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Seewölfe 79 1
Davis J.Harbord 1.
Aus der Ferne sah die Insel wie eine Riesenschildkröte aus, und so war sie auch von Kolumbus getauft worden, als er sie 1492 auf der Suche nach dem sagenhaften Indien passierte Tortuga, die Schildkröten-Insel. Wäre er damals näher herangesegelt, dann hätte er feststellen müssen, daß diese „Schildkröte“ etwas ganz anderes war. Zwar war ihr Kopf nach Westen und ihr Schwanz nach Osten ausgerichtet, aber ihre Nordküste bestand aus riesigen Brocken übereinander getürmter Felsen, die wie monumentale Burgzinnen aus dem Wasser ragten. Einziger Zugang zur Insel und damit auch ihr natürlicher Hafen war eine liebliche Bucht an der Südküste, deren Gestade aber keineswegs der Willkür heranrollender Karibikbrandung ausgesetzt waren. Denn wenn die Stürme von Süden heranbrausten, dann fielen sie zuerst über Hispaniola her, jene Insel, die Tortuga breit und mächtig abschirmte. Die Südküste Tortugas und die Nordküste Hispaniolas trennte ein Kanal von nur fünf Seemeilen Breite. Pfiff der Wind aus Osten oder Westen, dann preßte er allerdings ziemliche Wassermassen durch diesen Schlauch zwischen den beiden Inseln. Und wer diese Ecke kannte, vermied es dann, Tortuga anzusteuern. An diesem Nachmittag Ende April 1581 wehte ein mäßiger Nordostwind, vor dem eine kleine, schlanke Zweimast-Karavelle und eine Dreimast-Galeone mit Kurs auf das Ostkap Tortugas herliefen, dieses rundeten, dann anluvten und mit Backstagswind in den Kanal steuerten. Die Karavelle segelte voraus. Sie hatte ein auffallendes Merkmal, und zwar die Farbe ihrer Segel. Sie waren rot. Es war nicht die einzige Eigentümlichkeit dieses Schiffes, das von den Piraten der Karibik bereits mit Legenden umwoben wurde. Die Karavelle mit den roten Segeln stand unter dem Kommando einer Frau, deren Verwegenheit ebenso sprichwörtlich war wie ihre äußeren Reize.
Das Piratennest
Sie hieß Siri-Tong, aber unter den Piraten, Abenteuern und Glücksrittern der Neuen Welt nannte man sie die Rote Korsarin, was auf die rotgelohten Segel, aber auch auf die Farbe ihrer Kleidung zurückzuführen war. Sie trug rote Blusen. Diese schlanke, mittelgroße Frau mit den langen schwarzen Haaren und den etwas schräg gestellten dunklen Augen war eine exzellente Degenkämpferin. Genauso virtuos beherrschte sie ihr Schiff — und die Männer, die unter ihr fuhren. Jetzt allerdings war ihre Karavelle unterbemannt — aus gutem Grund, denn der größte Teil ihrer alten Crew war über die Klinge gesprungen, und zwar im Laufe einer Auseinandersetzung, deren Anlaß ein paar Hitzköpfe ihrer Mannschaft gewesen waren. Diesen Kerlen hatte der Erfolg des letzten Beutezuges die Gehirne vernebelt und sie waren aufsässig geworden. Der Erfolg war ihnen zu Kopf gestiegen. Sie hatten zu schnell vergessen, wem sie diesen Erfolg eigentlich zu verdanken hatten, nämlich dem englischen Freibeuter Philip Hasard Killigrew und seinen Seewölfen, denen sich die Rote Korsarin mit ihrer Karavelle zu einem verwegenen Raid auf einen spanischen Geleitzug angeschlossen hatte. Auf der Schlangen-Insel. dem Schlupfwinkel der Roten Korsarin, war von diesen Kerlen eine Meuterei entfesselt worden, die Siri-Tong mit Unterstützung Hasards und seiner Männer hatte niederschlagen können. Nur ein harter, ihr treu ergebener Kern der Crew war der Roten Freibeuterin geblieben. Die üblen Elemente befanden sich auf ihrer letzten Fahrt zur Hölle. Jetzt wollte Siri-Tong Tortuga anlaufen, um neue Männer anzuheuern. Mit dem kläglichen Rest ihrer Mannschaft hätte sie die Karavelle kaum bis Tortuga segeln können. Auch da hatte ihr Hasard geholfen und ihr ein paar Männer aus seiner Crew zur Verfügung gestellt. Deshalb war er auch gezwungen, mit seiner „Isabella VIII.“ die Karavelle zu begleiten, um seine Männer wieder
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übernehmen zu können, sobald Siri-Tong ihre Mannschaft beisammen hatte. Viel versprach er sich nicht von diesem Unternehmen der Roten Korsarin, vor allem deshalb nicht, weil er der Ansicht war, daß in dem Piratennest Tortuga doch nur Kerle herumlungerten, die die Karibik als Strandgut ausgespuckt hatte — echte Galgenvögel, wüste Gesellen, Rabauken und Schlagetots, die allesamt kaum den Strick wert waren, an dem sie so oder so eines Tages baumeln würden. Aber Madame mußten es ja wissen, Madame hatten zwar ein niedliches, aber sehr eigensinniges Köpfchen. Dazu waren Madame wie ein Pulverfäßchen, zu dem bereits die Lunte -glimmt - explosiv, höchst explosiv. Aber ihr Schlupfwinkel die Schlangen-Insel - war das Gold und die Silberbarren wert, die sie dort versteckt hatten. Hasard stand auf dem Achterdeck der Galeone und beobachtete amüsiert, wie Ed Carberry, der die Seewölfe auf Siri-Tongs Karavelle unter sich hatte, vorn auf der Back herumturnte und den Buganker klarieren ließ. Es stank dem guten Carberry ganz gewaltig, von einer Frau Befehle entgegennehmen zu müssen. Gerade darum aber hatte Hasard ihn Siri-Tong überstellt. Es schadete Carberry gar nichts, sich einmal einer Frau unterordnen zu müssen, einer Frau, der er, wie er grimmig vor Verlassen der „Isabella“ erklärt hatte, am liebsten die Haut in Streifen von ihrem voll gerundeten Affenpopo ziehen würde. Immerhin - sonst sprach der Profos von „Affenarsch“, aber die neue Version war direkt feinsinnig und deutete trefflich den Unterschied zwischen weiblichem und männlichem Achtersteven an. Hasard grinste, als er an Carberrys Ausspruch dachte. Dann sah er, wie die Karavelle weiter anluvte. Er blickte zu Pete Ballie hinüber, der am Ruder stand und stur weiter Kurs hielt, obwohl Hasard ihm befohlen hatte, im Kielwasser der Karavelle zu bleiben. „Träumst du, Pete?“ fragte er sanft. Pete Ballie zuckte zusammen und legte hastig Ruder. Ben Brighton, Hasards Erster
Das Piratennest
Offizier und Bootsmann, ließ die Segel dichter holen. Hasard sah, wie die Karavelle Kurs auf die Hafenbucht von Tortuga nahm. Dann drehte er sich wieder zu Pete Ballie um. „Na, Pete, wovon hattest du geträumt?“ Pete Ballie, stämmig und untersetzt, grauäugig, blond, kriegte knallrote Ohren und stotterte: „Von - von - ach verdammt von dieser schwarzhaarigen Hexe da vorn.“ Hasard seufzte und schüttelte nur den Kopf. Er warf Pete Ballie einen Blick aus seinen eisblauen Augen zu, der genug besagte. Pete Ballie räusperte sich und murmelte: „Bitte um Entschuldigung, Sir.“ Jetzt sagte Hasard doch etwas. „Sie verdreht euch den Kopf, wie?“ „Wir sind alle weg“, erwiderte Pete Ballie schlicht. „Aber Ed Carberry doch nicht“, sagte Hasard. „Der am meisten“, erklärte Pete Ballie. „Der tut doch nur so, der alte Gauner. Natürlich paßt es ihm nicht, sich von ihr sagen zu lassen, was er tun soll. Das würde keinem von uns passen. Aber mit ihr mal bei Mondschein zu baden, dagegen hätte keiner von uns etwas einzuwenden.“ „Nackt, wie?“ „Sir“, erwiderte Pete Ballie mit Würde, „das hast du gesagt.“ Hasard seufzte wieder. Dann erwiderte er: „Ich glaube, wir werden, wenn wir Tortuga verlassen, einen Standortwechsel vornehmen. Ich habe keine Lust, mit verliebten Katern durch die Karibik zu streunen, vor allem mit solchen Katern, die anfangen, zu träumen und dabei vergessen, welchen Kurs sie steuern sollen. Ist das klar, Mister Ballie?“ „Aye, aye, Sir“, sagte Pete Ballie und peilte andächtig zum Großsegel hoch. Und daraus entnahm Philip Hasard Killigrew, daß es wirklich allerhöchste Zeit wurde, die nächsten Raids ohne die Rote Korsarin vorzunehmen. Wie schnell und wie brutal diese Situation eintreten würde, das wußte der Seewolf zu
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diesem Zeitpunkt noch nicht. Und wenn er es gewußt hätte, dann hätte er sich einen arideren Anlaß gewünscht. * Fast gleichzeitig fielen bei den beiden Schiffen die Anker. Sie hatten in der Bucht ziemlich dicht an den Hafen heransegeln können, weil sie genügend Tiefe unter dem Kiel hatten. Die Südküste Tortugas präsentierte sich mit einer üppigen Vegetation. Hinter den Häusern am Hafen stieg das Gelände steil an, aber die Natur hatte terrassenförmige Abschnitte gebildet, auf denen Feigenund Manschinellenbäume sowie Bananenstauden wuchsen. Ganz oben, auf dem Rücken der Schildkröte, hatte sich ein Wald riesiger Mahagonibäume gebildet. Diese Insel gehörte niemandem. Für die Spanier war sie zu unbedeutend, nicht aber für jene Gesellen, deren Handwerk die Seeräuberei war und die einen Platz brauchten, wo sie ihre Beute absetzen, ihre Schiffe ausbessern und für die nächste Kaperfahrt ausrüsten konnten. Zu einem solchen Platz hatte sich Tortuga gemausert. Da war kein Gouverneur, der Verordnungen erließ oder Steuern eintrieb. Wenn überhaupt, dann gab allenfalls derjenige den Ton an - und das auch nur zeitweise -, der die härtesten Fäuste und die erforderlichen kämpferischen Qualitäten hatte, sich gegenüber den anderen Karibik-Wölfen durchzusetzen. Der Pirat Caligu war ein solcher Typ gewesen, aber dieser wüste Kerl gehörte bereits der Vergangenheit an, denn er hatte seinen Meister gefunden - den Seewolf. Sogar die übelsten Sünder auf Tortuga hatten aufgeatmet, als sie die Kunde vernahmen, daß diese Plage der Karibik nur mehr Haifischfutter war. Zur Zeit lagen an den primitiven Bohlenstegen, von denen kein Mensch mehr wußte, wer sie gebaut hatte, ein paar Einmastschaluppen, drei kleine Zweimaster sowie einige Ruderbarken mit Besegelung.
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Spätestens fünf Minuten nach dem Fallen der Anker wußte jedermann auf Tortuga, daß die Rote Korsarin aufgekreuzt sei. Die Dreimast-Galeone wußte man nicht so recht unterzubringen, aber dieses Schiff erregte mehr Aufsehen als die Karavelle mit den roten Segeln, die jetzt auf gegeit wurden. Wer von den herumlungernden Kerlen am Hafen die Galeone sah, erkannte mit fachmännischem, meist neidischem Blick, daß dieses Schiff von einem Meister seines Fachs entworfen und gebaut worden sein mußte. Es wirkte nicht so behäbig wie die Galeonen üblicher Bauart, trug aber dennoch eine Armierung, die einer Festung zur Ehre gereicht hätte - an Backbord und Steuerbord je acht 17-Pfünder-Culverinen und vorn und achtern je zwei Drehbassen. Von der Kuhl der Galeone wurde ein Boot abgefiert, in das fünf Männer abenterten. Sie pullten das Boot zu der Karavelle und nahmen noch einen Mann sowie die Rote Korsarin auf. Dann pullten sie zu den Bohlenstegen. Unter allen denen, die das Einlaufen der beiden Schiffe, das Ankermanöver und das Übersetzen zum Anleger beobachtet hatten, befand sich eine Person, die sehr genau wußte, was das für eine Galeone und wer ihr Kapitän war. Als diese Person die Karavelle und die Galeone erkannt hatte, war eine Haßwelle in ihr hochgestiegen, die sie fast erstickt hätte. Diese Person war ein schwarzhaariges Weib mit kräftigen Hüften und großen Brüsten - Attributen, die in der rauhen Männerwelt der Karibik Gold wert waren, wie das Weib wußte. Aber da waren noch zwei andere Attribute, die für das einträgliche Geschäft einer Edelhure eine Wertminderung bedeuteten, nämlich zwei fürchterliche Narben, die das Gesicht dieses schwarzhaarigen Weibes auf entsetzliche Weise entstellten. Die eine Narbe war älteren Datums und verheilt, aber die andere wies noch Schorf und Grind auf und zeigte an, daß sie höchstens drei, vier Wochen alt war.
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Beide Narben hingen mit den beiden Personen zusammen, die dort in dem Boot zum Anleger gepullt wurden - mit dem Seewolf und Siri-Tong, der Roten Korsarin. Die verheilte Narbe war die Folge eines Messerschnitts, den das Weib von einem spanischen Soldaten namens Valdez empfangen hatte, der sich vor knapp zwei Jahren auf die Seite des Seewolfs geschlagen hatte und in dessen Mannschaft aufgenommen worden war. Für die frische Narbe war Siri-Tong, die Rote Korsarin, verantwortlich. Und beide - der Seewolf und die Rote Korsarin - hatten es geschafft, Caligu, den Schrecken der Karibik, vernichtend zu schlagen und zur Hölle zu schicken, jenen Caligu, dessen Geliebte das schwarzhaarige Weib gewesen war, das sich Maria Juanita nannte. Kein Wunder also, daß das narbengesichtigte Weib jetzt beim Anblick des Seewolfs und der Roten Korsarin nahezu den Verstand verlor. Nun befanden sich allerdings zwei Kerle bei ihr, die das Aufstöhnen Maria Juanitas für eine Äußerung der Lust hielten und sich bemüßigt fühlten, zu eindeutigeren Aktivitäten überzugehen. Denn sie turtelten beide bereits seit über einer Stunde vor dem Quartier Maria Juanitas herum, einer miserablen Bretterbude abseits am Hafen zwischen verrotteten Fässern, vergammelten Abfällen und stinkenden Fischresten. So tief war das schwarzhaarige Weib gesunken, das vor nicht allzu langer Zeit zusammen mit Caligu Tortuga beherrscht und die Puppen hatte tanzen lassen. Jetzt mußte sie froh sein, von Typen wie Bombarde und dem Marquis, so hießen die beiden Kerle, umworben zu werden. Sie hatte sich wechselweise mit einem der beiden Kerle auf der Seegrasmatratze in ihrer Bude gewälzt, aber an diesem Tage waren beide gleichzeitig erschienen, um ihre Liebeskünste in Anspruch zu nehmen. Aus diesem Zufall entstand in Maria Juanitas vom Haß umnebelten Gehirn ein Plan, der Genugtuung und eine Befriedigung ihrer Rachegelüste versprach.
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Bombarde war ein gedrungener, kurzbeiniger Kerl - daher der Name - mit gelben, tückischen Augen, einer Halbglatze und verknorpelten Ohren. Der Mann, der sich Marquis nannte, war zwar Franzose, aber gewiß kein Marquis. Er war schlank, schwarzhaarig und dunkeläugig, ein Liebling der Frauen, die meist zu spät merkten, daß dieser Schönling mit dem schmelzenden Lächeln ein brutaler, rücksichtsloser Bettgenosse war. Beide hatten kein Schiff und das Kaliber Caligus schon gar nicht, aber in der ungeschriebenen Rangliste der KaribikWölfe standen sie nun auch nicht wieder ganz unten, sondern durften sich durchaus zu jenen rechnen, die das Schiffsvolk zu respektieren hatte, wollte es nicht riskieren, was auf die Schnauze zu kriegen. In Ermangelung des verblichenen Caligu waren die beiden zu den bevorzugten Favoriten Maria Juanitas geworden, die nun in vollen Zügen das genossen, was einmal Caligu besessen hatte. Die Narben waren sie geneigt zu übersehen, man brauchte ja nicht hinzuschauen, wenn man sich der lustvollen Kurzweile hingab. Und im übrigen war bei dem Narbenweib alles am richtigen Platz, von ihrer Kunst, den Liebesdurst ihrer Verehrer auf vielfältige Weise zu löschen, ganz zu schweigen. Wie gesagt, Maria Juanitas Stöhnen, das ein Stöhnen der Wut war, nahmen Bombarde und der Marquis als Aufforderung, weiteres Gelände zu erkunden, das sie beide zwar schon kannten, aber dennoch stets aufs neue untersuchten. Bombarde betatschte die Brüste Maria Juanitas, der Marquis streichelte ihre Hüften. Als sie einen Ortswechsel vornahmen, begriffen sie, daß sie sich gegenseitig im Wege waren. Während das Narbenweib mit funkelnden Augen beobachtete, wohin sich der Seewolf, die Rote Korsarin und die fünf Männer wandten -nämlich zu einer Spelunke mit dem sinnigen Namen „Zur Schildkröte“ -, maßen sich die beiden Männer mit giftigen Blicken und kriegten
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in keiner Weise mit, was ihre Herzdame so intensiv beschäftigte. „Verschwinde, Bombarde“, sagte der Marquis, „jetzt bin ich dran, jetzt und heute abend und heute nacht und morgen den ganzen Tag. Und ob du übermorgen darfst, werde ich mir noch überlegen. Also hau ab. du verdirbst mir nur den Appetit:’ In den gelben Augen Bombardes glomm ein tückisches Licht auf. In Verbindung mit der Gier, die ihn gerade beherrschte, nahm sein Gesicht einen Ausdruck an, wie ihn ein alter Pavian zeigt, in dessen Harem ein jüngeres Männchen zu wildern beginnt. Seine Hand kroch zum Gürtel, wo das Messer in einer Scheide steckte. „Du kuhäugiger Sohn einer gottverdammten französischen Hafenhure“, sagte er zischend, „du parfümierter Schmalzgockel! Dir schlitz ich den Bauch auf und schneid dir was ab, du krummer Bastard! Dir werd ich beibringen, einem Bombarde das Weib zu klauen, du verlauster Hurenbock ...“ Mit einem Ruck hatte er das Messer aus der Scheide, ein Ding von der Länge eines Unterarms, zweischneidig geschliffen, mit Blutrille versehen und einer Spitze, die nadeldünn war. In der Hand dieses stämmigen, kleinen Muskelpakets von Mann verkörperte dieses Messer eine Waffe, die schneller und tödlicher wirkte als der Biß einer Viper. Der Marquis wußte das. Er war Degenkämpfer. Aber seine Waffe hatte er noch nicht heraus, und wenn er sie heraus hatte, würde sie ihm nichts mehr nutzen, weil Bombarde nicht nur ein virtuoser Messerkämpfer, sondern ein noch besserer Messerwerfer war. Der frauenbetörende Ausdruck im Gesicht des Marquis verschwand wie Schnee in der Sonne, und aus dem schönen Gesicht wurde eine Fratze aus Angst, Wut und Haß. Der Tod hatte seine beiden knochigen Arme zum Sensenhieb zurückgeschwungen und grinste bereits. Das war der Moment, in dem das Narbenweib seinen Racheplan zu Ende gedacht hatte und erst jetzt bemerkte, daß
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der eine von den beiden Verehrern sehr schnell kein Verehrer, sondern nur noch ein toter Mann sein würde. Maria Juanita wurde zur fauchenden Katze. Die beiden Narben, die ihr Gesicht zu einer verwüsteten Landschaft gestaltet hatten, glühten rot auf. „Weg mit dem Messer!“ pfiff sie den bulligen Bombarde an und reckte sich vor ihm auf, die Fäuste in die Hüften gestemmt, die Brüste herausgewölbt wie zwei pralle Melonen, überreif, um gepflückt zu werden. Bombarde ließ das Messer sinken und glotzte auf das, was ihm dargeboten wurde. Seine Hitze ließ keineswegs nach. „Dieser Bastard wollte ...“ Weiter gelangte er nicht. „Halts Maul!“ fauchte ihn das Narbenweib an und stampfte mit dem Fuß auf. „Jetzt red ich, und ihr werdet zuhören oder könnt zur Hölle gehen, verstanden?“ Unter dem Blick dieses monströsen weiblichen Ungeheuers schrumpften die beiden Kerle sichtlich zusammen. „Was ist denn jetzt los?“ murmelte Bombarde verwirrt und steckte das Messer in die Scheide. Die Hure Maria Juanita, deren Gesicht zerstört war, wußte, wie Männer kirre zu kriegen waren. Mit einer langsamen, aufreizenden Bewegung öffnete sie ihre Bluse und sagte mit heiserer Stimme: „Ihr seid scharf, wie? Ihr seid scharf darauf, mit mir auf der Matratze dort drin zu liegen und mir zu zeigen, wie scharf ihr seid. Aber seid ihr auch scharf genug, die beiden Schiffe dort zu entern und mir zu schenken?“ Die Köpfe Bombardes und des Marquis folgten dem ausgestreckten Arm, dessen Hand auf die Galeone und die Karavelle deutete. Dann wanderten die Köpfe wieder zurück. Zwei Augenpaare starrten das schwarzhaarige Weib an. In beiden Augenpaaren funkelten Gier, Tücke, lüsterne Erwartung, Bereitschaft und brutaler Wille, den Wunsch dieses Teufelsweibes zu erfüllen. „Diese beiden Kästen kassieren wir“, sagte Bombarde, verbesserte sich aber schnell
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und fügte hinzu: „Das heißt, ich kassiere sie.“ „Nein, ich“, erklärte der Marquis und zeigte sein weißes Gebiß. Maria Juanitas Stimme war von eisiger Kälte. „Mich kümmert es einen Dreck, wer von euch beiden die Schiffe entert. Denn ich will noch etwas. Ich will die beiden Kapitäne, und zwar lebend. Wenn sie gefesselt vor mir stehen, dann bin ich auch scharf auf das, was ihr mir zu bieten habt beide zusammen oder nacheinander, wie ihr’s haben wollt. Und ich werde euch zeigen, wo in der Hölle das Paradies ist. Ich werde euch zeigen, was ich selbst Caligu nicht gezeigt habe ...“ Die beiden Männer starrten sich mit glitzernden Augen an. Jeder war überzeugt - in diesem Moment jedenfalls -, noch besser als Caligu zu sein. Und beide wußten, daß sie den anderen in die Pfanne hauen würden, um dieses Teufelsweib ganz allein für sich zu haben. 2. Die Kneipe „Zur Schildkröte“ war eine tief in den Felsen getriebene Grotte, ursprünglich eine Höhle, die dann aber nach und nach erweitert worden war und zu diesem Zeitpunkt mit ihren Nischen, Gängen, Abseiten, verborgenen Nebenräumen und Abstiegen in kellerartige Gewölbe wie ein Labyrinth wirkte. Eine angenehme Kühle herrschte in diesem Labyrinth, dessen felsigen Wände zum Teil mit Salpeter bereift waren. Der Mann, der diesen unterirdischen Felsbau beherrschte, hieß schlicht und einfach Diego und war ein Schlitzohr von ganz besonderer Güte. Seine Vergangenheit kannte’ niemand, sie spielte auch keine Rolle, denn hier galten andere Gesetze als drüben in der Alten Welt. Abgesehen davon, daß sich der Fettwanst Diego am An- und Verkauf mästete und über Waren aller Art verfügte, wurden hier auch Nachrichten gehandelt, die für die Karibik-Wölfe in vielfältiger Weise interessant waren. Woher Diego seine Informationen bezog, wußte niemand.
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Vermutlich existierte ein Spitzelsystem, das wie ein Netz die Karibik überspannte und Nachrichten von Insel zu Insel übermittelte. Wichtig waren immer die Informationen aus Havanna, wo die großen spanischen Geleitzüge zusammengestellt wurden, bevor sie nach Spanien zurücksegelten. Diego gab und verkaufte Tipps. Das war so eine Art Nachrichtenbörse für die KaribikWölfe. Das sicherte dem Fettwanst aber auch einen Status der Unantastbarkeit, den sogar der wüste, nun verblichene Caligu hatte respektieren müssen. Diego war kein Gewaltmensch, aber ein mit allen Wassern gewaschener Kaufmann, auf den die Kaperfahrer so oder so angewiesen waren. In Auseinandersetzungen, wie sie in jeder Kneipe üblich sind, griff Diego prinzipiell nicht ein. Er wahrte strickte Neutralität, hinter seinem Tresen war neutraler ‘Boden. Wer sich an dem Dicken vergriff - was in den letzten Jahren allenfalls zwei-, dreimal geschehen war. mußte damit rechnen, von der Gilde der Karibik-Wölfe geächtet, wenn nicht sogar ins Jenseits befördert zu werden. Das waren ungeschriebene Gesetze. Diese Kneipen-Grotte also steuerte SiriTong, die Rote Korsarin, an, um neue Männer anzuheuern. In ihrem Gefolge befanden sich Hasard, Ed Carberry, Stenmark, Smoky, Matt Davies und Sam Roskill. Hasard wäre am liebsten wieder umgekehrt, nachdem er mit einem kurzen Rundblick die Typen gemustert hatte, die an diesem Nachmittag die Grotte bevölkerten. Vielleicht waren ein paar gute Männer darunter, aber die Mehrzahl gehörte seiner Ansicht nach zu der Kategorie der Galgenvögel, Halsabschneider, Spitzbuben und Schnapphähne. Der ölige Fettwanst hinter dem Tresen Diego - erinnerte den Seewolf an Nathaniel Plymson, den Wirt der „Bloody Mary“ in Plymouth. Die Männer hinter den Theken solcher Spelunken schienen auf der ganzen Welt einander ähnlich zu sein.
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Ed Carberry schnüffelte angewidert und murmelte: „Mann, ist das ein Bums hier, was, wie? Hier stinkt’s nach dreckigen Kanalratten, ungewaschenen Rübenschweinen und nach Ärger.“ Hasard grinste. „Du sagst es.“ Die Gespräche der Kerle waren verstummt, als Siri-Tong und die sechs Männer die „Schildkröte“ betreten hatten. Die sechs Männer beachtete kaum jemand, dafür konzentrierten sich die Blicke auf SiriTong und tasteten sie ab wie die Fangarme eines Riesenkraken. Was diese Blicke besagten, war von schamloser Eindeutigkeit. Vielleicht kannten ein paar der Kerle die Rote Korsarin und ihren Ruf als verwegene Freibeuterin. Sicherlich auch hatte sich längst herumgesprochen, wer den schrecklichen Caligu auf seine letzte Reise geschickt hatte. Schließlich war die Hure Maria Juanita wieder auf Tortuga und zeugte mit ihrem entstellten Gesicht für die Wildheit des Piraten-Duells. Aber das alles hielt kaum einen der Galgenvögel davon ab, Siri-Tong als das zu betrachten, -was sie war - ein rassiges Vollblutweib. Wie immer trug Siri-Tong ihre rote Bluse, die am Hals zwei Knöpfe geöffnet war, obwohl einer weiß Gott gereicht hätte. Diese Bluse enthüllte auf raffinierte Weise mehr, als sie verbarg. Ed Carberry hatte noch auf der SchlangenInsel zu Matt Davies gesagt, er gehe jede Wette ein, daß man auf ihren Brüsten Läuse knacken könne. Der Profos wollte damit auf die Härte dieser hübschen weiblichen Attribute hinweisen. Matt Davies hatte darauf verzichtet, die Wette anzunehmen, denn die hätte er verloren, obwohl der Verlust der Wette dennoch ein Gewinn gewesen wäre, wenn er zwecks Feststellung der Behauptung Carberrys diese Läuse in natura und am oder besser auf dem Objekt hätte knacken dürfen. Aber das war ja wohl nur ein Traum, wie ihn alle Männer der „Isabella“ träumten. Um so wütender, grimmiger oder verbissener reagierten diese sechs Männer einschließlich des Seewolfes jetzt in der Kneipen-Grotte, als sie die geilen Blicke
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der Galgenvögel sahen und ihre obszönen Bemerkungen hörten. Da war eben dieser feine Unterschied. Sie hatten Siri-Tong zu ihrem Schutz hierher begleitet und mußten Blicke und Bemerkungen naturgemäß als persönliche Beleidigungen empfinden, ganz abgesehen von einer gewissen Eifersucht, die sie hegten, aber niemals offen zugegeben hätten. Einen ziegenbärtigen Zwerg, der mit hervorquellenden Augen Siri-Tongs Brüste auffraß, wischte Ed Carberry einfach von dem Hocker, auf dem das Männchen saß. Damit war für sie ein Tisch frei, den der Zwerg allein besetzt hatte. Im übrigen stand der Tisch dicht am Eingang zur Grotte, und dort war die Luft besser. Der Zwerg landete irgendwo im Halbdämmer der hinteren Grotte, wo sich allerlei Gänge auftaten. Siri-Tong selbst tat, als sehe und höre sie nichts. Sie verhandelte am Tresen -mit Diego, der vor Glück zerschmolz und ihr versprach, die Kunde sofort zu verbreiten, daß die Rote Korsarin gute Männer suche. „Wünschen Sie sonst noch etwas, Madame?“ fragte er. „Wein“, erwiderte Siri-Tong knapp. „Sofort, Madame.“ Der Fettwanst verbeugte sich hinter dem Tresen. Dann lehnte er sich über die Platte und flüsterte vertraulich: „Darf man fragen, wer der schwarzhaarige Riese ist, der Madame begleitet?“ „Der Seewolf.“ Der Fettwanst prallte zurück, als habe er eine Ohrfeige erhalten. Dann bekreuzigte er sich und murmelte ehrfürchtig: „Heilige Mutter Gottes, der Seewolf.“ Siri-Tong lächelte amüsiert und sagte: „Vergessen Sie den Wein nicht, Diego.“ Damit verließ sie den Tresen, schwenkte die Hüften durch die Grotte und setzte sich zu Hasard und seinen Männern. „Was ist das für ein fetter, qualliger Kerl?“ fragte der Profos wütend. „Das ist Diego“, erwiderte Siri-Tong, „ein Mann, ohne den wir hier nicht leben könnten, mein Freund. Und ich rate jedem, sich nicht mit ihm anzulegen. Nicht weil er gefährlich sein könnte, sondern weil wir uns bei ihm mit allem versorgen können,
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was wir brauchen, auch auf Kredit, und weil er sehr genau über alles informiert ist, was sich in der Karibik tut, vor allem, was die Spanier betrifft.“ „Qualle bleibt Qualle“, sagte Ed Carberry bissig, wurde aber friedlicher, als Diego selbst den Wein und Becher brachte und erklärte, diese und die weiteren Zechen gingen auf seine Rechnung, und es sei ihm eine Ehre, den Seewolf und seine Männer in der „Schildkröte“ begrüßen zu dürfen. Als er sich diskret zurückzog, grinste Sam Roskill, der Karibik-Pirat gewesen war, bevor Hasard ihn in seine Crew aufgenommen hatte. Er kannte den Dicken. „Er meint es ehrlich, der Dicke“, sagte er. „Und wenn er die Zeche übernimmt, dann will er damit ausdrücken, daß wir seine Freunde sind. Und ich darf betonen, daß nicht jeder sein Freund ist, der hier aufkreuzt.“ „Na, denn Prost“, sagte Hasard und hob den Becher. Er blickte Siri-Tong in die dunklen Augen und stellte wieder einmal fest, daß die Rote Korsarin verlegen wurde - wie immer, wenn er sie anschaute, hol’s der Teufel! Der Wein war erstklassig, was man von den meisten Kerlen, die hier herumlungerten und glotzten, nicht behaupten konnte. Hasard sagte: „Madame, ich befürchte, daß Sie hier kaum einen geeigneten Mann finden werden - oder wir sitzen in einer Woche noch hier herum und kriegen lange Bärte. Ed Carberry meinte vorhin, diese ‘Schildkröte` sei ein Bums. Wenn ich mich hier so umsehe, dann halte ich das noch für stark untertrieben.“ „So?“ sagte Siri-Tong spitz. „Und wie würden Sie die ‚Schildkröte’ nennen, verehrter Mister Killigrew?“ Hasard lächelte. „Einen Saustall, verehrte Miß Siri-Tong!“ Seine Männer grinsten. Siri-Tong wurde so rot wie ihre Bluse, setzte sich kerzengerade auf -und schwieg. „Ich wollte Sie nicht beleidigen“, sagte Hasard. „Das können Sie auch gar nicht“, erwiderte sie eisig.
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„Na, dann ist ja alles in Ordnung“, sagte Hasard, „so wie der Wein, der ist sogar in allerbester Ordnung. Darf ich mir noch einen Vorschlag erlauben?“ „Bitte sehr“, sagte Siri-Tong kühl. „Sie sollten sich hier an die Wand setzen.“ „Und warum?“ „Weil man mit der Wand im Rücken gesünder lebt, Madame. Sie gibt Deckung, verstehen Sie? Man braucht sich also nur um die Front zu kümmern, die man vor sich hat. Hinten haben wir ja leider keine Augen.“ „Ich bleibe hier sitzen“, erklärte Siri-Tong von oben herab. „Sparen Sie sich Ihre Belehrungen.“ „Es war ja auch nur ein Vorschlag“, sagte Hasard, ohne eine Miene zu verziehen, und fügte hinzu: „Ich wollte Ihnen Ärger ersparen, der fängt nämlich genau in diesem Moment an.“ * Der Kerl war vierschrötig, hatte ein Nußknackergesicht von brutaler Härte und Arme, die so lang waren, daß er sich mühelos und ohne sich bücken zu müssen die Waden kratzen konnte. Er schlingerte auf Siri-Tong zu, die mit dem Rücken zu ihm saß, und klatschte ihr seine Pranke aufs Hinterteil. Zweifellos war er angetrunken. „Hinten ist eine Nische frei!“ grölte er. „Und ‘ne Matratze liegt auch drin, mein Vögelchen, und da werden wir beide mal einen wilden Ritt ausprobieren!“ Die Kerle hinten in der Grotte brüllten vor Lachen. Siri-Tong war schneeweiß geworden - vor berstender Wut. Sie saß, als hätte sie einen Ladestock verschluckt. „Übernimm du ihn, Ed“, sagte Hasard lässig. „Bring ihm Manieren bei, diesem Dreckskerl.“ Der Vierschrötige stutzte und stierte Hasard an. „Halts Maul“, sagte er, „hier red ich!“ „Genau das ist schon zuviel“, sagte Hasard verächtlich, wechselte den Blick und sah seinen Profos an. Jetzt klirrte in seiner
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Stimme unterdrückte Wut. „Brauchst du vielleicht eine schriftliche Einladung, Mister Carberry?“ Der eisenharte Mann mit dem zernarbten Gesicht stand langsam auf und lächelte verzückt - es sah aus, als fletsche ein Wolf die Zähne. „Sir“, sagte er, „ich wollte den Anfang nur so richtig mal genießen, was, wie? Natürlich bring ich diesem Lümmel Manieren bei, nichts tue ich lieber! Dem zieh ich seinen Affenarsch streifenweise ab, verlaß dich drauf, Sir — Entschuldigung, Madame, würden Sie vielleicht doch die Güte haben, den Platz zu wechseln? Der alte Carberry braucht ‘ne Menge Raum, wenn er gleich mit diesem Drecksack da die Dielen aufwischt!“ Siri-Tong flutschte hinüber zur Wand. Der Vierschrötige glotzte und schob den Kopf vor. „Was’n hier los?“ murrte er. Carberry nahm genau Maß und feuerte seine Rechte ab, eine eisenharte Rechte mit der Kraftentfaltung eines explodierenden Pulverfasses. Sie zerquetschte dem Vierschrötigen den Magen. Noch bevor er grün werden und Luft holen konnte, zerplatzte Carberrys Linke unter seinem Nußknackerkinn — mit verheerenden Folgen. Das Kinn stand plötzlich schief. Aber das sah man erst, als sich der Kerl beim Tresen wieder hochrappelte, wohin ihn Carberrys Hieb befördert hatte. Carberry streichelte seine Rechte, als sei sie ein Wickelkind. Er grinste glücklich, weil er schon etwas Dampf hatte ablassen können. Leider hatte der Vierschrötige Schwierigkeiten mit seinem Gleichgewicht und war so gar nicht voller Saft und Kraft. Dabei wollte er zuviel gleichzeitig tun und war glattweg überfordert — Kinn einrenken, Balance halten, fluchen — was nicht klappte —, den Mageninhalt herunterwürgen, den narbengesichtigen Carberry anpeilen, um wenigstens einmal zurückschlagen zu können, alles das war einfach zuviel.
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Seinen geplanten „Ritt“ auf der Matratze hatte der Vierschrötige längst vergessen. Vielleicht spürte er auch in seinem jetzt dumpfen Hirn, daß er sich einen Stiefel angezogen hatte, der für ihn ein paar Nummern zu groß war. Jedenfalls zog er es plötzlich vor, sich an der Theke entlang in das Dämmer der hinteren Grotte zu tasten. Carberry knurrte und war mit zwei, drei langen Schritten bei ihm. Er riß ihn herum, stemmte ihn gegen die Theke und nagelte ihn dort fest, erbittert, unbarmherzig, gnadenlos. Er zerschlug dem Nußknacker das Mark in den Knochen. Was davon übrigblieb, schleppte er wie einen zerknautschten Mehlsack über die Dielen nach draußen. Diego hatte die Ellbogen auf den Tresen gestützt und sah zu. Er hatte schon viel erlebt in seiner ,Schildkröte“, aber das hier war eine Demonstration von Kraft und Willen gewesen, wie sie auf Tortuga selten geboten wurde, obwohl sich hier nur Kerle ein Stelldichein gaben, die mit dem Teufel einen unheiligen Pakt geschlossen hatten. Der Dicke ahnte, daß die Sturmflut noch folgen würde, und räumte schon mal vorsorglich den Tresen leer. * Was der Vierschrötige gewollt hatte, wollten noch sieben andere — und die traten gleichzeitig an, um den sechs Männern, die hier fremd waren, zu zeigen, woher der Wind auf Tortuga weht. Außerdem lockte als Preis dieses spitzbrüstige Weib mit der schlanken Taille und den gerundeten Hüften — exakt das, was Männer dahin treiben konnte, verrückt zu werden oder die Sterne vom Himmel holen zu wollen oder mit ihrem Leben zu spielen. Dabei lautete eine uralte Weisheit, daß bei solchen Männern der Verstand in der Hose war, wo er nichts zu suchen hatte. Diese sieben Kerle waren wie hitzige Köter, hatten nahezu blutunterlaufene Augen und nichts hätte sie bremsen können.
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Die sechs Seewölfe standen geschlossen auf. Sie warteten nicht auf den Angriff, sondern griffen selbst an. Wer zuerst angreift, hatte Hasard einmal gesagt, reißt das Gesetz des Handelns an sich und diktiert den Kampfablauf. Diego hielt die Luft an. Siri-Tong blieb an der Wand sitzen, die mandelförmigen Augen zu Schlitzen geschlossen, das Gesicht eine Maske. Vielleicht genoß sie es, daß Männer um sie kämpften. Wer wußte das schon! Frauen von der Extremklasse der Roten Korsarin waren sowieso ein Rätsel, das niemand zu lösen vermochte. Hasard räumte einen Mann weg, indem er ihn blitzartig zu sich heranzog und mit dem Gesicht gegen seinen Schädel prallen ließ, den er wie ein Stier gesenkt hatte. Dem Mann brach die Nase, denn die war weicher als Hasards Schädeldecke. Ein Fußtritt beförderte den brüllenden Kerl vor den Eingang. Matt Davies ging härter ‘ran. Er schlitzte einem fetten Kerl, der am rechten Ohrläppchen einen Ring baumeln hatte, mit seiner scharfgeschliffenen Hakenprothese. den Brustkasten auf, pickte dann den Haken wie einen Hühnerschnabel in den Ohrring und riß ihn mit einem kurzen, aber kräftigen Ruck nach unten. Damit hatte er einen Ring aus Gold, wie er später feststellte, und der fette Kerl ein ausgefranstes Ohrläppchen nebst aufgeschlitztem Brustkasten. Der Mann rannte schreiend aus der Grotte. Stenmark, der blonde Schwede, trat einem rattengesichtigen Schnapphahn vors Schienbein, und als sich der Kerl zusammenkrümmte, flog Stenmarks rechtes Bein hoch. Die Stiefelspitze traf genau auf den Punkt, nämlich unter das Rattenkinn. Die Wucht des Tritts streckte den Mann, katapultierte ihn über einen Tisch, und hinter dem Tisch bremste dann ein Felspfeiler den weiteren Flug. Der Felsen erwies sich als härter — eine Weisheit, die auch ein Vollidiot begreift, wenn’s gebumst hat. Der Rattengesichtige verdrehte die Augen und sackte an dem Pfeiler zusammen.
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Schwere Gehirnerschütterung, würde Doktor Freemont aus Plymouth sagen. Carberry, dieser Raufbold aus Passion, brauchte für seine überschüssige Kraft etwas mehr Betätigung. Er nahm sich gleich zwei von den lüsternen Rübenschweinen vor, denn die standen genau vor ihm. Seine Pranken schossen hoch, umwölbten die beiden Köpfe links und rechts und verhalfen ihnen dazu, auszuprobieren, wer den härteren Holzkopf hat. Der eine tauchte sofort weg, der andere kriegte glasige Augen und eine schmerzvolle Leichenbittermiene. Ein rechter Schwinger Carberrys verhalf ihm zu einer Spirale, einem zerdroschenen Ohr, dessen Knorpel brachen, und nach Vollendung der Spirale, die ihn nämlich zur Theke beförderte, zu einem jähen Zusammenbruch. Er knallte mit dem Kreuz gegen die Thekenkante und kippte röchelnd um. Blieben nur noch zwei, mit denen sich Smoky, der Decksälteste der „Isabella“, und Sam Roskill, der schlanke Draufgänger, beschäftigten. Smoky, erprobter Kämpfer in unzähligen; Schlachten, bullig, zäh, rauhbeinig, nahm zwar einen Kopftreffer hin, der ihn nicht weiter erschütterte, zahlte dann aber zurück. Er ging an seinen Mann heran und hämmerte ihm wechselweise die Fäuste zwischen die Rippen. Der Kerl hatte das Gefühl, auf dem Bauch liegend von einem Tornado über ein Geröllfeld geblasen zu werden. Von einer Gegenwehr war schon gar nicht mehr die Rede. Da brachen ein paar Rippen, und die Luft pfiff aus den Lungen. Smoky beendete des Mannes Qualen mit einem Jagdhieb. Er schlug ihm die Faust wie einen Hammer auf die Schädeldecke. Damit war auch dieser Fall geklärt. Sam Roskill hatte seinen Mann einfach unterlaufen, ausgehoben und wie einen nassen Sack auf die Steinstufen des Eingangs geworfen. Das Schicksal war gnädig und ersparte dem Kerl einen Genickbruch, aber das Genick hatte dennoch gelitten. Er war mit einem schiefen Kopf aus der Grotte getorkelt.
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Das alles hatte kaum vier Minuten gedauert. Smoky schleppte seinen Mann am Kragen nach draußen, Carberry folgte ihm, beide Kerle wie abgeschossene Hasen im Griff, Stenmark zog den Rattengesichtigen an den Füßen aus der Grotte und wischte mit ihm die Dielen auf. Da Hasards, Matt Davies’ und Sam Roskills Gegner bereits das Weite gesucht hatten, war mit dem Hinauswurf der vier anderen nunmehr die Kampfstätte geräumt. „Heilige Mutter Gottes“, sagte der dicke Diego andächtig, „es stimmt, was man von diesen Seewölfen erzählt. Ich wollte es nicht glauben, aber jetzt habe ich es mit meinen eigenen Augen gesehen. Gott gnade Spanien.“ Der narbengesichtige Carberry tauchte vor dem Tresen auf und grinste den Dicken an. „Hör zu, du Plumpudding von Tortuga“, sagte er. „Dein Wein ist Spitzenklasse, aber was wir jetzt brauchen, das ist ein harter Rum, der uns wieder friedlich stimmt und vergessen läßt, was hier für Scheißkerle und Affenärsche das große Maul aufreißen und unsittliche Reden führen.“ Der Fettwanst strahlte. „Ihr kriegt Rum, den besten, den ich habe“, sagte er. „Ich muß ihn nur aus dem Keller holen.“ „In Ordnung“, sagte Carberry, kniff ein Auge zu, griff in die Tasche und rollte eine herrliche Perle über den Tresen. Diego riß die Augen auf und betrachtete das Ding. Er verstand was von Perlen. Diese hier war ein Prachtexemplar. Aber dann sagte er beinahe empört: „Heute seid ihr meine Gäste, ich will keine Bezahlung.“ „Das geht klar“, erwiderte Carberry, „aber du sollst mir ein Fäßchen Rum reservieren. Unsere Leute an Bord sollen schließlich nicht verdursten. Und dann meine ich, daß eine Freundschaftsgabe die andere wert ist, oder?“ „Sie sind ein nobler Mann, Senor“, sagte Diego und kassierte die Perle.
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Das hatte allerdings noch niemand zu dem Profos gesagt. Er fühlte sich, als habe er den Ritterschlag erhalten. 3. Etwa zu dieser Zeit stieß einer der Boten, die im Auftrag Diegos unterwegs waren, in der Nähe der „Schildkröte“ auf Bombarde, den Marquis und das Narbenweib Maria Juanita. Erregt berichtete er, daß die Rote Korsarin wieder aufgetaucht sei und Männer für ihre Karavelle suche. Diego habe ihn beauftragt, es allen zu sagen. Maria Juanita schwieg. Sie wußte ja bereits, wer Tortuga angelaufen hatte. Und sie hatte sich gehütet, ihren beiden Liebhabern zu verraten, welche Personen sich hinter den beiden Kapitänen verbargen, auf die sie Bombarde und den Marquis gehetzt hatte. Jetzt war, zumindest was die verdammte Rote Korsarin betraf, die Katze aus dem Sack. Maria Juanita war gespannt, wie die beiden Kerle auf diese Neuigkeit reagieren würden. Würden sie abspringen? Der Marquis war nachdenklich geworden. Bombarde hingegen schnappte sich den Boten, der schon weitergehen wollte, und zog ihn am Hemdausschnitt zu sich heran. „Moment, mein Freund“, sagte er lauernd. „Wo steckt denn das Weib? Etwa bei Diego in der ‚Schildkröte’?“ Der Bote nickte. Bombarde ließ ihn los und blickte den Marquis grinsend an. „Ich schätze, daß du mir den Vortritt läßt, Wie?“ fragte er. „Bitte sehr“, erwiderte der Marquis und lächelte hinterhältig. Bombarde war zu vernagelt, um zu merken, daß der Marquis allem Anschein nach eine Trumpfkarte im Ärmel hatte. Er wandte sich wieder an den Boten. „Ist sie allein in der ,Schildkröte’?- Der Bote schüttelte den Kopf. „Nein, sechs Männer sind bei ihr.“ „Was für Männer?“ „Ich kenn sie nicht.“
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Von den Vorfällen in der Kneipengrotte wußte der Bote nichts, da er sie bereits vorher verlassen hatte. „Hm“, sagte Bombarde, „sechs Männer.“ Er spuckte verächtlich aus. „Die putze ich mit Links weg, zack - zack.“ Der Bote räusperte sich und starrte Bombarde irritiert an. „Die sahen nicht so aus, als ließen sie sich mit Links wegputzen“, sagte er. „Was soll das überhaupt?“ „Verschwinde“, sagte Bombarde, „sonst brate ich dir einen über, du Pisser!“ Das war Bombarde — vulgär, überheblich, nur leider nicht gewitzt, wenn es galt, einen großen Schlag zu landen. Als der Bote weg war, funkelte Bombarde Maria Juanita an. „Du kannst schon mal die Matratze wärmen“, sagte er zu ihr. „Ich hol das Weib.“ „Die Matratze wird erst angewärmt, wenn beide Kapitäne gefangen vor mir stehen“, sagte Maria Juanita kalt. „Beide? Ach so. Wer ist denn der andere Kapitän?“ „Frag doch einen der sechs Männer, die bei der Roten Korsarin sind“, sagte Maria Juanita spitz. „Vielleicht ist es sogar einer der sechs.“ „Den mach ich hin“, sagte Bombarde. „Ich will ihn lebend, du Idiot!“ fauchte Maria Juanita. „Ihn und das Weib! Geht das in dein Gehirn?“ „Warum willst du ihn denn lebend?“ „Weil ich es ihm zu verdanken habe, daß ich jetzt hier auf dieser Scheißinsel bin!“ schrie ihn das Narbenweib an. „Darum will ich ihn. Hast du noch mehr so blöde Fragen?“ „Ich schnapp sie mir beide“, sagte Bombarde. Der Marquis grinste höhnisch. „Paß auf, daß du dich nicht verschluckst, du Großmaul.“ Bombarde musterte ihn mit einem verächtlichen Blick. „Mit dir rechne ich auch noch ab, du billiger Louis“, sagte er, „hinterher, nicht jetzt. Du bist längst fällig, du mieser Hund.“
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Der Marquis hetzte weiter. Er wußte genau, was er wollte. Wenn er Bombarde bis zur Weißglut trieb, würde der wie ein blindwütiger Stier handeln. Und wer aus dem Affekt heraus handelte, der hatte schon immer das schlechtere Los gezogen. Der Marquis zweifelte keinen Augenblick daran, wie die Konfrontation Bombardes mit den sechs Männern in der „Schildkröte“ ausgehen würde - nämlich zu Bombardes Ungunsten. „Was hältst du hier lange Reden?“ sagte er scheinheilig. „Oder hast du Angst? Vielleicht überläßt du doch besser die Sache mir, wie? Ich würde jedenfalls nicht so große Töne Spucken, sondern erst einmal handeln. Aber du stehst ja noch heute abend hier und erzählst, wen du alles hinmachen willst!“ Das war genau der richtige Ton. Bombarde knurrte vor unterdrückter Wut, erwiderte aber nichts mehr - und marschierte los. Der Marquis schaute ihm grinsend nach. * Maria Juanita zog ihn in eine Hausnische und schmiegte sich an ihn. „Du hast einen Plan, Marquis“, sagte sie. „Verrätst du ihn mir?“ Der Marquis tastete über ihre Hüften. „Vielleicht“, erwiderte er. Dann schob er sie zurück und blickte sie scharf an. „Der andere Kapitän ist jener Mann, den sie den Seewolf nennen, nicht wahr?“ Sie zuckte zusammen. „Wie kommst du denn darauf ?“ fragte sie wütend. Der Marquis tippte an seinen Kopf. „Ich habe nachgedacht, mein Täubchen, und dann zwei und zwei zusammengezählt. Ich denke da zum Beispiel an die Schlacht in der Windward-Passage vor etwa zwei Jahren. Caligu hatte damals alles aufgeboten, was hier in Tortuga vor Anker lag, und das war nicht eben wenig. Dabei wollte er nur ein einziges Schiff jagen. Er schaffte es nicht. Er kriegte elend was vor die Schnauze. Der andere Kapitän war der Seewolf, und als er später zum Atlantik
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durchbrach, mußte Caligu zum zweiten Male den Schwanz einziehen. Was beim dritten Mal dann passierte, weißt du ja wohl selbst am besten ...“ „Hör doch auf!“ fuhr ihn Maria Juanita an. „Und deswegen haßt du den Seewolf“, fuhr der Marquis ungerührt fort. „Deswegen willst du ihn lebend haben.“ „Ja! Ja! Ja!“ schrie Maria Juanita mit verzerrtem Gesicht. „Deswegen will ich ihn lebend haben, ihn und diese Kanaille, dieses schwarzhaarige Luder, alle beide sollen sie vor mir kriechen und mir die Füße ablecken ...“ „Mehr nicht?“ fragte der Marquis sachlich. „Wie?“ Das Narbenweib schien aus einem wüsten Traum zu erwachen. „Was hast du gesagt?“ „Ach nichts.“ Plötzlich lächelte er kalt und drängte sie in die Nische. „Ganz schön riskante Sache, in die du uns da hineintreibst, mein Täubchen. So riskant, daß ich mir überlege, ob ich sie anpacke.“ Er tastete über ihre üppigen Brüste. „Wie wär’s denn mit einem kleinen Vorschuß?“ „Hier?“ „Wo sonst?“ Maria Juanita lachte grell und schnallte seihen Gürtel auf. Das war eine Sache nach ihrem Geschmack, und es wäre ihr völlig gleichgültig gewesen, wenn jemand dabei zugesehen hätte. Es sah niemand zu – nur ein streunender Bastardhund. Und der ergriff die Flucht, als er das Keuchen, Stöhnen und die spitzen Schreie hörte. Es klang nicht nach Mensch, eher nach Kater und Katze, wenn sie wie die Irren durch Höfe, über Zäune und Dächer tobten und brünstige Laute die wilde Jagd begleiteten. Später herrschte Stille in der Nische. Aber da war der Hund bereits über alle Berge. Dann sagte die heisere Frauenstimme: „Erzähl mir deinen Plan, Franzose.“ Und die Männerstimme erwiderte: „Auf Hieb und Stich geht das mit den beiden nicht, aber es gibt einen anderen, besseren Weg. Ich heuere mit sechs oder sieben meiner alten Freunde bei der Roten Korsarin an. Wenn wir bei ihr an Bord sind, schnappen wir sie bei der erstbesten Gelegenheit. Von diesem Augenblick an
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haben wir die anderen unter Kontrolle und diktieren unsere Befehle. Einer wird lauten, daß man uns den Seewolf ausliefert, sonst spielen wir ein bißchen mit dem Weib, verstehst du? Damit kriegen wir ihn kirre, denn das ist kein Mann, der darauf pfeift, was wir mit ihr anstellen.“ Er lachte roh und gemein. „Ich glaube, du bist noch besser als Caligu“, sagte die Frau mit ihrer heiseren Stimme. Dieses Mal war die Stimme triumphierend. 4. Sie tranken Rum, und es war der beste, der ihnen jemals präsentiert worden war. Nur Siri-Tong trank nichts. Ihr Gesicht war eine steinerne Maske. Das hing nicht damit zusammen, daß sie sich über die rumtrinkenden Männer ärgerte oder etwa damit, daß diese Männer sie abgeschirmt hatten. Nein, es hing damit zusammen, daß sie, die Rote Korsarin, die bisher stolz über Männer geherrscht hatte, hier eine Rolle spielte, die anscheinend immer nebensächlicher Wurde. Der blauäugige Teufel Killigrew ignorierte sie geflissentlich und war im übrigen die alles überragende Persönlichkeit in dieser Grotte der wilden Gesellen. Eine knisternde Spannung war entstanden. Bis in den letzten Winkel der „Schildkröte“ schien spürbar geworden zu sein, wer künftig die Karibik beherrschen würde. Der grausame, von vielen gehaßte Caligu gehörte der Vergangenheit an. Ein Freibeuter anderen Schlages war aufgetaucht: der Seewolf. Er lebte und war doch schon eine Legende, eine Legende, die nicht dunkel, sondern hell schimmerte. Diese Legende erzählte nichts von brutaler Unterdrückung, von gemeiner Gewalt, von Grausamkeit, Folter oder bestialischem Blutdurst. Nein, sie erzählte etwas von Freiheit, von Würde, Ritterlichkeit, Trotz und verwegenem Mut, der selbst dem Tod in das grinsende Gesicht lachte. Siri-Tong zog die Schultern zusammen. Der Seewolf und seine Männer waren
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Freibeuter wie alle hier, und doch waren sie anders. Was es war, begriff sie nicht so ganz, aber eins begriff sie: keiner der Karibik-Wölfe hier in der Felsgrotte getraute sich an den Tisch heran, den die Seewölfe besetzt hatten. Und damit würde auch kein Mann erscheinen, um sich für ihre Siri-TongMannschaft anzubieten. Diese verdammten Seewölfe schirmten sie ab wie eine Mauer, die niemand zu übersteigen wagte. Sie beherrschten die „Schildkröte“, als gehöre sie ihnen. Und sogar Diego, der niemals irgendeine Partei ergriffen hatte, war von seiner Generallinie abgewichen und ließ eindeutig erkennen, wen er uneingeschränkt bewunderte: die Seewölfe. „Madame!“ Siri-Tong schreckte aus ihren Grübeleien hoch und blickte in die eisblauen Augen Philip Hasard Killigrews. „Madame“, wiederholte der Seewolf, „ich fürchte, wir haben jene verschreckt, die vielleicht mit Ihnen sprechen möchten und die Absicht haben, unter Ihrem Befehl zu segeln und zu kämpfen. Ich erlaube mir daher, vorzuschlagen, daß meine Männer und ich sich zurückziehen. Ich habe das Gefühl, daß wir im Wege sind.“ Er lächelte. „Ich glaube nicht, daß Sie noch gefährdet sind, Madame.“ Was für ein Mann! dachte Siri-Tong. Er hat Rum getrunken und ist von einer heiteren Gelassenheit. Dabei liest er Gedanken, blickt einem in die Augen, daß man. meint, in einem Gletscher zu versinken und dennoch Wärme zu spüren, und er lächelt, als spräche er mit einem Kind, das nach Trost verlangt, weil es Schmerzen hat. Ein Vater, dachte Siri-Tong. Nein, ein Bruder. Nein, auch das nicht. Ein Freund? Nein, nein — ein Geliebter, ein Mann, ein Mann! Ein Vater, ein Bruder, ein Freund, ein Geliebter — ein Mann. Alles das, o Gott, alles das ... Das wechselnde Bild war brutal. Der Mann mit den gelben Augen, der Halbglatze und den verknorpelten Ohren war ein Alptraum. Er war plötzlich da,
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stand hinter dem großen, blonden Mann, der Stenmark hieß, und hielt ihm ein zweischneidiges Messer an die Kehle. Dieser Mann sagte: „Steh auf, du kleines, geiles Luder, sechs Pisser sind zuviel für dich. Einer genügt, und der bin ich, klar? Und keine Mucken, ihr Pisser, sonst schneid ich dem hier die Gurgel durch. Na, komm schon, du kleine Hure, wird’s bald?“ Siri-Tong saß wie erstarrt. Die Seewölfe rührten sich nicht, aber sie lauerten. Auf der Theke klirrte etwas, dann knackte es metallisch, als würde ein Hahn gespannt. Diego, der Fettwanst, der Mann, der niemals Partei ergriff und sich aus den Gewalttaten heraushielt, sagte: „Hier ist eine Muskete, und die habe ich auf dich gerichtet, Bombarde. Wenn du dem blonden Mann die Kehle durchschneidest, jag ich dir ein Stück Blei zwischen die Rippen. Hier sind andere Zeiten angebrochen, du Hundesohn. Hier regiert kein Caligu mehr. Tritt zurück und sage, was du willst. Und wenn gekämpft wird, dann wird hier in der ,Schildkröte` mit den gleichen Waffen gekämpft.“ Bombarde, der mit dem Rücken zur Theke stand, saß in der Klemme, und zwar in einer Klemme, mit der er nie gerechnet hätte. Denn da war plötzlich Diego im Spiel, in einem Spiel, in dem er noch nie mitgemischt hatte, solange er hier war. „Bist du verrückt?“ fauchte er über die Schulter. „Nein“, sagte Diego hart, „aber ich will nicht mehr, daß da, wo ich meine Geschäfte betreibe, die Schweinehunde ihre Dreckspfoten drinhaben. Ihr könnt hier saufen und huren und euch die Schädel einschlagen, aber wenn ihr euch die Schädel einschlagt, dann kämpft wie Männer und nicht hinterrücks mit ungleichen Waffen. Spuck’s aus, was du willst und verschwinde — oder kämpfe. Aber tritt von dem Blonden zurück.“ Bombardes Blick huschte über die Seewölfe. Was er in deren Augen las, war die gnadenlose Entschlossenheit, ihn zu
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Hackfleisch zu verarbeiten. Undeutlich begriff er, daß es ihm gar nichts nutzen würde, den Blonden umzubringen. Vielleicht würde Diego nicht oder vorbeischießen. Aber den Rückzug bis zu den Stufen des Ausgangs würde. er nicht mehr schaffen. Er trat mit einem schnellen Schritt zurück und sagte: „Ich will dieses Weib da mitnehmen.“ Er deutete mit dem Messer auf Siri-Tong. „Und den Kapitän des anderen Schiffes, wenn er dabei ist.“ Hasard stand auf. „Der ist dabei.“ Er umging den Tisch und blieb lässig etwa vier Schritte vor Bombarde stehen. „Was willst du von Siri-Tong, und was willst du von mir?“ Bombarde grinste. „Mit euch hat jemand eine Rechnung zu begleichen — und ich kassiere dann.“ „Sehr schön“, sagte Hasard eisig. „Jetzt fragt es sich nur, wie du dreckige Ratte die Rote Korsarin und mich dazu bringst, mit dir zu gehen. Hast du darüber schon nachgedacht?“ Bombarde starrte ihn an, irritiert, perplex, daß dieser Mann nicht vor ihm und dem Messer kuschte, ja, gar nicht daran dachte, mitzugehen. Hasard zuckte mit den Schultern. „Hau ab, du Messerschreck, oder soll ich vielleicht nachhelfen?“ Bombarde duckte sich und streckte das Messer vor. „Gleich kriechst du freiwillig vor mir her, du Bastard“, keuchte er, „du und deine Hure, oder ich kitzele deine Rippen.“ Der Riese vor ihm glitt plötzlich zur Seite, griff blitzschnell zum rechten Stiefel und hatte ein Messer in der Faust. „Versuch’s mal“, sagte er leise, aber mit einem gefährlichen Unterton. Bombarde wich zurück. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber dann packte ihn jähe Wut. Mit einem Aufschrei schleuderte er sein Messer auf den Riesen, den er gar nicht verfehlen konnte. Entsetzt sah er, daß dieser Mann mit der Schnelligkeit eines flüchtigen Lidschlags aus der Messerbahn verschwunden war.
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Das Messer klirrte auf die Felstreppen und fiel scheppernd auf die Dielen. Der Riese ging zu dem Messer, drehte es etwas mit der Stiefelspitze, gab ihm einen Tritt und beförderte es zu Bombarde zurück. Ein Raunen lief durch die Kneipen-Grotte. Bombarde starrte mit einem seltsam dümmlichen Ausdruck in seinem brutalen Gesicht auf den Seewolf, dann auf das Messer zu seinen Füßen und wieder auf den Seewolf. „Heb’s auf und kämpfe weiter“, sagte Hasard kalt. „Oder laß es liegen und verschwinde und bestell demjenigen, der meint, mit mir eine Rechnung begleichen zu müssen, die besten Grüße von mir. Ist er zu feige, selbst die Rechnung zu präsentieren?“ Langsam bückte sich Bombarde und ließ Hasard dabei nicht aus den Augen. Er hob das Messer auf. Wieder schoß die Wut in ihm hoch. Noch keiner war mit dem Messer besser gewesen als er. Es gab keinen. Die es dennoch versucht hatten, waren tot, aufgeschlitzt, abgestochen, erdolcht. Diesen schwarzhaarigen Teufel würde er in Streifen schneiden, ob es Maria Juanita paßte oder nicht. Scheiß auf die narbengesichtige Hure! Die andere da war besser, viel, viel besser. Die war Extraklasse, eine wilde Katze, aber die würde er schon zähmen, diese kleine Bestie. Sein Blick huschte zu Siri-Tong hinüber. Sie sah ihn an, hochmütig, angewidert, die schmalen, scharfgezeichneten Augenbrauen verächtlich hochgezogen. Sie wandte den Kopf und musterte aufmerksam den Riesen. Bombarde war für sie abgetan, Luft, ein Stück Dreck, das sie nicht interessierte. Dieses Weib machte Bombarde rasend. Mit einem Wutschrei stürzte er auf Hasard los. Der glitt geschmeidig zur Seite, das Messer leicht angewinkelt und etwas vorgestreckt. Jetzt ging es auf Leben und Tod. Bombarde hatte seine Chance gehabt, den Kampf abzubrechen. Als er eben waffenlos
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gewesen war, hatte ihn sein Gegner geschont. Diese Geste hatte Bombarde verkehrt ausgelegt, nämlich als Schwäche. Daß es Überlegenheit war, begriff der sture Totschläger nicht. Sie umkreisten sich lauernd. Bornbarde keuchte. Dieser Kerl war nicht zu fassen und gab sich keine Blöße. Bombarde glitt nach links, stoppte aber plötzlich die Bewegung und sprang jäh vor. Als er zustieß, war der Riese wieder weg. Dafür zuckte etwas Blitzendes auf Bombarde zu wie ein silberner Mondstrahl -, und ein ätzender Schmerz raste über seine linke Brustseite. „Du Schwein!“ zischte Bombarde. Seine Linke tastete zur Brust und wurde klebrig. Blut! Sein Blut! Bombarde brüllte wie ein angestochener Stier. Haß, Wut und Schmerz raubten ihm jegliche Besinnung. Er stürmte blindlings los, vorangetrieben von der Gier, das Blut des anderen fließen zu sehen, ihn zu zerhacken und zu zerstückeln. Er vergaß seine Deckung. Das Messer schwang er in der erhobenen Rechten wie ein Enterbeil. Hasard stach sein Messer wie eine Lanze vor. Bombarde rannte hinein und spießte sich auf. Hasard glitt zurück. Das Messer ließ er dort, wo es steckte: über dem Bauchnabel des bulligen Kerls. Nur der Griff ragte heraus. Bombardes Mund war zum Schrei aufgerissen, aber es wurde nur ein Gurgeln daraus. Das Messer fiel aus seiner erhobenen Rechten. Er krümmte sich zusammen. Seine Hände zuckten zu dem Griff in seinem Bauch und umkrampften ihn. „N-nein - n-nein“, gurgelte er, „ich -ich will nicht ...“ Er zerrte an dem Griff, brach in die Knie, zerrte weiter - und kippte vornüber. Als Hasard ihn umdrehte, blickte er in glanzlose Augen. Bombarde hatte kassieren wollen, aber der Tod hatte ihn kassiert.
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Hinter Hasard schnippte Diego mit den Fingern. „Pedro! Felipe!“ rief der dicke Wirt. „Bringt den verdammten Bombarde nach draußen!“ Ein Neger und ein Kreole tauchten aus den hinteren Grottenräumen auf, packten den Toten am Kopf und an den Beinen und trugen ihn hinaus. „He, dein Messer!“ rief Ed Carberry. Hasard schüttelte den Kopf. Er ging zu seinem Platz zurück und setzte sich. Sein Gesicht war unbewegt, aber in seinem Kopf arbeitete es. Wer hatte mit ihm und Siri-Tong eine Rechnung zu begleichen? Caligu war tot. Hatte vielleicht einer von seinen Kerlen überlebt? Dann fiel Hasard das Weib ein, das Caligus Geliebte geworden war. SiriTong hatte ihr eine furchtbare Wunde im Gesicht beigebracht. Sollte diese Frau wider Erwarten nicht ertrunken sein? Er stand wieder auf und ging quer durch die Grotte zu dem Tresen. Siri-Tong blickte ihm verwundert nach. Hasard blieb vor dem Tresen stehen und sagte leise zu dem Dicken: „Darf ich Sie etwas fragen. Senor?“ „Natürlich.“ „Sie kannten Caligu, nicht wahr?“ Der Dicke nickte. Auch die Frau, die an seiner Seite war Maria Juanita?“ fragte Hasard. „Die auch“, erwiderte Diego. Dann stutzte er und sagte: „Warum fragen Sie, Senor?“ „Dieser Bombarde handelte im Auftrag eines anderen. Ich überlegte, ob dieser andere Maria Juanita sein könnte. Aber dann müßte sie unser Gefecht mit Caligu überlebt haben.“ „Sie hat überlebt“, sagte Diego, „jedenfalls Wurde mir das erzählt. Sie soll wieder hier in Tortuga aufgetaucht sein und sich mit zwei Kerlen herumtreiben. Einer war Bombarde.“ „Und der andere?“ fragte Hasard. „Wenn ich das wüßte!“ erwiderte der Dicke, und seine Antwort klang ehrlich. „Mein Mann, der mir die Nachricht über Maria Juanita brachte, nannte nur Bombarde. Ich fragte auch nicht weiter,
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weil es unwichtig war. Und jetzt ist es für Sie wichtig, nicht wahr, Senor?“ „Ja“, sagte Hasard, „denn wo dieses Weib ihre Fäden spinnt, da gibt’s Mord und Totschlag.“ Nachdenklich kehrte er zu dem Tisch zurück. Diego stellte Ölfunzeln auf die verschiedenen Tische und in die kleinen Nischen der Felswände. Hasard sah, wie tiefverzweigt die Grotte war. Was am Tage im Halbdämmer oder Dunkel lag, wurde jetzt erhellt. Hasard wollte sich schon hinsetzen, tat es aber dann doch nicht, sondern schlenderte durch die vordere Grotte zum hinteren Teil. Er musterte die Männer, die dort saßen. Sie starrten stumm zu ihm hoch. Einige blickten rasch weg, wenn sein eisiger Blick sie traf, andere hielten seinem Blick stand. Er sah in verderbte, hämische, wüste und tückische Gesichter, aber er entdeckte auch Kerle, die er zu der guten Sorte zählen würde. Hier waren gut und gern an die fünfzig Karibik-Wölfe versammelt. Ein paar Frauen waren darunter - vom .ältesten Gewerbe der Welt. Ihre Gesichter glichen verödeten Landschaften. Eine rutschte vom Schoß eines spindeldürren Kerls, stieß ihn weg, als er sie festhalten wollte, und steuerte Hasard an. Sie war üppig, ihre Brüste hingen aus der Bluse, ihre blonden Haare waren strähnig und verfilzt. „Was für ein Wiedersehn, Kapitän Killigrew“, sagte sie mit tiefer, heiserer Stimme. Hasard starrte sie an. Etwas in diesem verwüsteten, lasterhaften Gesicht erschien ihm bekannt. „Grand Cayman“, sagte das Weib. „Denk nach, Großer. Ich hab dich sofort erkannt. Du hast uns damals auf der Insel zurückgelassen, nachdem du die verdammte ,San Josefe’ gekapert hattest.“ „Alana“, sagte Hasard. „Du bist Alana.“ „Ja, ich bin Alana“, sagte das Weib. Ein heiseres, erbittertes Lachen drang aus ihrem Mund. „Die Hure Alana, die letzte von zwölf Huren, die einmal mit der ,San
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Josefe’ zurück nach Spanien wollten, aber da war der englische Kapitän Killigrew, der unseren Traum zerstörte.“ „Die letzte?“ fragte Hasard ruhig. „Und Maria Juanita?“ Alana lachte höhnisch. „Die stirbt jeden Tag mehr, dieses Dreckstück. Sie hat uns dem Schwein Caligu ausgeliefert, ihm und seiner Horde brünstiger, tollwütiger Hengste - Joana, Mona, Roberta und so weiter, umgekommen, ermordet, ertrunken oder freiwillig in den Tod gegangen.“ „Du haßt mich?“ Plötzlich wurde dieses verwüstete Gesicht weich. Sie blickte zu Hasard hoch. „Dich hassen? Nein, jetzt nicht mehr. Konntet ihr wissen, daß sich zwölf Huren auf der ,San Josefe’ befanden? Nein. Keiner von euch hat sich an uns vergriffen. Wir hätten gut auf der Insel leben können, aber dann erschien Caligu.“ „Kann ich dir irgendwie helfen?“ fragte Hasard. Sie schüttelte den Kopf. „Mein Traum war Spanien. Aber genau dorthin wirst du nicht segeln, du schwarzer, schöner Bastard.“ Sie lächelte, und es war kein vulgäres Lächeln. „Ich habe Valdez nach Spanien gebracht“, sagte Hasard. „Erinnerst du dich an ihn?“ „Valdez.“ Ihre Augen leuchteten auf. „Das war ein Mann!“ Ihre Hand beschrieb einen Kreis. „Kein Scheißkerl wie diese stinkenden Köter und Hurenböcke.“ Ihre Augen flatterten. „Wo ist er in Spanien?“ „In einem Dorf am Guadalquivir, nur ein paar Meilen von der Küste entfernt.“ „Am Guadalquivir“, flüsterte sie, „dort, wo ich auch aufwuchs.“ Sie schluckte. „Ist er verheiratet?“ Hasard lächelte. „Das könnte ich mir eigentlich nicht vorstellen.“ „Ich möchte zu ihm“, sagte die Hure Alane. Hasard blickte sich um. Dort links von ihm war eine Nische, die im Schatten lag. Er legte seinen Arm leicht. um Alanas Schultern und führte sie in die Nische. „Ich kann dich nicht zu Valdez bringen“, sagte er leise, „aber vielleicht hilft dir das hier weiter.“ Er zog einen Lederbeutel aus
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dem Wams und gab ihn ihr. „Perlen. Nimm sie und setze sie gut ein. Versuche, eine Passage nach Havanna zu finden. Vielleicht segelt eine Schaluppe aus Tortuga dorthin. Vielleicht auch hilft dir Diego. Er muß gute Verbindungen haben. Von Havanna aus mußt du mit einem der Geleitzüge nach Spanien segeln - falls kein Killigrew auftaucht.“ Er grinste sie an. „Wenn du es schaffst, dann grüße Valdez von mir. Was heißt ‚wenn? Du schaffst es bestimmt.“ Sie umklammerte den Lederbeutel und starrte zu dem großen Mann hoch. Zwei Tränen traten aus ihren Augen und rannen langsam über die Wange. Hasard tupfte sie mit dem Zeigefinger weg und lächelte. „Gute Fahrt, Alana“, sagte er. „Gott möge dich beschützen, Philip Hasard Killigrew“, sagte sie leise und strich scheu mit der Rechten über sein Gesicht. Dann huschte sie aus der Nische, lief durch die Grotte, hastete die Stufen zum Ausgang hoch und war verschwunden wie ein Blatt, das der Wind entführt. Hasard verließ die Nische und trat auf den Tisch zu, an dem der spindeldürre Kerl saß und zu ihm hochschielte, aber nichts sagte. Hasard nickte ihm freundlich zu und sagte: „Alana besucht einen alten, gemeinsamen Freund. Falls dir das nicht paßt, dann spuck’s aus. Aber ich wünsche nicht, daß du ihr nachstellst. Wenn du es doch tust, dann frißt dich der Seewolf, klar?“ Der Kerl zuckte zurück und flüsterte: „Schon gut, schon gut, ich bin ja ganz friedlich, wirklich. Ich wußte ja nicht, daß Alana dich kennt.“ „Du bist ein kluger Mann“, sagte Hasard. „Und kluge Männer leben länger, nicht wahr?“ „Jawohl“, sagte der Spindeldürre, der so aussah, als würde er doch nicht lange leben, denn er hustete und schien es auf der Brust zu haben. Hasard grinste und drehte sich um. „Herhören“, sagte er laut. „Die Rote Korsarin sucht Männer, die ehrlich sind und Mumm in den Knochen haben. Sie müssen zupacken und ein Schiff durch die
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Hölle segeln können. Sie müssen jene hassen, die drüben an den Küsten der Neuen Welt Schätze zusammentragen und wie gierige Haie sind. Sie müssen Freibeuter sein - Freie unter Freien, bereit, als Gleiche die Beute untereinander zu teilen. Männer vom Schlage eines Caligu lehnt die Rote Korsarin ab. Sie lehnt heimtückischen Mord, Verrat, sinnlose Gewalttaten aus Lust oder Blutgier ab. Sie braucht Kerle, die mit einem Eimer Wasser bereit sind, die Hölle auszulöschen. Wer meint, ein solcher Kerl zu sein, der soll bei ihr anheuern. Wer seine eigene Suppe kochen will, der soll wegbleiben. Überlegt es euch! Entscheidet selbst, was ihr wollt Freiheit oder ein jämmerliches Ducken unter die Peitsche eines größenwahnsinnigen Piraten, wie es Caligu war.“ Hasard wandte sich um und verließ die hintere Grotte. Er sah nicht die Gesichter hinter sich. Er wollte sie gar nicht sehen. Die Männer vom Schlage Caligus hatten sowieso nichts begriffen. Die Gleichgültigen würden ihre Fahne nach dem Wind hängen. Nur jene zählten, die das spürten, was Hasard hatte sagen wollen. Carberry grinste Hasard an, als er sich setzte und nach dem Becher mit dem Rum griff. Alle Seewölfe grinsten - nur Madame Siri-Tong hatte eine eisige Miene aufgesetzt. Carberry sagte: „Sie wollte wissen, wer die Blonde sei, mit der du in die Nische abgezogen bist.“ „Du hast sie nicht erkannt, Ed?“ fragte Hasard lächelnd. „Nein.“ „Eine Hurenschlampe!“ Das war SiriTong. Sie stieß es heraus, als habe sie einen schleimigen Eiterklumpen im Hals. „Mag sein“, sagte Hasard, mehr nicht. „Wer ist sie?“ fragte Ed Carberry. „Eine der zwölf Ladys, die wir vor zwei Jahren auf Grand Cayman zurückließen, Ed.“ Hasard kippte den Rum herunter. „Von diesen zwölf überlebten zwei Alana, eine ‚Hurenschlampe’, wie ich eben hörte, und noch eine - Maria Juanita_!“
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„Nein!“ schrie Siri-Tong. „Doch“, sagte Hasard kalt. „Und sie hat diesen Bombarde aufgeheizt, Madame, der hier erschien und darauf scharf war, Sie und mich mitzunehmen wegen einer Rechnung, die jemand mit uns begleichen wollte.“ „Dieses Weib ist tot!“ stieß Siri-Tong hervor.. „Eben nicht“, erwiderte Hasard. „Und deswegen ist sie noch gefährlicher. Darum auch meine ich, daß wir hier verschwinden sollten. Sie hat hier Anhänger.“ „Und was ist mit dieser blonden Schlampe?“ fauchte Siri-Tong. „Ich habe ihr Perlen geschenkt“, sagte Hasard ungerührt. „Perlen für eine Hure!“ Siri-Tong war empört, außer sich, ein kochender Vulkan. „Irrtum, Madame“, sagte Hasard. „Perlen für einen Menschen, der einen Traum hat. Haben wir nicht alle Träume? Alana erzählte mir ihren Traum, einen Traum, den gerade ich achte. Sie wollte nichts weiter, als nach Hause, in das Land ihrer Kindheit, zurückzukehren. Merkwürdig, daß ihre Heimat ein Dorf am Guadalquivir ist. Meine Heimat ist nirgendwo, denn ich weiß nicht, wo ich geboren wurde. Darum gab ich ihr die Perlen.“ Siri-Tong senkte den Kopf. In dieser Haltung sagte sie: „Entschuldigen Sie bitte, Hasard.“ 5. Es war auf Tortuga üblich, die Toten jenem Element zu übergeben, auf dem sie auch einen Teil ihres wilden Lebens verbracht hatten — dem Meer. Das war ja auch Brauch auf den Schiffen, warum sollte es dann auf einer Insel anders sein? Westlich des Hafens war eine Steilklippe, die — eine Laune der Natur mit einer glattgeschliffenen, mehr als körperbreiten Rille versehen war. Sie führte schnurgerade ins Meer. Die Karibik-Wölfe nannten sie mit grimmigem Humor die „Totenrutsche“. Auf ihr verließen die Toten die schnöde
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Welt und sausten in rascher Fahrt dem Totenreich entgegen. Die Haie kannten diesen Platz. Wenn am Ende der Totenrutsche ein Aufklatschen erklang, war das wie ein Signal für die grausamen Räuber, die dann von allen Seiten in rasender Freßgier heranschossen und einen wirbelnden furchtbaren Tanz um den absinkenden Toten veranstalteten. Der Tote verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Zu dieser Totenrutsche waren der Neger und der Kreole mit dem toten Bombarde unterwegs. Sie begegneten dem Marquis und sieben raubgesichtigen Beutelschneidern. „He!“ sagte der Marquis und strahlte, als sei die Begegnung mit den beiden Leichenträgern und ihrer entseelten Last ein freudiges Ereignis. „Das ist doch nicht etwa unser guter alter Bombarde?“ „Doch“, sagte der Kreole. „Und mausetot?“ „Mausetot“, bestätigte der Kreole. „Ja, ja“, sagte der Marquis mit gesalbter Stimme, „er war mir ein lieber Freund, und nun ist er von hinnen gegangen, dahingeschieden in der Blüte seiner Jahre, herausgerissen aus frohem Schaffen ...“ „Und niedergefahren zur Hölle, Amen“, sagte einer der Galgenvögel und grinste. Der Marquis grinste auch. „Da seh ich doch ein Messerchen“, sagte er. „Sollte er sich etwa selbst entleibt haben?“ „Hat er nicht“, sagte der Kreole. „Er hat sich mit einem Mann duelliert, den sie den Seewolf nennen. Und da hat er sich wohl etwas zuviel vorgenommen.“ Der Marquis nickte. „Du sagst es. Sein größter Fehler war, daß er einen Holzkopf hatte. Das hat er nun davon - ein Messer in seinem Bauch - ts, ts! Bringt ihr ihn zur Totenrutsche?“ „Ja“, erwiderte der Kreole. Der Marquis kicherte und deutete auf das Messer. „Die armen Haie, wie? Wer das Stück mit dem Messerehen erwischt, wird eine arge Verdauung haben.“
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Die sieben Beutelschneider lachten roh. Das war wirklich ein Spaß: ein Hai, der ein Messer verschluckte. „Leb wohl, Bombarde“, sagte der Marquis fröhlich. Dann setzten sie sich wieder in Marsch, während der Kreole und der Neger ihre tote Last weiterschleppten. Zehn Minuten später trat Bombarde seine letzte Reise auf der Totenrutsche an. Als er ins Wasser klatschte, segelte eine Einmastschaluppe etwa hundert Yards entfernt an der Steilklippe vorbei westwärts. Am Steuerbordschanzkleid der Schaluppe stand eine blonde Frau und nahm Abschied von Tortuga. Sie sah das Aufklatschen und wußte, was es bedeutete. Sie sah auch die Dreiecksflossen, die auf die Steilklippe zupfeilten. Sie schloß die Augen. Das alles ließ sie jetzt hinter sich -Mord, Gewalt, Brutalität, das Böse schlechthin, das wie ein Sumpf war, der einen erstickte. Aber sie würde nicht ersticken. Ein Mann hatte ihr die Zukunft geschenkt, die für Alana nicht mehr sichtbar gewesen war. Sie konnte wieder träumen. * „Madame“, sagte der Marquis und verbeugte sich mit der Grazie eines italienischen Tanzmeisters vor der Roten Korsarin, „ich bin entzückt, zu hören, daß Sie Männer suchen, die zu segeln und zu kämpfen verstehen. Man nennt mich den Marquis!“ Er blickte Siri-Tong tief in die Augen und noch tiefer in die Bluse und dachte, was für ein superbes Weib! Dann richtete er sich wieder auf, drehte sich etwas lind deutete mit Grandezza auf die sieben Halsabschneider, die hinter ihm am Tresen aufgereiht waren und wie zerrupfte, hungrige Habichte aussahen. „Das ist meine Mannschaft“, sagte er stolz, „erstklassige, sturmerprobte, mit allen Wassern der Karibik gewaschene Kämpfer, hartgesotten, gesalzt und gepfeffert, zäh, treu und absolut zuverlässig. Wir stehen zu Ihrer Verfügung, Madame!“
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Siri-Tong zog eine Augenbraue hoch und musterte die sieben „sturmerprobten Kämpfer“. Zuverlässig? Treu? Sie seufzte und dachte an Don Ravella und seine Kumpane, die es fast geschafft hätten, mit einem erklecklichen Teil der letzten Beute von der Schlangen-Insel zu verschwinden. Wie zuverlässig und treu Männer waren, stellte man meistens erst fest, wenn es bereits zu spät war. Der linke Flügelmann dieser Sieben-MannGarde war einäugig, breitschultrig und pockennarbig. Die Klappe, die seine leere Augenhöhle verbarg, gab seinem kantigen Gesicht einen furchterregenden Ausdruck. Das gesunde Auge, rechts, blickte starr und wirkte so kalt wie Eis. Neben ihm stützte sich ein Kerl mit beiden Ellbogen auf den Tresen und grinste schief. Er war dürr und mager und hatte ein Gesicht wie ein Totenkopf. Er war völlig kahl bis auf einen Haarzopf, der einsam aus seinem Hinterschädel wuchs und dreikardeelig geflochten über seine Schulter hing. Will Thorne, der Segelmacher auf der „Isabella“, hätte diesen Zopf bewundert. Denn in den Zopf waren Zierknoten eingespleißt, zum Beispiel ein sogenannter Diamantknoten, der die Haare wie ein Ring umkleidete. Dieser Kerl war bestimmt ein Seemann. Der dritte neben ihm war das Gegenteil ein kleiner Dickwanst mit einem öligen Vollmondgesicht, Wurstarmen, Wurstfingern und ebensolchen Beinen mit der Paßform eines Salzfasses, nämlich gerundet. Auch dieser Kerl grinste. Von der Größe her reichte er dem dürren Zopfmann neben ihm bis unter die Achsel. Nummer vier und fünf dieser erlesenen Garde waren totaler Durchschnitt oder noch darunter. Sie hatten so sture Gesichter wie eingeschlafene Stiere, die auch in diesem Zustand noch wiederkäuen. Sie bewegten ihre Kinnladen im Dauerrhythmus, als gelte es, eine Wiese zu Spinat zu verarbeiten. Der sechste Kämpfer war eine Spitzmaus mit flinken, unruhigen Augen, klein, schlank, nervös. Das Gesicht dieser
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Spitzmaus zuckte ständig, wirkte ängstlich, dann wieder aggressiv oder frech oder gemein oder eben einfach spitz. Nummer sieben war ein Bürschchen von etwa sechzehn, siebzehn Jahren, das aber wie ein Greis aussah - ein Giftkerlchen mit einer verderbten Visage, schmutzigen Augen und einem harten, messerscharfen Mund, der jetzt ein laszives Grinsen zeigte. So jung dieses Bürschchen sein mochte, es hatte bereits alle Laster dieser Welt genossen und kennengelernt und war von diesen Erfahrungen her wahrscheinlich so ausgekocht wie eine Hure im dritten Berufsjahrzehnt. Siri-Tong hatte ihre Musterung beendet und blickte wieder den Seewolf an, der immer noch feuchte Kringel auf die Tischplatte malte. Er zeigte eine Gleichgültigkeit, die ihr Blut zum Kochen brachte. Erst erzählte er den Kerlen da hinten in der Grotte, was sie, die Rote Korsarin, für eine Mannschaft suche, und dann setzte er sich hin und tat, als ginge ihn das alles nichts an. Oder paßten ihm dieser Marquis und seine sieben Männer nicht? Siri-Tong betrachtete noch einmal den Marquis, der mit einem schmelzenden Lächeln in dem hübschen, brutalen Gesicht vor ihr stand und sich jetzt, als sie ihn anblickte, zum zweiten Male höflich und mit Eleganz vor ihr verneigte. Dann legte er die Rechte auf sein Herz und sagte: „Madame, Sie zaudern? Lassen Sie mich eins aussprechen: Ich bewundere Sie! Ich bewundere Sie umso mehr, weil Sie es waren, der uns alle von dieser Geißel namens Caligu befreit hat. Was niemand von uns gewagt hat - Sie haben es vollbracht. Mein Respekt und meine Hochachtung gehören Ihnen, Madame.“ O ja, vom Süßholzraspeln verstand dieser durchtriebene Schurke eine ganze Menge, mehr als für Siri-Tong gut war. Ihr gefielen Männer, die gute Manieren hatten und noch dazu gut aussahen. Lächelnd sagte sie: „Sie sind Franzose?“ „Jawohl, Madame:“ „Und gewiß von hohem Adel, nicht wahr?“
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Der Marquis verneigte sich stumm, immer noch die Rechte auf dem Herzen. Hasard sagte brutal: „Wenn dieser Mann ein Marquis ist, dann bin ich der Sohn der Königin von England. Und diese sieben Schnapphähne da sind weder erstklassig noch sturmerprobt noch sonst was und schon gar nicht treu oder zuverlässig. Lassen Sie die Finger von diesen Kerlen, Madame. Ich warne Sie!“ Siri-Tong explodierte. „Stellen Sie eine Mannschaft ein oder ich, Mister Killigrew?“ fauchte sie. „Sie“, sagte Hasard ungerührt und zuckte mit den breiten Schultern, „natürlich Sie, denn Sie suchen ja eine Mannschaft, nicht ich. Und wenn Sie mit solchem Gesindel zur See fahren wollen, dann ist das Ihre Angelegenheit, meine aber nicht mehr, damit wir uns klar verstehen.“ „Was soll das heißen?“ „Das soll heißen, daß ich auf weitere gemeinsame Operationen verzichte. Meine Männer und ich haben nicht die Absicht, eine Kumpanei mit diesem Lumpenpack einzugehen ...“ „Jetzt reicht’s aber“, sagte der Marquis scharf. „Wären wir in Frankreich, dann würde ich Sie jetzt wegen dieser Beleidigung vor meine Klinge holen, Monsieur!“ „Was Sie in Frankreich tun würden, interessiert mich nicht“, sagte Hasard kalt, „aber wenn Sie sich mit mir duellieren wollen, dann stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Und noch etwas, mein Freund. Sie haben einen falschen Zungenschlag. Sie sind zu erpicht darauf, mit Ihren Kerlen in die Mannschaft der Roten Korsarin aufgenommen zu werden. Was steckt dahinter? Vielleicht eine Hure namens Maria Juanita? Ich hörte, daß sie zwei Liebhaber hat. Der eine namens Bombarde wollte sich auch mit mir duellieren - er war so dumm, in mein Messer zu rennen. Jetzt tauchen Sie auf. Wurden Sie von der Hure dazu aufgehetzt?“ Der Marquis war ziemlich bleich geworden und außer Fassung geraten. Aber er fing sich ziemlich schnell.
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„Ich pflege mit Huren keinen Umgang“, sagte er von oben herab. „Ihre Verdächtigungen sind völlig absurd. Im übrigen unterhalte ich mich nicht mit Ihnen, sondern mit Madame. Und was Ihre infamen Beleidigungen betrifft, Monsieur, werden Sie mir Genugtuung geben müssen, wenn ich meine Verhandlungen mit Madame abgeschlossen habe.“ Er wandte sich wieder Siri-Tong zu. „Madame, dürfte ich Sie dort an den Tisch bitten?“ Er deutete auf einen leeren Tisch an der Seitenwand der Grotte. „Bitte verstehen Sie. Ich möchte mit Ihnen sprechen können, ohne dauernd beleidigt zu werden.“ Siri-Tong stand auf, blickte Hasard herausfordernd an, bot dem Marquis den Arm und ließ sich von ihm zu dem Tisch führen. Diese Runde war zweifellos an den Franzosen gegangen. Er lächelte triumphierend, während er Siri-Tong einen Stuhl anbot und wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Edwin Carberry, der eiserne Profos, drückte das aus, was sie alle dachten. Er sagte laut und deutlich: „Scheiße!“ „Trinkt aus“, sagte Hasard zu seinen Männern. „Wir sind überflüssig geworden.“ „Was denn!“ knurrte Carberry. „Willst du etwa das Feld räumen und Siri-Tong diesen verlausten Rübenschweinen überlassen?“ „Es ist ihre Mannschaft, Ed“, erwiderte Hasard ruhig. „Ich habe sie gewarnt. Wenn sie anderer Ansicht ist, dann kann ich das nicht ändern. Ich bin nicht ihr Kindermädchen. Sie ist Herr ihrer eigenen Entschlüsse, basta!“ „Sie ist doch nur dickköpfig!“ fauchte Carberry. „Immer mit dem Kopf durch die Wand, verdammt noch mal.“ „Es ist ihr Kopf“, sagte Hasard. Smoky nickte. „So sind die Weiber. Heute hui und morgen pfui!“ Carberry ruckte zu ihm herum. ..Halts Maul, du Hering! Was verstehst du denn schon von Weibern, was, wie?“
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Smoky grinste. „Verstehst du denn mehr? Reg dich ab, Ed. Unserer Madame SiriTong paßt es nicht, daß wir sie am Gängelband haben. Sie will ihr eigener Kapitän sein, das ist alles.“ „Scheiß drauf“, sagte Carberry wütend. „Wenn diese Rübenschweine da mitkriegen, was wir für eine Beute in einem gewissen Versteck haben, dann geht das ganze Theater wieder los. Schau dir diese Mistfinken am Tresen doch mal an! Ein Galgenstrick neben dem anderen.“ „Weiß ich“, sagte Smoky und gurgelte mit Rum. Matt Davies polierte seine Hakenprothese an der Hose. „Wir könnten die Kerle ja mal auseinandernehmen“, sagte er. „Jucken tät’s mich schon.“ Er blickte zu Siri-Tong hinüber. „Nun seht euch das an! Dieser ölige Fatzke kriecht ihr ja bald in die Bluse!“ Sie starrten zu dem Tisch. Der Marquis war auf Tuchfühlung gegangen, redete ununterbrochen und stierte genauso ununterbrochen in den Blusenausschnitt der Roten Korsarin. Siri-Tong lachte silberhell. „Weiber!“ sagte der Profos grollend. Hasards Gesicht war undurchdringlich. Er dachte an Gwen und fragte sich, was, zum Teufel, ihn hier in dieser Tortugakneipe noch hielt? Nichts, gar nichts hielt ihn, weder die hübsche Siri-Tong noch sonst etwas. Wenn sie mit den Karibik-Wölfen mitheulen wollte, dann sollte sie es tun. Aber dann würden sie sich trennen müssen. Schade um die Schlangen-Insel, dachte Hasard. Das Geheimnis dieses Verstecks würde bekannt werden, wenn diese Kerle bei der Roten Korsarin anheuerten. Das zwang ihn, den Seewolf, zu neuen Entscheidungen. Sie würden ihren Beuteanteil aus dem Schlangentempel holen und an Bord der „Isabella“ bringen müssen. Und wohin dann? Hasard fluchte vor sich hin. Man sollte dieses Weib übers Knie legen und Madame den Hintern versohlen, daß es nur so rauchte.
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Merkwürdig, daß solche Frauen immer wieder. auf Typen wie diesen Marquis hereinfielen. Gwen würde das nicht tun. Oder doch? Nein, verdammt noch mal. Sie hatte ein Gespür für diese windigen Bastarde, die nur eins exakt beherrschten: mit Balzen, Radschlagen und Schnurren die Frauen herumzukriegen. Stärker als je zuvor stand plötzlich Gwens Bild vor Hasards Augen. Ein Ozean trennte sie, dennoch war sie bei ihm... * Knapp eine halbe Stunde vor diesem Zeitpunkt war ein schlanker Zweimaster mit Lateinersegeln an langen Rahruten in die Bucht von Tortuga geglitten — von den Männern auf der „Isabella VIII.“ scharfäugig und mißtrauisch beobachtet. Ben Brighton stand auf dem Achterdeck der Galeone und hatte den Kieker vor dem Auge. Er starrte, wischte sich das Auge und starrte wieder. Dann brüllte er nach Dan O’Flynn, dem Mann mit den besten Augen an Bord der „Isabella“. Es war früher Abend. Dan flitzte aus der Kombüse, wo ihm der Kutscher einen Vorgeschmack auf das abendliche Essen gewährt hatte. Dan O’Flynn hatte immer noch den meisten Hunger an Bord. Und der Kutscher, dem Dan sonst immer etwas aus der Kombüse geklaut hatte, war längst zu der Einsicht gelangt, daß es für alle Teile besser war, wenn er dem Hunger Dans vorbeugte, als ihn zappeln zu lassen und dabei zu riskieren, daß Dan mit miesen Tricks die Rationen verkürzte. Dan O’Flynn raste aufs Achterdeck. Wortlos gab ihm Ben Brighton den Kieker und deutete auf den heransegelnden Zweimaster. Dan setzte das Glas gar nicht erst ans Auge. Er starrte und hatte den Mund offen. „Na?“ fragte Ben Brighton. „Ich — ich will doch verdammt sein“, stieß Dan O’Flynn hervor. Er kniff die Augen zu und riß sie wieder auf. Das Glas hatte er immer noch in der Hand. „Aber das kann doch nicht wahr sein, so was gibt’s doch gar nicht!“
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„Hab ich auch gedacht“, sagte Ben Brighton und grinste breit. „Du hast sie also ebenfalls erkannt, wie?“ „Aber klar, Ben! Das ist unsere gute alte Tante, die „Isabella VII.“, die wir dem alten Hurenbock Killigrew abgeknöpft hatten und dann in Plymouth bei Ramsgate, dem Schiffsbaumeister, ließen, als wir die neue „Isabella“ übernahmen — Moment! Verflucht, da läuft einer an die vordere Drehbasse! Die wollen uns ein Ding verpassen, Ben…“ „Klar Schiff zum Gefecht!“ brüllte Ben Brighton. Fast herrschte Zustand auf der „Isabella“. Die Männer, die an Oberdeck gewesen waren und alles mitgehört hatten, stürzten an die Culverinen und Drehbassen. Aus dem Vordeck quirlte die Restmannschaft, bereits Entermesser, Musketen und Pistolen in den Fäusten. Mit wilden Augen starrten sie auf den heransegelnden Zweimaster. Der mochte noch etwa fünfhundert Yards entfernt sein. „Hopp, hopp, Männer!“ brüllte Ben Brighton. „Beeilt euch! Nicht so lahmarschig, wenn ich bitten darf! Batuti! Shane! Klar bei Brandpfeilen! Glotzt doch nicht so blöd, ihr verdammten Bastarde! Ran an die Kanonen, mannt das Pulver herauf, zack-zack!“ Wumm! Aus der Bugdrehbasse des Zweimasters löste sich ein Schuß, Qualm wölkte auf, das dunkle Etwas der Kugel stieg beinahe senkrecht in den Himmel - aber in die entgegengesetzte Richtung der ankernden „Isabella“. „Ein Verrückter“, murmelte Dan O’Flynn, „der ballert Löcher in die Luft, so ein dämlicher Quatsch.“ „Mir lieber, als wenn er uns mit dem Ding füttert“, knurrte Ben Brighton. Ferris Tucker enterte aufs Achterdeck, keuchend und völlig außer Atem. „Das war ein Salutschuß!“ stieß er hervor. „Klarer Fall! Das sind Engländer, achtern zeigen sie unsere Flagge! Sie winken!“ „Klar“, sagte Dan O’Flynn und grinste schief. „Unsere königliche Lissy besucht
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uns, nicht wahr? Die hat solche Sehnsucht nach den Seewölfen ...“ „Maul halten!“ Ben Brighton hatte wieder den Kieker und starrte hindurch. Dann ließ er ihn sinken und sagte völlig fassungslos: „Ich werd verrückt! Das ist Jean Ribault, unser guter alter Jean Ribault - und bei ihm sind Karl von Hutten und die Bastarde Nils Larsen, Sven Nyberg, Jan Ranse und Piet Straaten. Die anderen kenne ich nicht ...“ „Batuti Pfeil auf Sehne!“ brüllte der riesige Gambia-Neger von der Back her. „Frage Feuererlaubnis?“ „Nein!“ brüllte Ben Brighton zurück. „Nicht schießen! Weg von den Waffen! Seid ihr wahnsinnig?“ Vorn auf der Back starrte. Batuti Big Old Shane an und schüttelte den Kopf. „Was jetzt? Hat Bootsmann Vogel im Kopf oder was? Erst stänkern wie Profos und dann...“ Auch er wurde unterbrochen. Oben im Hauptmars stand plötzlich der Schimpanse Arwenack Kopf und führte sich auf wie eine Horde seiner Brüder, die eine zur Paarung bereite Horde von Schimpansenweibchen entdeckt. Er raste die Wanten herauf und hinunter, schlug im Mars Kobolz, trommelte sich auf die Brust und keckerte, fletschte grinsend das Gebiß, rollte mit den Augen, fegte über die Rah, sauste wieder nach unten und führte seinen Affentanz auf der Kuhl auf. „Affe auch verrückt“, sagte Batuti. „Alle hier verrückt, nur Batuti noch normal. Du verstehen, Shane?“ „Nein“, sagte Big Old Shane. „Ich versteh überhaupt nichts mehr. Aber eins seh ich verdammt gut. Dieser Kasten führt die englische Flagge.“ Big Old Shane kniff die Augen zusammen. „Und dann seh ich noch etwas.“ „Was denn?“ Big Old Shane ließ den Bogen sinken und lachte röhrend. „Das ist unsere alte ,Isabella’, mein Junge!“ brüllte er. „Hier in diesem verdammten Piratenkaff kreuzt unsere alte ‚Isabella’ auf! Ist das noch zu fassen?“ Jetzt erkannten sie es alle – und wie Arwenack, der Schimpanse, führten sie
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ihren Affentanz auf, winkten, brüllten, schrien und hüpften herum. Die schlanke Zweimastkaravelle ging in den Wind, dicht bei der „Isabella“, die Segel fielen und vorn rauschte der Anker mit der Trosse aus. Jean Ribault schlank und kerzengerade, stand neben dem exotischen Karl von Hutten auf dem Achterdeck und grüßte zu der „Isabella“ hinüber. Aber sein Gruß war verhalten. Sein Gesicht spiegelte Freude, und doch war es ernst. Eine Ahnung kommenden Unheils beschlich Ben Brighton, als er dieses Gesicht sah. 6. Sie brachten die Jakobsleiter an Steuerbord aus. Jean Ribault pullte das Boot allein zur „Isabella“. Er schor längsseits, vertäute das Boot und enterte auf. Die gesamte Crew der „Isabella“ empfing ihn. Aber die Freude über das unerwartete Auftauchen der alten „Isabella“ und eines Teils der ehemaligen Seewolf -Crew war einer bangen Erwartung gewichen. Zu deutlich hatten sie erkannt, daß irgendetwas nicht stimmte. Mit einem geschmeidigen Schwung setzte Jean Ribault über das Schanzkleid und blieb auf der Kuhl stehen. Seine dunklen Augen glitten über die Crew und grüßten jeden. Bei Ben Brighton blieben sie hängen. „Wo ist Hasard?“ „An Land“, erwiderte Ben Brighton. „Warum?“ Jean Ribault senkte den Kopf, hob ihn wieder und blickte Old O’Flynn und dann seinen Sohn Dan an, die beide nebeneinander standen. „Gwen ist tot“, sagte er leise. Da waren nur das Singen des Windes in den Stangen und Wanten und das Plätschern der Wellen an der Bordwand. Eine Möwe schrie und stieß aufs Wasser nieder. Die Männer standen wie erstarrt. Niemand sagte etwas. Einer senkte den grauen Kopf,
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drehte sich um und hinkte auf den Krücken zur Backbordseite der Kuhl, die nach Osten gerichtet war - Old Donegal Daniel O’Flynn. Die Männer sahen nur seinen gebeugten Rücken - und die Schultern. Und sie wußten, daß der alte Mann weinte. Dan O’Flynn, der Sohn, hob die brennenden Augen und starrte Jean Ribault an. „Wie starb Gwen?“ Seine Stimme war leise und dennoch scharf. Jean Ribault hob die Schultern. Es war eine hilflose Bewegung. „Ich weiß es nicht, Dan. Ich weiß nur, daß der kleine Segler, mit dem sie nach Frankreich fliehen wollte - Karl und ich hatten ihn besorgt -, im Sturm gesunken ist. Teile des Bootes haben wir später am Strand gefunden, auch die Leiche des Fischers. Er war bereits angeschossen worden, als sie ausliefen.“ „Angeschossen? Von wem?“ „Von irgendwelchen Häschern, Stadtgarde, was weiß ich. Keymis und Burton geben nicht auf. Sie hatten in Erfahrung bringen können, wo sich Gwen aufhielt, nämlich im Landhaus Doc Freemonts. Dort fielen sie über sie her, um aus ihr herauszupressen, wohin Hasard gesegelt sei. Denn sie glauben, Hasard habe irgendwo noch einen Schatz verborgen. Zum Glück konnten von Hutten und ich Gwen aus den Klauen dieser Kerle befreien. Wir beschlossen, Gwen und ihre beiden kleinen Söhne so schnell wie möglich außer Landes zu bringen — nach Frankreich. Aber Gwen war gefährdeter als die beiden Kinder. Darum sorgten wir dafür, daß sie sofort fliehen konnte. Zu diesem Zeitpunkt saßen uns die Schergen von Keymis und Burton bereits hart auf den Fersen. Der Segler, mit dem Gwen auslief, wurde noch unter Beschuß genommen. Dann kam der Sturm ...“ Jean Ribault brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern. „Und Hasards Jungen? Wo sind die?“ fragte Ben Brighton. „Bei einer Fischerfamilie in der Bretagne. Ich habe sie dort untergebracht. Doc
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Freemont ist bei ihnen. In Plymouth kauften von Hutten und ich die alte ‚Isabella’. Dann segelten wir sofort los, um euch und Hasard zu finden. Wir wußten, daß ihr in die Karibik gesegelt wart.“ Er blickte Dan O’Flynn traurig an. „Ich wollte, ich hätte euch eine bessere Nachricht bringen können.“ „Mein Gott“, murmelte Ben Brighton erschüttert. Mit einer fahrigen Geste wischte er sich über die Stirn. _Wir müssen Hasard sofort benachrichtigen. Ich — ich habe Angst, es nm zu sagen.“ In den Mienen der Männer wechselten Zorn, Erbitterung, Trauer. Sie alle empfanden den Schlag, den das Schicksal Hasard und den beiden O’Flynns versetzt hatte, so, als habe es sie selbst getroffen. Zu sehr waren sie mit dem Geschick Hasards verbunden. Was ihn traf, das traf auch sie. Bei Gott, es war ihnen nicht gleichgültig. Da war auch schon Haß in ihren Augen. Haß auf zwei Schurken, mit denen sie mehr als einmal aneinandergeraten waren — Burton, ein wegen Feigheit vor dem Feind degradierter Offizier und Verräter, Keymis, ein ehemaliger Friedensrichter, der seine Machtmißbraucht hatte, der in seiner Gier nach Gold zu einem tollwütigen Hund geworden war. Einmal schon hatten sie dieses Schwein gekielholt — weil er Gwen O’Flynn hatte vergewaltigen wollen. Einige dachten an diese Szene. Und sie dachten, daß vieles anders geworden wäre, wenn dieser schurkische Mann das Kielholen damals nicht überstanden hätte und einer der Haie, die unter Wasser herangeschossen waren, früher zugeschnappt hätte. Aber nein, Carberry, Ferris Tucker und Big Old Shane hatten Keymis mit einem gewaltigen Ruck aus dem Wasser gerissen, im buchstäblich letzten Moment. Und Dan O’Flynn hatte die Haie heranrasen sehen, als Keymis noch unter Wasser war. Er, Dan, hatte den Warnschrei ausgestoßen. Daran dachten sie jetzt, und sie verfluchten ihre Anständigkeit und Fairneß. Denn Baldwin Keymis hatte seine Intrigen
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spinnen können, ihm hatten sie es zu verdanken, daß sie England verlassen mußten — Rebellen, Vogelfreie, Geächtete, die jeder im Auftrag der Krone über die Klinge springen lassen konnte. Gut, das nahmen sie hin, und sie würden sich auch zu wehren wissen und dem Tod ins grinsende Gesicht spucken. Aber jetzt hatte es eine unschuldige Frau getroffen, Und damit hatten Burton und Keymis ihr elendes, schmutziges Leben verwirkt. Es gab keine Gnade mehr, nicht für Ungeziefer, für Menschenbestien, die fort und fort Böses zeugten. Das junge Gesicht Dan O’Flynns war kantiger und härter geworden, in diesen wenigen Minuten hatte es sich verändert. Er blickte Ben Brighton an. „Ich hole Hasard“, sagte er knapp. „Er wird keine Zeit verlieren wollen. Laß sofort seeklar machen, Ben. Wir haben hier nichts mehr zu suchen. Soll die Rote Korsarin zusehen, woher sie ihre Kerle kriegt.“ Ben Brighton nickte nur. Innerlich atmete er auf. Er hätte nicht gewußt, wie er Hasard die furchtbare Nachricht hätte beibringen sollen. Es war gut, daß Dan es tat, Dan, der Bruder Gwens und der Schwager Hasards. Vielleicht fand er die richtigen Worte. Dan O’Flynn setzte mit Jean Ribault über. Inzwischen verholte von Hutten die „Le Vengeur“, wie die „Isabella VII.“ jetzt hieß, dicht an die Steganlagen, um Süßwasser und Frischproviant zu übernehmen. Denn das stand fest: Die Karavelle würde mit der Galeone zurück nach Europa segeln. * Das narbengesichtige Weib, das in den Schatten vor der „Schildkröte“ lauerte, ui abzuwarten, wie sich der Plan des Marquis entwickelte, erstarrte zur Salzsäule, als sie die beiden Männer erkannte, die von den Anlegern unten zur Kneipe hocheilten. Und was bedeutete das dritte Schiff, das vor einer halben Stunde im Hafen vor Anker gegangen war? Wie viele Schiffe
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hatte dieser verdammte Seewolf jetzt eigentlich? Die Zweimastkaravelle, die dort unten ankerte, schien unter dem Kommando des schlanken Franzosen zu stehen. Richtig, Jean Ribault hieß er, dieser Hurensohn. Irgendetwas mußte passiert sein. Auf der Galeone herrschte reger Betrieb. Es sah ganz so aus, als plane man, wieder auszulaufen. Tausend Gedanken schossen der rachelüsternen Maria Juanita durch den Kopf. Ihr schwante, daß die Dinge einen anderen Verlauf nehmen würden, als der Marquis sich vorgestellt hatte - einen ungünstigen Verlauf. Sie drückte sich tiefer in die Schatten, als die beiden Männer an ihr vorbeiliefen. Dann verschwanden sie in der Kneipe. Hasard fuhr aus seinen Gedanken hoch, als er Ed Carberrys donnerndes Freudengebrüll hörte. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen, als er Jean Ribault erkannte. Und Dan O’Flynn bei ihm? Wie sah der Junge denn aus? War das noch Dan O’Flynn oder ein älterer Bruder von ihm? Langsam stand Hasard auf. Etwas Unausweichliches kam auf ihn zu -er sah es an den Gesichtern der beiden Männer, die so ernst wären, wie er sie noch nie erlebt hatte. Jean Ribault! Der tapfere, verwegene Franzose — was bedeutete sein plötzliches Auftauchen hier, ausgerechnet hier? Der Marquis nebenan am Tisch war jäh verstummt. Spürte er, daß sich mit dem Eintreten der beiden Männer die Situation gewandelt hatte? Siri-Tong rückte von ihm ab. Es war ihr, als erwache sie aus einem Traum. Die Stimme des Marquis war so sanft und angenehm gewesen. Aber das war alles unwirklich. Wirklichkeit war der schwarzhaarige, blauäugige Riese, der seitlich von ihr stand und dessen Profil sie sah. Er stand etwas geduckt, als erwarte er einen Schlag. Aber wer sollte ihn schlagen?
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Dan O’Flynn warf ihr einen kalten Blick zu, dann schaute er Hasard wieder an und sah ihm kerzengerade in die Augen. „Gwen ist tot“, sagte er. „Jean brachte uns die Nachricht.“ Hasards Gesicht wurde zu Stein. Seine Stimme war fast unhörbar. „Was sagst du da?“ Sein eisblauer Blick flog zu Jean Ribault. „Ist der Junge wahnsinnig?“ Jean Ribault schüttelte stumm den Kopf. Es war, als begreife Philip Hasard Killigrew erst in diesem Augenblick die furchtbare Wahrheit. Er zuckte zusammen, und es war, als wanke er. „Nein“, flüsterte er, „nein.“ Die Zeit blieb stehen, einen ungeheuerlichen Herzschlag lang blieb sie stehen. In dieser winzigen Zeitspanne verging etwas, wurde etwas zerstört, zerbrach etwas. Nichts mehr würde so sein, wie es gewesen war. Nur Schmerz war jetzt da, grausamer, brennender Schmerz, der das Herz zusammenkrampfte und den Schädel zu sprengen drohte. Der Seewolf starrte durch Jean Ribault hindurch. Er sah ihn gar nicht. Er starrte in eine Ferne, die unsichtbar war, unerreichbar wie die Ewigkeit. Ed Carberry, Stenmark, Matt Davies, Smoky, Sam Roskill — sie saßen da wie gelähmt, wie versteinert, als habe sie ein Zauberstab berührt, der sie zur Bewegungslosigkeit verdammte. Siri-Tong wollte aufstehen und zu dem großen Mann gehen, um ihn zu trösten, um ihm etwas von dem Schmerz abzunehmen, der ihn wie eine riesige Faust umklammerte. Aber sie konnte nicht. Die gespenstische Stille wurde von einem häßlichen Lachen unterbrochen. Es wurde immer lauter. Der Marquis hatte den Kopf zurückgeworfen und lachte. Er schlug sich auf die Schenkel und schrie: „He, Männer von Tortuga! Seht sie euch an, diese lausigen englischen Bastarde, die sich hier auf-. gespielt haben, als gehöre ihnen Tortuga! Seht sie euch an! Vor allem diesen Bastard, den man Seewolf nennt. Seewolf? Daß ich nicht lache! Da ist irgend so ein Weib krepiert, und schon
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scheißt er sich in die Hosen, der tapfere Seewolf!“ Er brüllte vor Lachen. Langsam, wie in Trance, drehte sich Hasard zu ihm um. Es war, als erwache er aus einem tiefen Schlaf. Dann wandelte sich das Gesicht Hasards in Bruchteilen von Sekunden. Siri-Tong schrie unwillkürlich auf. Das Lachen des Marquis brach jäh ab. Das Gesicht des Seewolfs war mörderisch. Und dann brach die Hölle los. Der Marquis schaffte es noch, aufzuspringen und seinen Degen zu ziehen. Aber den wischte Hasard zur Seite wie ein lästiges Schilfrohr. Seine Rechte hatte eine Öllampe gepackt, und die explodierte auf dem Schädel des Franzosen. Brennendes Öl lief an ihm herunter. Der Marquis wurde zur lebenden Fackel und raste brüllend zum Ausgang der Grotte. Von hinten aus den anderen Grottenräumen stürmten Männer heran. Hasard wirbelte herum, ein wilder, entfesselter Teufel. Jetzt wollte er den Kampf. Er brauchte ihn, um nicht ersticken zu müssen. Oder wollte er nicht mehr leben? Wie ein Mann waren die Seewölfe hoch und sprangen die Kerle an der Theke an. Messer blitzten, Lampen zerbarsten, Krüge flogen durch die Luft, Stühle zerbrachen, Degenklingen klirrten aufeinander, Schreie, Gebrüll, Stöhnen. Diejenigen der Karibik-Wölfe, die bisher zu Caligu gehalten und wie der Marquis angenommen hatten, die Nachricht über den Tod einer Frau habe die Seewölfe demoralisiert, diese Kerle merkten — wie der Marquis —zu spät, daß sie sich getäuscht hatten. Und diejenigen unter ihnen, die gemeint hatten, jetzt freie Bahn zu haben und über die Rote Korsarin herfallen zu können, hatten sich genauso getäuscht. Denn urplötzlich trat das ein, was SiriTong erhofft und warum sie überhaupt die „Schildkröte“ aufgesucht hatte. Neun Männer schlugen sich auf ihre Seite, schirmten sie wie selbstverständlich ab und brüllten ihren Gegnern entgegen: „Es lebe die Rote Korsarin!“
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„Ar — we — nack!“ brauste der Schlachtruf der Seewölfe durch die Grotte, und sie waren genauso entfesselt wie ihr Kapitän, der mit einem wilden, schrecklichen Lachen und einem Degen in der Faust, den er irgendeinem der Kerle aus der Hand gebrochen hatte, durch die Grotte tänzelte und Hiebe verteilte, die wie die Pranken von Raubtierkatzen niederzuckten. Ed Carberry hatte den Zopfmann gepackt, hochgewirbelt und ließ ihn am Zopf über sich kreisen, als schwinge er eine Kettenkugel. Bei der vierten Drehung ließ er los, genau in dem Moment, in dem die Beine des Kerls zum Ausgang wiesen. Gestreckt raste der Zopfmann durch die Luft und verschwand wie weggezaubert. Draußen ertönte nur ein spitzer Aufschrei. Carberry brüllte wie ein Stier und hieb dem Augenklappenmann die Faust in die Magengrube. Stenmark hebelte das Bürschchen mit der verderbten Visage aus und schmetterte es gegen die Felswand. Diego, der Wirt, nickte beifällig, verzog sich dann aber, nachdem er Carberry das Fäßchen Rum auf den Tresen gestellt hatte. Er verschwand durch eine Kellerluke und rammte sie dicht. Was oben passierte, ließ ihn kalt, Hauptsache, die Piraten vom Schlage Caligus bezogen die Senge ihres Lebens. Was zu Bruch ging, mochte zu Bruch gehen, es war ersetzbar. Auch daß die Grotte Feuer gefangen hatte, war nicht weiter aufregend. In den weitverzweigten Keller würde das Feuer nicht durchschlagen. Die felsige Decke ließ nichts durch. Und die Kellerluke bestand aus Eisenplatten. Carberry enterte den Tresen, schnappte sich das Rumfaß und benutzte es als Fallramme. Der Dicke mit dem öligen Vollmondgesicht rutschte mit verdrehen Augen zu Boden, als ihm Carberry das Faß auf den Schädel donnerte. Den einen der beiden wiederkäuenden Stiere rammte Carberry ebenfalls in den Boden. Den anderen hatte bereits Smoky weggeräumt.
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Von den Kerlen des Marquis war nur die Spitzmaus geblieben, und die huschte im Zickzack zum Ausgang, geriet an Maria Juanita und sprang sie wie ein Affe an. „Hilfe! quiekte die Spitzmaus. „Hilfe!“ Zu diesem Zeitpunkt stürzte sich der brennende Marquis mit einem wilden Satz in das Hafenwasser. Die Flammen erloschen, aber die Mörder waren zur Stelle und fielen über den Mann her. Der Zopfmann taumelte draußen vor der Kneipe herum und hielt sich den Kopf. Maria Juanita schüttelte die Spitzmaus ab wie ein lästiges Insekt und schrie: „Wollt ihr wohl kämpfen, ihr Bastarde, ihr Hurenböcke! Vorwärts! Tötet sie! Oder seid ihr zu feige, ihr Jammerlappen?“ Der Zopfmann torkelte auf sie zu und lallte: „Was ist los — wa-was sagst du?“ Die Spitzmaus kicherte hysterisch. „Kämpfen sollen wir!“ schrie die Spitzmaus mit schriller Stimme. „Kämpfen!“ Das kleine Männchen schnappte über. „Gegen diese Ausgeburten der Hölle sollen wir kämpfen! Kämpf doch selbst, du verdammte Hurenschlampe! Du hast doch dem Franzosen den Floh ins Ohr gesetzt, du dreckiges Stück ...“ Das narbengesichtige Weib ergriff einen Knüppel und wurde zur fauchenden Furie. Sie schnellte wie eine Katze auf die Spitzmaus zu, aber das Männchen flutschte unter dem Knüppel weg und verschwand zeternd in einer Nebengasse. Maria Juanita wirbelte herum, schwang den Knüppel wieder hoch und drosch ihn dem Zopfmann auf den kahlen Kopf. Der kriegte glasige Augen und ging gurgelnd zu Boden. Ein Mann taumelte aus der Kneipe, den Degen in der Faust. Es war einer der früheren Anhänger Caligus. Er war halbblind von einem Stirnschnitt. Das Blut lief über seine Augen. Maria Juanita entriß ihm den Degen und stürzte in die Grotten-Kneipe. „Vorsicht!“ brüllte Ed Carberry. „Die Schlampe von Caligu ist da!“ Mit einem wilden Schrei brach das rasende, narbengesichtige Weib durch das Getümmel und raste auf Siri-Tong los. Die
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Rote Korsarin hatte Carberrys Warnung gehört, aber fast zu spät reagiert. Im letzten Moment sprang sie vor dem rasenden Angriff zurück an die Felswand. Der Degenhieb pfiff an ihr vorbei. Die Männer wichen zurück — alle. Erhitzt, blutend, schweiß überströmt ließen sie Fäuste und Waffen sinken und starrten auf die wilde Kampfszene, die sich jetzt vor ihren Augen abspielte. Es war der Kampf zweier Amazonen. „Mein Gott“, murmelte Hasard und erwachte aus seiner Raserei. Erst jetzt merkte er, daß er Rücken an Rücken mit Jean Ribault gekämpft hatte — wie in alten Zeiten. In alten Zeiten? Das mochte vor hundert Jahren gewesen sein. „Danke“, sagte der Seewolf leise. „Danke, Jean. Was ist mit meinen beiden Söhnen?“ „Sie sind in Sicherheit, in Frankreich. Doc Freemont ist bei ihnen.“ Hasard wischte sich das Blut aus dem Gesicht, abwesend, fast gleichgültig. Er registrierte den Schmerz, aber er war nebensächlich. Wer ihm die Schnittwunde auf dem Kopf beigebracht hatte, wußte er nicht. Auch das war gleichgültig. Der andere Schmerz bohrte in ihm, tief in ihm drin. Der Schmerz um das Verlorene, Unwiederbringliche. Er würde mit diesem Schmerz leben müssen, bis er erlöst wurde. Und wenn er erlöst war, würde er Gwen wiedersehen, seine Gwen. Aber für Philip und Hasard, seine beiden Söhne, die Söhne Gwens, mußte er leben. „Nein!“ schrie das narbengesichtige Weib, als der Degen zu Boden klirrte. Hasard schreckte auf. Er hatte den Kampf beobachtet und dennoch nichts gesehen. Mit einem pfeifenden Hieb zog die Rote Korsarin ihren Degen quer über das Gesicht Maria Juanitas. Eine dritte, furchtbare Wunde quoll blutrot auf. Wimmernd wich die Gezeichnete zurück, beide Hände vor das Gesicht gepreßt. Siri-Tong, rotglühend vor Wut, hob den Degen zum letzten, tödlichen Stoß. Die Männer hielten den Atem an. Mit einem Satz war Hasard bei der Roten Korsarin und schlug ihr den Degen aus der Hand.
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„Genug!“ schrie er sie an. „Es ist genug! Und wenn Sie eine Wehrlose töten, dann, bei Gott, bringe ich Sie um!“ Siri-Tong starrte zu ihm hoch, einen fast irren Ausdruck im Gesicht. Hasard sagte leise: „Sie ist genug gestraft.“ Der irre Ausdruck in dem Gesicht der Roten Korsarin verschwand. Sie senkte den Kopf. Hinten in der Grotte zerplatzte eine Öllampe. Eine Feuerlohe fauchte in den vorderen Raum. „Schafft die verletzte Frau nach draußen“, sagte Hasard. Er drehte sich um und zog einen breitschultrigen Mann zu sich heran, der ihn entsetzt anstierte. „Du kümmerst dich um sie und versorgst die Wunde, klar?“ Der Mann nickte. „Wenn du es nicht tust, zerschlag ich dir die Knochen“, knurrte ihn Hasard an. „Hast du mich verstanden? Mach’s Maul auf!“ „Jawohl, ich habe verstanden“, sagte der Mann. Er nickte einem anderen zu und führte mit ihm die wimmernde Maria Juanita nach draußen. Hasard wandte sich wieder Siri-Tong zu. „Ich sehe, daß eine Crew von selbst zu Ihnen gefunden hat“, sagte er. „Sind Sie jetzt zufrieden, Madame?“ „Ja, Mister Killigrew.“ Sie schaute zu ihm hoch, ein Flehen in den Augen. „Bitte, es tut mir so leid ...“ „Leben Sie wohl, Madame“, unterbrach Hasard sie schroff. Seine Augen waren so eisig, wie die Rote Korsarin sie noch nie gesehen hatte. „Aber ...“ begann Siri-Tong und wurde wieder unterbrochen. „Ich habe zwei kleine Söhne, Madame“, sagte Hasard. „Sie sind mir wichtiger als alles andere.“ „Ich verstehe“, flüsterte Siri-Tong. „Nein“, sagte Hasard brutal, „Sie verstehen gar nichts! Sie lieben nur sich selbst und hätscheln Ihren verfluchten Haß. Und knöpfen Sie gefälligst Ihre verdammte Bluse zu –oder haben Sie Spaß daran, wenn solche Scheißkerle wie dieser
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Marquis Sie mit ihren Blicken halb auffressen?“ „Nein“, sagte die Rote Korsarin und knöpfte gehorsam die rote Bluse zu. Der Seewolf starrte sie mit einem rätselhaften, wilden Blick an, warf den Degen zu Boden und sagte zu seinen Männern: „Bei euch Arwenacks alles klar ? Verletzungen?“ Ed Carberry sprang von dem Tresen, das Rumfaß unter dem Arm. „Alles klar, Sir. War ‘ne -feine Sache hier ...“ Er verstummte erschrocken, als er begriff, was er gesagt hatte. „Entschuldigen Sie, Sir“, setzte er leise hinzu. „Ich habe es anders gemeint, verdammt.“ „Ich weiß, Ed.“ Hasard lächelte. Es war ein Lächeln, in dem Schmerz und Verstehen mitschwangen. Und dann sah er noch einmal Siri-Tong an, doch deren Gesicht mit den mandelförmigen dunklen Augen verschwand plötzlich, und das Gesicht Gwens mit den rotblonden Haaren und den grünen Augen tauchte vor ihm auf. Es verdrängte das andere Gesicht. Hasard wandte sich jäh ab, winkte seinen Männern zu, ihm zu folgen, und verließ die Grotte, in der es schwelte und knisterte und die Rauchschwaden waberten. Draußen richtete sich ein Mann auf und torkelte ihnen entgegen. Er hatte einen dreikardeeligen Zopf, trübe Augen und ein Gesicht voller Schmerzen. Edwin Carberry grunzte etwas Unverständliches, ging an den Zopfmann heran, nahm Maß und feuerte ihm eine brettharte Rechte unter das Kinn. Der Zopfmann verschwand wie ein Geist, der sich in Luft auflöst. Nur ein dumpfer Aufprall hinten in der Gasse verkündete, daß es kein Geist gewesen war. „Ed“, sagte der Seewolf tadelnd. „Das mußte sein, Sir“, sagte der eisenharte Carberry. „Gewissermaßen als Abschluß, Sir.“ Und wieder lächelte Hasard. Es waren diese Männer wie Carberry, die ihm halfen, das Schlimmste zu überstehen. Er war nicht allein und einsam. Nein, sie waren an seiner Seite, Kerle wie Samt und
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Seide, tapfer, geradlinig, treu. Es waren die besten Männer, die je ein Kapitän gehabt hatte. 7. In dieser Nacht - nach den Geschehnissen in der „Schildkröte“ - brauste ein orkanartiges Unwetter von Westen her über Cuba und Hispaniola hinweg. In dem Kanal zwischen Tortuga und Hispaniola baute sich eine See auf, die einem Hexenkessel glich. Sogar in der sonst so abgeschirmten Bucht von Tortuga wurde das Wasser kabbelig und eklig. Hasard beschloß, das Auslaufen zu verschieben. Es wäre Selbstmord gewesen, jetzt in See zu gehen, ganz abgesehen davon, daß es sie wahrscheinlich sofort erwischt hätte, sobald sie die Nase aus der Bucht steckten. Wasser und Wind - durch die Enge des Fahrwassers und die Steilküsten der beiden Inseln regelrecht komprimiert - waren von elementarer, explosionsartiger Wucht. Und hätten sie das Auslaufen geschafft, dann wäre ihnen nur ein Kurs vor dem Sturm her nach Osten möglich gewesen, und dort wären sie unweigerlich in die tückischen Korallenriffs geraten und über kurz oder lang zerschmettert worden. Bei Hasard siegte die Vernunft über die brennende Ungeduld. Aber ein anderes Drama spielte sich in dieser Nacht ab. Denn die Schaluppe, deren Kapitän, ein ergrauter Fischer namens Marco, die blondhaarige Alana nach Havanna bringen wollte, schaffte es nicht mehr, unter Land zu gehen und in einer der Buchten an der Nordküste Cubas Schutz zu suchen. Um Mitternacht ging Marco über Bord, als die Schaluppe bereits vor Topp und Takel von dem Sturm ostwärts gejagt wurde. Ein Brecher überlief den kleinen Segler und nahm Marco mit, der achtern am Ruder gestanden hatte. Als nächstes brach zwanzig Minuten später der Mast weg und erschlug die beiden Seeleute, die unter Marco gefahren waren. Einer verschwand spurlos in der See, den
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anderen fand Alana eingeklemmt und tot unter dem Wirrwarr der Takelage, als sie daranging, das Chaos zu beseitigen. Sie behielt die Nerven, und ihr Verstand sagte ihr, daß sie versuchen mußte, den zersplitterten Mast samt zerfetztem Segel, den Spieren und dem Rigg loszuwerden, denn das Zeug hing über die Backbordseite nach voraus und ließ die Schaluppe gefährlich krängen. Sie wollte überleben, und das gab ihr die Kraft, den Kampf aufzunehmen, obwohl ihr völlig unklar war, wie es weitergehen sollte, wenn sie den Sturm überstanden hatte. Diese blondhaarige Hure, die den Dreck und Sumpf hinter sich gelassen hatte, wuchs über sieh selbst hinaus. Wie besessen hieb sie mit einer Axt auf Wanten und Stage ein, völlig durchnäßt, umpeitscht von dem heulenden Sturm, überschüttet von fliegendem Wasser. Sie hatte sich angeleint, um beide Hände für die Axt frei zu haben. Mehr als einmal wurde sie von den Brechern einfach weggewischt und gegen das Schanzkleid oder den achteren Aufbau geschwemmt. Sie hatte Schürfwunden und Prellungen. Aber sie gab nicht auf. Irgendwann löste sich der Mast samt des Riggs und verschwand in der kochenden See. Alana lachte wild und schüttelte die Fäuste. Sie schrie gegen den Sturm an, ein bißchen überdreht und in jenem euphorischen Rausch, in dem es keine Ängste mehr gibt, auch keine Todesangst. Die Schaluppe trieb ostwärts, ein tanzender Korken auf der schäumenden See, steuerlos, entmastet, aber stabil genug, Brechern und Wogen standzuhalten. Ihre Luken waren gut verschalkt, so daß kein Wasser ins Innere dringen konnte. Wer sich dem Sturm hingibt, sich ihm überläßt, wem es gleichgültig ist, wohin er getrieben wird, wenn der Leeraum groß genug ist, der hat durchaus die Chance, zu überleben. Es ist dies das Gleichnis des Blatts, das der Wind hierhin und dorthin wirbelt, aber nicht zerstört.
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Wie ein Blatt auch blieb die Schaluppe auf dem Wasser liegen, als der Sturm nach Osten abgewandert war und sich selbst erschöpft hatte. Das war gegen Morgen. Alana, die in einen Ermüdungsschlaf gefallen war, erwachte. Sie hatte sich achtern neben dem Steuer festgebunden. Aufatmend löste sie die Knoten und blickte sich um. Wasser, nichts als Wasser. Noch bewegt und unruhig, aber schon ohne Schaumkronen und überkippende Wellen. In der Morgendämmerung wirkte die See bleiern, aber dann stieg im Osten die Sonne über die Kimm und verzauberte das Wasser. Alana lächelte. Sie war allein, so allein wie noch nie in ihrem Leben, aber sie lächelte. Die ungeheuerliche Einsamkeit der See rings um sie herum bedrückte sie nicht. Sie fühlte sich geborgen, so absurd das klang. Vielleicht spürte sie unbewußt, daß dies der erste Morgen seit langer, langer Zeit war, an dem kein stinkender und schnarchender Kerl neben ihr lag, mit dem sie die Nacht saufend und hurend verbracht hatte. Niemandem hatte sie sich hingegeben, nur dem Sturm, und der hatte sie reingewaschen. Alana dachte nicht an den nächsten Tag, an die nächsten Tage und die nächsten Wochen. Sie ging zu der kleinen Kombüse und untersuchte die Vorratsschapps. Sie fand genügend Proviant und entdeckte drei Fässer mit Trinkwasser. Sie bereitete sich etwas zu essen. Danach untersuchte sie die Schaluppe von oben bis unten und begann aufzuklaren. Jetzt war dieses mastlose, unnütze Fahrzeug ihr Schiff, und sie Wollte, daß es sauber war. Als die Sonne höherstieg und wärmte, zog sie sich nackt aus, goß sich Seewasser über den Körper und ließ sich von der Sonne trocknen. Ein leiser, warmer Wind umfächerte sie. Ihr Körper sog Sonne und Wind und salzige Luft auf. Hätte sie in einen Spiegel geschaut, dann hätte sie erstaunt festgestellt, daß sich ihr Gesicht bereits verwandelt hatte. Das Lasterhafte war verschwunden, das Gesicht war weicher geworden, gelöst, heiter.
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Sie dachte an Valdez und Spanien. Sie erschrak nicht, weil der Sturm ihren Traum zerschlagen hatte. Nein, er hatte ihn ja gar nicht zerschlagen. Träume waren unzerstörbar. Nur die Verwirklichung des Traums mußte warten. Gegen Mittag angelte die blonde, nackte Frau einen Zackenbarsch, nahm ihn aus und briet ihn in der Kombüse. Noch immer trieb die Schaluppe bei mäßigem Westwind nach Osten. * An diesem .Morgen nach dem Sturm liefen die „Isabella VIII.“ und die „Le Vengeur“ aus und verließen Tortuga. Eine Rauchsäule stieg wie eine Spirale in den Himmel — aus der „Schildkröte“. Die Karavelle der Roten Korsarin blieb vor Anker liegen. Siri-Tong stand schweigend auf dem Achterdeck und blickte den beiden Schiffen nach, die bei halbem Wind aus der Bucht segelten, dann anluvten und das kurze Stück nach Westen hochkreuzten, bis sie den Westzipfel der Insel umrunden und auf Nordnordostkurs gehen konnten. Wann sie den Seewolf wiedersehen würde, wußte sie nicht. Er hatte sich nicht dazu geäußert. Aber er würde eines Tages zurückkehren, wenn nicht wegen ihr, dann zumindest wegen seines Beuteanteils auf der Schlangen-Insel. Hasard blickte nicht zurück. Dieses Piratennest mochte der Teufel holen. Seine Gedanken eilten voraus, nach Frankreich zu seinen beiden kleinen Söhnen. Er würde sich um sie kümmern müssen, aber er wußte beim besten Willen noch nicht, wie er das zustande bringen sollte. Gwen war tot. Mit erschreckender Klarheit wurde sich Hasard bewußt, welche Verantwortung sie allein getragen hatte, ohne den Mann an ihrer Seite. Er plagte sich mit Schuldgefühlen. Hätte er England nicht verlassen, wäre alles nicht passiert - hätte —wäre — hätte ... Es half alles nichts, es war eben passiert. Jean Ribault hatte ihm alles erzählt, noch in der Nacht, als sie wieder an Bord waren.
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Old O’Flynn und Dan waren dabei gewesen. Sie hatten ein Recht dazu. Und es war der alte O’Flynn, der etwas geäußert hatte, was Hasard kalt über den Rücken gelaufen war. Old O’Flynn hatte gesagt: „Wenn diese beiden Schurken soweit gegangen sind, eine wehrlose Frau zu überfallen und zu foltern, dann müssen wir auch damit rechnen, daß sie sich an unschuldigen Kindern vergreifen. Sie schrecken vor nichts zurück.“ Jean Ribault hatte den Kopf geschüttelt. „Niemand weiß, wo ich Philip und Hasard untergebracht habe. Außerdem ist Doc Freemont bei ihnen.“ „Schon“, hatte der Alte erwidert. „aber schließlich haben die Kerle ja auch Gwen in dem Landhaus des Arztes gefunden, wo wir sie sicher wähnten.“ Ja, Old O’Flynn hatte den Teufel an die Wand gemalt. Hasard war von Unruhe erfüllt. Er hatte sämtliches Tuch setzen lassen und blieb auf dem Achterdeck, um ständig den Wind und die Segelstellung zu überprüfen. Am Nachmittag sichtete Dan O’Flynn ein entmastetes Fahrzeug Backbord voraus und brüllte seine Meldung aufs Deck hinunter. Hasard zögerte einen Moment, dann ließ er anluven und nahm Kurs auf das treibende Fahrzeug. Auch auf der „Le Vengeur“ war das Schiff gesichtet worden. Die Karavelle segelte nach Backbord gestaffelt hinter der „Isabella“. Hasard enterte auf den Hauptmars und spähte durch das Okular auf das Fahrzeug. Dann schüttelte er den Kopf und reichte Dan den Kieker. Dan hob den Kieker vor das rechte Auge, schaute hindurch und murmelte: „Verrückt!“ „Siehst du’s auch?“ fragte Hasard. „Ja, eine nackte Frau, sonst nichts.“ Hasard seufzte. „Das sind die Wunder der Karibik.“ „Vielleicht eine Falle“, sagte Dan O’Flynn. „Na, hör mal! Wo soll denn da die Falle sein? Das Schiff ist heute nacht in den Sturm geraten, der Mast ging außenbords, und damit hat es sich.“
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„Und die nackte Frau?“ Dan O’Flynn stierte durch das Okular. „Sie hat ganz schöne Brüste.“ Hasard nahm ihm das Glas weg. „Jede Frau hat Brüste.“ „Weiß ich.“ „Dann ist es ja gut.“ Hasard verbot es sich, jetzt durchs Glas zu spähen. Schließlich hatte er Dan das Ding ja weggenommen. „Die Frau war blond“, sagte Dan O’Flynn. „Blond?’„ „Ja doch.“ Jetzt schaute Hasard doch wieder durch das Okular, weil er eine vage Ahnung hatte. „Tatsächlich“, murmelte er. „Sie ist es.“ „Wer?“ „Alana !“ Hasard lächelte. Jetzt lächelte auch Dan. „Carberry hat mir erzählt, daß du ihr gestern in der Kneipe Perlen gegeben hast, damit sie nach Spanien zurück kann. Mann, ist das ein Zufall. Jetzt kommt sie schneller nach Spanien, als sie denkt.“ „Und ich sagte ihr noch, sie solle aufpassen, daß sie nicht dem Seewolf begegnet — dabei dachte ich an einen fetten spanischen Happen, den wir schlucken, und womit wir wiederum ihre Reise nach Spanien unterbrochen oder verhindert hätten.“ „ „Aus Spaß wird Ernst - immer anders, als man’s gedacht hat“, sagte Dan O’Flynn orakelhaft. „Philosophierst du?“ Dan O’Flynn, schüttelte den Kopf. „Ich mußte gerade an etwas denken -an jenen Tag, als wir zum ersten Male mit der ‚Isabella’ und einer Frachtladung Silber Falmouth anliefen, aber dann wieder verließen, weil Sir John scharf auf das Silber war - er und der verdammte Sir Doughty. Und als wir wieder ausliefen, ganz Falmouth war im Hafen versammelt, da schrie eine Mädchenstimme: ,Drei Hurras für den Seewolf !` Erinnerst du dich noch?“ „Ja, Dan. Gwen war es gewesen, die das gerufen hatte.“ „Richtig - damals war es Spaß, und jetzt ist Gwen tot. Aus dem Spaß wurde tödlicher Ernst. Ich begreife das alles nicht.“
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„Und was hat das mit Alana zu tun?“ fragte Hasard schroff „Eigentlich nichts, es fiel mir nur so ein. Sie hat dich gestreichelt, nicht wahr?“ „Ja, aus Dankbarkeit. Hast du was dagegen?“ „Ich muß immer an Gwen denken“, sagte Dan O’Flynn. „Hör mal, mein Junge“, sagte Hasard leise, „jeder von uns empfindet Schmerz anders ich meine seelischen Schmerz. Aber wer sich in seinen Schmerz verspinnt, der wird krank und vielleicht für das Leben unfähig. Denke einmal darüber nach.“ Dan O’Flynn nickte. Hasard schwang sich über die Segeltuchverkleidung und enterte ab. Die entmastete Schaluppe war noch etwa zweihundert Yards Backbord voraus. „Ben!“ rief Hasard von der Kuhl aus. „Pete soll in den Wind gehen! Geit auf die Segel! Klar zum Bootaussetzen!“ „Aye, aye!“ rief Ben Brighton zurück. Kommandos ertönten. Ed Carberrys dröhnende Stimme schallte über Deck. Hasard blickte zu der Schaluppe. Alana hatte sie erst jetzt bemerkt. Sie schien starr vor Staunen zu sein. Nackt war sie immer noch. Na warte, dachte Hasard. Alana verschwand im Achterdeck. Ein Schott krachte zu. „Weg ist sie“, sagte Ed Carberry enttäuscht. Er stand neben Hasard. Hasard blickte ihn an und räusperte sich nur. Der Profos zuckte zusammen, wandte sich hastig ab und brüllte Smoky an, ob er gedenke, das Boot erst im nächsten Winter zu Wasser zu lassen. „Fier weg das Ding!“ schrie er. „Hurtig, hurtig!“ Smoky grinste nur, während er, Stenmark, Batuti und Luke Morgan das Boot abfierten. „Da gibt’s gar nichts zu grinsen!“ fauchte Ed Carberry. „Nein?“ fragte Smoky und grinste weiter. „Nein, verdammt noch mal!“ „Soll ich vielleicht heulen, wenn ich einen nackten Popo sehe’?“
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„Du - du ...“ „Affenarsch“, ergänzte Smoky und grinste weiter. Hasard drehte sich zu ihnen um, und sie verstummten. „Boot ist klar“, sagte Ed Carberry. „Danke, Ed. Batuti und Sten begleiten mich. Wir holen Alana.“ „Schade“, sagte Ed Carberry enttäuscht. „Was ist schade, Profos?“ „Ich - ich hätte dich gern ‘rübergepullt, Sir.“ Smoky platzte dazwischen. „Kann ich mir denken, du Lustmolch!“ Hasard schüttelte den Kopf. „Wir sprechen uns nachher noch - alle. Aber eins bitte ich mir jetzt schon au s: keine unflätigen Bemerkungen! Haben wir uns verstanden, Smoky, Ed?“ „Aye, aye, Sir.“ Hasard enterte ab und mit ihm Batuti und Stenmark. Sie pullten zu der entmasteten Schaluppe hinüber. Auf der „Isabella“ standen alle Männer am Schanzkleid und sahen zu. Ebenso auf der „Le Vengeur“, die wie die „Isabella“ in den Wind gegangen war und die Segel aufgegeit hatte. Auf der Schaluppe tat sich überhaupt nichts. Hasard wunderte sich. Die Lady sollte sich doch freuen, daß sie jemand von dem Wrack herüberholte. Sie gingen längsseits, vertäuten dass Boot und enterten auf. „Hallo!“ rief Hasard. „Haut ab, ihr Hurenböcke!“ ertönte Alanas Stimme hinter dem Schott. Hasard zog die Augenbrauen hoch. Stenmark und Batuti grinsten sich an. Haut bloß ab!“ schrie Alana. „Ich kann euch nicht mehr sehen, ihr verdammten Halsabschneider aus Tortuga! Ich hab die Schnauze voll von euch verdammten Säcken! Saufen, huren! Nichts anderes könnt ihr! Und die Schnauzen aufreißen! Ich hab hier ‘ne Muskete! Der erste, der hier eindringt, dem blas ich was weg - ‘ne Pistole hab ich auch noch, für den nächsten von euch Mistkerlen!“
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Hasard, Batuti und Stenmark lauschten andächtig. Teufel! Die Lady Alana hatte so richtig Dampf drauf. Hasard grinste und glitt näher an das Schott. „Entschuldigung; Lady“, sagte er sanft. „An Bord meines Schiffes habe ich noch eine. Passage frei - nach Spanien. Zum Beispiel in die Nähe des Guadalquivir, an dem eine gewisse A Lana aufgewachsen sein soll, und wo auch jetzt ein gewisser Valdez lebt.“ Stille. Dann ein Schluchzen. Dann prallte das Schott auf. „Zieh dir was an, Alana!“ sagte Hasard streng. Sie zog sich nichts an. Sie flog aus dem Schott und fiel dem Kapitän Philip Hasard Killigrew um den Hals. Und dieser Kapitän hatte doch allerlei Mühe, Haltung zu wahren, an seine tote Gwen zu denken und den Sturm abzuwehren. Ein Mann ist schließlich ein Mann. Und Alana war weich, roch nach Salz und Wind und frischer Luft und ihre Brüste - na ja. „Anziehen!“ sagte der Seewolf mit heiserer Stimme. Aber da war nichts zum Anziehen. Stenmark, der blonde Schwede, zog schlicht seine Hose aus. Und Batuti entledigte sich seines Hemds. Alana sah aus wie ein zu groß geratener Hampelmann. Stenmark krempelte ihr die Hosen hoch und Batuti legte die Hemdsärmel säuberlich um. Und die ganze Zeit starrte die blonde Alana zu dem schwarzhaarigen Riesen hoch. Und Hasard wunderte sich, wo die alte Alana geblieben war. Konnte sich eine Frau derart verändern? Etwas wurde ihm klar. Das Schicksal hatte gestern abend erbarmungslos zugeschlagen, als Dan ihm die furchtbare Nachricht mitteilte. Aber nahezu gleichzeitig hatte er, Hasard, einem anderem Menschen Glück bringen können — und jetzt noch einmal! Weil er — Zufall oder Schicksal — aufgrund dieser Nachrichten von Jean Ribault Tortuga verlassen hatte, war er jetzt auf diese in der See treibende
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Schaluppe gestoßen und hatte damit verhindern können, daß Alana einen grausamen Tod erlitt. Mehr noch: er konnte sie nach Spanien bringen. War das Glück? Ja, das war es. In Hasards zerrissenes Innere kehrte Frieden ein. Das Glück eines anderen war auch eigenes Glück. Hasard begriff, daß seine eigene Not, sein Schmerz um Verlorenes dennoch ein Gutes zeitigten: das Glück und das Leben eines anderen. Das eine hatte das andere ausgelöst. „Du segelst wirklich nach Spanien, Kapitän Killigrew?“ fragte Alana. „Ich nicht“, sagte Hasard, „aber mein Schiff. Ich segele nach Frankreich — mit der Karavelle, die du dort siehst. Sie ist schneller als meine Galeone. Ich muß nach Frankreich, so schnell wie möglich.“ „Warum?“ „Ich habe dort zwei kleine Söhne, die ihren Vater brauchen, weil ihre Mutter nicht mehr auf dieser Welt ist,“ Alana blickte zu ihm hoch und fragte leise „Deine Frau?“ „Ja.“ „Komm“, sagte Alana. „Wir müssen uns beeilen, Kapitän Killigrew.“ * Hasard führte Alana durch das Spalier seiner Männer über die Kuhl und hinauf auf das Achterdeck der „Isabella“. An der Schmuckbalustrade blieb er mit ihr stehen und wandte sich seinen Männern zu. Er sagte: „Das ist Alana. Ihr kennt sie alle. Sie möchte zurück nach Spanien — zu Valdez, der einmal zu unserer Mannschaft gehörte. Ich möchte daran erinnern, daß es Valdez war, dem wir es vor zwei Jahren zu verdanken hatten, nicht von Caligu und seinen Piraten niedergemetzelt worden zu sein. Alana wird meine Kammer beziehen. Ich werde euch verlassen und an Bord unserer alten ,Isabella VII.’ nach Frankreich segeln. Die Karavelle ist schneller. Ich werde meine Söhne holen und bitte euch, diese meine Entscheidung zu verstehen. Das Kommando über die
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‚Isabella VIII.’ übergebe ich Ben Brighton. Wir werden uns in der langen Flußbucht vor Vigo wiedertreffen, nachdem ihr Alana in Spanien an Land gebracht habt. Ich verlasse mich auf euch. Ihr werdet Alana so begegnen und behandeln, als sei sie eure Schwester, Mutter oder Tochter. Ihr werdet sie als Lady respektieren, damit wir uns ganz klar verstehen. Wem das nicht paßt, der möge es jetzt sagen.“ Niemand sagte etwas. Stattdessen brüllte der eiserne Carberry plötzlich los. „Drei Hurras für den Seewolf!“ Drei donnernde Hurras folgten. Hasard hob die Hand. „Danke, Ed.“ Er lächelte. „Wenn Ben einverstanden ist, könnt ihr ja in Vigo an Land gehen. Ich hab mir sagen lassen, daß dort einige Seewölfe unter der Führung eines gewissen Carberry schon einmal gepirscht und ein Haus entdeckt haben. Gehört es nicht einer Lady Dona Rosa, Ed?“ „Genau“, sagte Ed Carberry verblüfft. „Woher weißt du das?“ „Ed“, sagte Hasard milde, „einigermaßen gute Kapitäne müssen so etwas wissen.“ Carberry war jetzt doch etwas verstört. „Aye, aye, Sir“, murmelte er. Hasards Blick wanderte über die Männer auf der Kuhl. Leise sagte er: „Wir wollten in der Karibik jagen. Und dann bin ich es wieder, der solche Pläne umwirft, weil mich etwas Persönliches betroffen hat und zwingt, auf einmal andere Wege zu gehen. Ich kann nicht verlangen, daß ihr das alles akzeptiert. Dazu habe ich kein Recht. Damals seid ihr mir gefolgt, als ich meinen Vater suchte. Jetzt will ich meine Söhne holen, und wieder kette ich euch an mein persönliches Schicksal. Ich will nicht, daß ihr euer eigenes Leben vergeßt, weil ein Philip Hasard Killigrew einen Weg geht, der nicht euer Weg ist. Ich habe erst jetzt darüber nachgedacht, noch rechtzeitig genug, um es dem einen oder anderen von euch zu ermöglichen, hierzubleiben, wenn er es wünscht. Ich würde ihn sofort zur Schlangen-Insel bringen, wo unsere gemeinsame Beute versteckt ist. Er wäre dort nicht verlassen, weil die Rote Korsarin die Insel wieder anlaufen wird.“
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Hasard schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Will einer von euch hierblieben?“ Smoky trat vor, blickte sich um und schaute dann zu Hasard hoch. Kurz und knapp sagte er: „Nein, Sir.“ Er linste zu Alana, die rechts hinter Hasard stand und fügte hinzu: „Wir bringen sie nach Spanien, verlaß dich drauf, Sir. Und noch etwas, Sir. Wo Smoky Decksältester ist, da hat noch keiner eine Lady beleidigt. Ist das klar, Sir?“ „Aye, aye, Smoky“, sagte Hasard. Leise fügte er hinzu: „Gott beschütze euch.“ Zehn Minuten später zog die Karavelle „Le Vengeur“ unter vollen Segeln nordnordostwärts. Eine Stunde danach hatte sie die „Isabella VIII.“ hinter sich an der Kimm zurückgelassen. Hasard stand am Ruder der Karavelle und war dabei, dem Teufel ein Ohr abzusegeln. * Einer der Männer an Bord der „Le Vengeur“ hieß Gordon McLinn. Er war Schotte, ein breiter Klotz von Mann, nur etwas schwerfällig im Denken. Ein anderer Mann an Bord der Karavelle Jean Ribaults und Karl von Huttens war der Engländer Dave Trooper, ein sehr ruhiger, besonnener Mensch, der sich auch sehr viel Zeit ließ, wenn es etwas zu sagen gab. Aber als die Sonne nach Westen wanderte, sagte er zu Gordon McLinn: „Ich glaub, dieser Seewolf segelt noch schärfer als unser Monsieur Ribault.“ Gordon McLinn nickte gedankenträchtig. Als die Sonne eine Stunde später unter der Kimm versunken war, sagte er zu Dave Trooper: „Ich glaube, dieser Seewolf segelt noch schärfer als scharf. Richtig spitz segelt er, noch spitzer als unser Monsieur Ribault.“ Wiederum eine Stunde später, als Mondlicht über der Karibik lag, sagte Dave Trooper: „Gordon, dieser Seewolf ist ein höllischer Rudergänger, noch höllischer als unser Monsieur Ribault.“ Um Mitternacht entschloß sich Gordon McLinn nach langer Prüfung und tiefem Nachdenken, darauf zu antworten. Er
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sagte: „Dave, du hast ein wahres Wort gesprochen. Dieser Seewolf segelt scharf und spitz und höllisch, viel schärfer und spitzer und höllischer als unser Monsieur Ribault.“ Da sie beide die gleiche Wache gingen, konnten sie sich auch von Wache zu Wache unterhalten und ihre gedankenschweren Überlegungen einander mitteilen. Während der einen Wache, die vier Stunden dauerte, sagte Dave Trooper einen Satz, und während der folgenden Wache, acht Stunden später, hatte dann Gordon McLinn seine Antwort formuliert für die Männer der „Le Vengeur“ ein Quell nie versiegender Heiterkeit, da sie stets um etwa zwölf Stunden diesen beiden Denkern voraus waren. Und was sie alle nach achtundvierzig Stunden längst spitzgekriegt hatten, umkleidete der klotzige, schwerfällige Gordon McLinn schließlich bei der übernächsten Morgenwache zwischen vier und acht Uhr mit den Worten: „Dave, dieser Seewolf ist scharf und spitz und höllisch und der beste Rudergänger, mit dem wir je gefahren sind. Und weißt du noch was?“ „Na?“ fragte Dave Trooper nach einer halben Stunde intensiven Nachdenkens. „Jawohl, er ist ein feiner Kerl, dieser Seewolf“, sagte Gordon McLinn mit schwerer und langsamer Stimme. Als die Morgenwache beendet war, erwiderte Dave Trooper: „Du sagst es, Gordon. Du hast genau den Nagel auf den Kopf getroffen. Ein feiner Kerl, wie?“ Als sie in die Kojen krochen, sagte Gordon McLinn: „Ja.“ Als vier Stunden später die Backschafter das Essen brachten und die beiden aus dem Schlaf purrten, sagte Dave Trooper: „Gordon, mit so einem feinen Kerl sind wir noch nie gesegelt, wie?“ Als Gordon McLinn seine Kumme leer hatte, erwiderte er wütend: „Sag ich doch, Dave, hab ich doch schon gesagt. Oder hörst du mir gar nicht zu?“ „Doch, doch.“ Aber das sagte Dave Trooper erst zwei Stunden später, als sie beide im Vordeck Reinschiff machten.
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Der Hafen von Crozon lag im nördlichen Bogen der Baie de Douarnenez an der Küste der Bretagne. Die Crozoner lebten vom Fischfang, einige vom Küstenhandel und ein paar gingen dem etwas unregelmäßigen, dabei aber gefährlichen Geschäft der Freibeuterei nach. Insgesamt aber war Crozon ein durchaus friedliches Fischernest, dessen Lebensrhythmus von der See bestimmt wurde. Das kleine Häuschen der Fucárs war eins der letzten am Ortsrand. Es duckte sich hinter die Klippen, die einen natürlichen Windschutz darstellten. Vor den Klippen war ein breiter Sandstrand, auf den Marcel Fucár wie viele andere auch sein Boot hinaufzog. Es ersparte ihm den Weg zum Hafen, wo an den Molen und Stegen sowieso meist die größeren Boote und Küstensegler vertäut waren. Marcel Fucár war ein schweigsamer Mann über fünfzig, weißhaarig, von kräftiger Statur, wettergegerbt. Schweigsam war er geworden, als sein einziger Sohn auf See geblieben war. Auch seine Frau, Jeanne Fucár, hatte der Verlust des Sohnes tief getroffen. Sie war nur wenig jünger als Marcel. Manchmal wünschte sie, mehr Kinder zur Welt gebracht zu haben. Aber das hatte der Herrgott wohl anders geplant. Umso mehr lebten Marcel und Jeanne auf, als vor einigen Monaten Jean Ribault aufgetaucht war und ihnen zwei kleine Jungen gebracht hatte, die einander wie ein Ei dem anderen glichen. Entsetzt hatten sie damals vernommen, daß die Mutter der beiden in einem Sturm umgekommen und der Vater nahezu unerreichbar in die Karibik gesegelt sei. Jean Ribault hatte auch einen Arzt aus Plymouth mitgebracht, einen guten Freund der Eltern der beiden kleinen Jungen, der wegen böser Verleumdung und Intrigen für einige Zeit außer Landes hatte gehen müssen. O ja, Monsieur Freemont war ein feiner Mann, ein gütiger und sehr kluger
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Mensch. Auch ihn hatten die beiden Fucárs bei sich aufgenommen. Und sie waren deswegen froh, denn das Zwillingspärchen schien es darauf angelegt zu haben, die üblichen Kinderkrankheiten in einem Rutsch hinter sich zu bringen. Zur Zeit waren es die roten Flecken auf den kleinen Körpern, verbunden mit Fieber. Die beiden brüllten um die Wette. Sie taten überhaupt alles gemeinsam. Wenn der eine schlief, schlief auch der andere. Wenn der eine die Windeln voll hatte, dufteten prompt auch die Windeln des anderen. Ein Witz war, daß der eine am Daumen des anderen nuckelte und umgekehrt. Es waren kräftige Kerlchen, trotz der Krankheiten. Ein Problem war, wie man die beiden auseinanderhalten sollte. Wer war nun Philip, und wer war Hasard? Das mußte noch mit Monsieur Freemont besprochen werden. Sorgen hatten die Fucárs nicht mehr, jedenfalls keine finanziellen Sorgen. Denn Jean Ribault hatte sich sehr großzügig gezeigt. An diesem Morgen im Spätjuli hatte Doc Freemont seinen täglichen Spaziergang am Strand und an der Küste entlang unternommen. Später würde er sich um einen Kranken kümmern, einen Fischer, der sich beim Netzhochziehen die Hand an einer Muschel verletzt hatte. Die Fähigkeiten des Arztes hatten sich schnell in Crozon und den anderen Fischerdörfern an der Küste herumgesprochen. Genau das war das Verhängnis. * Die beiden Gentlemen aus England hatten nur einen vagen Hinweis gehabt, wohin der verdammte französische Freibeuter die beiden Bälger der Gwendolyn Bernice Killigrew gebracht hatte. Daraufhin hatten sie seit drei Wochen systematisch die Orte an der bretonischen Küste abgesucht und vor vier Tagen aufgehorcht, als sie von dem englischen Arzt hörten, der seit einiger Zeit in Crozon weile — bei den Fucárs. Alles weitere war fast zu einfach gewesen.
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Die verhangene Kutsche, die an diesem Julimorgen durch Crozon rollte, erregte zwar einige Aufmerksamkeit, aber die Crozoner hielten nichts davon, allzu neugierig zu sein oder ungebührliche Fragen zu stellen. Dem Kutscher, der sich nach dem Haus der Fucárs erkundigte, gab man höflich Antwort. Vielleicht war in der Kutsche ein Kranker, der zu dem Arzt gebracht werden sollte. Die Kutsche rollte weiter und wurde zu dem Haus der Fucárs gelenkt. Nebenan hatte der alte Frederic sein Häuschen. Er saß zu dieser Zeit auf der Bank an der windschiefen Haustür und genoß den sonnigen Morgen. Die Kutsche war mal eine Abwechslung, eh? Vom Strand kehrte Marcel Fucár zurück. Er hatte dort ein paar Netze zum Trocknen aufgehängt und wollte jetzt frühstücken. Verwundert betrachtete er die Kutsche, als er näher trat. Aus dem Schlag stiegen zwei Männer, sehr gut und vornehm angezogen. Der eine war dürr und mager. Ein Ziegenbart zierte sein Gesicht. Der andere war untersetzt, hatte fleischige Wangen und ein massives, gespaltenes Kinn. Die beiden Männer blickten sich um, etwas unruhig und irgendwie mißtrauisch, wie es Marcel erschien. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte er höflich. „Wir möchten zu Monsieur Fucár“, sagte der Mann mit dem Ziegenbart, der niemand anderes als Baldwyn Keymis, ehemaliger Friedensrichter von Falmouth, war. Und der andere Gentleman war der degradierte Hauptmann der englischen Armee Isaac Henry Burton. „Der bin ich“, sagte Marcel Fucár. „Ah, sehr schön“, sagte Baldwyn Keymis, beugte sich vor und fügte leise hinzu: „Wir haben eine vertrauliche Mitteilung für Sir Freemont. Er wohnt doch bei Ihnen, nicht wahr?“ „Allerdings.“ Marcel Fucár gefielen die beiden Männer nicht. „Dürfte ich fragen, wer Sie sind?“‘ Baldwyn Keymis zog arrogant eine Augenbraue hoch und räusperte sich. „Fragen dürfen Sie zwar, lieber Mann, aber
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ich sagte bereits, daß unsere Mission vertraulicher Art ist. Da müssen Sie schon verstehen, daß wir nicht unsere Namen nennen können.“ Marcel Fucár sagte: „Monsieur Freemont ist spazieren gegangen.“ Die beiden Männer warfen sich einen schnellen Blick zu. Baldwyn Keymis räusperte sich wieder und sagte: „Dürften wir ihn in Ihrem Haus erwarten, guter Mann?“ „Bitte sehr“, brummte Marcel Fucár — recht war ihm das gar nicht, aber er wollte nicht unhöflich sein. Vielleicht hatten die beiden wirklich eine wichtige Nachricht für Monsieur Freemont, obwohl Marcel sich nicht vorstellen konnte, daß der vornehme Monsieur Freemont mit solchen Menschen Verbindung hatte. Sie paßten nicht zu ihm. Er ließ die beiden eintreten und rief seiner Frau in der Küche zu, daß zwei. Besucher für Monsieur Freemont erschienen ‘seien. Dann ließ er die beiden in der Wohnstube Platz nehmen und bot ihnen Cidre an. Die beiden lehnten ab. Dann eben nicht, dachte Marcel Fucár. Jeanne Fucár verließ die Küche, ging durch die Wohnstube, grüßte die beiden unbekannten Männer mit einem Kopfnicken und betrat die Kammer, wo Philip und Hasard in einem großen Korb schliefen, jetzt aber zu ihrem morgendlichen Gebrüll ansetzten. Sie mußten gewickelt und gefüttert werden. Außerdem hatte Monsieur Freemont angeordnet, die roten Flecken nach dem Waschen gut zu pudern. „Oh“, sagte Baldwyn Keymis höhnisch. Dann lachte er meckernd. „Das sind doch sicher die lieben Kleinen von Mister Killigrew, nicht wahr?“ Marcel Fucár schwieg. Er wunderte sich. Dieser Mann mit dem Ziegenbart schien gut informiert zu sein. „Ich fragte Sie etwas, guter Mann“, sagte Keymis scharf. „Und ich gebe Ihnen darauf keine Antwort, Monsieur“, erwiderte Marcel Fucár. „Ich wüßte auch nicht, warum. Sie wollten Monsieur Freemont sprechen - vertraulich,
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wie Sie betonten. Dann bitte ich Sie zu verstehen, daß auch ich Vertraulichkeit zu wahren habe.“ „Werden Sie nicht frech, guter Mann“, sagte Keymis. „Der braucht was auf die Schnauze“, sagte Burton. „Im übrigen sind er und die Alte sowieso überflüssig, also was soll’s! Bringen wir es hinter uns.“ Er stand langsam auf und griff unter seinen Umhang. Marcel Fucár stand wie gelähmt. Waren die beiden verrückt geworden? Er starrte in die Mündung einer Pistole, die der untersetzte Mann auf ihn gerichtet hatte. „Marsch, in die Küche“, befahl Burton. „Und keinen Mucks, Alter, sonst ist deine Alte sofort tot, verstehst du?“ Marcel Fucár nickte. Sein wetterhartes Gesicht war fahl geworden. Langsam setzte er sich in Bewegung. Burton folgte ihm und drückte ihm die Pistole in den Rücken. Sie betraten die Küche. Baldwyn Keymis trällerte ein Liedchen und beobachtete die Kammertür, hinter der die Frau verschwunden war. Burton wechselte die Pistole in die Linke, als er das Küchenmesser auf dem Tisch entdeckte. „Dort an die Wand, Alter“, sagte er leise. Er griff mit der Rechten nach dem Messer und schob den Franzosen weiter bis zu der Wand. „Arme hoch und die Wand stützen“, befahl er grinsend. Marcel Fucár hob die Arme. So empfing er den Stich von hinten ins Herz. Burton fing ihn auf und ließ ihn zu Boden gleiten. Marcel Fucár ächzte leise. Dann streckte er sich. Burton stieß ihn mit dem Stiefel an. Aber Marcel bewegte sich nicht mehr. Aus seinem Rücken ragte das Messer. Burton verließ grinsend die Küche und nickte seinem Kumpan zu. „Jetzt die Alte“, sagte er. Keymis kicherte. „Das erledige ich. Paß an der Tür auf. Freemont könnte zurückkommen.“ Burton nickte und ging zu der Haustür.
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Keymis riß eine Kordel von einer Portiere und versteckte sie unter seinem Umhang. Dann schlich er zu der Kammertür, drückte sie leise auf und betrat die Kammer. „Bist du es, Marcel?“ fragte Jeanne Fucár. „Nein, ich“, erwiderte Keymis. Die Frau drehte sich verwundert um. Sie hatte Philip gerade auf dem Wickeltisch, um ihn zu pudern. Hasard war bereits versorgt und lag wieder in dem Korb. Keymis starrte auf das nackte Körperchen des Jungen und schluckte. Was waren das für rote Flecken, verdammt? „Ist der Bengel krank?“ fragte er. Die Frau musterte ihn. „Ja“, sagte sie knapp. „Ist das ansteckend?“ „Für Kinder ja, für Erwachsene weniger, falls sie als Kinder diese Krankheit gehabt haben.“ Baldwyn Keymis wußte nicht, ob er als Kind rote Flecken gehabt hatte. Teufel! Das warf ihren ganzen Plan um. Keymis fluchte. „Ist das eine gefährliche Krankheit?“ Jetzt wurde Jeanne Fucár allmählich mißtrauisch. Was wollte dieser ziegenbärtige Mann? „Warum interessiert Sie das?“ fragte sie. „Hier stelle ich die Fragen“, schnarrte Keymis. „Also antworten Sie gefälligst.“ „Monsieur Freemont ist Arzt. Zu ihm wollten Sie doch, nicht wahr? Also fragen Sie ihn. Er wird Ihnen besser als ich erklären können, wie gefährlich oder ungefährlich diese Krankheit ist. Dürfte ich Sie jetzt bitten, die Kammer zu verlassen, Monsieur. Ich muß mich um die Kleinen kümmern.“ „Ist das andere Balg auch krank?“ fragte Keymis wütend. Jeanne Fucár blitzte ihn an. „Wie sprechen Sie denn von dem Kind?“ sagte sie empört. „Maul halten!“ fauchte Keymis. „Ist der Bastard krank oder nicht?“ „Ja, der Junge ist ebenfalls krank, und jetzt verschwinden Sie, Monsieur oder ich rufe meinen Mann!“ Keymis stieß ein höhnisches Lachen aus. „Ihren Mann? Dann tun Sie’s doch! Na los! Rufen Sie!“
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Die Frau erbleichte. Dann schrie sie: „Marcel!“ Keine Antwort. Hastig legte sie den kleinen Philip ungewickelt ins Körbchen zurück –und genau das hatte Keymis erreichen wollen, um das Kind nicht anfassen zu müssen. Die Frau stürzte zur Tür. Keymis glitt zur Seite und holte die Kordel hervor. Alles ging blitzschnell. Kaum war Jeanne Fucár an ihm vorbei, warf er ihr die Schlinge über den Kopf, zog sie mit einen kräftigen Ruck zusammen und erdrosselte die Frau. Als ihre Zuckungen vorüber waren, schleppte er sie an der Kordel hinter sich her in die Küche und ließ sie neben dem Leichnam ihres Mannes fallen. In der Kammer brüllten Philip und Hasard um die Wette. Keymis eilte aus der Küche und knallte die Kammertür zu. Dann kehrte er in die Küche zurück, öffnete einen Vorratsschrank, fand was er suchte, nämlich eine Flasche mit Apfelschnaps, goß sich ein Glas voll und schüttete es mit einem Zug herunter. „Mir auch“, sagte Burton von der Tür her. Er trank gleich aus der Flasche. Gute Manieren hatte er noch nie gehabt, obwohl er einmal Offizier gewesen war. Jetzt war er nur noch ein verkommenes Subjekt. * Anthony Abraham Freemont, ein grauhaariger, schlanker Mann mit klugen, grauen Augen, einer geraden Nase und einer hohen Stirn, verließ den Strand. Er war barfuß gewesen und hatte seine Schuhe in den Händen getragen. Jetzt setzte er sich auf das Dollbord von Marcels Boot, reinigte die Füße von dem anhaftenden Sand und zog sich Strümpfe und Schuhe wieder an. Verwundert betrachtete er dabei die Kutsche, die vor Marcels Häuschen stand. Besuch? Von wem? Er stapfte die Klippen hoch, ging an der Kutsche vorbei, nickte dem Kutscher zu, durchquerte den kleinen Vorgarten und betrat das Häuschen.
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Die Tür zur Küche stand sperrangelweit offen. Auf den Fliesen lagen Marcel und Jeanne Fucár. Aus dem Rücken Marcels ragte der Griff eines Küchenmessers. Jeannes Gesicht war verquollen und hatte einen entsetzlichen Ausdruck. Auch sie war tot. In der Kammer brüllten die Zwillinge. Sir Freemont stand wie erstarrt, unfähig, das grausige Bild mit dem Verstand zu erfassen. Unbewußt ging er zwei Schritte weiter auf die Küche zu, wie in Trance. Er schloß die Augen und öffnete sie wieder. Das grausige Bild blieb. Es würde immer auf seiner Netzhaut bleiben. Jemand glitt hinter ihm. Sir Freemont zuckte zusammen. „Wenn Sie jetzt das Maul aufreißen, sind Sie ein toter Mann, Freemont“, sagte eine kalte Stimme hinter ihm. Ein zweiter Mann trat hinter einem Schrank hervor. Baldwyn Keymis! „Einen wunderschönen guten Morgen“, sagte Baldwyn Keymis mit einem höhnischen Grinsen in dem ziegenbärtigen Gesicht. Er rieb sich die dünnen Finger. Es klang, als knacke morsches Holz. „Hatten Sie einen angenehmen Spaziergang, Sir?“ Der Arzt stöhnte auf. „Sind Sie wahnsinnig, Keymis? Zwei anständige, gute und ehrliche Menschen umzubringen? Sind Sie des Teufels?“ „Nun mal schön langsam, Freemont“, sagte Baldwyn Keymis. „Hier stelle ich die Fragen - die Alte da hat das auch nicht kapiert, na ja, Fischerpack, Mob, Gesindel.“ Das grinsende Gesicht verschwamm vor Sir Freemonts Augen. Er schwankte. Sein Atem ging stoßweise. „Der kippt gleich um“, sagte Keymis. „Schieb ihn da auf den Stuhl, Burton.“ Jemand stieß ihn vorwärts und drückte ihn auf einen Stuhl. Dann klatschte ihm Wasser ins Gesicht. Sir Freemont holte tief Luft und wischte sich über die Augen. Das Bild wurde wieder klarer. Burton! Der Mann mit dem brutalen Gesicht eines Schlächters hielt eine Pistole in der Hand.
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Seine blaßblauen Augen waren so kalt wie die eines toten Fisches. „Was — was wollen Sie?“ stieß Sir Freemont hervor. „Na, endlich können wir zur Sache kommen.“ Baldwyn Keymis strich siel über den Ziegenbart. „Wo ist der Pirat Killigrew?“ Sir Freemont richtete sich in dem Stuhl auf. „Wie soll ich das wissen? Er st aus Plymouth mit unbekanntem Ziel weggesegelt, mehr ist mir nicht bekannt. Mußten Sie deshalb zwei unschuldige Menschen umbringen?“ Keymis’ Augen wurden schmal. „Wo ist der Schatz?“ „Was für ein Schatz?“ „Die Beute, die der Pirat Killigrew versteckt hat.“ „Ich weiß nichts von einem Schatz. Was er von den Spaniern erbeutet hat, wurde der Königin übergeben.“ Keymis lachte höhnisch. „Das glauben Sie doch wohl selbst nicht, Freemont.“ „Philip Hasard Killigrew heißt ja nicht Baldwyn Keymis oder Burton“, sagte Sir Freemont. Burton riß ihn hoch und schlug ihm mehrmals den Handrücken über das Gesicht. Dann stieß er ihn wieder auf den Stuhl. Die Lippen des Arztes waren aufgeplatzt. Er wischte sich das Blut weg. „Aus dem kriegst du nichts heraus, Keymis“, sagte Burton. „Das beste ist, wir servieren ihn ebenfalls ab.“ „Und die beiden Bälger? fauchte Keymis. „Die sind krank. Wenn sie krepieren, haben wir kein Druckmittel mehr, du Idiot.“ Sir Freemont horchte auf. Er hatte keinen Cent mehr für sein Leben gegeben. Aber jetzt schien sich doch eine Chance zu bieten. Hasards Jungen waren seine Lebensversicherung. „In ein paar Tagen sind die wieder gesund“, sagte Burton. „Ach, und wer spielt das Kindermädchen? Du vielleicht? Ich bestimmt nicht. Ich hab keine Lust, mich an den Bälgern anzustecken. Schau dir den einen doch an!
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Der hat lauter rote ‘Flecken am Körper. Die Alte sagte, der andere sei auch krank.“ „Scheiße“, sagte Burton. „Ich faß die Bälger auch nicht an, ich bin doch nicht verrückt. Du hättest die Alte eben nicht abmurksen sollen, du Klugscheißer!“ „Die Alte ist kein Arzt, aber Freemont ist einer. Und deshalb brauchen wir ihn.“ Er starrte Sir Freemont an. „Was ist das für eine Krankheit?“ Sir Freemont wiegte den Kopf. „Gründlich erforscht ist sie noch nicht. In England sterben von den Kindern, die diese roten Flecken aufweisen, durchschnittlich vierzig bis fünfzig Prozent.“ „Und Erwachsene?“ „Wenn Erwachsene als Kinder diese Krankheit nicht gehabt haben, sieht’s noch schlimmer aus. Haben Sie als Kind diese roten Flecken gehabt, Keymis?“ „Weiß ich nicht.” „Und Sie, Burton?“ Der zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ Sir Freemont lehnte sich zurück und kreuzte die Arme über der Brust. „Ich hatte die Krankheit bereits“, sagte er kühl: „Und zwar ziemlich heftig. Nach den roten Flecken stellen sich eine Art Pusteln ein, die zu nässen anfangen und Hautjucken verursachen. Die Kinder kratzen dann. Dadurch geraten Schmutzteile in die Pusteln, dann entwickelt sich Eiter ...“ „Hören Sie auf!“ fauchte Baldwyn Keymis. „Ich dachte, Sie wollten etwas über die Krankheit wissen, Keymis“, erwiderte Sir Freemont. „Natürlich“, sagte Keymis nervös und zerrte an seinem Ziegenbart. „Ist die Krankheit ansteckend?“ „Sehr sogar. „Verflucht!“ Keymis holte sich die Flasche mit dem Apfelschnaps, goß sich ein und trank hastig. Dann drehte er sich wieder zu Sir Freemont um. „Packen Sie alle Klamotten der Bälger, Windeln, Puder, was weiß ich! Sie werden mit uns kommen.“ „Und wohin?“
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„Wohin, wohin!“ Keymis meckerte häßlich. „Dorthin, wohin sich der Pirat Killigrew bestimmt nicht wagt. Nach Spanien. Mein Freund Burton hat dort gute Bekannte.“ „Kann ich mir denken“, sagte Sir Freemont trocken. „Ich nehme an, Sie wollen Kapitän Killigrew erpressen.“ „Richtig.“ „Und wie wollen Sie Verbindung mit ihm aufnehmen? Wenn man jemanden erpressen will, muß man ja zunächst einmal wissen, wo er sich aufhält.“ „Das lassen Sie nur unsere Sorge sein. Wenn der Pirat erfährt, daß seine ‘Bälger verschwunden sind, wird er schon genug Krach schlagen, daß wir’s hören.“ „Davon bin ich allerdings auch überzeugt“, sagte Sir Freemont. „Und Sie tun mir schon heute leid, Keymis.“ „Der redet zuviel“, knurrte Burton böse. „Soll ich ihm noch was auf die Schnauze geben?“ „Stehen Sie auf, Mann!“ stieß Keymis hervor. „Packen Sie jetzt, und dann holen Sie die Bälger. Und versuchen Sie ja keine Tricks, sonst geht’s ab in die Hölle.“ Sir Freemont stand auf. „Und Sie haben keinen Arzt mehr, nicht wahr? Spielen Sie sich doch nicht so auf, Keymis. Sie sind auf mich angewiesen. Zwei tote Kinder nutzen Ihnen nichts mehr. Ich gehe mit, als Arzt und weil sich jemand um die beiden Jungen kümmern muß, die keine Mutter mehr haben.“ „Ich fang gleich an zu heulen“, sagte Burton roh. Sir Freemont blickte ihn nur kalt an, wandte sich ab und ging in die Kammer. Burton folgte ihm, die Pistole weiterhin im Anschlag. Eine halbe Stunde später verließen sie das Häuschen. Sir Freemont trug die beiden Jungen, die, vom Brüllen erschöpft, eingeschlafen waren. Er hatte sie in Decken gewickelt, aus denen nur ihre Köpfe, herausschauten. Der alte Frederic, der auf der Bank vor seinem Haus eingenickt war, wachte auf und blinzelte in die Sonne. Er sah zu, wie der eine Mann die Haustür schloß und die
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drei Männer zu der Kutsche gingen. Monsieur Freemont trug die beiden Kleinen. Na, vielleicht mußten sie ins Spital, die armen Würmer. Mit solchen Krankheiten war ja nicht zu spaßen. „Zur spanischen Grenze und dann nach Valencia!“ rief der dürre Mann zu dem Kutscher hoch. Dann verschwanden die drei Männer samt der beiden Jungen in der Kutsche, und der Schlag krachte zu. Der Kutscher wendete und lenkte das Gefährt zu der Wagenstraße, die landeinwärts führte. Der alte Frederic nickte wieder ein. Alte Männer brauchen viel Schlaf - wie kleine Kinder. * Man fand die beiden Toten- erst drei Tage später. Da war es Frederic aufgefallen, daß sich keiner der beiden Fucárs mehr gezeigt hatte. Außerdem war ihre Katze jaulend und miauend ständig um das Häuschen gestrichen, über niemand hatte ihr geöffnet. Die Menschen von Crozon waren entsetzt. Der Gendarm ritt zu den nächsten Dörfern, um Erkundigungen einzuziehen. Ja, die Kutsche war nach Süden gefahren - aber mit drei Tagen Vorsprung. Die holte niemand mehr ein. Marcel und Jeanne Fucár wurden auf dem Friedhof von Crozon beigesetzt, Seite an Seite. Weil sie zwei kleine Jungen aufgenommen hatten, mußten sie sterben. Aber das wußten die Menschen von Crozon nicht. Der Mord war ein dunkles Rätsel. 9. In der zweiten Augustwoche 1581 lief die „Le Vengeur“ in die Baie de Douarnenez ein und warf vor Crozon den Anker. Es war ein herrlicher Spätsommertag. Jean Ribault ließ ein Boot aussetzen und pullte mit Hasard zum Strand hinüber, dorthin, wo das Häuschen der Fucárs stand. In Hasards eisblauen Augen glitzerte frohe Erwartung.
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„Aufgeregt?“ fragte Jean Ribault lächelnd. Er saß auf der Ruderducht und pullte. „Und wie“, erwiderte Hasard. „Mein Gott.“ Er rechnete an den Fingern nach. „Jetzt sind die beiden über zehn Monate alt. Ob sie schon laufen?“ „Nach zehn Monaten?“ Jean Ribault grinste. „Das müßten schon Wunderknaben sein.“ „Sind sie ja auch“, sagte Hasard erbost. Dann lächelte er. „Entschuldige, Jean. Natürlich sind sie keine Wunderknaben.“ Er blickte sich um. „Es ist schön hier. Ein feiner Platz für die Jungen. Wasser, Strand, Sonne, herrlich.“ Sein braungebranntes, scharfgeschnittenes Gesicht leuchtete. „Ja, Frankreich ist schön“, sagte Jean Ribault leise. Er blickte über die Schulter. „Dort, das kleine Häuschen hinter den Klippen, da wohnen die Fucárs.“ Hasard reckte den Hals. Plötzlich hörte Jean Ribault zu pullen auf. Sie blickten beide zu dem Häuschen. „Merkwürdig“, murmelte Jean Ribault. „Die Fensterläden sind geschlossen.“ Er drehte sich wieder um und ruderte an. Jetzt zog er die Riemen härter durchs Wasser. Er trieb das Boot auf den Strand. Sie sprangen in den Sand und zogen das Boot höher. Dann liefen sie zu den Klippen hoch und zu dem Häuschen. Fast zugleich blieben sie stehen. Der Vorgarten sah aus, als sei er lange nicht mehr gepflegt worden -Unkraut, vertrocknete, verblühte Blumen, wucherndes Gras mit hohen Rispen. Das Gartentor war verschlossen. Jean Ribault flankte über den Zaun und ging zur Haustür. Auch die war verschlossen. Er klopfte - und wußte bereits, daß niemand öffnen würde. Dieses Haus war tot. „Hallo, Monsieur Ribault!“ rief eine hohe Greisenstimme. Jean Ribault wandte sich um. Ah, da saß ja der alte Frederic auf seiner Bank vor dem Haus und wärmte sich wie eh und je in der Sonne. Jean Ribault flankte über den Zaun zurück, winkte Hasard zu und ging mit ihm zum Nebenhaus.
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„Suchen Sie Marcel und Jeanne?“ fragte Frederic. „Ja.“ „Die liegen oben auf dem Friedhof“, sagte Frederic und. deutete mit dem Daumen hinter sich.. „Auf dem Friedhof?“ fragte Jean Ribault ungläubig. „Auf dem Friedhof“, sagte Frederic und nickte wichtig. „Und ich hab die Mörder gesehen, Monsieur Ribault. Ich als einziger.“ Er nickte wieder. „Ganz dicht hab ich sie gesehen.“ „Die Mörder?“ fragte Jean Ribault tonlos. Er wechselte einen Blick mit Hasard, dessen Mund zu einem schmalen Strich geworden war. „Was ist mit den beiden Jungen?“ stieß Hasard hervor. Frederic blinzelte zu ihm hoch. _Wer sind Sie, Monsieur?“ „Der Vater der beiden Jungen“, sagte Jean Ribault hastig. „Um Gottes willen. Frederic, nun rede doch schon. Was ist mit den beiden Jungen?“ „Die Mörder haben sie mitgenommen“, sagte Frederic. „Und was ist mit Monsieur Freemont, dem Arzt?“ „Den haben sie auch mitgenommen“, sagte Frederic. „Er hatte die beiden Würmchen im Arm. Den einen rechts, den anderen links. So!“ Er zeigte es. „Schön eingewickelt in Decken. Nur die Köpfchen schauten heraus.“ Jean Ribault stöhnte. „Der Arzt ist mitgegangen, sagst du?“ Frederic lächelte listig. „Natürlich. Hätte ich auch getan.“ „Wieso?“ „Weil die Würmchen krank waren, deswegen. Sie hatten die roten Flecken. Und da muß ein Arzt doch auf - passen, oder?“ Hasard biß die Zähne zusammen, um nicht laut schreien zu müssen. Unbewußt öffneten und schlossen sich seine Hände. „Frederic“, sagte Jean Ribault und zwang sich, ruhig zu sprechen. „Erzähl uns das mal ganz genau. Von Anfang an. Wir müssen alles wissen, um die Mörder und
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die Kinder sowie Monsieur Freemont zu finden, verstehst du? Jede Einzelheit ist wichtig für uns.“ Frederic nickte und dachte nach. „Ja“, sagte er nach einer Weile. „Das war so. Eines Tages, am Morgen, fuhr eine Kutsche vor das Haus von Marcel und Jeanne. Es war in den letzten Julitagen. Zwei Männer stiegen aus. Marcel kam gerade von den Netzen. Sie sprachen miteinander und gingen dann zusammen ins Haus. Später erschien Monsieur Freemont, der morgens immer einen Spaziergang unternahm. Noch später verließen die beiden Fremden mit Monsieur Freemont und den beiden Würmchen wieder das Haus und stiegen in die Kutsche in. Der eine rief dem Kutscher zu: ,Zur spanischen Grenze und dann nach Valencia!’ Danach fuhr die Kutsche ab. Drei Tage später fiel mir auf, daß sich Marcel und Jeanne nicht mehr gezeigt hatten und ihre kleine Katze so jammerte. Da ließ ich den Gendarm rufen.“ Frederic schluckte. „Marcel war von hinten mit einem Küchenmesser erstochen worden. Jeanne hatten die Fremden erdrosselt — mit einer Kordel.“ Eine Weile blieben Jean Ribault und Hasard stumm, zutiefst aufgewühlt von dem, was der alte Frederic berichtet hatte.
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Dann fragte Hasard: „Können Sie uns die beiden Fremden beschreiben, Monsieur?“ Frederic nickte. „Der eine hatte ein Geiergesicht und einen Ziegenbart. Der andere war untersetzt und hatte ein fleischiges Gesicht. Das Kinn hatte eine tiefe Kerbe.“ „Keymis und Burton“, sagte Hasard tonlos. „Und meine beiden Jungen sowie Doc Freemont sind in ihrer Gewalt. Sie haben gemordet, diese beiden Verbrecher, zwei unschuldige Menschen haben sie umgebracht, hinterrücks und heimtückisch — die Frau mit einer Kordel erdrosselt. Was für Bestien!“ Er blickte zu dem vereinsamten Häuschen hinüber. „Wie haben sie die Fucárs finden können, Jean?“ „Ich weiß es nicht“, sagte Jean Ribault ratlos. „Ich weiß es wirklich nicht.“ „Spanien, Valencia“, sagte Hasard wie zu sich selbst. „Das ist auf Burtons Mist gewachsen. Er hat dort seine Beziehungen, der Lump.“ Er straffte sich. „Vielen Dank, Monsieur. Sie haben uns wirklich geholfen.“ Eine halbe Stunde später ging die „Le Vengeur“ ankerauf und verließ die Bucht. Sie nahm direkten Kurs auf Kap Finisterre…
ENDE