Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 530 Die Chailiden
Das Reich der Roxharen von Kurt Mahr
Das mentale Netz pr...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 530 Die Chailiden
Das Reich der Roxharen von Kurt Mahr
Das mentale Netz projiziert den Untergang
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Nach einer langen und dramatischen Rettungsaktion, die Atlan, nur von wenigen Helfern unterstützt, erfolgreich abschloß, konnte das Schiff schließlich das Mausefalle‐System verlassen und wieder frei seines Weges ziehen. Gegenwärtig hat die SOL ihren Flug im Chail‐System unterbrochen. Atlan, Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch sind von Bord gegangen und auf der Welt der Chailiden gelandet, um das Rätsel des Volkes der Meditierenden zu lösen. Nun greift ein weiteres Wesen in das große Spiel um die Geheimnisse von Chail ein. Dieses Wesen ist YʹMan, der seltsame Roboter von Osath. Er verläßt die SOL ebenfalls und dringt ein in DAS REICH DER ROXHAREN …
Die Hauptpersonen des Romans: YʹMan ‐ Der Roboter sorgt für Verwirrung im Reich der Roxharen. PhinʹSar ‐ Aufseher von Chail. BengʹTut ‐ Adjutant des Aufsehers. AiʹSynn ‐ Ein rebellischer Roxhare. Polaw, Vrix, Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch ‐ Gefangene in der Blauen Stadt.
1. »Da kommt er«, sagte PhinʹSar und deutete mit lässiger Geste auf den Bildschirm. Der Aufseher der Nebenzelle Chail lag bequem auf einem sofaähnlichen Lager ausgestreckt und nibbelte an einer Handvoll gequollener Maris‐Körner, die er mit automatischer Regelmäßigkeit aus einer blechernen Schüssel griff. »Ob er so ist wie die anderen?« fragte BengʹTut, der aufmerksame und von der Wichtigkeit seines Amtes überzeugte Adjutant, dem PhinʹSar es verdankte, daß die Schüssel niemals leer wurde. »Das kann man nicht sagen«, antwortete der Aufseher. »Er ist offensichtlich einer ihres Volkes. Aber Nutis´Kir hat berichtet, das fremde Raumschiff trage Spuren, als sei es Dutzende von Jahren ununterbrochen im Weltraum unterwegs gewesen. Wenn er sich ständig an Bord befunden hat, mag er Züge entwickelt haben, die ihn von seinen Artgenossen unterscheiden.« PhinʹSar war, was man unter Roxharen ein stattliches Geschöpf nannte. An die zweieinhalb Meter lang, trug er ein gepflegtes, matt schimmerndes, graues Fell. Sein Schädel war besonders schlank. Die zierlichen, runden Ohren wiesen auf vornehme Abstammung hin. Und wenn PhinʹSar sich herabließ zu lächeln, dann entblößte er ein tadelloses, von den besten roxharischen Dentisten instand gehaltenes Gebiß. PhinʹSar war, wie es seinem hohen Rang entsprach, fortgeschrittenen Alters. Seine Sprache war ein
gewähltes, von tiefen Baßtönen untermaltes Gezwitscher. Bei BengʹTut verhielt es sich ein wenig anders. Der Adjutant war noch größer als sein Vorgesetzter, dazu jung und von athletischer Gestalt. Es gab auf dieser von allen Göttern verlassenen Welt wenig Roxharinnen, die nicht davon träumten, eines Tages in BengʹTuts zärtlichen Armen zu liegen – wenigstens bildete BengʹTut sich das ein. Er hatte sein Fell in mehreren grellbunten Tönen gefärbt. Seine kleinen, schwarzen Augen blickten scharf und durchdringend, die Ohren waren in ständiger Bewegung. Er sprach schnell und hastig und ohne jene tiefen Untertöne, die ein Zeichen der Vornehmheit waren. Manchmal hatte er es so eilig, seine Gedanken in Worte zu kleiden, daß seine Stimme sich überschlug. Um genau zu sein: PhinʹSar war nicht sicher, daß im Gehirn seines Adjutanten alle Windungen sich in der vorgeschriebenen Richtung krümmten. Aber was sollte er machen? BengʹTut war der zuverlässigste, der bereitwilligste, der unterwürfigste seiner Helfer. BengʹTut musterte den kleinen Reflex auf der Videofläche, der sich dem Zentrum des Bildes näherte und allmählich an Geschwindigkeit verlor. Er warf der Blechschüssel einen mißtrauischen Blick zu, um sich zu vergewissern, daß der Vorrat an gequollenen Maris‐Körnern in absehbarer Zukunft nicht ausgehen werde, und erklärte: »Ich mache mich am besten auf den Weg. Die Aufpasser stehen schon bereit.« PhinʹSar machte gelangweilt die Geste des Bejahens. »Geh nur«, sagte er. »Und sieh zu, daß der Mann in der Rüstung in sicheren Gewahrsam kommt.« * Der große Schweber mit BengʹTut und seinen acht Aufpassern verließ den inneren Komplex der Nebenzelle Chail, die von den Chailiden und anderen Geschöpfen auch die Blaue Stadt genannt
wurde, und wandte sich auf einer der großen Ausfallstraßen durch den Bezirk der Astronautenquartiere und der Maschinenbauten nach Süden. BengʹTut saß neben dem Piloten und musterte auf der kleinen Orterfläche den Reflexpunkt des fremden Fahrzeugs, der inzwischen zur Ruhe gekommen war. Der Fremde war gelandet, etwa zwölf Kilometer südlich der Stadt. BengʹTut wußte nicht, was er davon zu halten hatte. Als vor etlichen Tagen die erste Nachricht von NutisʹKir eintraf, hatte jedermann geglaubt, der Unbekannte werde versuchen, heimlich nach Chail zu kommen und an irgendeinem versteckten Ort zu landen. Daß er sich stattdessen die Blaue Stadt, das Zentrum der roxharischen Macht ausgesucht hatte, verblüffte den Adjutanten in nicht geringem Maß. Er spürte Widerwillen in sich aufsteigen, als der Schweber den äußeren Stadtring passierte, jene für roxharische Begriffe widerwärtige Ansammlung von Hütten, Kabinen und Baracken, in denen die Chailiden wohnten, die auf ihren Abtransport warteten. Ein paar junge Männer und Frauen saßen faulenzend vor einer der Wohnungen und warfen dem Fahrzeug gelangweilte Blicke zu. Zum hundertstenmal an diesem Tag fragte sich BengʹTut, warum das Schicksal ausgerechnet ihn nach Chail verschlagen hatte. Wo hatte er sich gegen die Mächte des Schicksals vergangen, daß sie gerade ihn dazu verdammt hatten, auf diesem Hinterwäldlerplaneten zu verdorren und verrotten? Seine schlechte Stimmung legte sich erst, als er das fremde Fahrzeug sah. Es stand in einer Senke zwischen zwei Hügeln, ein Gebilde von einfacher und doch eleganter Form: zwei flache, mit dem Rand aufeinander gesetzte Schüsseln, die von einer Reihe schlanker Beine getragen wurden. In der Wand des Fahrzeugs war eine Öffnung entstanden. Aus der Öffnung reichte eine flimmernde Energiebahn bis zum Boden herab, und über diese Bahn kam ein Wesen geschritten, das genauso aussah, wie es von NutisʹKir per Fernbild beschrieben worden war. Für roxharische Begriffe war es von zwergenhafter Gestalt, etwa
einen und ein Drittel Meter groß. Es bewegte sich mit bedächtigen Bewegungen, hatte einen großen, runden Kopf und genau wie die Roxharen zwei Arme und zwei Beine. Man erkannte auf den ersten Blick, daß es in einer Rüstung stak. Diese war aus grauem, mattem Metall gefertigt. Die Rüstung umschloß den Körper zur Gänze. In der Struktur des Helmes war die eigenartige Frisur nachgebildet, eine Haartracht, die die Schädelplatte und einen Teil des Nackens bedeckte. Der Schweber setzte auf. Mit einem Satz, der seiner athletischen Statur Ehre machte, setzte BengʹTut über die Bordkante hinweg und landete federnd auf dem Boden. Bevor er sich dem Fremden näherte, sah er sich um und vergewisserte sich, daß die Aufpasser ihre Schockstrahler schußbereit hielten. Er schaltete den Translator ein und wandte sich an den Fremden. »Willkommen auf Chail, Mann in der Rüstung. Man hat mir gesagt, daß du dich so nennst.« Der Fremde sah ihn aus starren, gelblichen Augen an. Er mußte den Kopf in den Nacken legen, um zu BengʹTut aufzublicken. »Mann? Welcher Mann?« brummte er unfreundlich. »Mann in der Rüstung«, antwortete BengʹTut verwirrt. »Der bin ich. Welcher Mann hat es dir gesagt?« »NutisʹKir … er hat … er hat dich …«, stotterte der Adjutant. »Warum nennst du ihn Mann? Er ist ein Roxhare.« »Nicht Mann, sondern man«, ächzte BengʹTut. »Du drückst dich sehr verworren aus«, wies ihn der Fremde zurecht. »Gibt es hier niemand, der zusammenhängend sprechen kann?« »Ich bin beauftragt, dich willkommen zu heißen und dir unsere Gastfreundschaft anzubieten«, seufzte der Adjutant. »Willkommen? Ist das dein Planet?« »N‐nein … ja … ich meine …« »Da gehtʹs schon wieder los«, knurrte der Metallene. »Wir haben hier die Obhut«, stieß BengʹTut hervor.
»Bist du vielleicht der Obhüter?« »Nein. PhinʹSar ist es. Er hat mich geschickt.« »Warum ist er nicht selbst gekommen?« »Weil … weil …« Warum, zum Teufel, war PhinʹSar nicht selbst gekommen? BengʹTut hatte eine rettende Idee. »Weil ihm sonst die Maris‐Körner eingetrocknet wären.« Der Blick der starren, gelben Augen schien den Adjutanten zu durchdringen. »Bei dir ist vielleicht auch etwas eingetrocknet, wie?« Und als BengʹTut darauf vor lauter Verwirrung und Entrüstung nicht antwortete, forderte er: »Bringt mich zu diesem PhinʹSar. Vielleicht bringt der mehr als fünf Wörter hervor, ohne sich dabei zu verheddern.« 2. YʹMan hatte sich Zeit gelassen, obwohl jede Faser seiner robotischen Logik ihm sagte, daß er keine Minute verlieren dürfe. Hinter sich, an Bord der SOL, ließ er einen gefährlichen Wirrwarr zurück, in dem Chart Deccon jederzeit auf die Idee kommen mochte, auf Fahrt zu gehen und den Planeten Chail sich selbst zu überlassen. Auf Chail aber befanden sich Atlan, Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch, mit denen es seit etlichen Tagen keine Verbindung mehr gab. Wenn die SOL sich in Marsch setzte, waren sie verloren – und er mit ihnen; aber er, der Robot, spielte in diesem Zusammenhang keine große Rolle. Den langsamen Flug hinab nach Chail hatte er genutzt, um seine Vorbereitungen zu treffen. Eine davon war, einen Translator anzufertigen, der die Sprache der Roxharen in ein ihm verständliches Idiom übertrug – und zwar geräuschlos, solange er auf Empfang arbeitete. Das Gerät war winzig. Er hatte es in einer Körperhöhlung verborgen, wo es so schnell von niemand entdeckt
werden würde. Er hatte sich obendrein mit einer Menge zusätzlicher Instrumente ausgestattet, die aus den Vorräten der Space‐Jet stammten. Die Begegnung mit NutisʹKir, der in seiner Raumzelle unmittelbar vor der SOL aufgetaucht war, um die Auslieferung Akitars zu fordern, hatte ihm zu denken gegeben und ihn bewogen, seinen ursprünglichen Plan zu ändern. Es war NutisʹKir, mit dem er sich allerdings nur per Sichtfunk unterhielt, nämlich entgangen, daß sein Gesprächspartner ein Roboter war. Der Roxhare hatte YʹMan »Mann in der Rüstung« genannt, und YʹMan war der Gedanke gekommen, daß er sich womöglich auch unter den Roxharen auf Chail als organisches Wesen ausgeben könne. Damit entfiel die Notwendigkeit, mühsam nach einem heimlichen Landeplatz zu suchen und sich ständig verborgen zu halten. Denn ein organisches Geschöpf unterlag über kurz oder lang dem Einfluß, der von dem mentalen Netz ausging, das sich rings um den Planeten spannte, und stellte somit für die Roxharen nur eine kurzlebige Gefahr dar. Sie würden ihn scharf im Auge behalten, bis er erkennen ließ, daß der Mentalschirm ihn in seinen Bann geschlagen hatte. Natürlich war er für die mentale Wirkung des Schirmes nicht empfänglich. Aber er hielt sich für einen zumindest mittelmäßigen Schauspieler, dem es nicht schwerfallen würde, vorzutäuschen, was in Wirklichkeit gar nicht da war. Auch in dieser Hinsicht hatte er vorgesorgt. Die Roxharen waren in ihrem äußeren Gehabe überaus höfliche Wesen. Er dagegen gab sich als ruppiger Klotz. Wenn er allmählich sanfter wurde und sich schließlich roxharischer Höflichkeit bediente, würden sie daraus schließen, daß er dem Einfluß des Schirms erlegen war. Dann war er in ihren Augen keine Gefahr mehr, und sie würden ihm erlauben, sich mehr oder weniger frei zu bewegen. Eines war ihm freilich immer noch ein Rätsel. Die Roxharen waren Herren einer hoch entwickelten Technik. Warum identifizierten sie ihn nicht auf Anhieb als Roboter? Woher kam die Hartnäckigkeit,
mit der sie in ihm ein organisches Wesen sahen? Er wußte es nicht; aber die Frage stand unter den Dingen, über die er sich auf Chail informieren wollte, an hervorragender Stelle. Er nahm die Eindrücke der Stadt in sich auf, als der Schweber mit mäßiger Geschwindigkeit die breite Verkehrsader entlangglitt. Er hatte die Blaue Stadt anhand ihres energetischen Streubilds als den Punkt identifiziert, an dem sich die roxharische Macht konzentrierte. Auf der gesamten restlichen Oberfläche des Planeten gab es keine nennenswerten Quellen energetischer Streuimpulse. Die hüttenartigen Quartiere, die die eigentliche Stadt als weiter Ring umgaben, besagten ihm nichts. Interessanter fand er die kleinen, festen Bauten, die sich stadteinwärts an den Ring anschlossen. Er nahm an, daß diese Gebäude Roxharen als Unterkünfte dienten, und gelangte zu dem Eindruck, die Stadt sei relativ dünn besiedelt. Nur hier und da war einer der Bewohner zu sehen. Er bemerkte eine Anzahl kleiner, schüsselförmiger Fahrzeuge, die leer die breite Straße auf‐ und abkreuzten. Ein einzigesmal wurde er Augenzeuge, wie einer der Fußgänger einem Fahrzeug zuwinkte. Er bewegte dabei den Mund und schien einen Laut von sich zu geben, den YʹMan indes nicht hören konnte. Das Fahrzeug näherte sich daraufhin dem Winkenden und hielt an, so daß dieser einsteigen konnte. Das offenbar war das öffentliche Transportsystem der Blauen Stadt: robotgesteuerte Schwebetaxis. Noch weiter in Nähe des Stadtzentrums wurde die Architektur beeindruckender und nahm ausschließlich funktionelle Formen an. Hier schien überhaupt niemand zu wohnen. Die mächtigen Gebäudeklötze, zum großen Teil mit leuchtend blauen Wänden versehen, waren Lagerhäuser, Produktionsstätten oder Maschinenhallen. YʹMan sah eine gigantische Kuppel von mehr als einhundert Metern Höhe, um die sich Dutzende blauer Gebäude reihten wie Kücken um eine Glucke. Die Kuppel war von orangeroter Farbe und schien innerhalb der Gruppierung von besonderer Wichtigkeit zu sein.
Im Kern der Stadt fiel zunächst ein blauer Wohnturm auf, der zu schwindelnder Höhe aufragte. Er entsprach keiner der architektonischen Formen, die YʹMan bisher zu Gesicht bekommen hatte. Es gab offenbar nur einen solchen Turm in der ganzen Stadt. Sein Zweck blieb ihm vorläufig unklar. Unweit des Turmes begann der Wirrwarr der Gebäude, in denen sich die roxharische Administration einquartiert hatte. Hier verlor die Straße an Breite und verlief sich schließlich zu einer Reihe schmaler Gassen. Fahrzeuge und Fußgänger waren überall unterwegs und vermittelten den Eindruck eines Stadtkerns, der vor Überbevölkerung aus den Nähten zu platzen drohte. Leider fand YʹMan nur wenig Zeit zum Beobachten. Der große Schweber tauchte in eine unterirdische Garage. Man hatte den Palast des Aufsehers erreicht. PhinʹSar nahm sich Zeit, den seltsamen Gast zu mustern. Seine rechte Hand tauchte immer wieder in die Blechschüssel, um ein paar Maris‐Körner aufzunehmen und zum Mund zu führen. Sein Blick war nicht unfreundlich; aber man merkte, daß es ihm darauf ankam, dem Zwerg durch seine imposante Ruhe und Gelassenheit den nötigen Respekt einzuflößen. Dabei machte ihm der Metallene allerdings einen Strich durch die Rechnung. Er wies mit einem gedrungenen Arm auf die Schüssel und fragte: »Ist das das Zeug, das eingetrocknet wäre, wenn du mich selbst begrüßt hättest, anstatt deinen Handlanger mit dem Knoten in der Zunge zu schicken?« PhinʹSar fuhr von der Liege in die Höhe. Seine zierlichen Ohren spielten. »Wie bitte?« rief er verwirrt. YʹMan wies mit abfälliger Geste auf BengʹTut, der sich bescheiden im Hintergrund hielt. »Er hat gesagt, du könntest nicht kommen, weil dir …« »Ich mußte … es war nur … eine Ausrede …«, stotterte der Adjutant.
»Ruhe!« schrie YʹMan in schrillem Diskant. »Jetzt rede ich!« PhinʹSar legte die Ohren nach hinten. Die Haare seines gepflegten Pelzes begannen, sich zu sträuben. »… weil dir sonst die Nüsse dort eintrocknen«, vollendete der Metallene den begonnenen Satz. »Es sind keine Nüsse«, flüsterte PhinʹSar voller Abscheu. »Ich hasse Nüsse. Es sind Körner, Maris‐Körner!« »Was auch immer«, brummte YʹMan verächtlich. BengʹTut sah seine Chance. Er tauchte zwischen den beiden verschiedenen Wesen hindurch, bekam die Schüssel zu fassen und zog sich zurück. Es war an der Zeit, einen neuen Vorrat zu beschaffen. * Mit leicht erschütterter Gelassenheit versuchte der Aufseher, das Gespräch auf den ursprünglich vorgesehenen Kurs zu bringen. »Ich heiße dich als meinen Gast willkommen, Mann in der Rüstung«, sagte er. »Darf ich fragen, was dich nach Chail bringt?« YʹMan ging auf die sofaähnliche Liege zu, schob PhinʹSars lange Beine ein wenig zur Seite und hockte sich ungeniert auf die Kante des Möbelstücks. »Es sind uns drei Besatzungsmitglieder abhanden gekommen«, sagte er. »Sie befinden sich auf Chail. Ich habe die Absicht, nach ihnen zu suchen.« PhinʹSar ließ keine Überraschung erkennen. »Ich habe davon gehört«, antwortete er. »Ein Fahrzeug ist abgestürzt. Es ist uns nicht gelungen, die Insassen zu finden. Aber die Chailiden behaupten, sie seien noch am Leben.« YʹMan konnte nicht erkennen, ob er die Wahrheit sprach. Seine Aussage klang plausibel. Es war denkbar, daß die Roxharen sich deswegen nicht intensiver um Atlan und seine Begleiter gekümmert
hatten, weil sie binnen kurzem ohnehin der Einwirkung des mentalen Netz zum Opfer fallen und damit aufhören würden, eine Gefahr zu sein. »Ich werde es zu schätzen wissen«, erklärte er, »wenn du mir alle Informationen darüber zukommen läßt, wo das Fahrzeug abgestürzt ist, in welcher Gegend die Chailiden unsere Leute gesehen haben wollen – und so weiter. Außerdem brauche ich ein Fahrzeug mit angemessener Reichweite, sowie Proviant und Kommunikationsgeräte.« PhinʹSar blinzelte. Auf derart unverschämte Art und Weise war er noch nie um einen Gefallen gebeten worden. »Ja, aber …« Der Zwerg brachte ihn tatsächlich zum Stottern! »So ohne weiteres … geht das nicht. Du mußt dich zunächst akklimatisieren. Du hast mit NutisʹKir gesprochen. Du weißt von den Gefahren dieses Planeten …« YʹMan unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Geste. »Ich habe keine Angst vor diesen Gefahren«, sagte er. »Ich weiß mich zu schützen.« »Ich fürchte, du siehst die Lage in einem zu rosigen Licht«, beharrte PhinʹSar. »Als Gastgeber bin ich für dein Wohl verantwortlich. Ich darf nicht zulassen, daß du dich Risiken aussetzt, deren Umfang du nicht abschätzen kannst.« »Wie lange dauert die Akklimatisierung?« erkundigte sich der Metallene mißtrauisch. »Ein paar Tage«, antwortete der Roxhare leichthin. Und um YʹMans nächster Frage vorzubeugen, reckte er den Hals und zwitscherte mit bedeutender Lautstärke: »BengʹTut!« Der Adjutant kam durch die offene Tür geschossen und platzierte eine mit gequollenen Maris‐Körnern gefüllte Schüssel auf das Tischchen neben dem Sofa. »Zeige unserem Gast sein Quartier«, befahl PhinʹSar. YʹMan erhob sich, und der Aufseher brachte seine Beine wieder in die ursprüngliche Stellung. BengʹTut wies höflich in Richtung des
Ausgangs. Der Metallene setzte sich in Bewegung. Eine schrille, durchdringende Stimme begann zu plappern. YʹMan blieb stehen. Außer ihm und den beiden Roxharen befand sich niemand im Raum. Das Geplapper kam aus einem Lautsprecher im Hintergrund. »Was soll das?« knurrte YʹMan mißtrauisch. PhinʹSar machte eine um Entschuldigung bittende Gebärde. »Ein kleines Versehen«, sagte er. Der Lautsprecher verstummte. »Wie lange ist es her, seit du die Heimat deines Volkes verlassen hast, Mann in der Rüstung?« »Ich habe die Heimat meines Volkes nie zu Gesicht bekommen«, antwortete der Metallene finster. 3. Das Quartier, in dem YʹMan untergebracht wurde, bildete eine Wohnzelle für sich am Rand des Komplexes, der den Kern der Blauen Stadt bildete. BengʹTut entschuldigte sich profus für das Mobiliar, das auf roxharische Körperverhältnisse zugeschnitten war, und versprach, er werde auf dem schnellsten Weg geeigneten Ersatz besorgen. YʹMan unterzog seine Wohnung einer sorgfältigen Inspektion, die dank seiner robotischen Wahrnehmungsfähigkeiten nur wenige Sekunden in Anspruch nahm, und fand winzige Abhörgeräte und mikrominiaturisierte Kameras, die jede seiner Bewegungen aufzeichneten. Er registrierte allerdings auch, daß die Kameras mit sichtbarem Licht operierten und nicht viel würden ausrichten können, wenn es in der Zelle dunkel wurde. Es gab insgesamt vier Räume, die verschiedenen Zwecken dienten. Er suchte sich denjenigen, der ihm am bequemsten erschien, und verdunkelte die doppelt polarisierende Scheibe des großen Fensters. In der Finsternis hockte er sich auf den Boden und inspizierte das
gequollene Maris‐Korn, das er in einem unbeobachteten Augenblick aus der blechernen Schüssel entwendet hatte. Seine Sensoren entdeckten Spuren beginnender Fermentation. Das war gut; er würde es womöglich noch brauchen können. Als einige Minuten verstrichen waren, ohne daß sich der Interkom gemeldet hatte, der ihn mit PhinʹSars Wohnung und Arbeitsquartier verband, kam er zu dem Schluß, daß wenigstens im Augenblick keiner der Roxharen im Sinn hatte, sich über seine merkwürdige Vorliebe für Dunkelheit zu beschweren, und widmete sich seiner eigentlichen Aufgabe: einer ausführlichen Bestandaufnahme der Eindrücke, die er im Verlauf der vergangenen Tage akkumuliert hatte. Neue Informationen waren in die vorhandene Informationsstruktur einzusortieren. Es mußte geprüft werden, ob sich aus der so veränderten Struktur ein neues Bild ergab, und schließlich waren Strategien und Taktiken dem neuen Bild anzupassen. Fast alles, was er wußte, hatte er von Akitar erfahren, dem Chailiden, der auf Osath sein Mitarbeiter war. Von Akitar stammte die Information, daß die scheinbar so freundlichen Roxharen in Wirklichkeit ein Volk von Invasoren waren, die seit rund 160 Jahren Chail besetzt hielten und die Chailiden für ihre Zwecke ausnützten. An Bord roxharischer Raumschiffe wurden in der Hauptsache junge Chailiden, die noch nicht ins Stadium der Meditation eingetreten waren, nach anderen Welten verfrachtet, auf denen aufstrebende Zivilisationen im Begriff standen, in die Ära der technischen Weltraumfahrt einzutreten. Die Anwesenheiten der Chailiden auf Welten dieser Art wirkte sich so aus, daß der Chailide wie ein Katalysator das herkömmliche Denken der eingeborenen Intelligenzen umzuformen und nach chailidischem Vorbild auszurichten begann. Die Chailiden beherrschten die interstellare Raumfahrt nämlich schon seit langer Zeit – so behauptete wenigstens Akitar –, allerdings auf gänzlich untechnische Art und Weise. Sie sandten
ihre Seelen ins Weltall hinaus und nahmen auf psychischem Weg mit anderen Kulturen Verbindung auf. Diese Einstellung prägten sie dem Denken der Eingeborenen jener Welten auf, zu denen sie von den Roxharen gebracht worden waren. Der Erfolg war, daß die aufwärtsstrebende Zivilisation auf die weitere Entwicklung der technischen Raumfahrt verzichtete und allmählich in die prätechnische Phase zurücksank. Die Roxharen waren, mit anderen Worten, daran interessiert, daß in diesem Raumsektor kein weiteres Volk in den Klub der raumfahrenden Zivilisationen aufgenommen wurde. Ihr Ziel war das Monopol der Weltraumfahrt, und die nahezu geniale Hinterhältigkeit, mit der sie es anstrebten, reichte aus, um einem Wesen, das mit mehr Emotionalität ausgestattet war als der Roboter YʹMan, einen Schauder des Entsetzens über den Rücken zujagen. Allerdings war anzunehmen, daß Akitar die Dinge zu einfach sah. Die Vorgehensweise der Roxharen konnte unmöglich in allen Fällen zum gewünschten Erfolg führen. YʹMan war sogar bereit, von der Voraussetzung auszugehen, daß der Erfolg sich vergleichsweise selten einstellte. Und was war mit Akitars Behauptung, die Roxharen glaubten gar nicht an die Fähigkeit der Chailiden, die psionische Raumfahrt zu betreiben? Woher kamen dann all die Eindrücke fremder Welten, die meditierende Chailiden in sich aufgenommen und von denen Akitar – allerdings aus dritter Hand – berichtet hatte? Die Diskrepanz hing zumindest teilweise, dessen war der Robot sicher, mit dem mentalen Netz zusammen, das sich rings um Chail spannte. Das Netz war Wirklichkeit: man hatte an Bord der SOL den telepathischen Kontakt zu Bjo Breiskoll verloren, nachdem sich die Space‐Jet CAMELOT dem Planeten bis auf eine gewisse Distanz genähert hatte. Das Netz verbrauchte Energie. Von wem wurde sie geliefert? Von den Chailiden oder den Roxharen? Er mußte sich umsehen und umhören. Er brauchte Bewegungsfreiheit. Er durfte sich von PhinʹSar nicht tagelang
einsperren lassen. Vor allen Dingen aber durfte er seine vordringlichste Aufgabe nicht vernachlässigen: Atlan und seine Begleiter zu finden und ihre Rückkehr zur SOL zu bewirken. Aus dieser Sicht betrachtet, hatte er bislang eigentlich nur eine einzige neue Information gewonnen: PhinʹSar kannte ein Volk, von dessen Sprache er annahm, daß sie YʹMan vertraut sein müsse. Anders ließen sich sein durchsichtiges Experiment und die Frage, die er dem Roboter zuletzt gestellt hatte, nicht erklären. YʹMan verbrachte einige Zeit damit, den abgedunkelten Raum in allen Einzelheiten zu untersuchen. Die Tür, die ins Freie führte, beschäftigte seine Aufmerksamkeit nur wenige Augenblicke. Der Riegel war nicht übermäßig kompliziert; er hätte ihn ohne sonderliche Mühe lösen können. Aber zweifellos wäre dadurch in PhinʹSars Hauptquartier ein Alarm ausgelöst worden, und wenige Minuten später hätte er eine Schar von Häschern auf den Fersen gehabt. Wesentlich interessanter fand er dagegen die Versorgungsleitung, die unter dem Boden des verdunkelten Zimmers entlangführte. Seine Sensoren hatten sie bereits beim Eintritt wahrgenommen. Aufgrund der magnetischen Impulse, die von dem unterirdischen Kabelsystem ausgingen, rechnete YʹMan sich aus, daß unter ihm etliche Megawatt flossen. Er inspizierte den Boden und fand unter einem teppichähnlichen Belag, den er bedenkenlos beseitigte, die Umrisse zweier Abdeckplatten, die sich leicht aus ihren Halterungen entfernen ließen. Der Zugang diente dem Zweck, Wartungsarbeiten zu erleichtern. Nachdem er seine Untersuchung beendet hatte – die Abdeckplatten ließ er an die Wand gelehnt im verdunkelten Zimmer zurück – begab er sich in den angrenzenden Raum, der nicht nur den Interkom‐Anschluß, sondern auch eine Reihe von Küchengeräten enthielt. Der Interkom besaß keinen Wählmechanismus, sondern nur einen einfachen Druckschalter. YʹMan betätigte ihn, und Sekunden später erschien BengʹTuts
Gesicht auf dem kleinen Bildschirm. Der Roxhare war sichtlich erstaunt. »Da bist du ja!« stieß er hervor. »Was heißt das?« knurrte der Robot. »Ich war die ganze Zeit über hier. Ich habe mich ausgeruht. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Die Tür ist versperrt. Hast du nach mir gesucht?« »N‐nein«, antwortete BengʹTut hastig. Er durfte nicht zugeben, daß er das abgedunkelte Zimmer beobachtet hatte und mißtrauisch geworden war. »Wenn du Bewegung brauchst oder dich umsehen möchtest, kann ich dir jederzeit einen Begleiter schicken …« YʹMan winkte ab und sah zum Fenster hinaus. Die Sonne Guel war untergegangen. In spätestens zwanzig Minuten würde es dunkel werden. »Nein, ich habe Hunger«, erklärte er. »Ich weiß nicht, wie man diese Maschine bedient.« »Ich komme und …« »Bleib mir vom Hals!« zeterte YʹMan. »Ich brauche deine Gesellschaft nicht. Erklär mir von dort aus, wie man es macht.« BengʹTut versuchte sein Bestes. Es war nicht viel. YʹMan, der die Funktion der Geräte sehr wohl kannte, kam zu dem Schluß, daß der Adjutant in der Tat nicht intelligenter war, als aus seinem Verhalten geschlossen werden konnte. »Ich glaube, ich verstehe es jetzt«, sagte er, nachdem BengʹTut seinen zwanzigminütigen Vortrag beendet hatte. »Wenn es nicht klappt, melde ich mich wieder.« Mit diesen Worten drückte er auf den Schaltknopf, und der Bildschirm erlosch. Der Rest der Vorbereitungen machte ihm keine Schwierigkeiten. Er brauchte nicht einmal das Licht auszuschalten, um BengʹTut zu verbergen, was er tat; denn im großen und ganzen richtete er sich nach dessen Vorschriften – allerdings mit geringfügigen Variationen, die dafür sorgten, daß auch wirklich der Effekt erzielt wurde, den er brauchte. Er hatte ein Sitzmöbel herbeigezogen, um die in mehr als anderthalb Metern Höhe
angebrachten Geräte besser bedienen zu können. Die blitzschnelle Handbewegung, mit der er die aus Plastikmetall bestehende Verkleidung des Radarerhitzers nur einen Millimeter weit aufriß, blieb unbemerkt. Dünnflüssiger Nahrungsbrei, durch den winzigen Spalt geschüttet, tat seine Pflicht, als der Erhitzer sich selbsttätig einschaltete. Ein lauter Knall war zu hören. Ein Blitz schoß aus der Verkleidung. Die Beleuchtung erlosch im gesamten Quartier. Gelassen stieg YʹMan vom Stuhl und ging zum Interkom. Das Gerät war an eine separate Versorgung angeschlossen. BengʹTut meldete sich sofort. Er wirkte verstört, die runden Ohren hatte er nach vorne geklappt. »Höre«, sagte der Robot, »ich glaube allmählich, daß PhinʹSar recht hat. Es ist gefährlich auf dieser Welt.« * »Bitte bleib, wo du bist«, forderte der Adjutant ihn eindringlich auf. »Du hast nichts zu fürchten. Ein kleiner Leistungsausfall, der sofort behoben wird.« Er verschwand vom Bildschirm. YʹMan huschte ins angrenzende Zimmer hinüber – er konnte sich überaus flink bewegen, wenn es darauf ankam. Er tauchte durch die Öffnung, die die beiden Abdeckplatten hinterlassen hatten. Mit angespannten Sensoren untersuchte er die Hausleitung, die über eine Schaltstelle vom eigentlichen Kabelsystem abzweigte. Sie war stromlos, wie er erwartet hatte. Das kleine Kurzschlußexperiment hatte die Sicherung zum Ansprechen gebracht. Es dauerte nur Sekunden, bis er die Schaltstelle in Einzelteilen vor sich liegen hatte. Die beiden Hauskabel miteinander verbunden und mitten in das Gewirr des dicken Hauptstrangs geschoben – die Arbeit von nur wenigen Augenblicken. Aber jetzt war es für den
Metallenen an der Zeit, vorläufig das Weite zu suchen. »Bist du noch da, Mann in der Rüstung?« hörte er BengʹTuts Stimme aus dem Nebenraum. »Ich bin hier!« schrie YʹMan so schrill, daß man es durch sämtliche Wände hören konnte. Inzwischen hatte er den am weitesten rückwärts gelegenen Raum erreicht und war dicht neben der Tür in Deckung gegangen. »Ich schalte jetzt ein«, sagte BengʹTut. Der Effekt war umwerfend. Der ruckende Boden hob den Robot ein paar Zentimeter in die Höhe. Aus den Tiefen der Erde drang ein Krachen und Donnern, als öffneten sich die Schlünde von zwanzig Vulkanen auf einmal. Feuer leuchtete wabernd durch die Dunkelheit. Die Luft war von Staub und Qualm erfüllt. Irgendwo gellte eine Alarmsirene. Blitzschnell war YʹMan auf den Beinen. Der Raum, in dem sich die Küchengeräte befunden hatten, war ein wüstes Trümmerfeld. Dicker Rauch drang durch die Öffnung, die in das verdunkelte Zimmer führte. Flammen leckten durch die Finsternis. Die Wand, an der sich der Interkom befunden hatte, war zum Teil eingestürzt. Der Robot bahnte sich einen Weg über die Trümmer. Der Raum, in dem er den abgedunkelten Nachmittag verbracht hatte, war nicht mehr wiederzuerkennen. Nur noch zwei Wände standen aufrecht. Der Boden bildete einen mächtigen Krater, an dessen Rand YʹMan vorsichtig entlangturnte. Flammen züngelten überall. Aus der Tiefe des Kraters herauf leuchtete düster glühendes Metall, zu einer wirren Masse zerfetzt. Die Temperatur im Umkreis des Kraterrands betrug mehr als vierhundert Grad. YʹMan machte es nichts aus. Er war dazu gebaut, noch intensiverer Hitze standzuhalten. Die Fensterwand war verschwunden. Trümmer waren bis weit auf den freien Platz hinausgeschleudert worden, der den Kern der Blauen Stadt umgab. YʹMan trat hinaus und sah sich um. In der Ferne leuchteten grelle Sonnenlampen; aber wenn er sich umwandte und zu der Silhouette des Stadtzentrums hinaufblickte, sah er nur
Dunkelheit. Wie lange hatte er Zeit? Sie würden nach ihm suchen und ihn nicht finden. Die Explosion mußte ihn zerrissen haben, nichts anderes konnten sie glauben. In diesem Augenblick hatten sie Hunderte von Problemen. Als BengʹTut den Strom einschaltete, hatte er einen Kurzschluß in der Hausleitung erzeugt, und durch diesen war das Hauptkabelsystem kurzgeschlossen worden. Für den Augenblick war das gesamte Zentrum lahmgelegt. Ein paar Minuten, bis die Notaggregate in Betrieb genommen wurden – eine Stunde, bis sie den Schaden repariert hatten. Irgendwann würden sie mit den Aufräumungsarbeiten beginnen. Er mußte zurück sein, bevor sie seine Unterkunft vollends aufgeräumt hatten. Das war die einzige Forderung. Er sah sich um und versuchte, sich zu orientieren. Der blaue Turm, den er bei seiner Ankunft bemerkt hatte, befand sich zur linken Hand. Ihn wollte er sich als ersten vornehmen. Mit flinken Bewegungen wandte er sich in die entsprechende Richtung und war kurz darauf in der Dunkelheit verschwunden. 4. »Ich traue der Sache nicht«, erklärte PhinʹSar mit deutlichem Unmut. Er liebte es nicht, bei der Abendmahlzeit mit seiner Gefährtin SoonʹKum gestört zu werden. »Wir bringen ihn in diesem Quartier unter, und ein paar Stunden später explodiert genau unter seinem Fußboden das Hauptkabel.« Die Notbeleuchtung hatte pflichtgemäß die Aufgabe übernommen, das Arbeitszimmer des Aufsehers zu beleuchten. Die Kommunikationsgeräte waren wieder in Betrieb. BengʹTut hielt es für an der Zeit, eine Schüssel mit gequollenen Maris‐Körnern herbeizuschaffen, aber PhinʹSar schob sie ungeduldig beiseite. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Mann in der Rüstung
etwas damit zu tun hat«, wagte BengʹTut einzuwenden. »Die Explosion hat ihn zerrissen. Warum hätte er Selbstmord begehen sollen?« »Hat man nachgesehen?« fragte PhinʹSar. »Ein Trupp Mediker hat die Trümmer oberflächlich durchsucht«, lautete die Antwort des Adjutanten. »Sie haben kein Lebenszeichen gefunden. Die Unterkunft ist vollkommen zerstört. Die Räume sind jetzt noch so heiß, daß man darin Wasser zum Kochen bringen könnte.« Er machte eine vage Geste. »Nein, es gibt keine Hoffnung mehr.« Zu guter Letzt griff PhinʹSar doch nach der Schüssel. »Man soll nicht ohne Not klagen«, sagte er selbstgefällig. »Was hätte der Mann in der Rüstung uns gebracht? Nichts als Kopfzerbrechen. Wir hätten jede Minute auf ihn aufpassen müssen, bis das Netz schließlich seine Wirkung tut. So hat sich die Sache von selbst erledigt.« Er stand auf. »Wir sind hier auf dem verlassensten aller Vorposten. Wir haben es verdient, daß das Schicksal uns ab und zu einen Gefallen tut.« Mit einem nicht eben begeisterten Blick, der den ganzen Raum umfaßte, musterte er die schmuddelige Unordnung seines Arbeitsquartiers und fügte hinzu: »Ich werde hier nicht gebraucht, BengʹTut. Mach du weiter. SoonʹKum wartet auf mich.« Er wandte seinem Adjutanten den Rücken und schritt hinaus. * YʹMan hatte inzwischen den freien Platz, der den zentralen Komplex vom Ziel seines nächtlichen Ausflugs trennte, überquert. Das war kein leichtes Unterfangen gewesen; denn in der Nähe des blauen Turmes brannten eine Serie von Sonnenlampen, die ein grelles Licht verbreiteten. Der Platz wies weiter keine Deckung auf als ein paar Rillen, durch die vermutlich das Regenwasser ablaufen
sollte. Sein Glück war, daß die Lebensgewohnheiten der Chailiden auf die Roxharen abgefärbt zu haben schienen. Von Akitar wußte YʹMan, daß die Eingeborenen von Chail mit Sonnenuntergang zur Ruhe zu gehen pflegten. Ähnliches hatten sich offenbar die Invasoren zu eigen gemacht. Die Blaue Stadt lag wie ausgestorben. Irgendwo weit hinter ihm war Aktivität im Gang. Das mußte in der Gegend seiner zerstörten Unterkunft sein, die er inzwischen aus dem Blickfeld verloren hatte. Der hohe Turm besaß eine Unzahl winziger Fensteröffnungen. Sie waren zum Teil erleuchtet. YʹMan fragte sich, wie die Räume aussehen mochten, die sich jenseits der Fenster befanden, und was sie enthielten. In seiner Gesamtheit machte der Turm den Eindruck einer Wohnanlage; jedoch schienen die, die in ihm wohnten, keine hohen Ansprüche an Komfort zu stellen. Daß sein Unternehmen kein reiner Spaziergang war, erkannte der Robot, als plötzlich Stimmen an sein inneres Ohr drangen. Was er das innere Ohr nannte, war jener Umwandler, der die Endstufe des geheimen Translators bildete und elektronische Impulse unmittelbar zu ultrafrequenten, für organische Ohren unhörbare Schallschwingungen umsetzte. »Ich habe es deutlich gesehen«, sagte ein aufgeregter Roxhare. »Eine Art Klotz, etwas über einen Meter groß. Dort muß es gewesen sein …« YʹMan konnte sich ausmalen, wie er mit ausgestrecktem Arm deutete. Er befand sich in diesem Augenblick in einer der Rillen, deren linker Rand einen erfreulich breiten Schatten warf. Er kannte kein Selbstbewußtsein, also störte es ihn nicht, ein Klotz genannt zu werden. Aber ihm lag nichts daran, im entscheidenden Augenblick von einem roxharischen Aufpasser gesehen und gefaßt zu werden. Er glitt eilig und geräuschlos die Rille entlang in Richtung des Turmes. »Wer weiß, was du gesehen hast«, sagte ein zweiter Roxhare, offenbar gelangweilt. »Vielleicht hat die Explosion einen Brocken
herübergeblasen.« »Unmöglich …« Die Stimmen befanden sich jetzt bereits schräg hinter ihm. Er glaubte zu wissen, woher die beiden Aufpasser so plötzlich aufgetaucht waren. Am Fuß des Turmes gab es einen schuppenähnlichen Vorbau. Er nahm an, daß dort die beiden Roxharen ihren Posten hatten und daß es ihre Aufgabe war, zu bewachen, was immer sich im Innern des Turmes befand. Der Schuppen hatte zur Platzseite hin ein breites Fenster. Das wäre ihm um ein Haar zum Verhängnis geworden. Er blickte nach oben und sah die glatte Wand des riesigen Turmes unmittelbar vor sich aufragen. Vorsichtig glitt er zum Rand der Rille hinauf und sah sich um. Der offene Eingang des Schuppens lag nur wenige Meter entfernt. Zur Linken gewahrte er die Gestalten der beiden Roxharen. Ihre Aufmerksamkeit war weiterhin auf den Platz hinaus gerichtet. YʹMan nahm seine Chance war. Er schob sich aus der Rille hinaus und erreichte mit wenigen Schritten den Eingang des Schuppens. Drinnen wimmelte es von technischem Gerät. Er sah ganze Batterien winziger Bildflächen, auf denen sich eigenartige Geschehnisse abspielten. Es wurde ihm klar, daß von hier aus das Innere des Turmes überwacht wurde. Die wenigen Szenen, die er zu beobachten Zeit hatte, bewiesen ihm, daß er hier einen wichtigen Fund gemacht hatte. Die Schritte der beiden Roxharen näherten sich. Es gab in diesem Raum viele Orte, an denen ein Körper mit einer Maximaldimension von nicht mehr als 1,33 m versteckt werden konnte. YʹMan wählte einen davon, von dem aus er die Wand mit den Bildschirmen im Auge behalten konnte. Die beiden Aufpasser traten ein und schlossen die Tür. Durch YʹMans elektronisches Gehirn passierte eine Reihe von Impulsfolgen, die folgendem Gedankengang im Bewußtsein eines organischen Wesens entsprach: »Hier bin ich, und solange ich mich still verhalte, werden sie mich nicht finden. Die einzige Frage ist, wie ich zur rechten Zeit wieder
unbemerkt hinaus gelange.« Zunächst konzentrierte sich YʹMans Aufmerksamkeit auf die ungewöhnlichen Bilder, die sich ihm auf insgesamt achtundvierzig Videogeräten darboten. Dann aber begann die Unterhaltung der beiden Roxharen, sein Interesse zu erregen. Da er ein hochentwickelter Roboter war, brauchte er nicht zu entscheiden, welchen der beiden Vorgänge er zugunsten des anderen vernachlässigen solle. Er nahm sie beide in sich auf. »Wahrscheinlich hat dir die Phantasie einen Streich gespielt«, sagte der Größere der beiden, der mehrere bunte Riemen schräg über die Brust geschnallt trug und sie benützte, um zahllose kleine Behältnisse daran zu befestigen. »Jede Nacht vier Stunden in diesem Loch sitzen – das bringt den besten Verstand durcheinander.« »Und wofür?« fragte der andere, der daran erkenntlich war, daß das Fell an seinem linken Unterarm sich rötlich verfärbt hatte. YʹMan, der so rasch nichts vergaß, hatte beide schon gesehen. Sie waren früher am Tag zugegen gewesen, als BengʹTut ihn vom Landeplatz abholte. Sie gehörten zu PhinʹSars Garde. »Für irgendeine Laune des geistigen Faktors«, antwortete der Beriemte. »Damit die uns nicht entkommen, die hier im Turm sitzen, und unsere Raumtruppe ungestört fortfahren kann, Chailiden in alle Teile des Universums zu verschleppen. Seit einhundertsechzig Jahren – das muß man sich vorstellen!« »Nur damit sie andere Völker davon abhalten, die technische Raumfahrt zu entwickeln!« Der mit dem roten Arm gab einen schrillen Pfiff von sich, der das Äquivalent eines ärgerlichen Lachens darstellte. »Und die Sache funktioniert! Obwohl die Chailiden selbst von der Raumfahrt keine Ahnung haben – nicht einmal auf dem Umweg über psionische Reisen, wie sie sich einbilden. Was sie als Bilder fremder Welten sehen, verdanken sie nur dem Netz!« Er warf einen mißtrauischen Blick durch die große Glasscheibe, als erwarte er trotz der Widersprüche seines Genossen, den
merkwürdigen Klotz wieder auftauchen zu sehen. »Es soll Fehlschläge gegeben haben«, wandte der mit den Riemen ein. »Natürlich hört man offiziell nichts davon; aber nicht alle diese Einsätze laufen erfolgreich ab.« Der Rotarm sah überrascht auf. Seine kleinen, schwarzen Augen funkelten. »Wer sagt das?« »BengʹTut hat es unter der Hand verlauten lassen.« »Ach der!« Die Geste hätte verächtlicher nicht sein können. »Der spielt sich nur auf.« »Sag das nicht.« Der Beriemte zog die gespaltene Oberlippe in die Höhe, so daß die Schneidezähne sichtbar wurden. »BengʹTut spielt eine wichtigere Rolle, als mancher denkt. Wenn du wüßtest, wen er als nächste auf seiner Liste stehen hat …« »Wen?« »SoonʹKum.« Der Rotarm pfiff ein zweites Mal. »Er soll nur aufpassen, daß PhinʹSar nichts davon erfährt; sonst tut er an den Maschinen Dienst!« »Er erwartet keinen nennenswerten Widerstand«, grinste der mit den Riemen. »Und SoonʹKum wird nichts ausplappern.« »Sagt wer? Doch auch wieder BengʹTut, nicht wahr?« Der Beriemte blieb die Antwort schuldig, woraus der Rotarm schloß, er habe das Richtige vermutet. Die Unterhaltung schlief eine Zeitlang ein, wodurch YʹMan die Möglichkeit erhielt, sich voll auf die Batterie der Bildschirme zu konzentrieren. Schließlich sagte der Beriemte: »Wenn man nur öfter abgelöst würde! Diese Eintönigkeit bringt mich manchmal fast um den Verstand. Manchmal habe ich das unbändige Verlangen, einfach alles hinzuwerfen und davonzulaufen.« »Wohin?« spottete der mit dem roten Arm. »In die Wildnis, zu den Chailiden?«
Für YʹMan war es an der Zeit, sich zurückzuziehen. Eine Viertelstunde später kroch er durch dieselbe Rinne davon, die seinen Herweg geleitet hatte. Hinter sich zurück ließ er zwei zeternde Roxharen, die sich mit Hilfe eines Handlöschgeräts bemühten, einen heftig qualmenden Gerätebrand unter Kontrolle zu bekommen. Er hatte nicht viel Schaden angerichtet – nur soviel, daß ihre Aufmerksamkeit abgelenkt wurde und sie die Tür öffnen mußten, weil das Klimagerät mit dem dicken Qualm nicht zurechtkam. Der Vorfall erregte weiter keine Aufmerksamkeit. Die beiden Aufpasser waren Manns genug, das Feuer zu löschen und die nötigen Reparaturen vorzunehmen. Inzwischen arbeitete sich YʹMan am Südrand des Zentralkomplexes entlang und gelangte nach einiger Zeit in die Nähe seines zerstörten Quartiers. Die Aufräumarbeiten waren im Gang. YʹMan inspizierte sein Äußeres. Feuer und Qualm hatten ihre Spuren hinterlassen. Er sah mitgenommen aus. Es würde niemand daran zweifeln, daß er sich mitten in der Katastrophe befunden hatte. Schrammen und Beulen hatte er nicht abbekommen. Was würden sie dazu sagen? Daß die Rüstung des Fremden aus haltbarem und widerstandsfähigem Material gefertigt war. Es konnte nicht schwer sein, ihnen das einzureden. Seine Einschätzung des Intellekts und des Ehrgeizes der Roxharen war geringer geworden, seit er das Gespräch der beiden Aufpasser belauscht hatte. Fünf Roxharen beschäftigten sich mehr oder weniger lustlos mit dem Beiseiteräumen der Trümmer. YʹMan sah keine Roboter und wunderte sich darüber. Ein sechster und ein siebter standen abseits und unterhielten sich, wobei sie den Arbeitenden zusahen. Die Lichter im Zentralkomplex brannten inzwischen wieder in gewohnter Helligkeit. Man hatte das zerstörte Kabelstück durch eine geeignete Schaltung umgangen. In dem einen der beiden abseits Stehenden erkannte der Robot BengʹTut. Er hatte ursprünglich vorgehabt, in die Trümmer
zurückzukriechen und sich irgendwo unter den verbrannten Überresten finden zu lassen. Jetzt änderte er seine Absicht. »Es ist undenkbar, daß ein Wesen diese Explosion überlebt hat«, sagte BengʹTuts Gesprächspartner und fügte mit einer kräftigen Prise Übertreibung hinzu: »Selbst ein Stahlklotz wäre in dieser Hitze geschmolzen.« Der Adjutant gab ein leise zischendes Geräusch von sich. Es klang wie ein Seufzen. »Er war nur so kurze Zeit bei uns«, sagte er. »Er hat die Gefahren dieser Welt bei weitem unterschätzt …« »Gefahren dieser Welt, ein Blödsinn!« knarrte YʹMan, der sich unhörbar genähert hatte. »Ihr solltet eure Kabel besser isolieren.« BengʹTut wirbelte herum. Der Ausdruck seines Gesichts ließ sich kaum beschreiben. Die schwarzen Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Der Mund hatte sich geöffnet und ließ beide Zahnreihen sehen. Das bunte Fell war gesträubt, und die Ohren hatten sich so flach an den Schädel gepreßt, daß man sie nicht mehr erkennen konnte. Der zweite Roxhare sah nicht wesentlich intelligenter drein. »Du … du … ich dachte … wir vermuteten …«, sprudelte BengʹTut hervor. YʹMan winkte ab. »Du wirst das Sprechen schon noch lernen«, sagte er abfällig. »Ich bin verletzt. Ich brauche Hilfe. Meine Rüstung muß gereinigt werden.« 5. PhinʹSar empfing den auf so wundersame Weise Geretteten erst am nächsten Morgen. Es war nicht klar, ob er von SoonʹKum abgehalten wurde oder ob ihm die Angelegenheit einfach nicht wichtig genug erschien. Auf jeden Fall hatte YʹMan ausgiebig Zeit gehabt, sich um seine angeblichen Wunden zu kümmern und seine »Rüstung« zu
reinigen. Man wollte ihm dabei behilflich sein; aber er hatte jede Hilfe entrüstet abgelehnt. »Ein Geschöpf meines Volkes entblößt sich nicht vor anderen Wesen«, behauptete er. Er spezifizierte zwei Dutzend Chemikalien und Medikamente, die er für die Behandlung brauchte. Sie wurden ihm zur Verfügung gestellt, zusammen mit einem neuen Quartier, das sich in der Nähe von PhinʹSars Arbeitsgemächern befand. Der Robot verabschiedete sich von BengʹTut mit den Worten: »Gib dir keine Mühe, mich zu beobachten. Ich kenne eure Spionmechanismen, und ich sagte schon, ich werde mich euren Augen nicht nackt zeigen.« Nach dieser Warnung hatte er keine Bedenken mehr, die Mikroinstrumente, die sich in den Wänden seiner neuen Unterkunft fanden, systematisch zu zerstören. Dann löschte er obendrein noch das Licht – was BengʹTut einiges zu denken geben mochte, falls er wider alles Erwarten doch eine der geheimen Kameras übersehen hatte – und machte sich an die Arbeit. Einen Teil der Chemikalien benutzte er zur Reinigung seines Äußeren. Den Rest verwendete er dazu, eine geringfügige Menge eines Katalysators herzustellen, der geruch‐ und geschmacklos war und die Fermentierung geeigneter Stoffe selbst unter den widrigsten Umständen förderte. Den Katalysator füllte er in eine Phiole, und diese wiederum verbarg er in derselben Körperhöhlung, in der er seine übrigen Geheiminstrumente versteckt hielt. Das war in der vergangenen Nacht gewesen. Inzwischen hatte die Sonne sich erhoben und PhinʹSar sich bereit erklärt, ihn zu empfangen und über die merkwürdigen Vorgänge des vorigen Abends zu befragen. Er tat dies mit der für sein Volk charakteristischen Höflichkeit. »Es gereicht mir zu großem Kummer, Mann in der Rüstung, daß dir unter meiner Obhut Schaden widerfahren ist«, begann er. »Sag mir, wie ich meine Nachlässigkeit wiedergutmachen kann.« YʹMan machte eine friedfertige Gebärde. Er hatte beschlossen,
heute zum ersten Mal zu demonstrieren, daß er allmählich dem Einfluß des mentalen Schilds erlag. »Darüber laß dir keine eckigen Ohren wachsen«, sagte er, eine Redewendung paraphrasierend, die er in der vergangenen Nacht gehört hatte. »Du hast mich gewarnt, daß dieser Planet voller Gefahren steckt. Ich hätte besser auf dich hören sollen. Es war alles meine Schuld.« Es war PhinʹSar anzusehen, daß er eine ganz andere Reaktion erwartet hatte. Der gespaltene Mund öffnete sich ein wenig und verlieh seinem Gesicht einen ratlosen Ausdruck. »Ich … äh … freue mich, daß du die Sache so leicht nimmst«, entgegnete er. »Meine Warnung bezog sich keineswegs auf die Gefahr, die dir gestern abend drohte …« »Sondern worauf?« unterbrach ihn der Metallene. Es konnte nicht schaden, gelegentlich in die gewohnte Grobheit zurück zu verfallen. »Auf … gewisse mentale Strömungen, die auf dieser Welt existieren«, antwortete PhinʹSar. »Soweit wir erkennen können, gehen sie von den meditierenden Chailiden aus. Die Chailiden sind, wie du weißt, ein ganz und gar atechnisches Volk. Der Mangel an Technik gehört zu ihrer Weltanschauung. Diese Überzeugung kommt in den Gedanken der Meditierenden zum Ausdruck. Daher geschieht es mitunter, daß Fremdwesen, die auf Chail landen, binnen kurzer Zeit alles technische Wissen verlieren.« »Aber ihr nicht«, hielt YʹMan ihm entgegen. Der Einwand kam PhinʹSar nicht sonderlich gelegen. »Nein, wir nicht«, gestand er. »Der Grund ist uns unbekannt. Es hat den Anschein, als sei unser Bewußtsein von einer besonderen Struktur, auf die die Chailiden nicht einwirken können. Wir erfuhren von unserer Immunität erst, als viele Jahre nach unserer Ankunft die ersten Nicht‐Roxharen auf Chail landeten und binnen weniger Tage …«, er suchte nach Worten und fand schließlich eine Wendung, die ihm kräftig genug erschien … »in technischer Hinsicht völlig verblödeten.«
»Aha«, machte YʹMan. »Diese Gefahr droht mir auch?« »Ja.« »Dann sollte ich mich schleunigst wieder auf den Weg machen …« »Oh nein«, fiel PhinʹSar hastig ein. »Hier in der Nebenzelle Chail bist du völlig sicher! Du kannst, sobald du dich hier eingewöhnt hast, sogar kurze Ausflüge aus der Stadt hinaus unternehmen, um nach deinen Freunden zu suchen. Es ist jedoch wichtig, daß du dich den größten Teil der Zeit in der Nebenzelle aufhältst. Nur hier können wir für deine mentale Sicherheit garantieren.« Die Augenblicke, die der Aufseher damit verbrachte, ihn in dozierendem Ton über die Gefahren des Planeten Chail aufzuklären, verwandte YʹMan dazu, sich die Einzelheiten des Raumes einzuprägen – besonders die Lage, in der PhinʹSar während seines Vortrages verharrte, die relative Position der Blechschüssel mit den gequollenen Maris‐Körnern und den Standort BengʹTuts, der dem Gespräch beiwohnte, obwohl er selbst kein Wort zu sagen hatte. Er prägte sich die Geometrie der Lage ein und kam zu dem Schluß, daß es bei seinem Vorhaben keine nennenswerten Schwierigkeiten geben werde. Allerdings mußte er noch ein paar Stunden warten. »Das scheint mir ein vernünftiges Arrangement zu sein«, erklärte er, wobei er sich den Anschein gab, lange und eindringlich über PhinʹSars Ausführungen nachgedacht zu haben. »Mein neues Quartier gefällt mir ebenfalls. Ich habe nach den Vorgängen der letzten Nacht …«, dabei warf er einen bezeichnenden Blick in BengʹTuts Richtung … »den Eindruck, daß wir einander vertrauensvoll begegnen können und uns nicht gegenseitig zu bespitzeln brauchen. Wenn du gestattest, ziehe ich mich jetzt zurück. Nach den Strapazen der vergangenen Stunden bedarf ich der Ruhe.« »Er ist ein merkwürdiges Wesen«, bemerkte PhinʹSar, nachdem sich die Tür hinter dem Metallenen geschlossen hatte. »Nicht besonders intelligent, aber irgendwie …«
»Beeindruckend«, ergänzte BengʹTut. »Ja, beeindruckend. Und gleichzeitig mit einer eigenartigen Gabe der Überredung ausgestattet. Erinnere dich, daß ich ihn hierher bestellte, um ihn darüber auszufragen, wie es ihm gelang, die Explosion zu überleben. Bin ich dazu gekommen? Nein! Er brachte mich dazu, mein eigentliches Vorhaben zu vergessen.« Der Aufseher machte eine Gebärde, die sein Staunen zum Ausdruck brachte. »Mir fällt außerdem auf«, wagte der Adjutant einzuflechten, »daß er sein Benehmen geändert hat.« »Nicht wahr? Er ist auf einmal wesentlich höflicher! Ich frage mich …« »Die befriedende Komponente des Netzes macht sich bemerkbar«, behauptete BengʹTut. »Glaubst du? Jetzt schon?« »Ich bin sicher.« »Dann brauchen wir uns um ihn keine Sorge zu machen. Morgen oder übermorgen wird er vergessen haben, wie sein eigenes Raumfahrzeug zu bedienen ist.« »Dann können wir anfangen, ihn auszufragen«, fügte der Adjutant hinzu. »Richtig. Ich bin begierig, zu erfahren, was es mit seinem Volk auf sich hat. Er scheint ein ausgefallenes Exemplar zu sein. Er benimmt sich nicht wie die andern.« »Die Erklärung gabst du selbst«, erinnerte ihn BengʹTut. »Er muß an Bord des fremden Raumschiffs aufgewachsen sein, das in hohem Orbit um Chail kreist. Er hatte keinen Kontakt mit seinem Volk.« »Nur so kann es sein«, stimmte der Aufseher zu. »Wenn ich nur wüßte, was er mit seiner letzten Bemerkung meinte?« »Welche ist das?« erkundigte sich BengʹTut mit plötzlich erwachendem Unbehagen. »Wir können einander vertrauensvoll begegnen und brauchen keine Bespitzelung. BengʹTut – hat er etwas gemerkt?«
»Ich fürchte fast«, antwortete der Adjutant mit betretener Stimme. »Geh in Zukunft behutsam vor«, trug PhinʹSar ihm auf. »Beobachte nur, wenn es unbedingt nötig erscheint.« BengʹTut empfand Erleichterung, aber nur ein wenig. Irgendwann würde er dem Aufseher schonend beibringen müssen, daß der fremde Gast in der vergangenen Nacht sämtliche Seh‐ und Abhörgeräte in seiner neuen Unterkunft zerteppert hatte. * In sein Quartier zurückgekehrt, nahm YʹMan sich Zeit, die Dinge auseinanderzusortieren, die er von PhinʹSar zu hören bekommen hatte. Er war mehr denn je davon überzeugt, daß das mentale Netz in Wirklichkeit ein Erzeugnis der Roxharen und nicht eine Emanation aus den meditierenden Bewußtseinen der Chailiden war. Wie viele Chailiden gab es? Nicht mehr als ein paar Millionen, dessen war er sicher. Von diesen widmeten sich nur diejenigen der Meditation, die das entsprechende Alter erreicht hatten: die Kinder waren aufgezogen und in den Wäldern verschwunden – das war die Zeit, in der der typische Chailide begann, sich der Meditation hinzugeben. Dreißig Prozent der Gesamtbevölkerung – mehr machten die Meditierenden nicht aus. Eine solch geringe Anzahl, selbst wenn ihre Psyche mit überdurchschnittlichen Kräften ausgestattet sein sollte, reichte nicht aus, um ein planetenweites Netz von derart durchschlagender Wirkung zu erzeugen. PhinʹSar hatte von Fremdwesen gesprochen, die nach den Roxharen auf Chail gelandet waren. YʹMan war überzeugt, daß er in der vergangenen Nacht einige von ihnen zu Gesicht bekommen hatte. Sie lebten in dem blauen Turm als Gefangene der Invasoren. Wenn der Aufseher die Wahrheit sprach, hatten sie alles technische Wissen verloren und waren nicht mehr imstande, die Fahrzeuge, mit denen sie gekommen waren, zu starten und in Richtung ihrer
Heimat weit auf Kurs zu bringen. Wo waren die Fahrzeuge geblieben? Warum waren die Fremden nach Chail gekommen? Die Frage, warum die Roxharen dem Einfluß des Netzes nicht erlagen, beantwortete sich von selbst. Wenn es ihr eigenes Erzeugnis war, würden sie es so hergerichtet haben, daß es ihnen selbst keinen Schaden zufügen konnte. Das Netz war also ein Instrument, mit dem sie Fremdintelligenzen neutralisierten, die ihnen sonst gefährlich werden könnten. Aber war das der einzige Zweck, dem es diente? YʹMan sah seine Aufgabe klar umrissen. Seine Suche nach Atlan würde warten müssen, bis PhinʹSar ihn für vollends harmlos hielt und ihm die nötige Bewegungsfreiheit gestattete. Bei der Analyse dieses Aspekts stieß er auf eine Schwierigkeit, einen Widerspruch. Er rechnete damit, daß der Aufseher von ihm erwartete, mit der Zeit dem Einfluß des Netzes zu erliegen. PhinʹSar aber hatte ihm zu verstehen gegeben, daß die »mentalen Strömungen«, wie er sie nannte und mit denen er ohne Zweifel das Netz meinte, sich in der Blauen Stadt nicht auswirkten. Wie ließen diese beiden Dinge sich miteinander vereinbaren? Konnte es sein, daß das Netz selektiv wirkte? Daß sein Gesamteinfluß nur draußen auf dem platten Land, außerhalb der Blauen Stadt, wirksam wurde, während in das Hauptquartier der Roxharen nur vereinzelte Komponenten vordrangen? Die Lösung dieses Rätsels war nirgendwo anders als im blauen Turm zu finden. An der geistigen Verfassung der gefangenen Fremdwesen würde sich erkennen lassen, wie das mentale Netz funktionierte. Der Turm war sein nächstes Ziel. Er mußte sich nur die erforderliche Bewegungsfreiheit verschaffen. 6.
Draußen, jenseits des großen Fensters, sank die Sonne Guel dem Horizont entgegen. PhinʹSar ruhte in seiner gewohnten Haltung auf der sofaähnlichen Liege und hatte die Schüssel mit Maris‐Körnern neben sich stehen. BengʹTut, der Adjutant, stand etliche Meter abseits in einer Haltung, die seine Aufmerksamkeit zum Ausdruck bringen sollte. Der Aufseher musterte seinen abendlichen Besucher mit höflichem, aber verwundertem Blick. »Was kann ich für dich tun?« erkundigte er sich. »In kurzer Zeit, hoffe ich«, begann YʹMan, »wirst du mir erlauben, diese Stadt zu verlassen und draußen im Land der Chailiden nach meinen Gefährten zu suchen. Ich bedarf deines Rates, wo ich mit der Suche beginnen soll.« PhinʹSar war zugleich beeindruckt von der Höflichkeit, die der Mann in der Rüstung an den Tag legte, und verwirrt ob seiner Initiative. War es nicht gewöhnlich so, daß Fremdlinge mitsamt ihrem technischen Wissen auch einen Großteil ihrer Tatkraft verloren? Das zuvorkommende Gehabe des Metallenen deutete darauf hin, daß die befriedende Komponente des Netzes zu wirken begonnen hatte. Woher nahm er dann aber seine Zielstrebigkeit? Der Aufseher, der die Antwort auf die Frage seines Gastes nicht wußte, wandte sich an BengʹTut. »Aus welcher Gegend stammen die Berichte, wonach die Fremden gesehen worden sind?« fragte er. PhinʹSars Aufmerksamkeit war auf den Adjutanten gerichtet; der Adjutant, dem YʹMan den Rücken wandte, konnte nicht sehen, was der Metallene tat. Es war wirklich eine Kleinigkeit, die Phiole aus der Körperhöhlung zum Vorschein zu bringen und ihren Inhalt über die gequollenen Maris‐Körner zu verteilen. Wie es die Art von Adjutanten ist, antwortete BengʹTut: »Ich werde die entsprechenden Informationen sofort besorgen.« PhinʹSar winkte ab.
»Bleib noch eine Weile«, sagte er und wandte sich an den Mann in der Rüstung. »Warum solche Eile? Gefällt es dir bei uns nicht?« Mit diesen Worten nahm er eine Handvoll Körner aus der Schüssel und führte sie zum Mund. »Es gefällt mir bei euch«, antwortete YʹMan. »Aber ich bin mit einer gewissen Absicht hierhergekommen. Ich bin es gewöhnt, schwierige Aufgaben nur nach entsprechender Vorbereitung anzugehen. Ich habe dich aufgesucht, um mich anhand der nötigen Informationen vorzubereiten.« PhinʹSar stemmte sich ein wenig in die Höhe und entließ durch den offenen Mund mit leisem Zischen einen Luftstrom, der sein Inneres geplagt hatte. »Das kann man verstehen«, sagte er. »BengʹTut, können wir ihm sagen, wo er mit der Suche beginnen soll?« »Ich werde die entsprechenden Informationen sofort besorgen«, antwortete der Adjutant eisern. »Dann geh … schon!« rief PhinʹSar, wobei er zwischen den beiden letzten Worten wider seinen Willen gezwungen war, kräftig zu rülpsen. BengʹTut wandte sich zum Ausgang. Er hatte keine Ahnung, wo die gewünschten Daten zu beschaffen seien; aber wenn der Aufseher befahl, dann setzte man sich am besten in Bewegung. »Halt, nein – bleib noch eine Weile«, befahl PhinʹSar ihm zum zweiten Mal und nahm eine weitere Handvoll Körner aus der Schüssel. »Ich kann … noch immer nicht verstehen … warum der Mann in der Rüstung …« Er hob die freie Hand und fuhr sich mit einer hilflosen Geste über den Schädel. »Wa‐was war es eigentlich, das du von mir wolltest?« »Hilfe«, antwortete YʹMan einfach. »Hilfe!« zwitscherte PhinʹSar und gab einen belustigten Pfiff von sich. »Ausgerechnet von dem‐demjenigen, der selbst … die Seife am nötigsten hat!« Er musterte den Adjutanten mit starrem Blick. »BengʹTut, was rede ich eigentlich?« fragte er streng.
»Es ist mir selbst nicht ganz klar«, antwortete der Gefragte. PhinʹSar sank auf das Lager zurück und machte eine schwache Geste mit der feingliedrigen Hand. »Der Mann in der Rüstung soll tun, wa‐was er will«, brachte er mit Mühe hervor. »Ich bin unendlich mi … müde. Man soll mir brüngen …« »Bringen«, korrigierte BenʹTut. »Brüngen, bringen – was ist der Unterschied?« zeterte PhinʹSar. »Wen soll man brüngen?« erkundigte sich der Adjutant. »Soo … soo … wie heißt sie?« »Man wird ihr deinen Wunsch übermitteln«, erklärte BengʹTut mit verbissenem Gesicht. PhinʹSar gab ein zufriedenes Grunzen von sich. Im nächsten Augenblick sank ihm der Schädel auf die Seite. Die zusätzlich fermentierten Maris‐Kerne hatten ihre Wirkung getan. * Bevor BengʹTut Gelegenheit hatte, seine Fassung wiederzugewinnen, sagte der Metallene: »Das hast du nicht gut gemacht.« Der Adjutant fuhr herum. »Ich? Was kann ich … ich meine … woher hat …« »Faß dich!« redete YʹMan ihm zu. »Es ist nicht das Ende der Welt. Ich sage nur: um ungestört zu deiner Ersehnten zu kommen, hättest du dir etwas Besseres einfallen lassen können, als deinen Vorgesetzten in einen Vollrausch zu befördern.« »Ich …?« Der Protest stand BengʹTut auf dem Gesicht geschrieben. »Zumal das Ganze gar nicht notwendig war«, fügte YʹMan hinzu. »Nicht … notwendig? Wovon sprichst du eigentlich?« YʹMans Gesicht war unbeweglich. »Ich habe eine Nachricht für dich – von SoonʹKum.«
BengʹTut brachte vor Überraschung kein Wort hervor. Seine kleinen Augen quollen ein wenig aus den Höhlen hervor, der Unterkiefer fiel herab, das Haar des Pelzes sträubte sich und legte sich wieder straff, die großen, runden Ohren rotierten auf ihren knorpeligen Gelenken – mit einem Wort: man sah dem Adjutanten an, daß er entgeistert war. »Und du hättest beinahe alles verbockt«, nickte YʹMan. »Ich … ich …« »Schon gut, mein Junge«, beruhigte ihn YʹMan. »Der Trick war an sich gut ausgedacht …« »Welcher Trick?« entfuhr es BengʹTut. YʹMan wies auf den ausgestreckten Körper des Aufsehers. »PhinʹSar einen Rausch anzudrehen«, antwortete er. »Aber ich habe doch nicht …« »Ich weiß schon. Mir kannst du vertrauen. Ich werde dein Geheimnis nicht preisgeben. Immerhin wird dadurch bewiesen, daß du zu planen und zu handeln verstehst.« BengʹTuts Gesicht glättete sich. »Es wird …?« »Ja. Du hast Anlagen zu einem Strategen. Das Problem ist nur, daß SoonʹKum den Aufseher heute nicht am vereinbarten Ort treffen wollte.« »Sondern wo?« fragte BengʹTut wie aus der Pistole geschossen und vergab sich mit dieser Frage den letzten Anschein von Unvoreingenommenheit. »Nirgendwo«, antwortete der Metallene. »Sie fühlt sich indisponiert. Das wenigstens wollte sie PhinʹSar gegenüber vorgeben. An dieser Stelle komme ich ins Spiel.« »Oh ja?« »Ich sagte dir doch, ich hätte eine Nachricht für dich.« BengʹTut wurde mißtrauisch. »Wie kämst du zu einer Nachricht von SoonʹKum?« wollte er wissen.
YʹMans gelbe Augen leuchteten. »Willst du mich einem Verhör unterziehen oder lieber hören, was ich dir zu sagen habe?« Die Entscheidung fiel BengʹTut nicht leicht – das muß man ihm zugestehen. Aber schließlich siegte in seinen Überlegungen das Verlangen. Sollte es ganz und gar unmöglich sein, daß der Fremde es verstanden hatte, SoonʹKums Vertrauen zu erwerben? Hatte nicht PhinʹSar selbst ihm zugestanden, daß er eine ungewöhnliche Gabe der Überredung besaß? »Gut. Was hast du zu sagen?« fragte BengʹTut. »SoonʹKum erwartet dich in ihrer Unterkunft«, antwortete YʹMan. »Wann?« »Sobald du Zeit hast.« Er wandte sich um und musterte den friedlich schlafenden PhinʹSar. »Soweit ich die Lage beurteile, hast du ab sofort Zeit, und du brauchst dich mit der Rückkehr nicht zu beeilen.« BengʹTuts kohlenschwarze Augen leuchteten im Feuer der Begeisterung. »Es gibt nur noch einen kleinen Haken«, sagte YʹMan. Der »Haken« bewirkte, daß die Verhandlung sich bedeutend in die Länge zog. BengʹTut war nicht gewillt, dem Mann in der Rüstung unbegrenzte Bewegungsfreiheit zuzugestehen. Dieser Entschluß schmerzte seine Seele zutiefst; denn der Metallene hatte zu verstehen gegeben, er könne den Riegel an der Tür seines Quartiers ohne Mühe beseitigen. Wenn BengʹTut sichergehen wollte, daß sein Schützling nicht mitten in der Nacht einen Ausflug unternahm, dann mußte er ihn bewachen, und aus dem Stelldichein mit SoonʹKum wurde nichts. Es raubte ihm fast den Verstand, ein solches Opfer bringen zu müssen; aber wenigstens hatte auf diese Weise die Unverschämtheit des Mannes in der Rüstung die gebührende Belohnung erhalten. BengʹTut hielt die Sache damit für erledigt; aber der Metallene trat zu der sofaähnlichen Liege, auf der Phin´Sar friedlich seinen Rausch verschlief, und begann, den
Aufseher zu rütteln. »Was tust du da?« fuhr der Adjutant auf. »Ich mache ihn wach«, antwortete der Mann in der Rüstung gelassen. »Wenn du mich nicht gehen läßt, soll er wenigstens erfahren, daß du seiner Gefährtin schon seit geraumer Zeit nachstellst.« »Das ist nicht wahr!« Aber alles Protestgeschrei half nichts. Als PhinʹSar schläfrig die Augen öffnete und ein unverständliches Murmeln von sich gab, brach BengʹTuts Widerstand zusammen. PhinʹSar, von dem der Metallene sogleich abließ, war Sekunden später wieder eingeschlafen. BengʹTut machte sich schweren Herzens, aber voller Begierde auf den Weg zu seiner Angebeteten und überließ den Mann in der Rüstung seinen nächtlichen Plänen, über die er keine Einzelheiten wissen wollte, weil ihm sonst womöglich Pflichtbewußtsein und Gewissen zu guter Letzt doch noch einen Strich durch die Rechnung gemacht hätten. So war YʹMan also, zwei Stunden vor Mitternacht, wiederum auf dem Weg über den weiten, ringförmigen Platz, der den zentralen Gebäudekomplex vom Rest der Stadt trennte. Diesmal jedoch trug er Sorge, daß er von dem Schuppen aus, in dem der Beriemte und der Rotarm Dienst taten, nicht gesehen werden konnte, und näherte sich dem Turm von Osten her. Die große Tür, durch die er in das Gebäude eindrang, gab ihm zu denken. Sie bestand aus massivem, hochverdichtetem Stahl, der dem Druck einer kleineren Nuklearexplosion standgehalten hätte. Die Verriegelung aber war so einfach, daß sie der Findigkeit eines technisch auch nur entfernt begabten Wesens keine zwei Minuten hätte standhalten können. Den Roxharen lag ohne Zweifel daran, die Bewohner des Turmes am Entweichen zu hindern. Daß sich dies mit so primitiven Mitteln erreichen ließ, sprach dafür, daß die Eingesperrten – die per Raumschiff nach Chail gekommen waren – keinerlei technisches Verständnis mehr besaßen.
YʹMan gelangte in eine ausgedehnte, matt erleuchtete Halle. Im Hintergrund waren die Eingänge zu einem halben Dutzend Antigravaufzügen zu sehen. Seitwärts führte eine Treppe in die Höhe und verschwand durch ein finsteres Loch im ersten Obergeschoß. Abseits der Treppe stieg eine Leiter nach oben – ein Holm mit außen angebrachten Sprossen – und wiederum ein paar Meter seitwärts befand sich eine Stange mit angerauhter Oberfläche. YʹMan nahm all dies gelassen zur Kenntnis. Wenn man in einem Gebäude wie diesem Wesen unterschiedlicher Herkunft einquartierte, dann mußte man dafür sorgen, daß sie sich in der ihnen geläufigen Weise bewegen konnten. Die Antigravaufzüge erregten seine Aufmerksamkeit. Die Leuchten auf den schmalen Kontrolleisten strahlten gelb – eine Farbe, die im Signalcode der Roxharen soviel wie »Versager«, »Halt« oder »Verboten« bedeuteten. YʹMan trat auf die Plattform und ließ die metallenen Finger über eine Reihe von Kontaktschaltern gleiten. Der Aufzug rührte sich nicht und entsprach damit voll und ganz seiner Erwartung. Wesen, die das Verständnis für Technik verloren haben, fahren nicht mit Antigravaufzügen. Während er sich mit dem Schaltmechanismus beschäftigte, hörte er draußen in der Halle ein schabendes, kratzendes Geräusch und einen halblauten Plumps. Jemand war die Kletterstange herabgekommen. YʹMan trat aus dem Aufzug hinaus. In das Halbdunkel der Halle geriet Bewegung. Eine Gestalt glitt auf ihn zu. Sie war mit einem keulenähnlichen Mordwerkzeug bewaffnet und sagte in gebrochenem Chailidisch: »Bleib stähen und rihrr dich nicht, wenn Laben lieb ist!« 7. »In Ordnung«, sagte YʹMan. »Laben ist lieb, ich rihrr mich nicht.«
Der Fremde war ein wenig größer als er, etwa anderthalb Meter. Der gedrungene, massige Körper ruhte auf seltsam verkrümmten Beinen, die nur aus Sehnen und Muskeln zu bestehen schienen und gewiß keinen einzigen Knochen in sich trugen. Ähnlich waren die Arme geformt. Sie endeten in Händen mit jeweils drei flexiblen Fingern, denen ein kräftig ausgebildeter Daumen gegenübersaß. Das Wesen hatte keinen Hals. Der Schädel saß ihm unmittelbar auf den Schultern und wirkte wie ein Pudding, der aus der Schüssel gestürzt worden war. Die Augen waren mit Schlitzpupillen versehen und hatten einen starren Blick. Der Mund war breit und dünnlippig. Die Hautfarbe des Fremden war ein trübes Olivgrün. Soweit YʹMan erkennen konnte, trug er keine Kleidung. »Was will du hier?« erkundigte sich die krächzende Stimme. »Ich will mit euch sprechen«, antwortete der Robot. »Ich bin ein Fremder auf Chail wie ihr. Ich will wissen, was hier vorgeht. Und du? Was sollʹs mit der Keule?« Der Olivgrüne musterte seine Waffe, als sähe er sie zum ersten Mal, und ließ den erhobenen Arm sinken. »Du Spion. Roxharer dich geschickt!« »Blödsinn«, brummte YʹMan. »Die Roxharen bespionieren euch die ganze Zeit. Dazu brauchen sie mich nicht. Was bist du? Ein Wachposten?« »Unterfihrrer von Garde«, antwortete das fremde Wesen selbstbewußt. »Dann bring mich zu deinem Oberfihrrer«, bat YʹMan. Der Olivgrüne musterte ihn angelegentlich, wobei der starre Ausdruck der Reptilienaugen sich allmählich milderte. »Is gutt«, erklärte er schließlich. »Komm mit!« Er strebte auf die Stange zu. YʹMan sah, daß er seine unbeholfen wirkenden Beine sehr geschickt zu gebrauchen verstand. Die Art seiner Fortbewegung war eine Mischung aus Hüpfen und Gehen. »Halt!« sagte YʹMan. »Wenn du meinst, ich klettere hinter dir her an der Stange empor, dann täuschst du dich. Ich nehme die Treppe.«
Der Olivgrüne überdachte diesen Vorschlag ein paar Sekunden lang, dann machte er eine schwingende Geste mit dem freien Arm, die offenbar Zustimmung bedeutete. »Is gutt«, sagte er. »Ich vor dir. Paß auf, daß nix wegrenn.« So begann YʹMans seltsamer Aufstieg durch den Turm der Fremden. Jedesmal, wenn er das nächsthöhere Geschoß erreichte, war der Olivgrüne bereits da, an der Kletterstange klebend, und musterte ihn mit starrem Blick, um zu ermitteln, ob er auch wirklich nicht davonzulaufen gedenke. Im 23. Stockwerk endlich hatte die Kletterei ein Ende. Der Olivgrüne löste sich von der Kletterstange und deutete mit der Keule in einen der Korridore hinein, die sternförmig vom Treppenabsatz ausgingen, und erklärte: »Hauptquartier von Oberfihrrer dort!« YʹMan nickte und sagte: »Dann laß uns zu ihm gehen.« »Sag mir also, was euer Plan ist«, bat YʹMan. Der Oberführer sandte einen ergebenen Blick in Richtung der Decke des eigenartigen Raumes und antwortete: »Unser Plan ist, zu tun, was den Göttern gefällt. Und wenn sie uns bestimmt haben, daß wir in diesem Gebäude der Knechtschaft sterben sollen, dann werden wir auch dieses Geschick in Ruhe hinnehmen.« YʹMan registrierte die Atmosphäre als eigenartig. Die Kammer, in der er sich befand, hatte quadratischen Querschnitt und war nicht mehr als zwei mal zwei Meter im Geviert. Der »Unterfihrrer« hatte den Oberführer aus dem Schlaf geweckt und ihm den nächtlichen Besucher vorgestellt. Der Oberführer hatte daraufhin den Roboter mit bemerkenswerter Eile in diesen Raum geführt, um sich, wie er sagte, ungestört mit ihm unterhalten zu können. Die Decke lag fünf Meter hoch. YʹMan hatte keine Schwierigkeit, zu erkennen, daß er sich in einem durch Konkrit‐Einzüge abgeteilten Abschnitt eines ehemaligen Belüftungsschachts befand. Warum? Weil es in diesem Schacht keine roxharischen Sicht‐ und Abhörgeräte gab. Der Oberführer nannte sich Polaw und war ein humanoides
Wesen, das man mit einem Besatzungsmitglied der SOL hätte verwechseln können, wenn nicht die blaue Färbung des aus dicken Fäden bestehenden Kopfhaars und die messerscharfe, mit schlitzförmigen Öffnungen versehene Nase gewesen wären. Polaw sprach, im Gegensatz zu seinem »Unterfihrrer«, einwandfreies Chailidisch. In fast einstündigem Vortrag hatte er seinem Besucher auseinandergesetzt, daß in diesem Turm die Überlebenden von insgesamt dreiundfünfzig interstalleren Expeditionen wohnten. Daß sie alle unmittelbar nach der Landung auf Chail hier untergebracht worden seien – von den Roxharen selbstverständlich, und ohne jemals mit der eingeborenen Bevölkerung von Chail Kontakt aufgenommen zu haben. Daß sich in ihrem Bewußtsein inzwischen sonderbare Dinge abgespielt hätten und daß zu ihren armseligen Besitztümern Dinge gehörten, deren Funktion sie früher einmal gekannt haben mochten, von denen sie aber jetzt nicht mehr wußten, wozu sie gut waren. Das alles paßte in das Bild, das Y´Man sich bisher von den Bewohnern des blauen Turmes gemacht hatte. Nur zwei Dinge störten ihn. Wie kam es, daß Polaw Chailidisch sprach? Und wer hatte ihm, dem technisch Verständnislosen, klargemacht, daß er sich in einen alten Belüftungsschacht zurückziehen müsse, wenn er eine Unterhaltung führen wollte, die von den Roxharen nicht beobachtet werden konnte? Die Fremden waren nach Chail gekommen, weil die Chailiden psychischen Kontakt mit ihnen aufgenommen hatten. Die Einzelheiten des Vorgangs waren von Volk zu Volk verschieden; aber gemeinsam hatten sie alle dieses: die Neugierde der also Angesprochenen wurde geweckt. Sie erfuhren von ihren Mentalpartnern, wo Chail zu finden war. (Es gelang Y´Man nicht, zu ermitteln, auf welche Weise die Chailiden die Koordinaten ihres Heimatplaneten angegeben hatten. Polaws wissenschaftliches Verständnis reichte nicht annähernd aus, eine entsprechende Frage zu beantworten.) Expeditionen waren ausgestattet worden.
Insgesamt fünfundachtzig Raumschiffe (manche Völker schickten mehr als ein Schiff) flogen innerhalb eines Zeitraums von weniger als drei Jahren Chail an. Den Besatzungen der landenden Schiffe erging es, wie Polaw schon berichtet hatte: sie wurden von den Roxharen festgenommen und eingesperrt, bevor sie Gelegenheit erhielten, mit den Chailiden Verbindung aufzunehmen. Durch Polaws Darstellung wurde eines jenseits allen Zweifels bewiesen: die Chailiden beherrschten die psychische Raumfahrt – oder hatten sie wenigstens beherrscht. Nur auf diesem Weg war es ihnen gelungen, Kontakt mit den Vertretern von dreiundfünfzig verschiedenen und räumlich weit voneinander getrennten Sternenvölkern Kontakt aufzunehmen. Akitars Schilderung entsprach der Wahrheit, und warum die Roxharen nicht an die eigenartige Fähigkeit der Chailiden glaubten, mußte noch ermittelt werden. Darüber, daß der Zustrom von Fremdintelligenzen nur knapp drei Jahre angehalten hatte, machte YʹMan sich seine eigenen Gedanken. Soviel Zeit hatten die Roxharen offenbar gebraucht, das mentale Netz zu errichten. Eine der Aufgaben des Netzes war also, den weiteren Kontakt der Chailiden mit anderen Intelligenzen zu verhindern. Blieb die Schwierigkeit, mit der er während des vergangenen Tages zu kämpfen hatte. Das Netz wirkte angeblich nur außerhalb der Stadt. Aber die Bewohner des blauen Turmes, die sich seit der Landung auf Chail nirgendwo anders aufgehalten hatten als in diesem Gebäude, waren technisch verdummt. Er fühlte sich in seiner Vermutung bestätigt, wonach es zumindest eine Komponente des Netzes – nämlich die verdummende – gab, die in die Stadt hereinreichte. Was die Roxharen mit den Fremden vorhatten, lag auf der Hand. Sie warteten darauf, daß ihre Gefangenen eines ruhigen Todes starben. Die Zeit, als Fremdintelligenzen auf Chail landeten, lag weit zurück – wahrscheinlich war jener Dreijahres‐Abschnitt nicht lange
nach dem Zeitpunkt anzusiedeln, zu dem Akitar seine Heimatwelt verlassen hatte. Viele der Fremden, sagte Polaw mit bedeutsamem Augenaufschlag, hatten längst das Zeitliche gesegnet. Weniger als die Hälfte der Besucher von fremden Welten war mit einem Metabolismus ausgestattet, der es ihnen ermöglichte, einhundertundsechzig Standardjahre zu überleben. Aber auf seine dringendsten Fragen bekam YʹMan keine Antwort. Polaw wollte ihm nicht erklären, wie es kam, daß er Chailidisch sprach – obwohl er den Chailiden doch physisch nie begegnet war. Und er äußerte sich auch nicht darüber, warum er sich mit seinem Besucher in einen alten Belüftungsschacht geflüchtet hatte. Es lag jedoch in seinen grauen Augen ein merkwürdiger Schimmer, der YʹMan zu verstehen gab, daß der alte Oberführer weniger Hemmungen verspüren würde, sich zu diesen Themen zu äußern, sobald er einmal Vertrauen zu dem Metallenen gefaßt hatte. Vorerst jedoch schien ihm eine andere Sache am Herzen zu liegen. »Du wirst bald zu deinen Gastgebern zurückkehren müssen«, sagte er. »Aber es bleibt noch ein wenig Zeit, dir zu zeigen, was du unbedingt sehen mußt.« Er stand auf und berührte eine Stelle der Wand, woraufhin aus dieser eine Leiter zum Vorschein trat – nicht unähnlich jenes Einholm‐Gebildes, das YʹMan drunten in der Halle gesehen hatte, jedoch wesentlich weniger bequem, da sich der Holm dicht an die Wand schmiegte. »Vrix hat mir zu verstehen gegeben, daß du gewisse Methoden der Fortbewegung bevorzugst«, lächelte der Alte. »Ich hoffe, diese Leiter ist dir nicht zu unbequem.« YʹMan nahm erstens zur Kenntnis, daß Vrix der Name jenes olivgrünen Wesens war, das ihn hierhergebracht hatte, und scheute zweitens keine Mühe, Polaw zu versichern, daß er körperlich weitaus gewandter war, als man anhand seiner äußeren Erscheinung annehmen könne. Daraufhin schwang sich Polaw auf die Leiter und kletterte mit erstaunlicher Beweglichkeit in die Höhe,
so daß YʹMan nichts anderes übrigblieb, als ihm zu folgen. Sie kletterten insgesamt drei Stockwerke. YʹMan registrierte, daß die Decken der Räume, in die der Belüftungsschacht aufgeteilt war, Steiglöcher besaßen, die mit leicht bewegbaren Abdeckungen versehen waren. Er nahm außerdem zur Kenntnis, daß Polaw jedesmal, wenn sie einen Abschnitt des Schachtes verließen, die Leiter, über die sie gestiegen waren, wieder zum Verschwinden brachte, indem er eine bestimmte Stelle an der Wand berührte. Das alles gab ihm zu denken. Denn so unverständig Polaw in technischen Dingen sein mochte, so deutlich lag auf der Hand, daß er Helfer hatte, die sich in solchen Sachen vorzüglich auskannten. Auf der 26. Etage schließlich öffnete Polaw eine Tür und ließ YʹMan in einen finsteren Korridor blicken. »Dort hinten irgendwo«, sagte er feierlich, »liegt, was ich dir zeigen möchte.« 8. Aufmerksam durchsuchten Y´Mans Blicke den kleinen, quadratischen Raum, der nur deswegen halbwegs erleuchtet war, weil Polaw die Tür offen gelassen hatte. Um die Überreste halb zerfallener Möbelstücke gruppierten sich fünf Gestalten, deren Anblick den Roboter auf eigenartige Weise berührte. Sie sahen aus wie er selbst! Sie trugen mattgraue Rüstungen wie er – die Jahre hatten ihnen nichts anhaben können. Das humanoide Gesicht war in allen Zügen nachgebildet, selbst der Haarschopf, der die Schädelplatte, die Schläfen und einen Teil des Nackens bedeckte. Der Helm war mit zwei runden Stücken aus gelbem Kristall besetzt, die Augen darstellten. Die Mundöffnung bildete einen schmalen Schlitz. YʹMan beugte sich zu einer der liegenden Gestalten hinab. Er betastete den Helm und spürte, daß die Gesichtsplatte sich bewegen
ließ. Er schob sie beiseite. Ein Knochenschädel kam zum Vorschein. Leere Augenhöhlen starrten ihn an. Behutsam schloß er den Helm und richtete sich auf. »Wer sind sie?« fragte er. »Ich hätte gedacht, daß du mir das sagen kannst«, antwortete Polaw. »Wir wissen es nicht. Die Roxharen brachten sie eines Tages, vor langer Zeit. Sie brachten sie in diesem Raum unter. Wir waren neugierig, aber sie ließen sich nicht sehen. Nach ein paar Wochen klopften wir an ihre Tür. Sie antworteten nicht. Wir drangen ein und fanden sie – so, wie du sie hier siehst. An der Beschaffenheit der Körper erkannten wir, daß sie schon am Tag ihrer Ankunft den Tod gefunden haben mußten.« »Und die Roxharen? Was taten sie?« Polaw machte eine ungewisse Geste. »Sie kümmerten sich um nichts. Wir nehmen an, daß die Roxharen alles sehen und hören, was in diesem Turm vorgeht. Fast alles, auf jeden Fall. Sie müssen also auch gewußt haben, daß diese Fremden, von denen wir nicht einmal wissen, wie sie sich nannten, gestorben waren. Aber sie unternahmen nichts. Die Leichen liegen hier seit jener Zeit, und ihre Ruhe wird nicht gestört.« Eigenartige Gedanken bewegten YʹMans elektronisches Bewußtsein. Als Roboter kannte er keine Identitätsprobleme; aber während der langen Jahre auf Osath hatte er sich des öfteren gefragt, was der Grund sein mochte, daß er sich von allen anderen Robotstrukturen auf der Welt des Herrn in den Kuppeln so deutlich unterschied. Woher kam er? Welches Volk, welche Technik hatte ihn erzeugt? Die fünf Gestalten, die vor ihm lagen, hätten ihm wohl darüber Auskunft geben können. Die Ähnlichkeit der Rüstungen mit seinem eigenen Körper war zu groß, als daß sie auf einen Zufall hätte zurückgeführt werden können. »Nein, ich weiß nichts über sie«, sagte er nachdenklich. Aber er verstand jetzt, warum die Roxharen darauf beharrten, in ihm ein organisches Wesen zu sehen.
Ein wenig später verabschiedete er sich von Polaw. Außer Vrix und dem Blauhaarigen hatte er keinen weiteren Bewohner des Turmes zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich hatte Polaw insgeheim Anweisung erteilt, es solle jeder in seiner Unterkunft bleiben. Das stimmte mit YʹMans schon zu Anfang gewonnenem Eindruck überein, im Innern des Turmes herrsche eine straffe Disziplin, die sich irgendwie mit dem Bild der hilflosen, aller technischen Kenntnis entblößten Fremdintelligenzen nicht in Einklang bringen ließ. »Ich wünsche dir den Segen der Götter auf den Weg«, sagte Polaw zum Abschied feierlich. »Die Roxharen stehen mit der Bosheit selbst im Bund, und du mußt zusehen, daß es dir nicht so ergeht wie denen dort oben, die dir gleichen.« »Ich weiß mich zu schützen«, antwortete YʹMan. »Du bist mir stets willkommen«, fuhr Polaw fort. »So, wie du heute nacht den Weg hierher gefunden hast, wirst du ihn vielleicht noch einmal finden. Vielleicht können wir beim nächsten Mal ausgiebiger sprechen.« Wie aus dem Boden gewachsen, erschien Vrix plötzlich wieder auf der Szene. Er geleitete den Roboter in die Empfangshalle hinab. Sein Mißtrauen schien gewichen. Als YʹMan vorsichtig das Portal öffnete, sagte er zutraulich: »Komm widder, ja?« »Natürlich«, antwortete der Metallene. »Verlaß dich drauf: ich komm Widder.« Den Rest der Nacht verbrachte YʹMan, der unbemerkt und ohne Zwischenfall in sein Quartier zurückgekehrt war, mit dem Sortieren seiner Gedanken. Die Aufgabe erwies sich als umfangreich; denn diesmal ging es nicht nur um ein Einsortieren von neuen Informationen. Die Motivierung seines Handelns bedurfte der Redefinition. Seit dem Aufbruch von Osath war er nicht mehr als ein Werkzeug gewesen, eine Verlängerung von Atlans Arm. Er hatte sich Atlan
willig und rückhaltlos zur Verfügung gestellt, weil er dessen Ziele als richtig anerkannte und seine Methoden für angemessen hielt. Das Volk der Roxharen war, so mächtig es sich auch dünkte, weiter nichts als eine untergeordnete Figur in einem Brettspiel, bei dem zwei Wesen unvorstellbarer Machtfülle einander gegenüber saßen. Atlan nannte diese Wesen Superintelligenzen. Das Spiel war in Wirklichkeit bitterer Ernst. Die beiden Superintelligenzen kämpften, wie Atlan es darstellte, um die Vormachtstellung in diesem Sektor des Universums. Dem Gegenspieler der Superintelligenz, auf deren Seite Atlan stand, lag daran, eine enttechnisierte Zone zu schaffen, in die er mit seinen Kräften vorstoßen konnte, wenn es die Lage erforderte, ohne Widerstand befürchten müssen. Die Aufgabe der Enttechnisierung hatten die Roxharen übernommen. Soweit das große Bild. Als Instrument einer Superintelligenz verdienten die Roxharen zwar Beachtung, aber sie waren an sich weder gut noch böse. Nach diesem Grundsatz handelte Atlan, und an dieses Prinzip hatte sich auch YʹMan gebunden gefühlt – bis vor wenigen Stunden. Er nahm zur Kenntnis, daß er eine Fähigkeit besaß, von deren Existenz er bislang nichts gewußt hatte: Handlungen, Geschehnisse, Vorgänge als entweder gut oder böse zu kategorisieren. Da er in der Praxis der angewandten Moral keine Erfahrung hatte, stellte er sich die Frage nicht, wessen moralische Prinzipien es sein mochten, die da irgendwo in seinem elektronischen Bewußtsein verankert waren. Er bediente sich jedoch der eben erst erkannten Fähigkeit, um festzustellen, daß die Handlungen der Roxharen »an sich böse« waren. Sie hatten kein Recht, Fremdwesen, die nach Chail kamen, weil sie die Rufe der Chailiden gehört hatten, ihrer Freiheit zu berauben. Die Grausamkeit, die den fünf gepanzerten Geschöpfen widerfahren war, schrie zum Himmel. Die Aufgabe, die die Roxharen versahen, war ihnen von einer Superintelligenz erteilt worden. Die Wahl der
Mittel dagegen blieb ihnen überlassen, und für die Wahl, die sie getroffen hatten, waren sie verantwortlich. So wurde aus YʹMan, dem Werkzeug, in dieser Nacht YʹMan, der Kämpfer für das Gute. Sein Anliegen blieb weiterhin, Atlan, Breiskoll und Kölsch zu finden und sie zur SOL zurückzubringen, bevor Chart Deccon die Dummheit beging, das Schiff in Fahrt zu setzen. Aber auf dem Weg zu diesem Ziel gedachte er, zu tun, was in seiner Macht stand, um die Herrschaft der Roxharen zu schwächen und auf das Ende der grausamen Tyrannei hinzuwirken. Inzwischen hatte er gelernt, die Roxharen in einem neuen Licht zu sehen. Ihre Höflichkeit, die auf den ersten Blick so sehr beeindruckte, war entweder angeboren oder eine aus Gründen der Zweckmäßigkeit entwickelte Verhaltensform, die mit ihrer wahren Geisteshaltung in keinem Zusammenhang stand. Die Roxharen konnten es sich leisten, höflich zu sein, hielten sie sich doch für Mitglieder eines Volkes, gegen das kein anderes aufkommen konnte. Sie beherrschten diese Welt seit 160 Standardjahren. Das Dasein der Roxharen auf Chail war monotone Routine. Sie waren der Aufgabe, die sie zu versehen hatten, überdrüssig geworden. Diesen Eindruck hatte sich Y´Man aus der Beobachtung zahlreicher Kleinigkeiten gebildet, noch bevor er den Beriemten und den Rotarm bei ihrem Gespräch belauschte und somit eine Bestätigung seiner Hypothese erfuhr. Die Mischung aus Arroganz und Überdruß machte die Roxharen verletzlich. Sie waren anfällig gegenüber der Initiative jedes halbwegs intelligenten Wesens, das es sich zum Ziel machte, gegen die Unterdrückung aufzubegehren. YʹMan beschäftigte sich ausgiebig und sorgfältig mit der Formulierung von Plänen, die ihm behilflich sein würden, seine neugewonnene Absicht zu verwirklichen. Zur Zeit der Morgendämmerung wurde er jedoch in seiner Nachdenklichkeit unterbrochen. Er bekam Besuch. Der Besucher war BengʹTut. Er bot einen erbarmungswürdigen Anblick.
Das rechte Auge war größer als das linke, nachdem das linke offenbar mit einem sowohl harten als auch wuchtigen Gegenstand in Berührung gekommen war, der eine deutlich ausgebildete Geschwulst hinterlassen hatte. Die bunte Färbung seines Felles war infolge Kontakts mit einer ursprünglich für andere Zwecke gedachten Flüssigkeit in Unordnung geraten – um genau zu sein: der breite, braune Streifen, der sich quer über BengʹTuts Leib zog, wirkte ausgesprochen ordinär. Auch die Sprache des Adjutanten hatte sich verändert: in das sonst so melodische Gezwitscher mischten sich harte Zischtöne, die daher rührten, daß BengʹTut im Lauf der Nacht einer der unteren Schneidezähne abhanden gekommen war. Dennoch begann der Adjutant die Unterhaltung mit dem gebotenen Maß an Höflichkeit. »Mir scheint, du hast mich in die Irre geführt«, beschuldigte er den Metallenen. »Mein Freund«, antwortete YʹMan in gleicher Weise, »es ist mir nicht erinnerlich, daß ich dich überhaupt irgendwohin geführt habe.« »Du sprachst zu mir davon, daß SoonʹKum auf mich warte«, behauptete BengʹTut mit finsterer Miene. »Das tat ich«, bekannte YʹMan. »Entsprach meine Behauptung etwa nicht der Wahrheit?« BengʹTut rieb sich mit der zierlichen Hand das geschwollene Auge. »Nein. Sie erwartete mich nicht. Und als ich darauf bestand, ihre Wohnung zu betreten, behandelte sie mich … nun … auf nicht sehr zuvorkommende Weise.« »Aber du hast trotzdem das Ziel deiner Wünsche erreicht?« erkundigte sich der Metallene scheinheilig. Da war es mit BengʹTuts Selbstbeherrschung zu Ende. »Den Teufel habe ich!« schrie er mit überkippender Stimme. »Sie schlug mir ein Kochgerät ins Gesicht, und über den Pelz goß sie mir
mehrere Liter Reinigungsflüssigkeit. Sie warf mich hinaus, und ich muß gewärtig sein, daß sie PhinʹSar Bericht erstattet, sobald der Aufseher erwacht. Das alles habe ich nur dir zu verdanken! Du hast mich betrogen! Dir kam es nur darauf an, ein paar Stunden ohne Überwachung zu sein. Der Himmel mag wissen, was du in dieser Zeit angestellt hast. Sobald SoonʹKum zu PhinʹSar gesprochen hat, wird er eine zweite Meldung erhalten – von mir! Nämlich daß du ein Verräter bist.« Der Metallene machte eine beschwichtigende Geste. »Ich verstehe deine Aufregung«, sagte er in gemessenem Tonfall. »Offensichtlich hat SoonʹKum einen unerwarteten Sinneswechsel erlebt. Das geschieht häufig, besonders bei weiblichen Wesen. Aber es besteht deswegen kein Grund, daß wir miteinander verfeindet werden sollten. Ich habe in dieser Nacht weiter nichts getan, als ein paar Stunden unter teilweise freiem, teilweise bedecktem Himmel einherzuwandeln, wie es meine Angewohnheit ist. Das Eingesperrtsein bekommt mir nicht. Es gibt also nichts Nachteiliges, was du PhinʹSar über mich berichten könntest.« Die zurückhaltende Art des Mannes in der Rüstung wirkte besänftigend auf BengʹTut. Aber noch war er nicht bereit aufzugeben. »Oh ja? Und wenn ich ihm sage, daß du unbedingt mehrere Stunden ohne Aufsicht sein wolltest?« »Wem fügtest du damit mehr Schaden zu«, antwortete YʹMan gelassen: »Dir oder mir?« Während der Adjutant diese Frage überdachte, fuhr der Metallene fort: »Außerdem solltest du dir eines überlegen. Nachdem SoonʹKum mit dem Aufseher gesprochen hat, glaubst du, wird er da noch ein einziges Wort hören wollen, das du zu ihm zu sagen hast?« BengʹTut sah eine Sekunde lang starr vor sich hin. Dann hob er die Hände und schlug sie vors Gesicht, das geschwollene Auge ebenso wie das ungeschwollene bedeckend. »Ich bin verloren!« jammerte er. »Warum habe ich mich nur auf
diese Sache eingelassen?« YʹMan überließ den Adjutanten ein paar Augenblicke lang seinem Kummer. Dann sagte er: »Man müßte verhindern, daß SoonʹKum dem Aufseher Bericht erstattet.« BengʹTut sah überrascht auf. Sein Gesicht wirkte um so grotesker, je mehr Zeit verstrich. Das linke Auge war jetzt völlig zugeschwollen. »Wie sollte man das erreichen?« fragte er. »Nun, du hast PhinʹSar ziemlich geschickt außer Gefecht gesetzt …« »Das war ich nicht!« begehrte der Adjutant auf. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest!« »Bedauernswert für dich«, antwortete YʹMan. »Wenn du dieselbe Prozedur SoonʹKum gegenüber anwenden könntest, wärst du wenigstens einen halben Tag sicher.« BengʹTut erhob sich abrupt. »Ich werde darüber nachdenken«, erklärte er. YʹMan ließ ihn hinaus. Beim Hantieren mit dem Türschloß stellte er sich absichtlich ungeschickt. Es entging ihm nicht, daß der Adjutant ihn dabei beobachtete und daß ein hämisch‐befriedigter Ausdruck auf seinem malträtierten Gesicht erschien. 9. Als YʹMan später am Morgen PhinʹSar aufsuchte, da fand er den Aufseher in bester Stimmung und von ausgesprochen freundlicher Disposition. BengʹTut war, wie immer, zugegen. Er hatte sich einer kosmetischen Eilbehandlung unterzogen und zeigte kaum noch Spuren seines nächtlichen Abenteuers. Es war anzunehmen, daß er PhinʹSar darüber berichtet hatte, wie ungeschickt sich der Gast schon beim Hantieren mit einem einfachen Türverschluß anstellte.
Des Aufsehers gute Stimmung rührte vermutlich daher, daß er die Wirkung des mentalen Netzes zu erkennen glaubte und den Augenblick herannahen sah, da er sich um den Mann in der Rüstung keine Sorgen mehr zu machen brauchte. YʹMan wiederholte seine Bitte vom Vortag. Er brauchte Hinweise, wo er mit der Suche nach den drei Besatzungsmitgliedern der SOL beginnen solle. Daß er so hartnäckig auf seinem ursprünglichen Anliegen bestand, schien PhinʹSar ein wenig zu verwirren; aber seine gute Laune gewann alsbald wieder die Oberhand, als er erklärte: »Aus Gründen deiner eigenen Sicherheit ist es ratsam, daß du am heutigen Tag die Stadt noch nicht verläßt. Bewege dich frei, wohin es dir beliebt, aber überschreite die Stadtgrenzen nicht. In der Zwischenzeit wird BengʹTut die erforderlichen Informationen zusammenstellen, so daß du gleich morgen früh mit der Suche beginnen kannst.« Das erschien ihm die vernünftigste Lösung. Mochte das Netz ruhig noch einen weiteren Tag auf den Mann in der Rüstung einwirken – vielleicht vergaß er dann sogar seinen Auftrag! Mit ungewöhnlicher Beflissenheit versicherte der Adjutant, er werde die nötigen Daten selbstverständlich sofort beschaffen. YʹMan wurde aus seinem Verhalten nicht klug. Was war aus SoonʹKum geworden? BengʹTut machte nicht den Eindruck eines Wesens, das bestenfalls um sein Amt, schlimmstenfalls um sein Leben zu bangen hatte, sobald es der schönen Gefährtin des Aufsehers einfiel, den Mund zu öffnen. Er gab sich mit dem Bescheid zufrieden und kehrte in sein Quartier zurück. Gegen Mittag nahm er, wie er es sich angewöhnt hatte, eine ausgiebige Mahlzeit zu sich und speicherte sie in einem Hohlraum unmittelbar neben der zentralen Steuerautomatik, den er später, wenn er ganz sicher war, daß ihn niemand beobachtete, wieder entleeren konnte. Kurz darauf war aus der Gegend des Quartiers, das PhinʹSar
bewohnte, lautes Rufen zu hören. Neugierig begab sich YʹMan auf den Korridor hinaus und hielt einen Roxharen an, der mit allen äußeren Anzeichen heftiger Erregung an ihm vorbeistürmen wollte. »Was ist los?« wollte er wissen. »Was soll der Lärm?« »SoonʹKum!« stieß der Roxhare verzweifelt hervor. »Sie ist schwer erkrankt! Der Aufseher ist außer sich. Ich will … ich muß …« Er rannte davon. Im allgemeinen Durcheinander fiel es YʹMan nicht schwer, den Adjutanten ausfindig zu machen und ihn auf die Seite zu ziehen. »Höre«, sagte er ernst, »ich hoffe, du hast keine Dummheit gemacht. Die Sache hört sich ziemlich ernst an.« BengʹTut entblößte eine Reihe scharf geschliffener Schneidezähne zu einem gehässigen Grinsen. »Sie hat, was sie verdient«, stieß er hervor. »Sie wird zwei Tage lang bewußtlos sein und sich, wenn sie aufwacht, an nichts mehr erinnern.« YʹMan hielt die Minuten allgemeiner Aufregung für den geeigneten Augenblick, sich auf den Weg zu machen, ohne daß ihm jemand lange Fragen stellte. Unbemerkt trollte er sich davon und war kurze Zeit später auf dem Weg zu jenem Ring von Gebäuden, die er am Tage seiner Ankunft für Lagerhallen oder Produktionsstätten gehalten hatte. Er hätte sich, um schneller voranzukommen, gerne eines der Schwebetaxis bedient, die auf der Suche nach Passagieren die Straße auf‐ und abglitten. Aber damit wäre den Roxharen offenbar geworden, daß er sein technisches Verständnis noch längst nicht verloren hatte; und dieser Eindruck mußte vermieden werden. Sein Interesse galt der orangeroten Kuppel, die er noch in guter Erinnerung hatte. Sie war einfach zu finden, ragte sie doch Dutzende von Metern weit über das Niveau der anderen Gebäuden hinaus. Durch ihre Größe und ihre zentrale Lage inmitten eines Rings kleinerer, blauer Bauten gab sie zu erkennen, daß sie eine Anlage von besonderer Bedeutung war.
YʹMan vergewisserte sich, daß er nicht verfolgt wurde. Dann schritt er zwischen zweien der minderen Gebäude hindurch und gelangte auf einen weiten, kreisförmigen Hof, der die Basis der orangefarbenen Kuppel umgab. Es war still hier. Die umliegenden Bauten hielten den Wind und die Geräusche der Stadt fern. Die Sonne brannte heiß vom fast wolkenlosen Himmel. Über der hellgrauen Fläche aus gegossenem Konkrit flimmerte die Luft. Die Gußmasse war an vielen Stellen aufgebrochen. Samen von Kräutern und Gräsern hatten in den Sprüngen Halt gefunden und zu sprießen begonnen. Der Hof machte einen vernachlässigten Eindruck. Er war ein Spiegelbild der Unlust, mit der die Roxharen ihrer Aufgabe nachgingen. YʹMan bahnte sich einen Weg durch das wuchernde Grün, nahm mit Bedauern zur Kenntnis, daß er nicht umhin konnte, eine deutlich sichtbare Spur zu hinterlassen, und erreichte schließlich die Basis der Kuppel, die ihm aus seiner Perspektive wie eine riesige, senkrecht aufsteigende Wand erschien. Er schritt an der Wand entlang und hatte plötzlich das eigenartige Empfinden, in dieser lautlosen, hitzeflimmernden Einöde nicht allein zu sein. Er ging weiter und ließ sich nach außen hin nicht anmerken, daß er mißtrauisch geworden war. Unter seiner metallenen Körperhülle jedoch waren Dutzende von Sensoren fieberhaft damit beschäftigt, die Quelle der störenden Impulse ausfindig zu machen. Er gelangte an eine Stelle, an der sich die Umrisse einer drei Meter hohen Tür in der Wandung des Gebäudes abzeichneten. Er blieb stehen, um den Mechanismus zu finden und zu untersuchen, mit dem die Tür geöffnet werden konnte. Dazu war es notwendig, die Aufmerksamkeit etlicher Sensoren von ihrer bisherigen Aufgabe abzuzweigen. Er tat dies erst nach reiflicher Überlegung und aufgrund der Einsicht, daß ihm auf Chail bisher noch kein Effekt begegnet war, der ihm ernsthaft hätte gefährlich werden können. Aber kaum hatte er mit der Untersuchung der Tür begonnen, da mußte er erkennen, daß er eine Fehlentscheidung getroffen hatte.
Als die Sensoren Alarm schlugen, war es schon zu spät. Er sah einen blassen Lichtschein und hörte das Knistern von Funken, die von seinen Armen auf die metallene Haut der Kuppel übersprangen. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Er stand schräg vor der Tür, deren Riegelmechanismus er hatte analysieren wollen, und sein Blickfeld war zu drei Vierteln von der orangeroten Wand des Kuppelgebäudes erfüllt. Weit zur Linken sah er einen Teil des unkrautüberwucherten Hofes. Er war mitten in der Bewegung erstarrt, den einen Arm ausgestreckt, den anderen in neutraler Haltung. Noch nie in seinem langen Dasein war er so hilflos gewesen wie in diesem Augenblick. »Wer bist du?« fragte eine Stimme in merkwürdig singendem Chailidisch. »Ein roxharischer Spion?« YʹMan registrierte, daß seine Stimmwerkzeuge noch funktionierten. Nur die externen Bewegungsmechanismen waren lahmgelegt. »Laß dich wenigstens sehen, wenn du mit mir sprichst«, knurrte er. »Unsichtbaren gebe ich keine Antwort.« Es raschelte im Gestrüpp. Ein schlankes, hochgewachsenes Wesen erschien in YʹMans Blickfeld – ein Roxhare, nahm er mit einer Gelassenheit, die einem organischen Wesen in diesem Augenblick wohl nicht zur Verfügung gestanden hätte, zur Kenntnis. »Du fragst mich, ob ich ein roxharischer Spion bin?« Der Hochgewachsene ließ ein mattes Lächeln sehen. »Du hältst das für erstaunlich?« Noch erstaunlicher war, daß er Chailidisch ohne Hilfe eines Translators sprach. Daher erklärte sich sein singender Tonfall. »Du müßtest selbst am besten wissen, wer als Spion für dein Volk arbeitet und wer nicht«, erwiderte YʹMan. »Für mein Volk.« Die Stimme verlor an Kraft, und ein trauriger Ausdruck erschien auf dem Gesicht des Roxharen. »Was weißt du von meinem Volk?« YʹMan registrierte, daß sich aus einer Richtung, die er nicht
überblicken konnte, ein weiteres Wesen näherte. Die Geräusche, die er hörte, elektrisierten ihn. Wo hatte er solche Laute zuvor schon gehört – halb hüpfend, halb gehend? Der Klang der knarrenden, krächzenden Stimme befreite ihn aus der Ungewißheit. »Wen hasduda?« erkundigte sich das zunächst noch unsichtbare Wesen. »Einen roxharischen Spion«, antwortete der Roxhare. »Einen Spion? Bisdu verrickt? Das ist gutter Freind!« »Danke, Vrix«, sagte YʹMan. 10. »Ein bedauerliches Mißverständnis«, sagte der Roxhare, der sich AiʹSynn nannte. »Aber bei dem, was wir vorhaben, kann man nicht vorsichtig genug sein.« YʹMan sah sich um. Er befand sich im Innern der Kuppel, deren Tür AiʹSynn im Handumdrehen geöffnet hatte, nachdem sein Gefangener aus dem energetischen Fesselfeld befreit worden war. Vrix hatte sich eilends zurückgezogen. Das Innere der Kuppel bestand aus einer einzigen, riesigen Halle, die das gesamte Gebäude ausfüllte. Es gab Tausende von Quadratmetern leerer Bodenfläche. Nur im Zentrum des Bauwerks ragten gigantische Maschinen in die Höhe, Türme, von denen der höchste das Kuppeldach fast berührte. Schwebeplattformen lagen rings um den Maschinenkomplex verstreut. YʹMans scharfer Blick registrierte Steuer‐ und Kontrollkonsolen, die in unterschiedlichen Höhen an der Außenseite der Aggregate angebracht waren. Wer hier zu tun hatte, mußte beweglich sein. »AiʹSynn«, sagte der Roboter auf Chailidisch, »ich verfüge über zumindest durchschnittliche Fähigkeiten der logischen Kombination.« Er wußte, daß Nicht‐Roboter sich mitunter
abgestoßen fühlten, wenn man seine Qualifikationen ohne mildernde Attribute beschrieb. »Aber deine Rolle in diesem Ganzen wirst du mir ausführlich erklären müssen.« AiʹSynn nickte, was der Roboter aufmerksam zur Kenntnis nahm. »Ich bin Astronaut«, sagte er. »Oder vielmehr war ich es. Man hat mich von Roxha nach Chail geschickt, damit ich hier ein paar Chailiden auflade und auf verschiedenen Welten am Rand dieses Raumsektors verteile.« »Aber du hast dich von deiner Aufgabe losgesagt?« vermutete YʹMan. »Ja. Es ist nämlich entweder der Wahnsinn in den geistigen Faktor gefahren, oder meine Vorgesetzten verstehen seine Anweisungen nicht mehr richtig.« YʹMan horchte auf. Über den »geistigen Faktor« war vor zwei Tagen zum ersten Mal die Rede gewesen – als er den Beriemten und Rotarm in ihrem Schuppen belauschte. »Der geistige Faktor?« wiederholte er. »Wer ist das?« »Die Macht, die Roxha und seine Bewohner beherrscht«, antwortete AiʹSynn. »Sie ist körperlos. Niemand hat sie je zu Gesicht bekommen. Wir nennen sie den geistigen Faktor.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Wahrscheinlich, weil uns kein besserer Name eingefallen ist.« »Was hat man von dir verlangt?« wollte YʹMan wissen. »Man hat mich von meiner Gefährtin getrennt«, antwortete AiʹSynn, und als er erkannte, daß das Gewicht dieser Feststellung seinem Zuhörer nicht unmittelbar einleuchtete, fuhr er hastig fort: »Es ist üblich, daß Gefährten und Gefährtinnen bei solchen Dingen nicht voneinander getrennt werden. Sie unternehmen die Reise zusammen. In meinem Fall jedoch erklärte man mir, daß der geistige Faktor für die Gefährtin meines Lebens eine andere Aufgabe bestimmt habe, so daß sie nicht mit mir kommen könne.« »Eine sehr ungewöhnliche und bedenkliche Entwicklung«, kommentierte YʹMan, der wußte, daß zwischen männlichen und
weiblichen Organo‐Geschöpfen, wenn sie sich erst einmal entschlossen hatten, den Rest ihres Lebens miteinander zu verbringen, Bindungen existierten, deren Energiegehalt mit logischen Mitteln allein nicht erklärt werden konnte. »Du sagst es«, erwiderte AiʹSynn. »Seitdem habe ich begonnen, an der Weisheit des geistigen Faktors zu zweifeln. Ich kam nach Chail und fand die hiesige Besatzung in einem Zustand motivierungsloser Niedergeschlagenheit. Was haben wir hier verloren? fragte ich mich. Was ist dieser Plan, der vorsieht, Chailiden an alle denkbaren Orte des Universums zu verschicken, damit sie dort anderen Völkern die Kunst der Meditation beibringen und sie an der weiteren Entwicklung ihrer Technik hindern?« »Du weißt also, daß das das Ziel ist?« fragte YʹMan. »Oh ja, der geistige Faktor macht keinen Hehl daraus! Die Roxharen haben die Aufgabe und das Recht, in diesem Sektor des Alls das einzige Volk zu sein, das über eine fortgeschrittene Technik verfügt.« »Und das glaubst du?« »Nun nicht mehr. Was hätte ich sonst bei der Grünen Sichel von NarʹBon verloren?« »Bei der Grünen Sichel von wo?« AiʹSynn antwortete nicht sofort. Es schien, als bedauere er, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. »Von NarʹBon«, sagte er schließlich. »Es gibt eine Vereinigung auf dieser Welt, die es sich zum Ziel gemacht hat, die Unrechtsherrschaft der Roxharen zu beenden.« »Und dazu gehörst du?« »Warum nicht? Daß mein Volk seit langen Jahren im Auftrag des geistigen Faktors die Chailiden knechtet, bedeutet nicht, daß es keinen Roxharen mehr gibt, der sich einen Sinn für Recht und Gerechtigkeit bewahrt hat.« YʹMan wiegte den metallenen Schädel. »Ich wollte nichts dergleichen andeuten«, sagte er. »Es ist nur …
sagen wir, eine eigenartige Konstellation. Wie will die Grüne Sichel ihr Ziel erreichen?« Die schwarzen Augen des Roxharen musterten den Roboter mit durchdringendem Blick. »Du hast von dem mentalen Netz gehört?« »Gewiß doch.« »Es wird von den Roxharen unterhalten. Es enthält Informationen, die sich auf fremde Welten beziehen, und wirkt auf die Bewußtseine der meditierenden Chailiden ein. Wenn die Chailiden davon träumen, mit ihrer Seele zu fremden Planeten zu reisen, dringen sie in Wirklichkeit nicht weiter vor als bis zu den Eindrücken, die im Netz gespeichert sind.« »Das mag jetzt der Fall sein«, widersprach YʹMan, »und es erklärt, warum die Roxharen nicht an die psychische Begabung der Chailiden glauben. Aber in früheren Zeiten haben die Bewohner dieses Planeten kraft ihrer psychischen Fähigkeit tatsächlich Verbindung mit anderen Sternenvölkern aufgenommen.« Ein eigentümliches Lächeln spielte auf AiʹSynns Gesicht. »Das weißt du«, sagte er, »weil du mit den Wesen im blauen Turm gesprochen hast. Aber wer sonst weiß es noch? Für die Roxharen sind so viele Jahre vergangen, seit sie auf Chail landeten, daß sie längst vergessen haben, wie es war, als es das mentale Netz noch nicht gab.« YʹMan vollführte eine Gebärde, die gelinde Überraschung ausdrücken sollte. »Es war Vrix, der dich überzeugte, daß ich kein roxharischer Spion sei. Ich nehme an, auch die Bewohner des Turmes gehören zur Grünen Sichel?« »Die Mehrzahl der Turmbewohner hat von der Existenz des Bundes keine Ahnung«, wehrte AiʹSynn ab. »Aber du hast recht: Polaw ist unser Verbündeter. Unsere Gruppe besteht aus Turmbewohnern, Chailiden und einer Handvoll Roxharen. Die Roxharen sind es, die die Technik liefern, weil das mentale Netz sie
nicht beeinflussen kann. Das energetische Fesselfeld, mit dem ich dich an Ort und Stelle band, gehört zu den technischen Hilfsmitteln, die uns zur Verfügung stehen. Hat es dich beeindruckt?« YʹMan umging die Frage. »Wir wollten über das mentale Netz sprechen«, erinnerte er sein Gegenüber. »Die Grüne Sichel von NarʹBon hat in dieser Hinsicht bestimmte Pläne?« »Ja.« Wiederum nickte AiʹSynn zur Bestätigung, und abermals nahm YʹMan dies sorgfältig zur Kenntnis. »Die Roxharen speisen das Netz mit Informationen, also sollten auch wir es tun können. Es geht nur darum, die Informationen zu finden, die die gewünschte Wirkung erzielen.« »Und die Technik zu beherrschen«, fügte YʹMan gelassen hinzu, »die man verstehen muß, um das Netz zu manipulieren.« »Ja, das ist richtig«, bestand AiʹSynn ein wenig überrascht. »Ich muß zugeben, daß wir in dieser Hinsicht ein wenig knapp an Wissen sind. Mein erster Gedanke war, nachdem Vrix dich als Freund identifizierte, daß vielleicht du …« »Warum fragst du deinen anderen Freund nicht?« fiel ihm YʹMan ins Wort. »Meinen anderen Freund?« »Den, der dir das Nicken beigebracht hat«, antwortete der Roboter in tiefem Ernst. * AiʹSynns Reaktion war ungewöhnlich. Im ersten Augenblick zeigte er Verblüffung, einen Ausdruck des Unglaubens in seinen schwarzen Augen. Aber dann weitete sich der gespaltene Mund zu einem fast menschlichen Grinsen. »Du bist es also doch!« rief er fröhlich. »Wer?«
»YʹMan!« Der Metallene nickte gewichtig. »Der bin ich in der Tat«, antwortete er. »Und du kannst mir sagen, wo meine drei Freunde zu finden sind?« Das Grinsen verschwand von AiʹSynns Gesicht. »Nur von zweien weiß ich«, sagte er »und selbst das wird dir nicht helfen.« »Sprich zu mir davon«, forderte YʹMan ihn auf. »Ich selbst werde entscheiden, ob man etwas damit anfangen kann oder nicht.« »Ich habe einen … ja, Freund nennt man das wohl«, begann der Roxhare. »Er war Astronaut wie ich, aber als er zu lange auf seine Fracht warten mußte, wurde er ungeduldig und bat PhinʹSar um eine Beschäftigung. Er war unzufrieden wie ich; aber er wollte nicht soweit gehen, sich einem geheimen Bund anzuschließen, der gegen die Roxharen arbeitete. Wir blieben jedoch miteinander vertraut, obwohl er jetzt für den Aufseher Handlangerdienste leistete. Vor einigen Tagen berichtete er mir, daß er nach Ushun geschickt würde – das ist eine chailidische Stadt, die im Osten von hier liegt – um zwei Gefangene abzuholen. Am Tag darauf kam er wieder zu mir und erzählte mir von den Gefangenen. Sie waren Fremde und kamen von einem Raumschiff, das sich seit geraumer Zeit im Orbit um Chail befindet. Ursprünglich waren sie zu dritt gewesen; aber inzwischen hatten sie einen ihrer Gefährten verloren. SʹDunikh erlaubte mir …« »Wer ist SʹDunikh?« unterbrach YʹMan. »Mein Freund. Er machte es mir möglich, einen der beiden Gefangenen zu besuchen und mit ihm zu sprechen. Sein Name ist Bjuu oder Byoo …« »Bjo Breiskoll.« »Ja, das ist es! Er berichtete mir von seinem Schicksal, seit er mit einem kleinen Raumschiff auf Chail abgestürzt war. Ich will dir gern davon erzählen, wenn …« »Nicht jetzt«, wehrte YʹMan ab. »Wer war der andere Gefangene?
Atlan oder Wajsto Kölsch?« »Der letztere. Ich kann seinen Namen nicht so gut aussprechen wie du. Außerdem bekam ich ihn nicht zu sehen. Ich sprach zu Bjuu … Byoo über die Grüne Sichel von NarʹBon. Ich bat ihn um seine Hilfe; aber es wurde mir bald klar, daß er mir nicht helfen könne. PhinʹSar paßt zu scharf auf ihn auf. Selbst SʹDunikh ist schon in Verdacht geraten, weil er mir Zugang zu einem der Gefangenen verschafft hat.« Das fröhliche Grinsen erschien wieder auf seinem Gesicht. »Aber eines sagte mir Byoo doch«, fuhr er fort. »Ich sollte die Augen offenhalten und nach einem Geschöpf suchen, das so aussah wie er, nur wesentlich kleiner war und eine metallene Rüstung trug. Ich fragte ihn, wie ich mich diesem Geschöpf zu erkennen geben solle, und er lehrte mich ein paar Gesten seines Volkes, die sonst nirgendwo im Gebrauch sind, wie zum Beispiel diese …« AiʹSynn bewegte den Kopf zu einem Nicken, wie er es zuvor getan hatte. Dann zuckte er mit den Schultern, und zum Abschluß rang er die Hände. »Sehr überzeugend«, bemerkte YʹMan. »Wir konnten unmöglich aneinander vorbeigehen.« 11. Während die Schwebeplattform gemächlich an der Wand des Maschinenkolosses in die Höhe glitt, analysierte YʹMan die drastische Veränderung, die seine Lage infolge der Begegnung mit AiʹSynn erfahren hatte. Sein Ziel lag plötzlich zum Greifen nahe vor ihm – wenigstens soweit es Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch betraf. Er nahm an, daß die beiden über Atlans Verbleib Bescheid wußten und es nicht besonders schwierig sein werde, auch den Arkoniden zu finden. Blieb nur noch die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß PhinʹSar die beiden Gefangenen freigab und sich verpflichtete, sie in Frieden ziehen zu lassen.
PhinʹSar hatte gelogen, als er vorgab, er müsse erst Informationen über den Verbleib der SOL‐Leute beschaffen. Zwei von ihnen waren die ganze Zeit über hier in der Stadt gewesen. Der Aufseher würde an den Folgen seiner Unaufrichtigkeit wenig Freude haben. Ein Plan entstand in Y´Mans Bewußtsein, wie er sein Vorhaben verwirklichen könne. Als sie eine Höhe von vierzig Metern erreicht hatte, glitt die Plattform näher an den Maschinenturm heran und verankerte sich selbsttätig am Rand einer Nische, in der eine umfangreiche Kontrollkonsole installiert war. Der Robot und der Roxhare stiegen aus. Die Plattform verharrte an Ort und Stelle. AiʹSynn begann, die Wirkungsweise der Konsole zu erläutern. »Es gibt nur diesen einzigen Ort, von dem aus neue Informationen in das Netz eingespeist werden können«, sagte er. »In letzter Zeit sind Neueinspeisungen immer seltener vorgenommen worden. Mir scheint, PhinʹSar und seine Truppen werden müde. Immer öfter passiert es unter den meditierenden Chailiden, daß sie fremde Welten, auf denen sie schon gewesen zu sein glauben, ein zweites Mal erreichen – ganz einfach, weil die alte Information, die im Netz enthalten ist, nicht mehr überarbeitet wird.« »Wie erfolgt die Einspeisung?« erkundigte sich YʹMan. »Mit Hilfe kleiner Speicherkerne, die von Roxha gebracht werden. Jeder Kern enthält ein komplettes Fremdkontakterlebnis. Der Kern wird hier in den Eingabeort gesteckt …«, er deutete auf eine kleine Vertiefung in der Oberfläche der Konsole … »und von den Eingabesensoren dieser Maschine abgetastet. Die Information wird sodann in den vom Netz verwendeten Code umgesetzt und dem Netz zugeführt. Der Speicherkern kommt selbsttätig wieder zum Vorschein.« Die darauffolgenden Stunden verbrachte YʹMan damit, sich mit der Maschine vertraut zu machen. Es gelang ihm, eine direkte Verbindung mit einem der Prozessoren herzustellen und auf diese Weise quasi zum Bestandteil des Rechners zu werden, der die
Tätigkeit der Maschine steuerte. Er lernte den Informationscode, die Befehlsstruktur, die Hierarchie der Prioritäten, Unterbrechermechanismen und vor allen Dingen die Einzelheiten des Tastvorgangs, der Information aus dem Speicherkern ins Innere der Maschine überführte. Er war ein geduldiger Schüler, der dank seiner dem Rechner verwandten Bewußtseinskonstruktion in diesen Stunden soviel lernte, wie ein organisches Wesen in mehreren Wochen intensiver Instruktion nicht hätte aufnehmen können. Nebenbei unterhielt er sich mit AiʹSynn und zerstreute dessen Bedenken, daß eine Manipulierung des Netzes äußerst schwierig sein würde, weil ihnen kein Speicherkern mit den entsprechenden Mentaldaten zur Verfügung stand. Inzwischen hielten draußen Vrix und ein paar Wesen aus dem blauen Turm Wache, um zu verhindern, daß die beiden angestrengt Arbeitenden von den Roxharen überrascht würden. Es kam zu keiner Störung. AiʹSynn hatte recht: PhinʹSar und seine Truppen waren müde geworden. »Wir sind soweit«, sagte YʹMan schließlich und löste die Verbindung mit dem Prozessor. Der Roxhare sah ihn erstaunt an. »Wie weit?« fragte er. »Die Funktionsweise der Maschine ist mir klar«, antwortete der Robot. »Aber die neue Information …« »Ist vorhanden.« YʹMan machte sich an der metallenen Hülle seines Körpers zu schaffen und brachte einen winzigen Gegenstand zum Vorschein. Er bestand zur Hauptsache aus durchsichtiger Plastikverpackung, die früher einmal die Form eines kleinen Würfels gehabt haben mochte, und eine pulvrige Substanz schwer definierbarer Konsistenz enthielt. »Wofür hältst du das?« fragte er AiʹSynn. Der Roxhare musterte das seltsame Objekt mit unverkennbarem Mißtrauen. »Proviant«, sagte er schließlich. »Ein Konzentratwürfel. Jemand
hat ihn zerquetscht.« YʹMans Stimme klang belustigt. »Der arme Akitar war derselben Ansicht. Soweit ich weiß, hat er zumindest einmal versucht, seinen Hunger mit einem solchen Ding zu stillen. Es schmeckte ihm nicht. Er spie es wieder aus und ruinierte eine ganze Schachtel meiner kleinen Geheimmittel – obwohl sie sich wirklich nicht leicht ruinieren lassen.« »Wer ist Akitar?« wollte AiʹSynn wissen. »Ein Freund. Ein bedauernswerter Chailide, dem für den Augenblick der Weg nach Chail versperrt ist.« Er löste die transparente Verpackung und schüttete den Inhalt des ehemaligen Würfels in das Behältnis, das sonst für die Aufnahme von Speicherkernen gedacht war. Er tat dies mit einer seltsam theatralischen Geste und sah dabei nicht anders aus als einer, der einen zerstoßenen Bouillon‐Würfel in einen Becher mit heißem Wasser wirft, um sich ein Getränk daraus zu bereiten. »Bei allen Geistern!« fuhr der Roxhare entsetzt auf. »Was tust du da? Du ruinierst den Tastmechanismus!« »Keineswegs«, widersprach YʹMan ruhig. »Das Pulver besteht aus Milliarden submolekularer Para‐ und Diamagnete, die in eine pseudokryogene Masse eingebettet sind. Die magnetischen Momente lassen sich durch geeignete Manipulation in der einen oder anderen Richtung bewegen und einfrieren, so daß du hier weiter nichts vor dir hast als einen binären Speicher von beachtlicher Kapazität. Jedes winzige Körnchen stellte einen kleinen Speicherbereich dar. Während wir miteinander sprachen und ich die Funktionsprinzipien dieser Maschine analysierte, habe ich dem Speicher eine elektronische Darstellung des Bildes vermittelt, das wir den meditierenden Chailiden vor Augen führen wollen. Glaub mir, der Erfolg wird durchschlagend sein!« »Aber …«, stotterte AiʹSynn. »Das Ding ist völlig in Unordnung! Wie kann der Taster …« »Jeder Speicherbereich«, beruhigte ihn der Robot, »ist durch
Verweise mit seinen Nachbarn verkettet. Der Tastmechanismus ist beeindruckend intelligent. Es bereitet ihm keine Mühe, den Anfang der Kette zu finden und sich durch einen Bereich nach dem andern hindurchzuarbeiten, bis er alle Informationen erfaßt hat.« »Und du hast … du hast …« »Ich trage diese Würfel an einer Stelle, die unmittelbar mit meinem Bewußtsein in Kontakt steht«, erklärte YʹMan. »Ich brauche mir eine Szene nur auszumalen und den entsprechenden Befehl zu geben, und schon wird die Information in den Speicher übertragen.« »Du hast also von Anfang an gewußt, daß du dazu kommen würdest, das Netz mit neuen Informationen zu füttern?« staunte der Roxhare. »Keineswegs«, widersprach der Robot. »Ich führe diese Dinge immer bei mir. Sie sind höchst nützliche Werkzeuge, und man weiß nie, wozu man sie gebrauchen kann.« Ein halblautes Knacksen war zu hören. YʹMan beugte sich nach vorne. »Da soll doch gleich …« »Was ist?« »Er hat mir sogar den Würfel wieder zusammengebacken!« YʹMan griff triumphierend in die Vertiefung, die den Eingabeport für den Tastmechanismus darstellte, und brachte seinen geheimnisvollen Speicher wieder zum Vorschein, den die Maschine soeben ausgespien hatte. Er war nicht mehr pulverförmig, sondern hatte seine ursprüngliche Würfelgestalt wieder angenommen – ohne Zweifel infolge der magnetischen Kräfte, die mit dem Tastvorgang verbunden waren. »Gute Geister!« ächzte AiʹSynn. »In deiner Nähe wirdʹs einem so bald nicht langweilig …« *
Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Vrix ließ es sich nicht nehmen, den Roboter ein Stück weit in Richtung des Stadtzentrums zu begleiten. YʹMan erfuhr, daß die Bewohner des blauen Turmes, soweit sie zur Geheimorganisation »Grüne Sichel von NarʹBon« gehörten, mehrere Tunnel kannten, die es ihnen ermöglichten, ihr Gefängnis zu verlassen, ohne daß die Roxharen je davon erfuhren. Der Geheimbund existierte offenbar schon seit mehreren Jahren. Vrixs Bericht war unzusammenhängend und wegen seiner merkwürdigen Aussprache des Chailidischen mitunter unverständlich; aber es wurde doch klar, daß es zuerst unzufriedene Roxharen etwa von AiʹSynns Art gewesen waren, die auf den Gedanken kamen, eine Untergrundorganisation zu bilden – mit dem Ziel, die roxharische Unrechtsherrschaft zu brechen. Zaghaft hatten sie Verbindung zunächst mit den Chailiden und danach mit den Fremdwesen im blauen Turm aufgenommen. Dieser letztere Vorstoß war besonders riskant gewesen, da das Innere des Turmes unter dauernder Beobachtung stand. Es hatten zunächst in mühsamer Kleinarbeit Räume gefunden bzw. geschaffen werden müssen, die von der Beobachtung nicht erfaßt werden konnten – so z. B. die abgeteilten Klimaschächte, in deren einem sich YʹMan mit Polaw getroffen hatte. Nur ein kleiner Bruchteil der Turmbevölkerung gehörte dem Geheimbund an; aber diese Aussage war von geringer Bedeutung, da Vrix nicht wußte, wie viele Wesen insgesamt den Turm bewohnten. Die Vorbereitungen zum ersten Schlag gegen das Bollwerk der roxharischen Macht waren langwierig gewesen und hatten ursprünglich noch ein weiteres halbes Jahr in Anspruch nehmen sollen. Aber dann war YʹMan unversehens auf der Bildfläche erschienen und hatte dank seiner Fähigkeiten im Handumdrehen besorgt, was nach AiʹSynns Schätzung die intensive Aktivität mindestens zweier Spezialisten erfordert hätte. Natürlich wollte Vrix wissen, was nun geschehen würde und auf welche Weise an den Säulen der roxharischen Macht gerüttelt
werden solle. Aber YʹMan vertröstete ihn ebenso, wie er AiʹSynn vertröstet hatte. Er war kein Geheimniskrämer. Er wollte verhindern, daß durch irgendeinen unglückseligen Zufall der Gegner vorzeitig gewarnt würde. Wenn es um das Wahren von Geheimnissen unter widrigen Umständen ging, war er selbst der einzige, dem er wirklich traute. Sie näherten sich dem stadteinwärts gelegenen Rand des Kreises der technischen Gebäude und dem Eingang eines der Tunnel, die in den blauen Turm führten, als vor ihnen im Dunkel plötzlich eine hochgewachsene, stämmige Gestalt auftauchte. Sie machte, als Vrix und YʹMan in Verteidigungsstellung gingen, eine beschwichtigende Geste. »Keine Angst, ich bin es nur«, sagte eine tiefe, rollende Stimme, die der Roboter sofort erkannte. Polaw trat heran. »Ich habe gehört, daß du einen großen Erfolg errungen hast«, sagte er zu YʹMan. Neuigkeiten verbreiteten sich schnell, registrierte der Roboter. Aber da waren in der Tat außer Vrix noch ein paar andere Turmbewohner gewesen, die in der Umgebung der großen Kuppel Wache gehalten hatten. Einer davon mußte vorausgeeilt sein und Polaw die freudige Nachricht über bracht haben. »Ja«, antwortete YʹMan einfach. »Ich nehme an, in der zweiten Hälfte der Nacht geht es los. Seid ihr bereit?« »Wir warten auf AiʹSynns Signal«, sagte der Anführer der Turmbewohner. Polaw und AiʹSynn verfolgten ein anderes Ziel als YʹMan. Der Grünen Sichel ging es darum, einen Kader von Fremdwesen draußen auf dem flachen Land anzusiedeln, wo sie nicht dauernd unter Beobachtung standen und von den roxharischen Mitgliedern des Geheimbunds trainiert werden konnten. AiʹSynn, das hatte er YʹMan gegenüber zugegeben, trug sich mit der Hoffnung, daß er das technische Verständnis der Turmbewohner wiedererwecken könne. Er wollte das allgemeine Durcheinander, das im
Zusammenhang mit der Manipulierung des mentalen Netzes in dieser Nacht entstehen mußte, benutzen, um seine Schützlinge unbemerkt aus der Stadt zubringen. »In Ordnung«, antwortete der Robot. »Falls wir einander nicht mehr sehen, wünsche ich euch viel Glück für die Zukunft.« »Ich danke dir«, sagte Polaw. »Du bist unser Freund.« »Das hättest du vergangene Nacht erkennen und mir von euren Plänen berichten können«, konterte YʹMan. »Gestern nacht war ich deiner noch nicht sicher«, antwortete Polaw aufrichtig. »Ich habe dir etwas mitgebracht. Du wirst in dieser Nacht viel auf den Beinen sein?« »Ich rechne damit.« »Falls die Roxharen in deinem Quartier nach dir suchen, wäre es vorteilhaft, wenn sie dort etwas fänden, was dir ähnlich sieht. Es wird sie ablenken. Wenn sie nicht allzu genau hinsehen, werden sie die Täuschung nicht bemerken.« YʹMan horchte auf. Hatte er Polaw richtig verstanden? Der Anführer der Turmbewohner wandte sich um und gab einen halblauten Pfiff von sich. Zwei weitere Gestalten erschienen aus der Dunkelheit. Sie schleppten einen Gegenstand. YʹMan erkannte einen der gepanzerten Fremden, in deren Unterkunft Polaw ihn in der vergangenen Nacht geführt hatte. Die beiden Wesen, die den reglosen Körper trugen, gehörten zu Polaws Volk und sahen ihm ähnlich. »Es widerstrebt uns«, sagte Polaw, »die Überreste der Toten in ihrer Ruhe zu stören. Aber in diesem Fall können sie eine wichtige Aufgabe versehen.« YʹMan kategorisierte das Oberhaupt der Turmbewohner als ein umsichtiges Geschöpf. Diese Taktik hätte ihm selbst in den Sinn kommen können, wenn nicht … ja, was?… gewesen wäre. Eine Scheu vor den Toten, die ihm so ähnlich sahen? Er, ein Roboter, empfand Scheu? »Du bist auf das Wohl deiner Freunde bedacht«, sagte er feierlich
und anerkennend. »Können deine beiden Freunde mir helfen?« »Sie gehen mit dir, bis du sie zurückschickst«, erklärte Polaw. »Die letzte Strecke des Weges wirst du allein bewältigen müssen, wenn du keinen Verdacht erregen willst. Bist du kräftig genug?« »Ich bin«, versicherte YʹMan. 12. In PhinʹSars Hauptquartier herrschte am Abend nicht weniger Aufregung als zur Mittagszeit. Während des Nachmittags hatte sich SoonʹKums Zustand ein wenig verbessert, und es war die Entscheidung gefallen, die Kranke ständig unter Beobachtung zu halten, ansonsten aber den Heilungsprozeß sich selbst zu überlassen. Die Fachleute hatten erkannt, was BengʹTut von allem Anfang an gewußt hatte: SoonʹKum würde nach zwei Tagen aus der Bewußtlosigkeit erwachen und außer einer geringfügigen Gedächtnisschwäche keinen bleibenden Schaden davontragen. Zu Einbruch der Dunkelheit jedoch gaben die Ärzte plötzlich Alarm. SoonʹKums Lebenszeichen wurden schwächer. Der Aufseher war verzweifelt. Als anderthalb Stunden später der Mann in der Rüstung um eine Unterredung ersuchte, bedurfte es aller Anstrengung des Adjutanten, zu verhindern, daß er das Ansuchen zurück wies. YʹMan bemerkte wohl die Spannung, die in der Luft lag, als er PhinʹSars Arbeitsraum betrat. Er tat jedoch so, als ginge ihn das nichts an, und kam forsch, wenn auch mit der gebotenen Höflichkeit, auf sein Anliegen zu sprechen. »Ich nehme an, es ist dem Adjutanten gelungen, die erforderlichen Daten zu beschaffen?« PhinʹSar gab ein halblautes Stöhnen von sich. BengʹTut antwortete an seiner Stelle: »Es herrscht Trauer im Quartier des Aufsehers. SoonʹKum ringt
mit dem Tod. Wir haben keine Zeit gefunden, uns um deine Daten zu bekümmern.« »Das ist bedauerlich«, erklärte YʹMan und ließ dabei offen, auf welche der beiden Entwicklungen er sich bezog. »Ich bin also gezwungen, meine Erkundigungen auf eigene Faust einzuziehen. Glücklicherweise werde ich nicht lange zu suchen haben.« »Wie meinst du das, Mann in der Rüstung?« erkundigte sich BengʹTut erstaunt. »Ich habe guten Grund, zu glauben, daß sich zumindest einer oder zwei meiner Freunde hier in der Stadt befinden«, antwortete der Metallene. »Es kann nicht schwer sein, zwei derart aus dem Rahmen fallende Wesen zu finden, oder was meinst du?« Der Schmerz hatte offenbar vorübergehend seine Gewalt über PhinʹSar verloren. Der Aufseher richtete sich halbwegs auf und fragte: »Wo hast du den Tag verbracht?« »In der Stadt«, sagte YʹMan leichthin. »Ich habe mich umgesehen, wie du es mir empfahlst.« »Wann bist du zurückgekehrt?« wollte BengʹTut wissen. »Vor gut einer Stunde. Warum?« »Wir wollen nicht, daß du dich unnötig in Gefahr begibst«, erklärte der Aufseher. »Manchmal ist die Stadt bei Nacht nicht sicher.« »Solche Dinge fallen immer auf den zurück, der das Kommando hat«, sagte der Roboter in belehrendem Tonfall. »Vielleicht solltest du dich intensiver um die Sicherheit deiner Stadt bemühen. Aber ich will dir nicht in deine Amtsgeschäfte hineinreden. Du hast mit deinem Kummer genug zu schaffen. Vergib mir, wenn ich dich allein lasse. Morgen früh beginne ich mit der Suche nach meinen Gefährten.« *
PhinʹSars und BengʹTuts Blicke begegneten einander, nachdem YʹMan sich zurückgezogen hatte, und in beiden stand dasselbe geschrieben. »Ich glaube, wir haben ihn unterschätzt«, sagte der Aufseher. »Er ist ein gefährliches Wesen«, bestätigte der Adjutant. »Die bösen Geister mögen wissen, wo er sich den ganzen Tag über herumgetrieben hat.« »Man wird ihn genau im Auge behalten müssen«, erklärte PhinʹSar. »Einer deiner Leute soll ihn ständig beobachten!« Dieser Befehl kam BengʹTut nicht recht. Hätte er ihn ausgeführt, wäre offenbar geworden, daß es in der Unterkunft des Mannes in der Rüstung kein einziges funktionsfähiges Sicht‐ oder Abhörgerät mehr gab. Es fiel ihm indes nicht schwer, die Aufmerksamkeit seines Vorgesetzten in eine andere Richtung zu lenken. »Ich werde das gleich veranlassen«, antwortete er. »Aber gerade in diesem Augenblick ist mir ein häßlicher Verdacht gekommen.« »Sprich!« »Wann wurde SoonʹKum krank?« »Heute morgen.« »Als der Mann in der Rüstung noch in der Nähe war! Gegen Mittag ging er aus, und am Nachmittag verbesserte sich der Zustand deiner Gefährtin. Aber seit wann geht es ihr schlechter?« »Seit anderthalb Stunden …« »Und der Mann in der Rüstung kehrte vor gut einer Stunde, wie er sagt, aus der Stadt zurück!« PhinʹSar fuhr in die Höhe. »Alle gerechten Götter …«, entfuhr es ihm. »Es tun sich eine Menge merkwürdiger Dinge«, fuhr BengʹTut fort, »seit wir den Mann in der Rüstung bei uns haben. Erst explodiert das Kabel, und er bleibt wie durch ein Wunder unbeschädigt. Dann erleidest du einen eigenartigen Schwächeanfall …« PhinʹSar, der sich an den »Anfall« nur ungern erinnerte, winkte
hastig ab. »Das kann daran gelegen haben, daß ich zuviel Maris‐ Körner aß«, hielt er seinem Adjutanten entgegen. »Daran muß nicht unbedingt etwas sein.« »Ich aber kenne dich schon seit langer Zeit«, beharrte BengʹTut auf seinem Standpunkt. »Ich habe dich noch nie in diesem Zustand erlebt.« PhinʹSar machte eine vage Geste. Vielleicht hatte er recht, dieser BengʹTut. Womöglich war wirklich etwas an der Sache. Hm. Er war einfach umgekippt? Er erinnerte sich an nichts mehr, was gestern abend geschehen war. Gedächtnisschwund! Hatten die Ärzte SoonʹKum nicht dasselbe prophezeit? »Der Himmel magʹs wissen«, zischte PhinʹSar, »aber ich glaube gar, du hast recht. Wie sollte er aber SoonʹKum … ich verstehe es nicht … sie hätte doch nicht zugelassen …« »Es gibt nur eine Möglichkeit«, fiel ihm BengʹTut ins Wort. »Wir müssen ihn einem offiziellen Verhör unterziehen.« Die ominöse Betonung, mit dem er das Wort »offiziell« versah, war durchaus beabsichtigt. PhinʹSar würde sich auf derart drastische Maßnahmen nicht einlassen und statt dessen einen zahmeren Weg wählen – genau, wie BengʹTut es im Sinn hatte. »Nicht jetzt schon«, winkte der Aufseher ab. »Erst müssen wir ihm etwas nachweisen können.« Er wandte sich ruckartig an seinen Adjutanten. »Hast du schon veranlaßt, daß er beobachtet wird?« »Nein. Du hast mir den Befehl eben erst gegeben.« »Gut. Vergiß den Befehl. Wir werden sein Quartier durchsuchen.« Es war YʹMan nicht leicht gefallen, den Körper des Toten unbemerkt bis in seine Unterkunft zu bringen. Nicht daß es ihm an Kraft mangelte – er hätte mühelos fünf solcher Lasten befördern können. Aber die allgemeine Aufregung in der Nähe des Aufseher‐ Hauptquartiers machte es nötig, daß er sich zunächst ein Behältnis anfertigte, so daß man nicht sehen konnte, was er transportierte. Und selbst mit dem Behältnis hatte er noch jede Sekunde damit rechnen müssen, daß man ihn anhielt und nach der Art seiner Bürde
befragte. Inzwischen war alles längst überstanden. Sein Besuch bei PhinʹSar hatte ihn überzeugt, daß BengʹTut etwas Einschneidendes plante. Das war nicht verwunderlich. Das Schicksal des Adjutanten hing an zwei Fäden, von denen keiner besonders stark zu sein schien. SoonʹKums Gesundheitszustand hatte eine Wendung zum Schlechteren genommen, und der Mann in der Rüstung war ein Zeuge, auf dessen Zuverlässigkeit er nicht bauen durfte. YʹMan war so gut wie überzeugt, daß BengʹTut längst begonnen hatte, ihm die Verantwortung für alle unerfreulichen Ereignisse der vergangenen drei Tage anzuhängen. Es war drei Stunden vor Mitternacht, als sich der Interkom meldete. YʹMan reagierte nicht darauf. Wenige Minuten später erfolgte ein zweiter Anruf; auch dieser blieb unbeantwortet. Der Roboter suchte sich ein Versteck, das ihm einen unbehinderten Ausblick auf den größten Raum seiner Unterkunft bot. Der namenlose Fremde, den schon vor über hundert Jahren der Tod ereilt hatte, hockte auf einem niedrigen Sessel. Er wirkte locker und entspannt, als sei er in meditierendem Träumen begriffen. Die Manipulation des elektronischen Türschlosses sandte ein helles »Ping« durch YʹMans Bewußtsein. Er sah die Tür sich öffnen. BengʹTut trat als erster ein. »Ich versichere dir, er hat das Gebäude verlassen«, zwitscherte der Adjutant hastig und nervös. YʹMans geheimer Translator übersetzte seine Worte. »Ich habe mich in jedem Winkel umgesehen. Er ist nicht hier.« Inzwischen hatte PhinʹSar die Tür hinter sich geschlossen. »Schalt das Licht ein«, befahl er. BengʹTut gehorchte. »Wie kannst du dich in jedem Winkel umgesehen haben«, erkundigte der Aufseher sich in strengem Ton, »wenn keines der Sichtgeräte mehr funktioniert?« Er wies auf die Löcher in den Wänden. YʹMan selbst hatte sie
gemacht, als er die Mikrokameras und Spionmikrophone vernichtete. »Das – das … kann erst vor ganz kurzem geschehen sein«, stotterte der Adjutant und gewann sofort die Fassung wieder. »Daran erkennst du, wie gefährlich er ist!« PhinʹSar gab einen merkwürdig glucksenden Laut von sich. »Meine Götter! Da sitzt er!« Sein Blick war auf den niedrigen Sessel gefallen. »Das … er … es ist …« BengʹTuts Blick war starr geworden. Er beugte sich nach vorne, als könne er nicht glauben, was seine Augen ihm zeigten. »Er muß erst vor ganz kurzem …« »Hörst du uns?« fragte PhinʹSar mit scharfer Stimme. »Der Translator«, murmelte BengʹTut. PhinʹSar schaltete das Gerät ein und wiederholte die Frage. Die gepanzerte Gestalt im Sessel rührte sich nicht. »Gerechte Geister, wie die anderen seines Volkes!« murmelte der Aufseher. Der Adjutant nahm den Rest seines Mutes zusammen und trat auf den Metallenen zu. Er sprach ihn an. Die Gestalt reagierte nicht. BengʹTut streckte vorsichtig die Hand aus und berührte den metallenen Helm. Die Gesichtsplatte schnappte zur Seite. »Neiiiin!« schrie BengʹTut und tat mit einer Gewandtheit, die seiner athletischen Statur alle Ehre machte, einen Satz fast bis zurück zum Eingang. PhinʹSar musterte erschüttert den knochigen Schädel, der unter der Gesichtsplatte zum Vorschein gekommen war. »Chail hat ihn dahingerafft – wie die anderen«, sagte er mit düsterer Stimme. »Laß uns gehen, Aufseher«, bat BengʹTut mit unsicherer Stimme. »Mir ist nicht wohl in Gegenwart der Toten.« PhinʹSar machte pathetisch die Geste der Zustimmung. »Ja, gehen wir. Wenn er uns wirklich hat täuschen und betrügen wollen – es kann ihm niemand mehr anrechnen.«
13. YʹMan war mit dem bisherigen Verlauf der Entwicklung zufrieden. Die Roxharen hielten ihn für tot. Von jetzt an hatte er volle Bewegungsfreiheit. Er rechnete damit, daß in wenigen Stunden die allgemeine Unruhe unter den Chailiden ausbrechen und spätestens am Morgen in die Blaue Stadt überschäumen würde. War der Aufruhr erst einmal in vollem Gang, dann konnte es nicht mehr schwer sein, PhinʹSar zur Herausgabe der beiden Gefangenen zu zwingen. Demjenigen, der es verstand, die Chailiden zu beruhigen, würde der Aufseher keinen Gefallen verweigern. Warum aber so lange warten? Warum konnte er nicht versuchen, den Roxharen namens SʹDunikh zu finden, von dem AiʹSynn gesprochen hatte, und ihn zu zwingen, daß er ihm den Aufenthaltsort der Gefangenen verriet? YʹMan überdachte die Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen, und kam zu dem Schluß, daß ein solcher Plan durchaus verwirklichbar sei. Zwar ließ es sich dabei nicht vermeiden, daß er von dem einen oder anderen Roxharen gesehen wurde, und im Lauf der Zeit würde bis zum Hauptquartier des Aufsehers durchsickern, daß ein Geschöpf, das dem vermeintlich toten Mann in der Rüstung bis aufs Haar glich, sich in der Stadt herumtreibe. Aber ein wenig zusätzliche Verwirrung bereitete seinem Vorhaben keinen Schaden – im Gegenteil: je mehr Durcheinander er stiftete, desto größer war seine Aussicht auf Erfolg. Er schlich sich aus der Unterkunft. Er kam unbemerkt bis zum Rand der Rampe, die zum Hauptausgang führte, als er vor sich zwitschernde Stimmen hörte. Zwei Roxharen kamen die Rampe herauf. YʹMan zog sich in die Dunkelheit einer Wandnische zurück, um die beiden an sich vorbeizulassen. Er hörte den einen zum andern sagen:
»PhinʹSar muß sofort geweckt werden. Ich gebe ihr höchstens noch eine Stunde.« Darauf wurde geantwortet: »Ich verstehe noch immer nicht, wie sie sich eine Krankheit zuziehen konnte, von der unsere Heilkunst nichts …« Der Rest des Satzes verlor sich im Geräusch der Schritte. YʹMan zögerte. Die Worte der Roxharen hatten ihn an einer Stelle seines Bewußtseins berührt, der er sonst wenig Beachtung schenkte. Ein Suchmechanismus war in Bewegung geraten und durchforschte die Informationsbestände seiner ethischen Datenbank. War nicht er selbst dafür verantwortlich, daß SoonʹKum – auf niemand anderen konnten sich die Worte bezogen haben – in diese Lage geraten war? Gewiß, er hatte nicht vermuten können, daß BengʹTut, um sich zu sichern, derart drastische Maßnahmen anwenden würde. Aber dennoch … Der Mißgebaute von Osath erkannte seine Verantwortung. SʹDunikh und die beiden Gefangenen waren für den Augenblick vergessen. Zuerst mußte er sich um SoonʹKum kümmern. * Soviel Zuversicht hatte BengʹTut schon lange nicht mehr empfunden: sein gefährlichster Mitwisser hatte das Zeitliche gesegnet, SoonʹKum würde ihn nicht verraten können und obendrein bald ein Schicksal erleiden, das allen Roxharinnen zuteil werden müßte, die die Unverschämtheit besaßen, den attraktivsten aller roxharischen Junggesellen zurückzuweisen. Er hatte PhinʹSar überzeugt, daß es besser sei, ein paar Stunden zu schlafen, und er selbst war ebenfalls rechtschaffen müde. In den letzten Tagen hatte es nicht viel Ruhe gegeben. Er dachte erfreuliche Gedanken, als er die Tür seiner Unterkunft öffnete, die Beleuchtung sich selbsttätig aktivierte und sein Blick
über die gediegene, vornehm wirkende Ausstattung des Wohnraums glitt, die er sich von chailidischen Handwerkern und Künstlern hatte anfertigen lassen – um einen Preis, der aus weiter nichts bestand, als daß er sie seiner immerwährenden Freundschaft versicherte. Er hatte Appetit auf ein erfrischendes Getränk und schritt forsch in Richtung des Küchen‐ und Speiseraums. Die Tür schloß sich von selbst hinter ihm. Und dann ging das Licht aus. Der Adjutant erstarrte mitten in der Bewegung. In seine Verwirrung mischte sich eine Ahnung drohender Gefahr. Verflogen war die Euphorie, die er vor wenigen Augenblicken noch empfunden hatte. Irgend etwas Düsteres, Unheimliches lauerte dort in der Finsternis. Behutsam setzte er einen Fuß hinter den anderen und näherte sich der Tür, durch die der Weg hinaus in die Sicherheit führte. »Bleib stehen und rühr dich nicht!« knarrte eine Stimme auf Chailidisch. BengʹTut war es zumute, als gefröre ihm das Mark in den Knochen. Diese Stimme! Wo hatte er sie zuvor schon gehört? Er war sicher, daß die Gefahr, die dort im Dunkel lauerte, sein Leben bedrohte. Er mußte fort von hier – so weit wie möglich. Etwas Schweres, Hartes kam durch die Luft geflogen und traf ihn seitlich an den Schädel. »Stehenbleiben, habʹ ich gesagt!« knurrte es drohend. BengʹTut wankte. Er gab ein flötendes Zwitschern von sich, das seine Todesangst zum Ausdruck brachte. »Reiß dich zusammen!« knarrte der Unsichtbare. »Noch geht es dir nicht ans Leben.« »Noch?« jammerte BengʹTut. »Wer bist du? Was willst du?« »Ich bin der Gerechte«, kam die Antwort aus der Finsternis. »Vergiß das nicht. Ich bin hier, um Gerechtigkeit zu wirken. Wenn du mir dabei hilfst, darfst du dein Leben behalten.« »Sprich!« flehte der Adjutant. »Was soll ich tun? Ich tue alles …«
»Du hast SoonʹKum vergiftet!« BengʹTut verschlug es den Atem. Woher wußte der … es gab nur einen, dem … Der Adjutant schluckte und würgte. Es war ihm, als schlösse sich eine eisige Hand um seine Kehle. Der Unsichtbare in der Finsternis aber besaß ein bedauernswert geringes Maß an Geduld. Abermals kam etwas Hartes durch die Luft geflogen und traf BengʹTut auf die Spitze des konisch geformten Schädels – genau dorthin, wo die Oberlippe sich spaltete. Der Schmerz war mörderisch. Der Adjutant heulte schrill auf. »Mach den Mund auf!« donnerte es aus der Dunkelheit. »Ich habe …«, zitterte BengʹTut … »ich habe Soon´Kum vergiftet!« »Wenn die Ärzte wüßten, welches Gift du verwendet hast, könnten sie ihr vielleicht helfen. Welches Gift war es?« Abermals zögerte BengʹTut. »Dein Leben hängt an einem dünnen Faden!« drohte es aus der Finsternis. »Ansunmarakool«, keuchte der Adjutant. »Was willst du damit …« »Sprich nicht, hör mir zu!« forderte der Unsichtbare. »Eines Tages wird herauskommen, wie übel du SoonʹKum mitgespielt hast. Ich will dein Verderben nicht. Wenn du in Gefahr bist, verlaß das Zentrum der Stadt und begib dich ins Viertel der Raumfahrer. Frag nach AiʹSynn, und wenn du ihn gefunden hast, sag ihm, der Gerechte hätte dich geschickt. Er wird dir weiterhelfen.« BengʹTut gab ein ächzendes Geräusch von sich. »Hast du mich verstanden, Schwachkopf?« »Ja«, würgte der Adjutant. »Geh jetzt dort drüben in die Küche und schließ die Tür hinter dir!« BengʹTut gehorchte. Augenblicke später hörte er die Außentür gehen. Die Beleuchtung war wieder angesprungen und blendete
ihn. Er eilte zum Ausgang und spähte den Korridor entlang. Aber sein nächtlicher Besucher war nirgendwo mehr zu sehen. * PhinʹSar stand erstarrt, ein Bild der Gestalt gewordenen Trauer. Reglos lag vor ihm auf der weich gepolsterten Liege die Gefährtin seines Lebens, die schönste aller Roxharinnen. Eines ihrer Lider zuckte schwach, das war das letzte Lebenszeichen. »Ich bedaure außerordentlich …«, begann einer der beiden Ärzte und behielt den Rest des Satzes für sich, als er erkannte, daß PhinʹSar ihm nicht zuhörte. Im Hintergrund summte der Interkom. »Jetzt nicht«, wehrte der Arzt ärgerlich ab. Aber sein Zunftgenosse hatte die Empfangstaste bereits betätigt. Auf der kleinen Videofläche bot sich ihm ein eigenartiges Bild. Er sah einen Tisch, und auf dem Tisch stand ein kleines Schild, das durch einen Gegenstand undefinierbarer Herkunft gestützt wurde. Auf dem Schild stand, in roxharischen Schriftzeichen geschrieben, ANSUNMARAKOOL. Der zweite Arzt gab einen entsetzten Flötenton von sich. »Was gibt es?« erkundigte sich sein Zunftbruder. Sprachlos wies der andere mit der Hand auf den Bildschirm. Das Schild mit der seltsamen Aufschrift war noch ein paar Sekunden lang zu sehen. Dann erlosch das Bild. Inzwischen war auch der in tiefe Trauer versunkene PhinʹSar aufmerksam geworden. »Was geht hier vor?« zwitscherte er unwillig. »Ein Wink des Himmels!« rief der ältere der beiden Ärzte voller Begeisterung. »Jemand hat … wir wissen … jetzt ist mir klar, warum wir SoonʹKum nicht helfen konnten. Ansunmarakool! Das heimtückischste aller Gifte hinterläßt im Körper keine
identifizierbare Spur! Wer hätte jemals auf die Idee kommen können …« »Sprich deutlicher, Heiler!« verlangte PhinʹSar zornig. »Du weißt, daß SoonʹKum vergiftet wurde?« »Ja.« »Von wem?« Der Arzt wies mit hilfloser Geste auf das Videogerät. »Ein Schild …«, stotterte er. »Jemand hat … es stand darauf …« »Von wem wurde sie vergiftet?« donnerte PhinʹSar. »Das weiß ich nicht.« Der Aufseher packte den Arzt an den grauen Haaren seines Schulterpelzes. »Ich will wissen, wer sie vergiftet hat!« schrie er. Da gewann der Arzt seine Fassung wieder. Mit einem Ruck entwand er sich dem schmerzenden Griff. Seine kleinen, schwarzen Augen blitzten ärgerlich. »Ich bin der Heiler«, sagte er. »Wenn du Verbrecher fangen willst, mußt du dich an andere wenden. Du bist hier im Weg, PhinʹSar. Laß uns allein, und wir werden SoonʹKum helfen können. Halte uns auf, und sie stirbt!« Benommen wankte der Aufseher zur Tür. Eine Stunde später erhielt er die Nachricht, SoonʹKum habe die Krise überwunden und sei auf dem Weg der Besserung. 14. Nachdem es YʹMan endlich gelungen war, das Stadtzentrum zu verlassen, bewegte er sich in Richtung der orangeroten Kuppel, wo er auf AiʹSynn zu treffen hoffte. Er hatte jedoch die Grenze des breiten Ringes technischer Gebäude kaum überschritten, als sich eine Gestalt ihm in den Weg stellte. Es war Polaw. »Es geschieht alles viel zu schnell«, stieß der Anführer der
Turmbewohner atemlos hervor. »Die Chailiden sind wie übergeschnappt! Sie strömen in die Stadt, und die Roxharen haben begonnen, die Stadtgrenzen abzuriegeln.« YʹMan nickte. »Das ist alles genau so, wie wir es haben wollen«, sagte er. »Ja, aber nicht so früh!« klagte Polaw. »Wir kommen nicht mehr hinaus!« YʹMan holte aus einem vorübergehend vernachlässigten Teil seines Bewußtseins die Erinnerung hervor, daß AiʹSynn die nächtliche Unruhe hatte benutzen wollen, um einen Trupp von Turmbewohnern aus der Stadt in ein Trainingslager draußen in der Wildnis von Chail zu führen. Niemand hatte damit rechnen können, daß die Roxharen auf den Ansturm der verstörten Chailiden so rasch reagieren würden. Wenn sie die Stadt abriegelten, war AiʹSynn mit seinen Begleitern eingesperrt! »Schnell«, sagte er zu Polaw. »Führ mich zu AiʹSynn. Wir müssen sehen, was sich tun läßt.« Polaw schritt voran. Je näher sie der äußeren Grenze des technischen Bereichs kamen, desto deutlicher wurde, daß ungewöhnliche Geschehnisse im Gang waren. Lichter zuckten durch die Nacht. Fahrzeuge mit bunten Positionslichtern surrten durch den finsteren Himmel. Ein Rauschen wie von einer fernen, aufgeregten Menge war zu hören. »Wo steht ihr?« fragte YʹMan. »Dicht innerhalb der Absperrung. Wir haben uns zwischen den Gebäuden versteckt.« Sie brauchten eine halbe Stunde, um AiʹSynns Trupp zu erreichen. YʹMan spähte zwischen einer Gebäudelücke hindurch. Er blickte auf einen geräumigen Platz, der durch einen Kordon bewaffneter Roxharen in zwei Hälften gespalten wurde. Jenseits der Kordons drängte sich eine unabsehbare Menge von Chailiden. Sie waren aufgeregt. Ihre Rufe erfüllten die Nacht mit Lärm. Noch scheuten sie davor zurück, die Roxharen, die sie doch für ihre Freunde hielten,
anzugreifen. Aber es ließ sich erkennen, daß die Disziplin der Menge bald zusammenbrechen würde. Den Chailiden saß die Panik im Nacken. YʹMans scharfer Blick flog die Reihe der Roxharen entlang. Er sah eine Gestalt, die ihm bekannt vorkam. Kein Zweifel – es war der Rotarm, den er vor ein paar Nächten mit seinem Freund, dem Beriemten, belauscht hatte. Rotarm schien in der Gruppe der roxharischen Aufpasser eine befehlshabende Rolle zu spielen. »Wir werden den Ring lösen«, sagte er zu AiʹSynn, der neben ihm kauerte. »Halt deine Leute bereit.« »Wie willst du das anfangen?« wollte der Roxhare wissen. »Sie haben Befehl von …« »Laß das meine Sache sein«, fiel ihm der Roboter ins Wort. »Wenn du die Turmbewohner untergebracht hast, kehrst du in die Stadt zurück?« »Auf dem schnellsten Wege«, antwortete AiʹSynn. »Ich habe hier mein Hauptquartier. Hier sind all die technischen Mittel, die ich brauche. Die Grüne Sichel von NarʹBon wäre nichts ohne ihren festen Halt in der Blauen Stadt.« »Gut«, sagte YʹMan. »Es wird in Kürze einer nach dir suchen kommen. Er heißt BengʹTut und ist der ehemalige Adjutant des Aufsehers. Er ist in Ungnade gefallen und braucht deine Hilfe.« »BengʹTut?« staunte der Roxhare. »In Ungnade gefallen? Davon weiß ich nichts.« »Weil es erst im Lauf der nächsten zwei Stunden geschehen wird«, belehrte ihn YʹMan, erhob sich und stapfte auf den Platz hinaus. * »Heh, Rotarm!« Der Roxhare mit dem roten Fellbesatz am Arm fuhr herum. Seine kleinen Augen funkelten zornig.
»Wer nennt mich hier Rotarm?« schrie er über den Lärm der Menge hinweg. Dann erblickte er den Roboter. Er stutzte. Ungläubiges Staunen malte sich in seinem Gesicht. »Der Mann in der Rüstung!« stieß er hervor. »Aber … sie sagten doch … du wärest tot!« »Quatsch!« winkte YʹMan ab. »Sehe ich wie tot aus? Ich wette, das hast du von diesem Halunken BengʹTut, den der Aufseher noch in dieser Nacht erschießen lassen wird.« »BengʹTut? Erschießen lassen?« Der Rotarm bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. »Was wollen diese Chailiden?« fragte YʹMan und wies auf die Menge hinaus. »Sie sind wie von Sinnen!« klagte der Rotarm. »Sie behaupten, der Himmel stürze ein, oder ein Asteroid sei im Anflug auf Chail – so etwas. Sie fürchten sich. Chail wird vernichtet werden, sagen sie. PhinʹSar soll ihnen helfen.« »PhinʹSar befiehlt dir durch mich, du sollst dich mit deinen Leuten auf den Stadtkern zurückziehen«, erklärte YʹMan. »Durch dich?« staunte der Rotarm. »Ich vertrete in diesem Augenblick BengʹTut, dem der Aufseher nicht mehr vertrauen kann«, sagte der Metallene. »Warum … zurückziehen?« wollte der Rotarm wissen. »PhinʹSar hat nicht genügend Aufpasser, die Stadt entlang dieser Grenze abzusperren. Du hast dich an den Rand des Zentralplatzes zurückzuziehen und die Chailiden dort im Schach zu halten.« Der Roxhare spähte mißtrauisch zu der Reihe von Fahrzeugen hinüber, die am Nordrand der freien Fläche geparkt standen. »Ich muß mich erst vergewissern …«, murmelte er. »Inzwischen brechen die Chailiden ins Stadtzentrum ein«, warnte YʹMan. »Verschwende noch ein paar Minuten, indem du im Hauptquartier anrufst, und die Lage wird völlig hoffnungslos. PhinʹSar wird das gar nicht gefallen.«
Der Rotarm sah sich ratlos um. Die Gründe, die der Mann in der Rüstung genannt hatte, waren plausibel. Wenn überall in der Stadt so viele Chailiden andrängten wie hier … Er hob den Arm. »Bringt die Fahrzeuge herbei!« trillerte sein Befehl. Die Roxharen saßen auf. YʹMan hatte sich inzwischen an den Rand des Platzes zurückgezogen. Als die Fahrzeuge starteten, begannen die Chailiden, über die weite Fläche zu stürmen. Zwei Straßen, die nach Norden zum Stadtzentrum führten, waren binnen weniger Minuten von der Menge überflutet. Weithin gellte ihr Schreckensruf: »Der Himmel stürzt ein!« Wenige Minuten später löste sich aus dem Schatten der Häuser eine kleine Gruppe verschiedenartig gestalteter Wesen und zog nach Süden über den Platz. An der Spitze schritt ein hochgewachsener Roxhare. YʹMan winkte ihm zu, und AiʹSynn erwiderte seinen Gruß. * Auf dem Platz, der den zentralen Komplex der Blauen Stadt umgab, herrschte Chaos. YʹMans Manöver hatte eine Lücke im Absperrungsring erzeugt, durch die die chailidische Flut sich ins Innere der Stadt ergoß. Der Rotarm und seine Aufpasser erreichten den Platz zwar früher als die Chailiden, aber als sie in Stellung gehen wollten, entstand unter ihnen Verwirrung, weil sie von nirgendwoher Verstärkung erhielten. Vom Hauptquartier des Aufsehers aus hatte man die unplanmäßige Zurückverlegung eines Aufpassertrupps inzwischen bemerkt. PhinʹSar schickte einen Beauftragten, der den Rotarm zur Rede stellen sollte. Zwischen den beiden Roxharen entstand ein Streit, und inzwischen flutete die chailidische Menge unter dem dröhnenden Schrei »Der Himmel stürzt ein« über den Platz und begann, die Eingänge zu den Gebäuden des Zentralkomplexes zu besetzen. Y´Man, der
nur wenige Minuten vor den Chailiden eingetroffen war, schaffte es gerade noch, PhinʹSars Hauptquartier zu erreichen, bevor die von panischer Verzweiflung erfüllten Chailiden ihm den Weg verlegten. Im Innern des Hauptquartiers herrschte Verwirrung. YʹMan, der inzwischen keinen Vorteil mehr daraus ableitete, für tot gehalten zu werden, marschierte stoischruhigen Schritts durch die Menge hin‐ und hereilender Boten, Ordonnanzen und sonstiger Beauftragter, von denen viele ihm entsetzte Blicke zuwarfen, und gelangte unbehindert an die Tür des großen Arbeitsraum, in dem PhinʹSar mit BengʹTut konferierte. Der Aufseher war voller Elan, nachdem ihm vor kurzer Zeit ein Wunder die Gefährtin seines Lebens zurückgegeben hatte. Der Adjutant dagegen verhielt sich geistesabwesend. Er war nicht ganz bei der Sache, weil sein Bewußtsein sich fortwährend mit dem Gedanken beschäftigte, was geschehen würde, wenn seine Übeltaten ans Tageslicht kamen. YʹMan trat ein. PhinʹSar war gerade dabei, eine fundamentale Feststellung zu treffen. Als er den Mann in der Rüstung erblickte, erstarb seine mit Nachdruck zum Vortrag gebrachte Rede in einem schrillen, trillernden Pfiff. Er begann zu wanken, während ihm die Augen aus den Höhlen treten wollten. Er fing sich an BengʹTuts Schulter, ein Bild haltlosen Entsetzens, und gab eine Reihe, lallender, kullernder Laute von sich. Dem Adjutanten war es in Wirklichkeit keineswegs wohler zumute; aber der Umstand, daß sein Vorgesetzter sich an ihm festhielt, verlieh seiner Seele ein gewisses Pseudo‐ Gleichgewicht, so daß es ihm schließlich gelang, ein paar Worte über die gespaltenen – und infolge eines vor mehreren Stunden erhaltenen Treffers leicht geschwollenen – Lippen zu bringen. »Da ist … er hat uns betrogen! Nehmt den Verräter fest!« Angesichts der Unerschrockenheit seines Untergebenen entwand sich auch PhinʹSar dem Einfluß des mentalen Banns, dem er beim Anblick des vermeintlich Toten erlegen war. »Wie kommst du hierher? Du bist doch tot?« fragte er geistreich.
»Das wird mir in dieser Nacht schon zum zweiten Mal gesagt«, stellte der Metallene fest. »Und du hast noch immer einen Betrüger zum Adjutanten.« »Einen Betrüger?« »Ich protestiere …« »Da draußen rebellieren Tausende von Chailiden!« schrie YʹMan in schrillem Diskant. »Sie sehen einen Asteroiden auf Chail zukommen und glauben zu wissen, daß ihre Welt im Lauf der nächsten zwei Tage zerstört werden wird. Wir alle sind uns darüber im klaren, woher die meditierenden Chailiden ihre Informationen beziehen: aus dem Netz. Wer also hat das Netz manipuliert, um ihnen den Asteroiden vorzugaukeln? Wer von euch besitzt die technischen Kenntnisse, die für eine solche Manipulation erforderlich sind?« PhinʹSar richtete einen fragenden Blick auf seinen Adjutanten. BengʹTut stotterte: »Ich war nicht … ich kann doch gar nicht …« »Gewiß kannst du nicht.« YʹMans Stimme war scharf und durchdringend. »Und wer hat SoonʹKum vergiftet?« »SoonʹKum!« schrie der Aufseher. BengʹTut richtete sich straff auf. »Das ist eine todeswürdige Anschuldigung …« »Oh ja? Aufseher, ist deine Gefährtin vernehmungsfähig?« PhinʹSar war völlig verwirrt. »Ich glaube … die Ärzte haben nichts darüber gesagt. Ich meine …« »Schick deinen Adjutanten, er soll sie holen«, schlug der Metallene vor. »Die Ärzte sagten voraus, sie werde einen Teil ihrer Erinnerung verlieren. Da sie aber früher als geplant aus der Ohnmacht erwacht ist, wird sie sich vermutlich noch erinnern, wem sie das Gift zu verdanken hat.« PhinʹSar Wandte sich an seinen Adjutanten. »Hol sie!« befahl er. BengʹTut erwachte wie aus tiefer Trance.
»Tu, was der Gerechte fordert!« unterstützte YʹMan den Befehl des Aufsehers. Ein Blitz leuchtete aus BengʹTuts Augen. Er machte eine zustimmende Gebärde. Im nächsten Augenblick war er durch die Tür entschwunden. 15. »Du wirst ihn nie wieder zu Gesicht bekommen«, sagte YʹMan. »Was? Wie?« »Er ist es wirklich, der SoonʹKum vergiftet hat. Mit Ansunmarakool, nicht wahr?« »Das … das weißt du?« entfuhr es PhinʹSar. »Und es liegt auch im Rahmen seiner Fähigkeiten, die Mentalinformationen des Netzes zu manipulieren, nicht wahr?« »Ja, das ist wohl so«, gab der Aufseher widerstrebend zu. »Du hast einen Aufstand an der Hand«, sprach YʹMan auf ihn ein. »Du wirst die Chailiden nicht beruhigen können, indem du ihnen bewaffnete Aufpasser entgegenstellst. Die Meditierenden haben erfahren, daß ihre Welt zerstört werden wird. Sie werden sich erst beruhigen, wenn man ihnen klarmacht, daß sie ein falsches Bild gesehen haben.« PhinʹSar sah auf. »Wer sollte das tun? Niemand weiß, wie die falsche Information wieder aus dem Netz entfernt werden kann. Und nun … wenn BengʹTut wirklich … oh, ihr guten Geister von Roxha!« »Ich werde es tun«, sagte YʹMan. Der Aufseher fuhr in die Höhe. »Du …« »Nur unter einer Bedingung«, warnte der Metallene. »Nenne sie!« bat PhinʹSar. »Du weißt, weswegen ich hier bin. Ich suche nach drei
Mannschaftsmitgliedern meines Raumschiffs. Zwei von ihnen befinden sich in dieser Stadt. Ich will …« PhinʹSar hob die zierliche Hand zu einer Aufmerksamkeit heischenden Geste. »Wenn du mir aus dieser Zwangslage hilfst, will ich …« »Nein!« fuhr ihm YʹMan hart in die Parade. »Ich halte mein Wort. Zuerst will ich wissen, wo die Wesen sind, nach denen ich suche.« Es war PhinʹSar nicht anzusehen, was in ihm vorging. Er starrte vor sich hin. Er ging ein paar Schritte bis zu der kleinen Schaltleiste auf seinem Arbeitstisch und betätigte einen Schalter. Zwei Sekunden lang war der Lärm der aufgebrachten Menge draußen auf dem Platz zu hören. Dann schaltete der Aufseher den Empfänger wieder aus. Er blickte zur Tür. BengʹTut hätte längst zurück sein müssen. Schließlich wandte er sich dem Metallenen zu. »Wirst du mir zwei Minuten lang vertrauen und im Nebenraum warten?« fragte er. »Was dann?« wollte YʹMan wissen. »Dann kehrst du in dein Quartier zurück und findest dort eine Überraschung vor.« YʹMan sah zu ihm auf. »Es wäre am besten eine solche, für die sich das Warten auch lohnt«, sagte er. * Er öffnete die Tür. Die Beleuchtung sprang an. Er musterte die Wände und nahm zur Kenntnis, daß niemand sich die Mühe gemacht hatte, die zerstörten Abhörgeräte zu ersetzen. Der Tote in der grauen Rüstung kauerte noch immer auf dem niedrigen Sessel, auf dem er ihn abgesetzt hatte. Die Gesichtsplatte stand offen, und ein Totenschädel grinste dem hellen Deckenlicht entgegen.
Zwei Gestalten regten sich seitwärts, nahe dem Durchgang, der zur Küche führte. Bjo Breiskoll, Wajsto Kölsch. »Er hat also Wort gehalten«, sagte der Metallene. Der Katzer war aufgesprungen. »YʹMan! Du also warst es!« Der Roboter machte eine Geste, die zur Vorsicht mahnte. »Ich bin der Mann in der Rüstung«, sagte er. »Zur Zeit der einzige verläßliche Helfer des roxharischen Aufsehers PhinʹSar. Der da …«, er wies auf die reglose Gestalt in dem niedrigen Sessel … »ist einer aus meinem Volk, der die Verhältnisse auf Chail offenbar nicht so gut ertragen hat wie ich.« »Gott sei Dank«, sagte Breiskoll. »Zuerst dachten wir, du wärest das.« YʹMan wandte den Blick von dem Toten. Er musterte zuerst Bjo, dann Wajsto Kölsch. Der Magnide lächelte. Er machte den Eindruck eines Mannes, der mit seinem Schicksal zufrieden war. »Was ist mit ihm?« fragte YʹMan. »Das Netz«, antwortete der Katzer halblaut. »Es hat … irgend etwas mit ihm angestellt.« »Kannst du dich so benehmen wie er?« fragte YʹMan. »Ich meine – zum Schein?« Bjo hob die Schultern. »Warum nicht? Es ist ein ziemlich einfaches Verhaltensmuster. Aber wozu?« »Um PhinʹSars Mißtrauen zu dämpfen«, belehrte ihn der Roboter. »Er soll glauben, daß sein Netz nach wie vor einwandfrei funktioniert.« »Von dir glaubt er das auch?« erkundigte sich Bjo erstaunt. »Er hält mich für einen Organiker.« YʹMan wies auf den Toten. »Nicht zuletzt seinetwegen. Es gibt fünf von seiner Sorte auf dieser Welt. Sie sind alle tot. Was PhinʹSar über mein Verhältnis zum Netz denkt, weiß ich nicht. Er ist in diesen Stunden einigermaßen verwirrt.« »In Ordnung«, sagte Bjo. »Was kommt als nächstes?«
»Erst muß ich den Asteroiden abstellen.« Als er den verwunderten Blick des Mutanten bemerkte, erklärte er mit knappen Worten, wie er zusammen mit AiʹSynn das mentale Netz so manipuliert hatte, daß die Chailiden glaubten, ein Asteroid schicke sich an, ihre Welt zu zertrümmern. »Was die meditierenden Chailiden sehen«, schloß er, »ist weiter nichts als die Information, die die Roxharen in das Netz füttern.« »Wie lange bleibst du fort?« fragte Bjo. »Eine Stunde – mehr nicht.« Er sah die Ungewißheit in Bjo Breiskolls Augen und fuhr fort: »Ich weiß, worum du dich sorgst. Ich glaube nicht, daß PhinʹSar in naher Zukunft wortbrüchig werden wird. Er ahnt, daß wir die Fähigkeit besitzen, das Netz zu manipulieren. Er wird sich einen weiteren Aufruhr wie diesen heute nacht nicht ohne Not auf den Hals laden.« Bjo ballte die Fäuste und reckte die Arme zu einer fragenden Geste. »Wir, YʹMan. Du sagst ›wir‹. Wer sind,wirʹ?« Die Stimme des Roboters spielte das Lächeln wider, das er auf seinem metallenen Gesicht nicht zeigen konnte. »Wir – die Grüne Sichel von NarʹBon«, antwortete er. »Eine Geheimorganisation, wie du noch keine erlebt hast!« * Die Morgendämmerung war gekommen und vergangen, die gelbe Sonne Guel in den Himmel gestiegen. Gegen Mittag endlich ließ die Unruhe der Chailiden nach. Die Information bezüglich des Asteroiden, der auf Chail zu stürzen drohte, war aus dem Netz entfernt. Niemand sah mehr den drohenden Untergang des Planeten. Die Neuigkeit verbreitete sich langsam: den Chailiden standen keine modernen Kommunikationsgeräte zur Verfügung. Aber um Mittag war auch in der Blauen Stadt zu merken, daß die
hektische Angst begonnen hatte, sich zu verflüchtigen. PhinʹSar sah von der großen Videoscheibe auf und wandte sich an YʹMan. »Mann in der Rüstung, du hast dein Wort gehalten. Du bist mit deinen Gefährten vereint.« Er musterte Wajsto Kölsch und Bjo Breiskoll, die auf der Kante seiner sofaähnlichen Liege hockten, mit durchdringendem Blick. »Ihnen scheint es an innerem Glück nicht zu mangeln. Sind sie immer noch so bedacht darauf, an Bord deines Raumschiffs zurückzukehren?« »Ich weiß es nicht«, antwortete der Metallene. »Es verlangt sie nach der Freiheit in der Wildnis von Chail.« »Ich lasse euch dorthin bringen«, versprach PhinʹSar. »Insbesondere«, fuhr YʹMan fort, »ist unser Ziel die chailidische Stadt Ushun, in der wir Spuren unseres dritten Gefährten zu finden hoffen.« »Ich bringe euch auch dorthin«, sagte PhinʹSar, dessen Großzügigkeit an diesem Tag, der die wunderbare Rettung seiner Gefährtin SoonʹKum gesehen hatte, offenbar keine Grenzen kannte. »Was wird aus meinem Fahrzeug?« fragte YʹMan. »Es bleibt dort, wo du es gelandet hast«, versprach PhinʹSar. »Bis du uns erklärst, daß du für immer auf Chail bleiben willst und keine Verwendung dafür mehr hast.« »Den Tag möchte ich erleben«, murmelte YʹMan in der Sprache, die er von den Solanern erlernt hatte. Aber sogleich fuhr er auf Chailidisch fort: »Der Tote in meinem Quartier – du weißt inzwischen, welchem Zweck er diente?« »Ja, ich weiß es«, versicherte PhinʹSar. »Er sollte mich überzeugen, daß du nicht mehr am Leben warst.« Er machte eine merkwürdige Geste, die darin bestand, daß er einen der zierlichen Finger seiner rechten Hand ausstreckte und ihn sich gegen die Schläfe drückte. »Manchmal ist Einfalt einer meiner hervorstechendsten Charakterzüge.« »Ich möchte, daß er dorthin zurückgebracht wird, von wo ich ihn
geholt habe«, erklärte YʹMan mit ernster Stimme. »Er gehört in den Kreis seiner Gefährten, mit denen er dasselbe Schicksal erlitten hat.« »Wird gemacht«, versprach PhinʹSar. YʹMan wandte sich um und winkte Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch, die sich daraufhin folgsam von ihrem Sitz erhoben. »Somit ist weiter nichts mehr zu besprechen«, sagte er. »Wenn du das Nötige veranlassen willst, Aufseher, dann sind wir schon so gut wie auf dem Weg nach Ushun.« ENDE Seit YʹMans Landung auf Chail ist die Situation auf dem Planeten explosiv geworden. Dank Atlans Bemühungen beginnen viele Chailiden ihr Verhältnis zu den Roxharen mit anderen Augen zu sehen. Doch auch bei den Roxharen selbst zeichnet sich eine unerwartete Entwicklung ab – es kommt zum AUFSTAND DER IMMUNEN … AUFSTAND DER IMMUNEN – so lautet auch der Titel des nächsten Atlan‐ Bandes. Autor des Romans ist Peter Griese.