Höllenjäger Band 3 Das Rätsel der Siegelkammer von Des Romero
Spanien Rodrigo Martinez gehörte zu jener Sorte Mensch,...
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Höllenjäger Band 3 Das Rätsel der Siegelkammer von Des Romero
Spanien Rodrigo Martinez gehörte zu jener Sorte Mensch, die man getrost als vermögend bezeichnen konnte. Er war Countrymanager eines genossenschaftlich geführten Handelsunternehmens, das in ganz Europa Niederlassungen unterhielt und mittelfristig über diese Grenzen hinaus weltweit zu expandieren gedachte. Rendite und Wachstum beschrieb in Kürze die Unternehmensphilosophie. Erst vor knapp sechs Monaten war die Zentrale für Einkauf und Vertrieb nicht weit außerhalb von Madrid fertig gestellt worden und aufgrund von Empfehlungen hoher Regierungsräte, die das Projekt genehmigt und sich dabei die Taschen voll gestopft hatten, war Martinez ins obere Management aufgerückt. Leichten Herzens hatte er sich von seiner früheren Firma getrennt, denn der Wechsel war keineswegs überraschend gekommen, sondern sorgfältig geplant. Es ging um Ansehen, Macht und Geld. Dabei war es ganz gleich, dass das Unternehmen mit Sitz in Italien sich den Gedanken der Genossenschaft auf die Fahnen geschrieben hatte. Rodrigo Martinez hatte sich nie für immaterielle, ethische Dinge interessiert. Seinen Weg hatte er stets klar vor sich gesehen und da gab es keinen Platz für weltfremde Träumereien. Das war der geschäftliche Aspekt; Martinez' Privatbereich hatte seine Skrupellosigkeit noch nicht vollständig in Besitz genommen. Behaglich lehnte der Industrielle sich in seinem Lehnstuhl auf der Veranda seines Luxusbungalows zurück und betrachtete das Sternenfunkeln am nächtlichen Himmel. Ein Blick auf seine goldene CartierUhr sagte ihm, dass es auf Mitternacht zuging. Seine Linke strich durch das kurze, pechschwarze Haar. Das Gesicht war sonnengebräunt, wirkte hager und energisch. Martinez war hoch gewachsen, sportlich und hatte eine nahezu unerklärlich positive Ausstrahlung auf Frauen. Das war ihm auch durchaus bewusst. Martinez beugte sich vor und nahm ein gefülltes Weinbrandglas vom Cocktailtisch. Genießerisch schwenkte er es unter der Nase. Dann nahm er einen kleinen Schluck. Angenehm warm rann der Alkohol seine Kehle hinab. Kurz darauf spürte er ein wohltuendes Gefühl im Magen. Erneut führte er das Glas zum Mund. 4
Vollkommen entspannt genoss er die wenigen Stunden seiner Freizeit, atmete die frische Luft ein und ließ das hochprozentige Getränk auf sich wirken. Nichts deutete darauf hin, dass der Manager an diesem Abend noch reizenden Besuch erwartete. Er hatte sich mit der äußerst attraktiven Modedesignerin Isabel Gueverra verabredet. Kennen gelernt hatten sie sich bei einem Gala-Abend der europäischen Filmprominenz in Barcelona. Mehr zufällig waren sie sich dort über den Weg gelaufen und Martinez' natürlicher Charme hatte mehr als genug dazu beigetragen, dass die hinreißende Isabel den gesamten Abend über in seiner Gesellschaft verbracht hatte. Da sie derzeit geschäftlich in Madrid tätig war, hatte sich die heutige Verabredung förmlich aufgedrängt. Martinez hatte seine Zuneigung bisher nur in höflichem Respekt geäußert und wahrscheinlich war die junge Frau genau darauf angesprungen. Dem Industriellen schwebte allerdings eine etwas intimere Beziehung vor. Martinez schmunzelte bei dem Gedanken. Beinahe wie in Trance schenkte er den Weinbrandschwenker wieder voll und betrachtete die Lichtreflexe des matten Mondlichts in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. In diesem Moment ging der Türgong. Unvermittelt wurde der Generalmanager in die Wirklichkeit zurückgeholt. Ein erneuter Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass die Stunde in wenigen Sekunden voll war... Mitternacht! Eine perfekte Zeit für ein Date, sagte er sich und erhob sich aus dem Stuhl. Als er die Haustür öffnete, wurden seine kühnsten Erwartungen noch übertroffen. Die Frau, die da vor ihm stand, war von überirdischer Schönheit und erotisierender Anziehungskraft. Das Haar trug sie mittellang. Die eng anliegenden, kleinen Ohren waren halb bedeckt. Die Stirn war frei und wirkte durch die zurückgekämmten Haare ziemlich hoch. Lediglich eine verspielte Locke kräuselte sich herunter. Das zum Kinn spitz zusammenlaufende Gesicht wurde von dem dezent aufgetragenen Wangenrouge angenehm betont. Lange, fast schon künstlich wirkende Wimpern zogen sich in einem perfekten Bogen über tiefbraune Augen, in denen der Glanz von lockender Er5
wartung strahlte. In dieses aufregend kindliche Gesicht fügten sich die zierliche Nase und die vollen, sinnlichen Lippen in atemberaubender Anmut. Der Körper der Spanierin war schlank und figurbetont. Selten hatte Rodrigo Martinez eine Frau wie diese gesehen - wenn überhaupt. Bei ihr passte alles ohne Makel zusammen. »Guten Abend, Senior Martinez«, sagte Isabel Gueverra und die Worte kamen über ihre Lippen gleich einem sinnlichen Geständnis. Der Industrielle wurde wachgerüttelt wie aus einem Traum. Er hatte sein Gegenüber derart intensiv bemustert, dass es ihm im Nachhinein schon peinlich war. Mit freundlichem, verschämtem Lächeln erwiderte er den Gruß und bat diese Ikone der Weiblichkeit einzutreten. Sie streifte die Handtasche von ihrer Schulter und reichte sie dem Mann. Gleichzeitig zupfte die rassige Spanierin ihre grün schillernde, paillettenbesetzte Bolero-Jacke zurecht. Darunter trug sie eine weiße Bluse mit hohem Rüschenkragen. Die beinbetonte, anthrazitfarbene Hose war an den Außenseiten mit einer goldfarbenen Stoffleiste abgesetzt. Martinez legte die Tasche auf die Sofapolster. Dann wies er mit der Rechten voraus. »Vielleicht möchten Sie auf der Terrasse eine Erfrischung zu sich nehmen. Bitte sehr.« Mit aufreizenden Bewegungen ging die Frau voraus. Und es waren nicht nur diese Bewegungen, die verrieten, dass Isabel Gueverra nicht nur zu einer anregenden Unterhaltung hierher gekommen war. In ihren Augen lag süße Verführung. Der große Spanier entkorkte vorsichtig eine Sektflasche. Das Getränk schäumte hoch und gerade noch konnte Martinez ein Glas an den Flaschenhals setzen, bevor es überlief. Er schenkte nach und reichte es seinem Gast. Über den Rand des Glases fixierten Isabels tiefgründige Augen den Mann im weißen Leinenanzug. Sie konnte nicht leugnen, dass er sie antörnte. »Es ist kühl geworden. Wir sollten es uns besser drinnen gemütlich machen.« »Sie haben recht«, nickte Martinez. »Das war sehr unaufmerksam von mir.« 6
Launig hakte sich Isabel bei ihrem Gastgeber ein und ließ sich zurück in die Wohnräume führen. Der Manager bot ihr einen Platz in einem Sessel an, doch Isabel zog es vor, neben ihm auf der Couch zu sitzen. Sie lehnte sich weit zurück in die äußere Ecke des Sofas. Dabei öffnete sie ein paar Knöpfe ihrer hochgeschlossenen Bluse. »Sie... sind bezaubernd schön«, schwärmte Martinez. »Dann nehmen Sie sich doch, was Ihnen gefällt...« Isabel Gueverra rekelte sich aufreizend neben ihm in den Polstern. Diese Frau zeigte ein Feuer, das er ihrem öffentlichen Auftreten nach niemals in ihr vermutet hätte. »Sie sind sehr direkt. Genau nach meinem Geschmack...« Langsam beugte er sich über sie. Ihre schlanken Finger ergriffen seine Hände und führten sie zu ihren Brüsten. Hart spürte Martinez die Warzen in seinen Handflächen, während Isabel seinen behaarten Oberkörper massierte. Mit flinken Fingern öffnete er die restlichen Knöpfe der Bluse. Er wollte sie jetzt nackt sehen, den Geruch ihrer samtweichen Haut atmen. Betont langsam streifte der Industrielle die Bluse über die Schultern der Modedesignerin, öffnete den knappen Büstenhalter. Die nahtlose Bräune ihrer Haut regte Martinez noch zusätzlich an. Von zügelloser Leidenschaft gepackt liebkoste er den grazilen Körper und versäumte dabei nicht, ihn auch noch von den restlichen Textilien zu befreien. Schließlich lag die junge Frau nur noch mit einem knappen Slip bekleidet vor ihm. Rodrigos Hand glitt unter den Stoff und verhielt zwischen ihren Schenkeln. Ein wollüstiges Zucken ging durch Isabels Körper. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund zu einem leisen Stöhnen halb geöffnet. Martinez' Zunge kreiste um ihren Bauchnabel, glitt tiefer und tiefer, bis er die Stelle erreichte, an der noch vor Sekunden seine Hand gewesen war. Isabels Beine hatten sich um seinen Nacken geschlungen. Mit den Fußspitzen löste sie die Pumps von den Hacken und kickte sie in den Raum. Dann drängte sie Martinez mit sanfter Gewalt zurück und richtete sich auf. In ihren Augen loderte heißes Verlangen, als sie seine 7
Hose öffnete und herunterzog. Er war ihr beim weiteren Entkleiden behilflich, bis auch er nackt vor ihr stand. Martinez konnte es kaum abwarten, diese Frau endlich zu besitzen. Ihre Hände, ihre Lippen, versetzten ihn in höchste Erregung. »Ich will dich jetzt«, flüsterte er Isabel keuchend ins Ohr. Wenige lustvolle Sekunden später spürte sie seine sich aufbäumende Männlichkeit tief in sich. Ihr Schoß wirkte dem Rhythmus seiner Stöße entgegen. Unter den heftigen Liebkosungen des erfahrenen Spaniers würde sie unglaublich schnell kommen... Da ertönte zum ersten mal das Geräusch. Ein lang gezogenes Quietschen. Wie Metall, das sich unter zu großer Belastung bog. Isabel Gueverra schien unter ihrem Liebhaber zu erschlaffen. Sie war nicht mehr bei der Sache. »Ein Geräusch«, hörte Martinez ihr Flüstern. Er wirkte ein wenig ungehalten. »In der Nacht gibt es immer irgendwelche Geräusche«, beschwichtigte er. »Nein, es war ein ganz eigenartiger Laut.« Die Designerin setzte sich auf und legte die Hände auf ihre Schultern, wobei sich ihre Unterarme vor den Brüsten kreuzten, wie um ihre Blöße zu verbergen. »Komm wieder zu mir«, sagte Martinez sanft und legte eine Hand auf die ihre. Das schräge Kreischen wiederholte sich, diesmal in einer Lautstärke, die jegliche Glut der Leidenschaft auch in dem Industriellen augenblicklich erkalten ließ. »Da! Hörst du?«, schrak Isabel zusammen und ging dabei unwillkürlich zu einer persönlicheren Anrede über. »Was ist das nur?« »Du hast recht«, stutzte Martinez und sah sich suchend um. Hastig zog er sich Unterwäsche und seine Hose über. »Bleib' hier sitzen«, wandte er sich an die Frau, die ängstlich zwischen den Kissen kauerte und die Beine schützend an den Oberkörper gezogen hatte. Rodrigo Martinez vermutete, dass das Geräusch von außerhalb der Terrasse kam. Die schweren Vorhänge vor dem Panoramafenster des Wohnzimmers hatte er eben noch zugezogen. Die Beleuchtung war mit 8
dem Dimmer auf ein Minimum herabgesetzt. Die vertraute Umgebung wirkte plötzlich fremd und unheimlich, der Durchgang zur Veranda wie das Tor zu einer unbekannten, gefahrvollen Welt. Martinez zwang sich zur Ruhe. Sicher gab es eine vernünftige Erklärung für die eigentümlichen Laute. Er warf noch einen beruhigenden Blick auf die nackte Isabel - dann zog er die Vorhänge auf. Genau in diesem Moment hatte er das Gefühl, das Haus würde einstürzen! Ein sekundenlanges, apokalyptisches Beben erschütterte den Bungalow. Flaschen polterten aus der Hausbar, Gläser und Vasen kippten aus den Vitrinen und Bilder fielen von den Wänden. Martinez konnte sich mit Mühe auf den Beinen halten. Hinter ihm ertönte ein erstickter Schrei. Die Couch war unter Isabel Gueverra zusammengebrochen. Sie war vornüber gefallen und mit dem Kopf auf die Glasplatte des Wohnzimmertisches geschlagen. Jetzt war sie bewusstlos. Rodrigo fluchte. »Das kann doch alles nicht wahr sein! Was, zum Teufel, geht hier vor?« Ein eisiger Lufthauch streifte den Spanier. Schlagartig wirbelte er herum und meinte noch, ein nebelhaftes Gespinst erkennen zu können. Verwirrt schüttelte er den Kopf, warf durch die verschlossene Terrassentür einen furchtsamen Blick nach draußen. Doch außer den mondbeschienenen Gartenmöbeln gab es nichts zu sehen... Falsch! Da war wohl etwas! Und es näherte sich ihm. Martinez merkte viel zu spät, dass die Gefahr nicht vor ihm lauerte, sondern sich in den Fenstern etwas spiegelte, das von hinten auf ihn zukam. Entsetzt sprang er zur Seite. Die Berührung mit dem dunstigen Gebilde hinterließ einen feuchtkalten Abdruck auf seinem bloßen Unterarm. Der Generalmanager glaubte wahnsinnig zu werden, als sich der kostbare Parkettboden von unten her durchbog, Holz splitterte! Trümmer schossen durch den weitläufigen Wohnraum, als die Dielen weg9
platzten. Glas zerbarst, wo Martinez nur hinschaute. Seine heiseren Schreie gingen in diesem donnernden Inferno ungehört unter. Geduckt und mit nackten Füßen eilte er über Splitter und Scherben zu Isabel. Sie hatte einige Schnittwunden abbekommen und schien gerade ihr Bewusstsein zurück zu gewinnen. »Was... was ist passiert...?« Die Frau massierte sich die Schläfen. »Wir müssen hier raus!«, antwortete Martinez knapp und zog sie hoch. Dabei wurde er von einem weiteren Nebelgebilde gestreift. Es war wie ein Kälteschock! »Lasst mich in Ruhe!«, kreischte er in aufkeimender Panik. »Was wollt ihr denn bloß von mir?« Tränen rannen über seine Wangen. Er verlor vollends die Beherrschung und stolperte einige Schritte vor. Die nackte Isabel Gueverra ließ er einfach stehen. Der ohrenbetäubende Lärm, der die Wände des Gebäudes vibrieren ließ, drohte, Martinez' Schädel zu sprengen. Der Boden um ihn herum brach auf. Seine Veranda hatte sich in einen glutflüssigen Strom kochenden Gesteins verwandelt. Die Angstschreie des Industriellen wurden verschluckt von dem infernalischen Tosen, mit dem der Bungalow im dampfenden Erdreich versank! * Die rotgolden strahlende Scheibe kreiste in hypnotisierenden Drehungen durch ein schwarzes, dimensionsloses Nichts. Komplexe geometrische Figuren wölbten sich aus der Scheibe hervor. Sie durchdrangen sich gegenseitig, um wieder neue, noch komplexere Gebilde zu formen. Unbeschreibliche Schwingungen gingen von den Körpern aus. Kein auf der Erde gefertigtes Objekt konnte eine ähnliche Präsenz besitzen. Sie bannte einen Menschen, klammerte sich mit metaphysischen Saugnäpfen an dessen Geist, um ihn nie mehr loslassen zu wollen. Dann erschien ein Schädel, der sich seitlich neben der Scheibe im Nichts manifestierte. Sein Mund öffnete und schloss sich einige Male, 10
schien Silben und Worte zu formen, aber kein Laut drang daraus hervor. Lichter flammten auf! Das Nichts wurde schlagartig erhellt, trat heraus aus der Anomalie mit Worten nicht zu umschreibender Tristesse, die gleichzeitig farb- und lichtlos, jedoch nicht einfach nur finster und undurchdringlich gewesen war, sondern durch die Akzentuierung eben ihrer Makel die bloße Abwesenheit positiver Aspekte relativierte. Der körperlose Schädel, nun deutlich zu erkennen, schob sich vor die kreisende Scheibe. Die Gesichtszüge waren eindeutig die eines Menschen - eines Mannes. Allerdings musste dieser Mann furchtbare Schrecken durchgemacht haben, denn die Spuren erlebten Grauens hatten sich tief in seine Haut eingegraben. Rissige Lippen formten tonlose Worte, die erst nach unerträglich lange währenden Sekunden die Absperrung zur Verständlichkeit überwinden konnten. »Finde die Kammer, die von diesem Wappen versiegelt wird!«, sprach der Mann eindringlich fordernd. Der Kopf drehte sich der Scheibe mit den geometrischen Figuren zu. Sie bestanden auf den ersten Blick aus Kreisen, die eine Unzahl von Schnittmengen erzeugten, aus denen sich wieder neue Objekte generierten mit neuen Überschneidungen. Ein komplexes Muster war entstanden, dessen tief greifende Bedeutung Richard zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ansatzweise zu erfassen in der Lage war. »Wenn du das Siegel gebrochen hast, wird dir ein wirksameres Vorgehen gegen die Höllenmächte möglich sein. Dazu aber musst du...« Der Redefluss brach ab, als sämtliche Lichter abrupt erloschen. Der Kopf trudelte haltlos hinein in einen abgrundlosen Trichter purer Schwärze, entschwand mit einem lautlosen Schrei, der lediglich über die grausam verzerrten Gesichtszüge hörbar wurde. Alles, was zurückblieb, war das unwirklich fluoreszierende Siegel an dem blassgelben, zerfurchten Gemäuer, das behäbig seine bewusstseinslähmende Drehbewegung wieder aufnahm. Dann verschwamm das Bild wie hinter einer schlierenbildenden Flüssigkeit, wurde erst unscharf und begann zu zerfließen, bis es sich vollständig aufgelöst hatte... 11
* Mit einem heiseren Aufschrei schnellte Richard Jordan in seinem Bett hoch. »Vater!«, rief er, während der Schweiß in Strömen über sein Gesicht lief. Er schüttelte sich. »Wieder dieser irrsinnige Alptraum!« Der Siebenundzwanzigjährige wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und streifte die Bettdecke über seine Knie. Es war die dritte Nacht, in der er dieselbe Vision gehabt hatte. Und jedes mal war sie an derselben Stelle abgebrochen. Es war wie eine VideoAufzeichnung, die jedes mal von neuem abgespielt wurde. Daher war die Botschaft stets dieselbe: Der Schlüssel zur Macht lag in der Siegelkammer! Ein wenig benommen schüttelte der junge Jordan den erhitzten Kopf. Seine Träume drängten ihn in eine bestimmte Richtung. Doch wo sollte er seine Suche beginnen? Wer würde ihm helfen? Die Last der Verantwortung drohte den Studenten bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig zu erdrücken. Mitunter war er sich über seine wahren Ziele im Unklaren. Seine Unsicherheit wuchs. Im Nachhinein war er erschrocken über seine verbissene Entschlossenheit im Kampf gegen Amalnacron. Es hätte sein Ende bedeuten können. Dann aber rief er sich seinen unsichtbaren Mentor erneut in Erinnerung, der ihn - zumindest zeitweise - unterstützt und ihm Mut gemacht hatte. Er hatte ähnliche Worte gebraucht wie sein Vater. Hatte von seiner Bestimmung zum Höllenjäger gesprochen... Richard wusste es noch nicht, doch seine Seele hatte sich bereits entschieden. Seine Zweifel entsprangen einer natürlichen Schutzbedürftigkeit - an seinem Schicksal jedoch würden auch sie nichts ändern. Jordan schwang sich aus dem Bett, machte sich im Badezimmer frisch und kleidete sich an. Im Anschluss bereitete er sich ein Frühstück, Scrambled eggs mit Bacon, dazu zwei Scheiben Toast und eine halbe Kanne Kaffee. Nachdenklich saß er am Tisch. Eher mechanisch nahm er die Speisen zu sich, wobei seine Gedanken die Ereignisse der letzten Tage 12
Revue passieren ließen. Da war seine Mutter Heather - leicht verletzt, doch mit einem schweren Trauma ins Krankenhaus eingeliefert. Erst gestern hatte er sie im St. Mary Abbot's Hospital in Kensington besucht, ihr Zustand aber ließ keine Aussicht auf baldige Besserung erkennen. Sie befand sich im Koma, war nicht ansprechbar und wurde künstlich ernährt. Ihr Anblick hatte Richards Innerstes auf schmerzlichste Weise berührt. Mehr als einmal hatte er sich gefragt, warum diese herzensgute Frau derart bestraft wurde. Indes, auch seine bitteren Tränen hatten ihm die Antwort nicht geben können. Richard legte die Gabel zur Seite, mit der er sein Rührei malträtierte. Schwer lehnte er sich in dem Küchenstuhl zurück, trank einige Schlucke Kaffee. Er wollte seine düsteren Gedanken beiseite schieben und als erstes einen Blick in den Briefkasten werfen. Dazu ging er die Auffahrt der Renaissance-Villa bis zur Straße hinauf. Ohne überschwängliches Interesse öffnete er den Postkasten. Es befanden sich mehrere Kuverts darin. Zwei identifizierte Richard auf Anhieb als Werbesendungen. Ein Brief trug den Absender des British Museum. Er musste wohl für seinen Vater sein und war daher relativ unwichtig für den jungen Mann. Zwei weitere Umschläge enthielten Mitteilungen der Bezirksverwaltung. Wahrscheinlich Rechnungen. Oder Ankündigungen über Sanierungsmaßnahmen, die Rechnungen nach sich zogen. Das letzte Kuvert weckte Richards Neugier. Forschend drehte er es in seinen Händen und suchte, jedoch vergebens, nach einem Absender. Dann entdeckte er das silberfarbene Wachssiegel auf der Rückseite, das über die Spitze der Verschlusslasche aufgetragen war. Aus der Prägung vermeinte Richard die Initialen ›D‹ und ›C‹ zu erkennen, was ihm jedoch aus dem Stehgreif heraus nichts sagte. Schlecht lesbar war der Adressat auf die Vorderseite gekritzelt. Den Inhalt des befremdenden Briefes würde er sich im Hause näher anschauen. Den Rest der Zustellungen klemmte er sich unter den Arm und stiefelte den Weg zurück. In der Küche machte er sich plötzlich mit Heißhunger über sein Frühstück her und nahm den an seinen Vater gerichteten Brief in Augenschein. 13
Der Duktus erinnerte an ein Schulkind: ungelenke Auf- und Abstriche, ein höchst unausgeglichenes Schriftbild. Wahrscheinlich hatte jemand die Anschrift in größter Eile abgefasst. Kauend riss der Junge das Kuvert auf. Das Blatt Papier, das er herauszog, war geknittert und an den Rändern leicht eingerissen. Es zeigte deutliche Gebrauchsspuren und machte nicht den Eindruck, als hätte man es zum Zwecke der Beschriftung aufbewahrt. Es musste sich um eine Notlösung handeln. Trotz allem prangte in der linken oberen Ecke des Anschreibens dasselbe Siegel wie auf dem Kuvert. Nur, dass es nicht aufgetragen, sondern aufgedruckt worden war. Die Pigmente der Farbe ließen es metallisch schimmern. Ziemlich kostspielig, dachte Richard. Und ziemlich spleenig, wenn
man die angenommenen Umstände bedenkt. Dann las er halblaut vor.
»Edward, obwohl wir aus gutem Grund kaum Kontakt untereinander pflegen, sehe ich mich doch gezwungen, Dir diesen Brief zu schreiben. Mister Denninghams Nachforschungen haben zweifelsfrei ergeben, dass Amalnacron seiner Verpuppung entgegenstrebt. Es scheint unvermeidlich, dass die Loge sich erneut zusammenfindet, um dem bevorstehenden Chaos entgegenzuwirken. Daher werde ich Dich in den nächsten Tagen persönlich aufsuchen.« Die Unterschrift der Mitteilung entzifferte Richard als ›Philip Ravenmoor‹. Verwirrt legte der junge Jordan den Zettel zur Seite und starrte wenige Sekunden blicklos in den Raum. Amalnacrons Verpuppung!, wiegte er nachdenklich den Kopf. Hatte nicht dieser giftige Gnom im Beisein des Tentakelmonstrums davon gesprochen? Was war aus ihm geworden? Er hatte sich in die unterirdischen Gänge zurückgezogen, dann war - etwas...? grollend explodiert. Der Verwachsene war nicht mehr aufgetaucht. Vielleicht war er tot. Doch auch Amalnacron hatte sich nicht mehr gezeigt. Ein Umstand, der Richard Jordan bei weitem mehr beunruhigte. Der mächtige Dämon würde allem Anschein nach seine Zustandsform ändern. Die Raupe wurde zum Schmetterling. Jordan fröstelte unwillkürlich, wenn 14
er daran dachte, was dieser Vorgang unter schwarzmagischen Vorzeichen bedeuten mochte. Seine Phantasie reichte allerdings nicht aus... Richard musste an seine anfängliche Vermutung denken, dass die Loge der Höllenjäger die Zeiten überdauert hatte und gegenwärtig immer noch aktiv war. Die Erzählung seines Vaters über den verlorenen Kontinent Exon samt seinem gefährlichen Matriarchat ließ einen derartigen Schluss durchaus zu. Edward Jordan hatte sich dahingehend nicht weiter geäußert und eher bedeckt gehalten; der vorliegende jedoch Brief wollte die letzten hartnäckigen Zweifel des Jungen endgültig zerstreuen. Eine sonderbare Ruhe erfasste den Siebenundzwanzigjährigen. Er würde Antworten auf seine drängenden Fragen erhalten. Schließlich hatte dieser Philip Ravenmoor sein Kommen angekündigt. Viel Zeit würde er sich damit nicht lassen, denn Zeit war ein Luxus, den sich die Loge momentan wohl nicht leisten konnte. Der Student erhob sich aus dem Küchenstuhl und ging in den Living-room. Lange schaute er aus dem Fenster, ohne die Schönheiten des sonnigen Herbsttages wahrzunehmen. Sein Denken war fixiert auf Philip Ravenmoor. Wenn er eintraf, würde er einiges zu erklären haben! * Der Sea Ranger Helikopter zog eine weite Schleife über dem Airfield von Crowthorne. Der Pilot erbat über Funk Landeerlaubnis und ließ nach der Bestätigung den Hubschrauber sinken. »Wäre es nicht doch besser gewesen, ich hätte Sie auf dem Grundstück der Jordans abgesetzt?«, erkundigte der Pilot sich lautstark, um den Lärm der Rotoren zu übertönen. »Ist noch ein ganzes Stück bis Kensington.« Der Angesprochene winkte ab, obwohl sein Vordermann das nicht mehr sehen konnte, da er sich der Instrumententafel zugewandt hatte. »Nein, nein. Lassen Sie's mal gut sein, Barry. Ich will so wenig Aufsehen wie möglich verursachen. Wenn wir mit dem Vogel in einem 15
Londoner Vorgarten landen, gibt's direkt einen Menschenauflauf. Sie wissen doch, wie die Leute sind.« Barry nickte kurz und setzte den Sea Ranger auf. »Dann viel Erfolg, Mister Ravenmoor. Melden Sie sich, wenn ich Sie wieder abholen soll.« »Sie hören von mir.« Philip Ravenmoor entriegelte die Schiebetür und trat ins Freie. Der Sog des Hauptrotors zerrte an seiner Kleidung. Das Revers seines Anzugs schlug ihm gegen das Kinn. Ravenmoor erhob die Hand flüchtig zum Gruß - dann hob der Helikopter ab. Das Sonnenlicht reflektierte für einen kurzen Moment die Aufschrift am Heck der Maschine: D.C.455. Alsdann war sie nur noch ein unbedeutender Punkt in den Wolken. Philip Ravenmoor war etwa Mitte Dreißig, groß, besaß volles, schwarzes Haar und ein einprägsames, schmales, scharf geschnittenes Gesicht, aus dem die graublauen Augen fast stechend hervortraten. Er trug eine helle Baumwollhose mit khakifarbenem Flanellhemd, darüber ein beigefarbenes Sakko. An der linken Hand führte er einen schwarzen Slimline-Aktenkoffer mit sich. Auf dem kürzesten Weg begab er sich zum Aufsichtspersonal des Landefeldes. Ein Mann im dunklen Overall mit Schirmmütze kam ihm bereits entgegen. »Hatten Sie einen angenehmen Flug, Sir?« »Bestens, danke«, erwiderte Ravenmoor. »Sagen Sie mir bitte, wo ich hier einen Wagen mieten kann.« Der Angesprochene zog die Brauen zusammen, legte die Finger der rechten Hand an den Mund und wandte sein Gesicht ab, um in imaginäre Fernen zu sehen. Bis seine Miene sich erhellte. »In der Stadt gibt es eine Autovermietung.« Wie zur Erklärung für sein langes Überlegen fügte er hinzu: »Ich arbeite erst seit zwei Wochen auf dem Flugfeld. Kenne mich nicht so aus...« Ravenmoor wollte einen verstehenden Kommentar abgeben, doch der Mann mit dem Käppi kam ihm zuvor. »Ich rufe Ihnen gern ein Taxi. Dann sind Sie in ein paar Minuten in der Stadt. Ist immer ziemlich viel Betrieb in der City. Jede Menge Geschäftsleute, wissen Sie...« 16
Ravenmoor lächelte aufgesetzt. »Ja, ja. Also, wenn Sie das für mich erledigen könnten...« »Kommen Sie mit ins Büro. Weht ja doch ein rauer Wind hier draußen. Außerdem ist es drinnen ruhiger.« Der Endvierziger spielte auf eine zweimotorige Sportmaschine an, die mit knatternden Triebwerken abhob. Das Büro war leer. Der Rest der Belegschaft befand sich wohl in den angrenzenden Hangars. Der Mann im Overall tätigte ein kurzes Telefonat und ließ sich anschließend in einen Drehstuhl fallen, der unter seinem Gewicht bedenklich ächzte. »Das Taxi wird in wenigen Minuten da sein.« Philip Ravenmoor nickte und verzog die Mundwinkel zu einer Geste, die man durchaus als Lächeln - wenn auch ein mehr oder weniger erzwungenes - bezeichnen konnte. »Danke.« Äußerlich wirkte Ravenmoor recht gelassen, doch die Dringlichkeit seiner Reise gab dazu keinerlei Anlass. Zuviel Unvorhergesehenes war in zu kurzer Zeit geschehen. Ohne Denninghams Analysen wäre das Wirken der dämonischen Entität mit Namen Amalnacron der Loge überhaupt nicht aufgefallen. Und vielleicht war es sogar schon zu spät. Denn jetzt mussten die versprengten Mitglieder der Loge der Höllenjäger reagieren, statt zu agieren. Eine denkbar ungünstige Ausgangsposition. Doch darüber würde er sich mit Edward Jordan noch ausführlich unterhalten. Die Stimme seines Gegenübers holte den Kurier des geheimnisvollen Denningham-Cartlewood wieder in die Wirklichkeit zurück. »Ihr Taxi, Sir.« Die Stimme des Mannes war eine Spur zurückhaltender geworden. Wahrscheinlich war er eingeschnappt, weil Ravenmoor sich nicht mehr mit ihm unterhalten hatte. Doch darauf konnte dieser keine Rücksicht nehmen. Es galt, unverzüglich Kontakt mit Jordan aufzunehmen. * Die Taxifahrer in dieser Gegend schienen nicht besonders redselig zu sein. Das war es auch nicht, was Philip Ravenmoor störte; unbehaglich 17
war ihm eher der strenge, musternde Blick des Fahrers im Rückspiegel. Stocksteif saß er am Steuer, sah nur hin und wieder in den Fond. Die Fahrt dauerte etwa fünfzehn Minuten. Mehr als drei Meilen waren sie dabei kaum gefahren. Die Beförderungsgebühren allerdings spiegelten dieses Verhältnis in einer Weise wider, die Ravenmoor nicht den Bruchteil eines Augenzwinkerns daran zweifeln ließ, dass man sich in diesem Landstrich bedenkenlos an Auswärtigen zu bereichern versuchte. Trotzdem zahlte er ohne Murren, stieg aus und warf dem Fahrer einen bezeichnenden Blick zu. Der zuckte ungerührt die Achseln und gab Gas. Ravenmoor sah sich kurz um. Crowthorne wirkte leidlich belebt. Ab und zu kreuzte ein Wagen die Straße. Die Passanten an der Main Road konnte man an den Fingern einer Hand abzählen. Ein ungutes Gefühl beschlich Denninghams Gesandten. Nicht die Art von Unbehaglichkeit, wie er sie in dem Cab verspürt hatte, nein, es war der schmerzende Eindruck einer gegenwärtigen Bedrohung, die zwar noch unsichtbar, dafür jedoch äußerst beängstigend war. Ravenmoor fühlte sich beobachtet. Als würde – jemand? - auf Schritt und Tritt nicht von seiner Seite weichen... sich in seinen Gedanken einnisten. Wenn er jetzt nicht aufpasste, würde er das Fremde kaum unter Kontrolle halten können. Schließlich besann er sich auf das Essentielle seiner Mission. Er benötigte ein Verkehrsmittel. Natürlich hätte er die Strecke bis Kensington mit dem Taxi zurücklegen können, doch er wollte auch an seinem Zielort weiterhin mobil bleiben. Nicht weit entfernt prangte das Logo der Autovermietung. Als Ravenmoor sie betrat, umschwirrte ihn fast augenblicklich ein dienstbeflissener Angestellter.
So dramatisch kann es mit dem Ansturm auf die Mietwagen wohl doch nicht sein. Mit ironischem Lächeln stellte er seinen Aktenkoffer
auf einem Schreibtisch ab. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sich der Clerk in aufdringlicher Höflichkeit. »Vielleicht möchten Sie unseren Fuhrpark besichtigen...« Der Verkäufer wies voraus, doch irgendwie konnte Philip Ravenmoor sich nicht auf das Gespräch konzentrieren. Die Manifestation 18
einer unerklärlichen Wesenheit machte sich allzu deutlich bemerkbar. Er fühlte sich förmlich seziert unter dem rasiermesserscharfen Skalpell eines Unbekannten. Erschrocken zuckte er zusammen. »Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?« Der Clerk wirkte sichtlich betroffen. Anscheinend war er ein exzellenter Schauspieler. »Schon gut«, beschwichtigte Ravenmoor. »Es ist nichts.« Auf dem Freigelände der Autovermietung standen annähernd dreißig Fahrzeuge. Ravenmoor wollte einen schnellen, agilen Sportwagen. »Ich nehme den Probe.« »Sie mögen schnelle Autos?«, fragte der jugendlich wirkende Verkäufer mit gewinnender Miene. »Dann haben Sie genau die richtige Wahl getroffen. Einhundertfünfunddreißig Meilen Spitzengeschwindigkeit, ABS, Airbags, Sportsitze. - Die übliche US-Norm. Höhenverstellbare Sitze, elektrische Fensterheber...« »Ich nehme ihn«, griff Ravenmoor beinahe händeringend ein. »Ich denke, ich kann die weiteren Vorzüge des Wagens in der Gebrauchsanleitung nachlesen.« »Ganz ausgezeichnet.« Der routinierte Clerk ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Dann brauche ich lediglich noch Ihren Personalausweis und ein paar Unterschriften. Dann können Sie starten.« Wieder erlebte Philip Ravenmoor die Situation als Unbeteiligter, der vor einem Monitor saß und dem Geschehen darauf nur mittelmäßige Aufmerksamkeit schenkte. Im Nu war der Händler mit dem Ausfüllen der Formulare fertig, obwohl mehrere Minuten vergangen waren, die Ravenmoor nicht zur Kenntnis genommen hatte. Leicht benommen sah er auf, als sein Gegenüber ihn - zum wiederholten Male...? - ansprach. »Ihre Unterschrift, Sir.« Es hörte sich fordernd an, so, als wollte der Sprecher keinesfalls seine Anfrage aufs neue formulieren. Halb abwesend unterzeichnete Ravenmoor. Das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, verstärkte sich. »Ich stelle Ihnen einen Scheck über den Betrag aus.« »Natürlich«, kam es zurückhaltend. »Das ist kein Problem.« 19
Eilig steckte Philip Ravenmoor die Schlüssel ein, die der Verkäufer ihm reichte. »Gute Fahrt!« Er nahm es nicht bewusst zur Kenntnis und verließ das Gebäude. Doch selbst als er in dem Ford die Main Road entlangfuhr war es ihm, als hätte er einen unsichtbaren Begleiter. Fünfundzwanzig Meilen Fahrtstrecke lagen vor ihm. Ravenmoors Gesicht bekam einen grimmigen, entschlossenen Ausdruck. Zusammen mit Edward wollte er die Siegelkammer öffnen! *
Frankreich Dominique Beaumont hatte einen mehr als anstrengenden Arbeitstag gehabt und war froh, als die Tür ihres Lyoner Appartements hinter ihr ins Schloss fiel. Kraftlos schlenderte sie ins Schlafzimmer und warf sich, alle Viere von sich gestreckt, aufs Bett. Heute war Montag und Dominique besaß eine, wie sie stets behauptete, ausgeprägte Abneigung für diesen Tag. Dass sie ihn aber richtig hassen könnte, wäre ihr nicht so schnell eingefallen. Stress, Hektik, nörgelnde Kollegen und unzufriedene Kunden hatten ihren Sekretariatsjob zum Alptraum werden lassen. Jede Stunde hatte sich qualvoll in die Länge gezogen. In leichtem Erschrecken dachte die Französin daran, dass ein beachtlicher Stapel unbearbeiteter Akten liegen geblieben war. Wenn sie morgen zur selben Zeit nach Hause kam mochte es mit der Gewissheit geschehen, dass diese Woche zwei Montage hatte. Zehn Minuten lag die Frau mit dem kurzen, aber vollen schwarzen Haar regungslos auf dem Plumeau, versuchte abzuschalten. Schließlich setzte sie sich auf, streifte die hochhackigen Lackschuhe von den müden Füßen und begann, sich zu entkleiden. Nackt tappte sie ins Badezimmer und stellte die Dusche an. Als das Wasser die richtige Temperatur hatte, verschwand sie hinter dem dunkelgrünen Vorhang. Eine knappe Viertelstunde später tastete ihre Hand nach dem Badetuch, das über einem Metallbügel hing. Sie frottierte sich kurz ab 20
und ging zurück ins Schlafzimmer, wo sie sich vor den Spiegel ihres Kleiderschrankes stellte. Ihr selbstkritischer Blick tastete jeden Zentimeter ihres Körpers peinlichst genau ab. Ihre Handflächen legte sie unter die kleinen, festen Brüste, hob diese leicht an. Wo nicht viel ist, kann später auch nicht viel hängen, überlegte Dominique diplomatisch und war an sich recht zufrieden mit dem Ergebnis. Ihr Freund mochte diesen knackigen Busen mit den niedlichen Warzen. An Bauch und Taille gab es ebenfalls so gut wie nichts auszusetzen. Ihre siebenundfünfzig Kilo verteilten sich recht ansprechend. Alles saß an der richtigen Stelle. Ihr ganzer Stolz war der Po. Die apfelförmigen, strammen Backen, das feste Fleisch. Die Muskulatur ließ sich sogar bei der Arbeit spielend trainieren, ohne dass irgendwer auch nur das Geringste mitbekam. Dominique Beaumont zog sich einen String an. Anschließend wollte sie den Anrufbeantworter abhören. Vielleicht hatte ihr Freund Gerard eine Nachricht hinterlassen. Er war an sich der einzige, der die zweiunddreißigjährige Sekretärin an diesem Abend noch aufheitern konnte. Sie spulte das Band zurück und drückte die Starttaste. »Bonjour, Mademoiselle Beaumont. Loussard, Banque Centrale de Lyon. Ich möchte Sie dringend bitten, bei uns vorstellig zu werden. Geben Sie mir Bescheid, damit wir einen Termin vereinbaren können, s'il vouz plait. Vielen Dank.« Dieses Arschloch!, dachte Dominique erbost. Der lässt mich glatt antanzen, um mir den Dispokredit zu kündigen. Die Französin hatte in den letzten Monaten ein wenig über ihre Verhältnisse gelebt. Erst die Anzahlung für den Wagen, dann die neue Couchgarnitur. Ganz abgesehen von einem ausgefallenen Abendkleid, das sie in einer sündhaft teuren Boutique erstanden hatte. Das Aufzeichnungsband gab ein Knacken von sich, dann folgte der zweite Anruf. »Hallo, Cheri. Ich bin's. Gerard. Tut mir leid, Täubchen, aber heute bin ich verhindert. Ich muss länger in der Firma bleiben und der 21
Chef hat mir noch einen Berg Arbeit für zu Hause aufgebrummt. Ich mach's wieder gut. Versprochen. Tausend Küsse.« Mit einer schroffen Handbewegung stellte Dominique Beaumont das Band ab. »Merde!«, fluchte sie ungeniert. »Es will aber auch nichts klappen! Was fange ich bloß mit diesem Abend an...?« Ärgerlich stemmte sie die Arme in die Polster der Couch. Dann fiel ihr auf, dass sie immer noch oben ohne dasaß. Wieder im Schlafzimmer holte sie aus der Bettkommode ein schwarzes T-Shirt hervor, zog es über den Kopf und bemerkte, dass es ein wenig knapp saß, den Bauchnabel freiließ und sich über den Brüsten spannte. Optisch wirkte es ziemlich aufreizend. Leider würde heute niemand vorbeischauen, der das zur Kenntnis nehmen konnte. Leicht deprimiert holte die Französin aus dem Wohnzimmerschrank eine angebrochene Flasche Remy Martin hervor. Er würde ihr den Abend - und die Nacht - etwas erträglicher machen. Mit halbgefülltem Cognacglas trat sie ans Wohnzimmerfenster. Von hier aus konnte sie die Uferpromenade einsehen. Die Menschen nutzten den sommerlich anmutenden Spätnachmittag, um einfach an der Rhone spazieren zu gehen. Dominique Beaumont kippte einen großen Schluck aus ihrem Glas die Kehle hinunter und setzte sich vor den Fernseher. Es war kurz vor halb sechs. In wenigen Minuten würde TV 5 eine Musiksendung ausstrahlen. Allerdings reflektierte der Bildschirm das orangerote Licht der tief stehenden Sonne störend. Die junge Frau musste erneut aufstehen und die Jalousien herunterdrehen. Zurück auf der weich gepolsterten Couch zog sie die Beine an und stützte sich auf den rechten Ellbogen. In der Linken hielt sie den Weinbrand. Ein durchdringendes Scheppern ließ sie wie unter Schmerzen zusammenzucken. »Mon dieu! Was ist das für ein schrecklicher Lärm?« Die dunkelhaarige Sekretärin hatte genau registriert, dass das Poltern aus der Küche gekommen war. Sie konnte nur von hier aus nicht hineinsehen. 22
Außerdem war es dunkel geworden. Das lag nicht an den Jalousien. Dominique drehte sie beunruhigt wieder hoch. Der Himmel hatte sich extrem bewölkt. Fast schlagartig war die Nacht hereingebrochen. Mit angespannten Sinnen schlich die Frau barfuss in die Küche. Was sie sah, ließ sie verzweifeln. »Oh, non! Mein schönes Porzellan!« Die Keramikfliesen waren übersät mit Scherben. Die Türen der Hängeschränke standen weit offen, als hätten sie ihren Inhalt ausgespieen. An mehreren Stellen waren die Wandkacheln gesprungen. Der Verlust des liebevoll gehüteten Tafel- und Kaffeeservice trieb ihr die Tränen in die Augen. Behutsam sammelte sie die Bruchstücke ein und häufte sie in einer Nische auf. Es klirrte lautstark und es war der Französin, als würde ihr jemand einen Eiszapfen ins Herz treiben. »Was ist denn nun schon wieder los?« Die Worte kamen nicht aus Verblüffung, sondern aus Angst. In solchen Situationen vermag der Klang der eigenen Stimme das Gemüt zu beruhigen. Dieser Effekt blieb allerdings aus. Eisige Kälte schlug ihr aus dem Schlafzimmer entgegen, als Dominique Beaumont die Klinke der Tür hinunterdrückte und eintrat. Der Kleiderschrank mit der Spiegelfront war umgekippt, die Matratze aus dem Bettgestell gerissen, die Daunendecken zerfetzt. Doch da war noch mehr! Aus dem breiigen Grau des Zimmers schälte sich eine Gruppe von Gestalten, deren verwaschene Konturen menschenähnlich wirkten. Dabei waren sie einmal fast transparent mit fahlweißem, diffusem Umriss, das andere Mal finster wie der Raum und nur dadurch überhaupt wahrnehmbar, dass die Außenränder der Silhouetten noch schwärzer waren als das Schwarz der Nacht, das sich drohend über die Stadt gelegt hatte. In Dominique stieg Panik auf. Sie starrte in zahllose wabernde Öffnungen in den Gesichtern ihrer ungeladenen Besucher, aus denen lang gezogene Klagelaute drangen. Und genau diese furchtbaren Laute machten das Angst einflößende Szenarium perfekt. 23
Zitternd wich die Frau zurück. Mit den bloßen Füßen trat sie in etwas Feuchtes, Kaltes. Sie stolperte halbwegs, wollte sich an der Wand abfangen und merkte, dass sie lediglich auf einen nachgiebigen Widerstand traf. Ihre Hände versanken in klebrigem Schleim. Noch bevor die verstörte Französin sich umdrehen konnte, um das Phänomen zu ergründen, wurde sie von der Wand ihres Schlafzimmers verschluckt! * Nachdem er über zwei Stunden in den Wohnräumen für Ordnung gesorgt, sich zwischenzeitlich telefonisch im Krankenhaus nach dem Zustand seiner Mutter erkundigt hatte und anschließend noch ein wenig im Garten tätig geworden war, hielt Richard Jordan es für hoch an der Zeit, eine Ruhepause einzulegen. Die kleinen Anstrengungen hatten ihm gut getan. Vor allen Dingen hatten sie ihn abgelenkt. Von den Schrecken, die die Villa heimgesucht hatten. Von seinem Vater, der tot war und doch irgendwo - irgendwie - weiterexistierte. Von Amalnacron, dem Wesen, das Richard beim besten Willen nicht beschreiben konnte. Er wusste weder was er - oder es...? - war, noch woher er kam. Und schon gar nicht, wie man ihn aufhalten konnte. Das Ritual der Verpuppung des Dämons in - mein Gott, in was?! - war auf das Wirken dieses Verwachsenen zurückzuführen, über dessen wahre Identität sich Richard immer noch im Unklaren war. Dennoch schien er seinen Vater gekannt zu haben. Der Hass auf Edward Jordan reflektierte sich nun auf den Sohn. Mehr hatte Richard den spärlichen Äußerungen des Krüppels nicht entnehmen können. Und weder von ihm noch von Amalnacron gab es eine Spur, nachdem eine grelle Explosion beide scheinbar ausgelöscht hatte. Dass zumindest der Dämon noch lebte, spürte der Siebenundzwanzigjährige mit jeder Faser seines Körpers. Vielleicht war nach seiner Besessenheit etwas in dem Studenten zurückgeblieben. Etwas, das wie ein loses Band zwischen ihm und Amalnacron war. Richard fand keine andere Erklärung. Der Kristall, gingen seine Gedanken zurück zu der Erzählung seines Vaters. Es fällt mir schwer zu glauben, dass es sich um einen... 24
Stein handeln soll. Wie kann er solche Macht haben? Richard zögerte, aber nur kurz. Und Vater hatte davor Angst. Angst vor diesem Relikt, das die Zeitalter der Menschwerdung überdauert hat und ihm in der Gegenwart zum Verhängnis wurde. - Ich muss mehr wissen... wissen, worauf ich mich einlasse...
In der Bibliothek gab es Dokumente, die Richard bisher nicht eingesehen hatte. Er hoffte nur, dass er sie lesen konnte. Aus Erfahrung wusste er, dass Edward Jordan durchaus exotische Schriftstücke angesammelt hatte, deren Ursprung im Orient, Indien, Südamerika oder dem Nahen und Fernen Osten zu suchen war. Oder - Richard schauderte - dort, wohin sich noch nie ein Mensch gewagt hatte! Wohin noch nie ein Mensch hatte gehen können! Auf dem Weg zur Bibliothek kam Richard an dem an der Südseite des Living-rooms gelegenen Fenster vorbei. Er bemerkte die wehenden Gardinen und eine huschende, schattenhafte Gestalt hinter der Scheibe. Ohne weiteres Zögern stürzte er zu dem spaltbreit geöffneten Fenster, riss es auf und versuchte, einen Blick auf den vermeintlichen Eindringling zu erhaschen. Es war niemand mehr da! »Mister Ravenmoor?«, rief Richard einer plötzlichen Eingebung folgend. Es war durchaus möglich, dass er geklingelt und Richard - in Gedanken vertieft - den Türgong überhört hatte. Natürlich hatte der Mann auf sich aufmerksam machen wollen, ohne gleich einzubrechen. Ungewollt zuckte Richard Jordan zusammen. Seine Beine fühlten sich kraftlos an, als wollten sie ihn nicht mehr lange tragen. Dann ertönte tosendes Gepolter, das jegliches andere Geräusch übertönte. Richards Herz klopfte bis zum Hals. Seine Sinne schlugen Alarm. Ravenmoor hatte damit nichts zu tun. Hier war jemand anders Zugange; jemand, der kein Mensch sein konnte! Die Zeit tropfte träge dahin. Doch es wollte sich nichts Außergewöhnliches mehr ereignen. Die Ursache des Getöses blieb ungeklärt. Richard fand einige zerstörte Dekorationsgegenstände und seltsam deformierte Trophäen, Reisemitbringsel aus Thailand. Sie allein deuteten darauf hin, dass unbegreifliche Kräfte am Werk gewesen waren. 25
Der Student wusste nicht, was er unternehmen sollte. Dumpf pochte es zwischen seinen Schläfen. Möglicherweise konnte auch erst Philip Ravenmoor die entscheidenden Impulse beisteuern, um den gespenstischen Phänomenen zu begegnen. Bis dahin würde er sich in die Bibliothek zurückziehen. Ein flüchtiges Lächeln umspielte die Mundwinkel des jungen Mannes, wenn er daran dachte, welche Kaltschnäuzigkeit er übernatürlichen Phänomenen mittlerweile entgegenbrachte. Ebenso gut wusste er natürlich um seine Hilflosigkeit. Er war allen Angriffen wehrlos ausgeliefert. Was blieb ihm da noch als Gelassenheit, wollte er nicht an seiner eigenen Furcht zugrunde gehen... In der Bibliothek umfing ihn sofort das vertraute Halbdunkel, das dem Lesezimmer die mystische Faszination eines gut behüteten Schatzes verlieh. Eigentlich wusste Richard nicht so recht, wonach er suchen sollte. Ziellos schritt er die hohen Regalwände ab. Seine Augen streiften Bücher mit den unterschiedlichsten Titeln. Drei oder vier zog er hervor, überflog die ersten Kapitel und stellte sie zurück. Sie alle bedeuteten ihm nichts. Allerdings stellte er alsbald fest, dass es ein bestimmtes Ordnungssystem gab. Da war eine Horizontale mit rein geschichtlichen Sachbüchern beziehungsweise Dokumenten mit Geschichtsbuchcharakter. Eine stichprobenartige Überprüfung hatte Richard in seiner Annahme bestätigt. Die direkt darunter beginnende waagerechte Buchreihe beleuchtete dieselben Themen aus einem ganz anderen Blickwinkel. Und es handelte sich tatsächlich um - Fakten! So jedenfalls stellte es sich dem Sohn des Archäologen beim Studieren mehrerer Einleitungstexte dar. Das war kein aufbereitetes Seemannsgarn, sondern ungeschönte Realität. Sie ergänzte die bekannte Geschichtsschreibung und schuf weiten Raum zur Neuinterpretation, hatte jedoch niemals, Zugang erhalten zum offiziellen Vermächtnis zeitgenössischer Chronisten. Edward Jordan musste sein gesamtes Leben damit verbracht haben, diese Raritäten auf seinen unzähligen Dienst- und Forschungsreisen zusammenzutragen. Einige mussten ein Vermögen gekostet haben. Wieder andere hatten unrechtmäßig den Besitzer gewechselt. Vielleicht steckten geheime Gruppierungen oder Sekten dahinter, die bereits eine Hetzjagd auf die Diebe - oder die neuen Eigentümer! 26
veranstalteten. Die Brisanz dieser äußerst farbigen Mischung aus verschollenem, antikem - und wahrscheinlich sogar darüber hinausgehendem - Gedankengut mochte die Welt für immer verändern.
Ich bin auf der richtigen Fährte. Richard blieb vor einem Einband stehen, der ihn wie selten einer zuvor in seinen Bann zog. Das rote Leder wirkte irgendwie blass, als hätten sich unter der Oberfläche Wasserbläschen gebildet. Und genauso fühlte es sich an. Schwammig und feuchtwarm. Auf dem Buchrücken war der Schriftzug in bestem Englisch abgefasst. Oder dachte er nur, dass es Englisch war? Warum misstraute er plötzlich seiner Sinneswahrnehmung? Weshalb beschäftigte er sich mit derart absurden Gedanken? - Und wieso fand er keine Antwort auf diese mehr oder weniger einfachen Fragen? Ein weiteres Mal betrachtete er den Titel, wanderten seine Augen die gedruckten Lettern ab, ohne einer Täuschung zu erliegen (...?): WELTEN AM ABGRUND Es war eine Reise durch geschichtliche Großepochen der menschlichen Entwicklung über einen Zeitraum von mehr als fünfzehntausend Jahren. Dem Geleitwort entnahm Richard, dass es sich um - und er sprang einige Zeilen zurück, um sich zu vergewissern, keiner neuerlichen Täuschung erlegen zu sein - den Augenzeugenbericht eines Mannes handelte, der den Werdegang der atlantischen, sumerischen und ägyptischen Kultur sowie die nachfolgende Ausdehnung des Christentums darlegte und damit eine Beschlagenheit offenbarte, die in keiner noch so spekulativen Form in Literatur und Geschichtsforschung widergespiegelt wurde. Begriffe wie Polsprung und elektromagnetische Nullzone tauchten auf. Es war die Rede von morphogenetischen Feldern, im Untergrund wirkenden Fremdrassen und dem tatsächlichen Zweck der Pyramiden und anderer rätselhafter Bauwerke. Der Leser erhielt einen umfassenden Eindruck vom allgegenwärtigen Wirken destruktiver sowie ordnender Mächte, die das Schicksal aller Menschen, jedoch auch das des Einzelnen, entscheidend mitbestimmten. Begriffe wie Zufall, Glück, Karma oder Vorsehung erhielten eine völlig neue Begriffsbestimmung. Gleichfalls die Rolle der Menschheit im kosmischen Gefüge. 27
Ob er es wollte oder nicht: Richard erlag dem unwiderstehlichen Bann des Werkes. Erschreckend und fesselnd zugleich waren die Beschreibungen und unerwarteten Eröffnungen. Irgendwann legte der Sohn des Archäologen das Buch benommen beiseite. Wenn auch nur ein Bruchteil des Geschriebenen der Wahrheit entsprach, dann musste das bekannte Weltbild mit all seinen naturwissenschaftlichen Fundamenten von Grund auf neu definiert werden. So wertvoll die gewonnenen Eindrücke auch sein mochten, es fanden sich keinerlei Hinweise auf die Loge der Höllenjäger oder einen entfernt verwandten Themenkomplex. Andererseits hatte er alle Zeit der Welt. Er brauchte die Geheimnisse der letzten Jahrtausende nicht an einem Tag zu ergründen. Mit diesem Gedanken wollte er die Lektüre des Buches erneut aufnehmen... ... doch da war es vorbei mit der Ruhe! Es begann mit dem lang gezogenen Geräusch knirschend zerriebenen Schotters und endete - vorerst - mit einem Donnerschlag, den man am besten beschreiben konnte, wenn man sich vorstellte, dass zwei gigantische Stahlplatten mit verheerender Wucht aufeinander geschlagen wurden. Es war, als würde die Erdkruste unter der Renaissance-Villa aufbrechen. Richard wankte und verlor das Gleichgewicht. Den Sturz fing er mit den Händen ab; das umstürzende Regal jedoch erwischte ihn ungebremst. Er schrie gequält auf. Sein Brustkorb schien zerdrückt zu werden. Die eintretende Atemnot lahmte den jungen Mann. Er konnte sich nicht bewegen, bekam kaum Luft. Ohne, dass er es verhindern konnte - und auch wollte - stieg in ihm Panik auf. Nur ein geradezu übermenschlich anmutender Kraftakt brachte ihn dazu, seinen verkeilten Körper unter dem schweren Regal hervorzuziehen. »Teufel auch!«, keuchte Richard, schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Jetzt geht's aber wirklich los!« Erschöpft kam er auf die Beine und stützte sich an einer Schrankwand ab. Das Brüllen und Brausen in seinen Ohren hielt unvermindert an. Dabei streifte ihn ein Hauch eisiger Kälte, dass er wie unter Schock zusammenzuckte und es ihn bis ins Mark fröstelte. Fast, als wäre ein 28
Kälte verströmendes Etwas geradewegs durch seinen Körper gefahren. Bunte Farben flackerten vor seinen Augen. Übelkeit stieg in dem siebenundzwanzigjährigen Studenten auf. Die Belastung für Körper und Geist war einfach zu groß. Undeutlich meinte er verschwommene Schemen zu erkennen, die an der Einrichtung der Bibliothek vorbeischnellten. Merkwürdige Laute, Klagegeräuschen ähnlich, drangen an sein Ohr. In dem brausenden Orkan war es mehr als schwierig, ein Wort herauszuhören. Aufgrund seiner allgemeinen Verfassung konnte Richard sich auch kaum konzentrieren. Der Schmerz wütete in seinen Knochen. Prellungen mochten noch das Harmloseste sein, was er sich zugezogen hatte. Und die alten Wunden waren noch kaum verheilt. Doch darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Wenn er nicht augenblicklich handelte - das spürte er gleich einem Widerhaken in seinen Eingeweiden -, dann würde es seinen Tod bedeuten. Oder Schlimmeres! Raus aus der Bibliothek!, pochte es in Jordans Kopf. Es gab nur eine einzige Tür und kein Fenster. Hier saß er unweigerlich in der Falle. Alles in ihm schrie, sich einfach fallen zu lassen und den Schmerzen nachzugeben, egal, was kam. Die Folter würde ein gnädiges Ende nehmen... Richard verhielt. Die Pein schwoll ab. Das Dröhnen in seinem Kopf reduzierte sich auf einen unterschwelligen Druck. Es tat so gut... NEIN! Wie ein zu rächendem Leben erwecktes Raubtier zerschmetterte das Wort die hemmenden Gedanken. In Richards taube Muskeln kehrte pulsierend heißes, sauerstoffreiches Blut zurück. Ein Schub Adrenalin wurde freigesetzt. Seine Nerven ignorierten den Schmerz in den Knochen, als er auf die Tür zusprang, sie aufriss und mit einer hastigen Rechtsdrehung in den Flur stürzte. Hinter dem Jungen schlug die Tür donnernd ins Schloss, verfehlte ihn nur um Zentimeter und hätte ihm gewiss die Beine abgetrennt. Unsanft knallte Richard mit der Stirn aufs Parkett, hatte nicht mitbekommen, wie knapp er der Verstümmlung entronnen war. Seine Lider blinzelten unkontrolliert. 29
Der Klagegesang verstärkte sich. Die geisterhaften Schatten schwirrten wie mordlüsterne Insekten umher. Sie schienen nicht auf die Bibliothek fixiert, glitten durch Möbel, Türen und Wände.
Behalte einen klaren Kopf!, redete Richard sich zu, stemmte sich auf die Unterarme und wollte sich aufrichten. Als es in den Rückenwirbeln knackte, ließ er sich mit verzerrtem Gesicht auf die Seite fallen. Seine Linke tastete nach seiner Hüfte. Der fünfarmige Leuchter im Living-room löste sich knirschend aus der Verankerung, hinterließ ein mehr als kopfgroßes Loch in der Decke und zersplitterte unter infernalischem Bersten am Boden. Putz löste sich von den Wänden, als hielte jemand auf der anderen Seite einen Presslufthammer dagegen. Die Keramikfliesen wölbten sich auf und zerplatzten. In Schränken, Vitrinen und auf Tischen schienen Glas und Porzellan regelrecht zu explodieren. Richard duckte sich unter dem Scherbenregen. Wenn er nicht aufpasste, konnten die Schrapnelle ihm lebensgefährliche Verletzungen beibringen. Aus dem Mauerwerk spritzten Beton und Mörtel. Scharfkantige Bruchstücke jagten gleich Stahlmantelgeschossen umher. Was sie trafen, zerbarst unter dem zerstörerischen Aufprall. Stille! So abrupt, dass der Übergang genauso weh tat wie halb erfrorene Hände unter lauwarmem Wasser. Schlag auf Schlag war alles vorbei, als wäre nie etwas geschehen! Es dauerte fast eine ganze Minute, ehe Richard wieder hochkam. Er stand inmitten eines furchtbaren Schlachtfeldes. Das zermürbende Trommelfeuer aus Bersten, Splittern und Zerplatzen hallte noch lange in seinen Ohren nach. Auf zitternden Knien wankte der junge Mann über die Trümmer hinweg. Wer besaß die Macht, etwas Derartiges zu bewerkstelligen? Wollte man ihn tatsächlich auf diese Weise töten? Dass Amalnacron im Hintergrund agierte, stand unzweifelhaft fest. Er sah in ihm - Richard - eine zukünftige Gefahr, wollte verhindern, dass er ein Mitglied der Loge der Höllenjäger wurde. 30
Richard machte den Fehler zu glauben, dass die akute Gefahr gebannt war. Erst der - nicht unbekannte - kühle Luftzug, der ihn provokativ streifte, zeigte ihm, dass er immer noch nicht alleine war. Wie von der Tarantel gestochen wirbelte der Mann herum. Und da sah er sie wieder! Halbtransparente Schemen, die sich in seinem Rücken aufgebaut hatten und eine undurchdringliche Wand bildeten. Ihre drohende Haltung war unverkennbar. Sie standen in lautloser Formation da, ohne sich zu bewegen. Das Klagen ihrer Stimmen war verstummt. Jordan wich einige Schritte zurück. Alles in ihm verkrampfte sich. Jeden Sekundenbruchteil erwartete er einen Angriff. Von seinem momentanen Standpunkt aus hatte der Siebenundzwanzigjährige einen guten Blick auf die ausladende Marmortreppe, die ins Obergeschoß führte. Mehr unbewusst schaute er hinauf, um sich nach allen Seiten hin abzusichern, obwohl er die Phantome nicht aus den Augen lassen wollte. Doch diese gerieten zur Nebensächlichkeit! Richards Herz wurde zu einem toten Klumpen gefrorenen Fleisches. Über seinen Rücken liefen tausende Spinnenbeine. Die Kaltblütigkeit, derer er sich noch vor kurzem gerühmt hatte, verdorrte zu einem ächzenden Rinnsal im glutheißen Flussbett geifernder Phobien. Am Kopf der Treppe war ein weiteres Schemen aufgetaucht. Er stand allein da in vollkommener Reglosigkeit. Das war es aber nicht, was Richard bis auf den Grund seiner Seele erschreckt hatte. Dieses Schattenbild unterschied sich in einem prägnanten Detail von den anderen... Man konnte sein Gesicht erkennen! Wieder stach das Entsetzen in Richards Brust. Er kniff die Augen zusammen, um einen klareren Blick zu erhalten. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Vielleicht spielten seine überstrapazierten Sinne ihm einen Streich. Du irrst dich nicht!, hallte es in seinem Schädel wider, als wären es die Wände eines gewaltigen Gewölbes. In diesem Augenblick wünschte sich Richard nichts mehr, als eine alles verschleiernde Ohnmacht. Natürlich blieb sie aus und da war nur 31
noch das Grauen, das seinen Verstand betäubte, aber - wie in hinterhältiger, boshafter Ironie - ihn nicht kollabieren ließ. Das gespenstische Wesen oben an der Galerie war Edward Jordan, sein Vater...! * Der Probe lag wie ein Brett auf der Straße. Ravenmoor spielte ein wenig mit dem Gaspedal und lag mitunter bei achtzig Meilen pro Stunde. Für Geschwindigkeitsüberschreitungen würde Denningham-Cartlewood aufkommen. Den Führerschein hingegen würden sie ihm abnehmen. Er besann sich und drosselte das Tempo auf knappe sechzig Meilen. Auf der 30 kam er ziemlich schnell voran. Er kreuzte den M3, der bei Kingston auslief, ließ den Heathrow Airport links liegen und befand sich alsbald in den Londoner Außenbezirken. Während der gesamten Fahrt spürte Ravenmoor mal mehr, mal weniger die Aura eines fremden Geistes. Den ganzen Tag schon hatte er diesen - unangenehm war nicht der treffende Ausdruck, kam ihm jedoch näher, als das Gegenteil davon - Eindruck. Irgendetwas umgab ihn, durchdrang ihn. Denninghams Kurier bekam eine Gänsehaut, obwohl ihn parapsychische Phänomene schwerlich beeindruckten. Plötzlich verlor er für wenige Augenblicke die Kontrolle über den Wagen. Wesentlich länger brauchte er, um zu verstehen, was vorgefallen war. Das fremde Bewusstsein hatte ihn verlassen! Fast fluchtartig! Dieses überstürzte Entweichen hatte vorübergehend Ravenmoors Reaktionsvermögen beeinträchtigt. Jetzt hatte er wieder alles im Griff. Der Probe lag stabil in der Spur. Nicht weit voraus die Abfahrt nach Kensington. Philip Ravenmoors Gedanken blieben stets an demselben Punkt hängen: Gefahr war im Verzug! Und die Jordans waren das Ziel! * 32
Edward Jordan schwebte langsam, ganz langsam, die Treppenstufen hinunter. Die Erscheinung sprach kein einziges Wort. Umso erschreckender war das vor Bösartigkeit verzerrte Gesicht. Richard blieb nichts weiter übrig, als zurückzuweichen. Die Situation war ihm nicht geheuer. Dad, du hast echt schon liebenswerter dreingeschaut, konstatierte er innerlich und bedauerte noch mit demselben Gedanken seinen närrischen Sarkasmus. Wenn nur endlich dieser Ravenmoor auftauchen würde! Sicher konnte er die Lage besser einschätzen. Und gezielter reagieren! Respektvoll blieb der Student auf Distanz. Beim Rückwärtsgehen stolperte er über Bruchstücke zertrümmerten Mobiliars und Scherben. Vor der Tür zur Bibliothek hatten sich die Schemen wie zu einer Mauer aufgebaut.
Sie wollen mich in eine bestimmte Richtung dirigieren. Die Erscheinung mit Edward Jordans Aussehen kam dem Fuß der Treppe immer näher. Der Keller!, schoss es Richard durch den Kopf. Wenn er es bis dahin schaffte, konnte er ungehindert durch die aufgebrochene Fensteröffnung ins Freie gelangen. Alle anderen Ausweichmöglichkeiten waren ihm versperrt. In zwei knappen Sätzen sprang er um die Treppe herum. Dabei kam er... seinem Vater? so nahe, dass ihn dessen gespenstische Aura innerlich frieren ließ. Er schüttelte sich und war mit zwei weiteren Schritten bei der Kellertüre. Der gezimmerte Rahmen hatte sich durch die Erdstöße verzogen, doch mit einem kraftvollen Tritt flog die Tür nach innen auf. Hastig stürzte Richard die Stufen hinunter. Seine Nackenhaare stellten sich auf, als spürte er bereits den kalten Atem des alten Jordan in seinem Genick.
Nur nicht umdrehen! Keine Sekunde verlieren! Sie waren direkt hinter ihm! Sein Vater und die Schemen. In Ge-
danken stellte sich der junge Mann vor, über die Schulter zu blicken geradewegs in die formlose Fratze eines der Geistwesen. 33
Stur hielt er seine Augen nach vorne gerichtet, jagte um Ecken und Winkel, bis er diesen bestimmten Raum erreichte. Sein Unterbewusstsein traktierte ihn mit grausigen Erinnerungsfetzen, ließ ihn noch einmal die massive Holztür zerschlagen und aus den Fugen reißen. Amalnacron hatte eine willfährige Puppe aus ihm gemacht. Und Richards Gedächtnis gab in diesen Sekunden die Informationen frei, als betrachte er sie durch eine Laterna magica: grell flimmernd, sich kunterbunt überschlagend, den Sehnerv malträtierend. Wertvolle Sekundenbruchstücke war er abgelenkt. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend sah Richard nun doch hinter sich. Sie hatten ihn noch nicht ganz erreicht! Doch es würde knapp werden. Wie erwartet war das Fensterkreuz aus dem Fundament gebrochen. Der Zugang zum Garten lag vor dem Jungen. Und doch hielt ihn etwas zurück, sagte ihm, dass das nicht der richtige Weg war. Richard zeigte sich irritiert. Was sollte er tun? Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung in dem dämmrigen Kellerflur. Ein flüchtiges Huschen. Edward Jordan! Sein Vater! Er war jetzt fast bei ihm! Der Student wurde zerrissen von widerstrebenden Emotionen. Die - wenn auch nur Lidschläge währende - Unschlüssigkeit zerrte brutal an den Synapsen seiner Existenz. Nachfolgend konnte Richard Jordan nicht mehr sagen, was ihn in diesen entscheidenden Augenblicken dazu bewegt hatte, sein Augenmerk in eine Richtung zu lenken, einen unbedeutenden Winkel, dem er noch nie in seinem Leben irgendwelche Beachtung geschenkt hatte und - seltsam! - von dem er bis heute gar nicht gewusst hatte, dass es ihn überhaupt gab. Die Zeitspanne, vor den nebulösen Gespenstern zu fliehen, wurde rasend schnell kürzer. Die Chance zu entkommen stetig kleiner. Trotzdem wollte Richard diese unscheinbare architektonische Ungereimtheit genauer untersuchen, auch, wenn es unter den gegebenen Umständen durchaus der Vermutung weites Spiel eingeräumt hätte, dass er den Verstand verloren hatte. 34
Das ist der richtige Weg! Richard verschwand in den Schatten. Ohne eigenes Zutun öffnete sich die Wand vor ihm, wurde durchlässig und zeigte ihm einen Raum, den er noch nie gesehen hatte. Die Dunkelheit zersplitterte. Die Finsternis wich dem Licht. Eine strahlende Scheibe erschien im Zentrum der Kammer, drehte sich um ihre Längsachse. Sie schimmerte rotgolden. Auf der Frontwölbung prangten geometrische Symbole wie Blumen, deren ausgestreckte Blätter sich ineinander verschlungen. Der Traum!, schrie es in Richards Bewusstsein. Die Vision ist Wirk-
lichkeit geworden!
Erschrocken blickte er zurück zum transparenten Gemäuer, dessen Grundstruktur lediglich zu ahnen, aber immer noch vorhanden war. In wenigen Schritten Entfernung verharrte die halb durchsichtige Gestalt seines Vaters, wirkte unentschlossen, ob sie den Raum betreten sollte. Oder konnte! Das Gesicht des Verstorbenen zuckte eigenartig, wechselte das Aussehen, als hätte jemand einen Stein in das Wasser geworfen, in dem es sich spiegelte. Dennoch musste Richard sich eingestehen, dass es seine Bösartigkeit - zumindest hatte er diese in die Miene hineininterpretiert - verloren hatte. Auf den ersten Blick... Richard wandte sich der rotierenden Scheibe zu. Bereits nach wenigen Sekunden stellte er entsetzt fest, dass er die verschlungenen, mathematischen Gebilde, die, einer erhabenen Prägung nicht unähnlich, die Oberfläche des Siegels bedeckten, nicht mehr aus den Augen lassen konnte, obwohl er wirklich krampfhaft versuchte, einen neuen Fixpunkt zu finden. Irgendetwas baute sich auf. Ein Energiefeld. Gleißend hell. Spitz zulaufend. Dann entrückte sich sein Blick. Die Sinne schalteten langsam ab. Viel zu spät erst nahm er die erregte Stimme von außerhalb seines Wahrnehmungsbereiches auf und konnte beim besten Willen nicht sagen, wie lange sie bereits auf ihn eingeredet hatte. Selbst jetzt waren die Worte lediglich gestaltlose Substanzen im aufquellenden Dämmschaum emotionaler Eruptionen, deren Sinngehalt Laut für Laut analysiert werden musste. Bis Richard die Botschaft verstand. »Um Gottes willen! Raus aus dem Tetraeder!« 35
Auf Richards Stirn zeigten sich Runzeln. Unglaublich träge quoll sein Geist durch die Ritzen aufbrechender Illusion in den Bereich rationaler Wahrnehmung über. Und mit der schwindenden Betäubung kam die Panik! »Bei allen Göttern, Richard! Spring aus dem Feld!« Den letzten Satz aber konnte der Sohn des Archäologen schon nicht mehr hören! * Der Ruf ereilte Philip Ravenmoor, als er am wenigsten damit rechnete.
Philip! Die Stimme war nicht mehr als ein Hauch in einem Wust sich überschlagender Gedanken. Ravenmoor drosselte die Geschwindigkeit des Probe und horchte in sich hinein. Etwas Vertrautes schwang in dem Wort mit. Etwas, das er lange nicht mehr gehört hatte. »Edward...?«, fragte er unsicher. »Bist du das, Edward?« Ich habe wenig Zeit, kam die prompte Erwiderung. Hör mir ein-
fach zu und stell' keine Fragen. Und dann handle!
Ravenmoor nickte, obwohl sein Gesprächspartner das wahrscheinlich gar nicht sehen konnte.
Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch unter Kontrolle habe. Eine böse Macht greift nach meiner Seele und zwingt mir Dinge auf, gegen die ich mich nur noch unbestimmte Zeit lang wehren kann. Mein Sohn Richard ist in Gefahr! In ernster Gefahr! Ich konnte ihn nicht mehr warnen! Er wird die Siegelkammer finden...! »Das will ich auch! Was ist...?«
Frag' nicht! Es ist etwas eingetreten, was wir niemals für möglich gehalten haben. Die positiven Kräfte des Kammerbewusstseins wurden ins Gegenteil verkehrt. Es beginnt unaufhörlich zu entarten! »Himmel!«, entfuhr es Ravenmoor. Dabei versuchte er, den Sportwagen weiter in der Spur zu halten. »Wie konnte das geschehen? Du hast doch...« 36
Es ist geschehen! Frag' nicht wie. Wichtig ist, dass du meinem Sohn... sonst... hast... verstanden? »Edward! Unsere Verbindung wird gestört. Du musst dich deutlicher ausdrücken...!« ... nicht mehr... Hilf Richard! Ich... nein... neeiiiin!!! »Verdammt!«, fluchte Ravenmoor und gab Gas. Er steuerte den Sportwagen rasant, aber präzise durch Kensington. Die Dringlichkeit von Edwards Aufruf war ihm durchaus bewusst. Jetzt musste alles sehr schnell gehen. Der Probe ging heftig in die Knie, als Ravenmoor im spitzen Winkel die Auffahrt zur Jordan-Villa hoch preschte. Die straffe Federung gab die Wucht direkt von der Straße an die Lendenwirbel des Fahrers weiter. Denningham-Cartlewoods Bote presste nur kurz die Zähne zusammen, trat das Gaspedal noch einmal durch und ging sofort auf die Bremse. Das Heck des roten Ford brach fast gleichzeitig aus. Ravenmoor lenkte gegen, riss mit der Rechten an der Handbremse, machte eine Dreivierteldrehung und brachte den Mini-Boliden zwei Handbreit vor dem Mauerwerk in einem Asternbeet zum Stehen. Die Fahrertür flog auf. Philip Ravenmoor konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Wenn Edwards Sohn tatsächlich mit dem entarteten Siegelbewusstsein in Kontakt trat, war die Katastrophe vorprogrammiert. Der Junge war auf eine derartige Konfrontation nicht vorbereitet. Wahnsinn oder Tod würden die Folgen sein. Bestenfalls... Ravenmoor betätigte mehrmals hintereinander den Türgong. Als niemand öffnete und sich das ungute Gefühl in ihm weiter steigerte, wollte er sehen, ob er an anderer Stelle das Gebäude betreten konnte. An der Südseite der Villa entdeckte er ein nur angelehntes Fenster bei der Terrassentür, stellte jedoch fest, dass es sich nicht weiter öffnen ließ. Ein Geräusch, das sich am besten mit dem Bersten einer mehrere Zoll starken Schiffsplanke vergleichen ließ, trieb Ravenmoor einen kurzen, aber heftigen Schrecken in die Glieder. Das kommt von der Frontseite, wusste er sofort und hastete los. Noch im Laufen hatte er den Eindruck, dass jemand seinen Namen rief. Flüchtig hielt er inne... bis eine heftige Erschütterung des Bodens 37
folgte. Im Innern des Hauses wurde Poltern laut. An der Außenwand rieselte Mörtel hinab. Verwirrt hob Ravenmoor den Kopf, um nach der Regenrinne zu sehen, die sich an einigen Stellen aus der Verankerung gelöst hatte. Wieder eine Erschütterung. Diesmal stärker. Philip Ravenmoor wankte, sah aber aus den Augenwinkeln noch den Schatten, der sich vom Dach löste und auf ihn zustürzte. Bevor er noch erkennen konnte, um was es sich handelte, spürte er auch schon den Schlag gegen seinen Kopf. Er torkelte. Weiße Flecken tanzten vor seinen Augen. Rücklings fiel er in eine Hecke, glitt daran herab zu Boden und verlor für unbestimmte Zeit die Besinnung. Als er wieder zu sich kam, war es ihm nicht möglich zu sagen, wie viel Zeit vergangen war. Ravenmoor raffte sich auf. Dem zerschmetterten Dachziegel, der ihn niedergestreckt hatte, schenkte er nur einen Lidschlag Aufmerksamkeit. Er durfte jetzt nicht länger zögern. Der hoch gewachsene Mann mit den energischen Gesichtszügen war im Begriff, die Haustür kurzerhand einzutreten, als er den verbogenen Metallknauf und das deformierte Schloss registrierte. Ein leichter Druck mit der Handfläche ließ die Massivholztür nach innen schwingen. Chaos und Verwüstung empfingen ihn. Eine Eisenzwinge wollte seinen Herzmuskel zermalmen. Jemand - oder etwas! - hatte Richard vor ihm gefunden. In Windeseile übersprang Ravenmoor umgestürzte Möbel- und andere Bruchstücke, bis er den Fuß der Treppe erreichte. Sie war das Zentrum des Parterregeschosses; von hier aus konnte man an jeden Punkt des Gebäudes gelangen. Doch wo sollte er suchen? Gänzlich unvermittelt stockte sein Atem. Erst glaubte er, einem Trugbild aufgesessen zu sein, doch dann war er sich sicher, dass das, was er sah, auch wirklich existierte. Eine Reihe von fahlweißen Schemen hatte sich vor Edwards Bibliothek postiert. Wie stumme Wächter verharrten sie dort, ihre Gesichter und Körper unscharf, verschwommen. 38
Ravenmoor wusste, dass er von ihnen nichts Gravierendes zu befürchten hatte. Es waren lediglich Projektionen der Astralebene, materielos und damit nur indirekt fähig, in irgendein Geschehen einzugreifen. Trotz allem war Vorsicht geboten. »Richard!« Ravenmoor erhoffte sich am ehesten eine Reaktion, wenn er den Namen des Jungen rief, bevor er ihn in der unüberschaubar großen Villa zu suchen begann. Vielleicht konnte dieser ihm antworten. Er wurde enttäuscht... DA! - Geräusche! Ganz plötzlich und unerwartet! Und sie kamen aus dem Keller! Siedendheiß perlte die Erkenntnis an den empfindlichen Wänden seines Bewusstseins hinab. Er kannte das Haus relativ gut. Edward hatte ihn vor einigen Jahren ein- oder zweimal herumgeführt und seiner Familie als Geologen aus Neuseeland vorgestellt. Es war zu jener Zeit gewesen, als der Archäologe erstmals mit der Loge der Höllenjäger in Berührung gekommen war. Oder anders ausgedrückt: als Denningham-Cartlewood nicht mehr anders gekonnt hatte, als mit ihm Kontakt aufzunehmen. Die Gründe waren mannigfaltiger Natur; der Industrielle hatte sie selbst Ravenmoor gegenüber nur oberflächlich erwähnt. Eilends spurtete Philip Ravenmoor um die Treppe herum und stand vor der geöffneten Kellertür, die sich in quietschenden Scharnieren wie unter dem Einfluss eines unbegreiflichen Luftzuges hin und her bewegte. Ohne Zögern stürzte er hinunter. Sekunden konnten nun von entscheidender Bedeutung sein. Während er die Stufen übersprang, hörte er Schritte - nur ganz kurz. Als sie verhallten war es ruhig... unangenehm ruhig! Ravenmoor versuchte, seinen keuchenden Atem zu beruhigen, um die bedrückende Stille besser sondieren zu können. Er wusste nur zu genau, wo er sich befand. Vor ihm lag die Siegelkammer, versetzt um eine Ebene, die um neunzig Grad aus der dritten Dimension herausgedreht und um einen Oberton erhöht war. Dem Betrachter zeigte sich lediglich die nackte Backsteinwand der realen Villenarchitektur. 39
Zum wiederholten Male an diesem Tag wollte Philip Ravenmoor an seinem Verstand zweifeln. Doch seine intensive Schulung ließ den Mann überraschend schnell die bedrohliche Situation erfassen. Die Kammer hatte sich wahrhaftig geöffnet. Und dieser junge Narr - Edwards unbedarfter Sohn - stand bereits unter dem Einfluss der Energiefeld-Geometrie. »Um Gottes willen!«, brüllte Ravenmoor totenbleich. »Raus aus dem Tetraeder!« Der junge Jordan schien zur Besinnung zu kommen. Ravenmoor war nur noch wenige Schritte entfernt. »Bei allen Göttern, Richard! Spring aus dem Feld!« Es war bereits zu spät! Denninghams Gesandter würde den Jungen nicht mehr erreichen. Ein wirbelnder Strudel gleißender Farben explodierte in einem kaskadenähnlichen Inferno. Und aus diesem Gewirr nicht fassbarer Unordnung, kristallisierte sich Edward Jordans Gesicht heraus. Es schimmerte blassblau. Die Züge spiegelten Gefühle wider, deren Intensität eine sterbliche Seele niemals würde begreifen können. Hass, Liebe, Schmerz, Lethargie - all diese emotionalen Extreme eingefasst in den edelmetallenen Ring ektoplasmischer Bedrohung. Edward...? Ein - Geist!, stöhnte Ravenmoors überforderter Verstand. War er... tot...? Hatte die letzte Kontaktaufnahme tatsächlich über die Astralebene stattgefunden? Die Erscheinung zerfloss zu einem nebelhaften Nichts und löste sich auf. Auch Richard wurde durchscheinend und verschwand. Der Junge hat keine Chance!, dachte Ravenmoor bitter. Ich muss
ihm folgen!
Ohne weiteres Überlegen stürzte Ravenmoor sich in die brodelnden Gewalten. Seine Augen fixierten die sich wahnwitzig drehende Scheibe durch die gegenläufig rotierenden Kraftlinien des Sterntetraeders. Die Körper und Figuren darauf erstarrten in seinem Gedächtnis zu den farbigen Schlieren einer langzeitbelichteten Momentaufnahme. Dann ließ er die Welt, wie wir sie kennen, hinter sich! *
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Deutschland Der Regen prasselte in dicken Tropfen herunter. Die Scheibenwischer des grünmetallicfarbenen Audi A4 waren nicht mehr in der Lage, für klare Sicht zu sorgen. Günther Wegener presste einen deftigen Fluch durch die Zähne und trat in kurzen Intervallen auf die Bremse. Bei diesem Sauwetter konnte er unmöglich noch weit fahren. Es war einfach zu gefährlich, auch, wenn die Autobahn zu dieser Zeit und an diesem Sonntag wenig befahren war. Es würde ratsam sein, die nächste Raststätte anzufahren und abzuwarten, bis die sintflutartigen Regenfälle auf ein erträgliches Maß abgeklungen waren. Das allerdings konnte seinen Zeitplan beträchtlich durcheinander bringen. Günther Wegener war Geschäftsführer einer renommierten süddeutschen Immobilienfirma und auf dem Weg von Nürnberg nach Hamburg. Ein bedeutender, lukrativer Auftrag sollte bereits am kommenden Vormittag abgeschlossen werden. Wegener wollte persönlich bei den Entscheidungsträgern des neuen Großkunden die letzten Zweifel zerstreuen, die in diesem Stadium das Geschäft vielleicht doch noch zunichte machen konnten. Er hatte es daher für vernünftig erachtet, einen Tag früher loszufahren, um ausgeruht und entspannt zu den finalen Verhandlungen zu erscheinen. Ein Flug wäre ihm bedeutend lieber gewesen, doch so kurzfristig hatte er kein Ticket mehr bekommen können. Undeutlich war durch die dicken Regenschleier ein Hinweisschild auszumachen. Wegener glaubte, ein Raststättensymbol und den Vermerk ›5 km‹ erkannt zu haben. Mit knapp fünfzig Stundenkilometern rollte der Wagen über den gefluteten Asphalt. In einer Stunde - mit etwas Glück - konnten sich die Witterungsverhältnisse schon wieder normalisiert haben. Der Immobilienhändler riskierte einen flüchtigen Blick auf die Digitaluhr in der Mittelkonsole. Zwanzig nach zwei! In spätestens achteinhalb Stunden musste er in Hamburg sein. Und genau genommen hätte er noch drei bis vier Stunden schlafen müssen. Aber das konnte er jetzt wohl abschreiben. Er war zu spät 41
von zu Hause aufgebrochen. Die anstehende unfreiwillige Pause hatte er natürlich auch nicht einkalkuliert. Plötzlich reflektierte der Rückspiegel ein grelles Scheinwerferpaar. Mit für diese Straßen- und Sichtverhältnisse irrsinniger Geschwindigkeit raste ein gischtender Schatten an dem Audi vorbei. Günther Wegener schüttelte den Kopf. Dafür war ihm sein Leben zu schade, um es bei einer halsbrecherischen Fahrt aufs Spiel zu setzen. Zudem traf es dann meistens auch noch Unbeteiligte. Einigen Verkehrsteilnehmern schienen derlei Überlegungen anscheinend völlig gleichgültig zu sein. Etwa vier Minuten später sah er die Zufahrt zur Raststätte und lenkte den Wagen vorsichtig auf die Abbiegerspur. Es schüttete immer noch wie aus Eimern und entsprechend dürftig war die Sicht. Wegener orientierte sich an der Außenbeleuchtung des Geländes und dem Lichtschein, der - wie er nur vermuten konnte - aus dem Inneren des Gebäudes nach draußen fiel. Er entdeckte sogar einen Parkplatz in unmittelbarer Nähe des Eingangs. Ein paar mal atmete er tief ein und aus. Dann stieß der Mann die Fahrertür auf, sprang nach draußen und schlug die Tür in derselben Bewegung auch wieder zu. Ein tollkühner Satz beförderte ihn zu dem überdachten Vorplatz des Gasthauses. Nicht einmal fünf Sekunden mochte die gesamte Aktion gedauert haben und trotzdem fühlte sich Günther Wegener wie ein durchnässter Pudel. Mit der Linken strich er sich die Haare nach hinten und das Wasser aus dem Gesicht. Ein Druck auf die Fernbedienung verschloss den A4. Dann schritt er durch die Drehtür. Wie ein Fausthieb schlug ihm die Wärme entgegen. Die rauchverhangene Luft war durchsetzt von diversen Küchengerüchen. Fast augenblicklich perlten dicke Schweißtropfen über Wegeners Stirn. So stellte er es sich in den Tropen vor. Erst der Duft von frischem Kaffee, den er genüsslich in seine Nase zog, besänftigte ihn wieder einigermaßen. Er wirkte ein wenig ungelenk, als er sein Jackett abstreifte und über einen Garderobenbügel hing. Das mochte daran liegen, dass er bereits über zweieinhalb Stunden stocksteif hinter dem Lenkrad gesessen hatte. Seine Knochen waren regelrecht eingerostet. Er marschierte 42
zur Theke, stützte sich mit dem rechten Ellbogen auf und winkte knapp. Hinter dem Tresen lief gelangweilt eine übernächtigte Bedienung auf und ab. Sie hatte nicht allzu viel zu tun um diese Zeit. Außer Wegener befanden sich noch acht Personen im Gastraum. Zwei davon stufte der Geschäftsführer als Fernfahrer ein. Er wusste nicht einmal genau zu sagen, warum. Vielleicht war es die Kleidung der Männer. Diese groben Flanellhemden mit den großen Karomustern. Dazu verwaschene, ausgebeulte Jeans. Vielleicht war es aber auch der Ausdruck ihrer Gesichter, während sie den heißen - und wie Günther Wegener hoffte starken - Kaffee schlürften: abwesend, gelangweilt, müde. Es schien unwahrscheinlich, dass das Getränk an den beiden ersten Zuständen etwas ändern konnte. Wahrscheinlich würden sich die zwei innerhalb kürzester Zeit in ihrer Fahrerkanzel aufs Ohr hauen. »Einen Kaffee, bitte«, sagte Wegener an die Dame mit den angedeuteten Augenringen gerichtet. Wortlos wurde ihm eine Tasse gereicht. Aus einer halbvollen Kanne schüttete die Frau ein. »Milch und Zucker können Sie sich von hier nehmen«, erklärte die Bedienung ohne Regung und mit einer Stimme, die auf dem schmalen Grad zwischen erzwungener Höflichkeit und unterdrückter Ablehnung wandelte. Dabei zeigte sie auf ein Kännchen mit verhärteten, gelblichen Rändern und eine Zuckerschale, in der sich bräunliche Klümpchen gebildet hatten. »Ich trinke ihn schwarz«, meinte Wegener freundlich und setzte ein Lächeln auf. »Auch gut«, winkte die Frau kaltschnäuzig ab, wobei sie schon in eine andere Richtung guckte. Sodann ergriff sie einen feuchten Lappen und begann mit kleineren Reinigungsarbeiten. Wegener mutmaßte, dass ihre Geschäftigkeit lediglich daher rührte, sich nicht auf ein Gespräch einlassen zu müssen. Es war ihm reichlich egal. Ihm stand der Sinn sowieso nicht nach einer Unterhaltung. Mehr aus Ermangelung einer anderen Beschäftigung machte Wegener sich die Mühe, auch die restlichen Besucher unter die Lupe zu nehmen. Zwei Männer und eine Frau saßen in einer Rundecke. Alle drei unterhielten sich angeregt, nippten zwischendurch an ihren Cap43
puccino-Tassen und dem Wasserglas. Die beiden Herren wirkten südländisch; ihre Gesichter waren gebräunt, Wangen- und Kinnbärtchen scharf ausrasiert. Sie trugen schwarze Ledermäntel, die Brünette auf der äußeren Ecke der Sitzbank eine helle Felljacke. Ihr Haar hing in dicken, wie verklebt wirkenden nassen Strähnen am Kopf herunter. Sie konnte nicht lange vor Wegener das Rasthaus betreten haben. Die Stiefeletten hatte sie ausgezogen und trocknete ihre Füße an der Luft. Auf das Nicken eines Südländers hin drehte sie den Kopf und starrte in das Gesicht des Immobilienmaklers, nur um sofort die Augen wieder zu senken und sich ihren Gesprächspartnern zuzuwenden. Wegener fühlte sich ertappt. Er hatte wohl all zu auffällig in die Richtung des Trios geschaut. Dieses Ehepaar nahm er daher nur oberflächlich in Augenschein, um am Ende seiner Kopfdrehung an einer Frau hängen zu bleiben, die allein an einem Tisch in der hintersten Ecke des Gastraumes saß und verträumt in ein weites Nichts blickte, in dem wohl nur sie etwas zu erkennen vermochte. Günther Wegener erkannte das milde Lächeln auf den harmonischen Zügen dieser Person, die sonderbar entrückt und dabei beneidenswert zufrieden wirkte. Unwillkürlich musste Wegener dieses Lächeln, das nicht ihm galt, erwidern. Es hätte ihn wirklich gefreut, wenn die dunkelhaarige Dame in der Outdoor-Kleidung ihn bemerkt und angesehen hätte. Sie tat es nicht. Sie rührte abwesend in einem Porzellanbecher und konzentrierte sich ganz auf die Eindrücke ihrer Welt. Irgendwie schmeckte der Kaffee nicht sonderlich. Das lag allerdings weniger an seiner Qualität, sondern eher an der schleichenden Erkältung, die der Immobilienhändler sich eingefangen hatte. Mitunter machte sie sich unangenehm bemerkbar. Er putzte sich die Nase. Richtig freiwerden wollte sie nicht. Zudem verspürte er ein lästiges Kratzen im Hals. Ein kleines bisschen Pech würde genügen, damit er in zwei Tagen die wunderschönste Grippe hatte. »Kann ich mich bitte irgendwo frisch machen?«, erkundigte sich Günther Wegener bei der emsigen Dame am Tresen. »Die Toiletten sind im Nebenraum«, antwortete sie monoton ohne aufzusehen. 44
Suchend sah sich Wegener um, entdeckte jedoch keine Tür, die zu dem beschriebenen Raum führte. Traumhaft!, dachte er. Also muss ich außen rum gehen. Der heftige Regensturz hatte um keinen Deut nachgelassen. Einzig positiv war die kühle, frische Luft, die seine Lebensgeister wieder auf Trab brachte. Und doch fröstelte es ihn plötzlich. Eisige Kälte fuhr ihm durch die Glieder, die nicht der Wind mit sich gebracht hatte. Genau in seiner Blickrichtung leuchtete irgendetwas - für Sekundenbruchteile nur unnatürlich hell auf und blendete ihn. Gequält kniff er die Augenlider zusammen. Und als er erneut hinsah, war auch das Licht verloschen. Sicher eine defekte Lampe, suchte er nach einer plausiblen Erklärung. Was er im Anschluss beobachtete, war allerdings kaum mehr mit Logik erklärbar. Eigenartig, überlegte er. Eine kalte Hand griff nach seinem Herzen. Er hatte eine Beobachtung gemacht, die den Gesetzen der Physik grundlegend widersprach. Da waren diese vorbeihuschenden Nebelfetzen. Wie aus dem Nichts. Und sie trieben entgegen der Windrichtung! Unmöglich!, begehrte Wegeners Verstand energisch auf. Indes konnte er das, was seine Augen ihm vorführten, kaum leugnen. Regen, Kälte und Dunkelheit - dazu diese eigentümlichen Phänomene - ergaben eine Mischung, der Günther Wegener, auch, wenn er sich dagegen sträubte, nur mit einer einzigen Reaktion begegnen konnte... er empfand Angst! Nicht einfach nervöse Unbehaglichkeit, nein, richtige Angst! Nach und nach zerstoben die dunstartigen Schwaden. Der Immobilienmakler wollte aufatmen... ... da vernahm er - zaghaft und leise, dennoch erschreckend klar diese - fremdartigen! - Geräusche. Fremdartig deshalb, weil sie einfach nicht in diese Umgebung passen wollten. Es klang nach dem Stampfen übergroßer Fabrikmaschinen, in denen sich gewaltige Kolben und Zylinder ineinander schoben. Die akustische Kulisse wurde untermalt von fauchendem Zischen, als würde ganz in der Nähe unter extrem hohem 45
Druck ein Schwall kochenden Dampfes in die Atmosphäre ausgestoßen. Heiße Regentropfen klatschten in Wegeners errötetes Gesicht. Er verstand die Welt nicht mehr. Lieber wollte er auf eine Erfrischung im Waschraum verzichten und sich in die relative Sicherheit der Gaststätte zurückbegeben. Wenn er erst wieder unter Menschen war, würde ihm das Erlebte in einem gänzlich anderen Licht erscheinen. Günther Wegener drehte sich unbeholfen um und wollte sich der Drehtür zuwenden... Er wollte - doch die Tür war nicht mehr da! Eine Wand aus Wasser hatte sich vor ihm aufgebaut. Doch sie war nicht der Grund dafür, dass der durchnässte Mann nicht mehr den Weg zurück zur Raststätte fand... ... die Drehtür war schlicht verschwunden! Und mit ihr das gesamte Gebäude! Es war einer jener spärlich gesäten Momente, in denen man Zeuge wird, wie unterschwellige Furcht sich in verzehrende Panik verwandelt. Dem eingefleischten Single pochte das Herz bis zum Hals. Er hatte das Gefühl, als wollte es seine Brust sprengen. Keuchend rang er nach Luft und spürte den undefinierbaren, irgendwie metallischen Geschmack des Regenwassers auf seiner Zunge. Er taumelte einige Schritte zurück, bis ihm die Beine den Dienst versagten und er wie eine Marionette, deren Fäden ein unsichtbarer Puppenspieler mit scharfer Klinge durchschnitten hatte, zusammenbrach. Ziellos kroch der Unternehmer durch aufgeweichten Morast, gab brabbelnde Töne von sich und nahm gar nicht mehr wahr, dass sich sein Verstand allmählich umwölkte. Er war allein in einer Welt, die nicht mehr die seine war; ein Überbleibsel, das nicht mehr darstellte als einen geduldeten Fremdkörper in einer menschenfeindlichen Umgebung. Jedoch war auch dieser Eindruck nicht von Dauer. Vor Günther Wegeners verschleiertem Blick tanzten wieder diese diffusen Schleier, die seine erniedrigte Existenz zusätzlich zu verspotten schienen. 46
Auf einmal schloss sich das gähnende Regenloch. Die morastigen Pfützen versiegten. Verwirrt fuchtelte Wegener mit den Händen vor seinem Gesicht herum, als müsste er klebrige Spinnfäden entfernen. Der Geschäftsführer schluchzte vor Freude. Alles war wieder beim alten. Seine Kleidung war trocken. Auch das Rasthaus stand da, wo es stehen sollte. Beinahe liebevoll strich Günther Wegener mit den Fingerkuppen über den Stoffbezug des Fahrersitzes. Heiße Tränen rannen ihm über das Gesicht und hinterließen eine salzige Spur auf seinen Lippen. Das Donnern der imaginären Maschinen war verhallt. Die Nebelphantome hatten sich aufgelöst. Nur der Regen prasselte unvermindert heftig. Doch die paar Schritte bis zum Rasthof würde er unbeschadet überstehen. Er war ja nicht aus Zuckerguss. Ein paar mal atmete er tief ein und aus. Dann stieß der Mann die Fahrertür auf und sprang nach draußen. Nicht einmal fünf Sekunden und Günther Wegener fühlte sich wie ein durchnässter Pudel. * Der Horizont wurde von einer zerklüfteten Bergkette verdeckt, deren Gipfel sich tief in die schwarzgrauen Wolken bohrten. Es war ein düsteres Bild, das das Gefühl von Kälte und Einsamkeit vermittelte. Die Leblosigkeit, die von den steinernen Riesen ausging, konnte in ihrer beklemmenden Intensität nirgendwo anders auf dem Globus in dieser zermürbenden Weise spürbar sein. Irgendetwas lauerte dort oben, was jenseits von Leben und Tod war und seine finstere Aura über den gesamten Landstrich erstreckt hatte. Wie ein furchtbarer Schatten, der das Leben selbst erstickte. Ebenso ungewöhnlich erschien die vollkommene Abwesenheit von Geräuschen. Die Landschaft wirkte wie ein Stillleben, das ein besessener Künstler auf eine Leinwand gebannt und jeglicher Vitalität beraubt hatte. Das einzige Fragment dieses Gemäldes, das eine eigene Dynamik entwickelte, war ein Mensch, der an sich nicht hierhin gehörte. 47
Befangen musterte Richard Jordan den Ort, an dem ihn die rotierende Scheibe ausgespieen hatte. Dass etwas in dieser Art vorgefallen war, reimte der Student sich nach eingehender Überlegung zusammen. Es hatte ein räumlicher - möglicherweise auch ein zeitlicher Transfer stattgefunden. Wo aber befand er sich? Und wie kam er wieder zurück? Ohne eine Begründung dafür zu haben, wusste Richard mit nahezu untrüglicher Sicherheit, dass die Antworten irgendwo dort oben in den wolkenverhangenen Bergkuppen zu finden waren. Ebenso sicher spürte er eine unheilvolle Präsenz, legte sich das kaum erträgliche Wissen unsäglicher vor ihm liegender Gefahren schwer auf sein ohnehin angeschlagenes Gemüt. Seine Gedanken wollten nicht mehr zueinander finden, wurden festgehalten von kleistrigem Gespinst, das sich zu einem Netz hassdurchtränkter Finsternis verdichtete, deren innewohnende Abscheu der menschlichen Existenz gegenüber sich wie der dampfend stinkende Inhalt eines verdorbenen Magens über den Jungen zu ergießen drohte. Jordan zitterte. Wie ein Grippeinfekt überrollten ihn Wogen des Unwohlseins, der körperlichen Schwäche. Er musste die Angst niederkämpfen und sich den Elementen des Schreckens stellen, wenn er seine eigene Welt wieder sehen wollte. Doch genau davor empfand er unbeschreibliches Grauen. »Ich weiß, was in dir vorgeht, Junge.« Erschrocken fuhr Richard herum. Sogleich fiel sein Blutdruck jedoch wieder auf normales Niveau. Die Gestalt, der er nun Auge in Auge gegenüberstand, machte auf ihn keinerlei bedrohlichen Eindruck. Im Gegenteil. Sie strahlte einen Einfluss aus, den Richard als... beruhigend empfand. Nur zwei, drei Sekunden vergingen, bis der Siebenundzwanzigjährige seine Vermutung offen aussprach: »Mister Ravenmoor?« Der Fremde nickte. Es sah nicht so aus, als ob diese Eröffnung ihn auch nur im geringsten erstaunte. »Geht es dir gut?«, erkundigte Ravenmoor sich mit echter Anteilnahme und legte ihm die Handflächen auf die Schultern. Sein Griff war energisch und fest. 48
»Jaja«, ächzte Richard und massierte mit Mittel- und Ringfingern die Schläfen. Seine Antwort stand in krassem Widerspruch zu seinem äußeren Anblick. »Irgendetwas will meinen Verstand zermürben... Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.« »Du wirst lernen, deinen Geist zu kontrollieren, wenn du erst ein Höllenjäger bist«, erwiderte Philip Ravenmoor. Er biss sich auf die Unterlippe. Es war nicht der geeignete Ort für tief schürfende Eröffnungen. Und schon gar nicht der richtige Zeitpunkt. »So wie mein Vater?«, sagte Richard unbeabsichtigt verächtlich. »Was hat es ihm genützt? Was wird es mir nützen...?« »Du wirst unsere Geschichte kennen lernen«, beschwichtigte der große Mann mit den gemeißelten Gesichtszügen. »Früher oder später wird es sich sowieso nicht vermeiden lassen, dir die ganze Wahrheit zu erzählen. Nicht einmal Edward hat sie gekannt...« Ravenmoor holte sich seine rasante Autofahrt von Crowthorne nach Kensington ins Gedächtnis zurück, hörte noch einmal die telepathische Stimme Edward Jordans, sah sein halbtransparentes Gesicht im Umfeld der Siegelkammer. Ja, es gab keinen Zweifel. Der Freund war von ihm gegangen. Sofort hatte sich Ravenmoor wieder im Griff, blickte Richard eindringlich an. »Ich muss dich warnen. Wer einmal den Weg der Layshi-Pan eingeschlagen hat, für den gibt es kein Zurück mehr!« Layshi-Pan!, hallte das Echo in Richards Kopf wider. Er kannte diesen Begriff aus einer langen Erzählung seines Vaters. Aus ihnen waren die Höllenjäger hervorgegangen. Damals war der Grundstein für die Loge gelegt worden. »Gibt es für mich denn überhaupt noch ein Zurück?«, zweifelte Richard. »Ich habe Dinge erlebt, die die meisten Menschen sich nicht einmal vorstellen können. Und Amalnacron wird keine Ruhe geben, bis er auch mich getötet hat...« »Das wäre noch die gnädigste Variante, die der Dämon auswählen könnte.« Ravenmoor wirkte äußerlich gelassen, doch sein Innerstes bebte. Er durfte Richard die Situation nicht beschönigen, ihn in zweifelhafter Sicherheit wiegen. »Ich bin mir nicht sicher, was mit Edward 49
geschehen ist. Aber bete, Junge, dass du sein Schicksal nicht teilst.« Er machte eine kurze Unterbrechung, um seine Worte wirken zu lassen. »Amalnacron ist irgendwo dort draußen, in einer Zustandsform, die wir nicht kennen. Ausgerüstet mit einer Macht, die sich unserem Begriffsvermögen entzieht. - Wir müssen sofort etwas unternehmen! Er hat uns bereits zu weit in die Defensive gedrängt!« »Ich bin kein Höllenjäger!«, zischte Richard mit schneidender Stimme. Auf jeder Silbe lag eine scharfe Betonung. »Was erwarten Sie von mir? Ich habe keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll, was ich tun kann. Ich habe doch im Grunde genommen mit der Loge nichts zu schaffen. Ich könnte mich umdrehen und einfach nach Hause gehen...« Die Hand Ravenmoors wies voraus. »Bitte, dann geh'.« Erst in diesem Augenblick kam Richard wieder zu Bewusstsein, wo sie sich befanden. Er schalt sich einen Narren, eine derartige Äußerung von sich gegeben zu haben. »Du kannst dich nicht mehr verkriechen«, fuhr der Gesandte Denningham-Cartlewoods unbeeindruckt fort. »Das hast du nie gekonnt. Schon von Geburt an nicht. Es geht alles seiner Bestimmung entgegen. Und davon bist du ein nicht unwesentlicher Bestandteil.« Nur diese wenigen Worte sollten den jungen Jordan noch sehr lange beschäftigen, ohne dass er ihren Sinngehalt auch nur im Ansatz hätte begreifen können. »Was also werden wir unternehmen?« Ravenmoor gab darauf keine direkte Antwort, sondern wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand auf die entfernt liegenden Gipfel, die nichts von ihrem bedrohlichen Äußeren verloren hatten und im Widerschein des trüben Tageslichts das Grauen, das sie beherbergten, deutlich reflektierten. »Das ist unser Ziel. Nur dort werden wir eine Möglichkeit finden, diese Dimension zu verlassen... überhaupt irgendwohin zurückzukehren.« »Wie können Sie sich so sicher sein?« Richard fühlte sich bei dem Gedanken, diese schrecklichen Berge aufzusuchen, seltsam unbehaglich. 50
»Ich fühle es«, gab er unumwunden zu und sein Blick verlor sich in weiter Ferne, wirkte merkwürdig entrückt. »Und du hast es auch gespürt. Schon in den ersten Sekunden deiner Materialisation.« Verdammt, er hat recht! Richard war eigentümlich berührt. Wie
kann er das geahnt haben...?
»Jeder denkt dasselbe, wenn er die Berge das erste mal zu Gesicht bekommt«, erklärte Ravenmoor lakonisch, als hätte er die Gedanken seines Schützlings gelesen. »Jeder hat automatisch die Vermutung, dass das kleine Massiv untrennbar mit seinem Schicksal verknüpft ist. Alle haben sie... - auf unheimliche Weise - recht.« »Wo werden wir die Siegelkammer finden? Ohne sie ist der Kampf gegen Amalnacron aussichtslos.« In Ravenmoors Gesicht zeigte sich ein unergründliches, jedoch nur angedeutetes Lächeln. »Mein Freund, du hast sie bereits gefunden.« »Was soll das heißen?«, entgegnete Richard, ungehalten über die spärlichen Informationen, die der Mann ihm gab. Doch dann verstand er. »Dieser Raum im Keller... war das etwa...?« »Ja - und nein. Vielleicht ist der Begriff Kammer ein wenig unpassend und verwirrend. Es handelt sich nicht um einen Raum im üblichen Sinne. Es ist vielmehr eine Ebene mit etlichen Abzweigungen. Viele Orte sind von dort aus zu erreichen. Und viele Zeiten. Wenn man den... Mechanismus kennt...« »Also ist die Siegelkammer in den Kellerraum eingebettet.« »Sie liegt darüber. Auf der der dritten Dimension direkt übergeordneten Stufe. Wenn du so willst auf dem nächsten Oberton einer dimensionsverbindenden Tonleiter. Wie Dutzende weitere in aller Herren Länder. Einige sind bekannt, andere an unerreichbarer Stelle verborgen oder schlichtweg verschollen. Ein Höllenjäger kann über das Siegelbewusstsein Kontinuum übergreifende Frequenzen stimulieren. Das ermöglicht es ihm, an einem exakten Punkt innerhalb des bekannten mehrdimensionalen Rasters auszukommen. Unsere Reise hingegen war völlig unkontrolliert und nicht vom Geist der Kammer gesteuert. Vergleiche es mit der Justierung des UKW-Senders an einem Radio, allerdings ohne Frequenzeinteilung. Und dann versuch mal, deinen 51
Lieblingssender einzustellen...« Ravenmoor stieß die Luft durch seine Nase aus. Richard glaubte, eine vage Vorstellung davon zu haben, in welcher Gefahr er sich befunden hatte. »Ich muss dich allerdings von jeglicher Schuld freisprechen, mein junger Freund. Obwohl du überstürzt, unüberlegt und naiv gehandelt hast, trägt im Endeffekt das Kammerbewusstsein die Verantwortung für diesen chaotischen Transfer. Das wiederum geht eindeutig auf Amalnacrons Konto. Irgendwie hat der Dämon den Siegelgeist infiziert. Über kurz oder lang wird er damit für uns unbrauchbar, ja, sogar gefährlich. Der Dämon wird alles daransetzen, dieses wertvolle Transportsystem der Loge zu vernichten und uns handlungsunfähig zu machen...« Jordan bekam große Augen. Viele Fragen lagen ihm auf der Zunge. Er versuchte, sie auf eine einzige zu reduzieren. »Ich verstehe nicht, weshalb dieses Transportsystem so eminent wichtig ist für die Loge. Warum die Dimensionsreisen?« Philip Ravenmoor zog die Brauen hoch, als müsste er einem Fünfjährigen zum wiederholten Male die Geschichte von Cinderella vorlesen. Diese Geste war nicht abwertend zu interpretieren. Natürlich konnte Richard nicht auf Anhieb sämtliche Zusammenhänge verstehen. Es war nur, dass es sicher eine geeignetere Umgebung gab, um langwierige Aufklärungsarbeit zu leisten. Deshalb und aufgrund der Tatsache, dass die Zeit - im Normalfall ein wertvoller Verbündeter - momentan gegen sie arbeitete, hatte sich Ravenmoors sprichwörtliche Engelsgeduld seinem aggressiven Tatendrang vorübergehend untergeordnet. Trotz allem ließ er eine Erklärung folgen. »Die Quelle der Kraft, aus der die Layshi-Pan schöpfen, heißt Col'Shan-duur, die dunkle Zitadelle. Eine Bastion, errichtet zum Kampf gegen die dämonischen Heerscharen und ihre Anführer. So jedenfalls erklären wir uns ihre Existenz, wenn ihr Ursprung und ihre tatsächliche Aufgabe uns auch heute noch unbekannt sind. Durch ihr Inneres ziehen sich labyrinthartig verzweigte Gänge. Es gibt Hallen und Kuppeln von gigantischen Ausmaßen, deren Beschreibung ihrem tatsächlichen Anblick nicht im entferntesten gerecht werden könnte. Selbst die Loge 52
konnte in den vergangenen tausend Generationen nicht alle Geheimnisse dieses Bollwerks ergründen. Es ist mächtig und es ist - kann nicht von dieser Erde sein! Seine Fremdartigkeit hat uns lange Zeit Furcht eingeflößt. Doch die Aura der dunklen Zitadelle ist wie ein Lebensbrunnen, wie ein Akku, der eine verbrauchte Batterie auflädt.« »Und dieses Col'Shan-duur ist nur über eine Siegelkammer zu erreichen«, zog Richard ein abschließendes Resümee. »So ist es nun mal. Doch der Zitadelle kommt noch eine weitere Aufgabe zu, die für dich von Interesse sein dürfte.« Ravenmoor hatte sich kurzfristig dazu entschlossen, den Exkurs auszudehnen. Auf ein paar Minuten mehr oder weniger sollte es jetzt nicht mehr ankommen. »In Col'Shan-duur werden die Anwärter zum Höllenjäger selektiert. Nur, wer die Prüfungen besteht, hat ein Anrecht darauf, von der Loge aufgenommen zu werden. Es sind sehr wenige, die den Anforderungen genügen.« »Und die anderen...?« »... wurden nie wieder gesehen. Sie leben irgendwo auf der Erde ohne Erinnerung an die Ereignisse oder auf den Welten unserer Sternenbrüder und -Schwestern, die sie unter ihre liebevolle Obhut genommen haben.« »Eine nette Geschichte«, kommentierte Richard ungläubig. »Aber die Wahrheit. Auf der Erde haben sich in den letzten fünfzigtausend Jahre Dinge von erheblicher Tragweite ereignet, die erst heute, in unserer Gegenwart, ihren eigentlichen Charakter offenbaren. Wir sind nicht allein im Universum. Noch nicht einmal auf der Erde. Ist dir das denn nicht bewusst?!« Es war halb Frage, halb Vorwurf. »Ich habe mich nicht so eingehend mit Science-Fiction beschäftigt...« »Du hast dich nicht mit der Wirklichkeit beschäftigt!« Ravenmoor wirkte beinahe aufgebracht. »Die Bibliothek deines Vaters ist voll mit lebendigen Beweisen, die Archäologen und Naturwissenschaftler schlichtweg ignorieren, weil sie ihr komplettes Weltbild in Gefahr sehen. - Genau das ist es ja auch. Das Ende der Finanzimperien, der Untergang des Molochs mit Namen Konsumgesellschaft. Der Beginn 53
spiritueller Verantwortung. Und du thronst auf diesem unermesslichen Reichtum an Wissen wie der blinde Pirat auf dem Goldschatz, den er ein Leben lang jagte und doch nie zu Gesicht bekam.« »Eine etwas holprige Metapher«, war Richards einzige Bemerkung. Es war der taktlose Versuch, die Richtigkeit des Gesagten durch herablassenden Spott ins Gegenteil zu verkehren. Eine Eigenart, die sämtliche Medien 24 Stunden am Tag praktizieren. Hier war sie unangebracht. Richard sah es am Mienenspiel Ravenmoors und dessen ihn gnadenlos fixierenden Augen. »T'ott'amh-anuq«, brummelte Philip Ravenmoor unverständlich. »Ich kann's kaum glauben...« Richard senkte leicht den Kopf. »Entschuldige. Ist mir so rausgerutscht.« Der junge Jordan sah hinüber zu dem Gebirgsmassiv. Erneut lief ein kalter Schauer über seinen Rücken. Seine Kopfhaut spannte sich fast unerträglich und wurde von einem Kribbeln erfasst, als würde das Blut in ihr gerinnen. Trüber, grauschwarzer Dämmerschein ergoss sich über den Landstrich, schuf eine Atmosphäre, die dazu angetan war, ein Lebewesen in tiefste Depressionen zu stürzen. Seit ihrer Ankunft es mochte eine gute halbe Stunde vergangen sein - hatte sich nicht ein verirrter Sonnenstrahl gezeigt. Die Umgebung präsentierte sich in monotonem Grau. Es ließ sich nicht einmal hundertprozentig sagen, ob der Tag endete oder die Nacht. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Richard und ihm fiel ein, dass er eine ähnliche Frage schon vorher gestellt hatte. Der gravierendste Unterschied war der, dass seine Worte nun mit dem Anblick ihres Umfeldes harmonierten. Sie waren leblos, flach und auf eigentümliche Weise, in Anbetracht ihrer Situation und der einschläfernden Konformität all dessen, was die Männer umgab, sogar überflüssig. »Die Antwort liegt dort am Horizont«, sprach Philip Ravenmoor mehr zu sich selbst, jedoch nicht minder inhaltsschwer. Sein Blick visierte die verschwommen die Wolkenschleier durchdringenden Berggipfel an. »Die Vorsehung wird eine Menge Unterstützung brauchen, um sich zu erfüllen...« 54
*
Weit, weit entfernt...
Der Himmel über der Stätte, an der sich die Stimmen kreuzten, zeigte sich dem Auge des unvoreingenommenen Betrachters als phosphoreszierendes Geflecht farbig schillernder Luftverwirbelungen. Doch es war weitaus mehr. Ein Knotenpunkt mehrdimensionaler Strömungen, der sich der dreidimensionalen Wirklichkeit der menschlichen Netzhaut als grellbuntes Spektakel offenbarte. Beinahe, als blickte ein Säugling in die weißblauen Entladungen eines 100.000-Volt-Generators, ohne zu ahnen, dass das Äußere zwar unwiderstehlich interessant, die Berührung jedoch unweigerlich das Ende seiner Existenz bedeuten würde. Die Lebensspanne eines Menschen, der sich an diesem Ort wieder fand, konnte unmöglich die Dauer eines Lidschlags überschreiten. Die Atmosphäre dieser... Welt? tat ein übriges, um organischen Lebensformen die Grundlage einer Existenz zu verweigern. Sie war erfüllt vom apokalyptischen Wüten toxischer Orkane, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit über instabile Kontinentalplatten heulten und dabei Milliarden Tonnen Staub, Gestein und Substanzen unterschiedlicher Aggregatzustände hoch wirbelten. Ohne Unterbrechung. Vom Anbeginn der Zeiten. Bis zu deren Ende. Doch was bedeutete Zeit schon mehr an diesem unvorstellbaren Fleck im Nirgendwo als ein einzelnes Sandkorn in der Wüste? Hier, wo räumliche und temporäre Wogen in einem unüberschaubaren Ozean entfesselter kosmischer Gewalten miteinander verschmolzen und die Grenzen einer begreiflichen Realität erbarmungslos niedergerissen wurden... Doch die Stimmen waren vorhanden! Ob sie auf der Basis von Schwingungsübertragung weitergeleitet wurden oder die Synapsen eines unfasslichen Da-Seins auf einem dem bekannten Kontinuum übergeordneten Niveau reizten, hatte letztendlich keinerlei Bedeutung. DIE LAGE GERÄT ALLMÄHLICH AUSSER KONTROLLE!, bemerkte ein Sprecher. Es war das Wetterleuchten eines Gedankens in der Ewigkeit. 55
AUF DER ERDE? Sekunden (waren es wirklich Sekunden oder Stunden oder Äonen?
An dieser Stätte verblassten physikalische Gesetzmäßigkeiten zur völligen Bedeutungslosigkeit) des Schweigens. Dann die Antwort: WO
SONST? HABEN WIR NICHT UNSERE KRÄFTE HAUPTSÄCHLICH AUF DIESEN QUADRANTEN KONZENTRIERT? DAS GROSSE GANZE BEDINGT SICH SELBST, DOCH DER EINZIGE PLAN UNTERLIEGT UNWÄGBARKEITEN, DEREN URSACHEN SICH IM NÄHEREN UND WEITEREN UMFELD DER ERDE FOKUSSIEREN. DIE PRÄZESSION ERREICHT DEN SCHEITELPUNKT. Die Stimme wandte sich nicht in direkter Anrede an den zweiten Sprecher, sondern behandelte das Individuum als Teil eines Kollektivs. DOCH. NATÜRLICH... Die Bestätigung kam vorsichtig, wobei die... Modulation? der Stimme in ihren Nuancen Betroffenheit erahnen ließ. WIR SEHEN NOCH NICHT DEN ERFOLG UNSERER BEMÜHUNGEN!, mischte sich eine dritte... Person? in den Dialog. DIE SITUATION IST TROTZ UNSERER EINFÜHLSAMEN VORGEHENSWEISE ESKALIERT. DIE ERSTEN PRIOREN HABEN IHRE DIENER IN DIE ZWEITE BEWUSSTSEINSEBENE EINGESCHLEUST, OHNE DASS WIR ETWAS DAGEGEN ZU UNTERNEHMEN VERMOCHTEN. HABEN WIR DIE VERNICHTUNG VON LEMURIA UND ATLANTIS BEREITS VERGESSEN? Stille. Irgendwann unterbrochen von einem Flüstern, das die tosenden Böen der Giftstürme mühelos übertönte. EINE FOLGE DES TRETA YUGA MIT ABSTEIGENDER SCHLAFPHASE. COL'SHAN-DUUR BLEIBT IMMER NOCH EIN WICHTIGER KNOTENPUNKT IN DIESEM QUADRANTEN. DIE BESCHÄDIGUNGEN AM ENERGETISCHEN GITTER ZWISCHEN DER VIERTEN UND FÜNFTEN EBENE WURDEN BEHOBEN. DIE AUSLÖSCHUNG DER GESCHÖPFE DER ERSTEN PRIOREN IST NUR EINE FRAGE DER ZEIT. Ein Einwand folgte: ES IST VIEL WICHTIGER, SIE ERST EINMAL UNTER KONTROLLE ZU BEKOMMEN. IN DEN LETZTEN NEUN ZENTRUMSUMLÄUFEN HABEN SIE EINE UNGEWOLLTE EIGENINITIATIVE ENTWICKELT. SELBST DIE ERSTEN PRIOREN - SO IST ZU BEFÜRCH56
TEN - KÖNNEN SIE NICHT MEHR STEUERN! UNDAUCH WIR HABEN NUR INDIREKTEN ZUGRIFF AUF DIE ZWEITE EBENE. VIELLEICHT ZIEHT UNSER GEGNER SICH AUS DEM KAMPF ZURÜCK, wagte ein vierter Teilnehmer eine Möglichkeit zu äußern. UNSINN!, schmetterte der erste Sprecher ab. WÄHREND DER ›GROSSEN DEKADE‹ HAT NIEMAND EINE ENTSCHEIDUNG HERBEIFÜHREN KÖNNEN. IM WECHSELSPIEL VON ORDNUNG UND CHAOS KANN EINE PROGRESSIVE LÖSUNG NIEMALS DURCH AUFGABE ERRUNGEN WERDEN. WAS ZÄHLT, IST DIE KONFRONTATION. DIE SUMME DER GEGENSÄTZE FORMULIERT DIE EINHEIT. SO IST ES!, kam von anderer Seite die Bestätigung. DAS GLEICHGEWICHT DER KRÄFTE MUSS GEWÄHRLEISTET SEIN. DIE GEGENSÄTZLICHEN EXISTENZFORMEN BEDINGEN EINANDER. SO ENTSTEHT DER EWIGE KONFLIKT: GEZWUNGEN, EINANDER ZU BEKÄMPFEN UND VERDAMMT, DEN GEGNER NICHT BESIEGEN ZU KÖNNEN. SO WILL ES DER GROSSE PLAN. SEINE MAKELLOSIGKEIT IST ÄQUIVALENT ZUR UNENDLICHEN AUSDEHNUNG SEINER PRÄSENZ. Die Stimme, die sich als letzte dem Gespräch angeschlossen hatte, ließ die anderen aufmerken: WIR WERDEN UNS ALSBALD EINEM ZWIESPALT AUSGESETZT SEHEN. EINE KREATUR DER ERSTEN PRIOREN HAT DIE ZYSSTHO-PEST ENTFACHT. BISHER DIE VERHEERENDSTE WAFFE DER NEGATIVEN KRÄFTE. Lange - lange...? - Zeit erfolgte keine Erwiderung. WIR VERTRAUEN AUF COL'-SHAN-DUUR. DER T'OTT'AMH-ANUQ IST AUF DEM WEG. ER WIRD UNSER HANDLUNGSKÖRPER AUF JENEN EBENEN SEIN, DIE SICH UNSEREM ZUGRIFF VERSCHLIESSN. WIR WERDEN ABWARTEN UND BEOBACHTEN... Die Stimmen entschwanden, glitten hinfort auf den Strudeln von Raum und Zeit und harrten einer Zukunft entgegen, in der die Erde möglicherweise nur noch in den Gesängen greiser Götter weiterlebte. Wie jene Welt, die sie gerade verlassen hatten...! * 57
Philip Ravenmoor und Richard Jordan strebten zügig der Gebirgskette entgegen nd doch konnten sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass, je näher sie dem Massiv kamen, es sich stetig von ihnen entfernte. Dann wieder schien es so, als hätten die beiden sprunghaft eine größere Entfernung zurückgelegt. Es war ein Effekt, als spiele ein Kind am Zoomschalter einer Kamera, ohne dessen Sinn zu begreifen. Dieses Land unterlag Naturkonstanten, die über die Gesetze der Physik hinwegsahen oder schlicht umgingen. Und es ließ sich vermuten, dass dies nur ein winziger Ausschnitt aus dem Spektrum der Eigentümlichkeiten dieser Daseinsebene war. Zwei Stunden waren inzwischen vergangen. Richard trottete gedankenverloren hinter Ravenmoor her und lief auf ihn auf, als dieser unerwartet zurückprallte, als wäre er gegen ein Hindernis gelaufen. »Was ist los?« Jordan hob den Kopf und erkannte, warum der große Mann angehalten hatte. Sie hatten die Berge erreicht! Von einer Sekunde auf die nächste hatten sie sich am Fuße der mächtigen Felswände wieder gefunden, obgleich sie vor Minuten noch kilometerweit entfernt schienen. »Ein Mysterium, an das wir uns noch gewöhnen werden«, bemerkte Ravenmoor trocken und legte den Kopf in den Nacken. »Diese Umgebung ist nicht für materielle Lebewesen unserer Ordnung geschaffen.« Aufmerksam untersuchte er die steil aufragenden Klippen. Von hier aus gab es keine Aufstiegsmöglichkeit. »Wir werden uns links halten und nach einem Pfad suchen, der uns hinaufbringt.« Ravenmoor reckte kurz das Kinn vor. In der bezeichneten Richtung befand sich ebenes Gelände mit eigenartigen Gesteinsformationen und tropischem Pflanzenwuchs. »Wonach suchen wir überhaupt?«, fragte Richard. »Das werden wir wissen, wenn wir es gefunden haben.« Ravenmoor konnte spüren, wie der junge Mann hinter ihm das Gesicht verzog. »Das hört sich unsinnig an«, sagte er wie zur Versöhnung, »aber du wirst sehen, dass ich recht habe. Unser Umfeld will uns ebenfalls wieder loswerden. Es leitet uns auf den Linien eines planetenumspannenden Gitters. Dein Wunsch, diese Berge aufzusuchen, kam also nicht von ungefähr, mein Freund.« 58
Die beiden Männer tauchten ein in einen Dschungel von exotischer Einmaligkeit. Fleischige Blätter streiften Richards Gesicht. Sträucher, Büsche und Bäume waren von unbeschreiblicher Vielfalt. Und obwohl dieser Pflanzenreichtum in all seiner Pracht eine Bereicherung für jede Kulisse hätte sein müssen, wohnte ihm gleichzeitig eine nur schwer in Worte zu fassende Morbosität inne. All das Schöne wirkte abstoßend. Richard hatte anfänglich nach den Gründen dafür gesucht und keinen gefunden. Nun aber wurde ihm umso deutlicher klar, dass in dem Wald stumpfe, kranke Farbtöne vorherrschten. Das Grün war nicht wirklich grün. Es zeigte sich bei weitem nicht so kräftig, wie man es normalerweise gewohnt war. Dazu war seine Blässe durchzogen von grauen und hässlichen braunen Tönen, die eine - nicht nur für das Auge - unangenehme Abschattung erzeugten. Man fühlte sich tatsächlich auch körperlich unwohl.
Warum fällt mir das alles erst jetzt auf?, fragte sich der Siebenundzwanzigjährige. Es ist, als ob ich zu einem Teil dieser trostlosen
Umgebung werde und nur ab und zu noch einen klaren Gedanken fassen kann... Philip Ravenmoor schien sich durch nichts auch nur im mindesten beeindrucken zu lassen. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen drückte er tückisch vorstehende Zweige und Dornenranken zur Seite, duckte sich unter weit ausladenden Ästen hinweg und bewegte sich derart zielstrebig fort, dass Richard unweigerlich zu dem Schluss kommen musste, er kannte das Ende ihrer Reise bereits im voraus. Dabei war er ständig bemüht, seinem Führer auf den Fersen zu bleiben, wurde jedoch laufend von neuen Details, die ihm besonders ins Auge stachen, abgelenkt. Fette, widerliche Insekten schleppten sich träge über Baumrinden hinweg. Andere Kriechtiere wanden sich aus winzigen Erdlöchern, als wollten sie die zwei Eindringlinge in Augenschein nehmen. Doch vielleicht sollten sie auch nur die Eindringlinge in Schach halten. Diese letzte Möglichkeit betrachtete Richard als die wahrscheinlichere. 59
Er spürte eine Berührung in seinem Gesicht. Mechanisch schnellte seine Hand an die Wange und zwischen seinen Fingern fühlte er einen Widerstand, einen Körper, der sich eigentümlich bewegte. Ein fleischiges Fluginsekt wand sich in seinem Griff. Es besaß zwei Paar filigraner Flügel. An der Unterseite des Leibes klaffte eine schnappende Öffnung, die ein dickflüssiges, weißgelbes Sekret absonderte. Dreigliedrige, mit feinen, harten Härchen besetzte Beine ruderten haltlos und seltsam unrhythmisch durch die Luft. Jedes einzelne hatte eine eigene Bewegungskoordination. Mit einer solchen Motorik würde sich das Tier keinesfalls am Boden fortbewegen können. Angewidert schleuderte Richard das Insekt beiseite. Es prallte mit einem scheußlichen Knacken auf die Erde. Aus der Leibesöffnung spritzten winzige Tropfen einer eitrigen Substanz. Unglaublich langsam drehte sich das Insekt vom Rücken auf die Beine und trippelte mehrere Zentimeter in abstrakter Art und Weise voran, bevor die dünnen Hautschwingen rasend zu vibrieren begannen und es in die Lüfte erhoben. Alsbald schon lichtete sich der Hain und ging über in ein morastiges Freigelände, das etwa einhundert Yards durchmaß. Ravenmoor blieb stehen und sog scharf die Luft ein. Sekundenlang regte er sich nicht, als wollte er den Geschmack des Sauerstoffs auf der Zunge zergehen lassen. »Ich denke, wir können das Schlammloch überqueren«, ließ er anschließend verlauten. »Der Geruch der Spinnenkrabben ist nur sehr schwach wahrzunehmen. Wahrscheinlich hocken sie in ihren Kokons.« Er sagte es wie nebensächlich, als unterhielte er sich über ein Pferderennen, ohne einen Wetteinsatz geleistet zu haben. Richard Jordan versuchte ein Lächeln. Irgendwie misslang es. »Ich bin gespannt, welche Überraschungen noch auf uns warten...« Er sollte nicht lange im Ungewissen bleiben. »Da!«, stieß der Junge hervor. »Im Dickicht war eine Bewegung!« Angestrengt versuchte er, nähere Einzelheiten auszumachen. »Ich habe es auch gesehen«, bestätigte Ravenmoor. »Wir sollten ab jetzt sehr vorsichtig sein.« 60
Er setzte einen Fuß auf das Morastfeld, wagte einige beherzte Schritte. Dann stand er wieder wie erstarrt und prüfte die Gerüche um sich herum. »Du kannst mir folgen, Richard. Im Moment besteht keine Gefahr.« Als sie das Sumpfland zur Hälfte überquert hatten, hörten sie die sonderbaren Laute. Eine beunruhigende Mischung aus dem feinen Zirpen von Grillen und dem kehligen Würgen von Unken. »Achte nicht darauf. Junge! Geh' einfach weiter!« Wurde Ravenmoor nervös? Richard konnte darüber leider keine Genugtuung empfinden. Nach einer kurzen Sprechpause fügte der hoch gewachsene Mann mit den unnachgiebigen, graublauen Augen unheilvoll hinzu: »Ich glaube, sie kommen jetzt raus.« Richard hielt den Blick auf den Untergrund gerichtet, achtete peinlichst genau darauf, in keines der zahlreichen Wasserlöcher zu treten und sich nicht auf die grotesken, glucksenden Geräusche zu konzentrieren, die ihn bei jedem noch so kleinen Schritt begleiteten. Nur Zentimeter neben ihm brach ein handtellergroßes Stück der schlammigen Oberfläche in sich zusammen, versackte in einem Loch unergründlicher Tiefe, dessen Ränder wie kochender Schleim zerfransten. Es dauerte nur Augenblicke, bis sich etwas aus der entstandenen Öffnung empor tastete. Lange, dünne Stiele ragten zitternd wie Antennen in die Höhe. Bis sie im unteren Drittel abknickten und sich in das durchnässte Erdreich bohrten, um festen Halt zu bekommen und einen kopfgroßen Körper nach sich zu ziehen, der aus zwei ovalen Segmenten mit tiefer Einschnürung bestand. Darüber lag schützend ein gebogener Knochenpanzer. »Steh' nicht so da, Richard! Nimm verdammt noch mal die Beine in die Hand und komm' zu mir rüber!« Ravenmoor stand in einer Distanz von zirka fünfzehn Yards. Zwischen den Männern hatten sich drei weitere Löcher gebildet, aus denen ebenfalls hagere Stängel hervorschauten. Selbst wenn Richard in diesem Moment losspurtete, konnte er unmöglich an den gepanzerten 61
Viechern vorbeikommen, ehe sie ihre unterirdischen Höhlen verlassen hatten. Und dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Während Richard vorstürmte, ging Ravenmoor in die Knie. Zwei der Kreaturen hatten sich bereits vollständig an die Oberfläche gegraben. Der Student würde direkt in sie hineinrennen. Außerdem richtete sich sein Augenmerk einzig auf Ravenmoor, der, zu seiner Bestürzung und ungeachtet der Bedrohung, mit geschlossenen Augen und beiden Armen sonderbare, wahrscheinlich rituelle Formen und Figuren in der Luft nachzeichnete. Schließlich führte er die Handflächen mit einer weiteren ausholenden Bewegung seiner Arme vor der Brust zusammen. Da war Richard höchstens noch drei Yards von den Spinnenkrabben entfernt, die sich zum Sprung bereitmachten. Doch dazu kam es nicht mehr! Nicht einmal eine Sekunde benötigte Ravenmoor, um die gefalteten Hände vorauszurichten, tief auszuatmen und die Morastlöcher ins Visier zu nehmen. In gezielten Explosionen mit geringem Radius zerplatzten die Tiere, wurden die Öffnungen ihrer bizarren Behausungen auseinandergesprengt, als hätte sie ein Strahl unglaublich komprimierter Druckluft getroffen. Richard wurde zurückgeschleudert, als wäre er gegen eine Stahlwand gesprintet. Mit einem Laut der Überraschung klatschte er rücklings in den Schlamm, während die letzen zerschmetterter Parasitenleiber auf ihn herabregneten. Richard drehte sich auf den Bauch und stemmte sich in die Knie. Exakt im richtigen Moment! Unmittelbar hinter ihm hatte ein weiteres Spinnenungeheuer den Rand einer Bodenöffnung erreicht. Der junge Jordan spürte nur noch einen kräftigen Luftzug an sich vorbeizischen - und auch diese Bestie spritzte wie unter der Sprengkraft einer Handgranate auseinander. Diesmal aber bekam Richard die Wucht der Druckwelle ungleich stärker zu spüren, wurde mehrere Meter über den Boden katapultiert. Den Aufschlag nahm er nur mehr unterbewusst wahr. Halbwegs betäubt war er kaum in der Lage, sich zu bewegen. Ächzend rammte er die Ellbogen in die Erde und wollte sich aufrichten, was jedoch kläglich misslang. Und dann war Ravenmoor an seiner Seite. 62
»Tut mir leid. Aber es hätte dich getötet.« Er half dem Studenten auf die Beine und sie erreichten ungehindert den nächsten Forst. »Alles klar?« Ravenmoor wirkte ernstlich beunruhigt. »Ich bin... okay«, schnaufte Richard. »Wir können weiter.« Über den Männern spannte sich dichtes Laubwerk. Hier war es ungleich dunkler und kälter als in dem Wäldchen, das sie zuvor durchquert hatten. Jedwede Lebensform schien diesen unheimlichen Ort fluchtartig verlassen zu haben. Sogar die aufgequollenen Kriechtiere und Käfer. Irgendwo raschelte Gestrüpp. Philip Ravenmoor blieb stehen, streckte seinen linken Arm mit vorgehaltener Handfläche seinem jungen Begleiter entgegen und ging in die Hocke. »Keine Ahnung, wer oder was das ist, Richard«, flüsterte Denningham-Cartlewoods Gesandter. »Aber wir sollten uns nicht auf eine direkte Auseinandersetzung einlassen.« Der Unbekannte verhielt sich keineswegs so vorsichtig. Er verursachte laute, weit reichende Geräusche. Knackend splitterte Geäst unter seinen Tritten, Blattwerk raschelte, sein Atem kam stoßweise. Er war ganz in der Nähe! »Keinen Ton!«, forderte Ravenmoor nachhaltig. Dann sahen sie beide im Halbdunkel die Silhouette auf sich zuwanken. Keine Chance mehr, dem Fremden auszuweichen! Jordan beobachtete, dass die Muskeln seines Mentors sich unter dem arg in Mitleidenschaft gezogenen Hemd spannten. Der zischte noch ein gepresstes »Jetzt!« und schoss aus seinem Unterschlupf hervor. Noch im Sprung bekam er die Gestalt zu fassen und riss sie mit sich zu Boden. Ein hysterischer, panischer Schrei erfüllte den Wald. Richard bemerkte als erster, wer ihnen da in die Arme gelaufen war. »Eine Frau!«, stutzte nun auch Ravenmoor. Er legte ihr die flache Hand auf den Mund, als er sah, dass sie zu einem erneuten Schrei ansetzen wollte. Es war eine rein instinktive Geste. »Seien Sie ruhig! Kein Grund zur Aufregung! Wir wollen Ihnen nichts antun...« Die Frau war bis auf einige Kleiderfetzen völlig nackt. Auf ihrer Haut zeichneten sich Kratzer und Schrammen ab. Sie blutete an meh63
reren Stellen, war von Kopf bis Fuß verschmutzt. Das Weiß ihrer weit aufgerissenen Augen stand in auffälligem Kontrast zu dem schlammverschmierten Gesicht. Ihre zarten Brüste hoben und senkten sich unter hastigen Atemzügen. Langsam jedoch schien sie sich zu fangen. Ravenmoor war ihr beim Aufstehen behilflich. »Vous etes... anglais...? Sie sind Engländer...«, brachte die Frau stockend hervor. Philip Ravenmoor nickte. »Wie heißen Sie - und wie kommen Sie hierher?« Er zog seinen zerschundenen Blazer aus und legte ihn der Französin über die Schultern. »Merci. Je m'appelle... Entschuldigung. Mein Name ist Dominique Beaumont.« Sie zögerte einige Augenblicke und zog das Jackett zusammen, um ihre Blöße zu verbergen. Außerdem schien sie zu frieren. »Ich spreche Ihre... Sprache nicht so gut. Und ich habe keinen Gedanken, wie ich hier erschienen bin.« Pause. Zeit, um Luft zu holen. »In meinem Haus hat es begonnen... in Lyon. Es war... terrible.« »Versuchen Sie abzuschalten«, empfahl Ravenmoor. »Wir werden uns Ihre Geschichte später anhören. Bleiben Sie bei uns und wir werden gemeinsam von hier verschwinden. Vertrauen Sie mir.« Dominique lächelte. »Ich muss sehr lustig aussehen. Und ich bin sehr dankbar, Sie begleiten zu dürfen.« Abschätzend musterte Richard die Französin. Ihm schmeckte die Situation ganz und gar nicht. Vielleicht war alles nur ein Trick Amalnacrons, um sie in Sicherheit zu wiegen, von den eigentlichen Gefahren abzulenken. Vielleicht würde sich die Frau im geeigneten Moment als Feind zu erkennen geben, der dann leichtes Spiel mit seinen arglosen Opfern hatte. Trotz allem empfand Richard auch positive Gefühle Dominique Beaumont gegenüber, die weit über bloßes Mitleid hinausgingen. Für einen winzigen Moment nur sah er ganz klar ein Band vor sich, das ihn mit der Französin untrennbar verband. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Das war selbstverständlich völlig unmöglich. Dennoch nahm er sich vor, diese Eindrücke weiter zu erforschen, wenn sich die allgemeine Lage entspannt hatte. Bis dahin aber wollte er wachsam sein. 64
Stunden...? vergingen. Präzise ließ sich das nicht sagen. Ihrem In-
stinkt zufolge war auf jeden Fall wesentlich mehr Zeit vergangen, als Ravenmoors Armbanduhr anzeigte. Längst hatte die kleine Gruppe den finsteren Wald hinter sich gelassen und einen schmalen Bergpfad erklommen, auf dem sie sich nur einzeln hintereinander fortbewegen konnten. Ab und zu warf die Frau mit dem lausbübischen Kurzhaarschnitt einen Blick über die Schulter und sah Richard - wie zufällig - kurz an. Sobald er ihren Blick erwiderte, senkte sie schnell den Kopf und wandte sich ab. Richard glaubte in ihren Augen Anzeichen massiver Furcht zu erkennen, sah Trauer und Verunsicherung. Vielleicht auch so etwas wie - Erkennen? Ähnlich seiner eigenen Wahrnehmung. Doch so harmlos sie jetzt auch wirkte - in einen umso schrecklicheren Feind mochte sie sich verwandeln. Philip Ravenmoor plagte sich nicht mit derlei profanen Gedanken. Ohne übermäßig Rücksicht auf seine zwei Begleiter zu nehmen, schritt er zügig voran. Der Pfad war außerordentlich gut begehbar. Selten nur musste das ungleiche Trio über Hindernisse hinwegsteigen oder wucherndes Astwerk beiseite räumen. Alles lief erstaunlich glatt, wie auf einer gut vorbereiteten Wandertour. Weder Richard noch Dominique konnten bemerken, dass gerade dieser Umstand ihrem Führer Kopfschmerzen bereitete. Ravenmoor wusste nur zu genau, dass ihr ungehinderter Vorstoß nicht zu jenen Besonderheiten gehörte, die man als typisch für diese eigentümliche Dimension einstufen durfte. So sollte sich schon sehr bald zeigen, dass selbst größte Wachsamkeit und Vorsicht ernüchtert vor den unkalkulierbaren Gegebenheiten dieser Welt kapitulieren mussten. Zu Anfang war es nicht mehr als ein Rauschen, ähnlich einer Windbö, die die Krone eines Baumes streifte und die Blätter rascheln ließ. Sehr bald verdichtete sich das harmlose Rauschen zu einem, ja, bösartigem Brodeln. Es näherte sich mit der unaufhaltsamen Gewalt eines Taifuns und brachte Kälte, vermischt mit dem Geruch salzhaltiger Luft, mit sich. »Hören Sie das, Monsieur Ravenmoor?« Dominique Beaumont fror plötzlich, obwohl es hier wärmer war, als noch vor Stunden in dem 65
Hain. Es war auch nicht die Kälte des Windes, die sie heimsuchte. Es war der eisige Hauch nahenden Todes in seinem Geleit. »Ich höre und rieche es«, erwiderte Ravenmoor. »So intensiv, als würden wir hinter dem nächsten Vorsprung auf die Küste eines Meeres stoßen.« »Wir sollten lieber eine Deckung aufsuchen«, gab Richard zu bedenken. Unruhe hatte ihn erfasst. Er drängte sich an der Französin vorbei, bis er auf einer Höhe mit seinem Mentor stand. »Dazu dürfte es zu spät sein.« Das Brodeln wurde zum Brüllen. Das vertraute Geräusch sich brechender Wellen erfüllte die Atmosphäre, erstickte jeden anderen Laut. »Bleibt hier stehen! Haltet euch an irgendwas fest!«, schrie Ravenmoor gegen das Donnern an und rannte vor zu jenem Erdhügel, der an der voraus liegenden Biegung aufragte und hinter dem es sich bedrohlich verdunkelte. Mit mehreren kraftvollen Sätzen erreichte er die Spitze. Ungerührt verharrte Richard und sah dem Höllenjäger nach. Er spürte eine Berührung an seinen Oberarmen und einen sanften Druck im Rücken. Dominique presste sich schutzsuchend an ihn. Er spürte ihr Zittern, aber auch ihre Wärme. Beides war ihm nicht unangenehm. Doch es blieb keine Zeit, sich diesen Empfindungen hinzugeben. War das schon wieder Ravenmoor, der wie wahnsinnig gestikulierend zurück gerannt kam? Richard konnte in den sturmgepeitschten, sandigen Luftwirbeln nur Umrisse wahrnehmen. »Runter mit euch! Legt euch hin! Vergrabt euch in irgendeiner Nische! Seht zu, dass ihr wegkommt!« Denninghams Bote war vor Panik schier aufgelöst. Und das beflügelte Richard Jordan in einer Weise, die er bisher nicht gekannt hatte. Blitzschnell löste er sich aus der Umarmung der Französin, packte sie bei den Schultern und schleifte sie mit in eine etwa fünfzehn Meter zurückliegende Felsspalte, die er im Vorbeigehen kaum zur Kenntnis genommen, aber durchaus registriert hatte. Richard presste sich mit der Frau in die Gesteinsfuge und hoffte nur, dass sie ausreichenden Schutz bot gegen was immer da auf sie zukam. Dann brach das Inferno los! 66
Es kam mit derart vernichtender Macht, dass es einen groben Eindruck vermittelte von dem, was in den Schriften großer Propheten als Armageddon bezeichnet wird. Der kleine Erdhügel wurde von einer brandenden, tonnenschweren Wasserwoge regelrecht zerpulvert. Haushohe Wellenberge ergossen sich donnernd über das Land, rissen alles mit sich, was nicht verwurzelt war oder sich am Erdboden festkrallen konnte. Baumriesen und seit Jahrtausenden unbewegte Gesteinsblöcke wurden von der tobenden Kraft des Wassers hinweggespült, als wären sie nur winzige Modelle einer täuschend echt nachgebildeten Spielzeuglandschaft. Wie in grausamer Vorahnung des unentrinnbaren Todes klammerten sich Dominique und Richard aneinander. Noch einmal spürte er ihren bebenden Körper und die ihn durchfließende Wärme und er genoss beides mit einer Intensität, zu der er vormals in seiner mitunter spießigen Existenz niemals fähig gewesen wäre. Er war dankbar und glücklich, dass er diese starken Empfindungen vor seinem Tode noch erleben durfte und ertappte sich bei dem Wunsch, dass die schöne Französin ebenso fühlen mochte. Dann ertrank die Welt in schäumender, blasenwerfender Zerstörung! *
Australien Flinders Island war die größte der Furneaux-Inseln, ungefähr einhundertzehn Seemeilen vom Südzipfel Australiens und die Hälfte davon von der Nordspitze Tasmaniens entfernt. Hierhin hatte sich vor einem knappen halben Jahrhundert der gebürtige Brite Jonathan Baker zurückgezogen. Er lebte mutterseelenallein in seinem selbst errichteten Eigenheim, einem weiß gestrichenen Holzbau, der unmittelbar am Strand gelegen war. Das Haus war nicht besonders geräumig, aber das musste es auch nicht sein. Es erfüllte seinen Zweck. Baker hatte nie einen Anlass zur Veränderung gesehen. Sein Leben gehörte dem Meer. Sein Lebensunterhalt war die Fischerei. Mit ihr erwirtschaftete er sich die Dinge, die er nicht selber herstellen konnte. Auf den Insel67
Märkten konnte er immer gut verkaufen und erhielt harte Dollars. Die benötigte er für Farben, Tabak, Saatgut und modernes Angelgerät. Ansonsten fristete der alte Mann sein Dasein in sehr einfachen Verhältnissen. Doch das reichte ihm. Im Gegenzug gab ihm die Natur alles, was er sich wünschte. Vor allem war er frei und ungebunden. Es war kurz nach Mittag. Wie immer um diese Tageszeit saß Jonathan Baker auf seiner Veranda im selbst gezimmerten Schaukelstuhl und sah den vorbeiziehenden Schiffen nach, die die Bass-Straße entlangfuhren. Die meisten Schiffe waren nur als verwaschene Tupfen auszumachen, da sie viel zu weit von der Insel entfernt waren. Baker musste nicht selten ein Fernglas zur Hand nehmen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Nur die wenigsten Frachter kreuzten in unmittelbarer Nähe der Furneaux-Inseln. Wehmütig dachte der Mann, dessen Haar im Verlauf eines langen Lebens fast schlohweiß geworden war, an seine eigene Zeit auf See zurück. Aber das lag in derart weiter Vergangenheit, dass die Erinnerungen mit jedem verstreichenden Tag blasser wurden und irgendwann nur noch ein grauer Fleck in seinem Gedächtnis sein würden. Das Augenlicht des Greises hatte unter seinem fortgeschrittenen Alter weitaus weniger gelitten, als seine anderen Sinne. Er hatte nie eine Sehhilfe benötigt. Nahezu gestochen scharf sah er das weitab der Küste vorbeiziehende Schiff. Baker griff nach seinem Fernglas, um es näher in Augenschein zu nehmen und weitere Details auszumachen. Der Schiffsbau hatte ihn von jeher fasziniert. Eher enttäuscht linste er durch die Okulare. Keine auffällige Besonderheit. Ein australisches Passagierschiff, das wohl auf dem Weg nach Neuseeland war. Spontan wollte er das Glas wieder absetzen und sich über die ermüdeten Augen reiben, als ihn eine mehr zufällige Beobachtung in der Bewegung verharren ließ. Um das Schiff herum begann der Ozean Blasen zu werfen. Das Meer bäumte sich stürmisch auf, obwohl es - zumindest auf der Insel vollkommen windstill war. Jonathan Baker verspürte ein schmerzendes Brennen in seinen Augen. Länger als eine halbe Minute hatte er angestrengt durch das 68
Fernglas gesehen, ohne ein einziges Mal seine Lider zu schließen. Als er die Augen dann doch zusammenkniff und sie sofort wieder öffnete, konnte er auch ohne Hilfsmittel das Drama auf hoher See klar und deutlich erkennen. Eine gischtende Wasserfontäne hatte sich bis auf die Höhe eines Wolkenkratzers in den Himmel geschraubt, faserte auseinander und fiel als sprühende Lawine ins Meer zurück. Baker musste mehr sehen! Schon thronte der Feldstecher wieder auf seiner Nase. Die Wogen hatten sich noch nicht geglättet. Die See war immer noch in Aufruhr, schien zu kochen... ... und da versetzte es dem Greis einen Stich ins Herz! Das große Passagierschiff war verschwunden! Entsetzt schwenkte er das Fernglas über die endlose Wasserwüste - ohne Erfolg! Das Schiff war fort, als hätte es niemals existiert. Dem alten Mann stand aber noch eine Steigerung seines Schreckens bevor. Sie kündigte sich mit einem Brausen an, das seinen Ursprung im Nordosten hatte. Baker führte das Glas in die vermutete Richtung - und seine Atmung setzte für entscheidende Sekunden aus. Höchstens eine Seemeile vor Flinders Island war eine zweite Fontäne aus den schillernden Untiefen emporgeschossen. Und sie hatte eine Flutwelle ausgelöst, die alles übertraf, was Jonathan Baker in seinem bisherigen Leben gesehen hatte. Eine mehrere Hundert Yards hohe Wasserwand wälzte sich auf die Küste zu. Vor ihr gab es kein Entkommen. Sie würde unweigerlich alles hinwegspülen. Der Schmerz in der Brust traf Jonathan Baker wie ein Blitzschlag. Er sackte in sich zusammen, seine Finger verkrampften sich. Aus seiner Kehle drang ein heiseres, ersticktes Röcheln. Dann wollten die gigantischen Fluten über dem Küstenstreifen zusammenschlagen - und etwas Unglaubliches geschah! Irgendwo zwischen Himmel und Erde verschwanden die Wassermassen im Nichts, wurden aufgesogen wie von einem gewaltigen Schlund, bevor sie das Land erreichen konnten. Lediglich ein feiner Sprühregen ging auf Flinders Island nieder. 69
Von alledem wurde Jonathan Baker nichts mehr gewahr. Er war Sekunden vor seiner glücklichen Rettung an Herzversagen gestorben. * Die Augenblicke zogen sich qualvoll in die Länge, in denen Richard Jordan glaubte, zu ertrinken. Dominique Beaumont versetzte ihm in ihrer Panik einige harte Stöße, als sie unkontrolliert mit Armen und Beinen zu rudern begann. Das salzige Meerwasser brannte in Richards Augen. Dadurch hatte er umso mehr Mühe sich darauf zu konzentrieren, dass der Sog der auf sie beide einstürzenden Fluten sie nicht aus der Felsennische spülte. Es war ein ungleicher Kampf. Mit einem Arm hielt Jordan die Taille der Französin umklammert, die Hand des anderen fraß sich förmlich in dem Gesteinsvorsprung fest, bis Richard entsetzt feststellte, dass er kaum noch die Kraft besaß, dem Gewicht von zwei Erwachsenen entgegenzuwirken. Und die Luft wurde ihm knapp! Die Wucht der auftreffenden Wogen hatte sie ihm zu einem Großteil aus den Lungen gepresst. Das ist das Ende! war der Gedanke wie ein durchdringendes Alarmsignal in seinem Kopf. Luftblasen tanzten einen gespenstischen Reigen vor seinem brechenden Auge. Neben sich spürte er Dominique in seinem Arm erschlaffen und als er zu der Frau herübersah, spiegelten sich lediglich grelle Farbtupfer auf seiner Netzhaut. Der instinktive Zwang, nach Luft zu schnappen, stand dem immer noch arbeitenden Verstand des Siebenundzwanzigjährigen entgegen. Doch die Stimme der Vernunft wurde schwächer und schwächer mit jeder Sekunde, in denen die kollabierenden Lungenflügel das Vakuum in seiner Brust weiterzupumpen versuchten. Die überlasteten Muskeln seiner Arme gaben der grausamen Anstrengung nach. Dominique Beaumont entglitt seiner Umklammerung. Richard nahm es wie durch einen Schleier wahr. Und auch, dass er selbst den Halt verlor, nahm er vollkommen unterbewusst nur zur Kenntnis. 70
Er musste jetzt einfach tief einatmen, obwohl alles in ihm schrie:
Atme nicht! Du darfst auf keinen Fall Luft holen!
Der Drang allerdings war übermächtig. Er erstickte alle Warnungen wie eine Asbestdecke ein aufflackerndes Feuer. Der Mann öffnete den Mund. Und statt des ersehnten Sauerstoffs schluckte er - Wasser! Aber nur für einen Moment. Die schäumende Gischt reichte ihm plötzlich nur noch bis zum Hals. Und der Wasserspiegel fiel weiter. Erstaunlich schnell war Richard wieder bei klarem Verstand. Besorgt hielt er Ausschau nach der jungen Frau. Dann sah er ihr Haar an der Wasseroberfläche. Mit einer mechanischen Bewegung stemmte er sie hoch und hoffte, dass er sie noch rechtzeitig erreicht hatte. Richard selber hustete unter der erneuten Anstrengung. Ein scharfer Wind fegte durch seine tropfnasse Kleidung und er zitterte wie im Fieber. Das Wasser war nun soweit zurückgegangen, dass Richard die Französin auf den Bergpfad betten konnte. Sie war jetzt bis auf ihren String vollständig nackt. Ravenmoors Sakko musste mit der starken Strömung fortgeschwemmt worden sein; ebenso die spärlichen Kleidungsfetzen, die die Frau zuletzt noch angehabt hatte. Dominique Beaumont atmete ziemlich flach. Richard wollte das Wasser aus ihren Lungen herausdrücken und presste ihr die übereinander gelegten Hände auf die Brust. Es funktionierte nur bedingt. Aus Dominiques Mundwinkel lief ein dünnes Rinnsal; sie kam aber weder zu Bewusstsein, noch wollte ihre Atmung von selber einsetzen. Verdammt! Du musst leben! Richard holte tief Luft, beugte sich über die Französin und presste seinen Mund auf den ihren. Dann stieß er den Sauerstoff aus seinen Lungen. Gleich darauf massierte er kraftvoll ihren Brustkorb. Er wiederholte den Vorgang - ein-, zwei-, dreimal... bis er sich erschöpft zurücklehnte. Wie aus weiter Ferne hörte er das röchelnde Husten Dominique Beaumonts, vernahm ihren keuchenden Atem, dann ihre Stimme: »Je suis vi-vre...!« Im Anschluss erbrach sie jede Menge Salzwasser und fluchte auf Französisch. 71
Jordan ließ sich befreit auf den Rücken fallen, lachte verhalten: »Gott sei Dank! Du lebst!« »Falls es jemanden interessiert: ich lebe auch noch!« Sofort war Richard hellwach. Sein Blick streifte noch kurz Dominique - die attraktive, junge Frau hatte sich mittlerweile halb aufgerichtet, spuckte die letzten Tropfen Meerwasser aus und rieb sich über die ohnehin geröteten Augen -, bevor er zu einer Erwiderung ansetzte: »Philip! Lieber Himmel! Wo steckst du?« »Vielleicht richtest du dein Augenmerk mal nach hier unten!«, versetzte Ravenmoor schroff und fluchte unbeherrscht, als sich sein Oberhemd in einer Dornenranke verfing und den kompletten Ärmel abriss. Von unterhalb des schmalen Weges bahnte sich seine zerschundene Gestalt einen Weg durch widerborstiges Gestrüpp, Dornenbüsche und mannshohe Nesseln. Schließlich hatte er das Pärchen erreicht. Philip Ravenmoor machte einen mehr als desolaten Eindruck. Die Kleidung des Höllenjägers bestand nur noch aus schmutzigen Fetzen, die an vielen Stellen blutgetränkt waren. Auch im Gesicht hatte er einige Rötungen. Wahrscheinlich Nesselgift. »Guter Gott, Philip! Du siehst fürchterlich aus!« »Da sagst du mir nichts Neues.« »Hast du Schmerzen?« »Es hält sich in Grenzen. - Also los! Wir haben noch ein gutes Stück zu gehen. Je eher wir aufbrechen, desto besser.« Er schaute an Richard vorbei auf Dominique, die vornüber gebeugt auf ihren Unterschenkeln saß. »Was ist mit Ihnen? Können Sie laufen?« »Oui, monsieur. Ce n'est pas de probleme.« »Gut. - Richard, gib ihr deinen Pullover.« Ihm war klar, dass das Kleidungsstück ihre Begleiterin nicht wärmen würde; es war tropfnass. Wie zur Rechtfertigung fügte er hinzu: »Nur, um den Anstand zu wahren.« Wortlos streifte sie den nassen Stoff über, verschränkte die Arme vor der Brust, um die kühlen Windstöße abzuwehren. »Sie sind hier in eine Sache hineingeraten«, erklärte Ravenmoor nachträglich, »die sie nicht verstehen. Ich verspreche Ihnen jedoch, 72
dass Sie wieder in Ihre Heimat zurückkehren werden.« Er warf einen kurzen, aber viel sagenden Blick auf Richard. »Halten Sie sich an den jungen Mann, während ich den weiteren Weg auskundschafte.« Richard zog die Augenbrauen zusammen und warf dem Höllenjäger einen ärgerlichen Blick zu, weshalb er ein spöttisches Lächeln erntete. »Hast du wenigstens eine plausible Erklärung für die Flutwelle parat oder beschränken sich deine Äußerungen nur auf solches Blabla?« »Sie kann überall und nirgends hergekommen sein«, orakelte Ravenmoor und Richard hasste ihn dafür. »Viel eigenartiger ist doch wohl, dass sie so plötzlich wieder verschwunden ist. Wenn du dich einmal genauer umsiehst, wirst du feststellen, dass unterhalb unseres Pfades alles trocken ist. Das Wasser hat sich nirgendwo gesammelt. Es ist verschwunden.« Ravenmoor ließ seine Worte wirken. »Und...?«, fragte Richard. »Die Sphäre, in der wir uns befinden, hat sich unmittelbar nach Eintritt der Wassermassen zur einen Seite hin abgeschottet. Gleichzeitig hat sie sich zur anderen Seite hin geöffnet und den ›Fremdkörper‹ wieder abgestoßen. Das alles kann, muss aber nicht direkt in Zusammenhang mit der Fehlfunktion der Siegelkammer stehen.« »Hat es mit Amalnacron zu tun?«, zuckte Richard zusammen. Seine plötzliche Furcht war nicht gespielt. »Ist er hier...?« »Lass uns inständig hoffen, dass es nicht so ist.« Über Ravenmoors Miene fiel ein dunkler Schatten. »An diesem Ort kann selbst ich nichts für uns tun. Wir wären ihm hilflos ausgeliefert.« »Wovon sprecht ihr?«, erkundigte sich Dominique Beaumont. Sie fror jetzt nicht mehr so schlimm. Der Wind hatte sich beinahe völlig eingestellt. »Es ist nichts, was dich beunruhigen sollte«, lächelte Richard die Französin an und ergriff ihre Hand. Er konnte nicht anders, als sie zu berühren, diese völlig fremde Frau, die ihm auf eine Art so vertraut schien. Schweigend setzte sich das Trio in Bewegung. Die nächsten Stunden brachten keine neuerlichen Zwischenfälle mit sich. Die drei Menschen hatten auch so schon genug mit sich selbst zu schaffen. Hunger 73
und Durst zehrten zusätzlich zu den vergangenen und noch bevorstehenden Strapazen an ihnen. Die Luft hatte sich jedoch merklich erwärmt. Es kündete sich die bevorstehende Nacht an, als sie ihr Ziel erreichten. Vor ihnen lag ein stockdunkler, aus dichtem Geäst gewachsener Arkadengang, an dessen Ende - allerdings in unbestimmbarer Entfernung - ein schwaches, gelbliches Licht glomm. »Wir sind da«, erklärte Ravenmoor zusammenfassend. Und als er sich zu seinen Begleitern umdrehte, ergänzte er: »Beinahe jedenfalls. Dort hinten« - und er deutete auf die matte Strahlungsquelle - »befindet sich das, sagen wir, Gegenstück zu den Siegelkammern. Es ist ein neutrales Transportsystem, das nicht vom Bewusstsein eines Lebewesens gesteuert wird, sondern vom körpereigenen Energiefeld des Menschen aktiviert wird.« Im Schein des fahlgelben Lichtes voraus in der Dunkelheit der Rankengasse zeichneten sich - nur mit größter Anstrengung erkennbar - die Umrisse einer kleinen, abgeflachten Pyramide ab. Sie erinnerte deutlich an die Bauwerke der Mayas. In ihrem untersten Segment befand sich eine schwarze Öffnung, aus der das Licht nach draußen fiel. »Die paar Yards werden wir auch noch schaffen«, ließ sich Richard zu einer optimistischen Äußerung hinreißen. Dominique drückte ihn... zärtlich? Ja, sie berührte seine Hand nicht einfach so, wie man es bei einem guten Freund tat - intensiv, aber irgendwie unverbindlich. Ihre Finger streichelten seine Handinnenfläche. Spürte sie dasselbe wie er? Dieses unbegreifliche Gefühl der... Verwandtschaft! Ja, das musste es sein! Ihm erschien es beinahe so, als hätten sie sich nach endlosen Jahren (oder Zeitaltern) wieder gefunden. »Ihr werdet trotzdem hier warten«, ordnete Ravenmoor energisch an. Richard Jordan fühlte genau, wie der Zauber des Augenblicks unter den harten Worten zerplatzte. »Noch besteht kein Grund zur Ausgelassenheit.« Zuerst stutzte Richard verständnislos. Doch als Philip Ravenmoor in den gewölbten Tunnel eingetaucht war, erhielten dessen letzte Worte einen neuen, furcht erregenden Sinn. Die Bäume begannen zu leben! 74
Als knochige Tentakel schossen Zweige und Äste nach allen Seiten davon. Zielstrebig schlängelten sie sich auf den Höllenjäger zu und zogen sich schmerzhaft fest um Arme und Beine zusammen. »Nein!«, schrie Richard und riss sich von Dominique los, rannte hinter Philip her und wollte die teuflischen Pflanzenarme von ihm herunterzerren. Es blieb bei dem Versuch. Der junge Jordan sah nur noch einen Schatten auf sich zurasen, spürte einen entsetzlichen Hieb. Augenblicklich ging er zu Boden und verlor das Bewusstsein. »Richard! Non! Viensici!« Die Französin schlug vor Schreck die Hände vor's Gesicht. Ihr Beschützer lag regungslos einige wenige Meter vor ihr im Staub. Der große, strenge Mann war ein wehrloser Gefangener dämonischer Mächte. Und sie selbst hatte nicht die Kraft, etwas zu unternehmen. Schluchzend sank Dominique Beaumont auf die Knie. Die leichte, aber kalte Brise, stob durch ihr dunkles, kurzes Haar. Sie zitterte vor Angst und Kälte am ganzen Körper. Auf allen Vieren kroch sie zu Richard hinüber und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Tränen standen in den Augen der verzweifelten Frau, als sie die gellenden Schreie Ravenmoors hörte, die sich mit dem Ächzen, Knirschen und Knacken der Bäume zu einem schauderhaften Choral des Todes vereinigten. Sie hatten ihn in das undurchdringliche Dunkel gezogen. Wieder ertönte ein markerschütternder Schrei. Dann war es still. Totenstill. Dominique Beaumont wusste, dass sie jetzt allein war. Nur auf sich gestellt. Niemand würde - konnte! - ihr helfen. Diese Gewissheit war es, mit der sie sich aufs Sterben vorbereitete. Ein gnädiges Ende, jedoch, schien der schönen Frau nicht beschieden zu sein. Ganz im Gegenteil: der Schrecken weitete sich aus. Der enge Bergpfad vibrierte unter harten Stößen. Blitzschnell bildeten sich lange, dünne Risse an der Oberfläche. Gestein polterte mit unterschwelligem Grollen den Hang hinunter, so dass die Französin 75
einen ungewollten Satz zur Seite machte. Richards Kopf entglitt ihren Händen, rutschte an ihrem Oberschenkel hinab und schlug auf. Richard stöhnte, kam benommen und wackelig, dafür aber unglaublich schnell, auf die Beine. Kurzzeitig wurde ihm schwarz vor Augen. Dann sah er Dominique - und die Pflanzenranken, die ihr entgegenschnellten. Ohne Überlegung sprang Richard los. Woher er plötzlich die Kraft und Reaktionsschnelligkeit nahm, war ihm selbst ein Rätsel. Er sah noch, wie das Mädchen den grünen Strängen ausweichen wollte und dabei scheiterte. Gnadenlos schlangen sie sich um ihre schlanken Fesseln. Da war er heran, stürzte sich auf die peitschenden Lianen und wurde im selben Moment ebenfalls umschlungen. Mit jedem verstreichenden Atemzug wurde die Lage für Richard und seine unschuldige Gefährtin aussichtsloser. Einzig mit seiner Körperkraft vermochte der Siebenundzwanzigjährige nichts auszurichten. Hilflos, mit geballten Fäusten, musste er zusehen, wie Dominique erbarmungslos über den aufgeweichten Boden gezerrt wurde, durch morastige Pfützen und über scharfkantige Steine. Schneller, immer schneller ging die Raserei. Längst schon hatte die Französin keinen Faden Kleidung mehr am Leib und das zähe, dunkle Erdreich bedeckte ihre Nacktheit wie eine zweite Haut. Noch wenige Meter und sie würde im Dunkel des Dickichts verschwinden! »Genug jetzt!«, durchbrach eine weithin hallende Stimme den Bann des Grauens. Gleich einem ehernen Götzenbild stand Philip Ravenmoor in dem unirdischen Arkadengang. Pflanzen- und Wurzelstränge glitten wie ausgedörrtes Stroh von seinen Schultern. Blätterwerk verwelkte, als betrachte man den Vorgang durch einen Zeitraffer. Das vormals dichte Netz aus Ästen und Zweigen vertrocknete zusehends, bis es nur mehr ein kümmerliches Abbild seiner selbst bot. Knirschend brach das gewölbte Dach in sich zusammen. Beinahe im selben Augenblick zerrissen auch die Lianen, die Dominique Beaumont in erbarmungsloser Umklammerung gehalten hat76
ten. Wie Stahlseile schnappten sie zurück und zerschmetterten eine Reihe von Büschen, aus denen fette, graugrüne Blüten ragten. Die Französin wurde unweigerlich zur Seite geschleudert, überschlug sich mehrere Male und war im Begriff, über die Außenbegrenzung des Pfades zu gleiten und in die Tiefe zu stürzen. Richard - gleichfalls auf dieselbe unerklärliche Weise von seinen Fesseln befreit - hechtete los, schloss eine waghalsige Flugrolle an und erwischte Dominique gerade noch am Handgelenk. Etwa zur selben Zeit stellte er fest, dass unter dem Bergpfad ein bodenloser Abgrund dräute, der vorher noch nicht da gewesen war. Die vor Sekunden noch wuchernde Wildnis war wie ausradiert. Unter der Französin wogte lediglich eine wabernde Fläche weißen Nichts. Richard biss die Zähne zusammen. »Komm hoch!« »Bitte, hilf mir! Seulement, je ne peutpas...!« Sie schaffte es trotzdem aus eigenem Antrieb. Es steckte mehr in ihr, als sie selbst vermutet hatte. Leicht gequält sah sie Richard an und dann an ihm vorbei auf die Gestalt in seinem Rücken. »Ich dachte, Sie wären tot, Monsieur Ravenmoor«, sagte die Französin, heilfroh, den Höllenjäger lebendig vor sich zu sehen. »Es hat auch nicht viel gefehlt«, gab er in einem Anflug von Sarkasmus zurück. »Fast hätte die Zeit nicht mehr gereicht, die nötige spirituelle Energie freizusetzen...« »Also haben wir unsere Rettung wieder einmal dir zu verdanken«, resümierte Richard. »Das scheint langsam zur Gewohnheit zu werden.« Ravenmoor lachte leise und es war ein unbekümmertes Lachen. Sie sahen sich gegenseitig an, die Fetzen, die sie noch auf der Haut trugen. Dominique schämte sich nicht ihrer Nacktheit; in ihrem Gesicht zeigte sich ein ehrliches, befreites Lächeln. »Kommt mit. Der Weg ist jetzt frei. Wir gehen nach Hause.« * 77
Helles Strahlen umfing die drei Abenteurer. Es war die erste Wahrnehmung in dieser trostlosen, wirklichkeitsfremden Sphäre, die einen, wenn auch nur flüchtigen, Anflug von Schönheit und Leben in sich barg. Die Gestalten der Pilgerer wurden zu mattschwarzen Silhouetten, die mehr und mehr in sich zusammenfielen, bis das allumfassende Licht sie verschlungen hatte. Dann erstarb das Leuchten, zerschmolz zu einem unscheinbaren Bestandteil der monotonen Umgebung. Sie wurde wieder zu dem, als was sie sich dem objektiven Betrachter ansonsten darbot: einem unbehaglichen Stillleben, das aus einer Unzahl trister Grauschattierungen eine bisher unerreichte Beklemmung schuf. Die Menschen hatten sie hinter sich gelassen. Doch irgendwann würden neue folgen... * Rodrigo Martinez schien gleichsam aus einem lange währenden Schlaf zu erwachen, obwohl nur wenige Herzschläge verstrichen waren, seit er dem Inferno in seinem Heim in Madrid beigewohnt hatte. Schlagartig war auch die Erinnerung wieder da. Isabel!, riefen seine Gedanken. Isabel, wo bist du? Betroffen blickte der Industrielle sich um - und zuckte zusammen! Er war nicht allein! Um ihn herum standen unzählige Menschen. Die ihm am nächsten Stehenden waren nicht einmal zwei Schritte entfernt. Und hinter ihnen reihten sich Männer, Frauen und Kinder in schier überwältigender Zahl. Sie alle sagten keinen Ton. Nur ihre Augen, so erschien es Martinez, hatten sich allesamt auf ihn gerichtet. »Wer seid ihr?«, fragte der Spanier leise, als hätte er Angst, dass ein lautes Wort die Massen gegen ihn aufbrachte. »W-e-r s-e-i-d i-h-r?«, hallte es ihm dumpf aus tausenden Kehlen wider. Eine unergründliche Furcht schnürte Rodrigo Martinez den Hals zu. Wieder wandte er sich zur anderen Seite. 78
Wo bin ich?, stellte er sich selbst die Frage, die auszusprechen er
sich nicht traute. Die Welt um ihn herum zeigte sich in hellen Schlieren, wirkte wie Wasser, das in breiten Bächen über gewölbte Glaskörper rann und in dem sich ein eigentümliches Licht brach, das unerklärliche Reflexe in seiner Wahrnehmung hinterließ. Dann klarte die Umgebung auf und er fand sich in einem dunklen Zimmer wieder. Hinter sich spürte er noch immer die Anwesenheit der Fremden, die jedoch keinen Versuch unternahmen, sich ihm zu nähern oder mit ihm zu sprechen. Doch darauf konnte der Generalmanager auch keine Rücksicht nehmen. Er musste zuerst herausbekommen, wo er sich befand. Da gab es ein Bett seitlich von ihm und einen Schrank geradewegs in Blickrichtung. Martinez ging darauf zu, streckte tastend die rechte Hand nach dem Möbel aus, wollte es berühren, nur, um das Gefühl zu haben, dass er wieder ein Bestandteil der normalen Welt war. Der Welt, wie er sie kannte und die er schon verloren zu haben glaubte. Doch entsetzt zuckte er zurück! Die Berührung des Gegenstandes hatte ihm einen schmerzhaften Stich versetzt und gerade so, als hätten sich zwei gegenpolige Magneten getroffen, geriet auch der Schrank ins Wanken, stürzte dem entsetzten Spanier entgegen. Martinez sprang außer Reichweite des vorkippenden Möbelstücks, schlug auf das Bett und verursachte damit eine verheerende Kettenreaktion, die den gesamten Wohnraum in Trümmer legte. Noch bevor er seinen Schock überwinden konnte, trat eine junge Frau durch die Tür zu seiner Linken. Trotz des Halbdunkels erkannte er den Schrecken und den Unglauben in ihrem Gesicht. Sie trug lediglich einen Slip und ein knappes Shirt. Ihr Mund öffnete sich und sie sagte etwas, doch Rodrigo Martinez hörte nur unwirkliche Klagelaute, die keiner Sprache zuzuordnen waren. »Helfen Sie mir!«, schrie er in seiner Verzweiflung. Er wusste einfach nicht, was er sonst tun konnte; Jede körperliche Reaktion hatte bisher nur unglaubliches Chaos verursacht. 79
»H-e-l-f-e-n S-i-e m-i-r!«, echote es mannigfaltig in seinem Rücken. Die Angst verkrustete den Körper des Industriellen wie Klumpen aus Schorf. »H-e-l-f-e-n S-i-e m-i-r!« Das Grauen überwältigte ihn. Rodrigo Martinez machte unbewusst einen Schritt nach vorne. Dabei hätte er beinahe die junge Frau berührt, riss seine Hand jedoch im letzten Augenblick zurück. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass sein Gegenüber wie unter einem eisigen Lufthauch zusammenschrak. Wieder vernebelte sich die Szenerie. Das Zimmer verschwand und auch die Frau löste sich in Nichts auf. Das nächste, was Martinez zu Gesicht bekam, war ein helles Zimmer. Zwei Männer saßen an einem Tisch und unterhielten sich. Wo bin ich jetzt wieder gelandet? Fröstelnd beschrieben Martinez' Augen einen Halbkreis. Ich darf nichts Unüberlegtes tun!, redete er sich zwanghaft ein. Dabei hielt er sich eine Hand vor das Gesicht, als könne er die geheimnisvolle Aura, die ihn umgab, allein Kraft seines Willens bezwingen. Zum wiederholten Male aber begann sein Herz unter dem Ansturm geballter Furcht wie rasend zu pochen.
Meine Hand! Was ist denn nur mit meiner Hand geschehen!?
Einem Fremdkörper gleich streckte er den Arm von sich weg. Er war halbtransparent und nur eine tiefschwarze, faserige Kontur ließ seine frühere Form erahnen. Martinez blickte an sich herab - und der Effekt war derselbe! Er war nicht mehr er selbst! Er war zu etwas mutiert, das man bestenfalls als Geistwesen bezeichnen konnte. Und in seinem Innern vernahm er immer drängendere, immer stärker forderndere Einflüsterungen, die ihm auch noch seine Persönlichkeit rauben wollten. Plötzlich wurde es dunkel. Starr stand Rodrigo Martinez für unbestimmte Zeit da. Dann besann er sich auf die beiden Männer, die urplötzlich aufgesprungen waren. Einer stand unschlüssig im Raum, der andere schien zur Abwehr eines Angriffs bereit. 80
»H-e-l-f-e-n S-i-e m-i-r!«, stöhnte der Spanier und es klang wie ein lang gezogenes Heulen. Diese eine Person, der hoch gewachsene Mann, malte merkwürdige Gebilde in die Luft. Zielstrebig trat ihm Martinez, gefolgt von einer seelenlosen Armee, entgegen. * Die Materialisation war ebenso schmerzhaft wie das Überqueren einer Straße. Sie merkten nichts davon. Doch als sich die Gruppe im Keller der Jordans wieder fand, war Philip Ravenmoor der einzige, der die Gefahr sofort erkannte. Er versetzte Richard und Dominique einen festen Stoß, der sie aus der Kammer beförderte, in der das Wappen - eigenwillig kreisend - in der Luft schwebte. Ebenfalls in derselben Sekunde wurde es für den Höllenjäger fast schon zur Gewissheit, dass das Siegel nun unter der absoluten Kontrolle der Finstermächte stand. Er handelte ohne Verzögerung! Lautlose Beschwörungen flossen über die Lippen des großen Mannes. Sein Brustkorb vibrierte und erzeugte einen tieffrequenten Ton, während seine Hände eigenartige, doch vollkommen gleichförmige Bewegungen vollführten. Das Siegel glühte auf wie eine Eisenplatte, die seit Stunden in einem Schmelzofen lag. Metallisches Kreischen ertönte. Ein breiter Riss fraß sich der Länge nach durch die trigonometrischen Körper, spaltete sie auf. Ein Chor aus lausenden gepeinigten Seelen schien aufzuschreien, quoll als furcht erregende Mahnung aus dem doppelt fingerbreiten Sprung in dem ehernen Schild. »Rennt, wenn ihr leben wollt!«, brüllte Ravenmoor. Richard überlegte nicht weiter. In dem einen Moment sah er noch den fragenden Ausdruck im Gesicht der Französin. Wahrscheinlich hatte sie Philip nicht verstanden. Er hatte zu schnell gesprochen. Im dar81
auf folgenden Augenblick hatte der Student bereits ihren Unterarm gepackt und zerrte Dominique hinter sich her. Ravenmoor drehte sich im Sprung, kam vor der unsichtbaren Barriere der Siegelkammer wieder auf die Füße. Erneut formte er in Gedanken eine Formel, faltete die Hände und führte die Fingerspitzen an die Stirn. Keine Sekunde zu früh! Etwas... Gigantisches bäumte sich auf, zerstob zu Myriaden vorschnellender Schrapnelle. Die titanische Faust eines unvorstellbaren Kolosses erschütterte das Gebäude in seinen Grundfesten - und stieß auf den energetischen Schutzwall, den Ravenmoor, tatsächlich nur Lidschläge vor ihrer aller Vernichtung, hatte aufbauen können. Die Detonation kollabierte durch ihren begrenzten Ausdehnungsfreiraum, fiel in sich zurück und erzeugte eine Implosion, die alle Materie innerhalb ihres Wirkungsfeldes verdampfte. Als die Wogen der Zerstörung sich legten, zerfiel auch der Schutzschirm. Richard Jordan kam aus seiner Deckung am Ende des Korridors hervor. Mehr beunruhigt als vorwurfsvoll fragte er: »Was, um alles in der Welt, hast du da angestellt, Philip?« Die Antwort kam prompt und nüchtern: »Ich habe die einzige Siegelkammer im Umkreis von tausend Meilen zerstört...« * Nach etwa einer Stunde Aufräumarbeiten hatten Philip und Richard die Renaissance-Villa in einen Zustand versetzt, der die Grundvoraussetzungen für ihre Bewohnbarkeit annähernd gewährleistete. Jetzt saßen sie schweigend im Living-room und verzehrten ein üppiges Mahl, das Dominique Beaumont ihnen zubereitet hatte. Die außergewöhnlich anziehende, junge Frau mit dem kecken Kurzhaarschnitt war leidlich gekleidet in T-Shirt und Boxershorts. Richard hatte sich nicht dazu überwinden können, der Französin Sachen seiner Mutter anzubieten. Allein beim Gedanken an ihr Leid fühlte der Siebenundzwanzigjährige einen stechenden Kloß in der Kehle. 82
Alle aßen sie mit Heißhunger. Irgendwann ist der Körper derart ausgemergelt, dass selbst unangenehme Stimmungen die Grundbedürfnisse nicht mehr überlagern können. Trotzdem befielen Richard Jordan ernste Zweifel. Er horchte in sich hinein, doch das Echo seiner Empfindungen verlor sich in der beklemmenden Leere seines Geistes. Er war einfach noch kein Höllenjäger. Er besaß weder das Wissen noch die Macht, dem Bösen gegenüberzutreten. Wann würde sich dieser Zustand ändern? Wer würde ihm helfen? »Tu n'es pas faim...?«, erkundigte sich Dominique und gebrauchte - zum ersten Mal - die persönliche Anrede. »Hast du keinen Hunger?« Der Student reagierte ungewohnt aggressiv; er fühlte sich ausgebrannt, wollte allein sein. Nach Unterhaltungen stand ihm beileibe nicht der Sinn. »Was interessiert dich das?! - Lass mich in Ruhe!« Er stand auf und verließ den Raum. Zwar tat ihm sein schroffer Ton augenblicklich leid, andererseits befand er sich in einer Verfassung, in der er bewusst kränkend sein wollte. Dominique zuckte zusammen, war verletzt. Sie schaute hilfesuchend zu Ravenmoor hinüber. Der schüttelte den Kopf. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mademoiselle. Der Junge ist verwirrt, fühlt sich nutzlos. Richard hat in den vergangenen Tagen mehr mitgemacht, als ein normaler Mensch im ganzen Leben.« Er hatte sehr langsam gesprochen. »Ich rede mit ihm.« »Merci beaucoup, Monsieur Ravenmoor...« »Philip. Sagen Sie Philip.« »Oui, d'accord - Philip.« Dominique zeigte ihm ihr strahlendstes Lächeln. Es war ein Lächeln, das selbst einen eingefleischten Miesepeter in einen Sonnenschein verwandelt hätte. »Aber da ist noch etwas«, erklärte sie zögernd, merklich bedauernd. »Ich kann nicht bleiben. Ich habe eine Arbeit in Lyon, eine Wohnung, Verpflichtungen. Ich muss zurückgehen.« »Sicher. Das habe ich mir bereits gedacht«, pflichtete Ravenmoor ihr bei. »Auch ich muss mich bei meinem Auftraggeber melden... und 83
ich nehme Richard mit. Er kann jetzt nicht mehr alleine in Kensington bleiben. Er wird viel lernen müssen. Möglicherweise ein anderer Mensch werden...« Ravenmoor stockte. »Ein Mensch vielleicht, den Sie nicht mehr lieben könnten...« Die Französin senkte den Kopf. Sie stand auf und ging zu dem angelehnten Fenster, durch das man in den weitläufigen, parkähnlichen Garten sehen konnte. Wehmütig schaute sie in die Nacht. Der Höllenjäger hatte sie durchschaut. Ihre Gefühle für Richard waren ihm nicht verborgen geblieben. Dominique konnte sie selber nicht verstehen. In Lyon wartete ihr Freund Gerard. Doch obwohl sie ihn seit Jahren kannte, fehlte ihm etwas, das sie bei Richard gefunden zu haben glaubte. Was war es, das sich derart schlecht beschreiben ließ? Richard kam ihr nicht vor wie ein Fremder, dem sie vor Stunden erstmals begegnet war, nein, es erschien der Französin, als hätte sie ihn nach langer Zeit wieder gefunden. Seltsam... »Morgen buche ich einen Flug für Sie. Über die Formalitäten und die Kosten brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Ich regele alles.« Dominique Beaumont drehte sich halb zu Philip herum und nickte flüchtig. Ravenmoor rieb sich über die Augen. Er würde jetzt schlafen gehen. Der kommende Tag konnte bereits neue Gefahren bringen. * Der Abschied kam schnell und schmerzlos. Zumindest hatte es den Anschein. Philip Ravenmoor hatte seine Pläne geändert und eine Maschine von Mister Denningham-Cartlewood angefordert. Am Flughafen hatte er Dominique Beaumont einen Ersatzausweis ausstellen lassen. Die Formalitäten gingen erfreulich rasch über die Bühne. Richard hatte sich wieder gefangen und bei der Französin bekümmert entschuldigt. »Ich weiß, dass es nicht böse gemeint war«, hatte sie daraufhin in ihrem niedlichen Akzent gesagt. »Gestern Abend schon habe ich es gespürt.« 84
Ravenmoor lud Richard und Dominique zu einem ausgiebigen Shopping ein. Sie gingen essen, bummelten an den Geschäften der Mall vorbei und genossen die Aussicht auf das Außengelände, über das alle paar Minuten träge ein stählerner Koloss irgendeiner Fluggesellschaft rollte. Den krönenden Abschluss schließlich sollte noch der Besuch einer Boutique bilden. Richard verdrehte zwar die Augen, doch Philip verwies darauf, dass man eine Dame letzten Endes nicht in Jeans und Pullunder in nach Frankreich einreisen lassen könnte. Das ließe sich nicht mit dem weltbekannten Pariser Chic vereinen. Unter fachkundiger Anleitung der jungen Französin erstand Ravenmoor einige Dessous und modische Damenoberbekleidung. Des öfteren wurde der hoch gewachsene Mann vom Personal auf seine äußerst hübsche Frau angesprochen. Es fiel ihm sichtlich schwer, den engagierten Damen zu gestehen, dass sie weder verheiratet noch in irgendeiner Form liiert waren. Das allerdings brachte ihm eine Menge viel sagender Blicke ein. Umso mehr, als Dominique sich ihm an den Hals warf, um ihm überschwänglich für die Geschenke zu danken. »Tu es formidable!« »Ich setze es auf mein Spesenkonto.« Richard Jordan hatte vor dem Modegeschäft gewartet und nur ab und zu einen Blick in den Innenraum geworfen. Er hatte zwar nicht hören können, was gesprochen wurde, doch entbehrte die Situation aus seiner Sicht nicht einer gewissen Komik, wenn Ravenmoor gestenreich auf die Verkäuferinnen reagierte oder auf die Dessous, mit denen Dominique vor seiner Nase herumwedelte. Nach einer halben Stunde trippelte sie damenhaft verwandelt mit zwei großen Tüten und Ravenmoor im Schlepptau zur Tür hinaus, die von einer Angestellten aufgehalten wurde. »Wir können los«, fasste sich der große Mann mit den graublauen Augen kurz. »Wenn keine Einwände bestehen.« »Auf geht's«, sagte Richard und legte einen Arm um Dominiques Taille. Es war eine zaghafte Geste, doch sie fand ihre Erwiderung. »Du siehst toll aus.« Die Männer begleiteten Dominique Beaumont bis zum Gate. 85
»Guten Heimflug«, nickte Ravenmoor ihr zu. »Pass auf dich auf, Mädchen.« Sie lächelte, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann ging sie zu Richard hinüber, der verstohlen herübergesehen hatte. Er kam sich vor wie ein Schuljunge bei seinem ersten Date. Seine Gefühle wollten sich überschlagen. In seinem Hals spürte er einen fast schon schmerzenden Druck. Stumm stand sich das Paar lange Sekunden gegenüber, unfähig, den echten Empfindungen Luft zu machen. Ihre Blicke trafen sich und all das, was so unsagbar schwer auszusprechen war, spiegelte sich in ihren Augen wider. Dominique wagte - wie es Frauen nun mal so tun - den ersten Schritt, presste sich fest an den jungen Mann, der, anfangs zögernd und unsicher, ihre Leidenschaft erwiderte. »Ich werde dich niemals vergessen«, flüsterte sie ihm zärtlich ins Ohr. »Non plus...« »Das brauchst du nicht. Es ist kein Abschied für immer.« Richards Hände tasteten nach ihrem Gesicht. Er schloss die Augen und genoss die Nähe ihres Körpers. Was war es, was ihn wie magisch an Dominique anzog? Waren sie sich schon einmal begegnet? Unter anderen Umständen? Vielleicht sogar in einem anderen Leben...? Allein die Vorstellung erschien Richard zu abwegig, um sie weiter zu verfolgen. Aber war sie das wirklich? Der Teil in seinem Innersten, der der Intuition folgte, hatte die Antwort bereits gefunden. Die beiden sahen sich lange in die Augen und jeder fand in denen des anderen die leise Bestätigung seiner geheimsten Vermutungen. »Ich muss jetzt gehen«, sagte Dominique tonlos. »Sonst wird alles nur noch unerträglicher.« Eilig wandte sie sich ab, warf keinen Blick zurück und ging durch die Abfertigung. Hinter dem nächsten Korridor wartete der Privat-Jet Denningham-Cartlewoods. Ravenmoor verständigte sich über Handy kurz mit dem Piloten. Er solle gut auf die Frau aufpassen und Mister Denningham ausrichten, dass Ravenmoor in den nächsten Tagen mit Jordans Sohn eintreffen würde. 86
Philip beendete das Gespräch und steckte das Telefon ein. »Komm, mein Freund. Keine Zeit, trüben Gedanken nachzuhängen. Ich habe noch mit dir zu reden.« Richard nickte benommen. Vor dem Hauptterminal stiegen sie in den Probe. Philip Ravenmoor wartete, bis das Flugzeug in den Wolken verschwunden war und gab Gas. * »Würdest du mal einen Blick auf diese Tageszeitung werfen?« Ravenmoor hatte sie auf der Rückfahrt an einem Straßenstand gekauft. Jetzt stellte er das halbgefüllte Wasserglas auf den Tisch im Living-room der Jordan-Villa und lehnte sich erwartungsvoll auf der Couch zurück. Richard schaute verständnislos. »Das Datum...«, half der Höllenjäger ihm auf die Sprünge. »Heute ist Samstag.« »Ja und?« Der junge Mann begriff immer noch nicht - bis der Funke unvermittelt übersprang. »Meine Güte! Dann wären ja seit unserem Sprung durch die Siegelkammer drei Tage vergangen...!« »Drei Tage«, wiederholte Ravenmoor mit eigentümlicher Betonung. »Und drei Wochen! Wir haben Mitte Oktober.« Jordan schnappte nach der Zeitung. Die Zahlen und Buchstaben aber ließen sich nicht hinwegdeuten. Es stimmte! Auch, wenn es nicht sein konnte! »Das ist nicht wahr!«, stammelte er fassungslos und seine Worte standen in genauem Gegensatz zu dem, was sein flackerndes Augenlicht ihm präsentierte. »Als Höllenjäger wirst du dich mit dieser und anderen Tatsachen abfinden müssen.« Philip Ravenmoor machte eine knappe Sprechpause, doch seine eindringlich hervorgebrachten Worte hatten auch so ihre Wirkung nicht verfehlt. »Ich habe dir bereits gesagt, dass du dir unter einer Siegelkammer keinen dreidimensional begrenzten Raum vorstellen darfst. Sie existiert noch nicht einmal auf der Wahrnehmungsebene der materiellen Welt. Ebenso verhält es sich mit dem 87
spirituell konditionierten Bewusstsein, das in ihr wacht.« DenninghamCartlewoods Kurier überlegte einen Moment, ob das Wort ›spirituell‹ dem jungen Richard nicht eine unpräzise, falsche Sicht der Gegebenheiten vermittelte. Andererseits wollte er seinen Schützling nicht noch weiter irritieren und beließ es bei der Beschreibung. »Dieses Bewusstsein kontrolliert verschiedene Elemente; es ist auf höchst unterschiedliche Daseinsebenen ausgerichtet, die sich lediglich durch ihre, Geometrie und Tonalität unterscheiden. Das ist jetzt - sicher für dich unverständlich und auch die Tatsache, dass der Mensch sich wie ein Schlafwandler durch eine Realität bewegt, die er vielleicht zu drei Prozent mit seinen fünf Sinnen erkennen kann, bringt dich nicht wirklich weiter. Was du jedoch wissen solltest ist, dass der Siegelgeist auch der Hüter ist über ein enormes Wissen, ein weit verzweigtes Transportnetz und... Waffen. Die Loge benutzt sie im Kampf gegen Geschöpfe, wie Amalnacron eines ist. Wir wissen nicht, woher diese Waffen stammen und wer sie entwickelt hat; teilweise ist uns ihre Funktionsweise nicht bekannt. Sie dürfen einzig in akuten Notfällen eingesetzt werden. Und nur dann werden sie uns zur Verfügung gestellt. Da Gewalt immer negatives Potential beinhaltet - also genau das, was unsere Gesinnung uns untersagt -, können wir uns der eingangs erwähnten Kampfmittel so selten wie es nur geht bedienen. Ihre Zerstörungskraft liegt weit jenseits deiner Vorstellung und sie beschränkt sich nie nur auf unsere Gegner. Die weiteren Hintergründe sind selbst mir nicht bekannt.« Richard stützte die Ellbogen auf die Knie. Die gefalteten Hände führte er zum Gesicht, als müsse er sehr konzentriert nachdenken. Dann aber war er sich unsicher, wo er ansetzen sollte. »Dass dieser mysteriöse Denningham-Cartlewood dich geschickt hat, hast du mir gesagt. Aber um wen es sich handelt, weiß ich immer noch nicht.« »Das ist auch nicht weiter wichtig«, stellte Ravenmoor klar. »Nicht die Person zählt, sondern ihre Taten. Sir Denningham-Cartlewood analysiert bereits seit annähernd zwei Jahrzehnten Artefakte, Sternzeichenkonstellationen, Energiekörper, von deren Existenz unsere heutige Wissenschaft gar nichts weiß und Galaxien, so endlos weit entfernt, 88
dass ihr Licht selbst mit den leistungsfähigsten Teleskopen nicht wahrgenommen werden kann. - Er kann es. Ihm stehen die effizientesten Computersysteme zur Verfügung, Rechner, die über Kapazitäten verfügen, für die noch keine Bezeichnung gefunden wurde. Diese Systeme arbeiten Tag und Nacht, Woche für Woche, Monat für Monat. Wonach genau mein Auftraggeber sucht, entzieht sich meiner Kenntnis. Doch in dieser für einen Sterblichen unwahrscheinlich langen Zeit, ist es ihm nicht gelungen, es zu finden.« Der Student konnte nicht leugnen, dass ihn das Gehörte faszinierte. Die Ausmaße, die die Geschichte der Layshi-Pan annahm, wurden allmählich unüberschaubar. Richard empfand schaudernde Ehrfurcht vor dem Vermächtnis von... ja, von wem? Ein fragender Blick streifte Philip Ravenmoor, doch der war mit einemmal anderweitig beschäftigt. Sein Kopf kreiste bedächtig von links nach rechts und wieder zurück, als würde er eine Art Witterung aufnehmen. Die Gesichtshaut des Höllenjägers spannte sich; alle Farbe war daraus gewichen. »Was ist in diesem Haus geschehen vor meiner Ankunft?« Eiskalter Schauder vor dem Unbegreiflichen, das wie ein Damoklesschwert über ihnen beiden hing, prägte seine Frage. »Sag' es mir, Richard! Es ist von äußerster Wichtigkeit!« »Ich... habe meinen Vater gesehen...« Richard presste die Augenlider zusammen. Sein Denkvermögen war stark beeinträchtigt. Irgendetwas - irgendjemand! - wollte verhindern, dass er sich an Details erinnerte. »Er war plötzlich da... in der Bibliothek. Und dann erschienen diese körperlosen Schemen. Umschwirrten mich wie bösartige Insekten. Ich flüchtete in den Keller. Doch sie verfolgten mich! Mein Vater verfolgte mich!« Er schluckte. »Philip! Er war nicht mehr derselbe! Etwas Grauenhaftes hatte von ihm Besitz ergriffen...!« Die Antwort genügte Ravenmoor. »Dann hat Edward mich möglicherweise getäuscht. Er wusste von der Manipulation der Siegelkammer. Sie sollte für uns beide zur Falle werden. Wir hätten uns ausweglos im Netz der Dimensionen und Zwischenebenen verheddert, ohne jemals wieder in diese Realität zurückzufinden.« 89
Philip Ravenmoor war sich seiner Sache absolut sicher. Daher war seine abschließende Folgerung von messerscharfer Logik geprägt. »Der ursprüngliche Plan ist fehlgeschlagen. Das bedeutet...« »... dass dieses Etwas, das einmal mein Vater war, noch hier im Haus ist!« Eine kalte Totenhand griff nach Richards Herz. Die Bedrohung lag greifbar in der Luft. Die beiden Männer froren in dem wohltemperierten Living-room, der ihnen plötzlich wie ein Kerker erschien, durch den ein eiskalter Wind strich. Und dann verlöschte das Licht! * Die Finsternis wurde lebendig und gebärdete sich als alles verschlingender Parasit, der sich den letzten Rest angstvoll wimmernder Helligkeit gierig einverleibte. Erneut jagte ein frostiger Windstoß durch das Zimmer. Mit ihm kamen die blassen, Semitransparenten Schemen. Jede Menge von ihnen. Sie schwebten wie an unsichtbaren Fäden unerträglich langsam heran. Riesige Münder gaben dumpfe Klagelaute von sich. »Sie sind mehr oder weniger ungefährlich, Junge. So etwas wie Suchende, die den Weg ins Licht nicht finden oder denen ihr Ableben in dieser Welt noch nicht bewusst geworden ist. Bleib' trotzdem auf Distanz. Manchmal sind sie etwas... unbeholfen.« Wie zur Bestätigung machte sich das Mobiliar selbständig. Schränke, Tische, Stühle krachten zu Boden. Vasen, Bilder, Wandteller - praktisch alles, was dem ersten Angriff nicht zum Opfer gefallen war schossen in alle Himmelsrichtungen davon, wurden klirrend an den Wänden zerschmettert oder zerbarsten mit überlautem Splittern bereits im Flug. Richard Jordan hatte sich zu Boden geworfen und die Arme schützend über dem Kopf verschränkt. Ravenmoor hingegen stellte sich rücksichtslos den Gewalten dieses Höllensturms. Minutenlang wüteten die besessenen Seelen in der Villa, bevor sie ihr wüstes Treiben einstellten und wieder zur Ruhe kamen. 90
»Der Strom ist ausgefallen«, teilte Richard mit, der sofort zu der noch intakten Stehlampe geeilt war, nach mehrmaligem Drücken des Kippschalters jedoch die Hoffnung aufgab, dass sie doch noch aufflammen würde. Der Fluch der Elektrizität bestand darin, dass man sich zu sehr an sie gewöhnte und schließlich recht hilflos war, wenn sie versagte. In der Küche mussten irgendwo Kerzen sein. Richard tastete sich durch die Dunkelheit über die Trümmer hinweg, hatte dabei aber stets ein unangenehmes Kribbeln im Genick, als würden ihn zahllose Augenpaare beobachten. Schneller als erwartet fand er die Kerzen - mitsamt Streichhölzern. Richard entzündete zwei von ihnen; eine reichte er Philip. Die kleinen Flammen brannten ruhig den Docht ab, spendeten fahlen Schein, der die Umrisse verschiedener Gegenstände notdürftig aus der Schwärze riss und eigenwillig bewegte Schatten an Decke und Wände zauberte. »Du kannst unmöglich hier bleiben«, sagte Ravenmoor bestimmt. »Jetzt weniger, als je zuvor. - Sieh' dir das mal an...« Der Siebenundzwanzigjährige trat neugierig an den Wohnzimmertisch heran. Erst konnte er nichts erkennen. Dann weiteten sich seine Augen in ungläubigem Entsetzen. Ein dunkler Belag hatte sich auf den Tischkacheln gebildet. Sie waren an zahlreichen Stellen gesprungen, scheinbar unter dem Einfluss extremer Hitze. Die massive Edelholzeinfassung war unnatürlich verbogen, jedoch nicht gesplittert. Deutlich war eine Inschrift zu lesen. Sie war wie mit einem Schweißbrenner eingraviert: DEIN ENDE KOMMT AUF COL'SHANDUUR! Das Bild verschwamm vor Richards Augen. Seine Sinne rebellierten. Die Botschaft löste in ihm eine Assoziationskette aus, die ihn mit einer Flut negativer Eindrücke überschwemmte. Die Visionen hinterließen ätzende Wunden in seinem Geist. Doch sie schwanden. »Wer hat das geschrieben, Philip? Was hat das zu bedeuten?« Ravenmoor antwortete nicht sofort. Doch als er die Stimme erhob, schwang ein bedrohlicher Unterton in ihr mit, der von bevorstehendem 91
Grauen kündete: »Amalnacron - oder was immer er jetzt verkörpert ist hinter dir her, Richard. Und er will mit aller Macht deine Weihung zum Höllenjäger verhindern!« * Der glutrote Ball der Sonne schob sich vorsichtig blinzelnd über die Dächer der Häuserzeilen. Das Dunkel wich den forschen Strahlen der Morgendämmerung und erweckte die schlafende Stadt wieder zum Leben. Die ganze Nacht über hatte Richard Jordan kaum ein Auge zugemacht und als das Licht des erwachenden Tages seinen seidigen Schimmer durch die Schlitze der Jalousien warf, spürte er erst die unwiderstehliche Müdigkeit, die seine Lider, als wären sie mit Blei gefüllt, niederdrückte. Als er dann doch irgendwann aus unruhigem Schlaf erwachte, hatte die Sonne den Zenit bereits überschritten. Leicht benommen richtete der junge Mann sich auf. So ganz ausgeschlafen war er immer noch nicht. Richard verließ sein Zimmer, hörte, dass die Haustür aufgeschlossen wurde und beugte sich über das Geländer der Galerie. Ravenmoor winkte ihm launig zu. Er war gerade aus der Stadt zurückgekehrt. Minuten später saßen sie gemeinsam im Living-room, der zwar arg gelitten hatte, von Ravenmoor aber einigermaßen hergerichtet worden war. Strom gab's ebenfalls wieder; der Student registrierte es beiläufig über die Standby-Anzeige des Fernsehgerätes. »Ich habe eine interessante Lektüre besorgt«, erklärte Ravenmoor ungeachtet Richards griesgrämigen Gesichtes, dem die Schläfrigkeit wie ein Abziehbild aufgepappt war. »An sich habe ich gar nicht damit gerechnet, das Magazin hier bei euch zu bekommen. Normalerweise ist es nicht am Kiosk an der Ecke erhältlich.« Jordan warf einen interessierten Blick auf das Cover. OCCULT SCIENCES stand da in großen Lettern geschrieben. »Ein guter Bekannter der Loge ist Reporter für diese Zeitung. Er recherchiert weltweit außergewöhnliche Phänomene und steht in lo92
sem Kontakt zu Mister Denningham-Cartlewood. Dieser Reporter also sein Name ist Kato Saykushi - berichtet in der vorliegenden Ausgabe über eigenartige Vorfälle, die sich vor zirka vier Wochen zugetragen haben. Also kurz vor unserem Eintritt in die Siegelkammer.« Der Siebenundzwanzigjährige horchte auf. »Um was geht es?« »Da ist zum einen ein spurlos verschwundenes Passagierschiff, das vor den Furneaux-Inseln kreuzte und aller Wahrscheinlichkeit nach einer rätselhaften Sturmflut zum Opfer fiel. Zum anderen gibt es diverse Fälle von Menschen, die einfach vom Angesicht der Erde getilgt wurden. Ihre Häuser und Wohnungen weisen mittelmäßige bis schwerste Verwüstungen auf. Saykushi ergeht sich in diesem Zusammenhang lediglich in Vermutungen. Bemerkenswert ist aber, dass sich auf der Liste der verschwundenen Personen auch unsere Dominique befindet...« »Lass mal sehen«, sagte Richard aufgeregt und nahm die Zeitschrift an sich. »Überleg' doch mal, mein Freund. Genau zu dem Zeitpunkt hat Amalnacrons Verpuppung stattgefunden. Dabei muss eine enorme Menge paranormaler Energie freigeworden sein.« »Ja«, bestätigte Richard. »Es hat eine höllische Explosion gegeben.« »So habe ich mir das vorgestellt.« Ravenmoor nickte mehrmals knapp, presste die Lippen zusammen. Dann sagte er: »Es sind gewaltsam die Trennwände oberhalb der dritten Dimension aufgebrochen worden. Die Verpuppung Amalnacrons hat dies bewirkt. Es kam zur zeitweisen Überlappung nicht kompatibler Daseinsebenen. Spontane Eruptionen und Löcher, in die Energien und Materie abfließen konnten, die aber umgekehrt auch Energien beziehungsweise Fremdkörper hineinließen.« »Was Dominique Beaumont angeht wissen wir ja, was ihr widerfahren ist«, warf Richard ein. »Aber was ist mit all den anderen Menschen? Wohin hat es sie verschlagen?« Ravenmoor zuckte die Schultern. »Die Frage wird dir niemand hundertprozentig beantworten können. Diese Männer und Frauen sind durch äußere Einflüsse ihrer Welt 93
entrissen worden. Sie wandern auf den trügerischen Graten von Raum und Zeit. Wobei der Raum den entscheidenden Faktor darstellt, denn die Zeit ist nur ein Konstrukt polarer Existenzformen. Sie ist eine Illusion. Wenn die Illusion aber für die Verschwundenen zur Wahrheit wird, haben sie nie mehr die Möglichkeit, in das Hier und Jetzt zurückzukehren. Dann hat sich das Tor zu unserer Welt für immer hinter ihnen geschlossen...« *
Irgendwo Erschrocken fuhr Günter Wegener zusammen. Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn und an den Schläfen gebildet. Er hatte nur geträumt! An Einzelheiten konnte er sich nicht mehr erinnern, aber es musste ein unangenehmer Traum gewesen sein. Jetzt war alles wieder in Ordnung. Er saß am Steuer seines Audi A4 und der stand auf dem Parkplatz einer Raststätte. Draußen regnete es beständig wie aus gewaltigen Schleusen. Vollkommen durchnässt erreichte der Geschäftsführer den Innenraum des Gasthofes. Abgestandene, von Rauch und Küchengewürzen durchsetzte Luft schlug ihm entgegen. Er bestellte einen Kaffee und wollte sich anschließend im Waschraum frisch machen. Dass er dazu um das Gebäude herumgehen musste, erschien ihm nicht weiter tragisch. Es schüttete wie aus Eimern. Nur der vorstehende Dachsims bewahrte Wegener vor dem Gröbsten. Auf schwer zu beschreibende Weise erschien dem Immobilienhändler die Situation grotesk. Jedoch erst die seltsamen Nebelschweife, die sich entgegengesetzt zur Windrichtung bewegten, mahnten ihn zur Aufmerksamkeit. Hier stimmte etwas nicht! Die Erkenntnis indes kam zu spät. Und als Günther Wegener voller Panik vor den stampfenden, grausigen Geräuschen und geisterhaften Erscheinungen in die Sicherheit des Rasthofes zurückkehren wollte, da 94
war plötzlich der Eingang verschwunden, ja, das komplette Gebäude war nicht mehr vorhanden. Die Angst vor dem Unbekannten fraß ihn förmlich auf. Er fiel auf die Knie und begann jämmerlich zu schluchzen. Die Welt verschwamm hinter einem Tränenschleier. Und dann... ... wachte er unvermittelt auf. Ein Traum! Nur ein böser Traum!, sagte sich Günther Wegener, auch wenn er sich auf keine Details besinnen konnte. Alles, woran er sich erinnerte, war, dass er vor dem Unwetter Schutz bei einer Raststätte gesucht hatte. Und nun stand er mit seinem Wagen auf dem Parkplatz unmittelbar neben dem Gasthof. Wegener schlug den Kragen seines Mantels hoch und wagte einen beherzten Vorstoß durch den prasselnden Regen. Innerhalb von Sekunden war er nass bis auf die Haut. Aber erst, als der Immobilienhändler die Tür des Gasthauses öffnete und er die eigenwillige Mischung aus rauchdurchsetzter Luft und mannigfaltigen Küchengerüchen atmete, kam ihm erstmals dieser entsetzliche Verdacht, der fortan sein Denken beherrschen sollte. Er wusste, was er sagen würde und er kannte die Antworten, die die Mitspieler des satanischen Szenarios bereithielten. Es war wie ein grausiges Dejä-vu, das einer einzigen, gnadenlosen Gewissheit entsprang: Er hatte dies alles schon zum wiederholten Male durchlebt! Einzig winzige Nuancen unterschieden die wiederkehrenden Realitäten voneinander; eine Bewegung, ein Wort, vielleicht ein verhaltenes Räuspern oder ein nervöser Lidschlag. Er starrte auf die Trucker, das Trio am Ecktisch, das Pärchen vor ihm und die einsam im hintersten Winkel sitzende Frau. Sah sie ihn an? Sah sie ihn dieses Mal an...? Günter Wegener musste lachen. Laut und anhaltend. Ihm war ganz deutlich bewusst, an dieser Stelle niemals zuvor gelacht zu haben. Mit ebenso zwingender Eindeutigkeit war er sich aber auch darüber im klaren, dass diese Erkenntnis nichts an der Weiterführung seines ganz persönlichen Dilemmas änderte. Von jetzt bis in alle Ewigkeit... 95
Ende
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