welt. Julia legte sich zürnend neben Armin, ließ sich aber allmählich die Wiedergutmachungszärtlichkeiten, die der schöne Infantile anbot, gefallen. Ein seliges Paar. Anna dagegen wollte wissen, wie es weitergehe, mit Magda. Da die Tür offen war, konnte Magda hören, was über sie gesprochen wurde. Wenn sie
überhaupt auf Hören eingestellt war. Zu ihr habe sie gesagt, sagte Julia, sie gehe nicht länger in die Schule. Und warum nicht, fragte Anna. Frag sie doch, sagte Julia. Weiß sie, was sie machen will, fragte Gottlieb. Ja, Steuerhelferin oder Anwaltsgehilfin, sagte Julia. Gottlieb rief hinein: Stimmt das? Keine Antwort. Ob das stimme, fragte er noch einmal. Anna sagte, wenn Magda vor dem Abitur aus der Schule herauswolle, müsse man doch wenigstens sprechen darüber. Von drinnen kam ein interesseloses Zu-was. Gottlieb sprang auf. Und weil er aufgesprungen war, mußte er lauter sprechen, als es nötig gewesen wäre. Und weil er jetzt schon brüllte, hatte er das Gefühl, er müsse noch lauter brüllen, er könne gar nicht so laut brüllen, wie er brüllen müßte, um von dieser tollohrigen Tochter gehört zu werden. So könne sie, brüllte er, behandeln, wen sie wolle, ihn nicht. Wenigstens hätte sie sagen müssen, was man ihr getan habe, bevor sie sich benehme, wie sie sich benehme. Warum, bitte, warum! Aber inzwischen verzichte er sogar auf ihre Gründe. Und zwar - daß sie das, bitte, zur Kenntnis nehme! — ein für alle Mal. Schluß-Schluß-Schluß! Es gebe ja, außer Kindern, noch ein paar andere Beanspruchungen in der Welt. Er sei auch nicht zu seinem Vergnügen auf der Welt. Dummerweise habe er immer gedacht, in einer Familie, ja er sei so hochmütig gewesen zu meinen, in seiner Familie gehe es nicht zu wie in der sogenannten Wirklichkeit. Irrtum seinerseits! Es sei offenbar hier genauso wie überall. Jeder gehe so weit, als er glaube, gehen zu können. Jeder leiste sich alles. Gut. In Ordnung. Führen wir das Realitätsprinzip ein in diese Familie. Magda dürfe sich das Verdienst zuschreiben, das geschafft zu haben. Was das aber für sie selber bedeute, das werde sie noch sehen. Er war im Zimmer vor Magda auf- und abgegangen, immer rascher, bis er soviel Schwung hatte, daß es zur Bürotür reichte und hinein. Die Tür schlug er zu, dann saß er in seinem Sessel und bebte und zitterte. Vor Schwäche. Am Vormittag, als der Arzt bei ihrem Eintritt schon rauchte, hatte er befriedigt notiert: Der Schwächere raucht. Jetzt notierte er: Der Schwächere schreit. Durch das offene Fenster hörte er, wie Julia Armin verständlich zu machen versuchte, daß nicht er angeschrieen worden sei. Wenn wenigstens Frau Reinhold anrufen würde. Sie hatte doch vorgestern extra angerufen, um ihm einen Tip zu geben. Dann hatte sie sich animiert gefühlt, ihn einzuladen. Dann kommt sie den ganzen Abend nicht dazu, das zu tun, um dessentwil-len sie ihn eingeladen hat. Also mußte sie jetzt doch jeden Augenblick anrufen und sagen: Entschuldigen Sie, bitte, daß ich . . . Mußte sie? Sie mußte überhaupt nicht. Ihr Mann machte mit einer Firma, die ihm wahrscheinlich zu einem Drittel gehörte, 100 Millionen Umsatz. Und das mit nicht mehr als zweihundert Beschäftigten. Zuerst hatte die Firma Shulmann und Frost geheißen, jetzt hieß sie Reinhold-Werk. Und wenn man jemanden, der dort arbeitete, fragte, was er mache oder was man überhaupt dort mache, erfuhr man nur, daß man nichts erfahren dürfe. Die Amerikaner, hieß es, die NASA! Um sich nicht vorzukommen wie ein russischer Spion, fragte man nicht weiter. Nein, Frau Reinhold hatte es nicht nötig, ihn anzurufen. Er hatte es nötig, vor dem Telephon zu sitzen wie die Katze vor dem Mausloch. Und das tat er. Als es Zeit war, sein Zeug zusammenzupacken und sich von Anna zum Bahnhof fahren zu lassen, war kein Anruf gekommen. Dann also ohne Tip und Protektion. Er bat Anna, als er ausstieg, sie möge versuchen, mit Magda zu sprechen. Auch solle sie Regina grüßen. Und Rosa, die heute noch eintreffen wollte. Er ging rasch von Anna weg, weil er fürchtete, es werde sie deprimieren, wenn sie sehe, wie schwach er war im Augenblick der Abreise. Und es ging ins Feld. Er rückte aus. Morgen die Schlacht. Da er doch wohl als eine Art Sieger über Kaltammer und Konsorten zurückkehren wird, ist es besser, den Blickwechsel auf die Sekunde der Ankunft zu verschieben. Als er auf das Bahnhofsgebäude zuging, fühlte er sich mit jedem Schritt wohler, freier, stärker. Wer glaubte, ihn schon für erledigt halten zu
können, hatte sich getäuscht. Bis er bei den Stufen zur Bahnhofstreppe war, hatte er das Gefühl, er federe bei jedem Schritt vor Unternehmungslust. Bleib du liegen, Magda, ich komm' zurück und richte dich auf. Morgen nachmittag. Magda hatte mit keinem Mucks zu erkennen gegeben, ob sie überhaupt bemerkt habe, daß er, als er sein Büro verließ, an ihr vorbeiging. Sie starrte zur Decke. Er durfte sich davon nicht beeindrucken lassen. Einmal hingeschaut und sofort wieder weg. Es war furchtbar, wie sie da lag. Unvorstellbar, was sie dachte, Sekunde um Sekunde, nichts im Blick als die musterlos weiße Decke. Er hätte gern beobachtet, ob ihre Lider sich noch bewegten, aber er konnte nicht so lange hinschauen. Morgen, Magda. Verschieb, bitte, alles bis morgen. Wenn er zurückkommt. Dann. Ein Blick auf die Uhr. Er hatte Zeit. Es gab keinen Termin, zu dem er nicht viel zu früh kam. Er war noch nie in seinem Leben zu irgend etwas zu spät gekommen. Das war unvorstellbar. Solche Behauptungen, das spürte er auch gleich, waren für ihn typisch. Immer stürmte etwas auf, was er gleich wieder dämmen, zurücknehmen, widerrufen mußte. Wie sollte man da zu etwas kommen. Etwas sein. Am Schalter löste eine alte Frau für ihren stumm neben ihr stehenden Mann eine Karte, von der der junge Beamte, bevor er sie aushändigte, mit einer riesigen Schere ein Drittel abschnitt. Gottlieb dachte: Wir sind eine eher rohe Gesellschaft. Er fuhr erster Klasse. Er kam sich in der ersten Klasse immer noch fremd vor, aber seine Kundschaft fuhr erster Klasse und hätte jedes Zutrauen zu ihm verloren, wenn sie ihn, im Vorbeigehen, in der zweiten Klasse gesehen hätte. Wenn ich Zahnarzt wäre, würde ich zweiter Klasse fahren, dachte er. In Singen, beim Umsteigen, geriet er in Scharen Elf- bis Dreizehnjähriger, Mädchen und Buben, die sich die Treppen hinabgossen, drüben hinaufdrängten, den Zug überfluteten, ohne es zu wissen, ohne daran zu denken, daß sie auf einem Bahnhof waren. Sie kamen von einem Ausflug. Alle erregt. Alle sprachen, schrieen andauernd, gleichzeitig. Einer riß den anderen zu sich hin. Ein gewaltiger, hoher, hämmernder Ton entstand, ein universaler Sopran aus Hunderten von Kinderstimmen, ein nicht endenkönnender Höhepunkt. Gottlieb ließ sich mitschwemmen. In diesem Schwärm bleiben, für immer, das war's. Aber er mußte sich herausreißen aus dem seligen Geschrei und in einem Abteil Platz nehmen, in dem zwei Herren sich über einen dritten unterhielten, der den Anforderungen, die an ihn zu stellen waren, einfach nicht mehr entsprach. Offenbar arbeitete dieser die Anforderungen nicht Erfüllende für einen der Herren in der Schweiz. Dieser, der Chef also, sagte, als Gottlieb Zürn eintrat: Die Landschaft is ja scheen, hab ich trocken jesaacht, aber keene Kunden. Beide lachten. Der Chef fuhr fort: Ich mecht Ihnen 'n Trost geben, sach' ich, da dirfen Se nich gleich durchdrehen, ich dreh ja auch nich' durch! Noch größeres Gelächter. Ich dreh ja auch nich' durch! wiederholte er, um das Lachen noch einmal zu füttern. Gottlieb entfaltete die Zeitung und hörte zu: Ich bin nicht umsonst 24 Jahre selbständig in der Branche. Ich bin jetzt einfach soweit, ich geh' kaputt, ehrlich jesacht, ich geh' kaputt. . . Die Luft in Stuttgart war eigentlich nicht mehr zu atmen. Er brachte seine Tasche ins Unger, dann ging er weiter, nach Stadtplan, Richtung Parierstraße. Bergauf. Er fand das Haus, ging aber auf dem gegenüberliegenden Trottoir rasch vorbei. Roter Sandstein, Buckelquader, leicht wiederzufinden. Zu sehen ist wegen Mauer, Bäumen, steil ansteigendem Grundstück sowieso nichts. Morgen, kurz vor neun, wird er hier, wieder zu Fuß, eintreffen, läuten und dem Mädchen seine Karte geben. Es ist überhaupt nicht gesagt, daß eine schwarze Karte mit Buchstaben in Goldprägung, wie sie Kaltammer führt, ein Vorteil wäre. Eine Frau Dr. Hortense Leistle, wie auch immer sie selbst daherkommt, hat nichts übrig für eine schwarze Karte mit Gold drauf. Es gibt ein paar Dinge, auf die ist in Stuttgart Verlaß. Er wird beim ersten Blickwechsel mit Frau Dr. Leistle feststellen, ob sie zwar schwarze Karten ablehne,
sonst aber ein fühlloser Seidendrachen sei. Vielleicht war sie eine patente Person, ein Wort gäbe das andere, man könnte reden mit ihr, nach zwei Stunden wäre man sich einig und tränke, nach dem strengen, aber wunderbaren Tee, noch ein Viertele Hohenloher. Wieder drunten, trieb er sich noch in den Straßen zwischen Bahnhof und Hotel herum, studierte die Schaufenster, verglich Preise, als sei er nur hierhergekommen, um morgen groß einzukaufen. Sobald er lag, merkte er, daß die Nacht ein Problem werden konnte. Hätte er doch eine Flasche Rotwein getrunken. Geizhals. Morgen 60- bis 90 000 Mark verdienen wollen, und sich jetzt keine Flasche Rotwein leisten. Geiz war es nicht. Er hatte einfach nicht getan, was er wollte. Das kannte er. Oft bestellte er in Gasthäusern das Gericht, das er nicht wollte, genau wissend, welches er eigentlich wollte. Er hätte dann gern gewußt, wer in ihm das Wort führte oder wie da überhaupt entschieden wurde. Also kein Wein. Also wachgeblieben. Lieber morgen übernächtigt aufs Schlachtfeld. Schlachtfeld. Daß die nicht ein verlogeneres Wort eingeführt hatten. Er rief Anna an. Ob Frau Reinhold etwas habe hören lassen. Nein. Mhm. Und Regina? Kein Erbrechen mehr. Sie sei ganz ruhig gewesen, aber kleinlaut. Was das heißen solle, kleinlaut. Anna gebrauchte öfter Wörter so, daß man meinen mußte, sie habe das genauso willkürlich wie unwillkürlich getan. Nachfragen hatte keinen Sinn. Rosa sei angekommen. Aber nicht allein. Er heiße Max. Ein Kameramann. Sie könne noch nicht viel sagen. Magdalena sei, sobald die Stimme dieses Max an der Haustür hörbar geworden sei - er spreche ziemlich laut und arg bairisch —, aufgesprungen und dann um's Haus herum und, als Rosa und dieser Max auf der Terrasse gewesen seien, in ihr Zimmer hinaufgeschlichen. Rosa gehe es nicht gut, das habe sie sofort gesehen. Sie habe noch nicht sprechen können mit ihr. Falls Frau Reinhold noch anrufe, solle Anna ihn bitte sofort benachrichtigen. Wie es ihm gehe? Ihm?! Wie es ihm denn gehen solle?! Gut natürlich. Sehr gut. Er hat ein schönes Zimmer, ein wunderbares Bett, also bitte. Dann lag er wieder. Er war ziemlich sicher, daß es der Satz mit den zwei Wagner-Sängerinnen war, der ihm alles verdorben hatte. Herrn Schatz hatte er das zu verdanken. Nein, sich. Er mußte wieder die Sätze, die auf der Terrasse gesagt worden waren, vorbeiziehen lassen. Auch die, die er schon durch bessere ersetzt hatte. Immer klarer schälte sich aus dem Wust des Abends sein eigenes Bild heraus als das eines Eiferers, der anderen ins Wort fällt, dann gleich doppelt so laut spricht wie die, die er unterbrochen hat, der dabei auch noch mit den Händen zu oft und zu jäh durch die Luft fährt - er war der einzige, der ein Glas umgestoßen hatte an diesem Abend —, der sichtbar schwitzt vor lauter Hektik. Und dann hört dieser krawattenlose Choleriker, wenn ihn die Dame des Hauses nicht mit aller Autorität unterbricht, nicht auf zu sprechen, bevor er nicht jeden in der Runde oder wenigstens einen Freund eines jeden Gastes aufs Unsinnigste beleidigt hat. Und diesem Menschen hatte Frau Reinhold einen Tip geben wollen! Er hätte sich ja auch lieber anders aufgeführt. Er hatte sich doch nicht so aufgeführt, wie er sich gern aufgeführt hätte. Es war mißglückt. Aber das konnte er keinem sagen. Wie er oft genau das bestellte, was er nicht essen wollte, so führte er sich oft auf, wie er sich nicht aufführen wollte. Wenn Frau Reinhold inzwischen Kaltammer erzählt hatte, wie Dr. Zürn Jarl F. Kaltammer hasse und schmähe, hatte sie nicht die Wahrheit erzählt. Er haßte weder Kaltammer noch Paul Schatz. Wenn er dem Gefühl nachgäbe, das sich in ihm jedes Mal regte, wenn er Kaltammer oder Schatz persönlich begegnete, müßte er sagen, jeder der beiden nehme ihn jedesmal für sich ein. Er fühlte sich von denen jedesmal erobert. Hätte er das einmal zugeben sollen? Jetzt, in diesem Augenblick sollte er auf Frau Reinholds Terrasse sitzen und sie sollte ihn über IHN prüfen. Jetzt würde ihm jeder Satz gelingen. Frei und leicht könnte er sich jetzt in eine am Anfang noch ein bißchen verlogene, aber mit jedem Satz wahrer werdende
Rede zum Ruhm seiner Konkurrenten hineinreden. Es gibt ein Glück des Unterlegenen, von dem der Überlegene keine Ahnung haben kann. Das wäre sein Thema. Und er und seine Zuhörer müßten den Eindruck haben, seit dem Augenblick, in dem der Satz, man solle seine Feinde lieben, zum ersten Mal ausgesprochen wurde, habe noch keiner eine so weitgehende Verwirklichung dieses Satzes erreicht wie jetzt Gottlieb Zürn. Und der Glanz dieser Rede würde Schatz und Kaltammer erreichen, sie blenden, daß sie zu ihm kämen und ihn ohne weiteres umarmten. Aber es sollte nicht zu spät sein. Er hielt sie jetzt. Im dunklen Hotelzimmer. Wichtig war, daß er spürte, er sei fähig, Paul Schatz zu bewundern. Und Kaltammer auch. Das tat ihm schon gut. Löste ihn unendlich. Warum hatte er diese Bewunderungsrede nicht schon längst geübt? Sie wurde doch überall verlangt. Auf Schritt und Tritt stieß man auf Bewunderer Schatzens und Kaltammers. Ohne einen Beitrag zur SchatzKaltammer-Bewunderung konnte man keinen Schritt vorwärtskommen. Und er bewunderte die doch wirklich. Also was soll's! Daß er andererseits die beiden gar nicht bewunderte, nicht einmal beneidete, sondern beide in ihrer ganzen Gelungenheit aus innerstem Hochmut verachtete, mußte er ja niemandem sagen. War es Hochmut? Andere würden es so nennen, er nicht. Er verachtete die zwei Herren, weil sie sich zu wenig schämten. Bitte, das war sein Gefühl von ihnen. Das mußte er für sich behalten. Man würde das für Futterneid und Ressentiment halten. Aber hatte er nicht immer, wenn er auf einen der beiden reagieren mußte, mit Neid und Ressentiment reagiert? Er hatte. Seine innerste Unangreifbarkeit durch die Stärke dieser zwei Herren hatte er immer verborgen. Jetzt sah er zum ersten Mal, in welch ungeheurem Ausmaß er sich den Erwartungen der Leute anpaßte. Er tat sogar das, was ihn in der Meinung der Leute herabsetzen mußte. Da er es für sicher hielt, daß die Leute glaubten, er könne auf seine überlegenen Konkurrenten nur mit Neid, Haß und Minderwertigkeitsgefühl reagieren, äußerte er, sobald die Rede auf einen der beiden kam, Neid, Haß, Minderwertigkeitsgefühl. Würde er etwas anderes zeigen, mußten sie glauben, er lüge. Man kann der Welt nicht mit etwas kommen, was sie nicht erwartet. Also doch keine Bewunderungsrede auf Schatz und Kaltammer? Nein. Also hatte er doch richtig reagiert auf der Terrasse? Er hätte deutlicher eine möglichst niedrige Antipathie ausdrücken müssen; dadurch hätte er die beiden größer und sich kleiner gemacht und so das herrschende Urteil bestätigt. Lieblinge sind Lieblinge, basta. Er war, das empfand er nun wirklich durch und durch, kein Liebling. Auch nicht sein eigener. Und das merken die Leute. Sie lieben nur jemanden, der sich liebt. Gottlieb hatte das Gefühl, er habe sich in einen Hexenkessel hineingedacht. Liebte er Schatz und Kaltammer oder liebte er sie nicht? Das war die einzige Frage, die wog. Er wollte sich ausstrecken im Bett, sich wieder zusammenziehen, aber er wollte mit dieser Frage nichts zu tun haben. Er hatte Angst vor der Antwort. Er ahnte eine Antwort. Die wäre doch vernichtend. Mein Gott, rief er fast aus, ich werde die doch nicht auch noch mögen müssen. Aber er möchte. Und er könnte. Und . . . Gottlieb Zürn hielt manchmal, wenn es in seinem Innern hoch herging, eine Ansprache an seine Kinder. Jetzt war ihm wieder danach. Liebe Rosa, Magda, Julia und Regina, sagte er leise ins Dunkel. Vielleicht sei er sich vor lauter Tarnung verschwunden. Immer hingeschaut, wo er nicht wollte. An ihm sei nichts zu lernen, als wie es nicht sein soll. Dafür stehe er grad. Er lasse den Vortritt dem Gegenteil seiner Wünsche. Vielleicht habe er immer die falschen gehabt. Gute Nacht. Er ging noch einmal unter die Dusche. Irgendwann schlief er doch ein. Als er wieder aufwachte, war es noch dunkel. Er hoffte, es sei wenigstens drei vorbei. Auf die Uhr zu schauen traute er sich nicht, weil er fürchtete, es könne auch erst halb eins sein. Das Einschlafenkönnen gehörte längst zu den Leistungen, die er von sich verlangen mußte wie das, was der Beruf am Tag verlangte. Was habe ich da bloß
wieder geredet, sagte er leise ins dunkle Zimmer. Er war beim Reinhold-Abend. In einem Winselton sagte er: Was habe ich da bloß wieder geredet. Dann sagte er: Ich möchte auf die Zähne beißen, bis sie splittern und mein Mund aussähe wie der Wald nach dem Tornado. Stuttgart liegt im Kessel, dachte er. Da gibt es auch nachts keine Luft. Seine Nase war wie zugeschwollen. Er atmete auf Kommando. Er schlief ein. An einem unerfreulichen Traum wachte er auf. Obwohl es schon keinen Sinn mehr haben konnte, war er mit der ganzen Familie durch den Nürnberger Bahnhof gerannt. Der Zug sollte auf Gleis 10 stehen. Sie waren alle naß, dreckig, über-schlammt, Baustellen bis tief in den Bahnhof hinein. Für Fahrkarten reichte es nicht mehr. Er riß Regina, die nicht mehr konnte, durch die Luft. Plötzlich stieß sie mit dem linken Fuß gegen eine Stahlspitze, die den Fuß in der Mitte zwischen Gelenk und Zehen durchstach. Ein Loch im dreckigen, schlammigen Schuh. Ein Loch im Fuß. Blut spritzte heraus. Er riß alle weiter. Regina schrie. Er auch. Er stoppte, weil aus dem blutigen Loch, in Pulsfrequenz, Fleischbrocken herausgeschleudert wurden. Er kniete nieder, um sein frisches Taschentuch um den Fuß zu binden, aber er zog ihr dazu den Schuh nicht aus. Eine Frau sagte: Vergessen Sie nicht, ihr nachher die Strümpfe auszuziehen. Er erkletterte mit allen noch einen Prellbock. Der Zug — aber das hatte er gewußt - war fort. Jetzt fiel ihm ein, daß das Loch in Reginas Fuß genau an der Stelle war, an der bei Christus der Nagel eingeschlagen worden war. Er sah oben am Kreuz die Initialen von Paul Schatz: PS. Dazu mußte er denken: Paul Schatz ist gleich PS-Christus. Was er da in der linken Seite spürte . . . natürlich war es kein Nagel. . . aber wenn man diesen Stich spürte, dachte man an einen Nagel, an einen heißen, nein, Nadel, nicht Nagel, an eine heiße Nadel. Man möchte die linke Seite bewegen, um, was da sticht, zu verteilen. Man probiert's mit Verreiben. Das hilft. Hört man auf, kehrt der Stich an die Stelle mit einer so heißen Schärfe zurück, daß man sich nicht mehr traut, sich zu rühren. Plötzlich hatte er Angst vor jeder Bewegung. Ein Gefühl, als werde der Stich, sobald er sich bewege, unerträglich schmerzhaft. Er müßte sich um den Stich herumbewegen können. Aber wie? Dieser Stich bewachte ihn. Der nahm von allem Notiz. Jedes Auto aktivierte ihn. Jeder Gedanke. Alles Bevorstehende. Gottlieb versprach, nichts mehr zu unternehmen. Er hatte das Gefühl, er müsse dem Stich Opfer bringen. Sofort. Was sollte er denn bei Frau Dr. Leistle! Lächerlich. Um 9 Uhr oder 10 Uhr wird er heimfahren. Er wird schwimmen, mit den Kindern singen, milde Weine trinken und im Schatten seiner Bäume sitzen. Schon der Gedanke, daß dies nur eine Vorstellung sei, die er momentan brauche, in Wirklichkeit aber werde man am Morgen, bei Tageslicht, wie schon oft, weitersehen, auch der geringste Betrugsversuch dieser Art aktivierte den Stich, trieb ihn tiefer; es war vorstellbar, daß der Stich ein Ziel erreichen werde. Gottlieb ließ gar alles los. Er hatte keinen Plan mehr. Sofort spürte er, daß die Geräuschstriche der Autos milder ausfielen. Er spürte es, er war endlich auf dem richtigen Weg. Je leichter du atmest, desto sicherer kannst du sein, daß du jetzt in der richtigen Richtung gehst. Draußen war es hell. Er spürte direkt, wie von Sekunde zu Sekunde Festigkeit und Stärke zunahmen in ihm. Als er, ohne auf die Uhr zu schauen, wußte, daß es etwa acht Uhr war, stand er mühelos auf, zog sich an, frühstückte — nahm aber nur Tee und Brot zu sich, weil er reinen Tee- und reinen Brotgeschmack wollte und sonst nichts, und auch genau wußte, daß er nichts wollte als das —, zahlte, verließ das Hotel: aber nicht in Richtung Killesberg und Parierstraße, sondern in Richtung Bahnhof. Aber gleich über der Straße drüben blieb er vor den Schaufenstern des Teppichgeschäftes stehen, die er gestern abend geprüft hatte. Er blieb wieder vor demselben Teppich stehen, einem Keshan mit dunkelblauem Grund, scharfschnittigen hellen Ranken und Blumen, die im Feld für sich und in der Umrahmung dichter standen. Er ging weiter, als sei nichts gewesen. Ging wieder
zurück. An die Stelle, wo der Teppich seine größte Wirkung hatte. Er fühlte sich gefangen. Er ging hinein. Er hörte: 8290 und wußte, daß er irgendeine Zahl darunter sagen sollte, aber er wußte nicht, wieviel darunter, und vor dem jungen und vollkommen wirkenden Mann wollte er sich nicht blamieren, also sagte er, nachdem er, nur zum Schein, den Teppich betastend, den Fachmann gespielt hatte, er nehme ihn. Er bezahlte mit Scheck. In spätestens 8 Tagen treffe der Teppich bei ihm ein. Bevor er den Bahnhofplatz unterquerte, ging er in ein Fotogeschäft und kaufte eine Polaroidkamera, 10 Pakete Film und ebensoviel Blitzlicht. 727 hörte er. Hier zahlte er, weil er die Ware gleich mitnahm, mit Eurocard. Dann rannte er zum Schalter. Er hatte Glück. In sechs Minuteri fuhr ein Zug. Einmal zweiter einfach. Weil er sparen wollte. Aber auch, weil er heute in seiner Klasse fahren wollte. Heute konnte er sich das leisten. Heute wäre es ihm gleichgültig gewesen, wenn einer seiner Kunden vorbeigekommen wäre und unverschämt hergeschaut oder verschämt weggeschaut hätte. Gottlieb Zürn hätte dem zugewinkt. Fröhlich. Problemlos. Heute hatte er endlich wieder einmal das Gefühl, ihm könne nichts passieren. Er fühlte sich so unabhängig wie schon lange nicht mehr. Ganz neu war es ihm nicht, dieses Glücksgefühl. Aber heute war es selten stark. Wahrscheinlich weil er etwas so Bedeutendes unterlassen hatte. Ein bißchen von dieser Stimmung hatte er vorgestern gespürt, als er Baptist Rauh anrufen wollte und der war nicht zu erreichen gewesen, dieses Glücksgefühl, wenn etwas unterblieb. Sobald er im Zug saß — vom Bahnsteig aus hatte er noch telephonisch seine Ankunftszeit mitgeteilt —, wurde seine Hochstimmung noch brisanter. Als der Zug aus dem Bahnhof hinauszog — Gottlieb war allein im durchsonnten Abteil —, war er glücklich vor Sicherheit. Alle wollen aus der Schmerz- und Leidenszone heraus. Er war heraus. Nur wer nichts mehr macht, leidet nicht mehr. Wer handelt, leidet. Böblingen, hier Böblingen, hörte er von draußen und konnte sich nicht erinnern, daß ihn je ein Satz glücklicher gemacht hatte. Es war 10.32. Im Gelände, Krane wie Galgen am Feiertag. Hinweg über die Autobahn, weg über die nach Süden rasenden Autos. Und in die Wälder. Gottlieb lehnte sich mit allen Gedanken, die ihn drängten, in die Kurven, in die der Eilzug flog. Er fuhr mit. Er sah sich auf der Suche nach einer Täuschung. Sein Fehler all die Jahre, daß er eine Illusion entwickeln wollte, die aussah wie Wirklichkeit. Er hätte gleich etwas ganz und gar Täuschungshaftes, Glaubenstiftendes suchen sollen. Ihm schwebte, wie er so durch die Täler heimwärts kurvte, etwas vor vom Unwahrscheinlichkeits-grad der unbefleckten Empfängnis. Was nicht diesen Unmöglichkeitsgrad erreichte, war nichts. Also, wo ist sein Werk dieser Art? Das einzige, was er bis jetzt geschafft hat: er ist nicht zu Frau Dr. Leistle gegangen. Er weiß, daß er die Sicherheit, die ihn jetzt ausfüllt, wieder verlieren wird. Aber er muß diese Sekunde Sicherheit nachhaltig machen, erinnerbar. Er muß jederzeit sagen können: wie an dem Samstag im Zug Stuttgart—Singen. Jetzt traf ihn die Zahl 8811. Die Käufe hatten sich, gegen seinen Willen, addiert. Er mußte sich den Folgen dieses Anfalls stellen. Ein Anfall von Kaufwut. In Gedanken an Anna. Er mit Anna. In den Ranken dieses Teppichs. Die Kamera hatte er kaufen müssen, weil er Anna fotografieren wollte, ohne das Bild in der Stadt entwickeln lassen zu müssen. Dazu waren diese Kameras erfunden worden. Oder war er wieder allein der Fünfzehn-, nein, der Zwölfjährige? Er hatte gestern abend, als er vor dem Schaufenster mit dieser Kamera stand, das Gefühl gehabt, in allen Häusern Stuttgarts sei man längst mit solchen Kameras ausgerüstet und produziere damit andauernd die ungeheuersten Aufnahmen. Nur bei ihm gab es so etwas noch nicht. Und zu Hause konnte er eine solche Kamera nicht kaufen. Die Verkäuferin sähe ihm sofort an, was er damit wollte. Er freute sich auf abends. Anna, du wirst sehen . . . Aber das Geld. Anstatt zu verdienen, hatte er ausgegeben. Er durfte, bis er wieder
festen Boden unter den Füßen haben wird, weder an die Käufe noch an die Parierstraße denken. Er betete Vorsätze herunter wie ein Verbrecher kurz nach der Tat. Wenn es diesmal, wenn es noch ein einziges Mal gutgeht, verspricht er, nie mehr so etwas zu tun. Am schlimmsten, das Gefühl, daß ihm das schon öfter passiert ist. Wenn er unterwegs war. Diese Kaufanfälle. Und jedesmal werden sie schlimmer, verheerender. 8811 Mark. Ohne daß er ... Das heißt, er ist nicht nur nicht imstande, etwas zu lernen, sondern muß mit immer größeren Fehlentscheidungen rechnen. Er durfte nicht an die Familie denken. Für ihn war, was er getan und was er nicht getan hatte, erträglich. Notwendig. Befriedigend. Aber wie das daheim darlegen? Die Abteiltür ratterte bösartig. Die Her-renberger Kirche, die Superglucke, erinnerte ihn an die Familie. Ein sonniger Tag. Wenn auch an den Rändern der Himmel auf Wolken ruht, auf weißen. Nur noch der Mais steht. Eutingen/Württemberg. Das kann nur heißen, daß man gleich in Baden ist. Noch Kleeäcker mit violetten Blüten. Weil er immer mit dem Rücken zur Fahrtrichtung fährt, bleibt alles, was er sieht, zurück. Auf der Schulter des Tals entlang. Drunten im Grünen macht der Neckar kleine Bögen. Runter zum talfüllenden Horb. Dann wird's aber eng. Eine grüne Schlucht. Eingleisig. Aber doch gleich wieder eine Befreiung. Auf einem Damm schwingt sich das Gleis durch den gebogenen Grund. Neckar, Straße und Zug kommen miteinander aus zwischen steileren Seiten, tannenbewachsenen. Aha, Bienenvölker hausen hier. Neckarhausen haust hier. Der Neckar wird kleiner. Man fährt seiner Verjüngung zu. Große Weidenbäume probieren ihr Silber in seinem Grün. Steeb-Werke, samstäglich tot. Sulz, 11.15. Er müßte, obwohl er so sitzt, daß er anscheinend nur von irgendwo fortfährt, zugeben, daß er auch irgendwohin fährt. Das wollen die liegenden Kühe, die Denkmäler des nachdenklichen bzw. nichts auslassenden Kauens ihm sagen. Und jede Biegung demonstriert, wo man gerade gewesen ist. Der Neckar zeigt schon mehr Steine als Wasser. Oberndorf 11.30. Das Tal steht herum und schweigt. Heute ist niemand zu Hause in Oberndorf. Da kommt der Gegenzug. Gottlieb könnte wieder zurückfahren nach Stuttgart. Lächerlich. Aber lächerlich ist er auch, wenn er heimfährt und mitteilt: Den Auftrag habe ich nicht, aber 8811 Mark habe ich ausgegeben. Die Kamera würde er heimlich ins Schlafzimmer tragen. Lächerlich. Lächerlich zu sein ist nicht lächerlich. Auf jeden Fall nicht lächerlicher, als nicht lächerlich zu sein. Der Neckar muß sich von den Steinen bremsen lassen, die er selber placiert hat. Noch ein paar Mal streiten Fluß und Straße und Gleis um die Oberhand. Nach dem hohen Rottweil nehmen die Wiesen zu, was Hang ist, flieht, der Wald bedeckt nicht mehr alles, auch meldet sich wieder mal kurz Württemberg. Unter einer Brücke sitzt ein Mädchen und läßt den Samstagszug an sich vorbeibrausen. Deshalb tut der auch nichts als das. Wenn schon für einen Bahnhof gebremst werden muß, noch schnell über die Donau. Tuttlingen. Es wird angesagt, dieser Zug werde weiterfahren nach Konstanz. Aber zuerst wird ausgetauscht mit dem Zug von München nach Freiburg und mit dem von Freiburg nach Ulm. Wenn alle drei Züge da sind, wird es auch hier samstäg-lich still. Elektrisches summt. Zugtüren, die zugeworfen werden, hallen wie Kirchentüren. Auf der Strecke wird noch einmal gehalten. Bitte, seinetwegen nicht. Er ist froh, wenn er es rasch hinter sich bringen kann. Von ihm aus kann geeilt werden wie am Schluß der Symphonie. Bereitgelegter Draht, der nicht mehr drankam, liegt jetzt über das Wochenende als Kreis in der Sonne. Nachdem man sich vom Schnellzug Zürich—Stuttgart hat anlärmen lassen müssen, darf der Eilzug weiterrumpeln. Jetzt erst sieht man, daß nicht in der freien Natur, sondern in Hattingen gewartet wurde. Dann so lange durch ein Tunnel, daß man mit neuer Landschaft rechnen muß. Tatsächlich, freie, weite, nur noch vorsichtige Anhebungen. Und doch gleich wieder tief im Wald und hoch
über einem jäh eingeschnittenen Tal. Der Zug wird noch einmal vorsichtig, als könne er sonst abstürzen. Gelbgraue Felsschichten zeigen, durch welche Sorte Aufgebautheit es diesmal geht. Hoch überquert man ein Tal und wird von der Autobahn noch höher überquert. Gottlieb wunderte sich, daß er dachte endlich, als der Zug aus den hin- und herwissenden Tälern hinaus in den Hegau flog und jetzt — ganz und gar Eilzug — zwischen den Vulkanveteranen schnurgerade auf Singen zuschoß. Grüß Gott, Herr Hohentwiel. Wer in Singen ist, muß sich auf Radolfzell gefaßt machen. Der Mais findet endlich Flächen. Keine Macht für niemand, steht für den Umsteigenden in Revolutionsfarbe an der Mauer. Der Satz wollte ihm schon gefallen, als ihm einfiel, daß er vor allem Kaltammer gefallen würde. Also zog er seine Zustimmung zurück. Er war wieder in der Gegend, die am Samstag und Sonntag kaltammerlos war. Solang er hier sei, hatte er auf der Terrasse getönt, habe er noch nie ein Wochenende hier verbracht. An burgundischen Kaminen hat man ihn sich samstags vorzustellen. In einem wirklich winzigen Züglein rumpelt man von Radolfzell noch gar heim. Alle beieinander im ununterbrochenen Raum. Kinder probieren Spielzeug aus und sagen sich alles, was sie mit den Händen tun, um es doppelt zu haben, so laut als möglich vor. Das Mädchen, dem die Haare auf beiden Seiten vorgefallen sind, möchte gern die Illustrierte lesen, die ihr der rumpelnde Zug andauernd wegschlägt. Auch Luftballons fahren mit. Auf dem dünnen Pulli eines Mädchens steht, selbst gestickt: San Franzisko. Mühselig sitzt ein alter Mann neben einer alten Frau. Hier stehen die Bänke so eng, daß man dem, dem man gegenübersitzt, die Knie zwischen die Knie stellen muß. Dieses seine Reisenden zusammenschüttelnde Züglein hastet am eingerüsteten Turm der Sipplinger Kirche vorbei und beansprucht noch mehrere Kilometer lang den Uferstreifen, der jetzt zehnmal soviel wert wäre wie so ein Bahnveteran. Gottlieb ließ sich die Zielstrebigkeit gefallen. Sein Blick schleifte drüben über dem Seearm, auf dem die letzten Kilometer begleitenden Bodan-rück, der mit seinem grünen Pelz immer aus dem Wasser steigt wie an einem ersten Tag. Als der Zug unter der steilen Sandsteinwand entlangfuhr, die das Plateau mit der Reinholdschen Villa plus Schicksalsterrasse trägt, sprang Gottlieb auf, sah dem Bahnhof entgegen, suchte im Schatten des Gebäudes die immer nah an Wänden und im Schatten bleibende Sanftheitsgestalt Annas und sah, daß viel weiter vom Bahnhofsbau, als Anna je sich aufstellen würde, Rosa in der Sonne auf ihn wartete. Was für eine wunderbare Enttäuschung. Rosa zeigte ihr Gefühl auf die spöttische Weise, die zwischen ihnen eingeführt war. Einander ernsthaft zu begrüßen oder zu verabschieden war in seiner Familie nicht üblich. Das war schon seiner Mutter gegenüber nicht möglich gewesen. Er hatte das Gesicht seiner Mutter ein einziges Mal berührt: als sie im offenen Sarg lag und er einen Augenblick lang im Zimmer mit ihr allein gewesen war. Alle waren sich in dieser Sippe, ohne es je auszusprechen, darüber einig, daß der kleinste Gefühlsausdruck für sie der beste sei. Meistens berührte der eine den anderen schnell mit zwei Fingerspitzen an einer unerheblichen Stelle. Rosa war mehr als blaß. Und hatte sich noch blaß geschminkt. Wahrscheinlich, daß man nicht sehe, wie blaß sie war. Du bist ja ganz blaß, sagte er und ärgerte sich gleich über seine Unbeherrschtheit. Sie zuckte unter seinem Satz zusammen, als habe er zugeschlagen. Deshalb fragte er schnell nach: Oder hast du dich bloß so blaß geschminkt? Sie sagte mit einer unechten, keinen Ton findenden Stimme: Ein bißchen. Das klang auch viel zu hochdeutsch. Sie fuhr. Er schaute sie nicht mehr an. Sie sieht aus, wie angefüllt mit Tränen; wo man hindrücken würde, entsprängen sie. Max Stöckl konnte sie ihm im Augenblick nicht vorstellen, weil der gerade seine Meditation hielt. Im Schatten der leuchterhaft weit ausschwingenden Essigbaumzweige saß im Lotussitz ein nackter Mann - oder er hatte etwas an, was man, so wie
er saß, nicht sah. Das schwarze Haarpolster, gekämmt nach Ludwig II., das Gebarte, genau geschnitten nach einem anderen aus der Sippe, sah er aus wie zwei Wittelsbacher. Auf dem Pflaster der Terrasse lag über Zeitungen, die wohl Rosa und Max ins Haus gebracht hatten, Stellenanzeigen studierend, Magda. In der Rechten, die Schere. Sie demonstrierte die Konzentration so, daß er wußte, er mußte die erste Frage an sie richten. Sie habe schon ein paar interessante Angebote, sagte sie und las vor: Jeune fille au pair qui s'occupe de l'enfant, consciencieuse et de bonne education. So eine wird von einem couple suisse in Parly, 15 km von Paris, gesucht. Und erst hier, horch einmal. Ihre Stimme war so hell wie schon lange nicht mehr. Das war so auffallend, wie wenn nach vielen Tagen zum ersten Mal wieder die Sonne scheint. Leicht und gelöst lag sie in ihrem Bikini auf den rauhen Granitplatten. Keine Spur mehr von der Starre der letzten Tage. Sie las mit einer sich vor Begeisterung fast überschlagenden Stimme vor, daß eine Firma Theis und Co. in München jemanden für eine Kartei suche. Kenntnisse werden nicht verlangt. Gottlieb, der noch sein Gepäck in der Hand hatte, sagte, das sei sicher eine langweilige Arbeit. Genau das fand Magda schön und attraktiv. Sie sagte immer The-is, obwohl er ihr gleich gesagt hatte, daß das mit ziemlicher Sicherheit Theis heiße. Das Beste sei aber das, sagte sie und holte unter ihrem Oberschenkel ein Buch über Berufe im öffentlichen Dienst und las den Abschnitt vor über Verwaltungsangestellte im Justizdienst. Daß man da als Protokollantin beschäftigt werde, begeisterte sie. Hauptschulabschluß genüge. Gottlieb sagte, dann sei doch Rechtspflegerin für sie das richtige, wozu mittlere Reife, 2 Jahre Praktikum und 3 Jahre Verwaltungshochschule in Berlin gehörten. Sie kam wieder auf die Verwendung als Protokollantin zurück. Sie wolle etwas, wo man zuschaue und keine Verantwortung habe. Es komme ihr doch nicht auf die Bezahlung an, sagte sie ganz sachlich; vielleicht ein bißchen flehend. Rosa und Anna hatten den Mittagstisch gerichtet. Vom Wasser heraufkamen Armin und Julia. Rosa sah auf die Uhr und rief dann: Max, es tat' reichen. Gottlieb ging hinein und hinauf, versteckte die Kamera hinterm Vorhang, zog sich um, lernte Max Stöckl kennen. Der tadelte gerade Rosa, weil sie ihn so derb gerufen habe. Eine Meditation könne man nicht abschalten wie den Fernseher. Weil Anna am Telephon gesagt hatte, der spreche immer laut und bairisch, hatte Gottlieb ihn sich größer, kräftiger vorgestellt. Kräftig war er schon. Aber auf eine leichtathletische Art. Seine Haare waren blauschwarz. Er hätte ein jüngerer Bruder von Anna sein können. Solange er nicht sprach. Gottlieb hatte nichts dagegen, daß dieser Max so laut sprach. Auch die Ununterbrech-barkeit dieses Redestromes war ihm, im Augenblick, eher angenehm. Anna hatte nur ganz schnell gefragt: Wie war's bei dir? Das werde sich zeigen, hatte er gesagt. Und warum er nicht frage, wie es bei ihr gewesen sei. Schon ihre erste Frage war so gestellt gewesen, daß er hätte symmetriebildend zurückfragen sollen: Und bei dir? Jetzt tat er's. Sie habe die Mühle verkauft, da. Und streckte ihm den unterschriebenen Vorvertrag hin. Das alles schnell und leise. Max Stöckl sprach ja mit Magda oder Rosa oder überhaupt weiter. Er sprach über Karrieren. Er hatte offenbar schnell erfaßt, daß das in dieser Familie zur Zeit ein Thema war, und glücklicherweise wußte er darüber am meisten. Gottlieb konnte, als er den von Anna geschlossenen Vorvertrag überflogen hatte, nur staunend den Kopf schütteln und glücklich lächeln. 3 Prozent plus Mehrwertsteuer. Ja, haben die nicht nach der Autobahntrasse gefragt? Anna habe sie beruhigt. Könne man doch. Über 500 m weg und halb hinterm Hügel. Und so schnell? Ja, sie habe von zwei heißen Interessenten erzählt. Konnte sie, es hätten zwei angerufen gehabt. Heiße? Gut warm. Morgen um 9 Uhr kommt der Vater, der das dem jungen Paar kauft. Der fliegt für vier Wochen nach Mallorca. Deshalb die Eile. Und weil die Jungen nicht warten können. Für die Immenstaader Wohnung hat auch einer angerufen. Diese Frau. Das
wäre seit vier Wochen der erste Abschluß. Vom Verkäufer zehn pauschal, vom Käufer dreizehnzwo plus Mehrwertsteuer. Diese Frau. Er sah Anna an. Sie deutete mit einer fast flehenden Geste an, daß er sich auf Max Stöckl konzentrieren solle. Sie und Rosa trugen das Essen herein. Gottlieb hörte mit Staunen, daß Rosa das Jurastudium aufgeben müsse oder schon aufgegeben habe oder es doch gleich - unter Max Stöckls Einfluß und Leitung aufgeben werde. Rosa müsse Schauspielerin werden. Und Magdalena, mit der er sich in der vergangenen Nacht gleich nach seiner Ankunft vier Stunden unterhalten habe - nachdem er sie erst mal aus ihrem Zimmer herausgeholt habe, sagte er zu Gottlieb Zürn herüber —, Magda müsse Jura studieren, da sie genau die Anlagen habe, die Rosa fehlten, nämlich das Bedürfnis und die Fähigkeit, alles Vorkommende mit Hilfe eines dafür zur Verfügung stehenden Vokabulars seiner Einmaligkeit zu berauben und es zu einem Fall zu machen, für den man dann aus bereitgestellten Lösungsmöglichkeiten, ohne persönliche Anteilnahme, die optimale wähle. Genau das werde Rosa nie und Magda immer schaffen: die leidenschaftlich persönlichkeitslose Operation. Auf der gewaltigen Platte lag in Krautern und Gemüsen schwimmend eine mindestens vierpfündige Lachsforelle. Es gelang Anna, in einen Atemriß Max Stöckls hineinzusagen, da sie die Mühle habe verkaufen müssen, habe Rosa gekocht. Gottlieb drückte der schöpferhaften Köchin seine Bewunderung pantomimisch aus, weil Max Stöckl wieder redete, ohne dabei — weil er flink und sicher alles mit allem verbinden konnte — einen Bissen zu versäumen. Auch beim Kaffeetrinken fedete er weiter. Als Julia aufgestanden war, weil sie mit Armin auf den Übungsplatz wollte, sagte ihr Max Stöckl, der offenbar auch ihr Problem erkannt und gelöst hatte: Oiso, etzat paßt amoi auf, daß'd net deine Angst vorm Schiaßa auf ihn überdrogst, wirst seng, was'd für an Erfoig host dann. Und zurück zu Magda: S'Abi auf koan Foi naus lossn, aufgor koan Foi. Zu Gottlieb Zürn: Es sei ganz klar, daß Magdalena aus der Schule nur fliehen wolle, weil sie Angst habe, sie bekomme in 2 Jahren, wenn sie das Abitur habe, keine Stelle mehr. Aber genau das sei die Politik derer, die diese Angst schürten. Die wollten durch Angstmache so viele als möglich von den Gymnasien vertreiben, um unter den Eingeschüchterten billige Arbeitskräfte en masse rekrutieren zu können. Deshalb müsse es Magdalenas Politik sein: Draufbleiben auf der Schule. Um jede Note bis auf zwei Stellen hinterm Komma kämpfen. Wenn sie jetzt abgehe, sage jeder, der in den nächsten, den entscheidenden 10 Jahren ihres Lebens sich ihre Papiere anschaue, warum ist die 11/2 Jahre vorher runter, dann könne sie nicht jedesmal erklären, wie es ihr da zumute gewesen sei. Gottlieb nickte. Er nickte auch noch, als Max verfügte, daß Magdalena das Abitur schon deshalb machen müsse, weil sie die ideale Juristin sei. Die operative Intelligenz par excellence. Gottlieb dachte: Daß ein Kameramann sich so ausdrücken kann, toll! Magdalena lächelte mysteriös. Sie mußte seit gestern durch ein Tauwetter gegangen sein. Auf einmal schien sie es zu genießen, daß man über sie sprach. Gottlieb überlegte, was er tun könnte, um diesem Max zu zeigen, wie dankbar er ihm sei. Er hätte wirklich nicht gewußt, wie er ohne den alles auftauenden Redestrom aus dem schwarzen Bartzierat mit Magdas Erstarrung hätte fertig werden sollen. Im Lauf des Tages begriff er, daß Rosa eine noch größere Rolle gespielt hatte bei Magdas Auftauung als Max. Sie war dabei gewesen bei dem Nachtgespräch. Gelöst war zwar noch nichts, diese fanatische Stellensuche zeigte es, aber man war wieder im Kontakt, wußte, wo Magda war. Sobald sie vom Tisch weg war, legte Max Stöckl dar, wie es mit Rosa weitergehen werde. Es war fast tröstend, daß ihn sein Einsatz auch anzustrengen schien. Auf Stirn und Oberlippe glänzten Schweißperlen. Des öfteren fuhr er mit seinem Gesicht ganz rasch auf die neben ihm sitzende Rosa zu, und zwar mit offenem Mund, als
wolle er schnell wieder ein Stück von ihr abbeißen. Etwas ähnliches tat er dann auch. Sollte Gottlieb ihn auf den Duft verbreitenden Zwetschgenkuchen mit den tief in die Zwetschgen eingesunkenen Nußsplittern hinweisen? Der legte nicht nur den Arm um Rosa, sondern zog sie andauernd zu sich herüber, als müsse er sie einem, der auf der anderen Seite an ihr ziehe, entreißen. Rosa zeigte der Familie, daß sie diese Gefühlsaufführung mit der hierorts dafür entwickelten Komik pariere. Aber allmählich wirkte ihr Versuch, seinen Besitzergreifungseifer mit freundlicher Komik aufzufangen, doch angestrengt. Auch mußte Gottlieb Zürn öfters an Kaltammers Dialektschimpfe denken. Wenn sie ihr Alemannisch so hemmungslos sprächen wie der sein Bairisch, wäre eine Unterhaltung unmöglich. Offenbar ist immer nur ein Dialekt möglich, und der duldet keinen anderen Dialekt neben sich. Wahrscheinlich sollten Dialekte einfach daheim bleiben. Auswärts kriegen sie was Herrschsüchtiges. Jedes Familienmitglied bemühte sich Max Stöckl gegenüber instinktiv um Hochdeutsch. Nur Rosa, die arme, hatte offenbar das Gefühl, sie müsse zeigen, daß es eine Brücke gebe von Maxens Bairisch zur hiesigen oder überhaupt zu einer Sprache. Was dabei herauskam, war eine mutlose Version der Max-Stöckl-Sprache. Gottlieb tat sie in den Ohren bzw. in der Seele weh. Also wenn der der Schwiegersohn werden würde, müßte man vielleicht einmal darüber reden, ob das, was der sprachlich trieb, wirklich sein mußte. Wenn er im Ausland war. Und das hier war, bitte, für ihn Ausland. Si senga jo dees net vu Ehnarem hiesigen Standpunkt aus, naa, wirkli, gengas zua, lossns Ehna des ruahig song. Schaung's, i bi jo boild zeng Johr in dem Gscheft, i hob jo in dera Zaait mehr wia zwanzig Fuim draht. I derf mir, glaub i, ein Uurteil erlaam. Wos moanas, wos i scho fir Waiber vor der Obbdick g'hobt hob. I sog Bahne, die Rosa, des Madl, grad dufte is die. Sie senga des hoit net, is jo klor. Sie san die Öitern. I dageng muaß jo den brofessionellen Blick hom, ein erzongs Aug, vaschtengas mi. Dann legte er einleuchtend dar, daß und warum die meisten anderen Kameraleute Stümper, Nichtskönner, ja, wann man bedenke, was sie verdürben, sogar Verbrecher seien. Die mehreren Regisseure sowieso. Er will ja auf Regie hinaus. Glaam Sie, i druck mir's Kraiz schiach fir diese Regiedilettanten, nanaa. Obgseng do davo, daß in dera Brangsch a so vui Nietn rumlaffa, daß oafach moi oaner kumma muaß und hinlanga muaß. Fuim, wissa's, wos des is? Fuim, ahnaa, des hot gor koan Sinn net, Eahna des z'song, Sie kenna jo no gor koan g'seng hom. Fuim, vaschtenga's mi, Fuim, des muaß ma mach'n. Net redn drieba. Die redn jo oie vui'z'vui. Und i mach Fuim. Des werrns seng. Mai, woos i fir Fuim mach, do wern's schaung, oie mitanand. Rosa war trotz der zarten Komik, mit der sie Max Stöckls Vehemenzen aufnahm, stolz auf ihn, das sah man. Gottlieb begriff das. Der strahlte etwas aus. Gottlieb fühlte sich weniger von der Begeisterung bewegt, die den ergriff, wenn er sprach, als von seinem Ernst. Im Lauf des Tages und des Abends kriegte man doch eine Ahnung von der Vielfältigkeit seiner Interessen und von dem Einsatz, mit dem er alles, was er tat, betrieb. Alkohol lehnte der ab. So etwas imponierte Gottlieb. Und hat noch nie in seinem Leben geraucht. Und wie er sich auf seine Regiekarriere vorbereitet. Seine Lehrmeister sind die Japaner. Aber man kann nicht einfach in die Schule gehen bei denen. Das läuft, sagt er, nur über die Existenz. Und erteilte der Familie den neuesten Religionsunterricht. Gottlieb trank also seinen Hagnauer allein. Es war, als verabschiede er sich damit für heute von Anna, die Malventee trank, und würde ihr nicht mehr begegnen. Wenigstens um Rosa mußte man sich, wie es schien, von jetzt an weniger sorgen. Max Stöckl war offenbar ganz gierig, ein Leben mit Rosa aufzubauen. Am meisten beeindruckte Gottlieb, daß Max Stöckl in Rosas Wesen eine Art Kraftquell entdeckt haben wollte. Etwas noch überhaupt nicht Hervorgetretenes. Etwas gänzlich Unberührtes, Nurvonihmer-kanntes. Eine Art
SuperJungfräulichkeit. Und das sei, so Max Stöckl, heute so einmalig, daß man, falls man diese märchenhaft reine Ausstrahlung auf Filmmaterial zu bannen verstehe, einen Weltklassefilm im Kasten habe. Der Film habe ja, seit es ihn gebe, Frauen nur ausgebeutet. Noch nie habe sich eine Frau auf Filmmaterial entfaltet. Ob sie verstünden, nicht entblößt, sondern entfaltet. Dadurch daß die Aufgaben, die die menschliche Entwicklung der Frau gestellt habe, vielfältiger gewesen seien als die an die Männer gestellten, sei die Frau differenzierter als der Mann. Aber das sei unbekannt. Zumindest im Film. Darin sehe er eine Aufgabe. Für sich. Für Rosa. Für sie beide. Göi, Madl. Merkwürdigerweise dachte Gottlieb, als er Max Stöckl zuhörte, öfter daran, daß er doch richtig gehandelt habe, als er sich dem Bittgang in die Parierstraße entzogen hatte. Es war nicht Desertion, es war Selbstachtung, Selbstverwirklichung. Max Stöckl baute alles auf Eigensinn. Er drückte das so aus: man müsse den Mut haben, an sich selber interessiert zu sein. Er war ganz sicher, daß innerhalb der nächsten zehn Jahre die ganze Branche vor ihm kapitulieren werde. Vor ihm und Rosa natürlich. Ohne Rosa könne er sich den Anfang, der auch der Durchbruch sein müsse, gar nicht vorstellen. Gottlieb war, als er die zweite Flasche öffnete, drauf und dran, Max Stöckl und der Familie sein Stuttgarter Verhalten als eine Bestätigung von allem, was Max Stöckl ihnen darlegte, zu schildern. Aber eine unbegründbare Hemmung hinderte ihn. Das war Rosas Abend. Die Jahre der Unbestätigtheit sind hinter ihr. Statt Befürchtung, Aussicht auf Triumph. Sein Stuttgarter Verhalten war auch Triumph. Das empfand er, je länger er Max Stöckl zuhörte, um so deutlicher. Die rücksichtslosen Einkäufe - es war fast ein Schock, plötzlich wieder der Summe 8811 konfrontiert zu sein -, die bedenkenlose Desertion vom Schlachtfeld, die rauschhafte Heimfahrt, es war Triumph. Er sah sich in einem blitzhaft-schnellen Film, den niemand je drehen konnte, durch Tälerwälderflüssebrückenkurven und hinaus in die Ebene fliegen und landen, hier, zwischen Sandstein und See, wo Rosa frei in der Sonne stand; und er in seiner überprompten Angst, die er wahrscheinlich auf sie übertrug, hatte nicht erkannt, wie glücklich sie war. Er trank allen laut zu. Alle lächelten ein bißchen. Er war eben der einzige, der Wein trank. Man gönnte es ihm ja. Es war doch ein schöner Abend. Auf der Terrasse. Noch einmal eine warme Nacht. Nur Regina fehlte. Ihr Tag war ruhig verlaufen. Kein Fieber, kein Erbrechen. Also bitte. Gottlieb Zürn freute sich auf das Schlafzimmer. Die Kamera lag hinter dem Vorhang. Um seine Erwartungen vor allen zu verbergen, nahm er die Zeitung an sich und sagte, er habe heute noch nicht einmal die Immobilienseiten studiert; das sei ihm in 15 Jahren nicht ein einziges Mal passiert. Zu Rosa sagte er noch, sie möge dann, bitte, die Lichter löschen. Max Stöckl brach sofort in Gelächter aus und rief: Genau wia mei Oidda! Er sprang sogar auf, stieg hinter Magda vorbei, tanzte auf der Terrasse herum, um vorzuführen, wie sein Vater immer verschwörerisch und beschwörend auf ihn zugegangen sei und ihm seriös und scharf zugeflüstert habe: Max, machst aber's Licht aus nachher. Dieser Auftritt bewies, daß Max Stöckl etwas haargenau darstellen konnte. Wie alt war der in Gottliebs Einteilung? Der stimmte mit sich überein. Der war 37, für länger. Ganz sicher war Gottlieb nicht. Als Gottlieb mit Anna ins Schlafzimmer trat, wagte er nicht, die Zeitung in die Ecke zu schleudern, wohin sie jetzt gehört hätte; er legte sie vorsichtig auf sein Nachttischchen und zog sich aus, ohne zu Anna hinzuschauen. Da er etwas getrunken hatte, sie aber nicht, mußte er sich, so gut es ging, nach ihr richten. Oder sollte er einfach die Kamera hinter dem Vorhang hervorholen und Anna, bevor sie im Nachthemd verschwinden konnte, ein ums andere Mal fotografieren? Er konnte ja Max Stöckl parodieren. Einen günstigeren Augenblick für die Einführung der Kamera in die Umgangskunst ihres Schlafzimmerlebens konnte es nicht geben. Mit einer angestrengt ruhigen Stimme sagte Anna vor sich hin: Rosa
bekommt ein Kind. Gottlieb Zürn hatte manchmal den Eindruck, daß Anna, wenn sie nichts von ihm wissen wollte, verhindernde Bemerkungen machte. Sie brauchte dazu nie viele Wörter, weder Gesten noch Lautstärke. Es waren meistens Sätze wie dieser: Rosa bekommt ein Kind. Solche Sätze müssen sitzen. Es muß aus ihnen hervorgehen, daß sie nicht früher gesagt werden konnten und nicht länger verschwiegen werden durften. Sie konnten also gar nicht anders als in diesem Augenblick ausgesprochen werden. Sie durften keinesfalls als Verhinderungssätze anklagbar sein. Am besten funktionierten die, in denen das Schicksal das Wort führte. Wie, zum Beispiel, in dem Satz: Rosa bekommt ein Kind. So, Eroica, jetzt bist du dran. Sosehr er sich vorstellen konnte, gleich fünfzig zu sein — er hatte seit Jahren trainiert für dieses Ereignis und er würde in den Jahren, die noch dafür zur Verfügung standen, weitertrainieren -, das Wort Großvater kam ihm, auf sich angewendet, komisch vor. Er war noch nicht damit fertig, Vater geworden zu sein. Er mußte um weitere Einarbeitungszeit bitten. Zwanzig Jahre sind zu wenig. Er forderte fünfundzwanzig. Und Anna? Anna verkraftet so etwas. Anna ist in Gottliebs Alterszuweisung das Wunder. Sie ist in mehreren Altern daheim. Sie kann tagelang zuverlässig vierzig sein, und sobald der Druck nachläßt, blüht aus ihr — Sorgenabwesenheit vorausgesetzt — in wenigen Stunden die Siebzehnjährige durch, wird sie ganz von Siebzehnjährigkeit überblüht. In Anna würde dieser Schicksalsstreich bereitliegende Fähigkeiten wecken. Bezeichnungen hatten über sie wenig Gewalt. Sie konnte sachlich sein. Aber — und deshalb war diese Mitteilung eher tonlos und gar nicht jubelhaft ausgefallen — sie zweifelte an Max Stöckl. Der brauche Rosa, aber er könne Rosa nichts sein. Fünfzig Studentinnen hätten sich für die Statisterie gemeldet, aber dieser verschränkte Fanatiker stürzt sich auf Rosa. Das war wieder Annas Wortwahl. Der brauche Rosa, weil er sonst seine Ideen nicht aushalte. Ihr komme der vor wie aufgezogen und dann gesperrt. Ob Gottlieb Rosa beobachtet habe? Die sei doch andauernd kurz vorm Heulen. Nur weil sie schwanger sei, sage sie nichts. Aber er, Gottlieb, hätte etwas sagen sollen! Wie er sich benommen habe, das sei schlimm. Er habe doch, sagte er, nicht wissen können, daß Rosa schwanger sei. Und für ihn sei das auch kein Schwiegersohn, sondern ein . . . ein Entdecker. Rosas Entdecker. Anna stieß Laute der Verachtung aus. Daß Gottlieb nicht sofort protestiert habe, als der sagte, Rosa müsse aufhören zu studieren, sei schlimm. Sie habe nichts sagen können, weil sie immer an Rosas Schwangerschaft habe denken müssen. Aber er! Er hätte Rosas Ausbildung verteidigen müssen. Jahrelang habe man diskutiert, dann gefunden, ihre Fähigkeiten könnten sich nirgends natürlicher entwickeln als im Rechtswesen. Richterin, Jugendrichterin vielleicht! Und jetzt? Nicht mit einem Satz verteidige er das Ergebnis jahrelanger Überlegungen. Er wolle doch Rosa nicht zwingen, sagte er schwach. Anna: Aber der darf sie zwingen, ja?! Rosa habe den mitgebracht, weil sie nicht mehr weiterwisse. Rosa passe genau auf, wie dieser arme Kerl auf die Eltern wirke. Und was sehe sie, ihr Vater läßt sich von dem sofort überrennen, einwickeln, mundtot machen. Rosa habe Hilfe erwartet. Er aber habe sie total im Stich gelassen. Das sei schlimm. Dann ist eben alles schlimm, sagte er mürrisch. Und nach einiger Zeit: Schlag ihr vor, die Schwangerschaft zu unterbrechen, dann ist sie wieder frei. Sie könne doch Rosa so etwas nicht vorschlagen. Ja, wenn Rosa davon anfinge. ICH kann nicht davon anfangen, sagte er und war froh, endlich etwas gesagt zu haben, was nicht kritisiert werden konnte. Ihm wäre es am liebsten, wenn alles gutginge, sagte er. Anna stieß einen Laut aus. Sie lag auf dem Rücken, die Augen weit offen, sie arbeitete. Wahrscheinlich konnten die Kinder froh sein, eine solche Mutter zu haben. Er drehte sich auf seine Seite, starrte eine Zeitlang auf den Vorhang, hinter dem die Kamera lag. Dann streichelte er noch schnell sein Geschlechtsteil, als sei es etwas ihm in
Pflege Gegebenes, dem er Tröstung schulde. Anna war im Recht. Die arme Rosa. Offenbar hatte er diesen Bartpedanten falsch eingeschätzt. Er war einfach kein Menschenkenner . . . Etwas Stumpfsinnigeres und Groteskeres als diesen Fortpflanzungsbefehl kann man sich überhaupt nicht ausdenken. Obwohl in diesem Zimmer zwischen Anna und ihm jetzt nichts so unmöglich war wie Geschlechtsverkehr, konnte er an nichts anderes denken. Er mußte es sogar zulassen, daß sich in ihm eine Art Wut gegen Anna ausbildete, weil sie wieder einmal alles verhindert hatte. Vielleicht war mit Rosa und Max alles anders als sie es dargestellt hatte, und sie hatte es nur so dargestellt, weil sie ihn von sich weghalten wollte. Je genauer man etwas erkennt, desto weniger kann man's beweisen. Aber hatte sie nicht recht, wenn sie ihn nicht in ihre Nähe kommen lassen wollte? Sie spürt immer alles, bevor man darüber redet. Wie er Stuttgart verlassen hatte, das hatte sie intus. Aber daß er das als Triumph gedacht hatte, wußte sie nicht. Das müßte er ihr sagen. Aber für sie gab es jetzt nur Rosa und Rosas Not. Anna hatte recht, es gab nichts Wichtigeres als Rosa. Entschuldige, Anna, dachte er, entschuldige, daß ich eine Wut habe auf dich, weil du alles wieder verhindert hast. Als Anna ihr Licht löschte, fiel ihm die Zeitung ein. Er zündete sein Licht an. Zuerst suchte er immer das eigene Inserat. Sie hatten es nicht gut placiert. Dann erst las er, was Paul Schatz heute dem Publikum zukommen ließ. Ein Sermon über notarielle Festpreisgarantie. Für so manchen Kaufinteressenten ist der Immobiliensektor glattes Parkett. Er sucht nach sicherem Halt. Vorzüglich bietet sich ihm der Notar an. Ach ja, dachte Gottlieb Zürn. Aber als er den Sermon gelesen hatte, war er beeindruckt. Das war doch eine imponierende Offenheit, mit der Paul Schatz hier die Illusion zerstörte, die notarielle Bestätigung einer Bauträger-Erklärung bedeute, der Notar könne damit auch nur im mindesten etwas für die Verwirklichung des Erklärten tun. Paul Schatz war es völlig gleichgültig, ob die Notare das gern läsen oder nicht. Andererseits war er wahrscheinlich bei den Notaren der beliebteste Makler, weil er seinen Parteien immer nahelegte, zum Kaufabschluß vor dem Notar nicht in Hemd und Hose zu erscheinen. Ob man sich von einer Immobilie trenne oder sich mit einer verbinde, das sei ein das Leben verändernder Akt. Er brachte es in die Nähe der Hochzeit. Gottlieb dachte: Wieder ein Samstag, den Paul Schatz für sich entschieden hat. Soviel Leistung, und immer noch keine Anerkennung durch den Konkurrenten?! Oh doch. Ohne jeden Vorbehalt. Er las die Schatz-Postille noch einmal. Aber diesmal erst entdeckte er den Spruch, den Schatz heute in den schwarzen Balken gesetzt hatte, der sein Inserat von den Inseraten aller anderen Makler trennte: Um gut zu sein, muß man besser sein. Den Spruch verkraftete Gottlieb nicht. Er war doch wieder einmal bereit gewesen zur Anerkennung, zur Bewunderung sogar. Aber so nicht. Der kann es doch einfach nicht lassen, das Protzen, das Einmaligsein. Schluß. Er überflog noch die anderen Inserate. Und was er da entdeckte, trieb ihn aus dem Bett. Die lange Latte der JFKAngebote war angeführt von einer JFK-Fanfare: Die Jahrhundert-Chance. Villa, 19 Zimmer, / Salons, in einmaligem Park (1,8 ha), exotische Bäume, eigener Tennisplatz; märchenhafter Hafen (40 Liegeplätze) mit Badehaus. Ein Besitz für Besitzer. Preis: Verhandlungssache Das gibt es nicht, rief Gottlieb, das gibt es doch nicht. Er las es Anna vor. Sein Haus. Sein Auftrag. Frau Reinhold! Klar. Anstatt ihm, hatte sie den Tip Kaltammer gegeben, der hatte . . . Moment, das Inserat war am Mittwoch . . . Na ja, da der immer seine lange Latte an der Seite der Seite hat, kann der auch noch am Freitag kommen. Oder er hatte alles schon am Mittwoch gehabt. Aber Frau Reinhold würde doch Paul Schatz vorziehen. Wahrscheinlich hatte sie zuerst Paul Schatz und dann Kaltammer verständigt. Aber da Schatz gründlicher und solider arbeitet als Kaltammer, hatte Kaltammer Schatz überholt. Und als die Reinhold diese beiden verständigt gehabt hatte, war es ihr peinlich, daß sie den
Makler, durch den sie ihr Haus bekommen hatte, nicht berücksichtigt hatte! Dann hatte sie ihn noch angerufen, ihn eingeladen, um ihm dann doch nichts zu sagen. Er mußte ihr schreiben. Das mußte sie von ihm schriftlich kriegen. In ihm formulierten sich in rasendem Tempo Briefe an Frau Reinhold. Er verwarf einen nach dem anderen. Aber dann hatte er einen, von dem er hoffen konnte, ihn auch noch am nächsten Vormittag gut zu finden. Den legte er in seinem Kopf ab. Bis morgen. Plötzlich sagte Anna: Hast du's auch gehört? Sie hatte Türen gehört. Einbildung, sagte er, löschte sein Licht und überlegte, von welchem Punkt aus er jetzt am ehesten in den Schlaf hineinfinde. Anna behauptete noch einmal, Türen gehört zu haben. Eine sei die Haustür gewesen. Ach, Anna, sagte er, gute Nacht. Da hörte er das Metallgeräusch. Das war ihre Schlafzimmertür. Er fuhr hoch, machte sein Licht an. Rosa. Sie ging sofort auf Annas Seite, setzte sich dort aufs Bett. Sie wollte lachen, aber es gelang ihr nicht. Sie kämpfte gegen Weinen. Sie habe Krach gehabt mit Max. Jetzt könne sie nicht allein im Zimmer sein. Sie habe Angst. Wo Max sei? Fort. Sie habe ihn hinausgeworfen. Weil sie ihn nicht mehr ertragen habe. Er habe von ihr eine Abtreibung verlangt. Sie habe gesagt, sie könne sich das noch nicht vorstellen. Sie habe nicht gesagt, das komme für sie nicht in Frage. Nur, daß sie es sich noch nicht vorstellen könne. Dann habe er gesagt, sie wolle ihn vernichten, das sehe er. Noch zwei andere Frauen seien im Augenblick schwanger von ihm. Eine Bedienung und eine vom Ballett. Er stehe dazu. Kinder zu machen, soviel man wolle, dürfe nicht länger ein Privileg des Adels sein. Aber im Augenblick dürften diese Kinder noch nicht auf die Welt kommen. In drei Jahren, ja. Aber nicht jetzt. Die zwei anderen Frauen seien primitiver als Rosa, daß die sich gegen eine Unterbrechung sträubten, wundere ihn jetzt nicht mehr, wenn sogar Rosa, die über ganz andere Kenntnisse und Einsichten verfüge, die Notwendigkeit einer Unterbrechung nicht einsehen wolle. Also, sagte Rosa, ich soll abtreiben, weil's die zwei anderen nicht tun! Und verheiratet sei er auch. Obwohl das jetzt eine schon vollkommen komische Mitteilung war, brach sie in lautes Heulen aus. Anna zog sie zu sich ins Bett. Rosa heulte noch lauter. Sie schrie fast ein bißchen. Es klang, als sei es für diesen Ton höchste Zeit gewesen, als wäre sie gestorben, wenn sie jetzt nicht hätte aufschreien können. 4. Als Gottlieb Zürn um sieben Uhr aufstand, sah er, daß Anna und Rosa wach und stumm nebeneinander lagen; offenbar hatten sie die ganze Nacht ins Dunkel gestarrt, wie sie jetzt zur Decke starrten. Und er hatte geschlafen und geschlafen. Er ging so unauffällig als möglich hinaus. Sobald er draußen war, rannte er. Rannte hinunter und über den Weg und ins Wasser. Weil noch niemand zuschaute, kraulte er. Ludwig, das war ein Schwimmer, mein Gott. Wie bei dem, wenn er kraulte, alles zusammenwirkte. Bei Ludwig bewegte sich, wenn er kraulte, alles langsam, aber Ludwig kam dadurch schnell voran. Gottlieb hatte das Gefühl, bei ihm bewege sich alles heftig und schnell, nur komme er dadurch nicht vorwärts. Deshalb kraulte er nie, wenn ihn jemand hätte vom Uferweg aus beobachten können. Daß einer so ins Wasser schlug und nicht vorwärtskam, sah sicher komisch aus. Ludwig war immer vorausgeschwommen, wieder zurück und um ihn herum. Gottlieb hatte Ludwig immer bewundert, nie beneidet. Zum letzten Mal hatte er Ludwig auf der Bootsausstellung in Friedrichshafen getroffen. Zufällig waren sie beide vor einem Folkeboot stehengeblieben. Sie hatten dann im Messerestaurant ein Viertel Rotwein getrunken, das jeder dem anderen hatte bezahlen wollen. Ludwig arbeitete damals in Paris. In einer Banque israelite, sagte er. Da sein Vater Nazi gewesen sei, habe er sich vorgenommen, daß für ihn, falls es ihm gelinge, in Frankreich in eine Bank zu
kommen, keine Banque protestante in Frage komme. Aber dein Vater war doch kein Nazi, hatte Gottlieb gesagt. DEIN Vater war kein Nazi, hatte Ludwig gesagt, der meine schon. Dein Vater war Blockwart, hatte Gottlieb gesagt. Eben, hatte Ludwig gesagt und sein Kinn war in diesem Augenblick geradezu furchtbar gewachsen. Wenn Gottlieb schwamm, dachte er meistens an Ludwig. Sie waren stundenlang geschwommen miteinander. Bei Tag und bei Nacht. Ludwig und er waren keine Freunde mehr. Aber wenn er nicht aufpaßte, fing er wieder an, auf Ludwig zu warten. Das hatte er jahrelang getan. Dann hat er sich beigebracht, an Ludwig nur noch zu denken wie an seine tote Mutter, seinen toten Vater, seinen toten Bruder. Als er weit draußen umdrehte, sah er auf ihrem Extrahügel in einem hohen Silberdom aus Nebel, in den gerade die Sonne wollte, als zierliche Figur die BirnauKirche stehen. Ob Anna und Rosa immer noch so starr nebeneinander lagen? Er hätte diesen Max Stöckl, wenn er ihn jetzt zur Hand gehabt hätte, erwürgt. Anstatt den zu erwürgen, mußte er den Brief an Frau Reinhold schreiben, in dem er sich nur noch sanft darüber beschwerte, daß sie den Tip einem anderen gegeben habe. Dann weckte er Julia. Sie wollte mitgenommen werden bis Andelshofen, da sie für Armin, zum letzten Mal vor seiner Prüfung, eine Fährte ins taufrische Gras legen wollte. Gottlieb mußte vor den Interessenten am Objekt sein. Das wäre sein Prinzip geworden, auch wenn es nicht Dr. Enderies Prinzip gewesen wäre. Als er vom Fahrweg um die Stadelecke in die Zufahrt zur Baiten-Mühle bog, hätte er bald einen Mercedes gerammt. Eine hiesige Nummer. Der Vater des jungen Paars sollte aber aus Kempten kommen. Auf dem Rücksitz lag ein Mann. Schlafend oder tot? Schlafend. Obwohl der größere Teil des Gesichts von einem Arm bedeckt war, sah Gottlieb, daß da Herr Dr. Terbohm lag. Und wo ist Barbi? Er ging in den Hofraum vor, der vom Haupthaus, vom Stadel mit Stall, von Schuppen und Remisen umstanden war. Der letzte Müller war vor vier Jahren gestorben. Vor einem guten Jahr hatten sich die siebzehn Erben, die überall in der Welt wohnten, darüber geeinigt, daß sie und wie sie verkaufen wollten. Offenbar hatten sie zuerst einen pensionierten Hausl hinausprozessieren müssen, der mit der schon vor zwanzig Jahren gestorbenen Frau des Baiten-Müllers eher flüchtig verwandt gewesen war. Als pensionierter Hoteldiener aus Zürich war der in die Mühle gezogen und hatte den alten Baiten-Müller, sagten die Erben, ausgenützt. Vor allem habe er ihm beigebracht, ihn als Erben einzusetzen. Das mußte angefochten werden. Das Anfechten war dadurch verkürzt worden, daß Josef, der Hausl, sich im oberen Dachboden erhängt hatte. Am selben Balken, an dem der alte Baiten-Müller die Schaukel befestigt hatte, von der er — tödlich - gefallen war. Daß das Schaukeln ein Einfall Josefs gewesen sein mußte, hatte Gottlieb im Dorf gehört. Man nahm an, daß der alte Baiten-Müller schon arg verkalkt gewesen sei, sonst wäre er auf den komischen Vorschlag des offenbar überhaupt ein bißchen kindischen Josef nicht eingegangen. Daß die beiden alten Männer ausgiebig im oberen der beiden Dachböden geschaukelt haben, ist erwiesen, weil man sie oft, wenn man mit Holz oder Frucht kam — und der Stallschweizer war nicht da -, erst lange rufen und suchen mußte, bis man sie droben fand. Sie haben es aber immerhin zu verheimlichen gesucht, sagen die Leute. Und eben dadurch, daß der Hausl Josef den Baiten-Müller zum Schaukeln hatte verführen können, schien die nachträgliche Entmündigung des Erblassers möglich gewesen zu sein. Nach Josefs Tod stand das Haus leer. Jetzt war keine Scheibe mehr unversehrt. Die hintere, durch die Küche ins Haus führende Tür war aus den Angeln gerissen worden und konnte nur noch angelehnt werden; drinnen sah es aus, als kämen öfter beutesuchende Soldaten durch. Gebetbücher, Einlegesohlen, Schachfiguren, Pfeifenstocher, Fotografien, Auftragsbücher, Stuhlbeine, Seifenstücke, Socken, Glitzersplitter von zertretenen Christbaumkugeln . . . Auf den Fruchtböden watet man
bis zu den Knien in Körnern, und rundum stieben wie Geister die Mäuse. Ins Haupthaus würde Barbi nicht eindringen. Am ehesten in den Stadel, den Stall. Da sah es noch am freundlichsten aus. Der Heuboden noch halb voll Heu. Der Futtergang, voller Heuballen. Der Besen an der Wand, als sei gestern noch mit ihm hinter den Kühen gekehrt worden. Oder war Barbi am Bach entlanggegangen, Richtung Weiher und Wald? Bevor er sich für eine Richtung entscheiden konnte, kamen, auf dem Feldweg vom Wald herab, ums Haupthaus herum und Hand in Hand, Herr Dr. Reinhold und Barbi. Die zierliche Knabenfigur Dr. Rein-holds und sein großer Kopf ergaben eine unverkennbare Proportion. Da die beiden Gottlieb noch nicht gesehen hatten, drehte er sich weg und bückte sich nach einem rostigen Kessel in den Brennesseln. Sie sollten ihn entdecken, nicht er sie. Erst als sie heran waren und ihn erkannt hatten, drehte er sich um. Sie kämen praktisch direkt aus Konstanz, sagte Barbi ein bißchen eifrig: Judith habe gespielt, also so was habe sie nicht für möglich gehalten. Jetzt müsse sie aber den Frauenarzt wecken, um zehn Uhr, Start zur Surfregatta. Schade, sagte Gottlieb, er habe schon gehofft, sie hätten Interesse für die Mühle. Er sagte das, als seien sie ein Paar. Sie lachten nicht. Gottlieb setzte sein Auto zurück, drei fuhren ab, zwei winkten ihm zu. Der arme Dr. Reinhold, sagte Anna immer, wenn von Frau Reinhold eine weitere Emanzipationsgeste zu berichten war. Von anderen Ehepaaren weiß man soviel wie von Kontinenten, auf denen man noch nicht war. Sollte er den Brief noch ändern? Es gibt unverwendbares Wissen. Aber es war ein prächtiger Zufall, daß der Mercedes der Partei Kristlein-Dr. Gramer und der Reinhold-Mercedes auf dem schmalen Weg vom Dorf her langsam aneinander vorbei mußten. Warum inszeniert man das nicht für jede Besichtigung? Es gibt überhaupt nichts, was ein Objekt so begehrenswert macht wie das Erlebnis, daß ein anderer es einem wegnehmen will. Er muß das endlich einbauen in seine Praxis. Herr Kristlein machte Gottlieb sofort ein Kompliment, weil Dr. Zürn auch am Sonntagmorgen schon so früh auf dem Posten sei. Die Tochter Irmgard fragte beunruhigt, ob das Interessenten gewesen seien. Gottlieb sagte, ja, das seien auch Interessenten gewesen. Herrn Kristlein beeindruckte das nicht. Er schüttelte den Kopf. Das sei doch alles nur noch für die Planierraupe. Ein altes Glump sei das, sonst nichts. Der Schwiegersohn, Dr. Gramer, schüttelte den Kopf über das Kopfschütteln seines Schwiegervaters, aber er sagte nichts. Niemand außer Herrn Kristlein sagte etwas, und der wiederholte immer wieder, daß das alte Glump nur noch für die Planierraupe sei. Aber Herrn Kristlein war auch daran gelegen, daß Gottlieb Zürn, während man durch das Haus ging, Kristleins Standpunkt kennenlerne. Er hat einen Steinmetzbetrieb aufgebaut. Mit nichts als einer Persilschachtel voller Unterhosen und Socken ist er vor 50 Jahren zu Fuß von Primisweiler nach Kempten, in die Lehre. Und zwar morgens um drei. Und noch vor zehn in Kempten gewesen. Jetzt hat er den Betrieb, in dem zuletzt zweiunddreißig Mann beschäftigt waren, verkauft. An die Konkurrenz. Die habe ganz schön bluten müssen. So. Er hat Geld. Aber nicht zum Hinauswerfen. Dazu hat er's nicht leicht genug verdient. Er ist siebenundsechzig und erledigt. Gottlieb widerspricht. Ja sowieso, ruft Herr Kristlein geradezu streitsüchtig, erledigt sei er! Und was sein Schwiegersohn, ein Gewerbelehrer, hier zwischen den Brennesseln wolle, müsse man ihm zuerst einmal erklären. Leben, sagt der trotzig aus seinem rötlichen Bart. Die Tochter schaltete sich ein. Sie nahm ihren Vater ein Stück weg von Gottlieb und ihrem Mann. Sie hatte von ihrem Vater die zart geschwungene Nase, die tiefen Augenhöhlen, über die sich schön die Brauenbögen schwangen. Ihre Gesichtshälften waren auffällig gleich. Es ging eine gebietende Wirkung aus von dieser Symmetrie. Gottlieb mußte den Kopf schütteln; er wollte sich der Wirkung entziehen. Herr Kristlein sah neben seiner großen schönen Tochter tatsächlich erschöpft aus, erledigt. Der wirkliche
Rassenunterschied ist doch der zwischen jung und alt. Als sie mit ihm zurückkam, zeichnete sie sich bei jedem Schritt ab in ihrem Kleid. Gut, sagte er, er versteht nichts vom Holz, in Ordnung. Daß das Holz das Wichtigste ist an diesem Bau, gibt er zu. Er hat einen alten Zimmermeister zum Freund in Tettnang, den bringt er heute nachmittag, der wird das Gebälk prüfen. Auf dem Weg zum Wald und zum Weiher hinauf war Herr Kristlein nach hundert Metern stehengeblieben. Er wollte nicht weiter. Irmgard sah ihn ängstlich an. Sie wollte ihn weiterziehen. Ob das nicht schön sei, zwischen Pfefferminz und Storchenschnabel zu gehen. Der Steinmetz lehnte ab. Er wolle so rasch als möglich zu seinem Freund, dem Zimmermeister. Morgen will er nach Mallorca, für ihn der erste Urlaub seit 1945. Der Schwiegersohn hatte nichts mehr gesagt. Das fand Gottlieb klug. Er hatte auch gemerkt, daß man diesem Mann nichts vormachen mußte. Da sich Gottlieb wochenlang die Hoffnung und Illusion gestattet hatte, die Baiten-Mühle selber zu kaufen, wußte er, daß dieser Besitz mehr wert war, als er kostete. Wenn nicht die gefürchtete Autobahn durch dieses Tal käme, hätte sich längst ein Käufer gefunden. Paul Schatz hatte mit seiner Initiative die Autobahn immer weiter ins Hinterland gedrängt, bis sie schließlich 500 Meter vor der Baiten-Mühle gelandet war. Die Leute hier herum konnten sich nicht so gut wehren. Sie hatten den Schwarzen Peter vorerst. Und wahrscheinlich für immer. Gottlieb hätte die Mühle trotz Autobahn gekauft. Er hatte es auf Anna geschoben, ihm beweisen zu müssen, daß sie sich so einen Waldwei-herwiesenbesitz nicht leisten konnten. Kauf und Renovierung würden durch keine Vermietung finanzierbar sein. Er hätte es sowieso nur gekauft, um es zu haben. Anna fand das geradezu unerträglich, Wohnraum zu besitzen und ihn dann leer stehen zu lassen. Das ging ihr gegen jedes Gefühl. Die drei fuhren ab. Man würde sich um 5 Uhr wieder treffen. Das Paar hatte Gottlieb noch einmal zugeflüstert, ob er versprechen könne, daß er vor fünf nichts unternehme. Er versprach's gerne. Dr. Gramer war hoch erregt, das sah man. Er konnte sich momentan sein Leben ohne die Baiten-Mühle nicht vorstellen. Seine Frau zog mit. Ihm zuliebe. Er wollte hier sein mit ihr. Allein mit ihr zwischen sieben Gebäuden und siebzig Bäumen und Weiherschilf und Gras. Er hatte sie immer wieder einmal an sich gedrückt und seinen Kopf zu ihr hin sinken lassen. Immer an Stellen, an denen er sich etwas vorstellen konnte mit ihr. Gottlieb Zürn wußte das längst, daß Häuser und Grundstücke hauptsächlich gekauft werden, weil ein Paar sich etwas vorstellt. Meistens war es, nach seiner Erfahrung, der Mann, der sich etwas vorstellte. Die Frauen sahen mehr darauf, wieviel Sonne auf den Balkon fiele, wie weit die Kinder in die Schule und sie zum Einkaufen hätten. Gottlieb hatte sich gehütet, auf den von dem Paar unterschriebenen Vorvertrag hinzuweisen. Er wußte nicht, ob der Alte die beiden dazu ermächtigt hatte. Durch ihre Unterschrift war die Käuferprovision eigentlich schon gesichert. In römisch Zwei der vorgedruckten und vom Verkäufer schon unterschriebenen Vereinbarung hieß es fettgedruckt: Zur Zahlung verpflichtet sich der Teil, der die Verbriefung auf der obigen Grundlage unterläßt. . . Gottlieb hatte allerdings das Gefühl, daß diesen Steinmetz nichts und niemand hindern könnte, einem so ein Papier vor dem Gesicht zu zerreißen. Daheim saßen alle stumm beim Frühstück. Der Platz, auf dem gestern Stöckl gesessen hatte, war leer. Gottlieb setzte sich auf diesen Platz. Rosas blasse Gesichtshaut sah aus wie aufgerauht. Um eine andere Stimmung zu produzieren, sagte er so schadenfroh als möglich, Annas Kundschaft habe einen halben Rückzieher gemacht. Aber das interessierte niemanden. Anna hätte wenigstens sagen können: Sie haben unterschrieben, also müssen sie zahlen. Dann hätte er wieder einmal sagen können, daß es sein Stolz sei, noch nie eine Provision auf dem Prozeßweg eingetrieben zu haben. Sollte man nun von diesem Stöckl reden oder nicht? Wieviel wußte Magda? Sie saß eher so, wie sie vor dem Tauwetter gesessen
hatte. War es doch nur Stöckl, der sie bewegt hatte? Das Telephon ging. Ein Herr Fichte. Er und seine Frau machen gerade Urlaub in der Gegend und würden sich für eine Immenstaader Wohnung interessieren. Gottlieb verabredete sich mit denen für 2 Uhr nachmittags. Als er auf die Terrasse zurückkam, schlug Gottlieb Rosa vor, froh zu sein. Sie sei doch froh, sagte Rosa. Eigentlich hätte er jetzt mit dem JFK-Satz Il faut celebrer les faux baptemes angeben wollen, aber er hatte gerade noch bemerkt, daß das Rosa verletzen konnte. Er legte den Arm um Rosa wie noch nie und sagte: Ach Rosakind. Anna sagte: Hauptsache, er ist fort. Magda schaute vor sich hin; das sah aus, als wolle sie sagen, durch ihre Gegenwart wolle sie nichts verhindern oder befördern. Armin stürmte um die immer weiter ausschwingenden Wacholderzweige herum und duckte sich demütig auf den Boden hinab. Da folgte auch schon Julia, verschwitzt und über Armins schlechte Suchleistungen erbittert. Gottlieb sah plötzlich die ganze Welt vor sich; ein System, in dem jeder von einem anderen zuviel verlangt, weil von ihm ein anderer auch zuviel verlangt. Ihn rettete das Telephon vor Julias Anklageschwall. Baptist Rauh. Gottlieb hörte schon bei der Namensnennung, daß Rauhs Frau nicht mitzog. Der Bodensee sei für sie kein Gewässer, auf dem es sich lohne, ein Schiff aufzutakeln. Sie will ihn auch gar nicht sehen. Für sie ist die Vorstellung, andauernd gegen Ufer zu stoßen, deprimierend. Er hat jetzt folgenden Vorschlag: Wenn Gottlieb Zürn nach fachmännischer Prüfung der Meinung ist, daß dieses Anwesen mehr wert ist als die fünf Plätze mit ihren verschiedenen Aussichten auf Lindau, und wenn dann noch die fünf Plätze zu verkaufen sind für 900 000, noch besser eine Million, dann kommt Rauh, dann greift er zu, auch ohne Bruni. Er hat ja die Vorbereitung seines zweiten und eigentlichen Lebens auch bisher ohne Bruni betreiben müssen. Irgendwann wird sie mitziehen, oder man weiß nicht, was dann passiert. Der arme Baptist Rauh. Und jedesmal fragte er, wie das Wetter am Bodensee sei. Bei Föhn verlangte er von Gottlieb scharfe Schilderungen der vor Nähe und Glanz blendenden Gegenständlichkeit der Bodenseewelt. Gottlieb Zürn sah durch das offene Fenster die Hundsrosen an und hatte das Gefühl, sie sähen ihn an. Er studierte noch einmal den Vorvertrag, den er für die Mühle ausgefüllt hatte, der jetzt dank Annas Energie unterschrieben war. Anna hatte recht gehabt, als sie dem jungen Paar die Unterschrift abgenötigt hatte. Im Immobilienhandel muß man den Leuten ein bißchen Fassung geben, sonst schwanken sie gar zu sehr. Diese Mühle, hergerichtet, war in fünf Jahren das Doppelte wert. Je mehr Grund und Boden mit einem Objekt verbunden war, desto mehr interessierte es ihn. Er hätte am liebsten alle Grundstücke, die er vermittelte, selbst gekauft. Daß Leute, die Geld hatten, überhaupt etwas anderes als Grundstücke kauften, war ihm unverständlich. Nicht daß er spekulieren wollte. Er wollte Grund und Boden haben. Anna dagegen: nicht mehr, als man selber bearbeiten kann. Er dagegen hätte das Land gern sich selbst überlassen. Möglichst viel Land sich selbst überlassen, das wäre ihm schön vorgekommen. Oft phantasierte er an einer Gesellschaft herum, in der die Geburtenzahlen sänken. Erholung der Natur, sanfter Überfluß, Entspannung als Naturprodukt, man streckt einander wieder die Hände entgegen, muß aber fast gar nicht mehr reisen, weil es an Ort und Stelle wieder auszuhalten ist. Großväter und Großmütter hätten Platz und Essen; der Vorwand, daß wegen deren Renten immer weiter expandiert werden müsse, entfiele. Weil es Sonntagvormittag war, holte er seine Gedichtbücher aus der Schublade. Der Sonntagvormittag, fand er, eigne sich am besten zum Dichten. Er war auch gern fromm. Aber als er jetzt seine Gedichte lesen wollte, waren ihm seine Sätze zuwider. Das waren überhaupt keine Gedichte. Was da stand, war nichts als mühsam und leer: Er war sicher, daß ihm nie mehr etwas gefallen würde. Und je mehr es mit ihm selber zu tun hatte, desto abstoßender würde es sein. Er hatte das Gefühl, er sei innerhalb weniger Minuten bis auf den
tiefstmöglichen Punkt gestürzt und könne sich nie mehr aufraffen. Er mahnte sich. Sei zufrieden, sagte er, dir geht es gut. Was ist denn das? Sein Leben wurde immer erträglicher, und er wurde immer häufiger von dieser Unglücksschwere überfallen. Er war überhaupt nicht zufrieden. Und gerade Zufriedenheit hätte er jetzt allmählich erwartet von sich. Heiter würde er wahrscheinlich nie werden. Aber dieses bald keinen Tag mehr ganz verschonende Unglücksgefühl wollte er sich nicht gefallen lassen. War das Wohlstandsschwermut? Er wagte nicht, mit irgend jemandem darüber zu sprechen; er genierte sich, weil er sich so unglücklich fühlte, obwohl es ihm gutging. Er verlangte von sich, gleichmütig zu sein. Es war wieder, als könne er den Kopf nie mehr heben, die Augen nicht mehr bewegen, den Telephonhörer nie mehr abnehmen. Tatsächlich verschrillten manche Anrufe vor seinem Gesicht, ohne daß er fähig gewesen wäre, die Hand bis zum Hörer zu bewegen. Aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, deshalb etwas gegen das Leben oder die Welt oder die menschliche Lage vorzubringen. Verwünschungen fand er komisch. Auch ahnte er, daß es seine Schuld war. Zumindest seine Sache. Auch in den schlimmsten Momenten wußte er noch, wie schön es war zu leben. Nur hatte dieses Wissen dann keine Kraft mehr über ihn. Er konnte sich nicht bewegen, nicht teilhaben. Jede Bewegung hätte nur die Last fühlbarer gemacht. Nicht einmal die Todesbanalitäten regten ihn dann noch auf. Also Verzweiflung war es nicht. Verzweiflung war ein Wort, das in ihm nur eine Empfindung erregte wie Zwiebeln mit Seife. Für den Druck, der auf ihm lastete, hatte er keinen Namen. Es war etwas Luxuriöses, Eingebildetes, Selbstverschuldetes. Etwas, das man unbedingt verheimlichen mußte. Plötzlich sprang er auf und ging, rannte fast, zum Briefkasten vor. Sein Brief war noch drin. Morgen früh um 5 Uhr 45 wird er zur Leerung hier sein und den Brief zurückbitten. Er begriff nicht mehr, daß er geglaubt hatte, Frau Reinhold schreiben zu können, was er dachte. So was Lächerliches, ihr vorzutragen, er sehe einen Widerspruch darin, wenn sie immer gegen Leute wettere, die sich krümmten und unterdrückten, und andererseits verlange sie von ihm, daß er Kaltammer reizend finde und von Paul Schatz hingerissen sei. Sie sei doch die erste, den einen Neurotiker zu nennen, der sich zwinge, Leute sympathisch zu finden, die er nicht ausstehen könne. Also glaube er sich sozusagen nach ihren Anweisungen zu verhalten, wenn er deutlich sage, wie widerwärtig ihm Kaltammer sei und wie enttäuscht er, Gottlieb Zürn, sei, weil sie Frau Dr. Leistle den empfohlen habe. Er habe nach der Lektüre dieses Inserats Frau Dr. Leistle gar nicht mehr aufgesucht. Vielleicht könne sie ihm noch den Gefallen tun und dort sein unentschuldigtes Wegbleiben erklären. Abgesehen davon, daß es idiotisch war, sich jetzt, nachdem alles verloren war, noch Blößen zu geben, stimmte nichts mehr richtig in diesem Brief. Eben dadurch, daß er ihn geschrieben hatte, war er aus der Lage, die der Brief ausdrückte, herausgekommen. Nach dem Mittagessen fuhr er mit Herrn und Frau Fichte nach Immenstaad. Die anderen fuhren zu Regina ins Krankenhaus. Herr Fichte nannte seine Frau, die am Steuer saß, Muddi. Er war Sachse und sagte, daß er in seinem Leben nur noch ein Interesse habe, nämlich mit seiner Muddi ein paar ruhige Jährchen zu verbringen. Sein Leben lang hat er als Mondör im Außendienst gearbeitet, in Südafrika, Singapur, Mexiko, hat'n schön' Haufen Spesen gespart und angelegt und seine Muddi nur alle Jubeljahre mal gesehen, und immer unter fremdem Dache. Beide ham sich aber, wie jeder ihnen bisher bestätigt hat, auf diese Weise prächtig konserviert und möchten nu endlich ihr Scheibschen abschneiden dürfen vom süßen Leben, nich' wohr, Muddi. Wenns nicht zuviel koste, das Scheibschen, sagte Frau Fichte und imitierte ein bißchen seinen sächsischen Ton. Da konnte Gottlieb mitreden. Das war
sein Thema: das eigene Dach, der eigene Boden unter den Füßen. Weg war die Konversationsmühe, unter der er öfter bei Besichtigungen litt. Daß so viele immer noch auf fremdem Grund geboren werden und gehen lernen, wo sie nichts zu sagen haben, das sei das letzte große Rechtsübel aus den Zeiten des Mittelalters, ein an Leibeigenschaft erinnerndes Feudalrelikt. Alle Mieterschutzgesetze blieben Augenwischerei, solang es de jure den Hausherrn noch gebe. Dabei dachte er immer daran, daß er auch ein bißchen Hausherr sei. Aber er brauchte seinen Rückhalt. Schatz natürlich, der Snob, wohnte zur Miete. Niemand sei so privilegiert wie der Mieter, davon wolle er auch profitieren. Schatz konnte es einem vorrechnen. Gottlieb begriff es nicht. Ihm kam es über jede Rechnung hinaus unerträglich vor, auf fremdem Boden zu leben. Fichtes stimmten zu. Als man die erste Wohnung betrat, war man hochgestimmt und einig darüber, daß die Basis der Demokratie, die Gleichheitsforderung, erst einen Sinn bekomme, wenn keiner mehr auf fremdem Boden existieren müsse. Herr Fichte ließ auf Fingerdruck das Maßband aus dem Gehäuse springen. Frau Fichte entfaltete Listen mit Maßen ihrer Möbel. Beide knieten und krabbelten herum, riefen einander in glücklicher Erregung Zahlen zu. Ja, der große Ratan-Tisch, den er aus Singapur mitgebracht hat, paßt! Großer Gott, jetzt fällt ihm ein Stein vom Herzen. Mit allen 10 Stühlen paßt er herein. Und die Felle aus Afrika auch. Endlich wird er die aus ihren Kisten befreien können. Aber Muddi möchte die gar nicht im Wohnzimmer haben. Er sieht sich schon hier die Beine in die Felle strecken. Aber Muddi möchte nun mal die Felle nur im Schlafzimmer. Erich Fichte geht noch einmal hinüber in den als Schlafzimmer vorgesehenen Raum. Kommen die Felle hier überhaupt zur Geltung? Oder werden sie da praktisch zu Bettvorlegern herabgewürdigt? Das möchte Muddi natürlich auch nicht. Vielleicht in das Herrenzimmer? Ja, damit könnte er eher einverstanden sein, laß mal sehen. Das Herrenzimmer ist ziemlich klein. Also er finde einfach die Fernsehecke mit'm Gaudsch-Halbkreis erst gemütlich, wenn Boden und Gaudsch voller Felle wären. Zum Donner, Muddi, 30 Jahre lang ist er in der Welt herumgädiecherd, nu will er es eben noch was kuschelig. Übrigens, heute sei Sonntag, der PKW-Verkehr recht erträglich, aber- dies scharf zu Gottlieb Zürn -: unter der Woche, der LKW-Verkehr, hört man den? Künnt ihr misch net wat Leischteret frajen, denkt Gottlieb und sagt: Der hält sich sehr in Grenzen, wissen Sie. Aber sie haben doch gestern am Telephon gesagt, kein Verkehrslärm at all. Ich? Nicht ich, meine Frau, Herr Fichte, war gestern am Telephon. Fichtes werden den Punkt werktags prüfen. Nach fast zwei Stunden haben sie ihre Möbel und ihre Vorstellungen beiden Wohnungen anprobiert, und Herr Fichte, offenbar ein Fachmann in allen Handwerken, hat mit einem Rechenschieber die Preise der Wohnungen überprüft und weiß jetzt, jede dieser Wohnungen ist um 3 5 000 Mark zu teuer. Sie seien allerdings erst am Anfang ihrer Campagne, sagten sie, sie würden sich, wenn sie der Sache nähertreten wollten, wieder melden. Beide atmeten auf und aus. Offenbar hatten sie sich jetzt völlig aus dem Bann beider Wohnungen gelöst. Gottlieb war froh, daß er die Rückfahrt mit Anna verabredet hatte. Mit diesem Ehepaar hätte er nicht gern noch einmal die Enge ihres Kleinautos geteilt. Eine halbe Stunde saß er neben der Omnibushaltestelle im Gras. Angesichts der auf der Bundesstraße hintereinander herjagenden Autos war es unwahrscheinlich, daß Anna und die Kinder heil einträfen. Sollte er den Gedanken einüben, er und Regina seien allein übriggeblieben? Dann kurvten sie doch noch her, Rosa am Steuer. Rosa hatte auf dem Krankenhausparkplatz ein Auto beschädigt, dem Zürnschen Auto war ein Rücklicht zerquetscht und die hintere Stoßstange geknickt worden. Gottlieb sagte: Wie kann man bloß! Auf einem Parkplatz! Da er selber vor zwei Jahren einen 13 000-Mark-Schaden angerichtet hatte, durfte er nicht brüllen. Wo er hinsah, sah er Kosten aufschießen. 8811 Mark hatte er gestern
verjubelt. Man hätte Rosa heute nicht ans Steuer lassen dürfen, sagte er aus einem sich nicht öffnen könnenden Mund. Jetzt stellte sich auch noch heraus, daß Anna dem Mercedesfahrer 350 Mark sofort bar bezahlt hatte für dessen von ihm selbst geschätzten Schaden. Wegen der Prämien-rückgewähr, sagte sie. Das kann man doch absetzen, sagte sie. Nein, sagte Gottlieb. Die weitere Erhöhung der Versicherungsprämie wegen dieses Schadenfalles hätten wir absetzen können. Anna sagte: Scheiße. Rosa sagte, man hätte überhaupt nichts zahlen, sondern die Polizei holen sollen. Sie sei, als sie rückwärts aus der Parklücke fuhr und den kommen sah, stehengeblieben und sei, als der auffuhr, schon gestanden. Aber alle seien sofort aus dem Auto gestürzt und hätten sich bei dem Heini entschuldigt, da habe sie auch nichts mehr machen können. Sie ist nicht gestanden, sagte, etwas steinern, Julia. Rosa schrie Julia an. Sie sei gestanden, schrie sie so laut sie konnte. Julia schrie: He! Sie lasse sich nicht 's Maul verbieten, das nerve sie echt. Anna rief, wenn Julia Rosa so anschreie, passiere gleich wieder was. Magda hörte, das sah man ihrem in irgendeine Ferne gerichteten Blick an, nichts von dem, was um sie vorging. Julia und Rosa stritten weiter. Gottlieb war froh, als er alle absetzen und allein zur Mühle weiterfahren konnte. Da stand schon Dr. Gramer, neben ihm leuchtete purpurrot der kugelrunde Kopf und violett die Nase des alten Zimmermeisters. Gottlieb erschrak unwillkürlich, als er nur diese beiden sah. Und erfuhr, der Schwiegervater sei im Rad in Tettnang beim Mittagessen vom Stuhl gesunken und, als er den Boden erreicht habe, schon tot gewesen. Jetzt erst sah Gottlieb, daß Irmgard im Auto saß und vor sich hinschaute und sich nicht rührte. Er konnte nicht hingehen und kondolieren. Dr. Gramer flüsterte Gottlieb zu, er habe die vom Schwiegervater erwünschte Begutachtung durch den Zimmermeister nicht abblasen wollen. Man stieg in den ersten und dann in den zweiten Dachboden hinauf. Der Zimmermeister zog sein Taschenmesser und stach immer wieder in die Balken und fand sie gesund. 150 Jahre alt. Er bewunderte die Binder. Eine alte Nordgiebelwand, der längst eine neue vorgesetzt worden war, zog ihn besonders an, weil die Wand aus Holz geflochten und mit Lehm gemörtelt war. Das heiße man gestrickt. Als man auf dem Rückweg durch den Mühlenteil ging, sagte er anerkennend: Und Mühlenschläuch' für fünf Körnungen. Nur in Küche und Brennerei fand er mürbe Balken; aber auch der mürbste davon halte noch gern 50 Jahre. Er hätte das dem Karle, seinem alten Freund, selber gesagt, aber so sei es halt, man wolle einem was sagen, dann sei der schon tot. Dr. Gramer sagte, die Protokollierung könne sich jetzt um 14 Tage verzögern, aber, weil die Erbverhältnisse problemlos seien, um mehr als drei Wochen nicht. Julia föhnte Rosa die frisch gewaschenen Haare. Das war ein wunderbarer Anblick. Aber Magda lag wieder auf dem Sofa und starrte zur Decke. Er erfuhr, daß Rosa versucht hatte, sie zum Haarewaschen zu überreden. Daraufhabe sie gesagt, sie werde sich die Haare waschen, sobald sie es schaffe, ein Erwachsener zu sein. Und zu Rosa habe sie gesagt: Du schmückst dich, weil zu erwachsen bist, das verstehe ich. Wenn Stöckl geblieben wäre, dachte Gottlieb, wäre sie auch geblieben. Über Stöckl sprach niemand. Über Rosas Zustand sprach niemand. Er hoffte, Anna habe mit Rosa gesprochen. Das könnte doch noch ein Sonntagabend werden. Fast die ganze Familie unter einem Dach. Von Regina keine dramatische Nachricht. Sie müsse sich dort behaupten gegen die zwei Zimmergenossinnen. Vor allem die Griechin sei herrschsüchtig. Regina habe, offenbar um mit dem Fremdheitsgrad des Griechenkindes konkurrieren zu können, ihren zweiten Vornamen angegeben, und den in englischer Version. Sie habe Anna sofort in einer gespielten Begrüßungsszene zu sich hinabgezogen und ihr zugeflüstert, sie heiße Mary. Das klingt ja sehr
gut, sagte Gottlieb. Als sie beim Abendessen saßen, rief Herr Rauh an. Große, schöne Neuigkeiten. Bruni sei plötzlich eingeschwenkt. Sie müsse etwas Scheußliches erlebt haben, worüber sie mit ihm noch gar nicht sprechen könne. Und es müsse etwas Hamburgisches sein, da in ihr geradezu jäh die Einsicht dämmere, daß man Hamburg überschätzen könne. Er will noch nicht zuviel sagen, aber eins ist sicher: seine Plätze in Hochbuch, Motzach, Taubenberg, Rehlings und auf dem Hoyerberg — er zählt die Plätze immer in der Reihenfolge auf, in der er sie erworben hat - werden nicht verkauft. Er wird doch nicht fünf Plätze verschleudern, von denen aus man sieht, wie Lindau im See liegt vor einem Kranz aus Bergen. Offenbar brachte es Baptist Rauh in seiner Vorstellung fertig, von allen fünf Plätzen gleichzeitig auf die Insel Lindau hinzuschauen. Ihm wagte Gottlieb nicht entgegenzuhalten, daß man in Wirklichkeit ja nur einen dieser fünf Plätze brauchte, um zu sehen, wie Lindau im See und vor dem Kranz aus Bergen liege. Wenn Bruni mitzieht, flüsterte Baptist Rauh, dann wird das Schwanenhaus gekauft. Bruni hat Schmuck geerbt, der immer nur im Tresor liegt. Was ist Schmuck im Tresor gegen ein Haus am See mit Turm, vier Giebeln und bunten Scheiben. Und auf dem Dach, sagte Gottlieb schnell dazwischen, eine Fahnenterrasse. Wahnsinnig, sagte Baptist Rauh leise und langsam. Sobald Bruni das volle Ausmaß ihrer Hamburger Resignation zugibt, ruft Rauh an, dann fliegen sie her. Sollte ein seriöser Käufer auftauchen, will Rauh sofort angerufen werden, alles klar? Alles klar. Als er zurückkam, sagte Anna gerade, sie habe, als sie Rosa kriegte, gedacht, die gehöre ihr jetzt zwanzig Jahre und das sei ihr vorgekommen wie's ganze Leben. Und jetzt sei das so schnell vorbeigegangen. Unsinn, wollte Gottlieb rufen. Er drückte auf den Knopf für die Tagesschau. Rosa stand sofort auf und sagte, sie müsse zusammenpacken, wenn sie noch mit dem letzten Zug nach München wolle. Je heftiger Anna sie zurückhalten wollte, desto unerbittlicher bestand Rosa auf ihrer Abreise. Beide gingen diskutierend hinaus. Eine Tagesschau-Meldung traf ihn: fünf große Wirtschaftsinstitute haben gesagt, die Konjunkturanzeichen seien ein Irrtum gewesen. Es gehe schon wieder abwärts. Zunahme der Arbeitslosigkeit. Lohnsteuereinnahmen bleiben hinter den Schätzungen zurück. Das rührte direkt an die Stelle, die er sich gestern durch den Teppich- und durch den Kamerakauf verwundet hatte. Er hätte aufschreien wollen. Der Fehler, den er durch diese Kauferei gemacht hatte, wurde stündlich größer. Wenn der Immobilienmarkt einfror wie anno 75! Zehn, zwanzig, fünfzig Besichtigungen einer Zweieinhalbzimmerwohnung, und kein Abschluß! Dann fehlt nur noch, daß die Notenbankherren, weil sie sich eine Konjunktur einbilden, die's nicht gibt, die Diskontschrauben anziehen. Die Dreizehnzwo von den Mühlekäufern sind wenigstens sicher. Aber auch nur, weil der einzige Gegner des Kaufs tot vom Stuhl fiel. Dazu die Pauschale vom Verkäufer: zehn, wenn Gottlieb vierhundertvierzig erlöst. Also kann er mit dreiundzwanzig rechnen. Und davon hat er neun schon hinausgeworfen. Und dreiundzwanzigtausend sind, wenn man ihnen einmal näherkommt, überhaupt nicht mehr soviel, wie man gemeint hat, als man noch fast keine Aussicht hatte, dreiundzwanzigtausend zu kriegen. Mit den sechzig- bis neunzigtausend für das Schwanenhaus waren die Monate bis zur nächsten Saison warme Monate gewesen. Sie brauchen jeden Monat mehr Geld. Eine sparsame, alles auspressende, klug wirtschaftende Frau, vier sparsame bis geizige Kinder, und jeder Monat teurer als der vorangehende. Manchmal befiel ihn die Angst, daß sie das Geld einfach verlören. Vielleicht fehlte ihm und Anna eine unerläßliche Wachheit und Kontrollfähigkeit. Vielleicht legen er und Anna öfters gedankenlos einen Hundertmarkschein auf das Fensterbrett und der Wind weht ihn weg. Oder sie lassen zur Freude unterbezahlter Lehrlinge Fünfzigmarkscheine auf dem Ladentisch liegen. Manchmal beherrschte ihn
die Vorstellung, im Haus existiere ein Transportband, nicht breiter als ein Brief, darauf würden ununterbrochen Geldscheine aus dem Haus transportiert. Was ihm bar nicht abgenommen werden konnte, wurde ihm entrissen per Dauerauftrag. Dieser Teppich! Diese Kamera! Anstatt daß er für 88 Mark 11 für alle Kinder und für Anna Entzücken auslösende, das Haus mit Freuderufen füllende Kleinigkeiten gekauft hatte, hatte er für 8811 Mark nur für sich gesorgt. Aber konnte er mehr gegen sich tun, als soviel zu kaufen? Aber er hat es doch für sich getan. Aber das einzige, was man gleichzeitig für sich und gegen sich tun kann, ist, etwas kaufen. Je teurer, schöner, unverantwortbarer, desto mehr erlebt man es als etwas, was man für sich und gegen sich getan hat. Er und Anna fuhren Rosa nach Friedrichshafen zum Bahnhof. Sie ließ nicht zu, daß man über etwas, was sie betraf, sprach. Sie sah fürchterlich blaß und entschlossen aus. Als der Zug anfuhr, winkten sie ihr nach. Sie versuchte, hinter der geschlossenen Scheibe zurückzuwinken. Aber weil ihr Handgelenk sich offenbar überhaupt nicht lockern ließ, wurde aus ihrem Winken jene Bewegung, mit der man entschieden verneint. Wir hätten sie nicht gehen lassen dürfen, sagte Anna nachher. Aber Rosa habe sich nicht halten lassen. Sie wolle morgen früh sofort zum Arzt und zu Pro Familia, daß sie das Sozialberatungsattest und das Indikationsattest bekomme und einen Kliniktermin. Gottlieb versuchte, aus dem, was Rosa bevorstand, eine Art Zahnarztbesuch zu machen. Er wollte eine Schutzschicht erzeugen, damit er und Anna für den Rest des Abends für sich wären. Anna wirkte kooperativ. Magda und Julia waren schon in ihren Zimmern. Gottlieb schenkte noch Wein ein. Er spürte, wie in ihm die Fähigkeit zunahm, sich einzubilden, er und Anna seien allein auf der Welt. Das war die Voraussetzung. Ohne die lief nichts. Er erzählte ihr in optimistischer Verzerrung von den Besichtigungen, vom traurigen Schicksal des Steinmetz, das sich für sie so günstig auswirke; von seiner erfolglosen Geduld mit dem Getändel der Familie Fichte; er erzählte wohlig bewegt, wie er frühmorgens den von Anna öfters bedauerten Dr. Reinhold an der Hand der braungebrannten Surferin Bärbel habe aus Wald und Wiese und Weiher zurückkommen sehen; sie erzählte von Regina und Rosa; er mischte in ihre Erzählung Verharmlosendes; sie schien an Erleichterung auch interessiert zu sein; die Umgangskunst blühte; er dachte schon an die Kamera hinter dem Vorhang. Aber als sie ihr Schlafzimmer betraten und er ihr zuschaute, wie sie sich auszog, sagte Anna: Wenn bloß das schon vorbei wäre, dann könnte man wieder schnaufen. Sie kam nicht von dem los, was Rosa bevorstand. Als er sie sofort mit Verharmlosung immunisieren wollte gegen den Leidandrang aus Richtung Rosa, schrie sie ihn verzweifelt und bittend an, er solle still sein, sie halte es nicht aus, am liebsten würde sie jetzt sofort nach München fahren, daß sie Rosa am Bahnhof abholen könnte. Sie hätte Rosa nicht gehen lassen dürfen. Und wenn Rosa nach München fuhr, hätte sie sie nicht allein fahren lassen dürfen. Rosa könne, was ihr in der kommenden Woche angetan werde, nicht allein tragen und ertragen. Aber er habe ja diesen Stöckl ganz toll gefunden. Mein Gott, mein Gott... Er löschte das Licht. Er hätte wieder gern eine Wut gehabt gegen sie. Sie hatte die Schutzschicht, die er hatte bilden wollen, daß man in einer Art Illusionshülle den auferlegten Geschlechtsverkehr hätte ausüben können, zerrissen. Unheilbar. Als sie bemerkte, daß er ihr beim Entkleiden zuschaute, hatte sie den ersten Schlag gegen sein Illusionswerk geführt. Am liebsten hätte er gedacht, sie benutze Rosas Leiden nur, um ihn von sich abhalten zu können. Gestern abend war es ihm gelungen, eine Wut zu sammeln. Das gelang ihm jetzt nicht mehr, obwohl er glaubte, 24 Stunden mehr Grund zur Wut zu haben als gestern. Um fünf Uhr stand er auf, um 5 3/4 war er am Briefkasten und ließ sich von Herrn Nothhelfer den Brief an Frau Reinhold wiedergeben. Zum Glück hatte er gestern erst auf dem Heimweg von der Baiten-Mühle ans Einwerfen gedacht, sonst
wäre der Brief weg gewesen und Frau Reinhold hätte Gelegenheit gehabt, sich über seine Schwächlichkeit verratenden Klagen zu mokieren. Daß Herr Nothhelfer den Kasteninhalt mit einem Eifer nach dem Zürn-Reinhold-Brief durchsuchte, als könne er dadurch Dr. Zürn einen schier unendlichen und von dem nie mehr gleichwertig zu erwidernden Gefallen tun, mußte Gottlieb über sich ergehen lassen. Er bedankte sich so heftig, wie der es erwartete. In seinem Büro legte er den Brief in die Schublade, in der er zurückgeholte Briefe aufbewahrte. Er öffnete sie nie. Jetzt hatte er wieder jenes Triumphempfinden wie vorgestern in Stuttgart, als er es geschafft hatte, Frau Dr. Leistle ausfallen zu lassen. Etwas, was er angefangen hat, noch rechtzeitig rückgängig gemacht zu haben, befriedigte ihn tief. Die für den täglichen Lebensbeginn notwendige Steigerung war durch nichts so leicht zu produzieren wie durch Schwimmen. Nach zehn Schwimmzügen hätte er über die Schwierigkeiten, täglich ins Leben zu finden, kaum noch mitreden können. Im Wasser wurde er immer übermütig bzw. zeitlos. Der Dunst war heute schon dichter. Die Birnau, ein schlanker Schatten in einer Septemberseide aus Sonne und Dunst. Auch die Entfernung, eine Seide. Arme Rosa. Wie etwas erlebt werden muß, muß ihm immer zuerst Anna vormachen. Ohne ihren Anstoß würde er oft überhaupt nicht teilnehmen. Beim Frühstück zeigte Anna, daß sie nicht mehr an gestern abend erinnert werden wollte. Sie las die Zeitung, als suche sie etwas. Dreimal unterbrach sie ihr verbissenes In-die-Zeitung-Starren und teilte ihm durch Vorlesen einiger Zeilen mit, daß sie schon Kontakt wünsche, aber höchstens den, den man durch Vorlesen von Zeitungsmeldungen kriegt. Es waren allerdings einschlägige Meldungen. Dr. Terbohms erste Frau ist tot in ihrer Wohnung gefunden worden; sie hat offenbar zu essen aufgehört, hat sich verhungern lassen. Dr. Terbohms zweite Frau ist Surfmeisterin geworden. Judith Reinholds erstes öffentliches Konzert hat in purer Begeisterung geendet. Anna geriet beim Vorlesen der Konzert-Kritik in den Jubel, mit dem das Publikum auf den Kritiker gewirkt hatte. Gottlieb hätte diesen alle Wörter zirkushaft aufzäumenden Hymnus gern ertragen, wenn da Julia oder Magda gerühmt worden wären. Um den Hymnus zu entwerten, wies er auf die Machart hin. Ob Anna sich wirklich einem überlassen wolle, der Fräulein Reinhold SchumannAnschläge von sinnlich wohliger Schlankheit nachsage? Und wohin ziele er mit der ungespreizt bravourösen Bescheidenheit? Und das: technische Probleme verwaisen unter ihren jubilierenden Fingern. Anna, selbst Ex-Meisterschülerin, könne ihm das sicher erklären. Anna wollte sich ihre helle Freude über Judiths Erfolg nicht trüben lassen. Sie werde Judith einen Blumenstrauß schicken. Immerhin sei Magda in Judiths Klasse, sagte Anna, und es gab Zeiten, da waren sie befreundet. Waren, sagte Gottlieb. Sie werde die Blumen schicken, sagte sie. Gottlieb tat, als gebe er nach. Vielleicht war es sogar eine gute Idee, das Haus Reinhold mit einem Blumenstrauß zu beschämen. Das Telephon läutete. Er hatte Angst, es sei Baptist Rauh, der ankündige, er und seine Frau hätten schon den Flug gebucht. Es war Rudi W. Eitel. Er sprach langsam, leise und abgehackt, seine Stimme war so tief wie noch nie. Er ist in einer kleinen Klemme. Hat sich mit so Berlin-Brüdern eingelassen. So'n Abschreibungsprojekt eben. Ist er schon mal'n paar Wöchel-chen aufm Mottenkontinent, beteiligt er sich an den Spielchen hier herum, klar?! Hat sich also anleiern lassen von'm Vetter eines bayerischen Exfmanzministers — du weißt schon —, die waren zusammen in Stella Maris. Schon'n Projekt mit Substanz, wenn auch für Rudi W. Eitels Geschmack zu konservativ. Zwar 50 000 Prospekte offsetgedruckt, aber alles nur am Schalter angeboten. Jetzt sind die eingebrochen. Da war ein Faulmann drunter. Jetzt heißt es nachschießen, sonst bist du draußen und was du drin hast, hast du gesehen. Das wäre für ihn im Moment, sagen wir einmal, peinvoll! Er hat für den Nachschuß alles zusammen, bis eben auf lächerliche 5000. Das ist
doch das Capriziöse; es hängt immer an lächerlichen 5000. Wegen lächerlicher 5000, die du grad nicht hast, aber nächste Woche, wenn es zu spät ist, zehnmal hast, verlierst du'n ganzes Bein und vielleicht sogar noch 'ne Hüfte dazu. Jetzt hat er schon viel zu lang geredet. Wegen 5000 redet er hier 'ne halbe Stunde. Echt Mottenkontinent, wa. Also, Gottlieb kriegt 40% Zins und in einem Monat hat er das liebe kleine Sümmchen plus Zins zurück. Also, ihm, seinem alten Freund Rudi W. Eitel, wäre momentan verdammt gelegen an dieser 5ooo-Mark-Bagatelle. Obwohl Gottlieb, solange der geredet hatte, Zeit genug gehabt hätte, sich eine Antwort zu überlegen, hatte er, als der aufhörte, keine parat. Er hatte einfach wieder nur zugehört. Ja, Rudi, Hei-jei-jei, so was Dumm's. Wenn er den Auftrag gekriegt hätte, Rudi erinnere sich, am Mittwoch im Faulen Pelz hat er ihm davon erzählt, wenn ihm den nicht Kaltammer weggeschnappt hätte, wie ja Helmut richtig prophezeit habe, dann hätte er, da er für dieses Projekt inzwischen schon zwei gierige Interessenten gehabt hätte, Rudi nach einem Satz unterbrochen und hätte gesagt: Rudi komm her, der Scheck liegt da. So aber, Rudi, was soll er machen, der letzte Abschluß zweiter achter, ein August ohne Abschluß hinter und ein September ohne Abschluß vor ihm, Rudi, und vier ganz abhängige Kinder. Okay, sagte Rudi, leise und kurz. Und noch einmal, lang und leise ausschwingend: Okay. Und hängte auf. Gottlieb hatte das Gefühl, er sei geohrfeigt worden. Der nächste Anruf dieses Vormittags: Vetter Franz Hörn teilt mit, daß Thiele einmal geseufzt und einmal geschluckt habe, dann sei er drüber weg gewesen. Das Mark-dorfer Projekt geht ihm an den Nerv. Thiele läuft herum mit einem richtigen Entweder-Oder-Gesicht. Man machte aus, einander wieder einmal zu besuchen. Wie war's denn nächsten Sonntag? Franzens Mutter feiert am Sonntag den Fünf-undsiebzigsten, da könnten Zürns doch nach Bodnegg kommen, oder? Die Wigratsweilerer und die Torkelweilerer kommen auch. Ein bißchen Hochstuben tat' uns allen wieder einmal gut. Man sieht einander so gut wie nie. Auf einmal haben die Kinder dann keine Verwandten mehr. Gottlieb war froh, daß man nicht mehr auf das Schwanenhaus zurückgekommen war. Nachmittags fuhren er und Anna zu Regina. Die Griechin war nicht mehr da. Jutta, das Mädchen mit den zwei Brüchen, war munter. Regina zog beide Eltern zu sich hin. Flüsternd mußte sie den Ekel gegen das Gewaltsame abreagieren, das sie erfahren hatte. Sie verzog ihr Gesicht zu Grimassen, klopfte auf Anna und Gottlieb nervös und innig mit Fäusten herum. Zuerst das Füllen der Blase mit dem Kontrastmittel. Sie deutete an, wie sie lag, die Beine angezogen und geschlossen. Wie ihr dann die Beine auseinandergenommen worden seien. Sie wolle sofort mit! Anna und Gottlieb müßten gleich mit ihr fortfahren, an die Nordsee und auf die Mainau und in den Stadtgarten. Es dauerte über zwei Stunden, bis sie Regina so weit hatten, daß sie dablieb und die Eltern gehen ließ. Daheim unterschrieb er die 41 Briefe, die Frau Ortwein geschrieben hatte. Draußen sagte im Vorbeigehen in ihrer schwingenden Langsamkeit Frau Constabler zu Isolde: Du kanns' ruhich am Wasser gehn. Und Isolde fragte zurück: Gehs' du denn nich am Wasser? Und die Mutter: Du kanns' ruhich am Wasser gehn, ich geh noch nich einkaufen. Gottlieb durfte eine Sekunde lang über den Zaun ins Paradies sehen. Beim Abendessen beantwortete Magda wieder jede Frage mit der Gegenfrage zu was. Julia ärgerte sich offenbar darüber, daß sie in einer solchen Familie den Abend bzw. das Leben verbringen mußte. Aber als Gottlieb mit ihr ein Bündnis schließen wollte gegen die Stimmung am Tisch, lehnte sie ab. Sie saß, aß Trauben, blies die Kerne in die hohle Hand und sagte Kwwaddsch. Als Gottlieb und Anna neben einander im Dunkel lagen, fiel ihm ein, daß er sich von dem Mannheimer Ehepaar nicht einmal die Adresse hatte geben lassen. Für seine Offerten-Kartei. Wahnsinn! Die suchen eine Wohnung hier, melden sich bei ihm, und er läßt sich nicht einmal die Adresse geben. Unglaublich. Ja, was
denn noch, bitte! Jetzt war auch noch der Name weg. Jetzt konnte er nicht einmal über die Telephonauskunft an die Adresse kommen. Wie hießen denn die? Das gibt's doch nicht. Bei seinem Gedächtnis! Er mußte das laut vor sich hinsagen. Anna war ohnehin noch wach. Er sagte ihr den Grund seiner Unruhe. Das kann 15 000 Mark ausmachen, Anna. Anna sagte, er solle doch einfach den ersten Buchstaben sagen. Ohne daß er wußte, warum, bildeten seine Lippen unter der ruhigen Kraft von Annas Aufforderung nach kurzem Tasten ein F. Er hängte probeweise alle fünf Vokale an das F. Nach dem fünften Vokal sagte Anna genauso ruhig: Fichte. Ja, rief er, Anna, ja! Ob du's glaubst oder nicht, das stimmt, das ist der Name, Erich Fichte. Hei-jei-jei, Anna, das war wieder sehr gut von dir. Jetzt tu' doch nicht so, sagte Anna. Und nach einiger Zeit: Es ist doch deine Schuld, wenn du mich nicht öfter als Medium benutzt. Er werde jetzt einmal feststellen, wie oft sie das könne, sagte er. Das letzte Mal hast du es im Juni gekonnt, in München, als wir, auf dem Weg in den Biergarten, auf der Straße den Krach hatten, weil du immer noch in ein weiteres Geschäft rennen mußtest, obwohl Regina und ich vor Müdigkeit und Hunger schier umkamen und dir davonliefen und uns in den Biergarten setzten und aßen und tranken, und du kamst und kamst nicht, so daß wir schließlich zahlten und auf dem Weg, auf dem wir gekommen waren, zurückgingen, dich nirgends mehr trafen, aber als wir dann nach einer weiteren Stunde in den riesigen Biergarten zurückkamen, sitzt du unter 100 Tischen genau an dem Tisch, an dem wir vorher gesessen waren, und nicht auf dem Stuhl, auf dem Regina, und nicht auf dem, auf dem ich gesessen hatte, sondern auf dem Stuhl rechts von meinem Stuhl, auf dem du auch gesessen hättest, wenn wir zusammen hingegangen wären. Sie sagte nichts. Er suchte ihre Schläfe und küßte sie da hin. Als er sich wieder in sein Bett zurückzog, versuchte sie nicht, ihn zurückzuhalten. Wenn er mit Anna irgendwohin fuhr, kam er meistens zu spät. Also auch zur Versteigerung. Gerade, daß sie sich noch über die Schwelle des blauen Damenzimmers drängen konnten, in dem versteigert wurde. An den Wänden standen Sofas und Sessel. Gottlieb nötigte Anna, wenn der Auktionator etwas besonders Interessantes ausrief, auf ein zierliches Sesselchen, damit sie das Ausgerufene sehe. Einen Posten, Jugendstilschale mit diversem Zeug, Zuckerzange, Serviettenring etcetera, ersteigerte er für 75 Mark, ohne es genauer zu sehen. Er wurde sehr schnell gierig. Als er zum ersten Mal den Zuschlag erhalten hatte und seinen Namen über die Leute hinrufen mußte, drehte sich dicht vor ihnen eine Frau um und grüßte: es war Frau Schneider. Sie sei mit zwei Freundinnen da, die mit ihren Familien in Nonnenhorn Ferien machten. Obwohl sie hastig gesprochen hatte, als spräche sie aus einem abfahrenden Zug, wurde sie von einer Freundin, die offenbar weggelaufen war, um bei den im Cafe sitzenden Männern weiteres Geld zu holen, unterbrochen. Da, Suse, sagte die Freundin, 500, das muß reichen. Die dritte, die der Versteigerung unbeirrbar folgte, zischelte schräg herüber, ohne den Blick von den vorne vom Auktionator hochgestreckten Appliquen zu nehmen: Des send se, die hab i in meim Schlafzimmer, die kaasch nehme, die send schö', die andere mit de Blume send kitschig, abr die net, des send genau die, wo i en meim Schlafzimmer hab. Frau Schneider steigerte mit, aber sie kriegte die Leuchter nicht. Die Freundin zischte: Du musch dich wehre, Suse, net so zimperlich. In der Mitte der Menge schrie ein kleines Kind; Herr Kant, der Auktionator, rief: Könn' Se ihm nich die Brust geben, daß es still is. Und ohne Atemholen weiter: Vierbahnige Korallenkette, 33, 36, 37, 38, 40, also wenn ich von Mark zu Mark gehe, das könn' Se sich merken, dann will ich nich' viel, 51 zum ersten, zweiten, und dritten, ein Kreuz, man hat mir gesagt, die fehlenden Smaragde könn' Se in Pforzheim kriegen, ein Weihwasser-Terracotta plus Kruzifix-Relief, die Weihwasserschale darunter als Mädchenkopf ausgebildet, schätze italienisch . . . Eine unverkennbar feste Männerstimme, offenbar aus der
ersten Reihe, korrigierte souverän: Südtirol. Paul Schatz! Gottlieb merkte, wie er sofort unter den Armen zu schwitzen begann. In der ersten Reihe standen auch ein paar Antiquitäten-Händler; die kauften das meiste; einer nahm das Südtirolische. Für 110. Und gleich auch die rotgoldene Emailleschale gefüllt mit Mineralien. Für 75. Und das Postkartenalbum, reichend von 1909 bis 1925. Herr Kant liest Grüße vor aus Manila, San Francisco, Panamaribo. Für 95. Ein anderer Händler — junger Riese mit einer bairisch-getönten Mädchenstimme und klassischer Beatlefrisur — nimmt Stöße alter Bilder — Herr Kant lobt die Rahmen — für 110. Ein Scherenschnitt von Weißferdl kriegen die Händler nur gegen den Widerstand einer Frau. Als sie aufgeben muß, sagt sie: Schade, das ist doch mein Onkel. Frau Kant, die er Jakobine ruft, und eine Mitarbeiterin Olga schleppen aus dem Nebenraum eins ums andere herbei. Die Teppiche kommen dran. Weil von hinten bemängelt wird, daß man die zu wenig sehe, steigt vorne ein Mann auf ein Tischchen und läßt sich von den Frauen die Teppiche reichen und hält sie in die Höhe. Gottlieb hätte bald gerufen: Eberhärdle. Er war es. Grinsend wie früher an der Tafel, wenn er seine Formelketten genial hingefuchtelt hatte. Die schwarze fettige Locke hing ihm jetzt genauso in die runde glänzende Stirn wie damals. Sogar ein paar Pickel hatten sich erhalten. Er erzielte einen großen Lacherfolg, als er den ersten Teppich, nachdem der Zuschlag erteilt worden war, umdrehte und so zeigte, daß der Teppich auf der anderen Seite nur noch ein Lumpen war. Ob der vorher bemerkt hatte, daß der Dr. Zürn, der die Zuckerzangen etcetera ersteigert hatte, sein Schulfreund Gottlieb war? Gottlieb genierte sich. Aber Anna war ihm näher. Und Anna wollte etwas mit heimbringen. Und er auch. Hätte Eberhärdle dafür gesorgt, daß Gottlieb den Auftrag gekriegt hätte! Hätte er sich nicht entmündigen lassen! Überhaupt, es muß weitergehen! Jetzt sind Zürns dran, liebes Eberhärdle! Damals, als ihr Kammerkonzerte veranstaltet habt in diesem Haus, sind die Zürns und Ehrles und Völkles und Krezdorns und andere Verwandtschaften in Rußland und sonstwo verreckt. Und noch früher, als die Regimentsmusik der Lindauer Garnison hier aufzog zur Garnierung der Feste dieses Hauses, da dienten sich Gottliebs und Annas Vorfahren in unbarmherzigen Verhältnissen krumm und krank oder lagen vor Verdun und blieben dort liegen oder kamen wie sein Vater kaputt zurück. Also nichts für ungut, Eberhärdle, daß wir dich so ausweiden. Es erinnert dich sicher an Szenen aus Tierfilmen, in denen man sieht, wie in'der Wildnis viele Kleinere endlich was Größeres wegputzen und dabei noch untereinander auf das Unanständigste in Streit geraten. Dieser Streit folgte sozusagen auf dem Fuße. Ein Empire-Stuhl war für 400 Mark an eine Frau Feuerstein gegangen, die nicht selber steigerte, sondern Schaden-Maier für sich bieten ließ. Der war offenbar ihr Echtheitsberater. Gottlieb hatte die martialische Stimme sofort erkannt. E,r schien ein Routinier zu sein; er kriegte alles, was er wollte. Und jedesmal rief er nach dem und zum dritten des Auktionators für die nachherige Abrechnung: Frau Feuerstein. Dieser Name, den er immer ganz triumphal ausrief, lautete in Schaden-Maiers Schwäbisch Foierschdein. Des öfteren überbot er auch Paul Schatz, der sich zwei-, dreimal dafür bedankte, daß er überboten worden war. Ach ja, die souren Trouben, nicht wahr, rief dann, tenorschwäbisch, der Schaden-Maier. Aber als dem Schaden-Maier der gewaltige Empire-Stuhl zugeschlagen wurde, erhob Schatz Einspruch. Er habe den Arm noch in der Höhe gehabt. Vielleicht hatten Herrn Kant die Schatz-schen Kommentare geärgert und er hatte das Schatz-Gebot gern übersehen. Aber er hatte sich als Auktionator offenbar angewöhnen müssen, seine Entscheidungen in Versteigerungsfragen für unfehlbar zu halten. Deshalb übersah er Schatzens Protest und notierte in seine Kladde das triumphal gerufene Frau Feuerstein. Da blieb Paul Schatz nur noch übrig auszurufen: Wenigstens ist er nicht echt. Jetzt mußte Kant
sich stellen. Er rief: Auf jeden Fall 19. Jahrhundert, legen Sie mich nicht fest auf 1820. Paul Schatz, der sich offenbar gern auf diesem thronartigen Stuhl gesehen hätte, zu Schaden-Maier: Ich nahm' ihn trotzdem. Darauf Schaden-Maier: Vierhundertundfünfzig! Gekauft, sagte Schatz. Jetzt mischte sich Frau Feuerstein ein und rief empört: Ich hab drei Wohnungen, gelletse. Großes Gelächter. Das ertrug Frau Feuerstein nicht. Herr Maier sei von ihr nur zum Kauf, nicht aber zum Verkauf ermächtigt. Sie hatte keinen Sinn für den Triumph, den der Schaden-Maier gerade über Paul Schatz erzielt hatte, als der etwas aus Schaden-Maiers Hand erwerben mußte, was er, als er es gegen ihn erwerben wollte, nicht gekriegt hatte. Jetzt konnte Paul Schatz agieren: Bitte, wenn Herr Maier seine Kompetenz überschritten hat, ist er gerne bereit, der gnädigen Frau den Stuhl wieder zurückzugeben. Der SchadenMaier rief: Nur über meine Leiche. Dann redete er auf Frau Feuerstein ein. Sie sah man nicht, weil sie in der ersten Reihe saß. Dieser Stuhl sei so sicher nur eine Empire-Nachahmung aus altdeutschem Geist, wie er ein Urenkel Uhlands sei. Er rate dringend, Herrn Schatz im Besitz dieser Fälschung zu lassen und die 50 Mark Reingewinn zu kassieren. Herr Kant beendete das Gezerfe, indem er eine LouisXVI.-Kommode, beschädigt, für 2400 ausrief. Jetzt revanchierte sich Schatz. Er gab dem Schaden-Maier keine Chance. Der Antik-Schrank, Hartholz, mit Einlegearbeiten ging, für 15 000, auch an ihn. Der Bauernschrank mit Altbemalung, für 3000, ging an den schönen Pilzkopf. Ein Louis-XVI.-Stuhl, für 750, an Paul Schatz. Der SchadenMaier bot zwar immer mit, aber Paul Schatz kriegte den Zuschlag. Der SchadenMaier stieß dann schrill Hohnlaute aus. Jetzt langt'r aabr nei, gelletse, rief er und alle lachten. Vorne eine strenge Stimme zu Paul Schatz: Sie müssen aber auch alles haben. Ich hab auch drei geschiedene Frauen, rief Paul Schatz fröhlich und hatte damit den größten Lacherfolg. Die Leute glaubten wahrscheinlich, da sie nicht wußten, daß Paul Schatz wirklich zum vierten Mal verheiratet war, er wolle Frau Feuerstein mit ihren drei Wohnungen parodieren. Jetzt kamen die Lampen dran. Gottlieb hob Anna sofort wieder auf das Sesselchen. Einen Barockleuchter, für 390, kriegte er. Zwei kleine Lampen auf Biedermeier-Sockeln, für 200, kriegte er auch. Zwei Lampen aus Alabaster nahm ihm der Händler mit der Mädchenstimme ab. Dann kam eine Jugendstil-Lampe. Hauptsächlich eine nackte, ekstatisch gebogene Frauenfigur, die den flachen Lampenschirm auf ihren Händen trägt. Sie streckt und biegt den Kopf ganz nach hinten, dadurch soll die Hingabe, mit der sie die Lampe darbietet, rasant wirken. Gottlieb stieg sofort wieder ein. Da er schon mehrere Kerzenständer, Appliquen und Lampen ersteigert hatte, schaute Herr Kant zu Gottlieb her. Er konnte einen ja, wenn er wollte, auch übersehen. Gottlieb sah, daß Anna diese Lampe wollte. Solche Frauen liegen ihr, dachte Gottlieb, Jugendstilfrauen. Aber vielleicht waren die gar nicht so. Ganz sicher waren die nicht so. Aber man hatte damals Sehnsucht nach solchen Frauen. Oder nur damals wagte man zu gestehen, wie man sich eine Frau wünscht. Ach nein. Man gesteht das heute auch. Damals kam die nicht enden könnende Innigkeit heraus. Da man annehmen muß, daß Frauenbilder mit Frauen fast nichts, aber viel mit den sie entwerfenden Männern zu tun haben, war ihm der Jugenstil-mann lieber als der jetzige. Er hoffte, er wäre damals besser weggekommen. Ab tausend Mark bot außer Paul Schatz und Gottlieb Zürn niemand mehr mit. Sie rasten die Zahlentreppe hinauf, die Herr Kant ihnen durch flinke Zurufe schuf. Bei 1500 spürte Gottlieb Annas Hand an seiner Schulter. Aber er konnte nicht halten. Er hatte das Gefühl, die Lampenfigur erwarte von ihm, daß er sie nicht in die Hände von Paul Schatz fallen lasse. Bei 2000 boxte ihn Anna in die Schulter. Bei 2500 zwickte sie ihn und zwickte ihn immer fester, bis er, weil ihm plötzlich klar wurde, daß Paul Schatz es bis zu Gottliebs Vernichtung treiben konnte, die Hand bei 2950 fallen ließ; das Publikum atmete aus. Paul Schatz
sagte Herrn Kant rituell seinen Namen. Jakobine trug die Jugendstilfrau zu dem, was Schatz schon ersteigert hatte. Der Schaden-Maier rief über alle Köpfe zurück: Gut gemacht, Gottlieb! Gratuliere! Und weil er mit seinem Tenor plus Schwäbisch plus Temperament auch in den kürzesten Satz etwas spielerisch Martialisches brachte, lachten die Leute wieder. Paul Schatz war der Sieger, aber jetzt auch der Blamierte. Da der Schaden-Maier sich auf dieser Auktion schon als Kenner eingeführt hatte, konnte sein Zuruf nur bedeuten, Gottlieb habe Paul Schatz mutwillig hochgetrieben und sei dann wie beim Poker rechtzeitig ausgestiegen, so daß Paul Schatz die Lampe viel zu teuer zahlen mußte. Gottlieb war das nicht recht. Jetzt hatte er nicht nur die Lampe nicht, sondern hatte auch noch Paul Schatzens Zorn erregt. Wenn der glaubte, Gottlieb habe ihn mutwillig hereingelegt, mußte er wütend sein. Gottlieb hätte auf Schaden-Maiers Zuruf sofort antworten müssen, daß er die Lampe wirklich gern gehabt hätte. Aber die Antwort hätte auch irgendeinen Witz enthalten müssen. Und so was fiel ihm vor so vielen Leuten nicht sofort ein, deshalb sagte er lieber nichts. Dieser Schaden-Maier! So was von einem Depp! Hatte der ihn schon wieder in eine Position gegen Schatz geschubst. Und er, der Depp aller Deppen, hatte sich schubsen lassen. Vorne sagte Kants Stimme ein Bild von David Teniers an. Wir sehen ein Bild, sagte Kant, frühes 17. Jahrhundert, Felslandschaft mit Wolken, im Hintergrund Schafe mit einem Hirten, im Mittelgrund eine Zigeunerin, die einem Landmann aus der Hand liest, hoffentlich was Schönes, 15 000. Das kriegte ein Händler so prompt, daß es aussah wie Schiebung. Jakobine und Olga schleppten schon das nächste Bild herein. Im Prunkrahmen, fast in Lebensgröße, Frau Bansin. Nackte Schultern, ein blaßrotes Kleid, vielleicht Batist. Eberhärdle hatte seine runde Stirn von ihr. Ein Bein — das Bild reichte nicht ganz bis zu den Knien - hatte sie vorgestellt. Dies und der maßnehmende Blick und die Lippen, die schon die kreuzschnabelartige Schürzung zeigten, die später aussah, als wollten Ober- und Unterlippe an einander vorbei, gaben Frau Bansin ein brillantes, unternehmungslustiges Aussehen. Herr Kant murmelte kurz herunter, das sei die Dame des Hauses, Maler Fiete von Loßwitz, 110 sind geboten — und blitzschnell, also ununterbrechbar — zum erstenzweitenunddritten. Und sagte auch selber den Namen dazu: Berta Fiegle. Jakobine und Olga hatten das Bild schon weggestellt und trugen zwei Pelzmäntel herein. Einen Nerz und einen Persianer. Aber bevor Herr Kant seine Zahlen anlaufen lassen konnte, sagte vorne Frau Feuerstein: Noi, des duom'r it. Jetzt lond doch dera arme Frau au no ebbes. Jene nach strengem Beamten klingende Stimme darauf: Sie sind eine dumme Schwätzerin. Herr Kant hatte schon wieder Luft geholt, da fuhr Paul Schatz dazwischen. Schon im ersten Satz kam fürwahr vor. Er machte sich Frau Feuersteins Einwand ganz zu eigen. Nicht um Frau Feuerstein zu flattieren — sie habe zwar so viele Wohnungen wie er geschiedene Frauen —, nein, er denke an Frau Bansin, die er nur vom Hörensagen kenne, deren Schicksale ihm zu Herzen gingen. Er habe gehört, daß Frau Bansin ihre letzten Jahre im Allgäu verbringen werde, was, außer Spazierengehen, könnte sie dort tun? Und acht Monate sei es dort kalt. Also würde ihr, wer ihr die Mäntel nähme, das einzige nehmen, was dort das Leben noch lebenswert mache. Beifall. Paul Schatz war der Held. Herr Kant sagte: Ick will ihr nischt Böses nich zufüjen. Eberhärdle trug die Mäntel seiner Mutter ins Nebenzimmer zurück. Dabei rief er: Wie ich meine Mutter kenne, wäre ihr Geld lieber gewesen, aber bitte. Einige lachten. Um ein Uhr hörte Kant auf. In einer Stunde gehe es weiter. Gottlieb drängte sich durch die Hinausströmenden, vermied den Schaden-Maier und Paul Schatz und lud Eberhärdle zum Mittagessen ein. Der freute sich über's ganze Gesicht, als er Gottlieb sah. Er sprach das Honoratiorenschwäbisch seiner Mutter. Sein pommerscher Vater hatte sich lautlich nicht ausgewirkt. Er holte seinen Basset, der im Nebenzimmer auf
einem seidigen Kissen lag. Auf dem Weg fragte Gottlieb, wie Eberhärdle mit der Versteigerung zufrieden sei. Eberhärdle blieb stehen, drehte sich ganz zu Gottlieb und sagte, er sei glücklich, weil alles ein ganz offener Schwindel sei. Der Auktionator versuche zum Glück nicht, so zu tun, als sei es eine Versteigerung. Es sei ja sowieso nur noch das, was die Banken und Rechtsanwälte dem Pöbel übriggelassen hätten. Und jetzt so zu tun, als werde ernsthaft versteigert, hätte er degoutant gefunden. Diese lustige Verschleuderung dagegen finde er gut. Am besten sei doch gewesen, wie dieser Kant Berta das Bild der Mutter zugeschanzt habe. Dieser Kant habe einfach Sinn für Pointen. Gottlieb kenne doch Berta noch, Berta Fiegle, die über 30 Jahre Köchin war im Haus und die über 30 Jahre lang gesagt habe, sie halte es bei Frau Bansin keine Woche länger aus. Und jetzt gibt sie 110 Mark für das Bild ihrer Quälerin aus. Seine Mutter sei für das Küchenpersonal ein Horror gewesen, weil sie vom Kochen überhaupt nichts verstanden, aber, um das zu kaschieren, um so impertinenter dreingeredet habe. Aber Anna, wie denn das komme, daß Anna noch ausseh' wie früher. Er kapiere das nicht. Einerseits sehe sie noch aus wie damals, als Eberhard und sie zum selben Klavierlehrer gegangen seien und Eberhard immer eine halbe Stunde früher gekommen sei, um noch zu hören, wie Meister Eisele mit seiner Lieblingsschülerin vierhändig spiele, andererseits sei seitdem unleugbar Zeit vergangen. Anna sagte, das könne sie ihn genausogut fragen, da er immer noch aussehe, als müsse er sich jetzt bald zum ersten Mal rasieren. Gottlieb sagte, er habe Anna auch nur durch das Aneinandervorbeigehen und Nichtgrüßen im dunkelgrünen Gang zur Tür des Unterrichtszimmers kennengelernt. Eberhard war offenbar schrecklich überrascht worden, als er dann Anna mit Gottlieb im Theater in Lindau gesehen hatte. Sofort habe er aufgegeben. Er habe von diesem Tag an das Gefühl gehabt, er müsse zu Gottlieb furchtbar nett sein, dann werde der sicher bei Anna gut über ihn reden, dann werde Anna ihn dafür auch ein bißchen lieber mögen. Gottlieb mußte, da die Stunde fast vorbei war, ganz direkt fragen, ob Eberhard eine Chance sehe für Gottlieb. Eberhard merkte, warum Gottlieb ihn zum Essen eingeladen hatte. Gottlieb mußte also sagen: Glaub nicht, ich hätte dich deshalb zum Essen eingeladen, es fiel mir nur jetzt gerade ein, dich zu fragen, wie du mit Tante Hortense stehst. Die hat doch jetzt alles in der Hand. Eberhard sagte, alles in der Hand hätten die Rechtsanwälte, und die gäben dem alles, der sie am meisten schmiere. Das ist ja klar, sagte er dann so, als sei das das Vernünftigste. Weil Gottlieb erstaunt schaute, sagte er, das sei doch egal, wer jetzt den Haufen Geld bekomme, das Finanzamt, die Banken, die Leistles oder die Rechtsanwälte, wichtig sei nur, daß viel bezahlt werde, weil nur dadurch das ganze Anwesen seine Würde wiedergewinne. Die, die das Geld letzten Endes in Empfang zu nehmen hätten, seien eher die Opfer als die Nutznießer dieses Prozesses. Die müßten sich, um den hohen Wert dieses Anwesens zur Erscheinung zu bringen, als Habgierige gerieren. Vielleicht seien sie es auch geworden. Die Rechtsanwälte sicher. Die seien am bedauernswertesten, die Rechtsanwälte. Die fräßen sich krank an diesem Handel, keiner von denen könne sich moralisch je wieder davon erholen. Es sieht aus wie ein Glück, wirkt wie eine Krankheit, ist aber eine Auszeichnung. Sie sind auserwählt, unsere Ehre wiederherzustellen. Daß das in dieser Gesellschaft über den Preis läuft, fordert eben seine Opfer. Gottlieb fragte, wie er zu Tante Hortense stehe. Die sei seit vorgestern hier, habe er von Herrn Dummler erfahren. Wo sie wohne? Er habe nicht gefragt. Aber sie komme, laut Dummler, täglich her, und zwar mit einem Motorboot. Er wolle sie nicht sehen, sie ihn auch nicht. Sie sei ja auch ein Opfer. Er sei sozusagen auf ihre moralischen Kosten fein heraus. Er könne leicht sagen: seht her, meine Hände bleiben rein. Aber sie und die Rechtsanwälte müßten sich beschmutzen. Ärgernis muß kommen, aber wehe dem, durch den es kommt.
Wenn George, der Basset, nicht unruhig geworden wäre, wären sie wahrscheinlich überhaupt nicht mehr weggekommen. Zu spät waren sie ohnehin dran. Eberhard drängte sich rücksichtslos durch die Leute durch, dabei rief er unter ungeheuren Armbewegungen ein ums andere Mal: Achtung, Achtung, zur Seite, der Sohn des Hauses, sein Lieblingstier und seine letzten Freunde. Gottlieb und Anna war das peinlich. Sie blieben stehen. Aber Eberhard drängte sich wieder nach hinten durch, rief: Achtung, Achtung, zur Seite, der Sohn des Hauses holt seine Freunde. Dann wieder in der Gegenrichtung: Achtung, Achtung, zur Seite, der Sohn des Hauses, sein Lieblingstier und seine letzten Freunde. So peinlich es war, Gottlieb und Anna mußten folgen, sonst hätte sich Eberhard noch mehr erregt. Erregt war er, das spürte jeder; auf eine furchtbare und unverständliche Weise erregt. Vielleicht wie ein Kind, das ein Holzschwert schwingt und Herodes spielt und gänzlich vergißt, daß es ein Kind ist. Anna und Gottlieb kamen bis in die erste Reihe. Gottlieb wagte Paul Schatz nur mit ein bißchen Kopfnicken zu grüßen, aber der streckte sofort die Hand her, drückte Annas Hand, Gottliebs Hand, lachte, als habe man sich hier zu einer lustigen Verschwörung getroffen. Gottlieb war sofort wieder hingerissen von diesem Mann. Was für ein Kerl. Diese Gesichtsfestigkeit. Wie Nase und Kinn einen Schwung anstreben, der so zwingend ist, daß man andauernd an die Stelle starren müßte, wo sie sich eigentlich treffen sollten. Dieser Mann ist großzügig. Der läßt sich doch nicht von einem bleichen, schwitzenden und dröhnenden Schaden-Maier provozieren. Braungebrannt und gut gelaunt stand Schatz in seinem altmodisch blauweißgestreiften Anzug, zu dem er eine blaßblaue Weste trug. Der Anzug schien gemacht, um an Matrosenanzüge der Kindheit zu erinnern. Gottlieb mußte sich beherrschen, sonst hätte er unentwegt Paul Schatz angestarrt. Der sah doch wirklich selber schon aus wie ein Kunstwerk. Wenn ein Kunstwerk etwas ist, wo eine Partie die andere steigert. Der war doch nicht krank. Niemals. Der hätte sich den Flug nach Wien sparen können. Wahrscheinlich wieder nur so ein Gerücht. Das gehörte auch zu ihm. Auf Schritt und Tritt — wo er hintrat, sozusagen — sprießten die Gerüchte. Das war einfach seine Fruchtbarkeit. Gottlieb war jetzt doch froh, durch die Sohndes-Hauses-Fanfare in diesem Versteigerungspublikum eine Art Ansehen bekommen zu haben. Gottlieb und Anna boten am Nachmittag nicht mehr mit. Die drei Händler, der Schaden-Maier für Frau Feuerstein und Paul Schatz für seine drei Frauen, steigerten das meiste. Als Paul Schatz gegen den mädchenhaften Händler ein kleines Elfenbeinding ersteigert hatte, von dem Herr Kant gesagt hatte, es sei ein erotisches Netsuke in Form einer Frucht — eine ovale Öffnung biete Einblick in das Innere mit kopulierendem Paar—, da sagte der beamtenhaft Strenge in der ersten Reihe: Das ist aber für die vierte Frau. Als man bezahlt hatte und alle ihre Beute zu den Autos schleppten, kam es noch zu Bereinigungen. Frau Feuerstein beschimpfte Schaden-Maier, weil er nur einen der beiden weißen Lehnstühle mit roter Polsterung erworben hatte. Schaden-Maier sagte, die Lehne des anderen habe einen Sprung gehabt. Sie will ihn trotzdem. Schaden-Maier rannte der jungen Frau nach, die den Stuhl gerade verlud. Er deutete auf den Sprung, redete, zahlte, brachte den Stuhl. Die junge Frau hatte jetzt nichts mehr. Frau Feuerstein war selig. Sie umarmte Schaden-Maier. Das sah gefährlich aus, weil sie mindestens fünfundsiebzig war und, total abgemagert, am Stock gehen mußte, offenbar eines Holzbeines wegen. Sie trug eine weiße Hose und um den fleckigen Hals aus leerer Haut eine lange schlangenleibartige Goldkette. Ihre künstlichen Zähne standen, weil ihre Kiefer vorgewölbt waren, vor dem Gesicht. Homerisch, dachte Gottlieb. Der Schaden-Maier machte sie mit Zürns bekannt. Als sie hörte, daß Gottlieb Makler sei, sagte sie: Nei, nei, nix da, i hab' Woh-nunge g'nug, komme Se, Maier, mir misse fahre. Der Schaden-Maier warf Gottlieb einen um Verständnis
werbenden Blick zu und rief noch, der Barockleuchter, den Gottlieb gekauft habe, sei echt, alle anderen seien Imitationen. Gottlieb tat, als sei das wohl klar. Eine der Freundinnen von Frau Schneider schimpfte laut auf Herrn Kant, weil er keinen Tesafilm hatte, mit dem sie die losen Delfter Kacheln für den Transport auf den Couchtisch kleben konnte. Herr Kant wunderte sich darüber, daß jemand erwartete, ein Auktionator habe Tesafilm dabei. Er sagte, ein dickes Bündel Blätter schwenkend, er werde sich jetzt 14 Tage mit diesen Papieren an die Ostsee begeben, daß er wieder klar komme. Los, Olga, auf, Jakobine! Etz luag bloß dän Schnalletrieber aa, sagte Jakobine und nahm die Stahlkassette an die Brust. Er nahm das Papierbündel, Olga den kleinen goldenen Reisewecker von 1926, den er ihr in einem Satz, ohne ein Gegengebot zuzulassen, für 70 Mark zugeschlagen hatte. Wenn man die Leute mit ihren Bildern, Stühlen, Ministrantenglöckchen, Altardecken, Tempelhunden, Teppichen, Sofas, Kommoden usw. vorbeihasten sah, wußte man, daß in der Nähe ein Unglück geschehen sein mußte. Zürns hatten ergattert 3 Lampen, 4 Appliquen, 2 Sesselchen, 2 Beistelltischchen, 1 Stuhl, 1 Schöpflöffel, 1 Schale mit silbernem Zeug drin, 1 Schweinslederkoffer, 1 Früchtekörbchen aus Porzellan (leicht beschädigt). Alles zusammen 2110. Als sie im Auto tatsächlich alles untergebracht hatten, starrten die Stuhl- und Tischbeine links und rechts aus den Fenstern, sie würden kaum mehr hineinkommen. Sie hatten sich an einem Raubzug beteiligt, das spürte er. Aber als, zum Beispiel, die Wikinger oder die Engländer ihre Raubzüge veranstalteten, fühlten sie sich auch im Recht. Er war auch im Recht. Aber ja. Das einzige, was ihm leid tat, daß er nicht noch viel mehr ersteigert hatte. Er war gespannt, ob er die nackte Frau, die den Kopf nach hinten biegt und die Lampe herstreckt, je vergessen werde. Als sie schon fast alles verladen hatten, kam noch Dionys Dummler mit dem jetzt ganz ihm anvertrauten Bubi. Er zog ihn an einem Strick mit sich. Schee sind die Sacha scho, sagte Dionys, wemma bloß wüßt, wo ma's na-stelle sollt. Gottlieb hatte ihm wie immer die Plastiktüten mit den zwei Flaschen überreicht. Also Gottlieb, des war' doch nicht nötig g'wese. Gottlieb fragte: Wie geht's dem Schwan? Dionys sagte, jetzt hab' er schon zwei, der zweite sei braver, den hab' es bös' erwischt, der sei in eine Schiffsschraube gekommen. Aber ob es Gottlieb glaub' oder nicht, seit der so elend bei dem Wildling drinliege, sei der Wildling bloß noch halb so wild. Gottlieb erinnerte Dionys noch einmal daran, daß er morgen vormittag komme. Er ging ganz nah zu Dionys hin und sagte leise: Ich muß wissen, was die da kuppeln, Dionys, verstehst du das. Dionys sagte: Gottlieb, da gibt es nix, auf mich kannst du dich verlassen. Im Hinausfahren überholte er Berta Fiegle, die mit einer noch älteren Frau das Ölbild fortschleppte. Auf der Dorfstraße fuhr vor ihnen Schatzens dunkelblauer Dreihunderter; am Steuer, Oswin, der auch aus dem Balkan stammende Schatz-Chauffeur. Ob die die Jugendstildame gleich mitgenommen hatten? Dem Dreihunderter sah man nicht an, woher er kam. Als sie die ewig überfüllte Bundesstraße erreichten, sah Gottlieb, daß in der vorbeirasenden Autokette, bis sie an der Einmündung sein würden, eine Lücke zu erwarten war, die man nutzen mußte. 100 Meter weiter näherte sich schon der nächste Pulk, der einen wieder zum Warten zwingen würde. Also behielt er den heranrasenden Pulk im Auge und drückte das Gaspedal durch, um hinter dem Schatz-Auto auch noch von dieser Lücke zu profitieren. Aber Oswin, bekannt als Gemütsmensch, hatte anders entschieden. Gottlieb fuhr ungemildert auf den Dreihunderter drauf. Das schwere Schatz-Auto wurde zwei Meter in die Bundesstraße hineingestoßen. Aber die Lücke war wirklich so groß gewesen, daß der nächste Pulk sich noch ganz auf dieses Verkehrshindernis einstellen konnte. Vorne passierte also nichts mehr. Gottlieb ließ seinen Kopf sinken. Er wollte sich jetzt endgültig nie mehr bewegen. Er spürte eine Tischkante im Nacken. Anna hing unter einem Stuhl. Da Anna und Gottlieb
angeschnallt waren, waren die Möbel auf sie aufgeprallt. Gehört hatte er nichts. War er bewußtlos gewesen? So ein Aufprall konnte doch nicht lautlos vor sich gehen. Er sah Oswin und Paul Schatz herankommen. Beide schienen heiter zu sein. Der Kofferraumdeckel des Dreihunderters war aufgesprungen. Paul Schatz schaute hinein und holte Teile der Jugendstilfrau heraus. Er brachte einen Torso mit zurückgebogenem Kopf und einem ausgestreckten Arm, an dem die Hand fehlte. Der Leib war in der Taille gebrochen. Jetzt können wir uns die Schöne teilen, sagte er und reichte Gottlieb die Hälfte. Gottlieb dachte an den Schatz-Satz, daß man aus Frau Reinhold zwei Wagner-Sängerinnen machen könne. Es war, als wolle Schatz ihn beschämen. Gottlieb konnte überhaupt nicht reagieren. Er nahm alles bloß wahr. Schatz sah, daß es offenbar Zürns nicht so gutging wie ihm und Oswin. Er winkte Oswin her. Sie öffneten die Türen an Zürns Auto und halfen Gottlieb und Anna aus den Möbeln. Oswin holte sein Unfall-Dreieck und stellte es hinter Zürns Auto auf die Straße. Gottlieb konnte nur immer Paul Schatz und Oswin anschauen. Ein paar Mal deutete er auf die Bundesstraße, auf die Einfahrt, auf die zwei kaputten Autos. Er wollte sagen: Oswin, Herr Schatz, da wäre doch soviel Gelegenheit zum Einbiegen gewesen, warum sind Sie denn nicht... Er sah, daß aus seinem Auto das Kühlwasser ausgelaufen war. Er wollte sehen, wieviel da drin kaputt war. Als er unter die zerbeulte Kühlerhaube griff, um die Sperre zu lösen, griff er voll in eine Schneide. Seine Hand blutete heftig. Sobald Anna Gottliebs Blut sah, schien sie wieder zu erwachen. Oswin holte in seinem Kofferraum Verbandszeug. Anna verband Gottlieb die zwei zerschnittenen Finger. Gottlieb ging in eines der neuen Häuser in der Nähe. Da wohnten — darauf zählte er — Leute, die zu seiner Zeit noch nicht in Mitten gewohnt hatten, ihn also nicht kannten. Er bat, den Abschleppdienst anrufen zu dürfen. Der Mann, in ledernen Bundhosen, dressierte neben dem Haus einen jungen Schäferhund, der, ungehorsam wie er noch war, Gottlieb anfiel. Gottlieb wehrte sich nicht. Der Mann schaute zu, wie weit es sein Hund treiben wollte. Dann brüllte er ihn an, daß der Hund sofort den Boden suchte. Als Gottlieb zurückkam, hatte Paul Schatz mit Anna besprochen, daß Anna und Gottlieb mit ihm führen. Der Dreihunderter hatte zwar ein eingeknicktes Heck, aber er fuhr noch. Die Schadensregulierung überlassen wir unseren Büros, sagte Schatz. Hauptsache, wir sind heil. Gottlieb weigerte sich, sein Auto zu verlassen. Er konnte nur abwinken, den Kopf schütteln. Zuletzt begnügte sich Paul Schatz mit Anna. Er würde sie zu Regina bringen, etwas in Friedrichshafen erledigen und sie dann mit nach Überlingen nehmen. Gottlieb war froh, als die fort waren. Paul Schatzens Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft peinigten ihn. Er hätte weinen können vor Unglücksglück. Endlich kam Rupert Schobloch, der Gottlieb schon vor zwei Jahren abgeschleppt hatte. So, Herr Doktor, haben Sie jetzt wenigstens eine Kasko? Gottlieb schüttelte den Kopf. Schobloch sagte: Sie sind mir einer. 7000 sind das auch diesmal. Gottlieb sagte: Niemals! Das bißchen Blech! Schobloch hob schwörend beide Hände und rief wie in großem Schmerz: Oh-je-oh-je! Ihm fehlten Finger an beiden Händen, auch konnte er nur mühsam gehen, weil ihm bei seinem Unfall ein Hüftgelenk zerschmettert worden war. Mit seinem Unfall tröstete er jeden, den er abschleppte. Er hängte Gottliebs Auto an den Haken, drückte den Knopf eines Schalters, den er an einem langen Kabel im weiten Umkreis mit sich nehmen konnte, dann zog sein Schlepper Gottliebs Auto langsam heran und lud es sich auf. Schobloch überwachte, prüfte, korrigierte. Gottlieb nahm Platz neben ihm. Man konnte fahren. Gottlieb hätte am liebsten gekichert, weil er schon wieder neben dem Fergen im Kadaverbeseitigungsroboter saß. Eroica gekichert hätte er gern. Der Abend bei Reinholds war auf jeden Fall abgespielt jetzt. Von diesem Augenblick an würde die
Unfallplatte laufen, bis ... auf weiteres. Wie leicht waren, von jetzt aus gesehen, 8811 Mark zu verschmerzen gewesen. Kurz nach Friedrichshafen kreischte der Sprechfunk. Schoblochs Frau meldete, wo in Hagnau ein Unfallfahrzeug liege. Schobloch sagte, er sei in wenigen Minuten dort. Dieses zweite Auto hängte er sich so hinten an einen Haken, daß es noch auf zwei Rädern mitfuhr. Der Fahrer dieses Autos war schon im Krankenhaus. Da sehen Sie, was Sie für ein Schwein haben, rief Schobloch. Schobloch fuhr bei Zürns vorbei, daß Gottlieb alles ausladen konnte, dann fuhren sie zu den zwei Garagen, die demolierten Autos loszuwerden, dann zu Schobloch. Rupert Schobloch redete, wie vor zwei Jahren, ununterbrochen von dem Arrangement, das er bieten könne, weil er weit und breit der einzige sei, der zwei Wagen draufnehmen könne, also die Kosten dem berechnen, für den die Versicherung zahle, vorausgesetzt, man nehme den Mietwagen von ihm. Als Gottlieb mit dem Mietauto heimkam, konnte er die Schwanenhaus-Beute besichtigen. Nichts war so zerstört wie die nackte Lampenfrau. Daß Schatz sofort daran gedacht hatte, ihm die Hälfte zu geben! Er legte das Stück nackte Frau auf das steinerne Fenstersims vor seinem Schreibtisch. So hatte er das Innigkeitsfragment immer vor Augen. Jedesmal würde er an Paul Schatz denken. Der Unfallaugenblick hatte sich eingebrannt. Für immer sozusagen schaute Gottlieb jetzt auf die Bundesstraße hinaus, sah in 70 oder 100 m Entfernung den nächsten Pulk herrasen, gab Gas und hing im Gurt, aus dem Kühler stieg dünner Rauch. 7000, sagte der Fachmann Schobloch. 7000 plus 8811 ist gleich 15 811, von Samstag bis Dienstag. Und er hatte Rosa anbrüllen wollen wegen des Parkplatzkratzers. Warum schlug ihn niemand?! Anna kam erst zwei Stunden später. Schatz läßt noch einmal grüßen. Der Unfall habe ihm gezeigt, daß man viel zu wenig Kontakt habe miteinander. Er verstehe Gottliebs Auffahren als einen Wink des Schicksals, den er, schicksalshörig wie er sei, nicht ohne positive Antwort lassen wolle. So, sagte Gottlieb. Regina, sagte Anna, wie die da drin liegt. Ganz gefleckt. Sie hat sich wieder übergeben. Die Ärztin hat zu ihr gesagt, sie soll nicht so faul im Bett liegen, sondern aufstehen. Sie hat geheult. Auf ihrem Zeichenblock habe sie ein frisches Grab gemalt. Mit Holzkreuz. Und Kranz. Vor der untergehenden Sonne. Und auf einer Kranzschleife steht ihr Name. Maria oder Mary? Mary, sagte Anna. Dann ist es nicht so schlimm, sagte Gottlieb. Anna hatte auch geheult, das sah man. Sie hatten einander wieder hineingesteigert. Aber diesmal hatte Regina nichts durch Lachen beendet. Anna sagte, länger als bis Freitag lasse sie Regina nicht da drin. Abends rief Rosa an. Sie hat einen Kliniktermin. Am nächsten Montag. Gottliebs Kopf fuhr jäh in die Höhe, so leicht war er auf einmal. Anna sagte, ihr Nacken fühle sich an, als habe sie heißes Blei drin. Sie könne den Kopf nicht mehr bewegen. Gottlieb hatte den Eindruck, das Leben tobe. 5. Wenn etwas nichts ist, ist alles nichts. Er hatte ganz sicher gewußt, warum dieser Satz, mit dem er aufgewacht war, stimmte. Jetzt sah er, daß er nie mehr auf den Punkt zurückkommen konnte, von dem aus dieser Satz unangreifbar schien. Anna lag wieder auf dem Rücken und starrte zur Decke. Bald wie Magda. Anna hatte wieder so gut wie überhaupt nicht geschlafen. Sie hatte sich Umschläge gemacht. Der Schmerz im Nacken und Hinterkopf hatte dann nachgelassen. Gottlieb ging aus dem Zimmer, als habe er darin gerade ein Verbrechen begangen. Ganz langsam ließ er sich ins herbstliche Wasser. Zum ersten Mal seit Monaten fehlte an diesem Mittwoch in seinem Inserat die Mühle. Frau Sonntag bemerkte es. Ihre Lippen flutschten von den Zähnen. Sie trug heute eine solide dunkelgrüne Bluse, die am Hals dicht schloß, war also für Gottlieb völlig
uninteressant. Andererseits freute er sich, daß sie durch ihre Kleidung genau dem Hauch von Herbstannäherung, den man selber spürte, Ausdruck gab. Die Bluse von letzter Woche wäre jetzt grotesk gewesen. Daß sie ihm zum Verkauf der Mühle gratulierte, gab ihm vollends das Gefühl, aufgenommen zu sein in einen Zusammenhang. Leider traute er sich nicht zu fragen, ob das Schwanenhaus bei JFK wieder drin sei oder ob es jetzt gar bei Schatz glänze. Er hatte, als Neuestes, eine ehemalige Hopfenhalle in Meckenbeuren anzubieten. Nicht mehr ganz frisch der Bau, aber 923 qm Lagerraum auf drei Ebenen. Er schob sein Rad langsam in Richtung Friseur. Es stand nichts mehr bevor, wobei ihn die Frischgeschorenheit gestört hätte. Als er zehn und zwölf Jahre alt gewesen war, hätte er sich in den Tagen nach dem Friseur am liebsten nur unter der Bettdecke aufgehalten. Er ging jetzt zum Friseur, um sich zu beweisen, daß er nicht mehr auf ein Gespräch mit Frau Dr. Leistle hoffte. Seit er gehört hatte, daß die mit dem Motorboot unterwegs sei, war er fast sicher, daß er sich ein falsches Bild von ihr gemacht hatte. Plötzlich hielt neben ihm der weißschwarze Monte-verdi Safari und Frau Reinhold sang ihr Guten Tag. Das Tag eine Oktave höher als das Guten. Und dann lachte sie noch höher hinauf. Wie, wo, wann, als wer oder was mußte man geboren sein, um so lachen zu können? Er möchte das Rad hinwerfen und mitfahren. Aber sie hatte ja schon den Emanzipationsgehilfen Kugelbart Giselher als ihren Fahrer. Aber warum sollte diese Frau nicht zwei Fahrer haben! Wenn ihr Mann, der Wasserkopfknabe, eine Barbi an der Hand durchs Taugras führte, dann MUSSTE diese Frau, um der Verhältnismäßigkeit willen, neben ihrem Mann zwei Männer haben. Er hätte sie liebend gern mit Giselher Kugelbart geteilt. Sie war eine Frau für zwei. Und schon fielen ihm die zwei Wagner-Sängerinnen ein, mit denen er sich alles verdorben hatte. Aber hatte er überhaupt? Die lachte doch, als sei sie, wenn sie ihn sehe, entzückt. Oder macht sie Stimmübungen? Nein, sie bedankt sich in den höchsten Tönen für den Blumenstrauß. Anna hatte es wieder einmal geschafft. Jetzt hat sie ihn nur überfallen, weil sie ihm neulich nicht gesagt hat, daß ihre Cousine, Frau Dr. Leistle, diese Woche im Hotel Bad Schachen wohnt. Er sei, falls er an der Sache noch Interesse habe, für morgen angemeldet. Zwei Uhr, im Hotel. Aber der Tip, den sie ihm eigentlich habe geben wollen: Hortense sei so geldgierig, daß man schon eher von einer Geldsucht sprechen sollte. Wer ihr eine möglichst irre Summe verspreche, dem folge sie. Wieviel sie dann kriegt, ist nicht so wichtig, da sie ja mehr als genug hat. Aber machen Sie ihr Aussicht auf eine unwahrscheinliche Summe, dann ists Hortensele wehrlos. Inzwischen hupten schon Autos. Lissi Reinhold winkte und rief ein Auf Wiedersehn über die Hofstatt hin, das den Platz eine Sekunde lang zur Opernbühne machte. Giselher erhielt Fahrbefehl. Der Monteverdi Safari zog dahin. Nudel, dachte Gottlieb und spürte, wie er Lissi Reinhold liebte. Er kehrte um. Bloß nicht zum Friseur. Zu einer Frau, die mit einem Motorboot unterwegs ist, kommt man nicht ohne Haare. Er schob sein Rad auf der Promenade heimwärts. Vor dem Faulen Pelsz , kein Schaden-Maier, kein Rudi W. Eitel. Auf den leeren Stühlen saß der Herbst. Im Augenblick hätte sich Gottlieb imstande gefühlt, zu Rudi zu sagen: Wart' bis morgen, vielleicht kann ich dir helfen. Anna sagte, Dionys habe angerufen, um Gottlieb an den Termin zu erinnern. Er legte seine Arme um Anna, zog sie vorsichtig zu sich her und hielt sie fest. Er dachte an den Moment nach dem Unfall. Anna sagte: Den Schatz hab' ich, glaub' ich, immer falsch eingeschätzt. Gottlieb dachte an die Summe, die Schobloch genannt hatte. Er ging in sein Büro, rief die Garage an und fragte nach dem Ergebnis. 7200, wenn der Rahmen nicht gestaucht sei. Zu prüfen, ob er gestaucht sei, koste 900; das nicht zu prüfen, sei, angesichts dieses Unfalls, unerlaubt. Sei der, was zu erwarten sei, gestaucht, kämen noch 15 00 dazu, also 9600, netto. Der Zeitwert des Wagens sei 10 200, eine
Reparatur also nicht mehr zu empfehlen, vielmehr biete man Dr. Zürn für das Wrack entgegenkommenderweise 3000, so daß er für 21 000 einen neuen Wagen habe. In einer Woche. Die Reparatur daure drei Wochen. Eine Zeitlang saß er und hatte das Gefühl, er verliere Blut. Er sah das Transportband, mit dem das Geld hinausbefördert wurde, Höchstgeschwindigkeit annehmen. Er sah das Leck in dem Boden seines relativen Bootes größer werden. Er mußte also, wollte er nicht untergehen, noch schneller fahren. Aber wie? Auf jetzt, nach Mitten, ins Schwanenhaus, Frau Dr. Leistle zu belauschen und Paul Schatz. Konnte er das denn noch? Nachdem, was gestern passiert war? Unmöglich. Aber wenn er das Schwanenhaus kriegen wollte . . . Am Treppenpfosten in der Halle fand er Bubi an seinem Strick. Dionys war bei den Schwänen; der gefleckte stand und schaute zu, wie Dionys dem verletzten am Halsansatz eine grüne Salbe auf eine wüste breite Wunde strich und dann ein Tuch auflegte und festband; der lag auf seinem Strohbett wie ein gestrandetes Schiff. Sobald der mit den Infantil-Flecken Gottlieb bemerkte, richtete er sich auf und schlug mit den Flügeln. Gottlieb rief Dionys zu, er werde sich einen Platz suchen, von dem aus er Frau Dr. Leistle und Herrn Schatz ein bißchen im Auge behalten könne. Aber laß dich nicht erwischen, rief Dionys. Gottlieb hängte die Tasche mit den Flaschen über den als Artischocke geschnitzten Kopf des Treppenpfostens, an dem Bubi lag, und ging neben dem unter Führung der nackten Frau nach oben rasenden Schwan hinauf. Seine Hand glitt auf den sanften hölzernen Wellen des Geländers nach oben. Die zwei von Bachlauf, Schilf und Schwänen getrennten Sehnsüchtigen auf dem Südfenster sahen heute, weil der Tag sich eingetrübt hatte, noch schmerzlicher aus, als wenn ihre nackten Leiber von der Sonne belebt waren. Gottlieb ging ins LedaZimmer, stieg durch den Schrank hinauf, öffnete oben die Tür und auch noch die, die vom zweiten Stock in den Turm führte. Für alle Fälle. Oder war es besser, sofort abzuhauen? Wenn ihn Schatz und die Dame entdeckten, war es eine furchtbare Blamage, und die letzte winzige Aussicht auf den Auftrag war hin. Seinen Termin mit der Dame hatte er. Und diesmal abzuhauen ist weder Triumph noch Niederlage, sondern einfach Vernunft. Basta. Ja. Also. Bitte. Aber er konnte nicht gehen. Er ging hinab ins Zimmer der nackten Leda, die sich darin gefiel, die Huldigungsbiegung des Schwans mit beiden Händen zu empfangen, während ihr Blick ganz und gar hinuntergebunden war zu den aus den Eiern purzelnden Kindern, die Anna so angezogen hatten. Anna hatte recht gehabt. Wer diese Frau anschaute, den wies sie weiter an das Gepurzel zu ihren Füßen. Aber Gottlieb schickte seinen Blick ohne Anstrengung zurück auf sie. Sie war schließlich das Größte, Nackteste, Schönste auf dem Bild. Der an ihr sich hochschmiegende Schwan war fast ganz in ihrem Schatten, nur ein Flügelviertel kriegte Licht. Gottlieb hätte sich am liebsten vor Ledas schöne Zehen auf den Boden gesetzt, um sich auf der gemalten Wiese zu fühlen und sich dann auch aufzurichten zu ihr. Die Leere des Zimmers, das Tosen der Stille, diese ausführliche und frontal dargebotene Nacktheit: daß einen eine gemalte Frau so anmachen konnte. Er hörte Stimmen. Eine Frau lachte. Die Dame. Ein Mann sprach. Paul Schatz. Hei-jei-jei. Er schlich zur Tür. Als die beiden in der Halle herum- und auf die Südterrasse hinausgingen und wieder zurückkamen, durchquerten sie immer wieder einmal sein Blickfeld. Frau Dr. Leistle, größer als Schatz, gekleidet wie ein Tropenoffizier. Er hatte sich das falscheste Bild gemacht, das man sich machen konnte. Jedes Wort, das sie sagten, hörte man wie in einer Kirche. Schat-zens Urteil: Für einen, der das mag, ist das viel wert. Wieviel, wollte sie wissen. Er lachte von Herzen. Er sei ja nicht der, dem es viel wert sei. Er könne den aber zweifellos finden. Das mache sein Computer fast allein. In weniger als fünf Minuten spucke der, wenn er ihm die Daten dieses Romantik-Doms eingebe, alle Kunden aus, die für so was in Frage kämen oder gar leidenschaftlich danach suchten. Dann sähe man, was für
Kunden, also was für Preise. Aber sie wollte überhaupt einmal eine Zahl von ihm hören. Er lachte wieder. Warum denn über Zahlen reden. Er garantiere, den höchsten Preis, der für dieses innige Gehäuse zu erzielen sei, erziele er. Keiner verfüge über einen solchen Kundenstamm wie er. Er denke, zum Beispiel, auf Anhieb an den ehemaligen griechischen Marineattache in London, der den Obristen diente, deren Nachfolger nicht mag, sich gerade scheiden ließ, die Kinder sind in der Schweiz, er konstruiert jetzt Segelboote, hat radikale Ideen für Yachtkonstruktionen, möchte sein Konstruktionsbüro plus Versuchshafen am Bodensee placieren: diese Art Käufer sehe er. Oder: ein Düsseldorfer Kunde, Schönheitsfarmen in Marbella und am Tegernsee, will eine am Bodensee aufziehen. Aber er, Schatz, könne nicht mit der Computerselektion konkurrieren. Natürlich werde er dem Computer, zur Objektabgleichung, Preislimits eingeben, vielleicht 1,8 bis 2,3 Millionen. Realistische Preise kristallisierten sich bei ihm erst aus dem Zusammenspiel von Objekterfassung und Kundenpotential. So: Jetzt interessiere ihn dieses Haus schon ein bißchen weniger als Hortenses Motorboot. Ob sie nicht einfach eine Fahrt nach Romanshorn machen sollten zusammen. In der Seemitte ein bißchen baden, dann ein Mittagessen im Inseli in Romanshorn. Falls sie auch auf dem Boot über nichts als Preise sprechen wolle, bitte. Frau Dr. Leistle sagte, sie habe einen Termin nach dem anderen. Rechtsanwälte, Banken, Makler. Mit welchen Maklern noch, wollte er wissen. Sie nannte vier Namen, darunter auch JF. Kaltammer und Dr. Gottlieb Zürn. Sie wolle das schnell hinter sich bringen, weil sie im Herbst in Spanien sei. Ihn fasziniere, daß sie mit dem Motorboot hergekommen sei, sagte er. Er verehre Frauen, die mit Maschinen umgehen könnten. Er könne es nämlich überhaupt nicht. Manche Leute glaubten, er halte sich einen Chauffeur als Statussymbol. Keine Spur. Er könne einfach nicht Auto fahren. Anfangs habe er Komplexe gehabt. Jetzt bereite ihm das Herumgefahrenwerden nur noch Lust. Immer mehr Lust. Vorne in einem Auto zu sitzen, scheußlich! Aber hinten, alleinseligmachend. Und wie das erst im Boot sein müßte. Hinter ihr zu sitzen, ihr zuzuschauen, wenn sie das mächtige Boot leichthin lenke wie diese Dame da ihren Schwan. Ob sie schon einmal in Romanshorn im Inseli mittaggegessen habe. Sie versäumen vielleicht den schönsten Nachmittag Ihres Lebens, wenn Sie bei Ihrem Routine-Nein bleiben. Gottlieb hörte noch, daß sie lachte. Daß man einen Vorschlag, der so deutlich abgelehnt worden war, noch einmal und noch einmal machen konnte! Er war jetzt fast sicher, daß Frau Reinhold Schatz keinen Tip gegeben hatte. Sie sah also doch in Gottlieb ihren Makler. Paul Schatz war für sie ein Künstler, ein Genie, irgendeine Supererscheinung, der Makler war Gottlieb. Als er am nächsten Tag zum Termin mit der Dame fuhr, nahm er Anna, die unter der Nackenprellung weniger litt als unter der nichtswürdigen Sache, die Rosa vor sich hatte, mit bis zum Krankenhaus. Gottlieb genierte sich vor ihr, weil er sich so sorgfältig angezogen hatte für seinen Besuch bei der Dame. Zum Glück sagte Anna nichts. Der Beruf, seufzte er heuchlerisch tief innen. Er fürchtete, ihm würde es unter fast allen Umständen Spaß machen, sich anzuziehen. Diesmal war's wieder die zitronenfarbene Hose, das Hemd in dem blassesten Rosa der Welt, die cognacfarbene Tropicaljacke mit den schwarzen Gitterlinien, die tomatenroten Schuhe. Er hatte sich lange angesehen, im Spiegel, den Mund geübt, die Hände. Es ist schließlich der alles entscheidende Besuch, Anna. Jetzt, in dieser Stunde und der nächsten kommt es darauf an. Mehr als zwei Stunden werden ihm nicht gegeben werden. Rechnen wir mit Verlust. Also, Anna, grüß, grüß Regina. Anna sagte nichts. Seit Samstagnacht hatte sie praktisch aufgehört zu sprechen. Er tat, als bemerke er es nicht. Er wollte das Elend nicht durch Echo verstärken. Sollten sie sich doch alle an ihn klammern. Je schwerer sie würden, desto eher konnte er fliegen.
Auf dem Weg nach Mitten merkte er, daß er sich angezogen hatte, ohne auf das Wetter und die Jahresstelle dieses Tages zu achten. Er war angezogen für den brennenden Sommer. Aber heute schwelte rundum der Herbst. Seine Kraft nahm ab proportional mit der Entfernung zu der Dame. Er hatte keine Macht mehr über das, was in ihm vorging. Andere beherrschten ihn. Brich zusammen, bitte. Demonstriere dadurch, daß du dir das nicht gefallen läßt. Nervenzusammen-bruch, wie macht man das? Nicht einmal das kannst du. Diese Straße ist er gefahren, auch in der ersten Septemberhälfte, um seiner Mutter den 10 000-Mark-Scheck zu bringen. Die erste Erfolgsprämie, die ihm Dr. Enderle gewährte. Von heute aus gesehen, hatte Dr. Enderle ihn mit diesen 10 000 Mark für immer an sich gebunden. Dadurch war er Makler geworden. Ihre Courtage, hatte Dr. Enderle gesagt. Dr. Enderle hatte nie Provision gesagt. Als er ihm den Scheck überreicht hatte, hatte er sich in seinem riesigen, aber unbeweglichen Sessel — mehr Thronstuhl als Sessel — zurückgelehnt, hatte sein tiefrotes gewaltiges Taschentuch gezogen und hatte auf eine Entfernung von einem halben Meter in das entfaltete Taschentuch hineingespuckt. So beendete er Gespräche. Mit 10 000 Mark konnten Zürns damals fast ein Jahr lang leben. Aber er nahm den Scheck und trug ihn zu seiner Mutter. Wie das auf Anna gewirkt haben mochte? Schon Kinder, knappes Auskommen, und er trägt 10 000 Mark einfach weg. Seine Mutter hatte inzwischen gebaut gehabt, hatte Schulden gemacht, aber beherrschte Schulden, kluge Schulden, den inflationären Tempi genau angepaßte Schulden; also keinesfalls die wild aufschießenden, überschwappenden und als vernichtende Gewalt hereinschlagenden Schulden, die sein Vater bewirkt hatte, sobald er die Hand geschäftlich regte. Man darf die Schulden nicht ausgehen lassen, hatte seine Mutter gesagt, als sie begriffen hatte, wie die Wirtschaft der zweiten Nachkriegszeit gedacht war. Wer die richtigen Schulden macht, dem zahlt sie die Notenbank, sagte das Bauernmäd-chen aus Wigratsweiler, das nie eine höhere Schule als die des sogenannten Lebens bzw. des Unglücks besucht hatte. Sie wäre inzwischen, obwohl sie sich immer bis an die Grenze des Erträglichen verschuldet hielt, also gewissermaßen mit angehaltenem Atem lebte, ohne ihn ausgekommen. Seiner Mutter hatte Gottlieb den 10 000-MarkScheck überreicht, als war's ein 2o-Mark-Schein. Se, hatte er gesagt, weil dieses Darreichungswort des Dialekts am ehesten die Dringlichkeit und Gelassenheit der Geste enthielt mit der er den Scheck hingab. Er hatte sie nicht angeschaut dabei. Wahrscheinlich hatte er Fieber. Sie hatte den Scheck nicht angenommen. An seinem Benehmen hatte sie gesehen, daß es sich um eine große Summe handelte. Unwillig, verdrossen, wie beleidigt, hatte sie den Kopf geschüttelt und mit der linken Hand den rechten Handrücken gekratzt. Jetzt hör' bloß auf, hatte sie gesagt. Den nehme sie! Dieser Befehlston, den er weder vorher noch nachher ihr gegenüber zustande gebracht hatte, wirkte. Demütig nahm sie den Scheck. Einen Augenblick lang begegneten sich ihre Blicke. Sie sah weinerlich aus. Oder dem Weinen nahe. Erbarmenswert. Geschlagen. Von ihm. Aber er wußte, daß es ihr jetzt wohl war. Sie schwamm förmlich in ihrer Besiegtheit und Unterworfenheit. Das war ihr Glück. Sie waren sich in diesem Augenblick so einig wie nie zuvor und nie mehr nachher. Daß davon nichts gesagt und nichts gezeigt werden durfte, war klar. Sofort mußte man zu irgend etwas Unwichtig-Unangenehmem übergehen. Der 10000-Mark-Augenblick durfte nur ein Augenblick sein. Schließlich handelte es sich um nichts als Geld. Und Geld ist, bei Gott, nicht alles. Aber ohne Geld ist alles nichts. Also bitte. Aber Geld ist auch nichts. Besonders wenn man viel davon hat. Sollte er es vielleicht jetzt noch extra entsetzlich finden, daß er den Augenblick des höchsten und tiefsten Einvernehmens mit seiner Mutter einem 10 000-Mark-Scheck zu verdanken hatte? Aber es war doch das Natürlichste, daß er und seine Mutter nur über
so etwas wie einen Scheck in ein solches Einvernehmen kommen konnten. Und wenn das etwas Entsetzliches geheißen werden mußte, so wollte er, weil er da nicht Bescheid zu wissen glaubte, nicht widersprechen, aber er wollte in seinem Gefühl geltend machen, daß das Entsetzliche dieser Einvernehmensbedingung die Innigkeit des Einvernehmensaugenblicks schier ins Unendliche erhöhte. Als ihn der vom Portier mitgegebene Boy zum Apartment der Dame führte, fiel ihm plötzlich ein, daß er von den fünf Maklern, die empfangen wurden, wahrscheinlich der letzte sei. Was er erreichte, wenn noch etwas zu erreichen war, konnte kein anderer mehr aus dem Feld schlagen. Wieso sollte sie ihn noch empfangen, wenn alles schon abgemacht war? Also. Er hörte die Eroica. Aus irgendeinem der Zimmer, an denen ihn der Boy vorbeiführte. Oder ertönte die inzwischen schon in ihm? Wenn er makellos Italienisch gekonnt hätte, hätte er dem vorausgehenden Boy zugeflüstert: Ich bin so jung wie du. Aber, Glück ist, sich jung fühlen, wenn man jung ist, und sich alt fühlen, wenn man alt ist. Er hatte sich alt gefühlt, als er jung war. Jetzt, da er gleich fünfzig war, fühlte er sich jung. Er war nie synchron. Nie eins mit sich. Immer im Streit mit dem Augenblick. Dieser Streit heißt Symphonie bzw. Roman. Gottlieb ließ sich von der Eroica richtig tragen. Er genoß es, ergriffen zu werden von der Schicksalsnervosität. Ich werde nicht sterben, dachte er. Mein Tod fällt aus wegen Unvorstellbarkeit. Der Boy klopfte an. Das war schon gut. Der war sein Herold. Err Dottor Zirn, rief der Boy mit italienischem Knabensopran. Gottlieb hatte 5 Mark vorbereitet. Eine Opfergabe. Der schaute ihn dafür an wie ein Verwandter den Verwandten, wenn der etwas Schweres vorhat. Frau Dr. Hortense Leistle stand auf, legte die Neue Zürcher Zeitung auf den Schreibtisch und gab Gottlieb die zerbrechliche Hand. Auf die Wetterverschlechterung seit gestern hatte sie deutlich reagiert. Sie trug eine sandfarbene Hose, die der neuesten Linie folgte, also noch kühn wirkte: gleich nach dem Bund etwas ballonig, nach unten eng werdend, sich ganz unten um Fuß und Ferse klammernd. Dazu eine zweireihige, sicher flaumleichte Kaschmirjacke in einem noch nicht penetranten Ocker; zwischen Kamel und Kürbis eben. Und nichts darunter. Nichts, was man sah. Sehen ließ sie nur braune Haut. Und Gold. An Hals und Händen. Sie bot Platz an, Tee an. Wie lächerlich er sich verrannt hatte in seinen Versuchen, sich Dr. Hortense Leistle vorzustellen, sah er erst jetzt. Auf dem Tischchen zwischen ihnen stand außer dem Teegeschirr noch ein Tonbandgerät, daneben das aufgepflanzte Mikrophon. Das sah auch aus, wie es nicht aussehen sollte. Ihre Haare wirkten bewirtschaftet; man hatte sie sorgfältig nach innen gedreht, daß sie um den Hals lagen als ein sanfter Wall aus blondem Messing. Die war 41 oder 39. Soll sie 46 sein oder 36. In seiner unbeweisbaren Einteilung war sie älter als er. Sie war eine Sechzehnjährige. Jedesmal wenn er ihr des Gesprächs wegen ins Gesicht sehen wollte, mußte er seinen Blick sofort wieder weglenken; er hatte Angst, sie sähe ihm sonst an, was er dachte bzw. wollte. Er traute sich auch nicht, was er in ihren Augen sah, für wahr zu halten. Die war nur so angezogen und saß nur so da und sah ihn nur so an, als denke sie auch an etwas anderes als an das, worüber sie zu sprechen hatten, aber in Wirklichkeit hatte sie einen Termin nach dem anderen und erledigte jeden so wie den gestern mit Paul Schatz und den jetzt mit ihm. Was er ihr für ein Angebot machen könne, sagte sie leise, als habe sie Angst vor ihm. Er sah vor sich hin, dann zu den Fenstern hinaus, da war der See, das war sicher verständlich. Er sagte, er habe noch in der Nacht von Freitag auf Samstag erfahren, daß sein Kollege Kaltammer die Villa Bansin anbiete, deshalb sei er nicht nach Stuttgart gekommen. Eigentlich wollte er sagen: Ich sah, als ich kurz vor Ihrem Haus war, keinen Sinn mehr darin, Sie zu besuchen. Auch wollte ich mich nicht unterwerfen. Das will ich immer noch nicht. Ich weiß, Sie können diesen Auftrag
geben, wem Sie wollen. Jeder kann dieses Gefühls-Gebäude, das mein männlicher Kollege Schatz Romantik-Dom nennt, verkaufen. Ich bin also sehr überflüssig hier und bitte Sie, mir das zu- bestätigen. Durch ein Kopfnicken etwa. Dann gehe ich nämlich. Um einen Einfamilienhaus-Auftrag kann man kämpfen. Aber doch nicht um den Auftrag, das Schwanenhaus zu verkaufen. Der kann nur, wenn es noch eine Gerechtigkeit gibt, vom Himmel fallen, irgendeinem Schurken in den Rachen. Also, ich geh jetzt. Sie können mich ja, wenn sie wollen, zurückhalten . . . Aber er sagte, er habe das Haus, das er seit seiner Jugend kenne, in dem er mit seinem Schulfreund Eberhard schöne Stunden verbracht habe, jetzt genau studiert, er könne also sagen, Substanz und Form dieses Hauses seien ihm ziemlich vertraut. Bei einem Besitz, der weit über 2 Millionen hinausgehe, sei das nicht unwichtig, weil jeder hier in Frage kommende Käufer Experten anschleppe, um alles durch und durch prüfen zu lassen; das führe zu einem endlosen Gerangel, wenn man nicht jede Frage sofort konkret beantworten könne. Wer 2 1/2 Millionen Mark oder mehr ausgebe, habe ein Recht auf seriöse Behandlung. Er habe seine Kundenliste durchgeblättert. Zuerst habe er geglaubt, fünf Kunden zu haben, die in Frage kämen für ein Haus zwischen z und 3 Millionen Mark. Begonnen habe er mit dem ehemaligen griechischen Marineattache in London. Der nächste, ein Finanzier aus Düsseldorf, der sich auf Schönheitsfarmen spezialisiert hat. Der dritte, jetzt in Ascona, hat sein Geld, das muß man ganz klar sehen, aus Bordellen gezogen. Es kommt darauf an, ob man das mag. Er muß es, findet er, erwähnen. Der vierte ist der erste, den er empfehlen kann: Arthur Thiele, Chemnitzer Zähne, der sucht dieses Haus seit längerem. Für den fünften, Baptist Rauh, als Komponist in Hamburg lebend wie im Exil, wäre das Haus der Anfang der Verwirklichung seiner Person. Er, Gottlieb Zürn, kann ihr solche Namen jetzt nur flüchtig vorführen. Das Wichtigste sei ja der Preis. Selbst wenn 3 Millionen zu hoch gegriffen sei, bei 2,5 habe er schon wieder das Gefühl, man verschenke etwas. Sie dankte ihm für seinen Besuch. Er stand sofort auf. Sie werde ihn, falls alles gutgehe, bis Sonntag benachrichtigen. Sie drückte auf einen Knopf am Tonbandgerät. Er habe doch sicher nichts dagegen, daß sie das Tonband, falls nötig, als Gedächtnisstütze benutze. Sie hatte ihm die Hand gegeben, er war draußen, dachte an den Prospekt, den er vorbereitet hatte, wollte noch einmal klopfen, den Prospekt vorzeigen. Auf dem Krankenhausparkplatz wartete er, bis Anna kam. Er konnte nicht aussteigen und Regina besuchen. Jetzt erst spürte er, wie richtig es gewesen war, am Samstag nicht zu dieser Leistle-Dame zu gehen. Anna kam mit einem von Schatten zerschnittenen Gesicht. Regina ist wieder appetitlos. Muß Antibiotika nehmen. So lang, bis aus der Bakterienkultur zu ersehen sein wird, welches Mittel speziell geeignet sei. Anna hat gebeten, Eusaprim abzusetzen. Der Arzt: Man muß das ausheilen, schließlich will Regina später doch auch einmal Kinder kriegen, oder? Anna hat durchgesetzt, daß sie Regina morgen holt. Sie hat schon aus der Telephonzelle ihren Vetter Leonhard angerufen. Der kommt morgen aus dem Allgäu, um Regina anzuschauen. Daß sie in einem für Gottlieb bestimmten Satz erwähnte, Leonhard komme morgen aus dem Allgäu, konnte, da Gottlieb doch wußte, woher Leonhard komme — nämlich aus Simmerberg —, nur beschwörend, Heil beschwörend gemeint sein. Und bei dir? Er zuckte mit den Schultern. In seinem Aufzug kam er sich jetzt vor wie ein Fasnachtsbutz am Karfreitag. Wahrscheinlich hatte er bei Frau Dr. Leistle schon durch seine Aufmachung alles verdorben. Er sah doch aus wie jemand, der hofft, einem Farbfilmregisseur aufzufallen. Der einzige Lichtblick war, daß er der Dame Aussichten auf 2,5 Millionen gemacht hatte. Paul Schatz wollte offenbar nicht über 2,3 Millionen hinaus. Mit Recht. Gottlieb konnte sich niemanden denken, der 2,5 Millionen bezahlen würde. Abends rief Baptist Rauh an. Bruni ziehe'jetzt voll mit. Am Samstag kämen sie.
Gottlieb schwitzte. Er kämpfe täglich mehrere Stunden mit der anderen Partei um den Preis. Die habe sich, verführt durch einen leichtfertigen Maklerkollegen, bei 2,5 festgebissen. Bevor er sie nicht auf 2,1 habe, könne er einen Besuch Rauhs nicht verantworten. Jetzt verstehe er überhaupt nichts mehr, sagte Herr Rauh. Habe Dr. Zürn nicht in der letzten Woche gesagt 1,6 oder 1,7? Vielleicht habe er gesagt, rief Gottlieb geradezu flehentlich ins Telephon, ausdrücklich VIELLEICHT. Inzwischen summe es um diesen Besitz wie um den Bienenstock im Juni. Täglich schössen neue Zahlen auf. Die jetzigen 2,5 bedeuteten nicht mehr als die 1,6 der letzten Woche. Nerven, Herr Rauh. Herr Rauh und er, die bewährte Formation auf dem hiesigen Immobilienschlachtfeld, müßten jetzt, wo der Kampf um das Herzstück beginne, Gleichmut bewahren. Sie sind der einzige meiner Kunden, Herr Rauh, dem ich die absolute Formel des Realitätenhandels anvertraut habe: nur wer verlieren kann, kann gewinnen. Herr Rauh schnaufte schwer. Es wäre einfach tragisch, wenn ihm dieses Anwesen entginge. Für Bruni sei im Augenblick ganz Hamburg ein Pöseldorf, sie wolle echt weg. Von ihrem nach klassisch jüdischem Rat an drei Fronten kämpfenden Geld möchte sie das Golddrittel nicht angreifen, aber sie wäre jetzt bereit, das Industriepapierdrittel dem Immobiliendrittel zuzuschlagen. Eine einmalige Situation, Herr Doktor, sagte Baptist Rauh mit schwacher Stimme. Gottlieb sagte, er erlebe die Schwere des Moments fast so scharf wie Herr Rauh. Dieses Haus haben, heißt, teilhaben, und zwar am Schönsten, was in Europa die strömende Geschichte so hingekriegt hat. Aber man muß es verlieren können, sonst bekommt man's nicht. Ja, sagte Herr Rauh und zog noch zweimal stumm an der Zigarette und hängte auf. Gottlieb sagte der Garage durch, er kapituliere, das heiße, sie könnten die Bestellung als durchgesetzt buchen. Er wunderte sich öfter darüber, daß dann immer alles doch noch irgendwie ging. Von drüben rief, schon von der Erfolglosigkeit ihres Rufens überzeugt, Anna zum Essen. Bis Gottlieb kam, saßen alle am Tisch. Er fiel schwer auf seinen Stuhl. Hatte aber vergessen, im Souterrain seinen Abendwein zu holen. Bitte, Julia, hol mir die Flasche, ich sitze schon, sagte er. Ich auch, sagte Julia so groß und patzig als möglich. Er mußte sofort aufstehen und brüllen und hinausrennen und die Tür zuschlagen und auch noch die Tür zu seinem Büro aufreißen und zuschlagen und dabei immer noch brüllen, bis er im Sessel saß. Was er brüllte, waren erpresserische Anklagen. Nicht einmal eine Flasche Wein könnte die für ihn holen. Ihm reiche es jetzt endlich in dieser Familie ... Er hatte noch gehört, daß Julia auch vom Tisch aufgesprungen war, hinaufgerannt war in ihr Zimmer. Von dort dröhnte jetzt ihre Musik. Er wartete, bis Anna an seiner Tür erschien. Sie sagte nichts. Das hieß: verlang' nicht zuviel von mir, sonst... Er verstand sofort und ging möglichst langsam mit ihr hinüber. Er ahnte, wie komisch es war, wenn er sich nach seinen Schreiausbrüchen wieder brav an den Tisch zurückführen ließ. Allein hätte er nicht zurückkommen können. Seine Flasche Wein stand jetzt vor seinem Teller. Es war klar, daß Magda sie geholt hatte. Er sagte leise und leidend zu ihr hin: Danke. Dann bat er Magda, Julia zurückzuholen. Magda ging sofort hinauf, stand lange droben und klopfte an die Tür, aber Julia öffnete nicht. Also ging auch Anna hinauf. Julia öffnete nicht. Gottlieb ging hinauf, schickte Anna und Magda zurück, machte sich bei Julia bemerkbar, bat sie zu öffnen, nur zu öffnen, sonst nichts. Nachdem er noch eine Zeitlang stumm gewartet hatte, öffnete sie. Er nahm ihre Hand. Als er die Hand hatte und spürte, daß sie sie ihm ließ, ging er mit Julia zur Tür und die Treppe hinunter. Er zog überhaupt nicht. Er trug lediglich ihre Hand neben ihr her. Dann saßen sie alle stumm am Tisch. Das Essen war kalt, man konnte beginnen. Der Tagesschau-Sprecher meldete — und ließ sein Gesicht eine boshafte Zufriedenheit ausdrücken —, daß am nächsten Tag mit einer Erhöhung des Diskontsatzes auf 7 Prozent gerechnet werden müsse. Gottlieb dachte: Natürlich. Im Bett drehte er sich
auf seine Seite. Heute verstand er Annas Fürsichbleibenmüssen. Da er wußte, daß sie lag und an Rosa dachte, mußte er auch an Rosa denken. Wenn die sich nicht zu dieser Statisterie gemeldet hätte, hätte dieser Stöckl sie nie zu Gesicht bekommen. Und gemeldet hatte sie sich, weil sie Geld verdienen wollte. Und Geld verdienen wollte sie, weil er in der Familie seit 20 Jahren den Anschein erweckte, man habe zu wenig Geld. Aber man hatte ja auch zu wenig. Allein 1800 pro Monat für Zins und Tilgung . . . Hatte man ein einziges Mal wirklich zu wenig gehabt? Oder ist das die eingerichtete Natur des Geldes, daß man von ihm immer meinen muß, man habe zu wenig? Und das geplante Normale: die Angst, man werde gleich überhaupt keins mehr haben. Das war die Angst des Motorbootfahrers, der wegen des Lecks im Bootsboden nur Vollgas fahren darf. Die Angst, wenn man ein relatives Boot fährt. Diese Angst hatte er mitgebracht. Von daheim. Das waren die in seine Kindheit hineinreichenden Folgen der Jahre 1918 und 1929. Wenn man in der Kindheit etwas erlebt hat, was man nicht mehr vergißt, bleibt man offenbar durch dieses Erlebnis an die Kindheit gebunden und insofern ein Kind. Am Morgen konnte er sich sagen — und das war zu empfinden als ein Erfolg —, daß er nicht mehr geschlafen hatte als Anna. Kurz nach neun rief Herr Fichte an. Er fragt, sagte Frau Ortwein, ob er noch einmal einen Blick in die untere Immenstaader Wohnung werfen könne. Soll die dürre Dame ihr Märchen stülpen über wen sie will, Gottlieb Zürn macht weiter, wie es sich gehört. Sofort ließ er Frau Ortwein Herrn Ammon in München anrufen und schlug dem vor, mit dem Preis für die Immenstaader Wohnungen zurückzugehen, wenigstens mit dem für die untere, um zirka 15 000. Herr Ammon schien schon seit aller Früh' mit entsetzlichen Nachrichten zu kämpfen. Es klang, als rede er jetzt einfach weiter in dem Ton, in den er seit frühmorgens getrieben wurde. Jetzt komme auch noch Herr Dr. Zürn daher. Ein Kesseltreiben sei nichts, gegen das, was zur Zeit gegen ihn veranstaltet werde. Und die Bundesbank macht natürlich mit. Auf 7% jetzt den Diskont, den Lombard auf acht. Und wen trifft's? Den Bauunternehmer! Und zwar den kleinen! Den Mittelstand eben. Die Gewerkschaft treibt den Betonstahl hinauf, der Staat die Zinsen. Dazwischen wird zerrieben, systematisch vernichtet: Herr Ammon. Und was tut Herr Dr. Zürn? Der will die Preise senken! Wo lebt denn, bitte, Herr Dr. Zürn? In München auf jeden Fall nicht. Auf Herrn Ammons Baustellen steigen die Kosten in der Woche um das, was Dr. Zürn ihm in Immenstaad verschleudern will. Und Herr Ammon hat Festpreise unterschrieben. Heute noch hätte er Dr. Zürn angerufen, um ihm zu sagen, daß man angesichts der Preistreibereien auf dem Baumarkt mit den Immenstaader Wohnungen endlich um je 10 000 hinauf müsse. Aber herunter, niemals! Gottlieb sagte, logisch sei Herrn Ammons Schluß einwandfrei, nur auf den Markt lasse er sich nicht anwenden. Auf den Immobilienmarkt zumindest nicht. Wenn alles noch hinaufgeht, gehen die Immobilien schon herunter. Die Immobilie reagiert immer am sensibelsten. Sie ist auch die, die nachher den Wiederanstieg wieder anführt. Sie ist das Flaggschiff der Konjunktur, Herr Ammon. Da hat er nichts davon, er geht nicht runter. Eher könnte er sich gezwungen sehen, den Alleinauftrag mit dem September auslaufen zu lassen. Ja, ja, die Inseratkopien kriegt er regelmäßig, aber was nützen ihn Inserate ohne Abschlüsse. Also bitte, Dr. Zürn hat noch einen halben Monat Zeit. Aber nicht zum Verschleudern, sondern zum Verkaufen, ja! Schon heute nachmittag habe er wieder Termin, sagte Gottlieb ein bißchen leidend. Herr Ammon wünschte Erfolg. Frau Ortwein, die er heute lieber nicht in der Nähe gehabt hätte, sagte: Habet Sie au so schlecht g'schlafe? Frau Ortwein war aus Ehingen. Heute peinigte ihn ihr weinerliches, entenbreites Schwäbisch. Bevor der Kaltammer-Effekt sich herstellte, erklärte er sich: Das ist nicht Dialekt, das ist Frau Ortwein. Anna verlangte jede Woche mindestens einmal, Frau Ortwein nicht mehr kommen zu lassen. Sie wollte
alles wieder selber schreiben. Hatte sie es nicht jahrelang gemacht? Und da waren die Kinder noch kleiner! Aber solange Frau Ortwein einen halben Tag in der Woche für ihn schrieb, war er eine Firma. Kaum war Anna abgefahren, um Regina zu holen, brachte die Bundesbahn-Expedition eine riesige Plastikwurst ins Haus: den Teppich aus Stuttgart. Er schnitt die Wurst auf, legte den dunkelblauen Keshan an die Stelle des hellen Kir-man ins Wohnzimmer; der Kirman kam ins Büro. Frau Ortweins tranige Bewunderungsschreie über den neuen Teppich verdarben ihm fast die Freude an dem schönen Stück. Anna führte Regina herein wie eine otote. Frau Ortwein rief— und jetzt endlich paßte ihre silbendehnende Weinerlichkeit -: Ja, Madie, wie siehscht au du aus! Gottlieb hatte wieder das Gefühl, daß Regina, was sie leide, auch noch darstelle. Diese Kraft hatte sie nach wie vor. Vielleicht wächst die bei manchen mit dem Leiden. Er mußte nach Immenstaad. Geh' mer's an, Muddi, sagte Herr Fichte. In der Wohnung vergaßen sie sofort wieder, daß Gottlieb Zürn auch noch da war. Sie waren in einer anderen Stimmung als am Sonntag. Er wies ihr im Grundriß nach, daß sie einiges falsch eingetragen habe. Die Orinoko-Truhe gehe überhaupt nicht ins Wohnzimmer. Der Ratan-Tisch und die Truhe in einem Raum, wo denke Muddi denn hin. Sie wehrt sich dafür um so heftiger gegen die Felle. Da ist sie ewig am Bürsten und Saugen. Ihn ärgert ihre Unlogik. Wenn sie FÜR die Truhe im Wohnzimmer ist, kann sie das doch sagen, ohne die Fellfrage damit zu verbinden, ja oder nein?! Es wird doch noch möglich sein, die Truhenfrage an und für sich zu diskutieren. Was ihn so schlaucht, ist das Beliebige ihres Votums. So, rief sie, wer habe denn das Orinoko-Monstrum ins Wohnzimmer bugsiert? Doch wohl er! Sie habe nur gesagt, lieber noch die Truhe als die Felle. Und jetzt sei sie auf einmal die Befürworterin der Truhe im Wohnzimmer, also wenn das Erichs Logik sei, dann lasse sie sich gern von ihm unlogisch schimpfen. Herr Fichte sagte schmunzelnd, sie hätten jetzt doch wieder genug Eindrücke, die sie miteinander besprechen könnten. Er sagte bekakeln. Eine Wohnung kaufen ist ja nicht Kappentauschen, oder?, sagte sie, die aus der Gegend stammte. Das Problem ist, sagte er, die Wohnung ist zu klein und zu teuer. Mindestens 15 000 Mark zu teuer, das habe der Vergleich mit anderen Projekten bestätigt. Vor acht Wochen, sagte Gottlieb, hätte er das auch gesagt. Angesichts der wie rasend steigenden Baukosten werde dieser Preis stündlich gerechter. Herr Fichte rief: Aber jetzt hören Sie, wo das Geld täglich teurer wird, wer kauft denn da überhaupt noch? Künnt ihr misch nit wat Leischteret frajen, sagte Gottlieb und lachte mit Fichtes. Fichtes seien jetzt richtig hungrig. Gottlieb sah ihnen nach. Am schlimmsten waren die, die hier Urlaub machten. Sobald das Wetter eintrübte, hatten sie Zeit und Lust, Häuser anzuschauen. Bis die Sonne wieder schien. Diesmal hatte er sich wenigstens die Mannheimer Adresse geben lassen. Als er Fichtes gehen sah, hatte er das Gefühl, dieses Paar kenn' er jetzt auch. Sie lieben sich nicht, aber sie sind sich furchtbar einig. Frau Ortwein war aus dem Haus, also konnte er Anna an den Rand des Teppichs ziehen und sie fragen, wie sie ihn finde. Schön, sagte sie. Der Ton verriet, sie konnte wegen Rosa und Regina jetzt alles nur zu einem geringen Teil erleben. Er fragte Magda und Julia, wie ihnen der Teppich gefalle. Magda, die seit Gottliebs Unfall zugänglicher war, sagte, sie wisse nicht, zu was man Teppiche brauche. Man sah immerhin, daß es ihr leid tat, keine andere Antwort geben zu können. Julia sagte: Was hat der gekostet? Das sei doch unwichtig, sagte Gottlieb. Ob er über 2000 gekostet habe? Ja. Über 3000? Ja. Über 4000? Ja. Sie sagte: das ist ja furchtbar, und ging weg. Er stand wieder allein vor dem blauen Grund, durch den sich grüngelbe Ranken bogen; die kleinen Ovale in dem dickichthaften Rankenwerk der Umrahmung, die er zuerst für blumenvolle Vasen gehalten hatte, waren weder Blumen noch Vasen; sowenig die Ranken Ranken waren; alles war Farbe, Windung, Muster. Selber eine Natur. Musternatur.
8811. Plus 21 000 ist gleich 29 811. Und die kleine Konjunktur am Kippen. Wahrscheinlich schon gekippt. Abgewürgt. Vielleicht kein Abschluß mehr bis Ostern. Oder Pfingsten. Wie genau die Kinder reagierten. Etwas kaufen. Nur mit Geld. Das ist die Sünde. Die Konsumsünde. So hätte seine Mutter auch reagiert. Er dagegen, das spürte er, grinste immer noch. Hat man ein schlechtes Gewissen, weil man sich den Teppich leisten kann oder weil man ihn sich nicht leisten kann? Sowohl als auch. Während er noch da stand, hatte sich ein Zitronenfalter durch das Fenster hereinverirrt. Jetzt schaukelte der über die Ranken des Teppichs hin. Wie für immer. Dann fand er wieder hinaus. Gottlieb hatte das Gefühl, der Schmetterling habe ihm eine Zustimmung überbracht. Anna kam nicht zum Essen. Sie blieb bei Regina. Regina wollte offenbar in einen Zustand hemmungslosen Krankseins zurückfallen. Sie jammerte, weinte, stieß kleine Schreie aus. Entdeckte den Schmerz im Rücken, im Bauch, im Ohr. Innen, außen. Wie ein Sonnenbrand tut es. Wie wenn ihr Gesicht riesig geschwollen wäre, tut es. Wie wenn sie angefault wäre. Nein, das nicht. Sie weiß es auch nicht. Andauernde Ansagen, Schmerzbeschreibungen, Visionen. Regina findet, auch wenn sie nicht weint, nicht zu ihrer Normalstimme zurück. Auch dann behält sie die hohe, das Artikulieren scheuende, über alles schwach weghuschende Heul- und Klagestimme bei. Dann läutete es. Der Vetter Leonhard aus Simmerberg. Mit seiner schönen steinharten Stimme, die es in Berggegenden oft gibt, rief er seinen Gruß jedem, dem er die Hand gab, laut ins Gesicht. Obwohl er seit Magdas furchtbarer Angina, also seit drei Jahren, nicht mehr da gewesen war, wußte er jeden Namen. Er war kaum größer als Anna. In seinem vollen schwarzen Rollenkopf fehlte kein Haar und keins war grau. Die rasierten Flächen des Gesichts schimmerten heidelbeerblau. Im wie geschliffen vorspringenden Kinn, sein unveränderliches Kennzeichen: das scharfe, besonders dunkle Grübchen. Ein jedes schaute er an, als müsse er alles in sich aufnehmen, was mit dem, seit er nicht mehr da gewesen war, vorgegangen ist; schaute aber auch — das Verwandtschaftsgenie — zu den anderen zurück und unterhielt sich mit denen über dasjenige, dessen Hand er immer noch hielt. Er war zweifellos ein Augenmensch. Er mußte alle im Augenblick an den Kindern erscheinenden Merkmale aus dem traditionellen Merkmalsbestand der AnnaFamilien Völkle und Krezdorn ableiten und sie damit diesem Bestand für weitere Tradierung zuschlagen. Größe, Statur, Haarfarbe, Augenform und -färbe, Nase, Hautfarbe. Die Tanten- und Onkelnamen klingelten nur so aus seinem Mund. Es gab offenbar nichts in dieser Familie, was der Vetter Leonhard nicht schon bei Tante Rese und Onkel Alfons und anderen Völkles und Krezdorns zwischen Stuttgart und Zürich gesehen hatte. Zürns und Unsicherers kommen nicht vor. Jetzt aber der Patient. Anna will Reginas Geschichte erzählen. Vetter Leonhard will sie nicht hören. Er will Regina anschauen. Im Händehalten und Anschauen ist er unersättlich. Regina liegt ruhig. Dann zieht er aus einem Leinensack seine Kupferrute. Das wußte man. Dafür war er bekannt. Er näherte sich damit Regina. Je näher er ihr kommt, desto mühsamer scheint es zu werden. Sein Gesicht verzerrt sich. Der Mund geht ganz in die Breite. Dann läßt eine Hand die Rute los. Ob sie Quarzsteine hätten. Er muß selber ans Ufer hinab und im Leinensack Quarzkiesel sammeln. Unten und oben belegt er in allen Räumen die Ecken mit nassen quarzhaltigen Steinen. Gegen die Strahlungen des Wassers. Dieses Haus schwimme ja geradezu auf einer Wasserblase. Wahrscheinlich kreuzten sich auch wasserführende Schichten unterm Haus. Ob sie unter Ameisen litten? Und wie! Das glaubt er. Die unterirdische Wasserwirtschaft habe er schon beim Hereinkommen gesehen, an den Wasserschös-sern der Büsche und Bäume. Direkt unter Reginas Bett legt er Extrasteine. Die seien alle zu klein, er werde richtige mitbringen. Er probiert's noch
einmal. Jetzt schlägt die Rute aus. Immer wenn sie ausschlägt, fährt er ein bißchen zusammen. Danach streicht er mit beiden Händen Reginas Körper von oben bis unten ab. Dann den Hals. Dann den Kopf. Jedesmal schüttelt er die Hände aus, als wolle er etwas, was beim Streifen daran hängengeblieben ist, loswerden. Dann holt er aus seiner ziemlich neuen Ledertasche ein paar Fläsch-chen, in denen Tees sind, legt Regina verschiedene Tee-Auswahlen auf den Bauch, testet die mit seiner Rute, dann ist er fertig. So, jetzt also. Zuerst einmal hinunter. Alle. Vor allem Regina. Ihr wird ein Bett gemacht auf dem Wohnzimmersofa. Er legt Extrasteine unter das Sofa. Als Regina liegt und alle darum herumsitzen, spricht er. Regina bleibt jetzt herunten, bis sie gesund ist. Immer mitten in der Familie. Nur nachts schläft sie oben. Dann aber allein. Sie hat, sagt er, eine Entzündung, mit der die Leber nicht fertig wird, also ist auch die Leber angegriffen worden und jetzt ist schon eine Niere dran. Sofort alle Medikamente absetzen. Dafür einen Tee aus je 2 Eßlöffeln Brennessel, Goldrute, Ringelblume, Schafgarbe, 1 Eßlöffel Johanniskraut, 1 Kaffeelöffel Wacholderbeeren, 1/2 Zwiebel, 1 Knoblauchzehe, 1 Petersilie. Davon 5 Tassen mit Milch trinken. Dreimal täglich 1 Eßlöffel Sonnenblumenöl vor den Mahlzeiten. Und 3 Teelöffel Mischung aus Calcibronat und Heilerde. Und ja nichts Frisches, nichts Rohes. Nur mit viel Öl gekochtes Gemüse und Kartoffeln püriert. Obst auch nicht in gekochtem Zustand. Der Körper sei völlig übersäuert. Morgen komme er wieder. Er habe sie heute nicht völlig entmagnetisieren können. Als Vetter Leonhard aus dem Haus ging, ließ er eine helle Stelle zurück, um die sich alles drehte. Gottlieb bewunderte Vetter Leonhards Mut und Sicherheit. In der nächsten Nacht erbrach sich Regina nur einmal. Am Morgen sagte sie, als Gottlieb sie fragte, ob sie noch Schmerzen habe, wenn sie sage, es tu' weh, dann tu' es weh; wenn sie sage, es sei nicht so schlimm, dann sei es nicht so schlimm. Das war eine Auskunft, die ihm zeigte, daß es dem Vetter Leonhard gelungen war, sich zwischen Regina und ihre Krankheit zu stellen. Gottlieb wurde von einer als Wärmeschwall spürbaren Glücksempfindung durchströmt, als er sah, daß an diesem Samstag in der langen Latte des JFK-Inserats das Schwanenhaus fehlte. Der Kerl hatte also wieder einmal geblufft. Das konnte heißen, Dr. Gottlieb Zürn führte. Im Augenblick. Wieso sollte die Dame nicht dem den Auftrag geben, der die älteste Beziehung zu dem Haus hatte UND der auch noch das höchste Angebot gemacht hatte! Er spürte es, er hatte den Auftrag. Dieses Mädchen hatte einfach ein normales Gefühl. Nichts gegen Paul Schatz. Paul Schatz ist ein wunderbarer Mann. Also wirklich. Aber diesmal hat er sich selber ausmanövriert. Der hätte dieses Mädchen ja am liebsten vergewaltigt. Dieses zarte Ding, mit einem Mund, der sich beim Sprechen andauernd zuspitzen wollte. Gottlieb sehnte Hor-tense Leistle herbei. Er war nicht der Mann, der irgend etwas hätte sagen können über das, was sie dächte oder meinte, wenn sie ihn anschaute. In einer solchen Situation würde es genügen, wenn man einander ein bißchen streicheln dürfte. Am besten an einer nicht ganz unempfindlichen Stelle. Man hätte einander etwas ausgedrückt. Nichts sagen. Um Gottes Willen keine Mißverständlichkeiten. Nur einander einen Augenblick lang streicheln. Dann hätte seine Sehnsucht jetzt mehr Halt. Aber weil das Wichtigste nicht üblich ist und er nicht fähig ist, Unübliches zu tun, hockt er jetzt da und hißt Hortenses fast penetrante Ockerfarbe in seinem Gedächtnis und tastet nach dem anspruchslosen Blond, das als sanfter Wall um ihren Hals lag. Die Paul-Schatz-Postille bot an diesem Samstag eine mahnende Belehrung unter dem Titel Darf man? Soll man? Es ging darum, ob man bei steigenden Kreditzinsen bauen oder kaufen soll. Am Ende, die Weisheit: Auf gravierende Fragen gibt es nur individuelle Antworten. Und die hat natürlich er, Ihr ehrlicher Makler. Heute erregte die Schatz-Postille in Gottlieb die reine Freude. Sogar das Glanzstück des heutigen
Angebots gönnte er ihm: Sehnen Sie sich nicht schon lange nach einem privaten See in Wisconsin? Fläche 21 ha, umgeben von 62 ha waldigem Ufer, darauf zwei Blockhäuser, je vier Zimmer. Landesteg. Unerschöpflicher Fischbestand. Völlige Einsamkeit. Für 200 000 $. Zum ersten Mal tauchte in der Lokalzeitung ein amerikanisches Objekt auf. Und natürlich war es Paul Schatz, der die Epoche eröffnete. Das Bedürfnis, in Amerika zu kaufen, wuchs seit längerem. Das war fällig. Warum sollten solche Märchen nur in der FAZ aufgetischt werden! Er hatte geschlafen. Wieder einmal. Nächste Woche würde er aufdrehen: Jugendstil-Juwel am Bodensee . Pfeif auf Wisconsin. Sein Juwel brauchte man so wenig wie den See in Wisconsin, also konkurrierte man um die Träume. Schön, mein Herr, konkurrieren wir: hie Schwanenhaus, dessen Wesen heißt Inständigkeit, dort Märchen, das heißt Wildnis. Aber mit was für Mücken, Herr Schatz? Gottlieb kennt die Mücken, die der Käufer zu erwarten hat. Mit Schnaken kann man leben. Aber mit Moskitos . . .? Im Wohnzimmer zahlten gerade Schneiders ihre Rechnung und verabschiedeten sich. Er war immer froh, wenn er sich dem Kassiervorgang entziehen konnte. Frau Schneider rief: Jetzt hoffe mer bloß, daß es onserm Schbätzle bald wieder besser geht, gell. Leider kam Anna und sagte: Gottlieb, Familie Schneider möchte sich verabschieden. Ihm fehlten die Hin- und Herformeln. Anna hatte davon soviel wie der See in Wisconsin Fische. Ein Läuten kam zu Hilfe. Gottlieb rief seinen Gruß und rannte zur Tür. Rudi W. Eitel und der Schaden-Maier. Die beiden sahen, sobald sie miteinander auftraten, wie ein Abenteuer aus. Gottlieb sagte: Es ist doch noch nicht Winter. Beide hatten sich offenbar heute auf lange Schals geeinigt. Da dem Schaden-Maier der Kopf direkt auf dem runden Rumpf saß, stand ihm der Schal vor dem Mund. Gottlieb ging mit beiden außen herum in sein Büro. Armin streifte sich in seiner ganzen Länge an Schaden-Maier hin. Jo, rief Schaden-Maier, Hund' möge mich äba, etz laß doch dem Dierle sei Blässierle. Gottlieb dachte an Kaltammer. Sie hätten sich zu diesem Fußmarsch bei windigem Wetter entschlossen, sagte Rudi W. Eitel, weil Wichtiges zu besprechen sei. Rudi gab dem Schaden-Maier Sprecherlaubnis. Der schaute zuerst überall hin, wo Gläser stehen könnten, aber keine standen. Gottlieb holte Gläser und Wein, man hob die Gläser, der SchadenMaier probierte. Das Urteil über den Wein drückte er durch die Augenbrauen aus, die jäh aus kritisch konzentrierter Zusammengezogenheit in eine Bewunderung ausdrückende Hochgewölbtheit gerissen wurden. Also. Er hat herausgebracht... Er unterbrach sich. Er findet es komisch, wenn drei Freunde wie sie zusammensitzen und reden, ohne Skat zu spielen. Er säße lieber hier in diesem gemütlichen Zimmerchen, wenn man neben der Aussprache und dem Wein auch noch ein Skatblättchen springen lassen würde. Rudi nickte wie ein Stummer, der sehr zustimmen will. Gottlieb holte die Karten. Der Schaden-Maier hatte jetzt zwei Rollen: die des Berichterstatters und die des Skatbarden. Seine kriegerische Stimme und die bis zum Zerplatzen gewölbten Vokale seines schwäbischen Dialekts und sein immer zum Rufen, Klagen, Schimpfen, Fluchen, Höhnen und Stöhnen bereites Temperament gierten nach solcher Verwendung. Wenn er, weil er auf amerikanische Art virtuos mischen will, steckenbleibt, ruft er gleich, und extra hochdeutsch: Haben sich wieder diverse Damen quergelegt, wa! Rudi kichert schrill. Gottlieb sagt, nebenan liege ein Kind, das erst gestern aus dem Krankenhaus gekommen sei. Darauf brüllte jeder der beiden den anderen an, der solle gefälligst leiser sein. Dann erschraken sie und versprachen flüsternd, von jetzt an nur noch zu flüstern. Aber sobald Gottlieb, wenn Rudi einen Null spielte — und Rudi spielte einen Null nach dem anderen —, die Farbe anzog, die nach Schaden-Maiers überlegener Einsicht die falsche war, brüllte der, Gottlieb sei dem lieben Herrgott sein Skatspieler. Gottlieb
bat Rudi, dem Schaden-Maier piano zu befehlen. Schaden-Maiers riesige Augen lagen auf den Unterlidern wie zwei schwere Vollmonde, die gleich herausrollen würden. Er heiße doch Helmut, bitte-bitte. Also, warum sie gekommen seien. Erstens: Kaltammer ist noch nie am Freitag von Konstanz ins Burgund geflogen, sondern immer nach Genf. Dort hat er eine Wohnung. Die betritt er als Kaltammer, verläßt sie als Dame, mit schulterlangen kastanienroten Haaren, im hautengen Lederkostüm und auf hochhackigen Stiefeln. So geht er aus. In die City. Zurück kommt er mit verwegenen Männern. So etz, was duom'r. Moment, Moment, sagte Rudi, das andere auch noch. Gut, sagte Helmut, Paul Schatz hat sich mit Frau Dr. Leistle getroffen. Er kauft selber. Am Montag wird protokolliert. Am Dienstag beginnt der Abbruch. Der baut nämlich einen Apartmentsblock dorthin. Gottlieb sagte, er sei mit Frau Dr. Leistle in ständiger Verbindung und wisse bis aufs Wort, was zwischen ihr und Schatz gesprochen werde. Schaden-Maier sagte, als hätte Gottlieb nichts gesagt: Und was seggsch jetzt! Als Dame! Im Läderkoschtüm! Mit sodde Absatz! Und dieser Mensch habe zu Anni, Helmuts jüngster Schwester, gesagt. . . Nein, das wiederhole er nicht. So etwas könne nur ein Kaltammer, der in Genf als in Leder gekleidete Lombardin ausgehe, zu einem Mädchen sagen. Jetzt habe ein Zahnarzt Kaltammers Werk vollendet. Der habe Anni die zwei Schneidezähne abgetötet, die seien nun schwarz. Schwarz, meine Freunde, sind die Schneidezähne meiner jüngschten Schweschter. Als Gottlieb die nächste Flasche Wein holte, fragte ihn Anna, wie lange die zwei bleiben wollten. Er wußte es nicht. Aber doch nicht zum Mittagessen, sagte Anna. Nachher komme Leonhard. Ja, ja, sagte Gottlieb bekümmert, er habe die beiden nicht eingeladen. Sie verstehe ihn nicht, sagte Anna und ließ ihn stehen. Als Gottlieb in sein Büro zurückkam, zog Rudi die ImmobilienSeite mit dem Schatz-Inserat heraus und rief: Jetzt will der Guy mir die Neue Welt abluchsen, Brüder. Wisconsin! Ridiculous! 40 Grad Kälte und 40 Grad Hitze, das reine Kartoffel-Klima! Und dann diese für Opfer des sozialen Wohnungsbaus maßgeschneiderte Imponier-Story. Nee, Freunde, jetzt kommen die Hosen runter. Langsam, langsam, sagte Helmut, zuerst hab er hier einen Grang . . . Das Telephon läutete. Endlich, dachte Gottlieb. Aber es war Paul Schatz. Gottlieb schaltete sofort auf seine hellste Tonart, vermied aber den Namen. Paul Schatz fragte, wie es Anna gehe, wie es Gottlieb gehe, ob sie den Schock gut überstanden hätten, ihn habe dieses längst fallige und einer anderen Form würdige Zusammentreffen auf eine Idee gebracht, nämlich: er wolle dem Verbandsorgan eine Artikelserie vorschlagen unter dem Titel GROSSE MAKLER. Dafür würde er gern ein Dr. Enderle-Porträt schreiben. Ob Dr. Zürn noch Briefe, Dokumente, biographisches Material habe? Gottlieb sagte, die Witwe habe ihm auch das letzte Zettelchen genommen. Aber er werde nachforschen. Als er auflegte, war er wütend auf die zwei. Wenn die nicht dagewesen wären, hätte er ganz anders sprechen können mit Paul Schatz. Da ruft der einmal an, dann hocken diese Vogelscheuchen herum! Er war sauer. Er weigerte sich, dem neugierigen Schaden-Maier zu sagen, wer angerufen hatte. Etz isch er bees, sagte der Schaden-Maier zu Rudi. Rudi sagte: Ich höre. Und was du hören wirsch, Junge, die Posaunen von Jerichokehricho. . . Nach fünf Minuten rief Anna von drüben an und sagte, der Krach, den die beiden machten, sei für Regina unerträglich. Gottlieb sagte es weiter. Also Krach, rief der Schaden-Maier, dieses Wort hör' ich nicht gern angewendet auf das, was ich verlautbare. Rudi, womit das Wort auf dir laschten bliebe. Anna rief wieder an. Sie äßen jetzt. Er sagte es weiter. Also er habe keinen Hunger, sagte Schaden-Maier. Wenn Gottlieb ihnen schnell noch zwei Fläschle reinstelle, könnten sie sich bereit finden, ihn für einige Minütchen zu entbähren. Gottlieb stellte ihnen eine Flasche hin und ging hinüber zur Familie. Als er Anna sah, wußte er, daß sie nicht mehr konnte. Schneiders haben die
Ferienwohnung in einem Zustand hinterlassen, daß Anna praktisch alles von Grund aufputzen muß. Und das nennen die in gereinigtem Zustand hinterlassen, sagte Anna. Und das seien Stuttgarter! Was wolle man da noch von anderen erwarten. Und um vier Uhr trifft die Familie Paffrath aus Remscheid ein. Gottlieb empfahl, Julia einzuspannen. Die müsse um drei mit Armin auf dem Hundeplatz sein, heute sei doch Prüfung. Und Magda? Es ist mehr Arbeit, wenn sie hilft, sagte Anna. Gottlieb spürte, daß Anna das gesagt hatte, um Magda zum Widerspruch, zum Gegenbeweis zu provozieren. Aber Magda zeigte durch nichts, ob sie den Satz der Mutter überhaupt gehört habe. Anna sagte, in einer halben Stunde müßten die zwei draußen sein, sonst gehe SIE. Gottlieb nickte. Bevor man mit dem Essen fertig war, traf Leon-hard ein. Als erstes schaute er in die Teekanne und bemängelte, daß Regina jetzt noch Tee trinke, der morgens um sechs gemacht worden sei. Mit Brennesseltee könne man, wenn er länger als 10 Stunden herumstehe, Blattläuse töten. Also bitte! Er schaute Regina wieder lange an, als habe er sie noch nie gesehen. Mit welchem Interesse der einen anschauen konnte. Dann entmagnetisierte er wieder. Der Teemischung fügte er Bärentraubenblätter zu. Anna sagte, Reginas Schmerzen hätten sich im Lauf der Nacht immer mehr in der Leistengegend konzentriert. Leonhard nickte, als seien die Schmerzen damit ganz genau seiner Anweisung gefolgt. Da ging plötzlich die Bürotür auf und SchadenMaier erschien und sagte: Guten Tag, Signore e Signori, betrachten Sie mich, bitte, nicht als Störenfried, ich, von einem Bedürfnis belästigt, bitte, Sie unauffällig passieren zu dürfen. Anna sagte zu Gottlieb: Das geht einfach nicht, solange das Kind so krank ist. Schaden-Maier blieb stehen und sagte, wieso man das denn nicht erfahre! 'sGottlieble habe wissen lassen, ein Kind sei aus dem Krankenhaus zurück, also gesund oder nicht, Frau Zürn! Wo sind wir denn, Frau Zürn, punkto Verständlichkeit menschlicher Rede etcetera? Also wenn das Kind krank ischt, sind mein Freund Rudi und ich die ersten, die Ihr Haus verlassen. Ruudi! Auf der Stell' kommsch jetzt her do, hier ischt nämlich ein krankes Kind noch nicht gesund. Via, amigo, via! Rudi W. Eitel erschien unter der Tür, nahm sich sichtlich zusammen. Helmut, sagte er, laß dein Remmidemmi und Lettengeschwätz. Und zu Zürns hin: Er bedaure, nicht noch ein bißchen bleiben zu können. Man habe sich schier gar verplaudert. Aber er müsse nun fort. Adieu, adieu. Er packte Schaden-Maier wie einen Hasen am Genick bzw. am Schal und schleifte ihn mit sich hinaus. Anna atmete auf. Vetter Leonhard holte aus seinem Auto kinderkopfgroße blaugraue Quarzsteine und legte sie in alle Ecken. Gottlieb sammelte die Kiesel ein. Dann mußte Gottlieb nach Mecken-beuren und Immenstaad, die Hopfenhalle und die Wohnungen vorführen. In Meckenbeuren besichtigte ein junger Schreinermeister, der eine Fensterfabrikation aufbauen wollte. Der lachte über den Preis. Das Lachen ging in Schimpfen über. Gottlieb mußte sich Vorwürfe machen lassen. In Immenstaad setzte ein junger Dornier-Ingenieur das fort. Man konnte ihn heute beschimpfen. Auf dem Heimweg fiel ihm ein, daß der letzte Abschluß in Kluftern, Anfang August, auch schon Annas Werk gewesen war. Die Baiten-Mühle auch. Mit Fichtes war er zweimal am Objekt, Effekt null. Der Verdacht, daß er keinen Abschluß mehr schaffe, drängte sich auf. Ein Makler ist nur solange einer, als er in seinen Kunden das Gefühl erweckt, sie könnten sich ganz in den von ihm bewirkten Entschluß fallen lassen, er trage sie durch alle Schwierigkeiten bis ans Ziel. Wenn er dieses Vertrauen nicht mehr ausströmte, konnte er aufhören. Daheim lag Magda auf dem neuen Teppich und studierte Stellenangebote. Julia hing kraftlos im Sessel. Aber Regina saß vor Kissen und las. Anna sprach draußen mit Herrn und Frau Paffrath und deren fünf Kindern. Armin war bei der Schutzhundprüfung durchgefallen. Hochkantig. Der Depp, sagte Julia.
Gottlieb ging in sein Zimmer und legte Karteikarten an für die Parteien, mit denen er heute besichtigt hatte. Dann rief er Franz Hörn an und sagte, ein anderes Mal ganz bestimmt, morgen aber nicht. Es klopfte. Das war Magda. Erstens klopfte nur sie an, zweitens konnte unter Milliarden Menschen kein zweiter in vier kaum hörbaren Anschlägen soviel zögernde Zurückhaltung offenbaren wie Magda. Sie blieb an der Tür stehen und fragte, wie man putzen lernen könne. Sie hob kein Wort auch nur im mindesten an. Wieso sie das wissen wolle? Sie: Eine Putzfrau müsse doch putzen können. Wo lernt sie das? Was muß man da wissen? Was können? Gottlieb hatte nicht zum ersten Mal den Eindruck, daß Magdas Vorstellungskraft am regsten war, wenn es darum ging, sich Schwierigkeiten vorzustellen. Auch wußte sie offenbar aus Erfahrung, daß es nichts gab, was sie von selbst konnte. Sie mußte alles erst lernen. Das Leben kam ihr als etwas vor, was sie nie schaffen werde. Das war ihm vertraut. Aber er mußte ihr gegenüber so tun, als wundere er sich. Während er versuchte, sie zu beruhigen, spürte und sah er, daß seine Verharmlosungsversuche ihr keinen Eindruck machten. Irgendwann sagte sie in sein Reden hinein: Du weißt es also auch nicht. Und ging. Er öffnete alle Fenster und die Tür zum Garten, um den beißenden Zigarettengestank, den seine zwei Besucher zurückgelassen hatten, zu vertreiben, trug Aschenbecher und Gläser hinaus, holte den Staubsauger, setzte eine Möbelpolitur ein, bis er glaubte, jetzt sei auch der letzte Hauch der beiden Abenteurer getilgt. Dann saß er und vermißte sie. Er rief den Schaden-Maier an. Es meldete sich Gerda, die ältere Schwester. Sie hatte auch die ausrufende Redeweise ihres Bruders. Aber bei ihr klang es schrill und hart. Oh je, der sei schon am Morgen geholt worden. Von Rudi. Da täten sie immer ganz wichtig. Meistens sei es dann eine Sauftour. Er merkte, daß er sich nach Helmut und Rudi sehnte. Er mußte sich entschuldigen bei denen. Auch hatte er seine Spielschulden nicht bezahlt. Helmut hatte geschrieben und den Zettel mitgenommen. Die hockten jetzt irgendwo, hauten auf den Tisch und riefen den Mond zum Zeugen an für Behauptungen, deren Kühnheitsgrad so rasend anstieg wie das Wasser bei einer Sturmflut. Er hätte es niemals zulassen dürfen, daß Anna die beiden so behandelte. Sie hatte sie praktisch hinausgeworfen. Er hätte noch mehr hören wollen über die lombardische Langhaarige im violetten Lederkostüm. Alles, was mit Kaltammer zu tun hatte, war faszinierend. Eine norwegische Ballettgroßmutter, Beinah-Profes-sional lateinamerikanischer Tänze, jeden Freitag ein Flugzeug, Schloß-Makler in Burgund, eine taufrische Baronesse, Darsteller eines lombardischen Ledermädchens in Genf. Kaltammers neuester Rang wirkte auf Gottlieb mehr als jeder frühere. Gottliebs innerste und geheimste, weil wahrscheinlich lächerlichste oder doch komischste Neigung war die, dem Geschlechtslager, dem er zugeteilt war, ein bißchen zu entlaufen. Wenn ihn manchmal jemand ein Kind nannte oder schimpfte - Annas Stereotype: Du bist schlimmer als jedes Kind —, dachte er automatisch dazu: aber ein Mädchen. Er wollte kein anderes Geschlecht ergattern. Er fand zwar Mädchenhaftigkeit schöner als jede andere -haftigkeit, er aber träumte über die Spaltung hinaus oder vor sie zurück. Er hoffte, was man wirklich sei, habe nichts mit jenen Geschlechtsmerkmalen zu tun, die einem die Rolle vorschreiben, die man bei der Fortpflanzung zu spielen hat. Gottlieb wollte nicht als lombardische Lederdame im abendlichen Genf flanieren, aber manchmal hätte er sein Innerstes auch gern ins Freie geführt. Daß das komische Wesen auch einmal Ausgang hätte. Und vielleicht hätte es seinem Äußeren nicht ganz entsprochen. Andererseits hatte er sein bißchen Kraft doch durch Verbergenmüssen entwickelt. Oh Jarl Fritz Kaltammer, du gehst, die teilnahmslosen Augen ruckend, aufmerksam und weiblich am Leman spazieren, und der Meister Paul reißt mir hier mein Juwel ab. Das tut der nicht. Gottlieb stellte
sich Schatzens Augen vor. Witz oder Pathos, aber immer teilnehmend. Ein PostillenSpender. Der meint es doch gut mit fließenden und stehenden Gewässern, achtlosen Bundesbahnreisenden, fallsüchtigen Altstadtgiebeln, ahnungslosen Wiesen und unfallgeschockten Ehepaaren, der reißt doch ein solches Haus nicht ab. Er dachte, eher kannst du ins Mondlicht beißen als dem Eitel und dem Schaden-Maier etwas glauben. Vor dem Einschlafen sprach Anna senkrecht zur Decke von den Schmerzen Reginas, die sich jetzt in den Beinen aufhielten, und darüber, daß Rosa nicht angerufen habe, und darüber, daß Gottlieb einen Fehler mache, wenn er Magdas Ausweichversuche begünstige. Tat er das? Ja, weil er nicht strikt widerspreche, wenn sie versuche, dem Abitur aus dem Weg zu gehen. Er wollte sagen: Unsere Kinder sind eben nicht für Prüfungen. Aber Anna würde sagen, das sei seine Schuld. Er sagte: Unsere Kinder genieren sich zu zeigen, was sie können. Anna: Kwwaddsch. Dann sagte sie noch, Paff-raths seien nette Leute, der Mann sei Masseur und wolle jetzt drei Wochen lang hier fasten, das habe er sich, weil er in seinem Beruf immer soviel essen müsse, als sein Urlaubsvergnügen vorgenommen. Die sechsjährigen Paffrath-Zwillinge habe sie, da die untere Ferienwohnung für sieben Personen doch zu klein sei, in Rosas Zimmer gelegt. Nur daß er's wisse, wenn die nachts mal durchs Haus liefen und riefen, weil sie den Abort nicht fänden. Gottlieb schaute auf die Stelle des Vorhangs, hinter dem die Kamera stand. Er überließ sich Vorstellungen, in denen er sich an Anna rächte. Am nächsten Morgen war er schon um sieben Uhr auf seiner Schwimmstrecke. Wieviel natürlicher ist Schwimmen als Gehen. Auch für einen tapsigen Schwimmer. Ludwig hätte natürlich ganz anders hineingelangt in diese Wellen, die heute grün und mit Gischtkämmen aus Südwest herschoben. Und weil Gottlieb so einzig und allein unter dem schweren Wolkenhimmel hinschwamm, war es ihm ein heroisches Theater. Nachher sammelte er die vom Sturm aufs Land geworfenen Algenfliese auf und legte damit einen weichen Pfad von dem täglich weiter zurückweichenden Wasserrand über den Kies und quer über den Uferweg bis zu seiner Gartentür. Und für wen tat er das? Auch für die durch Fasten empfindlich werdenden Fußsohlen des Masseurs Paffrath aus Remscheid. Aber daß es so empfindliche Fußsohlen gab, das kannte er von Ludwig her. Eine ganze Kindheit und Jugend lang hatte Ludwigs Feinfühligkeit seinen Fußsohlen keine Hornhaut erlaubt. Jeder Barfußschritt auf Kieseln hatte bei Ludwig Leidenstöne geschürft. Die Hände hatte er in die Luft geworfen und taumelnd war er eingeknickt. Gottlieb legte diesen weichen Algenpfad immer in Gedanken an Ludwig auf die Steine. Die Vorstellung, Ludwig käme und der Pfad liege bereit, machte ihm Freude. Vom Garten nebenan hörte Gottlieb den schnarrenden Elsterton. Hatte er den nicht in der letzten Woche schon einmal gehört? Den hört man erst, wenn man ihn zum zweiten Mal hört. Frau Sonntag steckt jetzt in einer dichten Bluse. Beim Frühstück saßen alle um Regina herum. Julia sagte, ihr stinke es echt, daß die dauernd mittendrin liege. Als nämlich sie, Julia, krank gewesen sei, habe man sie in ihr Zimmer hinaufgesperrt, deshalb sei sie auch schnell wieder gesund geworden. Wenn alle um die herumtanzten, werde die nie gesund. Da war' sie ja schön blöd. Regina sagte, bevor jemand Julia antworten konnte, sie habe heute nacht geträumt, Antjes Hund habe toll Klavier spielen können und Antje habe den Hund auf der Klarinette begleitet, bis alle Leute begeistert geklatscht hätten. Und Herr Gerber, der der Dirigent gewesen sei, habe dann im Publikum auf Regina gezeigt und habe gerufen: Da siehst du, was man können kann. Das Telephon. Frau Dr. Leistle?! Aber zum Glück auch nicht Baptist Rauh. Nur Herr Fichte. Sie hätten gern noch'n Blick in die obere Wohnung geworfen. Um halb drei am Objekt. Er fragte Anna, ob sie ihm diese überflüssigste, nutzloseste, nur von der Wetterverschlechterung verursachte
Besichtigung wohl abnehmen könne, im Fall Frau Dr. Leistle bis dahin noch nicht angerufen haben würde. Da der Vetter Leonhard, weil es Sonntag war, schon um elf da sein will, kann Anna um halb drei. Er sah Regina an und spürte das abflauende Unglück. Es würde keine Katastrophe geben. Diesmal nicht. Zuletzt hatte der Facharzt noch gedroht, wenn die Eltern das Antibiotikum absetzten, den BlasenInfekt nicht ausheilten, erleide das Mädchen mit dreißig eine Nierenschrumpfung, also einen überhohen Blutdruck, mit vierzig oder fünfzig letal. Der Vetter aus Simmerberg nahm Bärentraubenblätter wieder weg, gab Goldrute rein. Morgen abend will er wiederkommen. Biet ihm ja kein Geld an, flüsterte Anna Gottlieb noch zu. Als Leonhard fort ist, erklärt sie Gottlieb, der empfinde Geld als Beleidigung. Das verstand Gottlieb einerseits. Andererseits arbeitete Leonhard hauptberuflich in Lindenberg am Volksbankschalter. Da Frau Dr. Leistle um ein Uhr noch nicht angerufen hatte, mußte Anna die Fichte-Besichtigung übernehmen. Gottlieb schlich an der schön schlafenden Regina vorbei und setzte sich in seinen nachgiebigen Schreibtisch-Sessel. Wenn Frau Dr. Leistle anrief, sollte sie an der Promptheit seiner Antwort sehen, daß er auf ihren Anruf gewartet hatte. Wenn alles gutgehe, rufe sie ihn an, hatte sie gesagt. War das ein Rätsel oder Hilflosigkeit? Plötzlich wurde er wieder von dem Wunsch überfallen, aus dem Haus zu kriechen. Zum Glück spürte er genauso stark, daß er sich beherrschen mußte. Er hatte sich wahrhaftig schon gegen andere Versuchungen gewehrt. Sich auf Hände und Knie niederlassen und dann durch die Tür ins Freie kriechen zu wollen, eine solche Anwandlung mußte man nicht gleich Versuchung nennen. Dieses Ausdemhauskriechenwollen war nichts als ein lächerlicher Einfall. Daß er mit dergleichen rechnen mußte, wußte er. Wenn er nicht fast allein im Haus gewesen wäre — Anna hatte Julia und Magda mitgenommen, weil sie nach der Besichtigung noch Völkle-Verwandtschaft besuchen wollte —, wäre ihm so etwas gar nicht erst eingefallen. Aber was einem einfällt, wenn man sonntags mit einem eingeschla-fenen Kind allein im Haus ist, darf man nicht ernst nehmen. Allein sein, heißt, auf dumme Gedanken kommen. Als Gottlieb Zürn so weit gedacht hatte, hatte er das Gefühl, er könne sich jetzt ruhig auf Hände und Knie niederlassen, um einmal ein bißchen hin- und herzukriechen. Nicht zum Haus hinaus. Niemals. Aber warum nicht in seinem Zimmer herum? Er empfand es immer ein wenig quälend, daß man in Europa mit Straßenschuhen auf diesen Teppichen herumtrampelt, Tisch und Stühle mit schneidenden Beinen daraufstellt. Er hätte lieber drunten auf den Teppichen gelebt. Ging das nicht, wollte er wenigstens ein bißchen herumkriechen auf ihnen. Wenn er schon nicht ins Freie kriechen sollte. Daß das seine wahre Neigung war, spürte er deutlich. Aber seit wann gab er Neigungen nach? Und wer tut das? Er wußte doch, was seine Nachbarn, Jägers und Paweks, dazu sagen würden. Wenn sie da wären. Meistens waren sie nicht da. Aber die übernächsten Nachbarn. Und überhaupt die Leute stadteinwärts. Sie würden sagen, wie furchtbar überrascht sie seien und — noch schlimmer — wie sie doch auch überhaupt nicht überrascht seien. Wollte er Frau Dr. Leistle beschwören, sofort hier anzurufen, anderenfalls sie verantwortlich sei für alles, was er hier tue? Erpresserisches lag ihm. Frau Dr. Leistle, nun treten Sie doch endlich den Gerüchten entgegen, die sich ums Schwanenhaus ranken wie eine Gefahr. Er sah nach Regina. Die schlief und schlief. Er nahm seine Gedichtpapiere aus der Schublade. Aber kaum hatte er ein paar Zeilen gelesen, legte er alles wieder zurück. Heute könnte er nur durchstreichen, zerreißen. Das ging schon eine ganze Zeit so. Die Illusion, er sei ein Dichter, gelang immer seltener. Worauf mußte er sich gefaßt machen? Er hätte jetzt seine momentane Symphonie laufen lassen wollen. Aber er durfte Reginas Genesungsschlaf nicht stören. Also ließ er, während er einfach dem stürmischer werdenden Tag zuschaute, die Symphonie oder das, was er von ihr noch wußte, in seinem Kopf ablaufen. Einen schöneren
Anfang kann nichts haben. Ein junger Mensch, der glaubt, es werde so sein, wie er es sich vorstellt. Der Triumph der Vorstellung über die Erfahrung. Die Verhinderung von Erfahrung durch Vorstellung. Der zweite Satz gibt zu, daß der erste zu frech war. Daumen und Zeigefinger spreizen sich zu einer edlen Gabel, in die man das vom Energischsein ermüdete Kinn legt, um den Blick einer nach unten wachsenden Weite zu überlassen, in der es keinen bestimmten Schmerz mehr gibt. Es entsteht ein dunkles Licht. Innen. Von innen. Darf sich da der Himmel lumpen lassen? Eine Wolkenschlucht läßt Sonne triefen. Glanz rinnt zusammen. Die Welt bedient sich. Innen und außen, ein Team. Zeit, ein Irrtum. Phänomen ist alles. Solang etwas ist, ist alles. Die zwei Sätze nachher . . . Vom dritten wußte er nichts. Aber an den vierten konnte er denken. Wie etwas, was leicht zu sein scheint, schwer wird. Aber weil man doch noch Ansprünge von sich verlangt, wird die Stimmung heldenhaft. Seine Stimmung. Er kam sich eigentlich meistens heldenhaft vor. Weil die Gefahr nicht nachließ. Die Abweisung neuer Einfalle. Die lag ihm. Endlichkeit des Materials. Unendlichkeit des Ausdrucks durch Einwirkung von außen. Also bleibt die Vorstellung nicht unangetastet. Sie wird geknickt durch Erfahrung. Etwas ist lernbar. Feines folgt auf anderes, ohne sich darauf etwas zugute zu tun. Jeder Ton geht dann aufs Ganze. Effekt: Geschichte. Beziehungsweise Tanzmöglichkeit. Gottlieb sah sich sogar mittanzen. Alles ist gleich leicht und gleich schwer. Aber dann macht er Schluß. Der junge Mann. Der Vorhang, der so rasch fällt, will sagen: es war Theater. Anna kam zurück, kam in sein Zimmer, blieb nicht an der Tür stehen wie meistens, sondern kam bis zu ihm und legte vor ihm auf den Schreibtisch den von Fichtes unterschriebenen Vorvertrag, mit dem die vom Käufer zu zahlende Provision gesichert war. Sie spielte, was sie erreicht hatte, herunter. Gottlieb wollte aber wissen, wie sie's geschafft habe. Sie habe nur auf die gesunde Umgebung hingewiesen, den geraden Wuchs der Bäume auf dem Grundstück, also keine Wasseradern und schon gar keine, die sich kreuzten; Ziegelmauern, also keine Betonzellen; sie habe einfach geredet, wie es ihr in der Umgebung zumute gewesen sei; die Wohnung, offen für die positive Strahlung von oben und keine negative Strahlung aus der Tiefe. Also habe sie empfunden, dort könne man gesund wohnen. Die verblichenen und mürben Kunstfaserböden sollen Fichtes rausreißen, habe sie empfohlen, und einen Boden aus Holz oder Travertin legen lassen. Fichtes seien ganz glücklich gewesen. Und die Felle, die Orinoko-Truhe, der Ratan-Tisch? Die habe Anna verteilt. Die Felle an die Wände, die Truhe ins Herrenzimmer, den RatanTisch ins Wohnzimmer. Dann können wir ja ein Fest feiern, sagte Gottlieb. Der Blick, den Anna ihm jetzt zuwarf, hieß: Rosa! In diesem Augenblick läutete das Telephon. Laß es Frau Leistle sein! Aber Annas Wunschkraft war wieder einmal größer. Es war Rosa. Sie sagte, sie werde morgen nicht in die Klinik gehen. Die hätten sie behandelt wie eine Verbrecherin. Gottlieb sagte: Hoi. Dann gab er den Hörer sofort an Anna weiter. Er ging hinaus und rannte laut stöhnend im Garten hin und her. Nachher kam Anna und sagte: Gottseidank. Ihm war ihre Erleichterung unverständlich. Wenn Rosa dieses Kind kriegte, hatten sie fünf Kinder. Na und, sagte Anna. Man sah direkt, wie bei ihr die Lust zu Bewegungen zurückkehrte, wie ihre Gesichtszüge sich wieder hell zusammenfanden. Gottlieb fühlte sich zerquetscht. Während Kaltammer als lombardisches Mädchen in Genfer Abende hineinging, während Paul Schatz eine für immer Sechzehnjährige zu einer Bootstour nach Romanshorn nötigen will — vielleicht hat er's inzwischen geschafft, Nachgeben liegt Schatz nicht —, während Helmut und Rudi von überflüssigen Schals umflattert als bedenkenloses Paar ausschweiften, hatte er zur Kenntnis zu nehmen, daß . . . Noch einmal das Telephon. Hortense Leistle? Nein. Aber Dionys. Er teilt mit, ihm sei gerade befohlen worden, bis morgen abend alle Viecher transportfähig zu machen. Das habe er Gottlieb doch
sagen müssen, oder? Auf jeden Fall, Dionys. Ob es nicht am besten war', Gottlieb kam' am Dienstagmorgen wieder einmal herüber, im Fall sich hier was tue. Gottlieb sagte: Um neun Uhr bin ich da. Gottlieb blieb neben dem Telephon bis Mitternacht. Dann legte er sich völlig unermü-det ins Bett. Er begriff nicht, warum Hortense Leistle nicht angerufen hatte. Er vergegenwärtigte sich jedes Wort des Gesprächs, sah noch einmal ihren Teetassenhänden zu. Hatte er sich nicht schon dort gesagt, daß diese Blicke absolut nichts bedeuteten. Lissi Reinhold: Hortense erlebt nur Zahlen. Er konnte diese Auskunft keine Sekunde lang mit seiner Sechzehnjährigen harmonisieren. Das war er! Sich einzubilden, er teile mit anderen ein Gefühl! Jahrelang hatte er es überhaupt nicht begriffen, daß Ludwig ihn nicht mehr besuchte. Der kam bestimmt zweimal im Jahr in die Gegend. Seine Mutter lebte noch. Gottlieb begriff nicht, daß Ludwig sich zu einem Mann entwickelt hatte, der mit Gottlieb Zürn weder schwimmen noch skifahren, noch Schach spielen, noch Pistolen schießen, noch angeln, noch wandern, noch Tennis spielen, noch im Gras liegen und Halme kauen wollte. Und wenn Hortense sechzehn war und er deutlich ein paar Jahre jünger als sie, dann war es doch erst recht klar, daß sie nichts mit ihm zu tun haben wollte. Das zu lernen hatte er Gelegenheit gehabt. Die Frauen, die er anschaute, wie er Hortense Leistle angeschaut hatte, wurden dadurch um genau die paar Jahre älter, mit denen sie ihn dann distanzierten. Aber er hatte 2,5 bis 3 Millionen geboten! Dann hatte eben ein anderer mehr geboten. Trotzdem soll sie ihn bevorzugen. Das ist seine innerste Regung. Er möchte einfach bevorzugt werden. Einseitig. Alle sollten seine Eltern sein wollen. Alle sollten sich reißen darum, seine Mutter sein zu dürfen. Und er möchte diesem Wettbewerb andauernd zuschauen dürfen. Er mußte hoffen, es handle sich bei diesem Bedürfnis um eine normale Anomalie, eine alltägliche Abnormität. Den Daumen in den Mund nehmen wollen, also rauchen, das genügt nicht. In eine Schwingung geraten wollen wie an der aus-und einatmenden Brust der Mutter. Und die war größer als dein Kopf. Und wo, bitte, gibt es die noch? Mit Blaulicht hin. Auch der Schwung, mit dem man in ihren Armen eingeschläfert wurde, wo ist der jetzt? Ja, wie soll er denn ohne diesen Schwung, den er noch in allen Knochen und Nerven hat, einschlafen? Und im Kinderwagen hin- und hergeschuckt. Wie soll man auskommen ohne das? Am nächsten Tag mied er sein Büro. Er setzte sich in die Terrassennische und sah dem Sturm zu. Er liebte den Leerlauf des Winds durch die Bäume, dieses Rauschen für nichts. Ihn ergriff die Eitelkeit der Wolken, die den Augenblick beherrschen wie für immer und dabei vergehen. Er konnte nicht nach Herdwangen fahren, wo er hätte ein Bauernhaus aufnehmen sollen. Frau Leistle würde nicht mehr anrufen. Und wenn Baptist Rauh anriefe, würde er sich verleugnen lassen. Er konnte nichts unternehmen, solange er nicht wußte, wer das Schwanenhaus gekriegt hatte. Die Entscheidung war gefallen. Gegen ihn. Aber für wen? Er mußte den Namen hören. Dann konnte das Leben weitergehen. Er wußte noch nicht, wie. Es regnete. In den vor ihm wie in gläsernen Stangen herunterrasenden Regenmassen sah er den Sommer ertrinken. Herr Dr. Gramer rief an. Er sei zum Protokollieren bereit. Gottlieb sagte, er werde den Notarstermin vereinbaren und ihn Dr. Gramer mitteilen. Er hängte auf und ging wieder hinaus, setzte sich in die innerste Ecke der Nische und schaute die Rosen an, die im Regen standen, als wüßten sie's. Drinnen im Haus hörte er Anna stürmen und schaffen. Sie wirkte so frisch, als sei noch nie etwas gewesen. Armin gesellte sich zu ihm. Eise legte sich neben ihn. Für die beiden galt er noch. Die wußten nicht, würden nie wissen, daß er den Schwanenhaus-Auftrag nicht bekommen hatte. Er wollte nur noch mit solchen zusammenkommen, die nicht wußten, daß er den Auftrag nicht bekommen hatte. Das war zu machen. Er konnte auf Lissi Reinhold usw. verzichten. Aber die Familie? Wenn Anna nachfragte! Er
hatte Niederlagen immer geheimgehalten vor Anna. Diesmal hat er den Mund schon zu voll genommen. Diesmal ließ sich nichts verheimlichen. Er könnte natürlich auch durchs Gras hinunter, zur Gartentür hinaus und auf dem Uferweg stadteinwärts kriechen. Es hatte wieder aufgehört zu regnen. Sogar die Sonne war durchgebrochen. Die Wolkenränder an der Durchbruchstelle gleißten. Gottlieb starrte in den blendenden Glanz, der aus dem Wolkenloch strömte. Wenn er so etwas sah, dachte er immer noch an Gott. Das war eine Vorstellung aus seiner Kindheit. Dieser aus einem Wolkenloch brechende Glanz kommt von Gott. Hinter dem Glanz wohnt Gott. Der Glanz, von dem er, weil die Augen schmerzen, jetzt wieder wegschauen muß, ist Gott. Er konnte sich sagen, er verfalle, wenn er in diesem aus den Wolken brechenden Glanz Gott sehe, lediglich einer Vorstellung, die in seiner Kindheit in ihm fixiert worden sei; aber dadurch ließ sich das Gefühl, der Glanz aus den Wolken sei Gott, nicht vertreiben. Dieses Gefühl ließ sich nur widerlegen. Aber das Widerlegen nützt nichts. Die Macht der Vorstellung aus der Kindheit ist nicht durch Widerlegung zu brechen. Du hättest dich entwickeln müssen, denkt Gottlieb Zürn. Es ist nicht so, daß du jetzt zurückfällst, du bist nicht weitergekommen. Du bist geblieben, was du warst. Primitiv. Ein Kind. Deshalb haben Mitteilungen der Wissenschaft auf dich keinen Eindruck machen können. Los, kriech jetzt endlich im Garten herum. Durchs nasse Gras. Das wird dir guttun. Aha, du willst also keinen Kompromiß. Vorne zur Haustür hinaus willst du. Hinein in die Stadt. Feigling, du traust dich ja doch nicht. Aber wer wagte das denn? Sicher wollte jeder gern in die Stadtmitte kriechen und auf dem Münsterplatz oder auf der Hofstatt verharren. Aber es tat's doch keiner. Also mußte er sich auch keine Vorwürfe machen. Man kann wirklich zuviel verlangen von sich. Er war nicht feiger als andere. Trotzdem, gerade er hätte es tun müssen, das spürte er. Ehrgeiz. Wahnsinniger Ehrgeiz. Sein altes Leiden. Den Leuten imponieren, beliebt sein wollen, das war doch bei ihm das Motiv für alles. Wahrscheinlich war er ein Politiker. Einer, der sich verzehrte im Dienst für das Gemeinwohl und der dafür nichts wollte, als immer mit 98,8% der Stimmen wiedergewählt zu werden. Und der wahrscheinlich nicht mehr hätte einschlafen können, bis er die restlichen 1,2% aufgetrieben und von sich überzeugt hätte. Wehe, wenn er die nicht fände. Schütteln würde es ihn nachts vor Angst und Unsicherheit, weil da noch 1,2% waren, die gegen ihn gestimmt hatten. Wer nicht für ihn war, war gegen ihn. Und daß jemand gegen ihn war, war unerträglich. Nein, er hätte es keinen Tag ausgehalten, Politiker zu sein. So genau zu erfahren, wie viele gegen einen sind! Da nützt es doch überhaupt nichts, daß soundsoviele für einen sind. Eine Negation kann durch nichts gutgemacht werden. Jetzt kriech doch wenigstens im Zimmer herum, Feigling. Nein, er würde allen durch sein öffentliches In-die-Stadt-Kriechen beweisen, daß er nicht wissen wollte, wie sie über ihn dächten. Er hatte sich schon zu lange nach allen Leuten gerichtet. Aber war das Kriechen nicht auch schön, ohne daß die Leute es sahen, ohne daß er den Leuten damit irgend etwas bewies? War es nicht schon eine Demonstration der Freiheit, wenn er herumkroch, auch wenn niemand ihn sah? War nicht das die wahre Freiheit? War er, wenn er hier allein herumkröche, nicht viel freier, als wenn er dem Zwang, den Leuten durch sein Kriechen seine Freiheit, seine Unabhängigkeit zu beweisen, nachgeben würde? Gab es etwas Freieres als dieses gänzlich unbeobachtete Herumkriechen auf eigenem Grund und Boden? Gab es etwas Sinnloseres? Das war klar: nur wenn ihn jemand gesehen hätte, hätte das Kriechen einen Sinn gehabt. Nur wenn es öffentlich stattfand, war das Kriechen ein Beweis für Mut und Unabhängigkeit. Seit wann meinte er, mit dem Kriechen eine Mutprobe ablegen zu müssen? Das hatte er doch nicht vorgehabt. Kriechen hatte er wollen, sonst nichts. Allerdings öffentlich. In die Stadt hinein. Aber ohne etwas zu
denken oder zu beabsichtigen. Ein reines Bedürfnis war es gewesen. Jetzt war alles schon durch Denken und Meinen verdorben. Er mußte gar nicht erst hinknien. Das Kriechen war ihm verleidet. Er hatte schon wieder den Fehler gemacht, etwas, was er tun wollte, in Gedanken gleich allen Leuten vorzulegen zur Beurteilung. Das Beste auf der Welt wäre, wenn immer so verfahren worden wäre, unterblieben. Er aber würde am liebsten zuerst zu Lissi Reinhold, der großen Banalen, rennen, um sie zu fragen, was sie von einem halte, der gern in die Stadtmitte kröche. Zum Psychiater mit ihm, würde sie sagen. Also, falls er je wieder diese Anwandlung verspürte, nicht nach Öffentlichkeit trachten, einfach sich niederlassen, loskriechen. Auch wenn es als ein von keinem wahrgenommenes Kriechen keinen Sinn hat. Als sinnloses Herumkriechen ist es doch am ehesten dein Kriechen und niemandes Kriechen sonst. Spät am Nachmittag stand Magda unter der Tür und sagte: Leider bleib' ich in der Schule. Dazu verzog sie das Gesicht, wie wenn sie hätte lächeln wollen. Ein Lächeln wurde es nicht, aber die Vorführung eines guten Willens. Gottlieb sprang sofort auf, ging hin zu ihr und berührte sie an der Schulter. Lieber hätte er ihr einen Kuß gegeben. Abends kam Vetter Leonhard. Er war zufrieden. Schmerzen nur noch in den Beinen. Aussehen tut Regina allerdings, als sei sie noch nicht wieder da. Keinen Hauch Farbe hat sie im Gesicht. Aber Leonhard weiß, die Leber arbeitet wieder, die Galle fließt, eine Niere, sagt er, will noch das Käschperle machen, aber, sagt er, nicht mehr lang. Beim Abendessen spricht Magda von selbst. Sie ißt, was alle essen. Sie erzählt, was man in der Schule von der ersten Frau Terbohm erzählt. Die hat offenbar Zettel hinterlassen. Am Schluß, als sie zu schwach war, aufzustehen, hat sie an die Wand geschrieben. Sie habe aufgehört zu essen, solang ihr Kühlschrank noch voll sei. Sie fühle sich wunderbar. Entsetzlich sei es, nichts mehr essen zu können, weil der Kühlschrank leer sei. Sie sei drauf und dran, dem Entsetzlichen für immer zu entgehen. Gegen Ende scheint sie gut aufgelegt gewesen zu sein. Andererseits hat man, wie immer in solchen Fällen, unter den Fingernägeln der Toten Teppichfilz gefunden. Magda konnte nicht aufhören, von dieser Frau zu sprechen. Sie hätte sie besuchen sollen. Sie war doch mit Bernhard Terbohm in die Klasse gegangen. Da der jetzt in Salem ist, hätte sie seine Mutter besuchen sollen. Sie hätte Bernhard das anbieten müssen. Sie begreife nicht, warum sie ihn in den Ferien nicht gefragt hatte, ob es ihm recht sei, wenn sie manchmal seine Mutter besuche. Die Schwester ist ja für ein Jahr in Connecticut. Julia will etwas viel Wichtigeres erzählen. Stefan Schatz hat den Direktor besiegt. Das Motzfäßle wird aufgestellt. Probeweise zwar, aber schon geht Stefan Schatz durch die Schule, als sei er der Direktor. Julia verlangte, daß ihr Vater endlich einmal begreife, was für ein brutaler Egozentriker dieser Stefan Schatz sei. Natürlich setze der sich immer für die richtigen Projekte ein, immer ganz tolle Projekte, aber er tue es nur, um sich hochzuspielen, um allen anderen zu beweisen, daß er der ganz große Typ sei. Für sie sei einer, der es nur aushalte, wenn er Spitze ist, das Hinterletzte. Gottlieb widersprach ihr laut und immer lauter. Das sei eben typisch Julia, typisch für seine Kinder: selber flau und schlaff und erzbequem, aber schimpfen auf die, die etwas unternehmen, die sich einsetzen, die nicht nachgeben, bis sie etwas Tolles geschafft haben! Bitte, wenn sie schon selber lieber rumgammle, als sich einzumischen, wenn es ihr schon lieber sei, daß sie später von denen, die es geschafft haben, herumkommandiert wird, weil sie sich zu fein ist, andere herumzukommandieren, dann solle sie ihr selbstverschuldetes Jammerlappenleben eben in Kauf nehmen, aber nicht auch noch stänkern gegen die, die sich aufgeschwungen haben und jetzt für immer droben sind, über den Nulpen, Flaschen, Nieten . . . Er konnte sich wieder nicht fassen. Er mußte vom Tisch weg, hinüber in sein Büro und die Tür zuschlagen. Sobald er saß und der den ganzen
Körper durcheilende Krampf allmählich nachließ, nahm er Papier und machte eine Aufstellung aller Werte, die er erworben hatte. Das Haus mit den zwei Ferienwohnungen, das Häuschen in Immenstaad, die Pfandbriefe, Bausparverträge, Sparkonten. Dann versuchte er, daraus vier Teile zu machen. Zum Essen ließ er sich erst holen, als er ausgerechnet hatte, wie jedes der vier Kinder zu eigenem Grund und Boden komme. Jede sollte etwas haben, worüber nur sie selber verfügen könnte. Ihm drängte sich die Vorstellung auf, daß er die Kinder zu kleinen, aber autarken Schlachtschiffen ausbauen würde, auf daß sie niemals fremdem Willen unterworfen sein konnten. Oder daß es doch wenigstens einen Platz gebe, wo sie unangreifbar wären. Er errechnete, daß er, wenn er durchhielt und die Umstände günstig blieben, noch 15 bis 20 Jahre arbeiten müßte, bis er die Kinder mit jenem Eigentum ausgestattet hatte, das sie in dieser Gesellschaft vor den schlimmsten Erfahrungen bewahren konnte. Als Kind hatte er am liebsten Baumlager gebaut. Hoch in Tannen hatte er mit Ludwig winzige Hütten gefügt und geflochten, in denen sie dann tagelang unerreichbar lagen und rauchten und Karten spielten. Eine eigene Wohnung, ein eigenes Haus, das ist das, was früher Waffen waren. Er erwartete in jedem Augenblick, die Kinder kämen und würfen ihm vor, daß er sie in eine Welt gesetzt habe, in der sie gar nicht gebraucht würden, in der man nur bemerkt werde, wenn man sich aufdränge. Sie hatten — und er wußte nicht, wie es dazu gekommen war — diese luxuriöse Art der Zurückhaltung entwickelt. In der Schule fanden sie es peinlich, wenn jemand, der etwas gelernt hatte, sich meldete, um zu zeigen, was er gelernt hatte. Er war schon oft genug von Lehrern bestellt worden, die ratlos waren, weil seine Kinder im Mündlichen einfach ausfielen. Wie sollte das erst in der Wirklichkeit werden? Als er sich schon ganz verstrickt hatte in die Schwierigkeiten, die vor allem nachts gedeihen, rief Schaden-Maier an. Rudi W. Eitel sei verschwunden oder verhaftet, ob Gottlieb etwas wisse? Schaden-Maier rief aus dem Krankenhaus an. Von seiner stählernen Stimme war nur noch ein Krächzen übrig. Er habe wieder einen Blutsturz gehabt. Das werde sein letzter sein. Er wünsche Gottlieb alles Gute. Gottlieb, das Kind, solle Rudi, den Hochstapler, von Helmut, dem Soifer grüßen. Der Schaden-Maier hängte auf. Gottlieb beschloß, das alles für Alkoholphantasie zu halten, und ging ins Bett. Als er lag, kam Annas Hand herüber. Auch redete sie so zu ihm, als lebten sie wieder im tiefsten Frieden und alles glückte. Mit einer lebendig leisen Stimme gab sie den oberflächlich bleiben wollenden, sich räkeln wollenden Seufzerton, diesen Anstifterton, für den in ihrer Umgangskunst ein Antwortton Gottliebs fällig gewesen wäre. Er konnte, was er hörte, nur benützen, wie der Astronom ein Sternenlicht nur benützt, um die Entfernung zu messen. Die schien ihm unendlich. Anna wußte offenbar überhaupt nicht mehr, wo er zur Zeit war. Und er fühlte sich unfähig, es ihr mitzuteilen. Er konnte nicht über sich verfügen. Er war nicht sein eigener Herr. Er mußte voller Peinlichkeit und Scham warten, bis Anna eingeschlafen sein würde, dann konnte er sich wieder der Szene zuwenden, in der das Schwanenhaus unvertreibbar herumgeisterte; in der feindselig brodelnden Atmosphäre leuchteten die Zahlen auf, die seine Schulden ausdrückten; was erschien, wurde Drohung; die Konjunktur krümmte sich, erstickte. Gottlieb grinste. Alles war so ungünstig als möglich. Aber was ging es ihn an? Er spürte, wie er nur zum Schein daran teilnahm. Man konnte zwar meinen, es gebe nichts als diesen Schein. Aber vielleicht gab es doch noch etwas. Seine Teilnahmslosigkeit. Wie hätte er, wenn die Misere alles gewesen wäre, grinsen können? Um 9 Uhr war er in Mitten. Nach Detektivmanier parkte er wieder ein paar hundert Meter vor der Einfahrt. Vor und nach der Einfahrt und innen, zwischen dem Tor und den beiden das wirkliche Tor bildenden Linden, die er erst heute erkannte als das, was sie waren, zwei Hoheiten nämlich, zwischen dem steinernen Tor und den
Linden-Hoheiten also war ein hauptsächlich gelber, militärisch wirkender Fuhrpark aufgefahren. Lkws, Schaufelbagger, Kranfahrzeuge, Feuerwehrwagen. Und Soldaten, sozusagen. Und Schlachtenbummler. Unwillkürlich dachte Gottlieb: Karfreitag. Er ging sofort auf das Kutscherhaus zu, rannte die steile, enge und gerade Treppe hinauf, klopfte an der Wohnküche, Dio-nys rief: Herein. Gottlieb stellte die zwei Weinflaschen auf den Tisch. Dionys schüttelte den Kopf, winkte ab, dann machte er eine Geste in Richtung Villa. Um zehn Uhr wird gesprengt. Gottlieb setzte sich. Neben Dionys. Beide sahen hinaus. Dionys zeigte auf das Zentrum. Ein Kastenwagen. In dem saßen an einem Tisch drei Herren, einer hatte einen gelben Schutzhelm auf. Das sei der Sprengmeister. Einer sei der Herr von Reventlow, ein Architekt. Den dritten kenne er nicht. Den kannte Gottlieb. Der heißt Kaltammer, sagte Gottlieb. Der Sprengmeister erläuterte offenbar an Hand eines Grundrisses, wie er die Sprengung vorbereitet habe. Manchmal kamen noch Arbeiter vom Haus her und meldeten etwas in den Kastenwagen hinein. Manchmal sagte der Sprengmeister etwas in sein Sprechfunkgerät. Dionys hatte gehört, eine Firma habe den Bau gekauft, lasse sprengen, abreißen und baue dann einen Apartmentsblock mit 5 o oder 100 Wohnungen. Der reiche dann bis dahin, wo jetzt die Linden stehen. Die kämen auch weg. Aus zwei Arbeitskanzeln sägten Arbeiter schon mit Motorsägen in den Kronen herum. Die stehen unter Naturschutz, das weiß ich ganz sicher, sagte Dionys. Wenn die weg sind, sagte Gottlieb, gewinnt der Bauherr tausend Quadratmeter dazu, die sind hier 150 000 Mark wert, dafür kann er der Behörde, wenn überhaupt Anzeige erstattet wird, gern 10 000 Mark Strafe zahlen. Das ist so üblich, Dionys. Gestern abend, als sie die Tiere abholten, habe man den lädierten Schwan erschießen müssen, darauf sei der andere wieder so wild geworden, daß nichts anderes übriggeblieben sei, als ihn auch zu erschießen. Dann hätten sie von ihm verlangt, die Kadaver zu beseitigen. Er habe sich geweigert. Dann hätten sie gesagt, da ja doch gesprengt werde, könnten die beiden Viecher auch drin liegen bleiben. Nur so habe er überhaupt erfahren, daß gesprengt werde. In die Grundmauern haben sie 150 Sprengsätze hineingebohrt. Um fünf Uhr in der Früh' haben die angefangen. Das gehe alles hoppdihopp, weil ein Sauhaufen Kapital drinstecke. Bubi fehle seit gestern abend. Gottlieb sagte: Schau! Kaltammer, der Sprengmeister und der Architekt waren ausgestiegen. Der schlanke Kaltammer war einen Kopf größer als die beiden anderen. Seine gelben Haare konnten es an Leuchtkraft mit dem Helm des Sprengmeisters aufnehmen. Kaltammer stützte, wenn er stand, immer die Hände in die Nierengegend, daß seine Arme wie Henkel von ihm abstanden. Auch beugte er immer seinen Kopf ein wenig herunter, als wolle er den Leuten zeigen, wie leicht es sei, mit ihm zu sprechen. Heute trug er zu seinem changierenden Seidenmantel einen bauschigen beigen Schal. Punkt zehn Uhr ertönte das Hörn, die Neugierigen wurden zurückgedrängt in den Raum zwischen Linden und Tor; die Arbeiter, die die Linden entasteten, wurden heruntergeholt. Der Sprengmeister machte darauf aufmerksam, daß jeder auf eigene Gefahr hier stehe. Dann drückte er. Ein dumpfer, erstickter Krach, durchkreischt von spitzem Geklirr. Und sofort, aus allen Kellerfenstern schießend, eine schmutzige Staubwolke, in der das Haus verschwand, die Bäume verschwanden und die Fahrzeuge und die Menschen. Gottlieb hustete. Er verlor das Zeitgefühl. Als sich die brodelnden Schwaden senkten, als man das Haus allmählich wieder sah, konnte eher eine Ewigkeit als ein Augenblick vergangen sein. Das Schwanenhaus hatte den Anschlag offenbar überstanden. Nur der First hing in der Mitte ein wenig durch. Die Flaggenterrasse war ins Schiefe verrutscht. Kaltammer und der Architekt waren mit dem Effekt nicht zufrieden. Sie machten dem Sprengmeister Vorhaltungen. Der drehte sich dann weg, als wolle er sagen, es habe keinen Sinn, mit Laien zu streiten.
Er winkte vier seiner Leute her, die trugen vier Pakete ins Haus. Kaltammer schüttelte nur noch den Kopf. Der Architekt wollte ihn beruhigen. Kaltammer ließ sich nicht beruhigen. Er deutete auf seine Armbanduhr, spreizte zählend die Finger in die Luft. Die Arbeiter, die die Linden zurichten mußten, wurden wieder hochgehievt. Der Sprengmeister war seinen Leuten ins Haus gefolgt. Als sie zurückkamen, ging einer von den Arbeitern auf das Kutscher-Haus zu, öffnete unten die Tür und rief: Dionys, dein Hund ist hin. Bubi liege in der Halle, angebunden an der Hallentreppe, die die Sprengung unversehrt überstanden habe. Auch dem Hund sehe man nichts an. Vielleicht ein Herzschlag. Von dem Schrecken. Laß ihn liegen, sagte Dionys und stellte zwei Gläser auf den Tisch und schenkte ein. Gottlieb und er prosteten einander zu und tranken. Dionys schloß die Augen beim Trinken. Wegen seiner Verkrümmtheit sah es aus, als könne für ihn nichts so anstrengend sein wie das Trinken. Er sagte, solang er lebe, seien die Weine immer besser geworden. Der winzige Goldring an seinem Ohr leuchtete in der dämmrigen Küche. Sobald der Sprengmeister und seine Gehilfen aus dem Haus zurückkamen, wurden die Arbeiter aus den Lindenkronen heruntergefahren, alle Zuschauer mußten das Grundstück verlassen. Noch eine Warnung, dann wurde die zweite Sprengung gezündet. Diesmal gab es fast keine Staubwolke. Man sah, wie die Erschütterung durch das Gemäuer fuhr. Das Haus stand zwar noch immer, aber nur noch wie ein Mensch steht, der, an einen Pfahl gebunden, erschossen worden ist. Jetzt fuhr schon der Seilkran auf das Portal zu, hielt, schwenkte aus und ließ die Stahlkugel in den Portalbau schlagen. Das Schwanenrelief mit dem Spruch wurde zerschmettert. Die Kugel holte aus, schlug zu, der melancholisch geschwungene Giebel rührte sich nicht. Dionys sagte, die Kugel wiege eine Tonne. Motoren heulten auf. Ein Schaufelbagger fuhr an, zwei gewaltige Haken wurden links und rechts ins Portal geklinkt, der Bagger fuhr zurück, die Stahltaue hoben sich, spannten, der Bagger stand, fuhr noch einmal, mit noch mehr Kraft, zurück, bäumte sich, ein Knall, die Stahltaue rissen, das Portal stand. Kaltammer drehte sich zweimal auf einem Bein, pirouettenhaft. Der Sprengmeister selber brachte neue Ladungen nur im Portalbau an. Nach dieser Sprengung brach der Giebel unter dem Schlag der Stahlkugel zusammen. Aus zwei Strahlrohren schoß die Feuerwehr Wasser in den Zusammenbruch. Kaltammer versöhnte sich mit dem Sprengmeister. Offenbar gratulierte er ihm. Dann gingen Kaltammer und Herr von Reventlow plaudernd zum Park hinaus. Dionys sagte in witzigem Ton: Es ist prachtvoll ... äh . . . vollbracht. Aber schau, die Handwerker freuen sich. Er deutete auf eine Gruppe von lachenden Männern. Hoffentlich komme seine Frau mit Lydia nicht so schnell zu Besuch. Er habe es seiner Frau gleich gesagt, daß er fürchte, er könne Bubi nicht durchbringen. Aber dabei habe er mehr an das Füttern und an den Auslauf gedacht. Und jetzt läßt er ihn da drin. Mein Gott und Vater. Der wird schön erschrocken sein. Aber leiden hat er nicht mehr müssen. Wer weiß, was ihm so alles erspart geblieben ist. Gottlieb verabschiedete sich. Wie lange Dionys noch hier wohne? Bis zum ersten, sagte Dionys, dann ab ins Spital. Gottlieb sagte, er werde vorbeikommen und nach Dionys schauen. Gottlieb habe was Besseres zu tun, als ihn im Spital zu besuchen, sagte Dionys. Nix da, sagte Gottlieb, du wirst sehen, ich komm'. Er lass' doch Dionys nicht verdursten. Es sei schon recht, sagte Dionys. Als Gottlieb hinausging, sahen die Linden schon aus wie Krüppel. Über den Stücken der niedergelegten Hecke richteten Arbeiter gerade eine Reklamewand auf. Gottlieb las: Hier entstehen Luxusappartements. Als er auf der anderen Straßenseite den Friseurladen sah, wußte er, wohin er jetzt mußte. Er fuhr sehr langsam. An der Unfallstelle atmete er tief durch. Bei seinem Friseur mußte er eine Stunde warten. Aber er brauchte keine Zeitung. Als er unter dem
Umhang saß, sagte der Friseur: Wie immer. Und wie immer sagte Gottlieb: Wie immer. Danach — das war auch immer so — sprach nur noch der Friseur. Wenn Gottlieb nach der Prozedur ins Freie tritt, überläuft ihn jedesmal ein Schauer. Auch im Sommer. Am liebsten würde er jedesmal umkehren, zurücklaufen und fragen, ob er sich wieder unter die Tücher des Friseurs setzen dürfe. Nicht daß er sich unter diesen Hüllen selig fühlte. Er saß da eher wie im Tetanus. Alle paar Sekunden mußte er sich befehlen, die Beine zu lockern, die Füße aus der Stangenvogelklammerhaltung zu lösen. Er mußte sich immer wieder sagen: der Friseur werde ihn garantiert nicht in den Kopf schneiden. Diese Angst stammte aus der Zeit jenes ersten Friseurs, der sein Geschäft gegenüber der Einfahrt zum Schwanenhaus hat. Der hatte von Gottliebs Mutter den Auftrag gehabt, ihm die Haare jedesmal vollkommen wegzuscheren. Dazu hatte der einen Apparat benutzt, der wahrscheinlich dem System entsprach, das auch mit Elektrizität betrieben werden kann. Für 30 Pfennig zahlende Kinder wollte der damals keinen Strom verbrauchen. Wenn er dann mit seinem Apparat in die Kopfhaut zwickte und das Kind leise aufschrie, schrie er laut, ob man nicht ein paar Minuten ruhig sitzen bleiben könne. Die Schuld, die er einem so zuschob, nahm man auf sich, weil man hoffte, neben den unvermeidlichen, durch den Handapparat bedingten Kopf-hauteinklemmungen nicht auch noch beabsichtigt erdulden zu müssen. Von heute aus gesehen, war es nirgends mehr so schön gewesen wie unter dem blaukarierten Überwurf des ersten Friseurs. Nirgends mehr waren die Verletzungen, die man zu gewärtigen hatte, so harmlos gewesen. Gottlieb wäre auch jetzt gern noch länger als nötig unter dem Überwurf geblieben. Er stellte sich vor, daß er, je länger er unter dem Überwurf sitze, desto kleiner werde. Schließlich würde er so klein werden, daß der Friseur ihn gänzlich wegkämmen konnte. Nachher käme er in die Bürste, mit der der Friseur seinen Kamm reinigt. Womit der Friseur die Bürste reinigt, hat man noch nie gesehen, also weiß man nicht, wohin man zuletzt kommt. Als er im Auto saß, merkte er, daß er nicht heimfahren konnte. Er rief Anna an. Das Schwanenhaus sei gesprengt worden, sagte er und redete weiter, bevor sie etwas dazu sagen konnte. Er müsse dringend nach Herdwangen fahren, einen Hof aufzunehmen. Er steigerte seine Stimme so sehr er konnte. Hoffentlich gehe es Anna und den Kindern so gut wie ihm. Sie wisse, daß Höfe aufzunehmen seine Lieblingsbeschäftigung sei, da er, als er nach den zwei Semestern Kirchenarchitektur und dem Jura-Studium Makler geworden war, immer gehofft hatte, Hof-Makler werden zu können. Er redete schnell, hemmungslos, vorbeugend. Und, bitte, Anna, schick' ein Telegramm an Baptist Rauh: Schwanenhaus gesprengt, stop, Apartment-Gesellschaft überbot alle. Gruß Zürn. Dann fuhr er langsam landeinwärts. Ach, er hätte Anna doch sagen sollen, daß Paul Schatz das Schwanenhaus auch nicht bekommen hat. Kaltammer hat es bekommen. Weder Schatz noch Zürn, aber Kaltammer. Der Schaden-Maier ist das wirkliche Genie. Er erkennt das Gesetz. Du hast das Schwanenhaus nicht auf dem Gewissen. Das ist ganz einfach. Darum kannst du grinsen, während das Auto langsam die Steigungen frißt und sanft durch Mulden taucht. Du bist einer, der im Augenblick zu einer Arbeit fährt, die er gern tut. Die Nase in die von Stube zu Stube streng wechselnden Gerüche eines jahrhundertealten Bauernhauses stecken, die Finger feinfühlig werden lassen auf altem Holz, Fertigkeiten erfahren, die gegen Not entwickelt wurden, ein schöner Nachmittag. Er fuhr erst heim, als er sicher sein konnte, daß die Kinder schliefen. Anna war auch schon im Bett. Sie las aber noch in einem Buch über Erdstrahlungen. Er legte sich so dicht als möglich neben sie. Sie hatte, als sie merkte, daß er sich zu ihr legen wollte, den Arm ausgelegt. Sie las weiter, drückte ihn aber ein wenig an sich. Jemand, der jetzt zur Tür hereingekommen wäre, hätte den Eindruck haben müssen, sie schütze ihn. Hatte er von seinem
Vater je etwas anderes gehört, als daß er von seiner Frau beschützt werden mußte? Er sah an die Stelle des Vorhangs, hinter der der Apparat stand. Morgen kommt der ins Büro. Der Familie wird mitgeteilt, der sei angeschafft worden, damit Interessenten von Besichtigungen gleich Bilder mitnehmen könnten; familiäre Verwendung nicht ausgeschlossen. Irgendwann konnte er sich immer noch rächen an Anna mit dem Apparat. Wie unlebendig waren jetzt die Rachevorstellungen, die er in letzter Zeit gegen Anna gehegt hatte. Sie las weiter, weil er gestern nicht auf sie gehört hatte. Sie würde Jahrhunderte lang nur noch lesen, wenn er nicht zeigte, daß er bedaure, gestern eine Antwort versäumt zu haben. Nach den Regeln ihrer Umgangskunst mußte er nach ihr rufen. Er würde nach ihr rufen, sobald er konnte. Daß er das Auto zerstört hatte, war harmonisch beantwortet worden durch den Mißerfolg bei Frau Dr. Leistle. Das einzige, was er im Augenblick sagen könnte, wäre: Anna, Schatz hat das Schwanenhaus auch nicht gekriegt. Nicht einmal Schatz. Aber Kaltammer. Natürlich Kaltammer. Aber auch Kaltammer . . . Gottlieb erkannte, daß etwas tatsächlich hinter ihm war. War ihm, was ihm gegen jemanden eingefallen war, nicht immer künstlich vorgekommen? Er hatte es sich nur nicht eingestanden. Er hatte es für nötig gehalten, sich als Gegner fühlen zu können. Aber hatte er nicht, sobald er gegen jemanden gewesen war, den Boden unter den Füßen verloren? Und sobald er etwas für jemanden empfand oder sagte, spürte er, wie wahr es war. Auch ging sofort eine Wärme von dem aus, was er zu Gunsten eines anderen sagte. Sooft er etwas gegen Schatz oder Kaltammer gesagt hatte, hatte er sich nachher beklommen gefühlt, so als habe er sich selber verletzt. Stimmte das, oder holte er das aus seinem IllusionsGewächshaus, um endlich einschlafen zu können? Er konnte doch noch grinsen, oder? Innerlich wenigstens. Hatte er je so deutlich gespürt, daß Kaltammer und Schatz in ihm verblassen konnten? Sollte es auch das Leben selbst sein, das verblassen mußte, damit die zwei ihm unwichtiger wurden, ihm war es recht. Vielleicht war, seit das Schwanenhaus im Himmel war, doch eine Zeit vorbei. Er schmiegte sich an Anna wie die nestende Amsel, die sich durch das Schmiegen das Material gefügig macht. Vielleicht sollte er versuchen, ein Schlußwort an Frau Dr. Leistle zu richten, besagend, daß es schon ein arger Zufall gewesen wäre, wenn sie sich aus ihrer angestammten Natur dazu verirrt hätte, ihm das Schwanenhaus anzuvertrauen. Eigentlich war das immer unmöglich gewesen. Sein Freund Helmut hat es ihm doch gesagt. Man hat nichts miteinander gemein. Kein Wort, keine Geste. Die Eroica, noch einmal. Durch schimmernde Türen. Und zum Abschied mit Schluß. Eine Beendigung muß unpersönlich sein. Her mit Finaleeile, Beendigungsdonner, Witzlosigkeit. Opus 5 5, bitte. Es-dur, bitte. Was will man denn da! So alt, wie der Komponist war, als er diese Musik machte, fühlte er sich jetzt doch auch. Der Sieg der Erfahrung über die Vorstellung. Er drehte sich zu Anna hin. Sie war eingeschlafen. Er nahm ihr das Buch von der Decke, löschte das Licht und zog sich vorsichtig zurück. Grins' doch. Und schneuz dich. Dann kannst du auch einschlafen. Im Augenblick fanden nur die Atemzüge statt, die er selber machte. Er tastete nach dem Taschentuch, zog sich mit dem Taschentuch unter seine Decke zurück, machte nach außen dicht und fing an, sich zu schneuzen; aber aus Rücksicht auf Annas Schlaf schneuzte er sich langsam und leise. Plötzlich wurde ihm die Decke vom Kopf gezogen und Anna fragte voller Angst: Gottlieb, was ist denn? Jetzt schneuzte er sich laut und kräftig. Sie fragte, warum er denn nicht schlafe. Er fragte, warum denn sie nicht schlafe. Sie sagte, weil er nicht schlafe. Dann muß ich jetzt also schlafen, damit du schlafen kannst, sagte er. Ja, sagte sie, schlaf jetzt. Das war nicht nur ein rücksichtsloser Wunsch, es war auch die Übertragung der Kraft, die man zum Einschlafen braucht. Gottlieb wollte noch Anna, danke! sagen, aber dazu fühlte er sich schon zu schwer.