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Wieviel Kälte hält der Organismus aus? Im neuesten UTOPIA-Heft ist von einem phantastischen Projekt die Rede: Ein Gelehrter schlägt vor, die Funktionen des menschlichen Körpers künstlich zu verlangsamen, um auf diese Art eine erhebliche Verlängerung der normalen Lebensdauer zu erzielen und den Menschen zu befähigen, Weltraumreisen von jahrhundertelanger Dauer, wie sie bei Vorstößen in die Fixsternwelt erforderlich wären, zu überstehen. Dieses Ziel hofft er dadurch zu erreichen, daß er seine Versuchspersonen durch starke Unterkühlung auf sehr niedrige Körpertemperaturen bringt. Doch sofort erhebt sich für uns die Frage: Ist so etwas überhaupt möglich? Wieviel Kälte verträgt ein Lebewesen denn eigentlich? Bei Tierversuchen hat sich ergeben, daß man Fische bis auf -15, Frösche bis -28, Tausendfüßler bis -50 und Schnecken bis auf -120 Grad Celsius abkühlen konnte, ohne die betreffenden Tiere dadurch zu töten. Ja, es gibt Bakterien, die man sogar in flüssigem Helium bei -271 Grad aufbewahrt hat, ohne daß sie dieser unglaublichen Kälte zum Opfer gefallen wären. Allgemein läßt sich sagen, daß ein Lebewesen um so tiefere Temperaturen aushalten kann, je primitiver es gebaut ist. Säugetiere – vor allem aber der menschliche Organismus – sind dagegen sehr viel kälteempfindlicher. Nach den bisherigen Erfahrungen muß der Mensch sterben, wenn seine Eigentemperatur unter +23 Grad Celsius sinkt.
Von Alf Tjörnsen
Das war damals, vor vier oder fünf Jahren, gewesen … Mit donnerndem Raketenmotor brauste das Weltraumschiff „Antares“ dem Monde zu. Unter seinem mächtigen granatenförmigen Rumpf sank die nächtliche Erde zurück. Schwer keuchten in den Kabinen des Schiffes Mannschaften und Passagiere gegen das unsichtbare Gespenst des Andrucks, das ihnen die Kehle zuschnüren, die Rippen zerpressen wollte. Zu jener Zeit verfügten erst wenige Raumschiffe des S.A.T. * über Atomtriebwerke. Der „Antares“ gehörte nicht zu ihnen, und seine knappen Treibstoffvorräte erforderten hohe Beschleunigungen beim Start, um die Erdanziehung möglichst rasch zu überwinden. Im winzigen Führerstand des Schiffes hockte Jim Parker, fest in die welchen Polster des Pilotensitzes zurückgepreßt. Auf seinen Fäusten, die eisern den Steuerknüppel umspannten, schwollen die Stränge der Adern, und die weißen Knöchel traten hervor. Er hatte Kopfhörer und Kehlkopfmikrophon angelegt und starrte *
S.A.T. – Staatliches Atom Territorium der USA
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angestrengt auf die Skalen der Anzeigegeräte auf dem Armaturenbrett. Unendlich langsam schlichen die Sekunden auf der elektrischen Borduhr. 3 Minuten – 50 Sekunden. Jetzt – die dritte Stufe … „Zündung!“ entrang sich seiner trockenen Kehle der Befehl für den Maschinenraum. Dort, im Heck des „Antares“, tat Ben Shelly mit seinen Maschinisten Dienst – Ben, der junge Bordingenieur, der heute zum erstenmal mit auf große Fahrt ging. Ein ungemein fähiger Kopf, dieser Junge. Nur leider furchtbar nervös und ängstlicher, als es für einen Raumfahrer gut war. Trotz der Anstrengung dieser Minuten des Starts mußte Jim Parker lächeln … 4 Minuten, 30 Sekunden. Gleichmäßig brauste das Triebwerk. Die Wände des Schiffes vibrierten leise. Die Maschine arbeitete sauber und zuverlässig. Jim Parkers Augen suchten die Skalen der Geschwindigkeits- und Erddistanzmesser. Alles in schönster Ordnung. 5 Minuten, 30 Sekunden. Noch eine halbe Minute, dann würden sie es geschafft haben. Dann könnte auch Ben Shelly aufatmen – nach der bestandenen Feuerprobe, vor der er sich so sehr gefürchtet hatte … 5 Minuten, 40 Sekunden – 50 Sekunden – 55 … Die Gestalt des Mannes am Steuer straffte sich unwillkürlich. „A–c–h–t–u–n–g – Maschine – stop!“ 6 Minuten. 0 Sekunden. Jim Parker wollte sich erleichtert aufrichten, wollte tief, tief Luft holen … Doch der Andruck preßte ihn nach wie vor nieder. Der Sekundenzeiger sprang – und mit jeder Sekunde wuchs die Fahrtgeschwindigkeit des Schiffes, geriet der „Antares“ weiter und weiter aus der im voraus haargenau abgestimmten Bahn. „Bei allen Planeten!“ Im Maschinenraum mußte irgend etwas unklar sein, ausgerechnet jetzt, in einem der kritischsten Augenblicke der ganzen Fahrt. „Maschinenraum, melden! Maschine 4
stop!“ heiser stieß Jim Parker die Worte hervor. Doch nur verworrene Geräusche, abgerissene Wortfetzen waren im Kopfhörer zu vernehmen. Blitzhaft arbeiteten die Gedanken des Schiffsführers. Untergang drohte dem Schiff, wenn es nicht augenblicklich gelang, die rasende Beschleunigung zum Stillstand zu bringen. Mühsam stemmte sich Jim Parker hoch, seine Rechte schob sieh zitternd gegen den kleinen, roten Schalthebel vor, umklammerte ihn mit verkrampften Fingern und – drückte ihn nach oben. Das Brausen des Motors, das Zittern der Wände hörte auf. Augenblicklich wich der Andruck, der das Mehrfache der Erdschwere ausgemacht hatte, einem Zustand völliger Schwerelosigkeit. Etwas verwirrt schloß Jim Parker die Augen, riß sie dann gewaltsam wieder auf und ließ sie für Augenblicke auf den Meßgeräten ruhen. Alles schien soweit in Ordnung. Erdabstand und Fahrtgeschwindigkeiten waren freilich zu hoch, aber das würde sich später korrigieren lassen. Jetzt mußte er zunächst einmal nachsehen, was da im Maschinenraum passiert sein mochte. Jim Parker sicherte die Steuerung und tastete sich durch den langen, engen Mittelgang nach achtern. Im Maschinenraum, dem Reiche des gewaltigen Raketentriebwerks, erwartete den Schiffsführer ein merkwürdiger Anblick. Zwei Maschinisten klammerten sich krampfhaft an die Haltegriffe und bemühten sich um einen dritten, einen Jungen Menschen, der hilflos zuckend in den freien Armen der Männer hing: Ben Shelly, der junge Bordingenieur. „Was ist denn hier los?“ fragte Parker verständnislos. „Warum habt ihr denn mein Kommando nicht beachtet? Das hätte uns Kopf und Kragen kosten können!“ Einer der Männer machte ein betretenes Gesicht. „Pardon, Sir – der Herr Ingenieur – schlappgemacht …“ Jim Parker beugte sich über den Jungen, der in diesem Au5
genblick nichts anderes war als ein weinendes, zitterndes Bündel Mensch. Er faßte ihn an der Schulter und schüttelte ihn vorsichtig. „Hallo, Shelly, so nehmen Sie sich doch zusammen. Das Schlimmste ist doch vorüber.“ Aber der junge Ingenieur wandte sich ab und schluchzte nur noch haltloser. Ratlos sahen sich die drei Männer an. „Vielleicht ’n Schnaps, Käpten?“ begann der eine von den Maschinisten unsicher. „Mister Wernicke sagte mir mal …“ „Ich glaube, daß hier ärztliche Hilfe besser am Platz ist als Schnaps und dergleichen fragwürdiges Hausmittel“, ließ sich in diesem Augenblick eine ruhige Stimme vernehmen. Die Gesichter der drei Männer fuhren überrascht herum. Wie aus der umgebenden Luft herausgewachsen stand da urplötzlich ein Mann im Raum – groß, schlank, mit bleichem, durchgeistigtem Gesicht. Und dieses Gesicht wurde beherrscht von einem Paar großer grauer Augen, über denen sich buschige Brauen wölbten. Von diesen Augen schien eine magische Kraft auszustrahlen. Jim Parker war es plötzlich, als sei alles um ihn her traumhaft und unwirklich. Die Geräusche klangen wie aus weiter Ferne kommend. Der Raum schien in einen bläulich-geisterhaften Schimmer getaucht … Gewaltsam schüttelte Parker den unheimlichen Eindruck von sich ab. Er räusperte sich und fragte mit einer fremden, rauhen Stimme: „Ahem, darf ich fragen, Sir, was Sie hier suchen?“ Der Schatten eines spöttischen Lächelns huschte über die bleichen Züge des Fremden. „Verzeihung, Sir, mein Name ist Finlay. Ich bin Arzt, und ich glaube fast, Sie haben Arbeit für mich.“ Ach ja – jetzt fiel es Jim wieder ein. In der Passagierliste, die es vor dem Start nur flüchtig überflogen hatte, war ihm dieser Name begegnet: Doktor Ernest Finlay, Facharzt für Neurologie. Reiste – mit Sondergenehmigung Generaldirektor Cunning6
hams – zu Studienzwecken nach den Mondwerken des S.A.T. Mochte der Teufel wissen, was es da zu studieren gab. Der Arzt hatte sich inzwischen prüfend über den Bordingenieur gebeugt und ihm den Puls gefühlt. Unter seinem Blick, der wie bannend auf Shellys Zügen lag, beruhigte sich der Kranke überraschend schnell. „Schwerer Nervenzusammenbruch“, konstatierte Doktor Finlay. „Der Patient scheint eine übermäßig sensible Veranlagung zu besitzen. Hat er schon öfter derartige Anfälle von ‚Raumkrankheit’ erlitten?“ Jim Parker zuckte die Achseln. „Es ist seine erste Weltraumfahrt, Herr Doktor. Meinen Sie, daß er darüber hinwegkommen wird?“ „Ich werde den jungen Mann in meine Kabine mitnehmen und ihm noch ein starkes Schlafmittel geben. Das wird ihn für’s erste beruhigen.“ „Und die weiteren Aussichten für seine Laufbahn?“ Der Arzt machte ein sehr bedenkliches Gesicht. „Der Mann wird seit seines Lebens für die Raumfahrt untauglich sein. Ich begreife nicht, wie er sich ausgerechnet einen Beruf aussuchen konnte, der tagtäglich höchste Anforderungen an das Nervensystem stellt.“ „Er ist als Ingenieur ungewöhnlich begabt, Doktor, und allen technischen Neuerungen gegenüber aufgeschlossen – ganz gleich, ob es sich dabei um Weltraumschiffe oder um Roboter handelt.“ „Dann geben Sie ihm den Rat, sich lieber auf Roboter zu spezialisieren“, meinte Doktor Finlay gedankenvoll. „Ich würde ihm eine zweite Raumreise jedenfalls nicht zumuten. Am besten wäre es, Sie ließen ihn gleich auf dem Monde.“ *
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An dieses Erlebnis wurde der Kommodore erinnert, als er an einem heißen Junitage im Hauptverwaltungsgebäude des S.A.T. zu Orion-City seinem Chef gegenübersaß und Cunningham ihm die neueste Nummer der Fachzeitschrift „Astrobiologie“ aufgeschlagen herüberreichte. Auf der ersten Seite stand eine fette Überschrift: „Wege zur künstlichen Verlängerung des menschlichen Lebens, besonders im Hinblick auf den interstellaren Weitraumverkehr!“ Darunter: Von Ernest Finlay, M.D. Jim Parker blätterte in dem Heft und schüttelte den Kopf. „Schätze, Boß, das ist mir entschieden zu hoch.“ Der dicke Ted S. Cunningham schmunzelte. „Mir offen gestanden auch. Trotzdem aber ganz amüsant und lesenswert.“ Behaglich lehnte er sich im Schreibtischsessel zurück und setzte umständlich seine Havanna in Brand. Der Kommodore las inzwischen die Kapitelüberschriften der seltsamen Veröffentlichung und studierte die Zusammenfassung am Schluß. Dann gab er das Heft kopfschüttelnd seinem Chef zurück. „Interstellarer Verkehr – Expeditionen in die Fixsternwelt? Aber das sind doch reine Hirngespinste, Boß. Wir armen Schlucker mühen uns hier ab und zerbrechen uns den Kopf darüber, wie wir unser Mars-Projekt am besten verwirklichen könnten, und dieses gelehrte Haus will gleich zu den Fixsternen reisen. Selbst wenn wir mit Lichtgeschwindigkeit fahren würden …“ „… was nach der Theorie bekanntlich nicht geht …“ „… und in der Praxis – wie ich fürchte – auch nicht, würden wir allein 4 ¼ Jahre lang bis zum nächsten Fixstern, der Proxima Centauri, unterwegs sein. Stellen Sie sich das nur mal illustriert vor, Boß: 4 ¼ Jahre lang ununterbrochen im Raumschiff, und rings herum nichts als Dunkelheit und gähnende Leere. No, Sir, das wäre nichts für Jim Parker.“ „Eben, eben“, nickte Cunningham. „Das hat sich der Verfas8
ser dieses Artikels, der übrigens ein namhafter Neurologe und Psychiater ist, auch gedacht. Und darum schlägt er vor, die Raumschiffbesatzung auf so ausgedehnten Fahrten gewissermaßen – auf Eis zu legen.“ „Thunderstorm!“ rief der Kommodore erschrocken. „Das wird ja immer besser. Auf Eis? Der Gedanke allein bringt mich zum Niesen. Und wozu diese ganzen Winterfreuden?“ „Kälte wirkt konservierend, lieber Freund“, dozierte der Atomboß – „eine altbekannte Tatsache. Übrigens ist das mit dem Eis nicht allzu wörtlich zu verstehen. Doktor Finlay schlägt verschiedene Methoden vor, die sämtlich darauf hinzielen, die Funktionen des menschlichen Körpers in eine Art von – äh – Dauer-Winterschlaf zu versetzen. Dadurch hofft er einmal, das erreichbare Lebensalter sprunghaft in die Höhe zu treiben. Andererseits würden die Sternfahrer selbst von jahrzehntelangen Reisen durch den Raum überhaupt nichts merken. Sie würden zu Beginn der Fahrt ‚vereist’ …“ „… und später wieder ‚aufgetaut’, wenn sie die lieblichen Gefilde des Siebengestirns erreicht hätten“, grinste der Kommodore. „Und in all den Jahrhunderten, die man zu diesem reizvollen Ziel unterwegs sein müßte, würde man praktisch überhaupt nicht älter?“ „So ist es“, nickte der Atomboß gewichtig. „Prächtig“, freute sich Jim Parker und nahm einen tiefen Zug aus seiner „Maza Blend“. „Ich stelle mir das äußerst spannend vor: eines schönen Tages vom Siebengestirn heimzukehren und inzwischen nur zwei, drei Tage älter geworden zu sein. Doch für die alte Erde sind indessen 600 Jahre dahingegangen. Generation um Generation hat das Licht der Welt erblickt und ist ins Grab gesunken. Die Hutmode der Frauen hat sich mehr als tausendmal geändert, von der des Autos ganz zu schweigen. Vielleicht steht unsere schöne Forschungsstadt Orion-City längst nicht mehr – und wenn sie doch noch existieren sollte, dann sitzt dort, auf Ih9
rem Stuhl, längst ein neuer Generaldirektor, es sei denn, daß Sie sich auch dazu entschließen konnten, sich zwischendurch ebenfalls nach der Methode Finlay verjüngen zu lassen.“ „Hören Sie auf zu spinnen, Parker“, sagte der Atomboß ungnädig und schleuderte das Heft der „Astrobiologie“ in die Ecke. Die Ausblicke, die ihm der Kommodore eröffnete, schienen ihm nicht zu behagen. „Ich glaube, wenn hier jemand, spinnt, dann ist es der Verfasser dieses komischen Artikels“, lächelte Parker und stand auf. „Übrigens, Boß: Dieser merkwürdige Knabe ist mir vor Jahren mal höchstpersönlich begegnet. Wissen Sie zufällig, wo er abgeblieben ist?“ „Auf dem Mond“, grunzte Cunningham verdrießlich. „Auf dem – Mond?“ Der Kommodore glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. „Jawohl, auf demn Mond. Haben Sie die Sache mit dem Diavolo-Gebirge vergessen?“ „Diavolo-Gebirge?“ sagte Jim Parker grübelnd. „Wenn ich nicht irre, hat. doch irgendein Medizinmann damals in dieser gottverlassenen Gegend ein Krankenhaus bauen wollen.“ „Allerdings. Sie waren zu jener Zeit gerade auf Venusfahrt und haben die Geschichte nicht verfolgen können. Das ‚Sanatorium Diavolo’ ist tatsächlich gebaut worden, und sein Chef und Inhaber ist kein anderer als dieser Doktor Ernest Finlay.“ „Interessant, Boß, interessant. Und wer oder was wird dort verarztet? Höchstwahrscheinlich wohl die sagenhaften Mondkälber?“ „Unsinn, Parker. Doktor Finlay behandelt mit großem Erfolg Patienten mit Knochentuberkulose, die er der ultravioletten Sonnenstrahlung aussetzt.“ „Nicht ganz sein Spezialgebiet, wie mir scheint. Aber dennoch sehr lobenswert.“ Mit diesen Worten erhob er sich und schickte sich an zu gehen. 10
* In einem anderen Gebäude der hochmodernen, weit ausgedehnten Forschungsstadt Orion-City hielt in dieser Vormittagsstunde ein junger Mann einen von Frauenhand geschriebenen Briet in den Händen, den der Briefträger gerade hereingereicht hatte. Es war ein merkwürdiger Raum, in dem der junge Mann lesend am Fenster stand – eine Mischung von Uhrmacherwerkstatt und chemischem Labor, von Konstruktionsbüro und dem Kramladen eines passionierten Radiobastlers. Ein halbes Dutzend Zeichner und Techniker war mit emsigem Fleiß in Beschäftigungen vertieft, die jedem Laien, der unversehens hier eingedrungen wäre, nur ein verständnisloses Kopfschütteln abgenötigt hätten. Aber diese Verständnislosigkeit hätte sich wahrscheinlich in panisches Entsetzen verwandelt, wenn sein Blick in diesem Augenblick auf die Tür zum Nebenraum gefallen wäre; denn wie von Geisterhand geöffnet, schwang diese Tür langsam auf, und herein trat – ein Wesen aus einer anderen Welt! Ein künstlicher Mensch? Ein Marsbewohner? Ein Golem aus Glas und Metall? Das gespenstige Wesen tat ein paar tapsende Schritte, blieb dann stehen, öffnete den Mund und sagte höflich: „How do you do, Mister Brunner!“ Der junge Abteilungsleiter fuhr verwirrt von seiner Lektüre auf. „How do you … – Ja, verdammt nochmal, Geoffrey, können Sie den Kerl denn nichts anderes sagen lassen? Das wird ja allmählich langweilig.“ „Bitte sehr, Sir“, erwiderte der Roboter höflich. „Also hören Sie: In drei Minuten beginnt die Mittagspause …“ „Was?“ rief Kurt Brunner in das Gelächter seiner Mitarbei11
ter hinein. „Jetzt kriegt dieser Halunke auch noch Hunger. Höchste Zeit, daß wir ihn auf den Mond verfrachten lassen. Also gut, boys: Schluß für heute morgen. Sorgt dafür, daß nachher alles klappt. Ich erwarte für den Nachmittag hohen Besuch: Kommodore Parker will das Institut besichtigen. Good-bye!“ „Good-bye, Chef!“ Doktor Kurt Brunner verließ das Gebäude, über dessen Portal die Inschrift prangte: „Elektromechanisches Institut des S.A.T.“ Unter Eingeweihten hieß es kurz und bündig „RoboterLabor“. Brunner kletterte in seinen Wagen, um zum Essen zu fahren. Doch bevor er auf den Starter drückte, überflog er noch einmal den Brief seiner Verlobten Sheila, der mit Luftpost aus dem fernen Helena gekommen war. „… und morgen nachmittag fahre ich nach Seattle, um den vierzehntägigen Kursus an der Universität mitzumachen, von dem ich Dir kürzlich schrieb. Sobald ich mich dort eingelebt habe, hörst Du wieder von mir. Gruß und Kuß, Deine Sheila.“ * „Finlay – Finlay …“ murmelte Fritz Wernicke mit gerunzelter Stirn „Ist das nicht dieser spleenige Gelehrte, der das Lebensalter zurückschrauben wollte.“ „Zuzutrauen wäre es ihm schon“, lachte der Kommodore. „Doch höre dir die Geschichte erst mal zu Ende an.“ Und er erzählte seinem Freund, dem kleinen trinkfesten Weltraumpiloten, was er am Vormittag bei Generaldirektor Cunningham erfahren hatte. Sie saßen auf der Terrasse vor Jim Parkers Bungalow und ließen sich nach dem Mittagessen eine Verdauungszigarette 12
munden. Der kleine Wernicke schien sich über die Pläne des seltsamen Doktor Finlay köstlich zu amüsieren. „Großartig, Jim! Dieser Finlay will die armen Weltraumfahrer also gewissermaßen ‚eingeweckt’ auf die große Reise schicken?“ „Ob eingeweckt oder nicht – sag mal, mein guter Alter: Möchtest du so jahrhundertelang durch den leeren Weltraum gondeln?“ „O–o–c–h, warum nicht?“ dehnte Fritz. „Wenn es nur unterwegs genug zu trinken gibt.“ „Irrtum, Fritz! Schlafen müßtest du unterwegs, nichts als schlafen. Von ‚trinken’ wäre überhaupt nicht die Rede. Doch nun erzähle mir mal, wie das damals mit dem ‚Zurückschrauben des Lebensalters’ war.“ Der kleine Steuermann räusperte sich und holte zu einer großangelegten Erklärung aus: „Also, Jim, das war folgendermaßen: Doktor Finlay bat allen Ernstes versuchen wollen, das Leben rückwärts ablaufen zu lassen.“ „Das Leben – rückwärts? Das kapiere ich nicht ganz“, wunderte sich Jim Parker. „Nun, denke doch mal an einen Film, den man zurücklaufen läßt. Eine Granate fliegt ins Kanonenrohr zurück; die Bruchstücke einer gesprengten Brücke fügen sich von selbst wieder zusammen; eine aufregende Verfolgungsjagd spielt sich verkehrt herum ab; ein Mann hat von der Brücke ins Wasser gespuckt und …“ „Aufhören, Fritz!“ rief Parker und hielt sich in komischem Entsetzen die Ohren zu. „Aber was hat das alles mit Finlay zu tun?“ „Finlay wollte die Zeit rückwärts laufen lassen. Er sagte sich: Die Einheit unserer Zeitrechnung ist der Tag …“ „… das heißt also: ein scheinbarer Umlauf der Sonne um unser Himmelsgewölbe.“ 13
„Sehr richtig. Und weiter sagte er sich: Wenn ich nun mit einem Flugzeug so schnell fliege, daß ich die Sonne immer und immer wieder überhole, dann fliege ich gewissermaßen in die Vergangenheit.“ „Ein bedenklicher Trugschluß“, lachte der Kommodore. „Freilich läßt sich auf diese Art zu reisen sehr viel Zeit einsparen, aber die Natur läßt sich dadurch kein Schnippchen schlagen. Hat er seine komische Verjüngungskur denn auch in die Praxis umgesetzt?“ „Versucht hat er’s jedenfalls. Er mietete sich in England das neueste Langstrecken-Raketenflugzeug, setzte einen alten, erfahrenen Überschallpiloten ans Steuer, und auf ging’s – westwärts, immer um die alte Erde herum.“ „Und als die Kiste nach zwanzigtausend Umkreisungen landete, und man den wackeren Piloten herausholte, hatte er sich in einen Klippschüler zurückverwandelt, nicht wahr?“ grinste der Kommodore schadenfroh. „Leider kam es nicht so weit“, meinte Fritz Wernicke bedauernd. „Der Pilot hatte das ewige Karussellfliegen sehr bald satt. Er stieg schon nach der dritten Runde aus und nannte den Doktor einen ganz unheilbaren Idioten.“ „Kann ich sehr gut verstehen, Fritz. Nun, ‚jedem Tierchen sein Pläsierchen’! Uns kann es schließlich Wurscht sein, was Doktor Finlay für Verrücktheiten ausbrütet. Wir werden niemals zu den Fixsternen fliegen, und auch diesem komischen Heiligen werden wir kaum jemals wieder begegnen.“ Der Kommodore stand auf und reckte sich. „Willst du schon gehen, Jim?“ „Ich habe mich für drei Uhr bei Brunner angesagt. Er will mir seine neuesten Erfindungen zeigen.“ „Im Roboter-Labor?“ fragte Fritz Wernicke interessiert. „Das hätte ich mir zu gerne auch mal angesehen.“ „Kannst mitkommen, Fritz! Come on!“ 14
* Es schien zuerst, als sollte der gute Fritz absolut nicht auf seine Kosten kommen. Er hatte sich das Roboter-Labor ganz anders vorgestellt: als eine riesige Halle, in der massige Maschinenmenschen auf plumpen Beinen umherstrampelten, daß der Boden zitterte. Sie schleppten schwere Ketten hinter sich her – eine notwendige Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß die Roboter den Willen Ihrer Herren durchbrechen und – alles vernichtend – davontoben würden. Statt dessen – ein freundlicher, heller Arbeitsraum, in dem weißgekleidete Konstrukteure und Feinmechaniker ruhig ihrer Arbeit nachgingen. Einige von ihnen standen an den Reißbrettern, andere bauten ein verwickeltes System kleinster Elektronenröhren und Photozellen in Kästen und Behälter verschiedener Form ein. Auf verschiedenen Tischen standen Apparate herum, die in ihrer äußeren Gestalt an große Rundfunkempfänger erinnerten. Doch nirgends etwas Außergewöhnliches, Unheimliches, wie es der kleine Steuermann mit geheimem Gruseln erwartet hatte. Doktor Brunner, der Institutsleiter, ein junger Schweizer, mit klugem, sympathischem Gesicht, führte seine Besucher herum. Jetzt blieb er mit ihnen vor einem jener Apparate stehen. Ein leises Stimmen tönte aus dem Kasten. Verschiedenfarbige Lichtzeichen blinkten an seiner Vorderseite in sinnverwirrendem Wirbel auf. „B 12, unsere neueste Elektronen-Rechenmaschine“, stellte Doktor Brunner lächelnd vor. „Sie löst jedes mathematische Problem in wenigen Stunden, über dem früher ganze Heere von Rechnern ihr Leben lang gearbeitet hätten.“ „Und welche spannende Aufgabe bearbeitet sie in diesem Augenblick?“ wollte der Kommodore wissen. 15
„Augenblicklich hat sie gerade nichts Besonderes zu tun“, erwiderte Brunner gleichmütig. „In solchen Zeiten lassen wir sie Logarithmentafeln oder ähnliche Tabellen berechnen. Jetzt hat sie zum Beispiel gerade die Zahl ‚Pi’ berechnet, und zwar – Moment mal …“ Der junge Abteilungsleiter schaltete die Maschine ab und reichte seinen Gästen einen schier endlosen Papierstreifen, auf dem eine wahre Riesenschlange von Ziffern stand – zuerst eine 3, dahinter ein Komma, und dann Zahl auf Zahl in endloser Folge. „… und zwar auf 6927 Stellen hinter dem Komma“, vollendete Doktor Brunner. „Die Zahl ‚Pi’? Erinnert mich so angenehm an meine Schulzelt“, sagte Fritz Wernicke. „Sie müssen nämlich wissen: Bei mir – Kopfrechnen schwach …“ „,Pi’ gibt das Zahlenverhältnis des Kreisumfangs zum Kreisdurchmesser an“, half Brunner dem schwachen Gedächtnis des kleinen Steuermanns aus. „Es ist eine der wichtigsten Konstanten in der Mathematik, ein unendlicher Dezimalbruch. Als der englische Mathematiker Shanks sie vor anderthalb Jahrhunderten auf 707 Stellen hinter dem Komma genau ausrechnete, brauchte er dafür volle 15 Jahre. Unsere ‚B 12’ hat für fast 6000 Stellen nicht einmal 15 Stunden gebraucht.“ „Eine tolle Leistung“, gab der Kommodore anerkennend zu. Der gute Fritz fühlte seinen Bedarf an Mathematik gedeckt. Neugierig ging er weiter und blieb vor dem Modell einer merkwürdigen Maschinenanlage stehen. An einem Fließband waren kleine mechanische Geräte aufgereiht, die in rhythmischen Abständen immer wieder die gleichen Bewegungen ausführten. Das Ganze wirkte wie ein sauberes, exakt arbeitendes Uhrwerk. „Das Schema einer vollautomatisierten Fabrik, in der die menschlichen Arbeitskräfte durch ferngesteuerte Roboter ersetzt sind“, erläuterte Doktor Brunner. „Sehr richtig“, nickte Jim Parker. „Derartige Anlagen hatten 16
Sie uns ja seinerzeit auch für die Uranförderschächte in unseren Mondwerken geliefert.“ Interessiert trat er näher. Der Institutsleiter zog sich unauffällig zurück und verschwand in einer kleinen Kabine, deren Innenwände mit einem Gewirr von Schaltern, Signallampen und Mikrophonen bedeckt waren. Fritz Wernicke gähnte verstohlen. Das sollte ein „RoboterLabor“ sein? Nein, er hatte es sich wirklich spannender vorgestellt. „Whisky gefällig, Sir?“ „Ja, gern!“ Geschwind fuhr der kleine Steuermann herum und griff nach dem Glas, das ihm dienstfertig gereicht wurde. Doch im nächsten Augenblick wich er mit einem Schreckensruf zurück. Das Glas mit dem edlen Feuerwasser entglitt seiner zitternden Hand und zerklirrte auf den Fliesen. „Bei allen Planeten! Jim – Hilfe! Die Marsmenschen kommen!“ Vor ihm stand eine schreckliche Gestalt. Ein kugelrunder Kopf mit breitem Maul, die Augen zwei große, starrende Linsen, saß auf starken Spiralfedern. Diese wiederum waren auf dem massigen Rumpf befestigt, der auf den stämmigen Säulen künstlicher Beine ruhte. Zwei dünne, gelenkige Leichtmetallarme angelten geschickt nach dem entsetzten Weltraumpiloten. 17
„Zurück! Wagen Sie es nicht, mich anzurühren!“ tobte Fritz Wernicke. „Aber Mister Wernicke, gefalle ich Ihnen denn nicht? Ich bin doch Hadubrand, der jüngste Sproß aus der Familie der Roboter.“ Jetzt erst glitt ein verstehendes Lächeln über Wernickes verzerrte Züge. Freundschaftlich machte er shake-hands mit dem Maschinenmenschen. „Freut mich außerordentlich, mein Lieber. Sagen Sie, haben Sie nicht noch einen Whisky für mich? ‚Raumschiffpilot Wernicke trinkt Brüderschaft mit Roboter!’ Ware das nicht eine prächtige Schlagzeile für die Abendblätter? Hähäh …“ Alle stimmten in sein Lachen ein. Der Kommodore wandte sich an Doktor Brunner, der sich seinen Gästen wieder zugesellt hatte. „Sagen Sie, Brunner, wozu denn dieser Mummenschanz? Ihre Roboter in Ehren – sie haben sich in der Praxis der Uranverarbeitung bestens bewährt –, aber ist denn unbedingt nötig, ihnen menschenähnliches Aussehen zu geben?“ Der Schweizer hob die Schultern. „Sorry – ich persönlich lege keinen Wert darauf. Wir liefern diese Spezialausführung in fremdem Auftrag – über die Verkaufsabteilung des S.A.T.“ „Und darf man wissen, wer der Auftraggeber ist?“ „Er wünscht eigentlich nicht, genannt zu werden. Aber Ihnen, Kommodore, brauche ich es wohl nicht zu verheimlichen. Es handelt sich um einen gewissen Doktor Finlay, der angeblich ein Sanatorium auf dem Mond besitzt. Sein Bedarf an Robotern in Menschengestalt scheint auffallend groß zu sein.“ * Zur gleichen Stunde rollte Sheila Jackson bereits der ersten Zwischenstation ihrer Reise an die Pacific-Küste zu. Für die junge Lehrerin war es immerhin ein besonderes Erlebnis. Es gab nicht allzu viel Abwechslung in ihrem Alltag, 18
und Helena war zwar die Hauptstadt des Staates Montana, aber nichtsdestoweniger eben doch nur ein Provinznest. Die einzigen Lichtblicke in ihrem einförmigen Dasein waren jene Wochen, die ihr Verlobter, Kurt Brunner, in ihrem Elternhaus verbrachte, wenn er aus Orion-City, im tiefen Süden, auf Urlaub kam. Der gute Kurt – was mochte er wohl in diesem Augenblick tun? Sicher bastelte er wieder an seinen Maschinen herum, deren Sinn ihr nicht ganz verständlich war. Oder er baute künstliche Menschen – Wesen aus Glas und Metall, die doch arbeiten und gehen, hören, sprechen und sehen – und sogar denken konnten. Sheila fühlte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Gab es denn so etwas überhaupt? Oder hatte Kurt ihr einen Bären aufbinden wollen mit seinen Erzählungen? Sie würde sich in Seattle einmal vertrauensvoll an Professor Draper, den Kursusleiter, wenden, der ja ein kluger und vielerfahrener Gelehrter sein sollte. Mit langsamer Fahrt stampfte der Expreß die Serpentinen hinauf, die auf den Kamm der Rocky Mountains führten. Eine weitere Lokomotive war vor einer Viertelstunde auf einer kleinen Station angehängt worden und schob die Wagenschlange von hinten, um ihr zu helfen, die steile Steigung zu bewältigen. Wenn man sich weit aus dem Fenster beugte, konnte man – hoch droben und weit voraus – einen Güterzug erkennen, der gleichfalls der Höhe entgegenächzte. Sheila lehnte sich in die Polster zurück und schloß die Augen. Sie überlegte: Die nächste größere Station jenseits des Gebirgskammes würde Garrison sein. Dort würde sie Zeit genug haben, um sich die Füße zu vertreten und eine Karte nach Orion-City zu schreiben … … an Kurt. Sheila lächelte. Unmerklich glitt sie hinüber in das Land der Träume … Ein Schrei des Entsetzens – von einer heiseren Männerstimme – riß sie roh in die Wirklichkeit zurück. Sie sah an einem 19
der Fenster einen Fahrgast stehen, der – bleich, mit verzerrtem Gesicht – mit zitternder Hand nach vorn deutete. Augenblicklich war Sheila hellwach und starrte durch die Scheibe ihres Fensters. Da vorn, immer noch ein gutes Stück über ihnen, keuchte und prustete der lange Güterzug. Und dort – irgend etwas bog um die Kurve, näherte sich in rascher Fahrt dem Expreß … Der letzte Güterwagen hatte sich gelöst und rollte dem nachfolgenden Expreßzug entgegen. Nur noch zwei, drei Kurven – dann … Panik brodelte um Sheila auf. Die würdige Matrone, die ihr gegenüber in einem dicken Bestseller gelesen hatte, fiel in Ohnmacht. Eine schrille Stimme schrie: „Notbremse!“ Sheila hörte das Kreischen der Bremsen. Sie schloß die Augen fest und drückte die Hände vor das Gesicht – und spürte noch einen harten Stoß, ein furchtbares Splittern und Krachen … Dann wurde es Nacht um sie her. * In diesen Tagen war es, daß den berühmtesten Nervenspezialisten der USA, den Chefärzten der großen Krankenhäuser und den Leitern von Krankenversicherungsunternehmen ein seltsamer Prospekt auf den Tisch flatterte. Er kam mit der Post – freilich nicht als „Printed Mater“, sondern in verschlossenem Umschlag aus vornehmem weißem Pergament Der Umschlag trug keine Absenderangabe, und wenn der Empfänger ihn erwartungsvoll aufriß, kam ein anspruchsvoller Briefbogen mit dem Aufdruck: „Sanatorium Diavolo – Leitender Arzt: Ernest Finlay, M. D.“ zum Vorschein. Doktor Finlay – der Name hatte in Fachkreisen immerhin einen gewissen Klang, wenn auch die Ideen seines Trägen umstritten waren. Und so wurden die Briefe auf dem kostbaren 20
weißen Pergament im allgemeinen wirklich gelesen und wanderten nicht, wie die Unzahl der alltäglich eingehenden Prospekte aller Art, unbeachtet in die Papierkörbe. Die erstaunten Empfänger aber wurden – nach einer kurzen Einleitung – höflichst darauf aufmerksam gemacht, daß in dem Sanatorium des Doktor Finlay, im Diavolo-Gebirge auf der Rückseite des Mondes gelegen, eine neue Abteilung eröffnet worden sei, in welcher alle Fälle leichterer Nervenkrankheiten eine neuartige, erfolgversprechende Behandlung unter fachkundiger Aufsicht erfahren würden. Wörtlich hieß es dann weiter: „Die Patienten finden in unserem nach den modernsten technischen Grundsätzen eingerichteten Sanatorium jeden erdenklichen Komfort Die Behandlung erfolgt durch Fachärzte – nach fortschrittlichen Methoden – mit neuentwickelten, hochwirksamen Medikamenten, Bestrahlungen und Liegekuren in der herrlichen Bergwelt des DiavoloGebirges. Kurdauer – je nach Lage des Falles und indizierter Behandlungsmethode – von sechs Monaten aufwärts. Mäßige Kurpreise. Die Patienten benutzen zur Überfahrt die fahrplanmäßigen Raumschiffe des Staatlichen, Atom-Territoriums. Volkstümliche Fahrpreise sind mit dem S.A.T. vereinbart worden. Abfahrt vom Zentralflughafen Orion-City. Nach Ankunft auf dem Raketenflugplatz von ‚Luna IV’ erfolgt Weiterbeförderung durch Spezialhubschrauber des Sanatoriums. Nähere Auskunft erteilt die Verbindungsstelle des Sanatoriums Diavolo, P.O. Box 7713, Chicago 89, III., USA.“ Ein Teil dieser Briefe flog nun doch in hohem Bogen in den Papierkorb. Andere verschwanden auf Nimmerwiedersehen in dicken Aktenbänden. Doch hin und wieder erreichte auch eine Anfrage das bewußte Postfach in Chicago 98. Und das genügte dem menschenfreundlichen Doktor Ernest Finlay voll und ganz. 21
* Sheila Jackson hob die bleischweren Lider. Es war ihr, als käme sie von weit her, aus einem fremden Land in eine neue, fremdartige Umgebung, Ihr Blick umfaßte die hellgestrichenen Wände des kleinen Raumes, die nüchternen Einrichtungsgegenstände, das halbgeöffnete Fenster, durch das ein warmer Sommerwind das Rauschen naher Wipfel hereintrug. Sie lag in einem einfachen, aber bequemen Bett, wie man sie in den Zimmern der Krankenhäuser findet. Langsam tasteten sich ihre müden Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Ja, richtig: Sie mußte ja nach Seattle fahren – heute noch – die Koffer waren schon gepackt – die Fahrkarte hatte ihre Mutter am Vormittag aus der Stadt mitgebracht … Wie kam es nur, daß sie, Sheila, hier im Bett lag und schlief, anstatt zum Bahnhof zu fahren? Höchste Zeit aufzustehen, wenn sie den Zug nicht verpassen wollte. Doch nein – sie war doch längst unterwegs, und das Rauschen, das von draußen hereindrang, war es nicht das Sausen des Fahrtwindes, der den Expreßzug umpfiff? Draußen glitt die vertraute Bergwelt Montanas vorüber – so schnell, daß man keine Einzelheiten unterscheiden konnte. Fauchend klomm der Expreß zum Kamm der Rocky Mountains empor. Dort oben – der Güterzug … der letzte Wagen – er löste sich, kam mit Donnergepolter auf sie zu – wuchs riesenhaft vor ihr auf … Mit einem Angstschrei bäumte sich Sheila in den Kissen auf, wollte aufspringen – nur raus aus diesem Zuge, der jeden Augenblick zerschmettert in die Tiefe stürzen mußte. Kalter Angstschweiß stand ihr auf der Stirn. Die Glieder flogen wie im Schüttelfrost. Doch da fühlte sie sich von hilfreichen Armen umfaßt. Sie hörte vertraute Stimmen, die beruhigend auf sie einsprachen, 22
und sah bekannte Gesichter, von Sorge umschattet: das Antlitz Ihrer Mutter und – ja, wahrhaftig! – das war doch Kurt! „So ängstige dich doch nicht, Kind“, vernahm sie die Stimme ihrer Mutter. „Wir sind doch bei dir.“ Kurt Brunner war indessen aus der Tür geschlüpft und kam wenig später mit der Stationsschwester zurück. Sheila bekam eine bittere Medizin zu schlucken und sank gleich darauf wieder in bleiernen Schlaf. – Als Mrs. Jackson nachher Doktor Chesley, dem Chefarzt der Klinik, in seinem Sprechzimmer gegenübersaß, war es um ihre Fassung geschehen.. „Nun sind schon fast acht Tage seit dem Unglück vergangen, Herr Doktor“, schluchzte sie, „und noch immer hat Sheila das Bewußtsein nicht zurückerlangt. Wie soll das nur weitergehen?“ Der Arzt hob die Augenbrauen. „Wir müssen Geduld haben, Madam. Ihre Tochter ist bei uns gut aufgehoben, und wir tun für sie, was in unserer Macht steht. Seien Sie doch froh, daß Miß Sheila bei dieser furchtbaren Katastrophe mit einem gehörigen Nervenschock davongekommen ist.“ „Kann man denn sonst gar nichts machen?“ wandte sich Kurt Brunner, dar mit gerunzelter Stirn zugehört hatte, an den Chefarzt. „Irgendeine Spezialbehandlung vielleicht? Ich habe ein paar Dollars zur Seite legen können. Sie stehen jederzeit zur Verfügung.“ Mrs. Jackson warf ihrem zukünftigen Schwiegersohn einen dankbaren Blick zu. Doktor Chesley war aufgestanden und ging nachdenklich auf und ab. „Sie müßte ganz andere Eindrücke bekommen, für einige Zeit in einer neuen Umgebung leben – unter guter Pflege und fachärztlicher Aufsicht, selbstverständlich. Halt – da fällt mir etwas ein!“ Eilig riß er eine Schublade seines Schreibtisches auf und wühlte in den Papieren. Bald hatte er gefunden, was er suchte. Strahlend reichte er seinen Besuchern den Prospekt des Sanatoriums Diavolo. 23
„Was?“ fragte Mrs. Jackson ungläubig. „Sie wollen meine Tochter auf den Mond schicken?“ Auch Doktor Brunner schien von dieser Aussicht nicht sonderlich entzückt zu sein. „Muß es denn gleich so weit fort sein?“ fragte er enttäuscht. Dabei überlegte er jedoch schon fieberhaft, wie er es wohl am besten anstellen könnte, Sheila während ihrer Kur auf dem Mond recht oft zu besuchen. Sicher würde ihn Kommodore Parker in den Mondschiffen des S.A.T. umsonst mitfahren lassen, und … „… es wäre natürlich nur ein Versuch, Madam“, drang die Stimme des Arztes in seinen Gedankengang, „aber immerhin ein erfolgversprechender. Kollege Finlay ist ein namhafter Neurologe …“ „Hm“, machte Kurt Brunner zweifelnd, „mir scheint er ein ziemlicher Sonderling zu sein. Ich kenne ihn flüchtig, habe zuweilen dienstlich mit ihm zu tun.“ Doktor Chesley ging nicht darauf ein. „Überlegen Sie sich mal meinen Vorschlag in aller Ruhe, Madam. Ich glaube, wir sollten es getrost versuchen.“ * Erst vierzehn Tage waren seit diesem Gespräch vergangen, als Sheila Jackson auf dem Raketenflugplatz von „Luna IV“ die Luftschleuse des Raumschiffes „Regulus“ verließ, das mit Material und Ablösungsmannschaften des S.A.T. auf dem Mond gelandet war. Ein wenig hilflos schaute sich das junge Mädchen in der fremden Welt des Erdtrabanten um. Die Überfahrt von der Erde war schon ziemlich strapaziös gewesen, und nun dieses phantastische Bild, diese grelle Mischung von feindseligwilder Natur und hypermoderner Technik. Sheila fühlte einen Schwindel und schloß unwillkürlich die Augen. „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Miß?“ hörte sie 24
da eine freundliche Stimme in ihrer Nähe. Sie riß die Augen auf und blickte in das biedere Gesicht eines Mannes in der leichten Werkkombination des S.A.T.-Personals. „Sie sind gewiß die neue Sekretärin für die Zentrale?“ fügte der Mann hinzu. „Nein – das bin ich nicht“, stotterte Sheila verlegen. „Ich bin nur als Passagier mitgefahren, und nun muß ich weiter – nach dem Sanatorium Diavolo …“ „Ach herrje! Etwa als Patientin?“ „Allerdings, ich komme zur Nachkur. Können Sie mir nicht sagen, wie ich von hier weiterkomme?“ „Mit dem Hubschrauber, Miß“, entgegnete der Mann ohne große Begeisterung. „Da drüben landet er gerade.“ Aus dem grünlichen Himmel des Mondes schwebte eine merkwürdige Flugmaschine, wie eine groteske Libelle, herab und blieb dort stehen, wo ihr Fahrwerk den felsigen Boden berührt hatte. Die rotierenden Flügel standen still. Nichts rührte sich. „Ihre Limousine ist vorgefahren, Miß“, sagte der S.A.T.Mann mit seltsamem Unterton. „Bitte, steigen Sie ein.“ „Hören Sie“, wandte Sheila schüchtern ein, „ich bin noch nie im Leben mit solch einem Flugzeug geflogen. Ist der Pilot auch zuverlässig?“ „Der Pilot? Nee – da ist ja gar keiner drin“, lachte ihr Begleiter. Und, als er Ihre Bestürzung sah: „Sie können sich trotzdem unbesorgt hineinsetzen. Es ist alles ganz ungefährlich. Wissen Sie: Fernsteuerung und so’n Zeugs. Funktioniert absolut sicher.“ In diesem Moment schwang die Seitentür des Helikopters auf, und eine Stimme klang aus der leeren Kabine: „Bitte, nehmen Sie Platz, Miß Jackson. Doktor Finlay erwartet Sie schon.“ Betroffen sahen die beiden sich an. Dann glitt ein Grinsen über die Züge des S.A.T.-Mannes. „Ja, nicht wahr, Miß Jack25
son, da staunen Sie? Muß schon ’ne dolle Bude sein, dieses Sanatorium, ebenso verrückt wie das ganze wilde DiavoloGebirge.“ „Wieso?“ fragte Sheila verwundert. „Ich dachte, es sei eine landschaftlich so reizvolle Gegend?“ „Typischer Fall von ‚Denkste’ – Pardon, Miß! Aber ich möchte dort nicht begraben sein.“ „Ach was, Bangemachen gilt nicht“, rief Sheila mit dem matten Versuch zu scherzen. Sie waren jetzt bei dem Hubschrauber angekommen. Der S.A.T.-Mann half Sheila beim Einsteigen und reichte ihr das Gepäck nach. „Übrigens – Miß – lernte da kürzlich eine Patientin kennen, eine gewisse Ellen Lumberman. Wenn Sie ihr freundlicherweise ’nen schönen Gruß ausrichten wollten … Und wenn sie mal Sehnsucht nach einem gewissen Jenkins haben sollte, dann brauchte sie nur im Alabamakrater …“ Mehr hörte Sheila nicht. Die Tür schlug mit schwachem Knall zu. Fast im gleichen Augenblick löste sich der Hubschrauber vom Mondboden und flog in steilem Bogen westwärts über die nahen Bergketten davon. * „Das fängt ja nett an.“ Unwillkürlich schloß Sheila die Augen, als sie die wilde Kraterwelt des Mondes in rasendem Wirbel unter sich hinweggleiten sah, die im gleißenden Sonnenlicht brannte. Leise summte der Motor, sonst war alles still. Und sie fühlte sich beängstigend einsam und hilflos. Da war es ihr, als füllte sich die kleine Kabine mit einem dichten Nebel, der in weichen Schwaden auf sie eindrang. Die Luft war voll von einer leisen Musik, die wunderbar schwer und schläfrig machte … 26
Sheila erwachte von dem sanften Ruck, mit dem die Maschine auf dem Boden aufsetzte. Verwundert riß sie die Augen auf. Sie war direkt vor einem großen, modernen Bauwerk mit weißen, glatten Mauern gelandet – einem Betonklotz, der mit seinen mathematisch exakten Kanten in krassem Kontrast zu der wilden Zerrissenheit der umgebenden Berge stand. Oberhalb des Gebäudes zog sich am Berghang eine mehrstöckige, verglaste Liegehalle hin. Sheila hörte das Knacken einer Membrane, und dann wieder die monotone Stimme von vorhin, die von irgendwoher kam: „Willkommen im Sanatorium Diavolo, Miß Jackson. Bitte, steigen Sie aus und treten Sie ein.“ Wie eine Traumwandlerin schritt Sheila auf das weiße Bauwerk zu. ‚… und treten Sie ein’. Ja, das war leichter gesagt als getan; denn jetzt erst bemerkte sie, daß dieser Klotz von einem Gebäude weder eine Tür besaß, noch ein Fenster oder sonst irgendein äußeres Merkmal. Lediglich auf dem flachen Dach gewahrte sie verschiedene merkwürdig geformte Antennen. Doch plötzlich sprang in der glatten Wand eine Tür auf. Sheila schritt hindurch und sah sich in einer kleinen Empfangshalle, die mit Stahlrohrmöbeln und exotischen Pflanzen ausgestattet was. Rechts befand sich eine Pförtnerloge, in der ein alter Mann in blau-silberner Livree mit Büchern und Schriftstücken hantierte. Sheila – froh, in dieser Einöde aus Stein, Glas und Metall endlich einem Wesen von Fleisch und Blut zu begegnen – eilte auf ihn zu. „Ich bin Sheila Jackson aus Helena. Doktor Finlay erwartet mich. Würden Sie bitte veranlassen, daß mein Gepäck …“ Der Pförtner stieß ein paar unartikulierte Krächzlaute aus und gestikulierte heftig mit den Händen in der Luft herum. Mehrfach wies er mit Nachdruck auf die Wand zur Linken. Er ist taubstumm, dachte Sheila. Sie bedankte sich höflich 27
und folgte der angegebenen Richtung. Als sie sich der Wand auf zwei Schritte genähert hatte, sprang abermals eine Tür auf, die zuvor nicht sichtbar gewesen war. Sheila ging hindurch und befand sich in einem Treppenhaus, das von irgendwelchen verborgenen Lichtquellen mit grünlichem Licht erfüllt wurde. Als sie den Fuß zögernd auf die unterste Treppenstufe setzte, ertönte ein Warnungsruf: „Bitte festhalten!“ Im gleichen Augenblick geriet die Treppe in Bewegung. Sheila rollte in Gedankenschnelle nach oben, wurde von einer Drehscheibe herumgewirbelt, rollte weiter und befand sich plötzlich auf einem Vorplatz, auf den sternförmig vier oder fünf lange Gänge mündeten. Ratlos sah sie sich um, fest entschlossen, sich von nun an über gar nichts mehr zu wundern. Doch mit einem schrillen Aufschrei wich sie zurück und wäre fast die Treppe wieder hinuntergestürzt. Wie aus dem Nichts geboren, stand im mittleren der Gänge, knapp sechs Schritte von ihr entfernt, urplötzlich eine Gestalt … In einem kugelrunden, riesigen Kopf blitzten unheimliche Augen. Langsam öffnete sich der breite Mund. Bewegung kam in die Gestalt, mit ausgebreiteten, röhrenförmigen Armen, an deren Enden starke Greifer blinkten, stampfte das Wesen plump daher, direkt auf das junge Mädchen zu, das die Erscheinung wie gelähmt anstarrte. Und eine Stimme klang laut und schneidend aus dem lippenlosen Mund: „Halt! Das Verlassen der Zimmer ohne ärztliche Erlaubnis ist den Patienten streng untersagt.“ Wenn er mich anrührt, werde ich ohnmächtig, dachte Sheila. Unwillkürlich schrie sie noch einmal auf. Da stand plötzlich ein Mann im weißen Arztmantel neben ihr. „Damned!“ stieß er zornig hervor. „Dieser Trottel Shelly schläft wohl wieder mal.“ Ohne weitere Umstände ging er dem unheimlichen Wesen in Menschengestalt entgegen, packte es 28
am Arm und zischte ihm einen Befehl in das trichterförmige Ohr. Augenblicklich blieb der Kerl stehen, wich dann ein paar Schritte zurück und – wurde vor den Augen Sheilas unsichtbar. Fassungslos starrte das junge Mädchen auf die Stelle, wo der unheimliche Spuk verschwunden war. Der Arzt wandte sich um und sagte entschuldigend: „Verzeihen Sie den kleinen Zwischenfall, Miß Jackson. Es war ein Mißverständnis. Sie sollen künftig nicht mehr belästigt werden. Übrigens – Ilescu ist mein Name. Ich bin der Assistent Doktor Finlays.“ „Wer – war – das?“ stammelte Sheila, noch immer im Bann des spukhaften Erlebnisses. „Das war Asmodi, einer unserer Wärter“, erwiderte der Arzt leichthin. „Ein harmloser Bursche, der keiner Fliege etwas zuleide tut. Doch nun kommen Sie, bitte. Ich will Ihnen Ihr Zimmer zeigen.“ * Der Besuch im „Roboter-Labor“ hatte auf Fritz Wernicke einen tiefen Eindruck hinterlassen. Die großartigen ElektronenRechenmaschinen und vollautomatischen Fabrikanlagen riefen zwar nur eine Art gönnerhaften Interesses bei ihm hervor, aber künstliche Menschen, die gehen und sehen, hören, sprechen und sogar echt schottischen Whisky anbieten konnten – die waren etwas für den abenteuerlustigen Fritz! Und so kam es, daß der kleine Raketensteuermann die erstbeste Gelegenheit wahrnahm, um Doktor Brunner wieder einmal in seinem Institut aufzusuchen. Der junge Schweizer wußte sehr wohl, womit er das Herz seines trinkfesten Gastes erfreuen konnte, und es dauerte gar nicht lange, bis ein Roboter aus dem Nebenraum erschien und ein Tablett mit wohlgefüllten Gläsern kredenzte. 29
„Bitte sehr, Sir“, verkündete der Maschinenmensch höflich. „Gin, Rum und Whisky.“ Fritz Wernicke ließ sich nicht lange nötigen. Er nahm ein Whiskyglas, brachte einen Trinkspruch auf Kurt Brunner und alle seine Roboter aus und leerte es mit einem Zuge. „Nun, mein Freund, wie heißt du denn?“ fragte er und schickte sich an, dem Roboter leutselig auf die Schulter zu klopfen. „Nicht anrühren!“ rief der jedoch warnend. „Ich bin scharf geladen!“ Doch Wernicke hatte den Maschinenmenschen bereits angefaßt – und wurde förmlich zurückgeschleudert. Wie tot lag er am Boden. Doktor Brunner und zwei seiner Mitarbeiter beugten sich erschrocken über ihn … Da schlug der kleine Fritz blinzelnd die Augen auf und flüsterte: „Whisky – oder Gin …“ Eilends brachte man ihm das Verlangte. Nach dem dritten Glase richtete Wernicke sich wieder auf und hob drohend den Zeigefinger gegen den Roboter. „Bist ja ein ganz gefährlicher Kerl, alter Bursche!“ Kurt Brunner half dem kleinen Steuermann wieder auf die Beine. „Entschuldigen Sie, Mister Wernicke, die Warnung kam leider zu spät. Verdammt nochmal, das hätte bös ausgehen können. Dieser Roboter ist nämlich eine neuartige Spezialkonstruktion. Er teilt bei Berührung elektrische Schläge von einigen tausend Volt aus.“ Der gute Fritz war sprachlos. „Und – wozu – dient diese – äh – Spezialkonstruktion?“ Doktor Brunner wußte es nicht zu sagen. „Wir bauen sie im Auftrag unseres besten Kunden, des Sanatoriums Diavolo.“ „Hm. Möchte nur wissen, was für ‚Heilerfolge’ sich der schrullige Doktor Finlay davon verspricht. Diese Dinger sind ja lebensgefährlich. Man sollte sie nur gegen Waffenschein abge30
ben. Du lieber Himmel – denen ist man ja hilflos ausgeliefert, wenn man ihnen so mir nichts, dir nichts über den Weg läuft.“ „Nun, Mister Wernicke“, lächelte der Schweizer, „ganz so schlimm ist es wohl doch nicht. Auch dieser künstliche Mensch hat eine verwundbare Stelle, sozusagen eine technische Achillesferse. Ich habe eine Art ‚Notventil’ eingebaut Sehen Sie den zinnoberroten Druckknopf, dort, an der linken Hälfte?“ „Diesen komischen Klingelknopf? Na klar, was ist damit?“ „Das werden Sie gleich sehen. Drücken Sie mal darauf. Sie können es unbesorgt tun, die Stelle ist isoliert.“ Fritz Wernicke nahm allen Mut zusammen, trat einen Schritt vor und drückte kräftig auf den rötlich schimmernden Knopf. Da war es, als ginge ein Ruck durch den Roboter – ein Zischen, wie von tausend Lichtbogen – die Gestalt aus Glas und Metall sackte in sich zusammen. Ein übler Gestank nach verschmortem Isoliermaterial breitete sich aus. Im letzten Augenblick fing Wernicke geschickt das Tablett mit den kostbaren Getränken auf, das den Händen des sterbenden Roboters entglitt. „Jetzt habe ich ihn kaputt gemacht“, bedauerte der gute Fritz. „Sorry, old fellow, das habe ich nicht gewollt.“ „Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Mister Wernicke“, tröstete Kurt Brunner den Steuermann.. „Der Kerl hat nur seine gerechte Strafe bekommen. Wir haben noch mehr von der Sorte. Und der reiche Doktor Finlay bezahlt’s ja.“ „Ahem – bei Doktor Finlay fällt mir ein“, versuchte Fritz Wernicke das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, „wie geht es eigentlich Ihrem Fräulein Braut? Wenn ich nicht irre, befindet sie sich doch schon seit ein paar Wochen in diesem Sanatorium im Diavolo-Gebirge …“ Ein Schatten huschte über Brunnen Gesicht Er nahm seinem Gast das Tablett aus der Hand und nötigte ihn abermals zuzulangen, bevor er sich zur Antwort entschloß. 31
„Es scheint ihr zu gefallen. Hier – lesen Sie selbst Es ist ihr erster und bisher einziger Brief.“ Fritz Wernicke las die wenigen Zeilen, die mit Schreibmaschine auf einem Briefbogen des Sanatoriums geschrieben waren: „Lieber Kurt, ich habe mich gut im Sanatorium Diavolo eingelebt und habe hier alles, was ich brauche, vor allem viel Ruhe, gutes Essen, erstklassige ärztliche Betreuung und alle erdenkliche Bequemlichkeit. Es geht mir sehr gut und Doktor Finlay ist mit dem bisherigen Kurerfolg zufrieden. Immerhin scheint er es jedoch für gut zu halten, wenn ich die Kur über die ursprünglich vorgesehene Dauer ausdehnen würde. Mir wäre es schon recht, zumal ich mich in dieser herrlichen Gegend außerordentlich wohlfühle. Bald schreibe ich mehr. Herzlichst, Deine Sheila.“ „Hm“, machte Fritz Wernicke nur. Kurt Brunner sah ihn ängstlich forschend an. „Sagen Sie, Mister Wernicke, finden Sie nicht auch, daß dieser Brief ein wenig sonderbar klingt? Ich meine – so etwas lieblos und schablonenhaft …“ „Kann sein“, nickte Wernicke, „fühle mich allerdings auf dem Gebiet der Liebesbrief-Korrespondenz nicht ganz zuständig. Was mir nicht ganz gefällt, ist diese Bemerkung von der ‚herrlichen Gegend’.“ „Und warum nicht?“ „Weil das purer Unsinn ist“, grinste Fritz Wernicke. „Wenn eine Gegend auf dem Mond ihren Namen zu Recht trägt, dann ist es dieses verdammte Diavolo-Gebirge. Es ist als hätte es der leibhaftige Teufel eigenhändig geschaffen.“ * Tatsächlich – die Diavolo Mountains trugen ihren Namen mit Recht. Hier hatte wohl der Satan seine schlechte Laune austoben lassen, damals, als der Mond sein steinernes Antlitz bekam. 32
Wilde, zerrissene Grate, bizarre Bergspitzen, die sich oft nadelscharf in den grünlichen Himmel bohrten, schwindelnde Steilabstürze und dunkle, tief eingeschnittene Spalten und Schluchten. Und Schweigen – die Starrheit ewigen Todes … Das war die Landschaft, in der dieser seltsame Doktor Finlay sein Sanatorium errichtet hatte, dieses riesige Haus, das nach außen nichts war als ein eckiger, tür- und fensterloser Betonklotz, und das in seinem Innern so viel Geheimnisvolles barg. Wände, in denen sich plötzlich verborgene Türen öffneten. Räume, die von unsichtbaren Lampen in ein grünes, kaltes Licht getaucht wurden. Musik, die aus den Wenden drang und merkwürdig müde und willenlos machte. Seelenlose Roboter, die alle Arbeiten in diesem Hause verrichteten, die Wünsche entgegennähmen und Auskünfte erteilten, und die urplötzlich verschwanden, als hätten sie sich in Nichts aufgelöst … Von ihren Mitpatienten bekam Sheila in den ersten acht Tagen nichts zu sehen. Die beiden einzigen Menschen, die ihr in dieser Welt der Maschinenwesen begegneten, schienen selbst kalte Roboter zu sein. Da war Doktor Ilescu, der Assistenzarzt, der täglich dreimal Visite machte. Eine ewig mißtrauische Strebernatur, die jede Frage mit irgendeiner nichtssagenden Höflichkeitsfloskel abtat und schweigend seine Verordnungen vornahm. Sheila konnte sein lauerndes, schwammiges Gesicht nicht ausstehen, und jedesmal, wenn er ihr Zimmer betrat, empfand sie ein unbehagliches Gefühl. Doch vor dem anderen, dem Chefarzt, hatte sie geradezu Angst. Wenn seine große, hagere Gestalt mit den blassen, intelligenten Zügen, den durchdringenden Augen unter buschigen Brauen, vor ihr stand und sie unentwegt anstarrte, – war es dann nicht, als stände sie in einen blaßbläulichen Schimmer getaucht, als ginge eine Kraft von diesen Augen aus, die den eigenen Willen lähmte? Sheila spürte das starke Fluidum und lehnte sich vergeblich dagegen auf. 33
Über diese Wahrnehmungen sprach sie mit einer Mitpatientin, die sie im künstlich angelegten Sanatoriumspark traf, als sie zum ersten Male darin spazieren gehen durfte. Sie hatte gerade kopfschüttelnd einen der exotischen Sträucher betrachtet, die sich überall mit stachligen, lederartigen Blättern zum Himmel reckten, als hinter ihr ein silberhelles Lachen erklang. „Offenbar neu hier – in Doktor Finlays Klappsmühle?“ fragte ein junges Mädchen mit einem blonden Lockenkopf und fröhlichen Augen, das den linken Arm in einer Schlinge trug. „Ja, bewundern Sie nur ordentlich seine Mond-Kakteen. Die Dinger sind nämlich mit menschlichem Verstand begabt.“ „Mit was?“ stotterte Sheila. Sie war restlos verdattert Zweifellos hatte sie es mit einer Geistesgestörten zu tun. Die andere schien Gedanken lesen zu können. „Nein, nein – nicht, was Sie denken“, lachte sie. „Ich bin wegen Knochentuberkulose hier in Behandlung. Da oben“ – sie tippte sich gegen die Stirn – „bin ich völlig normal. Das heißt: noch normal.“ „Wie meinen. Sie das?“ „Das will ich Ihnen gleich erklären. Doch Vorsicht – Feind hört mit! Zuvor will ich noch dieses niedliche Bäumchen hier schütteln. Da – hatt’ ich’s doch gedacht!“ Aus dem Gestrüpp des häßlichen, kakteenähnlichen Busches, der von dem Arm des jungen Mädchens hin und her gezerrt wurde, fiel ein kleines Kästchen und zerschellte am Boden. „Ein Mikrophon“, stammelte Sheila. „Das Geheimnis des Erfolges“, erklärte die Blondgelockte großartig. „Auf diese Art erfährt unser tüchtiger Chefarzt alles, was seine Patienten sagen. Aber Ellen Lumberman geht ihm nicht so leicht auf den Leim.“ „Sie sind Ellen Lumberman?“ rief Sheila erfreut. „Ich heiße 34
Sheila Jackson und habe Ihnen Grüße auszurichten – von einem gewissen Mister Jenkins. Er erwartet Ihren Anruf …“ „Der arme Jenkins. Fürchte, er wird lange warten müssen; denn uns Patienten ist die Benutzung des Telephons nicht gestattet. Ich habe sogar allen Grund zu der Annahme, daß man unsere Post nicht weiterbefördert …“ Vom Haus her näherten sich plumpe, tapsende Schritte. Zwischen den Büschen sah man den Kopf eines Roboters hindurchschimmern. „Da schickt uns der Alte schon wieder einen von seinen scheußlichen Aufpassern auf den Hals“, sagte Ellen und zog Sheila rasch zur Seite. „Hören Sie, Miß Jackson: In diesem Haus ist irgend ein böses Geheimnis verborgen. Seien Sie auf der Hut! Sprechen Sie nie laut aus, was Sie denken. Schütten Sie alle Medikamente weg, die man Ihnen verordnet. Schreiben Sie nicht nach Hause – die Briefe kommen doch nicht an. Und wenn der Alte Sie mit seinen komischen Glotzaugen hypnotisieren will, dann nehmen Sie Ihren Willen zusammen und leisten Sie Widerstand. Aber lassen Sie sich äußerlich nicht anmerken, daß Sie den Schwindel nicht mitmachen.“ Die letzten Worte hatte Ellen Ihrer Leidensgefährtin kaum hörbar ins Ohr geflüstert. Laut sagte sie jetzt: „Good-bye, Miß Jackson. Ich wünsche Ihnen weiterhin recht guten Kurerfolg.“ In diesem Augenblick schob der Roboter seinen plumpen Körper um die Ecke und sperrte das breite Maul auf: „Die Ausgangszeit ist beendet. Die Damen werden gebeten, ihre Zimmer aufzusuchen.“ * Im Elektromechanischen Institut Doktor Brunners in OrionCity gab es in diesen Wochen unglaublich viel zu tun. Meist waren es Entwicklungsarbeiten in fremdem Auftrag, die als be35
sonders dringlich liefen, und vor allem das Sanatorium Diavolo hatte immer neue Wünsche für die Spezialausführung seiner Maschinenmenschen. Aber endlich kam doch der Abend, an dem Kurt Brunner aufatmend die Tür seines Laboratoriums absperren und an eine kurze Arbeitspause denken konnte. Es war in den Abendstunden des Freitags – über das Wochenende hatte er frei – Grund genug, um eine kleine Luftreise nach Montana zu machen und Sheilas Mutter in Helena zu besuchen. Die alte Dame freute sich ehrlich, als ihr Schwiegersohn so unverhofft bei ihr eintrat. Sie war seit Sheilas Abreise recht einsam gewesen und fühlte sich nun glücklich, einen Menschen bei sieh zu haben, mit dem sie über ihre Tochter plaudern konnte. Eilig lief sie zu ihrem kleinen altmodischen Sekretär und kramte einen Briefbogen hervor. „Das gute Kind – es hat sogar schon geschrieben“, strahlte sie und reichte ihrem Schwiegersohn Sheilas Brief. Kurt Brunner erkannte dasselbe geschäftliche Briefpapier, die gleiche Maschinenschrift wie in dem Brief, den er selbst vor ein paar Tagen erhalten hatte. Er las – und die Worte tanzten vor seinen Augen: „Liebste Mutter, ich habe mich gut im Sanatorium Diavolo eingelebt und habe hier alles … – Doktor Finlay ist mit dem bisherigen Kurerfolg zufrieden. – … zumal ich mich in dieser herrlichen Gegend …“ By Jove – das war doch Wort für Wort derselbe Text, den Sheila auch ihm geschrieben hatte. Dieses Schablonenhafte sah ihr doch weiß Gott nicht ähnlich. Irgend etwas stimmte da nicht … Düster starrte Doktor Brunner auf das Bild seiner Braut, das vor ihm auf dem Sekretär stand. Mrs. Jackson deutete sein. Verhalten auf ihre Art. „Du bist ja vollkommen überarbeitet, armer Junge“, sagte sie 36
und legte ihm mütterlich ihren Arm um die Schultern. „Jetzt iß erst mal tüchtig und leg dich dann schlafen. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.“ Kurt Brunner riß sich zusammen Um keinen Preis wollte er Sheilas Mutter gegenüber etwas von seinen Sorgen durchblicken lassen. Doch schon am anderen Morgen trieb ihn die innere Unruhe fort – zurück nach Orion-City. „Willst du schon wieder gehen, Kurt?“ fragte Mrs. Jackson enttäuscht. „Ein paar Tage Ausspannung täten dir so gut.“ „Es ist leider nicht zu ändern, Mutter“, wich er aus. „Am Montag beginnt für mich, eine besonders anstrengende, arbeitsreiche Woche. Und vorher muß ich noch meinen Umzug bewältigen.“ „Du hast dein Zimmer aufgegeben?“ wunderte sich die alte Dame. „Es lag zu weit vom Institut entfernt. Ich wohne ab morgen in der Titania Street, Nummer 14, bei einer Mrs. Lumberman.“ * Die Witwe Lumberman erwies sich als eine würdige Matrone in den Fünfzigern, mit krausem, grauem Haar und umfangreichen Körperformen. Sie empfing ihren neuen Untermieter mit einem gewaltigen Wortschwall. „Herzlich willkommen, mein lieber Mister Brummer – äh – Brunner! Leben Sie schon länger in Orion-City? Reizende Stadt, nicht wahr? So modern und komfortabel! Ich möchte nirgendwo anders mehr leben. Und diese einmaligen Arbeitsbedingungen! Mein guter Otto selig – er war Werkmeister in der großen Montagehalle III, müssen sie wissen, und kam vor zwei Jahren bei einer Explosion ums Leben – mein guter Otto sagte auch immer: ‚Therese’, sagte er – Therese, das bin nämlich ich …“ 37
„Ich arbeite schon seit dreieinhalb Jahren beim S.A.T.“, unterbrach Doktor Brunner die Redeflut der Matrone. „Seit dreieinhalb Jahren? Na, dann wissen Sie ja Bescheid. Was nun das Zimmer anbetrifft, so werden Sie sich darin sicher wie zu Hause fühlen. Es gehört eigentlich meiner Tochter …“ „Und wo befindet sich Ihr Fräulein Tochter zur Zeit?“ Ein betrübter Ausdruck trat in das fette Gesicht der MRS, Lumberman. „Ellen – das ist nämlich meine Tochter – ist leider krank. Das heißt, es geht ihr, Gott sei Dank schon besser. Sie hat einen schlimmen Arm und ist im Sanatorium. Raten Sie mal, wo – Mister Brummer, äh Brunner.“ „Vielleicht in den Wasatch Mountains?“ riet Kurt aufs Geratewohl. „Haha“, lachte Mrs. Lumberman abfällig. „Das denken Sie wohl. Nee, junger Mann, meine Tochter wollte höher hinaus. Sie ist – auf dem Mond.“ „Auf dem Mond?“ „Ja, Sie haben ganz recht verstanden. Ellen ist auf dem Mond, und zwar in dem berühmten Sanatorium – Dings – na, wie heißt es doch gleich? Diabolo – Fra Diavolo oder so ähnlich.“ „Sie meinen: im Sanatorium Diavolo, bei Doktor Finlay“, half Kurt Brunner nach. „Ja, richtig, Finlay, so heißt der Mann. Na, was sagen Sie nun?“ „Toll, toll“, murmelte Kurt geistesabwesend. Doch plötzlich kam ihm ein Gedanke. „Sagen Sie, Mrs. Lumberman, hat Ihre Tochter eigentlich schon mal geschrieben?“ „Aber ja, hier – lesen Sie selbst!“ Und sie holte aus ihrer Schürzentasche einen fleckigen, zerknitterten Briefbogen hervor. Kurt Brunner las – und wurde bleich. Dasselbe Papier, dieselbe Maschinenschrift und – bei allen guten Geistern – derselbe, unpersönliche Wortlaut, den er nun schon zum dritten Male las. 38
Mit zitternder Hand reichte er den Brief zurück. Und der Verdacht, der in seinem Herzen geschwelt hatte, loderte auf zu einer klaren bösartigen Gewißheit. * Ein leises Klopfen an der Tür riß Sheila aus unruhigem Schlaf. Der Zeiger auf dem Leuchtzifferblatt ihrer Armbanduhr zeigte die dritte Nachtstunde an. Mechanisch drückte sie auf den Schalter der Nachttischlampe. Doch es blieb dunkel wie zuvor. „Pst!“ Ein leises Kichern von der Zimmertür her. Leichte Schritte huschten heran. Der Strahl einer Taschenlampe blitzte auf. „Ellen! Um Himmelswillen – wenn man dich hier erwischt …“ „Erst mal können“, lachte das junge Mädchen und hockte sich auf Sheilas Bettkante nieder. „Wir brauchen uns übrigens gar nicht so übermäßig vorzusehen.“ „Aber du weißt doch, Ellen: In diesem Haus haben selbst die Wände Augen und Ohren.“ „Stimmt auffallend, Verehrteste. Aber Ellen Lumberman ist auch nicht von gestern. Sie hat nämlich ein bißchen Detektiv gespielt und dabei eine großartige Entdeckung gemacht.“ „Und was hast du gefunden?“ fragte Sheila atemlos. „Den Hauptschalter“, lächelte Ellen harmlos. „Schon vor ein paar Tagen. Habe mein Wissen aber bisher für mich behalten. Heute nacht war es dann soweit.“ „Was meinst du damit, Ellen? Was hast du getan?“ „Einen soliden Kurzschluß habe ich fabriziert. Nun liegt das ganze Heer unserer Wächter, dieser ekelhaften Roboter, in sanftem Schlummer.“ „Und wozu das alles? Nur, um mit mir ein ungestörtes Plauderstündchen zu verbringen?“ Ellens silberhelles Lachen klang auf. „Wäre das nicht Grund 39
genug, Sheila? Aber höre“ – ihre Stimme wurde plötzlich sehr ernst –, „ich bin gekommen, um dich abzuholen. Wir müssen hier raus, und zwar sofort.“ „Ja – aber warum denn nur? Und wo wollen wir denn hingehen? In diesen entsetzlichen Diavolo-Bergen verirren wir uns doch hoffnungslos.“ „Keine Angst, Sheila! Wir werden einen ortskundigen Fremdenführer haben: einen gewissen Jenkins. Ich konnte mich gestern während der Ausgangszeit unauffällig mit ihm verständigen, als er draußen um die Mauern strich. Aber komm jetzt, mach dich rasch fertig.“ Sheila überlegte. „Nein, Ellen“, sagte sie schließlich, „das sähe ja aus wie eine Flucht.“ „Das sähe nicht nur so aus, du Schäfchen. Hast du denn noch immer nicht begriffen, in welcher Gefahr wir hier sind? Wir sind doch nur Versuchskarnickel für die teuflischen Experimente dieses Doktor Finlay. Vor zwei Tagen belauschte ich in der Liegehalle zufällig ein Gespräch, das Finlay mit Ilescu in meiner Nähe führte. Sie dachten, ich schliefe fest, und gaben sich keine besondere Mühe, leise zu sprechen. So erfuhr ich es dann: Man will uns, d. h. dich und mich, demnächst zur ‚Sonderbehandlung’ in die Abteilung R überweisen.“ „Abteilung R? Was ist denn das?“ fragte Sheila und fühlte ein unnennbares Grauen nach ihrer Kehle greifen. „Genau weiß ich es auch nicht, aber ich habe so meine Vermutungen. Doch davon später. Beeile dich jetzt Der gute Jenkins kriegt sonst kalte Füße.“ Als sie sich gleich darauf aus dem Zimmer tasteten, wandte sich Ellen noch einmal zurück und nahm – einer plötzlichen Eingebung folgend – die Nachttischlampe an sich. Dann schlichen sie den Gang entlang in Richtung zum Treppenhaus. Nur hin und wieder ließen sie die Lichtkegel ihrer Taschenlampen kurz über die kahlen Wände huschen. 40
Schon wollte Sheila den Fuß auf die oberste Treppenstufe setzen, als sie erschrocken zurückprallte. Vor ihr, auf dem Boden, hockte ein Roboter und glotzte sie mit stieren Augen an. „Reg dich nicht auf“, flüsterte die beherzte Ellen. „Der tut uns nichts mehr.“ Geschwind riß sie dem plumpen Kerl die Antenne herunter, die er auf dem tornisterähnlichen Behälter auf dem Rücken trug. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. Auf halber Höhe des Treppenhauses öffnete sich geräuschlos die Wand, und zwei Männer traten heraus. Im magischen Schein einer seltsamen Lampe erkannte Sheila das Gesicht Mikes, des taubstummen Pförtners. Die beiden gingen langsam auf den Treppenstufen abwärts ins Erdgeschoß. „Wer ist der andere?“ fragte Sheila flüsternd. „Ich habe ihn hier nie gesehen.“ „Das ist Mister Dawes, der Maschinist. Mike wird ihn geholt haben, damit er den Schaden repariert. Komm zurück, hier können wir nicht weiter.“ Lautlos schlichen sich die beiden Ausreißertonen in den Gang zurück. Doch nach zehn, zwölf Schritten hielt Ellen den Schritt an. War es wirklich derselbe Gang, aus dem sie kurz zuvor gekommen waren? Irgend etwas schien hier nicht zu stimmen. Sheila hatte dasselbe Empfinden. „Wir haben uns verlaufen, Ellen. Was nun?“ Sie hatte kaum geendet, als plötzlich überall grelles Licht aufflammte. Vom Treppenhaus her vernahm man Rufe und das Rattern der Rolltreppe. Schnell rannten die beiden jungen Mädchen weiter in den Gang hinein, der in einer schmalen, fensterlosen Wand endete. Und zwischen den Flüchtenden und dieser Wand stand mit einem Male ein undeutlicher Schemen. Er nahm Form und Gestalt an und stampfte auf sie zu. Eto Schrei des Entsetzens entrang sich Sheilas Lippen: 41
„Eto Roboter! Wir sind verloren …“ „Asmodi!“ schrie die streitbare Ellen Lumberman. „Den kenne ich doch. Na warte, du …“; sie holte weit aus und schleuderte die Nachttischlampe, die sie noch immer in der Rechten trug, mit aller Kraft gegen den dicken Kugelkopf des Ungeheuers. Aber sie verfehlte ihr Ziel. Klirrend zersprang die Lampe hinter dem Roboter an der Schmalwand. Was nun geschah, spielte sich so rasch ab, daß die entsetzten Blicke der beiden Mädchen ihm kaum zu folgen vermochten Mit unerwarteter Behendigkeit machte der Koloß kehrt, rannte mit ausgebreiteten Armen hinter dem Wurfgeschoß her und brach krachend durch die Wand. Von draußen tönte dumpf das Geräusch eines schweren Falls herein, vermischt mit Klirren und Bersten. Am anderen Ende des langen Ganges klangen jetzt Flüche und rasche Schritte. Ellen Lumberman faßte sich zuerst. „Dort hinaus – ins Freie – schnell, schnell!“ Entsetzt nahm die halbbetäubte Sheila wahr, wie ihre Freundin sie mitriß, sie hinter sich her durch die Öffnung im Mauerwerk in die Tiefe zog. Sie fiel merkwürdig lange und langsam. Ach ja – die geringe Schwerkraft des Mondes – es war mehr ein Schweben als ein Fallen. Dennoch schlug sie schwer auf und taumelte ganz benommen, als die unverwüstliche Ellen sie hochriß. „Lauf, Sheila! Wenn wir die Mauer erreicht haben, sind wir gerettet.“ Sie standen schwer atmend am Fuß der riesigen Mauer, die das Sanatoriumsgelände gegen die Außenwelt abschloß. Es war allerhöchste Zeit – überall flammten jetzt Scheinwerfer auf, die. man bei Tage nirgends wahrgenommen hatte, und tauchten die ganze Gegend in grellweißes Licht. Doch wie sollte man an dieser glatten Wand hinaufkommen, die auch nicht den geringsten Vorsprung aufwies? 42
Von der anderen Seite kam ein schriller, mißtönender Pfiff. Ellen war sofort im Bilde. „Mister Jenkins – hier sind wir! Helfen Sie uns!“ Über die Mauerkrone sauste etwas heran, schlug klatschend an die glatte Wand und baumelte herab. Eine Strickleiter! „Der gute Jenkins! Er hat an alles gedacht.“ Mit frischem Mut griffen Ellen und Sheila in die Sprossen und klommen eilig hintereinander empor. Sie mochten etwa in halber Höhe der Mauer angelangt sein, als ein erschrockener Warnungsruf von drüben sie innehalten ließ. „Vorsicht – die Leiter! Um Himmels willen!“ Ellen und Sheila blickten nach oben Der Herzschlag stockte ihnen … In roter Glut stand die ganze Krone der gewaltigen Mauer. Jetzt flammten die Stricke der Leiter auf, dort, wo sie die Mauerzinne berührten. Und jetzt … Ein schriller Schrei – wie aus einem Munde! Mit der zerrissenen Leiter stürzten die zwei Körper in die Tiefe … … und wurden von den Armen der Männer aufgefangen, die am Fuße der Mauer in aller Ruhe den Ausgang des Abenteuers abgewartet hatten. „Geben Sie ihnen FB 15, Ilescu“, hörte Sheila den Chefarzt sagen. Sie sah die Injektionsspritze in der Hand des Assistenten und fühlte noch den Einstich in den Oberarm. Dann versank sie in tiefer Dunkelheit. * Als Kommodore Parker um die Mittagszeit das Hauptverwaltungsgebäude des S.A.T. verließ und über die breiten Stufen zu den sonnenüberglänzten Anlagen des Central Park hinunterstieg, lief ihm wie von ungefähr Kurt Brunner über den Weg. 43
„How do you do, mein Lieber!“ rief Jim vergnügt und schüttelte dem Schweizer herzlich die Hand. „Auf wie viele Stellen haben Ihre tüchtigen Roboter die Zahl Pi inzwischen berechnet?“ Der andere lächelte nur bedrückt. „Kommodore, ich habe Sie gesucht wie eine Stecknadel. Hätten Sie wohl ein wenig Zeit für mich?“ Jim Parker blätterte im Geiste seinen Terminkalender für den heutigen Nachmittag durch. 14 Uhr: Brennversuch auf Prüfstand XVIII – 16.30 Uhr: Sitzung der Hauptabteilungsleiter des S.A.T. (da konnte es spät werden) – 20 Uhr; Vortrag über das Mars-Projekt bei Cunningham … „Hm“, machte er. „Vor 23 Uhr wird es heute kaum gehen.“ Doch als er Kurt Brunners enttäuschtes Gesicht sah, schob er den jungen Mann kurz entschlossen in seinen stadtbekannten, grün-weißen Sportflitzer, dem er in all den Jahren treu geblieben war, und raste mit ihm in die stille Vorstadt hinaus, in der sein Bungalow lag. Kurt Brunner sprach den leckeren Sachen, welche die alte Haushälterin auftrug, nur zerstreut und ohne großen Appetit zu. Kaum sah er sich mit seinem Gastgeber allein, als er auch schon Messer und Gabel zur Seite legte und geradenwegs auf sein Ziel zusteuerte. „Kommodore – ich bin in großer Sorge um meine Verlobte. Sie werden sich vielleicht erinnern, daß sie seit einigen Wochen zur Kur im Sanatorium Diavolo weilt, bei Doktor Finlay.“ Jim Parker runzelte die Stirn. Da war er wieder, dieser Name. Und wie stete, wenn er ihm begegnete, schien etwas Unbestimmbares, etwas wie undurchdringlicher Nebel und wie versteckte Drohung von ihm auszustrahlen. „Ahem – schießen Sie los, Brunner.“ Mit kurzen Worten erzählte der junge Mann von den merkwürdigen Briefen aus dem Mondsanatorium und von seinen 44
Befürchtungen. Der Kommodore hörte schweigend zu. Schließlich meinte er: „Kommt mir auch reichlich verdächtig vor. Überhaupt traue ich diesem Finlay nicht recht über den Weg. Er ist zwar der Chef einer Nervenheilanstalt, aber manchmal scheint es mir so, als gehöre er von Rechts wegen selbst hinein – als Patient nämlich.“ „Um Himmels willen, Kommodore! Sie halten Doktor Finlay für – für verrückt?“ „Ich möchte es nicht so kraß ausdrücken“, erwiderte Jim, „aber irgendwo, ist bei ihm bestimmt ’ne kleine Schraube los – oder eine zuviel vorhanden, was im Endeffekt auf’s selbe herauskommt.“ „Ja, aber – da muß man doch irgend etwas unternehmen“, rief Kurt Brunner entsetzt. „Wir werden uns den Laden mal von innen anschauen“, schlug der Kommodore vor. „Ja, glauben Sie denn, daß Doktor Finlay uns überhaupt hereinlassen würde? Er ist doch schließlich nicht dazu verpflichtet.“ Jim Parker lächelte bedeutungsvoll. „Uns, als Privatpersonen, würde er was husten. Aber er würde wohl gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, wenn beispielsweise eine Kommission von Ärzten im Auftrag des Gesundheits-Departements des ‚Weltbundes der freien Nationen’ den Wunsch äußern würde, die Einrichtungen des ersten Mondsanatoriums der Welt zu besichtigen.“ „Aber, wie sollen wir den ‚Weltbund’ dazu kriegen, Kommodore?“ „Das lassen Sie nur meine Sorge, sein“, tröstete Jim Parket. „Ich will mich gleich mal mit Doktor Leonhard, dem leitenden S.A.T.-Mediziner, in Verbindung setzen. Er hat die besten Beziehungen zum ‚Weltbund’ und wird das Kind schon schaukeln.“ 45
Der Kommodore, schon auf dem Weg zum Telephon, hielt inne und wandte sich noch einmal an seinen Besucher: „Und Sie, mein Lieber, machen sich am besten für eine kleine Mondfahrt fertig; denn in dieser Kommission sollen auch Sie nicht fehlen. – Ich übrigens auch nicht!“ * Jim Parkers Plan sollte sich als ein überaus glücklicher Einfall erweisen. Jedenfalls kam er für Sheila Jackson und ihre Freundin Ellen buchstäblich im richtigen Augenblick. Doktor Finlay hatte seinem Assistenten gerade den Auftrag erteilt, die beiden nächtlichen Ausreißerinnen in der geheimnisvollen Abteilung R weiterbehandeln zu lassen, als aus der Wand neben dem Schreibtisch ein Arm aus Leichtmetall herauslangte und einen Brief auf die Tischplatte fallen ließ. „Post aus Luna IV“, verkündete eine blecherne Stimme, die unmittelbar aus der Zimmerdecke zu kommen schien. Doktor Finlay betrachtete das Siegel auf dem Umschlag und stutzte. Er riß den Brief auf und überflog die Zeilen. Und dann fluchte er wie ein Dragoner. „Etwas Unangenehmes, Sir?“ fragte Doktor Ilescu wenig geistreich. „Diese Trottel vom ‚Weltbund’“, schimpfte Finlay. „Als ob wir nichts Besseres zu tun hätten, als diese Affen hier herumzuführen. Kommt doch tatsächlich heute nachmittag eine internationale Ärztekommission, die zur Zeit die Mondwerke des S.A.T. bereist, und will das Sanatorium besichtigen. Hätte größte Lust, diese Weihnachtsmänner kurzerhand nach Hause zu schicken.“ „Das wäre aber bestimmt unklug, Sir“, bemerkte Doktor Ilescu naseweis. „Wir würden uns dadurch nur verdächtig machen.“ 46
„Sie merken mal wieder alles, Ilescu“, sagte Finlay ungnädig. „Nun gut – sollen die Kerle kommen. Wir haben jedenfalls Zeit genug, um uns auf ihren Empfang vorzubereiten.“ „Und was nun die Überweisung von Miß Jackson und Miß Lumberman nach Abteilung R betrifft?“ „Sie wird selbstverständlich verschoben. Wenigstens für so lange, bis wir hier wieder ruhige Verhältnisse haben.“ * Aber mit den „ruhigen Verhältnissen“, von denen der Chefarzt gesprochen hatte, schien es für das Sanatorium Diavolo einstweilen vorbei zu sein. Es begann schon damit, daß die Ärztekommission des ‚Weltbundes der freien Nationen’ fast drei Stunden früher als vorgesehen in den Diavolo-Bergen eintraf und bereits munter aus den drei Düsenhubschraubern kletterte, bevor die unsichtbaren Wachtposten des Sanatoriums ihre Ankunft gemeldet hatten. Und zu seinem ausgesprochenen Mißvergnügen mußte Doktor Finlay feststellen, daß sich unter die rund dreißig erlauchten Fachkollegen auch einige Herren gemischt hatten, die nicht auf die übliche Anrede „Herr Doktor“ hörten, sondern mit „Herr Kommodore“ und „Herr Oberst“ tituliert wurden. Doch Ernest Finlay hatte keine Zeit, diesem Umstand besondere Beachtung zu schenken. Er begrüßte Doktor Leonhard, den Leiter der Kommission, mit übertriebener Herzlichkeit und schüttelte sämtlichen Herren die Hand: Dann betonte er, welche Freude ihm der Besuch der Herren Kollegen bereitete, und bat sie, sich wie zu Haus zu fühlen. Die Ärzte, die sehr wohl merkten, daß Doktor Finlay sich über sie lustig machen wollte, grinsten säuerlich und folgten dem Chefarzt und seinem Assistenten in zwei Gruppen, um sich durch das Labyrinth des Sanatoriums führen zu lassen. 47
Niemand fiel es auf, daß drei der Herren sich unauffällig abgesondert hatten. Einer von ihnen legte eine überraschende Kenntnis der technischen Einrichtungen an den Tag, die das ausgedehnte Bauwerk auf Schritt und Tritt sicherten. Unsichtbare Türen sprangen auf, der Boden versank mit ihnen oder schnellte um Stockwerke nach oben, verborgene Beleuchtungskörper flammten auf, Roboter, die sich drohend auf die Eindringlinge stürzten, traten höflich beiseite, wenn dieser Fremde sich ihnen mit einem Gerät näherte, das halb wie eine Wünschelrute, halb wie ein Rundfunkapparat im Miniaturformat aussah. „He, Brunner“, knurrte einer der Begleiter, „was ist denn das für ein ulkiger Zauberstab, den Sie da haben?“ „Pst!“ machte der junge Schweizer. „Nicht so laut, Herr Oberst! Dies ist ein sogenannter ‚Supra-Detektor’, ein Gerät, das wir in unserem Institut entwickelt haben. Eigentlich dient es ganz anderen Zwecken, aber es eignet sich auch hier ganz gut.“ „Kommen Sie weiter, Gentlemen!“ drängte der Dritte. „Wir wollen uns mal die Patienten ansehen, die da oben in dem riesigen Glashaus schmoren.“ Das Glashaus war nichts anderes als die langgestreckte Liegehalle, die sich oberhalb des Gebäudes in halber Höhe an der Bergwand hinzog. Aus der Nähe betrachtet, zeigte es sich, daß sie im Inneren sehr angenehm temperiert war, obwohl sie im prallen Sonnenlicht lag. Die Halle war aus einem Spezialglas gefertigt, das wohl einen Teil des ultravioletten Lichtes durchließ, dagegen die Wärmestrahlung der Sonne weitgehend abschirmte. Die Patienten lagen auf den Liegeböcken und schliefen. Es mußte ein unnatürlich tiefer Schlaf sein, denn niemand wachte auf und nahm von den drei Eindringlingen Notiz, die langsam von einer Liegestatt zur nächsten schritten. „Eine langweilige Gesellschaft“, brummte der Oberst und 48
gähnte. „Wie die es wohl fertigbringen, so tief in Morpheus Arme zu versinken?“ „Da wird wohl einer nachgeholfen haben“, mutmaßte der Kommodore. „Hallo, was ist denn mit unserem Freund Brunner los?“ Kurt Brunner war vor einem der Liegebetten stehengeblieben, auf dem ein schlafendes junges Mädchen ruhte. Plötzlich drehte er sich um, raffte eine Wolldecke auf und warf sie über ein struppiges Mondgewächs, das, als sonderbare Verzierung in einem Blumenkübel in der Nähe stand. „Was ist denn mit ihnen los?“ wunderte sich der Oberst. „Wollen Sie Schmetterlinge fangen?“ „Mitnichten“, erwiderte Kurt Brunner. „Aber ich will einen Besen fressen, wenn in diesem häßlichen Blumentopf nicht noch andere Blumen blühen als dieser dornige Mond-Kaktus.“ „Zum Beispiel?“ „Zum Beispiel Mikrophone und Fernsehobjektive.“ In diesem Augenblick wachte das junge Mädchen auf. Seine Augen wurden ganz groß und füllten sich mit ungläubigem Staunen. „Kurt – bist du’s denn wirklich?“ „Sheila!“ Mit ausgebreiteten Armen ging Brunner auf sie zu. „Kommen Sie“, sagte der Kommodore und zog den Oberst mit sich fort „Schätze, wir sind hier überflüssig.“ Doch kaum hatten sie den Halleneingang erreicht, als ihnen Stimmengewirr entgegenklang. Doktor Ilescu, der Assistenzarzt, kam mit seiner Gruppe langsam den Hang herauf. Der Kommodore setzte eine kleine, silberne Pfeife an die Lippen und stieß einen kurzen Pfiff aus. Sekunden später war Kurt Brunner wieder bei ihnen. Hinter einen Pfeiler geduckt, ließen sie den Arzt mit seinem Gefolge vorübergehen. Dann mischten sie sich unauffällig unter die Besucher.
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* Tief beeindruckt von dem Gesehenen waren die Mitglieder der Internationalen Ärztekommission an diesem Abend früh in die Betten gekrochen, die ihnen das S.A.T. im Gästehaus von „Luna IV“ zur Verfügung gestellt hatte. Morgen in aller Frühe sollte die Rückfahrt zur Erde an Bord des modernen Passagierraumschiffes „Selene“ erfolgen. Nur im Kommando der Mond-Sicherheitszentrale saß noch zu später Stunde ein halbes Dutzend Männer in ernstem Gespräch zusammen. Jim Parker reichte eine Packung seiner geliebten „Maza Blend“ herum und wandte sich dann an Doktor Leonhard: „Was mich vor allem interessieren würde: Wie beurteilen Sie, Doc, dieses Sanatorium Diavolo vom Standpunkt des Mediziners aus?“ Der Gefragte blies gedankenvoll den Zigarettenrauch von sich und wiegte bedächtig den Kopf. „Tja – man soll sich davor hüten, voreilige Urteile zu fällen und eine Heilmethode nur deshalb zu verdammen, weil sie neuartig und ungewohnt ist. Aber – in diesem Fall – kann ich doch eine gewisse Skepsis nicht überwinden. Ich bezweifle nämlich, daß es den Nervenkranken dienlich ist, auf Schritt und Tritt von Robotern geängstigt zu werden.“ „Davon scheinen sie aber kaum was zu merken“, warf der lange Oberst Mortimer, der Chef des Sicherheitsdienstes von Orion-City, ein. „Die ganze Bande lag ja in tiefstem Schlaf, und mir schien es, daß man sie künstlich in diesem angenehmen Zustand hielte …“ „Eben, eben“, rief Doktor Leonhard eifrig, „und das ist die eine Sache, die mir auffiel. Daß Doktor Finlay seine Nervenkranken mit Schlafmitteln traktiert, ist immerhin verständlich. Aber wenn man feststellen muß, daß er bei den Knochenkran50
ken die gleiche Therapie anwendet, dann – stimmt da irgend etwas nicht.“ „Und was fiel Ihnen sonst noch auf?“ fragte Jim Parker aufmerksam. „Eine Kleinigkeit noch – vielleicht ist es ganz belanglos“, meinte der Arzt sinnend. „Aber ich habe ganz deutlich gemerkt, daß Doktor Finlay uns nur einen bestimmten Teil des Hauses gezeigt hat, und das war bei weitem der kleinste. Allen Fragen nach den übrigen Räumen wich er geschickt aus. Sollte der Hauptteil des riesigen Sanatoriums etwa leerstehen? Das ist kaum anzunehmen. Nein, Gentlemen, dieses Haus birgt noch Geheimnisse, von denen wir nichts ahnen.“ „Darauf können Sie Gift nehmen“, knurrte Oberst Mortimer grimmig. „Sheila – das heißt: Miß Jackson, flüsterte mir etwas von einer ‚Abteilung R’ zu“, meldete sich jetzt Kurt Brunner zum Wort „Aber leider hatte ich keine Zeit mehr, Näheres von ihr zu erfahren.“ Alle sahen sich betroffen an. Schließlich sagte Fritz Wernicke, der bisher – hinter einer kleinen Batterie von Flaschen verschanzt – den stillen Beobachter gespielt hatte: „Uff, ihr tüchtigen Pfadfinder, da spaziert ihr mitten hinein in die Höhle des Löwen und seid nachher genau so schlau wie vorher. Und der Löwe, alias Doktor Finlay, lacht hinter euch her und dreht euch eine lange Nase. Wenn ihr das nächstemal auf den Kriegspfad geht, dann nehmt lieber den in allen Lebenslagen erfahrenen Fritz Wernicke, genannt ‚Whiskytöter’, mit. Ich halte jede Wette, daß dann mehr passiert. Hugh, ich habe gesprochen.“ Und er leerte das Glas bis auf den Grund. „Du hast nicht ganz unrecht, Fritz“, stellte Jim Parker nüchtern fest. „Wir müssen tatsächlich noch einmal hinein – und diesmal müssen wir es schlauer anfangen.“ „Man sollte diesen Affenstall ausräuchern“, erboste sich Ma51
jor Williams, der Chef des Mond-Sicherheitsdienstes. „Wer weiß, was für Unfug in diesem Laden angestellt wird.“ „Ja, Williams, gerade das wissen wir nicht“, wies Oberst Mortimer seinen Untergebenen zurecht. „Und deshalb sind wir auch nicht berechtigt, einen Gewaltstreich zu unternehmen. Ganz abgesehen davon, daß er vor den raffinierten technischen Abwehrmitteln des Doktor Finlay wahrscheinlich kläglich scheitern würde.“ „So ist es, Mortimer“, sagte Jim Parker ernst. „Dennoch glaube ich, daß auch Major Williams eines Tages auf seine Kosten kommen wird. Für den Augenblick müssen wir allerdings andere Wege gehen. Ich habe bereits einen Plan. Brunner, wollen Sie mir helfen?“ „Aber selbstverständlich, Kommodore. Was kann ich tun?“ „Sie stellen doch diese – ahem – diese Roboter für das Sanatorium Diavolo her?“ „Gewiß – im Auftrage der Verkaufsabteilung des S.A.T.“ „Hm. Sagen Sie, können Sie es nicht so einrichten, daß diese Roboter sich ein wenig anders benehmen, als Doktor Finlay es von ihnen erwartet? Vielleicht, daß Sie – natürlich rein ‚versehentlich’ – ein paar Hebel verkehrt stellen? Verzeihen Sie meine laienhafte Ausdrucksweise, aber …“ „Das ist unmöglich, Kommodore!“ rief der junge Schweizer erschrocken. „Es würde mich meine Stellung kosten, wenn ich Pfuschwerk lieferte, und der gute Ruf des S.A.T. wäre auch dahin.“ „Was das betrifft“, lächelte Parker, „so nehme ich es auf meine Kappe. Denken Sie doch an Miß Sheila. Wir müssen ihr helfen – ihr selbst und all ihren Leidensgenossen.“ In der Seele des jungen Mannes kämpften widerstreitende Gefühle. Er verabscheute alles, was – seiner Ansicht nach – abseits vom geraden Weg lag. Aber die Sorge um Sheila gab schließlich den Ausschlag. 52
„Gut, Kommodore, ich bin bereit. Sagen Sie mir, was ich tun soll.“ Jim Parker schmunzelte. „Ich hatte es nicht anders erwartet, Brunner. Wann geht die nächste Lieferung Roboter an das Sanatorium ab?“ „Sie soll bereits morgen früh in ‚Luna IV’ eintreffen.“ „Ausgezeichnet. Also dann hören Sie mal genau zu …“ * Nein, im Sanatorium in den Teufelsbergen sollte man nicht mehr zur Ruhe, kommen. Es war, als hätte sich alles gegen Doktor Finlay verschworen. Zuerst diese beiden aufsässigen Patientinnen – dann die höchst unprogrammäßige Invasion der Ärztekommission, die man – nebenbei bemerkt – ganz schön hinters Licht geführt hatte – und jetzt schien es, als lehnten sich sogar die willenlosen Roboter gegen ihn auf. Am Vormittag waren zehn dieser Maschinenmenschen vom neuesten Typ eingetroffen und sogleich von Ben Shelly, dem Ingenieur des Hauses, in Empfang genommen worden. Shelly hatte die Roboter nur kurz inspiziert und dann den Maschinisten Dawes gerufen. „Besorgen Sie die Installation und bauen Sie die Dinger draußen an der Umfassungsmauer in gleichmäßigen Abständen auf. Sie sind für den verstärkten Wachdienst bestimmt. Machen Sie alles nach ‚Schema F’!“ Hank Dawes besorgte alles nach ‚Schema F’ und ging dann befriedigt zum Mittagessen. Es war um die dritte Nachmittagsstunde, als Doktor Finlay in tiefen Gedanken die Treppe hinabstieg, um sich zur Visite in die Liegehalle zu begeben. Auf der untersten Stufe trat ihm einer von den neuen Robotern entgegen, führte die Rechte grüßend an den Kugelkopf und verkündete mit metallener Stimme: 53
„Auf Wache nichts Neues.“ „Wieso denn?“ entfuhr es dem Chefarzt erstaunt. „Was hat der Kerl denn hier zu suchen?“ Ärgerlich trat er dicht an den Maschinenmenschen heran und brüllte ihm ins Ohr: „He, Shelly, Sie schlafen wohl wieder mal? Die neue Serie soll an der Außenmauer Wache halten. Hier im Hause wünsche ich keinen davon zu sehen.“ Doch zu seiner maßlosen Verblüffung machte der Roboter keinerlei Anstalten, den Weg freizugeben. Im Gegenteil – er breitete die Arme aus und brüllte mit drohender Stimme: „Halt! Keinen Schritt weiter! Lebensgefahr!“ Den Chefarzt ergriff eine maßlose Wut. Weit holte er aus, stieß dem Maschinenmenschen die geballte Faust ins Gesicht und – stürzte aufstöhnend, von einem starken elektrischen Schlag getroffen, auf die Treppenstufen. Wie lange er so gelegen hatte, wußte er nachher nicht zu sagen. Seine Armbanduhr war bei dem Fall zertrümmert worden. Mit schmerzenden Gliedern erhob er sich und blickte sich scheu um. Doch der unbotmäßige Roboter war nirgends mehr zu sehen. Sicher hatte er das alles nur geträumt. Ein plötzlicher Ohnmachtsanfall – Folgen der Überarbeitung und der Aufregungen der letzten Tage. Ja, so mußte es wohl sein … Doch schnell wurde er eines anderen belehrt. Von draußen herein klangen plötzlich lautes Rufen und wüster Lärm. Nichts Gutes ahnend stürzte Finlay auf die nächste Wand zu, die ihn auf geheimnisvolle Art aufschluckte. Einen Augenblick später stand er im Garten des Sanatoriums und sah erschrocken auf die unheimliche Szene, die selbst ihm, dem Meister des Geheimnisvollen, schwer an die Nieren ging. Ein höllisches Durcheinander herrschte hier im Garten, und die grotesk-zerrissenen Gipfel, der Diavolo-Berge gaben den schauerlichen Hintergrund zu dem phantastischen Bild. Die neuen Roboter, die das Grundstück gegen jeden ungebetenen 54
Gast von draußen verteidigen sollten, hatten sich dem Willen ihrer Herren entzogen, hatten sich selbständig gemacht und tobten in wirrem Durcheinander herum – alles zerstampfend und zerschmetternd, was ihnen im Wege war. Mit zerfetzten Anzügen rannten Doktor Ilescu und Ben Shelly in dem wüsten Wirbel herum und Versuchten, das nackte Leben zu retten. Doktor Finlay schloß die Augen. Doch sein Geist arbeitete fieberhaft. Als er sie wieder öffnete, lag ein harter Glanz darin. Plötzlich hielt er eine Pistole in der Rechten. Er zielte ruhig und sicher auf die Köpfe der nächsten Maschinenmenschen und schoß das Magazin leer. Als er den Arm senkte, lagen fünf der unheimlichen Gestalten am Boden. Einige von ihnen zuckten noch automatisch mit den stählernen Gliedern.
Aufatmend flüchteten sich Shelly und der Assistenzarzt in den Schutz des Hauses. * 55
Unmittelbar nach seiner Rückkehr von „Luna IV“ begab sich Jim Parker mit Doktor Leonhard und Oberst Mortimer in das Hauptverwaltungsgebäude des S.A.T. Die drei Herren brauchten nicht lange zu warten, bis sie bei Generaldirektor Cunningham vorgelassen wurden. Stirnrunzelnd hörte sich der Atomboß den Bericht seines Kommodores an. Als Parker geendet hatte, legte der Boß die erloschene Havanna in den Ascher und räusperte sich. „Ahem, Gentlemen – schätze, Sie lassen sich da auf ein bedenkliches Abenteuer ein. Wenn ich Sie recht verstanden habe, wurden im Sanatorium Doktor Finlays – abgesehen von diesem albernen Roboterunfug – nichts gefunden, was zu irgendeinem Verdacht Anlaß gäbe.“ „Das ist es ja gerade, Boß“, lachte der Kommodore. „Und deshalb müssen wir uns die Bude nochmal genauer ansehen.“ „Und wenn Sie sich nun getäuscht haben?“ „Dann will ich ganz klein und häßlich werden und den großen Doktor Diavolo – Pardon: Finlay – untertänigst um Verzeihung bitten“, sagte Jim Parker freundlich grinsend. „Der Kommodore hat recht“, pflichtete ihm Doktor Leonhard bei. „Ich bin fest davon überzeugt, daß hinter jenen Mauern Dinge geschehen, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Erinnern Sie sich an die letzte Veröffentlichung Doktor Finlays in der ‚Astrobiologie’?“ „Sie meinen diese Sache mit der Verlängerung des Lebensalters durch künstliches Einfrierenlassen? Pshaw! Das sind doch utopische Hirngespinste.“ „Mag sein, Sir. Aber Doktor Finlay soll schon andere, recht ungewöhnliche Experimente ausgeführt haben. Man munkelt in Fachkreisen so einiges …“ „Trotzdem können wir uns da nicht ohne weiteres einmischen“, erklärte der Boß nachdrücklich. „Schließlich ist das S.A.T. keine Geheimpolizei.“ 56
„Aber wenn auf einem außerirdischen Territorium, das dem S.A.T. untersteht, verdächtige Dinge geschehen, dann ist der Sicherheitsdienst des S.A.T. dafür zuständig“, warf Oberst Mortimer ebenso nachdrücklich ein. „Außerdem halte ich es für besser, wir interessieren uns für die Geschichte, solange es noch nicht zu spät ist. Wenn da wirklich etwas nicht stimmt und die Sache kommt eines Tages an die große Glocke …“ Der Oberst hob vielsagend die Schultern. „Also gut, Mortimer“, sagte der dicke Cunningham verdrießlich. „Tun Sie meinetwegen, was Sie nicht lassen können. Aber Sie, Parker, halten sich dabei gefälligst heraus!“ „Ach, Boß“ – der Kommodore zeigte sein liebenswürdigstes Lächeln – „Ich fühle mich in letzter Zeit so mitgenommen., Mein alter Hausarzt meint, es seien die Nerven. Er empfiehlt dringend einen kurzen Aufenthalt in einem Sanatorium, möglichst im Gebirge …“ Der Atomboß mußte nun doch lachen. „Meinetwegen, Parker. Ihre Nerven scheinen es wirklich nötig zu haben. Also gehen Sie und lassen Sie sich gesund pflegen. Aber merken Sie sich’s: Ich weiß von nichts, und wenn Sie Unfug stiften, kommt Ted S. Cunningham nicht für den Schaden auf.“ „Vielen Dank für den Genesungsurlaub, Boß!“ lachte der Kommodore. „Darf ich jetzt gehen? Ich habe noch allerlei vorzubereiten.“ * Doch zunächst fuhr Jim Parker zum Gebäude der Radiozentrale der Atomstadt, wo er sich mit Doktor Brunner verabredet hatte. Beide rechneten nämlich mit einem dringenden Funkgespräch vom Mond, und als Parker leise die Tür zu jenem Raum öffnete, der dem Sprechverkehr mit „Luna IV“ vorbehalten war, konnte er feststellen, daß sie richtig kalkuliert hatten. Aus ei57
nem kleinen Lautsprecher tönte eine Stimme – verzerrt zwar, aber dem Kommodore doch irgendwie bekannt. Ach ja, das mußte Ben Shelly sein, jener junge Ingenieur, dem das Raumschiffahrten nicht bekam, und der seinerzeit aus dem Dienst des SA.T. ausgetreten war, um technischer Assistent und Berater bei Doktor Finlay zu werden. Ben Shelly schien furchtbar erbost zu sein. Mit einer kleinen Schadenfreude im Herzen hörte der Kommodore zu. „… unglaubliche Schweinerei … die ganze Sendung nichts wert … empfindlicher Schaden entstanden. Bilden Sie sich etwa ein, der Chef schmeiße sein Geld für Roboter hinaus, die nichts taugen und ihm die ganze Einrichtung demolieren?“ „Ich glaube. Sir, wir haben Ihnen bisher niemals Anlaß zur Unzufriedenheit gegeben“, sagte Kurt Brunner betont höflich. Er saß an einem kleinen Tisch vor dem Mikrophon und hatte ebenfalls ein etwas schadenfrohes Lächeln in den Mundwinkeln. Der Funkingenieur legte wieder auf Empfang um und schaltete einen weiteren Verstärker ein. Deutlicher kam jetzt wieder die Stimme vom Mond: „Um so unbegreiflicher ist das, was wir hier heute mittag erlebten. Haben Sie vielleicht eine Erklärung dafür?“ Kurt Brunner schien nachzudenken. „Es gibt nur eine einzige Erklärung für das Versagen der Apparate. Es müssen grobe Fehler bei der Installation vorgekommen sein. Wer hat denn die Dinger zusammengesetzt?“ „Hank Dawes, unser Maschinist. Ein erfahrener Mann.“ „Ihr Mister Dawes scheint alt zu werden – oder sonst nicht viel zu verstehen. Ich würde den Mann hinauswerfen.“ „Das wird der Chef auch ganz bestimmt tun“, versicherte Ben Shelly. „Aber woher sollen wir Ersatz bekommen?“ Wieder schien Doktor Brunner angestrengt nachzudenken. 58
Sein Gesprächspartner in der Funkzentrale von „Luna IV“ konnte natürlich nicht sehen, daß er in Wirklichkeit nur erwartungsvoll zu Jim Parker hinüber grinste. „Tja“, meinte er schließlich, „vielleicht kann ich Ihnen aushelfen. Wir haben da einen Mechaniker im Institut – Fritz Wiedemann heißt er –, der sich gern verbessern möchte … .“ „Versteht er was vom Fach?“ „Er gehört zu meinen erfahrensten Mitarbeitern. Ich sehe ihn nur ungern scheiden, doch möchte ich seinem Vorwärtskommen natürlich nicht im Wege sein.“ „Der Chef wird ihn fürstlich bezahlen, wenn er seine Sache gut macht. Schicken Sie diesen Wiedehopf, oder wie er heißt, so schnell wie möglich. Und vergessen Sie nicht, ihm Ersatzteile für die fünf beschädigten Roboter mitzugeben.“ „Wird gemacht“, versprach Kurt Brunner. „Wir werden Ihnen sogar ein Musterexemplar unseres allerneuesten Typs, „Homunkulus“, mitschicken. So was haben Sie bestimmt noch nicht gesehen. Dieser Typ unterscheidet sich kaum noch von einem lebendigen denkenden Menschen.“ „Oh, wunderbar“, freute sich Ben Shelly. „Im voraus heißen Dank, Sir. So long!“ „Ende!“ Kurt Brunner stand auf und ging auf den Kommodore zu, der ihm lächelnd entgegenkam. „Das hätte geklappt. Der erste Mann wäre bereits eingeschleust.“ „Ich schicke Ihnen Fritz Wernicke gleich ins Institut rüber. Instruieren Sie ihn nur recht gut, damit nachher keine Panne passiert. Und nun zum ‚zweiten Mann’, zu Ihnen: Doktor Leonhard erwartet Sie heute zum Abendessen. Er will Ihnen eine Vorlesung über moderne Wege der Neurologie halten.“ „Mir bleibt aber auch nichts erspart“, seufzte Kurt. „Und der ‚dritte Mann’?“ „Der ‚dritte Mann’ wird sich schleunigst zu seinem Friseur begeben und ein paar kleine Schönheitskorrekturen vornehmen 59
lassen“, grinste Jim Parker und verabschiedete sich von seinem Mitverschworenen mit einem kräftigen Händedruck. * „So, du bist also der Neue. Wie heißt du denn?“ Fritz Wernicke fand die Begrüßung nicht gerade sehr liebenswürdig, aber er hatte Verständnis dafür und war nicht übelnehmerisch. Herzlich schüttelte er Hank Dawes die Hand und sagte fröhlich; „Fritz Wiedemann ist mein werter Name. He, Kamerad, wie wär’s mit einem guten Tropfen?“ Hank Dawes ließ sich nicht lange nötigen. Rasch führte er die dickbauchige Whiskyflasche an die Lippen und tat einen langen Zug. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und ließ die Flasche mit der größten Selbstverständlichkeit in der Rocktasche verschwinden. „Ah – das war ein langentbehrter Genuß.“ „Wieso denn?“ fragte der „Neue“ mißtrauisch. „Gibt es in diesem trüben Ausschank etwa nichts zu trinken? Da ist es nur gut, daß ich den ‚Homunkulus’ mitgebracht habe.“ „Homunkulus?“ fragte Dawes verständnislos. „Nie was von gehört. Wer ist denn das?“ „Der da drüben“, flüsterte Fritz geheimnisvoll und deutete auf den Roboter, den er mitgebracht hatte, und der bis dahin unbeachtet an der Wand im Hintergrund der Werkstatt gelehnt hatte. „Geh doch mal hin und drück auf den weißen Knopf auf der Kehrseite, wenn du Mut hast.“ „Ich werde mich hüten“, rief der Maschinist und wich entsetzt einen Schritt zurück. Mit Robotern schien er nicht mehr viel im Sinn zu haben. „Feigling“, sagte Fritz verächtlich. Sprach’s und schritt auf den Maschinenmenschen zu. Ein Druck auf den bezeichneten Knopf – der ganze Vorderteil sprang auf und klappte herunter. 60
Neugierig trat Hank Dawes näher und blieb mit einem Ausruf des Staunens stehen. Das Gehäuse des Roboters war leer. Doch „leer“ war eigentlich nicht die richtige Bezeichnung; denn die Hohlräume waren bis oben hin – mit Whiskyflaschen angefüllt! „Alle Achtung“, nickte Hank Dawes anerkennend. „Aber, wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Laß dich damit nicht vom Alten erwischen. Der schmeißt dich verkehrtrum raus.“ „Dank für die Warnung“, sagte Wernicke liebenswürdig. „Komm, old chap, nimm dir noch eine.“ Der brummige Hank Dawes zeigte sich plötzlich sehr aufgeschlossen. „Mein lieber Fritz“, murmelte er und klopfte dem gütigen Spender freundschaftlich auf die Schulter, „es tut mir aufrichtig leid, daß unsere Bekanntschaft nur von so kurzer Dauer sein soll. Offen gestanden, bin ich aber ganz froh, daß ich aus diesem Stall herauskomme, denn“ – er sah sich scheu um – „hier spukt es an allen Ecken und Enden.“ „Hähähä“, lachte der „Neue“ verständnislos, „das mußt du mir mal ’n bißchen deutlicher erklären.“ Hank Dawes faßte seinen Nachfolger unter und führte ihn in die Geheimnisse des Sanatoriums ein, soweit sie ihm selbst zugänglich waren. Und dem guten Fritz blieb mehr als einmal vor Staunen der Mund offen stehen. Zuletzt betraten sie einen Gang, der unmittelbar in einer glatten, weißen Wand endete. „Komische Architektur“, murmelte Fritz. „Was mag sich der begnadete Künstler wohl gedacht haben, als er diesen verrückten Bau entwarf?“ Der Maschinist griff in die Tasche und brachte einen Ring aus grauem Metall zum Vorschein, der an einem Kunststoffgriff befestigt war. Er berührte damit die Mauer – da war es, als wäre sie in ein blaues Licht getaucht. Und in diesem bläulichen Schimmer war deutlich eine knapp mannshohe, fest verschlossene Tür zu erkennen. 61
„Toll!“ sagte Fritz kopfschüttelnd. „Dahinter liegt wohl das Allerheiligste?“ „Dahinter liegt die Abteilung R“, belehrte ihn sein Kollege. „Doch davon sprechen wir lieber nicht. Komm Jetzt, es ist schon spät, und ich muß sehen, daß mich der Hubschrauber nach ‚Luna IV’ mitnimmt. So long, Kamerad, und – sei vorsichtig! In diesem Hause sind nicht mal die Gedanken frei.“ * Nach und nach wurde es Doktor Finlay wirklich zu bunt. Zuerst diese albernen Schnüffler vom „Weltbund“, dann der wüste Zwischenfall mit den wildgewordenen Robotern und der Ärger mit Hank Dawes, dem Maschinisten, den man wegen seiner Unzuverlässigkeit fristlos entlassen mußte. Und kaum war es geschehen, und ein Ersatzmann verpflichtet worden, als die Geschichte mit dem alten Mike passierte. Mike, der taubstumme Pförtner, war an diesem Morgen total betrunken in seiner Loge aufgefunden worden. Die Haustür aber stand sperrangelweit offen. „Wo hat der Kerl bloß den Schnaps hergehabt?“ tobte der Chefarzt. „Dahinter steckt doch bestimmt dieser Neue, der Wiedemann.“ „Unmöglich, Sir“, versicherte Ben Shelly, der wie ein ertappter Schuljunge im Arbeitszimmer Doktor Finlays stand. „Ich habe mir erlaubt, das Gepäck des neuen Maschinisten gleich nach seiner Ankunft unauffällig zu revidieren. Es war keine einzige Whiskyflasche darin, nicht mal eine leere.“ „Dann kann ich mir das auch nicht erklären. Jedenfalls habe ich Mike fristlos entlassen. Whiskysaufen im Dienst – das hätte uns gerade noch gefehlt.“ „Soll Mike das Sanatorium noch heute verlassen, Sir?“ Der Chefarzt tat, als verstände er nicht. „Wer spricht denn 62
von Fortgehen? Selbstverständlich bleibt Mike hier. Er – er kann uns als Versuchsperson in Abteilung R noch ganz nützlich sein.“ „In Abteilung R?“ Der junge Ingenieur begehrte auf. „Aber Herr Doktor, Sie können doch nicht …“ Doch unter dem bannenden Blick des anderen verstummte er, sackte er förmlich in sich zusammen. Der Chefarzt lächelte verächtlich. „Sie können jetzt gehen, Shelly. Schicken Sie mir Doktor Ilescu her.“ Schon in der Tür prallte Shelly mit dem Assistenzarzt zusammen, der es sehr eilig zu haben schien und sich nicht einmal die Zeit nahm anzuklopfen. „Da ist ein Kollege vom ‚Weltbund’“, platzte er ohne Einleitung heraus. „Er kommt mit einem dicken Empfehlungsschreiben von Professor Riemenschneider und will bei uns volontieren.“ „Damned!“ Professor Riemenschneider – das war ein alter Gegner Finlays, der keine Gelegenheit vorübergehen ließ, ihm etwas am Zeug zu flicken. Aber er war auch der Chef der Gesundheitsabteilung des „Weltbundes“ und als solcher ein Mann von gewaltigem Einfluß. Man würde seinen Wunsch respektieren müssen. „Bringen Sie den Mann herein!“ Doktor Kurt Krüger – unter diesem Namen hatte sich der Volontär eingeführt – war ein junger, lebhafter Mensch, dessen Züge ungewöhnliche Intelligenz verrieten. Er verbeugte sich höflich, übergab Doktor Finlay sein Beglaubigungsschreiben und nahm ohne weiteres Platz. Der Chefarzt sah es mit Mißvergnügen. „So, Sie wollen also bei uns – äh – etwas lernen?“ begann er schließlich. „Wie sind Sie denn ausgerechnet auf das Sanatorium Diavolo verfallen?“ „Ich verfolge seit Jahren mit wachsendem Interesse Ihre epo63
chemachenden Veröffentlichungen in der Fachliteratur“, erklärte der junge Mann ernsthaft. „Und als ich neulich Gelegenheit hatte, im Rahmen einer Besichtigung durch Vertreter des ‚Weltbundes’ Ihre hochinteressante Anstalt kennenzulernen …“ „Meinetwegen“, lächelte Doktor Finlay boshaft. „Sie können hierbleiben und die Röntgenstation für unsere Knochenkranken betreuen. Doktor. Ilescu wird Ihnen alles erklären.“ Damit war die Audienz beendet. * Mit dem fahrplanmäßigen, ferngesteuerten Hubschrauber traf an diesem Abend ein Patient ein, der nach Meinung der Arzte völlig geistesgestört sein mußte. Er nannte sich James Pinkerton, gab an, Weltreisender zu sein, und führte in seinem Gepäck lauter nutzlose Dinge mit, von denen er sich um keinen Preis trennen wollte: eine komplette Bergsteigerausrüstung mit Pickel und Seil, Steigeisen und Kletterschuhen; einige Dosen, deren Inhalt als „Ultrasan, die gute Lichtschutzkreme, absolut sicher gegen Sonnenbrand“, deklariert war; schließlich eine vorzügliche Kamera mit einem halben Dutzend Reservefilmen. Doktor Finlay lächelte spöttisch, als Ben Shelly ihm pflichtschuldigst das Ergebnis meldete, das die unauffällige Untersuchung der Koffer dieses Mister Pinkerton gezeitigt hatte. Der seltsame Amateurphotograph würde mit seinen Aufnahmen nicht viel Freude erleben; denn selbstverständlich waren die Filme längst geschwärzt worden. Das besorgten ganz von selbst die Radiumstrahler, die unten in der Empfangshalle links und rechts in den Wänden eingebaut waren. In den späten Abendstunden fand sich der Chefarzt im Zimmer seines neuen Patienten zur ersten Untersuchung ein. Mister Pinkerton war ein sportlicher junger Mann mit gebräuntem Gesicht, der jedoch furchtbar nervös zu sein schien. Fortgesetzt 64
lief er herum, trällerte einen Schlager nach dem anderen und rauchte hastig seine Zigaretten, deren Stummel sich im Ascher zu einem kleinen Berg türmten. Doktor Finlay rief sich noch einmal ins Gedächtnis zurück, was der einweisende Arzt, ein Doktor Archibald aus Carson City – Finlay hatte seinen Namen nie gehört –, zu dem Fall geschrieben hatte. Der Patient, ein leidenschaftlicher Bergsteiger, war bei einer Hochtour in der Schweiz in eine Gletscherspalte gestürzt und erst nach drei Tagen und drei Nächten geborgen worden. Seitdem war sein Geist zeitweise verwirrt. Der Chefarzt forderte den Patienten auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen, und begann ihn anzustarren. Er kannte die hypnotische Wirkung, die das Fluidum seiner Persönlichkeit ausstrahlte, und verstand es, sie in geeigneter Weise zu dosieren. Doch hier schien seine Methode zu versagen. „Hihihihi!“ lachte der Patient und bog sich vor Vergnügen. „Wie komisch Sie aussehen, Doktorchen! Ja, ja, ich weiß schon, was Sie jetzt denken. Sie glauben, der gute James Pinkerton sei ein bißchen verrückt im Kopf. Aber das ist ein Irrtum, Herr – verstehen Sie? Ein Irrtum!“ Die letzten Worte hatte er drohend hervorgestoßen. Jetzt stand er auf und tippte dem Chefarzt nachdrücklich mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Es sind die Träume, Herr – die Träume!“ „Ja, gewiß doch“, beteuerte der Chefarzt und bog sich auf seinem Stuhl zurück, „die Träume – ganz recht, die Träume …“ Verstohlen tastete er mit der Linken nach einem Klingelknopf, der unter dem Sitz des Stuhles angebracht war. Sein Finger drückte darauf, einmal – zweimal … Da war es plötzlich, als würden rechts und links von der Zimmertür die Wände weich. Aus einem brodelnden Nebel wuchsen zwei Gestalten heraus – Roboter! Abwartend blieben sie neben der Tür stehen. 65
Der Patient sah sie, schien ihnen aber keine Aufmerksamkeit zu schenken. Seine Augen waren nach innen gekehrt, so, als suchten sie eine Erinnerung, die verschüttet war. „Und – was für Träume sind das?“ fragte Doktor Finlay stockend. James Pinkerton riß die Augen weit auf und machte eine schwungvolle Armbewegung. „Eis“, flüsterte er geheimnisvoll. „Eis – überall Kälte – ein bläulicher Schimmer. Und Gestalten – sind es Menschen? In lebloser Starre liegen sie da – Jahre um Jahre. Generationen gehen dahin, aber diese Menschen – sie können nicht sterben – sie liegen da wie Tote, und dennoch leben sie. In ihren Adern ist das Leben eingefroren, sie altern nicht, wenn auch die Zeit verrinnt. Wissen Sie, was diese Träume bedeuten, Doktor? Wissen Sie es?“ Der Arzt stand auf und tat ein paar unsichere Schritte, kreidebleich im Gesicht. „Ich muß es – muß es mir erst überlegen“, stotterte er. „Hier, nehmen Sie das. Es wird Sie beruhigen. Dreimal täglich drei Tabletten.“ Er ließ ein Glasröhrchen auf den Tisch fallen und wandte sich zur Tür. Dort stieß er die beiden stammen Wächter hinaus und folgte ihnen, ohne sich noch einmal umzublicken. * „Was machen die Patienten in Abteilung R?“ fragte Doktor Finlay seinen Assistenten. „Verlaufen die Experimente planmäßig?“ Die beiden Arzte gingen im Garten des Sanatoriums, der zu dieser Stunde völlig menschenleer war, zwischen den stacheligen Mondgewächsen auf und ab. Doktor Ilescu schien es, als wäre sein Chef in diesen Tagen sichtlich gealtert. Er wirkte irgendwie abwesend und zerstreut. Es mußten schwere Sorgen sein, die ihn bedrückten. 66
„Die neuen Versuchspersonen der Serie B machen zum Teil noch Schwierigkeiten“, gab Ilescu Auskunft „Ich mußte in besonders hartnäckigen Fällen auf medikamentösem Wege nachhelfen. Bei Serie A läuft alles plangemäß. Die Patienten liegen in Tiefschlaf. Die Körpertemperaturen schwanken zwischen 25 und 23 Grad.“ „23 Grad – nach allgemein gültiger Auffassung die niedrigste Körpertemperatur, die ein Mensch ertragen kann“, murmelte Doktor Finlay. „Aber wir müssen noch tiefer herunter, viel tiefer sogar. So verlangt es meine Theorie.“ Dem Assistenzarzt schien das Thema etwas unheimlich zu sein, und er versuchte, seinen Chef abzulenken. „Die Abteilung R macht mir weniger Sorgen. Aber unter den neuen Patienten, auf den anderen Stationen, läuft nicht alles nach Plan.“ „Sie meinen diesen – Mister Pinkerton? Ich habe doch angeordnet ihm regelmäßig B23 forte zu geben, und zwar die stärkste verträgliche Dosis.“ „Ich habe in den Kerl genug B23 hineingepumpt, um eine Herde Elefanten damit in Dauerschlaf zu versetzen, aber er reagiert kaum darauf. Scheint eine verteufelt robuste Natur zu haben.“ Dem Chefarzt kam ein Gedanke. „Kommen Sie, Ilescu, wir wollen in die Zentrale gehen und nachsehen, was der Bursche treibt.“ Die „Zentrale“ des Sanatoriums war eine große Halle, tief im Keller des Gebäudes gelegen. Hier liefen alle Nervenbahnen dieser riesigen, bis ins Kleinste technisch durchorganisierten Anlage zusammen. Hier zeichneten die raffiniertesten Fernanzeigegeräte jede Bewegung auf, die in den Räumen des Sanatoriums vor sich ging. Hier registrierten empfindliche Oszillographen die geringfügigsten Schwingungen. Hier war der Ort, wo die Roboter ihre Wahrnehmungen meldeten, von wo sie ihre Anweisungen empfingen. 67
Ben Shelly, der an einem Schreibtisch saß und Eintragungen in ein Protokollbuch vornahm, beachtete die Eintretenden nicht. „He, Shelly!“ rief der Chefarzt „Schalten Sie Zimmer 14 d ein!“ Auf einer Projektionsfläche lief es wie ein Film ab. Die beiden Arzte verfolgten die Worte und Ziffern der Leuchtschrift: „Zimmer 14 d – Patient James Pinkerton – 6. Behandlungstag – Temperatur 37.0 – Puls 75 – Blutdruck 120 …“ „Ganz normal“, meinte Finlay kopfschüttelnd. „Ich verstehe das nicht. Schalten Sie mal den Fernseher ein, Shelly.“ „Zimmer 14 d“, ertönte es im Lautsprecher. Auf dem Bildschirm des Fernsehempfängers erschien ein wirres, undefinierbares, Netzwerk. Man konnte keine Einzelheiten erkennen. Aus dem Lautsprecher scholl munteres Pfeifen. Eine Schlagermelodie … „Möchte wetten, der Kerl hat sein albernes Alpinistenseil über das Objektiv gehängt“, knurrte Ilescu. „Schicken Sie ihm den Roboter vom Dienst ins Zimmer, Shelly“, befahl der Chefarzt. „Er soll ihm das Seil wegnehmen.“ Der Ingenieur betätigte einige Schalter. Im Lautsprecher vernahm man jetzt das Öffnen einer Zimmertür. Dann schwere, plumpe Schritte. Das Pfeifkonzert verstummte. Und plötzlich war auf dem Bildschirm das klare, ungetrübte Bild des Krankenzimmers Nummer 14 d, das von dem hochleistungsfähigen Weitwinkelobjektiv entworfen wurde. Man sah den Patienten auf dem Bett liegen, eine Zigarette zwischen den Fingern – den Blick sehr wach auf einen Roboter gerichtet, der mit dem erbeuteten Seil schwerfällig zur Tür stampfte. Doch mit Blitzesschnelle änderte sich das Bild. „He, alter Gauner, das Ding bleibt hier!“ Der Patient war mit einem Satz aus dem Bett, riß dem Roboter das Seil aus den Pranken und versetzte ihm einen Fußtritt, der den metallenen 68
Koloß krachend durch die Türfüllung in den Gang hinaus beförderte.
„Sorry“, sagte der gewalttätige Patient bedauernd und hängte das Seil an den alten Platz zurück. Die drei Männer in der Zentrale sahen sich betreten an. * „Ich weiß nicht recht – mir gefällt die Geschichte immer weniger.“ Verdrießlich kaute der dicke Ted S. Cunningham auf seiner teuren Havanna, die ihm wieder einmal – wie so oft in den letzten Tagen – gar nicht recht schmecken wollte. Doktor Leonhard, der dem Atomgewaltigen gegenüber in einem bequemen Klubsessel saß, zuckte die Achseln. „Wieso, Sir? Ich sehe einstweilen noch keinen Grund zur Besorgnis.“ 69
Cunningham begehrte auf. „Sie haben ja schwer die Ruhe weg, mein Lieber. Fast vierzehn Tage lang stecken unsere besten Leute schon in der Höhle des Löwen, und kein Bericht ist bisher von ihnen an die Außenwelt gelangt.“ „Vermutlich haben sie noch nichts erreicht“ „Unsinn“, schimpfte der Boß. „Jim Parker – und noch nichts erreicht? Wie denken Sie sich das eigentlich, Doc? Nein, nein, da muß irgend was schief gegangen sein. Vielleicht hat dieser Finlay sie längst frikassiert, atomisiert, zu Eis verarbeitet, oder was weiß ich … Und wir sitzen hier und legen untätig die Hände in den Schoß.“ Doktor Leonhard Welt die Sorge seines Chefs tatsächlich für übertrieben. Aber – man konnte es schließlich nicht wissen. „Vielleicht wäre es an der Zeit, den Sicherheitsdienst auf die Beine zu bringen …“ Ted S. Cunningham langte aufseufzend zum Telephon und wählte die Geheimnummer Oberst Mortimers. Aber auch der Sicherheitschef nahm die Sache nicht sonderlich tragisch. „Wir haben bereits alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen“, versuchte er, den Boß zu beruhigen. „Das Sanatorium Doktor Finlays wird Tag und Nacht beobachtet. Überall in den Teufelsbergen haben sich Kommandos des MondSicherheitsdienstes eingenistet und Überwachen das Haus mit den besten Teleobjektiven und Abhörgeräten. Major Williams gibt sofort Alarm, wenn drinnen etwas schiefgehen sollte.“ „Und wie würde Major Williams das erfahren?“ „Unsere drei Freunde haben kleine, handliche Taschensprecher mit eingeschmuggelt – vorsorglich als Dosen mit ‚Ultrasan’-Lichtschutzkreme getarnt. Bisher hat Williams regelmäßig dreimal am Tag drei kurze Summtöne aufgenommen.“ „Und was hat dieses Signal zu bedeuten?“ „Im Sanatorium alles in Ordnung.“
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* Doktor Ernest Finlay war ganz und gar nicht davon überzeugt, daß in seinem Sanatorium alles in Ordnung sei. Immer wieder ereigneten sich Dinge, die ihm rätselhaft blieben, und die in einem, technisch so hervorragend durchdachten Organismus, in dem alles mit der Präzision eines Uhrwerks abzulaufen pflegte, eigentlich nicht hätte vorkommen dürfen. Da war zum Beispiel eine Unterkühlungsanlage der Abteilung R. Sie bockte seit ein paar Tagen, und es wollte absolut nicht gelingen, die Temperaturen der Versuchspersonen weiter zu senken, wie es die Theorie Doktor Finlays gefordert hätte. Und dann dieser neue Volontärarzt, der Doktor Krüger. Er hatte seine Röntgenstation musterhaft in Ordnung, doch schien er darüber hinaus viel überflüssige Zeit zu haben. Mehr als einmal hatte Finlay ihn in der „Zentrale“ angetroffen, wo er sich von Ben Shelly die technischen Einrichtungen erklären ließ, und gestern war er sogar vor jener Wand beobachtet worden, die den Zugang zur Abteilung R verbarg. Mit den Robotern schien er auf du und du zu stehen. Was dem Chefarzt jedoch am meisten Sorge bereitete, war der Patient auf Zimmer 14 d, der so gar nicht auf die bewährten Medikamente reagierte und die ganze Hausordnung durcheinander brachte. Tagsüber pflegte er auf seinem Bett zu liegen, fröhlich pfeifend und Zigaretten rauchend. Und nachts konnte man ihm zuweilen in den Gängen des Hauses begegnen, wo er sich schlafwandelnderweise erging. Doktor Finlay hatte ihm einen von den Robotern vor die Tür setzen lassen, die – mit Hochspannung geladen – den Wachdienst an der Außenmauer versahen. Doch am anderen Morgen lag der seltsame Mister Pinkerton seelenruhig schnarchend in seinem Bett. Der gefährliche Wächter jedoch lehnte zusammengesunken an der Wand und sprach auf drahtlose Kommandos nicht mehr an. 71
„Kurzschluß“, grinste der Maschinist Wiedemann freundlich und nahm das Ungeheuer aus Glas und Metall mit in die Werkstatt, um es dort kunstgerecht zu zerlegen. Nach diesem Vorfall, der sich in der vergangenen Nacht ereignet hatte, beschloß Doktor Finlay, seinen unbotmäßigen Gast wieder einmal persönlich aufzusuchen, um dem verhängnisvollen Treiben einen Riegel vorzuschieben. Aber er sollte nicht dazu kommen, diesen löblichen Vorsatz auszuführen. Der Patient sprang bei seinem Anblick aus dem Bett, stürzte mit allen Anzeichen der Verstörtheit auf ihn zu und drückte ihn in einen Sessel. „Doktor – meine Träume – hören Sie doch nur, was mir wieder erschienen ist: Eis – überall Kälte und Eis – und Menschen darin, wehrlos der Kälte preisgegeben. In weißem Mantel schleicht der Meister, höhnisch lächelnd, zwischen ihnen herum. ‚Noch mehr Kälte!’ schreit er. Doch da – ein heller Lichtstrahl von oben – der Arm der irdischen Gerechtigkeit fährt auf ihn nieder – und eine Donnerstimme brüllt: …“ „Aufhören!“ Entsetzt hatte Doktor Finlay es ausgerufen und war aus dem Zimmer gestürzt. Erst als er in einem der Gänge auf Doktor Ilescu stieß, riß er sich mühsam zusammen und zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. „Fühlen Sie sich nicht wohl, Herr Chefarzt?“ fragte Ilescu höflich. Doktor Finlay winkte ab. „Dieser Pinkerton – unglaublicher Fall. Wir müssen ihn schleunigst in die Abteilung R stecken.“ „Was?“ fragte der Assistenzarzt verblüfft. „So ganz ohne die übliche Vorbehandlung? Soweit ich informiert bin, haben die Medikamente doch bisher absolut nicht angeschlagen?“ „Egal“, knurrte der Chefarzt. „Der Kerl muß fort. Er bringt uns noch den ganzen Betrieb durcheinander. Veranlassen Sie in Abteilung R alles Erforderliche für seine Aufnahme.“ „Dürfte das nicht reichlich gewagt sein – ohne genügende 72
Vorbereitung?“ fragte plötzlich eine Stimme dicht hinter ihnen. Erschrocken fuhren die beiden Arzte herum und blickten in das höflich lächelnde Gesicht ihres neuen Kollegen. „Damned“, entfuhr es Finlay. „Wie kommen Sie denn hierher?“ „Über die Treppe, Herr Chefarzt“, erwiderte Doktor Krüger ganz ernsthaft. „Überaus geistreiche Bemerkung, Herr Kollege“, schnauzte Finlay. „Daß Sie nicht durch den Fußboden gekommen sind, versteht sich wohl von selbst.“ „O nein, Herr Chefarzt“, lächelte Krüger wieder, „das ist in diesem Hause gar nicht so selbstverständlich.“ * Es war eine eigentümliche Verfassung, in der Sheila Jackson sich befand. Vor drei Tagen hatte es begonnen. Sheila war an jenem Morgen nicht wie gewöhnlich in die Liegehalle hinausgefahren worden. Statt dessen war Doktor Ilescu sehr früh bei ihr erschienen und hatte ihr eine Medizin eingeflößt, eine glasklare, bittere Flüssigkeit, nach der sie wunderbar müde wurde. Als sie am frühen Nachmittag aufwachte, stand der Assistenzarzt wieder vor ihrem Bett. Mechanisch fühlte er ihr den Puls und gab ihr abermals ein Gläschen des bitteren Getränks. Von da ab empfand Sheila nichts mehr als eine bleierne Müdigkeit, ein unwiderstehliches Schlafbedürfnis. Und jedesmal, wenn sie beim Erwachen aus weiter, weiter Ferne zurückzukehren glaubte, stand Doktor Ilescu vor ihrem Bett und reichte ihr die bittere Medizin. In klaren Augenblicken – sie waren freilich nur noch selten – glaubte Sheila zuweilen, sie sei schon längst gestorben. Sie hatte weder Hunger noch Durst und schon gar kein Empfinden 73
mehr für Wärme und Kälte. Unendlich einsam fühlte sie sich, als wäre sie der einzige Mensch im ganzen, großen, leeren Universum … Und doch war da manchmal eine Stimme, die vertraut klang und ihr Trost und Hoffnung zusprechen wollte. Einmal erkannte sie auch ganz deutlich Kurts Augen. Sie lächelten ihr über die Schulter des seelenlosen Assistenzarztes zu – besorgt und doch voller Zuversicht. * Oberst Mortimer saß am Schreibtisch in seinem Dienstzimmer im Hauptverwaltungsgebäude zu Orion-City, als ein kurzes Klopfen an der Tür ertönte, und ein Sergeant vom Sicherheitsdienst des S.A.T. eintrat. Der Mann schlug die Hacken zusammen und wartete ehrerbietig, bis sein hoher Chef ihn anredete. „Was ist, Cross?“ „Meldung von Major Williams, Mond-Sicherheitszentrale, Sir.“ „Rasch, zeigen Sie her!“ Der Sergeant übergab ihm die Meldung, die soeben von der Radiostation aufgenommen worden war. Dann salutierte er und ging. Oberst Mortimer hatte die Depesche kaum überflogen, als auch schon Bewegung in seine endlos langen Glieder kam. Die grausam stinkende Zigarette, Marke „Eigenbau“, flog halbgeraucht aus dem Fenster. Der Oberst zog eine Lade aus dem Schreibtisch, die einen flachen, schwarzen Kasten mit farbigen Lämpchen, Druckknöpfen und Schaltern enthielt. Rasch drückte er einige Knöpfe und schob die Lade wieder zurück. Nur Eingeweihte konnten wissen, daß in dieser Sekunde bereits ein ganz bestimmter Alarmplan in den Abteilungen des S.A.T.Sicherheitsdienstes anlief, eine Art begrenzter Mobilmachung 74
für Mortimers Gefolgschaft – mochte sie nun in Orion-City stationiert sein oder in den außerirdischen Anlagen des S.A.T. Dann hob der Oberst den Telephonhörer ab und ließ sich mit Generaldirektor Cunningham verbinden Der Atomboß meldete sich sofort: „Hallo, Mortimer – Nachricht vom Mond?“ „Sie müssen über hellseherische Fähigkeiten verfügen, Boß. Es stimmt nämlich haargenau.“ „Machen Sie keine langen Sprüche“, riet Cunningham ungeduldig. „Ist irgend etwas passiert?“ „Noch nicht, Boß, aber es scheint sich etwas anzubahnen. Williams hat über den Taschensprecher aufschlußreiche Informationen aus dem Sanatorium erhalten. Da ist wirklich manches nicht ganz astrein. Unsere Leute haben offenbar eine Spur gefunden, aber sie haben sich wohl zu weit vorgewagt. Finlay muß Lunte gerochen haben und will Parker ausschalten –‚auf Eis legen’, wie es in dem Bericht heißt. Es wird entschieden Zeit für uns, geeignete Ausgangspositionen zu beziehen. Major Williams ist schon unterwegs. Ich selbst gedenke, in einer Stunde zum Mond zu starten. Werde eine Spezialabteilung mit Atombrennern neuester Konstruktion mitnehmen.“ „Tun Sie das, Mortimer. Hauen Sie unsere Männer mit Gewalt heraus, wenn es sein muß. Und noch etwas: Vergessen Sie nicht, Doktor Leonhard zu benachrichtigen. Habe nämlich so eine Ahnung, als ob er Ihnen nützlich sein könnte.“ * Kurt Brunner ahnte bereits, was ihm bevorstand, als ihn in den frühen Nachmittagsstunden eine Stimme, die aus der kleinen Dunkelkammer der Röntgenstation zu kommen schien, aufforderte, sich unverzüglich zum Chefarzt zu begeben. Doktor Finlay empfing den jungen Volontärarzt mit eisiger 75
Miene und vergaß sogar, ihn zum Platznehmen aufzufordern. Doch Kurt schien diesen Mangel an Höflichkeit nicht weiter übelzunehmen. Unbekümmert suchte er sich selbst einen Stuhl und setzte sich. „Sie haben mich rufen lassen, Herr Chefarzt?“ Doktor Finlay räusperte sich gereizt. „Ahem – Herr Kollege, ich habe leider den Eindruck gewonnen, daß Sie – äh – wollte sagen, daß unsere Anstalt wohl doch nicht ganz der richtige Ort für Sie ist.“ Kurt tat überrascht. „Wieso, Herr Chefarzt? Habe ich die Aufgaben, die Sie mir übertrugen, etwa nicht zu Ihrer Zufriedenheit ausgeführt? Die Röntgenabteilung …“ „Befindet sich in bester Ordnung“, unterbrach ihn Doktor Finlay ungeduldig, „ich weiß, ich weiß. Hätten Sie sich nur gefälligst auf Ihre Arbeit in dieser Abteilung beschränkt, anstatt Ihr Interesse auf das ganze Haus auszudehnen.“ „Um Röntgenaufnahmen zu machen, hätte ich nicht extra auf den Mond zu fliegen brauchen“, parierte Kurt geschickt. „Ich hatte vielmehr die Hoffnung, Sie würden mir im Sanatorium Diavolo etwas mehr zu bieten haben, das meiner künftigen wissenschaftlichen Laufbahn dienlich sein könnte.“ Doktor Finlay betrachtete sein Gegenüber mißtrauisch. Wollte dieser junge Mensch sich etwa über ihn lustig machen? Laut sagte er: „Es tut mir leid. Mister Krüger, aber ich muß Sie bitten, unser Haus heute noch zu verlassen. Ihre Wißbegierde ist mir etwas zu groß.“ „Schade, Herr Chefarzt. Ich fand es so nett bei Ihnen. Aber – ganz wie Sie befehlen. Ich glaube nur, Professor Riemenschneider vom ‚Weltbund’ wird sehr überrascht sein, wenn er den Grund meiner so kurzfristigen Entlassung erfährt.“ Der Chefarzt zuckte zusammen. „Ich erwarte, daß Sie über alles, was Sie hier gesehen haben, Stillschweigen bewahren“, sagte er scharf. „Ich werde gegen jeden gerichtlich vorgehen, 76
der es wagen sollte, in der Fachwelt oder in der Öffentlichkeit unwahre Behauptungen über das Sanatorium Diavolo zu verbreiten.“ „Seien Sie beruhigt, Herr Chefarzt“, lächelte Kurt und stand auf. „Unwahre Behauptungen werde ich über Ihre Anstalt ganz gewiß nicht Verbreiten.“ * Doktor Ilescu betrat mit lautlosen Schritten die Zentrale des Sanatoriums Diavolo. „Irgend was Neues?“ fragte er Ben Shelly, der sich an den Fernanzeigegeräten zu schaffen machte. Der Ingenieur verneinte. „Gut – dann geben Sie mir mal Zimmer 14 d im Fernseher.“ Der Lautsprecher verkündete: „Zimmer 14 d“. Auf dem Bildschirm entstand das Innere des Krankenzimmers, diesmal klar und ungetrübt. Der Patient lag in einem grellbunten Morgenrock auf dem Bett und schien vollkommen in die Betrachtung einer kleinen, offenbar leeren Dose versunken. Hin und wieder schüttelte er sie, oder er hob sie ans Ohr und lächelte beglückt, als höre er Sphärenmusik. „Der Kerl spinnt aber“, grinste Ben Shelly. Doktor Ilescu antwortete nicht. Er schaltete den Empfänger ab und verließ die Zentrale. Fünf Minuten später trat er in das Zimmer Mister Pinkertons, nicht ohne zuvor zwei Roboter neben der Tür zu postieren. „Mister Pinkerton, wir wollen es heute mal mit einer neuen Medizin versuchen, damit Sie besser schlafen und nicht von Ihren Träumen gequält werden. Doch zuvor bitte ich Sie um Ihre Unterschrift.“ Damit legte er einen maschinenbeschriebenen Bogen und einen Füllhalter auf den Nachttisch. „Nee“, lachte Pinkerton, „ich unterschreibe nichts. Nachher ist es mein Todesurteil. Ich habe neulich geträumt …“ 77
„Halt!“ rief Ilescu und fühlte eine kalte Hand nach seinem Herzen greifen. „Verschonen Sie mich – das heißt, erzählen Sie mir den Traum lieber ein andermal. Dies hier ist nur ein Brief an Ihre Eltern in Salt Lake City, den wir in Ihrem Sinne abgefaßt haben, um Ihnen die Mühe zu ersparen.“ „Ach so, an die alten Herrschaften. Na, dann bin ich ja beruhigt.“ Ohne genauer hinzusehen, kritzelte Pinkerton seinen Vornamen unter den Brief. Dann nahm er das Arzneiglas aus der Hand des Arztes entgegen und leerte es mit einem Zug. Doch anscheinend hatte er das scharfe Zeug in die falsche Kehle bekommen; denn ein würgender Hustenanfall war die Folge. Der Patient lief im Gesicht rot an und preßte ein Taschentuch vor den Mund, während Doctor Ilescu ihm hilfreich den Rücken klopfte. Als es überstanden war, legte sich Mister Pinkerton in die Kissen zurück. „Danke, Doc“, murmelte er. „Sagen Sie – bin ganz plötzlich so – so furchtbar müde. Kommt das von Ihrem – bitteren Zeugs da?“ Erschöpft schloß er die Augen. Ilescu lächelte zufrieden. Bevor er ging, schloß er um das linke Handgelenk des Patienten einen Ring aus einem elastischen Kunststoff und verband ihn durch ein feines Kabel mit einer winzigen Steckdose, die unauffällig unter der Platte des Nachttisches angebracht war. Leise schlich er auf den Gang hinaus. Doch kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als der angeblich schlafende Patient ein prustendes Lachen hören ließ. Übermütig feuerte er das große Taschentuch in die Ecke, das den ganzen Inhalt des Arzneiglases aufgenommen hatte. Er streifte sich das Kunststoffband vom Handgelenk und spannte es über ein kleines, etwa armdickes Rohr, das er aus der Tasche seines Morgenrocks hervorangelte, und stellte ein paar Zeiger an dem seltsamen Gerät ein. Dann legte er sich zufrieden auf die Seite – und schlief nun wirklich ein. 78
* Sofort nach seiner Ankunft auf dem Raketenflugplatz von „Luna IV“ hatte sich Oberst Mortimer mit Doktor Leonhard im Schnellwagen in die Zentrale des großen Mondwerks begeben. Die beiden Herren kamen gerade noch zurecht, um sich im Dienstzimmer Major Williams den Bericht anzuhören, den Kurt Brunner zu Protokoll gab. „Es war ein Regiefehler“, gestand der junge Schweizer etwas kleinlaut. „Ich bin nicht vorsichtig genug gewesen. Dieser vorzeitige Rausschmiß stand nicht im Programm. Ich fürchte, daß ich dem Kommodore und Mister Wernicke ihre ohnehin gefahrvolle Situation unnötig erschwert habe.“ „Hm“, brummte Mortimer, „daß ihr jungen Leute immer so abscheulich vorlaut sein müßt! Im übrigen schätze ich aber, daß die beiden auch ohne Sie fertigwerden. Es sind zwei alte Hasen, die schon manchen Kampf bestanden haben …“ „… solange man Parker nicht in der Abteilung R verschwinden läßt“, gab Doktor Brunner zu bedenken. In diesem Augenblick trat ein Uniformierter ein und warf einen mittelgroßen Beutel aus starkem Leinen auf den Tisch. „Der Postsack vom Diavolo-Sanatorium“, meldete er. „Zur Weiterbeförderung mit dem nächsten Raumschiff zur Erde. Traf eben mit dem Hubschrauber ein.“ „Famos!“ rief Major Williams und riß bereits die Verschnürung auf. Er murmelte die Adressen vor sich hin, während er die Briefe schnell durch die Finger gleiten ließ. Plötzlich stutzte er. „Da haben wir’s schon: ‚To Mr. and Mrs. Pinkerton, 316 Nevada Avenue, Salt Lake City, Utah, USA’.“ „Her damit!“ befahl Oberst Mortimer. Er riß den Umschlag auf und entfaltete den Briefbogen. Rasch überflog er die Zeilen 79
und reichte den Briet dann an Kurt Brunner weiter. „Das Übliche, Gentlemen. Wir sind nicht klüger als zuvor.“ Plötzlich summte es irgendwo leise auf – dreimal kurz – dreimal lang – dreimal kurz. Ein Taschensprecher. Eines jener winzigen, geheimnisvollen Geräte, das nur in ganz wenigen Exemplaren im Staatlichen Atom-Territorium verbreitet war und eine unauffällige Verständigung auf größte Entfernung ermöglichte. „Der Notruf – Jim Parker ist in Gefahr“, riet Kurt Brunner erbleichend. „Na, dann wollen wir mal“, sagte Oberst Mortimer und trat seine Zigarette auf dem Fußboden aus. „Los, Williams, drücken Sie mal auf den Knopf!“ In den Diensträumen und Unterkünften des MondSicherheitsdienstes gellten die Alarmglocken. * Noch dreimal hatte James Pinkerton in der Folgezeit den Besuch Doktor Ilescus erhalten, und jedesmal flößte ihm der Assistenzarzt ein Glas mit bitterer Medizin ein. Der Patient schien nicht einmal richtig wach zu werden. Mit geschlossenen Augen trank er das Gläschen leer, sank sofort auf sein Lager zurück – und spuckte das widerliche Zeug in sein Taschentuch, sobald er sich unbeobachtet wußte. Die Arzte waren mit dem Erfolg ihrer Behandlung durchaus zufrieden. Die Fernanzeigeräte registrierten in der Zentrale einen gleichförmigen Rückgang aller Körperfunktionen. Puls und Temperatur sanken völlig programmgemäß. Zwar traten leichte Schwankungen auf, und zwar stets zu den Zeiten, da Doktor Ilescu seine Visite, zu machen pflegte, aber das hatte wohl nichts zu bedeuten. Wieder kam der Zeitpunkt der Visite heran. Doch diesmal 80
erschien der Assistenzarzt in Begleitung eines Roboters, der eine Bahre auf Rädern vor sich herschob. Der Patient fühlte sich hochgehoben und wurde auf die Bahre gelegt. Doktor Ilescu entfernte den Kunststoffring vom Handgelenk des scheinbar fest Schlafenden, und dann ging es auf den Gang hinaus. Der Patient öffnete die Augen zu einem schmalen Spalt und versuchte, den Weg zu verfolgen. Doch vergeblich – in dem Gewirr der zahlreichen Gänge hatte er bald jede Orientierung verloren. Hoppla, mein Lieber, dachte er, jetzt wird’s ernst. Verstohlen tastete er nach der „Ultrasan“-Dose in seiner Tasche und stieß mit dem Zeigefinger viermal kurz gegen das Gehäuse. Ganz, schwach – nur für ihn vernehmbar – kam die Antwort: vier kurze Summtöne. Okay, Fritz Wernicke war auf dem Posten. Plötzlich endete die Fahrt vor einer kahlen Wand. Der Arzt zog ein Gerät aus der Tasche, das der Patient nicht genau erkennen konnte. Er führte es gegen die Mauer, die gespenstischfahl aufleuchtete. Und in diesem fahlen Schimmer erschienen die Umrisse einer knapp mannshohen Tür. Doktor Ilescu drückte auf zwei Knöpfe, die sich – kaum wahrnehmbar – nahe dem oberen Rand der Tür befanden. Ein leises Summen wurde hörbar. Langsam versank die Tür im Fußboden und gab eine Öffnung frei, durch die gedämpftes Neonlicht flutete. Weiter ging die Fahrt – und der Patient wußte, daß er nun dem Geheimnis des Sanatoriums Diavolo ganz nahe war. * Wieder war James Pinkerton allein. Er lag auf einem bequemen Ruhebett in einer winzigen, von außen fest verschlossenen Kabine. Es mußte eine unter vielen gleichartigen sein; denn der Weg hatte ihn an mehreren dieser schmalen Gefängnistüren 81
vorbeigeführt, die zu beiden Seiten des von Neonlicht durchfluteten Ganges lagen. Eigentlich lag es sich hier ganz bequem, wenn nur nicht diese entsetzliche Kälte gewesen wäre. Sie kam aus Wänden, Decke und Fußboden, sie strömte selbst von dem Lager aus. Erschrocken zog der Patient die Hand zurück, mit der er das Metall der Bettstelle berührt hatte. Kein Zweifel – man mußte zu Eis erstarren, wenn man sich längere Zeit in diesem Kühlschrank aufhielt. Doch dagegen gab es Mittel. James Pinkerton zog eine flache Schachtel aus der Tasche und entnahm ihr eine Pille. Schon während er sie zerkaute, fühlte er einen Strom von Wärme durch seinen Körper rieseln. Nur gut, daß Doktor Leonhard an alles gedacht hattet. Plötzlich war ein feines Zischen in der Luft. Erstaunt blickte der Patient um sich. Da merkte er, wie aus unsichtbaren Düsen ein unendlich feiner Sprühregen auf ihn niederrieselte. Ein betäubender Duft ging von diesem Regen aus. Er schläferte die Sinne ein und lähmte den Willen. Nein – das war nun doch zuviel. Eine furchtbare Angst beschlich den einsamen Mann. Er riß die unscheinbare Dose aus der Tasche, die das kostbare Verständigungsgerät barg, und gab das Notsignal. Dreimal kurz – dreimal lang – dreimal kurz … Dann riß er sein Taschentuch heraus und preßte es sich vor Mund und Nase, verzweifelt gegen die drohende Ohnmacht ankämpfend. Doch plötzlich hörte der gefährliche Sprühregen auf. Auf dem Gang wurden Schritte laut. Die Tür sprang auf. Doktor Finlay und sein Assistent betraten die Kabine. Der Patient rührte sich nicht. Aber plötzlich war er mit einem Satz vom Lager herunter und warf sich den Eintretenden entgegen. Hart traf seine Rechte das breite Gesicht Ilescus. Ein wohlgezielter Fußtritt schleuderte Doktor Finlay in den Gang hinaus. James Pinkerton aber flüchtete mit langen Sprüngen. 82
Der Chefarzt war als erster wieder auf den Beinen.. Mit verzerrtem Gesicht stolperte er ein paar Schritte vorwärts, bis zu einer Stelle, wo ein rotgestrichener Eisengriff aus der Decke ragte. Mit aller Kraft riß er den Griff herunter … Der Fliehende sah sich plötzlich von Robotern umringt, die – wie von den Wänden ausgespien – vor und hinter ihm den Gang versperrten. Aber er hatte sein Grauen überwunden. Sein helles, jungenhaftes Lachen klang von den Wänden wider. „Na wartet, ihr Halunken, jetzt sollt ihr Jim Parker kennenlernen!“ * Fritz Wernicke, alias Fritz Wiedemann, befand sich gerade auf dem Wege zu seiner Werkstatt, als der Taschensprecher aufsummte. Dreimal kurz – dreimal lang – dreimal kurz. Der Notruf – Jim Parker war in Gefahr! Jetzt galt es! Vor allem mußte man die Zentrale in seinen Besitz bringen, um das Gehirn dieses ganzen teuflischen Sanatoriums lahmzulegen. Im nächsten Augenblick stürzte er schon, in den großen Saal, in dem all die tausendfältigen Nervenstränge des Hauses zusammenliefen. Er riß die Tür auf – da saß Ben Shelly an seinem Arbeitstisch. Fritz sprang auf ihn zu, rüttelte ihn an den Schultern … „Mister Shelly – schnell, schnell – zum Chefarzt! Etwas Furchtbares ist passiert!“ „Wo – wo denn?“ stammelte Shelly und taumelte hoch. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, den Haus-Fernseher einzuschalten und sich selbst von den Vorgängen zu überzeugen, die da angeblich geschehen waren. Aber er kam gar nicht auf den Gedanken. 83
„In seinem Arbeitszimmer“, keuchte Fritz. „So beeilen Sie sich doch, Sir!“ Ben Shelly rannte mit wehenden Rockschößen davon. Fritz Wernicke schloß die Tür, verriegelte sie sorgfältig und blickte suchend umher. Da waren die Schalthebel für die Armee der Roboter, die gefährlichen, stählernen Ungeheuer. Sie mußte man in erster Linie außer Gefecht setzen. Rasch und geschickt ließ Wernicke die Hände über die komplizierte Tastatur gleiten. Er stellte die unmöglichsten Schaltungen her. So – dieses Durcheinander würde selbst Ben Shelly nicht mehr entwirren können. Weiter! Da – der große Hebel in dem rotgerahmten Glaskasten. Ein Schlag mit dem schweren Schraubenschlüssel. Glas splitterte. Herunter mit dem Hebel … Auf einer Signaltafel blinkten Ziffern und Worte auf: „Außenmauer, Tor I – Tor II – Haupteingang – Nebeneingang – Abteilung R – Zentrale …“ Scheu sah Fritz sich um. Aha – er hatte durch diesen Hebeldruck sämtliche verborgenen Türen des Hauses geöffnet. Ausgezeichnet! Nun weiter: der Knopf der Alarmsirene … Hoch auf dem Dach des Hauses gellte beulend die Sirene. Durch den Lärm hindurch vernahm Fritz in seinem Rücken plötzlich Schritte. Er fuhr herum – und starrte in das wutverzerrte Gesicht Ben Shellys, der drohend eine kurze, großkalibrige Pistole hob. Fritz Wernicke handelte blitzartig. Der Schraubenschlüssel, den er noch immer in der Hand hielt, wirbelte durch die Luft. Aber Fritz hatte in der Eile schlecht gezielt. Das Wurfgeschoß flog haarscharf an Shellys Schulter, vorbei und traf einen großen, dicken Glaskolben im Hintergrund des Raumes, in dem eine ölige Flüssigkeit opalisierend schimmerte. Das Glas zerbrach und ergoß seinen Inhalt über den Fußboden. Eine gleißende Lohe schoß jäh zur Decke empor … 84
Im gleichen Augenblick drückte Ben Shelly ab. Aufstöhnend sank Fritz Wernicke zu Boden. * Das Aufheulen der Alarmsirene war für Mortimer und seine Männer das Signal zum Angriff auf das Sanatorium des Teufels. Aus ihren Bereitschaftsstellungen, aus Höhlen und Grotten des Diavolo-Gebirges drangen die Abteilungen des MondSicherheitsdienstes durch die beiden Tore vor, die sich wie von unsichtbarer Hand in der glatten, fugenlosen Mauer aufgetan hatten. Die modernen Atombrenner, die Mortimer aus Orion-City mitgebracht hatte, brauchten nicht einmal in Aktion zu treten. Drinnen, im „Garten“ des Sanatoriums, stampften die eisernen Wächter in wirren Kreisen herum. „Vorsicht!“ brüllte Kurt Brunner, der als einer der ersten in den Hof stürmte. „Drückt auf die roten Knöpfe – da, links!“ Beherzt pirschten sich die Männer an die unheimlichen Gestalten heran. Hier und da knickten die Roboter verschmort zusammen, wenn ihre verwundbare Stelle berührt wurde. Weiter rannten die Leute des Sicherheitsdienstes – in das Gebäude hinein, dessen Türen weit offenstanden. Alle paar Schritte stießen sie auf Roboter, die mit ziellosen Bewegungen umherstolperten. Von Brunners sachkundigen Händen wurden sie rasch außer Gefecht gesetzt. Im Handumdrehen waren alle Gänge des umfangreichen Bauwerks von S.A.T.-Männern besetzt. „Wo steckt denn Miß Lumberman?“ schrie Jenkins, der sich der Expedition als Freiwilliger angeschlossen hatte. „Der Teufel soll die Schufte holen, wenn sie ihr was getan haben!“ Kampflustig schwenkte er den Atombrenner. „Am besten erkundigen Sie sich in der Zentrale“, ertönte da plötzlich die sonore Stimme des Kommodores. Wie aus dem Boden gewachsen, stand Jim Parker zwischen ihnen – ein biß85
chen zerzaust zwar, aber sonst wohlbehalten. Jenkins stürzte bereits die Treppen zum Kellergeschoß hinunter. „Habt ihr nicht diese Galgenvögel Finlay und Ilescu gesehen?“ fragte der Kommodore, nachdem er Oberst Mortimer und seine Begleiter kurz begrüßt hatte. Alle sahen sich ratlos an. Da peitschten plötzlich Schüsse von draußen herein. „Da drüben – jenseits der Mauer – laufen sie!“ schrie Major Williams, der den Wachdienst um das Gebäude herum leitete. Jim Parker hetzte bereits durch die Eingangshalle zur Tür. Da riß ihn ein entsetzter Schrei zurück … „Feuer! Der ganze Keller steht in Flammen!“ Der Keller – dort unten mußte Fritz Wernicke stecken. Er war in höchster Gefahr. Jim Parker rief den Freund durch den Taschensprecher an, aber er bekam keine Antwort. Rasch kehrte er um und rannte die Treppen ins Kellergeschoß hinunter. Stinkender Qualm drang ihm entgegen Jenkins tauchte plötzlich neben ihm auf: „Da ist nicht durchzukommen, Kommodore“, keuchte er. „Vorwärts!“ befahl Jim Parker. Er preßte sich wieder das Taschentuch vor Mund und Nase und drang Schritt für Schritt in Rauch und Hitze vor. „Vorsicht, Kommodore!“ Hinter Jim Parker stand plötzlich eine gespenstige Gestalt. Sie hob den Revolver, zielte auf den Rücken des Kommodores … Da sprühte der grünliche, todbringende Strahl aus Jenkins’ Atombrenner auf. Der Revolverschütze ließ die Waffe sinken und brach lautlos zusammen. Der Kommodore warf einen kurzen Blick zurück. „Shelly“, sagte er. „Das wäre nicht nötig gewesen.“ Weiter ging es. Doch schon nach wenigen Schritten stolperte der Kommodore über einen Körper, der wie tot auf dem Boden der brennenden Zentrale lag: Fritz Wernicke! 86
Mit Jenkins’ Hilfe schleppte er den bewußtlosen Freund durch Rauch und Flammen die Treppen zur rettenden Oberfläche hinauf. * Als die lange, kalte Mondnacht über die Diavolo-Berge hereinbrach, loderten die Flammen noch immer aus der Ruine des einstigen Sanatoriums. Jim Parker hatte seinen Befehlsstand in die Mond-Sicherheitszentrale von „Luna IV“ verlegt. Unterstützt von einem Leutnant des Sicherheitsdienstes nahm er Meldungen entgegen, machte Eintragungen in das große Meßtischblatt des Werkgebietes und lenkte über den Sprechfunk die Einsatzgruppen, die noch immer nach den beiden flüchtigen Ärzten fahndeten. Die Meldungen kamen in kurzen Abständen: „Doktor Leonhard an Kommodore: Sämtliche Patienten gerettet. Schwerere Fälle wurden im Krankairevier von ‚Luna IV’ aufgenommen.“ „Oberst Mortimer an Kommodore: Wichtige Dokumente im Arbeitszimmer Finlays sichergestellt.“ „Einsatzgruppe Fairbanks an Kommodore: Doktor Ilescu zehn Meilen westlich des Washington-Kraters nach kurzer Gegenwehr festgenommen. Von Doktor Finlay bisher keine Spur.“ „Suchen Sie weiter“, befahl Jim Parker. „Ich schicke Ihnen zwei Düsenhubschrauber zur Unterstützung.“ Und dann kam eine Meldung, die den Kommodore veranlaßte, die ganze, umfangreiche Suchaktion mit einem Schlage abzubrechen. Der Leiter des Raketenflugplatzes rief an – atemlos: „Kommodore, dieser Finlay – er war plötzlich mitten zwischen unserem Bodenpersonal – hat sich in die alte Mondrak 56 eingeschlichen und ist gestartet …“ 87
„Alle Achtung!“ entfuhr es Jim Parker unwillkürlich. „Weit wird er allerdings nicht kommen – mit dieser alten Kiste.“ * In dem umfangreichen Bericht, den das S.A.T. einige Wochen später über die Vorgänge im Sanatorium Diavolo veröffentlichte, hieß es abschließend: „Die bereits erwähnte Abteilung R diente tatsächlich dem Zweck, die Patienten, die von Doktor Finlay für seine privaten Versuche mißbraucht wurden, allmählich zu unterkühlen. Finlay wollte damit Beweismaterial für seine Behauptung schaffen, daß es möglich sein müsse, die menschliche Lebensdauer durch künstliche ‚Vereisung’, d. h. Stillegung des Körpers, so sehr zu verlängern, daß die so Behandelten in der Lage wären, selbst jahrhundertelange Raumreisen in die Fixsternwelt lebend zu überstehen. Wenn es Doktor Finlay möglich war, seine gefährlichen Experimente so lange ungestört durchzuführen, so ist es nur dem Umstand zu verdanken, daß sein ‚Personal’ – von ganz wenigen, restlos unter seinem Einfluß stehenden Personen abgesehen – ausschließlich aus Robotern bestand. Dank einer Entdeckung des Ingenieurs Shelly, die ein Raub der Flammen wurde, war es ihm sogar möglich, Menschen und Roboter mittels einer besonderen Strahlenart bei Bedarf unsichtbar zu machen. Nur dem klugen und unerschrockenen Einschreiten einiger beherzter Männer des S.A.T. – unter Führung von Kommodore Parker – ist es zu verdanken, daß die bedauernswerten Menschen, die sich in die Gewalt eines gefährlichen Scharlatans begeben hatten, vor dem sicheren Tod gerettet wurden.“ *
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Die alte Mrs. Jackson hatte es sich nicht nehmen lassen, den langen Bericht, den auch der „Daily Star of Montana“ im vollen Wortlaut gebracht hatte, der kleinen Tafelrunde feierlich vorzulesen, die sich zum Hochzeitsmahl in ihrem Haus in Helena versammelt hatte. An diesem Tage führte Kurt Brunner seine Sheila – nach glücklich überstandenen Gefahren – in den Hafen der Ehe heim. Aus dem Kreis ihrer neuen Freunde waren Ellen Lumberman und Werkmeister Jenkins geladen worden, vor allem aber Jim Parker und Fritz Wernicke. Der Kommodore hatte allerdings nicht persönlich kommen können Allzu sehr nahmen ihn die Vorarbeiten für das große Mars-Projekt in Anspruch. Um so mehr freute sich Fritz Wernicke, einen kleinen Genesungsurlaub im Freundeskreis im schönen Montana zu verbringen. Der gute Fritz hatte zum hundertsten Male die Geschichte vom Sanatorium des Teufels erzählt, und bei jeder Wiederholung war es ihm gelungen, ein paar gefährliche Roboter mehr hineinzuschmuggeln. Den Zuhörern standen die Haare zu Berge. Die alte Mrs. Jackson hatte noch eine Frage: „Eins ist mir noch nicht ganz klar geworden, liebe Kinder: Welche Rolle hat eigentlich der Roboter ‚Homunkulus’ gespielt?“ „Die Hauptrolle“, lachte Kurt Brunner. „Ohne den ‚Homunkulus’ wäre Freund Wernicke elend verdurstet. Dieser vortreffliche Roboter war nämlich – seine Schnapskiste.“ Der gute Fritz errötete, als er sich so unvermittelt als Zielscheibe der allgemeinen Heiterkeit sah. „Da wir gerade von Alkohol sprechen“, begann er verlegen und hob sein Glas, „wollen wir auch das Trinken nicht ganz vergessen. Prost, Freunde! Auf das Wohl des jungen Paares!“ – Ende –
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Insekten vom Mars im Anflug zur Erde Riesentermiten mit menschlichen Eigenschaften? Die vor einigen Tagen über der Grafschaft Kent von den Piloten T. S. Johnson und G. Smythe gemachten Beobachtungen, wonach ein tellerförmiger, runder Gegenstand mit ungeheurer Geschwindigkeit sich im Bereich der irdischen Atmosphäre bewegte, haben erneut die Aufmerksamkeit der Welt auf ein Thema gelenkt, das man nur mit einiger Leichtfertigkeit als lächerliche Übertreibung der Phantasie beiseite schieben kann. Fliegende Teller, fliegende Untertassen, fliegende Scheiben, die einem uns unbekannten aeronautischen Prinzip gehorchen, sind in den letzten Jahren in solcher Fülle beobachtet worden, daß nicht alles Einbildung, Phantasie, Übertreibung und optische Täuschung sein kann! Die beiden Piloten, die seit ihren Beobachtungen von ihrer zuständigen Behörde, von Flugspezialisten und Physikern tagelang verhört worden sind, sind nüchterne Leute, die weder zu Übertreibungen noch zu Abschweifungen einer krankhaften Phantasie neigen. Sie stellten fest: Die „Maschine“, jedenfalls der Flugkörper, der deutlich gesehen wurde, bewegte sich mit ungeheuerer Geschwindigkeit; diese Maschine wurde dabei, bei aller Beschleunigung, mit einer Meisterschaft gesteuert, die kein irdischer Pilot bisher aufgebracht hat; T. S. Johnson prägte dazu den Satz: „Mir kam beim Betrachten dieses Flugzeuges, wenn wir es so nennen wollen, der Gedanke, daß die Intelligenz der Konstrukteure sich zu unserer Intelligenz etwa so verhalten mußte, wie unser Wissen und unser Intellekt zu demjenigen eines Schimpansen. Wir bewegen uns mit allem, was wir kennen und
wissen – verglichen mit den anderen – in Kinderschuhen. Wir sind die Schimpansen jener, die die fliegenden Scheiben bauten!“ Davon ausgehend sind nun nordeuropäische Zoologen und Physiker zu einem überraschenden Schluß gekommen, der demjenigen gar nicht so abwegig erscheint, der einmal die „Weißen Ameisen“, die Termiten, bei der Konstruktion eines Hochhauses beobachtete, wie sie deren Tag für Tag überall dort auf der Erde aufbauen, wo sie sich zu Hause fühlen. Die meisterhaften Konstruktionen der Insekten braucht man nur entsprechend der Kleinheit der Termiten zu vertausendfachen, um technische, konstruktive Leistungen wahrscheinlich werden zu lassen, die im Instinkt von Riesentermiten, von Rieseninsekten eines anderen Planeten entstanden sind. Die Gleichmäßigkeit der Wachszelle in einem Bienenstock, die Sorgfältigkeit der Konstruktion der Laufgänge in einem Termitenbau schließen so großartige Kenntnisse in bezug auf Mathematik und Stabilitätsberechnung in sich ein. daß entweder Menschen mit Rechenmaschinen oder Elektronenkalkulatoren an der Arbeit sein müßten, um im großen das gleiche zu vollbringen. Rieseninsekten mit einem Instinkt, der über die Jahrmillionen sich zu unvergleichlicher Höhe entwickelte, könnten demnach die Erbauer jener Flugapparate sein, die wir bis jetzt als fliegende Scheiben bezeichneten. Derartige intelligente Wesen, die praktisch nur ihrem Instinkt zu folgen brauchen, hätten also nach der Theorie der Physiker und Zoologen zum Schutz gegen die Weltraumkälte Hüllen aus irgendeiner Masse konstruiert, die metallischen irdischen Begriffen entspricht, um den Weltraum zu bezwingen. Das Flugprinzip, das unter Einsatz der Energie der Rieseninsekten Schwierigkeiten spielend überwindet, an denen wir mit unseren Konstruktionen noch kranken – das ist die einzige noch
fehlende Lösung an diesem Rätselspiel, wer sich der Erde mit fliegenden Scheiben, nähert! Auch wissen wir noch nicht, wie diese intelligenten Wesen aussehen und wie sie ihre fliegenden Scheiben bauen. Bis zur Stunde wurden sie nicht gesehen, sondern nur aus der Ferne beobachtet. Fest steht nur, daß sie klüger sein dürften als wir – oder aber einen Instinkt besitzen, der alle Künste des Ingenieurwesens und der Architektur in sich schließt. Heute sind das noch Fragen, die ungelöst sind. Aber morgen? Können nicht schon morgen die großen Zeitungen mit Riesenschlagzeilen verkünden: Invasion vom Mars! Die Erde bedroht! Rieseninsekten vom Mars im Anflug zur Erde! Hanns Kurth
Lesen Sie im nächsten (24.) UTOPIA-Band: Mit sechs Gefährten startet Kommodore Jim Parker zu einem Erkundungsflug zum Planeten Mars. Lang ist die Reise zu dem fernen Ziel. Um sich die Zeit zu verkürzen, soll allabendlich einer der Expeditionsteilnehmer ein spannendes Abenteuer aus seinem Leben erzählen. Aufregend und unheimlich geht es in diesen Geschichten zu, und gespenstisch und rätselhaft sind auch die Dinge, die sich zwischendurch an Bord des Raumschiffes ereignen, und die Besatzung bis zum Schluß unter ständiger Bedrohung halten. Sollten Sie die vorhergehenden UTOPIA-Bände 1 bis 22 bei Ihrem Zeitschriftenhändler nicht mehr erhalten, dann wenden Sie sich bitte direkt an den Verlag Erich Pabel, Rastatt (Baden). Senden Sie dabei den Geldbetrag (je Band 50 Pfg.) auf das Postscheckkonto Karlsruhe 22446 ein. Aber hierbei nicht vergessen, die gewünschten Nummern auf der Rückseite des linken Zahlkartenabschnittes anzugeben. Auch können Sie den Geldbetrag in bar sofort Ihrer Bestellung beifügen.
Auf dem Wege zur Weltraumfahrt 23) Die große Lücke zwischen Mars und Jupiter Zwischen den Bahnen unseres Nachbarplaneten Mars und des Riesenplaneten Jupiter gähnt der leere Raum in einer Weite von 500 Millionen Kilometer, das ist ungefähr das 3 ½ fache der Entfernung Erde–Sonne. Schon früh hatten die Astronomen in dieser Leere nach einem weiteren, bisher unentdeckt gebliebenen Planeten Ausschau gehalten, doch erst in der Neujahrsnacht des Jahres 1801 gelang es dem Italiener Piazzi, hier einen winzigen Wandelstern von nur 770 Kilometer Durchmesser aufzufinden, der in diesem Raum um die Sonne kreiste. In der Folgezeit gelangen weitere Entdeckungen, und heute kennen wir bereits die Bahnen von rund 1600 dieser zwergenhaften Himmelskörper, die man kleine Planeten, Planetoiden oder auch Asteroiden nennt. Damit ist ihre Gesamtzahl freilich nicht erschöpft, die in die Zehntausende gehen dürfte. Alljährlich werden mit den Mitteln der modernen Himmelsphotographie neue Planetoiden entdeckt. Die weitaus meisten sind außerordentlich klein. Vielleicht sind die Planetoiden die Bruchstücke eines früheren großen Planeten, der einstmals zwischen Mars und Jupiter seine Bahn zog und irgendeiner kosmischen Katastrophe zum Opfer fiel. Während die Bahnen dieser Kleinplaneten im allgemeinen zwischen denen ihrer beiden großen Nachbarn liegen, gibt es auch Außenseiter unter ihnen, wie Hidalgo, der bis in Saturnnähe gelangt, und Ikarus, der bis in den Raum innerhalb der Merkurbahn vordringt.
Als Ziel einer künftig in Raumschiffexpedition werden nur die größten Planetoiden in Betracht kommen, etwa Ceres und Pallas, Vesta und Juno. Die überwiegende Mehrzahl dieser Himmelskörper ist viel zu klein für diesen Zweck; ihre Durchmesser erreichen in der Regel nur wenige Kilometer. (Fortsetzung folgt)
Verlag und Druck: Erich Pabel, Rastatt in Baden 1954 (Mitglied des Verbandes deutscher Zeltschriftenverleger e. V.) Die Bände dieser Serie dürfen nicht in Leihbüchereien verliehen, in Lesezirkeln nicht geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. – Scan by Brrazo 08/2010