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Klappentext: Natürlich sind Astron die wichtigsten Umstände bekannt. Mit vierzehn Jahren weiß man eben, daß das Raumschiff fünf Kilometer lang ist, einen Photonenantrieb auf Annihilationsbasis besitzt, mit einem Drittel der Lichtgeschwindigkeit fliegt und von der Proxima Centauri zum Sonnensystem zurückkehrt. Auch daß er auf der Neogäa, dem siebzehnten Planeten der Proxima, geboren und von ergrauten Wissenschaftlern unterrichtet und erzogen wurde, ist ihm durchaus bewußt. Aber wie seine Eltern waren, daran kann er sich nicht mehr erinnern. Erst als er den Bericht erhält, zu dem alle Besatzungsmitglieder beigetragen haben, erfährt Astron, wie seine Mutter mit letzter Kraft das Leben der Kosmonauten gegen die Magnetwirbel der kosmischen Wolke verteidigte und wie sein Vater, wortkarg und willensstark, den leichtsinnigen Tanz im Flammenwald verhinderte. Und er weiß nun, warum die Eltern in der furchtbaren Antimaterie-Katastrophe die Chance des Überlebens ausschlugen und den Tod wählten. Mit dem Mittel der utopischen Wirklichkeitsüberschreitung zeichnet der bulgarische Schriftsteller das moralische Antlitz von Menschen des kosmischen Zeitalters. Der Leser entdeckt Einzelheiten, die ihm bereits aus der Gegenwart vertraut sind, aber auch Züge, deren fremdartige Neuheit ihn fesselt.
DIMITER PEEW - Das Photonenraumschiff
Dimiter Peew Das Photonenraumschiff Utopische Erzählung
Verlag Das Neue Berlin
Originalausgabe: Sofia 1964 Aus dem Bulgarischen von Hartmuth Herboth
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage - 1968 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/21/68 - ES 8 C Lektor: Ekkehard Redlin Umschlag- und Einbandentwurf: Klaus Ensikat Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30
Dieses Buch spielt in der fernen Zukunft zu einer Zeit, in der die Menschheit die Fahrt zu den Sternen außerhalb unseres Sonnensystems antreten wird. Die Menschen werden neue, ungewöhnliche Probleme zu bewältigen haben – Antimaterie produzieren, mit Lichtgeschwindigkeit reisen, seltsame Welten und tote Planeten erobern. Welche Wissenschaften werden es uns ermöglichen, in die Sternenräume zu fliegen? Wie müssen Menschen beschaffen sein, die in der Lage sind, jahrelang durch das Weltall zu jagen, die Erinnerung an die heimatliche Erde im Herzen? Welche Gefahren lauern in den unbekannten Welten auf sie? Das sind die Fragen, die den Menschen unseres Jahrhunderts bewegen.
Heute ist der Tag, an dem ich einen neuen Namen bekommen müßte: Ich bin vierzehn Jahre alt geworden. Aber ich möchte den Namen behalten, den mir meine Eltern gegeben haben – Astron! Kann ich ihn denn so einfach aufgeben, den Namen des ersten Menschen, der außerhalb des Sonnensystems geboren wurde, auf der Neogäa, unter der kirschroten Sonne! Atair hat mir erklärt, daß er der Sprache eines längst entschwundenen Volkes entstammt, welches vor Jahrtausenden auf dem Blauen Planeten wohnte. Er bedeutet soviel wie "der von den Sternen". Wer hätte wohl ein größeres Recht, ihn zu tragen, als ich. Die Welt, von der ich herkomme, liegt schon weit zurück. Vor mir, im schwarzen Kreis des Teleskops, leuchtet meine neue Sonne, ein Stern der Spektralklasse d G-3. Und neben ihm, kaum zu sehen, schimmert ein blaues Pünktchen – mein Planet, die Erde. Mein Planet? Ich bin der einzige an Bord, der ihn nicht als seine Heimat bezeichnen kann. Dort leben Milliarden von Menschen, mehrere hundert Millionen Jungen in meinem Alter. Ob sie mir
tatsächlich ähneln? Gibt es überhaupt so unvorstellbar viele Menschen? Gewaltige blaue Ozeane soll es dort auf der Erde geben, mächtige schneebedeckte Gebirge, Bäume und unendlich viel bunte Blumen. Überall ist Luft so durchsichtig und rein wie hier im Innern des Raumschiffes. Der Himmel sieht nicht schwarz aus, sondern lazurenblau, er wölbt sich hoch empor, und weiße Wolken ziehen an ihm dahin. Achtundzwanzig Lichttage trennen uns noch von dort. In vierhundertvierzig Tagen wird das Raumschiff auf dem vorherbestimmten Asteroiden landen. Mit einer interplanetaren Rakete fliegen wir zu einem künstlichen Satelliten, und dann geht's hinunter auf die Erde. Dort werde ich über üppige Wiesen laufen, in Flüssen schwimmen und auf Berge steigen – ohne Raumanzug! Die Sonne soll man nicht ansehen können, hat man mir gesagt, so stark leuchtet sie. Sogar die Haut verbrennt unter ihren Strahlen. An meine erste Sonne, die kirschrote, erinnere ich mich kaum noch. Genaugenommen bin ich ohne Sonne aufgewachsen. Die Lichtstrahler des Raumschiffes haben sie mir ersetzt; mein Himmel waren die leuchtenden Okulare der Fernrohre, die Menschheit bestand für mich in den Mitgliedern der Schiffsbesatzung. Sie alle kehren zur Erde zurück, ich aber fahre zum erstenmal hin. Die anderen zählen schon ungeduldig die Tage bis zu ihrer Ankunft, ich jedoch empfinde nichts als Neugier. Heute, an meinem Geburtstag, hat mich Atair ins Observatorium mitgenommen. Offenbar hatte er den Hauptrefraktor schon vorher eingestellt, denn er warf nur einen kurzen Blick hinein und gab mir dann den Sessel vor dem Okular frei. "Siehst du den blauen Punkt im Zentrum des Gesichtsfeldes, Astron? Das ist unsere Erde, auch deine. Sieh sie dir an, und dann lies dieses Heft. Es ist ein Geschenk von uns allen. Studiere es, denk darüber nach und komm dann zu uns. Wir
erwarten dich. Aber laß dir Zeit. Das Observatorium ist frei, du kannst hierbleiben, solange da willst." Damit ging er. Seit dreieinhalb Jahren schon verringert das Raumschiff seine Geschwindigkeit. Ich weiß, daß wir uns augenblicklich in jeder Sekunde der Erde um achtunddreißigtausend Kilometer nähern. Ich weiß es, aber ich empfinde nichts dabei. Ich betrachte den kleinen blauen Punkt, doch ich spüre nicht, daß er mir näher kommt. Er bleibt mir immer gleich fern. Nicht auch fremd? Muß ich denn diesen Planeten lieben, nur weil meine Mutter und mein Vater dort geboren sind, weil alle um mich herum in der freudigen Erwartung leben, ihn wiederzusehen? Ist er denn schöner als die Neogäa? Warum sollen mir die grünen Wälder der Erde besser gefallen als die mit violetten und kirschroten Kristallen bedeckten Flächen des Planeten, auf dem ich geboren bin? Was zeichnet den blauen Erdhimmel vor meinem aus, dem schwarzen? Und wozu brauche ich diese blendende Sonne, die einen verbrennt? Ich bin ein Mensch, ich kann mir überall eine Sonne schaffen, mir wird einst die ganze Galaxis gehören! Ich nehme Atairs Heft in die Hände. Was mag es enthalten? Die Erlebnisse der Besatzung? Die meiner Eltern? Oder etwas noch Wichtigeres?
Erster Bericht Wie wir die Zeit und den Raum besiegten Wir, die Freunde Deines Vaters und Deiner Mutter, haben beschlossen, Dir zu Deinem Geburtstag, dem "Tag des neuen Namens", eine Schilderung unserer Expedition als Geschenk zu überreichen. Warum diese Expedition unternommen wurde und wie sie zustande kam, kannst Du in der Geschichte der Raumfahrt nachlesen. Alle technischen Angaben über den Verlauf der Reise findest Du im Schiffstagebuch. Wir aber möchten Dir erzählen, was in den offiziellen Büchern nicht verzeichnet steht. Du sollst von unseren inneren Erlebnissen hören und mehr über das Schicksal Deiner Eltern erfahren. Du kennst uns alle und wirst leicht herausfinden, wer von uns jeweils zu Dir spricht und aus seiner Sicht berichtet. Aber wir reden gleichzeitig nicht nur für uns selbst, sondern im Namen von etwas Größerem, das Du nun bald kennenlernen sollst. Wir sprechen zu Dir im Namen der Menschheit. Deshalb hör zu. Die letzte Erinnerung an die Erde vor unserem Eintauchen in die Endlosigkeit des Alls ist für jeden von uns das gleiche. Unsere Starthelfer hatten sich in ihren interplanetaren Raketen bereits auf mehrere Millionen Kilometer entfernt. Wir waren allein. Die Reise konnte beginnen. Tellur, Dein Vater, saß unbeweglich und gesammelt, doch gelassen wie immer vor der Schalttafel des Photonenreaktors. Alle Kontrollämpchen zeigten grünes Licht. Nur eins leuchtete noch gelb, doch nun begann es zu flackern und wurde ebenfalls grün. Also waren auch die magnetischen Container startklar. "Ich schalte das Magnetfeld ein." Tellur sprach ruhig und sachlich. Jemand, der ihn nicht kannte, hätte ihn geradezu für gleichgültig halten können. Niemand sagte ein Wort. Wir lauschten mit angehaltenem Atem.
"Ich gebe den Plus-Strahl." Unser Herz schlug schneller, in unserem Hirn überstürzten sich die Gedanken. "Minus-Strahl folgt." Tellurs Stimme erklang in sämtlichen Räumen des Sternenschiffes. Von den Radiosendern aufgenommen, drang sie hinaus in den Kosmos. Wenige Sekunden später würde sie die Techniker in den interplanetaren Raketen erreichen und dann von den Siedlungen auf dem Mars empfangen werden. Zehn Minuten danach würde man sie auf der zentralen Mondstation hören. Von dort aus würde sie zu den Milliarden Lautsprechern auf der Erde gelangen, zu den fernen Niederlassungen auf der Venus und dem Merkur, auf den Monden des Jupiters, des Saturns, des Uranus und des Neptuns. So würden alle Menschen im Sonnensystem von unserem Abflug erfahren. Doch nicht nur durch Radiowellen erfuhren sie davon, sie sahen ihn auch. Denn im Wettlauf mit Tellurs Stimme verbreitete sich im Kosmos auch das grelle Licht des in Gang gestellten Reaktors. Das schreckliche, alles vernichtende Feuer war entzündet, wir flogen bereits auf seinen mächtigen Schwingen dahin. Die Lichter auf dem verlassenen Asteroiden waren längst erloschen. Eine Zeitlang hatte er als unregelmäßiger dunkler Fleck an dem nur um einen Schein helleren schwarzen Sternenhimmel gehangen. Dann setzten die Triebwerke ein und schleuderten ihr gewaltiges Strahlenbündel auf das steinerne Massiv. Der Fleck wurde zu einer bläulich schimmernden Wolke. Einige Sekunden vergingen. Die vernichtenden, für das Auge nicht sichtbaren Energiestrahlen ergossen sich über das Felsmassiv und erhitzten es. Der Asteroid begann zu leuchten. Anfangs schwach dunkelrot, dann orangefarben, hellgelb und schließlich blendend weiß. Wir wußten, daß es besser war, nicht hinzusehen, und doch konnten wir den Blick nicht losreißen. Du wirst das vielleicht
nicht verstehen. Der Asteroid war für uns das letzte reale, erkennbare Stück unseres heimatlichen Sonnensystems. Wir verließen ihn und vernichteten ihn dabei. Bis zum letzten Augenblick starrten wir zu ihm hin. Er explodierte schließlich, zerfiel in unzählige funkensprühende Feuerstücke. Jetzt waren wir allein im leeren Raum. Für fünfundvierzig Jahre hatten wir von unserer Welt Abschied genommen. Fünfundvierzig Jahre? Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand sagen, wie lange wir tatsächlich unterwegs sein und ob wir überhaupt jemals zurückkehren würden. Obwohl wir nicht darüber sprachen, beherrschte diese Frage unser Denken; sie ging uns nicht aus dem Kopf. Unser Raumschiff war im wahrsten Sinn des Wortes eine Schöpfung der Menschheit. Nicht nur, weil Fabriken aller sieben Kontinente und sogar des Mondes Einzelteile geliefert hatten; nicht nur, weil der Ozean an Energie, der in seinen Magnetbehältern steckte, Tropfen für Tropfen mit Hilfe unserer Brüder auf der Erde, den künstlichen Satelliten, dem Mond und den Planeten zusammengetragen worden war; nicht nur, weil es eine Gipfelleistung in der jahrtausendealten Menschheitsgeschichte darstellte, sondern vor allem, weil, wie wir wußten, alle Menschen unter der Sonne in Gedanken mit uns reisten. Das Schiff trug viele Namen. Für uns war es die "kleine Erde"; seine Konstrukteure nannten es das "Interstellare Quantenstrahlschiff A I 1". Verstehst Du diese Bezeichnung? Klasse A, Modell 1, Schiff Nr. 1 – es war das erste seiner Art! Allgemein aber hieß es einfach das "Photonenraumschiff". Wir, die wir an seinem Bau mitgearbeitet hatten, hielten es für eine immense technische Leistung, mächtig, vollkommen. Doch wußten wir sehr wohl, daß es nur für uns so war, weil es alle unsere Möglichkeiten verkörperte; weil es existierte. Auf die Menschen der Vergangenheit hätte es unglaublich, phantastisch gewirkt; Euch, den künftigen Raumfahrern, wird es einmal plump, langsam und schwach vorkommen. Dessen waren wir uns bewußt. Aber es war unser Schiff, und deshalb
liebten wir es. Wir schätzten uns glücklich, daß wir mit ihm zu den Sternen fliegen konnten, zum nächsten Fixstern zwar nur, doch das genügte uns. Es war fünf Kilometer lang. Sein Startgewicht betrug dreihundertzwanzigtausend Tonnen. In drei Jahren und zwei Monaten sollte es die bis dahin unerreichte Geschwindigkeit von hunderttausend Kilometern in der Sekunde entwickeln. Für Dich, der Du bei einer bedeutend höheren Geschwindigkeit aufgewachsen bist, ist das nichts Besonderes mehr. Doch uns Alten flößte diese Zahl geradezu Ehrfurcht ein. Wir warteten gespannt und ... mit bangem Herzen. In den ersten vierzig Tagen, als wir uns noch in den Grenzen unseres Sonnensystems bewegten, unterschied sich die Reise kaum von den üblichen interplanetaren Flügen, an denen wir alle mehrfach teilgenommen hatten. Wir waren noch "zu Hause". Das Raumschiff wurde bei einer Beschleunigung von einem Meter pro Sekunde nur langsam schneller. Später gestanden wir uns ein, daß uns alle damals ein unausgesprochener Gedanke beruhigt hatte: Wäre irgendein Mißstand aufgetreten, hätten wir immer noch zurückkehren oder Hilfe von der Erde anfordern können – und auch erhalten. Denn die Geschwindigkeit des Schiffes betrug lediglich ein paar tausend Kilometer in der Sekunde. Daher fühlten wir uns stark und sicher.
In Erwartung des Unvorhergesehenen Tage, Monate vergingen. Das erste der sechzehn für die Fahrt zur Proxima berechneten Jahre verstrich. Wir wachten auf unseren Posten, untätig, doch gespannt, ruhig, aber jeden Augenblick darauf gefaßt, daß etwas Unvorhergesehenes, Nichtwiedergutzumachendes, Schreckliches geschah. Es ist schwer, ja unmöglich, die Gefühle zu beschreiben, die uns nach dem Verlassen des Sonne nsystems überkamen und
uns während der langen Jahre unserer Reise beherrschten. Nur wenige haben in der mehrtausendjährigen Geschichte der Menschheit solche Situationen erlebt. Die ersten Seefahrer lernten sie kennen, als sie ihre primitiven Holzschiffe in den unermeßlichen Ozean hinaussteuerten, um neues Land zu suchen, die ersten Kosmonauten, als sie die Erdatmosphäre verließen. Nun teilten auch wir ihre Empfindungen. Denn wir waren die ersten, welche die Grenzen des Sonnensystems durchbrachen und in die Tiefe der Milchstraße vorstießen, zudem mit einem neuen, in seiner maximalen Geschwindigkeit nicht erprobten Photonenraumschiff. Du wirst vielleicht Ähnliches empfinden, wenn Du dereinst zu noch ferneren Sternen fliegst und selbst ein Raumschiff lenkst. Damit Du vor den Gefahren des Universums mutig und fest bleibst, wollen wir Dir von unseren Schwächen erzählen. Ja, wir waren schwach, doch wir haben uns selbst besiegt. Und dieser Sieg war wertvoller als der Sieg über Zeit und Raum. Er zeugt von der Unzulänglichkeit des Menschen, aber auch von der Kraft der Menschheit, die Du bald kennenlernen wirst. Deine Eltern, Rubina und Tellur, arbeiteten zusammen. Deine Mutter beobachtete die Container mit dem Treibstoff, Dein Vater kontrollierte die Beschickung des Reaktors und den Umwandlungsprozeß der Materie und Antimaterie in elektromagnetische Quanten. Es ist schwer zu sagen, wer von uns die wichtigste Arbeit leistete – unser Erfolg, unser Leben hing in gleichem Maße von den Kenntnissen und der Umsicht jedes einzelnen ab. Deinen Eltern aber oblag eine der schwierigsten Aufgaben, und Du darfst stolz darauf sein, daß Du ihr Sohn bist. Wie der Sturm die Barken der alten Seefahrer über die Ozeane getrieben hatte, so jagten die Strahlen des Reaktors unser Schiff durch den Kosmos. In den interstellaren Räumen weht kein Wind, dort ist nichts. Deshalb führten wir unseren "Wind" mit uns. Beim Abflug befanden sich in den Reservoiren des Raumschiffes zweihundertzwanzigtausend Tonnen Treibstoff, bestehend aus gleichen Teilen Materie und Antimaterie.
Obwohl Du bisher nur in den Grundbegriffen der Lehre von der Materie ausgebildet bist, weißt Du doch, was es mit der Antimaterie auf sich hat. Ein Gramm hätte genügt, um unser ganzes Schiff zu vernichten und in glühende Gase zu verwandeln. Deiner Mutter aber waren hundertzehntausend Tonnen dieses furchtbaren Stoffes anvertraut. Der Antrieb des Raumschiff es beruhte auf der sogenannten Reaktion ± Fe 56, das heißt der Annihilation des häufigsten Eisenisotops. Der Reaktor wird mit gleichen Anteilen Eisen und Antieisen der Massenzahl 56 beschickt. Dort verlieren beide Stoffe ihre Masse und verwandeln sich ohne jeden Rückstand in elektromagnetische Energie und Neutrinoteilchen. Die übermächtigen Photonenströme, die auf den riesigen Reflektor des Raumschiffes treffen, werden mit Lichtgeschwindigkeit zurückgestrahlt und treiben das Schiff vorwärts. Als die Wissenschaftler den Antiteilchen, dieser bis dahin unbekannten Form der Materie, erstmals auf die Spur kamen, begriffen sie sofort, welche unerschöpflichen Möglichkeiten sie ihnen boten, wenn es gelang, sie zu bändigen. Man erkannte aber auch, wie schwierig es war, sie in die Gewalt zu bekommen. Es gab kein Gefäß zur Aufbewahrung von Antimaterie, denn jede Berührung mit einem gewöhnlichen Stoff hat unausbleiblich eine furchtbare Explosion zur Folge. Unser Schiff aber barg nicht weniger als hundertzehntausend Tonnen Antimaterie. Sie ruhte in vierhundertvierzig Containern, ohne deren Wände zu berühren, von Magnetfeldern in der Schwebe gehalten. Jeder von uns hatte schon einmal auf dem Bildschirm die ovalen, grauschimmernden Wolken Metallstaub beobachtet, die jeweils die Masse von zweihundertfünfzig Tonnen Antieisen enthielten. Wie harmlos und unschuldig sahen sie aus, und doch wohnte ihnen eine furchtbare, alles vernichtende Kraft inne! Natürlich war die Aufrechterhaltung eines ständigen Magnetfeldes in den Containern kybernetischen Elektronenautomaten anvertraut. Diese wunderbaren, unersetzlichen Helfer regulierten pausenlos und zuverlässig die
Stärke des Magnetfeldes, veränderten sie bei Bedarf und sorgten für den Transport der Antimaterie vom Container zum Reaktor. Sie brauchten unsere Hilfe nicht – vorausgesetzt, daß alle Prozesse entsprechend dem festgelegten Programm verliefen. Wir flogen durch unerforschte Räume einem unbekannten Ziel entgegen. Jeden Augenblick konnten wir auf ein unvorhergesehenes Hindernis stoßen, auf eine allesdurchdringende ionisierende Strahlung, auf mächtige Magnet- oder Gravitationsfelder – keiner von uns wußte, ob nicht etwas eintrat, was die Arbeit der kybernetischen Automaten störte und sie womöglich außerstand setzte, ihre Funktion zu erfüllen. Solche gefährlichen Situationen abzuwenden war die Aufgabe Deiner Mutter. Sie saß unbeweglich vor der Schalttafel und beobachtete die zahlreichen Bildschirme, Oszillographen und Kontrollämpchen; sie lauschte auf die akustischen Signale, bereit, sofort einzugreifen und einen Entschluß zu fassen, der möglicherweise über Tod und Leben entschied. Zögerte sie nur einen Augenblick, oder gelang es ihr nicht, unverzüglich die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, wenn in einem der Container die Antimaterie aus dem Gleichgewicht geriet und sich den Wänden aus gewöhnlicher Materie näherte, dann käme es zu einer Berührung, und im Bruchteil einer Sekunde wäre es um uns geschehen. Wir hätten nicht einmal den grellen Lichtschein der Explosion wahrgenommen, die uns samt dem Schiff in ionisierte Gase und elektromagnetische Strahlungen verwandelte. Niemand wußte im voraus, ob das Eingreifen der Menschen einmal erforderlich werden würde. Stunden, Tage, Monate und Jahre vergingen, ohne daß etwas geschah. Die Automaten arbeiteten einwandfrei, sie hielten überall die notwendige Ordnung aufrecht. Doch das vermochte uns nicht zu beruhigen, unsere Aufmerksamkeit durfte keinen Augenblick erlahmen. Die Gefahr war unvorhersehbar, sie konnte jederzeit eintreten, wenn nicht im ersten Jahr, dann vielleicht im zweiten, im
dritten, im zehnten oder im sechzehnten, kurz vor unserer geplanten Ankunft im System der Proxima. Mögest Du nie die Qual erleben, ewig zu warten, jede Sekunde auf etwas Schreckliches gefaßt zu sein und nicht zu wissen, ob dieses Etwas vielleicht überhaupt nicht kommt, ob Deine Ängste und Spannungen möglicherweise sinnlos sind, weil die Automaten auch ohne Dich alles richtig machen! Ein gräßliches Gefühl, absolut unentbehrlich und gleichzeitig womöglich völlig überflüssig zu sein. Um eine derartige Prüfung zu bestehen, sechzehn Jahre auf der Hinfahrt und sechzehn Jahre bei der Rückkehr, muß der Mensch härter und reiner sein als Brillant! Solche Charaktere vermag nur die Erde hervorzubringen, nur dem Schoß der in unsäglichem Leid erstarkten Menschheit erwachsen sie. Von dieser Art waren Rubina und Tellur, Deine Eltern. Glaube nicht, Astron, daß sie uns jemals etwas davon erzählt hätten, was in ihrem Inneren vorging. Wenn sie einmal klagten, was selten geschah, murrten sie lediglich über ihre Untätigkeit. Doch wir wußten, was sie quälte – das unbekannte Etwas, das auch uns peinigte.
Die letzte Verbindung mit der Erde Vielleicht erscheint Dir jetzt unser Leben an Bord als außerordentlich schwer und gefahrvoll. Äußerlich betrachtet, war es das jedoch keineswegs. Die Besatzung des Raumschiffes zählte achtzehn Personen und gliederte sich in drei einander ablösende Mannschaften zu je sechs Mann. Jede Gruppe tat acht Stunden lang Dienst und kontrollierte während dieser Zeit den Flug. Wir gehörten zur zweiten Schicht. Wenn die dritte schlief und die erste Freiwache hatte, waren wir an der Reihe. Regul, unser Mathematiker, beugte sich über die kybernetischen Rechenmaschinen, die Astronomin Selena setzte sich hinter die
Teleskope. Thalia, die Chemikerin, überprüfte die Arbeit der lebensnotwendigen Einrichtungen im Innern des Schiffes, der Biologe Atair wachte über unser körperliches Wohl, der Physiker Tellur verfolgte die Arbeit der Photonentriebwerke, und die Elektronikerin Rubina beobachtete ständig den Zustand der Container mit der Antimaterie. Eine Wache löste in ewig gleichbleibendem Rhythmus die andere ab, Tage, Monate und Jahre vergingen. Nichts Besonderes geschah, nichts Bedrohliches kündete sich an. Wir sollten die Entfernung von der Erde zur Proxima, die das Licht in vier Jahren, drei Monaten und neun Tagen durcheilte, in sechzehn Jahren und neunzehn Ta gen zurücklegen. Der Photonenreaktor entwickelte zwar eine ungeheure Schubkraft, konnte aber das Schiff trotzdem nur um einen Meter in der Sekunde beschleunigen. Das reichte nicht aus, um für uns die gewohnte Erdenschwere herzustellen. Bei der Beschleunigung von einem Meter je Sekunde oder 0,1 g hatten unsere Körper und alle Gegenstände im Raumschiff nur den zehnten Teil ihres Erdengewichts. Und auch das mußten sie noch verlieren, wenn das Schiff später ohne Antrieb auf Grund der Trägheit weiterflog. Deshalb lagen die Räume, in denen wir die meiste Zeit verbrachten, in einem riesigen Ring, der mit entsprechender Geschwindigkeit um die Längsachse des Schiffes rotierte. Die Zentrifugalkraft schuf die uns fehlende Gravitation. Unsere Energiereserven sollten uns eine Geschwindigkeit von hunderttausend Kilometer in der Sekunde vermitteln. Wir erreichten sie, als wir fünf Billionen Kilometer zurückgelegt hatten. Es war während der Wache Deines Vaters Tellur. Alle Besatzungsmitglieder waren anwesend, als er durch einen Knopfdruck den Zufluß von Materie und Antimaterie in den Reaktor unterbrach. Der Feuerstrahl, der das Schiff drei Jahre und zweiundsechzig Tage lang vorwärts getrieben hatte, erlosch. Auf Grund des Beharrungsvermögens flog das Raumschiff weiter, und die Entfernung bis zu unserem Ziel
schmolz nun mit jeder Sekunde um hunderttausend Kilometer zusammen. Erst ein Achtel der Strecke zur Proxima lag hinter uns. Nahezu zehn Jahre antrieblosen Fluges standen uns noch bevor, danach mußten wir drei Jahre lang uns ere Geschwindigkeit wieder verringern. Unsere Kraftquellen – der Photonenreaktor und die Quantenrückstrahler -hatten sich hervorragend bewährt. Wir konnten uns auf sie verlassen, mit ihrer Hilfe würden wir unser Ziel erreichen. So stolz, ja übermütig machte uns der Erfolg, daß wir die Vorschriften für das Leben im Raumschiff übertraten. Zum erstenmal, seitdem wir unsere Welt verlassen hatten, versammelten sich alle drei Gruppen im Salon. Ein paar Stunden lang überließen wir die Lenkung des Schiffes den Automaten. Auf diese Weise feierten wir das Erreichen der Höchstgeschwindigkeit. Es war gleichzeitig auch ein Beweis des Vertrauens in unsere kybernetischen Helfer. Sie hatten es verdient – tadellos und unermüdlich hatten sie alle ihnen übertragenen Funktionen erfüllt. Die Aufrechterhaltung der Lebensbedingungen im Schiff war ihre einfachste Aufgabe. Ein bei interplanetaren Flügen tausendfach erprobtes Maschinensystem sorgte für reine Luft, es erneuerte das Kohlendioxyd, regenerierte das verbrauchte Wasser, betreute die Pflanzen im Gewächshaus und die Tiere in ihren Ställen. In dieser Hinsicht entbehrten wir nichts. Unser kybernetischer Koch war von seinen Konstrukteuren so geschickt und liebevoll programmiert, daß wir in während der ganzen Reise nicht ein einziges korrigieren mußten. Er kochte und servierte hervorragend, die Speisen waren abwechslungsreich, üppig und schmackhaft. Aber auch die anderen Automaten, die für den reibungslosen Verlauf des Fluges sorgten, arbeiteten zu unserer vollen Zufriedenheit, sowohl die Energieaggregate als auch die Astronavigationsinstrumente, die Kontrollsysteme und die zahllosen wissenschaftlichen Forschungs- und Meßgeräte.
Der einzige, der sich "blamierte", war der Laser. Unser Raumschiff war mit einem neuartigen, noch nicht erprobten Sendegerät für Funkverbindungen über große Entfernungen ausgestattet. Es sollte den regelmäßigen Nachrichtenaustausch über die zentrale Mondstation mit der Erde gewährleisten. Der Laser sandte starke, zu einem nadeldünnen Strahl gebündelte Impulse elektromagnetischer Energie zu den Empfangsanlagen auf dem Mond. Du kannst Dir kaum vorstellen, wie schwierig es ist, einen solchen Strahl über Billionen Kilometer auf einen verschwindend kleinen Empfänger zu richten. Innerhalb des Sonnensystems war uns das mühelos gelungen, doch je weiter wir uns entfernten, desto schwerer wurde es. Überhaupt war unsere Korrespondenz mit der Erde von recht eigener Art, obwohl unser Bote mit der Maximalgeschwindigkeit von dreihunderttausend Kilometern in der Sekunde dahine ilte. Wir strahlten planmäßig alle sechs Stunden eine Nachricht ab, doch die Antwort blieb immer länger aus. Die Überbrückung der ständig wachsenden Entfernung benötigte immer mehr Zeit; erreichte uns die Antwort an der Grenze des Sonnensystems noch in elf Stunden, dauerte sie beim Übergang zum antriebslosen Flug bereits ein Jahr. Aber selbst dieser überaus langsame und komplizierte Gedankenaustausch mit der Menschheit stimmte uns froh; es war ja unsere einzige Verbindung zum Heimatplaneten. Die Worte der Menschen und die Nachrichten von der Erde gaben uns neuen Mut, sie stärkten unseren Glauben an den erfolgreichen Verlauf unserer Reise. Dreieinhalb Jahre nach unserem Abflug traf uns der erste Schlag. Die Erde teilte uns mit, daß sie unsere Sendung nicht empfangen hatte. Wenn nur drei Verbindungen hintereinander nicht zustande kamen, würden wir den Kontakt verlieren. Das wußten wir. Doch wir waren nicht mehr in der Lage, etwas zu unternehmen. Der nächste Funkspruch war keinesfalls erfreulicher. Am Beginn und am Schluß des üblichen Berichts über das Leben
auf der Erde stand die kurze Mitteilung, daß auch unsere folgende Nachricht nicht eingegangen war. Weiter nichts. Auf der Erde wußte man, daß uns die Hiobsbotschaft sechzehn Monate nach dem Zeitpunkt erreichte, in dem wir die falsch gerichteten Funksignale ausgesandt hatten, das heißt, daß wir den Laser nicht mehr korrigieren konnten. Voller Ungeduld warteten wir auf die dritte Verbindung. Sie begann mit dem lakonischen, niederschmetternden Satz: "Wir haben euch nicht empfangen." Dann folgten in beschleunigtem Tempo – der Sender auf der Erde überstürzte sich geradezu – die üblichen Nachrichten, nur viel ausführlicher als sonst. Unsere Kollegen wollten offensichtlich die letzte Möglichkeit nutzen, uns zu informieren. Am Ende kündigten sie in dreifacher Wiederholung weitere Sendungen an, wie stets alle sechs Stunden in Richtung auf die Koordinaten unseres geplanten Kurses. Doch es erreichte uns nichts mehr. Trotzdem setzten auch wir die regelmäßigen Ausstrahlungen fort, obgleich wir uns keinerlei Hoffnungen machten. Berechnungen ergaben, daß die Mondstation unsere Sendungen seit dem Ausschalten des Photonentriebwerkes nicht mehr empfangen hatte. Die beiden Ereignisse standen zweifellos in einem ursächlichen Zusammenhang; worauf er jedoch beruhte, fanden wir nicht heraus. Noch lange, nachdem die Verbindung zur Menschheit abgerissen war, befanden wir uns in gedrückter Stimmung. Wir kamen uns vor wie ein Staubkorn in einer verlassenen Einöde. Doch der Flug selbst war dadurch in keiner Weise bedroht. Wir bewegten uns weiter auf unser fernes Ziel zu.
Der erste Wächter des Universums Einer wirklichen Gefahr begegneten wir im fünften Jahr unseres Fluges. Sie schickte schon von weitem ihre Vorboten und
warnte uns vor ihrer wachsenden Macht, wurde indessen für uns dadurch keineswegs geringer. Atair erkannte als erster, welches Verhängnis auf uns zukam. Stell Dir die Kommandokabine vor. Du kennst sie ja. Der Diensthabende sitzt unbeweglich in seinem Sessel. Sein Blick gleitet träge, gewohnheitsmäßig von einem Bildschirm, von einem Instrument zum anderen. Lange starrt er teilnahmslos auf das Frontpanorama. Die fremden Sterne leuchten bläulich oder dunkelviolett – ein längst bekanntes Bild. Er betrachtet sie, doch seine Gedanken sind woanders. Eigentlich denkt er an nichts. Der ständige Umgang mit den Bordinstrumenten hat ihn gleichgültig gemacht. Er fühlt sich als seelenloser Automat, als ein Teil der registrierenden Apparatur, als unbedeutendes Glied im komplizierten Steuermechanismus des Raumschiffes. Er, der Mensch, der Schöpfer dieser Technik, geht unter in der Sinfonie der akustischen Signale; er betrachtet die tausend kleinen Zeiger, Lämpchen und Oszillographenkurven, ohne sie zu sehen, und sein Bewußtsein zerrinnt, löst sich auf im Komplex der unzähligen, rastlos tätigen kybernetischen Systeme. Sie sind es ja, die das Schiff lenken, unermüdlich und leidenschaftslos, der Mensch aber versinkt gleichsam ins Nichts, besiegt von der ewigen Monotonie. Eine Stunde vergeht, eine zweite. Unerträglich langsam schleicht die Zeit. Verhalten zirpen die Magnetometer, rhythmisch ticken die Zähler, einschläfernd summen die Navigationsinstrumente, das Gravimeter schweigt vielsagend. Käme jemand auf Zehenspitzen in die Kabine, er müßte Atair für eine Statue halten, zur Erbauung der lebendig gewordenen Automaten hier aufgestellt, ein Denkmal ihres Schöpfers, der nun überflüssig und deshalb auf ein Piedestal gesetzt worden ist, den Kommandosessel. Aber es kommt niemand. Alle schlafen. Es wache n nur Atair und die Automaten. Der grüne Lichthügel des Geräts, das die Radioaktivität in der äußeren Schutzhülle des Raumschiffes mißt, hat sich kaum merklich erhöht. Auch die bläuliche Schlangenlinie, die auf
Mikrometeoriten anspricht, zeigt eine andere Form als gewöhnlich. Atair bemerkt noch nichts. Tausendmal hat er in den vergangenen Jahren die Instrumente kontrolliert, und stets war alles in Ordnung. Nun sieht er gar nicht mehr richtig hin. Mit einem leichten, kaum vernehmbaren Knacken meldet ein Zähler, daß sich immer mehr Protonen in den Körper des Raumschiff es bohren. Auch dieser Ruf bleibt ungehört. Der Mensch starrt in die schwarze Unendlichkeit vor sich, ohne die Gefahr zu erkennen. Seine Augen sind blind für die unsichtbaren Mikrometeoriten, ihm bleibt verborgen, was die Automaten längst entdeckt haben, er kennt die furchtbare Nachricht noch nicht. Endlich löst sich sein Blick vom Panoramabildschirm. Er schweift mechanisch über die Instrumente, die Skalen. Bei dem Zähler stockt er, doch er gleit et weiter ... Nein! Was bedeutet das? Bevor Atair noch begreift, flüstert ihm ein unterbewußtes Gefühl zu, daß etwas nicht stimmt. Hinter der kleinen länglichen Glasscheibe steht eine andere Zahl als sonst! In demselben Augenblick kommt der Mensch zu sich, er wird wacher als die nimmermüden Automaten. Jetzt sprechen die Zeiger der Instrumente, die Kurven der Oszillographen, die Ziffern der Zähler und die Lichtflecke auf den Bildschirmen zu ihm in einer beredten Sprache, sie rufen, schreien: Die Temperatur des Schutzpanzers steigt! Die radioaktive Strahlung wird intensiver! Wir fliegen in eine kosmische Wolke aus Meteoritenstaub und Gasen! Entsetzt, wie hypnotisiert starrte Atair auf die Instrumente. Gefühle, wie sie seine Vorväter empfunden haben mochten, lebten in ihm auf: Die grünen Lampen des Gravimeters funkelten ihn an wie die Augen eines sprungbereiten Tigers; der rötlich schimmernde Magnetbildschirm wurde zur brennenden Prärie mit rasenden, alles verschlingenden Flammen, und die Skala des Geschwindigkeitsmessers zeigte einen Orkan an, der sein schwankendes Boot auf ein schaumumspültes Riff zutrieb.
Noch nie hatte sich ein Mensch einer so furchtbaren Gefahr gegenübergesehen. Aber Atair war mächtiger als seine Ahnen. Die Panik gewann keine Gewalt über ihn. Er zog die Hand zurück, die er unwillkürlich nach der Alarmtaste ausgestreckt hatte, und durchdachte ruhig und sorgfältig die Lage. Die an der Stirnseite des Raumschiffes installierten Meßgeräte kontrollierten die Temperatur des Schutzpanzers und die Intensität der durch auftreffende Materieteilchen hervorgerufenen radioaktiven Strahlung. Bei einer Geschwindigkeit von hunderttausend Kilometern in der Sekunde wirkt jedes noch so kleine Teilchen, sogar jedes Atom zerstörend auf die Schutzschicht. Außerdem verwandelt es sich bei seinem Aufschlag in lebensgefährliche Röntgen- und Gammastrahlen. Viereinhalb Jahre lang hatten die Zeiger der Meßgeräte fast regungslos stillgestanden; die Dichte der Weltraummaterie war im Rahmen des Normalen geblieben. Nun aber krochen sie, kaum merklich zitternd, auf den roten Strich zu. Das konnte natürlich eine vorübergehende Erscheinung sein, eine kleine Zusammenballung kosmischer Gase. Die ersten Tage beobachteten wir die Meßinstrumente gespannt, ohne noch das Schlimmste zu befürchten; wir hofften vielmehr, die Zeiger würden im nächsten Augenblick in ihre Ausgangsstellung zurückkehren. Nach einer Woche wurde uns klar, daß wir in eine ausgedehnte kosmische Staub- und Gaswolke hineinflogen, daß uns unermeßliche Massen interstellarer Materie den Weg versperrten. Da setzten wir uns zum zweitenmal zusammen, alle drei Gruppen, um zu beraten, was zu tun sei. Wie die Berechnungen ergaben, würde der Panzer standhalten und das Schiff unversehrt bleiben, wenn wir die Geschwindigkeit auf dreitausend Kilometer in der Sekunde senkten und der Durchmesser der Wolke nicht größer war als ein Lichtjahr. Aber das bedeutete, daß sich unsere Reise um fast dreihundert Jahre verlängerte. Wir würden also die Ankunft des
Raumschiffes am Ziel nicht mehr erleben. Unser Treibstoff reichte nur für eine zweimalige Beschleunigung, für die positive bei der Entwicklung der Reisegeschwindigkeit und für die negative bei ihrer Verringerung bis zur Landung. Wenn wir unsere Reserven jetzt angriffen, hatten wir später nichts mehr, um die Geschwindigkeit zu erhöhen. Außerdem konnten wir das Schiff gar nicht so schnell bremsen. Der Photonenreaktor erzielte eine Beschleunigung von einem Meter je Sekunde. Um die Geschwindigkeit auf dreitausend Kilometer in der Sekunde herabzusetzen, brauchten wir volle drei Jahre. Der Panzer aber würde uns bei der derzeitigen intensiven Bombardierung nur noch wenige Monate schützen. Nein, diese Lösung war irreal. Wir mußten einen anderen Weg zu unserer Rettung finden, und zwar so schnell wie möglich. Die Wolke zerstörte die Schutzschicht des Schiffes und brachte uns mit jeder Sekunde dem Untergang näher. Einem völlig sinnlosen Untergang noch dazu. Wir konnten der Erde nicht einmal mitteilen, welch einem Hindernis wir begegnet waren. Man würde nach uns eine neue Expedition zur Proxima schicken, sie würde ungewarnt auf die Wolke stoßen und in dieselbe Falle geraten. Das Schiff raste dahin, die Meteoriten explodierten auf seinem Panzer und zerfraßen die Schutzschicht, wir aber saßen da und grübelten. Tag und Nacht zerbrachen wir uns den Kopf und erörterten die verschiedensten Ideen und Vorschläge, aber wir kamen zu keinem Ergebnis. Astron, Du weißt nicht, welche Qual einem die Hilflosigkeit bereiten kann, was es bedeutet, wenn man alle Geisteskräfte anspannt und sich doch eingestehen muß, daß man zu schwach ist, daß man die gesuchte Lösung nicht findet, die Lösung, von der der Erfolg der Expedition, von der unser Leben abhing. Du mußt Dir die kosmische Wolke nicht sehr dicht vorstellen. Wären wir ihr am Anfang oder am Ende unserer Reise begegnet, wir hätten sie gar nicht beachtet. Aber bei unserer Geschwindigkeit von hunderttausend Sekundenkilometern stand sie vor uns wie eine undurchdringliche Wand. Die
Messungen zeigten, daß sie je Kubikzentimeter nur drei Atome Wasserstoff und je Kubikkilometer ein einziges festes Stäubchen mit der Masse des zehnmilliardsten Teils eines Gramms enthielt. Doch das reichte aus, unser Raumschiff zu vernichten. Nach langem Hin und Her ließen wir schließlich dem Schiff in einer Entfernung von hundert Kilometern einen Schutzschild vorausfliegen, der die Teilchen auffing und sozusagen einen Tunnel durch die Wolke grub. Wir bauten ihn aus leeren Containern, die wir opferten, weil wir darauf rechneten, sie nach der Ankunft auf dem Planeten neu herstellen zu können. Er hielt nicht nur die Teilchen von uns ab, sondern befreite uns auch von der gefährlichen Strahlung, die bei der Zertrümmerung der Atomkerne entsteht. Deshalb mußte er weit genug entfernt sein, denn bei unserer Geschwindigkeit bewältigte das Schiff hundert Kilometer in einer tausendstel Sekunde. Es flog nun frei, ohne den Schlägen der Teilchen ausgesetzt zu sein. Trotzdem, die gesuchte Lösung war das noch keineswegs. Einmal hielt die Schutzwirkung nur kurze Zeit an, denn der Schild wurde rasch zerstört, und zum anderen waren unsere Vorräte an thermonuklearem Brennstoff, mit dem wir seine Geschwindigkeit unterhielten und den Widerstand der Gasteilchen kompensierten, begrenzt. Es war nur ein Hinauszögern, zudem ein sehr riskantes, weil wir dabei unseren Brennstoff für die Landung verbrauchten. Oft beobachteten wir auf den Bildschirmen den kirschroten Punkt, der da vor uns her flog. Wir spürten die Glut des auf achthundert Grad erhitzten Schildes nicht, uns traf auch nicht die tödliche Strahlung, die von ihm ausging, dennoch hatten wir das Gefühl, unser Schiff stehe in hellen Flammen. Der Schild war ein Stück von uns, den kosmischen Naturgewalten zum Opfer gebracht. In dem Werk, das wir an Bord hatten, entstand bereits ein zweiter, und in der ganzen Zeit, in der wir den nächsten Container demontierten und umbauten, wurden wir
das Gefühl nicht los, daß wir Fleisch von unserem Fleische lösten.
Reguls Strahlenbesen Niemand von uns bekleidete eine privilegierte Stellung. Wir hatten keinen Chef oder Kommandanten wie in früheren Zeiten. Jeder tat seinen Dienst an den ihm anvertrauten Aggregaten, und für das Schiff trugen wir alle gemeinsam die Verantwortung. Trotzdem überragte einer uns alle durch seine außergewöhnliche mathematische Begabung, durch seine unfehlbare Logik und seine immense schöpferische Erfahrung. Dieser eine war Regul, der leitende Konstrukteur und geistige Vater des Raumschiffes. Als er nach langem einsamen Grübeln und mühevoller Arbeit im elektronischen Rechenzentrum einen Ausweg vorschlug, atmeten wir auf, obwohl wir uns die Freude nicht anmerken ließen. Wie immer erörterten wir seinen Vorschlag von allen Seiten, wir brachten auch Einwände vor, doch das geschah mehr aus Gewohnheit. Niemand zweifelte daran, daß Reguls Plan fehlerlos war und jeder Kritik standhielt. Wir fühlten uns glücklich wie Kinder, die sich in einem finsteren Wald verirrt haben und nun den Weg zur Rettung entdecken. Reguls Idee war verblüffend einfach. Wir sollten aus Germanium und Silizium ein vielschichtiges Halbleiteraggregat herstellen, das die kinetische Energie der Teilchen in einen nach vorn gerichteten vernichtenden Strahl umwandelte. Sein Entwurf sah einen sich selbst steuernden Automaten vor. Je mehr Teilchen auf dessen Stirnfläche trafen, desto intensiver wurde der Strahl, mit dem er die kosmische Materie vernichtete. Binnen kurzem war die Anlage fertig. Jetzt warteten wir mit Ungeduld darauf, daß der letzte Schutzschild vor uns zerstört
würde, damit Reguls Strahlenblasen, wie wir das rettende Gerät getauft hatten, in Aktion treten konnte. Von nun an vermochte die furchtbare kosmische Wolke unserem Schiff nichts mehr anzuhaben. Das Leben der Mannschaft verlief wieder normal. Normal heißt aber nicht ruhig und noch viel weniger tatenlos! Allein das Studium der Gase und der Mikrometeoriten nahm uns über Gebühr in Anspruch. Welche physikalischen Kräfte wirkten in der Weltraummaterie, aus welchen Elementen bestand sie? Wir hatten jetzt doch die Möglichkeit zu erforschen, wie sich der Zusammenprall der verschiedenen Atome und Elementarteilchen mit dem Panzer des Raumschiff es auswirkte. Dabei drangen wir tiefer in den endlosen Ozean der Wissenschaft von der Materie vor. Die Naturgewalten des Universums versperrten uns den Weg, unsichtbar, doch mächtig, lautlos, aber Entsetzen einflößend. Wir vorwitzigen Staubkörnchen konnten sie weder sehen noch hören. Wir waren Kinder der Erde, aufgewachsen in einer anderen Welt, inmitten von Luft und Licht, auf festem Boden, unter Tieren und Pflanzen. Diese Umgebung hatte uns in Jahrmillionen geformt, und nun erdreisteten wir uns, sie zu verlassen, in die weiten Räume des Kosmos zu fliegen, ohne Sinne für Gravitations- und Magnetfelder, ohne Augen für kosmische Strahlungen, ohne ein Empfinden für Mikrometeoriten. Die Menschen aber mußten erfahren, welche Hindernisse sich ihnen bei einer Reise zu den Sternen in den Weg stellen konnten. Wir waren die ersten, die das Sonnensystem verließen und in die Räume der Milchstraße eindrangen, es war einfach unsere Pflicht, bei der Rückkehr eine Antwort auf alle diese Fragen mitzubringen. Bei unserer Rückkehr? Es gab Stunden, in denen wir nicht sehr überzeugt davon waren, daß wir sie jemals erleben würden. Sollten wir deshalb aber verzweifeln und untätig bleiben? Drei Monate nachdem wir Reguls Strahlenbesen eingesetzt hatten, erkannten wir die Wahrheit: Auch auf diese Weise
würde es uns nicht gelingen, die kosmische Wolke zu durchfliegen. Wieder waren es die Instrumente, die uns davon unterrichteten. Sie sagten es auf ihre Weise, lautlos und gleichmütig, nur durch eine leichte Verschiebung der Zeiger, durch veränderte Lichtsignale und Schwingungskurven, doch wir verstanden ihre Sprache. Sie klang in unseren Ohren furchtbarer als das Brüllen eines Tigers, das Heulen eines Orkans oder das Grollen einer Detonation. Als der Diensthabende die Veränderungen bemerkte, rief er sofort Regul zu sich. Zwar begriff er selber, was die Angaben der Instrumente bedeuteten, doch er wollte nicht glauben, daß Regul sich geirrt hatte; er hoffte, daß er die Signale vielleicht falsch auslegte. Regul bat, ihn allein zu lassen. War das ein Zeichen von Schwäche – hatte er Angst, schämte er sich vor seinen Gefährten? Lange betrachtete er die Skalen, länger, als nötig gewesen wäre. Er brauchte Zeit; nicht um die Unzulänglichkeit der von ihm geschaffenen Apparatur zu erkennen, sondern um seine eigene Ohnmacht zu begreifen. Für ihn, der sich stets bemüht hatte, die anderen von seiner Unfehlbarkeit zu überzeugen, an die er selbst glaubte, war die neue Entdeckung ein schwerer Schlag. Er wußte, daß seine Gefährten voller Hoffnung auf seinen Entscheid warteten, daß sie ihm vertrauten und seine Überlegungen nicht zu stören wagten. Aber er überlegte nicht. Was ihm noch nie geschehen war, trat ein. Sein Verstand stand still, gelähmt von der schrecklichen Wahrheit. Rings um das Raumschiff loderten Flammen. Niemand konnte die Schutzräume verlassen, jeder Aufenthalt außerhalb des Schiffes, selbst für wenige Minuten, bedeutete glatten Selbstmord. Die kosmische Strahlung und die Energien, welche beim Zusammentreffen der interplanetaren Materie mit einem sich hunderttausend Kilometer in der Sekunde fortbewegenden Menschen frei geworden wären, hätten jeden Schutzanzug
wirkungslos gemacht und seinen Träger auf der Stelle getötet. Durchscheinende bläuliche Flammen eines ionisierten Gases bedeckten den Metallkörper und folgten ihm als gespenstischer Schweif. Die Stirnfläche, die die Schläge der Mikrometeoriten auffing, wurde immer heißer. Die Kühlaggregate arbeiteten auf vollen Touren, doch es gelang nicht, die steigende Hitze zu verringern. Der Panzer zeigte eine erhöhte Radioaktivität, seine Kristallstruktur wurde zerstört. Die übrigen Besatzungsmitglieder verfolgten auf der zweiten, im Salon angebrachten Instrumententafel die Angaben der Meßgeräte, sie kannten bereits die Ursachen der neuen Gefahr. Die Zusammensetzung der kosmischen Wolke hatte sich verändert. Die nach vorn gerichteten Schutzstrahlen wirkten nur auf die elektrisch neutralen Teilchen, doch jetzt war die Zahl der Ionen stark gewachsen. Sie ließen sich von dem Strahlenbesen nicht beeinflussen, sie wichen ihm einfach aus und bohrten sich ungehindert in den Schiffskörper. Regul machte sich Vorwürfe, daß er diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen hatte. Er hätte sie voraussehen müssen. Nun quälte ihn seine Ohnmacht, das Bewußtsein, daß er am Untergang des Raumschiffes schuld sein würde. Einen Augenblick lang zögerte er. Eine ferne, uralte Stimme des Stolzes sagte ihm, er dürfe seine Kameraden nicht enttäuschen, er müsse ihnen Mut machen, er, der Erfahrenste, der Klügste und Weiseste. Aber er hörte nicht auf sie, er ging zu den anderen und erklärte fest und kategorisch: "Es gibt kein Mittel gegen die ionisierten Gase." Er glaubte aufrichtig zu handeln, wenn er die Wahrheit sagte. In Wirklichkeit aber war es bereits das zweite Schwächezeichen. Er hätte sagen sollen: Ich weiß kein Mittel, ich bin außerstande, etwas zu unternehmen. Er wollte seinen Nimbus nicht verlieren, deshalb gab er kraft seiner Autorität zu verstehen: Wenn ich keine Rettung sehe, gibt es auch keine.
Seine Worte verwirrten und entsetzten die Gefährten, sie lähmten ihr Denkvermögen. Tatsächlich hätte er die Expedition beinahe zum Scheitern gebracht. Du sollst alles erfahren, Astron, auch wenn es bitter ist, damit Du erkennst, daß vor den kosmischen Naturgewalten niemand klug und weise genug ist, daß kein einzelner die Verantwortung für eine solche Expedition übernehmen kann. Das sage ich Dir, Regul. Wir bauten wieder einen Schutzschild wie vordem. Mit seiner Hilfe flogen wir zunächst weiter, hunderttausend Kilometer in jeder Sekunde. Es breitete sich keine Panik unter uns aus, niemand verlor die Nerven. Doch mit bangem Herzen beobachteten wir, wie der vorausfliegende Schild unsere Treibstoffvorräte aufbrauchte. Jeder erzitterte bei dem Gedanken, daß die vernichtenden Teilchen bald auch den Panzer angreifen und schließlich ins Schiffsinnere, in unsern Körper eindringen würden. Natürlich erörterten wir die verschiedensten Vorschläge und Projekte zu unserer Rettung. Doch die Überzeugung, daß wir verloren waren, da ja selbst Regul keinen Ausweg wußte, hatte sich, wenn auch unbewußt, in uns festgesetzt; sie lähmte unsere Phantasie, störte unser logisches Denken und erstickte jede mutige Überlegung im Keim. Nie werden wir diese düsteren Tage vergessen. Wir erfüllten exakt unsere Verpflichtungen, kontrollierten die Arbeit der zahllosen Apparaturen und zogen regelmäßig auf Wache, doch wir spielten gleichsam nur die Rolle von Raumfahrern, die zu einem fernen Stern flogen. Unser bevorstehendes Verderben erwähnte niemand mehr. Wir berieten lediglich über ein Projekt, das vorsah, eine kleine, von einem kybernetischen Piloten gesteuerte Rakete ins Sonnensystem zurückzuschicken, um auf diese Weise die Menschen vor der drohenden Gefahr zu warnen. Doch auch daraus wurde nichts. Wir waren schon zu weit in die kosmische Wolke eingedrungen, sie würde keine Rakete mehr durchlassen.
Nur einer von uns, der immer schweigsame, verschlossene Tellur, ließ sich von Reguls autoritärem Gebaren nicht ins Bockshorn jagen. Er suchte hartnäckig weiter nach einem rettenden Ausweg. Doch als er etwas gefunden hatte, legte auch er seine Berechnungen zuerst Regul vor, ehe er sie den anderen mitteilte, um ihm seine Idee zu erklären und mit ihm seinen Vorschlag zu erörtern. Die beiden sprachen fast nichts. Schweigend überreichte Tellur die Mappe, die sein Projekt enthielt. Regul nahm sie, ohne eine Frage zu stellen, und begann zu lesen. Keiner von beiden merkte, wie die Stunden verrannen. Schließlich verließ Tellur wortlos Reguls Kabine – er mußte seine Wache antreten. Als er abgelöst wurde und in den gemeinsamen Salon zurückkehrte, empfingen ihn seine Gefährten mit strahlenden Gesichtern. Rubina warf sich ihm an die Brust und weinte. Der fast übertrieben bescheidene und zurückhaltende Tellur wurde verlegen. Er war gleichsam blind für eigene Verdienste. Wenn man ihn lobte, empfand er das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Auch jetzt wäre er am liebsten davongelaufen, doch er überwand sich und ließ unsere Glückwünsche über sich ergehen. Wir wußten, daß die äußere Hülle des Raumschiffes elektrisch aufgeladen werden konnte. Wir hatten sogar darüber gesprochen, den Gedanken aber als untauglich verworfen. Nun bewies uns Tellur, daß trotz der gewaltigen Geschwindigkeit nur diese Möglichkeit uns retten konnte. Die Mappe mit Tellurs Vorschlag liegt noch im Archiv. Wir haben sie für Dich aufbewahrt. Studiere sie, wenn Du herangewachsen bist. Du wirst dann die Poesie der Zahlen begreifen und kannst die präzise Arbeit und die brillante Analyse einschätzen, die Dein Vater vollbrachte, während wir uns den Kopf über nicht zu verwirklichenden Projekten zerbrachen. Sobald die erforderlichen Vorbereitungen getroffen waren, zogen wir die Vorausrakete zurück, setzten den Strahlenbesen wieder in Gang und schalteten das elektrostatische und
magnetische Feld ein. Jetzt war das Schiff von einer Elektronenschicht umgeben, die die negativ geladenen Teilchen abstieß und die positiven neutralisierte. Das Magnetfeld isolierte die elektrostatische Zone. In ihr wurden die Protonen abgestoßen, die den vielschichtigen Schutz durchdrangen. Hätte uns jemand von der Seite gesehen, dann hätte er geglaubt, das Raumschiff brenne lichterloh, denn es war ringsum von verschiedenfarbenen lodernden Flammen umgeben. Doch es sah uns niemand in der kosmischen Einöde. Uns selbst machte die schreckliche Feuersbrunst keine Sorgen. Sie war ja gerade die Garantie für das erfolgreiche Durchqueren der kosmischen Wolke. Elf Monate flogen wir so dahin, eingebettet in ein stürmisches Meer bunter Flammen und Lichterscheinungen. Reguls Strahlenbesen vernichtete die neutralen Teilchen, Tellurs magnetisches und elektrostatisches Feld schützten uns gegen Elektronen und Protonen. Nur selten gelang es einzelnen Kernen schwererer Elemente, die Barrieren zu überwinden und in den Panzer des Schiffes einzudringen. Doch dieser war fest genug, um ihre Schläge aufzufangen und jede gefährliche Radioaktivität in den inneren Räumen zu verhindern.
Der Kampf gegen den Magnetorkan An jedem Schaltpult, in jeder Kabine und in jedem Raum befand sich ein Alarmknopf. Wurde er betätigt, dann hatten alle Besatzungsmitglieder, selbst die Schlafenden, sofort den Raumanzug anzulegen und sich unverzüglich an die Stellplätze zu begeben. Das Signal zeigte eine unmittelbare Gefahr für das Raumschiff an. Sein Ton ließ einem das Herz zu Eis erstarren. Er signalisierte Tod, unmittelbar bevorstehenden, unausweichlichen Tod. Während unserer ganzen Reise erklang er nur ein einziges Mal. Rubina löste ihn aus, Deine Mutter.
Keiner von uns kannte den Grund dieser äußersten Maßnahme. Wir streiften die Schutzanzüge über und stürzten zur Steuerkabine für die magnetischen Container, von wo aus das Alarmsignal ergangen war, jeden Augenblick auf etwas Schreckliches gefaßt – einen Schlag, der uns an die Wand schmetterte, oder das blendende Licht einer Explosion. Als Rubina uns eintreten hörte, sank sie, ohne sich umzudrehen, in ihrem Sessel zusammen. Ihr Gesicht war eingefallen und aschfahl, von Schweiß bedeckt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie unverwandt auf den großen, grünlich schimmernden Bildschirm. Das grauschwarze Oval, das zweihundertfünfzig Tonnen Antieisen abbildete, schwankte und kroch auf den oberen Rand zu. Unsere Blicke folgten wie gebannt seinen Bewegungen. Eine knappe Sekunde stand es still, als zögerte es, dann glitt es langsam nach links unten. Instinktiv griffen wir alle nach dem Steuerhebel, doch Rubina kam uns zuvor. Sie drehte einen Knopf und verstärkte damit das Magnetfeld im Container. Die gräßliche Masse hüpfte empor wie angestochen und berührte fast den oberen Rand. Sofort unterbrach Rubina die mit der Hand zu betätigende Havariesteuerung. Der automatische Regulator übernahm wieder die Abstimmung der magnetischen Kraftfelder. Das Oval schwebte in der Mitte des Bildschirms, unstet, labil – jeden Augenblick konnte es sich abermals den Rändern nähern. "Welcher Container ist das?" flüsterte Regul. "Alle! Ich habe sie synchron geschaltet!" Rubinas Stimme klang heiser und fremd. "Wir durchqueren ein pulsierendes Magnetfeld! Gut, daß ..." Die Wolke auf dem Bildschirm verblaßte einen Augenblick und floß dann auseinander wie aufgebläht, als wollte sie die gesamte Fläche einnehmen. Wie von einer Sprungfeder emporgeschleudert, sprang Rubina auf. Ihre Hände arbeiteten fieberhaft an der mehrfarbigen Steuertastatur. Mit blitzartigen Bewegungen gelang es ihr, die Masse zusammenzuhalten und ihr wieder klare Konturen zu geben.
"Da, seht euch das an! Das geschieht jetzt zum zweitenmal", flüsterte Rubina stockend. "Das Feld wirkt ungleichmäßig ein ... vor allem auf die weiter außen liegenden Container. Die Automaten schaffen es nicht, und ich ... ich glaube, ich schaff's auch nicht! Deshalb habe ich Alarm gegeben." Die kosmische Wolke, die wir durchflogen, hatte eine komplizierte, faserähnliche Magnetstruktur. Das wirkte sich auf das Schutzfeld des Raumschiffes und vor allem auf die magnetischen Kraftlinien aus, welche die staubförmige Masse des Antieisens in den Containern in der Schwebe hielten. Die heftigen, im Programm der kybernetischen Regulatoren nicht vorgesehenen Schwankungen des kosmischen Magnetfeldes störten die Arbeit der Automaten. Dadurch aber entstand die Gefahr einer furchtbaren Explosion. Die Antimaterie in einem der zahlreichen Container brauchte nur die Wände zu berühren, und schon flog alles in die Luft. Im millionsten Teil einer Sekunde würde das gigantische, fünf Kilometer lange Raumschiff, das Hunderttausende von Tonnen wog, in reine Strahlung übergehen. Das Schiff hätte sich direkt in Gamma- und Röntgenstrahlen, in alles durchdringende Photonen verwandelt. Jahre später hätte die Mondstation vielleicht im Gebiet des Zentauri einen winzigen Ausgangspunkt plötzlicher elektromagnetischer Strahlung registriert, und nur dadurch wäre der Menschheit eventuell bekannt geworden, daß ihr erstes interstellares Raumschiff aufgehört hatte zu existieren. Rubina wollte sich den Schweiß aus der Stirn wischen, aber sie kam nicht dazu. Ihre Hände griffen in Sekundenschnelle wieder nach den bunten Knöpfen und tanzten in hastigen Bewegungen darüber hin. Sie war eine schöne Frau mit der dunklen Haut einer Südländerin, doch jetzt sah sie geradezu furchterregend aus. Die Züge ihres erbleichten Gesichts waren unnatürlich verzerrt, ihre Augen schienen aus den Hö hlen zu treten. Wir alle hatten uns unwillkürlich vorgebeugt, um ihr zu helfen, doch wir wagten es nicht. Das summarische Abbild der mehreren Hundert Ellipsen aus Antimaterie floß oben wieder
auseinander, und nur Rubina wußte in diesem Augenblick, wo und wie man die Spannung des Magnetfeldes verändern mußte, damit die Katastrophe nicht eintrat. Jeder fremde Eingriff hätte wahrscheinlich das ohnehin durcheinandergeratene Regulierungssystem noch mehr gestört, er hätte eine Dissonanz in die Harmonie gebracht, die Deine Mutter unter Anspannung aller ihrer Kräfte aufrechterhielt – es wäre das gleiche gewesen, als würde ein ungeübter Pianist eine Taste anschlagen, während ein Virtuose spielt. Harmonie bedeutete aber unser Leben, jede Dissonanz hätte augenblicklich unseren Tod zur Folge gehabt. Als sich die Umrisse des Ovals wieder klar im Zentrum des Bildschirms abzeichneten, stieß Rubina außer Atem hervor: "Helft mir! Tellur, ich schalte den inneren Containerring auf Pult drei! Übernimm du seine Steuerung!" Ruhig wie immer, nur ein bißchen schneller nahm Tellur links von ihr Platz. Der Bildschirm vor ihm leuchtete bereits. Ein zweiter, ebenfalls ellipsenförmiger Fleck zeichnete sich auf ihm ab -das summarische Bild des Antieisens, das in den inneren Containern schwebte. "Selena, du reagierst am sichersten, ich übergebe dir den äußersten Ring an Pult zwei! Es liegen nur wenig volle Container dort, aber sie sind am meisten gefährdet, die Schwankungen des kosmischen Magnetfeldes wirken auf sie am stärksten ... Paß auf! " Selena saß kaum vor dem leuchtenden Bildschirm, da stürzte sie sich schon auf die Tastatur. Sie schien in keiner Weise erregt. Ihr Gesicht war wie von Stein, ruhig, gleichmütig. In diesem Moment dachte sie nicht an die Gefahr oder an den Tod. Während ihre Hände über die Tasten glitten, ihre Augen den Bildschirm fixierten und ihr Verstand mit der Geschwindigkeit einer elektronischen Rechenmaschine arbeitete, empfand sie nichts, ihr eigenes Ich war gleichsam weit weg, sie war unansprechbar, hatte alle Furcht überwunden. Für einen Beobachter wirkte sie völlig gelassen, als erfüllte sie mir eine Übungsaufgabe zur Abwendung einer fiktiven Gefahr.
Atair erbot sich, Rubina abzulösen, doch sie lehnte mit einem herrischen Nein ab und blieb vor ihrem Pult. "Das Feld ändert seine Stärke alle hundert Sekunden", erklärte Regul. Er war gleich zu Anfang beiseite getreten, um die Intensität und die Struktur des kosmischen Magnetfeldes zu studieren. "Man könnte meinen, wir flögen an Spulen vorüber, die in einem Abstand von zehn Millionen Kilometern nebeneinander liegen. In fünf Sekunden muß eine neue Schwankung einsetzen ... Da ist sie!" Er wollte noch sagen, daß er versuchen werde, die kybernetischen Automaten bis zum nächsten Stoß entsprechend neu zu programmieren, damit sie die Regulierung wieder voll übernehmen konnten, doch er wagte es nicht. Auf allen Bildschirmen gerieten die grauweißen Wolken abermals in Bewegung. Seine Gefährten bemühten sich unter Aufbietung aller Kräfte, die Antimaterie in die Gewalt zu bekommen und in die Mitte der Container zurückzudirigieren. Er schwieg, um sie nicht abzulenken oder zu stören. Während die drei gegen den Magnetorkan ankämpften, setzte Regul seine Beobachtungen fort. Er maß die Veränderungen im äußeren Magnetfeld und notierte die Reaktion der Steuergeräte. Nur hundert Sekunden Zeit blieben ihm, um das neue Programm festzulegen und die kybernetischen Regulatoren darauf einzustellen. Menschen waren solchen Anstrengungen auf die Dauer nicht gewachsen. Jeden Augenblick konnten sie einen Fehler machen, der das Schiff vernichtete. Plötzlich traf uns etwas wie ein lautloser Donnerschlag. Rubina hatte keinen Ton von sich gegeben, sie hatte sich nicht einmal bewegt, und trotzdem hörten wir alle ihren stummen Schreckensschrei. Den Bruchteil einer Sekunde lang hatte ihre Hand gezögert, und in einem der Container war die Wolke aus Antimaterie der Behälterwand mehr als zulässig nahe gekommen. Die Stelle leuchtete sofort auf, und im Havarieanzeiger erschien groß und rot die Zahl 313, die Nummer des beschädigten Containers.
Unsere Hände wurden eiskalt, unser Herz stockte, wir waren keines Gedankens fähig. Rubina handelte, noch ehe sie wieder recht zu Bewußtsein gekommen war. "Übernimm meinen Sektor!" rief sie Atair zu, der hinter ihr stand, und rückte zur Seite. "Ich steuere nur den beschädigten Container!" Auf den frei gewordenen Platz setzte sich jedoch nicht Atair, sondern Thalia. Atair hatte die Kabine verlassen und eilte bereits zu den Containern. Jetzt kontrollierte Rubina nur noch einen einzigen Behälter, aber einen beschädigten. Die Katastrophe war auch diesmal an uns vorübergegangen, doch wir schwebten in einer schrecklichen Gefahr. Ein winzig kleines Quantum Antimaterie, der milliardste Teil eines Milligramms, hatte die Wand berührt und dort die Magnetanlage zum Schmelzen gebracht oder zumindest in ihrer Funktion beeinträchtigt. Der Unterschied spielte kaum eine Rolle, denn das Gleichgewicht war auf jeden Fall gestört. Und jetzt mußte Rubina jonglieren, allein kämpfen, ohne die Hilfe der kybernetischen Regulatoren. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Wie lange würde sie diese Prüfung aushalten? Die Entfernung bis zum Antimateriebunker betrug fast zwei Kilometer. Um keine Zeit zu verlieren, öffnete Atair sofort die äußere Schleusentür, ohne erst die Luft langsam entweichen zu lassen. Die Druckwelle schleuderte ihn an die Wand, aber er achtete nicht auf den Schmerz und sprang in den langen Gang, der sich parallel zur Längsachse des Schiffes erstreckte. Hier gab es keine Luft, hier wirkte auch nicht die künstliche Schwerkraft. Atair wartete die zur Gewöhnung an die Schwerelosigkeit vorgeschriebenen drei Minuten nicht ab, sondern schaltete sofort den Raketenmotor seines Raumanzuges ein und glitt rasch den schmalen Gang entlang. Seine gewaltige nervliche Spannung half ihm, die Übelkeit zu unterdrücken, die gewöhnlich mit dem Übergang zur Schwerelosigkeit verbunden ist. Wie es ihm gelang, bei der Höchstgeschwindigkeit, die sein Raketenmotor entwickelte,
nicht an die Wände zu stoßen, daß wußte er selbst nicht. Er dachte auch gar nicht darüber nach. Seine Aufmerksamkeit war nach vorn gerichtet, auf den beschädigten Container. Früher als erwartet, erreichte er das Ende des Korridors, den Sektor drei. Er bog in einen Seitengang ab. Jeweils nur wenige Meter voneinander entfernt, standen hier die Container in langer Reihe, scheinbar völlig harmlos. Nichts deutete auf die hinter ihren Wänden verborgenen Energien hin. Da war auch der Behälter 313. Atair sah sich um. Der nächste leere Container war der mit der Nummer 309. Ihm konnte er das passende Wandteil entnehmen und es gegen das beschädigte auswechseln. Die Konstrukteure hatten auch einen solchen Fall bedacht: Dort, wo die Magnetanlage durch die Berührung gestört war, zeigte der Container eine andere Farbe. Die Stelle hob sich schwach gelbrot von dem stahlgrauen Anstrich ab, und um das ganze betroffene Wandstück lief eine dunkelrote Linie. Sie sah aus wie ein blutiger Operationsschnitt. Atair demontierte das entsprechende Teil des leeren Containers. Erst danach, als er daranging, den defekten Behälter zu öffnen, wurde ihm bewußt, wo er sich befand und was er zu tun beabsichtigte. Tausende von Tonnen Antimaterie umgaben ihn. Die Magnetfelder, die den furchtbaren Stoff in der Schwebe hielten, arbeiteten nicht normal. Der Container 313, den er jetzt öffnen mußte, war sogar schon beschädigt. Nicht mehr als ein Meter trennte ihn von zweihundertfünfzig Tonnen hochkonzentrierter, allesvernichtender Energie. Wie würde sie sich verhalten, wenn er das angeschlagene Wandstück entfernte? Würde er die schwebende Masse dadurch nicht vollends aus dem Gleichgewicht bringen? Konnte Rubina die Antieisenwolke mit der verbliebenen Magnetkraft beherrschen? Würde der grauweiße Staub nicht herausströmen und ihm ins Gesicht fliegen. Erst als er in die Steuerkabine zurückkehrte, fühlte Atair, wie sehr ihn die Anspannung mitgenommen hatte. Er ließ sich
erschöpft in einen Sessel fallen und sagte mit trockenen Lippen: "Geschafft!" Ihm gegenüber, schon ohne Raumanzug, saß Rubina. Sie zitterte am ganzen Leib. Tellur hielt ihre Hände, und Thalia strich ihr über das verklebte, schweißfeuchte Haar. Nur Regul beobachtete weiterhin die Bildschirme. Er kontrollierte die kybernetischen Automaten, die nun nach dem neuen Programm die Magnetfelder in den Antimateriebehältern selbständig steuerten.
Die Rache der kosmischen Wolke Das Schiff zog weiter seine Bahn durch den endlosen interstellaren Raum, umgeben von den gespenstischen blauen Flammen. Unsere Aufmerksamkeit galt jetzt vor allem dem Magnetfeld. Wir studierten seine Struktur, um eventuelle Veränderungen vorauszusehen und die kybernetischen Automaten rechtzeitig entsprechend einzustellen. Vor jedem Pult hielten jeweils zwei Mann Wache. Wir durften nichts riskieren, damit sich der Vorfall nicht wiederholte. Wir hatten die kosmische Wolke besiegt! Ihre zerstörenden Teilchen konnten uns nichts mehr anhaben, wir hatten gelernt, die Schwankungen in ihrer magnetischen Struktur vorauszusehen, und es war uns gelungen, unsere Automaten auf sie einzustellen. Doch die Wolke hielt eine dritte, nicht weniger böse Überraschung für uns bereit. Das erste Signal kam abermals von den kosmischen Teilchen. Die Meßgeräte zeigten an, daß sie mit größerer Gewalt auf den schützenden Magnetschirm trafen und ihn sogar durchschlugen. Seine Feldstärke mußte erhöht werden. Wir erklärten es uns durch örtliche Stürme, überzeugt davon, daß die Angaben bald auf die bisherigen Werte zurückgehen würden. Aber schon nach wenigen Tagen mußten wir feststellen, daß die Radioaktivität im Innern des Schiffes weiter stieg. Sie war zu schwach, um
uns gefährlich zu werden, aber das ganze verwirrte uns, weil wir die Ursachen nicht kannten. So begann ein neuer Kampf zwischen dem Raumschiff und der kosmischen Wolke. Wir waren gezwungen, die Stärke des schützenden Magnetfeldes regelmäßig zu vergrößern. Für kurze Zeit ging dann die Radioaktivität auf das normale Maß zurück, stieg jedoch bald wieder stetig an. Was ging hier vor? Wuchs die Geschwindigkeit der kosmischen Teilchen proportional zur Stärke unseres schützenden Magnetfeldes? Unmöglich! Schon lange hatten wir die Geschwindigkeit des Raumschiffes nicht mehr kontrolliert. Es flog ja antriebslos durch den Raum, weit entfernt von den Gravitationsfeldern der Sonne und der Proxima. Sein Motor stand still, es konnte von nirgendwoher eine Beschleunigung erfahren. Regul war es, der die Vermutung äußerte, das Raumschiff erhöhe seine Geschwindigkeit. Wir hielten das für absurd. Trotzdem nahmen wir die erforderlichen Messungen vor, um ihm zu beweisen, daß er nicht recht habe. Im Bereich unseres Sonnensystems ist so etwas relativ einfach. Man braucht nur für eine bestimmte Zeitdauer die Position mehrerer bekannter Punkte miteinander zu vergleichen, um die Geschwindigkeit des sich bewegenden Körpers zu ermitteln. Im interstellaren Raum gibt es jedoch keine solchen Anhaltspunkte. Unser Schiff schien die ganze Zeit unbeweglich im endlosen Raum zu schweben, obwohl es doch hunderttausend Kilometer in der Sekunde zurücklegte. Zwar flogen wir in einer kosmischen Wolke, wir hätten unsere Bewegung durch einen Vergleich mit ihren Teilchen feststellen können. Aber die Geschwindigkeit dieser Teilchen war ja eben nicht bekannt. Als einziges blieb die Möglichkeit, sehr sorgfältig die Spektren zweier leuchtender Himmelskörper auszumessen, nämlich das Spektrum der Sonne, von der wir uns entfernten, und das der Proxima, der wir uns näherten. Ihre genauen Spektren kannten wir, und bei einem Vergleich ließ sich auf Grund des Dopplereffekts unsere Geschwindigkeit errechnen.
Die charakteristischen Linien im Spektrum der Proxima waren nach Violett hin verschoben, die der Sonne nach Rot. Aus dem Grad dieser Verschiebung ergab sich die Geschwindigkeit des Raumschiffes, wobei allerdings noch der Einfluß der uns umgebenden Gase berücksic htigt werden mußte. Unsere Geschwindigkeit lag eintausendfünfhundert Kilometer höher als geplant! Das war unwahrscheinlich. Bei seinem Flug durch die Wolke aus Mikrostaub und Gasen hätte das Schiff infolge des Widerstandes eher langsamer werden müssen. Wir wiederholten alle Beobachtungen, Messungen und Berechnungen, bis jeder Irrtum ausgeschlossen war. Tatsächlich, das Schiff legte jetzt hunderteintausendfünfhundert Kilometer in der Sekunde zurück. Das verblüffte uns mehr als alles, was uns bisher begegnet war. Natürlich waren wir bestrebt, eine maximale Geschwindigkeit zu entwickeln. Je rascher unser Schiff flog, desto eher erreichten wir die Proxima, das Ziel unserer Reise. Doch wir durften nicht schneller werden als hunderttausend Kilometer in der Sekunde, denn nur dann reichten unsere Treibstoffvorräte aus, um die gewonnene Geschwindigkeit auch wieder abzubauen. Nun hatten wir diese Grenze überschritten. Wie sollten wir die zusätzlichen eintausendfünfhundert Kilometer wieder loswerden? Außerdem wußten wir ja gar nicht, wie lange die Beschleunigung anhielt. Zwar würden wir das System der Proxima früher erreichen als geplant, doch mit einer Geschwindigkeit, die eine Landung unmöglich machte. Wir mußten am Ziel vorbeifliegen, wenn wir das Raumschiff nicht bremsen konnten. Das aber bedeutete das Ende der Expedition und unseren Untergang, einen langsamen Untergang, der uns erst in Jahrzehnten erreichte, doch um so schrecklicher war in seiner Unabwendbarkeit. Die seltsame Erscheinung hatte eine recht simple Ursache. Das Magnetfeld der kosmischen Wolke wirkte auf das magnetisierte Schiff wie ein gigantischer Beschleuniger. So wie ein Synchrozyklotron elektrisch geladene Kernteilchen
beschleunigt, vermittelte die kosmische Wolke dem Raumschiff eine zusätzliche, unerwünschte und für unseren Flug katastrophale Geschwindigkeit. Alle Sorgen, die uns die Mikrometeoriten und die Magnetfelder in den Containern bereitet hatten, erschienen gering angesichts der neuen Gefahr. Täglich, ja stündlich erhöhte das Schiff seine Geschwindigkeit, wenn auch kaum merklich, und wir hatten kein Mittel dagegen. Wir versuchten alles mögliche. Das Magnetfeld des Schiffes durften wir nicht schwächen, denn es schützte uns vor der unmittelbaren Gefahr, dem Eindringen von Gasteilchen und Mikrometeoriten, die uns ohne diese Vorsichtsmaßnahme vernichtet hätten. Blieb es aber in voller Stärke bestehen, dann wurde das Schiff durch das Magnetfeld der kosmischen Wolke weiterhin beschleunigt. Ein wahrer Teufelskreis, und wir fanden keinen Ausweg. Am Ende des achten Jahres unserer Reise verlor die Wolke rasch an Dichte, und bald befanden wir uns wieder im freien Raum. Die nervenaufreibende Prüfung lag hinter uns. Wir hatten die gigantische, fast ein Lichtjahr mächtige kosmische Wolke überwunden. Das Schiff war unversehrt geblieben, die Mannschaft wohlauf, die magnetischen Container mit der Antimaterie hatten allen Belastungen standgehalten. Ohne die zusätzliche Geschwindigkeit von dreitausend Kilometern in der Sekunde hätten wir zufrieden und stolz auf unseren Erfolg sein können. Zwar brachte sie zu dieser Zeit das Schiff noch nicht in Gefahr, doch sobald wir in das System der Proxima einflogen, mußte sie sich verheerend auswirken. Wie einfach wäre das Problem zu lösen gewesen, hätten wir vorher etwas von der Wolke gewußt, ihre Dichte und ihre Magnetstruktur gekannt! Wir wären mit ein paar tausend Kilometer Geschwindigkeit weniger in sie hineingeflogen, hätten sogar noch Treibstoff gespart und alle Aufregungen vermieden. Am meisten bekümmerte es uns, daß wir unsere Erfahrungen nicht weitergeben konnten. Die Verbindung mit der Erde war seit langem abgerissen, und wenn wir umkamen,
erfuhr die Menschheit nichts von der Gefahr, die auf dem Weg zur Proxima lauerte.
Der Zweikampf mit der Zeit So begann der zweite, der schwerste Teil unserer Reise. Als wir die Wolke hinter uns gelassen hatten, bauten wir den Strahlenbesen ab, löschten die Magnetfelder und schalteten die Container wieder auf normal. Wir durften uns der Muße hingeben, nach der Anspannung der vergangenen Jahre ein willkommener Genuß. Das Raumschiff flog ungestört dahin, alle Apparaturen und Automaten arbeiteten einwandfrei. Und gerade darin lag für uns die größte Gefahr. Jetzt stießen wir auf den furchtbarsten Gegner – die Zeit. Tag für Tag, pünktlich wie eine Uhr, versahen wir unseren Wachdienst. Wir saßen die vorgeschriebenen Stunden an den Steuerpulten ab, beobachteten die Bildschirme und verfolgten die Angaben der Geräte, ohne daß wir die ausgezeichnet funktionierenden Automaten jemals korrigieren mußten. Die übrige Zeit waren wir frei. Gewiß, Möglichkeiten zur Zerstreuung gab es genug. Wir hatten eine Unmenge Filme mit, darunter für den Bildschirm bearbeitete Literaturwerke, wir konnten die gesamte Musik hören, die von der Menschheit in Jahrtausenden geschaffen wurde, oder uns Bilder ansehen, Landschaften von der Erde, vom Mond und von den Planeten. Es war alles da, was wir uns nur wünschen konnten. Und doch hatten wir keine Freude mehr daran. Unsere Tage flossen gleichförmig dahin. Immer häufiger glitt der Blick zu den Chronometern, die wie auf der Erde die Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Monate und Jahre zählten. Ohne sie hätten wir jegliche Orientierung verloren, so eintönig und träge verging das, was man die Zeit nennt.
Vielleicht glaubst Du, wir hätten ein intensives, ereignisreiches Leben geführt? Wenn wir alle gefährlichen Erlebnisse zeitlich zusammenrechnen, dann machen sie nicht einmal ein Jahr aus. Unser Flug zur Proxima aber dauerte sechzehn volle Jahre. Schon im ersten, dem stürmischen Teil der Reise hatten wir oft nur tatenlos gewartet, mehr als sieben unerfüllte Jahre hindurch. Und nun sollten weitere acht folgen, acht Jahre unseres Lebens ohne jedes bemerkenswerte Ereignis. Die ausgestandenen Gefahren, die Kämpfe mit den kosmischen Naturgewalten hatten unsere Nerven ernstlich angegriffen. Der Mensch vermag dem Tod nicht ungestraft ins Auge zu sehen. Wir aber hatten lange, sehr lange in sein schreckliches Antlitz starren müssen. Er war uns manchmal ganz nahe gewesen, hatte uns schon gerufen, sich dann aber wieder zurückgezogen, um uns vielleicht im nächsten Augenblick unverhofft zu überfallen. Wir hatten uns nach ihm umgeblickt, hatten – warum es verschweigen – in ständiger Angst vor ihm gelebt. Nun zwang sich uns der Gedanke an ihn selbst in den ruhigsten Tagen auf. In solch einem Gefühl empfindet man auch die Zeit anders – sie vergeht langsamer. Mörderisch langsam. Man lebt, fühlt aber gleichzeitig, daß in jeder Sekunde etwas in einem stirbt. Als das Raumschiff für uns noch neu war und wir uns mit seiner Einrichtung vertraut machten, da konnten wir seine Vollkommenheit, seine sinnreiche Konstruktion und die Bequemlichkeit, die es uns bot, nicht genug loben. Erst später begriffen wir, welche ungeahnten Gefahren das für uns barg. Die übergroße Sorgfalt und die selbstlose Liebe, mit der die Konstrukteure alles durchdacht hatten, bereitete uns Qual. Alles wurde uns mundgerecht vorgesetzt, keinerlei Anstrengungen wurden von uns verlangt. Wir empfingen nur. Und so sollte das noch acht Jahre lang weitergehen? Waren wir denn völlig überflüssig und nutzlos geworden? Das Schiff flog nach dem Trägheitsgesetz, die Automaten arbeiteten getreu ihrem Programm. Wir aber wollten nicht nach der Trägheit leben, wir waren keine programmierten Automaten.
Jeder von uns hatte eine gründliche Ausbildung genossen. Vielleicht war der eine weniger begabt, der andere mehr, doch alle waren hochqualifizierte Wissenschaftler mit jeweils mehreren Spezialgebieten. Und nun konnten wir unsere Kenntnisse in keiner Weise nützen! Alle wissenschaftlichen Probleme, die der Flug mit sich brachte, waren längst gelöst. Neue ergaben sich nicht. Was sollte man auch nach einer achtjährigen Fahrt durch den leeren interstellaren Raum noch untersuchen? Die wichtigsten Mittel fehlten uns, die Zeit spürbar zu machen: die Freude der Tat, der intensive Kampf, die Bitterkeit der Niederlage, die Genugtuung des Sieges. Wir waren vor dem Start davor gewarnt worden, wir hatten gewußt, was uns erwartete. Aber Wissen ist eins, die niederdrückende Gewißheit, jahrelang zum Nichtstun verurteilt zu sein, unnütz herumzusitzen und nur auf die nächste Wache zu warten, ist etwas anderes. Die Spannung unserer Nerven sammelte sich, unmerklich, in uns wie in einem Akkumulator. Wir fühlten es, doch wir schwiegen. Niemand brachte die Rede darauf, keiner wollte seine Qual den anderen eingestehen, nicht einmal sich selbst. Oft saßen wir schweigsam, niedergeschlagen im gemeinsamen Salon beisammen. Wir fanden nicht die Kraft, uns in die Augen zu sehen und die Fragen auszusprechen, die uns bewegten: Werden wir durchhalten? Hat die Qual, zu der wir verdammt sind, überhaupt einen Sinn? Ist unser Opfer nicht vergebens? Zuviel Unbekanntes stand uns noch bevor: Werden wir ein Mittel finden, die überschüssige Geschwindigkeit des Raumschiffes zu bremsen? Werden wir einen zur Landung geeigneten Stern in der Nähe der Proxima entdecken? Wird es uns gelingen, dort eine Anlage zur Gewinnung des Treibstoffs zu bauen, den wir brauchen? "Wir sind Vertreter der modernen Menschheit, ihre Vorboten im Kosmos, aber mir scheint, anstatt vorwärts zu streben, fallen wir in die finsterste Vergangenheit zurück."
Unsere Gruppe hatte Freiwache. Wir saßen alle im Salon, doch niemand ging auf Atairs Worte ein. Vielleicht, weil er sich unklar ausdrückte, vielleicht aber auch, weil er uns nichts Neues sagte. Ohne jemanden anzusehen, als formuliere er seine Gedanken nur für sich, fuhr er fort: "Früher gab es eine Klasse von Nichtstuern. Sie lebten dahin, ohne etwas zu leisten. Und nun sind wir in die gleiche mißliche Lage geraten, wir, die man ausgesandt hat, den Kosmos zu besiegen. Was nützt es, wenn wir regelmäßig unsere Wache halten? Ist das nicht ein alberner Selbstbetrug? Wer braucht uns denn? Die Automaten? Sie erledigen alles auch ohne uns und viel besser als wir." "Die brauchen überhaupt nichts", sagte Thalia bitter. "Ihnen ist es gleich, ob das Schiff heil bleibt oder zerplatzt, ob wir einen Planeten finden oder bis an unser Lebensende im Kosmos umhergondeln. Das alles kratzt sie nicht, sie sind gefühllos wie Steine. Für sie gibt es keinen Tod, kein Mißlingen und keinen Erfolg, keine Trauer und keine Freude. So sind sie nun mal, unsere treuen Helfer." "Wißt ihr ..." Selena sah uns plötzlich nachsichtig lächelnd an. "Nein, ihr wißt es nicht, ich muß es euch verraten. Seit einiger Zeit befinde ich mich im Nirwana. Blickt mich nicht so entgeistert an, euch ist dieses Gefühl wahrscheinlich fremd, aber in mir lebt es seit Jahrtausenden fort, eingepflanzt ins Unterbewußtsein. Hier im Weltenraum erreicht man die ewige Glückseligkeit; man besitzt alles, was man sich wünschen kann, ist aller Mühen und Sorgen enthoben und versinkt in die Unendlichkeit von Zeit und Raum. Das ist es, das Nirwana, der uralte Traum meines Volkes. Meine Vorfahren haben es vergeblich gesucht, und wir, ihre Nachkommen, finden es nun unverhofft. Aber ihr murrt, anstatt froh und glücklich zu sein. Die alten Weisen hatten schon recht – der Mensch ist nie zufrieden, er wird immer gegen etwas aufbegehren." "Was für ein Unsinn!" sagte Regul he ftig. "Das kann ich nicht länger mit anhören!" Er stand auf und verließ den Raum, ohne sich umzudrehen. Niemand hielt ihn zurück.
Atair versuchte, das Gespräch wieder in vernünftige Bahnen zu lenken. Er begriff, daß wir nicht länger schweigen und uns zersetzenden Gedanken hingeben durften, wollten wir uns nicht völlig von ihnen vergiften lassen. "Vielleicht hatten die Psychologen recht, als sie vorschlugen, im Schiff Anlagen für eine Anabiose zu schaffen. Ich war übrigens auch dafür. Dann brauchten wir uns jetzt nicht als Nichtstuer zu fühlen und nicht die Ideen der altindischen Mythologie auszugraben. Wir hätten den Flug in einer Art Winterschlaf überdauert und wären erst kurz vor unserem Ziel wieder erwacht." "Das geht ja wohl ein bißchen zu weit." Rubina warf Atair einen strengen, fast feindseligen Blick zu. "Muß ich dir erst Gegenargumente wiederholen, denen auch du damals zugestimmt hast? Unser Flug ist keine rein technische Angelegenheit. Die Menschen gehören dazu, sie müssen mit der Technik des Photone nraumschiffes eine harmonische Einheit bilden. Das heißt mit der Antimaterie umgehen lernen, schnell und präzise handeln wie kybernetische Automaten, exakt arbeiten wie Astronavigationsgeräte und vorwärts drängen wie der Feuerstrahl des Reaktors. Fehlt ihnen eine dieser Qualitäten, dann sind sie fehl am Platz und nicht wert, dieses Wunderwerk der Technik zu steuern, das die Erde ihnen anvertraut hat." Tellur schwieg wie immer, den Blick starr auf einen Punkt im Raum gerichtet. Er sprach mitunter tagelang kein Wort, doch das störte uns nicht. Wir wußten, daß er in jedem Augenblick bereit war, selbst die schwerste Aufgabe zu übernehmen. Ohne Zweifel dachte er auch jetzt ebenso angestrengt nach wie wir, doch hätten wir ihn nach seiner Meinung gefragt, hätte er bestimmt geantwortet: Ich habe keine Idee, die es wert wäre, daß ich sie euch mitteilte. Es war uns immer ein Rätsel, wie Rubina und Tellur, zwei so unterschiedliche Charaktere, miteinander auskamen. Wenn wir manchmal darauf anspielten, begnügte sich Tellur mit der kurzen Antwort: "Ausgezeichnet", und Rubina erwiderte
lachend: "Was wollt ihr bloß von uns? Die Worte, die wir euch schuldig sind, die rede ich. Ich sage alles, was nötig ist, und, damit keiner von euch zu kurz kommt, meistens noch ein bißchen me hr." Der engste Freund Deines Vaters war Norge. Sie waren zusammen aufgewachsen und hatten gemeinsam alle Ausbildungsstätten besucht. Bis zu unserer Abreise waren sie unzertrennlich gewesen. Norge wäre gern mitgekommen, aber er wurde für die Expedition zum Pluto gebraucht, die alle zehn Jahre unternommen wird. Für den monatelangen einsamen Aufenthalt in den Eiswüsten des Planeten war er der richtige Mann. Er ähnelte Tellur in jeder Beziehung verblüffend. Wenn wir zur Erde zurückkehren, wirst Du ihn kennenle rnen. Hoffentlich ist er noch am Leben. Die beiden Freunde lagen nach der Arbeit oft auf der Terrasse im Liegestuhl, stundenlang, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. "Wir denken zusammen nach und schmieden Pläne", erklärten sie uns. Wir anderen machten uns dann über sie lustig. "Tellur und Norge führen wieder Streitgespräche. Wenn sie sich bloß nicht noch in die Haare kriegen!" Nicht alle waren so granithart und unbeugsam wie Tellur. Die Astrophysikerin Gemma von der ersten Gruppe verfiel einem düsteren Trübsinn. Auch sie sprach nicht mehr, doch ihr Schweigen verhieß nichts Gutes. Sie sonderte sich ab, blieb stundenlang allein und starrte wie versteinert vor sich hin. Alle Versuche, sie zum Reden zu bringen und sie aufzuheitern, blieben vergeblich. Sie antwortete entweder gar nicht oder murmelte dumpf: "Ich kann nicht mehr! Das ist nichts für mich!" Oft fanden wir sie in Selbstgespräche vertieft. Sie redete immer von der Erde, von der Schönheit der Wälder und Gebirge, erzählte, wie sie weit ins spiegelglatte Meer hinausgeschwommen oder stundenlang am blauen Himmel dahingeflogen war. Die Melancholie packte sie immer stärker.
"Ich ertrage das nicht, versteht ihr, ich kann einfach nicht mehr! Früher hat man Menschen für schwere Verbrechen eingekerkert. Bin ich denn ein Verbrecher? Fünfundvierzig Jahre Gefängnis! Das hält keiner aus. Ich will zurück! Selbst Mörder hat man begnadigt, aber ich ... Holt mich denn niemand raus? Wir finden den Planeten bestimmt nicht, und dann haben wir keinen Treibstoff mehr für die Rückkehr. Bis in alle Ewigkeit hocken wir in diesem Käfig, zu lebenslänglichem Gefängnis verdammt, und wir selbst haben uns dazu verurteilt!" Ihr Zustand machte uns die größten Sorgen. Hegte nicht jeder von uns ähnliche Gedanken? Gemma verfiel zusehends, es war klar, daß sie nicht durchhalten würde. Wir versuchten alle Mittel der Psychotherapie, behandelten sie außergewöhnlich zuvorkommend und bemühten uns ständig, sie zu zerstreuen und abzulenken. Doch nichts half. Es kam so weit, daß wir an härtere Maßna hmen dachten. Dazu war ein einstimmiger Beschluß aller Besatzungsmitglieder nötig, doch er kam nicht zustande. Der Gedanke, wir sollten die persönliche Freiheit eines Besatzungsmitglieds gewaltsam einschränken, widersprach all unseren Vorstellungen. Deshalb verzichteten wir darauf, Gemma einzuschließen. Wenige Tage später war sie verschwunden. Gemma hatte heimlich ihren Raumanzug angelegt und das Schiff mit einem gewissen Vorrat an Nahrung und Treibstoff für die kleine Rückenrakete verlasssen. Die Ortungsgeräte entdeckten sie weit hinter uns in Richtung Sonne. Sie antwortete schon nicht mehr. In was für einer Verfassung muß sie gewesen sein, um auf die Idee zu kommen, dreißig Billionen Kilometer zur Erde zurückzufliegen, allein, im Raumanzug, mit einem Sauerstoffvorrat für sechs Stunden? Auch Xenon, der Elektroniker der dritten Gruppe, war nicht mehr Herr seiner Nerven. In den gewöhnlichsten Gesprächen brachte er unversehens seltsame Dinge vor, die wir anfangs für originelle, eigenwillige Ideen hielten.
"Wir sind für solche weiten Reisen in den Kosmos nicht geschaffen. Unsere Natur läßt sich nicht zwingen. Kinder der Sonne haben eben in den Grenzen des Sonnensystems zu bleiben. Nur ein kybernetischer Automat ist in der Lage, Zeit und Raum zu besiegen. Er schaltet sein Zentralrelais aus und wartet tausend, wenn's sein muß auch eine Million Jahre. Inzwischen fliegt das Raumschiff sonstwohin, bis in ein anderes Milchstraßensystem vielleicht. Am Ziel schnappt dann das Relais wieder ein, und auf geht's zu neuen Taten: Der Automat untersucht und forscht, sammelt Wissen und Weisheit. Wir gehören auf die Erde und unter die Sonne, von den Sternen sollten wir die Finger lassen. Für so was sind wir zu unvollkommen. Unser psychisches Schaltschema müßte grundlegend umkonstruiert werden, und auch dann fragt sich noch, ob damit was anzufangen ist. Ein kybernetischer Automat hingegen stellt kaum Anforderungen, den kann man einrichten, wie man will, leicht und schnell." Bald darauf ließ sich Xenon nur noch selten sehen. Er verbrachte seine freie Zeit im physikalischen Labor. Zwischendurch lief er suchend durch die Lagerräume. Mitunter arbeitete er auch stundenlang an den elektronischen Rechenautomaten. Doch er sagte niemandem, was er vorhatte. Nicht weniger zuwider als Gewaltanwendung war uns das Nachspionieren. Doch durch den Vorfall mit Gemma gewarnt, beschlossen wir, diesmal nicht so lange zu zögern. Wir begannen Xenon zu beobachten. Der begabte Mathematiker und erfahrene Elektroniker war offensichtlich dabei, die Reserveblocks der kybernetischen Anlagen zu einem neuen, sich selbst programmierenden System zusammenzubauen. Er arbeitete wie besessen und suchte mit krankhaftem Eifer in den Lagern nach entsprechenden Teilen und Aggregaten. Einmal holten wir ihn zu einem Gespräch. Wir baten ihn, uns zu erklären, was er treibe.
"Ich bemühe mich, den Fehler zu beseitigen, der in euch allen steckt; ich will nachholen, was die Natur an euch versäumt hat. Ihr solltet mir lieber helfen, anstatt mir die Zeit zu stehlen." Wir wußten nicht, was er meinte. Er setzte es uns auseinander. "Ich konstruiere einen Kosmonauten. Einen richtigen, vollkommenen, ewigen Kosmonauten, den Homo astris. Er ist in der Lage, die vom Homo sapiens gestellten Aufgaben zu lösen, er wird nicht sterben wie wir und hat weder Zeit noch den Raum zu fürchten. Laßt mich in Ruhe, ich will lieber was Nützliches tun." Xenons Verhalten schien uns nicht weiter gefährlich. Die Reserveteile, die er verbaute, waren zu verschmerzen; im übrigen tat er nichts Besorgniserregendes – warum sollten wir ihm etwas verbieten, was ihm Spaß machte? Da er allein arbeitete, brauchte er trotz seiner Fähigkeiten sechs Monate, um seinen Homo astris fertigzustellen, obwohl er Tag und Nacht daran bastelte. Genausolange dauerte es dann noch, bis er ihn programmiert und mit Informationen gefüttert hatte. Erst nach diesem Zeitpunkt wurde die Sache bedenklich. Xenon traf sich überhaupt nicht mehr mit uns. Er verbrachte Tage und Nächte im Labor und unterhielt sich pausenlos mit seinem Geschöpf. Auf unsere Einwände erwiderte er kühl: "Ihr seid doch genau wie ich. Mit euch ist es mir zu langweilig. Ihr könnt mir nichts Neues sagen." Er machte den Eindruck eines Psychopathen. Wir beschlossen, in sein Labor ein Visophon einzubauen, über das wir ihn beobachten konnten. Es war einfach unsere Pflicht, aufzupassen, wohin die Geistesverwirrung unseren Gefährten trieb. Xenon stellte seinem kybernetischen Gesprächspartner unausgesetzt Fragen und lauschte begierig auf die Antworten. Das ganze ähnelte einer Prüfung: Er stellte dem Automaten Aufgaben, die mit der Astronautik, mit unserer Expedition oder mit den uns noch bevorstehenden Schwierigkeiten im Zusammenhang standen. Manchmal aber, und zwar mit der Zeit
immer häufiger, schweifte er auch ab, und dann mußte er sich oft vernichtende Urteile anhören. "Was hältst du von den Menschen?" fragte Xenon. Er war ehrlich und bescheiden genug, sich in seinen Gesprächen mit dem kybernetischen Elektronenmechanismus niemals als dessen Schöpfer zu bezeichnen. "Die Menschheit ist eine unrationelle Anhäufung fast gleichartiger, sich sinnlos wiederholender kybernetischer Systeme", erläuterte das Elektronenhirn bereitwillig. "Jedes einzelne sammelt nur sehr schwer Informationen, hält sie mühevoll fest und bedient sich ihrer unsicher und außerordentlich langsam. Die Schaltpläne sind mit überflüssigen Elementen belastet, zum Beispiel mit Gefühlen, Charakter, Idealen. Sie setzen den Gebrauchswert der einzelnen Konstruktion herab und wirken sich somit schädlich aus. In energetischer Hinsicht ist kaum ein unrationelleres Aggregat denkbar als der Mensch. Sein Nutzkoeffizient liegt äußerst niedrig. Er verbraucht gewaltige Mengen Energie, setzt aber nur einen verschwindend kleinen Teil in nutzbringende Arbeit um. Der Mensch ist ein ökonomisches Absurdum. Ihm haften Mängel an, die ihn zur Ausführung verantwortungsvoller Aufgaben im Kosmos untauglich machen." "Woran denkst du zum Beispiel?" fragte Xenon. "Er braucht Schlaf, das ist verlorene Zeit, unproduktiver Zustand. Dann der Selbsterhaltungstrieb. Er verhindert den Einsatz des Menschen für Aufgaben, die seine Zerstörung zur Folge hätten. Dabei wäre das der einzige Vorzug der sich vielfältig wiederholenden, gleichartigen und somit ersetzbaren Menschenaggregate. Die Menschheit ist eine sinnlose Massenproduktion gleicher Typen aus ein und derselben Serie. Es widerspricht jeder Logik, den Menschen für die kurze Dauer ihrer Existenz sämtliche Informationen einzugeben. Während der Hälfte seiner Zeit sammelt der Mensch Informationen, wendet sie aber nur in sehr geringem Maße an. Dieser Prozeß wiederholt sich milliardenfach. Deshalb sind die Erfolge der
Menschheit auch so kläglich, verglichen mit der Zeit ihres Bestehens." Gelegentlich versuchte Xenon mit dem Elektronenautomaten zu streiten. Aber er kam mit seinen Argumenten nicht durch. Schließlich begann er sich über die Antworten zu ärgern. Er warnte seinen Kosmonauten und drohte sogar, ihn zu zerstören. Der Roboter erwiderte mit monotoner Stimme: "Das wäre ein unzweckmäßiger Einsatz von Arbeitskraft." Da floh Xenon aus dem Laboratorium. Nach langer Zeit tauchte er wieder auf, hilflos und völlig konfus, um bei uns Hilfe zu suchen. Schließlich empfand Xenon einen Widerwillen gegen sein Geschöpf und vermied jedes weitere Gespräch mit ihm. Das Produkt seiner Krankheit hatte ihn geheilt. Bald darauf arbeitete er am Umbau des Schiffes mit. Du wirst später noch einmal von ihm hören. Wahrscheinlich erinnerst Du dich gar nicht an ihn, denn er ist freiwillig auf dem Planeten der Proxima geblieben. Um den Roboter kümmerte sich Regul. Er fragte ihn nicht nach seinen Ansichten, sondern baute ihn kurzerhand zu einem zentralen Informator um. So wurde die mühevolle Arbeit, die Xenon aufgewendet hatte, doch noch rationell genutzt.
Der Kampf gegen die Geschwindigkeit Während wir im lautlosen Ringen mit der Zeit und dem Raum lagen, flog das Schiff mit erhöhter Geschwindigkeit weiter. Die Berechnungen, mehrfach aufs sorgfältigste wiederholt, ergaben, daß unsere Energievorräte, selbst bei Einsatz der letzten Reserven, nicht ausreichten, um die Geschwindigkeit völlig abzubauen. Wir würden etwa zweitausend Kilometer in der Sekunde zu schnell in den Gravitationsbereich der Proxima einfliegen. Das aber bedeutete, daß wir unser Ziel verfehlen und bis in alle Ewigkeit durch die Milchstraße rasen mußten, ohne je irgendwo landen zu können.
Es gab eine einzige Möglichkeit. Das Raumschiff mußte so umgebaut werden, daß sich seine Masse um mindestens drei oder vier Prozent verringerte. Dann würde der Treibstoff ausreichen, um die Geschwindigkeit entsprechend herabzusetzen und sie auf Null zu reduzieren, sobald wir in das System der Proxima eindrangen. Doch das hieß das Schiff flügellahm machen, denn wir hätten etwa siebentausend Tonnen an Einrichtungsgegenständen und Anlagen über Bord werfen müssen. Natürlich führten wir nichts Überflüssiges mit. Was auch immer wir opferten, es konnte sich nur um etwas Wichtiges, im Grunde sogar Unentbehrliches handeln: Material, Geräte, Maschinen und Vorräte. Zu unserer Ausrüstung gehörte das sogenannte Universalwerk, eine mächtige Fabrikanlage mit den kompliziertesten Maschinen, in der wir fast jeden Gegenstand unseres Bedarfs herstellen konnten. Doch dazu brauchten wir Rohmaterial und vor allem – Zeit. Wenn man aber fünfundvierzig Jahre opfert, die besten und schönsten seines Lebens, dann ist Zeit etwas sehr Kostbares. Die Aussicht, daß wir auf dem fremden Planeten womöglich viele Jahre arbeiten mußten, um die verlorenen Dinge neu zu fertigen, erschien uns daher keineswegs als rosig. Außerdem stand durchaus nicht fest, daß wir im System der Proxima einen zur Landung geeigneten Planeten finden würden, auf dem die erforderlichen Rohstoffe vorhanden waren. Allerdings ging es nicht nur um den Ersatz der über Bord geworfenen Gegenstände. Blieb die Suche vergeblich, dann war unsere Expedition ohnehin zum Untergang verurteilt, denn wir hatten ja keinen Treibstoff für die Rückfahrt, sondern waren darauf angewiesen, an Ort und Stelle auf dem unbekannten Planeten neue Vorräte zu produzieren. Doch die Zeit verging, wenn auch langsam; es nahte der Moment, in dem wir das Schiff um hundertachtzig Grad drehen und den Photonenstrahl wieder einschalten mußten, um es
allmählich zu bremsen. Bis dahin mußten wir uns entschieden und wirkungsvolle Maßnahmen vorbereitet haben. Das war jetzt die Aufgabe, die uns unausgesetzt beschäftigte. Eine Gruppe ausgewählter Spezialisten mit dem Hang zu neuen, ungewöhnlichen Ideen – Wissenschaftler, die die Kraft und den Wunsch in sich verspürten, das Unmögliche möglich zu machen – suchte deshalb noch nach einer anderen Lösung, obwohl es, wie die Geschichte der Kosmonautik lehrte, nur ein einziges Mittel zu unserer Rettung gab – eben die Masse des Raumschiffes zu vermindern. Tag und Nacht zerbrachen wir uns den Kopf darüber, was wir gegen die zusätzliche Geschwindigkeit unternehmen konnten. Es war eine Zeit angestrengten Nachdenkens doch die Spannung ließ uns wenigstens vorübergehend die Qual des unfreiwilligen Nichtstuns während der bevorstehenden Jahre vergessen. Nachdem wir in langen Debatten Hunderte von Objekten erörtert hatten, entschieden wir uns schließlich für drei parallellaufende Maßnahmen. Der Energetikergruppe war es gelungen, eine Methode zur Erhöhung der Schubkraft zu entwickeln, die allerdings mit einem gewissen Risiko verbunden war. Es bestand Gefahr, daß der Photonenstrahlreflektor den ungeheuren Druck nicht aushielt; immerhin war damit ein stärkerer Rückstoß zu erzielen. Ein vernünftiges Risiko in unserer Lage, und wir gingen es ein. Materie, das heißt Eisen, hatten wir ausreichend zur Verfügung. Begrenzt waren unsere Vorräte in Antimaterie. Deshalb beschlossen wir, die für die Produktion von Treibstoff auf dem Zielplaneten vorgesehene Anlage schon jetzt in Betrieb zu nehmen. Dabei sollte ein Teil der leeren Container nicht abgeworfen, sondern als Ausgangsmaterial verwendet werden. Mit Hilfe der gewaltigen Energien, die der Reflektor entwickelte, konnten wir eine gewisse Menge Materie in Antimaterie verwandeln.
Nicht viel, doch immerhin gewannen wir auch dadurch zusätzliche Kräfte für unser Triebwerk. In alten Zeiten haben die Seefahrer alles Brennbare geopfert, um das Feuer unter den Kesseln zu schüren und auf diese Weise doch noch das rettende Ufer zu erreichen. Genauso mußten auch wir, die ersten interstellaren Raumfahrer, einen Teil unseres Schiffes verbrennen, um zu unserem Ziel zu gelangen. Allerdings griffen wir dabei nach Eisenteilen und leeren Containern, denn wir mußten zur Unterhaltung des Feuers im Photonenreaktor Materie in ihr Gegenteil verwandeln, in Antimaterie. Das Vorhaben war schwierig und gefährlich. Wir lieferten das Schiff für die kommenden drei Jahre der Gefahr aus, bei der geringsten Unregelmäßigkeit in der Anlage zur Produktion von Antimaterie durch eine Explosion vernichtet zu werden. Aber wir hatten keine andere Wahl. Dennoch reichten die Maßnahmen nicht aus, um unsere gesamte Geschwindigkeit zu tilgen. Es blieb dabei, daß wir einen Teil unserer Ausrüstung in den Kosmos werfen mußten. Nicht so viel, wie wir ursprünglich errechnet hatten, doch immerhin noch etwa tausendfünfhundert Tonnen – ein sehr schweres Opfer. Es ist nicht so einfach, tausendfünfhundert Tonnen Einrichtungsgegenstände aus dem Raumschiff zu entfernen, in dem selbst das unbedeutendste Konstruktionselement und das kleinste Gerät aus einer möglichst leichten Legierung bestehen und das überdies nur das Notwendigste an Bord hat. Im Grunde konnten wir nämlich nichts entbehren. Aber es blieb uns nichts anderes übrig, wir mußten, wenn auch schweren Herzens, die ganzen tausendfünfhundert Tonnen zusammenbringen. Zuerst warfen wir die leeren Container und eine Menge Ersatzteile und Reserveapparate ab, dann einen Teil unserer Vorräte an Wasser, flüssigem Sauerstoff und Nahrungsmitteln. Selbst der Reservepanzer für die Stirnseite mußte dran glauben, obwohl wir nun, falls uns eine zweite kosmische Wolke begegnete, keinen zusätzlichen Schutz mehr gehabt hätten. Wir
waren sogar bereit, uns notfalls von den kostbarsten Dingen zu trennen: den Tonbändern, Filmen, Bildern und Büchern, das heißt von den Kulturschätzen, die uns mit der Erde verbanden. Unvergeßlich ist uns allen der Anblick, den die Gegenstände boten, nachdem wir sie aus dem Schiff entfernt hatten. Dem Trägheitsgesetz folgend, flogen sie noch monatelang neben uns her, in unmittelbarer Nähe des Schiffes, als wollten sie sich nicht von uns trennen. Erst als wir den Bremsvorgang einleiteten und das Triebwerk nach fast zehnjähriger Pause wieder zu arbeiten begann, strebten sie an uns vorbei nach vorn und verschwanden schließlich in der schwarzen Unendlichkeit. Wir sahen ihnen nach, bis das Dunkel sie verschluckte. Und glaube mir, uns war so schwer ums Herz, als hätten wir dem feindlichen Kosmos einen treuen Freund ausgeliefert. Das Schiff flog weiter, äußerlich heil und unversehrt, aber es war nicht mehr das alte. Wir hatten es verstümmelt, ihm sozusagen die Zähne ausgebrochen. Die geringste Havarie konnte jetzt zur Katastrophe werden, jede Unstimmigkeit konnte vernichtende Folgen haben. Wir bewegten uns hart an der Grenze der Sicherheit. Deshalb mußten wir zehnma l wachsamer und vorausschauender sein als vorher. Wir durften auf nichts anderes bauen als auf unser eigenes Reaktionsvermögen, auf unseren Verstand und unseren Mut.
Zweiter Bericht Wie wir die fremde Welt besiegten Die Sonne war schon lange nur noch ein Stern wie alle anderen. Um so heller leuchtete dafür das farbige Dreigestirn des Alpha Centauri: A gelb, B orangerot und die blinzelnde Proxima kirschrot. Als die Gravimeter zu summen begannen – das Zeichen, daß wir in ein neues Schwerefeld eindrangen –, erwachte das Schiff gleichsam aus einer Lethargie. Alle Fernrohre, Radioteleskope und Meßgeräte richteten sich auf die neue Welt, die sich vor uns auftat. Wir machten uns bereit für komplizierte Navigationsmanöver in einem unbekannten Planetensystem. Nur noch vier Monate trennten uns vom Ziel unseres Fluges. Und eben weil das Ende nahte, aber auch weil unsere Geschwindigkeit immer geringer wurde, vergingen die Tage besonders langsam. Schon die Forschungen auf der Erde hatten ergeben, daß die Proxima viele Planeten haben mußte. Ihre Zahl, ihre Masse und ihr Durchmesser waren jedoch nicht bekannt. Immerhin ließ die Linie, die der Stern auf seiner Bahn beschrieb, vermuten, daß sie an Masse die Sonnensatelliten insgesamt übertrafen. Das war auch der Grund, weshalb man für unsere Expedition gerade diesen unbedeutenden Stern ausgesucht hatte. Mit unserer Geschwindigkeit von hunderttausend Kilometern in der Sekunde hätten wir ohne weiteres auch den Doppelstern Tolimak erreicht. Wir hätten den Bremsvorgang nur anderthalb Monate später einzuleiten brauchen, um an der Proxima vorbei in das System des zentralen Sonnenpaares zu fliegen. Die Entfernung betrug nur vierzig Lichttage. Doch wir folgerten aus vielen Beobachtungen, daß der Doppelstern Tolimak keine Planeten besaß. Nirgendwo hätten wir landen können, um uns
mit den notwendigen Vorräten an Materie und Antimaterie zu versorgen. Die Planeten der Proxima bildeten ein seltsames, fast chaotisch anmutendes System verschiedenartiger Himmelskörper. In einem Raum von etwa zehn Milliarden Kilometer Durchmesser kreisen nicht nur neun Planeten um die Sonne wie bei uns, sondern mehr als hundert. Einige ähnelten dem Uranus und dem Neptun, andere hatten eine Masse fast wie die Erde, aber die weitaus meisten glichen dem Mars oder gar dem Zwerg Merkur. Alle aber besaßen eine wenn auch äußerst dünne Atmosphäre. Riesen wie der Jupiter und der Saturn hatten sich sonderbarerweise nicht gebildet. Die Gesamtmasse war gleichmäßiger verteilt als in unserem Sonnensystem. Die meisten Himmelskörper bewegten sich nicht in kreisähnlichen Umlaufbahnen wie die Planeten der Sonne, sondern in stark abgeplatteten Ellipsen. Regul stellte sogleich eine Hypothese über die Entstehung des Proximasystems auf. Die Planeten mit kreisähnlichen Bahnen hielt er für die "echten", ursprünglichen Begleiter der Proxima, während die anderen, stark elliptisch umlaufenden seiner Ansicht nach "Fremdlinge" waren, vom System des Doppelsterns A und B im Tolimak ausgestoßen und von der alleinstehenden Proxima eingefangen. Ob er damit recht hatte, kümmerte uns wenig. Wichtig war, daß wir eine reiche Auswahl an Planeten vorfanden, die das boten, was wir brauchten. Hundertundsieben Planeten zählten wir, die ihrer Masse und ihrem Umfang nach unserer Erde weitgehend ähnelten. Konnte sich nicht auf einem von ihnen auch Leben entwickelt haben? Und wenn ja – hatte es bereits seine höchsten Formen erreicht, würden wir vernunftbegabten Wesen begegnen? Der Gedanke, auf einem der Planeten könne Leben entstanden sein, faszinierte uns. Es gibt kaum etwas Fesselnderes und Reizvolleres für den Menschen als die Vorstellung, daß irgendwo im Weltall wesensverwandte Lebensformen existieren. Vielleicht hätten wir etwas entdeckt, wenn wir darauf aus gewesen wären, aber fremdes Leben, selbst das
primitivste, bedeutete für uns eher eine Gefahr und ein Hindernis als einen Nutzen, schon gar, wenn es sich um vernünftige Wesen handelte. Eine Begegnung mit unbekannten Organismen, in welchem Entwicklungsstadium immer sie sich befinden mochten, konnte uns nur schaden. Was wir brauchten, war lediglich die tote Materie dieser Welt: schwerer Wasserstoff und Eisen. Deshalb suchten wir einen Planeten, auf dem wir voraussichtlich kein Leben, dafür aber die notwendigen Rohstoffe fanden. Wir wählten den siebzehnten. Er sollte unsere zweite Heimat werden, wir nannten ihn Neogäa – Neue Erde. Auf ihm wurdest Du geboren. Um die Neogäa kreisten zwei kleine Monde mit einem Durchmesser von ein paar Dutzend Kilometern. An einem von ihnen machten wir das Raumschiff fest. Sechzehn Jahre und neunzig Tage nach dem Start betraten wir zum erstenmal wieder festen Boden – vierzig Billionen sechshunderteinundfünfzig Milliarden Kilometer von der heimatlichen Erde entfernt. Wir, die ersten Sternenfahrer, hatten die Zeit und den Raum besiegt und befanden uns in einer neuen Welt. Die Ehre, als erster den Fuß auf den Satelliten zu setzen, gebührte Regul, dem Ältesten. Wir folgten ihm, einer nach dem anderen, in den schweren Raumanzügen. In Sprüngen von hundert Metern bewegten wir uns, dicht nebeneinander dahinfliegend auf ein paar Felszacken zu. In unserem Helm ertönte ein Lied: Rubina sang vor Begeisterung. Der tote kleine Himmelskörper erschien uns in diesem Augenblick so vertraut, als befänden wir uns auf der Erde. Nachdem sich die erste Freude gelegt hatte, sahen wir uns ein bißchen gründlicher um. Die Sternbilder waren dieselben wie am Erdenhimmel. Nur der Centaurus hatte sich verändert. Sein hellster Stern, in dessen Nähe wir uns jetzt befanden, fehlte; die Sterne A und B des Tolimak entdeckten wir mit bloßem Auge als ungewöhnlich
helles Paar im Sternbild Walfisch. In der Andromeda stand ein neuer Stern erster Größe, unsere Sonne. Es war kaum zu glauben, daß dieses so fremd wirkende Gestirn unsere lebensspendende Sonne war. Unser neues Ze ntralgestirn war der rötliche Zwerg Proxima. Nach den Berechnungen trennten uns hundertsechzig Millionen Kilometer von ihm. Die Photometer zeigten, daß er nur dreißigmal heller als der Vollmond leuchtete. Es fiel schwer, ihn als Sonne anzuerkennen. Sein blutrotes Licht schien Unglück und Verderben zu künden. Während einige Träumer noch den fremden Himmel betrachteten, gingen die übrigen bereits ans Werk. Sie ließen sich von ihren Rückenraketen in verschiedene Richtungen tragen, erkundeten die Umgebung, machten Filmaufnahmen und stellten Meßgeräte auf. Der Mond selbst interessierte uns nicht. Unsere Aufmerksamkeit galt der Neogäa, dem Planeten, auf dem wir die Anlage zur Produktion von Treibstoff errichten wollten. Drei Tage nach unserer Landung hatten wir ihn mit Hilfe von Fernmeßgeräten so weit erforscht, daß wir die erste kleine Rakete zu ihm schicken konnten, eine automatische Erkundungsstation, die sich als Raupenfahrzeug in jedem Gelände zu bewegen vermochte und alle Operationen selbständig ausführte. In den nächsten beiden Tagen ließen wir zwei weitere Stationen folgen. Dann kam die Reihe an die Menschen.
Die Neue Erde In den Laderäumen des Raumschiffes lagen zwei Passagierund vier Frachtraketen für interplanetare Flüge bereit, nicht sehr groß und auch nicht sehr stark, aber technisch bis in die letzten Feinheiten durchdacht. Die Fahrt zu dem vierzigtausend Kilometer entfernten Planeten war kein Problem, man konnte
die Steuerung getrost dem Autopiloten überlassen. Trotzdem zeigten sich die vier Insassen der ersten Rakete ziemlich aufgeregt. Nicht, daß sie Angst um ihr Leben hatten, aber die Aussicht in eine neue unbekannte Welt einzudringen, ließ ihr Herz schneller schlagen. Es waren Rubina, Tellur, Thalia und Atair. Die Rakete landete auf einem Felsplateau am Ufer eines großen Sees. Unser kleines kybernetisches Vorkommando hatte ganze Arbeit geleistet: Der Platz war für die Landung geradezu ideal. Fast so glatt wie ein Tisch erstreckte sich die Felsplatte über mehrere Quadratkilometer. Soeben wurde es Morgen auf der Neogäa. Die Proxima kroch über den Horizont und übergoß die Landschaft mit blutigen Strahlen. Langsam trat, mit kirschrotem Glanz überzogen, der See aus dem Dämmerlicht. Die Felsen glänzten speckig. Über ihnen schwebte der rötliche Dampf, der bei der Landung unter dem Feuerstrahl des Triebwerks aufgestiegen war. Tellur verließ die Rakete als letzter. Schwer bepackt mit allen möglichen Geräten, kletterte er mühsam die hohe Treppe herunter. Ohne sich um das Panorama zu kümmern, steuerte er schnurstracks auf die nächste Panzerraupe zu. "Wo rennst du denn wieder hin? Sieh dich doch erst mal richtig um!" rief ihm Rubina nach. "Ich möchte gleich die Funkrichtstrahler aufstellen, damit wir die Stationen anderweitig einsetzen können." "Das hat doch Zeit! Sei nicht immer so schrecklich gewissenhaft!" Tellur jedoch ließ sich nicht irre machen, er würdigte Rubina keiner Antwort. Die drei kybernetischen Panzerwagen, die das Landungsgebiet abgesteckt und mit ihren Funksignalen die Rakete eingewiesen hatten, mußten durch Richtstrahler ersetzt werden. Sie sollten das Terrain in konzentrischen Kreisen erforschen und uns über die physikalischen Verhältnisse, Temperatur und Radioaktivität, chemische Zusammensetzung der Atmosphäre und Bodenbeschaffenheit unterrichten.
"Manchmal verstehe ich ihn wirklich nicht", sagte Rubina verärgert. "Schön, der Landeplatz muß für die nächsten Raketen vorbereitet werden, und die Stationen brauchen wir für andere Aufgaben, aber wir sind die ersten Menschen in einer fremden Sterne nwelt! Bringt ihn nicht einmal das aus dem Trott? Mit der Arbeit können wir doch wohl mal zehn Minuten später anfangen!" Was sollten Thalia und Atair darauf antworten? Am besten, man zog die Sache ins Scherzhafte. "Laß ihn doch, er hat noch dreizehn Jahre lang Zeit, die Landschaft zu genießen, da verschiebt er halt den beschaulichen Teil auf später. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Das ist vernünftiger." "Soll er doch, wenn's im Spaß macht", meinte Thalia. "Wir genießen inzwischen die Aussicht. – Seht bloß mal diese Ebene! Ich habe noch nie vor einer so riesigen spiegelplatten Fläche gestanden." "Und so rot – wie ein Meer von Blut!" "Kein Blut, sondern Eis und Kohlendioxyd", sagte Atair. "Die rote Färbung wundert uns jetzt vielleicht, aber in dreizehn Jahren haben wir uns sicher so daran gewöhnt, daß wir auf der Erde staunen werden: Was für ein sonderbares Meer! Aus geschmolzenem Eis! Und dieses trübe Blaugrün! Ach, wie schön war doch das reine Rubinrot unseres Sees auf der Neogäa! – Übrigens, wollen wir ihn nicht Rubinasee nennen? Dir zu Ehren, Rubina, und außerdem wegen seiner Farbe." "Dann müßten wir den ganzen Planeten so taufen und die anderen dazu, sogar die Proxima selbst. Sie sind ja alle rot. Aber Rubinasee klingt nicht schlecht." Tellur kehrte zurück. "Na, habt ihr euch satt gesehen?" "Wir haben sogar schon einen Namen für den See. Er heißt Rubinasee", brüstete sich Atair. "Tatsächlich?" Tellur blickte Rubina spöttisch an. "Nicht meinetwegen, sondern weil er so rot ist." "Warum so bescheiden? Wenn wir wollten, könnten wir nicht nur den See, sondern sämtliche Planeten nach uns benennen. Es
sind genug da, von den hundertsieben bleiben sogar noch welche übrig." Offensichtlich hielt er unsere Freude für naiv, ja für sinnlos. "Nachdem ihr jetzt die dringendste Angelegenheit erledigt habt, könnt ihr euch vielleicht um die anderen beiden Stationen kümmern. Ich werde mich inzwischen nach einem Baugelände umsehen." "Du wirst bissig, Tellur", erwiderte Rubina mit entwaffnendem Lächeln. "Aber du sollst recht haben. Fangen wir also an." Die alltägliche, sachliche Prosa vertrieb die Romantik und ergriff wieder Besitz von uns. Die Menschheit kannte seit langem keine schwere körperliche Arbeit mehr. Alle mit physischem Kraftaufwand verbundenen Produktionsprozesse wurden ausschließlich von automatisch gesteuerten Maschinen besorgt. Arbeit war für uns Denken. Nun aber, da wir unserer kybernetischen Technik erst den Weg bahnen mußten, lernten auch wir die aufreibende körperliche Arbeit kennen, die unsere Vorväter jahrtausendelang geknechtet hatte. Zunächst mußten wir die schweren Funktionsstrahler mit den Akkumulatoren zu ihrem Standort schaffen und dort verankern. Über dem festen Untergrund lag eine Eisschicht aus gefrorenen Kohlendioxyd und Ammoniak, stellenweise bis zu anderthalb Meter dick. Wie in alten Zeiten entfernten wir das Eis mit Hacke und Schaufel und stellten dann die dreibeinigen Stützen in die Löcher auf den metallenen Grund. Der Felsen, auf dem wir gelandet waren, bestand hauptsächlich aus einer EisenNickel- Legierung. Es war Tag, wir befanden uns nahe dem Äquator, aber die Temperatur stieg nicht über minus 110 Grad. In der Nacht würde sie auf 180 bis 190 Grad unter Null fallen. Natürlich trugen wir unsere schwersten kosmischen Raumanzüge, da sie uns den sichersten Schutz boten (später fertigten wir speziell Anzüge für die Neogäa), aber sie behinderten uns nicht, denn die Schwerkraft war hier um das Dreifache geringer als auf der Erde.
Als Thalia die Antennen des Funkrichtstrahlers auseinanderklappte, erlebte sie eine unangenehme Überraschung. Plötzlich stieg um sie herum dichter Nebel auf, und sie versank in einer weichen, klebrigen Masse. Fast hätte sie vor Schreck laut aufgeschrien. Sie versuchte sich zu befreien, aber ihre Füße gerieten immer tiefer ins Eis wie in einen Sumpf. Zudem sah sie überhaupt nichts mehr. "Atair!" rief sie leise, bemüht, ihre Angst zu verbergen. "Was ist los?" ertönte Atairs Stimme in ihrem Helm. Die Funkverbindung arbeitete also normal. Dann war alles halb so schlimm. "Ich bin irgendwo 'reingerutscht und sehe nichts mehr", sagte sie ruhiger. "Ihr müßt herkommen und mich 'rausziehen." "Beweg dich nicht!" rief nun auch Tellur. "Dein Anzug hat die Eiskruste zum Schmelzen gebracht! Aber sie ist dort bei dir nicht allzu dick." "Wir kommen! Bleib ruhig!" Das war Rubina, die offenbar schon auf sie zulief. Doch Tellur kam ihr zuvor. "Erschrick nicht, ich setze den Flammenwerfer ein. Damit geht es am leichtesten und am schnellsten." Thalia wartete. Eine knappe Minute verging, da hörte sie Tellurs warnenden Ruf: "Achtung, leg schwarze Filter vor! Ich fange an!" Etwas heulte neben ihr auf wie ein Wirbelsturm. Ehe sie recht wußte, was geschah, schlug ihr ein blendender Feuerstrahl ins Gesicht. Sie fühlte festen Boden unter ihren Füßen, der Nebel verschwand, aber sie konnte nichts sehen als ein grelles Strahlenbündel, das langsam vor ihr hin und her glitt. "Alles in Ordnung", sagte Tellur und schaltete den Flammenwerfer aus. "Sei das nächste Mal vorsichtiger." "Ist dir klar, was passiert ist?" Rubina legte Thalia den Arm um die Schulter. "Du hast zu lange auf einer Stelle gestanden. Unter dir ist das Eis geschmolzen, und du bist in den Boden gesunken. Unsere Raumanzüge sind nicht genügend
wärmeisoliert, sie haben, vor allem unter den Fußsohlen, eine für diese kalte Welt zu hohe Außentemperatur." "Das habe ich dann auch selbst begriffen, leider zu spät. Im ersten Augenblick war ich völlig durcheinander." "Unsere Nerven sind doch reichlich angespannt", bemerkte Atair. "Im Grunde bestand für dich nicht die geringste Gefahr. Im Raumanzug bist du völlig sicher. Du hättest bloß deine Rückenrakete einzuschalten brauchen, um dich zu befreien; zudem hätte der Strahl auch noch alle an deinem Anzug haftenden Dinge weggespült." Der Vorfall blieb der einzige seiner Art. Von nun an arbeiteten wir so, wie wir es gewohnt waren, wenn wir einen neuen Himmelskörper eroberten – mutig, aber umsichtig, unter Einsatz unserer gesamten Technik. Die erste Nacht verbrachten wir in dem engen Raum der Rakete, die uns auf den Planeten gebracht hatte. Als die Proxima unterging, fiel die Temperatur sofort stark ab. Einige Gase der Atmosphäre wurden flüssig und hüllten alles in dichten Nebel. Tiefe Finsternis trat ein, kein Stern war zu sehen. Nicht einmal unsere Scheinwerfer drangen durch den feuchten Dunst. Im Inneren der Rakete aber war es hell und warm wie auf der Erde. Wir vergaßen die düstere Außenwelt und fielen bald in einen wohltuenden Schlaf. Die eigentliche Arbeit begann mit dem zweiten Tag, an dem die beiden Frachtraketen für das Wohngebäude und weitere vier Mann von der Besatzung eintrafen. Es folgten Stunden harten Schaffens, die den Einsatz aller Kräfte forderten. Wir kamen uns vor wie die ersten Menschen, die sich aus Lehm und Zweigen Hütten bauten, um eine Zuflucht vor der Kälte und den Naturgewalten zu haben. Das Gefühl, daß wir uns in dieser finsteren und kalten fremden Welt ein Heim schufen, bereitete uns eine unvergleichliche Freude. Zunächst fegten wir mit den Flammenwerfern auf einer Fläche von etwa tausend Quadratmetern die Eiskruste weg. Der starke Feuerstrahl ließ die gefrorenen Gase verdampfen; sie
verwandelten sich in dichten Nebel, der sich an unseren Anzügen niederschlug. Wir machten uns einen Spaß daraus, uns von Zeit zu Zeit, wenn dieser Niederschlag zu lästig wurde und wir schon nichts mehr sahen, gegenseitig mit dem Flammenwerfer abzuduschen. Unsere Skaphander trockneten dann augenblicklich und zeigten wieder ihren reinen metallischen Glanz. Die Hitze hielten sie ohne weiteres aus, obwohl der Flammenstrahl eine Temperatur von mehr als tausend Grad hatte. Sie waren ja dafür bestimmt, viel stärkere Kräfte abzuwehren, Meteoriten zum Beispiel oder die furchtbaren kosmischen Strahlungen. Unter der Eiskruste kam eine glänzende, erstaunlich glatte Metallfläche zum Vorschein. Darauf schweißten wir mit einem elektronischen Brenner das Fundament unserer Wohnstatt fest. Die Verbindung mit dem metallischen Festland war so innig, daß keinerlei Stürme, selbst wenn sie stärker gewesen wären als Jupiterorkane, sie zu lösen vermocht hätten. Vor Anbruch der zweiten Nacht war der Wohnteil des Gebäudes fertig. Rasch richteten wir ihn ein, um nicht noch einmal auf den Sesseln der engen Raketenkabine übernachten zu müssen. Zwei Stunden war die Proxima bereits untergegangen, da schafften wir die letzten Gegenstände und Geräte hinein. Nachdem wir noch über mehrere Kabel die Verbindung zu den Stromaggregaten der beiden Raketen hergestellt hatten, zogen wir uns in das neuerrichtete Gebäude zurück. Atair schloß die äußere Tür der Vakuumschleuse und erklärte feierlich: "Herzlich willkommen im neuen Haus! Möge es uns eine Heimstatt werden, die wir schweren Herzens verlassen, wenn wir dereinst auf die Erde zurückkehren." Dann trat Regul an die Schalttafel der Mikroklimaanlage im Salon. Er drehte den Luftspender auf, schaltete Licht und Heizung ein und regulierte das Sauerstofferneuerungssystem. Wir trugen noch unsere Schutzanzüge, spürten aber bereits voraus, mit welchem Behagen wir sie in wenigen Minuten ablegen und uns in den weichen Sesseln ausstrecken würden.
Kaum hatte der Zeiger des Manometers den grünen Strich erreicht, da griffen einige schon nach ihrem Helm. Reguls warnende Stimme hielt sie zurück. "Nicht so eilig! Erst die zehn Kontrollminuten abwarten!" Das taten wir. Dann aber setzten wir uns in froher Stimmung an die Tafel, griffen nach den stärkenden Getränken und machten uns mit einem lange nicht mehr verspürten Appetit über die Speisen her. In diesem Augenblick fühlten wir uns wohl wie zu Hause, vielleicht noch wohler, denn unsere Freude wurde verstärkt durch unverhohlenen Stolz. Niemand dachte daran, wollte auch nur daran denken, daß wir auf einem kalten und finsteren, in Eis und giftigen Nebeln erstarrten Planeten saßen. Nur ab und zu äußerte jemand sein Bedauern darüber, daß wir nicht alle beisammen waren, denn noch weilte ja der größere Teil der Mannschaft Zehntausende von Kilometern entfernt im Raumschiff. Zum erstenmal seit sechzehn Jahren waren wir im innersten Herzen unbekümmert wie auf der Erde. Die Gefahren der interstellaren Wüste, Meteoritenschwärme, fremde Magnetoder Gravitationsfelder, plötzliche Explosionen in den Containern oder Schäden im Photonenreaktor bedrohten uns nicht mehr. Vor allem mußten wir nicht ständig vor dem Schrecklichsten, dem Unbekannten, auf der Hut sein. Die irdische Technik umgab uns mit sicherem Schutz: Um unser Haus kreisten drei kybernetische Panzerraupen, wachsam und unermüdlich wie treue Hunde. An den Außenwänden und auf dem Dach unseres Hauses registrierten zahllose Instrumente jede Veränderung in unserer Umgebung. Sie hätten uns bei der geringsten Gefahr alarmiert. Trotz unserer Verlassenheit fühlten wir uns deshalb in der Obhut der Menschheit geborgen. Die ersten Bewohner
Der Planet ähnelte unserer Erde in keiner Weise, und doch waren wir mit ihm zufrieden. Die Neogäa erschien uns als das gelobte Land. Schon die von den Panzerraupen gelieferten chemischen Analysen hatten gezeigt, daß es auf der Neogäa alles gab, was wir brauchten. Jetzt stellten wir fest, daß der Wasserstoff hier hundertmal mehr Deuterium enthielt als auf der Erde. Das Deuterium aber, ein schwerer Wasserstoff, war das Brennmaterial für unsere thermonuklearen Plasmaenergiezentralen. Am Rande des Plateaus, am Ufer des Rubinasees, errichteten wir unser erstes Elektrizitätswerk. Der Aufbau dauerte nicht länger als sieben Tage. Am achten Tag lieferte es bereits Strom von Millionen Kilowatt. Wasserstoff gab es überall, in allen Aggregatzuständen und verschiedenen chemischen Verbindungen: im atmosphärischen Gas, im flüssigen Methan oder in fester Form im Eis des Ammoniaks und des Wassers. Die Roboter schafften Blöcke aus dem nahen See heran, der chemische Separator schied das Deuterium aus und schickte es gereinigt in den Plasmagenerator. Dort verbrannte der schwere Wasserstoff zu Helium und lieferte uns thermonukleare Energie. Jetzt waren wir reich. Die Raketen flogen regelmäßig zwischen dem Planeten und dem Raumschiff hin und her, um weitere Ausrüstungen, Maschinen und Geräte herabzubringen. Wir demontierten einen großen Teil der Schiffsräume und bauten sie unten neu auf. Das Plateau trug schon nach kurzer Zeit einen stattlichen Gebäudekomplex. Die chemische und die metallverarbeitende Fabrik nahmen als erste die Produktion auf. Sauerstoff war im gefrorenen Wasser und im Kohlendioxydeis des Sees enthalten, Stickstoff lieferte die Atmosphäre und das Ammoniak, Kohlenstoff das Methan und das Kohlendioxyd. Wir fanden auch fast alle anderen Elemente, allerdings in geringerer Menge. Das Chemiewerk produzierte reine Atemluft
für Menschen und Tiere sowie mit Kohlensäure gesättigte Luft für die Gewächshäuser, außerdem Plaste und Kunstdünger. Die Metallfabrik entnahm ihre Rohstoffe unmittelbar dem EisenNickel-Felsen, auf dem wir gelandet waren. Ihre Automaten stellten neue Bauelemente, Maschinen, Werkzeuge und Roboter her. Die Besiedlung schritt weiter fort, und bald wohnten wir in einem komfortablen Städtchen. Du warst erst drei Jahre alt, als wir die Neogäa verließen, und wirst Dich kaum an unsere Siedlung erinnern. Wir mußten Dir die Freude nehmen, zwischen Blumen und Bäumen zu spazieren, über grüne Wiesen zu laufen und mit jungen Tieren zu spielen. In den Gewächshäusern und den Ställen unseres Städtchens warst Du ja zu Hause. Aber traure Deinem Kinderparadies nicht nach. Die Erde wird es Dir tausendfach vergelten. Du wirst Blumen pflücken, durch Wälder streifen, tausend Arten von Tieren in ihren Reservaten beobachten und Dich an der lebendigen Natur erfreuen. Alles wirst Du nachholen, was Dir Dein ungewöhnliches Schicksal bisher versagt hat. Vorausgesetzt natürlich, Du findest überhaupt Freude daran. Auf der Erde werden in unzähligen Schonrevieren alle Tiere und Pflanzen gehegt, die der Mensch vorgefunden hat. Wir hingegen hatten nur die nützlichen Arten mitgenommen, als Keim, um sie in der fremden Welt aufzuziehen. In speziellen, gut isolierten Gefäßen beförderte das Raumschiff Samen von Gräsern, Körnerfrüchten, Gemüsen und Obstbäumen; auch Lebenskeime verschiedener Fische, Vögel und sogar Säugetiere hatten wir mit. Wir bauten geeignete Räume zu ihrer Aufzucht, hermetisch abgeschlossen gegen die feindliche Außenwelt. Sie waren gut geheizt und beleuchtet und wurden immer mit frischer Luft versorgt. Auf den ersten Tonnen künstlicher Gartenerde, die unser Chemiewerk lieferte, züchteten wir Pilze. Wenig später erschienen verschiedene Sorten Gemüse auf unserem Tisch, sogar Früchte. Das Gewächshaus hatte nur eine Fläche von
tausend Quadratmetern, doch die hochproduktiven Arten, die wir aufzogen, versorgten uns mehr als reichlich mit Frischkost. Wir waren ja insgesamt nur achtzehn Leute. Sobald das Gewächshaus genügend Nahrung lieferte, gingen wir zur Viehzucht über. Geflügel und Fische ließen sich verhältnismäßig leicht halten. Wir verfügten bald über eine stattliche Schar Federvieh, und in zehn Aquarien tummelten sich Fluß- und Seefische. Kaninchen besaßen wir vom ersten Augenblick an, denn die brachten wir lebend von der Erde mit. Sie waren während des Fluges unser einziges Frischfleisch gewesen. Jetzt aber wollten wir auch Schweine aufziehen und nach Möglichkeit sogar Kühe. Der erste Monat nach unserer Ankunft war der schönste. Die schöpferische Tätigkeit machte uns so viel Spaß, daß wir immer mehr Gebäude aufstellten, ständig das Gewächshaus erweiterten und einen ausgedehnten Garten mit Blumen und dekorativen Pflanzen anlegten. Wir wußten wohl, daß wir das alles gar nicht brauchten, aber niemand mochte sich dieses Vergnügen nach den sechzehn angespannten Jahren des Fluges versagen. Regul setzte dieser Zeit ein Ende. "Wir sind nicht hierhergekommen, um Gärtner und Viehzüchter zu spielen. Nichts gegen einen großen Garten mit duftenden Blumen und Bäumen. Wir brauchen ihn, um uns zu entspannen. Aber hinter unserem Eifer verbirgt sich etwas, was ihr entweder nicht bemerkt oder nicht bemerken wollt." Es war nach dem Abendessen, die gemütliche Stunde vor dem Schlafengehen, in der wir die Tagesereignisse besprachen und das Programm für den nächsten Tag festlegten. Wie immer kamen seine Worte plötzlich und unerwartet, in seiner Stimme lag eine gewisse Schä rfe. Wir unterbrachen unsere Gespräche, doch niemand stellte eine Frage. Regul fuhr fort: "Mir scheint, ich muß euch erst näher auseinandersetzen, was mir nicht gefällt. Wir benehmen uns wie Kinder, die sich an ihrem Spielzeug ergötzen. Wir sind aber nicht zum Spielen hier, sondern um eine schwierige und
verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen. Bis jetzt haben wir noch nicht einmal damit angefangen, den Planeten zu erforschen, wir wissen nicht, wo wir die Anlage zur Produktion von Antimaterie aufbauen wollen, und vertun unsere Zeit mit einer nutzlosen Betriebsamkeit, hinter der sich nur unsere Schwäche verbirgt." "Wieso denn Schwäche?" fragte Rubina verständnislos. "Es ist doch wohl kein Fehler, wenn wir einen Garten zur Erholung anlegen, geräumige Ställe bauen und die Gewächshäuser auf Höchstleistung bringen! Was kann einem denn daran nicht gefallen, Regul?" "Mir gefällt es niemals, wenn Energie, Material und vor allem die unwiederbringliche Zeit am falschen Platz eingesetzt werden." "Zeit!" unterbrach ihn Thalia. "Als ob wir nicht Zeit im Überfluß hätten. Unser Arbeitsplan sieht neunzig bis hundert Tage für den Auf- und Ausbau der Siedlung vor." "Der Plan ist auf der Erde zusammengestellt worden, ohne Kenntnis der hiesigen Verhältnisse. Richtig, dank der günstigen Bedingungen haben wir uns in dreißig Tagen eingerichtet statt in hundert. Müssen wir deshalb aber die übrigen siebzig vergeuden und mehr bauen, als wir brauchen? Aber bedenklicher scheint mir, daß unser Verhalten ein schlechtes Zeichen für unsere moralische Verfassung ist. Da kommen so ein paar verängstigte Zweibeiner her, nachdem sie sechzehn Jahre lang um ihr Leben gebangt haben, und spielen sich als Herren auf, frohlocken, ohne einen Grund zu haben, wollen ihre Kraft und ihre Macht zeigen. Wem denn eigentlich? Einem toten Planeten! Die Scheinwerfer beleuchten das ganze Plateau. Das sind siebenhunderttausend Kilowatt! Was soll das? Fürchtet ihr euch vor der Dunkelheit?" "Aber Regul", erwiderte Selena ungehalten. "Wieso stört dich denn auf einmal das Licht? Es macht uns einfach Spaß! Das Elektrizitätswerk arbeitet nicht mal mit halber Kraft, und trotzdem können wir die produzierte Energie gar nicht aufbrauchen!"
"Die Antimaterieanlage steht noch immer oben im Schiff, ja, wir wissen noch nicht einmal, wo wir sie aufbauen wollen. Aber wir legen Luxusgärten an und weitläufige Kaninchengehege, züchten Fische in riesigen Aquarien. Wer braucht denn das? Ich nicht. Ich fühle mich erst sicher und zufrieden, wenn ich meine Pflicht erfüllt habe, wenn ich weiß, daß alle Container des Raumschiffes wieder mit Antimaterie gefüllt sind. Alles andere ist Unfug. Ich meine, wir sollten endlich aufwachen und uns überlegen, was dieser harmlose Zeitvertreib für einen Sinn hat. Er ist ein Zeichen von Schwäche, weiter nichts." "Was schlägst du vor?" fragte Atair. "Unverzüglich einen Plan zur systematischen Erforschung des Planeten aufzustellen. Wir müssen einen geeigneten Platz für die Antimaterieanlage ausfindig machen, das Werk vom Raumschiff herunterholen, montieren und in Betrieb setzen, um endlich mit der ernsthaften Arbeit zu beginnen. Ihr tut so, als wolltet ihr nie auf die Erde zurückkehren, sondern ewig hier bleiben." Reguls Worte klangen hart, doch er hatte recht. Niemand widersprach ihm. Vom nächsten Tag an arbeiteten unsere Fabriken nach einem neuen Programm. Der Flammenwald Du wirst auf der Erde gigantische Industriewerke kennenlernen. Sie liegen tief unter der Oberfläche, in unmittelbarer Nähe der Rohstofflager. Nur ein paar elektrische Kabel und die Schächte, durch die sie ihre Fertigprodukte heraufschicken, verbinden sie mit der Oberwelt. In langen menschenleeren Werkhallen arbeiten Tag und Nacht riesige Maschinen, von kybernetischen Automaten gesteuert. Unsere Fabriken auf der Neogäa sahen ganz anders aus. Es waren Miniaturbetriebe mit kleinen Werkbänken, speziell für unsere Zwecke hergestellt, die ständig von Menschen
beaufsichtigt werden mußten. Trotzdem hatten sie den Giganten auf der Erde etwas voraus: sie ließen sich kurzfristig umprogrammieren, so daß sie alle Einzelteile herstellen konnten, die wir brauchten. Nach zehn Tagen war die erste Universalrakete startfertig. Zwei unserer drei kleinen Erkundungssonden standen zu ihrer Begleitung bereit. Rubina und Tellur, die sich niemals trennten, sowie Atair erhielten die Aufgabe, den südlichen Polarbereich des Planeten zu erforschen. Es war Tag, ein trüber rötlicher Neogäatag. Die kirschrote Sonne malte phantastische dunkle Farben auf den gefrorenen See. Wir flogen niedrig, knapp tausend Meter hoch. Eine der beiden Erkundungsstationen bahnte den Weg, die andere kreiste in unmittelbarer Nähe. Wir sahen sie bald unter uns, wo sie die Bodenbeschaffenheit prüfte, bald seitlich von uns. Die Mattscheiben der zahlreichen Geräte gaben die Außenwelt unterschiedlich wieder. Auf dem normalen Fernsehschirm sah man nur einen trüben Nebel, der Infrarotschirm ließ die Umrisse erkennen, die Ultraschallvorrichtungen zeigten lediglich graue Flecke und die Radargeräte bizarre Linien. Aber wir verstanden ihre Sprache und hatten zu tun, um alles im Auge zu behalten. Die Nadeln der Magnetometer und der Gravimeter schwankten sanft, der Apparat zur chemischen Analyse im Infrarotspektrum zeigte immer wieder andere Symbole der Elemente; die Geräte zur Messung der Strahlungen und der elektrischen Ladungen standen bald still, bald schlugen sie jäh aus. Ein ungeschulter Betrachter hätte lediglich konstatiert, daß wir über eine von ewigem Eis bedeckte öde Wüste flogen. Uns aber lieferten die Meßinstrumente und Beobachtungsgeräte der Universalrakete und der beiden Erkundungssonden eine Fülle wertvoller Angaben. Wir hatten kaum Zeit, ein paar kurze Worte zu wechseln. "Drei Kilometer links ein radioaktives Zentrum mittlerer Stärke. Tiefe tausendfünfhundert Meter." "Methankomponente in der Atmosphäre drei Prozent."
"Wir überfliegen einen See von flüssigem Äthylen. Ich lasse die zweite Sonde eine Probe nehmen." Die Stunden verrannen. Eine Sinuskurve beschreibend erforschten wir planmäßig in dreihundert Kilometer Breite das Gebiet zwischen unserer Siedlung und dem Südpol des Planeten. "Seht doch mal! Dort leuchtet etwas!" rief Rubina plötzlich. Links von uns, dicht über dem Horizont, flackerte ein helles bläuliches Licht. "Was mag das sein?" fragte Atair. "Sicher atmosphärische Elektrizität", erwiderte Tellur. "Ich nehme Kurs dorthin." Rubina erhöhte die Geschwindigkeit. In wenigen Minuten hatten wir die Lichterscheinung erreicht. "Was meint ihr, wollen wir landen und uns das Wunder aus der Nähe ansehen?" Wir nickten nur, und sie ließ die Rakete sinken. Als wir ausstiegen, bot sich uns ein grandioses Bild. Wenige hundert Meter vor uns wogte ein Meer von violetten, blauen, resedagrünen und rosaroten Flammen. Sie schossen bald hoch empor in den dunklen Himmel, bald sanken sie in sich zusammen oder vereinten sich zu einem wilden Tanz. "Phantastisch!" rief Rubina. "So was Großartiges habe ich noch nicht gesehen! Und diese lautlose Stille!" "Stille ist gut", sagte Atair. "Hört mal, was im Langwellenbereich los ist." Er schaltete für einen Augenblick seinen Empfä nger um. Ein gräßliches Knattern und Prasseln dröhnte in unseren Helmen. Wir hatten es bisher nicht gehört, weil wir über Ultrakurzwellen sprachen. "Einzigartig, ein Wald aus Flammen, ein Märchenwald! Was sage ich. Das ist ja noch viel schöner als im Märchen, dieser Reichtum an Farben und bizarren Formen! So eine Wunderwelt hat noch kein Mensch gesehen!" Rubina lief wie verzaubert auf die Flammen zu.
"Halt! Komm zurück!" rief Tellur. Seine Stimme klang streng und befehlend. "Warum denn?" "Es lohnt sich nicht. Für unsere Aufgabe ist das hier völlig belanglos. Es handelt sich einfach um Kristalle aus Ammoniak, Wasser und Kohlendioxyd. Durch die Reibung mit den an ihnen vorbeistreifenden atmosphärischen Gasen werden sie elektrisiert, deshalb leuchten sie und entladen sich in bunten Lichterscheinungen. Was geht uns das an?" "Ach, komm lieber mit, du Bücherwurm!" erwiderte Rubina und ging weiter. "Was schadet es denn, wenn wir in die Eiskristalle eintauchen und uns in ihrem Licht baden?" Tellur lief ihr nach und stellte sich ihr in den Weg. "Laß das!" "Hast du Angst? Oder fehlt dir der Sinn für ein bißchen Freude?" Obwohl Rubinas Gesicht durch den Helm fast verdeckt wurde, sah man ihre Augen blitzen. "Willst nicht wenigstens du mich begleiten, Atair? Aber bitte, ic h gehe auch allein!" Ehe Atair antworten konnte, erklärte Tellur: "Ihr werdet beide dieses Gebiet elektrischer Entladungen nicht betreten. Wir haben es nicht erforscht und wissen nicht, ob unsere Schutzanzüge genügend isoliert sind." "Du willst es uns verbieten?" Rubinas Stimme klang gereizt, als werde sie im nächsten Augenblick die Geduld verlieren. "Es ist zu gefährlich", erwiderte Tellur einlenkend. Er kannte Rubina. Es wäre unklug gewesen, sie noch mehr aufzustacheln. "Ich bitte dich, geh nicht weiter." "Es wäre ja wohl nicht die erste Gefahr, der wir begegnen!" "Aber die erste, in die wir uns unnötigerweise begeben. Ihr wißt beide, was unsere Expedition kostet, wieviel Vorbereitungen sie erfordert hat und welche Hoffnungen man in uns setzt. Nachdem wir uns zu diesem Flug bereit erklärt haben, gehören wir nicht mehr uns selbst. Wir haben kein Recht, unsere Aufgabe durch persönliche Gefühle und Extravaganzen zu gefährden."
"Hör dir das an, Atair. Wir leben seit siebzehn Jahren zusammen, aber noch nie hat er so viele Sätze auf einmal von sich gegeben. Er kann ja geradezu zündende Reden halten!" "Laß uns umkehren, Rubina", sagte nun auch Atair. Er hielt den Kopf gesenkt; es war ihm unangenehm, daß er dem Gespräch beiwohnte. "Er hat recht." "Das weiß ich", sagte Rubina wild. "Auch Regul hat immer recht. Und trotzdem – die Reise zu den Sternen haben sich Dichter in ihren Träumen ausgedacht, nicht solche wie diese beiden." "Aber sie haben die Raumschiffe gebaut. Und sei nicht ungerecht. Ein Raumschiff wie das unsere kann nur konstruieren, wer auch zu träumen versteht." "Na schön. Ich geb's auf!" Rubina wandte sich ab und ging zurück. "Ich gehe nicht mehr in den Wald, und wenn ihr mich darum bittet. Ihr habt mir die ganze Freude verdorben." Nach ihrer Rückkehr in die Siedlung erzählte Deine Mutter allen von ihrem Streit mit Tellur. Niemand zweifelte an seinem Mut. Er war einfach zu gewissenhaft und zu pflichtbewußt für ein sinnloses Risiko. Wir entdeckten später noch mehr solche Flammenwälder. Versuche ergaben, daß die elektrischen Entladungen unseren Schutzanzügen nichts anhaben konnten, und wir gingen oft unter den bunten Kristallbäumen spazieren. Sogar Dich haben wir manchmal mitgenommen, damit wir Dir die düstere Schönheit Deines Heimatplaneten zeigen konnten, bevor wir ihn wieder verließen. Unser Erkundungsflug ging weiter. Wir suchten ein Erzlager mit reichem Vorkommen an Eisen 56, wie es der Untergrund unserer Siedlung bot. Es wäre riskant gewesen, die Anlage zur Produktion von Antimaterie in unmittelbarer Nähe der Wohnstatt zu errichten. Leider hatten wir keinen Erfolg. Zwar entdeckten wir viele Eisenlager, aber keines kam für uns in Frage. Das eine befand sich zu nahe bei der Siedlung, andere lagen zu tief oder waren zu weit von der nächsten Quelle für schweren Wasserstoff entfernt.
Erst die dritte Expedition fand in einem Ozean auf der Westseite des Planeten einen geeigneten Platz für das Antimateriewerk, eine kleine Insel, die fast ganz aus Eisen bestand. Die physikalischen Bedingungen waren günstig, und die Vorkommen an den notwendigen chemischen Rohstoffen reichten aus. Nach gründlicher Untersuchung entschlossen wir uns, die gigantische Anlage dort aufzustellen.
Ein Stoff verwandelt sich in seinen Antipoden Der Produktionsprozeß in dem Antimateriewerk sollte völlig automatisiert werden. Dazu mußten wir unsere elektronischen Helfer entsprechend programmieren, und das war nicht leicht. Du kennst Regul als einen weißhaarigen alten Mann. Er ist in der Tat mit seinen siebzig Jahren nicht mehr der jüngste, aber als er sich an die Programmierung der kybernetischen Steuerund Kontrollautomaten machte, sah man auf seinem Haupt noch kein einziges weißes Fädchen. In mühevoller Kleinarbeit übertrug er seine Kenntnisse und seinen logischen Verstand auf die Molekulargitter und Festkörperhaltungen der kybernetischen Automaten, um ihnen menschliches Denken und menschlichen Willen einzugeben. Denn was sind die kompliziertesten elektronischen Geräte ohne den Menschen? Nutzlose Gebilde aus Metall und Kunststoff, weiter nichts. Das Werk sollte in der Stunde eine Tonne Antieisen mit der Massenzahl 56 liefern. Jeden elften Tag würde eine automatisch gesteuerte Frachtrakete einen vollen Container, das heißt zweihundertfünfzig Tonnen Antieisen, hinauf ins Schiff befördern. Den zweiten Bestandteil des Photonentreibstoffs, das gewöhnliche Eisenisotop mit der Massenzahl 56, gewannen wir in unserem Hüttenwerk bei der Siedlung. Dreiundneunzig Tage nachdem wir das erste Einzelteil auf die Insel geschafft hatten, standen das Werk und seine
Zulieferabteilungen betriebsbereit. Wir befanden uns alle an Ort und Stelle, doch wir mußten das Gebiet verlassen, ehe die Maschinen zu arbeiten begannen. Zuvor aber kamen wir noch einmal zusammen, um den Augenblick zu würdigen und uns von Tellur zu verabschieden, der zurückblieb, um das Werk in Gang zu setzen und die erste Wache zu übernehmen. "Silentium! Tellur will eine Rede halten!" behauptete Rubina mit todernster Miene. Tellur erhob sich widerwillig, ergriff ein mit Fruchtsaft gefülltes Glas und sagte langsam: "Was gibt's da noch groß zu reden? Seht euch das Werk an! Es spricht für sich. Was ich hinzufügen könnte, wäre lediglich, daß ich in diesem Augenblick eine tiefe Befriedigung empfinde. Wir haben alles erreicht, was die Menschheit uns aufgetrage n hat. Und darauf können wir stolz sein. Zum erstenmal seit unserem Abflug von der Erde glaube ich, daß wir wirklich unsere Pflicht getan haben, jeder einzelne von uns." Er stockte und fügte nach einer Weile hinzu: "Das ist alles, was ich zu sagen habe, da ihr schon einmal was von mir hören wollt." "Bravo!" Thalia applaudierte stürmisch, alle fielen ein. "Und du, Regul, willst du dich nicht auch äußern?" fragte Rubina verschmitzt. "Mir scheint, ihr beide seid heute zum Reden aufgelegt." "Ja, ich habe auch etwas zu sagen, nämlich daß es Zeit zum Aufbruch ist. In fünfundfünfzig Minuten soll Tellur das Werk anlaufen lassen, wir müssen uns also beeilen, aus der Gefahrenzone herauszukommen." "Großartig, genau das habe ich von dir erwartet." Rubina sprang lachend auf. "Also los, gehen wir." Doch ehe sie den Raum verließ, lief sie zu Tellur, umarmte ihn und flüsterte ihm zu: "Ich bin immer bei dir!" Allein geblieben, setzte sich Tellur ohne Hast, gelassen wie immer, vor das Schaltpult. Alle Steuerungs- und Kontrollgeräte waren in einem großen, hufeisenförmigen Pult montiert. Noch leuchteten die Bildschirme und die vielen Lämpchen nicht, die
Zeiger lagen auf Null, das gewaltige Werk war noch nicht zum Leben erwacht. Tiefe Stille herrschte. Weder ein Laut noch eine Bewegung störte die Totenruhe. Auch Tellur rührte sich nicht. Er wartete und gab sich seinen Gedanken hin. Bisher haben wir also alles geschafft. Trotz mancherlei Schwierigkeiten. Wird uns auch weiterhin Erfolg beschieden sein? Sicher! Und wenn nicht, dann den nach uns Kommenden. Jetzt, da sich der Mensch einmal den Weg zu den Sternen gebahnt hat, hält ihn nichts mehr auf. Vielleicht werden schon in wenigen Jahrzehnten Hunderte von Raumschiffen das System der Proxima erreichen und auf jedem der hundertsieben Planeten Menschen hinter Schaltpulten sitzen wie ich jetzt hier! Dann haben wir bereits zwei Sonnensysteme erobert – zwei von Milliarden. Der Mensch war von jeher unzufrieden mit dem Erreichten, er lechzt nach neuen Erlebnissen, selbst wenn er dabei sein Leben aufs Spiel setzt. Er will wissen, was sich in der Ferne verbirgt, hinter dem Horizont. Der Halbaffe, der neugierig aus dem Wald trat, um sich die Stelle anzusehen, die schreckliche, unbekannte Steppe, in der es keine Bäume gab, in der der Löwe brüllte – er hat den Anfang gemacht. Schon deshalb verdient er es, als Vorläufer des Menschen bezeichnet zu werden. Und wir gehen auf seinem Weg weiter, wir suchen das Ende, das Jenseitige, das Unerreichbare. Aber es gibt kein Ende! Nach den Planeten sind die Sterne an der Reihe, die ganze Milchstraße, andere Milchstraßen, die Metagalaxis, die ... "Tellur! Tellur!" Das war Reguls Stimme. "Wir sind aus der Gefahrenzone heraus! Du kannst auf Betrieb schalten!" In der Mitte des Raumes leuchtete eine rote Lampe auf, und der Sender strahlte das vereinbarte Signal aus: Achtung, Gefahr! Der Reaktor arbeitet! Zwei grüne Lichtpunkte an den Seiten zeigten, daß die Kontrollgeräte einsatzbereit waren. Das breite Ferromagnetband begann sich zu drehen, das sämtliche Vorgänge zur späteren Auswertung registrierte. Zwölf Jahre und sechs Monate würde
es nun nicht mehr stillstehen, bis der letzte Wachhabende es stoppte. Tellurs Hand glitt seitwärts und drückte den nächsten Knopf. Eine neue Lichterskala wurde hell; jetzt brachen draußen in der Finsternis die Exkavatoren die ersten Eisblöcke aus dem Ozean und legten sie auf Transportbänder, die sie zur Elektrozentrale beförderten. Es wurde Zeit, den Strom für die Destillationsanlage einzuschalten. Ein Eisblock stürzte in die Grube und glitt in den Bunker. Die einfallenden Strahlen verwandelten die kompakte weiße Masse augenblicklich in Gase und Dämpfe, die durch ein System von Rohrleitungen strömten. Alles überflüssige wurde ausgesondert und floß wieder hinaus in den Ozean. Mochte es dort erneut zu Eis werden. Nur die Wasserstoffverbindungen, vor allem Ammoniak und Wasser, wurden zurückgehalten. Tellurs Finger betätigten die Tastatur mit der Sicherheit eines Virtuosen. Neue Aggregate erwachten zum Leben. Sie trennten das Deuterium von den unbrauchbaren Isotopen und schickten den Rest zurück in die tote Welt. Während die Finger Kommandos erteilten, verfolgten die Augen deren Ausführung. Alles verlief programmgemäß. Der Separator gab den schweren Wasserstoff in die Vorkammer. Für einen Augenblick glitt der Blick des Menschen zu den Amperemetern. Die Zeiger wichen langsam zurück, doch es war noch reichlich Energie in den Akkumulatoren. Schalter knackten leise, neue Lichter leuchteten auf. Die Kurve auf dem Schirm des Oszillographen wogte auf und ab, schwankte dann nur noch und verharrte schließlich unbeweglich. Das Magnetfeld war bereit, den Plasmastrahl zu empfangen. Eine Probe, eine zweite, eine dritte. Das Feld bleibt konstant, die Temperatur hält sich in den vorgesehenen Grenzen. Tellur richtet sich auf, faßt nach einem Hauptschalter und läßt ihn einrasten. Der linke Zentralbildschirm leuchtet auf. Ein feiner Strahl schweren Wasserstoffs drängt in den Kanal. Das Magnetfeld zwingt ihn in eine Kreisbahn, das Plasma
beginnt zu pulsieren. Die bloßgelegten Kerne des Deuteriums stoßen zusammen; von immensen Temperaturen gejagt, schießen sie hin und her, gehen ineinander über und verwandeln sich in Helium. Elektrischer Strom von mehreren hundert Millionen Kilowatt fließt in die Kabel. In diesem Augenb lick schalten sich alle bisher verwendeten Stromquellen selbsttätig ab. Sie haben ihre Aufgabe erfüllt und treten gehorsam hinter ihren titanischen Nebenbuhler zurück. Die ungeheure Kraft der befreiten nuklearen Energie hält alles in Gang: erzschürfende Automaten, Transportbänder, Öfen, Aufbereitungsmaschinen, die das reine Eisen von fremden Beimengungen scheiden und nur das Isotop mit der Massenzahl 56 herausziehen, ferner die chemische Abteilung zur Herstellung des Treibstoffs für die interplanetaren Raketen und endlich auch ... Jetzt endlich kommt die Reihe an den Hauptverbraucher von Energie, die gigantische Anlage zur Produktion von Antimaterie. Noch eine vierte, zusätzliche Überprüfung aller laufenden Aggregate, dann nimmt Tellur auch das Kernstück des Werkes in Betrieb. Das gereinigte Eisen verdampft unter der hohen Temperatur. Seine Atome liegen bloß, sie verlieren ihre Elektronen und werden zu Ionen. Der Kernfluß strömt in eine überstarke Beschleunigungsanlage, bestehend aus zwei Synchronzyklotronen, die die Teilchen in immer schnellerem Tempo in entgegengesetzter Richtung auf einer Kreisbahn herumjagen. Die Magnetfelder lassen die ionisierten Eisenatome nicht los, zwingen sie in einen immer dichteren Strahl, beschleunigen sie auf Hunderte von Millionen Billionen Elektronenvolt. Tellur verfolgt die Angaben der Geräte. Ohne sich zu rühren, scheinbar teilnahmslos, überwacht er den Prozeß. Nur seine Augen verraten die geistige Anspannung – mit Mühe behält er all die Skalen, Bildschirme und Lichtsignale im Blick. Er hat sich selbst vergessen, es wird ihm nicht bewußt, wo er sich
befindet und weshalb er hier sitzt, er ist ein Teil der gesamten Anlage, er fühlt durch sie, denkt an ihrer Statt. Der Strahl hat die notwendige Dichte erreicht. Nur im Innern jener geheimnisvollen Sterne, die man weiße Zwerge nennt, findet sich eine derart kompakte Materie; nur in intensiven kosmischen Prozessen bewegen sich Teilchen mit einer solchen Geschwindigkeit. Und nun tritt der entscheidende Augenblick ein. Die Ströme der beiden Synchrozyklotronen begegnen sich, die übermäßig verdichtete und auf eine unvorstellbare Geschwindigkeit beschleunigte Materie prallt zusammen. Atomkerne bohren sich ineinander. Die kinetische Energie jedes Kernpaares verwandelt sich in Millionen neuer Paare von Nukleonen und Antinukleonen. In der Kammer entstehen zahllose Kerne und Antikerne. Tellur beherrscht Kräfte, die der Mensch früherer Jahrtausende selbst seinen Göttern nicht zugeschrieben hat. Tellur produziert Antimaterie! Die Antikerne werden der Einwirkung eines stark alterierenden elektrischen Feldes unterworfen. Dabei entstehen Photonenbüschel in Form von Bremsstrahlung. Die Photonen fallen in die Antikernfelder und verwandeln sich paarweise in Elektronen und Positronen. Die negativ geladene n Antikerne stoßen die Elektronen ab und ziehen die Positronen an, fangen sie ein und zwingen sie auf eine Kreisbahn um sie. So bilden sich Antiatome. Sie ähneln in allem den Atomen, die aus dem Endkanal der Aufbereitungsanlage kommen – der Kern enthält die gleiche Anzahl schwerer Teilchen, und genauso viele leichte Teilchen umkreisen ihn auf kongruenten Umlaufbahnen. Und doch gibt es nichts auf der Welt, was sich mehr voneinander unterscheidet. Denn anstelle der negativen Elektronen umgeben den Kern jetzt positiv geladene Positronen, und der Kern selbst hat keine positiv elektrische Ladung mehr, sondern eine negative. Diese Umwandlung hat eine Unmenge Energie geschluckt. Doch sie ist nicht verloren. Sie steckt in der Antimaterie, bereit,
dem Menschen zu dienen. Sie wird ihn durch das endlose Weltall tragen und ihm helfen, Zeit und Raum zu besiegen.
Der glückliche Planet Eines Tages eröffnete uns Rubina, vielleicht einen Monat nach Inbetriebnahme des Antimateriewerks, daß sie ein Kind erwarte. Wir fielen aus allen Wolken. Unsere erzwungene Kinderlosigkeit bedrückte uns so sehr, daß wir untereinander nie davon gesprochen hatten, um die Wunde nicht aufzureißen. Das war so selbstverständlich für uns geworden, daß wir unsere Überraschung nicht zu verbergen vermochten. Während der Reise verstrichen die besten Jahre unseres Lebens. Die meisten von uns waren beim Abflug von der Erde dreißig bis fünfunddreißig Jahre alt, also würden wir zwar nicht als klapprige Greise, doch immerhin als betagte Leute, das heißt im Alter von fünfundsiebzig oder achtzig Jahren zurückkommen. Unter uns waren nur zwei Elternpaare. Selenas und Reguls siebenjähriger Sohn lebte auf der Erde, Zikonias und Lathans Kinder, ein Junge und ein Mädchen, wuchsen in einer Marssiedlung heran. Alle anderen hatten sich erst kurz vor der Abreise zusammengefunden und bereit erklärt, auf Kinder zu verzichten. Natürlich wäre es möglich gewesen, im Raumschiff Kinder aufzuziehen. Aber wir hatten uns als Wissenschaftler und Kosmonauten vorgenommen, den Kosmos zu besiegen, ein Unternehmen, das uns jederzeit den Tod bringen konnte. Dieses Los auch Kindern aufzuzwingen, hatten wir unserer Meinung nach kein Recht. Deshalb brachten wir das Opfer und versagten uns die größte Freude für jeden Menschen. In dieser Frage waren wir uns alle einig. Wir berührten sie nicht in unseren Gesprächen, wir hatten uns damit abgefunden, kinderlos zu bleiben, obwohl wir es nie ganz verwinden konnten.
Selbst dann, wenn wir vom Schlimmsten einmal absahen – durften wir uns ein Elternglück auf Kosten von Kindern erkaufen, die ohne gleichaltrige Spielgefährten aufwuchsen, ihre Kindheit in Laboratorien, Gewächshäusern und engen Kabinen verbrachten, ohne die Naturschönheiten der Erde, ohne Schulen, ohne unsere gute alte Sonne? Konnten sie unter diesen Bedingungen wirklich gedeihen und glücklich sein? "Mißbilligt ihr unseren Entschluß?" fragte Rubina hastig. "Glaubt nicht, daß Tellur und ich uns die Entscheidung leicht gemacht hätten. Im übrigen trifft der Vorwurf nur mich, denn ich habe es gewollt. Mein Leben wäre sinnlos ohne Kind. Und ich kann nicht noch neunundzwanzig Jahre warten, bis wir auf die Erde zurückkehren. Ihr braucht gar nichts zu sagen, ich kenne eure Argumente. Wir haben alles genau überlegt." Erst jetzt kamen wir zur Besinnung. Wir beeilten uns, ihr Glück zu wünschen. "Das wird unser aller Kind!" rief Thalia begeistert. "Es soll es gut haben bei uns! Wir werden es unterrichten und erziehen. Der erste Sternenmensch!" "Es wird ihm nichts fehlen", sagte Selena nachdenklich. "Außer eben ... Kinder." Sie dachte an ihren Jungen, der schon zum Mann herangewachsen sein mußte und von dem sie sich freiwillig für fünfundvierzig Jahre getrennt hatte, um eine Reise von vierzig Billionen Kilometern anzutreten. Sie dachte auch an Dein Schicksal, das ungewöhnliche Los eines Kindes, das unter einem fremden Stern geboren werden und einsam in einem Raumschiff seine Jugend zwischen alternden Wissenschaftlern verleben sollte. Ein paar Tage danach vertraute Tellur sich Atair an. "Ich weiß wohl, was es bedeutet, auf der Neogäa einen Menschen zur Welt zu bringen. Er wird für immer vom Kosmos gezeichnet sein. Hoffentlich wirft er es mir nicht dereinst vor! Aber es muß ja eines Tages doch geschehen. Wie viele Kinder sind schon auf der Venus und auf dem Mars aufgewachsen! Manche haben ja sogar auf dem Mond, dem Merkur oder dem
Titan das Licht der Welt erblickt, allerdings hat man sie immer gleich auf die Erde in eine normale Umgebung gebracht. Es kann nicht ausbleiben, daß auch in fernen Planetensystemen Kinder geboren werden, nachdem sich die Menschheit nun einmal den Weg zu den Sternen gebahnt hat. Darf uns der Umstand schrecken, daß wir die Eltern des ersten Sternenmenschen sind? Wenn wir den Mut besessen haben, die Schwelle der Zeit und des Raumes zu überschreiten, dann müssen wir auch den folgenden Schritt tun." "Ich wünsche dir, daß dein Kind euch sein ungewöhnliches Schicksal niemals vorhalten wird." "Hoffen wir's. Was spricht eigentlich dagegen? Es wird ihm hier an nichts fehlen. Unsere Rückkehr ist gesichert. Den Weg zur Sonne kennen wir. Eine Gefahr für sein Leben besteht natürlich, aber sie ist doch relativ gering. Ich finde, daß wir nicht nur keinen Fehler machen, sondern ehrlich und vernünftig handeln. Unser Entschluß ist richtig. Das Kind wird zwar anders heranwachsen als seine Altersgefährten auf der Erde, aber es wird alles zur Verfügung haben, was es braucht, um ein rechter Mensch zu werden." Und so geschah es auch, Astron. Wir haben Dir alles gegeben, was wir konnten. Du wurdest am vierhundertzwanzigsten Tag nach unserer Ankunft auf der Neogäa geboren. Dein Name soll an die Sterne erinnern – wir alle wählten Astra oder Astron, und Deine Eltern nannten Dich so. Wir waren nur eine Handvoll Leute, aber die jahrtausendalte Weisheit der Milliarden zählenden Menschheit schützte uns, und die Urgewalten der Natur mußten sich uns beugen. Mit dem Bau des Antimateriewerks war unsere dringendste Aufgabe erfüllt. Nun hatten wir Zeit, das fremde Sonnensystem zu erforschen, zwölfeinhalb Jahre. Zunächst bauten wir weiter: Wohnhäuser, Erholungsstätten, Laboratorien für die wissenschaftliche Arbeit. Das Gewächshaus wuchs in die Breite und verwandelte sich in einen üppigen Park, unsere Tiere erhielten weitläufige, schöne Ställe.
Die Fabriken stellten kleine Erkundungsraketen her. Mit ihnen durchstreiften wir den Planeten kreuz und quer und untersuchten ihn gründlich. Waren die Angaben, die wir hier zusammentrugen, schon bedeutungsvoll für unsere kosmischen Vorstellungen, so können die Erkenntnisse, die uns die Erforschung der anderen Himmelskörper verschaffte, zum Teil als sensationell bezeichnet werden. Sechs spezielle, von kybernetischen Robotern gelenkte Raketen besuchten systematisch auch andere Planeten und drangen allmählich in das System der Proxima ein. Die Aus wertung der von ihnen gesammelten Meßwerte nahm uns voll in Anspruch. So aufreibend die Arbeit manchmal auch war, gab sie uns doch eine tiefe Befriedigung. Wir empfanden die Jahre auf der Neogäa als eine glückliche Zeit, eine Zeit, in der sich der Sinn unseres Lebens erfüllte.
Ein Tag in Atairs Leben Noch ehe er vollends erwachte, spürte Atair, daß sich etwas verändert hatte. Richtig, er wog wieder weniger. Nach der Wache im Raumschiff waren Thalia und er am Vorabend auf der Neogäa zurückgekehrt. Die unangenehmen dreißig Tage lagen hinter ihnen. Jetzt konnten sie wieder sieben Monate auf dem Planeten bleiben. Die erzwungene Untätigkeit während der Wache bedrückte einen jeden und ließ ihn die Trennung von den Gefährten als noch schmerzlicher empfinden. Mehr als anderswo sehnte man sich in dieser fremden Welt nach menschlicher Gesellschaft. Der einzige Vorteil, den der Aufenthalt im Raumschiff bot, war vielleicht die künstliche Schwerkraft, die in den Wohnräumen weiterhin unterhalten wurde. In dieser Hinsic ht fühlte man sich wie auf der Erde, vor allem des Morgens unmittelbar vor dem Erwachen, ehe es einem wieder bewußt wurde, wo man sich
befand. Man träumte dort oben auch viel intensiver, sozusagen irdischer. Trotzdem, hier unten ist es schöner, dachte Atair. Was hilft's, wenn man sich in den paar Sekunden des Erwachens wohl fühlt – der Tag hat vierundzwanzig Stunden! Er tastete im Dunkeln nach einem Knopf über dem Kopfkissen. Rasch, doch nicht übergangslos, wurde es im Zimmer hell. Zunächst kam von der Decke her ein geheimnisvolles violettes Licht und hob die Gegenstände, wenn auch noch verschwommen, aus der Finsternis. Sekunden später ging es in ein bleiches Graublau über. Atair lag mit offenen Augen und weidete sich an der Lichtfeerie. Der Automat, der die Morgendämmerung auf der Erde imitierte, war Rubina zu verdanken. Sie hatte die Beleuchtungsanlage so umgebaut, daß sie die Illusion eines Sonnenaufgangs hervorrief. Die Zimmerdecke erstrahlte rosa, erglühte dann purpurrot und wurde schließlich leuchtend blau. Der Raum war nun hell wie an einem wolkenlosen Erdentag. Erst jetzt sah Atair auf die Uhr. Es war genau neun. Ein bißchen spät für den Sonnenaufgang, dachte er. Na wenn schon, es ist ja gar nicht die Sonne. Und die Uhrzeit stimmt auch nicht. Der Stellung der Proxima nach dürfte es kurz vor Mitternacht sein. Egal, ich bin aufgewacht, und das bedeutet, daß ich aufstehen muß. Alle drei Kabinen des Bades waren frei. Atair füllte die Wanne mit heißem, stark aromatisiertem Wasser und streckte sich behaglich aus. Er hätte wohl noch lange so gelegen, wenn ihn nicht der Lautsprecher aufgeschreckt hätte. "In einer Stunde startet eine Universalrakete zum großen Eisgebirge. Wir haben noch zwei Plätze frei und bitten eventuelle Interessenten, sich einzufinden." Atair hatte die fraglichen Berge schon einmal besucht, die Einladung reizte ihn nicht. Nach der langen Abwesenheit wollte er einmal die Annehmlichkeiten der Siedlung genießen. Deshalb unterzog er sich, als er das Bad verließ, einer
ausgedehnten Elektromassage und einer prophylaktischen Magnet- und Ultraschallbehandlung und begab sich erfrischt und hungrig in den Speiseraum. Da er dort niemanden antraf, beschloß er, nach dem Frühstück durchs Gewächshaus zu bummeln. Die sechs Abteilungen des Gewächshauses umgaben die Siedlung von drei Seiten. Atair zögerte vor dem Eingang zur zweiten Abteilung, wo die Südfrüchte wuchsen. Eine duftende, saftige Ananas wäre jetzt nicht schlecht gewesen, aber er scheute die feuchte Schwüle und ging in die dritte Abteilung, wo ihn ein gemäßigtes Mittelmeerklima erwartete. Zu beiden Seiten des Mittelweges lagen dicht nebeneinander kleine Gemüsebeete mit Radieschen, Gurken, grünem Salat, Kohl, Zwiebeln und eine größere Fläche mit Kartoffeln; danach folgten Mohrrüben und Blumenkohl. Atair riß eine kindskopfgroße Tomate ab und verzehrte sie, während er seinen Spaziergang fortsetzte und die bunten Beete musterte. Da er selber die günstigsten Wachstumsbedingungen ausgewählt hatte, wußte er, daß die Luft mit Kohlendioxyd angereichert war und die Lampen besonders viel ultraviolettes Licht ausstrahlten. Es störte ihn nicht. Er zog sein Hemd aus und suchte weiter. Sorgfältig prüfte er jede Wurzel und jeden Strauch. Hier war alles größer und üppiger als auf der Erde. Allenfalls die Gewächshäuser auf dem Mond oder die berühmten Gärten auf dem sechzehnten Satelliten hatten ähnliches aufzuweisen. An die zehn Minuten verweilte er bei den Zuckermelonen, ohne jedoch eine zu finden, die ihn befriedigt hätte. Bei dieser Beschäftigung traf ihn Rubina. "Nun, so wählerisch heute", sagte sie, "oder brütest du über einem Problem?" Atair richtete sich auf. "Wie kommt denn das, ich finde gar keine, die richtig reif ist?" "Kunststück, die reifen haben wir gestern abgenommen. Sie liegen im Kühlschrank. – Komm lieber mit, ich zeige dir unsere jungen Kaninchen."
Atair pflückte rasch ein paar Früchte und legte sie in ein automatisches Transportfahrzeug, das sie in den Kühlraum schaffte. Ehe er Rubina folgte, nahm er für unterwegs einige wachsgelbe Birnen mit. Im Kaninche ngehege schlug ihm eine stickige Luft entgegen. Trotz der verstärkten Ventilation roch es merklich nach Stall. "Sieh mal, das Weibchen kümmert sich gar nicht darum, wenn ich die Kleinen nehme." Rubina hob einige Jungtiere aus dem Nest und streichelte sie. "Sind sie nicht süß?" "Wenn du dich zuviel mit ihnen abgibst, wirst du ihr Fleisch nicht mehr essen mögen." "Ich kann ohnehin kein Kaninchenfleisch mehr sehen. Es ist mir schon lange über." "Wo steckt Tellur eigentlich?" "Er wertet mit Regul das Material aus, das die Raketen von ihrem letzten Flug zum ersten Planeten mitgebracht haben. Allem Anschein nach gibt es dort primitive Lebensformen." "Hier, unter der Proxima?" "Warum nicht? Die mittlere Temperatur des ersten Planeten liegt über Null. An seinem Äquator ist das Eis geschmolzen. Die Roboter haben Koazervate und Halbkristalle gefunden, die sich auf sonderbare Weise vermehren, fast wie lebende Materie." "Ja, das ist doch ... Ich muß sofort hin!" "Laß dir Zeit, Dinosaurier gibt's sowieso nicht. Immerhin meinte Tellur, ihr solltet mal hinfliegen. Du weißt ja, die Roboter arbeiten strikt nach Programm, von sich aus unternehmen sie nichts." Rubina schwieg einen Augenblick. "Bleib jetzt lieber hier. Solange die beiden in ihre Berechnungen vertieft sind, sind sie nicht zu genießen." Bald plaudernd, bald schweigend schlenderten sie durch das Gewächshaus und den Ziergarten, wo sie Selena, deren Zimmer unmittelbar neben dem Park lag, auf einer Elektronenorgel spielen hörten, bis Lukullus mit seiner metallischen Stimme zum Mittagessen rief.
Die Nachmittagsstunden verbrachte Atair in einer Einpersonenkabine des Filmarchivs. Er stellte sich ein buntes Programm zusammen, das in farbigen Stereoaufnahmen vor ihm ablief: ein für den Bildschirm bearbeiteter Roman, Laborversuche zur Schaffung von biologisch-kybernetischen Nervenzellen, Bilder der Erde, Vorlesungen eines berühmten Gelehrten über die Makrokornstruktur der Metagalaxis und anderes mehr. Wäre ihm nicht eingefallen, daß er Thalia einen Spaziergang auf den Eissee versprochen hatte, hätte er wohl bis zum gemeinsamen Abendessen vor dem Bildschirm gesessen. Thalia saß im Labor, obwohl sie übereingekommen waren, am ersten Tag in der Siedlung nicht zu arbeiten. Eine Idee, wie man das Deuterium leichter isolieren konnte, ließ ihr keine Ruhe. Doch als sie Atair erblickte, ließ sie die Arbeit liegen, hakte ihn unter und ging mit ihm zu dem Schrank, in dem die Schutzanzüge hingen. Die sogenannten Bioräume, in denen sich die Wohnungen und die Laboratorien, das Gewächshaus und die Stallungen befanden, wirkten von außen wie ein Haufen wahllos aneinandergestellter Metallwürfel. Kein Lichtschein verriet das Leben, das in ihnen pulsierte. Nur der Scheinwerfer auf dem hohen Mast und die blinkenden Signalleuchten an den Eingängen zeigten, daß es sich um ein von vernunftbegabten Wesen bewohntes Gebäude handelte und nicht um eine tote Metallkonstruktion. Etwa hundert Meter davon entfernt erhoben sich dunkel die Fabriken, das Chemiewerk mit dem Hüttenkombinat und der Universalbetrieb. Unmittelbar am Ufer des Sees stand das thermonukleare Kraftwerk; ein roter Signalscheinwerfer wies den Weg zu ihm. Atair und Thalia liefen die breite Straße hinunter, auf der die Förderanlagen die Eisblöcke transportierten, und betraten die unberührte weite Fläche des Sees. Soeben stieg die Proxima über den Horizont und malte einen breiten kirschroten Streifen auf das Eis. Auf dieser phantastischen Bahn wanderten die beiden der roten Sonne entgegen.
Sie legten mehrere Kilometer zurück. Mitunter verbauten ihnen Eisblöcke den Weg, doch Thalia umging sie; sicheren Schrittes führte sie Atair immer weiter. Es kümmerte sie nicht, daß die Lichter der Siedlung längst hinter einem kirschroten Nebelschleier verschwunden waren. Endlich fand sie die Stelle, die sie suchte – einen kleinen Berg aus aufgetürmten Eisblöcken, der auf der einen Seite flach anstieg und auf der anderen, der Proxima zugewandten, steil abfiel. Thalia erklomm ihn rasch. Atair trat neben sie. Obwohl sie kein Wort sprachen, empfanden beide das gleiche – Begeisterung über die fremde, wilde Schönheit der Natur, Stolz darauf, daß sie sich so weit von der heimatlichen Welt entfernt hatten, und Freude darüber, daß sie zusammengehörten. "Stell dir vor, du wärest hier geboren und zwischen den Eiswüsten der Neogäa aufgewachsen. Dein Leben lang haben dich nur immer die roten Strahlen der Proxima aus dem Schlaf geweckt. Würdest du diesen Planeten nicht lieben?" "Aber er ist doch tot und furchtbar eintönig", erwiderte Atair. "Er läßt sich mit der Erde gar nicht vergleichen." "Gerade weil er tot ist, könnte ich mir denken, daß die, die ihn zum Leben erwecken, ihn besonders liebgewinnen. Wir sind Kinder des Lebens auf der Erde. Hier aber können wir selbst Schöpfer sein." War es das geheimnisvolle Licht der aufgehenden Proxima, die Stille ringsum oder die Totenstarre des Eissees, die Thalia zu solchen Gedanken anregten? Oder sprach sie nur etwas aus, was sie seit langem bewegte? "Hundertsieben Planeten mit mehreren tausend Satelliten umkreisen die kirschrote Proxima. Welch einen Reichtum, was für eine ungeahnte Vielfalt birgt das Planetensystem dieses einzigen Sterns! Unsere Sonne ist weit ärmer. Und nur vierzehn Lichttage von hier entfernt liegt der Doppelstern Tolimak. Wir kennen ihn noch nicht, haben ihn noch nicht erforscht. Welche Geheimnisse hütet er wohl in seiner Welt? Alle diese Schätze warten darauf, daß Menschen sie heben. Und wir werden sie heben. Unsere Siedlung wird auch nach unserem Abflug nicht
veröden. Neue Raumschiffe werden hier landen. Rubinas und Tellurs Kind ist das erste sternengeborene, aber es wird nicht das einzige bleiben. Die Menschen werden die Neogäa besiedeln. Ich bin fest davon überzeugt, daß die Neogäa ein kosmisches Forschungszentrum wird, die Wiege einer neuen, vollkommeneren Art von Menschen. Der neue Mensch wird die Neogäa mehr lieben als die Erde, die er nur vom Hörensagen kennt, und die Proxima mehr als die Sonne, die für ihn ein Stern unter vielen hundert anderen ist." "Und das findest du so wunderbar?" "Ich sehe die Größe des Menschen von einer neuen Seite. Der Erdenmensch wird zum Sternenmensch und, in einer fernen Zukunft vielleicht, zum Menschen der Galaxis. Und ich bin glücklich, daß wir den Anfang dieser Ära erleben."' Beide schwiegen und betrachteten die Landschaft um sich her und den kleinen gelben Punkt im Sternbild Andromeda, der Sonne genannt wurde.
Dritter Bericht Wie wir uns selbst besiegten Photon, Dichter und Mathematiker, hatte Wache im Antimateriewerk. In den ersten Monaten nach Inbetriebnahme der Anlage hatten wir, um völlig sicherzugehen, die Kontrolle des komplizierten und außergewöhnlich gefährlichen Prozesses zur Gewinnung der Antimaterie nur eigens dafür ausgebildeten Physikern und Elektronikern anvertraut. Doch der Mensch gewöhnt sich an alles, und als wir sahen, daß die Aggregate einwandfrei arbeiteten, teilten wir auch die übrigen Mitglieder der Expedition zur Wache ein. So kam also die Reihe auch an Photon. Er war der jüngste unter uns. Als wir aufbrachen, hatte er gerade sein fünfundzwanzigstes Lebensjahr vollendet. In diesem Alter steht ein Mensch gewöhnlich noch in der Ausbildung; und wenn er schon arbeitet, überträgt man ihm in der Regel weniger verantwortungsvolle Aufgaben. Trotzdem erhielt Photon vom Rat für Astronautik die Erlaubnis zur Teilnahme an der Expedition. Er wurde der ersten Gruppe als Mathematiker und Kybernetiker zugeteilt. Zweifellos besaß er außergewöhnliche Qualitäten. Das war wohl auch der Grund, weshalb ihn der Rat in die Mannschaft eingliederte. Denn neue, riskante Aufgaben erfordern nicht nur Mut, Kenntnisse und Erfahrung, sondern auch einen regen Verstand und ein sicheres Urteilsvermögen. Schon während der Vorbereitungszeit auf dem Asteroiden hatte Selena einmal zu Photon gesagt: "Übernimmst du dich nicht mit dieser Expedition? Ich fürchte, du wirst nicht durchhalten. Warum willst du eigentlich unbedingt mit?"
Photon, schüchtern und scheu im Umgang mit Menschen und von Selenas unverblümten Worten verwirrt, wurde rot. "Ich habe schon als Junge von den Sternen geträumt. Bei allen Prüfungen habe ich als Bester abgeschnitten, meine Lehrer schrieben mir eine überdurchschnittliche mathematische Begabung zu. Ich glaube, ich kann mich nützlich machen." "Das genügt nicht, Photon. Du wirst das bald selbst merken, aber dann ist es zu spät. Eine Umkehr gibt es nicht." Wir kannten Selenas Neigung zum intuitiven Denken, wie sie es selber nannte. Sie äußerte mitunter überraschende, extreme Ansichten und glaubte, einen Menschen auf den ersten Blick einschätzen zu können. Und oft erwies sich später, daß sie recht gehabt hatte. In diesem Augenblick aber fragten wir uns vergeblich, was sie veranlaßte, so mit dem jungen Gefährten zu sprechen. Ihre Worte klangen ja beinahe verletzend. Überraschenderweise trat der sonst so schweigsame Regul für Photon ein. "Hör nicht auf sie. Du weißt ja, sie studiert den Aufbau der Metagalaxis; dabei muß sie sich mit außerordentlich vielen Unbekannten herumschlagen, und das führt dazu, daß sie Schlußfolgerungen zieht, ohne sie ausreichend begründen zu können. Außerdem steckt in ihr noch was von der Mystik ihrer Vorväter. Frag sie doch mal, wie sie zu ihrer Meinung über dich kommt, und du wirst sehen, daß sie es selber nicht weiß." "Ich meine es nur gut, Photon. Du bist ein ausgezeichneter Mathematiker, das weiß ich. Regul hält das für ausreichend, deshalb unterstützt er dich." "Natürlich! Die Expedition braucht einen Mathematiker. Photon ist von den jungen weitaus der beste, und ..." "Das sagt noch gar nichts über seine Eignung für eine solche Reise", unterbrach ihn Selena. "Ich kenne euch Mathematiker doch. Entweder seid ihr lebendige Rechenmaschinen, vollgepfropft mit Formeln und Logarithmen für jeden Bedarfsfall – so einer bist du, Regul –, oder aber ihr seid Träumer, und zu denen gehört Photon. Ein Raumschiff braucht
Rechenmaschinen, meinetwegen auch lebendige, aber keine Poeten, die fortwährend den verborgenen Dingen nachsinnen." "Dann bist du hier ja wohl auch nicht am richtigen Platz!" erwiderte Regul ein wenig bissig, obwohl er nicht zum erstenmal ein solches Urteil über sich selbst hörte. "Ich kenne keinen größeren Phantasten als dich." "Früher mal, das liegt längst hinter mir. Photon aber wird im Kosmos träumen, und das ist gefährlich. Vor allem für ihn, vielleicht aber auch für uns. Doch ich sehe, meine Worte behagen euch nicht; Photon ist ganz verstört, und Regul ärgert sich. Lassen wir's also. Ich wollte nur sagen, was ich denke. Das hielt ich für meine Pflicht." Tatsächlich fing sie nie wieder davon an. Sie behandelte Photon zuvorkommend und versuchte stets, ihm zu helfen. Und als Gemma umkam (in die Photon sich verliebt hatte), bemühte sie sich mehr als alle anderen, ihn zu beruhigen und zu trösten. Photon war im Innersten seines Wesens wirklich so etwas wie ein Dichter. Er komponierte, schrieb Gedichte und erzählte uns lange besinnliche Geschichten. Darauf verstand er sich ausgezeichnet, wir hörten ihm oft stundenlang gespannt zu. Am zweiten Tag seiner Wache im Antimateriewerk rief er zu ungewöhnlicher Zeit über die Relaisstation an. Regul trat in die Visophonkabine. "Was ist los?" Wenn es nur nicht gerade Regul gewesen wäre! Bei jedem anderen hätte Photon den Mut gehabt, sich auszusprechen. Vielleicht wollte er um seine Ablösung bitten, aber als er Regul sah, konnte er sich nicht dazu entschließen. "Ich habe den Eindruck, der Prozeß verläuft nicht richtig", sagte er unsicher. Regul bemerkte sein Zögern, legte es aber falsch aus. "Hast du was Konkretes festgestellt?" "Eigentlich nicht. Nur so ein dumpfes Summen. Aber vielleicht irre ich mich." Nach diesen Worten schaltete Photon rasch ab. Eine Stunde später kam die Zeit für die regelmäßige Meldung. Wieder war Regul in der Kabine. Photon teilte nur lakonisch mit, daß alles in Ordnung sei, und unterbrach die Verbindung.
Regul hielt den Zwischenfall für erledigt und sagte den anderen nichts davon. Was hätte er auch berichten können?
Das weiße Licht Die Aufregung setzte am späten Abend ein, als wir alle um den Tisch saßen. Ein Rufsignal zu ungewöhnlicher Zeit bedeutete an sich noch keine Gefahr. In diesem Augenblick aber wirkte es auf uns merkwürdigerweise wie ein Hilfeschrei. Rubina sprang als erste auf und stürzte in die Visophonkabine. Die Gespräche am Tisch waren wie auf ein Zeichen hin verstummt. Regul sagte in die Stille: "Er hat heute schon einmal außerplanmäßig angerufen, ohne aber etwas Bestimmtes mitzuteilen." Seine Worte verstärkten die Spannung. Rubina kam zurück, bleich und völlig verstört. "Wir müssen Photon sofort ablösen!" Als Rubina die Antworttaste gedrückt hatte, war Photons Gesicht auf dem Bildschirm erschienen, riesengroß, als dränge er sich möglichst nahe ans Objektiv. Er sah zur Seite, und zwar mit einem Blick, wie Rubina ihn noch nie gesehen hatte. So mußten Menschen vergangener Epochen ausgesehen haben, wenn man sie hetzte wie Tiere oder wenn eine Todesgefahr sie bedrohte. Photon betrachtete flüchtig den aufleuchtenden Bildschirm. "Bist du es, Gemma?" In Rubinas Adern erstarrte das Blut. "Was redest du denn, Photon? Komm zu dir! Ich bin es, Rubina!" Photons bleiches Gesicht entspannte sich. Er wurde ruhiger und schien im gleichen Augenblick um Jahre zu altern. Nur seine Augen verrieten noch den ausgestandenen Schreck. "Ich bitte dich, Rubina, schickt jemanden her, der mich ablöst oder mir wenigstens Gesellschaft leistet."
"Gut, Photon, natürlich. Fühls t du dich nicht wohl?" "Ich glaube, ich bin krank. Seid ihr alle dort?" "Ja. Nur Xenon und Sigma nicht, sie haben Wache oben im Raumschiff." "Alle anderen sind dort?" "Aber ja! Warum fragst du?" "Eben war mir so, als komme jemand herein zu mir. Ich habe Schritte gehört, jemand hat die Tür zu Einlaßschleuse geöffnet." "Es ist niemand dort. Wir sind alle hier." "Das habe ich befürchtet." Ein paar Sekunden lang sahen sich beide schweigend an. Plötzlich begriff Rubina, was geschehen war. "Wie arbeiten die Aggregate? Ist alles in Ordnung?" "Ich habe den Eindruck, daß jemand ..." – Photon berichtigte sich rasch –, "daß etwas den Prozeß beeinflußt. Eben war wieder so ein schreckliches Scharren im Hauptkanal, mein Sessel hat richtig vibriert. Das geschieht schon zum zweitenmal während meiner Wache. Ich kann es mir nicht erklären." "Bleib ruhig und beobachte die Geräte. Wir starten in fünf Minuten. Unternimm vorläufig nichts, wenn es nicht unbedingt nötig ist." Rubina wollte die Verbindung unterbrechen, doch ihre Hand stockte. Photon starrte sie mit unsteten, schreckerfüllten Augen an. "Und was ist mit Gemma?" flüsterte er kaum hörbar. "Nimm dich zusammen, Photon! Deine Nerven gehen mit dir durch! Wir kommen!" Rubina und Tellur machten sich fertig. Wir hatten uns alle angeboten, aber die Wahl fiel auf die beiden. Tellur kannte den Prozeß zur Gewinnung von Antieisen am besten, und Rubina war eine ausgezeichnete Elektronikerin. (Photon hatte ja von einer Störung im Magnetkanal gesprochen.) Außerdem bestand Rubina nachdrücklich darauf, daß wir sie schickten. Unsere schnellste Rakete brachte sie in einer halben Stunde an Ort und Stelle. Da sie wußten, mit welcher Spannung wir auf
Nachricht warteten, rief Rubina uns sofort an. Sie faßte sich kurz. "Tellur prüft sämtliche Installationen. Ich kümmere mich inzwischen um Photon. Er hat einen Nervenschock erlitten. Im Produktionsprozeß läuft etwas offenbar nicht normal. Ja, im Magnetkanal. Tellur ist zu beschäftigt, er kann es mir jetzt nicht erklären. Wir rufen später wieder an. Sobald Photon zu sich kommt, bringe ich ihn zurück, Tellur übernimmt die Wache. Seht mal nach Astron!" Das waren die letzten Worte, die wir von ihr hörten. Die Zeit zur Nachtruhe kam heran, doch wir waren viel zu erregt, um schlafen zu gehen. Langsam vergingen die Minuten. "Warum dauert denn das so lange? Wollen wir nicht mal anrufen?" schlug Thalia vor. "Nein. Wir stören nur", widersprach Regul. "Wenn sie fertig sind, melden sie sich von selbst." In diesem Augenblick ertönte das außerplanmäßige Rufsignal zum drittenmal. Alle stürzten zur Visophonkabine. Auf dem Bildschirm erschien Sigma, die zusammen mit Xenon im Raumschiff Wache hatte. "Wir beobachten hier ein blendendweißes Licht!" rief sie. Ihre Stimme klang heiser vor Erregung. "Der Widerschein hat den zweiten Satelliten aufleuchten lassen! Es muß von der westlichen Halbkugel ausgehen! Vielleicht ... Nehmt sofort Verbindung mit dem Antimateriewerk auf!" Atair schaltete die Relaislinie ein. Der Bildschirm blieb dunkel. Da verspürten wir eine Bodenerschütterung, die unsere Siedlung ins Schwanken brachte. Es war das erste und letzte Erdbeben auf der Neogäa. Wir standen und blickten stumm zu Boden, keines klaren Gedankens fähig. "Weshalb sagt ihr denn nichts?" Sigma betrachtete uns mit erschrockenen, flehenden Augen. Neben ihr tauchte Xenon auf. "Ist was mit dem Werk? Vor zehn Minuten hat uns Rubina mitgeteilt, sie schickt eine Transportrakete hoch, außerplanmäßig, der Container ist noch
nicht ganz voll! – Da ist sie schon, ich höre die Signale. Ich gehe hin und nehme sie in Empfang." Eine schreckliche Minute verstrich. Wir wollten es nicht glauben, obwohl es keinen Zweifel mehr gab: Der Tod hatte uns drei Gefährten genommen und all unsere Hoffnung zerstört. Die bittere Gewißheit schnürte uns fast das Herz ab. "Ich ... Wir müssen zu ihnen!" rief Thalia unter Tränen. Sie lief zu Dir, Astron, an Dein Kinderbett und sank schluchzend in die Knie. Bewegungslos und ohne ein Wort zu reden, verbrachten wir die Nacht. Auch die Wache im Raumschiff meldete sich nicht. Zur regelmäßigen Morgenverbindung erschien nur Sigma. Ihre Augen waren gerötet. "Vor einer halben Stunde haben wir das Gebiet überquert", brachte sie mit Mühe hervor. "Im Umkreis von ein paar hundert Kilometern liegt alles in dichtem Nebel – der Ozean ist verdampft. Darunter tobt ein Orkan." Wir spürten, daß sie mit den Tränen kämpfte. "Mittendrin, wo die Insel war, leuchtet grellweiß ein See von geschmolzenem Metall. Er sendet gewaltige Mengen radioaktiver Strahlung aus." Wir schwiegen. Es würde noch lange unmöglich sein, den Ort der Katastrophe aufzusuchen. "Xenon und ich möchten zu euch hinunterkommen", erklärte Sigma nach einer kurzen Pause. "Warum?" Regul fand als erster seine Selbstbeherrschung wieder, zumindest äußerlich. Seine Stimme klang quälend fremd. Es war das erste Wort, das in der Siedlung nach dem Unglück gesprochen wurde. "Weil ..." Sigma weinte nun doch. "Wir wollen nicht noch einmal über sie hinwegfliegen. Der Anblick ist zu schrecklich! Es hat ja auch gar keinen Sinn mehr, daß wir hier im Raumschiff sind. Wozu brauchen wir es denn jetzt noch?" "Na schön. Ihr könnt 'runterkommen. Ich löse euch ab." Niemand widersprach. Eine sonderbare Müdigkeit und Gleichgültigkeit hatte uns alle erfaßt.
Kurz vor dem Start der Rakete rief Xenon noch einmal an. Er erklärte, daß sie beschlossen hätten, bis zum Ablauf ihrer Wache im Raumschiff zu bleiben, wenn nötig auch länger. Aber Regul antwortete gar nicht. Er flog ab und schickte die beiden mit der gleichen Rakete zu uns herunter. Selena begleitete ihn.
Verzweiflung Monate danach beschlossen wir, den ehemaligen Standort des Werks im Schutz unserer schwersten kosmischen Raumanzüge zu überfliegen. Von den Gebäuden fanden wir nichts mehr. Die dreieinhalb Kilometer lange Insel aus Eisen und Nickel war verdampft. An ihrer Stelle gähnte eine tiefe Schlucht, mit einer dicken Schicht gefrorener Gase bedeckt. Die Explosion hatte thermonukleare Reaktionen hervorgerufen, die das Gebiet noch für lange Zeit unzugänglich machen. Aber wir hatten dort ja auch nichts mehr zu suchen. In einem Umkreis von mehreren Kilometern war in einem einzigen Augenblick alles in ionisierte Gase verwandelt worden. Es gab daher auch keine Spuren, die auf die Ursache des Unglücks hätten schließen lassen. Wie viele Vielleicht gingen uns in diesen bitteren Tagen durch den Kopf! War trotz sorgfältigster Reinigung der Isotopen ein fremder Stoff in den Kanal gelangt und hatte das Gleichgewicht des Umwandlungsprozesses von Eisen in Antieisen gestört? Hatten Schwankungen in der Stromzufuhr das Magnetfeld zeitweilig geschwächt, so daß das Plasma die Kanalwände berührte? Hatten äußere, nicht vorherzusehende Faktoren – Schwankungen im Gravitationsfeld des Planeten, magnetische Anomalien oder plötzlich auftretende kosmische Strahlungen – die Funktion der steuernden und kontrollierenden Automaten
beeinträchtigt? Hatte Photon in seiner Nervenkrise einen Fehler gemacht oder die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt? Eins war klar. Tellur und Rubina hatten die Katastrophe kommen sehen. Deshalb hatten sie die Rakete mit dem nicht ganz gefüllten Container vor der Zeit abgeschickt. Sie erreichte das Raumschiff mit zweihundertdreißig Tonnen Antimaterie an Bord. Dem Programm nach hätte sie erst zwanzig Stunden später eintreffen müssen. Tellur und Rubina hatten demnach gewußt, daß sie nicht warten durften, weil das Werk jeden Augenblick explodieren konnte. Sie waren aber nicht geflohen, teilten uns die entsetzliche Gefahr auch nicht mit, sondern blieben, um die Anlage vielleicht doch noch zu retten. Ihre Selbstbeherrschung und ihre Umsicht verhüteten ein noch größeres Unglück. Es waren nur ein paar Kilogramm Antimaterie im Werk gewesen. Was wäre geschehen, hätte die Explosion auch die zweihundertdreißig Tonnen erfaßt? Schon das kleine Quantum hatte den Planeten erschüttert, seine Satelliten zum Leuchten gebracht, einen furchtbaren Orkan entfesselt und die Umgebung auf Jahre hinaus radioaktiv verseucht. Die Gesamtmenge hätte den ganzen Planeten unbetretbar gemacht und wahrscheinlich uns alle vernichtet. In den ersten Tagen nach dem Unglück vermochten wir keinen klaren Gedanken zu fassen. Unser Leben verlief rein mechanisch. Erst jetzt empfanden wir, was Einsamkeit bedeutet. Bisher hatten wir uns als Avantgarde der Menschheit gefühlt, ausgesandt, einen fremden Stern zu erforschen. Zwar standen die beiden Riesen des Kosmos, die Zeit und der Raum, immer zwischen uns und der Erde, aber die moralische Verbindung zur Menschheit war trotzdem niemals völlig abgerissen. Aus ihr schöpften wir die Kraft, gegen die Urgewalten des Kosmos zu kämpfen. Die Katastrophe im Antimateriewerk hatte diese Verbindung nun unwiderruflich und endgültig unterbrochen. Aus der stolzen Avantgarde war ein Häuflein gescheiterter Menschen
geworden, auf einen toten Planeten verschlagen, ohne Aussicht, jemals heimzukehren. Jetzt, da das Werk zur Produktion von Antimaterie nicht mehr existierte, war das Schiff tot. Und ein zweites Werk hatten wir nicht, konnten auf der Neogäa auch kein neues bauen. Unsere Lage war hoffnungslos. Ein Jahr hatte das Werk gearbeitet und insgesamt achttausendsiebenhundertdreißig Tonnen Antieisen produziert; um ins Sonnensystem zurückzukehren, brauchten wir aber hundertzehntausend Tonnen. Der zur Verfügung stehende Treibstoff reichte nur für eine Beschleunigung auf achttausend Kilometer in der Sekunde anstatt auf hunderttausend. Unsere Reise hätte hundertsechzig Jahre gedauert, wir hätten die Ankunft auf der Erde nicht mehr erlebt. Die Neogäa bot uns genügend Rohstoffe. Wir konnten alles herstellen, was wir brauchten – nur keine Antimaterie. Jeder andere Treibstoff aber war zu schwach, um das Raumschiff ins Sonnensystem zu befördern. Ehe wir uns in unser Schicksal ergaben, erörterten wir die verschiedensten Möglichkeiten. Lange stritten wir uns über das Projekt der sogenannten einmaligen Beschleunigung. Der größere Teil des Treibstoffs wurde zu Beginn des Fluges gebraucht, das heißt beim Start und zur Erreichung der Höchstgeschwindigkeit, weil zu dieser Zeit die Container noch voll waren, was das Eigengewicht des Schiffes erhöhte. Der Rest blieb für den Abbau der Geschwindigkeit vor der Landung. Verwendeten wir nun den gesamten Treibstoff für die positive Beschleunigung, würden wir eine doppelt so hohe Geschwindigkeit erreichen, hatten dann aber keine Möglichkeit mehr, das Schiff wieder zu bremsen. Die Idee stammte von Selena. Sie hatte auch die Beschleunigung einkalkuliert, die das Raumschiff beim Durchqueren der kosmischen Wolke erfahren würde. Im günstigsten Fall konnten wir auf diese Weise eine
Geschwindigkeit von achtzehn- bis neunzehntausend Kilometern in der Sekunde erzielen und folglich das Sonnensystem in etwa siebzig Jahren erreichen. Diese Frist war schon nicht mehr so entmutigend lang. Die meisten von uns würden die Ankunft erleben – allerdings nur, um auf der Erde zu sterben. Zudem erschienen uns Selenas Vorstellungen von der Landung als reichlich phantastisch. "Spätestens in einer Entfernung von einer Billion Kilometern wird es uns gelingen, Funkverbindung mit der Erde aufzunehmen", behauptete Selena. "Wir können mitteilen, daß wir kommen und in welcher Situation wir uns befinden. Die Erde hat dann noch achtzehn Monate Zeit, unseren Empfang vorzubereiten. Selbst dann, wenn die Astronautik auf dem Stand zur Zeit unseres Abflugs stehengeblieben wäre, ist unsere Rettung durchaus möglich. Man wird ein automatisches Raumschiff ohne Besatzung entsenden, das eine höhere Beschleunigung verträgt als der menschliche Organismus. Es fliegt uns entgegen, gleicht seine Geschwindigkeit der unseren an, und wir steigen über. Dann können wir landen." "Und wenn die Verbindung mit der Erde nicht rechtzeitig zustande kommt? Wenn dort kein geeignetes Raumschiff bereitsteht? Wenn es uns verfehlt oder das Manöver zur Anpassung seiner Geschwindigkeit an die unsere zu lange dauert? Auch mit kaum zwanzigtausend Kilometern in der Sekunde werden wir noch sehr schnell sein. Die Begegnung müßte in genügend weiter Entfernung stattfinden, damit wir das andere Schiff noch rechtzeitig bremsen können." "Dann müssen wir uns eben damit begnügen, der Menschheit unsere wissenschaftlichen Entdeckungen mitzuteilen, und in alle Ewigkeit weiterzufliegen." "In siebzig Jahren werden sie mit unseren Entdeckungen kaum noch was anfangen können, schätze ich", warf Xenon achtlos ein.
Vielleicht erfaßten die meisten in diesem Augenblick nic ht, welche Tragik in seinen Worten lag, oder wollten es nicht wahrhaben, jedenfalls ging niemand darauf ein. "Wenn wir hier sitzen bleiben, nützen wir der Menschheit auch nicht." Doch Selenas Vorschlag fand keinen Anklang. Es wäre ein schweres Opfer gewesen, hätten wir uns für siebzig Jahre im Raumschiff eingeschlossen, zudem möglicherweise vergeblich und sinnlos. Sogar einen Plan, den wir später selber grotesk nannten, erörterten wir ernsthaft. Der Treibstoff sollte ganz normal für die positive und negative Beschleunigung benutzt werden. Die Reise hätte dann rund hundertsechzig Jahre gedauert, und wir hätten die Ankunft nicht mehr erlebt. Aber unsere Kinder, Du und die noch ungeborenen, Ihr hättet die Erde erreicht; und wenn nicht Ihr, dann Eure Kinder. Auch diese Variante wurde verworfen. Kindern ein solches Schicksal zu bereiten, dazu konnten wir uns nicht entschließen. Wir, die Mütter und Väter, waren mit einer festen Aufgabe ausgeschickt worden. Wir hatten sie nicht erfüllt, aber unser Leben hatte doch einen Sinn gehabt. Unsere Enkel würden die Erde erreichen und sich dort in die große Menschengemeinschaft eingliedern. Aber Ihr, unsere Kinder, die Zwischengeneration, Ihr hättet lediglich die Funktion einer Brücke ausgeübt. Einen so grausamen Entschluß konnten wir nicht fassen. Wir hatten kein Recht, Kinder nur zu dem Zweck in die Welt zu setzen, daß sie neue Kinder gebären und im übrigen die stumpfsinnige Rolle eines Bindeglieds spielten, ohne das wahre Leben kennenzulernen. Wer sollte ihnen denn die Kraft geben, ein solches Dasein zu ertragen? Die Menschheit, die sie nicht kannten? Oder etwa wir, ihre gescheiterten Eltern, die sie bewußt einem lebenslänglichen Martyrium ausgeliefert hatten? Wir beschlossen, auf der Neogäa zu bleiben und zu warten, ob uns vielleicht doch noch eine annehmbare Lösung einfiel. An Zeit fehlte es uns ja nicht.
Bis jetzt hatten wir gelebt, um zu kämpfen und zu siegen. Jetzt aber und in den kommenden Jahren, vielleicht bis zu unserem Tode, würden wir leben, nur leben, ohne ein sinnvolles Ziel.
Der Sterngeborene und sein kybernetischer Spielgefährte Dem Menschen wohnt eine stete Unrast inne, der Drang, tätig zu sein und etwas zu schaffen, Pläne zu schmieden und sie zu verwirklichen. Wir hatten nichts zu tun, aber es verlangte uns danach, zu arbeiten. Deshalb gingen wir daran, unsere Siedlung zu erweitern und zu verschönern. Vierzehn Menschen setzten es sich in den Kopf, auf der Neogäa eine Märchenstadt zu errichten, die Hauptstadt des künftigen kosmischen Zentrums, wie Thalia sich ausdrückte. Hatte es einen Sinn? War die neu entbrannte Aktivität nicht nur ein Mittel, unsere Ohnmacht zu bemänteln, die Zeit totzuschlagen, kurz: uns selbst etwas vorzumachen? Nein, es war nicht nur das. Nach uns würden weitere Raumschiffe hier landen, nicht nur eins oder zwei, sondern zehn vielleicht oder noch mehr, mit vielen Menschen an Bord. Für sie arbeiteten wir, damit sie sich nicht erst einzurichten brauchten, sondern sofort an ihre eigentlichen Aufgaben gehen konnten. Wir hatten jetzt Zeit, und indem wir sie nützten, ersparten wir sie denen, die nach uns kamen. Denn Zeit, die unwiderbringliche Zeit, ist in der Welt das kostbarste Gut. Wir arbeiteten wie besessen. Da wir alle, selbst unsere Biologen, mit Elektronik und Automatik vertraut waren, wetteiferten wir darin, die kompliziertesten und originellsten kybernetischen Roboter zu bauen. Sie bewachten unsere Siedlung und nahmen uns in den Wohnräumen, den Labors und den Fabriken fast jeden Handgriff ab. Auch in den Gewächshäusern und den Tiergehege n tauchten immer mehr kybernetische Gehilfen auf. Wir verfügten über Gärtner, Obstpflücker, Kaninchenzüchter, Schweinetreiber und
Fischfänger. Unser Ehrgeiz führte schließlich dahin, daß uns die Automaten nachgerade lästig wurden. Es war unmöglich, eine reife Frucht selbst zu pflücken. Wollte sich jemand dieses kleine Vergnügen erlauben, stellte sich regelmäßig heraus, daß alle in Frage kommenden Früchte bereits sorgfältig aufgereiht im Kühlraum lagen. Es war auch keine reine Freude mehr, sich zur Erholung ans Aquarium zu setzen und ein bißchen zu angeln, denn dort stand bereits mit Sicherheit ein metallisches Ungetüm, das die fettesten Exemplare anpeilte und sie mit einer blitzartigen Bewegung seines Netzes in eine Kiste beförderte. Eine solche Gesellschaft konnte einem wahrhaftig den Spaß verderben! Außer kleinen Automaten für tägliche Dienstleistungen konstruierten wir auch Roboter für größere Aufgaben. Wenn wir schon einmal auf der Neogäa bleiben mußten, wollten wir die fremde Welt auch spüren lassen, daß nicht entmutigte Zweibeiner sie besiedelten, sondern wißbegierige, unerschrockene und willensstarke Menschen. Wir beschlossen, ein Serie interplanetarer Schiffe zu bauen, völlig automatisiert und mit kybernetischer Steuerung, dazu eins oder zwei für bemannte Flüge. Mit ihnen wollten wir die äußeren Proximaplaneten erforschen. Wir dachten auch an eine größere Expedition. Da wir nicht zum Heimatstern zurückkehren konnten, setzten wir uns ein Reise zum Doppelstern Tolimak in den Kopf. Die Treibstoffvorräte im Raumschiff hätten für diesen nach astronautischen Maßstäben verhältnismäßig kurzen Flug gereicht, allerdings nur bis zu einer Geschwindigkeit von viertausend Kilometern in der Sekunde. Hin- und Rückflug hätte also mindestens sechs Jahre gedauert. Außerdem, unser gesamter Antimaterievorrat wäre dabei draufgegangen. Wir brauchten ihn zwar jetzt nicht mehr, scheuten uns aber doch, ihn einzusetzen, und verschoben deshalb die Fahrt immer wieder auf später. Sie wurde dann doch noch unternommen, wie Du weißt, allerdings nicht von uns.
Deinen ersten Geburtstag begingen wir gemeinsam. (Die seltenen Festtage waren für uns immer ein Ereignis.) Als der fröhliche Trubel gerade seinen Höhepunkt erreicht hatte, klopfte es an die Tür. Selena erblaßte, Thalia setzte sich unwillkürlich auf einen Stuhl. Wer konnte das sein? Wir befanden uns alle in Deinem geräumigen Kinderzimmer. Lediglich Zirkonia und Lathan fehlten, sie hatten Wache oben im Raumschiff. Trotzdem gab es keinen Zweifel; es hatte geklopft. Nur Xenon, unser bester technischer Kybernetiker, der seinerzeit die fixe Idee gehabt hatte, einen vollkommenen Raumfahrer herzustellen, rationeller konstruiert als der Homo sapiens, verzog keine Miene, und Sigma, die in sein Geheimnis eingeweiht war, lächelte rätselhaft. "Komm 'rein, Kyber!" rief Xenon. Ins Zimmer trat ein kleiner Mensch oder besser eine große Puppe aus Kunststoff in der Gestalt eines drei- bis vierjährigen Knaben. Der Roboter ging geradewegs auf Dich zu und sagte: "Guten Tag, Astron. Ich bin Kyber. Soll ich dein Freund sein?" Du konntest damals gerade erst laufen und ranntest dem ungewöhnlichen Spielgefährten mit unsicheren Schritten entgegen, um ihn zu umarmen. Eine derart heftige Begrüßung hatte der Konstrukteur nicht vorgesehen; Kyber fiel zusammen mit Dir zu Boden. Du fingst laut an zu weinen, der Roboter heulte mit heiserer Stimme und strampelte hilflos mit Armen und Beinen. Thalia nahm Dich auf und streichelte Dich, um Dich zu beruhigen. Selena packte Kyber am Hals und trug ihn hinaus. An der Tür blieb sie stehen, blickte den verwirrten Xenon an und sagte mißbilligend: "Was für ein Betrug! Wenn Astron keine Kinder als Spielgefährten hat, dann müssen wir Erwachsenen sie ihm ersetzen, aber so ein elektronischer Balg geht auf keinen Fall!" Xenon war nicht der Mensch der eine Idee, in die er sich verbissen hatte, ohne weiteres wieder aufgab. In langen Debatten, vor allem mit Selena, setzte er uns auseinander, daß
sein Kyber nichts als ein unterhaltsames Spielzeug sei, das Dir Freude machen würde, ohne Dir zu schaden. Und er brachte es dahin, daß wir Kybi, wie Du ihn nanntest, nach einigen Änderungen und sorgfältiger Prüfung durch eine Kommission unter dem Vorsitz der strengen Selena in Dein Zimmer ließen. Seltsamerweise zogst Du seine Gesellschaft der unseren vor, was uns sogar ein bißchen kränkte. Kybi, unermüdlich, war immer zu Deinen Diensten. "Kybi, sing ein Lied!" – der Roboter tat es; "Kybi, erzähl mir ein Märchen!" – sofort trug er zum hundertstenmal alle Märchen vor, die Xenon seinem elektromagnetischen Speicherwerk eingegeben hatte; "Kybi, sei still!" – und die Puppe verstummte, bis ein neuer Befehl folgte, gewöhnlich nicht später als in einer Minute. Als wir merkten, welch schädlichen Einfluß Kybi auf Deine sich formende Gefühlswelt ausübte, war es fast zu spät. Mit seinem widerspruchslosen Gehorsam hatte er Dich verzogen, ja eigensinnig gemacht. Du wolltest nun auch mit uns ebenso umspringen wie mit ihm, und als das nicht gelang, waren wir in Deinen Augen natürlich böse. Wegnehmen konnten wir Dir Deinen Spielgefährten nicht mehr, Du hattest Dich schon zu sehr an ihn gewöhnt. Xenon versuchte, sein Werk zu vervollkommnen, indem er in Kybis Programm einen "Charakter" einfügte. Der Roboter erzählte nun keine Märchen mehr, wenn Du nicht ordentlich gegessen hattest, er sang kein Schlaflied, wenn Du vorher unartig warst. Du hattest ein bestimmtes Tagesprogramm, und nur wenn Du es genau befolgtest, erfüllte Kybi Deine Wünsche. Der erste Versuch mißlang, weil der Roboter eine auf die Sekunde pünktliche Ausführung Deiner Pflichten verlangte. Daraufhin lockerte Xenon das Regime. Kybi war nun toleranter, aber das bewirkte, daß Du ihn hinters Licht führtest: Du versprachst ihm etwas, damit er Deine Wünsche erfüllte, hieltest aber Dein Versprechen nicht ein. Die Folge war eine selbst für Xenon unerwartete Reaktion. Der Roboter drehte durch, wie die Elektroniker sagen. Er tat es Dir gleich, das heißt, er kam auch Deinen Forderungen nicht nach. Erzürnt
über seine "Lügen", gingst Du mit Fäusten auf ihn los. Mit einem Wort, Eure Beziehungen verschlechterten sich, Ihr strittet miteinander und suchtet Euch gegenseitig an List und Hinterhältigkeit zu übertreffen. Wir redeten Xenon ins Gewissen. Der kybernetische Spielgefährte war seine Idee gewesen, mochte er die Suppe auslöffeln, die er eingebrockt hatte. Es begann ein stummer Wettlauf zwischen Deiner Erfindungsgabe und Xenons Verstand, den er auf die kybernetische Puppe übertrug. Doch bevor es zu einem endgültigen Ergebnis kam, traten neue Ereignisse in unser Leben.
Die Signale Seltsam, wir wurden das Gefühl nicht los, daß die Explosion des Werkes eine geheimnisvolle, unerklärliche Ursache hatte. Wie sollten wir uns zum Beispiel Photons Verhalten erklären? Obwohl poetisch veranlagt, ein gefühlsbetonter Träumer, hatte er sich immer nur ruhig und ausgeglichen gezeigt. Was mochten das für Schritte gewesen sein, die er kurz vor seinem Gespräch mit Rubina gehört hatte? Lediglich Klanghalluzinationen? Wieso hatte er plötzlich Gemma zu sehen geglaubt, die doch schon vor vielen Jahren so tragisch ums Leben gekommen war? Wovor hatte er Angst gehabt? Geräusche im Magnetkanal waren in der Tat ein gefährliches Symptom, aber rührte Photons Geistesverwirrung nur von ihnen her? Regul wurde sehr ungehalten, als wir eines Abends über diese Frage debattierten. "Euch wird's noch genauso gehen wie Photon. Wenn ihr erst mal anfangt, Gespenster zu sehen, werden auch euch demnächst die Toten erscheinen. – Photon hat Gemma sehr geliebt. Er konnte sie nicht vergessen und dachte immer an sie, an die
tragischen Umstände ihres Todes, allein im Raum, inmitten der kosmischen Urgewalten. Nun war er selbst allein, fern von uns, in unmittelbarer Nähe übermächtiger Gewalten. Die gigantischen Prozesse der Energie- und Stoffumwandlung spiegelten sich auf dem Schaltpult wider, das ihn umgab – farbige Augen blinzelten, akustische Signale ertönten, über die Bildschirme krochen bizarre Schlangen. Mitten in diesem Chaos von Eindrücken sitzt Photon mit seinen Gedanken an Gemma. Wohlgemerkt, mit seinen, nicht mit euren, auc h nicht mit meinen. Mit den Gedanken einer empfindsamen Natur, die alles viel tiefer erlebt, fast krankhaft, möchte ich sagen. Ist es da ein Wunder, daß er Gesichte hat, daß er das Ticken in einem Zähler für Schritte hält?" Wir schwiegen. Selena aber, die eben erst hereingekommen war und nicht unser ganzes Gespräch mit angehört hatte, sprang auf. "Photons psychischen Zustand hast du zweifellos richtig wiedergegeben. Ich muß mich geradezu wundern über dein Einfühlungsvermögen. Seit wann befaßt du Apologet der höheren Mathematik dich mit psychologischen Analysen?" Ihre Augen leuchteten, ihre dunkle Haut rötete sich. "Es war nötig." Regul lächelte, wie immer ruhig und unbeirrbar. "Ich wollte euch nur zeigen, daß sich Photons Verhalten, an dem ihr herumrätselt, durchaus logisch erklären läßt." "Und wie erklärst du dir Tellurs Verhalten? Von Rubina will ich nicht reden, ich weiß schon: gefühlsbetonte Südländerin, eindrucksbereite Psyche und so weiter. Aber Tellur? Der war doch ein starker, ausgeglichener Typ. Warum ist er geblieben? Warum hat er, der Umsichtige und Vernünftige, das Werk nicht rechtzeitig verlassen? Er zumindest dürfte doch wohl kaum das Opfer irgendwelcher Gesichte geworden sein!" "Tellur sah eine Möglichkeit, das Werk zu retten, wenn auch eine sehr geringe. Er ist geblieben, weil er wußte, daß unsere Rückkehr zur Erde unmöglich war, wenn er davonlief, während er so noch eine minimale Chance hatte, das Werk für uns alle, auch für sich und seinen Sohn, zu erhalten. Als er in letzter
Sekunde bemerkte, daß ihm das nicht gelang, war es schon zu spät. Und Rubina hat es natürlich nicht über sich gebracht, ihn in diesen schweren Augenblicken zu verlassen." "Das ist die eine Seite der Tragödie, Regul, die menschliche. Weshalb aber hat die Technik plötzlich versagt, nachdem alles ein ganzes Jahr lang völlig einwandfrei gelaufen ist? Warum flog das Antimateriewerk in die Luft, obwohl Tellur dort war, unser bester Fachmann, der jedes Detail der Anlage und jeden einzelnen Augenblick des Produktionsprozesses genau kannte? Liegt nicht der Gedanke nahe, daß fremde, uns unbekannte Kräfte eingewirkt haben?" "Wie meinst du das?" "Leider weiß ich auch nichts Bestimmtes, zumindest im Moment noch nicht", erwiderte Selena. "Aber vielleicht kommen wir bald dahinter. Wir dürfen gewisse Umstände nicht einfach ignorieren, nur weil sie uns geheimnisvoll und rätselhaft erscheinen. Du rechnest meisterhaft mit den dir bekannten Größen, Regul, aber das Unbekannte magst du nicht. Du fliehst es, willst es nicht sehen, verbirgst dich vor ihm. Und warum? Weil es nicht in deine Formeln paßt. Was du dort nicht findest, das existiert nicht, denkst du." Was mochte Selena in Erregung versetzt haben? Nur der Streit mit Regul? Sie schien noch nicht alles gesagt zu haben, denn sie sprach lebhaft weiter. "Das Weltall läßt sich nicht in Formeln fassen. Sie sind zu eng für das unendliche und unergründliche Universum. Glaubst du denn, wir hätten allein dadurch, daß wir hier gelandet sind, alle Geheimnisse dieser Welt bereits gelöst? Hältst du es zum Beispiel nicht für möglich, daß es außer uns hier vielleicht noch andere vernunftbegabte Wesen gibt?" "Hier, auf der Neogäa!" Regul lächelte, obwohl er wußte, daß er Selena damit noch mehr reizte. "Und du meinst, sie waren es, die um Photon herumgeschlichen sind und die Explosion ausgelöst haben? Das wäre jedenfalls recht leichtsinnig gewesen. Ich glaube nicht, daß danach viel von ihnen übriggeblieben ist!"
"Du wirst ironisch? Mal sehen, ob du dabei bleibst, wenn du das hier gehört hast!" Selena nahm aus ihrer Tasche mit rascher Bewegung eine zylindrische Spule, auf der unsere Erkundungsraketen ihre Beobachtungen aufzeichneten, legte sie ins Wiedergabegerät und drückte auf den Knopf. Wir hörten die Hochfrequenztöne der Meßapparate. Auf den Bildschirmen tanzten bunte Kurven. "Hier ist noch alles normal. Die Spule stammt von der Erkundungsrakete 047, die vor einer halben Stunde zurückkam. Sie hat das Gebiet um das vernichtete Antimateriewerk untersucht. Drei Tage und drei Nächte. Jetzt paßt auf!" Selena drehte am Verstärkerknopf. Aus dem Lautsprecher tönten Funksignale. "Unser Rufzeichen!" rief Sigma verblüfft. "Jemand sendet die zwischen uns und der Erde vereinbarten Signale", bestätigte Selena feierlich. "Was heißt jemand?" sagte Regul. "Das Raumschiff strahlt sie alle sechs Stunden aus, vor jeder Sendung." "Aber warum sind dann nur die Rufzeichen zu hören?" fragte Atair. "Ihr wißt noch nicht alles. Die Signale erscheinen zweimal, in der Mitte und am Ende der Aufnahme, in einem Abstand von zweiunddreißig Stunden. Genausolange dauern auf der Neogäa ein Tag und eine Nacht." "Und was folgt daraus?" fragte Regul. "Die Erkundungsrakete hat nur die Rufzeichen registriert, nicht auch den ausgestrahlten Text. Weshalb?" Selena schwieg einige Sekunden. "Das Wichtigste aber: Die Empfangszeit der Signale fällt nicht mit der Zeit zusammen, in der das Raumschiff sendet. Außerdem hat es sich im Funkschatten der Rakete befunden, sein Richtstrahl konnte diese also gar nicht erreichen. Die Signale sind nicht von unserem Raumschiff ausgegangen." "Woher sollen sie denn aber sonst stammen?" fragte Thalia gespannt. "Der Sender befindet sich nicht in Richtung Sonne, wie ihr vielleicht annehmt. Die Rufzeichen kommen vielmehr von der
entgegengesetzten Seite, nach meinen Berechnungen haarge nau vom Tolimak." "Das heißt, es nähert sich uns jemand vom Tolimak her und signalisiert mit unserm Rufzeichen?" Thalias Augen brannten. Sie trat dicht an Selena heran, als wolle sie in deren Gesicht die Antwort lesen. "Er nähert sich uns nicht, sondern entfernt sich. Jemand sendet alle zweiunddreißig Stunden einen Laserfunkstrahl aus, der genau auf die Explosionsstelle gerichtet ist, und zwar im Rhythmus unseres Rufsignals. Zwei andere Erkundungsraketen, 017 und 062, haben die Sendung nicht mitgeschnitten, obwohl sie sich ganz in der Nähe bewegten. Das bedeutet, daß der Strahl sehr dünn ist und haargenau die Stelle anpeilt, an der unser Werk lag." "Aber wieso ... Bist du sicher, daß sich der Sender entfernt?" "Der Dopplereffekt hat es einwandfrei ergeben. Der Sender bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von drei- bis vierundzwanzigtausend Kilometern in der Sekunde von uns weg." Wir prüften Selenas Berechnungen nach. Es stimmte alles. Ein Flugkörper bewegte sich mit hoher, gleichbleibender Geschwindigkeit auf den Tolimak zu und sendete dabei mit Hilfe eines genau auf unser zerstörtes Antimateriewerk gerichteten Laserstrahls in regelmäßigen Abständen unser Rufsignal. Jedes Intervall entsprach einem Tag und einer Nacht auf der Neogäa. Die "anderen" wußten also, in welcher Zeit sich der Planet einmal um seine Achse drehte. Wer waren sie? Für wen sendeten sie? Vor der nächsten Sendung befanden sich unsere beiden Universalraketen mit je drei Mann Besatzung an Ort und Stelle. Wieder empfingen wir die Signale. Wir ric hteten unseren Laser auf den unsichtbaren Sender und funkten die Anfragezeichen. Die Antwort war frühestens in einem Monat zu erwarten, da die geheimnisvolle Station aller Wahrscheinlichkeit nach schon fast so weit entfernt war wie der Doppelstern Tolimak. Am
Katastrophenort aber entdeckten wir trotz sorgfältiger Nachforschung nichts Neues. Sollten sich wirklich in unserer Nähe andere Raumfahrer aufhalten? Wer sonst, wenn nicht vernunftbegabte Wesen mit hohem technischem Wissen, konnte unser Signal aus einer solchen Entfernung senden! Aber warum ausgerechnet zu diesem schrecklichen Ort, wo niemand war? "Wo niemand mehr ist", stellte Selena richtig. "Schön, aber warum senden sie überhaupt dorthin?" meinte Lathan. "Und warum hören sie nicht auf, nachdem nun tatsächlich niemand mehr dort ist? Warum richten sie ihre Antennen nicht auf das Raumschiff, von dem sie doch wohl unsere Rufzeichen haben?" Niemand wußte eine Antwort. Vierzig Tage vergingen. Die eigens zu diesem Zweck errichtete Laserstation präzisierte die Koordinaten des geheimnisvollen Senders, der seinen Ruf regelmäßig und unverändert wiederholte, und schickte, ebenso wie die starken Richtstrahler des Raumschiffes, unsere Antwort in den Raum. Ohne Erfolg. "Vielleicht treffen wir sie niht. Die Entfernung ist schon zu groß!" "Vielleicht wollen sie nicht mit uns in Verbindung treten." "Vielleicht kann uns niemand antworten. Es ist doch denkbar, daß es sich um einen automatischen Sender handelt, der die aufgezeichneten Signale mechanisch wiederholt." Vierzig Tage lang zermarterten wir uns den Kopf, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen.
Sie kommen doch Eines Nachts, wir schliefen schon, ertönte in unserm Zimmer das Alarmsignal, zum erstenmal, seitdem wir auf der Neogäa waren.
Wir stürzten in den Salon. Zirkonia, die Wachhabende, empfing uns strahlend und aufgeregt. "Verzeiht, daß ich euch so unsanft geweckt habe! Ich konnte nicht bis morgen früh warten. Es ist eine Antwort auf unsere Anfrage eingegangen. Ich habe sie schon dechiffriert." Sie ließ das bereits eingelegte Band anlaufen. Eine metallische Stimme sprach langsam und, wie uns schien, feierlich: "Raumschiff A II 1 auf den Milchstraßenkoordinaten minus 43 KU 872, Ost 07 BA 153. Einflugzeit in das Gravitationsfeld der Proxima 2219, 4072. Negativer Beschleunigungskoeffizient 0,102. Funkverbindung: Lokator 6012 Megahertz, Laser 548,3 Millimikron. Ende. Raumschiff A II 1 auf den Milchstraßenkoordinaten ..." Die Mitteilung wurde zweimal wiederholt. Wir ließen sie noch zusätzlich ein paarmal ablaufen, als glaubten wir unseren Ohren nicht. Die ausdruckslose Stimme des Automaten klang für uns wie Musik. Wir genossen seine Worte, sogen sie förmlich auf und wetteiferten darin, sie einander zu erläutern, obwohl jeder wußte, was sie bedeuteten. "Vor allem wollen wir mal die Flugkoordinaten festlegen und Verbindung aufnehmen", sagte Regul bedächtig. "Deshalb teilen sie uns ja ihre Frequenzen mit. Außerdem müssen wir die Wachhabenden im Raumschiff verständigen. Sie wissen ja noch gar nichts." "Wartet mal, nicht so schne ll", erwiderte Selena. Ihre Stimme klang diesmal kühl und sachlich. "Mir gefällt einiges an der Geschichte nicht." Wir schwiegen erstaunt und warteten auf eine Erklärung. "Nach so vielen Jahren kommt es auf ein paar Stunden nicht mehr an. Wir sollten klaren Kopf bewahren und alles genau durchdenken, bevor wie die Verbindung herstellen." "Nun rede schon, Selena! Was hast du für Bedenken?" fragten wir ungeduldig. "Zirkonia, woher ist der Funkspruch gekommen?" "Wie immer – von dem Sender beim Tolimak."
"Also von dort, wo sich das Raumschiff A II 1 nicht befinden kann. Aus einer Richtung, die dem Sonnensystem entgegengesetzt liegt. – Wann muß das neue Schiff die Erde verlassen haben, um jetzt hier zu sein?" "Doch wohl vor sechzehn Jahren", erwiderte Sigma rasch. "Also zu einer Zeit, in der wir noch Verbindung zur Erde hatten. Glaubt ihr denn, man hätte uns ein solches Ereignis nicht mitgeteilt?" "Es wäre denkbar", meinte Regul, "daß das neue Raumschiff eine größere Geschwindigkeit entwickelt und die Entfernung in kürzerer Zeit zurückgelegt hat." "Die Beschleunigung ist die gleiche!" "Was redet ihr bloß, was soll die Skepsis!" sagte Atair. "Es sind eindeutig unsere Funksignale, die technischen Daten entsprechen unseren Standards. Wer könnte sie aussenden, wenn nicht unsere Leute?" "Und wieso kommen sie von einer Stelle, wo sich das Schiff seinen eigenen Angaben nach in diesem Augenblick gar nicht befinden kann?" beharrte Selena. Während wir stritten, berechnete Regul die Koordinaten des ankommenden Raumschiffes. Als er seine Berechnungen abgeschlossen hatte, richteten wir sämtliche Sender auf den mutmaßlichen Standort des anfliegenden Raumschiffes. Wir mußten uns melden, selbst wenn die Mitteilung von "anderen Wesen" ausging, die den Funkspruch aufgefangen hatten und ihn an uns weitergaben. In kurzen Intervallen strahlten wir auf den angegebenen Wellenlängen und über Laser folgende Nachricht aus: "Hier Besatzung Raumschiff A I 1. Befinden uns auf dem siebzehnten Planeten im System der Proxima. Haben Euer Radiogramm erhalten. Meldet Euch." Es folgten unsere genauen Koordinaten. Sechs Stunden und fünfzig Minuten nach der ersten Sendung kam die Antwort. Was wir nicht einmal zu träumen gewagt hatten, wurde Wirklichkeit. Einen Monat später landete auf dem anderen
Mond der Neogäa ein zweites Raumschiff, ein Bote der Menschheit. Schon bevor wir unsere Kameraden umarmten, wußten wir über sie, ihren Flug und über das Schiff Bescheid. Als die Funkverbindung der Erde zu uns abriß, was möglicherweise bedeutete, daß das Raumschiff A I 1 nicht mehr existierte, beschloß man sofort, möglichst rasch ein zweites Raumschiff zu bauen und es auf denselben Kurs zu schicken, um uns zu helfen, falls wir noch am Leben waren. Sechs Jahre nach unserem Abflug zur Proxima startete das zweite Raumschiff, die A II 1. Sie besaß einen vervollkommneten Photonenreflektor, der aus der gleichen Reaktion eine doppelt so hohe Schubkraft herausholte. Sie erreichte eine Reisegeschwindigkeit von hundertfünfzigtausend Kilometern in der Sekunde, legte also die Entfernung von der Sonne bis zur Proxima in knapp dreizehneinhalb Jahren zurück. Vor ihr her flog ein Mikroleitschiff, das den Weg sondierte. Ehe es beim Eindringen in die kosmische Wolke verbrannte, konnte es die Schiffsbesatzung noch über Konsistenz und Magnetstruktur des Hindernisses informieren. Es gelang sogar, die Erde zu benachrichtigen. Später, etwa in der Mitte des Gas-MeteoritenGemisches, hatte auch die A II 1 die Verbindung mit der Erde verloren. Nun klärte sich auch das Rätsel um den geheimnisvollen Sender, der regelmäßig vom Tolimak her unsere Rufsignale ausgestrahlt hatte. Die Mannschaft des zweiten Raumschiffes hatte sich während des ganzen Fluges Gedanken darüber gemacht, was mit uns geschehen sein könnte und ob man uns finden werde. Ein Trost war für sie gewesen, daß die Reisegeschwindigkeit sie mit jeder Sekunde hundertfünfzigtausend Kilometer näher ans Ziel brachte. Mehr hatte man sich in der Tat nicht wünschen können. Als aber die Bremsperiode einsetzte und der Flug immer langsamer wurde, stellten die Kameraden in ihrer Ungeduld alle möglichen Vermutungen an: Vielleicht waren wir am Ende
unserer Kräfte, vielleicht lebten wir in grenzenloser Verzweiflung, ohne zu ahnen, wie nahe die Hilfe war. Deshalb hatten sie beschlossen, einen Boten auszusenden, der mit der bisherigen Geschwindigkeit weiterflog. Rasch bauten sie eine kleine Sende- und Empfangsstation und schickten sie, unabhängig vom Raumschiff, auf die Reise. Sie bewegte sich nach dem Trägheitsgesetz und erreichte das System der Proxima, wie beabsichtigt, wesentlich früher. Ihr automatischer Sender war so programmiert, daß er einen Ausgangspunkt elektromagnetischer Wellen suchte, sich auf ihn einstellte und Rufsignale ausstrahlte. Erhielt er eine Antwort, dann sendete er den Grundtext. Kein Wunder, daß er in dem Gewirr der hundertsieben Planeten unsere Sender nicht entdeckte, zumal da wir für unsern Funkverkehr verhältnismäßig schwache Anlagen benutzten. Der weitreichende starke Laser unseres Raumschiffes aber sendete seine Signale zum Sonnensystem nur auf einem scharf gebündelten Strahl. Merkwürdig war allerdings, daß die automatische Station die bei der Explosion unseres Antimateriewerks frei werdende Strahlung als einen Sender, eine künstliche Quelle elektromagnetischer Energie, aufgefaßt hatte.
Die Sieger Der Kampf mit Zeit und Raum begann von neuem. Eben noch hatte uns der Überfluß an Zeit gequält, und nun reichte sie plötzlich wieder nicht aus. Wir durften keinen Tag verlieren, zwischen uns und der Erde lag das Universum. Raumfahrer sind Leute der Tat. Schon am Morgen nach der Ankunft der A II 1 machten wir uns an den Bau eines neuen Antimateriewerks. Jetzt fühlten wir dreiunddreißig Menschen uns wieder stark und unbesiegbar.
Das neue Werk besaß fast die zweifache Kapazität unseres alten. Es lieferte zwei Tonnen Antimaterie in der Stunde. Da die zweite Expedition die wichtigsten Aggregate für die Antimaterieproduktion doppelt mitgeführt hatte, gelang es uns, sechs Monate nach dem Anlaufen des ersten ein zweites Antimateriewerk in Gang zu setzen. Nun wurde an zwei Stellen auf der Neogäa Antieisen produziert, pro Stunde vier Tonnen. Wenig mehr als fünf Jahre nach Ankunft der A II 1 waren wir startbereit zur Rückkehr. Das neue Schiff hätte für alle Platz gehabt, wenn es nach dem alten Programm gegangen wäre, aber die Situation hatte sich geändert. Nicht nur eins, sondern zwei Raumschiffe kreisten um die Neogäa; wir verfügten über eine mit allem Komfort ausgestattete Siedlung, mehrere Universalfabriken, herrliche Gewächshäuser und große Tiergehege; auf unseren Startbahnen stand ein ganzes Geschwader interplanetarer Raketen, mit Treibstoff betankt und startklar. Sollten wir diesen Reichtum etwa sich selbst überlassen und fliehen, ohne die fremde Welt gründlich studiert zu haben? So vieles war noch zu erforschen. Vor allem der Doppelstern Tolimak wartete auf uns, lockte mit fremden Welten, neuen erregenden Erlebnissen. Wir fühlten uns nicht wie in letzter Minute gerettete Besiegte, sondern als Sieger. Es wurde beschlossen, daß nicht alle die Neogäa verlassen sollten. Zwanzig Raumfahrer blieben, die Besatzung des zweiten Schiffes und dazu zwei von uns – Xenon und Sigma. Gewiß, auch Xenon und Sigma hatten vom Wiedersehen mit der Heimat geträumt, doch es ist ein Unterschied, sagten sie, ob man gezwungenermaßen in einer fremden Welt lebt oder ob man freiwillig dort bleibt, um beim Aufbau der ersten Sternenbasis zu helfen. Wenn der Mensch frei wählen kann, entscheidet er sich für das, was ihm wichtiger und wertvoller erscheint. Zwölf Menschen genügen vö llig, um das neue Raumschiff ins Sonnensystem zu steuern. Der Weg ist bekannt,
er wird noch oft zurückgelegt werden. "Auf der Erde kommt man auch ohne uns aus. Hier aber braucht man uns wirklich." Indessen, der wahre Grund für ihren Entschluß war anders. Sie brauchten es uns nicht zu erklären, denn wir fühlten wie sie – auch wir wären gern in der neuen Welt geblieben. Aber jemand mußte schließlich das Raumschiff zurückführen, um der Erde Bericht, zu erstatten und um Dich, Astron, in ihre Obhut zu geben. Xenon, Sigma und die Besatzung des zweiten Schiffes blieben, weil sie Menschen sind. Sie ließen die ersehnte Möglichkeit verstreichen, die Heimat wiederzusehen, setzten sich einer langjährigen Verbannung und vielerlei Gefahren aus, riskierten sogar ihr Leben, weil sie Menschen sind. Deshalb. Warum hat sich der Urmensch auf einem schwimmenden Baumstamm den Fluß hinuntertreiben lassen? Warum haben die alten Seefahrer ihre Nußschale in den uferlosen Ozean hinausgesteuert? Warum sind die ersten Flieger in Ballons und primitiven Flugzeugen ins Reich der Vögel aufgestiegen, warum haben die ersten Kosmonauten den schützenden Erdkreis verlassen? Warum flogen wir zu den anderen Sternen, obwohl wir auf der Erde alles hatten, was wir begehrten? So war der Mensch von jeher, und so wird er immer sein: unzufrieden mit dem Erreichten, nach neuer Erkenntnis dürstend, auf der Suche nach unerlebtem Glück. Dieser Drang beherrschte Sigma und Xenon, er lebt in uns allen, er lebte in Rubina und Tellur, und auch Du wirst ihn eines Tages verspüren. Eine Wahrheit sind wir Dir noch schuldig: Wir haben all unsere Kraft eingesetzt, schwere Stunden erlebt und manches Leid, haben die Zeit und den Raum, die fremde Welt und nicht zuletzt uns selbst besiegt, obwohl der Kosmos uns vier Kameraden nahm – aber unsere Aufgabe haben wir nicht erfüllt. Auch ohne das Unglück im Antimateriewerk war unsere Expedition sinnlos geworden. Wir wären erst fünfundvierzig Jahre nach dem Abflug auf die Erde zurückgekehrt, zehn Jahre
später als die zweite Expedition, die sechs Jahre nach uns gestartet war. Ihr Raumschiff war schneller, ihre Ausrüstung vollkommener, sie konnte ihre Aufgabe in neunundzwanzig Jahren erfüllen anstatt in fünfundvierzig. Das machte unser Opfer sinnlos. Ja, mußte das erste Raumschiff überha upt ausgesandt werden, wenn das zweite, nur sechs Jahre später fertiggestellt, die gleiche Aufgabe viel sicherer und schneller lösen konnte? Solche Überlegungen haben die Menschen niemals angestellt. Sie haben den Kampf stets mit den vorhandenen Mitteln aufgenommen, ohne abzuwarten, ob er vielleicht später leichter und der Erfolg sicherer sein werde. Das ist der Grund, weshalb sie gesiegt haben und siegen werden.
Astron schloß das Heft. Lange sann er vor sich hin. Endlich hob er das Auge ans Teleskop und betrachtete das blaue Pünktchen neben dem Stern der Spektralklasse d G-3. Die Erde neben der Sonne. Das Raumschiff flog ihr entgegen, in jeder Sekunde achtunddreißigtausend Kilometer. Er war ihr jetzt schon viel näher.