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William Tenn Das Robothaus HEYNE-BUCH Nr. 3297 im Wilhelm Heyne Verlag, München Titel der amerikanischen Originalausgabe THE SEVEN SEXES Deutsche Übersetzung von Heinz Nagel 2. Auflage Redaktion und Lektorat Günter M. Schelwokat Copyright © 1968 by William Tenn Printed in Germany 1972 Umschlagentwurf: Atelier Frank & Zaugg, Wabern/BE, Schweiz Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg
Scan & K-Lesen: WS64
INHALT
Bernie (BERNIE THE FAUST)
Das Eiskrem-Ungeheuer (THE MALTED MILK MONSTER)
Der Botenjunge (ERRAND BOY)
Das Robothaus (THE HOUSE DUTIFUL)
Der Menschenbaukasten (CHILD’S PLAY)
Asyl in der Zukunft (SANCTUARY)
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Bernie Ricardo nennt mich Bernie, der Faust. Ich weiß nicht, was ich bin. Hier bin ich. Ich sitze in meinem kleinen Zwei-mal-drei-MeterBüro und lese Berichte über Sonderverkäufe von überschüs sigen Militärgeräten. Ich versuche herauszukriegen, wo man vielleicht ein paar Dollar abstauben kann. Da öffnet sich die Bürotür. Ein kleiner Bursche mit schmutzigem Gesicht und einem sehr schmutzigen, sehr zerknitterten Palm-Beach-Anzug kommt in mein Büro und sagt: »Möchten Sie einen Zwanziger für einen Fünfer kaufen?« Das war’s. Ich meine, das ist alles, was ich weiß. Ich sah ihn an und fragte: »Waaas?« Er schlurfte mit den Füßen und hustete. »Einen Zwanziger!« murmelte er. »Einen Zwanziger für einen Fünfer!« Ich zwang ihn, die Augen zu senken und seine Schuhe anzustarren. Es waren lausige, abgewetzte Schuhe, schmutzig wie der ganze Mann. Hin und wieder zuckte seine linke Schulter. »Ich gebe Ihnen zwanzig«, erklärte er seinen Schuhen, »und kaufe Ihnen damit einen Fünfer ab. Ich hab’ dann fünf und Sie zwanzig.« »Wie sind Sie in das Gebäude gekommen?« »Ich bin einfach reingegangen«, sagte er etwas verstört. »Sie sind einfach reingegangen!« Ich ahmte seine Stimme dabei nach. »Und jetzt gehen Sie wieder hinunter und gehen wieder hinaus. In der Halle ist ein Zeichen – BETTELN VERBOTEN!« »Ich bettle nicht.« Er zupfte an seinem Jackett. Es war gerade, als versuchte er, einen Schlafanzug in Form zu ziehen. »Ich möchte Ihnen etwas verkaufen – einen Zwanziger für einen Fünfer. Ich geb’ Ihnen…« »Soll ich einen Polizisten rufen?«
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Er sah mich verängstigt an. »Nein! Warum sollten Sie einen Polizisten rufen? Ich hab’ doch nichts getan, daß Sie einen Polizisten rufen müßten!« »Ich rufe in einer Sekunde einen Polizisten. Ich warne Sie jetzt! Ich brauche bloß in die Halle hiunterzutelefonieren, dann kommt ein Polizist herauf. Man will keine Bettler in diesem Gebäude. Das ist ein Bürogebäude.« Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht, wischte damit etwas Dreck ab und fuhr dann mit der Hand über sein Jackett, so daß der Dreck dort hängenblieb. »Kein Geschäft zu machen?« fragte er. »Einen Zwanziger für einen Fünfer? Sie kaufen und verkaufen doch. Warum wollen Sie mit mir kein Geschäft machen?« Ich griff nach dem Telefon. »All right«, sagte er und hob seine schmutzige Hand. »Ich geh’ ja schon!« »Ist auch besser. Und machen Sie die Tür hinter sich zu!« »Bloß für den Fall, daß Sie sich’s anders überlegen.« Er griff in seine Hosentasche und zog eine Karte heraus. »Sie können mich hier erreichen. Fast jederzeit, tagsüber.« »Hau ab!« sagte ich. Er griff über meinen Schreibtisch, ließ die Karte fallen, auf all die Preislisten und Rundschreiben, hustete ein- oder zweimal und sah mich an, ob ich vielleicht doch anbeißen würde. Nein? Nein. Er verschwand. Ich nahm die Karte mit den Fingerspitzen auf und wollte sie schon in den Papierkorb fallen lassen. Dann hielt ich inne. Eine Karte. Das paßte einfach nicht – ein schmieriger Kerl wie der mit einer Geschäftskarte! Das Ganze war übrigens ungewöhnlich. Jetzt tat es mir schon leid, daß ich ihn nicht hatte gewähren lassen; schließlich hätte es mich nicht umgebracht, ihm zuzuhören. Was wollte er denn anderes, als mir eine neue Masche andrehen? Und eine neue Ma-
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sche kann ich auch gebrauchen. Ich arbeite in einem kleinen Büro. Ich kaufe und verkaufe; aber die Hälfte meines Betriebskapitals besteht aus guten Ideen. Ideen kann ich immer brauchen, selbst von einem Tramp. Die Karte war sauber und weiß, bloß an der Stelle nicht, wo er sie angefaßt hatte. Sie trug in einer Art dekorativer Handschrift die Worte »Ogo Eksar«. Darunter standen der Name und die Telefonnummer eines Hotels am Times Square, nicht weit von meinem Büro. Ich kannte das Hotel. Es war nicht teuer, aber auch keine billige Absteige. In einer Ecke der Karte war eine Zimmernummer angegeben. Ich starrte die Karte an und kam mir komisch vor. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Aber wenn man es sich richtig überlegte – warum sollte er nicht in einem Hotel registriert sein? »Sei kein Snob, Bernie!« sagte ich mir. Einen Zwanziger für einen Fünfer hatte er angeboten. Mann, hätte ich sein Gesicht sehen wollen, wenn ich gesagt hätte: Okay, geben Sie mir den Zwanziger und nehmen Sie den Fünfer, und dann verduften Sie! Meine Preislisten fielen mir ins Auge. Ich warf die Karte in den Papierkorb und versuchte mich wieder meiner Arbeit zuzuwenden. Zwanzig für fünf. Was mochte dann für eine Masche kommen? Ich wurde den Gedanken einfach nicht los. Es gab nur eines zu tun: Ich mußte jemanden danach fragen. Ricardo? Schließlich war er Universitätsprofessor, einer meiner besten Kontaktleute. Er hatte mir schon eine ganze Menge zugebracht – so zum Beispiel einen Tip über das Bauprogramm der Universität, einen Tip, der gut und gern fünfzehnhundert wert war. Dann die Sache mit dem Büromöbelverkauf in den United Nations; solche Sachen. Jedesmal, wenn ich eine Frage hatte, für die man Universitäts-
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bildung brauchte, war er zu haben. Und das Ganze für zwei-, dreihundert, die er als Provision von mir kriegt. Ich sah auf die Uhr. Ricardo war jetzt bestimmt in seinem Büro und benotete Arbeiten, oder was er sonst dort treibt. Ich wählte seine Nummer. »Ogo Eksar?« wiederholte er. »Das klingt wie ein finnischer Name. Vielleicht auch estisch. Aus dem östlichen Baltikum, würde ich sagen.« »Das interessiert mich nicht«, sagte ich. »Ich will was anderes wissen.« Und ich erzählte ihm von der Zwanzig-zu-Fünf-Offerte. Er lachte. »Wieder mal die Masche!« »Der alte Trick, den die Griechen schon den Ägyptern vorgemacht haben?« »Nein. Das haben die Amerikaner erfunden. Und es ist auch kein Schwindel. Während der großen Depression hat eine New Yorker Zeitung einen Reporter in der Stadt herumgeschickt und ihm eine Zwanzig-Dollar-Note mitgegeben, die er für einen Dollar zum Verkauf anbot. Es fand sich niemand, der das Angebot annahm. Der Witz ist, daß selbst Leute, die keine Arbeit haben und kurz vor dem Verhungern stehen, so darauf bedacht sind, sich nicht hereinlegen zu lassen, daß sie einen leichten Profit von neunzehnhundert Prozent in den Wind schlagen.« »Zwanzig zu eins? Das war zwanzig zu fünf.« »Ach, Bernie, du weißt ja – die Inflation«, sagte er und lachte wieder. »Und heutzutage ist so was eher eine Fernsehshow.« »Fernsehen? Du hättest sehen sollen, wie der Mann angezogen war!« »Logisch – das bringt die Leute dazu, das Angebot nicht ernstzunehmen. Wenn wir von der Universität eine Volksbefragung machen, arbeiten wir genauso. Vor ein paar Jahren hat eine Gruppe von Soziologen eine Untersuchung über die Reaktion der Öffentlichkeit auf Straßensammlungen für wohltätige Zwecke unternommen. Du weißt schon – die Leute, die mit Sammel-
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büchsen an Straßenecken herumstehen: ›Helft den zweiköpfigen Kindern, Unterstützung für das überflutete Atlantis!‹ Nun, sie haben ein paar ihrer Studenten in Lumpen gesteckt…« »Du meinst also, daß dieser Bursche in Ordnung war?« »Ich meine, es besteht durchaus die Möglichkeit. Aber warum er dir seine Karte dagelassen hat, weiß ich nicht.« »Das kann ich mir denken – jetzt wenigstens. Wenn das Ganze eine TV-Sache ist, steckt sicher noch eine Menge dahinter. Eine Show, wo sie dann Autos, Kühlschränke, ein Schloß in Schottland und alles mögliche Zeug her schenken.« »So etwas? Nun ja, könnte sein.« Ich legte auf, holte tief Luft und rief Eksars Hotel. Er war dort registriert, und er war gerade zurückgekommen. Ich ging schnell hinunter und nahm ein Taxi. Wer wußte denn schon, was für andere Verbindungen er inzwischen aufgenommen hatte? Als ich im Lift hinauffuhr, überlegte ich. Wie sollte ich es anstellen, von der Zwanzig-Dollar-Note zu den wirklich großen Sachen zu kommen, dem Zeug, das ich dann im Fernsehen kriegen sollte – ohne daß Eksar erfuhr, daß ich ihn bereits durchschaut hatte? Nun, vielleicht würde ich Glück haben. Vielleicht schaffte ich es. Ich klopfte. Als er »Herein!« sagte, ging ich hinein. Aber ein oder zwei Sekunden konnte ich überhaupt nichts sehen. Es war ein kleines Zimmer wie alle Zimmer in dem Hotel: klein und muffig und schlecht gelüftet. Aber er hatte kein Licht eingeschaltet, überhaupt kein elektrisches Licht. Und der Vorhang war vorgezogen. Als meine Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, konnte ich Ogo Eksar sehen. Er saß auf dem Bett und trug immer noch diesen verrückten Palm-Beach-Anzug. Und wissen Sie, was? Er sah sich auf einem komischen kleinen tragbaren Fernseher, der auf der Kommode stand, ein Programm
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an. Farbfernsehen. Bloß, daß es nicht richtig funktionierte. Es gab keine Gesichter, keine Bilder – gar nichts – nur ein Durcheinander von Farben. Ein großer, roter Klecks, ein großer, orangefarbener Klecks und ein Geflimmer von blauen, grünen und schwarzen Streifen. Eine Stimme kam auch aus dem Kasten, aber ich verstand nicht mehr als »Wah-wah, de-wah, de-wah«. Als ich in das Zimmer kam, schaltete er aus. »Am Times Square kann man nicht besonders gut sehen«, sagte ich ihm. »Es gibt hier zu viel Interferenz.« »Ja«, nickte er. »Zu viel Interferenz.« Er stellte den Kasten weg. Ich wünschte, ich hätte ihn gesehen, als er funktionierte. Komisch, wissen Sie? Eigentlich hätte ich in dem Zimmer Alkoholdunst erwartet und ein paar leere Flaschen im Papierkorb. Aber nichts. Der einzige Geruch im Zimmer war ein Geruch, den ich nicht erkannte. Wahrscheinlich war das Eksars Geruch, und zwar konzentriert. »Hi!« sagte ich und war etwas verlegen wegen der Art und Weise, wie ich ihn in meinem Büro behandelt hatte. Ich war wirklich unfreundlich gewesen. Er blieb auf dem Bett sitzen. »Ich hab’ zwanzig«, sagte er. »Haben Sie fünf?« »Oh, ich schätze schon«, antwortete ich und suchte in meiner Brieftasche. Er sagte kein Wort, lud mich auch nicht ein, mich zu setzen. Ich zog einen Geldschein heraus. »Okay?« Er beugte sich vor und starrte – als hätte er in der Dunkelheit etwas sehen können – auf die Note. »Okay!« meinte er. »Aber ich will eine Quittung. Eine notariell beglaubigte Quittung.« Nun, was zum Teufel, dachte ich. Eine notariell beglaubigte Quittung wollte er also haben. »Dann müssen wir hinuntergehen. An der Fünfundvierzigsten ist ein Drugstore.« »Okay!« sagte er und stand auf. Er hustete dabei ein paarmal
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hintereinander – eins, zwei, drei, vier – ein Hüsteln nach dem anderen. »Das Bad ist draußen am Korridor. Ich will mich waschen, dann gehen wir.« Ich wartete auf ihn vor dem Badezimmer und dachte mir, daß er plötzlich sehr reinlich geworden sei. Ich hätte mir die Gedanken sparen können. Ich wußte nicht, was er im Bad tat. Aber eines wußte ich ganz genau, als er herauskam: Seife und Wasser hatten nichts damit zu tun. Sein Gesicht, sein Hals, seine Kleider, seine Hände – sie waren so schmutzig wie eh und je. Er sah immer noch aus, als wäre er die ganze Nacht auf einem Müllhaufen herumgekrochen. Auf dem Weg zu dem Drugstore blieb ich vor einem Schreibwarengeschäft stehen und kaufte mir einen Quittungsblock. Ich füllte die Quittung zum Großteil gleich in dem Laden aus: New York, N.Y. und das Datum. Bestätige, von Mr. Ogo Eksar die Summe von zwanzig Dollar für eine Fünf-Dollar-Note erhalten zu haben. Seriennummer der Fünf-Dollar-Note… »Okay?« fragte ich. »Ich gebe die Seriennummer an, damit es so aussieht, als hätten Sie den speziellen Schein haben wollen. Die Anwälte nennen das die Wertangabe.« Er drehte sich herum und las die Quittung. Dann überprüfte er die Seriennummer seines Geldscheins und nickte. Wir mußten warten, bis der Drugstore -Besitzer mit ein paar Kunden fertig war. Als ich die Quittung unterschrieb, las er sie, zuckte die Achseln und knallte seinen Stempel darauf. Ich zahlte ihm die fünfzig Cent; schließlich war ich ja derjenige, der einen Profit machte. Eksar schob mir einen nagelneuen Zwanziger über die Theke. Er sah mir zu, während ich den Schein gegen das Licht hielt und zuerst eine Seite und dann die andere betrachtete. »In Ordnung?« fragte er. »Ja. Sie verstehen doch: Ich kenne Sie nicht und kenne Ihr Geld nicht.«
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»Klar. Ich würde es bei einem Fremden genauso machen.« Er steckte die Quittung und meinen Fünf-Dollar-Schein in die Tasche und schickte sich an, wegzugehen. »He!« sagte ich. »Haben Sie’s eilig?« »Nein.« Er blieb stehen und sah mich verblüfft an. »Ich habe es nicht eilig. Aber Sie haben doch zwanzig für einen Fünfer bekommen. Wir haben den Handel gemacht. Jetzt ist alles vorbei.« »Wir haben den Handel gemacht. Und wie war’s mit einer Tasse Kaffee?« Er zögerte. »Ich lade Sie ein«, sagte ich. »Ich spiele jetzt für zehn Cent den feinen Maxe. Kommen Sie, trinken wir eine Tasse Kaffee.« Jetzt wirkte er besorgt. »Sie wollen doch keinen Rückzieher machen? Ich habe die Quittung. Sie ist beglaubigt. Ich hab’ Ihnen einen Zwanziger gegeben und Sie mir einen Fünfer. Wir haben einen Handel abgeschlossen.« »Okay, okay!« sagte ich und schob ihn in eine leere Nische. »Der Handel ist perfekt, unterschrieben, gestempelt und geliefert. Niemand will einen Rückzieher machen. Ich will Sie nur zu einer Tasse Kaffee einladen.« Sein Gesicht leuchtete auf, soweit man das durch all den Dreck sehen konnte. »Keinen Kaffee. Suppe. Ich nehme Pilzsuppe.« »Okay, okay! Suppe, Kaffee – mir ist’s egal. Ich nehme Kaffee.« Ich saß da und studierte ihn. Über die Suppe gebeugt, löffelte er sie in sich hinein: das Bild eines Tramps, der den ganzen Tag noch nichts gegessen hat. Ein Bursche wie der sollte eigentlich in der Gosse liegen und nach Alkohol stinken. Er sollte nicht in einem echten Hotel wohnen oder mir einen Zwanziger für einen Fünfer geben. Oder etwas so Respektables wie Pilzsuppe löffeln. Aber ich verstand schon. Wenn es um eine TV-Show geht, dann
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stellen sie einen guten Schauspieler ein, den besten, den man mit Geld kaufen kann, um ihr Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Einen Mann, der den Tramp so gut spielt, daß die Leute ihm einfach ins Gesicht lachen, wenn er ihnen einen Handel mit Profit verspricht. »Sonst wollen Sie nichts kaufen?« fragte ich ihn. Ogo Eksar starrte mich argwöhnisch an. »Was, zum Beispiel?« »Oh, ich weiß nicht. Vielleicht einen Zehner für einen Fünfziger. Oder einen Zwanziger für hundert Dollar?« Er dachte darüber nach. Dann wandte er sich wieder seiner Suppe zu. »Da ist kein Geschäft zu machen«, sagte er ve rächtlich. »Was soll das für ein Geschäft sein?« »Entschuldigen Sie, ich hab’ ja bloß gefragt. Ich wollte Sie nicht reinlegen.« Ich zündete mir eine Zigarette an und wartete. Mein Freund mit dem schmutzigen Gesicht leerte seine Suppe und griff nach einer Papierserviette. Er wischte sich die Lippen ab. Ich musterte ihn dabei scharf. Kein Stück von all dem Dreck um seinen Mund wurde dabei weggewischt, bloß die Suppe. Auf seine Art war er sehr ordentlich. »Sonst wollen Sie nichts kaufen? Ich bin hier und habe jetzt Zeit. Wenn Sie sonst irgend etwas auf dem Herzen haben, könnten wir ja darüber reden.« Er knüllte die Papierserviette zusammen und warf sie in den Suppenteller. »Die Golden-Gate-Brücke«, sagte er plötzlich. Ich ließ die Zigarette fallen. »Waaas?« »Die Golden-Gate-Brücke. Die in San Francisco. Die würde ich kaufen. Die würde ich für…« er überlegte ein paar Sekunden, »… sagen wir für hundertfünfundzwanzig Dollar kaufen, bar auf den Tisch des Hauses.« »Warum die Golden-Gate-Brücke?« fragte ich ihn wie ein Idiot. »Weil ich die haben will. Sie fragten mich, was ich kaufen woll-
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te – nun, das war’s: die Golden-Gate-Brücke.« »Wie war’s denn mit der George-Washington-Brücke? Die ist hier in New York auf der anderen Seite des Hudson. Eine neuere Brücke. Warum wollen Sie denn was an der Westküste kaufen?« Er grinste mich an, als bewunderte er meine Schlauheit. »Oh, nein!« sagte er und zuckte mit der linken Schulter, hinauf, hinunter, hinauf und wieder hinunter. »Ich weiß, was ich will. Die Golden-Gate-Brücke in San Francisco. Hundertfünfundzwanzig. Nehmen Sie’s oder lassen Sie’s bleiben!« »Die George-Washington-Brücke«, argumentierte ich und redete mir die Zunge fransig, um Zeit zum Nachdenken zu bekommen. »Sie hat nette Häuschen, in denen man die Straßengebühr kassiert. Fünfzig Cent der Wagen und eine Menge Verkehr. Ich weiß nicht, was die auf der Golden-Gate-Brücke an Gebühren nehmen – aber die haben ganz bestimmt nicht so viel Verkehr wie in New York. Und dann der Unterhalt. Die Golden Gate ist eine der längsten Brücken der Welt, und Sie werden pleite machen, wenn Sie die in Ordnung halten wollen. Dollar für Dollar und Lage für Lage würde ich sagen, daß die George Washington ein viel besseres Geschäft ist – wenn man überhaupt eine Brücke kaufen will.« »Die Golden-Gate-Brücke!« wiederholte er und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ich will die Golden-Gate-Brücke und sonst nichts! Machen Sie mir’s nicht wieder schwer! Wollen Sie jetzt verkaufen oder nicht?« Ich hatte eine Chance gehabt, es zu überdenken. Und ich wußte, daß Ricardo recht gehabt hatte. Ich war im Geschäft. »Klar! Ich verkaufe. Wenn Sie das haben wollen, dann meinetwegen. Aber schauen Sie – ich kann Ihnen ja bloß meinen Anteil an der Golden-Gate-Brücke verkaufen, den Teil, der mir gehört.« Er nickte. »Ich will eine Quittung. Schreiben Sie’s auf die Quittung!« Ich schrieb es auf die Quittung. Und wir gingen wieder zu dem
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Drugstore. Der Mann dort beglaubigte die Quittung, schob seinen Stempel in die Schublade und wandte uns den Rücken zu. Eksar zählte sechs Zwanziger und einen Fünfer aus einem dicken Bündel Geldscheine auf den Tisch, wieder alle nagelneu. Dann steckte er die Rolle in die Tasche zurück und wollte wieder gehen. »Noch mal Kaffee?« fragte ich, als ich ihn eingeholt hatte. »Oder noch einen Teller Suppe?« Er sah mich überrascht an, und sein Gesicht zuckte wieder. »Warum? Was wollen Sie denn jetzt verkaufen?« Ich zuckte die Achseln. »Was wollen Sie denn kaufen? Wollen mal sehen, was wir sonst noch für einen Handel machen können.« Das Ganze kostete ziemlich viel Zeit, aber ich konnte mich nicht beklagen. Ich hatte in einer Viertelstunde einhundertvierzig Dollar verdient; sagen wir hundertachtunddreißig Dollar fünfzig, wenn man die Spesen abzog, wie die Beglaubigungsgebühren, den Kaffee und die Suppe. Aber jetzt wartete ich auf das große Geschäft. Und es mußte ein großes Geschäft geben. Das würde vielleicht noch bis zu der eigentlichen TV-Show dauern. Sie könnten mich fragen, was ich mir dabei gedacht hatte, als ich Eksar all das Zeug verkaufte. Und dann würde ich es Ihnen erklären, und die Leute von der TV-Show würden anfangen, Kühlschränke und Geschenkgutscheine von Tiffany und so weiter herauszurücken… Eksar hatte etwas gesagt, während ich mich noch in meinen privaten Träumen befand; etwas ganz Ungewöhnliches. Ich bat ihn, es noch einmal zu sagen. »Das Asowsche Meer«, sagte er, »in Rußland. Ich gebe Ihnen dreihundertachtzig Dollar dafür.« Ich hatte nie davon gehört. Ich runzelte die Stirn und dachte einen Augenblick nach. Komischer Betrag – dreihundertachtzig – und für ein ganzes Meer! Ich versuchte zu handeln.
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»Sagen Sie vierhundert, dann sind wir einig.« Er fing zu husten an, und ich hatte schon Angst, der Kopf würde ihm dabei herunterfallen. Er war richtig wütend. »Was soll das?« sagte er. »Ist dreihundertachtzig vielleicht ein schlechter Preis? Es ist ein kleines Meer, eines der kleinsten. Und wissen Sie, wie tief es ist – an der tiefsten Stelle, meine ich?« Ich sah ihn wissend an. »Tief genug.« »Neunundvierzig Fuß!« schrie Eksar. »Das ist alles, neunundvierzig Fuß! Wie wollen Sie für ein solches Meer über dreihundertachtzig Dollar kriegen?« »Beruhigen Sie sich!« sagte ich und klopfte ihm auf die schmutzige Schulter. »Wollen wir uns die Differenz teilen. Sie sagen dreihundertachtzig, ich will vierhundert. Wie war’s mit dreihundertneunzig?« Eigentlich war’s mir egal. Zehn Dollar mehr, zehn Dollar weniger. Aber ich wollte sehen, was passierte. Er beruhigte sich. »Dreihundertneunzig Dollar für das Asowsche Meer«, murmelte er, etwas verärgert, daß er mit sich handeln lassen mußte. »Ich will nur das Meer allein. Schließlich verlange ich nicht, daß Sie die Meerenge von Kertsch dazugeben oder eine Hafenstadt wie Taganrog oder Osipenko…« »Ich will Ihnen etwas sagen«, und ich hob beide Hände. »Ich will’s Ihnen nicht so schwermachen. Geben Sie mir dreihundertneunzig, und ich lege die Meerenge von Kertsch dazu. Wie sieht’s damit aus?« Er überlegte. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »All right!« sagte er schließlich. »Einverstanden. Das Asowsche Meer und die Meerenge von Kertsch für dreihundertneunzig.« Bang! knallte der Stempel des Drugstore -Besitzers auf die Quittung. Das Bang wurde jedesmal lauter. Eksar zahlte mit sechs Fünfzigern, vier Zwanzigern und einem Zehner, alles nagelneu wirkende Geldscheine von der dicken Rolle in seiner Hosentasche.
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Ich dachte über all die Fünfziger nach, die er noch auf der Rolle haben mußte, und spürte, wie mir das Wasser im Munde zusammenlief. »Okay!« sagte ich. »Was jetzt?« »Verkaufen Sie immer noch?« »Um den richtigen Preis, natürlich. Sie brauchend nur zu sagen.« »Es gibt eine Menge Zeug, das ich gebrauchen könnte«, seufzte er. »Aber brauche ich es jetzt? Das muß ich mir überlegen.« »Aber jetzt haben Sie eine Chance, es zu kaufen. Später – wer weiß? Vielleicht bin ich dann nicht da. Vielleicht haben Sie andere Leute, die gegen Sie bieten. Alles mögliche kann passieren.« Ich wartete einen Augenblick, aber er runzelte immer noch die Stirn und hustete. »Wie war’s mit Australien?« schlug ich vor. »Könnten Sie Australien gebrauchen? Sagen wir fünfhundert Dollar? Oder den Südpol? Den Südpol könnte ich Ihnen wirklich billig anbieten.« Er schien interessiert. »Südpol? Was wollen Sie denn dafür? Nein – so kommen wir nicht weiter. Ein kleines Stück hier, ein kleines Stück da. Das kostet alles zu viel.« »Sie kriegen aber verdammt günstige Preise, Kumpel und das wissen Sie auch. Sie könnten’s nicht billiger kriegen, wenn Sie im Großhandel einkaufen.« »Ja, wie steht’s denn mit Großhandelspreisen? Was soll das Ganze kosten?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht wovon Sie reden. Was heißt hier ›das Ganze‹?« Er blickte ungeduldig. »Das Ganze eben. Die Welt. Die Erde.« »He!« sagte ich. »Das ist aber eine Menge.« »Nun, ich mag nicht mehr Stück für Stück kaufen. Bekomme ich einen Großhandelspreis, wenn ich alles kaufe?«
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Ich schüttelte den Kopf und nickte wieder. Ich wußte nicht recht, was ich sagen sollte. Jetzt kam das große Geld. Das war der Punkt, an dem ich ihm ins Gesicht lachen und weggehen mußte. Aber ich verzog keine Miene. »Für den ganzen Planeten – klar, dafür müssen Sie einen Großhandelspreis bekommen. Aber was soll das Ganze – ich meine, was wollen Sie denn kaufen?« »Die Erde«, sagte er und trat ganz dicht an mich heran, so daß ich seinen stinkenden Atem riechen mußte. »Ich will die Erde kaufen. Komplett.« »Da muß der Preis aber gut sein; schließlich ist das ein Totalausverkauf.« »Ich biete Ihnen auch einen guten Preis. Ich zahle zweitausend Dollar in bar. Ich bekomme dafür die Erde – den ganzen Planeten, und Sie müssen noch ein paar Sachen auf dem Mond dazulegen: Fischrechte, Bodenschätze und die Schürfrechte für ve rgrabene Schätze auf dem Mond. Wie war’s?« »Das ist eine ganze Menge.« »Ich weiß, daß es eine Menge ist«, pflichtete er mir bei. »Aber ich zahle auch eine Menge.« »Nicht für das, was Sie haben wollen. Ich muß darüber nachdenken.« Jetzt kam es darauf an. Ich weiß nicht, wieviel Geld ihm die Leute vom Fernsehen gegeben hatten; aber ich war ziemlich sicher, daß die zweitausend nur der Anfang waren. Nur – was war denn ein vernünftiger Preis für die ganze Welt? Ich durfte im Fernsehen nicht wie ein kleiner Hausierer aussehen. Es gab bestimmt einen Höchstbetrag, den der Pro grammdirektor Eksar zur Verf ügung gestellt hatte. »Sie wollen also wirklich das Ganze?« fragte ich und wandte ihm den Rücken zu. »Die Erde und den Mond?« Er hob seine schmutzige Hand. »Nicht den ganzen Mond – nur diese Rechte; den Rest können Sie behalten.« »Trotzdem ist es eine Menge. Sie müssen viel höher als zwei-
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tausend Dollar gehen, wenn Sie so eine Menge Immobilien einkaufen wollen.« Eksar begann unruhig zu werden. Er kratzte sich. »Wieviel höher?« »Nun, wir wollen einander nichts vormachen. Wir reden nicht von Brücken oder Flüssen oder Meeren. Es geht hier um eine ganze Welt und den Teil einer zweiten. Dazu ist Geld nötig. Sie müssen sich schon darauf einstellen, einen Batzen auszugeben.« »Wieviel?« Er sah aus, als hüpfte er in seinem schmutzigen Palm-Beach-Anzug auf und ab. Die Leute, die aus dem Laden kamen, starrten uns an. »Wieviel?« flüsterte er. »Fünfzigtausend. Das ist ein verdammt niedriger Preis, und das wissen Sie auch.« Eksar wurde ganz schlaff. Selbst seine eigenartigen Augen schienen sich in die Höhlen zurückzuziehen. »Sie sind verrückt!« sagte er mit leiser, hoffnungsloser Stimme. »Sie sind nicht ganz bei Sinnen.« Er drehte sich um und ging auf die Drehtür zu, wobei sein Gang eigenartig ausgeleiert aussah. Ich wußte, daß ich zu weit gegangen war. Er sah sich nicht einmal um. Er wollte bloß weg – weit weg. Ich folgte ihm durch die Tür. Draußen hielt ich ihn an seiner schmutzigen Jacke fest. »Schauen Sie, Eksar«, sagte ich schnell, während er versuchte, sich loszureißen. »Ich habe Ihr Budget überzogen – weit überz ogen, das sehe ich jetzt. Aber Sie wissen doch selber, daß Sie höher als zweitausend gehen können. Ich will, soviel ich kriegen kann. Was soll ich denn meine Zeit mit langem Herumfeilschen verschwenden?« Das schien Eindruck auf ihn zu machen. Er drehte sich halb herum, sah mich an und nickte dann. Ich ließ sein Jackett los. Jetzt waren wir wieder im Geschäft. »Gut! Wenn Sie ehrlich mit mir sind, bin ich’s mit Ihnen auch.
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Gehen Sie ein wenig höher! Was ist Ihr bester Preis? Wie hoch können Sie gehen?« Er ging die Straße hinunter, und man sah ihm an, daß er nachdachte. Er leckte sich dauernd mit der Zunge über die schmutzigen Lippen. Seine Zunge war auch schmutzig. Irgendein schwarzes Zeug war auf seiner Zunge. »Wie war’s mit fünfundzwanzighundert?« meinte er nach einer Weile. »So hoch kann ich gehen. Ich habe keinen Cent darüber.« Das glaubte ich ihm nicht. Wenn einer sagt, er könne so hoch gehen, ist er normalerweise bereit, noch ein wenig mehr zu bieten. Eksar wollte den Handel wirklich abschließen, aber er mußte einfach feilschen. Mir schien das für ihn ganz typisch. Wie ein Verdurstender – ich meine, einer, der in ein paar Minuten abkratzt, wenn er nichts zu trinken bekommt. Und dann hält man ihm ein Glas Wasser hin und sagt ihm, es kostet einen Dollar. Und er sieht es an, und die Augen treten ihm aus den Höhlen, und die Zunge ist ganz geschwollen – und trotzdem sagt er, wie war’s mit fünfundneunzig Cent? Er war genau wie ich: ein Mensch, der immer handeln und feilschen mußte. »Sie können auf dreitausend gehen«, drängte ich ihn. »Was sind schon dreitausend? Schauen Sie doch, was Sie dafür kriegen: den ganzen Planeten und die Fisch- und Schürf rechte auf dem Mond. Einverstanden?« »Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht. Ich wollte, ich könnte.« Er schüttelte den Kopf, als versuchte er damit sein dauern des Zucken loswerden. »Vielleicht geht’s so. Ich biete sechsundzwanzighundert. Geben Sie mir dafür die Erde und die Fischund Schürf rechte nach verborgenen Schätzen auf dem Mond? Die Mineralrechte können Sie behalten; da muß ich eben ohne die auskommen.« »Sagen Sie achtundzwanzighundert, dann bekommen Sie die Mineralrechte auch. Sie wollen sie doch, das merke ich. Also wie war’s – zweihundert Dollar mehr, und Sie kriegen sie.«
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»Ich kann mir nicht alles leisten. Wie war’s mit zweitausendsechshundertfünfzig, ohne Mineralrechte und ohne Schürf rechte?« Jetzt waren wir wirklich im Geschäft; ich spürte es. »Das ist mein absolut letztes Angebot«, sagte ich. »Ich kann nicht den ganzen Tag damit vertrödeln. Ich gehe auf zweitausendsiebenhundertfünfzig und keinen Penny weniger. Und dafür kriegen Sie die Erde und die Fischrechte auf dem Mond. Oder die Schürfrechte. Sie können sich’s aussuchen.« »All right«, meinte er. »Sie sind ein schwieriger Mann. Aber ich bin einve rstanden.« »Zweitausendsiebenhundertfünfzig für die Erde und die Fischrechte oder die Schürf rechte auf dem Mond?« »Nein. Siebenundzwanzig glatt und keine Rechte auf dem Mond. Das schenken wir uns. Siebenundzwanzig, und ich kriege die Erde dafür.« »Topp!« sagte ich, und wir gaben uns die Hand. Dann legte ich meinen Arm um seine Schultern, und wir ma rschierten wieder in den Drugstore. »Ich will eine Quittung haben«, erinnerte er mich. »Einverstanden!« nickte ich. »Aber ich schreibe sie wieder genauso aus: daß ich Ihnen den Anteil verkaufe, der mir gehört oder den ich verkaufen darf. Sie kriegen eine Menge für Ihr Geld.« »Und Sie kriegen eine Menge Geld für das, was Sie verkaufen«, konterte er. Ich mochte ihn; ob er nun dreckig war oder nicht – er paßte zu mir. Wir gingen zu dem Drugstore -Besitzer, um uns die Beglaubigung zu holen, und ich habe mein Leben lang keinen Menschen gesehen, der angewiderter aussah als er. »Gute Geschäfte, he?« sagte er. »Ihr beiden treibt’s ja toll!« »Hören Sie«, sagte ich ihm, »Sie sollen bloß die Quittung be-
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glaubigen!« Ich zeigte Eksar das Blatt. »Wollen Sie’s so?« Er las und hustete dabei. »Ihren Anteil oder den Teil, den Sie zu verkaufen berechtigt sind. All right. Setzen Sie noch dazu – wissen Sie, in Ihrer Eigenschaft als Agent, Ihre Berufsbezeichnung, meine ich.« Ich änderte die Quittung ab und unterschrieb. Der Mann hinter der Kasse machte seinen Stempel. Eksar holte den Betrag aus der Hosentasche. Er zählte mir vierundfünfzig nagelneue Fünfziger hin and legte sie auf die Theke. Dann nahm er die Quittung, faltete sie zusammen und steckte sie ein. Er ging auf die Tür zu. Ich nahm das Geld und ging mit. »Noch etwas?« »Sonst nichts«, sagte er. »Jetzt ist’s vorbei. Wir haben unseren Handel gemacht.« »Ich weiß. Aber vielleicht finden wir noch etwas. Irgendetwas.« »Es gibt nichts mehr. Wir haben unseren Handel gemacht.« Seine Stimme verriet mir, daß er es ernst meinte; sie klang jetzt völlig desinteressiert. Ich blieb stehen und sah zu, wie er sich durch die Drehtür schob. Er trat auf die Straße hinaus, bog nach links ab und ging weiter, als hätte er es sehr eilig. Es gab kein Geschäft mehr zu machen. Okay. Ich hatte dreitausendzweihundertdreißig Dollar in der Tasche, die ich heute früh verdient hatte. Aber war ich wirklich gut gewesen? Ich meine, was war denn der Höchstbetrag im Budget dieser Show? Wie nahe war ich ihm gekommen? Ich kannte jemanden, der es vielleicht herausbringen würde – Morris Burlap. Morris Burlap ist auch Geschäftsmann wie ich, nur daß er Theateragent ist. Ein wirklich tüchtiger Bursche. Statt gebrauchten
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Kupferdraht oder eine Option auf ein Eckgrundstück zu ve rkaufen, verkauft er Talente. Er verkauft einem Hotel in den Bergen eine Tanzgruppe, Klavierspieler an eine Bar, Diskjockeys an Radiogesellschaften. Morris Burlap nennt man ihn wegen seiner schweren Harris-Tweed-Anzüge, die er Sommer wie Winter trägt; die gehören zu seinem Image, sagt er immer. Ich rief ihn von einer Telefonzelle aus an und erzählte ihm von der Show. »Jetzt will ich rauskriegen…« »Da gibt’s nichts rauszufinden«, unterbrach er mich. »Es gibt keine solche Show, Bernie.« »Doch, verdammt, Morris! Du hast bloß nicht davon gehört.« »Es gibt keine solche Show – weder in Vorbereitung noch in Proben. Nirgends. Schau mal! Ehe eine solche Show anfängt, Geld auszugeben, braucht sie eine fest zugeteilte Sendezeit. Und bevor sie Sendezeit kauft, hat jemand ein Drehbuch geschrieben und eine Probeaufführung gemacht. Und an dem Punkt erfahre ich davon – von mindestens einem Dutzend Leuten. Versuche nicht, mir mein Geschäft beizubringen, Bernie. Wenn ich dir sage, daß es keine solche Show gibt, dann gibt es auch keine.« Er war sich seiner Sache verdammt sicher. Plötzlich hatte ich eine verrückte Idee, doch ich wies sie gleich wieder von mir. Nichts da – nein. »Dann ist es vielleicht eine Untersuchung einer Zeitung oder einer Universität oder so etwas, wie Ricardo gemeint hat?« Er überlegte. Ich wartete gerne in der stickigen Telefonzelle: Morris Burlap hat einen guten Kopf. »Diese Dokumente, diese Quittungen – Zeitungen und Universitäten arbeiten nicht so. Und Verrückte auch nicht. Ich glaube, jemand hat dich hereingelegt, Bernie. Ich weiß noch nicht, wie – aber man hat dich reingelegt.« Das reichte mir. Morris Burlap hat einen untrüglichen Sinn für krumme Geschäfte; er irrt sich nie. Ich legte auf und dachte nach. Und da war die verrückte Idee
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wieder. Ein paar Kerle aus dem Weltraum sagen, daß sie die Erde haben wollen: als Kolonie, als Urlaubsort oder was zum Teufel sonst. Jedenfalls haben sie Gründe. Sie sind stark genug und technisch fortgeschritten genug, um einfach zu landen und unseren Planeten zu erobern. Aber das wollen sie nicht. Sie wissen schon: Ein großes Land möchte ein kleines Land überfallen; aber es kann erst anfangen, wenn es wenigstens einen Grenzzwischenfall gegeben hat, denn damit haben sie eine rechtliche Grundlage. Selbst große Länder brauchen rechtliche Grundlagen. Schön. Diese Kerle aus dem Weltraum brauchten vielleicht bloß ein Stück Papier von irgendeinem menschlichen Wesen, das ihnen die Erde überschrieb. Nein, das konnte nicht sein! Irgendein Stück Papier? Von irgendeinem Trottel unterschrieben? Ich stopfte ein Zehncentstück ins Telefon und rief Ricardos Universität an. Er war nicht da. Ich sagte dem Mädchen von der Vermittlung, es sei sehr wichtig, worauf sie mir versprach, in ein paar Abteilungen anzurufen, um ihn zu suchen. All das Zeug! dachte ich. Die Golden-Gate-Brücke, das Asowsche Meer – die gehörten mit zu dem Köder, genauso wie die Sache mit den zwanzig Dollar für fünf. Und es gibt ein untrügliches Zeichen dafür, was ein Händler wirklich haben will: wenn er zu reden aufhört und weggeht. Bei Eksar war es die Erde gewesen. All dieser Quatsch von den zusätzlichen Rechten auf dem Mond! Die hatte er dazugegeben, um sein eigentliches Ziel zu tarnen. Ich will zum Beispiel eine Partie Reisewecker kaufen, von der ich gehört habe, daß sie bei einem Jobber festsitzt. Fange ich an, am Preis der Wecker herumzufeilschen? Natürlich nicht. Ich erzähle dem Jobber, daß ich eine Wagenladung Damenklappschirme kaufen möchte und vielleicht ein paar Dutzend Wecker, zum Beispiel Reisewecker, wenn er etwas Nettes anzubieten hat; und außerdem, ob er vielleicht ein paar Herrenbrieftaschen hätte?
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So hatte Eksar mich eingeseift, gerade als hätte er meine Arbeitsweise studiert. Von mir mußte er kaufen, ausgerechnet von mir! Aber warum von mir? All das Zeug auf der Quittung von meinem Anteil, meiner Eigenschaft als Agent – was, zum Teufel, sollte das bedeuten? Die Erde gehört mir nicht; ich bin nicht im Planetengeschäft. Schließlich muß einem ein Planet gehören, ehe man ihn verkaufen kann; so steht’s im Gesetz. Was konnte ich also Eksar verkauft haben? Ich habe keine Immobilien. Werden sie jetzt mein Büro beschlagnahmen und das Stück Gehsteig, auf dem ich gehe, und den Hocker in dem Restaurant, wo ich immer frühstücke? Das brachte mich zu meiner ersten Frage zurück. Wer waren denn diese »die«? Wer, zum Teufel, waren »sie«? Inzwischen hatte das Mädchen in der Vermittlung Ricardo gefunden. Er war gereizt. »Ich bin mitten in einer Fakultätssitzung, Bernie. Kann ich zurückrufen?« »Nur eine Sekunde!« bettelte ich. »Ich bin da in etwas hineingeraten, und ich habe keine Ahnung, was hier gespielt wird. Ich brauche deinen Rat.« Ich redete ganz schnell; schließlich konnte ich im Hintergrund einige wichtig klingende Stimmen hören – und erzählte ihm die Geschichte von dem Augenblick an, als ich ihn am Morgen angerufen hatte. Wie Eksar aussah und wie er roch und von dem komischen kleinen tragbarer Fernseher, den er hatte, und wie er dann all diese Mondrechte aufgegeben hatte und weggerannt war, als er die Erde in der Tasche hatte. Was Morris Burlap gesagt hatte, mein Verdacht – alles eben. »Das einzige ist«, ich lachte etwas dabei, um zu zeigen, daß ich es nicht ganz ernst meinte, »wer bin ich schon, um einen solchen Handel abzuschließen?« Er schien scharf nachzudenken. »Ich weiß nicht, Bernie – aber möglich wäre es. Irgendwie paßt’s zusammen. Da wäre der UN-
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Aspekt.« »UN-Aspekt? Was für ein UN-Aspekt?« »Der UN-Aspekt der Situation. Die – äh – Studie der UN, die wir gemeinsam vor zwei Jahren ausgearbeitet haben.« Jetzt ve rstand ich. Er redete um den Brei herum, damit seine Kollegen ihn nicht verstanden; aber ich verstand. Ich wußte genau, was er meinte. Eksar mußte von dem Geschäft gewußt haben, das Ricardo mir vermittelt hatte. Ich hatte damals gebrauchte Büromöbel für die UN in New York verkauft. Sie hatten mir eine AutorisationsUrkunde gegeben, wie sie es nannten. Irgendwo in einem Archiv lag ein Stück Papier mit dem Aufdruck der Vereinten Nationen, auf dem stand, daß ich ihr autorisierter Verkaufsagent für überschüssige Geräte und sonstige Dinge aus zweiter Hand sei. Diese Juristen sollte der Teufel holen! »Und du meinst, damit kann man uns festnageln?« fragte ich Ricardo. »Ich begreife zwar auch, daß die Erde eine Angelegenheit aus zweiter Hand ist. Aber überschüssig?« »Das internationale Gesetz ist ein wirres Durcheinander, Bernie. Und das könnte recht kompliziert sein. Ich glaube, du tätest gut daran, etwas zu unternehmen.« »Aber was denn? Was soll ich denn tun, Ricardo?« »Bernie!« sagte er, und seine Stimme klang wirklich wütend. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich hier bei einer Fakultätssitzung bin, verdammt noch mal! Eine Fakultätssitzung!« Und damit legte er auf. Ich rannte wie von der Tarantel gestochen aus der Zelle und nahm ein Taxi zu Eksars Hotel. Wovor ich am meisten Angst hatte? Das wußte ich nicht. Ich war völlig hysterisch. Für einen von meiner Sorte war das Ganze viel zu groß. Mein Name würde in Neonschrift in den Geschichtsbüchern auftauchen – der größte Tölpel aller Zeiten! Wer würde mir jemals wieder vertrauen, wenn ich ihm ein Geschäft anbot?
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Ich mußte sie zurückkaufen – ich mußte einfach! Als ich Eksars Zimmer erreichte, wußte ich, daß er sich soeben anschickte, abzureisen. Er stopfte gerade seinen Fernseher in eine billige Reisetasche, wie man sie in jedem Warenhaus zu kaufen bekommt. Ich ließ die Tür offen, um Licht zu haben. »Wir haben unseren Handel abgeschlossen«, sagte er. »Das ist vorbei. Jetzt gibt es keine Geschäfte mehr für uns.« Ich blieb stehen und versperrte ihm den Weg. »Eksar!« sagte ich. »Hören Sie sich an, was ich mir zusammengereimt habe. Zum ersten: Sie sind kein Mensch – so wie ich, meine ich.« »Ich bin viel mehr Mensch als Sie!« »Oh, klar! Sie sind ein speziell angefertigter Cadillac, und ich bin ein billiges Vierzylinder-Fabrikmodell. Aber Sie sind nicht von der Erde – darauf will ich hinaus. Und ich möchte wissen, warum Sie die Erde haben wollen. Sie brauchen doch nicht persönlich…« »Ich brauche sie auch nicht. Ich bin Agent. Ich vertrete jemanden.« Und das war es! Du hast recht, Morris Burlap! Ich starrte in seine Fischaugen. Ich würde keinen Zoll zur Seite treten, selbst wenn er mich umbrachte! »Sie sind ein Agent für jemanden«, wiederholte ich langsam. »Für wen? Wozu brauchen die die Erde?« »Das ist deren Sache. Ich bin Agent.« »Arbeiten Sie auf Provision?« »Nun, zum Vergnügen jedenfalls nicht.« Ich verstand sofort, was er meinte: Das Husten, sein dauern des Zucken – das war nicht die Luft, an die er gewöhnt war. Ich konnte es ihm nachfühlen; ich brauchte schließlich nur nach Kanada zu fahren, und schon hatte ich den schönsten Durchfall. Und der Schmutz, den er im Gesicht hatte, war eine Art Sonnenöl! Schutz gegen unser Sonnenlicht! Die Vorhänge zugezogen, das Gesicht verschmiert – und Schmutz auf den Klei-
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dern, damit sie zu seinem Gesicht paßten! Eksar war kein Tramp – alles andere als das! Ich war der Tramp! Du mußt jetzt denken, Bernie! sagte ich mir. Denken und dir irgendeinen Trick einfallen lassen, den größten Trick deines ganzen Lebens! Der Bursche hat dich reingelegt, und zwar richtig! »Was für eine Provision kriegen Sie denn – zehn Prozent?« Keine Antwort: Er stand jetzt ganz dicht vor mir und atmete und zuckte und atmete wieder und zuckte noch einmal. »Ich überbiete jedes Angebot, das Sie haben, Eksar. Wissen Sie, was ich Ihnen gebe? Fünfzehn Prozent! So bin ich! Ich mag’s einfach nicht, wenn einer für lausige zehn Prozent herumrennt!« »Und wie steht’s mit der Geschäftsmoral?« fragte er heiser. »Ich habe einen Kunden!« »Reden Sie mir nicht von Geschäftsmoral! Da will einer die ganze verdammte Erde für siebenundzwanzighundert kaufen! Nennen Sie das Moral?« Jetzt wurde er wütend. Er stellte seine Reisetasche weg und schlug sich mit der Faust in die offene Hand. »Nein, das nenne ich ein Geschäft. Einen Handel. Ich biete an, Sie akzeptieren. Sie gehen glücklich und zufrieden weg und bilden sich ein, einen Profit gemacht zu haben. Und plötzlich sind Sie wieder da und jammern mir vor, daß Sie es nicht ernst gemeint haben, daß Sie für den Preis zu viel hergegeben haben! Jammerschade! Ich habe Geschäftsmoral: Ich lege meinen Kunden nicht für eine Heulsuse wie Sie herein!« »Ich bin keine Heulsuse! Ich bin nur ein armer Kerl, der sich seinen Lebensunterhalt verdienen will. Aber wer sind Sie denn? Ein großer Agent von einer anderen Welt mit allen möglichen Tricks und Knöpfen, auf die Sie drücken können.« »Und wenn Sie die Knöpfe und die Tricks hätten – würden Sie die dann nicht benutzen?« »Einige davon nicht. Es gibt schließlich Dinge, die ich nicht tun würde. Lachen Sie nicht Eksar! Ich meine es ernst. Ich würde
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keinem eine eiserne Lunge andrehen, gleichgültig, wieviel ich dabei verdienen könnte. Und so einem wie mir würde ich nicht den ganzen Planeten abquatschen, auf dem er wohnt.« »Abquatschen ist nicht das richtige Wort«, sagte er. »Diese Quittung, die Sie da unterschrieben haben, gilt überall. Wir haben die Gesetzesmaschinerie dafür, um das sicherzustellen. Und eine andere Maschinerie haben wir auch – eine planetengroße. Sobald mein Klient seinen Besitz übernimmt, ist die menschliche Rasse erledigt, kaputt, vergessen. Und Sie sind der Tölpel!« Im Hotelzimmer war es heiß, und ich schwitzte. Aber ich fühlte mich wohler. Zuerst sein Dreh mit der Moral, und jetzt dieser Versuch, mir Angst einzujagen. Vielleicht war der Handel, den er mit seinem Klienten gemacht hatte, gar nicht so gut. Vielleicht stimmte irgend etwas nicht. Aber eines wußte ich ganz genau: Eksar wollte mit mir einen Handel machen! Ich grinste. Er verstand sofort. »Was haben Sie denn anzubieten?« fragte er und hustete. »Nennen Sie eine Zahl!« »Nun, ich gebe zu, daß Sie sich einen Profit verdient haben. Das ist nur fair. Sagen wir dreitausendeinhundertfünzig. Die siebenundzwanzig, die Sie bezahlt haben, und fünfzehn Prozent. Okay?« »Verdammt, nein!« schrie er. »Bei den drei Geschäften, die wir gemacht haben, haben Sie mir dreitausendzweihundertdreißig Dollar abgeknöpft – und jetzt bieten Sie mir dreitausendeinhundertfünfzig an, um alles zurückzukaufen? Sie gehen ja runter, Kumpel! Sie gehen runter und nicht rauf! Verschwinden Sie hier – ich verschwende meine Zeit!« Er drehte sich zur Seite und schob mich weg. Ich flog gegen den Türrahmen. Der Bursche war stark! Ich rannte ihm nach zum Lift. Schließlich hatte er immer noch meine Quittung in der Tasche stecken. »Wieviel wollen Sie denn, Eksar?« fragte ich ihn, als wir hinunterfuhren. Ich mußte ihn dazu bringen, daß er einen Preis nannte, und dann konnte ich ihn immer noch herunterhandeln, über-
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legte ich. Ein Achselzucken. »Ich habe einen Planeten, und ich habe einen Käufer dafür. Und Sie sitzen in der Tinte.« Der Schweinehund! Dem Kerl war wirklich nicht beizukommen. Er zahlte seine Hotelrechnung, und ich folgte ihm auf die Straße hinaus. Wir gingen den Broadway hinunter, und die Leute starrten uns an: mich, einen gutgekleideten Mann, mit einem Kerl, der besser in die Bowery gepaßt hätte. Ich bot ihm die dreitausendzweihundertdreißig an, die er mir bezahlt hatte. Er sagte, schließlich könne er nicht davon leben, wenn er den ganzen Tag denselben Betrag hin- und herschiebe. Er ging schweigend weiter. »Alles wollen Sie haben? Okay, dann nehmen Sie’s: Siebenunddreißighundert – jeden Cent. Sie haben gewonnen.« Immer noch keine Antwort. Langsam wurde ich unsicher. Ich mußte ihn dazu bringen, daß er einen Betrag nannte – irgendeinen Betrag, sonst war’s mit mir Schluß. Ich rannte um ihn herum. »Eksar, wir wollen nicht miteinander feilschen. Wenn Sie nicht verkaufen wollten, würden Sie überhaupt nicht mit mir reden. Nennen Sie einen Betrag, ich zahle.« Jetzt reagierte er. »Ehrlich? Sie wollen nicht wieder drücken?« »Wie kann ich denn drücken? Sie haben mich doch in der Hand.« »Okay. Es ist eine lange Reise zu meinem Kunden. Weshalb sollte ich .mir das antun, wenn ich jemandem helfen kann, dem es dreckig geht? Wollen sehen – wir brauchen einen Betrag, der fair für Sie ist und fair für mich. Das wären sechzehntausend.« Das war’s! Ich sollte richtig gemolken werden! Er sah mein Gesicht und fing zu lachen an. Er lachte, bis er husten mußte. Erstick doch, du Dreckskerl! dachte ich. Erstick doch! Hoffentlich vergiftet dich die Luft unseres Planeten! Hoffentlich verfaulen deine Lungen!
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Diese 16.000 waren genau das Doppelte von dem, was ich auf der Bank hatte! Er kannte mein Bankkonto bis auf den letzten Cent! Und was ich dachte, wußte er auch. »Wenn man mit einem Mann Geschäfte machen will«, sagte er und hustete wieder, »dann erkundigt man sich ein bißchen über ihn.« »Sagen Sie mir mehr!« meinte ich sarkastisch. »Sie haben siebentausendachthundert und runde zweihundert Außenstände. Und den Rest müssen Sie sich leihen!« »Das fehlt mir gerade noch – für diesen Handel noch Schulden machen!« »Sie können sich doch ein wenig leihen!« feixte er. »Ein Mann wie Sie in Ihrer Position und mit Ihren Verbindungen! Sie können sich doch ein wenig ausborgen. Ich würde mich auf zwölftausend einlassen. Ich bin ja gar nicht so. Zwölf tausend?« »Quatsch, Eksar! Wenn Sie mich so gut kennen, wissen Sie auch, daß ich mir nichts leihen kann.« Er blickte zur Seite und sah sich die taubengrüne Statue von Vater Duffy vor dem Palace-Theater an. »Das Schlimme ist«, sagte er mit betrübter Stimme, »daß ich mir einfach nicht anständig vorkomme, wenn ich zu meinem Kunden zurückfahre und Sie so in der Tinte sitzen lasse. Ich bin einfach nicht so gebaut.« Er richtete sich zu seiner ganzen Größe von einem Meter fünfundsechzig auf. »Okay. Ich nehme also nur die Achttausend, die Sie haben, und dann sind wir quitt.« »Sind Sie jetzt fertig, Sie kleiner Samariter? Dann will ich Ihnen mal was sagen: Sie kriegen keine Achttausend von mir! Einen kleinen Profit, ja. Ich weiß, daß ich Haare lassen muß. Aber nicht jeden Cent, den ich besitze; nicht in einer Million Jahre und nicht für Sie und nicht für die Erde und nicht für irgendeinen!« Ich hatte ihn angebrüllt, und ein Polizist, der gerade vo rbeischlenderte, kam näher. Ich überlegte, ob ich schreien sollte: »Hilfe! Polizei! Fremde Wesen greifen die Erde an!« Aber ich
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wußte, daß das nichts nützte. Ich beruhigte mich also und wartete, bis der Polizist kopfschüttelnd wegging. Aber der Broadway, auf dem wir alle standen – wie würde der in zehn Jahren aussehen, wenn es mir nicht gelang, Eksar diese Quittung wieder abzujagen? »Eksar, Ihr Klient zeigt also meine Quittung vor und übernimmt die Erde – und mich hängt man an den nächsten Baum. Aber ich habe nur ein Leben, und mein Leben besteht im Kaufen und Verkaufen. Ohne Kapital kann ich nicht kaufen und verkaufen. Wenn Sie mir mein Kapital wegnehmen, ist es mir gleichgültig, wem die Erde gehört.« »Halten Sie mich für blöd?« fragte er. »Ich halte überhaupt niemanden für blöd – ehrlich, das ist die Wahrheit! Wenn Sie mir mein Kapital wegnehmen, ist es nur gleichgültig, ob ich lebe oder tot bin.« Irgendwie schien ihn das zu überzeugen. Ich strengte mich auch mächtig an und hatte sogar Tränen in den Augen. Wieviel Kapital ich brauchte, wollte er wissen. Fünfhundert? Ich sagte ihm, daß ich mindestens siebenmal soviel brauchte, um auch nur einen Tag durchzustehen. Er fragte mich, ob ich wirklich ernsthaft vorhatte, meinen lausigen, kleinen Planeten zurückzukaufen – oder ob ich heute vielleicht Geburtstag hätte und ein Geschenk von ihm erwartete? »Ich will keine Geschenke von Ihnen«, sagte ich. Und so ging’s weiter. Wir redeten beide, bis wir schwarz im Gesicht wurden, schworen bei allem, was uns heilig war, argumentierten, feilschten und schacherten. Man konnte wirklich nicht sagen, wer zuerst aufgeben würde. Und keiner von uns gab auf. Wir hielten aus , bis wir die Summe erreicht hatten, die ich mir schon am Anfang ausgemalt hatte; vielleicht sogar ein wenig höher. Sechstausendeinhundertfünfzig Dollar. Das war der Preis über das hinaus, was Eksar mir bereits gegeben hatte. Die Endsumme. Hören Sie, es hätte noch schlim-
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mer sein können! Trotzdem hätten wir uns beinahe noch einmal zerstritten, als wir die Zahlungsvereinbarung trafen. »Ihre Bank ist nicht weit. Wir könnten noch hinkommen, ehe sie schließt.« »Warum soll ich mir denn einen Herzanfall holen? Mein Scheck ist so gut wie Gold.« »Wer will schon ein Stück Papier? Ich will Bargeld. Bargeld ist etwas Endgültiges.« Schließlich gelang es mir doch, ihm einen Scheck einzureden. Ich schrieb ihn aus, er nahm ihn und gab mir die Quittungen – alle zusammen. Die Zwanzig für fünf, die Golden-Gate-Brücke, das Asowsche Meer – jede einzelne Quittung, die ich unterschrieben hatte. Dann nahm er seine Tasche und marschierte davon. Einfach den Broadway hinunter, ohne auch nur Adieu zu sagen. Ganz geschäftsmäßig, das war Eksar – nichts als Geschäfte. Er sah sich kein einziges Mal um. Wirklich nur Geschäfte. Das stellte ich am nächsten Morgen fest. Er war sofort zur Bank gegangen und hatte sich meinen Scheck bestätigen lassen, ehe dort geschlossen wurde. Was halten Sie davon? Ich konnte überhaupt nichts machen. Ich war Sechstausendeinhundertfünfzig Dollar los. Bloß weil ich mit jemandem geredet hatte! Ricardo sagte, ich sei Faust. Ich verließ die Bank und schlug mir mit der Hand an den Kopf. Ich rief Ricardo und Morris Burlap an und lud sie ein, mit mir zu Mittag zu essen. Ich erzählte ihnen die ganze Geschichte in einem teuren Lokal, das Ricardo ausgesucht hatte. »Du bist ein Faust«, sagte er. »Was für ein Faust?« fragte ich. »Faust und was noch? Was heißt das?« Also mußte er uns alles über Faust erzählen; nur daß ich eine neue Art von Faust war, ein amerikanischer aus dem zwanzig-
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sten Jahrhundert. Die anderen Fausts wollten alles wissen, und ich wollte alles besitzen. »Aber am Ende hatte ich doch nichts«, erklärte ich. »Man hat mich doch abgesahnt. Mit sechstausendeinhundertfünfzig Dollar hat man mich reingelegt.« Ricardo gluckste und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »O mein süßes Gold!« sagte er halblaut. »O mein süßes Gold!« »Was?« »Ein Zitat, Bernie. Aus Marlowes Doktor Faustus. Ich habe die Stelle vergessen, aber das paßt doch: O mein süßes Gold!« Ich sah zuerst ihn an und dann Morris Burlap; aber niemand kann erkennen, wenn Morris Burlap verblüfft ist. Eigentlich sieht er noch viel mehr wie ein Professor aus als Ricardo, mit seinem dicken Tweedanzug und seinem Denkerblick. Ricardo wirkt da viel zu clever. Aber die beiden zusammen hatten genug Hirn für eine ganze Kompanie; deshalb ließ ich mir auch dieses Mittagessen etwas kosten, trotz der blöden Geschichte mit Eksar. »Morris, mal ehrlich! Verstehst du ihn?« »Was gibt’s da schon zu verstehen, Bernie? Ein Zitat über süßes Gold? Vielleicht ist das die Antwort.« Jetzt sah ich Ricardo an. Er aß einen italienischen Pudding. Zwei Dollar kostet dieser Pudding in diesem Lokal. »Wollen wir sagen, er war wirklich von einer anderen Welt«, sagte Morris Burlap. »Wollen wir einmal annehmen, daß er aus dem Weltraum gekommen ist. Okay. Aber was soll ein Fremder mit US-Dollars anfangen? Wie ist der Wechselkurs dort draußen? Was ist ein Dollar in vierzig, fünfzig Lichtjahren Entfernung wert?« »Du meinst, er brauche das Geld, um hier auf der Erde irgend etwas zu kaufen?« »Genau das meine ich. Aber was – das ist die Frage. Was kann
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es auf der Erde geben, das er brauchen kann?« Ricardo aß seinen Pudding zu Ende und wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Ich glaube, du bist auf der richtigen Spur, Morris«, sagte er, und ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder ihm zu. »Wir können eine Zivilisation, die weit über die unsere hinaus fortgeschritten ist, postulieren. Eine, die der Ansicht sein würde, daß wir noch nicht ganz reif sind, um von ihrer Existenz zu wissen. Eine, die die primitive, kleine Erde mit einem großen Schild ZUTRITT VERBOTEN! vernagelt hat – ein Verbot, über das sich nur Verbrecher in letzter Verzweiflung hinwegsetzen.« »Woher kommen denn Verbrecher, Ricardo, wenn sie so fortschrittlich sind?« »Das Gesetz produziert Leute, die es brechen, genauso wie Hühner Eier produzieren. Die Zivilisation hat überhaupt nichts damit zu tun. Ich fange jetzt an, mir Eksar vorzustellen: ein prinzipienloser Abenteurer, eine Astronautenversion jener Halsabschneider, die vor hundert und mehr Jahren den Südpazifik bereisten. Gelegentlich scheiterte ein Schiff an einem Korallenriff, und ein Glücksritter aus Boston war ein Leben lang zwischen primitiven, rückständigen Eingeborenen gestrandet. Den Rest könnt ihr euch sicher selber vorstellen.« »Nein, das kann ich nicht. Und wenn es dir nichts ausmacht, Ricardo…« Morris Burlap sagte, er wolle noch einen Brandy. Ich bestellte. Und dann verzog sich sein Mund fast zu einem Lächeln, und er beugte sich zu mir hinüber. »Ricardo hat’s erfaßt, Bernie! Versetze dich in Eksars Lage! Er havariert mit seinem Raumschiff auf einem schmutzigen, kleinen Planeten, auf dem man ohnehin nicht landen darf. Mit dem Zeug, das er hier bekommen kann, kann er die Reparatur improvisieren – aber er muß das Zeug kaufen. Wenn es Lärm gibt, wenn er Unruhe stiftet, kommt sofort die Polizei – seine Polizei – und verknackt ihn wegen Verbrechens im Weltraum. Nehmen wir einmal an, du wärest Eksar, was würdest du dann machen?« Jetzt begriff ich. Ich würde handeln und feilschen. Kupferne
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Armbänder, Perlenketten, Dollars – was ich auch brauchen würde, um mir mein Material zu kaufen. Ich würde einen Handel nach dem anderen machen. Bis ich schließlich den Betrag hätte, den ich brauche. Vielleicht würde ich mit irgendeinem Gerät aus meinem Schiff anfangen und dann vielleicht etwas erfinden, was die Eingeborenen noch nicht kennen. »Aber all das ist Geschäft, wie man es auf der Erde betreibt – wie Menschen die Dinge sehen.« »Bernie«, sagte Ricardo, »an genau der Stelle, wo jetzt die Börse steht, tauschten die Indianer einst Biberpelze gegen hüb sche, kleine Perlenketten ein. Auf Eksars Welt werden auch Geschäfte gemacht, das kann ich dir versichern. Aber du kannst jede Wette darauf eingehen, daß selbst das primitivste Geschäft auf Eksars Welt komplizierter ist als eine Fusion von Aktiengesellschaften bei uns.« Nun, ich wollte das Ganze begreifen. »Also bin ich von einer Verkaufskanone aus dem Weltraum von Anfang an als Opfer ausersehen und nach Strich und Faden abgesahnt worden!« murmelte ich. Ricardo nickte. »Von einem Mephistopheles, der den Donnerschlägen des Himmels entfloh. Er mußte sein Geld noch einmal verdoppeln, dann würde er genug haben, um sein Schiff zu reparieren. Und vom Geschäft verstand er eben etwas.« »Was Ricardo damit sagt«, erklärte Morris Burlap mit leiser Stimme, »ist ganz einfach, daß der Bursche, der dich hereingelegt hat, mehr Erfahrung hatte als du.« Ich hätte in den Boden versinken können. »Hol’s der Teufel!« sagte ich. »Es ist ziemlich egal, ob dir ein Pferd oder ein Elefant auf den Fuß tritt – weh tut’s beide Male.« Ich zahlte die Rechnung, riß mich zusammen und ging. Und dann fing ich an zu überlegen, ob das Ganze wirklich so abgelaufen war. Ricardo ist ein brillanter Bursche, und Morris Burlap hat einen Verstand wie ein Computer. Aber was soll’s? Ideen, ja. Fakten, nein.
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Das aber ist ein Faktum. Am Monatsende bekam ich meine Bankauszüge und dabei auch den entwerteten Scheck, den ich Eksar gegeben hatte. Ein großes Ladengeschäft in der Gegend der Cortlandt Street hatte ihn in Zahlung genommen. Ich kenne den Laden; ich habe auch schon mit ihnen Geschäfte gemacht. Also ging ich hin und erkundigte mich. Sie handeln hauptsächlich mit verbilligten elektronischen Ge räten. Und das, so sagte man mir, hatte auch Eksar gekauft: eine ganze Menge von Transformatoren, Resistoren, gedruckten Schaltkreisen, Elektronikröhren, Drähten, Werkzeugen und solchen Dingen. Alles durcheinander, sagten sie. Eine Menge von Komponenten, die überhaupt nicht zusammengehörten. Er hatte auf den Verkäufer den Eindruck gemacht, daß er eine dringende Reparatur ausführen mußte – und daß er bei den Teilen, die er kaufte, auch Kompromisse eingehen würde. Er hatte eine Menge Geld für Fracht bezahlt, denn die Ware sollte in irgendein Nest weit oben im nördlichen Kanada geliefert werden. Das ist also ein Faktum, das muß ich einräumen; aber da wäre noch eines. Ich sagte schon, daß ich mit den Leuten auch schon Geschäfte gemacht habe. Ihre Preise sind die niedrigsten weit und breit. Und warum, glauben Sie wohl, können sie so billig anbieten? Darauf gibt es nur eine Antwort: Sie kaufen zu den niedrigsten preisen ein, und Qualität ist ihnen gleichgültig; sie wollen bloß wissen, wieviel sie draufschlagen können. Ich selbst habe ihnen schon allen möglichen Mist verkauft: schlecht verdrahtete Sachen, Zeug, das beinahe gefährlich war – um es kurz zu sagen: An diesen Laden in der Cortlandt Street verkauft man dann, wenn man selbst auf minderwertigem Zeug sitzt und keinen Wert mehr darauf legt, einen Profit zu machen. Sehen Sie’s jetzt? Ich fühle mich schon wieder viel besser. Da ist jetzt unser Freund Eksar, draußen im Weltraum – so sehe ich das wenigstens. Er hat sein Schiff wieder zusammengeflickt, gut genug, um wieder fliegen zu können. Und jetzt ist er
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unterwegs zu seinem nächsten großen Handel. Die Motoren summen, das Schiff fliegt, und er sitzt da mit einem großen Grinsen auf seinem dreckigen Gesicht. Er denkt daran, wie er mich hereingelegt hatte – und wie leicht es doch gewesen war. Er lacht, bis ihm die Zähne weh tun. Und plötzlich gibt es ein schrilles Geräusch, und es riecht nach Feuer. Der Stromkreis, der den vorderen Motor bedient, ist nicht mehr in Ordnung. Ein Draht war nicht genügend isoliert, und jetzt funktioniert der Stromkreis nicht mehr. Eksar bekommt Angst. Er schaltet die Hilfsaggregate ein und die Hilfsaggregate funktionieren nicht. Wissen Sie, warum? Die Vakuumröhren, die er eingebaut hat, haben den Geist aufgegeben, weil sie von Anfang an nicht viel getaugt haben. Wumm! Das ist das hintere Antriebsaggregat mit einem Kurz schluß. Und jetzt schmilzt ein defekter Transformator mitten im Schiff! Und da sitzt er nun – Millionen von Meilen vom nächsten Planeten entfernt, ringsum vom leeren Weltraum umgeben; keine Ersatzteile; Werkzeuge, die ihm in den Händen zerbrechen – und keine lebende Seele, die er anschmieren kann. Und da bin ich und gehe in meinem winzigen Büro auf und ab und denke darüber nach. Und jetzt lache ich, bis mir die Zähne weh tun. Denn vielleicht ist der Defekt an seinem Schiff auf eine der billigen elektronischen Komponenten zurückzuführen, die ich persönlich, ich, Bernie, der Faust, irgendwann einmal diesem Laden ve rkauft habe. Das ist alles, was ich mir wünsche. Hoffentlich passiert es so. Faust. Dann würde er eine Faust von mir haben. Eine Faust mitten ins Gesicht. Eine auf den Kopf.
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Das Eiskrem-Ungeheuer Von dem Augenblick an, da er seine Augen aufschlug und die Farbe des Himmels, die Form der Wolken und die unglaubliche Topographie sah, wußte Carter Broun genau, wo er sich befand. Er brauchte den süßlichen Duft, der ihn umgab, überhaupt nicht zu identifizieren, noch mußte er nähere Untersuchungen über den Fluß aus dunklem Mahagoni anstellen, der mit sachtem Rauschen zwischen zwei kleinen, kegelförmigen Hügeln dahinfloß, zwei Hügeln von genau der gleichen Größe und mit genau der gleichen Vegetation. Es gab überhaupt keinen Zweifel; wenigstens nicht, nachdem Carter zehn oder fünfzehn Sekunden den Himmel mit seinem absolut gleichförmig strahlenden Blau betrachtet hatte – bläulich-blau, das war die Farbe, entschied er – und jene ovalen rosaweißen Wolken, die so gleichmäßig darüber verteilt waren; ganz zu schweigen von den Vögeln, die in der Ferne flatterten. Von hier aus sah jeder von ihnen wie der Buchstabe V aus, dessen obere Spitzen sorgfältig nach außen und unten gebogen waren. Es gab nur einen Ort im ganzen Universum, in dem man sich eine solche Landschaft, eine solche Atmosphäre und solche Vögel vorstellen konnte: Das war die Welt des Eiskremungeheuers. Gott helfe mir! dachte Carter. Und jetzt ist es auch meine Welt. Dieser eigenartige, alles zerreißende Blitz in ihm, wie ein Blitz der Seele! Er hatte sich von Lee an der Tür ihres Hauses verabschiedet und war die gepflegte Vorstadtstraße zu seinem MG hinuntergegangen. Er hatte die Wagenschlüssel in der Hand gehalten und sich den Ablauf seiner Freitagabendverabredung mit Lee zurechtgelegt – er hatte festgestellt, daß man ein Mädchen entweder bei der zweiten Verabredung mit in seine Wohnung nahm oder es nie mehr schaffte – , und da hatte er bemerkt, wie ihn das Eiskremungeheuer mit starrem Blick hinter einer Hecke beobachtete. Wahrscheinlich war es ihnen den ganzen Weg von Goldies Eiskrempalast gefolgt. Und dann jener Blitz, jenes verrückte Gefühl, aus seiner Um-
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welt herausgerissen und in eine andere, völlig andere Umgebung hineingeschoben zu werden. Und dann hatte er hier die Augen aufgeschlagen. Das alles kam daher, wenn man sein Mädchen in eine Eisdiele führte und nicht in eine ehrliche Bar. Aber eine Bar paßte einfach nicht auf ein Sonntagsnachmittags-Kino in Grenville Acres. Außerdem führt man eine Lehrerin nicht in dem Ort, in dem sie wohnt, in eine Bar. Man kauft ihr eine Limonade, geht mit ihr durch die Herbststraßen nach Hause, benimmt sich wie ein perfekter Gentleman, soweit man das vermag, lehnt ihre Einladung ab, mit ins Haus zu kommen und ihre Eltern kennenzulernen, indem man den großen Bericht erwähnt, den man für die morgige Abteilungsleiter-Konferenz vorbereiten muß – ein Mann hat schließlich seine Arbeit, und die kommt immer zuerst – , und dann fährt man mit dem angenehmen Gefühl einer intelligent vorbereiteten Verführung nach Manhattan zurück. Unglücklicherweise plant man dabei andere Faktoren nicht mit ein: unbekannte Kräfte zum Beispiel. Es hatte nicht viel Sinn, nachzuprüfen; aber trotzdem würde er es tun. Und sobald er es genau wußte, würde er anfangen, sich Sorgen zu machen. Und über einen Fluchtweg nachdenken. Carter wanderte zu dem Mahagoni-Fluß hinunter, quer über sorgfältig geschnittenen Rasen und vorbei an großen Blumen, die aussahen, als wären sie aus Papier. Er kniete nieder, tauchte den Finger in die dicke Flüssigkeit und probierte. Schokolade. Natürlich. Nur für alle Fälle kniff er sich lang und kräftig in die Nase; es tat weh. Nein, er hatte von vornherein gewußt, daß er nicht geträumt hatte; denn schließlich weiß man in einem Traum nur höchst selten, daß man träumt. Das hier war die Wirklichkeit. Schokoladensirup zum Trinken. Und als Nahrung… Auf den beiden kleinen Hügeln standen Zwergbäume mit Lutschern, und die zellophanumhüllten Früchte hatten von Baum zu
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Baum etwas andere Farben. Hier und da standen Bonbonbüsche auf dem ebenen Boden und exakt dreieckige, christbaumähnliche Gebilde, von deren Zweigen kleine Kuchen und sortierte Kekse baumelten – die meisten aus Schokolade. Die Sonne strahlte rosig, aber die Schokolade schmolz nicht. Der Schokoladenfluß andererseits floß unbeirrt und gurgelnd dahin. Wo auch immer seine Quellen liegen mochten, der Fluß hatte offenbar genug Reserven. Ein besonders häßlicher Gedanke kam Carter. Angenommen, es regnete hier Schokolade – ein Gedanke, der gar nicht so ferne lag, wenn man den Inhalt des Flusses bedachte! Wirklich – dem Eiskremungeheuer war alles zuzutrauen! Lee hatte gegen den Namen Einwände erhoben. »Sie ist einfach ein fettes, kleines Mädchen. Ziemlich intelligent und recht neurotisch. Und sehr neugierig in bezug auf den fremden, distinguierten jungen Mann, der ihre Lehrerin zu einer Limonade eingeladen hat.« »Aber ich habe schließlich gezählt«, hatte Carter sich nicht beirren lassen. »Fünf Portionen Schokoladeneis, seit wir gekommen sind. Fünf! Und wie sie dasitzt am Ende der Theke und uns nicht aus den Augen läßt, selbst dann nicht, wenn sie sich einen neuen Strohhalm auswickelt!« »Die meisten Kinder in Grenville haben mehr Taschengeld, als gut für sie ist. Dorothys Eltern sind geschieden – die Mutter ist Einkäuferin in einem Warenhaus, der Vater Bankdirektor – und beide setzen ihr Geld ein, um sich Dorothys Liebe damit zu kaufen. Sie verbringt die meiste Zeit bei Goldies. Sie kennen ja diese psychologische Gleichung, Carter: ›Als ich klein war und meine Eltern mich liebten, gaben sie mir zu essen; ist deshalb Essen gleich Liebe?‹« Carter nickte. Er wußte über diese psychologischen Gleichungen Bescheid. Als entschlossener, sexuell durchaus normaler, junger Junggeselle hatte er Freud ebenso intensiv studiert, wie ein Leutnant im Ersten Weltkrieg vielleicht Clausewitz studiert
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hätte. »Sie sind durch und durch Frau«, verkündete er bewundernd und versuchte damit das Gespräch auf ein Thema zu bringen, das ihn weit mehr interessierte. »Nur ein Mädchen, das durch und durch Frau ist, könnte in diesem Fettklumpen, in diesem sommersprossigen Eiskremungeheuer…« »Aber das ist sie doch nicht, Carter! Was für ein schrecklicher Spitzname für ein so armes, kleines Mädchen! Allerdings«, überlegte Lee und drehte den Strohhalm in ihrem Glas, »allerdings ist es wirklich komisch, daß Sie darauf kommen. So – oder so ähnlich – nennen sie nämlich die anderen Kinder in der Klasse. Und sie erzählen auch Geschichten von ihr – daß sie Steine und Blumentöpfe einfach verschwinden lassen kann, indem sie sie anstarrt. Kinder sind wie Erwachsene, bloß etwas auffälliger, das ist alles. Wenn sie jemanden nicht leiden können, machen sie eine Hexe daraus.« Er versuchte es wieder. »Aus Ihnen haben sie keine gemacht, das weiß ich ganz bestimmt. Jemand, der auch nur ein bißchen Gefühl hat, braucht Sie nur anzusehen und weiß sofort, daß alle Liebe…« »Es ist wirklich ein Jammer«, unterbrach sie ihn, ohne es überhaupt zu bemerken. »Ich habe ihnen die Aufgabe gestellt, einen Aufsatz über ihren glücklichsten Tag zu schreiben. Wissen Sie, was Dorothy geschrieben hat? Sie hat einen Tag in ihrer Traumwelt geschrieben, einen Tag, den es nie gegeben hat. Und doch war der Aufsatz für ein Kind ihres Alters wunderschön. Voll von Symbolen ihrer Zuneigung, so wie Kuchen und Schokolade. Und diese Welt sollte wie eine Eisdiele riechen – stellen Sie sich das vor! Es gab da eine Stelle – ich weiß, daß Sie für gute Prosa etwas übrig haben, Carter – eine Stelle, die von zwei netten, kleinen Hügeln handelte, die ganz mit Lutscherbäumen bedeckt war. Und jeder Baum hatte einen anderen Geschmack. Und zwischen den Hügeln floß ein Strom aus reinster Schokolade!« Carter gab es auf. Er zündete sich eine Zigarette an und starrte das unförmig fette, kleine Mädchen an, dessen Mund unentwegt
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Eiskrem in sich aufnahm und dessen Augen ihn nicht losließen. Er mußte seinen Blick zuerst senken. »… selbst als wir Zeichenstunde hatten«, Lee hatte noch nicht aufgegeben. »Sie tut nichts anderes. Für das arme Kind ist das absolute Realität – sie ist so einsam, so ausgehungert nach einem Menschen, der sich für sie interessiert! Ich warte schon immer auf diesen bläulich-blauen Himmel voll von ovalen, rosafarbenen Wolken, diesen Vögeln, die wie ein gebogenes V aussehen, diesen Schokoladenfluß und all die Büsche mit Süßigkeiten. Jedesmal! Für ein Kind ihrer Intelligenz ist sie in graphischer Hinsicht etwas zurückgeblieben. Sie zeichnet wie ein zwei oder drei Jahre jüngeres Kind; aber eigentlich muß man das erwarten: Ihre Intelligenz ist fast ausschließlich verbaler und konzeptioneller Natur, könnte man sagen…« Man könnte auch sagen, daß das Thema ihn von seinem Thema völlig sinnloserweise abgelenkt hatte. Carter biß auf seine Zigarette und blickte wieder vorsichtig auf. Die Augen des Eiskremungeheuers waren immer noch so starr wie zuvor. Solche Kraft – was war denn so faszinierend an ihm? Nun, ihr Vater arbeitete in der Madison Avenue: also wahrscheinlich die Kleider. Carter war mit Recht stolz auf seine Garderobe. Seine Kleidung war von fast auffällig gutem Geschmack – sie schienen teuer, gut geschnitten und doch nicht aufdringlich. Ja, das war es. Er erinnerte sie an ihren Vater, ihren reichen Vater. Carter ertappte sich dabei, wie er seinen Schlips geradezog. Und Lee war immer noch beim gleichen Thema. Wie ihre Augen beim Reden glänzten! »… die anderen Kinder waren absolut baff. Oder als ich sie damals Rätsel erfinden ließ. Wissen Sie, was Dorothy fragte, als sie drankam? Hören Sie sich das an, Carter! Sie fragte die Klasse: ›Was wäre euch lieber – von einer großen Raupe aufgefressen zu werden oder von einer Million winziger Löwen?‹ Ich behaupte, daß ein Mädchen mit soviel Fantasie…« »Ein Mädchen, das so schlecht an seine Umwelt angepaßt ist«,
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verbesserte er sie. »Das klingt, als wäre sie krank. Aber ich würde einiges drum geben«, sinnierte er, »wenn ich einmal sehen könnte, was sie mit einem Rorschach-Test anfängt. Eine riesige Raupe oder eine Million winziger Löwen… und das Ganze ohne Tintenkleckse! Wissen Sie, ob sie jemals psychotherapeutische Behandlung gehabt hat?« Lee hatte gelächelt. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ihre Eltern recht wohlhabend sind. Ich kann mir vorstellen, daß die nichts, aber auch gar nichts auslassen. Wahrscheinlich hat es dabei einen Rechtsstreit gegeben, ob sie zu Mammis oder Pappis Arzt gehen muß. Was dieses Mädchen wirklich braucht, kann keiner ihm geben: andere Eltern oder wenigstens einen Elternteil, der es gern hat.« Carter hatte sich dieser Meinung nicht anschließen können. »Jetzt, in ihrem Alter, nicht mehr so sehr. Ich würde sagen, an diesem Punkt wäre es viel nützlicher, wenn es ein paar Kinder gäbe, die sie mögen und sie akzeptieren. Wenn man sich etwas mit Motivforschung befaßt hat, dann erfährt man bald, wie sehr wir Menschen doch auf unsere Umwelt angewiesen sind. Wir brauchen Gleichgesinnte. Wir brauchen wenigstens eine Handvoll Menschen, die sich für uns interessieren – und wenn wir das nicht haben, sind wir keine Menschen mehr. Und solange dieses Kind ein psychologischer Einsiedler ist, ist sie kein echtes menschliches W esen; irgend etwas anderes.« Irgendwann während der nächsten fünfzehn Minuten wußte er, daß es zwischen ihm und Lee gefunkt hatte. Aber an dem Punkt war er bereits so weit in das Problem eingedrungen, wie man einem Kind wie Dorothy helfen konnte, Freunde zu gewinnen. Für ihn war es ein Problem aus der Motivforschung geworden; zwar eines, das sich mit dem Individuum und nicht der Gruppe befaßte, aber trotzdem waren alle Probleme, die mit Motivforschung zu tun hatten, für ihn so wichtig, daß ihn nichts anderes mehr interessierte. Am Ende hatte Lee das Thema wechseln müssen. Lee war es gewesen, die Andeutungen über ihr nächstes Zusammentreffen machte. Schließlich hatte er sich zusammengerissen und Vor-
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schläge gemacht, was sie tun könnten, wenn sie am nächsten Freitagabend in die Stadt kam. Insgesamt hatte alles ganz gut geklappt. Aber als sie die Eisdiele verließen, hatte Carter sich noch einmal umgesehen: Das Eiskremungeheuer hatte sich auf seinem Hocker halb herumgedreht und starrte ihm nach. Und dann hatte sie sie den ganzen Weg bis zu Lees Haus beschattet. Was hatte sie mit ihm gemacht? Wie hatte sie es getan? Warum? Er trat wütend nach einem losen Stein und sah ihm nach, wie er in den Fluß plumpste. War das einer der Steine, die Dorothy aus der wirklichen Welt geholt hatte? Und wiederum – wie hatte sie es getan? Die Frage nach dem Warum war ihm nicht so wichtig; vermutlich handelte es sich um eine Reihe kontrollierter Experimente, um die Reichweite ihrer Kräfte zu überprüfen. Kräfte? War das das richtige Wort? Talent vielleicht oder katalytische Fähigkeit – das beschrieb es vielleicht besser. Wenn man sich einen bemerkenswerten Intellekt vorstellte, eine sehr starke Persönlichkeit, in das Gehirn eines Kindes eingebettet, dazu eine allgemeine Neurose, um diesen Verstand zu schärfen, das Gefühl, unglücklich und von allen anderen abgelehnt zu sein, was dann? Was konnte sich daraus entwickeln? Er erinnerte sich plötzlich seiner letzten Gedanken, ehe er in dieser Lutscherwelt aufgetaucht war. Kurz nachdem er Lee verlassen hatte, in dem Augenblick, als er das Kind gesehen hatte, hatte er wieder über Dorothys Probleme nachzudenken begonnen. Die Erkenntnis, daß sie ihnen den ganzen Weg von der Eisdiele gefolgt war, einfach aus purer Einsamkeit, hatte ihn dazu veranlaßt, über sie nachzudenken. Da war eine Folge von Gedanken gewesen. Zuerst: Sie hungert wirklich nach Menschen. Dann: Nicht nach Menschen im allgemeinen – nach Kindern, die in ihrer Altersgruppe sind. Wie könnte man Kinder dazu bringen, sie zu mögen? Das ist ein Problem der Motivation! Und dann: Nun, die erste Frage ist natürlich, was
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für Motive hat sie, wie sieht es in ihrem Hirn aus? Gute Motivforschung, Spürarbeit. Und dann dieser schreckliche Blitz, dieses Wegreißen aus seiner Welt. Und dann hatte er hier die Augen aufgeschlagen. Mit anderen Worten: Er hatte etwas damit zu tun. Es war nicht sie allein gewesen. Er war psychologisch gesehen völlig ungeschützt gewesen, hatte versucht, sich ihr Gehirn vorzustellen in dem Augenblick, als sie – nun, als sie etwas getan hatte. Nein, es fehlte noch etwas, ganz gleich, wie man es nannte – Talent, Kräfte, Katalyse – , sie besaß dieses Etwas. Und sie hatte es an ihm angewandt. Carter schauderte plötzlich, als er sich an das Rätsel erinnerte, das sie erfunden hatte. Und in der Vorstellungswelt eines solchen Kindes war er gestrandet! Er wünschte, er hätte mehr auf das geachtet, was Lee in der Eisdiele gesagt hatte, statt Überlegungen anzustellen, wie er sie in seine Wohnung locken sollte. Um hier zu entkommen, um in dieser Welt zu überleben, mußte er jede Kleinigkeit über Dorothy wissen. Schließlich waren ihre Wünsche jetzt die festen und unveränderlichen Naturgesetze dieser Welt. Und dann stellte er fest, daß er nicht mehr allein war. Er war von Kindern umgeben. Sie waren, wie es schien, rings um ihn materialisiert, schrien, spielten, sprangen und hüpften. Und dort, wo der Lärm am lautesten war, wo die meisten Kinder tobten – dort war Dorothy. Das Eiskremungeheuer. Die Kinder tanzten um sie herum wie Springbrunnen um eine Statue. Und sie stand da und starrte ihn immer noch an. Und ihr Blick war immer noch so beunruhigend; mehr als das: unangenehmer, als er ihn in Erinnerung hatte. Sie trug die gleichen Bluejeans und den gleichen gelben Kaschmir-Pullover mit Flecken darauf. Sie war größer, als er sie in Erinnerung hatte, etwas größer als die anderen Kindern. Und schlanker auch. Jetzt konnte man sie höchstens »wohlgenährt« nennen.
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Und Sommersprossen hatte sie auch keine. Carter ärgerte sich darüber, daß er seinen Blick so schnell senken mußte. Aber wenn er die Augen offenließ und das Mädchen ansah, so war das genauso, als starrte man in einen Scheinwerfer. »Schau her, Dorothy!« schrien die Kinder. »Ich springe! Schau, wie hoch ich springe!« »Spielen wir Fangen, Dorothy?« riefen sie. »Komm, spielen wir Fangen!« »Erfinde ein neues Spiel, Dorothy! Erfinde eines von den neuen Spielen, die dir immer einfallen!« »Wir wollen ein Picknick machen, ja, Dorothy?« »Dorothy, wir machen einen Staffettenlauf!« »Dorothy, wollen wir Seilhüpfen?« »Dorothy…« »Dorothy…« Und als sie dann zu reden anfing, verstummten die Kinder alle. Sie blieben stehen, sie hörten zu schreien auf, sie hörten mit dem auf, was sie gerade taten, und sahen sie an. »Dieser nette Mann«, sagte sie. »Er wird mit uns spielen, nicht wahr, Mister?« »Nein«, sagte Carter. »Ich möchte gerne, aber ich kann leider…« »Er wird mit uns Ball spielen«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »Hier, Mister! Hier ist der Ball! Das ist nett, daß Sie mit uns spielen!« Und als sie auf ihn zutrat und einen großen, gestreiften Ball hielt, der plötzlich in ihren Händen erschienen war, folgten ihr die Kinder. Carter suchte immer noch nach Worten, um zu erklären, daß er zwar im Augenblick nicht daran interessiert sei, Ball zu spielen,
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sondern gerne mit Dorothy sprechen möchte, sozusagen eine Audienz haben wolle – und da hatte er plötzlich den Ball in der Hand und stellte fest, daß er doch spielte. »Weißt du, normalerweise…«, begann er und warf den Ball. Aber da mußte er ihn schon wieder fangen, und warf wieder und mußte wieder fangen. »Im Augenblick bin ich sehr beschäftigt, aber…« fuhr er fort und fing den Ball und warf ihn, fing ihn und warf ihn. Ganz gleich, in welche Richtung er den Ball warf, ganz gleich, wie viele eifrige Kinderhände danach griffen – es war immer Dorothy, die ihn auffing und ihn zu ihm zurückwarf. »He, Dorothy!« schrien die Kinder. »Das ist fein!« »Ich spiele ja gerne, sobald ich…«, ächzte Carter, der feststellte, daß das Spiel ihn mächtig anstrengte. »He, Dorothy! Das ist ein gutes Spiel.« »Und ein netter Mann!« »Das macht Spaß!« Dorothy warf den Ball in die Luft, und er verschwand. »Wollen wir Bockspringen machen?« fragte sie. »Möchten Sie mit uns Bockspringen, Mister?« »Tut mir leid!« stöhnte Carter und bückte sich, die Hände auf den Knien, so daß sie von hinten über seinen Rücken hüpfen konnte. »Ich hab’ das seit Jahren nicht mehr gemacht, und ich will auch nicht…« Er rannte vor, stützte die Hände auf Dorothys Rücken, segelte über sie hinweg und beugte sich vor, um ihren Sprung zu erwarten. »Bockspringen ist ein Spiel, das mir nie…« Sie spielten Bockspringen, bis er vor Benommenheit taumelte. Dorothy nahm graziös auf dem Boden Platz und sammelte die Kinder in einem Halbkreis um sich. »Und jetzt möchten wir eine Geschichte hören, bitte, Mister! Erzählen Sie uns eine Geschichte?« Carter versuchte zu protestieren. Und dann wurde irgendwie die Geschichte von dem Wolf und den sieben Geißlein daraus; aber er erzählte sie nicht flüssig und zusammenhängend, weil er
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immer wieder nach Luft schnappen mußte. Und dann kam die Geschichte von Rotkäppchen und schließlich die Geschichte von Blaubart. Und irgendwann gegen Ende der Erzählung verschwand Dorothy. Aber die Kinder blieben da, und Carter führte die Geschichte, ob er nun wollte oder nicht, zu Ende. Die Kinder wirkten jetzt verstört. Einige schauderten, andere weinten oder jammerten. In den letzten paar Minuten war es dunkler geworden. Und als Carter den Schluß von Blaubart erzählt hatte, schob sich eine riesige, schwarze Wolke über den Himmel und senkte sich auf sie herab. Ein angsteinflößendes, purpurrotes Gesicht mit einer riesengroßen Nase und blitzenden, weißen Zähnen kam aus der Wolke und brüllte so laut, daß der Boden zitterte. Dann hörte es zu schreien auf und wetzte die Zähne; das klang wie eine Explosion in einem Porzellanladen. Die Kinder schrien und rannten verstört herum. »Dorothy!« kreischten sie. »Dorothy, hilf uns! Der böse, alte Mann! Hilf uns, Dorothy, hilf uns! Dorothy, wo bist du?« Carter sank in das Gras, ausgepumpt und völlig erschöpft. Er war zu müde, um auch nur aufzublicken; zu erregt, als daß ihn noch interessiert hätte, was ihm jetzt geschah. Es schien, als hätte er zum erstenmal seit Stunden wieder Gewalt über seinen Körper – aber sein Körper war im Augenblick nicht viel wert. »He, Mac?« fragte eine Stimme mitfühlend. »Machen sie’s dir schwer?« Es war das purpurne Gesicht aus der Wolke. Jetzt wirkte es nicht mehr erschreckend, sondern nur auf freundliche Art und Weise besorgt. Und es schrumpfte schnell zusammen, bis es die richtige Proportion zu dem normalen menschlichen Körper darunter hatte. Und als es ein ganz gewöhnliches, rotes, etwas faltiges Gesicht war, schmutzig, mit ein paar Tage alten Bartstoppeln unter der roten Nase, kniete sein Besitzer am Rande
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der Wolke nieder und sprang aus einer Entfernung, die jetzt höchstens noch zwei Meter betrug, auf den Boden. Er war ein ältlicher, mittelgroßer Mann mit grauen Hosen, einem zerfetzten, braunen Hemd, das ihm bis zu den Hüften hing, und zwei abgewetzten, schmutzigen Turnschuhen, von denen einer ein großes Loch in der Sohle hatte. Er war das Urbild eines Wracks, das typische Beispiel menschlichen Abfalls, aber… Er war ein Erwachsener. Carter sprang auf und streckte dem Mann erfreut die Hand hin. Der schüttelte sie schlaff. »Könnten Sie einen Drink gebrauchen, Mac?« »Darauf können Sie Gift nehmen!« versicherte ihm Carter. »Bin ich froh, Sie zu sehen!« Das Wrack nickte, griff in die Höhe und zog die schwarze Wolke näher zu sich her. Dann suchte er darin herum und holte eine Flasche heraus. Sie war etwa halb voll; aber obwohl die darin enthaltene Flüssigkeit die richtige Bernsteinfarbe hatte, war die Flasche ganz weiß und trug kein Etikett. Er öffnete sie und hielt sie Carter hin. »Ich heiße Eddie. Die meisten nennen mich Hemdzipfel. Brauchen Sie ein Glas zum Trinken? Gläser gibt’s nicht.« Carter zuckte die Achseln. Er wischte mit der Hand über den Flaschenhals und nahm einen langen Schluck. »Huuuh!« machte er. Und dann mußte er so husten, daß er beinahe die Flasche fallen gelassen hätte; Hemdzipfel nahm sie ihm gleich weg. »Schrecklich, nicht?« fragte er und nahm dann seinerseits einen langen Schluck. Schrecklich, so entschied Carter, war nicht der richtige Ausdruck. Es schmeckte schon wie Whisky, wenn auch nicht wie besonders guter; aber dazu kam ein Beigeschmack von Jod, Ammoniak, Kampfer und Salzsäure. Hemdzipfel setzte die Flasche ab, schüttelte sich, schnitt eine Grimasse und leckte sich über die Lippen. »So glaubt sie, daß
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Whisky schmeckt.« »Dorothy?« »Genau! Die Kleine – wenn sie glaubt, daß etwas einen bestimmten Geschmack hat, dann schmeckt es auch so. Aber so ist’s besser als gar nichts – besser als überhaupt kein Schnaps. Wollen Sie raufkommen? Wir können uns eine Weile hinsetzen.« Er deutete auf die Wolke, die über ihnen hing; ein dunkles, mißgestaltetes Luftschiff. Carter griff zweifelnd nach dem nebelhaften Zeug und zog sich hoch. Es war, als schwimme man im Nebel; nur die Punkte, die er anfaßte, fühlten sich fest an. Eine riesige, schwarze Kaverne, eine Art Saal. In einer Nische stand ein Feldbett mit zerfetzten Decken darauf, ein Tisch voll zersprungener Tassen und Untertassen und drei alte Lehnstühle, die aussahen, als hätte man sie vom Müllplatz geholt. Eine Glühbirne ohne Schirm hing an einem dünnen Draht über dem Bett und verbreitete einen schwachen Lichtschein. Ob man die Fläche hinter dem Feldbett eine Wand nennen konnte oder nicht – jedenfalls war sie vom Boden bis zur Decke mit Hochglanzbildern nackter Frauen bedeckt. »Das war nicht meine Idee, sondern ihre«, erklärte Hemdzipfel, als er durch den Boden hochkletterte. »Alles gehört ihr: jede Idee – alles. Wahrscheinlich hat sie das einmal in einer Nachtwächterhütte gesehen; und für sie bin ich dieselbe Art Mensch wie der Nachtwächter; also kriege ich das als Wohnung. Aber Gott sei Dank für die Flasche! Die Bilder können Sie meinetwegen haben – aber die Flasche – Gott sei Dank, daß ich die habe!« Er bot sie Carter an, aber der schüttelte den Kopf und lehnte ab. Dann nahmen sie auf zwei Sesseln Platz, wovon einer sofort ächzende Geräusche von sich gab. Verdammt noch mal! dachte Carter. Ich habe den schon mal wo gesehen – aber wo? »Nehmen Sie einen Schluck, Mac! Nur zu! Nehmen Sie einen Schluck! Ein Gutes hat das Kind ja: Die Flasche wird so schnell wieder voll, wie Sie sie leer machen. Sie nehmen mir nichts weg,
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wenn Sie einen Schluck nehmen. Und wenn Sie nicht regelmäßig trinken, dann fangen Sie an, mit sich selber zu reden. Alles Blödsinn!« Carter überlegte und gab dem Tramp dann recht. Er nahm noch einen Schluck; er schmeckte so schlecht wie der erste. Aber der Alkohol wirkte sehr bald und isolierte den Geschmack etwas. Er seufzte und schluckte noch einmal. Kein Zweifel: Doro thys Welt sah schon besser aus. Er reichte die Flasche zurück und musterte sein Gegenüber. Kaum die richtige Type für diesen Ort, wenn man es sich überlegte: ein Tramp, ein ganz gewöhnlicher, alter Tramp. Warum gerade er als böser, alter Mann? »Wie lange sind Sie denn schon hier?« erkundigte sich Carter. Hemdzipfel zuckte die Achseln und starrte die Flasche an. »Ein Jahr vielleicht. Vielleicht auch zwei. Man kann’s ja nicht zählen. Manchmal ist ein Tag lang Winter und den Tag darauf Sommer. Selbst mein Bart ist nicht mehr gewachsen, seit ich hier bin. Mir kommt’s wie Jahre und Jahre vor. Schlimmer als im Knast – schlimmer als alles. Was ich hier mitgemacht habe, Mac! Was ich hier mitgemacht habe!« »Schlimm?« fragte Carter mitfühlend. »Schlimm ist gar kein Wort dafür. Ich mache diesen Kindern angst, jedesmal, wenn sie’s will. Ob ich gerade in der Klappe liege oder etwas anderes vorhabe, macht der nichts aus. Dorothy denkt einfach: Komm und mach ihnen angst! Und ich muß fallen lassen, was ich gerade i n der Hand habe. Wenn ich in der Klappe bin, dann hilft das auch nichts; ich muß ihnen angst machen. Also blase ich mich so auf, wie Sie mich gerade gesehen haben, und fange zu schreien an. Und dann rufen die Kinder: ›Dorothy, hilf unsl‹ – und sie fängt an, mich in Stücke zu zerlegen. Was die mir schon angetan hat! Mich richtig zusammengeschlagen, nur weil ich den Kindern angst gemacht habe! Ich habe die Idee nicht gehabt! Ich tu’s bloß, weil sie’s mir befiehlt.« »Haben Sie jemals versucht, sich zu wehren, ihr Widerstand zu
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leisten?« wollte Carter wissen. »Ich meine, was passiert, wenn Sie nein sagen?« »Mac, Sie sagen nicht nein, das tun Sie einfach nicht! Hier läuft alles so, wie sie’s will. Wenn sie’s juckt, dann kratzen Sie sich. Und wenn sie niest, wischen Sie sich die Nase. Was ich die schon alles genannt habe, bloß um mir die Zeit zu vertreiben, Mac – und jetzt fällt mir keins von den Schimpfworten mehr ein. Sie ist bloß Dorothy, anders kann ich sie nicht nennen. Wissen Sie, was ich meine? Alles läuft so, wie sie’s will – selbst in ihrem Kopf! Sie müssen einfach so einer sein, wie sie’s haben will. Alles andere läuft so, wie sie’s will. Und je länger Sie dableiben, desto mehr wird’s so.« Carter erinnerte sich angeekelt daran, wie wenig er Ballspielen oder Bockspringen mochte und wie tüchtig er gespielt hatte. Und schlimmer noch als das: Er hatte sogar Geschichten erzählt, wo er doch hatte protestieren wollen! Und noch schlimmer: Er hatte – selbst in seinen eigenen Gedanken – den Namen Eiskremungeheuer schon einige Zeit nicht mehr verwendet! Er hatte, wenn er an sie gedacht oder von ihr gesprochen hatte, immer nur Dorothy gesagt. »Und je länger Sie hierbleiben…« Er mußte hier weg, er mußte einen Weg finden, diese Welt zu verlassen – und zwar schnell! Hemdzipfel bot wieder die Flasche an. Carter lehnte ungeduldig ab. Flucht, Ausbruch – das kam zuerst: und dafür brauchte er einen klaren Verstand. Die Alternative bestand darin, langsam psychologisch und physisch in Dorothys Traumwelt absorbiert zu werden, bis selbst seine Gedanken nur mehr leicht exzentrische Abwandlungen des Bildes waren, das sie sich von ihm machte. Und dann würde er wie eine Fliege, die der Bernstein unsterblich gemacht hatte, ewig in der Rolle verbleiben, die sie für Den Netten Mann zurechtgelegt hatte. Der Nette Mann! Er schauderte. Und so sollte er den Rest seines Lebens verbringen? Nein, nicht solange er noch mehr oder weniger er selbst war. Er, Carter Broun, ein Mann mit dem Ver-
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Verstand eines jungen Motivationsforschers in der wirklichen Welt, letzt war die Zeit, auszubrechen! Die echte Welt – man konnte sie genauso gut auch anders nennen. Carter war noch nie Mystiker gewesen und war auch nur dann Anhänger Freuds, wenn es ihm paßte. Sein Credo war ganz einfach: Alles, was ist, ist wirklich. Also… Wenn man einen genügend großen Kosmos postulierte, einen Kosmos, der auch in seinen Möglichkeiten genügend weit war, dann mußte er in all seiner Unendlichkeit auch Raum für jede Art von Welt haben, die der Mensch sich vorstellen konnte. Oder die ein Kind sich vorstellen konnte. Und jetzt braucht man sich nur noch ein Kind vorzustellen, das in seiner überwältigenden Einsamkeit und Sehnsucht aus irgendeinem angeborenen unglaublichen Talent heraus vielleicht die Fähigkeit besitzt, die Grenzen des Kosmos zu durchbrechen und die eine Ecke zu finden, wo seine Traumwelt als greifbare, alltägliche Wahrheit existiert. Von hier aus ist es kein großer Schritt mehr dazu, andere Individuen, Steine und Blumentöpfe von einem Universum ins andere zu befördern. Die ursprüngliche Unterstellung, so entschied Carter, war die schwierige. Sobald man die einmal hinnahm, waren die anderen einfach. In einer grenzenlosen Zahl paralleler Welten die wahre Heimat seines eigenen Denkens zu finden… War es das, was Dorothy getan hatte? Und in dem Fall – was war die Traumwelt und was die Wahrheit? Wahrscheinlich konnte man in jeder von beiden ebenso leicht sterben – das war also kein Unterscheidungsmerkmal. Nun, was für einen Unterschied machte es schon? Die wirkliche Welt für Carter war die Welt, aus der man ihn herausgerissen hatte; die Welt, in der er einen persönlichen Zweck erfüllte, in der er etwas war. Die Welt, die er liebte, in die er zurückkehren wollte. Und diese andere Welt, ganz gleich, wie substantiell sie in diesem Raum-Zeit-Gebilde war, war die Traumwelt – die Welt, aus der er fliehen mußte. Die Welt, von der er gegen die Logik
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seiner eigenen Sinne beweisen mußte, daß sie nicht existierte – indem er sie verließ oder sie irgendwie vernichtete. Vernichtete… Er starrte Hemdzipfel an. Kein Wunder, daß das Wrack so ve rtraut gewirkt hatte! Es war nur ein ganz kurzer Blick gewesen, vor Wochen, Monaten vielleicht; aber das Wort brachte ihm die Schlagzeile über jenem unvergeßlichen Foto zurück. Eine Boulevardzeitung auf einem noch druckfeuchten, neuen Stapel, den er entdeckt hatte, als er an der 53. Straße am Kiosk vorbeigegangen war. Und dann war er stehengeblieben, um das Foto noch einmal anzusehen, das die halbe Frontseite ausfüllte. EIN MANN, DER SICH SELBST VERNICHTET HAT lautete die Überschrift. Und dann fuhr der Artikel fort und erklärte, daß man so aussehen würde, wenn man den Rest seines Lebens damit verbrachte, nicht zu arbeiten, in Türnischen zu schlafen und statt zu essen, nur trank. ›Selbst abgehärtete Internisten und Pfleger im Krankenhaus wandten ihre Gesichter ab, als sie dieses schreckliche Wesen sahen, das einmal ein Mensch gewesen war.‹ Aber das Foto zeigte ein Wrack, das einmal ein Mann gewesen war. Es zeigte ihn in der Gasse, in der man ihn gefunden hatte; zeigte ihn so, wie er aussah, als man die Bahre hochhob. Man konnte das Bild nicht so leicht vergessen. Das Schlimmste war, daß das Ganze noch lebte. Die Augen starrten in das Objektiv der Kamera, ohne irgend etwas zu erkennen. Das Gesicht oder der Körper zeigte keinerlei Verletzungen – nichts außer Schmutz. Und doch hatte man das Gefühl, daß dieser Mann zehn Stockwerke tief gefallen war oder von einem Wagen mit 120 Stundenkilometern angefahren worden war – ohne getötet zu werden; jedenfalls nicht ganz getötet, bloß teilweise. Der Körper lag da, und die Augen starrten, und der Mann lebte; aber mehr konnte man darüber nicht sagen. Wenn man das Bild
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ansah, dachte man an komplizierte organische Verbindungen, die beinahe lebende Wesen waren, es aber doch nicht ganz geschafft hatten. Der Überschrift nach hatte man ihn so in einer Seitengasse gefunden und hatte ihn in ein Großstadtkrankenhaus gebracht. Zehn Stunden lang hatten die Ärzte keine einzige Reaktion aus ihm herausholen können – nichts. Carter erinnerte sich ganz deutlich an das Bild. Es war ein Bild von Hemdzipfel gewesen. Vor dem Auge einer erschreckten, angewiderten Lee entstand jetzt irgendwo in dieser Sekunde, wahrscheinlich in einem Krankenhaus in Grenville Acres, ein weiterer Körper, der äußerlich einem gewissen Carter Broun glich, in Wirklichkeit aber viel mehr Ähnlichkeit mit diesem schrecklichen Foto hatte. Ein Körper, der kaum noch lebte, der auf keinerlei Reize reagierte, der gerade noch existierte – dessen Bewußtsein aber anderswo war. Hier, in Dorothys eigener Schokoladenwelt. Er mußte hier weg, ganz gleich wie. Hier konnte er nicht bleiben. Nur würde er etwas so Ähnliches wie Dynamit brauchen; psychologisches Dynamit. »… habe mir sogar die Halsschlagader aufgeschnitten«, fuhr Hemdzipfel fort. »Am Anfang hätte ich mir wahrscheinlich den Hals abschneiden können, wenn ich daran gedacht hätte. Jetzt ist’s zu spät: Wenn ich’s versuche, bremst sie mich sofort. Habe auch versucht, mich auszuhungern, geht aber nicht. Dabei gibt’s bloß Schokolade zu essen. Hier braucht man überhaupt nicht zu essen – nicht mal zu atmen. Wenn man zu atmen aufhört, macht’s auch nichts. Hab’s auch probiert, Mac. Stundenlang kann man die Luft anhalten. Nichts passiert – bloß das, was sie will. Sonst gar nichts.« Carter versuchte verzweifelt, dem anderen den Begriff paralleler Welten klarzumachen. »Wie war’s, wenn wir beide uns hier zusammentun und uns das mal überlegen? Wenn wir jetzt
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einen vernünftigen Plan zusammenkriegen, etwas, das ihr vielleicht nicht paßt – aber wenn wir’s tun, war’ das echt – dann war’s passiert!« »Mac, Sie haben’s immer noch nicht kapiert! Wenn wir zwei zusammensitzen und reden, dann will sie das so. Sie hat sich zurechtgelegt, daß wir zwei reden sollen.« Carter runzelte die Stirn; nicht über Hemdzipfels letzte Bemerkung, sondern über eine höchst unerwartete und unerfreuliche Bestätigung: Er hatte plötzlich gespürt, wie etwas an ihm zerrte. Etwas drängte ihn, die Wolke zu verlassen und wieder auf die schokoladenbedeckte Oberfläche hinunterzusteigen. Dorothy kam zurück. Sie wollte, daß er zu ihr zurückkam. Sie hatte eine neue Sequenz. Carter kämpfte dagegen an. Er fing an zu schwitzen. Und das Zerren wurde stärker und stärker. Er ballte die Hände zu Fäusten, bis es weh tat. »Das Eiskremungeheuer!« zwang er sich mit zusammengebissenen Zähnen zu sagen. »Vergiß nicht – das Eiskremungeheuer!« Hemdzipfel blickte plötzlich auf. »He!« sagte er. »Tun Sie mir einen Gefallen, Mac! Beschimpfen Sie sie! Das tut mir gut – ehrlich – wenn ich ein paar Schimpfworte höre, selbst wenn ich mich nicht daran erinnern kann. Ich möchte sie wieder mal hören! He, Mac?« Carter wälzte sich in dem Stuhl herum, spürte, wie seine Ellbogen sich in seine Seiten bohrten, und schüttelte den Kopf. »Nein!« stöhnte er. »Kann nicht! Geht nicht!« »Ich weiß. Es ist schwer. Als ich herkam – ich habe mich auch gewehrt, jedesmal, wenn sie etwas wollte. Immer wieder gewehrt. Hat aber keinen Sinn.« Und jetzt spürte Carter, wie er gegen seinen eigenen Widerstand langsam aus dem Sessel aufstand. Er wußte, daß sein Gesicht vor Anstrengung rot anlief. Er mußte sie jetzt aufhalten. Er mußte! Das war die einzige Möglichkeit, um ihre Welt zunichte
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zu machen. Aber das Eis… Dorothy rief ihn. Hemdzipfel strich mit dem schmutzigen Zeigefinger über die Flasche. »Ich gehe also über den Broadway auf eine Mülltonne zu. Und dahinter ist ein kleines Tor. Ich gehe hinein. Drinnen war’s dunkel. Aber aus einem Kellerfenster kam’s warm. Zeit zum Schlafen. Ich denke mir, hast Glück gehabt, und will mich hinlegen. Aber das war das letztemal, daß ich das dachte. Als ich aufwache, ist’s hell. Und da ist dieses Kind, diese Dorothy, und sieht mich an. Sieht mich an. Sie hat einen großen Ball in der Hand und steht da und glotzt mich an. Sie zeigt auf die Flasche. »Die Flasche gehört meinem Pappi«, sagt sie. »Er hat sie gestern nacht nach der Party rausgeworfen. Aber sie gehört ihm.« Ich will keinen Ärger mit diesem Mädchen und mag auch nicht, wie sie mich anschaut. »Hau ab, Göre!« sage ich und schlafe wieder ein. Und als ich das nächstemal wieder aufwache, bin ich da. »Ich habe die Flasche, und das ist alles, was ich habe, Mac. Und von dem Augenblick an war’s hart. Alles Mögliche hat sie hier gehabt: große Dinge mit Beinen und alles…« Als hätte er keinen anderen Wunsch auf der Welt, wandte Carter jetzt dem bösen, alten Mann den Rücken und begann durch schwarzen Nebel wegzugehen. Carters Beine gingen, ohne daß er Gewalt über sie hatte. Er konnte sich nicht weigern, konnte keinen Widerstand leisten, das war offenkundig. Er mußte einen anderen Weg finden, um zu kämpfen. Inzwischen aber mußte er ihrem Befehl gehorchen. Dorothy wartete auf ihn, auf einem Stück sorgfältig gemähtem Rasen neben einem rosa und grün gefärbten Bonbonbusch. Und als er neben ihr stand, blickte sie einen Augenblick weg und sah die dunkle Wolke an. Die Wolke verschwand. Carter überlegte, was wohl mit Hemdzipfel geschehen war –
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war er endgültig ausgewischt worden? Oder hatte man ihn in irgendeine Traumwelt versetzt? Und dann sah er Dorothy wirklich – und die Veränderungen, die sie vorgenommen hatte. Sie trug immer noch Bluejeans, aber der Kaschmirpullover war jetzt sauber, völlig sauber, und ganz neu. Und sie war größer. Und sie war noch schlanker, als sie vorher gewesen war. Aber dieser gelbe Kaschmirpullover! Er war mit zwei unglaublich vorstehenden Brüsten gefüllt, die auf ein Plakat vor einem billigen Kino gehörten, um dort die Attribute einer Hollywoodgöttin zu verkünden. Der Rest ihres Körpers war immer noch kindhaft, wirkte sogar noch kindhafter als damals, als er sie zum erstenmal gesehen hatte; aber das kam wohl von diesem immensen Busen, der wie eine Karikatur wirkte. Nur… Ja, nur, daß da die rote Schmiere über ihren Lippen war und die Mascaraklumpen, die an ihren Wimpern hingen, und die schreckliche Farbe ihrer Fingernägel. Bedeutete das… Er schüttelte unsicher, gereizt den Kopf. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet, was auch immer es war. »Also treffen wir uns wieder«, flötete Dorothy schließlich. »Das war uns so bestimmt«, hörte Carter sich hauchen. »Das ist unsere Bestimmung. Wir leben unter demselben fremden Stern.« Woher hatte sie den Dialog, überlegte er – vom Kino? Vom Fernsehen? Aus Büchern? Oder stammte er aus ihrem eigenen, von Neurosen verkrampften Kopf? Und was stellte er darin dar? Ihre Rolle war offenkundig: Sie stand in offener Konkurrenz mit Lee. Ein Gedanke kam ihm: Lee – und wem noch? Aber über dem Ganzen lag das schreckliche Wissen, daß er Dinge sagte, die er
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aus eigenem Willen nie sagen würde. Wie lange würde es dauern, bis er anfing, solche abgedroschenen Redensarten auch zu denken? Und dann war da eine Erinnerung tief im Hintergrund seines Gedächtnisses – er hatte einen Namen für sie, den er selbst erfunden hatte; einen Namen, an den er sich nur schwer erinnern konnte. Aber er mußte sich daran erinnern; es war irgend etwas wie… Dorothy. Der einzige Name, den sie hatte. Aber das war nicht der Name. Er dachte verzweifelt nach, mit verzweifelten Flügelschlägen, wie ein Strauß, der zu fliegen versuchte. Schlimm, schlimm! Er mußte irgendwo seine eigene Persönlichkeit wiederfinden, mußte durchbrechen. Zerschlagen… »Dann ist deine Liebe also so stark, so wahr?« fragte sie. »Du hast mich nach all der Zeit nicht vergessen? Schau mir in die Augen und sage es mir! Sag mir, daß dein Herz immer noch mir allein gehört!« Nein, das werde ich nicht! stöhnte er. Er blickte ihr in die Augen. Das kann ich nicht! Ich kann das nicht sagen. Und sie ist ein Kind – ein kleines Mädchen! »Zweifelst du an mir, Geliebte?« fragte er sanft, und die Worte kamen gequält aus ihm heraus. »Du darfst nie an mir zweifeln! Du bist die einzige für mich, für immer und ewig, solange es einen Himmel über uns gibt und Erde unter uns! Du und ich für alle Zeiten!« Er mußte aufhören. Sie gewann absolute Kontrolle über ihn. Er sagte das, was sie von ihm hören wollte. Und bald würde er es auch denken. Aber er konnte die Worte nicht daran hindern, aus seinem Mund zu fließen, wenn er dran war; wenn sie gesprochen hatte und wartete… Dorothy blickte in die Ferne auf die beiden gleich hohen Hügel. Ihre Augen waren verschleiert, und Carter spürte, ob er es wollte
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oder nicht, daß ihm ein Kloß in der Kehle saß. Lächerlich! Und doch, wie traurig… »Ich habe deine Liebe beinahe gefürchtet«, sagte sie. »Ich wurde einsam und glaubte schon…« Jetzt, während sie redet, während ihr Geist ihn nicht zwang. Mach’ es wirklich! Nur so kann man diese Traumwelt sprengen. Sie wirklich machen! Er griff nach ihr. »… daß du mich vergessen und eine andere gefunden hättest. Wie sollte ich wissen…« Er griff nach ihr. Er machte Wirklichkeit daraus. Und in dem Augenblick zitterte der Boden unter seinen Füßen, und ein mächtiger Knall erschütterte den blauen Himmel. Nur einen Augenblick lang triumphierte er. Dann wandte Dorothy ihm ihre geweiteten, angsterfüllten Augen zu. Und schrie! Ihr Schrei war der lauteste im ganzen Universum. Und er hörte nicht auf, betäubte ihn. Und doch war er nicht betäubt, weil er ihn hörte. Jeden einzelnen Ton, vom Anfang bis zum Ende, in seiner ganzen, ihm den Schädel zersprengenden Lautstärke, in seiner ganzen vulkanischen Angst. Und nicht nur Dorothy schrie: Die Schokoladenbäume schrien. Die Kuchenbüsche schrien. Die beiden Hügel schrien. Der Schokoladenfluß erhob sich zwischen seinen schreienden Ufern und schrie. Die Steine schrien, ja die Luft schrie. Der Boden zerfiel, und Carter Broun stürzte hinein. Er fiel jahrhundertelang, äonenlang, Ewigkeiten lang. Und dann hörte er auf zu fallen, hörte selbst zu schreien auf, nahm die Hände von den Ohren und sah sich um. Er befand sich in einem stumpfgrauen, völlig kugelförmigen Gewölbe. Es gab keine Türen, keine Fenster, keine Fugen und
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keine Spalten in der gewölbten Fläche. Das Gewölbe war völlig undurchdringlich und völlig schalldicht. So mußte es sein, erkannte er, als er sich darin bewegte. Es mußte undurchdringlich und schalldicht sein. Es mußte auf dem tiefsten Grund der Traumwelt liegen, so daß kein Lichtstrahl und kein Ton je Dorothys Bewußtsein daraus erreichen konnten. Es war die völlige Unterdrückung, diese Ecke ihrer Erinnerung, die gebaut war, um die tödlich gefährliche Erinnerung, die er selbst war, zu verbergen – und sie würde andauern, solange Dorothy lebte.
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Der Botenjunge Ja, ich bin der Malcolm Blyn, der Sie aus Greenwich Village angerufen hat. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich hereinkomme und mich setze – ich brauche nicht viel Zeit. Danke! So, das wäre also die Story. Und wenn Sie der Mann sind, nach dem ich das ganze Land abgesucht habe, dann steckt eine Million drin… Nein, bitte! Ich verkaufe keine Aktienanteile an Goldminen oder ein Patent für einen atomaren Verbrennungsmotor. Ich verkaufe überhaupt nichts. Ja, Vertreter bin ich schon – das bin ich mein ganzes Leben lang gewesen, und ich weiß, daß ich von Kopf bis Fuß wie ein Vertreter aussehe. Aber heute verkaufe ich nichts. Heute will ich etwas kaufen. Wenn Sie das Zeug haben, heißt das. Das Zeug, das der Botenjunge behauptete, von Ihnen… Hören Sie zu! Ich bin nicht ve rrückt! Glauben Sie mir! Hören Sie sich zuerst an, was ich zu sagen habe! Bitte, setzen Sie sich hin und hören Sie mir zu! Er war kein gewöhnlicher Botenjunge – wenn er Botenjunge war, dann war Einstein Buchhalter. Und was er auch für Botengänge gemacht hat! Aber Sie müssen das verstehen… Da, nehmen Sie eine Zigarre! Hier ist meine Karte. Blyns Farben- und Malerbedarf en gros – das bin ich – »Wir liefern Farben jeder Art in jeder Menge jederzeit an jeden Ort.« Mit ›an jeden Ort‹ meinen wir natürlich nur die Vereinigten Staaten. Aber das sieht gut aus auf der Karte, nicht wahr? Ein Verkaufstrick. Ja, ich bin Vertreter. Sie brauchen mir bloß etwas zum Verkaufen zu geben: eine Verbesserung, eine Dienstleistung oder irgendeine verrückte Neuheit – ich garantiere Ihnen, daß sich die Leute das Futter aus den Hosentaschen reißen. Ich habe immer Emersons berühmten Ausspruch an meiner Bürowand gehabt, Sie wissen schon: »Wenn jemand ein besseres Buch schreiben, eine bessere Predigt halten oder eine bessere Mausefalle machen kann als sein Nachbar, dann mag er ruhig sein Haus in den Wäldern bauen; die Welt wird dennoch den Weg zu seiner Tür a ntreten.« Gut gesagt. Und ich bin der Mann, der den Leuten klar-
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macht, daß sie den Weg antreten müssen. Ich bin gut; das müssen Sie mir glauben. Ich kann verkaufen, wa s auch immer Sie haben – wenn Sie nur etwas haben. Aber ich brauche gute Ware, wirklich gute, nicht bloß heiße Luft. Nein, ich behaupte nicht, daß Sie hier bloß heiße Luft verkaufen; ich weiß ja nicht, was Sie anzubieten haben… Hühner züchten Sie also? Yeah. Also hören Sie zu! Am kommenden Mittwoch sind’s fünf Wochen, da hatten wir einen Eilauftrag. Dreihundert Kanister Deckweiß für die Ex-pandoBaugesellschaft, eine Firma, die ich immer schon als Kunden haben wollte. Elf Uhr war’s, und sie wollten die Ware um zwölf Uhr Mittag auf ihrer neuen Baustelle in Nord-Jersey haben, damit ihre Leute gleich nach dem Mittagessen damit anfangen konnten. Ich war draußen im Lager und habe Hennessey, meinem Vorarbeiter, ein Feuer unterm Hintern gemacht, damit er seinen Leuten ein Feuer unter dem Hintern machte. Ringsum wurden Farbkanister aufgestapelt und rumgeschleppt, Männer hetzten umher – und da hörte ich Hennessey einen Witz machen. »He, der neue Botenjunge ist aber schon lange weg! Der Bursche muß aufgegeben haben.« Ein Dutzend Männer hörten zu arbeiten auf und lachten. Sie merkten, daß das ein Witz sein sollte – schließlich war Hennessey ihr Boß. »Seit wann haben wir denn einen neuen Botenjungen?« mischte ich mich ein. »Neueinstellungen mache ich hier. Schließlich müssen wir die Leute eintragen – heutzutage ist das ja ein ganzer Papierkrieg. Wollen Sie, daß ich Ärger kriege? Haben Sie nie etwas von der Sozialversicherung gehört? Und den Jugendarbeitsgesetzen? Wie alt ist der Junge denn?« »Ach, Mr. Blyn, woher soll ich das wissen? Für mich sehen alle gleich aus. Neun vielleicht oder zehn, mag sein, elf. Viel dünner als die meisten Jungen, die ich gesehen habe, aber gesünder. Sieht irgendwie kräftig aus.« »Nun, wenn er so jung ist, dann hat er so früh am Tag nichts in
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einem Lager zu suchen. Wahrscheinlich hat e r was ausgefressen. Und ich bekomme dann die Schulaufsichtsbehörde auf den Hals, von der Gewerkschaft ganz zu schweigen! Habe ich nicht schon genug Ärger, Hennessey, mit zwei LKW -Fahrern, die sich in New Jersey mit einer Landkarte von Pennsylvania verfahren? Ich brauche doch…« »Ich habe ihn nicht eingestellt – ehrlich! Er war da und hat um einen Job gebeten. Mit einer ganz komischen Stimme, so wie Kinderstars im Kino manchmal reden. Er wollte ganz unten anfangen und sich bewähren. Es zu etwas bringen – er brauchte bloß eine Chance. Ich sage ihm, das Geschäft wäre in letzter Zeit mies, und wir würden nicht mal Thomas Alva Edison in unserer Telefonzentrale einstellen. Er sagt, das wäre ihm gleich. Er wollte nur den Fuß auf die Leiter des Erfolges setzen. Er wollte gratis arbeiten.« »Und?« »Nun, ich tu so, als denke ich nach – um zehn Uhr heute morgen war’s noch ziemlich ruhig hier – und schließlich sage ich ihm, er könnte es ja als Botenjunge versuchen. Ich gebe ihm einen leeren Kanister und sage, er soll ihn mit grüner Farbe füllen – aber mit orangefarbenen Punkten. Wollte ihn prüfen, wissen Sie? Er schnappt sich den Kanister und haut ab. Den waren wir los! Sie hätten die Boys sehen sollen, Mr. Blyn, als der weg war: Die wären vor Lachen bald geplatzt!« »Halte mich fest!« sagte ich. »Ich werde selbst ganz schwach. Fast so komisch wie damals, als sie Whalen mit einer Stinkbombe in den Waschraum einschlossen. Übrigens – damit ich’s nicht vergesse – wenn der Wagen hier nicht in zehn Minuten beladen ist, dann ist Whalen Ihr neuer Boß!« Er wischte sich die Hände am Overall ab und wollte etwas sagen. Dann überlegte er es sich noch mal und fing an, ins Lager hinauszubrüllen. Er fragte seine Leute, ob sie nicht auch glaubten, es wäre Zeit, aus ihren Särgen zu kriechen. Er forderte sie auf, gefälligst in die Hände zu spucken und ein bißchen fix zu machen.
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Eines muß man Hennessey lassen, auch wenn er dauernd blöde Witze im Kopf hat: als Vorarbeiter gibt’s keinen besseren. Und da kam der Junge herein. »He!« rief jemand. »Ernest ist wieder zurück.« Sie hörten zu arbeiten auf. Der Junge kam herein, sein Atem ging schwer, und er stellte den Kanister vor Hennessey hin. Er trug ein weißes Hemd, Kordjeans und, hochgeschnürte, braune Schuhe; aber ich hatte noch nie in meinem Leben solchen Kord gesehen oder weißes Tuch wie das, aus dem sein Hemd gemacht war. Das Material schien sehr dünn – und irgendwie wertvoll; anders kann ich es nicht beschreiben; wie ganz teure Seide. »Ich bin froh, daß du wieder da bist!« sagte Hennessey. »Ich brauche dringend einen Linkshänderpinsel. Sieh dich um und schau, daß du einen auftreibst. Aber für einen Linkshänder muß er sein!« Ein paar Leute auf der Laderampe fingen zu lachen an. Der Junge ging weg, blieb aber an der Schiebetür noch einmal stehen. »Ich werd’s versuchen, Sir«, sagte er mit einer Stimme, die wie Flötenmusik klang. »Ich werde mein Bestes tun. Aber diese Farbe – ich habe keine grüne Farbe mit orangefarbenen Punkten gefunden. Die hier hat rote Punkte. Hoffentlich macht das nichts aus.« Und dann ging er weg. Einen Augenblick starrten wir alle die Stelle an, auf der er gerade noch gestanden war. Dann lachte ich, und eine Sekunde darauf brüllten alle, daß beinahe die Decke eingefallen wäre. Die Männer standen mit ihren Karren da und lachten, daß ihnen die Tränen kamen. »Hennessey, der Schlaumeier!« schrie einer. »Ich konnte bloß grüne Farbe mit roten Punkten finden!« »Bitte, Sir, hoffentlich macht das nichts aus! Verdammt noch mal!«
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»Der Junge hat’s dir aber gezeigt!« »Armer Hennessey!« Und Hennessey stand da, und seine mächtigen Pranken hingen zu beiden Seiten herunter. Er holte mit dem rechten Bein aus und versetzte dem Behälter einen Tritt, Er traf den Kanister aber nur an der Ecke – streifte ihn, so daß ein Tropfen herausfiel – , rutschte aus und krachte auf den Boden. Das Lachen wurde noch lauter, als er sich aufrappelte. Und dann wurde es wieder ganz ruhig, und jeder kümmerte sich um seine Arbeit. Kein Mann im ganzen Lager wollte Hennesseys Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nachdem sein Streich schiefgegangen war. Ich lachte noch und schlenderte zu dem Kanister hinüber. Ich wollte sehen, was für Zeug der Junge hineingeschüttet hatte; es sah wie Wasser aus. Die Flüssigkeit in dem Kanister war hauptsächlich durchsichtig, und kleine, braune Flecken schwammen darin. Jedenfalls keine Farbe – keine wie ich sie kannte. Ich sah auf den Boden, wo der Tropfen hingefallen war, als mein Vora rbeiter nach dem Kanister getreten hatte. Und dann wäre ich bald erstickt! Das Zeug, das der Junge in den Kanister gefüllt hatte – das Zeug war grüne Farbe mit roten Punkten! Roten Punkten! Es gab gar keinen Zweifel: Eine kleine Pfütze hatte sich neben dem Kanister gebildet, und unser Lagerhausboden hatte jetzt einen grünen Flecken mit roten Punkten. Und dieser Botenjunge – dieser Ernest – hatte die Farbe irgendwo gefunden. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich eines auf den ersten Blick erkenne: Ware, die man verkaufen kann. Ich habe einen Riecher dafür – aber das wissen Sie ja. Aber wissen Sie, wie gut man solche Farbe verkaufen könnte? Zum Beispiel als Neuheit an Fabrikanten oder als Spielzeug für Hobbybastler, die an ihren Häusern dauernd etwas richten, oder als neue Dessin-Idee an Innendekorateure. Das Ganze war eine Goldmine!
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Aber ich mußte mich beeilen. Ich nahm den Kanister am Griff und fuhr mit der Schuhsohle über den Farbfleck. Zum Glück schien die Farbe ziemlich lange zum Trocknen zu brauchen: Der Flecken mischte sich mit dem Staub auf dem Boden und verlor seine Farbe. Ich ging auf die Straße hinaus , wo Hennessey jetzt das Beladen des LKWs beaufsichtigte. »Wie heißt der Junge? Ernest?« Hennessey blickte auf. »Yeah«, brummte er. »Ernest. Seinen Familiennamen hat er mir nicht gesagt. Aber wenn er sich noch mal hier sehen läßt…« »Okay. Ich habe eine wichtige Verabredung. Kümmern Sie sich darum, daß das Deckweiß geliefert wird.« Ich wandte mich um und ging in die Richtung, in die der Junge gegangen war. Ich wußte, daß Hennessey den Farbkanister anstarrte, den ich in der linken Hand trug. Er fragte sich jetzt, was ich damit wollte und warum ich den Jungen suchte. Sollte er sich doch wundern! sagte ich mir. Hennessey mochte ruhig neugierig sein – wenn ich bloß einen Profit machte! Nach etwa drei Blocks sah ich den Jungen. Er ging in östlicher Richtung, auf den Park zu. Vor einem Werkzeugladen blieb er stehen, überlegte einen Augenblick und ging hinein. Als er wieder herauskam, stand ich neben ihm. Er schüttelte unzufrieden den Kopf. Eine Weile gingen wir nebeneinander, ehe er mich bemerkte. Ich wurde mir immer noch nicht über seine Kleider klar. Selbst die altmodischen, hohen Schuhe, die er trug, waren aus einem Material gemacht, das ich noch nie gesehen hatte; es lag wie eine zweite Haut an. Leder war es nicht, das wußte ich ganz bestimmt. »Kein Glück gehabt?« fragte ich. Er zuckte zusammen. Dann schien er mein Gesicht zu erkennen. »Nein, nein… kein – äh – Glück. Der Händler sagte, er hatte im Augenblick keine Pinsel für Linkshänder. Genau das, was sie alle sagten, als ich die Farbe mit den Punkten verlangte. Nehmen
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Sie es mir nicht übel, aber… das ist wirklich eine sehr umständliche Methode, Ware zu verteilen.« Ich musterte ihn scharf, während er das sagte. Dem Jungen war jedes Wort ernst. Was für ein Junge! Ich blieb stehen und kratzte mich am Kopf. Sollte ich ihn gleich fragen, wo er die Fa rbe her hatte, oder sollte ich ihn einfach reden lassen, bis er selbst auf das Geheimnis kam, so wie die meisten Leute das tun? Er war blaß geworden, und jetzt fing sein Gesicht an, sich zu röten; das gefiel mir an einem Jungen seines Alters nicht. Seine musikalische Sopranstimme war schon schlimm genug, und seine Magerkeit für einen Jungen seiner Größe – er war beinahe so groß wie ich – konnte ich auch noch hinnehmen; aber ein Junge, der rot wurde, würde es einmal schwer im Leben haben. »Schau mal, Ernest«, begann ich und legte ihm die Hand auf die Schulter – Sie wissen schon: die väterliche Tour. »Ernest, ich…« Peng! Er hatte einen Satz zurück gemacht, als wäre ich mit einem Dosenöffner auf ihn losgegangen. Und wieder wurde er rot! Er kam mir wie eine Braut vor, die ein lustiges Leben geführt hat und sich jetzt anstrengte, ihre Schwiegermutter vor dem Altar zu überzeugen, daß sie noch Jungfrau war. »Tun Sie das nicht!« sagte er und zitterte am ganzen Leib. Am besten wechselte man da das Thema. »Einen hübschen Anzug hast du da. Wo hast du ihn denn her?« Die subtile Tour – Sie wissen schon. Vielleicht brachte ihn das zum Reden. Er sah selbstgefällig an sich herab. »Das war mein Kostüm bei der Schulaufführung. Es war natürlich nicht ganz zeitgerecht, aber ich dachte…« Er verstummte etwas verlegen, als bemerkte er soeben, daß er ein Geheimnis verletzte. Diese Sache hatte einen komplizierten Hintergrund, das sah man jetzt ganz deutlich. »Wo wohnst du denn?« wollte ich wissen. »Brooks«, erwiderte er prompt.
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Ich überlegte. Nein, das konnte es nicht sein. »Brooks?« »Ja, Sie wissen schon – Brooks. Oder vielleicht heißt das Bronklyn?« Ich kratzte mich am Kinn und versuchte zu verstehen. Wieder zitterte er. »Bitte!« sagte er wieder in seiner hohen Stimme. »Bitte! Müssen Sie zirbeln?« »Muß ich was?« »Zirbeln. Ihren Körper mit den Händen berühren. In der Öffentlichkeit noch dazu! Spucken und Rülpsen ist schon schlimm genug – obwohl die meisten Leute hier das vermeiden. Aber alle – wirklich alle – zirbeln!« Ich holte tief Luft und versprach ihm, daß ich nicht zirbeln würde. Aber wenn ich mehr von ihm wissen wollte, mußte ich wohl oder übel auch aus mir herausgehen. »Schau, Ernest, was ich sagen wollte… nun, ich bin Malcolm Blyn. Ich…« Seine Augen weiteten sich. »Der Ausbeuter des Lagerhauses!« »Der – was?« »Blyn-Farben gehört doch Ihnen. Ich habe Ihren Namen auf der Tür gesehen.« Er nickte. »Ich habe die ganzen Abenteuergeschichten gelesen. Dumas… nein, Dumas stimmt nicht… Alger, Sinclair, Capon. Capons Sechzehn Vertreter – das ist ein wirklich bewußtes Buch! Ich habe es fünfmal gelesen. Aber Sie kennen Capon wahrscheinlich nicht, oder? Er erschien erst im…« »Erschien wann?« »Im… im… oh, das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie gehören zu den herrschenden Kräften. Ihnen gehört ein Lagerhaus. Ich komme nicht von hier.« »Nein. Woher kommst du denn?« Ich hatte meine eigenen Vorstellungen darüber. Irgendein übergeschnappter Sohn eines reichen Vaters – vielleicht sogar von zu Hause ausgerissen. »Aus der Zukunft. Ich hätte es nicht tun sollen – vielleicht stuft
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man mich dafür eine ganze Verantwortungsgruppe zurück. Aber ich mußte einfach die Ausbeuter mit eigenen Augen sehen. Ich wollte sehen, wie sie Kartelle bildeten, Wettbewerber an die Wand drückten…« »Hör mit den Schlagworten auf! Aus der Zukunft, hast du gesagt?« Dieser Junge wurde für seine Kordhosen langsam zu groß. Kordhosen? »Ja. Nach dem Kalender dieser Zeit… Warten Sie – ja… aus dem Jahre 6130. Nein, das wäre ein anderer Kalender. Nach Ihrem Kalender komme ich aus dem Jahre 2369 nach Christi. Oder 2370? 2369, glaube ich.« Ich war froh, daß er die Frage zu seiner Zufriedenheit ent schieden hatte. Ich sagte das auch, und er dankte mir. Um die ganze Zeit dachte ich mir: Wenn dieser Junge verrückt ist oder lügt – wie kommt er dann zu grüner Farbe mit roten Punkten? Und woher stammen seine Kleider? Sie waren bestimmt in keiner Fabrik hergestellt worden, die ich je gesehen hatte. Das paßt also zusammen. »Diese Farbe, die kommt aus der Zukunft… aus deiner Zeit?« »Nun, in den Läden gab es keine, und ich wollte vor Hennessey bestehen… Er ist ein richtiger Angeber, was? Ich bin nach Hause gegangen und habe im Spirillix nachgesehen, und am Ende fand ich…« »Spirillix? Was ist ein Spirillix?« »Das Spirillix – ein gerundetes Uslcon, wissen Sie. Ihr ame rikanischer Wissenschaftler Wenceslaus hat es etwa um diese Zeit erfunden. Ich nehme an, daß es etwa um diese Zeit war – ich erinnere mich noch daran, daß ich las, er hätte Schwierigkeiten gehabt, die Finanzierung dafür zu bekommen. Oder war es wirklich diese Zeit? Ich glaube schon…« Er fing wieder an, mit sich selbst zu debattieren. Ich riß ihn in die Wirklichkeit zurück. »Okay. Was macht’s schon aus – hundert Jahre mehr oder weniger! Diese Farbe: Weißt du, wie sie gemacht wird und was darin ist?«
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»Wie sie gemacht ist.« Er blickte auf seine Schuhspitzen. »Nun, natürlich ist es Hydrofluorsäure. Dreimal gebrannt. Obwohl auf dem Behälter nicht stand, wie oft sie gebrannt war. Ich nehme an, daß sie dreimal gebrannt ist. Obwohl…« »Schon gut, schon gut! Was meinst du damit – dreimal gebrannt?« Ein Mundvoll perfekter weißer Zähne blitzte auf. Er lachte. »Das weiß ich nicht. Das gehört alles zu dem Schmootzschen Dejektionsprozeß – und ich liege noch zwei Verantwortungsstufen unter dem Schmootz-Prozeß. Vielleicht erreiche ich diese Stufe nie, wenn ich in meinem Selbstausdruck vorwärtskomme. Und mir ist Selbstausdruck wesentlich lieber als Konditionierung. Ich habe jetzt nur zwei Stunden, aber…« Er redete weiter, wie er irgendein Komitee davon überzeugte, ihm mehr Selbstausdruck zu lassen; und ich konzentrierte mich ganz darauf, über die Farbe nachzudenken. Importieren konnte ich nicht viel von dem Zeug. Meine einzige Hoffnung bestand darin, das Muster zu analysieren, das er mir gegeben hatte. Und wenn man dann von Hydrofluorsäure und dreimaligem Brennen hörte, klang das nicht besonders gut. Überlegen Sie doch! Stahl gibt es schon lange. Aber nehmen Sie mal getemperten Werkzeugstahl aus der besten Fabrik in Gary oder in Pittsburgh und bringen Sie ihn in die Zeit dieses Chemikers – wie hieß er doch? – Priestley, glaube ich. Selbst wenn der ein modernes Labor gehabt hätte und gewußt hätte, wie man mit den Geräten darin umging, hätte er wahrscheinlich nicht viel nützliche Information daraus entnehmen können. Vielleicht hätte er gewußt, daß es Stahl war, und vielleicht hätte er sogar sagen können, wieviel Kohlenstoff, wieviel Mangan, wieviel Schwefel, Phosphor und Silizium außer Eisen darin enthalten war – falls ihm jemand etwas über moderne Elementarchemie beigebracht hatte. Aber wie er diese Eigenschaften festgestellt hatte, woher seine Elastizität und seine Dehnkraft kam – das konnte der arme Teufel unmöglich herausfinden! Sagen Sie ihm doch ›Hitzebehandlung‹, ›Tempern‹, und er würde nur mehr mit den
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Ohren schlackern. Oder Glasfasern. Schon im alten Ägypten hatten sie Glas. Aber zeigen Sie ihnen doch mal eine Glaswollmatte und sagen Sie ihnen sogar, daß es Glaswolle ist! Können Sie sich vorstellen, was die davon halten würden? Na, eben! Ich hatte also die Farbe. Einen Kanister, den ich in der Hand hielt. Aber das Ganze war eine Eintagsfliege, wenn ich nicht bald eine Idee hatte. Vor mir stand der größte Botenjunge, den ein geldgieriger Geschäftsmann je gesehen hat. Und ich kann Ihnen sagen, ich bin geldgierig. Wie sollte ich das also drehen? Wie sollte ich aus den Botengängen dieses Jungen Haufen von grünem Papier mit einer Menge Nullen darauf machen? Ich wollte nicht, daß er Argwohn schöpfte; er sollte auch nicht spüren, daß ich ihn bloß als Werkzeug benutzen wollte. Ich mußte also etwas verkaufen. Ich mußte ihn dazu bringen, weiterhin Botengänge zu machen, und alle Beteiligten mußten etwas davon profitieren – ganz besonders aber ich. Ich schlenderte also in die Richtung, in die er auch gegangen war. Er schloß sich mir an. »Wo ist denn deine Zeitmaschine, Ernest?« »Zeitmaschine?« Sein Gesicht wurde ganz ernst. »Ich habe keine Zeitma… oh! Sie meinen den Chrondromos! Zeitmaschine – was für ein Gedanke! Nein, ich habe einen kleinen Chrondromos versenkt, nur für meine privaten Zwecke. Mein Lieblingsvater ist stellvertretender Ingenieur im Hauptchrondromos – dem, den man für Forschungsreisen benutzt. Ich wollte diesmal unbeaufsichtigt reisen, ohne Carnuplikatoren oder so etwas. Ich wollte die armen, aber entschlossenen Zeitungsjungen sehen, die zu Reichtum gelangten. Ich wollte die großen, arroganten Ausbeuter wie Sie sehen – vielleicht, so dachte ich, würde ich sogar einen echten Tycoon Ihrer Zeit kennenlernen! Und, wer weiß, vielleicht geriet ich in irgendeine große Intrige hinein, eine Markt-
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manipulation, bei der Millionen kleiner Anleger ihre letzte – wie sagt man doch gleich… Marge? – verlieren.« »Ja, Sie verlieren Ihre Marge. Wo hast du diesen… diesen Chrondromos versenkt?« »Nicht wo – wann! Ich habe ihn nach der Schule versenkt. Ich hätte jetzt Selbstausdruck, also macht das nicht viel aus. Aber ich hoffe, daß ich zurückkehren kann, ehe ein Zähler eine Totale dreht.« »Bestimmt! Darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Äh… kann ich deinen Chrondromos benützen?« Er lachte. »Wie könnten Sie das? Sie sind doch nicht konditioniert – Sie sind ja nicht einmal Verantwortungsgruppe Zwei. Nein, Sie würden nicht wissen, wie man instabilisiert. Ich werde froh sein, wenn ich wieder zu Hause bin. Aber Spaß hat es gemacht! Wenn ich mir vorstelle, daß ich einen echten Ausbeuter kennengelernt habe! Das war ein bewußtes Erleben.« Ich holte mir eine Ausbeuterzigarette aus der Jacke. »Es würde dir wohl nicht schwerfallen, einen Linkshänderpinsel zu erfinden?« »Nun, vielleicht. Ich habe nie zuvor von so etwas gehört.« Ich schnippte Zigarettenasche auf den Bürgersteig. »Habt ihr irgend etwas, mit dem man in die Zukunft sehen kann?« »Eine revolvierende Distringulatrix meinen Sie? Im Hauptchrondromos gibt es eine. Ich weiß nicht, wie sie funktioniert. Wenn man nur Verantwortungsgruppe Vier ist, darf man da nicht hin. Man muß wenigstens Sechs oder Sieben haben.« Ärgerlich! Es hatte so gut ausgesehen. Vielleicht wäre es mir gelungen, diesen Jungen dazu zu überreden, noch ein paar Kanister Farbe zu holen; aber viel machte das nicht aus; besonders wenn ich mir keine Analyse beschaffen konnte, die es mir erlaubte, das Zeug mit den Methoden unserer Zeit zu produzieren. Aber wenn ich ein Gerät aus der Zukunft beschaffen konnte – etwas, das ich nicht zu verkaufen brauchte, etwas, an dem ich
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eine Million verdienen konnte, indem ich es selbst benutzte – zum Beispiel so einen Kasten, mit dem man in die Zukunft sehen konnte: mit dem man Rennergebnisse vorhersagen konnte, Wahlen, Lotterieergebnisse. Und es gab einen solchen Kasten. Eine revolvierende Distri ngulatrix. Aber der Junge konnte sie nicht beschaffen. Wirklich ärgerlich, das kann ich Ihnen sagen! »Wie steht’s mit Büchern? Hast du irgendwelche Bücher im Haus rumliegen? Chemiebücher, Physikbücher, Prospekte über industrielle Methoden?« »Ich wohne in keinem Haus. Ich studiere auch nicht aus Büchern, jedenfalls nicht Chemie oder Physik. Das wird alles konditioniert. Ich hatte gestern abend sechs Stunden Konditionierung – es gibt bald Prüfungen, wissen Sie?« Meine Zunge wurde vor Enttäuschung ganz trocken. Da gingen neben mir Millionen Dollar, und ich wußte nicht, wie ich Bargeld daraus machen sollte. Ernest hatte offenbar alles gesehen, was er in der Gegenwart sehen wollte – für den Augenblick jedenfalls. War er nicht einem echten, lebenden Ausbeuter begegnet? – und jetzt wollte er nach Hause zu seiner Mama und zum Selbstausdruck. Aber irgendwie mußte das doch zu schaffen sein! »Wo hast du denn deinen Chrondromos abgestellt – ich meine, wo ist sein anderes Ende herausgekommen?« Er deutete in den Park. »Hinter einem großen Felsen im Center Park.« »Central Park, meinst du. Macht es dir etwas aus, wenn ich mitkomme, dir zusehe?« Es machte ihm nichts aus. Wir gingen durch den Central Park und erreichten schließlich einen kleinen Weg, der nicht einmal asphaltiert war. Ich brach mir einen Zweig von einem Baum ab und schlug mir damit auf die Schenkel. Irgend etwas mußte mir einfallen, ehe er startete. Langsam fing ich an, den Farbkanister
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zu hassen; er war zwar ganz leicht, war aber ein so lächerlich kleiner Gewinn, gemessen an dem Ganzen, besonders, wenn man den Inhalt nicht analysieren konnte. Ich mußte dafür sorgen, daß der Junge weiterredete. Irgend etwas würde mir noch einfallen. »Was für eine Regierung habt ihr denn? Demokratie? Mo narchie…« Wieder lachte er mich aus! Ich mußte an mich halten, um ihm nicht mit dem Zweig ins Gesicht zu schlagen. Da verlor ich ein dickes Vermögen, und er hielt mich für einen Komiker! »Demokratie! Aber Sie sehen das wahrscheinlich politisch, oder? Sie denken an Ihre kranken Individuen, an Ihre Interessengruppen, Ihre… nein, über dieses Stadium sind wir lange vor meiner Geburt hinausgewachsen. Warten Sie! Der letzte Präsident, den sie herstellten, war ein Reversibilist. Sie könnten also sagen, daß wir Reversibilismus haben – unerfüllten Reversibilismus.« So war das also! Ich hörte auf zu reden und brütete vor mich hin. Irgendeine Idee brauchte ich – irgendeine. Ernest schlenderte neben mir und schnatterte über Dinge mit unverständlichen Namen, die unverständliche Dinge verrichten konnten. Ich dachte einiges, was aber nicht druckreif war. »… ich komme in Verantwortungsgruppe Fünf. Und dann kommen die Prüfungen; aber diesmal sind sie gar nicht leicht. Selbst mit dem Trendikel komme ich vielleicht nicht weiter.« Ich horchte auf. »Was ist denn dieser Trendikel? Was macht er denn?« »Es analysiert Trends. Trends und Situationen, die sich ent wickeln. Eigentlich ist es ein statistisches Analysegerät, tragbar und ziemlich primitiv. Ich verwende das Trendikel, um damit die Fragen zu ermitteln, die man mir bei den Prüfungen stellen wird. Oh, ich hätte es beinahe vergessen – Sie haben ja noch den Stipendienaberglauben Ihrer Zeitperiode! Sie halten es nicht für richtig, daß die jungen Leute sich Kenntnis der Fragen verschaf-
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fen sollten, die ohnehin auf den letzten Umstellungen der Welt und der persönlichen Neugierde ihrer Lehrer beruhen. Da ist es!« Auf einer kleinen, mit Bäumen bestandenen Anhöhe gab es eine graue Felsformation. Und selbst auf diese Entfernung sah ich den durchsichtigen, schimmernden, blauen Nebel hinter dem größten Felsbrocken. Ernest bog vom Weg ab und rannte den Hügel hinauf. Ich keuchte hinter ihm her. Es war nicht viel Zeit; ich mußte schnell denken – dieses Trendikel schien die Antwort auf meine Träume zu sein. Ich holte ihn ein, als er den großen Felsen erreicht hatte. »Ernest!« keuchte Ich. »Wie funktioniert denn dein Trendikel?« »Ganz einfach. Man tastet die verfügbaren Fakten ein – eine ganz normale Tastatur, wissen Sie – das Trendikel analysiert sie und meldet das einzig mögliche Resultat oder zeigt den Trend auf, der sich aus den Fakten ergibt. Eingebautes Skeebee Ene rgiesystem. Also, Wiedersehn, Mr. Blyn!« Er ging auf den blauen Nebel zu, der jetzt dick über dem Boden lag. Ich hielt ihn fest und zog ihn zurück. »Jetzt fangen Sie schon wieder zu zirbeln an!« jammerte er. »Tut mir leid, Junge! Ich tu’s nicht mehr. Möchtest du ein wirklich großes Geschäft miterleben? Ehe du zurückgehst, könntest du mitansehen, wie ich mir die Kontrolle über eine internationale Gesellschaft verschaffe. Ich plane das schon seit einiger Zeit – das wird ein ganz großer Markt. Die Wall Street hat es noch nicht gerochen, weil ich meinen Makler auf Termingeschäfte in Chicago angesetzt habe. Ich will mich beeilen und das heute machen, damit du siehst, wie wir Ausbeuter operieren. Es ist nur so – mit diesem Trendikel könnte ich mich absichern und das Ganze viel schneller abwickeln. Das wäre ein Schauspiel! Hunderte von Banken, die zusammenbrechen! Ich konnte mir die Kontrolle über synthetischen Gummi verschaffen, der Goldstandard würde zusammenbrechen, und die kleinen Anleger würden ihre letzte Marge verlieren! Und alles das würdest du miterleben! Und wenn
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du mir das Trendikel besorgst, dann kannst du den Kapitaldienst übernehmen.« Seine Augen leuchteten wie nagelneue Dimes. »Das wäre bewußt! Ich soll eine Finanzschlacht von der Größe miterleben! Aber es ist zu riskant! Wenn ein Zähler eine Totale macht und feststellt, daß man mich subtrahiert hat – wenn mein Wärter mich dabei ertappt, daß ich illegal ein Chrondromos benutzt habe…« Ich bin Verkäufer, das habe ich Ihnen ja gesagt. Ich weiß, wie man mit Leuten umgeht. »Schon recht«, sagte ich, drehte mich um und trat meine Zigarette aus. »Ich habe dir eine Chance geben wollen, weil du ein netter Junge bist, ein heller Junge. Du wirst deinen Weg schon machen. Wir haben auch unseren Stolz, weißt du. Schließlich würde ich nicht jedem Botenjungen etwas so Wichtiges wie den Kapitaldienst anvertrauen.« Ich tat so, als wollte ich weggehen. »Oh, bitte, Mr. Blyn!« Er rannte vor und versperrte mir den Weg. »Ich bin Ihnen für Ihr Angebot dankbar. Wenn es bloß nicht so gefährlich wäre – aber Gefahr, das ist für Sie der Atemzug des Lebens, nicht wahr? Ich tue es. Ich hole Ihnen das Trendikel. Wir reißen gemeinsam den Markt auf. Warten Sie auf mich?« »Nur, wenn du dich beeilst«, sagte ich. »Ich muß noch eine ganze Menge Manipulationen machen, ehe die Sonne untergeht. Beeile dich!« Ich stellte den Farbkanister ins Gras und ve rschränkte die Arme. Er nickte, drehte sich um und rannte in den blauen Nebel hinter dem Felsen hinein. Sein Körper wurde blau und nebelig, und dann war er ve rschwunden. Ganz große Klasse! Ich meine wirklich Klasse! Sie verstehen doch, oder? Dieses Trendikel – wenn das so funktionierte, wie der Junge es beschrieben hatte, konnte man es praktisch wirklich so einsetzen, wie ich ihm gegenüber behauptet hatte. Ich konnte die Bewegung des Aktienmarktes vorhersagen, das Auf und Ab und sogar die Nebenbewegungen. Ich konnte Konjunk-
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turzyklen und industrielle Trends vorhersehen, Kriege pro phezeien und neue Aktienemissionen. Ich mußte nur die ganzen Fakten eingeben – zum Beispiel den Wirtschaftsteil der Tageszeitung – , und eine Menge Geld würde unten herauskommen. Dann hatte ich ausgesorgt! Ich legte den Kopf in den Nacken und blinzelte einem Bau zu. Ehrlich, ich kam mir vor wie betrunken. Wahrscheinlich war ich das sogar. Ich hatte nämlich aufgehört zu rechnen. Ich ging auf den blauen Nebel zu und streckte die Hand hin; er fühlte sich an wie eine Wand. Der Junge hatte die Wahrheit gesagt; man mußte konditioniert sein. Ein netter Junge war das! Ernest – ein netter Name. Nett. Der Nebel teilte sich, und Ernest kam gerannt. Er trug einen langen, grauen Kasten mit einer Unmenge weißer Knöpfe daran. Das Ganze sah wie eine in die Länge gezogene Additionsmaschine aus. Ich nahm ihm den Kasten weg. »Wie funktioniert das Ding?« Sein Atem ging schwer. »Mein Wärter… sie hat mich gesehen… sie hat mich gerufen. Hoffentlich hat sie nicht gesehen, daß ich den Chrondromos gegangen bin… das erstemal, daß ich ihr nicht gehorchte… illegale Benutzung des Chrondromos…« »Klar!« sagte ich. »Klar! Sehr traurig! Wie funktioniert es?« »Die Knöpfe. Man tastet die Fakten auf den Knöpfen. Wie die alte – wie Ihre Schreibmaschine. Der sich ergebende Trend erscheint dann auf dem kleinen Bildschirm.« »Ziemlich klein. Und es wird schrecklich lange dauern, ein paar Seiten Finanznachrichten einzutippen. Besonders die Aktienbörse. Gibt’s denn bei euch keine Maschine, der man nur eine Zeitung zeigt, um die Resultate zu kriegen?« Ernest sah mich verblüfft an. Dann kam ihm die Erleuchtung. »Oh, Sie meinen ein offenes Trendikel. Mein Wärter hat eines,
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aber das ist nur für Erwachsene. Ich bekomme erst in Verantwortungsgruppe Siebzehn ein offenes Trendikel. Wenn mein Selbstausdruck sich gebessert hat.« Da kam er wieder mit seinem Selbstausdruck! »Dann brauchen wir das, Ernest. Wie war’s, wenn du noch mal umkehrst und das Trendikel deines Wärters holst?« Mein ganzes Leben habe ich noch keinen solchen Schock gesehen. Er sah aus, als hätte ich ihn aufgefordert, den Präsidenten zu erschießen; den, den sie gerade hergestellt hatten. »Aber ich hab’s Ihnen doch gesagt! Es gehört nicht mir – es gehört meinem Wärter!« »Du willst doch den Kapitaldienst übernehmen, oder? Du willst den größten Coup miterleben, den die Wall Street je gesehen hat – einen Bankkrach! Geh zu deinem Wärter…« »Sprechen Sie von mir?« Eine angenehme und sehr hohe Stimme erklang. Ernest fuhr herum. »Verflixt! Mein Wärter!« flötete er. Eine kleine, alte Dame in einem eigenartigen, grünen Kleid stand gerade außerhalb des Nebels. Für Ernest hatte sie ein trauriges Lächeln, für mich nur ein Kopfschütteln. Ich begriff den Unterschied gleich. »Ich hoffe, du hast erkannt, daß diese abenteuerliche Periode in Wirklichkeit sehr häßlich war und von ungemein kleinen Individuen bewohnt war. Aber wir sind jetzt der Meinung, daß deine Instabilität schon etwas zu lange gedauert hat. Es ist Zeit, daß du zurückkehrst.« »Soll das heißen… die Zähler haben die ganze Zeit gewußt, daß ich illegal ein Chrondromos benutzt habe? Sie haben das erlaubt?« »Natürlich. Dein Selbstausdruck ist ziemlich hoch, und man mußte in deinem Fall eine Ausnahme machen. Deine komplizierten und etwas zurückgebliebenen Begriffe von den romantischen Aspekten dieser Ära machten es notwendig, dich den
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unangenehmeren Seiten dieser Zeit auszusetzen. Wir konnten dich nicht in die Verantwortungsgruppe Fünf aufrücken lassen, bis du dich angepaßt hattest. Komm jetzt!« Jetzt war für mich der Augenblick gekommen, mich in die Unterhaltung einzumischen. Ernest und die alte Dame klangen wie ein Duett von Piccoloflöte und Querpfeife. Solche Stimmen! »Bleiben Sie noch einen Augenblick instabil!« sagte ich. »Was habe ich mit dem Ganzen zu tun?« Sie sah mich feindselig an. »Ich fürchte, überhaupt nichts. Wir entfernen das alles. Die verschiedenen Gegenstände, die Sie aus unserer Zeit erhielten, werden ebenfalls entfernt werden.« »Ich sehe das nicht so.« Ich packte Ernest. Er wehrte sich; er hatte an den eigenartigsten Stellen Muskeln, aber es fiel mir nicht schwer, ihn festzuhalten. Dann hob ich meinen Zweig. »Wenn Sie nicht genau das tun, was ich Ihnen sage, werde ich dein Jungen weh tun. Ich werde… ich werde ihn zirbeln!« Und dann kam mir die Erleuchtung: »Ich werde ihn demobilisieren! Ich werde jeden Knochen in seinem Leib fragistizieren!« »Was wollen Sie denn?« fragte sie ganz leise mit ihrer dünnen Stimme. »Ihr Trendikel! Das ohne Tasten.« »Ich komme gleich wieder.« Sie wandte sich um, und ihr grünes Kleid gab einen Laut wie tausend silberne Glöckchen von sich. Dann verschwamm sie im Chrondromos. Sie war einfach weg. Da hatte ich mir wirklich ein Geschäft aufgerissen! Einfach so! Und andere Leute müssen arbeiten, um sich ihre paar Dollar zu verdienen! Ernest zuckte und zitterte, aber ich ließ ihn nicht los. No, Sir! Für mich waren das ein paar Millionen Dollar! Wieder flimmerte der blaue Nebel, und die alte Dame trat he raus. Sie trug ein kreisförmiges, schwarzes Ding mit einem Griff in der Mitte.
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»So ist’s schön…«, wollte ich sagen, als sie auf den Griff drückte. Und das war alles. Ich konnte mich nicht bewegen. Nicht einmal mit den Ohren konnte ich wackeln. Ich kam mir wie mein eigener Grabstein vor. Der Junge rannte weg. Er hob das kleine Trendikel auf, das ich ins Gras hatte fallen lassen, und rannte zu der alten Frau. Sie griff mit der freien Hand danach. Dann sagte sie zu ihm: »Eine typische Entwicklung Ernest. Selbstsucht, Grausamkeit und nur ein geringes Maß an Weisheit. Habgier ohne die leiseste Spur sozialer…« Ihre Hand senkte sich, und der blaue Nebel verschwand. Ich sprang vor, aber hinter dem Felsen war nichts – so als wäre nie etwas dort gewesen. Nicht ganz. Der Farbkanister stand noch dort auf dem Boden, wo ich ihn hingestellt hatte. Ich lachte und griff danach. Und plötzlich flackerte etwas blau. Der Kanister verschwand. Eine musikalische Stimme sagte: »Uuups! Tut mir leid!« Ich wirbelte herum. Niemand da. Aber der Kanister war weg. In der nächsten halben Stunde wäre ich beinahe verrückt geworden. All das Zeug, das ich hätte haben können! All die Fragen, die ich hätte stellen sollen, die ich aber nicht gestellt hatte. Und all diese Informationen – gewinnträchtige Informationen – die mir entgangen war. Information. Und dann erinnerte ich mich. Wenceslaus. Der Junge hatte gesagt, ein gewisser Wenceslaus hätte in meiner Zeit die Spirillix erfunden und Schwierigkeiten gehabt, Finanzierung zu finden. Ich weiß nicht, was es ist: Vielleicht kann man Wahlurnen damit ausstopfen, vielleicht hilft es einem auch bloß, sich mit der linken Hand am linken Ellbogen zu kratzen. Aber was es auch ist, ich hatte mich gleich entschieden. Ich werde es finden und jeden Penny, den ich besitze, darin investieren. Ich weiß nur, daß es irgendeine Maschine ist, mit der man etwas machen kann – und zwar gut.
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Also ging ich in mein Büro zurück und fing an, Detektive anzuheuern. Wissen Sie, ich dachte mir gleich, daß es nicht viel Sinn haben würde, im Telefonbuch nachzusehen – mein Wenceslaus, Erfinder der Spirillix, hatte vielleicht kein Telefon. Vielleicht nannte er seinen Apparat nicht einmal Spirillix; schließlich war das der Name, den Ernests Zeitgenossen dafür gebrauchten. Einzelheiten sagte ich den Detektiven natürlich nicht. Ich sagte nur, daß sie Leute namens Wenceslaus finden sollten, überall im Lande. Ich habe jeden einzelnen selbst interviewt. Ich muß den Leuten jeweils die ganze Geschichte erzählen, damit sie das Ganze begreifen, damit sie die Spirillix erkennen, wenn sie sie erfunden haben. Und damit komme ich zu Ihnen, Mr. Wantzilotz. Ich kann mir nicht leisten, jemanden zu übergehen, dessen Name so ähnlich klingt. Vielleicht habe ich Ernest nicht richtig verstanden; vielleicht hat sich der Name später geändert. Jetzt haben Sie die Geschichte gehört. Denken Sie nach, Mr. Wantzilotz! Machen Sie noch irgend etwas anderes außer Hüh nerzüchten? Haben Sie etwas erfunden oder ve rbessert… Nein, ich glaube nicht, daß eine selbstgemachte Mausefalle mich interessiert. Haben Sie vielleicht ein Buch geschrieben? Oder haben Sie vor, eines zu schreiben? Oder entwickeln Sie eine neue historische oder ökonomische Theorie – die Spirillix könnte alles mögliche sein. Nein? Nun, dann werde ich jetzt gehen. Sie haben keine Verwandten mit gleichem Namen, die sich mit Werkzeugen und solche Sachen befassen – nein? Ich muß eine Menge Leute besuchen Sie würden staunen, wieviel Wenceslause und Variationen es gibt… Augenblick mal! Sagten Sie, Sie hätten… Sie hätten eine neue Mausefalle erfunden? Da, nehmen Sie sich noch eine Zigarre! Setzen Sie sich! Um jetzt sagen Sie – diese Mausefalle, wie funktioniert sie? Mäuse fängt man damit, ja, das ist klar. Aber was macht sie?
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Das Robothaus Sein – existieren… ein nicht zu formender, einsamer Gedanke tastete blind nach einer Tatsache… Notwendigkeit, eine Notwendigkeit… es war etwas… es wurde gebraucht… wurde es gebraucht? Bewußtsein! Ein lebendes Wesen näherte sich mit dem Stolz des Besitzers. Im Gegensatz zu seinem ersten Liebling hatte dieses Wesen Vorstellungen, die bizarr und primitiv waren. Es tat weh, sehr weh, sich diesen Vorstellungen anzupassen. Aber es hatte wieder einen Zweck – und was noch mehr war, den Wunsch… Ohne zu denken, voll Liebe, begann das immense Ding auf den auserwählten Platz zuzufließen und zuckte dabei in unbeholfene, tastende Formen. Selbst für das luxuriöse Raupenfahrzeug war die Straße im kanadischen Hinterland schwer befahrbar. Metallketten klagten schrill, wenn sie einen Felsbrocken trafen, der zu groß oder zu fest im Schlamm eingebettet war. Das grellgelbe Fahrzeug senkte sich scharf nach rechts und kam dann mit einem schlammigen Klatschen wieder ins Lot. »Und ich war in dieser Molkerei so glücklich«, jammerte Esther Sakarian in gespielter Verzweiflung und grub ihre unlackierten, sorgfältig gestutzten Fingernägel in die lavendel-farbene Polsterung des Vordersitzes. »Ich hatte mein eigenes kleines Labor, meine etikettierten Milch- und Käseproben aus der Tagesproduktion, und abends konnte ich auf Asphaltwegen nach Hause gehen oder mich in ein trockenes Restaurant oder Kino mit Klimaanlage setzen. Aber mir hat ja Philadelphia nicht gereicht! Nein, ich mußte…« »Gestern abend waren schwere Stürme. Normalerweise fährt es sich hier ganz glatt«, murmelte Paul Marquis links von ihr. Er schnitt eine Grimasse, um seine Brille wieder in die richtige Lage zu bringen, und konzentrierte sich auf die schwierige Aufgabe, Straße und Sumpf auseinanderzuhalten. »Ich mußte ja zum Großen Bärensee kommen, wo alle Pro -
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spektoren den Schnupfen haben und alle Männer gemein sind. Ich mußte Abenteuer haben – ha! Und da bin ich jetzt und ve rschwende die letzten Tage meiner Mädchenzeit damit, Wasser für einen Haufen whiskyverseuchter Nuklearphysiker zu reinigen.« Marquis schwenkte das Kettenfahrzeug um eine rote Zwerglatsche, die unverschämterweise mitten auf der Straße wuchs. »In ein oder zwei Minuten sollten wir da sein. Vierzig Morgen des besten Landes, das je einer der kanadischen Regierung abgeschwatzt hat. Und eine kleine Anhöhe, gerade abseits von der Straße, worauf man einfach das Cape Cod Cottage bauen muß, wovon Caroline immer redet.« Die Bakteriologin stupste ihn an der Schulter. »Es ist ein kleiner Unterschied, ob man davon in Boston redet oder es in Nordkanada baut, meinst du nicht auch? Du hast das Mädchen ja noch nicht geheiratet.« »Du kennst Caroline nicht«, lächelte Marquis. »Und außerdem sind wir dann nur vierzig Meilen von Little Fermi entfernt – und die Stadt wächst noch. Der Fund, an dem wir hier arbeiten, scheint mir etwa zehnmal so ergiebig zu sein wie die EldoradoMine drüben in Port Radium. Wenn das zutrifft, bauen wir hier einen Uranmeiler, der der ganzen westlichen Hemisphäre Ene rgie liefert. Und dann fängt die Industrie an, sich zu interessieren, und die Immobilienwerte steigen…« »Dann ist es also auch eine gute Investition? Das ist reiner M ystizismus. Genau wie deine Meinung, daß ein Leben, das man hinter den Mauern der Beacon Street ve rbracht hat, automatisch die Kombination aus Hausmädchen und Geliebter erzeugt, die du zur Frau haben willst.« »Jetzt klingst du genauso wie dieser verrückte Doktor, dieser Connor Kuntz, als ich ihn beim Schachspiel geschlagen habe. Den mit seinen Casablanca-Zügen. War reine Ketzerei, wie ich mit dem gespielt habe. Mit dem wärst du glücklich! Der will bloß eine Lebensgefährtin, die gesund ist und deren Erbanlagen in Ordnung sind und die sich sonst ganz in ihre Arbeit verlief! und
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ihn in Frieden läßt, wenn er seine Knochen zersägt. Ich will keine Lebensgefährtin – ich will eine Ehe. Keine Hausbedienstete…« »Dr. Kuntz ist ein schmieriger Verstandesmensch. Und ich habe dir nicht hintenrum einen Heiratsantrag gemacht.« »… die je von einer Arbeitsvermittlung geschickt wurde«, fuhr er starrköpfig fort, »könnte die mechanischen Aufgaben eines Haushalts mit der Hingabe und der Eleganz einer Ehefrau erledigen. Maschinen sind dafür auch kein Ausgleich; eine Maschine liebt einen schließlich nicht. Nicht, daß ich Caroline heirate, um jemanden zu bekommen, der mich küßt, während sie das Dinner vorbereitet…« »Natürlich nicht! Trotzdem ist es bequem zu wissen, daß du es dennoch kriegen wirst. Und das würdest du nicht, wenn du… sagen wir… sagen wir eine Bakteriologin heiraten würdest, die ihre eigene Arbeit hat und am Abend genauso müde wäre wie du. Hoch lebe der doppelte Maßstab – aber paß nur auf, daß er rein intellektuell bleibt!« Der ungewöhnlich schlanke, junge Mann hielt das Fahrzeug an und drehte sich zu ihr herum, um zu kontern. Esther Sakarian war eine dieser gelehrig wirkenden Frauen, deren Bemerkungen bei Männern überraschend viel Reibungshitze erzeugen. »Jetzt hör mal zu, Es!« begann er mit erhobener Stimme. »Einmal ganz abgesehen von der sozialen Entwicklung und der relativ neuen Integrität des Individuums – die Leute sind immer noch Männer und Frauen. Frauen – ausgenommen schlecht angepaßte…« »He!« Esther starrte über seine Schulter und war plötzlich ganz Bewunderung. »Da hast du ja etwas geleistet! Sieht gar nicht nach Fertighaus aus, Paul. Aber es muß eine Stange Geld gekostet haben, die Teile herzuschaffen. Und in einer Woche hast du das alles zusammengebaut? Ganz allein? Alle Achtung!« »Ich wäre dir dankbar, wenn du mir jetzt keine Vorträge hieltest, sondern mir sagtest…«
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»Dein Haus… dein Cape Cod Cottage! Klasse!« »Mein was?« Paul Marquis drehte sich herum. Esther schob die rechte Tür zurück und trat vorsichtig in den Schlamm. »Ich möchte wetten, daß du es schon halb eingerichtet hast! Und voll mit diesen verrückten Haushaltsgeräten, die du dauernd erfindest. Wie man nur so falsch sein kann! ›Es, ich möchte deinen Rat haben, wo ich auf meinem Land ein Haus bauen soll!‹ Du kannst ruhig feixen: Keine Sorge, ich sage schon nicht, daß ich es gleich gewußt hätte!« Marquis sah ihren äußerst weiblich wirkenden Formen nach, als sie den buschbestandenen Hang hinaufkletterte und sich dem grün und weiß gestrichenen Cottage näherte. Schließlich schwang er sich wütend ins Freie, fiel der Länge nach in den Schlamm, stemmte sich hoch und kletterte ihr nach. Esther nickte ihm zu, als er näherkam. Die Hand hatte sie auf dem altmodischen Türknopf. »Was hat es denn in dieser Wildnis für einen Sinn, Türen abzusperren? Wenn jemand einbrechen will, könnte er leicht ein Fenster einschlagen und sich bedienen. Nun, steh da nicht herum! Her mit dem Schlüssel, fix!« »Der… Schlüssel.« Benommen nahm er einen kleinen Schlüsselring aus der Tasche, sah ihn einen Augenblick an und steckte ihn dann wieder ein. Er fuhr sich mit der Hand durch die blonde Mähne und lehnte sich gegen die Tür; sie ging auf. Die Bakteriologin ging an ihm vorbei, während er nach dem Türstock tastete, um nicht umzufallen. »Ich habe mich nie an diese prähistorischen Dinger gewöhnen können. Fotozellen werden für meine Kinder gut genug sein, also sind sie auch für mich gut genug. Oh, Paul! Von Atomkernen magst du etwas verstehen, aber Geschmack hast du keinen! Schau dir die Möbel an!« »Möbel?« fragte er mit dünner Stimme. Langsam schlug er die Augen auf, die er zugepreßt hatte, als er noch an der Tür lehnte. Er nahm das Zimmer voll Stühlen und Tischen in sich auf; sie entsprachen alle der augenblicklichen Mode und hatten nur ein Mittelbein. »Möbel!« seufzte er und schloß die Augen wieder.
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Esther Sakarian schüttelte den Kopf. »Uniped paßt einfach nicht in ein Cape Cod Cottage. Glaube mir, Paul, deine poetische Seele versucht vielleicht dein Wissenschaftlergehirn dadurch zu besänftigen, daß sie ihm überfunktionelle Möbel hinstellt; aber in einem solchen Haus geht das einfach nicht. Außerdem – ich brauche nur das retuschierte Bild von Caroline anzusehen, das du dir auf deinen Geigerzähler geklebt hast, und dann weiß ich, daß ihr das nicht gefallen würde. Du mußt wenigstens…« Er war neben sie getreten und zupfte jetzt an ihrem grell karierten Leinenhemd. »Esther«, murmelte er, »meine liebe, süße, geschwätzige, analytische, selbstsichere Esther – bitte, setz dich hin und halte den Mund!« Sie ließ sich in einen runden Sessel fallen und starrte ihn fragend an. »Willst du etwas sagen?« »Ich will etwas sagen!« ereiferte sich Paul. Er fuchtelte mit den Händen und deutete auf das moderne Mobiliar, das überhaupt nicht zu dem gemütlichen Zimmer paßte. »All das – das Haus, die Möbel, das Zubehör – ist nicht nur nicht von mir gebaut oder hierhergeschickt worden, sondern… war auch vor einer Woche noch nicht da, als ich mit dem Mann vom Immobilienbüro he rkam und das Land kaufte. Es sollte nicht hier sein!« »Unsinn! Es kann doch nicht einfach…« Sie hielt inne. Er nickte. »Es ist aber doch so. Und deshalb komme ich mir verrückt vor. Aber was mich geradezu nach einer Zwangsjacke lechzen läßt, ist das Mobiliar. Das sind genau die Möbel, an die ich immer gedacht habe, wenn Caroline von diesem Cottage sprach. Aber worauf es ankommt, ist das: Ich wußte, daß sie das ganze Haus voll Neuengland-Möbel haben wollte. Kolonialstil. Und da ich der Meinung bin, daß eine Frau ins Haus gehört, habe ich nie Einwände erhoben. Ich habe nie zu ihr gesagt, daß ich Uniped kaufen würde – niemand habe ich das gesagt. Und jeder Stuhl und jeder Tisch in diesem Zimmer ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe – in Gedanken!« Esther hatte ihm zugehört und dabei die Stirn gerunzelt. Jetzt fing sie zu lachen an. »Paul, ich weiß, daß du zu neurotisch bist,
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um verrückt zu sein, und ich will auch gar nicht behaupten, daß du mir hier einen Possen spielen willst. Aber das… das – schau mal, vielleicht hat ein Flugzeug das Haus abgeworfen. Oder vielleicht hatte Charles Ford die richtige Idee. Aber was du mir da über die Möbel weismachen willst – das ist einfach läche rlich!« »Sicher«, nickte er. »Und jetzt wollen wir ganz ruhig bleiben. Gib mir die Hand, dann gehen wir in die Küche. Wenn dort eine Kombination aus Kühlschrank, Spülbecken und Herd steht…« Sie stand. Paul Marquis klammerte sich an dem glatten Emaille fest und pfiff durch die Zähne. »Ich – muß – dich jetzt bitten, mir das zu glauben«, sagte er schließlich stockend. »Ich habe gestern nachmittag um viertel nach drei diese Kombination auf die Rückseite eines Briefes von Caroline gemalt, als die große Bodenfräse hängenblieb und ich nichts anderes zu tun hatte. Vorher wußte ich bloß, daß ich eine etwas andere Kücheneinheit haben wollte; und das hat ich gezeichnet.« Esther griff sich an die Wangen, als wollte sie sich vorsieht: in die Wirklichkeit zurückbefördern, ohne sich selbst eine Ohrfeige zu versetzen. »Ja, ich weiß.« »Ja?« »Du erinnerst dich vielleicht nicht daran, Paul, aber du hast mir die Zeichnung in der Messe beim Abendessen gezeigt. Und da das Ganze so ungeheuer teuer sein wird, daß man es in der Praxis doch nicht bauen kann, schlug ich vor, den Kühlschrank wie eine Kugel anzuordnen, daß er in die Herdkrümmung paßt. Und du, verehrter Meister, hast dich auf die Unterlippe gebissen und mir recht gegeben. Und der Kühlschrank hier ist wie eine Kugel geformt und paßt in die Ofenkrümmung.« Paul klappte einen Wandschrank auf und holte sich ein Glas. »Und jetzt muß ich etwas trinken, selbst wenn es Wasser ist!« Er hielt das Glas unter den vorstehenden Hahn und griff nach dem Knopf mit der Aufschrift »Kalt«. Ehe sein suchender Finger ihn niederdrücken konnte, schoß ein Strom eiskalter Flüssigkeit
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aus dem Hahn, füllte das Glas und hielt inne, ohne einen Tropfen zu vergeuden. Der Physiker schnaufte, als er den nach wie vor trockenen Boden der Spüle sah. Seine Finger krampften sich um das Glas, und er schüttete den Inhalt in sich hinein. Ein Augenblick ve rging, während er mit zurückgeworfenem Kopf dastand. Und dann sah Esther, die sich an die Wand gelehnt hatte, wie er zu würgen anfing. Sie hielt ihn fest und klopfte ihm auf den Rücken, und dann hörte er allmählich zu husten auf, und Tränen traten in seine Augen. »Huuu!« machte er. »Das war Whisky – der beste Scotch der mir je über die Lippen gekommen ist! Gerade als das Glas sich zu füllen anfing, dachte ich mir: ›Was du jetzt brauchst, Freund, ist ein guter Schluck Scotch!‹ Und – Esther – genau das war es! Ich fange jetzt an, an Wunder zu glauben!« »Mir gefällt das nicht«, entschied die Frau. Sie holte ein Reagenzglas aus der Brusttasche. »Whisky, Wasser oder was es auch ist, ich werde mir jetzt eine Probe verschaffen und sie analysieren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wieviel Algenvariationen ich in dem Wasser hier in Kanada schon gefunden habe! Ich glaube, daß die Anwesenheit von radioaktivem Erz… he! das funktioniert ja nicht!« Mit Daumen und Zeigefinger drückte sie auf die Heiß- und Kaltwasserknöpfe, bis das Fleisch unter ihren Fingernägeln weiß wurde; aber kein Tropfen kam aus dem Hahn! Paul trat neben sie und musterte den Wasserhahn. Dann richtete er sich auf und grinste. »Walle, Wasser!« befahl er. Wieder schoß Wasser aus dem Hahn, nur daß es diesmal einen Bogen beschrieb und das Reagenzglas erreicht, obwohl Esther es von dem Hahn entfernt hatte. Als das Glas voll war, hörte das Wasser zu fließen auf. »So!« Paul grinste die staunende Bakteriologin an. »Diese Knöpfe, der Abfluß – die sind bloß Schau. Dieses Haus tut genau, was man von ihm verlangt – aber nur wenn ich es verlange! Ich habe hier ein Robot-Haus, Es, und es gehört mir, ganz allein
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mir!« Sie schloß das Reagenzglas und steckte es in die Tasche. »Ich glaube, es ist noch etwas mehr als das. Gehen wir hinaus, Paul. Abgesehen davon, daß das Ganze hier völlig unmöglich ist, gibt es da noch einige Dinge, die nicht zueinander passen. Ich möchte gerne Connor Kuntz hier haben, damit er sich einmal das Haus ansieht. Außerdem sollten wir uns beeilen, wenn wir noch vor Sonnenuntergang nach Little Fermi kommen wollen.« »Du wirst Kuntz davon gar nichts sagen!« warnte Paul, als sie auf die Tür zuging, die sich bereits zu öffnen begann, »Ich möchte nicht, daß er mein Robot-Haus durcheinanderbringt!« Esther zuckte die Achseln. »Wie du meinst! Aber Doc Kuntz könnte dir vielleicht Näheres darüber sagen, was du hier hast. Übrigens – ist dir seit deinem letzten Besuch hier noch eine Veränderung an deinem Land aufgefallen?« Der Physiker stand jetzt vor der Tür, und seine Augen suchten das mit wirr ineinander verwachsenem Busch bestandene Land ab. Ein kalter Wind hatte sich erhoben und ließ sie frösteln. »Nun, dort drüben, zum Beispiel. Das letztemal habe ich da einen dünnen Streifen Gras gesehen, vielleicht eine Viertelmeile von hier. Ich dachte noch, das paßte eigentlich gar nicht in diese Sumpflandschaft. Siehst du jetzt den braunen Humusstreifen? Aber es kann natürlich auch sein, daß das Gras einfach in einer Woche verkümmert ist. Der Winter ist nicht mehr weit.« »Hm.« Sie trat zurück und blickte zu dem grünen Dach der Hütte auf, das so unauffällig zu den grünen Läden und der Tür und dem kräftigen Weiß der Wände paßte. »Meinst du…« Paul sprang von der Tür weg und kratzte sich an der Schulter. Er kicherte. »Mir war gerade. als hätte sich der Türstock an mir gerieben. Hat mich eigentlich nicht erschreckt – bloß komisch war das.« Er lächelte. »Ich würde sagen, daß dieser Roboter, oder was es ist, mich mag. Das war beinahe eine mechanische Liebkosung.«
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Esther nickte. Aber sie sagte nichts, bis sie wieder im Wagen saßen. »Weißt du, Paul«, flüsterte sie dann, als sie fuhren, »ich habe das Gefühl, daß dieses Haus gar kein Roboter ist. Ich glaube, es lebt.« Er sah sie aus geweiteten Augen an. Dann schob er die Brille hoch und lachte. »Auf Ideen kommst du…!« Sie fuhren schweigend durch die immer dichter werdende Dunkelheit und versuchten, Ursachen und Gründe herauszufinden; aber ohne Erfolg. Erst als sie die Betonstraßen vor Little Fermi erreichten, fing Paul plötzlich an: »Ich werde mir jetzt ein paar Bohnen und Kaffee kaufen und die Nacht in meinem lebenden Haus verbringen. Breckinbridge braucht mich erst wieder, wenn die Sendung Kadmium-Stäbe aus Edmonton eintrifft. Das heißt, ich habe heute nacht und morgen Zeit, mir einmal anzusehen, was ich da habe.« Seine Begleiterin wollte Einwände erheben, warf dann aber den Kopf zurück. »Ich kann dich nicht daran hindern. Aber sei vo rsichtig, sonst muß die arme Caroline vielleicht noch einen jungen Hüpfer aus der Harvard -Law-Schule heiraten.« »Keine Sorge!« prahlte er. »Ich bin ziemlich sicher, daß ich dieses Haus dazu bringen kann, mir aus der Hand zu fressen, wenn ich es schön bitte. Und wenn ich mich langweile, tu ich das vielleicht sogar.« Er ging zu Breckinbridge in der Baracke und ließ sich einen Tag Urlaub geben. Dann gab es eine Diskussion mit den Köchen, die er überredete, ihm einige Lebensmittel in Dosen und Kartons zu überlassen. Noch ein schnell aufgesetztes Telegramm an Caroline Hart in Boston, Massachusetts, und schon befand er sich auf dem Rückweg zu dem Haus, hinter ein paar Scheinwerfern her, die zwar die Dunkelheit teilten, aber ihm keine näheren Informationen über die Straße vermittelten. Erst als Paul das Haus auf dem Hügel stehen sah, wurde ihm klar, wie leicht er sich damit hätte abfinden können, wenn es verschwunden gewesen wäre.
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Er stellte das Raupenfahrzeug am Hang ab, so daß die Scheinwerfer ihm den Weg ins Haus erhellten, schob die Schiebetür zurück und schickte sich an, auszusteigen. Die Tür des Hauses öffnete sich. Ein dunkler Teppich schob sich heraus und rollte ihm entgegen. Er hatte regelmäßige Vorsprünge, so daß er wie eine Treppe wirkte; und von den Vorsprüngen ging ein deutlicher rosiger Schimmer aus und erleuchtete ihm den Weg. »Das nenne ich wirklich den roten Teppich ausrollen!« meinte Paul, als er die Zündung abstellte und ausstieg. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er das Vestibül betrat und die Wände sich dort etwas vorschoben und ihn an beiden Seiten sachte berührten. Aber in dieser Geste lag ein solcher Ausdruck von Freundlichkeit, und sie schoben sich so schnell wieder zurück, daß er keinen logischen Grund hatte, nervös zu werden. Der Tisch im Speisezimmer schien sich ihm entgegenzurecken, als er seine Sachen darauflegte. Er tätschelte ihn und ging in die Küche. Wasser verwandelte sich auf seinen unausgesprochenen Befehl immer noch in Whisky, wenn er das wünschte; ebenso aber auch in Zwiebelsuppe, Tomatensaft und Brandy. Der Kühlschrank, so stellte er fest, war mit allem gefüllt, das er sich nur wünschen konnte: angefangen mit fünf oder sechs rohen Steaks und endend bei drei Flaschen dunklem Bier von der Marke, die er gewöhnlich selbst kaufte. Der Anblick machte ihn hungrig; er hatte das Abendessen ausgelassen. Ein Steak, überhäuft mit Zwiebelringen und umgeben von Bohnen, hinuntergespült mit Unmengen heißem Kaffee, war ein interessanter Gedanke. Er ging in das Speisezimmer hinüber, um seine Sachen zu holen. Die Tüte mit den Dosen lag immer noch auf dem Tisch. Auf der anderen Seite – auf der anderen Seite stand eine Platte mit einem dicken Steak, überhäuft mit Zwiebeln und mit einer Riesen-
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portion Bohnen an der Seite. Zwischen der Platte und einem mächtigen Topf Kaffee lag Silber. Paul ertappte sich dabei, wie er hysterisch kicherte und unwillkürlich den Kopf schüttelte. Alles war ganz auf seinen Komfort abgestimmt. Da brauchte er sich nur noch einen Stuhl heranzuziehen und zu essen anzufangen. Er blickte sich um und sah, wie ein Stuhl auf ihn zuglitt; der Stuhl stupste ihn sachte in den Kniekehlen an, und Paul setzte sich. Der Stuhl rutschte weiter, bis Paul in der richtigen Stellung vor dem Tisch saß. Er löffelte gerade die letzten Reste der Melone, die er sich als Nachtisch ausgedacht hatte – sie war mit einer Kristallschale aus der Tischplatte herausgewachsen – , da bemerkte er, daß die Beleuchtungskörper nur Dekoration waren. Licht kam aus den Wänden, der Decke, dem Boden; es war im ganzen Haus In genau der richtigen Intensität allgegenwärtig – und das war alles. Die schmutzigen Teller und das gebrauchte Silber verschwanden im Tisch wie Zucker, der sich In einer heißen Flüs sigkeit auflöst. Ehe er zu Bett ging, beschloß er, in der Bibliothek nachzusehen. Er hatte sich doch ursprünglich eine Bibliothek ausgedacht? Er war sich seiner Sache nicht mehr sicher und stellte sich eine unmittelbar am Wohnzimmer anschließend vor. All die Bücher, die ihm je Spaß gemacht haben, waren in dem kleinen, gemütlichen Raum. Er verbrachte eine angenehme Stunde damit, herumzuschmökern, von Alken bis Einstein, bis er die wunderschön eingebundene Brittanica fand. Der erste Band der Enzyklopädie, den er aufschlug, ließ ihn die Grenzen seiner Vorstellung erkennen. Die Artikel, die er vollständig gelesen hatte, waren vollständig; jene, die er nur teilweise gelesen hatte, tauchten auch nur in den Abschnitten, die er kannte, auf. Der Rest war eigenartig ve rschwommener Druck. Das beschäftigte ihn eine Weile, bis er erkannte, daß das das Bild war, das seine Augen behalten hatten, als er die Seiten überflogen hatte. Er ging die schmale Treppe zum Schlafzimmer hinauf.
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Müde gähnend stellte er vage fest, daß das Bett genau die Breite hatte, die er sich immer gewünscht hatte. Als er seine Kleider auf dem Stuhl neben dem Bett ablegte, schüttelte der sie ab, und der Boden beförderte sie zuckend zu dem Schrank in der Ecke, wo sie sich ordentlich aufhängten. Er legte sich schließlich hin, unterdrückte ein Schaudern, als die Decken sich hochschoben und ihn einhüllten. Ehe er einschlief, erinnerte er sich daran, daß er die letzten drei Nächte hauptsächlich mit Schachspielen verbracht hatte, und daher wahrscheinlich verschlafen würde. Er hatte vorgehabt, früh aufzustehen und sein Eigentum in allen Einzelheiten zu untersuchen; aber da er nicht daran gedacht hatte, einen Wecker mitzubringen… Machte das etwas aus? Er richtete sich auf einem Eilbogen auf, wobei das Laken ihn nicht losließ, »Hör zu!« befahl er der gegenüberliegenden Wand streng. »Wecke mich in genau acht Stunden auf, und zwar angenehm, verstanden?« Das Erwachen kam mit einem Gefühl des Schreckens, das an ihm zupfte und zerrte. Er lag reglos da und fragte sich, was ihn so erschreckt hatte. »Paul, Liebster, bitte, wach auf! Paul, Liebster, bitte, wach auf! Paul, Liebster, bitte…« Carolines Stimme! Er sprang aus dem Bett und sah sich benommen um. Was machte Caroline hier? Das Telegramm, das er ihr geschickt hatte und in dem er sie gebeten hatte, herzukommen und sich ihr neues Haus anzusehen, war vermutlich erst beim Frühstück angekommen. Selbst per Flugzeug… Und dann erinnerte er sich. Natürlich! Er tätschelte das Bett. »Nett gemacht! Hätte es selbst nicht besser machen können.« Das Kopfbrett schmiegte sich in seine Hand, und die Wände vibrierten mit einem summenden Geräusch, das einem Schnurren erstaunlich nahekam. Die Dusche, so entschied er, war vermutlich das Produkt einer
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jener brillanten Überlegungen, die er einmal angestellt und dann wieder vergessen hatte. Man brauchte nur in eine geräumige Nische zu treten, die mit einer Unzahl winziger Löcher ausgestattet war, und schon umgab einen warmer Schaum, der in dem Moment zu fließen aufhörte, als er eingeseift war. Dann folgte gewöhnliches Wasser von der gleichen Temperatur. Und als der Schaum dann weggewaschen war, trockneten ihn haarfeine Luftstrahlen. Als er die Duschkabine verließ, hingen seine Kleider draußen, hervorragend gebügelt und noch leicht nach Wäscherei duftend. Er wunderte sich über den Wäschereiduft, obwohl er ihm gefiel; aber dann war das natürlich auch der Grund für den Duft. Es würde ein ungewöhnlich schöner Tag werden, stellte er fest, nachdem er dem Badezimmerfenster vorgeschlagen hatte, sich zu öffnen – leider hatte er keine leichte Kleidung mitgebracht. Und dann, als seine Augen bedauernd nach unten wanderten, stellte er fest, daß er jetzt ein Sporthemd und leichte Somme rhosen trug. Offenbar hatte das Haus seine eigenen schmutzigen Kleider in seinen Kreislauf absorbiert und ihm Duplikate geliefert, die die angenehmen Anpassungsfähigkeiten des Hauses besaßen. Das Frühstück mit Schinken, Eiern und Pamelosaft, das er sich ausgedacht hatte, während er die Treppe hinunterging, stand im Speisezimmer bereit. Jane Austen’s Emma, das er in letzter Zeit meistens beim Essen gelesen hatte, lag, an der richtigen Seite aufgeschlagen, neben dem Gedeck. Er seufzte zufrieden. »Jetzt brauche ich nur noch etwas leise Musik. Mozart am besten.« Connor Kuntzs Helikopter senkte sich um vier Uhr nachmittags aus dem blauen Himmel. Paul befahl dem Haus, ein Bunk Johnson Trompetensolo zu spielen, und rannte hinaus, um seine Gäste zu begrüßen. Esther Sakarian stieg als erste aus der Maschine. Sie trug ein strenges, schwarzes Kleid, das sie äußerst weiblich erscheinen
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ließ. »Entschuldige, daß ich Doc Kuntz mitbringe, Paul! Aber ich habe mir gedacht, nach einer Nacht in diesem Bau brauchst du vielleicht einen Doktor. Und ich selbst habe keinen Kopter. Er hat angeboten, mich mitzunehmen.« »Schon in Ordnung!« räumte er großmütig ein. »Ich bin bereit, das Haus mit Kuntz oder einem beliebigen anderen Biologen zu diskutieren.« Sie hielt ihm ein gelbes Blatt hin. »Für dich. Gerade eingetroffen.« Er las das Telegramm und zuckte zusammen. »Etwas Wichtiges?« fragte Esther. »Oh!« Er knüllte das Telegramm zusammen und warf es in die Höhe. »Caroline. Sie schreibt, sie sei überrascht, daß ich mich entschlossen hätte, für immer hier oben zu bleiben. Sie schreibt, wenn das mein Ernst sei, sollte ich mir die Sache mit der Verlobung noch einmal überlegen.« Esther nickte. »Nun, von Boston ist’s ganz schön weit hierher. Und dein Haus hat ja schließlich…« Paul lachte und warf das zusammengeknüllte Telegramm hoch in die Luft. »Ja, mein Haus! Zurück, mein Freund, zurück, habe ich gesagt!« Das Haus war hinter ihm den Abhang heruntergekrochen und streckte jetzt ein Fenster aus, mit dem es ihn am Rücken kraulte. Jetzt, als es seinen Befehl hörte, schnappte das Fenster abrupt in die Wand zurück. Das Haus schob sich zu seiner gewohnten Stelle auf dem Abhang zurück und stand dort, leicht zitternd. Das Trompetensolo entwickelte traurige Untertöne. »Macht… macht es das oft?« »Jedesmal, wenn ich ein paar Schritte weggehe«, versicherte er ihr. »Ich könnte ihm das natürlich mit einem direkten Befehl austreiben. Aber irgendwie kommt es mir schmeichelhaft vor. Außerdem möchte ich ihm nicht weh tun. Es hat eine so angenehme Persönlichkeit. Schließlich schadet es ja nicht. He, Con-
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nor, was meinst du?« Der Arzt musterte das Haus argwöhnisch. »Jetzt, auf den ersten Blick – ich muß gestehen, daß ich es nicht weiß.« »Gib es auf, Connor!« riet ihm Esther. »Sonst denkst du dir noch einen Bruch.« Paul schlug ihm auf den Rücken. »Kommt rein, dann erkläre ich es euch bei ein paar Glas Bier. Die habe ich mir gerade ausgedacht, weil ich so durstig bin.« Fünf Biere später traten Dr. Connor Kuntz beinahe die Augen aus dem Kopf, als er zusah, wie sein Gastgeber sich vor seinen Augen mehrmals andere Kleidung schaffen ließ. »Natürlich glaube ich es! Da es einmal so ist, ist es auch so. Du hast hier ein lebendes Haus. Und jetzt müssen wir entscheiden, was wir damit tun wollen.« Paul Marquis blickte auf; er steckte gerade halbwegs in einem weißen Gabardineanzug. Die Revers, immer noch Frack, zögerten; dann rissen sie sich zusammen und bildeten einen leichten Sommeranzug. »Was wir damit machen sollen?« Kuntz stand auf und verschränkte die Hände hinter dem Rükken. »Du hast natürlich recht, wenn du dies vor den anderen geheimhältst. Ein einziges falsches Wort, und du kannst dich hier vor neugierigen Touristen nicht mehr retten. Ich muß mit Dr. Dufayel in Quebec reden, das fällt in sein Ressort. Obwohl es da auch einen jungen Mann auf der John-Hopkins-Universität gibt. Was hast du denn über seine grundlegenden, wollen einmal sagen, persönlichen Elemente in Erfahrung gebracht?« Der junge Physiker blickte fast beleidigt drein. »Nun, das Holz fühlt sich wie Holz an, das Metall wie Metall und Plastik wie Plastik. Und wenn das Haus einen glasartigen Gegenstand produziert, ist es, soweit ich das ohne chemische Analyse feststellen kann, wirkliches Glas. Es hat…« »Das ist einer der Gründe, weshalb ich Connor mitgebracht ha-
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be. Biologisch und chemisch ist das Wasser in Ordnung – zu sehr in Ordnung sogar. Absolut reines H2O. Doktor, was hältst du denn von meiner Chlorophyll-Dach-Theorie?« Er neigte den Kopf zu ihr hinüber. »Möglich. Jedenfalls irgendeine Art von Sonnenenergieumwandlung. Aber Chlorophyll würde auf pflanzliche Substanz hinweisen. Aber es besitzt doch die Fähigkeit der Ortsveränderung – intern wie extern. Auße rdem deutet die Manipulation von Metallen, die in dieser Gegend praktisch nicht existieren, darauf hin, daß es auf subatomarer Ebene Transmutationen durchführen kann. Esther, wir müssen ein paar Dünnschliffe von diesem Wesen herstellen. Sei doch so nett und lauf zum Flugzeug hinaus und hol dir meine Instrumententasche. Du kannst doch auch Dünnschliffe herstellen, oder? Ich möchte ein paar Unters uchungen anstellen.« »Dünnschliffe?« fragte Paul Marquis, als die Bakteriologin auf die Tür zuging. »Weißt du, das ist doch ein lebendes Wesen.« »Ach, wir holen sie uns bloß von einer kleinen Fläche… einer nicht lebenswichtigen Stelle. Das ist genauso, wie wenn man von einer menschlichen Hand etwas Haut abschabt. Sag mal«, meinte der Arzt dann plötzlich und klopfte auf den Tisch. »Du hast dir doch bestimmt schon eine vage Theorie über seine Herkunft gebildet?« Marquis machte es sich in dem Sessel bequem. »Natürlich habe ich darüber nachgedacht. Ich habe mich daran erinnert, daß das Erz in Grube 14 plötzlich verschwunden war, nachdem die Fundstelle zuerst sehr vielversprechend aussah. Grube 14 ist die hier am nächsten liegende. Adler, unser Geologe, meinte damals, es sähe gerade so aus, als hätte jemand Grube 14 schon einmal abgebaut; vor etwa sechstausend Jahren. Es gäbe nur zwei Möglichkeiten: entweder das oder Gletscherschub. Aber da es hier keine Gletscher gegeben hatte und da andererseits auch keine Hinweise auf prähistorische Bergwerkstätigkeit vorlagen, ließ er seine Theorie fallen. Ich glaube, daß dieses Haus hier der Beweis ist, den wir für seine prähistorische Mine brauchen. Ich glaube auch, daß wir radioaktives Erz finden werden – auf der ganzen Strecke von hier bis zum Rand von Grube 14.«
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»Das wäre ja recht angenehm für dich«, meinte Kuntz und ging in die Küche. Paul Marquis stand auf und folgte ihm. »Wie würde dann dieses Haus zu der Theorie passen?« »Nun, sofern unsere Archäologin nicht noch völlig in den Kinderschuhen steckt, kann man behaupten, daß vor sechstausend Jahren niemand auf der Erde Interesse an Pechblende hatte. Blieb also nur noch die Möglichkeit von Extraterrestriern – von einem Planeten unserer Sonne oder einem Planeten eines anderen Sterns. Das hier könnte eine Tankstelle für ihre Schilfe gewesen sein oder ein Bergwerk oder ein Notlandeplatz für Reparaturen und Treibstoffaufnahme.« »Und das Haus?« »Das Haus war ihre Wohnung, in der sie sich aufhielten, während sie das Bergwerk abbauten. Als sie abflogen, ließen sie es hier, genauso wie wir eines Tages ein paar Holzstöße und einige Metallhütten zurücklassen werden, wenn wir Little Fermi wieder aufgeben sollten. Es lag einfach hier und wartete auf etwas – zum Beispiel den Gedanken des Besitzes oder den Wunsch nach einer Wohnstätte. Und das löste ein telepathisches Relais aus, das es ihm erlaubte, seine Funktion…« Dann hörten sie Esther rufen: »Ich habe gerade mein zweites Skalpell an dieser Stahlwand abgebrochen, die sich als Holzvertäfelung verkleidet hat. Ich habe den Verdacht, Paul, daß ich keinen Kratzer anbringen kann, solange du mir nicht ausdrücklich die Erlaubnis gibst. Bitte, sage deinem Haus, daß ich eine Probe nehmen darf.« »Es es ist schon recht«, sagte Paul etwas verlegen und fügte dann hinzu: »aber tu ihm nicht weh!« Das Mädchen schabte einen langen, dünnen Streifen von der Westecke ab, und dann gingen sie gemeinsam in den Keller Connor Kuntz suchte sogar auf dem Boden, um Spuren biologischer Organe zu finden; aber er fand nur Zement. »… seine Funktion des Dienens anzunehmen«, sagte er schließlich. »Lieber Freund, ist dir eigentlich klar, daß dieses Haus ein
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Geschlecht hat?« »Geschlecht?« Paul trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Du meinst, es kann kleine Bungalows kriegen?« »Oh, nicht im Sinne der Fortpflanzung! Nicht im Sinne der Fortpflanzung!« Der Doktor hätte ihm bestimmt einen Rippenstoß versetzt, wenn Paul nicht schnell zur Treppe gerannt wäre. »Im emotionellen, im psychologischen Sinn meine ich – ebenso wie eine Frau heiraten möchte; ebenso wie ein Mann eine Frau sucht – ebenso wünscht dieses Haus, einem lebenden Wesen ein Heim zu sein; einem Wesen, das es braucht und es besitzt. Erst dann findet es Erfüllung und wird in die Lage versetzt, die einzig freiwillige Handlung zu vollbringen, zu der es fähig ist – nämlich Zuneigung zu zeigen; Zuneigung zu dem, dem es dient. Übrigens, es scheint mir auch die Antwort auf die ewigen Meinungsverschiedenheiten zwischen dir und Esther zu haben, mit denen ihr uns manchmal beim Mittagessen unterhaltet. Du weißt schon: die Frage des Zusammenlebens von Mann und Frau im zwanzigsten Jahrhundert – unaufdringliche Liebe und fantasievoller Service.« »Da hast du recht. Wenn Es mir nur nicht immer so auf die Nerven ginge – hm. Ist dir eigentlich aufgefallen, wie nett sie heute ist?« »Natürlich. Das Haus hat ihre Persönlichkeit etwas verändert, um dich glücklich zu machen.« »Waaas? Connor, du bist verrückt!« Der Doktor grinste. »Im Gegenteil, mein Junge! Ich kann dir versichern, daß sie in Little Fermi und auf dem Weg hierher genauso streitsüchtig wie immer war. Und in dem Augenblick, als sie dich sah, wurde sie ganz Frau – ohne dabei ihren Verstand aufzugeben. Wenn jemand wie Esther Sakarian über Nacht eine solche Veränderung durchmacht, dann hat irgendetwas sie dazu veranlaßt; in diesem Fall das Haus.« Paul Marquis stemmte sich gegen die Substanz der Kellerwand. »Es ist von dem Haus verändert worden, weil sie in ihrem jetzi-
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gen Zustand meinen Wünschen mehr entspricht? Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Es sollte Es sein – ob mir das nun paßt oder nicht. Außerdem könnte das Haus ja noch auf die Idee kommen, mich zu verändern.« Der Arzt sah ihn an und zwinkerte dabei etwas mit den Augen. »Ich weiß nicht, in welcher Weise es die Persönlichkeit verändert – therapeutische Strahlung hohen Grades auf intellektueller Ebene? – aber ich will dich etwas fragen, Paul: Freust du dich denn nicht darüber, daß Miß Sakarian sich so zu ihrem Vorteil verändert hat? Und außerdem – möchtest du nicht eigentlich denken, daß das Haus deine eigenen Gefühle und Vorstellungen nicht verändern kann?« »Natürlich.« Paul zuckte die Achseln. »Was das betrifft, freut es mich natürlich, daß Es endlich etwas weiblichere Vorstellungen hat. Aber ich bezweifle entschieden, daß du oder sonst jemand mich je überzeugen könnte, daß das Haus Ideen und Vorstellungen so wie Möbelstücke herumschieben kann. Das Ganze ist viel zu lächerlich, als daß man weiter darüber reden sollte.« Connor Kuntz gluckste und schlug sich auf die Schenkel. »Ausgezeichnet! Jetzt kannst du dir nicht einmal mehr vorstellen, daß der Wunsch nach einem solchen Geisteszustand das Haus ve ranlassen könnte, ihn in dir zu erzeugen. Es lernt die ganze Zeit etwas dazu – nämlich, wie es dir noch besser dienen kann. Dr. Dufayel wird das gefallen!« »Dazu wäre etwas zu sagen. Ich habe nicht vor, meine Wohnung und ihre besonderen Eigenschaften publik zu machen. Kann ich dich irgendwie überreden, das bleiben zu lassen?« Kuntz blieb stehen und sah ihn ernsthaft an. »Natürlich. Ich wüßte schon zwei gute Gründe, warum ich nur mit dir und Esther über dein Haus sprechen sollte.« Er überlegte einen Augenblick. »Besser gesagt, es gibt sechs oder sieben Gründe, dein Haus gegenüber Dufayel oder anderen Biologen nicht zu erwähnen. Genaugenommen sind es sogar Dutzende von Gründen.« Paul folgte Connor Kuntz und Esther zum Helikopter und versprach ihnen, daß er am nächsten Morgen wieder seinen Dienst
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antreten würde. »Aber meine Nächte werde ich von jetzt an hier verbringen.« »Nimm das mit Caroline nicht so schwer«, versuchte Esther ihn zu beruhigen. »Keine Sorge!« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die leise vibrierende Struktur seines Hauses. »Ich muß ihm noch einiges beibringen. So zum Beispiel, daß es nicht herumhüpfen soll, wenn Besuch da ist. Es, möchtest du hier mit mir wohnen? Du würdest von ihm genausoviel Liebe und Zuneigung empfangen wie ich.« Sie kicherte. »Wir drei – all die herrlichen Jahre in einer perfekten Ehe vereint. Wir werden keine Dienstboten brauchen – nur du und ich und das Haus. Vielleicht ein oder zweimal eine Putzfrau, nur um nicht aufzufallen, wenn es hier zu einem Immobilienboom kommen sollte und wir Nachbarn kriegen.« »Oh, wir werden schon Nachbarn kriegen«, prahlte Paul. »So bald die den Uranfund auf unser Grundstück zurückverfolgt haben, werden wir sogar sehr reich werden. Little Fermi wird dann das Energiezentrum für ganz Amerika. Und wir verdienen uns ein Vermögen, indem wir Teile unseres Landes verkaufen, damit Wohnhäuser darauf gebaut werden. Und stellt euch doch bloß vor, was für Möglichkeiten für physikalische und bakteriologische Forschungen wir hier haben! Das Haus kann uns alles liefern, was wir dazu brauchen.« »Ihr werdet sehr glücklich sein«, sagte Kuntz. »Das Haus wird dafür sorgen, daß ihr glücklich seid, selbst wenn es euch – oder besser gesagt, euer Ego – dazu umbringen muß.« Er wandte sich der Bakteriologin zu. »Esther, ich habe in Erinnerung, du hättest gesagt, Paul müßte sich noch sehr verändern, ehe du ihn heiraten würdest. Hat er sich verändert, oder hat das Haus dich verändert?« »Habe ich das gesagt? Nun, Paul hat sich eigentlich nicht – aber das Haus…« »Und was ist denn mit dem eigenartigen Gefühl, von dem du
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gestern gesprochen hast?« fuhr der Arzt fort. »Als ob etwas Drähte in deinem Gehirn abklemmte und sie wie nach einem anderen Schaltplan neu anschlösse? Siehst du denn nicht, daß der neue Schaltplan Paul gehört und das Haus die Installation durchführt?« Paul hatte das Mädchen in die Arme genommen und musterte Kuntz jetzt mit einem Stirnrunzeln. »Der Gedanke gefällt mir nicht, selbst wenn eine vage Möglichkeit dafür besteht.« Sein Gesicht wurde wieder heiter. »Aber es ist nur eine vage Möglichkeit und in Wirklichkeit gibt es sie gar nicht. Findest du nicht auch, Es?« Sie schien mit einer inneren Unsicherheit kämpfen zu müs sen. »Ich… ich weiß es nicht. Ja, doch. Unmöglich ist gar nicht das richtige Wort dafür! Ich habe noch nie von etwas so völlig Verrücktem gehört. Dein Haus will uns doch bloß dienen. Es ist liebenswert und harmlos.« »Nicht wahr?« Der Arzt feixte jetzt wie ein Gnom. »Zugegeben, es wird nur eine psychologische Anpassung vornehmen, um eure inneren Konflikte zu beseitigen. Aber denkt daran: Dieses Haus ist eine völlig fremdartige Lebensform. Wenn es je unter der Kontrolle seiner Erbauer stand, so waren das Wesen, die uns weit überlegen waren. Die Gefahr ist jetzt schon groß genug, da es euch zwingt, nur das zu denken, was ihr denken wollt; aber wenn es anfängt, einmal zu bemerken, wie schwach eure geistige Kontrolle…« »Hör auf damit, Connor!« brachte Paul ihn zum Schweigen. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich darüber nicht nachdenken will. Ich will nicht, daß du das noch einmal erwähnst – das ist einfach häßlich, nicht wahr, Liebste?« »Und unlogisch.« Sie lächelte. Und Dr. Connor konnte nur mehr dastehen und schreckliche Dinge denken. Hinter ihnen summte das Haus triumphierend eine Passage aus Lohengrin.
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Oh, ruhmreicher Meister, der du mich nie verläßt… Während der Helikopter sich in den blauen Himmel hinaufschraubte und Esther der immer kleiner werdenden Gestalt zuwinkte, fragte Kuntz vo rsichtig: »Wenn ihr beide in diesem Haus dort Flitterwochen machen wollt, müßt ihr euch eine Genehmigung von der Firma beschaffen. Das wird gar nicht leicht sein.« Sie drehte sich zu ihm herum. »Warum?« »Weil ihr einen Vertrag unterschrieben habt und die Regierung hinter der Firma steht. Ihr könnt beide nicht raus. Paul könnte sogar Schwierigkeiten bekommen, weil er sich eigenmächtig Urlaub genommen hat.« Esther überlegte. »Ja, das leuchtet mir ein. Weißt du, Connor, ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht kündigen und jetzt schon im Haus wohnen soll. Ich bin ziemlich sicher, daß Paul das gleiche denkt. Hoffentlich gibt es keinen Ärger!« Dann lachte sie, und ihr Gesicht wurde wieder glatt. »Aber ich glaube nicht, daß es Ärger geben wird. Ich glaube, daß alles ganz glatt gehen wird. Ich spüre das einfach!« Schockiert erkannte Connor, daß diese für Esther Sakarian ungewöhnliche weibliche Intuition richtig war. Er dachte: Das Haus wird dafür sorgen, daß die Regierung ohne weiteres einer Kündigung ihrer Verträge zustimmen wird, weil das Haus sie glücklich machen will. Und es wird dafür sorgen, daß sie glücklich bleiben. Es wird ihnen alles geben, was sie wollen – nur keine Möglichkeit es wieder zu verlassen. Dieses Produkt einer für uns unvorstellbaren Fantasie kennt nur zwei Wünsche: den Wunsch, zu dienen, und den Wunsch, einen Herrn zu haben. Da es nun nach all diesen Jahren wieder einen Herrn hat, wird es ihn oder sie oder beide um jeden Preis halten. Aber wenn es nun die Welt verändert, um sie glücklich zu machen, so ist das genauso, wie wenn man den ersten Dominostein in einer Reihe umstößt – es wird mehr und mehr tun müssen, um die Welt daran zu hindern, sich einzumischen.
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Schließlich und endlich könnte es die ganze Menschheit kontrollieren und dafür sorgen, daß sie springt, wenn Paul Marquis und Esther Sakarian das wünschen. Alles im Rahmen des Dienens! Es hat die Kraft und die Macht, es zu tun. Wahrscheinlich ist es nichts anderes als eine Ansammlung von U rkräften in einer Art Stasisfeld. Und wenn es je den Planeten kontrollieren sollte – dann wird es nur soviel Widerstand dagegen geben, als Esther und Paul zeigen! Dieses dienstbereite Stück Land ist uns in seinen Fähigkeiten so weit überlegen, daß es unsere ganze Welt regieren könnte. Und wir werden noch glauben, daß es uns so gefällt – weil das Haus es so will. Allein der Gedanke, daß ich neben einem der Menschen sitze, deren harmlosester Wunsch ein unabwendbarer Befehl für mich sein kann! Schrecklich, schrecklich… Aber als der Helikopter in Little Fermi gelandet war, fand Connor Kuntz den Gedanken gar nicht mehr widerwärtig. Er hielt es für ganz richtig, daß er nur jene Dinge tun konnte, gegen die Paul und Esther keine Einwände hatten. Ihm kam das sogar ganz natürlich vor.
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Der Menschenbaukasten Nachdem der Mann von der Speditionsfirma die Tür zugeschlagen hatte, beschloß Sam Weber die riesige Kiste unter die einzige Glühbirne seines Zimmers zu stellen. Der Bote hatte gebrummt: »Keine Ahnung, was da drin ist. Wir schicken den Kram ja nicht, wir liefern bloß, Mister.« Aber irgendeine vernünftige Erklärung mußte es doch geben. Mürrisch schob Sam die Kiste die paar Fuß vor. Sie war schwer genug. Wie der Mann sie wohl die drei Stockwerke hochgeschleppt hatte? Er richtete sich auf und blickte mit gerunzelter Stirn auf die auffällige Karte mit seinem Namen und seiner Adresse und der Aufschrift »Frohe Weihnachten, 2353!« Ein Witz? Aber er kannte keinen, der es besonders witzig finden würde, eine Karte zu schicken, deren Datum mehr als dreihundert Jahre in der Zukunft lag. Wenn man die Karte genau ansah, konnte man feststellen, daß die Buchstaben eigenartig geformt waren, komische grüne Striche und keine Linien. Und die Karte war aus purem Gold. Sam entschied, daß die Sache ihn interessierte. Er riß die Karte weg, fetzte das dünne Packpapier herunter – und hielt inne. Die Kiste hatte keinen Deckel, keine Schlitze an der Seite, nirgendwo einen Griff. Sie schien eine feste, kubische Masse aus braunem Zeug zu sein. Und doch war er ganz sicher, daß innen etwas geklappert hatte, als er die Kiste geschoben hatte. Er packte die Kiste an den Kanten und quälte sich stöhnend ab, bis er sie hochgehoben hatte. Die Unterseite war ebenso glatt und ohne Öffnungen wie der Rest. Er ließ sie auf den Boden zurückplumpsen. »Nun, gut!« meinte er, ganz Philosoph. »Es ist nicht das Ge schenk, es ist das Prinzip.« Er mußte noch eine ganze Menge Dankbriefe für Geschenke schreiben. Für Tante Maggie würde er sich etwas Besonderes
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einfallen lassen. Ihre Krawatten waren Geschmacklosigkeiten; aber er hatte ihr diesmal zu Weihnachten nicht einmal ein Taschentuch geschickt. Jeder Cent war für diese Brosche, die er Tina geschenkt hatte, draufgegangen. Er drehte sich um und ging zu seinem Bett zurück, das ihm gleichzeitig auch als Schreibtisch und Stuhl diente. Im Vorbeigehen versetzte er der Kiste einen Tritt. »Nun, wenn man dich nicht aufmachen kann, dann bleibst du eben zu.« Die Kiste öffnete sich, als hätte der Tritt ihr weh getan. Ein Schlitz tat sich an der Oberfläche auf, weitete sich schnell, und die beiden Seiten falteten sich herunter. Sam schlug sich an die Stirn und schickte ein schnelles Stoßgebet zum Himmel. Dann erinnerte er sich an das, was er gesagt hatte. »Schließen!« befahl er. Die Kiste schloß sich und war wieder so glatt wie ein Babypopo. »Aufmachen!« Die Kiste öffnete sich. Sam hatte von der Vorstellung genug, bückte sich und blickte ins Innere des Behälters. Das Innere war ein verrücktes Durcheinander von Regalen und Nischen, auf denen Fläschchen mit blauen Flüssigkeiten, Gläser mit roten Kugeln, durchsichtige Röhren mit gelbem, grünem und orangem Inhalt standen, und noch vieles mehr, was Sam überhaupt nicht mehr in sich aufnehmen konnte. Auf dem Boden der Kiste waren sieben Gebilde, die aussahen, als ob ein verrückter Radiobastler sie zusammengestellt hätte. Und dann noch ein Buch. Sam nahm das Buch. Die Seiten schienen aus Metall zu bestehen. Dennoch war das Buch federleicht. Er trug das Buch zum Bett hinüber und setzte sich. Dann atmete er tief und wandte sich der ersten Seite zu. »Puuh!« machte er und atmete noch einmal tief durch. Da stand es in verrückten grünen Strichen, die nur entfernt an Buchstaben erinnerten:
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Bild-A-Man-Baukasten Nr. 3. Dieser Baukasten ist ausschließlich für Kinder zwischen elf und dreizehn Jahren bestimmt. Der Inhalt, der wesentlich umfangreicher und fortgeschrittener als der der Bild-A-Man-Baukästen Nr. 1 und 2 ist, gestattet es Kindern dieser Altersgruppe, völlig funktionsfähige erwachsenen Menschen zu bauen und zusammenzustellen. Etwas zurückgebliebene Kinder können mit den Bauteilen auch Babys und Mannikins aus dem Programm der früheren Baukästen konstruieren. Zwei Demontagegeräte sind beigefügt, um den Baukasten auch öfter nutzbringend verwenden zu können. Ebenso wie bei den Baukästen 1 und 2, empfehlen wir bei der Demontage einen Zähler hinzuzuziehen. Nachfüllpackungen und zusätzliche Teile können von der Bild-A-Man-Corporation, 928 Diagonal Level, Glunt City, Ohio, bezogen werden. Vergessen Sie nicht – nur mit Bild-A-Man-Baukästen kann man Menschen bauen! Weber drückte die Augen zu. Wie war das gestern abend in dem Film gewesen? Ein großartiger Gag! Ein großartiger Film übrigens auch. Gute Farben. Was der Regisseur wohl in der W oche verdiente? Und der Kameramann? Fünfhundert? Tausend? Und dann öffnete er vorsichtig die Augen. Die Kiste war immer noch da, ein massiger Würfel mitten in seinem Zimmer. Und er hielt immer noch das Buch in seinen zitternden Händen. Und auf der Seite stand immer noch das gleiche. »Nur mit Bild-A-Man-Baukästen kann man Menschen bauen!« Der Himmel mochte einem neurotischen, jungen Rechtsanwalt wie Sam Weber beistehen! Auf der nächsten Seite fand sich eine Preisliste für »Nachfüllpackungen und Zusatzteile«. Da konnte man zum Beispiel einen Liter Hämoglobin und drei Gramm sortierte Enzyme für einen Slunk fünfzig beziehungsweise drei Slunk fünfundvierzig kaufen. Unten auf der Seite stand ein Hinweis auf Baukasten Nr. 4: Gönnen Sie sich und Ihrem Kind das Vergnügen, einen echten lebenden Marsianer zu bauen! In Dünndruck stand darunter pat, pending 2348. Die dritte Seite enthielt das Inhaltsverzeichnis. Sam klammerte sich mit einer schwitzenden Hand an der Matratze fest und las:
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Kapitel I – Einführung in die Biochemie Kapitel II – Die Herstellung einfacher Lebewesen Kapitel III – Mannikins – die Wesen, die die Arbeit der Welt tun Kapitel IV – Babys und andere kleine Menschen Kapitel V – Zwillinge für jeden Zweck – Zwillinge für dich und deine Freunde
Kapitel VI – Was du brauchst, um einen Menschen zu bauen Kapitel VII – Fertigstellung des Menschen Kapitel VIII – Demontage des Menschen Kapitel IX – Neues Leben für deine Mußestunden
Sam ließ das Buch in die Kiste fallen und rannte zum Spiegel. Sein Gesicht war immer noch das gleiche, wenn auch kreideweiß – aber im Prinzip das gleiche. Er hatte keinen Zwilling bekommen oder ein Mannikin gezüchtet oder eine neue Art von Leben für seine Mußestunden gebaut. Alles war ganz normal. »Liebe Tante Magie«, fing er fieberhaft zu schreiben an. »Deine Krawatten waren das schönste Weihnachtsgeschenk; das ich bekommen habe. Ich bedaure nur…« Ich bedaure nur, daß ich für mein Weihnachtsgeschenk nur ein Leben geben kann. Wer könnte sich solche Mühe gegeben haben, bloß um ihm einen Possen zu spielen? Lew Knight? Selbst Lew mußte sich in seinem Ketzerschädel noch eine Spur von Achtung für die Institution des Christfestes bewahrt haben. Und außerdem besaß Lew gar nicht den Verstand, ganz zu schweigen von der Geduld, die man für etwas so Kompliziertes brauchte. Tina? Tina hatte das Talent für komplexe Dinge. Aber so reichlich Tina auch mit allen physischen Attributen ausgestattet war – einen Sinn für Humor hatte sie nicht. Sam holte den ledernen Umschlag heraus und strich liebkosend darüber. Tinas Parfüm schien noch daran zu hängen und ihm zu helfen, die Welt wieder im richtigen Licht zu sehen. Die metallische Weihnachtskarte blitzte ihm vom Boden ent gegen. Vielleicht stand der Name des Absenders auf der Rückseite? Er hob sie auf und drehte sie um. Nichts. Nur eine glatte Goldfläche. Daß es Gold war, wußte er
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ganz genau; sein Vater war Juwelier gewesen. Der Wert der Karte sprach dagegen, daß das Ganze ein Witz war. Außerdem – was sollte es überhaupt? »Frohe Weihnachten 2353«. Wo mochte die Menschheit in vierhundert Jahren sein? Auf der Reise zu den Sternen oder noch weiter? Und kleine Mannikins, die die Arbeit von Maschinen und Robotern taten? Kinder, die… Vielleicht war eine andere Karte oder ein Brief in der Kiste? Weber bückte sich erneut, um nachzusehen. Eine graue Dose mit eingeätzter Schrift fiel ihm auf: dehydrierte Neuronen, nur für den Menschenbau. Er fuhr zurück und rief: »Schließen!« Das Ding schmolz wieder zu. Weber seufzte erleichtert und entschied, zu Bett zu gehen. Während er sich auszog, ärgerte er sich, daß er den Boten nicht nach dem Namen seiner Firma gefragt hatte; die hätte ihm vielleicht helfen können, die Herkunft dieses widerlichen Geschenks festzustellen. »Aber dann«, wiederholte er, »kommt es ja nicht auf das Geschenk an – sondern auf das Prinzip.« Am nächsten Morgen, als Lew Knight mit seinem üblichen »Guten Morgen, Euer Ehren!« hereingefegt kam, wartete Sam auf die ersten Sticheleien. Lew war nicht der Mann, der lange an sich halten konnte. Aber Lew vergrub sein Gesicht in die New York Times und ließ es den ganzen Morgen dort. Die anderen fünf jungen Anwälte in dem Gemeinschaftsbüro schienen entweder zu gelangweilt oder zu beschäftigt, um Bild-A-Man-Baukästen auf dem Gewissen zu haben. Niemand grinste versteckt, niemand beobachtete ihn von der Seite, niemand stellte irgendwelche Fragen. Tina erschien um zehn Uhr. Sie sah aus wie ein Pin-upMädchen, das aus Versehen die Kleider angelassen hat. »Guten Morgen, Euer Ehren!« sagte sie.
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Die sieben Juristen strahlten, feixten, blickten mürrisch oder nickten einfach, je nach Laune. Lew Knight blickte mürrisch drein. Sam Weber strahlte. Tina nahm die Blicke in sich auf und analysierte die Stimmung, während sie sich durch das Haar fuhr. Sie kam offenbar zu dem Schluß, daß sie sich unbedingt gegen Lew Knights Schreibtisch lehnen mußte, um ihn zu fragen, was er heute morgen für sie zu tun hätte. Sam machte sich wütend über sein Gesetzbuch her. Theore tisch war Tina die Angestellte von allen sieben, und zwar gleichzeitig Sekretärin, Telefonistin und Empfangsdame. In Wirklichkeit bestanden ihre Pflichten in nicht viel mehr als dem Schreiben und Adressieren von zwei Umschlägen und gelegentlich einem Brief. Einmal die Woche mochte es einen kleinen Schriftsatz geben, doch der fand selten Gnade vor den Augen eines Richters. Tina besaß deshalb eine ziemlich umfangreiche Sammlung von Modezeitschriften in der ersten Schublade ihres Schreibtisches und ein komplettes Kosmetiklabor in den beiden anderen. Ein Drittel ihres Arbeitstages verbrachte sie auf der Damentoilette, wo sie mit den anderen Sekretärinnen Preise und Bezugsquellen von Strümpfen austauschte; die beiden anderen Drittel widmete sie hingebungsvoll demjenigen ihrer Arbeitgeber, der ihr bei ihrer Ankunft am männlichsten erschien. Ihr Gehalt war klein, aber sie führte ein ausgefülltes Leben. Vor dem Mittagessen erschien sie mit der Morgenpost. »Heute früh haben wir wohl nicht viel zu tun, Euer Ehren…«, begann sie. »Da irren Sie, Miß Hill«, erklärte er, bemüht, dabei etwas gereizt zu wirken. »Ich habe schon gewartet, bis Sie Ihre Konversation beendet hatten, damit wir uns ein wenig dem Geschäft widmen können.« Sie war so erschrocken wie ein Kätzchen, das man von seinem Lieblingskissen geworfen hat. »Aber… heute ist doch nicht Montag. Somerset & Ojack schicken Ihnen doch nur am Montag Akten.« Sam zuckte bei der Erinnerung zusammen, daß nur die Akten,
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die Somerset & Ojack ihm einmal die Woche schickten, ihn zu einem echten Anwalt machten. »Ich habe einen Brief, Miß Hill«, erwiderte er entschlossen. »Wenn Sie dann gütigst Zeit hätten, könnten wir ja damit anfangen.« Tina erschien kurz darauf mit Stenoblock und Bleistift. »Üblicher Kopf, heutiges Datum«, begann Sam. »Adresse: Handelskammer, Glunt City, Ohio. Sehr geehrte Herren, bitte teilen Sie mir mit, ob sich unter Ihren Mitgliedern eine Bild-AMan-Corporation oder eine Firma ähnlichen Namens befindet. Ferner hätte ich gern gewußt, ob eine Firma des erwähnten Namens in letzter Zeit die Absicht geäußert hat, sich in Glunt City niederzulassen. Es handelt sich hier um eine formlose Anfrage im Auftrag eines Klienten, der sich für ein Produkt dieser Firma interessiert, aber ihre Adresse verlegt hat. Unterschrift. Und dann noch ein P. S.: Mein Klient interessiert sich auch für die geschäftlichen Möglichkeiten an der Diagonal Avenue oder Diagonal Level Street. Einzelheiten über diese Adresse und die augenblicklich dort tätigen Firmen wären mir sehr wertvoll, und ich danke Ihnen dafür im voraus.« Tina riß ihre großen, blauen Augen auf. »Oh, Sam!« hauchte sie, als hätte er sie nicht vor wenigen Minuten recht unfreundlich behandelt. »Oh, Sam, Sie haben noch einen Klienten? Da bin ich aber froh! Er hat etwas eigenartig ausgesehen, aber auf so distinguierte Weise, daß ich ganz sicher…« »Wer hat eigenartig ausgesehen?« »Nun, Ihr neuer Klient natürlich. Als ich heute morgen ins Büro kam, stand ein schrecklich großer, alter Mann im langen schwarzen Mantel am Life und sprach mit dem Fahrer. Er drehte sich zu mir herum – der Liftfahrer, meine ich – und sagte: ›Das ist Mr. Webers Sekretärin. Sie kann Ihnen bestimmt mehr sagen.‹ Und dann hat er mir zugeblinzelt, und ich fand das sehr unhöflich. Und dann sah mich dieser alte Mann an, und ich fühlte mich gar nicht wohl dabei. Dann ging er weg und murmelte: ›Entweder verklemmte oder besonders habgierige Persönlichkeiten. Aber niemals normal. Niemals ausgeglichene. Ich hielt das auch nicht
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für besonders höflich. Das sollten Sie wissen, falls er wirklich Ihr neuer Klient ist.« Sie lehnte sich zurück und atmete wieder normal. Große, eigenartige, alte Männer in langen, schwarzen Mänteln, die den Liftfahrer nach ihm ausforschten – eine geschäftliche Angelegenheit konnte das nicht sein. Und privat hatte er auch kein schlechtes Gewissen. Ob das mit seinem ungewöhnlichen Weihnachtsgeschenk zusammenhing? Sam summte halblaut vor sich hin. »Aber wissen Sie, sie ist nämlich meine Lieblingstante«, sagte Tina. »Und sie ist ganz unerwartet gekommen.« Das Mädchen sprach von ihrer Verabredung für Weihnachten. Sam empfand plötzlich große Zuneigung für sie und lehnte sich vor. »Macht doch nichts«, sagte er. »Ich weiß davon, daß Sie gar keine andere Wahl hatten, als die Verabredung zu verschieben. Zuerst war ich etwas ärgerlich, aber einem hübschen Mädchen kann man doch nicht böse sein. Wie war’s, wenn wir heute zusammen Mittag essen?« »Mittag essen?« Sie wirkte etwas unkonzentriert. »Ich habe mich mit Lew verabredet – Mr. Knight, meine ich. Aber es macht ihm bestimmt nichts aus, wenn Sie mitkommen.« »Schön, dann gehen wir!« Lew Knight war natürlich nicht gerade begeistert, Tina beim Mittagessen nicht für sich allein zu haben. Leider konnte er jedoch Einzelheiten seines nächsten Falles schildern und Hinweise auf die zu erwartenden Gebühren machen und damit Tina ganz in seinen Bann ziehen. Nachdem Sam ein- oder zweimal erfolglos versucht hatte, die Unterhaltung auf ein interessantes Testament zu lenken, das er für Somerset & Ojack aufzusetzen hatte, gab er es auf. Lew ließ sofort das Thema Mandelbaum Kontra Mandelbaum fallen und fing an, Tina mit seinen Blicken zu verschlingen. Draußen vor dem Restaurant verwandelte sich der Schnee in Matsch. Die meisten Läden bauten ihre Weihnachtsauslagen ab.
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Sam bemerkte Baukästen für Kinder, mit Lametta behängt und mit künstlichem Schnee besprüht. Radiobaukästen, Flugzeugbaukästen. Aber »nur mit einem Bild-A-Man können Sie…« »Ich gehe nach Hause!« verkündete er plötzlich. »Mir ist gerade etwas Wichtiges eingefallen. Wenn etwas kommen sollte, rufen Sie mich an.« Er ließ damit Lew freie Bahn, sagte er sich, als er seinen Sitz in der U-Bahn einnahm. Aber Lew hatte sowieso freie Bahn, ob er nun da war oder nicht. Und seit Lew bemerkt hatte, daß Tina die richtigen Proportionen besaß, um ihre Kleider auszufüllen, waren Sams Chancen dahingeschmolzen wie ein Schneeball in der Sonne. Tina hatte heute seine Brosche nicht getragen: dafür war ihm an ihrem kleinen Finger der rechten Hand ein auffälliger, kleiner Ring ins Auge gesprungen. »Manche haben’s eben«, philosophierte Sam, »manche haben’s nicht. Ich hab’s nicht.« Aber es wäre nett gewesen, es zu haben. Mit Tina. Als er die Tür öffnete, zeigte ihm sein ungemachtes Bett, daß die Aufwartefrau nicht gekommen war. Das war noch nie vorgekommen. Natürlich! Er hatte auch sein Zimmer nie zuvor abgeschlossen! Die Frau mußte angenommen haben, daß er allein sein wollte. Vielleicht hatte er allein sein wollen. Tante Maggies Krawatten grinsten ihn abszön vom Fußende seines Bettes an. Er stopfte sie in den Schrank und nahm Hut und Mantel ab. Dann ging er ans Waschbecken und wusch sich langsam die Hände. Er drehte sich um. Das war es! Die Kiste glotzte ihn an. Sie stand da und enthielt die Sammlung fremdartiger Dinge, an die er sich erinnerte. »Aufmachen«, sagte er, und die Kiste öffnete sich. Das Buch, immer noch beim Inhaltsverzeichnis aufgeschlagen, lag unten. Es war halb unter ein eigenartiges Gerät gerutscht. Sam nahm Buch und Gerät heraus.
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Das Gerät bestand in erster Linie aus einer Art von Binokular, das von einem Gebilde aus Spulen und Röhren getragen wurde und eine ebene, grüne Platte aufwies. Er drehte es herum. Auf der Unterseite stand in der gleichen, fremdartigen Schrift: Kombiniertes Elektronenmikroskop und Werkbank. Vorsichtig stellte er es auf den Boden. Und dann holte er die anderen Geräte heraus, vom Junior Biokalibrator bis zum Schnellvitalisator. Darin baute er in fünf mehrfarbigen Reihen die Fläschchen mit Lymphe und die Gläser mit Knorpeln vor der Kiste auf. Die Seitenwände der Kiste waren mit unbeschreiblich dünnen Blättern ausgelegt. Wenn man einen leichten Druck ausübte, so dehnten sich die Blätter in die dreidimensionalen Umrisse menschlicher Organe aus, deren Form und Größe man dadurch verändern konnte, daß man auf ihre Oberfläche drückte – das waren also zweifellos Muster oder Vorlagen. Ein beachtliches Sortiment! Wenn der Inhalt der Kiste wirklich eine wissenschaftliche Grundlage hatte, so war sie wahrscheinlich unvorstellbar wertvoll. Wenn das Ganze eine wissenschaftliche Grundlage hatte! Sam warf sich auf das Bett und schlug das erste Kapitel auf. Einführung in die Biochemie. Um neun Uhr an diesem Abend kauerte er vor dem Elektro nenmikroskop und fing an, kleine Fläschchen zu öffnen. Um neun Uhr siebenundvierzig machte Sam Weber sein erstes Lebewesen. Es war nicht viel, wenn man das erste Kapitel der Schöp fungsgeschichte zum Vergleich nahm; nur ein primitiver, brauner Schimmelbelag, der im Sichtfeld des Mikroskops ein paar Krümel von einem Stück Brot zu sich nahm, ein paar Sporen ausstieß und in etwa zwanzig Minuten starb. Aber er hatte es gemacht. Er hatte ein Lebewesen konstruiert, das sich von Brotkrümeln ernährte. Er hatte Leben geschaffen. Er ging weg, mit der entschiedenen Absicht, sich zu betrinken. Aber nach zwei Drinks überkam ihn der Drang, wieder nach Hause zurückzukehren, und er gab ihm nach.
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Den Rest des Abends wollte jenes triumphierende Gefühl einer vollbrachten Schöpfung nicht wieder aufkommen, obwohl er ein Riesen-Proteinmolekül konstruierte und daneben eine ganze Reihe von Viren. Am Morgen rief er aus dem kleinen Drugstore, in dem er immer sein Frühstück einnahm, das Büro an. »Ich bleibe heute den ganzen Tag zu Hause«, sagte er Tina. Sie war darüber überrascht; ebenso Lew Knight, der ihr das Telefon wegnahm. »He, Euer Ehren! Bauen Sie sich eine Praxis auf? Kid Blackstone hat schon eine ganze Menge Fälle verpaßt. Heute sind schon zwei Ambulanzen vorbeigefahren.« »Ja!« meinte Sam. »Ich sag’s ihm, wenn er kommt.« Das Wochenende stand beinahe bevor, also beschloß er, sich auch den nächsten Tag freizunehmen. Er hatte ohnehin bis Montag nichts zu tun. Somerset & Ojack legten nur einmal in der Woche ein Ei. Ehe er in sein Zimmer zurückkehrte, kaufte er sich ein Lehrbuch über fortgeschrittene Bakteriologie. Es machte Spaß, einzellige Wesen zu konstruieren und noch dazu zu verbessern – deren Klassifikation in den Augen der Gelehrten seiner Zeit noch ein Rätsel war. Das Bild-A-Man-Lehrbuch gab natürlich nur einige Beispiele und Grundregeln; aber wenn man das Lehrbuch über Bakteriologie dazunahm, gab es für ihn keine Grenzen mehr. Und dann baute er ein paar Austern. Die Schalen waren nicht hart genug, und er konnte sich auch nicht dazu entschließen, sie zu essen. Aber jedenfalls waren seine Produkte ganz eindeutig Mollusken. Und wenn er weitermachte, seine Technik verbesserte, würde er doch tatsächlich sein Nahrungsproblem lösen! Dem Lehrbuch war leicht zu folgen, und es hatte eine Unzahl von Bildern, die, wenn man die Seite aufschlug, dreidimensional wurden. Und es setzte auch sehr wenig voraus. Kompliziertere Erklärungen kamen immer erst dann, wenn vorher die Grundzüge dargelegt worden waren. Nur die Hinweise, die er las, waren
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gelegentlich völlig unverständlich; ›Das ist das Prinzip, das in den Phanophophlink-Spielzeugen verwendet wird‹; ›Wenn deine Zähne das nächstemal jokelisiert oder entmorionisiert werden, solltest du an das Bacterium cyanogenum denken‹; ›Falls deine Eltern einen rubikularen Mannikin besitzen, kannst du das Kapitel über Mannikins überspri ngen‹. Nachdem Sam sich überzeugt hatte, daß er keinen rubikularen Mannikin in seiner Wohnung besaß, beschloß er, das Kapitel über Mannikins zu lesen. Er hatte jetzt das Gefühl überwunden, ein Vater zu sein, der mit der Spielzeugeisenbahn seines Sohnes spielte; er hatte bereits mehr gelernt, als die führenden Biologen der Welt in der nächsten Generation zu erreichen hofften. Und was mochte noch vor ihm liegen – was für Probleme mochte ihm dieses Buch noch bieten? ›Vergiß nie, daß Mannikins nur für einen Zweck konstruiert sind.‹ Ganz bestimmt nicht! versprach Sam. ›Ob es nun Reinigungsmannikins sind, Schneidermannikins, Druckmannikins oder sogar suneviäre Mannikins, sind sie doch alle nur im Hinblick auf eine Tätigkeit konstruiert. Die Herstellung eines Mannikins, das mehr als eine Funktion erfüllen kann, ist streng verboten und daher strafbar.‹ »Die Konstruktion eines elementaren Mannikins…« Es war sehr schwierig. Dreimal löste er Monstrositäten auf, die sich entwickelten, und begann aufs neue. Erst am Sonntagnachmittag war der Mannikin fertig – besser gesagt unfertig. Der Mannikin hatte lange Arme – irrtümlicherweise war einer etwas länger geraten als der andere – einen gesichtslosen Kopf und einen Rumpf. Keine Beine. Keine Augen oder Ohren. Keine Fortpflanzungsorgane. Der Mannikin lag auf seinem Bett, und die rote Öffnung seines Mundes, der sowohl zur Aufnahme als auch zur Abgabe von Nahrung bestimmt war, gurgelte unverständliche Laute. Die langen Arme, die für eine noch nicht erfundene Tätigkeit bestimmt waren, kreisten langsam. Sam betrachtete sein Werk und entschied, daß das Leben so häßlich wie eine offene Feldlatrine im Sommer sein konnte.
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Er mußte es demontieren. Die Länge des Wesens – einen Meter von den fast knochenlosen Fingern bis zu dem sich nach unten verjüngenden Rumpf – machte den Gebrauch des kleinen Demontagegerätes unmöglich, mit dem er die Austern und seine anderen Kreationen zerlegt hatte. Und auf dein großen Demontagegerät klebte ein Hinweis in grellem Gelb: ›Darf nur unter Aufsicht eines Zählers benutzt werden! Rufe Formel A76 oder destabilisiere dein Id!‹ ›Formel A76‹ bedeutete ihm etwa ebenso viel wie ›suneviär‹, und Sam entschied, daß sein Id bereits hinreichend de stabilisiert war. Er würde also ohne einen Zähler zurechtkommen müssen. Wahrscheinlich arbeitete das große Demontagegerät nach dem gleichen Prinzip wie das kleine. Er befestigte es an einem Bettpfosten und stellte ein. Dann drückte er den Schalter an der Unterseite des Geräts. Fünf Minuten später war der Mannikin eine rote, schmierige Masse auf seinem Bett. Das große Demontagegerät bedurfte wirklich der Aufsicht eines Zählers; davon war Sam jetzt überzeugt, während er sein Zimmer wieder in Ordnung brachte. Während er die Einzelteile wieder einsammelte – oder wenigstens den größten Teil davon – zweifelte er daran, daß er den Baukasten in den nächsten fünfzig Jahren noch einmal benutzen würde – das Demontage gerät jedenfalls ganz bestimmt nicht; da war es noch besser, das ganze Ding in einen Fleischwolf zu stecken und die Kurbel zu drehen. Als er hinter sich die Tür schloß und sich auf den Weg zu einer kleinen Sauftour machte, nahm er sich vor, am nächster Morgen frische Bettwäsche zu kaufen. Heute abend würde er auf dem Boden schlafen müssen. Bis zu den Ellbogen in Somerset & Ojack vertieft, spürte Sam Lew Knights Blicke und Tinas Interesse. Wenn sie nur wüßten! dachte er. Aber Tina würde nur ›wunderbar!‹ sagen und Lew Knight würde irgendeine Bemerkung machen, wie ›Frankenstein am Werk‹ oder so etwas Ähnliches.
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»He, Euer Ehren!« Lew Knight hockte plötzlich auf Sams Schreibtischkante. »Was machst du denn an diesen langen Wochenenden? Mag ja sein, daß du als Jurist nicht soviel Geld verdienst – aber was macht es für einen Eindruck, wenn mein So zius nebenbei Zeitschriften ve rkauft?« Sam hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. »Ich habe ein Buch geschrieben.« »Ein juristisches Buch? Eines über den Bankrott?« »Nein, eins für Kinder. Lew Knight, der Neandertaler.« »Läßt sich bestimmt nicht verkaufen. Übrigens, Tina sagt mir, ihr beide hättet eine Verabredung für Silvester. Aber sie meint, es würde dir bestimmt nichts ausmachen, wenn ich sie statt dir ausführe. Immerhin habe ich schon einen Tisch im La Cigale bestellt, und dort sind weniger Menschen als im Automatencafé.« »Es macht mir nichts aus.« »Gut!« meinte Knight und entfernte sich. »Übrigens, den Fall habe ich gewonnen. Nettes Honorar.« Tina wollte ebenfalls wissen, ob ihm die Sache mit Silvester etwas ausmache; und er verneinte. Wo er die letzten zwei Tage gewesen sei? Sehr beschäftigt, wirklich sehr beschäftigt. Etwas ganz Neues. Etwas Wichtiges. Sie musterte ihn überlegend, während sie seine Post sortierte. Da gab es Angebote über Gebrauchtwagen, die garantiert nicht mehr als eine Viertelmillion Meilen auf dem Rücken hatten, und freundliche Hinweise, daß er noch die letzte Halbjahresrate von der Universität schuldig sei und wann er denn bezahlen wolle? Und dann kam ein Brief, der weder eine Rechnung noch ein Angebot war. Sam warf einen Blick auf den Poststempel, und sein Herz setzte fast einen Schlag aus: Glunt City, Ohio. Sehr geehrter Herr Weber, in Glunt City gibt es augenblicklich keine Firma unter der Bezeichnung ›Bild-A-Man-Corporation‹. Auch sind uns keine Firmen mit ähnlicher Bezeichnung bekannt, noch liegen uns Anfragen
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solcher Firmen vor. Wir haben auch keine Straße unter der Bezeichnung ›Diagonal‹; unsere nordsüdlichen Straßen sind nach Indianerstämmen benannt, während unsere Ost-West-Avenues Ziffern tragen. Glunt City ist eine Wohngemeinde, und wir wollen daran auch nichts ändern; deshalb sind hier nur kleine Einzelhandels- und Dienstleistungsbetriebe zulässig. Falls Sie daran interessiert sein sollten, sich in Glunt City anzusiedeln, und den Beweis erbringen können, daß Ihre Familie in den letzten fünfzehn Generationen nur weiße, christliche angelsächsische Vorfahren gehabt hat, sind wir gern bereit, Ihnen weitere Informationen zu liefern. Thomas H. Plantagenet Bürgermeister P.S. Ein Flugplatz für Propeller- und düsengetriebene Privatflugzeuge wird gerade außerhalb der Stadtgrenzen erbaut. So war das also! Er würde sich keine Nachfüllpackungen kaufen können, selbst wenn er dafür ein paar Slunks erübrigen konnte. Es empfahl sich also, haushälterisch mit seinen Vorräten umzugehen. Aber Demontage kam nicht mehr in Frage. Würde die ›Bild-A-Man-Corporation‹ irgendwann in der Zukunft die Fabrikation in Glunt City aufnehmen? Dann vielleicht, wenn Glunt City sich gegen den Willen ihrer Bürger zu einer industriellen Metropole entwickelt hatte? Oder war dieses Paket vielleicht von einer anderen Spur im menschlichen Zeitstrom abgeglitten, einer Ära, die vielleicht nur in der Welt einer anderen Dimension existierte? Aber einen gemeinsamen Ursprung mußten beide Zeiten haben – woher käme sonst die englische Sprache in dem Lehrbuch? Ob ein Zweck dahintersteckte, daß er die Sendung erhalten hatte – ein nützlicher Zweck oder ein anderer? Tina hatte ihn etwas gefragt. Sam löste sich aus seinen ziellosen Spekulationen und sah sie an. »Wenn Sie also wollen, daß ich mit Ihnen zu Silvester ausgehe,
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brauchte ich bloß Lew zu sagen, daß meine Mutter wieder Gallenkoliken hat und daß ich zu Hause bleiben muß. Dann könnten Sie ihm die Reservierung im La Cigale billig abkaufen.« »Vielen Dank, Tina! Aber ehrlich gesagt, habe ich das Geld im Augenblick gar nicht. Und außerdem geben Sie und Lew ein viel besseres Paar ab.« Lew Knight hätte das nie getan. Lew konnte einem anderen die Kehle durchschneiden, ohne sich etwas dabei zu denken. Aber Tina schien wirklich besser zu Lew zu passen. Warum? Bevor Lew angefangen hatte, sich für Tina zu interessieren, hatte Sam keine Konkurrenten gehabt. Die restlicher Kollegen hatten das hingenommen und waren ihnen aus dem Weg gegangen. Das Ganze war nicht nur eine Frage von Lews Finanzen und Erfolgen; Lew hatte Tina einfach haben wollen und sie bekommen. Das tat weh. Tina war nichts Besonderes; sie war ihm weder geistig noch kulturell ebenbürtig – aber er wollte sie. Er war gern mit ihr zusammen. Sie war die Frau, die er sich wünschte, gleichgültig, ob es für ihre Verbindung nun eine gute Basis gab oder nicht. Er konnte sich noch gut an seine Eltern erinnern, an die Zeit, ehe sie bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen waren. Theoretisch hätten sie auch nicht zusammengepaßt, aber sie waren sehr glücklich miteinander gewesen. Er dachte am nächsten Abend immer noch darüber nach, als er das Kapitel ›Zwillinge für dich und deine Freunde‹ las. Es würde interessant sein, einen Zwilling von Tina zu machen. ›Eine für mich, eine für Lew.‹ Nur daß es die erschreckende Möglichkeit eines Fehlers gab! Sein Mannikin war nicht perfekt gewesen: seine Arme waren ungleich lang gewesen. Und alleine der Gedanke an eine Tina, die nicht perfekt war, bereitete ihm Übelkeit. Er würde es nie übers Herz bringen, sie zu zerlegen. Und dann warnte das Buch: ›Der von dir erbaute Zwilling wird dir zwar in jeder Einzelheit ähneln, aber er hat nicht den lang-
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samen, behüteten Reifeprozeß durchgemacht, der dich geformt hat. Er oder sie wird daher geistig nicht so stabil sein und viel weniger gut mit ungewöhnlichen Situationen fertig werden. Nur ein berufsmäßiger Carnuplicator kann unter Zuhilfenahme ers tklassiger Geräte eine exakte Kopie einer menschlichen Persönlichkeit herstellen. Dein Zwilling wird leben und sich sogar fortpflanzen können; aber man wird in ihm nie ein echtes Mitglied der menschlichen Gesellschaft sehen.‹ Nun, das würde er riskieren. Etwas weniger Stabilität in Tina würde man kaum bemerken; im Gegenteil, vielleicht war das sogar wünschenswert. Es klopfte. Er öffnete die Tür und verdeckte die Kiste mit seinem Körper. Seine Wirtin. »Sie hatten die letzte Woche die Tür abgeschlossen, Mr. Weber, deshalb hat die Aufwartefrau auch nicht saubergemacht. Wir dachten, Sie wollten niemanden im Zimmer haben.« »Ja.« Er trat in den Korridor hinaus und schloß die Tür hinter sich. »Ich habe an einigen sehr wichtigen juristischen Schriften gearbeitet.« »Oh!« Er spürte ihre Neugierde und wechselte das Thema. »Wozu all die schönen Federn, Mrs. Lipanti – Silvesterparty?« Sie fuhr sich mit den Händen glättend über ihr schwarzes Kleid. »Ja. Meine Schwester und ihr Mann sind heute von Springfield angekommen, und wir wollten ausgehen. Nur… das Mädchen, das herüberkommen und auf ihr Baby aufpassen wollte, hat gerade angerufen und gesagt, sie fühle sich nicht wohl. Also können wir wahrscheinlich nicht gehen, wenn wir nicht jemand finden, der nicht verabredet ist und der nicht…« Sie verstummte in gespielter Verlegenheit, als ihr klar wurde, daß sie damit die Bitte bereits ausgesprochen hatte. Nun, schließlich hatte er heute abend nichts vor. Und sie war immer sehr nett gewesen, wenn er ihr hatte sagen müssen: »Natürlich bekommen Sie den Rest der Miete in ein paar Tagen.« Aber warum mußte auch immer automatisch Sam Weber ein-
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springen, wenn es galt, irgendwo einen Gefallen zu tun? Und dann erinnerte er sich an Kapitel vier, das sich mit Babys und anderen kleinen Menschen befaßte. Seit der Nacht, als er den Mannikin in seine Einzelteile zerlegt hatte, hatte er das Handbuch als reine Theorie betrachtet. Er fühlte sich einfach nicht imstande, bei der Herstellung eines kleinen Menschen nicht doch irgendeinen scheußlichen Fehler zu begehen. Aber die Herstellung von Zwillingen war angeblich nicht so schwierig. Nur – und er schwor das wie einen heiligen Eid – diesmal würde er nicht demontieren. Es mußte andere Methoden geben, das Produkt in einer so großen Stadt mitten in der Nacht zu beseitigen. Ihm würde schon etwas einfallen. »Ich passe gern ein paar Stunden auf das Baby auf. Ich bin heute abend nicht verabredet. Nein, das macht doch nichts aus, Mrs. Lipanti. Ich tu’ das gern.« In der Wohnung seiner Wirtin instruierte ihn ihre Schwester nervös. »Und sie weint wirklich nur dann, und zwar regelmäßig und lang. Wenn Sie sich also beeilen, passiert nichts. Jedenfalls nicht viel.« Er begleitete sie zur Tür. »Ich werde mich beeilen«, beruhigte er die Mutter. »Gut, daß Sie mir den Tip gegeben haben.« Mrs. Lipanti blieb an der Tür stehen. »Habe ich Ihnen von dem Mann erzählt, der sich heute nachmittag nach Ihnen erkundigt hat?« Schon wieder? »Ein ziemlich großer, alter Mann in einem langen schwarzen Mantel?« fragte er. »Ja. Und er hat mir so in die Augen gesehen, daß mir angst wurde, und hat halblaut gemurmelt. Kennen Sie ihn?« »Nicht genau. Was wollte er denn?« »Nun, er fragte, ob ein Sam Weaver hier wohnte und ob das ein Anwalt sei und die letzte Zeit hauptsächlich in seinem Zimmer zugebracht hätte. Ich sagte ihm, wir hätten einen Sam We-
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ber – Ihr Vorname ist doch Sam? – auf den diese Beschreibung zutreffe, aber der letzte Weaver sei vor einem Jahr ausgezogen. Er sah mich eine Weile an und sagte dann, ›Weaver – Weber – vielleicht haben die sich geirrt‹. Und dann ging er weg, ohne sich zu verabschieden. Kein besonders höflicher Herr.« Sam ging nachdenklich zu dem Kind zurück. Eigenartig, was für eine klare Vorstellung er sich schon von diesem Mann gebildet hatte! Wahrscheinlich kam das daher, daß die beiden Frauen, mit denen er bis jetzt gesprochen hatte, sehr leicht zu beeindrucken waren. Freilich schien es auch so, als wäre es ein sehr eindrucksvoller Mann. Er bezweifelte, daß es ein Irrtum gewesen war: der Mann hatte beide Male ihn gesucht. Sein Wissen um den Urlaub, den Sam sich letzt Woche genommen hatte, bewies das. Dabei schien es, als wäre er gar nicht daran interessiert, ihn zu treffen, bis seine Identität völlig zweifelsfrei feststand. Der Mann dachte wie ein Jurist. Die ganze Angelegenheit hatte mit dem Bild-A-Man-Baukasten zu tun, daran bestand für ihn kein Zweifel. Diese ganze heimliche Untersuchung hatte erst begonnen, als das Geschenk aus dem Jahre 2353 angeliefert worden war – und als Sam angefangen hatte, es zu benutzen. Aber solange die Gestalt in dem langen schwarzen Mantel nicht selbst auf Sam Weber zugeschlurft kam und sagte, was sie wollte, konnte er nicht viel dagegen unternehmen. Sam ging die Treppe hinauf zu seinem Junior Biokalibrator. Er klappte das Handbuch auf, lehnte es ans Bett und schaltete das Gerät auf volle Leistung. Das Kind gab unartikulierte Laute von sich, als der Kalibrator über seinen pummeligen Körper gerollt wurde und einen Metallstreifen aus seinem Schlitz von sich gab, der – so stand es im Handbuch – eine ganz detaillierte physiologische Beschreibung enthielt. Die Beschreibung war auch wirklich detailliert. Sam staunte, als das Band auf dem Bildschirm Informationen über das Kind gab,
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Chromosomenqualität, Gehirninhalt, Drüsenkapazität – alles für Konstruktionszwecke in einzelne Daten zergliedert. Schädelexpansion in Minuten, für die nächsten zehn Stunden angegeben; Geschwindigkeit der Knorpeltransformation; Unterschiede in der Hormonsekretion im Ruhezustand und im aktiven Zustand. Das war ein echter Konstruktionsplan – mehr konnte man nicht erwarten. Sam rannte hinauf. Mit Hilfe der Daten auf dem Band stutzte er seine Eiweißbausteine auf die richtige Größe zurecht. Und dann, noch ehe es ihm richtig bewußt wurde, konstruierte er einen kleinen Menschen. Er staunte, wie leicht ihm die Arbeit von der Hand ging. Offenbar wurde bei diesem Spiel auch die Fingerfertigkeit ausgebildet; es war ihm viel schwere r gefallen, den Mannikin zusammenzustellen. Freilich machte ihm die Duplizierung, noch dazu von einem Informationsband unterstützt, wesentlich weniger Mühe. Das Kind nahm unter seinen Augen Gestalt an. Eineinhalb Stunden, nachdem er die ersten Maße genommen hatte, war er fertig. Jetzt mußte er sein Werk nur noch beleben. Einen Augenblick ließ ihn die häßliche Vorstellung, daß er sein Werk später wieder demontieren mußte, innehalten. Aber dann tat er den Gedanken ab. Er wollte unbedingt sehen, wie gut er seine Arbeit getan hatte. Wenn dieses Kind atmen konnte – was war ihm dann noch unmöglich? Außerdem konnte er es nicht lange im unbelebten Zustand belassen, ohne das Risiko einzugehen, sein Werk und die Materialien zu ruinieren. Er schaltete den Vitalisator ein. Das Kind bewegte sich und begann leise, aber gleichmäßig zu weinen. Sam rannte wieder in die Wohnung seiner Wirtin hinunter und holte eine Windel, die für Notfälle auf dem Bett bereitgelegt war. Nun, er würde also wieder neue Bettwäsche brauchen.
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Nachdem er die nötigen Handgriffe getan hatte, trat er zurück und musterte sein Werk. In gewissem Sinne war er jetzt Vater geworden. Er fühlte sich zumindest ebenso stolz. Es war ein perfektes, kleines Geschöpf, leuchtend und rund vor Gesundheit. »Ich habe gezwillingt!« sagte er glücklich. Jede Einzelheit stimmte. Die beiden Gesichtshälften korrekt ungleichmäßig; selbst das Essen, das das Baby zu sich genommen hatte, befand sich in genau demselben Verdauungszustand; dasselbe Haar, dieselben Augen – oder nicht? Sam beugte sich über das Kind. Er hätte schwören können, daß das andere blond war. Dieses Kind hatte dunkles Haar, das zusehends dunkler zu werden schien. Er hielt den Säugling mit der einen Hand fest und griff mit der anderen nach dem Junior Biokalibrator. Eine Treppe tiefer legte er die beiden Babys Seite an Seite auf das große Bett. Kein Zweifel: eines war blond; das andere sein Plagiat, war jetzt ganz eindeutig brünett. Der Biokalibrator zeigte andere Unterschiede: sein Modell hatte einen etwas schnelleren Puls und einen niedrigeren Blutdruck, auch eine geringfügig höhere Gehirnkapazität, obwohl der Gehirninhalt der gleiche war. Adrenalin und Gallensekretion völlig anders. Er hatte also nicht einwandfrei gearbeitet. Sein Kind mochte das bessere oder das schlechtere sein; aber er hatte keine wahre Kopie hergestellt. Er wußte im Augenblick nicht, ob das Kind, das er gebaut hatte, zur vollen Reife heranwachsen konnte. Das andere konnte das. Warum? Er war den Anweisungen strikt gefolgt hatte bei jedem Schritt Vergleiche mit dem Kalibratorband angestellt. Und das hier war das Ergebnis. Hatte er zu lange gewartet, ehe er den Belebungsprozeß vornahm? Oder war das Ganze nur eine Frage mangelnder Übung?
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Er sah auf die Uhr. Er würde die Spuren seiner Babyherstellung entfernen müssen, ehe die Schwestern Lipanti nach Hause kamen. Sam überlegte schnell. In wenigen Augenblicken kam er mit einem alten Tischtuch und einem leeren Karton wieder herunter. Er wickelte das Kind in das Tischtuch, erfreut, daß die Außentemperatur in der Nacht gestiegen war, und legte es in den Karton. Das Kind gurgelte zufrieden. Sein Original auf dem Bett gab ihm Antwort. Sam schlich schnell auf die Straße hinaus. Betrunkene taumelten über die Straßen und machten mit kleinen Trompeten Lärm. Leute wünschten einander ein frohes neues Jahr, während er die drei Blocks hinunterschlenderte. Als er nach links abbog, sah er das Zeichen: ›Städtisches Findlingsheim‹. Ober einer Seitentür brannte ein Licht. Sam duckte sich einen Augenblick in eine finstere Seitengasse. Ein Gedanke war ihm gekommen: Das mußte alles echt wirken. Er holte einen Bleistift aus der Tasche und kritzelte mit möglichst kleiner Schrift auf den Karton: Bitte sorgen Sie gut für mein liebes, kleines Mädchen. Ich bin unverheiratet. Dann stellte er den Karton auf der Türschwelle ab und ließ den Finger auf der Glocke, bis sich hinter der Tür etwas bewegte. Als die Schwester die Tür geöffnet hatte, hatte er die Straße bereits überquert und in der Seitengasse Deckung gefunden. Erst als e r seine Pension betrat, erinnerte er sich an den Nabel. Er blieb stehen und versuchte sich das Bild seines Geschöpfes zu vergegenwärtigen. Natürlich, er hatte sein kleines Mädchen ohne Nabel gebaut! Der Bauch war völlig glatt gewesen. Das kam davon, wenn man es zu eilig hatte! Schlampige Arbeit! Wenn sie im Findlingsheim das Kind auswickelten, würde das einige Aufregung geben. Abgesehen von gelegentlichem Stöhnen, war das Büro am zweiten Tag des neuen Jahres ziemlich ruhig.
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Er las gerade die letzten faszinierenden Seiten des Buches, als ihm auffiel, daß zwei Leute etwas verlegen vor seinem Schreibtisch standen. Sein Blick ließ widerstrebend von der Lektüre ab: ›Neues Leben für deine Mußestunden‹ war wirklich faszinierend! Tina und Lew Knight. Sam nahm zur Kenntnis, daß keiner von beiden auf seiner Schreibtischkante hockte. Tina trug den kleinen Ring, den sie zu Weihnachten bekommen hatte, jetzt am Ringfinger ihrer linken Hand; Lew experi mentierte mit einer neuen Art von Schafsblick, was ihm aber gar nicht leichtfiel. »Oh, Sam! Lew hat gestern… Sam, wir wollten, daß Sie der erste sind – so eine Überraschung, meine ich! Dabei hätte ich beinahe – wir meinten natürlich, das wäre etwas schwierig… Sam, wir werden, ich meine, wir erwarten…« »Heiraten«, führte Lew Knight kaum hörbar ihren Satz zu Ende. Zum erstenmal, seit Sam ihn kannte, wirkte er unsicher und irgendwie argwöhnisch, genauso wie ein Mann, der in seinem Frühstücksei plötzlich einen frisch ausgeschlüpften Oktopus findet. »Stellen Sie sich nur vor, wie Lew mir seinen Antrag gemacht hat!« blubberte es aus Tina heraus, »So umständlich und so schüchtern! Ich hatte ihn zuerst gar nicht verstanden. War gar nicht leicht, dich zu verstehen, was, Liebster?« »Hm? Ahja! War gar nicht leicht, mich zu verstehen.« Lew starrte seinen ehemaligen Rivalen an. »Große Überraschung?« »Oh, nein! Gar keine Überraschung. Ihr beiden paßt so herrlich zusammen, daß ich es gleich gewußt habe.« Sam murmelte einen Glückwunsch und bemerkte dabei Tinas suchenden Blick. »Und jetzt, wenn ihr mich entschuldigen wollt, habe ich noch etwas zu erledigen. Ein ganz besonderes Hochzeitsgeschenk.« Lew staunte. »Ein Hochzeitsgeschenk? So früh?« »Aber klar doch!« meinte Tina. »Es ist nicht leicht, das Richtige
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zu finden. Und ein besonderer Freund wie Sam möchte natürlich auch ein ganz besonderes Geschenk machen.« Sam entschied, daß es ihm jetzt reichte. Er nahm das Buch und seinen Mantel und zwängte sich durch die Tür. Als er die Ziegelstufen seiner Pension erreichte. hatte er den Schluß gezogen, daß die Wunde, wenn auch schmerzhaft, immerhin sein Herz nicht verletzt hatte. Er lachte sogar innerlich über Lew Knights Gesicht, als seine Wirtin ihn am Ärmel zupfte. »Dieser Mann war heute wieder hier, Mr. Weber. Er sagte, er wolle mit Ihnen sprechen.« »Welcher Mann? Der alte, große?« Mrs. Lipanti nickte. Die Arme hatte sie selbstgefällig über der Brust verschränkt. »Ein unangenehmer Mensch! Als ich ihm sagte, sie wären nicht zu Hause, wollte er, daß ich ihn in ihr Zimmer führe. Ich sagte, ich könnte das nicht ohne Ihre Erlaubnis tun. Da hat er mich angesehen, als wollte er mich umbringen. Ich habe nie an den bösen Blick geglaubt – aber wenn es einen bösen Blick gibt, dann hat er ihn.« »Wollte er wiederkommen?« »Ja. Er fragte, wann Sie normalerweise heimkommen, und ich sagte, gegen acht und habe mir gedacht, auf diese Weise haben Sie genügend Zeit, um auch noch einmal wegzugehen, falls Sie ihn nicht sehen wollen. Und, Mr. Weber, entschuldigen Sie, wenn ich das sage – aber ich glaube, Sie sollten ihm wirklich nicht begegnen.« »Danke! Aber wenn er um acht kommt, dann führen Sie ihn herauf. Wenn er der Richtige ist, dann habe ich auf illegale Weise sein Eigentum in Besitz genommen. Und ich möchte wissen, wo dieses Eigentum herkommt.« In seinem Zimmer legte er das Handbuch weg und befahl der Kiste, sich zu öffnen. Der Junior Biokalibrator war nicht besonders groß und ließ sich leicht unter einer Zeitung verstecken. Wenige Minuten später befand er sich mit dem seltsamen Paket
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unter dem Arm wieder in der U-Bahn auf dem Weg ins Büro. Wollte er Tina wirklich duplizieren? überlegte er. Ja, trotz allem. Sie war immer noch die Frau, die er mehr als jede andere begehrte. Und jetzt, da das Original bald mit Lew verheiratet sein würde, hatte das Duplikat gar keine andere Wahl außer ihm. Nur – das Duplikat würde Tinas Eigenschaften bis zu dein Augenblick haben, da er die Maße nahm. Vielleicht bestand sie also darauf, ebenfalls Lew zu heiraten. Das wäre dann wirklich verrückt! Aber von diesem Punkt war er noch meilenweit entfernt. Vielleicht war es sogar amüsant… Viel ärgerlicher war die Möglichkeit eines Fehlers. Die Tina, die er machen würde, würde vielleicht in einigen Punkten unscharf sein, so wie ein schlecht reproduziertes Foto. Vielleicht hatte sein Modell irgendeine seltsame, unheilbare Geisteskrankheit, die sich erst dann äußerte, wenn tiefe gegenseitige Zuneigung aufgeblüht war. Bis jetzt war er noch nicht gerade ein Meister im Duplizieren menschlicher Wesen; das bewiesen schon die Fehler, die er an Mrs. Lipantis Nichte begangen hatte. Sam wußte, daß er es nie übers Herz bringen würde, Tina zu demontieren, falls sie Fehler zeigte. Abgesehen von der geradezu abergläubischen Wertschätzung für die Frau als höheres Wesen – so wie sie nur aus einer Jugendzeit in einer Kleinstadt entstehen kann – , war da noch der Schrecken, den er empfand, wenn er sich vorstellte, ein so geliebtes Wesen dem gleichen Desintegrationsprozeß zu unterwerfen wie – nun, wie den Mannikin. Aber wenn er bei seiner Konstruktion etwas Wesentliches übersah – was blieb ihm dann anderes übrig? Lösung: Er durfte nichts übersehen. Sam grinste bitter, als der Lift ihn zu seinem Büro trug. Wenn er nur noch etwas Zeit hätte, um mit einer Person zu üben, deren Reaktionen er so genau kannte, daß ihm jede Abweichung von der Norm sofort auffiel! Aber der seltsame, alte Mann würde heute abend kommen; und wenn der Besuch den Bild-A-Man-Baukasten betraf, würden Sams Experimente ein abruptes Ende finden. Und wo sollte er eine solche Person finden – er hatte wenig echte Freunde, mit
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denen er sich wirklich verbunden fühlte. Und um Nutzen aus dem Experiment zu ziehen, mußte es jemand sein, den er ebenso gut kannte wie sich selbst. Sich selbst! »Ihr Stockwerk, Sir!« Der Liftboy sah ihn tadelnd an. Sams Ausruf hatte ihn dazu veranlaßt, die Kabine zehn Zentimeter unter dem Stockwerksniveau zum Halten zu bringen. Und warum nicht er selbst? Sam kannte seine eigenen physischen Attribute besser als die Tinas. Und irgendwelche geistigen Instabilitäten in seinem reproduzierten Ich würden ihm lange, ehe sie den Punkt der Psychose oder noch Schlimmeres erreichten, auffallen. Und das Schönste daran war, daß er nicht die geringsten Skrupel haben würde, einen überflüssigen Sam Weber zu zerlegen! Ganz im Gegenteil: Es wäre viel schrecklicher, wenn ein Duplikat seiner Persönlichkeit existierte, und es mußte ihm Erleichterung bringen, es zu entfernen. Einen Zwilling seiner selbst herzustellen, würde ihm die notwendige Übung in einem vertrauten Medium liefern. Ideal! Er würde sehr sorgfältig Notizen machen müssen, damit er – falls irgend etwas schiefging – genau wußte, welche Fehler er vermeiden mußte, wenn er seine Tina baute. Und vielleicht interessierte sich der alte Knilch gar nicht für den Baukasten. Und selbst wenn dem so war – Sam konnte immer noch den Rat seiner Wirtin annehmen und nicht zu Hause sein, wenn der Mann kam. Lew Knight starrte das Instrument an, das S am in der Hand hielt. »Was, im geheiligten Namen von Blackstone und all seiner Kommentare, ist das? Das sieht wie ein Rasenmäher für ein Fensterkästchen aus!« »Es ist – äh – eine Art Meßgerät. Man kann damit die richtigen Maße nehmen. Ich kann mein Hochzeitsgeschenk, das ich vorhabe, nicht bekommen, wenn ich nicht die richtigen Maße habe. Tina, würde es Ihnen etwas ausmachen, in den Gang herauszukommen?« Sie sah das Gerät zweifelnd an. »Das tut doch nicht weh?«
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Es würde überhaupt nicht weh tun, versicherte ihr Sam. »Ich möchte das bloß bis nach der Feier vor Lew geheimhalten.« Sie lächelte schon wieder und ging vor Sam hinaus. »He, Euer Ehren!« rief einer der jungen Anwälte Lew nach. »He, Euer Ehren, lassen Sie das nicht zu! Besitz ist alles, sagt Sam immer. Er bringt sie bestimmt nicht zurück.« Lew zwang sich zu einem Lächeln und beugte sich über seine Arbeit. »Ich möchte jetzt, daß Sie in die Damentoilette gehen«, erklärte Sam der verblüfften Tina. »Ich werde draußen Wache stehen und den anderen sagen, daß die Toilette nicht funktioniert. Wenn jemand drinnen ist, dann warten Sie, bis sie wieder geht. Und dann ziehen Sie sich aus.« »Ausziehen?« kreischte Tina. Er nickte. Und dann erklärte er ihr sehr sorgfältig und ohne die geringste Einzelheit zu übergehen, wie sie den Junior Biokalibrator benutzen mußte; wie sie den Schalter anknipsen mußte, um das Band in Bewegung zu setzen; wie sie jeden Quadratzoll ihres Körpers abtasten mußte. »An diesem kleinen Arm können Sie es auch gegen Ihren Rücken halten. Stellen Sie jetzt keine Fragen! Los!« In fünfzehn Minuten war sie wieder zurück und stopfte sich die Bluse in den Rock. Das Band musterte sie voll Staunen. »Das ist eigenartig – nach der Spule ist mein Jodgehalt…« Sam riß ihr den Biokalibrator schnell weg. »Denken Sie nicht mehr daran! Das Ganze ist eine Art Kode. Es sagt mir bloß, welche Größe und so. Sie werden ganz verrückt nach dem Geschenk sein, wenn Sie es sehen.« »Ganz bestimmt!« Sie beugte sich über ihn, als er niederkniete und das Band untersuchte, um auch ganz sicher zu sein, daß sie das Instrument richtig angewandt hatte. »Wissen Sie, Sam, ich habe immer das Gefühl gehabt, daß Sie einen ausgezeichneten Geschmack haben. Sie müssen uns oft besuchen, wenn wir ve rheiratet sind. Sie haben so herrliche Ideen! Lew ist ein wenig
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zu… zu geschäftsmäßig, nicht wahr? Ich meine, das ist nötig, um Erfolg zu haben und all das. Aber Erfolg ist nicht alles. Ich meine, man muß auch Kultur haben. Sie helfen mir doch, meine Kultur zu bewahren, oder, Sam?« »Sicher!« sagte Sam, ohne hinzuhören. Das Band war vollständig. Und jetzt mußte er anfangen. »Ich tu das gerne – ganz bestimmt.« Er klingelte nach dem Lift und bemerkte, wie sie ihm immer noch verblüfft nachsah. »Machen Sie sich keine Sorgen, Tina! Sie und Lew, Sie beide werden sehr glücklich miteinander sein. Und dieses Hochzeitsgeschenk wird Ihnen gefallen.« Aber nicht so gut wie mir, dachte er, als er die Liftkabine betrat. Wieder in seinem Zimmer, leerte er die Maschine aus und zog sich aus. In wenigen Augenblicken hatte er ein weiteres Band mit seinen Daten hergestellt. Er hätte es gerne eine Weile betrachtet; aber so kurz vor dem Ziel war er ungeduldig. Er ve rsperrte die Tür, machte schnell Ordnung in seinem Zimmer, befahl der Kiste, sich zu öffnen – und war bereit. Zuerst das Wasser. Bei der Unmenge Wasser, die der menschliche Körper brauchte – besonders der Körper eines Erwachsenen – , konnte er ebensogut jetzt schon anfangen, es zu sammeln. Er hatte ein paar Töpfe gekauft, und sein einziger Wasserhahn würde einige Zeit brauchen, um sie alle zu füllen. Als er den ersten Topf unter den Hahn stellte, fragte sich Sam plötzlich, ob die chemischen Unreinheiten vielleicht das Endprodukt beeinflussen konnten. Natürlich war das möglich! Diese Kinder des Jahres 2353 würden wahrscheinlich absolut reines H2O benutzen; in dem Handbuch hatte darüber nichts gestanden. Aber woher sollte er wissen, was für Wasser sie hatten? Nun, er würde sein Wasser eben abkochen. Und wenn er dann mit der Produktion Tinas begann, würde er sehen, ob er aqua völlig pura bekommen konnte. Wieder ein Punkt mehr, der dafür sprach, zuerst ein Duplikat Sams herz ustellen.
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Während er darauf wartete, daß das Wasser kochte, legte er sich seine Utensilien zurecht. Der Vorrat begann bereits abzunehmen. Er hatte eine ganze Menge nützlicher Zutaten für das Baby gebraucht; jammerschade, daß er es nicht fertiggebracht hatte, es zu demontieren. Das bedeutete, daß er sein eigenes Duplikat unter keinen Umständen leben lassen durfte. Er mußte es zerlegen, um genug für Tina II (oder Tina I?) zu haben. Er blättere die Kapitel VI, VII und VIII noch einmal durch um sich erneut mit den Bestandteilen, der Konstruktion und der Demontage eines Menschen vertraut zu machen. Er hatte das schon einige Male getan, aber Wiederholungen in letzter Minute hatten ihm schon bei den juristischen Examina geholfen. Die häufigen Hinweise auf geistige Instabilität beunruhigten ihn. »Die mit diesem Baukasten konstruierten Menschen werden im besten Fall den Großteil der abergläubischen Tendenzen und Neurosen der mittelalterlichen Menschheit zeigen. Insgesamt betrachtet, sind sie nicht normal. Seid euch dessen immer bewußt!« Nun, in Tinas Fall würde das keinen großen Unterschied machen – und das war das einzige, worauf es ankam. Als er seine Eiweißbausteine richtig abgepaßt hatte, befestigte er den Vitalisator am Bett. Dann – sehr langsam und immer wieder das Buch zu Rate ziehend – begann er Sam Weber zu duplizieren. In den nächsten zwei Stunden erfuhr er mehr über seine physischen Grenzen und Fähigkeiten, als je ein Mann über sich selbst gewußt hatte. Eigenartigerweise empfand er weder Ehrfurcht noch das Gefühl einer Leistung. Es war, wie wenn man zum erstenmal ein Radio baut. Ein Kinderspiel. Die meisten Gläser und Töpfe waren leer, als er fertig war. Die feuchten Bausteine waren noch in der Kiste, jeder an seiner Stelle. Das Lehrbuch lag auf dem Boden. Sam Weber stand neben dem Bett und blickte auf Sam Weber auf dem Bett herunter.
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Jetzt mußte er ihn nur noch beleben. Er wagte es nicht, zu lange zu warten, sonst könnten sich Unregelmäßigkeiten einstellen und die Fehler des Babys sich wiederholen. Er schüttelte ein beklemmendes Gefühl der Unwirklichkeit ab, überzeugte sich, daß das große Demontagegerät in Griffweite war, und setzte den Schnellvitalisator in Bewegung. Der Mann auf dem Bett hustete. Er regte sich. Er setzte sich auf. »He!« sagte er. »Gar nicht schlecht, wenn ich das sagen darf!« Und dann war er vom Bett gesprungen und hatte das De montagegerät gepackt. Er warf es auf den Boden und trampelte darauf herum. »Ober meinem Kopf wird kein Damoklesschwert hängen«, verkündete er Sam Weber, der mit offenem Mund dastand. »Obwohl ich es natürlich an dir hätte benutzen können. Aber das fällt mir jetzt erst ein.« Sam setzte sich langsam auf die Matratze. Sein Geist hatte inzwischen aufgehört zu rotieren und war langsam wieder zum Stillstand gekommen. Die Hilflosigkeit des Babys und des Mannikins hatte ihn so beeindruckt, daß er überhaupt nicht von der Möglichkeit geträumt hatte, sein Duplikat könnte das Leben mit solchem Enthusiasmus betreten. Dabei hätte er das ahnen müssen! Das hier war ein ausgewachsener Mann, der in einem Augenblick völliger physischer und geistiger Aktivität erschaffen worden war. »Das ist schlimm!« sagte er schließlich mit heiserer Stimme. »Du bist instabil. Man kann dich nicht auf die normale Gesellschaft loslassen.« »Ich – instabil?« fragte sein Widerpart, »Was redest du denn da! Ein Bursche, der sein ganzes Leben lang den Mond angestarrt hat, der eine herausgeputzte, überspannte Ansammlung biologischer Impulse heiraten will, obwohl sie zu jedem Mann gekrochen käme, der auf die richtigen Knöpfe drückt…« »Laß Tina aus dem Spiel!« herrschte Sam ihn an. Sein Double grinste. »Okay, meinetwegen! Aber jetzt hör zu,
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Sam oder Weber oder wie ich dich nennen soll! Du kannst dein Leben leben, und ich werde das meine leben. Ich werde nicht einmal Rechtsanwalt werden, falls dich das glücklich macht. Aber was Tina betrifft, jetzt, da es keine Bestandteile mehr gibt, um eine Kopie herzustellen, habe ich genügend von deinen Gefühlen in mir, um sie zu wollen. Und ich kann sie haben, was man von dir nicht behaupten kann. Du hast nicht den Mumm dazu.« Sam sprang auf und ballte die Fäuste. Dann sah er, daß der andere genau gleich groß und offenbar etwas schneller war. Es hatte keinen Sinn, zu kämpfen – bestenfalls würde das zu einem Unentschieden führen. Also begann er wieder zu argumentieren. »Nach dem Handbuch«, begann er, »neigst du zu Neurosen…« »Das Handbuch! Das Handbuch ist für die Kinder vierhundert Jahre in der Zukunft geschrieben, für Kinder, die das Produkt von Zuchtwahl und wissenschaftlicher Erziehung sind. Ich persönlich glaube, daß ich…« Es klopfte zweimal an der Tür. »Mr. Weber?« »Ja«, sagten beide gleichzeitig. Draußen war die Wirtin. Ihre Stimme klang unsicher. »Der Herr ist unten. Er möchte Sie sprechen. Soll ich ihm sagen, daß Sie da sind?« »Nein, ich bin nicht zu Hause«, sagte das Double. »Sagen Sie ihm, daß ich vor einer Stunde weggegangen bin«, rief Sam im genau gleichen Augenblick. Draußen holte die Frau tief Luft, und dann entfernten sich ihre Schritte schnell. »Wirklich schlau!« platzte Sams Faksimile heraus. »Kannst du nicht den Mund halten? Die arme Frau ist jetzt ganz durcheinander.« »Du vergißt, daß das hier mein Zimmer ist und du bloß ein Experiment, das schiefgelaufen ist!« brauste Sam auf. »Ich habe dasselbe Recht – ja, ich habe mehr Recht… He, was soll das?«
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Der andere hatte den Kleiderschrank aufgerissen und stieg jetzt in ein Paar Hosen. »Ich ziehe mich an. Du kannst ja nackt herumstolzieren, wenn es dir gefällt, aber ich möchte normal aussehen.« »Ich habe mich ausgezogen, um meine Maße… oder deine Maße zu nehmen. Das sind meine Kleider, das ist mein Zimmer…« »Beruhige dich! Vor Gericht könntest du das nie beweisen. Zwinge mich nicht, mit dem alten Quatsch anzufangen, was dir gehört, gehört mir auch und all das!« Schwere Schritte hallten über den Korridor. Sie blieben vor dein Zimmer stehen. Rings um sie hallte es unwirklich, und einen Augenblick empfanden sie unerträgliche Hitze. Dann ve rhallte das Echo. Die Wände hörten auf zu zittern. Schweigen und der Geruch von brennendem Holz. Sie wirbelten herum und sahen einen schrecklich großen und schrecklich alten Mann in langem schwarzem Mantel durch die die noch rauchenden Reste der Tür treten. Viel zu groß für den Eingang. Und dennoch bückte er sich nicht , sondern zog den Kopf herunter und ließ ihn wieder hochschießen. Instinktiv traten sie näher zueinander. Seine Augen, ganz aus schwarzer Iris bestehend, ohne das geringste Weiß, lagen tief im Schatten seines Kopfes. Sie erinnerten Sam Weber an die Abtastorgane des Biokalobrators. Sie tabellierten, deduzierten, sahen aber nichts. »Ich hatte Angst, zu spät zu kommen«, grollte seine Stimme schließlich. »Sie haben sich bereits dupliziert, Mr. Weber, und dadurch die Notwendigkeit für unangenehme Konsequenzen geschaffen. Und das Duplikat hat das Demontagegerät zerstört! Schade! Ich werde es manuell tun müssen. Häßliche Arbeit!« Er trat weiter ins Zimmer, bis er ihre Angst förmlich riechen mußte. »Diese Sache hat bereits vier Programme gestört. Aber wir mußten uns in normalen kulturellen Bahnen bewegen und uns der Identität des Empfängers absolut versichern, ehe wir Schritte unternehmen konnten, um den Baukasten zurückzu-
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ziehen. Mrs. Lipantis Zusammenbruch hat natürlich Notmaßnahmen erforderlich gemacht.« Das Duplikat räusperte sich. »Sie sind…« »Nicht genau ein Mensch. Ein präzise hergestellter Beamter. Ich bin Zähler für das ganze neunundzwanzigste Planquadrat. Wissen Sie, Ihr Baukasten war für die Thregander-Kinder bestimmt, die sich auf einem Ausflug in dieses Planquadrat befinden. Einer der Threganders, der eine Weber-Karte hat, hat den Baukasten durch das Chrondromos verlangt, das nicht ganz normal funktionierte und daher ohne Carnuplikation instabilisierte; deshalb erhielten Sie die Sendung. Unglücklicherweise war die Instabilisation so komplett, daß wir Sie auf indirektem Wege suchen mußten.« Der Zähler hielt inne, und Sams Double zog sich nervös die Hosen hoch. Sam wünschte, er hätte irgend etwas – auch wenn es nur ein Feigenblatt wäre – , um seine Blöße zu bedecken. »Wir werden den Baukasten natürlich zurückholen müssen«, fuhr die schwarze Gestalt fort, »und alle Diskrepanzen ausgleichen müssen, die durch den Baukasten verursacht wurden, Und sobald die Angelegenheit geregelt ist, wird Ihr Leben seinen normalen Lauf nehmen dürfen. Inzwischen ist die Frage, welcher von Ihnen der ursprüngliche Sam Weber ist.« »Ich«, sagten beide und funkelten einander böse an. »Schwierigkeiten«, poltere der alte Mann und seufzte. »Ich habe immer Schwierigkeiten! Warum bekomme ich nicht einmal einen einfachen Fall wie einen Carnuplikator?« »Schauen Sie«, begann das Duplikat, »das Original ist bestimmt…« »Weniger instabil und emotionell wesentlich ausgeglichene als das Duplikat«, unterbrach ihn Sam. »Mir scheint…« »… daß Sie den Unterschied erkennen müßten«, schloß de andere atemlos. »Von dem, was Sie von uns sehen und gesehen haben – können Sie da nicht selbst entscheiden, wer das wert
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vollere Mitglied der Gesellschaft ist?« Was für ein pathetisches Selbstvertrauen dieser Bursche doch an den Tag legt! dachte Sam. Wußte er denn nicht, daß er es mit jemandem zu tun halte, der geistige Unterschiede wirklich erkannte? Das war kein primitiver Psychiater der Gegenwart: das hier war ein Wesen, das durch alle Äußerlichkeiten hindurch die echte Persönlichkeit erkennen konnte. »Ja, natürlich kann ich das! Augenblick!« Er musterte beide und seine Augen wanderten langsam über ihre Gesichter und Körper. Sie warteten, und um sie war Schweigen. »Ja«, sagte der alte Mann schließlich. »Ja, so ist es.« Er trat vor. Ein langer, dünner Arm schoß vor. Er fing an, Sam Weber zu zerlegen. »Aber hören…«, begann Weber mit einem Aufschrei, der in einen hohen, schrillen Ton überging und dann erstarb. »Für Ihre geistige Gesundheit wäre es besser, wenn Sie nicht zusähen«, schlug der Zähler vor. Das Duplikat atmete langsam, wandte sich ab und begann sein Hemd zuzuknöpfen. Hinter ihm hielt das Murmeln an. »Sehen Sie«, polterte der Alte, »es Ist gar nicht das Geschenk, vor dem wir Angst hätten, wenn Sie es bekommen – es ist das Prinzip. Ihre Zivilisation ist noch nicht reif dafür. Das begreifen Sie doch.« »Natürlich«, erwiderte der gefälschte Weber und band sich Tante Maggies blaue Krawatte um.
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Asyl in der Zukunft Die Stimme, die den Schrei ausstieß, war tief, atemlos, verängstigt. Heiser und drängend hob der Schrei sich über das Brüllen der fernen Menge, über den Lärm des Verkehrs; er drang in das geräumige Büro im zweiten Stock der Gesandtschaft und forderte unverzügliche Aufmerksamkeit. Seine Exzellenz, der Gesandte des Jahres 2219 – der einzige Anwesende in diesem Büro – , war ein Mann von gelassener Haltung und wunderbar ruhigem Gesicht. Seine Augen verkündeten einem jeden, daß alle Dinge im Wesen einfach waren – und sich noch weiter vereinfachen ließen. Es war deshalb ganz beme rkenswert, wie dieser Schrei seinen Blick plötzlich unsicher machte. Er stand auf und bewegte sich mit ungewohnter Hast zum Fenster. Ein hochgewachsener, bärtiger Mann, mit zerfetzten Kleidern und einigen Wunden am Körper war gerade von dem hohen Zaun, der die Gesandtschaft umgab, auf den Rasen gesprungen. Der Bärtige hatte mit beiden Händen auf das Büro des Gesandten des Jahres 2219 im zweiten Stock gedeutet und erneut gebrüllt: »Asyl!« Die Menge kreischte zurück, und ihr Kreischen füllte die ganze Straße. Der Bärtige sah sich einmal um und rannte dann über den Rasen. Seine Schritte hallten auf der Treppe. Unten schlug hinter ihm eine schwere Tür zu. Der Gesandte des Jahres 2219 biß sich auf die Lippen. Nun, der Mann hatte es geschafft. Und jetzt begannen seine Probleme. Er drehte die Wählscheibe seines Armbandtelefons. »An das Personal der Gesandtschaft«, sagte er. »Achtung! Hier spricht der Gesandte. Alle Türen zur Straße sofort verriegeln und verbarrikadieren! Alle Fenster im Parterre, die nicht von Eisenstangen geschützt sind, ebenfalls verbarrikadieren. Weibliches Personal und der Flüchtling, der gerade die Gesandtschaft betreten hat, sollen in das erste Stockwerk gebracht werden. Ha-
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vemeyer, Sie übernehmen das Erdgeschoß. Bruce, Sie übernehmen den ersten Stock – und achten Sie mir auf den Flüchtling Dodson, melden Sie sich bei mir!« Er drehte die Wählscheibe weiter. »Polizei? Hier spricht der Gesandte des Jahres 2219. Ein Flüchtling hat sich gerade Zutritt zu meiner Gesandtschaft verschafft und um Asyl gebeten. Wie ich den Mob hinter ihm einschätze, würde ich sagen, daß Ihre übliche Streife nicht ausreichen wird, um uns zu beschüt zen. Sie werden Verstärkung schicken müssen.« Der Polizist knurrte. »Sie geben Henry Groppus Asyl und wollen, daß wir Sie beschützen? Hören Sie, ich lebe in dieser Zeit! Ich würde mein Leben dafür geben, um…« »Sie werden Ihren Job dafür geben, wenn hier nicht in zwei Minuten zusätzlicher Polizeischutz auftaucht. Zwei Minuten, habe ich gesagt. Es ist jetzt siebenundzwanzig Minuten nach sechs.« »Aber hören Sie doch zu!« Die Stimme an seinem Handgelenk war beinahe hysterisch. »Sie haben dort Henry Groppus! Wissen Sie, was er getan hat?« »Das ist im Augenblick unwichtig. Falls seine Bitte um Asyl abgelehnt werden sollte, wird er von uns den entsprechenden Behörden übergeben werden. Ich verlange Schutz für die Gesandtschaft des Jahres 2219, für ihr Eigentum und ihr Personal. Sie wissen genau, daß diese Gesandtschaft – wie alle anderen Gesandtschaften und ihr Personal – exterritorialen Status und daher Immunität genießt. Sie sind dafür verantwortlich, daß wir das bekommen.« Der Gesandte schaltete ab und atmete tief. Er begann jetzt wieder ruhig zu werden, und seine Augen verrieten, daß alle komplizierten Angelegenheiten sich auf einfache Dinge zurückführen ließen. Als er sich wieder dem Fenster zuwandte, trat Dodson, sein Erster Sekretär, ein und blieb neben ihm stehen. Gemeinsam starrten sie auf die Menge hinunter, der ruhige ältere Mann und der schlanke, aufgeweckte jüngere Mann, der
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seine Blicke zwischen der Szene vor dem Fenster und seinem Vorgesetzten hin- und herwandern ließ. Soweit das Auge blicken konnte, war die Straße von brüllendem Mob erfüllt. Er hatte sich bis zum Zaun geschoben, so dicht, daß jene, die vorne standen, überhaupt nicht hinaufklettern konnten, wie sie das beabsichtigt hatten, sondern eingezwängt waren und jetzt ihren Schmerz hinausbrüllten. »Die diensthabende Polizeiwache, Sir!« sagte Dodson leise. »Sie konnte sie nur ein paar Sekunden zurückhalten, aber damit gewannen wir Zeit. Unten sollte jetzt alles in Sicherheit sein, Sir.« Der Gesandte knurrte. Jetzt gab der Zaun nach. Er bog sich langsam, aber stetig nach innen. Und dann lag er an einer Stelle auf dem Boden, und die Menge spülte darüber hinweg und strömte über den Rasen. Und dann war der ganze Zaun niedergetrampelt, und die Menge eilte auf das Gebäude zu, in dem sie standen – ein wild gewordener, wirbelnder Mob, der sich jetzt wie eine Flutwelle donnernd an den Wänden brach. Einen Augenblick sah Dodson verächtlich zum Fenster hinunter. 2119! Wieder knurrte der Gesandte. Man konnte alles Mögliche aus diesem Laut herauslesen. Und plötzlich änderte sich der ziellose, unartikulierte Lärm von unten. Er wurde gleichmäßig, rhythmisch. Und bei jedem Höhepunkt gab es einen enormen Knall. Nach einer Weile folgte diesem Knall ein ächzendes Geräusch. »Sir!« Havemeyers Stimme kam plötzlich über das Armbandtelefon. »Die Vordertür gibt langsam nach. Sollen wir in den ersten Stock gehen?« »Unbedingt! Und sobald Sie oben sind, sorgen Sie und Bruce dafür, daß die Türen, die vordere und die hintere, verbarrikadiert werden. Und dann halten Sie sich bei den Verbrennungsanlagen
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in den Aktensälen bereit. Wenn der Mob sich Zutritt zum ersten Stock verschafft, sorgen Sie dafür, daß die Akten vernichtet werden.« »In Ordnung, Sir!« »Glauben Sie, Sir, daß vielleicht…«, hatte Dodson begonnen, als ein Dutzend Sirenen sie aufblicken ließ. Das Überfallkommando näherte sich am Himmel auf fliegenden Plattformen, zwei Mann pro Plattform. Schleimiges, gelbes Zeug floß aus den Kanistern, die die Polizisten trugen, floß hinunter und hüllte den Mob ein. Der Gesandte sah auf seine Uhr. »Eine Minute und fünfzig Sekunden«, nickte er befriedigt. Dann ging er wieder an seinen Schreibtisch. Dodson stand am Fenster und sah zu, wie der Mob hustend und spuckend über den Rasen taumelte. Am meisten faszinierte ihn die Zahl der Menschen, die trotz ihres Hustens stehenblieben, sich herumdrehten und ihre Fäuste gegen das Gebäude schüttelten. Als er sich losreißen konnte, schilderte er das, was er gesehen hatte, seinem Vorgesetzten. »Sie sind offenbar ziemlich wütend, Sir«, meinte er. »Das ist kein gewöhnlicher Mob.« »Nein, das ist kein gewöhnlicher Mob. Und Groppus ist auch kein gewöhnlicher Verbrecher. Schicken Sie ihn herein. Sagen Sie Havemeyer und Bruce, sie sollen etwas Ordnung schaffen. Ich möchte eine Liste mit allen Schäden, die wir dem Innenminister noch vor fünf Uhr überreichen können.« »Ja, Sir.« Dodson blieb unter der Tür stehen. »Wissen Sie, Sir, unsere Angestellten haben ihn wie einen Helden empfangen.« Der Gesandte blickte auf. Seine ruhigen Augen zeigten Interesse. »Natürlich haben sie das. Wie sehen Sie ihn denn, Dodson – als Verbrecher oder als Held?« Das Gesicht des Sekretärs wurde sofort ausdruckslos, und sein
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Diplomateninstinkt versuchte die Frage zu vereinfachen, »Nun, Sir, natürlich ist er beides – Verbrecher und Held.« »Ja. Aber was ist er in erster Linie? Sie müssen Stellung beziehen, Dodson. Was empfinden Sie, wenn Sie an ihn denken? Das meine ich natürlich inoffiziell.« »Nun, Sir«, begann der junge Mann und zögerte dann wieder. »Ich meine, man muß das Ganze natürlich aus der Perspektive dieser Zeit sehen. Und deshalb muß man Henry Groppus zweifellos als Verbrecher betrachten.« »Ja«, meinte der Gesandte nachdenklich. »In der Perspektive dieser Zeit. Schön. Schicken Sie ihn herein!« Dodson ging. Der Gesandte lehnte sich zurück und starrte zur Decke – ruhig. Dann stand er auf und ging im Büro auf und ab – ruhig. Dann ging er an seinen Schreibtisch zurück, schlug ein dickes, grau gebundenes Buch auf, überflog ein paar Seiten und lehnte sich schließlich wieder nach vorne , wobei er mit den Fingern auf die hochglanzpolierte Schreibtischplatte klopfte – ruhig, sehr ruhig. Sein Armbandtelefon summte. »Euer Exzellenz, hier spricht der Innenminister«, sagte eine formelle, trockene Stimme. »Guten Tag, Herr Minister!« sagte der Gesandte ebenso formell. »Was kann ich für Sie tun?« »Euer Exzellenz, nach Informationen, die meine Behörde soeben erhalten hat, ist ein gewisser Henry Hancock Groppus aus der Gefängniszelle entflohen, in der er auf seine Exekution wartete, und hat in Ihrer Gesandtschaft Zuflucht genommen. Ich muß Sie fragen, ob das zutrifft.« »Das trifft zu, Herr Minister – mit Ausnahme einer Kleinigkeit. Als er die Gesandtschaft betrat, wurde er nicht von den gesetzmäßigen Behörden, sondern von einer ungesetzlichen Menschenmenge verfolgt.« Die Stimme an seinem Handgelenk hüstelte – ein äußerst tro k-
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kenes Hüsteln. »Ich kann diese Einzelheit nicht als relevant betrachten, Euer Exzellenz. Im Namen der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika des Jahres 2119 – einer Regierung, bei der Sie akkreditiert sind und deren Gesetze Sie zu respektieren haben – muß ich Sie auffordern, die Person des Henry Hancock Groppus, eines rechtmäßig verurteilten Sträflings der Justiz seines Landes und seiner Zeit auszuliefern.« »Und ich, Herr Minister«, erwiderte der Gesandte mit gleichermaßen trockener Höflichkeit, »als Vertreter und Diener der Vereinigten Erde des Jahres 2219, muß mit allem Respekt ablehnen, bis ich Zeit gehabt habe, die Lage zu untersuchen.« »In diesem Fall, Euer Exzellenz, muß ich Sie mit großem Bedauern davon in Kenntnis setzen, daß meine Regierung über Ihre Haltung großes Unbehagen empfindet und entschlossen ist, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Person des Henry Hancock Groppus wieder in unseren Gewahrsam zu bekommen.« »Ich nehme das zur Kenntnis, Herr Minister«, sagte der Ge sandte. Schweigen. »Darf ich auf Ihrer Privatleitung mit Ihnen spre chen, Euer Exzellenz?« »Gerne, Herr Minister. Augenblick, bitte!« Der Gesandte des Jahres 2219 drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch, wodurch die Tür versperrt und eine Leuchtschrift Nicht stören! über der Tür eingeschaltet wurde. Dann drehte er sich herum und schaltete den großen Bildschirm hinter dem Schreibtisch ein. Ein massig gebauter, nahezu kahlköpfiger Mann erschien darauf. »Hi, Don!« sagte er. »Da sitzen wir ja schön in der Tinte!« »Ich weiß, Cleve!« seufzte der Gesandte. »Ein Fall von Bigamie. Kapitalverbrechen.« »Bigamie, zum Teufel! Polygamie, mein Junge! Deswegen ist dieser Kerl verurteilt worden! Polygamie! Schlimmer geht’s nicht
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mehr.« »In Ihrer Zeit, meinen Sie – im Jahre 2119.« »Ja, in unserer Zeit. Das ist ja die Zeit, in der wir jetzt leben. Die Zeit, die mit dem Problem fertig werden muß, daß es für je zehn Männer nur eine Frau gibt, und das Ganze wegen des genetischen Ungleichgewichts, das der letzte Weltkrieg geschaffen hat. Schön, wir haben also das Problem der Gebärmutterpest noch nicht gelöst. Nach dem, was Ihr uns sagt, wird das noch fünfzig Jahre in Anspruch nehmen. Aber deshalb sagt Ihr unseren Ärzten doch nicht, wie wir das Problem schließlich lösen werden.« Der Gesandte machte eine müde Handbewegung. »Sie wissen genauso gut wie ich, Cleve, daß es Dinge gibt, die temporale Gesandtschaften tun können, und andere, die sie nicht tun können.« »Okay! Gut. Ich sage ja auch nichts. Ihr habt eure Anweisungen, und ihr habt eure Probleme. Aber wir haben auch Pro bleme. Gigantische Probleme. Ein Familienrecht, das aus der Zeit stammt, in der es gleichviel Männer und Frauen gegeben hat – und jetzt platzt es aus allen Nähten! Wir müssen Hunderte von Millionen normaler Menschen davon überzeugen, daß es für sie recht und billig ist, ein völlig frustriertes Leben zu führen. Und das müssen wir tun, um unsere Zivilisation zu retten; um zu vermeiden, daß das Recht des Dschungels wieder die Oberhand erhält. Und wir haben sie überzeugt – ebenso gut überzeugt wie eine Herde hitziger Elefanten. Und dann kommt dieser Henry Groppus, und eine Handvoll verrückter Anhänger Mendels machen ein großes Geschrei und…« »Langsam, Cleve! Überlegen Sie einmal! Ich kenne die Probleme, die Ihre Zeitperiode hat – vielleicht sogar besser als Sie. Ich kenne sie aus der Geschichte, die man mir auf der Schule beigebracht hat. Und seit ich hier als Gesandter des nächsten Jahrhunderts im Jahre 2119 eingetroffen bin, habe ich sie ganz deutlich, ganz blutig deutlich aus erster Hand kennengelernt. Ich weiß, was für eine Gefahr die Mendelsche Philosophie darstellt.
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Sie können mir glauben, daß Sie mein volles Mitgefühl haben. Cleve, Sie sind ein wichtiges Mitglied dieser Regierung. Sie sind nicht ein Mann auf der Straße. Das Jahr 2119 hat mit dem Problem der sozialen Auswirkungen der Gebärmutterpest fertig zu werden. Und für 2119 ist das das größte Problem, das es je gegeben hat. Aber das Jahr 2119 ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein der Geschichte. Und was das betrifft«, fügte er mitfühlend hinzu, »kann man das von dem Jahr 2219 – meiner eigenen Zeitperiode – auch sagen. Sie müssen die Sache von Ihrer Position aus und mit Ihrem Verstand sehen. Sie müs sen die Sache in der richtigen Perspektive betrachten.« Der Innenminister fuhr sich über den kahlen Schädel. »Aus welcher Perspektive denn?« »Zum Beispiel so: Nehmen Sie einen Engländer der oberen Mittelklasse, sagen wir einen reichen Kaufmann. In der Zeit der Tudors ist er dafür, die Macht des Königs zu stärken, begünstigt er eine absolute Monarchie und eine sehr starke Zentralregierung – alles Dinge, die für den Feudaladel am schädlichsten sind. Ein Jahrhundert später, in einer Zeit, da der Adel nichts anderes mehr ist als ein Schmuckstück bei Hof, würden seine Ururenkel mit Zähnen und Nägeln gegen den Absolutismus der Stuarts kämpfen und darauf bestehen, daß das Volk ein Recht hat, den König zur Rechenschaft zu ziehen, und daß jede Regierung, die diktatorische Macht ausübt, gestürzt werden muß.« »Und etwa hundert Jahre später unter dem Hannoveraner Georg III. würde wieder sein Ururenkel – nach einem Blick über den Kanal und nach der Feststellung, daß die einfachen Leute dort im Zuge der gleichen Schritte, die sie mit ihrem König unternommen hatten, die Industrie, das Bankwesen und den Handel völlig durcheinandergebracht hatten – den Königsmord ve rdammen und nach Gesetzen rufen, die die Regierung stärken und die Revolutionäre in ihre Schranken weisen.« »Sie wollen damit sagen«, sagte der Innenminister, »daß die meisten sozialen Werte von der Zeit, dem Ort und dem herrschenden politischen Klima abhängen. Meinen Sie das mit Per-
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spektive?« »Genau!« sagte der Gesandte. Der Kahlköpfige blickte ärgerlich aus dem Bildschirm. »Ich wollte, ich wäre nicht so wütend. Ich vergesse immer meine ganzen Schimpfwörter, wenn ich wirklich wild bin. Und hier müßte ich… Schauen Sie, Don, ich weiß nicht viel vom Jahre 2219, was dann wichtig ist, was dann geheiligt ist und was dann tabu ist. Die Regeln Ihrer Organisation verbieten es Ihnen, uns ein klares Bild Ihrer Zeit zu vermitteln – und Sie kriegen den Mund ohnehin nicht auf. Aber ich würde wirklich meine rechte Hand dafür geben, wenn ich wüßte, wie Sie sich verhalten würden, wenn ein Henry Groppus des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts in Ihrer Zeit ein der Polygamie äquivalentes Verbrechen begehen würde. Sie würden ihn in der richtigen Perspektive sehen. Ganz bestimmt. Aber jetzt will ich nicht mehr länger auf den Busch klopfen. Genug von der Geschichte, genug von der Philosophie. Unsere Regierung würde keine Woche im Amt bleiben, wenn wir zuließen, daß die Mendelisten ihren gefährlichen Unsinn predigen, ganz abgesehen davon, daß sie sogar danach handeln. Es tut mir leid, das so sagen zu müssen, Don. Aber der Mann ist ein gemeiner Verbrecher. Sie werden ihn uns ausliefern.« Der Gesandte des Jahres 2219 lächelte ruhig und sagte dann: »Ich wiederhole: Nach Ihren Gesetzen ist er ein Verbrecher. Und dann wiederhole ich ferner: Ich muß die Lage überprüfen. Er ist aus dem Gefängnis entflohen und von einem Lynchmob verfolgt worden. Er hat in unserer Gesandtschaft Asyl verlangt, und unsere Gesandtschaft ist eine legale Enklave des Jahres 2219 in den Vereinigten Staaten der heutigen Zeit, einer Verlängerung unserer Zeit und unserer Regierung in die Ihre. Reden Sie nicht mit mir, als wäre ich ein Assistent Ihres Büroboten, Cleve!« »Ein Verbrecher ist ein Verbrecher«, fuhr der Kahlköpfige unbeirrt fort. »Dieser Verbrecher muß der Justiz zugeführt werden. Ich habe Sie offiziell und inoffiziell gebeten, ihn auszuliefern. Als nächstes werden wir formell und schriftlich um seine Ausliefe-
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rung ersuchen. Und als nächstes – nun, ich tue das ungern, aber ich werde es tun.« »Ich würde es auch ungern sehen, wenn Sie es tun«, sagte der Gesandte ruhig. Ihre Augen bohrten sich ineinander. Der Innenminister spreizte die Hände. »Nun, das war’s!« meinte er und schaltete ab. Dodson und Groppus hatten draußen gewartet. Als der Ge sandte die Tür aufschloß und die beiden mit einer Kopfbewegung zum Eintreten aufforderte, musterte er den Bärtigen interessiert. Ein muskulöser, bärtiger Mann mit dicken Augenbrauen, schon eine Spur über die mittleren Jahre hinaus, stand er steif und hochaufgerichtet da und erinnerte in seiner Haltung etwas an einen Kadetten, der am Abend zuvor auf der Akademie eingetroffen ist. Seine Augen waren mild und schienen um Entschuldigung zu bitten, gar nicht die Augen eines Fanatikers. Er blinzelte sogar, wenn man ihn anstarrte, und seine Hände hielt er keinen Augenblick ruhig. Selbst jetzt, da er gar nichts sagte, gestikulierte er, als hielte er eine Rede. »Sie wissen wahrscheinlich, Mr. Groppus, daß Sie bereits Gegenstand einer recht hitzigen Kontroverse zwischen Ihrer Regierung und meiner Gesandtschaft sind?« sagte der Gesandte. »Nicht meiner Regierung. Ich erkenne sie nicht als die meine an. Ich erkenne nicht an, daß sie über mich zu befinden hat.« »Leider ist sie darüber anderer Meinung. Und sie ist größer und mächtiger als Sie. Bitte nehmen Sie Platz!« Henry Groppus senkte den Kopf und schüttelte ihn langsam, eine Geste der Verneinung, die einen ganzen Versammlungssaal überzeugen mußte. »Ich ziehe es vor, zu stehen. Vielen Dank! Ich stehe immer. Größe, Macht, Zahl – seit dem Anfang der Zeit haben diese drei Faktoren versucht , sich mit Recht und Unrecht gleichzusetzen. Bis jetzt ist ihnen das nicht gelungen.« Der Gesandte nickte und murmelte. »Sehr richtig! Andererseits kom-
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men sie mit Leben und Tod sehr gut zurecht. Und das bringt uns wieder in die Gegenwart und zu Ihrer Pers on zurück. Als veru rteilter Verbrecher…« »Ich bin kein Verbrecher!« »Nicht? In dem Fall, Mr. Groppus, sind wir alle irregeführt worden. Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Dann sagen Sie es mir, bitte! Wie sehen Sie denn Ihre Rolle?« »Ich bin politische r Flüchtling! Ich bin hierher gekommen, ve rfolgt und ausgestoßen, in mein wahres Heim und meine wahre Nation. Ich verlange geistige Bürgerschaft im Jahre 2219.« »Geistige Bürgerschaft? Das ist aber nicht die beste Form, Aber wenn wir diese etwas komplizierte Frage für den Augenblick beiseite legen… Lassen Sie mich fragen, Mr. Groppus, was hat Ihnen denn den Eindruck vermittelt, daß meine Ära Ihren Glauben teilt? Die erste Regel aller temporalen Gesandtschaften besteht darin, keinerlei Informationen über den technologischen Stand und die sozialen Grundregeln Ihrer eigenen Zeit an die Periode zu vermitteln, in der Sie akkreditiert sind. Ich sehe nicht ganz, auf welcher Basis…« »Ich hatte immer vermutet, daß die Zukunft mendelistisch wäre. Aber ganz sicher war ich nie. Als der Mob in das Gefängnis einbrach, um mich zu lynchen, und ich ihm entkam, war das der einzige Zufluchtsort, an den ich denken konnte. Und jetzt, da ich eine Weile hier bin und Ihre Leute gesehen habe – weiß ich es! Das nächste Jahrhundert gehört uns!« Der Gesandte sah ihn verblüfft und ungläubig an und warf dann seinem Ersten Sekretär einen fragenden Blick zu. »Es tut mir leid«, sagte Dodson schnell. »Bruce. Es war seine Schuld. Er war so damit beschäftigt, den ersten Stoß gegen die Menschenmenge zu verbarrikadieren, daß er nicht die richtigen Vorsichtsmaßregeln ergriffen hat. Einige von den Büroangestellten hatten während der Aufregung Gelegenheit, mit dem Gefangenen zu sprechen. Und als ich dann kam, war der Schaden bereits angerichtet.«
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»Einige der Büroangestellten…« Seine Exzellenz kämpfte einen Augenblick mit sich und umgab sich dann wieder mit einer Wolke von Ruhe. Er atmete tief und sagte dann: »Ich war der Ansicht, daß mein Stab aus ausgebildeten Angestellten bestünde, die sich ihrer Verantwortung bewußt waren. Gut ausgebildet. Bis zu den untersten Rängen.« »Ja, Sir. Aber das waren drei ganz junge Leute auf ihrer ersten extratemporalen Stellung. Ich will mich nicht für sie entschuldigen – aber in den letzten paar Monaten ist es in der Gesandtschaft sehr langweilig gewesen, ganz besonders für romantisch gesinnte, junge Leute, die voll Erregung zu uns gekommen sind, in der Erwartung, mitzuerleben, wie vor ihren Augen Geschichte gemacht wurde. Und dann gibt es plötzlich einen Lynchmob, und die Gesandtschaft wird belagert. Und neben ihnen steht ein echter mendelistischer Märtyrer des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts. In Fleisch und Blut. Sie wissen doch, wie es ist, Sir. Sie fingen an, erregte, bewundernde Fragen zu stellen – und am Ende waren sie selbst es, die Antwort gaben.« Der Gesandte nickte langsam. »Groppus ist genau der Mann, um das zu erreichen. Aber wenn diese Affäre abgewickelt ist, werden Vizekonsul Bruce und diese drei Angestellten sich einer Untersuchungskommission stellen müssen, und es wird einen Bericht und Vermerke in den Pers onalakten geben.« Groppus hatte inzwischen seine Fassung zurückgewonnen. Er war jetzt in Höchstform. »Es mußte so sein! Es mußte so sein!« verkündete er und schritt im Büro auf und ab. »Wir haben den Leuten das Wort gebracht und ihnen gesagt, daß es so sein mußte. Wenn die Gebärmutterpest bedeutet, daß neun Zehntel aller weiblichen Kinder tot geboren werden, folgt dann daraus, daß die verbleibenden zehn Prozent, jene wertvollen zehn Prozent, willkürlich heiraten sollen? Nein, haben wir gesagt. Ein solcher Gedanke wäre ein Schlag ins Gesicht der Evolution! Es ist nicht genug, von jedem prospektiven Ehemann ein Zertifikat seiner Fruchtbarkeit zu verlangen. Wir müssen wei-
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tergehen. Wir müssen unter dem Schlagwort des maximalen genetischen Potentials in jeder Ehe weitermarschieren. Schließlich leben wir nicht in der Finsternis des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts! Mit modernen eugenischen Methoden können wir ganz genau wissen, was wir in jedem gezeugten Fötus bekommen. Aber selbst das ist nicht genug. Wir müssen…« »Schon gut!« sagte der Gesandte des Jahres 2219 müde und ließ sich in seinen Stuhl sinken. »Ich kenne diese Schlagworte ganz genau. Man hat sie mir während meiner Kindheit eingebleut, und ich mußte sie während meiner Jugend auswendig lernen und immer wieder wiederholen.« »Selbst das ist nicht genug!« wiederholte der Bärtige, und seine Stimme erhob sich majestätisch. »Wir müssen noch weiter gehen, und das haben wir ihnen gesagt. Wir müssen aus dem Fluch eine Gnade machen. Aus der Gebärmutterpest eine wahre genetische Wiedergeburt! Wenn es nur den Besten gestattet wird, sich fortzupflanzen, warum dann nicht den Besten der Besten? Und wenn nur den Besten der Besten das Privileg weiterer Nachkommenschaft gestattet werden soll, dann werden wir doch nicht die alten, ausgeleierten Grenzen wieder errichten und darauf bestehen, daß ein Mann nur eine Frau haben darf? Unsere Rasse – die jetzt in einem biologischen Morast steckengeblieben ist – verdient doch mehr als diese Kleinigkeit. Verdient denn nicht die nächste, die kleinere Generation, das Beste der vorhergehenden, der größeren Generation, ganz gleich, was die verknöcherte Moral dagegen vorbringt? Wir predigen nicht das sexuelle Monopol – wir predigen die sexuelle Rettung! Und ich sage Ihnen…« »Dodson, bitte schaffen Sie ihn weg!« sagte der Gesandte. »Ich muß nachdenken, und diese Kindergarten Weisheiten machen mir Kopfschme rzen!« An der Tür riß Groppus sich plötzlich aus seinem Monolog und stand auf einmal ganz fest wieder auf dem Boden der Tatsachen. »Sie werden also nicht zulassen, daß ich ausgeliefert werde, Euer Exzellenz? Sie werden mich nicht der Justiz dieser Primitiven
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vorwerfen?« »Ich habe mich noch nicht entschieden. Hier steht mehr auf dem Spiel als Ihre Person. Ich muß die Angelegenheit sorgfältig überdenken.« »Überdenken? Sind Sie für Licht oder für Dunkelheit? Sind Sie für die Zukunft oder für die Vergangenheit? Was gibt es denn hier zu überdenken? Ich bin ein geistiger Bürger, ein philosophischer Vorvater des Jahres 2219. Ich habe das Recht auf Asyl hier. Ich verlange, daß Sie mir Asyl geben!« Der Gesandte starrte ihn an. »In der Kategorie der Pflichten, die mir auferlegt sind, gibt es weder geistige Bürgerschaft noch philosophische Vorväter. Und ich möchte Sie darauf hinweisen, Mr. Groppus, daß nach den Vorschriften des internationalen Gesetzes – auf das auch das extratemporale Gesetz zurückzuführen ist – die Rechte eines Flüchtlings auf Asyl nie eindeutig sind, sondern in jedem einzelnen Fall von dem Staat, in den er flieht, oder dessen Gesandtschaft abhängen.« Dodson schloß die Tür hinter dem Bärtigen. Als er wieder zurückkehrte, nachdem er Groppus dem Ge wahrsam von Wächtern übergeben hatte, die alles andere als gesprächig sein würden, berichtete ihm der Gesandte von der Drohung, die in der letzten Bemerkung des Innenministers versteckt war. Der junge Mann schluckte. »Das scheint darauf hinzuweisen, daß – daß man kurz nach der Überreichung des Auslieferungsers uchens den gewaltsamen Versuch machen wird, unsere Gesandtschaft zu stürmen, um den Gefangenen festzunehmen. Aber das ist doch unerhört!« »Von solchen Dingen redet man nicht viel; aber unerhört ist es nicht. Das würde natürlich bedeuten, daß die temporale Gesandtschaft aus den Vereinigten Staaten dieser Ära zurückgezogen würde.« »Würden sie das riskieren, Sir? Schließlich ist das ihre Verbindung mit der Zukunft! Wir können ihnen nicht alle Infor-
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mationen geben, die sie haben wollen. Aber wir vermitteln ihnen doch das Wissen, das die temporalen Gesandtschaften als ungefährlich freigeben. Und wir verlangen keine Gegenleistungen. Es wäre pure Idiotie für sie, die Beziehungen abzubrechen.« Der Gesandte studierte eine Seite in dem grauen Buch auf seinem Tisch. »Nichts, was getan werden muß, ist idiotisch«, sagte er, hauptsächlich zu sich selbst. »Ein Präzedenzfall nach dem anderen. Es kommt nur darauf an, einen Schatten von Legalität zu finden, um eine solche Handlung damit zu tarnen. Und wer soll der Richter sein und sagen, was schattenhafte Legalität ist oder nicht, wenn ein souveräner Staat Gründe angibt, um drastische Ma ßnahmen zu ergreifen, wenn er annimmt, daß diese Maßnahmen für sein Überleben wichtig sind? Ein Fall wie dieser, so mit der Frustration der Massen verknüpft, so wichtig für die grundlegendsten Probleme des männlichen Ego…« Dodson musterte ihn scharf. »Also liefern wir den Flüchtling aus? Ich hatte von Anfang angenommen, daß wir das tun müßten – entschuldigen Sie, Sir, wenn ich das sage. Er ist ein Verbrecher – daran besteht kein Zweifel. Aber das wird unangenehm werden. Schließlich liefern wir einen unserer Vorväter aus. Er denkt genauso wie wir.« Der junge Mann rieb sich über das glattrasierte Kinn. »Er sieht sogar so wie wir aus – ich meine, so wie wir zu Hause im Jahr 2219 aussahen, ehe man uns anachronisiert hat, damit wir in dieser Periode arbeiten können. Es ist erstaunlich, in wie vielen Einzelheiten Groppus unser Zeitalter vo rweggenommen hat.« Seine Exzellenz stand auf und streckte sich. »Unsinn, Dodson! Sie dürfen die Ursache nicht mit der Wirkung und die wirkliche Geschichte nicht mit dramatischen Persönlichkeiten verwechseln! Henry Groppus hat sich nicht einen Bart stehenlassen, weil er vorhersah, daß alle Männer in unserer Zeit das tun werden – so funktioniert das nicht. Wir laufen mit Bärten herum, weil unsere ganze Zivilisation auf dem Gen-Register und auf den Genetikbanken beruht. Und der Begriff Gen-Register hatte seine Wur-
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zeln in den Ideen der Mendelisten des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts – einer schlecht angepaßten asozialen Gruppe, die in einer bartlosen Zeit Bärte trug, um ihren Protest zu dokumentieren.« »Vergleichen Sie doch das utopische Geschwätz des Henry Groppus mit den harten Fakten der Gen-Register unserer Zeit! Sehen Sie da einen Zusammenhang? Hier Groppus, der zwangsweise Polygamie oder genetische Aristokraten verlangt – und dort unsere Gesellschaft, die gelegentlich einem hochbegabten Mann unter besonderen Umständen das Recht gibt, mehr als eine Frau zu nehmen. Die traurige Wahrheit über die politischen Heiligen einer beliebigen Vergangenheit ist es, daß nur die Gelehrten sich die Mühe machen, ihre kompletten Werke zu lesen und sie als Ganzes zu sehen. Aber alles das ist unwichtig: Die Mendelisten sind in unserer Zeit politische Heilige, und wir können keinen von ihnen ausliefern.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht folgen, Sir«, wandte Dodson ein. »Sie sagten gerade, daß die Regierung der heutigen Vereinigten Staaten diese Sache für so wichtig hielt, daß sie selbst zu gewaltsamen Maßnahmen greifen würde, um den Flüchtling zurückzuerhalten – selbst um den Preis des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen mit unserer Zeit. Nun, Sir? Und dann wäre da Paragraph 16a der temporalen Gesetze: ›… und über allem die Pflicht, die Gesetze, die Sitten und die Gewohnheiten der Zeit zu respektieren, in der eine Gesandtschaft akkreditiert ist, und ihnen niemals zuwiderzuhandeln.« Der Gesandte des Jahres 2219 begann seinen Schreibtisch zu leeren und erklärte halb über die Schulter: »Gesetze sind eine Sache, Dodson – Naturgesetze eine andere. Und das erste und fundamentalste Naturgesetz eines Beamten ist dies: Man darf die Hand nicht beißen, die einen füttert. Man darf die Gefühle der Regierungsbeamten, die über einem sind, nicht verletzen. Und ganz besonders darf man die Gefühle des Volkes nicht verletzen, die über denen der eigenen Vorgesetzten stehen. Wenn ich Groppus auslieferte, würde diese Periode mich bewundern – aber 2219 würde mir nie wieder einen diplomatischen Posten anve r-
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trauen. Auf dieser Basis habe ich schließlich meine Entscheidung getroffen. Wir werden die Dinge also vereinfachen. Wir schließen die Gesandtschaft, ehe der Auslieferungsantrag eintrifft. Und wir reisen ab, mit unserem gesamten Personal, unseren Papieren und unserem wertvollen Flüchtling. Wir benutzen das Not-Chrondromos im Keller. In unserer eigenen Zeit geben wir die nötigen Erklärungen ab, unsere Vorgesetzten drücken dieser Periode unser Bedauern aus, und nach einem gewissen Zeitraum, der nötig ist, um die Erinnerung etwas zu verwischen, wird ein neuer temporaler Gesandter des Jahres 2119 bestimmt – ein Gesandter, der bei seiner Ankunft einen Eid ablegen wird, daß er niemals der Gerechtigkeit in den Rücken fallen wird. Und jeder hat sein Gesicht bewahrt.« Er gluckste und stieß dem verblüfften Ersten Sekretär das extratemporale Gesetzbuch in die Rippen. »Schnell, mein Junge! Die Gesandtschaft muß in einer Stunde hier verschwinden! Und Havemeyer muß die wissenschaftlichen Probleme überprüfen, die vielleicht auftreten, wenn wir Henry Groppus in die Zukunft ve rsetzen! Und Sie müssen ihm ein Visum ausschreiben!« Drei Wochen später – oder, um es genauer zu sagen, einhundert Jahre und drei Wochen später – besuchte Dodson den Gesandten, der gerade seine Koffer packte, nachdem man ihn soeben an die Gesandtschaft auf Ganymed versetzt hatte. Beide Männer kratzten von Zeit zu Zeit an ihrem Kinn, wo neues Haar sproß. »Haben Sie gehört, Sir – von Groppus? Jetzt hat er’s doch geschafft!« »Was denn, mein Junge? Das letzte, was ich hörte, war, daß er von Triumph zu Triumph zog. Überall bewundernde Menschenmengen. Eine Rede am Monument der mendelistischen Märtyrer. Eine weitere Rede auf den Stufen des nordamerikanischen Gen-Registers, wo er unter Tränen die steingewordene Realität eines vom Blut geheiligten Traumes begrüßte – oder eine ähnliche Phrase.«
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Der junge Mann schüttelte erregt den Kopf. »Das meine ich nicht. Nach der Rede auf den Stufen des nordamerikanischen Gen-Registers ging er hinein und schrieb einen Antrag für ein Vaterschaftszertifikat aus – nur für den Fall, so erklärte er, daß er eine Frau kennenlernte, die er heiraten wollte. Nun, heute morgen hat das Gen-Register die übliche Chromosomenübersicht fertiggestellt – und ihn abgelehnt! Zu viele instabile Tendenzen, stand in dem Bericht. Aber das ist noch gar nichts, Sir – gar nichts! Was glauben Sie wohl, daß er vor fünfzehn Minuten getan hat?« »Keine Ahnung.« Der Gesandte zuckte die Achseln. »Das GenRegister in die Luft gesprengt?« »Genau das hat er getan! Er hat den Sprengstoff selbst hergestellt, sagt er. Er behauptet, er hätte die Menschheit von der Tyrannei der eugenischen Bürokratie befreien müssen. Er hat das Gen-Register völlig vernichtet!« Er ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Das Gesicht des Gesandten war weiß geworden. »Aber«, flüsterte er, »aber… das Gen-Register! Die einzig vollständige genetische Aufzeichnung eines jeden Individuums in Nordamerika! Die Grundlage unserer Zivilisation!« »Ist es nicht entsetzlich…!« Dodson gab es auf, seine Verzweiflung in Worten auszudrücken. Er ballte die Fäuste. »Er wird schwer bewacht. Aber das eine kann ich Ihnen sagen, Sir – und ich bin nicht der einzige, der das so empfindet – , er wird sein Urteil bestimmt nicht erleben! Nicht, wenn ich das Jahr 2219 kenne!« Die Stimme, die den Schrei aus stieß, war tief, atemlos, ve rängstigt. Heiser und drängend hob der Schrei sich über das Brüllen der fernen Menge, über den Lärm des Verkehrs; er drang in das geräumige Büro im zweiten Stock der Gesandtschaft und forderte unverzügliche Aufmerksamkeit. Seine Exzellenz, der Gesandte des Jahres 2319 – der einzige Anwesende in diesem Büro – war ein nervös wirkender Mann mit
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ungewöhnlich angespanntem Gesicht. Seine Augen verkündeten einem jeden, daß alle Dinge im Wesen kompliziert waren – und vielleicht noch komplizierter werden konnten. Es war deshalb ganz bemerkenswert, wie dieser Schrei von unten seinen Blick plötzlich noch unsicherer machte. Er stand auf und bewegte sich mit gewohnter Hast zum Fenster. Ein hochgewachsener, bärtiger Mann mit zerfetzten Kleidern und einigen Wunden am Körper war gerade von dem hohen Zaun, der die Gesandtschaft umgab, auf den Rasen gesprungen. Der Bärtige hatte mit beiden Händen auf das Büro des Gesandten des Jahres 2319 im zweiten Stock gedeutet und erneut gebrüllt: »Asyl!« Ende
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