Michael Richter
Das narrative Urteil Erzählerische Problemverhandlungen von Hiob bis Kant
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Michael Richter
Das narrative Urteil Erzählerische Problemverhandlungen von Hiob bis Kant
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Narratologia Contributions to Narrative Theory/ Beiträge zur Erzähltheorie
Edited by/Herausgegeben von Fotis Jannidis, John Pier, Wolf Schmid Editorial Board/Wissenschaftlicher Beirat Catherine Emmott, Monika Fludernik Jose´ Angel Garcı´a Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Andreas Kablitz, Uri Margolin, Matı´as Martı´nez Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer Michael Scheffel, Sabine Schlickers, Jörg Schönert
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020395-0 ISSN 1612-8427 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2005 von der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universtität zu Berlin als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doctor philosophiae (Dr. phil.) angenommen. Ohne die tatkräftige Unterstützung einer Reihe von Personen hätte dieses Buch nicht entstehen können. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Lutz Danneberg, der die Fertigstellung und Veröffentlichung der Arbeit in vielfältiger Weise gefördert hat. Den Herausgebern der Reihe „Narratologia“ danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit. Meiner geliebten Tanja danke ich für ihre Geduld (und natürlich für die Schnittchen). Auch meinen Eltern bin ich für ihre uneingeschränkte Förderung zu großem Dank verpflichtet. Und nicht zuletzt danke ich Ihnen, liebe Leser, für Ihr wohlwollendes Interesse.
Berlin, im April 2008
Michael Richter
Inhaltsverzeichnis
Einführung....................................................................................... 1. Die Thesen .............................................................................. 2. Die Texte ................................................................................ 3. Die Methode............................................................................ 4. Zitierweise ..............................................................................
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Teil A: Erzählen und Problemlösen I. Denken in Geschichten: Narrative Kognition................................. 1. Kausalität, Kontingenz, Kontingenzverschleierung .................. 2. Narrative Vermittlungen .......................................................... 3. Kognitive Rhetorik, kognitive Poetik....................................... a) Kognitive Rhetorik ............................................................. b) Kognitive Poetik................................................................. 4. Denken in Geschichten ............................................................ 5. Poetische Wahrheit, poetische Gerechtigkeit............................
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II. Räume und Wege: Strukturen des Problemlösens ......................... 1. Was ist ein Problem? ............................................................... 2. Räume und Wege .................................................................... a) Räume ................................................................................ b) Wege.................................................................................. c) Schemata ............................................................................ 3. Welten..................................................................................... a) Die Welt im Kopf ............................................................... b) Die Idee des Ganzen ........................................................... c) Struktur und Ordnung ......................................................... d) Kohärenz............................................................................ 4. Die Welt des Textes ................................................................ a) Das Referenzpostulat ..........................................................
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VIII
Inhaltsverzeichnis
b) „Welt des Textes“ und „Welt des Lesers“ ........................... c) Problematische Weltbeschreibungen ................................... 5. Modelle und Analogien ...........................................................
92 94 97
Teil B: Das Hiobproblem I. Verwirrungen: Der Forschungsstand zum Hiobbuch...................... 1. Aufbau und Entstehung des Hiobbuches .................................. a) Textsituation und Forschungslage ....................................... b) Meinungen zur Entstehung des Hiobbuches ........................ c) Redaktion und Dogma ........................................................ 2. Tradition und Redeformen....................................................... a) Auslegungstraditionen ........................................................ b) Weisheit ............................................................................. c) Klage und Trost .................................................................. d) Rechtsstreit.........................................................................
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II. Probleme: Problemverhandlungen im Hiobbuch........................... 1. Annäherung an das Hiobproblem............................................. a) Fragen und Antworten ........................................................ b) Forschungsmeinungen zum Hiobproblem ........................... c) Hiobs Problem.................................................................... 2. Gewissheiten: Die Welt der Weisheit....................................... a) Weisheit im Alten Testament .............................................. b) Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ...................................... c) Weisheit und Ordnung ........................................................ 3. Erschütterungen: Problemverhandlungen im Hiobbuch............ a) Das Hiobproblem in der Legende........................................ b) Das Hiob-Problem in der Novelle ....................................... c) Das Hiob-Problem in der Dialogdichtung............................ 4. Verhandlungen: Kontroverse in Geschichten ........................... a) Angriffspunkte.................................................................... b) Rezensionen ....................................................................... c) Widerspruch und Machtspruch............................................ 5. Zusammenfassung: Problemverhandlungen im Hiobbuch ........ 6. „Das 43. Kapitel des Hiobbuches“ ...........................................
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IX
Inhaltsverzeichnis
Teil C: Narration und Argumentation: Regeln der Problemverhandlung I. Konfigurationen: Narrative Problemverhandlung .......................... 1. Die Ordnung der Weisheit: Narrative Oppositionen ................. a) Der Blick von außen ........................................................... b) Das moralische System....................................................... c) Entscheidung und Bewertung.............................................. 2. Die Ordnung des Erzählens: Narrative Grammatik................... a) Strukturen der Klage: Der Blick von innen.......................... b) Konflikt und Perspektive: Narrative Programme ................. c) Die Syntax narrativer Problemverhandlung ......................... d) Narrative Kontingenz.......................................................... e) Die Topologie des Bedeutens .............................................. f) Vom Urteil über das Subjekt zum Subjekt des Urteils .......... 3. Die Ordnung des Geschehens: Narrative Schemata .................. a) Vom Syntagma zum Schema............................................... b) Szenographien .................................................................... c) Narrative Kohärenz und die Regeln des Erzählens............... d) Blickwechsel: Innen und außen........................................... 4. Welt und Erzählung................................................................. a) Narratives Verstehen: Konfiguration und Rekonfiguration .. b) “In the middest”.................................................................. c) Perspektive und Urteil......................................................... 5. Metapher und Analogie: Narrative Projektionen ...................... a) Intuitive Erkenntnis: Schema und Metapher ........................ b) Exemplarische Generalisierung und analoge Projektion ...... c) Analoger Transfer narrativer Problemlösungen ................... 6. Strukturen narrativer Problemverhandlung...............................
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II. Schlüsse und Regeln: Argumentative Problemverhandlung .......... 1. Narrative und argumentative Strategien ................................... 2. Argumentation im Buch Hiob .................................................. a) Leid und Recht: Der erste Redegang ................................... b) Stasis: Zweiter und dritter Redegang................................... c) Argumentation im Buch Hiob: Zusammenfassung...............
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X
Inhaltsverzeichnis
3. Regeln des Argumentierens ..................................................... a) Der Gebrauch von Argumenten........................................... b) Verknüpfungsregeln. Ein neues Argumentationsschema ..... c) Argumentative Programme ................................................. 4. Argumentation und Rhetorik ................................................... a) Metaphern und Topoi als Verknüpfungsregeln .................... b) Örter und Wege: Kognitive Topographie ............................ c) Unabgeschlossenheit und Perspektive .................................
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III. Vergleich narrativer und argumentativer Problemverhandlung ... 1. Probleme, Programme, Verhandlungen.................................... 2. Struktur und Regeln narrativer Problemverhandlung................ 3. Struktur und Regeln argumentativer Problemverhandlung........ 4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede ........................................ a) Kontingenz und Urteil......................................................... b) Perspektiven ....................................................................... c) Exemplarische Generalisierung und analoge Projektion....... 5. Fazit: Narrative Strategien als Problemraumerweiterung..........
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Teil D: Das Theodizeeproblem I. Der Optimist und das Erdbeben..................................................... 1. Einleitung................................................................................ 2. Das Problem............................................................................ 3. Das Rechtsstreitschema in der Theodizee................................. 4. Perspektiven: Gott, Mensch und Welt ...................................... 5. Gewissheiten II: Die Welt des Optimismus .............................. 6. Erschütterungen II: Das Erdbeben von Lissabon ......................
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II. Die Perspektive des Betroffenen: Voltaire.................................... 423 1. Philosophische Klage: Poème sur le Désastre de Lisbonne ...... 423 2. Literarische Verhandlung: Candide ......................................... 430 III. Theodizee von oben: Linnés Nemesis-System............................. 1. Nemesis Divina ....................................................................... 2. Ordnung und Erfahrung........................................................... 3. Die Perspektive der Weisheit ...................................................
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Inhaltsverzeichnis
XI
IV. Das Urteil der Vernunft: Kants allegorische Theodizee............... 1. Konfrontation: Dogma und Erfahrung...................................... a) Theodizee von unten: Verbesserte Physikotheologie ........... b) Theodizee von oben: „Um des Ganzen willen“ ................... 2. Vor dem Gerichtshof der Vernunft........................................... a) Rollen und Regeln .............................................................. b) Anklagen, Argumente und Urteil ........................................ c) „ ... diesen Process für immer zu endigen“ .......................... 3. Theorie und Allegorie: Die authentische Theodizee ................. a) Doktrinale und authentische Auslegung .............................. b) Allegorische Theodizee: Hiob............................................. c) Von der Moral zur Religion ................................................ d) Ist die „authentische Theodizee“ noch Theodizee? .............. 4. Natur und Freiheit, Sittlichkeit und Glück: Das höchste Gut .... a) Der transzendentale Tun-Ergehen-Zusammenhang.............. b) Glaube und Gewissheit: Der moralische Gottesbeweis ........ c) Der Widerstreit: „Antinomie der praktischen Vernunft“ ...... d) Das Urteil: Postulat und Machtspruch ................................. 5. Narrative Strategien: Das RECHTSSTREIT-Schema bei Kant ..... a) Der Rechtsstreit der reinen Vernunft ................................... b) Zwischen Kampf und Rechtsstreit....................................... 6. Von Wissen, Glauben und Hoffen ........................................... a) Unsicherer Friede: Glaube und Fiktionsverdacht ................. b) Notwendig möglich: Rhetorik der Gewissheit ..................... c) Machtsprüche: Die Willkür der Vernunft ............................ d) Unverfügbarkeit und Gnade................................................ e) An den Grenzen des RECHTSSTREIT-Schemas ..................... 7. Subjektperspektive und „höchster Standpunkt“ ........................
461 463 463 469 475 478 480 485 489 489 490 491 494 499 500 502 505 510 513 515 523 528 528 531 538 541 545 547
V. Zusammenfassung und Ausblick.................................................. 1. Zusammenfassung ................................................................... 2. Ausblick: Verdunklungen ........................................................ Literaturverzeichnis.....................................................................
555 555 564 583
Einführung Die vorliegende Arbeit untersucht narrative Strukturen in ihrer Anwendung – die Art und Weise, wie wir mit und in Geschichten denken und mit ihrer Hilfe Antworten auf bedrängende Fragen zu geben versuchen. Dass Erzählstrukturen für menschliches Denken und Wissen eine wichtige Rolle spielen, ist mittlerweile zu einem Gemeinplatz geworden. Für das Erzählen interessieren sich nicht mehr nur Literaturwissenschaftler und Historiker, sondern zunehmend auch Psychologen, Kognitionswissenschaftler oder Philosophen. Narrative Strukturen sind wirksam bei der mentalen Repräsentation unserer Umwelt, in Wahrnehmung und Gedächtnis 1, bei der Erklärung und Bewertung von Erfahrungen und (fremden oder eigenen) Handlungen2 oder für die Konstitution von individueller3 oder kollektiver4 Identität. Eine kognitiv ausgerichtete Erzählforschung untersucht narrative Strukturen z. B. als Format mentaler Repräsentationen und als mentale Schemata in unterschiedlichen konzeptuellen Domänen, die im Prozess der Semiose aufeinander bezogen werden können. Philosophen und Geschichtswissenschaftler betonen die Fähigkeit tradierter Formen von Geschichten, (moralische) Bedeutung zu konstituieren. “... human beings think, perceive, imagine, and make moral choices according to narrative structures” 5. Diese bedeutungskonstituierende Kraft von Geschichten ist das komplexe Ergebnis des Zusammenspiels verschiedener kognitiver Prozesse und kulturell vermittelter Strategien. Die mit der Untersuchung von Erzählungen befassten Einzeldisziplinen beschränken sich aber leider im Regelfall noch immer hartnäckig auf die ihnen zugemessenen konzeptuellen Landschaften – man trifft sich allenfalls auf einen Schwatz beim gemeinsamen Nachbar Linguistik. Bei einem disziplinenübergreifenden Projekt der Erforschung der Rolle von Erzählstrukturen für menschliches Wissen und Denken kann auch die Literaturwissenschaft einen eigenstän––––––––––––– 1 2 3 4
Siegfried J. Schmidt in ders. (Hg.), Gedächtnis (1991), Einleitung, 37f. David Polkinghorne, Narrative Knowing and the Human Sciences (1988), 21. William Lowell Randall, The stories we are (1995). Narrative Strukturen in der Geschichtsschreibung untersuchen u. a. Hayden White, Louis O. Mink oder Arthur C. Danto. 5 Theodore R. Sarbin in ders. (Hg.), Narrative Psychology (1986), 8.
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Einführung
digen und vielleicht sogar integrierenden Beitrag leisten. Denn die Analyse literarischer Texte erlaubt es, die bedeutungskonstituierende Kraft narrativer Strukturen angesichts bedrängender Fragen, im widerspruchsvollen Kontext von Existenz und Gesellschaft, Emotionen und Konventionen, Leiden, Verantwortung und Schuld zu untersuchen. Gleichzeitig nötigt uns insbesondere die Beschäftigung mit moderner Literatur, auch das unübersehbare Misstrauen gegen das Sinnversprechen erzählerischer Kohärenz zur Kenntnis zu nehmen, das sich in vielen literarischen Texten ausspricht und längst neben das ebenso unhintergehbare Bedürfnis nach (narrativem) Sinn getreten ist. Die erzählerische Ordnung, insofern sie auf Regeln und Gesetze (in einer Welt des Textes) verweist, tritt dabei in ein Spannungsverhältnis zur Kontingenz des erzählten Einzelnen als einer vielleicht wahrscheinlichen, aber nicht unbedingt notwendigen Verknüpfung von Ereignissen. Insofern unsere Geschichten immer auch anders ausgehen könnten, repräsentieren sie kontingente Entscheidungen: Urteile. 1. Die Thesen Im Mittelpunkt meiner Untersuchung steht mein Konzept des „narrativen Urteils“ und seine Rolle in narrativen Problemverhandlungen. Wie ich im Einzelnen zeigen werde, sind beim narrativen Urteilen vor allem drei Aspekte von Bedeutung: Konfiguration, Perspektive und Projektion. (1) Meine Rede von narrativen Urteilen bezieht sich zunächst auf die Fähigkeit des Erzählens, kontingente Entscheidungen darzustellen. Kodiert werden solche Entscheidungen in narrativen Konfigurationen von Charakteren, Handlungen und Handlungsfolgen. (2) Trotzdem bezieht die Konfiguration, das erzählte Einzelne, ihre Bedeutung und ihre Plausibilität wesentlich von ihrem Bezug auf Allgemeines, auf äußere Ordnungen. Das narrative Urteil erfolgt sozusagen im Namen von „Gesetzen“. Das Zusammenwirken von erzähltem Einzelnen und äußerer Ordnung wird vermittelt durch das narrative Schema und ermöglicht ein komplexes Wechselspiel von Perspektiven, nämlich der „Innenansicht“ des in das Geschehen verwickelten, der Kontingenz dieses Geschehens ausgesetzten Subjekts und der virtuellen „Draufsicht“ dessen, der die Ordnung des Geschehens und damit das (ordnungsgemäße) Ende der Erzählung schon kennt oder voraussieht. Dieses Zusammenspiel kann entgegengesetzte Perspektiven vermitteln. Es kann aber auch (im angemaßten Blick von „außen“ oder „oben“) die Kontingenz des Urteils verschleiern – und damit bestimmte Lösungsversuche rhetorisch unterstützen.
Die Thesen
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(3) Genres wie Fabel, Parabel, Allegorie oder der conte philosophique zeigen bereits das Potenzial narrativer Konfigurationen, auf ganz verschiedene Problemkonstellationen projiziert zu werden. Analoge Projektion ist das Herzstück narrativer Problemverhandlung, weil sie mit der Konfiguration auch das Urteil, die Entscheidung, projiziert. Das ist insbesondere dann interessant, wenn das Problem auf andere Weise nicht abschließend gelöst werden kann, weil – etwa im Rahmen einer Argumentation – für ein endgültiges Urteil sozusagen die Rechtsgrundlage fehlt. Als narrative Problemverhandlung bezeichne ich die Darstellung einer Entscheidung zwischen verschiedenen Lösungsalternativen eines Problems mit Hilfe narrativer Strukturen. Narrativ nenne ich eine Menge von Sätzen, die als Instantiierung eines narrativen Schemas gelesen werden können, d. i. einer abstrakten, hierarchisch organisierten Struktur kausaler und temporaler Relationen zwischen Ereignissen und Zuständen, welche mindestens ein „narratives Programm“ konstituieren (siehe C.I.2.b und I.3.a). Von Problemverhandlung werde ich dort sprechen, wo zwei oder mehr alternative Lösungsvorschläge miteinander konkurrieren – analog zur Verhandlung von Behauptungen und Gegenbehauptungen vor Gericht. In einem Rechtsstreit entscheidet das Gericht über die Ansprüche der Parteien. In problemverhandelnden Erzählungen ist die Entscheidung – das Urteil – im Ausgang des narrativen Konflikts kodiert, dessen widerstreitende Seiten als Verkörperung alternativer Problemlösungsvorschläge angesehen werden können. Ich habe dabei vor allem Probleme im Auge, die auch unabhängig vom Erzähltext bestehen und ebenso mit nichtnarrativen Mitteln, etwa argumentativ, verhandelt werden können. Beispiele dafür sind das sogenannte „Hiobproblem“ und das „Theodizeeproblem“ – theoretische Probleme also, bei denen im Rahmen der Argumentation für eine endgültige Lösung keine hinreichenden Gründe vorzuliegen scheinen und die entgegengesetzten Seiten des Widerspruchs sich gegenseitig blockieren („Stasis“)1. So demonstriert im biblischen Hiobbuch das fruchtlose Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden explizit das Scheitern der argumentativen Verhandlung des „Hiobproblems“: Der Redestreit wird ergebnislos abgebrochen. Dennoch fordern Problemkonstellationen wie das Hiobproblem oder die Theodizeefrage eine Entscheidung: Ihr Gegenstand ist zu wichtig, als dass man sich leicht mit ihrer Un––––––––––––– 1 „Stasis“ bezieht sich i. F. metaphorisch auf eine Blockade von Gegenkräften (wie v. a. im Englischen gebräuchlich), aber auch auf das rhetorische Konzept des „Streitpunkts“, an dem relevante Behauptungen der Gegner aufeinanderstoßen (Anm. 39 auf S. 35).
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Einführung
entscheidbarkeit abfinden könnte. Narrative Strukturen, so meine These, stellen für die Verhandlung solcher theoretisch „unentscheidbaren“ Probleme Lösungsmöglichkeiten bereit, die besser als Argumente geeignet sind, ihre Urteile als überzeugende Problemlösungen zu kommunizieren. Im Buch Hiob löst erst JHWH selbst das Problem – mit einem Urteil der höchsten Instanz, das man mit Kant als „Machtspruch“ bezeichnen kann, als ein Urteil also, das nicht auf der Grundlage von Recht, sondern allein von Macht gefällt wird. Deshalb ist die Hiobgeschichte narrative Problemverhandlung – der Versuch, spezifisch narrative Strategien der Problemlösung in Anwendung zu bringen. Diese narrative Lösung beruht auf zwei relativ einfachen Operationen: erstens einem urteilenden Akt, der zwischen den sich blockierenden Alternativen (narrativen Programmen) entscheidet und so eine narrative Konfiguration erzeugt, und zweitens einer analogen Projektion dieser narrativen Konfiguration auf eine Problemstruktur. Der Machtspruch JHWHs im Hiobbuch urteilt nicht nur über Hiob und seine Freunde, sondern auch über das, wofür sie „stehen“: Leiderfahrung und Vergeltungsdogma. Kant wiederum projiziert in seiner Theodizeeschrift die Lösung des Hiobbuches auf das Theodizeeproblem, um sein Konzept einer „authentischen Theodizee“ zu veranschaulichen. Die Projektion des narrativen Urteils macht sich, wie zu zeigen sein wird, die Fähigkeit des Erzählens zunutze, seine Kontingenz zu überschreiten oder zu verschleiern. Sie ermöglicht damit die Darstellung von Problemlösungen, die innerhalb der Argumentation als willkürliche Setzungen erscheinen müssen, aber auch die rhetorische Legitimierung willkürlicher Urteile. „Innere Notwendigkeit“ und „poetische Wahrheit“ einerseits, Kontingenzverschleierung und „Machtsprüche“ andererseits – das sind die Pole, zwischen denen narrative Strukturen Bedeutung erzeugen. 2. Die Texte Um die Bedingungen und Möglichkeiten narrativer Problemverhandlung herauszuarbeiten, untersucht die vorliegende Arbeit zum einen das biblische Buch Hiob und einige spätere „Hiobtexte“ sowie zum anderen Texte, die sich mit dem „Theodizeeproblem“ beschäftigen – darunter auch solche, die ihrerseits ebenfalls auf das Buch Hiob Bezug nehmen. Meine Untersuchung narrativer Verhandlungen des Theodizeeproblems legt ihren Schwerpunkt auf Kants Theodizeeschrift und ihre Auflösung des Theodizeedilemmas durch einen Machtspruch der Vernunft, die sich ausdrücklich nach der analogen Lösung des Hiobbuches schematisiert. Deshalb
Die Texte
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trägt die vorliegende Arbeit den Untertitel „Narrative Problemverhandlung von Hiob bis Kant“. Diese Formulierung will keine zeitliche Kontinuität suggerieren – dazu wäre die Textauswahl auch gar nicht umfassend genug – aber doch eine sachliche: Von der Antike bis in die Neuzeit stoßen wir bei Texten, die sich mit bestimmten philosophisch-theologischen Problemen befassen, auch auf narrative Strategien der Problemverhandlung, deren Untersuchung uns Aufschlüsse über narratives Bedeuten vermitteln kann. Zudem sind, wie sich zeigen wird, die in diesen Texten verhandelten Problemen einander strukturell recht ähnlich, so dass insbesondere die Fähigkeit des Erzählens zur Perspektivenvermittlung hier in besonderer Weise zum Tragen kommen kann. Die Geschichte von Hiob, den sein Unglück dazu zwingt, alles in Frage zu stellen, woran er jemals geglaubt hat, diese Geschichte trifft wie vielleicht keine andere unser Bedürfnis nach Antworten. Die Hiobgeschichte wirft Fragen auf und gibt Antworten – Antworten allerdings, die es bis heute nicht vermochten, das Fragen verstummen zu lassen. Die heutige Textgestalt des Hiobbuches ist bereits ein vielschichtiges Kompositum, Ergebnis zahlreicher Überarbeitungen, Ergänzungen und Redaktionen, eine Kontroverse in Geschichten, die davon zeugt, dass oft genug die Antworten der Geschichte als ungenügend empfunden wurden. Das Fortleben dieser Kontroverse bis in unsere Tage zeigt ein beeindruckender Korpus moderner literarischer Hiob-Bearbeitungen ebenso wie unzählige nicht-literarische Bezugnahmen. Auch das Problem der Theodizee hat sich bis heute noch nicht erledigt. Inhaltliche und strukturelle Ähnlichkeiten von „Hiobproblem“ und „Theodizeeproblem“ umfassen u. a. die zentrale Rolle des Leids oder Übels, vergleichbare Konflikte von Dogma und Erfahrung, die widerstreitenden Perspektiven von unbeteiligtem Beobachter und Betroffenem und eine verbreitete forensische Metaphorik. Das Spektrum der Antworten auf die Krise, in die das Erdbeben von Lissabon den populären Optimismus Leibnizscher Prägung gestürzt hatte, reicht von der literarischen Wiedergewinnung der Subjektperspektive bei Voltaire über das Beharren auf der Draufsicht der Gottesperspektive z. B. bei Linné bis hin zu Kants Versuch, beide Perspektiven kritisch zu vermitteln und trotz der Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit einen Zugang zum „Ganzen“ – den „höchsten Standpunkt“ der Transzendentalphilosophie – zu begründen.
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Einführung
3. Die Methode Die Rede von „narrativer Problemverhandlung“ setzt die Existenz narrativer Weisen oder Strategien des Denkens, also so etwas wie „narrative Kognition“, voraus. Sie verlangt außerdem eine klare Bestimmung des Begriffes „Problem“ und der strukturellen Bedingungen des Problemlösens, die zu narrativen Strukturen in Beziehung gesetzt werden können. Deshalb wird zunächst (Teil A) eine Annäherung an „narrative Kognition“ versucht und das Konzept des „Problemraums“ vorgestellt, der jeweils gültige Regeln für die Verhandlung von Problemen in verschiedenen Kontexten (z. B. Argumentation oder Erzählung) vorgibt. Danach (Teile B und C) werden am Hiobbuch, das sich zur Lösung des „Hiobproblems“ sowohl narrativer als auch argumentativer Strukturen bedient, die Unterschiede beider Arten der Problemverhandlung untersucht und die dabei je geltenden Regeln (d. h. die unterschiedlichen Problemräume) bestimmt. Um aus der Fülle theoretischer Vorschläge zur Beschreibung von Erzählstrukturen ein geeignetes Modell zu gewinnen, werde ich mich bei der Auswahl am Hiobbuch selbst, d. h. an Forschungsergebnissen zum Buch und der Beschreibung seiner heterogenen Strukturen orientieren. Dabei ist zu betonen, dass ich weder das Hiobbuch interpretieren noch seine Erzählstrukturen umfassend analysieren werde. Meine Analyse muss sich auf „Makrostrukturen“ beschränken. Es geht mir nicht darum herauszufinden, was ein bestimmtes Erzählmodell, angewandt auf Hiob, für Ergebnisse bringen würde, sondern was umgekehrt das Hiobbuch uns über das Erzählen sagen kann. Anstatt nach langer und doch notwendig unvollständiger Erörterung von Erzähltheorien sozusagen a priori einen Ansatz auszuwählen, gehe ich davon aus, dass ganz verschiedene narrative Modelle in Abhängigkeit von Beschreibungsgegenstand und Erkenntnisinteresse durchaus ihre jeweilige Berechtigung haben können. Deshalb werde ich ausgehend von den verschiedenen literarischen Strukturen, die die alttestamentliche Forschung im Buch Hiob identifiziert hat, geeignete erzähltheoretische Ansätze diskutieren und versuchen, daraus eine allgemeine Beschreibung narrativer Problemverhandlung zu gewinnen. Formale Abstraktion soll dabei vorerst auf das notwendige Minimum beschränkt bleiben. Das so erarbeitete narrative Modell muss es insbesondere erlauben nachzuvollziehen, wie narrative Konfigurationen auf Problemkonstellationen abgebildet werden und in Bezug auf diese narrative Urteile fällen können. Denn diese Abbildung oder analoge Projektion wird sich als ein zentrales Mittel narrativer Problemraumerweiterung erweisen.
Die Methode
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Die anhand des Hiobbuches entworfene Theorie narrativer Problemverhandlung kann dann an veränderten Problemstellungen erprobt werden, insbesondere am Problem der Theodizee (Teil D). Denn auch bei der philosophischen Verhandlung des Theodizeeproblems lassen sich narrative Strategien ausmachen, die wiederum nicht selten auf das Buch Hiob Bezug nehmen. Die vergleichende Betrachtung argumentierender und narrativer Strategien bei der Verhandlung des Theodizeeproblems macht Möglichkeiten und Grenzen beider Seiten deutlich, ohne die eine gegen die andere auszuspielen. „Argumentativ“ versus „narrativ“, also gewissermaßen Leibniz versus Voltaire – das sind die naheliegenden Typisierungen; nichts ist deshalb verlockender, als diese mit Blick auf Kants TheodizeeAufsatz ein wenig durcheinander zu bringen. In der Theodizeedebatte ist Hiob vor allem Identifikationsfigur für die Perspektive des leidenden Subjekts, die das System des philosophischen Optimismus eliminiert hatte: So wie das Leiden Hiobs seinen Glauben an die gerechte Vergeltung erschüttert, so erschüttern die verheerenden Verwüstungen des Erdbebens von Lissabon das optimistische „Alles ist gut“. Dennoch: Die apriorische Theodizee-Argumentation von Leibniz ist in sich widerspruchsfrei und ihre Voraussetzungen für viele unverzichtbar. Das Dilemma ist nur aufzulösen durch den Blick „von außen“, die Gottesperspektive, die im Urteil der höchsten Instanz das Leiden im System auflöst und widerstreitende Erfahrungen als perspektivisch begrenzte entmachtet. So löst Kant das Theodizee-Dilemma durch einen „Machtspruch“ der Vernunft, welche sich (mit ausdrücklicher Berufung auf Hiob) zur göttlichen Stimme erklärt. Für diese narrative Problemlösung nutzt Kant explizit die analoge bzw. „allegorische“ Projektion eines gegebenen narrativen Lösungsschemas auf seine Lösung des Theodizeeproblems: als „authentische Theodizee“ analog zur Selbsterklärung JHWHs in den Gottesreden des Hiobbuches. Durch narrative Problemraumerweiterung erlangt die Problemverhandlung die Berechtigung zum Machtspruch: Die narrative Problemlösung borgt sich gewissermaßen die „Gottesperspektive“ der Draufsicht auf das Ganze, die dem Argumentieren fehlt und analytische Gewissheit unerreichbar macht. 4. Zitierweise Werke bzw. Zitate werden nachgewiesen: bei der ersten Nennung des Werks mit Angaben zu Autor, Titel, Jahr und ggf. Seitenzahl, danach durchgängig mit Name und Seitenzahl, bei Mehrdeutigkeit zusätzlich Jahr. Bei mehreren Zitaten aus einem Text zitiere ich nach entsprechen-
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Einführung
dem Hinweis mit einfachen Seitenzahlen. Hervorhebungen in Zitaten sind, wenn nicht anders angegeben, original. Buch Hiob: Wenn nicht anders ausgewiesen, zitiere ich nach der für die literarische Rezeption bedeutsamen Luther-Übersetzung. Aristoteles: Zitierweise: „Aristot.“ + Werktitel (Siglum), Buch, Kapitel, ggf. Paragraph, Paginierung nach Bekkers Gesamtausgabe Berlin 1831-70 (Seite und Spalte) sowie Seitenzahl der jeweils genutzten Übersetzung. Siglen: „Poet.“: Poetik; „Top.“: Topik; „EN“: Nikomachische Ethik (Ethika Nikomachea), „Rhet.“: Rhetorik, „Kat.“: Kategorien Leibniz: Zitiert unter Angabe der Paragraphen bzw. Seitenzahl (Vorrede) aus der Theodizee-Übersetzung von Artur Buchenau (zuerst Leipzig 1925), in Ausnahmefällen aus der Übersetzung von Johann Heinrich von Kirchmann (Leipzig 1879). Siglen: „Theodizee“: Die Theodizee; „Abhandlung“: Einleitende Abhandlung über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft; „Causa Die“: Die Sache Gottes vertheidigt durch die Versöhnung seiner Gerechtigkeit mit seinen übrigen Vollkommenheiten und mit all seinen Handlungen Kant: Zitiert unter Angabe von Verfasser, Werk (Siglum) sowie Band und Seitenzahl der Akademieausgabe (AA); bei klarem Bezug mit Band und Seitenzahl. Siglen: „Naturgeschichte“: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels; „Ursachen“: Von den Ursachen der Erderschütterungen bey Gelegenheit des Unglücks welche die westliche Länder von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat; „Naturbeschreibung“: Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat; „Betrachtung“: Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wargenommenen Erderschütterungen; „Optimismus“: Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus; „Beweisgrund“: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration Gottes, „Deutlichkeit“: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral; „Geisterseher“: Träume eines Geistersehers; „KrV“: Kritik der reinen Vernunft; „Prolegomena“: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können; „KpV“: Kritik der praktischen Vernunft; „KU“: Kritik der Urteilskraft; „Misslingen“: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee; „Religion“: Die Religion in den Grenzen der reinen Vernunft; „Frieden“: Zum ewigen Frieden; „Verkündigung“: Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie; „MS“: Metaphysik der Sitten; „SF“: Streit der Fakultäten
Teil A Erzählen und Problemlösen
I. Denken in Geschichten: Narrative Kognition Um uns einem Begriff „narrativer Problemverhandlung“ zu nähern, müssen wir erstens eine Vorstellung davon gewinnen, welche Rolle narrative Strukturen im Denken und Problemlösen spielen können. Wir müssen zweitens klären, wie die Begriffe „Problem“ und „Problemverhandlung“ für sich genommen, unabhängig von narrativen Strukturen, zu beschreiben sind. Im ersten Teil (A) meiner Untersuchung möchte ich daher zuerst eine erste Vorstellung von „narrativer Kognition“ erarbeiten und danach ausgewählte Konzepte aus der Psychologie des Problemlösens, insbesondere das Konzept des „Problemraums“, für eine Theorie narrativer Problemverhandlung nutzbar machen. Im ersten Kapitel nähern wir uns dem „Denken in Geschichten“ zuerst aus der Perspektive der Kognitionswissenschaften (I.2) und anschließend aus einer Perspektive, die Literaturwissenschaft mit kognitionswissenschaftlichem Erkenntnisinteresse betreiben will (I.3). Damit soll eine methodische Grundorientierung gewonnen werden, deren zentrale Begriffe die nächsten Abschnitte weiter verfolgen, um zu erhellen, wie fiktionale narrative Konfigurationen Bedeutung erzeugen, Urteile über die Welt fällen und (ethische) Ordnungen bestätigen oder in Frage stellen (I.4 und 5). Zunächst aber (I.1) möchte ich in aller Kürze auf die Kontingenz des Erzählens eingehen, die ja eine Grundvoraussetzung für eine Theorie des narrativen Urteils darstellt. 1. Kausalität, Kontingenz, Kontingenzverschleierung Mein Begriff des narrativen Urteils steht und fällt mit der axiomatischen Annahme, dass Erzählungen fähig sind, kontingente Entscheidungen darzustellen. Diese Kontingenz des Erzählens ist nicht selbstverständlich. Insbesondere kausale Theorien des Erzählens 1 – also solche, die auf einer ––––––––––––– 1 Die Erzählforschung hat mit Recht der Kausalität des Erzählens viel Aufmerksamkeit gewidmet, vgl. Aristoteles’ post hoc vs. propter hoc, Forsters vielzitierte Unterscheidung von story und plot oder Tzvetan Todorovs Theorie der „kausalen Transformation“. Zahlreiche Autoren bestimmen „Erzählung” (narrative) als Repräsentation einer “causally related sequence/series of events” (vgl. Cohn 12; Richardson 105). Ähnlich
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kausalen Verknüpfung narrativer Sätze bestehen – könnten unter Umständen ein Problem für meine Auffassung darstellen. Ich halte es dagegen für unzweckmäßig, kausale Relationen in narrativen Verknüpfungen überzubewerten. Ein Beispiel für eine solche Überbewertung ist der kürzlich von Noël Carroll vorgetragene Versuch, die sogenannte narrative connection zwischen erzählerisch repräsentierten Ereignissen analytisch zu bestimmen: Carroll sieht das frühere Ereignis als eine mindestens kausal notwendige Bedingung für das spätere Ereignis (oder einen unverzichtbaren Beitrag zu einer solchen Bedingung)2. Obwohl Carrolls Beispiele durchaus funktionieren, scheint mir seine These und generell die Beschränkung aufs Kausale zu wenig differenziert und letztlich unbefriedigend. Es trifft wohl zu, dass wir uns ein erzähltes Geschehen in der Regel kausal vermittelt denken. Aber die konkrete kausale Vermittlung steht oft gar nicht im Mittelpunkt des Interesses und wird daher in vielen Texten auch nicht näher spezifiziert. Sicher ist „Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit“ (Aristoteles) relevant für das Fortschreiten der erzählten Begebenheiten, aber es ist nach Aristoteles eben auch „wahrscheinlich, daß vieles sich auch gegen alle Wahrscheinlichkeit ereignet“ (Poet. 18, 1456a, S. 69). Häufig vollzieht sich der Lauf erzählter Begebenheiten einigermaßen unvorhersagbar, als Ereigniskette voller Zufälle und überraschender Wendungen. Diese Kontingenz des Erzählens ist gerade die Voraussetzung der bedeutungserzeugenden Kraft des konfigurierenden Aktes der Fabelkom––––––––––––– definiert der Schriftsteller John Gardner sein Konzept der “profluence”, d. i. “our sense, as we read, that we’re ‘getting somewhere’” (John Gardner 48). “By definition–and of aesthetic necessity–a story contains profluence.” “The conventional kind of profluence is a causally related sequence of events.” In einer solchen scheinbar notwendigen Aneinanderreihung von Ereignissen liege “the root interest of all conventional narrative”: “Because he is intellectually and emotionally involved, that is, interested–the reader is led by successive, seemingly inevitable steps, with no false stops, and no necessary steps missing, from an unstable initial situation to its relatively stable outcome” (53-55, meine Hervorhebung). Auch Theorien „narrativer Erklärungen“, z. B. Jon K. Adams’ Narrative Explanation, betonen die kausalen Relationen erzählter Ereignisse. 2 Carroll führt aus, er meine genauer eine “INUS condition” nach Mackie: “a insufficient but necessary part of a condition that itself is unnecessary but is sufficient for an effect event” (Carroll 28, Mackie spricht von “non-redundant” statt “necessary”). Hierin liegt insofern eine Inkonsistenz, als Mackies INUS-Bedingung Teil einer ausdrücklich nicht notwendigen, aber hinreichenden Bedingung sein soll. Carroll spricht einmal von “a causally necessary condition for successive states (or a contribution to such a causally necessary condition)”, dann wieder von “a necessary or indispensable contribution to a sufficient, though nonnecessary, condition” (ebd.). Ein notwendiger Teil einer nur hinreichenden Bedingung ist aber selber keine notwendige Bedingung.
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position (Ricoeur). Narrative Konfigurationen aber gehen über bloße Kausalität hinaus: Die in Aristoteles’ Poetik erwähnte Statue des Mitius fiel (zumindest aus Sicht von Aristoteles) keineswegs mit Notwendigkeit oder auch nur Wahrscheinlichkeit Mitius’ Mörder auf den Kopf – aber obwohl Aristoteles diese Verknüpfung der Begebenheiten ausdrücklich als zufällig ansieht, hebt er sie als besonders wirksam hervor: weil sie zwar durch Zufall, aber doch mit dem Anschein von Zweckmäßigkeit eintritt – so „als ob sie nicht von ungefähr geschehen sei“ (Poet. 9, 1452a, S. 39). Es lassen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen, bei denen die kausale Beziehung zwischen den zentralen Ereignissen einer narrativen Konfiguration entweder zweifelhaft oder zumindest zweitrangig ist. Wie verhält es sich etwa mit dem Märchenheld, der tapfer eine Reihe von Abenteuern besteht und am Ende die Prinzessin heiratet: Ist sein tapferes oder redliches oder in anderer Weise wert-volles Handeln in der Märchenwelt tatsächlich kausal notwendig für seine Heirat mit der Prinzessin? Oder ist hier nicht vielmehr, unabhängig von der jeweiligen kausalen Vermittlung, die Heirat vor allem eine Belohnung, also sozusagen eine narrative Bewertung der Tugend des Helden? Ein anderes Beispiel: Im modernen Horrorfilm gibt es ein Schema oder Muster, das in verschiedenen Filmen in jeweils ganz verschiedener Weise realisiert wird: Charaktere vorzugsweise im Teenager-Alter haben vorehelichen Sex oder nehmen Drogen und werden etwas später von einem Monster oder Bösewicht getötet. Ist nun das Fehlverhalten der Teenager im Horrorfilm kausal notwendig für ihren Tod? Offenbar nicht, denn in demselben Film sterben meist noch eine Reihe anderer Figuren, manche davon tatsächlich völlig „unschuldig“. Das Muster, die Konfiguration, wird auch erst in der Wiederholung als solche klar erkennbar – dann aber erscheint das Schicksal dieser Figuren eher als eine Art Strafe, also ebenfalls eine narrative Bewertung. Was haben der Tod der Teenager im Horrorfilm, die Heirat des Märchenhelden oder der Tod von Mitius’ Mörder gemeinsam? In allen diesen Erzählungen oder Episoden werden wir dazu geführt, ein Ereignis mit einem bestimmten Resultat auf ein früheres Geschehen zu beziehen, ohne dass dieses frühere Geschehen direkt und unzweifelhaft das spätere Ereignis bzw. Resultat verursacht hätte. Die Bestimmung der konkreten Beziehung zwischen früherem und späterem Ereignis, ihre Bedeutung als Konfiguration, ist vielmehr Aufgabe der Interpretation. Jedes Mal aber nimmt das spätere Ereignis offenbar in bestimmter Weise auf das frühere Bezug, erscheint etwa als Strafe oder Belohnung eines Verhaltens, ohne dass aber
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die bewertende Instanz immer zweifelsfrei erkennbar wäre. Diese durchaus zentralen Bedeutungsanteile bezieht das Erzählte aus der narrativen Konfiguration unabhängig von der jeweiligen kausalen Vermittlung3. Damit will ich weder die Bedeutung kausaler Verknüpfungen generell leugnen noch gegen Carroll eine andere Form narrativer Verknüpfung zur kanonischen erklären. Vielmehr gehe ich davon aus, dass es an uns, den Rezipienten liegt, selbst jeweils eine plausible Verknüpfung zu bestimmen, und zwar in Abhängigkeit vom konkreten Zweck des Erzählens, seiner Funktion. Die Verknüpfungsregeln kohärenten Erzählens – den Eindruck „innerer Wahrscheinlichkeit“ – gewinnen wir nicht nur aus unserem Wissen über mögliche kausale Zusammenhänge (sozusagen die praktische Wahrscheinlichkeit), sondern wir nutzen auch unser Wissen über andere Arten von Ordnungsbeziehungen (z. B. ideologische) und nicht zuletzt unser Wissen über Texte – also insbesondere uns verfügbare narrative Schemata – um eine kohärente Erzählung zu gewinnen. Die „innere Wahrscheinlichkeit“ erscheint so als Resultierende aus verschiedenen, oft konkurrierenden Normsystemen – der „praktischen Wahrscheinlichkeit“ unseres Handlungswissens, intertextuellen Strukturvorgaben oder einer „ethischen Wahrscheinlichkeit“ des im Text vertretenen oder an ihn herangetragenen ideologischen Systems. Zu den möglichen Funktionen des Erzählens, die uns bei der Bestimmung von Ereignisverknüpfungen in einer gegebenen Konfiguration leiten, gehört neben dem Erklären von Zuständen, der Begründung von Voraussagen, der Herstellung von ––––––––––––– 3 Weil dieselbe Konfiguration mit ganz verschiedenen kausalen Verknüpfungen zu Stande kommen kann, können schematische Erzählungen ihre Spannung gerade aus der Ungewissheit beziehen, auf welche Weise das erwartete Ende herbeigeführt wird, wie etwa in einer scheinbar aussichtslosen Situation dennoch „das Gute siegt“. Vgl. in diesem Zusammenhang das beliebte Mittel des deus ex machina, das selbst bei scheinbar unlösbaren Verwicklungen noch das erwünschte Ende herbeiführt. Schon in Homers Odyssee taucht am Ende Athene auf, um die Schlacht zwischen Odysseus und den Angehörigen der toten Freier zu verhindern und das Happy End zu sichern. Beispiele für einen Deus ex machina finden sich zuhauf auch in modernen Erzählungen: vgl. etwa das Ende von Poes The pit and the pendulum oder Goldings Lord of the flies, der reitende Bote des Königs in Brechts Dreigroschenoper, der Schnupfentod der Marsianer in Wells’ War of the worlds oder die rettende Kavallerie im Western. In Stephen Kings The Stand vernichtet am Ende der Finger Gottes höchstselber das Böse, nachdem jede Rettung auf irdische Weise bereits unmöglich geworden war. Auch bestimmte extrem unwahrscheinliche Plottwists fallen in diese Kategorie, z. B. die Eröffnung „Es war alles nur ein Traum“. So wurde in einer Folge der TV-Serie Dallas im September 1986 eine lange früher ausgestrahlte Folge (vom Mai 1985) im Nachhinein als bloßer Traum dargestellt, um den vom Auto überfahrenen Bobby Ewing wiederauferstehen zu lassen.
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Kontinuität oder dem Unterhalten auch die Bewertung eines Geschehens, eines Handelns oder Charakters als richtig oder falsch, gut oder schlecht 4. So verweist in exemplarischen Erzählungen die Konfiguration von Verhalten und entsprechendem Ergehen als Lohn oder Strafe beispielhaft auf Normen rechten Verhaltens. Wenn Erzählstrukturen sogar dazu dienen können, philosophische oder theologische Probleme zu verhandeln, dann, wie sich zeigen wird, gerade deshalb, weil wir imstande sind, in Erzählungen gegebenenfalls narrative Bewertungen und Urteile zu finden. Wenn das Erzählen im Normalfall ein kontingentes Geschehen zum Inhalt hat, gehört dazu (wie Barthes, Bremond, Chatman und andere schon früh gezeigt haben) die Fähigkeit zur Entscheidung zwischen verschiedenen narrativen Möglichkeiten5. Insofern Erzählungen zielgerichtete Handlungen und ihre Resultate repräsentieren, können sie etwa von Erfolg oder Misserfolg erzählen. Weiter unten werde ich die narrative Entscheidung mit Greimas als Aktualisierung narrativer Programme beschreiben (Kapitel C.I.2). Ein „narratives Programm“ repräsentiert die narrative Bewegung eines Subjekts hin auf den Erwerb oder Erhalt eines Wert-Objekts, und es kann dabei – regelmäßig auch in Konfrontation mit anderen auf dasselbe Objekt gerichteten Programmen – Erfolg haben oder scheitern, bestätigt oder verworfen werden. Diese kontingente Entscheidung (bei Greimas die Einheit von „Beherrschung“ und „Zuschreibung“) macht das eigentliche „narrative Urteil“ aus. Durch ein narratives Urteil, in Zuschreibung bzw. Entzug von Wert-Objekten, findet daher stets ein Wertetransfer statt, der in passenden Konfigurationen als Bewertung von narrativen Subjekten bzw. Programmen gelesen werden kann. Eine besonders dramatische Form solchen Wertetransfers ist der von Aristoteles beschriebene Schicksalswechsel, der „Umschlag“ von Glück zu Unglück oder umgekehrt (Poet. 7, 1451a) – in Greimas’ Konzeption die Zuschreibung bzw. der Entzug von universellen Wert-Objekten wie Wohlstand, Familienglück oder Leben. Die narrative Bewertung von Handlungen oder Charakteren ist oft kodiert als das Gelingen oder Scheitern eines entspre––––––––––––– 4 Darauf hat u. a. Hayden White hingewiesen, auf dessen Unterscheidung von annals, chronicles and historical stories sich übrigens auch Carroll bezogen hatte. White war im von Carroll zitierten Text gerade nicht an kausalen Beziehungen interessiert, sondern an narrative closure, moral meaning und moral judgments (vgl. Hayden White, “The Value of Narrativity in the Representation of Reality”, S. 20 u. 23). 5 Vgl. z. B. Bremonds “narrative possibilities” bzw. “decision points”, Barthes’ nuclei oder “cardinal functions” oder Chatmans “kernels”: jeweils “moments of risk (when things can go ‘either way’” (Toolan 22).
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chenden universellen Programms: Der Tod von Mitius’ Mörder bewertet seine Tat. Er kann dies, insofern wir ihn in Bezug auf die (göttliche) Vergeltungsordnung als „gerecht“ erkennen. Während strenggenommen jede narrative „Zuschreibung“, die sich nicht notwendig aus dem Vorangehenden ergibt, auch ein narratives Urteil ist, werde ich als solche Urteile im Folgenden vor allem die Schicksalswechsel betrachten, die zentrale narrative Programme eines Textes bzw. ihre Subjekte bestätigen oder verwerfen und als deren Bewertung gelesen werden können. Narrative Urteile erscheinen in der Konfiguration von Handlung und bewertendem Ergebnis und erfolgen (explizit, implizit oder scheinbar) im Namen einer Ordnung6. Unser Beispiel, die Erzählung von der Statue des Mitius, präsentiert eine Konfiguration von Mord und Sühne, die man je nach Weltbild als zufällig oder als sinnvoll und regelgeleitet ansehen kann. Während Aristoteles den Fall der Statue des Mitius auf seinen Mörder trotz scheinbarer Zweckmäßigkeit für zufällig erklärt, führt Plutarch, in einer Schrift mit dem Titel Über den späten Vollzug der göttlichen Strafe, dieselbe Geschichte als ein Beispiel göttlicher Vergeltung an, lässt also das Geschehen explizit einer Regel und einem vertrauten narrativen Schema folgen. Plutarch erwähnt diese Geschichte, um die Vernünftigkeit des göttlichen Strafhandelns zu begründen, dass nämlich es besser sein kann, „zur rechten Zeit und auf die gehörige Weise die Bestrafung eintreten zu lassen, als schnell und augenblicklich (nach der That)“. Dass, was geschieht, „auf die gehörige Weise“ geschieht, macht hier erst die Geschichte zum Zeugnis. Auf die „gehörige Weise“ aber geschieht offenbar das, was scheinbar „nicht von ungefähr“ geschieht, wie auch in einem zweiten von Plutarch erwähnten Fall, dem des Callippus, der „mit demselben Schwerte“, mit welchem er seinen Freund Dion getötet hatte, seinerseits ermordet wurde (Plutarch, § 8, S. 1714f.). Diese Korrespondenz, dieses kleine Detail scheinbar ohne kausalen Einfluss auf das Resultat des Geschehens, macht es uns leichter, die Kontingenz des Erzählten auf eine höhere Ordnung hin zu überschreiten. Dass ein Mörder selbst eines unnatürlichen Todes stirbt, gilt als „gerecht“ (im ––––––––––––– 6 Nicht jeder erzählte Schicksalswechsel kann oder sollte vornehmlich als ein solches narratives Urteil gelesen werden. Noble death oder tragischer Schicksalswechsel sprengen diesen simplen Mechanismus: Das Unglück des Ödipus ist keine bloße Bewertung seiner Handlungen (seines unwissentlich begangenen Frevels), nicht nur Strafe für eine Schuld im Namen einer Ordnung. Sokrates’ Selbsttötung oder der unverschuldete Opfertod der Emilia Galotti bewerten in erster Linie äußere Verhältnisse (und erforderten damit eine erweiterte Theorie des narrativen Urteils).
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Einklang mit allgemeinen Gesetzen), insofern das Ergehen des Mörders, sein Tod, in Beziehung zur begangenen Mordtat gesehen werden kann: als Strafe für ein Tun. Geschichten, in denen ein Mörder, wenn auch lange nach der Tat, durch die Statue des Ermordeten oder durch die eigene Mordwaffe stirbt, leisten offenbar genau dies. Die Korrespondenz hebt die Zufälligkeit des späten Todes auf und zeigt an, dass das Ergehen, von dem die Episode berichtet, in einem klaren Zusammenhang zu einem vorgängigen Tun gesehen werden soll; der Zusammenhang selber wird als allgemeiner, gesetzmäßiger wiedererkannt. Den selben Effekt nutzt Jahrhunderte später der Naturforscher Linné in seiner Nemesis Divina betitelten Fallsammlung, mit der er beabsichtigte, das Wirken göttlicher Vergeltung empirisch zu belegen (ausführlich dazu unten Kap. D.0.). Linné führt darin als historisch verbürgt zahlreiche Beispiele an, in denen die Umstände strafenden Unglücks klare Korrespondenzen zu denen eines vorangehenden Regelbruchs aufweisen: Ein Mann tötet seinen Schwiegervater durch drei Schüsse in den Magen und bekommt nach einigen Jahren „den Krebs im Magen mit 3 Löchern, der ihn greulich tötete“ (Linné 220). Ein betrügerischer Fronvogt bringt einen Unschuldigen wegen Pferdediebstahls an den Galgen und endet am selben Galgen wie sein Opfer und für dasselbe nicht begangene Delikt. Staatsmänner lassen Widersacher in den Kerker werfen, nur um irgendwann – wie Linné ausdrücklich angibt – im selben Gefängnis zu landen. Mörder, die der menschlichen Gerechtigkeit entgehen konnten, finden den Tod an „genau derselben Stelle“, wo sie die Tat begangen hatten (Linné 59, 155). Dieses Herausstellen nichttrivialer Korrespondenzen zwischen scheinbar nicht kausal verbundenen Ereignissen ist ein wirksames Mittel narrativen Bedeutens. Bei Geschichten wie denen von Linné oder der über die Statue des Mitius suggeriert offenbar gerade der Verstoß gegen die praktische Wahrscheinlichkeit eine verborgene höhere Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit, eine höhere Ordnung. Das Erzählen verfügt damit über die Fähigkeit, durch Hinweise auf solche übergeordnete Notwendigkeit seine Kontingenz zu überschreiten oder zu verschleiern7. Diese höhere Notwendigkeit kann als real existent, wenn auch übernatürlich vermittelt ––––––––––––– 7 Vielleicht trägt diese Fähigkeit zur Kontingenzverschleierung zu der Versuchung bei, für narrative Verknüpfungen kausal notwendige Bedingtheit zu fordern. Schon Roland Barthes hatte als die Triebfeder des Narrativen die Konfusion von Aufeinanderfolge und Verursachung ausgemacht und das Erzählen als die systematische Anwendung des logischen Trugschlusses „post hoc, ergo propter hoc“ bezeichnet (Barthes 1988, 113) – für David Herman eine narrativ begründete “judgment heuristics” (Herman 176).
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gedacht sein, sie kann einem idealen Prinzip entspringen oder als rein textuelle existieren – bedeutsam ist, dass die Rezipienten über narrative Schemata verfügen, die entsprechende Konfigurationen als glaubhaft, akzeptabel, nachvollziehbar erscheinen lassen. Ein solches Schema liefert z. B. der in der alttestamentlichen Forschung als „Tun-ErgehenZusammenhang“8 bezeichnete Glaube an einen gesetzmäßigen Zusammenhang von Verhalten und Schicksal – ein zentrales Element der Weltordnung im ganzen alten Orient, welches auch der Problematik des Hiobbuches zugrunde liegt. Auch Erzählungen wie die von der Statue des Mitius variieren in ihrer narrativen Struktur ein vertrautes narratives Prinzip der „poetischen Gerechtigkeit“, und moderne („urbane“) Legenden mit ähnlichem Plot zeigen die fortdauernde Attraktivität solcher Konfigurationen. Der Altphilologe William F. Hansen hat unter der Überschrift “Poetic justice” auf die Ähnlichkeit der Mitius-Geschichte mit einer Legende aus Arizona aufmerksam gemacht, in der ein Tunichtgut, der sich einen Spaß daraus machte, auf Saguaro-Kakteen zu schießen – eine große Kaktusart, die oft frappierend einer menschlichen Gestalt mit erhobenen Armen ähnelt – eines Tages von einem solchen von ihm beschossenen Kaktus erschlagen wurde9. Auch hier ist es dem Hörer überlassen, das Geschehen als zufällig anzusehen oder seine merkwürdigen Korrespondenzen als Indiz für eine darin wirksame höhere Ordnung zu begreifen. Die Beziehung von kontingentem Einzelnen und äußerer Ordnung, vermittelt durch das narrative Schema, ermöglicht im Nachvollzug einer Erzählung ein komplexes Zusammenspiel der Perspektiven von innen und ––––––––––––– 8 Vgl. z. B. Horst Dietrich Preuß, Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur (1987), 22. Ausführlicher unten Kap. B.I.2.b ab S. 168. 9 “The story of Mitys evidently circulated as a legend, for Aristotle appears to treat it as a familiar story and he is not the only ancient author to recount it. Like the narrative from Arizona, it is a crisp story of poetic justice in which the slayer is ironically and unexpectedly slain by his victim. Just as a certain man brought about the death of Mitys of Argo, after which a statue of Mitys fell upon the killer, causing his death, so also a certain man brought about the death of a particular saguaro cactus by illegally shooting at it, and the cactus toppled over, crushing him to death. The parallelism of the two stories is all the more remarkable because of the resemblance of saguaro cacti to human beings or statues. Although I cannot shed any light on the historicity of the story of the saguaro-shooter as such, I can suggest at least that simple stories of poetic justice have been around for a long time. The story-pattern that underlies the deserved fate of the saguaro-shooter is a traditional one in general (a misbehaver is punished in an unexpected and ironically appropriate way) and perhaps also in particular (a killer is unexpectedly felled by the actual or symbolic corpse of his victim)” (William F. Hansen, “Poetic Justice”).
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außen: Die Binnenperspektive der handelnden Figuren, die ich als Leser in der Regel zunächst weitgehend teile, ist durch die Ungewissheit geprägt, wie die Geschichte wohl enden wird. Allerdings kann ein Wissen um die herrschende Ordnung des Geschehens, die Verfügung über das richtige Schema, mir eine Art virtuelle Draufsicht auf das Ganze der Erzählung verleihen: Ich weiß dann, wie es enden muss (oder sollte). Insbesondere in exemplarischen oder parabelhaften Erzählungen verweist ja in der normgemäßen Konfiguration von Handlung und Bewertung das erzählte Einzelne auf ein Allgemeines, auf die Ordnung des Geschehens in der Welt des Textes. Geprägt von unseren Erfahrungen mit zahllosen „normeinübenden“ 10 Texten, nehmen wir an, dass narrative Urteile regelmäßig im Namen eines Gesetzes (eines „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ in einer sittlichen Weltordnung) ergehen. Die daraus resultierende „weisheitliche“ 11 Perspektive der Draufsicht charakterisiert auch Linnés Fallbeispiele für die göttliche Vergeltung: „Man sagte, daß sie mit zwei Brüdern schlief. Ist das so, muß Gottes Rache kommen.“ (Linné 178) Die abgeschlossene Geschichte transzendiert dann endgültig die widerstreitenden Perspektiven, die den narrativen Konflikt erzeugen, wenn sie ihr Urteil fällt und zwischen den konfrontierten narrativen Programmen entscheidet. Erzählungen treffen damit regelmäßig Aussagen über die „Welt des Textes“ und ihre Ordnung – aber sie treffen diese, wie sich zeigen wird, unter Umständen als „Machtspruch“, dessen fehlende Notwendigkeit sie rhetorisch verschleiern12. ––––––––––––– 10 Vgl. Klaus Kanzog, Erzählstrategie. Eine Einführung in die Normeinübung des Erzählens (1976). 11 Zur Geistesströmung der „Weisheit“ mit ihrer Überzeugung vom Tun-ErgehenZusammenhang im Rahme einer sittlichen Weltordnung ausführlich unten ab S. 165. 12 Ein interessantes Beispiel für diese narrative Kontingenzverschleierung ist Franz Kafkas Türhüterlegende „Vor dem Gesetz“. In dieser Erzählung begegnen wir (zumindest nach der Mehrzahl der Interpretationen) einem scheiternden narrativen Programm, aber wir kennen nicht den Grund für dieses Scheitern. Wir haben unzweifelhaft ein narratives Urteil, aber kein Gesetz – die Regeln, nach denen sich das Geschehen vollzieht, die Ordnung, die das Urteilen legitimiert, kennen wir nicht. Wir haben im Gegenteil für zentrale Elemente unseres Textmodells statt sicherer Fakten nur unzureichende Informationen, „Leerstellen“, undeterminierte Verknüpfungen und einander widersprechende „Meinungen“: Wir wissen nicht, ob der Türhüter die Wahrheit sagt, ob der Eingang tatsächlich für den Mann vom Lande bestimmt war, warum dieser nicht eingelassen wird, ob er nicht einfach hätte hineingehen sollen, ob es die anderen Türhüter wirklich gibt... Wir wissen auch nicht sicher, ob der Glanz, den der Mann am Ende wahrnimmt, tatsächlich existiert, denn es heißt, dass sein Augenlicht schwach wird und er selbst nicht weiß, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen.
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2. Narrative Vermittlungen In meiner Untersuchung spielt die Gegenüberstellung von Erzählen und Argumentieren, von narrativen und argumentativen Strategien der Problemverhandlung, eine zentrale Rolle. Verwandte Unterscheidungen existieren in verschiedenen Disziplinen. In der Literaturwissenschaft behandeln vor allem strukturalistisch orientierte Beiträge die Struktur und Referenz fiktionaler narrativer Texte in Abgrenzung zu „systematischen“ Texten. Auch in der Philosophie sind vergleichbare Entgegensetzungen gebräuchlich13. Ein „Denken in Geschichten“, wie es narrativen Problemverhandlungen zugrunde liegt, und seine Abgrenzung von anderen kognitiven Strukturen oder Strategien sollte gerade in Psychologie und Kognitionswissenschaft auf besonderes Interesse stoßen. In der Tat finden sich in den Kognitionswissenschaften auch Vertreter einer auf den ersten Blick sehr entschiedenen Entgegensetzung argumentativer und narrativer Strukturen. Der Psychologe Jerome Bruner14 zum Beispiel unterscheidet zwei grundlegende Modi kognitiver Tätigkeit: einen „paradigmatischen“ (bzw. logisch-wissenschaftlichen) Modus einerseits, einen „narrativen Modus“ des Denkens oder Wissens andererseits (“paradigmatic or logico-scientific” ––––––––––––– Dennoch erzeugt der parabelhafte, „weisheitliche“ Erzählgestus ganz offensichtlich bei zahlreichen Interpreten ganz unterschiedlicher theoretischer Provenienz den Eindruck, das erzählte Geschehen sei folgerichtig oder gar notwendig. Immer wieder wird die Erzählung als parabolische oder exemplarische Darstellung eines gesetzmäßigen (theologischen, philosophischen oder psychologischen) Zusammenhangs gelesen. (So ist das „Gesetz“, das Gebäude, dessen Eingang der Türhüter bewacht, u. a. gedeutet worden als das Paradies, der religiöse oder existenzielle Sinn des Lebens, das Absolute, das alttestamentliche Gesetz, soziale Gerechtigkeit, ein städtisches Gemeinschaftsideal assimilierter Juden, der Geschlechtstrieb, Vater-Aspekte oder das Inzestverbot.) Um entsprechende analoge Projektionen zu ermöglichen, fixieren solche Interpretationen jeweils die unbestimmbaren Elemente des Textmodells durch Vorgriffe auf das Ziel der Projektion, importieren also aus der Zieldomäne die fehlenden Elemente bzw. Verknüpfungsregeln. Jedenfalls verrät meines Erachtens die Rezeptionsgeschichte des Textes den übermächtigen Impuls, angesichts dieses erzählten Scheiterns, dieses vernichtenden und scheinbar exemplarischen – also auch für uns relevanten – narrativen Urteils, die Kontingenz des Erzählten zu verschleiern. 13 Stierle etwa unterscheidet „Klassen“ narrativer und „systematischer“ Texte (dazu unten ab S. 229). In der Philosophie vgl. z. B. die Gegenüberstellung von „propositionaler“ und „nicht-propositionaler“ Erkenntnis bei Gabriel u. a., siehe Anm. 73 auf S. 56. 14 Jerome Bruner, Actual minds, possible worlds (1986); in diesem Kapitel zitiert mit einfachen Seitenzahlen.
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und “narrative” modes, s. S. 12). Diese beiden Modi, so Bruner, funktionieren völlig unterschiedlich: Sie haben verschiedene Kriterien für Wohlgeformtheit, unterschiedliche Strukturprinzipien, unterschiedliche Prozeduren für Verifikation; sie sind nicht aufeinander reduzierbar und gleichermaßen bedeutsame Bestandteile menschlicher Kognition. Der paradigmatische Modus strebt nach systematisch geordneter Beschreibung und Erklärung, arbeitet mit Kategorisierung und Konzeptualisierung, folgt den Gesetzen der Logik. Er formt überprüfbare Hypothesen auf empirischer Grundlage, versucht die objektive Wahrheit oder Falschheit von Propositionen zu erweisen. Der narrative Modus hingegen richtet sich auf menschliche Intentionen und Handlungen, ihre Wechselfälle und ihre Konsequenzen. Während Logik gewissermaßen „herzlos“ den Weg ihrer Schlussfolgerungen geht (gehen muss) sei der narrative Modus “built upon concern for the human condition: stories reach sad or comic or absurd denouements, while theoretical arguments are simply conclusive or inconclusive” (14; mit Bezug auf Ricoeur). Als Verkörperungen dieser verschiedenen Modi stellt Bruner Erzählung und Argumentation gegenüber: A good story and a well-formed argument are different natural kinds. Both can be used as means for convincing another. Yet what they convince of is fundamentally different: arguments convince one of their truth, stories of their lifelikeness. The one verifies by eventual appeal to procedures for establishing formal and empirical proof. The other establishes not truth but verisimilitude. (11)
Im narrativen Modus geht es um “good stories, gripping drama, believable (though not necessarily ‘true’) historical accounts” (13). Prototypisch dafür seien Kafkas Romane und die Stücke von Pirandello und Beckett, Joyces Portrait of the Artist as a Young Man, Sophokles’ Ödipus oder Shakespeares Othello. “Story stuff”, so Bruner, sei all das, was Erzählungen für uns relevant macht: Bewusst handelnde Menschen, ihre Intentionen und Vorstellungen und die Situationen, in die sie geraten können (plight, character, consciousness) konstituierten die grundlegenden Bestandteile von Geschichten (19f.). Können wir Bruners Unterscheidung für unsere Gegenüberstellung von argumentativer und narrativer Problemverhandlung fruchtbar machen? Es liegt immerhin nahe, Bruners Entgegensetzung mit ähnlichen kognitionswissenschaftlichen Vorschlägen zu strukturellen Unterschieden von Erzählung und Argumentation in Verbindung zu bringen, zum Beispiel der schematheoretischen Unterscheidung von kategorialen (taxonomischen) und schematischen Strukturen der Wissensorganisation. Allerdings sind,
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wie sich zeigt, die beiden „kognitiven Modi“ Bruners nur unvollkommen auf meine Entgegensetzung narrativer und argumentativer Problemverhandlung anwendbar. Seine Gegenüberstellung fällt sehr grob aus und verläuft im Großen und Ganzen parallel zu der Dichotomie Wissenschaft vs. Kunst15. Bruners „narrativer Modus“ meint in erster Linie literarisches Erzählen; sein „paradigmatischer“ Modus wiederum hat streng wissenschaftliches Denken zum Modell und liefert uns deshalb wahrscheinlich wenig Verwertbares für die Art von argumentativer Problemverhandlung, wie wir sie im Zusammenhang mit Hiob untersuchen wollen. Dennoch gibt uns Bruners Darstellung wertvolle Anregungen. Denn für die Absicht seines Buches ist die Unterscheidung der „Modi“ kaum mehr als eine einleitende Überlegung, die die Richtung vorgibt, ohne doch das wesentliche Thema zu bilden. Es geht vielmehr um Beiträge zu einer umfassenden konstruktivistischen Theorie menschlicher Kognition, die menschliches Denken, Wissen, Bedeuten in seinen kulturellen und kommunikativen Kontexten betrachtet, ohne dabei Aktion, Kognition, und Emotion künstlich voneinander zu trennen (vgl. 117). Diese Theorie stützt sich auf Konzepte, die auch für meine Untersuchung zentral sein werden: Perspektiven, Welten und „Weltversionen“, und die Weisen, wie Menschen ihre Welten erzeugen und mit den Perspektiven anderer vermitteln. Bruners „narrativer Modus“, der sich am Modell literarischer Werke orientiert, ist nicht nur durch im engeren Sinne narrative (d. i. temporal und kausal dimensionierte und handlungslogisch gegründete) Strukturen charakterisiert, sondern mehr noch durch seine Fiktionalität, seine Freiheit von wahrheitsfunktionaler Verifikation. Die Fiktionalität des literarischen Erzählens ermöglicht es, mögliche Welten zu generieren, die nicht über das empirisch Beobachtbare gerechtfertigt werden müssen, sondern ihre Wahrheit aus ihrer Relevanz für die Lebenswelten von Lesern, für Möglichkeiten menschlichen Handelns und Erleidens beziehen. „Subjunctivizing“16 nennt Bruner diese Funktion des literarischen Erzählens: ––––––––––––– 15 Die seiner Unterscheidung zugrundeliegende Motivation kleidet Bruner übrigens selbst in die Form einer Geschichte und nutzt dabei auf typische Weise eine narrative Struktur zur Darstellung einer eher abstrakten Idee: “Twenty-odd years ago, engaged in research on the psychological nature and development of thought, I had one of those mild crises so endemic to students of mind. The Apollonian and the Dionysian, the logical and the intuitive, were at war. Gustave Theodor Fechner, the founder of modern experimental psychology, had called them the Tagesansicht and Nachtansicht” (Bruner 8). 16 Auch hier ist die Nähe zu Ricoeur unübersehbar, für den ja gerade die suspendierte Referenz der Rede auf Aspekte unserer Handlungswelt („reale Referenz“) Voraussetzung für eine andere Art von Referenz auf eine bewohnbare mögliche Welt ist, die vom
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I have tried to make the case that the function of literature as art is to open us to dilemmas, to the hypothetical, to the range of possible worlds that a text can refer to. I have used the term „to subjunctivize,“ to render the world less fixed, less banal, more susceptible to recreation. Literature subjunctivizes, makes strange, renders the obvious less so, the unknowable less so as well, matters of value more open to reason and intuition. (159)
Im subjunktiven Modus werden aus gesicherten Gewissheiten ungesicherte – und gerade dadurch vielleicht um so „wahrere“ – Möglichkeiten. “To be in the subjunctive mode is ... to be trafficking in human possibilities rather than in settled certainties. An ‘achieved’ or ‘uptaken’ narrative speech act, then, produces a subjunctive world.” (26) In unserem Zusammenhang ist besonders Bruners von Nelson Goodman inspirierter Gedanke interessant, dass sich Menschen ihre „Welten“ konstruktiv erzeugen, statt einfach Vorgefundenes zu „re-präsentieren“ (soweit nichts allzu Aufregendes) und dass sie von klein auf17 lernen, ihre eigenen Welten mit fremden, gewissermaßen konkurrierenden Weltsichten zu vermitteln. Einer der Kernbegriffe Bruners ist “the Transactional Self” (57): Menschen interagieren miteinander über „Transaktionen“, mit Handlungen, die voraussetzen, dass die Interaktionspartner die Welt grundsätzlich auf dieselbe Weise sehen und dass ihre jeweiligen Ziele, Motive, Gedanken, Gefühle anderen grundsätzlich zugänglich sind. Wir setzen – ob berechtigt oder nicht – bei uns und anderen die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel voraus, sozusagen das Vermögen, die Welt auch mit fremden Augen zu sehen. Das Wort “transactions” gebraucht Bruner “to signify those dealings which are premised on a mutual sharing of assumptions and beliefs about how the world is, how mind works, what we are up to, and how communications should proceed.” (57) Menschen haben demnach, auch wenn manche Philosophen sich mit einem solchen Gedanken schwer tun würden, scheinbar “easy access ... into each other’s minds”. Wir versuchen uns in andere „hineinzuverset––––––––––––– Werk entfaltet wird („virtuelle Referenz“). Vgl. etwa Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher (1986), 224. 17 Bruner betont mehrfach, dass selbst Kleinkinder eben nicht, wie von Entwicklungspsychologen oft angenommen, in „Egozentrismus“ gefangen und unfähig sind, die Perspektiven anderer Menschen einzunehmen (59-62, 67f.). In Bruners Experimenten verfolgen bereits Einjährige die Blickrichtung anderer Kinder (“to see what the other is looking at”, 67f.) und prüfen wiederholt nach, wenn sie dort nichts Interessantes entdecken. Diese “primitive appreciation of other minds” ist eine biologisch gegründete Grundlage von Metakognition – der Reflektion über eigenes Handeln – und damit der Herausbildung des „Selbst“ (67).
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zen“, „einzufühlen“ etc., und sobald man nicht einzelne Individuen und den oft fraglichen Erfolg ihrer Bemühungen, sondern die Interaktion von Individuen in Gruppen oder Paaren betrachtet, führen diese Bemühungen zu deutlich sichtbaren Ergebnissen, “strikingly social consequences“, etwa eine “astonishing stability within groups” (59). Das Bemühen und der Zwang zur Vermittlung der Perspektiven konstituiert soziale Realitäten. Diese Vermittlung wiederum, das “sharing of human cognitions” (122), wird durch Sprache, durch ein integrierendes System symbolischer Bezüge und also durch Kultur ermöglicht, gelenkt, gefördert, beeinflusst. Nicht zuletzt Geschichten sind daran wesentlich beteiligt: Insofar as we account for our own actions and for the human events that occur around us principally in terms of narrative, story, drama, it is conceivable that our sensitivity to narrative provides the major link between our own sense of self and our sense of others in the social world around us. The common coin might be provided by the forms of narrative that the culture offers us. Again, life could be said to imitate art. (69)
Form und Inhalt von Geschichten sind für Bruner eine bedeutende Quelle kulturspezifischer Weltkonstruktion und Selbst-Werdung: Sie lassen uns nicht nur „mögliche Welten“ erzeugen, sie geben in gewissem Sinne die uns möglichen Welten, als kanonische Modelle, vor: For stories define the range of canonical characters, the settings in which they operate, the actions that are permissable and comprehensible. And thereby they provide, so to speak, a map of possible roles and of possible worlds in which action, thought, and self-definition are permissable (or desirable). As we enter more actively into the life of a culture around us, as Victor Turner remarks, we come increasingly to play parts defined by the “dramas” of that culture. (66f.)
Diese wichtige Bemerkung gibt zwar nicht schon strukturelle Aussagen über narrative Kognition, sie begründet aber deren Kraft. Wenn Erzählstrukturen in der Bildung, Vermittlung und Bewahrung von kulturellen Inhalten und Wissen eine so bedeutende Rolle spielen, dann ist es naheliegend, dass sie auch für kognitive Aufgaben jenseits der „Normeinübung“ zur Verfügung stehen. Neben den kognitiven Funktionen von Erzählformen betont Bruner, wie erwähnt, die Transaktionen, die unterschiedliche Standpunkte, Perspektiven und daraus resultierende „Welten“ oder Weltsichten vermitteln. Perspektiven sind in mehrfacher Hinsicht relevant. Einmal ist da die Perspektive des Anderen, die ich anerkennen und mit der ich umgehen muss. Zweitens ist da die Vielzahl von Perspektiven, aus der ich meine „eigene Welt“ in den Blick nehmen kann und die gleichfalls in hinreichend kohärenter Weise vermittelt werden müssen:
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We know the world in different ways, from different stances, and each of the ways in which we know it produces different structures or representations, or, indeed, ‘realities’. As we grow to adulthood (at least in Western culture), we become increasingly adept at seeing the same set of events from multiple perspectives or stances and at entertaining the results as, so to speak, alternative possible worlds. (109)
Auch hier sind Modi der Kognition wirksam: die rationale, logischwissenschaftliche Weise der Welterzeugung liefert eine andere Weltsicht, eine andere „Welt“ im Sinne Goodmans, als eine Kognition, die etwa subjektive emotionale Bewertungen einschließt18. Perspektiven, Welten, Weltbeschreibungen hängen ab von meinem Standpunkt und von der Art und Weise, wie Welterfahrung geordnet und organisiert wird. Auf einer sehr elementaren Ebene der Gedächtnisfunktionen findet sich diese variable Perspektivik schon in der Unterscheidung von „Feld-“ und „Beobachtererinnerungen“ 19, die Freud als einer der ersten beschrieben hatte. Manches, was der Erinnerung anfänglich aus einer persönlichen „Feldperspektive“ zugänglich ist, erinnern wir später in einer Weise, als ob wir es „als distanzierte Beobachter wahrnehmen“. In diesbezüglichen Untersuchungen (von Nigro und Neisser) wurden mehr als 40 Prozent der nachgefragten Gedächtnisinhalte – v. a. ältere Erinnerungen – als Beobachtererinnerungen eingestuft. Wenn die Versuchspersonen (Vpn) beim Abruf der Erinnerungen ihre Aufmerksamkeit auf die objektiven Umstände vergangener Ereignisse aus ihrer persönlichen Vergangenheit richteten, produzierten sie mehr Beobachtererinnerungen; konzentrierten sie sich dagegen auf die mit diesen Erlebnissen verbundenen Gefühle, wurden mehr Felderinnerungen erlebt. Offenbar wird ein wesentlicher Teil der Erinnerungserfahrung – ob wir uns „als Teilnehmer in einem erinnerten Ereignis sehen oder nicht – weitgehend zum Zeitpunkt des Gedächtnisaktes konstruiert oder erfunden“. Unser kognitiver Apparat verfügt also über die Fähigkeit, Situationen in verschiedenen Perspektiven zu repräsentieren und zwischen diesen Perspektiven zu wechseln. Erzählungen, so meine These in Anlehnung an Bruner, dienen nicht zuletzt dieser kognitiven Fähigkeit. Narrative Strukturen sind mehr als nur eine Weise, Erfahrung zu ordnen. Sie können – absolut über ihre Abgeschlossenheit und variabel über perspektivelenkende Techniken („point of view“) – denjenigen, der mit ihnen operiert, dazu zwingen, verschiedene Standpunkte einzunehmen und die narrative Welt einmal von innen, aus ––––––––––––– 18 Vgl. Bruner Kap. 8 zu “Thought and Emotion”. 19 Vgl. zum Folgenden Daniel L. Schacter, Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit (2001), 45f.
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der Perspektive des handelnden und erleidenden Subjekts, aber ebenso auch von außen, als der unbeteiligte Beobachter (Zuhörer, Leser) wahrzunehmen, und zuletzt eben auch als der, der das Ende kennt und dem deshalb ein Sinn zugänglich wird, welcher der Innenperspektive verschlossen bleibt. Vielleicht üben also Geschichten nicht nur Normen ein, sondern auch, am Modell, das Wechseln der Perspektiven – eine Funktion, die die Fähigkeit fiktionalen Erzählens zur Erzeugung alternativer möglicher Welten ergänzt und potenziert. Gehen wir noch einen Schritt weiter. In Bruners Ansatz spielt die intersubjektive Vermittlung individueller Welten eine bedeutende Rolle. Bruner nennt seinen Ansatz “a negotiatory or ‘hermeneutic’ or transactional view” (122) und betont die Bedeutung des negotiating bereits für das Lernen im Kindesalter: Lernen ist nicht nur Aufnahme von Wissen; “most learning in most settings is a communal activity, a sharing of the culture.” Lehrer geben in der Wissensvermittlung nicht einfach Fakten, sie geben Fakten von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen (stance marking), und Schüler lernen, wenn man sie lässt, nicht einfach nur diese Fakten, sondern auch den Umgang mit Standpunkten. Deshalb ist das negotiating für Bruner so wichtig: “It is this that leads me to emphasize not only discovery and invention but the importance of negotiating and sharing–in a word, of joint culture creating ...” (127) In diesen von klein auf eingeübten Prozessen der Vermittlung individueller Welten wird Kultur durch ihre Mitglieder immer wieder neu erschaffen. Sie ist nicht nur eine vorgegebene Menge kollektiver Überzeugungen und Regeln für Verhalten, sondern bildet ebenso quasi ein „Forum“ für das ständige negotiating und renegotiating individueller Welten in der interpersonellen Kommunikation. Verschiedene institutionalisierte Kommunikationsformen – Wissenschaft, Jurisprudenz, aber auch Literatur oder Theater – dienen speziell dieser vermittelnden Hervorbringung von Kultur, und das nicht nur im Bereich des Assertorischen, der vertretenen Geltungsansprüche konkreter Weltsichten, sondern auch im Bereich des Hypothetischen und des Imaginativen, der Erkundung möglicher Welten. Negotiating heißt so viel wie „verhandeln, überwinden, aushandeln“. Verhandelt und miteinander vermittelt werden simultan und permanent ganz verschiedene Geltungsansprüche: unsere Weltsicht mit ihren zugrundeliegenden Basiskonzepten (etwa Kausalität, Person, Intention usw.), die Weltsichten anderer, unsere Erfahrungen, die Erfahrungen anderer. Ziel des negotiating ist Kohärenz, die Vermeidung von kognitiver Dissonanz, das Aufrechterhalten von Handlungsfähigkeit in unserer Welt
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und also einer stabilen, einigermaßen eindeutigen, einigermaßen widerspruchsfreien Repräsentation unserer Welt. Die Vermittlung von womöglich abweichenden Erfahrungen mit bestehenden Überzeugungen führt zu renegotiating – zur Anpassung dieser Überzeugungen oder unserer Bewertungen dieser Erfahrungen (122). Verhandlungen bei der (problematischen) Vermittlung von Welten und Erfahrungen können auch fehlschlagen – und genau das passiert im Hiobbuch. Weder Hiob noch seine Freunde können Hiobs Erfahrungen mit ihren Überzeugungen von Gott und Welt vereinbaren. Hiobs Schlussfolgerungen, sein Versuch einer Vermittlung von Überzeugung und Erfahrung, sind für die Weltsicht der Freunde eine einzige Provokation. Wenn zwei unterschiedliche Weltbeschreibungen mit gleichem Geltungsanspruch miteinander konfrontiert werden, die weder koexistieren noch vermittelt werden können und von denen auch keine der anderen überlegen ist (Blockade, Stasis), dann kann nur noch eine höhere Instanz eine Entscheidung herbeiführen. Wenn Hiobs Welt und die seiner Freunde sich in der (argumentierenden) Kommunikation als nicht miteinander vereinbar herausstellen, dann ist das in der Tat ein Problem – denn wir möchten ja in der Kommunikation voraussetzen können, dass wir über dieselbe Welt reden und die mitgeteilten Erfahrungen anderer mögliche Tatsachen in unserer Welt sind20. Im Hiobbuch löst JHWH das Problem, die Erzählung fällt ein abschließendes narratives Urteil. Außerhalb des Buches muss der Leser das Problem für sich selber lösen. In beiden Fällen finden wir die strukturellen Pole des Innen und des Außen, der konkurrierenden Versionen und der übergeordneten Instanz, die der Vermittlung Beistand leistet. Bruners “negotiatory or ‘hermeneutic’ or transactional view” gibt uns noch keine verwertbaren Hinweise auf die strukturellen Unterschiede von Argumentieren und Erzählen. Dafür aber gibt uns sein kognitionswissenschaftlicher Ansatz einen Rahmen vor, in dem wir die Funktionen des Erzählens bei der Problemverhandlung verorten können: mögliche „Welten“ und verschiedene, oft widerstreitende Sichten und Perspektiven darauf einerseits, die Verhandlung und Vermittlung dieser Perspektiven zu kohärenten, einigermaßen widerspruchsfreien Weltbeschreibungen andererseits. Unser Umgang mit narrativen Strukturen dient offenbar (auch) der Einübung von Perspektivenwechseln, die uns um so leichter fallen, wenn ––––––––––––– 20 Im Nachwort verweist Bruner darauf, wie sehr die erfolgreiche Erzeugung von Sinn und der Glaube an den Sinn – “the faith that sense can be made and remade” (159) – einander bedingen.
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wir sie im Modus des Fiktionalen vollziehen können. Das narrative Urteil, das im erzählten Konflikt widerstreitender Parteien bzw. Binnenperspektiven entscheidet, ist ein Urteil aus der virtuellen Außenperspektive, die sich ein Modell vom Ganzen macht und von der Position eines außenstehenden Beobachters aus bewertet. Wie ich in den kommenden Abschnitten ausführlicher darlegen werde, formieren sich die Regeln für die Annehmbarkeit der narrativen Verknüpfungen, die zu einem solchen Urteil führen, um die begrifflichen Komplexe der (praktischen, ethischen, poetischen) „Wahrscheinlichkeit“ – um das, was Bruner “lifelikeness” und “verisimilitude” nennt – d. h. also um die Kohärenz der narrativ entworfenen Welt und ihre Vereinbarkeit mit unseren Erfahrungen und Überzeugungen. Die Annehmbarkeitsregeln des nicht-fiktionalen, auf „Wahrheit“ zielenden Argumentierens sollen indes nach Bruner stärker auf der Überprüfbarkeit seiner Prämissen und ihre logische Verknüpfung beruhen. Ich werde dagegen weiter unten die Meinung vertreten, dass auch hier letztlich Kohärenz und Wahrscheinlichkeit der argumentativ entworfenen Weltbeschreibung für den Adressaten entscheidend für die Akzeptabilität und Überzeugungskraft der argumentativen Sätze und ihrer Verknüpfungen sind (Kapitel C.II.3). Die zu diesem Zeitpunkt notwendig unscharfe Rede von (möglichen, wahrscheinlichen, kohärenten) „Welten“ muss ebenfalls präzisiert werden; das wird in den Kapiteln A.II.3 und 4 unten ab S. 76 geschehen. Zunächst aber wollen wir versuchen, Bruners kognitionswissenschaftliche Anregungen zum „narrativen Modus“ des Denkens aus Sicht der Literaturwissenschaft weiterzudenken. 3. Kognitive Rhetorik, kognitive Poetik Ein ehrgeiziger Versuch, Literaturwissenschaft für ein „geistes“- und also auch kognitionswissenschaftliches Erkenntnisinteresse fruchtbar zu machen, ist Mark Turners sogenannte „kognitive Rhetorik“21. Turners Ansatz integriert zahlreiche Themen und Konzepte, die für uns von zentralem Interesse sind: Strukturen des Denkens, kognitive Schemata und ihre Projektionen, Argumentation und Erzählen. Seine „kognitive Rhetorik“ ist daher ein ausgezeichneter Ausgangspunkt für methodische Überlegungen. ––––––––––––– 21 Mark Turner, Reading Minds. The Study of English in The Age of Cognitive Science (1991), in Kapitel A.I.3 zitiert mit einfachen Seitenzahlen.
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a) Kognitive Rhetorik Mark Turners Programm einer „kognitiven Rhetorik“ will die spezifischen Möglichkeiten der Literaturwissenschaft in den Dienst des zentralen Projektes der „Geistes“-Wissenschaften “in the age of cognitive science” stellen – der “discovery of mind”. Denn Literatur ist in erster Linie eine Weise der Verwendung von Sprache, deren Gemeinsamkeiten mit anderen, nicht-literarischen Weisen des Sprachgebrauchs die Unterschiede zu diesen bei weitem überwiegen. Das Studium so komplexer Produkte des menschlichen Geistes, wie literarische Texte es sind, kann dazu beitragen, diesen besser zu verstehen. Das dieser Aufgabe angemessene neue Paradigma der GeistesWissenschaften ist nach Turner paradoxerweise ein sehr altes: das Paradigma der klassischen Rhetorik. Classical rhetoricians sought to discover the basic conceptual apparatus active in the minds of citizens, and upon which nearly every aspect of their thinking, their language, their literature, and their society is based. … This book includes many things unknown to classical rhetoric, but in essence it offers a conception of the humanities that is a direct continuation of the classical paradigm, however differently that paradigm may play out in the age of cognitive science. (29)
In der Tat wird Rhetorik heute längst nicht mehr nur als Kunst des „Überredens“ verstanden, sondern als Wissenschaft, die den theoretischen Diskurs über Vernunft, Wissen und Denken mit der Welt praktischen Handelns verbinden kann. Rhetorik wird wiederentdeckt als „jene Instanz, kraft welcher unsere menschliche Vernunft kontingenzfähig gemacht wird“, rhetorische Formen und Figuren als „Formen der Anschauung“ wie auch „Kulissen unserer Weltinszenierung“ 22. „Kognitive“ Rhetorik versucht konkreter, über Analysen unserer Sprachverwendungen die Strukturen und Wirkungsweise unserer konzeptuellen Repräsentationen und ihrer Dynamik zugänglich zu machen. Unser konzeptueller Apparat arbeitet effizient und ökonomisch. Er nutzt bereits Vertrautes, um Unbekanntes zu verstehen, und projiziert elementare Konzepte und Schemata (etwa aus den sehr vertrauten Bereichen der körperlichen Wahrnehmung oder der Kommunikation) auf komplexere oder abstraktere konzeptuelle Bereiche. Solche Fälle, in denen wir Konzepte nutzen, um andere Konzepte besser zu verstehen, nennt Turner ––––––––––––– 22 Consalc K. Mainberger, „Die Rhetorik in der Philosophie“ (1989), 333.
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„Analogien“. In seinen Beispielanalysen behandelt er aber nahezu ausschließlich die Metapher 23. Literarische ebenso wie alltagssprachliche Metaphern markieren Linien, entlang derer sich das Denken bewegt. Jede noch so originelle Metapher in einem Gedicht muss Gebrauch machen von konzeptuellen Verknüpfungen, über die wir bereits verfügen, von den ganz „unoriginellen“ begrifflichen Strukturen unserer Weltrepräsentationen. Kognitive Rhetorik, wie Turner sie vorführt, ist zu einem wesentlichen Teil die Untersuchung von besonders grundlegenden oder produktiven konventionellen Verknüpfungen von Konzepten und Schemata, insbesondere in „konzeptuellen Metaphern“. Solche „poetischen“ Prozesse sind in nüchternrationalem Denken ebenso wirksam wie in der literarischen Imagination. Konzeptuelle Metaphern sind ein prominentes Beispiel dafür, wie vertraute Formen oder Schemata zur Erfassung unvertrauter oder unanschaulicher Gegenstände oder besonderer Aspekte von Gegenständen verwendet werden. Domänen für produktive „Basismetaphern“ sind etwa KAMPF bzw. KRIEG (vgl. „jemandem in den Rücken fallen“; „Schlachtplan entwerfen“; „aus der Reserve locken“) oder REISE („Lebensweg“; „Lebensgefährte“; „Anschluss verpassen“). Im Zusammenhang mit Hiob wird uns wiederum das metaphorische Schema des RECHTSSTREITS begegnen. Auch unser grundlegendes Konzept des rationalen Argumentierens, eines Herzstücks unseres Vernunftbegriffs, erweist sich in der Analyse als metaphorisch, “a product of poetic thought” (100). Zahlreiche sprachliche Wendungen bezeugen etwa die Wirksamkeit der konzeptuellen Metapher RATIONAL ARGUMENT IS COMBAT (auf die Domäne des „Argumentierens“ wird unser schematisiertes Verständnis von „Kampf“ projiziert: man spricht von Angriff, Verteidigung oder Strategien), verbunden mit räumlichen Modellvorstellungen (man treibt den Gegner zurück oder in die Enge, trifft sich in der Mitte, weicht nicht von seinem Stand-Punkt, benötigt common ground 24 zum Argumentieren etc.). In beiden Aspekten des metaphorischen Verständnis von argument wiederum ist nach Turner ein ––––––––––––– 23 “To start this reexamination, I need a blanket term to cover all cases in which we understand one concept in terms of another concept, to any degree or by any process. I will adopt the term ‘analogy’ to refer to such cases generally. Analogy thus includes metaphor.” (121) Weitere Arbeiten Turners zu (konzeptuellen) Metaphern sind z. B. Death is the Mother of Beauty. Mind, Metaphor, Criticism (1987) und More than cool reason. A field guide to poetic metaphor (1989) zusammen mit George Lakoff. 24 Turner führt die rhetorische Statuslehre (Anm. 39 auf S. 35) weitgehend auf diese räumliche Vorstellung zurück (109).
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schematisiertes Verständnis der Dynamik von Kräften am Werk, wie es unsere Alltagserfahrung liefert25. Diese Beispiele zeigen eine auffällige Dominanz räumlicher Metaphorik, die über den Bereich des Argumentierens weit hinausgeht. Propositionen werden metaphorisch als Örter in einer Art „intellektueller Topographie“ (112) verstanden, die gewissermaßen den bekannten, schon kartierten Teil des „Raums“ oder Gebietes kennzeichnet, in dem der Geist sich bewegt. Nicht zufällig nutzt Turner auch zur Veranschaulichung unserer konzeptuellen Prozesse selbst die Metapher eines Raums: It is only by being constituted upon commonplace conceptual patterns that provide most of the meaning to literary texts that literary texts can be for us something other than impossible questions, opaque challenges, bizarre and mute anomalies. The imagination must move in a known space; these are the conditions upon its intelligibility. The attempt to ground literary criticism in cognitive rhetoric is no other than the attempt to map that space in which the imagination moves so that we can understand the performance of imagination within it. (246f.)
Ihre räumliche Metaphorik erbt „kognitive“ Rhetorik natürlich von der klassischen Rhetorik. Wenn diese die Erfindungskraft selbst der Analyse unterzieht 26, nutzt sie dafür bekanntlich die räumliche Vorstellung des „Aufsuchens“ der Argumente, für das sie Hilfsmittel bereitstellt – das Erfinden wird zum Auffinden des Stoffes entlang erlernbarer Wege. Ihre Wurzel hat diese raumhafte Vorstellung von Wissen und Denken in der (dialektischen) „Topik“, der Lehre von den „Örtern“, dem „wegbereitenden Verfahren“ 27, das jede erdenkliche Verbindung in der Landschaft der allgemeinen Überzeugungen (Meinung, endoxa) nachzuzeichnen versucht. Die Topik des Aristoteles, die „Lehre vom Meinungswissen“ 28, ist ––––––––––––– 25 Unser tiefenmetaphorisches Konzept von Argumentation nach Turner hat verschiedene Elemente: I. Propositionen werden verstanden als Örter einer intellektuellen Topographie, einander widersprechende Propositionen demnach als “contrary places” relativ zu einem “common ground”, der beide enthält. II. Das Behaupten einer Proposition wird analog zur force dynamics verstanden als Kraft in Richtung ihres Ortes, entgegengesetzte Propositionen demnach als einander entgegengesetzte Kräfte. Der dadurch herbeigeführte zeitweilige Stillstand (impasse) konstituiert die Argumentation; ihr Streitpunkt wird bezeichnet durch die Stelle, an der die Kräfte aufeinandertreffen. III. Kräfte werden oft durch intentional agents verursacht oder ausgeübt, was zur Konzeptualisierung von Argumentation als KAMPF führen kann etc. (vgl. 112). 26 “Classical Rhetoric viewed invention as susceptible of analysis, and indeed took this analysis as one of its defining professional tasks” (51; vgl. auch 217). 27 Vgl. Aristoteles, Topik; Top I.3, 101b, S. 7. 28 Dieter Breuer u. Helmut Schanze, „Topik: Ein interdisziplinäres Problem“ (1981), 9.
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Teil des Organon29 und als Sammlung von Anweisungen für das Auffinden wahrscheinlicher Schlüsse Dialektik wie Rhetorik vorgeordnet 30. In seine Techné rhétoriké wiederum, der ersten umfassenden Systematisierung der antiken Rhetorik, hat Aristoteles wesentliche Punkte seiner Topik unter argumentationspraktischen Gesichtspunkten eingearbeitet 31. Aristoteles also (der uns neben der Rhetorik auch Organon, die Ethiken, Physik, Politik oder Poetik hinterließ) hat in die „Redekunst“ jenes universelle, auf das Vermögen des menschlichen Geistes gerichtete Erkenntnisinteresse eingebracht, welches Turner an der klassischen Rhetorik so schätzt. Das Aristotelische Erkenntnisinteresse motivierte wesentlich diese Rhetorik, geht aber weit darüber hinaus. An seinem Anspruch sollte sich auch Turners Programm einer „kognitiven Rhetorik“ messen lassen. Dieses Programm kann zweifellos der Literaturwissenschaft wertvolle Impulse geben. Gerade ein solches Programm sollte es aber vermeiden, seinen methodischen Horizont (auch durch Etikettierungen wie „Rhetorik“) künstlich zu beschränken. Hier liegen m. E. wesentliche Mängel des Turnerschen Ansatzes. Dieser Ansatz vernachlässigt erstens den Begriff des „Fiktionalen“ 32. Er betrachtet zweitens, der „topischen“ Methode der Rhetorik folgend, poetische Erfindungskraft nur als konstruktive Dynamik konzeptueller Schemata und Konfigurationen, vernachlässigt darüber hinaus aber ihren destruktiven Aspekt, das poetische Aufbrechen vertrauter Muster in der Auseinandersetzung mit Ideen, Konzepten und Stoffen33. Mein wichtigster Einwand aber ist, dass dieser Ansatz sich – trotz oder vielleicht wegen seines steten Rückbezugs auf den wahrnehmenden Körper und insbesondere dessen sehr elementaren Schemata der räumlichen Wahrnehmung – unangemessen stark auf eine „lineare“ Betrachtungswei––––––––––––– 29 Aristoteles’ logische Schriften: Kategorien, Peri hermeneias, Analytik I+II, Topik, Sophist. Widerlegungen. 30 Aristoteles sieht die Rhetorik als „korrespondierendes Gegenstück“ der Dialektik (Rhet. I.1.1, 1354a, S. 7). Beide zielen auf die endoxa, auf die allgemeine Ansicht oder Meinung (im Gegensatz zum „apodiktischen“, unzweifelhaft wahren Wissen). 31 Zur Topik und zur Topographie unserer Weltrepräsentationen siehe unten ab S. 356. 32 Das Fiktionale, von jeher eine zentrale Kategorie der Literaturwissenschaft, wäre als besondere Weise unseres Umgangs mit ‚möglichen Welten‘ auch für eine kognitiv orientierte Forschung von großem Interesse (das zeigen etwa Kermodes „studies in the theory of fiction“; vgl. Anm. 51 auf S. 45). Möglicherweise fällt es Turners Abneigung gegen die tief in unserem Denken verankerte Dichotomie „real versus fanciful“ (Turner 1991, 121) zum Opfer, die es allerdings in meinen Augen nur noch interessanter macht. 33 Hier ist kognitive Rhetorik nur der erste Schritt: Man muss freilich die Muster kennen, um ihr Aufbrechen studieren zu können.
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se festlegt, die er in seinen Analysen auch auf die uns vor allem interessierenden Gegenstände – Argumentation und Narration – überträgt. Selbst bei der Konzeptualisierung sehr abstrakter Konzepte nutzen wir Turner zufolge elementare Schemata der räumlichen Wahrnehmung (Image-Schemata)34 und daraus abgeleitete Relationen – v. a. „Linearität“, „Bilateralität“ und „Symmetrie“. Zu diesen abstrakten Konzepten, die ihrerseits wiederum viele andere Konzepte strukturieren, gehören z. B. Zeit, Kausalität, Text, unser Verständnis der Dynamik von Kräften, Handeln und Urteilen oder eben Narration und Argumentation: “without a symmetric body, we could not have the concept of argument we have” (100)35. Erzählstrukturen betrachtet Turner am ausführlichsten im Kontext unseres metaphorischen Verständnisses von „Zeit“ als einer linearen räumlichen Bewegung eines Punktes (gebunden an unser internes Image-Schema für SOURCE-PATH-GOAL-Bewegungen) sowie im Kontext von metaphorischen Projektionen von „Symmetrie“ (generic projection of symmetry) in verschiedenen konzeptuellen Bereichen36. Das Erzählen sollen wir nach Turner als „metaphorisch linear“ betrachten, weil das Erzählen bzw. unsere Interaktion mit dem Erzähltext als zeitliches Ereignis auch die metaphorische Linearität von Zeit ererbt. Erst diese metaphorische Linearität erlaubt auch die Projektion metaphorischer Symmetrie, für die sich wiederum zahlreiche konkrete Beispie––––––––––––– 34 Turner übernimmt den Begriff image-schema von Mark Johnson, The Body in the Mind (1987). “As I conceive of them, image-schemas are extremely skeletal images that we use in cognitive operations. Many of our most important and pervasive image-schemas are those underlying our bodily sense of spatiality. They include our image-schema of verticality, of a path leading from a source to a goal, of forward motion, of a container …, of contact, and of such orientations as up-down, front-back, and center-periphery. We have many image-schemas of part-whole relational structure. We also have dynamic image-schemas, such as the image-schema for a rising motion, or a dip, or an expansion, and so on. When we understand a scene, we naturally structure it in terms of such elementary image-schemas” (57f.). 35 Zu den anderen genannten Konzepten vgl. u. a. Turner 1991, S. 58, 76ff., 80-82, 108. 36 Vgl. Turner 1991, 76-85; insb. 78f. Das SOURCE -PATH-GOAL-Image-Schema konzeptualisiert zielgerichtete Bewegungen eines Körpers, z. B. wenn wir etwa einen sich bewegenden Gegenstand beobachten oder nach etwas greifen (157). Die „generische Projektion“ von Symmetrie definiert Turner rein formal (unabhängig von Räumlichkeit und Bilateralität), im Sinne sehr abstrakter interchangeability (72). Es sei angemerkt, dass diese abstrakte Definition auch Abbildungs-Operationen erlauben würde, deren Ergebnisse kaum noch plausibel an “our embodied understanding of the symmetry of our bodies and our environments” (80) rückgebunden werden können.
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le in Erzählwerken anführen lassen37. Dieselbe „symmetrische“ Projektion findet Turner auch auf der Ebene erzählter Situationen, etwa solcher, die eine Entscheidung zwischen Möglichkeiten erfordern (wie im 11. Buch der Ilias Odysseus’ Entscheidung, entweder zu fliehen oder zu kämpfen). Auch hier dient Turner unser verinnerlichtes, schematisiertes Verständnis bilateraler Symmetrie, wurzelnd in der symmetrischen Bilateralität unseres Körpers, als Modell für das Verständnis der Dynamik einander entgegengesetzter Kräfte: We experience physical forces. When they are bilaterally symmetric, they are in bilateral equilibrium. This is knowledge we have about the world of forces by virtue of our ability to recognize symmetry in our world. We project this knowledge of symmetry and equilibrium onto a great variety of conceptual situations involving proposals or assertions. This projection is the basis of our intuitive, unconscious knowledge of moments that require a decision. We know of our environments that when something is still, when there is stasis, it is because the opposing forces impinging upon it are symmetric. We know of our environments that change results from breaking that symmetry. (80f.)
Turner zieht hier fast unmerklich das Konzept der Symmetrie in das der Balance hinüber (das Schema bilateraler Symmetrie ist für ihn der „Prototyp“ von Balance)38. Hamlets To be or not to be ist ein weiteres Beispiel für eine Entscheidungssituation mit balanciertem Kräfteverhältnis; hier allerdings ist der Held nicht in der Lage, das handlungshemmende Gleichgewicht der Alternativen zu brechen. “Revenge heroes typically state the case, resolve the point, and act, but Hamlet perpetually oscillates ––––––––––––– 37 “Homer, for example, routinely frames the presentation of an incident by beginning it with an oral formula and closing it with the same or nearly the same formula. … Homer frequently mentions a string of things that are to be picked up in reverse order, as when Odysseus in the underworld asks the shade of his mother, Anticlea, five questions, which she answers in reverse order.” (77) Die gesamte Ilias sei “structured according to a truly elaborate symmetry of just this type” [i. e. metaphoric]. “The metaphoric ‘line’ of presentations in the Iliad is metaphorically balanced about a metaphoric midpoint, the Great Battle, and individual ‘line segments’ have a similar microcosmic metaphoric bilateral symmetry, as when an important scene is heavily framed by matched pairs of scenes” (78). 38 “Our embodied and indispensable schema of bilateral symmetry overlaps with our schema of balance. As Mark Johnson has demonstrated, symmetry and balance are not identical… Nonetheless, our prototype of the balance schema is the schema of bilateral symmetry… To achieve balance, we typically resort to bilateral symmetry. We use this basic schema of right-left symmetry constantly, and grasp it ubiquitously in our perceptions, actions, and imaginings. We use it to cast order upon the world” (70).
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about stasis”39. Solche semistabilen, balancierten Strukturen analog zu entgegengesetzten Kräften im Gleichgewicht finden sich auf der Ebene von Situationen ebenso wie auf der Ebene der Erzählung als ganzer: Hamlets Unfähigkeit, eine Entscheidung herbeizuführen, erscheint einmal als Unmöglichkeit, in der Entscheidungssituation das Gleichgewicht der Kräfte zu brechen, gleichzeitig damit aber auch als Unmöglichkeit, das globale Gleichgewicht auf der Ebene der Geschichte wiederherzustellen, das durch den Tod des Vaters gestört wurde – den Vater zu rächen. Eine vergleichbare Struktur der Stasis, der unentschiedenen Balance zwischen gleich starken Kräften, finden wir auch im Buch Hiob vor, wenn im Redestreit Hiobs mit seinen Freunden keine der beiden Seiten die andere zu überzeugen vermag. Dieses Gleichgewicht lässt sich auch durch die Einmischung des nachträglich eingeführten vierten Freundes nicht brechen – die Entscheidung kann hier nur von außen (von „oben“) kommen. Grundlegende Muster wie Balance oder Symmetrie also sind es, die Turner in narrativen Texten herausarbeitet und auf verinnerlichte Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Interaktionsmuster des Körpers und auf elementare kognitive Strukturen rückbezieht. Zentral ist dabei das Schema des Ausgleichs: Ein bestimmtes Handeln stört ein Gleichgewicht und erzeugt das Bedürfnis nach Ausgleich; ein reagierendes Handeln will diesen Ausgleich herbeiführen, zerstört aber damit unter Umständen die Balance auf einer anderen Ebene und setzt neue Ausgleichsbewegungen in Gang. Solche Muster und Schemata sind in der Tat wichtige Elemente narrativer Strukturen. Gleichgewicht und Verlust von Gleichgewicht, Stabilität bzw. Ordnung spielen bekanntlich schon der strukturalistischen Erzählfor-
––––––––––––– 39 Turner, Reading Minds 82. Das rhetorische Konzept der Stasis ist Ausgangspunkt der Statuslehre, die den „springenden Punkt“ eines Streitfalles bzw. einer Argumentation identifiziert und klassifiziert. Die Existenz von stasis, eines Streitpunktes, konstituiert die Argumentation (pro/contra). Räumlich betrachtet, treffen quasi an diesem Punkt die einander entgegengesetzten argumentativen Programme aufeinander. Der status, die „Begründungsform“, „gibt den ‚Stand‘ einer Situation an, die Gegenstand einer Rede wird“. Den vier unterschiedenen Stati entsprechen die Fragen „Hat er es getan?“ (status coniecturae), „Was hat er getan?“ (status finitionis), „Hat er es zu Recht getan?“ (status qualitatis) und die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Verhandlung (status translationis). Vgl. Gert Ueding u. Bernd Steinbrink, Grundriss der Rhetorik (1994), 255f. Die Statuslehre wurde Mitte des 2. Jh. v. Chr. von Hermagoras von Temnos in die Rhetorik eingeführt, der zudem für jeden Status eine besondere Topik aufstellte. Vgl. auch Jozef A. Kemper, „Topik in der antiken rhetorischen Techne“ (1981), 24f.
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schung eine wichtige Rolle40. Ihre angemessene Analyse muss aber meines Erachtens die Linearität überschreiten, auf die Turner seine kognitive Rhetorik in weiten Teilen (metaphorisch) beschränkt. Diese Linearität steht in einem auffälligen Missverhältnis zu Turners Ausgangspunkt, seiner Konzentration auf den einzelnen wahrnehmenden Körper, auf das einzelne “human brain in a human body in a human environment“ (vii f., vgl. 238) und sein “embodied understanding“ (80). Offenbar verleitet diese Konzentration zu Vereinfachungen. Ein embodied understanding wäre ja zuallererst ein Verstehen „von innen“, aus der Perspektive des Wahrnehmenden heraus, die zunächst und primär die Perspektive des teilnehmenden, handelnden und erleidenden Subjektes ist. Turners Anwendung „linearer“ (also auf metaphorischer Linearität basierender) Konzepte wie Gleichgewicht, Symmetrie oder Ausgleich wiederum setzt bereits den Blick von außen auf eine Situation und damit die Abstraktion von unmittelbarer Beteiligung voraus. Was fehlt, ist eine Vermittlung dieser beiden Perspektiven, die als eigenständige kognitive Leistung angesprochen werden muss. Diese Vermittlung des Innen und Außen ist weder durch Turners sehr elementares embodied understanding noch im Rahmen linearer Konzepte zu leisten. Turner selbst gibt in seinen Ausführungen zu Ausgleich und Vergeltung, Balance und Destabilisierung in Rachetragödien die entscheidenden Hinweise, ohne daraus jedoch die notwendigen Konsequenzen zu ziehen: Revenge tragedy usually takes as its subject the search for recompense and requital, balancing act for act, conforming to the Aristotelian concept of compensatory justice or the “eye for an eye” of the lex talionis. … This is the method of disastrous revenge tragedy in general: After an initial vector of wrong or evil, any new balance inexorably results in an imbalance of a different kind: the solution of the problem recreates the problem, under a new relation, in a different incarnation. The compensatory revenge violates other equilibria (such as kinship respect) and calls for yet another compensatory revenge. Repetition of the problem and attempted solutions engender general slaughter, and new order can be created at the end not by some participant in the existing order who manipulates the existing order, but rather only by someone outside the existing order who imports a new order. (83)
Turner bringt hier den „Ausgleich“ durch rächende Vergeltung mit der lex talionis, aber auch mit Aristoteles’ „ausgleichender Gerechtigkeit“ in Verbindung. Beide Formen des Ausgleichs entsprechen aber nur auf den ––––––––––––– 40 Turner zitiert Propps Analyse von Zaubermärchen: “Vladimir Propp has argued that the structure of the folktale depends upon an initial equilibrium and a force that breaks it… The hero–whether seeker or victim–sets about to restore the balance” (83).
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ersten Blick einer „linear symmetrischen“ Struktur, wie sie das „Auge um Auge“ suggeriert. Die Talionsformel aus 2 Mose 21,24 oder 3 Mose 24,20 steht im Kontext von Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit und ist gerade nicht die „Privatsache“ einer potenziell unabschließbaren intergentalen Blutrache. Sie kennzeichnet im Gegenteil bereits die „Domestizierung der Rache“ 41 durch das Recht und verweist deshalb auf eine Ebene außeroder oberhalb der Konfliktparteien – auf das Gericht und in der Bibel letztlich JHWH als Quelle des Gesetzes. In Bezug auf „ausgleichende“ oder „wiederherstellende Gerechtigkeit“ bei Aristoteles wird das noch deutlicher. Hier handelt es sich ja ausdrücklich nicht um „Wiedervergeltung“ als „Gleiches für Gleiches“42. Auch ausgleichende Gerechtigkeit ist nur scheinbar – wenn unzulässig stark vereinfacht – „linear symmetrisch“. Zwar ist das gerechte „Gleiche die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig“ – darstellbar durch das symmetrische Modell einer Linie, die durch einen Punkt in zwei gleich lange Abschnitte geteilt ist (und damit Turners schematischer Darstellung der stasis 43 ähnelt). Diese symmetrische Linie ––––––––––––– 41 „Talion und Blutracheinstitution berühren sich in ihren Funktionen. Die Blutrache sanktionierte den intergentalen Tötungsfall durch die unmittelbare Rechtsreaktion der geschädigten Familie. Ex 21,12-14 und Dtn 19,6 spiegeln ihre Einbindung in die Ortsgerichtsbarkeit. Der Bluträcher wurde zu einem Organ des Ortsgerichts und so die unmittelbare Rache überwunden. Eine ähnliche Domestizierung der Rache verbindet sich mit der Einbindung der Talion in das kasuistische Körperverletzungsrecht“ (Eckhart Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments (1994), 81). 42 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik: Eth. Nic (EN) V.8, 1132b 24, S. 111. Allerdings wird der Begriff heute häufig in diesem Sinne verwendet, als gerechte Vergeltung des menschlichen Tuns. Der in der alttestamentlichen Forschung geläufige „Tun-ErgehenZusammenhang“ ist konzeptuell ganz ähnlich einzuordnen und wird uns im Zusammenhang mit Hiob und der Theodizee noch ausführlich beschäftigen. 43 Zum rhetorischen Konzept der stasis als des Streitpunktes einer Argumentation oben Anm.39. Die hier wirksame kräftedynamische Metaphorik versucht Turner (vgl. 102f.) schematisch darzustellen, und zwar einmal als „konsekutives“ Modell, also in etwa:
A
B
C
zum anderen als „simultanes“ Modell: A
B
C
In unserem alltäglichen Sprechen über Argumentation, so Turner, mischen wir beide Modelle; dasselbe passiert auch in theoretischen Beschreibungen bis zurück zu Cicero (106). Ihre gemeinsame Basis aber ist “our prior understanding of force dynamics, and in particular the force dynamics of a bilaterally symmetric human body” (108).
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stellt aber nur das Endprodukt des Prozesses der „Wiederherstellung“ dar44. Um vom unsymmetrischen, „ungerechten“ Ausgangszustand zum symmetrischen Zustand der Gerechtigkeit zu gelangen, muss Linearität überschritten werden, und zwar durch eine übergeordnete Instanz: „Der Richter stellt Gleichheit her und macht es, wie wenn er eine in ungleiche Teile geteilte Linie vor sich hätte, von deren größerem Teil er das Stück, um welches derselbe größer ist als die Hälfte, wegnähme und zu dem kleineren Teil hinzutäte“45. Das Gericht ist die Instanz ausgleichender Gerechtigkeit, ja ihre lebendige Verkörperung: Und so wäre denn das ausgleichende oder wiederherstellende Recht die Mitte zwischen Nachteil und Vorteil. Darum nimmt man auch in zweifelhaften Fällen seine Zuflucht zum Richter. Zum Richter gehen aber heißt soviel, als zur Gerechtigkeit gehen, da der Richter gleichsam die lebendige Gerechtigkeit sein soll. (1132a, S. 109)
Nur aus der Perspektive der übergeordneten Instanz selber, mit den Augen des Richters oder des Philosophen, ist der Fall auf lineare Symmetrie reduzierbar. Aus der Sicht der Konfliktparteien sieht das anders aus; sie haben zuallererst ihre Interessen im Blick, aber gleichzeitig meist auch eine Vorstellung davon, wie der Fall aus Sicht des Richters aussehen mag. Das gilt nicht nur für das Forensische: Ausgleichende Gerechtigkeit bezieht sich grundlegender auf jeden geregelten zwischenmenschlichen Verkehr, insbesondere den geschäftlichen Umgang. „Die Ausdrücke Verlust (Einbuße, Nachteil) einerseits und Gewinn (Zubuße, Vorteil) anderseits stammen aus dem freiwilligen Verkehr“ (1132b, S. 110), d. i. dem Austausch von Gütern. Die Regel der Gleichheit liefert hier das Geld, als ein Maß der Vergleichbarkeit durch „Übereinkunft“ (1133a, S. 113). Ausgleichende Gerechtigkeit sorgt durch Regulierung des „auf Gegenseitig––––––––––––– 44 In Lassons Übersetzung findet sich eine solche Veranschaulichung von Aristoteles’ abstrakter Darstellung. „Gegeben seien drei gleiche Linien:
A C E
G
H
B D F
J
AB, CD und EF; schneidet man von AB ein Stück GB ab, fügt man dann zu EF das Stück FJ = GB hinzu, so ist die ganze Linie EJ um das Stück HF + FJ = 2 GB größer als AG, und um das Stück FJ größer als CD“ (Aristot. EN V.7, 1132b; Lasson 103f.). 45 Aristot. EN V.7, 1132a, S. 110. Alle folgenden Aristoteles-Zitate dieses Abschnitts aus EN V.7.
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keit beruhenden Verkehr[s]“ dafür, dass „der Bürgerschaft ihr Zusammenhalt gewahrt“ wird (1132b, S. 111). Vom einzelnen Teilnehmer am „freiwilligen Austausch der Güter“ aus gesehen zielt ausgleichende Gerechtigkeit insbesondere auf die Rechte, die dem Anderen als Mitglied der Kommunikationsgemeinschaft im sozialen Verkehr zugestanden werden. Ausgleichende Gerechtigkeit ist deshalb m. E. nicht denkbar ohne den komplexen kognitiven Akt der Anerkennung, die es verlangt, den Anderen und sich selbst als grundsätzlich gleichartige Akteure in ein situatives Modell zu integrieren (das verinnerlichte Prinzip der „Gleichheit“). Formal gesehen erfordert diese Anerkennung von Gleichheit die kognitive Repräsentation einer sozialen Situation mit verschiedenen Akteuren als ganzer (den Blick „von außen“) und zugleich die Fähigkeit, sich selbst mit einem Akteur der repräsentierten Situation zu identifizieren (den Blick „von innen“). So könnte man auch Aristoteles’ Kommentar zur subjektiven Seite der Gerechtigkeit lesen, dass nämlich der „Gerechte“, wenn es um seine Ansprüche geht, nach freier Wahl gerecht handelt und bei der Austeilung, handele es sich nun um sein eigenes Verhältnis zu einem anderen oder um das Verhältnis weiterer Personen zueinander, nicht so verfährt, daß er von dem Begehrenswerten sich selbst mehr und den anderen weniger zukommen läßt und es beim Schädlichen umgekehrt macht, sondern so, daß er die proportionale Gleichheit wahrt, und dann in gleicher Weise auch einem anderen mit Rücksicht auf einen Dritten zuerteilt. (1134a, S. 114f.)
Selbst dort also, wo nicht explizit eine Richterinstanz damit betraut ist, Balance wiederherzustellen, ist eine komplexe Repräsentation von Situationen als Ganzen im Spiel, die „Linearität“ übersteigt. Beide Formen des Ausgleichs, die Turner als Illustration narrativer Symmetrie anführt, Talion und „ausgleichende Gerechtigkeit“, haben gemeinsam, dass wir zu ihrer Analyse ein nicht-lineares (nur auf den ersten Blick symmetrisches) Modell mit mehreren Ebenen oder Instanzen benötigen. Auch Turner kommt in seiner Analyse der Rachetragödie zu keinem anderen Ergebnis: “… new order can be created at the end not by some participant in the existing order who manipulates the existing order, but rather only by someone outside the existing order who imports a new order.” (83) b) Kognitive Poetik Argumentation und vor allem Erzählen bringen offenbar „kognitive Rhetorik“, wie Turner sie vorführt, an ihre Grenzen. Lineare Konzepte reichen nicht aus, um Hierarchien wie die angeführten zu strukturieren. Narrative
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Strukturen bedeuten von innen und von außen. Das wird vielleicht durch keinen anderen Erzähltext besser illustriert als durch das Buch Hiob, welches – wie in Teil B dieser Untersuchung gezeigt werden soll – gleich mehrere narrative Entscheidungen vorführt. Hiob und seine Freunde stehen sich am Ende ihres Redestreits buchstäblich „unversöhnlich“ gegenüber. Darüber hinaus steht auch Hiob (wie Hamlet) vor einer Entscheidung: Soll er angesichts seines Unglücks von Gott abfallen, ihn als einen willkürlichen und brutalen Gott begreifen, oder soll er ihm treu bleiben, auch wenn er sein Handeln nicht versteht? Das Buch erzählt von dieser Entscheidung und von ihren Folgen, es lässt den klagenden Hiob selbst sprechen und Hiobs Freunde die Situation aus ihrer Sicht beurteilen. Zum Schluss lässt das Buch mit JHWH die übergeordnete Instanz selbst zu Wort kommen, die ihrerseits über den Streit und über Hiobs Schicksal entscheidet. Dadurch problematisiert die Erzählung radikal das im Hintergrund wirksame „lineare“ Konzept von „Gerechtigkeit“ selbst, das durchzusetzen man diese Instanz verpflichtet glaubte. Und auch Hiob bewirkt durch sein Verhalten seinerseits ein Urteil über die Geltung der Gottesworte: Seine Unterwerfung bestätigt JHWHs Rede als Problemlösung. So gelingt es der Erzählung tatsächlich, im Sinne Bruners verschiedene Weltsichten und Perspektiven zu verhandeln und zu vermitteln und so narrative Problemlösungen anzubieten. Mit Erzählungen wie dem Buch Hiob wird kognitive Rhetorik also wohl ihre Schwierigkeiten haben. Die Grenzen kognitiver Rhetorik aufzuzeigen soll aber ihre tatsächlichen Kompetenzen nicht abwerten. Generalisierte Image-Schemata können universell wirksam und sehr produktiv sein. Wir nutzen unser Image-Schema für SOURCE-PATH-GOALBewegungen für die Konzeptualisierung „metaphorisch linearer“ zeitlicher Abläufe, in konzeptuellen Metaphern wie LIFE IS A JOURNEY und immer, wenn wir bei etwas „auf halbem Wege stehen bleiben“. Dieses Schema bestimmt tatsächlich ein Stück weit unser metaphorisches Verständnis von Argumentation, Denken und Vernunft als Bewegungen auf metaphorischen „Wegen“ 46. Das einfache SOURCE-PATH-GOAL-Schema reicht aber nicht aus, um beispielsweise das Auftreten von Hindernissen oder Gegnern auf dem Weg zum „goal“ zu repräsentieren. Hier müssen wir unser verinnerlichtes Wissen von Kräftedynamik und Gleichgewicht ––––––––––––– 46 “This deeply generatively entrenched image-schema furthermore is used to structure a wide range of abstract concepts as we saw for example in chapter 5, when we discussed the metaphoric understanding of argument, thought, and reason in terms of movement along paths in space” (157).
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zum SOURCE-PATH-GOAL-Schema hinzufügen. Unser Schema entgegengesetzter Kräfte im Gleichgewicht wiederum ist ebenfalls mächtig und produktiv. Aber es reicht nicht aus in Situationen, wo eine übergeordnete Instanz zugunsten der einen oder anderen „Kraft“ entscheidet. Treffen zwei gleich starke Gegner aufeinander, ist der Fortgang der Handlung quasi blockiert (Stasis), bis jemand oder etwas – und sei es das „Glück“ – entscheidend in das Geschehen, die narrative Konfiguration eingreift. Das gilt auch für komplexere Konzepte. Unserem Alltagsverständnis des Argumentierens etwa unterliegt in der Tat nicht selten Turners Metapher RATIONAL ARGUMENT IS COMBAT. Oftmals aber sind Argumentationen noch besser im metaphorischen Rahmen eines Gerichtsprozesses zu verstehen – einem leistungsfähigen narrativen Schema, welches nicht zufällig das Basismodell der Rhetorik liefert. Das narrative PROZESSSchema kann sogar ein dem KAMPF-Schema entgegengesetztes metaphorisches Verständnis von Vernunft begründen: Der Übergang von einer Metapher zur anderen vollzieht gewissermaßen den Übergang der Vernunft vom „Stande der Natur“, in dem sie „Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen oder sichern [kann] als durch Krieg“ zu einem „gesetzlichen“ Zustand nach, „in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen als durch Prozeß“ (Kant, KrV, III 491). Ich werde mich auch mit diesem produktiven metaphorischen Schema im Zusammenhang mit Hiob noch ausführlich auseinandersetzen. Die angeführten Fälle – Hindernisse, Gegner, Entscheidungsinstanzen – sind elementare Bestandteile narrativer Strukturen. Narrative Strukturen müssen also sozusagen „nicht-linear“ analysiert werden, und ich glaube nicht, dass Turners kognitive Rhetorik das kann, solange sie ihre Aufmerksamkeit ausdrücklich auf die Perspektive des einzelnen Subjekts beschränkt. Diese Beschränkung „kognitiver Rhetorik“ ist wohl vor allem Turners Betonung des Kognitiven anzulasten, so wie er es versteht, nicht aber „der“ Rhetorik selber, die ja gerade Resultat der Koexistenz verschiedener Perspektiven ist und damit die Notwendigkeit ihrer permanenten Vermittlung bezeugt. Kognitive Rhetorik bringt im Umgang mit narrativen Strukturen noch eine andere Beschränkung mit, eine Beschränkung freilich, die in anderer Hinsicht durchaus eine Stärke ist. Die Einsichten, die kognitive Rhetorik in Bezug auf Erzählstrukturen liefern kann, zielen ab auf das, was Erzählungen mit anderen Produkten des menschlichen Geistes gemeinsam haben. Kognitive Rhetorik identifiziert die Schemata und Prozesse, die in fiktionalen oder alltäglichen Erzählungen ebenso wirksam sind wie in Ar-
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gumentationen oder Gedichten. Das ist viel, aber nicht genug: Kognitive Rhetorik sollte durch methodische Strategien ergänzt werden, die die spezifischen Möglichkeiten narrativer Strukturen (und zwar auch insbesondere in fiktionalen Erzählungen) in den Blick nehmen. Um sie als Ergänzung einer kognitiven Rhetorik zu kennzeichnen, will ich diese Strategien hier als „kognitive Poetik“ kennzeichnen47. Wenn kognitive Rhetorik danach fragt, was allen sprachlichen Produkten des menschlichen Geistes – poetisch oder rational, Argumentation, Gedicht, Alltagserzählung oder Epos – zugrunde liegt, dann wendet sich kognitive Poetik dem zu, was Erzählungen einzigartig macht, was nur sie leisten können, was narrative Strukturen von anderen diskursiven Strukturen unterscheidet. Sie betrachtet narrative Struktur als kognitives Instrument48. Insofern versteht sich die vorliegende Untersuchung in weiten Teilen als „kognitive Poetik“. Von Turner übernimmt sie das Interesse an den Strukturen der Sprachverwendung sowie an kognitiven (narrativen) Schemata und ihren Projektionen. Von Bruner übernimmt sie den Bezug auf (mögliche) Welten und das Interesse an verschiedenen Perspektiven und ihrer Vermittlung. Kognitive Poetik fragt, wie narrative Strukturen zur Bedeutung von Texten beitragen, und sie geht dabei von der Voraussetzung aus, dass wir (auch) in Geschichten denken. Als literaturwissenschaftliche nähert meine Untersuchung sich diesem Denken in Geschichten vor allem aus Richtung der Geschichten, während die Kognitionswissenschaften diese Frage eher vom Denken her angehen. ––––––––––––– 47 „Kognitive Poetik“ ist in dieser Untersuchung also enger gefasst als das auch “cognitive poetics” genannte Forschungsprogramm, das kognitionswissenschaftliche Einsichten für die Literaturwissenschaft fruchtbar machen möchte. Turners Untersuchungen sind Teil dieses Programms, meine dagegen wohl höchstens partiell, weil ich meine Thesen über narratives Bedeuten noch kaum kognitionswissenschaftlich fundiere. 48 Louis O. Mink, „Narrative Form as a Cognitive Instrument“ (1978). Übrigens hat auch Turner sich in seinem 1996 erschienenen Buch The Literary Mind den fundamentalen Funktionen des Narrativen in unserem wesentlich „literarischen“ Denken zugewandt. Sein Thema dort ist parable, definiert als “the projection of story” und verstanden als unentbehrliches “mental instrument” unseres “everyday mind” (Turner 1996, 7). Seine Analyse dieser „Projektion“, ihrer Funktionsweise und Bedingungen – insbesondere sein Konzept des “conceptual blending”, kann einer kognitiven Poetik wertvolle Impulse geben. Aber auch in The Literary Mind geht Turner über „lineare“ narrative Strukturen kaum hinaus: story bezieht sich potenziell auf jegliches Geschehen in der Zeit (z. B. “the wind blows clouds through the sky, … a whale swims through the water”, S. 13) – ja “Sentences are stories” (145). Für sein Erkenntnisinteresse ist dieses Verständnis des Narrativen sinnvoll, für das der vorliegenden Untersuchung narrativer Problemverhandlung allerdings nicht.
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4. Denken in Geschichten Wir denken in und mit Geschichten. Geschichten können Geschehnisse erklären, Freund und Feind identifizieren, Partei ergreifen, Urteile fällen. Diese Prozesse werden vor allem da transparent, wo dieselbe Geschichte von verschiedenen Autoren auf verschiedene Weise erzählt wird, um je eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Die wahrscheinlich bekannteste Geschichte dieser Art ist die Geschichte Jesu, wie sie in den vier Evangelien erzählt wird. Die Unterschiede in den Erzählungen der Evangelisten sind Ausdruck eines je individuellen Erzählinteresses, eines Denkens mit der Geschichte Jesu: Jeder der Verfasser entwirft eine Erzählung, um damit auf besondere Umstände zu antworten. Und jeder von ihnen bedient sich der Geschichte Jesu, um ‚mit ihr zu denken‘ in einer unmittelbar bedrängenden Situation, indem er sich mit Jesu und den Jüngern identifiziert und denen, die er als Gegner betrachtet, die Rolle der Feinde Jesu gibt. (Elaine Pagels, Satans Ursprung (1998), S. 23)
Das Erzählen der Geschichte erzeugt eine virtuelle Beobachterperspektive und macht damit variable Zuordnungen möglich. Schon der erste Evangelist, Markus, bezieht 35 Jahre nach der Kreuzigung die Geschichte Jesu nicht nur auf ihren historischen Kontext des Kampfes gegen Rom, sondern auf den universellen Horizont des Kampfes von Gut und Böse in der Welt. Er nimmt dazu die extremste denkbare Beobachterperspektive ein: „Markus intendiert, die Geschichte Jesu mit Blick auf ihre verborgene, tiefere Dynamik und damit gleichsam aus Gottes Perspektive zu erzählen.“ (Pagels 36) Auf ganz ähnliche Weise lassen sich, wie wir sehen werden, die verschiedenen Erzählschichten der Hiobgeschichte als Denken mit der Geschichte analysieren, wobei die Perspektive Gottes nicht nur „gleichsam“, sondern explizit eingenommen wird. Anhand des Hiobbuches und seiner Bearbeitungen werde ich Versuche nachzeichnen, „Probleme“, die sich formulieren und auch argumentativ verhandeln lassen, durch Mittel der (fiktionalen) Erzählung zu lösen. Wie sich immer wieder zeigen wird, ist dabei vor allem eine Fähigkeit von Bedeutung, die narrative Problemverhandlung auszeichnet: Eine Erzählung, als abgeschlossene Struktur, vermag etwas, was dem Argument oft verwehrt bleibt: Sie ist in der Lage (ja gezwungen), ein abschließendes Urteil zu fällen. Das Ende der Geschichte (die darin etablierte neue oder alte Ordnung) bewertet die Handlungen der Protagonisten, bestätigt sie als erfolgreich und damit „richtig“ und „ordnungsgemäß“, oder sie verweigert diese Bestätigung.
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Auch die Vorstellung von narrativen Problemlösungen ist nicht neu. So nennt der Psychologe David Rumelhart solche traditionellen Erzählungen, die regelmäßig die Beschreibung des Versuchs eines Protagonisten, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sowie das Resultat dieses Versuches enthalten, “problem-solving stories” 49. Auch Turner hat im Zusammenhang mit der Rachetragödie schon ganz selbstverständlich von „Problemen“ und „Problemlösungsversuchen“ gesprochen (Zitat oben S. 36). An anderer Stelle erwähnt Turner die konzeptuelle Metapher SOLVING A PROBLEM IS JOURNEYING TO A DESTINATION, die offensichtlich diverse Abbildungen von narrativen auf Problemstrukturen (und umgekehrt) gestattet (vgl. Turner 1991, 173 und 204). David Herman verweist in einem “Stories as a tool for thinking”50 betitelten Beitrag auf fünf “core problemsolving activities”, die durch narrative Strategien wesentlich unterstützt werden sollen: Specifically, I focus on five (overlapping) problem-solving activities–‘chunking’ experience into workable segments, imputing causal relations between events, managing problems with the ‘typicfication’ of phenomena, sequencing behaviours, and distributing intelligence across groups–for which the representational tools bound up with narrative can be argued to furnish crucial support. (Herman 172)
In seinem als programmatische Skizze für zukünftige Forschung bezeichneten Aufsatz sind zwei Hinweise Hermans für uns von besonderem Interesse: Zum einen betont Herman den Einfluss narrativer Repräsentationen von Verhalten auf tatsächliches Verhalten (“Sequencing Behaviors”): Erzählen “provides templates for behaviour in physical as well as moral-cultural worlds” (Herman 182). Für entsprechende Forschungen wäre m. E. die Einbeziehung narrativer Bewertungen und Urteile, wie sie in dieser Arbeit untersucht werden, unabdingbar. Der zweite Hinweis – im Kontext von “Distributing Intelligence” – bezieht sich auf die Perspektiven von innen und außen, Individuum und Umwelt (Herman 183-185): “narrative at once reflects and reinforces the supra-individual nature of intelligence–i.e., the inextricable interconnection between trying to make sense of and being within an environment that extends beyond the self”. Erzählen sei auch “an instrument for multiplying and detailing the perspectives that can be adopted on a given set of events”. Es erfülle dabei ––––––––––––– 49 Zitiert nach Jean Matter Mandler, Stories, Scripts, and Scenes (1984), 17. Ausführlicher dazu unten ab Seite 63. 50 David Herman, “Stories as a tool for thinking”, in ders. (Hg.), Narrative Theory and the Cognitive Sciences (2003), 163-192.
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eine doppelte Funktion als Korrektiv der beschränkten und voreingenommenen Subjektperspektive und als Mittel, diese in eine umfassendere Perspektive einzubetten: “In short, the process of telling and interpreting stories inserts me into the environment I strive to know, teaching me that I do not know my world if I consider myself somehow outside of or beyond that world. Neither, though, do I know my world if I merge with it haphazardly, as one structureless, indistinguishable mass absorbed into another.” (Herman 185)
In der Tat: Die abgeschlossene Erzählung oder Episode erzwingt den Blick von außen, der den Protagonisten selber verwehrt bleibt. Spätestens das Ende bringt auch das Urteil: die kontingente Entscheidung darüber, welche der in der Erzählung angelegten narrativen Möglichkeiten aktualisiert wurden. So vermittelt die Erzählung das Innen und das Außen, die Perspektiven des Beteiligten und des „Beobachters“ – dessen, der das Ende kennt. Es ist gerade unser Platz zwischen Innen und Außen, die nach Frank Kermode unser Bedürfnis nach Erzählungen (fictions) erzeugt: “Men, like poets, rush ‘into the middest,’ in medias res, when they are born; they also die in mediis rebus, and to make sense of their span they need fictive concords with origins and ends, such as give meaning to lives and to poems”51. Unser Sein mitten in der Welt und in der Zeit motiviert unsere Erzählungen vom Ganzen: “We project ourselves ... past the End, so as to see the structure whole, a thing we cannot do from our spot of time in the middle.” (8) Als Elemente eines Ganzen erhalten die Geschehnisse zwischen Anfang und Ende eine neue Bedeutung jenseits bloßer Chronologie. Der plot “humanizes time by giving it form”: “Within this organization that which was conceived of as simply successive becomes charged with past and future: what was chronos becomes kairos.” (45f.) Um die Erfahrung organisierter, strukturierter Zeit aufrechtzuerhalten, um aus leeren Zeitabschnitten mit einer bloßen Aufeinanderfolge von Ereignissen (chronos) relevante, bedeutungsvolle Zeit (kairos) zu gewinnen, sind zwischen Anfang und Ende weitere narrative Elemente (“fictional devices”) notwendig, die mittels temporaler und kausaler Verknüpfungen die Kohärenz der Struktur garantieren. Die Bedeutung des Ganzen aber und die Bedeutung der Elemente im Intervall ist wesentlich auch eine ––––––––––––– 51 Frank Kermode, The Sense of an Ending (1967), 7. “Into the middest” stammt von Sir Philip Sidneys Apology for Poetry: “… a poet thrusteth into the middest, euen where It most concerneth him, and there recoursing to the things forepaste, and diuining of thinges to come, maketh a pleasing analysis of all.” (zit. Kermode 181 [Notes]) Ich zitiere im Folgenden aus Kermode 1967 mit einfachen Seitenzahlen.
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Funktion der Begrenzungen der narrativen Struktur. Das korrespondiert unseren Alltagskonzepten von Ursache-Folge-Beziehungen: Gemeinhin halten wir ein früheres Ereignis für die Ursache eines späteren, praktizieren aber alltäglich und ungeachtet ihrer „Unwissenschaftlichkeit“ auch teleologische Erklärungen52. Entsprechend finden wir Erzählungen des Ursprunges53 (Prototyp: Genesis) ebenso wie teleologisch auf ein Ende hin ausgerichtete Erzählungen, “eschatological fictions” (35; Prototyp: die Apokalypse). Vor allem aber ist die Bedeutung der Geschichte und ihrer Elemente eine Funktion des „Endes“ (das ja auch erst erweist, wovon etwas der Ursprung ist). “All such plotting presupposes and requires that an end will bestow upon the whole duration a meaning.” (46) Die Abgeschlossenheit narrativer Strukturen ist bekanntlich schon Herzstück der Definition der Fabel in Aristoteles’ Poetik 54. Die Fabel (mythos) ist die „Verknüpfung der Begebenheiten“ – „das Erste und Wichtigste in der Tragödie“ (Aristot. Poet. 7, 1450b, S. 29). Sie bietet die „nachahmende Darstellung einer ganzen und in sich abgeschlossenen Handlung“ mit „Anfang, Mitte und Ende“ (ebd., S. 31), wobei das Ende die „Lösung“ des „Knotens“ markiert55. Dabei folgen die einzelnen Begebenheiten nicht beliebig aufeinander, sondern gewinnen ihre Bedeutung vom Ganzen und seiner narrativen Ordnung. Die Fabel der Tragödie muss eine Nachahmung einer einheitlichen und in sich vollständigen Begebenheit bieten. Ihre Teile müssen einen derartig geschlossenen Zusammenhang haben, daß bei Umsetzen oder Wegnehmen eines ihrer Teile das Ganze in Unordnung gerät. Was durch sein
––––––––––––– 52 Vgl. auch Aristoteles’ causa efficiens – den Agenten, durch den etwas bewirkt wird – (ergänzt durch causa materialis und causa formalis, materielle und formhafte Eigenschaften physikalischer Körper), und demgegenüber die teleologische causa finalis – der Zweck, um dessentwillen etwas geschieht – die uns im teleologischen Denken der Aufklärung wiederbegegnen wird (s. unten Teil D). 53 Vgl. Michael Taussigs Bericht über die magic of origin der Cuna-Indianer in Panama: Das Singen oder Flüstern oder einfach das Denken der Herkunft eines Dinges verleiht Macht über dieses Ding; einem Geist seine Herkunft zu erzählen erlaubt ihn zu kontrollieren. Vgl. M. Taussig, Mimesis and Alterity (1993), 113. 54 Aristoteles’ Poetik bringt auch die erste Erwähnung sowie eine für lange Zeit sehr einflussreiche Theorie der Metapher (bzw. einer ihrer Formen) als Übertragung eines Nomens „durch Analogie“ (Aristot. Poet. 21, 1457b, S. 77f.). In seiner Rhetorik wiederum betont bereits Aristoteles auch die kognitive Bedeutung der Metapher. 55 „Ich nenne aber Schürzung [des Knotens, M. R.] den Teil des Dramas, der vom Beginn bis zu dem Teil reicht, wo die Wandlung des Geschickes in Unglück oder Glück beginnt, Lösung dagegen ist alles vom Anfang des Umschlages bis zum Ende“ (Aristot. Poet. 18, 1455b, S. 67).
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Vorhandensein oder Fehlen nichts deutlich macht, ist in Wirklichkeit kein notwendiger Teil des Ganzen. (Aristot. Poet. 8, 1451a, S. 35)
Die Tragödie ist eine Darstellung von „Handlung und Leben“, Erfolg und Misserfolg, von Menschen, die Ziele verfolgen und diese Ziele erreichen oder verfehlen56. „Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“ vollzieht sich in ihr ein „Umschlag von Glück zum Unglück“ (Poet. 7, 1451a, S. 33). Dieser Umschlag, den der tragische Held erleidet, steht in einer notwendigen Beziehung zum Charakter (ethos) der handelnden Personen, aus dem ihre Handlungen notwendig folgen (vgl. Poet. 6, 1450a, S. 27). „Glück und Unglück beruhen auf Handlung“57. Schlussendlich widerfahrendes Glück oder Unglück, dargestellt als Handlungsfolgen und in Beziehung gesetzt zu der sittlichen Qualität von Charakteren, fällt so ein narratives Urteil über Handlung und Charakter. Voraussetzung ist die Abgeschlossenheit der narrativen Struktur, die den Blick von außen, auf das Geschehen in seiner Gesamtheit ermöglicht. Der Zuhörer, Zuschauer oder Leser ist erst am Schluss der Geschichte in der Lage, diesen Blick einzunehmen. Vorher weiß er, je nach narrativer Lenkung seiner Perspektive58, oft nicht mehr als die Protagonisten selber. So können narrative Strukturen verschiedene Perspektiven vermitteln, die sich streng genommen ausschließen. Der Übergang des Rezipienten von einer Perspektive zur anderen, von der begrenzten Innenansicht zum alles überblickenden Blick von außen, findet auf Ebene der Figuren eine Parallele in Aristoteles’ Begriff der Erkennung des tragischen Helden, der sich plötzlich selbst in eine Perspektive größerer Übersicht gestoßen sieht und das ganze Ausmaß seines Schicksals erkennt. Die Erkennung, eine „Wandlung aus Nichtwissen in ––––––––––––– 56 „Die Tragödie ist die nachahmende Darstellung einer Handlung, zur Handlung gehören aber gewisse Personen, die notwendig bestimmte Eigenschaften charakterlicher und intellektueller Art besitzen müssen – denn dadurch wird das Urteil des Zuschauers über die Art ihrer Handlungsweise bestimmt -, und je nach der Art dieser beiden Grundursachen erreichen handelnde Menschen ihr Ziel oder verfehlen es“ (Aristot. Poet. 6, 1449b-1450a, S. 25). 57 Vermutlich ein nacharistotelischer Kommentar zu den gerade zitierten Sätzen (Aristot. Poet. 6, 1450a, S. 25). 58 Die vielfältigen technischen Möglichkeiten, die Perspektive des Rezipienten zu manipulieren, sind in der Erzählforschung ausführlich untersucht worden. So unterscheidet etwa Genette, in seiner Kritik an Stanzels grundlegender Opposition von Innen – und Außenperspektive (abhängig vom point of view), zwei unterschiedliche Momente der Informationsregulierung: Modus (Welche Figur liefert den Blickwinkel) und Stimme (Wer ist der Erzähler?). Vgl. Gérard Genettte, Die Erzählung (1994), 132.
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Wissen“, gehört nach Aristoteles zusammen mit der Peripetie – und insbesondere, wenn sie mit einer Peripetie verbunden ist – zu den wirkungsvollsten Mitteln der Tragödie (Poet. 11, 1452a, S. 41). Die „richtige Fabel mit einer überzeugenden Verknüpfung der Begebenheiten“ (Poet. 6, 1450a, S. 27), das heißt von Handlungen und Handlungsfolgen und von Glück und Unglück, erzeugt eine spezifische narrative Konfiguration, die ihre Wirksamkeit von der „inneren Wahrscheinlichkeit“ oder „Notwendigkeit“ des Dargestellten bezieht. Aufgabe des Dichters ist nicht, „bloß das Geschehene darzustellen“, sondern er soll „uns vielmehr sehen lassen, was gemäß der inneren Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit möglich wäre und hätte geschehen können.“ (Poet. 9, 1451a, S. 35) Diese innere Wahrscheinlichkeit (eikos), welche die Dichtung den Zuschauer erkennen lässt, ist das „Allgemeine“, dessen Darstellung das dichterische Erzählen auszeichnet und vom historischen „Bericht über das Einzelne“ unterscheidet59. Hier liegt gleichzeitig auch der Punkt, an dem sich bei Aristoteles Poetik und Rhetorik berühren: Die „innere Wahrscheinlichkeit“ bestimmt, was als poetische Verknüpfung der Begebenheiten überzeugend und wirkungsvoll ist; „Wahrscheinlichkeit“ ist aber auch die wichtigste Quelle für die Überzeugungskraft rhetorischer Schlüsse (Enthymeme) 60. Wir können deshalb das oben zitierte Diktum Mainbergers getrost erweitern: Poetik und Rhetorik können dazu beitragen, die menschliche Vernunft „kontingenzfähig“ zu machen (vgl. oben S. 29)61. Wenn allerdings in der Erzählung ausdrücklich Unerwartetes, Kontingentes berichtet wird, das dennoch mit innerer „Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“ geschehen soll, so verweist das bereits auf die narra––––––––––––– 59 „Der Unterschied ist, daß der Historiker berichtet, was geschehen ist, der Dichter aber Dinge, die gegebenenfalls hätten geschehen können. Darum ist die Poesie philosophischer und gehaltvoller als die Geschichtsschreibung. Die Poesie stellt mehr das Allgemeine dar; der geschichtliche Bericht aber das Einzelne“ (Aristot. Poet. 9, 1451b, S. 35). 60 „Das große Verdienst des Aristoteles war es, diesen Zusammenhang zwischen dem rhetorischen Begriff der Überzeugung und dem logischen des Wahrscheinlichen herauszuarbeiten und auf diese Beziehung das gesamte Gebäude einer philosophischen Rhetorik aufzubauen“ (Ricoeur 1986, 17f.). 61 „Ebenso wie der Dichter das Wahrscheinliche darstellt, das als Möglichkeit im Bestehenden erkennbar ist, ermöglicht die Offenheit des Prozesses, in dem sich die Dinge befinden, dem Menschen das Eingreifen in diesen Prozeß, von dem er selbst einen Teil darstellt. Die Rhetorik ist ein Vermögen (dynamis) aus Wissen, in diesen Prozeß einzugreifen, d. h. bei offenen Fragen zur Entscheidung zu verhelfen, zur Realisierung einer Möglichkeit zu gelangen, die vom Redner erkannt ist“ (Ueding u. Steinbrink 24).
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tive Fähigkeit zur Kontingenzverschleierung, die dem narrativen Urteil den Schein des Notwendigen aufzuprägen sucht (und uns in dieser Untersuchung immer wieder begegnen wird). Auf Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit rekurrieren wir, um die Verknüpfung argumentativer Sätze (im dialektischen und rhetorischen Schluss) oder die Verknüpfung narrativer Sätze (die „Verknüpfung der Begebenheiten“) als „wahr“ oder „überzeugend“, plausibel und kohärent zu erkennen. Dass uns solche Verknüpfungen plausibel erscheinen, gründet in unseren Überzeugungen und „Meinungen“ über die Welt, den endoxa, dem, was uns oder den Autoritäten, die wir im Zweifelsfall zu Rate ziehen – überzeugend und einleuchtend erscheint62. Weil beide, Poetik und Rhetorik, an der Kontingenz des „Wahrscheinlichen“ teilhaben, teilen sie die gleichen Anfälligkeiten. In Poetik und Rhetorik zitiert Aristoteles die Sentenz des Agathon, es sei doch ebenfalls „wahrscheinlich“, dass vieles gegen alle Wahrscheinlichkeit geschieht 63. In der Rhetorik steht dieses Zitat im Kontext der Behandlung „scheinbarer Enthymeme“ oder rhetorischer Trugschlüsse. Solche Trugschlüsse, die damit operieren, dass etwas der Wahrscheinlichkeit zuwider geschieht, ließen sich nach Aristoteles dadurch entlarven, dass man letztere als spezielle Wahrscheinlichkeit erkennt und ihr Worin, Wo und Wozu spezifiziert. Auch in der Poetik können verschiedene „Wahrscheinlichkeiten“ konkurrieren. Vom geschehenen, erzählten oder als Argument angeführten Einzelnen gelangt man noch nicht automatisch zu dem Allgemeinen, das dadurch bedeutet werden soll. Dass etwas geschehen ist, bedeutet noch nicht, dass es auch geschehen musste. Wenn man in Argumentationen oder Erzählungen aus dem, was geschieht, auf Gesetzmäßigkeiten schließen kann, die das Geschehene „wahrscheinlich“ gemacht haben sollen, dann nur deshalb, weil das Geschehene als Beispiel oder Instanz solcher regelhaften Abläufe erkannt wird, die bereits Eingang in die endoxa, unsere Überzeugungen über die Welt, gefunden haben. Es ist unwahrscheinlich, sagt Aristoteles, dass der Kluge überlistet wird oder der Tapfere im Kampf unterliegt, aber es kann geschehen. Für die Tragödie bietet gerade das besondere Wirkungsmöglichkeiten: ––––––––––––– 62 „... einleuchtend dagegen (sind Annahmen), die allen oder den meisten oder den Klugen so erscheinen, und bei diesen (letzteren) wieder entweder allen oder den meisten oder den angesehensten und namhaftesten“ (Aristot. Top. I.1, 100b, S. 3). 63 Aristot. Poet. 18, 1456a, S. 69; siehe auch Kap. 25, 1461b, S. 105; in der Rhetorik vgl. Aristot. Rhet. II.24.10.
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Erzählen und Problemlösen Aber durch das Mittel plötzlichen Schicksalswechsels und mit einfacher Handlung erreichen die Dichter ihre Absicht in bewundernswerter Weise. Solche Gestaltung wirkt tragisch und erregt menschliche Anteilnahme. Das letztere geschieht, wenn der Kluge, dessen Schlauheit aber mit Schlechtigkeit gepaart ist, vor unseren Augen überlistet wird, z. B. Sisyphos. Ebenso, wenn ein tapferer, aber ungerechter Mensch unterliegt. Auch ein solcher Ausgang ist dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit gemäß. Agathon drückt sich so aus: Es ist wahrscheinlich, daß vieles sich auch gegen alle Wahrscheinlichkeit ereignet. (Aristot. Poet. 18, 1456a, S. 69)
Hier bedeutet die Erzählung gerade dadurch, dass etwas gegen die (praktische) Wahrscheinlichkeit geschieht – solange sie nicht gegen die Gesetze des Verstandes verstößt64. Das Unerwartete wird signifikant und lenkt den Blick auf das ethos, durch welches das narrative Urteil gerechtfertigt werden kann: Dass der überlistete Kluge schlecht und der besiegte Tapfere ungerecht sind, erscheint als Ursache für ihr Scheitern. Hier tritt zur Ebene der „praktischen Wahrscheinlichkeit“, nach der Klugheit und Tapferkeit Überlegenheit verleihen, die einer ethischen (und ideologischen) „Wahrscheinlichkeit“ hinzu, nach der es wahrscheinlich oder gar notwendig sein soll, dass ein defizitärer Charakter zu Unheil führt. Das narrative Urteil wird trotz des Verstoßes gegen die praktische Wahrscheinlichkeit nicht angezweifelt, weil es seine Autorität von einer „höheren“ Ordnung bezieht. Von einer solchen „ethischen Wahrscheinlichkeit“ kann natürlich nur gesprochen werden, wenn Regeln oder Gesetzmäßigkeiten unterstellt werden, die sittliche Qualität des Handelns und Handlungsfolgen (bzw. langfristig das Schicksal oder Ergehen des Handelnden) miteinander verknüpfen. Aristoteles belässt es bei seinen Andeutungen, ohne schon einen dogmatisch-starren „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ im Dienst einer höheren Gerechtigkeit zu postulieren, wie wir ihn etwa aus der alttestamentlichen Weisheitsliteratur kennen und wie er im Buch Hiob problematisiert wird: Die Guten werden belohnt, die Bösen bestraft. Im Gegenteil, die angestrebte tragische Wirkung erfordert sehr viel subtilere Verknüpfungen: „Das Mitleid gilt dem, der unverdient ins Unglück gerät. Die Furcht gilt dem, der unseresgleichen ist.“ (Aristot. Poet. 13, 1453a, S. 45) Der tragische Held stürzt durch einen „Fehltritt“ (hamartia)65. Den––––––––––––– 64 „In dem Gang der Begebenheiten darf nichts vorkommen, was dem Verstand widerspricht“ (Aristot. Poet. 15, 1454b, S. 57). 65 Aristot. Poet. 13, 1453a, S. 47. Die Hiob-Geschichte, die die Verletzung des TunErgehen-Zusammenhangs zur Voraussetzung nimmt, wäre für Aristoteles keine geeignete Fabel für die Tragödie: „In dem dargestellten Schicksalswechsel dürfen einerseits nicht untadlige Leute aus Glück in Unglück stürzen, denn das ist weder furcht- noch mitleiderregend, sondern abscheulich.“ (Aristot. Poet. 13, 1452b, S. 45) Zustimmend
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noch: Die Erzählung kann durch die Konfiguration von ethos und mythos, durch die Darstellung von Personen mit bestimmten sittlichen Qualitäten, die in bestimmter Weise handeln und bestimmte Handlungsfolgen erleiden, verschiedene Ebenen oder Systeme von „Wahrscheinlichkeit“, von gesetzhaften Verknüpfungen und Ordnungen miteinander verbinden oder auch kollidieren lassen. Über ihre narrative Konfiguration fällen Erzählungen also auch narrative Urteile über die „Welt“, d. h. über das Bestehen (oder Nicht-Bestehen) bestimmter praktischer oder ethischer Ordnungsbeziehungen in der Welt, als deren „Modell“ sie fungieren. „Welt“ meint dabei (zunächst) die eigengesetzliche „Welt des Textes“, die das erzählende Werk entfaltet als die „Projektion einer bewohnbaren möglichen Welt; an sie denkt Aristoteles, wenn er den Mythos der Tragödie mit der mimƝsis der menschlichen Handlungen verknüpft“ (Ricoeur 1986, 156)66. Kern narrativer Problemverhandlungen sind narrative Konfigurationen von ethos und mythos (etwa als Geschichten von Tat und vergeltender Strafe oder von Konflikt und Entscheidung), die zum Ausgangspunkt epistemischer bzw. hermeneutischer Operationen werden (Generalisierung, metaphorische oder allegorische Übertragung) und so zu Fragen über die außertextliche Welt in Beziehung gesetzt werden und Antworten darauf anbieten können. Den Begriff der „narrativen Konfiguration“ übernehme ich von Ricoeur, der ihn im Rahmen seiner Theorie von der dreifachen mimƝsis mit dem der „Welt“ (als „Welt des Textes“ und als „Welt der Handlung“) verknüpft67. Damit sind die Pole bezeichnet, die eine „kognitive Poetik“ zusammenspannen soll: Sie soll uns Einsichten darüber vermitteln, welche Möglichkeiten die poetische, fiktionale, erzählende Sprachverwendung im Hinblick auf die kognitiven und kommunikativen Prozesse eröffnet, mittels derer wir unsere Welt und unser Handeln in der Welt zu verstehen und als sinnhaftes Ganzes zu repräsentieren versuchen. Diese Prozesse werden um so deutlicher fassbar in Momenten, wenn das vertraute Verständnis der Welt oder wichtige Aspekte davon in Frage ge––––––––––––– verteidigt Lessing (gegen Corneille) einen göttlich bestimmten Tun-ErgehenZusammenhang als unantastbar: „Der Gedanke ist an und für sich selbst gräßlich, daß es Menschen geben kann, die ohne all ihr Verschulden unglücklich sind. Die Heiden hätten diesen gräßlichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht als möglich; und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauspielen vergnügen, die ihn bestätigen? wir? die Religion und Vernunft überzeugt haben sollte, daß er ebenso unrichtig als gotteslästerlich ist?“ (G. E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 82. Stück, 613). 66 Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher (Ricoeur 1986) und Zeit und Erzählung I-III (Ricoeur 1988, 1989, 1990). 67 Ausführlicher unten Kapitel C.I.4 ab S. 284.
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stellt werden. Deshalb ist narrative Problemverhandlung ein Thema kognitiver Poetik. Problemverhandlungen versuchen Antworten auf offene Fragen. Die Argumentation hat dabei andere Möglichkeiten und Grenzen des Antwortens als die Erzählung. Erzählungen nutzen zum Antworten ihre spezifischen Mittel: Konfiguration, Perspektive, Projektion. Diese Mittel stehen im Mittelpunkt der Analysen dieser Untersuchung. 5. Poetische Wahrheit, poetische Gerechtigkeit In Plutarchs Schrift Über den späten Vollzug der göttlichen Strafe (welche ein dem „Hiobproblem“ verwandtes Problem behandelt) findet sich die folgende kurze Mitteilung: ... ein anderer Fall trug sich in Argos zu, als die eherne Statue des Mitius, der in einem Aufstande umgekommen war, auf dem Markte, während eines Schauspiels, auf den 68 Mörder des Mitius fiel und ihn erschlug.
In einen einzigen Satz zusammengefasst enthält diese kurze Passage das Grundgerüst einer einfachen Geschichte von Schuld und Sühne: eine Tat, der Tod des Täters, die Umstände dieses Todes mit deutlichem Hinweis auf die unmittelbare Verbindung beider Ereignisse (das zweite erscheint als offenbar nicht von Menschenhand herbeigeführte Strafe für das Herbeiführen des ersten). Dass diese Strafe „zur rechten Zeit und auf die gehörige Weise“ eingetreten sei, bezeugt nach Plutarch die Vernünftigkeit des göttlichen Strafhandelns. Insbesondere durch bestimmte praktisch unwahrscheinliche Korrespondenzen weisen solche Erzählungen über ihre eigene Kontingenz hinaus auf eine höhere Ordnung, die dadurch unserer Einsicht zugänglich wird. Gerade „Fabeln dieser Art“, Geschichten wie die von der Statue des Mitius, hatte auch Aristoteles in seiner Poetik als besonders wirksam hervorgehoben: Der Gegenstand der nachahmenden Handlung in der Tragödie ist nicht nur eine in sich abgeschlossene Handlung, sondern Vorgänge, die Furcht und Mitleid erregen. Die Dramen erhalten diesen Charakter vor allem dadurch, daß die Ereignisse zwar aus dem inneren Zusammenhang, aber wider Erwarten eintreten. Auf diese Weise werden sie in höherem Grade die Eigenschaft des Wunderbaren haben, mehr, als wenn sie von ungefähr und durch Zufall eintreten. Von den zufälligen Begebenheiten dieser Art setzen den Menschen diejenigen am meisten in Staunen, welche so wirken, als seien sie absichtlich herbeigeführt. So zum Beispiel die Tötung des Mörders des Mitys durch die
––––––––––––– 68 Plutarch, Über den späten Vollzug der göttlichen Strafe, § 8, S. 1715.
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Statue des Ermordeten, die ihm auf den Kopf stürzte, als er sie in Argos gerade betrachtete. Eine derartige Begebenheit macht eben den Eindruck, als ob sie nicht von ungefähr geschehen sei. Fabeln dieser Art sind notwendigerweise die schöneren. (Aristot. Poet. 9, 1452a, S. 39)
Für „Fabeln dieser Art“ sollte demnach in besonderem Maße das gelten, was Aristoteles als Vorzug der Poesie anführte: Dichtung sei „philosophischer und gehaltvoller“ als die Geschichtsschreibung, denn jene „stellt mehr das Allgemeine dar“, diese aber (nur) „das Einzelne“ (Aristot. Poet. 9, 1451b, S. 35). Von den göttlich inspirierten Gesängen Homers über Aristoteles’ Poetik bis hin zur Erzählforschung unserer Tage wird der vom Dichter gestalteten Erzählung ein privilegierter Zugang zum „Allgemeinen“, eine „Wahrheit“ eigener Art zuerkannt69. Diese „Wahrheit“ (oft in Anführungszeichen) soll keine „objektive“ sein wie die der Geschichtsschreibung oder der Naturwissenschaften, aber eben auch nicht bloß subjektiv. Offenbar ist diese „Wahrheit“ der Dichtung wesentlich auch eine Funktion von Erzählstrukturen, genauer: der Struktur fiktionaler Erzählungen, von Erzählungen, die uns „sehen lassen, was gemäß der inneren Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit möglich wäre und hätte geschehen können“ (Aristot. Poet. 9, 1451a, S. 35). Ich kann mich hier nicht auf die detaillierte Diskussion dessen einlassen, was gemeinhin seit Lessings Zeiten mit Begriffen wie dem der „poetischen Wahrheit“ bezeichnet wird70. „Nachahmung“ der Wirklichkeit oder ihr „Anderes“, „innere“ ––––––––––––– 69 Mit der griechischen Tragödie beginnt „die Phase der Literaturgeschichte, in der die poetische Fiktion sich offen als solche zu erkennen gibt und den Anspruch erhebt, zwar nicht als historische, aber doch als poetische Wahrheit zu gelten“ (vgl. Gustav Adolf Seeck, Die griechische Tragödie (2000), 165-173, Zitat S. 168). 70 „... die Gesinnungen müssen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie äußert, entsprechen; sie können also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen müssen, daß dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urteilen können. Aber auch diese poetische Wahrheit muß sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum nähern, und der Dichter muß nie so unphilosophisch denken, daß er annimmt, ein Mensch könne das Böse, um des Bösen wegen, wollen, er könne nach lasterhaften Grundsätzen handeln, das lasterhafte derselben erkennen, und doch gegen sich und andere damit prahlen.“ (Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 2. Stück) „Die poetische Wahrheit besteht aber nicht darin, daß etwas wirklich geschehen ist, sondern darin, daß es geschehen konnte, also in der innern Möglichkeit der Sache.“ (Friedrich Schiller, Über das Pathetische, 218) „Da sie [die Tragödie] aber ihren Zweck, die Rührung, nur unter der Bedingung der höchsten Übereinstimmung mit den Gesetzen der Natur zu erreichen imstande ist, so steht sie, ihrer historischen Freiheit unbeschadet, unter dem strengen Gesetz der Naturwahrheit, welche man im Gegensatz von der historischen die
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Notwendigkeit, Möglichkeit, Stimmigkeit des Dargestellten, „universelle Wahrheit“ des Exemplarischen 71, die befreite Referenz der Fiktion, die Subjektivität des Künstlers, der Schaffensprozess, die Interessen der Interpretation – zuviel geht ein in diesen Komplex von Bestimmungen, Vorstellungen und Zuschreibungen, als dass ich es hier angemessen in eine vereinheitlichende, kohärente Darstellung bringen könnte. Mich interessiert momentan nur ein bestimmter Aspekt dieser „poetischen“ Erkenntnis: der Anteil, den die narrative Struktur an dieser Erkenntnis haben kann, also sozusagen die „epistemische“ Rolle von Erzählstrukturen zwischen Kontingenz und Notwendigkeit. Unmittelbar greifbar wird der Anspruch der Erzählung, etwas über die Kontingenz des erzählten Geschehens Hinausgehendes zu bedeuten, in Textsorten wie der Fabel oder dem Exemplum, als „narrative Minimalformen, die aus minimalen systematischen Texten, nämlich Sentenzen, Maximen, ‚moralischen Lehrsätzen‘, abgeleitet sind“ (Stierle 354). Das erzählte Einzelne erhebt hier unmittelbar den Anspruch, auf Allgemeines zu verweisen. Diese Funktion hat das Erzählen auch in der Rhetorik: Als historisches oder fiktionales Beispiel (exemplum, paradeigma) liefert die Erzählung (in Anspielung auf eine bekannte Geschichte oder als narratio) ein wirksames Überzeugungsmittel. Per Analogieschluss verknüpft es das aktuelle Problem mit einer „außerhalb des eigentlichen Redegegenstandes liegende Sache“, in der ein Urteil bereits vor- oder auf der Hand liegt. Das fiktionale Beispiel bezieht als Gleichnis oder Fabel seine Wirkung aus der „allgemeine(n) Wahrheit ... die in ihm steckt und die es illustriert“, als Beispiel aus der Literatur kann es sich auf die Autorität des Dichters stützen. Die Erzählung vermag so nicht nur auf allgemeine Wahrheit zu verweisen, sondern auch diesem Verweis besondere Autorität zu verleihen. „Für Cicero ist das Beispiel überhaupt eine besonders wirkungsvolle Spielart der auctoritas, die für die Rhetorik ein wirkungsvolles Überzeugungsmittel darstellt und in der argumentatio ihren wichtigsten Platz hat. Sie führt den Beweis einer Behauptung durch Berufung auf eine Autorität, sei es eines Philosophen, Staatsmannes, einer Volksweisheit oder heiligen Schrift, und wird wie das Beispiel ‚[v]on außen her in den Fall hineingebracht‘ (Quint. V,11,36).“ (vgl. Ueding u. Steinbrink 266ff.) ––––––––––––– poetische Wahrheit nennt. So läßt sich begreifen, wie bei strenger Beobachtung der historischen Wahrheit nicht selten die poetische leiden und umgekehrt bei grober Verletzung der historischen die poetische nur um so mehr gewinnen kann“ (Schiller, Über die tragische Kunst, 166f.). 71 Kanzog 30 (zu Döblin).
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In Texten wie Plutarchs Schrift über die göttliche Strafe passiert aber noch mehr: Es findet darin ein Zusammenwirken systematischer und narrativer Textstrukturen statt, das es uns erlaubt, die Arbeit des Narrativen im Dienste der philosophischen Argumentation gewissermaßen direkt zu beobachten. Plutarchs Über den späten Vollzug der göttlichen Strafe behandelt ein theoretisches Problem, dass etwa wie folgt formuliert werden kann: Ausgangspunkt ist die noch unproblematisierte Überzeugung, dass eine göttlich garantierte sittliche Ordnung eine gerechte Vergeltung menschlichen Tuns gewährleistet. Jedoch scheint die Beobachtung, dass gewöhnlich ein schlechtes Handeln der Menschen erst lange nach der Tat seine gerechte Vergeltung erfährt, ja oft genug eine solche Tat zu Lebzeiten des Täters gar keine Vergeltung nach sich zu ziehen scheint, gegen eine vermeintliche Vernünftigkeit des göttlichen Handelns zu sprechen. Denn es muss ein Unglück, das diesen Täter endlich trifft, dann wie ein bloßer Zufall und nicht wie das Urteil des Gerichts wirken; dass die Mühlen der Götter so langsam mahlen, muss „die Gerechtigkeit verdunkeln und die Furcht vor dem Bösen verscheuchen“ (§ 3, 1701)72. Bei seiner eigentlich argumentativen Behandlung dieses Problems bedient sich Plutarch gleich in mehrfacher Hinsicht narrativer Strukturen: Zum einen wird die Argumentation durch den Verweis auf ausgewählte Geschehnisse wie den Fall der Statue des Mitius gestützt. Vor allem aber bedient sich Plutarch zur argumentativen Verhandlung des Problems einer narrativen Form: eines erzählten Dialogs, der an einen Freund namens Quintus gerichtet ist: Plutarch selbst, sein Schwiegersohn Patrocleas, sein Bruder Timon sowie ein gewisser Olympicus waren offenbar in einer Halle des Tempels zu Delphi an einen Anhänger des Epikur geraten, welcher sie mit besagtem Problem konfrontiert, sich dann aber eilends davon gemacht hatte. Sie alle wollen den epikureischen Einwurf nicht unwidersprochen hinnehmen. Patrocleas, Olympicus und Timon übernehmen nun das Ausbreiten der gegnerischen Argumente, während dem Ich-Erzähler, also Plutarch, deren Beantwortung überlassen bleibt. Schrittweise gelingt es ihm, die anderen Gesprächsteilnehmer der Haltlosigkeit dieser Argumente zu versichern: „Mir wenigstens, sprach ich, scheint es so. Ja, auch uns, versetzte Patrocleas. Ganz recht, erwiederte ich...“ (§ 7, 1711) Alle Bedenken scheinen also ausgeräumt, und ein entsprechendes „Urteil“ der Gesprächspartner sollte den Schluss der Dialogerzählung bilden. ––––––––––––– 72 Plutarch, Über den späten Vollzug der göttlichen Strafe, im Folgenden zitiert mit Angabe von Paragraph und Seite.
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Die Gesprächspartner stimmen allerdings noch nicht endgültig zu, sondern klagen zuvor noch eine von Plutarch versprochene weitere Erzählung ein, mit der dieser die Unsterblichkeit der Seele belegen will (ein in den Debatten um göttliche Gerechtigkeit naturgemäß beliebtes Motiv): „Als ich nach diesen Worten schwieg, sprach Olympicus lächelnd: wir loben dich nicht; es möchte sonst scheinen, als hielten wir die Sache für hinreichend bewiesen und erließen dir jene Erzählung; dann, wenn wir dieselbe gehört, wollen wir dir unser Urteil sagen.“ (§ 22, 1744) Mit der Erzählung über einen gewissen Thespesius, der nach einem Scheintod von seinen Erlebnissen in der Unterwelt (insbesondere seinen Begegnungen mit den unsterblichen Seelen der Verstorbenen) berichtet, endet die Schrift. Das versprochene „Urteil“ der Gesprächspartner aber bleibt aus – oder besser es bleibt implizit. Die Vollständigkeit des Textes vorausgesetzt, sollte das heißen: Der Ausgang der Problemverhandlung ist klar, die gegnerischen Argumente sind zum Schweigen gebracht. Die epikureischen Zweifel sind (vorbehaltlich der Unsicherheit allen menschlichen Wissens über das Göttliche; vgl. § 4, 1702f. sowie § 21, 1743) fürs erste widerlegt. Der Schluss des erzählten Dialogs entscheidet den Ausgang der Argumentation, und das ohne jede inhaltliche Aussage, ohne explizite Entscheidung – einfach durch das Verstummen der Gegenseite. Wir finden darin unsere Annahmen über die Funktion von Erzählstrukturen in Problemverhandlungen bestätigt: Narrative Strukturen erzeugen Bedeutung über ihre spezifische Konfiguration (hier über den Konflikt der Akteure, die je unterschiedliche Standpunkte vertreten, und den Ausgang dieses Konflikts), und sie bilden zudem Urteilsprozesse ab derart, dass die Abgeschlossenheit der Erzählstruktur der behandelten Thematik aufgeprägt wird und auf diese Weise etwa eine (potenziell unabschließbare) argumentative Verhandlung zum Stillstand kommen kann – bis auf weiteres. Wenn Plutarchs Text sich bei seiner Verhandlung eines theoretischen Problems gleichermaßen argumentativer und narrativer Strategien bedient, so ist er damit keine Ausnahme. Zu den bekannteren „Problemverhandlungen“ dieser Art gehören die Dialoge Platons, die mit ihrer Dialogform und in gewissem Sinne auch mit den eingestreuten Mythen in vergleichbarer Weise arbeiten73. 2000 Jahre später konnte auch die Tarnung eines ––––––––––––– 73 Schildknecht versucht zu zeigen, dass eine „nicht-propositionale“ Komponente in Platons Auffassung von philosophischem Wissen den Dialog als angemessene Darstellungsform bedingt (vgl. Platons Favorisierung der „Einsicht“ und seine „Schriftkritik“). Der aporetische Ausgang der sogenannten Definitionsdialoge wie des Theaitetos wiederum wäre als „indirekte Mitteilung“ eines nicht propositional Einholbaren zu lesen;
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Werkes als erzählter „Dialog“ den Autor Galilei nicht vor einem Inquisitionsprozess bewahren74. Das Buch Hiob aber ist in diesem Zusammenhang besonders interessant. Denn hier treten argumentative und narrative Problemverhandlung – die Rahmenerzählung des Buches sowie der lange, aber ergebnislose Dialog Hiobs mit seinen Freunden – zueinander in ein Spannungsverhältnis, das es erlaubt, Leistungen, Eigenheiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Strategien in den Blick zu nehmen. Was sich zunächst wie eine traditionelle Geschichte von Prüfung und Bewährung liest, wird plötzlich, durch die eindringliche Klage des ins Unglück gestürzten Hiob, zur Verhandlung der Frage nach dem Sinn des Leidens und nach der göttlichen Gerechtigkeit selber. Darüber streitet Hiob, der Betroffene, der sich unschuldig weiß, mit seinen Freunden, denen nur die offiziell geltende Erklärung des Leids als Strafe zur Verfügung steht. Der Streit bleibt ergebnislos, Argumente versagen – wer Recht behält, muss auf der Ebene der Erzählung entschieden werden. Der Schluss der Erzählung – das Urteil – ist aber durchaus mehrdeutig: Gott selbst weist Hiob zurecht und bringt ihn zum Schweigen, aber er bestätigt ihn gleichzeitig auch gegenüber den Freunden, nimmt sein Unglück von ihm und gibt ihm doppelt wieder, was er verloren hatte. Was die Freunde im Buch Hiob vertreten und was auch Erzählungen wie die über den von der Statue des Opfers erschlagenen Mörder reflektieren, ist im Prinzip die verbreitete Auffassung von der göttlichen Gerechtigkeit, die sich auch da, wo die menschliche versagt, letzten Endes der ––––––––––––– vgl. Christiane Schildknecht, Philosophische Masken (1990), 51. Auch Platons (kritisch reflektierte) Verwendung von Mythen geht, wie Rudolph beobachtet, über das Exemplarische weit hinaus: „Platons ausdrückliche Berufung auf den Mythos erfolgt dort, wo der Logos im Sinne der schlußfolgernden Rede an seine selbstgesetzten Grenzen stößt.“ Der Mythos ist bei Platon „ein Redetyp, der mit dem Anspruch der der Wahrheit angemessenen Rede (Timaios 29d) und in diesem Sinne der verantwortbaren Unzulänglichkeit der Bildersprache auftreten kann.“ (Ernst Rudolph, „Mythos – Logos – Dogma“ (1990), 62f.) Zur Verwendung literarischer Formen in der Philosophie siehe auch Gottfried Gabriel, Zwischen Logik und Literatur (1991) und den Sammelband Gabriel u. Schildknecht (Hg.), Literarische Formen der Philosophie (1990). 74 „Dialog über die hauptsächlichen Weltsysteme“ (1632) zwischen Galileis Sprachrohr Salviati, dem Peripatetiker Simplicio als Vertreter der aristotelischen Tradition und dem „Moderator“ Sagredo. Das narrative Urteil fällt hier aus naheliegenden Gründen nicht ganz eindeutig aus: Zwar konzediert Simplicio, dass Salviatis Gedanken überzeugend sind, aber er muss sie deshalb noch nicht für bewiesen halten, weil Gottes Allmacht und Weisheit nicht durch menschliche Konstruktionen beschränkt werden dürften (das Lieblingsargument des Kardinals Barberini, seit 1623 Papst Urban VIII.). Salviati aber hat zumindest das letzte Wort. Vgl. Albrecht Fölsing, Galileo Galilei (1996), 397.
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bösen und guten Taten der Menschen annehmen wird. In ihrer narrativen Struktur wiederum variieren diese Erzählungen ein vertrautes Prinzip poetischer Gerechtigkeit. “Poetic Justice” soll, wie Thomas Rymer, der Erfinder des Begriffes, Ende des 17. Jahrhunderts meinte, in der idealen Welt erzählender (tragischer) Dichtung für die angemessene Verteilung irdischer Belohnung und Strafe in Relation zu Tugenden und Sünden der handelnden Charaktere sorgen. Damit solche Fabeln poetischer Gerechtigkeit ihre Wirkung entfalten können, muss ihre innere Ordnung zu einer äußeren in Beziehung gesetzt werden: sie werden etwa als exemplarische, utopische, ironische Bezugnahme auf die „Realität“ gelesen und als solche ihrer narrativen Kontingenz entledigt. Sie können so auch die Ideologie einer „sittlichen Weltordnung“ bestätigen, in Frage stellen, oder gegen Infragestellungen verteidigen. Ein vergleichbares Prinzip eines mehr oder weniger strikten „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“, allerdings ausdrücklich nicht als bloß poetologische Norm, sondern als narrative Repräsentation eines als gültig angenommenen allgemeinen Vergeltungsschemas betrachtet, findet sich in Ägypten, Griechenland und in der Bibel ebenso wie in der Literatur der Neuzeit. Das Buch Hiob im Alten Testament ist historisch betrachtet das Zeugnis einer ideologischen Krise, einer Erschütterung gerade dieser Weltanschauung: In die Krise geraten ist gerade die vorher unbezweifelte Überzeugung von der Geltung eines göttlich garantierten Zusammenhanges von Tun und Ergehen, der Glaube an eine vertraute sittliche Ordnung, an ein dem Menschen begreifliches Gottesbild mit klaren Konsequenzen für menschliches Verhalten. Diese Problematik des Buches – das Leiden des Unschuldigen, das „Hiobproblem“ – wird also einerseits, in der Erzählung des Geschehens, narrativ verhandelt; in einem in den Prosarahmen des Buches eingeschobenen, in Versen gehaltenen Dialogteil mit mehreren Redegängen wird jedoch daneben auch ihre argumentative Verhandlung durchgespielt. Die große Wirkung und umfangreiche Rezeption des Buches bis heute kann als eine Fortschreibung der Problemverhandlung im biblischen Original verstanden werden kann – und zwar sowohl in rein literarischen Bearbeitungen des Hiobbuches als auch in argumentierenden Texten etwa in der Philosophie. Zu den Autoren, die sich mit Hiob beschäftigten, gehören Herder, Goethe, Kant, Shaw, Polgar, Döblin, Goll, Nelly Sachs, Claudel, C. G. Jung oder Ernst Bloch. Es existieren allein über 60 dramatische Hiob-Bearbeitungen aus dem 20. Jahrhundert (darunter auch eine des damals 20jährigen Karel Wojtyla, des späteren Papst Johannes Paul II.). Diese ungeheure Wirkung des Buches verweist auf sein Problempotenzial. Sie bliebe aber unverständlich, wenn
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narrative Problemverhandlung sich nur auf die beiden Aspekte narrativer Bedeutung stützen würde, die zuletzt anhand des Plutarch-Dialogs thematisiert wurden: Konfiguration und narratives Urteilen im Strukturmoment der Abgeschlossenheit. Erst die Einbeziehung der narrativen Perspektivenvermittlung kann berücksichtigen, wie radikal Hiobs Klage den Charakter einer eher theoretischen, „objektiven“ Verhandlung des Hiobproblems verändert75. Das Hiobbuch und seine Rezeption, die zunehmend das leidende, klagende, duldende oder rebellierende Subjekt in den Mittelpunkt stellt, führen besonders deutlich vor Augen, wie narrative Strukturen eine Fokusverschiebung vom Ganzen der narrativen Konfiguration auf einzelne narrative Subjekte möglich machen. Der damit eröffnete Perspektivenwechsel zwischen der „subjektiven“ Perspektive des Beteiligten und Betroffenen („von innen“) und der „objektiven“ Perspektive des Unbeteiligten, des Beobachters, der („von außen“) dem Geschehen Sinn verleiht, erlaubt eine Mehrfachperspektivik, die anderen Diskursformen wohl nicht ohne weiteres zugänglich ist. Damit tritt zusätzlich zur autoritativen Überschreitung (oder auch Verschleierung) der narrativen Kontingenz in Richtung auf das Allgemeine auch die umgekehrte Rettung der Kontingenz gegen das Allgemeine als spezifische Möglichkeit des Narrativen in den Blick. Für die Probleme wiederum, die in einem narrativen Text verhandelt werden, bedeutet das, dass sie sowohl theoretischer als auch (und gleichzeitig) praktisch-existenzieller Art sein können. Daher ist das Hiobbuch in seiner heutigen Textgestalt ein für die Untersuchung narrativer Problemverhandlung geradezu prädestinierter Gegenstand. Denn nicht nur vereinigt das Buch mit Rahmenerzählung und den Redegängen zwischen Hiob und seinen Freunden bereits Erzählung und argumentierende Streitrede in einem einzigen Text. Es sind auch darin existenzielle und theoretische Fragen ineinander verschlungen, die auf eine Lösung drängen und doch vielleicht unabschließbar sind, und diese komplexe Problemkonstellation macht das Nebeneinander von argumentativer und narrativer Struktur in besonderer Weise signifikant: Wie gehören im Hiobbuch die Erzählung und die Reden zusammen? ... Es ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem existentiellen „Fall Hiob“, der Geschichte dieses einen Hiob, seinem Leiden und dem Ende seines Leidens, auf der einen Seite und dem „Hiobproblem“, der kognitiv-lehrhaften Ebene des Hiobbuches, auf der anderen Seite. Es ist über Hiob und seine Geschichte hinaus die Frage nach dem Zusam-
––––––––––––– 75 Vgl. dazu auch unten Kap. B.I.1 ab S. 105 zur Entstehung des Hiobbuches aus einer „weisheitlichen“ Hioberzählung, die lehrhaft, aus der Außen-Perspektive des Wissenden erzählt.
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Erzählen und Problemlösen menhang von Leben und Lehre, von Erfahrung und Theologie und – anders akzentuiert – die Frage des Einzelnen zum Allgemeinen. Der „Fall Hiob“ ist mit der erzählten Geschichte an ein Ende gebracht. Hiob wurde wiederhergestellt, er starb „alt und lebenssatt“. Das „Hiobproblem“ aber als Frage, wie es mit dem Glauben an Gott vereinbar sei, daß vor und mit und nach Hiob Menschen leiden wie Hiob, daß es das Leiden Unschuldiger gibt, muß offenbleiben, solange Menschen leiden wie Hiob. Wie verhält sich die zu Ende erzählte Geschichte zu dem 76 offenbleibenden Problem?
Ebach möchte beides, die zu Ende erzählte Geschichte und das offenbleibende Problem, gerade nicht gegeneinander ausspielen; denn „das ‚Hiobproblem‘ muß offen bleiben, wie die Erde Hiobs Schreien nicht bedecken soll (16,18)“, aber ebenso „schreit der ‚Fall Hiob‘ nach seinem Ende“ (Ebach 1996 I, 161). Dennoch hat man, wie wir sehen werden, immer wieder versucht, den Fall Hiob eben doch endgültig abzuschließen. Gerade Texte über Hiob sind immer wieder geleitet von einem spezifischen Erkenntnisinteresse, das narrative Strategien der Problembehandlung erzwingt: Denn das Wissen, um das gerungen wird, entzieht sich oft genug argumentativem Zugriff, ist mit Kategorien nur unvollkommen fassbar; das Problem aber ist zu dringlich präsent, als dass man leichten Herzens auf Lösungsversuche verzichten könnte. Es kann nicht überraschen, dass man sich dabei auch der notwendigen Eigenschaft von Geschichten bedient, etwas zu Ende zu erzählen.
––––––––––––– 76 Jürgen Ebach, Streiten mit Gott.Hiob (1996), I, S. XI. Der Einzel-Fall Hiobs ist sogar, wie Maag meint „geradezu zum Grenzfall stilisiert worden, weil nur an einer solchen Konstruktion das Problem gültig vorgeführt werden konnte“ (Victor Maag, Hiob (1982), S. 9 Anm. 1). Als Grenzfall aber, so wird sich zeigen, kann er allgemeinen Problemlösungen nicht bruchlos subsummiert werden.
II. Räume und Wege: Strukturen des Problemlösens 1. Was ist ein Problem? Unsere Konzentration auf Problemverhandlungen im und mit dem Buch Hiob erfordert einen präzisierten „Problem“-Begriff, der eine Beschreibung narrativer und argumentativer Problemverhandlungen erlaubt und mit dem (existenziellen und theoretischen) Problemgehalt des biblischen Buches und seiner Wiederaufnahmen vereinbar ist. In der Literatur zu Hiob wird ja fast immer mit großer Selbstverständlichkeit vom „Hiobproblem“ gesprochen1. Dabei sollte es sich genau um das handeln, was uns interessiert: ein zugleich individuelles und allgemeines Problem, das sowohl argumentativ als auch narrativ verhandelt werden kann2. In einem ersten Schritt können wir uns am Schema von Frage und Antwort orientieren: Lösungen verhalten sich zu Problemen wie Antworten zu Fragen. Für ein Problem kann es verschiedene konkurrierende Lösungsversuche geben, auf eine Frage verschiedene Antworten. Wenn wir Problemlösungsversuche als mögliche Antworten auf das Eintreten einer Problemsituation betrachten, kann eine Auseinandersetzung um die „richtige“ Antwort als Problemverhandlung aufgefasst werden. Auch das Hiobbuch stellt eine Menge Fragen, „theoretische“ wie die nach Grund oder Sinn des Leidens und praktische etwa nach dem Umgang damit, dem „rechten Verhalten im Leid“ (vgl. unten ab S. 152). Die Antworten, um die Hiob und seine Freunde ringen, betreffen zentrale Konzepte ihres Weltbildes: Gottes Güte und Gerechtigkeit, seine Nähe oder Ferne, die herrschende Weltordnung. Ihre gegensätzlichen Antworten sind unvereinbar, eine Entscheidung aber ist ihnen unmöglich. Erst die Antwort Gottes löst das Problem, das praktische wie das theoretische. Unser Problembegriff umfasst also sowohl „theoretische“ als auch „existenzielle“ Fragen und kann nicht auf den einer mit Verstandesopera––––––––––––– 1 Siehe z. B. Hans-Peter Müllers Forschungsbericht Das Hiobproblem. Seine Stellung und Entstehung im Alten Orient und im Alten Testament (1988); mehr Belege unten Anm. 8 auf S. 159. 2 Die weitere Untersuchung wird allerdings zeigen, dass die Frage, was genau das „Hiobproblem“ sein soll, nicht ganz leicht zu beantworten ist (unten ab S. 151).
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tionen eindeutig lösbaren Aufgabenstellung reduziert werden. Als „Problem“ können wir zunächst ganz allgemein das Vorliegen einer Situation bezeichnen, in welcher für die Erreichung eines wünschenswerten Zieles kein bekanntes Handlungsmuster verfügbar ist. Ein solcher Problembegriff umgreift den ganzen Raum menschlichen Handelns, von dem „theoretische“ Probleme nur eine kleine Teilmenge bilden3. Ich favorisiere dabei ein Problemverständnis, wie es auch in psychologischen und kognitionswissenschaftlichen Untersuchungen des Problemlösens gebräuchlich ist. Ausgangspunkt ist das Eintreten einer Problemsituation, das heißt zunächst ganz allgemein eines unerwünschten Zustandes. Diese Formulierung lässt offen, wie konkret bereits ein erwünschter Zielzustand definiert ist. In unserem Zusammenhang narrativen Problemlösens gehe ich davon aus, dass diese Problemsituation gemeinhin durch ein Ereignis herbeigeführt wird: Das kann ein Geschehen sein, das jemandem zustößt, aber auch das Auftreten einer bedrängenden Frage, die beantwortet und gelöst werden will. Durch dieses Ereignis wird ein vor dem Auftauchen des Problems bestehender stabiler Zustand gestört. Die eintretende Problemsituation fordert gewissermaßen eine Antwort auf das Ereignis, welche zu einem neuen stabilen Zustand, dem erwünschten Zielzustand, führen kann. Diese Antwort, also die Problemlösung, besteht aus einer Reihe von Operationen, die von der Art des Problems abhängen. Dazu gehören z. B. Handlungen bei lebenspraktischen Problemen, die Anwendung von Denkstrategien (induktiv, deduktiv, analogiebasiert, kombinatorisch usf.) bei kognitiven bzw. „theoretischen“ Problemen, oder auch Argumente, die als Sprechakte theoretische und praktische Aspekte vereinen. Damit tatsächlich von einem „Problem“ gesprochen werden kann, muss die Erreichung des gewünschten Zielzustandes schwierig sein. Diese Schwierigkeit könnte darin bestehen, dass die nötigen Operationen bekannt, aber schwer auszuführen sind, oder auch darin, dass eine Aufeinanderfolge von Operationen, die zu dem gewünschten Zielzustand führt,
––––––––––––– 3 Die Wurzel des Wortes als „Vorgelegtes“ verweist dagegen eher auf diese theoretische Dimension. „Problem“ ist eine „Übernahme von lat. problƝma, griech. próblƝma (πρóβλημα) ‚Hindernis, Schwierigkeit, gestellte (wissenschaftliche) Aufgabe, vorgelegte Streitfrage‘, eigentl. ‚das Vorgelegte‘, zu griech. probállein (προβáλλειν) ‚vor-, hinwerfen, (eine Aufgabe) vorlegen, zur Besprechung vortragen‘...“ (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen in drei Bänden, Berlin 1989, Bd. 2, S. 1321f.).
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erst noch gefunden werden muss. Ersteres will ich hier eine „Aufgabe“ nennen und nur letzteres als „Problem“ bezeichnen4. Eine narrative Verhandlung von Problemen kann sich zuallererst der Darstellung von Problemlösungen durch Protagonisten bedienen. Wie schon erwähnt, werden als problem-solving stories solche (z. B. traditionellen) Geschichten bezeichnet, die einen goal path enthalten, also Versuche von Protagonisten, ein Ziel zu erreichen (goal, attempt), sowie das Resultat dieser Versuche (outcome)5. In solchen Erzählungen löst das (oft – wie bei Hiob – plötzliche, schockartige) Eintreten einer bestimmten Situation eine Reaktion aus: Die Situation verlangt, ja erzwingt eine angemessene Antwort des Protagonisten, sie verlangt ein Handeln gemäß einer Zielsetzung6. Auch zu der existenziellen Dimension des „Hiobproblems“ gehört auf Seiten Hiobs zweifellos zuerst die Notwendigkeit, angemessen auf die eingetretene Situation zu reagieren: Wie soll er mit seinem Leid „fertig werden“? Soll er klaglos erdulden oder klagen, soll er Gott fluchen, soll er Gott bitten, soll er aufbegehren und anklagen? Die Wiederherstellung am Ende der Geschichte bestätigt dann sein Verhalten als gültige Problemlösung. Das Problem und seine Lösung sind also in solchen Erzählungen in der eintretenden Problemsituation, dem reagierenden Handeln des Protagonisten und der abschließenden narrativen Bewertung dieser Reaktion – dem Urteil der Geschichte – kodiert. Indem die Antwort des Protagonisten bewertet wird, antwortet gewissermaßen auch die Erzählung selbst, sie nimmt Stellung, gibt eine narrative Antwort auf das in ihr verhandelte Problem. Auch wenn nicht jede Geschichte explizit die ––––––––––––– 4 Vgl. zum „Problem“-Begriff v. a. Dietrich Dörner, Problemlösen als Informationsverarbeitung (31987), 10. 5 Der Begriff problem-solving stories stammt von Rumelhart. Den Untersuchungen der Kognitionswissenschaftlerin Jean M. Mandler zufolge enthält das abstrakte StorySchema solcher Erzählungen Episoden mit dem Aufbau: “Beginning – Complex Reaction [=Simple Reaction + Goal] – Attempt – Outcome – Ending” (Mandler 24; zur complex reaction vergl. Anm. 6, zu Mandlers Schematheorie ausführlicher ab S. 75). 6 Vgl. Vladimir Propps Beobachtung, dass in den von ihm analysierten Volksmärchen stets zuerst ein Zustand relativen Gleichgewichts gebrochen wird und ein Mangel oder ähnlich motiviertes Bedürfnis den Helden zu intentionalen Handlungen bewegt, die endlich zu einem neuen Gleichgewicht führen. Mandler betrachtet eine solche zielgerichtete complex reaction als typischen Bestandteil von Episoden in einer story grammar traditioneller Geschichten: “... the protagonist reacts in some way to the events of the beginning. Occasionally this response is merely a simple reaction (anger, fear, or some other emotion) that causes the protagonist to perform some action. More typically, however, a complex reaction occurs; that is, the simple reaction causes the protagonist to set up a goal to do something about the beginning event(s)” (Mandler 22).
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Form „Problem – Komplikation – Lösung“ aufweist, ist es nicht unüblich, ganz allgemein von der „Lösung“ oder „Auflösung“ einer Geschichte zu sprechen, wie sie in der Regel im Ende der Geschichte erscheint. “... it is the function of endings in general to bring at least some resolution to the problems the story has raised.” (Randall 95) Diese grundsätzliche Abfolge in „problem-solving stories“: Eintreten der Problemsituation – zielgerichtete Reaktion des Protagonisten – narrative Bewertung der Reaktion (Erfolg oder Misserfolg) ist kompatibel zu psychologischen Beschreibungen des Problemlösens: Die Hauptphasen des (kognitiv-analytischen) Problemlösens werden häufig in etwa folgender Weise beschrieben: 1. Bestimmung des Zieles 2. Analyse der Ausgangssituation und Aufbau einer mentalen Repräsentation, eines Situationsmodells 3. Bestimmung der Lösungsstrategie und Planung von Lösungsschritten 4. Ausführen des Lösungsplans, begleitende Kontrolle und ggf. Modifizierung der Lösung 5. Evaluation der Lösung7. Im Interesse der Anwendbarkeit auch auf praktische Probleme soll nicht gefordert werden, dass Zielzustand und mentales Situationsmodell den Problemlösern immer in demselben Maße und in vergleichbarer Detailliertheit explizit bewusst sein müssen, wie es für eine explizite Modellierung nach mathematischen Vorbild nötig wäre. Vergleichbares gilt für die Schritte 3 und 4, die ich zusammenfassen werde, denn ihre Differenzierung hängt von der Art des Problems und den Fähigkeiten der Problemlöser ab, und unsere Bestimmungen sollen auch ein weniger strategisches Vorgehen, etwa Problemlösungsversuche durch Versuch und Irrtum, ab––––––––––––– 7 Vgl. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin / OECD-PISA, Dokument zur Erhebung fachübergreifender Problemlösekompetenzen in PISA (nationale Erweiterung der PISA-Konzeption für Deutschland): http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/ Problemloesen.pdf; 2001, S. 4, in Anlehnung an Pólya 1945. Pólyas für mathematisches Problemlösen entwickelte Konzeption ist auch für kognitiv-analytisches Problemlösen außerhalb der Mathematik anwendbar, muss aber natürlich für praktische Probleme modifiziert werden. Es geht dabei aber ausdrücklich nicht um eine empirische Beschreibung von Problemlösungsprozessen, sondern ein heuristisches Modell zur Vorstrukturierung solcher Prozesse.
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bilden können. Ich bezeichne deshalb für unsere Zwecke die grundlegenden Phasen des Problemlösens wie folgt: 1. Bestimmung eines Ziels 2. Repräsentation der Ausgangssituation (im Hinblick auf ausgewählte problemrelevante Aspekte) 3. Problemlösungsversuch 4. Bewertung8 des Problemlösungsversuches. Diese Phasen können, sinngemäß und in veränderter Reihenfolge, auch in problem-solving stories identifiziert werden, wobei einzelne Aspekte implizit bleiben können. Das Ziel (1.) wird in der Regel mit dem vom Protagonisten etablierten goal zusammenfallen oder zusammenhängen; die Ausgangssituation (2.) ist hauptsächlich in der Beschreibung der eingetretenen Problemsituation gegeben und kann im Laufe der Erzählung durch weitere Informationen ergänzt werden; (3.) entspricht dem erzählten zielgerichteten Handeln des Protagonisten im attempt und (4.) dem outcome, der narrativen Bewertung. In einfachen problem-solving stories ist offenbar das Problem eines des Protagonisten und wird von ihm selbst gelöst. Die Geschichte beschreibt und bewertet die Problemlösung lediglich. Liegt allerdings die Problemlösung nicht vollständig in der Macht des Protagonisten bzw. ist die Auflösung seines Problems, das erzählte Resultat seines Handelns, nicht eine sehr wahrscheinliche oder notwendige Folge dieses Handelns (nach den Regeln der praktischen Wahrscheinlichkeit), dann kommt ihm die Problemlösung von der Geschichte selber zu, ist also tatsächlich als narrative Problemlösung zu verstehen. Das individuelle und praktische Problem des Protagonisten mitsamt seiner (narrativen) Lösung lässt sich unter bestimmten Bedingungen zu allgemeinen, gar „theoretischen“ Problemkonstellationen in Beziehung setzen. So steht im Hiobbuch der Protagonist exemplarisch für den un––––––––––––– 8 Dörner konzipiert den Problemlöseprozess als Verbindung von „Veränderungsprozessen“ und „Prüfprozessen“, formalisierbar etwa als TOTE-Einheiten (Test-Operate-TestExit; Dörner 39ff.). Zu „Prüfprozessen“ bei Lösungsversuchen „dialektischer“ Probleme – also solcher Probleme, bei denen die Kriterien der Beurteilung eines Zustandes als Zielzustand erst mit der Konstruktion dieses Zielzustandes entstehen, die Lösung also in einem dialektischen Prozess gefunden wird (13) – siehe Dörner 97-99. Ich nehme an, dass die uns interessierenden Probleme – Hiobproblem und Theodizeeproblem – solche „dialektischen“ Probleme sind.
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schuldig leidenden Menschen, das erzählte Einzelne exemplarisch für ein Allgemeines. Schon die der Rahmenerzählung des Hiobbuches zugrunde liegende Legende ist von ihrem Typus her auf die Bestätigung des moralischen Systems angelegt (zu solchen „weisheitlichen Lehrerzählungen“ siehe unten ab S. 175). Während der Lektüre stellen sich Fragen wie „Wird Hiob sich richtig verhalten, wird er sich also bewähren?“, und die narrative Bewertung bestätigt als Belohnung sein Verhalten. Insofern ist die Hioberzählung eine problem-solving story mit ungewöhnlichem goal: angesichts unverstandenen Leides das „Richtige“ zu tun. Ziel ist auch für ihn außerdem die Reduzierung kognitiver Dissonanz (s. Anm. 36 auf S. 86): Zum „Problem“ Hiobs gehört auch das Bedürfnis nach Antworten – Antworten, die erklären, die trösten, die ihm das Gefühl des Aufgehobenseins, des Zuhauseseins „in der Welt“ wiedergeben. Und das verweist bereits direkt auf eine theoretische Dimension von Hiobs Problem: den Widerspruch seiner Erfahrung unschuldigen Leidens mit dem allgemein gültigen „weisheitlichen“ Dogma des göttlich garantierten Tun-Ergehen-Zusammenhangs, an den auch Hiob zuvor geglaubt hatte. Denn durch das Einfügen des Hiob-Dialogs in die Rahmenerzählung ändert sich die Problemstellung: Es geht jetzt nicht mehr nur um Bewährung, um die Bestätigung eines Verhaltens in Bezug auf eine unzweifelhaft als gültig vorausgesetzte Ordnung. Diese Ordnung selbst, der Glaube an die göttliche Gerechtigkeit, wird plötzlich radikal in Frage gestellt. Wenn Hiobs Erfahrung das Dogma widerlegt, zerstört sie ein ehemals stabiles System der Welterklärung. Das „Problematische“ in den verschiedenen Erzählschichten des Hiobbuches zielt daher jeweils auf Fragen nach der „richtigen“ Weltsicht angesichts extremer dissonanter Erfahrungen. Wie aber können solche Probleme narrativ verhandelt werden? Ihre argumentative Verhandlung ist uns vertraut: Behauptungen über die „wahre“ Ordnung werden vorgebracht, begründet, bezweifelt, verteidigt, aufgegeben. Der Hiobdialog selbst führt ja eine solche argumentative Problemverhandlung vor. Diese allerdings bleibt ergebnislos: Es gelingt nicht, auf argumentativem Weg die Zweifel an der Weltordnung zu beseitigen. Fragen wie die von Hiob (oder von den Zeitzeugen des Erdbebens von Lissabon) haben offenbar das Argumentieren immer schon an seine Grenzen getrieben. Im Hiobbuch überwindet das Erzählen die Beschränkungen des Argumentierens angesichts von Fragen, die weder befriedigend beantwortet noch suspendiert werden können. In den einzelnen Textschichten des Hiobbuches werden jeweils verschiedene Alternativen verhandelt: Klaglos
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dulden oder von Gott abfallen? JHWH oder Satan? Das Dogma der Freunde oder der souveräne, an kein Dogma gebundene Gott? Das Ende der Erzählung entscheidet darüber, welche Alternative „richtig“ ist. Die narrative Bewertung der Lösungsvorschläge stellt den Bezug zu außertextuellen Werte- und Ordnungssystemen her. Sie fällt ein narratives Urteil über die Welt – auch dort, wo Argumente versagen. 2. Räume und Wege a) Räume Um die Andeutungen am Ende des letzten Abschnitts in einer vergleichenden Analyse narrativer und argumentativer Problemverhandlung zu untermauern, müssen wir Probleme und Problemlösungen strukturiert beschreiben können. Ich will dafür auf eine in der kognitiven Psychologie populäre Konzeption zurückgreifen, die modelliert, wie Problemlöser intern ein zu lösendes Problem repräsentieren (und sich dabei ebenfalls einer räumlichen Metaphorik bedient) – die Konzeption des sogenannten „Problemraums“9. Bei der Definition eines Problems können drei Komponenten unterschieden werden: ein „unerwünschter“ Ist- oder Ausgangszustand (sa), ein „erwünschter“ Soll- oder Zielzustand (sz) und eine „Barriere“, die der Transformation von s a in sz entgegensteht (vgl. Dörner 10). Die „Barriere“ drückt gerade aus, dass der Weg zum Zielzustand nicht einfach abrufbar ist, also keine Handlungsmuster für die Erreichung von sz zur Verfügung stehen. Die Lösungssuche findet innerhalb des sogenannten „Problemraumes“ (problem space) statt, der durch entsprechende (mentale) Repräsentationen von Ausgangszustand s a, Zielzustand sz und verfügbaren „Operatoren“ zur Überführung von s a in sz (über mögliche Zwischenzustände) aufgespannt wird10. (Ich werde hier von „Transforma––––––––––––– 9 Zum Folgenden vgl. vor allem Dörner 31987 und Newell u. Simon, Human Problem Solving (1972). Die Konzeption des Problemraums findet sich meines Wissens zuerst bei Friedhart Klix, Information und Verhalten (1971), aber Allan Newell u. Herbert A. Simon lieferten die klassische Beschreibung, die Grundlage für viele Forschungen zur Künstlichen Intelligenz wurde. Dörner spricht in Anlehnung an Klix vom „Suchraum“. 10 “Problem solutions in most domains are defined by (1) characteristics of a terminal state, (2) an initial state, (3) conditions on the admissible transformations from one state into another, and sometimes (4) characteristics of the intermediate states.” (Newell u. Simon 76) Für eine exakte Definition des Problemraums vgl. Newell u. Simon 810. Newell u. Simon streben eine Beschreibung informationsverarbeitender Prozesse an, die hinreichend exakt ist, um diese maschinell implementieren zu können. Ein Anwen-
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tionen“ t1...tn sprechen.) Dabei gelten einschränkende Bedingungen oder Verwendungsregeln R, nach denen nur bestimmte Operatoren bzw. Transformationen zulässig sind. Im Prozess der Problemlösung können Teilziele gesetzt werden, deren Erreichen die Differenz oder den Abstand zum Zielzustand immer mehr verringert. Diese Bestimmungen sind natürlich nur sinnvoll relativ zu einem oder mehreren Subjekten, deren Interessen, Fähigkeiten und Wünsche in Bezug auf eine aktuelle Situation erst das Bestehen eines Problems konstituieren. Diese subjektiven Interessen und Wünsche bestimmen Zustände als unerwünschte oder gewünschte, die subjektiv vorhandenen Fähigkeiten bestimmen mit, ob das Erreichen eines gewünschten Zustandes ein (lösbares) Problem darstellt. Alternativ kann der Problemraum auch als die Gesamtheit aller darin möglichen, d. h. durch regelkonforme Operationen erzeugbaren Zustände „zwischen“ Ausgangs- und Zielzustand beschrieben werden. Diese Auffassung des Problemraums als Menge von Zuständen (des problematischen Ausgangszustandes und aller gemäß der geltenden Transformationsregeln möglichen weiteren Zustände, unter denen bei lösbaren Problemen ein oder mehrere Zielzustände sein sollten) ist der zuerst beschriebenen Problemraum-Konzeption äquivalent 11. Problemräume sind interne Repräsentationen eines Problems und damit nicht unveränderlich durch dieses festgelegt. Verschiedene Subjekte repräsentieren vielleicht ein und dasselbe gegebene Problem in ganz verschiedenen Problemräumen, und einmal erzeugte Problemräume können während des Problemlösens sich ändern oder modifiziert werden12. Im Idealfall erlaubt das Problemraumkonzept eine präzise Beschreibung von Problemen einschließlich der Einschätzung, wie gut oder schlecht ein Problem definiert ist: Sind Ausgangs- und Zielzustand vollständig bzw. hinreichend beschrieben? Sind alle verfügbaren Operationen ––––––––––––– dungsbeispiel des Konzepts ist die kognitive Architektur SOAR (State, Operator, and Result), entwickelt Anfang der 80er Jahre von Allen Newell, John Laird und Paul Rosenbloom. SOAR umfasst elementare kognitive Prinzipien des Wissenserwerbs und Problemlösens und soll die Entwicklung „intelligenter Agenten“ ermöglichen. Vgl. die SOAR-Homepage der University of Michigan (sitemaker.umich.edu/soar); die aktuelle Version, z. Z. (Sept. 2007) SOAR Suite 8.6.3, steht dort zum Download bereit. 11 Diese Äquivalenz ist eine Idealisierung. Rule space und instance space realer Problemlöser dürften tatsächlich abhängig von Zielstellung, Abstraktion und generellem Verständnis (model space) des Problems sein (vgl. Burns und Vollmeyer 629). 12 Vgl. Newell u. Simon 85 und 809. Eine solche Modifizierung bzw. Erweiterung des Problemraums werden wir auch bei der Anwendung narrativer Strategien in argumentierenden Problemverhandlungen finden.
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und geltenden Regeln bekannt? Die Termini der Problemraumkonzeption sind abstrakt genug, dass dadurch ganz unterschiedliche Problemarten beschrieben werden können. Es zeichnen sich hier auch schon Möglichkeiten ab, Problemräume zu argumentativen oder narrativen Strukturen in Beziehung zu setzen. So weist offenbar schon die Beschreibung der Bewegung eines Subjekts von einem Ausgangs- zu einem Zielzustand selbst eine narrative Struktur auf. Transformationen von Zuständen beschreiben nicht nur die Problemlösebewegung, sondern auch den Fortgang einer Erzählung als Ereignisverkettung, die wesentlich durch Zustandsveränderungen – „Transformationen“ 13 – charakterisiert ist. Ein argumentierender Text wiederum kann unter bestimmten Bedingungen als ein Problemlösungsvorschlag analysiert werden, der ausgehend von akzeptierten Bestimmungen (die Bestandteil der Ausgangssituation sind) gemäß akzeptierter Regeln (z. B. der logischen Ableitung) zu einer Zustandsbeschreibung gelangt und die Identität dieser Zustandsbeschreibung mit der Beschreibung des Zielzustandes behauptet. Während allerdings narrative Strukturen das Erreichen des Zielzustandes setzen – erzählen – können, bleibt argumentativen Strukturen die abschließende Bewertung der Problemlösungsvorschläge (Schritt 4 unserer Aufzählung) äußerlich. Ich werde auf diese Einzelheiten in den Kapiteln zu argumentativer bzw. narrativer Problemverhandlung zurückkommen. Die Problemraumkonzeption wurde zur Untersuchung des Problemlösens entwickelt. Dieses ist gekennzeichnet durch ein Subjekt der Problemlösung, welches sich, metaphorisch gesprochen, „durch“ den Problemraum „bewegt“. Beim Problemlösen ist in erster Linie relevant, dass und wie das Problem gelöst wurde. Eine Problemverhandlung kann dagegen erst einsetzen, wenn verschiedene gegebene Problemlösungen bzw. Problemlösungsvorschläge bewertet (also bestätigt, in Frage gestellt oder mit alternativen Lösungen konfrontiert) werden. Problemverhandlungen erfordern also komplexere Strukturen als reine Problemlösungen. Im Rahmen der Problemraum-Metapher kann von den alternativen Problemlösungsvorschlägen als von mehreren Subjekten gesprochen werden, die um die Bestätigung der Problemlösung konkurrieren (als ein Paradigma für ––––––––––––– 13 Die reine Sukzession von „Fakten“, so Todorov, konstituiert noch keine Erzählung. Diese Fakten müssen „organisiert“ sein, das heißt, die aufeinanderfolgenden Elemente müssen etwas gemeinsam haben, sich aber in anderer Hinsicht unterscheiden: “Now, transformation represents precisely a synthesis of differences and resemblance, it links two facts without their being able to be identified” (Tzvetan Todorov, The Poetics of Prose, Oxford 1977, 233; zitiert nach Michael Toolan, Narrative (1988), 7).
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diese Struktur von Problemverhandlungen kann das RECHTSSTREITSchema dienen). Ich werde von jetzt an nur dann von „Problemverhandlung“ sprechen, wenn diese Bedingung mehrerer konkurrierender Lösungsalternativen gegeben ist. b) Wege Setzt man Turners konzeptuelle Metapher SOLVING A PROBLEM IS JOURNEYING TO A DESTINATION zu dem Konzept des „Problemraum“ zu in Beziehung, wäre die Suche nach der Problemlösung die Suche eines Subjektes nach dem „Weg“, der vom aktuellen Zustand „durch“ den Problemraum hindurch zum Zielzustand „führt“14. Die Literatur zum Problemlösen bedient sich tatsächlich regelmäßig räumlicher Metaphorik. “Speaking in general terms, problem solving is concerned with finding paths from initial states to desired states.” (Newell u. Simon 828) Zimbardo vergleicht den Problemraum mit einem „Labyrinth“ (Zimbardo 376), und auch Dörner begreift Problemlösen als „Prozeß des Auffindens eines Weges in einem Labyrinth möglicher Wege“ (Dörner 17). Die Bestandteile des Problemraums aber sind letztlich Wissenselemente; der Problemraum ist also, um eine verwandte Metapher zu bemühen, ein Ausschnitt aus der konzeptuellen Landkarte unserer Weltrepräsentationen15. (Aporien sind „Weglosigkeiten“ des Denkens.) Die Wahl narrativer anstelle argumentativer Strategien schafft einen veränderten, einen neu konfigurierten Problemraum; neue Regeln werden verfügbar, neue Wege eröffnet16. ––––––––––––– 14 Der problematische Ausgangszustand ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass ich den richtigen „Weg“ nicht kenne: Für im Medium der Sprache – etwa argumentativ oder narrativ – verhandelte Probleme ist hier Wittgensteins Vergleich der Sprache mit einer Stadt – oder auch einem Labyrinth (vgl. Philosophische Untersuchungen, §§ 18.203) erhellend. Entsprechend gilt: „Ein philosophisches Problem hat die Form: Ich kenne mich nicht aus.“ (§ 123) Regeln für den richtigen (erfolgreichen) Sprachgebrauch sind „Wegweiser“ (§§ 85.87). 15 Ich habe bereits auf die Funktion der Topik, des „wegbereitenden Verfahrens“ (Aristot. Top. I.3, 101b, S. 7) hingewiesen, die zumindest in argumentativen Problemlösungen als Navigationshilfe bei der Suche dienen kann. Ausführlicher unten ab S. 356ff. 16 Der „Weg“ ist vergleichbar mit Newell u. Simon’s “method”: “a collection of information processes that combine a series of means to attain an end, or at least to attempt to attain an end. The means that are usable by a problem solving system are dictated by the nature of the internal representation, for specifying a problem space determines the various ways in which the initial situation can be changed to reach the goal situation. Ends arise out of the formulation of goals or subgoals” (Newell u. Simon 91).
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Die Charakterisierung des Problemlösens als durch ein Subjekt vollzogene Bewegung im Problemraum weist auffällige Ähnlichkeiten mit der Charakterisierung von Erzählstrukturen in einer möglichen „Definition einer relevanten und kohärenten Erzählung“ bzw. narrativen Sequenz auf: ... eine Erzählung ist eine Beschreibung von Aktionen, die für jede beschriebene Handlung einen Agenten erfordert, eine Intention des Agenten, einen Zustand (oder eine mögliche Welt), eine Bewegung und deren Ursache sowie einen Zweck, der jene bestimmt, und dazu ließen sich noch geistige Zustände, Gefühle, Umfelder hinzufügen; die Beschreibung ist aber nur relevant (wir würden sagen: von den Konversationsregeln her zulässig), wenn die beschriebenen Aktionen diffizil sind und wenn der Agent keine offensichtliche Wahl hat hinsichtlich des Ablaufs von Handlungen, die unternommen werden müssen, um den Zustand zu ändern, der nicht mit den eigenen Wünschen korrespondiert; die Ereignisse, die sich aus dieser Entscheidung ergeben, müssen unerwartet sein, und einige von ihnen müssen sogar als ungewöhnlich oder seltsam 17 erscheinen.
Die strukturelle Analogie ist deutlich, die wesentlichen Bestandteile unseres Begriffs des Problemlösens vorhanden: das Subjekt, dessen „Intention“ die Veränderung eines unerwünschten Zustandes hin zu einem erwünschten ist, eine „Bewegung“, einen „Zweck“ und die Regeln, die die verfügbaren zum Erfolg führenden Operationen einschränken (welche eben nicht vom Subjekt gewählt werden können, sondern gefunden werden müssen) und die damit die Schwierigkeit ausmachen, durch die ein erfolgreiches Handeln zum („diffizilen“) Problem wird. Erzählungen, die als Problemlösung oder -verhandlung gelesen werden können, haben gemeinsam, dass narrative Subjekte auf eine eingetretene Problemsituation antworten und nach passenden Operationen suchen, um zu einer Lösung (dem Zielzustand) zu gelangen. Diese narrative Bewegung eines Subjekts auf die Erreichung eines Zieles (vgl. goal-path) können wir mit Greimas als narratives „Programm“ bezeichnen (vgl. unten ab S. 242). Der Ausgang der Geschichte (outcome) bewertet als „narratives Urteil“ die Operationen und entscheidet gegebenenfalls zugunsten oder gegen konkurrierende narrative Programme. Die metaphorische Vorstellung des Problemlösens als (eine) zielgerichtete Bewegung durch den konzeptuellen Problemraum liefert auch bereits ein schematisches Minimalmodell für narrative Problembehandlung. Für narrative Darstellungen von Problemlösungen bietet sich etwa das mit der REISE-Metapher verwandte Erzählmotiv der Suche – nach dem richtigen Weg, dem richtigen Mittel, dem Täter eines Verbrechens usf. – die ––––––––––––– 17 Eco 1990, 135 nach einem Vorschlag von van Dijk.
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nach zahlreichen Irrwegen (ungeeigneten Transformationen) endlich zum Erfolg führt (vgl. QUEST). Beispiel dafür wäre etwa eine Kriminalgeschichte, die einen Mord, die „Suche“ eines Polizisten nach dem Täter und dessen Überführung mit anschließender Verhaftung erzählt. Im Zentrum steht eine einfache Bewegung des problemlösenden Subjekts im Problemraum: Der Polizist muss aus den ihm zur Verfügung stehenden Informationen eine in sich kohärente Beschreibung einer möglichen Welt konstruieren, in der eine bestimmte Person auf eine bestimmte Weise und mit bestimmten Motiven die fragliche Tat begangen hat. Eine Fortsetzung dieser Geschichte könnte nun von einer Gerichtsverhandlung erzählen, in der diese bestimmte Person des fraglichen Mordes angeklagt wird. In einem solchen Prozess wird von der anklagenden Partei versucht, die Schuld des Angeklagten zeigen, indem die Identität des Angeklagten mit dem zentralen Charakter einer möglichst kohärenten Geschichte G1 bewiesen wird, in der er ein Motiv für die ihm zur Last gelegte Tat hat und in nachvollziehbarer Weise diese Tat begeht. Diese Geschichte über den Angeklagten – der Vorschlag einer Problemlösung – wird auf eine äußere Ordnung bezogen, auf im Gesetz vorgegebene Schemata, die bestimmte Ereignissequenzen (Tatbestand→Strafe) kodifizieren. Die Verteidigung wiederum könnte, um diesen Problemlösungsvorschlag der Anklage abzuweisen, versuchen, die Kohärenz der Anklagegeschichte G1 zu erschüttern und/oder dieser Geschichte eine eigene, ebenfalls möglichst kohärente Geschichte G2 entgegenzusetzen, aus der die mögliche Unschuld des Angeklagten folgt (etwa weil ein anderer die Tat begangen haben könnte). Das Urteil erkennt dann quasi die Geschichte der Anklagevertretung als gültige Problemlösung an (G1) oder weist sie ab (Nicht-G1), beendet also die Verhandlung durch autoritatives Setzen einer Lösung. Diese PROZESS-Geschichte weist eine andere narrative Struktur auf als die SUCHE. Sie konfrontiert sozusagen alternative SUCHEGeschichten bzw. ihre Ergebnisse und urteilt über ihre Gültigkeit. Als „Präzedenzfall“ wiederum kann eine solche narrative Urteilsfindung das erzählte Einzelne transzendieren und verweist dann nicht mehr auf individuelle Schicksale, sondern auf allgemeine Konstellationen, die in anderen Verhandlungen wiederum auf Individuelles zurückprojiziert werden. Das linearen Erzählungen nach dem Schema der REISE oder SUCHE zugrunde liegende Modell kann also auch erweitert werden: Werden statt einer zielgerichteten Bewegung (entsprechend dem narrativen REISESchema) zwei einander entgegengesetzte Bewegungen im Problemraum angenommen, ergeben sich neue narrative Möglichkeiten: Narrative
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Schemata wie KAMPF oder eben PROZESS repräsentieren konkurrierende Alternativen, zwischen denen ein narratives Urteil eine Entscheidung fällen kann. Der KAMPF wäre dabei das grundlegendere Schema, dessen Minimalstruktur in der Art von Turners Stasis-Modell dargestellt werden kann18. Das PROZESS-Schema wiederum ergänzt die KAMPF-Struktur durch eine höhere Instanz, der die Entscheidung zwischen den konkurrierenden Kräften obliegt (s. auch oben S. 41). Die kognitive Wirksamkeit dieser Schemata beruht nicht zuletzt darauf, dass sie seit Jahrhunderten in menschlicher Erfahrung verankert sind19. Bereits Turners Untersuchungen hatten gezeigt, dass eine Verwendung grundlegender, relativ einfacher Schemata auch bei komplizierteren kognitiven Prozessen angenommen werden darf: Sie erlauben die Nutzung vorhandenen Wissens und bereits geleisteter Strukturierungen für das Verstehen neuer Erscheinungen und komplexer Zusammenhänge und reduzieren den kognitiven Aufwand beim Orientieren in der Welt. In unserem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, dass Schemata den Erscheinungen, auf die sie angewendet werden, Zusammenhang und Kohärenz zu verleihen vermögen. Erst die Kenntnis des PROZESS-Schemas erlaubt uns etwa zu verstehen, wie das Urteil des Richters die Entscheidung in einer Verhandlung herbeiführen kann. Deshalb werden wir bei unserer Untersuchung der Regeln narrativer Problemverhandlung – d. i. der Regeln kohärenten und überzeugenden Erzählens – den narrativen Schemata besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Erst unsere Schemata geben narrativen Konfigurationen Bedeutung, sei es als Instanz eines Schemas oder als Verstoß gegen die von ihm erzeugten Erwartungen. Erst die Wirksamkeit narrativer Schemata erlaubt es uns zudem, schon während der Lektüre das Einzelne der narrativen Struktur als Teil des Ganzen wahrzunehmen, von der Subjektperspektive der Protagonisten zu wechseln zu der Perspektive der Draufsicht auf das Ganze, als sei die Erzählung bereits abgeschlossen. Und es spricht viel dafür, dass Schemata uns auch den Transfer von narrativ gegebenen Problemlösungen – narrativen Konfigurationen – auf andere, analoge Problemkonstellationen ermöglichen oder erleichtern (s. u. A.II.5). ––––––––––––– 18 Genauer des „simultanen“ Modells der stasis, das als am selben Punkt angreifende einander entgegensetzte Kräfte oder Vektoren vorgestellt wird (vgl. oben Anm. 43 auf S. 37) – natürlich ohne unbedingt eine Blockade vorauszusetzen. 19 Eine Übergangsform zwischen KAMPF und PROZESS lässt sich im mittelalterlichen „Gerichtskampf“ ausmachen. Dieser sollte in anders nicht lösbaren Streitfällen eine Entscheidung herbeiführen, die als „Gottesurteil“ angesehen wurde.
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c) Schemata Schemata spielen in der Kognitionsforschung20 eine herausragende Rolle. Allerdings ist auch der kognitionswissenschaftliche „Schema“-Begriff alles andere als präzise definiert. Oft werden Schemata als universelle oder sogar „die primären Bedeutungseinheiten im Informationsverarbeitungssystem“ verstanden21. Die Schematheorie im engeren Sinne betrachtet Schemata als einen Typ mentaler Strukturen neben anderen (kategorischen, seriellen oder Matrix-Strukturen)22. Die vielfältige Vernetzung zwischen den Elementen unserer Repräsentationen führt dazu, dass in kognitiven Prozessen nicht nur einzelne Begriffe, sondern abhängig von der jeweiligen Aufgabe zahlreiche ganz verschiedene Wissenselemente gemeinsam aktiviert werden, die unserer Erfahrung nach auf spezifische Weise zusammengehören. Hier setzt der allgemeine Begriff vom „Schema“ an: Schemata werden verstanden als „Cluster von Wissen und Erwartungen“, deren Anwendung auf neue Informationen, Erfahrungen, Phänomene diese erst verstehbar, integrierbar und handhabbar macht: „Das Erfassen neuer Information geschieht anscheinend durch (a) die Integration konsistenten neuen Inputs in das, was wir bereits wissen und/oder (b) die Überwindung der Diskrepanz zwischen neuem Input und gespeichertem Schema durch Verändern einer Wissensstruktur oder durch Verändern oder Ignorieren des Inputs.“ (Zimbardo 365) Kognitive Schemata sind auf unterschiedlichsten Ebenen der Informationsverarbeitung wirksam, in Wahrnehmung, Orientierung und Verstehen ebenso wie beim Erinnern, bei komplexen Problemlösungsprozessen, metaphorischen Operationen oder der Interpretation von Texten. Der sogenannte „Top-down“-Ansatz der Informationsverarbeitung beschreibt kognitive Prozesse als die aktive Konstruktion mentaler Inhalte und betont dabei die determinierende Rolle kognitiver Schemata: Als abstrakte strukturierte Schablonen z. B. von zeitlichen Sequenzen, räumlichen Anordnungen, Situationen, Handlungen, Ereignissen oder Ereignisfolgen liegen ––––––––––––– 20 Eingebürgert hat sich dafür der Begriff „Schematheorie“. Für Überblick und Einordnung vgl. z. B. Mandler 2ff. und Howard Gardner, The mind’s new science. A history of the cognitive revolution (1985), 114ff., 124-128. Literaturhinweise auch in Turner 1991, 266 Anm. 15. 21 Zimbardo 365 zu Norman u. Rumelhart, Explorations in cognition, San Francisco 1975. 22 Mandler 1-16. Neben raumzeitlich strukturierten kognitiven Schemata ist aber immer wieder auch anderes, etwa motorische Prozeduren verschiedener Art (Piaget), als „Schema“ bezeichnet worden.
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„organizing schemas“ der konstruktiven Strukturierung und Aktualisierung kognitiver Inhalte zugrunde 23. Auch Erzählschemata scheinen für die Speicherung von Gedächtnisinhalten und ihren Abruf von grundlegender Bedeutung zu sein24. Ein Systematisierungsversuch verschiedener schematheoretischer Begriffsbestimmungen von Rumelhart und Ortony ergab folgende „konstituierende Merkmale“ eines kognitiven Schemas 25: 1. 2. 3. 4.
Schemata besitzen Variablen (Leerstellen). Schemata können in andere Schemata eingebettet sein. Schemata gibt es auf allen Abstraktionsebenen. Schemata repräsentieren eher Wissen als Definitionen.
Meine eigenen Überlegungen zur Schemaverwendung gehen von Mandlers26 relativ enger und präziser Bestimmung des Schemabegriffes aus. Als kognitive „Schemata“ bezeichnet sie abstrakte mentale Strukturen, deren Elemente über räumliche oder zeitliche Relationen miteinander verbunden sind. Von kategorialen Strukturen, wie sie in Greimas’ narrativer Grammatik im Mittelpunkt stehen (das semiotische Quadrat entwickelt und entfaltet binäre Semkategorien), unterscheiden sich schematische Strukturen nach dem „assoziativen Prinzip“, das ihrer Bildung zugrunde liegt. Das wichtigste Kennzeichen kategorialer Strukturen ist hierarchische Klassenzugehörigkeit, die auf Ähnlichkeit (in Form, Funktion oder anderen Gesichtspunkten) beruht. Ähnlichkeit, so Mandler, war bereits bei Aristoteles eines von zwei “associative principles, the other being spatial or temporal contiguity”. Schematische Strukturen sind nach diesem zweiten assoziativen Prinzip geordnet, nach räumlicher oder zeitlicher Zusammengehörigkeit (5). Wie kategoriale Strukturen sind auch Schemata hierarchisch organisiert; statt über Klassenzugehörigkeiten realisiert sich die hierarchische Ordnung schematischer Strukturen aber in Teil-Ganzes-Relationen (part-whole relations). Die Elemente schemati––––––––––––– 23 Vgl. Howard Gardner 124ff. Gardner erwähnt in diesem Zusammenhang auch Jerome Bruners “work on strategies of concept formation” (126). 24 „Kognitionspsychologen vertreten die Auffassung, daß solche Erzählschemata schon die kognitive Elaboration und nicht erst die Verbalisation von Erinnerungen organisieren, wobei kognitive und kommunikative Bedürfnisse die Konstruktion kohärenter Elaborationen favorisieren“ (Siegfried J. Schmidt in ders.(Hg.) 1991, 37f.). 25 Vgl. Friedrich W. Hesse, Analoges Problemlösen (1991), 163. 26 Jean Matter Mandler, Stories, Scripts, and Scenes: Aspects of Schema Theory (1984), im Folgenden zitiert mit einfachen Seitenzahlen.
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scher Strukturen sind dabei sowohl horizontal (seriell) als auch vertikal (Teil-Ganzes) miteinander verbunden und “hence form a more tightly interconnected organization” (14). Im Einzelnen unterscheidet Mandler nach räumlichen Relationen angeordnete „Szenen“ von „Skripts“ und „Stories“. Szenen sind z. B. die typische Anordnung wesentlicher Elemente in einer Bar oder im Innenraum eines Autos, deren Kenntnis uns die Orientierung in tatsächlichen Bars oder Autos ermöglicht. Skripts sind typische Ereignis- und Handlungssequenzen z. B. fürs „Einkaufen“ oder den „Restaurantbesuch“ und gehören zu den „Ereignis“-Schemata. Elementare Bestandteile von Stories sind wiederum Ereignisse und Zustände (für die es ihrerseits schematische Repräsentationen geben kann). In Skripts oder Story-Schemata stehen die einzelnen Elemente zueinander in Relationen der zeitlichen Aufeinanderfolge, die sich nach Mandler nach der Stärke oder Verbindlichkeit differenzieren lassen, mit der eine bestimmte Reihenfolge festgelegt ist: Kausale Relationen oder solche des Ermöglichens fordern eine feste Reihenfolge, andere sind rein konventionell, wieder andere arbiträr. Mandler hat vor allem sehr abstrakte „Story-Schemata“ untersucht, auf die ich weiter unten ab S. 276 kurz eingehen werde. Uns interessieren dagegen weniger abstrakte narrative Schemata wie das des RECHTSSTREITS, die im Gegensatz zu Mandlers universellen Story-Schemata bereits relativ konkrete Ereignisabfolgen mit Rollenvorgaben enthalten und durch Besetzung weniger Variablen zu vollständigen Geschichten aktualisiert werden können. 3. Welten In narrativen Problemverhandlungen werden, so hatte ich etwas unscharf behauptet, Urteile über „Welten“ gefällt. Der „Problemraum“ wiederum, verstanden als innere Repräsentation von gegebenen bzw. möglichen Zuständen, kann ebenfalls als eine Menge „möglicher Welten“ oder problemrelevanter Weltausschnitte angesehen werden. Inwieweit „mögliche Welten“ als Beschreibungen von Situationen und möglichen Situationsveränderungen aufgefasst werden können, wird in Kürze ausführlicher dargestellt. Wie die Problem-“Welt“ konkret aussieht, variiert mit der Natur des gegebenen Problems: Für ein Schachproblem reicht es, die „Welt“ des Problems auf die Struktur des Schachbretts, das Figureninventar und die Regeln der Figurenbewegungen und Aktionen zu beschränken, denn damit sind gleichzeitig alle möglichen Situationen und Abfolgen von Situationen – Figurenstellungen und Züge – definiert. (Der Problemraum
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umfasst dann einen gegebenen Ausgangszustand und alle von diesem aus erreichbaren Stellungen, darunter gegebenenfalls auch Zielzustände, nämlich Matt-Konstellationen.) Bei einem lebenspraktischen Problem dagegen ist die „Welt“ die innere Repräsentation der Lebenswelt des Subjekts mitsamt ihrer möglichen Entwicklungen („mögliche Welten“), und der Problemraum umfasst die problemrelevanten Ausschnitte dieser „Welten“. Auch im Zusammenhang mit Argumentationsstrukturen und narrativen Strukturen wird das Konzept der „Welt“ wiederkehren: Ich werde im Anschluss an Ricoeur generell davon sprechen, dass Texte, argumentative oder narrative, eine „Welt“ entwerfen, und ich werde die Erfolgsaussichten von vorgeschlagenen Problemlösungen zu der Kohärenz und Überzeugungskraft dieser textuellen Welten in Beziehung setzen. Diese wiederum zu beurteilen verlangt den Rekurs auf die „Welten“ von Autoren und Rezipienten: grundlegende Überzeugungen über die Welt, das „Wahrscheinliche“, die endoxa. „Welt“ ist somit ein problematischer Schlüsselbegriff der vorliegenden Untersuchung. Die Abschnitte A.II.3 und II.4 versuchen deshalb eine Präzisierung dieses Begriffes und seiner Verwendung in dieser Untersuchung. Wenn man von „zugrundeliegenden“ Überzeugungsinhalten, von kognitiven Strukturen oder gar subjektiven „Welten“ spricht, setzt man sich der möglichen Kritik aus, man rede von Dingen, die uns, falls sie existieren, nicht oder nur schwer zugänglich sind. Der Rückgriff auf „Überzeugungen“ oder ähnliche subjektive „Inhalte“ ist aber oftmals nützlich, vielleicht sogar unumgänglich. Es kommt dabei wesentlich darauf an, wie solche Inhalte modelliert werden. Wir müssen jetzt klären, wie wir den Begriff „Welt“ in Bezug auf subjektive Inhalte (quasi als „Welt im Kopf“) sowie in Bezug auf die Interpretationstätigkeit beim Lesen von Texten (als Entwurf einer „Welt des Textes“) verwenden wollen. a) Die Welt im Kopf Die Rede von individuellen „Welten“ setzt voraus, dass wir uns sinnvoll auf „interne“ oder „subjektive“ Repräsentationen der Umwelt beziehen und diesen eine bestimmte Struktur unterstellen dürfen. Das ist insbesondere im Zusammenhang mit dem Verstehen von Texten hilfreich. Wenn diesbezüglich von „Welten“ und „Welt“ die Rede ist, kann nicht primär die „wirkliche Welt“ gemeint sein. Texte „beziehen sich“ nur dadurch auf die wirkliche Welt, weil jemand sie darauf bezieht. Um Texte zu verstehen und ihren Weltbezug zu (re-)konstruieren, stehen den Rezipienten nur
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ihre eigenen mentalen Repräsentationen ihrer Welt zur Verfügung. Der Weg vom Text zur Welt geht über die „Welt im Kopf“. Unsere „Welt im Kopf“ muss so strukturiert sein, dass wir uns in unserer Umwelt orientieren und darin erfolgreich handeln können. Die kognitive Organisation von Informationen bildet ein „abstraktes Arbeitsmodell der Außenwelt“ ab, welches „Grundlage unserer Handlungen sein kann“ (Zimbardo)27. Dieses kognitive Modell der Welt gibt Wahrnehmungen, Erfahrungen, Vorstellungen, Erinnerungen, Überzeugungen ihren Platz, stiftet über vielfältige Vernetzungen den Zusammenhang dieser Elemente und ist formale Grundlage der informationsverarbeitenden Operationen, mit denen wir „der Welt Sinn verleihen“ (369). Informationen über die Welt werden im Langzeitgedächtnis in organisierten Mustern gespeichert, in „Netzwerken bedeutsam aufeinander bezogener Konzepte und in vielfältigen Verbindungen“ (330). Dabei sind wahrscheinlich unterschiedliche Kodierungen wirksam: Viele Informationen werden in propositionalen Netzwerken organisiert, andere z. B. visuell codiert (das sogenannte eidetische Gedächtnis). Zu den verwendeten kognitiven Strukturen zählen Schemata, Propositionen, Begriffe und abstrakte Codes oder kognitive Landkarten (362). Verbreitet ist die Unterscheidung zwischen dem prozeduralen (auf praktische Fertigkeiten und ihren Erwerb bezogenen) Gedächtnis und dem deklarativen Gedächtnis, das für die „Speicherung von Fakten“ zuständig ist und seinerseits in semantisches und episodisches Gedächtnis unterteilt wird. Das semantische Gedächtnis umfasst das symbolisch repräsentierte Wissen über die Welt und gilt als grundsätzlich kategorial, um abstrakte und begriffsbezogene Informationen herum organisiert (vgl. unten bei Eco „Enzyklopädie“). Das episodische Gedächtnis speichert dagegen zeit- und kontextbezogen autobiographische Informationen (327f.). Dieser Charakter der „Welt“ als „Arbeitsmodell“ hat für uns drei Implikationen: erstens die Funktion des Weltbegriffs als Horizont der Erfahrung, quasi als „Idee des Ganzen“28, d. h. als einheitsstiftende formale Repräsentation eines umfassenden Ganzen der kognitiven Elemente, zweitens eine bestimmte formale Struktur, wie sie eine Welt als mögliche ––––––––––––– 27 Vgl. Philip G. Zimbardo, Psychologie (61995), 362. Einfache Seitenzahlen in diesem Abschnitt beziehen sich auf Zimbardo 1995. 28 Die „Idee des Ganzen der Verstandeserkenntnis a priori“, so Kant, sichert „ihren Zusammenhang in einem System“ (Kant, KrV III 83). Der Bezug der „Idee des Ganzen“ auf den „Welt“-Begriff wird im nächsten Abschnitt deutlicher.
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„Welt des Handelns“ aufweisen muss, und drittens die Forderung nach einem bestimmten Mindestmaß von Kohärenz der repräsentierten Inhalte. b) Die Idee des Ganzen Da das Arbeitsmodell der „Welt“ als Ganzes keiner möglichen Erfahrung korrespondieren, nicht erlebt werden kann (wir können unsere Welt nicht „von außen“ betrachten), ist es nur formal und abstrakt beschreibbar. Mit Kant könnte man vom „Weltbegriff überhaupt“ als einer „regulativen Idee“ sprechen (KrV III 451). Bei Kant ist „Welt“ der „Inbegriff aller Erscheinungen“ in ihrer (idealen, nie erreichten) vollständigen Synthesis, also „im transzendentalen Verstande die absolute Totalität des Inbegriffs existierender Dinge“ (KrV III 289). Dasselbe Prinzip einer regulativen „Idee des Ganzen“ liegt auch Umberto Ecos verwandtem Begriff des „Umfassenden Semantischen Universums“ zugrunde, welches „niemals erschöpfend beschrieben werden könnte, weil es ein System von inneren Bezügen darstellt, das sich in ständiger Entwicklung befindet und grundsätzlich in sich widersprüchlich ist. Da auch das Umfassende Semantische System eine reine regulative Hypothese ist, sind wir nicht in der Lage, die ‚reale Welt‘ als maximal und vollständig zu beschreiben.“ (Eco 1990, 166) „Welt“ in diesem Sinne ist also weder erfahrbar noch beschreibbar; sie ist vielmehr Voraussetzung und Bezugspunkt aller Erfahrungen und Beschreibungen. Als ‚Welt im Kopf‘ sorgt die universelle „Idee vom Ganzen“ dafür, dass unsere Welt auch hinterm Horizont noch weiter geht und dort durch Extrapolation, Imagination und Fiktion aufgefüllt werden kann. Sie ist, wie Luhmann im Sinne Husserls formuliert, „Verweisungshorizont des Bewusstseins“ und daher bereits „sinnhafte“ Totalität29. Untrennbar verbunden mit der „Idee des Ganzen“ ist schon bei Kant das Bedürfnis nach „systematischer Einheit“, die uns bereits auf die oben genannte dritte Implikation, die Forderung nach Kohärenz verweist. Zunächst aber wollen wir von der „Welt“ als Idee des Ganzen zu ihrer Charakterisierung als strukturiertes Ganzes übergehen.
––––––––––––– 29 Vgl. Niklas Luhmann, „Sinn als Grundbegriff der Soziologie“ (1971), 61. Bei Luhmann ist „Welt“ allerdings auch das Andere des Sinns, eben die ungeheure Komplexität und Kontingenz des Möglichen. Daher spricht er auch von der „Differenz von Sinn und Welt als Differenz von Ordnung und Störung“; vgl. ders., Soziale Systeme (1984), 122.
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c) Struktur und Ordnung Damit im Rahmen des „Weltganzen“ die kohärente Synthesis des Mannigfaltigen geleistet werden kann, braucht die „Welt“ eine Struktur. Die „Welt im Kopf“ eines jeden Menschen, als ein abstraktes Modell, das Grundlage unserer Handlungen sein kann, ist strukturell mindestens soweit differenziert, dass so etwas wie eine naive Handlungstheorie möglich wird. Unser Arbeitsmodell enthält also mindestens handelnde Subjekte mit Motivationen bzw. Werten, Gegenstände mit Eigenschaften, Orte im Raum und eine Zeitdimension. Beziehungen und Bewegungen der Elemente in der Welt unterliegen dabei Regeln – es gilt eine „Weltordnung“. Diese Regeln bestimmen, was wir für wahrscheinlich und notwendig halten – vor allem als Regeln „praktischer Wahrscheinlichkeit“, aber, wie wir bereits gesehen haben, nicht zwangsläufig auf diese beschränkt. Solange wir uns in unserer eigenen „Welt des Handelns“ bewegen (oder Texte interpretieren, die sich auf die „wirkliche Welt“ beziehen), unterstellen wir natürlich die Geltung der uns vertrauten „Weltordnung“, also der Regeln, an deren Gültigkeit wir tatsächlich glauben. Wir können uns aber – etwa bei der Interpretation fiktionaler Texte – auch andere „mögliche Welten“ vorstellen, in denen eine davon abweichende Ordnung gilt (unter der Voraussetzung, dass diese Ordnung in sich kohärent ist) 30. Eco verdeutlicht das sehr hübsch in der „Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘“ (Eco 1987, 33f.): In der Epik wird die Beschränkung durch die zugrundeliegende Welt gegeben. Das ist keine Frage des Realismus (...): Man kann sich auch eine ganz irreale Welt errichten, in der die Esel fliegen und die Prinzessinnen durch einen Kuß geweckt werden, aber auch diese rein phantastische und „bloß mögliche“ Welt muß nach Regeln existieren, die vorher festgelegt worden sind (zum Beispiel muß man wissen, ob es eine Welt ist, in der Prinzessinnen nur durch den Kuß von Prinzen geweckt werden können oder auch durch den Kuß einer Hexe, und ob der Kuß einer Prinzessin nur Kröten in Prinzen zurückverwandelt oder auch, sagen wir, Gürteltiere).
Zwar ist Letzteres m. E. nicht überzeugend (existiert für jede denkbare Tierart eine vorher festgelegte Kuss-Regel?), aber dennoch ist der in der ––––––––––––– 30 Turner analysiert mögliche Welten wie die im folgenden Beispiel Ecos als Ergebnis von conceptual blending (Turner 1996, 11) – Welten, in denen etwa Tiere sprechen können, sind blended spaces, deren Elemente aus verschiedenen input spaces projizierte Attribute enthalten (60f.). Ein blended space kann wiederum in der Projektion auf einen target space Aussagen über diesen kommunizieren – Fabeln enthalten eine Moral für die Menschenwelt. Voraussetzung der Projektion sind generic spaces (86) mit einer hinreichend abstrakten Struktur, die den beteiligten spaces gemeinsam ist.
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Semantik gebräuchliche Begriff der „möglichen Welt“ hier von Nutzen – nicht nur in Bezug auf fiktionale Welten, sondern natürlich ebenso in Bezug auf „kontrafaktische Situationen“ sowie Situationen, die wir im Rahmen unseres Regelsystems der „wirklichen Welt“ für durchaus möglich halten. Eco definiert im Rahmen seiner Theorie der „textuellen Mitarbeit“ des Lesers (ohne die es auch keine „Welt des Textes“ geben könnte) den Begriff der „möglichen Welt folgendermaßen: Wir bezeichnen als mögliche Welt einen Zustand von Dingen, der von einer Gesamtheit von Propositionen ausgedrückt wird, wobei für jede Proposition entweder p oder ~p gilt. Eine Welt als solche besteht aus einer Gesamtheit von Individuen, die mit Eigenschaften ausgestattet sind. Da einige dieser Eigenschaften oder Prädikate Handlungen sind, kann eine mögliche Welt auch als Ablauf von Ereignissen angesehen werden. (Umberto Eco, Lector in fabula (1990), 162)
In der modalen Logik und philosophischen Semantik ist es nicht unüblich, „mögliche Welten“ auch zur Charakterisierung von Überzeugungen oder propositionalen Haltungen heranzuziehen, um damit konkrete Probleme zu behandeln, die sich etwa beim Reden über „Bedeutung“ stellen31. Die Gesamtheit der Überzeugungen einer Person über die Welt soll dabei per definitionem schlechthin alles das umfassen, was durch diese Überzeugungen nicht ausgeschlossen wird. Deshalb sei im Folgenden die Gesamtheit der Überzeugungen einer Person (oder auch ihre „Glaubensmenge“) begriffen als denjenigen möglichen Welten, die alle ihre Überzeugungen wahr machen, die also gemäß allem, was die Person glaubt, nicht ausgeschlossen, sondern noch möglich sind; anders ausgedrückt, ist es genau die Glaubensmenge und keine andere, innerhalb wel32 cher die Person die wirkliche Welt vermutet.
––––––––––––– 31 „Heutzutage wird es im allgemeinen eher akzeptiert, daß der Begriff der möglichen Welten in Relation zu variablen Glaubens- oder Annahmensystemen definiert werden sollte ...“ (John Lyons, Semantik (1980), 179f.) Der Modellierung von Glaubensinhalten als mögliche Welten „liegt zugrunde, daß Überzeugungsinhalte oder Gedanken von Personen ebenso wie sprachliche Aussagen wahr oder falsch sein können, daß sie also Wahrheitsbedingungen haben. Ferner liegt dem zugrunde, daß sich Überzeugungsinhalte über ihre Wahrheitsbedingungen individuieren lassen, daß also verschiedene Überzeugungsinhalte immer auch verschiedene Wahrheitsbedingungen haben.“ Vgl. Ulrike Haas-Spohn, Versteckte Indexikalität und subjektive Bedeutung (1995), 34. 32 Haas-Spohn 34. In ihrem Beitrag zeigt Haas-Spohn, dass Glaubensmengen sogar noch komplexer – nämlich mindestens so individuiert wie Äußerungskontexte – modelliert werden und zusätzlich zu möglichen Welten noch „Subjekt“- und „Gegenwartsparameter“ enthalten müssen. Mit der damit installierten subjektiven Perspektive sind Glaubensmengen weit mehr als propositionale Haltungen. Die von Haas-Spohn entwi-
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Entsprechend teilt eine einzelne Aussage (die einer Überzeugung korrespondieren kann) gewissermaßen die Menge aller möglicher Welten (auf einzigartige Weise) in diejenigen möglichen Welten, in denen diese Aussage wahr ist, und solche, in denen sie nicht wahr ist. Wir können damit mögliche „Welten“ prinzipiell als Mengen von Propositionen auffassen, die in der Lage sein sollen, die fragliche „Welt“ vollständig zu beschreiben33. Eine bestimmte „mögliche Welt“ wäre dann dadurch eindeutig bestimmt, welche der sie beschreibenden Propositionen den Wahrheitswert „wahr“ und welche den Wert „falsch“ hat. Die Überzeugungen einer Person oder die Aussagen eines Textes (und ihre Implikationen) weisen ebenfalls bestimmten Propositionen Wahrheitswerte zu und identifizieren damit aus der Menge aller möglichen Welten diejenigen, die mit der Gesamtheit der Überzeugungen oder der Textaussagen vereinbar sind. Die „Welt“ einer Person oder eines Textes ist demnach strenggenommen als eine Menge möglicher Welten anzusehen, innerhalb derer diese Person ––––––––––––– ckelte Theorie der subjektiven Bedeutung soll zwei Probleme der Bedeutungstheorie lösen, die ein nur „objektiver“ Bedeutungsbegriff nicht erfassen kann: das Informativitätsproblem („erklären, wieso zwei Aussagen, die die gleichen Wahrheitsbedingungen haben, verschiedenen Erkenntniswert haben können, wieso notwendig wahre Aussagen informativ sein können, und wieso es möglich ist, daß notwendig falsche Aussagen von rationalen Personen geglaubt werden“; 43) und das Internalitätsproblem (eine angemessene interne Beschreibung der subjektiven Bedeutung von Glaubensinhalten, z. B. solchen, die objektiv (von außen gesehen) sich ausschließen, subjektiv aber, aufgrund anderer (falscher) Überzeugungen und fehlender Informationen, vereinbar erscheinen). 33 „Was meinen wir mit dem Ausdruck ‚mögliche Welt‘? Eine Möglichkeit, ihn zu interpretieren, ist die Anwendung des Begriffs der Zustandsbeschreibung ... Wir wollen daher eine Welt mit einer Zustandsbeschreibung des Universums oder eines Teils des Universums identifizieren. Eine Proposition ist in einer möglichen Welt dann wahr, wenn sie den Wert W in einer Zustandsbeschreibung hat.“ (Lyons 178) Eco weist darauf hin, dass die Begriffe der „möglichen Welt“ in Text-Semiotik und Modallogik lediglich Homonymie verbinde: In der Modallogik sei von „möglichen Welten“ meist als von „leeren Ganzheiten von Welten“ die Rede, während sich die Semiotik erzählerischer Texte bestimmter Vorschläge der Modallogik bediene, um sich das Instrument einer „Kategorie von erfüllter möglicher Welt“ für eine „strukturelle Repräsentation von konkreten semantischen Aktualisierungen“ zu bilden (Eco 1990, 157). Man könnte dabei auch von einer „teilweise erfüllten Welt“ sprechen – erfüllt, soweit Aussagen eines Textes konkrete Aktualisierungen erlauben, und auf Welt-Format gebracht (auf-gefüllt) durch davon unberührt gelassene Propositionen, die in einer vollständigen Beschreibung der „Welt“ enthalten wären, aber im Bereich des Möglichen verbleiben. (Welche das wären, lässt sich freilich nicht vollständig angeben.) Inzwischen wird in philosophischen Bedeutungstheorien ein Begriff „subjektiver Bedeutung“ (Anm. 32) mit vergleichbaren Konzepten diskutiert, etwa Stalnakers Begriff des „Redehintergrunds“.
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oder ein Leser die aktuale Welt vermutet. Eine solche „Welt“ ist in der Regel unbestimmt im Hinblick auf die Gesamtheit der sie beschreibenden Propositionen. Diese kann nur ein allwissender Beobachter kennen, der den kompletten Überblick über das „Inventar“ dieser Welt hätte. Für fiktive Textwelten illustrieren „sinnlose“ Fragen wie die nach der Zahl der Kinder von Lady Macbeth diesen Vorbehalt. Uns interessieren daher vor allem die Weltausschnitte, die von in einem Text tatsächlich gegebenen, implizierten oder über aktivierte Schemata aus der „Enzyklopädie“ plausibel aktualisierbaren Propositionen beschrieben werden – insbesondere solchen, deren Vereinbarkeit zum Problem geworden ist. Auf solche Mengen von Propositionen, die als Beschreibungen von Weltausschnitten aufgefasst werden können, beziehe ich mich, wenn ich von problematischen „Weltbeschreibungen“ spreche. Die Annahme einer rein propositionalen Beschreibbarkeit einer „Welt“ ist eine einschneidende methodische Vereinfachung34. Wir entfernen uns aber auf diese Weise nicht allzu sehr von der Verwendungsweise des Begriffes in Philosophie und Linguistik. Außerdem scheint es so möglich, unsere Rede von der „Kohärenz“ einer Welt zu präzisieren. In diesem Zusammenhang ist die Feststellung wichtig, dass nicht alle zur Weltbeschreibung gehörenden Propositionen den gleichen Stellenwert, die gleiche Bedeutung für das System im Ganzen haben. In einem System von Aussagen herrscht gemeinhin eine Vielzahl von wechselseitigen Abhängigkeiten (d. h. eine bestimmte Aussage kann nur dann gelten, wenn bestimmte Propositionen den Wahrheitswert „wahr“ und andere den Wert „falsch“ annehmen). Betrachtet man das System von Überzeugungen einer Person (oder einer Gemeinschaft) oder das System, das von den Aussagen einer Theorie gebildet wird, dann wird es korrespondierende Propositionen geben, von deren Geltung die Geltung vieler anderer Aussagen abhängt, die also von besonderer Bedeutung für die Kohärenz des ganzen Systems sind. Das Infragestellen solcher Aussagen, z. B. von Basisüberzeugungen einer Person, Kernwahrheiten einer Ideologie oder Axiomen einer Theorie, wird sehr viel gravierendere Folgen haben als das Infrage––––––––––––– 34 Sie vernachlässigt z. B. die zahlreichen unterschiedlichen Kodierungsformen, die bei der Charakterisierung von Gedächtnis und „Arbeitsmodell der Welt“ angesprochen wurden (siehe oben Kap. II.3.a). Es ist aufgrund der durchgängigen Analogie der „Welt des Textes“ und der „Welt im Kopf“ anzunehmen, dass die Leser in ihre ReKonstruktionen textueller Welten auch nicht-propositionale Inhalte, etwa Vorstellungsbilder oder kognitive Landkarten, einbeziehen. Uns interessieren aber an der vom Leser aktualisierten „Welt des Textes“ nur solche Inhalte, die propositional formulierbar sind.
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stellen anderer Elemente der Weltbeschreibung35. Das ist auch wesentlicher Teil von Hiobs Problem: Seine Erfahrungen unverdienten Leids entwerten seine grundlegende Überzeugung vom gerechten Tun-ErgehenZusammenhang und stellen die Kohärenz seiner Welt – wie auch der Welt seiner Freunde – grundsätzlich in Frage. Der ganze Dialog kreist um die Frage, wie angesichts dieser empirischen Bedrohung die Kohärenz der weisheitlichen Weltsicht aufrechterhalten werden soll. d) Kohärenz Schon bei Kant steht Welterkenntnis unter dem Diktat „systematischer Einheit“: „Der hypothetische Vernunftgebrauch geht also auf die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse, diese aber ist der Probierstein der Wahrheit der Regeln.“ Diese „systematische oder Vernunfteinheit der mannigfaltigen Verstandeserkenntnis“ ist ein „logisches Prinzip ..., um da, wo der Verstand allein nicht zu Regeln hinlangt, ihm durch Ideen fortzuhelfen und zugleich der Verschiedenheit seiner Regeln Einhelligkeit unter einem Prinzip (systematische) und dadurch Zusammenhang zu verschaffen, soweit als es sich tun läßt.“ (KrV III 430f.) Dieses Bedürfnis nach „systematischer Einheit“ erscheint auf verschiedenen Ebenen: auf einer individuellen, gewissermaßen psychologischen Ebene als Voraussetzung jeden Vernunftgebrauchs überhaupt, aber auch als Ziel und methodisches Prinzip für den wissenschaftlichen Vernunftgebrauch, wo nur der Zusammenhang der Begriffe in einem System Vollständigkeit ermöglicht (KrV III 83). Zu dieser systematischen Einheit dürfen wir auch die bereits mehrfach betonte Kohärenz der Repräsentationen in Beziehung setzen, die auch für textuelle Problemlösungen von besonderer Bedeutung ist. Es stellt sich daher die Frage, was „Kohärenz“ auf den Ebenen theoretischer oder individueller Welt-Repräsentationen bedeuten soll. Was theoretische Texte angeht, reicht es für unsere Zwecke aus zu fordern, dass die darin gegebenen expliziten Beschreibungen mitsamt ihren Implikationen in sich widerspruchsfrei sind und dass die Theorie nicht im Widerspruch zu bekannten Fakten und im Diskursbereich als wahr akzeptierten Sätzen steht. Die Bedingungen einer (subjektiven) „kohärenten Welt“ zu formulieren, erweist sich dagegen bei genauerem Hinsehen als nicht so einfach.
––––––––––––– 35 Im Zusammenhang mit kognitiven Konzepten verwendet Mark Turner den in gewissem Sinne vergleichbaren Begriff des generative entrenchment (vgl. Turner 1991, S. 140f.).
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Wir hatten gesagt, dass zur „Glaubensmenge“ einer Person alle möglichen Welten gehören, in denen alle Überzeugungen dieser Person wahr sind. Wenn die möglichen Welten, die Elemente der Glaubensmenge der Person sind, „doxastische Alternativen“ dieser Person sind, dann kann man sagen: „Die Überzeugungen eines Subjekts sind genau dann inkonsistent oder widersprüchlich, wenn ihre Glaubensmenge leer ist, sie also gar keine doxastischen Alternativen hat.“ (Haas-Spohn 34) Die scheinbar naheliegende Konsequenz, die Kohärenz einer Welt als Widerspruchsfreiheit des Systems zugrundeliegender Propositionen fassen zu wollen, wäre aber ein Fehler (auch Eco bezeichnet ja sein „Umfassendes Semantisches System“ als „grundsätzlich in sich widersprüchlich“; vgl. oben S. 79). Es kann niemals ausgeschlossen werden, dass aus der Menge der Propositionen, die zusammen die Weltrepräsentationen oder die Glaubensmenge oder den Redehintergrund eines Individuums bilden, einige miteinander logisch unvereinbar sind. Schließlich ist ja das System „Welt“ niemals als Ganzes beschreibbar und deshalb niemals alle seine Propositionen gleichzeitig präsent bzw. „aktiv“. Vielmehr dürften verschiedene Komplexe von Überzeugungen auf verschiedenen Ebenen, sozusagen in individuellen, mehr oder weniger voneinander abgekoppelten kognitiven „Boxen“ organisiert sein und im Regelfall kaum in Berührung geraten, so dass eine strenge Kohärenzforderung auf die einzelnen Komplexe selber beschränkt bleiben sollte. Wichtiger noch ist aber der dynamische Charakter der Konstitution von „Welt“: Da immer neue Erfahrungen in unsere kognitiven Repräsentationen integriert werden müssen, können diese Repräsentationen nur als dynamische, sich ständig in Bewegung befindliche gedacht werden. So werden ständig Inhalte (die Propositionen entsprechen können) verworfen und andere an ihrer Stelle akzeptiert. Außerdem ist es wahrscheinlich ein Trugschluss, dass logische Unvereinbarkeit von Sätzen allen Menschen stets und in jedem Falle gleichermaßen zwingend erscheint. Vor allem aber stehen dem Alltagsdenken zahlreiche Mittel der Kohärenzsicherung zur Verfügung, etwa das Mittel der „Ausnahme“ (Es gilt eigentlich immer p, aber in Ausnahmefällen auch mal nicht-p) oder gar des „Wunders“ (Es gilt gesetzmäßig p, aber warum sollte nicht eine höhere Instanz die Gesetze außer Kraft setzen können). Widerspruchsfreiheit der Gesamtheit der Propositionen kann also nicht vorausgesetzt oder gefordert werden. Dennoch besteht offensichtlich eine Kohärenzforderung für unsere Weltrepräsentationen. Wie können wir diese theoretisch fassen?
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Es scheint mir angebracht, diese Forderung so schwach wie möglich zu formulieren: Die „Kohärenz“ subjektiver Weltrepräsentationen muss solange als gegeben vorausgesetzt werden, bis dem Subjekt ihr Fehlen zum Problem wird. Ebenso wenig, wie die „Welt“ mit einem feststehenden System von Propositionen identisch ist, ist ihre Kohärenz als fest gegebene Eigenschaft eines solchen Systems beschreibbar. Sie muss im Gegenteil immer wieder hergestellt und aufrechterhalten werden. Dieser Prozess, bei dem verschiedene Operationen und Strategien zur Anwendung kommen, ist im Regelfall erfolgreich, aber er kann auch scheitern. Das Scheitern der Kohärenzsicherung äußert sich – abhängig von der Bedeutung der widersprüchlichen Propositionen für andere Bestandteile des Systems – in „kognitiver Dissonanz“, die dann das Problem ihrer Auflösung stellt 36. Ein solches Verständnis von „Kohärenz“ lässt sich m. E. an gebräuchliche Verwendungsweisen des Begriffs in Textlinguistik37 wie auch System- oder Erkenntnistheorie anschließen. Kern dieser Konzepte ist jeweils der systematische Zusammenhang (lat. cohaerere). Ich orientiere mich hier an der Darstellung von Bartelborth, der eine „Kohärenztheorie der Erkenntnis“ vertritt38. Ein kohärentes Überzeugungssystem ist demnach ––––––––––––– 36 Leon Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance (1962, zuerst 1957), die populärste einer ganzen Reihe von Arbeiten über “cognitive consistency”, geht davon aus, dass miteinander unvereinbare Kognitionen (z. B. Überzeugungen) beim Individuum eine Motivation erzeugen können, die so entstandene „kognitive Dissonanz“ zu beseitigen oder zu reduzieren und die Kognitionen wieder zu harmonisieren. Das Fehlen von Kohärenz – „kognitive Dissonanz“ – macht sich also bemerkbar und erzwingt Reaktionen. Festinger ersetzt die verbreiteten Begriffe consistency/inconsistency durch consonance/dissonance, um die logischen Konnotationen ersterer zu vermeiden (Festinger 2f.). 37 Auch linguistische Kohärenz kann als ein „Spezialfall allgemeiner Kohärenzphänomene“ und damit als „Zusammenhang in Systemen“ gefasst werden; vgl. Hans Strohner u. Gert Rickheit, „Kognitive, kommunikative und sprachliche Zusammenhänge“ (1990), 21. Kohärenz lässt sich nach Strohner u. Rickheit auf den drei Ebenen der Kognition, der Kommunikation und der Sprache untersuchen (Kohärenz innerhalb der Kenntnissysteme eines Individuums, zwischen Kommunikationspartnern, zwischen Textteilen). Eine linguistische Theorie der Kohärenz soll nach Strohner u. Rickheit die Beziehungen zwischen diesen Ebenen untersuchen, auf denen Kohärenz jeweils die systemischen Aspekte der Integrität, Stabilität und Kreativität umfassen soll. 38 Thomas Bartelborth, Begründungsstrategien. Ein Weg durch die analytische Erkenntnistheorie (1996), Zitat S. 148. Im Folgenden zitiere ich aus Bartelborth 1996 mit einfachen Seitenzahlen. – Wie ich geht Bartelborth davon aus, dass Überzeugungssysteme „vielfältige innere Struktur“ besitzen, „verschiedene Grade der Allgemeinheit unserer Meinungen, Überzeugungen über andere Überzeugungen, darunter insbesondere Ansichten über den Grad der Rechtfertigung bestimmter Meinungen und anderes mehr“ (75). Und ebenso wie ich betrachtet er Überzeugungssysteme als propositional: „Wenn
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zunächst dadurch charakterisiert, dass seine „Aussagen in vielfältiger Weise zusammenhängen“ (Bartelborth 136). Ein System von Meinungen ist „um so kohärenter ..., um so größer seine Vernetzung ist“ (192). Diese Vernetzung wird im wesentlichen durch inferentielle Beziehungen geleistet: Erklärungen, logische oder probabilistische Zusammenhänge, aber auch etwa Analogien, die Bartelborth als „recht abstrakte Form von Erklärungen“ betrachtet (154). Zur Vernetzung tritt Vereinheitlichung: „Je einheitlicher unser Modell der Welt beschaffen ist, deston besser sind für den Kohärenztheoretiker die Begründungen unserer Meinungen.“ (201) In seiner „semiformalen Explikation des Kohärenzbegriffs“ unterscheidet Bartelborth relationale und systematische Kohärenz und formuliert Bedingungen, die „alle zusammen bestimmen, wann sich eine Aussage kohärent in ein Meinungssystem einfügt. Für die Qualität dieser Einbettung sind holistische Zusammenhänge, die nach einer möglichst großen Vernetzung und Vereinheitlichung unserer Überzeugungen fragen, die ausschlaggebenden Faktoren.“ (207) Systematische Kohärenz bezieht sich auf die Kohärenz eines Überzeugungssystems, relationale Kohärenz darauf, wie kohärent eine Aussage in ein Überzeugungssystem „hineinpasst“, eingebettet ist (192f.) „Kohärenz“ meint also in der vorliegenden Untersuchung genauer systematische Kohärenz eines Überzeugungssystems X, die folgendermaßen expliziert werden kann (193): X ist um so kohärenter, (a) je mehr inferentielle Beziehungen (logische und Erklärungsbeziehungen) die Propositionen in X vernetzen [Vernetzungsgrad] (b) je besser die Erklärungen sind, die X vernetzen [Erklärungsstärke] (c) je weniger Inkohärenzen in X vorliegen [Inkohärenzgrad] (d) je bewährter X ist [Stabilitätsbedingung]
Zu den Inkohärenzen unter (c) zählen isolierte Subsysteme von Überzeugungen, Erklärungsanomalien und konkurrierende Erklärungen sowie – für uns besonders relevant – Inkonsistenzen (193), und zwar logische ––––––––––––– ich von Überzeugungen oder Wissen oder unserem Wissenskorpus spreche, beziehe ich mich damit immer auf Entitäten, die die Struktur von Aussagen (Propositionen) haben, also wahrheitsfähig sind.“ Damit ist nicht schon behauptet, „daß die interne Speicherung dieser Überzeugungen ebenfalls immer in propositionaler Form erfolgen muß“, aber mindestens, dass gemäß unserer Intuitionen über Überzeugungen „derjenige, der eine Überzeugung hat, über eine Sprache verfügt und die in Frage stehende Überzeugung auch in dieser Sprache repräsentiert werden kann“ (65).
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Inkonsistenzen ebenso wie probabilistische („p“ und „p ist unwahrscheinlich“) – beides eine „Störung für den harmonischen Zusammenhang unseres Meinungssystems“ (197). Von logischen Inkonsistenzen wird angenommen, „daß sie sich in unseren Überzeugungssystemen lokal begrenzen lassen“ (ebd.) – eine einzelne Inkonsistenz macht noch nicht zwangsläufig das ganze System inkohärent. Es kommt also wesentlich darauf an, wie zentral eine von Inkonsistenz betroffene Überzeugung für das Überzeugungssystem ist, welche Bedeutung sie für die Vernetzung und Vereinheitlichung des Systems hat. Die „Probleme“, die ich untersuchen werde, betreffen lokale, aber zentrale Inkonsistenzen, die eben dadurch identifizierbar werden, dass sie zum Problem geworden sind. Der Unterschied zwischen einer Konsistenzforderung, die sich auf die Widerspruchsfreiheit der gesamten „Weltbeschreibung“ bezieht, und einer „schwächeren“ Forderung wie der unseren ist letztlich wieder einer der Perspektive. Die Beurteilung der „Kohärenz der Welt“ im Ganzen erforderte eine vollständige Beschreibung des jeweiligen Diskursuniversums. Für „unsere Welt“ setzt sie den unerreichbaren Überblick eines quasi außerhalb dieses Universums befindlichen Beobachters voraus. Die schwache Formulierung ist gerade der Tatsache geschuldet, dass wir in der Regel „selbst Teil dessen (sind), was wir in unserer Zustandsbeschreibung beschreiben“ (Lyons 179). Diese Perspektivenabhängigkeit tritt vor allem dann deutlich in Erscheinung, wenn sich der Begriff der „Welt“ nicht nur auf subjektive Inhalte, sondern auf die „objektive Realität“ beziehen soll. Bei Leibniz dient der Begriff „möglicher Welten“ (den er wohl erfunden hat) der Definition von notwendig wahren und notwendig falschen Aussagen: Notwendig wahr, also analytisch, sind Propositionen, die in allen möglichen Welten wahr sind. Auch zur Beurteilung von Notwendigkeit und Kontingenz braucht es also den Überblick über alle möglichen Welten, über alle möglichen Zustände und Abfolgen von Zuständen des Universums. Es braucht die Perspektive des allwissenden, außerhalb aller Welten stehenden Beobachters. Dieser Beobachter ist bei Leibniz Gott (vgl. Lyons 178f.). Der Leibnizsche Gott wird uns im zweiten Hauptteil dieser Arbeit wieder begegnen. Dort wird gezeigt, wie die Perspektive Gottes die „Lösung“ des Theodizeeproblems erlaubt, ganz ähnlich wie im Hiobbuch die Perspektive JHWHs das Hiobproblem lösen oder zum Verschwinden bringen soll, und wie an diesen Lösungsversuchen narrative Strategien wesentlich beteiligt sind.
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4. Die Welt des Textes Die Möglichkeit der Verwendung argumentativer und narrativer Strategien bei der Verhandlung ein und desselben Problems – so meine These – beruht im Kern darauf, dass beide in Texten auf eine „Welt“ verweisen. Die Unterstellung eines Weltbezugs, die unhintergehbare Annahme einer strukturierten und kohärenten „Welt“, die absoluter Horizont unseres Handelns und Erkennens ist, ist auch die Voraussetzung dafür, dass ein Text – narrativ oder argumentativ – eine „Welt“ mit eigener Struktur und eigenen Regeln erzeugt oder entwirft. Schon für Goethe macht ja das Werk „eine kleine Welt für sich aus, in der alles nach gewissen Gesetzen vorgeht, die nach ihren eignen Eigenschaften gefühlt sein will“; gerade deshalb habe das Werk „eine innere Wahrheit, die aus der Consequenz eines Kunstwerks entspringt“39. „Dichtung“, heißt es bei Wolfgang Kayser, „ist die einheitliche Gestaltung einer eigenen Welt mittels der Sprache“ (Kayser 1958, 58). Auch Paul Ricoeur (Anm. 66 auf S. 51) vertritt die Meinung, „daß das, was in einem Text interpretiert wird, der Vorschlag einer Welt ist, in der ich wohnen und meine eigensten Möglichkeiten entwerfen könnte“ (Ricoeur 1988, 127) – das Werk bedeutet eine „Welt“. a) Das Referenzpostulat Die Beziehung auch fiktionaler Texte auf etwas außerhalb ihrer selbst, so Ricoeur, kann nicht mit der Rede von „Referenzillusionen“ (Ricoeur 1988, 125) abgetan werden. Das (literarische) Werk kommuniziert „über den Sinn des Werkes hinaus letztlich die Welt, die es entwirft und die seinen Horizont bildet“ (a. a. O. 122). Diese „Welt“, die ein Text entwirft, ist nicht identisch mit „unserer Welt“ oder besser der „Welt“ des Lesers. Sie muss im Gegenteil im Akt des Verstehens auf diese bezogen und mit dieser vermittelt werden. Das verstehende Lesen des Erzähltextes (die „miPƝsis III“) kann deshalb aufgefasst werden als eine „Verschmelzung von zwei Horizonten, demjenigen des Textes und demjenigen des Lesers“, in der eine irgendwie geartete „Überschneidung zwischen der Welt des Textes und der des Lesers“ (125) zum Tragen kommen muss. Es ist diese Überschneidung, die es erlaubt, dass der Leser im Text Urteile über seine eigene Welt erkennen kann. ––––––––––––– 39 Johann Wolfgang Goethe, „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Ein Gespräch“, WA I 47, 261.
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Die „Welt im Kopf“ gibt der „Welt des Textes“ Format und Struktur. Dann aber eröffnet sich für den Bezug der Welt des Textes auf die „reale“ Welt des Lesers „eine breite Skala von Möglichkeiten von der ideologischen Bestätigung des Bestehenden, wie in der offiziellen Kunst oder der Chronik der Machthaber, bis zur Gesellschaftskritik und sogar dem Hohn auf alles ‚Wirkliche‘.“ (ebd.) Darüber hinaus – so argumentiert die vorliegende Arbeit – erlaubt es der unvermeidliche Welt-Bezug des Erzähltextes, narrative Konfigurationen auf problemhafte Repräsentationen außertextlicher „Welten“ zu beziehen – also Probleme mit Hilfe narrativer Strategien zu verhandeln. Ricoeur, von dem ich auch den Begriff der „Welt des Textes“ übernehme, hat den Begriff der „Welt“ als „korrelativ“ zu dem des „Horizontes“ bezeichnet40. Der hermeneutische Ansatz Ricoeurs kommt dabei unserem eigenen „kognitiven“ Ansatz nahe. Interessant ist in diesem Zusammenhang Ricoeurs Kunstgriff, den Begriff „Welt“ selber ausgerechnet über das Textverstehen abzuleiten. Er meint nämlich (mit Verweis auf Nelson Goodman), dass die „Welt“ nichts anderes als die Gesamtheit der Referenzen ist, die durch alle Arten von deskriptiven und dichterischen Texten zugänglich gemacht werden, die ich gelesen, gedeutet und geliebt habe. Diese Texte verstehen heißt, unter den Prädikaten unserer Situation alle die Bedeutungen zu interpolieren, die aus einer bloßen Umwelt eine Welt machen. Tatsächlich verdanken wir den Werken der Fiktion zum großen Teil die Erweiterung unseres Existenzhorizontes ... (Ricoeur 1989, 126f.)
Ricoeur verwendet bewusst und gegen die jüngere literaturtheoretische Tradition den semantischen Terminus „Referenz“, einen nicht unproblematischen Begriff, wie Ricoeur schon in der Lebendigen Metapher41 durch seinen Verweis auf Freges „Über Sinn und Bedeutung“42 deutlich gemacht hat. Freges Unterscheidung zwischen „Sinn“ und „Bedeutung“ (d. i. Referenz) sprachlicher Ausdrücke versuchte der Tatsache gerecht zu werden, dass sich sprachliche Bedeutung weder im Spiel innersprachlicher Verweise innerhalb der Grenzen des Zeichensystems noch wie in einer rein extensionalen Semantik im Weltbezug sprachlicher Ausdrücke erschöpft. Der Satz „Der Morgenstern ist der Abendstern“ erscheint uns von anderer Art als die Tautologie „Der Abendstern ist der Abendstern“ ––––––––––––– 40 Insofern kommt, wie Ricoeur anmerkt, seine Definition der mimƝsis III (s. u. S. 285) derjenigen der „Horizontverschmelzung“ bei Gadamer nahe (vgl. Ricoeur 1988, 122). 41 Ich zitiere in diesem Abschnitt aus Ricoeur 1986 mit einfachen Seitenzahlen. 42 Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, in Ztschr. f. Philosophie und philosophische Kritik 100 (1892), 25-50.
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(nämlich als potenziell informativ), selbst wenn wir wissen, dass sich beide Begriffe auf die Venus beziehen. Die „Sinne“ beider Ausdrücke (die Art des Gegebenseins ihrer Bedeutung) sind verschieden, ihre „Bedeutung“ oder Referenz dagegen ist dieselbe. Den Sinn eines Satzes oder Textes zu verstehen ist eine Frage der Sprachkompetenz; vom Sinn zur Bedeutung aber treibt uns „das Streben nach Wahrheit“ (Frege), weil die „Forderung einer Bedeutung zu ‚unsere(r) Absicht beim Denken oder Sprechen‘ (32) gehört“ (211). Beim Sprechen wird Referenz postuliert. Diese Unterscheidung von Sinn und Bedeutung gilt für alle Sprechakte gleichermaßen: Sprechen ist Mit-teilen, das Teilen von Erfahrungen, deren Horizont wiederum die Welt ist: Weil wir in der Welt sind und von Situationen betroffen werden, versuchen wir, uns darin im Modus des Verstehens zu orientieren, und haben etwas zu sagen, eine Erfahrung zur Sprache zu bringen und miteinander zu teilen. (Ricoeur 1988, 123)
Das Referenzpostulat ist also nur die innersprachliche Reflexion einer ontologischen Voraussetzung der Referenz (vgl. ebd.): eben dass wir in der Welt handeln und sprechen. Jede Sprachverwendung, auch die literarische, hat es mit dieser Voraussetzung zu tun. Was aber sind Sinn und Referenz von literarischen und erzählenden Texten? Der Sinn des Werkes, so Ricoeur, ist seine Struktur; seine Bedeutung aber ist die „Welt des Werkes“. Allerdings darf, solange „Bedeutung“ im Fregeschen Sinne „Referenz“ meint, die besondere Referenzweise des literarischen Werkes nicht außer Acht gelassen werden: Literarische Texte scheinen ja eine Ausnahme vom Referenzpostulat zu bilden; das ontologisch gegründete Referenzpostulat muss reformuliert werden: „... aufgrund seiner spezifischen Struktur entfaltet das literarische Kunstwerk eine Welt unter der Bedingung, daß die Referenz der deskriptiven Rede suspendiert wird.“ (Ricoeur 1986, 214f.) Diese „Auslöschung der deskriptiven Referenz“ verweist nicht einfach nur die Sprache auf sich selbst, sondern erscheint „als eine negative Bedingung dafür ..., daß ein radikaleres Vermögen der Referenz auf Aspekte unseres In-der-Welt-seins freigesetzt wird, die nicht direkt ausgedrückt werden können.“ (Ricoeur 1988, 126) So tritt ein „fundamentalerer Modus der Referenz“ hervor, der in der Interpretation expliziert wird. Über seine „virtuelle Referenz“ entfaltet das Werk eine „dichterische Hypothese“ (Ricoeur 1986, 224f.), die „Projektion einer bewohnbaren möglichen Welt“ (156). Es beschwört im Modus der Fiktion (Bruners „Subjunctivizing“) eine „andere Welt ..., die anderen Existenzmöglichkeiten entspricht, die unsere eigensten Möglichkeiten sind“ (225).
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b) „Welt des Textes“ und „Welt des Lesers“ Wie entfaltet ein Text eine Welt? Ich habe dieses Problem bereits mehrfach kurz gestreift und will nun etwas ausführlicher darauf eingehen. Natürlich kann nur ein Leser oder Hörer einem Text, einer Menge sprachlicher Aussagen, Format und Struktur einer „Welt“ verleihen. Die logische Semantik setzt gemeinhin voraus, dass eine Person die Bedeutung eines Satzes nur dann kennt, wenn sie seine Wahrheitsbedingungen kennt, wenn sie also ein Verständnis davon hat, wie eine Welt beschaffen wäre, in welcher dieser Satz wahr ist. Damit Sätze und Texte „Sinn machen“, müssen Sprachverwender sie auf eine (mögliche) Welt beziehen können – nicht unbedingt auf die „wirkliche Welt“, aber doch auf die Repräsentation einer systematisch geordneten Totalität, die dieselbe grundlegende Struktur hat wie die Lebenswelt der Sprachverwender (bzw. ihr „Modell“, wie es oben beschrieben wurde)43. Ein Leser, der etwas über Menschen oder Dinge liest, nimmt an, dass es sich um Menschen und Dinge in einer (denkbaren) Welt handelt. Ohne diese Annahme wäre der Begriff einer „Welt des Textes“ sinnlos. Es wäre dann aber auch nicht möglich zu erklären, wie der Leser von der bloßen Textgestalt ausgehend sich „ein Bild machen“, Ungesagtes und nur Impliziertes ergänzen, Inferenzen erzeugen und Muster vervollständigen kann. Umberto Eco hat detailliert beschrieben, wie Leser durch aktive „textuelle Mitarbeit“ die Welt des Textes erzeugen. Nach Eco vollziehen Leser erzählender Texte, wenn sie Textaussagen aktualisieren, umfangreiche extensionale – einen Weltbezug herstellende44 – Operationen: Sie un––––––––––––– 43 Ich vernachlässige hier die Frage nach z. B. wissenschaftlichen Texten, die sich nicht mit unserer alltäglichen Handlungswelt beschäftigen (z. B. eine Abhandlung über Schwarze Löcher). 44 Die „Extension“ eines Ausdrucks ist seine „Referenz“ (Freges „Bedeutung“). Extensionen beziehen sich auf Sachverhalte oder Dinge in einer Welt: Die Extension eines Individuenterms ist der davon bezeichnete Gegenstand; die Extension eines Prädikats ist die Menge von Gegenständen, auf die das Prädikat zutrifft; die Extension eines Satzes ist sein Wahrheitswert. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist aber nicht auf seine Extension beschränkt, sondern diese hängt ihrerseits von der Beschaffenheit der Welt ab. Sprachphilosophie und Semantik definieren daher „Intensionen“ (Carnap) als Funktionen, die Extensionen mögliche Welten zuordnen. Sie bestimmen, was der Fall sein muss (wie eine mögliche Welt beschaffen sein muss), damit ein Bezug gilt oder ein Satz wahr ist. Die Intension eines Satzes ist die Menge aller möglicher Welten, in denen dieser Satz wahr ist. Intensionen eines Individuenterms bzw. Prädikats ordnen jeder möglichen Welt das Individuum oder die Gegenstände zu, die in dieser Welt durch die Extension dieser Ausdrücke bezeichnet werden.
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terstellen erstens überhaupt einen ‚weltartigen‘ Zusammenhang der Referenzen des Textes, ordnen die im Text gemachten und vorausgesetzten Existenz- und Prädikationsbehauptungen einer möglichen Welt zu, und sie unterstellen zweitens, um ihr Weltwissen (Informationen aus ihrer „Enzyklopädie“) anwenden zu können, vorläufig eine Übereinstimmung dieser (möglichen) Welt mit ihrer Handlungswelt (oder generischen Textwelten)45. Bei sich in der weiteren Lektüre ergebenden Abweichungen müssen die Eigenschaften und Regeln der angenommenen Welt schrittweise modifiziert werden – Eco spricht deshalb von „Extensionen in Parenthese“ (Eco 1990, 93). Extensionale Operationen eliminieren die immanente „Welt“Abhängigkeit sprachlicher Ausdrücke durch schrittweise Spezifizierung der Beschaffenheit der Welt des Textes – für nichtfiktionale Texte in der Regel durch Anwendung dessen, was als für die „reale“ Welt geltend geglaubt wird. Umgekehrt nötigt die Akzeptanz eines Satzes als „wahr“ die Sprachverwender dazu, ihre Überzeugungen über die Beschaffenheit der Welt entsprechend zu verändern. Die „Welt“ von Texten entsteht also im Kopf von Lesern; nur mit ihrer Mithilfe kann ein Text seine „Welt“ evozieren. Was Texte für uns bedeuten können, ist abhängig von unserem Wissen über die Welt, davon, wie dieses Wissen organisiert ist und wie wir damit operieren. Diese doppelte Abhängigkeit der Welt des Textes von der Welt im Kopf (von kognitiven Strukturen und kognitiven Operationen) ist auch der Grund, warum für unsere Gegenüberstellung narrativer und argumentativer Problemverhandlung kein Gegensatz in Bezug auf kognitive Strukturen (wie der von kategorial vs. schematisch organisierten Wissensinhalten) im Mittelpunkt stehen kann. Immer wenn im Kopf von Lesern textuelle Welten entstehen, werden wahrscheinlich gleichermaßen Inhalte ganz verschiedener Organisationsformen aktiviert; unterschiedlich strukturiert, aber jeweils letztlich auf dieselbe grundsätzliche „Welt“-Struktur bezogen. Narrative und ar––––––––––––– Nur am Rande sei erwähnt, dass auch diese (traditionelle) Bestimmung der Intension noch keine hinreichende Bedeutungstheorie liefert. Erstens variieren Referenzen auch bei einer gegebenen Weltbeschaffenheit mit dem „Kontext“, etwa Zeit oder Ort (der „König von England“ 1189-99: Richard Löwenherz). Intensionen müssen deshalb nicht nur den Bezug auf mögliche Welten, sondern komplexere Indizes (etwa Tripel <w, t, p> möglicher Welten, Zeiten und Orte) liefern. Außerdem variieren bestimmte Ausdrücke (indexikalische bzw. deiktische) zusätzlich mit dem Äußerungskontext („Ich bin jetzt der König von England“). 45 Dabei können uns gewisse Signale wie etwa Genrezugehörigkeit veranlassen, von vornherein eine Welt mit modifizierten Regeln vorauszusetzen, z. B. eine Märchenwelt.
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gumentative Texte erzeugen strukturell gleichartige „Welten“. Unterschiede in ihrem Problemverhandlungspotenzial liegen nicht auf der Ebene von propositionalen Strukturen der Wissensrepräsentation. c) Problematische Weltbeschreibungen Erzählende und argumentierende Texte stimmen darin überein, dass sie textuelle „Welten“ evozieren. Das ist auch die Basis für narrative und argumentative Problemverhandlungen. Probleme, die argumentativ und narrativ – also textuell – verhandelt werden können, beziehen sich, auf geeignete Weise reformuliert, auf die Kohärenz von Weltbeschreibungen, also Mengen von Propositionen. Die verschiedenen „Hiobprobleme“ in Erzählung und Dialog machen das deutlich46: Die überlieferte Hioblegende, die der heutigen Rahmenerzählung zugrunde lag, formuliert normativ das „rechte Verhalten im Leiden“ und bestätigt paradigmatisch die Gültigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Die ehemals eigenständige Hioberzählung, die man aus den beiden Teilen der Rahmenerzählung rekonstruieren kann, verknüpft wiederum die Bewährung Hiobs mit der Alternative Monismus vs. Dualismus, JHWH vs. Satan. Die wahrscheinlich ebenfalls ursprünglich eigenständige Dialogdichtung dagegen urteilt über die weisheitliche Theologie und das Weltverständnis der Freunde und entwickelt eine alternative Schöpfungstheologie. In allen Fällen stehen verschiedene Behauptungen über die Ordnung der Welt einander gegenüber. Verhandelt werden alternative, perspektivierte Weltbeschreibungen. Das gilt selbst noch für Hiobs existenzielles Problem, das wesentlich durch kognitive Dissonanz gekennzeichnet ist (wenn auch noch nicht in Legende und Erzählung, wo die Subjektperspektive ohnehin kaum eine Rolle spielt). In der Dialogdichtung besteht das Problem Hiobs gerade darin, dass er die Welt nicht mehr versteht, dass die ihm vertraute Ordnung, als sittliche Weltordnung, nicht mehr gilt und dass er JHWH nicht mehr als Garant dieser Ordnung wahrnehmen kann. Hiob steht damit exemplarisch für unverstandenes Leid: Erlebte oder berichtete Erfahrungen von unverschuldetem Unglück geraten, wenn ihre Realität akzeptiert werden muss (sie also Bestandteil der Überzeugungen einer Person oder der Menge als wahr akzeptierter Sätze einer Kommunikationsgemeinschaft werden), in Widerspruch zu einem wichtigen Element des allgemein akzeptierten Weltbildes (einem göttlich garantierten Tun-Ergehen––––––––––––– 46 Die folgenden kurzen Bemerkungen werden in Teil B ausführlich begründet.
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Zusammenhang) und fordern eine Antwort, die diesen Widerspruch beseitigt, die gefährdete Kohärenz bewahrt oder wiederherstellt. Es geht letztlich um eine kohärente Repräsentation der „Welt“ und ihrer von JHWH gewirkten Ordnung, die auch subjektive Erfahrungen des Bösen und Zweckwidrigen integrieren kann. Die Ausgangssituation sa dieses Problems ist charakterisiert durch den Widerspruch von Erfahrung und Ordnungspostulat, sowohl in Bezug auf die internen Repräsentationen Hiobs als auch auf die externe Figurenkonstellation, auf die einander widersprechenden Weltbeschreibungen Hiobs und der Freunde, die es dem Leser erschweren, die gültige Ordnung der Welt des Textes zu aktualisieren. Die Problemlösung besteht daher einmal in der Tröstung, die den existenziellen Riss in Hiobs Welt aufhebt, und gleichzeitig in der Wiederherstellung einer glaubhaften Weltordnung für die Leser des Hiobbuchs. Zielzustand sz ist also eine neue akzeptable und kohärente Weltbeschreibung, die den problemauslösenden Widerspruch überwindet. In unserem Zusammenhang ist es daher zweckmäßig, dieses Problem zu charakterisieren als die Schwierigkeit, einen Übergang von einer offenkundig widersprüchlichen Weltbeschreibung sa zu einer akzeptablen neuen Weltbeschreibung sz ohne den Widerspruch in sa zu finden. sa bzw. sz sind dabei jeweils explizierbar als Systeme von Propositionen (die subjektiven Überzeugungen oder theoretischen Aussagen entsprechen). Ein „Widerspruch“ bezeichnet die manifeste Unvereinbarkeit bestimmter Elemente dieses Systems. Eine „akzeptable und kohärente“ Weltbeschreibung muss nicht zwingend objektiv widerspruchsfrei sein, sondern eben nur unproblematisch, das heißt für ihre Adressaten überzeugend und (bis auf weiteres) annehmbar. Für den Übergang von einer problematischen Weltbeschreibung sa zu einer kohärenten Weltbeschreibung sz kommen in diesem Kontext nur Lösungsoperationen ti (Transformationen im Problemraum, die neue Beschreibungen erzeugen) in Frage, die entweder durch Arbeit an einzelnen Propositionen in sa Schritt für Schritt den manifesten Widerspruch beseitigen (etwa durch die Bestreitung von Prämissen oder das Anführen neuer Schlussprinzipien) oder aber eine neue überzeugende Beschreibung sz ohne diesen problematischen Widerspruch anbieten. Argumentative Operationen zur Lösung des Hiobproblems wären z. B. die Bestreitung der Prämissen von Hiobs Unschuld oder der Behauptung des Tun-ErgehenZusammenhangs oder auch alternative Erklärungsversuche des Leidens und allgemein des Bösen als dennoch zweckmäßiges Element des Weltganzen. Narrative Operationen müssen sich dagegen letztlich narrativer
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Konfigurationen bedienen: z. B. einer überzeugenden Darstellung von Hiobs Leid als Folge einer Schuld (motivierter Schicksalswechsel) oder als verursacht von einer Gegenmacht neben JHWH (Figurenkonstellation). Die wichtigste narrative Operation des Hiobbuches aber ist das Auftreten JHWHs. Diese Operation führt im Buch die Lösung herbei: In den Gottesreden formuliert das Hiobbuch eine alternative Schöpfungstheologie – eine neue Weltbeschreibung. Diese Theologie selber, als theoretische Aussage, ist natürlich auch argumentierbar. Aber den Argumentationen des Hiobbuchs bleibt sie unerreichbar. Sie erscheint dort als Machtspruch von außen, göttliches Urteil, also nur im Bereich des Narrativen als zulässige Operation. Im Problemraum des Hiobproblems führt offenbar kein Weg von gemeinsamen Voraussetzungen der Argumentationsteilnehmer zu einer Schöpfungstheologie jenseits des Vergeltungsdenkens. Offenbar unterscheiden sich also bei Erzählung und Argumentation die jeweils gültigen Regeln für zulässige Operationen im Problemraum. Diese Regeln für mögliche Transformationen im Problemraum werden natürlich in erster Linie von den jeweils (für die vorausgesetzten Rezipienten) geltenden Bedingungen für überzeugende bzw. akzeptable Weltbeschreibungen abhängen, von den allgemein als Fakten akzeptierten Propositionen und grundlegenden Überzeugungen über die Welt: Für Verfechter des Monotheismus ist etwa ein Problemlösungsversuch, der Hiobs Unglück auf das Wirken Satans zurückführen will, weit weniger überzeugend als für Anhänger dualistischer Welterklärungen. Darüber hinaus aber sollten diese Regeln auch ein Stück weit diskursabhängig sein: Textsorte und Textstrategien bestimmen mit, welche Überzeugungsmittel zur Verfügung stehen. Argumentationen haben andere Bedingungen der Kohärenzsicherung als Erzählungen. Meine Untersuchung narrativer und argumentativer Problemverhandlung steht und fällt mit der Annahme, dass sich die dabei jeweils geltenden Regeln für zulässige Lösungsoperationen voneinander unterscheiden. Wie diese Regeln aussehen und wo die Unterschiede liegen, soll im weiteren Verlauf der Untersuchung ausführlich untersucht werden. Wir wollen wissen, wie argumentative und narrative Texte ihre respektiven „Welten“ entwerfen und welche Möglichkeiten der Kohärenzsicherung ihnen dabei zur Verfügung stehen. Da die gesuchte kohärente Welt in jedem Fall das Format der „Welt des Lesers“ hat, wird sich bei allen Unterschieden dabei ein gemeinsamer Kern identifizieren lassen, der gemeinsame Kern von Rhetorik und Poetik: Überzeugung, Plausibilität, „innere Wahrscheinlichkeit“.
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5. Modelle und Analogien Die Unterschiede narrativer und argumentativer Problemverhandlungen liegen weder auf der Ebene von Propositionen noch auf der von „Welten“. Wo also liegen sie dann? Fragen wir noch einmal nach der kognitiven Vermittlung zwischen dem propositionalen Gehalt eines Textes und seiner „Welt“. Denn erstens ist unser „Weltwissen“ ja nicht ausschließlich propositional repräsentiert, und zweitens ist uns (mit Ausnahme selbst definierter, künstlicher „Welt“-Modelle mit überschaubarem Inventar und festgelegten Wahrheitswerten) die aktuale „Welt“ so gut wie nie vollständig „gegeben“. Die Art und Weise, wie wir in unserer Welt sprachlich kommunizieren, sollte diesen Vorbehalt systematisch eingebaut haben. Wir vermuten die je aktuale Welt in einer potenziell unendlichen Menge möglicher Welten. „Welten“ sind aber schlicht zu groß, als dass unser Geist damit effizient operieren könnte – das war Philip Johnson-Lairds Motivation für seine Theorie „mentaler Modelle“ 47. Diese Theorie geht davon aus, dass wir, wenn wir handeln, Schlüsse ziehen oder kommunizieren, mit symbolischen Repräsentationen von Situationen oder Sachverhalten operieren, mit deren Hilfe unvollständiger oder inkonsistenter Input ständig ergänzt, desambiguiert und konsolidiert wird. Diese mentalen „Situationsmodelle“ werden kontinuierlich aktualisiert, aktuellen Zielen angepasst und wenn nötig durch angemessenere Modelle ersetzt. Ähnlich wie Wahrnehmung und Wissen zusammenwirken, um Modelle von Situationen als Teil der Handlungswelt zu erzeugen, werden beim Verstehen eines Textes aus den textuellen Informationen und unserem Wissen über die Welt und über Texte mentale Modelle der kommunizierten Situation (im weitesten Sinne) erzeugt: Durch Text und Kontext werden kognitive Schemata aktiviert und deren Variablen durch Werte aus dem propositionalen Gehalt des Textes besetzt48. Dieser Annahme zufolge arbeiten also ––––––––––––– 47 “… each possible world goes far beyond what any individual can apprehend” (Philip N. Johnson-Laird, Mental Models (1983), 57). 48 “In the course of processing, a model of the text, that is, a propositional representation of the verbal expression in question, and a model of the world, that is, an individual set of schemata from the knowledge domain in question, are condensed and integrated to produce the current model of the discourse, that is, a representation of the state of affairs conveyed by the discourse.” “In those accounts of discourse comprehension that assume recipients to operate on a mental model of the situation in question, the status of a discourse model is that of a hypothetical construct between the propositional text base and the individual’s schematic knowledge base” (G. Rickheit u. L. Sichelschmidt, “Mental Models: Some answers, some questions, some suggestions” (1999), 24f.).
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schemagesteuerte (Top-down)-Prozesse und datengesteuerte (Bottom-up)Prozesse zusammen an der Erzeugung und Aktualisierung des Modells. Mentale Situationsmodelle repräsentieren spezifische Situationen und ihre Veränderungen. Sie können Inferenzen erlauben, Informationen verschiedenen Typs integrieren und wie kognitive Schemata auch einen variablen Grad an Abstraktion oder „Auflösung“ aufweisen. Auch wenn viele Fragen noch offen sind, gibt es mittlerweile eine Fülle empirischer Evidenz dafür, dass Leser tatsächlich auf der Basis eines konkreten Situationsmodells und nicht der verbalen Beschreibungen operieren49. Ich nehme im Folgenden an, dass von der Qualität und Handhabbarkeit möglicher mentaler Modelle (und damit der Verfügbarkeit passender Schemata) die Überzeugungskraft textueller Problemverhandlungen abhängt. Auch beim Problemlösen spielen mentale Modelle eine Rolle: Sie können Komplexität reduzieren oder abstrakte Sachverhalte veranschaulichen. Insofern der „Problemraum“ auch als Gesamtheit regelkonformer Zustände aufgefasst werden kann, können wir Lösungsversuche durch „Unterschiedsreduktion“, also schrittweise Annäherung von Istzustand und Zielzustand, in vielen Fällen als Manipulation eines Modells der Problemsituation gemäß der geltenden Transformationsregeln ansehen. Modelle können außerdem der Analogiebildung dienen (vgl. die „Rutherford-Analogie“ von Sonnensystem und Wasserstoffatom). Es ist daher nicht unplausibel anzunehmen, dass auch im Nachvollzug narrativer Problemverhandlungen Modelle von Problemsituationen (als mehr oder weniger wahrscheinliche Geschehensabläufe) variiert werden. Am Modell werden exemplarische oder analogische Problemlösungen durchgespielt, verworfen oder bestätigt und auf andere Problemstellungen projiziert. Analoge narrative Problemverhandlung beginnt schon dort, wo die Figur Hiob exemplarisch für den leidenden Menschen stehen und damit die Hiobgeschichte – als Modell der Welt und ihrer Ordnung – auch für andere Menschen eine Handlungsanweisung zum „rechten Verhalten im Leid“ liefern soll. Komplexere Verhältnisse ergeben sich im allegorischen Bezug einer narrativen Konstellation auf eine externe Problemstruktur: Spätestens Kants Applikation der Hioberzählung auf das Theodizeeproblem ist keine herkömmliche Modellanalogie. Dennoch sollten sich analoge ––––––––––––– 49 Probanden, die z. B. bestimmen sollten, ob ein bestimmtes Objekt (z. B. sweatshirt) in einem Text erwähnt worden war oder nicht, waren dabei schneller, wenn dieses Objekt Element der aktualisierten Situation war (wie nach John put on his sweatshirt and went jogging) und langsamer, wenn nicht (wie nach John took off his sweatshirt and went jogging) (nach Glenberg et al. (1987), vgl. Rickheit und Sichelschmidt 25).
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narrative Problemlösungen generell ähnlich charakterisieren lassen wie das von der Kognitionswissenschaft untersuchte analoge Problemlösen50, das in der Terminologie des Problemraums wie folgt beschrieben wird: Quellproblem und Zielproblem stellen im Kontext analogen Problemlösens Problemsituationen dar, die im Sinne der Problemraumkonzeption von Klix (1971) sowie Newell und Simon (1972) gesehen werden können. Von beiden Problemen existiert jeweils eine interne Repräsentation der den Problemraum konstituierenden Elemente. Die Ver51 bindung zwischen Quell- und Zielproblem wird über „Analogieprozesse“ hergestellt.
Bei analogen Problemlösungen müssen zwischen Quell- und Zielproblem „Ähnlichkeiten“ aufgefunden werden, um einen Transfer zu ermöglichen52. Entscheidend sind dabei Ähnlichkeiten von Relationen zwischen Objekten, nicht Ähnlichkeiten der Objekte selbst („structure-mapping“, vgl. Gentner und Gentner 1983, 101). Eines der prominentesten Beispiele des analogen Problemlösens ist das sogenannte Strahlenproblem, das schon der Gestaltpsychologe Carl Duncker untersucht hatte: Ein Tumor soll durch Bestrahlung mit Röntgenstrahlen behandelt werden. Das Problem besteht darin, dass eine für die Zerstörung des Tumors ausreichende Dosis auch gesundes Gewebe zerstören würde, welches die Strahlung auf dem Wege zum Tumor durchdringt. Die Lösung: Um den Tumor, aber nicht das gesunde Gewebe zu zerstören, wird Strahlung in geringerer Dosis aus mehreren Richtungen gleichzeitig so appliziert, dass sich genau am Punkt des Tumors die Einzeldosen summieren. Vor einer analogen Problemkonstellation stünde ein General, der eine hinreichend starke Armee ––––––––––––– 50 Vgl. Keith J. Holyoak, “An analogical framework for literary interpretation” (1982). 51 Friedrich W. Hesse, Analoges Problemlösen (1991), S. 19. Ich muss an dieser Stelle betonen, dass meine Darstellung bestimmter narrativer Problemverhandlungen als analoge Problemlösungen selbst gewissermaßen nur eine Analogie darstellt, die sich der Begriffe der kognitiven Psychologie bedient, um in bestimmter Weise über ihren Gegenstand sprechen zu können. Denn im Gegensatz zu den empirisch gestützten Theorien der Psychologie sind meine Annahmen über Art, Inhalte und Strukturen der für solche „Analogieprozesse“ notwendigen Abstraktionen letztlich nicht mehr als Spekulation, deren Nutzen nur danach beurteilt werden kann, wie plausibel sie mit unseren Textanalysen vereinbart werden kann. 52 Vgl. Dörner 82f. Dörner betrachtet den Analogieschluss als Kombination von Abstraktion, Modellsuche (d. h. Suche nach einer anderen Konkretisierung der gefundenen Abstraktion), und Rückübertragung dieses konkreten Modells auf den ursprünglichen konkreten Sachverhalt. Ein Modell ist nach Dörner ein „Teilbild“, das seinem Original „in bestimmter Weise“ entspricht, also einige Merkmale desselben aufweist (Dörner 83). „Modelle gibt es also als Ergebnisse der Suche nach Analogien und als Konkretisierungen abstrakter Sachverhalte“ zur ihrer „Veranschaulichung“ (Dörner 87).
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einsetzen will, um eine Festung zu erobern, wobei diese aufgrund von Hindernissen nicht von allen Truppen auf einem einzigen Wege erreicht werden kann (ein zu überquerender Fluss mit mehreren schmalen und wenig tragfähigen Brücken liegt im Weg, oder zur Festung führende schmale Straßen behindern den Durchsatz). Die Lösung besteht wiederum darin, die Kräfte „getrennt marschieren und vereint schlagen“ zu lassen („Konvergenzlösung“). Untersuchungen53 zeigten, dass die Kenntnis eines Lösungsweges (etwa des militärischen Problems) in der Regel noch nicht ausreicht, um auch die Lösung des analogen (medizinischen) Problems zu finden; erst bei Kenntnis von mindestens zwei analogen Quellproblemlösungen oder aber nach einem expliziten Hinweis auf die Nützlichkeit der bekannten Lösung fanden die meisten Versuchspersonen eine Konvergenzlösung für das Zielproblem. Das zeigt erstens, dass es Menschen leichter fällt, Korrespondenzen zwischen gegebenen Konfigurationen aufzufinden (Mapping) als diese analogen Konfigurationen selbst (Retrieval), und zweitens, dass die Verfügbarkeit eines abstrakten Lösungsschemas (das mit Hilfe von mindestens zwei analogen Quellproblemen gebildet werden kann), den Lösungstransfer erleichtert (Holyoak 2005, 130). Auch Mandler betont daher “the potential value of an abstract schema, couched in terms of goals, resources, constraints, solution plans, and outcomes. This level of abstraction is similar to the level at which we have described the structure of simple stories” (Mandler 22). Man darf also annehmen, dass auch bei analogen narrativen Problemlösungen Schemata eine wichtige Rolle spielen. Sie sind zwar nicht unabdingbar (Analogien sind häufig auch exemplar- oder modellorientiert)54, aber extrem hilfreich. Hinzu ––––––––––––– 53 Gick u. Holyoak 1980, 1983, nach Holyoak 2005. Nach Holyoak umfasst analoges Denken die Teilprozesse Retrieval, i. e. Auffinden eines Analogons (source) für eine gegebene Situation (target), Mapping (Bestimmen von systematischen Korrespondenzen zwischen source und target), Transfer (Inferenzen auf Basis dieser Korrespondenzen, die die target-Repräsentation bereichern) sowie ggf. Schema induction bzw. Relational generalization (Holyoak 2005, 117f.). 54 Das Strahlenproblem lösten immerhin 20 Prozent der Versuchspersonen, nachdem ihnen nur ein einziges analoges Quellproblem (ohne Hinweis auf Analogie) präsentiert worden war; 10 Prozent allerdings auch ganz ohne ein solches (Holyoak 2005, 123). Beispiele für modellbasierte Analogien, die wahrscheinlich ohne Schemabildung auskommen, sind zwei verbreitete Analogien für Elektrizität: “water-flow” vs. “movingcrowd analogy”. Diese verschiedenen mentalen Modelle von Elektrizität haben, wie Gentner u. Gentner 1983 zeigen, deutliche Auswirkungen auf das Lösen entsprechender Probleme. Zu exemplarorientierten Strategien vgl. Hesse 1991, 209.
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kommt, dass uns bereits zahlreiche, zum Teil tief in unserem kognitiven Apparat verwurzelte narrative Schemata zur Verfügung stehen. Wenn das Quellproblem narrativ verhandelt, also zwischen entgegengesetzten narrativen Programmen entschieden wird, dann sollten bei einem per Analogie zu lösenden Zielproblem ebenfalls konkurrierende Lösungsalternativen zur Entscheidung stehen. Ort für die Analogiebildung (Mapping) wären dann vor allem geeignete Relationen zwischen den jeweiligen Alternativen in beiden Problemen. Ein Lösungstransfer von Quell- auf Zielproblem hätte dann strenggenommen ebenfalls nur eine relationale Struktur, eine abstrakte Lösungsstrategie zum Inhalt. Genau das ist der Fall in Kants „allegorischer“ Lösung des Theodizeeproblems unter Nutzung der im Hiobbuch gegebenen narrativen Lösung des Hiobproblems, in welcher ein narratives Schema, das des RECHTSSTREITES, eine entscheidende Rolle spielt (D.IV). Im Gegensatz zu den Lösungen von Tumor- und Militärproblem, die ja ebenfalls als analoge Erzählungen aufgefasst werden können, gelten hier allerdings für gültige Transformationen des narrativen Modells Hiob eigentlich ganz andere Regeln als für das theoretische Problem der Theodizee. Der Transfer der narrativen Lösungsstrategie erweitert also den Problemraum des letzteren. Die Legitimität dieser Erweiterung ist nicht unstrittig – hier kommt Rhetorik ins Spiel, erleichtert durch unsere Tendenz, auch analoge Inferenzen oft unbewusst in das Wissen über die Zielsituation zu integrieren und als Fakt zu akzeptieren (Holyoak 2005, 130). Diese in diesem Kapitel angedeuteten Elemente und Wege narrativer Problemverhandlung sollen nun detaillierter ausgearbeitet werden. Ziel der folgenden zwei Teile (B und C) ist die Untersuchung von Bedingungen und Regeln narrativer Problemverhandlungen – von narrativen Problemkonstellationen, narrativen Transformationen im Problemraum und narrativen Bewertungen der Problemlösungsversuche sowie von Übertragungen narrativer Problemlösungen auf analoge Probleme. Ich werde mich bei dieser Untersuchung auf das Buch Hiob konzentrieren, das für alle diese Aspekte geeignete Beispiele bereithält. Entsprechend analysiere ich zunächst (in Teil B) narrative Strukturen und Problemverhandlungen im Hiobbuch, erarbeite danach (in Kapitel C.I) eine strukturbezogene Beschreibung narrativer Problemverhandlung einschließlich der Projektion von narrativen Lösungen auf analoge Probleme und beschließe Teil C mit einem Vergleich der Bedingungen und Möglichkeiten (Regeln) narrativer und argumentativer Problemverhandlungen (C.II und C.III).
Teil B Das Hiobproblem
I. Verwirrungen: Der Forschungsstand zum Hiobbuch 1. Aufbau und Entstehung des Hiobbuches a) Textsituation und Forschungslage Die meisten Leser des Buches Hiob setzen die heutige Endgestalt des Buches fraglos als gegeben voraus. Allerdings wissen wir über diesen Text weit weniger, als gemeinhin eingestanden wird. Die genaue Textgestalt des „Originals“ ist uns nicht bekannt. Auch über Entstehung und Hintergrund des Buches und die geistes- und formgeschichtlichen Traditionen, in denen es steht, besteht in der alttestamentlichen Wissenschaft keine Einigkeit. Ich muss deshalb an dieser Stelle betonen, dass meine eigenen Aussagen über Erzählstrukturen im Buch Hiob zum Teil hypothetischen Charakter haben: Ich lege meiner Untersuchung Forschungsergebnisse zu Grunde, die meinem laienhaften Urteil plausibel erscheinen, bin mir aber darüber im Klaren, dass manche von diesen alles andere als gesichert sind. Aus folgenden Gründen halte ich dieses Vorgehen trotz allem für gerechtfertigt: Erstens ist bereits der Fakt, dass das Hiobbuch zu bestimmten Interpretationen Anlass gibt, unabhängig von der jeweiligen Überzeugungskraft dieser Interpretationen ein nützlicher Anhaltspunkt. Dass es etwa gleichermaßen weisheitliche, psalmistische und juridische Interpretationen des Hiobbuches gibt, ist seinerseits interpretationsbedürftig und verrät uns auch etwas über die Erzählstrukturen dieses Textes. Zudem gibt es auch in der Hiobforschung einige Fragen, zu denen in den einschlägigen Überblicksdarstellungen ein Konsens besteht und die wir daher gefahrlos übernehmen können. Und drittens orientieren sich meine theoretischen Überlegungen zu narrativen Problemverhandlungen zwar an Aussagen über die Struktur des Hiobbuches; meine Thesen aber sind allgemein genug, um nicht auf deren Gültigkeit angewiesen zu sein, und sie müssen sich auch an ganz anderen, nämlich neuzeitlichen Texten bewähren. Bevor ich auf Entstehung und Aufbau des Hiobbuches zu sprechen komme, werde ich einen kurzen Überblick über die Text- und For-
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Das Hiobproblem
schungslage geben. Zunächst einige Bemerkungen zur Textsituation1. Die umfangreichste erhaltene Version des Hiobbuches ist der hebräische (masoretische) Text2. Dieser ist, wie der Vergleich mit weitaus älteren Manuskriptfunden aus Qumran gezeigt hat, „weithin wesentlich besser erhalten, als man oft angenommen hat“ (Fohrer 55). Die griechische Übersetzung (Septuaginta, LXX) dagegen ist für die Rekonstruktion eines „Originaltextes“ nur bedingt geeignet. Der Hiobtext der LXX war ursprünglich wesentlich kürzer als der hebräische und zeigt zudem an vielen Stellen Änderungen. Diese Änderungen sind nach Fohrer vorwiegend theologisch motiviert: „Der Übersetzer schwächt Ausdrücke ab, die ihm theologisch anstößig waren... Er sucht Zeichen menschlicher Anmaßung gegenüber Gott zu meiden... Er ändert Stellen, die Gottes Vollkommenheit in Frage stellen könnten...“ (Fohrer 56) So kann man durchaus sagen, dass die bewegte Wirkungs- und Auslegungsgeschichte des Hiobbuches schon in der LXX in vollem Gange ist3. Weitere relevante Versionen sind ein späteres, in Qumran am Ufer des Toten Meeres gefundenes Targum (d. i. eine Verschriftlichung der im Synagogengottesdienst verwendeten mündlichen Übersetzung des hebräischen Textes ins Aramäische) sowie die Vulgata, die lateinische Übersetzung des Hieronymus. Beide sollen die uns bekannte hebräische Version zur Vorlage gehabt haben. So findet sich schon im Qumran-Targum, das inhaltlich aus dem 2. – 1. Jh. v. Chr. ––––––––––––– 1 Zum Folgenden vgl. v. a. Georg Fohrer, Kommentar zum Alten Testament: Das Buch Hiob (21989), 55ff. 2 Der von den Masoreten überlieferte Text der hebräischen Bibel. Die Masoreten (von hebr. masora „Überlieferung“, auch „Textkritik“ und im engeren Sinne die schriftlichen Anmerkungen der Masoreten zu den von ihnen kopierten Texten) waren jüdische Schriftgelehrte in Babylonien und Palästina zwischen etwa 500 n. Chr. bis Ende des 10. Jahrhunderts, die sich die originalgetreue Weitergabe des hebräischen Bibeltextes und seiner Aussprache zur Aufgabe gemacht hatten. Sie kopierten nach strengen Regeln die ihnen vorliegenden Schriften, versahen sie mit Satz- und Vokalzeichen und mit umfangreichen Annotationen. Für abgeschlossene Abschriften eines Buches wurde jeweils die Gesamtanzahl der Verse, Wörter und Buchstaben sowie der mittlere Vers, das mittlere Wort und der mittlere Buchstabe eines Buches notiert, um Anhaltspunkte zur Beurteilung der Übereinstimmung von Kopien zu bieten. Stimmten diese Angaben nicht überein, musste die Kopie noch einmal angefertigt werden. 3 Vgl. auch Preuß 70. Über Hiob hinaus lässt sich feststellen, dass schon die Entstehung des Bibeltextes, wie er heute vorliegt, eingebunden ist in Auslegung und interpretierender Fortschreibung. „Damit verschieben sich die Grenzen zwischen Auslegung und ihrem Gegenstand; aus einem klaren Gegenüber wird ein In- und Miteinander.“ (Christoph Dohmen u. Günter Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (1996), 25).
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stammen soll (die Rolle selbst stammt aus dem 1. Jh. n. Chr.), die erhebliche Störung der Kap. Hi 24-27, wie sie auch unser heutiger Text aufweist. Dennoch zeigt das Targum auch Eigenheiten: es fehlt der Schluss 42,1217 mit der verdoppelten Wiederherstellung, die Rahmenteile 42,11 und 2,11 sind kombiniert, die Unschuld Hiobs ist stärker betont und kritische Aussagen über Gott sind gemildert. Die heutige Endfassung des Textes ist also wohl nur eine, die umfassendste, von mehreren hypothetischen Redaktionsformen, von denen eine weitere das Qumran-Targum vergegenwärtigen könnte4. Die Literatur zum Buch Hiob ist nahezu unüberschaubar. Einen guten, wenn auch nicht mehr ganz aktuellen Überblick über die Hiobforschung gibt H.-P. Müller in seinem Forschungsbericht5. Georg Fohrers großer Kommentar zum Buch Hiob (Anm. 1) ist noch immer ein unverzichtbares Standardwerk. Weitere nützliche Kommentare oder kommentierende Werke sind u. a. Horst 1969, Hesse 1992, Bräumer 1992 oder Ebach 19966. Einen aktuellen Überblick über Theorien zur Entstehung des Buches, Redaktionsmodelle und das Verhältnis von Prolog und Dichtung gibt Syring 20047. Schwerpunkte der philologisch-theologischen Forschung (und ausgeprägter Meinungsverschiedenheiten) sind die Entstehung des Buches, das Verhältnis von Rahmen und Dialog, der Status der Gottesreden, die formale Struktur des Textes und die Traditionen seiner Problemstellung. Alle Deutung und Auslegung ist dabei gezwungen, sich mit sehr widersprüchlichen Befunden einer gründlichen Textanalyse auseinander zu setzen. Das geschieht grundsätzlich in zwei Ausrichtungen: Einmal wird versucht, mittels textkritischer Operationen einen originalen, in sich stimmigen Text zu rekonstruieren. Andere gehen davon aus, dass ein solches Vorgehen letztlich nur zu Hypothesen, nicht aber zu gesicherten Ergebnissen führen kann und somit der Interpret mit dem ganzen Hiobbuch leben muss: in der Gestalt, in der es zum kanonischen Bestandteil der hebräischen Bibel und der christlichen Heiligen Schrift geworden ist. ––––––––––––– 4 Maag 91-99, 194-218; zum Qumran-Targum (11QtgJob) vgl. Maag 32f. und 47 sowie Preuß 70f. 5 Hans-Peter Müller 1988, Das Hiobproblem. Seine Stellung und Entstehung im Alten Orient und im Alten Testament. 6 Friedrich Horst, Hiob (BKAT, 21969); Franz Hesse, Hiob (Zürcher Bibelkommentare, 1992); Hansjörg Bräumer, Das Buch Hiob (Wuppertaler Studienbibel, 1992); Jürgen Ebach, Streiten mit Gott. Hiob (1996). 7 Wolf-Dieter Syring, Hiob und sein Anwalt (2004).
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Die Widersprüche, Ungereimtheiten und Inkonsistenzen, auf die eine aufmerksame Lektüre des Hiobbuches stößt, lassen sich durch Interpretation nur mühsam und niemals ganz befriedigend auflösen. „Die Divergenz von Rahmenerzählung und Dichtung ... und die Widersprüche und Brüche in der Rahmenerzählung selbst sind, auch unabhängig von der Einsicht in außerbiblische Formen der Hioberzählung, immer wieder Gegenstand exegetischer Erörterungen gewesen.“ (Müller 1988, 36f.) Die vielfältigen Schwierigkeiten mit der vorliegenden Textgestalt führten die Ausleger schon sehr früh8 zu der Auffassung, dass das Buch Hiob aus zwei völlig verschiedenen, aber „ineinander gearbeiteten“ Teilen unterschiedlichen Ursprungs besteht (Hesse 1992, 7). Uneinheitlichkeiten, Widersprüche, fehlende Vermittlungen zwischen der jetzt als Rahmen dienenden Prosaerzählung in Kap. 1 und 2 (und Teilen von Kap. 42) und den in Versform gehaltenen Dialogteilen werden von den meisten Autoren konstatiert; die Schlussfolgerungen aber weichen deutlich voneinander ab. Die meisten neueren Autoren sind sich einig, dass Erzählung und Dichtung verschiedenen Verfassern zu verdanken sind. Damit aber sehen sie sich in ihren Auslegungen zumeist vor folgende Alternative gestellt: Sind die unterschiedenen Teile des jetzigen Buches „völlig unabhängig voneinander entstanden“ und später von einem „lediglich redaktorisch arbeitenden Mann“ kombiniert worden, „oder hat der Verfasser des später entstandenen Teiles den anderen, älteren gekannt und in irgendeiner Weise mit seinem eigenen Beitrag verbunden?“ (Hesse 1992, 9) Letztere Auffassung, der wohl die meisten Ausleger anhängen, steht grundsätzlich vor dem Problem zu erklären, warum dieser Verfasser, der Urheber der Endgestalt des Textes (der „Hiobdichter“) die unpassenden Vorgaben des älteren Textes nicht in seinem Sinne angeglichen hat. Es werden in der Forschung verschiedene Erklärungsansätze vertreten, um diese Widersprüche aufzulösen: (1): Der Verfasser des Hiobbuches verwendete eine ihm vorliegende bereits schriftlich fixierte Erzählung als Rahmen für den von ihm selbst geschaffenen Dialog9. Es muss dann begründet werden, warum der Ver––––––––––––– 8 In seiner Histoire critique du Vieux Testament (Paris 1685) weist bereits Richard Simon, einer der Begründer der Bibelkritik, auf Unterschiede zwischen Prolog und Dichtung hin und meint, dass ersterer als sekundär anzusehen sei. Vgl. Syring 25. 9 Der Forschungsbericht von Müller nennt als Vertreter dieser Auffassung: Julius Wellhausen, Karl Budde, Bernhard Duhm, Johannes Hempel, Ernst Würthheim, Friedrich Horst; der Autor neigt – mit Hinweis auf „große intentionelle und sprachliche Differenz“ der beiden Teile – selbst dieser Ansicht zu (Müller 1988, 45).
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fasser diese vorgefundene Erzählung nicht seinen Vorstellungen entsprechend abgeändert hat. (2): Der Hiobdichter verwendete als Rahmen eine tradierte Erzählung, die ihm als mündliche Überlieferung vorlag. Diese Auffassung vermag allerdings die stilistischen und inhaltlichen Unterschiede der einzelnen Textteile noch schlechter zu erklären10. (3): Ein älterer Dialog wurde durch den heutigen verdrängt, oder es gab bereits ein älteres Hiobbuch mit einem grundsätzlich dem heutigen Buche ähnlichen Aufbau, in welchem aber die Freunde noch fehlten. In diesem Falle ist eine Übereinstimmung nicht notwendig vorauszusetzen; der Erklärungsbedarf verschiebt sich auf den Vorgang und die Motivation solcher Verdrängung ohne weitere Textänderungen im Rahmen11. (4) Von der letztgenannten These führt ein direkter Weg zu der Auffassung, dass die einzelnen Textteile des Hiobbuches von unterschiedlichen Verfassern stammen und später redaktorisch kombiniert wurden. Diese Auflistung ist nicht als eine von sich gegenseitig ausschließenden Möglichkeiten zu betrachten. Bei den verschiedenen Auslegern findet sich oft eine Mischform verschiedener Ansätze. Zusammenfassend kann man mit Syring sagen, dass „sich ein Konsens im Blick auf den Werdegang des Hiobbuches derzeit nicht abzeichnet“ (Syring 49). Die jeweiligen Auffassungen von der Entstehung des Hiobbuches und dem Verhältnis seiner Teile zueinander sind oft weitgehend eine Funktion der inhaltlichen Deutung. Besonders deutlich wird das an der je unterschiedlichen Bewertung der beiden Gottesreden. Das ist kaum überraschend, da ja diese direkten Äußerungen der höchsten Autorität für die Plausibilität der jeweils favorisierten Interpretation von besonderer Bedeutung sind. Die Meinungen über Echtheit und originale Gestalt der Gottesreden gehen entsprechend weit auseinander. So meint z. B. Hesse, die beiden Gottesreden des Hiobbuches seien in mehreren Etappen dem originalen Text erst hinzugefügt worden; ursprünglich habe eine ganz wortlose Gotteserscheinung (mit Wiedergutmachung) auf Hiobs Klagen in weitaus ––––––––––––– 10 Müller nennt Gustav Hölscher, Artur Weiser, Samuel Terrien, Jean Léveque und schreibt auch Fohrer diese Auffassung zu (Müller 1988, 45). Dieser aber hängt eher einer Mischform aus erster und dritter Erklärungsfigur an und meint, der Dichter habe durch formale und stilistische Angleichungen alles „zu einem unauflösbaren Ganzen“ verschmolzen, das die „Hand des überlegenen Gestalters“ zeige (Fohrer 33). 11 Müller führt J. G. E. Hoffmann, Friedrich Delitzsch u. a. für die Verdrängung eines älteren Dialogs, N. H. Snaith für die Annahme eines älteren Hiobbuches ohne Freunde an (Müller 1988, 46).
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angemessenerer Weise geantwortet, als die beiden Reden des vorliegenden Reden das tun würden. Später hat man verständlicherweise eine Theophanie, die nur dem von ihr unmittelbar betroffenen Hiob etwas zu sagen gehabt hätte, zur Lösung des von ihm exemplarisch durchlittenen allgemeineren Problems, warum der Fromme und Gerechte ins Leiden müsse, aber nicht das mindeste beiträgt, in mehreren Etappen durch Reden Gottes ersetzt... (Hesse 1992, 12)
Richter12 dagegen, der das Buch Hiob als Darstellung eines Rechtsstreites interpretiert, will nur eine Gottesrede gelten lassen mit der Begründung, dass zwei Gottesurteile nur bei der Verhandlung zweier verschiedener Vergehen „gerechtfertigt“ wären (Richter 1954, 124). Auch Westermann13 betont die „sachliche Einheit“ (Westermann 111f.) beider Reden: Es handele sich eigentlich um eine einzige Rede, die sich in zwei separat eingeleitete Teile gliedert und aus der nur einige Stücke (so z. B. die Verse über den Behemoth, aber nur ein Teil der Leviathanverse; dazu ein Teil der Tierbeschreibungen) als sekundär ausscheiden. Auch Fohrer meint, dass die Theophanie „im Ganzen des Hiobbuches einmaligen Charakter haben“ müsse: „Gemäß dem Aufbau des Ganzen und der formgeschichtlichen Struktur ist ... mit einer einzigen Gottesrede und einer im Anschluß daran erfolgenden Antwort Hiobs zu rechnen.“ (Fohrer 38f.) Wieder anders sieht das Jürgen Ebach14, der davon ausgeht, dass das Hiobbuch die „Dissonanzen der Welt“ gegen falsche Versöhnungen bewahren will (Ebach 1984, 29). Vermutlich deshalb macht er gerade diejenigen Verse der zweiten Gottesrede, die den Behemoth und den Leviathan, die Verkörperung der von Gott gebändigten Chaosmächte, zum Thema haben (und die von den meisten Auslegern als sekundär aufgefasst werden), zu einem zentralen Ausgangspunkt seiner Hiobinterpretation und begreift beide Gottesreden gleichermaßen als original. Maag15 schließlich, der sich auf die Interpretation der widersprüchlichen Textstruktur des Buches als Ausdruck theologisch motivierter Redaktions-, Rezensions- und Korrekturvorgänge konzentriert, bezeichnet dieselben Textstellen als „tertiäre ––––––––––––– 12 Heinz Richter, Studien zu Hiob. Der Aufbau des Hiobbuches, dargestellt an den Gattungen des Rechtslebens (1954). 13 Claus Westermann, Der Aufbau des Buches Hiob (21977). 14 Jürgen Ebach, Leviathan und Behemoth: Eine biblische Erinnerung wider die Kolonisierung der Lebenswelt durch das Prinzip der Zweckrationalität (1984); ders., Streiten mit Gott. Hiob (1996). 15 Victor Maag, Hiob. Wandlung und Verarbeitung des Problems in Novelle, Dialogdichtung und Spätfassungen (1982), 200. Ausführlicher dazu unten ab S. 114.
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Textwucherungen“ an einem selbst bereits nachträglich angefügten „Sekundärtext“. Er hält ähnlich wie Richter nur eine Gottesrede für ursprünglich, versucht dieselbe aber nicht wie dieser durch Zusammenfügung von Teilen der beiden vorliegenden Reden zu rekonstruieren. Vielmehr ist ihm die zweite in aggressivem Ton vorgetragene Gottesrede (Hi 40f.) eine theologisch motivierte Korrektur der originalen ersten, gütigpädagogischen Gottesrede in Kap. 38f. (vgl. Maag 196). Bereits jetzt muss festgestellt werden, dass es nicht möglich sein wird, das Werden des Hiobbuches zweifelsfrei zu rekonstruieren. Zudem fehlt mir die philologische Kompetenz, alle Argumente der Kommentatoren angemessen zu beurteilen. Die nun anstehende Darstellung ausgewählter Meinungen zur Entstehung des Hiobbuches wird deshalb versuchen, zum einen das Auseinanderstreben der Auffassungen herauszustellen und gerade nicht voreilig zu nivellieren, zum anderen aber orientierende Aussagen zu sammeln, die sich entweder auf einen weitgehenden Konsens stützen oder aber als auf plausible Weise begründet gelten können. b) Meinungen zur Entstehung des Hiobbuches Für die Frage der Entstehung des Hiobbuches hat die Bestimmung des Verhältnisses von Rahmenerzählung und Dialogteil besondere Bedeutung. Nahezu alle Forscher sind der Meinung, dass der Dichter des Hiobbuches den von ihm verfassten, hauptsächlich in metrisch gebundenen zweigliedrigen Versen gehaltenen Hiob-Dialog in einen ihm bereits vorliegenden Prosa-Rahmen eingefügt hat: Zu stark sind die Unterschiede zwischen beiden Teilen, als dass sie von derselben Hand stammen könnten. Viele Autoren widmen der Rahmenerzählung deutlich weniger Aufmerksamkeit als der Dialogdichtung. Zu denen, die die Rahmenerzählung detaillierter wüdigen, gehört Franz Hesse. Hesse meint, dass der Dialogdichter dafür eine ältere Hioberzählung verwendet hat, die seiner Meinung nach zunächst nur das heutige erste Kapitel und die letzten Verse des 42. Kapitels (42,11.12-17) enthalten haben soll. Erst in nachexilischer Zeit sei dann von Bearbeitern, „dem beliebten Gesetz der Doppelung entsprechend“, eine zweite Himmelsszene samt weiterem Schicksalsschlag eingefügt und die Gestalt des Gegenspielers Gottes mit dem Satan identifiziert worden (Hesse 1992, 10). Noch ausführlicher geht Fohrer in seinem großen Kommentar zum Buch Hiob auf die Rahmenerzählung ein. Diese bestimmt er ihrer Form nach als „eine Legende mit lehrhaft-paränetischer Absicht“, die „a) Überlieferungszüge aufweist, die auf wenigstens vier
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verschiedene Zeitalter und Kreise schließen lassen, b) infolge ihrer Verschmelzung mit der Hiobdichtung überarbeitet und teilweise geändert worden ist“ (Fohrer 29f.). Ihre Entstehung datiert er größtenteils auf die ältere vorexilische Zeit. In frühexilischer Zeit (um 600 v. Chr.) war sie jedenfalls allgemein bekannt, wie die Bezugnahme auf Hiob als vorbildhafter Gerechter (neben Noah und Daniel) in Ez 14,12-23 zeigt. In nachexilischer Zeit jedoch seien die Himmelsszenen durch die Einführung des Satans umgestaltet worden. Der Hiobdichter selbst hat also nach Meinung der meisten Ausleger „die Hioblegende als Rahmenerzählung für seine Dichtung benutzt und zu diesem Zweck einige Änderungen vorgenommen“ (Fohrer 32). Zum Beispiel wird angenommen, dass in der ursprünglichen Erzählung die Verwandten und Bekannten Hiobs, die im heutigen Rahmen nur noch in Hi 42,11 erwähnt werden, genau wie seine Ehefrau in Hi 2,9 Hiob versucht hätten, von Gott abzufallen. Die Zurechtweisung der Freunde durch JHWH in Hi 42,7-9 („... denn ihr habt nicht recht von mir geredet...“)16 soll sich ursprünglich ebenfalls auf diese Verwandten und Bekannten bezogen haben17. „Insgesamt hat der Hiobdichter die Auseinandersetzung zwischen Hiob und seinen Verwandten und Bekannten durch seinen Dialog mit den Freunden und das kurze Gotteswort durch die andersartige Gottesrede ersetzt.“ (Fohrer 32f.) In den Rahmen der Hioblegende also fügte dieser Auffassung nach der Verfasser des Buches seine Dialogdichtung ein, die aus drei Redegängen (jeweils drei Reden Hiobs und je eine Antwort der Freunde, Kap. Hi 3-11; 12-20; 21-23; Teile von 24-27), der Herausforderung Gottes durch Hiob (Kap. 29-31) und dem Komplex von Theophanie und Unterwerfungserklärung Hiobs (einfach oder doppelt; Hi 38-40; Hi 42,1-6) besteht. Hinzu treten noch spätere Änderungen, Ergänzungen und Ähnliches. So halten nur wenige Ausleger (z. B. Westermann) das Kapitel über die Weisheit Hi 28 für original. Die Elihu-Reden werden ebenfalls einhellig als sekundär erkannt. Westermann nennt sie eine „erste kritische Stellungnahme zum Hiobbuch“ (Westermann 133); Richter sieht in ihnen einen nachträglichen Versuch, nach dem Reinigungseid Hiobs den Rechtsstreit wiederaufzunehmen (Richter 1954, 111). ––––––––––––– 16 Hiob-Zitate folgen, wenn nicht anders ausgewiesen, der für die literarische Rezeption bedeutsamen Luther-Übersetzung. 17 Ähnlich u. a. Preuß. Hesse 1992 nimmt an, der Hiobdichter habe aus der ursprünglichen Schilderung eines Verwandtenbesuchs die Einführung der Freundesdialoge gestaltet.
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Auch die Redegänge des Dialogs sind nicht vollständig original erhalten. Während die ersten zwei Redegänge nur wenige sekundäre Zusätze enthalten, birgt der dritte Redegang „zahlreiche Schwierigkeiten, die darauf schließen lassen, daß er starken Eingriffen und Änderungen unterworfen war und nicht mehr im ursprünglichen Text vorliegt“ (Fohrer 34). Die Korrekturen – Textverluste und nachträgliche Einschübe verschiedener Lieder – treffen vor allem Redeteile Hiobs: „So hat man die Hiobreden dreimal durch derartige Lieder ersetzt oder ergänzt, ebenso ist das Lied über die Weisheit in Kap. 28 doch wohl als von Hiob vorgetragen eingeführt.“ (34) Diejenigen Ausleger, die annehmen, dass der Hiobdichter die ihm bereits vorliegende Erzählung als Rahmen für seinen eigenen Dialog verwendet hat, stehen vor dem Problem zu begründen, warum er dabei auf eine stilistische und inhaltliche Angleichung verzichtet haben soll; warum also „der Dichter selbst sein Werk in einen Rahmen gespannt habe, der noch dazu nicht einmal sonderlich gut passt“ (Kuhl, zit. Hesse 1992, 9)? Die Antworten darauf sind verschieden, aber in keinem Fall wirklich überzeugend. Hesse etwa meint, es gelte hier „Eigenarten des antiken Dichters zu bedenken, die uns fremdartig anmuten mögen: Ihm macht es nichts aus, auch völlig disparates Gut zusammenzuordnen und dieses teilweise Vorlagen zu entnehmen, die etwas ganz anderes sagen wollten.“ (Hesse 1992, 11) Man müsse „in Rechnung stellen, daß ein antiker Dichter über das Zueinander-Passen verschiedener Stoffe ganz andere Vorstellungen haben konnte und auch gehabt haben wird als ein moderner Mensch“ (Hesse 1992, 9). Westermanns Argument wiederum verläuft gerade entgegengesetzt: Fehlende Übereinstimmungen seien gerade „nur ein Zeichen der ‚Echtheit‘ in einem anderen als dem literarischen Sinn: der Dichter läßt erkennen, und will erkennen lassen, daß er eine vorhandene, längst geprägte Geschichte aufnimmt.“ (Westermann 33) Für Richter (1954, 130) sind die Widersprüche zwischen Rahmen und Dialog nicht erklärungsbedürftig: „Rahmenerzählung und Hiobgedicht bilden eine Einheit, die in ihrer Gesamtheit die Lösung des Hiobproblems bieten“. Auch Fohrer versucht nicht, verbleibende Ungereimtheiten zu rechtfertigen, sondern betont, dass die Legende in der Verschmelzung mit der Dichtung eine formale und stilistische Angleichung erfuhr, „so daß das ganze Buch in einheitlicher Weise das Berichtende in Prosa und das Gesprochene in poetischer Form darbietet“ und überall „dieselbe Hand des überlegenen Gestalters des Gesamtbuches“ sich zeige (33).
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c) Redaktion und Dogma Trotz aller Uneinigkeit hat die Hiobforschung doch wertvolle Einsichten in die Entwicklung der Textform des Buches gewonnen. Insbesondere Fohrers Schlussfolgerungen werden durch eine Fülle von Belegen gestützt. Allerdings bleiben, wie zum Beispiel Maag18 nachzuweisen versucht, noch immer viele Fragen offen. Vor allem über die Widersprüche zwischen Rahmenerzählung und Dialog wird meist allzu leicht hinweggegangen. Ein Argument wie das von Hesse, ein antiker Dichter habe andere Vorstellungen von Kohärenz und Stimmigkeit, setzt sich, so Maag, „doch vielleicht etwas zu leicht über die ganze Fülle von Gegensätzen hinweg. Auch der Gilgameschdichter und der Verfasser von Mahabharata haben mit vorgegebenen Stoffen gearbeitet; ihre Werke weisen aber gerade die am Hiobbuch auffälligen Divergenzen nicht auf.“ Eine solche „Unempfindlichkeit gegenüber inneren und äußeren Widersprüchen ist somit auch in der Antike nicht das Übliche“ und „viel weniger einem sein ganzes Vorstellungskonzept in sich tragenden Dichter zuzutrauen als vielmehr einem Redaktor, der sich zum Ziel setzt, zwei ihm gleicherweise vorgegebene und für ihn gleichermaßen verbindliche Texte miteinander zu kontaminieren“ (S. 17f. A27). Ich teile Maags Überzeugung, dass die Annahme einer zusammenführenden und kombinierenden Redaktionstätigkeit die widersprüchliche und heterogene Gestalt des vorliegenden Hiobtextes am plausibelsten erklären kann. Seine These einer Redaktion, die das Zusammentreten der disparaten Teile des Buches verantwortet, geht im Übrigen bis ins 18. Jahrhundert zurück19 und wird auch zum Beispiel von Kuhl (1953), Kaiser (1994) oder in jüngster Zeit von Syring (2004) vertreten20. Insofern sich dieser Text solcherart als Ergebnis einer Kontroverse in Geschichtenform darstellt, ergibt sich ein vielversprechender Ansatzpunkt für eine Untersuchung narrativer Problemverhandlungen. Maags Thesen sollen deshalb in einiger Ausführlichkeit dargestellt werden. Wie die meisten Ausleger unterscheidet Maag die Rahmenerzählung von der Dialogdichtung, verneint aber ausdrücklich die These, der Dichter ––––––––––––– 18 Maag, Hiob (Anm. 15). im Folgenden zitiert mit einfachen Seitenzahlen. 19 So Johann Gottfried Hasse, Vermuthungen über das Buch Hiob (1789), zit. Syring 152. 20 C. Kuhl, „Neuere Literarkritik des Buches Hiob“ (1953); O .Kaiser, Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Alten Testaments 3 (1994); W. - D. Syring, Hiob und sein Anwalt (2004). Einen Überblick über verschiedene vorgeschlagene „Redaktionsmodelle“ (bis 2001) gibt Syring 37-40.
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des Dialogs habe selbst die ältere Erzählung als Rahmen verwendet. Statt dessen führt Maag zahlreiche Argumente dafür an, dass Rahmenerzählung und Dialog als zwei eigenständige Werke anzusehen sind, die später von einem Kompilator „zur heutigen Einheit verbunden worden“ sind (18). Die Hauptpersonen beider Werke sind nach Maag trotz Namensgleichheit nicht identisch. Der Hiob der Erzählung oder „Hiobnovelle“ 21 unterscheidet sich vom Hiob der Dialogdichtung sowohl in seiner Charakterisierung und in der Schilderung seiner konkreten Situation wie auch in der Lokalisierung der Handlung. Zu Anfang erscheint Hiob als stummer Dulder, ein sich im klaglosen Leiden souverän Bewährender (Hi 2,10). Gleich darauf aber, in Kapitel Hi 3, begegnet er uns plötzlich und unvermittelt als ein „innerlich Zerschmetterter“ (14), der den Tag seiner Geburt verflucht. Zwar könne man, so Maag, von der Klage in Kap. 3 auf einen erfolgten seelischen Zusammenbruch Hiobs zurückschließen – aber „allein die Nötigung zum Rück-Schluß zeigt, daß der eigentliche An-schluß fehlt“, dass also „etwas überbrückt werden muß“. Solche Widersprüche seien „in der alttestamentlichen Literatur keine Seltenheit und rühren in den meisten Fällen daher, daß eine spätere Hand Stücke verschiedener Herkunft miteinander verbunden hat“ (ebd.). Nicht nur in Charakter und Situation, auch der Lokalisation nach unterscheiden sich beide Helden. Der in der Einleitung Hi 1,3 genannte Name „Uz“ taucht in den Genealogien zweimal auf und wird einmal im aramäischen Bereich, zum anderen in Edom angesiedelt (dazu auch Fohrer 72f.)22. Fohrer stimmt vorsichtig, Maag für die Rahmenerzählung entschieden der aramäischen Lokalisierung zu23. Die Freunde aber, deren Herkunft in 2,11 genannt wird, lassen sich für Maag „nicht im Aramäerland unterbringen“. Die Herkunft Eliphas’ aus Theman24 sowie ihre Rolle als Vertreter der Weisheit weisen für Maag hier auf Edom hin. „Zu diesen edomitischen Freunden will ein im Aramäerland wohnender Hiob, wie ihn 1,1-2,10 sieht, natürlich nicht recht passen.“ (17) Es handelt sich daher ––––––––––––– 21 Als Novelle werden seit Dibelius’ Formgeschichte des Evangeliums (1919) auch Wundererzählungen des Neuen und des Alten Testaments bezeichnet, bei denen das Wunder – als Goethes „unerhörte Begebenheit“ – im Mittelpunkt steht. 22 Aram lag im Norden, im heutigen Syrien, Edom im Süden, dem heutigen Jordanien. 23 Auch Hesse (1992, 25) lokalisiert (allerdings durchgängig) Hiob in Aram, und zwar wie Maag im nördlichen Ostjordanland (Safa-Gegend); zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt, zuvor neben Aram auch Edom erwägend, auch Fohrer (73, 76). 24 „ ... und ein Schriftsteller hätte freiwillig diesen jeden Unbefangenen nach Edom weisenden Namen kaum gewählt, wenn ihm an einer aramäischen Lokalisation seiner Dichtung gelegen hätte“ (Maag 16).
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nach Maag bei dem Hiob der Erzählung um einen aramäischen, in den Dialogen aber um einen edomitischen Uziten (Nachkommen des Uz)25. Zu den Unterschieden in Haltung und Verortung des Helden treten weitere Beobachtungen. Ein besonders auffälliger Widerspruch besteht in Bezug den Hiobs Verlust seiner Kinder, den die Erzählung schildert. Die Dichtung dagegen scheint vom Tod der Kinder nichts zu wissen: Kein Wort der Trauer beklagt ihren Verlust, Hiobs Klagen und Anklagen beziehen sich stets nur auf seinen Verlust an Reichtum und gesellschaftlicher Anerkennung und auf seine Krankheit, welche ihrerseits im zur Erzählung gehörenden Epilog nicht mehr erwähnt wird: Bei Hiobs Restitution ist von keiner Heilung die Rede26. Zusätzlich spricht auch das bereits erwähnte Qumran-Targum, das mit dem Hi 42,11 endet, „mit seinem Fehlen eines Hinweises auf eine Neubildung der Familie für das Vorhandensein einer Traditionsform ohne den Verlust der Kinder“ (47). Maag resümiert: 27
Der unangefochtene Glaubensheld der ersten Kapitel ist somit als ein im Hauran Beheimateter von Haus aus eine anders konzipierte Figur als der verzweifelte ‚edomitische‘ Hiob, der 2,11ff. von seinen drei Freunden besucht wird. Die beiden Textkomplexe sind demnach zwei verschiedenen Verfassern zuzuschreiben. Die Differenz zwischen den beiden literarischen Einheiten erstreckt sich denn auch von der unterschiedlichen Charakterisierung Hiobs und der verschiedenen Lokalisation der Ereignisse ü28 ber eine – wie sich noch zeigen wird – verschiedene religiöse Problemstellung bis hin zur Verschiedenheit von Ausdrucksweise und Wortwahl. Angesichts dieser Sachverhalte kann man sich schlechterdings nicht vorstellen, daß der Dichter der Dialoge den ganzen heute vorliegenden Prosateil selber aus alten Volkstraditionen gestaltet und als Rahmen für sein Dialogwerk benutzt habe. (17)
––––––––––––– 25 Es bleibt das Problem, die Namensgleichheit der Helden zu erklären. 26 In Hi 19,17 sagt Hiob wörtlich: „Mein Atem ward zuwider meinem Weibe und mein Geruch den Kindern meines Leibes.“ (Maag 47) Das setzt die Existenz der Kinder voraus. Viele Ausleger allerdings übersetzen (um den Widerspruch zu vermeiden?) anders. Bei Luther heißt es: „den Söhnen meiner Mutter“; auch Fohrer, der die wörtliche Bedeutung „den Söhnen meines Leibes“ angibt, übersetzt letztlich: „meinen Brüdern“, also „meines Leibes“ aufgefasst als „des Leibes, der mich getragen“ (vgl. Fohrer 308, genauso Hesse 1992, 123; zur Mehrdeutigkeit des Ausdrucks Ebach 1996 I, 151). 27 Der Hauran, in Südwest-Syrien, südlich von Damaskus an der Grenze zu Jordanien, umfasst neben dem Haurangebirge (Djebel el-Druz) die fruchtbare Nukra-Hochebene. Diese bietet nach Maag auch die natürlichen Voraussetzungen für die in Hi 1,14-18 beschriebene Mischwirtschaft (Maag 15f.). 28 „Zur Problemstellung: Die Erzählung fragt: Hat Jahwä recht oder der Satan? – Hiob entscheidet! ... Die Dichtung fragt: Hat Hiob recht oder die Freunde? – Jahwä entscheidet!“ (Maag 17 A26).
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Die Hiobnovelle geht nach Maag auf Volksüberlieferungen zurück und enthielt vermutlich den Text der jetzigen Kap. Hi 1 bis 2,10 sowie den Schluss des letzten Kapitels (ab Hi 42,10). Der Verfasser der Dialogdichtung hat die Novelle nicht gekannt und seinerseits ebenfalls auf die Volkstradition zurückgegriffen (47). Die Dialogdichtung bestand hauptsächlich aus Hiobs Klage, den drei Redegängen inklusive Hi 29-31 mit Hiobs Reinigungseid und seiner Herausforderung JHWHs sowie einer gütigen und zustimmenden Gottesrede an Hiob, die von diesem nicht mehr beantwortet wird. Auch der Dialogdichter hat nach Maag sein Werk mit einem erzählenden Rahmen versehen, wie es in der Weisheitsdichtung üblich war, diesen aber selbst verfasst, also nicht die Novelle dafür verwendet. Zu diesem Rahmen gehörten vom überlieferten Text nur die Fragmente Hi 2,11-13 und 42,7-9. Bei der Vereinigung der Dichtung mit der Novelle ist der ursprüngliche Schluss der Prosaausleitung verlorengegangen, der wahrscheinlich die Wiederherstellung Hiobs, allerdings ohne die Familie, enthielt29. Noch vor der Zusammenführung oder danach aber waren die Texte, und insbesondere die Hiobdichtung, weiteren theologisch motivierten Korrekturen oder, wie Maag sagt, „verschiedenen Rezensionen“ (194) ausgesetzt, die „anscheinend alle in der Schlußredaktion, welcher wir die Gestalt des heutigen Hiob-Buches verdanken, berücksichtigt worden“ sind und „alle in dieser Endform des Buches ihre Spuren hinterlassen“ haben (ebd.). Bei diesen Rezensionen ging es nach Maag im Wesentlichen darum, das theologische Ärgernis der Dichtung im Sinne einer dogmatischen „synagogalen“ Lehre zu neutralisieren. In der Praxis bedeutete das, dass der sich gegen Gott auflehnende Hiob nicht länger Recht behalten durfte. Die verschiedenen Rezensionen hatten daher eines gemeinsam: Das Urteil JHWHs musste getilgt werden: Ein kleiner, wenn auch grundlegender Eingriff war dabei unumgänglich, weil er für jedes weitere in die gewünschte Richtung führende Vorhaben die Voraussetzung bildete: Das war die Tilgung der eindeutigen und alles entscheidenden Stellungnahme Jahwäs zugunsten Hiobs und gegen seine Freunde. Es ist schlechterdings undenkbar, daß das, was heute 42,7-9 als göttlicher Schiedsspruch (wieder) im Text steht, in irgendeine Rezension aufgenommen worden wäre, der es darum ging, Hiob gegenüber seinen Freunden ins Unrecht zu setzen. (194)
––––––––––––– 29 Maag 193. Das Qmran-Targum des Hiobbuches bietet einen solchen Schluss ohne Erwähnung der Familie.
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Rezension A: Einmal hat man gegen Ende des Dialogs Teile der Freundesreden dem Hiob in den Mund gelegt, um ihn gewissermaßen so zur gewünschten Einsicht umschwenken zu lassen. Dieser von Maag als „Sekundär-Rezension A“ bezeichnete Eingriff hatte die vielfach beobachteten Störungen des dritten Redegangs zur Folge (Maag 195). Auch fremdes Material wie das Weisheitslied Hi 28 ist vor allem hier gegen Ende der Reden Hiobs interpoliert worden. Da sich durch die so erzeugte Wendung Hiobs eine Schlussentscheidung JHWHs erübrigen würde, nimmt Maag an, dass in einer solchen Rezension JHWH nichts geäußert, sondern lediglich den zur Vernunft gekommenen Hiob wiederhergestellt habe (196). Rezension B: Eine solche Lösung wird allerdings anderen Rezipienten als zu einfach und angesichts der hohen literarischen Niveaus der Dichtung als formal unbefriedigend erschienen sein. Eine weitere Korrektur (die „Sekundär-Rezension B“) ging Maag zufolge deshalb einen psychologisch glaubwürdigeren Weg und ließ Hiobs lauten Protest gegen Gott und die Theologie der Freunde bestehen. Der herausgeforderte Gott selber musste darauf antworten, aber anders als in der Originaldichtung. Der Korrektor ließ deshalb „nicht allein 42,7-9 weg, sondern ersetzte die originale gütig-pädagogische Gottesrede Kap. 38f. durch die – recht barsche – ‚zweite‘ Rede von 40,6ff und ließ dieser den ebenso eindeutigen ‚zweiten‘ Widerruf Hiobs 42,1-6 folgen“ (196). Diese Gottesrede kommt als reine Machtdemonstration daher, die Hiob niederschmettert und seine Unterwerfung erzwingt. Als reuiger Sünder konnte Hiob dann wiederhergestellt werden. Die im Korpus dieser zweiten Gottesrede erscheinenden Abschnitte über Behemoth und Leviathan hält Maag (ähnlich Hesse und anders als Ebach) lediglich für „tertiäre Textwucherungen“ an der „Rezension B“ (200). Rezension C: Diese Korrektur nun war wirksam, aber wiederum zu radikal für „theologisch subtiler empfindende Vertreter des synagogalen Schicksalsglaubens“. Ein geradezu brutales Gottesbild, wie es die „Rezension B“ vor Augen stellt, gab „seinerseits eben zweifellos ein nicht unbedeutendes Ärgernis“ ab (204). Auf dieses Ärgernis reagieren die ElihuReden als „Rezension C“. Darin widerlegt ein neu hinzugekommener Weiser namens Elihu den Hiob und erzwingt dessen Redeverzicht (jetzt 40,3-5, der Text ist noch im ersten Widerruf nach der Gottesrede Kap. 38f. erhalten, wohin er infolge der Endredaktion gelangte)30. Für den ––––––––––––– 30 In Hi 31,40, nach der Hiobklage und vor Beginn der Elihu-Reden, findet sich die Bemerkung: „Die Worte Hiobs haben ein Ende.“ Diese „redaktionelle Unterschrift“ (Foh-
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Verfasser dieser Reden verfügte die Synagoge über das angemessene Wissen von Gott und seinem Schicksalswirken: Ein Theologe tröstet Hiob. Durch diese theologisch motivierten Rezensionen hat die bewegte Textgeschichte des Hiobbuches „neben der Novelle nacheinander eine Mehrzahl von Textformen der Versdichtung hervorgebracht“, von denen jede in der Absicht geschaffen worden war, „die jeweils früheren Formen zu verdrängen und sich an ihre Stelle zu setzen“ (215). Alle diese Textformen sollen dann in der Endredaktion Berücksichtigung gefunden haben, die wiederum vor allem die Bewahrung überlieferten Schriftgutes zum Ziel hatte. Allerdings ist es nicht mehr möglich, am heutigen Zustand des Buches mit Sicherheit auszumachen, welche der Rezensionen bereits den mit der Novelle kontaminierten Text der Versdichtung zur Vorlage hatte. Es drängen sich zwei Fragen auf: Warum wurden die Erzählung und die Hiobdichtung überhaupt zu einem Text zusammengefügt? Und wie ist es zu erklären, dass in der späteren Endredaktion, die den heutigen Text entstehen ließ, die durch die Einbeziehung der verschiedenen Rezensionen notwendig entstehenden Widersprüche in Kauf genommen wurden? Auch hier sind allerdings nur Mutmaßungen möglich, da heute nicht mehr eindeutig bestimmt werden könnte, wie weit diese beiden Vorgänge, Zusammenfügung und Endredaktion, als ineinander verschränkt oder nacheinander ablaufend gedacht werden müssen. Die Tatsache, dass die Redaktionsarbeit einer Zusammenfügung von Hiobnovelle und Dialogdichtung vorgenommen worden ist, lässt nach Maag darauf schließen, „daß eine spätere Zeit das unausgeglichene Nebeneinander zweier Hiobwerke und damit zweier Hiobbilder nicht mehr leicht ertrug“, zumal Hiob dem Gläubigen nicht als fiktive Figur, sondern als reale historische Person galt (93). Die Redaktion musste auf den „leidigen Umstand einer widersprüchlichen Überlieferung“ reagieren, denn „keine der einmal in Umlauf gesetzten Textformen ließ sich mehr ausrotten“ (vgl. 215). Die „Harmonisierung“ der Überlieferung hatte zum Ziel, die „verschiedenen Textformen zu einem einzigen, für die Synagoge verbindlichen Hiob-Buch zu verschmelzen“ (217) und dabei „die charakteristischen Inhalte jeder der miteinander kontaminierten Textgrößen“ (216) zu erhalten. Die Redaktion versuchte die überlieferten Texte so getreu wie ––––––––––––– rer 427) könnte den Versuch eines Abschreibers darstellen, die ihm zur Abschrift vorliegende Version (die demnach ohne Unterwerfung Hiobs endete) vor sinnentstellenden Interpolationen z. B. aus anderen bereits im Umlauf befindlichen, dem Abschreiber als ungültig bekannten Versionen zu schützen (vgl. Maag 119, 216).
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möglich zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden, ohne selbst mehr als unbedingt nötig (nämlich nach Maag nur eine Textverklammerung in 42,10) hinzuzufügen. Das Hauptinteresse galt dabei eindeutig der HiobDichtung. Ihre Aufgabe, einen synagogal vertretbaren Text zu erstellen, hat die Redaktion nicht leicht genommen. Sie hat die Mühe nicht gespart, die verschiedenen disparaten Stränge zu einem durchlaufenden Zwirn zusammenzufügen. Daß dabei da und dort ein funktionslos gewordenes Fadenstück abgeschnitten oder etwas redaktionelles Werg zusätzlich eingearbeitet werden mußte, war genausowenig zu umgehen wie die Unterbrechung eines ursprünglichen Textzusammenhangs durch ein dazwischentretendes Stück eines anderen Stranges. So trennte ein Redaktor den Widerruf Hiobs, den dieser als Antwort auf die Elihu-Rede geleistet hatte, aus diesem Zusammenhang heraus, um 31 diese Worte als Antwort auf die erste Gottesrede erscheinen zu lassen . Und diese selbst glich er mit großer Geschicklichkeit dem barschen Ton der Gottesrede von Rezension B an. (216f.)
Die Redaktion arbeitete nur mit „Schere und Kleister“ (93), aber vermied jede Veränderung an den überlieferten Textbeständen. Die Unvereinbarkeit der verschiedenen zusammenzuführenden Inhalte aber führte dazu, dass die inneren Spannungen des so konzipierten Einheitstextes gegen alle Versuche der gewaltsamen Harmonisierung bewahrt blieben. Fazit: Die von der Forschung vertretenen Meinungen zur Entstehung des Hiobbuches und seinen Bestandteilen weichen, obwohl jeweils oft wohlbegründet, in vielen Punkten stark voneinander ab. Es handelt sich um mehr oder weniger plausible Theorien; für Rekonstruktionsversuche von „Originaltexten“ oder genaueren Bestimmungen der Herkunft von Textteilen kann aber „kein zwingender Beweis“ (Fohrer 33) geführt werden. Wir können jedoch resümieren, dass die Untersuchung der bewegten Textgeschichte des Hiobbuches einige „nützliche (wenngleich nicht sichere) Ergebnisse“ (Ebach 1996 I, 2) erbracht hat. Einige Schlussfolgerungen daraus sind für den Fortgang meiner Untersuchung von Bedeutung: Es kann als gesichert angenommen werden, dass wir es beim Hiobbuch „mit einer Komposition von Überlieferungen, Stoffen und z.T. auch Texten zu tun haben, die aus verschiedenen Zeiten stammen und verschieden akzentuiert sind“ (Ebach 1996 II, 92). Vor allem besteht weitgehend Ei––––––––––––– 31 Damit bewahrt die Redaktion nicht nur verschiedene überlieferte Textformen, sondern erzielt auch ein „durchaus wünschenswertes Steigerungsschema: 1. Gottesrede – Widerruf / 2. Gottesrede – Widerruf“. Durch Einfügung von Hi 40,2 „Wer Gott zurechtweise, der antworte!“ erreicht die Redaktion, dass der anschließende Redeverzicht Hiobs „den Charakter eines ersten kleinlauten Sich-Duckens vor Jahwä“ erhält (214).
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nigkeit darüber, dass es sinnvoll ist, eine in Prolog und Epilog teilweise erhaltene Hioberzählung und eine von ihr umrahmte Hiobdichtung zu unterscheiden. Auch weitere Textteile, so das Weisheitslied Kap. 28 und die Elihu-Reden Kap. 32-37, werden nahezu einhellig als sekundär bestimmt. Damit gewinnt auch Maags Versuch einer Darstellung einer Rezensionsund Redaktionsgeschichte des Hiobbuches an Plausibilität, auch wenn ich seine Thesen nicht im Detail beurteilen kann. Bezogen auf die Verhandlungen des „Hiobproblems“ jedenfalls wird deutlich, dass dabei Erzählung und Dialog separat untersucht werden müssen, da bereits die Problemstellung beider Texte sich unterscheiden wird. Zudem sind die Korrekturen und Modifikationen an Problemstellung und -lösungen zu berücksichtigen, die durch spätere Rezensions- und Redaktionsbemühungen versucht worden sind. 2. Tradition und Redeformen a) Auslegungstraditionen Die vorangegangenen Abschnitte hatten zum Ziel, die genetischen Voraussetzungen der Problemverhandlung im Hiobbuch zu erhellen. Als nächstes müssen nun – und zwar am heute vorliegenden Text und, soweit möglich, ohne auf hypothetische Rekonstruktionen der originalen Textgestalt zurückzugreifen – ihre strukturellen Voraussetzungen näher untersucht werden. Wie sich gezeigt hat, müssen Interpretationen, die von einer verständnisleitenden inhaltlichen Grundidee ausgehen, in der Regel die kohärenzstiftende Ausblendung von Widersprüchen in Kauf nehmen. Allerdings kann ein solches ideengeleitetes Herangehen mit seiner meist auch formen- bzw. gattungsorientierten Fragestellung auch zu wichtigen Einsichten führen, die in eher texthistorischen Darstellungen nicht ausreichend deutlich werden. Das erwähnte „Sprachgeschehen“ von Klage und Trost bei Westermann und der „Rechtsstreit“ bei Richter stehen exemplarisch für zwei der Auslegungstraditionen, die Müllers Forschungsbericht herausgestellt hat. Müller unterscheidet im Einzelnen weisheitliche, psalmistische und juridische Interpretationen des Hiobbuches, denen gemeinsam ist, dass sie das Hiobproblem gattungsorientiert untersuchen: „Konkret lautet das formgeschichtliche Problem: Ist der Hiobdialog bzw. die Hiobdichtung im ganzen primär von einer weisheitlichen, einer psalmistischen oder einer juridischen Sprache geprägt? In welcher Weise ergänzen sich
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gegebenenfalls differente Sprachmodelle im vorliegenden Werk?“ (Müller 1988, 76) Die an der Gattung der Weisheitsdichtung orientierten Interpretationen arbeiten aus dem Hiobbuch vornehmlich die Auseinandersetzung des Hiobdichters mit der theologischen Doktrin des sogenannten „TunErgehen-Zusammenhangs“ heraus; sie sehen darin ein theoretisches Problem behandelt und betonen den Lehrcharakter dieses Textes. Eine eher auf die individuelle Existenz des Menschen Hiob ausgerichtete Deutung des Buches in den kommunikativen Kategorien von Klage und Trost rückt dagegen die bedrohte Beziehung dieses leidenden Menschen zu seiner Lebenswelt und seinem Gott in den Blick. Eine Analyse des Berichteten als Rechtsstreit schließlich betont stärker noch als das Klage-Trost-Paradigma die Beziehung des Hiobgeschehens zu objektiven Handlungsmustern und Interaktionsordnungen – vermittelt über die verwendeten literarischen Formen. All diese Deutungen bringen das Buch Hiob auf jeweils einzigartige Weise zum Sprechen und eröffnen die Sicht auf wichtige Strukturmerkmale dieses Textes, die ein seiner Komplexität angemessenes Verständnis gleichermaßen berücksichtigen muss (vgl. Ebach 1996 I, S. XIf.). Diese verschiedenen Interpretationsrichtungen können sich ausnahmslos sowohl auf eine lebenspraktische Relevanz ihrer zentralen Gegenstände für die Menschen des alten Israel als auch auf konkrete im Hiobbuch verwendete literarische Formen stützen: Die Auseinandersetzung zwischen Hiob und seinen Freunden hat hinsichtlich ihrer Form drei Vorbilder und wählt ihre Formelemente im einzelnen aus drei Formbereichen. Einmal geht sie auf die „Streitgespräche der Weisen“ zurück und bedient sich häufig der Einzelformen der Weisheitslehre. Solche Streitgespräche setzt 1 Reg 10,1ff. an Königshöfen oder Weisheitsschulen voraus ... Ferner setzt der Dialog die „Parteienreden vor der Rechtsgemeinde“ voraus und verwendet häufig die Einzelformen des Rechtsverfahrens ... Als dritte Gruppe von Formelementen treten die Rede- und Stilformen der Psalmen in Erscheinung, die in ziemlich großem Ausmaß zu erkennen sind. In erster Linie handelt es sich um solche der Klagelieder und Hymnen, die sich immer wieder finden. Es ist unübersehbar, daß darin wichtige Formelemente vorliegen, ohne daß darüber die übrigen vernachlässigt werden dürfen. (Fohrer 50f.)
Diese von der Forschung identifizierten Formen sind für das Verständnis des Hiobbuches von entscheidender Bedeutung. Sie geben uns nicht nur Interpretationshinweise, sondern können uns auch helfen, die textuellen Voraussetzungen für eine Beschreibung narrativer Strukturen im Hiobbuch zu sondieren (vgl. unten Kapitel C.I). Bevor wir uns diesen weisheitlichen, juridischen und psalmistischen Formen in den folgenden Abschnitten ausführlicher widmen, soll kurz die Relevanz formengeschicht-
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licher Untersuchungen für die Beschreibung narrativer Strukturen und narrativer Problemverhandlungen angedeutet werden. Die „weisheitliche“ Tradition, in der das Hiobbuch steht, ist dafür aus mehreren Gründen wichtig. Zum einen ist weisheitliche Lehre gewissermaßen eine natürliche Heimat „narrativer Problemverhandlung“: In weisheitlichen Lehrerzählungen werden allgemeine Lehren in narrativer Form übermittelt. Insbesondere das Konzept des sogenannten „Tun-ErgehenZusammenhangs“ ist unabdingbar für ein angemessenes Verständnis des Hiobbuches, von dem es ja in Frage gestellt wird; darüber hinaus aber ist dieses weisheitliche Konzept durch seine systematische Verwandtschaft mit Erzählstrukturen selbst von besonderem Interesse. Nicht zuletzt ist dafür die Perspektive weisheitlicher Weltdeutung relevant: Indem sie eine systematische Ordnung des Ganzen entwirft, nimmt sie einen virtuellen Beobachterstandpunkt ein, der ihr einen Blick von außen auf dieses Ganze, auf die Welt und sogar ihren Schöpfer erlaubt. Psalmistische Interpretationen betonen das Element der Klage, wie sie in den Klagepsalmen vorgebildet ist. So deutet Westermann das Hiobbuch als dramatische Klage über erfahrenes Leid, in der es in erster Linie um eine Frage der Existenz und erst sekundär um eine des Denkens gehe. Das verweist auf die Möglichkeit, die Geschehnisse um Hiob nicht nur als exemplarische Behandlung eines allgemeinen Themas, sondern auch als Erzählung eines einzigartigen Geschehens und den Hiob nicht nur als Fall, sondern als Individuum zu begreifen. Für meine strukturbezogene Untersuchung ist die subjektive Perspektive der Klage notwendiger Gegenpol zur Außenperspektive der Weisheit; beide Perspektiven müssen auch in eine angemessene Beschreibung narrativer Strukturen integriert werden. Kategorien wie Klage und Trost verweisen außerdem auf den Aspekt sprachlichen Handelns, der das bloß Ausgesagte (argumentativ oder narrativ) immer auch überschreitet und etwas hinzufügt, dass sich der Systematisierung entzieht. Und nicht zuletzt ist die Klage Hiobs eine der wichtigsten Anknüpfungspunkte späterer Wiederaufnahmen des Themas: Nicht das Interesse am Scheitern einer theologischen Doktrin, sondern Identifikation oder Mitleid mit einem leidenden Menschen motivieren heute hauptsächlich die Beschäftigung mit Hiob. Juridische Interpretationen wie die von Richter schließlich fußen auf der Beobachtung, dass die Formen des Rechtslebens im Hiobbuch einen großen Raum einnehmen. Ich lese zwar nicht wie Richter das Buch als bloße Darstellung eines Rechtsstreits, halte aber eine Betrachtung der Denkfigur des RECHTSSTREITES als Metapher, kognitives Konzept und
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narratives Schema für außerordentlich fruchtbar. Narrative Schemata tragen wesentlich dazu bei, die Erzählstruktur an die Struktur der Welt des Handelns rückzukoppeln. Sie sichern die Kohärenz von Erzähltexten, bieten ein Gerüst für die Entfaltung ihrer Bedeutungen, lenken die Erwartungen der Leser und ermöglichen über Operationen z. B. metaphorischer Übertragung oder Projektion die Anwendung narrativer Konfigurationen auf Problemkonstellationen. Als narrative Strukturen aber können sie eine Vermittlung von Subjektperspektive und „Draufsicht“ leisten, die in bestimmten Problemkontexten unverzichtbar ist. Im Detail werden diese Überlegungen erst in den Kapiteln C.I und C.III entwickelt. Die Analyse des Hiobtextes aber soll dafür eine materiale Grundlage bereitstellen. b) Weisheit In der Forschung zum Alten Testament und zur altorientalischen Kultur wird mit „Weisheit“ eine geistige Strömung oder Weltanschauung verstanden, die nicht nur durch bestimmte grundlegende Inhalte – insbesondere dem Bestreben, grundlegende Ordnungsstrukturen von Kosmos und Gesellschaft zu identifizieren, und der Überzeugung von der Geltung einer sittlichen Weltordnung – charakterisiert war, sondern sich auch in bestimmten Texten niederschlug und nicht zuletzt einen bestimmten Trägerkreis „innerhalb der sozial bessergestellten Schichten der ‚Beamten‘ und ähnlicher Gruppen“ hatte (Preuß 103). Zu den Weisheitstexten des Alten Testament rechnet man neben dem Buch Hiob das Proverbienbuch (Sprüche Salomos), das Buch Kohelet (Prediger Salomo), Jesus Sirach und das Buch der Weisheit (Weisheit Salomos). Die Argumente, die für eine weisheitliche Interpretation des Buches Hiob ins Feld geführt werden, sind daher sowohl inhaltlicher als auch formaler Art. Die meisten Forscher sind sich darin einig, dass das Hiobbuch kaum mehr angemessen zu verstehen ist, wenn es aus seinen Bezügen zum weisheitlichen Denken gelöst wird. Schon J. G. Herder und Franz Delitzsch betonten ... den weisheitlichen Charakter des Buches Hiob. Eine solche Einordnung scheint auch heute noch thematisch am nächsten zu liegen: dem Streit um die Wirklichkeit zwischen Hiob und seinen Freunden liegt das von diesen wie von der Rahmenerzählung festgehaltene Postulat einer gerechten Retribution und damit einer sittlichen Weltordnung zugrunde, wie es traditionell in der Weisheit artikuliert wird ... Offenkundig bestreitet Hiob einen Zentraltopos weisheitlicher Weltorientierung, den die Freunde auch um den Preis seiner Demütigung und Beschuldigung aufrechtzuerhalten suchen. (Müller, 1988 76f.)
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Daneben weist der Hiobtext auch eine Reihe von formalen Bezügen des zur sogenannten Weisheitsliteratur des Alten Orients auf32. Neben dem inhaltlichen „Problem des ungerechten Geschicks des Menschen und der ungerechten Weltordnung“ war in der altorientalischen Weisheitsliteratur auch die vom Hiobdichter verwendete Dialogform mit Rahmenerzählung längst vorbereitet. Parallelen finden sich seit dem zweiten Jahrtausend vor Christus sowohl in sumerisch-babylonischer als auch in ägyptischer Literatur. Eine im mesopotamischen Raum besonders beliebte Gattung war diejenige der Streitgespräche, die zwischen Menschen(typen), aber auch zwischen verschiedenen Fischen, Pflanzen, Werkzeugen oder gar Jahreszeiten ausgetragen werden konnten. Oftmals fällte am Ende eine Gottheit die Entscheidung (vgl. Preuß 25f., Fohrer 45). Ein Vergleich mit altbabylonischen Texten, die dem Hiobtext inhaltlich wie formal nahe stehen33 (ja oft als „Hiobliteratur“ bezeichnet werden; vgl. Müller 1988, 60; Preuß 93), zeigt, dass inhaltlich hier wie dort die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit – und in Verbindung mit dem Unschuldsbewusstsein des Protagonisten also nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang – gestellt wird, und dass bestimmte narrative Elemente, wie die beispielhafte Häufung der Leiden, die Klage und das Auftreten mindestens eines Freundes offenbar zur Topik gehört (Müller 1988, 59ff. und 102). So wie die Gattung des philosophischen Streitgesprächs dem Hiobdialog zum Vorbild gedient haben kann, wird die Hioberzählung in der Regel der Gattung der „weisheitlichen Lehrerzählung“ (Müller 1988, 71 und 80; Preuß 159) zugeordnet (vgl. auch unten ab S. 175). Zudem „kommt der Gattung der Weisheitssprüche ein großer Anteil an den Freundesreden zu“ und sie „macht auch einen Teil der Hiobworte aus“ (Maag 97). Andere weisheitliche Binnenformen, die sich auch im Hiobbuch finden, sind Weisheitsgedichte/-lieder (z. B. Hi Kap. 24; 27,7-10.13-23; 28), Belehrungen (z. B. Hi 12,7-11), oder didaktische Fragen (vgl. die Gottesreden, die ebenfalls im Gewand weisheitlicher Streitreden erscheinen – so Fohrer S. 496 –, während ihre ausufernden Tierbeschreibungen als Anlehnung an die altorientalische „Naturweisheit“ gelten)34. Eine direkte Zuordnung des Hiobbuches zur altorientalischen Weisheit bringt jedoch auch Probleme mit sich. Das bereits mehrfach herausgestellte Nebeneinander von argumentativer und narrativer Problemverhandlung ––––––––––––– 32 Zur Forschungslage zu altorientalischen Paralleltexten des Hiobbuches vgl. Müller 1988, 49-72. 33 Oft erwähnt wird die sogenannte „Babylonische Theodizee“ (nach 1700 v. Chr.). 34 Vgl. dazu auch Müller 1988, 80f., 110.
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im Hiobtext kehrt in gewisser Weise wieder, wenn die Forschung sich zu dessen „Problemlösungen“ äußert. Wie Müller anhand der von ihm referierten Forschungsbeiträge feststellt, lassen sich die dort dem Hiobbuch entnommenen „Problemlösungen“ ... grob in zwei Gruppen einteilen. Die eine Gruppe, der die meisten der besprochenen Arbeiten zuzuordnen sind, sucht diese in einem konstativen Inhalt, in neuen Glaubenswahrheiten, die sich in behauptenden Sätzen (Ist-Sätzen) formulieren lassen. Die andere Gruppe sucht die „Lösung“ vorwiegend in einem Geschehen, einem Handeln Gottes an dem Leidenden und an seiner Wirklichkeit, das nicht als rezeptabler Inhalt, sondern im Nacherleben des Lesers aufgenommen werden will. (Müller 1988, 101)
Genau hier liegt eine Schwierigkeit weisheitlicher Deutungen, insbesondere dann, wenn diese die Gottesreden nicht als sekundär ignorieren wollen. Weisheit erhob ja immer auch den Anspruch, wahre Aussagen über die kosmische und sittliche Ordnung zu formulieren, so dass eine im engeren Sinne weisheitliche Interpretation keine rein „geschehenshafte“, also nur narrative Lösung des Hiobproblems zulassen konnte: Solange die Zuordnung des Hiobbuches zur Weisheit ohne Problem schien, mußten in den Gottesreden Inhalte gefunden werden, die den Wirklichkeitsverlust der Retributionstheorie in der Rahmenerzählung und den Reden der Freunde in einem immer noch weisheitlichen Sinne überwanden; es mußten Sätze gefunden werden, die das im Horizont dieser Theorie Sinnwidrige in den gleichen Horizont zu integrieren vermögen. (Müller 1988, 102)
Weisheit versucht, die Ordnung der Welt zu erkennen und zu beschreiben. Sie steht dabei durchaus unter „Systemzwang“ (Preuß 27), ihre Beschreibungen müssen Gott, Mensch und Welt systematisch und in kohärenter Weise zueinander in Beziehung setzen und klare Verhaltensorientierung, verbindliche Werte und „Glaubenswahrheiten“ liefern. Dagegen gelangt eine Deutung des Hiobbuches, die alle seine Elemente gleichermaßen ernst nimmt, wohl letztlich nicht hinaus über das Argument der Unbegreiflichkeit Gottes, seiner Erhabenheit, mit der nicht zu rechten ist, und erlaubt also gerade keine konstativen Formulierungen neuer Glaubenswahrheiten. In den neueren Interpretationen und Zuordnungen dominiert deshalb ein Verständnis des Hiobbuches als Kritik 35 der Weisheit, ja – zusammen mit dem Buch Kohelet – als Zeugnis einer Krise der Weisheitslehre. ––––––––––––– 35 „So gesehen läßt sich geradezu von einer Selbstkritik der Weisheit sprechen“ (Maag 98).
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So versteht zum Beispiel Preuß36 das Hiobbuch als Ausdruck einer solchen „Krise der Weisheit“ (69). In seiner Rekonstruktion der Entstehung des Buches trifft sich Preuß weitgehend mit Fohrer: Der Dialogdichter selbst habe die Rahmenerzählung und die Dialoge miteinander verbunden. Im Hiobdialog sieht Preuß die ältere Weisheit Israels und die sogenannte Hiobliteratur der Umwelt Israels vorausgesetzt, die bereits davon zeugte, dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang auch dort in eine „nicht nur periphere Krise“ geraten war (102). Die Endgestalt des Buches lokalisiert Preuß mit einiger Vorsicht im Palästina des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, einer Zeit, in der Juda unter persischer Herrschaft stand und für die man „aufgrund anderer Texte auf eine tiefe Zerklüftung der Sozialstruktur der judäischen Gemeinde schließt“ (103). Die sich in Texten wie dem Hiobbuch äußernde Krise der Weisheit wird neben inhaltlichen, sozusagen logisch-systematischen Aspekten auch mit soziologischen Aspekten in Verbindung gebracht, nämlich damit, dass die Weisheitsliteratur „offensichtlich einen Trägerkreis innerhalb der sozial besser gestellten Schichten der ‚Beamten‘ und ähnlicher Gruppen“ (ebd.) hatte, der in der nachexilischen Zeit in eine „soziale Umbruchssituation“ (102) geraten war. (Auch Hiob hatte eine gehobene soziale Stelle inne, bevor sein Geschick sich wendete; vgl. den Rahmen sowie Hi 29.) Zudem verweist Preuß auf andere „Texte der sog. Hiobliteratur des Alten Vorderen Orients“, etwa die sogenannte „Babylonische Theodizee“ oder Texte der ägyptischen „Auseinandersetzungsliteratur“ aus der ersten Zwischenzeit nach dem Ende des Alten Reiches, welche genau wie das Buch Hiob „auf irgendeine Art das Theodizeeproblem reflektieren, d. h. das Leid eines Gerechten, an dem die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes aufbricht, die folglich oft auch einer Krisensituation entstammen“ (93). Mit der zu Anfang der Rahmenerzählung dargestellten Übereinstimmung von Frömmigkeit und Glück Hiobs (hier gilt noch der Tun-ErgehenZusammenhang) liegt nach Preuß eine typisch weisheitliche Ausgangssituation vor. Thema der Rahmenerzählung, die er wie Müller der Gattung der „weisheitlichen Lehrerzählung“ zuordnet (159), ist das rechte Verhalten eines Frommen im Leide. Als das Thema des Dialogs bestimmt Preuß dagegen „die sog. Theodizeeproblematik“ (73); die Freunde sind ihm „orthodoxe Weisheitstheologen“ (74). Der Tun-Ergehen-Zusammenhang als zentrale Weisheitsdoktrin wird im Hiobbuch „als normal, als gottgewollt ––––––––––––– 36 Horst Dietrich Preuß, Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur (1987). Im Folgenden, wenn eindeutig, zitiert mit einfachen Seitenzahlen.
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und gottgesetzt von allen Gesprächspartnern vorausgesetzt“ (74), aber aus dieser Voraussetzung unterschiedlich gefolgert: Hiob muss schuldig sein, meinen die Freunde; Gott setze „den Tun-Ergehen-Zusammenhang, an dem auch Hiob festhält, ungerechtfertigt außer Kraft“, meint Hiob (ebd.). Höhepunkt des Hiobbuches ist für Preuß die (eine originale) Gottesrede mit anschließender Unterwerfung Hiobs. Sie bietet die „einzige Lösung“, nach der die Hiobfrage und die Herausforderungen Hiobs verlangten (88) und der gegenüber der Epilog als Abstieg empfunden würde (81). JHWH gibt weder den Freunden noch Hiob recht, sondern „er bezeugt sein Gottsein, das alles menschliche Verhalten übersteigt, alles ihm gegenüber vermeintlich im Recht Befindliche zurückweist“ (79). Auch die Gottesrede und ihre schöpfungstheologischen Motive versteht Preuß als Weisheitskritik: Es wird, wie schon im Weisheitslied Kap. 28, bestritten, dass der Schöpfung eine dem Menschen erkennbare und verstehbare, geschweige denn eine auf ihn ausgerichtete Ordnung innewohne (92). Genau darin liegt für Preuß die Antwort auf Hiobs Fragen: „Gottes Weltordnung übersteigt alles menschliche Verstehen und Erfassen. Alles hat in Gott sein Zentrum, nicht aber im fragenden oder anklagenden Menschen.“ (80) „... Gott ist kein aufweisbares Prinzip von Weltordnung ... Gott sprengt auch die Kategorien menschlichen Gerechtigkeitsdenkens.“ (ebd.) Dies sei die Antwort auf die Krise der Weisheit, die im Hiobbuch als existentiell von Hiob erfahren vom Dichter herausgestellt wird. Der Blick auf die Hiobliteratur des Alten Vorderen Orients wie auf die Wirkungsgeschichte des Hiobbuches ... macht dabei deutlich, daß diese Krise, dieses Scheitern nicht vermeidbar oder nur zufällig ist. Jeder, der so antritt, wie diese Weisheit es tat oder tut, wird sie angesichts analoger Defizite der Empirie erfahren. Er soll aber zugleich aus dem Hiobbuch erfahren, daß der wahre Gott weder ein Garant noch eine Kategorie unserer Weltdeutung ist, denn wo Gott selbst sich zu Wort meldet, wird das Denken wie das Gespräch notwendig auf eine andere Ebene gehoben. (99)
Im Grunde ist diese Deutung, die das Hiobbuch als Kritik der Weisheit und ihres zentralen Dogmas versteht, die verbreitetste Meinung zur Lösung des Hiobproblems. Sie ist auch keineswegs unplausibel. Aber auch die Interpretation von Preuß muss die Widersprüche des Hiobbuches glätten: Der Epilog mit der Wiederherstellung Hiobs wird als Rückschritt abgetan, und die Behauptung, Gott gebe auch Hiob nicht recht (79), geht zu leicht über 42,7 hinweg („... ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob“). Diese (narrative) Auflösung macht die argumentative Problemverhandlung obsolet, denn Gott selbst meldet sich ja zu Wort, und der argumentiert nicht mit dem Menschen. „Offensichtlich ist hier keine
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Antwort auch eine Antwort.“ (80) Wenn aber, z. B. für heutige Leser, das bedrängende Problem darin besteht, dass Gott sich im Erfahrungsraum von Menschen gerade nicht mehr zu Wort meldet, bleibt diese Lösung ganz und gar vorläufig. Der Widerspruch von argumentativ konstatierter Gottesferne und narrativ postulierter (Möglichkeit von) Gottesnähe ist zudem nur scheinbar aufgelöst; denn wenn „Gott“ nicht mehr als „eine Kategorie unserer Weltdeutung“ in Frage kommt, dann sind von ihm tatsächlich keine Antworten zu erwarten. Solche „erzählte Dogmatik“ (vgl. 84) führt den Grundwiderspruch des Hiobbuches noch immer mit sich und kann nicht als wirkliche „Lösung“ bezeichnet werden. Preuß sagt es selbst: „Glaube ist Vertrauen, ist nicht Weltanschauung, nicht Welterklärung, nicht Ideologie.“ (109) Dort, wo dieses Vertrauen erschüttert ist, bleibt eben wenig, was man noch erklären könnte. Auch deshalb kann das Hiobproblem nicht an ein Ende kommen: „Lösungen“, die den Gott in die Ferne rücken, sind für diejenigen nicht akzeptabel, die ihn in ihrer Nähe brauchen. Die philosophische und theologische Diskussion ist dort am interessantesten, wo sie versucht, mit diesen Widersprüchen zu leben, mit ihnen umzugehen, wie man mit den Widersprüchen des Hiobbuches leben und umgehen muss. Die Weisheit mit ihrem Postulat des göttlich garantierten TunErgehen-Zusammenhangs erzeugt sich eine Beobachterperspektive, die von außen das auf Geschehen blickt und vorgibt, das Ende zu kennen, die Antwort systematisch fassen zu können. Diese Weisheit gerät in die Krise, wenn subjektive Erfahrung nicht mehr mit dem System vereinbart werden kann. Ihre Kritik allerdings muss, wenn sie auf das Wissen vom Ganzen verzichten will, auch Gottesferne, Zweifel und die Vorläufigkeit aller Antworten in Kauf nehmen. Diese „Lösung“ ist vielleicht die ehrlichste und am wenigsten widersprüchliche, aber eben doch keine Lösung, wenn das Bedürfnis nach Antwort sich nicht zum Schweigen bringen lässt. c) Klage und Trost Wie Müller in seinem Forschungsbericht betont, wurde neben dem „weisheitlichen Modell“ auch „schon seit langem ein psalmistisches für das Verständnis des Buches Hiob herangezogen“37. Exemplarisch für eine psalmistische Hiobdeutung steht die Untersuchung Claus Westermanns38. ––––––––––––– 37 Vgl. Müller 1988, 82ff. Als Vertreter nennt Müller hier (neben Westermann) u. a. Paul Volz, Aage Bentzen und Artur Weiser. 38 Westermann, Aufbau (Anm. 13), in diesem Abschnitt zitiert mit einfachen Seitenzahlen.
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Dieser beginnt seine Untersuchung mit der polemischen Frage: „Gehört das Hiobbuch zur Weisheit?“ (27) Voraussetzung dafür wäre, so meint Westermann, dass als der Gegenstand des Hiobbuches ein „Problem“ behandelt würde. Das aber bezeichnet er als ein fundamentales Missverständnis: nicht um eine „Frage des Denkens“ gehe es im Hiobbuch, sondern um eine „Frage der Existenz“ (28), und nicht um einen „Fall Hiob“, an dem etwas zu demonstrieren wäre, sondern um ein Geschehen, dass „an einem bestimmten, wirklichen, lebendigen Menschen“, einem einmaligen Menschen geschieht (33). Dieses Missverständnis der Deutung beginne bereits in den Elihu-Reden, einer ersten „kritischen Stellungnahme“ zum Hiobbuch aus weisheitlicher Sicht (133). Für die Exegese bedeutet das nach Meinung Westermanns, dass in den Reden des Dialogs nicht nach einem Gedankenfortschritt bei der Behandlung des Problems des Leidens gesucht werden solle, sondern die Struktur des Buches aus der Struktur des „Daseinsvorgangs“ der Klage, als einer unmittelbaren Reaktion auf das Leiden, zu erschließen sei (29). Mit seiner Klage stehe der Leidende „in einer Tradition geprägter Formen“, die sich in erster Linie in den Klagepsalmen finden. Auch die das Hiobbuch weithin beherrschende Dialogform ist nach Westermann nicht Beleg für die Diskussion eines Problems, denn formgeschichtliche Betrachtungen lieferten auch hier einen anderen Befund. Der Dialog des Hiobbuches sei zuallererst ein Trostdialog, der allerdings kläglich scheitert aus Gründen, deren Darstellung dem Hiobdichter gerade am Herzen liegen. Ein gelingendes Trostgespräch enthielte auf der einen Seite das klagende Sich-Aussprechen des Leidenden, auf der anderen Seite den Zuspruch der Tröster. Die Freunde indessen können Hiob nicht trösten: Je weiter das Gespräch fortschreitet, desto weniger ertragen sie, was Hiob über seine Unschuld, sein Schicksal, über Gott zu sagen hat. Der Klage Hiobs setzen sie deshalb Argumente entgegen, die Hiob von seiner Meinung abbringen sollen. In seiner Untersuchung der Redeformen des Hiobdialogs gelangt Westermann zu dem Ergebnis, dass in Hiobs Reden Formen der Klage, wie sie vor allem in den Klagepsalmen zu finden sind, dominieren, während die Reden der Freunde in Bestreitung, Mahnung und Argument die allgemein akzeptierte Lehre vertreten. Der scheiternde Trostdialog mündet so in ein „Streitgespräch“, welches allerdings notwendig ohne Ergebnis bleiben muss. Das Streitgespräch selbst wird zudem auch eingerahmt von Textteilen in Klageform, in denen jegliche Anreden an die Freunde fehlen: der Eingangsklage in Kap. 3 und den Kapiteln 29-31, welche im „Reinigungseid“ Hiobs und seiner Herausforderung
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an Gott münden. Darauf nämlich bewegt sich nach Westermann das Buch von Beginn der Dialogdichtung (der Klage in Kap. 3) an zu: Es führt eine gerade Linie von dieser dort anhebenden Anklage Gottes bis zu der Herausforderung Gottes am Ende von Kap.31; es ist die sachliche Entsprechung zu der Inkongruenz innerhalb des Dialogteils 4-27, dass dieser Teil umfangen ist von der Klage, in der Hiob sich an Gott wendet. (32)
Schon hier fällt die konzeptionelle Nähe von Klage und Anklage Gottes ins Auge. Das „umfassende Gegenüber“ im Hiobdrama ist also das von Hiob und Gott, und nur innerhalb dessen stehen sich auch die Freunde und Hiob gegenüber (32). Von diesem Ausgangspunkt aus nun bewährt sich Westermanns psalmistisches Deutungsmodell. Zunächst zeigt er, dass sich die am dargestellten Geschehen beteiligten Seiten – Hiob, die Freunde, JHWH – aus der traditionellen Struktur der Klage herleiten lassen. Als ein „gegliedertes Ganzes“ hat die Klage ihre „festen, immer wiederkehrenden Teile“ (54): „Sie hat es immer mit dem Klagenden selbst, mit Gott, mit den anderen zu tun“, ihre Glieder sind dementsprechend die Ich-Klage, die „Du-Klage“ (56), d. i. die an Gott gerichtete Klage oder Anklage, und die Feindklage. „In diesen drei Aspekten oder mit diesen drei Gliedern ist die Klage eine geprägte Redeform, deren Geschichte durch das ganze AT hindurch nachzuweisen ist.“ (ebd.) Deshalb bezeichnet Westermann den Dialog des Hiobbuches als eine „dramatisierte Klage“ (37), die in Redeform und situation (38) eine „echte Entsprechung“ in den Klagepsalmen des Psalters findet, in denen der Klagende seine Gegner anredet (vgl. Ps 4,3; 6,5; dazu 119,15; 52,3-6; 58,2-6). Diese Dramatisierung der Klage aber sei „nur zu sehen, wenn die drei Personen des Dramas – Gott, Hiob, die Freunde – im Reflex je eines der Glieder der Klage durch den ganzen Dialogteil hindurch als besondere Stimmen gehört werden“ (52). Im weiteren Gang seiner Untersuchung weist Westermann das Vorhandensein dieser Strukturglieder in den Reden Hiobs nach und zeigt durch einen Vergleich mit immer wiederkehrenden Bildkreisen und Motiven der verschiedenen Klageformen in den Psalmen, wie die Anklage Gottes, die schon in Kap. 9-10 (2. Rede des I. Redegangs) zu ihrem Höhepunkt gekommen war, in Hi 12-14 (3. Rede) sich zur Herausforderung Gottes wandelt (vgl. Hi 13,17-23) und in den folgenden beiden Reden (16-17 und 19) die Form der Feindklage annimmt. Denn da Gott Hiob nicht geantwortet hat, „mußte Hiob annehmen, daß er ihm ganz und gar zum Feind geworden ist“ (81). Nach Westermann kann mit der Formensprache der Psalmen auch erklärt werden, warum in Hi 30,9-15 so auffäl-
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lig der Bildkreis der Feinde vorherrscht, die gegen Hiob vorgehen: „Zur Rechten hat sich eine Schar gegen mich erhoben ... Sie haben meine Pfade aufgerissen, zu meinem Fall helfen sie ... Sie kommen wie durch eine breite Bresche herein, wälzen sich unter den Trümmern heran.“ Das wäre allein aus Hiobs Situation heraus nicht zu verstehen, wird aber klarer, wenn man dahinter die Struktur der Klagepsalmen sieht: Das Anrennen der Feinde ist ein festes Motiv der Feindklage, die Einzelheiten der Ausmalung wollen und dürfen nicht direkt auf die Situation Hiobs bezogen werden. Der Dichter des Hiobbuches läßt Hiob in den Weisen der Klage klagen, die sich damals aus der Tradition darboten; die Weisen, in denen Leidende in allen nur denkbaren Situationen geklagt haben ... (62)
Auch die Unschuldsbeteuerung Hiobs, wie sie den Freunden gegenüber in Hi 6,28-30, gegenüber Gott u. a. bereits im Kap. 9/10 und in Hi 23,2-6, vor allem aber im Reinigungseid Kap. 31 erscheint, ist eine feste Form in den Klagepsalmen (vgl. 104-6). Doch nicht nur die Klagen Hiobs, auch das Reden der Freunde ist nach Westermann von der literarischen Struktur der Klage bestimmt. Das zeigt sich etwa an den zahlreichen ganz konkreten „Freveln“, deren Hiob durch Eliphas in Hi 22,6-9 beschuldigt wird: „Du hast deinem Bruder ein Pfand abgenommen ohne Grund, du hast den Nackten die Kleider entrissen; du hast die Durstigen nicht getränkt mit Wasser und hast dem Hungrigen dein Brot versagt; ... die Witwen hast du leer weggehen lassen und die Arme der Waisen zerbrochen.“ Wie kann Eliphas das behaupten, nachdem es in seiner ersten Rede (4,3f.) noch hieß: „Siehe, du hast viele unterwiesen und matte Hände gestärkt; deine Rede hat die Strauchelnden aufgerichtet, und die bebenden Knie hast du gekräftigt“? Es handelt sich aber eben nicht nur um sachlich behauptende Aussagen, sondern v. a. um ein Reden nach Formen: „Die Frevel, deren Hiob in 6-9 durch Elifas beschuldigt wird, sind nicht der Beobachtung, sondern der Tradition entnommen. Hiob muß das alles verbrochen haben, weil er ein Frevler ist.“ (47) Selbst das Argumentieren ist nach Westermann eher von den Formen der Klage als denen der Weisheit determiniert. Die formale Herkunft des wichtigsten Arguments der Freunde (das ‚Schicksal des Frevlers‘ als Vollendung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs) bestimmt Westermann nicht als weisheitlich: Zwar gebe es eine Fülle von Parallelstellen in den weisheitlichen Sprüchen des Proverbienbuches, aber auch gewichtige Unterschiede: Die dort (und allgemein in der Weisheit) übliche „glatte, ebenmäßige Gegenüberstellung des Frommen und des Gottlosen in einem Satz“ nämlich gebe „es in den Reden der Freunde nicht ein einziges Mal!“
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(95) Die Weisheit redet von Gerechten und Frevlern bereits in voller Parallelisierung ihres Schicksals: „Es wird dem Gerechten kein Leid geschehen; aber die Gottlosen werden voll Unglücks sein.“ (Spr 12,21) In der Feindklage der Klagepsalmen dagegen ist nach Westermann die Rede von den Frevlern noch ein selbständiges Motiv mit eigener Funktion, das einer anderen Redeform angehört als das ebenfalls selbständige Motiv vom „Glück der Frommen“, welches sich als gottesdienstliche Form der „Segenszusage“ oder Heilsverheißung z. B. in Ps 91 oder 128 findet und von Westermann mit Moses Gebotsverkündigungen („Ankündigung von Segen und Fluch“ in Dtn. 28) in Verbindung gebracht wird (vgl. 101). Auch an den Gottesreden versucht Westermann die Struktur der Klage aufzuweisen: Die Antwort Gottes an Hiob, die „deutlich den Charakter des Streitgesprächs“ (30) trage, stehe gerade „an der Stelle der Gottesantwort in den Klagepsalmen, d. h. dem Anrufen Gottes aus einer Not“ (109), dort, wo „in den Psalmen einmal das Heilsorakel stand“ (126). Der Inhalt der Reden wiederum entspreche in seiner Struktur dem Psalmmotiv „Lob des Schöpfers“ (vgl. 111). Als Gegenpol der Klage entfalte sich in den Psalmen das Gotteslob in zwei Richtungen, als „Lob Gottes in seiner Majestät“ – als Herr der Schöpfung und der Geschichte – sowie als „Lob Gottes in seiner Gnade“. Im Dialogteil des Hiobbuches sei allerdings nur der erste Pol – Macht und Majestät Gottes – präsent (85). Als Redeform sei das „Lob des Schöpfers“ ein „alle drei Personen des Dramas verbindendes Motiv“, das allerdings bei Hiob und den Freunden eine „eigenartige Verzerrung“ erleide und erst in den Gottesreden als „das freie Lob des freien Gottes“, als „Befreiung des Gotteslobs von der Weltanschauung, der Hiobs und seiner Freunde“ (111) zur Entfaltung komme und Hiobs Unterwerfung erreiche, denn: „wer Gott wirklich ist, kann er nur selbst sagen. Allein die Begegnung mit Gott kann zur echten Anerkenntnis Gottes führen, kann das Gotteslob reinigen. Im Grunde kann nur Gott selbst sagen, daß er der Schöpfer ist.“ (ebd.) Letztlich liegt auch für Westermann die Antwort Gottes an Hiob hauptsächlich darin, dass er antwortet. „Gottes Heilshandeln ist im Hiobdrama auf einen einzigen Punkt zusammengedrängt: Gott hat Hiob geantwortet.“ (126) Hiobs Reaktion berichtet Hi 42,2ff.: „Ich weiß, daß du alles vermagst, und unausführbar ist dir nichts. Vom Hörensagen hatte ich von dir vernommen, nun aber hat mein Auge dich gesehen.“ (Hi 42,2.5) In den Psalmen, in denen nach Westermann dieser Gottesantwort das Heilsorakel entsprochen hatte, beginnt die Antwort des Flehenden auf das Heilsorakel in einigen Texten ebenfalls mit den Worten „Nun weiß ich, daß...“ (Ps
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20,7; 56,10; 140,13; 41,12). Dieses Wissen sei keine bloß intellektuelle Erkenntnis, sondern ein Wissen, wie es nur aus der Begegnung mit Gott erwachsen könne. Die Antwort also ist die Lösung. „Dieser Vers 42,5 enthält die ‚Lösung‘ des Hiob‚problems‘. Es gibt keine andere.“ (127) Bevor Gott Hiob antwortete, kannte Westermann zufolge Hiobs Reden nur „die eine Seite der Polarität, die sonst das Gotteslob der Psalmen bestimmt. Er sieht nur Gottes Majestät ..., aber nicht Gottes Güte. Es ist seine Anfechtung, daß er Gottes Güte nicht mehr in dessen Werk entdecken kann.“ (118) Angesichts des auch von Westermann konzedierten „Streitrede“-Charakters der Gottesrede ist allerdings die Frage berechtigt, wie gerade diese Antwort Hiob die Güte Gottes vor Augen führen soll. Wohl deshalb ist auch die im Epilog erzählte Wiederherstellung Hiobs für Westermann unverzichtbar: Dass JHWH das Geschick Hiobs wendet, „gehört für das AT notwendig zum Antworten Gottes“ (ebd.). Im erzählten Epilog, und nur hier, ist im Hiobbuch Platz für die zweite Seite dieser Polarität im Gottesbild, für Gottes Güte, die seine Majestät ergänzt. Hier konvergieren die verschiedenen Linien in Westermanns Argumentation – die Ablehnung der Voraussetzung, ein Problem würde behandelt, der Verweis auf das Einmalige des existenziellen Geschehens um Hiob und die Betonung der Unmittelbarkeit von Klage als Reaktion auf das Leiden in Verbindung mit seinen formgeschichtlichen Untersuchungen: Die Güte Gottes zeigt sich in seinem Handeln. Sie ist aber weder einklagbar noch in einem weisheitlichen Lehrsatz verfügbar zu halten. Entsprechend stellt sich für Westermann das Verhältnis der Redeformen im Hiobbuch dar: Für ihn sind juridische und weisheitliche Formen den Redeformen der Klagepsalmen klar untergeordnet. Weisheitliche Formen erscheinen laut Westermann da, wo die Inkompetenz der Weisheit sich erweisen soll. Gegen die überwiegende Zahl der Ausleger hält Westermann auch das „Weisheitslied“ Hi 28 für original. Dieses vertrete ganz im Gegensatz zum weisheitlichen Anspruch und „zu der ständigen Mahnung in Prov. 1-9 ‚Erwirb Weisheit‘ (z. B. 4,5) eine geradezu revolutionäre These: die Weisheit läßt sich nicht erwerben!“ (132) Auch der Weise Elihu, der nach dem Willen eines Bearbeiters plötzlich in den Redestreit eingreift, „kann Hiob gar nicht verstehen“, denn der Ort, von dem aus Elihu redet, ist „das Forum der Weisheit, die über die Maßstäbe menschlichen Redens über Gott verfügt und von daher imstande ist, Hiob als Frevler zu verurteilen“ (141). Die juridischen Redeformen dagegen hält Westermann für gewichtiger. Was als Trostdialog beginnt, gerät schnell zu einem forensischen
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Vorgang: „die Parteien diskutieren nicht ein Problem, vielmehr tragen sie vor einer Instanz eine Sache aus“. Streitrede tritt an die Stelle des versagten Trostes, die Klage Hiobs wird zur Anklage Gottes, der sie von Beginn an nahe stand, und Hiob äußert immer wieder den Wunsch, in einem förmlichen Rechtsstreit Gehör zu finden. Bis zu den Gottesreden durchziehen also zwei Linien das Ganze: der Rechtsvorgang und die Klage. Im Rechtsvorgang ruft Hiob, der von den Freunden beschuldigt war, ein Frevler zu sein (22), die höhere Instanz an, die aber gleichzeitig sein Gegner ist, den er zum Rechtsstreit herausfordert. (109)
Die Gerechtigkeit Gottes, die Hiob wie seinen Freunden als unbezweifelbare Gewissheit gilt, soll eingeklagt werden, und genau das weist die Antwort Gottes (formell selbst Streitrede) ab. Gewissermaßen dienen also im Hiobbuch die Redeformen der Weisheit, des Rechtsvorganges (ja sogar des Gotteslobs) gerade der Zurückweisung der jeweiligen Geltungsansprüche dieser (weisheitlichen bzw. juridischen) Verstehensweisen gegenüber dem freien Sein und Handeln Gottes. Westermanns erhellende Interpretation39 des Hiobbuches betont die Perspektive des klagenden Subjekts in der Welt des Handelns und Leidens. Die Perspektive der Klage, die traditionell das Ich, das Du und die Anderen umfasst, bezeichnet damit den notwendigen Gegenpol zur Perspektive der Weisheit. Es ist die Perspektive des Menschen, der den Gott anspricht, statt (wie die Weisheit) seine Perspektive zu beanspruchen. Die Interpretation setzt dabei offenbar zwei Schwerpunkte: einerseits die Betonung (und das Lob) der unbedingten Freiheit Gottes (vgl. 111), andererseits die Deutung der Antwort Gottes an Hiob (als Theophanie und Restitution) sowie eine „aus der Begegnung mit Gott erwachsene“ Er––––––––––––– 39 Ich sehe mich weder genötigt noch wirklich in der Lage, kritisch auf Westermanns Ausführungen einzugehen. Für meine Zwecke reicht es aus, mit Westermann das Vorhandensein psalmistischer Redeformen im Hiobbuch zu konstatieren, ohne mich mit seinen Auffassungen detailliert auseinanderzusetzen. Hier soll nur kurz angerissen werden, dass man die Rolle der psalmistischen Formen im Hiobbuch auch anders interpretieren kann. So meint Preuß in Anlehnung an Fohrer, dass diese Formen jeweils „in anderer Funktion zum Einsatz gebracht“ werden: In den Psalmen bitte der Beter um Heilung, Hiob dagegen um den Tod; der klagende Beter betone seine Hoffnung, Hiob seine Hoffnungslosigkeit; Hiob lege statt eines Sündenbekenntnisses ein Unschuldsbekenntnis ab, er klage auch über statt hin zu Gott, sein Dankeslob feiere das Totenreich und nicht Gott, den er vielmehr anklagt (vgl. Preuß 100). Wenn vieles im Hiobbuch dem von der Struktur der Klagepsalmen vorgegebenen Schema entspricht, scheint es plausibel, mit Fohrer zu sagen, dass „sich der Hiobdichter nur lose an diese Schemata angeschlossen“ hat (zitiert Preuß 78), ohne doch das Werk in sie hineinzuzwängen.
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kenntnis Hiobs, die er in Hi 42,5 bekennt, als „‚Lösung‘ des Hiob‚problems‘“ (127). Diese beiden Schwerpunkte stehen zueinander in einem Widerspruch oder mindestens einem Spannungsverhältnis: Auch die Struktur der Psalmen gibt offensichtlich dem Handeln Gottes eine Richtung vor und schränkt seine „Freiheit“ ein, wie Westermanns Formulierungen deutlich machen, etwa wenn er sagt, nach Hiobs Reinigungseid und seiner Herausforderung Gottes sei in der das Buch parallel zum Rechtsstreit durchziehenden Linie der Klage „jetzt genau der Punkt erreicht, an dem in den Klagepsalmen die Antwort Gottes erwartet wird“ (109). Ein Geschehen, das der Struktur der Psalmen entsprechend dargestellt wird, ist damit bereits in seinem Fortgang festgelegt – Gott ist festgelegt. Ebenso gehört die Gnade Gottes „notwendig“ zur gegebenen Struktur: „Gott hat Hiob geantwortet. Darin ist die Wendung seines Geschickes schon beschlossen, damit hat sie schon angefangen.“ (127) In gewisser Weise kehren hier die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten wieder, gegen deren weisheitliche Behauptung Westermann den einmaligen Daseinsvorgang der Klage beschworen hatte. Die Unverfügbarkeit der Gnade wird durch die festen Rede- und also Denkformen der Klage ebenso unterlaufen – allerdings ausdrücklich nicht dogmatisch, im Modus des Wissens, sondern im Modus der Erwartung, also, wie schon bei Preuß, eines immer problematischen Vertrauens auf ein gutes Ende. Dieses Vertrauen auf ein Ende, das man doch nicht kennen und wissen kann, spannt auch bei Westermann wieder den Gegensatz von der Perspektive von außen (dem Blick aufs Ganze) und der subjektiven Perspektive des Beteiligten auf. „Alles Handeln Gottes ist aus dem Überblick des Ganzen in allen seinen Erstreckungen zu verstehen“ (117), sagt Westermann zu den Versen Hi 38,16-24 der Gottesrede – aber wer außer Gott hätte diesen Überblick, könnte darüber Aussagen mit Geltungsanspruch machen? Dem klagenden Subjekt bleibt statt des Wissens um das Ganze nur das „Bekenntnis der Zuversicht“. Dieses, in den Klagepsalmen allgegenwärtig, begegnet bei Hiob nur an zwei Stellen des II. Redeganges, und zwar gerade dort, wo seine Anklage Gottes die extreme Form der Feindklage annimmt (106). In diesen berühmten und umstrittenen Textstellen, wo Hiob von seinem „Zeugen im Himmel“ spricht, davon, dass Gott ihm „Recht verschaffe ... bei Gott“ (Hi 16,19f.) und davon, dass er, wie Luther übersetzt, „weiß, daß mein Erlöser lebt...“ (19,25), wird nun das Schema des Rechtsstreits verwendet – und zugleich gesprengt: Gott ist gleichzeitig Ankläger und Richter, Zeuge, Fürsprecher, Anwalt und „Auslöser“. Die subjektive Zuversicht ist hier „ein Vertrauensbekenntnis auf der äußersten
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Grenze, eine Zuversicht auf Gott gegen Gott“. Westermann sieht darin eine „Polemik gegen ein zu billig und phrasenhaft und unecht gewordenes ‚Gottvertrauen‘“. Vertrauen kann man nicht verordnen und nicht lehren. Vertrauen auf Gott ist „ein Wagnis am äußersten Rand“ (107). Die Antwort Gottes und die Wiederherstellung Hiobs sind unverfügbar. Sie sind „Gnade“ und damit ein Urteil, dessen Souveränität keine Theologie einschränken kann. Wenn Westermann dennoch, mit Blick auf die Struktur der Psalmen, Gottes Güte als „notwendig“ bezeichnet, dann muss er wohl gleichzeitig auch darauf bestehen, dass die Hiobgeschichte ein individuelles Geschehen, aber keinen verallgemeinerbaren Fall erzählt. Nur als Bericht eines vergangenen Einzelfalls dürfte die Hioberzählung als gerechtfertigte Aussage über Gottes Handeln gelten – in aller Unverbindlichkeit und ohne Garantie auf Zukunft. Allerdings wird das Buch eben doch immer wieder exemplarisch und verallgemeinernd gelesen. Hiob selbst bezieht ja in Kap. Hi 7 sein Leiden auf das Los des Menschen überhaupt und bereitet damit die aufs Allgemeine zielende Deutung des Buches Hiob vor. Mit der Aufnahme des Hiobbuches in den biblischen Kanon wurde vollends eine Struktur erzeugt, die immanent und unvermeidlich die Gefahr der Aporetik in sich trägt. Das wird bei Westermann ebenso deutlich wie schon bei Preuß: Das Hiobbuch versucht das Unmögliche: es versucht JHWH gleichzeitig als den fernen und den nahen Gott zu denken, das Reden über Gott von weisheitlich-dogmatischem Geltungsanspruch abzulösen und gleichzeitig doch Gültiges über Gott auszusagen. d) Rechtsstreit Auch das Schema des RECHTSSTREITES ist für das Verständnis des Hiobbuches von grundlegender Bedeutung, wie ja selbst in Westermanns psalmistischer Deutung betont wird. Prozessrechtliche Formen gewinnen im Verlaufe des Hiobdialogs immer stärker an Bedeutung. Immer wieder erscheint Hiob in seinen Reden als ein Angeklagter, dem von den Freunden eine Schuld vorgehalten wird und der bereit ist, sich zum Rechtsstreit zu stellen: Siehe, ich bin zum Rechtsstreit gerüstet; ich weiß, daß ich recht behalten werde. Wer ist, der mit mir rechten könnte? Denn dann wollte ich schweigen und zugrunde gehen. (Hi 13,18f.)
Ausdrücklich aber weist er Anklagen der Freunde zurück; nur gegenüber JHWH selbst ist er bereit, sich zu rechtfertigen.
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Ach daß ich wüßte, wie ich ihn finden und zu seinem Thron kommen könnte! So würde ich ihm das Recht darlegen und meinen Mund mit Beweisen füllen und erfahren die Reden, die er mir antworten, und vernehmen, was er mir sagen würde. Würde er mit großer Macht mit mir rechten? Nein, er selbst würde achthaben auf mich. Dann würde ein Redlicher mit ihm rechten, und für immer würde ich entrinnen meinem Richter! (Hi 23,3-7)
Gleichzeitig steigern sich seine Klagen zu einer Anklage desselben JHWHs, der doch über ihn richten soll. Das Konzept des RECHTSSTREITES gerät hier offenbar an seine Grenzen. JHWH ist Richter, aber auch ein Beschuldigter und zudem der einzige, von dem Hiob Hilfe erwarten kann. In Hiobs Reden wird daher eine seltsame Teilung JHWHs in zwei separate Akteure spürbar: JHWH, der über Hiob richten soll, soll gleichzeitig als Anwalt, sein Bürge und „Zeuge im Himmel“ (Hi 16,19) ihm beistehen und bei sich selbst Recht verschaffen: Meine Freunde verspotten mich; unter Tränen blickt mein Auge zu Gott auf, daß er Recht verschaffe dem Mann bei Gott, dem Menschen vor seinem Freund.“ (Hi 40 16,20f.)
Die prozessrechtliche Metaphorik des Dialogs gipfelt in der Gottesrede, die ebenfalls oft formal als forensische „Streitrede“ bestimmt wird: Formal gesehen handelt es sich um eine Streitrede, wie sie Parteien vor Gericht vorzubringen pflegen. Am Ende steht dann die Unterwerfungserklärung derjenigen Partei, die in diesem Redestreit offensichtlich unterlegen ist; dem entspricht hier die Erklä41 rung Hiobs am Schluß.
Eine konsequent juridische Interpretation des Buches Hiob geben Norman C. Habel42 und vor ihm Heinz Richter43. An den Anfang seiner Untersuchung stellt auch Richter eine Auseinandersetzung mit der weisheitlichen Interpretation des Hiobbuches, und wie Westermann bezweifelt er, dass Weisheit „der alles tragende Grund der Hiobdichtung“ (14) sei. Inhaltlich orientierte Deutungen laufen seiner Meinung nach stets Gefahr, dass „Voraussetzungen von außen her an das Hiobbuch herangetragen werden, in die dann die Handlung eingeordnet und auf deren Vorausset––––––––––––– 40 Auf diesen Riss im Gottesbild Hiobs ist später noch ausführlich einzugehen, vgl. Kap. B.II.3.c und C.II.2.b. 41 Hesse 1992, 193; vgl. Maag 110, Westermann 108. Preuß betont in diesem Zusammenhang den eindeutig kritischen, richtenden Aspekt einer Theophanie im „Sturmwind“, wie der Vergleich mit anderen Theophanieschilderungen des AT erweise (Preuß 79). 42 N. C. Habel, The Book of Job (OTL), 1985 Habel beschränkt den Rechtsstreit als organisierendes Muster mit Recht auf das Verhältnis von Hiob und JHWH. 43 Richter 1954 (Anm. 12), im Folgenden zitiert mit einfachen Seitenzahlen.
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zung sie gedeutet wird“ (131). Dagegen setzt Richter, auf den ersten Blick ganz ähnlich wie Westermann, einen formgeschichtlichen Zugang44. Einzig die literarische Gattung biete einen festen Grund im unsicheren Geschäft der Exegese; sie sei „eine fest umrissene Größe, die sich mit fast mathematischer Genauigkeit nachweisen läßt“ – zumal der Orientale, und also auch der Israelit, in seinem Reden „sehr stark an die äußere Form gebunden“ sei. Die verschiedenen Gattungen, z. B. Leichenlied, Gebete oder Gerichtsreden, hatten, so Richter, alle „ihren Sitz im Volksleben Israel an ganz bestimmter Stelle“ (14), und jede Gattung hat ihre eigene Formensprache und Motive. Auch für das Verständnis der Komposition des Hiobbuches sei eine solche gattungsmäßige Analyse erforderlich. Ihr Ergebnis: „Die Gattungen, die mit dem Rechtsleben zusammenhängen, überwiegen bei weitem. Zu ihnen gehören 444 Verse. Mit einigem Abstand folgen, in der Häufigkeit ihrer Anwendung, die Gattungen der Weisheit mit 346 Versen. Alle übrigen Gattungen treten dagegen stark zurück“45. Richters These lautet daher: „Wenn wir eine Erklärung des Hiobbuches versuchen wollen, müssen wir also von der Tatsache ausgehen: Das Hiobbuch hat einen Rechtsstreit zum Inhalt, der in der Form eines Rechtsverfahrens begonnen, durchgeführt und beendet wird.“ (17) Vorbereitend bringt Richter eine interessante Darstellung des israelitische Rechtslebens. Bei den von ihm unterschiedenen Rechtsverfahren: 1.) dem außer- bzw. vorgerichtlichen Schlichtungsverfahren, 2.) dem weltlichen Prozessverfahren sowie 3.) dem Gottesurteilverfahren, gehe es der Rechtsgemeinde stets darum und nur darum, einen zwischen zwei Parteien entstandenen Streit zu beenden, um damit den Bestand der Gemeinschaft zu sichern: „Richten heißt für sie Schlichten“46. Ein Rechtsstreit entstehe nicht erst, wenn ein Vergehen vorliegt oder jemand einen Anspruch geltend macht, sondern „schon dann, wenn aus irgendeinem beliebigen Anlaß der friedliche Zustand zwischen Einzelpersonen oder Personengruppen gestört ist“ (35). ––––––––––––– 44 Kegler, „Hauptlinien der Hiobforschung seit 1956“, 9 (bezogen auf Richter und Westermann). 45 Richter identifiziert keine psalmistischen Formen, weil er die betreffenden Psalmen als Belege für Gottesurteilverfahren ansieht und damit als juridische Form anspricht. Mehr dazu in Kürze. 46 Richter 1954, S. 37 zitiert L. Köhler: „Die hebräische Rechtsgemeinde“ (Rektoratsrede der 98. Stifungsfeier der Universität Zürich 1931; wiederabgedruckt im Anhang von ders.: Der hebräische Mensch, Tübingen 1953).
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1.) Das vorgerichtliche Schlichtungsverfahren, das außerhalb des Gerichtes stattfindet, beinhalte im Wesentlichen den Versuch der Parteien, durch Geltendmachen und Bestreitung von Ansprüchen, Rede und Gegenrede (in Anwesenheit von Zeugen) zu erreichen, dass eine Partei einen Streitbeendigungsvorschlag macht, dem die andere zustimmen kann. 2.) Kommt keine Einigung zustande, führe das in der Regel zum weltlichen Prozessverfahren: Das Ziel dieses Verfahrens, jetzt vor dem Forum des Gerichts, ist wie beim vorgerichtlichen Verfahren die Beilegung des Streites. Deshalb nennt Richter das Kernstück auch dieses Verfahrens ein „Schlichtungsverfahren“. Wir können in diesem weltlichen Prozeßverfahren drei Phasen feststellen: 1) das gerichtliche Schlichtungsverfahren, 2) das richterliche Urteil oder der Streitbeendigungsvorschlag und 3) die Unterwerfungserklärung der Parteien, die den Abschluß des Prozeßverfahrens bildet. (32)
Das Gericht besteht aus den freien Männern des Ortes, die jeweils aufgefordert werden, als Rechtshelfer aufzutreten. Es gibt keine Berufsrichter und keine Vereidigungen. Die Verhandlungen sind öffentlich, das Gericht tagt auf dem Platze am Tor der Stadt. Die Ladung vor Gericht ist nicht Sache des Gerichtes, sondern der Parteien: „Wer einen Rechtsstreit beginnen will, stellt sich am Tor auf und ruft den ins Gericht, mit dem der Rechtsstreit durchgeführt werden soll.“ (36) Nachdem beide Parteien erschienen sind, tragen sie dem Gericht mündlich ihre Rechtssache, eine Klage oder einen Anspruch, vor. Aufgabe der Richter ist es, den Parteien zu einer Streitbeendigung zu verhelfen und ihre Vereinbarung zu bestätigen. Dazu können sie die Befragung von Zeugen veranlassen, einer Partei die Beweislast für ihre Darstellung der Sache zuschieben und dazu Beweismöglichkeiten aufzeigen, „durch Vor-Urteile ... den Parteien helfen, ohne Urteil zu einer Streitbeendigung zu gelangen“ (44) oder zum Beweis der Unschuld einer Partei einen Reinigungseid fordern, der als Beweismittel vor Gericht anerkannt ist. „In den meisten Fällen nimmt dann der Kläger den Eid des Beklagten an. Damit ist der Prozeß erledigt, ohne daß das Gericht ein Urteil gesprochen hat. (43f.) Neben den Parteien, den Zeugen und den Richtern hat auch der Goel eine wichtige Stellung im israelitischen Rechtsverfahren47. Er verkörpert die Solidarität der Sippe. Als der nächste Blutsverwandte tritt er gegebenenfalls „in die Rechtsnachfolge dessen ein, der sein Recht nicht mehr ––––––––––––– 47 Der Goel spielt eine wichtige Rolle in Ernst Blochs berühmter Hiob-Deutung.
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vertreten kann“, löst in Verlust geratenes Eigentum ein oder tritt das Erbe eines Verstorbenen an, um es der Sippe zu erhalten. Der Goel ... hat besonders das Blut des erschlagenen Verwandten vom Mörder einzufordern und wird damit zum Bluträcher ... Ist kein Blutsverwandter mehr da, der als Goel handeln kann, so wird Jahwe als Goel angerufen. Wenn es sich um eine Blutschuld handelt, dann ist es absolut sicher, daß Jahwe als Bluträcher auftreten wird. (44)
Können sich die Parteien im gerichtlichen Schlichtungsverfahren nicht einigen, so spricht das Gericht entweder ein Urteil oder macht einen Streitbeendigungsvorschlag. Ist ein Fall zu schwierig für das lokale Gericht, gibt es höhere Instanzen: das Gericht am Heiligtum – das „Obergericht“, d. h. die Levitischen Priester und ein jeweils eingesetzter Richter (vgl. Dtn 17,8ff.) – oder der König. Beider Urteil ist für die Parteien bindend. Ein Urteil des lokalen Gerichtshofs ist hingegen erst dann rechtskräftig, wenn es von den streitenden Parteien durch eine Unterwerfungserklärung angenommen wird: Dem Urteile – mit Ausnahme der Urteile, die Jahwe und der König sprechen – muß also eine Unterwerfungserklärung der betroffenen Partei folgen, wenn es materiell vollstreckt werden sollte. Deshalb kann auch nach erfolgtem Urteilsspruch über dieselbe Rechtssache noch einmal ein Prozeß geführt werden, wenn die vom Urteil betroffene Partei keine Unterwerfungserklärung unter das Urteil abgegeben hatte ... Nach der Unterwerfungserklärung besteht keine Möglichkeit mehr, den Prozeß wiederaufzunehmen. Die Unterwerfungserklärung ist zugleich Streitverzichtserklärung. (47)
3.) Neben dem weltlichen Prozessverfahren gab es das Gottesurteilverfahren, den „Versuch, auf sakraler Ebene den Rechtsstreit durchzuführen“ (32). Dieses konnte ein ergebnislos verlaufendes weltliches Verfahren weiterführen, wurde aber häufiger eigenständig angewandt, z. B. wenn Täter nicht ermittelt werden konnten bzw. Verdächtige nicht geständig waren. Die einfachste Art des Gottesurteilverfahrens bestand darin, das Orakel (die Lossteine) entscheiden zu lassen. Ort war in Israel stets das Heiligtum; der Priester handelte als der Vertreter Gottes. Richter, der übrigens vor allem auch die Klagepsalmen als Belege für Gottesurteilverfahren wertet, unterscheidet drei Abschnitte eines solchen Verfahrens: 1. die Anrufung des Gottesgerichtes durch ein Gebet, 2. das Gottesurteil und 3. die Unterwerfungserklärung unter das Gottesurteil oder das Dankgebet nach erfolgter Gerechtsprechung (49f.). Dass in derselben Rechtssache mehrmals das Gottesurteil angerufen worden wäre, sei für Israel unwahrscheinlich und auch nicht überliefert. Die Pointe der Untersuchung Richters besteht nun darin, dass er nicht nur eines, sondern alle diese verschiedenen Rechtsverfahren im Hiobbu-
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che dargestellt findet: Denn „die Rechtssache, die im Hiobbuche abgewickelt wird, ist ... so schwierig, daß es nicht von vornherein feststeht, auf welchem Wege sie am besten beigelegt werden kann.“ (59) Die Verknüpfung der Verfahren stellt Richter folgendermaßen dar: Nachdem in der Rahmenerzählung, die ein „Volksbuch“ von Hiob wiedergibt, der Dichter Ausgangspunkt und Voraussetzung der „Rechtssache zwischen dem Menschen Hiob und seinem Gott“ (ebd.) entwickelt habe, enthalte der erste Redegang (Kap. 4-14) zunächst ein „vorgerichtliches Schlichtungsverfahren zwischen den drei Freunden und Hiob“. Die Freunde nämlich, so Richter, erheben das von ihnen nach Hiobs einleitender Klage in Hi 3 konstatierte „gestörte Verhältnis zwischen Hiob und Gott zur Rechtssache“; sie sehen es als ihre Aufgabe, Hiob „wieder zu Gott zurückzuführen“ und „die Störung zu beseitigen“. Damit treten die Freunde als „Rechtshelfer im vorgerichtlichen Schlichtungsverfahren“ auf (61): Sie schlichten zwischen Hiob und Gott. Die Aufforderung des Eliphas, Hiob möge „seine Sache vor Gott bringen“, bezeichnet Richter entsprechend als „Streitbeendigungsvorschlag“ der Freunde (63). Hiob dagegen bestreite in seiner Antwort (Hi 6/7) das Recht der Freunde, in seinem Falle als Rechtshelfer und Vermittler aufzutreten, und wendet sich direkt an JHWH. Statt einer Unterwerfung aber klage er selbst Gott an und mache einen eigenen „Streitbeendigungsvorschlag“ (67): „Warum nimmst du mein Vergehen nicht weg und gehst nicht über meine Schuld hinweg?“ (7,21) Jetzt seien „die Fronten geklärt“: Die Standpunkte sind unvereinbar; der Schlichtungsversuch der Freunde kommt für Hiob einer Anklage gleich. Aus dem sachlichen Anliegen, die Spannung zwischen Hiob und Gott zu beseitigen, entwickelt sich ein persönlicher Gegensatz, der die Rechtssache noch schwieriger macht. Es wird schon in den ersten Kapiteln des Hiobdialoges deutlich, daß zum Rechtsstreit zwischen Hiob und Gott, den die drei Freunde schlichten wollen, noch ein Rechtsstreit zwischen den drei Freunden und Hiob kommen muß. (66)
Da auch die Schlichtungsversuche der anderen Freunde erfolglos bleiben – so Richter – leitet Hiob am Ende des ersten Redeganges „in aller Form“ (77) den Rechtsstreit mit Gott ein. Er fordert JHWH auf, sich zu stellen und beginnt, „weil jedoch die zum Rechtsstreit gerufene Partei nicht hervortritt“, in Hi 13,23ff. die „Anklagerede“ (79). Der zweite und dritte Redegang (Kap. 15-31) dagegen sollen zunächst das „gerichtliche Schlichtungsverfahren zwischen den drei Freunden und Hiob“ entwickeln. Die Aufgabe der Freunde bestehe nun darin, „durch eine förmliche An-
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klageerhebung gegen Hiob diesen von seinem begangenen Unrecht zu überzeugen“. Die Anklage: „Er habe Gott in frevelhafter Weise angerufen.“ (80) Die Rollenverteilung dieses Verfahrens ist allerdings unkonventionell: „Die drei Freunde sind sowohl Kläger als auch Richter.“ (80) Im Laufe des Verfahrens verschieben sich die Verhältnisse, die Freunde werden aus ihrer führenden Rolle gedrängt. In seiner Antwort auf Eliphas (Hi 16) weise Hiob die Anklage der Freunde zurück und fordere, so Richter, stattdessen das Eintreten Gottes in die Beklagtenrolle. „Aus dem Beklagten im Rechtsstreit mit den Freunden wird der Kläger im Rechtsstreit mit Gott.“ (84) Deshalb auch ruft Hiob JHWH selbst als Goel und Bürgen an (Hi 16,19-21 und 17,3-4): Wenn Hiob dem Tode geweiht ist, würde damit das Blut eines Unschuldigen vergossen werden – dann aber ... muß Gott eingreifen, wie er einst eingriff, als das Blut des unschuldigen Abel vergossen wurde. Denn dieses vergossene Blut schreit nach Rache ... Gott muß dann zum Zeugen Hiobs im Rechtsstreit zwischen Hiob und Gott werden ... (ebd.)
In Hi 19, das ausschließlich der „Gattung einer Rede des Beklagten vor Gericht“ (87) angehöre, komme es dann zur „Anklage Gottes vor dem Gericht der drei Freunde“ (88). Hi 19,23-27 dagegen deutet Richter als erneuten „Versuch, den Rechtsstreit mit Gott anhängig zu machen“ (89): Hiob begründe „nun seine Bitte um Einleitung eines Prozeßverfahrens, in dem Gott ihn gerecht sprechen soll, damit, daß sein Goel lebt“ (91) – auch hier verwirren sich die Rollenzuordnungen. In diesem 19. Kapitel sieht Richter „einen Höhepunkt des Hiobdramas“ vor sich: „Die erste Frage des Hiobproblems wird hier durch Hiob selbst gelöst. Es ist dies die persönliche Frage eines unschuldig Leidenden“ (93): Ist Gott mir nun zum Feind geworden, oder bleibt er auch im unschuldigen Leiden an meiner Seite? Hiob, glaubt Richter, habe sich hier zur zweiten Antwort durchgerungen. Aus der Tatsache, dass dem dritten (erheblich gestörten) Redegang kein weiterer folgt, schließt Richter, dass der eine Rechtsstreit, der zwischen Hiob und den Freunden, damit zugunsten von Hiob beendet worden sei. Spätestens mit seiner Unschuldsbeteuerung Kap. 29-31, dem Reinigungseid als dem letzten Mittel des Angeklagten, seine Unschuld zu erweisen, bringe Hiob seine Freunde zum Schweigen. Mit ihrem Verstummen hätten die Freunde „de facto Gott für schuldig und Hiob für unschuldig erklärt, weil sie ihre Klage zurückgenommen haben, die ein Schuldigsprechen Hiobs zum Ziele hatte“ (129). Um diesen theologisch anstößigen Sieg Hiobs rückgängig zu machen, habe die spätere Einfügung der Elihu-Reden dieser Rechtsstreit praktisch wiederaufge-
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nommen und damit „die Streitbeendigung in eine Form gebracht, gegen die theologisch nichts einzuwenden war“ (103). Der Reinigungseid Hiobs bildet nach Richter den Abschluss des gerichtlichen Schlichtungsverfahrens zwischen den drei Freunden und Hiob. Er könne aber als zweite Möglichkeit auch ein Gebet Hiobs zur Auslösung eines Gottesurteilverfahrens enthalten: „Beide Möglichkeiten können getrost nebeneinanderstehen. Dann hätte diese Rede einen doppelten Zweck zu erfüllen.“ (105) Gott wäre also zum Urteil über sich selbst aufgerufen, denn aus Hiobs Unschuldsbehauptung, so Richter, ergebe sich die unausgesprochene Folgerung, dass Gott schuldig sei und Hiobs Anklage zu Recht bestehe. „Die natürliche Fortsetzung des Rechtsstreites wäre es, wenn nun Gott als der Angeklagte das Wort ergreifen und gleichzeitig als einzig kompetente Instanz den Rechtsstreit beenden würde.“ (110) Genauso kommt es: Mit den Gottesreden Hi 38ff., so Richter, beginne das „Gottesurteilverfahren in Form des weltlichen Prozeßverfahrens zwischen Gott und Hiob“ (119). Was im Kultus eine Unmöglichkeit wäre, wird hier Wirklichkeit: Hiobs Wunsch, Gott möge sich ihm stellen, wird erfüllt (120). Gott also erscheint vor Gericht, weist aber Hiobs Anspruch, er habe ungerecht an ihm gehandelt, zurück. In seinen rhetorischen Fragen zu Beginn von Hi 38 zeige Gott als der Richter Hiob die Beweismöglichkeiten für seine Sache auf und gebe ihm damit theoretisch „die Möglichkeit, seinen Anspruch unter Beweis zu stellen“ (z. B. Hi 38,4: „Wo warst du, als ich die Erde gründete? Gib Bericht, wenn du Einsicht besitzt!“ S. 122ff.) Damit enthalte diese (im Original einheitliche) Richterrede „zwar nicht der Form nach, aber doch der Sache nach“ auch den fälligen Streitbeendigungsvorschlag, denn es sei „selbstverständlich, daß die beklagte Partei den geforderten Beweis nicht erbringen kann“. In Hi 40,4f. und 42,2-6 folge endlich die „Streitverzichtserklärung Hiobs“ (125). Somit also bestehe, so Richter, „das Urteil zu Recht, das Gott über ihn ausgesprochen und vollzogen hat. Hiob ist formal schuldig“ (ebd.), auch wenn er keine reale Schuld eingesteht. Er muss auf eine juristische Gerechtsprechung durch Gott verzichten (126). Mehr noch: Es sei, wie Richter meint, „der juristische Beweis“ dafür erbracht worden, „daß das Urteil und die Strafe, die über Hiob ausgesprochen und vollzogen worden sind, zu Recht bestehen.“ Gerade darin liegt für Richter der kritische Impuls der Dichtung. Innerhalb des Hiobdialogs führe der Hiobdichter so etwas wie die Selbstzerstörung eines solchen juristischen (wie weisheitlichen) Anspruchsdenkens vor:
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Wie er die Theorie der Weisheitslehre, daß gutes und frommes Handeln immer einen entsprechenden Lohn durch Gott findet, durch die Weisheitslehre ad absurdum führt, so entkräftet er gleichfalls die Theorie der ‚juristischen‘ Gotteserkenntnis, daß Gott in jedem Falle gerecht richtet, durch die Gattungen des Rechtslebens. (127)
Die endgültige „Lösung des Hiobproblems“ finde sich deshalb erst außerhalb des Hiobdialogs, im Epilog. „Diese Lösung heißt: Gott handelt am Menschen nicht nach den Kategorien, die eine Theologie der Weisheit oder der ‚juristischen‘ Gotteserkenntnis aufgestellt hat, sondern er handelt ‚allein aus Gnaden‘.“ (ebd.) Die Gerechtsprechung, von der die Rahmenerzählung berichtet. geschieht jenseits juristischer Kategorien. Deshalb ergeben nur Rahmenerzählung und Hiobgedicht zusammen „die volle und befriedigende Lösung auf die im Drama gestellte Frage“ (129). Es kann nun allerdings nicht übersehen werden, dass Richters Ausführungen auf mehreren Ebenen der Argumentation Unklarheiten und Widersprüche enthalten. Das betrifft zum einen die Voraussetzungen der Darstellung, die zugrundeliegende These vom Rechtsstreit als dem organisierenden Prinzip des „Dramas“, darüber hinaus aber auch die Durchführung dieser Darstellung selbst. Während Westermann sich vehement dagegen wehrte, Hiobs Schicksal als einen „Fall“ aufzufassen, macht Richter es explizit und ausschließlich zu einem solchen (65, 79). Seine Entschlossenheit, alles aus der Perspektive eines Rechtsverfahrens zu lesen, eliminiert jedes Element der Klage und Betroffenheit. Hiob äußert nicht Schmerz, sondern Thesen, zu deren „Beweis“ er Klagelieder anführt (vgl. 66). Grundsätzlich muss bereits bezweifelt werden, ob die Quellen, die Richter anführt, alle seine Schlussfolgerungen zum israelitischen Rechtsleben rechtfertigen. Es gibt, wie er selbst herausstellt, außerhalb der Gesetzessammlungen und Erzählungen des AT keine schriftlichen Urkunden über israelitische Rechtsverfahren. Wenn Richter sich auf Köhler bezieht, der seinerseits gerade den Wert des Hiobbuches als Quelle für unser Wissen über Gattungen des Rechtslebens betont, dann scheint mir die Voraussetzung, das Hiobbuch ließe sich nur von diesen Gattungen her verstehen, die Gefahr einer zirkulären Argumentation in sich zu tragen. Anfechtbar scheinen vor allem Richters Ausführungen über das Gottesurteilverfahren. Er weist die Folgerung der Forschung aus den wenigen direkten Belegstellen über Gottesurteile im AT, dass solche in Israel nicht oft zur Entscheidung herangezogen worden seien, mit Hinweis auf die Psalmen zurück: „Daß das Gottesurteilverfahren in Israel sehr häufig zur Anwendung gekommen ist, dafür sind die vielen Psalmen, die ein solches Gottesurteilverfahren zur Voraussetzung haben, der beste Beweis.“ (49)
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Anschließend versucht er aus dem Aufbau der Psalmen eine typische Gliederung solcher Verfahren zu gewinnen. Leider lasse sich, so Richter, anhand der alttestamentlichen Belegstellen nicht erhellen, wie das Gottesurteilverfahren durchgeführt wurde (49; 53). Textstellen wie Num 5,1128, wo detailliert geschildert wird, wie der Priester ein Verfahren bei Verdacht auf Ehebruch durchzuführen hatte, berücksichtigt er dabei nicht. (Allerdings ist hier von einem Verfahrensablauf, wie Richter ihn aus den Psalmen gewinnen wollte – Anrufung des Gottesgerichtes durch ein Gebet; Gottesurteil; Unterwerfungserklärung oder Dankgebet nach Gerechtsprechung – auch nichts zu finden.) Auch in sich ist Richters Darstellung widersprüchlich. Schon seine Gattungszuordnungen, die ja der methodische Ausgangspunkt seiner These sind, decken sich teilweise nicht mit denen anderer 48 und im Vergleich mit anderen Darstellungen fallen die eigenwilligen Übersetzungen Richters auf (z. B. Hi 19,7 „es wird keine Rechtssache daraus“, dagegen Luther: „aber kein Recht ist da“; Fohrer S. 306: „so gibt’s kein Recht“). Seiner eigenen Mahnung, die gattungsorientierte Deutung müsse sich jeweils die ganze Situation deutlich machen und fragen „Wer redet? ... Welche Wirkung wird erstrebt? Wo wird geredet?“ (15), kommt Richter bei der Beurteilung des Dialogs auch nur unvollkommen nach. Die erstrebte Wirkung der Freundesreden, die explizit gegebene Tröstungsabsicht der Freunde (Hi 2,11), wird mit keinem Wort erwähnt. Und der Ort des Gesprächs – die mazbala, der Aschehaufen, auf dem Hiob sitzt (Hi 2,8) – ist weder der angestammte Ort weltlicher Gerichtsverfahren (die öffentlich am Platz vor dem Tor stattfinden) noch von Gottesurteilverfahren (die immer am Heiligtum im Tempel durchgeführt werden)49. ––––––––––––– 48 Vgl. etwa seine Bestimmung der Hiobrede Hi 19 als „ausschließlich der Gattung der Rede des Beklagten vor Gericht“ angehörend (87) mit Westermanns Bestimmung derselben Abschnitte als Klage des Beters. Auch Maag meint, „daß Richter bisweilen Stücke für eine Rechtsgattung in Anspruch nimmt, die ihr nicht zugeschrieben werden können“ (Maag 98). 49 Richter versucht diesen Widerspruch mit dem Hinweis auf Ägypten und Babylonien zu entkräften. wo „ein Gottesurteilverfahren vor jedem Orakelgott durchgeführt werden“ konnte (91) – naheliegend, da es keine zentrale Gottheit gab. Der Dichter habe das Drama aus dem israelitischen Kultraum hinausverlegt, um damit seine Kritik am Kultus zu unterstreichen (106). Ob jedoch ein Wechsel in polytheistische Kontexte und heraus aus dem israelitischen Rechtsraum dem dargestellten Konflikt von Hiob und JHWH und der dem Dichter unterstellten Absicht, die „juristische Gotteserkenntnis“ ad absurdum zu führen, noch gerecht geworden wäre, scheint mir fraglich.
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Die Interpretation des Hiobgeschehens als direkte Darstellung von Schlichtungsverfahren, Prozessverfahren und Gottesurteilverfahren kann ebenfalls nicht überzeugen. Insbesondere fällt es schwer, die wechselnden Rollenverteilungen der verschiedenen Verfahren nachzuvollziehen. Entscheidend aber ist, dass Richter zwar das Hiobbuch dem Schema des RECHTSSTREITES unterwirft, aber gerade dadurch zur Zurückweisung einer juridischen Gotteserkenntnis und zur Anerkennung Gottes als eines „deus absconditus“ gelangt. Und selbst das bleibt eingestandenermaßen letztlich „unbefriedigend“ (128f.). Die ganze „Wirklichkeit Gottes“, wie Richter sie sich vorstellt, des Gottes sowohl als „absoluter Herr“ als auch als der „Gott der Gnade“, sei „durch menschliche Vernunft“ oder durch Literatur nicht darstellbar (129). Auch hier finden sich wieder die beiden Pole des Gottesbildes, Majestät und Güte, deren Vermittlung angesichts des (unverdienten) Leides so schnell misslingt. Ähnlich wie Preuß’ „erzählte Dogmatik“ und stärker noch Westermanns Struktur der Klage zwingt auch die Struktur des Rechtsverfahrens JHWH eine Rolle auf. Die Theophanie ist für Richter eine „natürliche Fortsetzung“ (110) des Rechtsverfahrens nach dem Reinigungseid Hiobs. Auch das beschränkt die postulierte Freiheit JHWHs, indem es ihn in die Ordnung der Menschenwelt eingliedert und sich so den „wahren Gott“ zurechtdefiniert. Auch Richters Interpretation endet im Widerspruch und erzeugt aufs neue die Ausgangssituation des Hiobproblems: Das empirisch nicht Erfassbare wird dogmatisch erfasst. Gottes Handeln sei „nicht berechenbar“ (128) – aber „die Rechtfertigung des Menschen“ bleibe doch „das Ziel“ (129) für den „wahren, lebendigen Gott, der sich im Leben eines jeden Einzelnen offenbart“ (128). In Drama und Epilog finde das Hiobproblem seine „volle und befriedigende Lösung“. Im Hiobbuch werde gezeigt, was keine „darstellbare und beweisbare Wirklichkeit“ ist und was Richter doch als formulierbare Erkenntnis ausgibt: „daß Gottes Handeln am Menschen immer von der Gnade her bestimmt ist“ (130). Richter setzt diese Erkenntnis als die „Lösung“ des Hiobproblems und das Urteil der Geschichte von Hiob als ein Urteil über die außertextliche Welt. Die Widersprüche in Richters Untersuchung können nicht ausnahmslos ihm selbst angelastet werden. Sie spiegeln auch die Widersprüche des Textes und seines „Problems“ wider, die sich eben nicht bruchlos auflösen lassen. Richter hat das juridische Deutungsmuster bis an seine Grenzen und darüber hinaus geführt. So ist ihm tatsächlich gelungen, genau das zu zeigen, was er als Intention des Dichters unterstellt hatte: Gottes Gerechtigkeit und Hiobs Gottesbeziehung können nicht in juristischen Katego-
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rien gedacht werden. Deshalb entzieht sich das Geschehen des Hiobbuches auch der Schematisierung als Rechtsstreit. Das zeigen schon die ständig wechselnden Rollenverteilungen an: die Freunde sind Schlichter, Kläger, Richter (und, wenn es nach Richter ginge, in Hi 19,23-24 auch noch Schreiber; vgl. Richter 1954, 91), Hiob ist ein bereits Verurteilter, Angeklagter, Kläger und wieder Angeklagter, JHWH ist Angeklagter, Kläger, Anwalt und Richter. Es ist also gerade das Faktum ernst zu nehmen und zu interpretieren, dass das RECHTSSTREIT-Schema wichtige Teile des Hiobbuches dominiert und sein Denken metaphorisch organisiert, ohne dass das Buch deshalb als ‚nachahmende Darstellung‘ eines Rechtsverfahrens verstanden werden kann. Mit dem Scheitern der juridischen Gotteserkenntnis schließt sich der Kreis zu den Interpretationen des Hiobbuches als Weisheitskritik: Mit dem universellen Tun-Ergehen-Zusammenhang, sei er weisheitlich oder juristisch kodiert, gerät die Kategorie der Gerechtigkeit selbst (als Gerechtigkeit Gottes oder als die gerechte Weltordnung) an die Grenze ihrer Anwendbarkeit. Zumindest im Lichte der referierten Hiobdeutungen scheint angesichts des Unglücks nur bedingungslose Hoffnung noch legitimierbar, eine Zuversicht, die sich auf nichts stützt als das Vertrauen auf den (unverfügbaren) Gott. Westermanns Beobachtung, dass in Hiobs Reden eine solche Zuversicht, dieses Vertrauen als „Wagnis“ (Westermann 107) so rar ist und dass es sich nur gerade in allernächster Nähe zur scharfen Anklage Gottes zeigt, bezeichnet präzise den Punkt, an welchem jede auf Systematik und Folgerichtigkeit zielende Analyse des Buches Hiob an ihre Grenze gerät. Das Vertrauen als Wagnis baut auf eine Antwort. Ob ihm aber Antwort zuteil wird, ist absolut unverfügbar. Das heißt: Die Perspektive der Weisheit, die Draufsicht auf das Geschehen in der Welt und damit die Perspektive dessen, der das Ende kennt, ist dem Subjekt in der Welt nicht möglich. Sich aber (wie viele Subjekte der modernen Literatur) als „antwortlos zurückgelassen“ 50 zu begreifen, ist für das Subjekt Hiob ebenso wenig eine lebbare Alternative. Die Hiobdeutungen von Preuß, Westermann und Richter haben miteinander gemeinsam, dass letztlich nur die Antwort Gottes – das erzählte Ereignis, dass er Hiob überhaupt geantwortet hat – eine Lösung des „Hiobproblems“ sein kann. Die Perspektive der „Weisheit“ versucht, die Antwort zu antizipieren und im Dogma festzuschreiben. In der Perspektive der „Klage“ dagegen behauptet sich die endliche, umgrenzte Sicht des beteiligten und betroffe––––––––––––– 50 Thomas Bernhard, Korrektur, 220.
Verwirrungen: Der Forschungsstand zum Hiobbuch
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nen Subjekts, das im weisheitlichen System verloren zu gehen droht. Das Schema des „Rechtsstreites“ ist eine Möglichkeit, diese beiden entgegengesetzten und doch gleichermaßen unverzichtbaren Perspektiven zu vermitteln, eine Möglichkeit, die sich der narrativen Struktur selber verdankt. Im Hiobbuch werden juridische Kategorien der Weltdeutung zurückgewiesen, gleichzeitig aber juridische Strategien der Problemlösung verwendet: Die Probleme des Hiobbuches finden ihre Lösung in einem Akt des Urteilens, einem Urteil der höchsten Instanz. Als juristisches Konzept verweist das Urteil auf eine Ordnung, ein Gesetz. Im Hiobbuch aber wird der Anspruch, das Gesetz zu kennen, zurückgewiesen. Alles, was wir haben, ist das Urteil selber, die Antwort, die auf die Ordnung verweist, ohne sie uns schon zugänglich zu machen. Ein Urteil, dessen gesetzliche Grundlage wir nicht kennen, steht schnell im Verdacht, ein willkürliches Urteil, ein „Machtspruch“ zu sein. Das Gottesurteil bei Hiob ist da keine Ausnahme, wie bis heute zahlreiche Hiobinterpretationen zeigen. Dennoch: Es wird erzählt, dass JHWH geurteilt und Hiobs Problem gelöst hat. Die Geschichte Hiobs ist damit an ihr Ende gekommen. Das Urteil hat damit die beiden entgegengesetzten Perspektiven, die Perspektive des klagenden Subjekts und die weisheitliche Perspektive von außen auf die Welt, doch noch vermittelt. Die Verhandlung ist geschlossen. Narrative Problemverhandlung hat hier geleistet, woran die argumentative Verhandlung in den Redegängen scheiterte. Ihre Eigenheiten sollen im Folgenden näher bestimmt werden, zunächst in Bezug auf die Verhandlungen des „Hiobproblems“ selber und im Anschluss anhand von Wiederaufnahmen der Hioberzählung in neuen Problemkontexten.
II. Probleme: Problemverhandlungen im Hiobbuch 1. Annäherung an das Hiobproblem Das „Hiobproblem“, hatten wir vorgreifend bestimmt, kennzeichnet in erster Näherung die Schwierigkeit, Erfahrungen unschuldigen Leidens mit den Erwartungen zu vereinbaren, die sich aus dem zuvor fraglos akzeptierten Weltbild und der Annahme eines mehr oder weniger strengen TunErgehen-Zusammenhang ableiten. Problemlösung wäre die Überwindung dieses manifesten Widerspruchs von Erfahrung und Weltbild, die Wiedergewinnung einer stabilen, unproblematischen Welt. Allerdings muss, wie unsere Sichtung der Hiobforschung zeigt, ein angemessenes Verständnis der Hiobproblematik sowohl die Hioberzählung als auch die Dichtung für sich selbst sprechen lassen und ihren je eigenen historischen, politischen, theologischen und literarischen Kontext berücksichtigen. Das „Problem“ der Hioberzählung ist nicht mit dem der Dialogdichtung identisch, und unsere verallgemeinernden Bestimmungen bedürfen daher einer verlässlichen Verankerung im Konkreten. Dennoch: Spätestens seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. liegt der Text des „Buches Hiob“ in jener spannungsvollen Gestalt vor, die die Endredaktion ergeben hat. Seine äußere Form lässt auf den ersten Blick kaum noch etwas von seiner Entstehung ahnen. Als das Werk eines Autor wurde und wird es von den meisten gelesen, in Gestalt eines Textes entfaltet es bis in die Gegenwart seine Wirkung. Wer vom „Hiobproblem“ spricht, bezieht sich in der Regel auf dieses Werk und diesen Text in seiner Gesamtheit. Auch die im vorangegangenen Kapitel betrachteten Interpretationen sind Versuche, das vorliegende Buch unter besonderer Akzentuierung bestimmter Aspekte als ein Ganzes zu untersuchen und zu deuten. Die „Hiobproblematik“ im Hiobbuch umfasst letztlich beides, die Behandlung der jeweiligen Problemstellungen in Erzählung und Dialog und das, was Rezensionen und Redaktionen daraus gemacht haben1. Deshalb versucht die ––––––––––––– 1 Vor allem in literaturwissenschaftlichen Interpretationen des Hiobbuches drückt sich häufig ein „Unbehagen über die oft disparaten Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung aus“, die einer „konsistenten Gesamtinterpretation“ im Wege stehen (vgl. Syring 41f.). Allerdings führt dieses Verlangen nach Kohärenz angesichts eines Textes voller Spannungen notwendig zu willkürlichen Setzungen (Beispiele bei Syring 42f.).
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folgende Annäherung, aufbauend auf eine Würdigung des eigenständigen Problempotenzials von Erzählung und Dialog, die Endgestalt des Buches Hiob zum einen als Verhandlung eines spezifischen Problems, aber auch als Zeugnis einer Kontroverse in Geschichten zu lesen, welche in Hiobbearbeitungen bis heute wiederaufgenommen und weitergeführt wird. a) Fragen und Antworten Problemlösungen, so hatten wir gesagt, verhalten sich zu Problemen wie Antworten zu Fragen. Das Buch Hiob steckt voller Fragen, und das im Wortsinn: Im Text des Hiobbuches wird der Fortgang der Erzählung von Fragesätzen bestimmt, die auch die Fragen der Leser an den Text lenken und so direkt auf das Textverstehen, die Interpretation der „Hiobfrage“, wirken. Entscheidende Handlungsimpulse sind stets von Fragen begleitet. Dies beginnt schon in der ersten Himmelsszene, nachdem in der Einleitung Frömmigkeit und Wohlergehen Hiobs geschildert worden waren. JHWH eröffnet das Gespräch mit dem Satan mit einer Frage: „Hast du achtgehabt auf meinen Knecht Hiob? Denn es ist seinesgleichen nicht auf Erden, fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse.“ Die Antwort des Satans hat ihrerseits die Form einer Frage, die sowohl die Konfrontation des Satans mit JHWH einleitet – und damit die eigentliche Handlung in Gang bringt – als auch bereits die Erwartung weckt, worauf der weitere Text Antwort geben soll: „Der Satan antwortete dem HERRN und sprach: Meinst du, daß Hiob Gott umsonst fürchtet?...“ (Hi 1,8-9) Die Mehrdeutigkeit des Wortes „umsonst“2 eröffnet dieser Frage ein Feld von Bedeutungen, die über den unmittelbaren Fragekontext hinausweisen und die sowohl die Beweggründe für Hiobs Gottesfurcht als auch deren Sinn oder Berechtigung umfassen können: Ist Hiob ohne Grund oder aber ohne Gegenleistung gottesfürchtig? Ist seine Gottesfurcht womöglich einfach sinnlos? Es folgen Prüfung und Bewährung Hiobs, in welcher dieser selbst die „Lehre“ dieser (Teil-) Geschichte in Form einer Frage formuliert: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (Hi 2,10) ––––––––––––– 2 Das Spektrum möglicher Bedeutungen des hebräischen hinnam („umsonst“, lat. gratis) umfasst 1. unentgeltlich/ohne Entschädigung; 2. vergeblich/ohne Sinn; 3. ohne Grund/ unverdient (vgl. Ebach 1995a und Ebach 1996 I, 13f.). Luther übersetzt als „ohne Grund“ das erneute hinnam in 2,3, wenn JHWH dem Satan vorwirft: „du hast mich bewogen, ihn ohne Grund zu verderben“.
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Am Beginn der Dialogdichtung steht dann die große Klage Hiobs, die um seine „Warum-Fragen“ (Hi 3,11-12.20-23) herum aufgebaut ist: „Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? ...“ „Warum gibt Gott das Licht dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen ...?“3 Dem stellen die Freunde, die Hiob zu trösten versuchen, den Hinweis auf die allgemein verbreitete Auffassung vom Wesen des Leides und von Gottes Gerechtigkeit entgegen: „Bedenke doch: Wo ist ein Unschuldiger umgekommen? Oder wo wurden die Gerechten je vertilgt?“ (Hi 4,7) Leid ist Strafe für Sünde. Wenn Hiob wirklich unschuldig sein sollte, dann soll er sich an Gott wenden (Hi 5,8) und der wird ihn retten (Hi 6,18-26). Genau das tut Hiob in seiner nächsten Rede. Er wendet sich an Gott, nicht aber bittend und demütig, sondern fordernd, mit Dringlichkeit fragend: ... Ich will reden in der Angst meines Herzens und will klagen in der Betrübnis meiner Seele. Bin ich denn das Meer oder der Drache, daß du eine Wache gegen mich aufstellst? (Hi 7,11f.) Was ist der Mensch, daß du ihn groß achtest und dich um ihn bekümmerst? () Warum blickst du nicht einmal von mir weg und läßt mir keinen Atemzug Ruhe? Hab ich gesündigt, was tue ich dir damit an, du Menschenhüter? Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe, daß ich mir selbst eine Last bin? Und warum vergibst du mir meine Sünden nicht oder läßt meine Schuld hingehen? (Hi 7,17-21)
Das Verhältnis der Freunde zu Hiob verhärtet sich zusehends; sie können solches Reden gegen JHWH nur als Frevel verstehen und so in seinem Leiden immer deutlicher nur die Strafe für eine Schuld sehen. Hiobs Fragen an Gott wiederum gipfeln in der Forderung, dieser solle sich zum „Rechtsstreit“ (Hi 13,18) stellen und so die Gründe seines Handelns an Hiob verständlich machen. Erst JHWHs Antwort also kann eine Auflösung bringen. Die Gottesreden jedoch, die endlich, nicht eher als in Kap. 38ff. zu lesen sind, können viele Leser kaum als eine wirkliche Antwort akzeptieren4. Auf Hiobs Fragen und Anklagen nämlich gehen sie gar nicht ein und ––––––––––––– 3 Zu diesen „für den untauglichen Versuch rationaler Schicksalsbewältigung bezeichnenden Fragen“ Hiobs meint Maag: „Die seelische Gestimmtheit der beiden Abschnitte 3,11ff. und 3,21ff. ist von einem dreifachen ‚Warum?‘ beherrscht (3, 11.112.16). Weil es kein ‚Darum‘ gibt für Hiob, sieht er keinen Sinn in seinem Leiden ... Das in seiner Dreimaligkeit unüberhörbare ‚Warum?‘ fragt nach der Vernünftigkeit eines leiderfüllten Daseins ...“ (Maag 108). 4 „Die ... Tatsache, daß das Hiobbuch keine Lösung zu bieten scheint, hat man vielfach auch in negativem Sinne empfunden und registriert.“ (Hesse 1992, 17) Vgl. z. B.
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antworten statt dessen ihrerseits mit Fragen – gleich mit einem ganzen Katalog von Gegenfragen an Hiob, die allerdings selbst außer Einsicht und stummer Unterwerfung keine Antwort mehr erwarten: Wer ist’s, der den Ratschluß verdunkelt mit Worten ohne Verstand? () Ich will dich fragen, lehre mich! Wo warst du, als ich die Erde gründete? ... Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie die Richtschnur gezogen hat? Worauf sind ihre Pfeiler eingesenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt ... Wer hat das Meer mit Toren verschlossen, als es herausbrach wie aus dem Mutterschoß ...? (Hi 38,2-6.8) Weißt du des Himmels Ordnungen, oder bestimmst du seine Herrschaft über die Erde? Kannst du deine Stimme zu der Wolke erheben, damit dich die Menge des Wassers überströme? Kannst du die Blitze aussenden, daß sie hinfahren und sprechen zu dir: ‚Hier sind wir‘? Wer gibt die Weisheit in das Verborgene? Wer gibt verständige Gedanken? Wer ist so weise, daß er die Wolken zählen könnte? ... (Hi 38,33-37) Willst du mein Urteil zunichte machen und mich schuldig sprechen, daß du recht behältst? Hast du einen Arm wie Gott, und kannst du mit gleicher Stimme donnern wie er? ... Kannst du den Leviathan fangen mit der Angel und seine Zunge mit einer Fangschnur fassen? ... Wer kann mir entgegentreten und ich lasse ihn unversehrt? (Hi 40,8-9.25; 41,3)
Wenn der Text des Hiobbuches an entscheidenden Punkten der Handlung seine Fragen stellt, so beeinflusst das auch die Art und Weise, in der die Leser selbst ihre eigenen, das Textverstehen anleitenden Fragen an das Hiobbuch richten können. Denn so wie Leser durch Fragen aktiv ihr Verstehen lenken, so können auch Merkmale des Textes selbst das Fragen in eine bestimmte Richtung führen, einerseits Fragen provozieren oder erzwingen, andererseits auch durch bestimmte Textsignale mögliche Fragen blockieren5. Eco, in seinem Modell der textuellen „Mitarbeit der Interpre-
––––––––––––– Paul Claudel, Das Buch Job (1946), Carl Gustav Jung, Antwort auf Hiob (1952); Ernst Bloch, Atheismus im Christentum (1968), Arnold Künzli, Gotteskrise (1998). 5 Roland Barthes in S/Z (1987, orig. 1970) beginnt seine Analyse von Sarrasine mit den Worten: „Der Titel eröffnet eine Frage: Sarrasine, was ist das? Irgendeine Benennung? Ein Eigenname? Eine Sache? Ein Mann? Eine Frau?“, und er bezeichnet dann als „hermeneutischen Code“ die „Gesamtheit der Einheiten, deren Funktion darin besteht, auf verschiedene Weise eine Frage, die Antwort und die verschiedenen Zufälle zu gliedern, die die Frage vorbereiten oder die Antwort verzögern können oder auch ein Rätsel formulieren oder seine Dechiffrierung herbeiführen“ (Barthes 1987, 21). Fiktionale Texte sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass „durch eine besondere (implizite oder explizite) Einführungsformel ... der Leser dazu aufgefordert [wird], sich nicht zu fragen, ob die berichteten Tatsachen wahr oder falsch seien“ (Eco 1990, 87; meine Hervorhebung).
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tation in erzählenden Texten“, spricht in diesem Zusammenhang von „Wahrscheinlichkeitsdisjunktionen“: Jedesmal, wenn der Leser dahin gelangt, im Universum der Fabel ... die Ausführung einer Handlung zu erkennen, die in der Welt der Erzählung eine Veränderung zu bewirken vermag und somit neue Handlungsverläufe einleitet, wird er dazu angeregt, vorherzusehen, welche Zustandsveränderungen von der Handlung herbeigeführt werden und welches der neue Handlungsverlauf sein wird. (Eco 1990, 141)
Wahrscheinlichkeitsdisjunktionen – die Möglichkeit des Lesers, sich eine Frage über den weiteren Verlauf zu stellen – treten streng genommen nahezu überall in einer Erzählung auf, selbst innerhalb eines einfachen Satzes: „/Luigi ißt.../: was bloß, ein Hähnchen, ein Brötchen, einen Missionar?“ (ebd.) Eine „Wahrscheinlichkeitsdisjunktion von bedeutenderem Interesse“ wird, so Eco, durch „textuelle Signale verschiedenster Art“ indiziert, die kenntlich machen, „daß die sich abzeichnende Disjunktion relevant sei“ (ebd.) Explizite Fragen sind sicherlich dafür geeignete Signale, auch wenn Eco andere, nämlich „Spannungssignale“ im Sinn hat, z. B. Verzögerungen der Antwort auf eine implizite Frage des Lesers (vgl. 141f.) – oder eben auf explizite wie etwa die des Satans im Epilog des Hiobbuches. Eine zentrale Wahrscheinlichkeitsdisjunktion wiederum ergibt sich vor der endgültigen narrativen Bewertung von narrativen Programmen: Erfolg oder Misserfolg, Bestätigung oder Zurückweisung? Die Antwort gibt das narrative Urteil. Wenn die Leser des Hiobbuches Fragen formulieren und im Text nach Antworten suchen, so strukturieren sie damit auf eine bestimmte Weise ihre Lektüre. Dabei können sie sich ganz dem Text überlassen oder aber diesen kritisch „hinter-fragen“. Der planvolle Einsatz von Frage und Antwort kann Basis hermeneutischer Methodik sein: Das „Verstehen“ des Textes lebt von der Kunst des Interpreten, an der richtigen Stelle die „richtigen“ Fragen zu stellen6. Die verschiedenen Fragen des Textes, insbesondere die Frage des Satans und die Warum-Fragen Hiobs, sowie die Antworten, die der Text des Buches darauf gibt, spannen also den Raum ––––––––––––– 6 Bereits aus der antiken Homerexegese ist uns ein „Modell der ‚Fragen und Antworten‘“ für das Textverstehen bekannt, welches auch bei der Bibelexegese Anwendung fand (vgl. Dohmen u. Stemberger 65). Es sei hier auch auf das Unternehmen von Jauß verwiesen, im Anschluss an Gadamer, Bultmann u. a. auch die literarische Hermeneutik im konzeptionellen Rahmen einer „Hermeneutik von Frage und Antwort“ zu erfassen. Vgl. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (1982), 376 sowie in diesem Zusammenhang auch ders, „Hiobs Fragen und ihre ferne Antwort“, a. a. O. 450-466.
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auf, innerhalb dessen der unbefangene Leser das „Hiobproblem“ vermuten kann. Es geht um das Gute und das Böse, den Sinn des Leids, das rechte Verhalten im Leiden, und es geht um das Verhältnis des Menschen Hiob zu JHWH, dem Herrn des Schicksals und über Gut und Böse. Ist Hiob umsonst gottesfürchtig, wenn seine Unschuld ihn nicht vor Leiden bewahrt? Warum lässt JHWH Hiob unschuldig leiden? (Denn dass das Leid von JHWH kommt, ist Hiob selbst unzweifelhaft; die Figur des Satans spielt für ihn weder in der Rahmenerzählung noch im Dialog eine Rolle). Warum also handelt JHWH so? Ist er ungerecht, oder ist ihm das Ergehen der Menschen gleichgültig? Ist seine Schöpfung eine verständliche Welt mit einer einsichtigen Ordnung? JHWHs Antwort-Fragen in den Gottesreden antworten auf Hiobs Klage und auf seine Herausforderung. Aber sie antworten nicht auf seine Fragen. Sie reden von der Größe der Schöpfung – es geht also in der Tat um die Ordnung der Welt, um den Platz des Menschen in dieser Ordnung und um das Verhältnis von JHWH zum Menschen. Denn für Hiob zählt vor allem, dass JHWH überhaupt antwortet. JHWH antwortet Hiob, er ist also ein naher, ein ansprechbarer Gott. Aber diese Antwort schmettert Hiob nieder, bringt ihn zum Schweigen, führt ihm die Größe einer Schöpfung vor Augen, die nicht nach Menschenmaß gemacht ist – also ist JHWH auch ein ferner, ein unbegreifbarer Gott. Die ganze Ordnung seiner Schöpfung bleibt verborgen, aber es erweist sich die Göttlichkeit dieser Schöpfung, die also doch ihre Ordnung haben muss. Das Fragen der Freunde nach Schuld und Recht bleibt unbeantwortet, aber Hiobs existenzielles Problem wird gelöst: JHWH wendet sich ihm zu und gibt ihm doppelt zurück, was er verloren hatte. Hiob lebt glücklich noch hundertvierzig Jahre und stirbt dann „alt und lebenssatt“ (Hi 42,17). So hat am Schluss auch das Fragen Hiobs ein Ende. Dieses Ende ist ambig: Hiobs Fragen wird gewaltsam beendet, per Verdikt zum Verstummen gebracht. Es wird gleichzeitig durch JHWHs Handeln überflüssig: Hiobs Unglück wird „wieder gut gemacht“. Im Rahmen des Hiobbuches sind Theophanie und Restitution Hiobs eine letzte Antwort, die das Fragen endgültig abzuschneiden scheint. Die Antwort Gottes war in den referierten Interpretationen von Preuß, Westermann und Richter das entscheidende Element. Nicht umsonst aber hat der Schluss des Buches auch immer wieder zu Kritik herausgefordert. Dieses Ende ist, als Problemlösung betrachtet, stark und schwach zugleich. Diese Lösung ist stark, weil sie eine wahrscheinlich unlösbare theoretische Frage schlicht zurückweist, anstatt eine logisch oder theologisch fragwürdige
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Antwort zu wagen, und weil sie die praktische Seite des Problems würdigt, indem es auf die Beseitigung des Leids selber abzielt. Sie ist schwach, weil sie das Problem nicht „aus der Welt“ schafft: Mit jeder neuen Hiobsbotschaft kann es aufs Neue erwachen. Theophanie und Restitution stehen als Zurechtweisung und Bestätigung Hiobs zueinander in einer Spannung, die auch das Spiel der Fragen am Leben hält. Es ist dieses Spiel der Fragen und Antworten, das die Verbindung herstellt zwischen Problemstellung und Erzählung und zwischen dem Hiobbuch und seinen Fortschreibungen. Es mag sein, dass die Lösung der Hiobfrage nur in dem Verstummen der Fragen, der „Erlösung von der Fragestellung“ (Preuß 99) bestehen kann: In philosophischen oder literarischen Auseinandersetzungen mit dem Buch Hiob jedenfalls werden immer wieder aufs Neue von diesem Buch Antworten erwartet oder auch die darin gegebenen Antworten in Frage gestellt, und bis heute werden noch „Fragen zu Hiob“7 laut. b) Forschungsmeinungen zum Hiobproblem Fragen und Antworten spielen, wie wir gesehen haben, im Buch Hiob eine besondere Rolle. Auch das „Problem“ des Buches sollte, zumindest nach Meinung vieler Autoren, in einer Frage formuliert werden können. Welche Frage das allerdings sein könnte, wie die „Hiobfrage“ (Preuß 88) lauten soll, darüber besteht Uneinigkeit. Ebach meint, das „Hiobproblem“ sei die „Frage, wie es mit dem Glauben an Gott vereinbar sei, dass vor und mit und nach Hiob Menschen leiden wie Hiob, dass es das Leiden Unschuldiger gibt“ (Ebach 1996 I, ––––––––––––– 7 Arnold Künzli: Gotteskrise. Fragen zu Hiob. Lob des Agnostizismus (1998). Das Buch Hiob liefert dem Autor die Basis für seine Forderung nach einem religiösen Agnostizismus. Allerdings liest er es leider nur oberflächlich, oft willkürlich deutend, psychologisierend und unliterarisch, und er scheint zumindest zum Buch selber keine „Fragen“ zu haben: Hiob, der selbstgerechte Großgrundbesitzer, ist selbstverständlich schuldig und Gott ein machtbesessener, dem Leiden der Menschen gleichgültig gegenüberstehender „Taubstummer“ (Künzli 199), ja ein „Sadomasochist“ (19), der sich im Hiobbuch selbst demontiere (17). Dem „Feudalherrn“ Hiob wirft er vor, die Gesellschaftsstruktur und den eigenen Reichtum nicht in Frage gestellt zu haben (76), und Gott (unter anderem), dass er anlässlich der Restitution Hiobs Frau und Kinder nicht wiederbelebt habe (85) – allerdings war die Frau Hiobs gar nicht gestorben. Auch dass der Autor dem biblischen Gott die Attribute des rationalistischen Gottesbegriffs der Neuzeit – Absolutheit, Allmacht, Allwissenheit – unterstellt (z. B. 27), zeigt an, dass er an etwas anderem als einem angemessenen Verständnis des Hiobbuches interessiert ist.
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S. XI). „Warum auch einem guten Menschen Leid widerfährt, darüber diskutieren Hiob und seine Freunde.“ (Preuß 69) Langenhorst erkennt im Thema des Buches zum einen die „anthropologische Ur-Frage: ‚Wie ist die Stellung des Menschen im Weltganzen?‘“, zum andern die „theologische Ur-Frage: ‚Wie ist Gott denkbar?‘“ (Langenhorst 37) Für Maag wiederum ist das Thema der erzählenden Rahmenteile des Buches (der „Hiobnovelle“) die „Satansfrage“ (Maag 44), das des Dialogteils hingegen eine davon unterschiedene „theologische Streitfrage“ (193), nämlich das Vergeltungsdogma, wobei Hiob mit seiner Klage zunächst die „Sinnfrage“ (qua ratione?) stellt, während die Freunde mit ihren Schuldzuweisungen den Streit auf die „Rechtsfrage“ (qua iure?) verlagern (Maag 109, 116). Bräumer schließlich unterscheidet für das Buch Hiob mindestens fünf „Fragekreise“ (Bräumer I, 23): der „Sinn des Leidens“; die „Frage nach dem gerechten Gott“, die „Klage des Verzweifelten“, die „Lebenskrise“, die „Suche nach Trost“ (23-27). Auch die Forschung kommt also zu dem Ergebnis, dass das Hiobbuch selbst Fragen stellt und Antworten zu geben versucht: ... was dem Hiob widerfuhr, was seine Freunde und er selbst zu seinem Geschick meinten sagen zu können oder gar zu müssen, ist ein Geschick und sind Fragen wie Deutungsversuche, die immer wiederkehren. Aber auch, was aus dem Hiobbuch zu diesen Fragen als mögliches Angebot auf uns zukommt, gilt es zu hören. (Preuß 70)
Frage und Antwort, als Analogon zu Problem und Lösung betrachtet, umfasst im Hiobbuch mehr als nur theoretisches Fragen. Auch Trost kann ja eine „Antwort“ auf das Klagen sein, wie schon das Klagen eine „Antwort“ auf Leiden ist. Die Freunde versuchen allerdings vergeblich, Hiob zu trösten; erst die direkte Antwort Gottes an Hiob lässt ihn, getröstet oder nicht, verstummen. Ob die Gottesreden in ihrem Inhalt Hiob wirklich eine Antwort auf seine Fragen geben, wird wie gesagt vielfach bezweifelt. Als die eigentliche Antwort an Hiob, die Lösung des Hiobproblems zumindest als Hiobs Problem, erscheint das Sichtbar- und Wirksamwerden Gottes: Theophanie und Hiobs Wiederherstellung konstituieren als erzählte Ereignisse eine narrative Lösung des Problems. Angesichts dessen ist zu fragen, ob wir im Buch Hiob wirklich von einer „Problem“-Verhandlung sprechen können. Zu sehr klingt diese Formulierung nach abstraktem Denken und Theorie.
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Die meisten Autoren verwenden ohne Weiteres den Begriff „Hiobproblem“8 – meist im Sinne der Frage nach dem Sinn unverschuldeten Leidens. Einige aber wehren sich gegen diesen Begriff. Wie schon erwähnt, meint etwa Westermann9, Hiob sei eben kein „Fall“, an dem ein „Problem“ demonstriert werden soll, sondern „ein wirklicher Mensch, ein einmaliger Mensch“ (33). Ein Problem ließe sich immer in eine „Frage des Denkens“ fassen, das Hiobbuch dagegen behandle eine „Frage der Existenz“ (28): Die Existenz fragt anders. Die Existenz fragt z. B.: ‚Warum muß ich leiden?‘ Diese Frage entsteht nicht so, daß einer denkend sich sein Leiden zum Gegenstand macht. Diese Warum-Frage entsteht vielmehr direkt aus dem Leiden. Sie ist so etwas wie eine Reaktion auf das Leiden ... Die Frage: ‚Warum muß ich leiden?‘ ist, sofern sie eine Frage der Existenz ist, Klage. Sie kann dann allerdings sekundär eine Frage des Denkens werden, aber eben erst sekundär, nachträglich. (29)
Dass das Hiobbuch nicht eine Frage des Denkens beantworte, zeige gerade der Schluss des Hiobbuches: „Darin jedenfalls sind die neueren Auslegungen des Hiobbuches sich weithin einig, daß der Schluß eine gedankliche, eine theoretische Antwort nicht bringt“ (28) – wohl aber eine praktische, eine existenzielle. Die Deutung des Hiobbuches müsse „von der Frage der Existenz, d. h. der Klage ausgehen, nicht aber vom ‚Problem des Leidens‘ oder einem anders formulierten Problem.“ (29) Thema des Buches sei ein Sprachgeschehen: ein dialogisches Geschehen von Klage und Trost, das in ein Streitgespräch umschlägt, um endlich mit der Antwort Gottes, der Tröstung Hiobs und seiner Unterwerfung zum Abschluss zu kommen (33). Westermann hat zweifellos Recht: Das Hiobbuch besitzt eine Dimension, der die Rede vom „Problem“ und „Problemverhandlungen“ nicht gerecht werden kann. Insofern werden die Aussagen meiner Arbeit keine angemessene Interpretation des Hiobbuches bieten können. Dennoch findet im Hiobbuch auch Problemverhandlung statt: ––––––––––––– 8 Erwähnungen eines Hiob-“Problems“ schon im Titel z. B. bei Jörg Meinhold, „Das Problem des Buches Hiob“ (1892); Ernst Sellin, Das Problem des Hiobbuches (1919) und „Das Hiobproblem“ (1931); Johannes Hempel, „Das theologische Problem des Hiob“ (1929); Carl Stange, „Das Problem Hiobs und seine Lösung“ (1955); Heinz Richter, „Erwägungen zum Hiobproblem“ (1958); Victor Maag, Hiob. Wandlung und Verarbeitung des Problems in Novelle, Dialogdichtung und Spätfassungen (1982); Klaus Seybold, „Das Hiobproblem als Ausdruck einer Identitätskrise“ (1986); HansPeter Müller, Das Hiobproblem (1988). 9 Westermann, Aufbau (Anm. 13 auf S. 110), im Folgenden zitiert mit einfachen Seitenzahlen.
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Erstens sind große Teile des Hiobbuches, nämlich v. a. die Streitreden der Freunde im Dialog, trotz ihrer Absicht zu trösten eindeutig auch problemorientiert im Sinne Westermanns, als „Versuch denkenden Bewältigens eines Gegenstandes“ (28). Auch eine Frage der Existenz kann ja „sekundär eine Frage des Denkens werden“ (29). Wenn zudem das beschriebene Geschehen parallel zur Tröstung auch als „ein Rechtsvorgang, der auf eine Entscheidung zugeht“ (31), charakterisiert werden kann, impliziert das auch eine irgendwie zu regelnde Entscheidungsfindung, die über „Existenz“ hinausgeht. Zweitens enthält zwar, wie Westermann zu Recht zu bedenken gibt, „diese Grundaussage, das Buch Hiob behandle ein Problem, ... schon eine Vorentscheidung über den Inhalt des Hiobbuches, die sich bestimmend auf die Exegese auswirken muß“ (28), dasselbe gilt aber auch für das entgegengesetzte Vor-Urteil, und mit wahrscheinlich noch größerer Einschränkung des Interpretationsspielraums. Drittens (und vor allem) ist einzuwenden, dass die dargestellten Handlungen der (fiktiven) literarischen Figuren, ihre Klagen, Trostversuche usw., nicht das Bedeutungspotenzial des literarischen Werkes erschöpfen. Schon die Klage in den Psalmen ist ja nicht wirklich im selben Maße unmittelbare, direkte Antwort auf Leiden, wie es ein Schrei wäre (vgl. Westermann 29). Sie ist geformt, gestaltet, sie ist Literatur. Das gilt auch für die Klage Hiobs. Das Hiobbuch als literarisches Werk muss vielmehr seinerseits als Antwortversuch auf Fragen angesehen werden, die es in der deutenden Lektüre aufzufinden oder erst zu stellen gilt. Das Hiobbuch selbst, als Teil eines übergeordneten Sprachgeschehens literarischer Kommunikation, transzendiert den Horizont der „Existenz“ wirklicher, „einmaliger“ Menschen, entwirft seine eigene „Welt des Textes“ und fordert eine antwortende Deutung der Leser heraus. Für Hiob, wenn es ihn gab, war sein Problem eine „Frage der Existenz“, und für jeden Leser kann das Hiobproblem ebenfalls zu einer solchen werden. Dadurch ist aber der Weg zur „Frage des Denkens“ nicht abgeschnitten, er wird im Gegenteil dadurch besonders motiviert: Die Frage der Existenz gibt der Frage des Denkens immer aufs neue ihre Relevanz. Fohrer bietet in seinem großen Hiobkommentar so etwas wie eine Synthese, eine Vermittlung der Meinungen über die Problemhaltigkeit des Buches (Fohrer 549f.). Thema des Hiobbuches sei „zweifellos nicht das theoretische oder abstrakte Problem der Theodizee“, denn dergleichen „widerspräche dem konkreten und subjektiven Denken des Israeliten“; ebenso wenig aber stellt es nur ein bloßes Geschehen dar, denn „dafür ent-
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halten die Reden der Freunde zu viele lehrhafte Elemente“. Wie Westermann meint Fohrer, dass im Hiobbuch nicht eine Frage des Denkens, sondern eine der Existenz verhandelt würde; doch im Gegensatz zu jenem versucht er nicht, das Wort „Problem“ zu vermeiden: Dem Buch liege ein „existentielles Problem“ zugrunde, nämlich die „Frage nach dem rechten Verhalten im Leide“, die konkret und nicht abstrakt, subjektiv und nicht objektiv verhandelt werde. Die Reden Hiobs entfalten dieses existenzielle Problem „von innen her, die der Freunde von außen her.“ Wenn so die Perspektive des Betroffenen den Beiträgen der Unbeteiligten, den Antworten „von außen“ entgegengesetzt wird, wird schon die intersubjektive Akzeptabilität bestimmter Antwortversuche thematisiert. Mitklingende theologische „Nebenthemen“ – die Frage, ob Gott gegenüber Satan Recht behält, „die Frage nach dem Verstehen des Leides“ und die Auseinandersetzung zwischen „orthodoxer“ und „häretischer“ Theologie – sind endgültig als „Fragen des Denkens“ ausgewiesen, die ihre Relevanz gerade von den damit unlösbar verbundenen Existenzfragen beziehen. Vorbehaltlich einer im Anschluss zu leistenden detaillierten Analyse der verschiedenen Textschichten (Legende, Novelle und Dialogdichtung) mit ihren differenzierten Problemstellungen will ich mit Fohrer, Ebach und anderen davon ausgehen, dass im Hiobbuch mindestens „ein existenzielles Problem und ein Problem der Lehre miteinander verbunden“ sind10. Beide Seiten müssen, auch in ihrer Spannung zueinander, ernst genommen und in eine Deutung des Buches einbezogen werden: Die Ebene des Hiobproblems, das offen bleiben muß, solange es Menschen gibt, die leiden wie Hiob, ist spannungsvoll zusammengebunden mit der Ebene der Erzählung von diesem einen Hiob, seinem Leiden und dem Ende dieses Leidens. Jede Auslegung des Hiobbuches hat mit der Verführung zu kämpfen, je eine dieser beiden Seiten zu unterschlagen oder in der Gewichtung zu mindern. (Ebach 1995b, 38)
Auch wir wollen wissen, wie das „existenzielle Problem“, die erzählte individuelle Problemsituation, zu einem (oder mehr als einem) „Problem der Lehre“ so in Beziehung gesetzt werden kann, dass die erzählte Lösung des ersteren zur Verhandlung der letzteren beiträgt. Denn offenbar ist das ja genau, was wir untersuchen wollen: narrative Problemverhandlung.
––––––––––––– 10 Ebach, „Die ‚Schrift‘ in Hi 19,23“ (1995b), 41 Anm. 2.
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c) Hiobs Problem Die Hiob-Problematik wird gern als „zeitlos“ bezeichnet11. Allerdings legen die verschiedenen Formelemente und die heterogenen Textschichten des Hiobbuches schon nahe, dass darin durchaus unterschiedliche, zur Entstehenszeit der Texte aktuelle Probleme behandelt werden. Wie noch detaillierter zu beschreiben sein wird, ist das Problemverständnis der jeweiligen Verfasser, Redaktoren oder späteren Rezipienten an ihren je verschiedenen geistesgeschichtlichen Standort gebunden. In einer problemorientierten Untersuchung kommt es darauf an, die verschiedenen Dimensionen des Textes, seine heterogenen, vielfältig verschränkten Strategien, Motive und Sprachmuster und die Spannungen zwischen den einzelnen Elementen des Buches nicht wegzuerklären, sondern im Gegenteil für die Darstellung fruchtbar zu machen. Das, worum es im Buch Hiob geht, das „Hiobproblem“, ist zunächst Hiobs Problem. Ihm stößt etwas zu, worauf er reagieren muss. Die dadurch in Gang kommende Handlung verweist ihrerseits die Hörer oder Leser auf allgemeinere, über den Rahmen des Buches hinausgehende Fragen, auf „Probleme des Denkens“, und versucht dafür Lösungen anzubieten. Und bis heute hat so mancher sein Problem mit diesem Buch: mit seinen Lösungsangeboten, seinem theologischen Gehalt oder seiner literarischen Gestalt. Das „Hiobproblem“ erschöpft sich nicht im theoretischen „Problem des leidenden Gerechten“ oder der (theoretischen oder praktischen) Frage nach dem „rechten Verhalten im Leide“. Keine hinreichend spezifische Problemformulierung scheint auf den ersten Blick konsensfähig und in der Lage, das Problemfeld des Buches in all seinen Facetten und Möglichkeiten abzudecken12. In den Bereich dessen, was in und mit Bezug auf Hiob verhandelt wurde, gehören die Fragen nach dem Sinn des Leidens, nach dem „rechten Verhalten“ und nach Monotheismus oder Dualismus, der „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ und das Verhältnis von Gott, Mensch und ––––––––––––– 11 Vgl. stellvertretend Preuß 103, Maag 9. 12 Ein Argument für Westermanns These, das Hiobbuch behandele kein „Problem“, war ja gerade die Uneinigkeit der Ausleger in der Frage nach dem Gehalt des „Hiobproblems“: „Aber nun muß es ins Auge fallen, daß die Ausleger, die sich in dieser Gesamtbestimmung, das Buch behandle ein Problem, durchaus einig sind, in der Frage, welches Problem denn das Buch behandle, offensichtlich nicht einig werden können. Noch mehr: die Geschichte der Auslegung zeigt, daß man in dieser Frage keinen Schritt weiter gekommen ist“ (Westermann 28).
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Schöpfung – aber auch zum Beispiel die Auseinandersetzung um die Theodizee, in der von Voltaire und Kant bis hinein in die Gegenwart auf Hiob zurückgegriffen wurde (siehe Teil D). Die im Hiobbuch verschmolzenen ursprünglich eigenständigen Texte hatten jeweils eigene Probleme verhandelt, und auch das „Hiobproblem“ in der Endgestalt des Buches hat unterschiedliche Aspekte. Aber dennoch wird das Buch seit Jahrtausenden als ein Text rezipiert, zitiert und verehrt, adaptiert und variiert. Andere („analoge“) Problemverhandlungen mit Berufung auf das Hiobbuch nutzen zur Projektion auf ihre eigenen Problemkonstellationen eine identifizierbare, abgrenzbare Struktur. Was können wir also tun, um dieser Bedingung und den unterschiedlichen Dimensionen der Hiobproblematik gerecht zu werden? Wir können keine verallgemeinernde Problemdefinition geben, sondern nur eine Rahmenformulierung der Hiobproblematik, eine Formulierung, die insbesondere der uns heute vorliegenden Textgestalt des Buches Hiob angemessen ist. Wir können dann die Geschichte der Problemverhandlungen im Hiobbuch selber nachzuzeichnen versuchen, von den ursprünglichen Fragestellungen seiner einzelnen Bestandteile bis hin zu jener Kontroverse in Geschichten, die in den späteren Redaktionsvorgängen ausgetragen wurde. Es wird sich zeigen, dass die für den heutigen Hiobtext relevanteste Problemkonstellation erst mit der Dialogdichtung gegeben ist, aber wichtige narrative Mittel für ihre Verhandlung schon in den früheren Texten bereitgestellt und in der späteren Bearbeitung, Redaktion und Rezeption auch genutzt wurden. Unsere Rahmenformulierung zielt auf die Problematik des heute vorliegenden Hiobbuches als Ergebnis der Endredaktion des Textes im nachexilischen Israel. Dieses umfasst, so wurde gezeigt, ein Problem der Existenz und ein Problem der Lehre. Es umfasst sowohl die erzählte Geschichte von Hiobs Unglück und Wiederherstellung als auch darauf bezogene (und auch argumentativ verhandelbare) Fragen nach Gottesbild und Weltordnung. Wenn im Dialog die Freunde zu Hiob kommen, um ihn zu trösten, ist damit die Richtung vorgegeben, wie das existenzielle Problem Hiobs gelöst werden soll. Das Ziel der Tröstung koppelt die existenzielle an die theoretische Problemlösung: Als „richtiges Reden“ von Gott wird sich gerade das erweisen, was Hiob zu trösten vermag. Dazu muss zuallererst der Riss in Hiobs Welt gekittet, die Kluft zwischen seinen gesichert scheinenden Überzeugungen über die Welt und seinen Erfahrungen in dieser Welt geschlossen werden. Das Problem Hiobs, existenziell oder theologisch
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gewendet, reduziert sich nicht auf die Schicksalsschläge, die ihn treffen. Das Problem ist gerade, dass es eben ihn trifft, also einen „Gerechten“, der fromm, rechtschaffen und gottesfürchtig ist und das Böse meidet (Hi 1,1) und der davon überzeugt ist, dass die Gerechtigkeit JHWHs nur den Frevler bestraft, dem Rechtschaffenen aber Glück und Wohlergehen garantiert. Die heile Welt Hiobs ist zerbrochen: das ist sein existenzielles Problem. „Recht“ zu reden von Gott und seiner Schöpfung, also Wahres über die Ordnung der Welt auszusagen: darin liegt das theoretische Problem. Das Hiobproblem ist gelöst, wenn Hiob und mit ihm der Leser zu einem Gottesverständnis finden, dass den manifesten Widerspruch zwischen Vergeltungsdogma und Leiderfahrung auflöst. Als eine ausdrücklich offene, orientierende Rahmenformulierung nenne ich das „Hiob-Problem“ die (existenzielle oder theoretische) Schwierigkeit, angesichts von unverstandenen Leiderfahrungen noch in der eigenen Welt zu Hause zu sein – das kann heißen: sie auszuhalten, sie anzunehmen, sie zu verstehen. In einem engeren Sinne, der für die untersuchten Problemverhandlungen insbesondere relevant ist, meint „Hiobproblem“ genauer die Schwierigkeit, die Überzeugung von der universellen Geltung einer sittlichen Weltordnung (die ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen dem moralischen Wert menschlichen Tuns und einem diesem Tun angemessenen Ergehen festhält) mit der kontingenten Erfahrung des nicht durch Schuld erklärbaren Leidens zu vereinbaren. Auf der Ebene interner Repräsentationen kann dieser Widerspruch von Weltbild und Erfahrung als Quelle extremer „kognitiver Dissonanz“ aufgefasst werden, die im Dialog einen wesentlichen Anteil an Hiobs Problem hat und den Ansatzpunkt für seine Tröstung darstellt (die den Freunden misslingt und erst durch JHWH geleistet wird). In den Termini der Problemraumkonzeption entspricht diese Rahmenformulierung der bereits gegebenen Charakterisierung (vgl. S. 95): Die Problemsituation sa ist charakterisiert durch den gerade bezeichneten Widerspruch, die fehlende Vermittlung zwischen der Überzeugung von einer sittlichen Weltordnung mit der Erfahrung unschuldigen Leidens. Der Zielzustand sz ist charakterisiert durch die Abwesenheit dieses Widerspruchs: Ziel ist die Wiedergewinnung eines akzeptablen, kohärenten Weltbildes. Beide Zustände, wie auch die im Problemraum möglichen Zwischenzustände, können als Mengen von Propositionen (Weltbeschreibungen) aufgefasst werden. Mögliche Operationen ti zur Überführung von sa in sz sind dann im Dialog insbesondere die Bestreitung von Prämissen (insbesondere von Hiobs Unschuld einerseits und von der Behauptung des
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Tun-Ergehen-Zusammenhangs andererseits), aber auch positive Ordnungsaussagen: alternative Erklärungsversuche für das Leiden und die Schöpfungstheologie der Gottesreden. Die Transformationsregeln R für die Zulässigkeit von Operationen werden von den Akzeptanzbedingungen möglicher Behauptungen über die Welt vorgegeben, aber auch von Bedingungen des übergeordneten (literarisch-theologischen) Diskurses, z. B. Regeln des Argumentierens, aber eben auch solchen, die die Zulässigkeit erzählter Problemlösungen betreffen. Der „existenziellen“ und der „theoretischen“ Dimension des Hiobproblems liegt letztlich das Bedürfnis nach einer akzeptablen, also kohärenten Weltrepräsentation zu Grunde. Das Hiobproblem zielt auf die Ordnung der „Welt“. Die äußersten Pole des Widerspruchs, deren Versöhnung das „Hiobproblem“ fordert, sind auf der einen Seite die Annahme einer gesetzmäßigen Ordnung des Ganzen, in der auch der Mensch seinen Platz und Zweck findet, und auf der anderen Seite die Kontingenz des Erfahrbaren, das sich der sinnvollen Ein-Ordnung entzieht. Innerhalb des dadurch aufgespannten Rahmens liegt das Problem mit dem weisheitlichen Dogma vom Tun-Ergehen-Zusammenhang, aber auch das neuzeitliche sogenannte „Theodizeeproblem“, der Einspruch der Erfahrung des „Zweckwidrigen“ in der Welt gegen die logischen Konsequenzen der Voraussetzung eines allmächtigen und allgütigen Welturhebers. Diese beiden oft genug nicht befriedigend vermittelbaren Pole des Widerspruchs repräsentieren Perspektiven. Jede Aussage über die Ordnung der ganzen Welt versucht die (letztlich doch unhintergehbare) Perspektive des Subjekts in der Welt zu überschreiten. Sie muss diese Perspektive überschreiten und sich eine virtuelle Beobachterperspektive erzeugen, um zu allgemeingültigen Antworten zu kommen, die aber ihrerseits stets Gefahr laufen, der Erfahrung des Subjekts nicht mehr gerecht zu werden. Die Fähigkeit der narrativen Konfiguration, abschließende Antworten zu geben und dabei beide Perspektiven zu vermitteln, ist der Schlüssel zu den narrativen Problemverhandlungen des Hiobbuches. 2. Gewissheiten: Die Welt der Weisheit Die Problemverhandlung des Hiobbuches, das erzählte und erzählende Ringen um kohärente Weltrepräsentationen, wird durch erschütterte Gewissheiten erzwungen. Im Folgenden wird deshalb der originale Kontext der Hiobproblematik näher bestimmt: Wesentlich für das Verständnis der
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Ausgangssituation (sa) des Problems ist die „Welt der Weisheit“, die „Struktur“ weisheitlichen Denkens und die Krise dieser Weltsicht. a) Weisheit im Alten Testament Die alttestamentliche Wissenschaft bezeichnete zunächst mit „Weisheit“ eine (in ihrem Umfang je variierende) Reihe von verschiedenen Literaturwerken des AT, die von einer gemeinsamen Denkweise bestimmt scheinen. Dazu zählen im engeren Sinne das Proverbienbuch (Sprüche Salomos), das Buch Kohelet (Prediger Salomo) und das Buch Hiob; in thematischem Bezug dazu stehen auch zahlreiche Psalmen. Für die frühjüdische Zeit sind Jesus Sirach und das Buch der Weisheit (Weisheit Salomos) zu nennen. Später bezeichnete man mit „Weisheit“ nicht mehr nur ein rein literarisches Phänomen, sondern eine „Geistesströmung“ (Schmid 65), als Komplex spezifischer Denk- und Ausdrucksweisen, die man zudem ähnlich auch bei anderen Völkern in der altorientalischen Welt nachweisen konnte (Ägypten, Mesopotamien). Aus diesem mehrfachen Bezug von „Weisheit“ auf „Weisheitsliteratur“ oder aber „Weisheitsdenken“ und auch „Weisheitstheologie“ resultiert eine bedauernswerte Unschärfe des Begriffs. Der Begriff der „Weisheit“ verbindet in diesem Sinne zwei wichtige Aspekte: die Erkenntnis von Ordnung einerseits, eingebettet in das, was Hans Heinrich Schmid13 das „altorientalische Weltordnungsdenken“ nennt, und die daraus resultierende Verhaltensorientierung, die Formulierung und Tradierung von Verhaltensregeln und ethischen Grundsätzen andererseits. Herkömmlich wird zwischen Natur- oder „Bildungsweisheit mit ihrer lexikalischen Kategorisierung der Naturerscheinungen“14 auf der ––––––––––––– 13 Hans Heinricht Schmid: Altorientalische Welt in der alttestamentlichen Theologie (1974), 59. 14 Für erstere ist die altägyptische, mesopotamische und vielleicht auch israelische „Listenweisheit“ ein gutes Beispiel. In sogenannten Onomastica oder (Namens-)Listen „wurde alles zu erfassen und zu ordnen gesucht, was man damals kannte. Es war also auch hier ein Streben nach Ordnung, nach Erfassen und Beherrschen durch Sprache und Erkenntnis, das zu diesen Listen führte.“ (Preuß 20) Das fragmentarische Onomasticon des Amenope aus der Zeit um 1100 v. Chr. enthielt 610 Namen für Himmel und Gestirne, Gewässer, Erde, Personengruppen, Städte, Speisen etc. Die mesopotamische Serie HAR-ra-hubullu enthält 24 Tafeln mit Tausenden von Einträgen. „Nach Meinung mancher Forscher wurden diese Listen durch Heranziehung von Mythen erläutert ..., die ... von der Schaffung dieser Ordnungen erzählten, so daß die Listen mehr als systematische Ergänzung zu den paradigmatischen Dichtungen fungierten“ (Preuß 24).
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einen Seite, „Lebensweisheit mit dem Ziel praktischer Lebensbewältigung“ (Fohrer 394) andererseits unterschieden. Dieser zweite Gesichtspunkt wird auch in der spezifischen Bedeutung deutlich, die das Begriffsfeld der „Weisheit“ in seinen alttestamentlichen Verwendungen besitzt und welche Preuß folgendermaßen kennzeichnet: „‚Weise/Weisheit‘ werden innerhalb des Alten Testaments in viel weiterem und vor allem viel praktischerem Sinn verwendet, als dies bei uns der Fall ist ... Es geht also nicht nur um rechtes Denken, sondern um praktische Kenntnisse und Fähigkeiten, dann auch – wie etwa bei Salomo – um kluges Überlegen und Urteilen, das zu vernünftigem Handeln führt.“ Kurz gesagt: „Alttestamentlich meint Weisheit ... die Bewältigung praktischer Lebensaufgaben.“ (Preuß 10f.) Die wohl dominierende literarische Form der weisheitlichen Tradierung praktischen und ethischen Wissens ist demnach der kurze Spruch, der Zusammenhänge prägnant formuliert. Die Gattung der Sprüche, „primäre Gattung weisheitlichen Erkennens“ (Otto 153), findet sich vor allem in den Sammlungen des Proverbienbuches. Eine weitere Gattung, und für das Hiobbuch von besonderer Bedeutung, ist die der „Streitgespräche der Weisen“ (Fohrer 50f.; siehe oben S. 122). Auch die „weisheitliche Lehrerzählung“ ist zu nennen; Beispiele sind die Rahmenerzählung des Hiobbuches, die Erzählungen vom weisen Daniel in Dan 1;3,31-4,34; 5, mit Einschränkungen die Josephsnovelle in Gen.37/39-48/50, vom Motivbestand her auch die Bücher Esther und Tobit (Preuß 157ff.). Diese weisheitlichen Formen finden sich also auch außerhalb der sogenannten „Weisheitsliteratur“, und nicht immer lässt sich hier die Form als literarische unabhängig von ihrer Funktion in weisheitlich bestimmten Zusammenhängen oder auch inhaltlichen Faktoren (z. B. die Motivik der Erzählungen) definieren. Nach Preuß konzentrieren sich fast drei Fünftel aller Belege der Lexeme „weise / Weiser / Weisheit“ im Alten Testament auf eine kleine Gruppe von Schriften: Die Sprüche Salomos, Der Prediger Salomo (=Kohelet) und das Buch Hiob. Von diesen Schriften her kann man eine nähere Bestimmung der Entwicklung des Weisheitsdenkens gewinnen. Im Proverbienbuch geht es vor allem um die Einübung rechten Verhaltens und die Erkenntnis von Regeln vernünftigen Zusammenlebens. Auch das Buch Hiob fragt nach rechtem Verhalten (im Leid) und nach der Ordnung der Welt, erteilt dann allerdings dem zentralen weisheitlichen Dogma, dem strengen „Tun-Ergehen-Zusammenhang“, eine Absage. Kohelet schließlich thematisiert die Lebensrezepte der älteren Weisheit nur noch, um sie
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radikal zu hinterfragen. Es wird deutlich, dass innerhalb der Entwicklung, die die Weisheitsliteratur selbst genommen hat, „eine fortschreitende innerweisheitliche Diskussion der eigenen Denk- und Glaubensvoraussetzungen zu bemerken“ ist, „eine kritische Auseinandersetzung der Weisheit und der Weisen mit ihren eigenen Denkstrukturen, vor allem denen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ (Preuß 173). Diese Krise der Weisheit ist nicht zuletzt eine Krise der Doktrin vom strikten Tun-ErgehenZusammenhang, die mit der alltäglichen Erfahrung nur schwer zu vereinbaren ist. b) Der Tun-Ergehen-Zusammenhang Die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Handlungen und Folgen des Handelns, die Strukturierung praktischen Wissens nach dem Schema TUN → ERGEHEN, ist Voraussetzung jeder zielgerichteten praktischen Tätigkeit. Auch in Israel basiert „die Auffassung vom TunErgehenzusammenhang ... zunächst auf Erfahrung. Tatsächlich wird in vielen Fällen ein gerechtes, gemeinschaftsgemäßes, solidarisches Verhalten eines Menschen Früchte tragen, und auch ein in der Erfahrung vieler Völker ruhender Satz wie ‚Unrecht Gut gedeiht nicht‘ hat in der Empirie seinen Anhalt.“ (Ebach 1996 I, 6) Dieses Schema steht zum Rechtsdenken, zur Formulierung von Rechtsnormen und der Sanktionierung ihrer Verletzung ebenso in Beziehung wie zur ethischen Bewertung von Handlungen, die wiederum stets auf übergreifende Ordnungen zurückbezogen werden muss15. Deshalb sieht sich gerade auch weisheitliches Denken immer wieder in ethischer Begründungspflicht, und so „kreist weisheitliches Denken und Glauben nicht nur um die Vermittlung einzelner Beobachtungen und Mahnungen im Bereich mehr oder weniger alltäglicher Dinge, um die Fixierung von Tatsächlichem und die Suche nach Analogien, sondern alles wird durchdrungen und getragen von dem Suchen nach und dem Erkennen, Formulieren und Tradieren von Weltordnung ––––––––––––– 15 „Die Gewißheit des Zusammenhangs zwischen dem Tun eines Menschen und seinem Ergehen ist eine Grundkategorie israelischer Ethik.“ (Ebach 1996 I, 6) Eckhart Otto zeigt in seiner Theologischen Ethik des Alten Testaments vor allem anhand von Gesetzessammlungen des AT, wie sich in einer zunehmend in arme und reiche Schichten zerklüfteten Gesellschaft aus dem altisraelitischen Recht ein theologisch begründetes Ethos (als nicht auf Sanktionen, sondern Einsicht bauende Verhaltensnormierung) herausdifferenziert, das dann seinerseits zum „Einfallstor der theologischen Legitimation“ (Otto 103) für die Rechtsnormen selber wird. Die Folge dessen ist, dass letztlich JHWH selbst die Durchsetzung rechtlicher wie ethischer Normen garantieren muss (Otto 107).
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schlechthin, im ethischen wie im kosmischen Bereich“ (Preuß 29). In Israel ebenso wie in der Umwelt Israels (wenn auch mit je verschiedener Begründung) ist der Tun-Ergehen-Zusammenhang zentrales Element dieser Weltordnung, die gleichermaßen physische wie sittliche Ordnung umfasst. Für das Volk Israel war der Tun-Ergehen-Zusammenhang von JHWH gewirkt; zum Begriff von Gottes Gerechtigkeit aber gehörte ebenso „die Wirksamkeit der souveränen Gnade Jahwäs und seiner Barmherzigkeit“ (Maag 69). Wie konnte nun die Annahme eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs zu einem so starren Dogma werden, dass jedes Leid, für das keine individuelle Schuld aufzufinden war, zu einem grundsätzlichen Problem werden musste? Noch die Rahmenerzählung des Hiobbuches empfindet das Leiden des Frommen offensichtlich nicht als ein dogmatisches Problem. Das theologische Dogma, das der Hiobdialog thematisiert, ist also nicht vollständig mit dem „immer schon“ von der altorientalischen Weisheit postulierten Tun-Ergehen-Zusammenhang gleichzusetzen, sondern muss als konkrete historische Erscheinung der nachexilischen Zeit (der Entstehungszeit der Hiobdichtung) wahrgenommen werden. Voraussetzung des „Hiobproblems“ ist, dass es für das Unglück eines Menschen keine andere Erklärung geben kann als seine Schuld, dass es ohne jede Ausnahme dem Guten gut und dem Schlechten schlecht gehen muss. Victor Maag gibt eine überzeugende Erklärung für diese Verschärfung16. Einen solchen „Schicksalsschematismus“ (71), so Maag, gab es nicht immer. Es war das Exil ab 597 v. Chr., das „neben anderen theologischen Veränderungen auch eine straffe Rationalisierung der Gottesvorstellung mit sich gebracht hat. Sie wurde durch die Wirksamkeit Ezechiels zu Beginn der Exilzeit hervorgerufen.“ (68) In vorexilischer Zeit stand es außer Zweifel, dass JHWH der souverän über das Schicksal der Menschen verfügende Gott war. JHWH hatte immer als ein den Menschen zugewandter Gott gegolten, der altisraelitische Begriff von JHWHs Gerechtigkeit umfasste immer auch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes, JHWH trug aber ebenso unverkennbar stets „Züge des undurchdringlich Geheimnisvollen, in seiner Heiligkeit Unerforschlichen“ (69). Zudem wirkten sich nach vorexilischer Vorstellung die Taten des einzelnen Menschen nicht voll in dessen eigener Lebensspanne aus. Es war die Sippe, die Segen und Fluch der Taten „bis ins dritte und vierte Glied“ zu tragen hatte (2 Mose 20,5f.). ––––––––––––– 16 Zum Folgenden vgl. Maag S. 68-72 u. 131-134; in diesem Abschnitt zitiert mit einfachen Seitenzahlen.
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Nach dem Zusammenbruch des Reform- und Aufbauwerkes König Josias (628-609 v. Chr.) häuften sich die politischen Niederlagen und nach der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar II. (597 v. Chr.) wurden große Teile des Volkes Juda ins Exil gezwungen. Die „Deutung der Katastrophe aus einem kollektiven Schicksalszusammenhang heraus“ erschien nun mit der Zeit immer fragwürdiger, da „mit dem dauerhaften Verlust politischer Selbständigkeit es immer weniger einzuleuchten vermochte, das Exil sei mit seinen Auswirkungen als Folge der Schuld früherer Generationen zu verstehen: damit konnte doch die Zukunft nicht auf immer verbaut sein“ (Weymann 15f.). Der den Exilierten drohenden religiösen Desorientierung versuchte der Prophet Ezechiel (ab 593 v. Chr.) entgegenzutreten: Er erklärte (in Anspielung auf ein verbreitetes Spottwort zum zweiten Gebot) für ungültig, was die Gebote über die „Schuld der Väter“ sagten (Ez 18,2f.): Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: ‚Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden‘? So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel.
Von nun an galt Ezechiels „individuelle Vergeltungslehre“ (Lang 101); es galt eine individuelle Verantwortlichkeit für das eigene Verhalten. „Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters, und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes, sondern die Gerechtigkeit des Gerechten soll ihm allein zugutekommen. Und die Ungerechtigkeit des Ungerechten soll auf ihm allein liegen.“ (Ez 18,20) Statt „sich selbstbemitleidend mit den guten Absichten Josias zu identifizieren“ (Maag 70), sollten die Judäer im Exil das Exil als „reine Strafe“ für die Sünde Israel begreifen (131). Dieser Strafzeit aber schrieb Ezechiel auch die Funktion einer Sühnezeit zu, welche neue Hoffnung auf JHWHs Gnade zuließ. Die Sühne verhieß „Rettung durch Umkehr“ (71), auf Umkehr und Buße legte Ezechiel die „Verheißung neuer Gnade“ (132). Mit diesem „Tröstungsschema“ (131) – der Verheißung der Rettung durch Umkehr und Buße – gab Ezechiels Lehre von der individuellen Vergeltung der Exilgemeinde in Babylon neue Hoffnung und half so den deportierten Judäern, „ihre Religion und Kultur vor dem Versickern in der babylonischen Umgebung zu bewahren“ (71). Sie war damit aber gleichzeitig „zu einem Schicksalsschematismus vorgestoßen, der, von dem beschriebenen einmaligen geschichtlichen Hintergrund abgelöst, wirklichkeitsfremd wirken musste“ (ebd.). Wirklichkeitsfremd oder nicht, die Geschichte schien Ezechiel Recht zu geben. Als sich die militärische Überlegenheit Persiens unter Kyros
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abzuzeichnen begann, prophezeite Deuterojesaja im Anschluss an Ezechiels Lehre, die Zeit der Buße sei nun zu Ende, Kyros werde als Gottes Werkzeug die Wende herbeiführen. 539 v. Chr. fiel Babylon, bald darauf erlies Kyros sein Edikt zur Wiederherstellung des Heiligtums von Jerusalem, und schubweise durften die Exilierten nach Juda zurück: Für das Bewußtsein des Volkes hatte sich Jahwä durch seine Geschichtslenkung zu Ezechiels Prophetie bekannt, so dass Ezechiels Theologie, vorab eben seine Schicksalstheologie, aufgrund von Exil und Exilende in nachexilischer Zeit zu geradezu kanonischem Ansehen gelangte. (133)
Die neue weisheitliche Theologie, die nach der Befreiung aus dem Exil diese Lehre dogmatisierte, hatte nun keinen Raum mehr für die Undurchschaubarkeit des Schicksals und für die Vorstellung eines ‚verborgenen Gottes‘. Es gab keinen theologischen Raum mehr für dem Menschen Unverständliches, Ungerechtfertigtes. „Wer auf dem Boden von Ez.18 stand, für den mußte das von Jahwä gewirkte Schicksal verständlich sein.“ (72)17. JHWH selbst hatte jetzt „ein nach menschlichen Begriffen gerechter, verständlicher Gott zu sein“ (68). Die Gerechtigkeit Gottes war befragbar, einklagbar geworden – und der Hiob der Dialogdichtung wird diese Klage erheben. c) Weisheit und Ordnung Nach der Definition von Hans Heinrich Schmid ist „Weisheit“ die sich (mündlich oder schriftlich) äußernde Bemühung des Menschen, bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse zu formulieren, zu sammeln und zu ordnen, um so ein Stück weit die Regeln und Ordnungen der Welt zu erkennen, um sich nach Möglichkeit ihnen entsprechend zu verhalten und so die Ordnung der Welt zu erhalten bzw. immer wieder neu zu konstituieren. Formal äußert sich diese Bemühung vor allem in der Bildung von bestimmten Regeln, beschreibender oder mahnender Natur, die etwa in Sprichwörtern, Lehren, Ermahnungen faßbar sind und vom Vater an den Sohn, von Generation zu Generation weitergereicht werden. (Schmid 137)
In dieser Definition ist nicht zufällig keine Eingrenzung auf einen altorientalischen Textkorpus formuliert. Unter „Weisheit“ fasst Schmid spezifische Formen des Ausdrucks für ein „allgemein menschliches, zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten und in verschiedenen Kulturen ––––––––––––– 17 Die Figur des Satans hat den selben Hintergrund: Der Satan, als negative schicksalswirkende Macht und „grundsätzlich Israel feindliche numinose Potenz“ gewinnt an Kompetenz, wo die Wirklichkeit nicht mehr als Werk des gerechten Gottes verstehbar ist (Maag 72).
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mit einzelnen Modifikationen überall anzutreffendes Grundwissen von der Welt und vom Ethischen in der Welt“, eines Grundwissens, um das es in der Weisheit sehr zentral, um das es aber nicht nur in der Weisheit geht, sondern von dem auch das „Rechtsdenken“ ausgeht und das sich gleichermaßen in „Formen der Erzählung, der Kultdichtung, der Biographie, des Mythos – oder auch des Prophetenwortes ... äußern“ kann (ebd.). Dieses „Grundwissen“ kreist um Ordnungen und umfassender um ein Konzept von Weltordnung, wie es die alten Ägypter mit dem Begriff der Maat zum Ausdruck zu bringen versuchten. Der aus dem AT stammende Begriff der „Weisheit“ hat deshalb bald auch in die Ägyptologie Eingang gefunden, um dort „ein Denken zu bezeichnen, das Betrachtungen von dauerhaften Ordnungen in Kosmos, Natur und Gesellschaft verbindet, um durch die Kenntnis und Beherzigung der Ordnung den Lebenserfolg des Menschen zu sichern“ (Otto 118). Der mesopotamischen Weisheit wiederum fehlte zwar eine „integrierende Mitte wie die der Ma’atKonzeption“ (Otto 145), auch hier aber zeigt sich der weisheitliche „Grundimpuls ..., Ordnungen und Grundstrukturen des Lebens zu erfassen, die ein gelingendes Leben ermöglichen“ (Otto 148). Weisheitstexte, die zum Teil sehr viel älter sind als die genannten biblischen Schriften, finden sich überall in der Umwelt Israels, so in Ägypten, in Mesopotamien oder der nordsyrischen Hafenstadt Ugarit. Weisheitliches Denken ist also – dass bezeugt auch das Alte Testament selbst, wenn es von den „Weisen“ anderer Völker spricht – kein Proprium israelischer Kultur, sondern war im gesamten Alten Vorderen Orient verbreitet. Weisheit beobachtet, fasst Erfahrungen in Worte, hat aber dabei auch „einen gewissen Systemzwang in sich“ (Preuß 27), der zum einen in ihrer praktischen wie ethischen Relevanz, aber wohl vor allem auch in der vom praktischen Leben eher unbehelligten Stellung des „Weisen“, also der Privilegierung des weisheitlichen Standes wurzelt. Tendenziell konstituiert sich bereits hier die Perspektive eines „unbeteiligten Beobachters“, wie sie die neuzeitliche Wissenschaft und Philosophie weitgehend dominiert. Letztlich allerdings geht es in der Weisheit um den Versuch, gültige Verknüpfungen zwischen Vergangenheit bzw. Gegenwart und einer prinzipiell unbekannten Zukunft anzugeben, die das Handeln in der Gegenwart anleiten können. Mit allen Menschen teilt die Weisheit den einen Wunsch: die Zukunft zu kennen. Aus Mesopotamien sind Handbücher erhalten, die von Weisheit in Omenform zeugen: „Omina waren Zeichen, die aufgrund bestimmter Phänomene eine Vorausschau erlaubten, nach dem Schema
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‚Wenn A, dann B‘. Wenn Ameisen sich gegenseitig töten, kommt es zu einer Schlacht.“ (ebd.) Die Formensprache von weisheitlichem Denken geprägter Texte zeigt deshalb in besonderem Maße die Abgeschlossenheit einer Struktur, die Vergangenheit und Zukunft in einen einheitlich geordneten Zusammenhang bringt: Wenn A, dann B. Auch das weisheitliche Dogma vom TunErgehen-Zusammenhang weist diese abgeschlossene Struktur auf, die, wie wir sahen, ein Charakteristikum des Narrativen ist: Der Tun-ErgehenZusammenhang ist ein narratives Prinzip. Die Struktur des Dogmas kann Geschichten erzeugen und sich in Geschichten (etwa „weisheitlichen Lehrerzählungen“) wiedererkennen. Damit vergleichbar sind die Paragraphen des Strafgesetzbuches: „Aus jedem Vordersatz eines Paragraphen lassen sich Geschichten ableiten oder vielmehr ungesättigte Hälften von Geschichten.“ Eine solche „ungesättigte“ Geschichte verlangt nach einem Abschluss; der Nachsatz des Paragraphen „gibt das Ende der Geschichte an, wie es sich durch den gegebenen pragmatischen Zusammenhang bestimmt“. Ergebnis ist eine Geschichte „von Vergehen und Strafe“; die Verbindung von Vergehen und Strafe, Tun und Ergehen, leistet – als „vom Paragraphen unausdrücklich vorausgesetzt“ – das der Ordnung (dem Gesetz) gemäße Urteil18. Wenn im Folgenden von einer „weisheitlichen“ Perspektive oder entsprechenden Strukturen die Rede ist, beziehe ich mich auf diese Betonung der Abgeschlossenheit, die vom Blick aufs Ganze, der Perspektive des unbeteiligten, über den Dingen stehenden Beobachters erzeugt wird. In dieser Verwendungsweise ist eine „weisheitliche Perspektive“ ausdrücklich nicht als an Weisheitstexte oder alttestamentliche Weisheitstheologie gebundene Sicht zu verstehen. Der Begriff meint die Perspektive dessen, der das Ende kennt. „Weisheit“ erzeugt Beschreibungen der Welt im Ganzen und ihrer Ordnung. Diese Weltordnung aber ist im Kern eine sittliche, eine ethische Ordnung. Ziel weisheitlichen Denkens ist es, Orientierung für menschliches Verhalten zu geben, indem Verhalten in seinem Bezug zur kosmischen Ordnung beurteilt wird. Damit läuft dieses Denken Gefahr, in seiner Beschreibung des Handelns die Subjektperspektive ganz zu eliminieren (die dann zum Beispiel die „Weisheitskritik“ des Hiobbuches wieder in Erinnerung ruft). In Bezug auf Erzählungen heißt das: „Weisheitliche“ Strukturen des Erzählens umfassen gerade die Ausschnitte der Erzählstruktur, welche die Verknüpfung der Begebenheiten, Anfang, Mit––––––––––––– 18 Karlheinz Stierle, „Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte“ (1973), 353.
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te und Ende, als die wahrscheinliche oder notwendige Verknüpfung von Tat und Tatfolge abbilden und damit exemplarisch auf ein Allgemeines, eine Ordnung verweisen. Wesentliches Element dieser Struktur ist das Ende der Geschichte. Das Ende der Geschichte spricht ein Urteil über die sittliche Qualität der erzählten Handlungen, darüber, ob ein Handeln richtig oder falsch, ordnungsgemäß oder ordnungswidrig ist. Die weisheitliche Perspektive des außerhalb und über den Dingen stehenden Beobachters ist die Perspektive Gottes. Im alten Israel gründeten kosmische und ethische Ordnung gleichermaßen in JHWH. Das sich aus dem Recht ausdifferenzierende Ethos, das menschliches Verhalten zu regeln versucht, ohne sich auf Sanktionen stützen zu müssen, zieht seine Legitimation aus dem JHWH-Glauben: Ethisches Handeln ist gottgewollt, es entspricht Seiner Ordnung (vgl. oben Anm. 15). Zunehmend wird dabei das Gottesverhältnis nach dem Schema menschlicher Interaktion gedacht. Der Gedanke, dass JHWH die allumfassende Ordnung der Welt garantiert, konkretisiert sich in der metaphorischen Vorstellung, dass er wie ein König oder wie ein Vater über sein Reich oder seine Kinder wacht, dass er belohnt, dass er bestraft, dass er richtet und begnadigt, dass er gibt und dass er prüft: Ist Hiob denn etwa umsonst fromm? 3. Erschütterungen: Problemverhandlungen im Hiobbuch Unsere orientierende Rahmenformulierung des „Hiobproblems“ hat bereits ein Stück weit die These vorweggenommen, welche jetzt näher auszuführen ist: Die Welt der „Weisheit“, eine Welt der sicheren Ordnungen, wird im Hiobbuch erschüttert durch Erfahrungen, die mit diesen Ordnungen nicht zu vereinbaren sind, subjektive Erfahrungen, die diese objektiven Ordnungen gefährden. Diese Erschütterung der Welt – die zu Tage tretende Inkohärenz der bislang akzeptierten Weltbeschreibung angesichts der vom Subjekt (geltend) gemachten Erfahrungen – schafft das Problem, eine neue stabile, kohärente Weltbeschreibung zu erzeugen. Wir hatten allerdings auch gesagt, dass die Problemstellungen von Hiobnovelle und Hiobdialog gesondert untersucht werden müssen; beide sind nicht identisch, aber gleichermaßen Voraussetzung der Problemverhandlung, die im heute vorliegenden redigierten Text des Hiobbuches ihren Ausdruck findet. Dabei wird sich zeigen, dass die Krise der Weisheit erst für die Dialogdichtung zur problembestimmenden Voraussetzung wird, dass aber diese auch die entscheidenden Konfigurationen einführt, die das Hiobbuch fortan prägen sollten.
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Erzählung und Dialog verwenden jeweils unabhängig voneinander die tradierte Hiobüberlieferung, welche ihrerseits bereits mit den Mitteln der Erzählung ein anderes Problem verhandelt hatte. Ich stelle deshalb meiner Untersuchung der Problemverhandlung in Hioberzählung und Dialog eine Betrachtung der hypothetisch rekonstruierten Hioblegende voran. a) Das Hiobproblem in der Legende Die Hioberzählung geht nach Annahme der meisten Forscher auf Volksüberlieferungen zurück, deren Gestalt sich anhand von Paralleltexten annähernd erschließen lässt. So stellt z. B. die fragmentarisch erhaltene Qumranschrift „Gebet des Nabonid“ einen wahrscheinlichen Beleg für das Bekanntsein und die Verwendung der Hioblegende im 5. vorchristlichen Jahrhundert dar: Wie der ursprüngliche Nichtisraelit Hiob, der zu den Ostleuten gehört, ist der babylonische König Nabonid östlich von Palästina beheimatet. Beide sind fromme Männer und Dulder. Beide werden plötzlich mit Unglück geschlagen, als sie auf der Höhe des Lebens stehen; bei beiden wird als Krankheit ein ‚böses Geschwür‘ genannt ... und beiden ist die Ursache ihres Leidens unbekannt. Beide lehnen sich nicht gegen ihr Geschick auf, sondern bleiben fromme Dulder, wobei Nabonid sich betend an seine Götter wendet ... und beide erleben schließlich die Wiederherstellung ihres früheren Glückes, wobei die Wende bei Hiob vielleicht nach 7 Tagen (2,13), bei Nabonid nach sieben Jahren eintritt. (Fohrer 31f.)
In diesem Text ist offenbar die bekannte Geschichte des Königs Nabonid nach dem Muster der Hioblegende zur Weisheitserzählung umgestaltet worden (Fohrer 32). Weisheitliche Lehrerzählungen zeigen in ihrem Motivbestand wichtige Gemeinsamkeiten. Dazu gehören die „Schilderung des Helden in dessen Ausgangssituation“ und vor allem seine Tugendhaftigkeit, die durch ein „Tatsymbol“ dieser Tugend verdeutlicht wird, die Begegnung des Helden mit Antihelden, Konflikt und Bewährung: Der Held „bewährt seine Tugend und wird so zur beispielhaften bzw. vorbildlichen Verkörperung des tugendhaften, rechten Weisen“. Es folgt die Belohnung des Helden und die Bestrafung der Antihelden „nach Maßgabe des Ordnungspostulats“19. Eine ältere Hioblegende sollte mindestens folgende Elemente enthalten haben: Ausgangspunkt ist das Glück des beispielhaft gerechten Helden der Erzählung, Hiob. Konkretes „Tatsymbol“ für seine Frömmigkeit und ––––––––––––– 19 Preuß 160 nach Hans-Peter Müller, „Die weisheitliche Lehrerzählung im AT und seiner Umwelt“ (1977).
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Gerechtigkeit ist im heutigen Text seine Gewohnheit, nach jedem Festmahl seiner Söhne „Brandopfer nach ihrer aller Zahl“ zu opfern für den Fall, die „Söhne könnten gesündigt und Gott abgesagt haben in ihrem Herzen“ (Hi 1,5). Ob auch die Legende schon ein solches Tatsymbol enthalten hat, muss Spekulation bleiben. Gemäß dem Paradigma der Weisheitserzählung, Bewährung und Belohnung, gerät der fromme Hiob plötzlich und ohne Grund vom Glück ins Unglück. Er lehnt sich nicht auf, sondern bewährt sich als frommer Dulder, und am Ende wird sein früheres Glück wiederhergestellt20. Das heißt: Ein harmonischer Anfangszustand A (Hiobs Glück) wird durch die Harmonie zerstörende Ereignisse (Krankheit) in einen neuen, leidvollen Problemzustand P überführt. Dieser Zustand stellt Hiob vor Verhaltensalternativen (Auflehnung oder Dulden), zwischen denen er zu wählen hat. Hiob entscheidet sich (E), und die Folgen seiner Entscheidung, die Wiederherstellung, bewerten und bestätigen sein Verhalten als richtig (B). Es geht also offenbar in dieser Legende um das „rechte Verhalten im Leiden“. Die Erzählung bewertet Hiobs Verhalten und gibt damit den Hörern eine eindeutige Verhaltensorientierung. Die narrative Bewertung in den Teilsequenzen (Anfangszustand A →) Problemzustand P → Entscheidung E → Bewertung B entspricht einem Grundmuster narrativer Problemlösung: Eintretende Ereignisse erfordern eine Reaktion, für die verschiedene Verhaltens- bzw. Lösungsalternativen (mindestens Handeln oder Nicht-Handeln) zur Auswahl stehen ( P (Ln = L1, L2, ... Li); für einander entgegengesetzte bzw. ausschließende Alternativen in Stasis schreibe ich Li ļ Lk ), das Subjekt entscheidet (E (Li)), und das Resultat dieser Entscheidung, gegeben durch Ende der Geschichte oder narrativen Sequenz, bewertet diese Verhaltensentscheidung des Subjekts als erfolgreich oder erfolglos, gut oder schlecht, falsch oder richtig: B (-E(Li)) oder B (+E(Li)). Das Problem ist also insbesondere im „Problemzustand“ P (Ln) kodiert. Dieser umfasst den Ausgangszustand sa (das Unglück Hiobs), das Ziel sz („richtig“ zu reagieren) sowie die Verhaltensalternativen Hiobs als mögliche Operationen ––––––––––––– 20 In der Gestalt Hiobs sah, wie ihre Nennung neben Noah und Daniel in Ez 14,12-20 zeigt, „schon die Vortradition ... den Typus des unverschuldet Leidenden und in solchem Leiden bewährten Frommen vergegenwärtigt ..., wie denn ja auch der hebräische Hörer Hiobs Namen als ‚der Angefochtene‘ verstanden haben dürfte“ (Maag 46f.).
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oder Transformationen tn, welche – einzeln oder als Sequenz – mögliche Lösungsalternativen L1, L2 ergeben können (Abfallen von oder Festhalten an Gott, als miteinander unvereinbare Alternativen L1ļ L2). Explizit und unzweideutig in P „gegeben“ ist freilich zunächst nur s a, während Ziel und mögliche Operationen aus dem Kontext und nicht zuletzt dem lehrhaften Zweck der Legende erschlossen werden müssen – für denselben Ausgangszustand sind natürlich auch ganz andere Zielstellungen und Operationen denkbar, z. B. Leidfreiheit durch Heilung mit Medikamenten. Wesentlich eingeschränkt werden kann solche Mehrdeutigkeit durch die Figurenkonstellation einer Erzählung. Diese kann nicht nur problemrelevante Konflikte abbilden, sondern auch bereits verschiedene Lösungsalternativen vorgeben, die etwa durch verschiedene Figuren als „Vertreter“ verkörpert werden. Für die Hioblegende ist allerdings nicht entscheidbar, ob sie bereits „Versucherfiguren“ kannte, wie sie in der späteren Hioberzählung auftreten (Hiobs Frau: „Sage Gott ab und stirb!“; Hi 2,9). Solche Figuren geben dann auch explizit Verhaltensalternativen, die für den Hiob der Legende implizit bestehen: Auflehnung oder duldende Bewährung. Die Problemlösung selbst besteht in der Entscheidung für eine Alternative und ihre Bewertung, also der Sequenz E → B. Die Konfiguration von Entscheidung und Bewertung situiert das Subjekt in einer Ordnung. In der Hioberzählung wird die Bewertung durch den abschließenden Schicksalswechsel Hiobs geleistet: die Restitution. „Schicksalswechsel“ sind ein wesentliches Mittel narrativer Bedeutungskonstitution: Der Wechsel von Glück zu Unglück überführt den Anfangszustand der Erzählung in den Problemzustand (A → P), der Wechsel von Unglück zurück zu Glück (E → B) bestätigt die erfolgte Bewährung. Eine detaillierte Analyse der Figurenkonstellation können wir wie gesagt für die Legende nicht geben. Insbesondere wissen wir nicht mit Sicherheit, welche problembegründenden figuralen Oppositionen sie eventuell enthalten hat. Sollte die Legende, wie einzelne Textstellen der späteren Erzählung voraussetzen, das Unglück Hiobs ausdrücklich auf JHWH zurückgeführt haben, so wäre eine mögliche Opposition Hiob/Versucher der dann ausschlaggebenden Opposition Hiob/JHWH unterzuordnen. Die beschriebene narrative Problemlösung funktioniert aber als Erzählung von Hiobs Bewährung auch ohne figurale Oppositionen. Figurenkonstellation (zur Abbildung von Lösungsalternativen), Entscheidung (narrative Realisierung von Alternativen) und Bewertung (z. B. durch Schicksalswechsel) scheinen also zentrale Elemente narrativer
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Problemverhandlung zu sein, die Abgeschlossenheit der narrativen Struktur dagegen ihre zentrale Voraussetzung. Die narrativen Sequenzen der Legende antworten auf die Fragen Wie verhält sich der Gerechte im Leid? (P → E) und Wie ergeht es dem Gerechten? (entsprechend der Bestätigung E → B (+E)). Die Lehren der Legende lauten dementsprechend: „Der Gerechte bleibt gottesfürchtig auch im Leid“ und „Der Gerechte wird belohnt“. Dass der Protagonist ein Gerechter ist, wird nicht erst durch seine Entscheidung klar. Es ist bereits Bestandteil der Ausgangssituation, wie das „Tatsymbol“ beweist. Damit erlangt seine Entscheidung Vorbildfunktion und steht exemplarisch für ein Allgemeines: „Gerecht“ ist, wer auch in Zeiten des Unglücks an JHWH festhält. Mit der narrativen Bestätigung des allgemeineren Satzes „Der Gerechte wird belohnt“ im zweiten Schicksalswechsel (in der Sequenz E → B) nimmt die Problemlösung der Legende gerade die Perspektive ein, die wir als „weisheitlich“ bezeichnet hatten: den Blick von außen, der das Ende (B) kennt: Die Bewertung bestätigt nur, was der Rezipient schon weiß oder wissen sollte. Die Rahmenerzählung des Hiobbuches wird oft der „weisheitlichen Lehrerzählung“ zugeordnet (vgl. oben S. 125). Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, ist diese Zuordnung vielleicht nicht absolut gültig, sondern vor allem auf die gerade analysierte Struktur der Hioblegende zu beziehen. Hier fungiert die Sequenz Bewährung → Belohnung (E → B) als exemplarische Bestätigung des weisheitlichen TunErgehen-Zusammenhangs. Die Erzählung entwirft ein Modell der Welt und ihrer Ordnung bzw. wesentlicher Aspekte derselben. Die narrative Bewertung B stellt den Bezug zu außertextuellen Wertesystemen her. Ordnung wird nach weisheitlichem Muster mit dem Verhalten des Einzelnen (E) korreliert: Sie realisiert sich notwendig im und durch ein Verhalten, das dieser Ordnung entspricht. Die weisheitliche „Beispielerzählung“ berichtet von einem „objektiv gehaltenen, fast distanziert wirkenden Standpunkt“ aus, einem „Beobachterstandpunkt“ (Syring 156, 160) – sie erzählt und urteilt von oben. Diese Beobachterperspektive der Weisheit tendiert dazu, den Leidenden und Handelnden schematisch als „gerecht“ oder „nicht gerecht“ zu kategorisieren, ohne nach subjektiven Motivationen und Befindlichkeiten zu fragen. Nach den Beweggründen des Handelns fragt erst die Hiobnovelle, genauer: der Satan.
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b) Das Hiob-Problem in der Novelle Die Hiobüberlieferung oder -legende hat (nach der Darstellung Maags, die ich hier weitgehend zugrunde lege) vermutlich auch der Abfassung der Hioberzählung zum Vorbild gedient, deren Fragmente im erzählenden Rahmen des Hiobbuches erhalten sind (Kap. Hi 1-2,10 und Hi 42,1042,17)21. Diese ehemals selbständige Erzählung hat demnach mindestens Folgendes enthalten: Ein vorbildhaft frommer, rechtschaffener Mensch wird durch den Satan – als eine „Wette“22 des Satans mit JHWH und also mit dessen Einverständnis – zweimal durch immer schwereres Leid geprüft: All sein Hab und Gut geht verloren, seine Knechte und alle seine Kinder gehen zugrunde; in einem weiteren Erzählgang wird er mit schwerem Aussatz geschlagen. Auch angesichts seines Unglücks steht Hiob zu Gott: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt!“ (Hi 1,21) Versucht, JHWH abzuschwören, bewährt er sich: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (Hi 2,10) Damit ist der Satan widerlegt; Hiobs Glück wird von JHWH wiederhergestellt und sein Besitz verdoppelt. Er lebt lange und glücklich und stirbt schließlich „alt und lebenssatt“ (Hi 42.16/17). Die beiden eben zitierten, aus dem Prosatext auch formal hervorgehobenen rhythmischen Sprüche Hiobs Hi 1,21 und 2,10 sind „geläufiges Spruchgut“ der Weisheit; sie geben als Einsicht Hiobs sozusagen das „theologische Programm der Novelle“ (Maag 31). Auf den ersten Blick also ist ganz wie in der Legende das richtige Verhalten angesichts des Bösen, die „Bewährung im Leide“ das Thema und also „Problem“ dieser Geschichte, und die (narrative) Lösung ist eindeutig. Hiob gilt als der „Typus des richtig entscheidenden Juden“, der Normatives vorlebt (Maag 89f.). Geschichten von Bewährung und Belohnung, sagten wir, enthalten ein Grundmuster narrativer Problemlösungen. Solange es nur einen einzigen expliziten Problemlösungsvorschlag gibt, über den das Ende der Geschichte zu urteilen hat (wie in unserer Rekonstruktion der Hioblegende) will ich noch nicht von einer Problemverhandlung sprechen: Zwar gibt es ––––––––––––– 21 So Maag, der zudem überzeugend für die Annahme einer verlorengegangenen dritten Himmelsszene argumentiert (Maag 37-45). Fohrer setzt dagegen Kap. 1-2 und 42,7-17 als (ebenfalls bereits heterogenen) Text der Erzählung an (Fohrer 542). Hesse stimmt für Kap. 1 und 42,11-17 (Hesse 1992, 10); er hält den Text von Kap. 2,1-10 für nachträglich, da der Epilog nichts von einer Genesung berichtet. 22 Der Begriff wurde in der Auslegung im Anschluss an den Faust geprägt. Er besitzt irreführende Konnotationen, ist aber eben auch durchaus griffig.
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immer die Alternative Handeln oder Nichthandeln, aber die spezifischen Möglichkeiten der Problemverhandlung entfalten sich erst bei verschiedenen echten Handlungsalternativen, die als falsch oder richtig dargestellt werden können. Mit einer erweiterten Figurenkonstellation kann aus dem beschriebenen Muster eine solche explizite Problemverhandlung werden, in der Hiobgeschichte z. B. dadurch, dass die Versucher-Figuren genügend Raum erhalten, um als Vertreter eines alternativen Lösungsvorschlages (L2) gelten zu können. In der Hiob-Erzählung ist da einmal die Frau Hiobs, die ihn auffordert, Gott zu fluchen (Hi 2,9); zum anderen hat es vielleicht sogar eine zweite Versuchung durch „Verwandte und Freunde“ gegeben. Diese These (z. B. Fohrer 32) wird durch die Zurechtweisung JHWHs jetzt an die Freunde in der zur Erzählung gehörenden Prosaausleitung des Buches (Hi 42,7) und auch durch die am Text erkennbare Vorliebe des Dichters für Doppelszenen gestützt. Die Erzählung bewertet (analog zur Legende) Hiobs Verhalten in den Teilsequenzen Anfangszustand A → Problem P → Entscheidung E → Bewertung B, wobei in P verschiedene Verhaltensalternativen bzw. alternative Lösungsmöglichkeiten Li explizit gegeben sind, Hiob sich für eine dieser Möglichkeiten entscheidet und diese Entscheidung bestätigt wird: A: Frömmigkeit und Glück → P (L1 ļ L2): Prüfung → E(L1): Bewährung → B (+E(L1)): Belohnung Von der Legende übernimmt die Erzählung die narrative Konstellation der beiden Schicksalswechsel von Glück zu Unglück (A → P; jetzt ausdrücklich als Prüfung) und von Unglück zu Glück (E → B als Bestätigung der Bewährung). Auch die Hioberzählung gibt eine eindeutige Verhaltensorientierung, die explizit von Hiob formuliert wird. Indem die Erzählung in E → B ein bestimmtes Verhalten als richtig bestätigt, behauptet auch sie implizit die Geltung einer zugrundeliegenden Ordnung: die von einem souverän herrschenden Gott aufrechterhaltene Vergeltungsordnung. Schon im ersten Abschnitt der Einleitung, der Beschreibung des Anfangszustandes A, wird diese Ordnung, der Zusammenhang von Tun und Ergehen, als gültig behauptet: Hi 1,1 berichtet von Hiobs Rechtschaffenheit, Hi 1,2-3 von seinem Lebensglück, seinem Reichtum an Kindern und materiellem Wohlstand, Hi 1,4 von der herrschenden Familienharmonie. Im weiteren Verlauf der Handlung (P) aber wird dieser Zusammenhang zeitweilig ausgesetzt und erst nach geleisteter Bewährung (E) in deren positiver Bewertung wiederhergestellt (B (+E)). Es ist aber wichtig festzu-
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stellen, dass in der Erzählung das Vergeltungsdenken noch nicht als starre Doktrin zum Tragen kommt. Die Vermittlung möglicher Leiderfahrungen mit der Vergeltungsordnung leistet explizit das Konzept der „Prüfung“, eine vertraute und populäre Verständnismöglichkeit des Leidens. Die satanische Frage, ob Hiob umsonst gottesfürchtig sei, macht die erzählte Versuchsanordnung zur Prüfung seiner Gottesfurcht. Im Gegensatz zur Legende erhält damit der erste Schicksalswechsel, Hiobs Unglück, in den Himmelsszenen eine Begründung. Die Erzählsequenzen, die die Hioberzählung im Wesentlichen von der Legende übernommen haben wird, enthalten noch dieselben narrativen Antworten – auf die Frage nach der Bewährung Hiobs in der Sequenz Prüfung – Bewährung (P → E) und auf die Frage nach dem Ergehen des Gerechten in der Sequenz Bewährung → Belohnung (E → B (+E)). Diese zweite Frage aber ist im Gegensatz zur Legende jetzt von untergeordneter Bedeutung. Die darin vorausgesetzte Ordnung, der göttlich garantierte Tun-Ergehen-Zusammenhang im Ganzen, wie die Einleitung ihn konstatiert, ist hier nicht ein zu bestätigender Lehrsatz wie in der Legende, und sie ist auch noch nicht frag-würdig geworden wie in der Dialogdichtung. Eines seiner Glieder aber, das Tun, wird nun differenzierter betrachtet – die erste Frage gewinnt somit an Bedeutung. Hiobs Tun, seine Entscheidung, und damit die narrative Sequenz Prüfung → Bewährung (P → E) als Antwort auf die Frage Wird Hiob die Prüfung bestehen (sich bewähren)? besetzt jetzt die zentrale Position. Solange der Akzent auf der Frage nach dem Tun-ErgehenZusammenhang liegt, interessiert der „leidende Gerechte“ nicht als Subjekt, sondern nur als Teil der Ordnung, in der er funktioniert. Die Akzentverschiebung auf die Prüfung, die die Handlung selbst in den Mittelpunkt stellt, ist zumindest ein erster Schritt in Richtung auf Fragen nach dem handelnden Subjekt selbst und seiner Motivation. Und in der Tat wird eine solche Frage jetzt gestellt – ausgerechnet der Satan bringt damit die ganze Handlung erst in Gang: „Ist Hiob denn umsonst gottesfürchtig?“ (Hi 1,9) Ist er gottesfürchtig, nur weil es ihm gut geht, oder ist er gottesfürchtig, nur damit es ihm gut geht? Oder ist seine Gottesfurcht unabhängig von seinem Wohlergehen, hat sie Sinn und Zweck in sich selbst? Bereits durch die in der Problemsituation P (L1 ļ L2) explizit zur Wahl gestellten Alternativen Bewährung (L1) oder Abfall von Gott (L2) gewinnt die Novelle die Struktur einer narrativen Problemverhandlung. Der Novellist geht aber noch einen Schritt weiter: Er integriert das Grundmuster narrativer Problemlösung, die Geschichte der Bewährung Hiobs, in den himmlischen Konflikt. Dadurch stehen jetzt zwei andere
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Lösungsalternativen im Mittelpunkt, über die narrativ entschieden werden muss: Der Satan hat entweder unrecht und unterliegt JHWH (L1'), oder er hat recht und triumphiert (L2'). Die figurale Opposition Hiob/Versucher ist dadurch nur noch eine untergeordnete. Viel wichtiger ist nun die Opposition JHWH/Satan (sowie – allerdings nur indirekt und über die Haltung Hiobs zu seinem von Gott kommenden Geschick vermittelt – die Opposition JHWH/Hiob). Die Frage, ob Hiob seine Prüfung bestehen wird, fällt zusammen mit der umfassenderen Frage, wer im himmlischen Konflikt Recht behalten wird, dem Problem P' (L1' ļ L2'). Die Bewährung Hiobs (E) beantwortet nicht nur die moralische Frage nach Hiobs Frömmigkeit. Sie fällt gleichzeitig auch ein Urteil über die Ordnung der Welt – nicht wie in der Weisheitserzählung in Bezug auf den Tun-ErgehenZusammenhang, sondern in Bezug auf die Souveränität Gottes und auf sein Verhältnis zur Welt und den Menschen. Durch die Einführung der Satansfigur wird die traditionelle Problemstellung entscheidend modifiziert. Es geht jetzt um mehr als nur um Verhaltensanweisungen. Es geht um das Verhältnis des Menschen zu JHWH und darüber hinaus um das Verhältnis von JHWH und Satan. Dieses Problem aber wird nun „nicht zwischen Gott und dem Satan entschieden, sondern zwischen Gott und Hiob“ (Ebach 1996 I, 2). Beide Oppositionen, Gott/Satan und (in der Erzählung noch indirekt und erst in der Dialogdichtung entfaltet) Gott/Hiob, sind erzähltechnisch ineinandergeschachtelt und aufeinander bezogen. Denn offensichtlich wirkt in der Erzählung das Verhalten des Menschen Hiob auf das Kräfteverhältnis in der göttlichen Ratsversammlung zurück: Wenn Hiob versagt, hat Satan das von ihm initiierte Kräftemessen für sich entschieden. Der Preis für den Sieg über den Satan ist es, auch das Böse wieder als von Gott kommend anzuerkennen: Es hat wie das Gute auch seinen Platz in der göttlichen Schicksalsökonomie. „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (Hi 2,10) Verbreitet ist die Auffassung, die Satansszenen seien der Erzählung nachträglich hinzugefügt und als Teil einer literarischen Bearbeitungsschicht anzusehen, der Satan als Figur sei also nachträglich zur Entlastung JHWHs als Unglückbringer in die Legende eingebaut worden. Es ist in der Tat von einer Satansfigur erst in nachexilischer Zeit die Rede, die Hioblegende war jedoch bereits vor 600 v .u. Z. wohlbekannt (vgl. die Erwähnung Hiobs in Ez 14,12-20). Wenn die Volksüberlieferung die Geschichte von Hiob als einfache Belehrung über das rechte Verhalten im Leide – das Festhalten an Gott auch in der Zeit der Anfechtung – erzählt
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hat, muss der Satan entweder tatsächlich nachträglich in die Himmelsszenen der Erzählung eingeführt worden sein, oder aber ältere Hioberzählungen enthielten überhaupt keine vergleichbaren Himmelsszenen, was plausibler klingt, da Himmelsszenen ohne den Satan – also ohne handlungsauslösenden Konflikt – keine nachvollziehbare Funktion mehr hätten. Demnach wurde wohl die Satansfigur vom „Novellisten“ selbst in seine Erzählung eingeführt. In älteren Erzählungen aber hatte JHWH selbst noch das Unglück Hiobs verursacht, wie noch verschiedene Textstellen des heutigen Buches voraussetzen, so Hi 42,11 und die Worte Hiobs in 1,21; 2,10 oder seiner Frau in 2,923. Den Satan als eigene treibende Kraft neben JHWH darzustellen, führt nun zwar zu der beabsichtigten Entlastung Gottes, bedroht aber auch dessen monotheistisch vorausgesetzte Allmacht. Der Satan als Gegenspieler JHWHs wird zur eigentlich problembegründenden Figur der Hiobnovelle (Maag 43). Die Handlung wird durch den Konflikt JHWHs und Satans vorangetrieben; Hiobs Verhalten aber gibt den Ausschlag dafür, zu wessen Gunsten dieser Konflikt entschieden wird. Zwei Entscheidungsvorgänge, auf der Erde und im Himmel, greifen ineinander: Im Himmel entscheidet sich die „Wette“ zwischen JHWH und dem Satan, auf der Erde entscheidet sich Schicksal und Verhalten Hiobs. Die Figurenkonstellation der Erdszenen wird durch eine oder mehrere „Versucherfiguren“ komplettiert. Wie im Einzelnen die Erzählung des hypothetischen „Novellisten“ ausgesehen haben könnte, lässt sich natürlich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Es hat aber durchaus etwas für sich anzunehmen, dass diese an der Figurenkonstellation und Problemstruktur plausibilisierte Entgegensetzung von Himmelsszenen und Erdenszenen sich auch in der erzählerischen Ausarbeitung ausdrückt. So postuliert Maag eine verlorengegangene dritte Himmelsszene, in der sich der Satan geschlagen gibt24. Die beiden ersten Szenen, die Vorstellung Hiobs auf Erden und die „Wette“ im Himmel, „disponieren somit Voraussetzung und Problem“. Die dritte Szene (die zweite Erdenszene) hält die Spannung: Hiob erhält die vier Hiobsbotschaften, aber er „hält durch“ (Maag 43). Die zweite Himmelszene, die ––––––––––––– 23 Fohrer 31, 80f. Zur Forschungslage vgl. auch Müller 1988, 41ff. 24 Wenn dies stimmte, dann läge für die originale Novelle eine vollkommen symmetrische Disposition von sieben Szenen vor. Erd- und Himmelsszenen wechseln sich ab: Drei Szenen gelten dem Himmel, vier der Erde (entsprechend einer verbreiteten Zahlensymbolik, in der die Vier als „Zahl der Erdenwelt“, die Drei als „Zahl des Transrationalen und ‚aller guten Dinge‘“ gilt, die Gesamtzahl Sieben aber, als Zahl der Wochentage, ein „Symbol der Zeit und des in der Zeit sich ereignenden Schicksals“ darstellt (Maag 42).
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vierte von sieben im hypothetischen Gesamttext, bildet die Mitte und den Angelpunkt der Novelle; das Unglück ereicht jetzt das größte denkbare Ausmaß und damit die Spannung ihren Höhepunkt. In der fünften Szene bewährt sich auf der Erde Hiob erneut gegenüber der Anfechtung (durch seine Frau), in der hypothetischen sechsten Szene muss sich im Himmel der Satan geschlagen geben und die Spannung löst sich, in der siebenten Szene aber erfolgt die Restitution Hiobs. Die Geschichte folgt demnach dem Schema „Voraussetzung – Problem – Entscheidung“ (ebd.), wobei diese Entscheidung bei Hiob liegt – nach Maag ganz im Gegensatz zum Dialog, wo JHWH entscheidet25. Hiobs Verhalten entscheidet darüber, ob JHWH gegenüber dem Satan Recht behält. Auf dem Spiel steht bei der „Wette“ das himmlische Kräfteverhältnis, die Souveränität JHWHs, das monotheistische Gottesbild selber. Die Schlüsselfigur des Satans sowie der in der Novelle damit verknüpfte Gedanke einer himmlischen Ratsversammlung verdienen eine nähere Betrachtung. Das Bild einer göttlichen Ratsversammlung und allgemein anderer göttlicher Wesen neben JHWH (das „Himmelsheer“) widerspricht offensichtlich der streng monotheistischen Ausrichtung des Alten Testaments und dem Ersten Gebot. Dennoch findet es sich auch an anderen Stellen des AT, z. B. 1. Kön. 22,19; Ps 50,1 und 82,1 u. a. In Analogie zum irdischen Königshof (vgl. Fohrer 80) symbolisiert das Bild der göttlichen Ratsversammlung die Macht JHWHs, die „alle Räume der Wirklichkeit umfassende Wesens- und Machtfülle Gottes“ (Maag 54). Die KÖNIGMetapher ist, neben den Metaphern des VATERS, des RICHTERS oder des BAUMEISTERS, eine der naheliegenden Vergegenwärtigungen des Göttlichen 26. Analog dazu will das „Himmelsheer“ keinen Polytheismus darstel––––––––––––– 25 „Die Dichtung fragt: Hat Hiob recht oder die Freunde? – Jahwä entscheidet!“ (Maag 17 A26) Ich werde allerdings im nächsten Abschnitt die These vertreten, dass auch im Dialog Hiob eine Entscheidung trägt: Seine Reaktion auf den JHWH-Auftritt entscheidet über dessen Erfolg und die Validität der damit verbundenen Problemlösung. 26 „Im Zusammenhang mit der Übernahme eines stark kanaanäisch geprägten Königtums und Königsverständnisses – besonders seit Salomo – hat Israel auch ursprünglich im kanaanäischen Kult vorab Jerusalems beheimatete Bilder und Formeln aus dem Bereich der Götterkönigsvorstellung auf Jahwä übertragen.“ Während die Theologie JHWH als den einen und einzigen Gott ansah (zunächst in Israel, später im ganzen Universum), redete die Kultsprache Israels traditionell „von ‚göttlichen Wesen‘, vom ‚Höchsten der Götter‘, vom ‚Gottesrat‘, vom ‚Himmelsheer‘ usw. So bekamen und behielten Redeformen und durch sie erzeugte Bilder in Israels Religion Heimatrecht, die bei wörtlichem Verständnis der eigentlichen Überzeugung von Jahwäs Wesen je länger desto weniger adäquat waren“ (Maag 52f.).
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len, sondern eine „dramatische Figur für die Vielheit der innergöttlichen Möglichkeiten“ (Maag 55). Dennoch ist nachzuvollziehen, dass ein „unbewußtes Überleben der polytheistischen Gestimmtheit“ in diesen Bildern und Redeformen zumindest eine „stetige unbewußte Belastung des Monotheismus“ (Maag 54) bedeuten konnte. Die Himmelsszenen der Hiob-Novelle stehen bereits in hartem Kontrast zu einem Bild des der Macht und Herrlichkeit JHWHs fraglos ergebenen himmlischen Hofstaates, wie es die Tradition voraussetzte. Die himmlische Harmonie ist ernsthaft gefährdet. Diese Konstellation spiegelt eine tiefgreifende Wandlung des Gottesverständnisses, eine Wandlung, die sich am AT selber nachvollziehen lässt. Ein oft genanntes Beispiel sind die zwei Parallelstellen über eine Gott missfällige Volkszählung durch David. 2 Sam 24,1 berichtet: „Und der Zorn des Herrn entbrannte abermals gegen Israel, und er reizte David gegen das Volk und sprach: Geh hin, zähle Israel und Juda!“ David gibt den Befehl zur Zählung, bereut aber später und bittet JHWH um Verzeihung (2 Sam 24,10). Zur Sühne, so lässt JHWH ihm nun ausrichten, muss er wählen: „Willst du, daß drei Jahre lang Hungersnot in dein Land kommt oder daß du drei Monate vor deinen Widersachern fliehen mußt und sie dich verfolgen oder daß drei Tage Pest in deinem Lande ist?“ (2 Sam 24,13) Entsprechend der Wahl Davids sterben 70 000 Menschen an der Pest (2 Sam 24,15). JHWH selbst also bringt erst David dazu, die Volkszählung zu befehlen, und bestraft ihn anschließend dafür. In der späteren Beschreibung derselben Szene in 1 Chr 21,1 heißt es dagegen: „Und der Satan stellte sich gegen Israel und reizte David, daß er Israel zählen ließe.“ Die Strafe, noch immer von JHWH, bleibt dieselbe. (1 Chr 21,14) Die wenigen Belege der Satansfigur im Alten Testaments stammen ausnahmslos aus nachexilischer Zeit. Überall aber wird er als bereits bekannt vorausgesetzt. Innerhalb kurzer Zeit, so ist zu folgern, hat diese Figur Eigenschaften auf sich gezogen, die früher noch JHWH selbst zugesprochen wurden: das Bedrohliche, das Zerstörende, das Bedrohliche, das Widrige, das Feindliche – kurz, das Böse. Die hebräische Wurzel Ğtn bedeutet etwa „einer, der sich widersetzt, der etwas vereitelt oder als Gegner in Erscheinung tritt“. Das Auftauchen des Gegenspielers kann „unerwartete Hindernisse oder Schicksalsschläge erklären“. Der Ausdruck „Satan“ ist nicht von Anfang an Name einer besonderen Figur, sondern bezeichnete anfangs (auch außerhalb des Religiösen) allgemein die Rollen von Gegenspielern, z. B. einen der Engel, die Gott schickt, um menschliches Tun zu behindern oder zu vereiteln. Wenn es in der Geschichte von Bileam
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und seiner Eselin heißt: „Und der Engel des Herrn trat ihm in den Weg, um ihm zu widerstehen“ (Num 22,22), sagt der hebräische Text: „‚... um ihm [als sein satan]‘ – le-ĞƗWƗn-lǀ, das heißt sein Gegner oder Widersacher – ‚zu widerstehen‘“27. Die zitierte Textstelle der Chronik über Davids Volkszählung bezieht sich auf die Einführung einer Besteuerung durch David (dafür war die Volkszählung nötig), die heftigen Widerstand hervorgerufen und später zu Zwietracht, „Spaltung und Vernichtung“ geführt hatte. In der Version der Chronik entlastet der Satan JHWH von der Verantwortung für das entstandene Unheil und nimmt seinem Handeln die Widersprüchlichkeit. Gleichzeitig dient der Satan zur Erklärung geschichtlichen Unheils. Bei Sacharja liefert der Satan, der Zwietracht sät, die Erklärung für Konflikte zwischen Exilheimkehrern und Zuhausgebliebenen in Israel (Pagels 77f.). Mit zunehmender satanischer Aktivität entsteht JHWH sukzessive ein Gegenspieler, der, anfänglich noch JHWH untertan, immer mehr an Einfluss gewinnt, die streng monotheistische Gottesvorstellung unterminiert und zuletzt sich als böses Prinzip verselbständigt. „Die vermeintliche Ehrenrettung Gottes gerät dann folgerichtig zu seiner Minderung: Der ‚liebe Gott‘ thront dann über der (optimistisch geschätzt) halben Wirklichkeit, während die andere Hälfte dem Teufel zufällt.“ (Ebach 1996 I, 12) Im Kontext der Hioberzählung tritt der Satan als Angehöriger der „Gottessöhne“ – des himmlischen Hofstaates – und als Untertan JHWHs in Erscheinung (Hi 1,6). Der nachexilische Leser der Erzählung kennt den Satan aber bereits auch als den hemmenden, hindernden Widersacher, dem das „Unverständliche“ des Schicksals, das man nicht mehr als JHWHs Strafhandeln verstehen wollte, zugeschrieben wurde (Maag 72). Indem die Erzählung den Satan ausdrücklich JHWH unterordnet, nimmt sie damit Stellung zum drohenden Dualismus, der aus der Konfrontation JHWH vs. Satan resultiert. Wenn der Satan für das Unglück, welches er Hiob zufügt, explizit JHWHs Einverständnis braucht, ist damit gerade nicht die Verantwortung von JHWH genommen, der sich zu seinem Werk bekennt: „du aber hast mich bewogen, ihn ohne Grund zu verderben“ (2,3b)28. Der Novellendichter versucht also im Gegenteil die Satansfigur der monotheistischen Gottesvorstellung zu inkorporieren. Satan als Teil des Hofstaates erscheint als eine Wesensseite JHWHs, der als souveräner ––––––––––––– 27 Elaine Pagels, Satans Ursprung, 73f. 28 Auch für das „ohne Grund“ in diesem Vers steht im hebräischen Text das mehrdeutige, an anderer Stelle (Hi 1,9) mit „umsonst“ wiedergegebene hinnam. Vgl. zur alleinigen Verantwortlichkeit JHWHs auch Fohrer 82f.
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Herr über das Schicksal als Urheber von Verständlichem und Undurchschaubarem begriffen werden soll. In der Perspektive der eben skizzierten Entwicklung ist es nicht unplausibel, die Frage, wer bei der himmlischen „Wette“ Recht behalten wird, mit Hiobs Antwort in Hi 2,10 zusammenzubringen: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ Die Unterordnung Satans unter JHWH muss der glaubende Mensch selbst vollziehen. Auf dem Spiel steht ein Gottesverständnis, das es erlaubt, Gutes und Böses gleichermaßen von Gott zu empfangen29. „Angelpunkt“ der Novelle ist die „weltanschauliche Alternative von Monismus und Dualismus“ (Maag 87). In der erzählenden Verhandlung der „Satansfrage“ (Maag 48) werden weltanschauliche Entwicklungen also der konkreten Verantwortung des Menschen überantwortet. Der Mensch Hiob muss die himmlische Streitfrage entscheiden. Kommen wir zusammenfassend auf die Struktur der narrativen Problemverhandlung in der Hiobnovelle zurück. Die Novelle nutzt die überlieferte narrative Konstellation der Hioblegende für die Verhandlung einer eigenen Problematik. Die wesentlichen narrativen Elemente der Verhandlung sind einerseits Entscheidung und Schicksalswechsel Hiobs (diese, wie auch eventuell die untergeordnete Figuren-Opposition Hiob/Versucher, übernimmt die Erzählung aus der Tradition) und zum zweiten die zentralen figuralen Oppositionen JHWH/Satan und Hiob/JHWH. Der Schicksalswechsel Glück-Unglück erzeugt den Ausgangszustand s a des Problems, eine Prüfungssituation. Ziel sz ist demnach zunächst, dass Hiob diese Prüfung besteht. Die Konfiguration von Verhalten und Schicksalswechsel Hiobs entspricht einem Grundmuster narrativer Problemlösungen als narrativer Bewertungen von Handlungen und Haltungen. Die in der Binnenerzählung explizierten möglichen Alternativen (L1 ļ L2) sind wie in der Legende das Festhalten an oder Abfallen von JHWH (letzteres verkörpert durch Versucherfiguren). Die Problemlösung erscheint im Problemlösungsvorschlag Hiobs, seinem Verhalten (L1), sowie in seiner Restitution am Ende der Erzählung, die dieses Verhalten und damit auch die Lösung des Problems P als richtige bestätigt: E(L1) → B (+E). Bezogen auf die ––––––––––––– 29 Wenn „im fiktiven Spiel der Erzählung der Tendenz zu dualistischer Aufteilung gleichsam zwischen einem Prinzip des Bösen und einem Prinzip des Guten Raum gegeben ist, wird aber solch möglicher Dualismus durch den Hiob der Novelle gerade ausgeschlossen bzw. überwunden, indem er wie das Gute so auch das Böse von Gott annimmt (2,10)“ (Weymann 18).
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figurale Opposition JHWH/Satan wiederum dient dieses Grundmuster der narrativen Verhandlung der „Satansfrage“ P': Es geht um das Kräfteverhältnis zwischen Satan und JHWH und damit um das gültige Gottesbild. Hintergrund ist der Konflikt zwischen monotheistischen und dualistischen Modellen der Welterklärung insbesondere in Bezug auf das Zweckwidrige und „Böse“ (L1' ļ L2'). Prüfungssituation auf der Erde und Konflikt im Himmel sind gleichermaßen Bestandteile von sa; nur zusammen bilden sie das verhandelte Problem ab. Das narrative Modell, die Versuchsanordnung, ist wesentlich komplexer als in der Legende: Es wird an Hiob „experimentell überprüft“, ob Satan oder JHWH Recht behält. Damit ist die Problemverhandlung nicht mehr nur exemplarisch, sondern nutzt auch Analogie: Die Problemräume P und P' werden aufeinander projiziert, indem die Opposition L1' ļ L2' auf L1ļ L2 abgebildet wird, so dass E(L1) gleichzeitig E(L1') bedeuten kann. Damit ist die Pointe dieser Problemlösung gerade die, dass die Entscheidung zwischen Satan und JHWH nicht in einem Kampf über den Köpfen der Menschen, sondern vom Menschen selbst, von Hiob gefällt wird: P' (L1 ļ L2') → E(L1'); Hiobs Restitution bestätigt somit gleichzeitig auch die Entscheidung für L1' als Lösung von P': E(L1') → B (+E). Wie im exemplarischen Erzählen der Legende verweist auch hier das narrative Urteil auf äußere Ordnungen. Das verhandelte Problem stellt sich als Konflikt zweier in sich kohärenter, aber unvereinbarer Weltbeschreibungen dar: Die eine, monotheistische, sieht JHWH als den souveränen Herrscher über seine Schöpfung, von dem Gutes ebenso wie Böses anzunehmen ist, dessen Plan der Mensch nicht kennen kann, aber dessen Gnade und Güte er glauben und erhoffen soll. Die andere, dualistische, die das Gute dem Gott und das Böse dem Satan zuschlägt, erklärt die widersprüchliche Wirklichkeit als Ausdruck des Wirkens zweier gegensätzlicher Prinzipien. Die Hioberzählung fällt das Urteil, behauptet die Gültigkeit einer Weltordnung, die der ersten Beschreibung entspricht, und weist die zweite zurück: „Gott ist Deus absconditus, aber Deus!“ (Maag 78) Auch wenn der Satan eingangs nach den Beweggründen Hiobs fragt: Die Perspektive auch dieser Problemlösung ist immer noch wesentlich eine „weisheitliche“. Es ist der Blick von außen oder von oben, sozusagen vom Himmel aus (wo ja die Handlung in Gang gesetzt und von wo aus am Ende die Bestätigung Hiobs gegeben wird). Diese Perspektive zielt auf die Ordnung des Ganzen, in der das Subjekt nur als funktionales Element seinen Platz findet. Aber dennoch hat die satanische Frage den ersten Schritt hin zu einer Würdigung der Subjektperspektive getan, die zwar in einer
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abgeschlossenen Erzählung nicht den Blick von außen ersetzen, aber doch neben ihn treten und mit ihm vermittelt werden kann. Die Novelle zeigt, dass in Problemverhandlungen nicht nur die „objektive“ Bewertung B im Namen der außertextuellen Ordnung zählt, sondern der Fokus sich auch auf die „subjektive“ Entscheidung E hin verschieben kann. Die Novelle zeigt auch, dass beides nicht gegeneinander ausgespielt werden muss. Erst die Spannung der Perspektiven gibt narrativer Bedeutung auch jenseits des Exemplarischen Relevanz. Die Dialogdichtung entfaltet diese Spannung: In ihr wird Hiob endgültig vom Typus zum Subjekt. c) Das Hiob-Problem in der Dialogdichtung Hiob entscheidet durch sein Verhalten die „Satansfrage“, die Wette zwischen Satan und JHWH. Die eigentliche Frage des Satans in Hi 1,9: „Ist Hiob denn umsonst gottesfürchtig?“ ist damit nur teilweise beantwortet: Ja, Hiob ist nicht nur gottesfürchtig, weil und damit es ihm gut geht. „Umsonst“ meint hier im Kontext von Hi 1,9 „ohne Gegenleistung“; eine zweite mögliche Lesart jedoch wäre die: Ist Hiobs Frömmigkeit nicht sinnlos? Beruht sie nicht auf einer falschen Voraussetzung: nämlich der von Gottes Gerechtigkeit? In der ersten Lesart fragt der Satan in Hi 1,9 nach Hiobs Beweggründen. In der zweiten Lesart richtet sich die Frage wieder auf die geltende Weltordnung selber, auf die Gültigkeit des Tun-ErgehenZusammenhangs als Ausdruck der Gerechtigkeit Gottes. Im Hiob-Dialog30 verschiebt sich die Problemverhandlung hin zu dieser zweiten Fragestellung. Doch dieses Mal wird die Ordnung des Ganzen nicht nur aus der Perspektive des Himmels, sondern auch aus der des handelnden und leidenden Subjekts problematisiert: Erst im Hiob-Dialog bekommt das Subjekt selbst, dessen Handeln schon in der Hiobnovelle von so großer Bedeutung war, eine eigene Stimme, die mehr als „Weisheiten“ ausspricht. Der Dialog wird eröffnet durch die „Warum-Fragen“ der großen Klage Hiobs: Warum müssen Menschen leiden? Ist es umsonst: ohne Grund, ohne Sinn? Wenn aber ein Zusammenhang von Tun und Ergehen gilt: Darf es dann überhaupt ein Leiden ohne Grund geben? In den Redegängen der drei Freunde wird vorwiegend nach „Gründen“, ––––––––––––– 30 Ob der Dialog nun als eine direkte Antwort auf die jetzt als Rahmen für ihn verwendete Erzählung anzusehen ist oder nur auf eine ihrer Vorformen aufbaut (wie ich mit Maag voraussetze), ist wohl heute nicht mehr zu verifizieren. Entscheidend ist, dass sich der Dialog mit dem Hiobstoff in einer seiner Ausprägungen auseinander setzt und spätestens in der Endredaktion in ein direktes Spannungsverhältnis zur Novelle gerät.
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das heißt einer Schuld Hiobs gesucht, während später Elihu als einen weiteren „Sinn“ die Funktion des Leides als Mittel zur Erziehung und Läuterung zur Sprache bringen wird. All diese Erklärungsversuche, diese Sinnstiftung von außen, lehnt Hiob ab, weil sie ihm keinen Zugang zum Verständnis unschuldigen Leidens vermitteln können. Unschuldiges Leiden sprengt alle Erklärungsmöglichkeiten, die Hiob oder seinen Freunden, also dem derzeit allgemein akzeptierten Wissen von Gott und dem Schicksal der Menschen, zur Verfügung stehen. Die Dialogdichtung hat mit der Erzählung gemeinsam, dass es jeweils um ein problematisch gewordenes Gottesverständnis geht. Gerade deshalb bedürfen die Unterschiede in der Problemstellung größter Aufmerksamkeit. Viele Interpreten lesen das Buch Hiob ausschließlich als eine Auseinandersetzung mit der weisheitlichen Doktrin des Tun-ErgehenZusammenhangs. Wir haben gesehen, dass das für die Rahmenerzählung nicht unbedingt stimmt: Der grundsätzliche Zusammenhang von Tun und Ergehen gilt hier noch als weitgehend unproblematisch, einfach weil die Lehre auch sein zeitweiliges Durchbrechen noch zulässt. In der Novelle wird die Vergeltungsordnung „nur zeitweilig, im Grunde nur scheinbar aufgehoben“ (Hesse 1992, 17). Vor dem Hintergrund der Doktrin des strengen individuellen Tun-Ergehen-Zusammenhangs im Anschluss an Ezechiel aber erlangt die in der Hioblegende entwickelte Situation des leidenden Gerechten ein völlig neues Problempotenzial. Die in dieser populären Geschichte aufbewahrte Erfahrung unverschuldeten Leids musste mit einem Dogma kollidieren, das gerade diese Erfahrung als unmöglich ansah. In der Erzählung konnten noch zwei zwar einander ausschließende, aber je für sich (einigermaßen) kohärente Weltbeschreibungen als konkurrierende Problemlösungsvorschläge verhandelt werden. Wenn aber Erfahrung und Dogma sich widersprechen, ist keine der beiden Seiten für sich genommen schon in der Lage, eine befriedigende Problemlösung, d. i. eine kohärente Weltbeschreibung anzubieten, deren Ordnungsaussagen nicht im Widerspruch zur Erfahrung stehen. In Hioblegende und Novelle wird das thematisierte Problem nur narrativ, mit erzählerischen Mitteln verhandelt. In der Dialogdichtung nun tritt neben die narrative eine weitere, nämlich die argumentative Form der Problemverhandlung. In den Redegängen Hiobs und seiner Freunde versucht die Argumentation, innerhalb der begrifflichen Grenzen des Dogmas das Problem Hiobs zu lösen. Zu einem späteren Zeitpunkt werde ich noch ausführlicher auf die dabei verwendeten Argumente eingehen (siehe unten ab S. 313). Für eine Prob-
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lembestimmung sollen nun Aufbau, Figurenkonstellation und narrative Sequenzen des Hiobdialogs untersucht werden. Im Anschluss an die oben referierten Forschungserträge gehe ich mit den entsprechenden Vorbehalten davon aus, dass diese Versdichtung hauptsächlich aus Hiobs Klage (Hi 3), den Redegängen zwischen Hiob und seinen Freunden (Hi 4-27), dem Reinigungseid Hiobs (Hi 29-31), einer Antwort Gottes (Hi 38f.) und einer Unterwerfungserklärung Hiobs bestand. Die einleitende Vorstellung der Freunde (Hi 2,11-13) und das Urteil Gottes (Hi 42,7-9) gehören zu einem ursprünglich vorhandenen erzählenden Rahmen der Dichtung, wie er für Weisheitsdichtungen typisch war. Der Dialog nutzt (vermutlich) ebenso wie die Erzählung das überlieferte narrative Material der Hioblegende. Dort konstituierte der erste Schicksalswechsel das Problem. Das ist in der Dialogdichtung ähnlich, aber jetzt wird dabei Hiobs Unschuld zur zentralen Voraussetzung des Problems: Warum leidet der gerechte und gottesfürchtige Hiob – obwohl das – wie jeder zeitgenössische Rezipient wusste – gegen das weisheitliche Dogma vom Tun-Ergehen-Zusammenhang verstieß? Der Satan wird in der Dialogdichtung nicht erwähnt, sein Anteil an der Problemkonstellation geht damit verloren. Anstelle der Opposition Hiob/Versucher (insbesondere Hiobs Frau), wie die Erzählung sie kennt, erscheint in der Dichtung die Opposition Hiob/Freunde. Des Weiteren bringt die Dichtung eine direkte Konfrontation Hiob/JHWH; diese zweite Opposition wird sich als der Schlüssel zur „Lösung“ des hier verhandelten Problems erweisen. Die Einleitung der Dichtung dürfte in irgendeiner Form auf Hiobs Unglück Bezug genommen haben, um dann die Freunde Hiobs vorzustellen, die gekommen sind, um ihn zu trösten. Sie sitzen sieben Tage lang still an seiner Seite, bis schließlich Hiob mit einem dreiteiligem Klage-Monolog das Schweigen bricht. Diese Klage erreicht Außerordentliches: Während die Novelle die „Bewährung im Leid“ nur exemplarisch vorführt und Hiob in seiner unerschütterlichen Gottergebenheit kaum als ein wirklicher Mensch erscheint, wird jetzt die Perspektive des Leidens selbst eingenommen. Aus der Perspektive des abgeklärten Weisen, aus der Hioblegende und -erzählung erzählt sind, waren Klage oder gar Anklage und Rebellion, die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, undenkbar. In der Dialogdichtung nun wird sie möglich und im Verlauf des sich entspinnenden Disputs immer schonungsloser gestellt. Das Problem der Dialogdichtung entfaltet sich als ein Konflikt gegensätzlicher Perspektiven, die unvermittelt aufeinanderprallen. Hiob bringt die subjektive Erfahrung von unverschuldetem Unglück und Leid zur
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Sprache, die er nicht versteht, da sie in seiner „Welt“ keinen Platz hat. Die Freunde vertreten dagegen die gültige Theologie – angemaßte Draufsicht. Sie sind nicht nur „Weise“, sondern auch Nicht-Betroffene. Das vor allem ist es, was sie von Hiob unterscheidet, denn die weisheitliche Theologie ist beiden Seiten als Hintergrund gemeinsam. Auch Hiob hing, wie man annehmen darf, der weisheitlichen Lebensauffassung vom göttlich garantierten Tun-Ergehen-Zusammenhang an, bevor sein Unglück ihn zwang, Fragen zu stellen, die diese Lehre sprengen sollten31. Die Freunde Hiobs erscheinen so einerseits „als Objektivierung einer Hiob eigenen Verständnisweise“ (Maag 191), aber gleichzeitig – das zeigt den Riss an, der mitten durch Hiobs Welt geht – auch als Gegner, ja Feinde. So finden sich bei Hiob auch Redeformen der Feindklage, die auf die Freunde bezogen werden können: „Sie haben ihren Mund aufgesperrt wider mich und haben mich schmählich auf meine Backen geschlagen. Sie haben ihren Mut miteinander an mir gekühlt. Gott hat mich übergeben den Ungerechten und hat mich in die Hände der Gottlosen kommen lassen.“ (Hi 16,10f.) Für beide Seiten erscheint die Vergeltungsordnung als unverbrüchlich und von Gott garantiert. Daraus aber ergeben sich sehr verschiedene Schlussfolgerungen. Für die Freunde steht fest, dass Hiobs Leid die Vergeltung für eine von ihm nicht zugegebene Schuld sein muss (Hi 4,7f.; 5,6f. usw.). Hiob dagegen ist von seiner Unschuld überzeugt mit der Konsequenz, dass dann Gott seine eigene Ordnung verletzt haben muss – d. h. ein willkürlich strafender, tyrannischer Gott sein muss. Eine Einigung erscheint unmöglich: Im Rahmen des Dialogs, auf argumentativer Ebene, ist das Problem unlösbar. Diese Unlösbarkeit weist auf die Hauptabsicht des Dialogdichters: Im Versagen der Freunde, die ja, das darf nicht vergessen werden, ursprünglich in der Absicht gekommen waren, den Unglücklichen zu trösten (Hi 2,11), versagt das herrschende weisheitliche Vergeltungsdogma selber. Eben dieses Scheitern des Dogmas will der Dichter demonstrieren32. Dass die Freunde, die Hiob doch trösten wollen, so hartnäckig an seiner Schuld festhalten, ist kein Widerspruch. Sie folgen damit dem „Tröstungsschema“, welches Hintergrund der Lehre von der individuellen Vergeltung bei Ezechiel gewesen war: Wenn Hiob seine Schuld erkennt, kann er umkehren, Buße tun und auf die Gnade JHWHs hoffen (vgl. Maag 131). Aber unter der Voraussetzung der Unschuld Hiobs, den der Dichter ––––––––––––– 31 In Hi 4,3 wird Hiob selbst als Lehrender beschrieben. 32 Vgl. z. B. Maag 96, Hesse 1992, 14, Preuß 79.
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„als vorstellbaren Grenzfall des absolut gerechten Menschen“ (Maag 164) zeichnet, muss diese Tröstung versagen. Der „Fall Hiob“ ist in der Gotteslehre der Freunde nicht vorgesehen (Maag 166). Im Verlauf der Reden verschiebt sich so der ursprüngliche Tröstungsdialog immer mehr zu einem Streitgespräch, das die Feststellung von Recht oder Unrecht zum Inhalt hat. Hiob weiß sich „zum Rechtsstreit gerüstet“ (Hi 13,18), erkennt aber die Freunde nicht als seine Ankläger oder Richter an. Immer häufiger wendet er sich direkt an JHWH selber und fordert zuletzt, am Ende seines Reinigungseides, JHWH zum Rechtsstreit heraus: „Oh hätte ich einen, der mich anhört – hier meine Unterschrift! Der Allmächtige antworte mir! – oder die Schrift, die mein Verkläger geschrieben!“ (Hi 31,35) Sobald die „Rechtsfrage“ ins Zentrum des Gesprächs gerückt ist, kreisen auch die Metaphern der Verse um Gericht und Prozess. Es geht zumindest in Hiobs Reden um nichts weniger als einen Prozess gegen Gott. Wenn auch der Hiobdialog als Ganzes nicht als direkte Darstellung eines tatsächlichen Rechtsverfahrens interpretiert werden kann, wird doch immer wieder auf metaphorischer Ebene das Rechtstreitschema aktiviert, um die Problemverhandlung zu strukturieren. So definiert das Rechtstreitschema spezifische Rahmenbedingungen für die Vermittlung der im Dialog miteinander konfrontierten Perspektiven, weist ihnen funktionale Rollen zu und führt für die Auflösung des Konflikts die strukturelle Position einer über den Parteien stehenden Instanz in die Verhandlung ein. Das RECHTSSTREIT-Schema steht damit im Gegensatz zu anderen Schemata, am augenfälligsten zu dem alternativen Schema des KAMPFES, mit welchem es auch im Hiobbuch konkurrieren muss. Denn wenn Hiob JHWH selbst verklagt, so muss ihm von Anfang an die Widersprüchlichkeit dieser Vorstellung klar sein: Es kann zwischen JHWH und dem Menschen keinen „Schiedsmann“ geben, der über beide gleichermaßen ein Urteil fällen könnte (Hi 9,33). Deshalb mischt sich die Metaphorik des Gerichts mit der Metaphorik von Krieg und Willkür: Wäre ich schuldig, dann wehe mir! Und wäre ich schuldlos, so dürfte ich doch mein Haupt nicht erheben, gesättigt mit Schmach und getränkt mit Elend ... Du würdest immer neue Zeugen gegen mich stellen und deinen Zorn auf mich noch mehren und immer neue Heerhaufen gegen mich senden. (Hi 10,15.17)
Auch in den Reden Hiobs, die JHWH zu seinen Zeugen und Goel gegen JHWH den Richter anrufen, stehen der Rechtsmetaphorik teilweise drastische Kriegsbilder gegenüber: Ich war in Frieden, aber er hat mich zunichte gemacht; er hat mich beim Genick genommen und zerschmettert. Er hat mich als seine Zielscheibe aufgerichtet; seine Pfeile
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schwirren um mich her. Er hat meine Nieren durchbohrt und nicht verschont; er hat meine Galle auf die Erde geschüttet. Er schlägt in mich eine Bresche nach der andern; er läuft gegen mich an wie ein Kriegsmann. (Hi 16,12-14)
Chaos und Willkür oder Ordnung und Recht? Hiob schwankt zwischen Resignation und Hoffnung. Der Zwiespalt Hiobs, der sich außerstande sieht, seine Situation in vertraute Schemata zu integrieren, verlagert sich in das Gottesbild, das sich in Hiobs Reden abzeichnet. Hiobs Bild von JHWH spaltet sich in auf in den Gott, der scheinbar willkürlich richtet und straft, und jenen anderen, von dem einzig noch Hilfe zu erwarten ist. Ach Erde, bedecke mein Blut nicht, und mein Schreien finde keine Ruhestatt! Siehe, auch jetzt noch ist mein Zeuge im Himmel, und mein Fürsprecher ist in der Höhe. Meine Freunde verspotten mich; unter Tränen blickt mein Auge zu Gott auf, daß er Recht verschaffe dem Mann bei Gott, dem Menschen vor seinem Freund. (Hi 16,1821)
Hiob erbittet Hilfe von Gott gegen Gott. Am Ende wird JHWH ihm antworten und eine Entscheidung fällen. Formal dominiert dann der Rechtsstreit gegenüber dem Kampf, die Ordnung gegenüber Chaos und Willkür. Das Urteil JHWHs aber wird gleichzeitig das RECHTSSTREITSchema sprengen. Seine Ordnung übersteigt menschliche Vorstellungen von „Gerechtigkeit“ – aber seine Antwort wird Hiob trösten. Erst JHWH wird erreichen, was den Freunden misslingt. „Rechtsstreit“ oder „Tröstung“ sind Kommunikationsformen, die einem bestimmten Schema und einer bestimmten Intention folgen, und die Stärke der vertretenen Positionen kann am Erfolg der Kommunikationshandlung gemessen werden. Im Dialog zwischen Hiob und seinen Freunden zeigen das Scheitern der Tröstungsabsicht und die Resultatlosigkeit des Rechtsstreites das Versagen der Argumentation an. Hiob kann die Argumente der Freunde nicht als angemessene Antwort für sein Problem akzeptieren. Sie sind weder überzeugend noch tröstlich. Aber auch wenn die argumentative Verhandlung des Problems scheitert, kann doch der vorgeführte Konflikt narrativ entschieden werden. Das Urteil der Geschichte über die Argumentation gibt der erzählte Ausgang des Redestreits. Dieser Ausgang des Streites wird vom Dialogdichter unmissverständlich klargestellt, im Gotteswort Hi 42,7: „Mein Zorn ist entbrannt über dich und über deine beiden Freunde; denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob.“ Formell ist das ein „Schiedsspruch im Meinungsstreit der Weisen“ (Maag 192). Die Prosaausleitung von Weisheitsdichtungen enthielt normalerweise das Fazit des Textes (Maag 165); es ist nur angemessen, dass das Fazit hier von JHWH selbst gezogen wird.
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Mit dieser Entscheidung über den Redestreit ist die „Lösung“ der Dialogdichtung aber noch nicht vollständig: An die Stelle der zerschlagenen Weltsicht der Weisheit muss eine neue Weltbeschreibung treten, die von Hiob angenommen werden, ihn also trösten kann. Diese Lösung liegt in der Theophanie, der unmittelbaren persönlichen Gotteserfahrung. Es scheint, als ob dem Einspruch der Erfahrung gegen das Dogma nur neue Erfahrung abhelfen kann; Erfahrung, die erzählt, aber nicht argumentiert werden kann. Nach dem ergebnislosen Streit mit den Freunden wendet sich Hiob direkt an JHWH, der erscheint und antwortet ihm, und daraufhin verstummt Hiob. Diese „Heilshaftigkeit“ der unmittelbaren Gotteserfahrung jenseits rationaler Argumente ist die alternative Lösung des Dialogdichters, mit der er seine Absage an die offizielle Theologie ins Positive wendet. Allerdings wird damit auch ein Verzicht auf das Verstehenwollen göttlicher Schicksalsfügung eingefordert: Hiob erhält keine direkte Antwort auf seine verzweifelte Frage nach dem „Warum“ seines Unglücks. In seinen Warum-Fragen hatte Hiob nach dem Sinn seines Leids, nach der „Vernünftigkeit eines leiderfüllten Daseins“ gefragt (Maag 108). Hiob leidet unter der „Unverständlichkeit des Schöpfers“ (Maag 106): Er kann in „Gottes Schicksalswalten“ keinen Plan, keinen Sinn, keine Ordnung entdecken. Statt einer Begründung für sein Schicksal aber führt JHWHs Antwort in Hi 38f. ihm die Großartigkeit der göttlichen Schöpfung vor Augen, die menschlicher Einsicht enthoben ist. Er zeigt sich als Hiobs Gott, aber verweigert Antworten auf seine Fragen. Auch der Hiob der Dichtung ist letztlich gezwungen zu vertrauen, ohne zu wissen33. Viele Leser des Hiobbuches zeigen sich enttäuscht darüber, dass die Antwort, die Hiob von JHWH erhält, auf dessen Fragen und Argumente gar nicht eingeht. Die meisten der auslegenden Theologen34 sind dagegen der Meinung, die Gottesrede(n) seien durchaus eine adäquate Antwort auf Hiobs Klage und Selbstverwünschung: Hiob solle erkennen, dass Gottes Weltlenkung alle menschliche Vernunft übersteigt. Diese Erkenntnis kann ––––––––––––– 33 „Auch hier ereignet sich, wie in der Hiob-Novelle, die seelische Entgiftung der Not durch das Vertrauen auf die Göttlichkeit der Schicksalslenkung. Nur ist dieser Glaube für den Hiob der Novelle eine Position, von der er sich nie abbringen läßt, während der Hiob des Gedichts zu ihr erst aufgrund der göttlichen Selbstmiteilung zurückfindet.“ (Maag 117) Wie schon bei den Interpretationen von Preuß und Westermann stützt sich dieses Vertrauen einzig auf die erfahrene Präsenz Gottes und hat keine argumentierbare Basis dort, wo diese Präsenz nicht (mehr) wahrgenommen wird. 34 Vgl. u. a. Fohrer 557ff, Maag 107ff., Preuß 79f. u. 88ff. sowie Ebach 1984, 32ff. u. 52. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Hesse, der beide Gottesreden als sekundär einstuft und als Antwort an Hiob eine wortlose Theophanie annimmt (Hesse 1992, 18).
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nicht durch Lehrsätze, sondern nur durch die direkte Begegnung mit JHWH autorisiert werden. Hiob erfährt JHWH als einen Gott, „der sich als außerhalb menschlichen Begreifens stehend bezeugte, damit aber auch außerhalb eines postulierten oder erhofften Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ (Preuß 80). Dass die Gottesreden den Anschein der Unangemessenheit machen, wird einmal darauf zurückgeführt, dass erstens die zweite der Reden nachträglich eingefügt wurde (diese „recht barsche“ zweite Rede schlägt einen ganz anderen Ton an als die „originale gütigpädagogische Gottesrede“ (Maag 196) und ist nun der Klage Hiobs tatsächlich unangemessen). Vor allem aber wird angemerkt, dass beide Gottessreden auf Hiobs Fragen inhaltlich nicht eingehen – weder auf Hiobs Warum-Fragen noch auf seine späteren, anklagenden Fragen nach der Rechtmäßigkeit seines Unglücks. Im Laufe der Auseinandersetzung mit der Doktrin der Freunde hatte sich das Fragen immer mehr verschoben. Fragte Hiob zunächst nach Sinn oder Sinnlosigkeit des Schicksals, wurde daraus bald die Frage nach der Schuld oder Unschuld Hiobs, also der Gerechtigkeit seines Schicksals. Das Fragen nach dem Sinn des Leidens (qua ratione) stellt einen vielleicht „untauglichen“, aber doch verständlichen, legitimen, vielleicht unvermeidbaren „Versuch rationaler Schicksalsbewältigung“ (Maag 108) dar. Das Fragen der Freunde nach Schuld oder Unschuld, nach der Gerechtigkeit von Gottes Handeln (qua iure) hat dagegen verhängnisvolle Folgen. Statt Hiob zu trösten, treiben sie dadurch ihn nur in immer tiefere Verzweiflung und letztlich zur Rebellion gegen Gott selbst. Die Gottesrede, die formal an die Herausforderung zum Rechtsstreit anknüpft, antwortet nicht auf Hiobs Fragen nach Schuld und Recht; sie antwortet nur auf seine Klage. Hiobs Klage in Hi 3 und die erste Gottesantwort Hi 3,38f entsprechen einander formal und inhaltlich; beide behandeln das Qua ratione, die Sinnhaftigkeit des Schicksals, und nicht das Qua iure, seine Gerechtigkeit. Das abschließende Gottesurteil in Hi 42,7-9 weist die Freunde streng zurecht: sie haben „nicht recht gesprochen“ von JHWH. Sie erst haben im Sinne der Weisheitsdoktrin Hiobs „Sinnfrage“ in eine „Rechtsfrage“ umgebogen und damit das Bild des Schöpfers verzerrt, dem dann nur die Alternative bleibt, entweder als verständlich und berechenbar oder aber als zynisch und gewalttätig zu gelten35. Aus einer solcherart rekonstruierten Sicht des Dialogdichters also muss die Gottesantwort als adäquat gelten. Damit aber ist verbunden, dass die ––––––––––––– 35 Ausführlich Maag 100-123, insb. 116.
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verbreitete Annahme revidiert werden müsste, dass Hiob vom Dialogdichter als ein Rebell konzipiert sei, der sich mit Recht JHWH entgegenstellt. Der Hiob der Dichtung trägt in der Tat auch rebellische Züge. Aber er lehnt sich in erster Linie auf gegen den Gott der Freunde, also das offizielle Gottesbild der Weisheitstheologie. Allerdings muss Hiob damit auch seine eigene ursprüngliche Gottesvorstellung revidieren: Die zentrale Frage der Dichtung, ihr eigentliches „Problem“, ist die Frage, wer (bzw. wie man) „recht spricht“ von JHWH – also das angemessene Gottesverständnis. Das Gottesbild Hiobs, das ebenso vom Vergeltungsdenken geprägt ist wie das seiner Zeitgenossen, lässt sich angesichts seiner Erfahrungen nicht mehr durchhalten; es gerät in die Krise und kann diese nur überwinden durch die Integration der „Dissonanzen der Welt“, der „ganzen Wirklichkeit“ (Ebach 1984, 29 und 33) in ihrer Widersprüchlichkeit, Gegensätzlichkeit, Dynamik und Irrationalität in die Vorstellung des einen Gottes. Für die verschiedenen Gottesbegriffe, die hier aufeinanderprallen, hatten wir in Hiobs Reden eine textuelle Grundlage ausgemacht. Hiob wendet sich an einen Gott, der ihm als goel und ‚Rechtshelfer‘ gegen Gott, also gegen sich selbst, beistehen soll36. „Sei du selbst mein Bürge bei dir – wer will mich sonst vertreten?...“ (Hi 17,3) Die Anklagen Hiobs, so Maag, richten sich nicht gegen den „wahren“ Gott, sondern den Dämon, den „Ungott“, den das Dogma aus Gott macht (Maag 174f.). Auch im Streit mit den Freunden bleibt es Hiobs Ziel, Gott anstelle des Trugbildes wiederfinden. Aber wie die theologischen Argumente der Freunde versagen auch die seinen; erst die lebendige Begegnung mit JHWH kann sein Gottes- und Schicksalsverständnis erweitern, um ihn zum Verzicht auf sein Warum? zu befähigen37. In dieser Interpretation antwortet die Erscheinung des „wahren“ Gottes auf Hiobs Fragen und gibt damit einen weiteren Lösungsvorschlag für das Problem der Dichtung vor. Ob aber diese Lösung erfolgreich ist, hängt von Hiobs Antwort ab. Genau hier fällt die Dichtung ihre endgültige narrative Entscheidung. Erfolgreich wäre die Lösung genau dann, wenn Gott erreichte, was die Freunde nicht vermochten: Hiob wirklich zu trösten. Können die Reaktionen Hiobs auf die Gottesreden, wie sie in Hi 40,3-5 und 42,1-6 berichtet werden, diese Deutung stützen? ––––––––––––– 36 In Hi 16,19 ruft Hiob ruft den anderen, den „wahren“ Gott als seinen „Zeugen im Himmel“ an, in Hi 19,25 als seinen Goel (von Luther als „Erlöser“ übersetzt): „Der Freund, den Hiob sucht, der Verwandte, der Rächer kann nicht der gleiche Jachwe sein, gegen den Hiob den Rächer aufruft“ (Ernst Bloch, zit. Ebach 1984, 31). 37 Fohrer 558, Maag 189.
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Seine erste Antwort in Hi 40,3-5 bekennt lediglich, dass es gegenüber Gott nichts mehr zu sagen gibt: „Siehe, ich bin zu gering, was soll ich antworten? Ich will meine Hand auf meinen Mund legen.“ Die zweite Antwort wiederum enthält das Bekenntnis der Übermacht Gottes (Hi 42,2), der eigenen mangelnden Einsicht (42,3) und der lebendigen Gotteserfahrung (42,5); und sie endet: „Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche.“ (42,6) Diese Reaktionen kennzeichnen den Erfolg der Gottesreden in verschiedenen Aspekten – und entscheiden so gewissermaßen über ihren Sinn – aber sie lassen kaum auf eine Tröstung Hiobs schließen. Möglich ist aber auch, dass Hiobs originale Antwort auf die Gottesrede sein Schweigen war (Maag 118) oder dass er nur sein Verstummen kund tat, ohne sich selbst schuldig zu sprechen. In diesem Fall wäre Hiob an JHWHs Fragen „genesen“ (ebd.) und sein Problem dadurch „aufgehoben“ (vgl. Ebach 1984, 52). JHWH hätte dann tatsächlich geleistet, was die Freunde nicht erreicht hatten: Hiob wäre wirklich getröstet38. Eine solche Interpretation ist durchaus einleuchtend. Allerdings wären dann die zitierten Antworten Hiobs oder zumindest Teile davon als spätere kritische Hinzufügungen zu deuten. Das aber führt bereits zum Thema des nächsten Abschnittes: Der Text des heute vorliegenden Hiobbuches legt Zeugnis ab von einer über Jahrhunderte in den Hiobtexten fortgeführten Problemverhandlung, quasi einer „Kontroverse in Geschichten“. Doch kommen wir auf die Struktur der Problemverhandlung des Dialogs zurück. Das Problem der Hiobdichtung ist offenbar deutlich komplexer als die Probleme von Legende und Novelle. Beginnend mit der Klage Hiobs über den Redestreit bis zu den Gottesreden werden schrittweise die verschiedenen Aspekte, Oppositionen und Perspektiven der Problemstellung eingeführt. Entsprechend der Figurenkonstellation – den figuralen Oppositionen Hiob/Freunde und Hiob/JHWH – enthält die Problemverhandlung des Dialogs zwei Stränge. Der grundlegendere („äußere“) Strang ist der von Hiobs Tröstung: Er verläuft von Hiobs Klage über den Tröstungsversuch der Freunde und das neue Sinnangebot JHWHs zu Hiobs Unterwerfungserklärung. Eingebettet in diese äußere Handlung ist der Redestreit mit den Freunden, der sich aus ihrem Trostversuch ergibt: Hier kollidieren offizielle Theologie und Hiobs Leidenserfahrung; der Konflikt wird argumentativ verhandelt, ohne allerdings gelöst werden zu können. ––––––––––––– 38 Nach Maag verfolgen die pädagogischen Fragen der Gottesrede Hi 38ff., der Form nach „Lehrfragen“, das „Ziel einer grundlegenden Erkenntnis ... Dieser Erkenntnisweg ist Hiobs Tröstung. Die Gattung der Lehrfrage unterstellt sich hier der Funktion der Tröstung“ (Maag 121).
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Beide Stränge, äußere Erzählung und eingebettete Argumentation, verhandeln unterschiedliche Aspekte des gleichen Problems. Gemeinsamer Kontext ist das in die Krise geratene weisheitliche Weltbild. Hiobs Klage gibt der subjektiven Dimension dieser Krise Ausdruck, konstituiert aber vor dem Hintergrund des allgemein akzeptierten Vergeltungsdogmas auch schon den problematischen Widerspruch (P): Kern der problematischen Ausgangssituation sa ist der Widerspruch zwischen der subjektiven Erfahrung unverdienten Unglücks und dem objektiven Ordnungspostulat der Weisheitstheologie, die Gottes Gerechtigkeit zum Dogma verabsolutiert hat. Zielzustand sz ist daher ein akzeptables, kohärentes neues Weltbild, das diesen Widerspruch überwindet und „recht redet“ von JHWH und seiner Schöpfung. Entsprechend der beiden Aspekte des Problems, des subjektiv-existenziellen und des theoretischen, leistet dieses neue Weltbild sowohl Trost als auch theologische Erneuerung. Das Ziel, „recht zu reden“ von JHWH und seiner Weltordnung, ist untrennbar an Hiobs Tröstung gekoppelt. Hiob, der die Welt nicht mehr versteht, muss zurückgeführt werden auf festen Boden, zu einem Bild von Welt und Gott, das er für sich annehmen kann. Mögliche Operationen oder Transformationen zur Erreichung einer widerspruchsfreien Weltbeschreibung sz sind zum Beispiel die Bestreitung von Prämissen, die zum Widerspruch geführt haben, aber auch das Auffinden alternativer Beschreibungen. Diese Operationen werden in den Redegängen der Freunde einerseits und in den Gottesreden andererseits zu Problemlösungsvorschlägen genutzt (L1ļ L2). An Hiob selbst muss sich letztlich entscheiden, welcher Vorschlag Bestand hat (EH)39. Seine Unterwerfung wird hier als Akzeptanz und vollzogene Tröstung gewertet, also als Bestätigung von L2: P (L1 ļ L2) → EH (L2). Das zentrale „Problem“ der Dichtung ist also nichts Geringeres als das Ringen um ein angemessenes Gottesverständnis. „Die Weltordnung selbst“ steht zur Debatte (Ebach 1984, 29). Die Verhandlung des Gottesbildes erfolgt in drei Phasen: I. Zuerst wird in den Redegängen Hiobs und seiner Freunde, der argumentativen Problemverhandlung, die Zerstörung des alten Bildes vom „gerechten“, in menschliche Ordnungsvorstellungen eingepassten Gott vorbereitet. Im Redestreit zwischen Hiob und den Freunden werden verschiedene (argumentative) Operationen zur Erreichung des widerspruchsfreien Zielzustandes erfolglos durchgespielt. Die darin verhandelte Frage––––––––––––– 39 Die Schreibweise EH drückt aus, dass hier Hiob entscheidet, die Entscheidung im Redestreit dagegen wird JHWH fällen (EJ ).
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stellung „Leidet Hiob zu Recht oder zu Unrecht?“, und also „Hat JHWH an Hiob recht gehandelt?“, erweist sich als unangemessen. Der „kleine Gott der Freunde“ – ihr Lösungsvorschlag für das Hiobproblem, Lösungsalternative 1 (L1) – ist ebenso wenig der „wahre Gott“ (Maag 162f.) wie der Willkürgott, den Hiob anklagt und gegen den er JHWH selbst als Anwalt aufruft (insofern ist m. E. diese Behauptung Hiobs vom willkürlich strafenden Gott kein Problemlösungsvorschlag). Diese eingebettete Problemverhandlung P' konfrontiert den Lösungsvorschlag der Freunde (L1) mit dem authentischen Ringen Hiobs um ein angemessenes Gottesbild – der, zerrissen zwischen Willkürgott und „Rechtshelfer“, hält an letzterem fest, nicht schon als theoretische Problemlösung, doch aber als an der seiner Meinung nach richtigen Haltung (L0). Schon das resultatlose Ende der Redegänge, die ihr Kommunikationsziel verfehlen, zeigt das Scheitern der Lösungsalternative L1 an. Endgültig wird über P' in JHWHs Urteil Hi 42,7-9 entschieden, das L1 zurück- und Hiob zurecht weist, d. h. ihm (sozusagen auf der „Inhaltsebene“) seine Anmaßung vor Augen führt und gleichzeitig (auf der „Beziehungsebene“) seine Hinwendung zu JHWH bestätigt. Ausschlaggebend ist JHWHs Zurückweisung von L1 – wohlgemerkt ohne gleichzeitige Bestätigung von L0: P' (L0, L1) → EJ (-L1). Die „objektive“ Theologie, für die die Freunde sprechen, scheitert an der Erfahrung unverschuldeten Leidens, die das Subjekt Hiob gemacht hat. Damit scheitert auch die argumentative Verhandlung dieses Konflikts – und der Verdacht liegt nahe, dass argumentative Verhandlungen dieses Problems scheitern müssen, wenn man nicht über den allwissenden Blick der Gottesperspektive verfügt. II. In der zweiten Phase der Verhandlung des Hiobproblems zeichnet die Theophanie – die direkte Antwort Gottes an Hiob, die gleichzeitig konkrete Antworten auf seine Fragen nach Schuld und Recht verweigert – ein neues Gottesbild. JHWH argumentiert nicht; sein Erscheinen und Reden, als Bestandteil des Problemraums betrachtet, ist eine Operation, die nur erzählt werden kann. Diese neue Lösungsalternative 2 (L2) gibt das Bild eines nahen und gleichzeitig fernen Gottes, des souveränen Schöpfers und Herrschers einer Welt und einer Ordnung, die nicht nach Menschenmaß gemacht ist. Damit wird jetzt nicht mehr nur eine Seite des Widerspruchs in sa negiert, sondern seine Voraussetzung torpediert: Die Alternative entweder gerecht oder ungerecht ist für JHWH gegenstandslos. III. Dieses neue Bild wird am Ende, in der entscheidenden dritten Phase der Problemverhandlung, als Lösung bestätigt – als die Lösung der um-
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fassenderen Problemstellung, wie das Verhältnis JHWHs zu seiner Schöpfung und zu dem Geschöpf Hiob gedacht werden kann. Die erste Lösungsalternative der Problemverhandlung wird über die Figuren-Opposition Hiob/Freunde realisiert, die zweite über die Opposition Hiob/JHWH. Hiob muss zunächst das Gottesbild der Freunde, das auch sein eigenes war, verabschieden. Damit aber verliert er endgültig jeden Halt in seiner Welt – zu dem anderen, „wahren“ Gott kann er aus eigener Kraft nicht finden. Daher ist erst die Opposition Hiob vs. JHWH ausschlaggebend für die Problemlösung des Dialogs. JHWH antwortet und gibt Hiob neuen Halt (also: Trost), denn er zeigt ihm eine andere Welt, eine Weltordnung völlig verschieden von der, die das Dogma vom TunErgehen-Zusammenhang postulierte. Er weist gleichzeitig Fragen und Forderungen nach einem „Recht“ Hiobs zurück; seine Weltordnung erschließt sich nicht in juridischen Kategorien. Die JHWH-Reden enthalten damit den alternativen Problemlösungsvorschlag der Hiobdichtung. Weil es Hiobs Geschichte ist, um die es geht, Hiobs Problem, das gelöst werden muss, damit er Trost finden kann, deshalb entscheidet am Ende sein Verhalten über die vorgeschlagenen Problemlösungen (P (L1ļ L2) → EH (L2)). Er nimmt das neue Gottesbild an und ist „wirklich getröstet“ (Maag 119). Damit erst ist das narrative Urteil des Dialogs gefällt: Der Problemlösungsvorschlag (die „Weltbeschreibung“) der Freunde wurde abgewiesen (bekräftigt im Urteilsspruch Hi 42,7-9), die Ordnungsaussagen der Gottesrede(n) als Lösung bestätigt. Die „Lehre“ des Dialogs wäre demnach die: JHWHs Schöpfung ist keine nach Menschenmaß, ihre Ordnung übersteigt menschliche Erkenntnis. Juristische und weisheitliche Kategorien sind für Gott und seine Welt unangemessen – aber JHWH antwortet dem Menschen. Welche Rolle spielt nun aber im Dialog die Restitution Hiobs als narrative Bewertung seiner Entscheidung – immerhin ein zentrales Element der Problemlösung bzw. –verhandlung in Legende und Novelle? In dem Maße, in welchem nicht mehr das individuelle Verhalten Hiobs auf dem Prüfstand steht, tritt offenbar die Bedeutung der Restitution für die Problemverhandlung in den Hintergrund. Gleichwohl ist sie inhaltlich unverzichtbar: als Bestätigung dafür, dass, wer sich an JHWH wendet, auf seine Gnade hoffen darf (auch wenn er keinen Rechtsanspruch darauf hat), als traditioneller Bestandteil der Zuwendung JHWHs, die von seiner Antwort
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nicht wegzudenken ist40, und nicht zuletzt als wichtiger Bestandteil des überlieferten Hiobstoffes. Und als Wieder-gut-machung löst sie das Problem über Hiobs Tröstung hinaus: Am Ende, mit Blick auf das Ganze der Geschichte, ist das Leiden nur noch Episode, aufgehoben in der alles umfassenden göttlichen Ordnung. Das Bild JHWHs, der von oben aus dem Wettersturm zu dem von unten zu ihm aufblickenden (oder den Blick niederschlagenden) Hiob spricht, bringt die Gottesperspektive selbst ins Spiel. Dass es im Hiobdialog mehr als nur eine Perspektive gibt, hatte schon die Untersuchung der weisheitlichen, psalmistischen und juridischen Redeformen des Hiobbuches nahegelegt: Die Dichtung wechselt zwischen der Perspektive des leidenden Subjekts, wie sie Hiobs Klage einnimmt, der streng weisheitlichen Perspektive der Freunde und der diese beiden gleichermaßen transzendierenden Perspektive des Gottes. Diese verschiedenen Perspektiven vermittelt der Text durch das narrative Schema des RECHTSSTREITES. Auch wenn die Welt- und Gotteserkenntnis in juridischen Kategorien zurückgewiesen wird, strukturiert doch das R ECHTSSTREIT-Schema metaphorisch die Verhandlung. Im Namen des Dogmas klagen die Freunde Hiob an, sich schuldig gemacht zu haben. Hiob aber wird vom Angeklagten zum Ankläger, die Freunde zu Advokaten des falschen Gottesbildes, in dessen Namen sie Hiob für schuldig halten müssen. Das abschließende Urteil JHWHs macht deutlich: Die Richterrolle steht nicht der Weisheit zu, sondern nur Gott allein. Dass es am Ende von Hiob selbst abhängt, ob er dieses Urteil annimmt, transzendiert wiederum noch selbst das Schema des RECHTSSTREITS. Die Wirklichkeit JHWHs und sein (wechselseitiges) Verhältnis zum Menschen kann kein Schema erfassen. Die Problemverhandlung der Dialogdichtung enthält zwei narrative Urteile, die nebeneinander stehen und sich ergänzen. JHWH entscheidet den eingebetteten Redestreit, die Argumentation. Hiobs Verhalten entscheidet über die Alternativen der äußeren Geschichte, der Tröstung. Hiob entscheidet über Erfolg oder Misserfolg und damit über die Angemessenheit des Gottesbildes, das durch JHWHs Erscheinen vermittelt wurde. Das erste Urteil ist eindeutig und unmissverständlich. Das zweite narrative Urteil ist in weit höherem Maße interpretationsabhängig: Ist Hiob getröstet oder von JHWH niedergeschmettert? Schweigt er aus Einsicht in Gottes Größe oder aus Einsicht in die eigene Schwäche? Unterwirft er sich nur, ––––––––––––– 40 „Gott hat Hiob geantwortet. Darin ist die Wendung seines Geschickes schon beschlossen, damit hat sie schon angefangen“ (Westermann 127).
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oder bekennt er sich auch schuldig? Ist der Inhalt der Worte JHWHs ausschlaggebend für ihn oder die „erfahrene Präsenz“ des sich ihm zuwendenden Gottes (Maag 121)? Rezensionen und Redaktionen, die die Problemverhandlung in Auseinandersetzung mit dem Text der Hiobdichtung (und der Erzählung) weiterführen, werden bevorzugt hier ansetzen, an den Urteilen, die über die Problemlösung des Textes entscheiden. Das Buch Hiob, wie es heute vorliegt, legt davon Zeugnis ab. 4. Verhandlungen: Kontroverse in Geschichten Der heutige Text des Hiobbuches spiegelt eine „Kontroverse in Geschichten“ wider, und das in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird eine überlieferte narrative Konstellation in späteren Texten aufgenommen und modifiziert, um je unterschiedlichen Problemstellungen Raum zu geben. Zum anderen werden die Erzählstrukturen vorgefundener Texte selbst verändert – „rezensiert“ – um die Problemlösung des Textes den eigenen Vorstellungen anzupassen. Beides ist aufschlussreich für unser Thema, die Bedingungen und Mittel narrativer Problemverhandlung. a) Angriffspunkte Die überlieferte Hioblegende behandelte das Problem der „Bewährung im Leide“ und der Notwendigkeit des Festhaltens an Gott auch in Zeiten der Anfechtung. Im Mittelpunkt stehen Schicksal und Verhalten des Dulders Hiobs. Die „Hiobnovelle“ übernimmt von der Legende insbesondere die beiden Schicksalswechsel Hiobs und seine Bewährung, aber sie erschließt durch die Einführung des Satans in die Figurenkonstellation eine neue Problemdimension: Jetzt stehen das gültige Gottesverständnis selbst, die Souveränität JHWHs gegenüber dem Ganzen der Schöpfung und die richtige Haltung gegenüber einer zweifellos attraktiven dualistischen Welterklärung angesichts des „Bösen“ zur Debatte, und Hiobs Bewährung wird zum eigentlich problementscheidenden Element. Auch die Dialogdichtung verschärft ihrerseits die Problemkonstellation des „leidenden Gerechten“, wie sie die Legende eröffnet hatte, in Richtung auf das Gottesverständnis. Statt des Satans und damit des drohenden Dualismus ist es jetzt die Weisheitstheologie der Freunde, die „problematisiert“ wird. Die angemaßte „Draufsicht“ der Weisheit kollidiert mit der Subjektperspektive des Leidenden, der – mittendrin und ins Geschehen verstrickt – mit ignoranter
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Objektivität nichts anfangen kann. Der frühere fromme Dulder Hiob zeigt Verzweiflung und zunehmend sogar rebellische Züge. Die Problemverhandlung des Dialogs richtet sich gegen die weisheitliche Doktrin des Tun-Ergehen-Zusammenhangs und ihre Funktionalisierung JHWHs als Garant eines berechenbaren Schicksals. Letzte Konsequenz des im Dialog vorgeführten Scheiterns weisheitlicher oder juridischer Kategorien aber wäre die Zurückweisung jedes Versuchs, JHWH begrifflich verfügbar zu machen. JHWH ist Herr des Guten und Bösen, des Gerichts und der Gnade, des Rationalen, Irrationalen und Überrationalen – Herr der ganzen Schöpfung, die menschliche Maßstäbe – und damit gleichermaßen die Perspektiven des Subjekts und der Weisheit – übersteigt. Die Endredaktion, die Hioberzählung und Hiobdichtung zur heutigen Textgestalt zusammengeführt hat, war, so Maag, vor allem an der Dichtung interessiert; die „Satansfrage“ schien zu dieser Zeit offenbar weniger von Belang als die „Krise der Weisheit“. Auf die Hiobdichtung, deren theologische Kernaussage der offiziellen Doktrin so vehement widersprach, konzentrierten sich aber auch die Entschärfungs- und Umdeutungsversuche anderer Autoren. „Als Kampfansage hat das Buch auf seine Gegner kaum lange warten müssen.“ (Maag 194) Doch die Hiobdichtung – dieser „literarische Aufschrei“ (Maag 41) gegen eine theologische Doktrin – ließ sich nicht einfach aus der Welt schaffen. (Nicht einmal die rebellischen Verse Hi 42,7-9, die doch aus dem Munde JHWHs selber die Falschheit der offiziellen Theologie behaupten, sind der Endredaktion verloren gegangen.) Um die Dichtung zu bekämpfen, musste man versuchen, sie umzuschreiben und insbesondere ihre Antworten so zu verändern, dass die anstößigen Aussagen entschärft oder in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Es galt vor allem die Freunde als Sprecher der offiziellen Theologie nachträglich ins Recht zu setzen. Wo konnten solche Eingriffe ansetzen? Die Einzelanalyse der Problemverhandlungen in Legende, Novelle und Dichtung hat in der Erzählstruktur der Werke die Elemente identifiziert, welche jeweils Problemlösungsvorschläge liefern bzw. zwischen alternativen Problemlösungsmöglichkeiten eine Entscheidung fällen. Prinzipiell stellen auch neue Problemlösungsvorschläge eine Möglichkeit nachträglicher Weiterführung dar (vgl. die Elihu-Reden). Hauptziel einer Wiederaufnahme der Verhandlung aber war die Revision des Urteils, die dort ansetzen konnte, wo die Bewertung von Lösungsvorschlägen erfolgt. In der Legende war das der zweite Schicksalswechsel, die Restitution, in der Novelle war die Bewährung Hiobs entscheidend. In der Hiobdichtung spricht JHWH selbst das Urteil über die weisheitliche Theologie, während
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Hiobs Unterwerfung den Erfolg der Tröstung und die Wirksamkeit des neuen Gottesbildes anzeigt. Die Hiobdichtung enthielt wahrscheinlich alle diese potenziell entscheidenden narrativen Elemente. Die Bewährung Hiobs, falls in der Prosaeinleitung erzählt, wird zu einem Teil der Problemvoraussetzung. Die Restitution wiederum, jetzt in der Ausleitung der Dichtung, dürfte dem Leser aus der Tradition bekannt und zudem als fester Bestandteil der Gottesantwort verstanden worden sein. Die Restitution ist daher zwar unverzichtbar, aber nicht mehr problementscheidend41. Ihre wesentlichen Antworten gab die Dichtung demnach tatsächlich in der Gottesantwort an Hiob Hi 38f. (L2), dem Urteil JHWHs gegen die Freunde im eingebetteten Redestreit in Hi 42,7-9 (P' (L0ļ L1) → EJ (-L1)) und der Unterwerfung bzw. Tröstung Hiobs (EH (L2)), die dieser ursprünglich vielleicht nicht artikuliert, sondern als durch sein Verstummen kundgetan hatte (Maag 118). b) Rezensionen In der Tat sind genau das auch die wesentlichen Angriffspunkte für die „Rezensionen“ der Dichtung. Problementscheidend für die weisheitliche Theologie ist vor allem die Theophanie, denn sie enthält das Urteil Gottes (EJ), und das fällt eindeutig aus: „Mein Zorn ist entbrannt über dich und deine beiden Freunde; denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob.“ (Hi 42,7) Wichtigster Eingriff jeder Rezension war daher die „Tilgung der eindeutigen und alles entscheidenden Stellungnahme Jahwäs zugunsten Hiobs und gegen seine Freunde“ (Maag 194). Alle von Maag identifizierten Rezensionen (vgl. oben ab S. 117) nehmen Eingriffe in die Gottesreden und mindestens die Entfernung des Urteilsspruches Hi 42,7-9 vor 42. Der ursprüngliche Lösungsvorschlag der Gottesreden L2 wird getilgt, die Funktion der Reden verändert. Alle Rezensionen versuchen zudem, gegen die Intention der Dichtung Hiobs Unrecht und daraus folgend seine Umkehr zu L1 darzustellen (EH (L1)). Die Unterschiede zwischen den Rezensionen liegen vor allem darin, wie diese Umkehr plausibel gemacht werden soll. Die einfachste Möglichkeit der Umdeutung war die, dass Hiob im Redestreit mit den Freunden unterliegt – also von ihnen und nicht von ––––––––––––– 41 Daher vielleicht Preuß’ Abwertung des Hiobschlusses als Rückschritt (s. oben S. 128). 42 Eine offene Frage bleibt, warum Hi 42,7-9 im heutigen Text wieder erscheinen. Maag meint, die Bewahrung dieser anstößigen Verse sei dem konservatorischem Eifer letzter Abschreiber zu verdanken: „Geschriebenes durfte nun einmal nicht untergehen!“ (217).
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JHWH überzeugt und getröstet wird – indem er (v. a. im 3. Redegang, in Hi 26,5-14 und dem sekundären Weisheitslied Hi 28) die Meinung der Freunde übernimmt („Rezension A“). Als ein Geläuterter, wieder zur „weisheitlichen“ Vernunft Gekommener konnte Hiob dann von JHWH wiederhergestellt werden, eine Gottesrede erübrigte sich (Maag 196). Die weisheitliche Perspektive wird nicht transzendiert, weil sie bereits die „richtige“ ist. Eine solche Problemlösung ähnelt in ihrer Struktur wieder dem Schema der weisheitlichen Lehrerzählung, die – wie in der Hioblegende – richtiges Verhalten exemplarisch belohnt und bestätigt. Das Problem wird nicht mehr durch die Entscheidung des Subjekts (E), sondern deren Bewertung entsprechend der geltenden Ordnung (B) gelöst: P (L0ļ L1) → EH (L1) → BJ (+EH). Die harten Gottesworte in der zweiten Rede JHWHs Hi 40f. zeigen eine andere, vergleichbare Möglichkeit (Maags „Rezension B“). Diese Rezension könnte solchen Theologen notwendig erschienen sein, die ein einfaches Umschwenken Hiobs als nicht hinreichend motiviert angesehen haben mochten. Schließlich läuft die Entwicklung in den Reden Hiobs bis zum Ende des zweiten Redeganges doch sehr stringent auf Hiobs direkte Konfrontation mit JHWH hinaus und wird durch die Freundesreden, deren Argumente sich im Verlauf des Streites kaum ändern, nicht glaubwürdig aufgehalten. Eine Rezension, die sich entschließt, Protest und Anklagen Hiobs beizubehalten, kann dem herausgeforderten Gott selbst die Antwort auf Hiobs Frevel – Hiobs Lösungsvariante (L0) – überlassen: JHWH selbst kommt der Weisheit der Freunde (L1) zu Hilfe, hebt die Stasis der Lösungsversuche auf (die erste Entscheidung EJ) und erzwingt damit Hiobs Unterwerfung als Umkehr von L0 zu L1 (die zweite Entscheidung EH). Das würde durch ein Ersetzen von Hi 38f. (der ersten, gütigen Gottesrede) durch die Machtdemonstration in Hi 40f. erreicht. JHWH antwortet dann nicht mehr auf Hiobs Klage, sondern schmettert ihn „aus dem Wettersturm“ mit Donnerstimme nieder (EJ (-L0)). Daraufhin bereut Hiob und unterwirft sich in Hi 42,1-6 (EH (L1)). Diese Umkehr des Sünders gibt, dem Tröstungsschema entsprechend, Raum für neue Gnade: Es folgt auch hier die Restitution als Bestätigung von Hiobs Entscheidung (BJ (+EH (L1))). Indem die in der Dialogdichtung wichtigste narrative Entscheidung, Hiobs Verhalten in Hi 42,1-6), auf einen modifizierten Inhalt bezogen wird, kann die Problemlösung der Dichtung entsprechend korrigiert werden. Die Struktur der Problemverhandlung wird dadurch noch etwas komplizierter: Problem – Hiob Zurückweisung durch JHWH – Hiobs Umkehr – JHWHs positive Bewertung der Umkehr, oder: P (L0ļ L1)
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→ EJ (-L0) → EH (L1) → BJ (+EH (L1)). Auch hier ist jetzt nicht mehr die subjektive Entscheidung E, sondern die objektive Bewertung B ausschlaggebend, wie es die weisheitliche Erzählung praktiziert. Eine dritte Möglichkeit der Umwertung zeigt „Rezension C“. Hier wird Hiob weder durch die Argumente der drei Freunde zur Umkehr bewegt noch durch die Machtdemonstration JHWHs. Statt dessen soll nach dem Versagen der Freunde ein vierter Redner (Elihu) die alles entscheidenden Argumente und damit einen neuen Lösungsvorschlag vorbringen: Da hörten die drei Männer auf, Hiob zu antworten, weil er sich für gerecht hielt. Aber Elihu, der Sohn Barachels des Busiters, aus dem Geschlecht Ram, ward zornig. Er ward zornig über Hiob, weil er sich selber für gerechter hielt als Gott. Auch war er zornig über seine drei Freunde, weil sie keine Antwort fanden und doch Hiob verdammten. (Hi 32,1-3)
Elihu soll es gelingen, Hiob zum Redeverzicht zu bewegen. Damit braucht es auch hier keine Gottesrede mehr; Elihu bliebe Sieger im Redestreit, und seine Argumente trösten Hiob. Dieser kehrt um und findet neues Glück (P (L0ļ L1, L2) → EH (L2) → BJ (+EH))43. Diese Rezension (die Maag als Korrektur der Rezension B ansieht) nutzt alle genannten Möglichkeiten narrativer Problemverhandlung: Sie eliminiert nicht nur wie A und B die Urteile, die durch Präsenz und/oder Schiedsspruch JHWHs gefällt werden, sondern nimmt zudem auch Einfluss auf die Figurenkonstellation, und sie wertet die Restitution (wie A und B sowie die Hioblegende) zur Belohnung und Bestätigung von Hiobs Unterwerfung und Umkehr auf, gibt dem zweiten Schicksalswechsel also seine Funktion als ausschlaggebendes Urteil BJ zurück. c) Widerspruch und Machtspruch Andere Forscher gehen sogar soweit, alle Gottesreden des heutigen Textes als Ergebnis nachträglich korrigierender Eingriffe anzusehen: Für sie hat auch die Vermutung, Gott habe dem Hiob mit einer wortlosen Theophanie geantwortet und ihm damit Genüge getan, „viel für sich“ (Hesse 1992,12). Das wäre allerdings, zumindest nach Hesse, auch „für Hiob der Erweis, daß Gott seine Schuldlosigkeit anerkennt und damit ein eigenes schuldhaftes Handeln eingesteht ... Diesen Ausgang des Rechtsstreits hat man ––––––––––––– 43 Man könnte Elihus Reden, da sie nichts grundlegend Neues bieten (s. u. C.II.2), auch als stasisbrechende Verstärkung (Helfer H) von L1 auffassen: P (L0ļ L1) → HE (L1) → EH (L1) → BJ (+EH)).
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später unkenntlich gemacht und durch einen anderen ersetzt.“ (Hesse 1992, 175) Ein solches implizites Eingeständnis einer Schuld Gottes wäre sicherlich für die Synagoge Grund genug gewesen, die Aussage der Dichtung entsprechend zu korrigieren. Denn wenn Hiob unschuldig wäre, müsste JHWH (als Garant des Tun-Ergehen-Zusammenhangs) schuldig sein: „Willst du mein Urteil zunichte machen und mich schuldig sprechen, daß du recht behältst?“ (Hi 40,8) Ob die Gottesrede nun hinzugefügt oder modifiziert wurde, die Machtdemonstration einer „Gottesrede, die den Hiob niederdonnert, statt ihm Gottes Gerechtigkeit und Güte auch für seinen Fall, für sein Problem zu demonstrieren“ (Hesse 1992, 19) erkauft die Umdeutung der Dichterintention mit dem Sieg gerade jener Gottesvorstellung, gegen die Hiob im Streit mit den Freunden aufbegehrt hatte: mit der Vorstellung eines Gottes, der mit der Frage nach der Gerechtigkeit des Schicksals nur mit Gewalt fertig wird. Ein solches ver-urteilendes „Niederdonnern“, das inhaltlich auf Hiobs Anfragen gar nicht eingeht, argumentiert nicht, es urteilt narrativ. Die Erzählung vermag, was der Argumentation verwehrt bleibt: Die abgeschlossene Geschichte transzendiert die widerstreitenden Perspektiven, die den Konflikt erzeugen, und sie setzt ihre Lösung als ein Urteil einer höheren Instanz. In der Dialogdichtung scheitern mit der argumentativen Problemverhandlung auch die begrifflichen Mittel der „Weisheit“ an der Frage, wie sich die Erfahrung des unverdienten Leides mit dem Postulat der gerecht geordneten Welt und des gerechten Gottes vermitteln lässt. Auch die nachträgliche Wiederaufnahme der Argumentation durch Elihu kann das Hiobproblem nicht lösen. Weisheitliches Argumentieren scheint grundsätzlich untauglich, der Leidensperspektive Hiobs gerecht zu werden. JHWH selbst ist es, der am Ende Hiob tröstet. Hiobs Zweifel werden in den Gottesreden Hi 38f. gerade nicht durch Argumente überwunden, sondern vor allem durch die (erzählte) Präsenz JHWHs selbst. JHWH fordert ein Vertrauen ein, das sich nicht auf argumentierbares Wissen, sondern nur auf die lebendige Gotteserfahrung stützen kann. Das Hiobproblem war durch Erfahrungen erzeugt worden, seine „Lösung“ ebenfalls44. Eine solche Lösung ist nicht anders als narrativ darstellbar, und sie reproduziert ––––––––––––– 44 „Nicht aus dem Hörensagen der theologischen oder kirchlichen Tradition, sondern erst in der lebendigen Begegnung kann der Mensch Gott erkennen.“ (Fohrer 558) „Ein mit allen Fasern seines Herzens gottergebener Mensch erlebt, daß das Elend sein kritisches Denken auf einen Weg drängt, auf dem es keinen Halt vor dem Versinken im Nihilismus gibt – es sei denn die Begegnung des lebendigen Gottes, die ihm zuteil wird (Kap. 38f.) und durch die sein verstörter Sinn zurechtkommt“ (Maag 110).
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das Problem für jeden, der sie nicht (mehr) nachvollziehen kann – die Kontroverse wird weitergehen. Hiob macht seine tröstliche Erfahrung exemplarisch. Die Gültigkeit der Lösung ist damit abhängig von der Bereitschaft der Rezipienten, diese nur erzählte Erfahrung als eigene Lösung anzunehmen. Sie beruht damit nicht zuletzt auf der Autorität des Textes. Das Hiobbuch hatte in der Tat über Jahrtausende hinweg eine ungeheure Autorität. Die jüdischen Gelehrten aber kannten auch seine Gefahr: Vor dem 40sten Lebensjahr ist dem orthodoxen Gläubigen der Umgang mit dem Buch verboten. 5. Zusammenfassung: Problemverhandlungen im Hiobbuch Der heutige Text des Buches Hiob, so können wir resümieren, ist Ausdruck eines Meinungsstreits in Geschichten. Die zusammenhängende Darstellung zeigt, dass erst in der Dialogdichtung die für das Verständnis des Buches relevante Problemkonstellation virulent wird, aber die narrativen Mittel für ihre Verhandlung auch schon in den früheren Texten erscheinen. Die Verfasser der verschiedenen Erzählversionen versuchen, mit ihrer je neuen narrativen Lösung Urteile anzubieten und vorhandene Urteile zu revidieren. JHWHs Schiedsspruch gegen die Freunde, der Hiob Recht gibt, steht neben der den Hiob niederschmetternden Rede „aus dem Wettersturm“. Hiobs getröstetes Schweigen steht neben seiner Unterwerfung oder seinem Schuldbekenntnis. Zu diesen widersprüchlichen narrativen Urteilen tritt im Ergebnis der Endredaktion ein Riss durch die Hauptfigur selbst: Der Dulder Hiob aus Legende und Novelle steht neben dem Rebellen Hiob aus der Dialogdichtung. Der manifeste Widerspruch von Zurechtweisung, Unterwerfung und Schuldbekenntnis Hiobs einerseits und dem Schiedsspruch JHWHs zugunsten Hiobs und gegen die Freunde andererseits muss von jeder ganzheitlichen Deutung des Buches ausgehalten werden. Beide Seiten können je nach Interessenlage der Interpreten auch gegeneinander ausgespielt werden. Die Spannung der heterogenen Textschichten des Buches prägt maßgeblich auch seine neuzeitliche Rezeption, die als Fortsetzung jener Kontroverse in veränderten Kontexten, mit modifizierten oder gänzlich neuen Problemstellungen gelesen werden kann. Die „Kontroverse in Geschichten“, die den Hiobtext hervorgebracht hat, bietet seinen Rezipienten nicht nur gegensätzliche inhaltliche Anknüpfungspunkte. Die bewegte Entstehungsgeschichte des Buches führte sukzessive auch zu einer zunehmenden Anreicherung mit narrativen Mit-
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teln der Problemverhandlung und zu komplexeren narrativen Problemmodellen. Schon die Legende arbeitete mit traditionellen Grundelementen narrativen Bedeutens: Als Geschichte von Bewährung und Belohnung konfiguriert sie mythos und ethos als narrative Bewertung von Verhalten und Entscheidungen. Entscheidungen realisieren Lösungsalternativen, ihre erzählten Konsequenzen bewerten diese. Entscheidung und Bewertung situieren Subjekte in Ordnungen. Eine Bewertung wie die Bestätigung von Hiobs Verhalten durch einen Schicksalswechsel von Unglück zu Glück verweist auf die moralische Ordnung der Welt, die Pflicht des „Gerechten“, auch in Zeiten der Anfechtung an JHWH festzuhalten. Die Hiobnovelle fügt als weiteres zentrales Element narrativen Bedeutens die Figurenkonstellation hinzu. Die Figuren der Erzählung verkörpern unterschiedliche (Lösungs-) Alternativen: Hiob und die Versucherfigur(en) das Festhalten an oder den Abfall von Gott, JHWH und der Satan sogar gegensätzliche Systeme der Welterklärung, verschiedene Weltbeschreibungen: Monotheismus oder Dualismus. Damit leistet die Novelle eine explizite Problemverhandlung, in der (mindestens) zwei entgegengesetzte goal paths oder „narrative Programme“ (vgl. unten ab S. 242) zur Disposition stehen. Die figuralen Oppositionen verkörpern durch ihren Bezug auf „Hiobs Problem“ (sein Unglück, den ersten Schicksalswechsel) alternative „Problemlösungsvorschläge“. Mittels Entscheidungen und/oder Bewertungen fällen Erzählungen narrative Urteile über diese Alternativen. In der Hioblegende gab die Bewertung (Hiobs Schicksalswechsel) den Ausschlag. In der Novelle fällt Hiobs Entscheidung das zentrale Urteil. Hiobs Verhalten, seine Wahl, entscheidet nicht nur, welche Verhaltensalternativen aktualisiert werden (die Figurenopposition Hiob vs. Versucher), sondern auch den Ausgang des himmlischen Konflikts in der äußeren Rahmenhandlung (JHWH vs. Satan), auf den die innere Problemverhandlung „allegorisch“ bezogen wird. Hiobs Bewährung integriert den Satan, das „Zweckwidrige“, in die göttliche Ordnung. Der Konflikt zwischen JHWH und Satan kann nicht im Himmel allein, ohne Hiob auf der Erde, entschieden werden. Schon das kann als Unentscheidbarkeit, als Stasis interpretiert werden: Die gegensätzlichen Kräfte (narrativen Programme) blockieren sich gegenseitig. Gewiss aber trifft diese Interpretation auf das Verhältnis Hiob vs. Freunde in den Redegängen des Dialogs zu (vgl. die detaillierte Analyse der Redegänge unten ab S. 313). Die Dialogdichtung nutzt die bereits genannten Mittel narrativer Problemlösung und fügt weitere hinzu. Wesentlich ist die neue Figurenkonstellation: Die Opposition Hiob/Freunde aktualisiert den Gegensatz
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von Subjekterfahrung und Dogma, die Opposition Freunde/JHWH die Alternative vom „gerechten“ Gott gegenüber dem souveränen deus absconditus. Während diese figuralen Oppositionen in „Problemlösungsvorschläge“ übersetzt werden können, über die der Verlauf der Erzählung seine Urteile fällt, bringt die Opposition Hiob/JHWH schließlich die Widersprüchlichkeit der Beziehung Gott – gläubiger Mensch zur Sprache, die sich als nur scheinbare Opposition, ein scheinbares Gegeneinander herausstellen soll. In ihrer Problemverhandlung stellt die Dialogdichtung außerdem mehrere narrative Urteile – Entscheidungen und Bewertungen – nebeneinander, die auch wichtigster Anknüpfungspunkt späterer Rezensionen sind: Das bedeutendste ist die Entscheidung Hiobs, sein Verstummen angesichts Gottes. Daneben aber stehen zwei Bewertungen: JHWHs Urteil im Redestreit (eigentlich eine Figurenentscheidung, aber eben eine der höchsten Instanz) und die Restitution, Hiobs Wiederherstellung. Die Figurenkonstellation der Dialogdichtung entfaltet nicht nur Lösungsalternativen, sondern gegensätzliche Perspektiven, und sie nutzt narrative Schemata, um diese Perspektiven zu vermitteln. Hiobs eindringliche Klage nimmt ausschließlich die Subjektperspektive ein, die Perspektive des Betroffenen, den Blick von innen. Seine Freunde setzen dem einen angemaßten Blick von außen entgegen, die „weisheitliche“ Perspektive des nicht unmittelbar betroffenen Beobachters. Beide Perspektiven erweisen sich in Bezug auf das verhandelte Problem als nicht vermittelbar, ihre direkte Konfrontation im Redestreit scheitert. Beide scheinen, aus ihrer Sicht, Recht zu haben; für eine Entscheidung fehlt ihnen jede Grundlage (Stasis). Die Entscheidung fällt erst im Urteil der höchsten Instanz, die nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich von außen, von oben schaut und richtet. Das wird ermöglicht durch das narrative Schema: Die Schemata der „Tröstung“ und vor allem des „Rechtsstreites“ liefern hier die strukturellen Voraussetzungen für die Darstellung der Entscheidungsfindung im narrativen Modell. Das RECHTSSTREIT-Schema vermittelt auch die Perspektiven des Innen und Außen und nimmt damit die Leistung der Erzählung, der abgeschlossenen narrativen Konfiguration selber, vorweg. Denn auch die abgeschlossene Geschichte entscheidet zwischen narrativen Programmen und setzt ihre Lösung als Urteil einer höheren Instanz, als narrative Bewertung. Sie trifft damit Aussagen über die „Welt des Textes“, über eine äußere Ordnung, aber sie trifft diese unter Umständen, in der Sprache des Rechts, als „Machtspruch“ – „aus dem Wettersturm“. Nicht zuletzt deshalb lassen sich die verschiedenen narrativen Antworten, die infolge der Endredaktion im heutigen Text des Buches nebenein-
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ander stehen, kaum noch begrifflich vermitteln, genau so wenig wie sich Hiobs unschuldiges Leid mit dem Postulat der gerecht geordneten Welt vermitteln lässt. Hiob erscheint einmal als der Sieger, in anderen Versionen als Verlierer des Redestreites. Beide Lösungen stehen unvermittelbar nebeneinander. Die Leser des Buches– die letzte Instanz – müssen ihr eigenes Urteil fällen. 6. „Das 43. Kapitel des Hiobbuches“ 1945 veröffentlichte der 70jährige Robert Frost ein dramatisches Gedicht mit dem Titel A Masque of Reason45 – im Text als „Chapter Forty-three of Job“ bezeichnet (490). Die Fragen Hiobs sind für Frost noch nicht endgültig beantwortet, der Fall wird wiederaufgenommen – allerdings in einer Weise alles andere als philosophisch-ernsthaft disputierend. Hiob und seiner Frau fällt in der Wüste eine Gestalt auf, die sich zunächst in einem brennenden „Dornbusch“ (incense tree, the Burning Bush) verfangen hat und sich bei näherem Hinsehen als „Gott“ herausstellt, wie William Blake ihn illustriert hat (473f.). Gott, der einen tragbaren Sperrholzthron mit sich führt, wendet sich an Hiob: Er will sich dafür entschuldigen, was er ihm einst angetan hatte, und sich bei ihm bedanken, weil Hiob ihn „befreit“, nämlich ihm geholfen habe klarzustellen, dass es so etwas wie einen gerechten Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht gibt: I’ve had you on my mind a thousand years To thank you someday for the way you helped me Establish once for all the principle There’s no connection man can reason out Between his just deserts and what he gets. Virtue may fail and wickedness succeed… I had to prosper good and punish evil You changed all that. You set me free to reign. (475f.)
––––––––––––– 45 Robert Frost, A Masque of Reason (1979, orig. 1945), im Folgenden zitiert mit einfachen Seitenzahlen. Zur weitgehend vergessenen Gattung der Masques (Maskenspiele), meist höfischer Aufführungen traditioneller Stoffe im England des 17. Jahrhunderts, vgl. Georg Langenhorst, Hiob unser Zeitgenosse (1994), 248. Langenhorst erwähnt das musikalische Maskenspiel Job. A Masque for Dancing, founded on Blake’s Illustrations of the Book of Job des Komponisten Ralph Vaughn Williams (1934), das Frost wohl nicht kannte. Frost entfernt sich von den Vorgaben der Gattung und nimmt „eher die Züge der ‚anti-masque‘ auf, jener Form spöttischer Unterhaltung also, die in den Maskenspielen als eine auflockernde Gegenfolie zur Haupthandlung diente“ (ebd.).
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Ziel dieser erfolgreichen Demonstration sei es gewesen zu zeigen, dass der Mensch die „Unterwerfung unter die Unvernunft“ zu lernen habe: “the discipline man needed most / Was to learn his submission to unreason.” (481) Hiob und vor allem auch seine Frau hören aber nicht auf, lästige Warum-Fragen zu stellen: Warum musste Hiob damals so sehr leiden? Gibt es überhaupt irgendeinen Sinn für die leidvolle Existenz des Menschen? –Gott hat darauf keine guten Antworten, insbesondere nicht auf die Frage nach Hiobs Qualen: “I’m going to tell Job why I tortured him ... / I was just showing off to the devil, Job / As is set forth in Chapters One and Two.” (484f.) Gott war vom Versucher verführt, auch er war nur „menschlich“ (485). Und auch der Satan, den der enttäuschte Hiob jetzt herbeibittet, hilft ihm nicht weiter. Keine Antworten, keine Erleuchtungen, kein befriedigender Vernunftschluss stehen am Schluss – nur ein Gruppenfoto vom brennenden Dornbusch, der als Weihnachtsbaum figuriert. “Submission to unreason” – das Sich-Fügen in die Unerkennbarkeit oder Nichtexistenz des Gesetzes, der Verzicht auf Antworten scheint das letzte Wort zu bleiben. Aber Gottes Thron ist auf dem Glauben an die Vernunft gebaut: In dem Moment, da Gott sich weigert, Hiobs Frau auf ihre Frage nach fehlender Gerechtigkeit zu antworten – “That’s the way it is” (477) – bricht sein Sperrholzthron zusammen. A Masque of Reason, das „dreiundvierzigste Kapitel des Hiobbuches“, gibt keine Antwort – es verweist diese bezeichnenderweise an das zwei Jahre später erschienene A Masque of Mercy46. Es steht damit stellvertretend für eine Eigenheit vieler moderner Hiobtexte: Diese Texte, späte Resultate einer jahrtausendelangen Auseinandersetzung mit dem Hiobbuch, verzichten darauf, die Widersprüche und Probleme des Buches mit „Machtsprüchen“ lösen zu wollen. Am Anfang der nachbiblischen Hiobrezeption allerdings standen andere Impulse. Durch die Kanonisierung des Hiobbuches in der Hebräischen Bibel war der Text des heutigen Hiobbuches, die Endgestalt der dargestellten vielfältigen Rezensions- und Redaktionsvorgänge, unantastbar geworden – niemand konnte mehr „in den Text hineinschreiben“ (Oberhänsli-Widmer 336). Die Kontroverse in Geschichten setzte sich dennoch fort: in unzähligen nachbiblischen Hiobtexten von antiken Texten des Frühjudentums bis hin zu literarischen, philosophischen und natürlich theologischen Texten unserer Tage. Diese „nachbiblische Rezeption“ ––––––––––––– 46 Vgl. W. R. Irwin, The Unity of Frost’s Masques, in: American Literature 32 (1960); Ely Stock, “A Masque of Reason and J. B.” (1960), 386.
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unterscheidet sich, wie Oberhänsli-Widmer mit Recht bemerkt, „wohl nicht grundlegend von der inneralttestamentlichen Entwicklungsgeschichte des Hiobbuches, das ja ebenso unterschiedlichste Teile enthält, die sich wie Lektüre und Gegenlektüre zueinander verhalten“ (ebd)47. Die Hiobrezeption seit der Antike ist so umfangreich, dass ich ihr hier keinesfalls auch nur ansatzweise gerecht werden könnte (allein für das 20. Jahrhundert sind mehrere hundert Hiobtexte belegt) – ebenso wenig wie den einzelnen Werken, die ich im Folgenden als Beispiel für diese fortgesetzte Kontroverse in Geschichten kurz erwähnen möchte48. Ich werde mich dabei vor allem auf literarische Rezeptionslinien und Texte konzentrieren, auf Texte, die das biblische Original in ihrer Weise nachund weitererzählt haben und sich dabei, wie wir sahen, auf ganz verschiedene, teilweise widersprüchliche inhaltliche Elemente der Vorlage beziehen konnten. Der vielleicht wichtigste dieser Gegensätze in der Vorlage war der zwischen dem Dulder Hiob in der Novelle und dem Rebellen Hiob in der Dichtung. Bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein sollte Hiob der Dulder die Rezeption des Buches absolut dominieren. Einen ersten Höhepunkt der Hiobrezeption, gleichzeitig der Punkt, an dem sich jüdische und christliche Rezeptionslinien trennen, markiert das (wahrscheinlich griechische) Testament Hiobs, geschrieben um die Zeitenwende in der jüdischen Diaspora49. Auch hier ist Hiob der exemplarische Dulder. Hiob selbst erzählt kurz vor seinem Tode seinen Kindern im Rückblick sein Leben; kurz vor Schluss wechselt dann der Ich-Erzähler und berichtet von Hiobs Tod und der Entrückung seiner Seele in den ––––––––––––– 47 Es „spiegeln die historisch-kritischen Entstehungsmodelle [des Hiobbuches] gerade auch Rezeptionsmechanismen, die der nachbiblischen Hiob-Literatur vergleichbar sind: die Negation des Dulders durch den Rebellen, die Ambiguität der Rolle Gottes gegenüber einer uneingeschränkten göttlichen Gerechtigkeit, Verfechtung oder Ablehnung des Tun-Ergehen-Zusammenhanges in Argumentation und Plot – um nur ein paar grobe Umformungen des Stoffes zu erwähnen“ (Oberhänsli-Widmer (Anm. 48), 19). 48 Vgl. dazu Gabrielle Oberhänsli-Widmer, Hiob in jüdischer Antike und Moderne (2003); Georg Langenhorst, Hiob unser Zeitgenosse. Die literarische Hiob-Rezeption im 20. Jahrhundert als theologische Herausforderung (1994); Ulrike Schrader, Die Gestalt Hiobs in der deutschen Literatur seit der frühen Aufklärung (1992); Brita Steinwendtner, Hiobs Klage heute. Die biblische Gestalt in der Literatur des 20. Jahrhunderts (1990); Adelheid Hausen, Hiob in der französischen Literatur (1972); Karl-Heinz Glutsch, Die Gestalt Hiobs in der deutschen Literatur des Mittelalters (1972); Ulf Wielandt, Hiob in der alt- und mittelhochdeutschen Literatur (1970). 49 Berndt Schaller (Hg.), Das Testament Hiobs. Jüdische Schriften aus hellenischrömischer Zeit (1978).
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Himmel. Erste entscheidende Modifikation gegenüber der biblischen Vorlage: Es gibt in diesem Hiobwerk keine Unklarheiten über Gottes Absichten. Hiob, hier Herrscher über ganz Ägypten, erhält von Gott selbst den Auftrag, den Götzendienst des Satans zu beenden und dessen Kultstätte zu zerstören. Die Konsequenzen dieser Tat werden ihm unmissverständlich klargemacht, und ebenso der Lohn für das geduldige Ausharren: Wiedergutmachung und Wiederauferstehung (T. H. Kap. 4). Es gibt keine Wette, der Satan ist alleinige Personifikation des Bösen. „Die Ambiguität im Gottesbild des alttestamentlichen Prologs macht mithin einem absolut berechenbaren Gott Platz, der den Menschen mittels einer Vision vollumfänglich in die Konsequenzen seiner Handlungen einweiht ... Durch diese Veränderungen im Auftakt des Textes ist Gott vom Verdacht jedes arbiträren Handelns entlastet, und alles Böse kommt von Satan.“50 Der Satan, dessen Handlungen gegen Hiob nun ebenfalls motiviert sind, erhält als direkter Gegenspieler Hiobs (interessanterweise in Metaphern des sportlichen Wettkampfes, vgl. T. H. 4,10 und 27,3ff.) wesentlich mehr Handlungsraum: Persönlich zerstört er (allerdings mit göttlicher Erlaubnis) Hiobs Vieh und Knechte und tötet seine Kinder, und verkleidet als Perserkönig verleumdet er Hiob, bis der Mob diesen ausplündert und vertreibt. Auch Krankheit gehört wieder zu Hiobs Unglück: Hiob berichtet, dass sein Leib von Würmern zerfressen war und dass er in seiner Gottergebenheit sogar diese Würmer zu Gehorsam gegenüber ihrem Schöpfer anhielt: Kroch einer heraus, so legte er ihn zurück und wies ihn an, nicht ohne Befehl des Herrn seinen Ort zu wechseln (T. H. 20, 8.9). Eine weitere interessante Modifikation ist die sehr viel größere und vor allem positive Rolle der Frau Hiobs, die hier nicht nur einen Namen hat – sie heißt Sitidos – sondern ihrem unglücklichen Mann auch bis zur Selbstaufopferung beisteht. Zwar erscheint auch im Testament Hiobs eine Aufforderung entsprechend Hi 2,9 („Fluche Gott und stirb!“), doch ist auch das hier (wie ansatzweise auch in der LXX) motiviert: Sitidos ist im selben Maße vom Unglück betroffen wie Hiob. Nach dem Verlust des Vermögens ernährt sie ihren Mann; um Hiob zu versorgen, arbeitet sie erst als Dienstmagd, muss später bei den Brotverkäufern betteln und erfährt den „Höhepunkt an Erniedrigung“, wenn sie vom Satan, der sich als Verkäufer verkleidet hat, für Brot öffentlich geschoren wird. Vom Mob verspottet, schildert sie in einem langen Monolog (der die LXX wörtlich aufnimmt ––––––––––––– 50 Oberhänsli-Widmer 64f. Ich zitiere im Folgenden aus Oberhänsli-Widmer mit einfachen Seitenzahlen.
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und erweitert) ihr Elend und äußert dann – noch dazu als unfreiwilliges Sprachrohr des hinter ihr stehenden Satans – den bekannten Fluch. Nur Hiob kann den Satan hinter Sitidos sehen, sie selbst ist „für die spirituellen Zusammenhänge blind“ (Oberhänsli-Widmer 81), vergleichbar mit Hiobs Weib im biblischen Buch, das „wie die törichten Weiber“ redet. Schließlich siegt Hiob, der Satan gibt sich wie nach einem Zweikampf geschlagen (T. H. 22,2-6). Das erscheint an dieser Stelle überraschend, ist aber in der Berufung Hiobs vorbereitet worden, wo Gott ihm mit passenden Wettkampf-Metaphern den Sieg über den Satan schon angekündigt hatte – der Herr „gibt Kraft seinen Auserwählten“ (T. H. 4,11). Auch die Freunde haben ihren Auftritt im Testament Hiobs. Aufgrund der ganz veränderten Konfliktlage aber geht es im Streit zwischen ihnen und Hiob nicht um Recht oder Schuld. Die Freunde, hier Könige wie früher auch Hiob, thematisieren halb ihn verhöhnend, halb bedauernd seinen Fall, den Verlust seiner früheren Herrlichkeit. Hiob dagegen misst irdischen Reichtümern keinen Wert mehr bei, sein geduldiges „Ausharren steht ganz im Zeichen der eschatologische Erwartung“. OberhänsliWidmer betont die „Zweckorientiertheit der duldenden Haltung Hiobs ..., die darin besteht, den in Kapitel 4 versprochenen Lohn für das Durchhalten im Leiden in einer künftigen Welt einzufordern“ (74). Die Freunde erklären ihn für verrückt, doch sie werden narrativ widerlegt durch die Wiederauferstehung der Kinder Hiobs im Himmel und durch die Intervention Gottes selbst, die Theophanie. Hiob wird rehabilitiert und am Ende in die himmlischen Sphären entrückt. Wie im biblischen Buch erhält er alles Verlorene doppelt zurück – aber das Testament Hiobs gestaltet diese Vorgabe „entsprechend seiner eigenen Ideologie, indem es die doppelte Rehabilitation auf diese und die kommende Welt (52,6-10) überträgt ... Das unbedingte Ausharren des Gläubigen erfährt sowohl im Diesseits als auch im Jenseits seinen gerechten Lohn.“ (84) So behält auch das Testament Hiobs die wesentlichen Elemente der Problemverhandlungen des Hiobbuches bei: die Figurenkonstellation mit Gott und Satan, Hiob, Frau und Freunden sowie die narrativen Urteile des Buches mit Hiobs Standhaftigkeit und der Theophanie, aber mit Ausnahme der Unterwerfung Hiobs unter das Gotteswort, die hier nicht nötig ist. Diese Elemente modifiziert das Testament gemäß der eigenen Aussageintention, und es glättet Widersprüche und Inkohärenzen des Ausgangstextes. Satan entlastet Gott endgültig von der Verantwortung für alles Böse, und Hiob vertritt neue Inhalte, die aber ganz nach dem Muster der Vorlage narrativ bestätigt werden. Entscheidend aber ist, dass das Testament
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Hiobs die Spannung in der Charakterisierung der Hauptfigur, zwischen dem duldenden und dem rebellierenden Hiob, eindeutig zugunsten des Dulders auflöst. Wie die Problemverhandlungen von Hioblegende und Novelle führt auch das Testament Hiobs exemplarisch eine Folge von Bewährung und Belohnung vor – entsprechend dem narrativen Schema, das wir „weisheitlich“ genannt hatten, weil es aus dem Wissen um die umfassende Ordnung heraus urteilt. Aber der Text füllt die Inhalte des Schemas neu: Die Bewährung trifft auf neue Feindbilder, die Belohnung ist zum wichtigeren Teil in die künftige Welt verlagert. Im Testament Hiobs ist dieser noch, wie auch anderswo im frühjüdischen Schrifttum, aber im Gegensatz zum späteren „klassischrabbinischen Schrifttum“, ein „Vorbild an Geduld“ (78) und Wohltäter für die Armen. Da Hiob nicht wie in der Hioblegende nur ‚rechtes Verhalten im Leiden‘ zeigt, sondern für seinen Gott, den wahren Gott Israels exemplarisch leidet, macht das Testament Hiobs den früheren Aramäer oder Edomiter Hiob dafür zu einem Juden, nämlich einem Proselyten51. Die Rabbinen dagegen werden Hiob später mehrheitlich nicht nur die Vorbildfunktion absprechen, sondern auch das Judesein: „Obwohl die rabbinische Beurteilung Hiobs – dem Charakter talmudischer Dialektik entsprechend – differenziert ausfällt, so sind doch die Meinungen, dass Hiob ein Goj, das Hiob-Buch nur ... ein Gleichnis, die Hiob-Geschichte als Ganzes ... ein Katastrophenszenario ohne Happyend sei ..., insofern von ausschlaggebendem Gewicht, als Hiob bei der Verteilung der biblischen Texte auf den Lesezyklus der Synagoge leer ausgeht.“ (9) Diese liturgische Ausgrenzung durch die Rabbinen – auch als Folge ihrer Ablehnung seiner rebellischen Tendenzen – führt dazu, dass Hiob bis in die Neuzeit hinein in der jüdischen nicht-theologischen Literatur keine Rolle spielt (172, 176). In der christlichen Literatur dagegen ergibt sich ein völlig anderes Bild, wohl nicht zuletzt aufgrund der positiven Wertung Hiobs im Jakobusbrief des Neuen Testaments52. Wie die jüdische durch die Rabbinen, so ist die christliche Rezeption Hiobs ab dem 3. Jahrhundert u.Z. durch die Kirchenväter geprägt (13) – und auch hier dominiert Hiob der Dulder. Hi––––––––––––– 51 Hiob heiratet eine Tochter Jakobs, zeugt jüdische Kinder, hat ein Berufungserlebnis, erhält vom Gott Israels einen neuen Namen (aus Jobab wird Job) und ein „Siegel“, das die Beschneidung symbolisiert (Oberhänsli-Widmer 65ff.). 52 „Nehmet, liebe Brüder, zum Vorbild des Leidens und der Geduld die Propheten, die geredet haben in dem Namen des Herrn. Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben. Von der Geduld Hiobs habt ihr gehört und habt gesehen, wie’s der Herr hinausgeführt hat; denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer“ (Jakobus 5,11f.).
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ob ist Märtyrer (Origenes), Tugendheld christlicher Werte (Chrysostomos) und Vertreter des Auferstehungsglaubens (Hieronymus, im Anschluss an Hi 19,25ff. „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt...“). Papst Gregor der Große (ca. 540-604), dessen Hiobkommentar Moralia in Job über Jahrhunderte das abendländische Hiobbild geprägt hat, stellt Hiob als beispielhaft erduldenden Frommen dar und trägt damit entscheidend zur Fixierung der Duldergestalt Hiob bei53. Gregor liest Hiob vor allem allegorisch: „Die höhere Bedeutung der Gestalt und des Leidens Hiobs sind für Gregor die Gestalt und das Leiden Christi und seiner Kirche“ (Wielandt 30). Deshalb auch mildert Gregor Hiobs Klage in Hi 3 ab, „um damit nicht mehr den existentiell Leidenden, sondern bereits den verklärten Leidenden darzustellen, der mit stoischer Gelassenheit seine Prüfung erträgt“ (ebd.) Diese neutestamentliche und patristische Wertschätzung Hiobs ist der Grund für „seine Popularität, die sich nicht zuletzt im Volksbrauchtum konkret niederschlägt“ (Oberhänsli-Widmer 176). Während die Rabbinen das Judentum Hiobs diskutieren, wird Hiob in altfranzösischen und althochdeutschen Werken zum Heiligen und Christen, dessen Frau Maria heißt (Hausen 32). Auch literarische Hiobbearbeitungen von Mittelalter und früher Neuzeit bis hinein in die Moderne kennen Hiob vor allem als den vorbildlich standhaften Dulder, und sie favorisieren dafür vor allem den erzählenden Rahmen des Buches (Hausen 204). Das wohl bekannteste Beispiel der mittelalterlichen Hiobliteratur in Deutschland ist Hartmann von Aues Der arme Heinrich, in dem Hiob als Kontrastfolie der Hauptfigur dient, die anfangs noch nicht die Kraft zu vorbildlicher Standhaftigkeit hat. Der überlieferte Hiob figuriert als Geprüfter, aber auch als Symbolfigur des Kranken und Aussätzigen. „Hiobs Krankheit“ erscheint sogar als Zeichen der Gnade Gottes (vgl. Wielandt 116f.). Der aussätzige Hiob ist auch zentrale Figur der „Wurmsegen“, der Segenssprüche gegen von Würmern verursachte Krankheiten (Wielandt 119f.) – wohl anknüpfend an die oben angesprochene Passage aus dem Testament Hiobs und eine vergleichbare Beschreibung der Würmer Hiobs in der apokryphen PaulusApokalypse (Wielandt 32f.).Es „zeigt sich, dass in der geistlichen wie in der weltlichen Literatur die Bildformel vom aussätzigen Hiob gebraucht wird, wenn es sich darum handelt, die Rolle des Leidens symbolhaft zu erhöhen“ (Wielandt 119). Hiob ist Schutzpatron von Pest- und anderen Kranken, aber auch der Musikanten und der Bienen- und Seidenraupen––––––––––––– 53 Gregorius Magnus, Moralium libri sive expositio in librum B. Iob, vgl. Hausen 22-24, Wielandt 29f.
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zucht. Er ist Hauptfigur zahlreicher Legenden54 und einiger Mysterienspiele und hat als eine der bevorzugten christlichen Heiligen-Gestalten verschiedene Gedenktage. Nicht zuletzt scheint im Mittelalter auch das Bild des „die Ehe standhaft ertragenden Hiob“ verbreitet zu sein; in einigen mittelalterlichen Bauwerken erscheint er als Patron von Ehemännern zänkischer Frauen (Wielandt 24). Darin spiegelt sich eine neue Schwerpunktsetzung in der Figurenkonstellation der Hiobgeschichte, so wie sie jetzt im Volksbewusstsein verankert ist: Die Frau Hiobs wird zu einer zentralen Versucherfigur im Dienste Satans55. Nach der Reformation wird das Hiobbuch Gegenstand einer Vielzahl eigenständiger dramatischer Bearbeitungen zum Beispiel von Hans Sachs oder Robert Greene56. Die theologische Entschärfung des Hiobbuches, die eine Reduktion der Hiobfigur auf den exemplarischen Dulder mit sich bringt, zeigt neben entsprechenden didaktischen Schriften des 17. Jahrhunderts57 vor allem das religiöse Theater, vom mittelalterlichen Mysterienspiel bis hin zum „geistlichen Spiel“ des 20. Jahrhunderts, z. B. den Parabelstücken des „Renouveau Catholique“, vergleichbaren Laienspielen in Deutschland oder dem polnischen Hiobdrama von Karel Wojtyla 58. ––––––––––––– 54 Laurence L Besserman, The Legend of Job in the Middle Ages (1979). 55 So zeigt sich die Frau Hiobs im Hiob-Mysterienspiel des Mistére du Viel Testament (15. Jh.), wie schon in einer weit verbreiteten Deutung der Kirchenväter, als „eine der tragenden Gestalten, die Hiob versuchen“ (Hausen 53). Sie wird „zur Frau im Sinne Evas ..., die als erste Komplizin Satans ihrem Mann zum Verhängnis wird“ (Hausen 196f.). Es kann nicht überraschen, dass sich dieses dankbare Motiv bis in die Moderne lebendig hält, so in Rudolf Borchards Das Buch Joram (1905), Alfred Polgars Novelle Hiob (1912) und Oskar Kokoschkas Drama Hiob (1917). Vgl. Langenhorst 84-96. 56 Hans Sachs, Hiob. Ein Comedi mit neunzehn Personen (1547); Jakob Ruof, Die beschreybung Jobs deß frommen gottsförchtigen und geduldigten Mannes Gottes (1535); Johan Narhamer, Historia Jobs (1546); Robert Greene, The History of Job (1594), Ralph Radcliffe, Job’s Afflictions (um 1550); Johannes Bertesius, Hiob Tragicomedia (1603) Scévole de Sainte Marthe, Tragicomédie de Job (1572) u. a. (Langenhorst 46). 57 Zum Beispiel Johann Balthasar Schupp, „Der geplagte aber geduldige Hiob“, vgl. dazu und zum Hiobstoff allgemein Elisabeth Frenzel, „Hiob“, in dies., Stoffe der Weltliteratur (1981), 323-326 (zu Schupp S. 325). 58 Vgl. Langenhorst 225-229. Neben die religiöse und literarische Rezeption der Dulderdimension des Buches Hiob sowie der Rebellion Hiobs, auf die ich in Kürze zu sprechen komme, treten andere Rezeptionslinien, die ich hier nur andeuten kann. In der Literatur gehört dazu etwa die Tradition des Welttheaters, des „Theatrum Mundi“, als dessen „großes strukturelles Urbild“ das Hiobbuch gilt (Langenhorst 47). In Calderóns Das große Welttheater (1635-45) etwa finden sich „neben grundlegenden strukturellen Übernahmen aus dem Hiobbuch ... auch direkte motivische Anregungen“ (ebd.). Die
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Ganz anders dagegen die Deutung des Hiobbuches durch Autoren der französischen Romantik (darunter P. Christian, A. de Lamartine und V. Hugo): Sie sehen eine „Grundübereinstimmung zwischen dem Gedankengut des Buches Hiob und der ganzen Epoche“ und sie sehen Hiob mit all seinen Widersprüchen – zwischen dem „Begreifen des Unbegreiflichen“ und der Rebellion dagegen – als allgemeingültiges Bild des Menschen selbst. Diese Grundübereinstimmung drücken sie mit einem Neologismus aus: „Jobisme“ (Hausen 147ff.). Zum Ende des neunzehnten und dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts belegen Werke wie Isaak Leib Perez’ Bontsche Schweig (1894) oder Jakob Gordins Got, Mentsch und Tajvl (1910) auch die Wiederentdeckung des Hiobbuches durch die jüdische Literatur. Ein früher Höhepunkt und einer der bekanntesten literarischen Hiobtexte überhaupt ist Joseph Roths Hiob (1930), daneben treten Werke wie Scholem Alejchems Tewje der Milchmann oder Döblins Berlin Alexanderplatz. In modernen Hiobtexten wie diesen bekommt das Bild des unerschütterlichen Dulders endgültig Risse. Hiob wird vom exemplarisch Entindividualisierten wieder zu einem leidenden Menschen. Das problematische Gottesverhältnis der Originalfigur kehrt jetzt wieder als existenzielle Heimat- und Orientierungslosigkeit, sei es in der labyrinthischen Großstadt des Franz Biberkopf oder in der New-Yorker Fremde des Mendel Singer. Das übermenschliche Leid erzwingt Protest: Mendel „brüllte und stampfte mit den Füßen“ und will die Gebetsutensilien ins Feuer werfen – „Gott will ich verbrennen.“ (Joseph Roth, Hiob, 115f.) Die Moderne – und hier treffen sich wieder die Rezeptionslinien jüdischer und nichtjüdischer Literatur – entdeckt Hiob den Rebellen59. Roths Hiob erhält noch eine Antwort – Mendel Singer erlebt am Ende das Wunder und versöhnt sich mit seinem Gott. Für den modernen Hiob ist das aber längst nicht mehr selbstverständlich. Auch der ––––––––––––– Vorstellung des Welttheaters ist auch im „Prolog im Himmel“ aus Goethes Faust präsent, in der Goethe die Himmelsszenen des Hiobbuches zur „Wette“ zwischen Gott und Mephisto umgestaltet. Ein anderes wichtiges Element ist der Leviathan als Chaosmacht, der in der Literatur (z. B. Herman Melville, Moby Dick, Or, The Whale, (1851), Julian Green, Leviathan (1929), Joseph Roth, Der Leviathan (1940), Arno Schmidt, Leviathan oder Die beste der Welten (1949), Paul Auster, Leviathan (1992)) ebenso eine Rolle spielt wie in der Philosophie (z. B. Thomas Hobbes, Leviathan, or the Matter, Forme, & Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill (1651) Robin George Collingwood, The New Leviathan or Man, Society, Civilization and Barbarism (1942). 59 Mit der Sympathie für Hiob den Rebellen einher geht eine Hiobdeutung, die das JHWH-Urteil in den Gottesreden als willkürliche und unangemessene Machtdemonstration zurückweist, etwa bei C. G. Jung, Paul Claudel oder Ernst Bloch.
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märchenhafte Schluss des Roth-Romans ist umstritten: Ist das nun „kompositorische Verlegenheit“ (Marcuse), projektive Wunscherfüllung in der Fiktion, „Roths Flucht ins Märchen“ (Reich-Ranicki) 60 – oder doch in seiner auch ironischen Brechung einzig angemessene Öffnung hin zu einer Hoffnung gegen den äußeren Schein? Roth selbst jedenfalls meinte später zu Mendels Suche nach Gott: „Mein Hiob findet ihn nicht“61. Vom rebellischen Hiob zum „Anti-Hiob“ (Arno Holz)62 braucht es nur noch einen Schritt – ein revidiertes narratives Urteil. In Bertolt Brechts Kurzgeschichte Der Blinde (1921)63 verliert ein einfacher Mann plötzlich sein Augenlicht und gerät in Hilflosigkeit und Ohnmacht: „Ein einfacher Mann lebte dreißig Jahre gut und ohne Ausschweifung, und dann wurde er blind.“ (61) Zunehmend Gefangener der eigenen Gedanken ohne äußeres Korrektiv, gerät er – nicht unverschuldet – in Isolation, wird bösartig und verbittert und zieht zum Ende hin den Selbstmord einer Blindenanstalt vor. Er, der „unschuldig blind“ (65) geworden war, weigert sich, „Gott zu verzeihen“ (64). Dulden als Lebensbewältigung ist hier ausgeschlossen, die verbitterte Verweigerung fragt nicht mehr nach Antwort, sondern gibt sich die (fragwürdige) Antwort selbst – als verzweifelter Versuch einer Souveränität in selbstzerstörender Unversöhnlichkeit. Die Antworten, die moderne Hiobtexte in ihren narrativen Urteilen geben, können sich immer weniger noch auf stabile äußere Ordnungen berufen. Sie sind oft genug Antworten trotz allem, möglich nur noch als subjektive Leistung, sei es negativ wie bei Brecht oder positiv zum Beispiel in Dürrenmatts Hiob-Stück Der Blinde oder Archibald MacLeishs J. B.64 Als solche verweigern sie eine Antwort auf die überindividuelle Frage nach dem objektiven Sinn des Leidens, den man über Jahrtausende im Buch Hiob gefunden haben wollte – entweder durch Neuinterpretation des alten Buches oder durch Distanzierung von diesem. Brechts Hiob will nicht Hiob sein, die frühere Sinnstiftung gilt nicht mehr: „Hiob war nicht blind.“ (66) So ergänzt die Abgrenzung gegen Hiob – d. i. sein überliefertes Dulderbild – die dominierende andere Tendenz der modernen Hiobre––––––––––––– 60 Ludwig Marcuse, „Eine neue Hioblegende“; Marcel Reich-Ranicki, „Joseph Roths Flucht ins Märchen“, zit. nach Langenhorst 129, 131, 146. 61 David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie (1974), 389. 62 Arno Holz, Anti-Hiob (1886). Zum Motiv des Anti-Hiob bei Peter Henisch, Gerhart Hauptmann, Fritz Zorn u. a. vgl. Langenhorst 299-309. 63 Aus Bertolt Brecht, Der Blinde (veröffentlicht 1965) zitiere ich im Folgenden mit einfachen Seitenzahlen. 64 Beide Stücke werden uns am Ende dieser Untersuchung noch einmal begegnen.
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Das Hiobproblem
zeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Identifikation. Erstmals angesichts des Ersten Weltkriegs bietet sich die Hiobsgestalt „als Verkörperung einer fundamentalen Krisenerfahrung in Zeiten ähnlicher geistiger Erschütterungen als Kronzeuge an“ (Langenhorst 117). In Texten wie Ernst Wiecherts Spiel vom deutschen Bettelmann oder Kurt Eggers’ Spiel von Job dem Deutschen (beide 1933) wird Hiob zum nationalistischen Kollektivsymbol für ein „leidgeprüftes Volk“, in H. G. Wells’ The undying fire, bei Döblin und anderen zur „Verkörperung des modernen Jedermann“ (ebd.). Bei jüdischen Schriftstellern und Denkern wiederum, von Joseph Roth bis Margarete Susman, Karl Wolfskehl, Nelly Sachs und Elie Wiesel, wird Hiob zu „einer der herausragendsten Deutefiguren des modernen Judentums“ in Diaspora und Schoa – der Überlebende von Auschwitz ist der „Hiob der Gaskammern“ (Martin Buber) 65. Die verheerenden Verfolgungen des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts, die Pogrome in Osteuropa und die Schoa, machen die Theodizee-Frage dringlicher denn je für ein Volk, dessen Offenbarungsschriften das Bild eines guten und gerechten Gottes vertritt [sic], der sich gerade in der Geschichte seines Volkes erweist – und welche biblische Figur wäre da geeigneter, Gott anzuklagen für das schreckliche Leid, das über sein Volk gekommen ist, als Hiob? ... Der Goj Hiob wird ins Judentum zurückgeholt, mehr noch als der Dulder verdient der Rebell alle Empathie, denn zu recht klagt er an. (Oberhänsli-Widmer 177)
Auch diese Identifikation verlangt Antworten trotz allem. So versucht Margarete Susman in ihrem Hauptwerk Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes (1946)66 in der Geschichte Hiobs das Ungeheuerliche des Schicksals des jüdischen Volkes ins Fassbare zu heben. Sie sieht das Buch Hiob geprägt von der Einsicht in „Hoffnungslosigkeit persönlicher Unschuld“ (60) angesichts eines unverstandenen und doch geliebten Gottes. Die Geschichte des jüdischen Volkes, korreliert mit den Stationen der Geschichte Hiobs, gipfelt mit den Gottesreden in der Erkenntnis, dass Gott die plötzlich zwischen ihn und den Menschen getretene fremde und feindliche Macht selbst zugelassen hat und dass von ihm keine Antwort auf die Fragen nach Schicksal und Leid zu erwarten sind. Dennoch ist „Die Hoffnung“ die Überschrift des Abschlusskapitels. Denn dem zurückgewandten Blick droht die Erstarrung zur Salzsäule (203), das Leben muss weitergehen im „Vertrauen zum Wunder“ (215): „Gott antwortet den Fragen des menschlichen Schicksals nicht; aber er kann es wenden.“ (200) Der „an ihrem eigenen Wissen gescheiterten Menschheit“ bleibt al––––––––––––– 65 Martin Buber, Der Jude und sein Judentum (1963), 178. 66 Ich zitiere daraus in diesem Absatz mit einfachen Seitenzahlen.
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lein die „Demut des Fragers aus Abgrund und Chaos“, „allein das reine Trotzdem der zu allem Wissen paradoxen Hoffnung“ auf Heilung (236f.). Aber auch in der jüdischen Hiobrezeption wird Identifikation konterkariert durch das Motiv der „Absage an Hiob gerade angesichts des Holocaust“, zum Beispiel bei Rudolf Leonhard (Langenhorst 201). Diese Absage an den demütigen Dulder und an die Sinnstiftung des Hiobbuches (oder dessen verbreitete Lesart) erreicht ihren Höhepunkt in der neueren israelischen Literatur. Nenn mich nicht Hiob heißt ein Roman von Jossel Birstein, veröffentlicht 1995 auf Hebräisch. Die Protagonisten dieses Romans, so Oberhänsli-Widmer, sind gezeichnet vom „Hiob-Syndrom“ als einer ewigen Wiederkehr von Vergehen und Strafe, aber ohne den entscheidenden zweiten Schicksalswechsel, die „Wiedergutmachung“. Die „lineare Entwicklung“ von Unglück zu stabilem Glück wird aufgehoben, „die von der Schoa gezeichneten Juden können ihrer zerstörten Vergangenheit nicht entkommen“; es gibt keine „Wiedergutmachung“ – nicht als Restitution in einem Epilog und nicht als „Entschädigung“ von HolocaustÜberlebenden (Oberhänsli-Widmer 329). David Schimonis Die Frau Hiobs, ein 1964 ebenfalls auf Hebräisch erschienenes Gedicht von 200 Strophen, das Hiobs Geschichte als Monolog seiner Frau erzählt, distanziert sich von Hiob als von einem, der „mit dem Betrug Frieden schloss“, als er sich mit Gott versöhnte67. Hiob wird am Ende getröstet und wieder hergestellt, seine Frau aber, die Gott nicht mit ihren Fragen verschonen will, „bleibt von jeder Wiedergutmachung ausgeschlossen“ und tötet sich schließlich selbst (292). Auch Chanoch Levins Stück Die Leiden Hiobs von 1981 kennt keine „Wiedergutmachung“ – der vorgeführte Abstieg Hiobs vom übersättigten Reichen zum sinnlos zu Tode Gefolterten hat keinen Sinn, weder als Prüfung noch als Opfer. „Denn was ist der Mensch?“ monologisiert ein „Spaßmacher“ zu Hiobs Todeskampf, während er ihn wie seinesgleichen schminkt: Da habt ihr den Menschen: Einmal sagt er, es gibt Gott, einmal bellt er, es gibt Gott nicht, einmal weint er, meine Söhne, meine Söhne, und ein anderes Mal brüllt er, mein Gesäß, mein Gesäß, am Abend hatte er gebratene Tauben im Mund, mit der Morgenröte einen eisernen Pfahl im Hintern, der, der singt, weint nun, in Kürze wird er schweigen. Was ist der Mensch dann? Ist er das, was er gestern gesagt hat, oder was er jetzt weint, oder was er in einem Augenblick schweigen wird? Ist er seine Erinnerungen, ist er seine Hoffnungen, ist er, was er tut, ist er was ihm angetan wird, ist er der letzte Aufschrei auf seinem Sterbebett oder der erste Aufschrei zwischen den Beinen der
––––––––––––– 67 David Schimoni, Eschet Ijjov / Die Frau Hiobs (1964), 239; übersetzt von und zitiert nach Oberhänsli-Widmer 291.
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Das Hiobproblem
Frau, die ihn zur Welt bringt? Ist er all die schreckliche lächerliche Unordnung zwischen diesen beiden Schreien? Und wenn dem so ist, wo ist der rote Faden in dem al68 len, wo ist der Faden, und was ist hier die Bedeutung?
In modernen Hiobtexten wie den hier genannten tritt Gott kaum noch als Handelnder und Wirkender auf. Gerade der „israelische Hiob“, meint Oberhänsli-Widmer, lehnt sich nicht nur gegen Gott auf, „sondern lässt ihn schlicht hinter sich. Die israelischen Hiob-Texte booten Gott als Akteur definitiv aus.“ (Oberhänsli-Widmer 330) Zwar ist in den meisten der von uns angeführten Texte Gott noch immer präsent – sei es als Adressat von Anklage oder Ausdruck von Hoffnung. Im Mittelpunkt aber steht der Mensch mit seinen Fragen und seinem Problem, dass die Antwort der Transzendenz ausbleibt. „Gerechtigkeit“, eine göttlich garantierte moralische Ordnung, gibt es nicht. Nicht selten taucht in den Texten oder auch ihren Interpretationen dafür die Chiffre der Dunkelheit auf. „Was ist ein Mensch auf einem Pfahl?“, fragt der sterbende Hiob in Levins Stück Die Leiden Hiobs. Und er gibt sich selbst die Antwort: „Ein Mensch auf einem Pfahl ist ein erledigter Mensch, ein verlorener. Eine noch größere Verzweiflung kann man nicht beschreiben. Angesichts einer solchen Dunkelheit kann sich der Horizont nur aufklaren. (Erbrochenes und Blut brechen aus seinem Mund hervor. Er stirbt.)“ (zit. Oberhänsli-Widmer 315) „In keiner literarischen Epoche bewegt sich Hiob so sehr im Dunkeln wie in der israelischen Literatur des späten 20. Jahrhunderts“, resümiert Oberhänsli-Widmer. „Weder göttliche noch menschliche Werte erhellen seine Welt, in der er als Agnostiker und Misanthrop orientierungslos herumirrt.“ (Oberhänsli-Widmer 331) Der Hiob des AT war verstummt, weil sein Auge Gott gesehen hatte (Hi 42,5). Hiob heute bleibt dieses Schauen verwehrt; Gott und seine Ordnung bleiben unsichtbar. Finsternis und Blindheit sind naheliegende Gegenbilder einer „Aufklärung“, die ihrem Erkenntnisoptimismus mit visuellen und Lichtmetaphern Ausdruck verliehen hatte. Im letzten Teil dieser Untersuchung (D) werden wir auf Anwendungen dieser Metaphorik des Über-Blicks stoßen und im Anschluss daran noch einmal auf das Sehen und Nicht-Sehen in modernen Hiobtexten zu sprechen kommen.
––––––––––––– 68 Chanoch Levin, Jissure Ijjov / Die Leiden Hiobs (1981) übersetzt von u. zitiert nach Oberhänsli-Widmer 315.
Teil C Narration und Argumentation: Regeln der Problemverhandlung
I. Konfigurationen: Narrative Problemverhandlung Das Hiobbuch führt das Versagen der Weisheit und allgemein einer argumentativen Behandlung des „Hiobproblems“ vor und setzt an deren Stelle den Versuch, das Problem mit erzählerischen Mitteln zu lösen. Wir hatten bereits mehrfach vermutet, dass dabei grundlegende Unterschiede zwischen argumentativen und narrativen Bedingungen der Problemverhandlung wirksam sind. Es ist jetzt an der Zeit, durch die Untersuchung der Strukturen des Erzählens und des Argumentierens diese Unterschiede zu herauszuarbeiten. Beginnen wir mit der Bestimmung von Strukturen narrativer Problemverhandlung. In unserer Analyse der Problemverhandlungen im Hiobtext sind uns bereits zentrale Elemente bzw. Aspekte narrativer Problemverhandlung begegnet: Figurenkonstellation (verschiedene Lösungsalternativen), Entscheidungen (Realisierung von Alternativen), Bewertungen (etwa durch Schicksalswechsel) mit Bezug auf eine äußere (sittliche) Ordnung sowie Problemperspektiven und ihre Vermittlung durch narrative Schemata. Es ist nun zu überprüfen, ob sich diese Hinweise durch Erkenntnisse der Erzähltheorie über die Strukturen des Erzählens stützen lassen. Um aus der Fülle vorgeschlagener Modelle zur Beschreibung von Erzählstrukturen solche auszuwählen, die auch den heterogenen Strukturen des Hiobbuches gerecht werden, orientiere ich mich an den oben in Kap. B.I.2 referierten Ergebnissen der Hiobforschung. Dabei gebe ich Ansätzen den Vorzug, die für unsere Zwecke geeignet sind und auch die Anschließbarkeit anderer methodischer Zugriffe gewährleisten. Die verschiedenen Interpretationsrichtungen des Hiobbuches – weisheitliche, psalmistische oder juridische – richteten jeweils ihr besonderes Interesse auf spezifische Elemente in der narrativen Struktur des Textes, die auf je eigene Weise zur Bedeutung des Textes beitragen. Mein Ziel ist eine Beschreibung narrativer Strukturen (nicht nur) des Hiobbuches, die eine Synthese dieser Elemente bietet, welche die Bedingungen narrativer Problemverhandlung im Hiobbuch erhellen kann, aber nicht versucht, die Widersprüche des Textes zugunsten eines organisierenden strukturellen Zentrums zu glätten. Damit soll nicht nur der spezifische Beitrag dieser Strukturen zur Bedeutungskonstitution des Textes, ihre Leistungsfähigkeit
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Narration und Argumentation: Regeln der Problemverhandlung
im Hinblick auf Kodierung und Akzentuierung von Problemstellungen und Lösungsangeboten herausgearbeitet, sondern auch die Verallgemeinerbarkeit solche Analyseergebnisse geprüft werden. Beginnen wir mit der in den Interpretationen dominierenden und wohl auch geistesgeschichtlich bedeutsamsten Tradition: der „Weisheit“. 1. Die Ordnung der Weisheit: Narrative Oppositionen a) Der Blick von außen Grundlegend für weisheitliches Denken ist, wie wir festgestellt hatten, zunächst „das Denken im Bereich einer funktionierenden ... Weltordnung“ (Preuß 22). Zentrales Merkmal dieses Weltordnungsdenkens war die Überzeugung vom Zusammenhang von Tun und Ergehen, der als narratives Prinzip aufgefasst werden kann (vgl. oben S. 173). Ausgehend vom Erfahrungssatz des Zusammenhangs von Tun und Ergehen gelangte weisheitliches Denken schließlich zu jenem Dogma der individuellen Vergeltung, das notwendig zu „Hiobs Problem“ werden musste. Im Versuch, die Ordnung der Welt zu erkennen und zu beschreiben, bewegte sich dieses Denken von der Aufstellung praktischer Verhaltensregeln über die Verallgemeinerung ihrer Aussagen über die Welt hin zum Postulat einer allumfassenden zeitlosen Weltordnung mit starren Regeln, denen selbst der Schöpfer dieser Ordnung zu genügen hat. Auf diese Weise erzeugte sich dieses Denken zunehmend eine Perspektive des unbeteiligten, „objektiven“ Beobachters, die im sozial bessergestellten Trägerkreis der Weisheit ihre soziologische Entsprechung findet. Es ist ein Blick auf die Welt von einem künstlich aus dieser Welt herausverlegten Standort aus, die „Draufsicht“ aufs System von oben. Dort angekommen, hat Weisheit „alles im Blick“, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit ihren Regeln kann sie das System im Ganzen beschreiben. Weisheitliches Erzählen bestätigt Bekanntes. Deshalb entspricht der weisheitlichen Perspektive von außen das Wissen eines Lesers oder Hörers, der das Ende der Erzählung kennt. Indem er das Ende der Geschichte und den Erzählverlauf auf dieses Ende zu als notwendig, als ordnungsgemäß erkennt, hat er die Geschichte verstanden. Das Erzählen folgt exemplarisch den Regeln der Ordnung; ein Bewusstsein von Kontingenz ist ihm weitgehend fremd. Ein Ansatz der narrativen Analyse, der einer solchen Perspektive gerecht wird, ist das von Stierle 1973 vorgeschlagene Modell exemplari-
Konfigurationen: Narrative Problemverhandlung
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schen Erzählens, das mit narrativen Oppositionen operiert1. Nach Stierle ist „die Klasse der narrativen Texte von der Klasse der systematischen Texte unverwechselbar abgegrenzt durch das ihnen allen zu Grunde liegende narrative Schema“, die „elementare Struktur der Erzählung“ (Stierle, Exemplum, 352): (1) x is F at t-1 (2) H happens to x at t-2 (3) x is G at t-3 In der Formel des narrativen Schemas kommt dem „Geschichtssubjekt“ x zum Zeitpunkt t-1 das Prädikat F und zum Zeitpunkt t-3 das Prädikat G zu. F und G sind oppositionelle Zustände, zwischen denen die Geschichte H im Zeitverlauf t-2 vermittelt. (1) und (3) konstituieren das explanandum und (2) das explanans der Geschichte. Bei Danto, dessen Analytical Philosophy of History (1965)2 Stierle hier zitiert, sind narrative Sätze gegenüber einfachen Handlungssätzen gerade charakterisiert durch die Beschreibung einer früheren Handlung A im Verhältnis zu einer späteren Handlung B vom Standpunkt eines Erzählers aus, der in zeitlicher Distanz zu diesen Vorgängen steht – also quasi vom Standpunkt eines späteren „Beobachters“3. Die narrative Struktur ist Werkzeug einer „rückwirkenden Neugliederung der Vergangenheit“ (Danto 270). „Geschichte“ bestimmt Stierle mit Danto als „die Abbildung eines Prozesses, der das Gleichgewicht eines Zustandes aufhebt und über eine Folge von Veränderungen einen neuen Zustand erreicht, der sich zum ersten konträr verhält“. Im Mittelpunkt stehen also „Oppositionen und ihre Vermittlung“ (352). Durch das narrative Schema wird es möglich, „paradigmatische Oppositionen syntagmatisch zu entfalten, sie ‚auszuspielen‘ in Akten der Verkörperung“. Eine wesentliche Rolle dabei sollen die „eigentlichen narrativen Oppositionen“ (353) mit determiniertem Richtungssinn spielen, wie z. B. Leben-Tod, jung-alt, unerfahren-erfahren. An solche narrativen Oppositionen seien alle übrigen Oppositionen gebunden. ––––––––––––– 1 Karlheinz Stierle: „Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte“; „Zum Status narrativer Oppositionen“; „Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte“ (1973). Im Folgenden zitiert mit einfachen Seitenzahlen, beginnend mit „Geschichte als Exemplum“. 2 Zum zitierten Schema als „Struktur einer erzählenden Erklärung“ vgl. Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte (1974), 76. 3 Vgl. Ricoeur 1989, 86, Anmerkung.
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Die eigentliche Geschichte konstituiert sich durch die besondere Weise der „Besetzung“ des narrativen Schemas auf den verschiedenen Textebenen. Wenn das narrative Schema einer thematischen Konstellation unterlegt wird, ergebe sich, so Stierle, eine „Geschichtsdisposition“, aus der sich durch weitere Transformationen die Geschichte konstituiert. Als Beispiele „pragmatisch bestimmter Geschichtsdispositionen“ führt er die Paragraphen des Strafgesetzbuches an: „Aus jedem Vordersatz eines Paragraphen lassen sich Geschichten ableiten oder vielmehr ungesättigte Hälften von Geschichten“ (353) Eine solche „ungesättigte“ Geschichte verlangt nach einem Abschluss, der durch den Nachsatz des Paragraphen bestimmt wird, dieser „gibt das Ende der Geschichte an, wie es sich durch den gegebenen pragmatischen Zusammenhang bestimmt“. Erst damit wäre eine Geschichte gegeben, „deren konstitutive Opposition die von Vergehen und Strafe ist“. Zwischen Vergehen (t-1) und Strafe (t-3) liegt in t-2, als „vom Paragraphen unausdrücklich vorausgesetzt“, das Urteil4. Der Übergang vom juristischen Paragraphen zur Geschichte, die „unter ihn fällt“, ist nach Stierle ein „Übergang aus dem Textbereich der systematischen in den Textbereich der narrativen Texte“ (354). Gerade im Grenzbereich dieser Textbereiche hofft Stierle „Aufschluß über die Konstitution von ‚Geschichten‘ als Texten“ zu finden. Deshalb gilt seine besondere Aufmerksamkeit der Fabel und vor allem dem Exemplum, also „narrativen Minimalformen, die aus minimalen systematischen Texten, nämlich Sentenzen, Maximen, ‚moralischen Lehrsätzen‘, abgeleitet sind“ (ebd.). Es geht also um die Frage von narrativer Kontingenz und Notwendigkeit oder Allgemeinheit5. Stierles Ausführungen über das Exemplum weisen zahlreiche Analogien zu unserer Beschreibung weisheitlich geprägter narrativer Problemverhandlungen auf, etwa weisheitlicher Lehrerzählungen, die ja ebenfalls allgemeine („systematische“) Lehrsätze in narrativer Form vermitteln6. ––––––––––––– 4 Stierle, 353. Die systematische Beziehung zum „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ weisheitlichen Denkens ist evident. 5 Vor allem aufgrund dieser Ausrichtung sind Stierles Ausführungen für mich von Interesse, obwohl Stierle im Folgenden bedauerlicherweise weniger an einer systematischen Darstellung der „Konstitution von ‚Geschichten‘ als Texten“ interessiert ist und über den eingangs skizzierten Ansatz.des „narrativen Schemas“ und der narrativen Oppositionen nicht wesentlich hinausgelangt. Ihm liegt vielmehr vor allem daran zu zeigen, wie das exemplarische Erzählen im Übergang zur Neuzeit problematisch wird. 6 Vgl. oben ab S. 175. Systematische Minimalformen weisheitlichen Denkens, die in weisheitlichen Lehrerzählungen narrative Gestalt annehmen können, sind im Proverbienbuch des AT gesammelt.
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Mit Lessings Abhandlungen über die Fabel betont Stierle die Abgeschlossenheit der narrativen Struktur, die „Einheit des Ganzen“ (355), wie sie auch die weisheitliche Perspektive konstituiert. „Exemplum und Fabel stimmen darin überein, daß sie eine narrative Ganzheit konstituieren, die auf eine systematische Ganzheit bezogen ist.“ (356) Zudem bindet die narrative Darstellung ein Verhalten mit der Bewertung dieses Verhaltens zusammen. Der Ausgang der Geschichte bewertet eine Entscheidung – einen Problemlösungsvorschlag – als richtig oder falsch. Das Exemplum konstituiert sich aus den drei Momenten Situation – Entscheidung – Ausgang der Situation ... Seiner eigentlichen rhetorischen Bestimmung nach tritt das Exemplum in eine pragmatische Situation, die sich dadurch bestimmt, daß sie noch offen ist und eine Entscheidung verlangt. Pragmatische Situation und Ausgangssituation des Exemplums sind isomorph ... Das Exemplum zeigt, wohin es führen muß, wenn man sich in einer gegebenen Situation so oder so entscheidet. (357)
Wenn das narrative Urteil des Exemplums einen entsprechenden systematischen Satz, eine moralische Sentenz oder Lehre impliziert 7, ergeben sich deutliche Analogien zu unseren Bestimmungen narrativer Problemverhandlung in weisheitlichem Erzählen. Stierles Ansatz muss in dieser Hinsicht auch nicht auf die Textsorte des klassischen Exemplums beschränkt werden, sondern kann auf exemplarisches Erzählen allgemein bezogen werden. Denn das Exemplum, so Stierle, sei „Expansion und Reduktion in einem“: Expansion im Hinblick auf die zu Grunde liegende Sentenz; Reduktion im Hinblick auf eine Geschichte, aus der im Exemplum nur das isoliert und herausgelöst wird, worauf die Einheit des Ganzen sich ihrem „Endzwecke“ – dem moralischen Satz – entsprechend richtet. Diese Bestimmungen machen es im Prinzip möglich, Aussagen zum Verhältnis von Exemplum und Sentenz, von Erzähltem und Allgemeinem, auch auf die umfassende „Geschichte“ zu beziehen, aus der die Reduktion das Exemplarische erst „herausgeschnitten“ (356) hatte. b) Das moralische System Die „weisheitliche“ Perspektive exemplarischen Erzählens, die die ganze Geschichte schon kennt, kann zu einem Geschichtsverständnis in Beziehung gesetzt werden, für welches nicht das Einmalige, sondern das Wie––––––––––––– 7 So grenzt Stierle das Exemplum von der Fabel ab: Der moralische Satz wird nicht wie bei der Fabel (die, als Zeichen ihrer allegorischen Intention, programmatisch Unwahrscheinliches erzählt) „als Besonderes“ repräsentiert, sondern „im Besonderen“ impliziert (356).
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derkehrende, die Ordnung des Geschehens signifikant ist. Dieses Geschichtsverständnis, das in Ciceros Formel „historia magistra vitae“ seinen Ausdruck findet, sieht Stierle schon in Aristoteles’ Bemerkungen in der Rhetorik über den Unterschied von erfundenen Beispielen (Fabel und Gleichnis) und historischem Exemplum angedeutet8. Das aber, worauf Ciceros Formel verweist, ist der „über die einzelne Lehre hinausreichende Zusammenhang von Geschichte und Moralphilosophie, der den Rahmen konstituiert, innerhalb dessen das Exemplum als einfache Form seinen Ort hat“ (358). Das exemplarisch Erzählte gewinnt seine Bedeutung aus dem Bezug auf eine äußere Ordnung – das „moralische System“: „Nur sofern Geschichten ihren Ort haben im moralischen System und für eines seiner Elemente einstehen, können sie exemplarische Bedeutung gewinnen“ und Anspruch darauf erheben, in einen neuen Zusammenhang gestellt zu werden – den „Zusammenhang der paradigmatischen Konvergenz von Geschichten im Hinblick auf ihren Ort im moralischen System“ (359). Narrative Oppositionen werden auf „moralische Relationen“ bezogen: „Es sind Verhältnisse von gut und böse, klug und einfältig, mächtig und machtlos, oder andererseits von Illusion und Desillusion, die in der narrativen Erstreckung des Exemplums zur Anschauung kommen“ (357)9. Solche Verhältnisse können offenbar sowohl Oppositionen betreffen, die sich (nach Stierles einführender Strukturbeschreibung) als Prädikate eines narrativen Subjekts syntagmatisch in Anfang und Ende einer vermittelnden narrativen Sequenz analysieren lassen, als auch solche, die sich im Konflikt von Figuren konkretisieren – für manche der von Stierle angeführten Oppositionen, wie „gut und böse“ oder „klug und einfältig“, ist ein determinierter Richtungssinn, wie Stierle sie für „eigentlich narrative Oppositionen“ fordert, ja eher unwahrscheinlich. Auch wenn Stierle FigurenOppositionen nicht eigens thematisiert, ist ihre stärkere Einbeziehung doch durchaus zweckmäßig, wie unsere Analysen des Hiobtextes schon gezeigt haben. Das nächste Kapitel wird deshalb eine entsprechende Erweiterung des Konzeptes der narrativen Oppositionen vorstellen. ––––––––––––– 8 „Leichter also ist es, mit Hilfe der Fabeln zu argumentieren, wirksamer aber bei der beratenden Rede durch den Verweis auf historische Fakten, denn für gewöhnlich ist das, was geschehen soll, dem Geschehenen ähnlich“ (Aristot. Rhet. II.20.8, 1394a, S. 135f.). 9 Die Priorität des moralischen Systems macht die unmittelbare Referenz, den Wirklichkeitsbezug des Erzählten zweitrangig für seine Bedeutung (den moralischen Satz); im Exemplum verwischt sich der Unterschied zwischen Mythologie, Legende oder Dichtung und „wirklicher“ Geschichte.
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„Narrative Oppositionen“ können nach Stierle auf Positionen eines paradigmatischen Systems bezogen werden, die man aus den im Ablauf der Erzählung syntagmatisch sich realisierenden Konzepten gewinnen kann – vor allem diejenigen Oppositionen, die mit Anfang und Ende der Geschichte oder Episode korrelieren. Entsprechend kennzeichnet Stierle den narrativen Prozess „als Interpretation der einander als Anfang und Schluß zugeordneten narrativen Basisoppositionen“. Jeder narrative Text habe „sein eigenes System von Konzepten, seine eigene ‚Ideologie‘“ und stelle sich in dieser Hinsicht dar als „Transformation eines ideologischen Systems in einen ideologischen Prozeß, der sich auf die Basisformel A vs non A, non A vs A zurückführen läßt. So ließe sich etwa die Strukturformel des Ödipus bezeichnen als ‚sehend blind‘ vs. ‚blind sehend‘ ...“ Oppositionen in Erzähltexten seien aber keine bereits vorgegebenen systematischen, sondern „thematisierte“ Oppositionen, deren Status insbesondere abhängig ist von der „Vermittlung dieser Oppositionen durch den Prozeß der Transformation, den die Narration beschreibt und durch den die Basisoppositionen interpretiert werden“. Narrative Texte verfügten daher „über nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Differenzierung und Nuancierung oppositiver Konzepte“10. c) Entscheidung und Bewertung Stierles Konzept narrativer Oppositionen in exemplarischem Erzählen ist gut auf weisheitliche Lehrerzählungen wie die Hioblegende anwendbar, insbesondere die gegensätzlichen Verhaltensalternativen der „Gerechten“ oder „Frevler“ sowie den Schicksalswechsel als Bewertung einer Entscheidung für eine solche Alternative mit Bezug auf eine Ordnung, das „moralische System“. Denn wie wir gesehen haben, läuft narrative Problemverhandlung in solchen Erzählungen nach dem Muster Anfangszustand A → Problemzustand P → Entscheidung E → Bewertung B ab (vgl. oben ab S. 175). Entsprechend sind in der Geschichte von Hiobs Prüfung und Bewährung, mit der Abfolge: A: Frömmigkeit und Glück – P: Leid (Prüfung) – E: Bewährung – B: Glück
––––––––––––– 10 Dieser Absatz zitiert Stierle, „Zum Status narrativer Oppositionen“, 527f.
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folgende „oppositive Konzepte“ 11 von Bedeutung: Glück vs. Unglück („Gutes“ vs. „Böses“, vgl. Hi 2,10); Frömmigkeit vs. Gottlosigkeit sowie Weisheit vs. Torheit. Die erste Opposition, Glück vs. Unglück (G vs. ¬G), wird syntagmatisch über die narrativen Oppositionen des guten oder schlechten Ergehens Hiobs konkretisiert, wie es die Schicksalswechsel vorführen (Glück → Leid, Leid → Glück bzw. G → ¬G und ¬G → G). Die zweite paradigmatische Opposition, Frömmigkeit vs. Gottlosigkeit (F vs. ¬F) entspricht in der Erzählung den Entscheidungsalternativen Bewährung vs. Nicht-Bewährung, in der Figurenkonstellation repräsentiert durch Hiob selber und die Versucherfiguren (B vs. ¬B als hypothetische Negation von B: Nicht-Bewährung, Abfall von JHWH). Diese zweite Opposition wird direkt auf die dritte, Weisheit vs. Torheit (W vs. ¬W), projiziert: Frömmigkeit (Bewährung) ist Weisheit, Gottlosigkeit (Nicht-Bewährung) ist Torheit (B∩W vs. ¬B∩ ¬W), wie Hiobs Antwort an seine Frau klarstellt: „du redest, wie die törichten Weiber reden“ (Hi 2,10). Die Betonung der Abgeschlossenheit der narrativen Struktur, wie sie der Perspektive der Weisheit entspricht, ermöglicht ein weitgehend achronisches Modell, ein Spiel paradigmatischer Relationen, die sich narrativ „verkörpern“ und „ausgespielt werden“ (353). Eine entsprechende Analyse kann erfassen, wie die Erzählung die Frage nach der Ordnung der Welt, nach der Gültigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs stellt. Der TunErgehen-Zusammenhang, zentrales Element einer zeitlos gültigen sittlichen Weltordnung, entspricht im moralischen System einer paradigmatischen Relation zweier Glieder, die jeweils selbst wieder genau eines von zwei Elementen als Wert annehmen können: TUN → ERGEHEN [TUN: 'gut' (B) vs. 'schlecht' (¬B)] [ERGEHEN: 'gut' (G) vs. 'schlecht' (¬G)] In der Hioberzählung bestätigt die narrative Sequenz B → G (Bewährung → Glück) Hiobs Handeln und damit exemplarisch die Vergeltungsordnung. Die Frage nach den Beweggründen des Verhaltens aber ist einer solchen Analyse nur eingeschränkt zugänglich: Es müssten dazu sämtliche möglichen Beweggründe dieses Verhaltens als Oppositionen formuliert ––––––––––––– 11 Ich spreche im Folgenden von Oppositionen der Kontradiktion, also der Form A vs. nicht-A (A vs. ¬A). Greimas’ semiotisches Quadrat (vgl. unten S. 255) zeigt aber, dass ins Spiel der paradigmatischen Relationen auch Kontrarietät und Präsupposition einbezogen werden können.
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werden können. Das ist allerdings nicht erst eine Beschränkung der Methode, sondern schon die Beschränkung des einfachen Erzählschemas „weisheitlicher“ und vergleichbarer exemplarischer Erzählungen mit ihrem Paradigma der Bewährung und Belohnung. Bewährung kann bewertet, aber nicht verstanden werden. So vermag Stierles erzähltheoretischer Ansatz der narrativen Oppositionen vor allem solche Aspekte narrativer Problemverhandlung zu beschreiben, die in exemplarischem Erzählen Anwendung finden: die narrative Bewertung von Entscheidungen (Verhalten), der „objektive“ Bezug auf die äußere Ordnung. Dagegen blendet dieser Ansatz, wie ja auch das exemplarische Erzählen selber, die Kontingenz des Erzählten systematisch aus, und auch die Perspektive des Beteiligten scheint dem Exemplarischen prinzipiell unzugänglich zu sein. Dafür sprechen auch die Ausführungen Stierles zur „Problematisierung“ des Exemplums, die er im Übergang zur Neuzeit im 14. – 16. Jahrhundert beobachtet. Im Übergang zur Neuzeit, meint Stierle mit Bezug auf die Novellen Boccaccios und Montaignes Essays, werde das Exemplarische, in der poetischen Freisetzung von seiner früheren pragmatischen Funktion, problematisiert und „reflektierbar gemacht“ (362). In Boccaccios Novellen bestehe das Verfahren der Problematisierung darin, „daß die Personen nun nicht mehr einfach als Mittel zur Sichtbarmachung einer Idee da sind, sondern daß sie über ein eigenes Bewußtsein verfügen“ (Stierle zitiert Neuschäfer, S. 362). Bei Montaigne entspreche dem ursprünglich unproblematischen Verhältnis von Exemplum und Sentenz nun „die Komplementarität von problematisiertem Exemplum und problematisierter Sentenz, d. h. Reflexion.“ (369) Der Zusammenhang von Situation und Lösung, im klassischen Exempel noch fraglos gegeben, werde nun „selbst zum Rätsel und damit interessant für die psychologisch moralistische Reflexion.“ Ohne auf diese Thesen näher eingehen zu wollen, scheint mir doch eines deutlich: Angesichts von Subjektivität und Reflexion reichen narrative Oppositionen als Analysewerkzeuge nicht mehr aus. Bei aller analytischen Kraft, auf die man ungern verzichten möchte, scheint ein solcher Ansatz zu sehr auf Abgeschlossenheit und ‚Draufsicht‘ (inklusive Kontingenzverschleierung) angewiesen zu sein. Es muss bezweifelt werden, dass er auch dann noch greift, wenn Perspektivenwechsel möglich und wünschenswert sind, wenn durch bewusst handelnde Erzählsubjekte „das
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Exemplum in Richtung auf eine Geschichte überschritten“ wird12. Im Hiobbuch ist es Hiobs Klage, die der Subjektperspektive eine Stimme gibt und damit das Exemplarische sprengt. 2. Die Ordnung des Erzählens: Narrative Grammatik a) Strukturen der Klage: Der Blick von innen Im Hiobbuch, meinte Westermann, werde kein „Fall“ dargestellt, sondern ein besonderes Geschehen um einen einzelnen, einzigartigen Menschen. Um diesem kontingenten Geschehen gerecht zu werden, muss die Analyse einen Übergang vollziehen können von der Perspektive des unbeteiligten Beobachters zu der des beteiligten, betroffenen Subjekts. Die weisheitliche Blickrichtung „von oben“ auf das Geschehen muss ergänzt werden durch die ursprünglichere Perspektive des darin Handelnden, des in das Geschehen „Verstrickten“13. Von dort sieht die Welt anders aus: Sie begegnet, sie verlockt und bedroht, sie fordert Antworten, Aktionen und Reaktionen. Der Handelnde hat Wünsche und Ziele, die er erreichen will. Erfolg oder Misserfolg bedeuten nicht nur abstrakt Bestätigung oder Nichtbestätigung gemäß einer Ordnung, sondern eben auch Glück oder Unglück, Freude oder Schmerz. Auch die Anderen verkörpern nicht nur Prinzipien; auch sie haben Ziele, sind Helfer oder Gegner. ––––––––––––– 12 Auf die unterschiedlichen Perspektiven von Beteiligten und Unbeteiligten bezieht sich auch Manfred Fuhrmanns Kritik an Stierles These, in der Antike würde Geschichte, wenn überhaupt, nur gegenständlich „im Hinblick auf ihre Subsumtion unter Klassen des moralischen Systems“ (Stierle 359). Die Maßgeblichkeit historischer Exempla ist nach Fuhrmann eine „scholastische Frage“. Die antike Rhetorik aber war in erster Linie nicht Vehikel literarischer und philosophischer Bildung, sondern „Instrument für die Ausbildung von Politikern“. Nur in der „Schule“ maß man dem historischen Exemplum so etwas wie apodiktische Geltung bei, hielt man es für eindeutig und unproblematisch und benutzte es zur Illustration eines Satzes in einem vorgegebenen moralischen System. In der politischen Rhetorik dagegen, wo neben Moral auch Macht und Vorteil zählen und eine Entscheidung gefunden werden muss, wusste man schon immer, dass es „nicht nur Beispiele, sondern auch Gegenbeispiele gibt“. „... was Stierle als einen Unterschied der Epochen hinstellt (hier Antike – Mittelalter, dort eine neuzeitliche Entwicklung, die im 18. Jahrhundert zum Abschluß kam), das scheint mir eher ein Unterschied der Lebensbereiche zu sein (hier Theorie, Schule, gelehrte Tradition, dort die Lebenswirklichkeit, in der gehandelt und entschieden werden muß).“ Vgl. Manfred Fuhrmann, „Das Exemplum in der antiken Rhetorik“ (1973), 450f. 13 Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (1953).
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Diese Beziehungen spiegeln sich auch in der Struktur der alttestamentlichen Klage, deren Redeformen Westermann auch im Hiobbuch identifiziert hatte (vgl. oben B.I.2.c). Zentrale Elemente der Klage im AT waren der Klagende selbst, der Hilfe sucht, Gott, an den sich die Klage richtet, und die Anderen, die Feinde (Westermann 56). Ihre Glieder sind demnach die Ich-Klage, die Du-Klage (die an Gott gerichtete Klage oder Anklage) und die Feindklage. Diese Struktur der Klage wird organisiert durch die subjektive Sicht eines Menschen, der sein Unglück beklagt, oft auf vergangenes Glück zurückblickt und Aufmerksamkeit und Erwartung, Hoffnung und Angst auf andere Menschen, die Welt und die Zukunft richtet. Wesentliche Elemente zur Beschreibung einer solchen Struktur finden sich in einem narratologischen Ansatz, in dessen Tradition auch Stierle sich ausdrücklich stellt (Stierle 527) – der narrativen Semiotik von Algirdas J. Greimas14. Deutlich wird das insbesondere an seinem sogenannten Aktanten-Modell, das gewöhnlich folgenderweise15 schematisiert wird: Sender (superhelper)
→
Objekt →
Empfänger (beneficiary)
↑ Helfer
→
Subjekt
←
Opponent
––––––––––––– 14 Ich beziehe mich in diesem Kapitel v. a. auf Algirdas J. Greimas, On Meaning (1987), einer Sammlung von Aufsätzen größtenteils aus Du Sens I (1970) und Du Sens II (1983), die einen guten Überblick über die Entwicklung seines Projekts einer narrativen Semiotik bietet, und daraus hauptsächlich auf Greimas, “Elements Of A Narrative Grammar” (1969), “A Problem of Narrative Semiotics: Objects of Value” und “Actants, Actors, and Figures” (beide 1973). Bei eindeutigem Bezug zitiere ich aus Greimas 1987 mit einfachen Seitenzahlen und in eigener Übersetzung. Auf Deutsch ist nur Greimas’ frühe Strukturale Semantik erschienen (1971, orig. 1966). 15 Vgl. Toolan 93. Das Schema stellt in etwa das frühe Aktanten-Modell der Sémantique structurale von 1966 dar. In den folgenden Jahrzehnten hat Greimas seine „narrative Semiotik“ immer weiter ausgearbeitet und bis hin zu einer „Semiotik der Leidenschaften“ erweitert, dessen Ergebnis Sémiotiques des passions 1991 erschien. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Greimas’ narrativer Grammatik, als ich sie hier leisten kann, sei auf Ricoeurs Analyse in Zeit und Erzählung II (Ricoeur 1989, 78-103) verwiesen, die ein mit dem meinen vergleichbares Erkenntnisinteresse verfolgt und die wesentlichen Einschränkungen des Modells anspricht.
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Die Positionen in diesem Modell bezeichnen nicht Figuren, sondern „Aktanten“, syntaktische Kategorien. Das Modell entwickelt die Analysen von Vladimir Propps Morphologie des Märchens (1928) weiter, der einen umfangreichen Korpus von russischen Zaubermärchen auf ihnen gemeinsame Strukturen untersucht und dabei ein Inventar von einunddreißig verschiedenen handlungsrelevanten Aktionen bzw. abstrahierten Handlungssegmenten in fester Reihenfolge („Funktionen“) identifiziert hatte (z. B. zeitweilige Entfernung, Verbot, Verletzung des Verbots, Verrat, Mithilfe usf. bis zur Hochzeit), ausgeführt durch sieben handelnde Personentypen oder Rollen (Held, Gegenspieler, Schenker, Helfer, Gesuchter, Sender, falscher Held). Während Propp den Funktionen Vorrang vor den Rollen eingeräumt hatte, konzentriert sich Greimas (zunächst) auf die Rollen, deren überschaubare Anzahl ein einfaches und doch leistungsfähiges Modell möglich macht. Während die „Funktionen“ eindeutig syntagmatisch strukturiert sind, erlauben Rollen oder „Aktanten“ eine paradigmatische Bestimmung entsprechend einer Logik des Geschehens bzw. Handelns. Das Ziel des Greimas’schen Unternehmens, innerhalb dessen das oben dargestellte Modell nur eine frühe Momentaufnahme darstellt, ist die Einbettung der Untersuchung von Erzählstrukturen in eine semiotische Theorie der Bedeutungskonstitution, in welcher sie Greimas zufolge eine entscheidende Rolle spielen. Eine solche Theorie, eine „allgemeine Semiotik“, muss zwei grundlegende Bestandteile haben: eine „fundamentale Semantik“, die die Artikulation und Organisation von bedeutungstragenden Inhalten erlaubt, und eine „fundamentale Grammatik“, die formale Modelle für die Manipulation dieser Inhalte liefert und Greimas zufolge eine wesentlich narrative Grammatik ist (65). Analog zu linguistischen Grammatiken (z. B. Transformationsgrammatiken) enthält die narrative Grammatik verschiedene Ebenen (darunter Tiefen- und Oberflächenstrukturen) und verschiedene Bestandteile (Morphologie, Syntax) und liefert damit Mittel zur Beschreibung der Phänomene, die auf der Ebene der „Manifestation“ (Erzähltexte, Filme, Gemälde etc.) vorgefunden werden. Die narrative Grammatik Greimas’ enthält zunächst eine Tiefengrammatik. Dazu gehört einmal ein System morphologischer Elemente, die als Örter in einer formalen Struktur taxonomischer Relationen (dem „semiotischen Quadrat“; s. u. ab S. 255) konzipiert sind und in der Bedeutungskonstitution mit ganz verschiedenen Inhalte gefüllt werden können. Zur Tiefengrammatik gehört zweitens ein Regelsystem gerichteter syntaktischer Operationen zur Manipulation der morphologischen Terme, das eine Dynamisierung des taxonomischen Systems möglich macht.
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Der zweite Bestandteil der narrativen Grammatik von Greimas ist eine „anthropomorphe“ narrative Oberflächengrammatik, eine vermittelnde Zwischenebene zwischen der logisch-konzeptuellen Tiefengrammatik und der figurativen Ebene, auf der menschliche oder personifizierte Akteure Ziele verfolgen oder Prüfungen unterzogen werden. Die narrative Oberflächengrammatik ist der Ort, an dem das zugrunde liegende System logischer Relationen „in den Bereich des Tuns eintritt“ (Ricoeur 1989, 86). Sie übersetzt die syntaktischen Operationen der Tiefengrammatik in ein „syntaktisches Tun“ und bringt damit eine „anthropomorphe Dimension“ – eine Art elementare Handlungssemantik – in die Grammatik ein. Die elementaren syntaktischen Einheiten dieser narrativen Oberflächengrammatik sind narrative Basissätze F(A), die in erster Näherung ein (anthropomorphes) „Tun“ (als Funktion F) eines „Subjekts“ (Aktant A) formalisieren (70f.). Die Aktanten des oben gegebenen Modells sind also lediglich syntaktische Kategorien, ganz wie „Subjekt“ und „Objekt“ in der Syntax natürlicher Sprachen16. (Es wäre demnach strenggenommen eine unsaubere Vermischung der Ebenen zu sagen, der Märchenheld fände den „Helfer“ oder das „Subjekt“ heirate die Königstochter). Die sechs Aktanten des frühen Modells bilden drei oppositionelle Aktantenpaare, und zwar als jeweils gegensätzliche Positionen in Bezug auf verschiedene kategoriale Achsen. Die Relationen, welche die Aktanten konstituieren, sind die Achsen des Begehrens, der Kommunikation und der Handlung. Das „Subjekt“ steht in einem Gegensatz zu einem „Objekt“, auf das sich das Begehren des Subjekts richtet; dem entspricht in Propps ––––––––––––– 16 Greimas hat sich in seiner Weiterentwicklung von Propps Funktionen von Lucien Tesnière, einem der Begründer der Dependenzgrammatik, inspirieren lassen. Tesnière zufolge kann bereits ein einfacher Satz als ein minimales „Drama“ mit Vorgang, Akteuren und Umständen aufgefasst werden (entsprechend den Satzgliedern „Verb“, „Nomina“, „Adverbien“). Die Dependenzgrammatik betrachtet als organisierendes Zentrum des Satzes das Verb, welches jeweils eine Mindestanzahl verschiedener „Aktanten“ als Ergänzungen benötigt. Die zweiwertigen Verben wollen oder suchen zum Beispiel geben sich mit zwei Aktanten zufrieden: x sucht y bzw. SUCHEN(x, y). Geben dagegen ist dreiwertig: x gibt z y („Peter gibt Paul das Buch“) bzw. GEBEN(x, y, z). In Greimas’ Modell sind die Beziehungen von „Funktion“ F und „Aktanten“ A in einer einfachen narrativen Aussage F(A) den dependenzgrammatischen Beziehungen eines Verbs und seiner „Ergänzungen“ vergleichbar: In dem Satz: Der Held sucht die Königstochter entspricht ‚suchen‘ der zweiwertigen Funktion F: SUCHEN(H, K); Subjekt und Objekt des Satzes entsprechen den Aktanten „Subjekt“ H und „Objekt“ K. Analog zur Dependenzgrammatik gibt es auch dreiwertige narrative Funktionen, nämlich in narrativen Aussagen innerhalb einer Struktur des Austauschs: Der König gibt dem Helden die Königstochter zur Frau oder GEBEN (S, E, O) mit den Aktanten „Sender“, „Empfänger“ und „Objekt“.
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Märchen als zentrale Handlungseinheit die „Suche“ nach dem Objekt. Als „Objekt“ ist beispielsweise die Königstochter zu bestimmen, die der Held („Subjekt“) zu gewinnen sucht und typischerweise am Ende heiratet. Ihr Vater, der König, entspricht, wenn er seine Tochter dem Helden zur Frau gibt, einem „Sender“, der Held wird damit gleichzeitig auch „Empfänger“. Während also Subjekt und Objekt einander auf einer Achse des Begehrens (der Werte) entgegengesetzt werden, sind Sender und Empfänger Gegensätze auf einer Achse der Kommunikation. Das letzte Aktantenpaar wird auf einer pragmatischen Achse in Relation zu einer der beiden anderen Achsen definiert: Sowohl in Bezug auf das Begehren als auch die Kommunikation kann Hilfe oder Behinderung wirksam werden, „Helfer“ und „Opponent“ („Gegner“) sind entsprechende Aktanten, deren Aktualisierungen in einer Geschichte dem Helden bei der Erreichung seines Zieles nützlich oder hinderlich sind17. Die Aktualisierungen von Aktanten müssen nicht unbedingt menschlich oder auch nur belebt sein. „Magische Helfer“ etwa sind im Märchen vorzugsweise nützliche Dinge mit wunderbaren Eigenschaften (z. B. ein fliegender Teppich), die ihrerseits einen (nicht notwendig aktualisierten) Sender-Aktanten auf der Achse der Kommunikation implizieren. „Objekt“ oder „Helfer“ können aber auch als Abstrakta aktualisiert werden. Wie Toolan betont, besetzen vor allem moderne Erzählungen die object- und helper-Aktanten gern mit Abstrakta; als Objekte etwa “life, liberty, the pursuit of happiness, greater self-knowledge, or mental peace” (Toolan 94). Greimas selbst definiert Objekte rein formal als das, was in modalen Äußerungen des Wollens die Objektposition einnehmen kann, also nicht nur Aktanten mit Gegenstandsbezug („x will y [erwerben]“), sondern auch deskriptive Äußerungen aller Art (bestimmte Zustände, Ereignisse oder Handlungen wollen) und sogar andere modale Äußerungen (etwas wissen wollen, etwas können wollen (vgl. 72ff.). Das ist auch für unsere Beschreibung narrativer Problemverhandlung nicht unerheblich: In einer narrativen Analyse des Problemlösens können wir so den erwünschten Zielzustand sz entsprechend als „Objekt“ auffassen (dazu in Kürze mehr).
––––––––––––– 17 Später betrachtet Greimas der logischen Stringenz wegen „Helfer“ und „Opponent“ nicht mehr als Aktanten, sondern als Bestandteile der figurativen Ebene. Diese „Aktoren“ manifestieren auf der Ebene der narrativen Syntax „Aktantenrollen“ in narrativen Aussagen, die dem Subjekt Kompetenzen zu- oder absprechen.
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b) Konflikt und Perspektive: Narrative Programme Schon das frühe Schema ist als Analyseinstrument von Erzählungen erstaunlich leistungsfähig18. Das „Subjekt“ dieses Modells ist der anthropomorphe Prototyp des „Beteiligten“: Seine Aktualisierung auf der figurativen Ebene des Erzähldiskurses steht im Zentrum von Vorgängen, in denen sie Ziele verfolgt, Hindernissen begegnet, Rollen spielt und Stellung beziehen muss. Das begehrende „Subjekt“ bestimmt die Besetzung von „Helfer“-, „Gegner“- oder „Objekt“-Positionen. „Subjektive“ Fähigkeiten und Intentionen sind also durchaus strukturbestimmend. Ganz offensichtlich ist das Modell auch auf die Struktur der Klage anwendbar, wie sie in den „psalmistischen“ Redeformen im Hiobbuch erscheint. Die drei Achsen des Begehrens, der Kommunikation und des Handelns erzeugen auch die Positionen im Klageschema: Die Ich-Klage wird durch den Wunsch nach der Wiedererlangung verlorenen Glücks hervorgetrieben, die DuKlage beruht auf dem Konzept der Kommunikation zwischen Klagesubjekt und JHWH, die Feindklage klassifiziert symbolisch-“pragmatisch“ Handeln und Intentionen der Mitmenschen. Das „Objekt“, z. B. „Heil“, Errettung aus der Anfechtung, „Gerechtigkeit“ oder „Trost“ (Ps 4,2; 6,5; 7,9.18; 60,3), scheint unerreichbar, die „Gegner“ übermächtig (Ps 3,2; 6,8; 56,3; 59,4), es sei denn, JHWH selbst tritt als „Helfer“ auf, der die Feinde besiegt (Ps 3,8f.; 6,11; 7,7.13-17; 56,10; 59,6; 60,14) und am Ende „Sender“ neuen Glücks, „Rechts“ und „Segens“ wird (Ps 3,9; 6,10f.; 7,18; 10,18; 56,14; 59,11.17). Im Gegensatz zu einer ausschließlichen Betrachtung narrativer Oppositionen erlaubt es Greimas’ Ansatz, die Perspektive des Subjekts als abstrakte Struktur zu modellieren. Das oben beschriebene Modell ist aber zu––––––––––––– 18 Ein Beispiel für die variable Anwendbarkeit des Schemas liefert Toolan nach Vestergaard und Schroder (1985), die anhand einer Reklame zeigen, “just how well the roles fit the dramatis personae in an advertisement for Sanatogen multivitamin tablets. The addressee (‘you’) is both subject and receiver, continued good health is the object, and your pursuit of this goal is ordinarily assisted by vitamins and minerals from meals (the helper), but made more difficult by some undesirable consequences of your assumed busy life: snack lunches, dieting, reheated food and skipped meals (the opponent). In steps Sanatogen as Superhelper: ‘Sanatogen multivitamins give you essential vitamins and minerals.’ As Vestergaard and Schroder observe: ‘Of particular interest are the facts that the role of the object is not filled by the product but by some quality or state associated with it, and that the consumer is both subject and receiver. Advertising, in other words, does not try to tell us that we need its products as such, but rather that the products can help us obtain something else which we do feel we need’” (Toolan 94).
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nächst noch auf ein Subjekt beschränkt – vergleichbar dem narrativen Schema der „Suche“ oder „Reise“, das ja ebenfalls strukturell auf die „Bewegung“ eines einzigen Subjekts limitiert ist. Für die Abbildung narrativer Konflikte ist dagegen ein Schema mit mehreren Subjekten notwendig, etwa das des „Kampfes“. Auch Greimas sieht im „Kampf“ das entscheidende Element, das in der „Prüfung“ des suchenden Helden – dem diachronen Kern des Erzählens – eine Vermittlung von „Zusammenstoß vs. Erfolg“ leistet19. Entsprechend wird mit der Weiterentwicklung der narrativen Grammatik die Konfrontation zum zentralen Bestandteil der narrativen Basisstruktur und ermöglicht damit sowohl die Modellierung von Subjektperspektiven als auch ihre Überschreitung, ihre Situierung im narrativen Kontext von Konflikt und Entscheidung. „Subjekt“- und „Objekt“-Aktanten werden auf der „anthropomorphen“ Ebene der Oberflächengrammatik durch die Zuschreibung des modalen Prädikats eines „Wollens“ (vouloir) konstituiert, als syntaktische Positionen in einem modalen Satz der Form S will O oder Wollen(S, O). Das Subjekt dieses Wollens SO erscheint gleichzeitig als das virtuelle (potenzielle) Subjekt eines zielgerichteten „Tuns“ (pouvoir); das Objekt des Wollens, mit dem Subjekt verbunden auf der Achse des Begehrens, wird zu einem Wert-Objekt (Greimas 1987, 73). Indem sich wiederum die tatsächlich „manifestierten“ Handlungen der Figuren auf den Erwerb von „Wertobjekten“ richten, kann die Erzählung wechselnde Verteilungen von Werten zwischen Figuren abbilden, die ihrerseits im Bereich der Oberflächenstrukturen verschiedenen Aktanten ab- bzw. zugeschrieben werden: Das Erzählen geht von einer initialen Wertverteilung aus, bricht diese auf und mündet in eine „neue Distribution der Werte“ (82). Die Einsetzung von Subjekt und Objekt durch Zuschreibung eines Wollens erzeugt nach Greimas ein (virtuelles, aktualisierbares) narratives „Programm“, das ein einzelnes zielgerichtetes und wertbesetztes Handeln (in Richtung auf ein Objekt) zum Inhalt hat. Durch mehrfache Zuschreibungen können so auch komplexe Konkurrenzverhältnisse abgebildet werden: Zu „Subjekten“ treten „Gegensubjekte“ (SO vs. ¬SO). Damit erst wird der entscheidende Schritt zu einer Narrativisierung der paradigmatischen Struktur möglich: die Herstellung einer „polemischen“ Beziehung von gegensätzlichen Programmen als Konfrontation zwischen einem Subjekt und einem Gegensubjekt. Im Konflikt konkurrierender narrativer ––––––––––––– 19 Greimas 1971, 189. Über die Rolle der Prüfung als „diachronischer Rest“ und Zeichen für den „Widerstand des Diachronischen“ in Greimas’ zeitlosem Modell s. u. ab S. 251.
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Programme kann jeweils nur ein Programm (ein Subjekt) erfolgreich sein, was in der Oberflächenstruktur als anthropomorphe Funktion der Beherrschung (Dominierung) erscheint. Auf die Beherrschung folgt der erfolgreiche Erwerb des Wertobjekts durch das dominierende Subjekt, die Zuschreibung (Attribution). Diese aus der polemischen Beziehung narrativer Programme erzeugte Sequenz narrativer Sätze, Konfrontation – Beherrschung – Zuschreibung, bildet die zentrale „narrative Einheit“ der Oberflächengrammatik, die sogenannte Performance20. Greimas’ spricht hier ausdrücklich von „zwei Subjekten der Performance“ (z. B. Greimas 1987, 77 oder 81). Können wir dann das Konzept der „Performance“ trotzdem auch auf Erzählungen mit einem zentralen Subjekt, etwa nach dem „REISE“-Schema, anwenden? In der Tat spricht Greimas an anderer Stelle auch davon, dass ein Subjekt eine Performance „leistet“ oder „vollbringt“ (vgl. Greimas 1987, 80), und er gibt an, das Konzept der „Performance“ solle unscharfe Termini wie „Prüfung“ oder „schwierige Aufgabe“ ersetzen und eine einfache Definition des Subjekts in Bezug auf seinen Status als „Subjekt eines Tuns“ ermöglichen (109). Ich werde im Folgenden den Begriff „Performance“ in diesem in erster Linie „Subjekt“-bezogenen Sinn verwenden. Wenn es mir dabei vor allem auf die „Konfrontation“ ankommt, werde ich bei unklarem Bezug von „polemischer Performance“ sprechen. Die Performance ist für Greimas die grundlegende („charakteristischste“) syntaktische Einheit der narrativen Syntax. Sie konstituiert das formale „operationale Schema“ für die Transformation von Inhalten und Werten und kann dazu die unterschiedlichsten Inhalte aufnehmen (75). Greimas’ spätere Einbeziehung des „Kognitiven“ in die Grammatik des Tuns ermöglicht ihm deshalb sogar die Integration der Überredung in die polemische Beziehung (interessant nicht zuletzt angesichts der Darstellung von Argumentation und Trost im Hiobbuch) 21. Aber auch ohne Berücksichti––––––––––––– 20 Voraussetzung jeder performance ist competence (ein in der Linguistik nach Chomsky weithin gebräuchliches Begriffspaar). Damit eine Handlung in Gang kommen kann, müssen Subjekte auch etwa handeln wollen und können. Greimas’ Modell umfasst deshalb auch verschiedenste Modalitäten, die in narrativen Sätzen Subjekten zukommen können, wie tun wollen, haben wollen, wissen wollen, können wollen, aber auch etwa tun können und zu tun wissen. 21 In Maupassant (1976) verdoppelt Greimas das Tun „in ein pragmatisches und ein kognitives Tun“ und spaltet letzteres auf „in ein überredendes Tun, das der Sender des kognitiven Tuns gegenüber dem Empfänger ins Werk setzt, und ein interpretierendes Tun, das ihm auf Seiten des Empfängers entspricht ... Ebenso kann die polemische Beziehung nicht nur zwei pragmatische Weisen des Tuns, sondern auch zwei überredende
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gung dieser Weiterentwicklungen sind Greimas’ Kategorien für die narrative Analyse des Hiobbuches offensichtlich von großem Nutzen22. Spezifische Interpretationen des Textes gehen insbesondere mit je eigenen Zuweisungen von Aktanten-Positionen einher. (Es werden in einer solchen Aktantenanalyse ja nicht Sätze des Textes selbst analysiert, sondern interpretierende Behauptungen oder bestenfalls Makropropositionen in solche „narrativen Aussagen“ transformiert, die eine Aktantenanalyse erlauben.) In unserer Lesart kann Hiob in allen Erzählschichten des Buches als zentrales „Subjekt“ analysiert werden, als Subjekt eines Strebens (einer „Suche“) nach den „Objekten“ T ROST bzw. GERECHTIGKEIT in der Dialogdichtung oder als Subjekt einer „Prüfungs“-Entscheidung in Legende und Novelle. In den Himmelsszenen der Novelle sind auch JHWH und Satan in Bezug auf ihre Wette als „Subjekt“ und „Gegensubjekt“ bestimmbar. Die Dialogdichtung konfrontiert jeweils als Subjekt und Gegensubjekt Hiob und die Freunde (in Bezug auf den Sieg im Redestreit) sowie JHWH und die Freunde (in Bezug auf die Tröstung Hiobs). In Anbetracht der Tröstungsabsicht der Freunde kann man in den Redegängen einen interessanten Wechsel ihrer Aktantenrollen beobachten: Sie beginnen als „Helfer“ (wollen trösten), werden zunehmend zu „Opponenten“ (stehen dem Trost eher im Weg) und letztlich zu „Gegensubjekten“ im Streit um Schuld und Recht 23. Auch die Versucherfiguren der Novelle, insbesondere ––––––––––––– Weisen, etwa in der Diskussion, oder zwei interpretierende, etwa in der Anklage oder in der Leugnung der Schuld, einander gegenüberstellen“ (Ricoeur 1989, 93). 22 Im Interesse der Handhabbarkeit fungiert Greimas’ Modell dabei unter Umständen nur noch als von seinen formalen Voraussetzungen weitgehend losgelöstes Analyseinstrument. In der Auswahl und Verwendung des für mich Brauchbaren beziehe ich mich recht eklektisch auf Greimas’ Vorschläge, ohne immer Kontexte und Funktion der verwendeten Elemente im „Greimas’schen Code“ getreu zu reproduzieren. Mit Fredric Jameson bin ich der Meinung, dass “... besides trying to grasp the conceptual links between all these terms as signs and moments of a whole project, we outsiders or interlopers – who resist the invitation to join the discipline and to ‘become semioticians’, that is, to convert to the entire Greimassian code (and abandon the other ones as so many false religions and false gods) – should also feel free to bricolate all this, that is, in plainer language, simply to steal the pieces that interest or fascinate us, and to carry off our fragmentary booty to our intellectual caves.” (Jameson viii) Deshalb ist es wohl verzeihlich, wenn ich im Folgenden die Aktoren „Helfer“ und „Opponent“ noch wie im frühen Modell von 1966 in einem Atemzug mit den eigentlichen Aktanten verwende. 23 „Gegensubjekte“ definieren sich durch ihr auf das gleiche „Objekt“ gerichtetes Begehren, „Opponenten“ oder „Gegner“ sind dagegen in unserem Verständnis solche narrativen Elemente („Aktoren“), die auf der Ebene des Handelns dem Erreichen des Ziels
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Hiobs Frau, sind „Opponenten“ bzw. Hindernisse, insofern sie Hiob vom „rechten Verhalten“ abzuhalten suchen. Geht man aber davon aus, dass die Versucherfiguren in der Prüfung ebenfalls mögliche Verhaltensalternativen zusätzlich zur Bewährung verkörpern, zwischen denen Hiob sich entscheiden muss, können auch sie als Subjekte analysiert werden, die wollen, dass Hiob etwas Bestimmtes tut, und damit virtuelle narrative Programme verkörpern. Den Objekten, auf die sich jeweils das Wollen der Subjekte und Gegensubjekte richtet, entsprechen nicht Dinge, sondern eher Ereignisse oder Zustände (darunter die Erlangung von Dingen). In der Legende ist das zu erlangende Objekt offenbar das „rechte Verhalten“ in der Prüfung – also letztlich das „Gerechtsprechen“ durch JHWH, das alttestamentlich mit erneutem Glück und gutem Ergehen zusammenfällt. Im Dialog bestimmt Hiobs Klage die „Tröstung“ bzw. eine Antwort als sein Objekt (bzw. als deren Resultat übergeordnet ein Wissen von der wahren Ordnung). Das Ende der Erzählung sieht jeweils entsprechend Hiob als „Empfänger“ und JHWH als „Sender“. Das Wertobjekt, das die Opposition JHWH vs. Satan konstituiert, ist reine Dominierung: der Gewinn der Wette als Entscheidung im himmlischen Machtkampf, deren Sender paradoxerweise Hiob selber sein soll. In der Konfrontation Hiob vs. Freunde geht es um die Auflösung des Widerspruchs von Dogma und Erfahrung, um richtiges Reden von Gott (beide sind diesbezüglich Empfänger, Sender ist JHWH selber). Gegenstück dieses Objekts, einer „Wahrheit“ objektiv-lehrhaften Charakters, ist das Wertobjekt zwischen JHWH und den Freunden, nämlich die Tröstung Hiobs als Bestätigung der subjektiven Akzeptabilität ihrer Standpunkte, die wieder nur Hiob selber als Sender geben kann. Welche Figuren in der Dialogdichtung „Gegner“ oder „Helfer“ aktualisieren, ist nicht sofort entscheidbar: Die Freunde kommen zunächst ja als Tröster, aktualisieren also scheinbar die Helfer-Position, wandeln sich aber gewissermaßen im Verlauf des Streitgesprächs von „Helfern“ zu „Gegnern“. JHWH wiederum erscheint in Hiobs Reden immer wieder auch als übermächtiger Gegner, dessen „alter ego“ angerufen wird, Hiob beizustehen. Am Ende stellt sich JHWH dann gegen die Freunde auf Hiobs Seite (Helfer). Gleichzeitig aber, und vor allem, entspricht JHWH und nur er dem Sender-Aktanten (superhelper) – und es wäre meines Erachtens gar nicht so inadäquat, die wichtigste Aussage des Hiobbuches damit ––––––––––––– (der Erlangung des Objekts) in irgendeiner Weise Widerstand entgegensetzen, unabhängig davon, in Bezug auf welche Objekte sie vielleicht ebenfalls Subjekte sind.
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zu paraphrasieren, dass zwar JHWH oft genug als Gegner erscheinen mag, aber Hiobs Problem letztlich kein anderer als JHWH lösen, also niemand sonst dafür als echter „Helfer“ und „Sender“ erscheinen kann. Der Ansatz von Greimas erlaubt somit eine abstrakte Modellierung narrativer Figurenkonstellationen und dabei insbesondere die Analyse von Subjekt-Oppositionen in Relation zu Wertobjekten. Dazu gehört nach Greimas ausdrücklich auch die strukturelle Formulierung von narrativer „Perspektive“, wenn von zwei narrativen Programmen, die dasselbe Wertobjekt beinhalten, nur eines aktualisiert wird (Greimas 1987, 95f.): Der Erwerb des Objekts durch ein Subjekt (Konjunktion) bedeutet den Verlust desselben Objekts durch sein Gegensubjekt (Disjunktion). Ein und dieselbe Erzählung kann als Geschichte von Sieg oder Niederlage gelesen werden (79). In der Performance führt Beherrschung und Zuschreibung zugunsten eines narrativen Programms zu der Aktualisierung dieses Programms und gleichzeitig auch zu einer „Virtualisierung“ des seinem Gegensubjekt entsprechenden Programms. So können wir das Aktantenmodell nutzen, um selektiv Subjekt-Perspektiven zu analysieren: Indem wir unseren Fokus von Wertübertragungen und Wertverteilungen oder von Konfigurationen entgegengesetzter narrativer Programme auf einzelne Programme verschieben, vollziehen wir (als Rezipienten) den Perspektivenwechsel, den wir oben als spezifische Möglichkeit narrativer Strukturen behauptet hatten. c) Die Syntax narrativer Problemverhandlung Darüber hinaus fällt auch die konzeptuelle Ähnlichkeit der Sequenz Konfrontation – Beherrschung – Zuschreibung mit unserer Struktur narrativer Problemverhandlung Problem – Entscheidung – Bewertung ins Auge. Wenn wir ein Problem (mit problematischem Ausgangszustand sa, erwünschtem Zielzustand sz und verschiedenen alternativen Transformationen bzw. vorgeschlagenen Lösungswegen durch den Problemraum) als „Konfrontation“ alternativer narrativer Programme modellieren könnten, dann wäre seine narrative Lösung als Einheit von „Beherrschung“ und „Zuschreibung“ beschreibbar. Genauer könnte die Entscheidung für eine Lösungsalternative der „Beherrschung“ durch das den ausgewählten Lösungsvorschlag repräsentierende narrative Programm entsprechen, während die „Zuschreibung“ mit der positiven Bewertung der Lösungsalternative, der erfolgreichen Etablierung des erwünschten Zielzustandes zu-
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sammenfiele. Um diese Parallelisierungen zu rechtfertigen, müssen wir die einzelnen Bestandteile der „Performance“ etwas genauer betrachten. Die polemische Beziehung ist nach Greimas die anthropomorphe Repräsentation einer tiefengrammatischen Relation: der Kontradiktion zweier Terme s1 ļ s2 (bzw. s1 ļ ¬s1). Taxonomische Relationen wie die Kontradiktion sind ungerichtet, zeitlos. Damit dieses zeitlose paradigmatischrelationale System in Bewegung geraten und eine narrative Transformation „inhaltlicher“ Werte sich syntagmatisch aktualisieren kann, verfügt die Tiefengrammatik über gerichtete syntaktische Operationen. Eine kontradiktorische Operation auf der Ebene der Tiefengrammatik begreift Greimas als Negation eines Terms s1 und gleichzeitige Affirmation seines kontradiktorischen Terms ¬s1. Eben dieser kontradiktorischen Operation entspricht nun auf der anthropomorphen Ebene der narrativen Oberflächengrammatik die syntaktische Einheit der (polemischen) Performance. Dabei erscheint die tiefengrammatische Negation in der Oberflächengrammatik als Disjunktion von Subjekt und Objekt SO ∪ O (Verlust des Objekts, Niederlage), die gleichzeitige Affirmation als Konjunktion von (Gegen-)Subjekt und Objekt ¬SO ∩ O (Erwerb des Objekts, Sieg)24. Die Konfrontation zweier Subjekte S1 und S2 der Oberflächengrammatik (die einer Kontradiktion s1ļs2 auf der paradigmatischen Ebene der Tiefengrammatik korrespondiert) fasst deshalb zwei modale Sätze zusammen: zwei Zuschreibungen eines auf dasselbe Objekt O gerichteten „Wollens“ sowohl für S1 (SO) als auch S2 (¬SO) die somit zwei einander in Bezug auf O entgegengesetzte virtuelle narrative Programme konstituieren (SOļ ¬SO). In unserer Analyse des narrativen Problemlösens wollen wir als das globale Objekt O die Problemlösung, also die Etablierung des Zielzustandes sz ansehen. Alternative auf den Erwerb von O gerichtete narrative Programme entsprechen dann verschiedenen virtuellen Lösungswegen, also Problemlösungsvorschlägen. (Das heißt, Problemlösungsvorschläge müssen im Nachvollzug des Textes mit bestimmten „Subjekten“ narrativer Programme identifiziert werden können.) Die Gesamtheit aller möglichen virtuellen Programme (möglicher Transformationen) bildet zusammen mit dem Ausgangszustand das Problem als narrative Konfiguration ab. So können wir das Problem der Dialogdichtung im Hiobbuch beschreiben als Konfrontation zweier narrativer Programme, ––––––––––––– 24 Die Schreibweise s1, s2 bezeichnet hier verschiedene Terme s der Tiefengrammatik (mit ¬si als Negation von si), S1, S2 verschiedene Subjekte der Oberflächengrammatik (mit ¬Si als Gegensubjekt von Si). SO bezeichnet hier ein Subjekt S, konstituiert durch zugeschriebenes Wollen des Objekts O (¬SO ist das Gegensubjekt von SO bezogen auf O).
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die auf dasselbe Objekt der „Tröstung“ Hiobs gerichtet sind: Eine Lösungsalternative, vertreten durch das virtuelle narrative Programm, dessen Subjekt die Freunde verkörpern, ist die Theologie der Weisheit, die Hiob für sein Leiden ein Sinnangebot macht. Eine zweite, mit der ersten gänzlich unvereinbare Lösungsalternative ist das Gottesbild des souveränen Weltherrschers außerhalb aller menschlichen Maßstäbe, eines Gottes, der dem Menschen zugleich fern und nah sein kann, in der Erzählung vertreten durch das virtuelle narrative Programm mit dem Subjekt „JHWH“. Von den virtuellen Lösungsalternativen kann aber narrativ nur eine einzige aktualisiert werden: Eine Entscheidung ist notwendig, die in der Performance als Beherrschung erscheint. Die anthropomorphe Funktion der Beherrschung eines Subjekts S2 (¬SO) durch sein Gegensubjekt S1 (SO) entspricht tiefengrammatisch dem „Auslösen“ der gerichteten Operation einer Negation von s2 durch s1. Diese Negation substituiert das anthropomorphe „Wollen“ durch „Sein“ – und den Wunsch nach Beherrschung in eigentliche Beherrschung (Greimas 1987, 74f.). Normalerweise kann die Beherrschung in der Erzählung implizit bleiben, da sie als Voraussetzung der Zuschreibung in dieser mitgegeben ist. Im Hiobbuch allerdings könnte man sie herauslesen aus JHWHs Verdammungsurteil gegen die Freunde, das schon anzeigt, wie Hiobs Entscheidung ausfallen wird. Die Negation transformiert also auf Kosten von ¬SO (im Beispiel den Freunden) das virtuelle narrative Programm von SO (JHWH) in ein aktuales. Wie gerade gesagt, geht in der tiefengrammatischen Operation der Kontradiktion mit der Negation von s2 die Assertion von s1 einher, anthropomorph repräsentiert als Zuschreibung von O an S1 (S1 ← O). Insofern wir die Problemlösung als „Objekt“ O bestimmen, entspricht die Zuschreibung demnach der Bewertung der aktualisierten Lösungsalternative, die feststellt, ob diese tatsächlich zur erfolgreichen Lösung sz geführt hat (JHWH hat Hiob tatsächlich getröstet: SO ← O). Die Zuschreibung als Abschluss der Performance wird genauer als „Übertragung“ analysiert und als Spezialfall einer allgemeineren Struktur verstanden, des „Schemas der Kommunikation“ bzw. allgemeiner der „Struktur des Austausches“. Die Übertragung erscheint dabei als Einheit zweier simultaner Vorgänge: Entzug und neue Zuschreibung (bzw. tiefengrammatisch Konjunktion und Disjunktion) von Aktanten mit Wertobjekten (77). Damit ist das Ergebnis einer Performance-Einheit – bzw. jetzt genauer einer syntagmatischen Serie von Performances (79) – nicht der bloße Erwerb von Objekten bzw. Werten, sondern ihr Transfer: Der narrative Prozess führt zu neuen Werteverteilungen. Betrachtet man die Aktan-
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ten als „Orte“, an bzw. von denen „Objekt-Werte“ lokalisiert, hinzugefügt und entfernt werden können, gelangt man zu einer „topologischen Syntax“ von Wertübertragungen, die der Erzählung ihre Bedeutung verleiht: Sie organisiert das Erzählen als einen wertschaffenden Prozess (79). Wertsysteme wiederum setzen Ordnung voraus: Externe Ordnungssysteme bestimmen die Achsen, auf denen konkrete Terme zueinander in Relationen treten können25. In Greimas’ narrativer Grammatik und seinem Konzept der „Performance“ finden so unsere eigenen Beobachtungen und Schlussfolgerungen zu den narrativen Problemverhandlungen im Hiobbuch eine theoretische Fundierung, die an Allgemeinheitsanspruch und theoretischer Strenge nichts zu wünschen übrig lässt. Das gilt insbesondere für zwei unserer Annahmen: dass erstens verschiedene, auch nicht im engeren Sinne narrative Problemkonstellationen in geeigneten Texten narrativ als Figurenkonstellationen, als verschiedene einander ausschließende und potenziell perspektivierte narrative Programme analysiert werden können („Konfrontation“), und dass zweitens die Erzählung oder narrative Sequenz mit der abschließenden Bewertung der aktualisierten Lösungsalternative („Zuschreibung“ eines Wert-Objekts) auf äußere Ordnungen Bezug nehmen muss, die alle Wertschöpfung und -distribution regulieren. Das Axiom einer Äquivalenz von „Operationen“ der paradigmatischen Tiefengrammatik und dem „Tun“ der anthropomorphen Oberflächengrammatik, welche erst die Bewegung zwischen den Ebenen der Grammatik ermöglicht, erlaubt die wechselseitige Projektion narrativer und nicht-narrativer („paradigmatisch“ organisierter) Konfigurationen und also Problemstellungen. In Würdigung der komplexen Dialektik zwischen Narrativem und Kognitivem bei Greimas hat Fredric Jameson beobachtet, dass Greimas’ semiotische „Reduktion“ narrativer Oberflächen auf ihre „kognitive“ (logischkonzeptuelle) Basisstruktur in beide Richtungen funktioniert, so dass selbst wissenschaftliche oder philosophische Argumentationen einer nar-
––––––––––––– 25 Für Erzählungen mit einem zentralen narrativen Programm, etwa nach dem Schema der SUCHE, steht nicht die Konfrontation, sondern die Disjunktion Subjekt-Objekt im Mittelpunkt. Die Konfrontation ist vorauszusetzen, kann aber implizit bleiben (die Disjunktion SO ∪ O ist ausführlicher SO ∪ O ∩ ¬SO mit SO ļ ¬SO). Zentrales Ziel der Performance ist die Konjunktion Subjekt-Objekt SO ∩ O als Ergebnis der Zuschreibung SO ← O. Die Beherrschung erscheint eher als Überwindung von Widerständen oder Bestehen einer Prüfung.
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rativen Analyse unterworfen werden können26. Zwar kann die Universalität dieses Anspruchs bezweifelt werden, aber in bestimmten Fällen halte ich ihn für äußerst fruchtbar, zum Beispiel, wie Teil D dieser Arbeit untermauern soll, im Fall von Kant, den auch Jameson explizit erwähnt. Die Greimas’sche Dialektik des Narrativen und Kognitiven will Jameson explizit auch auf „Ideologien“ angewendet wissen (Jameson xiii). In der Tat scheint, wie unsere Überlegungen zu exemplarischen Lehrerzählungen gezeigt haben, „ideologisches“ Erzählen die Beziehung von narrativer Wertdistribution und außertextlicher Ordnung am klarsten vor Augen zu führen. Bei Greimas selbst soll die narrative Syntax (Aktantenstruktur) sowohl „psychosemiotische Narrativisierung“ (in Bezug auf die „reflexive Organisation individueller Universen“: das „innere Leben“) als auch „soziosemiotische Narrativisierung“ (in Bezug auf die „transitive Organisation kultureller Universen“: Mythologien und Ideologien) abbilden können (Greimas 1987, 89f.). Das Spiel des semiotischen Quadrats funktioniert nur auf existierenden Ordnungen bedeutungstragender Elemente; und jede Attribution von Werten, die ein Leser im Nachvollzug des Erzählens vornimmt, muss auf eigene Wertordnungen Bezug nehmen. Narrativ transferierte Werte verweisen letztlich auf die „wesentlichen Attribute menschlicher Kompetenz“, die im Modus des Imaginären menschliches Handeln begründen, rechtfertigen und ermöglichen27. Das syntaktische Konzept des Objekts, als des Trägers je konkreter Werte, ist ein „Endterm unserer Beziehung zur Welt“; der elementare narrative Satz, in dem es erscheint, repräsentiert diese Beziehung zur Welt „in der Form des Dramas“ (87). Wir verstehen die Erzählung, wenn wir Position und Relationen der darin transferierten Werte im je zugehörigen (darauf projizierten) semantischen Universum bestimmen können. ––––––––––––– 26 “If narratives are transformed back into something that still distantly resembles a cognitive dynamic, overtly cognitive texts–philosophy, science, and the like–are thereby opened up and made vulnerable to a now more properly narrative analysis. This is the other pendulum swing of the dialectic of Greimassian semiotics, which will now decode and unmask the seemingly abstract, in its various disciplinary discourses, as the covert operation of narrative programs and schemata of all kinds, so that the movement of an abstraction or a concept through rigorous philosophical argument becomes readable and visible as the procession of a ‘character’ through multiple trials and perils, menaced by its conceptual adversaries and aided and abetted by ‘magical helpers’ who are no less mythic than those of Propp’s peasant stories: Kant thereby becomes the first great modern novelist” (Jameson xiif.). 27 Greimas 1987, 84, mit Bezug auf Dumézils Untersuchung von „magischen Objekten“, die nach dem Erwerb durch Held oder Antiheld zu „Helfern“ werden.
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d) Narrative Kontingenz Mindestens zwei Komponenten narrativen Problemlösens kann Greimas’ Modell unschwer integrieren: Problemsituation („Konfrontation“) und Bewertung („Zuschreibung“), welche in unserer Analyse in etwa den Elementen Figurenkonstellation und Schicksalswechsel entsprachen. Mit der dritten (mittleren) Komponente allerdings, der Entscheidung, könnte es Schwierigkeiten geben. Die „Entscheidung“ sollte mit Greimas’ „Beherrschung“ korrespondieren, und in der Tat bestätigt deren Bestimmung als Aktualisierung eines vorher virtuellen narrativen Programms und damit einhergehende Negation alternativer Programme unsere Intuitionen zur „Entscheidung“ für eine narrativ repräsentierte Lösungsalternative. Greimas besteht aber darauf, dass gerichtete syntaktische Operationen innerhalb des taxonomischen Systems der Tiefengrammatik „vorhersagbar und berechenbar“ seien (70). Wenn das auch für die korrespondierenden syntaktischen Operationen der narrativen Oberflächengrammatik gelten sollte, dann könnte es gar keine Entscheidungen geben, die nicht von vorn herein schon entschieden wären. „Dann würde aber nichts geschehen. Es gäbe kein Ereignis, keine Überraschung. Es gäbe nichts zu erzählen.“28 Sobald Kontingenz ins Spiel kommt, sobald von konkurrierenden Problemlösungsvorschlägen nicht notwendig einem der Vorzug gegeben werden muss, scheinen Erzählen (und Problemlösen) etwas unaufhebbar Diachronisches zu haben, dem das dargestellte Modell nicht hinreichend gerecht wird. Auch Greimas ist sich dessen schon in der Strukturalen Semantik durchaus bewusst. Sein Versuch, die Bedeutungskonstitution des Erzählens auf einer weitgehend paradigmatischen Grundlage29 zu modellieren, kann den diachronischen Charakter der Erzählung nicht vollständig eliminieren: Es bleibt ein „unaufhebbarer Kern ..., der der Definition der Erzählung als Diachronie Rechnung trägt“. Dieser Kern ist in der Struktu––––––––––––– 28 So antwortet Ricoeur auf die Frage, ob die Widersprüche zwischen den Semkategorien des semiotischen Quadrats auch im Bereich des Narrativen starke Widersprüche – echte Kontradiktionen, Gegensätze, Präsuppositionen – sein können. Seine Schlussfolgerung ist die, dass „die Oberflächengrammatik es zumeist mit Quasi-Widersprüchen, QuasiGegensätzen, Quasi-Voraussetzungen zu tun hat.“ (Ricoeur 1989, 97). 29 In der Strukturalen Semantik nutzt Greimas dazu abstrakt-metaphorische Konzepte wie „Vertrag“, „Vertragsbruch“, „Wiederherstellung des Vertrages“ (bzw. Verfehlung und Beseitigung der Verfehlung) durch Herstellung von „Konjunktionen zwischen Identitäten und Disjunktionen zwischen Gegensätzen“. „Vertrag“ wird als Konjunktion von Erlass und Akzeptierung, „Vertragsbruch“ als Disjunktion von Erlass bzw. Verbot und Übertretung, d. h. Negation der Akzeptierung definiert (Greimas 1971, 181).
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ralen Semantik die „Prüfung“. In der Unvorhersehbarkeit und Ungewissheit des Ausgangs der Prüfung bewahrt sich ein „diachronischer Rest“ (Greimas 1971, 189f.). Die Reduktion der narrativen Bedeutung auf eine Beziehung „notwendiger Implikation“ misslingt (vgl. Ricoeur 1989, 81). Was aus Sicht von Greimas wie ein Misslingen aussehen mag, ist für Ricoeur eine Bereicherung: Der „Widerstand des Diachronischen in einem wesentlich zeitlosen Modell“ ist ihm ein Indiz für den fundamentaleren „Widerstand der narrativen Zeitlichkeit gegen die bloße Chronologie“ und die Dialektik der „Sequenzen- und der Konfigurationsdimension der Erzählung“ (Ricoeur 1989, 83). Der Einbruch der Diachronie ins Paradigmatische kennzeichnet die Fähigkeit der Erzählung, ein narratives Urteil zu fällen, das sich eben nicht entsprechend durch eine narrative Grammatik erzeugen und berechnen lässt, sondern als unbedingter Akt einer Erzählinstanz erscheint, die sich der Grammatik entzieht. Greimas Überbetonung des Paradigmatischen scheint in diesem Licht gesehen gerade jener Funktion der Kontingenzverschleierung beizustehen, die vor allem in exemplarischem und moralisierendem Erzählen das narrative Urteil als endgültiges suggerieren möchte30. Analoges gilt im weiterentwickelten Modell für die Entscheidung, d. i. die „Beherrschung“ als Mittelglied der Performance zwischen „Konfrontation“ und „Zuschreibung“. Die Beziehungen zwischen diesen narrativen Einheiten (narrativen Aussagen) sind nicht auf die der logischen Implikation beschränkt. Aus einer Konfrontation von S1 und S2 folgt noch nicht, welches der beiden Programme in der „Beherrschung“ aktualisiert wird – auch Greimas spricht von einer „willkürlichen Wahl“ der Richtung für die Funktion der „Beherrschung“ (vgl. Greimas 1987, 75). Dass etwa gerade das Programm von S1 aktualisiert und S1 Ziel der Zuschreibung von O wird, ist ein narratives Urteil, das der syntagmatischen Dimension der Narrativität eine autonome Bedeutsamkeit verleiht. In diesem Urteil erscheint, was Greimas „Bedeutungsproduktion durch ein Subjekt“ nennt (68). Sie ist paradigmatisch nicht einholbar. Die Unverzichtbarkeit des Syntagmatischen verdankt sich nach Ricoeur der unauflöslichen Beziehung des Erzählens auf die präfigurierte „Welt des Handelns“, die es narrativ konfiguriert. Auch Greimas’ Erweiterungen des logisch-relationalen Tiefenmodells zu einer narrativen ––––––––––––– 30 Meines Erachtens verführt gerade die Kontingenzverschleierung exemplarischen Erzählens zu dieser Reduktion auf die Notwendigkeit. Denn erst die exemplarische Generalisierung, ein Akt der Rezeption, projiziert Beziehungen „notwendiger Implikation“ von der äußeren Ordnung zurück auf das erzählte Einzelne.
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Grammatik können ihre Erklärungsleistung nicht mehr allein aufgrund der Logik des semiotischen Quadrats erbringen, sondern benötigen unser handlungssemantisches Wissen (Ricoeur 1989, 98). Die implizite Phänomenologie des Handlungssemantik erscheint in den Bestimmungen des „Tuns“, durch das taxonomische Relationen zu syntaktischen Operationen werden, und in den hinzutretenden Modalitäten von Wollen, Wissen und Könnens. Sie erscheint in der „polemischen Beziehung“ zwischen Programmen (99), deren praktische Konnotationen schon vor ihrer logischen Reformulierung wirksam sind (zudem bezweifelt Ricoeur, dass der narrative Konflikt zwischen Subjekt und Gegensubjekt in logischem Widerspruch oder Gegensätzlichkeit aufgeht). Sie erscheint auch in der Kategorie der „Übertragung“ als Bestandteil der „Zuschreibung“: „nehmen und geben“ enthält „mehr als trennen und verbinden“ (Disjunktion und Konjunktion). Das Neue, das in der Zuschreibung entsteht und die Erzählung zu einem „wertschaffenden Prozess“ macht, wird vom paradigmatisch dominierten Modell nicht hinreichend erfasst. „Irgendwo muß wohl die Logizität dem Schöpferischen der Erzählung unangemessen sein.“ (100f.) Die Kontingenz des Erzählens wirft die Frage auf, welcher Art die Beziehungen zwischen narrativen Aussagen sein müssen, damit diese zwar nicht logisch notwendig, aber auch nicht völlig beliebig auseinander folgen, damit sie also kohärente und überzeugende Verknüpfungen bilden. Eine Reduktion auf Kausalbeziehungen jedenfalls scheitert, wie ich bereits in der Einleitung zu zeigen versucht habe (vgl. oben S. 11). Greimas selbst gibt dazu schon wertvolle Hinweise, wenn er seine Aufmerksamkeit der figurativen Ebene des Erzählens zuwendet und dort auf sogenannte diskursive Konfigurationen verweist: lexematische Konstellationen (Wortfelder etc.), aber auch charakteristische Sequenzen von Aussagen („Motive und Themen“), die als verfügbare „syntagmatische Konfigurationen“ der Manifestation semantischer Inhalte dienen können. Diese diskursiven Konfigurationen entnehmen wir gewissermaßen einem „diskursiven Wörterbuch“, einem „Inventar von Konfigurationen aus kollektiven und/oder individuellen Universen“ (Greimas 1987, 114ff.); Sie gehören damit zu unserem repräsentierten und kodifizierten Wissen über die Welt und über die Sprache, also zu unserer „Enzyklopädie“ (Eco), und es spricht m. E. nichts dagegen, diese syntagmatischen Konfigurationen als Schemata im Sinne der Schematheorie aufzufassen. Narrative Schemata (Eco benutzt das verwandte Konzept der „Szenographien“) sind in der Tat geeignet, die kohärente Verknüpfung narrativer Aussagen zu organisieren, wie Kapitel C.I.3 im Einzelnen zeigen wird.
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e) Die Topologie des Bedeutens Greimas’ Bemühungen um das Paradigmatische werden durch die genannten Einwände nicht entwertet 31. Sein Ansatz ist ein ehrgeiziger, origineller und extrem fruchtbarer Versuch, elementare und fundamentale Strukturen der Bedeutungskonstitution mit einer Theorie der Narrativität zu verbinden. Wie sich zeigen wird, eröffnet sich dadurch nicht nur die Möglichkeit, den behaupteten Bezug der Erzählung auf „äußere Ordnungen“ theoretisch zu fundieren: Greimas nimmt die Grundstruktur unserer Weltrepräsentationen selber in den Blick. Wir hatten im Anschluss an Ricoeur gesagt, dass narrative wie argumentative Texte ihre eigenen „Welten“ entwerfen, deren Kohärenz wesentlich die Überzeugungskraft der in diesen Texten vorgeschlagenen Problemlösungen bestimmt. Problemlösen wiederum ist, metaphorisch gesprochen, die Suche nach einem Weg „durch“ den Problemraum, und narrative Problemverhandlung muss, um zu überzeugen, einen akzeptablen „Weg“ vom Problem zum Zielzustand vorführen können, der den Gesetzen von „Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“, also insbesondere unseren grundlegenden Überzeugungen über die Welt (endoxa) entspricht. Den elementaren Bestandteilen dieser Überzeugungsinhalte (Semen) und ihren Relationen zueinander liegt nach Greimas dieselbe paradigmatische Struktur zugrunde wie seiner narrativen Grammatik32. Wie bereits erwähnt, ist Greimas’ narrative Grammatik Bestandteil seines Entwurfs einer allgemeinen Semiotik, zu der eine „fundamentale Semantik“ ebenso gehört wie eine „fundamentale Grammatik“. Sowohl Semantik als auch narrative Tiefengrammatik operieren auf grundlegenden („axiomatischen“) Strukturen der Bedeutungskonstitution, dem „semiotischen Quadrat“. Das semiotische Quadrat kennzeichnet als „elementare Bedeutungsstruktur“ nichts Geringeres als „Bedingungen jeder Sinnerfassung, welches immer dieser Sinn sei“ (Ricoeur 1989, 85): Ein beliebiger Begriff hat nur deshalb für uns eine Bedeutung, weil er (bzw. seine ––––––––––––– 31 Schon 1972 hatte Claude Bremond mit Recht angemerkt, dass sich die Bedeutung narrativer Texte nicht auf ein paradigmatisches logisch-semantisches Schema der „Tiefengrammatik“ reduzieren lasse und auch die temporale Ordnung der erzählten Ereignisse und die inhaltliche Besetzung bedeutungstragend seien. Dennoch ist Greimas zu konzedieren, dass kein Erzähltext „Bedeutung“ ohne Bezug auf paradigmatische Relationen – äußere Ordnungen – haben kann. So kann man durchaus sagen, dass „sowohl Greimas gegen Bremond als auch Bremond gegen Greimas recht hat“ (vgl. Titzmann 168f.). 32 Zum Folgenden vgl. Greimas 1987, 65f.
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semantisch wirksamen Bestandteile bzw. „Merkmale“, die Seme) in systematischer Weise zu anderen Begriffen bzw. Semen in Beziehung gesetzt werden kann. Hier können wir auch Stierles „narrative Oppositionen“ einordnen, denn das semiotische Quadrat ist nichts anderes als eine Visualisierung der verschiedenen oppositionellen Relationen, in die ein Term innerhalb eines gegebenen axiologischen Systems treten kann. Grundlegend ist eine „binäre Semkategorie“ wie zum Beispiel weiß vs. schwarz, deren Bestandteile zueinander in einem konträren Gegensatz stehen. Von diesen Bestandteilen ausgehend können zwei weitere Begriffe aufgesucht werden, die jeweils die Negation der Ausgangsterme bezeichnen (nicht weiß und nicht schwarz). Zwischen diesen vier Termen bestehen die oppositionellen Relationen des semiotischen Quadrats: konträrer Gegensatz (weiß vs. schwarz), Kontradiktion bzw. Widerspruch (weiß vs. nicht weiß) sowie Präsupposition bzw. Voraussetzung (schwarz vs. nicht weiß). Das semiotische Quadrat kann solcherart sowohl als Modell zur Generierung neuer Bedeutungen als auch als ein Werkzeug zur Kartierung unübersichtlicher konzeptueller Landschaften betrachtet werden. Gleichzeitig macht das Schema transparent, wo die „Inhalte“ herkommen, die in der narrativen Grammatik die Positionen des formalen Schemas besetzen: Voraussetzung für jede Anwendung des Quadrats sind bereits vorgegebene Achsen konträrer Gegensätze (An-Ordnungen) – sei es, wie im Beispiel, in Bezug auf Farbkategorien (weiß vs. schwarz), auf Orientierung im Raum (oben vs. unten), Werte (gut vs. böse), Intentionen (Helfer vs. Gegner) oder Aktivität (Subjekt vs. Objekt). Indem Greimas auf diese Weise seine narrative Grammatik so eng wie nur möglich auf elementare Strukturen des Bedeutens bezieht, verleiht er seinem Ansatz nicht nur analytische Kraft, sondern auch besondere Relevanz für eine kognitiv ausgerichtete Erzählforschung. Greimas’ Modell ist kein ad hoc konstruiertes Analyseschema, sondern systematisch zurückgebunden an die wichtigsten Voraussetzungen narrativen Bedeutens: einerseits die Voraussetzungen des Narrativen – die elementaren Strukturen der Handlungssemantik – und andererseits die Voraussetzungen des Bedeutens – die elementaren Strukturen unserer semiotischen Kompetenz. Das semiotische Quadrat dient „als Form“ und „konstitutives Modell“ der Artikulation möglicher Bedeutungen. Damit umgreift es, zusammen mit dem je zugrunde liegenden Inventar an Semkategorien, nach Greimas die „semantische Substanz“ eines „semantischen Mikrouniversums“. Die Eckpunkte des semiotischen Quadrats können gewissermaßen als Örter – d. h. Ausgangs- und Zielpunkte von gerichteten Operationen der Bedeu-
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tungskonstitution – betrachtet werden, so dass ich Greimas’ „topologisches“ Modell, als heuristisches Instrument (“a kind of ‘discovery principle’”, Jameson xv) verstanden, in die Nähe der Topik rücken möchte, die man ebenfalls gewissermaßen als Anleitung zur Navigation durch die Strukturen unserer Weltrepräsentationen betrachten kann33. In diesen Zusammenhang gehören Aristoteles’ vier Bedeutungen des Gegensätzlichen, die sowohl für den „Topos des Gegensätzlichen“ in der Rhetorik II.23 als auch für Topik II.8 grundlegend sind: Die Dinge sind sich in vierfachem Sinne entgegengesetzt: im Sinne der Relation, der Kontrarietät, der Beraubung und des Habitus und endlich viertens der Bejahung und Verneinung. Um jeden dieser Gegensätze im allgemeinen Umriß zu beschreiben, so steht z. B. relativ das Doppelte dem Halben gegenüber, konträr das Schlechte dem Guten; wie Beraubung und Habitus stehen sich gegenüber Blindheit und Gesicht und wie Bejahung und Verneinung Sitzen und Nichtsitzen. (Aristot. Kat. 10, 11b, S. 70)
Mit dem topischen Denken verbindet Greimas’ Methode nicht nur die systematische Koordination von Logik, Sprachsystem und Kommunikationsstrukturen, sondern auch die grundsätzliche Ausrichtung auf die kognitive Organisation unserer „Welt“. Aktantenstrukturen – syntagmatisch in zwei- und dreiwertigen narrativen Aussagen („Subjekt“/“Objekt“ oder „Sender“/“Objekt“/“Empfänger“) oder paradigmatisch als Artikulationen von Bedeutungen entsprechend dem semiotischen Quadrat („Subjekt“ vs. „Gegensubjekt“, „positives Objekt“ vs. „negatives Objekt“ etc.) – leisten nicht weniger als die „Organisation menschlicher Imagination“ als Projektion kollektiver und individueller Universen, die formalen Strukturen „einer sinnvollen Welt“ (Greimas 1987, 107f.). Auch die räumliche Metaphorik der topischen Methode greift Greimas’ topologischer Ansatz auf: Paradigmatische und syntagmatische Aktantenstrukturen lösen den „Raum des Imaginären“ in „distinkte Örter“ (loci) auf (109), die Werte annehmen und auf entsprechende Örter in „isotopen“ Konfigurationen projiziert werden können. Der Raum, in dem Erzählungen auf „Bahnen“ ihre Werte zirkulieren lassen, tendiert nach Greimas dazu, ein „geschlossener Raum“ zu sein. Traditionelle Erzählungen und Mythen (wie Propps Märchen) beschreiben bevorzugt einen „Kreislauf der Werte“, oder sie machen das Auftauchen oder Verschwinden von Werten in besonderer Weise signifikant: So wird der „versteckte Schatz“ zum Ausdruck einer Gegen-Ordnung, nämlich des unverdienten, illegitimen, aber begehrten Guts (Greimas 1987, 92f.). Die––––––––––––– 33 Ausführlicher dazu unten Abschnitt II.4.b ab S. 356.
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ses illegitime Gut ist eines, das sich oft genug entzieht (ein Schatz sinkt wieder auf den Meeresgrund, ein schon geglückt geglaubter Bankraub scheitert doch noch) oder das sich als Schein erweist (Gold verwandelt sich im Märchen bei Tageslicht in Kohle, Asche, Pferdeäpfel). Die Abgeschlossenheit der narrativen Struktur erzeugt ein geschlossenes Wertesystem, das auch die interpretative Überschreitung dieser narrativen Struktur provozieren kann. Narrative Werte entstehen nicht ex nihilo; sie zirkulieren zwischen den beteiligten „Subjekten“ primär in einem geschlossenen „immanenten Universum“ des Erzählens: Was ein Subjekt erwirbt, das büßt ein anderes ein. Dort, wo ein signifikantes Auftauchen von Werten nicht explizit durch Operationen des Austauschs herbeigeführt wird, muss deshalb die Struktur des Austauschs über die Grenzen dieses immanenten Universums hinaus extrapoliert werden: Es wird ein nicht-figurativer Sender (z. B. das „Schicksal“) postuliert, und damit auch ein „transzendentes Universum“, ein weiteres axiologisches System, also eine andere (oft „höhere“) Ordnung außerhalb des narrativ konfigurierten Wertesystems, die mit der „immanenten“ Ordnung auf bestimmte Weise kommuniziert (Greimas 1987, 102f.). Die Abgeschlossenheit der narrativen Struktur sichert also einerseits, dass das potenziell unendliche Spiel der Wertverteilungen auf bedeutungstragende Weise zum Stillstand kommen und signifikante Konfigurationen bilden kann, und sie eröffnet andererseits der Erzählung eine Dimension der Interpretation, die über direkt allegorisierende Zuordnungen hinaus Bezüge zu nicht explizit (figurativ) repräsentierten Konzepten und Ordnungen erlaubt. Der „transzendente Sender“ par excellence ist das „Göttliche“. Wird es allerdings in die narrative Struktur hineingeholt und als Aktant aktualisiert – wie JHWH in der Klage der Psalmen, in der Rechtsstreit-Fiktion Hiobs oder in der Theophanie – wird das immanente Erzähluniversum bis an die Grenzen des dogmatisch Denkbaren ausgedehnt. In solchen Erzählungen dürften keine Fragen mehr offen bleiben, keine „Werte“ ohne identifizierbaren „Sender“ transferiert werden. Eine solche Erzählung bedeutet explizit die ganze „Welt“. Für alles Unerklärte ist dieses Göttliche (im alttestamentlichen oder auch im neuzeitlich-aufklärerischen Verständnis) die Erklärung; für alles trägt es die Verantwortung, es sei denn, ein Gegensubjekt nimmt ihm etwas von der Verantwortung ab. Die Erden- und Himmelsszenen in der Hiobnovelle können wir noch als distinkte, aber kommunizierende Universen mit je eigenen Aktantenstrukturen auffassen: ein „quasi immanentes“ Universum auf der Erde, ein „quasi transzendentes“ im Himmel. Hiobs Wert-Verluste auf Erden werden zurückgeführt
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auf das Handeln JHWHs und des Satans im Himmel. JHWHs Theophanie in der Dialogdichtung dagegen sprengt das „immanente Universum“ des Redestreits. Die Ordnung der „Welt des Textes“ ist plötzlich die ganze Weltordnung selber, und ihre Mehrdeutigkeiten, ihre Unbegreiflichkeiten fallen auf Gott selbst zurück. Verständlicherweise führt deshalb die Hiobgeschichte, ungeachtet der Gottesreden, die eine Schöpfung jenseits aller Menschenordnung propagieren wollen, eine sehr viel akzeptablere „neue Distribution der Werte“ herbei: Die Wiederherstellung Hiobs schließt den Kreis – fürs erste. f) Vom Urteil über das Subjekt zum Subjekt des Urteils Greimas’ narrative Grammatik stellt den vielleicht konsequentesten Versuch dar, in einer Theorie der Erzählung den elementaren Strukturen der Weltrepräsentation zu ihrem Recht zu verhelfen. Eine streng „strukturale Semantik“ in diesem Verständnis mag einer Topik, die nach Aristoteles zunehmend stärker zwischen formalen und materialen „Gesichtspunkten“ der Strukturierung hin und her gerissen scheint, in der Tat in vielem überlegen sein, zudem Greimas ja scheinbar mit einem minimalen materialen Anteil auskommt: mit der impliziten Handlungssemantik der Oberflächengrammatik, die zudem stets an formal-grammatische Strukturen rückgebunden bleibt. Es ist aber gerade der „Mischcharakter“ des Modells (Ricoeur 1989, 103), der seine analytische Kraft und Reichweite bedingt. „Formales“ und „Materiales“, semiotische und praktische Ebene gehen ein „Verhältnis wechselseitigen Vorranges“ ein: Das semiotische Viereck steuert sein Netz von wechselseitig definierten Termini und sein System von Widerspruch, konträrem Gegensatz und Voraussetzung bei. Die Handlungssemantik bringt die Hauptbedeutung des Tuns und die spezifische Struktur der Aussagen ein, die sich auf das Handeln beziehen. In diesem Sinne ist die Oberflächengrammatik eine gemischte: eine praktisch-semiotische. (Ricoeur 1989, 99)
Das Modell unterliegt quasi einem „doppelten Zwang“: einem logischen und einem phänomenologischen, einem, „der das Handeln und das Leiden betrifft“ (Ricoeur 1989, 102). Ein solcher doppelter Zwang ist nur folgerichtig für ein tatsächlich ergiebiges Modell narrativen Bedeutens, das weder die logischen Bedingungen jeden Bedeutens noch die spezifischen Bedingungen der Narrativität vernachlässigen darf. Der „Mischcharakter“ des Modells als logisch, grammatisch und handlungssemantisch bestimmtes rechtfertigt unseren Brückenschlag zu den „topischen Struktu-
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ren“34 unserer Weltrepräsentationen, die in narrativen wie argumentativen Texten die Kohärenzbedingungen der „Welt des Textes“ darstellen. Die heterogenen Elemente unserer kognitiven Repräsentationen sind miteinander über vielfältige paradigmatische ebenso wie syntagmatische (z. B. schematische) Beziehungen verknüpft. Daher macht gerade die Kombination paradigmatisch und syntagmatisch orientierter Analysekategorien das Greimas’sche Modell zu einem leistungsfähigen Analysewerkzeug. Verglichen mit dem vergleichbar begründeten Ansatz narrativer Oppositionen von Stierle stellt dieses Modell einen erheblichen Fortschritt dar, das in der Lage ist, nahezu alle von uns herausgearbeiteten Elemente narrativer Problemverhandlung abzubilden: Die allgemeine Struktur narrativer Problemverhandlung, als Sequenz Problem – Entscheidung – Bewertung, kann im Rahmen von Greimas’ Modell als die narrative „Performance“-Einheit von Konfrontation – Beherrschung – Zuschreibung modelliert werden. Unterschiedliche Lösungsvorschläge für ein narrativ verhandeltes Problem (Operationen bzw. Folgen von Operationen) erscheinen in der Erzählstruktur als entgegengesetzte narrative Programme („Konfrontation“). Die Aktualisierung eines narrativen Programms, als realisierte Entscheidung für einen Lösungsvorschlag und gegen seine Alternativen („Beherrschung“), mündet in der „Zuschreibung“ in eine Neuverteilung von Werten, die als Bewertung narrativer Lösungsvorschläge gelesen werden kann. Die in der Erzählung transferierten oder erzeugten Werte setzen axiologische Ordnungsbeziehungen voraus, die zur Ordnung der „Welt des Textes“ beitragen und darüber auch zu außertextlichen Ordnungen in Beziehung gesetzt werden können – als Bestätigung, Zurückweisung oder Gegenentwurf35. Das Modell beschreibt den narrativen Prozess als das In-BewegungGeraten von Strukturen, als Bewegung von einem unerwünschten Zustand bedrohter, instabiler Ordnung zu einem neuen, stabilen Zustand, die in der Bewegung des Problemlösungsprozesses vom Ausgangs- zum Zielzustand durch den Problemraum ihr Analogon findet. Durch Fokusverschiebung auf einzelne narrative Programme können aber auch unterschiedliche sub––––––––––––– 34 Vgl. Conrad Wiedemann, „Topik als Vorschule der Interpretation“ (1981), 248. 35 „Die von der Erzählung bewirkte Vermittlung ist wesentlich praktischer Natur, sei es, wie Greimas selbst andeutet, daß sie danach strebt, eine bedrohte frühere Ordnung wiederherzustellen, sei es, daß sie eine neue Ordnung entwerfen will, die einer Heilsverheißung entspräche. Ob nun die erzählte Geschichte die bestehende Ordnung erklärt oder eine andere Ordnung entwirft, als Geschichte setzt sie allen bloß logischen Umformulierungen der narrativen Struktur eine Grenze“ (Ricoeur 1989, 82).
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jektive Perspektiven in den Blick genommen und so auch der Wechsel zwischen subjektiver Perspektive des Beteiligten und „weisheitlicher“ Beobachterperspektive analytisch nachvollzogen werden. Diese Fähigkeit schon des frühen Modells hatte uns zuerst bewogen, seine Anwendbarkeit auf Strukturen des Hiobbuches (genauer die Struktur der Klage) zu prüfen, und die Weiterentwicklungen seiner narrativen Semiotik haben ihre Fähigkeiten noch entscheidend bereichert. Das Modell von Greimas gerät jedoch dort an seine Grenze, wo nach der Entscheidung gefragt wird, die von der „Konfrontation“ zweier narrativer Programme zur „Beherrschung“ eines dominierenden Programms führt. Dass in der Erzählung etwas geschieht – dass eine Entscheidung statt hat – kann nur modelliert werden, wenn die syntagmatische Dimension der narrativen Grammatik nicht bruchlos auf die paradigmatische zurückgeführt, sondern als ihrerseits genuin bedeutungserzeugende Dimension anerkannt wird. Im konfigurierenden Akt der Fabelkomposition (Ricoeur) werden narrative Urteile gefällt, die nicht „vorhersehbar und berechenbar“ sind und gerade deshalb Problemlösungen sein können. Die urteilende Instanz aber muss außerhalb der Grammatik gesucht werden. Greimas selbst hat auf diese äußere Instanz hingewiesen. Das „anthropomorphe Tun“ auf der Ebene der narrativen Oberflächengrammatik, so Greimas, setzt in doppeltem Sinne „Subjekte“ voraus: nicht nur ein Subjekt des Tuns, das die narrative Aussage zum Inhalt hat, sondern auch, da es sich dabei um ein beschriebenes, „in eine Nachricht transkodiertes“ Tun handelt, Subjekte als im kommunikativen Prozess implizierte Sender und Empfänger dieser Nachricht (Greimas 1987, 71) – Subjekte also, die das In-Bewegung-Setzen der taxonomischen Strukturen erst bewirken. Es stellt sich also die Aufgabe, Greimas’ Modell in Richtung auf Sender und Empfänger, die Funktionen von „Autor“ und „Leser“ hin zu erweitern. Das Bedeuten, das an seinen Objekten betrachtet als Artikulation fundamentaler taxonomischer Relationen erscheint, ist dynamisch betrachtet „Bedeutungsproduktion durch ein Subjekt“ (68). Das den tiefengrammatischen syntaktischen Operationen entsprechende anthropomorphe „syntaktische Tun“ besteht in der „Transformation eines virtuellen Programms in ein aktualisiertes Programm“ (72), und genau so hatten wir oben die „Entscheidung“ charakterisiert: als Aktualisierung einer virtuellen Lösungsvariante auf Kosten ihrer Alternativen. Die narrative Performance impliziert ein „Subjekt“, das die „Entscheidung“ verantwortet. Dieses Subjekt der narrativen Entscheidung entzieht sich aber schon weitgehend dem Zugriff des bis hierher betrachteten Greimas’schen Modells, das lediglich zu ei-
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nem impliziten „Subjekt“ narrativer Transformationen gelangt, also zum Subjekt jenes „transformierenden Tuns“, das die Übergänge zwischen narrativen Zuständen erzeugt. Damit meint Greimas ausdrücklich ein im narrativen Diskurs selbst installiertes Subjekt, nicht das implizierte Subjekt des Erzählens („Erzähler“) das „außerhalb des Diskurses“ situiert ist (Greimas 1987, 96). Ich betrachte das Subjekt der Entscheidung dagegen als Subjekt des konfigurierenden Aktes der Fabelkomposition, und dabei ist ein Bezug auf eine Kategorie der „Autorschaft“ wahrscheinlich unvermeidlich. Im Schema der Kommunikation wiederum wird die Funktion der „Autorschaft“ des Textes durch die der „Leserschaft“ ergänzt, deren aktive „Mitarbeit“ erst kontingente Transformationen nachvollzieht und als die „Entscheidung“ einer implizierten Autorschaft interpretiert. Diese „textuelle Mitarbeit des Lesers“ steht im Mittelpunkt der Theorie Umberto Ecos, die nicht nur Greimas’ Modell zu integrieren und zu erweitern vermag, sondern so heterogenen Elementen wie Aktanten, Werten oder Welten ihren Platz zuweist und dabei auch die Rolle narrativer Schemata („Szenograhien“) plausibel macht. Bevor ich jedoch Ecos Modell im Einzelnen darstelle, will ich den Begriff des narrativen Schemas und seinen Platz in einer Theorie narrativer Problemverhandlung näher bestimmen. 3. Die Ordnung des Geschehens: Narrative Schemata a) Vom Syntagma zum Schema Unsere Beobachtungen über die strukturellen Eigenheiten des Hiobbuches hatten uns dazu bewogen, in den vergangenen Abschnitten dieses Kapitels schrittweise unser Arsenal an Beschreibungsmitteln zu erweitern, um einerseits diesen Eigenheiten besser gerecht zu werden und andererseits grundlegende Strukturen narrativer Problemverhandlungen erfassen zu können. Ein Modell narrativer Oppositionen wie das von Stierle eignet sich vorzüglich für die Darstellung der auf Ordnungen zielenden Erkenntnisperspektive „weisheitlicher“ Gattungen, die an regelhaften Zusammenhängen von Tun und Ergehen, Anfang und Ende interessiert sind. Wesentliche Elemente narrativer Problemverhandlung (mit der kanonischen Struktur Problemsituation – Entscheidung – Bewertung) sind damit bereits analysierbar, insbesondere die Bewertung von Entscheidungen (Problemlösungsvorschlägen), die vor allem im exemplarischen Erzählen als feste Tun-Ergehen-Sequenzen auf gegebene ethische Ordnungen verweisen. Die Fixierung dieses Modells auf die Bewertung entspricht der weis-
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heitlichen Perspektive von außen auf das System, einer Perspektive, die Ordnungen erkennt, die aber die subjektive Sicht der Handelnden und Entscheidenden verfehlt. Auch die Struktur der Problemsituation selbst, mitsamt der darin möglichen Transformationen oder alternativen Problemlösungsvorschläge, löst dieser Ansatz noch nicht hinreichend auf. Diese Mängel behebt die narrative Grammatik von Greimas, die ebenfalls mit narrativen Oppositionen arbeitet, aber deutlich mehr leistet. Sie vermag insbesondere auch den Perspektivenwechsel zwischen weisheitlicher Draufsicht und dem „In-der-Welt-Sein“ des Betroffenen zu modellieren, wie im Hiobbuch die Struktur der Klage ihn erfordert. Dieses erweiterte Modell ist kognitionspsychologisch recht plausibel, denn es baut nicht nur auf elementaren Strukturen des Bedeutens auf (das semiotische Quadrat), sondern ist vor allem auch an eine elementare Handlungstheorie rückgebunden; es kennt Handelnde, Handlungsziele und Widerstände36, objektive und subjektive Werte, Gelingen und Misslingen, Konfrontation und Dominierung. Es ermöglicht die Darstellung von Motivationen und Konflikten und erlaubt die Abbildung von Figurenkonstellationen (als virtuelle narrative Programme) und bewertenden Schicksalswechseln (als Aktualisierungen narrativer Programme, verbunden mit Wertzuschreibungen) auf Problemstellungen und Problemlösungen. Damit liefert das Modell eine Syntax narrativer Problemverhandlung. Deren Struktur, die Sequenz Problem –Entscheidung – Bewertung, modelliert es als Serie von „Performances“, als Syntagma von Konfrontation – Beherrschung – Zuschreibung. Greimas’ Modell beschreibt, wie das Erzählen Strukturen in Bewegung versetzt und diese Bewegung am Ende in neue relativ stabile Strukturen und neue Distributionen von Werten (entsprechend der Ordnung der Welt des Textes) münden lässt, die auf Ordnungen außerhalb des Textes bezogen werden müssen. Das Modell bietet zudem zumindest Schnittstellen für die Einbeziehung der „topischen Strukturen“ unserer Weltrepräsentationen und für detailliertere Betrachtungen von „Sender“ und „Empfänger“, also Autor- und Leserfunktionen. Insbesondere setzt ––––––––––––– 36 Wie aktuelle Untersuchungen nahe legen, nehmen offenbar schon Säuglinge im Alter von sechs Monaten, also noch vor dem Spracherwerb, soziale Bewertungen vor und bewerten insbesondere die Rollen von „Helfer“ und „Behinderer“ sehr unterschiedlich: “6- and 10-month-old infants take into account an individual's actions towards others in evaluating that individual as appealing or aversive: infants prefer an individual who helps another to one who hinders another, prefer a helping individual to a neutral individual, and prefer a neutral individual to a hindering individual” (J. Kiley Hamlin et al.: “Social evaluation by preverbal infants” (2007), 557).
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das Modell einen Sender voraus, der den Akt der narrativen Konfiguration verantwortet: die Entscheidung, die „willkürliche Wahl“ (Greimas 1987, 75) des dominierenden Subjekts, dessen narratives Programm aktualisiert wird – als narratives Urteil. Erzählen ist unhintergehbar kontingent, sein Urteilen entzieht sich der Grammatik. Die narrative Kontingenz wirft einerseits die Frage nach dem Subjekt der „Entscheidung“ auf, darüber hinaus aber auch die Frage nach den zulässigen bzw. „überzeugenden“ Verknüpfungen zwischen narrativen Aussagen, nach den Regeln kohärenten Erzählens, die in narrativen Problemverhandlungen auch die jeweils zulässigen Transformationen im Problemraum definieren. Als Grammatik stößt das Modell genau hier notgedrungen an seine Grenzen. Zwar kann eine narrative Grammatik die Positionen narrativer Aussagen in allgemeinen „Story-Schemata“ beschreiben, aber die Beschreibung der je spezifischen Regeln der narrativen Bewegung verlangt eine stärkere Einbeziehung von anderen Kompetenzen der Sprachverwender: von ihrem Wissen über typische Rollenverteilungen, Interaktionsmuster und Handlungsabläufe im täglichen praktischen Handeln, aber auch über typische Formen erzählter Handlungen und Geschehnisse. Eine solche Beschreibung, zu der nicht zuletzt Greimas’ Begriff der diskursiven Konfigurationen selbst eine Brücke schlägt, ergänzt den starken Bezug unseres erweiterten Modells auf systematisch beschreibbare paradigmatische Ordnungen (mit seiner Tendenz zur Entchronologisierung narrativer Bedeutung) durch den komplementären Bezug auf regelhafte syntagmatische Beziehungen in der narrativen Struktur: auf narrative Schemata wie das des „RECHTSSTREITES“ im Hiobbuch. Narrative Programme, Verläufe oder Schemata, also vor-diskursive Einheiten, die sich aus einer „zusammenhängenden Folge von Performanzen“37 zusammensetzen, kennzeichnen nach Ricoeur das „Erzählbare“: Man kann diese narrativen Schemata als latente Formen der eigentlichen narrativen Gattungen betrachten, die ihnen ein passendes diskursives Äquivalent liefern. Was das narrative Schema mit der Gattung verbindet, ist die Erzählbarkeit, die in der strategischen Artikulation der Handlung unterschwellig angelegt ist. (Ricoeur 1991, 416)
Unser eigenes Verständnis des „narrativen Schemas“ orientiert sich eher am kognitionswissenschaftlichen Gebrauch dieses Begriffs, der zu Ricoeurs Verwendung durchaus kompatibel ist: Narrative Schemata sind ––––––––––––– 37 Ricoeur verweist auf Greimas, aber auch auf die „Psycho-Soziologie der Sprechakte“, wo narrative Schemata ebenfalls „den Verlauf komplexer Handlungen (wie Gabe, Agression, Tausch usw.) bezeichnen“ (Ricoeur 1991, 416 Anm. 26).
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abstrakte, hierarchisch organisierte mentale Strukturen, die unsere Erwartungen darüber abbilden, wie bestimmte Erzählungen bzw. „erzählbare“ Ereignissequenzen typischerweise verlaufen. Ihre elementaren Bestandteile, Ereignisse und Zustände, stehen zueinander in Relationen der zeitlichen Aufeinanderfolge in mehr oder weniger verbindlicher (kausaler oder rein temporaler) Verknüpfung (mehr dazu im nächsten Abschnitt). In Anlehnung an Greimas’ „Performance“ will ich ein Schema oder eine Folge von Sätzen dann „narrativ“ nennen, wenn darin die Repräsentation einer Zustandsänderung identifizierbar ist, die mit der Konstituierung und Aktualisierung (mindestens) eines narrativen Programms einhergeht (das schließt auch das „Scheitern“ eines narrativen Programms als Aktualisierung seines virtuellen Gegensatzes ein). Eine weitere Voraussetzung für Narrativität ist die Abgeschlossenheit der Struktur, das heißt die Möglichkeit, Anfang und Ende der Geschichte oder Episode zu identifizieren38. Der Ausgangszustand enthält also mindestens die figurale Verkörperung eines „Subjekt“-Aktanten sowie explizit oder implizit ein „Objekt“, das durch Zuschreibung eines Wollens für das Subjekt zu einem „WertObjekt“ wird (Konstituierung eines virtuellen narrativen Programms). Der durch die erzählten Ereignisse (in der Regel intentionale Handlungen und Handlungsfolgen) eintretende Endzustand muss von der Ausgangssituation verschieden sein, wobei diese Verschiedenheit auch „modaler“ Art sein (etwa die Modalität des „Wissens“ oder „Könnens“ betreffen) kann. Im Endzustand muss aber ein Bezug auf das globale narrative Programm – also zu „Subjekt“ und „Objekt“ – des Ausgangszustands identifizierbar sein, im Regelfall als Bestätigung oder Nicht-Bestätigung (Erfolg oder Scheitern) dieses narrativen Programms durch einen spezifischen Transfer des Wertobjekts. Ich werde ein gegebenes kognitives Schema also nur dann „narrativ“ nennen, wenn es mit diesen Kategorien einer narrativen Grammatik analysiert werden kann39. ––––––––––––– 38 So erfüllen viele der basic stories von Turner, z. B. “a whale swims through the water” (s. o. Anm. 48 auf S. 42) nicht die Bedingungen des Narrativen, wie ich es hier verstehe. Aber natürlich ist das eine Definitionsfrage und ihre Antwort abhängig vom Nutzen der entsprechenden Bestimmungen im jeweiligen Forschungsprojekt. 39 Die meisten Definitionen für elementare narrative Strukturen stellen ebenfalls Zustandsänderungen in Bezug auf Subjekte in den Mittelpunkt: vgl. etwa Stierles „eigentlich narrative Oppositionen“, Todorovs „Transformation“ (oben Anm. 13 auf S. 69), Toolans “perceived sequence of non-randomly connected events” oder Bals “series of logically and chronologically related events that are caused or experienced by actors” (zit. Toolan 7ff.). Wie Toolan ausführt, präsupponiert „Ereignis“ ebenfalls eine Zustandsänderung. Zwar ist die Intentionalität eines „narrativen Programms“ nicht immer
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Schon unsere Analyse des Hiobbuches hatte die Annahme nahegelegt, dass narrative Schemata in besonderer Weise für die Beschreibung von Erzählstrukturen fruchtbar gemacht werden können. Die traditionellen Redeformen, die sich im Hiobbuch finden, verweisen auf ganz unterschiedliche Weisen, im Reden und Denken der problematisch gewordenen Welt Form und Ordnung zurückzugeben. Der verhinderte Trostdialog oder der verhinderte Rechtsstreit Hiobs mit JHWH verweisen (negativ) auf schematisierte Handlungsabläufe, deren Strukturen in der Welt des Handelns wurzeln. Klage, Trost und Rechtsstreit formieren spezifische kommunikative Schemata, folgen Mustern zielgerichteter, in Rollenverteilung und Verlauf idealtypisch festgelegter sozialer Interaktion. Sowohl Hiobs Klage als auch der Tröstungsversuch der Freunde orientieren sich an Ordnung und Tradition; erstere an der Struktur der Klage in den Psalmen, letzterer am „Tröstungsschema“ des Ezechiel, das von dem gestraften Sünder Umkehr forderte und dafür Erlösung verhieß (siehe oben S. 170). Eine weitere Ordnungsstrategie versucht das Verhältnis von JHWH, Schöpfung und Mensch in juridischen Kategorien zu denken. Das Buch Hiob weist dieses Denken zurück; es bildet eben keinen Rechtsstreit ab, sondern eher das Scheitern seines Zustandekommens. Das narrative Schema des RECHTSSTREITS ist aber nicht nur ein Beispiel für das „Erzählbare“, sondern darüber hinaus gewissermaßen ein Prototyp narrativer Problemverhandlung, insofern es der bloßen Konfrontation der Perspektiven, die dem Schema des KAMPFES40 zugrunde liegt, eine über den subjektiven Perspektiven der Beteiligten stehende Entscheidungsinstanz hinzufügt und damit auf das verweist, was im Greimas’schen Erzählmodell nur impliziert ist: das Subjekt der Zuschreibung. Diese eigentümliche Rolle des RECHTSSTREIT-Schemas motiviert unseren Versuch, die Funktion narrativer Schemata erzähltheoretisch zu beschreiben.
––––––––––––– Bestandteil dieser Definitionen, aber doch m. E. ebenfalls Voraussetzung für relevante Erzählungen, weshalb ich für meine Zwecke daran festhalte, ohne mich deswegen über die Narrativität von Sequenzen wie „Das Erdbeben verwüstete das Dorf“ oder „Er stolperte und fiel“ streiten zu wollen. 40 Auch Greimas’ Suche oder Kampf kennzeichnen ja typische Klassen von Handlungsverläufen, narrative Schemata mit charakteristischer Struktur und charakteristischer Aktualisierung von Zuschreibung, Konfrontation und Auflösung.
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b) Szenographien Umberto Eco hat wesentliche Elemente des schematheoretischen Ansatzes (vgl. oben A.II.2.c) in sein Modell der textuellen „Mitarbeit der Interpretation“ integriert und eine Beschreibung der Funktionsweise von Schemata bei der Interpretation von (fiktionalen) Erzähltexten geliefert41. Eco spricht dabei von „Szenographien“ (einer Übersetzung von frames) und bezieht sich explizit auf Forschungen der linguistischen Pragmatik, Kognitionswissenschaft und Künstlichen Intelligenz 42. Ecos Ansatz unterscheidet sich von unseren bisher betrachteten Modellen durch seine rezeptionstheoretische Ausrichtung. Eco stellt die Kompetenzen der Sprachverwender, insbesondere das Textverstehen, in den Mittelpunkt seiner Theorie. Das sichert auch die Anschließbarkeit der anderen von uns einbezogenen Erzählmodelle: Zu den Kompetenzen der Sprachverwender gehört die Verfügbarkeit von (narrativen) Grammatiken (Morphologie und Syntax) ebenso wie semantische oder textpragmatische Kompetenzen. Dass Ecos Beschreibung gerade fiktionale Erzähltexte behandelt, begründet er damit, dass ihre besonderen Anforderungen an den Leser sie zum geeigneten Gegenstand für eine möglichst breit anwendbare textsemiotische Theorie machen. Denn bei Erzähltexten stellen sich auch „sämtliche theoretischen Probleme aller anderen Arten von Texten“ (86), da sie alle Arten sprachlicher Akte umfassen können (wobei fiktionale und „künstlerische“ Erzählungen zudem „eine größere Anzahl extensionaler Fragen“ aufwerfen als etwa Alltagserzählungen). Ecos („mögliche“) Definition von „Erzählung“ hatte ich bereits zitiert (oben S. 71): Eine Erzählung enthält die Beschreibung von Aktionen mit einem Agenten für jede beschriebene Handlung, einer Intention des Agen––––––––––––– 41 Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten (1990), im Folgenden, wenn eindeutig, zitiert mit einfachen Seitenzahlen. Zu „Szenographien“ vgl. insb. S. 98-105. Außerdem zitiere ich aus Ecos Aufsatz „Die Rolle des Lesers“ (1989), einer stark komprimierten Paraphrase von Lector in fabula, zuerst erschienen unter dem Titel “Introduction: The Role of the Reader” in Eco, The Role of the Reader. Explorations in the Semiotics of Texts, London, Melbourne, Sydney, Auckland, Johannesburg 1981. 42 Eco zitiert Marvin M. Minsky: „Ein frame ist eine Datenstruktur, die dazu dient, eine stereotype Situation zu repräsentieren, wie in einem bestimmten Wohnzimmer sein oder zu einem Kindergeburtstag gehen. Jeder frame umfaßt eine bestimmte Anzahl von Informationen. Einige davon beziehen sich auf das, was man an nachfolgenden Ereignissen erwarten kann, andere auf das, was man tun muß, wenn sich diese Erwartungen nicht bestätigen werden“ (Eco 1990, 99).
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ten, einem Zustand bzw. einer möglichen Welt und einer gerichteten Bewegung (d. i. Zustandsänderung) in Verbindung mit Ursachen und Zwecken. Das korrespondiert zu unserer eigenen Definition von „narrativ“ als Beschreibung einer Zustandsänderung, d. h. einer Transformation von einer Ausgangssituation in eine Abschlusssituation, verbunden mit der Konstituierung mindestens eines narrativen Programms. Weitergehende Anforderungen an Weltstrukturen, Ausgangs- und Zielzustände und zulässige narrative Transformationen werden von den Diskurs- bzw. „Konversationsregeln“ bestimmt: etwa dass die beschriebenen Aktionen „diffizil“ sein, der Agent „keine offensichtliche Wahl“ hinsichtlich der zur gewünschten Zustandsänderung nötigen Transformationen haben und dass die Folgen seiner Entscheidung ungewöhnlich oder mindestens „unerwartet“ erscheinen sollen. In Anknüpfung an die Semiotik von Peirce versucht Eco die Voraussetzungen und Bedingungen der die Bedeutung eines Textes erst konstituierenden „Zusammenarbeit“ des interpretierenden Lesers – genauer eines Modell-Lesers – mit diesem Text zu explizieren. Nach Eco sind in Texten, die für ein umfangreiches Publikum bestimmt sind (z. B. literarischen), Sender und Empfänger der textuellen Botschaft weniger als „Pole des Aussageaktes“ denn als „Aktanten des Ausgesagten“, als Funktionen bzw. Textstrategien präsent (Eco 1990, 75). (Auch Greimas hat, wie wir sahen, im Rahmen seines eigenen Modells auf die Funktionen von Sender und Empfänger der narrativen Nachricht hingewiesen.) Der Autor, so Eco, kann manifest werden z. B. als ein erkennbarer Stil oder Ideolekt, als bloße Aktantenrolle des Satzes (ich), als illokutives Signal (z. B. Beteuerungen der Wahrheit: Ich schwöre, dass...) oder als perlokutiver Operator (etwa durch eingebrachte Bewertungen: Plötzlich geschah etwas Furchtbares...). Dieser „Gespensterbeschwörung des Senders“ entspricht eine Beschwörung des Empfängers: eines „Modell-Lesers“, der gerade dadurch bestimmt ist, dass er fähig ist zu kooperieren. Indem der Text diese Fähigkeit zur Kooperation voraussetzt, gibt uns der Text selber Hinweise auf die Instanz des Lesers, die wiederum unabdingbar ist, um bestimmte Bedeutungsinhalte zu aktualisieren, die sich an der „Oberfläche“, in der „linearen Textmanifestation“ oder „Textgestalt“ nicht explizit finden. Reale Leser wiederum werden sich im Regelfall wenigstens bemühen, den Anforderungen an den „Modell-Leser“ gerecht zu werden, also die „glücklichen Bedingungen“ wenigstens teilweise zu erfüllen, die nötig sind, „damit ein Text vollkommen in seinem Inhalt aktualisiert werden kann“ (Eco 1990, 76). Angesichts von Texten wie dem Hiobbuch wird klar, dass solch
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eine „vollkommene Aktualisierung“ durch einzelne reale Leser, einzelne Lesarten gar nicht geleistet werden kann. Deshalb ist das Modell in erster Linie ein integratives: es kann eine Vielfalt von Zugängen beschreiben, aber es ist nicht unbedingt ein geeignetes Interpretationswerkzeug43. Ecos komplexes Modell der textuellen Mitarbeit des Lesers umfasst intensionale Operationen (die Aktualisierung diskursiver, narrativer, aktantieller und ideologischer Strukturen des Textes) und extensionale (einen Weltbezug herstellende) Operationen 44. Die in den „Boxen“ des Modells bezeichneten Strukturen bzw. „Ebenen der textuellen Mitarbeit“ (83) bezeichnen nicht „Textebenen“ (der Text selbst, wie er uns vorliegt, hat keine Ebenen, bevor wir analytisch an ihn herantreten), sondern „Ebenen von möglicher Abstraktion, auf der die kooperative Aktivität stattfinden kann“ (Eco 1989, 208). Durch Konfrontation der linearen Manifestation des Textes mit dem eigenen Sprach- und Weltwissen, einem System sprachlicher Codes und Subcodes (lexikalisch, syntaktisch, semantisch, pragmatisch etc.) aktualisiert der Modell-Leser die diskursiven Strukturen, den „Inhalt“, des Textes: Er erfährt, „was im gegebenen Text ‚geschieht‘“ (1989, 226). (Über Eco hinausgehend könnten wir sagen: Der Leser operiert mit seinem mentalen Modell der Welt des Textes.) Narrative Strukturen entsprechen der fabula (einer Menge von Makropropositionen, die die Handlung paraphrasieren; vgl. die geläufigen, oft verwirrenden Unterscheidungen von „Erzählung“ und „Geschichte“, Sujet und Fabel, dis––––––––––––– 43 Köhlmoos hat versucht, aus Ecos Modell und insbesondere dem Konzept der Textstrategie eine „exegetische Methodik“ für die Interpretation des Hiobbuches zu gewinnen; vgl. Melanie Köhlmoos, Das Auge Gottes (1999), 6. Ihre Arbeit zeigt die Vor- und Nachteile eines solchen Vorgehens. Ein Vorteil ist tatsächlich seine Integrationsfähigkeit. So gewinnt Köhlmoos aus heterogenen Elementen – der Textstrategie eines allwissenden Erzählers, im Text präsenten theologischen Konzeptionen, den ihrer Meinung nach im Text angelegten lektüresteuernden Fragen (nach der Gegenwart Gottes) u. a. – ein Konzept des „Auges Gottes“, das aus ganz anderen Gründen auch für meine Untersuchung eine zentrale Rolle spielt. Ein Nachteil ist die Versuchung, die eigenen VorUrteile über die Struktur und Problemstellungen des Buches und das Verhältnis seiner Teile (Vor-Urteile, die jede Interpretation notwendig fällen muss), also die eigene textuelle Mitarbeit als „Textstrategie“ zu verobjektivieren. So erklärt sie zwar den Verweis auf einen „Autor“ des Hiobbuches für problematisch, „weil von persönlichen Vorlieben und Prämissen über das ‚Hiobproblem‘ abhängig“ (42). Aber sie selbst postuliert im Interesse einer einheitlichen „grundlegenden Textstrategie der Hiob-Dichtung“ einen inhaltlich für das Ganze Verantwortlichen: Kein Redaktor habe Novelle und Dialog zusammengeführt, sondern der Dialogdichter selbst habe die Novelle überarbeitet und als Rahmen verwendet (74). 44 Vgl. die grafische Übersicht in Eco 1990, 89.
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course und story, narration und récit usf.)45. Aktantielle und ideologische Strukturen wiederum sind den Oberflächen- und Tiefenstrukturen bei Greimas vergleichbar, auf den Eco sich ausdrücklich bezieht) 46. Um also aus der Textgestalt den „Inhalt“ des Textes zu aktualisieren, greift der kompetente Modell-Leser auf sein Welt- und Sprachwissen (seine „Enzyklopädie“) sowie auf sein Wissen über den in Frage stehenden sprachlichen Akt selber – die „Umfelder der Aussage“ (91): Sender, Zeit und Kontext des Werkes usf. – zurück. Auch narrative Schemata, welche die Analyse in einem Erzähltext identifiziert, können nur dann Bedeutungen konstituieren, wenn der Leser sie kennt und dazu nutzt, sein Verständnis des Textes zu strukturieren, sein mentales Modell des Geschehens zu erweitern und ihm Regeln möglicher Abläufe zuzuweisen. In Ecos Modell gehören narrative Schemata zu den sogenannten „Szenographien“. Sie haben ihren Platz in der enzyklopädischen Kompetenz der Leser, ihrem Wissen von der Welt und von Texten. Szenographien können durchaus komplex sein und sowohl „Szenen“ als auch „Skripts“ im Mandlerschen Sinne in sich vereinen: Die „allgemeine Szenographie“ Supermarkt z. B. enthält generalisiertes Wissen über typische räumliche Verhältnisse in einem Supermarkt (etwa: Eingang, Warenregale, Leergutannahme, Kassenbereich) und über typische Abläufe beim Einkaufen (etwa: Korb nehmen, Waren zusammensuchen, bezahlen). Jedes angemessene Textverständnis erfordert die Verfügbarkeit und Aktivierung geeigneter Szenographien, um nichtgenannte Details zu aktualisieren, Andeutungen zu verstehen, Fehlendes zu erschließen, kurz, durch Inferenzen das im Text explizit Gegebene zu Repräsentationen vollständiger Ereignisse in einer „Welt“ zu ergänzen. Damit ein Text etwas bedeuten und verstanden werden kann, muss er auf etwas außerhalb seiner selbst bezogen werden können: Der Modell-Leser muss grundsätzlich einen irgendwie gearteten Weltbezug des Textes postulieren. Um sein Weltwissen aus der Enzyklopädie anwenden zu können, wird der Leser weiterhin – gegebenenfalls mit ––––––––––––– 45 Eco spricht in Anlehnung an die Russischen Formalisten von „Plot“ (oder „Handlung“) und „Fabel“ (bzw. „fabula“). „Der Plot ... ist die Geschichte, wie sie tatsächlich erzählt wird, wie sie an der Oberfläche erscheint ... In einem narrativen Text ist der Plot mit den diskursiven Strukturen identisch“ (Eco 1990, 128). 46 „Eine ideologische Struktur manifestiert sich, wenn axiologische Konnotationen mit Aktantenrollen, die dem Text eingeschrieben sind, assoziiert werden und wenn ein Aktantengerüst mit Werturteilen ausgestattet wird und die Rollen axiologische Gegensätze beinhalten wie Gut und Böse, Wahr und Falsch (oder auch Leben und Tod, Natur und Kultur), wobei der Text seine Ideologie sozusagen in Filigran darbietet.“ (Eco 1990, 223) Verweise auf Greimas auch Eco 1990, 220f., Eco 1989, 241.
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gattungsspezifischen Einschränkungen (Märchen, Science Fiction) – zunächst eine weitgehende strukturelle Identität der „Welt des Textes“ mit seiner eigenen Erfahrungswelt annehmen (auch gattungsspezifische Modell-Welten bauen in ihrer grundsätzlichen Struktur auf der Erfahrungswelt auf). Nur wenn weitere Textinformationen es erfordern, wird der Leser diese Annahme entsprechend modifizieren47. Um das textuell Gegebene zu vervollständigen, stellt er Hypothesen über das Nicht-Gegebene auf. Für Inferenzen nutzt er vornehmlich die ihm verfügbaren Szenographien: Wir behaupten, daß das Textverständnis weitestgehend von der Einsetzung der zugehörigen Szenographie bestimmt wird, ebenso wie die Texthypothesen, denen Misserfolg beschieden ist ..., von der falschen und „unglücklichen“ Anwendung der Szenographien abhängen. (101)
Szenographien werden durch Erfahrung erworben: durch Erfahrungen in der Welt des Handelns (allgemeine Szenographien), aber ebenso durch Erfahrungen mit Texten (intertextuelle Szenographien). In Ecos Beispiel einer Eifersuchtsszene („Die Hand erhoben, das Auge starr, der Schnurrbart ganz wie ein wütender Kater, ging Raoul auf Marguerite los...“, 98ff.) kann der mit Situationen dieser Art (der Szenographie „gewalttätiger Streit“) vertraute Modell-Leser dieses Satzes schließen, dass Raoul mit seiner erhobenen Hand gerade Marguerite schlagen oder drohen (und nicht etwa über irgend etwas abstimmen) will, auch wenn das im Text nicht explizit gesagt wird. Kennt der Leser die passende Szenographie nicht aus eigenem Erleben, dann kennt er sie sicher als intertextuelle Szenographie, da „eine ganze Reihe von erzählerischen Situationen die Situation ‚Streit zwischen eifersüchtigem Ehemann und eifersüchtiger Ehefrau‘ endgültig überkodiert haben“. Unsere intertextuelle Kompetenz kann dabei von ganz verschiedenen Medien gespeist werden, so dass ein angemessener Textbegriff möglichst weit gefasst sein sollte. Eco verweist darauf, dass auch die Schemata der Ikonographie „sichtbare intertextuelle Szenographien“ seien: Schließlich hat, auf das oben genannte Beispiel bezogen, „eine lange Reihe ikonischer Szenographien ... Tausende von erhobenen und schlagenden Händen zur Darstellung gebracht. Die intertextuelle Kompetenz (die äußerste Peripherie einer Enzyklopädie) umfaßt alle dem Leser vertrauten Systeme.“ (101) Mandlers Story-Schemata (vgl. unten ab S. 276) gehören demnach zu den intertextuellen Szenographien. ––––––––––––– 47 Vgl. Ryans “principle of minimal departure”, u. a. in Marie-Laure Ryan, Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory (1991), 48ff.
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Intertextuelle Szenographien rückt Eco in die Nähe der „Motive“ sowie der Topoi in der klassischen Rhetorik (ebd.). Ähnlich wie die rhetorischen Topoi formulieren ja auch intertextuelle Szenographien gewissermaßen Anweisungen zur Navigation im vielfältig vernetzten konzeptuellen Material unserer Enzyklopädie. Das allerdings geschieht auf sehr verschiedenen Ebenen und weit umfassender als bei Topoi oder Motiven: Eco spricht von „szenographischen Hierarchien“ (102f.), von den maximalen Szenographien oder vorgefertigten Fabulae (Gattungsregeln, standardisierte Organisationsschemata etwa von Groschenromanen, einfachen Kriminalgeschichten, Märchen oder Fernseh-Shows) über MotivSzenographien („ziemlich flexible Schemata von der Art ‚verfolgte Unschuld‘“, mit bestimmten Akteuren, Handlungssequenzen und Kulissen, aber ohne zu verbindliche Ablaufregeln) und situationsbezogene Szenographien (z. B. „Duell“ im Western) bis hin zu den „im eigentlichen Sinne rhetorischen Topoi“ – wobei Eco bei letzteren wohl weniger die Aristotelischen Topoi, sondern poetische Konventionen im Auge hat; sein Beispiel sind die „deskriptiven Bedingungen des locus amoenus“, also ebenfalls eher eines „Motivs“ literarischer Beschreibung (vom „lieblichen Ort“ antiker Texte, an welchem Götter und Menschen gern verweilen, bis zu den zunehmend streng schematisierten Naturbeschreibungen im 16. und 17. Jahrhundert). In Bezug auf das Hiobbuch sind zum Beispiel die psalmistische Klage und das Schema der Weisheitserzählung, die den Tun-Ergehen-Zusammenhang variiert, als relevante intertextuelle Szenographien anzusehen. Allgemeine Szenographien dienen nicht nur dem Textverstehen, sondern vor allem der Orientierung in der Welt des Handelns. Es sind vornehmlich „Regeln für praktische Handlungen“, die der Leser „mit dem größten Teil der Mitglieder seines Kulturbereiches“ teilt. Die Verfügbarkeit intertextueller Szenographien dagegen variiert mit den (literarischen und anderen) Texterfahrungen des Modell-Lesers. Intertextuelle Szenographien sind „reduzierter und vereinfachter (und daher leichter auf einen genau definierten Diskursbereich anwendbar)“; als „rhetorische und erzählerische Schemata“ sind sie Teil eines „Fundus, über den nicht alle Mitglieder einer Kultur verfügen“ (104)48. Allerdings ist etwa die „inter––––––––––––– 48 „Häufig greift der Leser – statt von einer allgemeinen Szenographie Gebrauch zu machen – aus dem Speicher seiner intertextuellen Kompetenz schon reduzierte intertextuelle Szenographien auf (z. B. typische Situationen: das Ödipus-Dreieck von Freud gehört dazu); Gattungsregeln produzieren Textszenographien in reduzierterer Form als allgemeine Rahmen ...“ (Eco 1989, 218).
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textuelle Szenographie ‚Bankraub‘, wie sie durch unzählige Filme popularisiert worden ist“, in gewissem Sinne „allgemeiner“, das heißt einer größeren Anzahl von Angehörigen unseres Kulturbereiches vertraut als die (gar nicht so) allgemeine Szenographie „wie man eine Bank ausraubt“, über die professionelle Bankräuber verfügen49. Allgemeine, das heißt allgemein verbreitete Szenographien sind also Teil unseres „Weltwissens“; sie schematisieren typische Abläufe, Anordnungen, Handlungen in der Welt des Handelns. Intertextuelle Szenographien (von Motiven und Topoi bis zu Gattungsregeln) stammen aus Generalisierungen über Klassen von Texten; sie schematisieren typische Abläufe oder Konstellationen in Texten. Allerdings können allgemeine Szenographien in diesem Verständnis durchaus auch über Texte erworben werden, ja Texte (Erzählungen, Fachbücher, Fotos, Fernsehberichte etc.) dürften sogar eine ganz entscheidende Quelle allgemeiner Szenographien darstellen. Das gilt nicht zuletzt auch für die für uns besonders relevante Szenographie des RECHTSSTREITS, die ich genau aus diesem Grund im Folgenden nicht entweder den „allgemeinen“ oder den „intertextuellen“ Szenographien zuschlagen, sondern als komplexeres Konglomerat mit „allgemeinen“ und „intertextuellen“ Aspekten behandeln möchte: Die allgemeine (allgemein verbreitete) Szenographie einer Gerichtsverhandlung ist den meisten Menschen sicher nicht aus eigener Erfahrung, sondern vor allem aus Texten, zum Beispiel Gerichtsberichten oder -filmen, verfügbar. Als solche mag sie für einen Modell-Leser unentwirrbar verquickt sein mit intertextuellen Szenographien, die innerhalb der allgemeinen Struktur bestimmte Abläufe schematisieren (Szenographien etwa, in denen der Anwalt in letzter Minute überraschend mit dem entscheidenden Beweis aufwartet, in denen der Schuldige schließlich zusammenbricht und gesteht, oder in denen einfach am Ende „die Gerechtigkeit siegt“). Daten werden zu sinnvollen Informationen durch Situierung in einem Kontext – durch schema-konforme Integration in unsere Weltrepräsentationen. Vorhandene Schemata wiederum werden laufend angepasst, um neue Informationen integrieren zu können. Wenn wir in einen Gerichtssaal geraten, so liefert uns unsere allgemeine RECHTSTREIT-Szenographie den pragmatischen Kontext für relevante Wahrnehmungen und ermöglicht Verstehen, Orientierung und angemessenes Handeln. Analog liefert das ––––––––––––– 49 „... die Amateure scheitern nicht selten gerade deshalb, weil sie zum Zweck einer praktischen Handlung eine intertextuelle Szenographie anwenden, statt einer soliden und redundanten allgemeinen Szenographie zu folgen“ (Eco 1990, 105).
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RECHTSSTREIT-Schema auch den Kontext für Aussagen in Texten, die sich auf Gerichtsprozesse beziehen, ermöglicht ihre Interpretation und stellt die Kohärenz einer Menge von Aussagen sicher. Zum Beispiel verwenden wir unser allgemeines Wissen über Gerichtsprozesse, unsere Kenntnis charakteristischer Elemente des Konzeptes und der Relationen zwischen diesen Elementen, für ein hinreichendes Verstehen auch isoliert geäußerter alltagssprachlicher Sätze wie „Sie wurde vorgeladen“, „Er wurde vereidigt“, „Die Zeugin verweigerte die Aussage“ oder „Der Angeklagte wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt“50. Ebenso können wir durch Projektion des PROZESS-Konzepts auf andere konzeptuelle Domänen metaphorische Feststellungen interpretieren wie etwa: “Marriage isn’t a word... it’s a sentence!”51 Das Schema des RECHTSSTREITES bildet (ähnlich wie die intertextuellen Szenographien der alttestamentlichen Weisheitserzählung oder der psalmistischen Klage) als narratives Schema eine leere „Geschichtenform“, das Grundgerüst einer Geschichte von Konflikt und Entscheidung. Als solches enthält das RECHTSSTREIT-Schema seinerseits obligatorische und fakultative Elemente mit schematischer Struktur, etwa räumlich strukturierte „Szenen“ (z. B. der „typische“ Gerichtssaal) oder „Skripts“ (z. B. der „typische“ Ablauf einer Zeugenaussage mit Vereidigung, Befragung etc.). Weil unsere kognitive Schematisierung des RECHTSSTREITES bereits wesentliche Elemente einer Erzählung liefert: Setting, Akteure mit bestimmten Rollen, Handlungszielen und Kompetenzen, einen standardisierten Ereignisablauf usf., kann das Rechtsstreit-Schema nicht nur unsere Inferenzen in Texten über Gerichtsverhandlungen lenken, sondern sogar Texte wie das Hiobbuch metaphorisch strukturieren. Für das Verständnis seiner Anwendungsmöglichkeiten ist auch von Bedeutung, dass das grundlegende RECHTSSTREIT-Schema als die Elaboration des noch allgemeineren KAMPF-Schemas betrachtet werden kann, aus dem es durch Einführung einer unabhängigen Vermittlungs-Instanz „zwischen“ oder „über“ den gegnerischen Parteien entwickelt wird (vgl. oben S. 41). Diese Beziehungen eröffnen weitreichende Möglichkeiten für die Kodierung von Konflikten und Konfliktlösungen aus den verschiedensten Perspektiven. Aus der Position der „übergeordneten“ Entscheidungsinstanz leitet sich auch eine weitere zentrale Eigenschaft des Sche––––––––––––– 50 Beginnt in einem Gerichtsfilm der Angeklagte plötzlich zu singen oder Gedichte zu rezitieren, so konstituiert diese Schemaverletzung Bedeutung. 51 Einblendung aus King Vidors Stummfilm „The Crowd“ (1928). Auf metaphorische Schemaverwendung gehe ich unten ab S. 291 näher ein.
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mas ab: sein Bezug auf eine höhere Ordnung, welche alle Beteiligten gleichermaßen umgreifen soll, ihr Verhalten an formulierbare Regeln bindet und Urteile erst möglich macht (das GESETZ). So kann das RECHTSSTREIT-Schema ein potenzielles Modell für ganz unterschiedliche Ordnungsvorstellungen, etwa physische, soziale oder sittliche Ordnungen liefern. Auch wenn wir mit Mandler Schemata als abstrakte mentale Strukturen definiert hatten, deren Elemente über räumliche oder zeitliche Relationen miteinander verbunden sind, wird daraus deutlich, dass in der Schemaverwendung auch andere Relationen von Bedeutung sind, solange sie über relativ starke Verbindungen zwischen Einheiten unserer kognitiven Repräsentationen zustande kommen. Das RECHTSSTREIT-Schema kann auch Inhalte aktivieren, die weder in zeitlicher noch räumlicher Relation zu anderen Elementen des Schemas stehen, Konzepte wie GESETZ, RECHT, UNRECHT, GERECHTIGKEIT, AUTORITÄT oder MACHT. Wie die Forschung nahegelegt hat, wird auch der Modell-Leser des Hiobbuches zum Verständnis des Textes eine RECHTSSTREIT-Szenographie herangezogen haben. Um diese heute zu erschließen, sind wir auf die notwendig textbasierte Rekonstruktion von Rechtsstreitszenarien im nachexilischen Israel bzw. im alten Orient angewiesen. Meines Erachtens sollte eine szenographische Rekonstruktion des RECHTSSTREIT-Schemas bei Hiob (auch eingedenk der eher schlechten Quellenlage zu altorientalischen Rechtsverfahren) möglichst allgemein sein und nur die wichtigsten Elemente enthalten, die für Hiobtexte relevant sein könnten. Zum typischen Ablauf eines Rechtsverfahrens genügt es festzuhalten, dass es durch einen Konflikt von Parteien motiviert, durch die Klage (zumindest) einer Partei vor einer unabhängigen Instanz eingeleitet und (die Unmöglichkeit einer Einigung vorausgesetzt) durch ein Urteil dieser Instanz gemäß einer Ordnung beendet wird52. Relevante Rollen sind somit: KLÄGER; BEKLAGTER; RICHTER; sowie optional: ANWALT bzw. alttestamentlich GOEL, BÜRGE. Solche Rollenverteilungen können offensichtlich ähnlich wie Figurenkonstellationen in aktualisierten Erzählungen auf das Aktantenschema von Greimas bezogen werden (ein Anhaltspunkt dafür, dass ––––––––––––– 52 Zwar ist das altisraelitische Rechtsverfahren vor allem auf Schlichtung des Konflikts ausgerichtet, was die Anzahl möglicher Abläufe erhöht und das Urteil zum nur fakultativen Element eines allgemeinen Schemas macht: die Gegenüberstellung von Frommen und Gerechten im Hiobbuch gibt uns aber die Möglichkeit, nur solche Verfahren zu betrachten, die die Feststellung von Schuld oder Unschuld zum Ziel haben und deshalb mit einem Urteil enden. Diese Notwendigkeit des Urteils entspricht auch unserer modernen (intertextuellen) Szenographie eines (strafrechtlichen) Gerichtsverfahrens.
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sich ein schematisches Modell auch mit den anderen von uns einbezogenen Modellansätzen kombinieren lässt). Das so konstruierte RECHTSSTREIT-Schema liefert dem kompetent kooperierenden ModellLeser ein Netz von bedeutungswirksamen Bezügen sowohl syntagmatischer als auch paradigmatischer Art. Der Modell-Leser wird, wenn Elemente des Textes eine Aktivierung des RECHTSSTREIT-Schema erfordern, dieses Schema für Inferenzen über Rollenverteilungen, Abläufe,Werte oder Handlungsmotivationen heranziehen. Ebenso wird er Diskrepanzen von Schema und Erzählinhalten bemerken und daraus seine Schlüsse ziehen. Auch Nichtübereinstimmungen mit aktivierten Szenographien können die Interpretation des Textes lenken. Im Fall des Hiobbuches bestimmt das Nichtzustandekommen des Rechtsstreits mit JHWH wesentlich die theologische Aussage des Textes. Auch für den Schluss des Buches bietet die Szenographie des Rechtsverfahrens keine gültige Inferenz. Bei Einbeziehung des Schlusses geraten RECHTSSTREIT-Szenographie und Wiederherstellung Hiobs in ein Spannungsverhältnis, das Richter durchaus zu Recht auf ideologische Strukturen („Rechtsanspruch“ vs. „Gnade“) abzubilden versucht hat. Juridische Denkmuster werden zurückgewiesen, aber doch vom Hiobdichter sehr ernst genommen: Der Verzicht auf die Vorstellung einer gerecht geordneten Welt fällt schwer, er wird von Hiob mehr erlitten als errungen und kann auch nur durch JHWHs direkte Zuwendung abgefedert werden. c) Narrative Kohärenz und die Regeln des Erzählens Unsere Schemata bestimmen unsere Erwartungen, und narrative Schemata bestimmen unsere Erwartungen an Erzählungen, ihre Rollenkonstellationen und ihre Abläufe. Schemata und ihre Bedeutungsbezüge sind damit eine mögliche Quelle für die Regeln, nach denen sich die Bewegung der Erzählung vollzieht. So stellt das RECHTSSTREIT-Schema eine Anzahl schemakonformer Operationen bereit, die von den einzelnen Rollenverkörperungen ausgeführt werden können: etwa die Herstellung einer polemischen Beziehung durch Beschuldigung und Bestreitung, argumentative Operationen von Anklage und Verteidigung, das Urteil. Wenn das Hiobbuch in seiner narrativen Verhandlung des Hiobproblems das RECHTSSTREIT-Schema aufruft, dann werden diese schemakonformen Operationen auch als mögliche Lösungsoperationen zumindest in Betracht gezogen (am Ende jedoch zurückgewiesen). Auch das weisheitliche Denken und das Trost-Schema der Freunde im Hiobbuch geben auf ähnliche
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Weise mögliche Lösungswege (weisheitliche Regeln der narrativen Problemverhandlung) für Hiobs Problem vor. Indem also narrative Schemata die Regeln des Erzählens bestimmen, determinieren sie auch die Lösungsmöglichkeiten narrativer Problemverhandlungen. In Ecos Modell schlagen Schemata oder Szenographien, zumindest solche mit temporalem Anteil, eine Brücke zu „narrativen Strukturen“ im engeren Sinne: „In diesem Sinne ist eine Szenographie immer ein virtueller Text oder eine kondensierte Geschichte.“ (Eco 1990, 100) Zu konkreten Szenographien wie „Supermarkt“, „Rechtsstreit“ oder „Duell“ tritt allgemeineres schematisiertes Wissen über Texte, zum Beispiel Genreregeln und Story-Schemata. Die kognitionswissenschaftliche Erzählforschung hat sehr allgemeine – vielleicht sogar universelle53 – Story-Schemata identifiziert, die als “mental structure consisting of sets of expectations about the way in which stories proceed” (Mandler 18) die Erzählinhalte in einer organisierten Repräsentation miteinander verknüpfen. The schema is used to form an organized representation of the content of the story. It provides such a strong basis for coherence that one can leave out all explicit reference to causal and temporal connections from the surface structure, yet leave the narrative comprehensible; the schema itself provides the connectives missing from the surface. (Mandler 26)
Die Hauptkonstituenten des von Mandler beschriebenen allgemeinen Story-Schemas (gewonnen aus traditionellen Erzählungen) sind ein einleitendes „Setting“ sowie eine oder mehrere Episoden, die aneinander gereiht oder eingebettet sein können und ihrerseits aus Konstituenten bestehen54. Die wesentlichen Konstituenten eines Story-Schemas mit einer ein––––––––––––– 53 Zahlreiche Experimente, von denen einige an Probanden mit völlig unterschiedlichem kulturellen Hintergrund und Bildungsniveau durchgeführt wurden, geben deutliche Hinweise darauf, dass Story-Schemata (die durch „Story-Grammatiken“ beschrieben werden können) beim rekonstruierenden Erinnern von Geschichten, aber auch bereits beim Verstehen von Geschichten wirksam sind (Mandler 50-57.). 54 “Traditional stories begin with a setting, which introduces a protagonist and other characters, and often includes statements about the time and locale of the story. The setting is followed by one ore more episodes that form the overall plot structure of the story. No matter how many episodes, however, each one has a similar underlying structure. An episode has a beginning constituent, consisting of one or more events. This constituent is followed by a development, which in turn has several parts. Within the development the first thing is that the protagonist reacts in some way to the events of the beginning. Occasionally this response is merely a simple reaction (anger, fear, or some other emotion) that causes the protagonist to perform some action. More typically, however, a complex reaction occurs; that is, the simple reaction causes the protagonist
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zigen Episode und einer complex reaction wären sinngemäß, d. i. ohne die verbindenden temporalen Relationen (cause-, and- oder thenVerknüpfungen) und ohne die „generative“ Notation (vgl. Mandler 24): Story: Episode:
Setting – Episode Beginning – Complex Reaction* – Attempt – Outcome** – Ending
* Complex Reaction: Simple Reaction – Goal ** Attempt – Outcome bilden zusammen einen Goal Path
Ein solches sehr generelles Erzählschema enthält wenig mehr als Begrenzungen und eine grobe handlungssemantisch motivierte Gliederung mit handelnden Subjekten, Handlungszielen, Aktionen und Ergebnissen. Darüber hinaus wird es weitere, spezifischere Erzählschemata für Klassen von Geschichten geben. Kognitive Schemata, als Erwartungen an die Struktur möglichen Inputs, werden durch Erfahrungen mit früherem Input geformt. Daher werden regelmäßige Begegnungen mit Geschichten verschiedener Art auch zur Bildung unterschiedlich differenzierter Storyschemata führen. Spezifischere Erzählschemata, die etwa über Genrezuordnungen aktiviert werden, geben vielleicht ein bestimmtes Stammpersonal und bestimmte Klassen von Handlungszielen, Aktionen, Schauplätzen oder Auflösungen (z. B. happy endings oder aber den Untergang des Helden) als verbindlich vor. Ein naheliegendes Beispiel gibt Aristoteles’ Beschreibung des allgemeinen Aufbaus der Tragödie. Auch diese Schemata (intertextuelle Szenographien) können demnach Regeln für die narrative Bewegung vorgeben, die ihrerseits die Regeln narrativer Problemverhandlungen (zulässige Operationen im Problemraum) bestimmen. Gerade intertextuelle Szenographien haben dabei die Macht, die Kohärenz und Überzeugungskraft auch solcher Erzähltexte zu sichern, die etwas sehr Unwahrscheinliches, unseren Alltagserfahrungen und -erwartungen ––––––––––––– to set up a goal to do something about the beginning event(s). There follows a goal path, which consists of an attempt to reach the goal and the outcome of that attempt (either success or failure). The episode comes to an end with an ending constituent, which provides some kind of commentary on the preceding events. Sometimes it consists of a statement about the long-range consequences of the episode; or the protagonist or other character may react to the events that have taken place. If it is the final ending of the story it may include an emphatic statement of the type: ‘They lived happily ever after’” (Mandler 22).
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ganz und gar Widersprechendes erzählen, wenn dieses einem bekannten intertextuellen Schema entspricht, von dem es eine andere Art der „inneren Wahrscheinlichkeit“ beziehen kann, eine entweder rein intertextuell schematisierte oder zusätzlich auf tradierte Wertordnungen bezogene Wahrscheinlichkeit, die zur „praktischen Wahrscheinlichkeit“ durchaus in Konkurrenz treten kann („Happy End“ von Liebesgeschichten oder als Bestätigung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs). Hier, in der Verfügbarkeit starker kohärenzsichernder intertextueller Schemata einerseits und deutlichen Bezügen eines Textes auf weithin akzeptierte Ordnungsaussagen andererseits (gegebenenfalls sekundiert durch die Autorität von Text bzw. Autor) liegt die Möglichkeit des Erzählens begründet, seine manchmal doch sehr willkürlichen narrativen Urteile55 zu autorisieren und ihre Kontingenz wirksam zu verschleiern, so wie es das exemplarische Erzählen aus der weisheitlichen Draufsicht vorführt. Narrative Schemata leiten die Erwartungen des interpretierenden Modell-Lesers an den Fortgang der Erzählung. Beim Lesen der Erzählung antizipiert der Leser ihren weiteren Verlauf, „konfiguriert er einen möglichen Ablauf von Ereignissen oder einen möglichen Zustand der Dinge; ... wagt er eine Hypothese über Weltstrukturen“ (143) auf der Grundlage seiner enzyklopädischen Kompetenz. Narrative Schemata bestimmen weitgehend die geltenden Regeln akzeptablen Erzählens. Die Verfügbarkeit narrativer Schema ist eine grundlegende Voraussetzung für die Kohärenz von Erzählungen und für ihren Nachvollzug durch den Modell-Leser: Die verfügbaren Schemata lassen uns das Erzählte als definierte Elemente im Ganzen der Erzählung erkennen, erlauben es, nicht spezifizierte Verbindungen zwischen Teilen der Erzählungen zu ergänzen, und lenken unser Urteil über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit von Abläufen. Die Regeln für die narrative Bewegung, die der Leser nutzt, um bei der Aktualisierung der Fabel – immer dann, wenn er auf „Wahrscheinlichkeitsdisjunktionen“ trifft (vgl. oben S. 155) – Vorhersagen über den Fortgang der Handlung zu machen, vergleicht Eco mit den Regeln einer Bahnreise etwa von Florenz nach Empoli, die wesentlich von der Struktur des Eisenbahnnetzes bestimmt werden, oder den Regeln eines Schachspiels, dessen Möglichkeiten „objektiv von der Enzyklopädie (dem Netz) des Schachspiels eingeräumt werden“ (147). Zulässige Schachzüge – bezie––––––––––––– 55 Vgl. oben S. 252 zur „willkürlichen Wahl“ bei Greimas, die ein narratives Programm sein Widerpart dominieren lässt und seinem Subjekt das Objekt des Begehrens zuschreibt.
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hungsweise solche, die bei einem gegebenen Spielstand möglich und wahrscheinlich sind – ergeben sich aus der Form des Schachbrettes, den Spielregeln und „einer Reihe klassischer Züge, die in der Enzyklopädie des Schachspiels als wesentliche Szenographien verzeichnet sind und die in der Tradition zu den fruchtbarsten, elegantesten und wirkungsvollsten gezählt werden“ (ebd.)56. In ähnlicher Weise ergeben sich Voraussagen des Lesers über den Fortgang der Fabel aus der vorläufig angenommenen Struktur der Welt des Textes und den Möglichkeiten für die Entwicklung der Ereignisse, die aus der Enzyklopädie des Modell-Lesers folgen. Diese Voraussagen des Modell-Lesers – seine „Präfiguration von möglichen Welten“ des Textes (143) – beschreibt Eco als „inferentielle Spaziergänge“. Dass uns auch hier wieder eine räumliche Metaphorik begegnet, ist nicht zufällig; die Präfiguration der möglichen Welten des Textes folgt den Wegen, die von unseren Szenographien topisch vorgezeichnet sind: Um seine Hypothesen zu formulieren, muß der Leser auf allgemeine oder intertextuelle Szenographien zurückgreifen: ‚gewöhnlich; immer dann, wenn; wie in anderen Erzählungen; wie mir meine Erfahrung sagt; wie uns die Psychologie lehrt...‘ Eine Szenographie zu aktualisieren (insbesondere wenn es sich um eine intertextuelle handelt) bedeutet in Wirklichkeit, zu einem Topos zurückzukehren. Wir nennen diese Auswanderungen (von Textemigranten, die nach ihrer Rückkehr mit reicher textueller Beute beladen sind) inferentielle Spaziergänge. (149)
Kognitive Schemata, Szenographien, Topoi, Überzeugungen über die Welt, die Regeln des logischen Schließens oder des rationalen Argumentierens (Kap. C.II.3) bezeichnen jeweils Elemente, die letztlich Struktur, Aufbau und Kohärenz unserer Weltrepräsentationen bestimmen. Sie sind das kognitive Material für mentale Situationsmodelle, der Stoff, aus dem ein Text seine Welt entwirft. Sie bestimmen die narrative Bewegung der Fabel und sind damit auch die wichtigste Quelle für die Regeln narrativer Problemverhandlung. Allerdings bedeutet das auch, dass diese Regeln kaum so systematisch geordnet und vollständig verfügbar sein können, wie es das Problemraumkonzept ursprünglich voraussetzt. Das wäre nur möglich, wenn einzelne (klar beschreibbare) narrative Schemata die Interpretation eines Text so dominieren, dass sie die Erwartungen des ModellLesers nahezu vollständig bestimmen. Und selbst dann wäre noch nicht restlos die Freiheit des Lesers verschwunden, neue Wege durch die Topographie seiner Weltrepräsentationen zu entdecken und interpretativ ––––––––––––– 56 Siehe auch oben S. 76. Das Schachbeispiel wird auch in der Kognitionswissenschaft gern zur Charakterisierung von Transformationen im Problemraum verwendet (vgl. etwa Newell und Simon 817, Dörner 11f. und öfter).
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fruchtbar zu machen. Es gehört deshalb gewissermaßen zu den Regeln narrativer Problemverhandlungen, dass die Leser diese Regeln ändern können – beschränkt in erster Linie durch die Kohärenzforderung an die Welt des Textes. Für gegebene Problemverhandlungen etwa im Hiobbuch „Regeln“ anzugeben, heißt eine Lesart anzugeben, deren Rechtfertigung (d. h. vor allem die Rechtfertigung der für Inferenzen verwendeten Schemata) im Einzelfall gezeigt werden muss, wie ich es anhand der weisheitlichen, psalmistischen und juridischen Kohärenzregeln im Hiobtext versucht habe. Letztlich transzendiert das Hiobbuch (in meiner Lesart) all diese Schemata und setzt als einzige Regel das souveräne Handeln JHWHs, das in kein Schema gezwungen werden kann. Das machte ja gerade die Problemlösung des Buches so anfällig: ihre Kohärenz und Überzeugungskraft ist absolut abhängig von dem Vertrauen des Rezipienten in JHWHs letztlich segensreiches Handeln am Menschen – ein Vertrauen, das durch nichts abgesichert ist als die Autorität des biblischen Textes selber und die Theologie, auf die er verweist. d) Blickwechsel: Innen und außen Wie der Ansatz von Greimas das Konzept der narrativen Oppositionen bei Stierle integrieren kann, ja es mit der „elementaren Bedeutungsstruktur“ des semiotischen Vierecks noch entscheidend erweitert und modifiziert, so findet Greimas’ narrative Grammatik seinen Platz im Modell von Eco. Dessen Ansatz wiederum, indem er die Freiheit der Leser betont, im Interpretationsprozess die Aktivierung von Codes und Abstraktionsebenen selbst zu bestimmen (vgl. 1989, 243), vermag auch zu erklären, wie der immer wieder erwähnte narrative Perspektivenwechsel zustande kommen kann. Ecos „Ebenen der textuellen Mitarbeit“ sind ja ausdrücklich als Ebenen möglicher Abstraktion zu verstehen, deren Anordnung als „Boxen“ im Schema keine feste Richtung des Interpretationsprozesses suggerieren, sondern nur die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Boxen veranschaulichen will: Es können im „konkreten Ablauf der Interpretation alle Ebenen und Unterebenen – in der Tat reine metatextuelle ‚Schubfächer‘ – auch durch größere ‚Sprünge‘ erreicht werden, ohne notwendig vorgeschriebene Wege von einem Feld zum anderen durchlaufen zu müssen“ (Eco 1990, 84). Perspektivenwechsel zwischen der ‚Draufsicht‘ auf das System, das der abgeschlossene Text als Ganzes transportiert – den Blick von außen auf die „Welt des Textes“ und das Urteil, das spätestens im Ende der Geschichte über die repräsentierten narrativen
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Programme gesprochen wird –, und der mit der „Subjekt“-Perspektive identifizierten ‚Innenansicht‘ entsprechen in diesem Modell den konkreten „Sprüngen“ des Modell-Lesers zwischen den „Boxen“ der narrativen, aktantiellen und ideologischen Strukturen, „Sprünge“, durch die Personenkonstellationen, narrative Programme und Schicksalswechsel zu ideologischen Systemen einerseits und zu sich verändernden Wertverteilungen andererseits in Beziehung gesetzt werden. Diese „Sprünge“ wirken wiederum zurück auf die Aktualisierung diskursiver Strukturen, des mentalen Modells der Welt des Textes und der Ordnung des Geschehens. Und auch dieses Modell wird in der Regel unterschiedliche Perspektiven und „Auflösungen“ ermöglichen, ähnlich wie das mentale Modell eines Hauses es ermöglicht, einen Gang durch Flure und Zimmer zu imaginieren oder zur Vorstellung eines Grundrisses oder der Außenansicht zu wechseln. Die „interpretative Mitarbeit jedoch geschieht in der Zeit“, „Schritt für Schritt“ (140) – Eco legt besonderen Wert auf die Tatsache, dass die Fabel im Ganzen, „wenngleich sie vom Autor als abgeschlossen wahrgenommen wird – dem Modell-Leser in ihrem Werden“ sich darstellt (ebd.). In welchem Sinne könnte man also behaupten, dass dem Modell-Leser auf einer bestimmten Ebene der Abstraktion auch ein Blick „von außen“ auf die Erzählstruktur zugänglich sein könnte? Die Abgeschlossenheit narrativer Strukturen, die scheinbar erst am Ende der Geschichte konkret aktualisiert werden kann, ist ja die wichtigste Voraussetzung dafür, dass die Rezipienten „Perspektivenwechsel“ vollziehen können. Die einfachste Möglichkeit dafür ist natürlich die wiederholte Lektüre der Erzählung, ihr „Wiedererzählen“57. Offenbar können sich unsere Bemerkungen zunächst nur auf solche Fabeln beziehen, die Eco als „geschlossene“ bezeichnet (S.151f.); „offene Fabeln“ dagegen, die dem Modell-Leser selbst eine Entscheidung darüber abverlangen, wie die endgültige Gestalt der Fabel aussieht, sind wohl selbst bei wiederholten Lektüren nicht in derselben Weise definitiv abgeschlossen, wie unsere Rede von narrativer Bewertung oder Problemlösung es verlangt. Für „geschlossene Fabeln“ aber gilt, dass spätestens bei wiederholter Lektüre dem Leser „Sprünge“ zwischen Draufsicht und Innenansicht bzw. den entsprechenden „Ebenen der Abstraktion“ möglich sein sollten. ––––––––––––– 57 Die „Strukturfunktion der Abgeschlossenheit“, sagt Ricoeur, sei „eher im Akt des Weitererzählens als in dem des Erzählens erkennbar“; erst wenn eine Geschichte – und ihr Ende – bekannt ist, ist es auch möglich, ihre Episoden „als zu diesem Ende führende zu erfassen“ (Ricoeur 1988, 109).
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Eine zweite Möglichkeit für den Modell-Leser, schon bei der ersten Lektüre des Textes einen Zugang zur „Draufsicht“ auf die Erzählstruktur zu erlangen, bieten gerade die narrativen Schemata, die Szenographien, über die der Modell-Leser verfügt und die er in einem gegebenen Text identifiziert. Sie nutzt der Modell-Leser für seine „inferentiellen Spaziergänge“, seine Annahmen über Fortgang und Ausgang der Handlung. Szenographien bzw. (narrative) Schemata aber strukturieren ihre Elemente bereits in einem funktionalen Bezug auf ein bestimmtes Ganzes, das präsent ist, sobald etwas als Element dieses Ganzen begriffen wird. Demnach ermöglicht es gerade die Verfügbarkeit narrativer Schemata den Rezipienten narrativer Texte, diese von Beginn an als abgeschlossene Struktur besonderer Art wahrzunehmen. Bedeutsam sind dafür vollständige narrative Schemata – allgemeine Szenographien wie das RECHTSSTREIT-Schema, vor allem aber Story-Schemata im Sinne Mandlers, insbesondere das, was Mandler als Episoden bezeichnet. Mit Complex Reaction (inklusive Goal) sowie Goal Path (Attempt + Outcome) nämlich enthalten die Episoden zielgerichtete Handlungen und das Ergebnis dieser Handlungen: die elementare Struktur einer narrativen Konfiguration. Damit bereits während des Nachvollzugs der Erzählung (und nicht erst in der wiederholten Lektüre) solche unterschiedlichen Perspektivierungen möglich werden, müssen den Rezipienten von Anfang an die beiden hier interessierenden verschiedenen Perspektiven – die Subjektperspektive „von innen“ und die Beobachterperspektive „von außen“, potenziell gegeben sein. Schon unmittelbar nach Eintritt in die Erzählung muss narrative Abgeschlossenheit strukturell wirksam sein können. Dies ist möglich, weil die Rezipienten über abstrakte Erzählschemata verfügen, die aktiviert werden, sobald Text- oder Peritext58-Merkmale das Vorhandensein einer Erzählung bestimmter Art signalisieren. “The story schema thus enables the reader to form a coherent representation of the story as a whole. The bridging information that connects the units is supplied by the schema, and does not have to be built up afresh, as presumably must be done when reading unfamiliar types of prose.” (Mandler 54) Die Verfügbarkeit narrativer Schema ist also eine grundlegende Voraussetzung für die Kohärenz von Erzählungen und für die Fähigkeit narrativer Texte, eine in sich stimmige mögliche Welt zu evozieren, die nicht ––––––––––––– 58 Peritext nennt Genette den Teil des Paratextes (als Summe von zusätzlichen Informationen zu einem Text, die die Einstellung der Rezipienten zu diesem Text beeinflussen), der fest mit dem Text in seiner physischen Erscheinungsform verbunden ist: z. B. Schutzumschlag, Titel, Gattungsangabe, Vor- und Nachwort, Motti usf. (Genette 1992).
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„dem Verstand widerspricht“ (Aristoteles). Zu durchaus vergleichbaren Ergebnissen waren – aus sehr verschiedenen Richtungen – die erzähltheoretischen Überlegungen von Ricoeur, Kermode, Mink, Hayden White oder anderen gelangt, die die narrative Form als „kognitives Instrument“ analysieren59. Die kognitive Funktion narrativer Strukturen ist mittlerweile unstrittig und gelegentlich – völlig im Einklang mit unseren eigenen Überlegungen – auch auf ethisches Bedeuten ausgedehnt worden60. Der spezifische Beitrag der „Schematheorie“ ist mir deshalb wichtig, weil diese die Funktion von Erzählstrukturen in den breiteren Kontext kognitiver Schemaverwendung stellt und narrative Schemata analog zu anderen schematischen Strukturen betrachtet. Narrative Schemata geben schon während der Lektüre eines Textes dem Modell-Leser Zugang zu einer abstrakten Repräsentation des „Ganzen“, ermöglichen ihm den virtuellen Blick von außen auf die Begrenzungen der narrativen Struktur und machen den Perspektivenwechsel leichter, der eine spezifische Stärke narrativer Problemverhandlung ausmacht. Als Bestandteil unseres Wissens über die Welt und über Texte sind allgemeine und intertextuelle Szenographien außerdem der Ausgangspunkt für die vom Text entworfene und vom Leser aktualisierte „Welt des Textes“, eine Quelle des Wahr––––––––––––– 59 Louis O. Mink (von dem Ricoeur den Begriff der Konfiguration übernimmt) veröffentlichte 1978 einen seinerzeit viel zitierten Aufsatz “Narrative form as a cognitive instrument”. 60 Hayden White konzediert Mink, dass “... narrativization is what Fredric Jameson calls ‘the central function or instance of the human mind’ or what Mink himself calls … ‘a form of human comprehension’ that is productive of meaning by its imposition of a certain formal coherence on a virtual chaos of ‘events,’ which in themselves (or as given to perception) cannot be said to possess any particular form at all, much less the kind we associate with ‘stories.’ ” (Hayden White, “The Narrativization of Real Events” (1981), 251) White setzt aber gegen diese Beschränkung auf kognitive und ästhetische Funktionen einen Akzent, der nicht vernachlässigt werden darf: Er besteht auf der auch „moralistischen oder moralisierenden Funktion“ narrativer Strukturen (ebd.), ihrer Fähigkeit, moralische Urteile zu fällen: “Story forms, or what Northrop Frye calls plot structures, represent an armory of relational models by which what would otherwise be nothing but chains of mechanical causes and effects can be translated into moral terms ... Story forms not only permit us to judge the moral significance of human projects, they also provide the means by which to judge them, even while we pretend to be merely describing them ... It is only by virtue of what it teaches about moral wisdom, or rather about the irreducible moralism of a life lived under the conditions of culture rather than nature, that narrative can claim cognitive authority at all. As Mink points out, precisely because the same set of events can be plausibly narrativized as either tragedy or comedy, either romance or farce, narrative has the power to teach what it means to be moral beings...” (253).
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scheinlichen, Überzeugenden und Glaubhaften. Sie sichern die „innere Wahrscheinlichkeit“, die Kohärenz der narrativen Bewegung, und liefern das Material für die Regeln der narrativen Problemverhandlung, für die in der möglichen Welt des Textes zulässigen narrativen Operationen. 4. Welt und Erzählung Im Widerstreit von grundsätzlicher Kontingenz des Erzählens und der diese Kontingenz aufhebenden oder verschleiernden „inneren Notwendigkeit“ des erzählenden Werkes sind narrative Schemata Stützen der Notwendigkeit. Aber auch sie können den Verlauf der Erzählung nicht vollständig determinieren; ja die sich ergebenden Ereignisse sollten sogar „unerwartet“ sein, um eine „relevante“ Erzählung zu ergeben (vgl. Eco 1990, 135). Gerade weil die erzählten Ereignisse nicht mit logischer Notwendigkeit auseinander folgen, können Erzählungen narrative Urteile fällen. Deshalb spricht Ricoeur61 – im Zusammenhang mit Aristoteles’ Bemerkung über „Allgemeinheit“ und „innere Notwendigkeit“ der Dichtung – vom Akt der Fabelkomposition als einem „Urteilsakt des ‚Zusammennehmens‘“ (70). Der Akt des „Konfigurierens“ ... besteht darin, die Einzelhandlungen oder was wir die Vorfälle der Geschichte nannten, „zusammenzunehmen“; aus dieser Vielfalt von Ereignissen macht er die Einheit der zeitlichen Totalität. Die Verwandtschaft zwischen diesem „Zusammennehmen“, das dem Akt des Konfigurierens eigentümlich ist, und dem Urteilsakt im Sinne Kants kann man gar nicht genug hervorheben. Bekanntlich besteht für Kant der transzendentale Sinn des Urteils weniger darin, ein Subjekt und ein Prädikat miteinander zu verknüpfen, als ein Mannigfaltiges der Anschauung unter die Regel eines Begriffes zu stellen. Noch größer ist die Verwandtschaft zur reflektierenden Urteilskraft, die Kant der bestimmenden insofern gegenüberstellt, als sie über die Gedankenarbeit reflektiert, die im ästhetischen Geschmacksurteil und im teleologischen Urteil über organische Ganzheiten am Werk ist. Der Akt der Fabelkomposition hat eine ähnliche Funktion, indem er einer zeitlichen Abfolge eine Konfiguration abgewinnt. (107)
Erzählungen erzeugen Bedeutung über ihre spezifische narrative Konfiguration, die (so Aristoteles) ihre Einzelteile in einen „geschlossenen Zusammenhang“ setzt. Die Fabel bezieht ihre Wirkung aus dem „planvollen Aufbau aller Begebenheiten“, sie ist „eine in sich abgeschlossene Schöpfung – gleich einem Lebewesen“ (Aristot. Poet. 23, 1459a, S. 89, 87). „Ihre Teile müssen einen derartig geschlossenen Zusammenhang haben, daß bei Umsetzen oder Wegnehmen eines ihrer Teile das Ganze in ––––––––––––– 61 Ricoeur, Zeit und Erzählung I (Ricoeur 1988), i. F. zitiert mit einfachen Seitenzahlen.
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Unordnung gerät. Was durch sein Vorhandensein oder Fehlen nichts deutlich macht, ist in Wirklichkeit kein notwendiger Teil des Ganzen.“ (Poet. 8, 1451a, S. 33-35) Bei Aristoteles (und Augustinus) setzt auch Ricoeur an, wenn er im Rahmen seiner Theorie von der dreifachen mimƝsis in Zeit und Erzählung den Begriff der „narrativen Konfiguration“ 62 mit dem der „Welt“ verknüpft. Während bei Eco der Modell-Leser im Mittelpunkt stand, erlaubt es uns Ricoeurs Ansatz, unsere Beschreibung jetzt gewissermaßen auf die ganze Kommunikationskette – Sender und Empfänger, Modell-Autor und Modell-Leser – auszudehnen und zu verstehen, wie in Akten der narrativen Konfiguration und Rekonfiguration Urteile über die Welt gefällt werden können. Das vermittelt uns wertvolle Einsichten über die Natur des Perspektivenwechsels (oder besser -widerstreits) zwischen Innen und Außen, den die narrative Struktur ermöglicht und das Subjekt der (Re-)Konfiguration vollzieht. a) Narratives Verstehen: Konfiguration und Rekonfiguration Nach Ricoeur nimmt die poetische mimƝsis, der Aristotelische Kernbegriff der „nachahmenden Darstellung“, ihren Ausgang bei der „Welt des Handelns“63, die in der Fabelkomposition zur Nachahmung kommt, und gelangt zum Abschluss erst beim Zuschauer oder Leser, mit dem Wiedereintritt der Erzählung in die Zeit des Handelns und Leidens: „Über Aristoteles hinaus verallgemeinernd“ 64 bezeichnet Ricoeur als „mimƝsis III den Schnittpunkt zwischen der Welt des Textes und der des Zuhörers oder Lesers“ (114). Die Fabel (mythos, intrigue), Produkt der poetischen mimƝsis II als der „schöpferischen Nachahmung“ (77) der Wirklichkeit, „konfiguriert“ die bereits in der mimƝsis I semantisch, symbolisch und zeitlich „prä-figurierten“ Elemente unserer Weltrepräsentationen – das „Vorverständnis des Handelns“ (79) – auf ihre je eigene Weise. Im Nachvollzug der Fabel wiederum „rekonfiguriert“ der Leser oder Zuschauer das „prak––––––––––––– 62 Ricoeur übernimmt den Begriff der narrativen „Konfiguration“ bzw. des „Aktes des Konfigurierens“ von Mink, bei dem sich configurational act allerdings auf das historische Verstehen und nicht wie bei Ricoeur auf „den gesamten Bereich des narrativen Verstehens“ bezieht. Vgl. Ricoeur 1988, 107, Anm. 17. 63 Vgl. z. B. Ricoeur 1988, 90 und 104. 64 Ricoeurs Gegenstand ist das „narrative Verstehen“; er untersucht daher den Begriff der Fabelkomposition herausgelöst aus den Einschränkungen des Tragödienparadigmas (vgl. Ricoeur 1988, 60-65, 105ff.).
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tische Feld“ (88) auf seine je eigene Weise, indem er die „Welt des Textes“, die „Welt“, die das Werk entfaltet, und die eigene Weltrepräsentation aufeinander bezieht. Über seine narrative Konfiguration und die interpretierende, rekonfigurierende Tätigkeit des Rezipienten kann der Erzähltext auf die Welt des Handelns selbst Bezug nehmen und sein Urteil abgeben: „von der ideologischen Bestätigung des Bestehenden, wie in der offiziellen Kunst oder der Chronik der Machthaber, bis zur Gesellschaftskritik und sogar dem Hohn auf alles ‚Wirkliche‘“ (125). Die Fabel ist fähig zur Konfiguration, weil sie mehr ist als nur Chronologie. Zu ihrer chronologischen Dimension – dem episodischen Charakter der dargestellten Handlung als Folge von Ereignissen – tritt eine nichtchronologische Dimension hinzu, nämlich „die eigentliche konfigurierende Dimension, durch die die Fabel die Ereignisse in Geschichte verwandelt“ und so „einer zeitlichen Abfolge eine Konfiguration“, eine „Figur abgewinnt“. Die konfigurierende Anordnung verwandelt eine Abfolge von Ereignissen in eine „bedeutungsvolle Totalität“ (107f.) und sie zwingt zudem „der endlosen Folge der Vorfälle ‚den Sinn eines Abschlußhaften‘ auf“65 – das Ende der Geschichte ist der Punkt, von dem aus sie als bedeutungsvolles Ganzes wahrgenommen werden kann: Eine Geschichte mitvollziehen heißt, inmitten von Kontingenzen und Peripetien unter der Anleitung einer Erwartung voranzuschreiten, die ihre Erfüllung im Schluß findet. Dieser Schluß ist nicht im logischen Sinne in vorausgehenden Prämissen enthalten. Er gibt der Geschichte einen „Schlusspunkt“, der wiederum den Gesichtspunkt beibringt, von dem aus die Geschichte als ein Ganzes wahrnehmbar wird. Die Geschichte verstehen heißt zu verstehen, wie und warum die einander folgenden Episoden zu diesem Schluß geführt haben, der keineswegs vorhersehbar war, doch letztlich als annehmbar, als mit den zusammengestellten Episoden kongruent erscheinen muß. (108)
Dass Fortgang und Schluss der Erzählung uns „annehmbar“ und „kongruent“ erscheinen, heißt nichts anderes, als dass sie unseren Regeln des Erzählens gemäß sind, die wir vor allem in den narrativen Schemata, allgemeinen, textuellen und intertextuellen Szenographien, und in relevanten Topoi unseres Weltverständnisses kodiert sahen. Hier findet die poetische Tätigkeit Material und Rahmen. Die Erzählung urteilt als abgeschlossenes, bis zu ihrem Ende nachvollziehbares 66 Ganzes. Nur so kann die Fabel das „Allgemeine“ bedeuten: ––––––––––––– 65 Ricoeur 1988, 108. Übersetzung von The Sense of an Ending von Frank Kermode, mit dem Ricoeur das Interesse an der besonderen Zeitlichkeit menschlicher Erfahrung teilt. 66 Ricoeur übernimmt den Begriff „Nachvollziehbarkeit“ nach Walter Bryce Gallies followability in Philosophy and the Historical Understanding.
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Es besteht infolgedessen kein Zweifel mehr: die Art der Universalität, die in der Fabel enthalten ist, beruht auf ihrer Anordnung, die ihre Vollständigkeit und ihre Ganzheit ausmacht. Die Universalien, die von der Fabel erzeugt werden, sind keine Platonischen Ideen. Es handelt sich um Universalien, die mit der praktischen Klugheit, also der Ethik und der Politik verwandt sind. Die Fabel erzeugt solche Universalien, wenn die Handlungsstruktur auf dem handlungsimmanenten Zusammenhang und nicht auf äußeren Zufällen beruht ... Das gesamte Problem des narrativen Verstehens ist hier im Keim angelegt. Die Fabelkomposition ist bereits ein Hervortreiben des Intelligiblen aus dem Akzidentellen, des Universellen aus dem Vereinzelten, des Notwendigen oder Wahrscheinlichen aus dem Episodischen. (70f.)
Ricoeur betont den „dynamischen Charakter“ der poetischen Tätigkeit, „den Primat der fabelkomponierenden Tätigkeit gegenüber jeder Art von statischer Struktur, von zeitlosen Paradigmen, von überzeitlichen Invarianten“ (57). Die konfigurierende Dimension des mythos allerdings hat durchaus eine Tendenz zur Entchronologisierung, zur Logifizierung: insofern nämlich, als seine „Ordnungsschöpfung unter Ausschluß jedes Zeitmerkmals stattfindet“ (65). Das „innere Band der Fabel“ ist „eher logisch als chronologisch“ (68). Das narrative Verstehen verknüpft das Material der Ereignisse durch Relationen der Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit – allerdings vor allem solche ethisch-praktischer Art, die auf WertOrdnungen des Handelns verweisen. b) “In the middest” Ricoeurs Begriff der narrativen Konfiguration kennzeichnet zwei Grundvoraussetzungen narrativer Problemverhandlung: Einerseits (1) entchronologisiert das Erzählen in der Konfiguration das erzählte Geschehen zur bedeutungsvollen Totalität, die ihrerseits gerade aufgrund des nichtchronologischen, systematischen Zusammenhangs ihrer Elemente zu „Problem“-Konstellationen in Beziehung gesetzt und auf andere konzeptuelle Bereiche projiziert werden kann. Indem das Erzählen Modelle der Welt (bzw. unserer Welterfahrung) erzeugt, kann sie Urteile über die Welt fällen. Ereignisse und ihre Bestandteile: Akteure, Ziele, Mittel, Aktionen und Interaktionen, Umstände, Handlungsfolgen, treten als Strukturelemente in systematisch beschreibbare Relationen zueinander. Die Erzählung bringt „alle Elemente, die in dem paradigmatischen Bild der Handlungssemantik vorkommen können, in einer syntagmatischen Ordnung zur Erscheinung“ (106). Dieses Zusammenspiel des Syntagmatischen und Paradigmatischen kann, wie die Analysen der narrativen Semiotik illustrieren, durchaus fruchtbar im Rahmen zeitloser Modelle beschrieben werden. (2) Aber:
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Unsere Modelle von der Welt heben unser In-der-Welt-Sein nicht auf, das unsere Erfahrung und ihre Zeitlichkeit determiniert67. Die „Konsonanz“, die jede Fabel im kohärenten „Zusammennehmen“ der Ereignisse erzeugt, ist daher letztlich eine „dissonante Konsonanz“ (71). Denn das Material der Fabelkomposition stammt aus der Welt des Handelns und des Leidens, einer Welt voll von Kontingenz und Zufall, Irrtum und Scheitern, „Verwirrung“68. Das „narrative In-der Welt-sein“ ist bereits geprägt durch die Sprachpraxis, die dem praktischen Vorverständnis, unseren semantischen, symbolischen und zeitlichen Repräsentationen der Welt des Handelns entspricht. Das Narrative erfasst „die Welt vom Standpunkt der menschlichen Praxis und nicht von dem des kosmischen Pathos her“ (128). Die narrative Konfiguration hebt also tatsächlich die bloße Chronologie auf; diese aber hat eben „nicht nur einen Gegensatz, der die Zeitlosigkeit von Gesetzen oder Modellen wäre. Ihr eigentlicher Gegensatz ist die Zeitlichkeit selbst“ (53). Es ist eine Zeitlichkeit, die von der lebendigen „Erfahrung des In-der-Welt- und In-der-Zeit-seins“ (124) geprägt ist und von keiner Außen-Perspektive dauerhaft aufgehoben werden kann69. Es berührt dies die Grundthese von Ricoeurs Buch, dass nämlich „die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.“ (87) Wir existieren “in the middest” (Kermode) – und nur dort. Unser Überleben hängt davon ab, unsere Gegenwart als Gegenwart des Handelns zu denken. In diesem Modus des Denkens ist Gegenwart – von philosophischen Spitzfindigkeiten unbeeindruckt – von Vergangenem geformt und auf Zukünftiges hin orientiert. Menschliche Zeit kennt keine Gegenwart ohne Vergangenheit und Zukunft, letztere sind in ersterer ebenfalls gegenwärtig: Das ist die distentio animi, die Zer-Spannung der Seele bei Augustinus, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich zusammenspannt. Mit Hilfe narrativer ––––––––––––– 67 Ricoeur spricht von der „Befähigung der Fabel, der Erfahrung Modellcharakter zu verleihen“ (121). Kermodes Buch wiederum betont gleich zu Beginn die Künstlichkeit solcher Modelle ebenso wie ihre Unverzichtbarkeit. “Such models of the world make tolerable one’s moment between beginning and end” (Kermode 4). 68 Vgl. Ricoeur 1988, 74. „Indem die Fabel das Dissonante in das Konsonante einfügt, nimmt sie das Erschütternde ins Intelligible auf.“ (75) Die Kehrseite: „Im Leben, nicht in der tragischen Kunst zerstört die Dissonanz die Konsonanz“ (73). 69 Ricoeur spricht sogar von einer „ontologischen Verfassung“ (124) und führt als Beleg für eine nicht einfach nur zeitliche, sondern „pränarrative“ Struktur der Erfahrung (118) u. a. das „Verstricktsein“ des Menschen in (noch nicht erzählte) Geschichten an (nach Wilhelm Schapps In Geschichten verstrickt; vgl. Ricoeur 1988, 119).
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Strukturen nun können wir “in the middest” uns (versuchsweise, provisorisch) aus diesem „Mittendrin“ hinaus auf einen virtuellen Punkt außerhalb des Systems projizieren, auf uns selbst aus der „Draufsicht“ schauen, die möglichen Folgen von Umweltvorgängen und Resultate unserer Handlungen einschätzen. Narrative Zeit ist, wie Ricoeur im Rückgriff auf Heidegger betont, von eigener Struktur: nicht als Sukzession messbarer Zeitpunkte vergehend, sondern von „Sorge“ perspektiviert70. Ricoeurs „dissonante Konsonanz“ ist gerade der Widerstreit dieser beiden Perspektiven, die gleichzeitig im Narrativen präsent sind: der subjektiven Perspektive des Handelnden und Leidenden, des Beteiligten und Verwickelten und der „weisheitlichen“ Perspektive einer virtuellen Draufsicht auf das Ganze, auf die „Welt“ des Erzähltextes. c) Perspektive und Urteil Ricoeurs vielschichtige Analyse von Erzählung und Zeitlichkeit, die er in ein „langes, schwieriges Dreiecksgespräch zwischen Geschichtsschreibung, Literaturkritik und phänomenologischer Philosophie“ (130) münden lässt, mahnt zur Vorsicht. Sie macht deutlich, dass meine trügerisch einfach klingende Formulierung von der „narrativen Vermittlung“ der Perspektiven komplexe Voraussetzungen und Hintergründe hat. Meine eigene Analyse braucht allerdings handhabbare Bestimmungen. Sie wird deshalb vereinfachend textuelle „Perspektiven“ konstruieren, die als solche nicht (immer) existieren. Es ist der „Blick“ des Interpretierenden selber (um die visuelle Metapher beim Wort zu nehmen), der sie erzeugt und zwischen ihnen wechselt. Die verschiedenen Bedeutungen aber, die Verständnismöglichkeiten, die diese Perspektiven ermöglichen, sind keine bloßen Konstrukte. Das will meine Analyse verschiedener narrativer Problemverhandlungen zeigen. Narrative Strukturen ermöglichen die Vermittlung der widerstreitenden Perspektiven des Innen und Außen; die Subjekte der narrativen Konfiguration und Rekonfiguration müssen sie leisten. Narratives Verstehen sucht gleichzeitig die „subjektive Perspektive“ des Innen und die „objektive“, Bedeutung erzeugende, planende oder urteilende „Perspektive“ des Außen zu denken. Es schließt diesen Zirkel von Innen und Außen, an dem die Spekulation scheitert, gewissermaßen dialektisch kurz, indem es Innen und Außen als einander voraussetzend erkennt. Die Konsequenz des Zir––––––––––––– 70 Vgl. auch Paul Ricoeur, „Narrative Time“ (Ricoeur 1981).
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kels: Jedes Außen, jeder Abschluss und jedes Urteil bleibt vorläufig. Das In-der-Welt-Sein der konfigurierenden und rekonfigurienden Subjekte ist unaufhebbar. Deshalb gelangt Ricoeur schon bei seiner ersten Annäherung an die Bedingungen der menschlichen Zeiterfahrung, in seiner Analyse des Elften Buches der Bekenntnisse des Augustinus, zu einem bedeutsamen Schluss: Zwar „antwortet“ der dichterische Akt der Fabelkomposition auf das Rätsel und die Aporien der Spekulation über die Zeit, aber er löst sie nicht auf. Bei Augustinus kann die Zeit nur deshalb Ausdehnung haben, weil der Geist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Seele selber zusammenspannt, wobei die so erzeugte Konsonanz immer wieder von der Dissonanz der Zer-Spannung dementiert wird71. Eine letzte Interpretation dieser zentralen Zeit-Metapher der distentio animi sei aber, so Ricoeur, nicht zu trennen vom subjektiven Kontext der „Klage“, zu der die „Erfahrung der Zerspannung auf der existentiellen Ebene intensiviert“ und erhoben werde. Im diesem Kontext der Klage wird die distentio animi zur „Zerrissenheit der Seele“, die der Zeitlichkeit nicht entrinnen kann und „der Beständigkeit der ewigen Gegenwart beraubt“ ist (148f.). Auch im Buch Hiob, das die „Dissonanzen der Welt“ (Ebach) gegen falsche Versöhnungen dogmatischer Sinnkonstruktionen zu bewahren sucht, fanden wir ein Zusammenspiel der Perspektiven ganz ähnlich dem, das gerade beschrieben wurde: Die „weisheitliche“ Perspektive von „außen“ – die den göttlichen Über-Blick selber emuliert – setzt und problematisiert den gesetzmäßigen Zusammenhang von (vergangenem) Tun und (zukünftigem) Ergehen; die „psalmistische“ Perspektive der Klage besteht angesichts dessen auf der Unhintergehbarkeit der Subjektperspektive in und gegenüber den objektiven Ordnungen. Eine dritte Perspektive greift vermittelnd ein: die „juridische“ des RECHTSSTREITES, die große Teile des Buches metaphorisch strukturiert. Diese dritte Perspektive ist eigentlich nur als metaphorische möglich: Denn sie betrachtet selbst den scheinbar ––––––––––––– 71 Vgl. Ricoeur 1988, 14 und 39. Schon Kermode hatte das Erzählen in den Kontext der Konsonanzstiftung gestellt, dessen Rückseite Ricoeur mit „der Dissonanz der ZerSpannung“ anspricht. “All such plotting presupposes and requires that an end will bestow upon the whole duration and meaning. … It has to be, on a scale much greater than that which concerns the psychologists, an instance of what they call ‘temporal integration’–our way of bundling together perception of the present, memory of the past, and expectation of the future, in a common organization. Within this organization that which was conceived of as simply successive becomes charged with past and future: what was chronos becomes kairos.” (Kermode 46) Auch Kermode verweist, allerdings nur en passant, auf Augustinus (44).
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unbeteiligten weisheitlichen Beobachter des Weltganzen noch „von außen“, als das Gegen-Subjekt des Beteiligten, und relativiert so seinen Erkenntnisanspruch. Im narrativen Modell verkörpert diese „juridische“ Perspektive das Subjekt der Zuschreibung, die Instanz, die Konfigurationen und Rekonfigurationen erst möglich macht. Der Richter im metaphorischen Rechtsstreit ist das „Subjekt“ des Urteils, das die Erzählung fällt. Die „dissonante Konsonanz“ dieses Urteils aber erinnert uns immer wieder an unseren Platz „in the middest“, dem wir durch virtuelle Draufsicht nur für Momente entrinnen. Denn die Bewegung, mit der wir unseren Platz in der Welt transzendieren, um ein Modell des Ganzen zu gewinnen, ist unabschließbar. Jeder virtuelle Beobachter kann durch Wiederholung dieser transzendierenden Bewegung seinerseits zum Bestandteil eines Modells werden, das wiederum einen Beobachter hat... Das Buch Hiob inszeniert diese Bewegung und ihren vorläufigen Abschluss, indem es das Subjekt des Urteils, den metaphorischen Richter selbst auftreten lässt. Wenigstens in der Erzählung wird so vollendet, was von außen gesehen als fortgesetzte Kontroverse in Geschichten erscheint. Das Hiobproblem wird gelöst. Und mag die Endgültigkeit dieser Lösung auch eine scheinbare sein: Das unhintergehbare Bedürfnis nach Konsonanz, nach Sicherheit und Gewissheit und also nach der Draufsicht aus der Gottesperspektive, macht es der Erzählung leichter, ihre Kontingenz aufzuheben oder zu verschleiern72. 5. Metapher und Analogie: Narrative Projektionen a) Intuitive Erkenntnis: Schema und Metapher Unsere Untersuchung der Bedingungen und Strukturen narrativer Problemverhandlung hatte sich an den Strukturen des Hiobbuches orientiert: Die Redeformen der „Weisheit“ und des exemplarischen Erzählens hatten uns auf das Spiel narrativer Oppositionen verwiesen, die auf Kategoriensystemen aufsetzen und über die Bewertung von Alternativen in TunErgehens-Sequenzen den Bezug zu außertextlichen Ordnungen vermitteln. Der weisheitlichen Beobachterperspektive steht im Hiobbuch die „psalmistische“ Subjektperspektive der Klage gegenüber; über das Begehren ––––––––––––– 72 “Men in the middest make considerable imaginative investments in coherent patterns which, by the provision of an end, make possible a satisfying consonance with the origins and with the middle” (Kermode 16, mit Bezug auf Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz; vgl. Anm. 36 auf S. 86).
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von Subjekten werden aktantielle Strukturen konstituiert, die eine narrative Grammatik beschreiben kann, die aber letztlich in einer Semantik des Handelns gründen. Die das Hiobbuch strukturierenden pragmatischkommunikativen Schemata wie „T ROST“ oder „RECHTSSTREIT“ zeigen darüber hinaus die zentrale Bedeutung narrativer Schemata für die Kohärenz von Erzähltexten, die akzeptable und überzeugende Verknüpfung narrativer Aussagen, sowie für den Nachvollzug des Widerstreits von Subjekt- und Beobachterperspektiven, Innen und Außen, durch den Leser. Die Funktion des RECHTSSTREIT-Schemas im Hiobbuch macht als besonders komplexes Beispiel drei wesentliche Aspekte narrativer Schemaverwendung deutlich: (1) Narrative Schemata sichern Kohärenz und „innere Wahrscheinlichkeit“ von Erzählungen und können als Grundgerüst für spezifische narrative Konfigurationen dienen. Als generalisierte Ablaufmuster integrieren narrative Schemata Elemente eines Erzähltextes in ein kognitiv repräsentiertes Ganzes (als hypothetisches Modell) und ermöglichen die Vermittlung von Binnenperspektiven und virtueller Draufsicht auf dieses Ganze. (2) Die Applikation narrativer Schemata, als Erwartungen an narrative Abläufe, kann auch fehlschlagen. (Auch das kann dazu führen, dass die Begebenheiten einer Erzählung, wie es bei Aristoteles heißt, „zwar aus dem inneren Zusammenhang, aber wider Erwarten“ eintreten; vgl. Poet. 9, 1452a, S. 39.) Auch die Verletzung oder Sprengung narrativer Schemata erzeugt Bedeutung und schickt den Rezipienten auf die Suche nach anderen möglichen Inferenzen und Verknüpfungen, um die Kohärenz des Erzählten zu sichern. (3) Die metaphorische Funktion des RECHTSSTREIT-Schemas im Hiobbuch führt uns zu einem weiteren relevanten Element narrativer Problemverhandlung neben Konfiguration und Perspektive: der Projektion narrativer Strukturen. Narrative Schemata können exemplarische, metaphorische oder analogische Projektionen erleichtern und so eine Öffnung des Erzählten in Richtung auf andere Problemkonstellationen befördern. Mit der metaphorischen Inszenierung der Problemverhandlung als scheiternder „Rechtsstreit“ im Hiobbuch schließt sich der Kreis zum Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung, zum Gegenstand dessen, was Turner „kognitive Rhetorik“ genannt hatte: die innere Struktur und Dynamik und die vielfältigen, systematisch beschreibbaren Wechselbezie-
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hungen kognitiver Konzepte, Schemata und „konzeptueller Metaphern“73. Ich hatte eingangs dafür plädiert, diese „kognitive Rhetorik“ durch eine „kognitive Poetik“ zu ergänzen (und ich habe versucht, durch ständige Rückkopplung der narratologischen Beschreibung an kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse diesem Anspruch zumindest ansatzweise gerecht zu werden). Insbesondere die metaphorische Projektion narrativer Strukturen (die ich leider an dieser Stelle nicht annähernd erschöpfend behandeln kann) wäre m. E. ein zentraler Untersuchungsgegenstand einer zukünftigen „kognitiven Poetik“. Wenn das Hiobbuch JHWH als Richter im „Rechtsstreit“ auftreten lässt, nimmt es eine geläufige Gottesmetapher beim Wort. Die Art von Erkenntnis, die dieser Kunstgriff zur Voraussetzung hat, eine Erkenntnis, die mit Metaphern das Unanschauliche anschaulich zu machen versucht, fällt in einen Bereich, den Kant „intuitive Erkenntnis“ nennt und der „diskursiven Erkenntnis“ entgegensetzt: „Diskursiv“ heißt Erkenntnis „durch Begriffe“, „intuitiv“ dagegen Erkenntnis „durch Anschauung“ (vgl. KrV, Vorrede 1. Auflage, IV 12). Zur „anschaulichen“ intuitiven Erkenntnis gehören die Kantschen „Schemate“ (die schon seit Bartlett, einem der Väter der Schematheorie, den kognitionswissenschaftlichen Schema-Begriff inspirieren74) und die sogenannte „symbolische Vorstellungsart“: Alle Anschauungen, die man Begriffen a priori unterlegt, sind also entweder Schemate oder Symbole, wovon die erstern direkte, die zweiten indirekte Darstellungen des Begriffs enthalten. Die erstern tun dieses demonstrativ, die zweiten vermittelst einer Analogie (zu welcher man sich auch empirischer Anschauungen bedient), in welcher die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über
––––––––––––– 73 Siehe oben S. 28 ff. Einige Beispiele aus der Vielzahl weiterer Beiträge zur kognitiven Funktion von Metaphorik: George Lakoff u. Mark Turner, More than cool reason. A field guide to poetic metaphor (1989); Mark Turner, Death is the mother of beauty: Mind, metaphor, criticism (1987); Earl MacCormac, A cognitive theory of metaphor (1985); Anthony Ortony (Hg.), Metaphor and thought (1979); George Lakoff u. Mark Johnson, Metaphors we live by (1980). Auch Ricoeur (1986) hatte bereits die Metapher ausführlich behandelt. 74 “Remembering is not the re-excitation of innumerable fixed, lifeless, and fragmentary traces. It is an imaginative reconstruction, or construction, built out of the relation of our attitude towards a whole active mass of experience. … It is thus hardly ever really exact, even the most rudimentary cases of rote recapitulation, and it is not at all important that it should be so. The attitude is literally an effect of the organism’s capacity to turn round up upon it’s own ‘schemata’ and is directly a function of consciousness” (Fredric Bartlett, Remembering; zit Gardner, The Mind’s New Science, S. 116).
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jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden. (Kant, KU § 59, V 352)
Die „symbolische“ Vorstellungsart, die „Vorstellung nach einer bloßen Analogie“ (KU V 352, Anm.), ist im Kern metaphorisch. Sie greift immer dann, wenn dem Begriff (dem Darzustellenden) nicht unmittelbar auch eine Anschauung direkt korrespondieren kann, also kein passendes Schema zur Verfügung steht, so dass der darstellende Ausdruck „nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält“. Der abstrakte Begriff des monarchistischen Staates etwa wird „durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt. Denn, zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren.“ (KU V 352) Das „Symbolische“ ist nicht auf abstrakte Begriffe beschränkt; im Gegenteil: Unsere Sprache ist, wie Kant bemerkt, „voll von dergleichen indirekten Darstellungen, nach einer Analogie“: So sind die Wörter Grund (Stütze, Basis), abhängen (von oben gehalten werden), woraus fließen (statt folgen), Substanz ..., und unzählige andere nicht schematische, sondern symbolische Hypotyposen, und Ausdrücke für Begriffe nicht vermittelst einer direkten Anschauung, sondern nur nach einer Analogie mit derselben, d. i. der Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann. (KU V 352f.)
Hans Blumenberg75 hat im Anschluss an Kants „Symbole“ für solche Metaphern mit einer „begrifflich nicht ablösbaren Aussagefunktion“ den Begriff der „absoluten Metapher“ geprägt (10). Blumenbergs materialreiche Untersuchungen zu einer „Metaphorologie“ zeigen anschaulich, wie (nicht nur) in philosophischer Erkenntnis immer wieder für eine logische Verlegenheit eine Metapher einspringen kann, die eine Leere, die „tabula rasa des theoretisch Unerfüllbaren“ (193) auszufüllen sucht. Metaphern fungieren als „Grundbestände der philosophischen Sprache ..., ‚Übertragungen‘, die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen“ (10). Dass Blumenberg diese Metaphern absolute nennt, meint dabei ––––––––––––– 75 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1998), in diesem Abschnitt zitiert mit einfachen Seitenzahlen. Vgl. außerdem ders., Schiffbruch mit Zuschauer (1979), Die Lesbarkeit der Welt (1981).
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lediglich, „daß sie sich gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent erweisen, nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden können, nicht aber, daß nicht eine Metapher durch eine andere ersetzt bzw. vertreten oder durch eine genauere korrigiert werden kann“ (12f.)76. So ist, in Kantscher Terminologie, auch „alle unsere Erkenntnis von Gott bloß symbolisch“ (KU V 353), also ganz und gar metaphorisch. Gott wird verstanden als König, Richter, Vater, Welturheber und Weltsouverän; er ist der Schöpfer – und damit „allwissend“, nämlich als Konstrukteur des Weltmechanismus ‚rechtlich‘ der Eigentümer der höchsten Wahrheit über seine Schöpfung (bei Laktanz; vgl. Blumenberg S. 50ff. und 96) oder aber als der Produzent mit der absoluten Einsicht in das Wesen des Produktes ausgestattet (bei Thomas und Vico; vgl. S. 8 und 38); er ist gewissermaßen „Uhrmacher“, aber auch Autor des „Buches der Welt“ (vgl. 104f.). Gesprengt wird diese Anschaulichkeit dagegen von der metaphorisch-paradoxen Sprache einer „negativen Theologie“ der Spätantike und des Christentums: Gott ist jetzt der „Allumfasser“ und wohnt gleichzeitig „drinnen in der Tiefe“ (bei Plotin; vgl. 178, Anm. 199), er ist die „Hand meiner Zunge“, die „Hand des Herzens“ (bei Augustinus); er ist das Unendliche, die sphaera infinita (bei Nicolaus von Cues; vgl. 183). Bei Nietzsche dann ist Gott „tot“. Im Hiobbuch sind die anschaulichen Gottesmetaphern noch lebendig. Dort trifft das traditionelle Verständnis Gottes als „Richter“, „Rechtshelfer“ oder „König“, der Gerechtigkeit garantiert und durchsetzt, auf die ebenso traditionelle, aber nicht immer kompatible Vorstellung vom souveränen „Schöpfer“ (als „Baumeister“), der über allen menschlichen Ideen von Gerechtigkeit steht. Über die Prozessmetaphorik des Hiobdialogs wird JHWH zudem auch noch in der Rolle des Angeklagten gedacht, der Hiob Unrecht getan haben soll. Die absoluten Metaphern für das Absolute sind hier Teil des Problems. Wie gezeigt wurde, ist für das Verständnis des Hiobbuches die RECHTSSTREIT-Szenographie unabdingbar, wird aber gleichzeitig durch dieses Dargestellte gesprengt. Hiob, der Gottes Gerechtigkeit einklagt, verwendet zwar die im Denken Israels verankerte Gottesmetapher, die JHWH als Rechtshelfer, Richter und Goel darstellen. Die Schlussfolgerungen aber, zu denen ihn seine Metapher zu zwingen scheint – dass sein ––––––––––––– 76 Blumenberg begreift Metaphorik umfassender als eine „authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen, die nicht auf den engen Kern der ‚absoluten Metapher‘ einzugrenzen ist“ (Blumenberg 1979, 77).
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Leiden gerechtfertigt sein muss – kann er nicht akzeptieren: Er weiß sich unschuldig. Er kann auf die Metapher vom gerechten Gott auch nicht leichten Herzens verzichten: Denn die Alternative, die sich ihm aufdrängt, die Metapher des TYRANNEN, des willkürlich strafenden Gottes, scheint ebenso unannehmbar. Obwohl er diese Gegenmetapher den Freunden gegenüber provozierend ausprobiert, da sie aus ihren Argumenten und seiner Überzeugung notwendig zu folgen scheint, muss er doch, um nicht vollends zu verzweifeln, an seiner eigenen Metapher des RECHTSHELFERGottes und gerechten R ICHTERS festhalten. Also nimmt er die Metapher beim Wort: er versucht sie in die wirkliche Welt hineinzutreiben und fordert JHWH zu einem realen Handeln auf, das dieser Metapher entspricht. Bereits damit ist die Sprengung der metaphorischen Konfiguration besiegelt: Um die Metapher in die Welt hinüberzuretten, müsste JHWH entweder Hiob eine Schuld nachweisen oder aber gegen sich selbst Recht sprechen. Die Schuldlosigkeit Hiobs war indes vorausgesetzt, und deshalb ist an dieser Stelle nur noch zu fragen, auf welche Weise die Metapher sich selbst zerstört – welche Transformation also damit das Gottesbild erleidet, in welche andere Metapher es sich nun noch zurückziehen kann. Es gibt zu diesem Dilemma nicht allzu viele denkbare Lösungsmöglichkeiten. Um den Strukturvorgaben des RECHTSSTREIT-Schemas zu genügen, müsste JHWH mehrere Rollen dieses Schemas gleichzeitig besetzen. In den Reden Hiobs ist eine solche Möglichkeit der Verdoppelung Gottes angelegt (vgl. oben S. 138). In letzter Konsequenz müsste dann allerdings der RECHTSHELFER der Metapher durch sein Gegen-Subjekt ergänzt werden, eine Lösung, die letztlich auf einen Dualismus der Gottesbilder hinausläuft. Viele Ausleger neigen dieser Lösung zu: Der JHWH, der zuletzt erscheint, ist der traditionelle Gott an Hiobs Seite, und in seinem Eingreifen weist er das „falsche Gottesbild“ der Freunde zurück, den „Ungott“ des nachexilischen Dogmas (z. B. Maag 182ff., 193). Die Rettung der „RECHTSHELFER“-Metapher des gerechten Gottes scheint nur durch ihr Verschwinden als Metapher möglich: Für Hiob tritt die unmittelbare Begegnung, die „persönliche Gotteserfahrung“77 an die Stelle des metaphorischen Bildes. Hiob „findet den wahren, lebendigen Gott, der sich im Leben eines jedes Einzelnen offenbart“ (Richter 1954, 128). Damit würde jede Metapher überflüssig. Für die Leser allerdings soll nun wiederum das Bild des Hiob, der den lebendigen Gott erfährt, das Bild einer Offenbarung, der angeschlagenen Metapher den Rücken stär––––––––––––– 77 Vgl. Maag 97; auch Westermann 127; Preuß 79 und 99; Fohrer 558.
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ken. So kann zwar Richter sagen: „Der Dichter des Hiobbuches begnügt sich nicht mit einem Gott, der sich früher einmal offenbart hat und nur noch im Kultus zu den Frommen ‚spricht‘.“ (Richter 1954, 120) Aber die Leser müssten sich, wenn das die Lösung des Hiobproblems sein soll, weiterhin gerade damit begnügen. Deshalb muss die zusammengebrochene Gerechtigkeitsmetapher substanziell ersetzt werden – in den Deutungen vorzugsweise durch die Metapher des seine Macht demonstrierenden SOUVERÄNS, der durch kein Gesetz gebunden ist, aber auf dessen Gnade man hoffen muss und darf. Auch diese Deutung grenzt für manchen ans Unerträgliche: Sie ist die Chiffre der reinen Unverfügbarkeit. Die in Erzählungen exemplarisch erfüllte Hoffnung auf Gnade muss daher immer wieder dem Wunsch nach dogmatischer Behauptung widerstehen, die Kontingenz des Erzählten gegen ihre innere Notwendigkeit bewahrt werden. Hier ist auch bei „geschlossenen“ Fabeln das Resultat der Mitarbeit des Lesers völlig offen. b) Exemplarische Generalisierung und analoge Projektion Wenn es um die Kohärenz und Überzeugungskraft narrativer Problemverhandlungen geht, stehen oft – wie im Hiobbuch – zwei verschiedene Aspekte in Frage: einerseits die Kohärenz der Darstellung in sich, bezogen auf das einzelne Erzählte, und zum anderen die Frage, ob und wie diese konkrete Erzählung nachvollziehbar auf andere einzelne oder auf allgemeine Probleme angewendet werden kann – etwa als exemplarische Darstellung oder als Analogie. Narrative Problemverhandlung wird ja gerade da interessant, wo mehr verhandelt wird als der konkrete Konflikt der Protagonisten. Es ist eine Grundthese der vorliegenden Untersuchung, dass dieser Problemlösungstransfer wesentlich durch Übertragung bzw. Projektion narrativer Konfigurationen und Urteile zu Stande kommt. Als „exemplarisch“ bezeichne ich im Folgenden Fälle, in denen das erzählte Einzelne ein Allgemeines repräsentieren will, als „analog“ oder „analogisch“ dagegen solche, in denen das erzählte Einzelne auf ein anderes Einzelnes bezogen wird. Wir können exemplarische Erzählungen verkürzt auch als „Modelle“ des durch sie repräsentierten Allgemeinen betrachten; Analogien wiederum wenden eben solche konkreten „Modelle“ auf einen ebenfalls konkreten Zielbereich an (in Anlehnung an Dörner; vgl. oben Anm. 52 auf S. 99). Insofern exemplarische Generalisierung ein erzähltes Einzelnes auf eine strukturanaloge allgemeine Ordnungsbeziehung abbildet, fasse ich sie als einen Spezialfall analoger Projektion auf.
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Weil es sich aber letztlich bei dieser Unterscheidung um eine von Interpretationsstrategien handelt, gilt: So sehr auch eine bestimmte Strategie vom Text nahegelegt wird, sind doch Interpreten jederzeit frei, anders zu lesen. Insbesondere glaube ich, dass für jede Erzählung eine irgendwie geartete exemplarische Lesart möglich sein sollte, dieselbe aber anderseits auch ebenso gut vom Interpreten verweigert werden kann. Exemplarisches Erzählen präsupponiert, dass das erzählte Einzelne unter eine Regel fällt; das narrative Urteil wird ausdrücklich als Ausdruck einer Ordnung dargestellt. Beispiele sind die Prüfung Hiobs in Hioblegende und Novelle oder auch die exemplarische Zuwendung JHWHs zu Hiob in der Theophanie der Dialogdichtung. Wird dagegen ein erzähltes Einzelnes als Analogie auf ein anderes Einzelnes bezogen, so wird damit behauptet, dass beide Einzelfälle gewissermaßen unter dieselbe Regel fallen, und diese Behauptung muss durch hinreichende Ähnlichkeiten zwischen beiden Fällen gerechtfertigt werden können. In der Hiobnovelle etwa definiert die „Wette“ der Rahmenhandlung explizit die Analogie: Hiobs Ausharren und Festhalten an JHWH (L1) bedeutet gleichzeitig dessen Triumph gegenüber dem Satan (L1'), während ein Abfallen, wie es die Versucherfiguren fordern (L2), diesem Recht gäbe (L2'). Übrigens fällt das Beispiel oder „Exemplum“ in der Rhetorik nach dieser Begriffsbestimmung gerade nicht unter das „Exemplarische“, sondern unter die Analogien (wenn auch einer so verstandenen Analogie immer „exemplarische“ Verallgemeinerung vorausgehen muss). Die „Methode, eine außerhalb des eigentlichen Redegegenstandes liegende Sache als Beispiel in die Rede einzubeziehen und mit dem Fall durch Ähnlichkeit zu verknüpfen“, ist von Cicero als inductio bezeichnet worden (Ueding u. Steinbrink 266). Solche Beispiele sind aber tatsächlich „unter logischem Aspekt nicht einfach induktive Schlüsse von Einzelbeispielen auf allgemeine Sachverhalte“, sondern „Analogieschlüsse ..., in denen Induktion und Deduktion miteinander verknüpft sind: Das bzw. die angeführten Beispiele legen den Hörern nahe, daraus induktiv eine allgemeine Regel oder Gesetzmäßigkeit zu bilden, von der dann deduktiv auf denjenigen Einzelfall zu schließen ist, der in der Rede den Beweisgegenstand bildet“ (ebd.)78. Beispiele, die aus traditionellen Erzählungen stammen, sind daher besonders wirksam, weil sie bereits auf die Ordnungsaussagen exemplarischen Erzählens aufbauen können. Auch die Hiobrezeption macht deutlich, dass die analoge Projek––––––––––––– 78 Ueding u. Steinbrink zitieren Kleins Artikel „Beispiel“ im von Klaus Ueding herausgegebenen Historischen Wörterbuch der Rhetorik HWR, Tübingen 1992, Bd. 1.
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tion der Hioberzählung auf andere konkrete Fälle unschuldigen, unerklärlichen oder übermäßigen Leidens durch ihre etablierte exemplarische Bedeutung erleichtert oder vielleicht auch erst ermöglicht wird. „Exemplarische“ wie „analoge“ Projektionen narrativer Strukturen können sowohl von „wirklich“ Geschehenem (deskriptive Referenz) als auch Erfundenem (fiktionale Referenz) ausgehen. Jedoch wird, wie Ricoeur gezeigt hat, die Projektion insbesondere durch die fiktionale Befreiung von deskriptiver Referenz befördert, die den Blick von der unmittelbaren „Wahrheit“ des Erzählten auf seine übergreifende „Anwendbarkeit“ lenkt (vgl. oben ab S. 89). Als erdichtete Analogien verkörpern bei Aristoteles „Fabel“ und „Gleichnis“ die Fähigkeit, „das Ähnliche wahrzunehmen“ (Rhet. II.20.7; S. 35). In narrativen Problemverhandlungen durch analoges Erzählen erlaubt es „Ähnlichkeit“, die Struktur der narrativen Problemlösung auf eine andere als die ursprüngliche Problemstellung zu transferieren. Ähnlich wie vor Gericht das Urteil in einem Präzedenzfall Orientierung für die Entscheidung in anderen „ähnlichen“ Fällen geben kann, erklärt zum Beispiel Kant das Hiobbuch mit seinem narrativen Urteil gewissermaßen zum „Präzedenzfall“ für das Problem der Theodizee. Wie müssen wir uns diese „Ähnlichkeit“ von Problemen vorstellen, aufgrund derer in analoger Projektion eine gegebene narrative Problemlösung auf ein anderes Zielproblem transferiert werden kann? „Ähnlichkeiten“ können ja auf sehr verschiedenen Ebenen der Abstraktion wahrgenommen werden: zum Beispiel als bestimmte Übereinstimmungen von Situationen, Figuren, Ereignissen oder Handlungen, aber auch als komplexere Übereinstimmungen von Elementen der Erzählstruktur im Ganzen. Ausschlaggebend für den Transfer narrativer Lösungen auf andere Probleme sind Ähnlichkeiten in den jeweiligen problematischen Ausgangszuständen, und zwar gerade solche Übereinstimmungen in den jeweiligen Konfliktkonstellationen, die ein „Mapping“ ermöglichen – die Zuordnung von einander kongruenten (analogen) Objekten und Relationen aus verschiedenen narrativen Makropropositionen. Als narrative Lösungen transferiert werden Folgen von Operationen bzw. Transformationen im narrativen Problemraum (Transformationen von Zustands- bzw. Situationsbeschreibungen), die sich im Quellproblem als erfolgreich erwiesen hatten und deren Akzeptabilität als Lösung des Zielproblems nun ebenfalls geprüft werden muss. Eine solche Folge narrativer Transformationen kann vielleicht auch direkt auf das Zielproblem transferiert werden, wenn sich die Ausgangs- und Zielsituationen beider Probleme voneinander entsprechend wenig unterscheiden. In den meisten Fällen wird sie aber
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wohl als mehr oder weniger abstraktes Lösungsschema projiziert werden, also als allgemeiner Ausdruck, der für eine Folge von Klassen von narrativen Transformationen steht, als narratives Schema. In „analogen“ Projektionen insbesondere fiktionaler narrativer Konfigurationen wird diese Übertragung narrativer Lösungsschemata in vielen Fällen – wie im Hiobbuch die Übertragung des RECHTSSTREIT-Schemas – metaphorischen Charakter haben. Turners „kognitiver Rhetorik“ zufolge liegt das Grundprinzip der Schemaverwendung auch dem Prozess metaphorischer Bedeutungskonstitution zugrunde79: “A metaphor is a mapping of a source conceptual schema (such as our conceptual schema for journey) onto a target conceptual schema (such as our conceptual schema for life).” (Turner 1991, 52) Uns interessieren hier insbesondere diejenigen Fälle, in denen die Positionen von Target- und/oder Source-Schema durch narrative Schemata besetzt wird. In Turners Beispiel stellt die Metapher LIFE IS A JOURNEY für das Verständnis von LEBEN eine Auswahl von Bestandteilen unseres abstrakten Schemas der R EISE zur Verfügung. Als narratives Schema erlaubt es das REISE-Schema, einen Text als Erzählung über eine Reise zu verstehen. Ein Interpretationsakt, der beide Verwendungsweisen des REISE-Schemas kombiniert, kann wiederum die Interpretation einer Reisebeschreibung als Aussage über das „Leben“ erzeugen. Auch Modifikationen bzw. Verletzungen des Source-Schemas beeinflussen die Bedeutung des Targets, etwa wenn das Element „Ziel“ wegfällt oder mit anderen Elementen identifiziert wird („Der Weg ist das Ziel“). Analoges gilt für das narrative Schema des PROZESSES, das ebenfalls sowohl die Struktur einer Geschichte liefern als auch der metaphorischen Projektion dienen kann, wie die wechselnden Rollenbesetzungen des metaphorischen Rechtsstreits im Hiobbuch zeigen. In Wendungen wie „zur Untätigkeit/zum Scheitern etc. verurteilt“, „Plädoyer für die Liebe“, „Anwalt der Unterdrückten“ oder „advocatus diaboli“; „sich schuldig bekennen“, „seine gerechte Strafe erhalten“ usw. wird bereits die hohe Produktivität des RECHTSSTREIT-Schemas als Quelle für „konzeptuelle Metaphern“ sichtbar80. Auch in komplexeren Zu––––––––––––– 79 Turner 1996 präsentiert eine weiterentwickelte (aber mit seiner früheren und auch meiner eigenen durchaus vereinbare) Theorie von projection of story und conceptual blending (vgl. auch Anm. 30 auf S. 80). Es wäre eine lohnende Aufgabe, diese Basistheorie durch die Beschreibung der Projektion komplexerer narrativer Schemata zu erweitern. 80 Es finden sich zahllose Beispiele für Prozess-Metaphern in nicht-juristischen Zusammenhängen (Hervorhebungen in den Zitaten von mir): In Paradise Lost (Buch X, Z. 775-777) sagt Milton: “How gladly would I meet / Mortality my sentence, and be earth
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sammenhängen ist die metaphorische Projektion des RECHTSSTREITSchemas äußerst fruchtbar, im Buch Hiob ebenso wie in der TheodizeeDebatte, auf die im Teil D ausführlicher eingegangen wird. Man kann vielleicht sogar soweit gehen, das RECHTSSTREIT- oder PROZESS-Schema als ein Paradigma narrativer Problemlösungen anzusehen. Eine Reihe naheliegender Analogien lassen dieses Schema als prädestiniertes Modell für narrative Problemverhandlungen erscheinen. Die vom RECHTSSTREITSchema bereitgestellten schemakonformen Operationen, die von seinen Rollenbesetzungen ausgeführt werden können, entsprechen weitgehend den oben analysierten Bestandteilen narrativer Problemverhandlung als „Performance“: Die Herstellung einer „polemischen“ Beziehung durch Beschuldigung und Bestreitung konstituiert die Prozessparteien als Subjekte narrativer Programme (Konfrontation). Dem Urteil des Gerichts zugunsten einer Partei und die Zuerkennung des Siegs entspricht das narrative Urteil als Aktualisierung des dominierenden Programms auf Kosten seines Gegen-Subjekts (Beherrschung und Zuschreibung). Das „Subjekt“ des narrativen Urteils wiederum entspricht der Richterinstanz81. Das RECHTSSTREIT-Schema ist aber offenbar nicht das einzige mögliche Paradigma narrativer Problemlösung: Auch das Schema der REISE bietet sich diesbezüglich zur metaphorischen Projektion an. Das zeigt ––––––––––––– /Insensible!...” Lionel Trilling schreibt über Neurosen: “Every neurosis is a primitive form of legal proceeding in which the accused carries on the prosecution, imposes judgment and executes the sentence: all to the end that someone else should not perform the same process.” (L. Trilling, Notizbucheintrag 1946). „Warum war nur Gregor dazu verurteilt, bei einer Firma zu dienen, wo man bei der kleinsten Versäumnis gleich den größten Verdacht faßte?“ heißt es in Kafkas Verwandlung (103). Das deutsche Substantiv „Urteil“, das sich auch in ‚Vorurteil‘, ‚Beurteilung‘ etc. findet, besaß von Anfang an (seit dem 8. Jh.) seinen rechtssprachlichen Sinn (‚Zuteilung des Rechts‘) und erhielt seine allgemeinere Bedeutung ‚Meinung, Ansicht‘ erst in der mystischen Literatur des Mittelalters. Es gehört zu dem Verb ‚erteilen‘, (von ahd. irteilen, mhd. erteilen: ‚ein Urteil sprechen, richten, verurteilen, als Urteil zuerkennen, teilen‘), welches später durch das gleichbedeutende ‚urteilen‘ verdrängt worden ist (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen in drei Bänden, Berlin 1989, Bd. 3, 1882). So ist das Konzept des Rechtsverfahrens auch dort noch präsent, wo heute von allgemeinen Operationen des Denkens oder der Entscheidungsfindung die Rede ist. 81 Man kann die Analogie auch umkehren: “A criminal trial is like a Russian novel: it starts with exasperating slowness as the characters are introduced to a jury, then there are complications in the form of minor witnesses, the protagonist finally appears and contradictions arise to produce drama, and finally as both jury and spectators grow weary and confused the pace quickens, reaching its climax in passionate final argument” (Clifford Irving, Sunday Times, London, 14.08.1988).
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Turners Behandlung der sehr produktiven konzeptuellen Metapher SOLVING A PROBLEM IS JOURNEYING TO A DESTINATION, die in zahlreichen sprachlichen Wendungen wirksam ist und offenbar oft unser Bild vom Problemlösen bestimmt. Durch diese konzeptuelle Metapher – so Turner – erhält unser Konzept des Problemlösens vielleicht erst seine image-schematische Struktur, die es uns erlaubt, das Problemlösen als „Bewegung“ durch den Problem-„Raum“ aufzufassen82. Die beiden konzeptuellen Schemata PROZESS und REISE scheinen sich aber auf unterschiedliche Problemklassen oder auch Betrachtungsweisen von „Problemen“ beziehen zu lassen: Bei der Standardvariante des REISESchemas geht es um das Erreichen eines Zieles durch ein (gegebenenfalls auch kollektives) Subjekt; im Zentrum steht die Bewertung eines zentralen narrativen Programms als gewählter Problemlösungsvariante. Im P ROZESS (als Elaborat des KAMPFES) steht dagegen der Konflikt im Mittelpunkt, also die Frage, welche der streitenden Parteien Recht bekommt, welche Problemlösungsvariante oder welches narrative Programm aktualisiert wird. Beide Schemata können so unterschiedliche Aspekte einer umfassenderen Struktur fokussieren. Die REISE betont das Zielgerichtete der Bewegung durch den Problemraum und die Bewertung gegebener Operationen. PROZESS und KAMPF fokussieren darüber hinaus die Koexistenz verschiedener Alternativen solcher gerichteten Operationen, über die das narrative Urteil gefällt wird und die als Oppositionen auf komplexere Wertsysteme, Ordnungen und damit auch Problemkonstellationen bezogen werden können. Nur der PROZESS wiederum macht auch die übergeordnete Urteilsinstanz explizit und mit ihr den Bezug auf „Recht und Gesetz“, die das Urteil leitende höhere Ordnung. Die tief in unseren kognitiven Repräsentationen verankerte metaphorische Produktivität dieser Schemata bewirkt, dass sie bei Bedarf für narrative Problemverhandlungen in ganz verschiedenen Bereichen zur Anwendung kommen können.
––––––––––––– 82 Turner 1991, 173f. Turner ist ansonsten bestrebt, image-schematische Strukturen in möglichst vielen abstrakten Konzepten auszumachen (z. B. in der zeitlichen Relation der Kausalität ein Schema von durch Pfade verbundenen Punkten). Das erinnert an Kants Wertschätzung der Einbildungskraft als „einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind“ (KrV III 91).
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c) Analoger Transfer narrativer Problemlösungen Eine analoge Projektion von narrativen Strukturen behauptet, dass ein erzähltes Einzelnes und sein Analogon einander ähnlich genug sind, um irgendeiner Hinsicht in relevantem Bezug auf das verhandelte Problem unter dieselbe Regel zu fallen. Diese Ähnlichkeit macht den Transfer einer narrativen Konfiguration und damit eines narrativen Urteils auf ein „analoges“ Problem möglich, den wir jetzt näher untersuchen wollen. Ich habe bereits auf Aspekte analogen Problemlösens hingewiesen, die in narrativen Problemverhandlungen eine Rolle spielen können (vgl. oben Kap. A.I.5). Außerdem zeigte sich, dass die transferierten narrativen Problemlösungen in den uns interessierenden Fällen als narrative Schemata beschreibbar sind, nämlich als generalisierte Folgen von narrativen Transformationen (Transformationen von Zustands- bzw. Situationsbeschreibungen) im Problemraum. Narrative Schemata umfassen eine Anzahl Elemente, die zueinander in bestimmten paradigmatischen oder syntagmatischen Relationen stehen, und eine oder mehrere Variable, die zur Aktualisierung von Instanzen des Schemas mit je verschiedenen Werten besetzt werden. Hauptelemente narrativer Schemata sind narrative Aussagen, die Zustandsänderungen beschreiben und sich aus Elementen für Zustands-, Ereignis- und Handlungsbeschreibungen zusammensetzen. Dasselbe gilt entsprechend auch von narrativen Lösungsschemata, die auf analoge Probleme übertragbar sind, wobei hier insbesondere narrative Handlungsaussagen von Bedeutung sind. Ein übertragbares Lösungsschema für textuell verhandelte Probleme kann als mehr oder weniger komplexer Ausdruck von Prädikaten und Argumenten dargestellt werden, der mindestens eine Variable enthält. Abstrakt betrachtet, werden einfache narrative Lösungsoperationen generell auf die Überwindung von Hindernissen und die Dominierung von Gegen-Subjekten mittels Aneignung, Manipulation oder Negation von Objekten hinauslaufen (dazu können materielle Objekte, Informationen, mentale Zustände, aber auch Kooperationen mit Helfer-Subjekten zählen). Als Handlungsaussagen repräsentieren die zentralen Transformationen des Schemas stets Entscheidungen zwischen Verhaltensalternativen mit daraus jeweils resultierenden erweiterten Möglichkeiten (weiteren Verhaltensalternativen) zum Beispiel durch Zuwachs von „Können“ oder „Wissen“. Beispiele für übertragbare narrative Lösungsschemata auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion (und unterschiedlichen Typen von Variablen: Figuren, Aktoren, Aktanten, Konzepte) wären etwa „das richtige
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Werkzeug / Information / Helfer finden“, „vor Fallen / falschen Informationen / Gegnern hüten“, „einen schädlichen Faktor entfernen“ (Krankheitsherd, Verräter etc.), „verschiedene Wege ausprobieren“ (Versuch und Irrtum), „den Knoten zerschlagen“ (anstelle der üblichen Lösungsmethode eine völlig andere, radikale oder gar gewaltsame, aber effektive Methode anwenden), „Angst überwinden“, „ehrlich sein“ etc. In unserem oben (S. 99) angeführten recht komplexen Beispiel eines analogen Problemlösens mit narrativen Schemata, dem Bestrahlungsproblem nach Duncker, kann eine Formulierung wie „getrennt marschieren, vereint schlagen“ oder „Aufteilung der effektiven Gesamtkraft in Teilkräfte, die entlang unterschiedlicher Bahnen geführt und dann in einem einzigen Punkt additiv wirksam werden“ als übertragbare schematisierte Folge von Lösungsoperationen angesprochen werden. Die Geschichte von Hiob dem Dulder wiederum liefert für andere Leidensgeschichten ein Lösungsschema etwa der Form „durchhalten / an Gott festhalten / allen Versuchungen widerstehen“. Das konkrete Verhalten, das ein Lösungsschema erfüllt, variiert in all diesem Fällen jeweils mit dem Kontext des Problems. Zu den möglichen Transformationen narrativer Problemlösungen kommen im Falle einer narrativen Problemverhandlung, also im Falle der Entscheidung über konkurrierende Problemlösungsversuche, noch solche Transformationen hinzu, die narrative Programme in ihrem Verhältnis zu anderen bewerten und verändern. Denkbare Lösungsschemata zur Aufhebung einer Stasis zwischen narrativen Programmen sind einerseits die Modifikation von narrativen Programmen zur Kompromissbildung („sich das Objekt teilen“) und andererseits neue „Prüfungen“ zur Entscheidungsfindung, die Einführung weiterer Aktanten (auch Informationen) zur Unterstützung oder Behinderung von Programmen („in letzter Minute kam Hilfe“, Aristoteles’ „Erkennung“), die Einführung einer expliziten Entscheidungsinstanz („den König, den Richter, das Los, den Zufall etc. entscheiden lassen“, „deus ex machina“) oder auch die willkürliche Entscheidung ohne weitere Begründung, welche allerdings fast immer ebenfalls eine irgendwie geartete Hilfs- oder Entscheidungsinstanz impliziert („dann wendete sich das Glück und x gewann die Oberhand“). Wie komplex diese Entscheidung in analogen oder allegorischen narrativen Problemverhandlungen kodiert sein kann, zeigte schon die Hiobnovelle: Hier war Hiobs Entscheidung in der Prüfung, sein Festhalten an Gott (gegen den Lösungsvorschlag der Versucherfiguren) als Lösung für das Problem des Leidens, gleichzeitig die „analoge“ Lösung für die Satansfrage, die in der Rahmenerzählung gestellt wird, aber dem Subjekt Hiob gar nicht be-
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wusst sein konnte. Aus der Außenperspektive eines übergeordneten Problems wird damit sichtbar, was der Innenperspektive einzelner narrativer Programme entzogen bleibt. 6. Strukturen narrativer Problemverhandlung Wir wollen nun zusammenfassend versuchen, unsere Aussagen über narrative Strukturen in den konzeptionellen Rahmen des Problemlösens zu integrieren. Die relevanten Elemente der Problemstruktur und des Problemlösungsprozesses, die wir in Kapitel A.0 herausgearbeitet hatten, waren Ausgangs- und Zielzustand sa und sz einschließlich einer der Etablierung des Zielzustands entgegenstehenden Barriere, die jeweils möglichen virtuellen oder aktualisierten Transformationen sowie die abschließende Bewertung von Problemlösungsversuchen. Die allgemeine Struktur narrativer Problemverhandlung hatten wir entsprechend als Sequenz Problem – Entscheidung – Bewertung beschrieben, wobei „Problem“ sowohl den problematischen Zustand selbst als auch die in der Problemsituation verfügbaren alternativen Lösungsoperationen oder Transformationen umfasst. (Ein Modell-Leser hätte die narrative Problemlösung als ein handhabbares mentales Modell der Problemsituation einschließlich ihrer regelkonformen narrativen Transformation in den Zielzustand zu aktualisieren). Unserer Reformulierung liegt die Annahme zugrunde, dass Problemlösungsversuche in narrativen Problemlösungen durch narrative Programme repräsentiert werden, die zueinander (oder zu ihrer Negation) in eine „polemische“ Beziehung treten können. Deshalb kann die Sequenz Problem – Entscheidung – Bewertung in einer Syntax narrativer Problemverhandlung nach Greimas als narrative „Performance“-Einheit von Konfrontation – Beherrschung – Zuschreibung (oder eine Serie solcher Performances) modelliert werden, wobei die Überzeugungskraft oder Glaubhaftigkeit konkreter Performances von den Regeln kohärenten Erzählens bestimmt wird. Die Entscheidung der Problemlösung oder -verhandlung erscheint in Greimas’ „Beherrschung“ als die kontingente narrative Aktualisierung einer virtuellen Lösungsvariante auf Kosten ihrer Alternativen (das narrative Urteil). In einer konkreten narrativen Konfiguration ergibt sich aus verschiedenen narrativen Oppositionen (von Subjekt vs. Objekt, Subjekt vs. Subjekt oder Objekt vs. Objekt) eine Konstellation von einem oder mehreren narrativen Programmen. Das Vorliegen mehrerer konkurrierender Problemlö-
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sungsversuche erzwingt eine Entscheidung, deren Herbeiführung im Rahmen narrativer Strukturen als narrative Problemverhandlung erscheint. Ob und wie ein gegebener Erzähltext als Problemlösung oder Problemverhandlung gelesen wird, ist letztlich von der spezifischen Art und Weise abhängig, wie in konkreten Rezeptionsakten Figurenkonstellation und narrative Konfiguration des Textes aktualisiert und auf Problemkonstellationen projiziert werden. Der Problemzustand sa einer narrativen Problemlösung oder -verhandlung erscheint als ein instabiler, konflikthafter Ausgangszustand, der korrespondierende erwünschte Zielzustand sz entsprechend als neuer stabiler Zustand nach Beseitigung des problemerzeugenden Konflikts. Instabilität oder Konflikthaftigkeit eines problematischen Ausgangszustands s a sind in narrativen Strukturen auf das Begehren von „Subjekten“ zurückführbar, das sich auf „Objekte“ richtet und dieses zu „Wert“-Objekten macht: Der Konflikt wird konstituiert durch das Nicht-Besitzen oder die Bedrohung des Besitzes eines begehrten „Wert“Objekts für ein oder mehrere Subjekte. Dabei sind komplexe polemische Strukturen ebenso möglich wie verschachtelte „Wert“-Hierarchien. (Das „Problem“ kann auch etwa darin bestehen, aus einer Auswahl von Möglichkeiten und gegen zahlreiche Widerstände überhaupt erst das „richtige“ Objekt herauszufinden: Ein „Wissen“ fungiert als quasi vorgeschaltetes Objekt des Begehrens, zum Beispiel in Erzählungen von einer Suche des Protagonisten nach „sich selbst“, seiner „Identität“). Die Aktualisierung einer spezifischen Figurenkonstellation durch den Leser auf der Basis von Aktantenstrukturen ist Voraussetzung für eine Lesart der Erzählung als narrativer Problemlösung oder -verhandlung. Dabei können Textstrategien, die den Fokus auf das Begehren einzelner Subjekte oder auf einen Konflikt von Subjekten lenken, den Rezeptionsakt beeinflussen (aber nicht vollständig determinieren). Der Zielzustand sz ist charakterisiert durch eine spezifische „Wert“Verteilung, die durch Konjunktion und Disjunktion von Subjekten und Objekten zustande kommt. Die Relation von Zielzustand und dem tatsächlichen Endzustand der Erzählung (als Grad von Entsprechung oder Abweichung) drückt eine narrative Bewertung von Programmen bzw. Problemlösungsversuchen aus, in der die narrative Struktur notwendig auf äußere Ordnungen Bezug nehmen muss, die alle Wertschöpfung und distribution regulieren. In einer einfachen narrativen Problemlösung mit einem zentralen narrativen Programm ist die Barriere, die das Erreichen von sz zum Problem macht, in den spezifischen Schwierigkeiten gegeben, die in der Welt der
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Erzählung dem Erwerb oder dem Bewahren des „Wert“-Objekts entgegenstehen: Der „Weg“ zum Zielzustand ist nicht bekannt oder durch Hindernisse, Opponenten oder „Gegensubjekte“ erschwert. Mögliche narrative Transformationen, die als Handlungsalternativen des Subjekts in Frage kommen, bestehen etwa in Suche und Entdeckung gangbarer „Wege“ (einschließlich der Identifizierung des „richtigen“ Objekts aus einer Auswahl von Angeboten), der Überwindung von Hindernissen oder der Dominierung von Gegensubjekten – aus eigener Kraft oder mit Hilfe von Helfer-Aktanten. Die Entscheidung, die zur Aktualisierung bestimmter Handlungsalternativen als Folgen von Transformationen führt, wird gefolgt von der abschließenden Bewertung durch die Zuschreibung des Objekts (oder im Falle der Erfolglosigkeit ihre Verweigerung), die das Handeln des Subjekts und den durch das entsprechende narrative Programm verkörperten Problemlösungsversuch als richtig bestätigt oder als falsch verwirft. Die Erzählung dient so auch dem fiktiven Durchspielen möglicher Handlungen und ihrer Konsequenzen – narrativer Prädiktion 83. In einer narrativen Problemverhandlung erscheint der instabile Ausgangszustand s a des Problems als der noch unentschiedene Konflikt der miteinander konfrontierten narrativen Programme als konkurrierender Problemlösungsvorschläge. Als erfolgreiche Transformationen kommen nur solche in Frage, die entweder zu einer Entscheidung zugunsten eines narrativen Programms führen oder den Konflikt der beteiligten Programme vermitteln, das heißt einen neuen, als stabil dargestellten Zustand des Nebeneinanderbestehens herbeiführen. Die Barriere zwischen s a und sz, also die Schwierigkeit, zwischen den entgegengesetzten narrativen Programmen zu entscheiden oder zu vermitteln, setzt sich aus Schwierigkeiten der bereits erwähnten Art zusammen, läuft aber letztlich darauf hinaus, dass zwei oder mehrere Programme in der Erzählung als unvereinbar und einander zunächst gleichwertig bzw. gleichstark erscheinen (Stasis). Eine Vermittlung setzt in diesem Fall die Veränderung der Programme selbst voraus (modifiziertes Objekt des Begehrens), eine Entscheidung dagegen die Aufhebung der Stasis – entweder über die Schwächung oder Stärkung von Programmen durch „Helfer“- oder „Opponent“-Aktanten und deren „Sender“, die als „Zünglein an der Waage“ oder sogar als verkörperte übergeordnete Entscheidungsinstanz fungieren, oder als ein nicht weiter begründetes („willkürliches“) narratives Urteil ohne sichtbaren Sender, ––––––––––––– 83 Narrative Imagination, so Turner, leistet u. a. Prediction, Evaluation, Planning, Explanation (Turner 1996, 9).
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das den Ausgang der Auseinandersetzung bloß konstatiert und sich gegebenenfalls auf seine Macht zu narrativer Kontingenzverschleierung verlässt. Die resultierenden Wert-Zuschreibungen bewerten die narrativen Programme als erfolgreiche oder scheiternde Problemlösungsversuche. Als Urteil wiederum, als Entscheidung, die auch anders hätte ausfallen könnte, verweist jede narrative Lösung auf eine übergeordnete Instanz außerhalb der narrativen Struktur als Subjekt des Urteils, die etwa als „Sender“-Aktant der narrativen Nachricht selber dekodiert werden könnte. Im Hiobbuch illustrieren das Urteil im Rechtsstreit durch JHWH – den ultimativen „Sender“ – und nicht zuletzt die Manipulationsversuche des Redaktionsprozesses an diesem Urteil, wie die narrative Konfiguration im „Urteilsakt des Zusammennehmens“ der Welt und ihren Problemen die Abgeschlossenheit der narrativen Struktur aufzuprägen und Urteile über die Welt zu fällen versucht – Urteile, die zwar stets nur vorläufig sein können, aber doch den Anschein der Endgültigkeit zu erwecken und ihre Kontingenz zu verschleiern vermögen. Die Leser wiederum fällen im Nachvollzug des Konfigurationsaktes das eigentlich ausschlaggebende Urteil: Sie müssen entsprechend ihrem Wissen über die Welt und über Texte beurteilen, ob die dargestellte narrative Problemlösung überzeugt. Die jeweils verfügbaren narrativen Transformationen im Problemraum unterliegen grundsätzlich den Regeln kohärenten Erzählens, der „inneren Wahrscheinlichkeit“ gegebener Verknüpfungen von narrativen Aussagen. Grundsätzlich darf die vom Erzähltext evozierte „Welt“ nicht „dem Verstand widersprechen“, sie muss tatsächlich eine „mögliche Welt“ sein. Darüber hinaus hängt unser Urteil über die Kohärenz eines Erzähltextes und seiner „Welt“ von unseren eigenen Weltrepräsentationen ab, von unseren Überzeugungen über die Welt und über Texte und ihren Verknüpfungen und nicht zuletzt von den uns verfügbaren narrativen Schemata, allgemeinen und intertextuellen Szenographien, die praktische, ethische oder schematische Regeln für die „innere Wahrscheinlichkeit“ der narrativen Verknüpfungen determinieren. Diese kognitiven Repräsentationen unserer „Welt“, geformt von unseren Erfahrungen und von unseren Begegnungen mit Texten, ermöglichen uns den Nachvollzug der narrativen Konfiguration und vielfältige Projektionen des narrativen Urteils auf unsere eigene „Welt“. Wesentliches Charakteristikum der Regeln kohärenten Erzählens ist die Zulässigkeit von „willkürlichen“ Entscheidungen, die als Element der Performance unabtrennbar zur narrativen Struktur gehören. Dabei können sogar Verstöße gegen die praktische Wahrscheinlichkeit
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akzeptabel sein, wenn sie ihre Legitimation von alternativen („höheren“) Ordnungen beziehen. Die Abgeschlossenheit der narrativen Konfiguration bewirkt, dass in ihrer Aktualisierung durch die Rezipienten eine Perspektive der Draufsicht von außen auf das narrative System als Ganzes wirksam wird, die es erlaubt, die Elemente des Erzählten als Teil einer umfassenden Ordnung zu verstehen und diese Ordnung zu außertextlichen Ordnungen (negativ oder positiv) in Beziehung zu setzen. Gleichzeitig bewahrt die narrative Struktur grundsätzlich auch die Subjektperspektive von innen, aus Sicht der Protagonisten und der durch sie konstituierten narrativen Programme, die im interpretierenden Nachvollzug des Erzählten aktualisiert werden müssen und so das Potenzial zum Widerstand gegen die „objektive“ Ordnung erhalten, in deren Namen die narrative Konfiguration ihr Urteil fällt. Von ihrer narrativen Struktur erben narrative Problemlösungen diese potenzielle Spannung zwischen ihrer unhintergehbaren Kontingenz als erzähltes Einzelnes und der Tendenz der abgeschlossenen Erzählung zur Kontingenzverschleierung, zu einer möglichst endgültigen Antwort auf das verhandelte Problem. Der Nachvollzug einer Erzählung und ihrer narrativen Perspektivenwechsel ermöglicht dem Leser auch die Frage nach dem eigentlichen Subjekt der narrativen Entscheidung – ob er sie stellt, ist eine andere Frage. Wenn allerdings das Subjekt der Entscheidung, das im exemplarischen Erzählen der Weisheit ganz zurücktritt, als expliziter Aktor oder als implizierter Urheber des Konfigurationsaktes wieder greifbar wird, kann damit auch seine Entscheidung auf ihre Willkür hin hinterfragt werden. So wie die narrative Struktur trotz Abgeschlossenheit und Draufsicht den Zugang zur Subjektperspektive offen hält, gibt sie auch der Relativierung narrativer Urteile ebenso Raum wie ihrer Autorisierung. Die Vernunft „kontingenzfähig“ zu machen oder Kontingenz zu verschleiern gehört gleichermaßen zu den Potenzialen narrativen Bedeutens. Konfiguration und Perspektive bezeichnen also zentrale Elemente narrativer Problemverhandlung. Nicht minder wichtig aber ist die Verbindung von Erzählung und Handlungswelt, einer erzählten Problemlösung und der jeweiligen Problemkonstellation, für die jene als Antwort gelesen wird. Wenn narrative Konfigurationen exemplarisch oder analogisch auf allgemeine Problemkonstellationen bezogen werden, so wird mit der Konfiguration auch das Urteil – die Entscheidung – projiziert und also der ursprüngliche Problemraum um entsprechende narrative Transformationen erweitert. Eine solche narrative Problemverhandlung beruht also auf zwei
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für sich gesehen relativ einfachen Operationen: erstens einem urteilenden Akt narrativer Konfiguration, der zwischen alternativen narrativen Programmen entscheidet, und zweitens einer analogen Projektion der erzeugten narrativen Konfiguration auf eine Problemstruktur, genauer: der Abbildung narrativer Programme auf alternative Problemlösungsvorschläge sowie der Projektion des narrativen Urteils auf die Entscheidung zwischen diesen Alternativen. Zwar ist strenggenommen jede Abbildung einer Figurenkonstellation auf eine Problemstellung eine solche analoge Projektion, doch ihr ganzes Potenzial entfaltet diese erst in komplexen Fällen wie der Anwendung der Hiobgeschichte auf das „Problem des Leidens“ oder Kants allegorische Lesart des Hiobbuches als „authentische Theodizee“. Es stellt sich allerdings die Frage, warum man für Probleme wie das Theodizeeproblem, die gemeinhin argumentativ verhandelt werden, überhaupt narrative Strategien verwenden soll. Gibt es relevante Unterschiede in den Regeln narrativer und argumentativer Problemverhandlung? Dieses Kapitel untersuchte die Regeln narrativer Problemverhandlungen (als Regeln kohärenten Erzählens), die gültige narrative Transformationen im Problemraum bestimmen. Das folgende Kapitel wird sich mit den Regeln argumentativer Problemverhandlungen befassen.
II. Schlüsse und Regeln: Argumentative Problemverhandlung 1. Narrative und argumentative Strategien Die Untersuchung narrativer Strukturen im Hiobbuch hat uns konkrete Anhaltspunkte für die Formulierung von „Regeln“ kohärenten Erzählens und für eine allgemeine Beschreibung narrativer Problemverhandlungen geliefert. Wo im Folgenden von „narrativen Strategien“ die Rede sein wird, ist unabhängig von der jeweiligen Textsorte die Verwendung narrativer Strukturen gemeint. Eine solche liegt vor, wenn sich im Text eine Menge von Sätzen identifizieren lässt, die zusammen eine wohlgeformte Erzählung bilden, d. h. die als Instantiierung eines narrativen Schemas gelesen werden können (vgl. oben S. 264). Verschiedene Beispiele für die Verwendung narrativer Strategien in argumentativen Problemverhandlungen und nicht zuletzt das Scheitern der Argumentation und die narrative Problemlösung im Hiobbuch werfen die Frage auf, inwieweit argumentative und narrative Strategien bei der Verhandlung von Problemen wie dem Hiobproblem Unterschiedliches leisten und wie solche Unterschiede zu beschreiben wären. Insbesondere ist zu prüfen, ob dabei jeweils unterschiedliche Regeln für zulässige Transformationen im Problemraum gelten. Wenn wie in dieser Untersuchung insbesondere Probleme betrachtet werden, die sich durch problematische „Welt“-Beschreibungen ergeben, d. h. durch eine ernsthafte Bedrohung der Kohärenz und Akzeptabilität einer Beschreibung, dann besteht die Problemlösung letztlich in der Etablierung oder Wiederherstellung einer kohärenten Weltbeschreibung, die in konkreten problembehandelnden Texten (argumentativen oder narrativen) als „Welt des Textes“ aktualisiert werden kann. Wir können also sagen, dass sowohl narrative als auch argumentative Problemlösungen das Ziel haben, aus bestehenden Vorgaben (d. i. der im Text dargestellte problematische Ausgangszustand sa einschließlich unserer internen Repräsentationen, die dem textuell Gegebenen das Format einer „Welt“ verleihen und gültige Transformationsregeln R liefern) Aussagenverknüpfungen zu gewinnen, die eine akzeptable „Welt des Textes“ evozieren und außerdem spezifischen Anforderungen an den geforderten Zielzustand sz genügen
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müssen: Sie geben z. B. Antwort auf eine Frage, liefern die Auflösung eines Konflikts oder enthalten bestimmte Propositionen. Dementsprechend fasse ich eine argumentative Problemlösung in erster Näherung als einen Text auf, der nach gültigen Regeln des Argumentierens von einem Ausgangszustand – im Text formulierten Prämissen und sowie verfügbarem Wissen über den Problembereich – zu einer behaupteten Proposition fortschreitet und damit eine akzeptable Weltbeschreibung erzeugt, die sowohl die Prämissen als auch die Behauptung in sich enthält. Um die Parallele zu narrativen Problemlösungen zu verdeutlichen, kann man den problematischen Ausgangszustand auch als widersprüchliche Beschreibung auffassen, die noch sowohl die Behauptung als auch ihre (vielleicht von anderen Argumentationsteilnehmern vertretene) Negation enthält. Den in dieser Untersuchung ausschließlich betrachteten narrativen und argumentativen Problemverhandlungen ist demnach gemeinsam, dass sie einen problematischen Ausgangszustand s a, der durch einen Konflikt oder Widerspruch (Kontradiktion) gekennzeichnet ist, in einen unproblematischen, d. h. konfliktfreien Zielzustand sz zu überführen versuchen. Diese Überführung erscheint in beiden Fällen als Verknüpfungen von Aussagen, entweder von narrativen Sätzen oder von den Bestandteilen der Argumentation, und konstituiert so eine Weltbeschreibung, für die Kohärenz, also Akzeptabilität bzw. Überzeugungskraft gefordert werden kann. Unterschiede zwischen narrativen und argumentativen Problemverhandlungen sind demnach zuerst bei den jeweils geltenden Regeln R zu suchen, welche die Kohärenz, Akzeptabilität und Überzeugungskraft von narrativen oder argumentativen Aussagenverknüpfungen und damit die zulässigen Transformationen t i bestimmen. Die „Regeln“ narrativer Problemverhandlungen waren das Thema des vorangegangenen Kapitels: Die narrative Bewegung vollzieht sich nach Regeln der „inneren Wahrscheinlichkeit“, die aus unserem Wissen über die Welt und über Texte, insbesondere aus allgemeinen und intertextuellen Szenographien stammen und die Kohärenz der „Welt des Textes“ gewährleisten. Diese „innere Wahrscheinlichkeit“ erscheint als Resultierende aus der „praktischen Wahrscheinlichkeit“ unseres Handlungswissens, intertextuellen Strukturvorgaben des Schemas und einer (oft konkurrierenden) normativen oder „ethischen Wahrscheinlichkeit“ ideologischer Systeme, auf die der Text sich bezieht oder bezogen wird. Deshalb können im Einzelfall ganz verschiedene Regeln, Überzeugungen oder Konventionen dazu führen, dass eine bestimmte narrative Problemlösung der Form Problem – Entscheidung – Bewertung (entsprechend der narrativen
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Syntax Konfrontation – Beherrschung – Zuschreibung) als „überzeugend“ akzeptiert wird. Darüber hinaus muss die Interpretation auch beurteilen, ob eine akzeptable narrative Konfiguration (exemplarisch oder als Analogie) auch auf allgemeine Problemstellungen anwendbar ist, ob sie also die Kontingenz des einzelnen Erzählten auch überzeugend überschreiten kann. Der Figurenkonstellation kommt hier eine Schlüsselrolle zu: Narrative Programme verkörpern jeweils mögliche Problemlösungsalternativen, über die der Fortgang der Erzählung „urteilt“: Die Binnenperspektive der narrativen Subjekte und ihrer Programme wird durch die Abgeschlossenheit der narrativen Struktur mit der übergeordneten Außenperspektive vermittelt, die dem Blick des „Senders“ selbst – des Subjekts des narrativen Urteils – entspricht und im interpretierenden Nachvollzug der Erzählung aktualisiert wird. Wodurch unterscheiden sich nun diese Regeln des Erzählens von den Regeln argumentativer Problemverhandlung? Die Rede von „innerer Wahrscheinlichkeit“ und auch die prominente Rolle des Juridischen in Bezug auf narrative Problemverhandlung lassen ja schon darauf schließen, dass Argumentieren und Erzählen einiges gemeinsam haben. Ich werde in diesem Kapitel versuchen, die Strukturen des Argumentierens so zu beschreiben, dass ein Vergleich mit den Regeln narrativer Problemverhandlung möglich wird. Zuerst untersuche ich dafür die erzählte Argumentation im Hiobbuch. Diese Argumentation scheitert: Die gegensätzlichen Perspektiven erweisen sich als nicht vermittelbar, und keine Seite ist ihrem Widerpart argumentativ überlegen. Das Urteil muss die Perspektiven transzendieren – und es tut das als narratives, als erzähltes Urteil der höchsten Instanz. 2. Argumentation im Buch Hiob Wie bereits beschrieben, bildet die scheiternde Argumentation in den Redegängen die erste Phase der Verhandlung des Hiobproblems, einer Verhandlung, die in der Einsetzung eines neuen Gottesbildes gipfelt. In dieser ersten Phase wird das Scheitern der etablierten Vorstellung eines „gerechten“, für menschliche Ordnungsvorstellungen instrumentalisierten Gottes augenfällig. Im Dialog, der mit Hiobs Klage beginnt und durch die Reaktion der eigentlich zum Trösten gekommenen Freunde nach und nach in ein Streitgespräch übergeht, wird argumentierend die Frage verhandelt, ob Hiob sich zu Recht über sein Schicksal beklagt. Dieses Problem stellt sich allerdings nicht von Anfang an, es wird im Dialog selbst erst hervorge-
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trieben. Die Freunde halten Hiob vor, dass niemand ohne Schuld Leid erfährt, Gott keinen Unschuldigen straft, Hiob mithin sich um Vergebung für seine Sünden an JHWH wenden solle. Hiob besteht dagegen auf seiner Unschuld, der Streit eskaliert, und beide Parteien versuchen nun, ihren Standpunkt in dieser Meinungsverschiedenheit zu verteidigen. Das Problem, das argumentierend gelöst werden soll, besteht darin, eine befriedigende Auflösung des Widerspruchs zwischen dem Wissen um Hiobs Leiderfahrungen, seiner Unschuldsbehauptung und der allgemein akzeptierten Überzeugung vom Tun-Ergehen-Zusammenhang zu erreichen. Das unvermittelte Nebeneinanderstehen dieser disparaten Propositionen erzeugt den problematischen Ausgangszustand sa; der erwünschte Zielzustand sz wäre ein neues kohärentes System von Propositionen. Als verfügbare Operationen nehme ich in erster Näherung die in Argumentationen gebräuchlichen Sprechakte an, v. a. Behaupten, Bestreiten, Begründen. a) Leid und Recht: Der erste Redegang Beide Parteien, Hiob und die Freunde, verteidigen im Redestreit argumentierend ihren Standpunkt. Wir werden allerdings unsere Betrachtung v. a. auf die Argumente der Freunde konzentrieren müssen. Diese verkörpern ja im Hiobbuch gewissermaßen die Möglichkeiten argumentativer Problemverhandlung, während die Figur Hiobs, der den Einspruch der Erfahrung gegen das Dogma erhebt, schon die Grenzen dieser Möglichkeiten markiert. Vorab soll klargestellt werden, dass es uns (im Gegensatz zu einer gängigen Lesart) nicht darum geht, Hiobs Freunde zu denunzieren. Ich gehe vielmehr davon aus, dass die Freunde erstens lautere Absichten haben und zweitens in einer ihrer Situation durchaus angemessenen Weise argumentieren. Auch wenn sich der Dialog und vor allem die Reden der Freunde im Laufe der Zeit immer mehr zu einem Streitgespräch verschiebt, das die Feststellung von Recht oder Unrecht zum Inhalt hat – Tröstung ist das ursprüngliche Ziel ihres Redens. Sie antworten, wenn auch mit untauglichen Mitteln, auf Hiobs Klage in Kapitel 3, in der dieser den Tag seiner Geburt verflucht, seinen Tod herbeisehnt und fragt, warum JHWH ihn leiden lässt: „Warum gibt Gott das Licht dem Mühseligen und das Leben den betrübten Herzen – die auf den Tod warten, und er kommt nicht, und nach ihm suchen mehr als nach Schätzen ...?“ (Hi 3,20ff.) Die Antwort der Freunde: Der Mensch selbst ist verantwortlich für sein Unglück, JHWH straft nicht ohne Grund, aber JHWH kann das Los des Menschen auch wieder wenden. Die argumentative Problemverhandlung ver-
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folgt also spezifische kommunikative Zwecke: einerseits Tröstung, andererseits die Entscheidung über Recht oder Unrecht. Sowohl „Tröstung“ als auch „Rechtsstreit“ enthalten als ein konstitutives Element die Absicht zu überzeugen. Wert und Nutzen der Argumente sind letztlich am Erfolg der jeweiligen Kommunikationshandlung abzulesen. Eliphas, dem angesehensten der Freunde, kommt es zu, als erster zu sprechen. Seine erste Rede reagiert unmittelbar auf Hiobs Klage. Eliphas’ Behauptung, für die er eine Reihe von Argumenten vorbringt, lautet sinngemäß: Hiob ist für etwas von JHWH zurecht gewiesen worden, und er soll sich an diesen um Vergebung wenden. Dafür argumentiert Eliphas durchaus differenziert. Seine Rede ist noch nicht bloße Anschuldigung, sondern sucht gerade in einer möglichen – nicht allzu schwerwiegenden – Schuld Hiobs einen Grund zur Zuversicht, solange dieser an seiner Gottesfurcht festhält: Wenn Hiob es nicht verdient hat, dann wird er auch nicht umkommen (Hi 4,6.7). Eliphas’ Worte sind eher Warnung als Anklage, und die konkrete Gewissheit einer Schuld Hiobs leitet er aus einem Gemeinplatz ab, der für alle Menschen gleichermaßen zutrifft: „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott oder ein Mann rein sein vor dem, der ihn gemacht hat?“ (Hi 4,17) Alles Unglück hat der Mensch sich letztlich selbst zuzuschreiben: „Denn Frevel geht nicht aus der Erde hervor, und Unheil wächst nicht aus dem Acker; sondern der Mensch erzeugt sich selbst das Unheil“ (Hi 5,6f.) Wenn Hiob das anerkennt und sich reuig zu Gott kehrt, wird sein Schicksal sich wenden. Ich aber würde mich an Gott wenden und meine Sache vor ihn bringen, der große Dinge tut, die nicht zu erforschen sind, und Wunder, die nicht zu zählen sind, ... der die Niedrigen erhöht und den Betrübten emporhilft. Er macht zunichte die Pläne der Klugen, so daß ihre Hand sie nicht ausführen kann. Er fängt die Weisen in ihrer Klugheit und stürzt den Rat der Verkehrten, daß sie am Tage in Finsternis laufen und tappen am Mittag wie in der Nacht ... Siehe, selig ist der Mensch, den Gott zurechtweist; darum widersetze dich der Zucht des Allmächtigen nicht. Denn er verletzt und verbindet; er zerschlägt, und seine Hand heilt. In sechs Trübsalen wird er dich erretten, und in sieben wird dich kein Übel anrühren. (Hi 5,8-9.11-14.17-19)
Hier ist noch nichts von der Anmaßung zu spüren, die den Freunden gern pauschal vorgeworfen wird. Eliphas nimmt ja niemanden aus von dieser Schuld des Geschöpfes (dem metaphysischen Übel, wie man es später nennen wird), und er rekurriert auf ein traditionelles Bild von JHWH als dem souveränen Herrn über das Schicksal, der erhöht und erniedrigt, zerschlägt und heilt, aber zuletzt die erhören wird, die sich demütig an ihn wenden und zur Umkehr bereit sind (das „Tröstungsschema“).
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Zur Begründung seines Ratschlags, Hiob möge sich in seiner Not an JHWH selber wenden, geht Eliphas aus von dem noch allgemein gehaltenen Verweis auf den Tun-Ergehen-Zusammenhang, kommt dann auf das metaphysische Übel, die Unmöglichkeit vollkommener Gerechtigkeit zu sprechen und bemerkt wie nebenbei, dass alles Unheil selbst verschuldet sein müsse (Hi 5,6f.). Hinzu tritt der Hinweis auf das ebenfalls allgemein geteilte Bild vom zurechtweisenden Gott, dessen Wege „nicht zu erforschen“ sind und dem man trotzdem vertrauen soll. Die Konklusion: JHWH wird helfen, wenn Hiob nicht verstockt auf seiner faktisch nicht gegebenen Unschuld besteht. Der Gedanke einer Schuld Hiobs, der im weiteren Verlaufe des Gesprächs in den Mittelpunkt treten soll, bleibt hier noch im Vagen, ist nur vorsichtig und allgemein formuliert. Dieser Gedanke ist hier noch nicht mehr als eine Hilfsannahme, die sich geradezu von selbst versteht und ausschließlich mit Hinweisen auf allgemein geteilte Überzeugungen gestützt wird, welche eigentlich von keinem Zeitgenossen des Eliphas angezweifelt werden sollten. Bei Akzeptanz der Voraussetzungen1 ist die Argumentation zwingend: Wenn der Zusammenhang von Tun und Ergehen gilt und das Unheil vom Menschen selbst erzeugt wird, dann muss der leidende Hiob sich schuldig gemacht haben. In diesem Fall bleibt ihm – wenn JHWH souveräner Herr über das Schicksal und Garant eines grundsätzlichen Tun-Ergehen-Zusammenhanges ist – tatsächlich nur, sich an diesen zu wenden und durch Umkehr Vergebung zu erreichen. Eliphas bringt zur Begründung seiner Konklusion nur ohnehin allgemein akzeptierte Sätze vor, doch trotzdem führt er noch stützende Faktenbehauptungen dafür an. Er beruft sich auf die eigene und kollektive Erfahrung: „Bedenke doch: Wo ist ein Unschuldiger umgekommen? Oder wo wurden die Gerechten je vertilgt? Wohl aber habe ich gesehen: Die da Frevel pflügten und Unheil säten, ernteten es auch ein.“ (Hi 4,7f.) Und er beruft sich auf eine göttliche Offenbarung: „Da stand ein Gebilde vor ––––––––––––– 1 Ich vernachlässige an dieser Stelle, dass die genannten Voraussetzungen selbst inzwischen bereits an der Schwelle zur Inkonsistenz stehen: Im Hintergrund stehen sich grundsätzlich konträre Auffassungen von Gott gegenüber: einmal als souveräner Herrn über das Schicksal – dessen Handeln eben nicht immer durchschaubar ist – und zum anderen als gerechter Herrscher, also Exekutive eines grundsätzlich durchschaubaren Gesetzes der Vergeltung. Nur solange das Gottesbild beides lediglich als Aspekte vereint, ohne eine Seite zu stark zu betonen, kann ein direkter Widerspruch vermieden werden. Im weiteren Laufe des Streitgesprächs wird vom Hiobdichter gerade die erfahrungsfremde Verabsolutierung der göttlichen „Gerechtigkeit“ zum strikten TunErgehen-Zusammenhangs ad absurdum geführt.
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meinen Augen, doch ich erkannte seine Gestalt nicht; es war eine Stille, und ich hörte eine Stimme: Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott ...“ (Hi 4,16f.) Was Eliphas vorbringt und wie er es vorbringt, entspricht voll und ganz dem Stand alttestamentlicher Weisheit und sollte jeden Widerspruch zum Schweigen bringen können. Entsprechend selbstbewusst schließt Eliphas seine Rede: „Siehe, das haben wir erforscht, so ist es; darauf höre und merke du dir’s.“ (Hi 5,27) Hiob dürfte dem eigentlich nichts entgegenzusetzen haben. Alles, was Eliphas gesagt hat, musste jedem nüchtern Nachdenkenden ausreichend überzeugend erscheinen. Aber Hiob ist nicht in der Situation, nüchtern Worte abzuwägen. Das ist gerade die Eigenart der Versuchsanordnung, die der Hiobdichter da aufgebaut hat: Er konfrontiert die theoretisierende Weisheit der Theologen mit dem Leid selber, dem alle Theorie gleichermaßen nutzlos ist. Und er spitzt die Frage noch zu, in dem er eben Hiobs vollkommene Gerechtigkeit zur Voraussetzung und damit von vornherein die Position der Freunde zu einer irrigen macht. Die Rahmenerzählung sagt es eindeutig aus, dem „metaphysischen Übel“ zum Trotz, welches wohl zur Zeit des Hiobdichters als Gegenargument noch nicht wirklich ins Gewicht fällt. Denn solange man noch eine direkte Beziehung zu Gott fühlte, musste man solche theologischen Spitzfindigkeiten nicht akzeptieren; und es blieb noch immer die Frage, warum vielleicht keiner vor Gott gerecht sein kann, es aber nur manchen schlecht geht. Hiob also verstummt nicht, er besteht darauf, „unbedacht“ reden zu dürfen (Hi 6,3) und klagt sozusagen sein Recht auf Klagen ein: „Schreit denn der Wildesel, wenn er Gras hat, oder brüllt der Stier, wenn er sein Futter hat?“ (Hi 6,5) Die Rede des Eliphas fasst er als Tadel an seiner Klage auf (Hi 6,25), und in den allgemeinen Anspielungen auf den TunErgehen-Zusammenhang erkennt er sofort die Implikation, die in der Luft liegt, ohne schon ausgesprochen zu sein: „Gedenkt ihr, Worte zu rügen? Aber die Rede eines Verzweifelnden verhallt im Wind ... Kehrt doch um, damit nicht Unrecht geschehe! Kehrt um! Noch habe ich recht darin!“ (Hi 6,26.29) Er will und kann nicht aufhören zu klagen: „Darum will ich auch meinem Munde nicht wehren. Ich will reden in der Angst meines Herzens und will klagen in der Betrübnis meiner Seele.“ (Hi 7,11) Ist Hiobs Reaktion auf Eliphas’ Rede angemessen? Sicher nicht. Die Frage erübrigt sich, ob man von ihm Angemessenheit überhaupt verlangen kann. Am Ende der Rede jedenfalls tut er genau das, was Eliphas ihm geraten hat: Er spricht direkt zu JHWH: „Hab ich gesündigt, was tue ich dir damit an, du Menschenhüter? ... Und warum vergibst du mir meine Sünde
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nicht oder läßt meine Schuld hingehen?“ (Hi 7,20-21) Auch das ist bemerkenswert: JHWH gegenüber leugnet Hiob durchaus nicht alle Schuld, auch wenn er sich keiner Sünde bewusst ist. Was immer er aber unwissentlich getan haben mag, erklärt und rechtfertigt nicht, was ihm nun zugestoßen ist. Hiob bleibt nur, die Frage danach an JHWH zu richten. Bis hierher wäre wohl noch ein einvernehmliches Ende des Gespräches möglich gewesen. Hiob widerspricht ja gar nicht grundsätzlich dem, was Eliphas gesagt hatte, nicht einmal seinen Andeutungen über eine Schuld Hiobs. Er besteht lediglich auf seinem Recht, zu JHWH zu klagen. Die Klage gegen Gott hat nichts Außergewöhnliches oder gar Frevelhaftes. Als geprägte Redeform steht sie vielmehr, wie oben gezeigt, in einer langen Tradition, wie sie etwa in den Klagepsalmen des AT aufbewahrt ist2. Obwohl also Eliphas bereits argumentierte und Hiob noch klagte, wäre eine Verständigung noch denkbar. Jetzt aber betritt der zweite der Freunde, Bildad, die Bühne. Er spricht Hiob noch vehementer das Recht auf Klage ab, denn er interpretiert diese als unangemessene Anklage Gottes, als Frevel also: „Wie lange willst du so reden und sollen die Reden deines Mundes so ungestüm daherfahren? Meinst du, daß Gott unrecht richtet oder der Allmächtige das Recht verkehrt?“ (Hi 8,2f.) Dieser letzte Satz markiert im Dialog eine bedeutsame thematische Wende. Wenn Bildad nämlich solcherart das „Recht“ ins Spiel bringt, verlagert er endgültig die Ebene des Gesprächs weg von Klage und Trost, wo es um Rechtfertigung nicht gehen kann, hin zu der Frage, ob Hiob „zu Recht“ leide. Bildad äußert die Vermutung, dass Hiobs Söhne gesündigt haben könnten und deshalb von JHWH verstoßen worden seien (Hi 8,4). Auch er rät, dass Hiob sich an JHWH wende: Wenn du aber dich beizeiten zu Gott wendest und zu dem Allmächtigen flehst, wenn du rein und fromm bist, so wird er deinetwegen aufwachen und wird wieder aufrichten deine Wohnung, wie es dir zusteht. (Hi 8,5f.)
––––––––––––– 2 Vgl. oben Kapitel B.I.2.c). In Psalm 38 spricht ein Leidender „in schwerer Heimsuchung“, der an Hiob erinnert (zu Ps 38,3 „Denn deine Pfeile stecken in mir, und deine Hand drückt mich“ vgl. Hi 6,4; außerdem Ps 38,6-9: „Meine Wunden stinken und eitern um meiner Torheit willen. Ich gehe krumm und sehr gebückt; den ganzen Tag gehe ich traurig einher. Denn meine Lenden sind ganz verdorrt; es ist nichts Gesundes an meinem Leibe. Ich bin matt geworden und ganz zerschlagen; ich schreie vor Unruhe meines Herzens.“) Der Betende bittet JHWH um Beistand in der Not und gegen die Feinde und bekennt, ein Sünder zu sein. „Aber ich harre, Herr, auf dich; du, mein Gott, wirst erhören ... Verlaß mich nicht, Herr, mein Gott, sei nicht ferne von mir!“ (Ps 38,16.22).
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Das entspricht auf den ersten Blick ganz der traditionellen Auffassung von JHWH, der „aufwacht“ oder „aufsteht“ und den um Hilfe Bittenden aus der Not errettet 3. Bildad aber gibt seinem Rat eine andere Wendung: Wenn du rein bist, dann hast du Grund zur Zuversicht; der Frevler und Gottlose aber wird untergehen. Zum Beleg seiner Worte verweist er ergänzend zu Eliphas auf die Erfahrung früherer Generationen (Hi 8,8). Indem auch Bildad angesichts von Hiobs Unglück das allgemein bekannte Thema vom Los des Frevlers ausführt, legt er wie Eliphas einen entsprechenden Zusammenhang von Hiobs Tun und seinem Ergehen nahe, ohne schon eine Anschuldigung auszusprechen. Er hat aber erreicht, dass es von jetzt an nur noch um Recht oder Unrecht geht: Leidet Hiob zu Recht? Kann es sein, „daß Gott unrecht richtet“? Hiob nimmt in seiner Antwort deshalb nur auf Bildads Ratschlag Bezug, sich an Gott zu wenden. Wird JHWH als souveräner Herrscher über das menschliche Schicksal verstanden, der seinem eigenen Willen, nicht aber einem ihm scheinbar äußerlichen „Recht“ gemäß handelt, dann wäre es sinnvoll, ihn um Erhörung, Errettung, Erlösung zu bitten. Aber wie klagt man bei JHWH sein Recht ein? Ja, ich weiß sehr gut, daß es so ist und daß ein Mensch nicht recht behalten kann gegen Gott. Hat er Lust, mit ihm zu streiten, so kann er ihm auf tausend nicht eins antworten. Gott ist weise und mächtig; wem ist’s je gelungen, der sich gegen ihn gestellt hat? ... Geht es um Macht und Gewalt: Er hat sie. Geht es um Recht: Wer will ihn vorladen? Wäre ich gerecht, so müßte mich doch mein Mund verdammen; wäre ich unschuldig, so würde er mich doch schuldig sprechen. (Hi 9,2-4; 12-20)
Wenn es „gegen Gott“ um Recht oder Unrecht gehen soll – wer soll da Recht sprechen, wer urteilen? Das Thema des Gesprächs ist endgültig von der „Sinnfrage“ nach dem Warum des Leidens (qua ratione?) zur „Rechtsfrage“ (qua iure?) nach Schuld, Unschuld und Rechtfertigung verlagert4. Jetzt, in diesem neuen Kontext, kann Hiob nicht mehr anders: Er muss auf seiner Unschuld bestehen. Die unvermeidliche, aber verhängnisvolle Schlussfolgerung: JHWH ist nicht der Garant des Rechts, der TunErgehen-Zusammenhang ist gebrochen. „Ich bin unschuldig! Ich möchte ––––––––––––– 3 Diese Auffassung von JHWH verbindet Bilder des sich dem Hilfesuchenden Zuwendens einerseits und seines helfend eingreifenden Aktivwerdens andererseits. Die klarsten Belege dafür geben die zahlreichen Psalmen, die vom Sich-(Zu-)Wenden JHWHs reden (z. B. Ps 6,5; 25,16) oder vom „Erhören“ (Ps 4,2; 13,4; 17,6; 20,2.7.10; 22,22; 28,6; 54,4). Dem entsprechen Bilder z. B. vom Aufwachen oder Aufstehen bzw. SichErheben JHWHs (z. B. Ps 7,7; Ps 10,12; 21,14; Ps 44, 24-27). 4 Vgl. Maag 109, 116.
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nicht mehr leben ... Es ist eins, darum sage ich: Er bringt den Frommen um wie den Gottlosen.“ (Hi 9,21f.) Der Rest dieser Rede Hiobs ist wieder an JHWH selbst gerichtet, eine Mischung von verzweifelter Klage, Anfragen und Bitten und der bitteren Feststellung, dass solche Anfragen und Bitten – im Kontext des qua iure – sinnlos sind. Mit der Verlagerung auf die „Rechtsfrage“ ist man endgültig auf das Terrain des „Argumentierbaren“ vorgestoßen; über die Fragen von Schuld, Unschuld und Gerechtigkeit kann man diskutieren. Hiob hat dazu eine Behauptung aufgestellt – er ist unschuldig – und die ihm einzig mögliche Schlussfolgerung gezogen: Der postulierte Tun-ErgehenZusammenhang kümmert JHWH nicht; Gott handelt willkürlich. Diese Schlussfolgerung können die Freunde keinesfalls akzeptieren. Zu solch „leerem Gerede“ könne man nicht schweigen, meint deshalb Zophar, der dritte der Freunde (Hi 11,3). Für ihn steht fest, dass Hiob gesündigt hat; dass Gott ihn straft, ist Beweis genug. Zophar scheint einzuräumen, dass Hiob vielleicht von seiner Sünde nichts weiß, fordert aber, dass er das Urteil der göttlichen Weisheit als rechtens anerkennt: Meinst du, daß du weißt, was Gott weiß, oder kannst du alles so vollkommen treffen wie der Allmächtige? Die Weisheit ist höher als der Himmel: was willst du tun? tiefer als die Hölle: was kannst du wissen? länger als die Erde und breiter als das Meer: wenn er daherfährt und gefangen legt und Gericht hält – wer will’s ihm wehren? Denn er kennt die heillosen Leute; er sieht den Frevel und sollte es nicht merken? (Hi 11,7-11)
Das ist ein im Kontext durchaus ernstzunehmender Zug, der die Argumentation von Eliphas fortsetzt: Hiob muss schuldig sein, auch wenn er es nicht weiß; erkennt er jetzt das göttliche Urteil an, dann wird sein Los sich wenden (Hi 11,13-19). Im Wesentlichen liegt hier der Kern der Argumentation der Freunde: Nur durch die Annahme einer Schuld Hiobs lässt sich die eigene Weltsicht, die fest auf einen zuverlässigen, göttlich garantierten Tun-Ergehen-Zusammenhang gegründet ist, bewahren. Hiobs Unschuldsbehauptung muss falsch sein. Wenn Hiob auch nicht unbedingt lügt, so lässt er doch zumindest die nötige Einsicht vermissen; es ist Anmaßung, JHWH ein Handeln zu unterstellen, das nicht vollkommene Weisheit und Gerechtigkeit ausdrückt. Diese Argumentation ist durchaus kohärent, wenn man von Schönheitsfehlern absieht: Die Freunde berufen sich zugunsten ihrer Meinung auf die unergründliche Weisheit Gottes, auf die sie selbst natürlich ebenso wenig Zugriff haben, und die weisheitliche Auffassung vom strengen Tun-Ergehen-Zusammenhang droht, je strikter sie sich gibt, um so wirk-
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lichkeitsfremder zu werden. Dennoch ist von einem argumentationspraktischen Standpunkt ausgesehen die Position der Freunde deutlich stärker als die Hiobs, der ihnen nicht viel mehr als sein bloßes Unschuldsbewusstsein entgegenzusetzen hat. Die Position der Freunde gründet sich auf ein vermeintlich sicheres, allgemein akzeptiertes Wissen von einer unumstößlichen Weltordnung, ein Wissen, dem nur das Zeugnis eines einzelnen Unglücklichen zu widersprechen wagt. Dieser wiederum erkennt sehr wohl, dass sich das weisheitliche Denken längst immunisiert hat und er auf Verständnis nicht hoffen kann, solange sich Weisheit nicht mit Einfühlung und Mitleid verbindet. „Ja, ihr seid die Leute, mit euch wird die Weisheit sterben!“ (Hi 12,2) Hiob weiß selbst, dass JHWH der Herr über alles Geschaffene und Quelle der Ordnung ist. „Bei Gott ist Weisheit und Gewalt, sein ist Rat und Verstand.“ (Hi 12,13) Genau das ist ja sein Problem: Was er doch eigentlich weiß, scheint nun nicht mehr wahr zu sein, denn es widerspricht seiner Erfahrung. Gott hält sich nicht an seine eigene Ordnung. Die Welt ist aus den Fugen. Die Weisheit der Freunde jedenfalls, die ihm nur sagt, was er auch selber weiß (woran er früher selbst einmal geglaubt hat und noch immer glauben möchte), hilft ihm jetzt nicht mehr weiter. „Was ihr wißt, das weiß ich auch, und ich bin nicht geringer als ihr. Doch ich wollte gern zu dem Allmächtigen reden und wollte rechten mit Gott ... Hört doch, wie ich mich verantworte, und merkt auf die Streitsache, von der ich rede! Wollt ihr Gott verteidigen mit Unrecht und Trug für ihn reden? Wollt ihr für ihn Partei nehmen? Wollt ihr Gottes Sache vertreten?“ (Hi 13,2-3.6-8) Nachdem die Freunde selbst die „Rechtsfrage“ ins Spiel gebracht haben, besteht nun auch Hiob hartnäckig auf seinem Recht. Er will seinen Prozess mit JHWH, will „rechten mit Gott“. Dass sich in diesem Prozess die Freunde, die doch eigentlich zum Trösten gekommen waren, zu Anwälten Gottes aufschwingen, kann er nicht akzeptieren. Wenn er auch die Argumentation der Freunde nicht widerlegen kann, so kann er statt ihrer Richtigkeit, also ihrer inneren Widerspruchsfreiheit, doch ihre Rechtmäßigkeit bestreiten5. Und er zieht daraus auch gleich die Konsequenz: Nur mit JHWH selbst will er sprechen: „Schweigt still und laßt mich reden“ (Hi 13,13). Die nächsten Verse sind von Hiobs innerer Zerrissenheit ge––––––––––––– 5 Gemäß der rhetorischen Status-Lehre (vgl. Anm. 39 auf S. 35) hätten wir es hier mit dem status translationis zu tun, nach Qintillian „die letzte und nun allerdings einzige Rettung des Angeklagten“ (s. Quint. III,6,83; zit. Ueding u. Steinbrink 256). Dabei wird gefragt, ob das In-Frage-Stehende überhaupt hier, jetzt, in dieser Verhandlung untersucht werden kann.
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prägt, von Klage und Aufbegehren, Hoffnungslosigkeit und Zuversicht trotz allem: „Siehe, er wird mich doch umbringen, und ich habe nichts zu hoffen; doch will ich meine Wege vor ihm verantworten ... Siehe, ich bin zum Rechtsstreit gerüstet; ich weiß, daß ich recht behalten werde.“ (Hi 13,15.18) JHWH gegenüber ist Hiob seiner Unschuld trotzdem nicht völlig sicher – aber welche Schuld könnte das ganze Ausmaß seiner Leiden rechtfertigen (Hi 13,23-26)? Das dritte Kapitel dieser Rede, das letzte des ersten Redeganges, redet nur noch in Richtung JHWH; Hiob spricht von Unruhe und Vergänglichkeit, von der Unwideruflichkeit des Todes6. Alle drei Redegänge (auch wenn der dritte nicht mehr vollständig rekonstruiert werden kann) sind so konzipiert, dass Hiob nacheinander auf die Reden der drei Freunde antwortet und also immer das letzte Wort hat. In einem Streitfall, der (soviel ist bereits deutlich geworden) nicht durch das bessere Argument entschieden werden kann, ist das ein klares – narratives! – Signal, zu wessen Gunsten der Hiobdichter entscheiden wird. Mehr Signale werden folgen. b) Stasis: Zweiter und dritter Redegang Wir haben relativ ausführlich den ersten Redegang (Kap. 4-14) analysiert; die anderen Redegänge (Kap. Hi 15-21, Hi 22-31) und die nachgereichten Reden eines vierten Freundes, Elihu (Hi 32-37) können wir, was die verwendeten Argumente angeht, etwas schneller abhandeln, da die wesentlichen Bestandteile der Argumentation bereits gegeben sind. Die zweite Rede Eliphas’, des Wortführers der Freunde, gibt die Richtung vor, die das Gespräch nun nimmt. Der Dialog wird immer mehr zum Streitgespräch. Das beherrschende Thema der Freunde, das leidvolle „Schicksal der Gottlosen“ (Westermann 92), wird nun zunehmend direkt auf Hiob bezogen; Hiob erscheint ihnen nach dem Verlauf des ersten Gesprächsgangs immer weniger als ein frommer Mann. Das wird auch durch den veränderten Ton der Reden deutlich: Soll ein weiser Mann so aufgeblasene Worte reden und seinen Bauch so blähen mit leeren Reden? Du verantwortest dich mit Worten, die nichts taugen, und dein Reden ist
––––––––––––– 6 Auch wenn letztlich diese Hoffnung verneint wird, ist in den Versen Hi 14,7-15 doch der Gedanke präsent oder doch zumindest vorbereitet, dass nur Auferstehung, also ein Leben (und Ausgleich) nach dem Tode Gerechtigkeit möglich macht, die dem Menschen im Erdenleben verwehrt bleibt – wie sich noch zeigen wird, ein wichtiges Hilfsargument bei der Verteidigung des Konzeptes der göttlichen Gerechtigkeit angesichts widersprechender Erfahrung.
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nichts nütze. Du selbst zerstörst die Gottesfurcht und raubst dir die Andacht vor Gott. Denn deine Schuld lehrt deinen Mund, und du hast erwählt eine listige Zunge. Dein Mund verdammt dich und nicht ich, deine Lippen zeugen gegen dich.“ (Hi 15,2-6)
Damit ist es erstmals ausgesprochen: Hiob ist schuldig. Schuld lässt ihn reden, und durch sein Reden macht er sich noch schuldiger. Die weiteren Argumente sind uns schon vertraut: Wieder wird ins Feld geführt, dass Hiob sich ein Wissen über Gott anmaßt, das den Freunden fehlt (Hi 15,8f.), und wieder wird das behauptete Bestehen der Vergeltungsordnung über die Berufung auf Tradition und Erfahrung abgesichert: „Ich will’s dir zeigen, höre mir zu, und ich will dir erzählen, was ich gesehen habe, was die Weisen gesagt und ihre Väter ihnen nicht verborgen haben ...“ (Hi 15,17f.) Auch dass kein Mensch Gott gegenüber gerecht und ohne Fehl sein kann, wird noch einmal kurz gestreift (Hi 15,15f.). Auf den verschärften Ton der Freunde reagiert Hiob mit einer Erinnerung daran, weshalb sie eigentlich gekommen waren: „Ihr seid allzumal leidige Tröster!“ (Hi 16,2) Wie Eliphas ihm, wirft er nun den Freunden „leere Worte“ vor (Hi 16,3). Er könne an ihrer Stelle genauso reden, aber er würde tröstende Worte finden (Hi 16,4f.). Der Rest seiner Entgegnung ist dann schon nicht mehr an die Freunde gerichtet, aber auch nicht an JHWH – von beiden spricht er in der dritten Person. JHWH hat ihn unschuldig ins Verderben gestürzt (Hi 16,16f.), und dennoch kann auch Beistand nur noch von Gott kommen. Diese textuell manifeste Verdoppelung Gottes, der Hiob Recht verschaffen soll bei Gott, der gleichzeitig als Angreifer und Fürsprecher erscheint, zeigt Hiobs Dilemma an. Die Ordnung ist aus den Fugen, Gott selbst hat sie verletzt, aber Gott ist gleichzeitig auch der einzige, der die verletzte Ordnung wiederherstellen kann. Argumentativ ist das nicht zu vermitteln; Hiob kann es ja nicht einmal für sich selbst bewältigen. Nur einer kann noch helfen. Deshalb kehrt der Beginn von Kapitel 17 zur direkten Ansprache zurück: „Sei du selbst meint Bürge bei dir – wer will mich sonst vertreten?“ (Hi 17,3) Bildads zweite Rede ist kurz und bringt inhaltlich nichts Neues: Es geht wieder um das Schicksal der Gottlosen, zu denen er offensichtlich auch Hiob zählt. Interessant ist aber die Bemerkung gegen Hiob in Hi 18,4: „Soll um deinetwillen die Erde veröden und der Fels von seiner Stätte weichen?“ Bildad ist klar, was Hiobs Worte von und an Gott in ihrer Konsequenz bedeuten: nichts weniger als den „Zusammenbruch der Weltordnung“ (Westermann 45). Hiob dagegen besteht beharrlich auf seiner Unschuld, auch wenn das bedeutet, dass Gott selbst Unrecht hat: „So merkt doch endlich, daß Gott
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mir unrecht getan hat ...“ (Hi 19,6-20) Die Rede gipfelt in der berühmten Wendung verzweifelter Zuversicht: „Aber ich weiß, daß mein Löser lebt ... Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen.“ Auch Zophars Rede, die letzte Freundesrede des zweiten Redeganges, wiederholt Bekanntes. Es sei „allezeit so gegangen ..., daß das Frohlocken der Gottlosen nicht lange währt und die Freude des Ruchlosen nur einen Augenblick“ (Hi 20,5f.). Das provoziert Hiob dann doch noch zu einer argumentativen Widerlegung. Sein Argument ist so schlicht wie naheliegend: Das Schicksal der Gottlosen ist keineswegs zwangsläufig ein unglückliches. Vielen Frevlern geht es weitaus besser als vielen Gerechten. Hiob ist kein Einzelfall. Diese Erkenntnis, dass die noch vor kurzem unumstößlich geglaubte Weltordnung nicht gilt, ist auch für Hiob keine leichte. Sie ist erschreckend: Kehrt euch her zu mir; ihr werdet erstarren und die Hand auf den Mund legen müssen. Wenn ich daran denke, so erschrecke ich, und Zittern kommt meinen Leib an. Warum bleiben die Gottlosen am Leben, werden alt und nehmen zu an Kraft? Ihr Geschlecht ist sicher um sie her, und ihre Nachkommen sind bei ihnen, und Gottes Rute ist nicht über ihnen. (Hi 21,5-9)
Hiob spricht aus, was auch „die Frommen in den Klagepsalmen von den Gottlosen klagen“ (Westermann 98), was also als konzeptuelles Material längst verfügbar war, aber nicht mehr wahr sein durfte, nachdem die Weisheit den individuellen Tun-Ergehen-Zusammenhang zur Doktrin erhoben hatte. Hiob zitiert Weisheitssprüche (Hi 21,16.19) – interessanterweise auch einen solchen, der noch die Vergeltung des Frevels an den Kindern des Frevlers propagiert – und widerlegt sie mit der Erfahrung, dass der individuelle Tun-Ergehen-Zusammenhang durchaus nicht immer gilt. Die Freunde selbst sind ungerecht, wenn sie nicht wahrhaben wollen, was doch offensichtlich ist (Hi 21,27-31). Wenn also der Kern der Argumentation der Freunde, das Schicksal der Gottlosen, der Prüfung durch die Erfahrung nicht standhält, dann wäre auch ihr Angriff gegen Hiob fehlgeschlagen: „Was tröstet ihr mich mit Nichtigkeiten und von euren Antworten bleibt nichts als Trug!“ (21,34) Können die Freunde dem noch etwas entgegensetzen? Der dritte Redegang ist nur unvollständig erhalten. Die dritte Rede Bildads ist nur wenige Verse lang, die des Zophar fehlt ganz, und auch sonst ist der Text offensichtlich in Unordnung geraten und zahlreichen Eingriffen ausgesetzt gewesen. Die letzte Rede des Eliphas wirkt aber noch hinreichend konsistent. Eliphas redet jetzt Klartext. Was zuvor nur
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präsupponiert oder bestenfalls angedeutet wurde, kommt jetzt in Form eines umfassenden Katalogs von Anschuldigungen detailliert zur Sprache: Ist deine Bosheit nicht zu groß und sind deine Missetaten nicht ohne Ende? Du hast deinem Bruder ein Pfand abgenommen ohne Grund, du hast den Nackten die Kleider entrissen; du hast die Durstigen nicht getränkt mit Wasser und hast dem Hungrigen dein Brot versagt ...; die Witwen hast du leer weggehen lassen und die Arme der Waisen zerbrochen. Darum bist du von Schlingen umgeben, und Entsetzen hat dich plötzlich erschreckt. (Hi 22,5-7.9-10)
Das notwendige Schicksal der Gottlosen und „Ungerechten“, gerade von Hiob geleugnet, ist für Eliphas eine Tatsache (Hi 22,19f.). Es bleibt also nur, den Ratschlag noch einmal zu wiederholen, dass Hiob umkehren, seine Anklagen fallen lassen und sich wieder zu Gott wenden solle, denn „auch wer nicht unschuldig ist, wird errettet werden“ (Hi 22, 21.27.30). Auch der strikte Tun-Ergehen-Zusammenhang kann also durchaus von der Gnade Gottes durchbrochen werden – aber eben nur in einer Richtung. Dass ein Unschuldiger leidet, gilt als ausgeschlossen. Hiob allerdings geht von seiner Unschuld nicht ab. Die Freunde aber sind für ihn keine Gesprächspartner mehr. JHWH ist trotz allem der einzige, von dem er noch Gerechtigkeit erwarten kann. Hiob schwankt zwischen Hoffnung und Resignation, Hoffnung, dass JHWH von Hiobs Unschuld weiß (Hi 23,10), und Furcht vor der Willkür seines Handelns (Hi 23,13-16). In Kapitel 24 spricht Hiob noch einmal vom Schicksal der Gottlosen: Die Erfahrung bestätigt keinen Tun-Ergehen-Zusammenhang. „Fern der Stadt seufzen Sterbende, und die Seele der Säuglinge schreit. Aber Gott achtet nicht darauf!“ (Hi 24,12) Das Ende der Rede jedoch schlägt eine völlig unerwartete Richtung ein: Beginnend mit Vers 24,13 wird plötzlich, nach einigen Versen über die Taten der Mörder, Diebe und Ehebrecher, ohne überzeugenden Anschluss Gottes Gerechtigkeit gelobt, das strafende Schicksal der Gottlosen bestätigt: „Gott rafft die Gewalttätigen hin durch seine Kraft; steht er auf, so müssen sie am Leben verzweifeln.“ (Hi 24,22) Hier wurde wohl bereits in den Originaltext eingegriffen und Hiob fremdes Redegut in den Mund gelegt. In Bildads letzter Rede erscheinen nur noch 6 Verse. Ihre Kernaussage: „Und wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott? Und wie kann rein sein ein vom Weibe Geborener?“ (25,4; vgl. wörtlich Eliphas 4,17 und 15,14). Dies gehört, wie bereits gesehen, zu den wesentlichen Argumenten der Freunde zur Zurückweisung von Hiobs Unschuldsbehauptung, auch wenn es in seiner Allgemeinheit untauglich ist, Hiobs individuelles Schicksal zu erklären. Weitere Verse in Hi 26 und 27, die als Antwort Hiobs bezeichnet
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sind, preisen Gottes Größe, betonen Hiobs Unschuld und verfallen dann erneut in Schilderungen des Schicksals der Gottlosen, die wohl ursprünglich aus Freundesmund stammen (Hi 27,7-23). In Hi 27,2ff weist Hiob noch einmal ausdrücklich alle Einwendungen der Freunde zurück – im Namen desselben Gottes, der ihm Unrecht getan hat: „So wahr Gott lebt, der mir mein Recht verweigert, und der Allmächtige, der meine Seele betrübt ... Das sei ferne von mir, daß ich euch recht gebe; bis mein Ende kommt, will ich nicht weichen von meiner Unschuld.“ (Hi 27,2.6) Nach dem nachträglich eingeschobenen Weisheitslied Hi 28 folgt dann der große Reinigungseid Hi 29-31, der in einem letzten Appell an JHWH gipfelt. Das Streitgespräch zwischen Hiob und seinen Freunden ist damit beendet. Das heißt, es könnte beendet sein, wenn es da nicht die ebenfalls nachträglich hinzugefügten Reden des Elihu (Hi 32-37) gäbe, die den Anspruch erheben, die festgefahrene Diskussion doch noch zugunsten der weisheitlichen Position entscheiden, mehr noch: „meinem Schöpfer Recht verschaffen“ (Hi 36,3) zu können. Elihu ist sich sicher, dass Hiobs Reden widersprochen werden muss und dass er die richtigen Argumente finden wird (Hi 32,13ff.) Grundsätzlich Neues allerdings bringt auch er kaum vor. Der TunErgehen-Zusammenhang gilt ihm als unbezweifelbar (etwa Hi 34,10-12; 36,5-7.12-16). Gott ist allmächtig und gerecht, es ziemt sich nicht, zu zweifeln und ihn anzuklagen. Wer Gottes Gerechtigkeit anzweifelt, ist ein Frevler; deshalb leidet Hiob (Hi 34; auch Hi 36,22ff.; 37,22). Hiob muss umkehren und sich an Gott wenden, dann wird sein Los sich wenden (Hi 33,26-30). Der Mensch kann von Gott nichts wissen, Gott ist dem Menschen über (Hi 33,10; 34,29; 36,26ff.; 37,5.37,15ff.). Der Mensch ist nicht für Gott, sondern für sich selbst gottesfürchtig, JHWH kann auch durch menschliches Wohlverhalten zu nichts genötigt werden (Hi 35,2-8). In der Tat bringen Elihus Reden ein paar neue Nuancen in der Erklärung des Leidens: als Warnung vor Sünde (im Traum und durch Schmerzen), als Zurechtweisung und zur Läuterung (Hi 33,14-20). Grundsätzlich aber ändern seine Argumente nichts am Stand der Diskussion. Die hatte schon nach Abschluss der drei Redegänge ein Stadium erreicht, wo beide Seiten auf ihrem Standpunkt beharrten, ohne dass eine von beiden noch von dem des Gegners überzeugt werden könnte. Nur noch von außen könnte eine Entscheidung herbeigeführt werden. Diese – die Antwort Gottes in Hi 38-42 – gehört aber gerade deshalb nicht mehr zu den argumentativen Elementen des Buches Hiob.
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c) Argumentation im Buch Hiob: Zusammenfassung Die Freunde reagieren auf Hiobs Klage zunächst mit dem Rat, sich um Hilfe an JHWH zu wenden. In ihrer Begründung dieses Rates setzen sie (zunächst stillschweigend) voraus, dass Hiob gesündigt haben muss. Alles Unheil ist selbstverschuldet; JHWH straft und weist zurecht, er ist der Herr über das Schicksal; der Sünder muss sich deshalb um Rettung an JHWH wenden. Dass Hiob auf der Behauptung seiner Unschuld beharrt, fassen die Freunde als frevelhafte Anklage Gottes als des Garanten eines strikten Tun-Ergehen-Zusammenhangs auf. Hiobs Schuld oder Unschuld ist das eigentliche Thema des Streits. Die Argumentation der Freunde kann deshalb folgendermaßen zusammengefasst werden: Das Problem besteht in der Unvereinbarkeit von Hiobs Behauptung, er leide als ein Unschuldiger, mit der weisheitlichen Überzeugung, kein Unschuldiger würde von Gott ins Leiden gebracht. Ziel der Argumentation ist letztlich die Beseitigung dieser Inkohärenz. Das wollen die Freunde durch die Bestreitung der Unschuldsbehauptung Hiobs erreichen. Sie stellen also die Gegenbehauptung auf: Hiob ist nicht unschuldig, er kann nicht unschuldig sein. Diese Gegenbehauptung wird zunächst nur unterstellt und erst später explizit geäußert. Sie ist aber als Konklusion der gegebenen Argumente jederzeit präsent. Das Hauptargument der Freunde, wie es bereits in der ersten Rede des Eliphas enthalten ist, kann in syllogistischer Form dargestellt werden (A1): Unterprämisse P1: Hiob leidet. Oberprämisse P2: Niemand leidet unschuldig (es gilt der strikte TunErgehen-Zusammenhang). Konklusion K: Hiob ist nicht unschuldig. Ein Hilfsargument (A2) mit der Oberprämisse Kein Mensch ist vor Gott gerecht unterstützt diese Konklusion. Die beiden Prämissen, zusammen mit Hiobs Unschuldsbehauptung als der Negation von K, sind gleichzeitig die für eine argumentative Verhandlung relevanten Bestandteile der problematischen Ausgangssituation sa: P1 und P2 sind zunächst unabweisbare bzw. unverzichtbare Sätze der Weltbeschreibungen beider Seiten. Weil A1 analytisch ist, können aber P1 und P2 nicht zusammen mit der Negation von K wahr sein. Die argumentative Operation des Bestreitens der Unschuldsbehauptung, also die Behauptung
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von K, bildet den Kern des Lösungsvorschlags der Freunde; würde A1 akzeptiert, wäre damit ein widerspruchsfreier Zielzustand sz erreicht. Diese Operation macht weitere Operationen zur Begründung der Konklusion nötig. Da die angeführte Oberprämisse selbst in Zweifel steht, wird eine von der Geltung der Behauptung K unabhängige Begründung der Oberprämisse durch Verweis auf Tradition, Erfahrung und göttliche Offenbarung versucht. Hinzu tritt eine von der Geltung der Oberprämisse P2 (des TunErgehen-Zusammenhangs) unabhängige Begründung durch das Hilfsargument A2. Die Oberprämisse P2 des Hauptarguments, die behauptete Geltung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, kann als Brücke zwischen P1 und K betrachtet werden, als allgemeine Aussage, die im vertrauten und anerkannten Wissen von Gott und der Welt wurzelt und die Behauptung K als Erklärung von P1 qualifiziert. Dieser Satz vom Tun-Ergehen-Zusammenhang gehört auch zu Hiobs Überzeugungen, seiner Weltbeschreibung. Hiob hätte vor nicht allzu langer Zeit noch ganz genauso wie seine Freunde gesprochen (vgl. Preuß 74). Deshalb ist die Argumentation nicht nur formal gültig, sie wäre unter normalen Umständen auch ganz sicher erfolgreich gewesen. Aber Hiobs kürzlich gemachten Erfahrungen widersprechen schmerzlich diesem allgemeinen Wissen von der Welt. Die vertraute Ordnung scheint außer Kraft gesetzt, die Welt aus den Fugen. Es ist das scheinbar sichere Wissen von der Welt selber, das hier zur Debatte steht. Zentrale Überzeugungen sind fragwürdig geworden. Wenn Hiob auf seiner Unschuld besteht und dazu auch Erfahrungen anführt, nach denen sein Schicksal kein Einzelfall ist (Hi 21), dann zieht er die Geltung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs massiv in Zweifel. Zur Stützung des TunErgehen-Zusammenhangs wird von den Freunden die ganze Autorität der Weisheit in die Waagschale geworfen: Das Los der Gottlosen ist wohl bekannt, Erfahrung und Tradition garantieren dafür. Der Zusammenhang von Tun und Ergehen – Missetat und Strafe – wird nicht zuletzt durch die Parallelen zum alltäglichen Leben und Erleben plausibel: Leid ist erklärbar als Züchtigung oder auch als Warnung. Wenn Eliphas sogar selbst erfahrene göttliche Offenbarung ins Feld führt (Hi 4,12ff.), wird die Kernfrage vorbereitet: Am Tun-Ergehen-Zusammenhang zweifeln heißt an Gottes Gerechtigkeit zweifeln. Das aber ist Frevel und bedeutet neue Schuld. An diesem Punkt wird die Bestreitung der Unschuldsbehauptung zur Beschuldigung: Hiobs Reden selbst ist Sünde, Frevel gegen Gott 7. ––––––––––––– 7 Vergleiche auch Westermann 42f.
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Das allgemein anerkannte Gottesbild der Weisheit ist quasi der axiomatische Unterbau der Argumentation. Der Infragestellung dieses Unterbaus kann nur noch auf einer Metaebene begegnet werden. Gott ist allmächtig und gerecht; es ziemt sich nicht, zu zweifeln und ihn anzuklagen wie Hiob (Bildad Hi 8,2f., Zophar Hi 11,5ff.; Elihu Hi 34,10-28; 36,2233; 37,22). Paradoxerweise dient auch noch das Argument, dass der Mensch über Gott nichts wissen könne, dieser Verteidigung des Gottesbildes. Dieses Argument halten die Freunde Hiob vor, wenn er JHWH der Willkür beschuldigt, und dasselbe hält Hiob den Freunden entgegen, wenn sie sich anmaßen, die Anwälte Gottes zu sein. Das Argument dient also jeweils der Zurückweisung der gegnerischen Position. (Zophar Hi 11,7f.; Eliphas Hi 15,8; Elihu Hi 33,10; 34,29; 36,26ff.; 37,5.15ff.; aber auch Hiob Hi 13,5ff.). Der Streit führt zu keiner Einigung, und zwar trotz formaler Korrektheit der Argumentationen beider Seiten. Beide, Hiob und seine Freunde, gehen ja zunächst selbstverständlich davon aus, dass es einen von JHWH garantierten Zusammenhang von Tun und Ergehen gibt. Aber die Freunde sind noch in jener kohärenten Welt zu Hause, aus der Hiob durch sein Unglück schon herausgefallen ist. Wenn sie Hiobs Prämisse akzeptieren müssten, würde auch ihr Weltbild inkohärent, problematisch. Deshalb gerät, was Trost sein sollte, zum Streitgespräch. Im Grunde nutzen dabei beide Parteien, allerdings invertiert, dieselben Aussagenbeziehungen. Beide konstatieren die Unvereinbarkeit von Hiobs Unschuld und Vergeltungsdogma. Hiob macht seine Unschuld zur Prämisse und schließt (angesichts seines Unglücks) aus ihrer Wahrheit auf die Falschheit des Dogmas. Die Freunde nehmen das Dogma und Hiobs Schicksal zum Ausgangspunkt und schließen daraus die Falschheit seiner Unschuldsbehauptung. Beiden Seiten scheinen ihre Prämissen unzweifelhaft, die gezogenen Schlüsse sind logisch folgerichtig. Beide Argumentationen sind korrekt: Hiob hat Recht, aus der Wahrheit seiner Voraussetzung – seiner Unschuld, von der er überzeugt ist und die er durch die Erfahrung anderer bestätigt sieht – die Falschheit der Behauptung vom individuellen TunErgehen-Zusammenhang zu folgern. Aus seiner Perspektive sind seine Schlüsse gerechtfertigt, aber sie können die Kohärenz seiner Welt nicht retten: Sie bringen statt dessen sein Gottesbild und gesichert scheinendes Orientierungswissen über das „rechte Verhalten“ in Gefahr. Die Freunde haben ebenfalls Recht, wenn sie aus der postulierten Wahrheit ihrer Voraussetzungen die Falschheit von Hiobs Unschuldsbehauptung folgern. Für sie ist das Dogma unzweifelhaft wahr und vielfach beglaubigt, Hiobs Be-
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hauptung aber nur durch ihn selbst bezeugt. Auch ihr Schließen ist gerechtfertigt, und zudem bewahrt diese Argumentation die Kohärenz ihrer Welt; sie ist deshalb aus der Perspektive der Freunde allemal vorzuziehen. Denn Hiob hat, auch wenn er korrekt argumentiert, keine neue kohärente Repräsentation anzubieten. Seine Unschuld erzeugt erst das Hiobproblem. Die beiden Perspektiven, die sich in der argumentativen Problemverhandlung gegenüber stehen, können innerhalb der gegebenen Argumentationsstruktur nicht miteinander vermittelt werden. Beide Seiten nutzen zulässige Operationen argumentativer Problemlösung: Sie begründen ihre Behauptungen auf formal korrekte Weise und (so nehme ich an) gemäß den derzeit akzeptierten Standards theologischen Argumentierens. Keine Partei aber kann die Gegenseite überzeugen, weil die zentrale Prämisse, die Brücke zwischen dem Faktum P1 und der Behauptung K, nicht mehr unzweifelhaft, aber auch (noch) nicht entbehrlich ist. Das zentrale ordnungsstiftende Dogma vom Tun-Ergehen-Zusammenhang kann mit den gebräuchlichen und akzeptierten Mitteln – der Berufung auf Erfahrung, Tradition und Offenbarung – nicht mehr hinreichend begründet werden. Die Auflösung des Widerspruchs von Erfahrung und Dogma, den Hiobs Unschuld heraufbeschwört, könnte sowohl auf Seiten des Dogmas als auch auf Seiten der Erfahrung versucht werden. Sowohl A1 als auch ein Fallenlassen der Oberprämisse P2 würden den Widerspruch verschwinden lassen. Die Freunde suchen Wege, in der Kommunikation die Kohärenz des eigenen Weltbilds zu wahren und dieses Weltbild als auch für Hiob akzeptables zu erweisen. Es ist verständlich, dass sie versuchen, ihm eine kohärente Weltbeschreibung anzubieten, in der er nicht mehr unverdient leidet, eine Welt also, in der das Dogma Recht behält. Hiob könnte das Argument der Freunde akzeptieren und das Dogma retten, aber nach dem Willen des Dialogdichters tut er es nicht. Dem vorgeführten Streitgespräch ist eine befriedigende Auflösung des Konflikts von Dogma und Erfahrung – der Perspektiven von beobachtender „Weisheit“ und leidendem Subjekt – nicht möglich. Die Resultatlosigkeit des „Rechtsstreites“ demonstriert das Versagen der Argumentation und damit auch das Scheitern des Dogmas. Das Urteil der höchsten Instanz, das JHWH-Urteil in Hi 42,7ff., formal ein „Schiedsspruch im Meinungsstreit der Weisen“ (Maag 192), spricht es deutlich aus: „denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob“. Im Buch Hiob kann die entscheidende Instanz niemand anderes sein als Gott selbst. Niemand sonst könnte das letzte Urteil über das Dogma sprechen. Damit gibt dieses Buch in vielerlei Hinsicht ein Paradigma für
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das Denken und Reden über das „Transzendente“. Dieses Denken kann, wenn es in Schwierigkeiten steckt, in Versuchung geraten, sich über das selbst abgesteckte Areal des Argumentierens zu erheben, um sich selbst zur absoluten Entscheidungsinstanz zu vergöttlichen. Es kann dazu narrative Strategien gebrauchen. 3. Regeln des Argumentierens Was ihr zu bedenken gebt, sind Sprüche aus Asche; eure Bollwerke werden zu Lehmhaufen. (Hi 13,12)
a) Der Gebrauch von Argumenten Im vorangegangenen Kapitel habe ich die Argumentationen von Hiob und seinen Freunden als formal korrekte Syllogismen dargestellt. Das entspricht einer Tradition der philosophischen Logik, die für das Argumentieren die logische Folgerung in den Mittelpunkt stellt: Argumentieren besteht demnach „aus dem Hervorbringen einzelner Argumente“, wobei ein „Argument“ verstanden wird als Menge von Satzäußerungen bzw. Sätzen mit dem Anspruch, dass ein bestimmter Satz (Konklusion) „logisch oder mit Notwendigkeit“ aus anderen vorgebrachten Sätzen (Prämissen) folge8. Alltagssprachlich werden oft auch nur die Prämissen selbst als „Argumente“ bezeichnet. Eine „Argumentation“ wiederum ist eine Folge von Argumenten, die aufeinander aufbauen (d. h. die Konklusionen der Argumente einer Stufe dienen als Prämissen in Argumenten der nächsten Stufe). Das Ziel einer Argumentation besteht darin, ausgehend von Sätzen, die jeweils alle Teilnehmer als gültig akzeptieren, die Kommunikationspartner von der Gültigkeit bestimmter anderer Sätze zu überzeugen. Ich spreche im Folgenden ebenfalls von Prämissen und Konklusion von Argumenten (oder Schlüssen) sowie von Argumentationen als Folgen von Argumenten oder Schlüssen. (Nur wenn Missverständnisse ausgeschlossen sind, bezeichne ich des etablierten Sprachgebrauchs wegen die Tätigkeit des Argumentierens selber als „Argumentation“ oder auch die Prämissen als „Argumente“.) In einem wesentlichen Punkt aber muss ich mich von den gerade referierten Bestimmungen absetzen: in Bezug auf die Forderung nach logischer Notwendigkeit. Demnach überzeugt ein Argumentierender seinen Partner dadurch von der Wahrheit einer Behauptung, ––––––––––––– 8 Axel Bühler: Einführung in die Logik. Argumentation und Folgerung (1997), 12f.
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dass er geeignete Folgen von Argumenten findet, die mit logischer Stringenz zu der umstrittenen Behauptung als Konklusion hinführen. Wenn keine anderen als logische Folgebeziehungen zwischen Prämissen und Konklusion auftreten dürfen, dann muss das Argument analytisch, also die Konklusion bereits in den Prämissen enthalten und durch geeignete Transformationen daraus erzeugbar sein. Folgt die Wahrheit der Konklusion logisch notwendig aus der Wahrheit der Prämissen, so muss der Partner die Konklusion akzeptieren, sofern er die Prämissen akzeptiert. Argumentationen solcher Art können also definitiv zu Ende gebracht werden: Ist einmal eine Gestalt erreicht, die akzeptierte Prämissen und umstrittene Konklusion auf eine formal korrekte Weise verbindet, bleibt im Rahmen vernünftigen Redens allen Teilnehmern nur die Akzeptanz der Konklusion. Das Problem ist geklärt und vom Tisch9. Es ist zuzugestehen, dass viele Argumentationen in eine Form gebracht werden könnten, welche alle Prämissen explizit macht, die nötig sind, um notwendig zur Konklusion zu führen. Es müssen dazu alle stillschweigend vorausgesetzten Annahmen und Schlussprinzipien als weitere Prämissen dem jeweiligen Argument hinzugefügt werden. Gerade allgemeine Aussagen z. B. der Form Alle A sind B, Kein A ist B etc., die regelmäßig als solche stillschweigend vorausgesetzten zusätzlichen Prämissen Verwendung finden, sind aber ihrerseits oft nicht mit derselben logischen Stringenz begründbar, weil sie etwa induktiv gewonnen wurden. In der Praxis argumentierender Kommunikation sind analytische Argumentationen nicht die Regel. Statt ausschließlich formale Kriterien der Gültigkeit heranzuziehen, muss eine praxisrelevante Beschreibung des Argumentierens auch Bedingungen der Annehmbarkeit von Argumenten formulieren, die in verschiedenen Bereichen auch voneinander abweichen können. Akzeptabilität, Überzeugungskraft und Plausibilität von Argumenten beruhen vor allem auch darauf, was in einer Kommunikationsgemeinschaft als einleuchtend, überzeugend und plausibel gilt. Eine Modellbeschreibung von Argumentation sollte natürlich formale Aspekte bei der Beurteilung der Gültigkeit von Schlüssen nicht ausschließen, muss aber dabei in erster Linie der Tatsache Rechnung tragen, dass in der Praxis das vornehmliche Ziel der Argumentation nicht das Beweisen, sondern das Überzeugen ist. Wo––––––––––––– 9 Zumindest sollte es das sein – doch leider müssen selbst zwingende Beweise noch nicht unbedingt „überzeugend“ wirken: „So kann ein zwingender mathematischer Beweis ein optimaler Wahrheitsindikator sein, weil er die Wahrheit einer Behauptung sogar garantiert, aber trotzdem wenig überzeugend wirken, weil er zu lang und kompliziert erscheint, um von vielen Leuten verstanden zu werden“ (Bartelborth 20).
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von also hängt die Überzeugungskraft von Argumenten, des vollzogenen Übergangs von bestimmten Prämissen zu einer Konklusion ab? Zur Beantwortung dieser Frage greife ich auf den einflussreichen Ansatz von Toulmin10 zurück, der ebenfalls eine Beurteilung der Gültigkeit von Argumentationen allein nach ihrer Form für unzureichend hält. Sein Nachdenken über das Argumentieren orientiert sich am Modell der Jurisprudenz als Gegenmodell zur traditionellen Fixierung der Logik auf das analytische Ideal der Geometrie11. Eine mathematisch verfahrende Logik, die die Frage nach der Gültigkeit auf die Frage nach der richtigen Form verengt und Bezugnahme auf Inhalte, Denken oder Rationalität vermeidet, kann für die Anwendbarkeit der logischen Prinzipien auf die Welt des Handelns nicht einstehen. Als Alternative will Toulmin die Jurisprudenz als heuristisches Modell der Logik seiner Untersuchung zugrundelegen: Logik befaßt sich mit der Wirksamkeit unserer Geltungsansprüche – mit der Zuverlässigkeit der Gründe die wir zu ihrer Stützung angeben, der Qualität dieser Stützung, oder, um eine andere Metapher zu verwenden, mit der Art des Beweismaterials, das wir zur Verteidigung unserer Behauptungen angeben. Die juristische Analogie, die der letzten Formulierung zugrundeliegt, kann eine reale Hilfe sein ... Wir können sagen, daß Logik verallgemeinerte Jurisprudenz ist. Argumentationen können mit Gerichtsprozessen verglichen werden, und Behauptungen, die wir in außergerichtlichen Zusammenhängen machen und vertreten, können mit Behauptungen verglichen werden, die im Gericht geltend gemacht werden. (14)
Da auch für uns das Modell des Gerichtsprozesses eine wichtige Rolle spielt, macht dieser Startpunkt natürlich neugierig. Toulmin will seine Untersuchung „parallel“ zur Vorgehensweise der Jurisprudenz verlaufen lassen, deren Aufgabe es sei, „die wesentlichen Bestandteile des Gerichtsprozesses zu charakterisieren, die Verfahren anzugeben, gemäß denen Rechtsansprüche vorgebracht, beraten und entschieden werden“ (ebd.). In rationalem Argumentieren fällt der „Gerichtshof der Vernunft“12 (der uns ––––––––––––– 10 Stephen E. Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten (21996), orig. The Uses of Argument (1958). Ich zitiere i. F. aus der deutschen Ausgabe mit einfachen Seitenzahlen. 11 Inwiefern Toulmin mit seinen Vorwürfen an „die Logik“ immer Recht behält, soll hier nicht thematisiert werden. Mich interessieren nur Plausibilität und Praktikabilität seines Vorschlages. 12 „Eine gültige Argumentation oder eine wohlbegründete oder sicher gestützte Behauptung ist dadurch charakterisiert, daß sie der Kritik standhält, daß für sie eine Begründung vorgelegt werden kann, die den Standards entspricht, die erfüllt sein müssen, damit man sie annehmen kann. Wie viele Wörter aus dem Recht finden hier eine natürliche Erweiterung! Man kann vielleicht sogar zu der Formulierung neigen, daß unsere
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natürlich später bei Kant wieder begegnen wird) Urteile über die Annehmbarkeit von Argumentationen. Das wichtigste Manko der traditionellen, am analytischen Syllogismus orientierten Analyse besteht nach Toulmin darin, dass sie nicht berücksichtigt und durch ihre täuschend einfache Form sogar verdeckt, in welchem Maße die Gültigkeit von Argumentationen „bereichsabhängig“ (20) ist. Argumentationen in verschiedenen Bereichen (fields) können auch nur durch verschiedene, diesem bestimmten Bereich angemessene Kriterien und „Standards“ beurteilt werden. Im Bereich der Jurisprudenz etwa würde ein Rechtsphilosoph die Frage stellen: „Welche verschiedenen Arten von Aussagen werden im Laufe eines Gerichtsprozesses geäußert, und auf welche verschiedenen Weisen können solche Aussagen für die Stichhaltigkeit eines Rechtsanspruchs Relevanz haben?“ (87) Zur Beantwortung dieser Frage würde eine einfache Unterscheidung von wenigen Aussagenarten wie „Oberprämisse, Unterprämisse, Konklusion“ nicht hinreichen. Es müsse vielmehr möglich sein, die verschiedenen Funktionen von Aussagen zu berücksichtigen, im Bereich der Jurisprudenz etwa „Geltendmachen von Ansprüchen, identifizierendes Beweismaterial, Zeugenaussagen über strittige Aussagen, Interpretationen eines Gesetzes oder Diskussionen seiner Gültigkeit, Ansprüche darauf, von der Anwendung eines Gesetzes ausgenommen zu werden, Bitte um mildernde Umstände, Schuldsprüche und Strafaussprüche“ (88). Angesichts der „Bereichsabhängigkeit unserer Standards“ (37) ist es die Aufgabe der Analyse, transparent zu machen, welche Teile von Argumentationsstrukturen noch bereichsunabhängig beschreibbar sind und wo bzw. wie Bereichsabhängigkeit zum Tragen kommt. Toulmin will das vor allem dadurch erreichen, dass die im Syllogismus traditionell als „Oberprämisse“ bezeichnete strukturelle Position auf komplexere Weise analysiert wird. Wenn etwa die Behauptung (claim, Konklusion, K): K Harry ist britischer Staatsbürger bezweifelt oder nach ihrer Berechtigung gefragt wird („Worauf stützt du dich?“), könnte sie durch das „Datum“ (data, D) bzw. die Prämisse ––––––––––––– nicht-juristischen Behauptungen nicht vor Her Majesty’s Judges gerechtfertigt werden müssen, sondern vor dem Gerichtshof der Vernunft“ (15; vgl. auch 40, 121, 155).
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D Harry wurde auf den Bermudas geboren begründet werden13. Auf weitere kritische Nachfrage („Wie kommst du dahin?“) wäre dann anzugeben, in welcher Hinsicht das Datum ein ‚Argument‘ für die Gültigkeit der Behauptung sein soll, d. h. welche „Schlussregel“ (warrant, SR) den Übergang zwischen beiden Aussagen leisten kann. Schlussregeln sind „allgemeine, hypothetische Aussagen, die als Brücken dienen können“ (89), wie etwa SR Wer auf den Bermudas geboren wurde, bekommt die britische Staatsangehörigkeit. Die Struktur des Arguments entspricht formal dem Syllogismus: SR Wer auf den Bermudas geboren wurde, bekommt die britische Staatsangehörigkeit. D Harry wurde auf den Bermudas geboren. K Harry hat die britische Staatsangehörigkeit Die Oberprämisse SR (oder eine allgemeine Aussage ähnlicher Art) ist hier zunächst aber nichts weiter als eine noch unausgesprochene Regel, die derjenige voraussetzt, der D als Argument für K äußert. Sie ist (noch) keine Äußerung in der Argumentation. Erst auf Nachfrage wird eine Auskunft nötig, wie man in diesem bestimmten Fall vom Datum zur Konklusion gelangt. Ein Bestandteil oder eine Implikation dieser Auskunft müsste dann die Schlussregel sein. Schlussregeln aber müssen sich selbst auf etwas stützen, sie müssen ihrerseits begründbar sein, damit ihre Verwendung akzeptiert werden kann. Denn jederzeit ist eine weitere Nachfrage möglich, „warum diese Schlußregel allgemein als zulässig akzeptiert werden sollte“ (94). Zur „Stützung“ (backing, S) dieser Schlussregel müsste der Argumentierende dann weitere Fakten anführen wie zum Beispiel: „Wer auf den Bermudas geboren wurde, ist im allgemeinen britischer Staatsangehöriger aufgrund folgender Gesetze oder rechtlicher Vorkehrungen, wenn nicht beide Elternteile Ausländer waren oder er in Amerika eingebürgert wurde“ (vgl. sinngemäß 96). Der erste Teil dieses Satzes rekurriert auf nachprüfbare Fakten, die eine Verallgemeinerung erlauben (hier die Gesetzeslage); der letzte Teil ––––––––––––– 13 Zu diesem Beispiel vgl. Toulmin 88-98.
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formuliert „Ausnahmebedingungen“ (rebuttal, AB), die den Anwendungsbereich der Schlussregel begrenzen („wenn nicht...“) und so dazu zwingen, modale Operatoren (qualifier, O) zur Einschränkung der Schlussfolgerung zu verwenden (hier „im allgemeinen“). Toulmin gibt dafür das folgende Schema (95), das als ToulminSchema bekannt geworden ist und sich inzwischen als Analyseinstrument weitgehend etabliert hat: D
→ Deshalb, O, K | | Wegen Wenn nicht SR AB | Aufgrund von S
Dieses Schema, die „Form der Argumentation, die wir in verschiedenen Bereichen verwenden“ (94), ist nach Toulmin als bereichsunabhängig. Insbesondere gilt bereichsunabhängig für alle Argumentationen, dass Schlussregeln verwendet bzw. vorausgesetzt werden müssen. Die Standards und Kriterien aber, nach denen diese Schlussregeln gebildet, begründet und nach ihrer Gültigkeit beurteilt werden, müssen dem jeweiligen Bereich angemessen sein. Schlussregel und insbesondere Stützung bilden also im Schema die Bereichsabhängigkeit der Argumentation ab. Oft trennt die Daten, die wir zur Rechtfertigung einer Konklusion anführen, von dieser eine „logische Kluft“ (196), die wir nicht nach „analytischen Standards“ (193) überbrücken können. Eine solche Kluft besteht nach Toulmin zwischen Aussagen unterschiedlichen „logischen Typs“, die die Argumentation zu einem „logischen Typensprung“ (191) nötigen. Deshalb misst Toulmin in seinem Buch gerade der Brückenfunktion von Schlussregeln mit Recht die größte Bedeutung bei. Die Beobachtungsdaten der Astronomen sind von anderem logischen Typ als ihre Prognosen über zukünftige Konstellationen. Die Daten von Archäologen und Historikern – „Daten über die Gegenwart und die unmittelbare Vergangenheit“14 – sind von anderem logischen Typ als ihre theoretischen Aussagen über die fernere Vergangenheit. Für psychologische, ethische, theologi––––––––––––– 14 Auch Anhäufungen historischer Dokumente, so Toulmin, sind letztlich nichts anderes als „eine Menge Papier, die sich in der Gegenwart befindet“ (193).
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sche, ästhetische Probleme gilt Entsprechendes. Wissenschaftliche Theorien aller Art involvieren Aussagen über „Gegenstände, die wir nie untersucht haben“ (193) und die deshalb nicht logisch aus den Daten geschlossen werden können, die den Theorien zur Verfügung stehen. Allen diesen Fällen ist gemeinsam, dass jede noch so umfassende Sammlung von Daten zur Stützung einer Behauptung dennoch zusammen mit der Negation dieser Behauptung keinen logischen Widerspruch ergeben würde. „Analytizität wird nicht erreicht sein.“ (194) Eine Beschreibung von Argumentationsstrukturen soll der Argumentationspraxis gerecht werden, d. h. auch die Bereichsabhängigkeit unserer Argumentationen erfassen. Insbesondere die Positionen von „Schlussregel“ und „Stützung“ im Toulmin-Schema scheinen geeignet, unterschiedliche Standards angemessenen Argumentierens in verschiedenen Disziplinen oder Bereichen zu erfassen. Häufig aber wird Toulmin vorgeworfen, dass gerade diese zentralen Begriffe seines Schemas zu unscharf ausgeführt und nicht hinreichend klar voneinander zu unterscheiden sind15. Ich muss deshalb auf diese Unterscheidung kurz eingehen. Schlussregeln sind, solange einzelne Argumente betrachtet werden, sowohl von Daten als auch von Konklusionen klar zu unterscheiden. Während Daten explizite Behauptungen über Faktisches („Tatsachen“) enthalten, sind Schlussregeln vorausgesetzte allgemeine Prinzipien, auf die meist „implizit Bezug genommen“ wird und die „die Korrektheit aller Argumentationen des betreffenden Typs feststellen“ (91)16. Als solche warrants kommen nach Toulmin „Regeln, Prinzipien, Schlussregeln“ (inference licenses) zur Anwendung, „allgemeine, hypothetische Aussagen, die als Brücken dienen können und diese Art von Schritten erlauben, zu denen uns unsere bestimmte Argumentation verpflichtet“ (89). Von der Verfügbarkeit akzeptabler Schlussregeln hängt es ab, ob ein Argument den Kommunikationspartner überzeugen kann oder nicht. Die verwendeten Schlussregeln sind auch ausschlaggebend dafür, ob die Argumentation als rational beurteilt werden kann (91). ––––––––––––– 15 Eine kurze Zusammenfassung der Toulmin-Kritik seit Erscheinen von Uses of Argument 1958 bei Michael Pielenz, Argumentation und Metapher (1993), 38-47. Pielenz unterscheidet 3 Klassen der Kritik: 1. Kritik an Toulmins Sicht der formalen Logik; 2. Kritik an terminologischen Unschärfen der zentralen Begriffe; 3. Kritik an der Anwendbarkeit des Schemas als praktisches Analyseinstrument (vgl. Pielenz 39). 16 Die deutsche Übersetzung von The Uses of Argument verwendet den Begriff „Argumentation“ auch für einzelne Schlüsse, also für das, was ich „Argument“ nennen möchte. Ich denke aber, dass trotzdem jeweils aus dem Kontext klar wird, was gemeint ist.
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Die Unterscheidung von Schlussregeln und Stützung ist in der Tat weniger einfach. Toulmin sagt, dass Schlussregeln „auf eine ganz andere Weise begründet werden müssen als die Tatsachen, die wir als Daten anführen“ (91). Wie ist das gemeint? Schema und Beispiele Toulmins legen die Annahme nahe, dass (im Gegensatz zur Begründung von explizit gegebenen Daten bzw. Prämissen, für die ein neues Argument erforderlich wäre) die Begründung der implizit bleibenden Schlussregel innerhalb desselben Arguments anzusiedeln sei und deshalb im selben Schema durch die separate Position der Stützung abgebildet wird. Hier liegt m. E. eine Quelle für Missverständnisse. Die Schwierigkeit der Unterscheidung entsteht dann, wenn Schlussregel-Formulierungen als explizite Aussagen neben Daten und Konklusion treten. Der äußeren Form solcher Aussagen ist nämlich losgelöst vom Kontext ihre logische Funktion nicht ohne Weiteres anzusehen: formale Überbrückung, materiale Tatsachen-Behauptung oder beides? Solche expliziten Schlussregel-Formulierungen haben die Form „universeller Prämissen“ wie etwa Alle A sind B, Fast alle A sind B usw., wie sie als Oberprämisse auch im Syllogismus der traditionellen logischen Analyse von Argumenten auftreten. Dieser hatte Toulmin den Vorwurf unzulässiger Vereinfachung gemacht und „Mehrdeutigkeiten im Syllogismus“ (98) diagnostiziert. Um diese Mehrdeutigkeiten zu zeigen, „erweitert“ Toulmin in seinen Beispielen die universelle Prämisse in jeweils verschiedener Weise, um dadurch verschiedene mögliche Funktionen zu veranschaulichen, die derselbe Satz in verschiedenen Kontexten innehaben kann: Ein und derselbe deutsche Satz kann eine doppelte Funktion innehaben. Das heißt, er kann in der einen Situation geäußert werden, um Informationen zu übermitteln und in einer anderen, um einen Schritt einer Argumentation zu erlauben. Vielleicht kann er in einigen Kontexten sogar diese beiden Funktionen auf einmal erfüllen ... Jedenfalls wird es sich als möglich herausstellen, in einigen Situationen zwei verschiedene logische Funktionen klar zu unterscheiden. Auf die Natur dieser Unterscheidung bekommt man einen Hinweis, wenn man die beiden Sätze gegenüberstellt: „Immer wenn A, hat sich auch B herausgestellt“ und „Immer wenn A kann man annehmen, daß B. (90)
Toulmin steht hier vor dem Problem, zwei Aspekte oder „logische Funktionen“ des Schließens unterscheiden zu wollen: die formale Überbrückungsfunktion von Schlussregeln einerseits und den materialen Informationsgehalt andererseits, der die Bildung und Rechtfertigung von Schlussregeln möglich macht. Diese Unterscheidung erscheint weder im traditionellen Syllogismus, noch kann sie in der sprachlichen Manifestation von Argumenten (ihrer ‚Oberflächenstruktur‘) immer explizit gemacht
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werden. Toulmin kann deshalb nicht anders als durch „Erweiterung“ diese Aspekte sichtbar machen. Wenn diese Unterscheidung möglicher Funktionen mit der Unterscheidung von Aussagen als „Schlussregel“ und „Stützung“ im Schema parallelisiert wird, verlieren diese Termini an Klarheit 17. Dieser Schwierigkeit kann begegnet werden, wenn konsequent vorausgesetzt wird, dass Schlussregeln und ihre Stützung auf verschiedenen Ebenen der Argumentation liegen. Die Stützung „stützt“ die Schlussregel, d. h. sie ist eine Prämisse für die Berechtigung des Schlusses. Sie kann daher im Rahmen eines neuen, ergänzenden Arguments, in dem die Schlussregel explizit und zur Konklusion gemacht wird, als Datum analysiert werden. Nach Toulmin kommt die Stützung S ins Spiel, wenn der Geltungsanspruch der Schlussregel SR angegriffen wird. Um in einer Begründung von SR jedoch den Übergang von einer Tatsachenbehauptung S zu einer generalisierten Behauptung SR zu gewährleisten, die als Schlussregel fungieren kann, ist offenbar eine weitere Schlussregel SR' notwendig. Das wendet Öhlschläger18 gegen Toulmin ein, der das aber selbst wohl nicht anders sieht19. Ein vereinfachtes Toulmin-Schema (ohne modale Operatoren und Ausnahmebedingungen, aber inkl. SR') würde dann ausführlicher lauten: → Deshalb K | Wegen SR | ⎯ Wegen SR' Aufgrund von S D
––––––––––––– 17 An der begrifflichen Verwirrung ist Toulmin nicht ganz unschuldig, wenn er etwa davon spricht, die „Schlußregel durch die Stützung [zu] ersetzen, d. h. die universelle Prämisse auf die andere Weise [zu] interpretieren“ (108). 18 Günther Öhlschläger, Linguistische Überlegungen zu einer Theorie der Argumentation (1979), 87. 19 Vgl. Toulmin 97 (wo er argumentiert, dass irgendwann das Bezweifeln der SRs wieder ein Ende haben muss): „Schulz bringt eine Argumentation vor, die die Schlußregel SR1 benützt, und Schmitt greift diese Schlußregel an. Schulz ist verpflichtet, als Hilfssatz eine weitere Argumentation mit der Absicht anzuführen, die Annehmbarkeit der ersten Schlußregel zu begründen. Aber beim Beweis seines Hilfssatzes benützt er eine zweite Schlußregel SR2 ... Einige Schlußregeln müssen provisorisch ohne weiteren Angriff akzeptiert werden, falls das betreffende Gebiet der Argumentation zugänglich sein soll.“
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Diese Struktur kann als zwei ineinandergreifende einfache Schemata angesehen werden, bei der die Schlussregel der ersten Stufe der Argumentation – des ersten Arguments – zur Konklusion der zweiten Stufe wird. Wenn jedes Schema für sich betrachtet wird, hat die (vorausgesetzte) Schlussregel die Funktion einer Brücke zwischen Datum und Konklusion. Behaupten wir D, deshalb K, so behaupten wir auch, dass es eine Schlussregel gibt, die diesen Schluss (unter Berücksichtigung eventueller Einschränkungen) formal gültig macht. Damit ist zwar noch nicht eine bestimmte Schlussregel formuliert, aber die Möglichkeit zu kritischer Nachfrage eröffnet. Die Anwendbarkeit formaler Gültigkeitskriterien bleibt gewahrt; gleichzeitig aber wird klar gemacht, dass die Akzeptabilität des Schlusses nicht allein von seinen formalen Merkmalen abhängt, sondern in erster Linie eben von der Begründungsfähigkeit der vorausgesetzten Schlussregel, die in einer weiteren Stufe der Argumentation (einem neuen Argument) geprüft werden kann. Erst eine Unterscheidung von Schlussregeln und ihrer Begründung erlaubt die Frage nach der Art und Weise, wie Schlussregeln selber gebildet und gerechtfertigt werden können. Die Bereichsabhängigkeit von Argumentationen vorausgesetzt, gegen die ich keinen überzeugenden Einwand sehe, kann nur über die jeweils verwendeten Schlussregeln und ihre bereichsspezifische Rechtfertigung die Gültigkeit von Argumentationen angemessen beurteilt werden. Das originale Toulmin-Schema, das sowohl Schlussregel als auch Stützung als Positionen enthält, erschwert aber deren Unterscheidung, insbesondere wenn es als eine Alternative zum Syllogismus verstanden wird20. b) Verknüpfungsregeln. Ein neues Argumentationsschema In Frage steht also nicht so sehr die Unterscheidung von Schlussregel und Stützung, sondern ihre Umsetzung im Argumentationsschema. Hier ist es in der Tat nicht einsichtig, warum das Anzweifeln des Datums – der Unterprämisse – in einem neuen Argument (vgl. Toulmin 88) mit dem Datum als Konklusion beantwortet wird (das Schema also erneut angewendet werden muss), während das Anzweifeln der Schlussregel (der Oberprämisse) eine neue Position im aktuellen Schema erzeugt. In separaten Ar––––––––––––– 20 Beide leisten Verschiedenes: Der Syllogismus beschreibt einen einzelnen Argumentationsschritt von einer Prämisse zu einer Konklusion mit Hilfe einer zweiten („universellen“) Prämisse, während das ausführliche Argumentationsschema Toulmins mehrere Übergänge von Aussagen zu anderen (mehrere Argumente) beschreibt.
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gumenten wäre die Trennung von Stützung und Schlussregel mit aller wünschenswerten Klarheit gegeben. Jedes Infragestellen einer Prämisse, sei es „Unterprämisse“ oder „Oberprämisse“, „Datum“ oder „Schlussregel“, sollte also als neues Argument in einem separaten Schema dargestellt werden. Ein vergleichbares Modell nutzt Öhlschläger (Anm. 18), der die Schlussregelposition als „Schlusspräsupposition“ bezeichnet: Argument ⏐ ⎯ Konklusion
Schlusspräsupposition
Wenn ich D als ein Argument 21 für die Geltung einer Konklusion K äußere, setze ich damit voraus (präsupponiere ich), dass aus der Wahrheit von D auf die Wahrheit von K gefolgert werden kann. Ich übernehme dafür gewissermaßen eine Garantie zumindest insoweit, dass ich selbst von der Berechtigung dieses Übergangs von D auf K überzeugt bin (vgl. Öhlschläger 89ff.). Präsupponiert wird aber m. E. lediglich „Wenn D, dann K“, zu lesen etwa „Vorausgesetzt, daß D, dann kann man annehmen, dass (auch) K“22. Ganz ähnlich werden Schlussregeln auch bei Toulmin charakterisiert (Toulmin 89). Auch er betont den Präsuppositionscharakter seiner implizit bleibenden Schlussregel wie auch ihre Eigenheit, dass sie als rein formale „überhaupt keine Information ausdrückt, sondern eine Garantie“ (Toulmin 103). Toulmin denkt aber weiter: Wir unterstellen nicht nur die Regel selbst als eine rein formale, sondern wir unterstellen auch, ––––––––––––– 21 Abweichend von meinem Sprachgebrauch nutzt Öhlschläger den Begriff „Argument“ für „Datum“ oder „Prämisse“. 22 Abweichend von Öhlschläger, dessen Standardbeispiel den Mangel seines Vorschlags deutlich macht: Wer das Datum (1) Cs Bruder ist Mitglied der Berliner Philharmoniker verwendet zur Begründung der Behauptung (2) Cs Bruder ist ein ausgezeichneter Musiker, übernimmt in der Tat eine Garantie für die Wahrheit von (1) und präsupponiert damit die Wahrheit aller Propositionen, die Bedingungen dafür aussagen, dass (1) überhaupt ein Wahrheitswert zukommt (z. B. C hat einen Bruder). Er präsupponiert ebenfalls, dass man (2) aus (1) folgern kann, aber nicht, wie Öhlschläger meint, „daß A von (1) auf (2) schließt aufgrund der Schlußpräsupposition wie (3) usw.“ (100), wobei Öhlschläger für sein Beispiel bereits 15 solcher möglichen „Propositionen wie etwa“ liefert, z. B. Alle/die meisten/viele Mitglieder der Berliner Philharmoniker sind ausgezeichnete Musiker etc. (98f.) Ich bezweifle, dass alle diese Propositionen gleichzeitig präsupponiert sein können, so dass letztlich der materiale Gehalt der Schlusspräsupposition unzugänglich und einzig ihre formale Überbrückungsfunktion übrig bleibt.
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dass sie begründet oder begründbar ist23. Damit wird die Grenze des Formalen überschritten in Richtung auf das, was uns eigentlich interessiert: die bereichsabhängige Welt des Überzeugenden. Wenn ich einen Schluss vorbringe, dann garantiere ich einerseits die formale Berechtigung dieses Schlusses, und ich unterstelle gleichzeitig, dass ich über irgendwelche material bestimmten Regeln verfüge, die diesen Schluss, diese bestimmte Verknüpfung von Sätzen, plausibel machen. Solche Verknüpfungsregeln24 sind Bestandteil unserer Überzeugungen über die Welt oder resultieren aus unseren Überzeugungen. Ich äußere zudem in einer Argumentation diese bestimmte Verknüpfung von Sätzen nur dann, wenn ich annehme, dass auch die Argumentationspartner über entsprechende Verknüpfungsregeln verfügen. Denn andernfalls wäre dieses Argument untauglich, seinen Zweck zu erfüllen25. Für meine Zwecke möchte ich deshalb Öhlschlägers Schema folgendermaßen erweitern: (1)
Prämissen P1, P2...Pn ⏐⎯ Schlusspräsupposition SP --- Verknüpfungsregeln V Konklusion K
––––––––––––– 23 „Die Berufung auf eine solche Argumentation beinhaltet die Unterstellung, daß die Schlußregel SR uns nicht nur den Übergang von D zu K erlaubt, sondern auch begründet ist“ (Toulmin 156, Hevorhebung von mir). 24 Die deutsche Übersetzung für warrant, „Schlussregel“, ist in Logik und Philosophie bereits in spezifischer Bedeutung gebräuchlich und führt hier eher in die Irre. Als Schlussregeln werden in der Logik formale Muster des gültigen Schließens bezeichnet (z. B. der Modus ponens), oder alternativ auch Erklärungsversuche dieser Schlussformen durch Prinzipien, die die Anwendbarkeit etwa des Modus ponens sichern sollen, wie das „Prinzip des Syllogismus“ oder das „Dictum de Omni et Nullo“ (vgl. Toulmin 116). Solche Schlussregeln zähle ich zu den argumentativen Schemata, die – analog zu narrativen Schemata – abstrakte kognitive Repräsentationen für akzeptable argumentative Verknüpfungen bezeichnen sollen.. 25 Rationales sprachliches Handeln setzt nach Grice die Befolgung des Kooperationsprinzips voraus: Alle Kommunikationsteilnehmer sollten ihre Äußerungen so gestalten, dass sie dem gemeinsam verfolgten Zweck der Kommunikation dienen. Von Gesprächsbeiträgen nehmen wir deshalb auch an, dass sie so informativ sind, wie es der Zweck der Kommunikation verlangt, und nicht informativer als nötig (Maximen der Quantität). Wenn also ein Argumentierender eine Argumentation vorbringt, so können wir voraussetzen, dass sie dem Zweck des Argumentierens gemäß gestaltet ist, also gerade so, dass der Sprecher sie angesichts seiner Adressaten und dem, was er über ihre Überzeugungen von der Welt annimmt, für überzeugend hält. Vgl. Günther Grewendorf, Fritz Hamm und Wolfgang Sternefeld, Sprachliches Wissen (1987), 401ff.
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Die Schlusspräsupposition SP erfüllt im Schema nur eine einzige Funktion: Sie stellt dar, dass, wenn jemand einen Schluss von P auf K äußert, er implizit eine Garantie für die Möglichkeit einer formal gültigen Verknüpfung von P und K gibt. SP vervollständigt die gegebenen Argumentteile zu einer potenziell gültigen Form, und zwar mit den durch die Konklusion zugestandenen Einschränkungen („fast mit Sicherheit“ usf.). Die Verknüpfungsregeln V dagegen gehören in der Regel nicht dem jeweiligen Argument im engeren Sinne an, und sie sind nicht immer im selben Maße der Analyse zugänglich. (Das wird im Schema durch die gestrichelte Verbindungslinie von SP zu V angedeutet.) Verknüpfungsregeln (im Plural) sind wie bei Toulmin allgemeine Aussagen, Regeln, Prinzipien, die, wenn nötig, als Brücken zwischen den Prämissen dienen können. In erster Linie verweisen Verknüpfungsregeln auf die Überzeugungen der Argumentierenden über die Welt. Ein rational Argumentierender, der die Geltung eines bestimmten Schlusses behauptet, behauptet damit auch, dass er gemäß seinen Überzeugungen über die Welt über Verknüpfungsregeln verfügt, die diesen Schluss rechtfertigen. Wenn er seine Argumentation genau so informativ gestaltet, wie zur Erreichung ihres Zieles nötig, so kann ihm auch die Annahme unterstellt werden, dass sein Argumentationspartner den vorgebrachten Schluss für überzeugend halten wird oder könnte. Er setzt also voraus, unterstellt oder hofft, dass der Opponent ebenfalls über geeignete Verknüpfungsregeln verfügt. Erst wenn sich herausstellt, dass die Berechtigung der Verknüpfung in Frage steht, muss die Verknüpfungsregel expliziert, das heißt, eine neue dieser Verknüpfungsregel korrespondierende Prämisse formuliert und gegebenenfalls in einem neuen Argument begründet werden. Sollte eine solche als Brücke dienende allgemeine Behauptung bereits Teil der ursprünglichen Argumentation sein, so tritt sie im Schema als weitere Prämisse auf. Das Schema enthält mehrere Prämissen P1, P2...Pn, um nicht nur solche Argumente abzudecken, bei denen nur eine einzige Prämisse und die Konklusion gegeben sind26. Dass dabei der Unterschied ––––––––––––– 26 So können z. B. auch Fälle wie das Beispiel bei Toulmin 108 behandelt werden, in dem zwei Prämissen gegeben sind, von denen eine als „universelle“ Oberprämisse erscheint. Dabei scheint P2 Der berichtete Anteil von römisch-katholischen Schweden ist gleich null die Verknüpfung von P1 Peterson ist Schwede zur Konklusion K Deshalb ist Peterson mit Sicherheit nicht römisch-katholisch zu leisten. P2 gibt aber explizit eine spezifische Information und ist weder Schlusspräsupposition noch Verknüpfungsregel, sondern eben Prämisse. Die tatsächliche Schlusspräsupposition kann in solchen Fällen nur enthalten, dass ich aus der Wahrheit der Ober- und der Unterprämisse auf die Wahrheit
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zwischen Aussagen über Individuen und Aussagen über Klassen von Individuen („Oberprämissen“) verschleiert wird, ist m. E. zu verschmerzen. Mein Schema soll nicht zu Analysezwecken dienen, sondern helfen, den Bereich des Überzeugenden zu charakterisieren, d. h. Regeln für überzeugende nicht-analytische Verknüpfungen anzusprechen. Ich werde deshalb im Folgenden, trotz der damit verbundenen Unschärfe, insbesondere propositionale Inhalte, die Brückenfunktion zwischen Aussagen übernehmen können, als „Verknüpfungsregeln“ ansprechen. Verknüpfungsregeln sind in erster Linie Bestandteil unserer Überzeugungen über die Welt, vorausgesetzte allgemeine Regeln, Prinzipien, Annahmen, einschließlich ganz unreflektierter Verknüpfungsgewohnheiten. Als solche materialen Inhalte können unsere „Verknüpfungsregeln“ in gegebenen Argumentationen auch als Prämissen erscheinen; in diesem Fall kommen als Verknüpfungsregel im Schema nur abstraktere Aussagen über die Berechtigung eines Schlusses zum Beispiel aufgrund formaler Schlussprinzipien in Frage. Formale Schlussregeln wie den Modus ponens betrachte ich in diesem Zusammenhang als argumentative Schemata, die (analog zu narrativen Schemata) formale Strukturen für vollständige Schlüsse (akzeptable Aussagenverknüpfungen) mit Variablen für argumentative Elemente (Aussagen) bezeichnen. Dass Argumentierende über Verknüpfungsregeln verfügen, muss nicht heißen, dass sie diese Regeln auch formulieren können. Es heißt zunächst nur, dass sie bestimmte Aussagen als Argumente für bestimmte Behauptungen akzeptieren können – sei es nun, weil ihnen eine explizite Regelformulierung bereits zur Verfügung steht, sei es, weil sie das Anwenden einer (nicht eigens formulierten) Regel erlernt haben, sei es aufgrund von kaum reflektierten Vorurteilen oder auch aufgrund der überbrückenden Kraft einer konzeptuellen Metapher (siehe S. 350). Wenn es aber gilt, Argumente intersubjektiv nachvollziehbar zu rechtfertigen, dann müssen die verwendeten Verknüpfungsregeln explizit gemacht werden können. Beim Argumentieren finden oft auch sehr grundsätzliche Verknüpfungsregeln Anwendung, die zwar prinzipiell anzweifelbar sind, aber im Allgemeinen von allen Gesprächsteilnehmern akzeptiert werden. Es ist aber zumindest möglich, sie anzuzweifeln; auch sie verstehen sich nicht von selbst. (Auch das scheinbar Selbstverständlichste ––––––––––––– der Konklusion schließen darf (mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit entsprechend dem Status von P2 als statistische Erhebung). Die dafür verwendete Verknüpfungsregel V wiederum könnte beinhalten, dass es uns normalerweise gerechtfertigt scheint, aus entsprechenden statistischen Häufigkeiten auf Einzelfälle zu schließen.
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kann unter Umständen sinnvoll in Frage gestellt werden, und die Schlussregelbildung durch Generalisierung oder Induktion27 kann gleichermaßen zur „Weisheit“ wie zur Voreingenommenheit führen.) Bestimmte grundlegende Verknüpfungsregeln, z. B. theoretische Paradigmen, religiöse und ethische Überzeugungen usw., können für die Kohärenz eines Überzeugungssystems von erheblicher Bedeutung sein. Werden solche Verknüpfungsregeln gegen alle Erwartung plötzlich angezweifelt, werden wir daher ein großes Interesse daran haben, sie erfolgreich zu rechtfertigen. Es steht dann weit mehr auf dem Spiel als die Gültigkeit einer Argumentation: Sollte die Rechtfertigung misslingen, bedroht der Zweifel jede einzelne darauf aufbauende Überzeugung, womöglich unser ganzes „Weltbild“. Die Frage, was passiert, wenn sehr grundsätzliche Verknüpfungsregeln in Frage gestellt werden, spielt, wie wir gesehen haben, auch bei Hiob eine zentrale Rolle. Man könnte hier in Anlehnung an Toulmins Unterscheidung von schlussregelverwendenden und schlussregelbegründenden Argumenten (Anm. 27) von einer verknüpfungsregelzerstörenden Argumentation sprechen. Im Hiobbuch stehen mit dem Vergeltungsdogma und dem Glauben an die verlässliche Gerechtigkeit JHWHs sehr grundlegende Verknüpfungsregeln zur Disposition, von deren Rechtfertigung nicht weniger abhängt als die Kohärenz der weisheitlich geordneten Welt, die Hiobs Welt war und die seiner Freunde noch ist. c) Argumentative Programme Problemverhandlungen umfassen nach unserer Definition nur solche Fälle, wo verschiedene konkurrierende Problemlösungsalternativen bewertet werden. In narrativen Problemverhandlungen erscheinen diese Problemlösungsalternativen als entgegengesetzte narrative Programme, von denen eines auf Kosten seiner Konkurrenten aktualisiert werden kann. Ich werde deshalb im Folgenden argumentierend vorgebrachte Problemlösungsalternativen als argumentative Programme bezeichnen. ––––––––––––– 27 Toulmin unterscheidet zwei Typen oder Klassen der Argumentation, schlussregelverwendende und -begründende Argumentationen (warrant-using und warrantestablishing arguments), ohne allerdings auch auf letztere erschöpfend einzugehen. Bezogen auf die Praxis fasst Toulmin schlussregel-verwendende Argumentationen als „Deduktion“ auf – ausdrücklich ohne damit die Konnotation von „analytisch“ zu verbinden (vgl. 109f. u. 132), schlussregel-begründende Argumentationen dagegen als „Induktion“ (110).
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So wie narrative Programme auf ein Objekt, sind argumentative Programme auf den Geltungsanspruch einer Behauptung (Konklusion) gerichtet. Ähnlich wie narrative Programme können argumentative Programme virtuell bleiben oder aktualisiert werden: Eine Behauptung K, zu deren Begründung tatsächlich argumentiert wird, konstituiert ein aktualisiertes argumentatives Programm P. Argumentative Programme besitzen deshalb entsprechend unserem obigen Schema (1) die elementare Struktur Prämissen – (Verknüpfungsregeln) – Konklusion28. Da derjenige, der K behauptet, gleichzeitig die Geltung der Negation von K (also ¬K) bestreitet, wird damit auch ein virtuelles argumentatives Programm ¬P konstituiert, das aber nur dann ebenfalls aktualisiert wird, wenn jemand der Behauptung von K widerspricht und dafür seinerseits Argumente anführt. In verschachtelten Argumentationen, in denen etwa die Konklusion eines Arguments zur Prämisse des nächsten Arguments wird, sind entsprechend mehrere aktualisierte argumentative Programme identifizierbar (so viele, wie es explizite Konklusionen gibt), die ebenso wie die Konklusionen auf verschiedenen hierarchischen Ebenen stehen. Das übergeordnete argumentative Programm wird durch die Begründung der obersten Konklusion (der Konklusion des letzten in der Kette der Argumente) konstituiert. Die Regeln für überzeugende Verknüpfungen argumentativer Sätze (bereichsabhängige Verfügbarkeitsbedingungen von Verknüpfungsregeln) gelten für jedes einzelne argumentative Programm. Wenn in einer übergeordneten Argumentation bestimmte Argumente bloß zitiert werden, etwa um sie zu bewerten oder zu widerlegen – das heißt, wenn kein Geltungsanspruch bezüglich ihrer jeweiligen Konklusionen erhoben wird – bleiben die entsprechenden argumentativen Programme „virtuell“. Erst wenn darin ein solches untergeordnetes argumentatives Programm als korrekt bestätigt und daraus folgend die Wahrheit seiner Konklusion behauptet wird, wird es aktualisiert 29. Der Ausgangszustand eines argumentativ lösbaren Problems soll gekennzeichnet sein durch eine unerwünschte und nicht ohne Weiteres (etwa durch Nachschlagen) zu beseitigende Ungewissheit über die Geltung einer ––––––––––––– 28 Siehe oben S. 342. Die formal geforderte Schlusspräsupposition lasse ich der Einfachheit halber weg, weil sie nicht inhaltlich gefüllt werden muss. Die Verknüpfungsregeln stehen in Klammern, weil sie vorausgesetzt, aber nicht notwendig expliziert werden müssen. 29 Entsprechend könnten wir die direkte Widerlegung eines (zuvor aktualisierten) argumentativen Programms in der Debatte – analog zu Greimas’ Sprachgebrauch bezüglich der Disjunktion narrativer Subjekte und Objekte – auch als Virtualisierung bezeichnen.
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Behauptung (K vs. ¬K). Ein entsprechendes argumentatives Programm als Problemlösungsvorschlag ist auf die Begründung oder Zurückweisung dieser umstrittenen Behauptung gerichtet. „Behauptung“ steht dabei nicht nur für einzelne Sätze, sondern kann auch komplexe Satzsysteme bis hin zu ganzen Theorien umfassen, deren Gültigkeit oder Annehmbarkeit behauptet wird. Eine argumentative Verhandlung eines Problems liegt dann vor, wenn mehrere alternative Problemlösungsvorschläge – ursprünglich aktualisierte argumentative Programme – zur Begründung oder Zurückweisung der problematischen Behauptung bewertet, bestätigt oder verworfen werden. Ein einzelner Text, der ein einziges argumentatives Programm aktualisiert, kann deshalb für sich genommen nicht als Problemverhandlung angesehen werden, auch wenn er oft Teil einer solchen sein wird. Texte dieser Art sind in unserem Kontext also nur im Zusammenhang einer übergeordneten Problemverhandlung interessant, der sie sich eindeutig zuordnen lassen. Für uns insbesondere relevant sind dagegen argumentierende Texte, die im Rahmen eines übergeordneten argumentativen Programms verschiedene untergeordnete Programme bewerten, wenn etwa bei der Begründung einer umstrittenen Behauptung auch die Gegenargumente dargestellt und zu entkräften versucht werden. Wenn in Bezug auf Argumentationen von alternativen Problemlösungsvorschlägen die Rede ist, ist damit noch nichts darüber gesagt, ob diese Alternativen einander ausschließen oder nicht doch miteinander vermittelt werden können. (Auf viele Fragen kann es ja mehrere voneinander verschiedene, aber jeweils „richtige“, das heißt nach bestimmten Kriterien akzeptable Antworten geben, die man kombinieren oder auch einfach „nebeneinander stehen lassen“ kann). Für unser Thema besonders interessant sind aber solche Problemverhandlungen, bei denen es (analog zur „polemischen“ Beziehung in der narrativen Struktur) um entgegengesetzte, d. h. einander ausschließende Programme geht, von denen nicht mehrere argumentative Programme gleichzeitig bestätigt werden können (zum Beispiel eine Behauptung und ihre Negation). Sowohl das Hiobproblem (der Dialogdichtung) als auch das sogenannte Theodizeeproblem sind wesentlich von dieser Art: Hier treffen jeweils unversöhnliche Standpunkte aufeinander, die nicht ohne weiteres vermittelt werden können30. ––––––––––––– 30 Diese Unmöglichkeit einer „Vermittlung“ ist aber, wie auch Teil D demonstrieren wird, nicht eine Frage der Logik, sondern eben eine Frage der Überzeugungskraft und Akzeptabilität. Leibniz’ System der göttlichen Wahl des Besten vermittelt in durchaus konsi-
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In diesen Fällen ist (genau wie in der narrativen „polemischen“ Beziehung) eine Entscheidung fällig: Wenn sich gegebene Problemlösungsvorschläge gegenseitig ausschließen, dann kann höchstens einer von ihnen bestätigt werden. Eine übergeordnete Instanz muss ein Urteil zugunsten eines argumentativen Programms fällen oder alle Alternativen zusammen zurückweisen. Voraussetzung dafür ist eine Beurteilung von Argumentationen auf höherer Ebene, die quasi in der Adressatenrolle untergeordneter argumentativer Programme deren Regelverwendungen nachvollzieht. In den Termini des Problemlösens ausgedrückt: Ein argumentativer Problemlösungsversuch – die Aktualisierung eines argumentativen Programms – findet innerhalb des originären Problemraums des zu lösenden Problems statt, bestehend aus der problematischen Ausgangssituation, explizierbar als eine offenbare Inkonsistenz von Propositionen, sowie als verfügbar vorausgesetzten bereichsabhängigen Verknüpfungsregeln: argumentativen Schemata, Überzeugungen über die Welt, unreflektierten Vor-Urteile bis hin zu konzeptuellen Metaphern (mehr dazu in Kürze). Wird ein solcher einfacher argumentativer Problemlösungsversuch auf seine Überzeugungskraft und Akzeptabilität beurteilt, so wird zunächst über die tatsächliche Verfügbarkeit der vom ihm vorausgesetzten (bereichsabhängigen) Verknüpfungsregeln entschieden, d. h. es wird geprüft, ob die zur Verknüpfung von Prämissen und Konklusion notwendigen Transformationen tatsächlich Bestandteil des originären Problemraums sind. Fällt diese Prüfung positiv aus, kann der Problemlösungsversuch als gültig angesehen werden, das argumentative Programm wird bestätigt. Das kann durch den Kommunikationspartner geschehen, aber auch in einer Argumentation höheren Grades, die verschiedene Problemlösungsvorschläge – mehrere argumentative Programme – vergleichend beurteilt. Eine solche Argumentation höheren Grades muss sich ebenfalls auf argumentative Verknüpfungsregeln berufen können. Für Texte, die im Rahmen eines übergeordneten argumentativen Programms entgegengesetzte untergeordnete Programme bewerten, können zusätzlich zu den von den einzelnen untergeordneten Programmen vorausgesetzten Verknüpfungsregeln dafür Regeln höheren Grades in Anwendung kommen: übergeordnete intersubjektiv akzeptierte und möglichst explizierbare Regeln für die Beurteilung von Verknüpfungen (wie sie etwa in Argumentationstheorie oder Wissenschaftstheorie formuliert werden), die ihrerseits als ––––––––––––– stenter Weise den Gottesbegriff und die Existenz des Übels, wird aber angesichts von Katastrophen wie dem Erdbeben von Lissabon für viele schlicht inakzeptabel.
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Verknüpfungsregeln oder explizite Prämissen des übergeordneten Programms erscheinen. Auch diese Regeln höheren Grades sind aber als allgemein akzeptierte Regeln des Argumentierens und der Beurteilung von Argumentationen noch als Bestandteile des originären Problemraums der argumentativen Problemverhandlung anzusehen. Wenn allerdings die entgegengesetzten argumentativen Programme innerhalb ihrer Voraussetzungen jeweils korrekt und schlüssig argumentieren und selbst angesichts eventueller übergeordneter Beurteilungsregeln für Argumentationen einander ebenbürtig erscheinen, also nicht ohne Weiteres eines dem anderen vorgezogen werden kann – wie zum Beispiel in den erzählten Argumentationen im Hiobbuch – dann ist jener Zustand der Blockade und des Stillstands gegeben, den wir mit Turner Stasis genannt hatten. In diesem Fall aber bekommt das Urteil der höheren Instanz einen besonderen Charakter: Sollte es sich nicht auf akzeptierte Regeln argumentativen Urteilens stützen können, muss es sich anders legitimieren. Der originäre Problemraum muss erweitert werden. Neue Regeln für die überzeugende Darstellung des Urteils werden gebraucht. Wenn die Transformationsregeln des originären Problemraums nicht hinreichen, um eine Entscheidung zugunsten einer Problemlösungsalternative (eines argumentativen Programms) überzeugend zu begründen, ist eine Erweiterung des Problemraums nötig, die unter Umständen die Grenzen rationalen Argumentierens sprengt und Regeln einbezieht, die (wenn sie reflektiert werden) nicht mehr uneingeschränkt konsensfähig sind, Regeln einer „sophistischen“ Rhetorik etwa oder auch Regeln, die eigentlich in narrativen Problemverhandlungen ihren Platz haben. JHWHs Urteil im Hiobbuch argumentiert nicht, sondern demonstriert Macht – und wird von vielen ausdrücklich als Willkür zurückgewiesen. Ein anderer Fall argumentativer Stasis, den ich in Teil D untersuchen werde, nämlich Kants „Antinomie der praktischen Vernunft“, kann nur durch „Ermächtigung“ der praktischen Vernunft gegenüber der theoretischen aufgelöst werden, und auch Kants Auflösung des TheodizeeDilemmas kommt durch einen „Machtspruch“ der Vernunft zustande, die sich (mit ausdrücklicher Berufung auf Hiob) zur göttlichen Stimme erklärt. Dieses in gewissem Sinne willkürliche (oder aus einer bestimmten Perspektive willkürlich erscheinende) Urteil hat viel mit der „willkürlichen Wahl“ gemeinsam, als die wir mit Greimas das narrative Urteil gekennzeichnet haben (vgl. oben S. 252). Deshalb kommen in den gerade genannten Beispielen zur überzeugenden Darstellung des Urteils auch narrative Strategien zur Anwendung. Hier wird, wie es scheint, der ursprüng-
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liche Problemraum der Argumentation durch Regeln narrativer Problemverhandlung erweitert. Wenn es schwierig wird, für ein argumentatives Urteil allgemein akzeptierte Verknüpfungsregeln anzuführen oder vorauszusetzen, dann ist es naheliegend, für diese Verlegenheit „Rhetorik“ einspringen zu lassen, Strategien also, die helfen, die Verknüpfung von Prämissen und Urteil dennoch überzeugend erscheinen zu lassen. Zu diesen Strategien gehört auch die Verwendung narrativer Strukturen, die ja etwa als narratio und exemplum schon immer zu den rhetorischen Techniken gehörte. Unser alltäglicher Umgang mit narrativen Strukturen, mit exemplarischen Erzählungen, „willkürlichen“ narrativen Urteilen und narrativer Kontingenzverschleierung befördert auch die Akzeptanz argumentativer Urteile, die sich narrativer Strategien bedienen. 4. Argumentation und Rhetorik a) Metaphern und Topoi als Verknüpfungsregeln Verfügbare Verknüpfungsregeln, oder allgemeiner uns einsichtig scheinende Zusammenhange zwischen Überzeugungsinhalten, bestimmen die Plausibilität und persuasive Kraft von Argumentationen. Verknüpfungsregeln verweisen auf unsere Überzeugungen und Meinungen über die Welt, die endoxa, die bereits in Aristoteles’ Überlegungen zum Argumentieren eine zentrale Rolle spielten. Bei Aristoteles bauen Rhetorik wie Dialektik auf einer Topik auf, die das systematische Aufsuchen überzeugender Verknüpfungen zum Inhalt hat. Andere wirksame Verknüpfungsmöglichkeiten entstammen dem Bereich konzeptueller Metaphern, wie sie auch Turners kognitive Rhetorik untersucht. Turner stützt sich v. a. auf Arbeiten von Lakoff u. Johnson (vgl. Anm. 73 auf S. 293) – dieselben Arbeiten, auf die auch Pielenz Bezug nimmt, wenn er seine Theorie entwickelt, dass wir „auf Geheiß konzeptueller Metaphern argumentieren“31. Verknüpfungsregeln können demnach nicht nur von Überzeugungen im engeren Sinne geliefert werden, sondern auch von konzeptuellen Metaphern, die Pielenz als „Bündel von Schlußregeln“ mit rechtfertigender Funktion (Pielenz 105f.) ansieht. Die (auch unbewusste) Verwendung und Akzeptanz einer konzeptuellen Metapher wie z. B. „Sexualität als Naturgewalt“ oder als „physikalische Kraft“, die sich in Formulierungen äußert ––––––––––––– 31 Michael Pielenz, Argumentation und Metapher (1993), 11.
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wie z. B. „er ist umwerfend“, „sie war überwältigend schön“, „ich finde ihn anziehend“, „sie sendet erotische Impulse aus“ o. ä., schließe auch die Akzeptanz (ja sogar das „Erheben eines Geltungsanspruchs“, Pielenz 108) von Implikationen ein wie etwa Wenn Sexualität eine Naturgewalt ist, dann (I) läuft eine physikalische ... Reaktion ab. (II) wird man zur Handlung gezwungen. (III) reagiert man. (IV) muß man das Geschehen hinnehmen. (V) ist man machtlos und erliegt dem Kraftfeld. (VI) ist diejenige Person, von der die Kraft ausgeht, dafür verantwortlich. etc. (Pielenz 143f.)
Nun ist es zwar nicht ganz korrekt, hier immer von Implikationen zu reden – (VI) etwa wird von der Metapher „Sexualität als Naturgewalt“ keineswegs in irgendeiner Weise „impliziert“. Auch den „Geltungsanspruch“ würde ich stark einschränken wollen, da man, selbst wenn man bewusst eine konzeptuelle Metapher nutzt, ihre „Implikationen“ nicht notwendig überschaut (insbesondere wenn dieser Begriff so lose verwendet wird wie hier). Aber dennoch werden, wie Pielenz an seinen Beispielen zeigt, auch die impliziten Verknüpfungen, die von konzeptuellen Metaphern angeboten werden, in Argumentationen zur Rechtfertigung von Schlüssen verwendet 32. Die Verwurzelung der Verknüpfungsregeln in den endoxa legt nahe, dass solche für das Argumentieren relevanten konzeptuellen Verknüpfungen weit über das Metaphorische hinausgehen. Wie Pielenz in seiner als „anregende Skizze“ verstandenen Weiterführung seines Ansatzes andeutet, sind nicht nur konzeptuelle Metaphern als Fundus von Schlussprinzipien anzusehen, sondern viel umfassender so etwas wie kognitive Schemata, „kulturelle Modelle“, die als „explanative Systeme“ dienen können33. Wenn wir also von „Überzeugungen über die Welt“ sprechen, so ist ––––––––––––– 32 Im von Pielenz analysierten Beispieltext (Pielenz 142f.) versucht ein Bibliothekar aus San Franciso es zu rechtfertigen bzw zu erklären, dass in ihm, wenn eine Frau ihn sexuell anzieht bzw. „Schwingungen aussendet“ (if she’s ... giving off very feminine, sexy vibes) der Wunsch aufkommt, sie zu vergewaltigen. Entsprechend der konzeptuellen Metapher „Sexualität als Naturgewalt“ entwirft er sich selbst nicht primär als Agierender, sondern als passiv, als sowohl der Wirkung der Frau als auch seinen eigenen Gefühlen ausgeliefert. 33 Neben „kulturellen Modellen“ verweist Pielenz auch auf „Mentalitäten“; vgl. Pielenz 161-170. Letztlich bezieht Pielenz das, was seiner Meinung nach Argumentationen strukturiert und Verknüpfungen ermöglicht, auf unser begriffliches Netz im Ganzen.
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damit offensichtlich mehr gemeint als die Menge der Sätze über die Welt, die wir für wahr halten. Es ist vor allem die innere Organisation dieser Menge von Sätzen, die Ordnung und Struktur unserer Weltrepräsentationen – etwa die schematischen, kategorischen oder metaphorischen Beziehungen und Verknüpfungen ihrer Elemente – die auch dem Schließen in Argumentationen zugrunde liegt. Argumentation ist nicht von „Rhetorik“ zu trennen. Schon die klassische Rhetorik hat sich, wie bereits mehrfach angesprochen, ausführlich mit Denkstrukturen, Metaphern und unseren Überzeugungen über die Welt beschäftigt, um ihrerseits Strategien für überzeugende Argumentationen aufzufinden. Argumentation ist Problemverhandlung, und Rhetorik schon bei Aristoteles eine „problemorientierte Wissenschaft“, deren „Themen strittig und unentschieden, nicht nur mit logischer Deduktion ..., sondern mit plausiblen Argumenten zu entscheiden“ sind (Ueding 31). Aufgabe der Rhetorik ist nach Aristoteles nicht, „zu überreden, sondern zu untersuchen, was an jeder Sache Glaubwürdiges vorhanden sei“ (Aristot. Rhet. I.1.14, 1355b, S. 11). Trotz der Platonischen Kritik an den Sophisten ist Rhetorik nicht (nur) eine Kunst, Unwahres wahr scheinen zu lassen, sondern zielt auf praktisches Handeln in der Welt. Rhetorik, als eine Weise des Zugangs zum Wahrscheinlichen als dem praktisch Relevanten, ist ein Mittel zur aktiven Gestaltung von Wirklichkeit durch Herbeiführung von Entscheidungen34. „Die Rhetorik“, so Aristoteles, „stelle also das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen.“ (Aristot. Rhet. I.2.1, 1355b, S. 12) Ihre Basis ist das, was einleuchtet (vgl. Rhet. I.2.11). Rhetorik ist für Aristoteles das „korrespondierende Gegenstück zur Dialektik“ (Rhet I.1.1, 1354a, S. 7), und auch die Rhetorik nutzt die dialektische Kunst des Schließens, die Aristoteles in seiner Topik ausführlich behandelt. Als Arten dialektischer Begründung unterscheidet ––––––––––––– Schon bei seiner Darstellung konzeptueller Metaphern sieht er „das eigentliche metaphorische Potential in der grundlegenden Fähigkeit, alles, i. e. jeden Begriff, metaphorisieren zu können“ und betont das Faktum „unbegrenzter Metaphorisierung“ (134). 34 Ueding u. Steinbrink wollen deshalb die Rhetorik in den Rang einer praktischen Philosophie erheben: „Insofern die Rhetorik zu wahrscheinlichen Begründungen fähig macht, weil in ihr Urteile und Entscheidungen durch Konsens ihre Geltung erlangen, also plausibel werden, vermittelt sie in Handlungssituationen vernünftige Orientierung: sie ist die einzige praktische Philosophie, die weder vor der Unendlichkeit der Faktoren kapituliert, indem sie sie nach einem abstrakt-utopischen Konzept zu regulieren versucht, noch am Problem der Vermittlung scheitert, die ihren Praxisbegriff überhaupt konstituiert“ (Ueding u. Steinbrink 172).
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Aristoteles die Induktion als Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine und den Syllogismus als Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere. In der Rhetorik korrespondiert der Induktion das Beispiel (als Bericht über Vergangenes, Fabel oder Gleichnis) und dem Syllogismus das Enthymem (vgl. v. a. Rhet. II.20, 1393a – 1394a, S. 133-136). Das „rhetorische Schlußverfahren“ oder Enthymem, ein Wahrscheinlichkeitsschluss, ist „das bedeutendste unter den Überzeugungsmitteln“ (Rhet. I.1.11, 1355a, S. 10) und Kernstück der rhetorischen Argumentation. Sein Material ist „einesteils das Notwendige andernteils aber – und zwar in der Mehrzahl der Fälle – das ..., was sich meistens so verhält; denn die rhetorischen Schlüsse (Enthymeme) [[werden gebildet]] aus der Wahrscheinlichkeit und den Indizien ...“ (Rhet. I.2.14, 1357a, S. 17). Auch wenn für Toulmin bei Aristoteles gewissermaßen das Verhängnis seinen Anfang nahm – als das „Verlangen, Logik in eine mathematische Form zu bringen“ und die Überzeugung, das beweisende Schließen als episteme, „deduktive theoretische Wissenschaft“ darstellen zu können (Toulmin 157) – die Nähe des Toulminschen Ansatzes zu Aristoteles (freilich dem der Topik und nicht der Analytiken) ist offensichtlich. Toulmin selbst bezeichnet das im Rückblick als „schlafwandlerische Wiederentdeckung“: ... by the time I wrote The uses of argument, in the mid-1950s, then, logic had become completely identified with the ‘analytics’, and Aristotle’s Topics was totally forgotten: so much so that, when I wrote the book, nobody realized that it bore the same relation to the Topics that Russell and Frege’s work bore to the traditional ‘analytic’ and ‘syllogistic’. Only in retrospect it is apparent that – even though sleep-walkingly – I had 35 rediscovered the topics of the Topics.
Es ist also nicht überraschend, dass sich zahlreiche Parallelen ziehen lassen. So ist Toulmins Argumentation mit implizierter Schlussregel dem Enthymem vergleichbar. Bei Aristoteles ist das Enthymem ein verkürzter Syllogismus, der sich vom vollständigen Syllogismus („erster Art“) eben durch Implizitbleiben der (nur präsupponierten) Schlussregel unterscheidet: „Ferner müssen sie [die Enthymeme] aus wenigen und oft kürzeren Prämissen als aus denen des Syllogismus erster Art bestehen. Wenn nämlich etwas davon ein allgemein Bekanntes ist, so braucht man es gar nicht erst auszusprechen; der Zuhörer fügt es nämlich selbst hinzu“ (Aristot. ––––––––––––– 35 Stephen E. Toulmin, “Logic and the Criticism of Argument”, in: J. Golden, G. Bergquist, W. Coleman (Hg.), The Rhetoric of Western Thought, Dubuque, Iowa 1987, S. 391-401, 395; zit. Pielenz 54f., Anm. 110.
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Rhet. I.2.13, 1357a, S. 16f.). Die Enthymeme erhalten den Vorzug vor dialektischen Schlüssen im Interesse wirksamer Rede: weder soll die Argumentation „undeutlich“ sein und die Schlüsse allzu langwierig und komplex ausfallen, noch soll man „geschwätzig“ ausbreiten, was ohnehin bekannt ist (vgl. Rhet. II.22.3, 1395b, S. 141). Es ist grundsätzlich stets möglich, aus einem Enthymem einen vollständigen dialektischen Schluss zu erzeugen, indem man auf das allgemein Bekannte rekurriert. Die Verknüpfung des Vorgebrachten – das wiederholt Aristoteles auch im Zusammenhang der Enthymembildung – „muß einleuchtend sein – entweder für alle oder für die meisten“, und die Argumente sollen „nicht nur aus dem Notwendigen“ zusammengebracht werden, „sondern auch aus dem, wie es für gewöhnlich ist“ (Aristot. Rhet. II.22.3, 1396a, S. 141). Voraussetzung für erfolgreiches Argumentieren zu einem Thema ist daher „ein vollständiges oder ein teilweises Wissen dessen, was dazu gehört“ (Rhet II.22.4, 1396a, S. 141). Wie aber soll aus der Fülle dieses Wissens das für den Einzelfall geeignete Material ausgewählt werden? Hier setzt der Begriff des Topos an. Überzeugendes Reden, so Aristoteles, kann sich zwar auch auf „spezifische Gesichtspunkte“ einer Disziplin stützen, ihn aber interessieren vielmehr dialektische und rhetorische Schlüsse im Hinblick auf das ..., was wir Topoi nennen – diese sind nämlich die allgemeinen Gesichtspunkte in bezug auf Recht, Natur, Politik und vieles andere verschiedener Art, wie beispielsweise der Topos des Mehr und Weniger, denn man wird hieraus eben sowohl einen dialektischen wie einen rhetorischen Schluß über Recht oder Natur oder über was auch immer bilden, obwohl diese Gegenstände ihrer Art nach verschieden sind ... (Aristot. Rhet. I.2.21, 1358a, S. 19)
Es sind diese allgemeinen Topoi, die uns helfen, aus der Menge des allgemein Akzeptierten geeignete Argumente für unsere Schlüsse zu gewinnen. Das topische Verfahren steht bei Aristoteles im Zentrum des Argumentierens (vgl. Rhet II.22.12, 1396b, S. 143). Topoi bestimmen Auswahl und Charakter der Prämissen36 und weisen den Weg zu den möglichen Verknüpfungen von Prämissen und Behauptungen. Können wir also durch eine Betrachtung der Topoi einen Zugang zu den beim Argumentieren verwendeten Verknüpfungsregeln und damit zur „Welt im Kopf“ der Argumentierenden gewinnen? Von den Formulierungen bei Aristoteles wird diese Annahme nahegelegt, und zahlreiche Autoren sind in der Tat der Meinung, dass schon der aristotelische Topos-Begriff auf „Argumentationsrezepte“ oder „Argumentationsschemata“ abzielt und sowohl den ––––––––––––– 36 Franz G. Sieveke in Aristoteles, Rhetorik, Anm. 99, S. 259.
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„selektiv-geographischen Charakter des Topos als Suchformel“ als auch seine „übergangssichernde Funktion“ (also verknüpfende Funktion) umfasst37. Nach Ueding u. Steinbrink (S.235) hat eine „einfache rhetorischtopische Argumentation“ folgende Struktur: Argument
— | topos
Konsequenz
Die Ähnlichkeit dieser Struktur zu unserem Argumentationsschema als elementarer Struktur des Argumentierens (argumentatives Programm) ist offenkundig. Aus dem Argument als Prämisse kann eine Folgerung gezogen werden, die „ihre Überzeugungskraft entweder direkt aus einem topos oder aus einer topisch abgesicherten Voraussetzung bezieht“ (Ueding u. Steinbrink 236). Topoi können also offenbar sowohl als Verknüpfungsregel als auch als Anweisung zur Identifikation von Verknüpfungsregeln angesprochen werden, welche wiederum zur Auffindung passender Argumente dienen 38. Der Topos scheint damit auf den Kern argumentativer Strukturen zu zielen. Das, worauf die Topoi verweisen, also kulturell vermittelte Muster und Schemata der Weltrepräsentation, validiert die überzeugende Verknüpfung von Prämissen und Behauptungen. „Auf was wir hier stoßen, sind die topischen Strukturen der Wirklichkeit, einer ––––––––––––– 37 Pielenz 37. Pielenz ist wie De Pater der Meinung, dass sich Topoi „als Suchformel wie auch als Schlußregel interpretieren“ lassen; er zitiert De Pater in Les Topiques d’Aristotle (1968): „Le lieu est à la fois une formule de recherche et une formule probative.“ (ebd.) Zur Rolle des Topos als Schlussregel vgl. auch Pielenz S. 38 (dort auch weitere Literatur zu Topoi in der modernen Argumentationstheorie) und S. 53; zur „argumentationsstabilisierenden Rechtfertigungsdimension“ von Topoi S. 119-132. 38 Es ist allerdings anzumerken, dass schon bei Aristoteles der Topos-Begriff alles andere als klar definiert ist und verschiedene Bedeutungen umfasst, die seinen unterschiedlichen Funktionsweisen entsprechen (vgl. Ueding u. Steinbrink 234f.). Über die weitere Entwicklung der Topik in der lateinischen Rhetorik bis hin zu den verschiedenen modernen Verwendungen des Topos-Begriffs wächst diese Unschärfe: „Was im einzelnen ein ‚Gesichtspunkt‘, ein ‚Klischee‘, ein ‚Argument‘, ein ‚historischer Topos‘, ein ‚dichtungstheoretischer Topos‘, ein ‚festes Denk- oder Ausdrucksschema‘, ein ‚Denkmuster‘, eine ‚Denkform‘, ein ‚gefundener Gedanke‘, ein ‚kultureller Gemeinbesitz‘, ein ‚Vorstellungsmodell‘ oder ein ‚Strukturmodell gesellschaftlicher Kommunikation‘ sei, hierüber scheint Einigkeit nicht zu bestehen, vielmehr der Satz von den vielen Köpfen und den vielen Meinungen zu gelten“ (Breuer u. Schanze: „Topik: Ein interdisziplinäres Problem“, 9).
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Wirklichkeit, die ja primär nicht kategorial geordnet, sondern individuell oder kollektiv bewältigt sein will.“ (Wiedemann 248) b) Örter und Wege: Kognitive Topographie Konzeptuelle Metaphern, kognitive Schemata, „kulturelle Modelle“ oder die Topoi der Rhetorik sind als Quellen für Verknüpfungsregeln angesprochen worden. Dazu gehören auch etablierte argumentative Schemata, insbesondere die Schlussregeln im engeren Sinne (wie der modus ponens u. a.) und ihre Derivate. Aus dieser Vielzahl der Quellen für Verknüpfungsregeln kann man die (wiederum metaphorische) Vorstellung einer Topographie unserer Weltrepräsentationen gewinnen, einer begrifflichen Kartierung der Landschaft, die wir als repräsentierte „Welt“ bezeichnet haben und deren propositionaler Anteil uns im Zusammenhang mit Texten interessiert. Um Verknüpfungen zwischen argumentativen Aussagen über die Welt zu bilden, bewegen wir uns entlang der Wege, die auf dieser begrifflichen Karte zwischen den Örtern, welche Begriffen und Propositionen entsprechen, eingezeichnet sind. Diese Wege verlaufen entlang konventioneller Verbindungen von Begriffen und Begriffsfeldern, die als Metaphern, Schemata, Topoi etc. greifbar werden und auch mögliche argumentative Problemverhandlungen vorzeichnen. Diese metaphorisch-räumliche Vorstellung von einer Topographie unserer Weltrepräsentationen kann an der rhetorischen Topik bei Aristoteles illustriert werden. Als Werkzeug für die Suche nach dem Einleuchtenden und Wahrscheinlichen bietet Aristoteles eine systematische Methodik und Sammlung allgemeiner Gesichtspunkte an, die zum Aufsuchen von Argumenten und zur Bildung von Enthymemen aus dem verfügbaren Schatz von Wissen und Meinungen dienen sollen. Gegen die verbreitete Abwertung der Rhetorik bezeugt ihre Verbindung zur Topik eine Nähe zu philosophischem Denken, an die heute vielfältig angeknüpft wird – nicht zuletzt in der Argumentationstheorie. Damit einher geht eine Aufwertung der endoxa, der vermeintlich unphilosophischen „Meinungen“ über die Welt, die oft genug das einzige sind, das uns bei der Verhandlung eines praktisch relevanten Problems zur Verfügung steht. Der erste Satz der Topik benennt das Vorhaben: Es soll ein Verfahren gefunden werden, nach dem „wir über jedes aufgestellte Problem aus ενδοξα Schlüsse bilden
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können“ und selbst nicht in Widersprüche geraten39. „Topoi“ nennt Aristoteles die „Orte“, an denen der Redner und der Dialektiker nach den passenden Argumenten für den aktuellen Problemfall suchen sollen. In seiner Rhetorik führt Aristoteles eine Auswahl rhetorisch effizienter Topoi an, die als „Gesichtspunkte der Argumentationsermöglichung“ zum systematischen Erzeugen oder Auffinden von Enthymemen herangezogen werden sollen40. Als „Element“ des Enthymems (Aristot. Rhet II.22.13, 1396b, S. 143) verweisen Topoi auf das, was „allen oder den meisten oder den Klugen“ so erscheint, „und bei diesen (letzteren) wieder entweder allen oder den meisten oder den angesehensten und namhaftesten“ (Aristot. Top. I.1, 100b, S. 3). Diese Bestimmung der endoxa findet sich in ähnlicher Formulierung an zahlreichen Stellen, in der Topik ebenso wie in der Rhetorik 41. Die endoxa bildet den Kernbegriff der Aristotelischen Theorien des dialektischen Schließens wie auch der Beredsamkeit. Die breite Behandlung von „Topoi“ in der Topik zeigt stärker noch als die Erwähnungen in der Rhetorik, dass es die endoxa sind, die nicht nur einfach den Argumentationen zugrunde liegen, sondern uns einen Zugang zu kognitiven Repräsentationen von „Welt“ verschaffen können. Als „Lehre vom Meinungswissen“ (Breuer u. Schanze 9) gibt die Topik dem Dialektiker und dem Rhetoriker auf der Suche nach Problemlösungen bzw. Schlüssen gewissermaßen Navigationsanweisungen, wie in dem von den endoxa aufgespannten konzeptuellen Raum Argumente oder wahrscheinliche Schlüsse aufzusuchen sind. Nicht umsonst dominiert hier die räumliche Metaphorik der „Örter“ und „Wege“: Topik ist das „wegbereitende Verfahren“, und die Topoi die Örter (oder „Gemeinplätze“), an denen die Argumente aufzufinden sind. Dabei „gehen“ die Reden „aus von vorgelegten Fragen; worauf die Schlüsse gehen, das sind die gestellten Aufgaben“, die problema (vgl. Aristot. Top. I.4, 101b, S. 7ff.). Die topisch geleitete Suche nach der Problemlösung bewegt sich entlang derselben Strukturen, die auch dem Aufbau unserer Weltrepräsentationen zugrunde liegen, also etwa entlang begrifflich-kategorialer oder handlungspraktisch-narrativer Verbindungen. Die aristotelischen Topoi aus der Rhetorik spiegeln das deutlich wider. Verschiedenste mögliche ––––––––––––– 39 Aristot. Top. I.1, 100a, S. 3. In diesem Fall bin ich mit Kemper (Kemper 22) von Zekls Übersetzung abgewichen, der „Streitfrage“ für προβλημα und εξ ενδοξων mit „aus einleuchtenden (Annahmen)“ übersetzt. 40 Franz G. Sieveke, Anmerkungen zur Aristoteles, Rhetorik, Anm. 101, S. 260. 41 Siehe etwa Aristot. Rhet. II.23.12, 1398b, S. 149f., zu „maßgeblichen Urteilen“ und Rhet. I.7.21, 1364b, S. 41 zu den Beurteilungen der „Einsichtsvollen“.
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Verbindungen zwischen Begriffen werden auf ihre Eignung als Lieferant für Argumente geprüft. Die meisten dieser möglichen Verbindungen sind uns über sprachliches Wissen, über die Bedeutung der Worte, semantische Relationen und grammatische Indikatoren zugänglich. Die Rhetorik ist ja nicht eine Wissenschaft „von irgendwelchen bestimmten Inhalten“, sondern handelt „von den Worten allein“ (Aristot. Rhet. I.4.4, 1359b, S. 24)42. Zahlreiche Topoi zielen auf sehr allgemeine begrifflichkategoriale Verbindungen: etwa der Topos der Gegensätzlichkeit 43, mit dem Aristoteles seine Aufzählung in der Rhetorik eröffnet (Rhet. II.23.1, 1397a, S. 144f.), die Topoi der Definition, der Mehrdeutigkeit oder der Unterteilung des Genus in seine Species (Rhet. II.23.8-10, 1398a, S. 148). In diese Sparte fällt auch der bekannte Topos des Mehr und Minder: (z. B.: „Wenn sogar die Götter nicht alles wissen, um wieviel weniger die Menschen“; Rhet. II.23.4, 1397b, S. 146). Solche Topoi verweisen auf die Strukturen, nach denen wir innerhalb unserer Weltrepräsentationen unser Wissen und unsere Erfahrungen (an)ordnen können. Kern dieser Ordnungsstrukturen, und Grundlage der topischen Methode, ist für Aristoteles die Definition. Andere Topoi dagegen betreffen sozusagen die Rahmenbedingungen unserer Weltrepräsentationen, z. B. der Topos des Widerspruchs: Gültige Weltbeschreibungen müssen konsistent sein, dürfen also keine einander widersprechenden Aussagen erzeugen, und Widersprüche etwa in den Aussagen des Prozessgegners sind deshalb ein vorzüglicher Angriffspunkt (Rhet. II.23.23, 1400a, S. 154). Auch die Kategorien von Raum und Zeit gehören zu diesen Rahmenstrukturen unserer Weltrepräsentation44. Entsprechende Topoi navigieren nicht entlang kategorialer, sondern schematischer Strukturen. Auch in der Rhetorik werden handlungspraktisch-narrative Schemata oder Konfigurationen einbezogen: vgl. die verschiedenen Topoi der Konsequenz (Rhet. II.23.14 u.15, 1399a, S. 150f.), der Gründe für das Handeln und Geschehen (z. B. Rhet. II.23.20 u. 21, 1399b-1400a, S. 153f. sowie ––––––––––––– 42 Entsprechend liegen auch die Topoi der scheinbaren Enthymeme im SprachlichKonzeptuellen: Gleich als erstes nennt Aristoteles hier den „fehlerhaften Gebrauch des sprachlichen Ausdrucks“ (Rhet. II.24.2, 1401a, S. 157). 43 Hintergrund dieses Topos ist Aristoteles’ in Kat. 10 und Top. II.8 ausgeführte Auffassung der vierfachen Bedeutung des Gegensätzlichen: als Relation, als Kontrarietät, als Kontradiktion oder als Verlust und Besitz. 44 Vgl. die „Aussageformen“ An-irgendeiner-Stelle, Zu-der-und-der-Zeit oder den Topos des „Umstandes der Zeit“ (Rhet. II.23.6, 1397b, S. 147). Die spätere lateinische Rhetorik legte bei v. a. bei der Gerichtsrede auf die Topoi sowohl der Zeit als auch des Ortes – loci a tempore und loci a loco – großen Wert.
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II.23.24, 1400a, S. 154), der Ursache (Rhet. II.23.25, 1400a, S. 155) oder alternativer Handlungsmöglichkeiten (Rhet. II.23.26, 1400a-b, S. 155)45. Der praktischen Intention der Rhetorik gemäß können solche Topoi einer umfassenden Analyse von Situationen und also auch zur Konstruktion von „Weltmodellen“ dienen – Situationen im semantischen Verständnis sind ja nichts anderes als ‚Weltausschnitte‘, partielle Zustandsbeschreibungen des „Universums“ (vgl. oben Kap. A.II.3.c). Andere Topoi zielen direkter auf die Methodik des Bildens neuer Behauptungen oder neuen Wissens aus vorhandenem Material, z. B. über Induktion, dem Schluss von den Teilen auf das Ganze oder über die Analogie der Verhältnisse 46. Solche Topoi können ziemlich direkt auf die kognitiven Strukturen der Weltrepräsentation bezogen werden. Sie geben formale Handlungsanweisungen für die Herstellung von Verknüpfungen zwischen Begriffen und Aussagen. Zur Beurteilung der Überzeugungskraft solcherart hergestellter Verknüpfungen dienen wiederum Topoi wie etwa der vorhandenen Meinung (Rhet. II.23.22, 1400a, S. 154) oder des maßgeblichen Urteils. Die Aristotelischen Topoi sind aber nicht ausschließlich als formal operierende Vorschriften zu interpretieren. Die materialen Grundlagen des rhetorischen Argumentierens erscheinen zum Beispiel in Aristoteles’ ausführlichen Darlegungen etwa über das Gute und das Nützliche (Rhet. I.6 und I.7), über Handeln, Freiwilligkeit, rechtmäßige bzw. unrechtmäßige Handlungen und Motivation (Rhet. I.5, I.10 bis 15), mit denen er im ersten Buch der Rhetorik die Aufzählung der Topoi vorbereitet. Auch Aristoteles’ Verweise auf Sammlungen fertiger Beweise, die als Argumentationsschemata dienen können (Rhet. II.22.10, 1396b, S. 143), bereiten trotz aller formalen Intentionen der späteren zunehmenden Materialisierung der Topik nach Aristoteles den Weg. Weil Topik formale und materiale Aspekte umfasst, kann sie als „Heuristik argumentativer Problemzugänge“ 47 eine Navigationshilfe bei der Problemverhandlung sein. Überzeugende Schlüsse vermögen unterschied––––––––––––– 45 Vgl. die dazu korrespondierenden handlungstheoretischen Ausführungen Aristoteles’ in Buch I der Rhetorik. 46 Vgl. Rhet. II.23.11-17, 1398a-1399b, S. 149, 150, 152. Mit Topoi, die sich eher mit der Technik oder Psychologie des Argumentierens auseinandersetzen, wollen wir uns nicht näher befassen. 47 Pielenz zitiert J. Kopperschmidt, der vorschlägt, eine „formale Topik“ – die „allgemeinsten Formprinzipien möglicher Argumente“ – von einer „materialen Topik“ – „die zu Motiven, Denkformen, Themen, Argumenten, Klischees, loci communes Stereotype usw. stabilisierten materialen Gehalte“ zu unterscheiden (vgl. Pielenz 121f.).
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liche Punkte in der konzeptuellen Landschaft unserer Weltrepräsentationen zu verbinden. Die Topik liefert Wegbeschreibungen für die gedankliche Bewegung durch Strukturen und Inhalte dieser Repräsentationen. Topoi bieten Orientierung im Wahrscheinlichen. c) Unabgeschlossenheit und Perspektive Seit den Anfängen der systematischen Rhetorik bei den Sophisten liegt die Betonung auf zwei Aspekten des Argumentierens, ja des Erkennens und des praktischen Handelns in der Welt überhaupt, die in logischanalytischen Modellen unter den Tisch zu fallen drohen: der Perspektivik jeder Handlungsorientierung einerseits und der prinzipiellen sachlichen Unentschiedenheit der (meisten) verhandelten Probleme. Was den Sophisten später als unethischer Relativismus ausgelegt wurde, war gerade die Einsicht, dass wir in den für uns praktisch relevanten Fragen eben nicht auf unumstößliche und als solche erweisbare Wahrheiten zurückgreifen können. Nicht das Wahre, sondern das Wahrscheinliche ist Material unserer Operationen. Der Mensch als das „Maß aller Dinge“, dieser Satz des Protagoras ist nicht Ausdruck einer solipsistischen Erkenntnislehre, sondern einer „Theorie der perspektivischen Wahrheit und der Erkenntnis dessen, was wahrscheinlich ist“ (Ueding 21). Die Motivation dieser sophistischen Überzeugungen ist nicht zuletzt in der regen Reisetätigkeit der Sophisten zu suchen, die sie in den verschiedenen Poleis mit ganz unterschiedlichen Moralvorstellungen und Rechtssystemen konfrontierte: „Was in der einen Polis verboten war, erlaubte die andere, was hier als wünschenswert galt, fand man dort abstoßend. Diese gleichsam ethnologische Sicht auf die Regeln und Übereinkünfte führte zur Relativierung absoluter Geltungsansprüche.“ (Ueding 20) Der bekannte Grundsatz des Protagoras, dass „über jedes Thema zwei gegensätzliche Reden möglich sind, die beide Anspruch auf Wahrheit erheben“, gibt die „Quintessenz einer neuen Erfahrung der Realität wieder und empfiehlt zugleich ein Verfahren, mit dieser aporetischen Situation umzugehen“, nämlich „konkurrierende Meinungen“ in Rede und Gegenrede sich bewähren zu lassen, „über welche schließlich in der Praxis entschieden wird“ (ebd.). Widerstreitende Perspektiven determinieren die Strukturen von Argumentation, sind ihnen unmittelbar inhärent und bilden deshalb ein „konstitutives Element rhetorischen Denkens“: ... trotz aller Konsensabsicht entwickelt sich die rhetorische Rationalität im Streit der Meinungen, in der parteilichen Auseinandersetzung über Probleme, die kontroverse
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Stellungnahmen im Regelfall nicht nur zulassen, sondern geradezu erzwingen. Daher gehörte die Rhetorik schon für die Griechen in den Bereich des agon, des kämpferischen Wettbewerbs, den sie in der Sphäre der Rede repräsentierte. (Ueding u. Steinbrink 173)
Der Wille, die eigene Perspektive durchzusetzen, bedingt notwendig zugleich die Anerkennung zumindest der Existenz anderer, abweichender Perspektiven. Rhetorik liefert deshalb nicht zuletzt auch eine Methodik, mit unterschiedlichen Perspektiven umzugehen. Cicero berichtet, dass er, als Redner vor Gericht engagiert, bei der Durchdringung eines vorliegenden Sachverhaltes und der Auffindung aller geeigneten Argumentationsmöglichkeiten bewusst den Wechsel zwischen den verschiedenen Perspektiven der beteiligten Parteien vollzieht: Ich für meinen Teil bemühe mich zumeist darum, daß jeder mich selbst über sein Anliegen unterrichtet und daß kein anderer dabei ist, damit er um so freier reden kann. Dabei vertrete ich gewöhnlich den Standpunkt des Gegners, damit er seinen eigenen verteidigt und alles vorbringt, was er sich zu seinem Fall gedacht hat. So übernehme ich, wenn er gegangen ist, vollkommen unparteiisch drei Rollen in einer einzigen Person, die meine, die des Gegners und die des Richters. (Cic. de or. 2,102-104; zit. Ueding u. Steinbrink 233)
Argumentation ist (ob sie will oder nicht) ein Ausdruck der Perspektivik von Weltrepräsentationen. Sie ergreift Partei für eine bestimmte Perspektive und gegen eine andere; sie anerkennt diese Perspektivik, aber nicht verabsolutierend im Sinne relativistischen Sich-Abfindens, sondern nur als immer vorläufigen Status quo, der praktisches Handeln zum eigenen oder gemeinschaftlichen Vorteil erfordert. Ein argumentatives Programm hat deshalb Überzeugung zum Ziel, drängt auf eine Entscheidung hin. Es kann aber diese Entscheidung – wenn es nicht analytisch ist und auf unbezweifelbaren Prämissen aufbaut – nicht selbst enthalten, eben weil in der Welt des Handelns Gewissheit nicht zu haben ist: „Eine Argumentation kann keine Gewißheit verschaffen, und gegen Gewißheit läßt sich nicht argumentieren ... nur bei umstrittener Gewißheit kommt Argumentation ins Spiel“48. Jedes argumentative Programm erreicht die angezielte Entscheidung nur in einem höheren Urteil, das es als solches nicht selbst enthalten, sondern höchstens antizipieren kann. Argumentation ist deshalb ganz auf Publikum, auf Zuhörer oder Leser (als „Richter“) ausgerichtet 49. Bereits ––––––––––––– 48 Chaïm Perelman, Das Reich der Rhetorik, zit. in Ueding u. Steinbrink 170. 49 Bei Aristoteles ist „das Objekt der Rede das Urteil ... – denn Urteile bestimmen ebenso die Beratung, wie der Richterspruch ein Urteil ist“ (Rhet. II.1.2, 1377b, S. 83). In II.18
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für Aristoteles ist der „Zuhörer“ richtunggebende Entscheidungsinstanz als „einer, der zu urteilen hat, und zwar zu urteilen über das, was geschehen ist oder geschehen soll“ (Rhet. I.3.1, 1358b, S. 21). Und deshalb soll der Rhetor auch, wenn in der Sache selbst keine überzeugenden Argumentationsmittel zu finden sind, auf den Topos des maßgeblichen Urteils zurückgreifen: Dadurch kann gewissermaßen die externe Entscheidungsinstanz in der Argumentation selbst emuliert und die gewünschte Entscheidung antizipiert werden: Ein weiterer [Topos] basiert auf dem maßgeblichen Urteil über den gleichen, einen ähnlichen oder über einen entgegengesetzten Sachverhalt, und besonders, wenn alle Menschen und zu jeder Zeit bzw. – wenn dies nicht der Fall ist – doch die meisten oder die weisen – entweder alle oder die meisten bzw. die angesehenen – so urteilen; oder wenn die Richter selbst [dies tun] bzw. die, denen die Richter Glauben schenken, oder die, gegen deren Urteil man nichts vermag, wie z. B. gegen den eigenen Herrn; oder die, deren Urteil zu widersprechen unziemlich ist: wie z. B. die Götter oder der Vater oder die Lehrer. (Aristot. Rhet. II 23.12 1398b-1399a, S. 149f.)
Dieser Topos enthält noch einmal in nuce die Aristotelische Bestimmung der endoxa, der Meinung bzw. des allgemein akzeptierten Urteils, und er verweist auf die Mittel zur Beendigung einer argumentativen Problemverhandlung. Im Falle ausbleibender Persuasion kann diese nur durch ein Machtwort entschieden werden, wie es etwa im „Autoritätsbeweis“ 50 vorweggenommen wird und im Extremfall im Gottesurteil vorliegt. Grundsätzlich kann das abschließende Urteil auch in einem Verstummen des Gegners erscheinen. Ein solcher Abschluss muss nicht immer dem besseren Argument geschuldet sein. Die praktische Rhetorik, die schon zu Aristoteles’ Zeiten „mit allen Tricks“ zu arbeiten bereit ist, bringt auch das Moment der Gewalt in unser Konzept von Argumentation ein, ein Moment, dem schwer beizukommen ist, wie die praktische Unerreichbarkeit der „idealen Sprechsituation“ in der Diskursethik vor Augen führt. Deshalb sehe ich mit Toulmin die Argumentation im Gerichtsprozess als das geeignetere Modell argumentierender Kommunikation: Parteien vertreten argumentativ bestimmte Interessen, die Entscheidung ob––––––––––––– heißt es, dass „die Redeweise der überredenden Rede auf ein Urteil abzielt – denn darüber, worüber wir Wissen und Urteil haben, bedarf es keiner Rede“ – und „derjenige, den es zu überreden gilt, ist, um es kurz zu sagen, der Richter“ (Rhet. II.18.1, 1391b, S. 128). 50 Das „Argument aus der Autorität“ hat die korrekte Form: (1) x ist bezüglich p eine verlässliche Autorität. (2) x behauptet, daß p. (3) Also p. (vgl. Wesley C. Salmon, Logik (1983), 185). Vgl. auch die Anmerkung Sievekes zum entsprechenden Topos in Aristoteles, Rhetorik, Anm. 118, S. 267.
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liegt dem unparteiischen Gericht. Die überzeugende Rede vor Gericht ist gleichzeitig das wichtigste Modell für die praktische Ausarbeitung der Redekunst in der antiken Rhetorik51. In den Argumentationsstrukturen einzelner argumentativer Programme ist zwar das „Gericht“, die äußere Instanz, auf welche hin Argumentation sich strukturiert, höchstens implizit enthalten; auf sie sind aber die Überzeugungsmittel des Textes und seines Vortrages ausgerichtet – emotionale wie rationale Wirkungsfaktoren, wie sie die antike Rhetorik mit Akribie zusammengetragen hat. Die elementare Argumentationsstruktur eines einzelnen argumentativen Programms enthält also nur das Ziel der Argumentation: die Bestätigung der eigenen Konklusion. Argumentative Programme spiegeln unseren Standort „in der Welt“ und unsere Perspektive als Involvierte und Interessierte wider, als Vertreter einer „Meinung“ über Dinge, die „sich auch anders verhalten können“ 52. Die abschließende Entscheidung zugunsten der eigenen Perspektive wird in der Argumentation nur vorweg genommen und als ein Vor-Urteil gesetzt. Auch formale Korrektheit der Argumentation ist keine hinreichende Bedingung für diese Entscheidung. Das eigentliche Urteil muss außerhalb der Grenzen dieser Struktur gefällt werden, zum Beispiel – wenn wir im diskursiven Rahmen des Argumentierens bleiben – in einem übergeordneten argumentativen Programm, das die argumentativen Verknüpfungen untergeordneter Programme bewertet ––––––––––––– 51 „Ein entscheidendes Moment des Entstehens der Beredsamkeit war das Vorhandensein von Streitigkeiten, von Interessengegensätzen, die von allgemeinem Interesse waren und nicht abgeschlossen von der Öffentlichkeit verhandelt wurden.“ (Ueding u. Steinbrink 11). Seit Aristoteles unterscheidet die Rhetorik die gerichtliche Gattung der Rede (genus iudicale, bei Aristoteles genos dikanikon), die sich auf „Zweifelhaftes“ richtet, über das „von anderen entschieden oder gerichtet“ werden soll, von der beratendschlagenden (genus deliberativum, bei der „etwas Zweifelhaftes zur Wahl steht“ und der lobenden Redegattung (genus demonstrativum / laudativum), die nicht auf eine Entscheidung hinzielt, aber natürlich ihre gewünschte Wirkung erreichen oder verfehlen kann (vgl. Ueding u. Steinbrink 256). Bereits das einführende Kapitel des ersten Buches von Aristoteles’ Rhetorik bezieht sich ausführlich auf Gesetzgebung und Gericht (Rhet. I.1.4-11), worüber nach Aristoteles die anderen Theoretiker ausschließlich – wenn auch unzureichend – handeln. Aristoteles hält die politische Beredsamkeit für „ehrenvoller“ als die juridische, konstatiert aber, dass beide dieselbe Methode nutzen (Rhet. I.1.10, 1354b, S. 9). 52 „... die meisten Fälle, worüber Urteile gefällt und Erwägungen angestellt werden, sind von solcher Art, daß sie sich auch anders verhalten können; menschliches Handeln nämlich, was Gegenstand der Beratung und der Erwägung ist, ist generell von solcher Art und nichts davon sozusagen aus Notwendigkeit ...“ (Aristot. Rhet. I.2.14, 1357a, S. 17).
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– etwa in einer Urteilsbegründung bei Gericht oder einer Diskussion unterschiedlicher Theorien zu einem naturwissenschaftlichen Problem. Die Frage nach den Regeln für diese Beurteilung argumentativer Verknüpfungen jenseits ihrer formalen Korrektheit führt uns von Aristoteles zurück zur modernen Argumentationstheorie. Auch Toulmin konzentriert sich wie jener auf eine Beschreibung argumentativer Überzeugung, die nicht primär auf logische Notwendigkeit baut. Die „logische Kluft“, die im Übergang von Daten zu Konklusionen immer wieder zu überbrücken ist, erlaubt keine „analytischen Standards“ des Schließens: Es gibt „kein Schlupfloch ins a priori“ (Toulmin 224). Dennoch ziehen wir tagtäglich Schlussfolgerungen über Zukünftiges oder Vergangenes, nicht unmittelbar Beobachtbares oder über Normatives. Nicht diese Praxis ist falsch, sondern lediglich die Meinung, sie am analytischen Ideal messen zu können. Das nämlich, so Toulmin, ist nichts anderes als „die Forderung nach einer Betrachtungsweise von Gottes Thron aus“; die unerfüllbare Forderung, unseren Standpunkt in Zeit und Raum zu verlassen und einen Standpunkt einzunehmen, von dem wir alles sehen und wahrnehmen, mithin „Augenzeugen der Zukunft“ sein können (Toulmin 206)53. Gerade weil uns in der Argumentationspraxis „logische Folgerungsbeziehungen der Natur der Sache nach im Stich lassen“ (Toulmin 193), sind Methoden rationaler Beurteilung von Argumenten gefragt, um nicht dem besseren Rhetor das Feld zu überlassen. Die Frage, „wie weit die Kompetenz des Gerichtshofs der Vernunft reicht“, hängt eben davon ab, in welchem Ausmaß es bereits begründete Schlussregeln in den jeweiligen Bereichen gibt (Toulmin 156). Wenn dieser „Gerichtshof der Vernunft“ Argumentationen beurteilt, so tritt er von außen an sie heran. Selbst Argumentation, appelliert er dabei seinerseits wiederum an eine höhere Instanz, die seine eigenen argumentativen Verknüpfungen zu beurteilen hat. Manchmal kann er sich des Urteils dieser Instanz sicher sein – wenn die von ihm bewerteten narrativen Programme offensichtlich unakzeptabel oder aber allgemein konsensfähig sind. In anderen Fällen ist der Ausgang völlig offen – und diese Fälle werden in den uns interessierenden Bereichen praktischen Philosophierens, der „Welt des Handelns und des Lei––––––––––––– 53 „Der formale Logiker verlangt, die Aussagen gezeigt zu bekommen, alle Aussagen und nichts als die Aussagen. Er schaut von seinem olympischen Thron herunter und urteilt dann über die unabänderbaren Relationen zwischen diesen Aussagen. Durch Übernahme dieser Sehweise gleichsam von Gottes Thron aus wird man aber vollständig von den praktischen Problemen abgelenkt, aus denen sich die Frage der Gültigkeit ergibt“ (Toulmin 163).
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dens“ (Ricoeur), eher die Regel als die Ausnahme sein. Weil unseren Argumentationen die Gottesperspektive fehlt, ist ihre prinzipielle Offenheit und Unabgeschlossenheit ein wesentliches Merkmal argumentativer Problemverhandlung. Insbesondere dann, wenn argumentative Programme einander ebenbürtig (gleichermaßen überzeugend), aber unvereinbar sind und etablierte Regeln der Beurteilung argumentativer Programme nicht weiterhelfen (Stasis), sind andere Strategien der Persuasion und der Legitimation des gefällten Urteils gefragt. Die äußere Instanz, die ein (vorläufig) abschließendes Urteil fällen muss, kann der Zuhörer einer Diskussion oder der Leser verschiedener Beiträge einer Debatte sein. Diese Instanz kann auch bereits ein Herausgeber sein, der in seinem Vorwort und durch eine bestimmte Anordnung von Beiträgen sein Urteil geltend macht – etwa indem er den Beitrag, den er für den größten Erkenntnisfortschritt hält, an den Schluss seiner Zusammenstellung setzt. Wenn aber dieses Urteil wirklich „ein für allemal“ gelten soll, muss es, wie Toulmin sagt, „von Gottes Thron“ aus gesprochen werden – so wie in der Erzählung von Hiob. Narrative Strategien der Problemverhandlung können auch in argumentierenden Texten dazu beitragen, ein Urteil überzeugend darzustellen. Sie erweitern (meist stillschweigend) den ursprünglichen Problemraum, indem sie den verfügbaren argumentativen Transformationen (Verknüpfungen) solche Verknüpfungsregeln hinzufügen, die eigentlich nur für narrative Verknüpfungen gelten, insbesondere die Möglichkeit, narrative Schemata für kohärente Verknüpfungen zu nutzen und so das fehlende Urteil explizit in die Struktur hineinzuholen – zu erzählen. Als Überzeugungsmittel sind solche narrative Strategien der Problemverhandlung rhetorische Strategien. Sie machen kontingente Aussagen und ungesicherte Entscheidungen plausibel, „glaubenerweckend“ und einleuchtend. Sie können auch die Kontingenz des narrativen Urteils verschleiern und dort „Machtsprüche“ vorbringen, wo der dem „Gerichtshof der Vernunft“ für seine Entscheidung die „Rechtsgrundlage“ fehlt.
III. Vergleich narrativer und argumentativer Problemverhandlung 1. Probleme, Programme, Verhandlungen Fassen wir zusammen, wie narrative und argumentative Problemverhandlungen vergleichend charakterisiert werden können und wie sich ihre jeweiligen Regeln für Plausibilität und Akzeptabilität unterscheiden. Die Struktur von argumentativ oder narrativ verhandelbaren Problemen kann als textueller Problemraum beschrieben werden, der aus Propositionen bzw. Beschreibungen sowie Regeln für die überzeugende Verknüpfung von Propositionen bzw. die Modifikation von Beschreibungen besteht. Argumentationen verknüpfen Aussagen, Erzählungen verknüpfen narrative Sätze (Zustands- und Ereignisbeschreibungen). Der Problemraum umfasst Beschreibungen eines unerwünschten, problematischen Ausgangszustandes sa und eines erwünschten Zielzustandes sz sowie aller möglichen Zustände, die aus dem Ausgangszustand nach gültigen Transformationsbzw. Verknüpfungsregeln gewonnen werden können. Die darin möglichen Transformationen sind abhängig von den Regeln des jeweiligen Diskurses, die auf je eigene Weise auf unsere Weltrepräsentationen und Wertsysteme Bezug nehmen. Diese Unterschiede narrativer und argumentativer Problemverhandlungen gründen sich auf Strukturen zwischen der propositionalen Struktur von Texten und ihren jeweiligen „Welten“, nämlich auf verfügbare kognitive Schemata und die damit möglichen mentalen „Situationsmodelle“ der Rezipienten, ihre Gestalt und Manipulierbarkeit. Erzählende und argumentierende Texte evozieren strukturell gleichartige „Welten“. Beide müssen in sich kohärent, das heißt, ihre Beschreibungen müssen für Rezipienten akzeptabel und wahrscheinlich sein. Um Sätze von Beschreibungen und insbesondere Verknüpfungen dieser Sätze als „überzeugend“, „wahr“ oder „wahrscheinlich“ zu erkennen, rekurrieren wir in Argumentation und Narration gleichermaßen auf unsere in bestimmter Weise kognitiv strukturierten und schematisierten Überzeugungen und „Meinungen“ über die Welt, die endoxa (durch die wir mit Hilfe entsprechender Topiken navigieren können). Nicht akzeptable Beschreibungen sind etwa solche, die in sich widersprüchlich sind oder die zu all-
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gemein akzeptierten Sätzen, Überzeugungen und Erfahrungen in Widerspruch stehen, aber auch solche, die relevante Fragen aufwerfen, auf die sie keine befriedigende Antwort geben können. Die Problemräume der im Hiobbuch verhandelten Probleme haben wir mit Rückgriff auf die alttestamentliche Forschung zu charakterisieren versucht, die auch Anhaltspunkte für die „Welt“ zeitgenössischer Leser oder Hörer liefert. In der Hiobnovelle konstituiert Hiobs Unglück das (existenzielle wie theoretische) Problem des rechten Verhaltens im Leiden, genauer des rechten Verhaltens eines Leidenden gegenüber JHWH als dem Urheber seines Leids. Die Problemsituation sa ist charakterisiert durch ein noch nicht entschiedenes Nebeneinander gegensätzlicher Verhaltens- bzw. Ordnungsalternativen, das in den Oppositionen der Figurenkonstellation kodiert ist: Hiob und die Versucherfiguren verkörpern Treue und Untreue gegenüber Gott, JHWH und der Satan verkörpern den Gegensatz monotheistischer und dualistischer Weltbeschreibungen. Zielzustand sz ist ein stabiler Zustand ohne solches Nebeneinander, der durch narrative Transformationen – Handlungen und ihre Bewertungen – herbeigeführt wird: Hiobs Verhalten entscheidet zugunsten von JHWH und Monotheismus und wird seinerseits durch die Belohnung (gemäß dem vertrauten Topos eines generellen Tun-Ergehen-Zusammenhangs) bestätigt. Aus der überlieferten Legende von Hiobs Bewährung und Belohnung übernimmt die Novelle die Bewertung eines Verhaltens gemäß einer Ordnung als weitere traditionelle Grundelemente exemplarischen narrativen Bedeutens. In der Dialogdichtung ist dagegen der Widerspruch zwischen Vergeltungsdogma (einem strengen individuellen Tun-Ergehen-Zusammenhang) und der Erfahrung unschuldigen Leids das zentrale Problem. Dieser Widerspruch konstituiert einen Riss im Welt- und Gottesbild, dessen existenzielle und theoretische Dimensionen gleichermaßen verhandelt werden. Angezielte Lösung des existenziellen Problems ist die Tröstung Hiobs, Lösung des theoretischen Problems eine widerspruchsfreie Lehre; beides ist erreichbar nur durch ein akzeptables, kohärentes Welt- und Gottesbild. In der Figurenkonstellation der Dialogdichtung aktualisiert die Opposition Hiob/Freunde den Gegensatz von Subjekterfahrung und Dogma, die Opposition Freunde/JHWH die Alternative vom „gerechten“ Gott, den das Dogma postuliert, gegenüber dem souveränen, gleichzeitig nahen und unendlich fernen Gott der Schöpfungstheologie. Im scheiternden Trostversuch der Freunde in den Redegängen und dem Urteil JHWHs scheitert das dogmatische Gottesbild. In der Schöpfungstheologie der Gottesreden, Hiobs Unterwerfung und seiner Wiederherstellung wird das neue Gottesbild
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installiert und bestätigt. Die figurale Opposition Hiob/JHWH erweist sich als ein nur scheinbarer Gegensatz, der durch Erkenntnis aufgehoben wird. Diese verschiedenen narrativen Urteile (Hiobs Verstummen, JHWHs Urteil im Redestreit, die Restitution) sind auch die wichtigsten Anknüpfungspunkte späterer Rezensionen. Nicht akzeptable, problematische oder konflikthaltige Welt- bzw. Zustandsbeschreibungen können also Ausgangszustand textueller Problemlösungen werden, die zum Ziel haben, aus dieser problematischen Beschreibung gemäß gültiger Transformationsregeln eine akzeptable und konfliktfreie Welt- bzw. Zustandsbeschreibung zu erzeugen. In Erzählungen oder Argumentationen können solche textuellen Problemlösungsversuche als narrative bzw. argumentative Programme abgebildet werden. Ein narratives Programm entsteht durch Zuschreibung eines auf ein Wert-Objekt gerichteten Wollens zu einem narrativen Subjekt. Narrative Programme bleiben solange „virtuell“, bis die Zuschreibung des Objekts zum Subjekt sie „aktualisiert“. (In einer narrativen Problemlösung mit nur einem narrativen Programm wäre der problematische Ausgangszustand sa der Zustand von Disjunktion von Subjekt und Objekt, erwünschter Zielzustand sz die Konjunktion von Subjekt und Objekt als Aktualisierung des darauf gerichteten narrativen Programms.) Die Gesamtheit der (virtuellen) narrativen Programme einer Erzählung mitsamt ihrer Relationen bildet die Figurenkonstellation der Erzählung. Ein argumentatives Programm zielt auf die Begründung einer Behauptung. Jedes aktualisierte argumentative Programm hat die Struktur Prämissen – (Verknüpfungsregeln) – Konklusion. Als problematischer Ausgangszustand kann die unerwünschte Ungewissheit angesehen werden, ob der Geltungsanspruch einer Behauptung gerechtfertigt ist (oder nicht vielleicht ihre Negation angenommen werden muss). Zielzustand ist die überzeugende Begründung der Behauptung und/oder die Widerlegung ihrer Negation. Die Aktualisierung eines argumentativen Programms aktualisiert zugleich die Behauptung seiner formalen Gültigkeit sowie alle Präsuppositionen der behaupteten Aussagen. In entsprechenden Kontexten können konkrete narrative oder argumentative Programme, wie z. B. die Opposition von Hiob und seinen Freunden, auf Problemlösungsvorschläge projiziert werden. Wenn verschiedene mögliche Lösungsalternativen für ein Problem existieren, die im Text bewertet, also bestätigt oder zurückgewiesen werden, spreche ich von Problemverhandlungen. Problemverhandlungen beinhalten Entscheidungen für oder gegen Programme.
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2. Struktur und Regeln narrativer Problemverhandlung Als elementare Struktur narrativer Problemverhandlung kann in Anlehnung an Greimas’ polemische „Performance“ eine Sequenz Konfrontation – Beherrschung – Zuschreibung angesehen werden. Die Konfrontation besteht in der „polemischen“ Beziehung zweier oder mehrerer entgegengesetzter narrativer Programme (mit narrativen Subjekten, deren Wollen auf dasselbe Wert-Objekt gerichtet ist). Durch die polemische Beziehung ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, den problematischen Ausgangszustand s a zu interpretieren: entweder, aus der Subjektperspektive, als Disjunktion von Subjekt und Objekt, oder aus der übergeordneten Perspektive der Erzählung (bzw. ihres Senders) als instabiler Konfliktzustand. Die Herstellung des Zielzustandes sz geschieht in beiden Fällen durch die (erfolgte oder verweigerte) Zuschreibung des Objekts zu einem der konfrontierten Subjekte und die damit verbundene Aktualisierung und Bestätigung eines der Programme (also eines Problemlösungsvorschlags). Denkbar ist auch die Zurückweisung aller Programme, falls auch so die Instabilität der polemischen Beziehung aufgehoben werden kann. Diese Art der Problemlösung würde allerdings mit einer signifikanten EntWertung des in Frage stehenden Objekts einhergehen. Wie immer jedenfalls die narrative Entscheidung ausfällt: Sie ist im Regelfall eine „willkürliche Wahl“. Welches narrative Programm dominiert, ist nicht notwendig aus dem Ausgangszustand abzuleiten. Vor der narrativen Entscheidung verharren die polemisch konfrontierten Programme in Stasis. Die Entscheidung selber ist kontingent: ein narratives Urteil. Erzählungen stellen das kontingente Einzelne dar, auch wenn sie ihre Kontingenz oft „exemplarisch“ verschleiern, und sie verstoßen oft zugunsten höherer Ordnungen gezielt gegen die „praktische Wahrscheinlichkeit“. Entscheidend ist daher im Einzelfall die Überzeugungskraft der konkreten narrativen Lösung, die Handhabbarkeit entsprechender mentaler Situationsmodelle und die Kohärenz der durch die Erzählung entworfenen Welt. Sie wird von den geltenden Regeln der Problemverhandlung – den verfügbaren narrativen Transformationen im Problemraum – bestimmt. Wahrscheinlichkeit, Akzeptabilität und Überzeugungskraft der Verknüpfungen von narrativen Aussagen hängen ab von den für die Rezipienten verfügbaren Verknüpfungsregeln: von ihrem Wissen über die Welt und über Texte, von grundlegenden Überzeugungen, verfügbaren narrativen Schemata (allgemeinen und intertextuellen Szenographien), Inferenzregeln, Topoi und anderen konzeptuellen Verknüpfungen. Zu den
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Regeln narrativer Problemverhandlung gehört explizit auch die grundsätzliche Akzeptabilität willkürlicher, kontingenter und sogar unwahrscheinlicher – d. h. gegen die praktische Wahrscheinlichkeit verstoßender – narrativer Urteile, vorausgesetzt, diese Urteile stiften Sinn in Bezug auf ein übergeordnetes System von Werten. Die narrative Lösung des Hiobproblems in der Dialogdichtung bezieht ihre „innere Wahrscheinlichkeit“ einmal aus der theologischen Tradition (hier zählt die Überzeugungskraft der zur Aufhebung der Widersprüche in der Ausgangssituation vorgeschlagenen Schöpfungs-Theologie als neuer Weltbeschreibung), darüber hinaus aber auch aus allgemeinen und intertextuellen Szenographien bzw. narrativen Schemata, die von der alttestamentlichen „Enzyklopädie“ bereitgestellt werden. Das sind vor allem der weisheitliche Tun-Ergehen-Zusammenhang (der gerechte Held besteht die Prüfung und wird am Ende belohnt), die psalmistische Klage zu Gott, die auf eine Antwort abzielt, und die Rechtsstreit-Metaphorik, die ein Auftreten JHWHs geradezu erzwingt. Narrative Schemata spielen für die „innere Wahrscheinlichkeit“ einer Erzählung eine entscheidende Rolle. Als Grundgerüst für je einzigartige narrative Konfigurationen sichern sie die Kohärenz von Erzählungen. Nicht zuletzt können narrative Schemata als „Target“ oder „Source“ exemplarischer Generalisierung sowie analoger bzw. metaphorischer Projektion die Anwendung narrativer Konfigurationen auf neue, analog strukturierte Problemkonstellationen ermöglichen. Sehr grundlegende und produktive narrative Schemata wie REISE oder RECHTSSTREIT können als Paradigmen narrativer Problemlösung bzw. verhandlung betrachtet werden. Auch das Hiobbuch nutzt (narrative) Schemata, um die in der Figurenkonstellation entfalteten Perspektiven zu vermitteln. Hiobs Klage bringt die Subjektperspektive „von innen“ zur Sprache, die Perspektive des Betroffenen. Die Freunde verkörpern die „weisheitliche“ Perspektive des nicht unmittelbar betroffenen Beobachters, den angemaßten Blick von außen auf das Ganze. Diese gegensätzlichen Perspektiven erweisen sich als nicht vermittelbar, erst eine übergeordnete – die höchste – Instanz fällt ein Urteil, das den Konflikt löst. Das narrative Schema des „RECHTSSTREITS“ liefert dafür die strukturellen Voraussetzungen und vermittelt die Perspektiven des Innen und Außen.
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3. Struktur und Regeln argumentativer Problemverhandlung Analog zur elementaren Struktur narrativer Problemverhandlung konfrontiert eine argumentative Problemverhandlung argumentative Programme mit dem Ziel, eine konfliktfreie, kohärente Beschreibung zu gewinnen. Der problematische Ausgangszustand sa ist gekennzeichnet durch das Bestehen eines scheinbaren oder tatsächlichen Widerspruchs zwischen den jeweils behaupteten Konklusionen, der angestrebte konfliktfreie Zielzustand sz durch die gelungene Auflösung dieses Widerspruchs. Die dazu nötige Bestätigung, Zurückweisung bzw. Vermittlung der aktualisierten argumentativen Programme geschieht entweder durch die Kommunikationspartner bzw. Rezipienten oder in übergeordneten Argumentationen, die ihrerseits ebenfalls die elementare Argumentationsstruktur mit Prämissen, Konklusion und Verknüpfungsregeln aufweisen. Argumentationen höheren Grades zitieren untergeordnete argumentative Programme als virtuelle (d. i. ohne die Geltung ihrer Konklusionen zu behaupten) und aktualisieren sie nur im Falle einer Bestätigung. Mögliche Verknüpfungsregeln – Regeln für die Beurteilung der Kohärenz und Überzeugungskraft argumentativer Verknüpfungen – sind allgemeine Überzeugungen und Vor-Urteile über die Welt, Topoi oder andere konzeptuelle Verknüpfungen „aus endoxa“ (auch z. B. konzeptuelle Metaphern) sowie Verknüpfungsregeln höheren Grades, explizite Regeln zur Beurteilung argumentativer Programme, darunter solche, die auf argumentative Schemata (Schlussregeln im engeren Sinne) als abstrakte Repräsentationen formal gültiger und akzeptabler Aussagenverknüpfungen Bezug nehmen. Verknüpfungsregeln sind grundsätzlich bereichsabhängig: In der Physik argumentiert man mit Hilfe anderer Verknüpfungsregeln als in Politik, Philosophie oder Theologie. Wenn den Rezipienten geeignete Regeln für die Verknüpfung von Prämissen und Konklusion fehlen, kann die Argumentation als nicht akzeptabel zurückgewiesen oder die Begründung der entsprechenden Schlusspräsupposition in einem neuen argumentativen Programm gefordert werden. Auch vollkommen korrekte und schlüssige Argumentationen sichern noch nicht den persuasiven Erfolg. Entgegengesetzte argumentative Programme können in Bezug auf die verfügbaren Verknüpfungsregeln als einander ebenbürtig erscheinen (Stasis), wie es die Redegänge im Hiobbuch illustrieren. In diesem Fall kann die Entscheidung eines übergeordneten argumentativen Programms sich nicht auf die im originären Prob-
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lemraum gegebenen Transformationsregeln stützen. Der Problemraum muss dann über die gegebenen Regeln des Argumentierens hinaus erweitert werden, um das argumentative Urteil zu legitimieren. Eine mögliche solche Erweiterung des Problemraums argumentativer Problemverhandlungen stellt die Verwendung narrativer Strategien dar. Narrative Strategien eignen sich für die Darstellung und willkürliche Auflösung von Stasis-Konstellationen, weil die elementare Struktur der narrativen „Performance“ bereits die Konfrontation von Programmen und eine kontingente Entscheidung über diese enthält. Zudem lassen die Kohärenzregeln des Erzählens uns auch willkürliche Urteile gegen Alltagslogik und „praktische Wahrscheinlichkeit“ als akzeptabel erscheinen, und unsere Vertrautheit mit narrativen Strukturen, insbesondere auch mit der Kontingenzverschleierung exemplarischen Erzählens, verstärkt noch die Überzeugungskraft solcher Urteile. Narrative Problemlösungen borgen sich gewissermaßen die weisheitliche „Gottesperspektive“ der Draufsicht auf das Ganze, die nach Toulmin dem Argumentieren fehlt und analytische Gewissheit unerreichbar macht – so wie es im Anschluss an das Scheitern der Argumentation im Hiobbuch die narrative Lösung des Hiobproblems im göttlichen Richterspruch illustriert. 4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede a) Kontingenz und Urteil Das Hiobbuch kann, wenn man so will, als ein Kommentar zu den unterschiedlichen Möglichkeiten argumentativer und narrativer Problemverhandlung gelesen werden. Es zeigt zunächst, dass bei existenziellen Problemen Argumentation offenkundig fehl am Platz ist. Es zeigt außerdem die Unterschiede in den Fähigkeiten argumentativer und narrativer Strukturen bei der Auflösung argumentativer Blockaden sowie bei der Vermittlung von Subjektperspektive und Draufsicht. Vergeltungsdogma und Erfahrung schließen einander aus – der unmittelbar vom Unglück betroffene, aber sich unschuldig wissende Hiob kann seine Erfahrung nicht suspendieren, die nichtbetroffenen Dogmatiker dagegen können problemlos diese Erfahrung leugnen und haben deshalb keinen Grund, das Dogma aufzugeben. Die Überzeugungskraft der beiden im Hiobbuch konfrontierten argumentativen Programme hängt nicht von der Güte der Argumente ab, die im wesentlichen konsistent sind. Hier, in Bezug auf die Vermittelbarkeit von Perspektiven einerseits und Abge-
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schlossenheit und Offenheit andererseits, unterscheiden sich die Regeln erzählender und argumentierender Problemverhandlung. Argumentationen sind grundsätzlich offen – von strengen Beweisen abgesehen, erkennt das Argumentieren per se die Existenz anderer Meinungen und Perspektiven an, und argumentative Programme können den Abschluss der Argumentation durch ihre eigene Bestätigung nicht selbst enthalten. (Das „Situationsmodell“ selbst, das Argumentierende gemeinsam entwickeln, ist grundsätzlich offen: Es kann niemals alles potenziell Relevante auf einmal enthalten. Entscheidend ist der Entschluss der Argumentierenden, einen erreichten Stand – vorläufig – zu akzeptieren.) Erfolgreiche Argumentationen können zwei mögliche Resultate haben: Überzeugen oder Vermitteln. Auch für das Hiobproblem sind natürlich solche argumentativen Lösungen denkbar, die aber zumindest den Akteuren dieser Redegänge aufgrund ihrer unterschiedlichen Situationen gerade nicht zugänglich sind. Eine entsprechende Lösung hätte entweder (wie es z. B. die Rezension A darzustellen versucht) Hiob von der Wahrheit des Dogmas und also der eigenen Schuld überzeugen oder die Freunde zu einer neuen, auch für Hiob akzeptablen Theologie führen müssen. Unter den gegebenen Umständen hätte eine Lösung die Perspektiven beider Seiten überschreiten und die Stasis der inkompatiblen Voraussetzungen (Hiobs Unschuld vs. Gottes Gerechtigkeit) auflösen müssen – so wie es die Erzählung dann tut. Aber gerade weil dabei sehr grundlegende Überzeugungen – und Verknüpfungsregeln – in Frage gestellt worden sind, ist so eine Lösung tatsächlich nur von außen denkbar. Eine solche Lösung wiederum birgt, wenn sie lediglich im Medium der Argumentation (als übergeordnetes argumentatives Programm) vorgebracht wird, ganz eigene Gefahren: vor allem die Gefahr einer Entwertung von Leiderfahrungen etwa in einem optimistischen „Alles ist gut“ (siehe Teil D). Dass der unverfügbare, souverän handelnde Gott trotzdem auch dem Menschen nah ist, Gnade walten lässt und das Geschick des Leidenden wendet, bleibt im Rahmen der Argumentation bloße Behauptung, die sich ohne Berufung auf göttliche Selbstaussagen nur auf – exemplarisch erzählte – Beispiele stützen kann und die damit – wiederum von außen gesehen – einem Dogma ein anderes entgegensetzen muss. Nur die Erzählung kann JHWH selbst auftreten, reden und handeln lassen, also über ihn verfügen und doch seine Unverfügbarkeit behaupten, indem sie diese ihn selbst behaupten lässt. Im Regelfall befinden sich Argumentationen, auch übergeordnete, stets unter Rechtfertigungsdruck, können jederzeit hinterfragt werden, müssen überzeugen, ohne sich ihres Erfolges sicher sein zu können. Erzählungen
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dagegen wirken schon in ihrer elementaren Struktur als ein abgeschlossenes Ganzes, als Konfiguration von Charakter, Handlung und Bewertung, und sie können deshalb problemlos die virtuelle Draufsicht der höchsten Instanz einnehmen. Als Ergebnis konfigurierender Akte transzendieren sie die widerstreitenden Perspektiven, die den narrativen Konflikt erzeugen, und setzen ihre Lösung als narratives Urteil über die bewerteten narrativen Programme und oft auch über die „Welt des Textes“ und ihre Ordnung. Ein Infragestellen narrativer Urteile ist zwar nicht unmöglich, aber im Gegensatz zur Argumentation auch nicht von vornherein potenzieller Bestandteil der Kommunikationssituation. Die grundsätzliche und unhintergehbare Kontingenz des Erzählens wird durch die Allgegenwärtigkeit seines ordnenden, sinnstiftenden Gebrauchs, die Verfügbarkeit sehr allgemeiner und kaum reflektierter narrativer Schemata und die traditionell hohe Autorität exemplarischen Erzählens wirksam verschleiert. Die Verwendung narrativer Strategien in Argumentationen wird sich vor allem diese Eigenschaften des Erzählens zu Nutze machen, um ihr eigenes (kontingentes, vielleicht willkürliches) Urteil zusätzlich zu stützen, zu legitimieren und seine Kontingenz rhetorisch zu verschleiern. Das Hiobbuch, als Wortmeldung in einer theologischen Auseinandersetzung gelesen, führt genau das vor: Die neue schöpfungstheologische Weltbeschreibung, die das Dogma ersetzen soll, wird nicht argumentiert, sondern erzählend präsentiert; die Legitimation durch JHWH selbst treibt die weisheitliche Tendenz narrativer Kontingenzverschleierung zum Extrem – eine Tendenz, die die Hiobrezeption von der überlieferten Hioblegende bis hin zu den exemplarischen Verwendungen der Geschichte von Hiob dem „Dulder“ maßgeblich geprägt hat. b) Perspektiven Wie nicht nur das Beispiel des Hiobbuches zeigt, machen narrative Strukturen ein komplexes Wechselspiel der Perspektiven, der virtuellen Draufsicht „von außen“ auf das Ganze und der Subjektperspektive „von innen“, möglich. In ein und demselben Text sind dann gleichzeitig verschiedene, auch entgegengesetzte Perspektiven potenziell präsent und in einem Modell aktualisierbar. Die dadurch geleistete Perspektivenvermittlung unterscheidet sich von der, die im argumentativen Diskurs möglich ist: Die in diesem geforderte Widerspruchsfreiheit des Zielzustandes sz verlangt für erfolgreiches Argumentieren bei ausbleibender Überzeugung im Allgemeinen auf beiden Seiten Kompromisse, welche die ursprünglich entge-
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gengesetzten Perspektiven der beteiligten argumentativen Programme so verändern, dass sie zueinander kompatibel werden. Das Erzählen ist dagegen in der Lage, die ursprünglichen Subjekt-Perspektiven in gewisser Weise zu bewahren, auch wenn ein narratives Programm am Ende das andere dominiert. Das zeigt nicht nur das Hiobbuch, das die Klagen Hiobs bewahrt, auch wenn er am Ende verstummt, das zeigen auch moderne Wiederaufnahmen der Hiobgeschichte, die etwa den „Rebellen“ Hiob gegenüber JHWH (wieder) ins Recht setzen wollen. Insbesondere im Medium fiktiven Erzählens macht diese Bewahrung der Subjektperspektive auch Formen der Problemverhandlung möglich, die gar nicht Ziel und Gegenstand des Argumentierens sein können (und damit auch unseren Regelvergleich sprengen). Eine Erzählung wie Voltaires Candide kann dann zu dem theoretischen Problem der Akzeptabilität des philosophischen Optimismus Stellung beziehen, ohne auf die dazu vorgebrachten Argumente überhaupt eingehen zu müssen, einfach indem sie die Subjektperspektive des Leidenden und Betroffenen selber einklagt, die das „weisheitliche“, scheinbar unbeteiligte Denken aus der Draufsicht zugunsten von Kohärenz und Widerspruchsfreiheit schon eliminiert hatte1. c) Exemplarische Generalisierung und analoge Projektion Genres wie Fabeln, Parabeln, Allegorien der conte philosophique verweisen auf das Potenzial narrativer Konfigurationen, auf sehr verschiedene Problemkonstellationen projiziert zu werden. Wahrscheinlich noch weit stärker als Argumente partizipieren Erzählungen an Strategien und Möglichkeiten „intuitiver Erkenntnis“ durch den Transfer vertrauter Schemata und Bilder auf Unvertrautes und Unanschauliches. Narrative Konfigurationen können insbesondere dort, wo sie als „Fiktion“ vom Geltungsanspruch deskriptiver Referenz suspendiert sind, im Akt der Interpretation (der Verschmelzung der Horizonte von Text und Leser) auf ganz verschiedene Aspekte unseres In-der-Welt-Seins bezogen werden, auch solche, die sich der deskriptiven Rede – und der Argumentation – entziehen. Schon wenn eine Erzählung als rhetorisches Exemplum in Argumentationen erscheint, verweist ein kontingentes Einzelnes auf ein Allgemeines, das von den Rezipienten auf eine andere, analoge Problemstellung rück––––––––––––– 1 Das zielt offenbar auf mehr als die argumentative Strategie, ein Gegenbeispiel zu einer universellen Prämisse vorzubringen. Diese zwingt vielleicht zu Relativierungen oder Zusatzannahmen, aber nicht notwendig zur Aufgabe der Prämisse. Jene versucht Ort und Perspektive der Argumentation im Ganzen in Frage zu stellen.
Vergleich narrativer und argumentativer Problemverhandlung
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bezogen werden kann. Das erzählte Einzelne steht entweder exemplarisch für ein Allgemeines oder als Analogie für ein anderes Einzelnes. Exemplarisches Erzählen behauptet, dass das Einzelne unter eine Regel fällt; das exemplarische narrative Urteil steht, wie z. B. in der Hioblegende, für eine Ordnung. Analoges Erzählen transferiert sein Urteil auf eine andere als die ursprüngliche Problemstellung und projiziert darauf die Struktur seiner Problemlösung. Voraussetzung für gültige (überzeugende) Projektionen sind einerseits hinreichende strukturelle Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten der jeweiligen problematischen Ausgangszustände (v. a. ihrer jeweiligen narrativen Oppositionen) und zum anderen die Akzeptabilität der transferierten Problemlösung für das Zielproblem. So kann die Figurenkonstellation einer Erzählung auf die Pole einer anderen Problemkonstellation projiziert werden, die nicht mit dem primären Problem der Figuren zusammenfällt: In der Hiobnovelle wird die narrative Entscheidung einer narrativen Konfiguration (Hiobs Entscheidung, gegen die Versucherfiguren an JHWH festzuhalten) auf die alternative Entscheidung zwischen Monismus und Dualismus projiziert, die in der Opposition JHWH vs. Satan verkörpert wird. In der Dialogdichtung wiederum, die eigentlich Hiobs Problem exemplarisch verhandelt, eröffnet doch der Bezug der narrativen Konfiguration auf die Schemata von TRÖSTUNG und RECHTSSTREIT ein Spiel metaphorisch organisierter Bedeutungen mit Relevanz für das resultierende Gottesbild. Nach der Zerstörung der grundlegenden Verknüpfungsregel des Vergeltungsdogmas beziehen Hiobs Hoffnungen ihre Rechtfertigung maßgeblich aus metaphorischen Verknüpfungen, dem Schema des RECHTSSTREITS, in dem Schuld und Unschuld sich erweisen werden, und der Metapher von JHWH als „Rechtshelfer“ der Gerechten, während JHWHs Reden und Handeln auf paradoxe Weise diese Hoffnungen gleichzeitig widerlegt und bestätigt. In Kants Theodizeeschrift endlich werden, wie Kap. D.IV zeigen wird, figurale Oppositionen und narrative Lösung der Dichtung auf das neuzeitliche Theodizeeproblem projiziert. Das verschafft dem Machtspruch der Vernunft im Theodizeestreit zusätzliche rhetorische Legitimation, die sich die Kontingenzverschleierung des Erzählens ebenso zu Nutze macht wie die legitimierende Kraft des RECHTSSTREITS-Schemas und die Autorität der biblischen Geschichte.
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Narration und Argumentation: Regeln der Problemverhandlung
5. Fazit: Narrative Strategien als Problemraumerweiterung Durch die spezifischen Möglichkeiten narrativer Problemverhandlung – Konfiguration, Perspektive, Projektion – vermag die elementare narrative Struktur, was argumentativen Programmen unerreichbar bleibt: Sie transzendiert die Perspektiven der Konfliktparteien und fällt ein abschließendes Urteil. Deshalb erlauben es narrative Strategien, einer (potenziell unabschließbaren) Problemverhandlung die Abgeschlossenheit der narrativen Struktur aufzuprägen und sie mit einem narrativen Urteil zu einem vorläufigen Stillstand zu bringen. Deshalb können narrative Strategien auch im argumentativen Diskurs dort einspringen, wo eine Stasis argumentativer Programme eine Erweiterung des Problemraums, die Einführung neuer Transformationsregeln notwendig macht. Das kann dadurch geschehen, dass in einer narrativen Struktur auf geeignete Weise die strittigen argumentativen Programme durch narrative Programme repräsentiert werden – entweder exemplarisch (sozusagen durch ein „Modell“) oder durch Analogie. „Das Denken mit Analogien und Modellen kann wohl mit einigem Recht als via regia der Suchraumerweiterung betrachtet werden.“ (Dörner 81) Insofern narrative Programme den Erwerb eines Objekts O durch ein virtuelles (potenzielles) Handlungssubjekt S und argumentative Programme die Begründung einer Konklusion K durch ein virtuelles Argumentationssubjekt S' zum Ziel haben, bietet sich eine Repräsentation von K durch O an, genauer die Identifizierung des Subjekts SO eines narrativen Programms mit einem Vertreter der Konklusion K (SK) und seines Gegensubjekts ¬SO mit einem Gegner von SK, also einem Vertreter von ¬K (S ¬K). Die erfolgreiche Aktualisierung des argumentativen Programms von SK kann dann durch eine Performance-Sequenz dargestellt werden, die in der Zuschreibung des Objekts O an SO resultiert. Die Entscheidung für das argumentative Programm SK kann sich so der Kohärenzregeln des Erzählens bedienen, die eine kontingente Wahl zugunsten des narrativen Programms SO zulassen und legitimieren. Solche narrativen Problemraumerweiterungen sind janusköpfig: Sie ermöglichen vielleicht fruchtbare Problemlösungen und neue Perspektiven, sie können aber auch der rhetorischen Legitimierung willkürlicher Urteile dienen, wie Teil D zeigen wird. „Innere Notwendigkeit“ und „poetische Wahrheit“ einerseits, Kontingenzverschleierung und „Machtsprüche“ andererseits markieren die Pole narrativen Bedeutens.
Teil D Das Theodizeeproblem
I. Der Optimist und das Erdbeben 1. Einleitung Im „Hiobproblem“ ist die Frage nach dem Sinn des Leidens in der Welt untrennbar verbunden mit der Frage nach Gott als dem Schöpfer der Welt. Eine vergleichbare Konstellation wird in einer genuin „modernen“ Debatte verhandelt: der Debatte um die „Theodizee“. Im letzten Teil meiner Untersuchung will ich deshalb anhand der philosophischen Diskussion um die Theodizee meine Bestimmungen zu Strukturen und Möglichkeiten „narrativer Problemverhandlung“ überprüfen und erweitern. Für eine Untersuchung narrativer Problemverhandlung im Rahmen der Diskussion um das „Theodizeeproblem“, das Problem der Rechtfertigung der Güte und Gerechtigkeit des „Welturhebers“ (Kant) angesichts des Bösen oder Zweckwidrigen in der Welt, spricht eine Reihe von Gründen inhaltlicher wie formaler Art. Da ist zunächst die Nähe des „Theodizeeproblems“ zum „Hiobproblem“ : Wenn auch das „Problem“ des alttestamentlichen Buches nicht einfach mit der spezifisch neuzeitlichen Problemstellung der Theodizee identifiziert werden kann – zu unterschiedlich sind geistesgeschichtlicher Hintergrund und konzeptuelle Voraussetzungen – gibt es doch eine Reihe von inhaltlichen und strukturellen Ähnlichkeiten, die nicht zuletzt auch ein Grund dafür sind, dass das Hiobbuch bis in die jüngste Zeit immer wieder für philosophische Wortmeldungen in der Theodizeedebatte in Dienst genommen wird (siehe u. a. unten ab S. 547). Dazu zählen die zentrale Rolle des Leids oder Übels in der Problemstellung, vergleichbare Konflikte von theologisch-philosophischen Weltbeschreibungen bzw. Dogmen mit widerstreitenden Erfahrungen, der Widerstreit der Perspektiven (unbeteiligter Beobachter vs. vom Leid Betroffener) und nicht zuletzt die forensische Metaphorik. Zudem erfreuen sich narrative Strategien der Problemverhandlung wie etwa der Dialog gerade in der Philosophie des 18. Jahrhunderts großer Beliebtheit; Leibniz selbst setzt ans Ende seiner Theodizee nicht nur ebenfalls einen solchen Dialog (§§ 405-417), sondern bettet darin sogar noch einen erzählten Traum ein, um durch solche „Fiktion“ das Problem von göttlicher Vorsehung und Willensfreiheit „auf möglichst klare und allgemeinverständliche
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Das Theodizeeproblem
Weise“ aufzulösen1. Daneben existiert auch im Medium der erzählenden Literatur eine lange Tradition der kritischen Auseinandersetzung mit dem Theodizeeproblem2, die von Voltaires Candide bis hin zu Arno Schmidts Leviathan immer wieder auch auf das Hiobbuch Bezug nimmt. Das Hiobbuch setzte der weisheitlichen Draufsicht die Subjektperspektive entgegen, musste aber dann selbst in die Gottesperspektive wechseln, um das Problem des Buches zu lösen. Die Debatte um das Theodizeeproblem – das sich bis heute noch nicht erledigt hat3 – lässt ein ähnliches Wechselspiel der Perspektiven erkennen. Zunächst möchte ich zeigen, wie die neuzeitliche Arbeit an den Perspektiven – der Subjektperspektive der beschränkten Menschenvernunft und der virtuellen Draufsicht aufklärerischen Systemdenkens – in die Leibniz-Theodizee und schließlich in die „weisheitliche“ Gewissheit des populären Optimismus mündete, welche dann von dem verheerenden Erdbeben von Lissabon nachhaltig erschüttert wurde. Das Spektrum der Antworten darauf reicht von der literarischen Wiedergewinnung der Subjektperspektive bei Voltaire (darin dem Hiobbuch vergleichbar) über das religiös oder wissenschaftlich abgesicherte Beharren auf der weisheitlichen Draufsicht4 z. B. bei Linné bis hin zu komplexen Versuchen, beide Perspektiven kritisch zu ––––––––––––– 1 Vgl. G. W. Leibniz, Die Theodizee (1710), § 405. 2 Vgl. dazu Carl-Friedrich Geyer, Die Theodizee. Diskurs, Dokumentation, Transformation (Geyer 1992a), 144-154. Geyer nennt vor allem die „literarisch konturierte Antitheodizee“, für die er neben Voltaire und de Sade auch Johann Carl Wezels Roman Belphegor oder Die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne (1776) als Beispiel anführt. 3 Vgl. u. a. Hans-Gerd Janßen, Gott-Freiheit-Leid. Das Theodizeeproblem in der Philosophie der Neuzeit (1989); Willi Oelmüller (Hg.), Theodizee – Gott vor Gericht? (1990) und Worüber man nicht schweigen kann. Neue Diskussionen zur Theodizeefrage (1992); Gerhard Streminger, Gottes Güte und die Übel der Welt. Das Theodizeeproblem (1992), Harald Wagner (Hg.), Mit Gott streiten. Neue Zugänge zum Theodizeeproblem (1998). 4 Nur kurz erwähnt seien andere Reaktionen auf das Erdbeben, die ebenfalls der Wiedergewinnung der Draufsicht dienen, etwa die zahlreichen Lehrgedichte zur Verteidigung des Optimismus (z. B. von Gottsched) oder zur Betonung der strafenden Gerechtigkeit Gottes (z. B. Wieland, Hymne auf die Gerechtigkeit Gottes; Zimmermann, Die Zerstörung von Lissabon, beide 1756), physikotheologisch inspirierte Spekulationen über den Nutzen der Erdbeben oder die vielen meist protestantischen Strafpredigten, die den strafend eingreifenden Gott gleichermaßen gegen sündhafte Gottvergessenheit und den Deismus der Aufklärung ins Feld schicken: „Nun hat der HERR selbst gepredigt“ (zitiert nach Arthur Kemmerer, Das Erdbeben von Lissabon in seiner Beziehung zum Problem des Übels in der Welt (1958), 84).
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vermitteln und angesichts der notwendigen Beschränktheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit einen Zugang zum „Ganzen“ zu begründen (z. B. Kant). Im Kontext dieser Untersuchung ist vor allem interessant, dass in allen diesen Antwortweisen auch narrative Strategien zur Anwendung kommen können. Voltaire und Linné nutzen die Möglichkeiten des exemplarischen Erzählens für diametral entgegengesetzte Stellungnahmen zur Theodizeeproblematik, während Kant in seinem Theodizee-Aufsatz nicht nur das narrative RECHTSTREIT-Schema instrumentalisiert, sondern auch die Problemlösung des Buches Hiob allegorisch auf seine eigene Lösung projiziert, um deren „Machtspruch der Vernunft“ zu rechtfertigen. 2. Das Problem Die Schrift von Leibniz, die der „Theodizee“ ihren Namen gab, enthält bereits in ihrem Titel die Grundelemente der Problemstellung: Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’homme et l’Origine du Mal (1710)5. „Theodizee“, ein Kunstwort aus „theos“ und „dike“, lässt sich am ehesten mit „Nachweis der Gerechtigkeit Gottes“ wiedergeben und wurde von Leibniz selbst auch mit „Gottrechtslehre“ übersetzt6. Das Problem der Theodizee ist bei Leibniz mit dem scheinbaren Fehlen eines gerechten Tun-Ergehen-Zusammenhanges verbunden: Der natürlichen Religion verbleibt also die Frage: wie konnte ein einziges, allgütiges, allwissendes und allmächtiges Prinzip das Übel zulassen, wie konnte es im besonderen die Sünde erlauben und sich entschließen, so häufig die Bösen glücklich und die Guten unglücklich zu machen? (Theodizee, Abhandlung § 43)
Auch wenn die „Theodizee“ bei Leibniz eine spezifisch neuzeitliche Problemstellung verhandelt, sind ihre Gemeinsamkeiten zum sehr viel älteren „Problem des Übels“, dem Problem der Integration des „Bösen“ und des Leidens in eine als wesentlich „gut“ oder „gerecht“ gedachte Welt––––––––––––– 5 Zur Zitierweise siehe oben S. 7f.. Das Kürzel „Abhandlung“ kennzeichnet Paragraphen der „Einleitenden Abhandlung über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft“. Zitate mit der Angabe „Causa Dei“ stammen aus Leibniz’ zusammenfassender Darstellung der Theodizee-Thesen: Causa Dei Asserta per Justitiam Ejus, Cum caeteris ejus Perfectionibus, Cunctisque Actionibus Conciliatam, Amsterdam 1710; unter dem Titel „Die Sache Gottes vertheidigt durch die Versöhnung seiner Gerechtigkeit mit seinen übrigen Vollkommenheiten und mit all seinen Handlungen“ als Anhang IV bei Kirchmann. 6 Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften, hg. v. Gerhard, Bd. 6, S. 463; zit. nach Wilhelm Schmidt-Biggemann, Theodizee und Tatsachen (1988), 50 A2.
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ordnung, nicht zu übersehen. Immer wieder wird die Meinung vertreten, dass es bereits lange vor Leibniz schon Theodizeen bzw. „theodizeeanaloge“ 7 Bemühungen gegeben habe, ja dass es sich beim „Theodizeeproblem“ um eine der Menschheitsfragen schlechthin handele und dass vorzüglich auch im Hiobbuch des Alten Testaments dieses Problem verhandelt würde. Das Theodizeeproblem, so der evangelische Theologe Hans Georg Fritzsche, habe „von alters her die Menschen bewegt und zu unterschiedlichen Antworten und Lösungsversuchen herausgefordert“; in seinen abendländischen „Vorfassungen“ in Stoa und Neuplatonismus als Frage nach der Vereinbarkeit des Übels mit der Vorsehung (Fritzsche 7), und alttestamentarisch als Ausdruck der Krise des Vergeltungsdenkens, wie sie im Hiobbuch zum Ausbruch kommt. Für Fritzsche sind „Hiobproblem“ und „Theodizeeproblem“ quasi Synonyme: „Dieses Dogma von der individuellen Vergeltung (Tun-Ergehen-Zusammenhang), das in der Geschichte Israels als Alternative zum Kollektivschuldgedanken der älteren Zeit entstanden ist, führte im Hiobbuch zu jener Krise, die das Theodizeeproblem eigentlich aufgebracht hat, so daß die Ausdrücke HiobProblem und Theodizeeproblem zu gleichbedeutenden Begriffen geworden sind“ 8. Auch für Odo Marquard ist die Theodizee „durchaus auch eine alte Sache“, deren Argumentationsmöglichkeiten „ziemlich vollständig aufgeführt“ in Laktanz’ De ira Dei zu finden seien (das Argument des Epikur, s. u.) und deren Kurzform die Frage darstelle: „‚Si deus, unde malum?‘, wenn es Gott gibt, warum dann die Übel?“ 9 In erster Näherung will auch ich das „Theodizee“-Problem übergreifend charakterisieren als die Schwierigkeit, ein bestimmtes Welt- und Gottesbild mit Erfahrungen des „Übels“ zu vereinbaren. Bei Leibniz ist dieses Welt- und Gottesbild das der rationalistischen Metaphysik: Gott ist Schöpfer der Welt, erste Ursache aller Dinge; allmächtig, allwissend und allgütig (das summum bonum), und daher muss seine Schöpfung weise und gut eingerichtet sein. Übel und Leiden stellen diese Behauptung einer guten Welteinrichtung in Frage, wenn sie nicht im Einklang mit dieser begründet werden können. Eine nicht unbeliebte Rekonstruktion des „Theodizee-Problems“ identifiziert dieses mit der Frage nach der logischen Vereinbarkeit bestimmter Gottesprädikate mit der behaupteten Existenz des ––––––––––––– 7 Vgl. Geyer 1992a, 48ff. 8 Hans-Georg Fritzsche, Schuld und Übel. Zum Theodizeeproblem (1987), 24. 9 Odo Marquard, „Schwierigkeiten beim Ja-Sagen“ (Marquard 1990), 92. Wie Geyer (1992a, 47 A) anmerkt, wurde von einem ‚Theodizeeproblem‘ bereits im Zusammenhang mit dem Gilgamesch-Epos gesprochen (bei Franz Schupp).
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„Übels“ oder des „Zweckwidrigen“ (Kant) in der Welt10. Aber auch jenseits rationalistischer Voraussetzungen ist ein vergleichbares Dilemma möglich, wie die von Laktanz überlieferte Anfrage des Epikur zeigt: Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, so ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig als auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg? (Epikur, Von der Überwindung der Furcht, 136)
Auch hier kollidiert ein (nicht von Epikur) favorisiertes Gottesbild mit dem Faktum der Existenz von „Übeln“ in der Welt. Die Argumentation – weder Schwäche noch Missgunst „ziemen“ sich für Gott – zeigt zudem, dass entsprechende Versuche, die „Übel“ mit dem Gottesbegriff zu vermitteln, nicht nur den jeweiligen Widerspruch beseitigen, sondern auch ein für den Adressaten akzeptables Welt- und Gottesbild liefern müssen. Insofern die Unverzichtbarkeit bestimmter Eigenschaften Gottes Teil des Problems ist, läuft seine Lösung demnach tatsächlich auf eine Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt hinaus. So können wir für unsere Problembestimmung auf die inzwischen klassische Definition von Kant zurückgreifen: „Unter einer Theodizee versteht man die Vertheidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt.“ (Kant, Theodizee, VIII 255) Diese Definition enthält zwei für uns wesentliche Elemente. Erstens impliziert der Vorwurf des „Zweckwidrigen“ das Ideal einer von Gott garantierten, alle Dinge umgreifenden zweckhaften Weltordnung, deren Zwecke und Regeln uns grundsätzlich einsichtig sind, so dass alles nicht in diese Ordnung Integrierbare potenziell Zweifel an Gottes Güte oder Macht provoziert. Zweitens nutzt diese Definition wie schon das Hiobbuch eine forensische Metaphorik; sie bestimmt die Theodizee als einen „Rechtshandel vor dem ––––––––––––– 10 „Die Frage nach der Güte Gottes angesichts der Übel in einer von ihm abhängigen Welt kann nun in folgender Weise präzisiert werden: Es ist fraglich, ob die folgenden vier Behauptungen miteinander verträglich sind: I. Es gibt EINEN Gott, ein personales Höchstes Wesen, das die Welt erschaffen hat. II. (Dieser) Gott ist allmächtig, allgütig und allwissend. ER ist das summum bonum (das höchste Gute). III. Etwas, das selbst gut ist, würde etwas anderes, das schlecht oder übel ist, nach Möglichkeit verhindern oder eliminieren. IV. Es gibt in der Welt Übel“ (Streminger 4).
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Gerichtshofe der Vernunft“ (ebd.). Auch Geyer macht diese forensische Metaphorik zur Basis seiner Begriffsbestimmung: Unter „Theodizee“ versteht man seit Leibniz Verfahren, die Gott – in Analogie zur Situation eines Angeklagten vor dem Richter – vor dem Gerichtshofe der Vernunft von der Anklage der Urheberschaft bezüglich des Negativen, des Disharmonischen und Dysteleologischen, kurz: des „Bösen“ ... freisprechen wollen. Der ursprüngliche Denkrahmen derartiger Verfahren ist eine rationalistische Metaphysik, verstanden als Anspruch der Vernunft auf Einsicht in die Einrichtung der Welt, und zwar einer Welt, die ihrerseits mit den Vernunftgesetzen korreliert. Die Rechtfertigung Gottes, d. h. seine Entlastung vom Vorwurf der Verantwortlichkeit für das der Idee einer „guten“ Welteinrichtung Entgegenstehende, ist zugleich die Rechtfertigung der Welt aus einer ihr selbst innewohnenden Rationalität heraus. (Geyer 1992a, 12)
Der rationalistische „Anspruch der Vernunft auf Einsicht in die Einrichtung der Welt“ übernimmt jetzt eine ähnliche Funktion, wie sie im Hiobbuch die weisheitliche Theologie der Freunde innehat. Es geht dabei nicht um das Leiden als existenzielles Problem. Die versuchte „Rechtfertigung“ Gottes in der Theodizee verweist wie schon bei Hiob auf eine theoretische Verunsicherung, die das Problem hervortreibt und Antworten fordert. Diese Verunsicherung findet Ausdruck im Skeptizismus Pierre Bayles, auf den Leibniz reagierte, so wie das Hiobbuch Antworten auf die Krise des Vergeltungsdenkens suchte. Hier wie dort werden die skeptischen Anklagen und Einsprüche zwar im Namen der Erfahrung erhoben, selten aber als Ausdruck von Leidenserfahrungen selbst. Der philosophisch-theologische „Theodizee“-Diskurs ist motiviert das Streben nach Einsicht in die physische und sittliche Weltordnung einerseits und nach religiöser Apologetik andererseits. Ziel ist die Überwindung des Widerspruchs, die Versöhnung der Erfahrung mit Theorie und Dogma in einem widerspruchsfreien System. Der problematische Ausgangszustand sa im Problemraum des „Theodizeeproblems“ wird also durch eine theoretische Verunsicherung konstituiert, durch einen inakzeptablen Widerspruch zwischen Dogma und Erfahrung: Monotheistische Weltbeschreibungen, die einem gütigen und gerechten Schöpfergott die Verantwortung für die Einrichtung der Welt zusprechen, werden gefährdet von Erfahrungen des Leidens und des Übels, welche Gottes Schöpfung als unvollkommen und die entsprechenden Weltbeschreibungen als widersprüchlich oder inakzeptabel erscheinen lassen. Zielzustand sz ist demnach eine widerspruchsfreie und akzeptable Weltbeschreibung (einschließlich eines entsprechenden Gottesbildes), welche nicht von Erfahrungen des Übels bedroht wird. Geeignete Transformationen zur Überführung von sa in sz müssen die problematische
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Weltbeschreibung in sa modifizieren. Bei diesen Transformationen im Problemraum handelt es sich in jedem Fall um textuelle Operationen, also um die Behauptung, Bestreitung, Begründung oder Widerlegung von Sätzen, sei es mit argumentativen oder narrativen Mitteln. Mögliche Strategien in Bezug auf das Dogma sind z. B. eine Aufweichung des strengen Monotheismus durch dualistische Elemente oder eine freiwillige Selbstbeschneidung der göttlichen Allmacht11 zugunsten wichtiger Güter (wie der Willensfreiheit). Strategien, die an der Erfahrung des „Zweckwidrigen“ ansetzen, sind etwa die Bestreitung der Existenz der Übel (Depotenzierung und Positivierung) oder die Angabe von Gründen für ihre Existenz, die die Vereinbarkeit von Dogma und Erfahrung erweisen. In beiden Fällen greift das perspektivische Argument, der beobachtende Blick von außen auf die Welt: Auch das scheinbar Unzweckmäßige hat seinen Platz im Ganzen der Schöpfungsordnung, den unsere begrenzte Einsicht aber nicht erkennen kann; oder aber das Übel musste um höherer Güter willen zugelassen werden. Damit einher geht in der Regel ähnlich wie in den Gottesreden des Hiobbuches eine Zurückweisung anthropozentrischer Ansprüche – die Welt ist nicht um des Menschen willen geschaffen, sein Wohlergehen nicht ihr wichtigster Zweck. Auch hier wird gegen die Perspektive des von Leid Betroffenen eine Perspektive des Beobachters gesetzt, der das Ganze im Auge hat. Wie im Folgenden weiter auszuführen ist, kann das Wechselspiel der Perspektiven von innen und außen als die zentrale Theodizeestrategie überhaupt bezeichnet werden. Auch Leibniz nutzt in seiner Theodizee mehrere dieser Strategien parallel12. Wichtigstes Ziel dabei ist die Abwehr einer weiteren möglichen Lösungsstrategie, die ebenfalls beim Gottesbild ansetzt: die Behauptung einer grundsätzlichen Unerkennbarkeit des Göttlichen. Das ist der Stand––––––––––––– 11 Zur christlichen Vorstellung göttlicher Allmacht vgl. Geyer 1992a, 40ff. 12 Zahlreiche Argumente übernimmt Leibniz aus der philosophischen Tradition. Zur Integration der Übel dient vor allem die Bestimmung des „metaphysischen“ Übels – der notwendigen Unvollkommenheit alles Geschaffenen – als nicht substanziell bzw. eigenständig existent, sondern lediglich als Mangel an Güte, Privation (privatio boni) durch „Beraubung“ (§§ 20, 33 u. a.). Weitere traditionelle Argumente: das Gute überwiege das Böse bei weitem (das Übel sei ein „Beinah-Nichts“, § 19;); Übel ermöglichen Gutes (z. B. §§ 10f., 23, Causa Dei §§ 34f, 55), sie befördern die Harmonie des Ganzen (z. B. §§ 12, 147 etc.) und können zudem als Strafen verstanden werden (§§ 23, 73f. 126 (Strafe als natürliche Folge), 147, 264ff.). Zur ontologischen Depotenzierung des Bösen und anderen vorneuzeitlichen Argumenten u. a. bei Plotin, Augustinus, Thomas von Aquin oder Gregor v. Nyssa vgl. Geyer 1992a, 48-56; in Bezug auf Leibniz zusammenfassend S. 74.
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punkt Pierre Bayles, dessen skeptizistische Argumente im Dictionaire historique et critique der unmittelbare Anlass von Leibniz’ Theodizee gewesen sind. Gerade das Problem der Übel13 ist für Bayle ein starkes Argument dafür, dass die Vernunft religiöse Wahrheiten nicht widerspruchsfrei in ein System zu fassen vermag. Glauben, so Bayle, muss auf rationale Begründung verzichten. Um diese Behauptung zu untermauern, legt Bayle im Artikel Manichéens dar, dass zur Erklärung des Übels und des Bösen sogar der (ansonsten ganz und gar unakzeptable) Dualismus der Manichäer der christlichen Theologie überlegen sei. In einem Streit zwischen Zoroaster und einem Vertreter des Monismus lässt Bayle ersteren sagen: „Ich bin Dir in der Erklärung der Erscheinungen überlegen, und das ist das Haupterfordernis eines guten Systems.“ (zit. von Leibniz § 152) Eine rationale Theologie, die Vernunft und Glauben für vereinbar hält, muss sich nach Bayle an den Kriterien eines jeden „bon Système“ messen lassen, also erstens einen deutlichen und widerspruchsfreien Begriff von Gott liefern und zweitens mit der Erfahrung vereinbar sein bzw. diese erklären können14. Der christliche Monotheismus erfüllt das erste Kriterium, aber nicht das zweite: Zwar sind in der Natur Ordnung und Regelmäßigkeit zu finden, die dem einheitlichen Begriff eines vollkommensten Wesens entsprechen, aber unsere geschichtlichen Erfahrungen insbesondere des Zweckwidrigen müssen diesen Begriff wieder destruieren. Sobald also nicht a priori, sondern a posteriori, von der Erfahrung des Übels her argumentiert wird, leisten nach Bayle die „zwei Prinzipien“ der Dualisten zur Erklärung mehr als das einheitliche Prinzip der Theologen (vgl. § 144). Bereits der Satan des Hiobbuches hatte ja vorgeführt, welche Erleichterungen die Annahme eines zweiten wirksamen Prinzips neben Gott für die Erklärung des Zweckwidrigen bringen kann. Wenn es um die Integration von Erfahrungen des Übels geht, hat die Annahme eines Kampfes von guten und bösen Mächten oder Prinzipien, also eine Einschränkung von Gottes Allmacht, eine große Anziehungskraft. Um dieser zu begegnen, will auch Leibniz ein „bon Système“ bieten. Die Theodizee (die man im Zusammenhang mit dem Système nouveau de la nature von 1695 und ––––––––––––– 13 Im Artikel „Pauliciens“ des Dictionaire zitiert auch Bayle das Argument des Epikur, und Leibniz bezieht sich ausdrücklich auf diesen Einwand (vgl. Anhang III zur Theodizee, „Bemerkungen über das vor kurzem in England veröffentlichte Buch über den Ursprung des Übels“, § 27). 14 „... donner raison des experiénces“; vgl. Stefan Lorenz, De mundo optimo (1997), 84f. Zu Bayles skeptischer Methode vgl. Lorenz 84-89.
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mit der Monadologie von 1714 lesen muss, in welcher Leibniz jeweils auch auf korrespondierende Paragraphen der Theodizee verweist) soll zeigen, dass die Erfahrungen des Übels mit der monotheistischen Doktrin des allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gottes vereinbar sind 15. Leibniz’ Theodizee ist ein Ergebnis langjähriger Bemühungen um eine systematische Bestimmung des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch, um ein philosophisches System, dass der Entwicklung der Naturwissenschaften und Logik (an der Leibniz selbst wesentlichen Anteil hatte) ebenso Rechnung tragen konnte wie den Ansprüchen der Theologie. Der christliche Gott war für die abendländische Philosophie der frühen Neuzeit noch weitgehend selbstverständlicher Bestandteil der Welterklärung16. Leibniz’ Theorem von der göttlichen Wahl der besten möglichen Welt (sein „Optimismus“) ist Bestandteil eines philosophischen Gedankengebäudes, das Gottes Verhältnis zu seiner Schöpfung und die Rolle des Menschen in der Welt umfasst17. Der Kerngedanke dieses „Systems“ be––––––––––––– 15 Allerdings verzichtet auch Leibniz nicht auf dualistische Denkmuster – aber er verlegt sie in den Gottesbegriff selbst. „Es gibt wirklich zwei Prinzipien, aber sie sind beide in Gott, nämlich sein Verstand und sein Wille. Der Verstand gibt das böse Prinzip, ohne deshalb seinen Glanz zu verlieren, ohne selbst böse zu werden; er stellt die Naturen vor, wie sie sich in Gestalt ewiger Wahrheiten vorfinden und enthält den Grund in sich, durch welchen das Böse zugelassen ist; der Wille jedoch geht nur auf das Gute.“ (§ 149) Die Güte Gottes, der „vorgängige Wille“ (antecedens) will nur das absolut Beste. Entscheidend aber ist der nachfolgende Wille (consequens), der sich auf die beste der Möglichkeiten richtet, die der unendliche Verstand Gottes – seine „Weisheit“ – allesamt übersieht und vergleicht. Nicht alle Güter sind gleichzeitig zu haben und manches Übel notwendig in Kauf zu nehmen und „zuzulassen“. Aus dem „Streit“ der auf die verschiedenen Güter gerichteten Partialwillen ergibt sich ein Optimierungsproblem, zu dessen Veranschaulichung sich Metaphern des Kampfes, aber z. B. auch solche der (von Leibniz selbst begründeten) Kräftedynamik anbieten. Der nachfolgende Wille „... entsteht aus dem Widerstreit aller Wollungs-Antizipationen, der das Gute erstrebenden wie der das Böse zurückweisenden: aus dem Zusammentreffen aller partikulären Wollungen aber entsteht der Gesamtwille: Wie in der Mechanik die zusammengesetzte Bewegung aus allen Kräften, die auf ein und denselben beweglichen Körper wirken, resultiert, und in gleicher Weise einer jeden dieser Kräfte genügt, soweit es möglich ist, alles auf einmal zu tun“ (§ 22). 16 Eine Eigenheit christlich geprägten Denkens ist das Operieren mit der „Universalursache Gott“, mit dem „Gottesbegriff im Sinne eines absoluten Bezugssystems“: „Es hat lange gedauert, bis aus den neuzeitlichen Physikbüchern Gott als unmittelbare Erklärung physikalischer Phänomene verschwand“ (Ernst R. Sandvoss, Geschichte der Philosophie (1989), Bd. II, 30f.). 17 Das zentrale Motiv des „mundus optimus“ selber war bei Erscheinen der Theodizee schon ein halbes Jahrhundert alt und ist nicht nur bei Leibniz zu finden. Leibniz selbst
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sagt, dass Gott im Vorhinein die Welt geschaffen, in „prästabilierter Harmonie“ die umfassende Ordnung der Dinge und die natürlichen Gesetze festgelegt hat, aber nach diesem Wahl- und Schöpferakt nicht mehr eingreift, weil das Ganze besser nicht sein könnte. Denn um die Welt zu schaffen, musste Gott aus den unendlich vielen möglichen Welten, die seine Weisheit sämtlich überblickt, eine wählen und ins Dasein setzen. Damit behauptet Leibniz (gegen Descartes und Spinoza) die Kontingenz des Bestehenden. Um diese Kontingenz abzusichern und mit der göttlichen Vorsehung zu vereinbaren, differenziert Leibniz den Begriff der Notwendigkeit: Was für uns bedingt notwendig, weil als Teil der von Gott gewählten Welt vorherbestimmt ist, ist noch keine absolute, „metaphysische“ Notwendigkeit, da sein Gegenteil zumindest möglich ist, also keinen logischen Widerspruch einschließt. Es ist nicht unmöglich, dass Gott eine andere Welt hätte wählen können. Außerdem bestimmt Leibniz gegen die voluntaristische Annahme einer unbeschränkten Willkür Gottes, welche die Gerechtigkeit Gottes geradezu „vernichten“18 würde, einen zureichenden Grund für das Handeln Gottes: die aus seiner Weisheit und Güte resultierende „moralische Notwendigkeit“, aus der Gesamtheit der Möglichkeiten das Beste zu wählen – aber eben dennoch frei, d. h. nicht durch „metaphysische“ Notwendigkeit gezwungen. Die moralische Notwendigkeit ist ein Grund, der „treibt“, aber nicht „zwingt“ (§ 45). So wählt Gott notwendig die beste Welt, d. i. die beste aus den unendlich vielen möglichen Reihen von jeweils „kompossiblen“ Zuständen und Ereignissen, die als ein Ganzes von vollkommener Harmonie durchwaltet wird. Die Existenz von Übel und Sünden ist eine notwendige Mitfolge dieser Wahl, sie sind Teil der besten Welt und deshalb von Gott nur zugelassen, nicht aber gewollt und verschuldet. Leibniz’ Theodizee-Argument schließt a priori, aus dem Begriff Gottes, mit „Notwendigkeit“ auf die Wahl der besten Welt, die demnach auch bei Wegfall bestimmter Übel besser nicht sein könnte. Bei Akzeptanz seiner Voraussetzungen ist sein System unwiderlegbar, und es vermag gleichzeitig sogar (über die „bedingte Notwendigkeit“) die gegensätzli––––––––––––– weist darauf hin, dass zentrale Gedanken in den Essais de Theodicée mit solchen in Nicolas Malebranches Traité de la nature et de la grace (1680) Ähnlichkeit haben (Lorenz 28). Auch Malebranche, mit dem Leibniz in regem Briefkontakt steht, versucht Gott zu rechtfertigen, indem er den Willen Gottes seiner Weisheit unterordnet und folgert, dass Gott unter zahllosen möglichen Welten („infinité de Mondes possibles“) die erschafft, welche als die vollkommenste („le plus parfait“) gelten kann“ (Lorenz 33f.). 18 Vgl. Theodizee Vorrede S. 14.
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chen Konzepte von göttlicher Vorsehung und menschlicher Willensfreiheit zusammenzuzwingen. Die modale Argumentation um den Begriff der möglichen Welt, die Leibniz entwickelt, um die Kontingenz auch des Vorherbestimmten zu begründen (vgl. z. B. Theodizee §§ 40-44), ist nicht nur elegant, sie nimmt auch zentrale Gedanken der modernen intensionalen Logik vorweg. So muss man sagen, dass die „Theodizee“ besser ist als ihr Ruf – auch wenn sie letztlich die Skeptiker nicht von der besten aller möglichen Welten zu überzeugen vermochte. 3. Das Rechtsstreitschema in der Theodizee Kants Definition der Theodizee als Verteidigung Gottes vor dem Gerichtshof der Vernunft gegen die Anklagen, die aus der Erfahrung des Übels oder des Zweckwidrigen erhoben werden können, zeigt bereits an, in welchem Maße die forensische Metaphorik die Theodizee-Diskussion auch substantiell bestimmt. Die Theodizee, so Geyer, ist ein gerichtsprozessanaloges Verfahren, welches die früheren „theodizeeanalogen“ Überlegungen „im Rahmen der Forensik reformuliert“. Seit Leibniz’ Theodizee-Schrift „verbindet sich das forensische Moment untrennbar mit dem, was seither ‚Theodizeegedanke‘ heißt ... Theodizeen im strengen Wortsinne, und nur sie, bezeichnen Verfahren, die Gott gerichtsprozeßanalog vor dem Gerichtshofe der Vernunft von der Anklage freizusprechen suchen, für das Übel in der Welt verantwortlich zu sein.“ (Geyer 1992a, 70) Auch in theodizeeanalogen Bemühungen vor Leibniz wurden schon forensische Metaphern verwendet. Neben dem Buch Hiob könnte man etwa Seneca nennen, der in der Schrift De providentia die Frage behandelt, „warum, wenn eine Vorsehung über die Welt waltet, den Guten doch so viel Übel zustoßen“ und ähnlich wie Hiobs Freunde die „Rolle eines Anwalts der Götter übernehmen“ 19 will. Bei Leibniz nun, provoziert durch Bayles Herausforderung, strukturiert das Prozessmotiv ein Stück weit explizit die Argumentation. „Am meisten scheint Herrn Bayle die Forderung, Gott müsse auf die gleiche Weise gerechtfertigt werden, wie man gewöhnlich die Sache eines Angeklagten vor dem Richter verteidigt, zu der Annahme, es sei unmöglich, die Bedenken der Vernunft gegen den Glauben zu heben, geführt zu haben.“ (Abhandlung § 32) Leibniz hingegen traut der Vernunft (und sich selbst) durchaus zu, einen solchen Pro––––––––––––– 19 Seneca, Von der Muße des Weisen, Seneca-Ausgabe der Deutschen Bibliothek Berlin, übersetzt von Alexander v. Gleichen-Rußwurm; o. J., 42; zit. nach Fritzsche 13f.
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zess erfolgreich zu Ende zu bringen und in einer „Vertheidigung der Sache Gottes“ (Causa Dei § 1) die Bedenken der Vernunft zu zerstreuen. So bringt der Verteidiger Bayle gegenüber vor, dieser habe nicht bedacht, dass irdische Gerichtshöfe oft urteilen müssen, ohne die Wahrheit mit Sicherheit feststellen zu können, und dass sie in diesem Falle ihre Zuflucht zur Beurteilung von Indizien und zu einer Entscheidung nach Wahrscheinlichkeiten nehmen müssten (vgl. Abhandlung § 32). Ein Mensch, der beispielsweise wissentlich ein Verbrechen geschehen lässt, das er verhindern könnte, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach als Mitschuldiger anzusehen, solange nicht plausible Gründe geltend gemacht werden, die diesen Menschen zur Zulassung der Tat bewogen haben können. Ein Vater oder Vormund, der seinen Schützling bewusst in eine Lage bringt, in der dieser absehbar böse handeln wird, sollte ebenfalls allem Anschein nach dafür (mit)verantwortlich sein. Allerdings folgt aus all den Anzeichen zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit, aber nicht notwendig die Mitschuld des Beklagten (vgl. Abhandlung § 33). Es lassen sich fast immer auch Geschehnisse denken, die ein solches Handeln entschuldigen würden. In Bezug auf Gott wiederum, so Leibniz, folgt schon aus seinen a priori vorauszusetzenden Eigenschaften (seiner vollkommenen Güte, Gerechtigkeit und Heiligkeit), dass solche entlastenden Gründe bestanden haben müssen und wir sie, wenn nur unser Verstand dazu in der Lage wäre, unfehlbar erkennen könnten: „Er hat es getan, also hat er es gut getan.“ (Abhandlung § 35) Er rechtfertigt diesen Schluss ebenfalls mit Verweis auf das gerichtliche Verfahren: auch bei Menschen, deren Schuld festgestellt werden soll, so führt er weiter aus, wird ja bei der Abwägung der Wahrscheinlichkeit dieser Schuld berücksichtigt, was über den Charakter des Angeklagten bekannt ist (sein „Leumund“ sozusagen): Ein Mensch könnte so große und so starke Beweise seiner Tugend und Heiligkeit geben, daß alle, auch die hervorstechendsten der gegen ihn erhobenen Gründe, durch die man ihn eines angeblichen Verbrechens, eines Diebstahls oder eines Totschlags z. B. überführen will, als Verleumdungen falscher Zeugen zurückgewiesen werden müßten oder als ein außergewöhnliches Spiel des Zufalls, welches zuweilen die Unschuldigsten in Verdacht bringt. So daß dieser Mensch in einem Falle, wo jeder andere in Gefahr stände verurteilt oder (je nach den örtlichen Gesetzen) auf die Folter gebracht zu werden, von seinen Richtern einstimmig freigesprochen würde. (Abhandlung § 36)
Es ist einsichtig, so Leibniz, dass „für diese Person ... die Regeln der Rechtsprechung andere als für die übrigen Menschen“ wären (ebd.). Erst recht muss der „Leumund“ Gottes, also die Festigkeit des Glaubens an die göttliche Gerechtigkeit und Güte, die Vernunft bewegen, von den vorge-
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brachten Wahrscheinlichkeiten abzusehen: Weil Gott auch einem solchen unbezweifelbar tugendhaften Menschen noch „an Güte und Macht unendlich überlegen“ ist, können keine auch noch so triftigen Gründe gegen Glauben und Gottvertrauen bestehen. „Danach müssen wir sagen: alles was Gott getan, hat er so getan, wie es sein mußte.“ (Abhandlung § 37) Damit hat Leibniz das Grundproblem der Theodizee-Prozesse bis in die Gegenwart auf den Punkt gebracht. Eine a priori gegründete, für jede beliebige Einzelerfahrung gleichermaßen gültige Argumentation, wie Leibniz sie vorbringt, ist genau solange gerechtfertigt, wie man der Güte und Gerechtigkeit Gottes ausreichend Vertrauen entgegenbringt, solange man also quasi seinen „Leumund“ als überzeugendes Argument für seine Unschuld anerkennen will. Je nachdem, ob jemand diese Voraussetzung als Verknüpfungsregel teilt oder nicht, muss er die Verteidigung akzeptieren oder seine Vorwürfe für nicht ausreichend entkräftet halten. Für Leibniz ist (ähnlich wie für die Freunde Hiobs) die Vollkommenheit Gottes unbezweifelbar; deshalb muss jede Anklage, die sich auf irgendwelche (notwendig beschränkten) Erfahrungen beruft, von vornherein scheitern. In dubio pro reo: „Ein gerichtlicher Verteidiger ist für gewöhnlich nicht gezwungen, sein Recht zu beweisen oder seinen Besitztitel vorzulegen, wohl aber ist er gezwungen, auf die Gründe des Anklägers zu antworten.“ (Abhandlung § 58) Nur wenn diese Gründe des Anklägers unwiderlegliche Gründe wären, hätte die Verteidigung wirklich ein Problem. Denn auch die Sache Gottes kann nicht gegen die Vernunft – „widervernünftig“ – sein; aber sie kann jederzeit legitim als unbegreiflich, „übervernünftig“ befunden werden (vgl. Abhandlung § 60). Die Beweislast liegt aufgrund der Unschuldsvermutung grundsätzlich beim Ankläger. Deswegen, so schlussfolgert Leibniz an anderer Stelle, verlange Bayle zu viel, wenn er vom Beweis der Gerechtigkeit Gottes fordert, „man solle ihm im einzelnen zeigen, wie das Übel mit dem bestmöglichen Plane des Universums verbunden ist“; dazu, meint Leibniz, sei die Verteidigung „nicht gezwungen ..., denn man ist zu nichts verpflichtet, was einem in dem Zustande, in dem man sich gerade befindet unmöglich ist. Uns genügt es, zu verdeutlichen, daß ein besonderes Übel durchaus mit dem allgemeinen Besten verknüpft sein kann. Diese unvollkommene Erklärung, die dem anderen Leben noch mancherlei überläßt, reicht aus zur Auflösung der Einwände, aber nicht zum umfassenden Verständnis der Dinge.“ (§ 145) Es ist übrigens bemerkenswert, dass Leibniz überhaupt kein Problem damit hat, die menschliche Vernunft als Gericht über das Göttliche oder Heilige einzusetzen. Die Formulierung „Richterstuhl der Vernunft“ (le
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tribunal de la raison) findet sich nicht erst bei Kant, sondern bereits in der Theodizee (Abhandlung § 29). Die göttliche Gerechtigkeit kennt keine anderen Normen als die menschliche (vgl. Abhandlung § 35), und die Vernunft, mit der Fähigkeit zu erkennen, was Recht ist, wurde dem Menschen von Gott selbst verliehen. Es ist deshalb für Leibniz (wie für Kant) völlig legitim, dass die Vernunft Geltungsansprüche, in diesem Falle der Bibel, zu prüfen hat, bevor sie sich diesen unterwirft. Nach erfolgter Prüfung durch den Gerichtshof der Vernunft aber – einer Prüfung allerdings im vollen Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit, die sich sozusagen auf die Echtheit der Bestallungsurkunde, ihre Verträglichkeit mit der Vernunft beschränken muss – soll die Vernunft von ihren Gründen und Wahrscheinlichkeiten ablassen und die höhere Autorität der Heiligen Schrift anerkennen. Strenggenommen kennt Gott keinen Richter über sich außer seiner eigenen Weisheit (vgl. § 121). Andererseits ist er doch allen rechtschaffenen Menschen eine Rechtfertigung, eine „Begründung seiner Zulassung des Lasters und Verbrechens schuldig. Doch hat Gott dem schon soweit Genüge getan, wie es für uns hienieden nötig ist: er gab uns das Licht der Vernunft und damit Mittel und Wege, allen Schwierigkeiten entgegenzutreten.“ (§ 265) Er hoffe, so fährt Leibniz fort, er habe in der vorliegenden Abhandlung diese Rechtfertigung hinreichend geleistet. Theodizee kann in dieser Perspektive gewissermaßen als Selbstrechtfertigung Gottes durch die menschliche Vernunft gesehen werden, welche aufgrund ihrer Herkunft Anteil an der göttlichen Weisheit hat – durchaus vergleichbar mit Kants Konzeption einer „authentischen Theodizee“ als Selbstauslegung Gottes durch die Vernunft (s. u. Kap. D.IV). Der Perspektivenwechsel – oder Spagat – zwischen beschränkter Menschenvernunft und allwissender Draufsicht stellt sich in der RECHTSTREIT-Analogie als wechselnde Rollenverteilung dar: Vernunft ist Ankläger und Verteidiger, aber auch Richter. Darin deutet sich auch schon das Potenzial der Problemstellung an, das R ECHTSSTREIT-Schema zu sprengen. Auch das wird, vor allem in Kapitel D.IV, ein Thema der gegenwärtigen Untersuchung sein. 4. Perspektiven: Gott, Mensch und Welt Schon die narrative Struktur des Hiobbuches wurde von den Positionen Mensch, Welt, Gott bestimmt. Die traditionell geprägten Formen, die im Hiobbuch aufeinander treffen, denken das menschliche Dasein aus je un-
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terschiedlicher Perspektive: Weisheit strebt in erster Linie nach Ordnungsund Orientierungswissen über die Welt, beobachtet von außen aus der virtuellen Gottesperspektive; die psalmistische Klage markiert die Stellung des leidenden Menschen in der Welt und seinen Hilferuf an Gott; das RECHTSSTREIT-Schema, als „juridische“ Gottes- und Welterkenntnis, verbindet und vermittelt auf spezifische Weise Ordnungsdenken und In-derWelt-Sein, indem es sowohl dem Menschen als auch Gott in der universellen Ordnung einen festen Platz zuzuweisen versucht. Dieselben Konzepte „Gott“, „Mensch“ und „Welt“ spielen, wenn auch in einem anderen Verständnis, auch im Theodizeeproblem eine wichtige Rolle. In der Reihung: „Gott ist die Ursache der Welt, in der der Mensch frei lebt“ erscheint die apologetische Tradition der Metaphysica specialis 20, die auch für die Leibniz-Theodizee grundlegend war: „In dieser Mischung von Cartesianismus-Tradition und Apologetik stand Leibniz mit seiner Theodicée. Er stellte sich dabei dezidiert auf den apologetischen Standpunkt und ordnete die Erkenntnistheorie dem Gottesbegriff unter“21. So scheinen diese drei Positionen in den Problemräumen von Hiobproblem und Theodizeeproblem eine strukturelle Isotopie zu begründen. Jede Beschreibung der Welt als eine Schöpfung Gottes legt Rückschlüsse auf Eigenschaften, Absichten und Fähigkeiten des Schöpfers nahe. Bei Hiob ist die Geltung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs Voraussetzung für die Behauptung der Gerechtigkeit Gottes. Der Theodizeeprozess wiederum verhandelt, ob und wie das scheinbar Zweckwidrige der Welt ihrem Schöpfer zuzurechnen ist. In beiden Fällen sind es Erfahrungen des Menschen in und mit der Welt – Erfahrungen des (unverschuldeten) Leidens und des Bösen -, die ein lange akzeptiertes Welt- und Gottesbild problematisch machen (s a), und in beiden Fällen besteht das Ziel darin, von hier zu einer neuen konfliktfreien und akzeptablen – das heißt kohärenten und überzeugenden – Weltbeschreibung (sz) zu gelangen. Dabei sollten die inhaltlichen Bestimmungen der Strukturpositionen „Gott“, „Mensch“, „Welt“ – grundlegende philosophische und theologische Über––––––––––––– 20 „Der Titel der metaphysischen Trinität: Gott, Mensch und Welt stammt in seiner lehrhaften Formulierung aus Christian Wolffs rationaler Philosophie oder Logik. Im 3. Kapitel (§ 55 und § 56) unterscheidet er drei Teile der Philosophie. Der erste handelt von Gott, der zweite von der menschlichen Seele, der dritte von den körperlichen Dingen der Welt ... Nur von diesen Dreien gibt es Erkenntnis, und die Philosophie kann deshalb nicht mehr als drei Teile haben. Sie ist die Metaphysica specialis“ (Karl Löwith, Gott, Mensch und Welt (1986), 4). 21 Wilhelm Schmidt-Biggemann, Theodizee und Tatsachen (1988), 11ff.
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zeugungen, verfügbare Begriffe, Schemata, Metaphern – auch die verfügbaren Verknüpfungsregeln und damit mögliche Transformationen im Problemraum determinieren. Das neuzeitliche Verhältnis dieser drei Positionen wird dominiert von den Perspektivenwechseln, die eine Philosophie inszenieren muss, welche dieses Verhältnis systematisch erfassen will. Was aus der begrenzten Perspektive des leidenden Subjekts als Unordnung und Willkür erscheint, wird aus der quasi-göttlichen Draufsicht schnell zur „besten Welt“. Die Vermittlung von faktischer und virtueller Perspektive wird – nicht zuletzt durch die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften – zur ständigen Aufgabe. Diese perspektivischen Strategien geben mögliche Transformationen im Problemraum des Theodizeeproblems vor, die auch in narrativen Verhandlungen dieses Problems Anwendung finden können. Karl Löwith hat versucht, die Entwicklung der Positionen „Gott“, „Mensch“, „Welt“ von der Antike bis in die Neuzeit nachzuzeichnen22. An ihrem Anfang steht bei Löwith die Ablösung des ewigen und damit selbst göttlichen Kosmos der Griechen, als „an und für sich in Ordnung, wohlgeordnet“ und „als eine Weltordnung ... ‚gut‘ und ‚schön‘ – sogar ‚das Beste und Schönste alles Gewordenen‘“ 23, durch die geschaffene Welt der jüdisch-christlichen Tradition, die ihrem Schöpfer gegenübersteht und dadurch Anfragen an Gott bezüglich ihrer Ordnung, Güte und Schönheit erst ermöglicht. Diesen Weg der Philosophie kann man veranschaulichen als folgenreichen Übergang von einer Perspektive, die das Ganze von außen in den Blick zu nehmen versucht, hin zu einem Fragen, das von innen heraus zu den Grenzen des Erreichbaren vordringen will. Löwith selbst verwendet für diese unterschiedlichen Weisen des Denkens entsprechende visuelle Metaphern: Für „griechisches Denken und Schauen“ ist die Welt „das Ganze, ‚das Größte und Höchste‘“ und die Philosophie „darum eine überirdische Beschäftigung“ (ebd.). Wenn auch gemäß der von der Philosophie bestimmten Rangordnung der sterbliche Mensch nur eine „untergeordnete Stellung“ im kosmischen Ganzen einnimmt, so erhebt sich doch die menschliche Erkenntnis virtuell über dieses Ganze, um es als Göttliches zu erfassen. Die pseudoaristotelische Schrift Über die Welt, die Löwith zitiert, kommt einem Bewusstsein dieser künstlichen ––––––––––––– 22 Karl Löwith, Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis Nietzsche (1986, zuerst 1967); im Folgenden zitiert mit einfachen Seitenzahlen. 23 Löwith zitiert Platon, Timaios 29a u. 92c. Gerade der Timaios zeigt allerdings, wie Löwith die Geschichte vereinfacht; stellt er doch ganz ähnlich wie Leibniz die Welt als von einem guten Gott als die beste geschaffene vor.
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Perspektive von oben bereits bemerkenswert nahe: „Schon oft schien mir die Philosophie eine überirdische Beschäftigung zu sein, besonders dann, wenn sie sich zum Anblick des Weltganzen und der darin verborgenen Wahrheit erhebt. Die Erkenntnis dieses Größten und Höchsten kommt der Philosophie am meisten zu, weil es ihr verwandt ist.“ Im Selbstverständnis der Griechen geht die Philosophie über alles Irdische hinaus, indem sie „ihren Blick auf die bestirnte Himmelswelt richtet“. Die erwähnte Schrift fährt fort: „Weil es aber nicht möglich ist, körperlich in den himmlischen Raum vorzustoßen, die Erde zu verlassen und jenen heiligen Bezirk unmittelbar anzuschauen, hat der menschliche Geist auf den Flügeln der Liebe zum höchsten Wissen die Reise gewagt, und was räumlich die allergrößte Entfernung hat, dem Geist nahegebracht.“ (7) Einer solchen von allem Irdischen entbundenen Weltsicht von oben ist Anthropozentrismus weitgehend fremd. Anders eine Philosophie, die „die biblische Voraussetzung eines persönlichen Schöpfergottes“ teilt und somit immer wieder versucht ist, „den Menschen als Grund und Ziel der gesamten Schöpfung“ anzusehen (9). Indem Gott aus dem Kosmos entweicht, verliert dieser seine Verehrungswürdigkeit. „Der spätantiken Stimmung der Abkehr von der Welt begegnet die Weltentsagung des frühen Christentums“. Dieser „Abkehr“ entspricht, übersetzt ins Visuelle, ein Wegschauen oder auch ein Schließen der Augen: „Das Alte und Neue Testament hat keine Augen für den Kosmos. Wer nicht, wie die Griechen, im Sehen und Schauen lebt, sondern im gläubigen Hören auf Gottes Wort und Willen, der kann die Welt nur als eine zweckvolle Schöpfung und schließlich als eine machina vorstellen.“ (ebd.) Und Löwith zitiert Augustinus24: „Daß es eine Welt gibt, sehen wir; daß es einen Gott gibt, glauben wir. Wo aber haben wir Gott gehört? Nirgends besser als in heiligen Schrift, wo sein Prophet sagt: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Im Buch Hiob löste noch das Schauen Gottes das Hiobproblem: „aber nun hat mein Auge dich gesehen.“ (Hi 42,5) Der Mensch, dem es aufs Schauen nicht mehr ankommt, kann Gott und somit auch das Ganze nur noch vom ‚Hörensagen‘ kennen, und er ist darauf angewiesen zu glauben, was er hört. Von Gott, dem „Unsichtbaren“ (Augustinus), kann der Mensch nur das sehen, was am Menschen selbst Ebenbild Gottes ist. Die sichtbare Welt aber wird ‚entweltlicht‘. Die Welt als geschaffene existiert nur „umwillen des Menschen“, aber sie kann um die Liebe des Menschen nicht mit Gott konkurrieren. „Die gesamte christliche Theologie von Pau––––––––––––– 24 Augustinus, De Civitate Dei XI,4; zitiert Löwith 9f.
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lus und Augustin bis zu Luther und Pascal ist sich darüber einig, daß nicht die Welt als solche liebenswert ist, sondern ausschließlich Gott, der selber die Liebe ist, und der in ihm zu liebende Mitmensch.“ (10) Der nicht mehr Anschauende, sondern Hörende sucht seinen Platz nicht außerhalb, sondern im Zentrum des Ganzen. Gleichzeitig horcht er in sich hinein. Die „Entweltlichung der Welt setzt voraus, daß für Augustin als Christen die erste und grundlegende Gewißheit nicht mehr die Evidenz der sichtbaren Welt ist, sondern das innere Wissen um das Selbstsein, der Selbstbezug auf das se ipsum: die Gewißheit, selbst da zu sein und zu leben.“ (10f.) Die Welt wird fassbar nur durch den Rückgang aufs Ich – nämlich als Nicht-Ich, als Außenwelt, letztlich „durch unser Bewußtsein von ihr und unser Verhalten zu ihr ‚konstituiert‘“. Dieses Ich der christlichen Selbsterfahrung kehrt nach Löwith wieder „metaphysisch gedacht in Descartes’ cogito me cogitare, in Kants transzendentalem Ich, in Husserls reinem Ego, in Heideggers Begriff vom Dasein, dem es in seinem Sein um es selbst geht, und in Jaspers Rede von Existenz“ (11). Dem christlichen Einstieg in die Innerlichkeit entspricht, so Löwith, ein „Heraustreten aus der den Menschen umfassenden Ordnung der Welt“ (12). Damit allerdings wird der Mensch einerseits auch „heimatlos und ortlos im Ganzen der Welt, eine kontingente und schließlich absurde ... Eksistenz“, und er wird außerdem gerade dadurch „in ganz besonderer Weise wichtig“ (ebd.): erst Krone der Schöpfung, dann selbstbewusstes, sich die Objektwelt zu eigen machendes Subjekt. Descartes kommt nach Löwith das Verdienst zu, die „Grunderfahrung der christlichen Innerlichkeit, im Verhältnis zur Welt als Äußerlichkeit, philosophisch-systematisch durchdacht“ zu haben (18). Sein Resultat cogito ergo sum erinnert nicht zufällig an Augustinus’ „Ich zweifle, also bin ich“ (zit. Sandvoss II, 79). Bei beiden ist das Motiv der Reflexion auf sich selbst nicht allein die Unzulänglichkeit der Erfahrung, die schon von den griechischen Skeptikern betont wurde, sondern „die Abwendung von der Welt in der Zuwendung zu Gott als ihrem überweltlichen Schöpfer“ (Löwith 19). Damit wäre die neugewonnene Grundkonstellation der Größen Mensch, Gott und Welt angegeben: der „seiner selbst bewusste“ Mensch, der, sich ins Zentrum der Gesamtordnung projizierend, die Welt gleichzeitig als radikal außerhalb seiner erfährt, erforscht, erklärt, und der Gottes Stimme vor allem in sich selber sucht – als Vernunft, mystische Erfahrung, Idee oder das moralische Gesetz – um dann das Gefundene wieder über das gedachte Ganze zu erheben. Diese Konstellation ist einigermaßen paradox: Gott und Mensch stehen auf der einen Seite, die Welt auf der
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anderen; der Mensch (als philosophisches Konstrukt) steht gleichzeitig im Zentrum der Weltordnung und radikal ihr gegenüber. Die subjektzentrierte Perspektive, die auf durchaus paradoxe Weise der „entweltlichten“ „christlichen ‚Bewußtseinsstellung‘“25 entspricht, spielt eine dominierende Rolle in der neuzeitlichen Philosophie. Dennoch ist dieser (v. a. im Lichte der sukzessiven Wiederentdeckung der Welt seit der Renaissance und mit der „kopernikanischen Wende“ von Kopernikus bis Kant, die unaufhaltsam den Menschen wieder aus dem Zentrum hinausbefördert) auch die „Gott-Perspektive“ von außen unverzichtbar. Jedes philosophische „System“, das das „Ganze“ beschreiben will, muss sich dazu letztlich auf einem virtuellen Beobachterstandpunkt außerhalb des Ganzen postieren. Welche Rolle aber spielt dann neben „Mensch“ und „Welt“ noch „Gott“? Es gibt offenbar zwei Möglichkeiten: Entweder kommen im Prozess reflektierender Spekulation Gott und Mensch einander näher und näher, bis sie zu einer einzigen Instanz verschmelzen (aus der Theodizee wird, infolge der Entlastung Gottes von seinen Zuständigkeiten, am Ende „Anthropodizee“ 26), oder aber der Gott entschwindet in einer entgegengesetzten Bewegung hinter die Grenzen des Wissbaren, ist wieder deus absconditus und unendlich fern. So oder so – übrig bleiben, als praktisch relevant, nur Mensch und Außen-Welt, die überdies als solche, als Beobachtungs-Objekt, nun wesentlich als eine vom Subjekt erforschbare, beherrschbare, gar abhängige erscheint. Am Ende dieser etappenweisen „Reduktion von Gott, Mensch und Welt auf: Mensch und Welt“ (4) steht „das gottlos gewordene Universum der modernen Naturwissen––––––––––––– 25 Löwith 15. Allerdings: Der „christliche Rückzug in die Innerlichkeit“ ist als „Heraustreten aus der den Menschen umfassenden Ordnung der Welt“ nicht zwangsläufig spezifisch „christlich“. Er ist selbst vielleicht eher als eine Reaktion auf das Herausgeworfenwerden aus der vertrauten Ordnung zu verstehen: auf den Zusammenbruch der antiken Welt, die Krise des römischen Reiches, auch die bis ins vierte Jahrhundert andauernden Christenverfolgungen. Wie auch Löwith feststellt (vgl. S. 9), ist die Abkehr von der Welt eine für die Spätantike charakteristische Bewegung, die das Christentum mit vielen weiteren geistigen Strömungen dieser Zeit verband. Löwiths wichtigster Zeuge Augustinus hatte sich bereits 372/373, nach der Lektüre einer heute verlorengegangenen Schrift Ciceros, dem weltlichen Streben ab- und der Philosophie zugewandt und sich zunächst für neun Jahre dem Manichäismus angeschlossen, welcher die Abwendung vom Leiblichen, Askese und das Sichselbstbegreifen der Seele als einzigen Weg zu ihrer Erlösung verstand. Zum Christentum bekannte sich Augustinus erst 387. In der Folge hat das zur Staatsreligion avancierte Christentum sicher den philosophischen Gegensatz von Subjekt und Objektwelt zementiert. 26 Vgl. Geyer 1992a, 85.
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schaft“27 – Laplace hat Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Theorie des Sonnensystems die „Hypothese“ Gott schon nicht mehr nötig28. Die Theodizee des Naturwissenschaftlers Leibniz, auch wenn sie wie Descartes’ Meditationen den Begriff Gottes im Untertitel führt, ist ein wesentlicher Schritt in diesem Prozess der Wiedergewinnung der Welt, die sie als die beste aller möglichen Welten erkennen möchte29. Theodizee versucht, mit den Folgen dieses Prozesses fertig zu werden: dem fortschreitenden Verlust Gottes. Einmal erwählt und erschaffen, muss auch bei Leibniz die Welt ohne Gott auskommen. Der Schöpfer-Gott der Theodizee ist einer, der die Welt in Ruhe lässt. Der Mensch ist in der besten Welt letzten Endes auf sich allein gestellt. So zieht sich Gott aus der Konstellation GOTT-MENSCH-WELT zunehmend auf eine Position der Unantastbarkeit und praktischen Irrelevanz zurück. Die drohende Vakanz der Gottes-Position ist die treibende Kraft der Theodizee-Debatte. Auch in der Theodizee finden wir das Zusammenspiel der gegensätzlichen Perspektiven „von oben“, mit den Augen Gottes, und „von unten“, mit den begrenzten Fähigkeiten des Menschen. Der Blick auf ein von uni––––––––––––– 27 Für Löwith ist das neuzeitliche Weltverhältnis eine „Folge der Cartesischen und Kantischen Kritik“ und diese wiederum eine „entfernte Konsequenz der christlichen ‚Bewußtseinsstellung‘“ (15). „Das gottlos gewordene Universum der modernen Naturwissenschaft ... setzt voraus, daß einst ein außerweltlicher Gott sein überweltlicher Schöpfer war“ (16). – Ich möchte hier nicht die Diskussion um Löwiths Säkularisierungstheorem wieder aufnehmen, die Frage, wie sinnvoll es ist, die Geschichtsphilosophie oder gar die „Neuzeit“ als „bloßes Säkularisat und damit als Schwundform voraufgegangener, religiös und theologisch geprägter Epochen und ihrer Eigentümlichkeiten“ zu betrachten (Lorenz 14). Lorenz kommentiert ausführlich den Streit zwischen Löwith und Blumenberg um das Säkularisierungstheorem sowie seine einflussreiche Marquardsche Variante, die direkt auf das Theodizee-Schema abzielt und sogar zu enzyklopädischen Weihen gekommen ist: „Der Mensch fordert [sc. in der Theodizee] Gott als den Schöpfer vor die Schranken seiner Vernunft, um im nächsten Schritt dem Menschen als Handlungssubjekt der Geschichte die alleinige Verantwortung aufzubürden (Marquard)“ (Hans Poser im Art. Leibniz der Theologischen Realenzyklopädie, Bd. XX. S. 649-665, Berlin/New York 1990; zitiert Lorenz 21). 28 So zumindest die berühmte, von Victor Hugo (nach Arago) mitgeteilte Anekdote, der zufolge Laplace bei der Übergabe des 1. Bandes der Traité de mécanique céleste (Paris 1799-1805) an Napoleon auf dessen Frage nach Gott geantwortet haben soll: „Sire, je n’ai pas eu besoin de cette hypothèse“ (Victor Hugo, Choses vues (1887), 686). 29 „Leibniz’ Optimismus ist im Grunde nichts anderes als eine neue Liebe zur Welt und zum endlichen Dasein, das nun mit all seinen Schranken bejaht werden soll; aber er kann dieser Liebe nur sicher und froh werden, indem er es unternimmt, sie sich zu beweisen“ (Ernst Cassirer, Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, 4 1975, S. 60; zit. Lorenz 235).
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verseller Harmonie durchwaltetes Ganzes, das als die beste aller möglichen Welten erkannt wird, muss sich einen Standort außerhalb dieses Ganzen erzeugen, von dem aus solche Urteile erst möglich werden. Gleichzeitig aber wird immer wieder auch auf die endliche Vernunft des Geschöpfes rekurriert, die eine letzte Antwort schuldig bleiben darf, weil ihr die Einsicht in letzte Zusammenhänge verwehrt bleibt. Dieses Wechselspiel der Perspektiven geschieht nicht unreflektiert. Perspektivische Überlegungen spielen schon in Leibniz’ Theorie der Substanzen eine zentrale Rolle. Jede Substanz (Monade) repräsentiert das Ganze, aber in je verschiedener Weise in Abhängigkeit von ihrem Standort: Zwar kann dieselbe Sache auf verschiedene Weise repräsentiert werden, allein es muß stets darin eine genaue Beziehung zwischen Vorstellung und Sache und infolgedessen auch zwischen den verschiedenen Vorstellungen ein und derselben Sache enthalten sein. Die perspektivischen Projektionen, welche beim Kreis Kegelschnitte bilden, zeigen, daß sogar ein Kreis unter Umständen als Ellipse, als Parabel, als Hyperbel, selbst als ein anderer Kreis, als gerade Linie und und als Punkt vorgestellt werden kann. Nichts erscheint so verschieden und so unähnlich wie diese Figuren und dennoch stehen alle Punkte untereinander in genauer Beziehung. Ebenso muß man zugeben, daß jede Seele das Universum nach ihrem Blickpunkt vorstellt, und daß sie in einzigartiger Beziehung zu ihm steht; allein immer und immer liegt dem eine vollkommene Harmonie zugrunde. (§ 357)
In der Monadologie vergleicht Leibniz diese perspektivische Wahrnehmung des Universums mit einer Stadt, die aus verschiedenen Richtungen ganz verschieden wahrgenommen wird, obwohl es doch immer dieselbe Stadt ist (Monadologie § 58). Wenn also das Universum jeder erkennenden Substanz nur „nach ihrem Blickpunkt“ zugänglich ist, so muss strenggenommen die Abstraktion von diesen je eigenen Repräsentationen, das Heraustreten aus diesem Beziehungsgeflecht bereits vorausgesetzt werden, um überhaupt etwas von dem einen Universum aussagen zu können. Dieses Heraustreten vollzieht sich über ein zeitweiliges Einnehmen der Gottes-Perspektive. Gegenstand der Theodizee ist nichts Geringeres als die „Struktur und Ökonomie des Universums“ (§ 201), Gottes „allgemeiner Weltplan“ (vgl. § 105). Grundsätzlich gilt, dass die Wahrheit – die Harmonie und Schönheit der Schöpfung – nur erkennbar wird, wenn man sie aus der richtigen Perspektive wahrnimmt: gleich „den perspektivischen Erfindungen, wo gewisse schöne Zeichnungen nur unklar hervortreten, bis man sie in ihren wahren Gesichtswinkel bringt oder sie durch ein be-
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stimmtes Glas oder einen Spiegel betrachtet“ (§ 147)30. Leibniz zieht seine Schlüsse über die Welt ausgehend von den a priori gewissen Eigenschaften des vollkommenen Wesens. Der Gottesbegriff selbst, den die Vernunft in sich hat, dient also quasi als dieses besondere Glas für die Betrachtung der Welt, und Gott hat allerdings stets „das Ganze“ im Auge (§ 53). Wir sehen, für einen Moment, mit den Augen Gottes, der als „der alles Sehende auch in dem Seienden das Werdende erblickt“ und „in jedem Teil des Universums das ganze Universum sieht“ (§ 360). Nur wenn die menschliche Vernunft (vorübergehend) mit den Augen Gottes „sieht“, sich seine Perspektive aneignet, sind auch uns Menschen sichere Aussagen über „das Ganze“ und das „Universum“ möglich, die sich denn auch über den gesamten Text der Theodizee verteilt finden lassen. Leibniz’ WELT als vollständige series rerum, als die „ganze Folge und das ganze Beieinander aller bestehenden Dinge“ (§ 8), umfasst weit mehr als die Menschenwelt, das unmittelbar Erfahrbare. Deshalb sollen wir das, was wir – insbesondere bezüglich der Übel – wahrnehmen, im Kontext des Ganzen als einer „das ganze Universum umfassende Kombination“ von Ereignissen verstehen (§ 159). Mit Einsicht in den „von Gott aus höheren Gründen erwählten allgemeinen Weltplan“ kann Leibniz auch mit Gewissheit Aussagen über das Universum treffen, etwa warum die Menschen von dem göttlichen Baumeister mit so ungleichen Anlagen und Schicksalen ausgestattet wurden: „Nicht nach ihrer Trefflichkeit werden die Menschen erwählt und eingeordnet, sondern danach, wie sie für den göttlichen Plan geeignet sind; pflegt man doch auch einen weniger guten Stein in einem Gebäude oder zu einer Einrichtung zu benutzen, weil er gerade eine gewisse Lücke auszufüllen vermag.“ (§ 105) Einem Gegner, der behauptete, „die Welt hätte ja sündlos und ohne Leiden sein können“, kann Leibniz entgegenhalten, dass eine solche Welt nicht mehr die beste sein könne, weil „in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht“; jedes Universum ist „ein Ganzes aus einem Stück, gleich dem Ozean; die geringste Bewegung breitet sich in beliebige Entfernung aus“ ––––––––––––– 30 Die Stelle findet sich im Anschluss an die Bemerkungen zu den Übeln als „Strafe“ und Gottes Rolle als „Richter“, „Vater“ oder „Lehrer“ (unten S. 407). Der Text fährt fort: „Indem man sie [die Zeichnungen] richtig stellt und benutzt, werden sie zur Zierde eines Zimmers. So lassen sich die scheinbaren Unschönheiten unserer kleinen Welt mit den Schönheiten der großen vereinigen und nichts mehr steht der Einheit eines unendlich vollkommenen universellen Prinzips im Wege: im Gegenteil, diese Unschönheiten machen seine Weisheit um so bewundernswerter, jene Weisheit, die das Übel dem größeren Gut dienstbar sein läßt“ (§ 147).
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und es kann „in der Welt nichts ohne Schaden an seiner Wesensart ... verändert werden. Wenn somit das geringste Übel, das in der Welt eintrifft, fehlte, es wäre nicht mehr diese Welt, die, alles in allem, von dem sie auswählenden Schöpfer als die beste befunden worden ist.“ (§ 9) Die göttliche Vernunft sieht alles, was besteht, bestanden hat und bestehen wird. In logischer Hinsicht ergibt sich „das oft bemerkte Problem: Vor dem Auge Gottes ... scheint der Unterschied zwischen notwendig und kontingent in sich zusammenzufallen“ 31. Zufälligkeit und Notwendigkeit erweisen sich selbst als perspektivenabhängig. Die bedingte Notwendigkeit gilt für den vorausbestimmten Lauf der Welt, die unbedingte Notwendigkeit sogar für Gott. Das hat erkenntnistheoretische Konsequenzen: Die Prinzipien des zureichenden Grundes und der Widerspruchsfreiheit lassen sich aus der beschränkten Perspektive der Menschenvernunft oft genug nur in unbefriedigender Unvollständigkeit in Anwendung bringen. Deshalb hat die „Gottesperspektive“ auch für das neuzeitliche Erkenntnissubjekt eine beträchtliche Attraktivität. Der Überblick der Vernunft soll soweit reichen, dass sie auch die Gründe Gottes für sein Handeln einzusehen vermag. Das ist nicht einfach Hybris, sondern theologische Notwendigkeit, wenn man wie Leibniz einen voluntaristischen Gottesbegriff ablehnt. Gott darf weder aus Zufall noch aus Willkür handeln und der Satz vom Grunde muss auch in Bezug auf Gottes Handeln beibehalten werden – denn sonst, sagt Leibniz, wäre nicht einmal Gottes Existenz beweisbar32. Aber wie kann der Mensch die Gründe Gottes erkennen? Es kommt hier ein bedeutsamer Aspekt des neuzeitlichen Menschenbildes zum Tragen: Der Mensch, als frei und mit Vernunft begabt, ist Gott ähnlich; ja er ist dank seiner „Ebenbildlichkeit Gottes“ selber ein „kleiner Gott in seiner eigenen Welt“ (un petit dieu dans son propre monde; § 147). Es ist gerade die Eigenart des Gottesbegriffes, dass er im Wesen ein Kompositum von Eigenschaften aus der Menschenwelt ausdrückt, die man sich jeweils in Vollkommenheit und in unendlicher Fülle vorhanden vorstellen soll33. Die – durchaus traditionelle – Vorstellung einer „Kohärenz von göttlicher und ––––––––––––– 31 Lorenz Krüger, Rationalismus und Entwurf einer universalen Logik bei Leibniz, Frankfurt a. M. 1969, S. 32f., zitiert Lorenz 48. 32 Leibniz in einem Brief von Leibniz an Wederkopf 1671 (vgl. Lorenz 53). Vgl. auch Theodizee § 44. 33 „Die Vollkommenheiten Gottes sind dieselben wie diejenigen unserer Seelen, nur daß er sie schrankenlos besitzt; er ist wie ein Ozean, von dem zu uns nur einzelne Tropfen gedrungen sind; in uns ist etwas an Kraft, Kenntnis und Güte vorhanden, während dies alles in Gott ohne jede Einschränkung vorhanden ist“ (Vorrede 4).
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menschlicher Vernunft“34, die sich voneinander nur im Grad ihrer Vollendung unterscheiden, ist die Grundlage dafür, dass die endliche Vernunft des Menschen einen gewissen Einblick in die Beweggründe Gottes bekommen und in keinem wahren Gegensatz zum Glauben und zur Offenbarung stehen kann. In der Argumentation konkretisiert sie sich in Analogie und Metaphorik, etwa im Bild von Gott als einem „Architekten“, als Konstrukteur des Universums (z. B. § 78). Wie die Teile eines Uhrwerks haben alle Elemente des Universums 35 ihren Sinn in Bezug auf das Ganze. Als Elemente eines Systems beziehen sie sich harmonisch aufeinander nach Regeln, die zumindest im Einzelnen auch der Vernunft zugänglich sind und, z. B. im Bereich der Naturgesetzlichkeit, erforscht werden können. In diesem Zusammenhang kehrt bei Leibniz auch der Gedanke einer sittlichen Weltordnung, der schon dem weisheitlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang zugrunde lag, konsequent entindividualisiert als ein systematischer und absoluter wieder. Die universelle Harmonie umfasst physische wie moralische Gesetze: Die von Gott gewählte Weltordnung garantiert auch die Harmonie zwischen dem physischen Reich der Natur und dem moralischen Reich der Gnade. Die Harmonie des Universums meint aber nicht nur die Zweckmäßigkeit des Ganzen, sondern auch seine Schönheit. Diese Schönheit kann der Mensch (eigentlich) nicht sehen – es ist die Vernunft, die dem Menschen diese Schönheit vor Augen führen muss. Leibniz hat dafür ein Beispiel aus der Geometrie: Geometrische Figuren, im Beispiel ein Viereck, können auf regelmäßige Weise in andere kleinere Figuren zerlegt und im Gegenzug auch wieder aus diesen zusammengefügt werden. Allerdings würde, wenn ein paar der kleineren Figuren beim Zusammensetzen verloren gingen, das resultierende „verstümmelte Gebilde ... anstatt zu gefallen, abstoßend häßlich sein“, und erst bei richtiger Zusammensetzung entstünde wieder „eine schöne und regelmäßige Figur“. Im Beispiel Leibniz’ entspricht die vollständig zusammengesetzte Figur dem Universum; es versteht sich, dass der Schöpfer auf keines der kleinen Teile, mag es uns als vereinzeltes noch so mangelhaft erscheinen, verzichten konnte, wenn er die vollendete, vollkommene Figur bilden wollte – denn dann hätte „das Ganze an Schönheit verloren“ (§ 214)36. ––––––––––––– 34 Geyer 1992a, 75. 35 Das sind „Seelen, Entelechien, primitiven Kräfte, substantiellen Formen, einfachen Substanzen, Monaden, oder wie auch immer man sie bezeichnen will“ (Theodizee § 396). 36 Vgl. Shaftesburys Figur der „ästhetischen Theodizee“.
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In ihrer Konzentration auf das Ganze des Geschaffenen weisen solche Vorstellungen jeden Anthropozentrismus zurück – und provozieren damit den Einwand, der Schöpfer der Welt habe vielleicht im Interesse der Harmonie des Ganzen den Menschen über Gebühr vernachlässigt. Dieser Einwand erscheint, ebenfalls in metaphorischem Gewand, bei Bayle: Man könnte folgern, „daß Gott die Welt nur erschaffen hat, um sein unendliches Wissen in Architektur, in Mechanik zur Schau zu stellen, ohne daß seine Eigenschaft der Güte und Tugendliebe auch nur den geringsten Anteil an der Herstellung dieses großen Werkes gehabt hätten ... Er ließe lieber das ganze Menschengeschlecht zugrunde gehen, statt zu dulden, daß einige Sterne sich schneller oder langsamer bewegten als es die allgemeinen Gesetze fordern“ (zit. von Leibniz, Theodizee, § 247). Leibniz legt dagegen Wert auf die Bestimmung, dass Gott als „Baumeister“ und „Monarch“, in Güte, Gerechtigkeit und Allmacht, das beste System geschaffen habe. Herr Bayle würde diesen Einwand wohl nicht gemacht haben, wenn ihm das von mir vertretene System der allgemeinen Harmonie bekannt gewesen wäre, wonach das Reich der bewirkenden und das der finalen Ursachen einander entsprechen, und Gott in nicht geringerem Maße die Eigenschaft des besten Monarchen als die des größten Architekten zukommt, jenes System, nachdem die Materie so eingerichtet ist, daß die Bewegungsgesetze zur besten Leitung der Geister dienen, und daß sich infolgedessen das größtmögliche Gut verwirklicht findet, vorausgesetzt, daß man metaphysische, physische und moralische Güter zusammenrechnet. (§ 247)
Wie jeder geschickte Handwerker, Baumeister oder Staatsmann hat Gott immer das zweckgemäße Zusammenstimmen aller Teile im Ganzen im Auge. Dabei ist das Glück der Geschöpfe ein Gesichtspunkt, aber nicht das einzige und vor allem nicht das letzte Ziel, das der Schöpfer verfolgte. Wenn also einigen dieser Geschöpfe Unglück widerfährt, so gehört das gewissermaßen zur Verwaltung der „Unkosten“ und ist im Interesse „größerer Güter“ (vgl. § 119). Folgerichtig tritt dabei jene andere gängige Gottes-Metaphorik, die Vorstellung des Gottes als RICHTER über die Menschen, in den Hintergrund – sie erscheint in der Theodizee positiv nur ein einziges Mal (§ 147, s. u. S. 407). Die allzu unmittelbare Vorstellung Gottes als Richter und Exekutive, der die Einhaltung der Gesetze fortlaufend überwacht und Verstöße ahndet, wird von Leibniz bekämpft. „Die Strafe trifft den Bösen jedoch mit Naturnotwendigkeit, und ohne den Befehl eines Gesetzgebers finden sie am Bösen Geschmack.“ (§ 112) Die Gerechtigkeit, die sich über den gesamten Weltenlauf betrachtet notwendig realisiert, ist Bestand-
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teil der bereits im Voraus von Gott gestifteten Weltordnung und benötigt nicht ein Urteil nach der Tat, das Gerechtigkeit erst herstellen müsste. Dennoch hält Leibniz an der Freiheit des Menschen fest – diese gehört in der Tat zu den größeren Gütern, um derentwillen Gott bestimmte Übel zugelassen hat. Dass Gott eine Entscheidung vorausgesehen hat, macht sie nicht weniger kontingent und also frei. Die Taten der Menschen sind daher ihnen selber zuzurechnen. Weil aber Leibniz’ System der universellen Harmonie gleichermaßen die physische und die ethische Welt-Ordnung umfasst, ist, was wir die „Gerechtigkeit“ Gottes nennen, nur ein Aspekt seines Ordnungssinnes, der sich in der Gesetzmäßigkeit aller Teile des Universums gleichermaßen zeigt. Wo in dieser universellen Gesetzmäßigkeit scheinbare Unordnung erscheint, antwortet das perspektivische Argument: Erst das Ganze weist die Ordnung auf, die man bei Ansicht des Einzelnen vermissen mag. Natürlich wäre es durchaus „wünschenswert“, dass auch die Schlechten stets ihre verdiente Strafe ereilen möge, und doch „muß man zugeben, daß es in diesem Leben Mißhelligkeiten37 gibt, die sich besonders in dem Gedeihen einiger böser und dem Unglück vieler guter Menschen aussprechen.“ (§ 16). Es geschehe aber oft genug, dass tatsächlich „‚... im Angesichte der Welt der Himmel sich rechtfertigt‘, so daß man mit Claudianus sagen kann: Abstulit hunc tandem Rufini poena tumultum Absolvitque Deos“ 38. „Unordnungen“ wie das Leiden von Unschuldigen sind für Leibniz kein Problem: Der Blick auf das Ganze (und die WELT in der Leibnizschen Definition enthält ja in sich ausdrücklich auch alle zukünftigen Ereignisse, ist also ohnehin nur von außen, von ihrem Ende her, angemessen zu beurteilen) erlaubt auch die Annahme eines prinzipiell und universell wirksamen Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Denn wenn auch vielleicht in diesem Leben die Gerechtigkeit sich nicht einstellt, so doch sicher „im anderen Leben“: „Religion und Vernunft lehren es uns, und wir sollten über einen kleinen Aufschub nicht murren.“ (§ 17) Die göttliche Gerechtigkeit hat dabei nicht nur „Besserung“, „Beispiel“ oder „Wiedergutmachung des Bösen“ (§ 73) zum Ziel; es gilt vielmehr ein systematisches „Prinzip der Billigkeit“, demzufolge „die Dinge derart geregelt worden sind, daß die schlechte Tat sich Strafe zuziehen muß“ (§ 74): ––––––––––––– 37 Kirchmann übersetzt désordres getreuer mit „Unordnungen“. 38 „Die Bestrafung des Rufinus hat endlich von hier den Aufruhr beseitigt und so die Götter entlastet.“ (Claudianus, Invectiva In Rufinum, Liber I [III 20.21]) Man beachte auch hier die forensische Metaphorik.
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Denn nach dem Parallelismus beider Reiche, dem Reich der Endursachen und dem der wirkenden Ursachen, hat Gott im Universum eine Verbindung zwischen Strafe oder Belohnung und zwischen der schlechten oder guten Tat hergestellt, derart, daß die erste die zweite nach sich zieht und Tugend und Laster sich selbst ihre Belohnung und ihre Strafe verschaffen zufolge des natürlichen Verlaufs der Dinge, der noch eine andere Art praestabilierter Harmonie einschließt, als jene im Verkehr zwischen Körper und Seele hervortretende. (§ 74)
Dieses Prinzip der Billigkeit (principe de la convenance) gilt losgelöst von einzelnen Zwecken. Man kann es ein ästhetisches Prinzip nennen: Es verlangt eine gewisse „Genugtuung“, die nicht nur den Beleidigten befriedigt, sondern „auch die auf sie schauenden Weisen, wie eine schöne Musik oder eine gute Architektur die harmonischen Geister befriedigt“ (§ 73). Es handelt sich quasi „um eine gewisse Entschädigung für den Geist, den die Unordnung verletzen würde, wenn die Strafe nicht zur Wiederherstellung der Ordnung diente“. Dieser ästhetisierende Blick von oben auf das Leid ist natürlich problematisch. Manches Mal lassen Leibniz’ Vergleiche die Gleichgültigkeit der Draufsicht des Unbeteiligten gegenüber dem Leid des Betroffenen erkennen. Auf Bayles’ Einwurf, dass wenn ein guter Fürst eine Stadt baute, die Interessen der Bewohner Vorrang vor äußerlicher Schönheit haben sollten, antwortet Leibniz: Ich glaube indessen, daß es wohl Fälle gibt, in denen man mit Recht einen schön gebauten Palast der Bequemlichkeit einiger Dienstboten vorziehen wird. Aber ich gebe zu, daß die Bauart schlecht wäre, so schön sie auch aussieht, wenn sie Veranlassung zu Krankheiten der Bewohner gibt, vorausgesetzt, daß es überhaupt möglich ist, eine bessere zu ersinnen, die Schönheit, Bequemlichkeit und Gesundheit in sich vereinigt. Denn man kann vielleicht nicht alle Vorteile auf einmal haben, und das Schloß würde möglicherweise eine unerträgliche Gestalt erhalten, wenn man es an der nördlichen Seite des Gebirges, der gesünderen, erbauen wollte, und deshalb läßt man es lieber auf der Südseite errichten. (§ 215)
In seiner Argumentation zu dem Fragenkomplex, warum Gott straft und warum er so hart straft, warum es weit mehr Verdammte als Gerettete geben kann und wie sich unendliche Höllenstrafen für endliche Erdensünden mit der göttlichen Gerechtigkeit vertragen, greift Leibniz dann doch auf die metaphorisch gebundene Vorstellung des strafenden, erziehenden und (Einzelnen) auch verzeihenden Gottes zurück. „... Gott verzeiht nur denen, die sich bessern: er kann sie unterscheiden, und diese Strenge entspricht weit mehr einer vollkommenen Gerechtigkeit.“ (§ 133) Gott straft den Menschen „bald wie ein Vater oder Lehrer, der die Kinder prüft oder züchtigt, bald wie ein gerechter Richter, welcher die von ihm Abgefallenen bestraft“ (§ 147). Nun muss sich der göttliche „Lehrer“ von Bayle und
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anderen vorhalten lassen, dass seine Erziehungsmaßnahmen vielleicht mehr Opfer fordern als nötig. Leibniz’ Erwiderungen darauf laufen mehr als einmal Gefahr, in Zynismen zu münden. Bayles Einwand, dass gerechte Fürsten nur die Rädelsführer eines Aufstandes töten lassen und anderenfalls mit Recht als grausame Tyrannen erscheinen würden, inspiriert Leibniz zu einer makabren Aufrechnung: Im übrigen wissen wir, daß man zuweilen ganze Städte zerstört, und daß man die Bewohner über die Klinge springen läßt, um die anderen abzuschrecken. Dadurch kann man einen großen Krieg oder eine Rebellion abkürzen: damit spart man Blut, indem man es vergießt; das ist durchaus keine Dezimierung. (§ 133)
Der distanzierte Blick mit dem Auge Gottes von oben auf das Ganze wird ergänzt durch die entgegengesetzte Blickrichtung: die „Froschperspektive“ (Schmidt-Biggemann 95) des endlichen, in seiner Erkenntnisfähigkeit beschränkten Geschöpfes. Beide Perspektiven dienen in ihrer komplementären Wirkung derselben Argumentation. So weist Leibniz mit dem Hinweis auf diese Beschränktheit unserer Erkenntnis (und wieder mit forensischer Terminologie) Bayles Einwürfe zurück: Der Gegenstand Gottes hat etwas Unendliches an sich; seine Sorge erstreckt sich auf das ganze Universum: was wir davon kennen, ist beinah nichts; und da wollen wir seine Weisheit und Güte an unseren Erfahrungen messen? Welche Vermessenheit oder besser, welche Absurdität! Den Einwürfen liegen falsche Voraussetzungen zugrunde; lächerlich ist es, Recht sprechen zu wollen, wenn man den Tatbestand nicht kennt. (§ 134)
Deshalb kann auch der Einspruch der Erfahrung so leichthin abgewiesen werden: weil diese Erfahrung niemals die ganze Erfahrung sein und alles Erfahrbare umfassen kann, weil das Ganze ihr verschlossen bleibt und seine Wahrheit nur den untrüglichen „Beweisen der Vernunft und den Offenbarungen des Glaubens“ (§ 221) zugänglich ist. Wenn wir aber – wir wechseln virtuell die Perspektive – „das Ganze kennten“ (§ 146, Kirchmann), wenn wir „die Struktur und die Ökonomie des Universums verstehen [könnten], dann würden wir finden, daß es nach dem Wunsche der Weisesten und Tugendhaftesten erschaffen ist und regiert wird, da Gott es gerade so erschaffen mußte“ (§ 201). Genau so verhält es sich mit der göttlichen Regierung: was wir davon erblicken, ist kein genügend großes Gebiet, um aus ihm schon die Schönheit und Ordnung des Ganzen zu erkennen. Also nötigt uns sogar die Natur der Dinge, diese Ordnung des göttlichen Staates, die wir hinieden noch nicht vor uns sehen, zum Gegenstand unseres Glaubens, unserer Hoffnung und unseres Gottvertrauens zu machen. (§ 134)
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Zur Veranschaulichung der flexiblen Perspektivik zwischen Binnenblick und göttlicher Draufsicht nutzt Leibniz auch das Bild eines virtuellen Sich-Entfernens von unserem Planeten, der Erde, die wir dann ebenfalls scheinbar von außen wahrnehmen könnten, wenn wir sie in einem größeren Kontext betrachten, im Kontext des Sonnensystems oder des ganzen Universums. Außerhalb unserer Erde, mag diese auch von zahlreichen Unglücklichen bewohnt sein, gibt es, so Leibniz, viele weitere Planeten oder Sonnen – und „möglicherweise sind alle Sonnen von seligen Geschöpfen bewohnt“. Nichts spricht außerdem dagegen, dass es auch Raum jenseits der Gestirne gibt – und wie immer der auch aussehen mag, könnte doch „dieser ungeheure, die ganze Welt umgebende Raum ... von Glück und Seligkeit erfüllt sein“ (§ 19)39. Kurz, angesichts des Unbekannten, das Gott mit Glück angefüllt haben könnte, ist das uns Sichtbare oder Erreichbare (auch wenn wir es gar nicht wirklich kennen und verstanden haben) aus grundsätzlichen Gründen nur ein „Beinah-Nichts“, und die uns bekannten Übel sind deshalb auch nichts anderes als solch ein „BeinahNichts“ – un presque néant (§ 19). Die Perspektive des Beobachters von außen, die auf diese Weise eingenommen wird, erlaubt auch dem Erdbewohner angesichts des Universums die distanzierte Frage: „Was wird da aus der Betrachtung unserer Erde und ihrer Bewohner? Ist sie nicht unvergleichlich weniger als ein physischer Punkt ...?“ (ebd.) Umgekehrt ist in diesem Bild auch die Rückkehr von der GottesPerspektive zur „Frosch-Perspektive“ des endlichen Geschöpfes möglich, die einen Beweis des höheren Zusammenhangs, in dem das scheinbare Übel aufgehoben werden soll, erübrigt. Auch dazu dient das Beispiel der Erde und unseres Planetensystems als der umfassende Kontext des unvollkommenen Menschen: ... allemal, wenn wir ein solches Werk Gottes erblicken, finden wir es so vollendet, daß wir seine Kunstfertigkeit und Schönheit bewundern müssen; erblickt man aber kein in sich geschlossenes Werk, sieht man nur Fetzen und Bruchstücke, dann ist es kein Wunder, wenn die gute Ordnung daraus nicht hervortritt. Das System unserer Planeten bildet solch ein abgesondertes und vollkommenes Werk, wenn man es für sich betrachtet; jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch enthält ein solches bis zu einem gewissen Grade vollkommenes System; an ihnen erkennt man die wunderbare Geschicklichkeit ihres Schöpfers; aber das Menschengeschlecht stellt, so weit es uns bekannt ist, nur einen kleinen Teil des göttlichen Reiches oder der geistigen Republik. Für uns ist dieses Reich zu ausgedehnt, und wir kennen zu wenig davon, um die darin herrschende wunderbare Ordnung bemerken zu können ... Aber die Harmonie, die sich sonst überall befindet, ist ein wichtiges Zeichen dafür, daß sie sich
––––––––––––– 39 Vgl. auch Causa Dei §§ 58f.
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wohl auch in dem Menschenreich und ganz allgemein im Reich der Geister finden las40 sen würde, wenn das Ganze uns bekannt wäre . (§ 146)
Die beiden Perspektiven auf das Ganze, die des äußeren, gleichsam unbeteiligten Beobachters von oben und die des teilhabenden, endlichen Subjekts „hienieden“ (§ 134) ergänzen einander in der Abwehr der skeptischen Einwürfe. Theodizee von oben verschränkt sich mit Theodizee von unten. Dem frühen 18. Jahrhundert ist dieses Hantieren mit den Perspektiven bereits bestens vertraut. Die Folgen der wissenschaftlichen Revolution erzwingen geradezu die ständige Vermittlung von Beobachterperspektive und systematisierender Draufsicht. Kopernikus’ De revolutionibus orbium coelestium, Keplers Gesetze der Planetenbewegung oder Galileis Beobachtungen mit dem Fernrohr hatten ein neues Bild vom „Sonnensystem“ geschaffen. Auch der Gedanke von einer Vielzahl bewohnter Welten setzte sich durch: von Giordano Bruno in De l’Infinito Universo e Mondi (1584) über Huygens’ postum veröffentlichte CosmotheorosSpekulationen41 bis hin zu Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes (1686), die stärker als alles andere zur Popularisierung der neuen kosmologischen Ideen beitrugen. Der Blick von unten nach oben, durch das Teleskop auf Mond, Jupiter und Saturn, diente gleichzeitig einem neuen Bild der Erde. Galileis Fernrohr entdeckte die Jupitermonde, welche (zu Galileos Leidwesen erst ein halbes Jahrhundert später) den mangels hinreichend genauer Chronometer noch notwendigen „außerirdischen“ Zeitgeber für Vermessungen auf der Erde und insbesondere die Längengradbestimmung liefern. Giovanni Domenico Cassini und Jean Picard gelang es mit Hilfe von Cassinis Tabellen der Jupitermondverfinsterungen, den Erdumfang auf 200 km genau abzuleiten. So konnte Cassini, Direktor des Observatoriums der 1666 neu gegründeten Pariser Académie Royale des Sciences, ein gigantisches Projekt beginnen: die Bestimmung der Koordinaten von zahllosen Plätzen der Welt, eine neue akkuratere Kartierung der Erde42. Cassini hatte auf dem Boden des dritten Stocks des Observato––––––––––––– 40 Dieser letzte Gedanke, der bis auf Platon und Paulus zurückgeht – die Harmonie in Teilbereichen der Natur ist ein Indiz für die umfassende Harmonie der Schöpfung, Gott kann „an seinen Werken“ erkannt werden (Röm 1,20) – wird in der zeitgenössischen Physikotheologie zu einer zentralen Argumentationsstrategie. 41 Christiaan Huygens, Cosmotheoros, or New Conjectures Concerning the Planetary Worlds, Their Inhabitants and Productions (1698). 42 Unter anderem stellte sich heraus, dass die französische Westküste viel weiter östlich verläuft, als frühere Karten sie darstellten. Sonnenkönig Louis XIV, Sponsor der
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riums eine Weltkarte mit fast 8 Metern Durchmesser ausbreiten lassen, auf der die Vermessungsergebnisse von kooperierenden Wissenschaftlern und Expeditionen eingetragen wurden43. So üben die Astronomen den ständigen Perspektivenwechsel: vom Blick in den Himmel durch die Teleskope des Observatoriums hinüber auf die Weltkarte zu ihren Füßen. 5. Gewissheiten II: Die Welt des Optimismus In Leibniz’ Theodizee konstruiert sich die Vernunft einen transzendenten Beobachterstandort, die künstlich erzeugte, erfahrungsindifferente „Perspektive eines unendlichen Verstandes, der das All der Möglichkeiten vor seinem geistigen Auge hat“ 44. Damit gelingt ihr in der Tat eine Verteidigung Gottes, „so perfekt, daß jeder Weg der klagenden Partei zur Revision – um im Bilde der Kantschen Rechtsmetapher zu bleiben – so abgeschnitten ist, daß sich fortan die Frage nach der Güte Gottes überhaupt verbietet“ (Lorenz 21). Die Theodizee argumentiert aus der totalen Draufsicht des Unbehelligten. Dem – wie Hiob – vom Leid direkt Betroffenen werden ihre ästhetisierenden Argumente als Sinnstiftung inakzeptabel erscheinen. Diese Argumentation hat sich gegen Einsprüche der Erfahrung vollständig immunisiert; keine mögliche Erfahrung kann sie erschüttern. Die zentralen Debatten um die Theodizee, motiviert vom verheerenden Erdbeben von Lissabon 1755, bezogen sich aber nicht mehr direkt auf Leibniz’ komplexes, im Kern unwiderlegbares Systemgebäude, sondern auf einen dann populären verflachten „Optimismus“ des „Alles ist gut“, der aus der „besten möglichen Welt“ schlicht die „beste Welt“ gemacht, also die modale Komponente völlig eliminiert hatte. Die Erschütterungen der Lissaboner Erdstöße, die ohne Unterschied Erwachsene und unschuldige Kinder, Heiden und strenggläubige Katholiken töten, bringen das Dogma der besten Welt zum Einsturz und stoßen den Gottesbegriff in die Krise. Wie entstand diese optimistische Weltbeschreibung, die dann durch ––––––––––––– Académie, soll das mit der Bemerkung kommentiert haben, er habe mehr Land an seine Astronomen verloren als an seine Feinde. 43 Nach 1720 wurde im Zusammenhang damit auch die Frage nach der Form der Erdkugel virulent: in Polrichtung abgeflacht, wie von Newton vorausgesagt, oder verlängert (wie Messergebnisse Casinis und seines Sohnes Jacques nahelegten). Dafür wurden 1734 zwei Expeditionen nach Peru und Lappland ausgerüstet – letztere unter Führung des späteren Berliner Akademiepräsidenten Maupertuis – die Newton empirisch bestätigten. 44 Wolfgang Hübener, „Sinn und Grenzen des Leibnizschen Optimismus“ (1978), 245.
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das Erdbeben gründlich aus den Fugen geriet – offenbar eine „Welt“ nicht unähnlich der weisheitlichen Welt des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, deren Krise das Hiobbuch verhandelt? Bereits kurz nach Erscheinen stieß Leibniz’ Theodizee (zunächst) auf eine massive und einhellige theologische Opposition, die für ihre Rezeption von großer Bedeutung gewesen sein dürfte (vgl. Lorenz 23, 99ff.) und der auch der „Optimismus“ seinen Namen verdankt45. Die spätere Popularität der Theodizee und des Topos von der besten Welt wurde durch eine erhebliche Verflachung der Theorie erkauft, die bereits bei Wolff begann und in deren Ergebnis die modaltheoretischen Anteile der Argumentation völlig getilgt wurden. Das jubilierende „Alles ist gut“, gegen das etwa Voltaires Gedicht über das Erdbeben von Lissabon polemisiert, trennt von Leibniz’ Fassung bereits „Welten“46. Aus philosophischer Sicht schien es nötig, das apriorische System der besten Welt empirisch zu verstärken, so wie es die Physikotheologie versucht, wenn sie aus der sichtbaren Ordnung der Welt auf die ordnende Hand des Schöpfers schließen will. Auch (der vorkritische) Kant, der Mitte der 50er Jahre noch über die Möglichkeiten einer verbesserten Physikotheologie nachdenkt, hat an der Leibniz-Theodizee vor allem dies auszusetzen, dass sie keine Erfahrung gebrauchen kann. Sie beweist a priori aus den Gottesprädikaten die beste Welt, so dass man zuerst „glauben muß, daß es ein unendlich gütiges und unendlich vollkommenes Wesen Gebe, ehe man sich versichern kann, daß die Welt, die als sein Werk angenommen wird, schön und regelmäßig sey“47. Dagegen bestätigen Schönheit und Regelmäßigkeit der sichtbaren Welt dem „Optimismus“, wie er in den Jahrzehnten nach Leibniz populär werden sollte, immer wieder, dass sie die „beste“ sein müsse. Je wichtiger allerdings solche empirischen Bestätigungen werden, desto anfälliger wird dieser Optimismus gegenüber Unregelmäßigkeiten, Erfahrungen des „Zweckwidrigen“. Zeichnen wir also kurz die Entwicklung nach, die dazu führte, dass die Erfah––––––––––––– 45 Der Begriff „Optimismus“ wurde wahrscheinlich 1737 durch die Jesuiten geprägt, in der Rezension der Theodizee in den jesuitischen Mémoires de Trévoux (Steiner 306f.). 46 “Whatever is, is right” heißt es in Popes Essay on Man (zuerst am Ende von Epistel I, Ep.I 294, S. 189). Wenn Voltaires Protest und Polemik sich gegen die seinerzeit verbreitete Übersetzung des Abbe du Resnel von right als bien, „gut“ richten, verfehlen sie damit Pope wie Leibniz, nicht aber die entsprechenden Populärversionen. 47 Immanuel Kant, Handschriftlicher Nachlass, Über Optimismus (nach 1753), AA XVII 238, zit. nach Lorenz 221.
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rung des verheerenden Erdbebens auch die „Welt“ des Optimismus in Trümmer legen konnte. Die Transformation des modaltheoretisch fundierten Systems der Leibniz-Theodizee in einen bald weithin dominierenden populären Optimismus ist in nicht geringem Maße mit dem Wirken Christian Wolffs verbunden, der an der Weiterentwicklung und Systematisierung des Leibnizschen Gedankengebäudes arbeitete und dem Deutschland wohl jenen „Geist der Gründlichkeit“48 verdankt, der ihm bis heute nachgesagt wird. Die Philosophie des Gerbersohns aus Breslau, der auf Leibniz’ Empfehlung hin von 1706 bis zu seiner Vertreibung 1723 eine Professur in Halle innehatte, avancierte in kürzester Zeit zur ersten deutschen „Schulphilosophie“. Schon vor 1750 hielten Wolffianer in Deutschland nahezu alle verfügbaren Lehrstühle besetzt, und Kant nennt ihn in der Kritik der reinen Vernunft nie anders als den „berühmten Wolff“ (KrV III 25, 552). Theodizee und das Theorem von der „besten Welt“ wurden durch Wolff zum Gemeingut der deutschen Aufklärungsphilosophie. Wolff hatte im Rahmen der Metaphysica specialis die Welt zum Gegenstand der Philosophie als „Weltweisheit“ gemacht: „Durch die Philosophie geht dem Menschen die ‚Ordnung‘ in der Welt auf“ (Geyer 1992a, 83). Diese Welt nun ist wie bei Leibniz und aus denselben Gründen die beste aller möglichen; der Akzent jedoch liegt durchaus auf der bestehenden Welt als der gegenwärtigen, deren größtmöglicher Vollkommenheit zudem auch durchaus Erfahrungen des Zweckmäßigen zu entsprechen scheinen49. Es war ja sowohl die Stärke als auch die Schwäche des Theorems der besten möglichen Welt bei Leibniz, dass es ganz ohne Erfahrung auskam: Es konnte so zwar nicht empirisch widerlegt werden, zahlte dafür aber den Preis inhaltlicher Beliebigkeit. Zudem funktionierte das Theorem nur, wenn man seine Prämissen teilte. Um diese Nachteile zu vermeiden, war eine a posteriori verfahrende Argumentation nötig, eine Argumentation, die aus der beobachtbaren Ordnung in der Welt auf ihren Ordner schließt und versucht, das Wesen Gottes „aus seinen Wercken“ zu erkennen50. ––––––––––––– 48 Immanuel Kant, Kritk der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Auflage, III 25. 49 In seinen Vernünfftigen Gedancken Von GOTT, der Welt und der Seele des Menschen/Auch allen Dingen überhaupt (Halle 1720) schreibt Wolff: „Unter unzähligen Welten, die möglich sind, hat Gott nur eine gewählt [...] Hieraus erhellet zugleich, daß die gegenwärtige Welt unter allen die Beste ist: Denn wir nennen die Beste, darinnen die größte Vollkommenheit anzutreffen“ (vgl. §§ 8, 980 u. 982, zit. Geyer 1992a, 82). 50 Das fordern im Anschluss an Röm 1,20 sowohl Wolff in den Vernünfftigen Gedanken von GOTT, der Welt und der Seele des Menschen als auch sein Gegner Crusius in seiner
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Traditionelles Fundament dieser Argumentation war der teleologische Gottesbeweis, den man durchaus als den ältesten Gottesbeweis überhaupt bezeichnen kann: Auch wenn er in seinen Frühformen noch nicht als „Beweis“ im strengen Sinne geführt worden ist, ist doch der ihm zugrunde liegende Analogieschluss von menschlichem auf göttliches Bewirken nach Zwecken und Plänen immer dann am Werk, wenn Gott oder Götter als Ursache dafür angeführt worden sind, dass etwas in der Welt so und nicht anders ist. In der Nachfolge von Wolff, auch beeinflusst von Shaftesburys ästhetisch begründeter Weltharmonie (seiner „ästhetischen Theodizee“), stellt der philosophische Optimismus die universelle Erfahrung von (schöner) Ordnung und Zweckmäßigkeit in der Welt und deren Beweiskraft für die Weisheit und Güte Gottes (die dann ihrerseits wiederum die größtmögliche Vollkommenheit der Welt begründen kann) in den Mittelpunkt der Darstellung. Beispielhaft dafür ist die geistige Strömung der „Physikotheologie“ 51, deren Einfluss seit Anfang des 18. Jahrhunderts beeindruckend wächst und erst nach der Mitte des Jahrhunderts wieder zurückzugehen beginnt. In einer ganzen Flut von Werken werden ad maioram dei gloriam die zweckmäßigen Zusammenhänge in der Natur bis ins kleinste Detail beschrieben und zur Vollkommenheit der Schöpfung im Ganzen in Beziehung gesetzt. Es entstanden eine ganze Reihe spezieller PhysikoTheologien, darunter „Bronto-, Sismo-, Litho-, Phyto-, Insecto-, Testaceo-, Melitto-, Akrido-, Ichthyo- usw. theologien“52, die meist von jeglicher Skepsis unberührt die Ordnung des Geschaffenen und seinen Schöpfer feiern – nicht zuletzt auch inspiriert von Bibeltexten wie den Gottesreden des Buches Hiob53. Exemplarisch der Titel des 1738 in Leipzig veröffentlichten Werkes des Pfarrers und Entomologen Friedrich ––––––––––––– Metaphysik (§ 235) – ein Indiz für das neue Interesse an aposteriorischen Argumenten in der Bestimmung des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch. Zu Wolff vgl. Geyer 1992a, 83; zu Crusius vgl. Sala, Kant und die Frage nach Gott (1990), 64. Zur „empirischen Theodizee“ vgl. auch Lorenz 151-166. 51 Der Begriff wird gemeinhin William Derham (vgl. Anm. 54) zugeschrieben, der 1713 seine Physico-Theology veröffentlichte. Allerdings gab es ähnliche Begriffsbildungen weit früher; etwa Walter Charleton, The darkness of atheism, dispelled by the light of nature. A physico-theological treatise, London 1652. 52 Vgl. Otto Lempp, Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts bis auf Kant und Schiller, Leipzig 1910, Neudruck Hildesheim/New York 1976, S. 152; zitiert Janßen 1989, 42. 53 Vgl. etwa Johann Jacob Scheuchzer, Jobi Physica Sacra, Oder Hiobs NaturWissenschafft, verglichen Mit der Heutigen. Zürich 1721 (21740).
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Christian Lesser: „Insecto-Theologia oder: Vernunfft- und schrifftmäßiger Versuch wie ein Mensch durch aufmercksame Betrachtungen derer sonst wenig geachteten Insecten zu lebendiger Erkänntnis und Bewunderung der Allmacht, Weißheit, der Güte und Gerechtigkeit des großen Gottes gelangen könne“ (vgl. Geyer 1992a, 311). Auch Wolff selbst hatte nach seiner Vertreibung aus Halle nicht nur seinerseits Anschluss an die physikotheologische Bewegung gesucht, sondern „für sich eine geradezu führende Rolle reklamiert“ (Lorenz 161). Das physikotheologische Denken hat entscheidend zur Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse beigetragen und wurde damit zu einem wichtigen Fundament der Spätaufklärung. Dieses Denken entsprach der Methodik der neuen Naturwissenschaften und kam zudem der aufklärungsphilosophischen Tendenz zur Systematik entgegen. Sein Grundthema ist die Ordnung der Welt. „Die Physikotheologie ist eine Theorie des Gleichgewichts: göttlicher Weisheit und Vorsehung wird vor allem die Funktion zugeschrieben, die Welt in Balance zu halten. Alles hat sein rechtes Maß und die angemessene Zahl ...“54. Wenn einerseits Erfahrung zum Ausgangspunkt der Welt- und Gotteserkenntnis wird, andererseits aber die systematische Ordnung der Welt das dominierende Grundkonzept darstellt, ergibt sich zwangsläufig erst recht das Problem, auch die Erfahrung des Negativen in diese Ordnung zu integrieren, also zu zeigen oder mindestens schlicht zu behaupten, dass auch das Übel der Welt in Ordnung ist. Dabei greift auch der populäre Optimismus auf die zahlreichen schon bei Leibniz versammelten traditionellen Detailargumente zurück, und wie dieser hantiert er souverän mit den Perspektiven. Charakteristisch für dieses Denken sind einige Schriften des vielleicht wenig originellen, aber einflussreichen Optimisten Gottsched. Dieser veröffentlichte 1742 in den Leipziger Belustigungen des Verstandes und des Witzes anonym einen Beitrag mit dem Titel „Beweis, daß diese Welt unter allen die beste sey“, den er 1756, anlässlich der Akademiepreisfrage für 1755 nach der Validität des Optimismus, auch der sechsten Auflage seiner Ersten Gründe der gesamten Weltweisheit beifügt55. Gottsched bezieht sich explizit auf Leib––––––––––––– 54 Wolf Lepenies, „Eine Moral aus irdischer Ordnungsliebe: Linnés Nemesis Divina“ (1981), 334. Lepenies zitiert aus William Derham, Physico-Theology: Or, A Demonstration of the Being and Attributes of God, from his Works of Creation [Boyle Lectures 1711-1712]. The Third Edition, Corrected. London 1714, S. 171. 55 Vgl. Lorenz 1997, 154. Die 1753 gestellte und bis 1755 zu beantwortenden Preisfrage der Berliner Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres (unter Vorsitz der
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niz und seine Theodizee, der zuliebe er eigens französisch gelernt hatte56 und die er 1744 und 1763 in deutscher Übersetzung herausgibt – wie auch 1741-44 das Dictionare von Bayle, ergänzt durch ausgewählte Passagen aus der Theodicée. Seine Bezugnahme auf Leibniz aber ist durchaus selektiv57, vor allem beim späten Gottsched dominieren physikotheologische Argumente. „Stand Gottsched anfangs der Physikotheologie noch skeptisch gegenüber, so wird sie – zeitgleich mit seinen Übersetzungsarbeiten an Fontenelle – zum beherrschenden Motiv seines Denkens.“ (Geyer 1992a, 88) Das empirische Interesse des „‚physikalisierenden‘ Weltweisen“ (Geyer 1992a, 91) verbindet sich mühelos mit dem wissenden Blick aufs Ganze. In seiner Übersetzung von Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes präsentiert Gottsched dem deutschen Leser ein Wechselspiel der Perspektiven, das an vergleichbare Leibnizsche Argumentationen erinnert. Nicht zuletzt der Gedanke der vielen bewohnten Planeten gibt dem Optimisten „Gelegenheit zu schrankenloser Kompensation“ (Geyer 1992a, 88). Der Weltweise, der gerade noch zu wissen glaubte, warum Gott das Planetensystem so wie vorgefunden eingerichtet hat58, kann sich bei Bedarf auch auf die Beschränktheit der geschöpflichen Perspektive berufen (die er aber nicht ohne das sichere Bewusstsein vom großen Ganzen präsentiert): was wäre lächerlicher, als wenn sich eine Familie von Käsemülben, die man kaum sehen kann, einbildete, daß nicht nur der Käse, auf dessen Oberfläche sie wühlet, ihrenthalben gebacken, sondern auch die ganze königliche Tafel, auf welche sie ohngefähr getragen wird [...]; daß, sage ich, dieses alles ihrenthalben gemacht sey? Wir Menschen sind noch weniger, im Absehen auf dieses unermeßliche Weltgebäude, zu rechnen; als im obigen Falle die Mülben. (ebd.)
Der neue philosophische Optimismus kann einerseits beobachtend überall in der Erfahrung seine Bestätigung finden und anderseits jederzeit ––––––––––––– Newton-Anhängers Maupertius), fragte nach dem Verhältnis von Popes „System“ zum „Optimismus“ nach Leibniz und sollte letzteren diskreditieren (Steiner 322). 56 So Geyer 1992a, 295, Anm. 1. 57 Wie tendenziell auch Wolff und insbesondere die Wolffianer wendet sich Gottsched gegen die These von der prästabilierten Harmonie und nimmt damit der Leibnizschen Theodizee eine ihrer wesentlichen systematischen Grundlagen. 58 „Denn warum hätte Gott einem ledigen Planeten vier Monden gegeben; da er unserer reichlich bevölkerten Erdkugel nur einen einzigen ertheilet?“ (Herrn Bernhards von Fontenelle [...] Auserlesene Schriften, nämlich von mehr als einer Welt, Gespräche der Todten, und der Historie der heydnischen Orakel; vormals einzeln herausgegeben, nun aber mit verschiedenen Zugaben und schönen Kupfern vermehrter ans Licht gestellet, von Johann Christoph Gottscheden, Leipzig 1751, 15; zit. Geyer 1992a, 88).
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wieder zur spekulativen Ansicht des Großen und Ganzen wechseln. Zum philosophischen Gemeingut geworden, findet er seinen Ausdruck in hymnischen Lehrgedichten, die umfangreiche Naturbeschreibung und enthusiastischer Lobgesang zugleich sind59. Der bekannte Kernsatz des Essay on Man von Pope (1733/34) markiert insbesondere in seiner gängigen Übersetzung als „Alles ist gut“ den Fluchtpunkt der Metamorphose des Optimismus nach Leibniz: Dieser Optimismus ist es, den Voltaire mit dem Hinweis auf das Erdbeben von Lissabon attackieren kann. 6. Erschütterungen II: Das Erdbeben von Lissabon Den 1sten des Monaths, des Morgens nach 8 Uhr, war die Luft längs unsern SeeCüsten so dunckel, dass man einander fast nicht sehen konnte. Die See hielt sich um 8 Uhr noch gantz windstille und ruhig; aber kurtz darauf ward sie stürmisch, und schwoll ungemein auf. Der Berg Vesuvius, welcher sich ebenfalls einige Wochen ziemlich stille gezeigt hatte, fing fast zu gleicher Zeit, nehmlich gegen 9 Uhr, so gewaltig an zu toben, dass man in Furcht und Schrecken gerieth, und besorgte, es möchte ein Erdbeben erfolgen; jedoch um 10 Uhr wurde der Vesuvius wieder ruhig, und das Volck eylte hauffenweise in die Kirche, um Gott davor zu dancken.
So war, in einem Bericht aus Neapel vom 12. November 1755, in den „Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen“ 60 zu lesen. An Neapel war der Kelch vorübergegangen; Lissabon, zweitausend Kilometer westlich, hatte weniger Glück. Im November und Dezember 1755 wurden ausgedehnte Landstriche Europas, nach zeitgenössischen Berichten von Portugal und Spanien bis hin zu Finnland, Nordafrika und Westindien, von einer Reihe verheerender Erdbeben erschüttert, deren erstes vom 1. November des Jahres – Allerheiligen – fortan mit dem Namen „Erdbeben von Lissabon“ bezeichnet werden sollte. „Die halbe Stadt Lissabon, die Kirchen und die Paläste“ 61 wurden zerstört, mehr als zwanzigtausend, vielleicht dreißigtausend Lissaboner Einwohner starben in den Trümmern62. Im Zusammenhang mit ––––––––––––– 59 Darunter etwa Barthold Heinrich Brockes’ „Irdisches Vergnügen in Gott“ (1721-48 in neun Bänden erschienen); Albrecht v. Hallers „Über den Ursprung des Übels“, Friedrich v. Hagedorns „Schriftmäßige Betrachtungen über einige Eigenschaften Gottes“ (1750), Johann Peter Uz’ „Theodicee“ (1755) und andere. 60 Berlinische Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen, Nr.148, Dezember 1755; zit. nach Dieter Hildebrandt (Hg.), Voltaire: Candide (1963), 111f. 61 Berlinische Nachrichten, Nr.144, Dezember 1755, zit. Hildebrandt (Hg.) 112. 62 Zeitgenössische Berichte schätzen die Zahl der Opfer auf bis zu 60.000, so etwa in den Berlinischen Nachrichten, Nr.20, Februar 1756; vgl. Hildebrandt (Hg.) 124.
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den Erderschütterungen, deren Stärke auf ca. 8,5 auf der Richterskala 63 geschätzt wird, wurden hohe Flutwellen nicht nur an den Mittelmeerküsten, sondern sogar in Binnengewässern Mitteleuropas und Skandinaviens beobachtet64. Die Reaktionen vieler Zeitgenossen auf die Hiobsbotschaft waren durchaus extrem. Für die meisten bedeutete das Unglück keine bloß theoretische, sondern eine existenzielle Verunsicherung. Was in ruhigen Zeiten auf intellektueller Ebene eine gewisse Stabilität bewahrt hatte, brach unter dem Druck der anschaulichen Beschreibungen zusammen wie ein Kartenhaus. Es war, als wären die Ideen von Vorsehung, göttlicher Gerechtigkeit und universeller Harmonie, auf denen die tägliche Ruhe und Ausgeglichenheit beruhte, hinweggefegt worden. Überall tauchten Propheten auf, um die Angst zu beschwichtigen oder Profit aus ihr zu schlagen, man zeigte sich nur noch wenig in der Öffentlichkeit und flüchtete sich in pietistische Exaltation: Lissabon gab einen Vorgeschmack auf das Jüngste Ge65 richt.
Das Erdbeben und die dadurch verursachten Zerstörungen und Opfer sollten in den Debatten in der Nachfolge der Theodizee eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Rückblickend berichtet Goethe in Dichtung und Wahrheit, ihm sei bereits als Knabe „in meinem sechsten Jahre, nach dem Erdbeben von Lissabon, die Güte Gottes einigermaßen verdächtig geworden“ 66. Andere halten am Glauben an diese Güte fest, aber beweisen gerade durch ihre Rechtfertigungsversuche auch deren Rechtfertigungsbedarf. Johann Gottlob Krüger schreibt in seinen Gedancken von den Ursachen des Erdbebens, nebst einer moralischen Betrachtung (1756): Laßt uns bei allem Widerstand unserer Empfindungen unsere Vernunft zwingen auszurufen: Gott ist die Liebe! Auszurufen: Herr, du bist gerecht und deine Gerichte sind auch gerecht! Wie? und bei so vielen tausend Leichen soll ich dennoch ausrufen: Gott ist die Liebe! ... Und gleichwohl werde ich dazu gedrungen, sobald ich einen Blick auf den ganzen Erdboden und auf die unzähligen Geschöpfe werfe. Du erschrickst über die Menge dieser Erschlagenen, ihre gequetschten Leichname, ihr zerschmettertes Gerippe; ihre gewaltsam zerbrochnen Glieder mahlen dir ein schreckliches Bild Gottes. Aber was
––––––––––––– 63 Vgl. Wolfgang Breidert (Hg.), Die Erschütterung der vollkommenen Welt (1994), Einleitung, 4. 64 Vgl. die beklemmende Schilderung des Stechlin bei Theodor Fontane, Der Stechlin, 7f. 65 Pierre Lepape, Voltaire oder die Geburt der Intellektuellen im Zeitalter der Aufklärung (1996, orig. 1994), 240. 66 Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, 1. Teil, Zweites Buch, WA I 26, 72.
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sind denn dreißigtausend Menschen gegen siebenhundertunddreißig Millionen, die einer nur sehr mittelmäßigen Rechnung nach zu eben der Zeit, da diese 30 000 starben, auf dem ganzen Erdboden lebendig blieben? Vielleicht sind 100 000 Kinder in Lissabon teils umgekommen, teils sind sie ihrer Eltern beraubt. Aber hingegen genießen über 30 Millionen von diesen zarten Geschöpfen aller Ergötzlichkeiten dieses ruhigen Alters ... Laßt uns von Lissabons rauchenden Mauern einen Blick auf die ganze Welt werfen! Allenthalben sehen wir Proben seiner Güte: gegen eine einzige zerstörte Stadt, hunderttausend blühende und glückliche Städte; gegen dreißigtausend getötete, Millionen gesunde, blühende und vergnügt arbeitende Menschen; gegen einen kleinen Strich öde liegender Äcker, mit den schönsten Früchten prangende Felder. Die Erde ist voll 67 Güte des Herrn!
Auch Krüger bringt zur Depotenzierung des Übels das wohlbekannte perspektivische Argument in Anschlag. Er verweist auf Huygens’ Beschreibungen von Mars, Saturn und anderen Sonnen im Cosmotheoros (Anm. 41 auf S. 410), die ihm zeigen, dass nicht „die ganze Welt um der Menschen willen erschaffen sei“ (40). Aus der Draufsicht relativiert sich der Schrecken. Die „Welt, im Ganzen betrachtet“ (45) ist gut. Auch Johann Friedrich Jacobi hat bei seiner „Betrachtung jener feuerspeienden Berge und der fürchterlich prächtigen Erschütterungen der Erde meine Gedanken zu dem Allmächtigen in die Höhe geschwungen und seine Weisheit und Macht und Liebe und Ernst darin erblickt und bewundert“ (Sammlung § 25)68. In Vulkanen erkennt er „einen weisen Gott und eine gnädige Vorsehung“, in den Erdbeben die „Macht und Vorsehung des großen Schöpfers“ (a. a. O., S. 182). Erdbeben haben „großen Nutzen“ (§ 26, S. 184) und sie haben einen tieferen Sinn als Gottes Veranstaltung, den Menschen zur Gottesfurcht anzuhalten: Gott baut eine Erde, die große Erdbeben zeugt. Große Städte werden dadurch verheert, und einige tausend Menschen in einer einzigen Minute getötet. Niemand weiß, ob sein Wohnhaus auf einer sicheren Stelle steht. Ganze Länder kommen daher in Furcht, und mancher läßt sich dadurch noch bewegen, den Beherrscher der Natur zu erkennen und ihn als denjenigen zu verehren, in dessen Händen seine ganze Glückseligkeit steht. Ich halte dieses für die weise Absicht der angezeigten Einrichtung und für meine Pflicht, mir dabei einen neuen Eindruck von der Hoheit Gottes und meiner Niedrigkeit und Ohnmacht und von der tiefen Ehrerbietung, so ein niedriges Geschöpf dem Allmächtigen schuldig ist, zu geben; und sollte dieses wohl unvernünftig sein? (Jacobi, Sammlung § 26, S. 183f.)
––––––––––––– 67 Johann Gottlob Krüger, Gedancken von den Ursachen des Erdbebens, nebst einer moralischen Betrachtung (1756), zit. Breidert (Hg.) 43f. Aus Krüger und Jacobi zitiere ich in diesem Abschnitt nach den Auszügen in Breidert (Hg.) mit einfachen Seitenzahlen 68 Johann Friedrich Jacobi, Sammlung einiger Erfahrungen und Mutmaßungen vom Erdbeben (1756), zit. Breidert (Hg.) 181.
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Auch das ist der Blick des Nichtbetroffenen – auch wenn Jacobi immerhin berichten kann, dass am Morgen des 18. Februar 1756 auch unter seinen Füßen die Erde bebte, so dass „ich und mein Stuhl sanft hin- und herschwankte“ (Jacobi, Sammlung § 19, S. 174). Deshalb soll hier auch ein Betroffener noch kurz zu Wort kommen: Ein Bericht aus den Halleschen Zeitungen (No.37, 4. Mart. 1756, S. 154) zitiert aus dem Brief eines protestantischen Kaufmanns aus Deutschland, der sich in Lissabon niedergelassen hatte und mit seiner Familie nur knapp mit dem Leben davon gekommen war: Wir danken Gott, daß er uns noch das Leben gelassen, damit wir seinen heiligen Namen preisen und auch andere dazu mit auffordern können: Gebt unserm Gott die Ehre! Wir haben alles verloren. Das einzige, so wir von unsern Effekten gerettet, sind unsere Handelsbücher. Andere hingegen haben gar nichts salviert. Wir sind zufrieden mit dem, was der Herr über uns verhängt hat, uns sagen von Herzen: Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt! Ihm ists gar leicht, uns wieder zu segnen. Wer Gott vertraut hat wohl gebaut im Himmel und auf Erden; und selbst die Pforten der Hölle sollen diese Gebäude nicht überwältigen. Man rechnet anitzo, daß 30000 Menschen bei diesem Erdbeben ums Leben gekommen, ohne die Gequetschten etc. (Vgl. Breidert, Einleitung, 8f.)
Auch dieser Kaufmann hält an Gott fest, und das sicher nicht zufällig mit den Worten des Dulders Hiob (Hi 1,21). Aber als er diese Worte schrieb, hatte er (im Gegensatz zu Jacobi, der sanft auf seinem Stuhl geschwankt war) bereits 40 spätherbstliche Tage und Nächte in einem Zelt auf freiem Feld verbracht, hatte „Kälte und Regen genug ausgestanden und [war] mit beständiger Furcht vom Erdbeben umgeben gewesen, das wir noch täglich spüren“ (ebd.). Entscheidend ist der Unterschied der Perspektiven – wie schon bei Hiob und seinen Freunden. Harald Weinrich69 hat gezeigt, wie und warum das Erdbeben von Lissabon schon bei den Zeitgenossen auch die Erinnerung an das Buch Hiob hervorrufen musste, ein Werk, welches „Voltaire und allen seinen Lesern im 18. Jahrhundert geläufig war“ (Weinrich 70). Nicht nur als das literarische Muster der plötzlich hereinbrechenden, alle Gottesgewissheit hinwegfegenden Katastrophe kann das Unglück wiedererkannt werden, die gleichermaßen Anklagen gegen Gott wie „leidige Tröster“ auf den Plan ruft. Das Erdbeben fungierte auch traditionell als das typische Beispiel für das „physische Übel“, so bei Leibniz, bei Pope und sogar schon im Buch Hiob. In der Theodizee etwa wird das Erdbeben dem (um vieles unheilvol––––––––––––– 69 Harald Weinrich, „Literaturgeschichte eines Weltereignisses: ‚Das Erdbeben von Lissabon‘“ (1971), v. a. 70-73.
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leren) moralischen Übel eines Nero oder Caligula entgegengesetzt (§ 26) und betont, der Schöpfer habe „durch tausend gewöhnliche und beständige Bequehmlichkeiten diese und andere nur selten eintreffende Übel kompensiert“. Darüber hinaus illustriert das Erdbeben die Unverfügbarkeit des menschlichen Glücks70. Auch bei Hiob steht das Erdbeben, dem bei Leibniz letztgenannten Motiv vergleichbar, als Bild für die ungeheure Macht Gottes und der Ohnmacht des Menschen: „Gott ist weise und mächtig; wem ist’s je gelungen, der sich gegen ihn gestellt hat? Er versetzt Berge, ehe sie es innewerden; er kehrt sie um in seinem Zorn. Er bewegt die Erde von ihrem Ort, daß ihre Pfeiler zittern.“ (Hi 9,4-6)71 All diese Konnotationen des Erdbeben-Motivs – das gilt auch und insbesondere für seinen „philosophischen und theologischen Stellenwert“ (Weinrich 71) – können für das 18. Jahrhundert als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Darüber hinaus, so dürfen wir ergänzen, hat sich die Physikotheologie (schon vor Lissabon) auch mit der Frage des Nutzens der Erdbeben auseinander gesetzt, so etwa John Ray, der Erdbeben eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Erde zuspricht72. Das prekäre Gleichgewicht der Perspektiven von oben und unten, das der philosophische Optimismus nach Leibniz erreicht hatte, war nach Lissabon empfindlich erschüttert. Um aber Pauschalisierungen zu vermeiden, möchte ich im Folgenden drei individuelle Reaktionen auf das Erdbeben vorstellen, Reaktionen von Denkern, die sich zudem im Zusammenhang mit dem Theodizeeproblem auf spezifische Weise an das Buch Hiob erinnern werden, nämlich Voltaire, Linné und Kant. Diese Reaktionen können uns gleichzeitig zur Vermessung des spezifischen Problemraums der Theodizeedebatte nach 1755 dienen, insofern sie ein Spektrum der zu dieser Zeit verfügbaren philosophischen Transformationen wiedergeben.
––––––––––––– 70 Leibniz, Theodizee, Anhang III: „Bemerkungen über das vor kurzem in England veröffentlichte Buch über den Ursprung des Übels“, § 10; § 18. 71 Vgl. auch die etwas rätselhafte Stelle aus den Gottesreden: „Hast du zu deiner Zeit dem Morgen geboten und der Morgenröte ihren Ort gezeigt, damit sie die Ecken der Erde faßte und die Gottlosen herausgeschüttelt würden?“ (Hi 38, 12f.). 72 John Ray, Three Physico-Theological discourses, concerning, I. The Primitive Chaos and Creation of the World; II. The General Deluge, Its Causes and Effects; and III. The Dissolution of the World and the Future Conflagration (1692).
II. Die Perspektive des Betroffenen: Voltaire 1. Philosophische Klage: Poème sur le Désastre de Lisbonne Noch bevor Voltaire seinen Hiobroman Candide schreibt, veröffentlicht er mit seinem Lissabon-Gedicht eine sehr unmittelbare Reaktion auf das Erdbeben, die dokumentiert, wie dieses Ereignis ihm den philosophischen Optimismus verleidet. Voltaire war vorher nicht nur im Stillen ein Optimist. Er war mit Pope befreundet und einer der ersten in Frankreich, der wusste, wer sich hinter dem anonym veröffentlichen „Essay on Man“ verbarg. Nach dessen Vorbild verfasste Voltaire einen Discours en vers sur l’homme, in dem er unter Berufung auf Leibniz Pope verteidigte und leidenschaftlich die optimistische Auffassung vertrat, dass in Ansehung des Universum gelte, alles sei gut. Zwar war er auch schon vor 1755 jeder allzu bequemen Alles-ist-bestens-Philosophie abhold, die den Menschen vom tätigen Verändern der Verhältnisse abhalten würde, aber er stand wiederum auch nach dem Candide Leibniz’ Philosophie nicht völlig ablehnend gegenüber1. Als drei Wochen nach dem Erdbeben von Lissabon die Nachricht von der Katastrophe in Genf eintraf, war Voltaire, so wird berichtet, geschockt und fassungslos, wenn er auch sofort sehr klar die theoretischen Konsequenzen übersah und auch seine Ironie zu keiner Zeit einbüßte. „Er lief in seinem Zimmer hin und her und murmelte: ‚Das ist ein schreckliches Argument gegen den Optimismus.‘ Und an d’Argental schrieb er: ‚Das ‚Alles ist schön‘ Popes ist ein wenig aus der Ordnung geraten, und ich wage nicht mehr, mich über meine Koliken zu beklagen.‘“2 In einem Brief an Rat Du Pan wurde er noch deutlicher: „Die Vorsehung hat eins auf den A... gekriegt“ (Lepape 240). Öffentlich reagiert Voltaire auf seine Weise: Unmittelbar nach Bekanntwerden des Ereignisses schreibt er sein Gedicht Poème sur le Désastre de Lisbonne / ou examen de cet axiome: Tout est Bien (veröffentlicht 1756), dessen Untertitel nicht von ungefähr an die Aufgabenstel––––––––––––– 1 Vgl. Ira O. Wade, „Voltaire und Candide“ (1980), 354f. 2 Jean Orieux, Das Leben des Voltaire (1994, orig. 1966), 556.
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lung der Akademiepreisfrage des Vorjahres anknüpft3. Es ist nicht unplausibel, das Erdbebengedicht von 1756 als „Voltaires Beitrag zur Optimismus-Diskussion der Berliner Akademie“ (Weinrich 68) anzusehen, zumal Voltaire aufgrund seiner Feindschaft mit dem Akademiepräsidenten Maupertuis sich eine direkte Teilnahme am Wettstreit wohl versagen musste. Das Gedicht ist sicherlich auch Ausdruck echten Gefühls und authentischer Erschütterung – aber eben „philosophischer Erschütterung“ (Lepape 240). Als didaktische Poesie folgt es der gängigen Praxis, mit Gedichten Lehren zu popularisieren, auf Ereignisse zu reagieren oder Fehden auszutragen. So wendet sich Voltaire direkt an die optimistischen Weltweisen: Getäuschte Philosophen, die ihr schreit: „Alles ist gut“; Kommt her, betrachtet diese furchtbaren Ruinen, Diese Trümmer, diese Fetzen, diese unglücklichen Überreste der Sterblichen. Frauen, Kinder, eins auf das andere gehäuft, Unter zerborstenem Marmor zerstreute Glieder; Hunderttausend Unglückliche, die die Erde verschlingt, die blutend, zerfetzt und noch atmend, Begraben unter ihren Dächern, hilflos, In abscheulichen Qualen ihre jämmerlichen Tage enden! Bei den erstickenden Schreien ihrer erlöschenden Stimmen, Beim fürchterlichen Anblick ihrer rauchenden Asche Werdet ihr da sagen: „Das die Folge ewiger Gesetze, 4 Die den Ratschluß eines freien und guten Gottes bestimmen?“ (387)
Von Zeit zu Zeit klingen Voltaires Verse fast wie Reden des Hiob: „Glaubt mir, wenn die Erde nur halb ihre Abgründe auftut / Ist meine Klage unschuldig und sind meine Schreie gerecht.“ (389) Dennoch wird durchaus der philosophischen Fragestellung entsprechend argumentiert, wobei sich der vertraute Gang der Argumentation umkehrt: Unter anderem mit dem vertrauten Hinweis auf ihre Unvereinbarkeit mit der Allmacht Gottes wird die Optimismus-These zurückgewiesen: „Alles ist gut“, sagt ihr, „und alles ist notwendig.“ Wie! Wäre das gesamte Universum ohne diesen Höllenschlund,
––––––––––––– 3 Diese (siehe oben Anm. 55 auf S. 415) forderte „l’Examen du Système de Pope, contenu dans la Proposition: Tout est bien“ (Lorenz 167). 4 Poème sur le Désastre de Lisbonne, in der sehr texttreuen Übersetzung von Uwe Steiner (1992). Ich zitiere in diesem Kapitel aus dieser Übersetzung, sofern eindeutig, mit einfachen Seitenzahlen. Steiner gibt die französische und deutsche Fassung einschließlich Préface von 1756 und Voltaires Anmerkungen; den französischen Text nach den Oeuvres Complètes de Voltaire, hg. v. Louis Moland, 52 Bd., Paris (Garnier) 18771885, Bd. IX, S. 465-480 (mit Seitenangaben dieser Ausgabe).
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Ohne Lissabon zu verschlingen, schlechter gewesen? Seid ihr sicher, daß der ewige Grund, Der alles macht, der alles weiß, der alles um seinetwillen erschuf, Uns nicht in diesen traurigen Himmelsstrich werfen konnte, ohne Vulkane unter unseren Füßen zu entzünden? Wollt ihr die Allmacht derart begrenzen? (389)
Es ist, so Voltaire, durchaus ein besserer Weltverlauf denkbar: „Ich wünsche demütig, ohne meinen Herren zu beleidigen / Daß dieser Flammenschlund von Schwefel und Salpeter / Seine Feuer inmitten von Wüsten entzündet hätte.“ (389) So stellt sich das Theodizeeproblem aufs Neue: „Aber, wie einen Gott begreifen, die Güte selbst, / Der seine Wohltaten an seine Kinder, die er liebt, verschwendet, / Und mit vollen Händen Übel über sie ergießt?“ (396) Dem von Schmerz bewegten Herzen soll niemand mehr mit „unveränderbaren Gesetzen der Notwendigkeit“ kommen. Das Konstrukt der Theodizee, der Gott, der frei und gerecht das Beste wählt, sind „Gelehrtenträume“ und „Hirngespinste“ (vgl. 391). Es ist insbesondere auch die naive Vorstellung eines durchgängigen gerechten Tun-ErgehenZusammenhangs, die durch solche Katastrophen augenfällig ad absurdum geführt wird: „Werdet ihr angesichts dieser Unzahl von Opfern sagen: / ‚Gott hat sich gerächt, ihr Tod ist der Preis für ihre Verbrechen?‘ / Welche Verbrechen, welche Verfehlungen haben diese Kinder begangen, an der Mutterbrust zermalmt und blutend?“ (387) In der ungelösten Frage der Gerechtigkeit Gottes liegt der „unheilvolle Knoten, der zu lösen ist“: „Warum leiden wir dann unter einem gerechten Herrn?“ Was bleibt, ist die Einsicht in die Begrenztheit unserer Erkenntnis angesichts des Göttlichen: Im Universum ist der Mensch nichts als eine Ansammlung „gequälter Atome“. Auch der Leibniz-Theodizee war ja eine solche Bildlichkeit nicht fremd, allerdings mit der entgegengesetzten Pointe: Gottes Güte darf nicht bezweifelt werden, auch wenn wir sie nicht sehen können. Gerade das kann Voltaire nicht mehr akzeptieren; das Übel in der Welt ist angesichts unserer Erfahrungen und Einsichten eben nicht nur „beinahe nichts“. Was bin ich, wo bin ich, wohin gehe ich und woher stamme ich? Gequälte Atome auf einem Haufen Schmutz, Die der Tod verschlingt und mit denen das Schicksal sein Spiel treibt, Aber denkende Atome, Atome, deren Augen Geleitet durch den Verstand, die Himmel ausgemessen haben. Unser Sein geht aus dem Schoß des Unendlichen hervor, Ohne daß wir auch nur einen Augenblick uns sehen, uns kennen könnten. (401)
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Der optimistische Anspruch auf Erkenntnis des Absoluten ist Täuschung. Der begrenzten Einsicht des Menschen bleibt angesichts des Unglücks nur die Hoffnung auf zukünftiges Glück, und die Ergebung in Gottes Hand: Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung; Alles ist heute schon gut, das ist eine Täuschung. Die Weisen täuschten mich, und Gott allein hat recht. Demütig in meinen Seufzern, in mein Leid ergeben, Lehne ich mich nicht gegen die Vorsehung auf. (403)
Vieles an diesem Gedicht mit seiner Wendung von Aufstand, Klage und Anklage (Anklage allerdings gegen die Philosophen eher als gegen Gott) hin zu Demut und Ergebenheit erinnert an Hiob und insbesondere an die psalmistische Struktur: der in der „Ich-Klage“ sein Leid Beklagende, der in den Philosophen sozusagen die „Feinde“ ausmacht, und der mit Gott hadert, aber doch seine Hoffnung in Gott setzt („Du-Klage“). Auch bei Voltaire erfleht „mein bedrängtes Herz ... die Hilfe Gott, der es gebildet hat“ (393). Mit Recht wird das Buch Hiob „als die grundlegende biblische Referenz“ des Gedichts bezeichnet5. Mit Hiob fordert Voltaire das „Recht auf Klage“ ein (Steiner 366) und stellt die Perspektive des Betroffenen gegen die Beobachtersicht der Unangefochtenen. Nichts veranschaulicht diesen Gegensatz der Perspektiven besser als die Metapher des „Schiffbruchs mit Zuschauern“, die gleich zu Beginn des Gedichts die angesprochenen Philosophen charakterisiert: Lissabon ist vernichtet, und in Paris wird getanzt. Unbekümmerte Zuschauer, unerschrockene Geister, Die ihr zuseht, wie eure sterbenden Brüder Schiffbruch erleiden, Ihr ergründet in Frieden die Ursachen der Stürme: Aber, wenn ihr die Schläge des widrigen Geschickes verspürt, Werdet ihr, menschlich geworden, weinen wie wir. (388f.)
Die traditionsreiche Metapher stammt aus Lukrez’ De rerum natura und verherrlicht dort den Philosophen, der „hoch in der Höhe und wohlverwahrt durch Lehre der Weisen“ auf die im Leben Herumirrenden herabschaut6. Aber „gerade die bei Lukrez erstrebte leidenschaftslose Reflexion wird Voltaire zum Skandalon“ (Steiner 343). Die philosophische ––––––––––––– 5 Steiner 365, mit Verweis auf Harald Weinrich (a. a. O.). 6 Lukrez, De rerum natura / Welt aus Atomen, II. Buch, V.1-10, S. 85. Vgl. dazu auch Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer (1979), und Steiner 343ff.
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Draufsicht des Unbeteiligten kann nicht bewahren, wer mit echter Anteilnahme Zeuge von Katastrophen wie Lissabon wird. Hoffnung steht am Ende des Poème – zumindest nach Voltaires späterer Überarbeitung der ursprünglichen Fassung. Aber ohne Aussicht auf Theophanie muss diese Hoffnung sich aus sich selber nähren, was dem schwerreichen Voltaire im sicheren und insgesamt relativ liberalen Genfer Milieu leichter gefallen sein wird als anderen seiner Zeitgenossen. „Haben wir Geduld: Die Erde wird nicht immerzu beben, ich werde nicht immerzu bestohlen und verfälscht“ schreibt Voltaire am 21. Dezember 1755 an seinen Verleger Gabriel Cramer 7. Voltaires Gedicht jedenfalls hatte einen ungeheuren Erfolg bei den ebenso traumatisierten Zeitgenossen, auch nachdem Voltaire vor seiner Veröffentlichung noch alles gestrichen hatte, was insbesondere bei den calvinistischen Pastoren zuviel Anstoß erregen könnte8. „Autorisiert oder heimlich, werkgetreu oder zusammengeschludert, es kamen immer neue Ausgaben heraus.“ (Lepape 240) Und natürlich gab es Gegenstimmen. Herder etwa empfand das Gedicht als „unphilosophisches Geschrei“9. Jean-Jaques Rousseau wiederum erkennt im Poème durchaus Philosophie, und er versucht in seinem Brief an Voltaire vom 18. August 1756 (dem sogenannten „Brief über die Vorsehung“) zur Verteidigung des Optimismus die im Poème über das Erdbeben vorgetragene Argumentation Punkt für Punkt zu widerlegen10. Voltaire allerdings lässt sich in seiner Antwort vom 12. September überhaupt nicht erst auf eine Debatte ein: Mein verehrter Philosoph, in den Zeiten zwischen unseren Krankheiten können wir, Sie und ich, in Versen und in Prosa philosophieren. Doch im gegenwärtigen Augenblick werden Sie mir verzeihen, wenn ich all diese philosophischen Erörterungen beiseite lasse, die ja doch nur eitle Vergnügen sind. Ihr Brief ist sehr schön, ich habe aber eine meine Nichten hier bei mir, die seit drei Wochen in ziemlich großer Gefahr
––––––––––––– 7 Voltaire. Korrespondenz aus den Jahren 1749-1760, 82. 8 Vgl. den Brief von Voltaires Arzt Tronchin an Rousseau vom 1.9.1756: „Als er sein Poem gedichtet hatte, beschwor ich ihn, es zu verbrennen. Ich fuhr nach Paris, unsere gemeinsamen Freunde taten sich zusammen und baten ihn um den gleichen Gefallen; alles, was von ihm zu erreichen war, bestand darin, daß er es abmilderte“ (Voltaire. Korrespondenz aus den Jahren 1749-1760, 118). 9 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bd. 1, 28. 10 Brief von Jean-Jacques Rousseau an Voltaire vom 18.8.1756, in: Voltaire. Korrespondenz aus den Jahren 1749-1760, 99-117. Ich zitiere daraus im Folgenden Rousseau und Voltaire mit einfachen Seitenzahlen. Rousseaus Brief soll übrigens auf Veranlassung eines Genfer Pastoren geschrieben worden sein (vgl. Orieux 558).
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schwebt. Ich bin Krankenwärter und dabei selber krank. Ich will warten, bis es mir besser geht und bis meine Nichte gesund ist, ehe ich es wage, mit Ihnen zu denken. (Voltaire. Korrespondenz aus den Jahren 1749-1760, 119)
Nun sind Voltaires Krankheiten für ihn erfahrungsgemäß kaum je ein hinreichender Grund, sich zu schonen und von Auseinandersetzungen fernzuhalten; sie werden vielmehr später selbst eines seiner stärksten rhetorischen Mittel zur Polemik gegen den Optimismus: Nicht wahr? wir sehen eine saubere und dauerhafte Ordnung zwischen den Lebewesen aller Art: überall geht es ordentlich zu. Bildet sich ein Stein in meiner Blase, so ist die Mechanik bewundernswert: Tropfen um Tropfen dringen steinhaltige Säfte in mein Blut; sie sickern in die Nieren, durch den Harnleiter, setzen sich in meiner Blase ab, versammeln sich dort mit vorzüglicher Newtonscher Anziehungskraft, der Kiesel bildet sich, er wächst, ich leide nach der besten Ordnung der Welt tausend Schmerzen schlimmer als der Tod; es kommt ein Chirurg, welcher die Kunst des Tubalkain verbessert hat; er rennt mir ein spitz schneidendes Eisen in den Damm, packt mit seiner Zange meinen Stein, der unter seinen Anstrengungen nach einem notwendigen Mechanismus zersplittert, und nach ebendiesem Mechanismus sterbe ich unter gräßlichen Qualen. Dies alles ist gut, dies alles ist die offenkundige Wirkung der unabänderlichen 11 physikalischen Gesetze: ich pflichte euch bei, denn ich wußte es so gut wie ihr.
Dass also Rousseau von Voltaire keine Antwort erhält, hat offenbar andere Gründe. Zunächst dürfte eine Rolle spielen, dass Voltaire Rousseau nicht helfen kann, wenn dieser in Voltaires Haltung nichts „Trostreiches“ findet. Diese Fähigkeit, Trost zu spenden, lässt Rousseau an Leibniz und Pope festhalten: Jener Optimismus, den Sie so bitter finden, tröstet mich nämlich in eben dem Schmerz, den Sie mir als unerträglich ausmalen. Das Gedicht von Pope mildert mein Leid und führt mich zur Geduld, das Ihre schärft mein Elend, stachelt mich an aufzubegehren, und da mir bis auf eine ins Wanken gebrachte Hoffnung alles genommen ist, überläßt es mich der Verzweiflung. (100)
Andererseits sind Rousseaus Einwürfe gegen die „Lehre“ (101) und „Beweisführung“ (105) des Poème durchaus berechtigt, und weil dieses im Gewand philosophischer Polemik daherkommt, muss es sich diese Kritik auch gefallen lassen. Unbeschadet dessen müssen wir die Situation des Verfassers bei seiner Abfassung berücksichtigen: Aus den Versen des Gedichtes spricht die Bestürzung angesichts der Katastrophe. Das Gedicht ist
––––––––––––– 11 Aus dem Philosophischen Wörterbuch (Dictionnaire philosophique portatif, ab 1764), Artikel „Tout est bien“ (Voltaire, Kritische und satirische Schriften, 640).
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nicht Produkt reiflicher Überlegung, sondern Ausdruck der Krise, der Erschütterung scheinbarer Gewissheiten12. Trotz aller Polemik gegen die Theologen der Sorbonne und die Praktiken der Kirche (insbesondere die Inquisition) war Voltaire beileibe kein Atheist, sondern kritischer Deist und Newtonianer. Gott war für ihn zwar Schöpfer der Welt, überließ sie aber ansonsten dem Lauf ewiger (und erkennbarer) Gesetze, zu deren Einsicht Newton bereits auf dem besten Wege schien. Allerdings teilt Voltaire keineswegs einschränkungslos Newtons Voluntarismus. Für Voltaire ist Gott als Gesetzgeber die Quelle der Prinzipien, nach denen die Weltmaschine funktioniert (vgl. Dieckmann 80) und die auch den Bereich der sittlichen Weltordnung und der Vorsehung einschließen. Dass Gott als ein verehrungswürdiges Wesen das Beste des Möglichen geschaffen haben muss, daran war auch für Voltaire lange Zeit kein Zweifel denkbar. „Seine Naturauffassung ist in einem Deismus gegründet, der Zweckursachen und teleologische Prinzipien mit einbegreift“, und auch für Voltaire war das „teleologische oder physikotheologische Argument“ unverzichtbar, um sich „von dem ‚Kopernikanischen Schock‘ zu befreien“ (Dieckmann 83). Solchen metaphysischen Voraussetzungen konnte der philosophische Optimismus bestens gerecht werden, und manche ihrer natürlichen Schlussfolgerungen werden eben erst angesichts der konkreten Katastrophe in voller Klarheit sichtbar. Rousseau jedenfalls konnte keine Antwort erwarten, solange Voltaire selbst noch keine hatte. „Das Poème sur le désastre de Lisbonne ... zeigt die Ratlosigkeit und die Erschütterung des Denkens, dem nur noch strikte unpersönliche Gesetzesnotwendigkeiten gegenüberstehen. Die Antwort an Rousseau – so sah es zumindest Rousseau selbst – folgte Jahre später: Voltaires Roman Candide13. Der Candide ist genauso wenig wie das Poème eine „Widerlegung“ des Optimismus, weder von Leibniz noch Rousseau. Er kann den Optimismus nicht widerlegen, weil er dessen Ebene des Denkens und seinen philosophischen Standort ganz und gar verlässt. Statt dessen verfolgt er ––––––––––––– 12 „Gegen seine Lebensbejahung und seinen kämpferischen Optimismus ringt sich Voltaire das Eingeständnis ab: ‚le mal est sur la terre‘. Voltaires Optimismus ist nicht nur ein Gefühl und eine Überzeugung, sondern ein philosophisch gefestigter Glaube, der auf dem Gleichgewicht verschiedener Ideen beruht. Daß es ein prekäres Gleichgewicht war, wurde Voltaire nun klar.“ (Herbert Dieckmann, „Religiöse und metaphysische Voraussetzungen in Voltaires Philosophie und Naturauffassung“ (1980, zuerst 1963), 79). 13 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Die Bekenntnisse, 2. Teil, IX. Buch, 424.
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einen möglichen Problemlösungsansatz, den auch das Poème bereits gewiesen hatte: Der Candide setzt die spezifischen Mittel der Erzählung ein, um die Perspektive des Betroffenen wiederzugewinnen, welche das philosophische System aus den Augen verloren hatte. 2. Literarische Verhandlung: Candide „ ... kann ich der Theodicee ... kein anderes Verdienst zugestehen, als dieses, daß sie später Anlaß gegeben hat zum unsterblichen CANDIDE des großen VOLTAIRE; wodurch freilich Leibnitzens so oft wiederholte, lahme Exküse für die Uebel der Welt, daß nämlich das Schlechte bisweilen das Gute herbeiführt, einen ihm unerwarteten Beleg erhalten hat.“ (Schopenhauer)
Wenn der Candide eine Antwort an Rousseau sein sollte, dann war es eine ziemlich boshafte. Der „mildtätige Wiedertäufer“ Jacques, in Namen und Ansichten eine deutliche Anspielung auf den (gerade wieder zum Calvinismus rekonvertierten) Rousseau, ertrinkt während eines Unwetters, bei dem Versuch, einen unzivilisierten Matrosen zu retten, der nach einer völlig unmotivierten Attacke auf Jacques selbst in Lebensgefahr geraten war, im Meer 14. Der Verfechter des unverdorbenen Naturzustandes (vgl. Candide, Kap. 4, 144) kommt also gewissermaßen durch die Natur selbst ums Leben. Dann bricht im Sturm das Schiff auseinander, und nur diejenigen lässt Voltaire überleben, an denen noch etwas demonstriert werden soll: ausgerechnet den gewalttätigen Matrosen, der den Jacques hatte ertrinken lassen, als exemplarische Widerlegung eines gerechten Tun-ErgehenZusammenhangs, sodann den unerschütterlichen Leibniz-Wolffschen Optimisten Pangloss und natürlich den Titelheld, Candide. Sie entkommen der Katastrophe auf See nur, um in die Katastrophe an Land zu geraten, das Erdbeben von Lissabon. Kaum haben sie, den Tod ihres Wohltäters beweinend, die Stadt betreten, als sie die Erde unter ihren Füßen beben fühlten; schäumend erhebt sich das Meer im Hafen und zerbricht die Schiffe, die vor Anker liegen. Wirbel von Flammen und Asche hüllen Straßen und Plätze ein; die Häuser stürzen zusammen, die Dächer werden von den Mauern gefegt, und die Mauern brechen auseinander; dreißigtausend Einwohner jeden Geschlechts und Alters werden unter den Trümmern erschlagen. (145)
––––––––––––– 14 Voltaire, Candide, Kap. 5, 144ff. Ich zitiere im Folgenden aus Candide mit einfachen Seitenzahlen, ggf. mit Kapitelnummer.
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Candide, Pangloss und der Matrose reagieren exemplarisch unterschiedlich auf das Erdbeben: „Pfeifend und fluchend bemerkte der Matrose: ‚Hier wird etwas zu holen sein.‘ – ‚Was könnte wohl der zureichende Grund für dieses Phänomen sein?‘ sagte Pangloss. ‚Der jüngste Tag ist gekommen!‘ rief Candide aus.“ (145) Pangloss, der Philosoph, hält es für erwiesen, dass von dem vor einiger Zeit ebenfalls von einem Erdbeben heimgesuchten Lima eine unterirdische Schwefelader bis nach Lissabon reichen müsse. Ebenso klar ist für ihn, dass auch das Erdbeben Teil des besten Plans sein muss: „‚Denn‘, sagte er, ‚alles das ist nur zum Besten. Wenn es nämlich einen Vulkan in Lissabon gibt, konnte er nicht woanders sein, denn es ist unmöglich, daß die Dinge sich nicht dort befinden, wo sie sind. Alles nämlich ist gut, wie es ist.‘“ (146) Das ist sinnlos, aber vor allem noch immer die Haltung des Unangefochtenen, des Philosophen, der vom Leid nicht unmittelbar betroffen ist. Dass Pangloss diese Haltung auch inmitten der größten Katastrophen nicht aufgeben kann, macht ihn so lächerlich. Was Pangloss bis dahin erlebt hatte – eine Zofe hatte ihn mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt, er war als Bettler herumgeirrt und hatte Nase, Ohr und ein Auge eingebüßt – reicht offensichtlich ebenso wenig aus, ihn zu kurieren, wie der Anblick der Lissaboner Opfer. Deshalb lässt ihn Voltaire auch konsequent weiter leiden. Befragt nach der Vereinbarkeit seiner Auffassung mit Erbsünde, Sündenfall und Freiheit, versucht Pangloss eine Antwort auf der Linie von Leibniz, die er aber leider nicht zu Ende bringen kann: Sein Gesprächspartner, ein Späher der Inquisition, hat genug gehört und überantwortet ihn einem Autodafé, dass zur Verhinderung weiterer Erdbeben – daneben aber auch, wie sich später zeigt, aus sehr persönlichen Gründen des Großinquisitors – veranstaltet werden soll. Pangloss wird zwar (aus nicht ganz einsichtigen Gründen) nicht verbrannt, sondern nur erhängt – so kann Voltaire ihn überleben lassen. Das Autodafé jedoch findet statt, drei Männer werden verbrannt, Pangloss erhängt, und Candide verprügelt. Der erwünschte Erfolg bleibt freilich aus: „Am gleichen Tage bebte die Erde mit entsetzlichem Donner von neuem.“ Dafür bekommt der philosophische Optimismus des „arglosen“15 Pangloss-Schülers Candide erste Risse: „Candide dachte voller Schrecken, sprachlos, außer sich, blutig und ––––––––––––– 15 Voltaire selbst legt folgende Deutung des Namens „Candide“ nahe: „Ein gesundes Urteil verband sich bei ihm mit Arglosigkeit; aus diesem Grunde, glaube ich, wurde er Candide genannt.“ Der Name könnte auf die Zeilen zu Beginn von Popes Essay on Man zurückgehen: “Laugh where we must, be candid where we can; / but vindicate the ways of God to man” (Alexander Pope, An Essay on man, Ep. I 15.16, 182).
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zitternd: ‚Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen erst die anderen sein!‘“ (Kap. 6, 148) Harald Weinrich hat an der Lissabon-Episode des Candide die Verwandtschaft des Romans mit dem Buch Hiob festmachen wollen: „Im Lissabon-Kapitel wiederholt sich dann, wie früher im Gedicht über das Erdbeben, die Grundsituation des Buches Hiob. Candide verkörpert den duldenden Hiob. Pangloss, der penetrant optimistische Philosoph, vertritt, indem er auf den Trümmern von Lissabon weiterhin seine angelernte Optimismus-Formel trompetet, die leidigen Tröster des Buches Hiob. Das Streitgespräch des biblischen Buches erneuert sich ein weiteres Mal.“ (Weinrich 72) Candide – „c’est Job habillé à la moderne“, hatte schon Friedrich der Große bemerkt 16. Diese Parallele wird nicht in jeder Hinsicht beiden Werken gerecht: Die Freunde Hiobs kann man im Hinblick auf den theoretischen Gehalt ihrer Argumente kaum mit Pangloss vergleichen, und das notwendige Fehlen jeder Theophanie gibt dem Candide zwangsläufig eine andere Stoßrichtung. Doch ist, wie auch die Lissabon-Episode zeigt, die Struktur der in den Texten verhandelten Probleme vergleichbar: Vertraute Dogmen versagen angesichts von Leiderfahrungen, die sich gegen zweckhafte Einordnungen sperren. Eine neue, diesen Erfahrungen angemessenere Weltbeschreibung wird gesucht, die an die Stelle der alten Dogmen treten kann. In seinem Umgang mit den alten Dogmen allerdings unterscheidet sich der Candide sehr vom Buch Hiob. Die Lissabon-Episode ist auch charakteristisch für die Weise, mit der Voltaire in seinem conte philosophique Philosopheme literarisch bekämpft: Er legt sie vereinfacht, verzerrt oder einfach falsch einem Schwätzer in den Mund, der zudem selten dazu kommt, seine Argumente vollständig vorzubringen. Letztere wiederum werden nicht etwa durch Gegenargumente anderer Protagonisten widerlegt, sondern vor allem durch verhängnisvolle Ereignisse, die (wie schon im Fall des Wiedertäufers Jacques) den Vertreter des entsprechenden Arguments wieder und wieder mit Schmerz, Unglück und Tod schlagen und damit auch das Argument, für das er steht (das entsprechende „Programm“) narrativ entwerten. ––––––––––––– 16 Brief an Voltaire vom 28.4.1759 in Voltaire, Correspondance Bd. 36, 43, zit. Hausen 135. Das Buch Hiob hatte für Voltaire durchaus große Bedeutung. Neben Candide wurde auch Zadig mit Hiob verglichen, vor dessen Niederschrift Voltaire das Buch Hiob nochmals gelesen hatte (ebd). In seinen Briefen vergleicht Voltaire sich selbst mit Hiob und gelangt dabei „zur völligen Identifikation ..., wenn er einen seiner Briefe überschreibt: ‚Job à Madame Bermecide‘“ (vgl. Hausen 133).
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Mit dieser traditionsreichen Technik landet Voltaire einen Wirkungstreffer nach dem anderen: Wenn Pangloss angesichts eigener und fremder Katastrophen unbeirrt am Alles ist gut festhält, erscheint sein Optimismus zynisch, unangemessen und lächerlich zugleich. Es ist lächerlich, wenn er etwa den tieferen Zweck seiner Geschlechtskrankheit ausmacht: Ohne sie, die angeblich Columbus auf einer Insel Amerikas aufgelesen hat, „hätten wir weder Schokolade noch Cochenille“ (Kap. 4 S. 143). Solche Zweckzuweisungen auf der Linie der Physikotheologie widerlegen sich selbst durch ihre Absurdität, ähnlich wie die im ersten Kapitel, dass Nasen zum Brillentragen geschaffen seien. Doch erinnern sie den informierten Leser an den inhärenten Zynismus durchaus ernstgemeinter Versuche, im scheinbar zweckwidrigen Leiden einen höheren Zweck zur Vervollkommnung des Ganzen aufzufinden – Theorien, wie sie natürlich auch Pangloss vertritt: „... das Missgeschick der einzelnen bringt das allgemeine Wohl hervor, so daß, je mehr Missgeschick der einzelne hat, das Ganze nur desto besser dasteht.“ (ebd. 144) Unmittelbar nach dieser Bemerkung gerät Pangloss auch schon mitten hinein in „Sturm, Schiffbruch, Erdbeben“ (Kap. 5, 144): Der Optimist, der die Draufsicht des Beobachters pflegt, wird in die Rolle des Betroffenen gezwungen. Nun geht es zwar in Candide ou’l Optimisme um den Optimismus, aber es geht nicht um Pangloss. Dieser wird in Kapitel 6 erhängt und taucht erst kurz vor Schluss in Kapitel 27 wieder auf. Natürlich ist er, als Stereotyp des Optimismus, immer wieder präsent, wenn Candide seine Lehren zitiert und das ihm Zustoßende als Gegenargument oder Bestätigung derselben bewertet. Im Zentrum aber steht Candide, der sich ebenfalls immer wieder in der Rolle des von Unglück und Leid Betroffenen wiederfindet. In der wechselvollen Geschichte seiner Abenteuer verhilft der Roman der Perspektive des Subjekts zu ihrem Recht, der Perspektive des Betroffenen und Beteiligten, der weder weiß, wie seine Geschichte begonnen hat – wie das Unglück, das ihn trifft, zu erklären wäre – noch wie diese Geschichte enden wird. Im Scheitern aller Versuche, die weisheitliche Draufsicht des Optimismus oder anderer Philosophien in Anwendung zu bringen, wird das Subjekt immer wieder auf diese Perspektive der beschränkten Menschenvernunft zurückgeworfen. Das Subjekt Candide, das nicht bloß beobachtet, sondern erlebt und erleidet, kann nicht anders, als die Lehre seiner Lage anzupassen – geht es ihm gut, ist Candide „optimistisch“, geht es ihm allerdings schlecht, dann zweifelt er an Pangloss’ Theorien, sucht nach anderen Antworten. Dieses
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Schwanken Candides kennzeichnet die Stasis, welche in der narrativen Problemverhandlung des Romans ihre Auflösung finden soll. Der Candide ist eine exemplarische narrative Problemverhandlung gemäß unserer Definition. Narrativ verhandelt wird zunächst das Problem Candides, dessen Welt im 1. Kapitel mit seiner Vertreibung aus dem Schloss des Barons, dem „irdischen Paradies“ (Kap 2, 136), aus den Fugen geraten war, und der nun gezwungen ist, sein Bild von der Welt (als der besten aller möglichen Welten) mit seinen Erfahrungen in der Welt (voller Leid, Bosheit und Unwägbarkeiten) in Übereinstimmung zu bringen. Der „Arglose“ scheitert das erste Mal schon in Kapitel 2, wenn sein Glaube, alles sei „zum besten bestellt“, ihn hindert, die Absichten der bulgarischen Werber zu durchschauen (137). Folgerichtig wird er in Eisen gelegt, landet beim Militär, wird misshandelt und findet sich schon in Kapitel 3 inmitten der drastischsten Kriegsszenen wieder. Alles, was ihm auf seinen Abenteuern begegnet, wird nun zum Prüfstein seiner Weltsicht17. Der Optimismus des Pangloss bietet sich als eine mögliche Welthaltung an, daneben aber treten andere, exemplarisch verkörpert durch den mildtätigen Wiedertäufer Jacques, der den Menschen als von der Zivilisation verdorben ansieht, den Manichäer Martin, für den der Mensch immer schon schlecht ist, so wie alles auf diesem „Erdkügelchen“, das Gott wohl dem Teufel überlassen hat (191, Kap. 20), oder den Senator Pococurante – „ein Mensch, der Kummer nie gekannt“ (211, Kap. 24), aber eben auch keine Freude, da ihn in seiner Leidenschaftslosigkeit alles langweilt. Wir können den Candide lesen als die Geschichte einer Problemlösung, einer Suche nach Sinn und Kohärenz, die vom Verlust der optimistischen Gewissheit erzwungen wird (sa). Alle genannten Welthaltungen, die mit dem philosophischen Optimismus konkurrieren, sind Lösungsangebote, mögliche Weltbeschreibungen (Überzeugungssysteme) ohne den initialen Widerspruch zwischen Dogma und Erfahrung. In Bezug auf die Geschichte der Überzeugungen des Candide werden diese Lösungsangebote zu virtuellen narrativen Programmen, die aktualisiert und exemplarisch bestätigt werden könnten, wenn Candide mit ihnen seine Ruhe fände (sz). Diese narrative Analyse ist allerdings bereits durch die Oberflächengeschichte hindurchgedrungen. Vordergründig betrachtet, ist das durch das ––––––––––––– 17 „Als Reisender ist Candide stets ein Interpret der Welt, einer, der zu verstehen sucht, was ihm zustößt.“ (Dirscherl 167) Weil „die Konflikte im komischen Roman der Philosophen ... zumeist Interpretations- und Erkenntniskonflikte“ sind, scheitern Candide, wie auch Don Quichote oder Jacques der Fatalist, in ihren Abenteuern „primär nicht als Handelnde, sondern als Interpreten der Wirklichkeit“ (Dirscherl 163).
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Begehren des „Subjekts“ Candide konstituierte narrative Programm auf seine Verbindung mit dem „Objekt“ Kunigunde gerichtet. Seine Zuneigung zur höher gestellten Baronstochter ist – als Verletzung der sozialen Ordnung – der Grund für seine Vertreibung, und sie ist später immer wieder das Hauptmotiv seiner Anstrengungen, hält die Handlung in Gang und gibt ihr ein Ziel. Am Ende hat Candide dieses Ziel erreicht – aber glücklich ist er nicht. Kunigunde, „die täglich häßlicher wurde, zeigte sich zänkisch und unverträglich“ (Kap. 30, 228). Die Erlangung dieses „Objekts“ durch das „Subjekt“ Candide in der traditionellen Heirat bestätigt und löst nichts, sondern wird vermutlich Teil des Problems. Zur ungeliebten Ehefrau kommt die „Lethargie der Langeweile“ und, vor allem, der Umstand, dass Candide noch immer nicht in seiner Welt zu Hause ist, kein stabiles, lebensfähiges Weltbild besitzt, das seinen Erfahrungen gerecht wird. Zwar ist der Pangloss’sche Optimismus empirisch diskreditiert – narrativ ad absurdum geführt durch eine lange Reihung von Episoden, die logisch als widerlegende Gegenbeispiele zur vorausgesetzten allgemeinen Behauptung fungieren. Aber er ist noch nicht besiegt, denn er hat ja den unbestreitbaren Vorteil, eine welt- und lebensbejahende Lehre zu sein, unter Umständen Mut und Trost zu geben – im Gegensatz zu den anderen Sinnangeboten, die offensichtlich für Candide und Voltaire keine echten Alternativen sind. So kann Candide noch in Kapitel 27 gelegentlich dem Optimismus zuneigen – „Pangloss hatte recht: alles ist gut“ (220) – und noch im letzten Kapitel können Beispiele menschlichen Unglücks dazu beitragen, den Manichäer Martin „in seinen verabscheuungswürdigen Grundsätzen zu bestärken, Candide mehr als je zuvor schwanken zu lassen und Pangloss in Verlegenheit zu bringen“ (Kap. 30, 229). Die Entscheidung in diesem Schwanken – das narrative Urteil – bringen erst die letzten Seiten des Romans. Diese „Lösung“ wird in zwei Stufen erreicht. Die erste Stufe besteht im Verzicht auf das Verstehenwollen dessen, was außerhalb der Grenzen der menschlichen Vernunft liegt 18. Die debattierenden Philosophen befragen einen berühmten Derwisch, „der als bester Philosoph der Türkei galt“. Auf Pangloss’ erste Frage, warum „ein so merkwürdiges Tier wie der Mensch“ geschaffen wurde, antwortet der Derwisch: „Was geht dich das an?“ Dann fragt Candide nach dem Bösen auf Erden. „‚Was liegt daran‘, sagte der Derwisch, ‚ob es Böses oder Gu––––––––––––– 18 Vgl. Wade 360. Wade sieht im Stil des Candide, dieser unentwirrbaren Mischung von Ernst und Lächerlichkeit, in Ironie und „Spott“ (wit) Voltaires „ein spirituelles, nicht ein rationales Werkzeug zum Angriff auf die Ambiguität, auf die Undurchsichtigkeit eines Universums, das sich dem Verständnis entzieht“ (ebd.).
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tes gibt? Wenn seine Hoheit ein Schiff nach Ägypten schickt, stört es ihn, ob sich die Mäuse auf dem Schiff wohl befinden oder nicht?‘ – ‚Was sollte man also tun?‘ fragte Pangloss. ‚Schweigen‘, sagte der Derwisch“ (das ist Lösungsvorschlag L3) – und schlägt dem Pangloss, der partout noch diskutieren will, die Tür vor der Nase zu (Kap. 30, 230). Weinrich hat nicht Unrecht, auch hier Parallelen zum Buch Hiob zu bemerken: Tatsächlich gleicht die Abfuhr des Derwischs in manchem dem „Schluß des Buches Hiob ..., freilich zur Romanepisode verkleinert und, was Voltaire sehr liebt, orientalisch kostümiert“ (Weinrich 72f.). Im Hiobbuch musste nach der negativen Lösung, die nur die um Schuld und Vergeltung kreisenden Thesen der Freunde und Hiobs zurückgewiesen hatte, noch eine positive folgen, dort die Schöpfungstheologie, vor allem aber die Zuwendung JHWHs zu Hiob in der Theophanie, die allein diesen trösten und sein Problem lösen konnte. Und auch im Candide folgt nach der negativen Lösung L3 – der Zurückweisung der um Candide konkurrierenden Weltbeschreibungen des Optimisten Pangloss (L1) und des Manichäers Martin (L2) – ihre positive Ergänzung. Die drei begegnen einem türkischen Bauern, einem „freundlichen Greis“, der vor seiner Tür inmitten von Orangenbäumen die frische Luft genießt. Dieser nimmt keine Notiz von den öffentlichen Angelegenheiten um ihn herum, kümmert sich um seinen Garten und ist es zufrieden: „Die Arbeit hält drei große Übel von uns fern: die Langeweile, das Laster und die Not.“ (231) Diese Lösung L4 zusammen mit L3 – Schweigen und Arbeiten – machen sich auch die drei Philosophen zu eigen: Sie bezeichnet die Welthaltung, die am Ende Candide zur Ruhe kommen lässt und die Voltaire auch im Streit um den philosophischen Optimismus für angemessen hält. „‚Arbeiten wir, ohne zu philosophieren‘, sagte Martin, „denn das ist das einzige Mittel, das Leben erträglich zu machen.“ (L3 & L4) Alle auf Candides kleinem Pachtgut Versammelten machen sich, jeder nach seinen Talenten, nützlich und sind es wohl zufrieden. Nur Pangloss hat mit dem Schweigen noch seine Probleme: Pangloss sagte manchmal zu Candide: „Alle Ereignisse sind in der besten aller möglichen Welten miteinander verknüpft; denn wäret Ihr schließlich nicht um der Liebe zu Fräulein Kunigunde willen mit ordentlichen Tritten in den Hintern aus einem schönen Schloß gejagt worden, hätte man Euch nicht vor die Inquisition gebracht, hättet Ihr nicht Amerika zu Fuß durchwandert, dem Baron einen tüchtigen Degenstoß versetzt und alle Eure Hammel aus dem guten Land Eldorado eingebüßt, dann würdet Ihr hier jetzt nicht eingemachte Zedratfrüchte und Pistazien essen.“ – „Wohl gesprochen“, versetzte Candide, „aber wir haben in unserem Garten zu arbeiten.“ (232)
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Übrigens hat Pangloss mit seiner zusammenfassenden Deutung der Ereignisse gar nicht so unrecht – insofern nämlich ihre Verknüpfung als narratives System betrachtet wird. Candide, der als „Subjekt“ definiert ist durch sein Begehren des „Objekts“ Kunigunde, musste aus dem Schloss gejagt, die Ordnung des Anfangszustands musste zerstört werden, denn innerhalb dieser Ordnung hätte Candide, vorgeblich der uneheliche Cousin Kunigundes, diese niemals bekommen. Die zerstörte Ordnung des Anfangs wird also am Ende ersetzt durch eine neue Ordnung, in der Subjekt und Objekt zusammenpassen, die trennenden Unterschiede der Protagonisten eingeebnet sind. Doch Voltaire lässt diese neue Ordnung aus der alten nur durch die unwahrscheinlichsten Wendungen und Zufälle entstehen, um beim Leser gar nicht erst den Eindruck aufkommen zu lassen, hier läge der Sinn der Erzählung. So torpediert Voltaire wirksam die narrative Tendenz zur Kontingenzverschleierung, die Suggestion einer Notwendigkeit der narrativen Konfiguration. Und weil dem Publikum allerlei unwahrscheinliche Wendungen, Peripetien und Erkennungen, ja selbst Wiederauferstehungen tot geglaubter Figuren wohl vertraut waren, übertreibt er diese gnadenlos. Gleich drei Figuren werden für tot erklärt, um später wieder aufzutauchen – Pangloss, Kunigunde und auch ihr Bruder, den Candide ausgerechnet als jesuitischen Kommandanten in Paraguay wieder begegnet – und letzterer muss gleich zweimal wiederauferstehen, denn obwohl Candide ihn mit dem Degen durchbohrt, wird er ihn doch später zusammen mit Pangloss auf der türkischen Galeere wiedertreffen. In solchen Erzählsequenzen wirkt der Candide gerade durch die Verletzung narrativer Schemata. Klaus Dirscherl19 hat überzeugend dargestellt, wie der Candide vertraute narrative Schemata – nämlich die „alten Schemata von Liebe und Reise“ (159) des heroischen und des komischen Romans – aufnimmt und parodiert, um mit der „Welt“ der romanesken Handlung auch die „Welt“ des philosophischen Optimismus der Kritik der Wirklichkeit auszusetzen. REISE und LIEBE organisieren die Erzählbewegung hin auf das Ziel: die Vereinigung der Liebenden. Den Protagonisten auf dem Wege zu diesem Ziel stellen sich „Hindernisse, Widerstände, Unglück“ entgegen – die „romaneske Handlung“ wird kontrastiert mit einer „realen Handlung“, was im heroischen Roman die „außergewöhnliche Selbstverwirklichung eines sendungsbewußten Helden“ befördert, während es im komischen Roman einen „komischen Gegensinn lächerlicher ––––––––––––– 19 Klaus Dirscherl, Der Roman der Philosophen (1985), in diesem Absatz zitiert mit einfachen Seitenzahlen.
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Das Theodizeeproblem
Handlungen“ erzeugt, indem nämlich die „Vernünftigkeit“ der „realen“ Welt die harmlosen Normverstöße des komischen Helden maßregelt. Im Candide allerdings mangelt es der kontingenten „Welt der ‚realen‘ Handlung“ gerade „an jener Vernünftigkeit“ (vgl. 132f.) – und so ist seine Komik weder harmlos noch normbestätigend. Damit entfaltet der Candide seine Optimismus-Kritik auf mehr als einer Ebene – einmal, wie dargestellt, als narrative Negation des entsprechenden Programms, dazu aber auch über eine „parodistische Analogie zwischen optimistischem Erklärungssystem und romanesker Handlungsstruktur“: Beide, Roman und Optimismus, versprechen am Ende das Glück, das seine Anhänger in der Welt suchen und so lange nicht finden. Beide deklarieren Hindernisse, Unglück als notwendige und kausal miteinander verknüpfte, letztlich sinnvolle Durchgangsstationen zu einem späteren Glück, in dem die bereits im voraus von einer vermuteten höheren Macht präetablierte Harmonie endlich ihren Ausdruck findet. Beide verstehen sich, so könnte man vereinfachend sagen, als ein Interpretationsinstrument, das die verwirrende Vielfalt sich widersprechender Einzelerscheinungen, den ‚chaos indébrouillable‘, wie Voltaire die sich in Kontingenz auflösende Welt an anderer Stelle nennt, in sinnvollen Zusammenhang bringt. (136)
Indem die Roman-Parodie das literarische Schema an der „Wirklichkeit“ der sich dem (komischen) Helden entgegenstellenden ‚realen‘ Handlung zerreibt (137), wird damit nicht nur die darin vorausgesetzte „Vernünftigkeit“ der ‚realen‘ Welt bestritten, sondern auch sein Analogon, das optimistische Erklärungsmuster. Folgerichtig ist das schlussendliche Glück mit Kunigunde das Gegenteil romanesker Erfüllung. Nicht auf dieser ersten narrativen Ebene, der Reise- und Liebesgeschichte mit glücklichem Ausgang also, kann die Problemlösung stattfinden. „... aber wir haben in unserem Garten zu arbeiten“, ist Candides Antwort und der letzte Satz des Buches – als Ende der Erzählung die exemplarische narrative Entscheidung E zugunsten des entsprechenden Problemlösungsvorschlags (L3 & L4), der den gordischen Knoten von Dogma und Erfahrung durch den Verzicht auf Dogmen zerschlägt20. Voltaire allerdings ist nicht der Mensch, der „schweigen“ und auf das Philosophieren verzichten könnte. „Philosophieren“ meint hier: apriorische Spekulationen und vor allem die ebenso spekulativen wie praktisch irrelevanten physikotheologischen ––––––––––––– 20 Steiner macht übrigens darauf aufmerksam, dass in der Manuskriptfassung der berühmte Derwisch, der „beste Philosoph der Türkei“, selber die entsprechende Antwort gibt: Man soll das Land bestellen, trinken, essen schlafen und schweigen („Cultiver la terre, boire, manger, dormir et te taire“; vgl. Steiner 743).
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Zweckkonstruktionen des populären Optimismus21. (So ist es schon einigermaßen ironisch, dass man anfangs ausgerechnet Gottsched für den Verfasser des anonym erschienenen Candide gehalten hat22 – eben den Mann, der dekretiert hatte, die im Candide beschriebenen Bosheiten existierten „nur im Gehirne dieses Dichters“ und könnten als etwas, das bloß „seiner unordentlichen Einbildungskraft in einem fieberhaften Paroxismus träumet“, unmöglich „jener gewichtigen Frage“ der Theodizee „zur Auflösung dienen“23.) „Arbeiten“ dagegen bedeutet für den Philosophen Voltaire – auch wenn dieser offenbar auch Gartenarbeit mochte und sich gelegentlich als „Bauer“ bezeichnete24 – Wirken, Verändern, Verbessern, wo in der Welt, die eben nicht die beste aller möglichen ist, etwas verbessert werden kann. Der wahre Philosoph macht das noch unbebaute Land urbar, er sorgt dafür, daß mehr Pflüge benützt werden und daher mehr Menschen ihr Auskommen finden; er gibt den Armen Arbeit und Verdienst, ermutigt Heiraten, sorgt für die Waisen, murrt nicht gegen die notwendigen Steuern und setzt den Bauern instand, sie freudigen Herzens zu bezahlen. Von den Menschen erwartet er nichts, erweist ihnen aber alles Gute, wessen 25 er fähig ist.
Arbeit bedeutet für Voltaire in erster Linie das Wirken gegen Intoleranz, Willkür, Ungerechtigkeit, also das malum morale. Im Candide setzt Voltaire seine Helden gleichermaßen Erfahrungen des physischen wie des moralischen Übels aus, und er lässt sie stets beides in einem Atemzug dis––––––––––––– 21 Gegen diese richtet sich die Satire im Candide, nicht primär gegen Leibniz, dessen Argumentation davon ohnehin nicht getroffen wird. So ist auch Pangloss nicht, wie oft behauptet, eine Karikatur von Leibniz, sondern eher eine des streng teleologisch argumentierenden Populäroptimisten, der nicht zuletzt in oft absurder Überdehnung des physikotheologischen Arguments auch den Nutzen der Katastrophen wie Erdbeben, Seuchen usf. zu erweisen sucht. Ein mögliches Modell für Pangloss könnte etwa der Abbé Pluche (1688–1761) gewesen sein (vgl. Eric Palmer, „Pangloss and the Abbé Pluche“, 2003). 22 Vgl. Geyer 1992a, 87. 23 Vgl. Hildebrandt 15f. 24 Vgl. Brief „an einen Holländer“ vom 5.1.1759; in Joachim G. Leithäuser, Voltaire. Leben und Briefe, 425. Der „Garten“ könnte auch auf die 306 v. Chr. gegründete Schule des Epikur in Athen anspielen, die nach ihrem Versammlungsort „Garten“ (ho kepos) hieß. Sein eigenes Anwesen Les Délices am Genfer See hatte Voltaire noch 1755 in einer „Epitre“ mit den Worten „O maison d’Aristippe! ô jardins d’ Epicure“ gefeiert (vgl. Steiner, „Ärger im Paradies“, 698f.). Zur „Garten“-Deutung vgl. Steiner 733-749, der wohl den Voltaire vor dem Erdbeben durchaus als „selbsternannte(n) ‚Epikureer‘“ sieht (745), aber die Deutung des Romanschlusses aus der Philosophie Epikurs ablehnt. 25 Brief an Damilaville vom 1.3.1765, in Leithäuser, Voltaire. Leben und Briefe, 454.
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Das Theodizeeproblem
kutieren (vgl. etwa Kap. 10 S. 156, Kap. 13 S. 165, Kap. 20 S. 190f. oder Kap. 29 S. 226). Das „moralische Übel“ aber spielt (im Gegensatz zum Gedicht über das Erdbeben) die weitaus größere Rolle und dominiert nahezu alle Episoden des Buches. Das Erdbeben von Lissabon ist natürlich eine verheerende Katastrophe, aber die Schlacht, in welche Candide zuvor geraten war, hatte ebenso viele Menschenleben gekostet wie das Erdbeben, und dieses war im Roman wie in der Realität noch dazu Anlass für ein Autodafé. Aberglaube und religiöse Gewalt sind schlimmer als Naturkatastrophen – Voltaire ist überzeugt, dass „der Streit um Worte mehr Unheil auf diesem Globus angerichtet hat als Pest und Erdbeben“ 26. Naturkatastrophen muss man vielleicht hinnehmen – Ungerechtigkeit, Willkür und Gewalt muss man bekämpfen. Voltaire wird nicht müde, sich für Toleranz und Gerechtigkeit einzusetzen. Bekannt ist der Fall des Protestanten Calas, der Opfer eines religiös motivierten Justizmordes wurde; er wurde 1762 in Toulouse aufs Rad geflochten, weil er seinen Sohn ermordet haben sollte, um ihn am Übertritt zum Katholizismus zu hindern. Voltaire erreichte nach mehrjährigen Anstrengungen seine und seiner Familie Rehabilitierung. Ein weniger bekanntes Beispiel ist der Fall des Admirals Byng, der auch Eingang in den Candide gefunden hat: Während sie sich so unterhielten, legten sie in Portsmouth an. Eine große Menge stand am Ufer und beobachtete aufmerksam einen ziemlich dicken Mann, der auf dem Oberdeck eines Kriegsschiffes mit verbundenen Augen kniete. Vier Soldaten, die ihm gegenüber standen, schossen ihm jeder auf die friedlichste Art von der Welt drei Kugeln in den Schädel, und die ganze Versammlung ging äußerst zufrieden auseinander. „Was soll das alles bedeuten?“ fragte Candide. „Und wie heißt der Dämon, der überall seine Herrschaft ausübt?“ Er erkundigte sich, wer der dicke Mann gewesen sei, den man gerade so feierlich umgebracht hatte. „Es ist ein Admiral“, antwortete man ihm. „Und warum muß man diesen Admiral umbringen?“ – „Weil er“, sagte man, „nicht genug Leute umbringen ließ; er lieferte einem französischen Admiral eine Schlacht, und man fand heraus, er sei ihm nicht nahe genug auf den Leib gerückt.“ – „Aber“, sagte Candide, „der französische Admiral war von dem englischen Admiral ebenso weit entfernt wie der von ihm.“ – „Das ist nicht zu bestreiten“, versetzte man, „aber in diesem Land hier ist es gut, von Zeit zu Zeit einen Admiral umzubringen, um die anderen kühner zu machen.“ (Voltaire, Candide, 23. Kapitel, S. 205f.)
Diese Hinrichtung, die Candide an der Küste Englands beobachtet, ist tatsächlich geschehen. Am 14. März 1757 wurde der englische Admiral John Byng (aus gekränktem Nationalstolz der dominierenden Seemacht England) wegen Verrates hingerichtet, nachdem er 1756 die Seeschlacht ––––––––––––– 26 Brief „an einen Holländer“ vom 5.1.1759; in Leithäuser, Voltaire. Leben und Briefe, 425.
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von Minorca gegen die Franzosen verloren hatte. Voltaire hatte sich zuvor vergeblich bemüht, Byng zu retten, indem er den Herzog de Richelieu, Marschall und Befehlshaber der französischen Flotte, veranlasste, sich für seinen Gegner zu verwenden und dessen Ehrenhaftigkeit und Tapferkeit zu bezeugen. „Voltaire statuiert mit dem Admiral Byng, wie später im Fall Calas, das Exempel, mit dem er Schule machen möchte, und er denunziert als schiere Willkür die Vorstellung (etwa Rousseaus), es komme ja auf den einzelnen nicht an, da doch so viele übrig bleiben.“ (Hildebrandt 26) Im Kontext des Candide ist dieser Mord an einem Unschuldigen ein weiteres exemplarisches Beispiel dafür, dass die Welt doch nicht aufs Beste eingerichtet sein könne. Candide, über die Hintergründe der Hinrichtung aufgeklärt, weigert sich, in England an Land zu gehen, und legt so schnell wie möglich wieder ab. „In unserem Garten zu arbeiten“ also heißt, die Welt, die weit davon entfernt ist, die „beste“ zu sein, nach Kräften besser zu machen. Verwerflich ist nicht das Philosophieren selbst, aber jede müßige Spekulation, die von dieser Aufgabe abhält. Insofern ist der Candide wohl doch nicht, wie es bei Arno Schmidt heißt, ein Werk des „ehrwürdigsten Gott=, Welt= und Menschenhasses“ (Schmidt, Belphegor, 200). Auch im Candide dominiert die Perspektive des Involvierten, des handelnden und leidenden Subjekts. Dogmatische Aussagen von „außen“ über das Ganze, über die „Welt“, erweisen sich hier grundsätzlich als anmaßendes Geschwätz. Allerdings gilt auch hier, dass die Perspektive „von außen“ von der abgeschlossenen narrativen Struktur nicht hintergangen werden kann. Mit dem Ende der Geschichte wird die Welt des Textes still gestellt und kann vom Leser „betrachtet“ werden. Wenn ein Text – oder auch eine Instanz in einem Text – ein Urteil fällt, so setzt das eine Form von Distanz voraus. In diesem Zusammenhang ist Dirscherls Beobachtung von einigem Interesse, derzufolge sich die Figur des Candide im Laufe der Erzählung mehr und mehr „von der Marionette zum Beobachter“ entwickelt (Dirscherl 164). Während er anfangs nahezu alle Ereignisse erleidet, ändert sich nach dem Eldorado-Kapitel „die Art der Abenteuer Candides und seine Haltung gegenüber der Welt grundlegend.“ (167) Er geht nicht mehr mit dem Schiff unter (vgl. Candide, Kapitel 5), sondern beobachtet das Versenken eines Schiffes mit dem Fernglas – eine Variation des „Schiffbruchs mit Zuschauer“ (vgl. Kap. 20). Er wird nicht mehr selbst misshandelt, sondern trifft Unglückliche, Verstümmelte und Verratene und lauscht ihren Erzählungen. Er wiederholt nicht mehr die Phrasen des Pangloss, sondern dis-
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kutiert einigermaßen ernstzunehmende Argumente mit seinen Begleitern. Candide wandelt sich von einer agierenden zur vorwiegend kommentierenden Figur, aus ihm wird ein zweifelnder, vorsichtiger Beobachter. Damit ist er auch nicht mehr der parodierte komische Held, den wir lächerlich naiv und mitleiderregend finden. In der „neugewonnenen Distanz Candides gegenüber der Wirklichkeit“ nähert er sich im Gegenteil „auffallend jener kritischen Position an, die der auktoriale Erzähler von Anfang an artikuliert“ (Dirscherl 169). Der Erzähler aber ist die Instanz des narrativen Urteils 27. Entsprechend gelingt Candide, nach Dirscherl, ein „Aufstieg“ zum „distanzierten Kritiker der Geschichte“ – also zu einer Instanz, die Subjekt des Urteils sein kann, das der Leser als narratives nachvollziehen soll. Es ist vielleicht nicht uninteressant, dass Voltaire (ein begeisterter Leser von Gullivers Reisen) das Wechselspiel der Erkenntnisperspektiven des Innen und Außen auch von der entgegengesetzten Seite aus dargestellt hat: In der „philosophischen Geschichte“ Micromégas spielt Voltaire einmal den Gedanken Fontenelles von den bewohnten Welten durch. Ein Bewohner des Sirius namens Mikromegas, der nicht weniger als acht Meilen oder 120.000 Fuß misst – also das 24.000fache der Körpergröße eines Menschen – bereist zusammen mit einem Saturnbewohner von immerhin noch 6.000 Fuß Länge die Erde. Mikromegas und dem „Zwerg vom Saturn“ (Mikromegas 18) gelingt es nur durch Zufall und mit allerlei Hilfsmitteln, die dort lebenden winzigen Menschen wahrzunehmen – eine Gruppe von Forschern auf einem Schiff, die nach einer Expedition zum Polarkreis in Seenot auf der Ostsee treiben (eine Anspielung auf die Maupertuis-Expedition von 1734-37, s. o. Anmerkung 43 auf S. 411). Nach erfolgter Kontaktaufnahme gelingt es den Menschlein tatsächlich, die Besucher korrekt zu vermessen und ein philosophisches Gespräch mit ihnen zu führen. Jetzt macht Micromégas Ernst mit dem „Milben“-Gleichnis (vgl. Mikromegas 29): Die ungeheueren Größenunterschiede sind ein vorzügliches Mittel, menschliche Ansprüche zu relativieren. Kriege um Erdflecken von der Größe eines Absatzes kosten Millionen von Menschenle––––––––––––– 27 „Entgegen der im 18. Jahrhundert fast generellen Abneigung von Kritik und Publikum gegenüber dem auktorialen Erzähler sehen die romanschreibenden Philosophen in der ‚Figur‘ des distanzierten historien [Terminus zeitgenössischer Romanpoetiken für den auktorialen Erzähler, M. R.] eine attraktive literarische Transposition ihrer gesellschaftlichen Rolle als philosophes. Die kritische Distanz, mit der dieser Erzähler seine Geschichte präsentiert ..., gibt immer wieder Gelegenheit, jene Urteilsfähigkeit (jugement) zu demonstrieren, die im aufgeklärten Zeitalter so geschätzt wird“ (Dirscherl 195).
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ben. Soviel die Erdphilosophen auch über die Sterne und andere äußere Dinge wissen, so uneins sind sich bei Themen wie der Seele und den inneren Vorstellungen. Und ein Doktor der Sorbonne bringt es noch immer fertig zu behaupten, das ganze Universum – inklusive Sirius und Saturn – sei für die Menschen geschaffen worden. In seinen philosophischen Erzählungen wird Voltaire nicht müde, die Anmaßungen jedes Wissens vom Absoluten ad absurdum zu führen. Aber Voltaire war kein Atheist. Er bekämpfte die Kirche, nicht aber die Religionen, den Aberglauben, nicht den Glauben. Zwar wissen wir tatsächlich nichts von der Gottheit, und werden auch nie etwas darüber wissen. Aber es gibt doch für Voltaire gute Gründe zu glauben – und es ist (wie vor ihm für Leibniz und nach ihm für Kant) möglich, d. h. nicht ‚gegen die Vernunft‘: Von Hiob bis auf unsere Zeiten haben sehr viele Menschen ihr Leben verflucht; wir bedürfen also ständig des Trostes und der Hoffnung. Eure Philosophie raubt uns beides! ... Ich mache euch nicht den Vorschlag, ungereimtes Zeug zu glauben, um euch aus der Verlegenheit zu helfen. Ich sage nicht zu euch: Geht nach Mekka und küßt den schwarzen Stein, um euch zu erleuchten, nehmt einen Kuhschwanz in die Hand legt ein Skapulier an, seid einfältig und fantastisch, um die Gunst des höchsten Wesens zu erlangen. Ich sage euch: Seid weiterhin tugendhaft und wohltätig, betrachtet weiterhin jeden Aberglauben mit Abscheu und Mitleid, aber verehrt mit mir den Plan, der sich in der ganzen Natur offenbart, und dementsprechend den Urheber dieses Plans, die erste Ursache und den Endzweck des Ganzen; hofft mit mir, daß unser Wesen, welches auf das große ewige Wesen schließt, eben durch dieses große Wesen glücklich sein kann. 28 Darin liegt kein Widerspruch.
Zum metaphysischen Problem des Optimismus jedoch steht das Urteil fest: „Beschließen wir dies wie beinahe jedes andere Kapitel der Metaphysik mit den beiden Buchstaben, welche die römischen Richter setzten, wenn sie einen Rechtshandel nicht durchschauten: N.L., non liquet, das ist nicht klar.“29
––––––––––––– 28 Voltaire, Philosophisches Wörterbuch, „Gott, Götter“, Voltaire, Abbé Beichtkind Cartesianer, 75f. 29 Voltaire, Philosophisches Wörterbuch, „Gut, alles ist...“, Kritische und satirische Schriften, 641.
III. Theodizee von oben: Linnés Nemesis-System In Lissabon gibt es jährlich an Allerheiligen einen festlichen Scheiterhaufen, wohin die papistischen Inquisitoren Unglückliche unter dem Vorwand der Ketzerei zum Verbrennen führen, wobei sie die Sache des als Gott verkleideten Teufels betreiben. Nichts Grauenhafteres oder Grausameres auf der Erde als dieses Verbrechen. An eben diesem Allerheiligentag des Jahren [Lücke] ereigneten sich ein Erdbeben, Überschwemmung durch das Meer, Brände und alle grausamen Strafen Gottes gegen hartnäckige Sünder. Die halbe Erde bebte, wodurch er offenbarte, daß er weiß, hört und 1 sich der Unglücklichen erbarmt, auch der Ketzer.
Diese kurze Betrachtung zum Erdbeben von Lissabon notiert sich der schwedische Botaniker Carl von Linné in lateinischer Sprache auf einem Folio-Blatt – wann, ist nicht genau bekannt. Das Stück ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zunächst – das ist vielleicht der offensichtlichste dieser Gründe – findet sich hier keine Spur jener Betroffenheit, wie sie viele andere Reaktionen auf das Erdbeben von Lissabon charakterisiert. Für den Autor ist ganz offenkundig die verheerende Katastrophe kein Grund, an der Güte Gottes zu zweifeln. Ganz im Gegenteil: Das Erdbeben ist ihm ein weiterer Beweis für Gottes Erbarmen und Gerechtigkeit; es dokumentiert ein aktives, richtendes Eingreifen, wie es der sogenannten „Nemesis-Auffassung“ des Naturwissenschaftlers Linnés entspricht. Bemerkenswert ist auch die äußere Form des Kurztextes, finden wir doch darin eine lupenreine narrative Struktur nach dem Modell der „Weisheit“ wieder: Ein unrechtes Tun, hier die jährlichen Scheiterhaufen der papistischen Inquisitoren, hat ein angemessenes Ergehen zur Folge, das Erdbeben. Diese Ereignisverkettung verweist auf eine höhere Ordnung, eben die göttliche Vergeltungsordnung, die Linné Nemesis divina nennt. Dass ausgerechnet das Erdbeben von Lissabon exemplarisch für die Gerechtigkeit Gottes stehen soll – während es doch vielen anderen Zeitgenossen gerade als Argument dagegen erschienen war – zeigt schon an, dass die Linnéschen Aufzeichnungen, in denen sich diese Betrachtung findet, in unserem Zusammenhang von einigem Interesse sein können.
––––––––––––– 1 Carl von Linne: Nemesis Divina, 90f., die zitierte Übersetzung S. 91.
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Das Theodizeeproblem
1. Nemesis Divina Zur Zeit des Erdbebens hatte Linné bereits seit einigen Jahren ein Vorhaben verfolgt, dass zur Theodizee-Debatte in einem engen Verhältnis gesehen werden muss, obwohl es sich selbst zu keinem Zeitpunkt als Beitrag dazu verstand. Seit den späten 40er Jahren und nahezu bis an sein Lebensende arbeitete Linné unter dem Titel „Nemesis Divina“ an einer besonderen Sammlung von Zitaten aus der klassischen Literatur und der Bibel – auch Hiob spielt eine wichtige Rolle -, sowie von gehörten, gelesenen oder erlebten Begebenheiten. Bei diesen Aufzeichnungen, die nach ihrer Abschrift 203 einzelne Blätter im Oktavformat füllen, handelt es sich ausnahmslos um Material, das nach Linnés Auffassung das universelle Wirken einer göttlichen Vergeltung in der Welt belegt. Ein für die Nemesis Divina typisches Beispiel ist der folgende Textauszug: Beachte. Junggeselle betrügt eines verheirateten Mannes Frau. Junggeselle wird danach verheiratet und einfältig. Seine erste Frau stirbt im Kindbett, seine zweite Frau stirbt ebenso im Kindbett, seine dritte darf leben. Er büßt 2 für eins. („Adulterium“, Blatt 10, S. 73f.)
Das Beispiel aus dem Abschnitt mit der Überschrift „Adulterium“ (Ehebruch) wird auf dem selben Blatt flankiert von einer einleitenden Definition („Adulterium est concubitus cum aliena uxore.“), charakterisierenden Bestimmungen sowie Bibel-Zitaten aus Jesus Sirach, dem Buch der Weisheit und dem Buch Hiob: „Job 31,9-10. Hat sich mein Herz lassen reizen zu Frauen, so müßte mein Weib von einem anderen geschändet werden, und andere müssen sie beschlafen.“ (Blatt 10, S. 73) Linné bleibt nicht dabei stehen, lediglich zu konstatieren, dass ein solches Sündigen Strafe nach sich zieht, sondern versucht darüber hinaus, Regelmäßigkeiten die Art der Strafe betreffend aufzufinden, und zwar in Abhängigkeit von der Rolle des Sünders beim Regelbruch: Nemesis saepe illius qui aliam uxorem deperdit. Illa saepius moritur morbo uterino, e. gr. haemorrhagia s. cancer uteri. Ille saepius aquis suffocatur. (Nemesis oft jenes, der eine andere Frau verführt. Jene stirbt häufiger an einer Unterleibskrankheit, z. B. Blutung oder Gebärmutterkrebs. Jener ertrinkt oft. (Blatt 10b, S. 74)
Typisch ist dieses Beispiel einmal in seiner charakteristischen Mischung von Reflexion, Dokumentation und Zitatbelegen. Typisch ist es auch wegen seines verkürzenden und lakonisch anmutenden Stils und wegen der Versuche, zu schematisieren (ja zu quantifizieren: „büßt zwei für eins“). Beobachtete oder behauptete Regelmäßigkeiten verweisen darauf,
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dass hier nicht der Zufall, sondern eine die geltende sittliche Ordnung aufrechterhaltende höhere Intelligenz am Werk ist. Typisch ist das Beispiel aber nicht zuletzt auch darin, dass es bei genauerem Hinsehen mehr Fragen aufwirft als beantwortet: Welcher Art ist diese vermeintlich so klare Ordnung eigentlich, wenn ihr gemäß zwei wahrscheinlich unschuldige Ehefrauen sterben müssen, damit der Sünder bestraft wird? In anderen, ähnlich gelagerten Fällen trifft die Strafe dagegen gezielt die untreue Frau, wenn auch dadurch, dass ihre Kinder verderben (was alttestamentlichen Vorstellungen nahe und für Linné durchaus ‚in der Ordnung‘ ist): Die Pastorin Grot in Quickjok und Lule Lappmark hurt mit Regimentsquart. Kock. Der Pastor wird darüber desperat und versoffen. Die Tochter wird Hure und von einem Lappen verführt. („Malung [und Quickjok]“, Blatt 181, S. 193)
Nicht nur das Erdbeben findet bei Linné eine ganz andere Deutung als etwa bei Voltaire, auch Ereignisse wie die Erschießung des Admirals Byng, die bei Candide nichts als Abscheu erregt hatte. Voltaire hält die Tötung Byngs schlichtweg für ungerechtfertigt. Linné sieht das anders: John Byng ist in der Tat unschuldig – aber er büßt ganz ordnungsgemäß für die Verfehlungen seines Vaters George, der ebenfalls Admiral war. So ist Byngs Schicksal trotz seiner Unschuld ein weiteres Exempel für die allumfassende Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit: Bing, Admiral in England, nimmt Minorca ein, grassiert greulich über das seufzende Volk. Der Sohn Bing, Admiral, erhält 1760 [sic] durch besondere Gnade das Kommando, einige 1000 Soldaten nach Minorca überzusetzen, wo die Franzosen an Land gegangen waren. Kommt hin, sieht, daß das ganze Volk vernichtet würde, wenn er es aufstellt. Conseil wird gehalten, alle votieren, es sei unmöglich; nur ein Kapitän votiert, wenn wir Ordres bekommen haben, das Volk in die Hölle zu liefern, so müssen wir dies tun. Aber das geschieht nicht. Der Franzose nimmt Minorca ein. Die Bevölkerung in England wird rasend; Bing, heimgekommen, wird angeklagt, erschossen. Später ruft populus, daß er unschuldig litt. Aber quod sus peccavit, luat porcellus. („Bing“, Blatt 129, S. 137f.)
Während Voltaire versucht, durch die unwahrscheinlichsten Wendungen seiner Geschichte die Kontingenz des Erzählten zu betonen, wird bei Linné diese Kontingenz weisheitlich verschleiert – was geschieht, geschieht notwendig, gemäß einer höheren Ordnung. Die narrative Konfiguration evoziert exemplarisch eine systematisch geordnete Welt. Linné hatte seine Nemesis-Aufzeichnungen zunächst, wie es sich gerade ergab, auf lose Folio-Blättern rasch notiert und später (das erste Mal 1765) auf Oktavblätter übertragen, thematisch geordnet, mit Überschriften
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Das Theodizeeproblem
versehen und weiter bearbeitet. In einem ersten Teil, einer Mischung von Erzählungen, Beobachtungen und Zitaten aus Bibel und klassischen Quellen, findet sich eine Ordnung nach Stichwörtern von „Adulterium“ bis „Vanitas“ (nur drei, nämlich ‚Das Gesetz‘, ‚Weissagung‘ und ‚Spuk‘ sind keine lateinischen Titel). Im zweiten Teil finden sich Kurzberichte historischer Ereignisse, überschrieben in der Regel mit den Namen beteiligter Personen. Das Deckblatt des Manuskripts enthält den Titel – Nemesis Divina – und zwei Motti2. Dem Manuskript ist eine Widmung an Linnés Sohn beigegeben, aus der hervorgeht, dass die Aufzeichnungen nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren, sondern diesem zur persönlichen Belehrung dienen sollten. Auch die zugrunde liegende theologische „Theorie“ oder Anschauungsweise – Linnés „Theologia experimentalis“ – ist bestimmt von dem Bedürfnis nach moralischer Orientierung. Das mehrfach verwendete Zitat aus Ovids Ars armatoria, „Lebe unbescholten, die Gottheit ist nahe!“ (Innocue vivito, numen adest) galt Linne gewissermaßen als „Lebensregel“ 3. In der Blattzählung unmittelbar hinter den Motti auf Blatt 1b findet sich das folgende Zitat: Oft hat der Gedanke meinen Sinn gequält, ob sich die Himmlischen um die Erde kümmern: ob es einen Lenker gibt oder ob der Sterblichen Geschick im blinden Zufall dahintreibt. Schließlich hat die Strafe an Rufinus mir diese Unruhe genommen und die 4 Götter freigesprochen.
In gewissem Sinne gibt dieses Claudianus-Zitat einen über die allgemeine Thematik hinausgehenden Bezug zur Theodizee-Debatte: Dasselbe ––––––––––––– 2 1. „Talio est aequalis retributio / unde reciproca Talio / Autopathia Graecis“ („Talio bedeutet eine dem Vergehen entsprechende Vergeltung, woraus gegenseitiges Gleichgewicht folgt, auf Griechisch selbstverursachtes Leiden“); 2. „Innocue vivito, numen adest.“ („Lebe unbescholten, die Gottheit ist nahe“) Das erste Motto entstammt einer Abhandlung von F.Ch. Friis’ (Theologische und historische Abhandlung über das göttliche Vergeltungsrecht oder jus talionis divinum), aus der Linné auch einige Fallberichte entnommen hat, das zweite Motto ist aus Ovids Ars armatoria. 3 Das Zitat findet sich als Motto auf der Titelseite der Nemesis Divina, des Weiteren zweimal in der Widmung an den Sohn, dazu als eigene Überschrift der Blätter 31 und 31b (S.63) sowie unter der Überschrift „Nemesis Divina“ auf Blatt 26b (S.105). Wie Lepenies mitteilt, steht es überdies nicht nur „an einer zentralen Stelle in der wichtigen 12. Auflage des Systema Naturae (1766/67) ... das Motto Ovids stand auch über dem Eingang zu seinem Schlafzimmer in Hammarby“ (Lepenies 323f.). 4 „Saepe mihi dubiam traxit sententia mentem/curarent Superbi terras: an ullus inesset/Rector aut incerto fluerent mortalia casu?/Abstulit hunc tandem Rufini poena tumultum/absolvitque Deos“ (vgl. Claudianus III 20.21).
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Zitat findet sich auch in der Theodizee von Leibniz [§§ 16, 146, vgl. oben S. 406] und ist „als Allgemeingut in den Theodizeen des 18. Jahrhunderts anzusehen“5. Wie die Theodizee ist auch die Nemesis divina Ausdruck eines Ordnungsverlangen, gerichtet auf die Erkenntnis von „Welt“-Regeln, einer umgreifenden Ordnung, die das Reich der Natur und das Reich der Moral gleichermaßen umfasst. Im Gegensatz zu Leibniz, bei dem Tun und Ergehen vorbestimmt sind, sieht Linné einen intervenierenden, aktiv eingreifenden Gott am Werk: Das Schicksal ist das Gericht Gottes, vor dem es kein Entkommen gibt ... Der Mensch hat einen freien Willen, er kann tun, was er will; wenn er ihn mißbraucht und nicht von einem Richter bestraft wird, wenn der Verletzte vor Gott anklagt, ordnet Gott, der alles 6 sah und hörte, die Natur so, daß das unausweichliche Schicksal geschieht.
Gericht und Urteil Gottes bilden ein starkes narratives Element, das dem theologischen und ethischen Denken Linnés zum strukturierenden Schema dient. Freiheit bedeutet bei Linné (wiederum im Gegensatz zu Leibniz) wirklich noch: Unbestimmtheit, Peripetien, narrative Bedeutung. Solange aber das Schicksal „Gottes Urteil“ ist, muss ein System, welches dieses Urteilen integrieren will, Regeln angeben können, nach denen Gott urteilt. Linnés Intention geht durchaus in diese Richtung, etwa in seinem ‚Dekalog‘ in „Das Gesetz“ auf Blatt 58, S. 87f. (vgl. auch „Catholizismus“, Blatt 5, S. 54). Aus dem Verhältnis des Menschen zu diesen Regeln, seinem Verhalten, ergibt sich sein Ergehen, sein Schicksal. In seinem Urteilen behält sich aber Gott offensichtlich gewisse Freiheiten vor. Linné nimmt die alttestamentliche Vorstellung von der Sippenhaftung wieder auf, um die Unvermeidlichkeit der göttlichen Vergeltung belegen zu können: Wenn nicht die Strafe den Sünder selbst trifft, werden die Kinder bestraft für die Vergehen der Eltern, oder, wie Linné gern und oft bemerkt: „Quod sus peccavit luant porcelli“ – „Was das Schwein verbrochen hat, müssen die Ferkel büßen.“ Gynnar Gröp mordet S. Zigfreds Schwester Söhne 3; bis zwölftes Glied kein natürlicher Tod. 7 Unglückliche geboren von schlechten Eltern. Quod sus peccavit luant porcelli.
––––––––––––– 5 Kommentar, Nemesis Divina 249. Der Kommentar ist aus der ersten vollständigen Ausgabe der Nemesis Divina (hg. von Elis Malmeström, Telemak Fredbärj, Stockholm 1968) übernommen. 6 Bl. 14, unter der Überschrift „Fatum“ (vgl. S. 81). Im Original lateinisch (S.80f.). 7 Blatt 28, unter „Nemesis“ (S. 108). Vgl. auch Bl. 26 (S.105): „Aber Gott rächt sich an Kind und Kindeskind ... Quod sus peccavit luant porcelli.“; auch Bl. 132, S. 135; Bl.
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Das Theodizeeproblem
Der Systematiker Linné klassifiziert Menschen und ihre Geschichten, Lebenswege, Charaktere, die zu den Geboten ins Verhältnis gesetzt werden. Im ersten Teil der Sammlung fasst Linné Schicksale unter Überschriften zusammen, die zum Teil moralische Verfehlungen kennzeichnen: „Adulterium“, „Avaritia“, „Incestus“, „Ingratituda“, „Libido“, „Malitia“, „Onanaei“, „Superbia“. Dem Charakterlichen stehen die Kategorien der WELT gegenüber, in der bestimmte Regeln herrschen: Entsprechende Überschriften sind neben „Nemesis“ und „Nemesis Divina“ „Fatum“, „Fortuna“, „Das Gesetz“, „Mors obitus“ oder „Vanitas“. Auch die Zusammenhänge zwischen Ereignissen haben ihre Ordnung; Überschriften wie „Manes“, „Praesagia“, „Weissagung“, „Spuk“ liefern dafür Material. Linné, wie jeder, der „die labyrinthischen Verwicklungen der menschlichen Schicksale betrachtet und mit ihm sagt: das war kein Zufall, das bedeutet etwas“, sucht „eine Regel, ein Paradigma, das die Erscheinungen lesbar macht“ (Gustafsson 319). Die Erscheinungen werden gelesen als Ausdruck der übergreifenden Ordnung des sozialen Lebens, eines Teilsystems der WELT. Auch die soziale und sittliche Ordnung – diese Überzeugung dürfen wir Linné unterstellen – muss etwas Systemhaftes haben, muss auf irgendeine Weise mit der Ordnung des Systema Naturae vereinbar sein, denn letztlich ist die Ordnung der Welt ein System, das beide Teilordnungen, natürliche und sittliche, in sich enthält. 2. Ordnung und Erfahrung Für den Naturwissenschaftler und Systematiker Linné hatte der Gedanke, dass auch Leben und Schicksal der Menschen, ihr Tun und ihr Ergehen einer umfassenden (moralischen) Ordnung unterliegen, zweifellos eine große Anziehungskraft8. Linnés Nemesis-Vorstellung zehrt nicht nur von antiken Motiven, sondern ebenso auch von theologischen und philosophischen Strömungen des zeitgenössischen Aufklärungsdenkens, insbesonde––––––––––––– 129, S. 138. In zahlreichen Beispielen büßen die Kinder: vgl. etwa unter „Laetitia“ (Freude) Bl. 62b (S. 87); „Asp“, Bl. 151(S.134); „Eric Grubbe“, Bl. 144 (S.166); „Håkanson“, Bl. 169 (S. 174); „Malung [und Quickjok]“, Bl. 181 (S. 193) oder „Krabbe“, Bl. 186 (S.186). 8 Bereits in seinem frühem Werk Diaeta Naturalis (abgeschlossen 1735) finden sich Gedanken, die auf das Ordnungsdenken der Nemesis Divina vorausweisen. Auch die verschiedenen Auflagen seines Hauptwerkes, Systema Naturae, enthalten Passagen zu moralischen Fragen mit den typischen Nemesis-Gedanken. Vgl. Malmeström, „Entstehung, Quellen und Charakter der Aufzeichnungen Linnés zur Nemesis Divina“, 38f.
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re der Physikotheologie9. Die Theodizee ist ebenfalls ein wichtiger Bezugspunkt, denn „auch für Linné bezeichnen die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und der Ursprung des Bösen die entscheidenden Problemstellungen“ (Lepenies 334ff.): Physikotheologien und Theodizeen sind Balance-Akte, freudige und skeptische Proportionslehren. Hierin liegt ihre Verwandtschaft zum Nemesis-Gedanken. Linné hat die Nemesis-Vorstellung zunächst einmal in der Sprache der Physikotheologie und Theodizee formuliert. Er hat darin das Element der Rache gesehen, stärker aber noch ein Symbol des Ausgleichs und der balancierenden Gerechtigkeit. Die Nemesis Divina ist eine moralisierende Theodizee ... Sie ist ebenfalls eine moralische Ökonomie. (ebd.)
So wie Leibniz für die Bennennung seiner Theodizee eine der drei Horen, Göttinnen der sittlichen Ordnung, gewählt hatte, verwendet auch Linné den Namen einer griechischen Göttin mit Bezug zur übergreifenden Ordnung: Nemesis, griechisch für „Zuteilung“, ist die Göttin der Vergeltung, des rechten Maßes und der ausgleichenden Gerechtigkeit und sorgt insbesondere dafür, dass Verletzungen der Ordnung und menschliche Hybris geahndet werden. In der Zeit der europäischen Aufklärung bedeutet Nemesis auch die vergeltende Gerechtigkeit des christlichen Gottes und seine „in moralischer und religiöser Hinsicht wiederherstellende Macht“ (Kommentar 248). Der Ausdruck „Nemesis divina“ begegnet bei Linné vielleicht zum ersten Mal in den Reisen durch Westgothland (1747), wo er eine Begebenheit wiedergibt, die später auch Aufnahme in die Nemesis Divina fand: „Nemesis divina experimentalis wurde von einem Unglücklichen bezeugt, der auf einem Rad neben dem Weg auf Brålands Heide lag.“10 Die Bezeichnung verweist bereits auf eine spätere Charakterisierung Linnés für seine Nemesis-Darstellung. In einer seiner Autobiographien schreibt Linné über sich selbst: Er hatte einen großen Vorrat eigener Observationen de Nemesis divina gesammelt, über Leute, die er seinerzeit gekannt hatte und wie es mit ihnen erging, die er Theologia experimentalis nannte, die er verborgen hielt, daß keine Familie dadurch verletzt würde, und sagte, es sei sein Höchstes zu sehen: Gott bemerkt, weiß alles und vergißt nichts. (Vita IV, zit. Malmeström 16)
––––––––––––– 9 Mehrfach zitiert Linné in seinen Werken aus Derhams Physico-Theology (Anm. 54 S. 415), die 1736 und 1760 ins Schwedische übersetzt worden war. Mit Lesser, dem Verfasser der Insecto-Theologia (s. o. S. 415), stand Linné im Briefwechsel. 10 Malmeström 15. Im ersten Entwurf zur Nemesis Divina findet sich eine entsprechende Schilderung, die mit den Worten beginnt: „Am Weg auf Brålands Heide lag ein Sünder und bezeugte Nemesis divinam mit experimenteller Theologie“ (Malmeström 16).
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„Theologia experimentalis“ ist empirische Theologie, gegründet auf Erfahrung; eine Theologie, „die bezeugt wird, die gleichsam aus dem Leben herausgelesen werden kann“ (Malmeström 17). Ihre Zeugnisse haben, wie das Beispiel Lissabon zeigt, zugleich durchaus Theodizeefunktion, denn was da aus dem Leben heraus- (oder in selbiges hinein-) gelesen wird, soll nicht weniger leisten als eben die exemplarische Bestätigung der „höchsten Weisheit des Welturhebers“: „Sei überzeugt durch Natur und experience von einem Gott, der alles machte, aufrechterhält und regiert, der alles sieht, hört und weiß, vor dessen Antlitz du bist“, lautet das erste Gebot Linnés in „Das Gesetz“ (Bl. 58, S. 87). Moral ist Selbstschutz, denn: „Gott sieht und hört alles. Cave ne audiat Nemesis“11. Der Systematiker Linné interessiert sich für alle Arten beobachtbarer Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten. Seine Aufmerksamkeit gilt nicht nur Fällen von gerechter Vergeltung, sondern ebenso Berichten von bedeutungsvollen Vorzeichen, zutreffenden Vorhersagen, berechtigten Warnungen etc (vgl. „Manes“, „Praesagia“, „Weissagung“, „Spuk“). Auch diese sollen zeigen, dass bestimmte Ereignisse in Zusammenhängen zueinander stehen, die über das unmittelbar Sichtbare, natürlich Erklärbare hinausgehen. Mit seiner Materialsammlung versucht Linné den Schluss von den Erfahrungen der Einzelereignisse und ihrer Korrespondenzen auf eine umfassende Ordnung des Geschehens zu stützen. Die Erzählungen von Vorzeichen und Weissagungen sind von Bedeutung, weil sie zeigen, dass diese Ordnung – die für Linné unzweifelhaft von Gott kommt – nicht nur eine im engeren Sinne moralische Ordnung (also lediglich die gerechte Vergeltung) regelt, sondern auch darüber hinaus Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Ereignisketten stiftet. Auch unter den Beispielen, die das Wirken der göttlichen Vergeltung dokumentieren – für Linné offensichtlich Kern dieser umfassenden Ordnung – finden sich immer wieder Berichte, in denen nicht einfach ein Fehlverhalten gesühnt, sondern gleichzeitig eine besondere Korrespondenz der Ereignisse sichtbar wird, die auf eine diese Ereignisse umfassende Ordnungsbeziehung hinweist. Bei dem Stück über das Erdbeben von Lissabon sieht Linné die Korrespondenz im Datum: Dass „der in seiner Bedeutung entsetzliche festliche Scheiterhaufen an Allerheiligen 1755 und das vernichtende Erdbeben auf denselben Tag fielen, schien ihm diesen Zusammenhang [der strafenden Gerechtigkeit; M. R.] zu bekräftigen“ (Kommentar 254). Anderswo findet Linné noch weitaus beeindruckendere Übereinstimmungen: ––––––––––––– 11 Blatt 134, S. 156.
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Slichert, Trabant, liebte die Witfrau von Byzen und gab ihr einen Fronhof. Den Schwiegersohn verdrießt dies, schoß in der Nacht mit 3 Kugeln durch das Fenster, die quer durch den Magen von Slichert gingen, der stirbt. Nach einigen Jahren bekommt der Schwiegersohn den Krebs im Magen mit 3 Löchern, der ihn greulich tötete. (Slichert, Blatt 66, S. 220)
Die durch die narrative Präsentation gegebene Verkettung von Ereignissen, hier des Mordes und der tödlichen Krebserkrankung, erscheint angesichts solcher Korrespondenzen als nicht zufällig. Und ist sie das nicht, so muss sie notwendig sein – Nemesis Divina. Dass die Strafe so vielfältige Ähnlichkeiten mit der gesühnten Tat aufweist, ist charakteristisch. In den Erzählungen der Nemesis Divina finden sich dazu zahlreiche weitere Beispiele: Ein Bauer, der einem dänischen Fronvogt Pferde verkauft und diese, nachdem er kein Geld erhält, zurückholt, wird wegen Pferdediebstahls gehenkt – der Fronvogt kauft Jahre später gutgläubig von einem Pferdedieb und endet am selben Galgen wie sein Opfer („Der dänische Fronvogt“, Bl. 179, S. 157). Staatsmänner lassen Widersacher in den Kerker werfen, nur um irgendwann – wie Linné ausdrücklich angibt – im selben Gefängnis zu landen („Boetius“, Bl. 126, S. 142; „Münnich“, Bl. 102, S. 199). Mörder, die der menschlichen Gerechtigkeit entgehen konnten, finden den Tod an „genau derselben Stelle“, wo sie die Tat begangen hatten (Bl. 8, S. 59; vgl. auch „Cronhielm“, Bl. 162, S. 155). Ein Küster bringt Unglück über eine Familie mit der Behauptung, er habe Mutter und Tochter vom Kirchturm aus beim Huren beobachtet – er fällt „vom selben Kirchturmsloch zu Tode, wovon er, wie er log, die Unzucht gesehen hatte“ („Eric Grubbe“, Blatt 144, S. 166). Ein Mann aus Linnés Heimatgegend lässt seine Frau, die in seiner Gegenwart ins Eis einbricht und sich, verzweifelt um Hilfe rufend, noch lange am Eisrand festzuhalten sucht, ertrinken („denn er verlor sie gern“) – jedoch „5 Jahre danach beginnen die Finger bei Jacob zu faulen, mit welchen er seiner Frau hätte helfen können, und faulen fort an beiden Händen, woran er auch stirbt.“ („Såanäs“, Blatt 92, S. 227f.) Dass eine Kammerfrau der Königin, die sich ihrem Manne verweigert, weil sie sich dem Oberst Wrangel zugewandt hatte, an Gebärmutterkrebs stirbt, kommentiert Linné mit den Worten: „Die Teile, die ihrem Mann verweigert wurden, sie liebte einen anderen in der Hoffnung, ihren Mann loszuwerden, mußten den Tod verursacht haben.“ („Thun Christin Juliana“, Blatt 77, S. 229) Das Herausstellen solcher nichttrivialen Korrespondenzen zwischen Ereignissen sind wohlbekannte Mittel narrativen Bedeutens. Es sind die von Aristoteles als besonders wirksam geschätzten „Fabeln dieser Art“
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wie die von der Statue des Mitius (vgl. oben Kap. A.I.5), bei denen gerade der Verstoß gegen die praktische Wahrscheinlichkeit auf eine höhere Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit, auf eine höhere Ordnung verweist. All die gesammelten unwahrscheinlichen Korrespondenzen, die doch ‚kein Zufall sein können‘, verweisen jede für sich auf eine umfassende, die Einzelereignisse transzendierende Regelhaftigkeit, die erst den erkannten Zusammenhang zwischen den Ereignissen verbürgt. Wenn Linnés Material immer neue Beispiele solcher korrespondierenden Ereignisse vorbringt, legt es den Gedanken einer sich darin klar abzeichnenden Ordnung der Welt nahe, deren grundlegendes Merkmal eben die regelhafte Verbindung von Tun und Ergehen ist12. 3. Die Perspektive der Weisheit Wenn Linné Geschichten sammelt, die einen transzendental garantierten Tun-Ergehen-Zusammenhang dokumentieren sollen, und wenn er aus diesen Geschichten verallgemeinernde Schlüsse zieht, dann nimmt er eine Position ein, die ihm aus seinen Studien vertraut ist: die eines Beobachters. Die Linnéschen Erzählungen weisen eine sozusagen weisheitliche Erzählstruktur auf: Sie erzählen aus der Draufsicht, aus der übergeordneten Perspektive dessen, der weiß, was geschehen muss. Daher ist es kein Zufall, wenn auch die Zitate, die Linné aus dem Alten Testament und Apokryphen in die Nemesis Divina aufnimmt, zum größten Teil der Traditionslinie der Weisheitsliteratur zugehören. Es finden sich zahlreiche Textstellen aus dem Prediger Salomo, den Proverbien, Jesus Sirach, dem Buch der Weisheit, den Psalmen und aus dem Buch Hiob. Exemplarisch dafür kann der bereits zitierte, unter der Überschrift Malitia (Bosheit) mitgeteilte Text über das Erdbeben von Lissabon betrachtet werden, den Linné u. a. mit einer Reihe von Bibelzitaten aus Jesus Sirach, Hiob, Exodus und den Proverbien flankiert (vgl. Blatt 56b, S. 89ff.). Verse aus dem Buche Hiob erscheinen in der Nemesis Divina insgesamt auf 11 Blättern (10, 29, 29b, 31, 31b, 32, 32b, 56, 134, auch 64 und 164b). Auf Blatt 31b hat Linné gleich fünf Hiob-Zitate notiert. Die Auswahl der Textstellen ist bezeichnend: Es finden sich einerseits zahlreiche ––––––––––––– 12 Man muss Linné zugute halten, dass er treulich auch das aufzeichnet, was der Theorie eher widerspricht. Beispiele sind etwa „Kyronius“ (Blatt 185, S. 187f.) oder der mächtige, gierige und ungerechte Richter Antonsson: Der verarmt zunächst, „aber repariert sich einigermaßen“ („Antonsson“, Blatt 159, S. 132).
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Worte der Freunde Hiobs, die aus dem Diskussionszusammenhang herausgelöst gewissermaßen als autoritative Aussagen gegeben werden: (Eliphas) Job 15,8. Hast du Gottes heimlichen Rat gehört? (Blatt 31b, S. 64); Job 4,7. Wo ist ein Unschuldiger umgekommen? Oder wo sind die Gerechten je vertilgt worden? (ebd.); Job 4,8. Die da Mühe pflügten und Unglück säten, die ernteten es auch ein. (ebd.) (Bildad) Job 8,3. Meinst du, daß Gott unrecht richtet? (Blatt 31b, S. 64) (Elihu) Job 33,29. Sieh, das alles tut Gott 2 oder 3 Male mit einem jeglichen. (Blatt 29b, S. 60); Job 34,21. Des Herrn Augen blicken auf eines jeden Wege, und er schaut alle ihre Gänge. (Blatt 32, S. 61); Job 34,11. Er belohnt den Menschen nach dem, was er verdient hat, und trifft einen jeden nach seinem Tun. (Blatt 31b, S. 64)
Weitere ausgewählte Verse stammen aus denjenigen Sätzen Hiobs, in denen dieser die unermessliche Macht Gottes und die Hilflosigkeit des Menschen ihr gegenüber konstatiert: Job 12,14. Wenn er zerbricht, so hilft kein Bauen. (Blatt 32b, S. 61); Job 12,23. Gott macht etliche zu großem Volk, er macht sie wieder zunichte. (Blatt 31, S. 63, als Verweis auch Blatt 64, S. 184); 13 Job 16,12 (Blatt 164b, S. 181; nur Kapitelangabe)
Wieder andere Zitate stammen aus dem Reinigungseid Hiobs in Kap. 31, in dem er mögliche Verfehlungen aufzählt und beteuert, diese nicht begangen zu haben (Hi 31,9-10, Blatt 10, S. 73; Hi 31,29, Blatt 134, S. 156; Hi 31,39[-40], Blatt 56, S. 89f.). Oftmals erscheinen die Bibelzitate als ein Kommentar zur erzählten Begebenheit. Charakteristisch dafür ist der Bericht über den Fall der Ehefrau des Philosophieprofessors Dahlman aus Linnés Bekanntenkreis: Wallerius Nils, D. theol. & Profess., starb plötzlich 1764. Seine Frau Boje war eitel in Kleidern und Roben. Fr. Dahlman Professoris moralis, sui sexus ornamentum, war mit mir und meiner Frau bei Dr. Söderberg, als Gerücht kam, daß Wallerius tot war und seine Frau in elendem und belastetem Zustand zurückgelassen hatte. Da erhebt sich Frau Dahlman mit diesen Worten: ich möchte wissen, welche Robe Fr. Wall[eria] heute verwenden wird, welche morgen.
––––––––––––– 13 Hi 16,12: „Ich war in Frieden, aber er hat mich zunichte gemacht; er hab mich beim Genick gepackt und zerschmettert. Er hat mich als seine Zielscheibe aufgerichtet ...“
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Das Theodizeeproblem
Prof. Dahlman war da auf seinem Landgut, wird selbige Stunde krank und innerhalb 8 Tagen tot. Gott sieht und hört alles. Cave ne audiat Nemesis. Sprüche 17,5. Wer sich über eines anderen Unglück freut, der soll nicht ungestraft bleiben. Job 31,29. Habe ich mich gefreut, als es meinem Feind schlecht ging, daß Unglück ihn traf? Syr. 7,12. Verspotte nicht den Betrübten, denn einer ist noch, der kann erhöhen und erniedrigen. (Blatt 134, S. 156)
Die Zitate aus den biblischen Weisheitstexten machen unmissverständlich deutlich: Hier hat nichts anderes als die gerechte Vergeltung Gottes dazu geführt, dass Frau Dahlmans Schadenfreude über die Situation der eitlen Frau Wallerius jener notwendig dasselbe Schicksal bescheren musste. Die uns bereits vertrauten narrativen Korrespondenzen tun ein übriges, die Verkettung der Ereignisse als nicht zufällig zu kennzeichnen: Exakt derselbe Schaden trifft die Bestrafte, über welchen sie zuerst gespottet hatte; und zudem tritt das Verhängnis, die Erkrankung des Professor Dahlman, „selbige Stunde“ ein – Frau Dahlmans Spott war nicht unbemerkt geblieben, denn „Gott sieht und hört alles“. Wenn diesem apodiktischen „Gott sieht und hört alles“ ein (streng genommen unvereinbares) „Cave ne audiat Nemesis“ – „Gib acht, dass Nemesis dich nicht hört“ beigegeben ist, wird deutlich, wie sehr hier systematisch-theologisches und alltagsmythologisches Denken ineinander greifen. Der Ausschnitt gibt ein eindrucksvolles Beispiel für die persuasive Macht des Erzählens als rhetorische Strategie: Die höchst unwahrscheinlichen Korrespondenzen der Ereignisse und die Autorität der Bibeltexte lassen die Fragwürdigkeit des Erzählten kaum zu Bewusstsein kommen. Fragwürdig bleibt es nichtsdestotrotz: Der gerechte Gott tötet einen Professor der Moral, um die Schadenfreude seiner Frau zu bestrafen? Weisheit versucht die Komplexität des Geschehenden zu fassen, indem sie einfache, möglichst in einem einzigen Gedanken auszudrückende Zusammenhänge formuliert. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang in seiner weisheitlichen Form ist ein solcher einfacher Zusammenhang. Linnés exemplarische Geschichten geben ihre „Moral“, die sich bereits im notwendigen Zusammenhang der Einzelereignisse ausdrückt, oft auch noch einmal explizit, als kommentierende Sentenz oder als Zusammenfassung an. „Man sagte, daß sie mit zwei Brüdern schlief. Ist das so, muß Gottes Rache kommen.“ („Jaen Jaenson“, Blatt 176, S. 178)
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Weisheit ist das Wissen um das Ende der Geschichte. Das gilt auch für Linnés Nemesis-Auffassung. Wenn er Ereignisfolgen berichtet, in denen einem bösen Tun ein entsprechendes Ergehen – irgendwann, im Leben des Täters oder in dem seiner Kinder – endlich folgt, dann ist diesen Berichten nichts mehr hinzuzusetzen. Dieses Wissen um die Notwendigkeit des erzählten Endes wird noch deutlicher dort, wo Linné das Ende noch nicht kennen kann, wo die Handelnden ihre Schuld schon auf sich geladen, aber ihre Strafe noch nicht gefunden haben. Der Bericht vom Grabschänder Baron Yxkul endet mit den Worten: „Die Folgen bekommt die Nachwelt zu sehen... Rate, wie das geht.“ („Yxkul“, Blatt 88, S. 238) Die virtuelle Komplettierung der narrativen Struktur kann auch in der entgegengesetzten Richtung erfolgen: Wenn jemanden ein Unglück traf, ohne dass eine uns bekannte vorausgegangene Sünde das rechtfertigte, dann kann Linné ganz im Sinne der Freunde Hiobs schließen, dass eine solche Sünde nichtsdestotrotz begangen worden sein muss. Als der erfolgreiche Hofquartiermeister Asp nach einem Unfall „töricht“ wird, in Bankrott geht und seine Familie ins Unglück gerät, steht für Linné fest: „Was sie taten, bekam ich nicht zu wissen. Gott verurteilt nicht ohne Ursache, das weiß ich.“ („Asp“, Blatt 151, S. 134) Durch einen ähnlichen Rückschluss komplettiert Linné auch seinen Bericht über gewisse Turbulenzen in der Geschichte Englands, bei denen eine Niederlage der Tories aus der Vorliebe einer Hofmeisterin für ein paar Handschuhe der Königin Anna resultiert haben soll: „Etwas war vorher gesündigt worden, mir unbekannt.“ („Marleborock“, Blatt 105, S. 194) Linné ist bestrebt, bei seinen Aufzeichnungen noch unvollständige narrative Strukturen entsprechend zu ergänzen. Auch „theologia experimentalis“ muss versuchen, über das Erfahrbare hinauszugehen, sich virtuell die Perspektive des göttlichen Überblicks zu erzeugen. In dieser Hinsicht ähneln die narrativen Strategien in Linnés Geschichten der TheodizeeStrategie von und nach Leibniz. Dieser Zusammenhang wird illustriert von einer von Linné in lateinischer Sprache notierten „Rabinorum historia“, die eine Theodizee-Antwort in nuce enthält: Moses spricht auf dem Berge Sinai vor Gott und fragt, warum Gott, der gerecht ist, in seiner Welt Unrecht zuläßt, so daß die Gerechten oft die Unglücklichsten und die Schurken die Glücklichsten sind. Gott antwortet: ihr urteilt nach dem Gesehenen und Erfahrenen, ich aber nach meiner Allwissenheit. Siehe in die Tiefe zum Grunde des Berges und zur Quelle. Moses sah folgendes:
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1. Ein wilder Soldat, der stürmisch auf einem Pferd reitet, springt vom Pferd an die Quelle nieder, trinkt Wasser, besteigt das Pferd, verliert unbemerkt seine Börse und jagt davon. 2. Ein zerlumpter, schwitzender Junge kommt vorüber, trinkt Wasser, findet die Börse, sieht und nimmt das Geld, freut sich, geht weg. 3. Ein grauhaariger Alter, erschöpft, müde, stöhnend, kommt herbei, trinkt Wasser, ruht. In größter Hast kommt der Soldat zurück, fordert die Börse von dem Alten, schwört, er werde den Greis mit dem Schwert durchbohren, wenn er nichts zurückgibt. Der Alte leugnet, daß er sie gesehen hat, bekräftigt es mit einem Eid, breitet all das Seine aus; der Soldat durchbohrt und tötet jämmerlich den alten Mann. Bei diesem Anblick ruft Moses aus: Gerechtester Gott! Darf dieser Schurke von Soldat den verehrungswürdigen Greis töten? Gott antwortet: so urteilst du, ich aber habe es befohlen. Der alte Mann hat vor 8 Jahren im Wald den Vater des Jungen ermordet, weil er glaubte, dieser habe Geld bei sich. Der vaterlose Knabe hat danach von Tür zu Tür sein Brot erbettelt. Ihm selbst habe ich das Geld des Soldaten gegeben, das unrechtmäßig erworben ist. Den Soldaten habe ich verwendet, um den verbrecherischen Alten zu bestrafen. Der Soldat hat viele Übeltaten vollbracht, eines Tages wird er seine Strafe erhalten. („Rabinorum historia“, Blatt 27, S. 116f., Übersetzung S. 117f.)
Das Theodizeeproblem erhält hier eine ebenfalls genuin narrative Lösung: Die Ordnung des wahrgenommenen Einzelnen wird hergestellt durch seine Komplettierung zur ganzen Geschichte. Diese ganze Geschichte allerdings kennt nur Gott; man muss seine Perspektive einnehmen, um die Wahrheit zu erfassen. „Gott antwortet: ihr urteilt nach dem Gesehenen und Erfahrenen, ich aber nach meiner Allwissenheit.“ Wie sich in der Beurteilung des Erdbebens von Lissabon schon andeutete, steht Linnés Nemesis Divina auf ganz eigene Weise in der Tradition des Theodizee-Denkens. Eine narrative Analyse seiner Beispiele lässt bestimmte Grundzüge dieses Denkens deutlicher hervortreten. In diesem Denken dominiert die „weisheitliche“ Perspektive, die den Standpunkt Gottes einnehmen muss, um die Ordnung der Welt in den Blick zu nehmen und die empirisch nicht beantwortbaren Fragen zum Verstummen zu bringen – wobei Linné, ähnlich wie Leibniz, in der Reflexion auch schon mal den entgegengesetzten Perspektivenwechsel vollzieht, wieder den beschränkten Menschenblick von innen einnimmt: „Quid Deus qui videt, audit, scit? Non video Deum.“14 Wie bei Leibniz ist diese Innen––––––––––––– 14 „Was ist das Leben? Eine kleine Flamme, solange das Öl reicht ... Was ist Gott, der sieht, hört und weiß? Ich sehe Gott nicht ... Wenn ich mich selbst nicht wahrnehmen kann, kein Wunder, daß ich Gott nicht fassen kann.“ Das folgende Bild für die Endlichkeit des Menschen erinnert an Fontenelles Milben-Gleichnis: „Ich konzipiere den Men-
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Perspektive nicht die des Beteiligten und Betroffenen. Sie verharrt in der Haltung des Beobachters – weshalb auch jederzeit wieder der Wechsel zurück zum Blick von außen möglich ist. Ganz im Gegensatz zu Voltaire, der der Subjektperspektive wieder zu ihrem Recht verhelfen will, nutzt das Theodizee-konforme Denken von Linné narrative Strategien, die eine Vervollständigung der narrativen Struktur im Dienste der weisheitlichen Ganzheitsperspektive zum Ziel haben: sei es als Antizipation eines systemkonformen Endes der Geschichte (wie es bei Leibniz auch das jüngste Gericht und das jenseitige Leben bereithalten können) oder als Rückschluss auf eine verborgene Schuld (wie Hiobs Freunde oder die Erbsündenlehre). Nicht zuletzt fällt bei der konzeptuellen Schematisierung der Theodizee ebenso wie des NemesisSystems die prominente Rolle der Gerichtsmetaphorik ins Auge. Das Buch Hiob allerdings, welches jede juridische Gotteserkenntnis zurückweist und die Perspektive des Betroffenen wie kaum ein anderes Werk in den Mittelpunkt stellt, kann das Nemesis-Denken offenbar nur dann instrumentalisieren, wenn der jeweilige Kontext der verwendeten Zitate und der weisheitskritische Grundtenor des Buches ausgeblendet wird. Wie gezeigt wurde, zieht Linnés exemplarisches Erzählen alle Register narrativer Kontingenzverschleierung im Dienste des Ordnungsdenkens. Die narrative Konfiguration seiner Exempel soll eine systematisch geordnete Welt evozieren, in der moralische und Naturgesetze kongruieren. Wie die Theodizee setzt das Nemesis-Denken seine Hoffnung auf eine alles umfassende Ordnung der Welt, von Gott gestiftet und dem Menschen erkennbar. Im Anschluss an die Rabinorum historia, auf Blatt 27b, fasst Linné die Erkenntnishoffnung der Nemesis Divina, als theologia experimentalis und als theologisch fundierte Ethik, in einem Satz zusammen: „In der größten Konfusion größte Ordnung, wie im Reich der Natur.“15
––––––––––––– schen als Wachslicht ... Die Welt ist ein Palais der allmächtigen Weisheit. Gott entzündet eines jeden Seele mit seinem Feuer ... Einige hat er zu großen Lichtern gemacht, einige zu Talglichtern ... So wenig das Licht sagen kann, daß das Schloß seinetwegen gemacht ist, so wenig kann der Mensch sagen, daß die Welt seinetwegen gemacht ist, sondern alles zu Gottes Majestät in seiner Allwissenheit“ (Blatt 12b.13, S. 71f.). 15 „In der größten Konfusion größte Ordnung, ut in Regn[o] Nat[urae]“ (Blatt 27b, S. 118f.).
IV. Das Urteil der Vernunft: Kants allegorische Theodizee Auch Immanuel Kant hat sich zum Erdbeben von Lissabon, zum philosophischen Optimismus und zum Theodizeeproblem geäußert. Er hat sich dabei, wie in diesem Kapitel gezeigt werden soll, auch narrativer Strategien der Problemverhandlung bedient. Er kann solche Strategien nicht zuletzt deshalb einsetzen, weil er das Philosophieren konzipiert als einen schwer zu schlichtenden Widerstreit zwischen zwei Weisen des Vernunftgebrauchs, die beide einiges Recht auf ihrer Seite haben: einem rationalistischen Dogmatismus einerseits, in welchem die Vernunft zu so wichtigen Konzepten wie Gott, Kausalität oder Freiheit vorzudringen versucht und dabei notwendig ihre Grenzen überschreitet, und dem empiristisch begründeten Skeptizismus andererseits, der im Namen der Erfahrung die Berechtigung der dogmatischen Setzungen in Frage stellt. Diese beiden Verwendungsweisen entsprechen entgegengesetzten Perspektiven der Vernunft: Der rationalistisch-dogmatische Vernunftgebrauch konstruiert sich die weisheitliche Perspektive der Draufsicht auf das Ganze und versucht Gott, Mensch und Welt in einem System zusammenzudenken, der empiristische Skeptizismus beharrt auf der Perspektive des wahrnehmenden Subjekts, ohne diese in Richtung auf integrierende Erkenntnis überschreiten zu können. In seinen kritischen Schriften, die die Schranken der Vernunft enger denn je ziehen, ohne doch ihr systematisches Interesse aufgeben zu können, setzt Kant mehrfach das narrative Schema des RECHTSSTREITS ein, um mit diesen widerstreitenden, einander scheinbar ausschließenden Perspektiven zu operieren. In der Vorrede zur 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft konzipiert Kant seine „kritische Philosophie“ als vorläufigen Endpunkt einer Geschichte der Metaphysik gesehen als „Kampfplatz“ von „endlosen Streitigkeiten“ zwischen Dogmatikern und Skeptikern1 – also: Wolff vs. Hume2. Die Metaphysik, so Kant, galt einst als die „Königin aller Wissenschaften“. Damals „war ihre Herrschaft, unter der Verwaltung der Dogmatiker, despotisch.“ Dann jedoch „artete sie durch innere Kriege nach ––––––––––––– 1 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 1. Auflage, IV 7ff. 2 KrV, III 552.
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und nach in völlige Anarchie aus, und die Skeptiker, eine Art Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen, zertrennten von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung.“ Bis in die Gegenwart gelang keinem Ansatz, auch nicht dem Empirismus Lockes, eine befriedigende Lösung des Streits um die Legitimität der alten Monarchin; Geringschätzung, Überdruss und Gleichgültigkeit breiteten sich aus. Erst jetzt, in einem Zeitalter, „welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten lässt“, einem „Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss“, kommt wieder Bewegung in den alten Streit: Die Einsetzung eines „Gerichtshofes“ der Vernunft – „kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst“ – soll nun in strenger, nach Regeln voranschreitender Prüfung klären, wieweit die Befugnisse der Vernunft in Ansehung der sie bedrängenden Fragen tatsächlich reichen. Ausgehend von Kants Auseinandersetzung mit dem Erdbeben von Lissabon, dem philosophischen Optimismus und dem Theodizeeproblem möchte ich im Folgenden zunächst zeigen, wie Kants Philosophieren schon sehr früh von einem bewussten Hantieren mit den Perspektiven geprägt ist. Die erfahrungsbasierte Perspektive des wahrnehmenden Subjekts ist von Anfang an unhintergehbar, kommt aber angesichts der entscheidenden Fragen nach Gott, Freiheit und sittlichen Pflichten nicht ohne die integrierende Draufsicht aus. Kants Schriften bis in die 60er Jahre hinein zeigen noch, ganz in der Tradition von Leibniz und der Physikotheologie, die Hoffnung, diese beiden Perspektiven ohne problematische Setzungen miteinander vermitteln zu können. Spätestens die „kritischen“ Schriften dagegen wissen, dass sie dabei nicht ohne „Urteil“ auskommen können. Dieses Urteil muss „von oben“ gesprochen werden, aus der Draufsicht einer höheren Instanz, die immer auch die „Architektonik“ des Ganzen im Blick hat: Der wissenschaftlich verfahrende Philosoph hat „die Wahl, entweder dogmatisch oder skeptisch, in allen Fällen aber doch die Verbindlichkeit, systematisch zu verfahren ... Der kritische Weg ist allein noch offen“ 3. Die Einsetzung des „Gerichtshofes der Vernunft“ bringt zur Entscheidung der verschiedenen einander widerstreitenden Ansprüche der Vernunft das narrative Schema des PROZESSES in Anwendung – nicht nur in der KrV und in strukturell ähnlicher Weise auch in der Kritik der praktischen Vernunft, sondern bekanntlich auch in Kants Auseinandersetzung mit der Theodizeeproblematik. Letztere nehme ich in diesem Kapitel zum ––––––––––––– 3 So Kant zum Ende der Kritik der reinen Vernunft, III 552.
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Anlass, die Eigenheiten und die Funktionen narrativer Strategien der Problemverhandlung in Kants Religionsphilosophie herauszuarbeiten. 1. Konfrontation: Dogma und Erfahrung a) Theodizee von unten: Verbesserte Physikotheologie Die Reaktion Immanuel Kants auf die Katastrophe von Lissabon4 unterscheidet sich grundlegend sowohl von der Haltung Voltaires als auch von der Linnés. Ähnlich wie schon Leibniz in seiner Theodizee verbindet Kant die Perspektiven von unten und von oben. Dabei dominiert der realistische Blick von unten, die beschränkte, erfahrungsgebundene Perspektive des Menschen auf der Erde. Anders als bei Voltaire spielt darin allerdings Hiob, das Leid der Betroffenen und die Frage nach seinem Sinn, keine Rolle. Kant zeigt eine andere, ebenso legitime und angemessene Betroffenheit; die zuallererst den Handlungsbedarf anerkennt, den Katastrophen wie die von Lissabon anzeigen. In die Diskussionen um Vorsehung oder Gottes Güte und Macht will Kant sich bei diesem Anlass nicht mischen; sie stellen ihm die falschen Fragen. Gefragt werden muss, wie man in einer Natur, von der man nicht „lauter bequemliche Folgen ... erwarten“ darf, deren von Gott gegebene Gesetzmäßigkeiten man aber erkennen kann, sich sicher einrichten und leben soll (Naturbeschreibung I 431). Zwar fühlt Kant mit den Opfern, aber die Geschichte des Erbebens interessiert ihn ausdrücklich nicht als „Geschichte der Unglücksfälle, die die Menschen dadurch erlitten haben“. Er spricht nicht als Metaphysiker oder Poet, sondern als Naturwissenschaftler; ihn interessiert die „Arbeit der Natur“ (Naturbeschreibung“ I 434). So sieht Kant im Erdbeben auch keinen besonderen Grund für theologische Spitzfindigkeiten, für Klagen über die „Härte des Schicksals“ oder gar den Versuch, letztere „durch eine blinde Unterwerfung zu mildern“ (Ursachen I 421). Vielmehr gilt es Ent––––––––––––– 4 1. („Ursachen“): „Von den Ursachen der Erderschütterungen bey Gelegenheit des Unglücks welche die westliche Länder von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat“ (I 419-427; zuerst in: Wöchentliche Königsbergische Frag- und Anzeigungs-Nachrichten, No. 4, Sa., 24.1.1756 und No. 5, Sa., 31.1.1756); 2. („Naturbeschreibung“) „Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat“, (I 431-461; zuerst Königsberg 1756); 3. („Betrachtung“) „Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wargenommenen Erderschütterungen“ (I 465-472; zuerst in: Wöchentliche Königsbergische Frag- und Anzeigungs-Nachrichten, No. 15, Sa., 10.4.1756 und No. 16, Sa., 17.4.1756).
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stehung und Ausbreitung der Beben zu verstehen und in der Anlage von Städten zu berücksichtigen. Es läßt sich leicht rathen, daß, wenn Menschen auf einem Grunde bauen, der mit entzündbaren Materien angefüllet ist, über kurz oder lang die ganze Pracht ihrer Gebäude durch Erschütterungen über den Haufen fallen könne; aber muß man denn darum über die Wege der Vorsehung ungeduldig werden? Wäre es nicht besser also zu urtheilen: Es war nöthig, daß Erdbeben bisweilen auf dem Erdboden geschähen, aber es war nicht notwendig, daß wir prächtige Wohnplätze darüber erbaueten? ... Der Mensch muß sich in die Natur schicken lernen, aber er will, daß sie sich in ihn schicken soll. (Naturbeschreibung I 456)
Kant gibt eine detaillierte Schilderung der von Oktober bis Dezember 1755 weltweit registrierten Naturerscheinungen im Zusammenhang mit dem Erdbeben und entwickelt eine konkrete Theorie über die innere Beschaffenheit des Erdbodens, die Entstehung und Ausbreitung der Erderschütterungen (bevorzugt entlang von Flüssen), über den Einfluss der Jahreszeiten und über die mit den Erschütterungen einhergehenden verheerenden Wasserbewegungen. Daraus leitet er daraus Schlussfolgerungen ab, wie man Zerstörungen wie die von Lissabon künftig verhindern könne5. Die Untersuchung der natürlichen Erscheinungen und die Betrachtung der Lebensweise von Völkern in anderen Gegenden der Erde kann zeigen, wie man mit einer Erde umgehen soll, die nicht nach Menschenmaß eingerichtet ist. Die Katastrophe gehört in den Bereich der Natur, und Natur lässt sich beherrschen. So ist es uns ja auch ohne Weiteres möglich, die Erscheinungen eines Erdbebens nachzuahmen: Man nimmt 25 Pfund Eisenfeilig, eben so viel Schwefel und vermengt es mit gemeinem Wasser, vergräbt diesen Teig einen oder anderthalb Fuß tief in die Erde und stößt dieselbe darüber fest zusammen. Nach Ablauf einiger Stunden sieht man einen dicken Dampf aufsteigen, die Erde wird erschüttert, und es brechen Flammen aus dem Grund 6 hervor. (Ursachen I 422f.)
––––––––––––– 5 Ähnlich wie Rousseau in seinem Brief an Voltaire meint Kant, das Unglück Lissabons sei „durch seine Lage vergrößert“ worden. Der Länge nach am Ufer des Tejo angelegt, liege Lissabon genau in der Richtung, in der sich Erdbeben erfahrungsgemäß ausbreiten; und jede Stadt, die von Erdbeben heimgesucht wird und „wo man die Richtung derselben aus der Erfahrung abnehmen kann“, sollte „nicht nach einer Richtung, die mit dieser gleichlaufend ist, angelegt werden“ (Ursachen I 421). 6 Kant beschreibt ein damals populäres Experiment des Chemikers Nicolas Lémery. Übrigens wird das bei Kant nur (theoretisch) Machbare in einem wenige Jahrzehnte später erscheinenden Werk dann tatsächlich gemacht: Zwei Protagonisten einer Episode von de Sades Neuer Justine vergraben auf ganz Sizilien Mischungen nach der bei Kant genannten Rezeptur, so „daß die ganze Insel unter dem wohl heftigsten Beben seit mehre-
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Nicht zufällig erinnert eine solche Argumentation an den bekannten Satz aus Kants kurz zuvor entstandener Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755): „Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen!“7 In diesem Werk versuchte Kant nach seinen eigenen Worten „die Verfassung des Weltbaues aus dem einfachsten Zustande der Natur bloß durch mechanische Gesetze zu entwickeln“ (I 234). Er bewegt sich dabei philosophisch auf der Linie von Leibniz, naturwissenschaftlich auf der von Newton. Bemerkenswert ist sein naturwissenschaftlicher Optimismus: Die Beschränktheit der menschlichen Vernunft, ihre Perspektive ‚von unten‘ kann sie nicht hindern, „die wahre Verfassung des Weltbaues“ ebenso wie den „Ursprung des Weltsystems und die Erzeugung der Himmelskörper sammt den Ursachen ihrer Bewegungen“ zu erkennen. Kann dich die Schwäche deiner Einsichten, die an den geringsten Dingen, welche deinen Sinnen täglich und in der Nähe vorkommen, zu schanden wird, nicht lehren: dass es vergeblich sei, das Unermessliche und das, was in der Natur vorging, ehe noch eine Welt war, zu entdecken? Ich vernichte diese Schwierigkeit, indem ich deutlich zeige, dass eben diese Untersuchung unter allen, die in der Naturlehre aufgeworfen werden können, diejenige sei, in welcher man am leichtesten und sichersten bis zum Ursprunge gelangen kann. (I 229f.)
Um den Weltbau zu erkennen, braucht die menschliche Vernunft nicht die allwissende Perspektive Gottes. Im Gegenteil dient Kant die naturwissenschaftliche Erkenntnis selbst der Vergewisserung des höchsten Wesens, wenn auch nicht nach Art der herkömmlichen Physikotheologie, die aus der beobachteten Ordnung und Schönheit der Natur auf ihren Schöpfer schloss, weil sie der Natur selbst die Fähigkeit absprach, zweckmäßige Ordnungen hervorzubringen (vgl. I 331f.). Kants „verbesserte“ Physikotheologie will dagegen gerade zeigen, dass sich alles in der Natur nach ewigen Gesetzen entwickelt, die die menschliche Vernunft „von unten“ nachvollziehen kann. Gerade das verweist auf den göttlichen Ursprung dieser Gesetze: „Die nach ihren allgemeinsten Gesetzen sich bestimmende Materie bringt durch ihr natürliches Betragen, oder, wenn man es so nen––––––––––––– ren Jahrhunderten erzitterte; in Messina stürzten zehntausend Häuser ein, fünf öffentliche Gebäude wurden dem Erdboden gleichgemacht, und fünfundzwanzigtausend Seelen fielen unserer unsäglichen Boshaftigkeit zum Opfer.“ (D. A. F. de Sade, Justine und Juliette, Bd. 3, 86) 1783 hatte ein schweres Erdbeben Messina verwüstet; die Öffentlichkeit hatte ähnlich geschockt reagiert wie 1755. 7 Allgemeine Naturgeschichte, I 230. Aus der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels zitiere ich im Folgenden unter Angabe von Band und Seitenzahlen der Akademieausgabe.
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nen will, durch eine blinde Mechanik anständige Folgen hervor, die der Entwurf einer höchsten Weisheit zu sein scheinen.“ (I 225) Diese Zweckmäßigkeit und Ordnung wie Epikur und andere als bloßes Werk des Zufalls zu erklären, sei eine „Ungereimtheit“ und „unverschämt“ (227). „... es ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann.“ (228) Ein solches Vorgehen behebt den Mangel des Apriori-Arguments von Leibniz: Weil es den zu verteidigenden Gottesbegriff schon voraussetzt, ist es für die nicht überzeugend, die seine Prämissen nicht teilen. Den Vorzug vor Leibniz erhält deshalb Pope, dem es, wie es in den Optimismus-Notizen heißt, gelungen sei, „den schönen Beweis von Gott ... allen menschen vernehmlich zu machen“ 8. Verse von Pope dienen auch als Motti für die einzelnen Teile von Kants Allgemeinen Naturgeschichte. Aber trotzdem steht Kants Theorie natürlich auf dem Boden von Leibniz’ Theorem der besten Wahl: Die Welt, einmal von Gott als beste aller möglichen Welten erwählt und ins Werk gesetzt, kommt danach ohne göttliche Eingriffe und Wunder aus. Sie entwickelt sich nach eigenen Gesetzen, verweist aber dennoch als Schöpfung auf den Schöpfer. Für eine solche „mechanische Erklärungsart“ sprechen nicht nur die Vollkommenheiten der Welt, sondern auch noch ihre „Mängel“ als „Zeichen des Überflusses“ (I 338) – zum Beispiel die Erdbeben: Die Natur beweiset, dass sie eben so reich, eben so unerschöpft in Hervorbringung des Trefflichsten unter den Creaturen, als des Geringschätzigsten ist, und dass selbst deren Untergang eine nothwendige Schattirung in der Mannigfaltigkeit ihrer Sonnen ist, weil die Erzeugung derselben ihr nichts kostet. Die schädlichen Wirkungen der angesteckten Luft, die Erdbeben, die Überschwemmungen vertilgen ganze Völker von dem Erdboden; allein es scheint nicht, dass die Natur dadurch einigen Nachtheil erlitten habe. (I 318)
Auch die „Naturbeschreibung“ in Kants Erdbeben-Schriften von 1756 ist vom Geist der verbesserten Physikotheologie getragen. Das zeigen nicht zuletzt die Ausführungen „von dem Nutzen der Erdbeben“9: Die Hitze im Erdinnern bewirke das Reifen der Metalle. Die an der Entstehung und Ausbreitung der Beben beteiligten unterirdischen Hohlräume dienten der Versorgung des Erdbodens mit „kräftiger Materie“ als Nahrung für Pflanzen. Die Schwefeldämpfe der Vulkane könnten dazu dienen, ––––––––––––– 8 Handschriftlicher Nachlass, Über Optimismus, AA XVII 233. Die betreffenden Notizen Kants entstanden für die geplante, aber nicht realisierte Schrift zur Teilnahme an der Optimismus-Preisfrage der Akademie. Vgl. Steiner 326f. 9 Naturbeschreibung I 455-458.
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unsere Luft zu reinigen und tierische Ausdünstungen unschädlich zu machen. Die Wärme im Innern der Erde ergänze die Wärme der Sonne, und die warmen Quellen, die einen so bedeutenden Beitrag zur Gesundheit der Menschen leisten, erhielten ihre nützlichen Eigenschaften durch dieselben Ursachen, die auch Erhitzung und Bewegungen der Erde hervorbringen. So würden Freud und Leid nahe beisammen liegen: In eben diesen Minuten [nicht lange nachdem das Erdbeben Lissabon zerstörte; M. R.] blieb das mineralische Wasser zu Töplitz in Böhmen plötzlich aus und kam blutroth wieder. Die Gewalt, womit das Wasser hindurch getrieben war, hatte seine alte Gänge erweitert, und es bekam dadurch einen stärkern Zufluß. Die Einwohner dieser Stadt hatten gut te Deum laudamus zu singen, indessen daß die zu Lissabon ganz andere Töne anstimmten. So sind die Zufälle beschaffen, welche das menschliche Geschlecht betreffen. Die Freude der einen und das Unglück der andern haben oft eine gemeinschaftliche Ursache. (Naturbeschreibung I 437)
Solche vergleichenden Nützlichkeitserwägungen dienen auch bei Kant vornehmlich der Bewertung des Ganzen und dem Nachweis, dass der Schöpfer die Welt aufs Beste eingerichtet hat. So mündet Kants naturwissenschaftliche Betrachtung des Erdbebens von Lissabon in theodizeekonforme Bemühungen. Kants Erdbebenschriften tragen bei zu einer „Theodizee von unten“, die angesichts der natürlichen Beschränkung des Menschen vernünftiges, zweckmäßiges Handeln einmahnt, aber gleichzeitig keinen Zweifel daran lässt, dass auch die Katastrophe von Lissabon nicht zu einer Anklage gegen die höchste Weisheit des Welturhebers berechtigt. Allerdings kommt keine Theodizee ohne weisheitliche Draufsicht aus. In Kants Naturbeschreibung ist eines der Schlüsselworte dafür „Ökonomie“: Dasselbe unterirdische Feuer, das die Erdbeben verschuldet, befördere auch die „Ökonomie der Naturreiche“. Kant gibt offen zu, dass seine Nützlichkeitserwägungen hypothetisch und nicht von zwingender Überzeugungskraft sind. Aber es seien doch auch „Muthmaßungen“ akzeptabel, wenn es darum geht, „den Menschen zu der Dankbegierde gegen das höchste Wesen zu bewegen, das selbst alsdenn, wenn es züchtiget, verehrungs- und liebenswürdig ist.“ (Naturbeschreibung I 458) Bei diesen Mutmaßungen enthält sich Kant allerdings jeder Spekulation über die Rolle des Erdbebens im Hinblick auf die göttliche Gerechtigkeit. Es wäre ein Verstoß gegen die gebotene Menschenliebe angesichts der Katastrophe, wenn man dergleichen Schicksale jederzeit als verhängte Strafgerichte ansieht, die die verheerte Städte um ihrer Übelthaten willen betreffen, und wenn wir diese Unglückselige als das Ziel der Rache Gottes betrachten, über die seine Gerechtigkeit alle ihre
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Zornschalen ausgießet. Diese Art des Urtheils ist ein sträflicher Vorwitz, der sich anmaßet, die Absichten der göttlichen Rathschlüsse einzusehen und nach seinen Einsichten auszulegen. (Naturbeschreibung I 459f.)
„Sträflicher Vorwitz“ – das könnte auch aus der Antwort Gottes an Hiob stammen. In der Tat ist der Tenor in Kants „Schlußbemerkung“ der „Geschichte und Naturbeschreibung“ des Erdbebens dem der Gottesreden des Buches Hiob nicht unähnlich: Der Mensch ist nicht das einzige Ziel der Anstalten Gottes. Die Ordnung der Welt ist nicht auf den Menschen hin ausgerichtet. Der Mensch muss, wenn er nach der Gerechtigkeit Gottes zu fragen sich anmaßt, das Ganze ins Auge fassen und erkennen, dass er selbst nur ein Teil dieses Ganzen ist: „Wir wissen, daß der ganze Inbegriff der Natur ein würdiger Gegenstand der göttlichen Weisheit und seiner Anstalten sei. Wir sind ein Theil derselben und wollen das Ganze sein.“ (Naturbeschreibung I 460) Zwar sei dem Menschen die Vorstellung natürlich, dass Angenehme in der Welt sei um seiner Annehmlichkeit willen eingerichtet worden und das Unangenehme dementsprechend Züchtigung, Drohung, Strafe. Daraus aber einen strikten Tun-Ergehen-Zusammenhang ableiten zu wollen, scheitert an der Erfahrung: Wir sehen, dass „unendlich viel Bösewichter in Ruhe entschlafen, daß die Erdbeben gewisse Länder von je her erschüttert haben, ohne Unterschied der alten oder neuen Einwohner, daß das christliche Peru so gut bewegt wird als das heidnische“. Es ist uns, so Kant, unmöglich, die Absichten Gottes bei der Regierung der Welt zu erraten. Dennoch wisse der Mensch, dass sein Leben auf Erden ein „weit edleres Ziel“ hat als Behaglichkeit und Sicherheit – und „wie schön stimmen dazu nicht alle die Verheerungen“, die der Unbestand der Welt uns erblicken lässt, „um uns zu erinnern, daß die Güter der Erden unserm Triebe zur Glückseligkeit keine Genugthuung verschaffen können!“ (ebd.) In solchen Formulierungen, die aus dem Fundus der ästhetischen Theodizee entlehnt sein könnten, deutet der virtuelle Perspektivenwechsel sich an: Nach dem noch „von unten“ vorgetragenen Eingeständnis der Unmöglichkeit, Gottes Absichten bei der Welteinrichtung zu erkennen, beansprucht die Vernunft nun doch Einsicht in die göttliche Hierarchie der Zwecke und unseren Platz in dieser Hierarchie. Die „Verheerungen“ in der Welt gewinnen ihren Sinn angesichts höherer Zwecke, denen „eben dieselbe höchste Weisheit, von der der Lauf der Natur diejenige Richtigkeit entlehnet, die keiner Ausbesserung bedarf, ... die niederen Zwecke ... untergeordnet“ hat (ebd.).
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b) Theodizee von oben: „Um des Ganzen willen“ So versuchen auch Kants „Naturbeschreibungen“, beschränkte Menschenperspektive und hypothetisch-mutmaßende Draufsicht zu vermitteln. Theodizee von unten muss ergänzt werden durch Theodizee von oben. Im 2. Teil der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels führt Kant den Übergang von der Innen- zur Außenperspektive explizit vor: Im Hauptstück mit dem Titel „Von der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit sowohl dem Raume, als der Zeit nach“ (Naturgeschichte I 306ff.) gelangt er von der empirisch gegründeten Theorie des Sonnensystems zur Draufsicht auf das Ganze des Universums. Unser Sonnensystem ist gemeinsam mit anderen gleichartigen Systemen nur ein Teil eines umfassenderen Systems, die Milchstraße ihrerseits ist Teil eines Systems unzählig vieler Milchstraßen, und alle diese „Sternensystemata wiederum ... Glieder an der großen Kette der gesammten Natur“ (I 308). Was Kant für unser Planetensystem ausführlich darlegt, soll auch für das Ganze gelten. Die Rechtfertigung für diese Erweiterung des Gegenstandes über das Wahrnehmbare und Berechenbare hinaus ruht wiederum letztlich auf dem Gottesbegriff, argumentiert also a priori. Nur eine unendliche, sich selbst erhaltende Schöpfung ist diesem Gottesbegriff angemessen. Es wäre ungereimt, die Gottheit mit einem unendlich kleinen Theile ihres schöpferischen Vermögens in Wirksamkeit zu setzen und ihre unendliche Kraft, den Schatz einer wahren Unermesslichkeit von Naturen und Welten, unthätig und in einem ewigen Mangel der Ausübung verschlossen zu gedenken. Ist es nicht vielmehr anständiger, oder, besser zu sagen, ist es nicht nothwendig, den Inbegriff der Schöpfung also anzustellen, als er sein muss, um ein Zeugniß von derjenigen Macht zu sein, die durch keinen Maßstab kann abgemessen werden? Aus diesem Grunde ist das Feld der Offenbarung göttlicher Eigenschaften eben so unendlich, als diese selber sind ... Die Ewigkeit ist nicht hinlänglich, die Zeugnisse des höchsten Wesens zu fassen, wo sie nicht mit der Unendlichkeit des Raumes verbunden wird. (Naturgeschichte I 309f.) Eine Weltverfassung, die sich ohne ein Wunder nicht erhielt, hat nicht den Charakter der Beständigkeit, die das Merkmal der Wahl Gottes ist; man trifft es also dieser weit anständiger, wenn man aus der gesammten Schöpfung ein einziges System macht, welches alle Welten und Weltordnungen, die den ganzen unendlichen Raum ausfüllen, auf einen einigen Mittelpunkt beziehend macht. (Naturgeschichte I 311)
So kann sich die Vernunft für einen Augenblick – virtuell und im Konjunktiv – die Perspektive Gottes zu eigen machen, um die Unendlichkeit der Schöpfung zu fassen. Die Unendlichkeit der künftigen Zeitfolge, womit die Ewigkeit unerschöpflich ist, wird alle Räume der Gegenwart Gottes ganz und gar beleben und in die Regelmäßig-
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keit, die der Trefflichkeit seines Entwurfes gemäss ist, nach und nach versetzen; und wenn man mit einer kühnen Vorstellung die ganze Ewigkeit, so zu sagen, in einem Begriffe zusammen fassen könnte, so würde man auch den ganzen unendlichen Raum mit Weltordnungen angefüllt und die Schöpfung vollendet ansehen können. (Naturgeschichte I 314)
Die geborgte Gottesperspektive mündet in vertraute Bilder der Relativierungen: „Die Unendlichkeit der Schöpfung ist groß genug, um eine Welt, oder eine Milchstrasse von Welten gegen sie anzusehen, wie man eine Blume, oder ein Insect in Vergleichung gegen die Erde ansieht.“ Dass hier die Vernunft mit dem Auge Gottes schaut, bestätigt Kant mit einem Pope-Zitat: Der stets mit einem gleichen Auge, weil er der Schöpfer ja von allen, Sieht einen Helden untergehen und einen kleinen Sperling fallen, 10 Sieht eine Wasserblase springen und eine ganze Welt vergehn. (I 318)
Zwar bleibt dieser Übergang zur Gottesperspektive notwendig Spekulation und Mutmaßung, deren „Unerweislichkeit“ Kant auch eingesteht, ohne ihr deshalb „Wahrscheinlichkeit“ abzusprechen (Naturgeschichte I 315). Wie vor ihm Leibniz schließt Kant im Dienste der Erkenntnis von Gott, Mensch und Welt die beiden Vernunftperspektiven, die a posteriori verfahrende Subjektperspektive und die a priori argumentierende Draufsicht dogmatischer Weltweisheit zusammen. Mit dem Gottesbegriff im Rücken kann die beschränkte Menschenvernunft über den Kreis des Erfahrbaren hinaus denken. Das ganze Stück der Natur, das wir kennen, ob es gleich nur ein Atomus in Ansehung dessen ist, was über oder unter unserem Gesichtskreise verborgen bleibt, bestätigt doch diese Fruchtbarkeit der Natur, die ohne Schranken ist, weil sie nichts anders, als die Ausübung der göttlichen Allmacht selber ist. (Naturgeschichte I 317)
Mit Leibniz teilt Kant auch die Ablehnung des Anthropozentrismus: Das Universum ist nicht um des Menschen willen geschaffen. Die Betrachtung des Kosmos mit seinen zahllosen Planeten gibt Kant Gelegenheit, in einem Anhang der Allgemeinen Naturgeschichte auch über jene zahlreichen anderen bewohnten Welten im Universum zu spekulieren, die seit Fontenelle so wirksam menschliche Ansprüche relativieren. Es sei anzunehmen, dass alle oder die meisten Planeten bewohnt sind oder einst ––––––––––––– 10 “Oh blindness to the future! kindly giv’n, / That each may fill the circle mark’d by Heav’n:/Who sees with equal eye, as God of All / A hero perish, or a sparrow fall, / Atoms or systems into ruins hurl’d / And now a bubble burst, and now a world” (Alexander Pope, An Essay on Man, Ep. I. 85-90, S. 184).
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sein werden – und sollten selbst einige dauerhaft unbewohnt bleiben, fiele das angesichts des „Ganzen der Schöpfung“ nicht ins Gewicht. Bei dem Reichthume der Natur, da Welten und Systeme in Ansehung des Ganzen der Schöpfung nur Sonnenstäubchen sind, könnte es auch wohl öde und unbewohnte Gegenden geben, die nicht auf das genaueste zu dem Zwecke der Natur, nämlich der Betrachtung vernünftiger Wesen, genutzt würden. Es wäre, als wenn man sich aus dem Grunde der Weisheit Gottes ein Bedenken machen wollte, zuzugeben, dass sandichte und unbewohnte Wüsteneien große Strecken des Erdbodens einnehmen, und dass es verlassene Inseln im Weltmeere gebe, darauf kein Mensch befindlich ist. Indessen ist ein Planet viel weniger in Ansehung des Ganzen der Schöpfung, als eine Wüste, oder Insel in Ansehung des Erdbodens. (Naturgeschichte I 352)
So überrascht es nicht, dass sich auch bei Kant einer der beliebten Insektenvergleiche für die begrenzte Perspektive des Menschen findet. Gleich diesem sehen auch die Läuse auf dem Kopf eines Bettlers „ihren Aufenthalt für eine unermessliche Kugel und sich selber als das Meisterstück der Schöpfung“ an. Erblicken sie in der Ferne den Kopf eines Edelmanns, so glauben sie ganz selbstverständlich, dass auf diesem ebenfalls Läuse wohnen müssten. Kant sieht davon weniger seine eigenen Spekulationen getroffen als die Vermessenheit anthropozentrischen Denkens: Der Mensch, obgleich ebenso weit „von der obersten Stufe der Wesen“ entfernt wie die Laus, „ist so verwegen, von der Nothwendigkeit seines Daseins sich mit gleicher Einbildung zu schmeicheln. Die Unendlichkeit der Schöpfung faßt alle Naturen, die ihr überschwenglicher Reichthum hervorbringt, mit gleicher Nothwendigkeit in sich. Von der erhabensten Classe unter den denkenden Wesen bis zu dem verachtetesten Insect ist ihr kein Glied gleichgültig; und es kann keins fehlen, ohne dass die Schönheit des Ganzen, welche in dem Zusammenhang besteht, dadurch unterbrochen würde.“ (Naturgeschichte I 353f.) Die Menschen auf der Erde seien schlicht Mittelmaß: sie haben „auf der Leiter der Wesen gleichsam die mittelste Sprosse inne“, während die „erhabensten Classen vernünftiger Wesen“ auf dem Jupiter oder Saturn wohnen sollten, da Kant annimmt, der Grad der Vollkommenheit der Kreaturen werde mit dem Abstand ihres Wohnorts von der Sonne zunehmen (Naturgeschichte I 359). Die enge Verschränkung von Aposteriori und Apriori, von Subjektperspektive und virtueller Draufsicht, die sich in Kants naturwissenschaftlich ausgerichteten Schriften zeigt, findet ihre Entsprechung in seinen frühen metaphysischen Entwürfen. Kant ist vor und nach dem Erdbeben von Lissabon ein überzeugter Verfechter des philosophischen Optimismus. 1759, in seinem „Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus“, vertei-
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digt Kant ausdrücklich Leibniz gegen Reinhard, den Verfasser des siegreichen Beitrages zur Optimismus-Preisfrage der Berliner Akademie von 1755, der den Optimismus zurückweist, weil ja statt einer besten möglichen Welt auch mehrere von einander verschiedene mögliche Welten gleicher Vollkommenheit denkbar seien. Das Erdbeben wird in dieser Schrift nicht mehr erwähnt. Die Argumentation Kants richtet sich vornehmlich gegen den theologischen Voluntarismus. Der Gott, den Kant voraussetzt, kann nicht anders, als das Beste unter seinen Möglichkeiten zu erwählen und ins Werk zu setzen. „Wenn sich jemand aufwirft zu behaupten: Die höchste Weisheit habe das Schlechtere besser finden können als das Beste, oder die höchste Güte habe sich ein kleiner Gut mehr belieben lassen als ein größeres, welches eben so wohl in ihrer Gewalt war, so halte ich mich nicht länger auf.“ (Optimismus II 33) Wie Leibniz argumentiert Kant jetzt a priori, ausgehend von den im Begriff Gottes als dem vollkommensten Wesen vorausgesetzten göttlichen Eigenschaften: „dem Gott der Götter geziemt kein Werk, als welches seiner würdig ist, d. i., welches unter allem Möglichen das Beste ist.“ (Optimismus II 34) Zwar betont Kant auch hier, dass er aus der Perspektive der beschränkten Menschenvernunft aus spricht und urteilt: Der Mensch ist nichts als „ein geringes Glied“ im göttlichen Entwurf, „unwürdig“ – aber er ist „um des Ganzen willen auserlesen“ (ebd.). Um den a-priori-Schluss auf das Ganze vollziehen zu können, muss die Vernunft die Perspektive wechseln. Aber sie vollzieht diesen Wechsel nicht naiv, sie weiß, was sie tut: Unermeßliche Räume und Ewigkeiten werden wohl nur vor dem Auge des Allwissenden die Reichtümer der Schöpfung in ihrem ganzen Umfange eröffnen, ich aber, aus dem Gesichtspunkte worin ich mich befinde, bewaffnet durch die Einsicht die meinem schwachen Verstande verliehen ist, werde um mich schauen, so weit ich kann, und immer mehr einsehen lernen: daß das Ganze das Beste sei, und alles um des Ganzen willen gut sei. (Optimismus II 35)
Das optimistische Apriori borgt sich das „Auge des Allwissenden“, um die a-posteriori-Argumentation „aus dem Gesichtspunkte worin ich mich befinde“ zu verstärken, wie sie die verbesserte Physikotheologie der Allgemeinen Naturgeschichte vorgibt. Strenggenommen kann dies allerdings nur solange funktionieren, wie der Gottesbegriff selbst ebenfalls a priori, unabhängig von den Beschränkungen unserer Erfahrung zugänglich ist. Entsprechend ergänzt Kant auch in seiner Arbeit zu den Gottesbeweisen (Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration Gottes von 1762, datiert 1763) die „verbesserte Methode der Physikotheologie“ durch
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eine Apriori-Argumentation, die aus der inneren Möglichkeit der Dinge (als Folge eines Ermöglichenden) auf die Existenz Gottes schließt. Einen entsprechenden Beweis bezeichnet er als „ontologischen“ Gottesbeweis, den auf der Linie der verbesserten Physikotheologie als „kosmologischen“. Einzig die erste Beweisart ist nach Kant überhaupt logisch schlüssig, die zweite aber ist wirkungsvoller und daher nützlicher (Beweisgrund II 161). Allerdings ist inzwischen auch die logische Legitimation des ontologischen Apriori-Arguments alles andere als unstrittig. Die Frage, ob metaphysische, theologische und moralische Sätze überhaupt in derselben Weise wie mathematische zwingend beweisbar sind, war die Preisfrage der Berliner Akademie für das Jahr 1763 gewesen, und Kant hatte parallel zum Einzigen Beweisgrund an einer Antwort gearbeitet: eine Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral. Wie kann die beschränkte Menschenvernunft aus sich heraus zu sicheren Wahrheiten über Gott, die Welt und moralische Verbindlichkeiten gelangen? Kants Reflexion auf die Methode fällt schon nicht mehr ganz so optimistisch aus. Metaphysik ist im Gegensatz zur Mathematik noch längst nicht in der Lage, „synthetisch“ durch Operationen mit einfachen und klaren Begriffen zu Einsichten zu gelangen; noch besteht ihre Aufgabe einzig in der „analytischen“ Aufklärung der ihr gegebenen „verworrenen“ Begriffe (Deutlichkeit II 278). „Die Metaphysik ist ohne Zweifel die schwerste unter allen menschlichen Einsichten; allein es ist noch niemals eine geschrieben worden.“ (II 283) Ausgangspunkt metaphysischer Schlüsse müssen „unmittelbare Urtheile“ sein, die „so wie die Axiomen der Geometrie als die Grundlage zu allen Folgerungen“ dienen (Deutlichkeit II 285). Wir verfügen über formale Bedingungen und oberste Grundsätze der theoretischen Erkenntnis (die Sätze der Identität und des Widerspruchs); zu diesen müssen aber noch „materiale Grundsätze“ hinzutreten, die als „der Stoff zu Erklärungen und die Data, woraus sicher kann geschlossen werden“, dienen. Diese sind, insofern sie unmittelbar, durch nichts anderes vermittelt, unter den obersten formalen Grundsätzen stehen, axiomatisch – „unerweisliche Sätze“ (II 295). Ähnlich liegt die Sache in Bezug auf die praktische Philosophie: Zu einem obersten formalen Grundsatz sittlichen Handelns „Thue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist“11 (und seinem negativen Pendant in Bezug auf das Un––––––––––––– 11 Das rein formale Prinzip des kategorischen Imperativs führt diesen Gedanken weiter. Indem der Imperativ das „Vollkommenste“ auf die „allgemeine Gesetzgebung“ konkre-
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terlassen) müssen wiederum unbeweisbare materiale Grundsätze als Postulate hinzutreten (Deutlichkeit II 299f.). Weil sie aber „unerweislich“ sind, sollen nur solche Urteile als metaphysische Axiome zugelassen werden, die „durch sichere innere Erfahrung, d. i. ein unmittelbares augenscheinliches Bewusstsein“ unmittelbar gewiss sind (II 286). Dass man allerdings über solche Gewissheit des Unerweislichen durchaus streiten kann, zeigt Kant selbst, wenn er an einigen Beispielen Crusius’ für materiale oberste Grundsätze „ansehnliche Zweifel“ anmeldet (Deutlichkeit II 295). Schon drei Jahre später, in den Träumen eines Geistersehers, steht es um innere Erfahrung und Gewissheit noch schlechter: Leider ist die innere Evidenz unerweislicher Wahrheiten oft kaum von der der Geisterseherei zu unterscheiden. Den metaphysischen „Träumern der Vernunft“ kann man eine Verwandtschaft mit den „Träumern der Empfindung“ nicht absprechen. Sie sind „Luftbaumeister“ von „Gedankenwelten“, solange sie nicht, statt jeder seine eigene, alle „eine gemeinschaftliche Welt“ bewohnen (Geisterseher II 342), die auf intersubjektiv zugänglichen Erfahrungen gründet (vgl. II 371f.). Daher soll die Metaphysik eine „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ sein (Geisterseher II 368) – Grenzen, die nicht das Denkbare, sondern letztlich das Erfahrbare setzt, und damit die Perspektive des neuzeitlichen Erkenntnissubjekts. Aus dem „Gesichtspunkte worin ich mich befinde“ mit Gewissheit einzusehen, dass alles „um des Ganzen willen gut“ sei, wie es noch sieben Jahre zuvor die Optimismus-Betrachtungen wollten (Optimismus II 35), ist jetzt nicht mehr möglich. Unbefangen das „Auge des Allwissenden“ auszuborgen, um uns unseres Platzes in der Welt zu vergewissern, bleibt uns verwehrt. Das erzeugt auch das Theodizee-Dilemma in verschärfter Form. Denn obwohl jetzt endgültig ohne Hilfe „von oben“, will oder kann die Vernunft von ihrem guten und gerechten Gott nicht ohne Weiteres lassen. Zwar scheint Kant noch in den Träumen eines Geistersehers guter Hoffnung zu sein, dass Einsichten jenseits des Wissbaren, zu „Fragen von der geistigen Natur, von der Freiheit und Vorherbestimmung, dem künftigen Zustande u.d.g.“ (Geisterseher II 369), entbehrlich sein würden – auch wenn er durchaus sieht, welchen Nutzen die Annahme einer bloß intelligiblen Geisterwelt (mundus intelligibilis) etwa für die Lösung des Problems bringen könnte, das die Erfahrung eines fehlenden gerechten Tun––––––––––––– tisiert, fordert er die Überschreitung der Subjektperspektive ein: sich selbst als Element des Systems, Mitglied der Gesellschaft, wahrzunehmen.
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Ergehen-Zusammenhang dem Philosophen und Theologen stellt: In der Welt der Seelen nämlich könnte der „Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen“ leicht ausgeglichen (Geisterseher II 335f.) und der „Übelstand“ behoben werden, „der aus der unvollendeten Harmonie zwischen der Moralität und ihren Folgen in dieser Welt entspringt“ (II 337). Zwanzig Jahre später, in der Kritik der praktischen Vernunft, versucht Kant tatsächlich in durchaus vergleichbarer Weise die „Antinomie der praktischen Vernunft“ – sozusagen das Problem des transzendentalen Tun-Ergehen-Zusammenhangs – zu lösen (siehe unten Kap. 4.c). In den Träumen eines Geistersehers scheinen solche Kunstgriffe noch verzichtbar, obwohl Elemente der späteren Lösung bereits abzeichnen: Die Erwartung einer künftigen Welt nach dem Tode, in der sich die auf Erden ausbleibende Gerechtigkeit realisieren wird, kann sich zuverlässiger als auf erschlichene Vernunftgründe auf einen „moralischen Glauben“ gründen. Das menschliche Herz enthält „unmittelbare sittliche Vorschriften“, die auch ohne künftige Belohnung verpflichten (Geisterseher II 372), und es scheint der menschlichen Natur und der Reinigkeit der Sitten gemäßer zu sein: die Erwartung der künftigen Welt auf die Empfindungen einer wohlgearteten Seele, als umgekehrt ihr Wohlverhalten auf die Hoffnung der andern Welt zu gründen. So ist auch der moralische Glaube bewandt, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhoben sein kann, und welcher einzig und allein dem Menschen in jeglichem Zustande angemessen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führet. (Geisterseher II 373)
Mit dem Fundament des moralischen Glaubens scheint der frühere Rationalist und Optimist Kant der Subjektperspektive endgültig den Vorrang zu geben. Der langjährige Leibniz-Anhänger schließt seine Schrift von 1766 mit einem Zitat aus dem Candide: Da aber unser Schicksal in der künftigen Welt vermuthlich sehr darauf ankommen mag, wie wir unsern Posten in der gegenwärtigen verwaltet haben, so schließe ich mit demjenigen, was Voltaire seinen ehrlichen Candide nach so viel unnützen Schulstreitigkeiten zum Beschlusse sagen läßt: Laß uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten! (Geisterseher A II 373)
2. Vor dem Gerichtshof der Vernunft Die Betrachtung der Kantschen Schriften von 1755 bis Mitte der 60er Jahre hat gezeigt, wie die anfangs selbstverständliche Verschränkung der Perspektiven von „unten“ und „oben“ dem für die Methode der Metaphysik
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geschärften Blick zunehmend verdächtig wird: Das Apriori bekommt ein Legitimationsproblem. Damit aber ist der Vernunft auch Gott und sein Standort außerhalb des Ganzen, von dem aus noch „alles gut“ war, nicht mehr ohne Weiteres zugänglich. Andererseits kann auch eine „kritische“ Vernunft eingestandenermaßen auf die Draufsicht nicht verzichten, denn sie hat letztlich immer noch ein „architektonisches“ Interesse an durchgängiger Systematisierung12. Zentrales Problem einer kritischen Philosophie ist demnach die Rechtfertigung ihrer Axiome, jener gemäß der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral eingestandenermaßen „unerweislichen“ obersten materialen Sätze der theoretischen und praktischen Vernunft, die die Vernunft nicht anders als sich vor-setzen kann. Die bestimmende Rolle der Erfahrung für das menschliche Erkennen hält Kant für unhintergehbar. Doch der bloßen Erfahrung sind nicht nur Gott und die unsterbliche Seele unzugänglich, sondern sogar elementare Relationen wie die Kausalität: Verknüpfungen von Ursache und Wirkung kommen, wie Hume gezeigt hatte, in den Data der Erfahrung gar nicht vor und können daher nur als subjektiv notwendige begriffen werden. Hume hatte nicht nur Kant aus seinem „dogmatischen Schlummer“13 erweckt, er hatte ihn auch dem skeptischen Zweifel ausgeliefert. Der „dogmatische Gebrauch“ der Vernunft „führt auf grundlose Behauptungen, denen man eben so scheinbare entgegensetzen kann, mithin zum Skeptizismus“ (KrV III 41). Die zerstörten Gewissheiten sind aber nicht ohne Weiteres verzichtbar: Was, wenn nur die offenbar ungegründeten und anmaßenden Setzungen einer dogmatisch-rationalistischen Vernunft zentrale Konzepte des neuzeitlichen Welt- und Selbstverständnisses absichern konnten? Wie kann die Vernunft angesichts ihrer eigenen Schranken die notwendige systematisierende Draufsicht sichern? Das Theodizeeproblem ist eine Variante dieses Dilemmas zwischen rationalistischem Dogmatismus und empiristischem Skeptizismus. Die Ver––––––––––––– 12 „Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen“, erklärt Kant am Ende der KrV, im Hauptstück mit dem Titel „Die Architektonik der reinen Vernunft“. Architektonik ist die „Kunst der Systeme“; „systematische Einheit“ aber macht aus einem bloßen „Aggregat“ von Erkenntnis erst eine Wissenschaft (KrV III 538). Vollendung dieses Systems wäre erst eine „Erkenntnis Gottes“ und einer „anderen Welt“ (III 550). So ist der vierte und letzte Hauptteil des philosophischen Systems – neben Ontologie, Physiologie und Kosmologie – die „rationale Theologie“, die „transzendentale Gotteserkenntnis“ (KrV II 546f.). 13 Vgl. Prolegomena IV 260.
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nunft reagiert auf die Konsequenz aus der eigenen Entfaltung, auf den drohenden Verlust Gottes, dessen Legitimations- und Begründungsfunktionen sie eben nicht restlos übernehmen kann. In seiner Theodizeeschrift 14 erkennt Kant im Buch Hiob die Allegorie eines Auswegs aus dem Dilemma: Die machthabende Vernunft entscheidet den Rechtsstreit zwischen Dogmatismus und Skeptizismus durch einen Machtspruch. Die narrative Problemlösung der allegorischen Darstellung sprengt den ursprünglichen Problemraum (die Verfahrensregeln des „Rechtsstreits“) und macht Gebrauch von einer neuen Verknüpfungsregel: der Zulässigkeit der willkürlichen Autoritätsentscheidung als narratives Urteil. Als Gottes Stimme darf Vernunft postulieren, was ihr durch die eigene Kritik abhanden gekommen war, und so den „höchsten Standpunkt“ (s. u. Kap. IV.7) gewinnen, der ihr möglich ist: Als oberster Richter im Theodizeeprozess übernimmt sie selbst die Rolle Gottes. Die Schrift Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee veröffentlichte Kant 1791 in der September-Ausgabe der Berlinischen Monatsschrift. Der Text gilt als Vorarbeit zur Religionsschrift, deren erste Auflage zwei Jahre später veröffentlicht wurde. In seinem Aufsatz charakterisiert Kant systematisch verschiedene Typen von Theodizeeargumenten (mögliche Transformationen im Problemraum) und versucht zum einen deren Untauglichkeit und zum anderen die grundsätzliche Unmöglichkeit gelingender Theodizee-Spekulationen zu zeigen. Nur vordergründig allerdings erscheint die Schrift als eine Auseinandersetzung mit diesen Argumenten. Die in eiliger Kürze vorgetragene und trotz ihres systematischen Aufbaus keinesfalls erschöpfende Widerlegung möglicher Theodizeeformeln wird vielmehr, für sich allein gelesen, einen Theodizeebefürworter kaum umstimmen. Bereits nach etwa der Hälfte des kurzen Textes sind die Argumente der Theodizee abgehandelt und ihr notwendiges Scheitern konstatiert. Die Annahme liegt nahe, dass dieser Text trotz seines Titels mehr auszusagen versucht als nur das notwendige Misslingen philosophischer Theodizeen. Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass sich die Darstellung in drei recht unterschiedliche Teile15 gliedert: einen systematischen ersten Teil zur phi––––––––––––– 14 Immanuel Kant, „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche der Theodizee“ (1791), in AA VIII 255-271; im Folgenden zitiert mit einfachen Seitenzahlen. 15 Der äußerlichen Gestalt nach sind es vier Teile: drei durch Sternchen voneinander getrennte Abschnitte (255-262; 263-264; 264-267) und die so überschriebene „Schlussanmerkung“ (267-271). Zusammen führen die ersten beiden Abschnitte, die Abweisung „aller bisherigen Theodizee“ und ihre Erweiterung auch auf „alle fernere Versuche
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losophischen Theodizee, einen sozusagen allegorisierenden zweiten Teil, der auf die Interpretation des Buches Hiob die These von der „authentischen Theodizee“ zu stützen versucht, die Kant dort „allegorisch ausgedrückt“ findet (264), und der ebenfalls mit Bezug auf Hiob die Bedeutung von Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit in Religionsdingen hervorhebt, sowie eine ausführliche Schlussanmerkung, die nur noch letzteres zum Thema hat. Schon der systematische Teil bedient sich narrativer Strategien der Problemverhandlung: Wenn Kant die Auseinandersetzungen um die Theodizee als eine Konfrontation zwischen Dogmatismus und Skeptizismus inszeniert, die vom „Gerichtshof der Vernunft“ endgültig beendet werden soll, dann schematisiert die Metapher des RECHTSSTREITS hier ähnlich wie schon in der Kritik der reinen Vernunft den Grundsatz Kants, dass nur eine Kritik der Vernunft die Beschränkungen ihres dogmatischen oder empiristisch-skeptischen Gebrauchs aufheben kann. Die „allegorisierende“ Indienstnahme des Hiobbuches bringt darüber hinaus einen zweiten Aspekt kritischen Philosophierens in den Blick, der schon im narrativen Urteil des Rechtsstreitschemas präsent ist, aber dieses Schema auch zu sprengen vermag: den Aspekt der Macht (und vielleicht Willkür) der Vernunft bei der Entscheidung philosophischer Fragen zugunsten von Sätzen, die ein Bedürfnis der Vernunft bedienen: Eine machthabende Vernunft kann ihrem praktischen Interesse gemäß dort „Machtsprüche“ fällen, wo „Recht“ nicht hinreicht, wo die bewährten Verknüpfungsregeln der Vernunft versagen. a) Rollen und Regeln Der Text beginnt mit der berühmt gewordenen Definition des Begriffes „Theodizee“: „Unter einer Theodizee versteht man die Vertheidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt.“ (255) Leitmetapher ist wiederum das (schon bei Leibniz erscheinende) Schema des Gerichtsprozesses – Theodizee ist ein „Rechtshandel vor dem Gerichtshofe der Vernunft“. Das R ECHTSSTREIT-Schema gibt die Rollenverteilung vor: Der „Welturheber“, Gott, ist der Angeklagte, die „Vernunft“ bildet den „Gerichtshof“, hat also in diesem Bild die Richterrolle inne, ––––––––––––– vermeintlicher menschlicher Weisheit, die Wege der göttlichen einzusehen“, systematisch argumentierend auf die „negative Weisheit“, das alle (doktrinale) Theodizee notwendig scheitern muss (vgl. 263).
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und erhebt gleichzeitig die Anklage. Aber auch die Verteidigung kann nur von der „Vernunft“ übernommen werden, die also dabei offenbar mehrere gegensätzliche Rollen ausfüllt. Zwar stellt sich „Theodizee“ als das Verfechten der „Sache Gottes“ dar, doch eher, so fährt Kant fort, scheint sie „die Sache unserer anmaßenden, hierbei aber ihre Schranken verkennenden Vernunft“ zu sein. Die „Anmaßung“ der Vernunft, über Gott zu vernünfteln – populäres Theodizeemotiv bei der Zurückweisung entsprechender Anklagen – wird von Kant konstatiert, aber zugleich als eine berechtigte akzeptiert. Es ist „nicht eben die beste Sache“, aber doch zunächst zu billigen, da „der Mensch als vernünftiges Wesen berechtigt ist, alle Behauptungen, alle Lehre, welche ihm Achtung auferlegt, zu prüfen, ehe er sich unterwirft, damit diese Achtung aufrichtig und nicht erheuchelt sei“ (ebd.). Die zwischen Skeptizismus und Dogmatismus gespaltene (spekulative) „Vernunft“ übernimmt also Anklage wie Verteidigung des „Welturhebers“. Die Rolle des Richters allerdings kann sie, wie sich herausstellt, nur bedingt ausfüllen, denn Kant weist im weiteren Verlauf der Argumentation jede Berechtigung der spekulativen Vernunft zu letztinstanzlichen Urteilen ausdrücklich zurück. Das Schema des Rechtsstreits beinhaltet die Geltung bestimmter Verfahrensregeln. Kant gibt an, was allein als „Rechtfertigung“ Gottes gelten kann, und umreißt damit sozusagen den Problemraum der Verhandlung: Gelingende Theodizee soll zeigen, dass die von der Anklage angeführten Übel entweder nichts Zweckwidriges bezeichnen oder aber wenigstens Gott nicht zugerechnet werden können: Zu dieser Rechtfertigung wird nun erfordert, daß der vermeintliche Sachwalter Gottes entweder beweise: daß das, was wir in der Welt als zweckwidrig beurtheilen, es nicht sei; oder: daß, wenn es auch dergleichen wäre, es doch gar nicht als Factum, sondern als unvermeidliche Folge aus der Natur der Dinge beurtheilt werden müsse; oder endlich: daß es wenigstens nicht als Factum des höchsten Urhebers aller Dinge, sondern bloß der Weltwesen, denen etwas zugerechnet werden kann, d. i. der Menschen, (allenfalls auch höherer, guter oder böser, geistiger Wesen) angesehen werden müsse. (ebd.)
Zu den Regeln gehört ausdrücklich auch die Forderung, dass die Beschwerden des Gegners nicht einfach „durch einen Machtspruch der Unstatthaftigkeit des Gerichtshofes der menschlichen Vernunft“ abgewiesen werden dürfen, sondern durch „förmliche Widerlegung“ entkräftet werden müssen. D. h. der Vertreter der Verteidigung darf also gerade nicht aus dem Zugeständnis der „höchsten Weisheit des Welturhebers“ a priori die Grundlosigkeit jeglicher Zweifel ableiten und diese ohne Unter-
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suchung zurückweisen, sondern er muss sich auf die Anklage einlassen, um die Vereinbarkeit der „höchsten Weisheit“ des Beklagten mit den konstatierten Anklagepunkten zu zeigen. Es gilt aber auch eine Einschränkung der Beweislast: Der Verteidiger hat es „nicht nötig sich einzulassen..., daß er die höchste Weisheit Gottes aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt lehrt, auch sogar beweise“ – denn dazu wäre „Allwissenheit“, die Draufsicht der Gottesperspektive nötig (255f.). b) Anklagen, Argumente und Urteil In seiner Charakterisierung des Problemraums versucht Kant zunächst die Anklagepunkte – „das Zweckwidrige in der Welt..., was der Weisheit ihres Urhebers entgegengesetzt werden könnte“ – und die jeweiligen Verteidigungsstrategien zu systematisieren. Er unterscheidet drei Formen der Zweckwidrigkeit (256f.): I. Das „schlechthin Zweckwidrige“ ist das „moralisch Zweckwidrige“, das „eigentliche Böse (die Sünde)“. II. Das nur „bedingt Zweckwidrige“, d. i. das „physische Zweckwidrige, das Übel (der Schmerz)“ 16, kann immerhin noch als Mittel z. B. zu Sühne und Besserung gedacht werden. III. Eine dritte Form des Zweckwidrigen ergibt sich nach Kant aus der Forderung nach einer zweckmäßigen Beziehung zwischen den ersten beiden Arten, nämlich nach der „Verbindung der Übel und der Schmerzen als Strafen mit dem Bösen als Verbrechen“: einem gerechten Tun-Ergehen-Zusammenhang. Die entsprechende Zweckwidrigkeit erscheint als „Mißverhältniß der Verbrechen und Strafen in der Welt“, als fehlende göttliche Gerechtigkeit. Diesen drei Arten der Zweckwidrigkeit korrespondieren drei göttliche Eigenschaften, die jeweils dem Zweifel ausgesetzt werden (257): die „Heiligkeit“ Gottes als Gesetzgeber, die mit der Existenz des MoralischBösen in der Welt kollidiert, die „Gütigkeit“ Gottes als Regierer (Erhalter), die „im Contraste mit den zahllosen Übeln und Schmerzen der vernünftigen Weltwesen“ steht, und drittens die „Gerechtigkeit“ Gottes als Richter, die angesichts des Mißverhältnisses „zwischen Straflosigkeit der Lasterhaften und ihren Verbrechen in der Welt“ in Zweifel gerät. Diese drei Eigenschaften Gottes sind nach Kant nicht aufeinander reduzierbar und machen zusammen den „moralischen Begriff von Gott“ aus (257 ––––––––––––– 16 Bereits Leibniz hatte moralische, das physische und außerdem als dritte Form der Übel das metaphysische als „Unvollkommenheit“ unterschieden (Theodizee § 21). Nach Kant (259) fällt in den Theodizeeargumenten sowohl das moralische als auch das physische Übel bisweilen mit dem metaphysischen zusammen.
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Anm.). Die dogmatischen Strategien der Rechtfertigung gegenüber den Anklagen aus der Erfahrung, die sich jeweils auf diese Eigenschaften beziehen und entsprechende Zweckwidrigkeiten behaupten, kann Kant demnach ebenfalls in drei separaten Abschnitten darstellen. I. In der Frage nach dem Moralisch-Bösen als Widerspruch zur Heiligkeit des Gesetzgebers gibt es drei Möglichkeiten der Verteidigung: (1) Entweder das Böse existiert gar nicht wirklich und das, was wir als solches ansehen wollen, erscheint lediglich der menschlichen Weisheit als zweckwidrig, weil uns die Einsicht in die Regeln, wonach die göttliche Weisheit diese scheinbaren Verstöße beurteilen würde, schlechthin abgeht. (2) Oder aber das Böse gründet notwendig „auf den Schranken der Natur der Menschen, als endlicher Wesen“ und konnte daher vom Welturheber nicht verhindert werden. (3) Die Verteidigung spricht Gott (nicht aber den Menschen) von der Verantwortung für das Böse frei, weil Gott dieses lediglich zulässt und für diese Zulassung seine Gründe haben wird. Die beiden Rechtfertigungen (2) und (3) erklärt Kant für identisch: Beide liefen darauf hinaus, dass das Böse letztlich „unvermeidlich in dem Wesen der Dinge“, der endlichen Natur des Menschen, gründe und dass es selbst Gott unmöglich wäre, das Böse zu verhindern, ohne höheren Zwecken Abbruch zu tun. Daher könnte es weder Gott noch dem Menschen zugerechnet und damit eigentlich auch nicht ein Moralisch-Böses genannt werden, sondern als bedingt Zweckwidriges unter die „Übel“ (II.) fallen. Die Verteidigung (1) – göttliche Weisheit könnte andere Regeln zur Unterscheidung von gut und böse haben als die menschliche – würdigt Kant keiner eingehenden Widerlegung: „Diese Apologie, in welcher die Verantwortung ärger ist als die Beschwerde, bedarf keiner Widerlegung und kann sicher der Verabscheuung jedes Menschen, der das mindeste Gefühl für Sittlichkeit hat, frei überlassen werden.“ (258f.) II. Gegen die göttliche Güte des Regierers wird insbesondere die Existenz der Übel und des Leidens, also der „Schmerzen in der Welt“, ins Feld geführt. Dagegen könnte man (1) behaupten, dass „doch ein Jeder, so schlimm es ihm auch ergeht, lieber leben als todt sein will“ und somit kein Übergewicht der Übel über das Gute, sondern vielmehr dessen Gegenteil anzunehmen sei. Auch die Beantwortung dieser „Sophisterei“ überlässt Kant schlicht dem Urteil „eines jeden Menschen von gesundem Verstande, der lange genug gelebt und über den Wert des Lebens nachgedacht hat ...: ob er wohl, ich will nicht sagen auf dieselbe, sondern auf jede andre ihm beliebige Bedingungen (nur nicht etwa einer Feen-, sondern dieser unserer Erdenwelt) das Spiel des Lebens noch einmal durchzuspielen Lust
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hätte“ (Theodizee 259). Diese Bemerkung wird verständlicher, wenn man sich die biographischen Erinnerungen Borowskis ins Gedächtnis ruft, die Kant persönlich noch zur Beurteilung vorlagen: „Aber durchaus gab Kant dem physischen Leben keinen Wert – über die Gebühr ... Wer hat es nicht in seinen Schriften gelesen und welcher seiner Freunde hätte es nicht überaus oft aus seinem Munde gehöret, daß er um keinen Preis unter der Bedingung, ebenso noch einmal vom Anfange an zu leben, seine Existenz wiederholen möchte!“17 Diese Frage, ob das individuelle Leben es wert sei, noch einmal durchlebt zu werden, war übrigens ein gern besuchter (und traditionsreicher) Nebenschauplatz der Optimismus-Debatte, der durchaus eine kleine Abschweifung lohnt. Leibniz etwa war in dieser Frage ganz anderer Meinung als Kant: „Hätten wir keine Kenntniss von dem zukünftigen Leben, so würden sich wenig Personen finden, welche nicht bei dem Nahen des Todes gern das Leben wieder mit dem Bedingen annähmen, um es mit demselben Werth von Gütern und Schmerzen zu verbringen, namentlich wenn es nicht dieselben Arten bei beiden wären. Man wäre schon mit dem Wechsel zufrieden, ohne einen bessern Zustand, als den verlebten, zu verlangen.“ (Theodizee § 13) Dagegen konstatiert Voltaire in seinem Poème sur le Désastre de Lisbonne kurz und bündig: „Niemand würde sterben, niemand wiedergeboren werden wollen.“ – d. h. „denselben Lebenslauf ... noch einmal beginnen und dieselben Begebenheiten noch einmal durchleben“ (Anmerkung von 1756; beides Steiner 403). Rousseau wiederum protestiert energisch: Voltaire habe wohl schlicht die Falschen befragt; wer als unverbildeter Mensch sein Leben ruhig und ehrlich verbringe, hätte wenig Ursache, es zu bedauern18. Diese kurzen Bemerkungen mögen genügen, um den axiomatischen Charakter dieser Argumente anzudeuten. ––––––––––––– 17 Vgl. Ludwig Ernst Borowski, „Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kant’s“ (1993, orig. 1804), 47f. 18 „Sie glauben mit Erasmus, daß wenige Menschen noch einmal unter den gleichen Umständen leben möchten, in denen sie jetzt sind ... Außerdem, von wem darf ich annehmen, daß Sie ihn darüber befragt haben? ... Ich wage als Tatsache hinzustellen, daß es wohl im oberen Wallis keinen einzigen Bergbewohner gibt, der mit seinem Leben unzufrieden wäre, welches er fast wie ein Automat zubringt, und der nicht mit Freuden anstelle gar des Paradieses, das er erhofft und das ihm gebührt, auf den Handel eingehen würde, immer wieder neu geboren zu werden, um so ewig dahinzuvegetieren. Diese Unterschiede geben mir die Überzeugung, daß es oft an dem Mißbrauch liegt, den wir mit dem Leben treiben, wenn es uns zur Last fällt, und ich habe eine weit weniger gute Meinung von solchen Leuten, die bedauern, gelebt zu haben, als von einem, der mit Cato sagen kann: Nec me vixisse poenitet, quoniam ita vixi, ut frustra me natum non
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Aber zurück zu Kants Systematik der Theodizeestrategien: Eine weitere Rechtfertigung der göttlichen Güte (2), die das „Übergewicht der schmerzhaften Gefühle über die angenehmen“ zwar eingesteht, aber auf die Natur und leibliche Verfasstheit des Menschen zurückführt, muss sich nach Kant fragen lassen, warum der Urheber des Menschen diesen überhaupt in ein für ihn gar nicht wünschenswertes Dasein rufen musste. Eine dritte Strategie (3) versucht die Güte Gottes mit der Behauptung zu retten, das Leben sei dem Menschen „um einer künftigen Glückseligkeit willen“ gegeben, derer man durch den Kampf mit „Widerwärtigkeiten“ des gegenwärtigen Lebens würdig werden solle. Diese Strategie, so Kant, scheitert daran, nicht nur dogmatisch zu behaupten, sondern tatsächlich einsichtig zu machen, warum die diesseitige Leidenszeit der Prüfung als Bedingung der zukünftigen Freuden unverzichtbar sein soll. III. Auch im Hinblick auf das Hiobbuch und seine Auseinandersetzung mit dem Dogma des Tun-Ergehen-Zusammenhangs interessieren uns insbesondere die Anklagen gegen die Gerechtigkeit des Weltrichters. Diese sind auch Kant eine besondere Anmerkung wert: Es sei „merkwürdig, daß unter allen Schwierigkeiten, den Lauf der Weltbegebenheiten mit der Göttlichkeit ihres Urhebers zu vereinigen, keine sich dem Gemüth so heftig aufdringt, als die von dem Anschein einer darin mangelnden Gerechtigkeit“. Diesem Interesse entspricht offenbar eine selektive, auf Bestätigung zielende Wahrnehmung: Wenn der seltene Fall eintritt, dass einen Bösewicht tatsächlich eine angemessene Strafe trifft, „so frohlockt der mit dem Himmel gleichsam versöhnte, sonst parteilose Zuschauer. Keine Zweckmäßigkeit der Natur wird ihn durch Bewunderung derselben so in Affect setzen und die Hand Gottes gleichsam daran vernehmen lassen.“ Die möglichen Antworten auf den Vorwurf göttlicher Ungerechtigkeit führt Kant ganz nach dem Schema der vorangegangenen Ausführungen auf drei Strategien zurück: (1) Von einer Straflosigkeit des Lasterhaften, so die Verteidigung, könne nicht gesprochen werden, da ja die „innern Vorwürfe des Gewissens“ (261) bereits angemessene Strafe seien. Dieses Argument überträgt nach Kant unzulässig die Denkungsart des Redlichen auf die des Unredlichen. Wenn die Verteidigung dagegen (2) argumentiert, dass zwar ein Mangel an Gerechtigkeit zugegeben werden muss, aber das Ringen mit Leiden notwendig zur Tugend gehört und ihren Wert erhöht, somit „vor der Vernunft diese Dissonanz der unverschuldeten ––––––––––––– existimem“ (Brief von Rousseau an Voltaire vom 18.8.1756, in: Voltaire. Korrespondenz aus den Jahren 1749-1760, S. 99-117; Zitat S. 104).
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Übel des Lebens doch in den herrlichsten sittlichen Wohllaut aufgelöset werde“ (ebd.), dann könne man eine solche Auflösung nach Kant nur gelten lassen, wenn wenigstens das Ende des Lebens das Laster bestraft und die Tugend belohnt, so dass das Leiden dem Tugendhaften zufällt, „damit seine Tugend rein sei“ (vgl. die Satanische Frage, ob Hiob umsonst gottesfürchtig ist). Viele Beispiele der gegenteiligen Erfahrung eines „widersinnigen“ Lebensendes allerdings lassen das Leiden des Tugendhaften als das Gegenteil von Gerechtigkeit nach menschlichen Begriffen erscheinen. Auch eine Berufung auf mögliche Gerechtigkeit nach dem Tode lässt Kant nicht gelten: diese Möglichkeit kann „nicht für Rechtfertigung der Vorsehung gelten, sondern ist bloß ein Machtspruch der moralisch – gläubigen Vernunft, wodurch der Zweifelnde zur Geduld verwiesen, nicht aber befriedigt wird.“ Dasselbe gilt für eine letzte Strategie (3), die das ungerechte Menschenschicksal in dieser Welt auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit, „Geschicklichkeit und Klugheit“ sowie zufälliges Glück oder Unglück zurückführt, also das menschliche Ergehen letztlich den „Gesetzen der Natur“ unterordnet. In diesem Fall zur Ehrenrettung des Schöpfers eine gerechte Ordnung der Dinge gleich ausschließlich in einer „künftigen Welt“ anzusiedeln, ist ebenfalls „willkürlich“. Im Gegenteil hat die Vernunft („wenn sie nicht als moralisch gesetzgebendes Vermögen diesem ihrem Interesse gemäß einen Machtspruch thut“) es als wahrscheinlich annehmen, dass „der Lauf der Welt nach der Ordnung der Natur, so wie hier, also auch fernerhin unsre Schicksale bestimmen werde“ (262). Sie hat zur theoretischen Erkenntnis keinen anderen „Leitfaden“ als das Naturgesetz. Fazit: Da also ... zwischen den innern Bestimmungsgründen des Willens (nämlich der moralischen Denkungsart) nach Gesetzen der Freiheit und zwischen den (größtentheils äußern) von unserm Willen unabhängigen Ursachen unsers Wohlergehens nach Naturgesetzen gar kein begreifliches Verhältnis ist: so bleibt die Vermuthung, daß die Übereinstimmung des Schicksals der Menschen mit einer göttlichen Gerechtigkeit nach den Begriffen, die wir uns von ihr machen, so wenig dort wie hier zu erwarten sei. (262)
In dieser Darstellung der Theodizeeargumente umreißt Kant gewissermaßen den ursprünglichen Problemraum des Theodizeeproblems (die möglichen Lösungsoperationen gemäß der eingangs gegebenen Regeln) vor der Anwendung narrativer Strategien der Problemverhandlung. Mit dem Scheitern dieser Theodizee wird jetzt eine verhängnisvolle Blockade (Stasis) der Vernunft manifest. Denn Kants einleitende Definition hatte ja bereits deutlich gemacht, wer sich in diesem Rechtshandel gegenüber steht: Es sind zwei Seiten einundderselben, nach der Erkenntnis von
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„Gott, Welt und Mensch“ strebenden Vernunft. Die Verteidigung übernimmt eine dogmatisch theoretisierende Vernunft, die das kohärente Bild einer von Gott zweckmäßig geordneten Welt zu zeichnen bestrebt ist. Dieses Bild wird durch Erfahrungen scheinbarer Zweckwidrigkeit bedroht, die der skeptischen Vernunft zur Anklage dienen. Auf der Anklagebank sitzt der Begriff Gottes als allmächtige, allgütige, allwissende Quelle aller Ordnung, dessen Konsequenzen in Widerspruch mit der Erfahrung geraten. Die theoretisierende Vernunft hat zwar den Vorzug, positive Aussagen über Gott und seine Weltordnung zu liefern; sie kann diese aber weder beweisen noch die skeptischen Einreden widerlegen. Entsprechend konstatiert Kant diese Pattsituation der Vernunft in seinem (vorläufigen) Urteil, dem „Ausgang dieses Rechtshandels vor dem Gerichtshofe der Vernunft“: „daß alle bisherige Theodicee das nicht leiste, was sie verspricht, nämlich die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen giebt, gemacht werden, zu rechtfertigen“ (263). c) „ ... diesen Process für immer zu endigen“ Kants knappe Ausführungen zu den verschiedenen Theodizeeargumenten legen die Annahme nahe, dass Kant auf eine erschöpfende Zurückweisung aller möglichen Argumente nicht allzu viel Wert legt. Erst im Anschluss stellt sich die eigentlich interessante Frage: ob das gefundene Urteil auch für alle künftigen Theodizeeversuche behauptet, ob also grundsätzlich gezeigt werden kann, „daß unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend sei“ (263). Zwar war eine schlüssige Verteidigung gegen die skeptischen Zweifel an der moralischen Weisheit der Weltregierung bisher gescheitert, aber die Anklage konnte auch „das Gegentheil nicht beweisen“. Die Frage ist also, ob es nicht doch wenigstens in Zukunft möglich wäre, eine tatsächlich überzeugende Verteidigung zu finden, um für Gott nicht nur einen Freispruch aus Mangel an Beweisen zu erreichen – ihn, so Kant, „bloß ab instantia zu absolviren“ (ebd.). Die Absicht Kants ist keine geringere, als die Unmöglichkeit einer solchen wirksamen Verteidigung zu zeigen und damit den Rechtshandel der Theodizee ein für allemal abzuschließen – „diesen Process für immer zu endigen“. Durch „Einsicht der nothwendigen Beschränkung unsrer Anmaßung in Ansehung dessen , was uns zu hoch ist“ sollen „alle Versuche vermeintlicher menschlicher Weisheit, die
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Wege der göttlichen einzusehen“, mit Gewissheit und endgültig „völlig abgewiesen“ werden. Denn die spekulative Vernunft verfüge zwar (nach Analogie eines Baumeisters oder Künstlers) über einen Begriff von „Kunstweisheit in der Einrichtung dieser Welt“, der es ihr ermöglicht, „zu einer Physikotheologie zu gelangen“ (ein Gedanke, dem Kant seit seiner Allgemeinen Naturgeschichte treu geblieben ist). Ebenso können wir auch aus „der sittlichen Idee unserer eigenen praktischen Vernunft“ einen Begriff „moralischer Weisheit“ gewinnen, die „in eine Welt durch einen vollkommensten Urheber gelegt werden könnte“ (ebd.). Jedoch bleibt es der Vernunft verwehrt, diese beiden Begriffe einer weisen, also zweckhaften Welteinrichtung miteinander zu vereinbaren, solange sie ausschließlich die erfahrbare Sinnenwelt betrachtet. Diese Problematik hatte Kant bereits ein Jahr zuvor in der Kritik der Urteilskraft diskutiert, und zwar in der Gegenüberstellung von Physikotheologie und Ethikotheologie: Physikotheologie versucht, „aus den Zwecken der Natur (die nur empirisch erkannt werden können) auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften zu schließen“. Diese „Kunstweisheit“ in der zweckmäßigen Einrichtung der Welt (wie die Thedizeeschrift es nennt) führt aber auf den „Begriff einer intelligenten Weltursache (als höchsten Künstlers)“ nur als subjektiv notwendige Voraussetzung unserer teleologischen Urteilskraft, die sich die Möglichkeit dieser Zweckmäßigkeiten nicht anders vorstellen kann, als „den Mechanism der Natur der Architektonik eines verständigen Welturhebers unterzuordnen“. Die Physikotheologie kann den Begriff des letzteren „weder in theoretischer noch praktischer Absicht weiter bestimmen“, sie bleibt immer nur „physische Teleologie“ (KU V 437f.). Als solche gelangt sie zwar zu dem Begriff eines Welturhebers mit großer Macht und Weisheit, aber nicht zu dem einen vollkommensten Wesens. „Die physische Teleologie treibt uns zwar an, eine Theologie zu suchen; aber kann keine hervorbringen.“ (V 440) Um zum theistischen Gottesbegriff zu gelangen, wären „willkürliche Zusätze“ nötig, um dort, „wo man nur Grund hat, viel Vollkommenheit anzunehmen (und was ist viel für uns?)“ gleich „alle mögliche [Vollkommenheit] vorauszusetzen“ (V 438). Außerdem kann die Physikotheologie und alle theoretische Naturerforschung niemals zu einem „Endzwecke der Schöpfung“ gelangen, den der Welturheber verfolgt haben mag; denn diese Endabsicht, der „Zweck, wozu die Natur selbst existiert“, müsste außerhalb der Natur gesucht werden (KU V 437). Die Motivation zu der willkürlichen Ergänzung der mangelhaften physischen Teleologie „bis zum Begriffe einer Gottheit“ kommt vielmehr zu-
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stande durch „eine Idee von einem höchsten Wesen, die auf ganz verschiedenem Vernunftgebrauch (dem praktischen) beruht“ (KU V 438). Deshalb muss zur Physikotheologie, welche selber nur die „Vorbereitung (Propädeutik)“ zu einer Theologie sein kann (KU V 442), eine Ethikotheologie hinzutreten (die allerdings, weil ausschließlich praktisch begründet, keine theoretische Ergänzung sein kann). Ethikotheologie versucht, „aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen in der Natur (der a priori erkannt werden kann)“ auf die verständige Weltursache und ihre Eigenschaften zu schließen (V 436). Die „sittliche Idee unserer eigenen praktischen Vernunft“ (Theodizeeschrift) bestimmt uns a priori „einen Endzweck, welchem nachzustreben es uns verbindlich macht: und dieser ist das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“ (KU V 450). Im Menschen, nur als moralisches Wesen, „als Noumenon betrachtet“ – also als Subjekt der Moralität – finden wir eine „unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke“, durch die er aufgrund seiner Freiheit als unbedingter „Endzweck“ der Schöpfung angesehen werden kann, „dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist“ (KU V 435f.). Somit können wir erstens die Welt als „ein nach Zwecken zusammenhangendes Ganze und als System von Endursachen“ ansehen und zweitens dafür eine „verständige Weltursache“ nicht nur annehmen, sondern auch ihren Begriff bestimmen: „nicht bloß als Intelligenz und gesetzgebend für die Natur, sondern auch als gesetzgebendes Oberhaupt in einem moralischen Reiche der Zwecke“ macht der Welturheber „das höchste unter seiner Herrschaft allein mögliche Gut, nämlich die Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen“ möglich und ist deshalb notwendig als allwissend, allgütig und gerecht zu denken (KU V 444). Damit wäre tatsächlich, wie es die Theodizeeschrift formuliert, neben der „Kunstweisheit“ auch der „Begriff einer moralischen Weisheit, die in eine Welt überhaupt durch einen vollkommensten Urheber gelegt werden könnte“ (Theodizee VIII 263), gewonnen, weil die beiden Eigenschaften der Allgüte und Gerechtigkeit (zusammen „Weisheit“) „die Bedingungen der Kausalität einer obersten Ursache der Welt als höchsten Guts, unter moralischen Gesetzen, ausmachen“. So „ergänzt die moralische Teleologie den Mangel der physischen, und gründet allererst eine Theologie“; und sie ergänzt diese nicht bloß, sondern ist sogar „dazu auch für sich hinreichend“ (KU V 444). Was uns allerdings fehlt und für immer unerreichbar bleiben wird, so Kant in der Theodizeeschrift, das ist ein Begriff „von der Einheit in der Zusammenstimmung jener Kunstweisheit mit der moralischen Weisheit in
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einer Sinnenwelt“ (Theodizee VIII 263). Da beides auf gänzlich verschiedenem Vernunftgebrauch (theoretisch vs. praktisch) beruht, lässt es sich nicht begrifflich zusammenschließen – wir geraten in jenen „Widerstreit zwischen Naturnothwendigkeit und Freiheit“, der die Vernunft immer wieder in Antinomien führt (die Freiheitsantinomie der spekulativen Vernunft und die „Antinomie der praktischen Vernunft“). Um Naturgesetzlichkeit (als Folge der „Kunstweisheit“) und eine Kausalität aus Freiheit (die als Folge der „moralischen Weisheit“ Sittlichkeit und Glückseligkeit verknüpft) zusammendenken zu können, müssen wir den Menschen als „Geschöpf“ und „Naturwesen“ denken, das letztlich „bloß dem Willen seines Urhebers zu folgen“ hat, und gleichzeitig „dennoch aber als freihandelndes Wesen“ ansehen, dessen freier Wille dem göttlichen Willen zuwider laufen kann, das also der Zurechnung fähig ist. Wir müssen diese Begriffe, da sie jeder für sich Berechtigung haben, „in der Idee einer Welt, als der des höchsten Gutes, zusammen denken“, aber diese „Vereinbarung von Begriffen“ könnte nur einsehen, wer „bis zur Kenntniß der übersinnlichen (intelligiblen) Welt durchdringt und die Art einsieht, wie sie der Sinnenwelt zum Grunde liegt“. Nur auf diese Einsicht wäre der theoretische Beweis der moralischen Weisheit des Welturhebers aus der Erfahrung zu gründen – „eine Einsicht, zu der kein Sterblicher gelangen kann“ (Theodizee VIII 263f.). Auch diese Bemerkungen Kants im Theodizee-Aufsatz fallen nicht sehr ausführlich aus, da er wohl damit wenig mehr beabsichtigt, als auf seine einschlägigen Schriften zu verweisen. Der eigentlich bedeutsame Kern der Theodizeeschrift steht noch aus. Denn jetzt, am Ende des systematischen Teils des Textes, steht die Vernunft offenbar wieder vor dem eingangs skizzierten Dilemma der fehlenden, aber unverzichtbaren Draufsicht. Die bloß negative Weisheit des notwendigen Misslingens aller philosophischen Versuche in der Theodizee steht einem Bedürfnis nach positiver Verfügbarkeit des Gottesbegriffs aus praktischer Rücksicht entgegen – eben weil wir Naturgesetzlichkeit und moralische Ordnung „in der Idee einer Welt, als der des höchsten Gutes, zusammen denken“ müssen, aber nicht können. Die Antwort auf dieses Dilemma nutzt nicht mehr Systematik, sondern Allegorie.
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3. Theorie und Allegorie: Die authentische Theodizee a) Doktrinale und authentische Auslegung Alle Theodizee, so Kant, soll eigentlich „Auslegung der Natur“ sein, denn Gott tut seinen Willen durch seine Schöpfung kund. Jede Auslegung des Willens eines Gesetzgebers könne nun entweder „doktrinal“ oder „authentisch“ ausfallen: Eine doktrinale Auslegung versucht die Absicht des Gesetzgebers „aus den Ausdrücken, deren sich dieser bedient hat, in Verbindung mit den sonst bekannten Absichten des Gesetzgebers“ zu erschließen; eine authentische Auslegung stammt dagegen vom Gesetzgeber selbst. Entsprechendes gilt für die Theodizee als „Auslegung“19 der Natur: Die Welt, als ein Werk Gottes, kann von uns auch als eine göttliche Bekanntmachung der Absichten seines Willens betrachtet werden. Allein hierin ist sie für uns oft ein verschlossenes Buch; jederzeit aber ist sie dies, wenn es darauf angesehen ist, sogar die Endabsicht Gottes (welche jederzeit moralisch ist) aus ihr, obgleich einem Gegenstande der Erfahrung, abzunehmen. Die philosophischen Versuche dieser Art Auslegung sind doctrinal und machen die eigentliche Theodicee aus, die man daher die doctrinale nennen kann. (Theodizee VIII 264)
Eine Auslegung „doktrinal“ zu nennen impliziert keine negative Bewertung. Im Gegenteil: Solange keine gesicherte „authentische“ Auslegung vorliegt, sind gar keine anderen als „doktrinale“ Auslegungen möglich, da uns nichts anderes zur Verfügung steht als eben wahrnehmbare „Ausdrücke“ und sonstige Kenntnisse vom Produzenten des auszulegenden „Textes“. Alle philosophischen Versuche der Theodizee können nur doktrinale sein und haben als solche keine Aussicht auf sichere Erkenntnis der göttlichen Absichten – wie wünschenswert diese auch immer wäre. Nun gibt es nach Kant tatsächlich noch eine zweite Möglichkeit, die einer „authentischen Theodizee“: wenn nämlich die Theodizee „ein göttlicher Machtspruch, oder (welches in diesem Fall auf Eins hinausläuft) wenn sie ein Ausspruch derselben Vernunft ist, wodurch wir uns den Begriff von Gott als einem moralischen und weisen Wesen nothwendig und vor aller Erfahrung machen“. Die Schranken aller bloß doktrinalen Auslegung sind überwunden, wenn „Gott durch unsre Vernunft selbst der Ausleger seines durch die Schöpfung verkündigten Willens“ wird. Diese authentische Art der Theodizee ist dann nicht mehr bloß spekulativ „ver––––––––––––– 19 Vgl. in diesem Zusammenhang Blumenbergs Untersuchung zur erkenntnisleitenden Metapher der „lesbaren Welt“; Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt (1981). Zur zitierten Textstelle Kants vgl. S. 193.
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nünftelnd“, sondern Auslegung einer „machthabenden praktischen Vernunft, die, so wie sie ohne weitere Gründe im Gesetzgeben schlechthin gebietend ist, als die unmittelbare Erklärung und Stimme Gottes angesehen werden kann, durch die er dem Buchstaben seiner Schöpfung einen Sinn giebt. Eine solche authentische Interpretation finde ich nun in einem alten heiligen Buche allegorisch ausgedrückt.“ (Theodizee VIII 264) b) Allegorische Theodizee: Hiob Solche authentische Theodizee wäre offenbar die einzige Möglichkeit, die im Theodizee-Prozess zustande gekommene Stasis, die Pattsituation der Vernunft zwischen den Ansprüchen von Dogma und Erfahrung aufzuheben. Im Buche Hiob sieht Kant die allegorische Darstellung einer solchen authentischen Auslegung göttlicher Absichten. Diese Darstellung verteilt für die Elemente der thematisierten Argumentationsstruktur verschiedene narrative Rollen – und zwar ebenfalls entsprechend dem RECHTSSTREITSchema: Die Freunde, so Kant, wollen über Gottes Sache „Recht sprechen“, „Gott vertheidigen mit Unrecht“. Die Freunde und auch Hiob vertreten beide die mit sich selbst zerstrittene spekulative Vernunft, d. h. beide Seiten „vernünfteln“ und stehen nach Kant für miteinander unvereinbare Weltbeschreibungen bzw. „Systeme“: das „System der Erklärung aller Übel in der Welt aus der göttlichen Gerechtigkeit“ auf Seiten der Freunde und „das System des unbedingten göttlichen Ratschlusses“20 bei Hiob (265). Entscheidend für die Beurteilung beider Seiten sei nun der „Charakter“, aus dem die Parteien sprechen: Die Freunde seien Heuchler, die „Dinge zum Schein ... behaupten, von denen sie doch gestehen mußten, daß sie sie nicht einsahen, und eine Überzeugung ... heucheln, die sie in der That nicht hatten“; Hiob dagegen spreche, wie ihm zumute ist „und wie wohl jedem Menschen in seiner Lage zu Muthe sein würde“ (265f.). Der „Ausgang der Geschichte“ spricht über den Streit das Urteil, in dem Gottes Machtspruch das Unrecht der Freunde „bestätigt“ und dann dem Hiob „die den weisen Welturheber verkündigende Anordnung und Erhaltung des Ganzen beweiset“, auch wenn die eigentlichen Absichten Gottes uns verborgen bleiben. Gott führt Hiob „die Weisheit seiner Schöpfung vornehmlich von Seiten ihrer Unerforschlichkeit vor Augen“ und macht ihm die entscheidenden Unterschiede der Perspektiven von ––––––––––––– 20 Das entspräche Hobbes’ Deutung der Gottesrede im Hiobbuch aus dem 31. Kapitel des Leviathan – die, nach Kant, im Hiobbuch Gott selbst zurückweist.
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Gott und Mensch deutlich: Er zeigt ihm die „schöne Seite der Schöpfung“, in der ihre Zweckmäßigkeit dem Menschen unzweideutig sichtbar wird, aber auch „schädliche, furchtbare Dinge ... deren jedes für sich und seine Spezies zwar zweckmäßig eingerichtet, in Ansehung anderer aber und selbst der Menschen zerstörend, zweckwidrig und mit einem allgemeinen durch Güte und Weisheit angeordneten Plane nicht zusammenstimmend zu sein scheint“ (266). Der Schluß ist dieser: daß, indem Hiob gesteht, nicht etwa frevelhaft, denn er ist sich seiner Redlichkeit bewußt, sondern nur unweislich über Dinge abgesprochen zu haben, die ihm zu hoch sind, und die er nicht versteht, Gott das Verdammungsurtheil über seine Freunde fällt, weil sie nicht so gut (der Gewissenhaftigkeit nach) von Gott geredet hätten als sein Knecht Hiob. (266)
Die umstrittene Textstelle aus Hi 42,7 („denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob“) legt Kant auf seine Weise aus: „der Gewissenhaftigkeit nach“. Nach Kant ist „nur die Aufrichtigkeit des Herzens, nicht der Vorzug der Einsicht“ die Grundlage des göttlichen Richterspruches (266). Die Redlichkeit, seine Zweifel offen zu äußern und keine Überzeugungen zu heucheln, die man nicht teilt, macht vor dem Richter „den Vorzug des redlichen Mannes in der Person Hiobs vor dem religiösen Schmeichler“ aus. Gottes „Verdammungsurteil“ trifft in der Gestalt der Freunde die religiösen Heuchler, die Kant auch unter den eigenen Zeitgenossen fand und leidenschaftlich verabscheute. Hiob selbst aber ist, so sieht es auch Kant, durch Gottes Worte getröstet. Er findet durch diese „befremdliche Auflösung seiner Zweifel, nämlich bloß die Überführung von seiner Unwissenheit“, zu neuem Glauben, und er beweist durch seine „Gesinnung“ – dem Festhalten an seiner „Frömmigkeit“ auch in Zeiten der Anfechtung – , dass er „nicht seine Moralität auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität gründete“ (267). c) Von der Moral zur Religion Kants Hiobinterpretation bringt zwei eng miteinander verflochtene Motive der Religionsphilosophie Kants zur Sprache: zum einen die Verurteilung der Heuchelei in Religionsdingen und zum andern seinen religionsphilosophischen Grundsatz: Nicht Moralität gründet auf Religion, sondern Religion auf Moralität. Auch die Theodizee gehört zu jenen Geschäften der Philosophie, wo das Zu-Wissen-Glauben dem Glauben Platz machen sollte. Sie hat es „nicht sowohl mit einer Aufgabe zum Vortheil der Wissen-
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schaft, als vielmehr mit einer Glaubenssache zu thun“ (267)21. In Glaubensdingen aber kommt es nicht aufs Vernünfteln, sondern auf Aufrichtigkeit, Redlichkeit und Wahrhaftigkeit an. Das Thema der religiösen Heuchelei lag Kant offensichtlich am Herzen. Schon in der Kritik der reinen Vernunft hatte er beklagt, dass „Unlauterkeit, Verstellung und Heuchelei sogar in den Äußerungen der spekulativen Denkungsart wahrzunehmen“ seien und gerade im spekulativen Streit über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit öfters „die Lauterkeit der Gesinnung im umgekehrten Verhältnisse der Gutartigkeit der Sache selbst“ stehe. Kant selbst setzt deshalb „Leser voraus, die keine gerechte Sache mit Unrecht verteidigt wissen wollen“ (KrV III 490f.); vgl. Hiobs Vorwurf an die Freunde, dass sie „Gott verteidigen mit Unrecht und Trug für ihn reden“ (Hi 13,7). „Aber Aufrichtigkeit (daß alles, was man sagt, mit Wahrhaftigkeit gesagt sei), muß man von jedem Menschen fordern können“, heißt es in der Religionsschrift, wohingegen die herrschende Praxis in Fragen des Glaubens „lauter innere Heuchler“ hervorbringe (Religion VI 190, Anm.). Heuchelei ist auch die falsche „Sicherheitsmaxime“: „Ist das wahr, was ich von Gott bekenne, so habe ichs getroffen; ist es nicht wahr ... so habe ich es bloß überflüssig geglaubt“, denn es ist unredlich (und überdies unsinnig), etwas nicht wirklich Geglaubtes „selbst vor Gott für gewiß auszugeben“ (Religion VI 188f.)22. ––––––––––––– 21 Vgl. im § 91 der KU Kants Bestimmung von „Glaubenssachen“ als Ideen, die für uns objektive Realität nur in praktischer Beziehung haben, aber in theoretischer nicht erlangen können (i. Ggs. zu „Tatsachen“, deren objektive Realität beweisbar ist, und „Sachen der Meinung“ als Objekte einer wenigstens an sich, nicht aber z. Z. für uns möglichen Erfahrungserkenntnis). Siehe auch unten D.IV.4.b. 22 Viele Zeitgenossen Kants sahen mit Kant Redlichkeit und Tugend als das Entscheidende in Glaubensdingen an, z. B. Spalding, den Kant in seiner Ethikvorlesung lobend erwähnte und für den „die Hauptsache in der Religion“ letzten Endes die „Rechtschaffenheit des Herzens und des Lebens“ des Menschen darstellte (Winter 30), oder Rousseau in seinem Émile (1762), der Kant sehr gefesselt hatte. Auch Hume ist in diesem Zusammenhang zu nennen, insbesondere Bemerkungen in den Dialogues concerning natural religion, welche Kant in Hamanns Übersetzung 1780 zweimal gelesen hatte. Dort erinnert „die Rede von einer ‚Schmeicheley‘, die darin liegt, über Gott mehr zu sagen, als man wissen kann“, deutlich an Kants Hiobinterpretation. Als Vorbild kommt eine in Shaftesburys Letter concerning Enthusiasm von 1708 (deutsch 1768) referierte Hiob-Interpretation in Betracht, die sich genau mit Kants Deutung in der Theodizeeschrift deckt, dass die Freunde „Gott schmeicheln, Gottes Person ansehen und so gar ihn täuschen“ (Winter 47f.). Vgl. Aloysius Winter, „Theologiegeschichtliche und literarische Hintergründe der Religionsphilosophie Kants“ (1992).
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Kontrastierend zur (unterstellten) religiösen Heuchelei der Freunde dient Hiob Kant zur Bestätigung seines Kernsatzes, dass nicht die Religion Voraussetzung der Moralität, sondern umgekehrt die Moralität Voraussetzung der Religion sei. Diese (vom Hiobbuch nicht unbedingt gestützten) Behauptungen verweisen auf die Kantsche Konzeption vom (reinen) „moralischen Glauben“, die den Kern seiner Religionsauffassung bezeichnet und der wir in den Träumen eines Geistersehers schon begegnet waren (oben S. 475). In der KrV wird der moralische Glaube, der auf die „sittliche Vorschrift“ in uns selbst die Gewissheit vom Dasein Gottes und vom künftigen Leben stützt, skizziert als der Gegensatz zum „bloß doctrinalen“ Glauben, der „etwas Wankendes in sich“ habe (KrV III 536.). Die Kritik der praktischen Vernunft präzisiert die Beziehung von Moral und Religion in der Postulatenlehre: Das „moralische Gesetz“ führt „durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d. i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“ (KpV V 129). Die Postulate der reinen praktischen Vernunft – Freiheit, Unsterblichkeit und das Dasein Gottes als „Voraussetzungen in nothwendig praktischer Rücksicht“ – „gehen alle vom Grundsatze der Moralität aus, der kein Postulat, sondern ein Gesetz ist, durch welches Vernunft unmittelbar den Willen bestimmt“ (KpV V 132). In der Kritik der Urteilskraft von 1790 schließlich mündet die Argumentation in einen „moralischen“ Gottesbeweis (KU § 87), den er auch zwei Jahre nach dem Theodizeeaufsatz von 1791, in der Vorrede zur 1. Auflage der Religionsschrift, noch einmal skizziert. Die Vernunft schreitet, so Kant, fort von einer „moralischen Teleologie“ in uns selbst, als vernünftigen freien Wesen, zur Theologie (KU V 447). Der Mensch habe das „moralisch gewirkte Bedürfnis ... zu seinen Pflichten sich noch einen Endzweck, als den Erfolg derselben, zu denken“ (Religion VI 6). Der uns von der Vernunft a priori durch das moralische Gesetz bestimmte Endzweck ist „das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“ (KU V 450). Dessen Bedingung der Möglichkeit aber ist allein Gott (vgl. unten Kap. IV.4), so dass in der Tat Religion auf Moral gründen muss: Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Guts (als Zwecks) gedacht werden soll: so muß, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein, zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion. (Religion VI 7, Anm.)
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Diese inhaltlichen Bezüge zu Schriften, die in zeitlicher Nähe zum Theodizeeaufsatz entstanden sind, können helfen, dessen „Aussage“ und den Stellenwert der „authentischen Theodizee“ – und damit des narrativen Urteils im Theodizeeprozess – näher zu bestimmen. Denn darüber besteht in der Forschung durchaus keine Einigkeit. d) Ist die „authentische Theodizee“ noch Theodizee? Die Mehrheit der Leser findet in der Theodizeeschrift ausgedrückt, was ja ihr Titel schon nahe legt: das „Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“. Daraus würde folgen, dass die „authentische“ Theodizee selber eigentlich gar nicht mehr „Theodizee“ heißen dürfte23. Dies wäre insofern auch plausibel, als „Theodizee“ nach Kants einleitender Bestimmung die „förmliche Widerlegung aller Beschwerden“ erfordert: Sie muss sich auf die skeptischen Einwürfe einlassen und es „durch Beleuchtung und Tilgung derselben begreiflich machen“, dass diese „dem Begriff der höchsten Weisheit keinesweges Abbruch thun“ (Theodizee VIII 255). Genau das aber muss nach Kant notwendig misslingen, weil dazu Einsicht in die höchste Weisheit nötig wäre. Der Machtspruch der „authentischen“ Theodizee wiederum „ist keine argumentative Durchdringung und Auflösung der vorgebrachten Beschwerden“ (Geyer 1992a, 108), also auch keine Theodizee im eingangs definierten Sinne. Andererseits sagt Kant, durchaus im Widerspruch zu diesen im Rahmen der RECHTSSTREIT-Metapher gegebenen Bestimmungen, dass man „auch der bloßen Abfertigung aller Einwürfe wider die göttliche Weisheit den Namen einer Theodicee nicht versagen“ könne – nämlich dann, wenn „sie ein göttlicher Machtspruch, oder (welches in diesem Falle auf Eins hinausläuft) wenn sie ein Ausspruch derselben Vernunft ist, wodurch wir uns den Begriff von Gott als einem moralischen und weisen Wesen nothwendig und vor aller Erfahrung machen“ (Theodizee VIII 264). Solche authentische Theodizee hätte offenbar die Bestimmung gerade derjenigen Prinzipien a priori des praktischen Vernunftgebrauchs zur Voraussetzung, die Kants kritische Philosophie ja liefern will und die der spekulativen Vernunft nicht zur Verfügung stehen. Insofern also tatsächlich nach Kant eine machthabende praktische Vernunft in uns „ohne weitere Gründe im Gesetzgeben schlechthin gebietend ist“, kann diese auch „als ––––––––––––– 23 So äußert sich zum Beispiel Geyer 1992a, 108. Brachtendorf (vgl. 24) weist Geyers Auffassung ausdrücklich zurück (Brachtendorf 62, Anm. 17).
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die unmittelbare Erklärung und Stimme Gottes angesehen werden ... durch die er dem Buchstaben seiner Schöpfung einen Sinn giebt“; und „diese Auslegung können wir eine authentische Theodicee nennen“ (ebd.). Diese Textstellen könnten tatsächlich einen Ansatz liefern, die „authentische Theodizee“ als „wahre Theodizee“ und die Theodizeeschrift dann im Gegensatz zur gängigen Meinung als eine „Neufundierung philosophischer Theodizee“ zu deuten24. Hinzu kommen einige Punkte, die auf den ersten Blick unverständlich scheinen: Wenn es die Kritik der Vernunft war, die zur Einsicht in das notwendige Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee geführt haben soll, stellt sich die Frage, warum Kant noch in seinen (bereits „kritischen“) Vorlesungen über Rationaltheologie (ca. 1783-8725) ein Gelingen der Theodizee für möglich gehalten haben soll. Einige Forscher nehmen deswegen an, nicht die Vernunftkritik selber, sondern erst die kritische Reflexion der teleologischen Urteilskraft in der KU habe Kant zu der in der Theodizeeschrift vertretenen Auffassung geführt26. Gravierender noch sind Fragen zur Theodizeeargumentation selber: So gehören zu den von Kant zurückgewiesenen Argumenten der Theodizeebefürworter auch die Berufung auf eine mögliche „Rechtfertigung der Vorsehung“ jenseits „dieses Erdenlebens“ (262) sowie die Zulassung der Übel durch Gott um höherer Zwecke willen. Aber sowohl die Möglichkeit des höchsten Guts (als eines transzendentalen Tun-Ergehen-Zusammenhangs) und die Unsterblichkeit der Seele wie auch die Willensfreiheit, der Hauptbestandteil der Zulassungsthese, zählen auch zu den Sätzen, die die Vernunft in praktischer Hinsicht annehmen darf, wären also einer machthabenden praktischen Vernunft durchaus verfügbar27. Wenn dennoch etwa der Begriff der ––––––––––––– 24 Vgl. zum Folgenden Johannes Brachtendorf, „Kants Theodizee-Aufsatz – Die Bedingungen des Gelingens philosophischer Theodizee“ (2002); die gerade zitierten Stellen siehe Brachtendorf 78 und 58. 25 Vgl. Tabelle auf http://www.uni-marburg.de/kant/webseitn/gt_v_tab.htm. 26 So Chr. Schulte, „Zweckwidriges in der Erfahrung. Zur Genese des Misslingens aller philosophischen Versuche in der Theodizee bei Kant“, in Kant-Studien 82 (1991), 371391, sowie G. Cavallar, „Kants Weg von der Theodizee zur Anthropodizee und retour. Verspätete Kritik an Odo Marquard“, in Kant-Studien 84 (1993), 90-102. Vgl. Brachtendorf 56f. 27 Eine „Rechtfertigung ... der Vorsehung“ hält Kant auch in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ für möglich. Sie gelingt, wenn man einen „besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung“ wählt und die Geschichte der Menschheit, scheinbar doch ein „unaufhörlicher Einwurf“ gegen die oberste Weisheit,
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Freiheit (das zentrale Postulat der praktischen Vernunft) im Zusammenhang mit dem Zulassungsargument nicht einmal erwähnt wird, stützt das tatsächlich die Annahme Brachtendorfs, Kant entziehe „den überkommenen Verteidigungsmodellen, die qua vorkritisch als theoretisch-spekulativ anzusehen seien, all jene Konzepte, die sich Kants Auffassung zufolge nur praktisch fundieren lassen“ (Brachtendorf 74). Trifft also auch Brachtendorfs Folgerung zu, Kant wolle „damit zeigen, daß erst seine eigene Philosophie diejenigen Konzepte begründen könne, die sowohl der Tradition als auch Kant selbst zufolge zur Abwehr der theodizeekritischen Einwände benötigt werden“; ihm gehe es „somit nicht um Ablehnung, sondern um Neufundierung der Theodizee“ (ebd.)? Ich kann dieser These nicht zustimmen. Ihre Schwäche liegt aber nicht in den eben aufgeführten Argumenten – tatsächlich liegt in den kritischen Schriften Kants das Baumaterial verstreut, das Kant für eine solche „authentische“ Theodizee hätte verwenden können, wenn das in seinem Interesse gelegen hätte und wenn man tatsächlich einen allein praktischen Vernunftgebrauch noch als Theodizee bezeichnen könnte (was ich bezweifle)28. Ihre Schwäche liegt vor allem im Text des MisslingenAufsatzes selber, dessen Deutung sie sein will: Die „authentische Theodizee“ kommt dort nur in den zitierten Andeutungen vor, die uns zwar zu denken geben müssen, aber für eine „Neufundierung philosophischer Theodizee“ – deren Misslingen der Titel der Schrift ja sehr deutlich konstatiert – wohl doch nicht hinreichen. Der Nachweis des notwendigen Scheiterns doktrinaler Theodizee – die lediglich „negative Weisheit“, die es braucht, um „den Prozess für immer zu endigen“ – nimmt etwas mehr als die Hälfte des Gesamttextes ein (reichlich 9 von 16 ½ Seiten in der Akademieausgabe). Ein weiteres reichliches Viertel des Textes verwendet Kant auf die Bestimmung und allegorische Darstellung der „authentischen Theodizee“, allerdings mit der Pointe von Wahrhaftigkeit und Heuchelei in Religionsdingen – die ja vom Thema eher ablenken würde, wenn Kant eigentlich anderes im Sinne gehabt hätte. Das letzte Viertel macht die Schlussanmerkung aus, die sich ausschließlich mit dem „Hange zur Falschheit und Unlauterkeit, als dem Hauptgebrechen der menschlichen ––––––––––––– teleologisch als Erfüllung eines von eben dieser vorgegebenen „Naturplans“ betrachtet (AA VIII 15-32, Zitat S. 30). 28 „... die Absicht ihres [der im moralischen Gottesbeweis dem höchsten Wesen beigelegten Eigenschaften M. R.] Gebrauchs ist auch nicht, seine für uns unerreichbare Natur, sondern uns selbst und unseren Willen, darnach bestimmen zu wollen“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, V 457).
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Natur“ (267) beschäftigt. Die eigentliche (positive) „Neufundierung“ muss deshalb Brachtendorf für Kant übernehmen. Was bleibt, sind die angeführten Unklarheiten – und davon gibt es noch mehr. Warum zum Beispiel findet in Kants Theodizeeschrift der Prototyp aller Theodizeen, Leibniz’ Argument von der besten aller möglichen Welten, nicht eine einzige Erwähnung? An diese klassische Argumentation erinnert bereits wenige Wochen nach Erscheinen des Textes in der Berlinischen Monatschrift (BM) eine Entgegnung29: Gott, „der alle Vollkommenheiten im höchsten Grade besitzt“, könne aus allen möglichen Welten nur die beste wählen und zur Wirklichkeit bringen; jede andere Annahme wäre „ein offenbarer Widerspruch“. Erfahrungen des Bösen und der Übel, so bedauerlich sie sein mögen, können diese Gewissheit a priori nicht erschüttern. Wie Leibniz und auch der frühe Kant bemüht der anonyme Verfasser die Perspektive des Ganzen, den Blick von außen auf das System der „Weltkörper“, um die auf unserer Erde sichtbaren Unvollkommenheiten zu relativieren: Es bleibt also dabei, daß diese Welt, auch mit den Unvollkommenheiten oder Uebeln, welche sich darauf befinden, die beste ist; und so heißt es auch in der heil. Schrift: Gott sahe an alles, was Er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut! Die Unvollkommenheiten oder Uebel gehören also in die Reihe der Dinge; wir sehen aber solche nur auf unserer Erde, und wissen nicht wie es auf den übrigen Weltkörpern aussieht. Vielleicht sind die Unvollkommenheiten auf unserer Erde gegen die ganze Welt kaum zu rechnen. (BM 413)
So muss auch ein scheinbar grundloses Leiden wie das von Hiob einen Sinn haben – etwa als Prüfung: „... selbst die Leiden, welche den Gerechten treffen, können theils in der Verbindung mit dem Ganzen nicht vermieden werden, theils sind es Prüfungen, welche sich herrlich endigen: so wie das von Herrn Kant angeführte Beispiel von Hiob zeiget.“ (BM 414f.) Biester, der Herausgeber der Monatsschrift, fühlte sich genötigt, dieser Entgegnung eine längere Anmerkung beizufügen: Das apriorische Argument von Leibniz – das vollkommene Wesen kann nur das Beste wählen – ist, so meint Biester, in der Tat „unwidersprechlich wahr“, denn es ist tautologisch. Aber seine Prämisse, die „Allweisheit und Allmacht Gottes“, ist eben nicht unzweifelhaft gewiss (BM 417). Allein durch Betrachtung der Schöpfung ist die „Vollkommenheit des Weltschöpfers“ nicht zu gewinnen; wir müssen sie also „anderswoher kennen, sei es nun aus einer Of––––––––––––– 29 Anonym: „Ueber Hrn. Kants Aufsatz, in Betref der Theodicee“, BM 1791, Bd. 2, S. 411 – 420 (mit einer Anmerkung von Johann Erich Biester, S. 416-420).
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fenbarung, oder aus der a priori spekulierenden Vernunft, u. s. w.“ Daher, so Biester, nenne Kant „diesen unleugbaren Satz: ein vollkommenes Wesen (d. h. Gott) kann nur eine möglichstvollkommene Welt hervorbringen“ einen „Machtspruch, welcher die anmaßende Vernunft hier auf einmal zur Ruhe verweist.“ Dieser Machtspruch beschränkt die Vernunft aufs Apriori, und damit falle „auch alles weitere Nachforschen, Zweifeln und Beweisen, über, gegen und für die Einrichtung der Welt, mithin alle Theodicee, von selbst weg. Und dies eben behauptet Kant.“ (BM 418) An dieser Argumentation wird deutlich, dass es sich bei der Frage, ob die authentische Theodizee noch Theodizee sei, in erster Linie um eine terminologische Frage handeln dürfte. Aus Kants Text geht zumindest klar hervor, dass es notwendig misslingen muss, die Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung im Ganzen aufzuweisen und also aus der Sinnenwelt auf die Absichten des Schöpfers zu schließen – das Verhältnis einer „Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit“ einzusehen (Theodizee VIII 263). Biester glaubt (im Gegensatz zu Brachtendorf), dass damit alle Theodizee gemeint sein müsse, weil in dieser nur Aposteriori-Betrachtungen zulässig seien und in der Theodizee die „Abrede“ gelte, „ohne jenen Satz (ein vollkommenes Wesen kann und muß nur ein möglichst vollkommenes Werk hervorbringen) zu gebrauchen, an der Welt selbst ihre und ihres Urhebers Vollkommenheit zu beweisen“. Wenn Biester Kants Bemerkung richtig deutet, der Verteidiger dürfe nicht „durch ein dem Gegner auferlegtes Zugeständnis der höchsten Weisheit des Welturhebers“ alle Anklagen apriori als grundlos abfertigen, hätte also ausgerechnet die Kernthese der Leibniz-Theodizee gar nicht den Status einer „Theodicee“. In der Theodizee aber das apriorische Argument zu gebrauchen, so Biester, hieße unzulässig „mit einem Machtspruch einen Rechtshandel schlichten wollen“ (BM 419). So scheint die Möglichkeit philosophischer Theodizee zunächst von der Definition von „Theodizee“ abzuhängen: Geht man von einem „apriorisch-praktischen Charakter der wahren Theodizee“ (Brachtendorf 78) aus oder hält man mit Biester eine apriorische Theodizee-Argumentation für gänzlich illegitim? Meines Erachtens können wir sagen, dass zwar durch Kants Schrift Leibniz’ Apriori-Argument (ebenso wie etwa Spekulationen über das Ganze des Universums in seiner Entwicklung) nicht widerlegt werden, aber die Prämissen derselben unserer Vernunft zu einem theoretischen Gebrauche (für eine Theodizee) auch gar nicht zugänglich sind. Praktischer Vernunftgebrauch wiederum soll unser Handeln leiten, nicht aber Gott verteidigen. Wenn in einer „authentischen“ Theodizee tatsäch-
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lich die „machthabende“ praktische Vernunft die skeptischen Zweifel zur Ruhe verweisen soll, dann nur als „bloße Abfertigung aller Einwürfe“ (264), als theoretisches Redeverbot. So tut „authentische Theodizee“ nach Kant offenbar genau das, was Biester für unzulässig hält: Sie endet einen Rechtshandel mit einem Machtspruch. Was das bedeutet, will ich jetzt näher untersuchen. 4. Natur und Freiheit, Sittlichkeit und Glück: Das höchste Gut Die Rede vom „Machtspruch“, so meine These, zeigt einen Zwiespalt an: Machtsprüche können dort legitim sein, wo das Gesetz nicht hinreicht, aber sie bleiben doch ein Akt der Willkür, der das RECHTSSTREIT-Schema zu sprengen droht. Deshalb stellt sich immer aufs neue das Problem ihrer Rechtfertigung. Um Funktion und Stellenwert des „Machtspruchs“ zu verstehen, werde ich zunächst versuchen, die strukturelle Ähnlichkeit zweier Problem-Auflösungen zu zeigen: die des Theodizeeproblems in der Theodizeeschrift durch den Machtspruch der authentischen Theodizee und die der „Antinomie der praktischen Vernunft“ durch die Ermächtigung zum Postulat. In seiner Kritik der Vernunft hatte Kant selbst die bisher verfügbaren spekulativen Verknüpfungsregeln außer Kraft gesetzt. Die dogmatischen Sätze hatten ihre Begründungsfähigkeit verloren, aber sie konnten auch nicht vom Skeptizismus widerlegt werden. Die entstandene Stasis der entgegengesetzten argumentativen Programme der Vernunft konnte nur durch eine übergeordnete Instanz aufgelöst werden. Die Ermächtigung der praktischen Vernunft zum Machtspruch aber ist nicht deduktiv zu gewinnen, sondern ist, wie wir sehen werden, Resultat einer Interessenabwägung, welche ihrerseits natürlich schon eine übergeordnete Instanz voraussetzt – den Gerichtshof der Vernunft. Die Auflösung folgt damit den Regeln narrativer Problemverhandlung, die es erlauben, die Stasis der entgegengesetzte Programme durch eine Entscheidung aufzulösen. Beide Lösungen, die Ermächtigung der praktischen Vernunft zum Postulat und auch der Urteilsspruch einer „machthabenden praktischen Vernunft“ im Theodizeeprozess, können als narrative Urteile angesehen werden. Sie werden möglich durch die Erweiterung des ursprünglichen Problemraums, innerhalb dessen keine Lösung, keine Entscheidung mehr erreichbar war. Diese Behauptungen, die das gegenwärtige Kapitel näher begründen wird, werden anschließend zusätzlich gestützt durch eine Untersuchung narrativer Strategien und insbesondere der Verwendung des narrativen
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RECHTSSTREIT-Schemas in verschiedenen Schriften Kants. Ich hoffe damit zu zeigen, dass Kant mehr als einmal narrative Strategien der Problemverhandlung einsetzt, und dass er dies bewusst tut, um einander widerstreitende Interessen oder Perspektiven der Vernunft zu vermitteln. Solche narrative Strategien spielen nicht nur bei der Antinomie der praktischen Vernunft und beim Theodizeeproblem eine Rolle, sondern auch schon bei der Auflösung der Antinomien der reinen Vernunft, und wie bereits deutlich wurde, wird ja das ganze Unternehmen einer Kritik der Vernunft von Kant narrativ schematisiert – als Einsetzung eines „Gerichtshofes“ zur Beendigung des Kampfes der Perspektiven von Dogmatismus und empiristischem Skeptizismus. Die zwiespältige Rede vom „Machtspruch“ in der Theodizeeschrift wiederum ist uns in diesem Zusammenhang Anlass, die Nutzung narrativer Schemata nicht nur als Problemlösestrategie, sondern auch in seiner rhetorischen Funktion zu betrachten: Es scheint, dass mancherorts eine Rhetorik der Gewissheit der Argumentation aushelfen muss, wo argumentative Verknüpfungsregeln zu versagen drohen. a) Der transzendentale Tun-Ergehen-Zusammenhang „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ heißt es im Kanonkapitel der KrV (KrV III 522). Die Kritik der Vernunft versucht das mögliche Wissen einzugrenzen. Auf die Frage Was soll ich tun? antwortet letztlich nur der vieldiskutierte Kantsche Formalismus, der kategorische Imperativ. Alles Hoffen aber „geht auf Glückseligkeit“ (KrV III 523). Daher gibt Kant an dieser Stelle noch eine andere Antwort auf die Frage nach dem Sollen: „Thue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein.“ (III 525) Moralisches Handeln hat zum Ziel, das „höchste Gut“ zu befördern. Dieses aber beinhaltet die ideale Einheit von Tun und Ergehen: „Glückseligkeit also in dem genauen Ebenmaße mit der Sittlichkeit der vernünftigen Wesen, dadurch sie derselben würdig sind, macht allein das höchste Gut einer Welt aus, darin wir uns nach den Vorschriften der reinen, aber praktischen Vernunft durchaus versetzen müssen“ (KrV III 528)30. ––––––––––––– 30 „Tugend und Glückseligkeit zusammen“, heißt es in der Kritik der praktischen Vernunft, machen zusammen das „höchste Gut einer möglichen Welt“ aus (KpV V 110). Die Rede von einer „möglichen Welt“ verweist nicht nur auf die von Leibniz inspirierte modale Logik: dass das höchste Gut solcherart in einer Welt wenigsten möglich ist, gehört zum Kern der Kantschen Argumentation.
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Das Konzept des „höchsten Gutes“ hat in der Philosophiegeschichte eine lange Tradition, auf die Kant gezielt Bezug nimmt31. Die Idee oder das Ideal des höchsten Guts ist ein Kernelement von Kants Konzeption des moralischen Glaubens. Die Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit – sozusagen der transzendentale Tun-ErgehenZusammenhang – wird in der KrV, im „Kanon der reinen Vernunft“, als „Bestimmungsgrund des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ (KrV III 522) eingeführt und stellt (wie dort schon angedeutet und in den späteren Schriften entfaltet wird) eine entscheidende Verknüpfung im „moralischen Gottesbeweis“ dar. Das „höchste Gut“ – genauer: das „höchste abgeleitete Gut“, dessen Grund im „höchsten ursprünglichen Gut“, also Gott, liegt – ist die „praktischnotwendige“, aber leider nur „intelligible“ Verknüpfung von Sittlichkeit und Glückseligkeit 32. Gerade weil wir das höchste in der Welt mögliche Gut befördern sollen (das gebietet schlechthin das moralische Gesetz), aber unter den Gesetzen der Naturkausalität gar nicht befördern können (denn Sittlichkeit und Glückseligkeit können nicht durch bloße Naturursachen verknüpft vorgestellt werden), muss das „Dasein eines moralischen Welturhebers“ angenommen werden, um angesichts der praktischen Notwendigkeit des uns „moralisch vorgeschriebenen Endzwecks“, des höchsten Guts, dessen Möglichkeit zu sichern (vgl. KU § 88, V 453). Im Theodizeeaufsatz fällt der Begriff des „höchsten Guts“ an zentraler Stelle, dort nämlich, wo es Kant unternimmt, „mit Gewißheit darzuthun“, dass die menschliche Vernunft das Verhältnis von Sinnenwelt und höchster Weisheit niemals einsehen kann (Theodizee VIII 263). Um die Zusammenstimmung einer empirisch erkennbaren Kunstweisheit, welche die Physikotheologie aufzeigt, mit der moralischen Weisheit eines vollkommensten Welturhebers, auf die uns die Ethikotheologie a priori führt, einzusehen, müssten wir den Menschen als der Naturgesetzlichkeit und dem ––––––––––––– 31 „Diese Idee praktisch, d. i. für die Maxime unseres vernünftigen Verhaltens, hinreichend zu bestimmen, ist die Weisheitslehre, und diese wiederum als Wissenschaft, ist Philosophie, in der Bedeutung, wie die Alten das Wort verstanden, bei denen sie eine Anweisung zu dem Begriffe war, worin das höchste Gut zu setzen, und zum Verhalten, wodurch es zu erwerben sei.“ (KpV V 108) In der KpV entwickelt Kant seine Bestimmungen vornehmlich in der Auseinandersetzung mit Stoa und Epikureern, deren programmatischen Gegensatz er im eigenen System aufzuheben sucht. 32 „Glückseligkeit also in dem genauen Ebenmaße mit der Sittlichkeit der vernünftigen Wesen, dadurch sie derselben würdig sind, macht allein das höchste Gut einer Welt aus, darin wir uns nach den Vorschriften der reinen, aber praktischen Vernunft durchaus versetzen müssen“ (KrV III 528).
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Determinismus unterworfenes Geschöpf und gleichzeitig als der Zurechnung fähiges „freihandelndes Wesen“ ansehen können – „eine Vereinbarung von Begriffen, die wir zwar in der Idee einer Welt, als des höchsten Guts, zusammen denken müssen; die aber nur der einsehen kann, welcher bis zur Kenntniß der übersinnlichen (intelligiblen) Welt durchdringt und die Art einsieht, wie sie der Sinnenwelt zum Grunde liegt“ (263f., meine Hervorhebung). An diesem Widerstreit von Naturnotwendigkeit und Freiheit scheiterte bereits das Theodizeeargument gegen die fehlende göttliche Gerechtigkeit: Denn zwischen Sittlichkeit (der „moralischen Denkungsart“ nach Gesetzen der Freiheit) und Ergehen (den „von unserm Willen unabhängigen Ursachen unsers Wohlergehens nach Naturgesetzen“) besteht „gar kein begreifliches Verhältnis“ (Theodizee VIII 262). Auch im Kontext der moral- und religionsphilosophischen Bestimmungen Kants in den Kritiken oder der Religionsschrift gelesen, erscheint dieses Problem der „Gerechtigkeit“ Gottes als eine zentrale Schwierigkeit der Argumentation. Nicht umsonst nehmen gerade zu diesem Problem, einem Hauptgegenstand des „Theo-Dizee“ – Streites, auch die streitenden Parteien in Kants Hiobinterpretation gegensätzliche Positionen ein: Die Freunde vertreten das „System der Erklärung aller Übel in der Welt aus der göttlichen Gerechtigkeit“, Hiob dagegen ein (der aufklärerischen Vernunft unerträgliches) „System des unbedingten göttlichen Ratschlusses“ (265). Der Machtspruch Jahwes weist beide „Systeme“ zurück, „beweiset“ aber nach Kant dem Hiob „die den weisen Welturheber verkündigende Anordnung und Erhaltung des Ganzen“ (266), die dann allerdings eine irgendwie geartete Verknüpfung von physischer und moralischer Ordnung enthalten muss, auch wenn diese unserer Einsicht gänzlich entzogen ist. Insofern Kant in diesem Machtspruch den allegorischen Ausdruck einer „authentischen“ Verteidigung der göttlichen Weisheit durch eine „machthabende Vernunft“ erkennt, legt er selbst eine strukturelle Verbindung nahe zwischen dem alten Problem Hiobs mit dem weisheitlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang, der göttlichen Gerechtigkeit, und dem Problem der Vernunft mit dem transzendentalen Tun-ErgehenZusammenhang, dem Ideal des höchsten Guts. b) Glaube und Gewissheit: Der moralische Gottesbeweis Die Denkbarkeit des transzendentalen Tun-Ergehen-Zusammenhangs ist für Kants philosophische Konzeption von eminenter Bedeutung. Im „moralischen Gottesbeweis“ ermöglicht die Idee des höchsten Guts Kant eine
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Apriori-Argumentation mit Zugriff auf die praktisch-notwendigen Ideen von der unsterblichen Seele und von Gott (den beiden Gegenständen des Kanons der reinen Vernunft, vgl. KrV III 522): Das höchste Gut ist „a priori gegebenes Objekt“ des „moralisch bestimmten Willens“, dessen „Bedingungen der Anwendung“ auf dieses Objekt wiederum die „Ideen von Gott und Unsterblichkeit“ sind (KpV Vorrede V 4). Die Wirklichkeit dieser Ideen muss und darf somit postuliert werden. Als Postulat der reinen praktischen Vernunft bestimmt Kant „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz ..., sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (KpV V 122). Das Sittengesetz ist ein solches a priori unbedingt geltendes praktisches Gesetz: Als unbestreitbar gegebenes „Faktum der reinen Vernunft“ (KpV V 31) führt es uns zuerst auf den Begriff der Freiheit (KpV V 29f.), und weil sein Objekt das höchste Gut ist, führt es auch zum Postulat der Unsterblichkeit, da die notwendige „Vollständigkeit“ der Sittlichkeit (als des „ersten und vornehmsten Teils des höchsten Guts“) „nur in einer Ewigkeit völlig aufgelöset werden kann“. In derselben Weise „muss“ das Sittengesetz auch „zur Möglichkeit des zweiten Elements des höchsten Guts, nämlich der jener Sittlichkeit angemessenen Glückseligkeit, ... auf die Voraussetzung des Daseins einer dieser Wirkung adäquaten Ursache führen“ – auf die Voraussetzung der „Existenz Gottes“ (KpV V 124). Allerdings findet sich im moralischen Gesetz selbst „nicht der mindeste Grund zu einem notwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionierten Glückseligkeit eines zur Welt als Teil gehörigen und daher von ihr abhängigen Wesens“ 33. Es muss also selber erst „ein solcher Zusammenhang als notwendig postuliert“ werden: „Wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen.“ ––––––––––––– 33 Die philosophische Verknüpfung von Sittlichkeit mit Glückseligkeit in der Forderung, das höchste Gut zu bewirken, geht nicht analytisch aus dem Sittengesetz hervor. Diese Forderung ist ein synthetischer praktischer Satz a priori. Nur das Sittengesetz selber ist unmittelbar gewiss und gebietet schlechthin und unabhängig von der Möglichkeit, das höchste Gut zu bewirken. In einer Anmerkung zur Vorrede der Religionsschrift versucht Kant die logische Kluft zwischen Pflicht und höchstem Gut mit dem Hinweis auf „eine von den unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen“ zu schließen, nämlich auf die „Natureigenschaft des Menschen, sich zu allen Handlungen noch außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen“ (und sich daher „nach dem Erfolg aus denselben umzusehen“); diese Einschränkung erlaube erst die Erweiterung der praktischen Vernunft über das moralische Gesetz hinaus zu dem synthetischen Satz a priori: „mache das höchste in der Welt mögliche Gut zu deinem Endzweck“ (Religion, Vorrede 1. Aufl., VI 6f.).
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Hatte Kant im Einzigen Beweisgrund noch von der inneren Möglichkeit der Dinge auf die Wirklichkeit Gottes geschlossen, so schließt der Kant der KpV von der Möglichkeit des höchsten Guts auf die Wirklichkeit Gottes: „Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes.“ (KpV V 124f.) In der Kritik der Urteilskraft baut Kant diesen Gedankengang aus zu einem „moralischen Beweise vom Dasein Gottes“, dem man „leicht die Form der logischen Präzision anpassen“ könne (KU V 450). Als Ergebnis seiner Kritik der teleologischen Urteilskraft ist der Ausgangspunkt Kants jetzt die (die „physische Teleologie“ hinter der Physikotheologie ergänzende) „moralische Teleologie“, welche „die Beziehung unserer eigenen Kausalität auf Zwecke und sogar auf einen Endzweck, der von uns in der Welt beabsichtigt werden muß, imgleichen die wechselseitige Beziehung der Welt auf jenen sittlichen Zweck und die äußere Möglichkeit seiner Ausführung ... betrifft“ (KU V 447). Der „Endzweck“ (als konstitutives Prinzip a priori der Vernunft in Ansehung des Begehrungsvermögens und damit der Freiheit, vgl. KU V 198) weist nicht zuletzt zurück auf die mögliche Vollendung jener seit der Kritik der reinen Vernunft angestrebten „Architektonik der reinen Vernunft“: Im so betitelten Hauptstück der KrV favorisierte Kant eine Bestimmung der Philosophie als „Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)“, und von diesen wesentlichen Zwecken könne „bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft“ nur ein einziger Zweck der höchste sein: der „Endzweck“ der menschlichen Vernunft, „die ganze Bestimmung des Menschen“ als Gegenstand der Moralphilosophie (KrV III 542f.). Der uns a priori durch das moralische Gesetz verbindlich bestimmte Endzweck (als verbindliches Ziel unseres Strebens) sei „das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“ (KU V 450). Es ist aber die darin geforderte Übereinstimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit, verknüpft durch bloße Naturursachen, gar nicht vorstellbar – es stimmt der Begriff von der praktischen Notwendigkeit eines solchen Zwecks, durch die Anwendung unserer Kräfte, nicht mit dem theoretischen Begriffe von der physischen Möglichkeit der Bewirkung desselben zusammen, wenn wir mit unserer Freiheit keine andere Kausalität (eines Mittels), als die der Natur, verknüpfen. Folglich müssen wir eine moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns, gemäß dem moralischen Gesetze, einen Endzweck vorzusetzen; und, so weit als das letztere notwendig ist, so weit (d. i. in demselben Grade und aus demselben Grunde) ist auch das erstere notwendig anzunehmen: nämlich es sei ein Gott. (ebd.)
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Kant stellt allerdings auch unmissverständlich klar, dass „dieses moralische Argument ... keinen objektiv-gültigen Beweis vom Dasein Gottes an die Hand geben“, sondern dem Zweifelnden zeigen soll, „daß, wenn er moralisch konsequent denken will, er die Annehmung dieses Satzes unter die Maximen seiner praktischen Vernunft aufnehmen müsse.“ Es ist also „ein subjektiv, für moralische Wesen, hinreichendes Argument“ (ebd., Anmerkung). Bei den Ideen des höchsten Guts, des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele handelt es sich entsprechend um „Glaubenssachen“, die Gegenstände des moralischen Glaubens, die nicht gewusst, sondern nur in rein praktischer Absicht für wahr gehalten werden können34 – „Gegenstände, die in Beziehung auf den pflichtmäßigen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft (es sei als Folgen, oder als Gründe) a priori gedacht werden müssen, aber für den theoretischen Gebrauch derselben überschwenglich sind“ (KU § 91, V 469). c) Der Widerstreit: „Antinomie der praktischen Vernunft“ Dasselbe Problem, welches Kant das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee konstatieren lässt – die Unmöglichkeit, naturgesetzliche „Kunstweisheit“ und freiheitsgesetzliche „moralische Weisheit“ in der Einrichtung der Sinnenwelt zusammenzudenken – erlaubt ihm andererseits im moralischen Gottesbeweis erst den Schluss auf das Dasein eines moralischen Welturhebers. Damit der transzendentale Tun-ErgehenZusammenhang das leisten kann, muss er einerseits jeder rein naturgesetzlichen Erklärung entzogen, andererseits aber mindestens denkmöglich sein. Diese Denkmöglichkeit einer Verbindung von Natur- und Freiheitskausalität kommt zuerst bei der Behandlung der dritten „Antinomie der reinen Vernunft“ in der Kritik der reinen Vernunft zur Sprache. In Bezug auf die Bestimmung des höchsten Guts als „Object und Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ (KpV III 129) wiederum ergibt sich auch die „Antinomie der praktischen Vernunft“, das Problem, den transzendentalen Tun-Ergehen-Zusammenhang widerspruchsfrei zu denken. Den Problemraum dieser Antinomie systematisiert Kant folgendermaßen: Die Verbindung von Tun und Ergehen kann keine analytische sein (wo eines bereits ––––––––––––– 34 „Das Fürwahrhalten aber in Glaubenssachen ist ein Fürwahrhalten in reiner praktischer Absicht, d. i. ein moralischer Glaube, der nichts für das theoretische, sondern bloß für das praktische, auf Befolgung seiner Pflichten gerichtete, reine Vernunfterkenntnis, beweiset, und die Spekulation, oder die praktischen Klugheitsregeln nach dem Prinzip der Selbstliebe, gar nicht erweitert“ (KU § 91 V 470).
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im Begriff des anderen enthalten ist) 35, aber auch keine synthetische (als kausale Verbindung von Ursache und Wirkung). Glückseligkeit darf nicht Ursache bzw. Beweggrund für Sittlichkeit sein, weil „Maximen, die den Bestimmungsgrund des Willen in dem Verlangen nach Glückseligkeit setzen, gar nicht moralisch sind“ (KpV V 113). Und auch die umgekehrte kausale Verknüpfung von Tun und Ergehen ist nicht möglich, da doch alle praktische Verknüpfung der Ursachen und der Wirkungen in der Welt, als Erfolg der Willensbestimmung sich nicht nach moralischen Gesinnungen des Willens, sondern der Kenntnis der Naturgesetze und dem physischen Vermögen, sie zu seinen Absichten zu gebrauchen, richtet, folglich keine notwendige und zum höchsten Gut zureichende Verknüpfung der Glückseligkeit mit der Tugend in der Welt, durch die pünktlichste Beobachtung der moralischen Gesetze, erwartet werden kann. (KpV V 113f.)
Nicht nur ist theoretisch unklar, wie Glückswürdigkeit und Glückseligkeit zusammengedacht werden können. Auch Erfahrungen von scheinbarer „Zweckwidrigkeit“ – das Leiden Hiobs oder die Verheerungen von Lissabon – sprechen gegen den Glauben an eine gerechte Weltordnung und die Entsprechung von Tugend und Wohlergehen. Sie sind mit Gründen der spekulativen Vernunft nicht ohne Weiteres zu widerlegen: Es gibt keinen begreiflichen Zusammenhang von sittlichem Tun und glücklichem Ergehen. Andererseits ist offenbar für die praktische Vernunft (bzw. Kants Morallehre) genau diese Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit im Ideal des höchsten Guts von fundamentaler Bedeutung. Wäre „das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein“ (KpV V 114). Die Moral selbst fordert die Möglichkeit des transzendentalen Tun-Ergehen-Zusammenhangs 36. ––––––––––––– 35 Die „Unterscheidung der Glückseligkeitslehre von der Sittenlehre“ war die „erste und wichtigste“ Beschäftigung der Analytik der reinen praktischen Vernunft. Fundament der ersteren sind empirische Prinzipien, die zweite operiert gänzlich a priori (vgl. KpV V 92). 36 Im Gegensatz zum Hiobbuch interessiert Kant nicht die Erfahrung eines ausbleibenden Tun-Ergehen-Zusammenhanges. Die Frage, ob und wie die Verbindung von Glückseligkeit und Sittlichkeit praktisch möglich sei, ist nur a priori, ohne alle Erfahrung, zu beantworten: „Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen; es muß also auch die Bedingung der Möglichkeit desselben lediglich auf Erkenntnisgründen a priori beruhen.“ (KpV V 112f.) Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Kant sich in der Religionsschrift die praktische Wirkung der „göttlichen Gerechtigkeit“ vorstellt. Jeder Mensch fängt „vom Bösen an“ (das radikale
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In manchen Formulierungen Kants erhält sogar die Religion, die eigentlich programmatisch auf die Moral gegründet werden soll, selbst begründende Funktion. Sittliches Tun macht nur die eine Hälfte des „höchsten Guts“ aus, und ob wir auf die andere Hälfte, die dem Tun entsprechende Glückseligkeit, auch hoffen dürfen, darauf kann nur Religion antworten: Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen. Nur denn, wenn Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein. (KpV V 130)
Wenn die Unmöglichkeit des höchsten Guts die Falschheit des moralischen Gesetzes bedeuten würde, wird verständlich, wie dergestalt auch der Wunsch nach einer Garantie der verdienten Glückseligkeit in Gestalt eines allmächtigen Wesens greifbar wird: „Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen.“ (KpV V 110) Unschwer ist hier die apriorische Grundstruktur des Leibnizschen Theodizeearguments zu erkennen, wenn auch mit einer Prämisse im Konjunktiv – der nur „zum Versuche“ gedachten Voraussetzung Gottes. In der Antinomie der praktischen Vernunft steht also für Kant nicht weniger auf dem Spiel als das Fundament menschlicher Moralität. Die „kritische Aufhebung“ der Antinomie entfaltet nun detailliert eine Strategie, die Kant drei Jahre später als „Machtspruch der Vernunft“ bezeichnen wird. Diese Strategie führt eine Entscheidung herbei zwischen der beschränkenden Tendenz der theoretischen Vernunft, die nicht mehr als die Denkmöglichkeit des höchsten Guts zugeben kann, und dem dieser Beschränkung entgegenwirkenden Bedürfnis der praktischen Vernunft nach ––––––––––––– Böse) und ist deshalb auch nach einer Gesinnungsänderung als schuldig anzusehen, aber dann doch „moralisch ein anderer „. Die über ihn notwendig zu verhängende Strafe lokalisiert Kant deshalb „in“ der Sinnesänderung selber. Dann nämlich wird der „neue gutgesinnte Mensch“ die Übel der Welt als selbst verschuldete Strafen ansehen können („nicht zum Behuf einer Theodicee“, sondern nach der Neigung der menschlichen Vernunft, „den Lauf der Natur an die Gesetze der Moralität anzuknüpfen“). Obgleich „physisch (seinem empirischen Charakter als Sinnenwesen nach betrachtet) eben derselbe strafbare Mensch“, kann er „in seiner neuen Gesinnung (als intelligibles Wesen) vor einem göttlichen Richter“ gerechtfertigt werden (vgl. Religion VI 72ff.).
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einer Garantie desselben durch Festsetzung seiner ermöglichenden Bedingungen. In den Termini narrativer Problemverhandlung formuliert: Das Dilemma, wenn es als gegenseitige Blockade (Stasis) zweier entgegengesetzter, zunächst gleich starker narrativer Programme im Sinne Greimas’ formuliert wird (Konfrontation bei ausbleibender Beherrschung), wird aufgelöst durch eine willkürliche Zuschreibung durch die (übergeordnete) Erzählinstanz. Willkürlich ist diese Zuschreibung gerade insoweit, als sie sich gemäß der Regeln kohärenten Erzählens nicht anders als durch ein narratives Urteil erzeugen lässt, d. h. insoweit die der Zuschreibung vorhergehende Beherrschung nicht anders als durch Eingreifen einer äußeren Instanz überzeugend dargestellt werden kann. Kant selbst zieht für die Auflösung der Antinomie die Parallele zu einem ganz ähnlichen „Widerstreit zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheit, in der Kausalität der Begebenheiten der Welt“, der Freiheitsantinomie in der KrV (vgl. KpV V 114). In dieser bestand die Schwierigkeit darin, eine „Kausalität durch Freiheit“ mit der durchgängigen Bestimmung der Erscheinungen in der Welt durch die Kausalität „nach Gesetzen der Natur“ begrifflich zu vermitteln (vgl. KrV III 308f.). Dieser „Widerstreit zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheit“ fand seine Auflösung durch die Unterscheidung einer Sinnenwelt der Erscheinungen, in der allein der kausale Naturmechanismus statt hat, und einer intelligiblen Welt der Dinge an sich, die von der naturgesetzlichen Kausalität der sensiblen Welt ganz unabhängig sein soll. Die Dinge, einschließlich handelnder Personen, sind somit einerseits als Sinnenwesen („Phaenomena“), aber andererseits auch als Dinge an sich („Noumena“) zu betrachten37. Der Erscheinung eignet eine naturgesetzliche „Kausalität in der Sinnenwelt“; wenn sich die handelnde Person aber als „reine Intelligenz, in seinem nicht der Zeit nach bestimmbaren Dasein“ betrachtet, kann ihrem Handeln auch ein „Bestimmungsgrund jener Kausalität nach Naturgesetzen, der selbst von allem Naturgesetze frei ist“, zu eigen sein (KpV V 114). Diese transzendentale Lösung muss zwar für die endliche Vernunft Spekulation ohne Gewissheit bleiben – aber zumindest ist die Vereinbarkeit von Natur- und Freiheitsgesetzlichkeit als denkmöglich erwiesen. Die aktuelle Antinomie der reinen praktischen Vernunft wird (in einem ersten Schritt) auf analoge Weise behandelt. Ihre Auflösung wird möglich gemacht, indem zunächst die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich als ein Bestandteil des Problemraums identifiziert wird. Der Satz, ––––––––––––– 37 Zur Unterscheidung dieser Begriffe vgl. KrV III 202ff.
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dass sittliches Verhalten notwendig zur Glückseligkeit führt, ist dann nicht mehr „schlechterdings“, sondern nur „bedingterweise falsch“, nämlich nur solange man die Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet und „das Dasein in derselben für die einzige Art der Existenz des vernünftigen Wesens annehme“ (ebd.). Es ist aber möglich, auch ein Dasein „als Noumenon in einer Verstandeswelt“ zu denken, und damit wiederum nicht unmöglich, daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen, wo nicht unmittelbaren, doch mittelbaren (vermittelst eines intelligibelen Urhebers der Natur) und zwar notwendigen Zusammenhang, als Ursache, mit der Glückseligkeit, als Wirkung in der Sinnenwelt habe. (KpV V 114f.)
Die Auflösung der Antinomie gelangt so zumindest zu der Feststellung der Möglichkeit des höchsten Guts: Weil es einen notwendigen Zusammenhang von Sittlichkeit und Glückseligkeit geben muss, soll es ausreichen zu zeigen, dass ein solcher, wenn auch nicht „begreiflich“, so doch wenigstens „nicht unmöglich“ bzw. „praktisch möglich“ (KpV V 115) sei, wenn man den Umweg über die Verstandeswelt der Dinge an sich geht und dort einen bloß „intelligibelen“ Gott mit der Bewirkung dieses Zusammenhanges betraut38. Wie aber kann man von der bloßen Möglichkeit des höchsten Guts, die noch dazu „in solcher Weite, nämlich in der Verknüpfung mit einer intelligibelen Welt“ gesucht werden muss (ebd.), zu einer weiterreichenden Bestimmung gelangen, die letztlich eine befriedigende Antwort auf die Frage „Was darf ich hoffen?“ zu geben vermag? Dieses Problem stellt sich bei genauerem Hinsehen als ein Interessenskonflikt der Vernunft dar, der einen „Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst“ (KpV V 121), zwischen spekulativer und praktischer Vernunft erzeugt (die „Konfrontation“) solange nicht einer Seite das „Primat“ zuerkannt wird („Beherrschung“). Einem jeden Vermögen des Gemüts kann man ein Interesse beilegen, d. i. ein Prinzip, welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung desselben befördert wird. Die Vernunft als das Vermögen der Prinzipien bestimmt das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst. Das Interesse ihres spekulativen Gebrauchs besteht in der Erkenntnis des Objekts bis zu den höchsten Prinzipien a priori, das des praktischen Gebrauchs in der Bestimmung des Willens in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks. (KpV V 119f.)
––––––––––––– 38 Kant weist ausdrücklich die Glückseligkeit „als Wirkung in der Sinnenwelt“, mithin als Gegenstand möglicher Erfahrung aus. Trotz des Apriori-Charakters der Argumentation kann so die ausbleibende Erfahrung göttlicher Gerechtigkeit ihre systemgefährdende Wirkung immer wieder aufs Neue entfalten.
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Das ist in unserem Kontext narrativer Problemverhandlung in besonderer Weise signifikant: „Interesse“ bezeichnet hier das dynamisierende Element, das dem „Wollen“ in Greimas’ narrativer Semiotik entspricht und auf der Ebene narrativer Aktanten erst Subjekt-Objekt- und SubjektOpponent-Beziehungen und narrative Konflikte entstehen lässt. Das Interesse macht Aktanten zu „Subjekten“ narrativer Programme, die zueinander in eine polemische Beziehung gebracht werden können. Dies vorausgesetzt, kann zur Auflösung des so inszenierten Widerstreits das narrative Basisschema der „Performance“ in Anwendung gebracht werden: Konfrontation – Beherrschung – Zuschreibung. Die je entgegengesetzten Interessen, die Kant jedem Vernunftvermögen beilegt, sind Voraussetzung für die narrative Verhandlung der Antinomie. In dieser quasi-narrativen Konfrontation der Interessen liegt die entscheidende Problemraumerweiterung, die eine Lösung (als narratives Urteil) erst möglich macht. Die spekulative Vernunft kann (auch im schon um die Unterscheidung von Sinnenwelt und intelligibler Welt erweiterten Problemraum) nicht weiter als bis zur bloßen Möglichkeit des höchsten Guts vordringen. Dem Interesse der praktischen Vernunft dagegen kann das nicht ausreichen (obwohl es als Voraussetzung auch für sie wichtig ist – auch ihre Sätze müssen mit denen der theoretischen Vernunft vereinbar, also widerspruchsfrei sein). Doch reicht das Vermögen der spekulativen Vernunft nicht weit genug, um „gewisse Sätze behauptend festzusetzen“, die doch „unabtrennlich zum praktischen Interesse der reinen Vernunft gehören“ (KpV V 121). Diese Sätze sind solche, deren Geltung das höchste Gut nicht nur möglich, sondern notwendig machen würden: die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Nur wenn praktische Vernunft das Primat hat, sind diese Sätze zugänglich – als Postulate. d) Das Urteil: Postulat und Machtspruch Sätze, die um der Hoffnung willen das Unbeweisbare behaupten müssen, bedürfen als willkürliche Setzungen der Rechtfertigung. Folgerichtig liefert die KpV unmittelbar nach der „Kritischen Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft“ die Legitimation für eine solche Setzung: Sie bestimmt den „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (KpV V 119) und ermächtigt 39 erstere dazu, ––––––––––––– 39 Vorbereitet im 1. Hauptstück der „Analytik der reinen praktischen Vernunft“, Abschnitt II, KrV III 50-57.
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tatsächlich „gewisse Sätze“, zu deren Behauptung erstere nicht gelangen kann, als „hinreichend beglaubigt“ dennoch anzunehmen, „sobald sie unabtrennlich zum praktischen Interesse der reinen Vernunft gehören“: In der Verbindung also der reinen spekulativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das Primat, vorausgesetzt nämlich, daß diese Verbindung nicht etwa zufällig und beliebig, sondern a priori auf der Vernunft selbst gegründet, mithin notwendig sei. Denn es würde ohne diese Unterordnung ein Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst entstehen ... (KpV V 121)
Damit ist die Legitimation geleistet, die Auflösung vorbereitet. Die Antinomie kann aufgelöst werden, sobald eine Seite die Oberhand gewonnen hat. In den Kategorien narrativer Problemverhandlung dargestellt, stellt diese Ermächtigung der dominierenden praktischen Vernunft offensichtlich das zweite Element der narrativen Performance-Sequenz Konfrontation – Beherrschung – Zuschreibung dar. Die nach der Interessenabwägung herbeigeführte Beherrschung hebt die Stasis der widerstreitenden Programme auf und macht den Weg frei für die Auflösung des Konfliktes gemäß dem Interesse der dominierenden Seite. Die sich anschließenden Abschnitte des Textes enthalten die entsprechende Zuschreibung: Die praktische Vernunft bekommt das, dessen sie bedarf, als zwei „Postulate der reinen praktischen Vernunft“, nämlich die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes. Die zu Grunde liegende Argumentationsstrategie ist auch der Hintergrund des Machtspruchs im Misslingen-Aufsatz. Die Lösung der KpV war die Ermächtigung der reinen praktischen Vernunft, die benötigten Sätze, zu deren Behauptung die spekulative Vernunft nicht gelangen kann (die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes), zu postulieren – „denn es würde ohne diese Unterordnung ein Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst entstehen“ (KpV V 121). Die allegorische Aufführung des „Machtspruches der Vernunft“ im drei Jahre nach der 1. Auflage der KpV erschienenen Misslingen-Text kann als Dramatisierung und Kommentar dieser Lösung gelesen werden. Kant hatte das notwendige Scheitern aller philosophischen Versuche in der Theodizee mit dem Unvermögen der Vernunft begründet, die Zusammenstimmung der quasi architektonischen „Kunstweisheit“ in der Einrichtung der Welt (wie sie die Physikotheologie erweist) mit der „moralischen Weisheit“ eines „vollkommensten Urhebers“ in einer Sinnenwelt zu begreifen und den Menschen gleichermaßen als dem Willen des Schöpfers ganz unterworfenes „Naturwesen“ und als freihandelndes Subjekt mit schlechthin unabhängigem, freiem Willen zu verstehen. Diese „Vereinba-
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rung von Begriffen“ bleibe unserer Einsicht für immer entzogen. Das jenseits der Grenzen der reinen Vernunft Liegende ist unverfügbar, spekulative Theodizeeversuche sind notwendig zum Scheitern verurteilt. Damit befinden wir uns in einer vergleichbaren Lage wie der Leser der KpV nach der „Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft“: Wir müssen uns „in der Idee einer Welt, als des höchsten Guts“ eine Verbindung von Freiheits- und Naturkausalität, von Sittlichkeit und Glückseligkeit denken, von der nicht mehr als ihre bloße Möglichkeit vorausgesetzt werden kann. In der KpV folgte an dieser Stelle die Ermächtigung der praktischen Vernunft, das Fehlende zu postulieren. Im Aufsatz Über das Mißlingen folgt nun die Bestimmung einer „authentischen Theodizee“ als „göttlicher Machtspruch“ und ihre allegorische Beglaubigung in der Hiob-Geschichte. Der Vergleich mit der KpV macht es damit möglich, den systematischen Ort der „authentischen Theodizee“ zu benennen. Die Problemlösungen beider Texte beruhen auf einer Problemraumerweiterung, die eine spekulativ nicht erreichbare Entscheidung möglich macht. In beiden Texten liegt der Argumentation das Basis-Schema narrativer Problemverhandlung zugrunde: In einem Konflikt (Konfrontation) blockieren sich die widerstreitenden Seiten (narrative Programme) gegenseitig; keine kann aus eigener Kraft dauerhaft die Oberhand gewinnen, um den Stillstand zu beenden (die Beherrschung bleibt aus: Stasis). Um die Blockade aufzulösen, muss eine höhere Instanz in den Streit eingreifen, die durch ihre Entscheidung – das narrative Urteil – den Konflikt beendet und einen stabilen Zustand etabliert (eine Beherrschung herbeiführt und eine Zuschreibung vornimmt), die damit also, so könnte man mit Kants eigener Metaphorik sagen, einen Kriegszustand, in welchem höchstens immer wieder ein „unsicherer Friede“ möglich wird, durch einen idealerweise „ewigen Frieden“ ablöst40. „Authentische Theodizee“ ist die Selbstermächtigung der praktischen Vernunft zu einem Urteil, das den Streit entscheiden und auf immer beenden kann. Diese Selbstermächtigung folgt der Lösung der Antinomie der praktischen Vernunft und geht noch über sie hinaus. Schon in der KpV ist die „Stimme der Vernunft“ eine „himmlische Stimme“ und unsere Pflichten „göttliche Gebote“ (KpV V 35 und 129). Aber erst die Theodizeeschrift spricht die Vergöttlichung der Vernunft in voller Klarheit aus: Die „authentische Theodizee“ ist als „Ausspruch derselben Vernunft ..., ––––––––––––– 40 Vgl. KrV III 491f. (siehe unten S. 515); auch KrV III 506).
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wodurch wir uns den Begriff von Gott als einem moralischen und weisen Wesen nothwendig und vor aller Erfahrung machen“, nichts weniger als ein „göttlicher Machtspruch“; Gott wird „durch unsre Vernunft selbst der Ausleger seines durch die Schöpfung verkündigten Willens“ (Theodizee VIII 264). Die Selbstermächtigung zur „machthabenden praktischen Vernunft“ beendet den Theodizee-Streit und verteidigt als ‚authentische‘ Theo-Dizee die göttliche Weisheit und Gerechtigkeit gegen alle Einwürfe der Erfahrung. Das Verstummen Hiobs soll dafür Zeugnis ablegen. Vielleicht kann man so die Theodizeeschrift auch als einen Selbstkommentar Kants lesen. Die „Lösung“ des Dilemmas der praktischen Vernunft hatte den gordischen Knoten zerschlagen, indem sie das zwar „Praktisch-Mögliche“, aber der Vernunft Unerreichbare postulierte. Das Postulat aber – so lesen wir zwischen den Zeilen der Kantschen Hiobinterpretation – ist der willkürliche Machtspruch einer sich selbst vergöttlichenden Vernunft. 5. Narrative Strategien: Das RECHTSSTREIT-Schema bei Kant Wenn die Theodizeeschrift zur kritischen Verhandlung des „Widerstreits der Vernunft“ in Beziehung gesetzt wird, eröffnet das offenbar eine Perspektive, von der aus auch rhetorische Strategien der Erzeugung von Gewissheit in den Blick kommen. Wenn zur Auflösung der problematischen Blockaden von dogmatischer Behauptung und skeptischer Bezweiflung eine äußere Instanz Machtsprüche sprechen muss, zeigt das die Unlösbarkeit des Problems mit den herkömmlichen Mitteln der philosophischen Argumentation unter den Bedingungen einer Kritik der Vernunft. Denn die kritische Strenge des Kantschen Philosophierens selbst hatte ja erst die überlieferten Verknüpfungsregeln für überzeugendes Argumentieren demontiert und gezeigt, dass die Vernunft die von ihr benötigten Sätze unmöglich auf spekulativem Wege erreichen kann. Für die Überzeugungskraft der philosophischen Begründung fundamentaler Behauptungen hat das allerdings verheerende Folgen. Wenn der unsichere Status solcher „Kardinalsätze“ 41 einem starken Bedürfnis nach Gewissheit widerspricht, dann müssen rhetorische Strategien der fehlenden Überzeugungskraft des Spekulativen nachhelfen. ––––––––––––– 41 „... die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes“ (KrV III 518f.).
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Eine Rhetorik der Gewissheit bedient sich nicht nur stilistischer Mittel. Sie kann sich darauf stützen, dass Verknüpfungsregeln für überzeugendes Argumentieren auch aus anderen Quellen gewonnen werden können als den Regeln des deduktiven Schließens: etwa aus konzeptuellen Metaphern und narrativen Schemata. Ein narratives Schema wie das des RECHTSSTREITES kann in entsprechenden Kontexten nicht nur der Strukturierung oder Veranschaulichung dienen, sondern auch zur Kohärenz und Überzeugungskraft des Dargestellten beitragen. Kant, so meine These, setzt in diesem Sinne das Schema des Rechtsstreites nicht nur als Schematisierung seiner „skeptischen Methode“, sondern auch als ein rhetorisches Mittel ein; und er versucht dabei den eigenen Ansprüchen kritischen Philosophierens dadurch gerecht zu werden, dass er diese Verwendung des RECHTSSTREIT-Schemas so weit wie möglich explizit macht. Seinen Aufsatz Über das Misslingen hatte Kant mit seiner berühmten Definition der Theodizee als „Rechtshandel vor dem Gerichtshofe der Vernunft“ begonnen. Die Metapher vom „Gerichtshof der Vernunft“ findet sich mehrfach auch anderswo bei Kant an exponierter Stelle, vor allem in der ersten Kritik, die das Grundmuster für die späteren Wiederaufnahmen der Verhandlung von Antinomien der Vernunft auslegt42. Wie schon erwähnt, bezeichnet Kant gleich in der Vorrede zur 1. Auflage der KrV das ganze Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft als die Einsetzung eines Gerichtshofes zur Prüfung von Vernunftansprüchen. Im Interesse ihrer Selbsterkenntnis stehe die Vernunft vor der Aufgabe, „einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlosen Anmaßungen nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen abfertigen könne; und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst.“ Der Gerichtshof soll den Kampf der Perspektiven, die „endlosen Streitigkeiten“ von Dogmatismus und Skeptizismus beenden (KrV IV 9). So wird das Schema des RECHTSSTREITES regulierend gegen ein zweites narratives Schema gesetzt: das des K AMPFES, des Widerstreits. Indem nun „gerechte Ansprüche“ geklärt werden müssen, wird es jeglicher Lehre, skeptisch oder dogmatisch, versagt, lediglich das ‚Recht des Stärkeren‘ auszuüben und Zweifel gegen ihre Gültigkeit zu unterdrücken. Die gesetzliche ––––––––––––– 42 Es ist vielleicht nicht uninteressant, dass sich diese Metapher auch schon 1756 findet – anlässlich des Erdbebens von Lissabon: „Die Planeten sind vor dem Richterstuhle der Vernunft von der Anklage losgesprochen, einigen Antheil an der Ursache der Verwüstung gehabt zu haben, die uns in den Erdbeben widerfährt. Forthin soll sie niemand deswegen weiter in Verdacht halten“ (Betrachtung, I 469).
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Ordnung des „Gerichtshofes“ steht gegen die gewaltsame Willkür des „Krieges“. Ohne die „Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben“ wäre ... die Vernunft gleichsam im Stande der Natur und kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen oder sichern als durch Krieg. Die Kritik dagegen, welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimmt, deren Ansehen keiner bezweifeln kann, verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen als durch Prozeß. Was die Händel in dem ersten Zustande endigt, ist ein Sieg, dessen sich beide Teile rühmen, auf den mehrenteils ein nur unsicherer Friede folgt, den die Obrigkeit stiftet, welche sich ins Mittel legt, im zweiten aber die Sentenz, die, weil sie hier die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft, einen ewigen Frieden gewähren muß. (KrV III 491f.)
Die entscheidenden Oppositionen hat Kant im Text selbst hervorgehoben: KRIEG oder PROZESS, SIEG oder URTEIL. Dem „Sieg“ des scheinbar Stärkeren wird ein rechtmäßiges Urteil entgegengesetzt, zu welchem der Gerichtshof ausdrücklich „nicht durch Machtsprüche“, sondern in einem ordentlichen Prozess gelangen soll. a) Der Rechtsstreit der reinen Vernunft Wie ernst Kant sein Bild des Gerichtshofes der Vernunft nimmt, wird deutlich, wenn wir ein Stück weit eine konkrete Verhandlung verfolgen, wie sie die KrV vorführt: die quasigerichtliche Verhandlung der „Antinomie der reinen Vernunft“ und insbesondere der Freiheitsantinomie, auf die Kant auch im Zusammenhang der „kritischen Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft“ verwiesen hatte43. Die Verhandlung dieses Wi––––––––––––– 43 Ishikawa meint sogar, dass Kant „die Antinomienlehre völlig mit dem Streit vor einem Gerichtshof identifiziert“ (Fumiyasu Ishikawa, Kants Denken von einem Dritten (1990), 9) und führt Hinskes Beobachtung an, dass der Begriff „Antinomie“ selber von Hause aus ein juristischer Begriff sei (ebd., Anm.). Nach Vaihinger liege „dieses Bild des Prozesses der ganzen Kritik zugrunde“ (Ishikawa 11). Ishikawa gilt „Kants Denkprozeß als juristischer Prozess“ (119), und er stellt ausführlich Entwicklung und Stellenwert der „gerichtlichen Methode“ im Denken Kants (16) dar. Ich halte es für einleuchtend, die Verwendung des RECHTSSTREIT-Modells bei Kant als „Denken von einem Dritten“ zu kennzeichnen – als Denken von einem dritten Standpunkt aus, dem des Beobachters und Richters. Aber ich kann Ishikawa nicht folgen, wenn er dieses „Dritte“ identifiziert (vgl. 83) mit jenem anderen „Dritten“, das beim sogenannten „unendlichen“ oder besser unbestimmten Urteil (x ist Nicht-A) erscheine. Das unendliche Urteil ist der Form nach bejahend (die Negation bezieht sich auf das Prädikat – „Die Seele ist unsterblich“) und ergibt eine konträre (ein Drittes zulassende) Opposition, die lediglich A aus der Sphäre des Gültigen ausschließt.
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derstreits zwischen dogmatischer und empirisch-skeptischer Vernunft gibt nicht nur auch ein Modell für Kants spätere Behandlung des Theodizeeproblems, sie illustriert bzw. schematisiert geradezu ein Grundprinzip seines Philosophierens: dass nur eine Kritik der Vernunft aus Sicht einer übergeordneten Instanz die Beschränkungen des dogmatischen oder empiristisch-skeptischen Vernunftgebrauchs aufheben und den fruchtlosen Kampf beider Seiten endgültig beenden kann. Kants Behandlung der „Antinomie der reinen Vernunft“44 zwischen Dogmatismus und Empirismus kann in der Tat als eine Art Gerichtsverhandlung gelesen werden, die ähnlich wie in der KpV einen Interessenskonflikt der Vernunft entscheidet und damit ihren „Kampf“ beendet. Eine solche Lesart der Problemverhandlung als RECHTSSTREIT kann sich explizit auf die Bildsprache Kants berufen. Parteien und Streitgegenstand Ziel der Verhandlung ist es (ganz ähnlich wie später im Rechtshandel um die Theodizee) einen Streit zwischen Dogmatismus und skeptischem Empirismus zu schlichten, der in den einführenden Sätzen charakterisiert wird als „Auftritte des Zwiespalts und der Zerrüttungen“, als eine „ganz natürliche Antithetik ..., in welche die Vernunft von selbst und zwar unvermeidlich gerät“ und welche diese in Gefahr bringt, „sich entweder einer skeptischen Hoffnungslosigkeit zu überlassen oder einen dogmatischen Trotz anzunehmen und den Kopf steif auf gewisse Behauptungen zu setzen, ohne den Gründen des Gegenteils Gehör und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“ (KrV III 282)45. Im ersten Abschnitt des Hauptstücks wird der Gegenstand des Streites bestimmt: die vier „kosmologischen Ideen“, Ideen einer „absoluten Totalität der regressiven46 Synthesis des Mannigfaltigen in der Erscheinung“ und „bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien“ – das, worauf die Vernunft stößt, wenn sie die mittels der Verstandesbegriffe erfasste Ordnung der Erscheinungen (soweit diese eine Reihe von Bedingungen liefert) ins Absolute extrapoliert (III 283). Diese Ideen sind erstens in Bezug auf zeit––––––––––––– 44 Vgl. Kant, KrV, Transzendentale Dialektik, 2. Buch, 2. Hauptstück. 45 Diese Formulierungen erinnern an Hiobs Schwanken zwischen hoffnungsloser Klage und hoffendem Aufbegehren und an die dogmatische Starrsinnigkeit der Freunde angesichts der von Hiob bezeugten Erfahrungen. 46 „Regressive Synthesis“ bewegt sich entlang der gedachten Reihe der Bedingungen einer Erscheinung rückwärts, „progressive Synthesis“ dagegen vorwärts „von der nächsten Folge [der Erscheinung M. R.] zu den entfernteren“ (vgl. KrV III 284).
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liche und räumliche Bedingtheit der Welt „Weltanfang“ und „Weltgrenze“ (Quantität); zweitens zur sukzessiven Teilbarkeit eines Ganzen das Unteilbare bzw. das „Einfache“ (Qualität); drittens zur kausalen Bedingtheit die „absolute Selbsttätigkeit (Freiheit)“ (Relation); viertens zur Bedingtheit des Zufälligen die „absolute Naturnotwendigkeit“ oder das schlechthin notwendige Wesen (Modalität)47. Die „Antithetik der reinen Vernunft“ (zweiter Abschnitt) ist nichts anderes als die Unentscheidbarkeit des Streites, der in Ansehung dieser kosmologischen Ideen entbrennt und entsprechend vier Antinomien hervorbringt. Lehrsätze, die behaupten, dass den kosmologischen Ideen etwas Existierendes entspreche, treffen auf solche, die dies bestreiten; weil aber solche Sätze „in der Erfahrung weder Bestätigung hoffen, noch Widerlegung fürchten dürfen“ (KrV III 290), scheint eine Beilegung des Streites aussichtslos. Kant verwendet dafür wieder Metaphern des Kampfes: Diese vernünftelnden Behauptungen eröffnen also einen dialektischen Kampfplatz, wo jeder Teil die Oberhand behält, der die Erlaubnis hat, den Angriff zu tun, und derjenige gewiß unterliegt, der bloß verteidigungsweise zu verfahren genötigt ist. Daher auch rüstige Ritter, sie mögen sich für die gute oder schlimme Sache verbürgen, sicher sind, den Siegeskranz davon zu tragen, wenn sie nur dafür sorgen, daß sie den letzten Angriff zu tun das Vorrecht haben und nicht verbunden sind, einen neuen Anfall des Gegners auszuhalten. Man kann sich leicht vorstellen, daß dieser Tummelplatz von jeher oft genug betreten worden, daß viele Siege von beiden Seiten erfochten, für den letzten aber, der die Sache entschied, jederzeit so gesorgt worden sei, daß der Verfechter der guten Sache den Platz allein behielte, dadurch, daß seinem Gegnern verboten wurde, fernerhin Waffen in die Hände zu nehmen. (KrV III 291)
Dieser Kampf kann offenbar niemals enden, solange nicht eine Seite kapituliert, und keine Seite kann mit eigenen Mitteln die andere zur Aufgabe zwingen (Stasis). Eine äußere Instanz muss deshalb entscheidend in ––––––––––––– 47 KrV III 288. Kant unterscheidet anhand der zugrunde liegenden kosmologischen Ideen die Begriffe „Welt“ und „Natur“, je nachdem, ob die Synthesis „mathematischer“ oder „dynamischer“ Art ist: „Der erste bedeutet das mathematische Ganze aller Erscheinungen und die Totalität ihrer Synthesis im Großen sowohl als im Kleinen, d. i. sowohl in dem Fortschritt derselben durch Zusammensetzung, als durch Theilung. Eben dieselbe Welt wird aber Natur genannt, sofern sie als dynamisches Ganzes betrachtet wird, und man nicht auf die Aggregation im Raume oder der Zeit, um sie als eine Größe zu Stande zu bringen, sondern auf die Einheit im Dasein der Erscheinungen sieht. Da heißt nun die Bedingung von dem, was geschieht, die Ursache und die unbedingte Causalität der Ursache in der Erscheinung die Freiheit, die bedingte dagegen heißt im engeren Verstande Naturursache. Das Bedingte im Dasein überhaupt heißt zufällig und das Unbedingte notwendig. Die unbedingte Notwendigkeit der Erscheinungen kann Naturnotwendigkeit heißen“ (KrV III 288f.).
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den Streit eingreifen – und wird dabei oft genug versucht sein, der „guten Sache“ zuliebe Machtsprüche zu tun. Dagegen setzt Kant seine „skeptische Methode“, die übrigens „vom Skeptizismus gänzlich unterschieden“ ist: nämlich „einem Streite der Behauptungen zuzusehen48 oder vielmehr ihn selbst zu veranlassen“, jedenfalls beiden Seiten gegenüber Distanz zu bewahren und den „Punkt des Mißverständnisses“ aufzudecken, „um, wie weise Gesetzgeber tun, aus der Verlegenheit der Richter bei Rechtshändeln für sich selbst Belehrung von dem Mangelhaften und nicht genau Bestimmten in ihren Gesetzen zu ziehen.“ (KrV III 292) Als unparteiische Kampfrichter müssen wir es ganz beiseite setzen, ob es die gute oder die schlimme Sache sei, um welche die Streitenden fechten, und sie ihre Sache erst unter sich ausmachen lassen. Vielleicht daß, nachdem sie einander mehr ermüdet als geschadet haben, sie die Nichtigkeit ihres Streithandels von selbst einsehen und als gute Freunde auseinander gehen. (KrV III 291)
Nach der Einsetzung des Gerichtshofes und der Darstellung der Verfahrensregeln folgen die Plädoyers: Zu allen vier kosmologischen Ideen lässt Kant „Sätze und Gegensätze, so wie sie sich, durch keine Drohung geschreckt, vor Geschworenen von seinem eigenen Stande (nämlich dem Stande schwacher Menschen) verteidigen können, auftreten“ (KrV III 330). Jeweils wird zunächst ein Beweis für die Thesis, anschließend einer für die Antithesis vorgebracht. Alle diese Beweise sind in sich kohärent und können nicht schon durch Nachweis innerer Fehlerhaftigkeit zugunsten der Gegenseite zurückgewiesen werden (solange nicht die Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich zum Tragen kommt). Die Vernunft sieht sich dadurch „mitten unter ihren größten Erwartungen in einem Gedränge von Gründen und Gegengründen ... befangen“. Aber angesichts dessen, was auf dem Spiel steht – nämlich die „höchsten und angelegensten Zwecke der Menschheit“ – muss sie versuchen, sich aus ihrem Dilemma zu befreien. Sie kann weder dem Streit tatenlos zusehen noch ihn ohne ordentlichen Prozess mit einem übereilten Machtspruch beenden, also „schlechthin Friede ... gebieten“. Ziel ist die Beendigung des Konflikts und die Etablierung einer neuen Stabilität: „ein dauerhaft ruhiges Regiment der Vernunft über Verstand und Sinne“ (KrV III 323).
––––––––––––– 48 Meine Hervorhebung. Vgl. Refl. 5055 (XVIII 61): „Zwei metaphysici, deren einer die Thesis, der andere die Antithesis beweiset, vertreten in den Augen eines dritten Beobachters die Stelle einer skeptischen Prüfung. Man muß beides selbst tun“ (zitiert Ishikawa 13).
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Interessensabwägung Deshalb wird nach der formalen Darstellung der „rechtlichen Ansprüche“ beider Seiten im dritten Abschnitt („Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite“), ähnlich wie bei der Antinomie der praktischen Vernunft, eine Interessenabwägung vorgenommen, die dem Gericht zu plausiblen, wenn auch vorläufigen, Entscheidungsgründen verhelfen soll (vgl. KrV III 322). Indem wir „bloß unser Interesse befragen“ – auch wenn klar ist, dass dadurch rein formal „in Ansehung des streitigen Rechts beider Teile“ keine neuen Argumente gewonnen werden – soll erwogen werden, „auf welche Seite wir uns wohl am liebsten schlagen möchten, wenn wir etwa genötigt würden, Partei zu nehmen“ (KrV III 323f.). Auf Seiten des Dogmatismus, der zugunsten der kosmologischen Ideen (der Thesis) argumentiert, findet sich vor allem ein praktisches Interesse: Denn seine Sätze sind „Grundsteine der Moral und der Religion“, und „die Antithesis raubt uns alle diese Stützen oder scheint wenigstens sie uns zu rauben“. Auch ein spekulatives Interesse der Vernunft wird vom Dogmatismus bedient, da ihm scheinbar „völlig a priori“ die Totalität der Erscheinungen, die „ganze Kette der Bedingungen“ greifbar wird (KrV III 324). Nicht zuletzt, so Kant, ist auf Seiten des Dogmatismus auch die größere Popularität zu verzeichnen. Aber auch die Seite der Antithesis, der Empirismus bietet in ihrer dezidierten Beschränkung auf die Data der Erfahrung dem spekulativen Interesse der Vernunft Vorteile, die jene des Dogmatismus insofern übertreffen, dass sich der strenge Empirismus in seinen Erklärungen niemals dazu versteigen kann, die Existenz von etwas zu behaupten, das jenseits der Grenzen des Wissbaren liegt. Allerdings scheint er dafür Moral und Religion „alle Kraft und Einfluß zu benehmen“ (KrV III 325), und dieses Fehlen jeglichen praktischen Interesses ist ein entscheidender Nachteil. Deshalb wäre der an sich überaus nützlichen empiristischen Maxime, als einer „Maxime der Mäßigung in Ansprüchen, der Bescheidenheit in Behauptungen und zugleich der größtmöglichen Erweiterung unseres Verstandes durch den eigentlich uns vorgesetzten Lehrer, nämlich die Erfahrung“, nur unter der Vorraussetzung zuzustimmen, dass sie das, was jenseits empirischer Erkenntnis liegt, nicht ihrerseits dogmatisch verneint, damit uns „intellektuelle Voraussetzungen und Glaube zum Behuf unserer praktischen Angelegenheit nicht genommen werden“ (KrV III 327). Für die dogmatische Thesis spricht außerdem noch ein systematisches oder „architektonisches Interesse“ der menschlichen Vernunft – ein Interesse an der Draufsicht. Die Vernunft nämlich sei „ihrer Natur nach archi-
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tektonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System“ und habe demnach ein natürliches Interesse für die Empfehlungen der Thesis, während die Sätze der Antithesis „die Vollendung eines Gebäudes von Erkenntnissen gänzlich unmöglich machen“ würden, da sie einem solchen kein Fundament bieten (KrV III 329). Man kann also sagen, dass die Abwägung der Interessen der Vernunft eher zugunsten der dogmatischen Seite bzw. zumindest einiger ihrer Sätze ausfällt. Solange diese jeweiligen Interessen unberücksichtigt bleiben, findet sich ein Mensch, der sich für eine der beiden widerstreitenden Lehren zu entscheiden hätte, „in einem unaufhörlich schwankenden Zustande“ (KrV III 329). Erst wenn es um menschliches Handeln geht, dann verliert die Spekulation jede Relevanz; der Handelnde „würde seine Prinzipien bloß nach dem praktischen Interesse wählen“ (ebd.). Damit ist die Grundrichtung des ausstehenden Urteils schon ausgemacht, noch nicht aber seine Begründungsmöglichkeiten: Kritische Vernunft dürfte sich mit rein pragmatischen Entscheidungsgründen wohl kaum auf immer zufrieden geben, wenn die zu wählenden Prinzipien nicht selbst ein Stück weit gerechtfertigt werden könnten. Zurückweisung der Ansprüche beider Seiten Damit das Urteil anders als pragmatisch begründbar ist, darf die Antinomie keine unauflösbare sein. Der vierte Abschnitt der Verhandlung konstatiert, dass die „transzendentalen Aufgaben der Vernunft ... schlechterdings müssen aufgelöst werden können“, und bestätigt noch einmal Zuständigkeit und Verpflichtung der Vernunft zur dieser Auflösung (KrV III 330f.). Mit einer bloßen Parteinahme für eine der beiden Seiten wäre in der Tat nichts gewonnen (fünfter Abschnitt): Das Ergebnis wäre in jedem Fall „für einen jeden Verstandesbegriff entweder zu groß oder zu klein“ (KrV III 336). Das scheint die Aufgabe des Gerichtes nicht gerade einfacher zu machen – und führt dennoch nach Kant bereits „auf die rechte Spur ..., das Blendwerk zu entdecken, was uns so lange irre geführt hat“ (KrV III 338). Der „Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik“ (sechster Abschnitt) ist Kants „transzendentaler Idealismus“ (KrV III 338f.). Die Unterscheidung von sinnlichen Erscheinungen und den der Erkenntnis unzugänglichen Dingen „an sich selbst“ ermöglicht auch die „kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst“ (siebenter Abschnitt): Die kosmologischen Ideen – das Unbedingte – sind nur im bloß intelligiblen Reich der Dinge an sich konzipierbar.
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Wenn uns eine Erscheinung als bedingte gegeben ist, so ist damit nicht (wie zuvor aufgrund des dialektischen Scheins angenommen) auch die ganze Reihe aller Bedingungen derselben „gegeben“, sondern vielmehr uns „aufgegeben“ (vgl. III 343). Um von Erscheinungen, Gegenständen der Sinne, die uns „als bedingt gegeben“ sind, in der Reihe der Bedingungen zurückzugehen, kann ich nicht von den „Bedingungen der Anschauung, unter denen allein Gegenstände gegeben werden können“, abstrahieren; ich bin in Raum und Zeit gefangen und kann deshalb hier auch keine „absolute Totalität der Synthesis“ voraussetzen. Daher sind die jeweiligen Behauptungen von Thesis und Antithesis, solange sie vom Bedingten in der Erscheinung ausgehend zu den kosmologischen Ideen vorzudringen hoffen, nicht schlüssig. Der Gerichtshof muss die Ansprüche beider Seiten abweisen: „Nach Überweisung eines solchen Fehltrittes des gemeinschaftlich zum Grunde (der kosmologischen Behauptungen) gelegten Arguments können beide streitende Teile mit Recht als solche, die ihre Forderung auf keinen gründlichen Titel gründen, abgewiesen werden.“ (III 344) Allerdings ist damit noch keine der Behauptungen der Prozessgegner selbst widerlegt und ihr „Zwist noch nicht ... geendigt“. Noch herrscht Stasis, noch ist, weil die Klarheit auf beiden Seiten gleich ist, doch unmöglich jemals auszumitteln, auf welcher Seite das Recht sei, und der Streit dauert nach wie vor, wenn die Parteien gleich bei dem Gerichtshofe der Vernunft zur Ruhe verwiesen worden. Es bleibt also kein Mittel übrig, den Streit gründlich und zur Zufriedenheit beider Teile zu endigen, als daß, da sie einander doch so schön widerlegen können, sie endlich überführt werden, daß sie um Nichts streiten ... (KrV III 344f.)
Vergleich Noch immer also steht der Gerichtshof der Vernunft vor der Aufgabe, einen Weg zur „Beilegung eines nicht abzuurteilenden Streites“ zu finden. Das Problem wird dadurch verschärft, dass es um die theoretische Begründbarkeit der kosmologischen Ideen zwar nicht eben gut bestellt zu sein scheint, aber wiederum Kants „praktisches Interesse“ ihre (teilweise) Bestätigung zwingend fordert. Deshalb erinnert Kant an dieser Stelle daran, dass aus dem Vorliegen zweier einander entgegengesetzter Behauptungen nicht schon folgt, dass eine von beiden wahr und eine falsch sein müsse: Es können zum Beispiel auch zwei (einander nicht „analytisch“, sondern „dialektisch“) entgegengesetzte Urteile beide falsch, weil unter falschen Voraussetzungen gebildet sein – oder aber, wie sich später zeigt,
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auch beide richtig sein49. Um „Fehltritte“ im Weiteren zu vermeiden, bestimmt der achte Abschnitt eine Einschränkung zugelassener Beweismittel: ein „regulatives Prinzip der reinen Vernunft in Ansehung der kosmologischen Ideen“, das es verbietet, „in der Reihe der Bedingungen gegebener Erscheinungen“ beim Übergang von einer Bedingung zur nächsten den Regressus willkürlich irgendwo abzubrechen, um dort ein „Schlechthin-Unbedingtes“ zu vermuten. Dieses regulative Prinzip dient sozusagen als eben die Maxime der Mäßigung, die Kant dem Empirismus attestiert hatte: „Denn das Schlechthin-Unbedingte wird in der Erfahrung gar nicht angetroffen.“ (KrV III 350) Der neunte Abschnitt „Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips der Vernunft in Ansehung aller kosmologischen Ideen“ bringt endlich, der Reihe nach, die Auflösung der vier Antinomien, wodurch, so Kant, „der Streit der Vernunft mit sich selbst völlig geendigt“ werde (KrV III 353). Die Auflösung erfüllt zwei Aufgaben: Sie endigt bzw. entlarvt den Widerstreit der Vernunft mit sich selbst, und sie rettet die Moral. Denn angesichts der Maxime der Mäßigung einerseits und des „praktischen Interesses“ andererseits ist dabei eine Frage von besonderem Interesse: Wie ist die für die Moralphilosophie so wichtige „Kausalität durch Freiheit“ zu retten? Offenbar muss der Richter jetzt zwischen den einzelnen Behauptungen der Antinomien Unterschiede machen. Die kosmologischen Behauptungen und Gegenbehauptungen zu Weltanfang und -grenze sowie dem Einfachen und Zusammengesetzten können schlicht „abgewiesen“ werden: Unser Fortschreiten in der Reihe der Bedingungen in den Grenzen der Anschauungsformen Raum und Zeit (also die Synthesis der „Gegenstände der Anschauung“, d. i. unserer Wahrnehmung, als „mathematische“ Synthesis des Gleichartigen) gelangt niemals über die Erscheinungen hinaus zu einem schlechthin Unbedingten. Für die dynamische „Synthesis der Kausalverbindung“ sowie „des Notwendigen mit dem Zufälligen“ (die Synthesis der Erfahrung und des em––––––––––––– 49 Wäre die Welt ein Ding an sich, so wäre sie der Größe nach entweder unendlich oder nicht unendlich (kontradiktorische Opposition). Weil sie aber „gar nicht an sich (unabhängig von der regressiven Reihe meiner Vorstellungen) existiert, so existiert sie weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich endliches Ganzes“ (vgl. KrV III 346f.). Hier kommt das unbestimmte (oder „unendliche“) Urteil ins Spiel: Die Antithese negiert nicht, sondern limitiert lediglich die Sphäre des Begriffs, den die These bejaht. Nur im Falle der Negation wären die in den Plädoyers vorgeführten apagogischen (indirekten) Beweise über die Unmöglichkeit des jeweiligen Gegenteils schlüssig und damit die Aporie unauflösbar. Ausführlich dazu Ishikawa 85-118.
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pirischen Denkens) aber gelten andere Regeln – hier will Kant vielmehr eine Synthesis des Ungleichartigen zulassen50. Erst diese Unterscheidung innerhalb der transzendentalen Ideen eröffnet Kant die Möglichkeit eines Vergleichs der streitenden Parteien, d. i. eine ganz neue Aussicht in Ansehung des Streithandels, darin die Vernunft verflochten ist; und welcher, da er vorher als auf beiderseitig falsche Voraussetzungen gebaut abgewiesen worden, jetzt, da vielleicht in der dynamischen Antinomie eine solche Voraussetzung stattfindet, die mit der Prätension der Vernunft zusammen bestehen kann, aus diesem Gesichtspunkte und, da der Richter den Mangel der Rechtsgründe, die man beiderseits verkannt hatte, ergänzt, zu beider Teile Genugtuung verglichen werden .... (KrV III 360f.)
Dieser Vergleich bringt eine überraschende Pointe: Während bei der Auflösung der ersten beiden Antinomien jeweils beide Behauptungen als falsch abgewiesen werden mussten, können bei den kosmologischen Ideen der Freiheit und der Notwendigkeit sogar auch „alle beide wahr sein“ (KrV III 362). Die entsprechende Auflösung der uns vor allem interessierenden Freiheitsantinomie (die übrigens mehr Raum einnimmt als die aller anderen Antinomien zusammengenommen) ist bereits skizziert worden: Insofern Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst betrachtet sind, sondern „bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen“, so können, ja „müssen“ sie noch Gründe haben, die ihrerseits „nicht Erscheinungen sind“ – bloß „intelligible“ Ursachen (KrV III 365). Daher kann auch in der gleichzeitigen Bejahung von Freiheit einerseits und der durchgängigen (gottgesetzten) Naturkausalität andererseits „der Vernunft ein Genüge getan“ werden. Beides ist denkmöglich. Dieses salomonische Urteil des Gerichtshofes eröffnet der Vernunft einen Weg zur „Zuschreibung“, zu den praktisch-notwendigen Postulaten von Freiheit und Gott. Es bedient damit gleichermaßen das praktische Interesse der Vernunft und das systematische Interesse Immanuel Kants. b) Zwischen Kampf und Rechtsstreit Wie Kants Verhandlung des Theodizeeproblems ist auch seine Argumentationsstrategie zum Widerstreit der reinen Vernunft mit sich selbst von ––––––––––––– 50 Eine „dynamische“ Reihe sinnlicher Bedingungen soll neben sich eine „ungleichartige“, nichtsinnliche Bedingung nicht ausschließen, eine Bedingung also, die „nicht Teil der Reihe ist, sondern als bloß intelligibel außer der Reihe liegt, wodurch denn der Vernunft ein Genüge getan und das Unbedingte den Erscheinungen vorgesetzt wird“ (KrV III 362).
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der „polemischen Beziehung“ von Dogmatismus und Skeptizismus geprägt. Diese polemische Beziehung darf nicht in unaufhebbarer Stasis verharren. Der Konflikt muss einer Entscheidung fähig sein. Allerdings schien doch die gegenseitige Blockade der Streitparteien nur durch einen Vergleich auflösbar, nicht aber dadurch, dass eine Partei die Oberhand gewinnt. Die Polemik der Vernunft müsste sich eigentlich selbst auflösen. Bei genauerem Hinsehen – und im Lichte der oben untersuchten verwandten narrativen Problemverhandlungen – gehört der „Vergleich“ aber noch zur Stufe der „Konfrontation“. Die Auflösung der Antinomie der reinen Vernunft zeigt zwar die Denkmöglichkeit von Thesis und Antithesis: Beide widersprechen einander nicht absolut. Das reicht aber noch nicht: Es fehlt die Zuschreibung, die den Zugang zu den entscheidenden dogmatischen Inhalten herstellt. Deshalb bereitet wie in der KpV eine Interessenabwägung die Entscheidung im Interesse der praktischen Vernunft vor. Allerdings wird das Urteil in der Kritik der reinen Vernunft nur skizziert. Der Prozess wird hier nicht zu Ende geführt. Kants Metaphorik oszilliert dabei auffällig zwischen PROZESS und KAMPF51. Beide Schemata greifen ineinander, sind oft nicht klar zu trennen. Es dominiert das Schema des KAMPFES im Modus des Scheins. Polemische „Abfertigung der Gegner“, so Kant, laufe darauf hinaus, dass „man sich ins Gefecht einließe und mit Beweisgründen zu entgegengesetzten Behauptungen bewaffnete“ (KrV III 493). Der „Kampfplatz“, auf dem die Antithetik der reinen Vernunft ausgetragen werden könnte, „aber trägt keinen Kämpfer in seiner ganzen Rüstung und mit Waffen, die zu fürchten wären“ (KrV III 486). Aufgeklärt durch die Kritik der reinen Vernunft, soll es der Dogmatiker angesichts der „furchtbaren Angriffe“ auf seine Behauptungen lernen zu akzeptieren, dass dieselben „Streiche, die das Gebäude des Feindes niederschlagen“, auch sein eigenes Gebäude zerstören könnten, er aber dessen auch „gar nicht bedarf, darin zu wohnen“ (KrV III 494). Entsprechend kommt die kritische Prüfung der gegensätzlichen Ansprüche zu dem Schluss, dass gar kein Konflikt, kein Kampf, sondern nur ein Scheingefecht statthat: So gibts demnach keine eigentliche Polemik im Felde der reinen Vernunft. Beide Teile sind Luftfechter, die sich mit ihrem Schatten herumbalgen ... Sie haben gut kämpfen:
––––––––––––– 51 Im selben Abschnitt finden sich auch die bereits zitierten Bestimmungen vom Naturzustand der Vernunft, in dem Ansprüche nur durch „Krieg“ und „Sieg“ durchgesetzt werden können, und der dagegen angestrebten „Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen als durch Prozeß“ und der kritische Richterspruch der Vernunft „ewigen Frieden“ stiftet (KrV III 491f.).
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die Schatten, die sie zerhauen, wachsen wie die Helden in Walhalla in einem Augenblicke wiederum zusammen, um sich aufs neue in unblutigen Kämpfen belustigen zu können. (KrV III 494)
Im Hinblick auf die sehr realen Debatten zwischen Theisten, Deisten und Atheisten ist aber ein solches Ergebnis durchaus unbefriedigend. Angesichts der Konzepte, die auf dem Spiel stehen, ist Neutralität unzulässig. Wir dürfen uns nicht im Bewusstsein der Unlösbarkeit der Streitigkeiten zurücklehnen und dem Schaugefecht zusehen: Es gibt aber auch keinen zulässigen skeptischen Gebrauch der reinen Vernunft, welchen man den Grundsatz der Neutralität bei allen ihren Streitigkeiten nennen könnte. Die Vernunft wider sich selbst zu verhetzen, ihr auf beiden Seiten Waffen zu reichen und alsdenn ihrem hitzigsten Gefechte ruhig und spöttisch zuzusehen, sieht aus einem dogmatischen Gesichtspunkte nicht wohl aus, sondern hat das Ansehen einer schadenfrohen und hämischen Gemütsart an sich. (KrV III 494)
Angesichts der unbezwinglichen „Verblendung“ der Dogmatiker scheint zwar gar nichts anderes zu helfen, als „durch den Widerstand eines Feindes“ auch die andere Seite zur Sprache zu bringen, „welche auf eben dieselben Rechte fußet“. Aber dennoch ist der Skeptizismus untauglich, „den Streit der Vernunft mit sich selbst zu beendigen“ und „der Vernunft einen Ruhestand zu verschaffen“; er „ist höchstens nur ein Mittel, sie aus ihrem süßen dogmatischen Traume zu erwecken“ (KrV III 494f.). Die Gegenstände, auf die das Interesse der Vernunft zielt, etwa das Dasein Gottes, sind für die „gute Sache“ nur als „Hypothesen“ verfügbar, die zwar zur „vollständigen Rüstung“ des Philosophen gehören, deren man sich aber nur „gleichsam aus Notwehr“ bedienen soll und die „im Felde der reinen Vernunft nur als Kriegswaffen erlaubt“ seien, „nicht um darauf ein Recht zu gründen, sondern nur um es zu verteidigen.“ Zwar ist man als Verteidiger der „guten Sache“ der Beweislast ledig: „Der Gegner also soll beweisen“ – und kann es natürlich nicht (KrV III 506). Dennoch: Solche Hypothesen, so wenig sie „gegen sich regende Skrupel entbehrt werden“ können, sind nur „problematische Urteile“, die zwar nicht widerlegt, aber auch „durch nichts bewiesen werden können“ (KrV III 509). Die Aufhebung des Wissens, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft betreibt, droht die Pattsituation der Vernunft zu einer unaufhebbaren zu machen. Der einzige Weg, der aus diesem Dilemma herausführt, ist die Ermächtigung der praktischen Vernunft, sich über die Beschränkungen der spekulativen, als dem „Kampfplatz nimmer beizulegender Fehden“, hinwegzusetzen. Dieser Weg wird in der KrV nur vorbereitet: „Es wird sich aber in der Folge zeigen, daß doch in Ansehung des praktischen
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Gebrauchs die Vernunft ein Recht habe, etwas anzunehmen, was sie auf keine Weise im Felde der bloßen Spekulation ohne hinreichende Beweisgründe vorauszusetzen befugt wäre.“ (KrV III 506) Erst die Kritik der praktischen Vernunft vollzieht, was die allegorische Hioblektüre in der Theodizeeschrift als notwendigen, aber dennoch willkürlichen Machtspruch einer sich selbst vergöttlichenden Vernunft inszenieren wird. In beiden Texten dient die Verwendung des narrativen Schemas des Rechtsstreits der Erweiterung des jeweiligen Problemraums, innerhalb dessen nur negative Bestimmungen möglich waren (Stasis). Darüber hinaus aber dient das RECHTSSTREIT-Schema auch einem rhetorischen Zweck: Die willkürliche Entscheidung wird auf einer allegorischen Ebene zusätzlich legitimiert. Mag die Entscheidung auch willkürlich sein, so ist sie doch rechtens, denn im RECHTSSTREIT überwindet die Vernunft den KAMPF und erlangt „ewigen Frieden“. Die systematische Verwendung des narrativen R ECHTSSTREIT-Schemas, oft verknüpft mit dem verwandten Schema des „Kampfes“, ist also bei Kant kein Einzelfall. KrV und KpV führen die Auflösung ihrer Antinomien als Verhandlung von Vernunftansprüchen vor. Die Theodizeeschrift projiziert das RECHTSSTREIT-Schema erfolgreich auf die Verhandlung des Theodizeeproblems. Und auch nach der Theodizeeschrift sind die metaphorisch-narrativen Schemata von Rechtsstreit und Kampf für Kant noch von Interesse, so etwa in der Religionsschrift von 1793. Wie dort „Kampf“ und „Rechtsstreit“ die Argumentation schematisieren, wird bereits aus den Überschriften der einzelnen Stücke des Werks deutlich: Der „menschlichen Natur“ wohnt neben dem „guten Prinzip“ auch das „böse Prinzip“ inne – das „radikale Böse“ (Erstes Stück). Diese beiden Prinzipien stehen miteinander im „Kampf“ um die „Herrschaft über den Menschen“, auf welche beide einen „Rechtsanspruch“ haben (Zweites Stück, Erster und Zweiter Abschnitt). Der „Sieg des guten Prinzips über das böse“ erfordert nichts weniger als die „Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“ (Drittes Stück); die Hervorbringung eines „ethischen“ Gemeinwesens als „Gesellschaft nach Tugendgesetzen“, als „Kirche“, welche nach Kant nur durch Religion unternommen werden kann (Religion VI 94). Gutes und böses Prinzip sind von Kant quasi-narrativ gegeneinander gestellt, im „Kampf“ in eine polemische Beziehung gebracht. Das böse Prinzip, die „Bosheit (des menschlichen Herzens)“ als die dem Guten „entgegenwirkende Ursache des Bösen“, ist der „Feind“ (Religion VI 57). Entsprechend sieht Kant das „intelligible moralische Verhältnis“ beider Prinzipien im Neuen Testament „in der Form einer Geschichte“ darge-
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stellt, die wiederum das RECHTSSTREIT-Schema nutzt: „da zwei, wie Himmel und Hölle einander entgegengesetzte Prinzipien im Menschen, als Personen außer ihm, vorgestellt, nicht bloß ihre Macht gegeneinander versuchen, sondern auch (der eine Teil als Ankläger, der andere als Sachwalter des Menschen) ihre Ansprüche gleichsam vor einem höchsten Richter durchs Recht gelten machen wollen“ (Religion VI 78). Der Sohn Gottes steht für das gute, der Teufel für das böse Prinzip; letzterer will (in Kants Darstellung, die eher der Hiobgeschichte ähnelt) den ersten auf seine Seite ziehen, doch der bleibt trotz aller Anfechtungen standhaft. Zwar ende dieser Kampf der Prinzipien in „physischer“ Hinsicht mit einer Niederlage des guten, Jesus’ Tod, in „rechtlicher“ Hinsicht aber triumphiere dieses, erscheine der Tod Jesu als die „Darstellung des guten Prinzips, nämlich der Menschheit, in ihrer moralischen Vollkommenheit“ in einem „wirklichen Menschen“ (Religion VI 81f.). Der aber ist nicht umsonst Gottes Sohn: Die Opposition „Gott“ vs. „Satan“ in der Bibel ist die bei weitem gebräuchlichste Dramatisierung dieses Dualismus von Gut und Böse. Der christliche Verfechter dieses Dualismus muss sich allerdings jene Frage stellen lassen, die Kant als Frage eines Irokesen an einen Missionar zitiert: „aber warum schlägt Gott den Teufel nicht tot?“ Der Grund ist, nach Kant, die menschliche Freiheit: „was sie Gutes oder Böses treffen soll, das sollen sie sich selbst zuzuschreiben haben“ (Religion VI 79). Damit oszilliert auch hier die RICHTER-Position im RECHTSSTREIT-Schema zwischen zwei Aktoren: In erster Instanz ist es der Mensch selber, der für sich und immer wieder den Kampf der Prinzipien entscheidet (als der „Richter, der in ihm selbst ist“, aber vorgestellt als ein künftiger Richter, dem „sein ganzes Leben“ zur Beurteilung vorliegt; Religion VI 77). In letzter Instanz jedoch muss Gott selber der Richter sein: Nur er kann dem guten Prinzip endgültig zum Sieg verhelfen. Denn dazu müsste der Mensch aus dem „ethischen Naturzustande“ heraustreten, den Kant analog zum „juridischen Naturzustand“ als ein „Zustand des Krieges“, der „unaufhörlichen Befehdung des guten Prinzips ... durch das Böse“ versteht (Religion VI 96f.): In beiden Naturzuständen „gibt ein jeder selbst sich das Gesetz“ und ist „sein eigner Richter“ (Religion VI 95). Die (ganze) Menschheit müsste statt dessen in den „gesetzlichen“ Zustand52 eines „ethischen gemeinen Wesens“ eintreten. Ob ein solches vollkommenes „System wohlgesinnter Menschen“ in unse––––––––––––– 52 Vgl. oben S. 515 zur Entgegensetzung vom Stand der Natur und „gesetzlichem“ Zustand in der KrV.
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rer Macht steht, ist fraglich, und deshalb ist, so Kant, als Voraussetzung die Idee eines „höhern moralischen Wesens“ notwendig (Religion VI 98): „Ein moralisches Volk Gottes zu stiften ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann.“ (Religion VI 100) Der Kampf von gutem und bösem Prinzip im Menschen ist also von diesem allein nicht endgültig zu entscheiden; die letzte Hilfe kommt, wenigstens der Idee nach, von Gott. Damit variiert auch die Religionsschrift ein grundlegendes narratives Darstellungsschema, das wir als Basisschema narrativer Problemlösungen bezeichnet hatten: Zwei in eine polemische Beziehung gebrachte narrative Programme blockieren sich gegenseitig (Stasis). Die Blockade kann nur aufgelöst werden, wenn eine Seite die Oberhand gewinnt, indem ihr von einer übergeordneten, entscheidenden Instanz explizit der Vorzug bzw. „Recht gegeben“, der Primat zuerkannt wird (narratives Urteil)53. Ausdrückliches, wenn auch ideales Ziel dieser Operation ist eine endgültige Problemlösung – „ewiger Frieden“. 6. Von Wissen, Glauben und Hoffen Machtspruch Wohin du blickst, ist Kampf auf Erden. Wohin du blickst, kann Friede werden. (Richard Dehmel, Erlösungen)
a) Unsicherer Friede: Glaube und Fiktionsverdacht Ideales Ziel von Problemverhandlungen wäre – zumindest in der Philosophie – in der Regel eine abschließende Lösung – ein „ewiger Friede“. So beansprucht die Theodizeeschrift nach Prüfung der im „Rechtshandel vor dem Gerichtshofe der Vernunft“ beteiligten Ansprüche „diesen Proceß für immer zu endigen“ (Theodizee VIII 263). Der „Gerichtshof“ der Kritik der reinen Vernunft führt seine Verhandlung gerechtfertigter Vernunftansprüche mit dem Ziel, den Streit der Vernunft mit sich selbst „völlig“ zu endigen (vgl. KrV III 353), „ein dauerhaft ruhiges Regiment der Vernunft über Verstand und Sinne“ (KrV III 323) und damit einen „ewigen Frie––––––––––––– 53 Der physikalischen Deutung der Stasis korrespondiert bei Kant die Rede von verschiedenen „Triebfedern“, als welche im Menschen die Wirksamkeit des guten und bösen Prinzips vorgestellt wird. Ob „der Mensch gut oder böse sei“, liegt in der „Unterordnung ...: welche von beiden er zur Bedingung der andern macht“ (Religion VI 36).
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den“ zu installieren. Und auch in der Religionsschrift gibt Kant seiner Hoffnung Ausdruck, das gute Prinzip werde den „Sieg über das Böse“ behaupten und „unter seiner Herrschaft der Welt einen ewigen Frieden“ sichern (Religion VI 124). 1795 äußert sich Kant bekanntlich auch zum „ewigen Frieden“ in der Politik (den er als Folge fortschreitend Raum greifender Rechtsverhältnisse, zumindest in unendlicher Annäherung, für praktisch möglich und letztlich durch göttliche Vorsehung garantiert hält; Frieden VIII 360f.). 1796/97 dann erscheint seine „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie“. Diese Verkündigung trägt das bekannte Motiv der Wahrhaftigkeit aus der Religion in die Philosophie: Ewiger Frieden könnte bis in alle Zukunft gesichert werden, wenn das Gebot „Du sollst nicht lügen“ in der Philosophie ausreichend Beachtung fände; und „Lüge“ ist nicht nur die wissentliche Behauptung des Unwahren, sondern auch, „wenn man etwas für gewiss ausgibt, wovon man sich doch bewusst ist subjektiv ungewiß zu sein“ (Verkündigung VIII 421f.). Dazu zählen die übersinnlichen Gegenstände unserer Erkenntnis, deren „Postulat“ eben nicht ihre Existenz, ihre „objektive Realität in theoretischer Hinsicht“ behauptet, sondern „nur eine Maxime (Regel) der Handlung eines Subjekts“54. Ewiger Frieden wäre nur erreichbar, wenn die Vernunft auf Gewissheit verzichtete. Es bleibt der Verdacht, dass wir uns mit „unsicherem Frieden“ begnügen müssen. Der Verzicht auf Gewissheit – die Aufhebung des Wissens, um dem Glauben Platz zu machen – war das Ziel des Gerichtshofs der reinen Vernunft 55. Zwar versichert sich die reine Vernunft immer wieder der Mög––––––––––––– 54 „Postulat ist ein a priori gegebener, keiner Erklärung seiner Möglichkeit (mithin auch keines Beweises) fähiger praktischer Imperativ. Man postulirt also nicht Sachen, oder überhaupt das Dasein irgend eines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime (Regel) der Handlung eines Subjects. – Wenn es nun Pflicht ist zu einem gewissen Zweck (dem höchsten Gut) hinzuwirken, so muß ich auch berechtigt sein anzunehmen: daß die Bedingungen da sind, unter denen allein diese Leistung der Pflicht möglich ist, obzwar dieselben übersinnlich sind, und wir (in theoretischer Rücksicht) kein Erkenntniß derselben zu erlangen vermögend sind“ (Kant, Verkündigung, VIII 418, Anm.). 55 „Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten benehme ... Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatism der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist“ (KrV, Vorrede zur 2. Auflage, III 18f.).
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lichkeit ihrer „Kardinalsätze“ (KrV III 519) von Willensfreiheit, Unsterblichkeit oder dem Dasein Gottes und kann sich in der Tat darauf verlassen, dass niemand diese Sätze jemals widerlegen wird (vgl. KrV III 486). Ebenso wenig aber können diese Sätze bewiesen werden. Sicheres Wissen bleibt jenseits des Erreichbaren. Nach dem Verdikt des Gerichtshofes, so versichert Kant den Lesern der KrV, „bleibt euch noch genug übrig, um die vor der schärfsten Vernunft gerechtfertigte Sprache eines festen Glaubens zu sprechen, wenn ihr gleich die des Wissens habt aufgeben müssen“ (III 487). Dennoch: Auch in Glaubensfragen fällt der Verzicht auf Wissen nicht leicht. Im Denken Kants steht die Frage nach Gott stets in einem Spannungsfeld von Wissen, Glauben und Hoffen. Lange Zeit lag ja Kants Beschäftigung mit dieser Frage gerade das Streben nach einem sicheren Wissen von Gott, nach einer Demonstration seiner Existenz und seiner Eigenschaften zugrunde. Kants spätere Einsicht, dass ein solches Wissen unerreichbar bleiben muss, wertete einerseits den Glauben auf, nahm aber andererseits der Hoffnung auf eine ‚moralische Welt‘ scheinbar jedes Fundament. Das Bedürfnis nach Gewissheit muss unbefriedigt bleiben. Auch wenn der Gottesbegriff Kants im Laufe der Jahre eine wechselhafte Entwicklung durchgemacht hat, liegt seinen verschiedenen Stellungnahmen zum Gottesproblem eine gemeinsame Intention zugrunde: der „Versuch eines rational verantwortbaren Weges zur Gotteserkenntnis“. Ziel ist ein „Zugang zu Gott“ (Sala 5), der den kritischen Ansprüchen der Vernunft ebenso gerecht wird wie den Forderungen der Religion. Insofern ist Mendelssohns Charakterisierung des „alles zermalmenden Kants“56 zu relativieren: Kants lebenslange Beschäftigung mit dem Gottesbegriff weist ebenso starke konstruktive wie destruktive Züge auf. Die Aufhebung des Wissens sollte Platz für den Glauben machen. Glauben allerdings ist nicht vor Zweifeln gefeit, und von der Bestimmung als „Ideal“ zum Verdacht der „Fiktion“ ist es für manchen nur ein kleiner Schritt57. Gerade beim späten Kant, vor allem im Opus postumum, finden ––––––––––––– 56 Moses Mendelssohn, Morgenstunden, oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, 3. 57 „So können wir für den Gottesbegriff, wie ihn die KrV entfaltet ..., das Fazit ziehen: ‚Gott‘ ist eine von Raum und Zeit unabhängige, übersinnliche, bloß denkerische, aber selbst im Denken nicht greifbare Fiktion (eben ‚nur eine Idee‘), auf deren Wirklichkeit gerade darum in der sinnlich-empirischen Welt überhaupt nichts hinweist und auch nichts hinweisen kann“, so Michels unbefriedigtes Resümee (Michel 220f.). Sala spricht vom „erkenntnismäßigen Zwitterstatus“ des Gottespostulats: „Je nachdem ...
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sich durchaus Äußerungen in dieser Richtung. „Gott ist nicht ein Wesen außer Mir sondern blos ein Gedanke in Mir“, „blos ein moralisch Verhältnis in Mir“, so heißt es da, und: „Gott ist nicht ein ausser mir bestehendes Ding, sondern mein eigener Gedanke. Es ist ungereimt zu fragen ob ein Gott sey. Ein verbum personale ist zur Gramatik gehörig“ 58. Wenn auch in früheren Werken die Konsequenz des Fiktionsverdachtes nicht ausgesprochen wird, so ist sie vielleicht auch schon dort präsent (vgl. Anm. 57 auf S. 530). Sie würde Kants Rhetorik der Gewissheit motivieren, die (seine Argumentation von der Denkmöglichkeit Gottes ergänzende) eindringliche Rede von ‚Beweis‘ und ‚Notwendigkeit‘ selbst dort, wo die eigentlichen (spekulativen) Beweise bereits sämtlich als widerlegt gelten müssen. b) Notwendig möglich: Rhetorik der Gewissheit Beweise, so Kant in der Kritik der Urteilskraft, sollen nicht überreden, sondern überzeugen. Der teleologische Beweis, wie die natürliche Theologie ihn führt, sei nur ein „Scheinbeweis“, wenn er auch gemeinhin nicht nur Überredung, sondern oft gar einen „heilsamen Schein“ bewirke (vgl. KU V 461f.). Beweise wiederum, die „auf Überzeugung angelegt“ sind, zielen nach Kant entweder darauf, was ein Gegenstand „an sich“ sei, oder „was er für uns (Menschen überhaupt) nach den uns nothwendigen Vernunftprincipien seiner Beurtheilung sei“ (KU V 462f.). Angesichts des Daseins Gottes als moralischer Welturheber muss die erste Beweisart scheitern – dafür ist „schlechterdings kein Beweis in theoretischer Absicht, um auch nur den mindesten Grad des Fürwahrhaltens zu wirken, für ––––––––––––– muß man von einem bloß fiktiven Charakter oder aber vom Wirklichkeitscharakter der postulatorischen Metaphysik Kants sprechen“ (Sala 423). 58 Opus Postumum, I.Convolut, AA XXI, S. 145, 149, 153. Nach Michel (mit Verweis auf Adela Cortina, „Die Auflösung des religiösen Gottesbegriffs im Opus postumum Kants“, in: Kant-Studien 75, Berlin, S. 398-419) unterziehe Kant im Opus postumum „seinen eigenen Gottesbegriff einer tieferen kritischen Durchleuchtung ..., die auf eine ‚Auflösung des theoretischen und praktischen Begriffs Gottes‘ hinausläuft, denn ‚sie löst den transzendentalen Schein auf...‘, der in einer mit keiner Notwendigkeit mehr haltbaren Hypostasierung bestand, zuletzt in einer ‚Hypostasierung der praktischen Vernunft‘“ (Michel 235) Die Wurzel dieser Gefahr sieht Michel in Kants erkenntnistheoretischer Bestimmung des Unzugänglichkeit Gottes für die Erfahrung, und er will demgegenüber auf einer möglichen „Gotteserfahrung“ bestehen, die aber nur als geschichtliche (in der Bibel bezeugte), also als lange vergangene Erfahrung vertreten werden kann, so dass dann aufs Neue das Problem der Nachfahren Hiobs sich stellt, denen Gott nicht mehr persönlich erscheint.
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die menschliche Vernunft möglich“. Deshalb auch weist Gott in Kants Hiobdeutung die Reden der Freunde zurück: Inhaltlich ist ihr Insistieren auf der Weisheit und Gerechtigkeit Gottes und also auf einem gerechten Tun-Ergehen-Zusammenhang mit Kants Gottesbegriff als weiser Welturheber und Garant eines transzendentalen Tun-Ergehen-Zusammenhangs nicht unvereinbar. Seine dogmatische Behauptung aber ist Hybris. Es bleibt nur das Fürwahrhalten im „praktischen Glauben“ (KU V 466), der sich, wie bei Hiob, auf die Moral stützt. Dieser Glaube aber muss, so Kant, ebenfalls hinreichend überzeugend sein – „denn ohne ihn hat die moralische Denkungsart bei dem Verstoß gegen die Aufforderung der theoretischen Vernunft zum Beweise (der Möglichkeit des Objects der Moralität) keine feste Beharrlichkeit, sondern schwankt zwischen praktischen Geboten und theoretischen Zweifeln“ (KU V 472). Tatsächlich soll sich selbst der moralische Glaube auf Überzeugung stützen können: Denn für ihn sprächen Beweise der letztgenannten Art (nach für uns notwendigen Prinzipien) – lege aber ein solcher Beweis „ein praktisches Vernunftprincip zum Grunde (welches mithin allgemein und nothwendig gilt), so darf er wohl auf eine in reiner praktischer Absicht hinreichende, d. i. moralische, Überzeugung Anspruch machen“ (KU V 462f.). Der Überzeugungskraft von Argumenten hilft traditionell Rhetorik nach. Die Verwendung des narrativen RECHTSSTREIT-Schemas in der Theodizeeschrift, in KpV und KrV dient – so meine These – nicht zuletzt auch rhetorischen Zwecken. Die Kritik der Vernunft hatte endgültig die spekulativen Verknüpfungsregeln entwertet, die das Dasein Gottes und das Dogma vom gerechten Tun-Ergehen-Zusammenhang begründet hatten. Der immer wieder begegnenden Erfahrung ausbleibender Gerechtigkeit kann Kant nur den Nachweis der Möglichkeit, genauer der Denkmöglichkeit dieses Zusammenhangs in der Idee des höchsten Guts entgegensetzen: Denn es sei immerhin „möglich“, ein Dasein vernünftiger Wesen als „Noumenon in einer Verstandeswelt“ zu denken und damit wiederum „nicht unmöglich“, dass Sittlichkeit einen „notwendigen Zusammenhang, als Ursache, mit der Glückseligkeit, als Wirkung in der Sinnenwelt habe“ (KpV V 114f.). Auf dem Weg von der bloßen Möglichkeit zu hinreichender Gewissheit aber tut sich mancher Abgrund auf, den nur Rhetorik überbrücken kann. In der Theodizeeschrift entscheidet das narrative Urteil die Stasis von Dogma und Skeptizismus zugunsten der dogmatischen Sätze, aber mit dem ausdrücklichen Eingeständnis ihrer theoretischen Überschwänglichkeit. In der Auflösung der „Antinomie der praktischen Vernunft“ wird der
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Widerstreit von theoretischer Vernunft, die ihre Beschränkungen einsieht, und praktischer Vernunft, die das Bedürfnis nach Gott, Unsterblichkeit und dem transzendentalen Tun-Ergehen-Zusammenhang geltend macht, durch die Ermächtigung der praktischen Vernunft zum Postulat des theoretisch Unerreichbaren beendet. Das RECHTSSTREIT-Schema selbst – auch als Fortschritt gegenüber dem Schema des KAMPFES – liefert zusätzliche Verknüpfungsregeln, um diese theoretisch willkürlichen Entscheidungen allegorisch zu legitimieren, das heißt überzeugend ihre Rechtmäßigkeit zu kommunizieren. Diese rhetorische Funktion narrativer Strategien ergänzt eine Rhetorik der Gewissheit, die zum Ausgleich des Fiktionsverdachtes in zahlreichen Textstellen Kants die (praktisch) notwendige Geltung der benötigten Sätze beschwört. Die Bedeutung von „Notwendigkeit“ oszilliert dabei zwischen einer logisch-sachlichen (und somit beweiskräftigen) Notwendigkeit und einer Notwendigkeit als Bedürfnis nach der Geltung bestimmter Sätze. Sollen und Müssen gehen bei Kants „moralischem Glauben“ fließend ineinander über. Während der „doktrinale Glaube ... etwas Wankendes in sich“ hat, verspricht der „moralische Glauben“ Sicherheit: Denn da ist es schlechterdings notwendig, daß etwas geschehen muß, nämlich daß ich dem sittlichen Gesetze in allen Stücken Folge leiste. Der Zweck ist hier unumgänglich festgestellt, und es ist nur eine einzige Bedingung nach aller meiner Einsicht möglich, unter welcher dieser Zweck mit allen gesamten Zwecken zusammenhängt und dadurch praktische Gültigkeit habe: nämlich daß ein Gott und eine künftige Welt sei; ich weiß auch ganz gewiß, daß niemand andere Bedingungen kenne, die auf dieselbe Einheit der Zwecke unter dem moralischen Gesetze führen. (KrV III 536)
Und so „werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben und bin sicher, daß diesen Glauben nichts wankend machen könne“ (ebd.). „Schlechterdings notwendig“, „unumgänglich“, „ganz gewiß“, „unausbleiblich“: In der rhetorischen Beschwörung des Unerreichbaren werden die bloße Möglichkeit Gottes und der damit einhergehende Fiktionsverdacht kompensiert. Es sei unbezweifelbare Vorrausetzung, dass es „einen schlechterdings notwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (den moralischen) gebe, in welchem sie sich unvermeidlich über die Grenzen der Sinnlichkeit erweitert“ (KrV, Vorrede 2. A., III 16). Auch Gott und ein künftiges Leben können von daher mit „Notwendigkeit“ angenommen werden. Da die Vernunft es „notwendig zum Grundsatze annehmen muß“, dass alles in der Welt einer „Ordnung der Zwecke“ unterliegt, gewinnen für Kant auch die Beweise für ein künftiges Leben „an Klarheit und ungekünstelter Überzeugung“. Das morali-
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sche Gesetz im Menschen muss auf einen Zweck zielen, der verwirklicht werden kann: dieser „mächtige, niemals zu widerlegende Beweisgrund“ (KrV III 277) bleibt über alle Zweifel erhaben. Die Pflicht, das Sollen ist „ungezweifelt gewiß“, aber bedingt, die Existenz Gottes ist die „schlechthin notwendige“ Bedingung dafür (KrV III 421). „Ohne allen Zweifel“ können wir nicht nur, sondern „müssen“ wir sogar „einen einigen weisen und allgewaltigen Welturheber ... voraussetzen“ (KrV III 458). Wir „müssen“ uns „notwendigerweise“ als zu einer moralischen Welt gehörig vorstellen, und deshalb sind Gott und ein künftiges Leben zwei von der uns notwendig auferlegten moralischen Verbindlichkeit „nicht zu trennende Voraussetzungen“ (KrV III 526). Diese Beschwörung der Notwendigkeit zeigt, dass es um mehr geht als um eine einfache Ersetzung des Wissens durch den Glauben. Zwar ist der Glaube das einzig Erreichbare, aber es steht zuviel auf dem Spiel, dass man nicht doch auch Gewissheit wollte. Der Gottesbegriff hat einen zu hohen Stellenwert im moralphilosophischen System, als dass man ihn leichten Herzens jener Unwissbarkeit überlassen könnte, zu der die Kantsche Erkenntnislehre ihn verurteilt hatte. Wenn schon nicht Wissen von Gott, so doch hinreichende Gewissheit – um die von keiner Erfahrung gestützte Hoffnung begründen zu können, dass derjenige, der tut, was er tun soll, dafür dereinst auch angemessen entlohnt wird. Diese Gewissheit ist „nicht logische, sondern moralische Gewißheit“, aber eben doch Gewissheit, von der Kant ausschließt, dass sie ihm „jemals entrissen werden könne“ (KrV III 536f.). Dem entspricht die Überzeugung, dass die Ideen der reinen Vernunft gar nicht widersprüchlich sein können. Wer Widersprüche zu finden meint, gehört zum „Pöbel der Vernünftler“: Die Ideen der reinen Vernunft können nimmermehr an sich selbst dialektisch sein, sondern ihr bloßer Mißbrauch muß es allein machen, daß uns von ihnen ein trüglicher Schein entspringt; denn sie sind uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben, und dieser oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation kann unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten. Vermutlich werden sie also ihre gute und zweckmäßige Bestimmung in der Naturanlage unserer Vernunft haben. Der Pöbel der Vernünftler schreit aber, wie gewöhnlich, über Ungereimtheit und Widersprüche, und schmähet auf die Regierung, in deren innerste Plane er nicht zu dringen vermag, deren wohltätigen Einflüssen er auch selbst seine Erhaltung und sogar die Kultur verdanken sollte, die ihn in den Stand setzt, sie zu tadeln und zu verurteilen. (KrV III 442)
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In der KrV verharrte die Existenz Gottes noch im Stand der „Hypothese“ 59. Erst die KpV vollzieht den Machtspruch explizit. Es ist „unleugbar“, dass reine Vernunft dem Menschen („unbestechlich und durch sich selbst gezwungen“) ein allgemeines Sittengesetz gibt, ein Gesetz, welches „als Imperativ ... kategorisch gebietet“ – (KpV V 32). Das höchste Gut ist a priori, praktisch und moralisch „notwendig“ (KpV V 113), der „notwendige höchste Zweck eines moralisch bestimmten Willens“ (KpV V 115). So erhalten auch die Ideen von Gott und Unsterblichkeit „vermittelst des Begriffs der Freiheit objektive Realität und Befugnis, ja subjektive Notwendigkeit (Bedürfnis der reinen Vernunft) sie anzunehmen“ (KpV, Vorrede, V 4f.). Der Begriff der Freiheit selber hat „objektive“ und „unbezweifelte Realität“ (KpV V 49), sie ist eine „Tatsache“ (KU V 468). Die Postulate Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und der Willensfreiheit wiederum sind darum „hinreichend beglaubigt“ (KpV V 121). In der KU konzediert Kant in vergleichbarer Weise zwar die „unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen“, zwischen welchen „kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfluß haben kann“ – aber es „soll doch diese auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme. – Also muß es doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben ...“ (KU V 176) Dem teleologischen „Beweis“ vom a priori gegebenen moralischen Zweck auf die Möglichkeit seines Objekts (des höchsten Guts) und damit die Bedingung dieser Möglichkeit (Gott) könne man „leicht logische Präzision anpassen“ (KU V 450), und die korrespondierende Behauptung, dass der Mensch als moralisches Wesen „Endzweck“ der ganzen Schöp––––––––––––– 59 Allerdings deutet Kant bereits an, er werde „künftig von den moralischen Gesetzen zeigen, daß sie das Dasein eines höchsten Wesens nicht bloß voraussetzen, sondern auch, da sie in anderweitiger Betrachtung schlechterdings notwendig sind, es mit Recht, aber freilich nur praktisch, postulieren; jetzt setzen wir diese Schlußart noch beiseite“ (KrV III 422). Zur Unterscheidung von Supponieren (per hypothesin) und Postulieren (per thesin) siehe KrV III 421.
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fung sein müsse, sei „ein Urtheil, dessen sich selbst der gemeinste Verstand nicht entschlagen“ könne (KU V 442). Auch in der Religionsschrift „muss“ der Schluss vom Sollen auf das Können „unausbleiblich“ zur Begründung des Gottesbegriffs führen: Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Guts (als Zwecks) gedacht werden soll: so muß, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein, zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion. (Religion VI 7, Vorrede zur 1. Auflage, Anm.)
Etwas, das sein soll, muss sein können, und deshalb muss die Bedingung seiner Möglichkeit existieren. „Denn, wenn das moralische Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein; so folgt unumgänglich, wir müssen es auch können.“ (Religion VI 50) Die Idee Gottes, die „personifizierte Idee des guten Prinzips“ und „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ (Religion VI 60f.), ist uns praktisch gewiss. „Diese Idee hat ihre Realität in praktischer Beziehung vollständig in sich selbst. Denn sie liegt in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft. Wir sollen ihr gemäß sein, und wir müssen es daher auch können.“ (Religion VI 62) Andere Formulierungen Kants allerdings scheinen geradezu den willkürlichen Charakter der postulatorischen Festlegungen zu betonen. Besonders deutlich wird dieser Eindruck einer Fiktionalität der Ideen des höchsten Guts, des höchsten Wesens oder des Endzwecks dort, wo unsere Vernunft selbst ein „als ob“ gebietet: Das „Ideal des höchsten Wesens“ ist nichts anderes als „ein regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen notwendigen Ursache entspränge“ (KrV III 412f.). Weil der Begriff einer höchsten Intelligenz „eine bloße Idee“ sei, müssten die Dinge der Welt „so betrachtet werden, als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten.“ Endlich und drittens müssen wir (in Ansehung der Theologie) alles, was nur immer in den Zusammenhang der möglichen Erfahrung gehören mag, so betrachten, als ob diese eine absolute, aber durch und durch abhängige und immer noch innerhalb der Sinnenwelt bedingte Einheit ausmache, doch aber zugleich, als ob der Inbegriff aller Erscheinungen, (die Sinnenwelt selbst), einen einzigen obersten und allgenugsamen Grund außer ihrem Umfange habe, nämlich eine gleichsam selbständige ursprüngliche und schöpferische Vernunft, in Beziehung auf welche wir allen empirischen Gebrauch un-
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serer Vernunft in seiner größten Erweiterung so richten, als ob die Gegenstände selbst 60 aus jenem Urbilde aller Vernunft entsprungen wären ...
Dem Gebot des „als ob“ korrespondiert nicht zuletzt ein subjektives Bedürfnis nach Gott, das Kant in der KU sehr anschaulich beschrieben hat: Ein glücklicher Mensch „fühlt ... in sich ein Bedürfnis, irgend jemand dafür dankbar zu sein“; ein sich in Pflichterfüllung aufopfernder Mensch „fühlt ... in sich ein Bedürfnis, hiermit zugleich etwas Befohlenes ausgerichtet und einem Oberherren gehorcht zu haben.“ Macht sich jemand einer unbedachtsamen Pflichtverletzung schuldig, so werden die „strengen Selbstverweise“ seines Gewissens „eine Sprache in ihm führen, als ob sie die Stimme eines Richters wären, dem er darüber Rechenschaft abzulegen hatte.“ Kurz, der Mensch „bedarf einer moralischen Intelligenz, um für den Zweck, wozu er existiert, ein Wesen zu haben, welches diesem gemäß von ihm und der Welt die Ursache sei.“ Die Gefühle von Dankbarkeit, Gehorsam, und Demütigung (d. i. „Unterwerfung unter verdiente Züchtigung“ veranlassen das zur Erweiterung seiner moralischen Gesinnung bereite Gemüt, sich freiwillig einen „Gegenstand“ zu denken, der „nicht in der Welt ist“, um „auch gegen einen solchen seine Pflicht zu beweisen ..., d. i. ein moralisch-gesetzgebendes Wesen außer der Welt, ohne alle Rücksicht auf theoretischen Beweis“ (KU § 86 Anm., V 445f.). Die Einsicht in das subjektive Bedürfnis nach einem nicht in der Welt existierenden Wesen „ohne alle Rücksicht auf theoretischen Beweis“, die Betrachtung der Welt, „als ob“ ein Gott in und über ihr walte – all das nährt den Fiktionsverdacht, dem Kants Erkenntnistheorie Tür und Tor geöffnet hatte. Die versichernde Rhetorik der Gewissheit, die dem bloß möglichen Postulierten beisteht, scheint nicht zuletzt diesen Fiktionsverdacht abwehren zu wollen. Sie kulminiert in der Schrift Über das Misslingen, angesichts des Theodizeeproblems, in zweifacher Weise: Als „authentische Theodizee“ fordert die „machthabende“ urteilende Vernunft die Autorität der höchsten denkbaren Instanz, zielt sie auf Gewissheit. Gleichzeitig aber enthält die Rede vom Machtspruch der Vernunft ein Bekenntnis zur eigenen Willkür. Ihren „Begriff von Gott als einem moralischen und weisen Wesen“ fasst die praktische Vernunft „notwendig und vor aller Erfahrung“, also a ––––––––––––– 60 Kant, KrV III 443f. Zur Betonung des „als ob“ vgl. neben den gerade zitierten Stellen auch u. a. KrV III 447, 449, 451, 453. Im Aufsatz „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“ (1796) formuliert Kant, dass an Gott praktischmoralisch zu glauben heißt „so zu handeln, als ob eine solche Weltregierung wirklich wäre“ (AA VIII 397).
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priori (Theodizee VIII 264). Spätestens angesichts des Theodizeedilemmas aber ist die reine Denkmöglichkeit dieses Begriffs (als erfahrungsunabhängig) zu wenig. Denn die Auflösung des Widerspruchs von Dogma und Erfahrung verlangt jetzt auch eine Abwertung der Erfahrungen des Übels, des Bösen und der Leiden als bloße Erscheinungen, die den transzendentalen Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht widerlegen – eine Abwertung, die gewaltsam vollzogen werden muss. „Göttlicher Machtspruch“, „authentisch“ und „machthabend“ sind in Kants Text hervorgehoben (ebd.). Vielleicht ist die Rede vom „Machtspruch“ der Vernunft auch ein Indiz dafür, dass Kant selbst für diese gewissermaßen gewaltsame Rettung seiner Moralphilosophie in der Postulatenlehre einen Rechtfertigungsbedarf sieht. (Für das Buch Hiob jedenfalls beweisen diesen Rechtfertigungsbedarf die vielen Stimmen, die die Gottesreden als unzulässige Willkür verurteilen.) c) Machtsprüche: Die Willkür der Vernunft Die Unterscheidung von doktrinaler und authentischer Theodizee rechtfertigt den „Machtspruch der Vernunft“ als göttliches Urteil der letzten Instanz. Der Terminus „Machtspruch“ selber ist aber zwiespältig, auch bei Kant selbst. Kants Analyse des Urteilens in der Kritik der Urteilskraft macht zunächst deutlich, dass angesichts des zentralen Problems des transzendentalen Tun-Ergehen-Zusammenhangs gar keine anderen als willkürliche Urteile – nämlich solche der reflektierenden Urteilskraft – möglich sind. Die Urteilskraft ist die Brücke zwischen Naturgesetzlichkeit und Freiheitsgesetzlichkeit, zwischen Verstand und Vernunft. Urteilskraft ist nach Kant ein a priori gesetzgebendes „Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“. Ist „die Regel, das Prinzip, das Gesetz“ – die Verknüpfungsregel – gegeben, so ist die Urteilskraft „bestimmend“. Ist dagegen nur das Besondere gegeben, so dass die Urteilskraft das Gesetz selbst finden muss, so ist die Urteilskraft „bloß reflectirend“ (KU V 179). Der Schluss auf Gott als Garant des transzendentalen Tun-ErgehenZusammenhangs kann nur das Werk dieser teleologisch reflektierenden Urteilskraft sein61. Durch den (willkürlichen) Begriff einer „Zweckmäßig––––––––––––– 61 „Daß nun zu dieser Schöpfung, d. i. der Existenz der Dinge gemäß einem Endzwecke, erstlich ein verständiges, aber zweitens nicht bloß (wie zu der Möglichkeit der Dinge der Natur, die wir als Zwecke zu beurtheilen genöthigt waren) ein verständiges, sondern ein zugleich moralisches Wesen als Welturheber, mithin ein Gott angenommen werden
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keit der Natur“ im Modus des Als-ob überwindet sie die „große Kluft“ zwischen beiden Gesetzgebungen, die „das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt“ (KU V 195f.) – muss dazu allerdings das teleologische Zweckdenken zu einem absoluten „transzendentalen Prinzip“ erheben (V 181), dessen Anwendung auf das „Ganze“ dieses als zweckgerichtete Schöpfung eines weisen Urhebers erscheinen lässt. Mit Hilfe der reflektierenden Urteilskraft aber urteilt Vernunft per definitionem ohne Gesetz, und tut sie das in einem „Rechtsstreit“, so muss sie strenggenommen „Machtsprüche“ fällen. In der Metaphysik der Sitten setzt Kant den Machtspruch dem öffentlichen Gesetz entgegen und definiert ihn als „einen Act des Majestätsrechts, der, als Begnadigung, nur immer in einzelnen Fällen ausgeübt werden kann“ (MS VI 334). Im selben Werk findet sich eine positive Verwendung des Terminus, die der im Theodizeeaufsatz nahe steht: Es ist uns unmöglich zu begreifen, wie Gott freie Wesen erschaffen kann, aber dass wir Menschen „doch frei sind, beweiset der kategorische Imperativ in moralisch-praktischer Absicht, wie durch einen Machtspruch der Vernunft, ohne daß diese doch die Möglichkeit dieses Verhältnisses einer Ursache zur Wirkung in theoretischer begreiflich machen kann, weil beide übersinnlich sind.“ (MS VI 280 Anm.). Dagegen wird der Begriff „Machtspruch“ (Sg.+Pl.) in der Kritik der reinen Vernunft zweimal ausschließlich in ablehnender Weise verwendet (in den anderen Kritiken kommt er nicht vor). In der Vorrede zur ersten Auflage spricht Kant davon, dass der Gerichtshof der Vernunft dieselbe bei ihren „gerechten Ansprüchen“ sichern und „alle grundlosen Anmaßungen nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen abfertigen“ solle (KrV IV 9). Das Prozess-Schema ist bereits aktiviert; kritische Vernunft soll sich willkürlicher Urteile enthalten. Das zweite Mal spricht Kant im „Anhang zur transzendentalen Dialektik“ am Ende des ersten Teiles der KrV von einem „Machtspruch einer transscendenten Vernunft“ als „fauler Vernunft“ (vgl. KrV III 454). Auch in der Theodizeeschrift verwendet Kant Begriff und Bild des „Machtspruchs“ fast ausschließlich in ablehnender Bedeutung. Gleich zu Beginn fordert Kant, dass der Verfasser einer Theodizee den Ankläger „während des Rechtsganges nicht durch einen Machtspruch der ––––––––––––– müsse: ist ein zweiter Schluß, welcher so beschaffen ist, daß man sieht, er sei bloß für die Urtheilskraft nach Begriffen der praktischen Vernunft und als ein solcher für die reflectirende, nicht die bestimmende Urtheilskraft gefällt“ (KU V 455).
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Unstatthaftigkeit des Gerichtshofes der menschlichen Vernunft (exceptionem fori) abweisen“ dürfe (Theodizee VIII 255). Wenig später weist er die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode, wie er sie selbst im Satz von der Unsterblichkeit der Seele als praktisch notwendig postuliert, als einen „Machtspruch der moralisch – gläubigen Vernunft“ zurück, wodurch „der Gläubige zur Geduld verwiesen, aber nicht befriedigt wird“ (Theodizee VIII 262). Dennoch scheint es der Vernunft erlaubt sein, „als moralisch gesetzgebendes Vermögen diesem ihrem Interesse gemäß“ manchmal Machtsprüche zu fällen (ebd.). Ein letzter Beleg: In der Religionsschrift konzediert Kant die Nützlichkeit von Kirchenglauben und insbesondere der Heiligen Schrift für den „reinen Religionsglauben“: „Ein heiliges Buch erwirbt sich selbst bei denen (und gerade bei diesen am meisten) die es nicht lesen, wenigstens sich daraus keinen zusammenhängenden Religionsbegriff machen können, die größte Achtung, und alles Vernünfteln verschlägt nichts wider den alle Einwürfe niederschlagenden Machtspruch: da stehts geschrieben.“ (Religion VI 107) Auch das eine eher ambivalente Stellungnahme. Kants zwiespältige Verwendung des Begriffes „Machtspruch“ kommt nicht von ungefähr. Zu Kants Zeiten ist „Machtspruch“ ein geläufiger juristischer Begriff, der einen eigenmächtigen Eingriff des Landesherrn in die Rechtspflege bezeichnet. Dessen Zulässigkeit allerdings wurde zunehmend kontrovers diskutiert – das Konzept des „Machtspruchs“ droht bereits das zeitgenössische RECHTSSTREIT-Schema zu sprengen. Zahlreiche Aufklärer lehnten fürstliche Machtsprüche ab, und Friedrich II. selbst hatte schon 1752 in seinem Politischen Testament geschrieben: „Ich habe mich entschlossen, niemals störend in den Lauf eines gerichtlichen Verfahrens einzugreifen: in den Gerichtshöfen müssen die Gesetze sprechen, und der Souverän muß schweigen“62. Dieser Entschluss hinderte Friedrich aber nicht am wohl bekanntesten Machtspruch der neueren deutschen Rechtsgeschichte: Der preußische Wassermüller Arnold hatte eine Klage seines Grundherrn wegen Pachtrückständen mit einer eigenen Klage auf Pachterlass beantwortet mit der Begründung, ihm sei durch die Anlage von Karpfenteichen das Wasser abgegraben worden. Die Klage wird abgewiesen und 1778 die Zwangsversteigerung der Mühle angeordnet. Arnold wendet sich vor der Bittschriftenlinde zu Potsdam an den König, der 1779 eine neue Verhandlung anordnet. Auch das Berliner Kammergericht entscheidet gegen Arnold. Daraufhin kassiert Friedrich das Urteil und gibt ––––––––––––– 62 Friedrich II. von Preußen, Schriften und Briefe, 162.
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nicht nur dem Müller die Mühle zurück, sondern verurteilt sogar einige der Richter zu Festungshaft in Spandau (und zwar persönlich, nachdem sich sein Justizminister von Zedlitz geweigert hatte, dies selbst zu tun). Diese vom Volk sehr begrüßten Vorgänge – übrigens auf Grundlage eines Fehlurteils, wie Friedrich später selbst einsah – führten sogar zu der Einsetzung eines neuen Großkanzlers: Johann Heinrich Graf von Carmer nahm sich in dieser Funktion der lange geplanten Justizreform an, deren Ergebnis 1791 – im selben Jahr wie Kants Theodizeeschrift – als „Allgemeines Gesetzbuch für die preußischen Staaten“ (AGB) publiziert wird. Das AGB enthielt auch ein Verbot königlicher Machtsprüche: „Machtsprüche, oder solche Verfügungen der obern Gewalt, welche in streitigen Fällen ohne rechtliche Erkenntniß ertheilet worden sind, bewirken weder Rechte noch Verbindlichkeiten.“63 Allerdings suspendierte 1792 König Friedrich Wilhelm das Inkrafttreten des AGB auf unbestimmte Zeit, und das kurze Zeit später in Kraft tretende revidierte „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“ (ALR, 1794) nimmt das Machtspruch-Verbot wieder zurück. König Friedrich Wilhelm II. kassierte aber auch seinerseits das Urteil seines Vorgängers Friedrich im Falle Arnold und entschädigte die verurteilten Richter. d) Unverfügbarkeit und Gnade Der Machtspruch der Vernunft wird moralisch gerechtfertigt. Er ist nötig, um das Unternehmen der Vernunftkritik nicht zu gefährden, das wesentlich moralisch motiviert ist. Die Antinomie der Vernunft und im Besonderen die Freiheitsantinomie „nothigt mich zur Critik der Sinnlichkeit“, heißt es in einer Reflexion Kants, die in etwa in die Zeit der Abfassung der Theodizeeschrift datiert wird; „durch die speculative Vernunft ohne Critik“ „läuft die Moral ... Gefahr“ (Refl. Nr. 6317, XVIII 625f.). „Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten.“ (KrV III 365, vgl. KpV V 101) Zwar ist das moralische Gesetz unmittelbar und für jeden – auch den Atheisten – gültig; aber der „Endzweck“ der Moral steht und fällt mit Gott. Den Atheisten, der empirisch keinen Zusammenhang von Tun und Ergehen erkennen kann, trifft ein trauriges Los, wenn er nicht wenigstens ––––––––––––– 63 Zitiert nach: Anonym. „Friedrich Wilhelm der Gesetzgeber“, Friedrich Gedike u. Johann Erich Biester (Hg.) Berlinische Monatsschrift, 1792, Bd. 1 (Januar 1792), S. 5-29, 14. Abgedruckt in: Peter Weber (Hg.): Berlinische Monatsschrift 1783-1796, S. 249261, 264.
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„in praktischer Absicht ... das Dasein eines moralischen Welturhebers, d. i. Gottes, annehmen“ kann: Betrug, Gewalttätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden, unangesehen aller ihrer Würdigkeit, glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln, des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurück wirft, aus dem sie gezogen waren. (KU § 87, V 452f.)
Damit nicht die Moral Gefahr läuft, muss Gott postuliert werden. Kants Hiobinterpretation legitimiert diese Willkür der Vernunft als eine selber „göttliche“. Wo das praktische Interesse Gewissheit wünschenswert macht, diese aber argumentativ unerreichbar bleibt, muss Rhetorik einspringen, um Gewissheit zu erzeugen. Vielleicht wäre Kant, der sich ja lebenslang mit den klassischen Gottesbeweisen beschäftigte, mit einer anderen Lösung glücklicher gewesen. Die Rede vom Machtspruch, einem sonst auch Kant offenbar nicht sehr sympathischen Akt, der das RECHTSSTREIT-Schema an seine Grenzen treibt und zu sprengen droht, ist vielleicht ein Stück weit auch ein Eingeständnis: das Eingeständnis, dass sein moraltheologisches System letztlich auf einem Akt der Willkür der Vernunft beruht, dessen Bewusstwerden für dieses System eine nicht zu unterschätzende Bedrohung darstellt. Nicht zuletzt diese Bedrohung dürfte manchen zu der besorgten Frage veranlasst haben, ob Gott bei Kant nun „denknotwendig“ oder vielmehr „denküberflüssig“ wäre (Michel 231). Insofern sich die Rhetorik der Gewissheit vom „moralischen Gottesbeweis“ in KpV (1788) und KU (1790) hin zur Religionsschrift (1793) mit ihrer stärkeren Betonung von Unverfügbarkeit, Kontingenz und Geheimnis abzuschwächen scheint, könnte das als Indiz dafür gelesen werden, dass die Rede vom „Machtspruch“ anlässlich der Hiobdeutung des Theodizee-Aufsatzes von 1791 auch ein Stück Selbstermahnung enthält und das Bewusstsein einer nicht mehr legitimierten Willkür der Vernunft zumindest andeutet. Es fällt auf, dass im Vergleich zu früheren Schriften in der Religionsschrift die Begründung der Voraussetzung eines moralischen Weltherrschers an apodiktischer Bestimmtheit eingebüßt hat. Der Mensch, so heißt es in der Religionsschrift, finde sich zum „Glauben an die Mitwirkung oder Veranstaltung eines moralischen Weltherrschers hingezogen“, weil ohne göttliche Mitwirkung das als Pflicht Erkannte, die Reali-
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sierung des höchsten Gutes, nicht erfüllbar wäre. Genau da aber tut sich vor ihm sofort der „Abgrund eines Geheimnisses“ (Religion VI 139) auf: Über eine solche göttliche Mitwirkung können wir nichts wissen, wir können nur auf sie hoffen. In der späten Religionsphilosophie Kants tritt die Perspektive des hoffenden und vielleicht glaubenden, aber nicht wissenden Subjekts stärker in den Vordergrund. Erlösung, das höchste Gut, der Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit wird jetzt vor allem auch als unverfügbar dargestellt – als das, was, in narrativen Kategorien gesprochen, erst am Ende der Geschichte erscheint und deshalb nur denen zugänglich ist, die den Überblick über die Gesamtheit des Erzählten haben können – dem Erzähler, den Lesern, nicht aber den Protagonisten, uns. Eine Chiffre für diese Unverfügbarkeit ist in der Religionsschrift ein Begriff, der ebenfalls mit dem Schema des GERICHTS in Verbindung steht: So wie „Gnade vor Recht“ ergehen kann, wenn jemandem Milde widerfährt, auf die er den Regeln des Verfahrens gemäß keinen Anspruch hätte, und wie die oberste Instanz in einem Staat ein im Verfahren gefälltes Urteil aufheben und den Verurteilten begnadigen kann, so ist auch der göttliche „Beitritt“ zu menschlichem Bemühen, der allein das mangelhafte Vermögen zur Erfüllung des moralischen Gebots ausgleichen und das höchste Gut wirklich machen kann, nur als ein Akt der „Gnade“ denkbar. „Was Gutes der Mensch nach Freiheitsgesetzen für sich selbst tun kann, in Vergleichung mit dem Vermögen, welches ihm nur durch übernatürliche Beihilfe möglich ist, kann man Natur, zum Unterschied von der Gnade, nennen“, bestimmt Kant, wobei „ob, wenn und was, oder wie viel die Gnade in uns wirken werde, uns gänzlich verborgen bleibt“. Und nicht nur das: dieser „Begriff eines übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen, obzwar mangelhaften, Vermögen“ ist nicht nur „eine bloße Idee, von deren Realität uns keine Erfahrung versichern kann“, er ist, so Kant, selbst als eine in bloß praktischer Absicht angenommene Idee „sehr gewagt und mit der Vernunft schwerlich vereinbar; weil, was uns als sittliches gutes Verhalten, zugerechnet werden soll, nicht durch fremden Einfluß, sondern nur durch den bestmöglichen Gebrauch unserer eigenen Kräfte geschehen müßte“. Auch hier ist wieder der Rekurs auf die bloße Möglichkeit die Rettung: „Aber die Unmöglichkeit davon (daß beides neben einander statt finde), läßt sich doch eben auch nicht beweisen...“ So sollten wir, so Kant, von dieser Idee der göttlichen Gnade weiter keinen Gebrauch machen – „außer der allgemeinen Voraussetzung, daß, was die Natur in uns nicht
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vermag, die Gnade bewirken werde, wenn wir jene (d. i. unsere eigenen Kräfte) nur nach Möglichkeit genutzt haben“ (Religion VI 190f.). Das Verhältnis von Moral und Gnade bei Kant hat Ähnlichkeit mit dem „Tröstungsschema“ Ezechiels von Umkehr und Rettung (vgl. oben B.II.2.b): Notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für Gnade ist Umkehr, radikaler Sinneswandel, eine „Revolution in der Gesinnung des Menschen“; nur so gelangt der Mensch auf einen Weg vom Schlechten zum Besseren, der aus der unendlichen Perspektive Gottes – und nur von dort – zu dem Bild eines Gott wohlgefälligen Menschen extrapoliert werden kann (Religion VI 47f.). Dennoch: Auch ein Mensch mit der reinsten moralischen Gesinnung hat auf die Erlösung „keinen Rechtsanspruch“: möglich ist hier nur „ein Verdienst, das uns aus Gnaden zugerechnet wird“ (Religion VI 75). In der Befolgung der moralischen Gebote ein „Gott wohlgefälliger Mensch“ zu sein ist unsere Pflicht, aber uns doch unerreichbar, vielmehr „bei uns im Erdenleben (vielleicht auch in allen künftigen Zeiten und in allen Welten) immer nur im bloßen Werden“ (Religion VI 75). Wir sollen mit allen Kräften „der heiligen Gesinnung eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels nachstreben, um glauben zu können, daß die (uns schon durch die Vernunft versicherte) Liebe desselben zur Menschheit ... den Mangel der Tat, auf welche Art es auch sei, ergänzen werde“ (Religion VI 120). Zwar versucht die Vernunft, im Bedürfnis nach Verfügung über das Unverfügbare, sich durch die Berufung auf die ewige Gerechtigkeit Zuversicht zu geben – es sei zwar „immer nur ein Urteilsspruch aus Gnade, obgleich ... der ewigen Gerechtigkeit völlig gemäß“ (Religion VI 76). Jedoch bleibt die göttliche Gnade letztlich trotz allem außerhalb des Zugriffs der Vernunft. Das Wirken der göttlichen Gnade kann nicht „postuliert“ werden; im Gegenteil ist diese Idee „gänzlich überschwenglich“ und es ist „überdem heilsam, sich von ihr, als einem Heiligtum, in ehrerbietiger Entfernung zu halten“ (Religion VI 191). Weil göttliche Gnade unverfügbar ist, spielt in Kants Religionskritik auch die Zurückweisung von scheinbaren „Gnadenmitteln“ eine wichtige Rolle. Schon der Begriff des „Gnadenmittels“, als etwas, das der Mensch in seiner Gewalt hätte, um die göttliche Gnade eines „übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen, obzwar mangelhaften, Vermögen“ zu erwirken, ist nach Kant „in sich selbst widersprechend“ (Religion VI 192). Nur ein moralischer Lebenswandel kann die Glückswürdigkeit befördern, ohne allerdings einen Anspruch auf Rechtfertigung zu erwerben. Alle äußere Veranstaltung jedoch, wie Gebet, Kirchengehen, Taufe usf. ist zwar für die Tradierung der Religion und den Fortbestand der kirchlichen Ge-
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meinschaft unerlässlich, aber schon die Annahme, dieser Dienst sei von Gott geforderte Pflicht, und erst recht die Erwartung dadurch erworbener „besonderer Gnaden“ ist ein „Wahn der Religion“ (Religion VI 200). Auch die beflissenste äußere Religionsausübung vermag nicht Gott zu seiner Gnade zu nötigen. Die Religionsschrift endet deshalb mit der eindringlichen Ermahnung, dass „es nicht der rechte Weg sei, von der Begnadigung zur Tugend, sondern von der Tugend zur Begnadigung fortzuschreiten“ (Religion VI 202). e) An den Grenzen des RECHTSSTREIT-Schemas Wenn Kant von „Machtspruch“ oder auch „Gnade“ spricht, gerät das Schema des RECHTSSTREITS an seine Grenzen. Die Gerichtshof-Metapher ist in der Theodizeediskussion immer wieder problematisiert worden64. Dass sich die Vernunft als höchste Gerichtsinstanz begreift, die sogar Gott vor die Schranken fordert, wird von vielen als Anmaßung begriffen. Theodizee, meinen Kritiker des ursprünglichen Entwurfs, ist deshalb nur als eine von Gott selbst geleistete zu begreifen. Nicht Menschen urteilen, sondern Gott selbst gibt die Antwort. Es sei, heißt es 1895 bei Hermann Schell, ein Wahn ... zu prahlen, der Mensch habe jetzt auf dem Richterstuhle seinen Sitz eingenommen, und Gott sei zur Verantwortung vor den Richterstuhl der Vernunft geladen ... Gott ist es vielmehr, der durch den Menschen die Frage stellt, indem er den Menschen zur Forschung nach der Theodicee drängt, und Gott ist es, der die Antwort giebt, sowohl durch die Ergebnisse dieser Forschung, soweit sie wahr und allseitig sind, sodann durch seine Offenbarung; und Gott wird dereinst vollkommen antworten durch das Weltgericht und die Weltvollendung. (Hermann Schell, Gott und Geist, Paderborn 1895, 286; zitiert nach Geyer 1992a, 170f.)
Darüber hinaus, so wird verschiedentlich betont, hat dieser Prozess gegen Gott auch Folgen: Die Vernunft, wenn sie versucht, Gott zu entlasten, belastet im Gegenzug den Menschen und setzt damit ihrerseits uneinlösbare „Anthropodizee“-Prozesse in Gang. Wenn „die menschliche Vernunft sich plötzlich als ein absoluter Gerichtshof begreift“, so meint etwa Baumgartner, so „wird Gott entlastet, der Mensch belastet, was zu seiner Überforderung führt“ und (mit Marquard) die „Tribunalisierung der ––––––––––––– 64 Vgl. den Titel der von Oelmüller herausgegebenen Tagungsdokumente: Theodizee – Gott vor Gericht? (1990). Das Titelbild des Bandes zeigt eine Miniatur aus einem Hiobkommentar des 13. Jahrhunderts und macht die Verbindung von TheodizeeThematik, Prozessmetapher und Hiob-Bezug sinnfällig.
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menschlichen Lebensverhältnisse“ zur Folge hat. Baumgartner sieht hier eine zweifache „Hypertrophie“ am Werk, die jeweils „mit der Gerichtshofmetapher der absoluten Vernunft zu tun“ hat65: philosophisch gesehen setzt sich, insbesondere bei Leibniz, die Vernunft in naiver Weise absolut (die Selbstkritik der Vernunft, die solches begrenzen könnte, setzt erst mit Kant ein), und religiös gesehen „ist es ein Ausdruck einer unerkannten und daher vielleicht entschuldbaren Hybris: Wenn Gott, der absolut Heilige, das absolute Geheimnis ist, dann läßt sich mit ihm nicht rechten. Hiob gegen seine Freunde, die ihm die Theodizee sozusagen aufschwätzen wollen, ist hier das Vorbild.“ Marquard geht bekanntlich sogar noch weiter; für ihn dominiert inzwischen „forensisches Prozeßdenken“ wesentlich den philosophischen Diskurs: Daß überhaupt die Philosophie, insbesondere die Geschichtsphilosophie, forensisches Prozeßdenken ist – da stehen sich Parteien gegenüber, die sich beklagen und insofern bekriegen – auch das beginnt in der Theodizee; der Start des Prozeßdenkens in der modernen Philosophie liegt in der Theodizee. (Marquard, in Oelmüller (Hg.) 1992, 180)
Die Gefahr dieses Denkens liegt auf der Hand. Zwar kann man das Prozess-Schema als Weiterentwicklung, „Fortschritt“ gegenüber dem Schema des Kampfes ansehen – das Recht des Stärkeren wird abgelöst durch das Recht beider Seiten auf ein faires Urteil nach für beide gleichermaßen geltenden Regeln – aber dort, wo die bekannten Fakten und Regeln oder die Autorität der richtenden Instanz zur Ableitung eines endgültigen Urteils nicht ausreichen, muss eben auch dieses Modell scheitern. Die Anklagen eines Leidenden und Geltungsansprüche von theologischen Aussagen lassen sich im Einzelfall durchaus vermitteln, aber eben nicht ein für allemal, abschließend, endgültig. Spricht man von Gott, dem Menschen und insbesondere dem Bösen, welches dann wirklich (so Sparn) nur noch als „terminus a quo des postulierten Besseren“ greifbar wäre, so ist tatsächlich „der Mensch“ gezwungen, „von der Anklagebank zur Richterbank hin und her zu wechseln, je nach Bedarf und stellvertretend zu leiden und – ganz schlimm – stellvertretend zu verurteilen“. Abschließende Urteile liegen nicht im Interesse eines Diskurses, der durch die bedrängende Wirklichkeit von Leidenserfahrungen gezwungen ist, die Theodizeefragen offenzuhalten. Von daher sind die Mahnungen nachvollziehbar, die „semantischen Konnotationen von ‚Theodizee‘: also Theismus und das Fo––––––––––––– 65 Hans M. Baumgartner, Diskussionsbeitrag in Oelmüller (Hg.) 1992, S. 180-183; 181.
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rensische, d. h. ein atemporales, die Zukunft sistierendes Kommunikationsmodell“, zu vermeiden66. Und auch die Suche nach einem neuen, nicht forensischen Verständnis von „Theodizee“ beruft sich auf Kants Hiobdeutung: Der Umstand, daß – nach Kant wenigstens – der Theodizeebegriff über die Differenz zwischen Hiob und seinen Freunden hinausgeht, eröffnet eine Perspektive auf die Mehrdeutigkeit dieses Wortes. Es ist vielleicht nicht ganz falsch, von der Vermutung auszugehen, daß es ebenso viele Bedeutungsmomente hat, wie es Schattierungen des Gottesglaubens gibt, ja, daß ein Glaube an Gott oder Götter ohne entsprechende Theodizee nicht recht möglich ist. (Adriaanse 112)
Im Interesse einer „Dekonstruktion der Theodizee“ fordert Adriaanse67 eine „Relektüre“ Kants, die im Anschluss an das Hiobbuch „andere Stimmen, der Anklage, der Klage und auch des Unmuts ... hörbar“ werden lasse, Stimmen, welche „(vielleicht) anderen Theodizeeformen zugehören, die die philosophische Theodizee im Augenblick der Konstitution ihres Tribunals hat beseitigen müssen“ (Adriaanse 118). So steht auch bei der Abweisung der Prozessmetaphorik im Umgang mit der Theodizeefrage Hiob wieder an exponierter Stelle, etwa als Beispiel für den „religiösen Menschen“, der den Prozess gegen Gott nicht zu Ende führt, sondern sich dessen Urteil unterwirft: Der religiöse Mensch richtet nicht mit Gott vor dem Richterstuhl seiner, des Menschen, Vernunft, sondern er unterwirft sich und fügt sich. So streitet zwar Hiob mit Gott, unterwirft sich aber schließlich. Er unterwirft sich nicht in der Weise, die Elihu von ihm fordert, daß er nämlich sich selbst die Schuld zuschreiben solle, sondern indem er sich trotz seiner fehlenden Einsicht in die Logik des Handelns Gottes dem Willen Gottes fügt. er moralisiert nicht, wie Elihu vorschlägt, gegen sich selbst, aber er moralisiert auch nicht wie der moderne Theodizee-Theoretiker gegen Gott. Hiob macht sich vielmehr die Einsicht zu eigen, daß es gegen die übergroßen Eigenschaften und die Macht Gottes nur ein Mittel gibt, ihn zu lieben. (Peter Koslowski, „Der leidende Gott“ (1990), 33)
7. Subjektperspektive und „höchster Standpunkt“ Wenn der Protest gegen die Tribunalisierung des Gottesverständnisses in der Theodizee sich auf Hiob als „vorphilosophische Gestalt“ (Adriaanse 118) beruft, wird damit nicht zuletzt auch die Subjektperspektive des Leidenden gegen das architektonische Interesse der (spekulativen) Vernunft ––––––––––––– 66 Walter Sparn, Diskussionsbeitrag in Oelmüller (Hg.) 1992, S. 173-176; 175. 67 Hendrik Johann Adriaanse, „Theodizee zwischen Nein und Ja“ (1992).
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in Schutz genommen. Jegliche Sinnstiftung für solches Leid ist zwar als persönliche Haltung des Betroffenen, nicht aber als verordnetes „Urteil“ legitimierbar. Kants „authentische Theodizee“ entgeht scheinbar diesem Vorwurf, indem sie die strittigen Inhalte dem Dogmatismus entzieht und zur Sache des „moralischen Glaubens“ erklärt. Glaube ist die einzig mögliche Haltung dessen, dem der göttliche Überblick fehlt – gewissermaßen das Fürwahrhalten aus der „Froschperspektive“. Der Gerichtshof der Kritik hatte der spekulativen Vernunft ihre Grenzen bestimmt und so die Froschperspektive zementiert. Ihr architektonisches Interesse an der Draufsicht aufs Ganze aber kann die Vernunft nicht aufgeben: Sie zielt notwendig auf die systematische „Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“ als „Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen“ (KrV III 538). Wie also kann aus der Froschperspektive, der kritischen Beschränkung der spekulativen Vernunft auf mögliche Erfahrung, das Ganze in den Blick genommen werden? Kants Lösung ist, wie wir sahen, die Wiedergewinnung der virtuellen Gottesperspektive – mit dem „kritischen Auge einer höheren und richterlichen Vernunft“ (KrV III 484). Diese Perspektive wird schematisiert in der regulativen Idee des Ganzen, und sie ist gerechtfertigt, weil die „systematische oder Vernunfteinheit der mannigfaltigen Verstandeserkenntnis“ nach Kant mehr ist als nur ein Bedürfnis der Vernunft. Dem logischen Prinzip („da, wo der Verstand allein nicht zu Regeln hinlangt, ihm durch Ideen fortzuhelfen“) soll auch ein transzendentales Prinzip entsprechen, „durch welches eine solche systematische Einheit, als den Objecten selbst anhängend, a priori nothwendig angenommen wird“ – als ein „inneres Gesetz der Natur“ (KrV III 430f.). Denn die „Endabsicht der Ideen der reinen Vernunft“ (KrV III 448) ist nichts anderes als die Gewinnung der Draufsicht auf das Ganze, auf die Einheit von Mensch, Welt und Gott68. Meine Rede von „Perspektiven“ ist nicht nachträgliche Interpretation, sondern ergibt sich auch aus Kants eigener Metaphorik. Anlässlich ––––––––––––– 68 Um die systematische Einheit denken zu können, so Kant, muss unsere Vernunft dieser obersten regulativen Idee systematischer Einheit jeweils Gegenstände beilegen. Erstes Objekt einer solchen Idee „bin ich selbst, bloß als denkende Natur (Seele) betrachtet“; eine einfache selbstständige Intelligenz „als systematische Einheit aller Erscheinungen des inneren Sinnes“. „Die zweite regulative Idee der bloß spekulativen Vernunft ist der Weltbegriff überhaupt“, die dritte der „Vernunftbegriff von Gott“, die „Supposition eines Wesens ... als der einigen und allgenugsamen Ursache aller kosmologischen Reihen“ (KrV III 449-451).
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der Darstellung der logischen Prinzipien, die den hierarchischen Beziehungen der Elemente systematischer Weltbeschreibung zugrunde liegen (Homogenität, Spezifikation, Kontinuität), vergleicht Kant Begriffe mit Beobachtungsstandorten: Man kann einen jeden Begriff als einen Punkt ansehen, der, als der Standpunkt eines Zuschauers, seinen Horizont hat, d. i. eine Menge von Dingen, die aus demselben können vorgestellet und gleichsam überschauet werden. Innerhalb diesem Horizonte muß eine Menge von Punkten ins Unendliche angegeben werden können, deren jeder wiederum seinen engeren Gesichtskreis hat; d. i. jede Art enthält Unterarten, nach dem Prinzip der Spezifikation, und der logische Horizont besteht nur aus kleineren Horizonten (Unterarten), nicht aber aus Punkten, die keinen Umfang haben (Individuen). Aber zu verschiedenen Horizonten, d. i. Gattungen, die aus eben so viel Begriffen bestimmt werden, läßt sich ein gemeinschaftlicher Horizont, daraus man sie insgesamt als aus einem Mittelpunkte überschauet, gezogen denken, welcher die höhere Gattung ist, bis endlich die höchste Gattung der allgemeine und wahre Horizont ist, der aus dem Standpunkte des höchsten Begriffs bestimmt wird, und alle Mannigfaltigkeit, als Gattungen, Arten und Unterarten, unter sich befaßt. (KrV III 436)
Den „höchsten Standpunkt“ (ebd.), von dem aus die Draufsicht auf die Welt als Ganzes möglich ist, gewinnt die Vernunft im Begriff von Gott als letzter Ursache der Welt. Die Vernunft gebietet sich selbst, als Maxime ihres Gebrauchs, „alle Verknüpfung der Welt nach Prinzipien einer systematischen Einheit zu betrachten, mithin als ob sie insgesamt aus einem einzigen allbefassenden Wesen, als oberster und allgenugsamer Ursache, entsprungen wären“ (KrV III 452). Damit kann der Gottesbegriff auch nach der Kritik der Vernunft derselben einen Beobachtungsstandpunkt „weit über ihrer Sphäre“ anweisen und ihr so, in der gewonnenen Draufsicht, „Befriedigung“ verschaffen: Daher geschieht’s nun, daß, wenn ich ein göttliches Wesen annehme, ich zwar weder von der inneren Möglichkeit seiner höchsten Vollkommenheit, noch der Notwendigkeit seines Daseins, den mindesten Begriff habe, aber alsdenn doch allen anderen Fragen, die das Zufällige betreffen, ein Genüge tun kann, und der Vernunft die vollkommenste Befriedigung in Ansehung der nachzuforschenden größten Einheit in ihrem empirischen Gebrauche, aber nicht in Ansehung dieser Voraussetzung selbst, verschaffen kann; welches beweiset, daß ihr spekulatives Interesse und nicht ihre Einsicht sie berechtige, von einem Punkte, der so weit über ihrer Sphäre liegt, auszugehen, um daraus ihre Gegenstände in einem vollständigen Ganzen zu betrachten. (KrV III 446)
Das regulative Prinzip der Vernunfteinheit erlaubt „den empirischen Gebrauch der Vernunft durch Eröffnung neuer Wege, die der Verstand nicht kennt, ins Unendliche (Unbestimmte) zu befördern und zu befestigen“ (KrV III 448). Das „regulative Gesetz der systematischen Einheit“ verlangt, „daß wir die Natur so studieren sollen, als ob allenthalben ins
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Unendliche systematische und zweckmäßige Einheit, bei der größtmöglichen Mannigfaltigkeit, angetroffen würde.“ (KrV III 459f.) Insofern Kants Idee des Systems Zweckbeziehungen voraussetzt, ist damit auch der Weg zu einer analogischen als-ob-Theodizee geebnet: Die höchste formale Einheit, welche allein auf Vernunftbegriffen beruht, ist die zweckmäßige Einheit der Dinge, und das spekulative Interesse der Vernunft macht es notwendig, alle Anordnung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre. Ein solches Prinzip eröffnet nämlich unserer auf das Feld der Erfahrungen angewandten Vernunft ganz neue Aussichten, nach teleologischen Gesetzen die Dinge der Welt zu verknüpfen, und dadurch zu der größten systematischen Einheit derselben zu gelangen. (KrV III 452)
„Ohne Zweifel“, so Kant, gebe es „etwas von der Welt Unterschiedenes ..., was den Grund der Weltordnung und ihres Zusammenhanges nach allgemeinen Gesetzen enthalte“, und das wir, als ein „uns unbekanntes Substratum der systematischen Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung“, wenigstens „nach einer Analogie mit den Gegenständen der Erfahrung denken“ dürften. Hier seien uns sogar „gewisse Anthropomorphismen“ erlaubt, wenn sie „dem gedachten regulativen Prinzip beförderlich sind“, genauer das einheitsstiftende Schema einer „obersten Intelligenz“, die „nach weisen Absichten“ Urheber der systematischen Einheit der Welt sei. Auf solche Weise aber können und müssen wir „einen einigen weisen und allgewaltigen Welturheber annehmen“ (KrV III 457f.) Insofern die Idee der höchsten Weisheit als ein „Regulativ in der Nachforschung der Natur und ein Prinzip der systematischen und zweckmäßigen Einheit derselben nach allgemeinen Naturgesetzen“ fungiert, dürften wir „zweckähnliche Anordnungen als Absichten ansehen, indem ich sie vom göttlichen Willen, obzwar vermittelst besonderer dazu in der Welt darauf gestellten Anlagen, ableite“. So gesehen sei es gleichbedeutend zu sagen, „Gott hat es weislich so gewollt, oder die Natur hat es also weislich geordnet.“ (KrV III 458f.) Über das analogische SCHÖPFER-Schema gewinnt beschränkte Menschenvernunft den Blick aufs Ganze. Seit seinen frühen Schriften über das Erdbeben von Lissabon und über den Optimismus, in denen sich noch Theodizee von oben und von unten wie selbstverständlich verschränken konnten, ist das Thema der widerstreitenden Perspektiven bei Kant kontinuierlich präsent. Jener berühmte Satz aus dem Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft, der auch an Kants Grab zu lesen ist, kann als Verweis auf den Platz des neuzeitlichen Erkenntnissubjekts in der Welt gelesen werden, zwischen oben und unten und auf beides bezogen: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neu-
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er und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ (KpV V 161) Im „Faktum“ des moralischen Gesetzes erkennt Kant schließlich den einzig verfügbaren festen Punkt, von dem aus seine Philosophie den bestirnten Himmel durchstoßen und zu ihrem „höchsten Standpunkt“ aufsteigen kann. Dieses immer auch kritisch reflektierte Streben nach dem „höchsten Standpunkt“ zeigt sich bis hinein in die späten Notizen des Opus postumum. Der „höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie“ ist auch dort derjenige, der das Ganze von Gott, Welt und Mensch in den Blick bekommt – indem sich der Mensch „als dritte, verknüpfende Idee, als ‚copula‘ ..., der Ideen von Gott und Welt“ begreift (Wimmer 197). „Der Tranzendentalphilosophie höchster Standpunkt ist, was Gott und die Welt unter Einem Prinzip synthetisch vereinigt“ (OP XXI 23, zitiert nach Wimmer 197). Allerdings erscheint Gott gerade in den Reflexionen des Opus postumum immer wieder als quasi irreal, als vom Menschen nicht unterschiedenes Wesen; Gott, so Kant, ist ein „Prinzip im Menschen“, der als moralischer Gesetzgeber und Richter nur „gleich als eine besondere Substanz“ erscheint (OP XXII 55; vgl. Wimmer 209). Stellenweise ist Gott nur noch ein „Gedankending“, ein „Ideal“ der Vernunft, von dem nicht einmal mehr gefragt werden kann, ob es „unabhängig von meinem Denken existiere“ (OP XXI 27, zitiert Wimmer 215). Urteile, die vom „höchsten Standpunkt“ aus gefällt werden, haben über sich keine legitimierende Instanz mehr. Das Wissen um die Willkür des Urteilsspruches der Vernunft hätte dem skeptischen Zweifel an seiner Legitimation nichts entgegenzusetzen. Die allegorische Hiobdeutung in der Theodizeeschrift versucht die Willkür der Vernunft als „göttlichen Machtspruch“ zu legitimieren. Wie auch die analysierten Textstellen der ersten beiden Kritiken nutzt die Theodizeeschrift die Möglichkeiten narrativer Strukturen, um den Wechsel von Standpunkt und Perspektive zu vollziehen und für einen Moment den Blick von außen einzunehmen, zum göttlichen Beobachter zu werden. In Kants Theodizee-Prozess führt die Konfrontation von Dogmatismus und Skeptizismus zu dem unbefriedigenden Ergebnis einer Blockade der Vernunft (Stasis): Keine Seite kann den Gegner überzeugen, doktrinale Theodizee kann nicht gelingen und Gott höchstens „aus Mangel an Beweisen“ freigesprochen werden. Im Rahmen der narrativen RECHTSSTREITKonstellation allerdings wird eine Entscheidung möglich: Der Machtspruch der praktischen Vernunft bestätigt die dogmatischen Inhalte (Be-
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herrschung), Theodizee gelingt als „authentische“ (Zuschreibung). Das narrative Schema stellt die notwendigen Verknüpfungsregeln bereit: Die Ermächtigung zu Urteil und Machtspruch muss hier nicht separat begründet werden, sondern ist schon in der Semantik des „Rechtsstreits“ enthalten. Auf das Kantsche RECHTSSTREIT-Schema der „skeptischen Methode“ wiederum projiziert die Theodizeeschrift analogisch ein Erzählschema aus dem Hiobbuch (die Konfrontation zwischen Hiob und den Freunden und das göttliche Urteil). Damit erfüllt das narrative Schema neben seiner organisierenden auch eine rhetorische Funktion: Es legitimiert den Machtspruch der Vernunft gleichzeitig als „rechtens“ und als „göttlich“. In Kants Verhandlung der „Antinomie der praktischen Vernunft“ wiederum ist das Problem die scheinbare Unmöglichkeit, den transzendentalen Tun-Ergehen-Zusammenhang im Begriff des „höchsten Guts“ widerspruchsfrei zu denken. Die Vernunft in theoretischem Gebrauch, die als Ergebnis ihrer Kritik eingestehen muss, nicht weiter als bis zur bloßen Denkmöglichkeit des „höchsten Guts“ zu gelangen, kollidiert mit dem praktischen Interesse der Vernunft, dem dieser Begriff unverzichtbar ist (Konfrontation). Auch hier erlaubt es das narrative Schema des RECHTSSTREITS Kant, nach Interessenabwägung zugunsten der praktischen Vernunft zu entscheiden (Beherrschung) und diese zum Postulat des Benötigten zu ermächtigen (Zuschreibung). In beiden Fällen ermöglichen narrative Strategien der Problemverhandlung eine Erweiterung des Problemraums, die Einführung neuer Transformationsregeln: Auch willkürliche Entscheidungen – narrative Urteile – sind jetzt zulässige Lösungsoperationen, um die Blockade entgegengesetzter argumentativer Programme zu lösen. Der „Gerichtshof der Vernunft“ konfrontiert als übergeordnete Instanz die je eigenen Interessen ihrer verschiedenen Perspektiven und Weisen des Vernunftgebrauchs miteinander und ermächtigt sich selbst – als praktische Vernunft – zur Setzung sonst unerreichbarer dogmatischer Inhalte. Im narrativen Urteil transzendiert der Gerichtshof die beschränkte Subjekt-Perspektive der theoretischen Vernunft in Richtung auf die virtuelle Gottesperspektive einer jetzt machthabenden praktischen Vernunft, um das architektonische Interesse der Vernunft zu bedienen. Das Schema des RECHTSSTREITS liefert Rollen und Verknüpfungsregeln für diese Selbstermächtigung und dient damit – zusammen mit der Fähigkeit exemplarischen Erzählens zur Kontingenzverschleierung, die schon das Hiobbuch genutzt hatte – nicht zuletzt ihrer überzeugenden Darstellung.
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In ihrer Konsequenz erscheint, wie die Theodizeeschrift vorführt, diese Selbstermächtigung der Vernunft als Selbstvergöttlichung: Das Vernünfteln hat erst dann ein Ende, wenn der postulierte Gott selbst die Bühne betritt und durch sein Wort die Spekulation sich erübrigt. „Allegorisch ausgedrückt“ wird der entscheidende Moment, in welchem die Vernunft die Grenzen des Erfahrbaren transzendiert – indem das Unendliche in das Erfahrbare hineinerzählt wird. Wie im Hiobbuch wird das Subjekt des narrativen Urteils selbst sichtbar, das sich sonst hinter den Texten verbirgt. Aber damit wird es auch angreifbar – und gerade in der Berufung auf Hiob führt die Theodizeeschrift selbst gleichsam unfreiwillig die Fragwürdigkeit der Willkür der richtenden Vernunft vor Augen. Angesichts von Hiobs Klagen gewinnt die Mehrdeutigkeit des Terminus „Machtspruch“ einen neuen, kritischen Sinn. Auch „authentische Theodizee“ ist nur ein Urteil im Modus des Als-ob. Ob der „Machtspruch“ der Vernunft im Theodizeeprozess für zulässig zu halten ist oder nicht, ist standort- und das heißt: interessen-abhängig. Diese Eigenschaft teilt die „authentische Theodizee“ mit den Gottesreden im Hiobbuch. Man kann das narrative Urteil akzeptieren (Hiobs Unterwerfung nachvollziehen) oder es ablehnen. Kants Machtspruch scheint vor allem vom architektonischen Interesse der Vernunft motiviert, und er hat das transzendentale Prinzip der umfassenden „Zweckmäßigkeit der Natur“ zur absoluten Voraussetzung. Wer diese Voraussetzung eines vollständig zweckhaften Ganzen (und sei es auch nur als berechtigtes Bedürfnis der Vernunft) nicht teilt, wem die Welt nicht als „System von Endursachen“ erscheint, der wird kaum zu Kants weitreichenden Konklusionen gelangen, ohne welche wiederum auch die Rechtfertigung des Machtspruchs selber versagt. So zeigt sich die Theorie ähnlich wie die Kippfiguren der Gestaltpsychologie einmal als wohlgeformte Gestalt oder anders als Zerrbild, als willkürliche Unterdrückung subjektiver Erfahrungen. Den bereits Glaubenden oder Glaubenwollenden, insbesondere den an systematischer Draufsicht Interessierten, zeigt Kants Argumentation den Weg zur Vollendung der Architektonik, zu einer in sich stimmigen Beschreibung von Gott, Subjekt und Welt. Aber wird die Theorie auch den ernsthaft Zweifelnden überzeugen – vor allem wenn die Zweifel sich an übermächtigen „Erfahrungen des Zweckwidrigen“ nähren? Erfahrungen wie das Erdbeben von Lissabon lassen sich nicht leicht für irrelevant erklären. Wer aber diese Erfahrungen ernst nimmt, dem wird dieser Ausweg gerade durch das Bedürfnis nach Konsonanz, nach Widerspruchsfreiheit der Repräsentationen (das ins Absolute getrieben auch dem architektonischen Be-
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Das Theodizeeproblem
dürfnis zu Grunde liegt) verweigert. Darum auch scheint sich auch die Hiobgeschichte ein Stück weit der allegorischen Vereinnahmung in der Theodizeeschrift zu widersetzen: Der Mensch Hiob, der klagend vor den Trümmern seines Welt- und Gottesbildes steht, geht nicht auf in seiner Rolle als Vertreter des „Systems des unbedingten göttlichen Ratschlusses“ und der Redlichkeit in Glaubensdingen69. Seine Geschichte besteht gegen das Systeminteresse eines nur scheinbar unbeteiligten Beobachters auf der unhintergehbaren „Froschperspektive“ des betroffenen, verstrickten, handelnden und erleidenden Subjekts. Wie schon im Hiobbuch selber unterläuft hier die Subjektperspektive die narrative Kontingenzverschleierung.
––––––––––––– 69 Allerdings ist festzuhalten, dass Kants Auffassung zur Bibelauslegung im Streit der Fakultäten Abweichungen vom Buchstaben der Schrift im Dienste der moralischen Lehre ausdrücklich rechtfertigt. Theologische („statuarische“) Auslegung der Schrift kann, so Kant, entweder authentisch oder doktrinal gemeint sein: erstere muss „dem Sinne des Verfassers buchstäblich (philologisch) angemessen sein“, die zweite darf der Schrift einen bestimmten Sinn „in moralisch-praktischer Absicht“ unterlegen. Diese, die doktrinale Auslegung ist deshalb nicht bloß zu bevorzugen – sie ist, als auf unsere moralisch-praktische Vernunft gegründet, sogar „zugleich die authentische: d. i. so will Gott seinen in der Bibel geoffenbarten Willen verstanden wissen“ (SF VII 66f.). „Der Gott in uns selbst ist der Ausleger“ (SF VII 48).
V. Zusammenfassung und Ausblick 1. Zusammenfassung Der Problemraum des „Theodizeeproblems“ war in unserer Rekonstruktion charakterisiert durch den „unerwünschten Zustand“ s a eines Widerspruchs zwischen Dogma und Erfahrung: zwischen einem rationalistischen Gottesbegriff einerseits, der dem höchsten Wesen die Eigenschaften der Allmacht, Allwissenheit und Allgüte zuspricht, und den Erfahrungen des „Zweckwidrigen“ in der Welt andererseits, insbesondere Erfahrungen des (moralischen) Übels und einer fehlenden Gerechtigkeit im Verhältnis von Tun und Ergehen, die Zweifel an der Vereinbarkeit der Eigenschaften des Schöpfers mit den Eigenschaften seiner Schöpfung aufkommen lassen. Der skeptische Einspruch der Erfahrung argumentiert „von unten“, aus einer Perspektive des wahrnehmenden Subjekts auf der Erde; die Theodizeeversuche dagegen „von oben“, aus einer Position virtueller Draufsicht auf das Ganze als zweckmäßig geordnetes System. Beide Perspektiven sind notwendige Perspektiven des aufklärerischen Erkenntnissubjekts, das sich von seinem Beobachtungsstandort in der Welt und „in the middest“ ein Bild von der Welt machen muss, ja sogar Gott, Mensch und Welt in einem metaphysischen System zu vereinigen sucht. Deshalb kann dort, wo beide Perspektiven in Widerspruch zueinander geraten, der resultierende problematische Zustand als Blockade der Perspektiven, als Stasis beschrieben werden. Der Zielzustand sz der Problemlösung besteht im Auffinden einer widerspruchsfreien und akzeptablen Weltbeschreibung (hier umfassender verstanden im Sinne eines kohärenten Systems von Gott, Mensch und Welt), welche nicht von den Erfahrungen des Übels und des Leidens bedroht wird. Mögliche Transformationen zur Überführung der widersprüchlichen Beschreibung sa in die widerspruchsfreie Beschreibung sz sind textuelle Operationen der Behauptung, Bestreitung, Begründung oder Widerlegung von Sätzen in sa, z. B. die Bestreitung der Allmacht durch Behauptungen eines Dualismus oder einer freiwilligen Selbsteinschränkung Gottes, die Bestreitung der Existenz der Übel (Depotenzierung, Positivierung) oder die dogmagemäße Begründung ihrer Existenz. (Auch der
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Zusammenfassung und Ausblick
Agnostizismus ist, insoweit er die Widersprüche in sa vermeidet, eine mögliche Lösung, wenn auch für den Erkenntnisoptimismus der Aufklärung kaum akzeptabel.) Der Prototyp aller neuzeitlichen Theodizeen, Leibniz’ philosophischer Optimismus, macht ebenfalls von diesen Strategien Gebrauch: Gott ist zwar allmächtig, steht aber nicht außerhalb der logischen Gesetze und der „metaphysischen Notwendigkeit“. Deshalb kann er nicht beliebige Welten erschaffen, sondern nur „mögliche“ – aus diesen aber erwählt er notwendig (mit „moralischer Notwendigkeit“) die beste, weil er durch seine vollkommene Weisheit (d. i. Allwissenheit und Güte) dazu genötigt wird. Diese vollkommen apriorische Argumentation kann von keiner Erfahrung widerlegt werden, muss Erfahrungen des Übels also auch nicht leugnen, sondern nur ergänzend relativieren: Übel sind wirklich, also waren sie unvermeidbar, aber sie haben entweder ihren Platz im Ganzen der Schöpfungsordnung, auch wenn unsere begrenzte Einsicht diesen nicht erkennen kann, oder sie mussten um höherer Güter willen zugelassen werden. Von außen betrachtet aber sind sie „beinahe nichts“ – auch hier greift das perspektivische Argument, der beobachtende Blick von außen auf die Welt. Lange Zeit erwies sich der popularisierte philosophische Optimismus und verwandte Strategien, etwa die Physikotheologie, welche die a priori schon feststehende Zweckmäßigkeit der ganzen Schöpfung a posteriori durch Beobachtungen an der Natur zu untermauern suchte, als hinreichend akzeptabel, als unproblematisch. Spätestens die Katastrophe von Lissabon aber riss die Kluft zwischen Draufsicht und Subjektperspektive, zwischen dem Dogma der guten, wohlgeordneten Welt und den Erfahrungen sinnlosen, in seinem Ausmaß nicht mehr teleologisch oder moralisch begründbaren Leidens aufs Neue auf. Der Problemzustand sa, der Widerspruch von Dogma und Erfahrung, ist nicht überwunden. Weil aber das Theodizeeproblem ein Problem der Perspektiven ist, überrascht es nicht, dass die von uns untersuchten Lösungsversuche bei Voltaire, Linné und Kant sich auch narrativer Strategien bedienen, um eine bestimmte Perspektive zu stärken oder den Widerspruch der Perspektiven zu vermitteln. Dabei wird auf je spezifische Weise der ursprüngliche Problemraum der philosophischen Argumentation erweitert, um auf überzeugende Weise zu einer neuen widerspruchsfreien Beschreibung zu gelangen. Voltaire nutzt in seinem Candide die Möglichkeiten des exemplarischen Erzählens, um in seiner Geschichte vom individuellen Problem Candides Stellung zu nehmen zu dem theoretischen Problem des philosophischen Optimismus und zu der allgemeineren Frage nach der rechten
Zusammenfassung
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Haltung in einer Welt, die nicht die beste ist. Candides Problem wird erzeugt durch einen Tritt in seinen Hintern – dem exemplarischen Hinauswurf aus dem „irdischen Paradiese“. Dies ist der initiale Schicksalswechsel von einem Zustand von ortsgebundener Ruhe, „Glück“ und relativer Stabilität hin zu Heimatlosigkeit, Unstetigkeit und fortgesetztem Leid. Dieser Zustand bildet im Laufe der Erzählung auch Candides inneres Schwanken ab, die Unsicherheit, welche Welthaltung angesichts seiner überwiegend leidvollen Erfahrungen in der Welt, die so sehr den populäroptimistischen Lehren des Pangloss widersprechen, die angemessene ist. Voltaires narrative Auflösung des Widerspruchs von Dogma und Erfahrung besteht in der Zurückweisung des Dogmas, der Wiedergewinnung der Subjektperspektive und damit dem Verzicht auf Einsicht in das Uneinsehbare. Im erweiterten Problemraum treten narrative Transformationen an die Stelle der argumentativen. Indem die Geschichte von Candide die Perspektive des Leidenden und Betroffenen selber einklagt, die das „weisheitliche“ Denken aus der Draufsicht zugunsten von Kohärenz und Widerspruchsfreiheit eliminiert hatte, zeigt sie die Unangemessenheit dieses Denkens angesichts von Katastrophen wie Lissabon und vor allem angesichts von Missständen, die der Mensch selbst ändern kann. So wenig Leibniz’ apriorische Argumentation „von oben“ durch Erfahrungen widerlegt werden kann, so wenig muss Voltaires Darstellung „von unten“ dabei ernsthaft auf die Argumente der Gegenseite eingehen, die deshalb konsequenterweise der Schwätzer Pangloss vertreten kann. In Candide also siegt die Subjektperspektive gegen das Dogma – aber dennoch erlaubt es das exemplarische Erzählen, diese Subjektperspektive zu überschreiten, um narrative Urteile über verschiedene Welthaltungen – dem Leser bekannte argumentative Programme – zu fällen, welche die Protagonisten des Romans verkörpern. So widerlegt Voltaire exemplarisch das Dogma des gerechten Tun-Ergehen-Zusammenhangs (und nebenbei die Thesen von Rousseau), indem er den „braven Jacques“ als Folge einer guten Tat ertrinken lässt. Candide jedenfalls wird nach der Vertreibung aus dem Paradies (dem Ausgangszustand A) durch die Welt gejagt, in zahllosen weiteren Schicksalswechseln ihrer Kontingenz ausgesetzt, und er sucht in seinen fortwährenden Reflexionen eine angemessene Haltung zu dieser Welt, die so offensichtlich anders erscheint, als das Dogma behauptet (sein Problem P). Er schwankt dabei zwischen den Problemlösungsvorschlägen des Populäroptimisten Pangloss (L1) und des Manichäers Martin (L2), zu denen später noch die Dogmenabstinenz des Derwischs (L3) hinzutritt, welcher (L1) und (L2) zurückweist, sowie die Konzentration auf praktische
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Aufgaben, die der türkische Bauer vertritt (L4). In seiner abschließenden Entscheidung EC und ihrer narrativen Bestätigung B wird das narrative Urteil gefällt: Candide entscheidet zugunsten einer Haltung, die die negative Lösung des Derwischs – den Verzicht auf Dogmen – und die positive Lösung des türkischen Bauern – praktische Weltverbesserung – miteinander kombiniert (L3 & L4). Die Umsetzung dieser Erhaltung ist erfolgreich, wie das Ende des dreißigsten Kapitels erzählt. Analog zur exemplarischen Problemverhandlung in der Hioberzählung kombiniert die narrative Konfiguration zwei Schicksalswechsel und kodiert darin das Problem (A → P) und seine Lösung (P → B), vermittelt durch Candides Entscheidung EC: A → P (L1, L2, L3, L3): → EC (L3 & L4) → B (+EC (L3 & L4)) Die Lösung der Problemverhandlung wird damit narrativ bestätigt, und sie soll, als exemplarische, verallgemeinert und auf die Aufgaben des Menschen in der Welt überhaupt bezogen werden. Linné löst den Widerspruch von Dogma und Erfahrung auf entgegengesetzte Weise: Er liest jedes Geschehen, jede Erfahrung als Bestätigung der göttlichen Gerechtigkeit. Die ist a priori gewiss und kann so als Schablone dienen, das kontingente Geschehen zur ganzen Geschichte zu vervollständigen. Erst diese vollständige Geschichte löst das Problem: Was aus der begrenzten Subjektperspektive zweckwidrig scheinen mag, erhält seinen Platz im Vergeltungsschema, wenn das fehlende Element (Schuld oder Strafe) gefunden wird. Die narrative Konfiguration jeder einzelnen Erzählung steht exemplarisch für die Ordnung des Ganzen, der Nemesis Divina, aus der wiederum jedes Element seine Bedeutung bezieht. Bei Linnés Beispielen handelt sich nicht um explizite narrative Problemverhandlungen: Es gibt keine alternativen Lösungen, ja es gibt scheinbar nicht mal ein Problem. Aus der Perspektive der Weisheit lösen sich alle Probleme von selbst auf. Zwar ist eine inhaltliche Beziehung zum Theodizeeproblem leicht herzustellen, aber sie muss eben vom Leser erst hergestellt werden. Der Leser muss selbst die Erzählungen als exemplarische Lösungen für dieses Problem nachvollziehen, dessen argumentative Programme ihm also bekannt sein müssen. Greifbar wird der Charakter der narrativen Problemlösung aber dort, wo Linné explizit die Draufsicht der Gottesperspektive evoziert: „Gott sieht und hört alles.“ Wie die narrative Problemlösung sich vollzieht, zeigt die „Rabinorum historia“: Was Moses sieht (ein alter Mann wird von einem Soldaten getötet für etwas, das er nicht getan hat), erscheint ihm ungerecht, sinnlos, zweckwidrig.
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Aber Gott selbst erklärt ihm die Zusammenhänge, die seine beschränkte Menschenvernunft nicht erkennen kann: „... ihr urteilt nach dem Gesehenen und Erfahrenen, ich aber nach meiner Allwissenheit.“ Hier erhält der Leser die Anleitung für seine Problemrekonstruktion: Das „Gesehene und Erfahrene“ widerspricht dem Bild des gerechten Gottes, und deshalb muss Moses fragen, „warum Gott, der gerecht ist, in seiner Welt Unrecht zuläßt, so daß die Gerechten oft die Unglücklichsten und die Schurken die Glücklichsten sind“. Das Problem P (L1 ļ L2), der Widerspruch von Dogma (L1) und Erfahrung (L2), wird von der höchsten Instanz, Gott selbst, entschieden: EG (L1). Allerdings entscheidet dieser hier nicht durch Machtspruch, sondern durch Offenbarung – durch die Vervollständigung der Geschichte: Gott lässt Moses an seinem Wissen teilhaben, borgt ihm die göttliche Perspektive der Draufsicht. Dass sich „von oben“ gesehen alles in die Ordnung fügt, die Schicksalswechsel ihre Funktion offenbaren, in der narrativen Konfiguration ethos und mythos kongruieren, liefert die narrative Bestätigung des Dogmas (B). Auch hier ist die narrative Erweiterung des ursprünglichen Problemraums die Voraussetzung für die Problemlösung, die im Rahmen der Argumentation spekulative Behauptung bleiben muss: Im narrativen Urteil der Erzählung wird der für die Lösung nötige Blick von außen auf das System des Ganzen gewonnen, und in der suggerierten Notwendigkeit des exemplarisch erzählten Geschehens dessen Kontingenz verschleiert. Die weisheitliche Draufsicht erlaubt es dem Systematiker Linné, auch dort Ordnung wahrzunehmen, wo er selber die ganze Geschichte gar nicht kennt: „Etwas war vorher gesündigt worden, mir unbekannt.“ Die Rechtfertigung solcher Urteile „von unten“, die ihre perspektivische Beschränkung zu überwinden suchen, indem sie sich die virtuelle Perspektive der Draufsicht zu eigen machen, ist auch das Thema in Kants Verhandlung des Theodizeeproblems. Der Widerstreit der Perspektiven muss vermittelt werden, denn beide, Subjektperspektive und architektonische Draufsicht, haben ihre Berechtigung. Kants Kritik der Vernunft hat die Schranken der menschlichen Erkenntnisfähigkeit aufgewiesen und damit die bekannten argumentativen Wege zum Absoluten versperrt. Aber Kant konstatiert auf der anderen Seite auch das ebenso unverzichtbare Bedürfnis nach Konsonanz, nach systematischer Einheit der Erkenntnisse, dasselbe Bedürfnis, das auch Linnés Denken motiviert hatte. Das architektonische Interesse der Vernunft braucht die Perspektive des Absoluten, welche die Vernunftkritik für unerreichbar erklärt.
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Das Theodizeeproblem ist eine Instanz dieses Widerstreits der Perspektiven. Schon Leibniz hatte zu dessen Vermittlung die Metapher des „Gerichtshofs der Vernunft“ genutzt, mit der auch Kant die Verhandlung des Problems narrativ schematisiert. Beide Perspektiven der Vernunft, dogmatische Draufsicht und empiristisch-skeptische Subjektperspektive, erscheinen als Parteien im Rechtsstreit um Gottes Allmacht, Weisheit und Gerechtigkeit. Mit bloßen Argumenten jedoch kann keine Partei den Sieg davon tragen: Die skeptischen Anklagen aus der Erfahrung können nicht schlüssig zurückgewiesen werden, weil für die Einordnung des scheinbar Zweckwidrigen in die Ordnung der Schöpfung Allwissenheit – das Auge Gottes – vonnöten wäre. Aber aus dem selben Grund können auch die dogmatischen Behauptungen nicht widerlegt werden – Gott wird nur aus Mangeln an Beweisen freigesprochen. Im ursprünglichen Problemraum, der Argumentation, ist diese Stasis der Perspektiven unauflösbar. Erst seine Erweiterung um narrative Elemente, nämlich die Abbildung der widerstreitenden Perspektiven – der ursprünglichen argumentativen Programme – als narrative Konfrontation und die Ermächtigung zum Urteil als narrative Herbeiführung einer Beherrschung, ermöglicht eine Entscheidung – zugunsten des Dogmas im Modus des Als-ob (Zuschreibung). Die Semantik des RECHTSSTREITSchemas stellt dafür die notwendigen Verknüpfungsregeln bereit. Für seine narrative Problemlösung nutzt Kant die analoge bzw. „allegorische“ Projektion eines gegebenen narrativen Lösungsschemas – der Lösung des Hiobbuches – auf seine Lösung des Theodizeeproblems. Bereits in der Hiobnovelle war eine solche analoge Projektion zur Anwendung gekommen: Das Problem der Bewährung Hiobs (P (L1ļ L2)) war auf ein zweites Problem, die Entscheidung des himmlischen Konflikts zwischen JHWH und Satan (Monismus vs. Dualismus) projiziert worden (P (L1' ļ L2')). Im Einzelnen erforderte diese Analogie von P = P' die Herstellung einer Analogiebeziehung für die zentralen Lösungsalternativen L1 = L1' und L2 = L2'. Damit konnte Hiobs Entscheidung EH für L1 in P gleichzeitig die Entscheidung für L1' in P' bedeuten, die dann in der abschließenden Restitution Hiobs durch JHWH narrativ bestätigt wurde (B): P (L1ļ L2) = P' (L1' ļ L2') P (L1ļ L2) → EH (L1) → B (+EH) P' (L1' ļ L2') → EH (L1') → B (+EH)
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Kants allegorische Lösung des Theodizeeproblems lässt sich in vergleichbarer Weise analysieren. Kant betrachtet den Streit Hiobs mit seinen Freunden als Verhandlung zweier entgegengesetzter Weltbeschreibungen (argumentativer Programme) in Stasis (P): Hiob vertritt das System des unbedingten Ratschlusses Gottes (L1), die Freunde das System der gerechten Vergeltung, des Tun-Ergehen-Zusammenhangs (L2). Gott selbst entscheidet den Konflikt: Er weist beide Systeme (als Systeme) zurück, tut das aber in Kants Interpretation nicht in Bezug auf ihren reinen Inhalt, sondern in Bezug auf den Charakter ihres Fürwahrhaltens: Die Freunde behaupten dogmatisch etwas, das sie nicht wissen können – das sei mit D (L1) dargestellt – und diesen Charakter des Fürwahrhaltens D bezeichnet Kant als unredlich (ja Heuchelei) und sieht ihn von Gott verurteilt. Hiob wiederum hat zwar „unweislich“ geredet, aber an seinem Glauben festgehalten, weil dieser auf Moral gestützt sei – dargestellt als G (L2). Diese Weise des Fürwahrhaltens G wird damit bestätigt, der Inhalt desselben (L2) aber zurückgewiesen. Gleichzeitig „beweiset“ Gott dem Hiob in seinen Reden aber „die den weisen Welturheber verkündigende Anordnung und Erhaltung des Ganzen“, die in Kants teleologischer Argumentation einen transzendentalen Tun-Ergehen-Zusammenhang in einer Welt des höchsten Guts beinhalten muss. Er bestätigt also damit gewissermaßen inhaltlich das Dogma L1, schränkt aber dessen Zugänglichkeit aus der Subjektperspektive (die Weise seines Fürwahrhaltens) auf den Glauben ein (G (L1)) – auf einen Glauben allerdings, an dem schlechterdings nicht gezweifelt werden kann, da er ja auf der authentischen Auslegung Gottes selbst beruht. Tröstung und Restitution spielen bei Kant keine Rolle, so dass die narrative Bestätigung der Entscheidung entfällt – sie ist auch nicht nötig, da ja die Entscheidung JHWHs als „authentisches“ Urteil der höchsten Instanz ohnehin unanfechtbar ist. Die Problemlösung im Hiobbuch hätte also (in dieser Lesart) die Form P ( D(L1), G(L2)) → EJ (G (L1)) Diese Struktur nun projiziert Kant auf seine Lösung des Theodizeeproblems P' in der authentischen Theodizee. Zu dieser Analogie von P = P' gehört die analogische Gleichsetzung der Parteien und damit der Lösungsalternativen – der Freunde mit den Theodizeeverteidigern (L1 = L1') und des Hiob mit den skeptischen Anklägern (L2 = L2'). Auch in der Theodizee muss allerdings unterschieden werden zwischen behaupteten Inhalten und der Weise ihres Fürwahrhaltens: Die Annahme der Weisheit und
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Gerechtigkeit Gottes L1' ist noch nicht in derselben Weise fragwürdig wie ihre dogmatische Behauptung D (L1') und die daraus folgende Abweisung skeptischer Anfragen durch willkürliche Zwecksetzungen. Die skeptischen Zweifel L2' wiederum sind theoretisch unergiebig, aber ihre Erkenntnishaltung ist der Perspektive der kritisch beschränkten Menschenvernunft angemessen, die das Absolute nur im Modus des Glaubens G zu fassen vermag (D (L1), G (L2) = D (L1'), G (L2')). Damit kann die allegorische Projektion auch die Problemlösungen selbst analogisieren: Die Entscheidung Gottes im Hiobbuch entspricht dem Machtspruch der Vernunft, der zwar den Wissensanspruch der dogmatischen Theodizeebefürworter zurückweist, aber im Modus des Als-ob ihre Inhalte rettet: als Gegenstände eines moralischen Glaubens, die nichtsdestotrotz der Vernunft unbezweifelbar gewiss sein sollen: P (D (L1), G (L2)) = P' ( D (L1'), G (L2')) P (D (L1), G (L2)) → EJ (G (L1)) P' (D (L1'), G (L2')) → EV (G (L1')) mit J=V, Vernunft analog Gott. Insofern beide Seiten L1' ļ L2' in Kants Darstellung gleichzeitig explizit auch Elementen des narrativen RECHTSSTREIT-Schemas korrespondieren, erlangt das Urteil der machthabenden Vernunft zusätzliche Legitimation. Seine Darstellung gewinnt an narrativer Kohärenz und Überzeugungskraft, denn das Schema kodiert ja die Rechtmäßigkeit des Urteils der über den Parteien stehenden Richterinstanz. Der Machtspruch der Vernunft bricht die Stasis der Perspektiven zugunsten der Draufsicht, des architektonischen Systeminteresses. Die allegorischen Projektionen im Theodizeeaufsatz versuchen für diesen Machtspruchs die Gewissheit des Gottesurteils im Hiobbuch und die Legitimation des richterlichen Urteilsspruchs im RECHTSSTREIT-Schema in Anspruch zu nehmen. Damit treten diese narrativen Strategien in den Dienst einer Rhetorik der Gewissheit, einer Rhetorik, die gerade deshalb immer nötiger wird, weil die Kritik der Vernunft dieser den Zugang zum Absoluten endgültig versperrt hat – es sei denn, sie verabsolutiert sich selbst. Unsere Untersuchung von narrativen Verhandlungen des Theodizeeproblems sollte – als Beitrag zu einer „kognitiven Poetik“ – in einem wesentlich argumentativ geführten Diskurs spezifisch narrative Möglichkeiten der Bedeutungskonstitution herausarbeiten. Die Untersuchung konnte unsere zentrale Thesen bestätigen: Wenn sich im argumentativen
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Diskurs argumentative Programme gegenseitig blockieren, ermöglicht die Nutzung narrativer Strategien der Problemverhandlung eine Erweiterung des ursprünglichen Problemraums durch neue Transformationsregeln, um diese Stasis zu überwinden und zu einer Entscheidung zu gelangen. Werden argumentative Programme in der Erzählung durch konkurrierende narrative Programme dargestellt (Konfrontation), so erlaubt die narrative Basisstruktur der „Performance“ die Darstellung von Entscheidungen für oder gegen diese Programme (Beherrschung) und ihre narrative Bestätigung (Zuschreibung). Narrative Schemata wie z. B. das Schema des RECHTSTREITS liefern ihrerseits neue Verknüpfungsregeln für eine kohärente Verbindung narrativer Einheiten in mentalen Modellen. Weil die narrative Konfiguration der Problemverhandlung die eigene Abgeschlossenheit aufprägt, können auch potenziell unabschließbare Problemverhandlungen zu einem vorläufigen Stillstand gelangen. Die narrative Struktur vermittelt die Binnenperspektiven der miteinander konfrontierten Programme und die Perspektive dessen, der das Ende der Erzählung kennt – d. i. die Draufsicht auf das narrative System und auf die dadurch evozierte Welt der Erzählung. Indem narrative Problemverhandlung die Fähigkeit des exemplarischen Erzählens nutzt, in der Darstellung eines Einzelnen Aussagen über Allgemeines, über die Ordnung der Welt zu machen, verschleiert sie die Kontingenz des erzählten Einzelnen. Zu den Regeln narrativer Problemverhandlung gehört die grundsätzliche Akzeptabilität willkürlicher narrativer Urteile, sogar solcher Urteile, die klar gegen die (praktische) Wahrscheinlichkeit verstoßen, im Namen „innerer“ Notwendigkeit und „poetischer Wahrheit“ – wenn also diese Urteile ihren Sinn aus dem Bezug auf ein übergeordnetes System von Werten, auf die Ordnung der „Welt“ gewinnen. So können narrative Problemraumerweiterungen nicht nur die Darstellung von Problemlösungen ermöglichen, die innerhalb der argumentativen Problemverhandlung als willkürliche Setzungen erscheinen müssen, sondern damit auch der rhetorischen Legitimierung willkürlicher Urteile im Dienste der „weisheitlichen“ Draufsicht dienen. Sie können die Subjektperspektive des Betroffenen retten und existenzielle Fragen offenhalten, aber auch die Antworten verabsolutieren und das Fragen mit Machtsprüchen abschneiden.
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Zusammenfassung und Ausblick
2. Ausblick: Verdunklungen „Vor wem sollen wir noch knien? Höchstens doch vor einem seltsamen Wort: Im Dunkel leben, im Dunkel tun, was wir können.“ (Gottfried Benn)
Unsere Analyse narrativer Urteile hat in der unterschiedslosen Rede von der kontingenten „Entscheidung“ bisher verschleiert, dass Entscheidungen wesentlich komplexer aufgefasst werden müssen, als ich das im Rahmen meines Versuchs tun konnte1. Insbesondere ist zu unterscheiden, ob das von erzählten Ereignissen „betroffene“ narrative Subjekt selbst eine Entscheidung (zwischen Verhaltensalternativen) trifft oder ob die äußere, unangefochtene, weil übergeordnete Instanz eines Gerichts entscheidet. Während die übergeordnete Instanz zumindest im Rahmen des RECHTSSTREIT-Schemas auf eine äußere Ordnung verweist oder diese setzt, ist das bei Subjektentscheidungen zunächst nicht zwangsläufig der Fall (wenn nicht exemplarisches Erzählen einen solchen Zusammenhang erst herstellt). „Eine Entscheidung ist fällig, wenn es angesichts alternativer Möglichkeiten zu handeln gilt, ohne daß ‚entscheidende‘ Gründe für die eine Möglichkeit gegen die andere oder umgekehrt vorhanden sind oder zu beschaffen wären“, bestimmt Hermann Lübbe in seiner „Theorie der Entscheidung“ (Lübbe 17). „Die Entscheidung überspringt einen Mangel an rationalen Bestimmungsgründen des Handelns.“ (Lübbe 21) Der „Fall der eigentlichen Entscheidung“, so Lübbe, ist der, „in dem weder auf Gründe noch auf Instanzen und Autoritäten ein Rekurs möglich ist und sich dennoch der Entschluß zum Handeln nicht mehr umgehen läßt“ – zum Beispiel, als Modell, der „Fall des Verirrten“ (Lübbe 17). Auch Erzählungen, die eine solche subjektive Entscheidung zum Thema haben, kommen in der Regel nicht umhin, mit der Darstellung der Folgen dieser Entscheidung auch eine Bewertung als „falsch“ oder „richtig“ zu geben und damit einen Bezug auf äußere Ordnungen zu suggerieren. Angesichts dieser elementaren bedeutungskonstituierenden Funktion narrativer Strukturen ist zu fragen, wie sich solches Erzählen zu dem spätmodernen Bewusstsein des Fehlens verlässlicher Ordnungen, Instanzen und Autoritäten verhält. Gerade in Bezug auf ethische oder weltanschauliche Orientierung erscheint ja das moderne Subjekt nicht selten als „Verirrtes“. Viele moderne Erzähltexte misstrauen der sinnstiftenden ––––––––––––– 1 Vgl. zum Folgenden Hermann Lübbes Skizze „Zur Theorie der Entscheidung“ (1971).
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Kraft des (naiven) Erzählens. Das moderne Bewusstsein eines weitgehend fiktionalen Charakters unserer Wirklichkeitsmodelle – unserer „explanatory fictions“ (Kermode 36) – schlägt sich nieder in Erzählungen, in denen weisheitliche Draufsicht Illusion oder unerreichbar bleibt, die oft genug Kohärenz demontieren, die Subjektperspektive absolut setzen und letzte Antworten verweigern. Sicherlich ist eine Möglichkeit, diesem Misstrauen Ausdruck zu verleihen, das Infragestellen oder „Zerstören“ der Geschichte2. Doch auch moderne Erzähler nutzen narrative Strukturen mit all ihren Eigenschaften und Fähigkeiten, sie erzählen Geschichten und müssen sie in aller Regel zu Ende erzählen – zu jenem Abschluss bringen, der die Welt des Textes vollendet und damit von außen über sie zu urteilen erlaubt. Wie sich unter der Voraussetzung des Misstrauens gegen erzählerische Ordnung, gegen narrative Urteile und Sinnstiftungen das narrative Wechselspiel der Perspektiven verändert, welche Möglichkeiten das Erzählen findet, um die Perspektive des Subjekts gegen das unentrinnbare Ende der Erzählung zu behaupten, ist eine hochinteressante Frage, die ich zum Abschluss dieser Untersuchung wenigstens anreißen möchte – mit Blick auf zwei andere moderne Hiobgeschichten, Archibald MacLeishs J. B. und Friedrich Dürrenmatts frühes Stück Der Blinde. Für beide Texte gehört zu den Bedingungen ihrer Bedeutungskonstitution nicht nur narrative Abgeschlossenheit, sondern als Theaterstücke auch die unmittelbare Präsentation auf einer Bühne. Bei MacLeish3 ist diese Bühne, auf der das „Spiel um Job“ statt hat, das Innere eines Wanderzirkus. Ein Plattform, über Treppen oder eine Leiter zu erreichen, bedeutet den „Himmel“ (14). Noch vor Beginn der eigentlichen Handlung treten Bühnenarbeiter auf, und die Verkörperungen von Gott und Satan erscheinen als abgehalfterte Schauspieler, Mr. Zuss and Nickles, die Popcorn und Luftballons verkaufen und die Rollenverteilung erst aushandeln müssen (21). Somit ist von Anfang an klargestellt: Auch wenn MacLeishs Stück alle Handlungsstationen des Hiobbuches durchläuft, zum Teil mit den Originaltexten arbeitet und somit durchaus eine Hiob-Adaption genannt werden kann, gibt es hier weder die transzendente Ebene des biblischen Buches, noch gelten dessen „Instanzen und Autoritäten“. ––––––––––––– 2 Wenn er in seiner schriftstellerischen Arbeit irgendwo „die Andeutung einer Geschichte auftauchen“ sehe, hat Thomas Bernhard einmal gesagt, dann schieße er sie ab – er sei „der typische Geschichtenzerstörer“ (Thomas Bernhard, Der Italiener, 152 (im „Drei Tage“-Interview). 3 Archibald MacLeish, J. B. A Play in Verse (1958); deutsch „Spiel um Job“, übers. Eva Hesse. Ich zitiere im Folgenden aus J. B. mit einfachen Seitenzahlen.
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Alle wichtigen Figuren des Hiobbuches finden sich auch in J. B.: Mr. Zuss and Nickles geben vor, Gott und den Satan der Bibel nachzuspielen. Es gibt J. B.s Familie, bestehend aus seiner Frau Sarah und fünf Kindern, es gibt zwei Hiobsboten, die drei Freunde Eliphaz, Bildad und Zophar, und darüber hinaus noch einige andere Figuren. Außerdem ist eine Verdoppelung Gottes ähnlich wie im Hiobbuch durchaus angelegt: neben Mr. Zuss erscheint bisweilen auch noch eine „ferne Stimme“ (a distant voice), die manchmal Mr. Zuss das Gottes-Wort aus dem Mund nimmt (24) und auch im zweiten Akt die Gottesrede an J. B. richtet. Wie im Hiobbuch kommt das Spiel um Job durch eine „Wette“ in Gang. J. B. ist zu Anfang ein reicher Geschäftsmann, der auf sein Glück und Gottes Güte vertraut: “Because He’s just ... A man can count on Him.” (34) Die „Wette“ fragt nun wie in der Vorlage nach J. B.s Liebe zu Gott – wird er auch im Unglück Gott preisen? Doch jetzt geht es nicht mehr um die Prüfung eines als statisch gedachten Charakters. J. B., sagt Nickles, soll leiden, damit er lernt: “God is merciful, and we learn it./We learn to wish we’d never lived.” – Mr. Zuss: “He’ll never learn that lesson. Never.” – Nickles: “Won’t he?” (39f.)
Das Experiment nimmt seinen Lauf. J. B. und Sarah verlieren eines nach dem anderen alle ihre Kinder, und wenn J. B. nach den grausamen Botschaften die Worte Hiobs spricht: “SHALL WE TAKE THE GOOD AND NOT THE EVIL?” (56) und später “THE LORD GIVETH ... THE LORD TAKETH AWAY…” (63), wendet sich auch Sarah mehr und mehr von ihm ab. Als er das letzte Kind, all seinen Reichtum und seine Gesundheit verloren hat, schmerzverkrümmt auf dem Boden kniet, Gott um den Tod bittet und dennoch an Gottes Gerechtigkeit festhält, hält Sarah es nicht länger bei ihm aus: J. B.: “No! Don’t let my hand go, Sarah. / Say it after me: THE LORD GIVETH …Say it!” Sarah: “THE LORD GIVETH …” J. B. “THE LORD TAKETH AWAY….” Sarah: (Rising.) “Takes! Kills! Kills! Kills! Kills!” J. B.: “BLESSED BE THE NAME OF THE LORD.” (…) Sarah: “I cannot stay here – I cannot stay here if you cringe / connive in death’s injustice, kneel to it – / Not if you betray my children… Curse God … and die!” (77)
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Der erste Akt endet mit J. B.s Flehen: “(Rising, to knees, arms out.) SHOW ME MY GUILT; O GOD!” Doch anstelle einer Antwort von Gott treten im zweiten Akt die Tröster auf den Plan. Stärker noch als im Hiobbuch sind die modernen Tröster Eliphaz, Bildad und Zophar lupenreine Verkörperungen argumentativer Programme, nämlich von Psychoanalyse, Marxismus und (christlicher) Religion. Aus je verschiedenen Gründen (Schuld als Wahn, historische Notwendigkeit, Mysterium) erklären sie die Kategorien von persönlicher Schuld und individueller Gerechtigkeit weg; auf die Fragen J. B.s nach dem Sinn seines Leidens können auch sie keine befriedigende Antwort geben. Nickles glaubt den Sieg sicher: He knows know that no reasoning on earth / can justify the suffering he suffers. He knows that good is not rewarded. / He knows that evil is not punished. He knows his life is meaningless. It’s over / It’s done with. Over. He’ll curse God! He’ll never lift his voice again / to that deaf, unintelligible Heaven! (94f.)
Aber J. B. straft ihn Lügen, er erhebt doch noch einmal seine Stimme zu Gott, den er nicht sieht: “GOD... MY GOD! MY GOD ANSWER ME … BEHOLD. I GO FORWARD BUT HE IS NOT THERE, BACKWARD, BUT I CANNOT PERCEIVE HIM. …” (95) Die Antwort, mit Ausschnitten der Gottesrede des Hiobbuches, gibt ihm nicht Mr. Zuss, sondern die „ferne Stimme“ – und tatsächlich, wie in der biblischen Vorlage und mit denselben Worten, unterwirft sich J. B. Aber das ist noch nicht das Ende. Mr. Zuss und Nickles müssen noch klären, was es mit der Restitution auf sich hat – was, wenn Sarah zu J. B. zurückkäme? Was wenn er alles noch einmal von vorn beginnen solle? Nickles: “After all that filth and blood and / Fury to begin again! After life like his to take / The seed up of the sad creation / Planting the hopeful world again. … He can’t. He won’t. He wouldn’t touch her.” Zuss ist vom Gegenteil überzeugt, und so ist die Zeit für die eigentliche Antwort gekommen, die Antwort auf die Frage, die dieses Experiment beantworten sollte und die ein uns vertrautes Thema der Theodizee-Debatte wiederaufnimmt (s. o. S. 482): Ist dieses Menschenleben es wert, noch einmal gelebt zu werden? Nickles: “Live his life again? / Not even the most ignorant, obstinate, / Stupid or degraded man / This filthy planet ever farrowed, / Offered the opportunity to live / His bodily life twice over, would accept it – / Least of all Job, poor trampled bastard! / It can’t be borne twice over! Can’t be!” Mr. Zuss: “It is though. Time and again it is. / Every blessed generation./Time and again!” (102)
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Während die beiden noch streiten, hat sich der am Boden liegende J. B. erst auf seine Knie, dann “by an almost intolerable effort” ganz erhoben. Plötzlich stellt er seinen eigenen Widerruf, die Worte Hiobs, wieder in Frage: “Repent? For crying out? For suffering?” (102) Nickles sieht seine Chance, spricht J. B. direkt an, sagt ihm, was ihn erwartet, drängt ihn gar, den Freitod dieser erneuten göttlichen Zumutung vorzuziehen. Und auch Mr. Zuss spricht zu ihm, selbstgefällig: “You’ve learned it now. You’ve bowed your head. / The end is the acceptance of the end.” Aber J. B. weist ihn zurück: “I will not duck my head again to thunder…” (106) – Wie schon der Hiob der Bibel urteilt am Ende J. B. selbst über die ihm präsentierten Sinnangebote; aber dieser Hiob weist das Weltbild Gottes wie des Satans zurück: “Neither the bowing nor the blood / Will make an end for me now! Neither the / Yes in ignorance... the No in spite ... / Neither of them!” (107) Er wählt das Leben ohne falschen Trost, und er setzt seine Hoffnung auf Sarah, auf menschliche Liebe, als etwas, das zwar auch nicht sicher ist, worum man sich aber selbst bemühen kann und muss. Die Schlussworte geben den zahlreichen Anspielungen des Stücks auf Sehen und Blindheit – etwa die geschlossenen Augen der Gottesmaske (22), das Lernen, Gott zu sehen 4 oder Nacht und Finsternis (78) – einen abschließenden Sinn: Wenn etwas in der Finsternis der Welt Licht gibt, dann die menschliche Kraft zu lieben. Dafür steht Sarah (dies das originale Ende): The candles in churches are out. The lights have gone out in the sky. Blow on the coal of the heart And we’ll see by and by… we’ll see where we are. We’ll know. We’ll know. (110)
“We are and that is all our answer”, antwortet (in der überarbeiteten Version) J. B. Weil Leben, Liebe und Leid einander bedingen, wird der Liebende nicht aufhören zu leiden, aber auch nicht aufhören zu leben. Mehr gibt es nicht zu sagen – Dunkelheit beherrscht die letzten Worte des Stücks: And love will live its suffering again Risk its own defeat again, Endure the loss of everything again And yet again and yet again
––––––––––––– 4 Mr. Zuss: “He’ll trust the will of God no matter.” Nickles: “Why try the trust then?” Z: “Why? To see!” N: “See... what?” Z. “See … God!” N. “A fine sight from an ash heap, certainly.” Z. “It’s from the ash heap God is seen.” (40).
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In doubt, in dread, in ignorance, unanswered, Over and over, with the dark before, The dark behind it … and still live … still love. (110)
Diese „Dunkelheit“ ist nicht zuletzt eine Antwort auf das „Licht“ des aufklärerischen Erkenntnisoptimismus, Voraussetzung jeder weisheitlichen Draufsicht5. Die Hoffnung auf hinreichende objektive Gewissheiten hat sich inzwischen zerschlagen. Die narrative „Lösung“ in J. B. beruht tatsächlich auf einer rein individuellen Entscheidung: J. B. entscheidet sich gegen die Autoritäten und Instanzen, die gewöhnlich entscheidende Gründe liefern – gegen Gott, gegen Satan, gegen die Tröstungen der Ideologien. Er entscheidet sich für Sarah, für „die Liebe“ und damit für das Leben ohne Antworten, in Dunkelheit, in der die „Kohle des Herzens“ glimmt. Damit destruiert das Stück auch auf der narrativen Ebene die Sinnstiftungen der dem Publikum vertrauten Hiob-Modelle. Aber natürlich stiftet dieses narrative Urteil selber einen Sinn, und natürlich verweist auch dieses narrative Urteil auf eine etablierte äußere Ordnung: Die rettende „Macht der Liebe“ ist beileibe keine neue Problemlösung, und nicht jeder wird sie nachvollziehen wollen – gerade angesichts der ProblemReichweite, die das Stück explizit aufmacht: Mr. Zuss: “Oh, there’s always someone playing Job.” Nickles: “There must be Thousands … / Millions and millions of mankind Burned, crushed, broken, mutilated, / Slaughtered, and for what? For thinking! For walking round the world in the wrong / Skin, the wrong-shaped noses, eyelids: Living at the wrong address – / London, Berlin, Hiroshima – / Wrong night, wrong city.” (20)
Aber wenn es überhaupt eine „Lösung“ für das Hiobproblem gibt, dann ist es nach MacLeish diese. Denn sie denkt das Hiobbuch weiter, das den Verzicht auf unmögliche Antworten forderte. Der Hiob der Bibel, sagt ––––––––––––– 5 Dem objektivierenden „Licht“ der Aufklärung setzt moderne Subjektivierung immer wieder auch Metaphern von „Dunkelheit“ und „Blindheit“ entgegen (nicht umsonst gehört der „Blindflug“ zu den Lieblingsmetaphern des Radikalen Konstruktivismus). Was Kant im Jahrhundert „des Lichtes“ noch den Weg nach oben zur „Weisheit“ wies – „der gestirnte Himmel über mir“, ist Arno Schmidt (dem Verfasser der wütenden Antitheodizee des Leviathan) Anlass zu ätzenden Angriffen: „... meinen Sie tatsächlich, daß angesichts einer Nova noch Ihr devot=gestirnter ‚Himmel=über=Mir‘ am Platze wäre ? ! ... Und wenn’s vielleicht auch nicht die ganze Wahrheit ist, so ist es doch bestimmt mehr als die halbe: Wir, mit unzulänglichen Organen unschuldig Gehandicapte, ob in Bikini oder Zwangsjacke, wir werden, in ehrlichen Augenblicken, schwanken müssen; zwischen periodischem Kopfschütteln ob ‚des Allmächtjen Güte‘, und systematischfinsteren Pan=Diabolismus“ (Arno Schmidt, Belphegor, 198).
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MacLeish, wird durch die Größe der Schöpfung zum Verstummen gebracht: “He is brought, not to know, but to see”6. Dieses „Sehen, das nicht wissen kann“ sei der Grund, dass Hiob sein Leben aufs neue akzeptiert (vgl. ebd.). Liebe aber sei in einem Bejahung und der Verzicht auf Antworten: “Love, in reason’s terms, answers nothing ... We say that Amor vincit omnia but in truth love conquers nothing – certainly not death – certainly not chance. What love does is to affirm. It affirms the worth of life in spite of life.” (10) Eine solche „Lösung“ aber kann kaum noch exemplarisch erzählt werden. Selbst wenn J. B. ein moderner Jedermann ist – seine Antwort ist nicht bruchlos verallgemeinerbar. Sie ist nur möglich als individuelle Leistung. Sie fordert, so könnte man sagen, von den von Hiobs Schicksal Betroffenen, dass „die verlorene Weltordnung ... in ihrer Brust wiederhergestellt“ werde. Das nämlich sagt Friedrich Dürrenmatt vom Helden seines Stückes Der Blinde (uraufgeführt 1948)7. Dieser Blinde ist in erster Linie ein „mutiger Mensch“ – einer, an dem nach Dürrenmatt der Schriftsteller etwas zeigen kann – aber eben nicht exemplarisch, sondern ausdrücklich am einzelnen Menschen, den man zeigt inmitten einer Welt, die er nicht überschaut und schon gar nicht kontrolliert8. Held des Stückes ist ein blinder Herzog zu Zeiten des 30jährigen Krieges, der sich inmitten der Ruinen seines Reiches noch immer als Herrscher eines blühenden, von den Kriegswirren verschonten Landes wähnt. Weil er blind ist, kann oder muss er die fortschreitende Zerstörung rings um ihn nicht sehen: „Der Himmel hat ihm die Augen zugehalten.“ (160) ––––––––––––– 6 Vorwort des Autors (Nachdruck aus New York Times), in MacLeish, J. B., S. 6-10, 9. 7 Friedrich Dürrenmatt, Der Blinde (1980, uraufgeführt 1948), im Folgenden zitiert mit einfachen Seitenzahlen. Übrigens erwähnen meines Wissens die einschlägigen Darstellungen der literarischen Hiobrezeption bis hin zu Langenhorst dieses Stück nirgends, trotz seiner zahlreichen expliziten Parallelen zur Hiobgeschichte. 8 „Gewiß, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine Antwort, die man auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluß etwa, die Welt zu bestehen, in der wir oft leben wie Gulliver unter den Riesen. Auch der nimmt Distanz, auch der tritt einen Schritt zurück, der seinen Gegner einschätzen will, der sich bereit macht, mit ihm zu kämpfen oder ihm zu entgehen. Es ist immer noch möglich, den mutigen Menschen zu zeigen. Dies ist denn auch eines meiner Hauptanliegen. Der Blinde, Romulus, Übelohe, Akki sind mutige Menschen. Die verlorene Weltordnung wird in ihrer Brust wiederhergestellt, das Allgemeine entgeht meinem Zugriff“ (Friedrich Dürrenmatt, „Theaterprobleme“, 63).
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Seine Umgebung, vor allem sein Sohn Palamedes und der Hofdichter, tut alles, ihm die Illusion des Glücks zu bewahren, ihn zu „verschonen um des süßen Wahns seines Glaubens willen“ (220). Das fragile Gleichgewicht dieses Zustands wird zerstört, als „mit gezücktem Degen“ ein italienischer Edelmann namens Negro da Ponte, General in Wallensteins Diensten, auftritt. „Wo bin ich hier?“ – „Vor dem Schloß des Herzogs, den man den Glücklichen nennt.“ Der Fremde will eigentlich weiter ziehen, aber der Herzog verwickelt ihn in ein Gespräch und überredet ihn zu bleiben. Er preist die Schönheit seines Schlosses und beschreibt aus dem Gedächtnis das westliche Portal, vor welchem er zu sitzen glaubt, das aber ebenfalls längst zerstört ist: Alte Arbeit, wie Ihr Euch überzeugen könnt, und die Geschichte Hiobs in den Mauerbogen gemeißelt. Ihr seht den alten Mann links über der Wölbung vor seinem Haus im Lande Ur sitzen. Vor ihm steht der Versucher, der eben aus Zufall vorübergeht ... Der Versucher hält einen Degen in der Hand ... Und weiter seht Ihr die ganze Geschichte gemeißelt: Die Armut Hiobs, seinen Aussatz, wie Gott mit ihm redet, und wie ihm am Ende alles wiedergegeben wird, was er verlor. (152f.)
Mit dieser Beschreibung wird der vor den Ruinen seines „Hauses“ sitzende Herzog mit der biblischen Figur des Hiob, Negro da Ponte dagegen mit dem „Versucher“ identifiziert: Wie der Satan auf dem Mauerbogen war er mit dem Degen in der Hand „aus Zufall“ (vgl. auch 165) am Herzog „vorüber“ gegangen (vgl. 155). Jetzt, von diesem erwählt und zum Statthalter ernannt, hat er einen „Einfall“ (166): Wie Satan den Hiob, will Negro da Ponte den Herzog „versuchen“. Seinem Gefolge, Soldaten, Dirnen und Verbrechern, will er ein „Spiel“ bieten: „Ich zeige dir einen Blinden. Er weiß nicht, daß sein Volk untergegangen ist, und er kennt die Ruinen seines Hauses nicht. Spiele ihm nun seinen Untergang.“ (170) Im Gegensatz zum Hiobbuch geht es in diesem Stück nicht um unschuldiges Leid. Die Frage ist längst nicht mehr, ob es eine gerechte Vergeltung gibt oder ob diese Welt nicht doch die beste aller möglichen ist. Die Welt liegt in Trümmern, und die einzige mögliche Gnade liegt darin, das nicht sehen zu müssen. Der blinde Herzog wird nun schrittweise der Illusion des Glücks beraubt. In einem perfiden „Spiel im Spiel“ wird durch erfundene Nachrichten – Hiobsbotschaften – seine innere Weltrepräsentation dem desolaten Zustand der Außenwelt angeglichen. Gleich die erste Hiobsbotschaft des Italieners meldet ihm Krieg und den Verlust seines Landes und zerstört damit, was der Herzog zuvor als „Gnade Gottes“ ansah: „den Frieden meines Landes und den Frieden meiner Seele“ (151;
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siehe auch 155, 159, 180). Der Herzog, in „riesenhafter Verzweiflung“ (184), ist scheinbar schon geschlagen. Damit aber, so will es der Text, beginnt erst Negros Spiel (vgl. ebd.): ein Spiel um Blindheit und Sehen, Glaube und Wahrheit. Die Sehenden halten den Glauben des Herzogs, der sich von Gott selbst geschlagen wähnt und doch dessen Größe bekennt, für einen „Wahn“, welcher der „Wahrheit“, über die sie selbst zu verfügen meinen, nicht standhalten kann. „Was er tut, ist ein Wahn, und was er glaubt, ist ein Wahn“, sagt Negro. „Er saß inmitten der Trümmer und war glücklich. Ein Wort meines Mundes, ein leichter Atemzug, und sein Glück war ihm genommen. Dies ist die Macht, die ein Mensch über einen Menschen haben kann, ein Beweis, daß es nichts außer dem Menschen gibt und daß alles, was geschieht, vom Menschen kommt, Glück und Unglück.“ (185) Das „Spiel“ des Italieners soll seine Macht beweisen, durch Illusion und Inszenierung die „Welt“ des Blinden völlig zu beherrschen. Er schickt den Herzog auf eine scheinbare „Flucht“ (186), die „im endlosen Kreis durch die Trümmer“ führt (239), er lässt ihm die Zerstörung seines Schlosses melden, lässt ihn vor einem „Neger“ niederfallen, der den siegreichen Wallenstein spielt, und von einer Hure mit einer „lächerlichen Krone“ krönen (236), er setzt ihn dem Gespött seiner Leute und den tiefsten Demütigungen aus. Auch Palamedes hält den Glauben des Herzogs für einen Wahn, den er zu kennen meint, da er ihn selbst geschürt hat – einen „Wahn“, den sich der Mensch „machen muß, um nicht zu verzweifeln“ (212). Er selbst ist längst verzweifelt – die Verzweiflung eines Sehenden, dem der glücklich machende Wahn unerreichbar bleibt. So konfrontiert das Spiel des Versuchers den „Glauben“ des Blinden mit der „Wahrheit“ der Sehenden. Dieser „Glauben“ ist nicht allein religiös, sondern viel umfassender: Weil der Herzog „blind“ ist, kann er die Welt nicht sehen, wie sie „ist“. Er muss deshalb den Menschen vertrauen9. Weil er deren Aussagen nicht nachprüfen kann, darf er auch nicht zweifeln. Denn beginnt er einmal zu zweifeln, wird er diesen Zweifel nirgends ––––––––––––– 9 Aus Dürrenmatts Anmerkung zum Stück: „Wie ich mich in Bern mit dem Glauben meines Vaters auseinanderzusetzen hatte, so in Basel mit dem Katholizismus. Ich tat es insofern, als ich mich mit dem ‚Glauben an sich‘ auseinandersetzte. Glauben verlangt Vertrauen ... Der Herzog in Der Blinde befindet sich in einer existenziellen Position, wo er zwischen dem Glauben an die Sehenden und dem Zweifel an den Sehenden zu wählen hat. Indem er den Glauben an die Sehenden wählt, wird er für diese schrecklich und auf eine gespenstische Art unmenschlich: er nimmt sie beim Wort“ (Anmerkung zu Der Blinde, S. 256).
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mehr aufhalten können: „Denn wenn ein Blinder nicht allen glaubt, muß er an allem zweifeln.“ (229) Die Sehenden, Palamedes ebenso wie Negro da Ponte, glauben sich im Besitz von „Wahrheit“, weil sie die „Wahrheit“ des Blinden bestimmen. Für den Herzog hingegen ist der Glaube – und sei es auch gegen Logik und „Verstand“ (210) – die einzige Haltung, die seiner „Blindheit“ angemessen ist. Diese „Blindheit“ steht für Wahrnehmung „von innen“, für die fehlende Draufsicht. Die „Sehenden“ verkörpern dagegen das „Außen“: „Denn was Ihr von innen seht, sehe ich von außen“, sagt Palamedes zum Herzog (211). Alle zusammen wiederum, als handelnde Figuren auf der Theaterbühne, modellieren die „Welt“, über die sich die Zuschauer ein Urteil bilden sollen. Dürrenmatt hat ja immer wieder deutlich gemacht, dass er sich in seinen literarischen Erfindungen Modelle der Welt schafft, um diese aus der „Distanz“ darstellbar zu machen. Das Theaterstück bilde eine „Eigenwelt“, eine „in sich geschlossene Fiktion, deren Sinn nur im Ganzen liegt“ 10, die aber durch ihre „innere, immanente Logik ... wieder zu einem Bilde unserer Welt“ werden kann. Doch geht es Dürrenmatt nicht so sehr um die „Welt“ wie um den einzelnen Menschen, der diese „bestehen“ muss: „Die Chance liegt allein noch beim einzelnen. Der einzelne hat die Welt zu bestehen. Von ihm aus ist alles wieder zu gewinnen. Nur von ihm, das ist seine grausame Einschränkung.“ 11 Insofern ist das Geschehen auf der Bühne ein „Modell“ der Welt nur in Bezug auf den Einzelnen. Der Held eines Theaterstücks handele und leide nicht nur, er „stellt auch eine Welt dar“, sagt Dürrenmatt an anderer Stelle – eine Welt allerdings, in der „die echten Repräsentanten fehlen“ („Theaterprobleme“ 58ff.). Deshalb erzählen diese Stücke nicht exemplarisch, bestätigen nicht „weisheitlich“ die Ordnung der Welt. Weil ihre Helden Einzelne sind und keine Typen, bewahren sie sich selbst bei possenhafter Handlung ihre Grausamkeit (vgl. Mitmacher 276). Dürrenmatts Helden sind Individuen in einer unüberschaubaren, übermächtigen, bedrohlichen Welt: „Die Welt ist größer denn der Mensch, zwangsläufig nimmt sie so bedrohliche Züge an, die von einem Punkt außerhalb nicht bedrohlich wären, doch habe ich kein Recht und keine Fähigkeit, mich außerhalb zu stellen. Trost in der Dichtung ist oft nur allzubillig, ehrlicher ist es wohl, den menschlichen Blickwinkel beizubehalten.“ („Theaterprobleme“ 63f.) ––––––––––––– 10 Dürrenmatt, „Dramatische Überlegungen zu den Wiedertäufern“, 135. 11 Dürrenmatt, „Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit“, 67f.
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Von innen, aus dem „menschlichen Blickwinkel“ gesehen sind widerspruchsfreie Weltbeschreibungen unmöglich, zumindest bei Dürrenmatt. Dürrenmatts Einzelne können die Welt nicht mehr verstehen, sie können sich nur noch zu ihr verhalten – auf sie antworten. Auch der „Blinde“ im gleichnamigen Stück, sagt Dürrenmatt, gehöre zu den „mutigen Menschen“ (Anm. 8), an denen Dürrenmatt Möglichkeiten durchspielt, nicht zu verzweifeln. In diesem fiktiven „Modell“ der Welt ist also der „Blinde“ das Subjekt im Zentrum, inmitten des übermächtigen Chaos, das die Welt ist. Auch die „Sehenden“ gehören in erster Linie zu diesem Außen, bevölkern das Chaos, liefern im tödlichen „Spiel“ Informationen, denen das Subjekt glauben muss, obwohl sie – wie wir von „außen“ deutlich zu sehen glauben – nicht der Wahrheit entsprechen. BLINDHEIT, als Metapher, wäre ein mögliches Bild für das verirrte Subjekt der „eigentlichen“, individuell zu leistenden Entscheidung (Lübbe). Die Metapher der BLINDHEIT spitzt das Modell des VERIRRTSEINS noch zu: Ich weiß nicht nur nicht, welcher Weg der richtige ist, ich weiß womöglich gar nicht, wo und ob überhaupt ein gangbarer Weg existiert. Ich bin stärker als der „Sehende“ auf Informationen aus Quellen angewiesen, deren Zuverlässigkeit ich nicht überprüfen kann. Ich muss daher stärker als dieser „vertrauen“, um entscheiden zu können, und muss mich immer wieder aufs neue entscheiden zu vertrauen. Auch die „Sehenden“ außerhalb der Theaterstücke sind „blind“, wenn es gilt, sich in der „Welt“ zu orientieren. Wir müssen den allermeisten Informationen über die „Welt“ vertrauen, weil wir sie nicht nachprüfen können. Nicht zuletzt deshalb ist bis hin zu Kant das Lügenverbot so wichtig und der „Beweis aus der Autorität“ so überzeugend. Was aber, wenn wir Grund haben, an den „Autoritäten“ zu zweifeln? Welche Wahl gibt es zwischen Orientierungslosigkeit in der „Finsternis“ und „blindem“ Vertrauen? Als der Italiener den Palamedes beim Herzog des Verrats anklagt und zur Strafe seinen Tod fordert, nimmt der Herzog die Anklage gegen sein Sohn zur Kenntnis, aber verweigert jedes eigene Urteil. Im unbeirrten Glauben „an Gott und seine Gerechtigkeit“ (209) begegnet er so einem für ihn logisch unauflösbaren Dilemma. Er ist, wie der folgende Dialog von Vater und Sohn zeigt, zum (logisch) Unmöglichen entschlossen: „Ihr seid angeklagt, Euren Vater verraten zu haben.“ – „Einer muß mein Richter sein.“ – „Ihr müßt Euer Richter sein, Prinz Palamedes. Das ist die Last, die Euch der Vater auferlegt.“ – „Ihr werdet dem Urteil glauben, das ich über mich fälle?“ – „Ich glaube dieses Urteil.“ – „Wenn ich sage: Ich bin unschuldig, werdet Ihr an diese meine Unschuld glauben?“ – „Ich werde an Eure Unschuld glauben.“ – „So werdet Ihr an den
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Worten Negro da Pontes zweifeln?“ – „Ich zweifle nie an den Worten eines Menschen.“ – „So werdet Ihr beiden glauben?“ – „Ich werde beiden glauben, und Ihr werdet frei sein.“ – „Das ist unmöglich. Einer von uns muß lügen, wenn ich sage, daß ich unschuldig bin.“ – „Ich würde denken, daß ein Blinder die Welt nicht immer verstehen kann.“ – „So wenig glaubt ihr Eurem Verstand, daß Ihr nicht zu sagen wagt: Der oder jener lügt? – „So sehr vertraue ich meinem Glauben, daß ich das nicht sage.“ (209f., meine Hervorhebung)
Der Glaube des Herzogs hat seinen Preis: Er muss sich über den Verstand hinwegsetzen12. Und er muss Opfer bringen. Der Italiener hatte zwar mit der Anklage Palamedes’ die nächste Prüfung des Herzogs, den Verlust des Sohns, vorbereitet, aber Palamedes selbst macht daraus jetzt eine Glaubensprüfung: Hält der Herzog an seinem Glauben fest – verweigert er das Urteil des Verstandes und nimmt auch diesen Schlag hin „wie ein Hund“ – so lässt er sein Sohn sterben. „Ihr müßt nun in Eurer Blindheit versinken, ich strecke die Hand nicht mehr aus, Euch zu halten“, sagt Palamedes. „So wende ich mich denn zu meinem Vater zurück und schreie ihm zu, diesem Blinden, der jeden Schlag hinnimmt, den man ihm tut, wie ein Hund, der alles glaubt, was man ihm sagt, wie ein Narr, daß ich, Palamedes, ihn verraten habe.“ – „Der Herzog ruhig So hast du mich verraten, mein Sohn. ... So mußt du sterben.“ (211f.) Palamedes13 fällt ein „Urteil“ über sich und gleichzeitig über den Vater: Er zwingt ihn, gerade in seiner Urteilsverweigerung den eigenen Sohn zum Tode zu verurteilen. Der aber vermag sogar das scheinbar mühelos in seinen Glauben zu integrieren. „Ich kann dir keinen anderen Segen geben als den Tod. Empfange ihn denn aus meinen Händen ...“ (212f.) Negro da Ponte hat seinen Gegenspieler Palamedes ausgeschaltet und glaubt sein Spiel gewonnen. Palamedes dagegen hat erkannt, dass des Vaters Glaube vielleicht Wahn, aber nicht leerer Wahn ist: „Ich wollte die Blindheit meines Vaters verhöhnen und habe seinen Glauben verherrlicht“, warnt er da Ponte. „Seht Euch vor, daß Ihr nicht dasselbe macht: Ihr kämpft mit einem gefährlichen Gegner. Es verwandelt sich alles in Wahrheit, was er glaubt.“ (214) ––––––––––––– 12 Dürrenmatt selbst übrigens hat später, auf die Frage nach dem eigenen Glauben, diesen Weg – die eigenen Zweifel zu unterdrücken – für sich selbst ausdrücklich abgelehnt (Mitmacher 286). 13 Der griechische Sagenheld Palamedes entlarvte erfolgreich den vorgetäuschten Wahn des Odysseus, mit dem dieser dem Kriegsdienst entgehen wollte, indem er dessen Sohn dem auf dem Felde Salz Sähenden vor den Pflug legte. Von Odysseus und anderen Heerführern fälschlich des Diebstahls bezichtigt, wurde er zum Tode verurteilt und gesteinigt, ohne sich gegen die Anschuldigungen zu verteidigen.
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Der Herzog lebt seine „Blindheit“ mit unheimlicher Konsequenz. Als der Hofdichter, bis zuletzt dem Palamedes bei der Arbeit der Illusion behilflich, endlich beschließt, dem Blinden ‚die Augen zu öffnen‘: „Ich besitze die Wahrheit, weil ich sehe. Ich werde Euch alles sagen, die ganze Wahrheit“, verweigert der Herzog dieser Wahrheit das Gehör: „Du bietest mir die Wahrheit und willst mir die Verzweiflung geben. Denn wenn ein Blinder nicht allen glaubt, muß er an allem zweifeln.“ (228f.) Wenn ein Blinder alles glauben muss, dann darf er nicht alles hören – ja, er muss notfalls mit Gewalt verhindern zu hören, was er nicht hören darf. Der Herzog hält am Glauben fest und bringt damit zum zweiten Mal den Tod: Er erwürgt den Hofdichter. Der Glaube des Herzogs scheint jetzt ganz immunisiert: Wie kann angesichts dessen der Versucher sein Spiel mit der „Wahrheit“ vollenden? – Der Herzog „kann sie nicht sehen und will sie nicht hören. Unser Spiel ist erhaben, aber es findet keinen Abschluß“, sorgt sich ein Handlanger Negros (230). Der aber hat noch eine Waffe: Octavia, die Tochter des Herzogs. In seiner komplexesten Inszenierung gibt der Versucher dem Herzog gegenüber die Leiche des Hofdichters als seine angeblich tote Tochter aus. Der Herzog erträgt stoisch auch diesen Verlust: Dann sei willkommen, tote Tochter ... Du wußtest keinen Weg mehr, nun ist es an mir, für dein Verbrechen zu sühnen ... Ich schließe deine Verzweiflung in mein Gebet. Du bist meine Last geworden, die Schuld, die ich trage, die Strafe, die ich erleide, die Gerechtigkeit, die mir widerfahren ist, und die Hoffnung auf Gnade, die mich nie verläßt. (237f.)
Der Versucher hat mit dieser Reaktion gerechnet. Jetzt will er dem Blinden den letzten Schlag versetzen; er will ihm – in einer Rede, die viel vom Duktus der Gottesreden bei Hiob hat – beweisen, dass er die Welt des Herzogs nach Belieben manipulieren konnte, dass er selbst uneingeschränkter Herr über dessen Wahrheit sei. Seine Inszenierung pervertiert die tragische „Erkennung“, die den Umschlag von Glück zu Unglück anzeigt: Er entdeckt jetzt dem Herzog das „Spiel“, das er all die Zeit mit ihm gespielt hatte, und enthüllt zum Beweis den falschen Leichnam (240). Der Blinde soll die „Wahrheit“, die er nicht hören wollte, „fühlen“ (231), und er soll zwischen dieser Wahrheit und seinem Glauben „richten“: Du hast den Untergang deines Landes ertragen und den Tod deines Sohnes, den du ge14 richtet hast. Dein Glaube hat dir geholfen . Du hast dich vor deinem Feinde ernied-
––––––––––––– 14 Vgl. Neues Testament, Lk 18,35-43: Jesus heilt einen Blinden mit den Worten: „Sei sehend. Dein Glaube hat dir geholfen“ (Lk 18, 42)
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rigt, und den Leichnam deiner Tochter empfängst du wie ein Fürst ein Geschenk. Nun sieh zu, wie du meine Worte erträgst und wie du mich durch deinen Glauben widerlegst, versuche mir zu entgehen ... Ich gebe dir, was du nie gewollt hast, und ich zeige dir, was du nie gesehen hast: die Wahrheit. Ich zwinge dich, zwischen ihr und deinem Glauben zu richten, denn ich stelle dich der Wahrheit gegenüber wie einem Gegner, der gekommen ist, dich zu töten ... Ocatavia lebt. Ich habe sie zu einem Weibe gemacht, und sie gehört mir Nacht um Nacht, ein Geschöpf wie ich, ruhelos wie ich, ewig wie ich, ein Fluch im Angesicht Gottes ..., ein Wesen, das deine Liebe von sich geworfen hat wie ein unnützes Ding und das dich verspottet wie meine Geschöpfe, die dich umgeben, ... wie dieser Edelmann, der dich im endlosen Kreis durch die Trümmer führte ..., wie mein Neger, vor dem du im Staub gelegen hast, wie meine Dirne, die dich gekrönt hat. (238f.)
Die enthüllte Leiche aber ist Octavia – sie hat sich, letzter Ausdruck ihrer Freiheit, selbst getötet. Die von Negro da Ponte inszenierte Erkennung wendet sich gegen ihn selbst. Wie Palamedes vorausgesagt hatte, hat sich der Glaube des Blinden in „Wahrheit“ verwandelt: „Euch ist geschehen nach Eurem Glauben: Octavia ist tot“ – „Der Herzog ruhig Bringt meine Tochter hinaus ...“ (240f.) Zum Schluss stehen sich wieder der Herzog und der Italiener, Hiob und der Versucher, gegenüber. Die Beschreibungen des Herzogs entsprechen nun der „Wahrheit“: „Ich sitze hier inmitten meines zerstörten Schlosses ... Um Euch breitet sich mein Land, eine Wüste.“ (241) Der Herzog, der bis zuletzt an seinem Glauben festgehalten hat, ist jetzt bei der „Wahrheit“ Gottes angekommen, die nichts Tröstliches mehr hat: Was zwischen Mensch und Gott war, ist zerbrochen. Wie Scherben liegt die Größe des Menschen um uns her, und in unser Fleisch ist der Weg gesprengt, den wir gehen müssen, wie in einen Fels. So haben wir erhalten, was uns zukommt. So sind wir an den Platz zurückgewiesen, den wir einnehmen müssen. So liegen wir zerschmettert im Angesicht Gottes, und so leben wir in seiner Wahrheit. (242)
In Umkehrung zum Hiobschluss bekennt nun der Widersacher seine Niederlage, die auch den Konflikt „Wahrheit“ (des Menschen) versus „Glaube“ zu besiegeln scheint. „Ihr habt mir nicht widerstanden und habt mich überwunden. Ich bin an dem zugrunde gegangen, der sich nicht wehrte. Ich verlasse Euch nun, wie Satan Hiob verließ, ein schwarzer Schatten.“ (242f.) Die „Wahrheit der Sehenden“ scheitert in all ihren Ausprägungen, in Palamedes und dem Hofdichter ebenso wie in Negro da Ponte. „Blinder Glaube“ aber mündet am Schluss in die „Wahrheit“ Gottes, in dessen Angesicht „wir zerschmettert“ liegen (ebd.). Wird damit der „blinde Glaube“
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narrativ bestätigt? Und was bedeutete das bezogen auf eine „Welt“, von der dieses Stück ein „Modell“ wäre? Das Modell auf der Bühne zerfällt in zwei Pole, das einzelne Subjekt einerseits, der Blinde, und die „Welt“ andererseits, wie immer sie sein möge, mit all den „Sehenden“ darinnen, die glauben zu wissen, wie die Welt wirklich ist. Am Ende überwindet der „blinde Glaube“ die „Wahrheit der Sehenden“; von „innen“ gesehen wird er tatsächlich narrativ bestätigt. Der allein zurückbleibende Blinde meint sich in der „Wahrheit“ Gottes, und es ist undenkbar, dass noch irgendetwas diesen Glauben erschüttern könnte. Von „außen“ gesehen jedoch – und das ist nicht die Perspektive der „Sehenden“ im Stück, sondern die der Zuschauer – hat der „blinde Glaube“ sehr reale, nämlich tödliche Wirkungen. Der Glaube muss sich gewaltsam von der Außenwelt abschließen – denn „Wahrheit“ ist „Verzweiflung“ (229) – und er muss dafür morden. Und selbst da, wo er passiv bleibt, tötet er: Wenn der Herzog meint, im „Glauben“ das Urteilen über Falsch und Richtig verweigern zu können, so „richtet“ er damit den eigenen Sohn (vgl. 238). Hinzu kommt, dass der „blinde Glaube“ sich am Ende des Stücks in „Wahrheit“ zu transformieren scheint: nicht nur in die „Wahrheit“ Gottes (die ja auch nur Gegenstand des Glaubens bleibt), sondern auch, wie Palamedes es vorausgesagt hat und Negro da Ponte konstatieren musste, in die – wiederum tödliche – Wahrheit der Bühne, den Tod Octavias. Das alles relativiert das narrative Urteil des Stückes zu einem wesentlich negativen: Besiegelt wird einzig die Niederlage der „Wahrheit der Sehenden“. Der „Glaube“ dagegen bleibt unbegreifbares und janusköpfiges Phänomen – möglich als persönliche Leistung, aber mit dem Potenzial zu Gewalt, Verfälschung und unkontrollierbaren Folgen. Was sagt das also aus über die „Welt“? Der Zuschauer, der mit Distanz das „Welt“-Modell auf der Bühne beobachtet, ist aufgerufen, das narrative Urteil in ein Urteil über seine eigene „Welt“ zu übersetzen. Gerade das aber wird ihm schwer gemacht. Es ist nahezu unmöglich, mehr als BasisOppositionen, symbolträchtige Grund-Strukturen wie SEHEND/BLIND, WAHRHEIT/GLAUBE, TOD/LEBEN, HEIL/ZERSTÖRUNG auf die „Welt“ zu projizieren. Die narrative Kohärenz dieses Stückes speist sich ganz aus dem Parabolischen. Die „innere Wahrscheinlichkeit“ der narrativen Verknüpfungen ist gering. Die Entscheidungen der Figuren, vor allem die des Herzogs, werden kaum auf herkömmliche Weise motiviert – sie sind von den Zuschauern oder Lesern schlicht hinzunehmen. Das gilt in besonderer Weise für eine zentrale Entscheidung, die ganz zu Beginn das Geschehen
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erst in Gang kommen lässt: Der Herzog macht den ihm völlig unbekannten italienischen Edelmann Negro da Ponte, den er zuvor noch nie gesehen hat, zu seinem Statthalter und damit also erst zum „Versucher“. Er selbst macht damit das grausame „Spiel“ erst möglich. Der Italiener fragt ihn nach dem Grund seiner Wahl: „Ihr wollt einen, den Ihr nie gesehen habt, der zufällig an Euch vorbeikommt und von einem Krieg zu einem anderen Kriege geht, zum Statthalter Eures Landes ernennen?“ – „Meine Wahl ist auf Euch gefallen.“ – „Ihr kennt mich nicht.“ – „Ihr seid ein Edelmann.“ – „Genügt das?“ – „Ich bin blind. Ich muß dem Menschen vertrauen, um zu sehen.“ – „Wie könnt Ihr sehen, wenn Ihr blind seid?“ – „Indem ich mich in meine Blindheit ergebe.“ – „Was heißt, sich in seine Blindheit ergeben?“ – „Das heißt glauben, Edelmann.“ (156)
Dürrenmatts Hiob „verschenkt die Gnade des Himmels“ (156) und prüft sich damit selbst. Die Parabel nimmt ihren Lauf. Der Setzungscharakter der narrativen Verknüpfungen korrespondiert mit dem Pathos der Dialoge, die in ihrer Bilderwelt und Sprachgewalt oft die griechische Tragödie zu parodieren scheinen (wie auch die Beiträge des zerlumpten Hofdichters namens Gnadenbrot Suppe, der unablässig aus seiner einzigen Tragödie zitiert). Karikatur, Groteskes und Lächerlich-Monströses (etwa im Monolog des „Negers“, 223f.) höhlen die parabolisch-pathetisch erzeugte „innere Notwendigkeit“ gleich wieder aus. Insofern das Geschehen auf der Bühne im Ganzen die „Welt“ bedeutet, ist diese tatsächlich unfassbar, gewalttätiges Chaos, grausam und lächerlich. Der Zuschauer, der diese „Welt“ mit ihren Ruinen, Verzweifelten und Sadisten vor Augen hat, kann die Entscheidung des Blinden nur zur Kenntnis nehmen, nicht „verstehen“. Der „Glaube“ des Herzogs ist seine Haltung des Fürwahrhaltens als ein „Blinder“: Objekt dieses „Glaubens“ ist nicht nur „Gott“, sondern alles, die ganze „Welt“. Dieser Blinde, meint Dürrenmatt einmal, ist „der Mensch in seinem Labyrinth“ (Die Welt als Labyrinth, 28). Das Labyrinth ist die Welt des Verirrten, von innen gesehen – aber dargestellt von außen, als Modell auf der Bühne, aus der Distanz: „Was heute gilt, galt damals: Dramaturgie des Labyrinths, Minotaurus. Indem ich die Welt, in die ich mich ausgesetzt sehe, als Labyrinth darstelle, versuche ich, Distanz zu ihr zu gewinnen, von ihr zurückzutreten, sie ins Auge zu fassen wie ein Dompteur ein wildes Tier.“ (Labyrinth. Stoffe I-III, 69) Aber diese Distanz verführt nicht mehr zu systematischen Entwürfen. Denn auch aus der Distanz bleibt die „Welt“ Labyrinth, undurchschaubar, ohne tröstliche Ordnung. Von diesem Punkt aus können wir die narrativen Urteile der
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beiden betrachteten Hiob-Stücke abschließend vergleichen: Beide Protagonisten, J. B. und der Blinde, sind kompromisslose Verkörperungen des Subjekts in der verdunkelten, antwortlosen, labyrinthischen Welt, dem die virtuelle Draufsicht von außen auf seine Welt nicht mehr möglich ist. Diese Subjekte sind selbst die Instanz der entscheidenden narrativen Urteile: Ihre individuellen Entscheidungen stehen geradezu monolithisch am Schluss der jeweiligen Texte, sie determinieren wesentlich deren narrative Bedeutung. Kein weiterer Schicksalswechsel kommentiert diese Entscheidungen, von Hiobs Restitution sind allenfalls in J. B. noch Reste vorhanden, und auch hier ist die partielle Wiederherstellung keine Bewertung seiner Haltung, sondern wird von Mr. Zuss explizit nur damit begründet, dass die Vorlage sie vorschreibt (MacLeish, J. B., 100). Damit ist das Publikum in seiner eigenen Bewertung der Entscheidungen ganz auf sich allein gestellt. Wer nach einer der Welt des Textes äußerlichen WertOrdnung sucht, um das Urteil nachzuvollziehen, wird bei J. B. noch fündig: Die rettende Macht der LIEBE ist ein wohlvertrautes intertextuelles Schema und reicht aus, die narrativen Transformationen des Stücks nachzuvollziehen. (J. B. war ein Broadway-Erfolg und erhielt 1959 den Pulitzerpreis.) Bei Dürrenmatts Der Blinde aber ist eine überzeugende Ordnung, die die vorgeführten Transformationen plausibel machen könnte, nicht existent. Zwar fällt im Stück ab und an ein Begriff, der einen ähnlichen Stellenwert einzunehmen scheint wie die LIEBE in J. B. und der uns als Gegen-Begriff zu den Konzepten RECHT und GERECHTIGKEIT schon mehrfach begegnet ist: „Gnade“. Zu Beginn genießt der Blinde die „Gnade Gottes“, die eben darin besteht, dass er blind ist und das Unheil nicht sieht – denn „für einen Sehenden gibt es keine Gnade“, sagt Negro da Ponte (155). Auch am Ende, nachdem er vom Tod der Tochter erfahren hat, bleibt der Herzog dabei, dass ihn die „Hoffnung auf Gnade ... nie verläßt“ (238). Nach dem Verlust der Illusion, dem paradoxen, weil erfundenen und doch wahren Schicksalswechsel, kann nur „Gnade“ noch das „Objekt“ sein, das den Blinden zum narrativen „Subjekt“ und seinen „Glauben“ zum narrativen Programm macht. Aber GNADE ist per definitionem unverfügbar. Natürlich gibt es auch hier, wie im Falle der LIEBE, intertextuelle (theologische) Schemata, die „Gnade“ gewissermaßen als ein zu Erwartendes verfügbar machen wollen. Und so könnte man versuchen, das Stück religiös zu lesen – aber man muss dann z. B. sich erklären, warum die „Gnade“ des Blinden auch das Unheil des Sohns, Tod und Gewalt bedeuten darf. In Dürrenmatts „Welten“ scheint Gnade, selbst wenn sie sich auf Gott bezieht, nur noch von innen, aus dem Subjekt
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selbst kommen zu können. So lese ich auch die letzten Worte des sterbenden Knipperdollinck in „Es steht geschrieben“ (1947), der, aufs Rad geflochten, zu Gott spricht: „Die Tiefe meiner Verzweiflung ist nur ein Gleichnis Deiner Gerechtigkeit, / und wie in einer Schale liegt mein Leib in diesem Rad, / welche Du jetzt mit Deiner Gnade bis zum Rande füllst!“ (Es steht geschrieben, 148) Auch hier keine bittendes Flehen, sondern Feststellung, Gewissheit. Der Sterbende erzeugt diese „Gnade“ sozusagen „in der eigenen Brust“. Auch im Blinden schöpft der Herzog die „Gnade“ aus sich selbst. Als „mutiger Mensch“, scheint es, hat der Blinde seinen Gott in sich – oder seinen Wahn, „um nicht zu verzweifeln“. In J. B. wie auch in Der Blinde determiniert die subjektive Entscheidung als narratives Urteil die Bedeutungskonstitution des Textes. Obwohl beide Stücke Mittel der „Verfremdung“ und des „Spiels im Spiel“ einsetzen, die eine naive Rezeption verhindern, verlangen ihre narrativen Urteile von uns, sie auf eine äußere Ordnung zu beziehen. Gleichzeitig verweigern aber die Texte diesen Bezug auf objektive Ordnungen: Die „Welt“ ist ein labyrinthisches Ruinenfeld, Ideologien sind „leidige Tröster“, die Menschen Objekte böser „Spiele“. Die Antwort kommt nicht mehr von „oben“, von Gott. An die Stelle der zerbrochenen objektiven Ordnung, auf die das narrative Urteil verweisen und durch das es sich legitimieren könnte, treten mehr oder weniger konsensfähige Behauptungen subjektiver Werte, Konzepte wie LIEBE, Dürrenmatts innere GNADE oder HOFFNUNG, die wohl letztlich auf FREIHEIT verweisen – nicht optimistisch aufgehoben in einem System des Ganzen, sondern als das, was bleibt, wenn die Systeme scheitern. Für eine Theorie narrativer Problemverhandlung ist das Modell der „Welt“ als LABYRINTH ein Grenzfall. Der Problemraum des Verirrten im Labyrinth ist einer, für den sich keine Regeln finden lassen. Man kann zwar versuchen, durch Versuch und Irrtum die Lösung zu finden. Vielleicht kann auch das Labyrinth dem Verirrten eine Art Zuhause werden, wenn er sich damit abfindet, nicht mehr herauszukommen. Aber entsprechende Erzählungen können nicht mehr Problemlösungsversuche gemäß einer Ordnung bewerten. Im ersten Fall ist das Problem durch Zufall gelöst worden, im zweiten gar nicht. Unsere Kategorien narrativer Problemverhandlung sind nicht mehr sinnvoll anwendbar. Wer heute mit Erzählungen umgeht, hat aber viele Modelle. Wir wechseln frei zwischen „modernen“ Erzählungen des Labyrinths, „postmodernen“ Mehrfachkodierungen, Detektivromanen oder Grimms Märchen. Die
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meisten Erzählungen, die uns begegnen, bieten uns noch immer erzählerische Ordnung, stabile Bezüge, Ansatzpunkte für Sinnstiftung und exemplarische Generalisierung. Sie verweisen auf die Ordnung der „Welt“, und sie helfen uns, jene ständige Vermittlung der Perspektiven des Innen und Außen einzuüben, die erfolgreiches Handeln in der Welt erst ermöglicht. Denn in der Lebenswelt sind vergleichbare Operationen des Perspektivenwechsels und der Antizipation von Handlungsfolgen die Voraussetzung für Entscheidungen. Sie machen Situationseinschätzungen, Planung und vorausschauendes Handeln erst möglich, erlauben die Situierung des Einzelnen in umfassenden Ganzheiten, Kontexten und Sinnhorizonten. Aber Erzählungen erinnern uns auch daran, dass der Perspektivenwechsel stets virtuell bleibt. Unser „In-der-Welt-Sein“, die existenzielle Default-Situation, ist die Grundbedingung des Erzählens. Und “the middle is where the trouble is ...”15 Mit den Protagonisten der Erzählungen teilen die Leser die existenzielle Situation “in the middest” und deshalb auch das vitale Interesse von Handelnden an den Ergebnissen des Handelns und Geschehens. Das „Urteil“ über Gelingen und Misslingen, über den „richtigen Weg“ und die „richtige Wahl“, fällt am Schluss. Erst das Ende der Geschichte liefert den Standpunkt vollständigen Wissens und macht abschließende Bewertungen möglich. Deshalb, meint Solon, ist auch ein unermesslich reicher und unbesiegter König wie Kroisos nicht unbedingt der glückseligste aller Menschen, denn: „Schau bei jedem Ding auf sein Ende, wie es ausgeht. Schon vielen hat Gott das volle Glück vor Augen gehalten und sie doch von Wurzel aus umgestürzt“16. Und der Chor in König Ödipus kommentiert das Schicksal des Geblendeten: „Also heißt es prüfend schauen auf den allerletzten Tag! / Keinen, der ein Mensch ist, darf man selig preisen, eh er nicht / Überschritt des Lebens Grenze, nie von Schmerzen heimgesucht...“17 Irgendwo im Labyrinth lauert der Minotaurus.
––––––––––––– 15 Kenneth Burke, zitiert nach Randall 96. 16 Herodot, Historien, 1. Buch. 17 Sophokles, König Ödipus, 166.
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