Kriminalroman Delikte Indizien Ermittlungen
DIE Reihe
Ein Mann fährt auf eine malerische Ostseeinsel und erlebt den n...
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Kriminalroman Delikte Indizien Ermittlungen
DIE Reihe
Ein Mann fährt auf eine malerische Ostseeinsel und erlebt den nächsten Tag nicht mehr, seine Leiche treibt im Bodden, nahe dem Ufer. Würgemale und Kopfverletzungen sind Indizien eines gewaltsamen Todes. Wer war der Mann, und weshalb mußte er sterben? Diese Fragen konfrontieren Hauptmann Wadzeck und seine Mitarbeiterin Sabine Donix mit der widersprüchlichen Person des Toten. Sie stellen fest: Das Motiv für die Tat hätten einige…
C. U. Wiesner
Das Möwennest Delikte Indizien Ermittlungen
DIE Reihe
Verlag Das Neue Berlin
1. Auflage ©, Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1979 Lizenz-Nr.: 409-160/111/79 • LSV 7004 Umschlagentwürf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 392 0 DDR 2, – M
Zumindest alle unsympathischen Personen dieses Buches sind fast frei erfunden. Die Ähnlichkeit der Landschaft mit einer tatsächlich auf unseren Karten eingezeichneten läßt sich vermutlich nicht von der Hand weisen. Auf einen Streit mit Geographen möchte es der Autor jedoch nicht ankommen lassen, denn selbst in Kreuzworträtseln pflegt er zu mogeln, wenn nach Flüssen oder gar nach Inseln gefragt wird.
C.U.W.
1. Der Hecht wog reichlich sieben Pfund, und da fehlten ihm schon der Kopf, die Flossen, der Schwanz und die Eingeweide. Ich wusch ihn unter fließendem Wasser und trocknete ihn mit einem Tuch ab. Nachdem ich das Fleisch mit einem scharfen Sägemesser in Portionsstücke zertrennt hatte, beträufelte ich es mit Zitronensaft und rieb es mit Salz ein. Über der Propangasflamme zerließ ich Schweineschmalz in einem Tiegel, schmorte darin ein Gemengsel aus Zwiebelringen, dünnen Klarapfelscheiben, Möhrenstiften und Tomatenvierteln, füllte mit saurer Sahne auf, würzte mit Pfeffer, edelsüßem Paprika, Thymian und gestoßenem Koriander. Dann gab ich den Hecht – zu meinem Kummer blieben drei Stücke übrig – in den Tiegel und ließ ihn bei geschlossenem Deckel gar dünsten. Inzwischen wiegte ich Petersilie, Dill und Sellerieblätter. Die Kartoffeln auf der zweiten Flamme begannen zu kochen, als ich mit dem Messer Butterflöckchen auf dem Fisch verteilte und fünf gequirlte Eigelb darüber goß. Ich öffnete eine Flasche Lindenblättrigen und überlegte mir, wie ich das soeben komponierte Gericht wohl nennen sollte, wenn ich meine Nachbarn bewirtete. Ich mußte sie ja bewirten, mir blieb nichts weiter übrig. Was sollte ich allein mit so viel Ostseehecht anfangen? Seit vielen Jahren leide ich unter einem mir selber unerklärlichen Zwang: An keinem Fischgeschäft kann ich vorübergehen, ohne solche Käufe zu tätigen, die Helga in den ersten Jahren zu unsachlichem Gezeter, später nur noch zu einem hilflosen Seufzen veranlaßten. Diesmal war Helga nicht dabei, und auf der Insel packt mich stets eine be-
sondere Maßlosigkeit. Ich rechtfertige sie damit, daß hier der Fisch viel frischer und daher wohlschmeckender ist als der im Binnenland. Am Hafen von Ahlhöft – das ist der Hauptort der Insel – hatte ich außer besagtem Hecht vier dicke Räucherflundern, ein halbes Pfund Sprotten (für den ersten Hunger während der Hechtzubereitung) und zwei Kilo Salzheringe erstanden, die ich in den nächsten Tagen zu marinieren gedachte. Überdies ließ ich die Fischverkäuferin wissen, daß ich ihr gern ein paar Steinbutte abnehmen würde, falls welche angelandet werden sollten. Hinter der Düne, schräg über Preckwinkels Schilfdach, kroch nach heißen Tages Anstrengung die Sonne mit rotverschwitztem Gesicht in ihr graubarchentes Wolkenbett. Ich trat vor die Tür meines Häuschens und läutete die Schiffsglocke. Es ist keine echte. Helga hat sie in einem Leipziger Kunstgewerbeladen erstanden, und ich werde es wohl nicht mehr erleben, daß sich das blanke Messingding mit Patina bedeckt. Die Nachbarn kennen das Signal, das nichts anderes bedeutet als: Marcus Bockmühl leidet wieder mal am Fischüberfluß, und zu trinken hat er auch genug im Kühlschrank. Vorsichtshalber, damit ich nicht allein prassen muß, kündige ich so ein Ereignis schon immer am zeitigen Nachmittag an. Als erster kam Willi Kuhle herüber. Er sah ungewöhnlich ernst aus. „Du, Mark“, sagte er, „am Binsenort hamse ‘n Toten jefunden.“ „Ertrunken?“ fragte ich. Er zuckte die Schultern. „Ick weeß nich. Irjendwat muß
da faul sein. Der Scheriff“ – er meinte unseren ABV, den Leutnant Stresow – „hat mit zwei Polizeihelfern die Stelle abjesperrt.“ Der Hecht, gedünstet, nach Bornholmer Art, so hatte ich ihn getauft, fand an diesem Abend nicht den begeisterten Zuspruch, den er verdient hätte. Die Nachbarn redeten nur über den unheimlichen Fund und ergingen sich in Mutmaßungen. „Natürlich war es ein Badeunfall“, verkündete mit Bestimmtheit Leopold Hottenrodt, seines Zeichens Schauspieler und Regisseur an den Städtischen Bühnen Makkenwalde, „was denn sonst? Jedes Jahr verlangt die Insel ihr Opfer – leider!“ „Aber der Binsenort“, wandte Margit Kuhle ein, „liegt auf der Boddenseite. Dort badet doch kaum jemand.“ „Na und?“ entgegnete Leopold. „Vor sechs Jahren haben sie dort auch eine Wasserleiche gefunden – nach Wochen.“ „Hör doch auf, Poldi!“ bat seine junge Frau Karla und schob angewidert ihren Teller von sich, aber der große Mime war nicht mehr zu bremsen. „Der dicke Rackow“, berichtete er weiter, „hat sie mit seinem Pferdewagen ins Dorf fahren müssen. Etwa an den Uhlenfichten kam mir das Gefährt entgegen. Auf einmal scheuten die Pferde, stiegen wiehernd hoch und rasten davon. Ein Bild, sag ich euch, die durchgehenden Gäule, verängstigt durch ihre gräßliche Fracht, genau gegen die untergehende Sonne…“ Wir schwiegen, während Leopold sichtlich die Wirkung seiner grandiosen Schilderung genoß. Bis Willi Kuhle
trocken bemerkte: „Wenn du da ooch so mit den Armen jefuchtelt hast wie ebent, isset keen Wunder, det die Pferde verrückt jespielt ham.“ Der Schauspieler, wie alle eitlen Menschen nicht sehr schlagfertig, schaute gekränkt drein. Der Appetit war uns allen ohnehin vergangen. Bald saß ich allein mit einem Haufen Abwasch da und trug erst mal die ansehnlichen Reste der Mahlzeit zum Möwenort. Das ist ein winziger Hügel vor meinem Haus, Opferaltar für die gierigen Seevögel, die mir nicht mehr geheuer sind, seit ich einen gewissen amerikanischen Film gesehen habe. Plötzlich werden in einem Küstenort Möwen und anderes Fluggetier auf eine sonderbare Weise aggressiv, fallen schließlich in Scharen über die Menschen her, um sie mit Schnabelhieben zu zerfleischen. Einmal unterhielt ich mich mit Professor Preckwinkel darüber, dessen Stekkenpferd die Ornithologie ist. „Lieber Herr Nachbar“, dozierte er, „die spätbürgerliche Welt braucht für ihr Lebensgefühl immer wieder neue Ängste, und die schafft sie sich selbst. Bedrohen und sich bedroht fühlen…“ „Also muß ich mir gefälligst vorstellen, daß die lieben Emmas eines Morgens das Gelüste ankommt, statt meiner Frühstücksreste lieber mein rechtes Ohr oder mein linkes Auge zu verspeisen?“ „Möwen“, erwiderte er nachdenklich, „so ganz ist ihr Verhalten noch immer nicht erforscht, sonst brauchte die biologische Station auf der Insel nicht mehrere Wissenschaftler zu beschäftigen. Im Frühjahr habe ich mich einmal hier in den Dünen dem Nest einer Sturmmöwe genähert, das, für mich ungewöhnlich, in den Zweigen
einer niedrigen Kiefer gebaut war. Zuerst umkreisten mich zwei – das Brutpaar – , riefen schreiend die anderen herbei. Nachher waren es über zwanzig. Sie flogen immer dichter über meinem Kopf, stießen zu, Scheinangriffe zwar, aber ich machte, daß ich ins Haus kam.“ „Dann wäre also der grandiose Einfall dieses Regisseurs gar nicht so weit hergeholt?“ „Doch“, entgegnete er, „in seinem Film haben die Vögel kein Motiv, über die Menschen herzufallen. Aber wenn ich mich ernstlich an ihr Nest heranmache, an ein bebrütetes Gelege…“ Er schwieg. „Was dann?“ fragte ich. „Sie meinen…?“ Professor Preckwinkel grinste mich an. „Lieber Herr Nachbar, wenn Sie abends vom Strand kommen und einen Betrunkenen an Ihrem frischgedeckten Schilfdach herumkokeln sehen…“ Welch niederträchtige Vorstellung! Darauf kann nur jemand kommen, der weiß, wie schwierig es ist, heutzutage bei uns ein Rohrdach neu decken zu lassen. „Ich haue ihm eins in die Fresse“, erwiderte ich gereizt. „Sehen Sie“, sagte er und grinste noch breiter, „und daran täten Sie recht. Denn ehe Sie sich aufs Rad setzen und die Sache bei unserem Scheriff zu Protokoll geben, ist Ihr Dach abgebrannt.“ Himmelherrgott, ich kann diesen arroganten Hund nicht ausstehen! Hätte er nicht eine so reizende Frau, so würde ich gar nicht mehr mit ihm reden. An dem Abend, als wir in dem Hecht, gedünstet, nach Bornholmer Art, herumstocherten, fehlten übrigens Preckwinkels in unserem Kreise. Sie waren schon am zeitigen Nachmittag mit den Fahrrädern nach Süderort aufgebrochen, um an einer Grill-Party teilzunehmen, zu
der der bekannte Grafiker Gisbert Sauer sie eingeladen hatte. Nachdem ich mit meinem. Abwasch zu Rande gekommen war, goß ich mir einen Klaren ein, setzte mich mit dem Glas vor das Haus und rauchte meine vorletzte Semper. Obwohl ich genau weiß, daß diese Sorte wie so vieles auf der Insel kaum geführt wird, vergesse ich immer wieder, mir einen ausreichenden Vorrat vom Festland mitzubringen. Es war ein windstiller Augustabend. Draußen auf dem offenen . Meer glitten die Lichter eines kleinen Frachters nordwärts. Ich überlegte, ob ich nicht ins Haus gehen und mich endlich an meine Arbeit scheren sollte. Dafür sprach, daß die Mücken hier draußen keine Einwände gegen Zigarettenqualm hatten und immer zudringlicher wurden. Dagegen sprach, daß ich nicht die geringste Lust verspürte, mich an die Schreibmaschine zu setzen. Dieser Zustand hielt nun schon drei Tage lang an, und mich plagte noch nicht mal das schlechte Gewissen, höchstens der Gedanke, daß der Ablieferungstermin für das Manuskript in eine Nähe gerückt war, die man bedenklich nennen konnte. In solchen Situationen, die mir recht vertraut sind, habe ich glücklicherweise meinen Münchhausenzopf, an dem ich mich immer wieder selber aus dem Sumpf meiner Terminangst ziehen kann: Mir fällt ein, daß ich noch nie ein Manuskript später als vertraglich ausgemacht abgeliefert habe. Freilich ist mein Arbeitsstil nicht mit dem des Großen Eginhart Götze zu vergleichen, der einst auf dieser Insel lebte, dichtete und begraben ward. Wenn der seinen Morgenspaziergang gemacht und sinnend ein wenig auf das Meer geblickt hatte, trat er an sein Stehpult und ließ dem
erhabenen Weltgeist eine pedantisch abgemessene Zeitlang freien Lauf. Nun habe ich erstens kein Stehpult, dafür eine Spondylose, zweitens bin ich kein Genie, sondern ein Gebrauchsliterat. Hätte der Große Götze meinen Theaterdramaturgen gekannt oder sich in der von Urlaubern überfluteten Kaufhalle stundenlang nach Tomaten, Brot und Flaschenbier anstellen müssen, so wären seine bedeutendsten Werke ungeschrieben geblieben. Im Grunde machte es mir nicht mal Spaß, vor dem Haus zu hocken und mir zu überlegen, warum es mir diesmal besonders schwerfiel, mich an meine Arbeit heranzugammeln. Andere würden mich beneiden: ein Domizil auf dieser begehrtesten aller unserer Inseln, Zeit, Einsamkeit, Ruhe, keine Verpflichtungen gegenüber der Familie. Unser Sohn Uwe war mit ein paar Freunden nach Polen gefahren. Sie wollten irgendwo an der Ostseeküste zelten, Helga hatte ich einen Tag vor meiner Abreise zum Flughafen Schönefeld gebracht. Vermutlich schwitzte sie jetzt in Dushanbe oder saß schon in der Maschine nach Samarkand. Wir hatten uns sogar einigermaßen freundlich verabschiedet, obwohl sie es mir bestimmt die nächsten zehn jähre nachtragen würde, daß sie ihre Traumreise nach Mittelasien statt mit ihrem Ehemann mit einer unverheirateten Kollegin antreten mußte. Dabei war diese Entscheidung ohne Krach, in einem sachlichen, fast schon frostigen Gespräch gefallen. Helga konnte ich nichts vormachen. Sie sagte mir auf den Kopf zu, daß meine Arbeit nur ein Vorwand sei, endlich mal einen Sommer allein auf der Insel zu verbringen. Ich protestierte nur mäßig und überließ ihr den Entschluß, ohne mich
zu reisen. Vielleicht, so meinte ich, wäre so eine kurze Trennung ein geeignetes Mittel, mit den Abnutzungserscheinungen fertig zu werden, die unser Zusammenleben belasteten. Sie lächelte nur spöttisch ob dieses lahmen Trostes und verwies auf meine lahme Wirbelsäule. ,,Deine abgenutzten Bandscheiben lassen sich auch nicht regenerieren. Man kann die Beschwerden nur in angemessenen Grenzen halten.“ Komisch, seit ich auf der Insel bin, spüre ich meinen Rücken gar nicht mehr. Ich könnte Bäume ausreißen, na, sagen wir bescheidener Kriechweiden, aber die stehen unter Naturschutz. Morgen werde ich zeitiger aufstehen und gleich nach dem Frühstück die erste Szene schreiben; selbst wenn mich das herrlichste Strandwetter lokken sollte. Dafür fahre ich jetzt noch auf einen Sprung in den „Blanken Hecht“. Um die Zeit trifft man dort immer noch ein paar Bekannte, Einheimische oder Sommergäste, die ihren Schlaftrunk nehmen und einem den neuesten Inselklatsch erzählen. Vielleicht wußten sie Näheres über den Toten vom Binsenort. Ich zog meine gelbe Seglerkutte an, schloß das Haus ab, versteckte, obwohl das heute gär nicht erforderlich war, den Schlüssel unter einem Stein und ging zum Fahrrad. Der Hinterreifen hatte zuwenig Luft. Ich begann ihn aufzupumpen. „Guten Abend!“ rief eine Stimme vom Weg her. „Entschuldigen Sie, ich wollte zu Herrn Bockmühl.“ Ich richtete mich mit einem Ruck auf und verspürte sofort einen stechenden Schmerz im Kreuz. An der niedrigen Zaunpforte stand ein Mann mit einem Fahrrad. Ich biß die
Zähne zusammen, ging auf ihn zu und wollte sehr förmlich sagen: „Ja, bitte?“ Aber statt dessen rief ich überrascht: „Mensch, Werni, was machst du denn hier?“
2. Das Telegramm traf mich wie ein Kinnhaken. Gut, daß ich hart im Nehmen bin, sonst hätte mich meine Familie auszählen müssen. Wir hatten genau eine Woche Urlaub hinter uns und saßen beim Frühstück auf der Terrasse des Heimes. Seit zwei; Tagen schien endlich die Sonne. Für heute hatten wir eine ganztägige Fußwanderung zur Talsperre und zur Burgruine Rauenstein geplant. Jutta und Karin, unsere beiden Mädchen, freuten sich wie die Schneekönige und vergaßen vor Aufregung, ordentlich zu frühstücken. „Was Schlimmes?“ fragte Inge leise. Ich schob ihr wortlos das Stück Papier zu und zwang mich zu einem Lächeln. Inge schluckte ein bißchen. „Nächstes Jahr“, sagte sie, „fahren wir an den Baikalsee oder nach Mittelasien, jedenfalls ganz weit weg, wo uns das nicht passieren kann.“ Ich zuckte die Schultern und streichelte Inges Hand. Ich wußte ja, daß sie kein Theater machen und Verständnis ‘ zeigen würde. Mit den Kindern war es schlimmer. Jutta heulte vor sich hin, und Karin meinte, dann solle die ganze Familie nach Hause fahren. Ich tröstete die beiden und sagte, wahrscheinlich käme ich schon nach wenigen Tagen zurück, aber davon war ich selber nicht überzeugt. Drei Stunden später kam der Wolga, den mir die Dienststelle geschickt hatte. „Ihre Kaltverpflegung, Herr Wad-
zeck!“ rief die Serviererin, als sie mich einsteigen sah. Inge mußte trotz allem lachen. Sie warf die dicke Plasttüte auf den Rücksitz und meinte: „Damit ihr unterwegs nicht verhungert, und zum Frühstück hast du noch Hasenbrot!“ Hauptwachmeister Otto mußte stocksauer sein. Ich merkte es an seiner Fahrweise. Trotz des starken Urlauberverkehrs raste er vom Süden zum Norden der Republik, als müßte er eine Rallye gewinnen. Ein paarmal schloß ich die Augen, nicht etwa vor Müdigkeit. „Wenn Sie zu Hause zeitig Kaffee trinken müssen“, sagte ich schließlich, „hätten Sie einen Wagen mit Blaulicht nehmen sollen.“ Er starrte verbissen nach vorn und überholte vier Trabants in einem Ritt. „Jetzt reicht es mir!“ rief ich ärgerlich. „Ich kann auch nichts dafür. Mich kostets mehr als einen halben Urlaub, Sie nur einen dienstfreien Sonntag.“ „Den dritten hintereinander, Genosse Hauptmann“, murmelte er und nahm das Gas zurück. „Na und?“ erwiderte ich. „Wollen wir morgen lieber mal hören, ob im Feierabendheim noch zwei Plätze für uns frei sind?“ Er grinste, und ich gab ihm den dienstlichen Befehl zur Kaffeepause in der nächsten Raststätte. Von Otto hatte ich erfahren, warum ich meinen Urlaub unterbrechen mußte. Nicht etwa ein besonders komplizierter Fall, der meine Mitwirkung erforderlich machte. Oberleutnant Zoschke, mein Stellvertreter, war gestern abend ins Krankenhaus eingeliefert worden. Bei aller Rücksicht auf meine Ferien – sein Blinddarm mußte raus. Hauptmann
Wend, der sonst meine Aufgaben mit übernommen hätte, war mit der Aufklärung mehrerer schwerer Einbrüche hinlänglich beschäftigt. Na schön, einem alten Praktiker wie mir sollte es nicht an der nötigen Einsicht fehlen. Dennoch war es ein blödes Gefühl, als ich am frühen Abend unsere vereinsamte Wohnung betrat. Da die Nachbarn alle auf Urlaub waren, konnte ich nicht mal irgendwo klingeln. Zunächst öffnete ich die Fenster und meldete ein Ferngespräch an, weil ich gern von Inge und den Kindern wissen wollte, wie sie den Tag verbracht hätten. Nach zwei Stunden hatte ich noch immer keine Verbindung und brach ärgerlich alle weiteren Versuche ab. Würden wir genauso zuverlässig arbeiten wie das Fernsprechamt, so brauchte sich kaum noch ein Straftäter Sorgen zu machen, jemals von uns gefaßt zu werden. Da Inge den Kühlschrank abgestellt hatte, fand sich nicht eine Flasche Bier für mich an. Mißmutig schaltete ich den Fernseher ein und geriet mitten hinein in ein unsäglich albernes Urlaubsfilmchen. Kurz bevor sich die beiden Pärchen kriegten, hauchte die Bildröhre ihr Leben aus, und so konnte ich nicht mal den Täter, ich meine den Autor, ermitteln. Glücklicherweise fiel mir der schwedische Kriminalroman ein, den ich kurz vor der Abreise beinahe ausgelesen, dann aber einzupacken vergessen hatte. Ich legte mich ins Bett, blätterte das Buch noch einmal flüchtig durch und war sofort wieder im Bilde. Ich weiß, daß man von einem Kriminalisten glaubt, er würde über einen Krimi genauso abfällig lächeln wie ein Mediziner über einen Arztroman, aber ich habe an jeder gutgebauten Kriminalgeschichte großen Spaß, auch wenn
ich das manchem supernüchternen Kollegen nicht gerade auf die Nase binden möchte. Natürlich weiß ich um den Unterschied zwischen der Phantasie eines Schriftstellers und der Realität unseres Kriminalistenalltags. Das hindert mich keineswegs, mich in die Rolle zum Beispiel dieses Stockholmer Kommissars hineinzuversetzen und amüsante Vergleiche zwischen seiner und meiner Arbeit anzustellen. Gelingt, es mir, bis zum Ende des zweiten Drittels auf den wirklichen Täter zu tippen, so betrachte ich das immerhin als Erfolgserlebnis. Diesmal blieb es aus. Die letzten sechzehn Seiten des Buches fehlten, dafür waren die vorhergehenden sechzehn doppelt vorhanden. Würden wir genauso zuverlässig arbeiten. wie unsere Buchbinder, dachte ich kurz vor dem Einschlafen, so brauchte sich kaum noch ein Straftäter… Das also war gestern, Sonntag, der 3. August. Seit heute früh um acht Uhr sitze ich wieder an meinem Schreibtisch in der Dienststelle. Mit dem Chef, Oberstleutnant Klatt, habe ich nur ein paar Worte sprechen können, als ich mich zurückmeldete. Er war gerade in einer Besprechung. Ich lasse mir von der Genossin Korswandt aus dem Sekretariat die Akten mit den laufenden Vorgängen bringen und höre mir an, daß sie morgen früh mit ihrer Familie in Urlaub fährt. „Endlich mal ein Gebirgsplatz!“ sagt sie strahlend. „Wenn man das ganze Jahr die Küste vor der Nase hat, möchte man auch mal so richtig hohe Berge sehen.“ „Wie schön für Sie“, sage ich, „hoffentlich haben Sie schon ein bißchen jodeln gelernt. Grüßen Sie Herbert Roth, wenn Sie ihn sehen!“ Das ist sicherlich sehr un-
gerecht von mir, und sie macht auch ganz erschrockene Kulleraugen, als sie das Zimmer verläßt. Ich blättere in dem Papierkram und stelle fest, daß sich während meiner kurzen Abwesenheit nichts Weltbewegendes ereignet hat. Halt! Auch das ist ungerecht von mir. Oberleutnant Zoschke konnte immerhin den Fall Schillerpark erfolgreich abschließen, zwei Tage bevor die Ärzte den armen Kerl unters Messer genommen haben. Ich werde ihn heute nach Dienstschluß in der Klinik besuchen und ihm zu seinem Erfolg gratulieren. Wenn das nichts ist: Die Frauen aus diesem Wohngebiet können morgens wieder ohne Angst die Abkürzung durch den kleinen Park nehmen, wenn sie zur Frühschicht gehen. Als Täter konnte der zweiundzwanzigjährige Hartmut E. ermittelt werden. Ein sauberes Geständnis! Vier Fälle von versuchter und leider einer von vollendeter Notzucht. Gut, daß ich nicht Richter geworden bin. Manchmal würde es mir da an Sachlichkeit fehlen. Rasch an was anderes denken. Ich schalte das Radio an. Der nördliche Regionalsender hat es wie allsommerlich darauf abgesehen, seinen binnenländischen Gasthörern einzureden, daß unser Bezirk von allen Bezirken der mit dem schönsten Ostseestrand ist. Wie wenig Überredungskunst gehört schon dazu. Indes: die Jungs haben ihr Programm. Im Schutze starker elektronischer Verbände säuselt ein dünnes Silberstimmchen einen Schlager: „Auf die Insel Gellenthin zieht mich heiße Sehnsucht hin. Wenn die weiße Möwe ruft, atme ich der Heide Duft….“‘
Jaja, nun folgt das unumgängliche Gespräch mit dem Leuchtturmwärter auf dem Lüchtinger Hochland: „Sie sind also der Leuchtturmwärter?“ Und weil ich genau weiß, daß der Mann jetzt antworten wird, daß er tatsächlich der Leuchtturmwärter ist, schalte ich .das Radio ab und wickle mein Hasenbrot von gestern aus, werfe es aber gleich in den Papierkorb. Die Jagdwurst stinkt, sie hat die Fahrt im heißen Wolga nicht überlebt. Gerade überlege ich, ob ich mir ein paar belegte Brötchen aus der Kantine holen soll, vermutlich mit Jagdwurst, da meldet sich die Rufanlage. Ich möchte, bitte, sofort zum Chef kommen. Klatt nimmt sich Zeit. Offenbar tut es ihm leid, daß er mich vorhin so kurz abfertigen mußte. Er läßt Kaffee für uns bringen. Ich weiß, daß er ihn aus eigener Tasche bezahlt, weil auf Besprechungen offiziell kein Kaffee mehr getrunken werden soll. Klatt kennt meine Abneigung gegen Tee. Wir arbeiten seit über zehn Jahren zusammen. Man kann nicht direkt sagen, daß er humorlos ist. Trotzdem würde ich ihm zum Beispiel nie von meiner Vorliebe für Krimis erzählen, nicht mal beim Skat, den wir einmal im Monat zusammen mit Staatsanwalt Dr. Günther» spielen. Klatt und ich wissen, was wir voneinander zu halten haben. Ich halte viel von Klatt. Wenn wir unter vier Augen reden, sparen wir uns die vorschriftsmäßigen Dienstfloskeln. „Weißt du, Werner“, sagt er, „es hätte mir leid getan, wenn ich dich von deiner Familie weggeholt hätte, um dich dann doch nur am Schreibtisch zu beschäftigen.“ Ich bekomme sofort spitze Ohren und frage: „Liegt was an, – oder?“ Er schiebt mir einen maschinegeschriebenen Bogen zu.
„Auf der Insel Gellenthin ist eine Leiche gefunden worden. Vermutlich angetrieben. Nach Meinung des Inselarztes handelt es sich um keinen der üblichen bedauerlichen Badeunfälle. Er spricht von einer schweren Schädelverletzung. Gewaltanwendung sei nicht auszuschließen. Der ABV hat den Fundort abgesichert. Du kannst sofort losfahren. Ich habe schon alles veranlaßt. Ruf mich sofort an, wenn du eine erste Meinung hast.“ Gellenthin, denke ich, Gellenthin, ausgerechnet dahin. „Wen kannst du mir mitgeben?“ frage ich. „Wir sind doch im Moment noch schlimmer unterbesetzt als ein Hauptpostamt.“ „Halb so wild“, sagt Klatt, „Semper und Cabinet sind einsatzbereit.“ Er meint unsere beiden Kriminaltechniker. Semper heißt wirklich Semper, und Cabinet ist der naheliegende Spitzname für den Genossen Kabitzke. Beide sind hervorragende Spurensicherer. „Semper macht gleich die Fotos mit, weil sich Krause krank gemeldet hat“, fährt Klatt fort, „Doktor Holtz hab ich schon verständigt.“ Doktor Holtz kann ich nicht leiden. Weiß der Teufel, wie sich dieser arrogante Medizinmann zu uns verirrt hat. Als Bäderarzt in Liebenstein wäre der besser aufgehoben. Aber man kann sich seine Mitarbeiter nicht aussuchen. „Tja“, sagt Klatt und feixt übers ganze Gesicht, wie er es sonst nur tut, wenn er mir einen Grand Hand versalzen hat, „dann kann ich dir als Entschädigung für den Doktor noch eine angenehme Überraschung bieten. Ich gebe dir die Genossin Unterleutnant Donix mit. Sie ist erst seit
voriger Woche bei uns. Frisch von der Kriminalistenschmiede. 24 Jahre alt. Hat übrigens ein abgeschlossenes Jurastudium. Das hier ist ihr erster Einsatz. Du darfst dich als ihr Mentor betrachten.“ Auch das noch, denke ich. Wirklich, ich bin der letzte in der Dienststelle, der etwas gegen die Gleichberechtigung hat. Ich wasche zu Hause ab, versorge, wenn es notwendig ist, die Kinder, koche, mache sauber, aber was meinen Beruf angeht – ich konnte es bisher immer vermeiden, mit weiblichen Kriminalisten zusammenzuarbeiten. Sollen die Damen von mir aus Kranfahrer, Bürgermeister, Kombinatsdirektor oder sogar Bezirksrichter werden, ich hab da gar keine Vorurteile, aber die Arbeit in der Morduntersuchungskommission ist nun mal in der Praxis etwas härter, als sie in gewissen Fernsehserien dargestellt wird. Ich bemühe mich, ein gleichgültiges Gesicht zu zeigen, und frage: „Ist sie wenigstens hübsch?“ Klatt grinst infam. „Erstens fährst du mit ihr nicht in Urlaub und wirst sie kaum am FKK-Strand der Insel erleben. Zweitens weiß ich genau, was du jetzt denkst.“ Gleich darauf wird er ernst, erhebt sich und schüttelt mir die Hand: „Also schieb ab, Werner! Hals- und Beinbruch. Ruf mich heut noch an, ganz egal, wie spät es wird!“ Wir fahren nach Ralshagen, vorn der Lada mit dem Arzt und den beiden Technikern, dahinter unser Wolga. Hauptwachmeister Otto ist heute ungewöhnlich redselig und preist voller Neid die Schönheiten der Insel Gellenthin, auf der zu seinem Leidwesen die Anwesenheit
eines VP-Kraftfahrers in diesem Falle nicht erforderlich ist. Ich mustere die Genossin Donix verstohlen im Rückspiegel. Vor dem Einsteigen haben wir nur ein paar Redensarten gewechselt. Hübsch ist sie nicht gerade, denke ich, aber wenn ich meine Voreingenommenheit mal beiseite lasse, zumindest nicht unsympathisch. Etwas zu knubblige Nase, das Blond bestimmt gefärbt, aber was solls? Ich will sie ja nicht heiraten. „Waren Sie schon mal hier oben?“ frage ich sie. „Ja“, sagt sie, „als Studentin, vor vier Jahren. Wir haben zu viert auf dem Boden eines Fischerhauses kampiert, schwarz, ohne Anmeldung. War mein schönster Urlaub. Wir hatten bloß immer Angst, doch noch erwischt und vorzeitig von der Insel gescheucht zu werden.“ „Jugendstreiche“, erwidere ich, „heutzutage könnten Sie sich so was nicht mehr leisten.“ „Wieso?“ fragt sie. „Sind die Kontrollen strenger geworden?“ Ich gebe keine Antwort und denke mir mein Teil. Das Mädchen muß wohl erst noch eine Weile auf die Koppel, ehe man sie für voll nehmen kann. „Jedenfalls freue ich mich, daß mein erster Einsatz gleich hierher führt. Zum Baden kommt man doch bestimmt mal, oder?“ „Falls Sie einen Badeanzug mithaben“, bemerke ich trokken. Otto grinst sich eins. Ich merke, wie meine Laune immer schlechter wird. Warum soll Otto nicht grinsen? Trotzdem sage ich und meine damit alle beide: „Es wäre gut, sich zu überlegen, daß es sich hier um keinen Betriebsausflug handelt, sondern um die Aufklärung eines
möglichen Gewaltverbrechens.“ Otto gibt sofort mehr Gas. Die Genossin Donix fragt nach einer Weile schüchtern: „Darf ich mir eine Zigarette anstecken, Genosse Hauptmann?“ „Nein“, sage ich barsch, „im Wagen grundsätzlich nicht!“ Der Rest der Fahrt verläuft schweigend. Otto setzt uns dicht an der Ralshagener Hafenmole ab. Gegenüber hat ein Fahrgastschiff der Weißen Flotte festgemacht. Urlauber und Tagesausflügler drängeln sich, um einen Platz auf dem Sonnendeck zu ergattern. Uns erwarten schon die Genossen von der Wasserschutzpolizei. Mit ihrem schnellen Motorboot holen wir mindestens eine Stunde Vorsprung vor dem fahrplanmäßigen Schiff heraus. Die Sonne knallt auf das Deck, aber der Fahrtwind und die Gischtspritzer sorgen für Kühlung. Ein paar Möwen folgen uns, drehen enttäuscht ab, als sie merken, daß der erwartete Brotsegen ausbleibt. Sabine Donix steht im Führerstand und schwatzt lachend mit dem jungen Leutnant vom Wasserschutz. Er gibt ihr Feuer und erklärt ihr die Gegend. Semper und Cabinet dösen mit geschlossenen Augen. Der Doktor liest in einer Zeitschrift. Ich gehe nach achtern, beobachte die vorbeigleitenden Segelboote und versuche meine üble Stimmung zu verdrängen. Fast ein Vierteljahrhundert habe ich diese Insel nicht mehr betreten. Es war im Sommer 1954, als ich die bis dahin härteste Niederlage in meinen Leben erlitt. Später habe ich mir immer wieder gesagt, daß sie heilsam für mich war, daß es gar nicht günstiger hätte kommen können. Wer weiß, ob sonst mein Weg so geradlinig verlau-
fen wäre. Also Schluß jetzt! Die Insel Gellenthin ist ab heute nichts weiter als mein augenblickliches Operationsfeld. Oder ich hätte vorhin zu Klatt sagen müssen: „Bitte, schicke mich nicht dahin. Ich leide ein wenig an Nostalgie, und es schmerzt mich noch heute, daß mir mein bester Freund dort meine große Liebe ausgespannt hat!“ Klatt könnte über diesen Schwachsinn nicht mal lachen. Er würde mich auf der Stelle beurlauben, damit man mich auf meinen Geisteszustand untersucht. Und das mit Recht. Die frische Seeluft pustet mir bald den Rest meiner kleinbürgerlichen Sentimentalität aus dem Kopf. Ich gehe nach vorn und beteilige mich an der Unterhaltung zwischen der Donix und dem Leutnant, erfahre, daß in diesem Sommer schon zwei Badegäste ertrunken sind. Trotz aller Warnungen sind sie bei ablandigem Wind zu weit hinausgeschwommen, der eine sogar mit einer Luftmatratze. „Sie müssen“, erzählt der Leutnant, „schon stark unterkühlt gewesen sein. Bei Ostwind hat das Wasser hier manchmal mitten im Hochsommer nicht mehr als dreizehn Grad. Vielleicht hat es wieder so einen leichtsinnigen Menschen erwischt.“ „Diesmal wohl kaum“, erwidere ich, „nach unseren Informationen ist der Mann in voller Bekleidung aufgefunden worden.“ „Er könnte“, vermutet er, „von einem Segelboot über Bord gegangen sein.“ „Wir werden sehen“, beende ich seine Spekulationen. Wir laufen in den kleinen Hafen ein. Glücklicherweise wird unser Anlegemanöver kaum beachtet. Die Urlauber werden beim Mittagessen oder am Strand sein. Wir be-
danken uns bei den Genossen vom Wasserschutz und machen uns mit dem ABV der Insel bekannt, der hier auf uns gewartet hat: Leutnant Stresow, ein korpulenter Mann Ende Fünfzig, der in seiner Dienstuniform mit Mütze und hochgeschlossenem Kragen entsetzlich schwitzt. Aber das ist im Moment seine Sache. „Wollen Sie sich erst ein wenig erfrischen, Genosse Hauptmann?“ fragt er. „Wir haben heute über dreißig Grad. Das ist man selten hier.“ Semper und Cabinet werfen einen sehnsüchtigen Blick auf die Terrasse der kleinen Hafenkneipe, wo ein paar Männer gemütlich vor ihren halben Litern sitzen. Aber die beiden Burschen kennen mich zu genau. „Ich möchte umgehend zum Fundort“, sage ich. „Wie weit ist es von hier, und wie kommen wir am schnellsten hin?“ Er selber hat nur ein Moped, aber Dr. Scherer, der Inselarzt, steht schon mit seinem Krankentransporter bereit. Ich steige auf Stresows Sozius, und wir fahren, gefolgt von dem Barkas, auf einer schmalen, betonierten Straße, die es zu meiner Zeit noch nicht gab, gen Süden. Links blinkt hinter weiten Kuhkoppeln der Bodden. Rechts beginnt bald die Heide. Weit verstreut stehen dort einzelne rohrgedeckte Sommerhäuschen. Dort etwa muß es gewesen sein… verdammt, vielleicht frage ich den ABV noch nach den gegenwärtigen Bewohnern aus. „Wie bitte, Genosse Stresow?“ Er drosselt den Motor. „Wir sind gleich da. Das letzte Stück müssen wir zu Fuß gehen, es ist ziemlich sumpfig.“ Über eine nasse Wiese stapfen wir die paar hundert Meter hinüber zum Boddenufer. Mücken- und Fliegen-
schwärme umschwirren uns. Dem ABV in seiner Uniform können sie am wenigsten anhaben. Ich bekomme von ihm einen kurzen Bericht über das Auffinden der Leiche. Ein junges Ehepaar aus Wernigerode, FDGBUrlauber, unternahm heute vor dem Frühstück mit seinen beiden Kindern einen Morgenspaziergang. Das zehnjährige Mädchen rannte voraus ans Ufer, um Binsen zu pflücken. Auf einmal schrie es vor Schreck laut auf. Der Vater eilte hinzu, sah mit einem Blick, wie er sagte, daß dem Mann nicht mehr zu helfen war. Während die Mutter die Kinder zurück ins Ferienheim brachte, hielt der Urlauber auf der Straße das Milchauto an und ließ sich zum Haus des ABV fahren. Stresow war gerade wegen eines Fahrraddiebstahls unterwegs, und bis er in seinem Büro eintraf, verging eine halbe Stunde. Er fuhr sofort mit dem Mann aus Wernigerode und Dr. Scherer an das Boddenufer. Nachdem man sich überzeugt hatte, daß es nicht nach Badeunfall aussah, machte er von seinem Büro aus Meldung an das VPKA, von dem aus wir verständigt wurden. Den Fundort habe er abgesichert und ein Protokoll aufgenommen. Ich lobe ihn für seine Umsicht. Zwei junge Männer kommen uns am Ufer entgegen, die beiden VP-Helfer. Sie erzählen uns, sie hätten in der Zwischenzeit in der Gegend weit und breit keinen Menschen gesehen, und ob sie jetzt gehen könnten? Sie wollten eigentlich längst mit ihren Kuttern unterwegs sein. Ich bedanke mich und schicke sie nach Hause. Nach wenigen Schritten sehen wir den Toten vor uns. Zwischen Binsenhalmen liegt er bäuchlings in dem seichten Wasser, das leise schwappt und nicht mehr die Kraft hat, sein
Opfer auf das Ufer zu schieben. Am Hinterkopf klafft eine Wunde. Wortlos gehen Semper und Cabinet an ihre Arbeit. Der Verschluß der Kamera klickt unaufhörlich. In der Umgebung findet sich nichts Auffälliges. Das war nicht anders zu erwarten, denn es sieht so aus, als sei der Mann angetrieben worden. Ich nicke Dr. Holtz zu. Jetzt ist er dran. Der Inseldoktor hilft ihm, die Leiche umzudrehen. Der Mann mag um die Vierzig sein, spärliches schwarzes Haar, auch im Gesicht muß er etwas abbekommen haben. Die beiden Ärzte tauschen Fachausdrükke aus. Ich weiß, daß die Gerichtsmedizin eine unschätzbare Hilfe bei unserer Arbeit ist, für mich aber subjektiv ihre scheußlichste Seite. Ich träume noch heute von den Obduktionen, an denen ich teilnehmen mußte. Die beiden reden von duralem Hämatom und vermutlicher Ponsblutung. Ich wende mich einen Augenblick ab. Sabine Donix hat nur einen kurzen Blick auf den Toten geworfen und ist ein paar Schritte beiseite getreten. Sie sieht sehr blaß aus. Ich gehe zu ihr. „Stecken Sie sich eine Zigarette an, Genossin Donix, und geben Sie mir auch eine.“ Sie mustert mich verblüfft. . „Ich bin Gelegenheitsraucher“, sage ich und zwinge mich zu einem Grinsen. Ich lege ihr den Arm um die Schultern. „Nun komm schon, Mädchen, mir machts auch keinen Spaß!“ Sie notiert tapfer die Angaben: blauer Sommeranzug aus Leinen, gelbe Socken, hellbraune Sandalen, roter Pulli, keinerlei Tascheninhalt, am linken Handgelenk eine Sportuhr mit Datumsanzeige. „Der Tod ist vermutlich vor sechsunddreißig bis acht-
undvierzig Stunden eingetreten“, beginnt Dr. Holtz sein erstes Resümee zu ziehen. „Genauer gesagt, am zweiten August um sieben Uhr achtundvierzig oder um neunzehn Uhr achtundvierzig“, werfe ich ein. Der Doktor schaut mich ärgerlich an und sagt nach kurzem Schweigen: „Verlassen Sie sich nicht auf die Uhr! Die Dinger sind stoß- und wasserfest!“ Er schiebt den linken Ärmel hoch. „Ich hab genauso eine.“ „Weiter!“ erwidere ich. Nun habe ich ihn wohl etwas aus dem Konzept gebracht. Er hat Mühe, den Faden wiederaufzunehmen. „Ob der Tod durch Ertrinken oder als Folge der Schlagverletzung am Hinterkopf eintrat, kann ich Ihnen mit Bestimmtheit erst nach der Obduktion sagen. Tatsache ist, der Mann hat höchstens zwei Tage im Wasser gelegen.“ „Sind Sie sicher, daß es eine Schlagverletzung ist?“ frage ich. „Was heißt sicher?“ entgegnet er. „Sie wissen genau, daß ich in diesem Stadium nur eine vorläufige Meinung zu äußern pflege.“ Die Genossin Donix meldet sich. „Könnte es sich nicht um einen Unfall handeln, einen schweren Sturz beispielsweise?“ Der Arzt zuckt die Schultern. „Theoretisch schon, aber da kommt noch einiges dazu: Hier, die Platzwunde hinter dem linken Ohr, das Hämatom unter dem rechten Jochbein und erhebliche Rippenprellungen. Soweit ich weiß, gibt es hier weder Hochhäuser noch steile Felsenklip-
pen.“ Ich gebe die Leiche zum Abtransport frei. Aber das hört sich einfacher an, als es ist. Stresow besorgt schließlich einen Pferdewagen. Ein paar Männer von der Freiwilligen Feuerwehr kommen mit dem Sarg, der beim Tischler stets für unvorhergesehene Fälle bereitsteht, und schaffen die schlimme Fracht zum Hafen. Hier helfen uns wieder die Genossen von der Wasserschutzpolizei. Mit ihnen kehren auch Dr. Holtz und die beiden Kriminaltechniker zum Festland zurück. Ein gewisses Aufsehen läßt sich diesmal am Hafen nicht vermeiden, denn wir können ja nicht das ganze Gelände absperren. Die Sensationslust der Leute ist mir zuwider, aber für uns hat sie ein Gutes: die Insel ist informiert, und wir werden hier mehr denn je auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen sein. Semper und Cabinet haben inzwischen saubere Arbeit geleistet. Sie spürten unter den Sommergästen einen Uhrmacher auf, und der sah sich die Sportuhr genau an. Obwohl das Glas heil geblieben ist, hat das Werk einen heftigen Aufprall erlebt, der es unweigerlich außer Gang setzte und beschädigte, da half auch die Stoßsicherung nicht. Es könnte also sein, daß wir auf diese Weise die genaue Tatzeit kennen. „Vorausgesetzt“, sagt Semper, „die Uhr ging zu diesem Zeitpunkt noch und ging genau.“ Bevor die beiden sich verabschieden, legen sie mir einen Packen hervorragender Fotoabzüge vor. Eine ältere Dame, die auf der Insel ein Fotogeschäft betreibt, hat sofort ihr Labor zur Verfügung gestellt. Ich wähle einige aus, auf denen das Gesicht des Toten deutlich zu erkennen ist. Genossin Donix tippt einen Text mit genauer Beschreibung und eine Aufforderung an die Be-
völkerung, zweckdienliche Angaben zu machen. Eine halbe Stunde später hängt beides in allen drei Ortsteilen an den Tafeln für amtliche Bekanntmachungen. Leutnant Stresow hat uns für die Arbeit sein Dienstzimmer in Ahlhöft zur Verfügung gestellt. „Morgen nehm ich meine Sachen und richte mich in der Wohnstube ein. Bei euch kann dat ja man länger dauern.“ Das fürchte ich auch. Bisher wissen wir nicht einmal, wer das Opfer war. Keiner von den Einheimischen, auch keiner von den Gästen, die jedes Jahr in ihren Sommerhäusern wohnen. Da ist Stresow seiner Sache sicher. Einer von den rund zehntausend Urlaubern, die am 2. August offiziell auf der Insel angemeldet waren? Hat er in einem FDGB-Heim gewohnt, oder auf einem der Segelboote, die im Jachthafen liegen? Kam er mit einem Fahrgastschiff der Weißen Flotte nur zu einem Tagesausflug herüber? Das waren an dem Tag allein etwa achthundert Personen. „Kam er überhaupt hierher?“ fragt Sabine Donix. „Er könnte auch woanders getötet worden und dann angetrieben sein, zum Beispiel von Rassow.“ Rassow – die gewaltige Insel, der Gellenthin westlich vorgelagert ist. Auf Rassow gibt es nicht nur zahlreiche bedeutende Badeorte, sondern sogar Industrie und mehrere kleine Städte. Gegen Rassow ist Gellenthin mit seinen fünfzehn Kilometern Länge und stellenweise knapp einem halben Kilometer Breite nur ein schmächtiger Zwerg. „Das glaub ich man nicht“, meint Leutnant Stresow. „Da hätten wir in den letzten Tagen Ostwind haben müssen.“ „Na gut“, sage ich, „wir sollten sowieso den Seehydro-
graphischen Dienst konsultieren. Zunächst geht es uns vor allem um die Identität.“ Ich bitte Stresow, sich ein Foto mitzunehmen und in allen Ferienheimen nachzufragen, ob der Mann dort gewohnt hat. „Dabei werde ich gleich die Quartierfrage für Sie klären, Genossen“, sagt er. Wir hören, wie er mit seinem Moped davonknattert. Die Genossin Donix steht am Fenster und schaut hinaus. Über den Deich hinweg sieht man die Ostsee. Die Sonne glitzert in dem graublauen Wasser, das leichte Schaumkämme zeigt. „Ihr erster Aufenthalt auf Gellenthin war bestimmt angenehmer“, sage ich und meine es gar nicht anzüglich. „Diesmal wird’s wenig Sommerromantik geben.“ Im Moment tut sie mir sogar ein bißchen leid, die Kleine. „Das wäre wohl zuviel verlangt“, erwidert sie und dreht sich um. „Wissen Sie, was mich so traurig und wütend macht, Genosse Hauptmann? Daß so ein Verbrechen gerade auf dieser wunderschönen Insel passiert sein soll! Jeder, der sie zum ersten Mal betritt, verläßt sie mit dem Wunsch, irgendwann hierher zurückzukehren. Auf so einem herrlichen Fleckchen sollte es gar keine Aggressionen geben. Aber Sie halten mich wohl mit Recht für etwas gefühlsduselig.“ Ich schüttle den Kopf. „Mich regt jedes Gewaltverbrechen, mit dem ich zu tun bekomme, heute noch genauso auf wie am Anfang. Das ist gut so. Es darf uns nicht hindern, unsern kühlen Verstand zu gebrauchen.“ Ich telefoniere noch einmal mit der Dienststelle. Oberstleutnant Klatt kommt selber an den Apparat und hört sich
meinen noch sehr spärlichen Bericht an. Beim Bezirk ist bisher keine Vermißtenanzeige bekannt geworden, die auf unsern Toten passen könnte. Das Foto geht heute noch an den Zentralen Fahndungsdienst. Ich erläutere ihm meine nächsten Maßnahmen und frage, ob er mir nicht doch noch einen Genossen zur Unterstützung schicken kann. „Nein, Werner“, sagt er, „du weißt, wie es bei uns im Moment aussieht. Bis der Mann identifiziert ist, werdet ihr da alleine fertig. Den Obduktionsbefund will dir Doktor Holtz morgen selber bringen. Morgen ist auch das Bild in der Presse. Übrigens: Seid ihr gut untergebracht? Was ihr noch braucht, lasse ich euch mitschikken.“ Ja, wo werden wir eigentlich wohnen, frage ich mich nach dem Gespräch. Hotelzimmer dürfte es hier kaum geben. Bis jetzt war mir das auch egal, aber es geht auf den Abend zu. Stresow kommt zurück. Er wirkt ziemlich abgespannt. Die Befragung der Heimleiter hat nicht den geringsten Anhaltspunkt ergeben. „Und mit Quartier für Sie beide ist ja man auch ziemlich schlecht“, fügt er hinzu. „Hochsaison. Die Heime und Privatzimmer sind bis aufs letzte Bett besetzt. Einer von Ihnen könnte ja bei mir wohnen. Dat Zimmer von meinem Sohn, der ist noch bei der Armee. Und dann wäre noch eine Kammer, ganz in der Nähe, aber…“ Er zögert. „Es ist man nicht sehr komfortabel, und in den nächsten Tagen finden wir bestimmt was Besseres.“ „Machen Sie sich keine Gedanken“, erwidere ich, und mir ist das im Moment auch egal. „Wenn die Genossin Donix hierbleiben darf, nehme ich das Luxusapparte-
ment.“ Ich lehne seine Einladung zum Abendessen freundlich ab. Wir haben dem Mann schon genug Umstände gemacht. Statt dessen verabrede ich mich mit Sabine Donix zum Essen in einer nahe gelegenen Gaststätte. Leutnant Stresow begleitet mich zu meinem Quartier. Das weißgetünchte Haus mit dem bemoosten Rohrdach und dem Blumengärtchen hinter frischgestrichenem Zaun sieht recht manierlich aus. Von der Besitzerin, einer Witwe Martha Hauck, kann man das nicht gerade sagen. Sie trägt eine schmuddlige Schürze über ihrem fetten Bauch und war in diesem Sommer bestimmt noch nicht beim Friseur. Leutnant Stresow macht uns bekannt und verabschiedet sich. Dabei wirft er mir hinter ihrem Rükken einen bedauernden Blick zu. Sie stellt den Napf mit Hühnerfutter beiseite und wischt sich die Hände an der Schürze ab, was weder der Schürze noch den Handflächen dienlich scheint. „Bettwäsche muß ich Ihnen wohl von mir geben“, sagt sie mürrisch, „aber dat kostet drei Mark mehr pro Nacht.“ Sabine Donix weiß nicht recht, ob sie lachen oder mich bemitleiden soll, als ich ihr von meinem Quartier berichte. Wir entscheiden uns für die heitere Variante. Ich wohne also in einer etwas zugigen Bretterbude von zweieinhalb mal drei Metern, zusammengezimmert zwecks Urlauberschröpfung noch vom seligen Herrn Hauck. Das Mobiliar besteht aus zwei Metallbettstellen, zwei wackligen Stühlen, einer ausrangierten Flurgarderobe und einem Spind, das gleichzeitig als Waschtisch dient. Ich tröste mich damit, daß es meine Nachbarn, die Hühner, auch nicht viel gemütlicher ha-
ben. „Wieso war denn die Kabache überhaupt noch frei?“ erkundigt sich Sabine Donix. „Die Stammgäste haben wegen Krankheit kurzfristig abgesagt. Der Mann soll sogar Atomforscher in Dresden sein.“ Wir sitzen im überfüllten „Blanken Hecht“ und sind froh, daß uns der gute Stresow einen Zweiertisch besorgt hat. Die niedrige Gaststube ist verqualmt, aber das Bauernfrühstück schmeckt trotz der abendlichen Stunde. Mir jedenfalls. Mein Gegenüber stochert ohne Appetit in der Bratflunder herum und trinkt nicht mal die Cola aus. „Rauchen Sie ruhig Ihre Zigarette!“ sage ich. „Hier drin kommt’s schon nicht mehr drauf an.“ „Ich möchte auch bald raus“, erwidert sie. „Draußen ist wunderbare Luft.“ „Wollen wir zusammen einen Abendspaziergang machen?“ schlage ich vor. Sie blickt auf den Torso ihrer Flunder. „Seien Sie mir nicht böse, Genosse Hauptmann“, sagt sie schüchtern wie ein kleines Mädchen, „ich würde gern noch allein am Strand entlanggehn.“ „Kann ich verstehen“, sage ich, „ein stilles Wiedersehen mit den Jugenderinnerungen.“ „Nicht nur das“, entgegnet sie, „unterwegs kann ich am besten nachdenken.“ Was soll ich allein mit dem Abend anfangen? Müde bin ich noch nicht. Mein Quartier bietet kaum Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, zumal man bei der dortigen Notbeleuchtung nicht mal lesen könnte. Kurz entschlossen
gehe ich zu Stresow und borge mir ein Fahrrad. Die Sonne ist schon eine Weile untergegangen. Trotz der Dunkelheit, die noch deutlich alle Umrisse erkennen läßt, finde ich mich gut zurecht. Ich fahre nach Süden, an der Koppel vorbei, auf der sich die meisten Kühe zur Nachtruhe niedergelegt haben. Hinter mir, auf dem Hochland, blinkt der Leuchtturm der Insel. Jenseits des Boddens scheint der von Rassow die Lichtzeichen seines steinernen Kollegen zu beantworten. Rechts, gegen einen hellen Streifen am Westhorizont, tauchen die Silhouetten niedriger Häuser auf. Vier, zähle ich. Damals waren es nur zwei, und wir sind vom Hafen aus mit dem Rucksack gewandert. Darum scheint mir der Weg heute viel kürzer. Ich biege auf einen schmalen Heidepfad ein, gerate in eine Sandkuhle. Das Radfahren bin ich nicht mehr gewohnt. Wann habe ich zum letzten Mal auf so einem Drahtesel gesessen? Ich steige ab und schiebe das letzte Stück. In einem der Häuser brennt Licht. Dort kann es nicht sein, aber das daneben, ich erkenne es deutlich wieder. Alles dunkel. Natürlich erwartet mich keiner. Als ich die niedrige Zaunpforte erreiche, sehe ich, daß dicht am Haus jemand ein Fahrrad aufpumpt. „Guten Abend!“ rufe ich. „Entschuldigen Sie, ich wollte zu Herrn Bockmühl.“ Der Mann kommt mit schwerfälligem Schritt auf mich zu. Jawohl, das ist mein alter Klassenkamerad Max Bockmühl, nur viel größer, breiter, massiger, als ich ihn in Erinnerung habe. „Mensch, Werni!“ sagt er. „Was machst du denn hier?“ Er schüttelt mir schmerzhaft die Hand, haut mir seine
Pranke auf die Schulter und sagt: „Komm rein, draußen beißen uns die Mücken!“
3. Werner Wadzeck hatte sich äußerlich wenig verändert. Er war noch ein genauso schmächtiger Hering wie in unserem Abiturjahr, als er uns mit seinem sportlichen Ehrgeiz immer wieder Respekt abnötigte. In früheren Schuljahren hatten wir ihn – grausam, wie Schüler sein können – oft genug seiner kleinen, dürren Figur wegen gehänselt. Das mußte ihn zu seinen erstaunlichen Leistungen getrieben haben. Unter heutigen Bedingungen wäre vielleicht ein Langstreckenläufer von Weltruf aus ihm geworden, ein Weltmeister im Straßenfahren oder ein Olympiasieger am Reck. Wenn ich mir dagegen vorstelle, daß ich mit meiner Kugelstoßerfigur mir aus lauter Faulheit und Desinteresse am Sport um ein Haar die Gesamtnote versaute. Dafür konnte ich seitenlang Brecht, Stalin, Tucholsky oder Rilke zitieren – keine sehr homogene Mischung, wie mir heute scheinen will. Übrigens war Werner nicht etwa nur ein Sport-As. Fast in allen Fächern hatte er die Nase mit vorn. Wir beide waren Rivalen und dennoch die besten Freunde. Vielleicht gibt es so etwas an den heutigen EOS gar nicht mehr, wenn ich zum Beispiel an Uwe denke, der vor einigen Wochen sein Abitur gemacht hat. Da wurde andauernd um Leistungen gekämpft, und das Wort Klassenkollektiv tauchte in jedem Bericht auf, aber Uwe meinte, im Grunde sei sich jeder selbst der Nächste gewesen, und die künftigen Karrieristen habe man schon
recht deutlich erkennen können. Wir saßen meist bei Werner zu Hause, weil er im Gegensatz zu mir ein eigenes Zimmer besaß, und erledigten unsere Hausaufgaben gemeinsam. Er war in den naturwissenschaftlichen Fächern stärker, ich in den sprachlichen, und so ergänzten wir einander ganz gut. Daß wir damals schon überzeugte Sozialisten waren, will ich nicht behaupten. Wir fühlten uns auf unsere Art als Wahrheitssucher und hatten einen empfindlichen Nerv gegen alle falschen Töne, Werner eigentlich noch mehr als ich, der ich damals schon zu einer gewissen Dickfelligkeit neigte. Ständig legte er sich mit unserem Klassenlehrer, einem Dr. Geislinger, an, forderte ihn immer wieder mit unbequemen Fragen heraus, und die Klasse stellte sich meist wie ein Mann hinter ihn. Wir mochten Dr. Geislinger nicht, weil wir instinktiv spürten, daß seine ideologische Forschheit eine Nummer zu dicke war. Er suchte uns zu Lippenbekennern zu erziehen, um mit seiner hochglanzpolierten 11 a die anderen Kollegen auszustechen und unseren Direktor, einen feinen, alten bürgerlichen Humanisten, aus seinem Dienstzimmer zu verdrängen. Eines Tages zog Dr. Geislinger in heftigen Worten über eine unserer Mitschülerinnen her, von der jeder wußte, daß sie aktiv in der Jungen Gemeinde unserer Stadt arbeitete. Sie solle sich gefälligst entscheiden, ob sie ihrem vermeintlichen Gott dienen oder an unserer Schule das Abitur machen und den Sozialismus mit aufbauen wolle. Da stand Werner auf, zitierte unsere Verfassung und fragte: „Warum kann ein Mensch nicht gleichzeitig
Christ sein und sich zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft bekennen?“ Dr. Geislinger lief rot an und schrie: „Wadzeck, was bezwecken Sie mit dieser dummen Frage?“ Da entgegnete Werner seelenruhig: „Herr Studienrat, es gibt keine dummen Fragen, es gibt nur dumme Antworten.“ In der Klasse blieb es mucksmäuschenstill. In das Schweigen hinein sagte Dr. Geislinger: „Wadzeck, aus Ihnen spricht die Stimme des Klassenfeinds!“ Werner war noch blasser als sonst. „Nein, Herr Studienrat“, sagte er gelassen, „das war die Stimme Bertolt Brechts. Letzte Woche haben wir bei Ihnen sein Lob des Kommunismus behandelt.“ Werner mußte sofort seine Tasche packen und das Schulhaus verlassen. Er sollte von der Schule gefeuert werden. Es gab eine große Verhandlung vor dem Pädagogischen Rat. Als FDJ-Sekretär der Klasse mußten sie mich hinzuziehen. Dr. Geislinger hielt eine Rede wie ein Staatsanwalt, aber auch ich habe mein Maul aufgetan. Ich konnte es mir leisten, denn mein Vater war ein stadtbekannter Antifaschist und Aktivist der ersten Stunde. Außerdem war der Parteisekretär auf unserer Seite, ein Neulehrer, wenig älter als wir, mit dem wir uns sogar duzten. Werner kam mit einem strengen Verweis wegen ungebührlichen Benehmens davon. Besagte Mitschülerin ist heute Mitglied des Zentralkomitees. Dr. Geislinger aber kaufte sich ein halbes Jahr später für fünfzig Pfennige eine Fahrkarte nach Westberlin. Ihm drohte ein Parteiverfahren wegen unmoralischer Beziehungen zu einer jüngeren Kollegin. Dr. Geislinger ließ eine Frau mit drei Kin-
dern und eine Abiturklasse im Stich. Wir haben ihm keine Träne nachgeweint. Nun saßen wir uns nach langen Jahren wieder gegenüber, Werner und ich. Jetzt, bei Licht, sah ich, daß er statt der borstigen roten Haare fast eine Glatze und im Gesicht harte Längsfalten hatte. Sicherlich war ich in der Zwischenzeit auch nicht schöner geworden. „Erzähl mal“, sagte ich, „was machst du hier? Urlaub?“
4. Mir fällt darauf nichts Dümmeres ein als eine Gegenfrage: „Bist ja ein ziemlich bekannter Mann geworden, Mäcki. Ich hab Verschiedenes von dir gelesen. Im Fernsehen hattest du wohl auch schon was. Sag mal, warum hast du deinen Vornamen in Marcus umgeändert? War dir Max zu proletarisch?“ Mäcki schüttelt den Kopf. „Mein Vater wollte seinen Sohn neunzehnhundertsechsunddreißig ernsthaft Marcus nennen, um die Nazis zu ärgern. Es klang nach Marx, was aber nicht nachzuweisen war. Meine Mutter brachte ihn davon ab, weil sie meinte, ich könnte später mit dem Namen eines Evangelisten Schwierigkeiten im Leben haben. Sie einigten sich auf den Kompromiß Max.“ „Das ist mir zu spitzfindig“, sage ich und blicke mich in dem gemütlichen Wohnraum um. Nichts von Nostalgie oder dummen Modemätzchen. Ich ertappe mich bei der Vorstellung, daß eigentlich ich hier der Hausherr und Max Bockmühl mein Gast sein könnte. „Und warum heißt du nun doch Marcus?“ Nun scheint er sich ein bißchen zu ärgern. „Das wird dir
wieder zu spitzfindig sein. Als ich anfing zu schreiben, hatte ich für einen jungen Burschen zuviel Erfolg auf einmal. Ich kriegte eine Art Höhenflug, fing an zu spinnen… na, dann war ich zwei Jahre in der Braunkohle. Irgendwann in dieser Zeit hab ich begriffen, daß ich niemals Maximus, der Größte, sein würde. Da besann ich mich auf Vaters Marcus. Ich hol uns jetzt einen Schluck zu trinken, und dann erzählst du erst mal von dir. Du bist doch noch bei der Kriminalpolizei? Hast du dienstlich hier zu tun?“ Er sieht mich groß an. „Bist du etwa wegen des Toten hier, den sie heute gefunden haben?“ „Ja“, erwidere ich kurz. „Gibt es bei dir einen Schluck Rotwein?“ „Nein“, sagt er, „früher mochtest du nie Rotwein. Ich habe Bier, Weinbrand, Klaren, und Cola. Wißt ihr schon was über den Toten?“ „Bier trinke ich nie, also einen Klaren und dazu ein Glas Wasser, wenn’s dir keine Umstände macht.“ Ich wundere mich selber über meinen Ton und frage mich: Warum bist du so unfreundlich zu ihm? Nimmst du Kindskopf ihm noch immer die alte Geschichte übel? Als er mit den Gläsern und der Flasche kommt, bemühe ich mich, einen etwas verbindlicheren Ton anzuschlagen, erzähle von meiner Familie, von meinem abgebrochenen Urlaub und vom Zweck meines Inselaufenthalts. Mäcki ist genauso ein guter Zuhörer wie früher. Er unterbricht mich nicht einmal. Als ich fertig bin, sagt er: „Da habt ihr also noch keine Ahnung, wer der Mann gewesen ist. Auf den ersten Blick haben unsere Berufe gar nichts miteinander zu tun, aber, wenn man genauer hinsieht… Ich soll eine Ge-
schichte schreiben. Natürlich weiß ich, wie sie etwa ausgeht. Aber dann sitze ich vor dem ersten leeren Blatt, und es kann Tage dauern, bis mir der richtige Anfang einfällt. Dann läuft es plötzlich, bloß ganz anders, als ich mir die Sache im Entwurf gedacht habe. Das macht, die Figuren nehmen ein Eigenleben an und lassen sich nicht mehr von meinen vorgefaßten Vorstellungen gängeln. Bin ich dann glücklich am Ende angekommen, wundere ich mich, daß ich nicht von Anfang an klarer gesehen, daß ich mir die Geschichte unnütz schwergemacht habe.“ „Du übersiehst den wesentlichen Unterschied“, wende ich ein. „Deine Geschichten schreibst du allein, also bist du für alle Handlungen deiner Figuren verantwortlich. Aber nun nimm diesen Fall hier auf der Insel: An der Geschichte, die sich da abgespielt hat, bin ich zunächst überhaupt nicht beteiligt. Ich habe einer fremden Geschichte nachzugehen, von der ich bisher nicht die geringste Ahnung habe, wer für sie verantwortlich ist.“ „Wenn ich dir helfen kann, Werni“, sagt er, „also ich will mich nicht aufdrängen, aber ich kenne die Insel seit über zwanzig Jahren.“ Ich auch, du alter Schweinehund, denke ich, oder hast du das vergessen? Laut sage ich: „Ich weiß, deshalb bin ich ja heute gleich zu dir gekommen.“ Im selben Moment schäme ich mich dieser Lüge. „Ach so“, sagt Max enttäuscht, „ich verstehe, du bist ständig im Dienst. Darfst du noch einen Klaren trinken, oder erlaubt das eure Dienstvorschrift nicht?“ Ich wollte ihn nicht kränken. Ich hab mich ja wirklich ein bißchen gefreut, ihn wiederzusehen. „Gieß schon ein“, sage ich
und halte mein Glas hin. „Daß ich nicht mehr so schlukken kann und will wie in dem Sommer vor vierundzwanzig Jahren, wirst du wohl verstehen.“ Ein Mist, daß ich mich heute nicht bremsen kann. Max hat das genau begriffen. Er schenkt das Glas nur halb voll, seins übrigens auch. „Werni“, sagt er, „wir waren damals ziemliche Idioten, und der größte, der Maximus, war ich.“ Das kommt so spontan und aufrichtig, daß ich lächeln muß. „Stell dir vor, die Rollen wären damals vertauscht gewesen. Dann säßest du heute an meiner Stelle und müßtest dich mit diesem Fall herumschlagen.“ „Womit würde ich anfangen?“ überlegt er. „Das Opfer identifizieren, feststellen, ob es einen Zusammenhang zwischen ihm und der Insel gibt, wenn ja, welchen.“ Ich stimme ihm zu. „Solche Zusammenhänge können sehr lange zurückliegen.“ Er beißt sich auf die Lippen und schweigt. Dabei wollte ich ihn mit meiner Bemerkung gar nicht kränken.
5. Gudrun Metz war nicht nur das schönste Mädchen unserer 12 a, sie war das schönste Mädchen der Stadt. Das wußten wir, ihre Mitschüler, und sie selber wußte es auch. Nun war das damals in einem Punkte anders als heutzutage. Im Stadtpark auf einer Bank sitzen, nach Einbruch der Dunkelheit, Händchen halten und heiße Küsse tauschen, allenfalls mal einen unerlaubten Griff, für den das Männchen gleich pflichtgemäß eins auf die Finger bekam. Man versuchte es immer wieder – vergeblich. Die Angst vor den Folgen uner-
laubter Liebe glich bei den Mädchen unseres Jahrganges im Prinzip noch der einer Luise Millerin – Gott, was war man damals dämlich! Das Nonplusultra an Unmoral lieferte im letzten Schuljahr unser DDR-Juniorenmeister im Einerkanadier Sieke Schönemann. Zu Beginn der mündlichen Abschlußprüfungen wurde er Vater. Wir haben alle dichtgehalten, sonst wäre er vielleicht heute kein führender Sportmediziner. Gudrun Metz, ihr Vater war der Chefarzt des Kreiskrankenhauses, galt für uns Kleinbürger- und Arbeitersöhne als tabu. Sie trug ihr naturblondes Haar noch in Schnekken, weil sie sich das leisten konnte. Die Mädchen rechneten es sich als Ehre an, bei Metzens zum Tee eingeladen zu werden. Die Familie pflegte die deutsche Hausmusik, und auf dem eichenen Bücherschrank von Professor Metz stand eine Dantebüste, die uns Knaben, die wir an einem Geburtstag von Gudrun zur Statisterie zählen durften, ungeheure Ehrfurcht einflößte. Gudrun war kein schlechter Kerl. Gudrun genoß es, daß sie als weibliches Wesen für uns gleichaltrige Jünglinge unerreichbar schien. Später erfuhr ich, daß sie es mitnichten genoß, sondern unter ihrem Nimbus litt. Mann, sie war achtzehn und in jeder Hinsicht voll entwickelt. Wir hatten alle das Abitur geschafft, mit Spickzetteln oder auch ohne. Es war ein erhebendes Gefühl, als uns der Prüfungskommissar in der Aula das Ergebnis verkündete. Ich war so angetrunken, daß ich beinahe zu Boden gegangen wäre, hätte mich Werni nicht gestützt. Aber soviel kriegte ich noch mit, als wir in der kleinen
Kneipe an der Ecke unsern Sieg feierten: Gudrun Metz lud uns ein, das nächste Wochenende auf der Insel Gellenthin im Haus ihrer Eltern zu verbringen. Im übrigen endete der Tag für mich unrühmlich. Als ich gegen Mitternacht stark schwankend nach Hause kam, haute mir meine Mutter links und rechts eine runter. „Vater liegt hier mit einer Nierenkolik und wartet seit Stunden auf dich, und du treibst dich mit irgendwelchen Weibern rum!“ Ich ging zu meinem Vater ins Schlafzimmer. Er sah elend aus. Eine Niere hatte er nur noch. Die andere hatten sie ihm in Sachsenhausen kaputtgetreten. Kein Wort des Vorwurfs. „Hast du’s geschafft, Junge?“ fragte er leise. Ich nickte. „Bloß mit gut, wegen Sport.“ Mühsam öffnete er die Nachttischschublade und sagte: „Nimm dir’s selber raus, du weißt schon.“ Es war die Belohnung für das bestandene Abitur – seine sorgsam bewahrte Notgeldsammlung. Ich gab mir große Mühe, nicht loszuheulen. Die beiden Alben hüte ich heute noch wie Zwerg Alberich den Nibelungenschatz. Von all meinem Besitz würde ich sie als erstes zu retten versuchen, sollte es auf der Berliner Fischerinsel ein schweres Erdbeben geben. Vier Wochen später starb mein Vater. Er hatte mir noch, gegen den Willen meiner Mutter, erlaubt, mit auf die Insel Gellenthin zu fahren. Es war ein ungeheures Erlebnis. Wir fuhren über Berlin nach Ralshagen, vier Mädchen, vier Jungen, bestaunten die Backsteingotik, legten unsere Lebensmittelmarken für achtmal Bockwurst mit Salat zusammen und enterten
den Dampfer „Swantewit“. Die allzu rentabilitätsbewußte Direktion der Weißen Flotte hat den qualmenden Schiffsveteran inzwischen längst verschrotten lassen. In der Erinnerung schmecke ich noch die unverwechselbare Mischung: Kohlenrauch, Dampf und den Dunst von heißem Schmieröl, höre das polternde Stampfen der funkelnden Kolben, deren Auf und Ab man durch die geöffnete Luke des Maschinenraums beobachten konnte, sehe den Schatten des Heizers vor dem flammenden Höllenschlund des Feuerloches. Eines nicht mehr fernen Tages wird mich vielleicht ein Enkelkind fragen: „Ein Dampfer – was issen das, Opi?“ Professor Metz besaß ein schilfgedecktes Sommerhaus auf der Insel Gellenthin. Wir alle fanden dort Platz. Bei unserer damaligen Prüderie waren wir froh, daß statt der Sonne nur der Halbmond schien, als wir uns das erste Mal ohne Badebekleidung in die Brandung stürzten. Später saßen wir in einer windgeschützten Kuhle hinter der Düne und brieten Flundern am Holzspieß, sangen Volkslieder zu Gudruns Gitarre: „Dat du min Leewsten bist…“ Mir fiel auf, daß Werner nicht von Gudruns Seite wich, eigentlich steckten die beiden schon seit der Abfahrt zusammen. Jetzt, am Feuer, tuschelten sie sogar miteinander, als hätten sie Heimlichkeiten. Das war bei uns in der Klasse nie üblich gewesen. Gudrun und ausgerechnet Werner, dachte ich und wußte noch nicht so recht, ob ich darüber grinsen oder neidisch sein sollte. Irgendeiner von uns kam auf den verrückten Gedanken: Wie wäre es, wenn wir in dieser Nacht gar nicht schlafen gingen? Wir könnten in der Morgendämmerung zum
Hochland wandern und vom Leuchtturmberg aus den Sonnenaufgang erleben. Alle waren begeistert von diesem Einfall. Vorher aber sollte es einen zünftigen Heidepunsch geben. Wir holten einen Kochtopf aus dem Haus und hängten ihn über das Feuer. Bald dampfte darin ein merkwürdiges Gebräu. Mich schüttelts noch heute, wenn ich dran denke. Wir hatten das Gesöff aus sämtlichen mitgebrachten Flaschen zusammengemischt: Stachelbeer- und Erdbeerwein, Korn und Weinbrandverschnitt, Zitronenlikör und Deutscher Wermut; sogar eine Flasche Sanddornsaft aus des Professors Vorrat hatte dran glauben müssen. Wir waren eben noch sehr unerfahrene Trinker. Der Punsch, aus Meißener Kaffeetassen geschluckt, schmeckte zunächst etwas sonderbar, aber daran gewöhnten wir uns schnell. Nur Werner, unser Sportsmann, wollte nicht mittrinken. Er hatte damals überhaupt etwas gegen Alkohol. Erst als wir alle, auch Gudrun, ihn gehörig anpflaumten, er könne nur nichts vertragen, goß er sich eine Tasse Punsch in einem Zuge herunter und verbrannte sich dabei die Zunge. Eine Weile beflügelte uns das Getränk zu einer herrlichen Laune. Wir sprachen über unsere Zukunft und schmiedeten großartige Pläne. Hermann wollte als erster Mensch in einer Rakete die Erde umkreisen. Als ihm da Jahre später jemand zuvorkam, stand Hermann in Wolfenbüttel hinter dem Ladentisch seines Schwiegervaters, eines kleinen Kolonialwarenhändlers, und verkaufte Korinthen und Zitronat an backlustige Hausfrauen. Gudrun, Werner und ich versprachen einander, auch in Berlin zusammenzuhalten. Die beiden würden an der
Humboldt-Universität Medizin studieren, ich hatte mich für Germanistik entschieden. Was ich später damit anfangen wollte, wußte ich noch nicht so recht. Nach einer Weile begann der Punsch zu wirken. Wir wurden zuerst mächtig albern. Ich stand auf und ahmte mit linkischen Gebärden den Major nach, der vor einigen Wochen in die Schule gekommen war, um uns Jungen für den Ehrendienst in der Kasernierten Volkspolizei zu werben. Nicht ein einziger aus unserer Klasse hatte sich bereit erklärt. Ich stelzte um das Lagerfeuer herum und bemühte mich, mit hoher Fistelstimme sächsisch zu sprechen: „Schugendfreinde, ihr seid der Vordrubb der Orbeiderglasse. Mir werden dem Glassenfeind die Zähne zeigen, und die Bonner Spalder werden begreifen, wer das wahre Deutschland vergörbert!“ Der Major hatte uns schnelle Aufstiegsmöglichkeiten versprochen. Wir könnten bald Offiziere sein und nach einigen Jahren zu einem Studium unserer Wahl delegiert werden. „Das is e Glassenuffdrach, ja?“ kopierte ich ihn. Die Truppe johlte vor Vergnügen, am lautesten lachte Gudrun. Werner schüttete seine volle Punschtasse ins Heidekraut und sagte in eine Lachpause hinein: „Du bist ein richtiger Affenarsch, Mäcki! Und du merkst es nicht mal.“ Es war auf einmal so still, daß wir die Funken knistern hörten. Gudrun blickte mit halbgeöffneten Lippen zwischen Werner und mir hin und her. Ich hatte viel zu gute Laune, als daß ich mich von Werner hätte ärgern lassen. „Quatsch nicht kariert, Werni“, sagte ich. „Wir Kriegskinder fassen kein Gewehr mehr
an. Wir wollen was vom Leben haben!“ „Nieder mit dem Militarismus!“ grölte Hermann. Er hatte wohl am schnellsten getrunken. „Das ist gar nicht klar“, sagte Werner beharrlich. „Friede, Freude, Eierkuchen – ist doch alles Mist, solange die andern nicht mitspielen. Denkt an Korea und an Indochina, oder habt ihr alle Tomaten auf den Augen?“ „Hugh“, rülpste Hermann, „der große Agitator und Anwärter auf den Stalinfriedenspreis hat gesprochen.“ „Hör auf damit, Werner“, sagte Gudrun, „du versaust uns die ganze schöne Stimmung.“ Sie rückte von ihm ab und näher an mich heran: „Großer, sag du ihm mal ‘n paar Takte!“ Sie war eigentlich ein sehr hübsches Mädchen. Der Lumberjack aus grünem Kord war mindestens eine Nummer zu klein. Zu diesem Befund war ich vorhin schon gelangt, als ich beim Baden ihre beiden Möpse hatte wippen sehen. Dieser miesepetrige Werner war so was gar nicht wert. Wird auf diese herrliche Insel eingeladen, wir sind alle Mann so rundum glücklich, er selber hätte am meisten Grund, und da bricht der so eine bescheuerte Debatte vom Zaune! „Du, Werni“, sagte ich anzüglich, „wenn du solch glühender Anhänger der neuen Scharnhorsts und Gneisenaus bist, warum hast du dich nicht selber als Offiziersanwärter gemeldet?“ Ich glaube, die anderen spürten die geladene Atmosphäre zwischen uns dreien schon gar nicht mehr. Barbara kotzte in angemessener Entfernung ihren Punsch ins Heidekraut, und Gerhard tupfte ihr danach die Lippen mit seinem Taschentuch ab. Die beiden sind heute noch glück-
lich verheiratet. Sie haben fünf Kinder großgezogen und unterrichten die Dorfjugend in einer Gemeinde bei Brandenburg. Als ich im ND las, daß Gerhard Verdienter Lehrer des Volkes geworden ist, habe ich ihm ein Glückwunschtelegramm geschickt. Edith und Günter waren an den Strand gegangen. Gerda hatte sich ins Haus begeben und schlief wohl schon. Sie war das Mauerblümchen unserer Klasse, eine kleine, unscheinbare Brillenschlange, so eine, die nur darauf lauerte, mit jemandem ihre letzte Butterstulle teilen zu dürfen. Leider fand sich dieser Jemand nie. Als ich vor wenigen Jahren in einem Cafe unserer Heimatstadt mit ihr zusammensaß, war sie Kulturhausleiterin und immer noch unverheiratet. Und nun erst gestand sie mir, daß sie an jenem Abend unsterblich verliebt in mich gewesen und überhaupt nur meinetwegen mit auf die Insel gefahren sei. „Als ich merkte, daß du nur noch Augen für diese Gudrun hattest“, sagte sie und wurde noch immer rot hinter ihrer Brille, „bin ich ins Bett gegangen und habe mich in den Schlaf geheult!“ Armes, liebes Gerdachen, denke ich, was waren wir damals für gefühllose Burschen. Es stimmte schon, irgendwas zwischen Gudrun und mir war losgegangen, und zwar auf Kosten von Werner. Der füllte sich eine neue Tasse voll Punsch, der inzwischen fast kalt geworden war, leerte sie in einem Zuge, genau wie die erste, sah mich verächtlich an und sagte: „Mäcki, du bist die zweitgrößte Enttäuschung in meinem Leben. Ich wünschte, ich hätte so einen Vater wie du gehabt, den bist du gar nicht wert!“ Er stakte auf die kleine Erhebung der Düne hinauf, hob
die rechte Hand und sprach mit feierlichem Ton: „Ich schwöre bei Marx, Engels, Lenin und Stalin, daß ich mich zur Verteidigung unserer jungen Republik zum Ehrendienst in den bewaffneten Organen verpflichte und auf alle bourgeoisen Mediziner und Germanisten einen großen Haufen scheiße!“ Das war mir zuviel. „Werner!“ schrie ich. „Bist du verrückt geworden?“ „Laß ihn doch!“ flüsterte Gudrun. Ich habe Werner nach dieser Nacht viele Jahre nicht mehr gesehen. Er fuhr mit dem Frühschiff nach Hause. Gudrun und ich haben uns keine Gedanken um ihn gemacht. Ihre Möpse waren mir wichtiger als ein Freund. Wir lagen in der Heide und holten in den wenigen Stunden bis zum Morgengrauen alles nach, was uns unsere verklemmte Erziehung vorenthalten hatte. Den ersten Sonnenaufgang vom Hochland aus habe ich erst zwanzig Jahre später gesehen. Mit Helga und Uwe zusammen.
6. Morgen wird viel Arbeit auf mich zukommen. Im Moment aber kann ich gar nichts zur Lösung meiner Aufgaben tun. Auch ein Kriminalist hat mal Feierabend. Und dieser Ort, dieses Haus machen, daß meine Gedanken ganz woanders herumgeistern. Natürlich war ich damals auch ein Idiot, aber nicht so, wie es sich Max vorstellt. „Du wußtest“, frage ich ihn, „daß ich vorher schon ein-
mal mit Gudrun hier auf der Insel war?“ Er schaut mich erstaunt an. „Wann? Wir haben nie darüber gesprochen.“ „Dazu war wohl auch keine Gelegenheit mehr“, erwidere ich. „Aber du weißt es von Gudrun?“ Max schüttelt den Kopf. „Ich weiß nur, daß du auch in sie verknallt warst.“ Warum soll ich es ihm nicht sagen, schon damit endlich, wenn auch nach allzu langer Zeit, wieder Klarheit zwischen uns herrscht? „Mäcki, ich bin alles andere als stolz darauf, aber der Kolumbus, der dieses Eiland entdeckt hat, warst nicht du. Kurz vor den mündlichen Prüfungen habe ich ein ganzes Wochenende mit Gudrun hier im Haus verbracht. Keiner wußte etwas von unserer heimlichen Verlobung. Wir wollten sie abends am Lagerfeuer bekanntgeben.“ Max sagt erst einmal gar nichts. Er steht auf und schaut aus dem Fenster in die nächtliche Heide hinaus. Nach einer Weile dreht er sich um. „Wie nennt man es, wenn über verkorkste Angelegenheiten von früher geredet wird, die nun mal nicht mehr zu ändern sind? Fehlerdiskussion. Hätte ich gewußt, was mit euch beiden los war… Jetzt kann ich verstehen, warum du keine Lust mehr hattest, mit ihr zusammen Medizin zu studieren. Ich muß damals völlig verhagelt gewesen sein.“ Ich schaue auf meine Uhr. „Entweder ich fahre jetzt in mein Quartier, oder du machst uns einen Kaffee“, sage ich. „Letzteres“, erwidert er. „Komm mit in die Küche!“ Während er Wasser aufsetzt, sehe ich mich um. Verflucht, hier kann man’s schon einen Sommer lang aushal-
ten. Kühlschrank, Grill, Propankocher, Einbaumöbel – hier hat sich alles verändert. Ich setze mich auf die Eckbank. „Warum ist sie eigentlich rübergegangen? Empfand sie eure Kinderehe als Mißgriff? Wir andern waren wie vor den Kopf geschlagen, als es hieß, Mäcki und Gudrun haben geheiratet.“ Max stellt Tassen, ein Sahnekännchen und eine Zuckerdose auf den Tisch. Kein Meißen. Wenn ich mich nicht irre, Gebrauchsgeschirr aus Kahla. „Die Woche über besuchten wir unsere Vorlesungen. Ein gemeinsames Zimmer besaßen wir nicht. Sie wohnte in Schöneberg bei ihrer Tante. Ich hatte ein möbliertes Zimmer bei einem ältlichen Drachen in der Schönhauser Allee. Kinderehe ist noch geprahlt. Am Wochenende fuhren wir jeder zu seinen Eltern, und sonntags wurde ich bei Professors zu Mittag gebeten.“ „Mensch, Mäcki, und das hat dich nicht angekotzt? Das hast du dir bieten lassen?“ Max hebt die Schultern, löffelt Pulverkaffee in die Tassen und gießt Wasser auf. „Ich kam mir sogar sehr schlau vor und verglich mich mit Heinrich IV. von Frankreich, der, um ein Reich zu gewinnen, zum katholischen Glauben übergetreten war.“ Ich nicke. „Paris ist eine Messe wert, soll er gesagt haben. Sechzehnhundertzehn hat man ihn ermordet. Und du Dussel dachtest, du kannst eine Weile mitspielen und dabei Gudrun auf deine Seite rüberziehn?“ „Im Sommer neunzehnhundertfünfundfünfzig sah es noch so aus. Als ihr Vater erfuhr, daß bei uns ein Kind unterwegs war, ließ er uns das Haus auf der Insel über-
schreiben, und wir beide verlebten hier noch einen halbwegs glücklichen Urlaub. Im September haute der Alte mit seiner Frau nach München ab, nicht auf blauen Dunst, er bekam sofort eine Professur. Wir trafen uns noch einmal in Westberlin. Er setzte mein volles Einverständnis voraus, als er mit seinen Angeboten herausrückte: eine komfortable Wohnung in München für uns. Gudrun sollte des Kindes wegen ihr Studium abbrechen, ich aber weiterstudieren, was und solange ich wollte. Alle Kosten wollte er übernehmen.“ „Von seinem Professorengehalt?“ frage ich skeptisch dazwischen. Max schüttelt den Kopf. „Siehst du, und das war genau der Punkt, der mich endlich auf den Teppich brachte. Hinter diesem Programm steckte Gudruns Onkel, zu dem sie angeblich keinen Kontakt mehr hatte, ein ehemaliger Wehrwirtschaftsführer, den die Amerikaner neunzehnhundertfünfundvierzig eingebuchtet hatten, der aber nun schon wieder mächtig im Kommen war. Es gab nächtelange Debatten zwischen Gudrun und mir, aber ich hätte von vornherein wissen müssen, wie alles ausging.“ „Und das Kind?“ frage ich. Max zuckt die Schultern. „Ich weiß nicht mal, ob es ein Junge ist oder ein Mädchen. Ich habe radikal mit dieser Familie gebrochen, und sie waren offenbar ganz zufrieden damit. Bei der Scheidung überließ mir Gudrun das Haus auf der Insel. Ein feiner Kuhhandel von ihr: Ich das Haus und sie das Kind, und ich konnte nicht mal was dagegen unternehmen, wollte ich auch gar nicht. Die Insel habe ich zwei Jahre nicht mehr betreten. Dann bekam
ich hier von der Gemeinde eine Auflage, entweder das Haus zu verkaufen oder mich darum zu kümmern, daß es nicht völlig vergammelt. Seitdem fahre ich jedes Jahr hierher. Das schöne Stückchen Land kann nichts für unsere Dummheiten von damals.“ Er geht ins Zimmer und holt die Schnapsflasche. „Bist du nun immer noch sauer auf mich?“ fragt er und will einschenken. „Mir nicht mehr“, wehre ich ab. „Es ist gut, daß wir darüber gesprochen haben. Schade, daß wir es viel zu spät nachgeholt haben.“ „Wo übernachtest du überhaupt?“ erkundigt er sich. „Haben sie dir ein manierliches Quartier besorgt?“ Ich berichte ihm von meinem Glück, füge aber hinzu, daß ich bald etwas Besseres bekommen soll. „Quatsch“, sagt er, „besser als hier findest du es nirgends. Hol morgen deine Sachen und zieh bei mir ein. Platz genug ist.“ Als er merkt, daß ich zögere, fügt er hinzu: „Ach so, es ist ja dienstlich, vielleicht mußt du mal mit jemandem reden. Kriegen wir alles in den Griff. Oben ist ja auch noch ein Raum, da kann ich mich mit meiner Schreibmaschine verkrümeln.“ „Wir reden morgen darüber“, sage ich, „melden werde ich mich auf jeden Fall.“ Ich trinke meinen Kaffee aus und stehe auf. „Womit fängst du morgen an?“ fragt Max. „Erst mal sehen, ob sich jemand auf das Foto hin meldet.“ „Was für ein Foto?“ will er wissen. „Das von dem Toten. Warst du heute nachmittag nicht im Dorf?“
Als er den Kopf schüttelt, ziehe ich das Bild aus der Tasche und lege es auf den Tisch. Max betrachtet es aufmerksam. Dann schaut er hoch und sagt: „Den Mann kenne ich.“ „So“, erwidere ich und setze mich. Nun werde ich wohl doch noch ein Weilchen seine Gastfreundschaft beanspruchen müssen.
7. „Versprich dir nicht zuviel, Werni“, sage ich, „was heißt kennen? Ich weiß weder seinen Namen noch kenne ich seinen Beruf, auch nicht, woher der Mann gekommen ist. Ich habe ihn nur gesehen und ganz kurz mit ihm geredet.“ „Wann und bei welcher Gelegenheit?“ fragt er. Nicht nur der Kaffee hatte ihn wieder munter gemacht. Sonnabend früh hatte ich die Koffer und die Schreibmaschine im Wagen verstaut, einen letzten Sicherheitsrundgang durch die Wohnung unternommen und die Schlüssel bei den Nachbarn abgegeben. Schon zu dieser zeitigen Stunde flimmerte die Hochsommerhitze auf den staubigen Straßen, als wäre sie noch vom Vortage übriggeblieben. Vor einer Bahnschranke, die nur selten geöffnet ist, wenn ich diese Strecke fahre, hatte sich ein kilometerlanger Stau gebildet. Erst nach einer halben Stunde ruckte die Kolonne zögernd wieder an. Nun schaute ich doch auf die Uhr und beschloß, die vorgesehene Pause ausfallen zu lassen. Auf einmal schoß hinter mir ein hellgrauer Lada hervor und überholte auf der linken Fahrbahn gleich vier, fünf Fahrzeuge auf einmal. Das kann doch nicht wahr sein,
dachte ich, der muß doch vor der Kurve wieder rechts rein. Und da kam auch schon ein Lastwagen aus der Kurve. Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen, aber ich mußte blitzschnell auf die Bremse gehen, denn der Lada hatte sich in allerletzter Sekunde wieder in unsere Kolonne hineingequetscht und dabei um ein Haar eine Kette von Auffahrkarambolagen verursacht. Ich bin nicht der Typ des aggressiven Autofahrers, und es gibt wenig Situationen, in denen ich am Lenkrad zu fluchen anfange. Dies war so eine. In der letzten Stadt vor der Insel Rassow sah ich den hellgrauen Lada vor einer Ampelkreuzung in der Spur neben mir stehen. Nur ein Mann saß darin. Er trug Autohandschuhe. Ich hätte ihm gern eine Drohfaust gemacht, obwohl das solchen Burschen meist scheißegal ist, aber er starrte verbissen vor sich hin. Auf dem Rassowdamm hatte ich ihn aus Augen verloren. Vielleicht war er zur Tankstelle abgefahren. Nach etwa zwanzig Kilometern bog ich links in eine Nebenchaussee ein, während sich der Hauptverkehrsstrom weiter nach Nordwesten, auf die großen Seebäder zu bewegte. Habe ich diesen letzten Abschnitt der Fahrt erreicht, befällt mich heute noch, nach vielen Jahren, eine kindlich heitere Stimmung. Ich suchte mir im Autoradio die „Ferienwelle“. Ein Matrosenbaß – nicht einer, wie sie auf Fahrten reifen – ließ mal wieder die Ostseewellen an den Strand trecken. Das tat er gewiß schon den lieben langen Sommer lang, im Rundfunk wie auf den Freilichtbühnen der Badeorte. Ich grölte kräftig mit, aber nur, weil ich allein im Auto saß und Helga sich nicht die Ohren zuhalten mußte. Schließlich begann ich nach der
Lücke zwischen einer Baumgruppe Ausschau zu halten, durch die man das Hochland mit dem Leuchtturm der Insel Gellenthin erspähen konnte. Auf einmal hatte ich wieder den hellgrauen Lada im Rückspiegel. Die Straße, die hier sehr schmal ist, folgte einer langen Linkskurve. Ein Motorradfahrer kam mir entgegen, als hinter mir der Lada zum Überholen ausscherte. Ich trat so heftig auf die Bremse, daß mein guter alter Wartburg ins Schlittern kam. Dadurch aber konnte der Lada gerade noch auf die rechte Straßenseite hinüberziehen und den unausweichlich scheinenden Zusammenprall mit dem Motorrad vermeiden. Nach der Schrecksekunde sah ich beinahe rot vor Wut. Ich hupte, blinkte den Kerl mit den Scheinwerfern an, immer dicht hinter ihm fahrend. Er aber wandte sich halb um und tippte sich an die Stirn. Hätte ich einen schnelleren Wagen gehabt, so wäre ich jetzt Gefahr gelaufen, mich selber wie ein Rowdy zu benehmen. Überholen, rechts randrücken, Tür aufreißen, und dann fängt er ein Ding ein; fragt er, warum, gleich noch eins! Das waren meine wütigen Wunschvorstellungen. Vielleicht konnte er sie mir im Rückspiegel ansehen. Er gab Gas und hängte mich im Nu ab. Allmählich beruhigte ich mich und schalt mich ein altes Dusseltier. Mit so einem Mistbolzen, redete ich mir zu, legt man sich nicht an! Solche Leute brechen sich eines Tages selber das Genick. Als ich in den kleinen Boddenhafen von Schapswieck einfuhr, war mein Zorn längst verraucht. Jenseits der flirrenden Wasserfläche lag mein zweites, im Augenblick sogar mein schöneres Zuhause, lag die Insel Gellenthin.
Der bewachte Parkplatz schien, wie immer in der Hochsaison, hoffnungslos überfüllt, aber die alte Frau, die mich schon seit Jahren kennt, wußte noch eine Lücke für mich und sogar noch für zwei weitere Autos, die gleich nach mir eintrafen. Nachdem ich den Wagen abgestellt hatte, steuerte ich zielsicher den Gasthof Godewind an. Bis zur Überfahrt blieb mir noch eine halbe Stunde. Jedesmal, wenn ich hierherkomme, genieße ich das erhebende Gefühl, zumindest einige Tage überhaupt nicht mehr ans Autofahren denken zu müssen. Es ist für mich wie ein Ritual: Ich betrete die niedrige, verräucherte Gaststube, wische mir über die tränenden Augen und sehe nach, ob der schöne Spruch noch an der Wand hängt. Da ist er: „Als Moses auf den Stein einst klopfte, geschah das Wunder. Das Wasser, es tropfte. Ein größeres Wunder geschieht hier. Du rufst nach Alwin, und es kommt Bier.“ Ich brauchte Alwin, den Wirt, auch diesmal gar nicht zu rufen. Er kam hinter der Theke hervor, schüttelte mir die Hand und krächzte: „Na, auch wieder hier, Herr Dokter?“ – „Was denn sonst, Herr Godewind. Und was gibt’s Neues bei Ihnen?“ Es gab nichts Weltbewegendes, und ich hatte es auch nicht erwartet. Nach meinen Wünschen mußte er gar nicht fragen. Erst brachte er mir ein Kutscherfrühstück, also ein großes Bier mit einem doppelten Klaren, gleich darauf drei Setzeier mit Brot. Das ist seit Jahren ein unumstößlicher Brauch, und ich weiß es stets so einzurichten, daß ich nicht an einem von Alwins Ruhetagen hier anreise. Durch die trüben Scheiben konnte ich zum Hafen hin-
überschauen, wo schon das Postboot am Bollwerk festgemacht hatte. Postboote werden die kleinen Motorschiffe der Weißen Flotte noch immer von den Einheimischen genannt, obwohl sie seit einigen Jahren nur Fahrgäste zwischen den Inseln Rassow und Gellenthin hin- und her befördern. Ich fuhr hoch, als dicht vor dem Fenster ein Mann in mein Gesichtsfeld trat. Es war der Fahrer des hellgrauen Lada. Er schaute auf die Armbanduhr und ging eilig zum Anlegesteg hinüber. Wäre ich nicht gerade mit den Setzeiern beschäftigt gewesen… So aber grinste ich über seine nervöse Eile, denn am Nebentisch saß die Besatzung von MS „Schwalbe“ und trank in Seelenruhe Kaffee. Erst auf dem Postboot traf ich den Mann wieder. Ich stand auf dem Vorderdeck und steckte mir eine Zigarette an. Er kam den schmalen Niedergang herauf, ging an mir vorbei und schaute zur Insel hinüber. Dann bemühte er sich, seine Zigarette in Brand zu setzen. Ein Streichholz nach dem anderen riß er an, und jedesmal pustete es ihm der Fahrtwind aus. Nach dem fünften Versuch trat ich auf ihn zu und sagte mit gleisnerischer Höflichkeit: „Entschuldigung, darf ich Ihnen behilflich sein?“ „Na ja, bei dem Scheißwind“, knurrte er. Offensichtlich hatte er mich nicht erkannt. Ich riß das Streichholz an, ließ es richtig aufflammen und hielt es dann in den Windschutz der hochgeschobenen Schachtelhülse. „Danke“, sagte er. „Die Flamme“, erklärte ich betont lehrhaft, „braucht nämlich erst mal Sauerstoff, sonst ist sie zu schwach, und der Wind kann sie mühelos ausblasen.“ „Wie schön“, erwiderte er ironisch, „man kann immer
noch was dazulernen.“ „Da haben Sie recht“, sagte ich, „und für die nächste Lektion empfehle ich das Thema: Auch ein blankgeputzter Lada kann zum Mordinstrument werden, wenn ihn ein allzu ehrgeiziger Anfänger lenkt.“ Er senkte den Kopf, und ich dachte, im nächsten Moment nimmt er dich auf die Hörner. Er war etwa genauso groß wie ich, aber vermutlich brachte ich fünfzig Pfund mehr auf die Waage – indes, es mußte nicht sein. Das hatte offenbar auch er begriffen. „Ach, Sie waren das?“ sagte er und sah mich erstaunt an. „Entschuldigen Sie, ich glaube, ich bin heute wirklich wie ein Henker gefahren. Aber ich habe es noch nie so eilig gehabt, auf diese verdammte Insel zu kommen, ob Sie das verstehen oder nicht.“ Wenn es jemand über sich bringt, sich für einen Dreckmist zu entschuldigen, erwacht sofort der Versöhnler in mir. Ich zuckte nur die Schultern und meinte: „Das ist doch Ihr Problem.“ Er ging wieder unter Deck, und ich habe mich nicht weiter um ihn gekümmert. Nachdem ich Werner das alles in Kurzfassung geschildert hatte, blickte er mich nachdenklich an und sagte: „Du, Max, wahrscheinlich bist du einer der letzten, die diesen Mann lebend gesehen haben. Bitte, konzentriere dich noch auf ein paar Fragen!“ „Ich bin voll da. Schieß los!“ „Hast du dir das Kennzeichen des Lada gemerkt?“ „Nein, aber auf alle Fälle vorn ein A, also Küstenbezirk.“ „Gut, soviel von der Sorte werden auf dem Schapswiek-
ker Parkplatz nicht herumstehen. Was hatte der Mann an, was trug er bei sich?“ „Warte… so einen blauen Sommeranzug, vermutlich Exquisit, und einen knallroten Pulli. Über der Schulter eine helle Umhängetasche, bestimmt aus Leder.“ „Wann kam das Schiff in Ahlhöft an?“ „Punkt halb zwölf. Ich hab nach der Uhr gesehen.“ „Hast du den Mann beim Aussteigen beobachtet? Wo ging er hin? Wurde er erwartet? Hat er sich mit jemand getroffen?“ „Du, Werner, da muß ich passen. Ich habe gleich meinen Nachbarn Willi Kuhle begrüßt. Der stand mit zwei Fahrrädern da, damit ich mein Gepäck nicht allein bis in die Heide schleppen mußte. Ich konnte ja nicht wissen…“ Ich überlegte angestrengt. „Ich glaube, der Mann ist in die Hafenkneipe gegangen, aber beschwören kann ich es nicht.“ Werner stand auf. Er sah sehr müde aus. „Vielleicht hilft es uns ein bißchen weiter“, sagte er seufzend, „aber jetzt schieße ich in den Wind. Wegen des Quartiers… ich melde mich morgen auf alle Fälle.“ Ich brachte ihn mit der Taschenlampe bis an die Betonstraße. „Gute Nacht!“ rief ich ihm nach. Er wandte sich um. „Von unserer lieben Gudrun träum ich heut bestimmt nicht!“
8. Am anderen Morgen werde ich durch ein klapperndes Geräusch wach. Ich blinzle eine
Weile vor mich hin, ehe ich begreife, wo ich bin. Zehn Minuten nach sechs. Eigentlich hätte ich noch schlafen können. Ich steige aus dem Bett und gehe zur Tür, habe Mühe, sie zu öffnen. Es ist, als hielte sie jemand von außen zu. Der Wind muß über Nacht auf Nordwest gedreht und mächtig aufgefrischt haben. Tiefhängende Regenwolken jagen über das Gehöft hin. Eine morsche Latte hat sich vom Dach meiner Villa gelöst und schlägt gegen die anstrichbedürftige Bretterwand. Die Witwe Hauck scheint noch zu schlummern, und der Gedanke, mit ihr Kaffee zu trinken, ist nicht erquicklich. Waschen, rasieren – und dann nichts wie raus hier! Offenbar bin ich der einzige Mensch, der um diese Stunde Lust hat, über die Dorfstraße zu schlendern. Der Sturm beugt die Äste der Linden, deren Laub zeitig gelb zu werden beginnt. Hoffentlich regnet es nicht so bald, denn ich habe bei dem strahlenden Sonnenschein gestern nicht daran gedacht, mir einen Mantel mitzunehmen. Ich schaue durch ein Fenster in die Ferienheimgaststätte, wo wir gestern gegessen haben. Da sitzt schon der erste Urlauberdurchgang an weiß gedeckten Tischen und frühstückt behaglich – genauso wie vermutlich meine Familie jetzt in Bad Rauenstein. Am liebsten würde ich durch die Scheibe langen und dem Zunächstsitzenden die dampfende Kaffeetasse aus der Hand nehmen. An der Tür steht ein Schild: „Frühstück und Mittagessen nur für FDGB-Feriengäste.“ Ich könnte freilich dem Objektleiter meinen Dienstausweis unter die Nase halten, aber ich finde es albern zu sagen: „Guten Morgen, ich komme von der Mordkommission und hätte gern zwei Eier im
Glas.“ Immerhin, Stresow muß das Problem für die nächsten Tage klären. In der Nähe des Hafens sieht man schon mehr Leute. Alle gehen vorbei an der Anschlagstafel, wo das Foto mit unserem Text hängt. Keiner beachtet es. Sie haben es eilig, zum Frühschiff zu kommen, das nach Ralshagen fährt. Die meisten sind Urlauber, deren Zeit abgelaufen ist. Man sieht’s an Gepäck und Kleidung, auch hört man’s. Als ich den Hafen erreiche, macht das Fahrgastschiff gerade fest. Ahlhöft ist die zweite Station der „Klaus Störtebeker“ an diesem Morgen. Schon in Lüchting, dem kleinen Nordhafen der Insel, hat sie Heimreisende an Bord genommen. Das Gepäck wird auf das Vorderdeck verladen, Fahrräder und viele Koffer und Taschen. Eine ganze Ladung wandert von einem Pferdewagen aufs Schiff. Während die Besitzer ihre Stücke herunterlangen, sitzt der Kutscher unter einem Regenumhang unbeteiligt auf dem Bock und raucht eine kurze Stummelpfeife. Er trägt eine Schiffermütze und hat ein Gesicht wie eine schrumplige alte Kartoffel im Juni, wenn man darüber flucht, daß es noch keine neuen gibt. Mittschiffs gehen nun die Passagiere an Bord. Dabei gibt es Küsse, Umarmungen und Händeschütteln zwischen ihnen und den Zurückbleibenden. Vielleicht verschwindet jetzt die Person, die ich suche und die ich nicht einmal kenne, aus meiner Reichweite. Oder hat sie sich längst davongemacht, spätestens gewarnt durch die Meldung, daß das Opfer aufgefunden wurde? Oder hat sie die Kaltschnäuzigkeit, weiterhin auf der Insel zu bleiben? Die „Störtebeker“ legt ab. Ein paar Urlauber werfen Münzen in das aufwirbelnde Wasser. Sie hoffen, irgend-
wann wieder hierherzukommen. Ein Brauch, der sich im Laufe vieler Jahrzehnte von der römischen Fontana di Trevi bis zu uns in den rauhen Norden durchgeschlagen hat. Ich schaue mich im Hafen um. Das Wort Hafen weckt beim Binnenländer vielleicht falsche Vorstellungen. Das hier ist ein staubiger, ungepflasterter Platz – nicht größer als sieben Kleingartenparzellen, in der Mitte ein weißgeputzter Flachbau mit dunklem Pappdach, an der Wasserseite Büro und Gepäckaufbewahrung der Weißen Flotte, an der Rückseite die Hafenkneipe. Zu meinem Leidwesen hat sie um diese Zeit noch geschlossen. Die Vorstellung, jetzt eine Tasse Kaffee zu trinken, dazu in knackige Brötchen zu beißen, wenn’s die überhaupt auf der Insel gibt! Das Vorhandensein einer Kaufhalle läßt mich daran zweifeln. Mißmutig gehe ich um das Gebäude herum, präge mir die Ankunfts- und Abfahrtszeiten sämtlicher Schiffe von und nach Schapswieck, von und nach Ralshagen ein. Man weiß nicht, wie man’s noch gebrauchen kann. Außerdem liebe ich so ein Gedächtnistraining. Die Genossen in der Dienststelle ziehen mich zwar auf, wenn ich lückenlos die Stammaufstellungen unserer vierzehn Oberligafußballmannschaften nennen kann oder auf Wunsch zu sagen vermag, wer 1964 in Tokio den Zehntausendmeterlauf gewann und in welcher Zeit. Aber das Grinsen vergeht ihnen, wenn ich bei einem alten Stammkunden das Strafregister mit Ort und Datum aufsage, ohne die Akte anzufordern. Neben den Fahrplänen prangt eine nagelneue, noch kein bißchen von Wind und Regen verwitterte gelbe Ortseingangstafel, wie man sie sonst nur als Kraftfahrer vor Au-
gen hat: „Ahlhöft – Kreis Rassow – Bezirk Rostock“ steht in säuberlichen schwarzen Buchstaben darauf. Wie sagte Schiller? „Heilige Ordnung, segensreiche Himmelstochter…“ Dürfen etwa die Schiffe, wenn sie das Schild erreicht haben, im Ort, also auf der Dorfstraße, nicht schneller als fünfzig Kilometer pro Stunde fahren? Ach was, mich macht bloß der fehlende Morgenkaffee so giftig. Ich warte noch einen Fischkutter ab, der gerade einläuft. Durch eine Lücke in der Mauer von aufgestapelten Kisten sehe ich, wie die beiden Fischer flache Kisten ausladen. Flundern oder Schollen, den Unterschied werde ich wohl nie begreifen. Außerdem mache ich mir nicht viel aus Fisch. Als es zu regnen beginnt, schlage ich meinen Jackenkragen hoch und gehe ins Dorf zurück, diesmal auf einem anderen Wege, und der lohnt sich. Ich entdecke einen privaten Bäckerladen, und der ist sogar geöffnet. Die Bäckersfrau vermutet in mir bestimmt einen arg kinderreichen Vater. Sie hält mir die Tür auf, weil ich in jeder Hand eine Tüte mit Brötchen, Schnecken, Liebesknochen und Pfannkuchen trage. Halbwegs trocken erreiche ich mit meiner Ladung das Haus vom Genossen Stresow. Ich komme eine Viertelstunde früher als verabredet, aber das ist mir nun auch egal. Die Genossin Donix sitzt mit den Stresows am reichlich gedeckten Frühstückstisch, und als Frau Stresow meint, nun werde sie man noch eine Kanne Kaffee aufbrühen, habe ich das Gefühl, dies könne doch ein erfolgreicher Tag werden. Zunächst passiert überhaupt nichts Erwähnenswertes.
Sabine Donix und ich sitzen in dem kahlen Dienstzimmer des ABV, das keineswegs anheimelnd wirkt. Aber das soll es wohl auch gar nicht. In den Räumen unserer Dienststelle würde man auch vergeblich nach Aquarien, Natursteinkaminen oder Käfigen mit exotischen Ziervögeln suchen. Ich habe vor Jahren mal versucht, eine angenehmere Atmosphäre in unseren Zimmern zu schaffen, ein paar Grünpflanzen, an den Wänden farbige Reproduktionen, aber Klatt meinte, das sei kleinbürgerlicher Quatsch. Wer mit dem Gesetz in Konflikt käme, solle von vornherein sehen, daß nun der Spaß und die Gemütlichkeit für ihn aufhören. So sind auch hier bei Stresow ein Meßtischblatt der Insel und das Bild des Genossen Erich Honecker der einzige Wandschmuck. Draußen klatscht der Regen an die Scheiben. „Wollten Sie nicht baden gehn?“ frage ich ironisch, aber Sabine gibt keine Antwort. Sie sitzt an der Schreibmaschine und formuliert den ersten Bericht für die Staatsanwaltschaft. Ich telefoniere mit unserer Dienststelle, erfahre aber nichts Neues. Noch immer keine Vermißtenmeldung. Das Foto ist in der Bezirkspresse erschienen. Solange wir nicht wissen, wer der Mann war, kommen wir kaum weiter. Es hilft nichts: Wenn sich hier beim ABV keiner meldet, müssen wir beide und Stresow mit dem Bild in der Hand sämtliche Gaststätten der Insel abklappern. Auch der Hinweis von Max Bockmühl könnte uns weiterhelfen. Wenn seine Erzählung stimmt, müßte der Wagen des Toten noch auf dem Parkplatz von Schapswieck stehen. Das VPKA Rassow habe ich gleich heute morgen gebeten, sämtliche hellgrauen Ladas mit
dem Kennzeichen des Küstenbezirks dort zu notieren. Inzwischen telefoniere ich mit der Wetterdienststelle und dem Seehydrographischen Dienst. Ich verstehe auf Anhieb zwar bloß die Hälfte von ihren Ausführungen, schreibe mir aber alles gewissenhaft auf. Soviel ist jedenfalls klar – für einen Laien wie mich –: Am 2. August muß auf der Insel das schönste Sommerwetter gewesen sein, Lufttemperaturen um 25 Grad, das Wasser dagegen hatte nur 15 Grad. Das ist eine Besonderheit der Insel: Bei Ostwind, der meist das gute Wetter bringt, treiben die wärmeren Wasserschichten in die Ostsee hinaus, und die kälteren rücken nach. Bei Westwind kann es Sturm und Regen geben, und das Wasser erwärmt sich. Ein Tiefdruckkeil gelangte schon am frühen Nachmittag auf das Festland, bis zur Insel jedoch erst in den Abendstunden, nach Sonnenuntergang, und brachte Sturmwirbel mit. Der Wind drehte innerhalb kurzer Zeit von West auf Nord, später auf Nordost, und erreichte in den Böen eine Stärke von acht bis neun. Das muß ein ähnlicher Vorgang wie heute nacht gewesen sein. Stresow stellt sich vor seine Karte und erläutert uns die Auskünfte über die Strömungsverhältnisse. „Tja“, sagt er, „dat hätten Ihnen man unsere Fischer genauso verkloaren können. Man spricht von einlaufendem und von auslaufendem Strom. Der Aal zum Beispiel wird nur bei auslaufendem Strom munter. Dann beginnt er zu wandern und geht auch in die Reusen.“ „Das ist ja sehr nett von dem Kollegen Aal“, bemerke ich, „den habe ich sogar schon persönlich kennengelernt, auf einem Empfang unseres Stellvertretenden Ministers.
Da lag er in sehr kleinen Häppchen auf dem kalten Büfett herum, aber nicht lange. Und nun erzählen Sie mir, Genosse Stresow, was der irgendwohin laufende Strom mit unserem Leichenfund zu tun haben könnte.“ Stresow verbreitet sich, für meine Begriffe zu ausführlich, über die Tatsache, daß Wind- und Stromrichtung unter Umständen sehr unterschiedlich sein können. Das heißt, unter den gegebenen Verhältnissen ist beinahe auszuschließen, daß die Leiche von der Insel Rassow oder vom Festland aus angetrieben wurde. Sie kann vom nördlichen Teil der Insel oder von der offenen See gekommen sein. „Oder“, wirft Sabine Donix ein, „der Mann wurde am Fundort oder ganz in der Nähe getötet.“ Genau genommen sind wir so klug wie zuvor. Das Telefon klingelt. Die Genossen aus Rassow haben gute Arbeit geleistet, haben nicht nur den Parkplatz in Schapswieck untersucht, sondern auch sämtliche Scheunen und Schuppen, in denen Urlauber ihre Fahrzeuge abzustellen pflegen. Nur zwei hellgraue Ladas mit dem A-Kennzeichen haben sie entdeckt, einen im Freien und einen in einer Garage. Über die Zulassungsstelle haben sie auch gleich die Besitzer ermittelt. Ich notiere: Dr. Rudolf Boelssen, Dolgendorf (Kreis Federow), und Leopold Hottenrodt, Makkenwalde, Boddenweg 17. Stresow schaut auf den Zettel. „Hottenrodt können Sie streichen, dat is der Schauspieler aus der Heide. Den hab ich heute früh quietschfidel inne Kaufhalle getroffen. Der andere? Ist mir völlig unbekannt.“ „Hier ist er“, sagt Sabine und hält mir das aufgeschlagene Telefonbuch unter die Nase, „Tierarzt“. Unter der Num-
mer meldet sich keiner, aber das will nichts besagen. „Wir könnten die Genossen aus Federow bitten, sich nach dem Mann zu erkundigen“, sage ich. „Aber besser wäre schon, einer von uns schaut sich sehr bald in diesem Dolgendorf um.“ „Mit ,einer von uns’ bin wohl ich gemeint“, sagt die Genossin Donix. „Wann soll ich starten?“ In dem Augenblick klingelt es draußen. Stresow geht öffnen. Die Tür zum Vorraum läßt er angelehnt. Wir hören, wie der ABV und sein Besucher sich auf platt unterhalten. Ich lebe zwar schon viele Jahre im Küstenbezirk und verstehe diese Sprache ganz gut, würde aber nie behaupten, daß ich sie beherrsche, zumal sie auf der Insel Gellenthin anders klingt als etwa in Rostock oder Makkenwalde. Drum kann ich sie im folgenden auch nur annähernd wiedergeben. Wenn ich in der Volksbildung was zu sagen hätten, so würden alle kleinen Mecklenburger in der Schule genauso das Niederdeutsche gelehrt kriegen wie die kleinen Sorben das Sorbisch. Also, das da draußen hört sich etwa so an: „Du, Gustav, wenn ick ju sturen dau, komm ick annermoal.“ „Doar möt ick ierst moal weiten, ob dat wichtig is, wat du willst, Otto.“ „Dat is man bloß, ick bring di de Tasch von den Doten.“ Ich springe auf und öffne die Tür. Neben Stresow steht der Kutscher vom Hafen, der Mann mit dem Kartoffelgesicht. Er hält mit beiden Händen eine helle lederne Schultertasche weit ab von seinem Körper, als befände sich eine Zeitzünderbombe darin.
Ich nehme ihm das Dings ab, stelle es auf den Tisch und nicke Stresow kurz zu. Der schiebt den Mann ins Zimmer und sagt: „Das ist der Bürger Otto Lüttjehann aus Ahlhöft, mir persönlich bekannt.“ Ich gebe Herrn Lüttjehann die Hand, stelle die Genossin Donix und mich vor und bitte ihn, Platz zu nehmen. Sabine hat sofort einen Schreibblock zur Hand. Dem Mann ist nicht sehr wohl in dieser Umgebung. Er knautscht seine alte Schiffermütze zwischen beiden Fäusten und sucht den Blickkontakt zu Stresow. „Manning“, sagt er mit einem Stoßseufzer und deutet auf die regennasse Fensterscheibe, ,,is dat ‘n Schietwedder.“ Über die klimatischen Verhältnisse der Insel habe ich heute schon genug gehört, darum frage ich sofort, vielleicht auch einen Zahn zu scharf: „Woher wissen Sie überhaupt, daß die Tasche dem Toten gehört?“ Er starrt mich an, als käme ich aus dem Mustopf, und sagt mit schöner Selbstverständlichkeit: „Der Herr Doktor hat doch bei mir gewohnt, Herr Hauptmann.“ Als Kriminalist lernt man gleich am Anfang, daß man es sich zu verkneifen hat, in solchen Situationen auch nur eine Spur von Verblüffung zu zeigen, aber manchmal fällt es schwer. Ich schiebe der Donix die Tasche zu und murmele: „Packen Sie mal aus!“ Das bezieht der Bürger Lüttjehann prompt auf sich, und er legt los: „Ich bin schon Rentner, aber ich betreibe immer noch ein Fuhrgeschäft. Früher, wie noch mehr richtige . Prominenz aufe Insel kam, da hab ich dat Gepäck von den großen Dichter Eginhart Götze oder von den Stummfilmstar Astrid Hansen direkt vons Schiff ins Haus
gefahren. Der große Götze war ja man ziemlich knickerig, aber von die Frau Hansen – wird Sie ja kein Begriff mehr sein – , da schwärmen heute noch alle ollen Lud aufe Insel…“ Ich blicke hilfesuchend auf Leutnant Stresow. Der räuspert sich und unterbricht den Redefluß des alten Herrn: „Herr Lüttjehann hilft heute noch mit seinem Gespann in der Saison bei der örtlichen Versorgung aus. Er fährt auch nach Absprache das Gepäck von den Sommergästen.“ „Aber mit ‘ne amtliche Genehmigung“, fällt ihm Lüttjehann ins Wort, „dat kannst du bezeugen, Gustav.“ Stresow zieht sich einen Stuhl heran, gibt seinem Gesicht einen amtlichen Ausdruck und seiner Stimme einen dienstlichen Klang: „Herr Lüttjehann, dat is hier ein amtliches Gespräch, und da bin ich nich Gustav, da bin ich der Abschnittsbevollmächtigte, und da sagst du gefälligst Sie zu mir!“ Das Gesicht der Genossin Donix verschwindet eilig hinter der Tasche. Ich nicke Stresow unauffällig zu. Soll der erst mal weiter mit dem Mann reden, der weiß vermutlich, wie man mit ihm umgeht. „Herr Lüttjehann“, sagt er streng, „was Sie da gemacht haben, dat is ja wohl nich in der Ordnung, dat fällt unter Schwarzvermieten, und du weißt ganz genau, daß du den Besuch hättest melden müssen.“ Lüttjehann wirft mir einen yerständnisheischenden Blick zu und sagt mehr zu mir als zu Stresow: „Inne Saison war dat gar nich genehmigt worden, dat weiß Gustav ganz genau, aber man hat doch auch ‘n Herz und kann son stillen, feinen Menschen wie diesen Doktor nich im
Strandkorb schlafen lassen. Der wollt ja man bloß für eine Nacht ‘n Dach überm Kopp.“ Sabine hat immer noch Mühe, ihr Schmunzeln zu unterdrücken. Sie scheint sich ja da gut auszukennen. „Herr Lüttjehann“, fährt Stresow fort, „das Thema hatten wir schon oft, und ich hab auch manchmal ein Auge zugedrückt, aber diesmal kommen Sie nicht um eine Ordnungsstrafe herum.“ Na, nun rutscht mir die Karre doch auf ein falsches Gleis. Ich muß mich jetzt reinhängen. „Das Schwarzvermieten steht auf einem andern Blatt“, sage ich freundlich, „Sie wollten uns eigentlich von Ihrem Gast erzählen, der nun leider irgendwie umgekommen ist.“ „Tja“, sagt Lüttjehann und streicht seine Mütze wieder glatt, „dat war Sonnabend. Ich stand mit meine Pferde am Hafen, um Leute vom Mittagsschiff abzuholen, und da kam der Herr Tierarzt von Bord, bloß mit die Tasche…“ „Woher wissen Sie, daß er Tierarzt war?“ fragt Sabine Donix. Mich ärgert das. Diese jungen Leute begreifen nicht, daß man viel mehr erfährt, wenn man die Leute in aller Ruhe ausreden läßt. „Na gleich wüßt ick dat nich“, erwidert der alte Herr mit dem Kartoffelgesicht, „aber wie er denn später bei uns aufm Hof kam, hat er gleich gesehn, dat sich mein Bobby ‘n Duurn inne Vorderpoot… Der Herr Abschnittsbevollmächtigte kennt ja unsern Bobby, dat is nämlich ein Sohn von seine Anka und…“ Genau da haben wir den Salat, denke ich, und Stresow merkt das. Er unterbricht den Alten: „Du, Gustav, dat
will doch hier keiner wissen. Erzähl uns von dem Herrn Doktor!“ Der Bürger Lüttjehann hat aber längst begriffen, daß ihm hier keiner eines von seinen abstehenden Ohren abreißen will, und so plaudert er munter weiter: „Also, der Bobby, wat sonst son bissiges Aas is, der hat sich von den Herrn Doktor friedlich wie ein Lamm den Duurn ute Poot rieten loaten.“ „Na schön für Ihren Bobby, aber da hatte der Herr Doktor schon sein Quartier bei Ihnen festgemacht?“ Lüttjehann wirft einen argwöhnischen Blick auf den ABV und sagt: „Ja, gleich am Hafen, er wollte aber erst später kommen, weil er noch was zu erledigen hatte. Aber bezahlt hat er gleich.“ Stresow verzieht ärgerlich den Mund. Vermutlich kennt er die Preise. Ich frage mit Engelsgeduld weiter: „Und was wollte er erledigen?“ Lüttjehann starrt mich erstaunt an und sagt: „Ich frag doch meine Gäste nich nach ihre Privatangelegenheiten. Ich vermiete soundsoviel Betten, die meisten an den FDGB, dat kannst du bestätigen, Gustav, aber wat sich in die Betten abspielt, dat is nich meine Sach.“ Stresow schnauft. Sein Gesicht ähnelt jetzt einem roten Luftballon. Eine Explosion muß verhütet werden, sonst erfahren wir gar nichts mehr. ,Genosse Stresow“, sage ich gelassen, „haben Sie irgendwo eine Verkehrskarte von unserem Bezirk?“ Der Leutnant nickt wortlos und geht hinaus. „So, Herr Lüttjehann“, sage ich, „nun mal weiter und ganz in Ruhe. Vor allem erst mal schönen Dank, daß Sie zu uns gekommen sind. Der Herr Tierarzt
ist also vom Schiff aus direkt auf Sie zugegangen?“ Der Alte schüttelt langsam den Kopf. „Nee, so direkt auch nich. Ich hab noch inne Hafenkneipe mein Bier, stehen gehabt, dat wollt ich man in alle Ruhe austrinken. Und er hatte wohl auch Durst, und so sind wir ins Gespräch gekommen. Er hatte Bratflunder mit Kartoffelsalat und dazu ein großes Bier. Die Bratflundern müssen Sie auch mal probieren. So wat kriegen Sie aufs Festland gar nich.“ „Vielen Dank für den Hinweis“, erwidere ich. „Und dabei haben Sie dem Doktor das Quartier für eine Nacht zugesagt?“ „Ist das bei Ihnen üblich, daß man das Geld im voraus nimmt?“ wirft Sabine Donix ein. Otto Lüttjehann windet sich. „An und für sich nich, aber meine Frau war an dem Tag rüber nach Ralshagen zu den Kindern, und da wollte ich…“ Stresow ist wieder eingetreten und legt die Karte auf den Tisch. „Kennen wir, Otto, war ne gute Gelegenheit. Da hast du im ,Blanken Hecht’ anständig einen geschluckt!“ Lüttjehann schaut zur Donix hinüber und fragt argwöhnisch: „Schriewen Sei dat allens up, Kollegin?“ Die Kollegin sagt lächelnd: „Keine Angst, wir verpetzen Sie nicht bei Ihrer Frau.“ Der alte Mann fährt erleichtert fort: „Wie ich inne Nacht nach Hause gekommen bin, war der Doktor gar nich mehr da, und am andern Tag auch nich. Bloß seine Tasche hat er vergessen.“ „Und warum“, fragt Stresow ärgerlich, „hast du die nicht gleich hierhergebracht?“
Lüttjehann tippt sich an die Stirn. „Ick bin ja man kein Döskopp – damit du mir Ärger machst wegen Schwarzvermieten!“ Er dreht sich zu mir um. „Wir dachten, der holt sich bestimmt die Tasche noch oder schreibt uns. Und wie ich gestern den Anschlag anne Tafel les, hatt ich Bange, inne krumme Sache verwickelt zu werden. Aber heute früh sagt meine Frau, Vadding, nu helpt dat allens nix, du mußt dich stellen!“ „Stellen?“ fragt die Donix erstaunt. „Ja“, sagt er mit einem pfiffigen Seitenblick auf Stresow, „wegen eine Nacht Schwarzvermietung. Kann ich da gleich meine Strafe bezahlen, Herr Abschnittsbevollmächtigter?“ Der beißt sich auf die Lippen. Dafür haue ich mal ganz kurz, aber kräftig mit der flachen Hand auf den Tisch, daß der alte Schelm ordentlich zusammenzuckt. „Schluß jetzt mit dem Affentheater! Wann haben Sie Doktor Boelssen das letzte Mal lebend gesehen?“ Nun werden die Auskünfte endlich präziser. Wir erfahren, daß Boelssen mit dem Postboot um 11 Uhr 30 von Schapswieck herüberkam. Das deckt sich mit der Schilderung von Max Bockmühl. Lüttjehann hatte noch ein paar Fuhren und fütterte gerade sein Pferd, als Boelssen aufs Grundstück kam. Das war genau um 12 Uhr 50. Um diese Zeit läuft das Schiff von Ralshagen ein, und das tutet bei der Einfahrt in den Hafen. Lüttjehann habe seinen Gast ins Zimmer geführt und ihn gefragt, ob er noch was brauche. Ja, ein Schnapsglas und einen Aschenbecher, und ob Herr Lüttjehann wisse, wann die Post hier
zumache. „Da hab ich ihm gesagt, er braucht sich nich bemühen, unsere Post macht sonnabends gar nich auf. Erst dacht ich, der will noch son beten klönen mit mir wie die meisten Gäste, aber dann meinte er, er wird sich man noch ‘n Stündchen aufs Ohr legen, denn aufn Abend hat er noch ‘n Besuch vor, und das kann anstrengend werden. Da war ich man ganz froh, denn ich wollt ja selber noch ruhen, bevor ich in den Blanken Hecht ging. Tja, und seitdem hab ich den Herrn Doktor nich mehr gesehen, dat schwör ick!“ Ich stehe auf. „Herr Lüttjehann, wenn Sie nichts dagegen haben, würden wir uns gern das Zimmer ansehen.“ Der Regen hat aufgehört. Wir brauchen nicht mal durch die Pfützen zu waten, sondern werden kostenlos mit dem Pferdegespann des Fuhrunternehmers Lüttjehann befördert. ,,Dat Zimmer“, erzählt er, ,,is ja man seit Montag wieder bewohnt. Zwei Saisonkellner vom Blanken Hecht. Also, wenn Sie mich fragen, ganz echt sind die auch nich.“ Er wirft einen Seitenblick auf Sabine. „Mit junge Mädchen haben die nix im Sinn, wenn Sie mich recht verstehn.“ Das nun, denke ich, ist uns ziemlich schnuppe. Viel ärgerlicher für uns ist der ausgeprägte Reinlichkeitsfimmel der Frau Minna Lüttjehann. Mit norddeutschem Hausfrauenstolz erläutert sie uns ihre Maßnahmen für den Fall, daß alte Gäste aus- und neue einziehen. Meine Frau ist schon ein Muster an Ordentlichkeit, aber wenn sie es soweit triebe, wäre das für mich ein Scheidungsgrund. Diese Minna hat die Fensterrahmen geputzt, die Tür abgeseift, die Klinke und sogar die Lichtschalter abgewischt. Mein Vorhaben, Semper
und Cabinet zur Spurensicherung herüberzubitten, ist schlichtweg geplatzt. Hier gibt es nichts mehr zu holen. Der eine der beiden neuen Mieter, ein blonder junger Mann, hat gerade auf einem der Betten ein wenig geruht, wie er sich ausdrückt. Er hat nichts dagegen, daß wir uns im Zimmer umsehen. „Sie müssen aber warten“, sagt er schamhaft, „bis ich mich bedeckt habe!“ Er zieht einen buntgeblümten Bademantel über sein Dreieckshöschen. „Es ist nicht Ihretwegen, Genosse“, fügt er, an mich gewandt, hinzu, „sondern wegen der Dame!“ Wonach sollen wir eigentlich suchen? Nach Auskunft der Hausfrau hat der vorige Gast nichts hinterlassen als die Tasche, ein leeres Schnapsglas und einen Aschenbecher mit drei oder vier Kippen. Wir entschuldigen uns bei dem Kellner, der uns auch noch versichert, daß wir in seinem Revier stets zwei Plätze bekommen, und gehen mit Herrn Lüttjehann zurück auf den Hof. Sabine tätschelt den alten Bobby, den man bei einiger Großzügigkeit noch als Schäferhund bezeichnen könnte, und schaut plötzlich auf. ,,Herr Lüttjehann“, sagt sie, „haben Sie keine Ahnung, wo der Herr Doktor gewesen sein könnte, bevor er hier sein Quartier bezog? Sind Sie sicher, daß er die anderthalb Stunden am Hafen gesessen hat?“ Der Alte starrt sie an. „Warten Sie… Also genau weiß ick dat nich. Er hat mich man bloß gefragt, wie man zu dat Sommerhaus vom Herrn Professor Preckwinkel kommt.“ „Ach so“, sage ich rasch und tue, als handle es sich um einen meiner besten Bekannten, „Professor Preckwinkel! Ist der noch auf der Insel?“
„Warum denn nicht?“ erwidert er verblüfft. „Sind Sie ihm heute früh am Hafen nicht begegnet?“ Ich blicke auf meine Armbanduhr und sage: „Herr Lüttjehann, Sie haben uns sehr geholfen. Sollten wir noch Fragen haben…“ „Is ja man klar, Herr Hauptmann“, entgegnet er geschmeichelt, „und wenn Sie oder Ihre Frau Kollegin mal aufe Insel wollen und kein Quartier wissen, denn wenden Sie sich an mich! Schimmel-Otto kriegt dat allens in Griff!“ Wir haben es eilig, zurück in Stresows Dienstzimmer zu kommen, und das nicht nur, weil es wieder angefangen hat zu regnen. „Schade“, sagt die Donix. „wenn ich nicht so eine superkorrekte Amtsperson wäre, würde ich mit Otto’n noch ein bißchen flirten und hätte nächsten Sommer meinen Urlaubsplatz auf der Insel.“ „Da wäre aber das Kellnerpärchen stocksauer“, erwidere ich. „Igitte, ein junges Weib unter unserm Dach!“ „Sie werden staunen, Genosse Hauptmann“, sagt sie ernsthaft, „aber mit solchen Leuten hatte ich bisher noch nie Zoff.“ Vielleicht ist das nicht nur eine Geschmacks-, sondern auch eine Generationsfrage, denke ich, behalte es aber für mich. Im Moment bin ich auf die junge Genossin ganz gut zu sprechen. Sie hat eine goldrichtige Frage zum passenden Zeitpunkt gestellt, und ich könnte mich höchstens ärgern, daß ich nicht selber darauf gekommen bin. Im Zimmer des ABV halten wir erst mal Kriegsrat,zusammen mit Stresow. Den Inhalt der bewußten Tasche hat Sabine Donix schon registriert: Schlafanzug, Wasch-
zeug, Taschenmesser, ein Satz Herrenunterwäsche, Oberhemd, Socken und eine Broschüre „Wissenschaftliche Mitteilungen“. Es handelt sich um einen Sonderdruck, eine Abhandlung „Möglichkeiten der künstlichen Darstellung der Beta-Galaktosidase“, irgendwas Biochemisches. Es könnte mich kaum fesseln, wäre als Verfasser nicht ein Professor Dr. rer. nat. habil. Siegfried Preckwinkel genannt, und den Namen habe ich heute schon gehört. Ich frage Stresow, was er von dem Mann weiß. Der ABV staunt erst mal Bauklötzer, daß ich diesen Preckwinkel überhaupt im Zusammenhang mit unserem Fall erwähne. „Über diesen Bürger“, sagt er, „ist mir nun gar nichts Nachteiliges bekannt. Er kommt mit seiner Frau seit mindestens zehn Jahren regelmäßig auf die Insel. Sie melden sich pünktlich an, beherbergen nie unangemeldeten Besuch, zahlen ihre Kurtaxe. Der Professor interessiert sich für die Vogelwelt. Er hat bereits mehrmals für die Urlauber Lichtbildervorträge gehalten und seine Gage dafür dem Solidaritätskonto überwiesen.“ , Vielleicht hat er sogar schon die Titelseite einer unserer Illustrierten geziert, denke ich, behalte es aber lieber für mich und frage sachlich: „Wissen Sie, wo er beschäftigt ist?“ Er hebt die Schultern. „Ja, so genau nicht. Er soll wohl ein hohes Tier in der Forschung sein, mit Viehzucht oder so, ja, richtig, er ist so ne Art Institutsdirektor in Neuenplathen.“ Sabine Donix hat sich mit der Bezirkskarte beschäftigt
und wirft jetzt ein: „Dolgendorf liegt etwa dreißig Kilometer entfernt von Neuenplathen. Erzählen Sie mal was über die Frau Preckwinkel, Genosse Stresow!“ Er zögert, sieht mich an, als müßte ich erst die Genehmigung für die seiner Meinung nach reichlich private Frage erteilen. „Ja, die Frau Preckwinkel, die macht wohl bloß den Haushalt für ihren Mann. Kinder sind da nicht. Aber eine sehr adrette Frau und kein bißchen arrogant wie manche von den anderen Sommerhausweibern, Sie, da könnt ich Ihnen Geschichten erzählen…“ Die wollen wir aber im Moment nicht hören. Wir müssen weiterkommen, und mir ist so, als tappten wir nicht mehr so ganz im dunkeln wie gestern. Da auf dieser Insel der Selbstwählverkehr noch in den Bereich der Science-fiction gehört, bin ich auf die vermutlich junge Dame vom „Fähnamt Rassow“ angewiesen. Spätestens morgen gibt es für uns beide nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder wir beschimpfen uns nur noch per Draht, ober ich trinke mit ihr Brüderschaft, vorsichtshalber auch lieber per Draht, denn man kann entsetzlich enttäuscht werden, wenn so ein erster Kontakt nur über das Telefon zustande gekommen ist. Unser Arbeitsplan sieht so aus: Wir werden uns am Hafen eine Portion Bratfisch einverleiben, das geht am schnellsten. Dann müßten schon die Genossen vom Wasserschutz da sein und Sabine Donix nach Schapswieck bringen. Dort wartet ein Wagen unserer Dienststelle und fährt sie nach Dolgendorf. Wenn es irgend möglich ist, soll sie noch heute abend auf die Insel zurückkommen. Ich selber werde mit Stresow in die Heide fahren und mir
diese Preckwinkels ansehen. Außerdem muß ich mich um Dr. Holtz kümmern, der mir den gerichtsmedizinischen Befund bringen will. „Und meine Schlüpper“, platzt die Genossin Donix heraus, woraufhin Stresows Kopf sofort wieder die Farbe eines roten Kinderluftballons annimmt. Übrigens habe ich mich nun doch zum Umzug in das Heidehaus entschlossen, habe mich vorher mit Klatt am Telefon darüber unterhalten. Er hatte nichts dagegen. „Mach das nur, Werner“, hat er gesagt, „wenn dein alter Schulfreund die Insel besser kennt als wir, soll uns das nur recht sein. Informationen abschöpfen ist immer nützlich für unsere Arbeit.“ Sachlich hat er zweifellos recht, aber ich käme mir ein bißchen schäbig vor, Max nur als kriminalistisches Hilfsinstrument zu benutzen. Andererseits wäre es albern gewesen, Klatt mein nostalgisches Vorleben zu beichten. Wie sagt Kutscher Lüttjehann? Dat kriegen wir allens in Griff. Als wir zum Hafen gehen, reißt die Wolkendecke auf. „Schade“, sagt Sabine, „vielleicht hätte man heute doch mal baden gehn können.“ Ein paar mutige Urlauber marschieren auch schon prompt mit Kind und Kegel zum Strand hinunter. Die werden sich einen nassen Hintern holen, denke ich, habe aber das Bedürfnis, der Genossin Donix was Nettes zu sagen. „Dazu finden wir bestimmt noch Zeit. Ich lasse mir jedenfalls meine Badehose mitbringen.“ Sie mustert mich von oben bis unten und erwidert: „Dann werden wir uns am Strand bestimmt nicht begegnen, Genosse Hauptmann!“
9. Wach wurde ich, als der widerliche Kuckuck neunmal hintereinander bellte. Da muß ja selbst ein Scheintoter wach werden. Die Kukkucksuhr hatte Helga mal von so einem Schwarzwälder Glasmännlein auf der Messe geschenkt bekommen. Mir wäre eine Flasche Schwarzwälder Kirsch sympathischer gewesen. Leider kam Helga auch noch auf den Einfall, die dämliche Uhr hier im Sommerhaus zu installieren. Und seitdem bleibt mir nichts übrig, als den aufdringlichen Plastvogel allabendlich zu kastrieren, wie ich es bei mir nenne, wenn ich das eiserne Uhrengewicht in Tannenzapfenform entferne, das laut Betriebsanleitung dem Aufzug des Kuckucksrufs dient. Andernfalls müßte ich alle halbe Stunde den widerwärtigen Ruf dieses Vogels anhören, der schon längst vor das Referat Jugendhilfe und Heimerziehung zitiert worden wäre, gäbe es diese soziale Einrichtung auch im Vogelreich. Heute nacht hatte ich vergessen, das Gewicht auszuhängen. Nachdem Werner abgefahren war, trank ich die Flasche Korn aus und machte mir dabei so meine Gedanken. Die sind erfahrungsgemäß unter solchen Umständen nicht sonderlich produktiv und, in seltenen Fällen zu Papier gebracht, am anderen Morgen nicht genießbar. Da glaubt man im euphorischen Zustand, nun doch endlich das Perpetuum mobile erfunden zu haben, und ein paar Stunden später ist man froh, seine eigenen Beine noch aus dem Bett bewegen zu können. Mißgelaunt stellte ich fest, daß es draußen stürmte und regnete. Schlechtes Wetter – das wäre immerhin ein
Grund, heute mal hintereinander zehn Seiten der ersten Fassung zu schreiben. Aber nichts überstürzen! Ein gemächliches Frühstück kann die Grundlage eines produktiven Arbeitstages sein. Das einzige, was mir dabei im Urlaub fehlte, waren die Morgenzeitungen; die kamen, wenn die Ummeldung überhaupt funktionierte, immer erst gegen Mittag. So war ich wie üblich auf den Informationsfluß von Radio DDR angewiesen. Dort verbreitete sich ein Hauptmann Jansen gerade über die Disziplinlosigkeit einiger Kraftfahrer im Küstenbezirk. Obwohl mich die Stimme des Hauptmanns fatal an meinen Fahrschullehrer erinnerte, konnte ich ihm nur beipflichten, besonders wenn ich an den Ladafahrer vom Sonnabend dachte. Eine solide Beule am Kotflügel hätte ich ihm zwar gegönnt, aber… Da stiegen meine Gedanken schon auf die Begegnung der letzten Nacht um. Ich hatte Werner angeboten, bei mir zu kampieren, einfach so, weil ich froh war, ihn wiedergetroffen zu haben, und daß wir nach allem doch noch vernünftig miteinander reden konnten. Aber da war mir, als hörte ich Helga sagen: „Typisch, mußt dich wieder wichtig machen! So was ist richtig aufdringlich, du bringst den Mann damit in eine Situation, bloß weil du selber vor Neugier platzt.“ Als ich noch dabei war, vor mir selber dieses Argument zu widerlegen, stand Willi Kuhle schon im Zimmer. „Du, Mark“, sagte er, „hast du zufällig ‘n Achtzehnerschlüssel in deine Kiste? Ick hab meinen verbasselt und muß da wat an Hottenrodt seine Wasserleitung rumfummeln. Du weeßt doch, der Mann hat zwee linke Daumen.“ Willi
Kuhle war erst im letzten Frühjahr, wie er selber sagte, zu dem Grundstück gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Er hatte sich nach einen Aufruf in der Berliner Zeitung „Erben gesucht“ bei einem Rechtsanwaltsbüro gemeldet und dort ziemlich überrascht erfahren, daß ihm eine Tante aus Dresden, der er das letzte Mal bei seiner Jugendweihe begegnet war, ein Haus mit allem Inventar auf der Insel Gellenthin übereignet hatte. Ich selber habe das selige Tantchen nur selten zu Gesicht bekommen. Sie ließ das Haus von einem Einheimischen verwalten, ohne je selber so richtig Gebrauch davon zu machen. Willi Kuhle hatte drei Kinder, zwei kräftige und obendrein geschickte Fäuste und dazu einen Schwager, der es sogar auf fünf Kinder gebracht hatte. Mit dem konnte er sich sehr gut in die Saison teilen. Obendrein hatte Willi vor falschen Autoritäten keine Spur von Respekt. Er war bei weitaus mehr Gellenthinern zu Haus als ich, der ich schon viel länger auf die Insel kam. Zu Professor Preckwinkel sagte Willi Kuhle, Kraftfahrer in einem Ministerium, „du“ und „hör mal, Siggi“, was ich nie geschafft und auch nie gewollt hätte. Willi kramte in meinem dürftigen Handwerkskasten, sagte „Aha“ und: „Ick hab mit den Professor gesprochen. Er hätte nischt gejen ne Runde Schkat bei dem Scheißwetter. Hottenrodt jucken ooch schon die Finger. Nu, wat is? Einspruch, Euer Ehren?“ „Du, Willi“, meinte ich zaghaft, „ich wollte eigentlich heute arbeiten.“ „Ja, det kenn ick“, sagte er und ging mit dem Achtzehnerschlüssel zur Tür, „also um dreie, diesmal beim Professor.“ Man konnte sich auf dieser Insel vornehmen,
was man wollte, es kam immer anders. Verdrossen begann ich, mir meine Bogen für die Schreibmaschine zurechtzulegen. Ein Blatt Durchschlagpapier würde reichen, denn die erste Fassung meines Stückleins ging unweigerlich durch den dramaturgischen Reißwolf. Dann konnte ich die Fetzen einsammeln und sie nach einer neuen Gebrauchsanweisung wieder zusammensetzen, und das Ganze sollte dabei für das ahnungslose Publikum immer lustiger werden. Ich überlegte, ob ich nicht zu Leopold Hottenrodt hinübergehen und ihm die Geschichte mal erzählen sollte. Unsere Auffassungen über Humor unterscheiden sich zwar erheblich, aber ein gerissener alter Theaterfuchs ist er schon. Warum hatte ich mich überhaupt breitschlagen lassen, für das Johann-Christoph-Gottsched-Theater ein Gegenwartsstück zu entwickeln, dazu noch ein heiteres? Ich beschloß, die Frage erst mal im Raum stehenzulassen und, da der Regen aufgehört hatte, ins Dorf zu fahren. Am Hafen machte gerade das Mittagsschiff aus Ralshagen fest. Ich holte mir ein großes Bier aus der Hafenkneipe, steckte eine Zigarette an und setzte mich auf eine Fischkiste. Dann überließ ich mich einem zugegebenermaßen kindischen Spielchen: Die Ausstiegsluke auf dem Schiff ist für einen ausgewachsenen Fahrgast etwas zu niedrig. Damit er sich nicht den Kopf stößt, befestigt ein Matrose der Weißen Flotte ein Polster am Kopfende der Luke. Die meisten Leute, vor allem die hochgewachsenen, erfassen die Situation rechtzeitig und bücken sich im richtigen, manchmal erst im letzten Moment. Einige aber rammeln mit der Stirn, der Hutkrempe oder der Zweitfri-
sur genau gegen das Polster. Das tut nicht sonderlich weh und hinterläßt auch nicht die Spur einer Gehirnerschütterung – schließlich bin ich kein Sadist. Ich genieße nur den Stummfilmeffekt – im Kino würde ein ganzer Saal über diese Großaufnahme brüllen. Vielleicht ist zum Beispiel dieser Mann, der jetzt aussteigen will, Direktor einer EOS. Er lacht nie, außer zu Hause heimlich über Rudi Carrell im Westfernsehn, ermahnt seine Untergebenen zu strenger Pflichtauffassung, fordert unbarmherzig all die vielen Berichte und Analysen termingerecht ein, und nun betritt er, von Haus aus Germanist, als Urlauber das erste Mal jenes Eiland, auf dem der unsterbliche Dichter Eginhart Götze sein unsterbliches, wenn auch kaum noch gespieltes Werk „Leuchtturmwärter Florian“ schuf. Selbstverständlich gebührt dem Genossen Direktor das Recht der Erstbesteigung vor seiner nachdrängenden Familie. Und just in diesem Augenblick rumst sein markanter Löwenkopf mit der hochmodischen Wildledermütze aus dem Exquisit gegen das kunstlederne Hindernis. Drei Sekunden lang macht er ein schafsdämliches Gesicht. Dann rückt er entschlossen sein Glatzendach zurecht und schaut grimmig in die Runde, als gelte es, schleunigst den Schuldigen für diese Missetat zu entdecken. Unsere Blicke kreuzen sich. Ich grinse ihn unverhohlen an in dem schönen Gefühl, daß ich mit hoher Wahrscheinlichkeit nie diesen Mann zum Vorgesetzten haben werde. „Was machst du denn hier?“ fragte eine Stimme hinter mir. Ich fuhr herum und sah Werner. Da ich es für sinnlos hielt, ihm eine aufrichtige Antwort zu geben, stand ich
erst mal auf und schüttelte ihm die Hand. „Was ist?“ sagte ich. „Hast du dir’s überlegt?“ Er nickte. „Ich nehme dein Angebot gerne an, wenn ich dich nicht zu sehr von deiner Arbeit abhalte. Bist du gegen Abend da?“ „Das läßt sich einrichten. Steckst dicke drin in deiner Sache, ja? Oder trinkst du wenigstens schnell ein Bier mit mir?“ Werner grinste. „Liest du keine Krimis? Sonst wüßtest du, daß DDR-Kriminalisten im Dienst nie Bier trinken.“ „Nicht nur im Dienst“, entgegnete ich. „Scherz beiseite“, sagte er trocken, „komm, du kannst mir ‘n Schlag erzählen. Ich hab gerade ‘n Moment Zeit.“ Wir setzten uns jeder mit einem Getränk, das man aus unerfindlichen Gründen für Cola ausgibt, an einen der leichtbekleckerten Tische vor der Hafenkneipe. „Du, Mäcki“, begann er, „dein Ehrenwort, daß du hier nirgends was rumträgst von dem, worüber wir uns unterhalten.“ „Wir können uns auch über das Wetter auslassen“, versetzte ich beleidigt, „das ist hier auf der Insel ein unerhört ergiebiges Thema. Ich habe dich nicht dazu verführt, über deine dienstlichen Angelegenheiten mit mir zu reden.“ Werner war über diese schroffe Bemerkung durchaus nicht eingeschnappt. „Ich habe“, sagte er lächelnd, „immer wieder die Erfahrung gemacht, daß Künstler, besonders Schriftsteller und Theaterleute, ungeheuer schwatzhaft sind.“ Noch eins drauf! „Nach meinen Erfahrungen“, erwiderte ich, „nicht mehr als Zahnärzte, Reichsbahner, Klempner
und Parteifunktionäre.“ „Nun laß man stecken, Dicker“, meinte er. „Wenn ihr nicht besonders neugierig wärt, hättet ihr euern Beruf genauso verfehlt wie wir unseren. Ich mache dir ein faires Angebot: Du erzählst mir alles, was ich wissen will, und stellst mir keine Fragen zu meinem Fall. Dafür kann ich dir hinterher, wenn er abgeschlossen ist, alles erzählen, was dir entgangen ist.“ Natürlich hatte er seine Vorschriften. „Einverstanden“, sagte ich versöhnt, „was willst du wissen?“ „Wie gut kennst du den Kutscher Lüttjehann?“ „Schimmel-Otto?“ fragte ich verwundert. Was hatte der mit dem Fall zu tun? „Wieso eigentlich Schimmel-Otto?“ „Ach, das ist eine alte Geschichte, die erzählt er nur, wenn er im ,Blanken Hecht’ mindestens eine Buddel Klaren eingefahren hat. Otto war ja schon vor fünfundvierzig Fuhrunternehmer, und die unruhigen Zeiten nach Kriegsende benutzte er, sich als Pferdehändler ein schönes Vermögen zu machen. Nun wurde damals die Insel recht friedlich von den sowjetischen Soldaten erobert, und der erste Kommandant, ein Kasache, war ein passionierter Pferdenarr. Der galoppierte bei jedem Wetter durch die Heide, und die Gäule konnten ihm, so erzählt man, nie feurig genug sein. Irgendwie muß er sich mal den Lüttjehann vorgeknöpft und mit ihm radebrechend über die Vorzüge der einzelnen Pferderassen gefachsimpelt haben. Den Otto ritt der Teufel und er meinte, es ginge nichts über einen echten Araberhengst. Ein wenig gezecht hat wohl der Kommandant auch mit Otto, obwohl
das ein Verstoß gegen die Dienstvorschrift war. Jedenfalls hat Lüttjehann damit geprahlt, er könne dem Militäroberhaupt der Insel bis zum nächsten Tag einen echten Araber besorgen – für drei Flaschen Wodka. Das sicherte ihm der Kommandant zu, obwohl das noch mehr gegen die Dienstvorschrift war. Am anderen Morgen erwachte Otto Lüttjehann mit einem Kopf wie eine Fahrrinnentonne und erinnerte sich seines leichtsinnigen Versprechens. Er erwog zunächst, von der Insel zu flüchten, bekam aber schon bald wieder Appetit auf den mehr oder weniger guten Wodka. So dachte er heftig nach, und am Nachmittag zog er mit einem prächtigen Schimmelhengst zur Kommandantur. Ausgerechnet in diesem Augenblick begann es zu regnen, und so merkte der Kommandant auf den ersten Blick, daß Otto einen seiner Braunen mit Schlämmkreide angestrichen hatte. Der Roßtäuscher fürchtete um sein Leben, so tobte der Kommandant herum. Dann steckte er Otto für drei Tage bei Wasser und Brot in den Keller. Nicht wegen des Betruges, erklärte er Lüttjehann Wochen später, als sie sich wieder vertrugen, sondern wegen Tierquälerei. Der Kommandant war nämlich Veterinärmediziner in Alma-Ata, und SchimmelOtto kriegt noch heute feuchte Augen, wenn er von Grigori Antonowitsch erzählt.“ „Eine hübsche Geschichte“, meinte Werner, „aber hast du den Eindruck, daß Schimmel-Otto heute noch Amtspersonen, mir beispielsweise, einen Bären aufbinden würde?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nee, der ist auf seine alten Tage so was von ehrpusselig geworden, daß ich ihm meinen
Fünfer Trinkgeld mit Gewalt aufdrängen muß, wenn er mir im Frühjahr und Herbst mein Gepäck fährt. Die einzige Gesetzwidrigkeit, die der begeht, ist das Aalestechen im Winter bei starkem Eis. Das ist zwar streng verboten, aber die Gellenthiner betreiben diesen Sport schon seit dem frühen Mittelalter, und an Traditionen hängen sie nun mal. Ich gehöre übrigens zu den Hehlern, weil mir Otto letzten Februar auch ein paar Aale geräuchert hat.“ Werner grinste. „Schade, daß im August kein Eis auf dem Bodden ist.“ Dann wurde er ernst. „Du hast da so lustige Sachen von dem kasachischen Veterinärmediziner erzählt. Unser Toter, der Mann, dem du auf dem Schiff begegnet bist, war auch Tierarzt.“ Wir hatten ausgemacht, daß ich keine Fragen stelle. Also wartete ich. „Professor Preckwinkel kennst du?“ sagte er. Was hatte Preckwinkel mit dieser Sache zu tun? Aber das wäre schon wieder eine nicht zugelassene Frage gewesen. Ich nickte. „Er ist mein Nachbar, seit Jahren schon. Wir verkehren miteinander, nicht gerade dicke Freundschaft, na, wie das so ist, wenn man sich täglich sieht.“ „Hast du zufällig beobachtet, ob er Sonnabendmittag Besuch bekam?“ „Nee, da war ich am Strand. Das ist immer mein erster Spaziergang, wenn ich das Haus inspiziert habe. Es war herrliches Badewetter.“ „Hat Preckwinkel erwähnt, daß er Besuch erwartete, oder später erzählt, daß jemand da war?“ Ich überlegte, aber mir fiel beim besten Willen nichts ein. „Kann sein“, sagte Werner, „daß ich den Preckwinkels
heute noch meine Aufwartung machen muß.“ „Kann sein“, erwiderte ich, „daß du uns mitten beim Skatspiel störst.“ „Macht nichts“, sagte er und erhob sich, „ich bin einer der harmlosesten Kiebitze. Und nun laß dich hier nicht verjagen. Ich muß leider los.“ Im Gehen zwinkerte er mir noch einmal zu und rief: „Vielleicht hast du Glück, und es kommt noch ein Schiff mit besonders langen Leuten an.“ Ich ließ die Cola stehen und ging zu meinem Fahrrad. Preckwinkel, dachte ich verblüfft, was will er denn von Preckwinkel? Aber dann ermahnte ich mich selber, nur keine Panik zu machen. Werner würde bestimmt noch viele Leute auf der Insel befragen, ohne daß man gleich auf dumme Gedanken kommen mußte.
10. Vielleicht war es falsch, sage ich mir, daß ich mich mit Max nicht noch ein bißchen über Professor Preckwinkel unterhalten habe. Es kann nicht schaden, wenn man vorher einigermaßen über einen Menschen informiert ist, den man befragen will. Andererseits – wie gut kenne ich Max? Bin ich sicher, ob er nicht zu dem Marin rübergeht und ihn in seiner wohlmeinenden Geschwätzigkeit auf den Besuch von mir vorbereitet? Dann ist es schon besser, Max weiß sowenig wie möglich. Dr. Holtz kommt etwas früher als erwartet. Die Dienststelle hat ihn mit dem Wagen bis Schapswieck bringen lassen, so daß er noch das fahrplanmäßige Postboot er-
reichte. Ich hole ihn am Hafen mit dem Fahrrad ab, und das ist gut so, denn er schleppt zwei schwere Reisetaschen mit dem persönlichen Krimskram von der Donix und mir. Ich bedanke mich und hänge die Dinger an die Lenkstange. „Mir wär jetzt nach einer schönen Tasse Kaffee“, sagt er, „aber wie ich unsere Firma kenne, muß ich Ihnen meine Horror-Fotos ja unter Ausschluß einer gastronomischen Öffentlichkeit anbieten.“ Da hat er nun wieder recht, und so gehen wir in Stresows wenig anheimelndes Dienstzimmer. Bei so einem gerichtsmedizinischen Vortrag, wie er mir hier wieder blüht, versuche ich stets, aus dem Wust notgedrungen mitgelieferter Scheußlichkeiten die paar Fakten herauszufiltern, die für die weitere Ermittlung nützlich sein könnten. Hier ergibt sich: Der Mann ist nicht ertrunken. Ein stumpfer Gegenstand hat ihm den Schädel zertrümmert, eine Verletzung, die man als Todesursache annehmen darf .Aber das ist noch nicht alles. Eine Schlag- oder Stoßverletzung unter dem rechten Auge, dazu die schon beim Auffinden erwähnte Platzwunde hinter dem linken Ohr, beides auf keinen Fall tödlich. Hinzu kommen die Rippenprellungen und leichte Würgemale. Semper und Cabinet haben die Kutte des Opfers untersucht und Schürfstellen sowie Blutspuren des Toten daran entdeckt. „Haben Sie eine persönliche Meinung dazu, Doktor?“ frage ich. Der Kaffee, von der freundlichen Frau Stresow wortlos serviert, in Verbindung mit meinen Überplanbeständen an Kuchen von heute früh, verfehlt seine Wirkung nicht. ,
„Einerseits ist es Ihr Bier, Herr Wadzeck“, sagt er, „denn ein Gewaltverbrechen ist wohl kaum auszuschließen. Andererseits – aus Erfahrung, würde ich meinen – ist der Mann brutal zusammengeschlagen worden, möglicherweise von einer ganzen Gruppe. Schade“, meint er und greift zum dritten Pfannkuchen, „als ich noch als Student auf die Insel kam, kannte man den Begriff Rowdytum überhaupt nicht.“ Noch so ein Inselschwärmer von vorgestern! „Jaja“, sage ich ironisch, „die goldenen fünfziger Jahre, die Lebensmittelmarken, die wenigen Autos auf den Landstraßen…“ „Sie brauchen gar nicht zu spotten, Herr Wadzeck“, sagt er, nachdenklich kauend, „wir sind ja so etwa ein Jahrgang und müssen uns nicht gegenseitig agitieren. Aber finden Sie nicht auch, daß wir so manchen Fortschritt teuer bezahlen müssen – mit dem Verlust unserer guten Moral der frühen Jahre?“ Ich blättere die Fotos durch, und mein wichtigster Gedanke ist, es denen heimzuzahlen, die diesem armen Teufel so übel mitgespielt haben. Was juckt mich in diesem Moment der abstrakte Moralverlust des Herrn Dr. med. Holtz? „Der Mann“, sagt Dr. Holtz, „muß vor seinem Ableben ganz schön gepichelt haben. Wenn unsere Annahme stimmt, daß er etwa vierzig Stunden im Wasser gelegen hat, können wir auf einen Blutalkoholgehalt von mindestens eins-Komma-fünf Promille schließen. Das heißt, so recht zurechnungsfähig kann er nicht mehr gewesen sein, als es passierte. Von gutem Essen scheint er weniger
gehalten zu haben. Mehr als die Reste einer halbverdauten Bockwurst waren im Magen nicht zu entdecken. Tja, Herr Wadzeck, das wäre alles. Ich könnte Sie, falls es für Sie überhaupt eine Rolle spielt, darauf hinweisen, daß der Mann eine beachtliche Fettleber hatte. Über kurz oder lang hätte er eine Entziehungskur antreten oder freiwillig mit dem Saufen kürzer treten müssen.“ Ich schlage Dr. Holtz vor, ihm ein schnelles Boot vom Wasserschutz herbeizutelefonieren, aber das lehnt er dankend ab. Er will das letzte Postboot von der Insel nehmen, denn ein bißchen Seeluft tat ihm auch mal gut nach der anstrengenden letzten Nacht. Irgendwie kann ich ihn heute verstehen, und so verabschieden wir uns diesmal freundlicher als sonst. Mittlerweile ist es halb vier geworden. Stresow finde ich in seinem Garten. Er flucht fürchterlich, daß die Düse seines Gartenschlauchs von einem Ohrenkneifer verstopft ist. „Nehmen Sie den Ohrenkneifer fest wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt“, empfehle ich, aber über so was kann der Genosse ABV nun gar nicht lachen. Dafür ist er sofort bereit, sein Moped zu satteln und mich in die Heide zu Professor Preckwinkel zu fahren. Das Haus liegt gegenüber dem von Max Bockmühl. Es ist ein massiver Steinbau mit Schornstein, offenbar winterfest. Auf dem schneeweißen Putz prangt eine vergoldete schmiedeeiserne Schrift: „Haus Albatros“. Das finde ich ungeheuer affig, aber meine Privatmeinung ist hier nicht gefragt. Das Zwischentief hat sich wieder davongemacht. Auf einem Heidepfad pilgern Unentwegte noch zum Strand hinunter. Ich ertappe mich bei dem dummen
Gedanken, den Genossen Klatt anzurufen und ihn um einen meiner vielen Resturlaubstage zu bitten. Statt dessen öffne ich die schmiedeeiserne Pforte, neben der ein sicherlich handgeschnitzter Briefkasten mit der tiefstapelnden Aufschrift hängt: S. Preckwinkel. Eine Klingel gibt es nicht. Ich klopfe an die verglaste Haustür. Als sich nach einer Weile keiner meldet, gehe ich zu einem Fenster. Es steht so weit offen, daß ich den Wohnraum überschauen kann. Da ist nichts von der erwarteten fröhlichen Skatrunde zu sehen oder zu hören. Keine Menschenseele im Haus, scheint mir. Ich lasse Stresow vor der Tür zurück und umkreise den Bau. Von der Westseite aus hat man über Heide und Dünen hinweg den Blick auf die offene See. In einer Entfernung von etwa zwanzig Metern liegt eine halbnackte weibliche Gestalt auf dem Rücken im Gras, genauer gesagt auf einer Decke. Das Gesicht ist von einem weißen Tuch fast verdeckt. Mich durchzuckt eine abscheuliche Erinnerung. Vor drei Jahren etwa haben wir an einer Kanalböschung ein junges Mädchen aufgefunden, tot, erwürgt. Sie lag so ähnlich da. Ich trete vorsichtig ein paar Schritte näher und merke schnell, daß alle Befürchtungen unangebracht sind. Ein Paar kräftiger, fester braungebrannter Brüste hebt und senkt sich ruhig und regelmäßig. Ein wohlgeformtes Weib, das sich hier zweifellos mit gutem Recht sonnt oder Mittagsruhe hält. Das Tuch über Stirn und Augen und ein kaum erwähnenswertes hellblaues Stoffdreieck in der entsprechenden Gegend bilden ihre einzige Bekleidung. In unseren Dienstvorschriften befindet sich nicht der geringste Hinweis, wie man sich als Kriminalist
zu verhalten hat, wenn man an eine Person in diesem Aufzug eine Frage richten möchte, zumal wenn die Betreffende auch noch zu schlafen scheint. Diskret trete ich zurück. Da fragt sie halblaut: „Siegfried?“ Ich bleibe stehen. Sie zieht das Tuch vom Gesicht, richtet sich halb auf und starrt mich erschrocken und wütend an. Etwa Mitte, höchstens Ende Dreißig mag sie sein, kurzgeschnittenes, dichtes, fast blauschwarzes Haar, ein sympathisches Gesicht – trotz des augenblicklichen Zornes. Ich setze meine amtlichste Miene auf und sage höflich: „Bitte, entschuldigen Sie, aber ich wollte zu Herrn Professor Preckwinkel.“ Sie rafft im Aufstehen die Decke wie eine Tunika um ihre Figur und giftet mich an: „Und da kommen Sie einfach so ungebeten auf unser Grundstück, schleichen und spionieren hier herum. Wenn Sie nackte Frauen beobachten wollen, brauchen Sie nur ein Stückchen weiter zu gehen. Da unten fängt der FKK-Strand an. Soll ich Ihnen vielleicht ein Fernglas borgen? Oder…“ Sie unterbricht ihre Schimpfkanonade, betrachtet mich nachdenklich und fragt, nun wesentlich sachlicher: „Wer sind Sie, und was wünschen Sie von meinem Mann?“ Ich nenne meinen Namen und meinen Dienstgrad und füge hinzu: „Ich wollte Ihren Mann bitten, uns mit einer kleinen Auskunft behilflich zu sein.“ „Er ist nicht da“, sagt sie schroff, besinnt sich aber gleich, „das heißt, wenn es wichtig ist… er sitzt bei einem Nachbarn und spielt Skat.“ Zum ersten Mal lächelt sie ein bißchen. „Eigentlich sollte heute bei uns gespielt werden, aber Sie wissen vielleicht nicht, was eine Migrä-
ne ist, jedenfalls nicht aus eigener Erfahrung. Da helfen ja nicht mal Tabletten. Ich hab mir eine feuchte Kompresse gemacht.“ Sie greift sich demonstrativ mit beiden Händen an die Schläfen, so daß ihr improvisiertes Gewand schon wieder bedenklich zu rutschen beginnt. „Tut mir sehr leid“, sage ich, „in dem Zustand ist man bestimmt ärgerlich über jede Störung. Am besten, Sie legen sich wieder hin, und ich gehe zu den Nachbarsleuten rüber.“ So eine hysterische Professorengattin hat mir gerade noch gefehlt. „Nein, nein“, protestiert sie, „so schlimm ist es mit mir auch nicht! Kommen Sie mit ins Haus, oder warten Sie, ich zieh mir nur rasch etwas über!“ Na klar, denke ich, neugierig bist du, Kindchen, kein Wort soll dir entgehen. „Genosse Stresow!“ rufe ich. Er biegt um die Ecke und kommt sofort auf uns zu. Er stutzt einen Moment, dann begrüßen die beiden einander wie gute, alte Bekannte. Stresow deutet grinsend auf die grellbunte Wolldecke und bemerkt: „Die Damenmode wird ja nun auch jedes Jahr verrückter. Is dat von drüben, oder gibts dat bei uns auch schon?“ Frau Preckwinkel errötet leicht und sagt: „Herr Stresow, seien Sie so lieb und bitten meinen Mann mal von Hottenrodts herüber! Ziehen Sie aber nicht gleich die Handschellen aus der Tasche, wenn er seine Bockrunde noch beenden will. Sie kennen das ja selber als Skatspieler.“ Stresow wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich nicke ihm zu. Jetzt muß ich bloß aufpassen, daß die Dame da drinnen nicht auch das große Wort führt.
Aber erst einmal nötigt sie mich in das Wohnzimmer, durch einen kleinen Vorraum, in dem an einem Garderobenständer Wetterkleidung hängt. Oder nennt man so was Diele oder Halle? Ich kann mich ungeniert umgukken, denn Madame Preckwinkel hat sich für einen Moment entschuldigt. In dieser Einrichtung würde ich mich nicht wohl fühlen. Sie verbreitet den Eindruck von großzügiger Ungemütlichkeit. Alles ist so offensichtlich aufeinander abgestimmt, daß im Grunde gar nichts stimmt. So etwa stelle ich mir einen Museumsraum in hundert Jahren vor, an dem zur Erklärung folgende Tafel hängt: Feriensalon der sozialistischen Intelligenz, ausgehendes 20. Jh. Der Kamin ist anscheinend noch nie benutzt worden, obwohl ein paar Birkenscheite malerisch vor ihm aufgestapelt liegen. In einer Nische steht ein klotziger Nachtspeicherofen. Das, einzige, was ein bißchen persönlicher wirkt, ist die Arbeitsecke des Hausherrn neben dem breiten Fenster. Auf dem flachen Bücherschrank liegen bizarr geformte Feuersteine und ausgeblasene Vogeleier. Darüber hängen ein paar große aufgeblockte Fotos verschiedener Möwen und anderer Seevögel. Die Luft im Zimmer ist stickig trotz der geöffneten Fenster. Verdammt noch mal, sage ich mir, willst du voreingenommener Bursche es diesen Leuten auch noch anlasten, daß bei Windstille kein Durchzug herrscht? Der Hausherr schiebt Stresow zur Tür herein und kommt auf mich zu. Ich habe etwas Mühe, mich aus dem tiefen, weichen Ledersessel hochzuziehen. „Behalten Sie doch Platz“, sagt er und gibt mir die Hand. Wie ich mir den Mann so ansehe, hätte ich diesen unge-
mein kräftigen Händedruck nicht vermutet. Professor Preckwinkel ist ein kurzer, gedrungener Typ, bestimmt einen halben Kopf kleiner als seine Frau, dafür eine sogenannte Sitzgröße. Als er sich mir gegenüber gesetzt hat, schaue ich verstohlen unter den Tisch, ob seine Füße vielleicht über dem Fußboden baumeln. Er trägt Sandalen, Shorts und ein halboffenes Tennishemd. Bei seinem kurzgeschnittenen Haar weiß man nicht, was noch blond und was schon grau ist. Im Gegensatz zu seiner Frau hat er es offenbar schwer, überhaupt braun zu werden. Die einzigen Farbpigmente in seinem bleichen Gesicht mit den wäßrigen Augen sind ein paar kräftige Sommersprossen im Nasenbereich. An der blondbehaarten und ebenfalls sommersprossigen linken Hand trägt er einen dicken goldenen Siegelring. So was war mal sehr modern. Ich bekam 1950 einen echt silbernen von meinem Onkel Albert zur Konfirmation. Zuerst haben wir mit selbsthergestelltem Siegellack aus Bohnerwachs, Schuhkrem und Stearin so lange herum gekokelt, bis der Ring schwarz und unansehnlich wurde. Zwei Jahre später, als ich ihn zu einem Rendezvous mit meiner Tanzstundenflamme aufsetzen wollte, paßte er ohnehin nicht mehr, und ich hab ihn von einer Brücke ins Wasser geschmissen. „Es is ja man doch noch ziemlich heiß geworden“, reißt mich Stresows Stimme aus meinen Erinnerungen. Ich schaue diskret weg, als sich der AB V verstohlen den Kragen seiner Uniformjacke öffnet. „Für euch Sommergäste is dat ja ganz schön“, meint er, zum Professor gewandt, „aber unsereiner…“ Preckwinkel lächelt dünn und blinzelt mich an. „Sie müs-
sen schwerwiegende Gründe haben, mir meine Runde Schieberramsch nicht zu gönnen. Da hatte ich doch gerade die Chance, endlich aus dem Keller rauszukommen – ich weiß nicht, ob Sie Skat spielen?“ „Ich spiele Skat, Schach, Canasta, Menschärgerdichnicht und mit meinen Kindern sogar Einkriegezeck“, erwidere ich, habe aber nun keine Lust mehr, Konversation zu betreiben, lege also sofort los: „Es geht um Doktor Rudolf Boelssen.“ Er schaut mich verblüfft an. „Boelssen? Was ist mit ihm? Hat er sich was zuschulden kommen lassen?“ Ich zucke die Schultern. Hat der Mann wirklich keinen blassen Schimmer? „Sie kennen Boelssen also. Woher?“ „Er war bis vor etwa fünf Jahren in unserem Institut tätig. Institut für Futtermittelforschung in Neuenplathen.“ „Der Herr Professor leitet das Institut. Unsere Rinderzüchter hier auf der Insel“, wirft Stresow ein, „also wenn die mal Probleme haben…“ Preckwinkel unterbricht ihn mit einer Handbewegung, die wohl bescheidene Abwehr des Lobes ausdrücken soll, und murmelt: „Ist doch selbstverständlich.“ „Bitte, erzählen Sie mehr über Doktor Boelssen“, sage ich. „Tja, von Haus aus, also, ich meine, von der Fachrichtung her, ist er Veterinärmediziner, hat vor der Institutszeit ein paar Jahre als Praktiker gearbeitet. Bei uns hat er, wenn ich so sagen darf, mit einem Bein in der Biochemie gestanden, hat auch nebenbei gern an neuen Verfahren rumgeknobelt, übrigens keineswegs die Regel bei jüngeren Kollegen, denn die Anforderungen… aber das würde
hier zu weit führen.“ Dann laß es doch stecken, denke ich und frage weiter: „Warum ist Doktor Boelssen von Ihrem Institut weggegangen?“ Preckwinkel lehnt sich im Sessel zurück. Jetzt hat er bestimmt keinen Boden mehr unter den Füßen, doch den Blick unter den Tisch verkneife ich mir diesmal. „Tja“, erwidert er, „er hat wieder eine Landpraxis übernommen, im Kreis Federow, soweit ich weiß.“ Als ich darauf schweige, zuckt er die Schultern. „Sehen Sie, jeder ist seines Glückes Schmied, wie man so sagt. Forschung – für manchen hat dieses Wort noch einen romantischen Klang. Boelssen fehlt für unsere Arbeit – na, nennen wirs eine Portion Stehvermögen.“ Hinter mir öffnet sich mit leisem Knarren eine Tür. Frau Preckwinkel schiebt sich vorsichtig mit einem Tablett ins Zimmer. Ich stehe auf und unterstütze sie bei ihrem Bemühen, indem ich die Tür vollends öffne und sie hinter der Dame wieder schließe. Sie lächelt mich an und sagt, während sie die Gläser auf dem Tisch verteilt: „Ich hoffe, Sie finden bei Ihrem anstrengenden Dienst wenigstens auch mal auf ein Stündchen zum Strand, Herr Hauptmann.“ Sie trägt jetzt ein schlichtes ärmelloses Leinenkleid, sandfarben etwa, und weiß bestimmt, daß dabei die braunen Freiflächen besonders kräftig zur Geltung kommen. Ich schaue sie von unten herauf an und sage ernsthaft: „Ich hatte ein sehr prüdes Elternhaus. So was wird man später nie ganz los.“ Der Professor lacht fröhlich auf. Es hört sich so an, als schüttete jemand einen Eimer voll Flaschenscherben in
den Müllcontainer. „Sind Sie etwa deshalb zur Kriminalpolizei gegangen?“ fragt er gutgelaunt und, fährt ernsthafter fort: „Unter uns gesagt, Genosse Wadzeck, was manchen Angehörigen unserer Staatsorgane manchmal guttäte, wäre eine Portion Großzügigkeit in Fragen der Moral, gepaart mit einem Schuß Humor. Aber das meine ich nicht persönlich.“ „Wir wollen nächstens“, sage ich, „in unserer Dienststelle ein Nachtkabarett gründen. Vielleicht können wir Sie als Patenonkel gewinnen, Herr Professor?“ Dem guten Stresow steht der helle Schweiß auf der Stirn, es kommt nicht nur von der Hitze. Er greift nach seinem Taschentuch. Frau Preckwinkel rettet die Situation. „Wissen Sie, Alkohol meiden wir völlig an so heißen Tagen.“ Sie schenkt aus der beschlagenen Kristallkaraffe, in der verheißungsvoll Eiswürfel klirren, gelblichen Fruchtsaft ein. „Nehmen Sie einen Schuß Wodka in den Juice, Herr Stresow?“ Sie tritt an ein Wandschränkchen. „Man bloß nich!“ sagt der mit einem erschrockenen Seitenblick auf mich. Die Gastgeberin steuert auf die Tür zu. „Wenn Sie uns schon so freundlich bewirten“, sage ich, „sollten Sie uns auch noch einen Moment Gesellschaft leisten, Frau Preckwinkel!“ Sie zögert. „Es geht um Boelssen“, sagt der Professor. „Rudolf Boelssen, du weißt ja, Isolde…“ Sie setzt sich auf den freien Sessel neben mir und schickt einen unsicheren Blick zu ihrem Mann, dann einen zu mir. „Ja, natürlich“, erwidert sie nach kurzem Nachden-
ken, „er hat uns doch letzten Freitag besucht.“ „Sonnabend“, berichtige ich sie. Stresow schnauft hörbar, und wieder kommt das bestimmt nicht von der Hitze. „Natürlich Sonnabend.“ Isolde Preckwinkel nickt. „Heute ist ja schon Dienstag.“ Ich wende mich an den Professor: „Warum haben Sie mir das nicht von selber gesagt?“ Er starrt mich verdattert an. „Soweit waren wir doch noch gar nicht. Bitte! Ich habe genau Ihre Fragen beantwortet.“ ,,Schon gut“, entgegne ich ruhig, „also was wollte er von Ihnen? Ein Urlaubsquartier ja wohl kaum?“ „Ich bin Wissenschaftler und kein Zimmervermieter“, sagt Preckwinkel ärgerlich, „Boelssen erkundigte sich nach Unterlagen für eine Sache, an der wir früher mal gemeinsam gearbeitet haben.“ „So ganz hat es ihn eben nie losgelassen“, fügt seine Frau hinzu. „Um was für eine Sache ging es?“ bohre ich weiter. Der Professor lächelt nachsichtig. „Eine biochemische Problemstellung, vielleicht zu fachspezifisch in diesem Kreise… meine Frau tadelt immer meine fatale Neigung, mich vor Außenstehenden mit einer gewissen Fachsimpelei…“ Er greift zu seinem Glas, ehe er weiterspricht, und trinkt es fast auf einen Zug aus. „Es handelte sich um eine Sache, in der wir inzwischen längst viel weiter gekommen sind. Enzyme, wenn Ihnen das vielleicht ein Begriff ist? Ich habe da kürzlich selber etwas veröffentlicht.“ Ich nicke freundlich und denke, jetzt bloß nicht verhas-
peln bei diesem Wortungetüm. „Ich weiß, über die künstliche Darstellung der Beta-Galaktosidase.“ Der Professor haut mit der Hand auf den Tisch, wieder scheppert ein Eimer voll Scherben in den Container. „Nun hör dir das an, Isolde! Ein perfekter Biochemiker! So unterschätzen wir Fachidioten die Genossen von der Staatsmacht!“ „Na, Kunststück“, bemerke ich bescheiden, „auf unserem letzten Fortbildungskurs habe ich die Vorlesungen in Biochemie belegt.“ Die beiden Preckwinkels werfen sich nur einen höchst erstaunten Blick zu und sagen erst mal gar nichts mehr. Mir könnte auch nichts Schlimmeres passieren, als in einen Fachdisput verwickelt zu werden. Großer, alter Feliks Edmundowitsch Dzierzynski, denke ich, Schutzpatron aller Kämpfer für Recht und Sauberkeit, verzeih dem geringsten deiner Jünger diese einmalige stinkende Lüge! Aber dieses Pärchen, wiewohl äußerst nützlich für die Beförderung der Wissenschaft in unseren Landen, erzählt bestimmt noch auf Parties den Uraltwitz der frühen fünfziger Jahre: Warum immer zwei Volkspolizisten gemeinsam Streife gehen – damit sie wenigstens zusammen die achte Klasse haben, hahaha! „Hat Doktor Boelssen die erbetenen Unterlagen von Ihnen bekommen?“ frage ich. „Natürlich noch nicht“, erwidert er gelassen, „oder führen Sie im Urlaub sämtliche Unterlagen Ihrer nicht abgeschlossenen Fälle mit sich, Genosse Hauptmann?“ Jetzt ist es an mir, mich darüber zu ärgern, daß mir keine passende Antwort einfällt. Unerwartet kommt mir Stresow
zu Hilfe. „Aber, Herr Professor“, sagt er, „bei Kriminalisten is dat man ‘n beten anners. Da hat man dat Wichtigste immer hier.“ Er tippt sich an seine nasse Stirn. Preckwinkel beißt sich auf die Lippen. Seine Frau sagt scherzhaft: „Eins zu eins, Siegfried!“ Der Professor und ich schauen einander einen Augenblick schweigend an. Es ist wie eine stumme Verständigung: Schluß mit dem Geplänkel, kommen wir zur Sache. „Genosse Wadzeck“, sagt er leise, „warum tun Sie die ganze Zeit so, als wäre ich das eigentliche Ziel von Boelssens Inselbesuch? Sie wissen es doch selber besser.“ Ich habe keine Ahnung, was er meint. Aber gut, dann auch von mir aus die Karten auf den Tisch! „Herr Professor, falls es sich noch immer nicht bis in Ihre idyllische Einöde herumgesprochen hat: Ihr ehemaliger Mitarbeiter Doktor Rudolf Boelssen ist gestern morgen auf dieser Insel tot aufgefunden worden.“ Isolde Preckwinkel schreit los: „Nein, nein, ich seh ihn ja noch hier, da, wo Sie jetzt sitzen.“ Sie preßt die Fäuste an die Schläfen. Die Gebärde kenne ich noch von vorhin, da kam sie mir schon theatralisch vor. Aber plötzlich läßt sie den Kopf auf den Tisch fallen und heult nun leise vor sich hin. „Ich hab ihm noch Kuchen gebracht“, sagt sie schluchzend. Der Professor ist aufgestanden, tätschelt ihr die zuckenden Schultern und murmelt: „Schrecklich, schrecklich!“ Solche Szenen sind mit das schlimmste an meinem Beruf. So benehmen sich Angehörige, denen man die grausame Nachricht überbringen muß. Ich habe das dumme Gefühl, hier etwas falsch angepackt zu haben. Wahr-
scheinlich habe ich mich diesmal von einer Voreingenommenheit leiten lassen, die mich immer wieder befällt, wenn ich Typen begegne, deren neubürgerliche Haltung eine böse Reizwirkung auf mich hat. Was war es diesmal? Der unbenutzte Kamin oder die provozierend nackte Frau Professor auf der bunten Decke? „Sie gestatten?“ fragt der Professor leise, hilft seiner Frau hoch und geleitet sie zur Tür. Ich nicke. Für einen Moment bin ich mit Stresow allein. Er schaut mich an, als erwartete er einen ungeheuren Geistesblitz von mir. Ich zucke die Schultern. „Haben Sie etwa die Preckwinkels in Verdacht, Genosse Hauptmann?“ fragt er fast vorwurfsvoll. „Warum ging Doktor Boelssen nach seiner Ankunft schnurstracks zum Professor und hatte einen Artikel von dem in der Tasche?“ erwidere ich, bin mir aber sicher, daß Stresow darauf bestimmt keine Antwort weiß. Der Professor kommt herein und schließt behutsam die Tür hinter sich. Seine Arroganz scheint er abgelegt zu haben wie ein Jakkett, wenn’s draußen zu warm wird. „Entschuldigen Sie“, sagt er leise, „es war zuviel für sie, die Migräne und nun das. Ich hab ihr ein paar Beruhigungstabletten gegeben.“ „Tut mir leid für Ihre Frau“, erwidere ich, „aber wenn Sie uns jetzt wirklich helfen wollen, erzählen Sie uns, warum Boelssen auf die Insel gekommen ist.“ Er nickt und setzt sich schwerfällig. „Daß man einen Toten gefunden hat, wurde schon im Dorf erzählt. Auch drüben beim Skat war die Rede davon. Ertrunken, murmelte man, oder Schlimmeres.“ „Ermordet“, sage ich und lege das Foto auf den Tisch, „bestialisch erschlagen. So was habe ich in meiner langen
Laufbahn nur selten erlebt.“ Er betrachtet das Foto nur kurz und schiebt es schaudernd von sich. Dann geht er an das Wandschränkchen, holt eine Flasche heraus. Fragender Blick auf uns. Wir schütteln den Kopf. Preckwinkel gießt sich einen Wodka ein, sagt, bevor er ihn austrinkt: „Boelssen ist gekommen, um seine Frau von der Insel zurückzuholen.“ Jetzt hätte ich einen Schnaps nötig! „Macht die denn hier Urlaub?“ fragt Stresow verdutzt. ,,Dat müßte sich doch feststellen lassen…“ „Urlaub“, erwidert Preckwinkel und mustert Stresow beinahe mitleidig, „das sollten Sie als ABV doch besser wissen. Ilse Boelssen lebt seit einem Jahr auf der Insel und bringt mir täglich mit dem Fahrrad die Post und das ,Neue Deutschland’.“ Für einen Augenblick befürchte ich, daß Stresow einen Herzanfall bekommt. Er schnappt nach Luft und wird blaurot im Gesicht. Und das liegt auch diesmal nicht an der Hitze. Ich \greife kurz entschlossen nach Preckwinkels Flasche und gieße Stresow einen kräftigen Schluck in seinen Juicerest. Er schluckt das Zeug hastig und bringt dann endlich heraus: „Wat denn? Uns Ilsing?“ Er schüttelt eine Weile stumm den Kopf. Den sollte ich ihm eigentlich waschen, aber nicht jetzt und nicht hier. „Also was ist hier Sache?“ frage ich Preckwinkel. „Sie wollen sagen, die geschiedene Frau Boelssen lebt als Postzustellerin auf der Insel?“ „Soweit ich weiß, sind die beiden gar nicht geschieden.“ „Sie kennen Sie persönlich?“ Jetzt nimmt der Professor so langsam wieder seinen Ton
von vorhin an – leider. „Gott“, sagt er lässig, „ein bißchen von früher, und wenn wir uns im Dorf sehen oder hier am Haus, da redet man schon ein paar Takte. Wissen Sie, was zwei Menschen miteinander abzumachen haben, ist ihre Sache.“ Frau Boelssen spricht nie von früher. Aber irgendwie bewundere ich die „Konsequenz dieser kleinen Frau. Sie hat sich den Boden des Postamts als Wohnung ausgebaut, ganz allein…“ „Na na“, unterbricht ihn Stresow, und ich bin ganz froh, daß seine Lebensgeister wiederkehren, „son beten hat ja wohl auch die Gemeinde mitgeholfen.“ „Wissen Sie“, frage ich den Professor, „warum sie von ihrem Mann getrennt gelebt hat?“ Er verzieht wie angewidert das Gesicht. „De mortuis nil nisi bene. Über die Toten…“ „Danke schön“, entgegne ich, „ich hatte Latein, Herr Professor. Hör gut zu, Genosse Stresow“, sage ich demonstrativ zu meiner immer noch schwitzenden Inselstaatsmacht, „er meint nichts anderes als die abgedroschene Redewendung, daß man Toten nichts Schlechtes nachsagen soll. Mehr haben Sie nicht beizusteuern, was das Zerwürfnis des Ehepaares Boelssen betrifft?“ Er schaut mich nicht gerade freundlich an. „Sie hätten Boelssen kennen sollen“, erwidert er endlich. „So viel Arroganz und Selbstgerechtigkeit, das gibt es nicht noch einmal.“ Da wäre ich mir nicht so sicher, denke ich bei mir.
11. Der Dienstag war ein beschissener Tag. Ich höre Helga und andere meinen Erzeugnissen gegenüber auffallend kritisch eingestellte Leute schon sagen: Solche Wendungen sind für einen Literaten mit Hochschulabschluß einfach Gosse. Sein Handwerkszeug müßte so vielfältig sein, genügend andere, originelle Wendungen hervorzubringen, wenn er ausdrücken will: An diesem Tag ging einiges schief. Damit haben sie sachlich zweifellos recht, aber meine eingangs gebrauchte Formulierung hat den Vorteil: Jeder versteht sie, und ich habe es mir längst abgewöhnt, einer Handvoll Fachleuten mit einer besonders geschönten Ausdrucksweise imponieren zu wollen. Das Wort Scheiße wurde von Jahr zu Jahr mehr seines dinglichen Inhalts beraubt. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß es unser Generalsekretär im stillen Kämmerlein benutzt, wenn ihn einige meiner Verbandskollegen immer mal wieder vom Regieren abzulenken suchen, indem sie behaupten, den großen Weltgeist tuckern zu hören. Er wäre aber nie so ungerecht zu sagen: Scheißschriftsteller. Ein Generalsekretär generalisiert nicht, er differenziert, von der kollektiven Weisheit unseres Landes klug beraten, und darum zeichnet er an Festtagen mit Recht diejenigen aus, die nur manchmal und da, wo es angebracht ist, Scheiße sagen und es obendrein noch ein bißchen freundlicher auszudrücken wissen. Weil das so ist, müßte er eigentlich nicht General-, sondern Differentialsekretär heißen, aber an dieser Stelle meiner Überlegungen kam ich zu dem Schluß, daß der Dienstag tatsächlich ein beschissener Tag war, sonst hätte ich bestimmt die erste Szene meines Stückes geschrieben, statt
derlei schwachsinnige Wortspielereien zu betreiben. Als ich mich von Werner am Hafen verabschiedet hatte, riß die Wolkendecke auf. Von einer Stunde zur anderen folgte dem vermeintlichen Frühherbst ein satter Hochsommer. Man soll sich nie von Äußerlichkeiten täuschen lassen. Der Unterschied von Wesen und Erscheinung-das war irgendwann mal in Philosophie dran. Aber was nützte mir diese nachgekleckerte Erkenntnis? An den Strand zu gehen lohnte genauso wenig wie das Einspannen des ersten Bogens in die Schreibmaschine. Für heute war Skat bei Preckwinkels angesagt. Und Skat galt in unserem Vierhäuserweiler als Pflicht, und basta. Eigentlich spiele ich ab und an ganz gerne dieses Spiel, aber hier gingen mir der tierische Ernst des Komödianten Hottenrodt und die wissenschaftliche Berechnung von Preckwinkel irgendwann genauso auf den Keks wie die ewigen Standardscherzchen von Willi Kuhle, über die er als einziger zu lachen pflegt. Nun hatte ich mich wenigstens ein bißchen auf Isolde Preckwinkel gefreut, nicht nur weil sie eine gute Gastgeberin war. Ich mochte sie einfach, ohne daß ich deshalb je den Versuch unternommen hätte, bei ihr zu landen. Mit ihr ließ es sich herrlich über Gott und die Welt klönen – solange man mit ihr allein war. In Gegenwart ihres Mannes bekam sie meist sofort etwas Geziertes, selbst ihre Stimme klang unnatürlich, als sollte jeder merken, jetzt repräsentierte sie, war sie die Gattin Professor Preckwinkels. Dabei hatte ich selbst beim bösesten Willen nie beobachtet, daß er seine Frau in irgendeiner Weise schurigelte. Spielten wir in seinem Hause Skat, und er verlor wegen eines Rechen-
fehlers, so packte ihn ein solcher Zorn, daß er vor mühsamer Beherrschung knallrot wurde und kein Wort herausbrächte. Und dabei spielten wir wegen Willi Kuhle doch bloß um einen Zehntelpfennig. Ich hatte Mühe, mir in solchen Momenten das Lachen zu verbeißen, und dabei begegnete ich einmal Isoldes Blick und merkte, daß es ihr genauso ging. Sie stand hastig auf und verließ das Zimmer. Am anderen Tage gestand sie mir, daß sie in die Küche gerannt war, weil sie erst mal laut lachen mußte. Diesmal hatte sie Migräne, und Karla Hottenrodt sprang sofort in die Bresche, schleppte mit Begeisterung Kaffee und Kuchen, Bier und Schnaps heran. Dann ging sie mit Margit Kuhle und deren Kindern an den Strand, und ich war zu bequem oder zu feige zu sagen, daß ich viel lieber mitgegangen wäre. Ich spielte zerstreut und herzlich schlecht. Zweimal verpatzte ich dem Professor als Mitspieler ein als todsicher auskalkuliertes Kontra. Er stöhnte vor Kummer, war aber zu vornehm, mich zu beschimpfen. Ich überlegte mir dauernd, was wohl Werner von ihm wollte. Schließlich platzte Stresow herein und sagte: „Entschuldigen Sie die Störung, aber ein Genosse vonne Kriminalpolizei möchte Sie mal einen Augenblick sprechen, Herr Professor.“ Kuhle und Hottenrodt starrten den ABV verblüfft an. Preckwinkel aber sagte gelassen: „Moment, bitte. Null ouvert.“ Er legte seine Karten auf den Tisch. Ich spielte die Pik-Sieben aus, die einzige Farbe, die er nicht hatte. Lächelnd schmiß er sein Karo-As weg und erhob sich. „Ist für mich gelaufen, schönen Dank, Herr Bockmühl. Bin gleich wieder da.“ Er ließ Stresow den Vortritt.
„Hornochse“, fauchte mich Hottenrodt an und präsentierte seine vier Karokarten, „die einzige Farbe, wo er drin war. Du gibst.“ „Nee“, sagte Willi und schob alle Karten auf einen Haufen, „jetz is Pause.“ Er sah uns fragend an: „Wat will denn die Kripo von ihm?“ „Bin ich Jesus?“ knurrte der Schauspieler, vergnatzt über den unterbrochenen Skat. „Womöglich hängt det mit die Wasserleiche zusammen“, überlegte Willi laut. „Hör auf mit der Rumspinnerei“, sagte ich gereizt, „er wirds uns gleich erzählen. Lang mir mal ‘n Bier rüber!“ „Wie ich noch als jugendlicher Liebhaber am Stadttheater Quarmbrück war“, begann Leopold Hottenrodt, „ist auch so eine grausige Geschichte passiert. Wir hatten ,Kabale und Liebe’ herausgebracht. Ich gab den Ferdinand, hatte eine ausgezeichnete Kritik übrigens, die hübschesten Töchter der Stadt warfen mir Rosen auf die Bühne und kleine Liebesbriefchen, ach, waren das Zeiten!“ „Kann man sich gar nicht mehr vorstellen“, warf ich ein. Willi Kuhle griente, aber Hottenrodt überhörte meine Ironie. „So eine Premierenfeier“, fuhr er fort, „das war damals noch ein Ereignis, nicht so wie heute, wo man wortlos auseinanderrennt und sich die Cliquen in verschiedenen Kneipen treffen. Was haben wir da noch gezecht, erst in der Kantine und dann weiter bis zum Morgen in der Wohnung einer Kollegin. Am nächsten Abend, ich hatte noch immer einen mächtigen Ölkopp, sollte die zweite
Vorstellung sein. Es wird eingerufen. Wer gar nicht erst in der Maske erscheint, ist Siebelringk, er spielte den alten Miller, als Kollege ein prächtiger Mensch! Unerhörte Aufregung, als er eine Viertelstunde vor der Vorstellung noch immer nicht im Hause ist.“ „So besoffen war der?“ fragte Willi Kuhle. „Nein“, sagte ich rasch, „nicht besoffen, sondern mausetot.“ Ich hatte die Geschichte schon mindestens dreimal gehört. Hottenrodt maß mich mit einem mißbilligenden Blick und erzählte sie trotzdem zu Ende. Die Freundin des besagten Siebelringk, eine blutjunge Balletteuse, hatte ihn in jener Nacht mit dem Stadtrat für Kultur betrogen. Als der Schauspieler davon erfuhr, nahm er sich das Leben, sicherheitshalber gleich viermal. „Erst schnitt er sich die Pulsadern durch, dann versuchte er, sich mit einem Brotmesser den Schädel einzuschlagen, schließlich zog er sich das Messer durch die Kehle und fand am Ende noch die Kraft, den Gashahn zu öffnen.“ „Mit ‘ne Wäscheleine hat er sich nich ooch noch zufällig erschossen?“ erkundigte sich Willi respektlos. „Dein billiger Spott wider die Majestät des Todes“, verwies ihn Leopold, „zeigt nur, daß du keinen Nerv für die Kunst hast. Kopf und Hände des armen Kollegen Siebelringk werden heute in den Spiritusgläsern einer der bedeutendsten gerichtsmedizinischen Sammlungen aufbewahrt. ,Laßt sehen’„, zitierte er seinen Hamlet, ,,,ach armer Yorick! – Ich kannte ihn, Horatio, ein Bursch von unendlichem Humor, voll von den herrlichsten Einfällen…“
„Na, ick danke“, bemerkte Willi, „wenn ick uff die Art unsterblich werden soll – schönen Jruß. Denn trink’ ick lieber bei Lebzeiten ‘n Schnäpperken mehr.“ Etwa nach einer halben Stunde kam Preckwinkel wieder herüber. Er wirkte sehr gelassen und schien die Welle von Neugier gar nicht zu spüren, die ihm entgegenschlug. „Spielen wir die Böcke und den Ramsch noch zu Ende“, schlug er vor, „dann muß ich mich ein bißchen um meine Frau kümmern. Es geht ihr diesmal wirklich nicht gut.“ „Von mir aus kümmern Sie sich lieber gleich um sie“, sagte ich, „ist vielleicht wichtiger als der blöde Skat.“ Er setzte sich, mischte zerstreut die Karten. „Gott, wissen Sie, helfen kann man da kaum. So eine Migräne kommt und geht nach ihren eigenen Gesetzen. Ich habe Isolde zwei Copyrkal gegeben. Ist doch nicht das erste Mal. Morgen früh springt sie wieder quietschfidel am Strand herum.“ „Ich will ja nicht aufdringlich sein“, fing Hottenrodt an, „aber schließlich, als langjähriger Nachbar… was wollte denn die Kriminalpolizei von Ihnen? Oder ist das eine indiskrete Frage?“ „Keineswegs“, antwortete Preckwinkel, „sie befragen alle möglichen Leute auf der Insel nach dem Toten, den man gestern gefunden hat. Vielleicht kommen sie auch noch zu Ihnen. Man hat mich gebeten, Stillschweigen zu bewahren, na, diese Floskel gehört bei denen eben dazu. Aber schließlich spricht sich ja hier doch alles herum. Es handelt sich um den Mann von unserer Postbotin.“ „Von Ilsing?“ rief Willi erschrocken. Der Professor nickte bedächtig. „Ein Tierarzt namens
Doktor Rudolf Boelssen. Wir haben vor Jahren mal zusammengearbeitet. Der Hauptmann, der die Ermittlungen führt, war mir sehr dankbar für den Hinweis auf die Frau. Unser lieber Scheriff war nämlich überhaupt nicht im Bilde. Und nun Schluß damit. Das ist jetzt deren Bier. Wer gibt Karten?“ „Ich“, sagte ich und stand auf, „aber ich hab keine Lust mehr. Ich geh noch ein Stündchen an den Strand. Wer weiß, ob morgen die Sonne wieder scheint.“ Es war schon dämmrig, als Werner Wadzeck endlich kam, mit dem Fahrrad, ohne Licht, eine Reisetasche auf dem Gepäckträger. Man hätte ihn für einen heimlichen Gast ohne den Segen der Kurverwaltung halten können. Am Nachmittag war ich tatsächlich noch für eine gute Stunde an den Strand gegangen, hatte allerdings einen weiten Bogen um den Abschnitt geschlagen, in dem meine Burg lag. Ich wollte allein sein und nicht mit allen möglichen Bekannten Inselkonversation betreiben müssen: „Na, Herr Bockmühl, auch wieder hier dies Jahr?“ – „Sie sind aber schlank geworden, Frau Doktor. Von weitem hätte ich Sie für Ihre Tochter gehalten.“ – „Stellen Sie sich nur vor, unsern Alex haben wir begraben müssen.“ – „Wie schrecklich. Er war doch noch gar nicht so alt.“ – „Keine acht Jahre. Aber er wollte nicht mehr fressen, die Haare gingen ihm aus, und da meinte Georg, wir ersparen dem armen Tier lieber die Qualen. Nun hat er nicht mal mehr unsern Dada kennengelernt, wo er doch so gerne Auto fuhr.“ – „Haben Sie schon gehört, daß Kleinmöllers geschieden sind? Unter uns gesagt, die Frau war doch ne richtige Kuh und paßte überhaupt nicht auf
die Insel. Die soll sich lieber ein Dirndl anziehn und auf dem Rennsteig jodeln gehn. Dieter hat das immer schon kommen sehn.“ – „Eine Menge Sachsen sind diesmal am Strand. Wenn die wenigstens ab und zu mal das Maul halten würden.“ – „Waren Sie schon zum Orgelkonzert? Diese Woche soll da ein taubstummer Organist aus Dänemark, Hasso? Na, wie komm ich denn auf Dänemark, also, aus Delitzsch, aber den muß man einfach hören.“ – „Ja, so wechselhaft wars um diese Jahreszeit lange nicht. Die Insel ist wirklich nicht mehr, was sie mal war. Wenn ich noch daran denke, wie wir am Hafen standen, nichts als Nachthemden an, und die auch noch zum Winken auszogen.“ – „Im ,Schiffereck’ gehen Sie diesmal lieber nicht essen. Meinem Mann ist neulich von den Buletten derartig schlecht geworden…“ Nein, das alles wollte ich heute nicht hören. „Es handelt sich um den Mann unserer Postbotin. Ein Tierarzt namens Doktor Rudolf Boelssen.“ Das konnte nichts anderes bedeuten, als daß Ilsing in die Sache verwickelt war. An Schlimmeres mochte ich gar nicht denken. Ich war ihr diesmal noch nicht begegnet, aber ihren Dienst versah sie offenbar wie immer. Jedenfalls hatte ich gestern und heute meine Zeitungen vorgefunden, mit einem Feuerstein beschwert, auf einem Korbstuhl unter dem Terrassendach, denn zu einem Briefkasten habe ich es in all den Jahren nicht gebracht. Hätten wir uns getroffen, so wären ein paar freundliche Worte gewechselt worden. Wie es ihr ginge? Ja, danke, ich fühle mich nirgends so wohl wie auf der Insel. – Und was meine Arbeit mache? Ob ich fleißig sei? – Na ja, es geht. Ob wir nicht wenigstens eine Zigarette miteinander
rauchen wollten? – Ach, laß man, Mark, du weißt, ich muß meine Tour schaffen. Wir hatten uns im letzten November kennengelernt. Ich war für eine Woche hochgefahren und verfluchte diese Idee sehr bald, denn es regnete vom ersten bis zum letzten Tag. Unablässig tutete das Nebelhorn auf dem Lüchting. Bald saß die Nässe im Haus, machte sich breit wie ein ungebetener Gast und grinste sich eins über das bißchen Terror, das ich mit dem kleinen Wärmluftgebläse veranstaltete, in Szczecin auf dem Flohmarkt gekauft und in Pomellen über die Oder-Neiße-Friedensgrenze geschmuggelt. Mit der Arbeit, die ich mir mitgebracht hatte, kam ich ganz gut voran, aber die Stunden dazwischen… Ich hatte nicht mal mehr Lust, in Gummistiefeln durch das matschige Hafengelände zu staksen. Mich befiel des Herbstes großer Katzenjammer. Den verlassenen Strand mied ich, um nicht die brandungsüberspülten Burgruinen mit ihren übriggebliebenen Sonnenölflaschen zu sehen. Zeilen aus Rilkes schönem Herbstgedicht, Erinnerung an die Abiturzeit, verursachten mir einen melancholischen Schluckauf… Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wichen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. Dabei hatte ich ein Haus, wenn auch nicht selbsterbaut, wenn auch nicht winterfest. Die Einsamkeit aber war bedrückender als das klamme Bettzeug. An einem dieser Abende klopfte es an die Tür. Draußen stand die neue Briefträgerin, hielt mir wortlos ein Tele-
gramm hin (der Inhalt war überaus unwichtig, eine Klubhausleiterin sagte einen Lesungstermin ab), zitterte vor Kälte und Nässe am ganzen Körper, und ich wußte nicht, ob ihr Regentropfen oder Tränen über das kleine, schmale Gesicht liefen. Sie war, wie üblich, mit dem Fahrrad hinaus in die Heide gefahren, und das reichte ihr, um sich trotz des Regencapes nasse Beine zu holen. Ich wußte nicht viel von ihr, nur daß man sie im Dorfe Ilsing nannte, daß sie nicht von hier stammte und daß es mit der Postzustellung wie am Schnürchen klappte, seit sie den versoffenen Edwin Hauck abgelöst hatte, der ohnehin kaum noch krauchen konnte. Es wurde gemunkelt, daß sie ihren Mann hatte sitzenlassen, der irgendwo auf dem Festland was Besseres sein sollte, wie es die Einheimischen ausdrückten. Über den Kerl haben wir kein Wort gesprochen an jenem Abend, als ich sie an der Hand nahm und sagte: „Komm rein, du arme nasse Katze!“ Ich habe ihr die alten Jeans von Uwe zum Umziehen gegeben und einen kräftigen Rotweinpunsch gebraut. Dann haben wir noch eine Schallplatte gehört, Mozart, glaube ich, und kaum dabei geredet. Sie kuschelte sich ganz selbstverständlich an mich und sagte irgendwann: „Auch eine arme Katze will mal gestreichelt kriegen.“ Ich glaube, sie muß sehr müde gewesen sein, denn sie ist sehr schnell eingeschlafen. Als ich am anderen Morgen wach wurde, regnete es noch immer. Auf dem Tisch fand ich einen Zettel. Drauf stand in einer etwas kindlichen Handschrift: „Danke schön. Nun ist mir wieder wärmer. I.“ Und auf dem Stuhl lagen Uwes Jeans. Wenn wir uns später begegneten, konnten
wir unbefangen über das Wetter sprechen. Von einem zärtlichen gemeinsamen Wachtraum war nie mehr die Rede. Geblieben ist die Freundlichkeit. „Es handelt sich um den Mann unserer Postbotin. Ein Tierarzt namens Doktor Rudolf Boelssen.“ Der Wind drehte auf West. Mir wurde kühl. Ich ging eilig nach Hause.
12. „Das Abendbrot war ausgezeichnet“, sage ich zu Max und helfe ihm, das Geschirr in die Küche zu tragen. Er bindet sich eine Schürze um und schüttet einen Topf voll heißen Wassers in die Abwaschschüssel. „Setz dich ins Zimmer“, sagt er, „und mach dir’s bequem!“ „Quatsch“, erwidere ich und nehme mir ein Geschirrtuch, „das halten wir genauso wie früher. Wenn du dich erinnern kannst…“ Max grinst. „Und ob. Weißt du noch, wie du den guten Kuchenteller hast fallen lassen?“ Ich nicke. „Ja, und dir haute deine Mutter ein paar hinter die Ohren, weil du sagtest, du warst es.“ „Sie machte mächtigen Wind. Dabei haben wir nie Porzellan besessen, es kann höchstens Steingut gewesen sein.“ Woher soll ich das heute noch wissen? Aber in diesem Falle bin ich wohl wirklich dabei, Porzellan zu zertöppern, denke ich. Entweder war mein Besuch bei Professor Preckwinkel überflüssig, weil es uns keinen Schritt weiterbringt, oder aber verfrüht. Daß Boelssens Frau auf der Insel lebt, hat Sabine Donix auch so heraus-
bekommen. „Du brauchst, dich nicht zu verkrümeln“, sage ich zu Max, Als er sich nach dem Abwaschen diskret nach oben verziehen will. „Ich dachte, du hättest noch zu arbeiten“, meint er und beobachtet, wie ich meine Notizen vor mir ausbreite. „Kannst mir ein bißchen Gesellschaft leisten“, sage ich, „oder halte ich dich von deiner Arbeit ab?“ Er schüttelt den Kopf, erleichtert, wie mir scheint, und setzt sich zu mir. „Ich will dir mal eine Geschichte erzählen, wenigstens ein Stück davon, Mäcki. Vielleicht kannst du was davon verwenden, wenn wir diesen Fall abgeschlossen haben und der oder die Schuldige verurteilt ist. Oder schreibst du nur so ne Stücke oder Fernsehspiele zum Totlachen?“ Damit muß ich ihn, ohne es zu wollen, getroffen haben. „Was kann ich denn dafür?“ erwidert er leicht gekränkt. „Wenn man erst mal Erfolg damit gehabt hat, nageln sie einen immer wieder darauf fest.“ Genau wie bei uns, denke ich, aber ich käme nie auf den Einfall, zur Abwechslung beispielsweise lieber bei der Verkehrspolizei arbeiten zu wollen. „In einem Dorf unseres Bezirkes lebt ein Tierarzt“, fange ich an, „ganz allein, in einem sehr schönen Haus. In der Gegend, vor allem in dem Gestüt, das er veterinärmedizinisch betreut, hat er einen guten Ruf – zumindest! als Tierarzt. Die einen sagen, er sei überhaupt nicht arrogant, gehe völlig in seinem Beruf auf, verstehe sich nicht nur auf das Viehzeug, sondern auch auf die Leute, die damit zu tun haben. Es gibt aber auch andere, die behaupten, er
könne rechthaberisch, unduldsam oder sogar jähzornig werden, besonders wenn er etwas getrunken habe. Tatsache ist, daß man ihm einmal für ein Dreiviertel jähr wegen Trunkenheit am Steuer die Fahrerlaubnis entziehen mußte.“ „Wenn wir vom selben Mann reden“, wirft Max ein, „so hätte der bei mir nicht mal im. nüchternen Zustand ans Lenkrad gedurft.“ „Ich will den Mann nicht verteidigen, aber im Gestüt meint man, der Doktor habe privat allerhand Kummer gehabt. Mit der Ehe hat es nicht gestimmt, sagen sie, die Frau paßte nicht aufs Land. Im vorigen Sommer ist sie ihm davongelaufen…“ – „… und hat sich hier auf der Insel selber Arbeit gesucht“, unterbricht mich Max, „als Briefträgerin. Da konnte doch dieser Pferdedoktor bloß froh sein, daß er sie los war. Wo ist die Pointe an deiner Geschichte?“ Für einen Augenblick komme ich mir wie blöde vor. Zuerst die Panne mit Stresow. Der hat sich vorhin zehnmal bei mir entschuldigt und mir erklärt, daß die Zustellerin in, kurzer Zeit so heimisch auf der Insel geworden ist, wie man das nur selten bei Zugereisten erlebt. Alle mögen die junge Frau gut leiden und nennen sie nur „Ilsing“. Daß sie amtlich Frau Boelssen heißt, wissen allenfalls ihre nächsten Kolleginnen. Max scheint meine Verblüffung bemerkt zu haben. Wir kennen uns eben zu gut von früher her. „Entschuldige, Werner“, sagt er, „ich habe erst von Preckwinkel – nach euerm Gespräch – erfahren, wer der Tote ist. Du hast es mir ja nicht erzählt.“ „Wie schön von Herrn Preckwinkel!“ Ich habe Mühe,
meinen Ärger zu unterdrücken. „Kehrt also in seine Skatrunde zurück und macht sich wichtig, obwohl ich ihn gebeten habe, über unsere Unterhaltung Stillschweigen zu bewahren, dieses akademische Rindvieh!“ Max schmunzelt. „Du scheinst von meinem Nachbarn keine hohe Meinung gewonnen zu haben?“ Ich wüßte ganz gern, was er für eine hat, aber im Augenblick würde das vom Thema wegführen. „Du, Mäcki, wir hatten uns geeinigt, daß du zu diesem Fall keine Fragen stellst. Ich will dir lieber deine Pointe liefern. Der Tierarzt ist auf die Insel gekommen, um seine Frau zurückzuholen.“ „Das kann doch nicht wahr sein!“ Jetzt zieht Mäcki ein dummes Gesicht, und wir sind quitt. „Woher willst du das wissen?“ „Wir werden vom Staat dafür bezahlt, auskömmlich, wie es heißt, etwas mehr zu wissen als andere Leute. Eines Abends kommt der Tierarzt von seiner Arbeit nach Hause und findet in seinem Wohnzimmer einen Besuch vor, der ihn gar nicht sehr freut, nämlich seine lieben Schwiegereltern.’ Am liebsten würde er sie gleich rausschmeißen. Er hat, sowieso nie ein herzliches Verhältnis zu ihnen gehabt. Vater: ehemaliger Dienststellenleiter bei der Post in der Kreisstadt, jetzt Rentner, Mutter arbeitet noch als Hilfskraft in einem Kindergarten. Die einzige Tochter sollte mal was Besseres werden, sollte studieren, schaffte es nicht, lernte den Tierarzt kennen und wurde von ihm geheiratet. Die Eltern platzten vor Stolz, kamen erst nach Jahren dahinter, daß ihre Tochter gar nicht so glücklich war. Kleinbürger, kannst du sagen, ist wohl auch was
dran. Aber als sie erfuhren, daß die Ehe schiefging, haben sie angefangen, sich Gedanken um Ilse zu machen, etwas spät vielleicht. Zuerst wollten sie ihre Tochter bewegen, zu Boelssen zurückzukehren. Was sollten denn die Leute von einer Frau denken, die ihren Herrn Doktor einfach sitzen läßt?“ „Sie wird ihre Gründe gehabt haben“, wirft Max ein. „Die Eltern wußten nichts Genaues oder wollten uns nichts sagen, aber wir werden es von ihr selber erfahren, denke ich. Tatsache ist, daß die alten Leute Freitag bei Boelssen waren, um ihn zu bitten, sich endlich mit dem Gedanken der Scheidung vertraut zu machen.“ „Ich wußte gar nicht“, sagt Max, „daß sie noch verheiratet waren. Im Dorf gilt Ilsing als geschiedene Frau.“ „Boelssen muß sich fürchterlich aufgespielt haben, als er entdeckte, daß die Eltern im Auftrag ihrer Tochter zwei Koffer mit ihren persönlichen Sachen gepackt hatten und mitnehmen wollten: Schließlich sei das sein Eigentum, er habe es von seinem Geld bezahlt. Der Vater sagte, das sei eine Gemeinheit, denn Ilse habe ihm viele Jahre in seinem Beruf geholfen und ihm für seine Arbeit den Rücken frei gehalten.“ „Man soll über Tote angeblich nur Gutes reden, Werner, aber das muß ja ein richtiger Stinkstiefel gewesen sein. Vor dem Scheidungsrichter hätte er ganz schön alt ausgesehen.“ „Er dächte gar nicht an Scheidung. Bevor er die Schwiegereltern vor die Tür setzte – ohne Koffer natürlich – , soll er sehr zuversichtlich verkündet haben, daß er seine Frau schleunigst zurückzuholen gedenke. Am Mittag des
nächsten Tages fährt er – wie wir nun wissen – auf die Insel, am selben Abend wird sein Leben gewaltsam beendet. Nun müssen wir nur noch wissen, wann, wo, wie…“ „…. und von wem“, sagt Max und schenkt sich einen Klaren ein. „Ich lese ab und zu auch Krimis. Und nun glaubt ihr, Ilsing oder sogar ihre Eltern hätten den Kerl umgebracht. Entschuldige, das war keine Frage, sondern eine Feststellung.“ „Eher eine Unterstellung, Mäcki“, entgegne ich. „Wir glauben gar nichts, wir untersuchen etwas und ermitteln dabei Fakten.“ „Schönen Dank für die Routineantwort, Hauptmann Wadzeck. Aber du bringst doch die Postbotin nicht von ungefähr mit dieser Sache in Verbindung. Nehmen wir an, sie hat sich in dem einen Jahr innerlich von dem Mann gelöst und will das nun endlich auch mit Brief und Siegel vollziehen. Er aber kommt her mit dem schönen Schmus vom neuen Anfang, und sie läßt ihn abblitzen. Da hätte allenfalls er, noch dazu als jähzornig bekannt, ein Motiv, sie umzubringen. Sie brauchte doch nur die Scheidung einzureichen, wenn sie ihn los sein wollte.“ „Einverstanden, aber warum hat sie sich bis jetzt nicht bei uns gemeldet? Das Foto mit unserem Text hängt seit anderthalb Tagen an den Anschlagtafeln.“ Max zuckt die Schultern. „Frag sie doch selber!“ Ich sehe ihn an. Warum ist er nur so gereizt? „Sag mal, kennst du die Dame näher?“ „Nicht näher als jeder hier in der Heide, dem sie die Post bringt. Man redet mal ein paar Worte miteinander… Und
was ist mit ihren Eltern?“ „Meine Mitarbeiterin hat festgestellt, daß sie am Wochenende Haus und Garten nicht verlassen haben. Du weißt nicht, ob die Boelssen vielleicht einen neuen Partner hat?“ „Nee, Werner, da mußt du schon bei den Klatschbasen im Dorf herumhorchen. Ich würde ihr jedenfalls einen anderen, besseren Mann gönnen. Übrigens, von deinem Besuch bei Preckwinkels hast du kein Wort erzählt.“ Ich winke ab. „Nicht der Rede wert. Ich bekam bloß bestätigt, was wir sowieso schon wußten: daß Boelssen früher mal im Institut des Professors gearbeitet hat. Und nun kannst du mir langsam meine Koje bauen. Ich muß zeitig raus.“ Er erhebt sich. „Geht klar, Werner. Wir frühstücken morgen zusammen. Da komm ich wenigstens eher an meine eigene Arbeit.“ „Wenn wir mal Zeit finden, mußt du mir davon erzählen“, sage ich und meine es ernst damit, denn ich kann ihn ja nicht nur mit meinen Problemen beschäftigen. Ich habe ihm nicht alles aufgetischt, was ich aus den Ermittlungen der Genossin Donix weiß. Das Ehepaar Niemann, also die Schwiegereltern des Toten, sagten ihr, Boelssen habe eine Andeutung gemacht, aus der sie nicht recht klug geworden seien. Etwa so: Er fahre nicht mit leeren Händen zu Ilse und für den neuen Anfang habe er ihr etwas zu bieten. Eine junge Zootechnikerin im Gestüt muß auf ziemlich vertrautem Fuße mit dem Tierarzt gestanden haben. Sein Tod ging ihr sehr nahe. „Wenn Sie meinen, daß ich ein
Verhältnis mit dem Doktor hatte“, antwortete sie auf eine diesbezügliche Frage, „so muß ich antworten: ,Nein – zu meinem großen Bedauern. Er war der anständigste Mann weit und breit.“ Vielleicht ließ er sich von ihr wirklich nur die Oberhemden waschen und die Socken stopfen. Viel wichtiger für uns ist eine ändere Information von dieser Kollegin: „Doktor Boelssen schien am Freitag, bevor er nach Hause fuhr, besonders gute Laune zu haben. Er sagte, bei ihm bahnten sich einige Veränderungen an. Vielleicht würde er bald wieder in die Stadt zurückkehren.“ Als ich im Bett liege, nehme ich mir noch einmal die „Wissenschaftlichen Mitteilungen“ vor, blättere sie von vorn bis hinten durch, finde aber nirgends Boelssens Namen, versuche Preckwinkels Abhandlung zu lesen, begreife natürlich beinahe gar nichts und schlafe darüber ein.
13. So zeitig wie an diesem Morgen bin ich hier auf der Insel schon lange nicht aufgestanden. Ich trat vor die Tür. Kein Luftzug war zu spüren. Sonnenlicht sickerte durch den dünnen Frühnebel und glitzerte in den Tauperlen unzähliger Spinnennetze, die inmitten des struppigen Heidekrauts hingen. Beim Frühstück redeten wir wenig miteinander. Werner ist wohl genauso ein Morgenmuffel wie ich. Er wollte an diesem Tag auf das Festland fahren und dort einige Ermittlungen führen. Natürlich war ich neugierig, verkniff mir aber jegliche Fragen. Er würde mir ohnehin nur erzählen, was er für angemessen hielt. Immerhin hatte ich
mich letzten Abend ein klein wenig dafür revanchiert. Es gab auch bei mir Dinge, die einen Außenstehenden nichts angingen. Am liebsten hätte ich jetzt gleich mit Ilsing gesprochen, damit sie mir selbst sagen konnte, daß sie nichts mit jener schlimmen Sache zu tun hatte. Aber erstens wollte ich Werners Vertrauen nicht mißbrauchen, zweitens hatte ich keine Lust, dieser Dame Donix, die ich bisher noch nicht kannte, in die Arme zu laufen. Nach dem Gespräch mit Werner war damit zu rechnen, daß sich seine Mitarbeiterin heute ausgiebig um Ilse kümmern würde. Eine gute Stunde lang hielt ich mich noch an der Hausarbeit fest und hörte dabei den Feriensender, die einzige Rundfunkstation, die man hier sauber empfangen kann. Der schon erwähnte Matrosenbaß pries seine „leewe Vadderstadt“, in der er sich auskenne. „Hier weiß ich, wann der Wind sich dreht und wo die Möwe wohnt“, sang er, und ich beneidete ihn ob dieses Wissens, denn ich habe in meinem Leben meist erst sehr spät gemerkt, wann der Wind sich drehte, und die Frage nach dem Wohnort der Möwe hat mich nie sonderlich geplagt. Ich überlegte, ob ich nun ins Dorf fahren und einkaufen oder mich lieber erst ein paar Stunden an die Schreibmaschine setzen sollte. Ein nochmaliger Blick auf die Wetterlage gab den Ausschlag. Ich nahm meinen Bademantel vom Haken und holte den Windschutz hervor. Es würden noch genug trübe Tage kommen, an denen ich froh wäre, über meiner Arbeit zu sitzen. Der Dünensand brannte schon unter den nackten Fußsohlen, und die warme Luft flimmerte über der Heide. Bald hatte ich meine Burg erreicht und zuvor allen Bekannten auf dem Wege am
Strand entlang den Morgengruß entboten. An unserem FKK-Strand gibt es strenge Spielregeln: Man grüßt einander höflich, bringt keine Radios oder andere Lärminstrumente mit, weist seine Kinder, so man welche hat, an, nicht laut herumzutoben und den Unwillen anderer Burgbewohner hervorzurufen. Gutgewachsene weibliche Wesen streift man nur mit zufällig scheinenden Blicken und sublimiert eventuell wider Willen aufsteigende Gefühle in geistige Gespräche. Wer diese Regeln akzeptiert, liebt einen solchen Strand bald so sehr, daß er sich, mit einer Badehose bekleidet – in die Strandkorbwelt der Textilienkonsumenten entrückt – , vorkäme wie ein Voyeur in einem Halbweltetablissement. So streng sind am Strand der Unbekleideten die Bräuche. Ich war noch damit beschäftigt, die Holzstäbe des Windschutzes mit einem Feldstein in den Sandwall hinein zu klopfen, da stand Professor Preckwinkel neben mir. Nackt wirkt er noch disproportionierter als sonst. Mein Sohn Uwe hat ihm darob den Spitznamen „Der kurze Knochen“ verpaßt, aber was kann ein Mensch für seine Physis? „Wird ein heißer Tag heute“, eröffnete er die Konversation. Gewiß, dachte ich, und nachts ist es kälter als draußen. Aber das behielt ich als höflicher Mensch für mich und fragte statt dessen: „Wie ist denn das Wasser heute?“ „Saukalt“, erwiderte er erwartungsgemäß, „wir haben leichten Ostwind.“ Ich hatte keine Lust, mir eine geistreiche Antwort abzuquälen, und drosch verbissen auf den letzten Stab ein. „Hat Sie dieser Kriminalpolizist auch verhört?“
Ach, daher wehte der leichte Ostwind. „Methoden sind das! So früh schon die Leute zu belästigen! Aber es bleibt uns wohl allen nicht erspart.“ Ich richtete mich auf, furchteinflößender Steinzeitmensch mit dem Faustkeil in der Hand. „Sie irren, Professor. Hauptmann Wadzeck ist ein Schulfreund von mir. Ich habe ihn eingeladen, fürs erste bei mir zu wohnen.“ „Interessant.“ Er grinste erfreut. „Meine Frau wird staunen. Da erfahren wir ja alles gleich aus erster Hand.“ Ich grinste zurück. „Wird wohl nichts werden. Ich habe meinem Freund vorgeschlagen, täglich zweimal ein Inselbulletin über den Stand der Ermittlungen zu veröffentlichen, aber dieser Kerl hält sich stur an seine bürokratischen Vorschriften. Darf ich Ihnen eine Flasche Buttermilch anbieten?“ „Nein, danke“, sagte er verdrossen, „ich will Sie nicht berauben.“ Nackt, aber um Würde bemüht, stolzierte er von dannen. „Arschloch“, murmelte ich und wälzte mich auf meinen Bademantel, um die Sonne zu genießen. Nach einer Weile verspürte ich Kreuzschmerzen, setzte mich hin und reckte ächzend meine Knochen. Unten am Strand war wieder mal die Boccia-Gemeinde zu Gange, Diese Leute schmissen unermüdlich mit bunten Plastkugeln umher, rannten auf und ab, riefen einander Zahlen zu und kamen sich ungemein sportlich vor. Ich kannte die Regeln nicht und mochte sie auch nicht kennenlernen. Einmal hatte ich etwas gegen zuviel Bewegung am Strand, zum andern wußte ich, daß der Erzreaktionär Adenauer dieses Spiel sehr geschätzt hatte. Mittlerweile werden die Kugeln in
unseren Sportgeschäften angeboten. In der eben beendeten Partie hatte offenbar Frisörmeister Tümpelmüller aus Sangerhausen einen Veltener Chemiker, der immer mit seinen beiden Dackeln an den Strand kam; eine Oranienburger Buchhändlerin und meinen unsäglichen Kollegen Großkorth aus Pankow besiegt. Na schön, nun gaben sie hoffentlich für eine Weile Ruhe. Ich stieg in das glatte, kalte Wasser – als einziger Narr weit und breit. Da ich die boshaften Blicke der müßigen Boccia-Spieler auf meinem gänsehäutigen Rücken spürte, hielt ich mannhaft durch und schaffte es, von einer Buhnenspitze zur anderen zu schwimmen. Diese Anstrengung ermüdete mich so, daß ich in meiner Burg sofort einschlief. Als ich wach wurde, hatte ich leichte Kopfschmerzen Von der Sonne. Sie stand hoch im Mittag. Ich schaute auf die Uhr und zog mich rasch an. Wenn ich mich beeilte, konnte ich es schaffen. Auf einer Buhne kauerte Isolde Preckwinkel, fast schon schokoladenfarben. Sie drohte mir mit dem Finger. „Man solls nicht übertreiben am Anfang. Wenns schlimm wird, kommen Sie zu uns! Ich hab Panthenol-Spray im Hause.“ „Danke, Isolde“, rief ich, „aber nur, wenn Sie mich selber verarzten.“ Ich hastete durch die Heide. Bei unseren vier Häusern war kein Mensch zu sehen. Bestimmt lagen alle Bewohner um diese Stunde am Strand. Ich setzte mich auf die Terrasse und steckte mir eine Zigarette an. Von hier aus konnte ich den Wiesenweg übersehen. Sollte sie nicht kommen, dann…
Aber sie kam. Hinter Großkorths Haus tauchte sie auf, hatte tüchtig mit dem trockenen Mahlsand zu kämpfen, mußte einmal sogar vom Fahrrad herunter und es ein paar Meter schieben. Sie trug wie immer Jeans, dazu einen knappsitzenden, quergestreiften Pulli, der das bißchen kindliche Figur betonte. Das rotblonde Haar hatte sie nach Art der weiblichen Inselfans zu zwei Zöpfchen geflochten. Von weitem hätte man sie für eine Studentin im ersten Studienjahr halten können. Da ich im Schatten des Daches saß, bemerkte sie mich erst, als sie die Zaunpforte aufstieß. „Hallo, Ilsing!“ rief ich und ging ihr entgegen. Sie stutzte einen Augenblick, griff in die Tasche auf ihrem Gepäckträger und sagte, ohne mich anzusehen: „Post ist nicht. Nur die Zeitungen.“ „Hast du’s sehr eilig?“ fragte ich. „Es ist heiß heute“, erwiderte sie, „ich bin froh, wenn ich meine Tour geschafft habe.“ Ich nahm ihr das Fahrrad aus der Hand und lehnte es gegen die Hauswand. „Gönn dir ne Pause, bei mir steht kalter Tee im Kühlschrank.“ Sie blickte kurz auf. „Bist ein lieber Mensch, Marcus. Was meinst du, wie oft mich so einzelne Kerle in ihre Häuser bitten? Wie wärs mit einem Käffchen, einem Schnäpschen? Aber mit dir kann ich reden.“ Ihre Stimme begann zu zittern. „Und ich hab’s so nötig.“ Als ich die Teegläser brachte, wischte sie sich die Tränen vom Gesicht. „Na, na“, sagte ich etwas hilflos, „vielleicht ‘n Schuß Schnaps in den Tee?“ Sie schüttelte den Kopf, nahm sich eine Zigarette, rauchte hastig ein paar Züge. „Du weißt Bescheid, ja, Marcus?“ Mir war unbehaglich zumute. „Ja, dieser… er war
dein Mann. Warum hast du das der Polizei nicht gesagt? Es wäre einfacher für dich gewesen.“ Sie drückte die halbe Zigarette aus. „Das habe ich heute schon mal gehört. Eine junge Frau von der Kriminalpolizei war bei mir, jünger als ich. Wir haben uns unterhalten, gar nicht so dienstlich, verstehst du? Ich hab ihr gesagt, daß ich erst zu mir kommen mußte und mich heute sowieso bei ihnen melden wollte. Das hat sie auch eingesehen. Vielleicht hätte ich ihr nicht sagen sollen, wie froh ich bin, daß Rudolf tot ist. Aber es ist doch die Wahrheit.“ Meine Erwiderung fiel mir nicht leicht. „Ilsing, ich bin nicht die Polizei, aber sag mir, ob du irgendwas mit dem… mit dieser Sache zu tun hast.“ Sie schaute mich an und versuchte zu lächeln. „Nein, du, ich war mit Rudolf längst fertig, und genau das hab’ ich dieser Frau Donix auch gesagt. Wir hatten noch gar nicht lange miteinander gesprochen, da kam der kleine Malte, weißt du, der Sohn von Erich Hauck, rein gesaust und schrie ganz außer Atem: ,Fräulein Leutnant, Sie sollen ganz fix zum ABV kommen, ich glöw, sei hebben den Mörder!“ „Ach nee“, sagte ich verblüfft, „und wer ist es?“ Sie zuckte die Schultern. ,,Wenn ich das wüßte! Mir genügte es, daß man mich in Verdacht hatte. Ich kann sowieso nicht mehr länger auf der Insel bleiben. Ach, gib mir mal doch ‘n Schnaps!“ Ich goß ihr einen mäßigen Schluck in das Teeglas. „Ilse, ich habe kein Recht zu dieser Frage, aber warum bist du von deinem Mann weggegangen?“ . „Weil…“, erwiderte sie zögernd, „ich wollte nicht mehr
sein… Anhängsel, sein Zubehör, ich wollte nicht mehr die Frau von dem tüchtigen Herrn Tierarzt, ich wollte endlich ich selber sein.“ Sie trank zu hastig, verschluckte sich, mußte husten. Ich klopfte ihr auf den Rücken. Sie schob meine Hand weg. „Das Abitur hab ich mit Ach und Krach geschafft. Immer nur geackert. Dauernd standen meine Eltern hinter mir. ,Du bringst es mal weiter als wir, Mädel!“ Sie griff nach der Flasche und schenkte sich etwas zu kräftig nach. Ich nahm sie ihr aus der Hand und stellte sie neben meinen Sessel. Ilsing nippte an dem Glas. „Alles Quatsch, Marcus. Ich hätte lieber mal tanzen gehn oder zum Zelten mitfahren sollen. Dann wäre immer noch ‘ne anständige Geflügelzüchterin oder Bockwurstverkäuferin aus mir geworden. Nun trank sie doch das Glas in einem Zuge aus. Ich stand auf. „Du hast heute noch Dienst. Am besten, ich mach dir jetzt einen starken Kaffee.“ Sie lächelte mich an. ,,Bist wie ein großer Bruder, Marcus. Brauchst aber keine Angst zu haben. Ich werd nicht zur Säuferin. Und son bißchen Schnaps muß man hier abkönnen. Das hab ich im Winter bei den Einheimischen gelernt. Es ist schon gut, wenn mir einer so zuhört wie du. Wie ich damals durch die Zwischenprüfungen gesaust bin, hab ich alles hingefeuert und bin hier raufgetrampt, einfach als Serviererin für die Saison. Das war meine glücklichste Zeit. Endlich könnt ich mal tun und lassen, was ich wollte. Auf der Insel hab ich Rudolf kennengelernt, der war das, was ich nun nicht mehr werden konnte: Tierarzt. Als sein Urlaub zu Ende war, hat er
mich gleich mitgenommen.“ Bei dieser Erinnerung mußte sie lachen. „Gab noch ne Klopperei mit meinem angetrunkenen Gaststättenleiter, weil der mich nicht weglassen wollte. Wie er mich an der Bluse zu packen kriegte, hat ihm Rudolf ein Ding eingeschenkt, daß der Kerl gleich zu Boden ging. Wir mußten zum Hafen rennen, um rasch von der Insel runterzukommen.“ „Also hat er dich richtig entführt“, warf ich ein, „das tut man nur, wenn man jemanden sehr liebt.“ „Hab ich auch gedacht, Marcus. Heute weiß ich, daß er mich damals nur geklaut hat – ein Stück, das ihm noch zu seiner Einrichtung gefehlt hat, ein Gegenstand, verstehst du?“ Mir wurde etwas unbehaglich bei dieser Beichte. Hatte ich das Recht, sie ihr abzunehmen? Damals, in jener Herbstnacht, waren unsere Familienprobleme draußen vor der Tür im Nebel geblieben. „Übertreibst du nicht ein bißchen?“ fragte ich. „Warst du nicht wenigstens am Anfang glücklich?“ Sie nickte. „Ich wollte sogar Kinder. Aber die hätten ihn ja bloß gestört. Der Lärm! Die Unruhe! Es drehte sich alles bloß um seinen verdammten Ehrgeiz. Unser tüchtiger Herr Doktor!“ Sie schien trotz der Hitze zu frösteln, stand auf und schloß das Fenster. „Er wollte um jeden Preis in die Forschung. Vielleicht hätte er sich im Institut mehr anpassen sollen…“ „Er kam mit Preckwinkel nicht klar, stimmts? Um was ging es da?“ Sie schaute aus dem Fenster und zuckte die Schultern. „Um was schon? Rechthaberei. Einer hatte immer den
größeren Dickkopf als der andere, aber Preckwinkel war nun mal der Chef. Das wollte Rudolf nie einsehen.“ Sie kam an den Tisch zurück, setzte sich seufzend wieder hin. „Wir hätten’s so schön haben können in Dolgendorf, aber Rudolf wurde mit seiner Niederlage nicht fertig und ließ alles an mir aus. Einmal, da bin ich nach Neuenplathen gefahren, ich sollte im Labor Analysen für ihn auswerten. Da hab’ ich mir hinterher ein Sommerkleid gekauft… so eins mit großen bunten Blumen. Ich wollte mir einfach mal was leisten.“ Sie schloß die Augen: „Zu Hause steht er schon ungeduldig am Gartentor. Ich steige au£, das neue Kleid an, ich fand mich richtig schön, weißt du? Ich warte, daß er was sagt. Da blafft er mich an: ,Wo hast du den Fetzen her? Konntest wohl nicht am Exquisitschuppen vorbeigehn?’ – Dabei wars aus der Jugendmode und hat nur ganz wenig gekostet. – ,Wie ein Flittchen siehst du aus’, sagt er, ,im übrigen werden solche Ausgaben vorher mit mir abgesprochen – . Seitdem ließ er mich nicht mehr allein in die Stadt.“ „Und das hast du dir bieten lassen?“ fragte ich erstaunt. Ilsing schaute mich groß an. „Es kam noch schlimmer. Eines Nachts klingelt das Telefon. Da ist das Gestüt dran, eine von den tragenden Zuchtstuten hat eine Kolik. Ich gleich raus, hole schon den Wagen aus der Garage…“ „Wieso du?“ „Sie hatten ihm doch die Fahrerlaubnis weggenommen, weil er betrunken von der Jagdversammlung nach Hause gefahren war. Bis zum Gestüt waren es zehn Kilometer, Es regnete in Strömen. Die Fahrt werd ich nie vergessen. Er meckerte und kläffte in einer Tour. ,Wie eine Sau
fährst du!’ brüllt er mich an, als ich, einmal die Kupplung nicht richtig durchtrete. Entschuldige’, sag ich, in der Eile hab ich die hochhackigen Dinger gegriffen.’ – ,Merkt man an deiner Fahrweise’, blafft er. Dabei hab ich sie längst ausgezogen. Aber er gibt keine Ruhe, bis mir endlich der Kragen platzt. ,Kannst du nicht ein einziges Mal deine Klappe halten’, schrei ich ihn an. ,Aber du hast ja immer recht, und die andern sind Idioten und Schwachköpfe!’ – Da sagt er auf einmal ganz leise: ,Halt an!’ – Natürlich fahr ich weiter, wie will er denn sonst ins Gestüt kommen? – Da greift er mit der Hand ins Lenkrad, wir kommen ins Schleudern, ich kann gerade noch vor einem Chausseestein bremsen, mein Herz klopft wie doll vor Schreck, kein Wort krieg ich raus. – Scher dich nach Hause!’ brüllt er. Ich hab erst gar nicht kapiert, was er will, bis er die Tür aufreißt und mich regelrecht aus dem Auto schmeißt. Dann fuhr er allein weiter, und ich stand auf der Landstraße, naß, dreckig, verzweifelt. Frag nicht, wie ich barfuß nach Hause gekommen bin. Noch in derselben Nacht hab ich meine Sachen gepackt…“ Ich hätte nach dieser Erzählung selber einen Schnaps nötig gehabt, verkniff ihn mir aber. „Warum hast du nicht sofort die Scheidung eingereicht?“ „Wollt ich ja“, erwiderte sie mit leiser, zittriger Stimme, „aber vielleicht bin ich wirklich eine Gehirnamputierte, wie er mich immer nannte. Ich hab’ ihm ein paarmal geschrieben, ihn immer wieder gedrängt. Er sollte auch alles behalten, Haus und Auto und überhaupt… ich wollte mit meinen paar Plünnen zufrieden sein, wenn er mir
bloß meine Freiheit ließ. Aber er drohte mir mit den hohen Gerichts- und Anwaltskosten, die ich bestimmt alleine bezahlen müßte, und soviel verdien ich doch hier bei der Post nicht.“ „Da hast du dich ins Bockshorn jagen lassen“, sagte ich und ertappte mich bei dem unguten Gedanken, daß ich diesen Kerl selber hätte umbringen können. „Das weiß ich inzwischen.“ Nun liefen ihr doch die Tränen übers Gesicht. „Jetzt, wo er tot ist.“ Ich stand auf und legte ihr etwas hilflos den Arm um die Schultern. „Hast du wenigstens die Briefe aufgehoben? Falls die Polizei dich noch mal fragt…“ Sie fuhr sich mit einem Taschentuch über die Augen. „Ich hab sie immer gleich verbrannt – vor Wut.“ „Es wäre gut, wenn sie alles wüßten, was du mir erzählt hast.“ Sie dachte kurz nach. „Warum? Ich denke, sie haben den Mörder“, erwiderte sie beinah schnippisch. „Oder hab ich dir das nicht gesagt?“ „Und du weißt nicht, wer das sein könnte?“ „Nein, woher denn?“ Ilsing sah mich prüfend an. „Warum fragst du mich so was? Es ist mir auch egal.“ Sie stand hastig auf, „Ich muß ja wohl bekloppt gewesen sein, dir diesen ganzen Quatsch auf die Nase zu binden. Entschuldige! Und schönen Dank für den Tee.“ Sie ging zur Tür. Ich muß so verwirrt gewesen sein, daß ich das Dümmste tat, das in diesem Augenblick möglich war. „Ilsing“, sagte ich bittend, „wenn du irgendwie in Druck kommst – der Hauptmann, der die Untersuchung führt, ist ein alter Freund von mir.“
Sie biß sich auf die Lippen und schloß die Augen, als spürte sie einen plötzlichen Schmerz. Ich trat zu ihr, griff nach ihrer Hand. „Wenn du denkst, ich sollte dich aushorchen…“ „Was ich über dich denke, will ich lieber für mich behalten.“ Sie schüttelte angewidert meine Hand ab. „Man soll keinem Menschen vertrauen, aber ich fall immer wieder rein.“ Als ich sie auf dem Wiesenweg davonfahren sah, war mir sauelend zumute. Ich hatte mich in eine Sache hineingedrängt, die mich nichts anging, weder von Ilses noch von Werners Standpunkt aus. In der Stimmung konnte keiner von mir verlangen, daß ich spaßige Szenen schrieb. Ich setzte mich aufs Fahrrad, hängte mir einen Korb mit leeren Flaschen an den Lenker und strampelte ins Dorf. Wenn ich Glück hatte, gab es heute Selters, Cola oder wenigstens Brause. Aber in der Kaufhalle standen nur noch ein paar Kästen einfaches Helles, und das sah schon etwas trübe aus. Dafür waren die Regale bis zum Rand gefüllt mit teurem Importsekt und mindestens dreißig Sorten Likör. Schon beim Lesen der Etiketts drehte sich mir fast der Magen um. Ich ging, nach hinten zu Lucie Hauck, der Kaufhallenleiterin, und bekam aus ihrem Sonderfonds für Einheimische wenigstens zwei Flaschen Klaren, gut eingewickelt. Sie ließ mich zum Lieferausgang hinaus, und ich verstaute meinen Fang wie ein Dieb in der Fahrradpacktasche. An der Bude für Leergutannahme traf ich Preckwinkels. „Jedes Jahr das gleiche Dilemma“, sagte der Professor verdrossen. „Die Verantwortlichen sind nicht in der Lage, einen kausalen Zusammenhang zwischen sommerlicher Hitze und stei-
gendem Getränkebedarf herzustellen.“ „Nicht mal den billigen Klaren haben sie“, sekundierte ihm seine Frau, „wir haben vor lauter Verzweiflung schon französischen Sekt gekauft.“ „Unerhört“, murmelte ich schlechten Gewissens. Dann siegte mein besseres Ich. „Im Kühlschrank hab ich noch ne Flasche Klaren. Wenn Sie Lust haben, kommen Sie doch nachher mal rüber.“ „Besten Dank“, entgegnete Frau Preckwinkel, „aber solange der Kriminalist bei Ihnen residiert, würden wir ja nur stören.“ Er trat einen Schritt näher und erkundigte sich leise: „Gibts denn schon irgendwelche Ergebnisse?“ Ich nickte und sagte genauso leise: „Sie sollen den Mörder gefaßt haben.“ „Und wer ist es?“ fragten beide wie aus einem Munde. „Das möchte ich auch wissen“, antwortete ich. Später, am Hafen, sah ich den Sheriff. Wir grüßten einander von weitem. Am liebsten hätte ich ihn angesprochen, um zu hören, wann Werner zurückerwartet wurde.
14. Am späten Vormittag sitze ich in einem Büro des Instituts für Futtermittelforschung in Neuenplathen. Ein freundlicher, heller Raum mit kräftigen grünen Rankengewächsen, wie sie bestimmt nicht an das liebe Rindvieh verfüttert werden. Zusammen mit den leise summenden Ventilatoren und den halbgeschlossenen Sonnenrollos vermitteln sie jene unnachahmliche Atmosphäre, wie sie unsere Szenenbildner für Filme zu
schaffen verstehen, die in Kreisen des kapitalistischen Managements spielen. Dafür ist die junge Frau mir gegenüber handfeste DDR-Wirklichkeit: Dr. Ingrid Börnicke, Parteisekretär des Instituts. Das sind die Lichtpunkte meines Berufes, mitten im Dienst Leute zu treffen, bei denen man es bedauert, sie nicht zu seinen paar privaten Freunden zu zählen. Da findest du weder die kühle Reserviertheit des Intelligenzlers noch die unnatürliche Katzbuckelei des geistigen Kleinbürgers oder gar die mit Hohn und Unsicherheit durchwachsene Ablehnung, wie sie bestimmte junge Menschen uns „Bullen“ gegenüber von vornherein zur Schau tragen. Hier hast du das Gefühl, mit einem Partner auf gleicher Ebene zu sprechen, der sofort begreift, um was es dir geht. Aber ich sehe schon, jetzt werde ich zum Schwärmer, vielleicht auch nur, weil mich die Dame Börnicke mächtig an meine Frau erinnert, wie ich sie vor zehn Jahren kennenlernte. „Bei meiner Funktion ist es nicht immer leicht, mit ihm auszukommen“, sagt mein Gegenüber. „Ich weiß ja nicht, was ihr euch für Vorstellungen macht, er ist zwar Genosse, aber das zählt bei manchen Wissenschaftlern nicht halb soviel wie die Zahl von Veröffentlichungen in bestimmten Fachblättern. Professor Siegfried Preckwinkel, das ist inzwischen ein Begriff, auch international, verstehst du?“ „Ich bin ja nicht doof“, sage ich lächelnd. „Vor – warte mal – sechs Jahren komm ich hierher, also frisch von der Uni. Ich wollte eigentlich ans Institut für… aber wie das so ist… Mann, war das hier ein finsterer Laden, nicht äußerlich, die neuen Gebäude standen schon. Aber da-
mals regierte hier noch der große Daubenbeck, wird dir kein Begriff sein. Das ist der Mann, der die Methode der wissenschaftlichen Grastrocknung erfunden hat, kommt zwar auch bloß Heu raus… Aber vor diesem würdigen Greis im Silberhaar lagen sie alle auf dem Bauch. Und sieben Genossen in dem ganzen Stall, einer davon der Pförtner, einer der große Daubenbeck selber. Aber der war schon so weit jenseits von Gut und Böse, daß er auf den Parteiversammlungen immer von seiner Wandervogelzeit schwärmte und unsern Karl Marx gelegentlich mit dem gleichnamigen katholischen Reichskanzler der Weimarer Republik verwechselte.“ „Wie ist denn so ein Mann überhaupt in unsere Reihen geraten?“ frage ich. „Darüber gibt es nur Gerüchte. Er soll sehr scharf auf öffentliche Ehren und eifersüchtig auf gleichaltrige Kollegen gewesen sein, die in mehr Gremien Mitglied waren als er. Wie er in den frühen fünfziger Jahren auf einem Symposium mit unsern Parteiabzeichen am Rock erschien – so erzählt es die Legende – , soll er geäußert haben: In diesem Verein bin ich als erster zum Ehrenmitglied ernannt worden.“ „Na schön“, sage ich, „verlassen wir das Reich der Fabel. Wie ich die Akademie kenne, steht trotzdem eine Büste vom großen Daubenbeck in irgendeinem Treppenflur. Und wie ging es weiter?“ „Die Partei sagte zu uns Jüngeren: Hier muß frische Luft rein, ihr seid die Salzsäure, die sich durch die morschen Rohre fressen soll.“ „War das ein Chemiker?“ werfe ich ein. „Nein, unser
Bezirkssekretär. Aber in der Praxis war das gar nicht so einfach. Viele unserer guten Fachleute hielten zu Daubenbeck, weil er sie in Ruhe ließ.“ „Und die jüngeren Wissenschaftler? Wurden die da nicht kribblig?“ Ingrid Börnicke sieht mich erstaunt an. „Was ihr so für Vorstellungen habt, Genosse Wadzeck. Die Haltung eines Wissenschaftlers hängt nicht vom Lebensalter ab. Da gibt’s Absolventen, die rechnen sich schon im ersten Jahr hier ihre spätere Rente aus. Mit dreißig sind sie vollendete Spießbürger, ziehen sich in ihr Schneckengehäuse zurück, sowie man auch nur ein kleines bißchen mehr von ihnen verlangt. Und andere ackern als Sechzigjährige noch bis zum Umfallen.“ Ich blicke verstohlen auf die Uhr, obwohl mich das Thema brennend interessiert. „Welche Rolle spielte Professor Preckwinkel?“ „Zunächst keine sehr aktive, obwohl für uns feststand, daß nur er als Nachfolger in Frage kam. Er hatte Erfolge, kadermäßig alles klar, Jugendfunktionär der ersten Stunde, aber er litt, wie viele damals, an der Vorstellung: Nur wer wissenschaftlich nicht weiterkommt, versucht, über die Parteimitgliedschaft Karriere zu machen. Über den Punkt haben wir wochenlang mit ihm debattiert. Als es sich dann wirklich nicht mehr verbergen ließ, daß aus dem Munde des berühmten Daubenbeck nur noch warme Luft herauskam, begann Preckwinkel selber um das Institut zu fürchten, das er ja mit aufgebaut hatte. Daubenbeck wurde Ehrenpräsident eines internationalen Gremiums, wo er keinen Schaden anrichten konnte, und Preckwinkel
übernahm zu unserer Freude die Leitung des Instituts. Erst ein Vierteljahr später hat er von sich aus um Aufnahme in die Partei gebeten. Tja…“ Sie verstummt und schaut mich abwartend an. Ich überlege: Er wollte sich’s mit beiden Seiten nicht verderben, vor der Parteigruppe nicht als Karrierist dastehen und den Kleinbürgern beweisen, daß er allein auf Grund seiner Tüchtigkeit vorwärtskam. Laut sage ich: „Na, und nun läuft’s wohl ganz gut unter der Leitung des Genossen Professor?“ Mein Gegenüber steht auf und öffnet das Fenster einen Spalt breit. „Entschuldige, es ist sehr schwül heute.“ Sie setzt sich aufs Fensterbrett. „Nu ja, Probleme gibts auch. Zuerst schien hier ein recht frischer Wind zu wehen, aber bald kopierte Preckwinkel – sicherlich ungewollt – den Alten, weißt du, eine gewisse Egozentrik, vielleicht noch verständlich bei seinen Leistungen und seinem Ruf, aber Menschenführung, da fehlt ihm irgendwas…“ ,,Du magst ihn nicht, Genossin Börnicke?“ unterbreche ich sie und hätte mir im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Die Parteisekretärin mustert mich fast spöttisch. „Das dürfte Ihnen doch schnurzpiepe sein, Genosse Wadzeck. Wie ich weiß, ist es im Moment nur Ihr Recht, Fragen zu stellen, aber ich möchte jetzt trotzdem erst mal wissen: Liegt etwas gegen unsern Institutsdirektor vor, wenn ja, was? Haben Sie den Verdacht, er könnte seinen ehemaligen Mitarbeiter Doktor Boelssen umgebracht haben? Geht es hier um Boelssen, wie Sie mir am Anfang unserer Unterredung sagten, oder um den Genossen Preck-
winkel?“ Verdammter Mist! Die geht aber ganz schön ran, und schuld daran bin ich selber, weil ich schon wieder meine absolut unbegründete Aversion gegen Preckwinkel genährt habe. Ich rette mich in die unverfängliche Redensart: „Das sind gleich einige Fragen auf einmal. Machen Sie das Fenster ruhig ganz auf! So, und nun Antwort Nummer eins: Es geht um das Verhältnis Boelssen – Preckwinkel. Warum ist Boelssen aus dem Institut ausgeschieden?“ Ingrid Börnicke brüht uns nun doch den Kaffee auf, den ich am Anfang abgelehnt habe, aus eigener Tasche, betont sie, und ich erfahre folgende Geschichte: Boelssen, nicht ausgelastet mit seiner Arbeit, knobelte schon unter dem großen Daubenbeck an einer Entdeckung herum, die eigentlich nichts mit seinem Aufgabengebiet zu tun hatte. Von Preckwinkel dann erhoffte er sich grünes Licht für die Weiterarbeit. Der aber kehrte den Chef heraus, erklärte die Angelegenheit für abseitig und nutzlos und untersagte Boelssen die weitere Nutzung der Forschungseinrichtungen für seine Versuche. Der ignorierte das Verbot und provozierte bewußt ein Disziplinarverfahren gegen sich. Die Parteileitung übte Kritik an den Methoden des Direktors und setzte sich für Boelssens Versuche ein. Für Preckwinkel wurde das Ganze zu einer Prestigefrage. Ihm ging es nicht mehr um die Sache, sondern um seine gerade erst mühsam eroberte Autorität im Hause. Dennoch hätte er in diesem Falle eine Niederlage einstecken müssen, noch dazu in Gegenwart von Vertretern der Bezirksleitung, wäre Boelssen in seinem schon krankhaften Mißtrauen nicht auf ein recht unfaires Mittel verfallen.
Während der Sitzung, als alles für ihn zu laufen schien, entdeckte ein Berliner Akademieprofessor, daß unter dem Sitzungstisch Mikrofone angebracht waren. Es kam zu einem unheimlichen Krach. Boelssen versuchte sich zu rechtfertigen. Er habe die Debatte auf Tonband mitschneiden lassen, damit man ihm hinterher, wie er sagte, nicht das Wort im Munde umdrehen könne. „Schlimmer hätte er die Genossen, die für ihn einstanden, nicht kränken können“, sagt Ingrid Börnicke leise. „Nun hatte Preckwinkel Oberwasser und konnte nachweisen, daß Doktor Boelssen ein hinterhältiger Querulant sei. Der hat sofort die Konsequenzen gezogen und das Institut verlassen. Wir sahen keine Notwendigkeit, ihn davon abzuhalten. Die Atmosphäre war zu sehr vergiftet.“ Für ihn oder für euch? denke ich, obwohl – der Tote ist mir durch diese Erzählung keine Spur sympathischer geworden. „Hat Boelssen hier am Institut persönliche Freunde gehabt?“ frage ich. „Einen schon. Günter Rogge, Verfahrenstechniker. Er ist heute noch bei uns. Damals hat er Boelssen bei seinen Experimenten geholfen.“ „Das ist also die Sache“, sage ich, „die der Genosse Professor inzwischen schöpferisch weiterentwickelt hat?“ Sie schaut mich verwundert an. „Das ist nicht mein Fachgebiet, aber daran arbeitet seit etwa zwei Jahren ein Forschungskollektiv. Vielleicht unterhalten Sie sich darüber mal mit unserm Günter Rogge.“ Das habe ich sowieso vor. Ich schüttle ihr die Hand, bedanke mich für die Auskünfte und sage mein Sprüchlein her, daß unser Gespräch als streng vertraulich behandelt
werden muß. Sie bringt mich an die Tür, blickt mich nachdenklich an und schüttelt wie unwillkürlich den Kopf. Ich muß lächeln. „Na, jetzt verkneifst du dir doch eine Bemerkung oder Frage. Nun sag’s schon!“ „Irgendwas ist hier unlogisch, Genosse Wadzeck“, erwidert sie. „Du willst darauf hinaus, daß unser Professor den Boelssen vom Institut weggegrault und später selber an dessen Verfahren weitergearbeitet hat.“ „Und was ist daran unlogisch, Genossin Börnicke?“ „Daß ihr so tut, als wäre Preckwinkel verdächtig, seinen alten Widersacher Boelssen aus dem Wege geräumt zu haben. Umgekehrt wäre es logischer gewesen.“ „Das habe ich in diesem Falle schon mal gehört. Da wir aber davon ausgehen, daß Mord in letzter Konsequenz nie logisch ist, bin ich auch diesmal damit geschlagen, den Widerspruch einer Unlogik zu klären.“ „Ich möchte nicht mit dir tauschen“, entgegnet sie. „Schönen Dank für das Kompliment“, sage ich mit einem traurigen Grinsen. Wie ich den weißgestrichenen Flur entlanggehe, frage ich mich, ob ich lieber in diesem Institut arbeiten möchte. Meine Antwort fällt eindeutig aus.
15. Zum achten Geburtstag schenkte mir meine Tante Käthe ein erbauliches Bilderbuch. Darin wurde in munteren Verslein von zwei recht unterschiedlichen Knaben und ihren Taten berichtet, einem artigen und einem bösen. Der artige hieß Hans und war blond. Der böse hieß Alois und trug ungermanisch krause
schwarze Locken. Trotz meiner störrischen dunklen Igelfrisur, die meine Mutter vergeblich mit gutem Schweineschmalz zu glätten suchte, erkor ich Hans mit dem lieblich glatten Poposcheitel zu meinem Vorbild, wie es offensichtlich sowohl der Verfasser als auch meine Tante Käthe beabsichtigt hatten. Im Augenblick wurde ich lebhaft an eine der aufwühlendsten Episoden aus jenem Buch erinnert: Draußen scheint die liebe Sonne, und der nahe Teich ladet zum Bade. Der brave Hans erledigt seine Schulaufgaben, da naht der nichtsnutzige Alois und ruft: „Komm, laß uns in dem Wasser tummeln! / Den Lehrer können wir beschummeln!“ Darauf Hans: „Geh nur alleine zu den Teichen! / Ich will im Leben was erreichen!“ Na, und wie geht die Geschichte aus? Der leichtsinnige Alois wagt sich ins tiefe Wasser und wird nur von einem zufällig des Weges kommenden Flaksoldaten vor dem feuchten Tode errettet. Man steckt den Knaben ins Bett er versäumt die Schule und bleibt am Ende sitzen. Der Hans hingegen, in seinem unsagbaren Fleiße, wird Klassenbester und bekommt zum Lohne von den Eltern einen großen Napfkuchen. Ich saß trotz dreißig Grad Hitze im Haus und nahm mir nach Jahrzehnten den später von mir so schnöde verlachten Hans wiederum zum Vorbild. Den ersten Bogen hatte ich in die Maschine eingespannt. Ich stand noch einmal auf und mixte mir in der Küche einen Cuba libre: Eiswürfel, einen doppelten Rum, das Glas mit Cola aufgefüllt. Es klingelte so lieblich, daß ich erst mal das ferne Havanna hochleben ließ, bevor ich mir ein neugefülltes Glas mit ins Zimmer nahm. Ich öffnete rundum alle Fen-
ster in der törichten Hoffnung auf Durchzug. Dann schaute ich, immer diesen blöden Hans vor Augen, verdrossen in mein Expose zum Stück. Ein heiteres Gegenwartsstück sollte es werden. Von dem Grundeinfall war der Chefdramaturg begeistert: Ein junger Mann, Kulturreferent in einer kleineren Stadt, kämpft darum, einen verkrauteten See in ein Naherholungszentrum zu verwandeln. Daraus scheint nichts zu werden. Die Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Kombinat und der Kreisleitung verhindern alle Initiative. Da lernt der Held per Zufall eine hochgestellte Persönlichkeit kennen, deren schwarze, von innen zum Teil mit Gardinen verhängte Limousine auf dem Transit durchs Kreisgebiet eine Motorpanne hat. Mein Held, gelernter Autoschlosser, wird zum Helfer in der Not. Die Persönlichkeit plaudert freundlich mit ihm, erkundigt sich nach Sorgen und Problemen. Nun packt der Junge aus, und das hat Folgen, obwohl besagte Persönlichkeit viel zu klug ist, sich in die örtliche Demokratie einzumischen. Aber mit der Vorstellung, er könne ja jederzeit darauf zurückkommen, schafft es der junge Mann allein, sich durchzusetzen. Das allerdings war die erste Fassung. In der vierten, an die ich mich nun machen mußte, ist die hochgestellte Persönlichkeit zum Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises geschrumpft. Dieser war früher Autoschlosser und hilft der ungeschickten Jungintelligenzlerin beim Beheben einer Mopedpanne. Beide kommen einander menschlich näher und lösen schließlich das Problem Naherholungsgebiet gemeinsam. Ich solle nicht verges-
sen, sagte der Chefdramaturg, ein paar Chansons einzustreuen, denn das Stück habe Chancen, ins Fernsehen übernommen zu werden, und schließlich lebe ich ja auch nicht vom Brot allein. Damit die Geschichte nicht zu banal, sondern künstlerisch überhöht wirke, würden die beiden Hauptdarsteller, zumindest in der Bühnenfassung, in Clownsmasken agieren. Ich trank meinen zweiten Cuba libre, fluchte ein wenig vor mich hin und schwelgte in dem Gedanken, als schwarzlockiger Alois eben doch den Lehrer zu beschummeln und an den FKK-Strand zu gehen, da stand Willi Kuhle im Zimmer. „Laß dir man nich stören“, sagte er und hatte keine Ahnung, wie gern ich mich stören ließ, „ick muß mir mal ‘n Moment von meine Familie erholen. Dauernd Ballspielen, Pferdchen machen und Hafen für die ollen Plastboote buddeln, det hält ja keen Tropenarzt aus bei die Hitze.“ Er schnupperte an meinem Glas. „Bei wat bisten jrade anjekommen?“ Ich deutete auf das unbeschriebene Blatt in der Maschine. „Erster Akt, erste Szene. Sitzungssaal im Rathaus Krampenow.“ Er winkte grinsend ab. „Laß man stecken, Mark. Zweiter Akt: Willi Kuhle, Berufskraftfahrer, zur Zeit ohne Räder, hat verkehrspolizeilich nicht anfechtbaren Durscht.“ Eigentlich wollte ich es bei zwei Cuba libres belassen. Ehrlich! „Kann man trinken“, meinte Willi herablassend, „muß man sich merken, falls det Bier mal knapp wird aufe Insel.“ Er drehte an meinem Radio herum, bekam aber auch keinen vernünftigen Sender herein, nur einen Schweden,
der, soweit mich mein perfektes Südschwedisch nicht trog, gerade populärwissenschaftlich über die Verdaulichkeit der „reenen Kauhmelk“ plauderte. Vielleicht war es auch eine Sendung der Ferienwelle zu Ehren Fritz Reuters. „Du Mark“, sagte Willi, „du weeßt et wahrscheinlich schon aus erster Hand?“ „Was?“ „Tu doch nich so! Det se den Mörder von den Tierarzt jeschnappt ham.“ Ilse hatte es auch gesagt. Mir schien es unwahrscheinlich. Ich kannte den Drang zur Gerüchtemacherei auf dieser Insel. Werner ermittelte auf dem Festland. Als Krimileser neigte ich zu komplizierten Lösungen, und, ich gebe das heute zu, meine Vorstellungen bewegten sich zu dem Zeitpunkt in bestimmten Gleisen. „Willi, ich schwör’s dir, ich habe nicht die geringste Ahnung.“ Er zuckte die Schultern. „Jott, ick dachte. Es soll sojar ‘n Einheimischer sein. Mehr wußte der Professor ooch nich.“ „Ist er unten am Strand?“ Willi nickte. „Det übliche Bild wie ne Wagneroper: Tristan schnarcht, und die schöne Isolde weeß nischt mit sich anzufangen.“ Der Knabe Alois grinste mich herausfordernd an. Ich stand auf und langte nach meinem Bademantel. „Du bist schuld“, sagte ich zu Willi, „ich wollte heut wirklich arbeiten.“ In meiner Burg hatten sich ein paar junge Bengels breitgemacht. Ihr Kofferradio quäkte von irgendwelchen Rivers of Babylon. Sie zickten nur mäßig herum, als ich auf
meine Eigentümerrechte verwies, und zogen maulend mit ihrer Heule davon. Die Bezeichnung „Strandopa“ kränkte mich nur unwesentlich. Ich breitete meinen Bademantel aus, zog mir die Kapuze über den Kopf und beschloß, etwas Ergötzliches zu träumen. Statt dessen hörte ich aus der Nachbarburg:…. by the Rivers of Babylon…“ Ich assoziierte Heine: „In dumpfem Schlaf lag Babylon…“ Jetzt kommt Belsazar und wird kreidebleich: Per Telex quasi erscheint als Wandschrift das „Menetekel upharsin“. „Marcus, darf ich Sie mal stören?“ sprach eine liebliche Stimme, deren Trägerin ich auf Anhieb nicht in die Heine-Ballade einzuordnen vermochte. Ich fuhr hoch. Vor mir stand Isolde Preckwinkel, überall braungebrannt, Aphrodite an nördliche Gestade entrückt. Mühsames Erwachen heuchelnd, schielte ich nordwärts. Kein weißer Streifen unterhalb des Busens. Wie macht die Frau das in ihrem Alter? Dieses Weib – ganz nackt – , nein, mit einer Zigarette, die sie mir entgegenhält: „Entschuldigen Sie, ich dachte, Sie haben vielleicht Feuer?“ Ganze Höllenbrände könnte ich jetzt entfachen, dachte ich und besann mich auf meinen Vorsatz, endlich ein gereifter, seinem mittleren Alter entsprechender Mensch zu werden. Aber da saß Isolde schon auf der anderen Hälfte meines Bademantels. „Sie werden eine böse Nacht haben“, sagte sie und kramte in meiner Strandtasche, „das wird ein Sonnenbrand, wie er im Buche steht. Darf ich?“ Sie begann meinen Rücken mit einer Sonnenschutzemulsion einzubalsamieren. Ich lag ganz still, glücklicherweise bäuchlings, und kam mir vor wie die
berühmte Mumie des Ritters Kahlbutz. Vielleicht hat den auch mal ein weibliches Wesen so lieblich gesalbt, daß er dachte, du kannst ja noch gar nicht verwesen, da kommt ja noch was viel Schöneres. „Marcus“, sagte Isolde Preckwinkel, „wir sind schon so lange Nachbarn, und nun diese gräßliche Geschichte.“ Heine war weg und auch sonst alles. Ich setzte mich auf und steckte mir eine Karo an, obwohl ich mir geschworen hatte, wenigstens am Strand nicht mehr zu rauchen. „Machen Sie sich keine Gedanken, Isolde!“ Das war alles, was mir einfiel. „Es geht nicht um mich“, fuhr sie fort. „Ich fürchte, Siegfried wird noch allerhand Scherereien bekommen;“ „Bloß weil dieser Tierarzt früher mal bei ihm gearbeitet hat?“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Boelssen hat meinen Mann am Sonnabend hier aufgesucht.“ Na und? dachte ich. Das war mir nichts Neues. Isolde sprach zögernd weiter: „Es kam zu einer unangenehmen Szene. Ich… habe hinter der Tür gestanden und alles mit angehört. Das ist sonst nicht meine Art, aber ich hatte Angst um Siegfried. Dieser Boelssen war ein sehr brutaler Mensch und in seiner Wut zu allem fähig. Er hat Siegfried angeschrien: Sie haben mir meine wissenschaftliche Arbeit geklaut!“ Ich wurde hellhörig. „Isolde, wenn Sie mir das schon erzählen, sagen Sie mir offen: Hatte Boelssen Grund zu dieser Beschuldigung?“ Sie zuckte die Schultern. „Ich verstehe zwar nicht viel von juristischen Dingen, aber ich glaube, Boelssen war
im Unrecht. Mein Mann hat in der Fachzeitschrift einen Sonderdruck veröffentlicht, in dem er einige Dinge aus Boelssens früherer Arbeit am Institut hat einfließen lassen. Wir haben hinterher, am Sonnabend, darüber gesprochen, und er gab zu, daß er eigentlich Boelssens Namen hätte erwähnen müssen. Na schön, er war ja bereit, eine Erklärung an die Redaktion zu schicken…“ „Und damit war Boelssen nicht zufrieden?“ „Sie wollten sich am Abend in der Sanddornklause treffen und noch mal in Ruhe alles besprechen: Als Boelssen von uns wegging, schien er mir schon etwas friedlicher gestimmt.“ „Was denn?“ fragte ich verblüfft. „Die beiden haben sich noch am selben Abend getroffen? Ist Ihnen klar, was Sie mir da erzählen?“ „Schreien Sie doch noch lauter“, zischte sie vorwurfsvoll, „daß es alle am Strand hören! Sie haben sich gar nicht getroffen. Als Siegfried in die Sanddornklause kam, saß Boelssen mit einem Einheimischen am Tisch und war betrunken. In diesem Zustand konnte man nie vernünftig mit ihm reden. Da Siegfried einen neuen Auftritt oder womöglich Gewalttätigkeiten fürchtete, ist er lieber unverrichteterdinge nach Hause gekommen.“ Mir hatte es erst mal die Sprache verschlagen. Der ehrbare Professor Preckwinkel läßt also unter seinem Namen Boelssens Forschungsergebnisse drucken. Dem platzt der Kragen. Er fährt auf die Insel, stellt seinen ehemaligen Chef zur Rede und setzt ihn unter Druck. Wenn das kein handfestes Mordmotiv war: einen Erpresser zu beseitigen! Trotzdem fiel es mir schwer, in dem Superästheten
einen primitiven Totschläger zu sehen. Und außerdem begriff ich nicht, warum diese Frau ihren abgöttisch geliebten Mann gleichsam ans Messer lieferte. Mein Schweigen beunruhigte Isolde offensichtlich. Sie schien trotz der hochsommerlichen Hitze zu frösteln. „Sie glauben doch nicht, Siegfried selber hätte…? Es heißt, sie haben den Mörder im Dorf verhaftet. Marcus, Sie wissen bestimmt etwas!“ „Ich zerbreche mir genauso wie Sie den Kopf. Aber warum geht Ihr Mann nicht selber zu Hauptmann Wadzeck und erzählt ihm, was er weiß – alles, ohne Aussparungen?“ „Ich hab ihm das auch geraten, und er sieht es ein. Aber haben Sie kein bißchen Verständnis für seine entsetzliche Lage?“ Sie rückte unwillkürlich ein Stück von mir ab. „Es geht ja nicht allein um diesen… Totschlag.“ „Nein“, fiel ich ihr ins Wort, „es geht um sein Renommee, Hauptmann Wadzeck wird Ermittlungen im Institut führen, und dabei können Dinge zur Sprache kommen, die Ihren Mann als Wissenschaftler belasten.“ Ihre Stimme zitterte. „Marcus, alles, was er sich in den vielen Jahren geschaffen hat, doch nicht für sich, für sein Institut – er hat ja nur für seine Forschung gelebt – , soll das alles auf einen Schlag vernichtet sein – bloß wegen einer winzigen Nachlässigkeit, weil er vergessen hat, einen Namen zu nennen? Er war bereit, das alles in Güte zu regeln. Ich selber würde Boelssen zur Vernunft bringen, wenn er noch lebte. Siegfried weiß übrigens nicht, daß ich mit Ihnen darüber rede.“ , , ‘ „Gehen Sie lieber zurück in Ihre Burg, sonst denkt er
noch sonstwas!“ sagte ich unfreundlich. Ich spürte, wie meine Abneigung gegen den Professor wuchs. Trotzdem tat mir wider allen Verstand Isolde leid. „Warum erzählen Sie mir das? Ich bin nur halb so neugierig, wie Sie denken.“ „Marcus!“ Sie griff nach meiner Hand, was mir unter anderen Umständen vielleicht sogar angenehm gewesen wäre. „Ich bitte sie, nicht für mich, nur für meinen Mann! Herr Wadzeck ist ein guter Freund von Ihnen. Sie könnten ein Wort für Siegfried einlegen… ich meine, daß die Angelegenheit mit dem Sonderdruck in Fachkreisen nicht breitgetreten wird. Gibt es nicht auch bei den Kriminalisten so eine Schweigepflicht wie bei den Ärzten?“ „In einem Mordfall kaum.“ Ich erhob mich ächzend. Meine Wirbelsäule schmerzte. Viel schwimmen, hatte mir Doktor Scherer geraten. Ich gab mir Mühe, ein tröstliches Wort zu finden. „Wenn Ihr Mann nichts mit dieser üblen Sache zu tun hat, wird das andere halb so wild.“ Das klang ziemlich lahm, ich war selber nicht davon überzeugt. „Kommen Sie mit ins Wasser?“ Sie schüttelte den Kopf und stand auf. „Haben Sie vielen Dank!“ Sie sah mich an, stumme Bitte in den Augen. So deutlich hatte ich noch nie die kleinen Falten um ihren Mund bemerkt. Ich rannte ins Wasser, ohne mich abzukühlen. Ein blaugelber Ball landete aufspritzend hinter meinem Kopf. „Hierher!“ schrie Kühles Älteste. Ich warf den Ball zurück und sah dabei, wie Isolde langsam, mit leicht hängenden Schultern am Strand entlang schlenderte. Über der Düne kreisten zwei Sturmmöwen.
Ich hatte eine Stinkwut – auf mich, in meiner Rolle als Knabe Alois, auf Willi Kuhle, auf die Preckwinkels – und wünschte mir nur eines: daß sie wirklich den Mörder gefaßt hätten, daß die Luft wieder sauberer würde auf dieser Insel.
16. Wir sitzen allein im Klubraum des Instituts. Die Fenster sind geöffnet, die Jalousien heruntergelassen, aber nur so weit, daß schmale Streifen Sonnenlicht hindurch dringen. Ich muß ständig meine Kopfhaltung ändern, um nicht geblendet zu werden und mein Gegenüber nicht nur als Schattenriß zu sehen. Mir klebt die Zunge fast am Gaumen. Da soll man nun scharf überlegen und dabei die Reaktionen des andern beobachten. Günter Rogge steht auf. „Wenn Sie gestatten, besorg ich uns was zu trinken, Herr Wadzeck. Wir können uns auch an einen anderen Tisch setzen, wenn Sie die Sonne stört.“ „Nicht der Rede wert“, murmele ich, schiebe aber schon meinen Stuhl beiseite. Günter Rogge mag Ende Dreißig sein, sieht bestimmt in zehn Jahren noch genauso gut aus. Würde er als Schauspieler aus dem Fernseher rausgucken, geriete meine Frau wie ein Teenager aus dem Häuschen: zwei Köpfe größer als ich, breitschultrig, blond, gepflegter Vollbart, Pfeifenraucher. Keine Spur von Arroganz, eher eine leichte Gehemmtheit, die nicht zu seiner Erscheinung paßt. Ich sagte ihm ohne langes Drumrumreden, daß Rudolf Boelssen tot ist, ließ ihm Zeit, als ich merkte, daß seine
Hände zitterten, erzählte ihm im wesentlichen, was wir wissen. Nach einer Weile räusperte er sich und meinte leise: „Rudi hätte nicht auf die Insel fahren sollen. Ich stehe Ihnen selbstverständlich zur Verfügung.“ Während er draußen ist, denke ich kurz über den fatalen Doppelsinn dieses Satzes nach, aber was solls. Hier will einer Auskunft geben, damit das Verbrechen an seinem Freund aufgeklärt wird. Rogge stellt zwei beschlagene Gläser mit Wasser auf den Tisch. „Alles andere ist ausgegangen“, erklärt er lächelnd, „Hochsommer, Sie wissen ja…“ „Danke“, sage ich, „das löscht am besten den Durst. Sie wußten also, warum er auf die Insel gefahren ist?“ Er setzt sich wieder. „Natürlich. Rudi wollte Professor Preckwinkel zur Rede stellen. Wegen eines Sonderdrucks. Eine biochemische Abhandlung…“ Ich hole wortlos die Broschüre aus der Tasche und lege sie auf den Tisch. Rogge stutzt einen Moment. „Ach, Sie sind schon im Bilde?“ „Das wäre zuviel gesagt. Da Sie damals mit Boelssen an dem Problem gearbeitet haben, verraten Sie mir bitte eines: Handelt es sich hier um ein Plagiat oder nicht?“ Er antwortet nicht gleich, stopft den Tabak in seiner Pfeife fest und zündet sie wieder an. „Professor Preckwinkel ist eine international geschätzte Persönlichkeit.“ „Das höre ich heute zum zweiten Mal. Gibt es eigentlich schon Entwürfe für ein Denkmal?“ Er grinst ein bißchen. „Wenns nach ihm ginge… Gut, er ist sozusagen sehr selbstbewußt. Aber er wäre ja ein
Schwachkopf, falls Sie meinen, er hätte Rudis Material einfach übernommen und unter seinem eigenen Namen veröffentlicht. So was muß über kurz oder lang ans Licht kommen.“ „Es wäre also falsch, anzunehmen, Professor Preckwinkel hätte seinerzeit Boelssen aus dem Institut verdrängt, um sich später seine Forschungsergebnisse anzueignen?“ „Ausgeschlossen. Damals war das Problem gar nicht akut. Selbst heute steht noch nicht fest, welcher Nutzen dabei herausspringt. Der Professor hat einige Ergebnisse unserer früheren Versuchsreihen aufgenommen, aber im übrigen die Sache mit seinem Kollektiv selbständig zu Ende geführt.“ „Eine Sache, zu der Doktor Boelssen den Anstoß gegeben hat?“ Er verzieht unbehaglich das Gesicht. „Entschuldigen Sie, Herr Wadzeck. Sie sehen das alles nur aus Boelssens Sicht. Ich hab mich mit Rudi genug darüber gestritten. Er verlangte, in der Nachauflage als Mitautor genannt zu werden, wollte den Professor zwingen, eine Ehrenerklärung an den Verlag zu schreiben. Unmöglich, sag ich, da kann er sich ja gleich selber kastrieren. Und wenn überhaupt, dann überfall ihn nicht im Urlaub. Wenn man ihn bei seinen Piepmätzen stört, ist der Alte besonders empfindlich. Aber Rudi ist ja so ein Dickschädel!“ Du offenbar nicht, denke ich, du willst es mit deinem Chef nicht verderben, weil du hier warm und trocken sitzt. „Hatte er nicht doch in einem Punkte recht? Gibt es nicht auch in diesem Hause gewisse Normen des Anstands und der Moral? Hätte Preckwinkel nicht wenig-
stens vorher mit Boelssen über die Veröffentlichung reden können?“ Ich bin wohl etwas zu laut geworden. Rogge starrt mich erschrocken an. „Herr Wadzeck“, erwidert er leise, „das ist nun mal so in der Forschung. Es gibt eine gewisse Rangordnung, und die hat man zu respektieren. Genaues über die ersten Versuchsreihen wußten ja nur Rudi und ich, weil…“ „Und einer von beiden ist tot“, unterbreche ich ihn, „vielleicht weil er eine gewisse Rangordnung nicht respektierte!“ Rogge springt auf. „Wie können Sie so etwas behaupten? Na schön, der Alte ist ein Schleimscheißer, ein Intrigant, ein Diktator, alles, was Sie wollen – aber der hat’s doch nicht nötig, jemand wie Rudi umzubringen. Der sitzt so fest im Sattel und kennt bessere Mittel, sich seiner Haut zu wehren.“ Er greift sich an den Hals und setzt sich wieder, trinkt hastig einen Schluck Wasser. Sein Atem geht heftig, auf seinem Gesicht erscheinen rote Flecken. Mein erster Eindruck vom kerngesunden Sportsmann verblaßt. Es geht doch nichts über einen Freund in der Not, denke ich so bei mir. Natürlich kann der Professor weiterhin den dikken Maxen herauskehren, wenn der einzige Zeuge die Klappe hält. Aber ich will mir nicht die Alleinschuld an einem möglichen Herzinfarkt aufladen. „Entschuldigen Sie“, sagt er mit einem gequälten Lächeln, „die Hitze, mir ist schon den ganzen Tag so mulmig…“ „Dann klopfen Sie lieber erst mal Ihre Pfeife aus. Eine ganz andere Frage, wenn es Ihr Zustand jetzt noch er-
laubt: Haben Sie noch Kontakte zu Frau Boelssen?“ Rogge nickt. „Ich hatte zu beiden guten Kontakt, bevor sie…. ihm weggelaufen ist.“ „Kennen Sie die Gründe dafür?“ Er stochert in seiner erloschenen Pfeife herum. „Im Laufe der Jahre muß sich so einiges angestaut haben. Vielleicht paßten die beiden von Anfang an nicht zueinander. Aber ich möchte meinem Freund jetzt nichts Schlechtes nachsagen. Verstehen Sie das wenigstens?“ „Ja“, antworte ich kurz. „Und verstehen Sie, bitte, daß ich Ihnen meine Fragen nicht stelle, um Sie zu quälen.“ „Ist schon gut“, sagt er, „ich will Ihnen gerne helfen, soweit ich kann.“ „Darf ich mich mit einem ganz privaten Ratschlag revanchieren?“ frage ich lächelnd. „Warum sitzen Sie in dieser Lederjacke herum, wenn Ihnen die Hitze so wenig bekommt? Ich an Ihrer Stelle hätte das zweifellos hochmodische Stück längst in die Ecke gefeuert. Oder ist das eine vorgeschriebene Dienstbekleidung?“ Rogge grinst verlegen. „Ach wo, aber ich hab mir beim Mittagessen eine Portion Kirschkompott übers Hemd gekippt.“ Er öffnet den Bund und weist mir seinen bekleckerten Bauch vor. So würde ich auch nicht herumlaufen. „Aber ich ziehe mir nachher einen Kittel an.“ Ich werde wieder ernst. „Herr Rogge, Sie haben mich fast völlig davon überzeugt, daß es unsinnig wäre, Ihren Chef zu verdächtigen. Eine letzte Frage: Wer könnte sonst ein Interesse an Doktor Boelssens gewaltsamem Tod gehabt haben?“ „Das möchte ich genauso wissen wie Sie. Könnte es
nicht doch ein Unfall gewesen sein?“ Ein Telefon klingelt. Rogge steht auf und geht in eine Ecke des Raumes. „Ja, Moment“, hör ich ihn sagen, und dann: „Für Sie, Herr Wadzeck.“ Sabine Donix ist am Apparat. Es sei äußerst wichtig, und sie versuche schon seit einer Ewigkeit, mich zu erreichen. Beim Fernamt soll eine Störung vorgelegen haben. Dann muß ich erst mal die Luft anhalten. Rogge braucht das aber nicht mitzukriegen. „Wer?“ frage ich. „Und der Mann ist sich seiner Sache völlig sicher? Haben Sie ihn dabehalten? Gut… ich fahre sofort los. Dann erwische ich noch das Postboot.“
17. Gegen Abend sah es aus, als würde ein Gewitter aufziehen. Die Sonne saß in einem unförmigen dunkelgrauen Wolkensack gefangen und strahlte letzte dünne Notsignale aus. Auf dem Lichtmast bei Preckwinkels hockte eine Silbermöwe vom Format einer Junggans, reckte sich beinahe den Hals aus und schrie mich fortwährend vorwurfsvoll an. Offenbar war sie beleidigt, daß ich mich mit leeren Händen an die ihr vertraute Futterstelle gewagt hatte. Eine andere, noch eine halbe Nummer gewichtiger, kreiste über dem Mast, flog plötzlich den Hochsitz an und stieß den Schreihals kurzerhand von seinem Platz. Die Einsicht lag auf der Hand: In einer so instabilen Lage kann man sich schlecht verteidigen. Die verdrängte Emma entfleuchte ohne unnütze Protestkundgebungen auf einen ferneren Lichtmast. Ich ging ins Haus zurück, nahm den fast vollgeschriebe-
nen Bogen aus der Maschine, riß ihn – ordentlich wie ich meistens bin – zweimal durch, samt Kohlepapier und Durchschlag, und vertraute die Zeugen ehrlichen Mühens meinem verschwiegensten Freund, dem Kollegen Mülleimer, an. Vielleicht bin ich von Natur aus ein wenig faul. Aber da müßte einer wirklich eine Büffelhaut haben, sollte er spaßige Szenen zustande bringen, solange sich immer wieder der Gedanke an den fremden Mann aufdrängte, der noch vor wenigen Tagen sein hellgraues Auto nach Schapswieck gefahren hatte. Mochte er ein schlechter Ehemann gewesen sein – eine Tracht Prügel hätte ich ihm schon gegönnt. Aber müßten alle schlechten Ehemänner dieses Landes zu dieser Stunde in kompressorgekühlten metallenen Schreinen gerichtsmedizinischer Institute ruhen, so wären wir auf dem besten, also auf dem schlechtesten Wege zu einem Amazonenstaat. Vorhin war Willi Kuhle bei mir. Angeblich brauchte er einen Fahrradschlauch. Während wir ein Bier tranken, kam Leopold Hottenrodt herein. Seine Frau hätte vergessen, Zwiebeln zu kaufen. Er fiel auch gleich mit der Tür ins Haus. Ob ich schon was Neues wüßte? Ich mußte erst mal klarstellen, daß ich keine Nachrichtenzentrale sei, auch wenn zufällig Hauptmann Wadzeck bei mir wohne. „Du kannst an Strand jehn oder inne Hafenkneipe sitzen“, sagte Willi, „die Leute reden über nischt andret mehr. Ick find det langsam richtig beschissen. Die janze Urlaubslaune wird einem versaut.“ „Man informiert die Bevölkerung zu wenig“, meinte Poldi, „da kannst du sagen, was du willst. Das Foto im An-
schlagkasten. Die Leute drängeln sich davor, jeder weiß ein neues Greuelmärchen. So entstehen Gerüchte. Das kannst du deinem Hauptmann ruhig sagen.“ „Sag’s ihm doch selber, großer Mime“, entgegnete ich gereizt, „zweckdienliche Hinweise nimmt jede Dienststelle der Volkspolizei entgegen. Als du den Sherlock Holmes im ,Hund von Baskerville’ gespielt hast – soll übrigens eine ganz beknackte Aufführung gewesen sein – da kanntest du schon bei der Leseprobe den Täter.“ Hottenrodt hatte es dann ziemlich eilig, mit einem verstohlenen Dankeschön und drei Zwiebeln zu verschwinden. „Weeßte, Mark“, sagte Willi und nahm sich Zeit, sein Bier auszutrinken, „wenn eener absäuft, vielleicht aus Leichtsinn mit ne Luftmatratze und so, det is schon tragisch. Soll ja jedes Jahr hier vorkommen. Aber wenn se einen dotschlagen, hier, wo du denkst, det is son richtijet Paradies, det jeht einem an die Nieren. Da stehste da, würdest am liebsten jede Nacht Wache schieben, um det Mistvieh zu fangen, und wat kannste machen? Jar nischt. Und nu mal ehrlich, Mark: Stimmt et, det se schon einen jefaßt ham, und is et der Täter?“ Ich wußte es doch selber nicht. Eigentlich wollte ich heute abend Fischer Schlicker besuchen. Er hatte mir neulich angedeutet, daß er in dieser Woche ein paar Aale räuchern würde, aber ich zog es vor, auf Werner zu warten – falls der überhaupt heute vom Festland zurückkäme. Er. hätte längst hier sein müssen. Wahrscheinlich hatte sich irgend etwas Wichtiges ereignet, und er saß noch bei Stresow. Weniger aus Appetit als um das Warten zu überbrücken schmierte ich mir einen Butterkanten und
goß ein Glas Milch ein. Es klopfte, und ich rief mit vollem Munde: „Herein!“ Als niemand eintrat, ging ich die Tür öffnen. Draußen stand eine junge Frau mit einem Fahrrad. Der Wind hatte aufgefrischt und riß mir fast die Tür aus der Hand. Die ersten Regentropfen fielen. „Guten Abend“, sagte die Unbekannte, „ist Herr Wadzeck bei Ihnen?“ „Nein“, antwortete ich, „aber ich erwarte ihn jeden Moment. Und mit wem habe ich die Ehre?“ „Ich bin Unterleutnant Sabine Donix. Wenn Hauptmann Wadzeck noch kommt – ich müßte ihn unbedingt sprechen.“ „Da warten wir am besten gemeinsam auf ihn, aber drinnen, wenn’s Ihnen recht ist.“ Ich nahm ihr das Fahrrad aus der Hand und lehnte es gegen den Zaun. Der Regen prasselte schon heftig gegen die Scheiben. Ich half ihr aus dem Anorak. Sie setzte sich nicht gleich, sondern sah sich mit naiver Neugier im Zimmer um. Eine Kriminalistin hatte ich mir anders vorgestellt, strenger, sachlicher, ein bißchen zickig. Werners Mitarbeiterin hatte ein rundliches Kindergesicht mit Stupsnase und Sommersprossen, das aussah wie vom Eulenspiegel-Zeichner Karl Schrader gestaltet. Das blonde Haar kam mir etwas zu kurz vor, von den Beinen, die in Jeans steckten, konnte ich es mit Bestimmtheit behaupten. Die Haare würden bei Bedarf nachwachsen, mit dem anderen mußte man sich abfinden. Mir fiel das Wort eines tschechischen Kollegen ein: „Ich liebe kleine Frauen, da ist alles so hibsch dicht beisammen.“ Ihre Stimme riß mich aus derlei stummen Betrach-
tungen. „Sind Sie Schriftsteller oder Bildhauer, Herr Bockmühl?“ „Schriftsteller natürlich“, erwiderte ich verdattert. „Wieso?“ „Sonst hätte ich Ihnen gern Modell gestanden. Aber in Ihrem Alter soll man bei seinem Beruf bleiben.“ Da mir zu meinem Arger keine passende Antwort einfiel, erkundigte ich mich sachlich: „Was trinken wir?“ „Für mich ein Glas Milch, bitte, falls Sie so was im Hause haben.“ „Selbstverständlich“, versetzte ich, „Milch ist mein Lieblingsgetränk, besonders abends, wenn’s gemütlich wird.“ Als ich mit den beiden Gläsern aus der Küche kam, hatte sich’s der pummlige Unterleutnant am Tisch bequem gemacht und qualmte eine Zigarette. „Werner müßte längst hier sein, falls er mit dem Postboot gefahren ist“, meinte ich. „Vielleicht haben Sie ihn verpaßt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich war am Hafen. Das Postboot nach Ahlhöft ist ausgefallen. Nun kann er noch mit dem Boot kommen, das in Süderort landet.“ „Dann hat er aber einen schönen Fußweg bis Ahlhöft.“ „Aber er muß hier am Haus vorbei, um sich für den Rest des Weges ein Fahrrad zu holen.“ „Bei dem Wetter wird er naß wie eine Katze.“ Sie sprang auf: „Geben Sie mir einen Regenumhang für ihn und Ihr Rad! Ich fahre ihm entgegen.“ Ich blieb sitzen. „Mit zwei Rädern?“ „Das hab ich drauf.“ „Es ist verboten“, wandte ich ein, „und gefährlich.“
„Und im übrigen meine Sache!“ entgegnete sie. Ich erhob mich und unterdrückte mannhaft den gewohnten kleinen Ächzer. „Und wenn er mit einem Sonderboot kommt oder gar nicht, haben Sie sich den Weg umsonst gemacht.“ Sie nagte an ihrer Unterlippe und sagte gar nichts mehr. Ich trat ans Fenster und öffnete es. Der Regen rauschte herunter und fiel pladdernd auf die Heide. Über Rassow zuckte ein Blitz. Sie schob mich ein wenig beiseite und steckte den Kopf hinaus. „Na schön“, sagte sie seufzend und setzte sich wieder. „Warten wir.“ Nach einer Weile: „Wäre ich nicht besonders ungeduldig, so würde ich sagen, hier wartet sich’s gut.“ „Danke“, erwiderte ich, „selbstverständlich beziehe ich das Kompliment mehr auf die Räumlichkeit als auf meine Person.“ Sie sah mich groß an. „Sind eigentlich alle Schriftsteller so eitel wie Sie?“ „Ja“, antwortete ich, „und am meisten solche, die sich besonders bescheiden geben.“ „Das beruhigt mich. Dann gehören Sie also noch in die harmlosere Kategorie. Im Frühjahr habe ich in Mackenwalde Ihr letztes Stück gesehen.“ „Aha“, sagte ich erfreut, „hatten Sie Spaß daran?“ „Nein“, erwiderte sie, „ich verstehe nicht, warum die Leute über einen Ulk lachen, der nur an den Haaren herbeigezogen ist.“ Ich hätte ihr entgegenhalten können, daß das Stück mit Erfolg an vielen Bühnen gespielt wurde, mir die Macken-
walder Inszenierung allerdings selber gegen den Strich ging. Aber es war wirklich nicht mein bestes Stück. Darum verkniff ich mir die Frage, ob allen Kriminalistinnen schon in diesem Alter der Giftzahn wachse. „Sind Sie gekränkt über meine Offenheit?“ fragte sie betroffen. Ich zog eine Grimasse. „Natürlich, und das kann ich nur mit Hilfe eines Korns überwinden.“ „Geben Sie mir auch einen“, sagte sie versöhnlich, „aber nur, weil ich mich bei Gewitter so fürchte.“ Ich hob das Glas. „Auf Ihre Arbeit, Fräulein Donix! Daß Sie den Fall recht bald erfolgreich abschließen können!“ Sie nippte nur flüchtig an ihrem Glas. „Ich hoffe es“, erwiderte sie leise, und ihre Stimme klang jetzt ein bißchen traurig: „Schade, daß ich gerade hier zum ersten Male solch einem Verbrechen gegenüberstehe. Wenn alles vorbei ist, werde ich nie wieder so gern auf die Insel fahren wie früher.“ „Sind Sie heute einen Schritt weitergekommen?“ „Ich würde gern mal für einen Moment abschalten. Erzählen Sie mir was Lustiges oder meinetwegen was Freundliches von den Leuten, die hier leben!“ Zehn Minuten später kam Werner, nur mäßig naß. Der Milchfahrer, der ein paar Tanzmusiker nach Süderort transportierte, hatte ihn auf der Rückfahrt bis zu mir mitgenommen. Dank einem Anruf bei Stresow wußte Werner, daß Sabine Donix in die Heide gefahren war. „Ich nehme an, ihr habt was Dienstliches zu besprechen“, meinte ich und verzog mich in die Küche, um noch einen kleinen Imbiß zurechtzumachen.
Ich klopfte sogar an, bevor ich mit dem Tablett eintrat. „Übertreib deine Diskretion nicht“, sagte Werner, „du bist hier der Hausherr, Mäcki. Übrigens habe ich bei meinem Vorgesetzten die Erlaubnis eingeholt, dir ein bißchen Einblick in unsere Ermittlungen zu gewähren.“ Dem Blick, mit dem mich Sabine Donix maß, war zu entnehmen, daß ihr diese Erlaubnis weniger schmeckte als meine appetitlichen Fischbrote. „Gut“, erwiderte ich, „hab schönen Dank für dein Vertrauen. Du weißt, daß ich von diesen Dingen nichts herumtrage. Aber seit heute mittag hält sich hartnäckig das Gerücht, daß der Mörder schon gefaßt sei. Oder ist es kein Gerücht, und ich bin der einzige, der von nichts ne Ahnung hat?“ Werner nickte seiner Mitarbeiterin kurz zu und fragte mich: „Kennst du einen Fischer aus Ahlhöft namens Herbert Schlicker?“ „Ja, natürlich“, antwortete ich erstaunt. „Was hat denn der mit dem Fall zu tun?“ „Erzähl uns, was du für einen Eindruck von ihm hast und was man auf der Insel von dem Mann hält.“ Wo sollte ich da anfangen? „Herbert ist ein tüchtiger Fischer. Sein Kutter läuft auch dann aus, wenn viele sagen, bei dem Wetter hat’s keinen Zweck. Er kommt selten mit leeren Fischkisten in den Hafen zurück, das werden sie euch bei der Genossenschaft bestätigen. Drei nette Kinder hat er, sind sein ein und alles. Seine Frau, Kassiererin in der Kaufhalle, sieht aus wie ne graue Maus, sagt aber meistens nicht mal piep. Wenn Herbert nicht mit dem Kutter draußen ist, werkelt er meistens am Haus rum, eines der gepfleg-
testen Anwesen auf der Insel, sieht man schon am Vorgarten. Den Herbert haben Berufsgärtner gefragt, wie er das bloß macht mit seinen herrlichen Rosen…“ „Schon gut“, unterbrach mich Werner, „mir kommen gleich die Tränen. Warum hast du noch keine Fischeroper geschrieben?“ Ich stand auf. „Laßt es euch schmecken! Der Korn steht im Kühlschrank. Ich geh schlafen.“ „Mein Gott“, sagte Sabine, „der Genosse Wadzeck wollte Sie doch nicht beleidigen.“ „Mit dir als Hilfsmitarbeiter haben wir vielleicht einen Fang gemacht“, knurrte Werner, „du… Künstler!“ Ich schluckte auch das noch herunter und setzte mich wieder. „Dann sagt genauer, was ihr wissen wollt!“ Rasch goß ich mir einen Korn ein. Sabine wehrte dankend ab. Werner hielt mir sein Glas hin. Ich goß es, ihm zum Trotz, bis an den Rand voll. Werner grinste. „Damit wären wir beim Thema. Säuft dein prächtiger Fischersmann nicht ab und zu mehr, als er vertragen kann?“ Ich setzte mein Glas ab, ohne davon getrunken zu haben. „Es gibt hier im Umkreis nicht allzuviel reine Englein, die nur Süßmost schlürfen, falls der zufällig mal in der Kaufhalle vorrätig ist. Ein moderner Apostel, der hier über gesunde Lebensweise und die folgerichtige Schädlichkeit des Alkohols predigen wollte, würde bedeppert wieder abziehen. Er hat ja noch nie einen knackigen Winter hier erlebt. Kein Kino wie im Sommer. So gut wie keine Kulturveranstaltungen. Der Bodden zugefroren. Die Verbindung zum Festland abgeschnitten wie vor hundert Jahren. Schneesturm, der die Lichtmasten umsä-
belt, daß du im Dunkeln sitzt und nicht mal mehr das Sandmännchen und Willi Schwabe dein Herz erfreuen. Und dann kommt das Tauwetter. Du watest nur in Gummistiefeln durch den Matsch. Wenn du aufstehst, heult das Nebelhorn. Putzt du dir abends die Zähne, zerrt das Geheul noch immer an deinen Nerven. Und das Leben geht weiter. Die Arbeit will gemacht werden. Ich hab in dem letzten schlimmen Winter auf der Insel gesessen und mir seitdem geschworen, über bestimmte Eigenheiten der Einheimischen kein Wort mehr zu verlieren. Und wenn ich heute einen wie den Herbert Schlicker am Hafen treffe, trinken wir ein Bier zusammen, und das finde ich völlig in Ordnung.“ Sabine nickte mir zu. „Schlicker hat vor drei Jahren unter Lebensgefahr eine Frau aus nem Eisloch gezogen. Weiß ich vom ABV.“ Werner trank einen Schluck Korn. „Man sollte derlei Plädoyers den Verteidigern überlassen. Bisher, Mäcki, gibt es noch keinen Angeklagten. Ist dir bekannt, ob Herbert Schlicker unter Alkoholeinfluß zu Gewalttätigkeiten neigt?“ „Solange man keinen Streit mit ihm sucht, ist er gutmütig wie ein Kind. Man darf ihn nicht provozieren. In einer Ralshagener Kneipe, weiß ich von ihm selber, haben ihn angetrunkene Thüringer einen faulen Fischkopp genannt. Darauf hat er das Lokal eigenhändig geleert und die Gebirgsfreunde einzeln auf die Straße geschmissen. Der letzte Hieb ging daneben. Ich weiß nicht, ob ihr den ,Alten Seehund’ kennt? Mitten in der Gaststube ist ein Holzpfeiler mit einer Art Normaluhr. Fünf vor zwölf haute Schlicker zu. Danach standen die Zeiger auf halb
sechs. Seitdem ist Schlicker im ,Alten Seehund’ persona non grata.“ Meine Erzählung löste nicht die geringste Heiterkeit aus. Werner und Sabine warfen sich einen Blick zu. Sabine zog ein Notizbuch aus ihrer Tasche. „Heute vormittag“, sagte Werner, „kommt der Fischer Herbert Schlicker, feingemacht, mit Schlips und Kragen, zu Stresow und bezichtigt sich aus freien Stücken des Totschlags, begangen letzten Sonnabend an der Person, deren Foto wir an der Anschlagstafel ausgehängt haben.“ Vermutlich machte ich bei dieser Eröffnung kein sehr gescheites Gesicht. „Woher kannte er denn Doktor Boelssen?“ fragte ich endlich. Ich mußte daran denken, daß Herbert noch im Frühjahr genau auf Sabines Platz gesessen und uns Seemannsshantys aus der Fahrenszeit seines Großvaters vorgesungen hatte. Sabine blätterte in ihren Aufzeichnungen, und so erfuhr ich folgendes: Herbert war, wie er sagte, am Sonnabend nach einem Bier zumute gewesen. Er fuhr mit dem Rad los, schloß es in Lüchting an einen Zaun an und stieg zu Fuß hinauf ins Hochland. Das muß gegen Abend gewesen sein, an die genaue Zeit konnte er sich nicht erinnern. In der Sanddornklause war es ziemlich voll, und so setzte er sich an einen Tisch, an dem ein anderer Mann saß. Der hatte nach Herberts Worten schon „son beten infoahren“. Er sah nicht aus wie ein Urlauber, eher wie eine Eintagsfliege; das sind Leute, die aus einem anderen Ferienort mit dem Ausflugsschiff für ein paar Stunden auf die Insel kommen und – laut Herbert – die Steilküste zertrampeln oder in der Kneipe sitzen. Dieser Mann hatte schlechte
Laune. Herbert bestellte in wohlmeinender Absicht gleich zwei große Biere und zwei große Klare und versuchte, mit dem Fremden ein Gespräch anzuknüpfen, erfuhr aber nicht viel mehr, als daß jener nur kurz auf der Insel wäre und beim Fuhrmann Otto Lüttjehann wohnte. Immerhin bestellte Boelssen nun seinerseits Lage um Lage, und Herbert Schlicker wollte sich auch nicht lumpen lassen. Er wußte nicht mehr genau, wie die Rede auf die Ahlhöfter Postzustellerin gekommen wäre. Aber da wurde Boelssen plötzlich munter. Schlicker meinte wohl, er hätte den Fremden durch seine Erzählungen scharf, auf „uns Ilsing“ gemacht, wollte die Sache wieder abschwächen und meinte, das sei eine, bei der nicht jeder landen könnte. Da müßte schon ein Studierter kommen. Irgend so ein dämlichen Viehdoktor hätte dieses herrliche Weib sausen lassen. Plötzlich stand der Fremde auf und sagte: „Halt endlich deine Schnauze, du dreckiger Fischkopp!“ Schlicker sah daraufhin rot und verlangte, der andere solle dieses Schimpfwort sofort zurücknehmen. Der aber wiederholte den Ausdruck und schüttete dem Fischer obendrein ein Bier ins Gesicht. Die Serviererin versuchte noch dazwischenzugehen, doch die beiden waren schon zu sehr in Rage. „Komm mit raus, Fischkopp, erzähl mir noch mehr über die Postmieze!“ hätte der Fremde gesagt. Dann brannten bei Schlicker alle Sicherungen durch. Er wußte nur noch, daß sie hinausgegangen sind und sich geprügelt haben. „Ich habe ihn mehrmals gefragt“, beendete Sabine ihren Bericht, „wo haben Sie sich geschlagen? Können Sie uns die Stelle zeigen? Wer hat angefangen? Wie sind Sie
nach Hause gekommen und wann? Ich kriegte nur noch eine Antwort: ,Dat weit ick nich miehr.’ Schließlich gab er dem Genossen Stresow die Schlüssel zu seinem Kutter und sagte: ,Nun könnt ihr mich einsperren.’ Seine Sachen hätte er schon mitgebracht.“ „Er wußte also gar nichts mehr, völliges Vakuum. Aber daß er den Tierarzt totgeschlagen hat, will er genau wissen?“ warf ich ein. „Und daraufhin haben Sie ihn verhaftet?“ Sabine schüttelte heftig den Kopf. „Nachdem er seine Aussage unterschrieben hatte, hab ich ihn nach Hause geschickt und ihn gebeten, fürs erste die Insel nicht zu verlassen. Stresow hat mir zwar bittere Vorwürfe gemacht, aber der Fischer läuft uns bestimmt nicht weg.“ „Gut so“, bemerkte Werner, „das war richtig von Ihnen. Morgen früh verfolgen wir die Sache weiter.“ Er öffnete das Fenster. „Was für ein sternenklarer Himmel. So was sieht man auf dem Festland selten. Genossin Donix, wir brauchen morgen einen ausgeruhten Kopf.“ Sabine stand auf. „Schönen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Herr Bockmühl. Und schlafen Sie trotz allem gut!“ „Moment, Werner“, sagte ich rasch, „selbstverständlich bringe ich Fräulein Donix nach Hause.“ „Quatsch“, erwiderte er und gähnte, „gönn mir bloß das bißchen frische Luft. Wasch unterdessen ab und setz noch mal Kaffeewasser auf!“ Ich wünschte Sabine eine gute Nacht und meinte, daß wir hoffentlich auch mal unser Literaturgespräch fortsetzen könnten. Es klang jämmerlich phrasenhaft, und weil ich mich so darüber ärgerte, zerbrach ich beim Abwaschen
gleich ein Schnapsglas. Das war an diesem Abend ein bißchen zuviel auf einmal. Die Sache mit Herbert Schlicker ging mir arg an die Nieren, aber offensichtlich glaubten ihm Werner und Sabine den Totschlag genau sowenig wie ich. Der pummlige Unterleutnant war mächtig in meiner Achtung gestiegen. Wenn ich mir so überlegte, wie vorschnell unsereins über junge Leute urteilt, die einfach sagen, was sie denken, kam ich mir wie einer jener gnatzigen Opas vor, über die wir mit fünfundzwanzig nicht gerade die respektvollsten Reden geführt hatten. Doch wer hatte den Tierarzt umgebracht? Es mußte ihm nach der Schlägerei noch jemand anders begegnet sein. Schließlich war seine Leiche nicht auf dem Hochland, sondern viele Kilometer südlich davon, am Bodden, aufgefunden worden.
18. Verdammt noch mal, ich kann nicht einschlafen. Die absolute Stille um mich herum läßt mich immer wacher werden. In meiner Rostocker Wohnung sind so viele Geräusche, die mich anfangs störten: das ferne Typhon eines Frachters im Überseehafen, die nahe Klospülung des blasenschwachen Nachbarn, in besonders stillen Nächten das Rattern der Niethämmer in der Warnowwerft, die Druckluftbremse des Nachtbusses, Beatgestampfe aus der Disko. Inges ruhige Atemzüge neben mir. Wenn ich das jetzt höre, hör ich’s im Schlafe. Hier aber ein bedrohliches Schweigen, so still, daß ich aus der Wand ein leises Wispern vernehme: Noch immer
läuft der Mörder frei herum! Laß dir was einfallen, Wadzeck! Ich habe mir eine Arbeitshypothese zusammengebastelt, den Sonderdruck der „Wissenschaftlichen Mitteilungen“ in der Tasche. Als ich aus Neuenplathen zurückfuhr, hätte ich Professor Preckwinkel zwar nicht gern die Hand gegeben, ohne sie mir rasch hinterher zu waschen, aber seinen, Namen auf der Liste meiner möglichen Täter habe ich in Gedanken dick durchgestrichen. Solche Kerle machen sich nicht die Hände schmutzig. Viel wichtiger erscheint mir, was Sabine mir auf der nächtlichen Fahrt nach Ahlhöft über ihr Gespräch mit Ilse Boelssen erzählt hat. Auch Rogges Ausweichen, als ich nach Boelssens Ehe fragte. Aber muß man jemanden umbringen, wenn man statt dessen nur eine Scheidungsklage einzureichen braucht? Warum verteidigt Mäcki die Frau Boelssen wie ein Held seine Geliebte? Ich glaube, er überschätzt seine Fähigkeiten als Amateurkriminalist. Genau wie früher besteht er zu neunzig Prozent aus Gefühl. Ob das gut ist für einen Literaten? Sollte man dieser Berufsgruppe nicht so ein Verhältnis vierzig zu sechzig zur Pflicht machen, wie es bei Tanzmusikern üblich ist, wenn es um den Anteil der Westschlager an den Tanzabenden geht? Aber wie ich die Schriftsteller kenne, wäre eine administrative Anordnung da noch wirkungsloser als bei gewissen Diskjockeis. Bloß nicht ungerecht gegen Mäcki sein. Als Gastgeber sticht er jedes Interhotel aus. Und ohne ihn hätten wir so bald nicht erfahren, daß sich Preckwinkel am Abend des Tattages mit Boelssen auf dem Hochland treffen wollte. Immer wieder das Hochland!
Sabinchen hat ziemlich am Anfang unserer Arbeit gefragt, ob denn Tatort und Fundort überhaupt identisch sein müßten. Vielleicht alles Blödsinn, und die Lösung ist vulgärer, als wir dachten. Dieser Raufbold Schlicker schlägt Boelssen zusammen und stürzt ihn die Steilküste hinunter. Gut, aber wie kommt die Leiche in den Bodden? Es hat keinen Zweck. Ich kann nicht mehr einschlafen, und klar denken kann ich auch nicht mehr. Ich stehe auf. Über Rassow wird es schon hell. Ich ziehe meinen Trainingsanzug an, schleiche mich die Treppe hinunter und angle mir Mäckis Bademantel vom Haken. Den Weg zum Strand kenne ich noch von damals her. Ich hätte nie gedacht, daß zu dieser Jahreszeit der Dünensand unter den Fußsohlen so kühl sein kann. Ich schwimme bis zum Buhnenkopf durch das unbewegte Seewasser. Als ich mich abtrockne, ist wieder die absolute Stille der Insel um mich. Jetzt müßte man eine Zigarette rauchen, um wenigstens die winzige Explosion des Streichholzkopfes zu hören. Später muß ich fest eingeschlafen sein. Max hat Mühe, mich wach zu kriegen. Wir reden nicht viel beim Frühstück. Ich rechne es ihm hoch an, daß er, dieser gelernte Morgenmuffel, schon so früh auf den Beinen ist. Als ich ins Dorf fahre, kreisen krächzend Saatkrähen über mir. Die Jungkühe muhen ungeduldig, weil der Trecker mit dem Trinkwasser noch nicht da ist. Der Milchfahrer hupt hinter mir. Ich soll ausweichen. Die Betonstraße ist zu schmal. Wir winken einander zu. Unter den Schäfchenwolken lärmt ein Hubschrauber. Ich mag heute alle Ge-
räusche. Selbst eine Parade des Feuerwehrblasorchesters, falls es hier so was gibt, könnte mich nicht verärgern. Im Dienstzimmer des ABV begrüßen mich Stresow und Sabine Donix. Sie weist auf meinen Platz am Schreibtisch. „Für Sie, Genosse Hauptmann. Hab ich mir vom Munde abgespart.“ Ich traue meinen Augen nicht, als ich den Teller mit einem Stück Räucheraal erblicke. „War hier gestern abend ein Diplomatenempfang, Genosse Stresow?“ erkundige ich mich, während mir das Wasser im Munde zusammenläuft. „Ich hab ja man einen ordnungsgemäßen Angelschein“, sagt er mit todernster Miene. Gemeinsam sortieren wir noch einmal die Erkenntnisse des gestrigen Tages, versuchen, alle Informationen in ein überschaubares System zu bringen. Sabine staunt nicht schlecht, als ich ihr erzähle, daß Professor Preckwinkel am Abend der Tat auf dem Hochland war, um sich mit Boelssen zu treffen. „Dann müßte jemand zu finden sein“, meint sie, „der ihn gesehen hat.“ „Und wenn er dat ganz von selber zugibt?“ wirft Stresow ein. „Das hätte er einfacher haben können“, sage ich, „wenn er’s uns gleich erzählt hätte. Wahrscheinlich hat er nur Schiß, wir glauben ihm nicht, daß er dem angetrunkenen Boelssen aus dem Wege gegangen sei.“ Sabine überlegt. „Moment mal, das würde doch voraussetzen, er weiß, daß Boelssen auf dem Hochland getötet würde. Und das wissen bisher nicht mal wir.“ „Doch“, widerspreche ich und blättere in meinen Noti-
zen. „Laut Auskunft des Seehydrographischen Dienstes kann bei den Wind- und Strömungsverhältnissen in jener Nacht die Leiche nur vom Nordufer der Insel öder von der offenen See her angetrieben sein.“ „Oder“, wendet die Genossin Donix ein, „Boelssen wurde tatsächlich am Bodden getötet, wo man ihn gefunden hat.“ „Unwahrscheinlich. Wenn wir annehmen, daß seine Armbanduhr nicht zufällig um neunzehn Uhr achtundvierzig stehenblieb und daß die Aussage des Fischers Schlicker stimmt“, ich trete an die Wandkarte, „so liegen mindestens neun Kilometer Luftlinie zwischen dem Hochland und dem Leichenfundort. Genosse Stresow, wie lange würden Sie brauchen, um von der Sanddornklause bis zu der Stelle am Bodden zu gelangen?“ „Zu Fuß gut und gerne zwei Stunden.“ „Und mit dem Auto?“ „Dat wäre doch jemand aufgefallen“, überlegt er. „Für gewöhnlich fährt ja gar kein Auto bis da oben rauf. Die Lebensmittel und so bringt Schimmel-Otto mit seinem Pferdewagen. Tja…. am schnellsten ginge es noch mit einem Boot.“ Ich beende die Debatte und rufe die Dienststelle an, informiere Oberstleutnant Klatt über den Stand der Ermittlungen und über unsere nächsten Maßnahmen. Klatt hat offensichtlich schlechte Laune. „Ziemlich mager“, kommentiert er meinen Bericht, „die Staatsanwaltschaft wird nicht gerade jubeln. Doktor Günther hielt mir gestern schon vor, ihr würdet euch zu sehr auf die Insel verbiestern. Der Täter kann am anderen
Morgen auf dem Festland in einen Zug gestiegen sein und geht jetzt in Zella-Mehlis oder Magdeburg seelenruhig seiner gewohnten Beschäftigung nach. Dann hätten wir kostbare Zeit verspielt.“ Darauf sage ich gar nichts. „Werner, bist du noch dran?“ „Ja“, sage ich grimmig, „mir ist bloß eben der Gummi in meiner Badehose gerissen. Im übrigen sehe ich bisher keinen Grund, unseren Ermittlungen eine andere Richtung zu geben. Habt ihr in Rostock auch so herrliches Wetter?“ Ich höre ihn deutlich schnaufen. Entweder explodiert er jetzt, oder… „Du alte Pfeife“, sagt er, „mach man so weiter! Dann gehen wir wenigstens alle zusammen baden! Brauchst du nicht doch einen Haftbefehl für diesen Fischer?“ „Noch nicht. Eventuell reicht mir eine vorläufige Festnahme.“ Nach dem Telefonat verteile ich unsere Arbeit. „Sabine, Sie unternehmen sofort mit Leutnant Stresow einen Ausflug ins Hochland. Sehen Sie sich ein bißchen in der Sanddornklause um und befragen Sie das Personal! Wer hatte am Sonnabend Dienst? Wer hat etwas von der Schlägerei zwischen Boelssen und Schlicker mitbekommen? Wer von unseren… Bekannten wurde an dem Abend dort noch gesehen? Wir treffen uns nachher wieder hier.“ Als ich mit dem Rad die Dorfstraße entlangfahre, muß der letzte Frühstücksdurchgang in den Ferienheimen schon seine Marmeladenbrötchen verputzt haben. Die Familien ziehen mit Windschutz, Bademantel, Luftmatratze, Kühltasche, Ball und Kofferradio an den Strand. Ich halte kurz an der Andenkenbude. Die beiden ältlichen Tantchen, die dort bei Regen und Sonnenschein
Käptn Brass, Klaus Störtebeker, Fahrtenmesser, preiswerte Sonnenbrillen und Panthenol-Spray für verbrannte Busen und Ärschlein feilbieten, scheinen in ihrem Leben nie schlechte Laune gekannt zu haben. Kein Wunder, ihr Geschäft florierte schon zu meiner Abiturientenzeit. Ich kaufe eine Ansichtskarte und nehme mir fest vor, heute noch ein paar Grüße an mein verwaistes Rudel in Bad Rauenstein zu schicken. Das eine der beiden Tantchen wickelt die Karte sogar in Seidenpapier ein, beugt sich zu mir herüber und fragt flüsternd: „Schon was Neues, Herr Kommissar?“ „Noch nicht“, flüstere ich zurück, „aber heute abend läuft im Zeltkino ,Der Zinker’ von Edgar Wallace. Muß man gesehen haben!“ Ich fahre an der „Schwarzen Mühle“ vorbei. Marcus hat mir von dem Kunstmaler Läkenmacher aus Hundeluft bei Dessau erzählt, der schon vor Olims Zeiten die verfallene Mühle zu einem Atelier ausgebaut hat. Ein weißhaariger Greis begießt im Vorgarten ein paar hohe Malvenstöcke. Ob das der Goya des Nordens persönlich ist? Wenn ich demnächst im Tele-Lotto gewinne, kaufe ich ihm eine seiner genialen Insellandschaften ab. Aber wie ich mich kenne, nehme ich doch lieber einen Farbfernseher. Ich biege in den Wiesenweg zu den Heidehäusern ein.
19. Am liebsten wäre ich schnell mal ins Dorf gefahren und hätte ein paar Takte mit Herbert Schlicker geredet. Der saß ganz schön in der Tinte, aber ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, daß er einen
Menschen totgeschlagen habe. Verdammte Sauferei! Ich nuckelte an einer Buttermilch. Es hatte keinen Zweck und wäre auch unfair gewesen, Werner dazwischen zu pfuschen. Ich wandte mich wieder meinen Salzheringen zu. Unter dem Gesichtspunkt, daß ich wohl in den nächsten Tagen noch häufig Gäste haben würde, war es gut, eine große Schüssel Heringsbissen bereitzustellen. Man muß den gewässerten Fisch filetieren und abziehen, darf es nicht an süßer Sahne fehlen lassen, nur knickrige und unerfahrene Hausfrauen begnügen sich mit saurer Sahne oder gar Joghurt. Man braucht Äpfel, Gewürzgurken und Zwiebeln, soll auch nicht sparen an schwarzem Pfeffer und Piment, hingegen mit Lorbeerblättern geizen. Je zwei Löffel Zucker und Weinessig runden den Geschmack ab. „Ich denke, du sitzt an deiner Maschine und arbeitest?“ riß mich Werners Stimme aus meinen kulinarischen Erwägungen. Die Möwen, die schon lustvoll auf die Heringsabfälle gelauert hatten, stoben ärgerlich plärrend davon. „Warum bist du nicht konsequent und hängst deinen Beruf an den Nagel?“ fragte er grinsend. „Gehst nach Saßnitz in die Produktion und, kommst als schreibender Fischverarbeiter mit gereimten Makrelenrezepten zu höchsten Ehren.“ Hätte mich meine Dramaturgin am hellichten Tage bei dieser vulgären Tätigkeit erwischt, es wäre mir kaum peinlicher gewesen. „Wasch dir deine Fischpfoten und komm mit!“ sagte Werner. „Ich muß mit Schlicker reden. Es ist gut, wenn du dabei bist.“ Herbert saß auf der Bank hinter seinem Haus. Jörgi, der
kleinste von den Schlickerjungen, zog seine Rotznase hoch und sah dem Vater zu, der an einem Kinderroller herum schraubte. „Tag, Herbert“, sagte ich, „das ist Hauptmann Wadzeck aus Rostock. Er möchte was mit dir besprechen.“ Herbert ließ den Roller fallen und sprang auf. „Jörgi“, rief er dem Jungen zu, „du gehst mal fix Ordnung machen in eurer Stube!“ Der Kleine sah uns erstaunt an, trollte sich aber gehorsam ins Haus. Herbert senkte den Kopf und fragte leise: „Is so weit, ja?“ „Herr Schlicker“, sagte Werner sachlich, „ich habe noch ein paar Fragen an Sie.“ „Wollen Sie reinkommen?“ Werner nickte mir unauffällig zu. „Laß man, Herbert“, sagte ich, „hier draußen sitzen wir ganz gut.“ Ich setzte mich auf die Bank und holte Zigaretten hervor, bot Herbert eine an. Er schüttelte stumm den Kopf. „Herr Wadzeck ist ein Schulfreund von mir“, begann ich, „ich sollte ihm zeigen, wo du wohnst.“ „Setzen wir uns doch lieber“, sagte Werner und nahm neben mir Platz, „oder dachten Sie, ich lege Ihnen jetzt Handschellen an?“ Vorsichtig zwängte sich der große, starke Kerl zwischen mich und die Banklehne, obwohl neben Werner eine viel breitere Sitzfläche frei war. Ich rückte beiseite. „Mensch, Herbert, was hast du dir für eine Scheiße eingerührt!“ Er schlug sich mit seiner Bärenpranke an die Stirn. „We-
ken verteilst du dat? Ick möt ja wull total duhn west sien! Na, tau Not ward Hannchen dei Gören ook allein grootmoaken!“ „Hören Sie auf mit dem Gejammer!“ sagte Werner. „An Ihre Kinder hätten Sie eher denken sollen! Vielleicht haben Sie noch eine Chance, aus dieser üblen Lage herauszukommen. Sie müssen versuchen, sich genau an alles zu erinnern.“ „Das versuch ich man dauernd. Denken Sie, ich kann noch ruhig schlafen?“ „Das ist dein Problem, Herbert“, sagte ich. „Aber nun nimm dich mal zusammen. Wen hast du an dem Abend in der Sanddornklause außer diesem Doktor gesehen?“ Er schloß die Augen. Eine Weile kam nichts. Dann begann er laut zu überlegen: „Malte Hauck und seine Brigade, oder war dat am Sonnabend davor? Der dicke Jacobs, aber der sitzt ja meistens da. Ein paar aus Lüchting bestimmt, aber aus Ahlhöft? Uns Ilsing…“ Er blickte auf. „Wie ich die sehe, muß ich doch mit dat Thema anfangen, und dann war ja der Krach auch schon da.“ Ich wäre beinahe zusammengezuckt. „Ilsing“, sagte Werner ruhig. „Meinen Sie die Postzustellerin, Frau Boelssen?“ Herbert nickte heftig. „Ja, ganz bestimmt. Aber die haben nur an der Theke Zigaretten gekauft und waren ganz fix wieder raus.“ Werner bohrte weiter: „Sie sagten, die haben an der Theke Zigaretten gekauft?“ Herbert sah mich verwirrt an: „Jau, anne Theke, hebb ick ju doch seggt.“
Werner fuhr fort. „Herr Schlicker, mit wem war Frau Boelssen, die Ilsing, zusammen?“ „Weiß ich nich.“ Er hob die Schultern. „Keiner, den man so kennt.“ „Könnten Sie uns den Mann beschreiben?“ fragte Werner. Herbert rieb sich verzweifelt die Augen. „Dat is wie weggeblasen. Ich hab doch gar nich darauf geachtet, Herr Hauptmann.“ Mir kam ein Gedanke. „Säg mal, Herbert, hast du jemand von den Leuten aus der Heide gesehen, von den Sommerhausbewohnern?“ Werner warf mir einen ärgerlichen Blick zu. Aber schon kam Herberts Antwort: „Ja doch“, sagte er beinahe erfreut, „den Professor mit die kurzen Hosen, der dat Haus bei dir gegenüber hat. Der hat mich mal ausgefragt wegen Mantelmöwen und Kormorane. An dem Abend hat er da hinter dat Grünzeug inne Ecke gesessen, dat könnt ick noch aufmalen.“ „Ist der Professor vor oder nach Ihnen rausgegangen?“ fragte Werner. Herbert stützte den Kopf in die Hände. „Ick weit dat nich miehr“, murmelte er hilflos, „ick bin man völlig alle.“ Werner stand auf. „Vielleicht fällt Ihnen irgendwann noch mehr ein, Herr Schlicker. Sie halten sich weiter zur Verfügung.“ Jörgi linste um die Ecke. „Vadding“, rief er, „du hest mi versproaken…“ Er zeigte vorwurfsvoll auf den Roller. „Komm her!“ rief Werner dem Jungen zu. „Jetzt hat Vati Zeit, deinen Roller ganz zu machen. Morgen muß er viel-
leicht schon wieder auf seinen Kutter.“ Herbert grinste ungläubig. Als er uns zur Gartenpforte begleitete, legte er mir seine Hand auf die Schulter. „Gaud, dat dau metkoämen bist. Ick harr kein Wuurt rutkreegen.“ Wir stiegen auf unsere Räder. „Darf ich dich wenigstens auch mal einladen?“ fragte Werner. „Ich habe gehört, in der ,Heidelerche’ ißt man ganz manierlich.“ In dem holzgetäfelten Saal waren nur wenige Tische besetzt. Bei diesem Hochsommerwetter verzichteten viele Urlauber auf das Mittagessen und blieben lieber in ihrer Strandburg. Übermorgen würden sie sich wieder in Scharen um Eintrittskarten zur Heide-Disko balgen. Es war das allsonnabendliche Ereignis der Saison, zumal hier weder Frack- noch Jeanszwang herrschte. Wer wollte, durfte sogar barfuß tanzen, soweit er saubere Füße hatte. Der Diskjockei, amtlich Schallplattenunterhalter genannt, ein junger schwarzbärtiger Riese mit Schlapphut und betonter Ähnlichkeit mit Fidel Castro, beherrschte sein Publikum zwischen sechzehn und achtzig so souverän wie früher der Tanzmeister das Alte Ballhaus zu Berlin. Krawalle und Rüpeleien waren undenkbar. Vielleicht hätte sich Boelssen lieber hier mit Preckwinkel verabreden sollen. Werner riß mich aus meinen Gedanken. „Ist dir während der Unterhaltung mit Schlicker auch ein Licht aufgegangen?“ „Nein“, antwortete ich. „Wieso? Er war zu besoffen. Ihm fehlen ein paar Meter Film.“ „Falsch. Ihm fehlt nicht ein Zentimeter. Er hat Angst, er könnte zuviel verraten. Er ist ein schlechter Schauspieler,
und du bist ein mäßiger Beobachter. Sonst wäre dir aufgefallen, wie dieser etwas langsame, aber keineswegs unintelligente Typ haargenau überlegt hat, was er ohne Schaden preisgeben kann und was nicht. Seine Denkpausen hat er mit Gesten herzzerreißender Hilflosigkeit kaschiert.“ „Die Herren wünschen?“ fragte der Ober und legte uns eine handgeschriebene Speisekarte vor. „Am besten, Sie verraten uns, was Sie heute selber gegessen haben, Herr Möller“, sagte ich. „Dann nehmen Sie man dat Gedeck: Brühe mit Ei, Gulasch mit Rotkohl, als Nachtisch Apfelmus.“ „Warum lächelt er denn so vielsagend?“ fragte Werner, nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatten. „Weiß er, daß der Gulasch schon seit der Vorsaison täglich aufgewärmt wird?“ „Der Gulasch ist hier wirklich gut“, erwiderte ich, „und Herr Möller lächelt immer so, das ist seine Natur. Wie kommst du darauf, daß uns Schlicker belogen hätte?“ „Nicht belogen. Er hat etwas verschwiegen, vermutlich weil er meint, jemanden decken zu müssen – genau wie du übrigens, mein lieber Mäcki“ Ich sagte gar nichts mehr. „Denkst du“, fuhr er unbarmherzig fort, „mir ist nicht aufgefallen, wie dein Wunschdenken darum kreist, Professor Preckwinkel möge wegen Mordverdachts festgenommen werden? Er ist dir zuwider, gut, ich möchte ihn auch nicht zum Freund und schon gar nicht als Vorgesetzten haben. Ich setze voraus, du weißt wie ich noch nicht genau, wer da oben mit Boelssen abgerechnet hat.
Aber du fürchtest um jemand, den du sehr magst, und den – oder besser gesagt die – verteidigst du bewußt und unbewußt. Jetzt mal raus mit der Sprache – warum?“ Mir war sehr jämmerlich zumute. Ich kam mir vor, als läge nicht Boelssen, sondern ich selber auf dem Seziertisch. Der Ober brachte Brühe, Gulasch und Apfelmus auf einmal. „Einen großen Klaren noch, Herr Möller“, sagte ich. „Die Brühe könnte heißer sein“, meinte Werner. „Heut is ja man draußen sehr warm“, entgegnete Herr Möller und schritt lächelnd von dannen. „Du hast was mit Ilsing, ja?“ sagte Werner. Ich schüttelte den Kopf. „Nicht deswegen, und es ist schon lange her. Ilse kann keinen Menschen umbringen.“ Er aß seinen Gulasch, mit Appetit, wie mir schien. So was bringt der Beruf mit sich. „Max, du hast doch Phantasie, und etwas Logik gehört ja wohl auch in dein Fach. Boelssen will sich nicht scheiden lassen. Er betrachtet die Frau als seinen Besitz. Sie schüttet einem Mann, der sie liebt, ihr Herz aus. Beide machen einen Plan. Sie locken Boelssen auf die Insel, verabreden sich mit ihm zu einer Aussprache. Das Steilufer bietet eine günstige Gelegenheit. Die Leiche treibt ins offene Meer. Ilse Boelssen ist frei und erbt obendrein Haus, Auto und Sparkonto.“ „Pfui Deibel“, sagte ich. „Mit dir möchte ich nicht tauschen!“ „Dito“, gab er zurück, „du machst dir deine Figuren zurecht, wie du sie brauchst. Ich muß mich mit dem abfinden, was mir in die Quere kommt. Du hast gehört, Ilse war an dem Abend mit einem Mann in der Sanddornklause. Schlicker kann sich partout nicht erinnern, wie
der Mann ausgesehen hat. Kein Wunder, er will dich nicht verraten. Und nun sag mir, wo du Sonnabend zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Uhr gewesen bist! Und nenne mir Zeugen!“ Mir wurde siedendheiß. „Ich bin an den Strand gegangen und dann am Wasser entlang, bis es dunkel wurde. Kurz vor Süderort hab ich die Straße überquert und die Wiesen, bin dann auf der Boddenseite bis in Höhe der ,Heidelerche’ marschiert und von da aus nach Hause. Aber wie spät es war, weiß ich nicht, und ich habe auch keinen Bekannten getroffen.“ „Boddenseite“, sagte er nachdenklich, „dann bist du also am Binsenort vorbeigekommen, wo am anderen Morgen die Leiche gefunden wurde.“ „Jetzt reicht es mir!“ Ich sprang auf und stieß den Stuhl zurück. „Sag doch gleich, daß ich der Mörder bin!“, Er packte mich am Arm. „Mach hier keinen Affen, Mäcki! Ich weiß genau, daß du nichts mit der Sache zu schaffen hast. Aber jetzt sagst du mir gefälligst ohne Rücksicht auf dritte Personen die Wahrheit! Und wenn dein Gedächtnis nicht völlig kaputt ist, fällt dir vielleicht sogar ein, ob du die Boelssen mal mit irgendeinem Mann zusammen gesehen hast.“ Der Ober trat an den Tisch und brachte meinen Klaren. „Der Gulasch war wirklich frisch, Herr Bockmühl“, erklärte er treuherzig lächelnd und lud meine unangerührte Portion aufs Tablett. Ich kippte den Korn in einem Zuge herunter und beichtete Werner nicht nur meine alte Geschichte mit Ilse, sondern auch mein gestriges Gespräch mit ihr. Während ich
erzählte, fiel mir ein, daß ich Ilse schon im Mai ein paarmal mit einem Mann im Seglerhafen gesehen hatte. Einmal saßen sie im Cockpit eines Kreuzers. Sie hatte lachend zu mir herübergewinkt, als ich mit dem Rad vorbeifuhr. „Kannst du dich erinnern, wie der Mann aussah?“ wollte Werner wissen. Ich überlegte angestrengt. „Ein sportlicher Typ, blond, glaube ich.“ Mehr konnte ich ihm beim besten Willen nicht sagen. Als Werner zahlte, blieb ich noch sitzen. Mir war sehr elend zumute. Der Ober muß es mir angesehen haben. Lächelnd brachte er mir zwei doppelte Klare. Auf die Art sparte er sich einen Weg.
20. Als wir uns im Dienstzimmer wieder zusammenfinden, erwähne ich nur kurz Mäkkis Hinweis auf den Segler. Der ABV zieht die Stirn kraus. „Inne Saison müssen die Boote angemeldet sein, aber im Mai, da wird dat ja noch etwas großzügiger gehandhabt. Manche bleiben auch bloß ein, zwei Nächte.“ „Es müßte sich doch überprüfen lassen“, wirft Sabine ein, „welche Boote in der Nacht vom 2. zum 3. August im Seglerhafen gelegen haben.“ „Vorausgesetzt, der Mann, den wir suchen, hatte sich tatsächlich angemeldet“, sage ich. Auf Stresows Stirn stehen kleine Schweißperlen. „Ich kann ja man nich jede Nacht den Seglerhafen kontrollieren. Es kommt schon mal vor, daß uns einer durch die
Maschen rutscht. Ich werd mal die Unterlagen raussuchen und Ihnen ne Aufstellung machen.“ Er ist offenbar froh, daß er Land gewinnen kann. „Nächsten Monat wird er neunundfünfzig“, sagt Sabine mitfühlend. „ Möchten Sie auf dieser Insel einen Sack Flöhe hüten und dazu noch den ganzen Schreibkram erledigen, Genosse Hauptmann?“ „Ich will Ihrem lieben Opa Stresow doch nicht den Kopf abreißen. Tatsache ist, wir müssen diesen Segler finden. Und jetzt berichten Sie von der Sanddornklause!“ Sabine zuckt die Schultern. „Sehr bedeutend war unsere Ausbeute nicht. Der Objektleiter bestätigte, daß der Mann auf dem Foto, also Boelssen, an Schlickers Tisch gesessen hat. Von dem Streit hat er hinter der Theke kaum was mitgekriegt. Die Gaststätte war knüppeldickevoll, eine Reisegruppe, irgendwelche internationalen Wissenschaftler, die noch am selben Abend mit einem Sonderschiff die Insel verlassen haben. Ich fragte, wer an Schlickers Tisch bedient hat. Eine Kollegin Brigitte Bellmann, aber die hat heute bis zum Nachmittag frei.“ Ich schaue auf die Uhr. Es ist zehn nach zwei. Sabine folgt meinem Blick. „Sie meinen, wir sollten gleich noch einmal…? Wäre es nicht wichtiger, sich erst die Boelssen vorzunehmen und nach dem Segler zu fragen?“ „Wir haben bisher eine Kleinigkeit übersehen“, sage ich. „Geben Sie mir mal den Obduktionsbefund rüber.“ Rasch habe ich entdeckt, was ich suche. „Hier schreibt Doktor Holtz von leichten Würgemalen am Hals der Leiche, geht aber nicht näher darauf ein, vermutlich, weil es sich um keine ernsthafte Verletzung handelt. Da, auf dem Foto
können Sie es ganz deutlich erkennen, auf der Vergrößerung noch genauer. Nun verraten Sie mir, von wem diese Würgemale stammen!“ Sabine betrachtet die Bilder aufmerksam. „Wahrscheinlich von Schlicker. Es hat ein Handgemenge gegeben und…“ Ich schüttle den Kopf. „Stresow hat erzählt, daß Schlicker in seiner Armeezeit mal geboxt hat. Solche Leute gehen bei einer Prügelei dem andern nicht an den Hals. Und haben Sie sich seine Pranken angesehen? Das hier waren viel kleinere Hände.“ „Also doch Ilse Boelssen? Dann wäre der Segler ihr Komplize, und sie würde sich hüten, uns diesen Mann zu verraten!“ „Wir wollen hier am Schreibtisch keine voreiligen Schlüsse ziehen, sondern uns lieber noch mal auf dem Hochland umschauen.“ „Zweimal an einem Tag da rauf und runter“, sagt sie, „das ist ja schon Leistungssport für ein schwaches Weib wie mich.“ Ja, denke ich, und deine Beinchen werden immer kürzer. Als ich am Zaun fluchend Luft in den fast platten Hinterreifen pumpe, schiebt Sabine Stresows Moped durch die Gartenpforte. „Er borgt es uns“, sagt sie strahlend, „da wird es nicht ganz so anstrengend.“ „Das lassen Sie man stehen“, erwidere ich mißmutig, „ich kann son Ding überhaupt nicht fahren.“ Sie lacht mich triumphierend an. „Aber ich, Genosse Wadzeck.“ Während der Fahrt nach Lüchting fühle ich mich nicht sehr wohl. Sabine fährt für meine Begriffe ziemlich frech und riskant, aber ich sage kein Wort, freue mich lieber
auf die schöne Fußwanderung über die gras- und ginsterbewachsenen Hügelkuppen. Wir fahren durch die Dorfstraße von Lüchting, vorbei an der Gedenkstätte des Dichters Eginhart Götze, an dem Inselfriedhof mit dem Grab des Dichters Eginhart Götze… „Warum halten Sie nicht an?“ rufe ich. „Lassen Sie das Moped hier irgendwo stehen! Den Teufel was tut sie! „Festhalten!“ ruft sie, schaltet hinunter und biegt in einen sandigen Fahrweg voller Pferdewagenspuren ein. Er führt ziemlich steil aufwärts. Kehre ich jetzt den Chef heraus, so grinst sie über mich und denkt, ich habe Angst. Dabei hab ich wirklich welche. Mir wird schon schlecht, wenn ich so ein MotoCross nur am Fernseher miterlebe. Verbieten müßte man alle motorgetriebenen Zweiräder! Einmal wende ich mich rasch um. Aber nichts von dem berühmten Blick über die Insel. Nur eine Wolke von aufgewirbeltem Sand. Jetzt schießt das Moped in eine Senke hinunter, zieht wieder steil an. Endlich erreichen wir den Weg, der durch einen dürren Kiefernwald unmittelbar zur Sanddornklause führt. Vor der Gaststätte schaltet Sabine die Zündung aus, dreht sich lachend zu mir um. „Na, hab ich Sie nicht schnell und sicher an Ort und Stelle befördert?“ Etwas steifbeinig steige ich ab. „Ich werde mich für Ihre Beförderung nicht einsetzen, höchstens für eine Delegierung zur Sektion Motorsport. Haben Sie schon Mittag gegessen?“ „Das ist nicht so wichtig, kostet nur Zeit.“ „Och“, sage ich, „die haben Sie ja herausgefahren. Ich würde jedenfalls erst mal ne Brause trinken, um den hal-
ben Kubikmeter Sand in meiner Kehle herunterzuspülen.“ „Es sieht aber nicht so aus, als ob hier im Kaffeegarten bedient wird. Gehen wir lieber rein!“ Eine Kellnerin kommt aus dem Haus. „Sie können gerne draußen sitzen. Hier ist die Luft besser“, sagt sie höflich. „Was darf’s sein?“ „Gibt’s noch was zu essen?“ erkundige ich mich. „Erst ab achtzehn Uhr wieder. Aber ich könnte Ihnen eine Bockwurst mit Brot bringen.“ „Einverstanden. Und zwei Brausen, bitte!“ „Genosse Wadzeck“, sagt Sabine, „von hier bis zur Steilküste sind es keine hundert Meter.“ „Ich weiß. Müssen Sie mit Ihrer Zigarette schon wieder die frische Seeluft verpesten?“ „Mit Ihnen möchte ich nicht verheiratet sein.“ „Ich bin schon froh, daß ich nicht eine so mißratene Tochter habe.“ Die Kellnerin setzt die Brausegläser auf unserm Tisch ab, bleibt zögernd stehen und fragt endlich schüchtern: „Sie sind doch die Kollegen von der Kriminalpolizei, ja?“ „Stimmt“, sage ich. „Sind Sie vielleicht Fräulein Brigitte Bellmann?“ Sie nickt. „Sie haben heute vormittag nach mir gefragt. Ich… kann ich Sie einen Moment sprechen?“ „Gern. Wollen Sie sich nicht setzen?“ Sie läßt sich langsam auf der Kante eines Gartenstuhls nieder. Fräulein Bellmann hat wie die meisten Rotblonden auch im Hochsommer ein ungewöhnlich bleiches Gesicht. Ich schätze sie auf Anfang Dreißig, kann auch
sein, daß ihre Kummerfalten sie älter erscheinen lassen als sie ist. Sabine bietet ihr eine Zigarette an und fragt ermunternd: „Was haben Sie uns denn zu sagen?“ „Es ist wegen Herbert… ich meine Herrn Schlicker. Er steht unter Mordverdacht, nicht wahr?“ „Wer sagt das?“ erkundigt sich Sabine. „Na, er selber; ich soll’s aber keinem erzählen.“ Ich wende Sabine einen raschen Blick zu und frage die Bellmann: „Glauben Sie, daß er’s getan hat.“ Sie schüttelt energisch den Kopf und fängt an zu schnüffeln. „Kann… er… ja… gar nicht.“ Und schon heult sie los. „Ich muß es doch wissen.“ Sie zieht ein zerknülltes Papiertaschentuch hervor und schluchzt zum Gotterbarmen. Sabine steht auf und legt ihr beschwichtigend den Arm um die Schulter. „Na, nun mal sachte. Erzählen Sie uns alles schön der Reihe nach!“ Fräulein Bellmann gibt sich einen Ruck. „Also, wir hatten mal was. Aber das war im letzten Sommer.“ Sie tupft sich die Augen trocken und verschmiert dabei ihr Makeup, daß sie fast wie ein Clown aussieht. „Ich wollte nicht mehr. Man weiß doch, wie so was endet. Der Mann ist verheiratet und hat drei Kinder. Und trotzdem hängt man an so einem. Darum bin ich ja gleich hinterher, wie ich merke, da gibts Kleinholz.“ „Können Sie uns zeigen, wo es zu der Schlägerei kam?“ Sie steht auf. „Genau da drüben, vor der krüppligen Kiefer.“ Wir gehen zusammen hin. Die Stelle liegt kaum fünfzig Meter von der Gaststätte entfernt. Spuren zu sichern wäre zwecklos nach all dem Regen. „Wer hat angefangen?“
frage ich. „Der andere. ,Raus mit der Sprache’, schrie er. ,Was weißt du noch über die Nutte, du Fischkopp?’ Dann ging er mit beiden Fäusten auf Herbert los. Der hat nur einmal zurückgehauen, da lag der Kerl schon am Boden. Ich kam dazugerannt und rief, Herbert soll sich nicht unglücklich machen. Aber er zog den Mann wieder hoch und schlug noch mal auf ihn ein.“ „Wohin hat er ihn geschlagen?“ „Wie er gerade traf. Auch ins Gesicht. Der andere blutete unter dem Auge. Ich hab’ meine ganze Kraft zusammengerissen und Herbert am Kragen gepackt. Da ließ er von dem Mann ab und glotzte mich blöde an. ,Komm’, sagte ich, gab ihm den Schlüssel zu meinem Zimmer, ,mach, daß du verschwindest!’ Meine Kollegen und die Gäste sollten um Gottes willen nichts spitzkriegen. Die Polizei hatte Herbert schon mal am Kanthaken wegen ner Schlägerei. Er zog jetzt auch ganz folgsam ab. Wie ich ihm nachher ‘n Kaffee bringen will, liegt er schon in seinen verdreckten Klamotten auf meinem Bett und schnarcht. Erst gegen Morgen ist er wie ein begossener Pudel nach Lüchting hinunter, wo er sein Fahrrad stehen hatte.“ „Und das erzählt uns dieses Rindvieh nicht?“ sagt Sabine empört. „Wundert Sie das?“ entgegnet Fräulein Bellmann leise. „Seine Frau hat gesagt, sie läßt sich sofort scheiden, wenn sie ihn noch einmal mit mir erwischt. Das Haus und den Kutter hat sie in die Ehe eingebracht, und seine drei Kinder wird er auch los.“ Sabine klopft sich an die Stirn. „Da geht er lieber in den
Knast!“ „Er hat gesagt, wenn er vor Gericht muß, soll ich mich als Zeugin melden, aber bloß dann.“ „Fräulein Bellmann“, sage ich, „es war gut, daß Sie Vertrauen zu uns gefunden haben, auch gut für Herbert Schlicker. Ich nehme an, morgen kann er wieder mit seinem Kutter auslaufen. Es ist nicht unsere Sache, sich in Ihre persönlichen Dinge einzumischen. Damit müssen Sie und Herbert selber fertig werden. Aber was wurde aus dem Mann, nachdem ihn Herbert niedergeschlagen hatte?“ Sie blickt mich erstaunt an. „Das weiß ich nicht. Er stand etwas mühsam auf, schimpfte vor sich hin und torkelte etwa in der Richtung davon.“ Sie wies zur Steilküste hinüber. „Haben Sie eine Ahnung“, fragt Sabine, „um welche Uhrzeit das alles passiert sein könnte?“ Fräulein Bellmann überlegt angestrengt. „Nicht genau. Aber wie ich am Aufenthaltsraum unserer Urlauber vorbeikam, lief gerade die Aktuelle Kamera.“ Das müßte stimmen: Bei 19.48 ist Boelssens Uhr stehengeblieben. Aber er selber hatte die Schlägerei überstanden. „Eine Frage noch, Fräulein Bellmann“, sagt Sabine. „War Ilsing, die Postbotin, an dem Abend auch in der Gaststätte?“ „Ja, ganz kurz, mit einem Mann, den ich aber nicht kenne. Sie haben Zigaretten gekauft und sind gleich wieder raus. Um Ilsing ging ja der Krach, warum, weiß ich selber nicht so richtig.“ „Können Sie uns den Begleiter von Ilsing einigermaßen beschreiben?“ erkundige ich mich. Sie hebt die Schultern. Sicherlich will sie uns gern hel-
fen. „Ziemlich groß, blond, heller Vollbart. Ich wartete gerade auf mein Bier und dachte noch so: Donnerwetter, hat der ne schaue Lederjacke, schwarzes Nappaleder, wissen Sie, aufgesetzte Taschen, ne kurze Bundjacke. Aber was hat denn der mit dem ermordeten Mann zu tun? Der saß doch mit dem Rücken zur Theke und konnte die beiden gar nicht sehen.“ „Schönen Dank“, erwidere ich, „morgen um zehn melden Sie sich bitte beim ABV in Ahlhöft. Wir müssen Ihre Aussage zu Protokoll nehmen, aber das ist eine reine Formsache. Und hier“, ich drücke ihr eine Mark in die Hand, „ist das Geld für die Brause.“ „Und Ihre Bockwurst?“ ruft sie uns hinterher, als wir zum Moped gehen. „Wenn wir alles erledigt haben“, ruft Sabine zurück „essen wir lieber mal richtig in der Sanddornklause.“
21. „Herr Möller“, sagte ich, „wieviel Klare waren das?“ „Vier“, erwiderte er, still und friedlich in sich hinein lächelnd, der einzige Mensch in meiner Umgebung, der keine ernsthaften Probleme zu kennen schien, „und zwei große Bier und eine Schachtel Club. Das Essen hat ja Ihr Freund, der Hauptmann Wadzeck, bezahlt – und den fünften Klaren, also genau genommen den ersten.“ Er addierte die Posten auf einem kleinen Zettel, lächelte noch immer, wenn auch etwas angestrengt.Ohne sonderliche Freude an der Landschaft fuhr ich nach Hause.
„Hallo Marcus“, wollen Sie eine Tasse Kaffee mit uns trinken?“ rief Isolde Preckwinkel herüber. Gott, dachte ich, warum nicht auch das noch? „Herr Bockmühl“, sagte Preckwinkel kühl, „bisher waren wir Nachbarn und haben, wenn auch unabhängig voneinander, die Schönheit dieser Insel genossen. Die Tatsache, daß sich ein Freund, seines Zeichens Kriminalist, bei Ihnen einquartiert hat, scheint Ihnen eine sonderbare Überlegenheit über uns gewöhnliche Sterbliche verliehen zu haben.“ „Siegfried!“ sagt Isolde beschwörend und griff nach seiner Hand. Er schüttelte sie ab. „Ich sag’s, wies ist. Ihr Hauptmann Wadzeck war indiskret, und Sie selber neigen, zweifellos berufsbedingt, ohnehin zur Geschwätzigkeit. Auf eins können Sie, sich verlassen: Ihrem Hauptmann brock ich eine Suppe ein, an der er noch lange zu löffeln hat. So weit reicht mein Arm.“ Verdammt noch mal, ich hätte mir den Kaffee auch selber kochen können! Ich setzte mein arrogantestes Gesicht auf. So kaputt – und so kaputt! „Wer im Schriftstellerverband als Plagiator überführt wird, hat Glück, wenn er danach noch bei der Post Briefe stempeln kann. Vielleicht gelten in der Wissenschaft andere Gesetze.“ Preckwinkel lief blaurot an. Vermutlich wäre er am liebsten auf mich losgegangen, aber er hatte sich wohl trotz allem den Sinn für körperliche Proportionen bewahrt. „Du bist ein Trampel, Siegfried“, sagte Isolde schluchzend. „Ich gebe mir alle Mühe, Marcus davon zu überzeugen, daß du nichts mit der Sache zu tun hast, bitte ihn
sogar, dir alles Gerede im Institut vom Halse zu halten, und jetzt zankt ihr euch wie die Idioten!“ Preckwinkel atmete ein paarmal tief durch. „Ist ja gut, Isolde. Da soll man sich nicht aufregen, wenn so ein Verbrechen auf der Insel geschieht und man obendrein selber verdächtigt wird!“ „Herr Professor“, sagte ich etwas ruhiger, „warum erzählen Sie Hauptmann Wadzeck nicht, daß Sie sich an dem bewußten Abend mit Boelssen in der Sanddornklause treffen wollten?“ „Gut“, erwiderte er und hatte sichtlich Mühe, sich zu beherrschen, „ich kann es morgen zu Protokoll geben. Ich hatte eine Verabredung mit Boelssen. Ich gehe hoch, pünktlich natürlich, schaue rein in die Kneipe und sehe, Boelssen ist angetrunken und offenbar nicht in bester Gesellschaft. Also setze ich mich in angemessener Entfernung hin, bestell einen Kaffee und überlege, ob es überhaupt Zweck hat, den Mann anzusprechen. Leider muß ich die Frage sehr schnell verneinen, zahle meinen Kaffee und gehe. Das ist alles.“ „Und warum haben Sie das Herrn Wadzeck nicht genauso einprägsam geschildert?“ Leider hatte er schon wieder Oberwasser. „Weil, lieber Herr Bockmühl, er allen Grund gehabt hätte, meine Darstellung in Zweifel zu ziehen. Was weiß ich denn, was dieser Monomane Boelssen für einen Staub aufgewirbelt hat mit dem angeblichen Plagiat?“ Ich rührte mit dem Teelöffel in der Schlagsahne herum. „Wenn Sie sich so eindeutig im Recht wissen, warum haben Sie den Kerl nicht rausgeschmissen, als er Ihnen
schon am Vormittag lästig fiel?“ „Weil ich ein versöhnlicher Mensch bin und stets versuche, auf andere Standpunkte in Ruhe einzugehen, auch wenn sie mir noch so fremd erscheinen.“ Isolde tätschelte seine Hand. „Reg dich nicht auf, Siegfried! Marcus hat ja längst eingesehen, daß du nichts mit diesem Verbrechen zu tun hast.“ Ich stand auf, karikierte eine Verbeugung. „Schönen Dank für Speis und Trank. Lassen wir Berufenere nach dem großen Unbekannten fahnden!“ „Marcus“, sagte der Professor, „die alten Römer pflegten in solchen Fällen die Frage zu stellen: Cui bono – wem nützt es? Warum in die Ferne schweifen? Vielleicht sollte sich Ihr Freund mal mit der immer noch nicht geschiedenen Ehefrau des Verstorbenen befassen.“ Mir zitterten die Knie. Ich hätte jetzt einen Klaren gebrauchen können, aber hier mochte ich ihn nicht trinken. „Ilse Boelssen“, erklärte ich und merkte selber, daß es zu pathetisch klang, „wäre nie imstande, einen Menschen umzubringen.“ „Zwei sind stärker als einer“, meinte Preckwinkel. „Oder haben Sie genialer Amateurdetektiv noch nicht mitgekriegt, daß uns Ilsing wieder in festen Händen ist? An Boelssens Stelle ist längst ein Mitarbeiter meines Instituts getreten. Nun, ich wünsche den jungen Leuten alles Gute für ihr künftiges Wohlergehen!“ Noch drei Klare mehr hättest du mir bringen müssen, lieber Paul Möller in der ,Heidelerche’. Dann würde ich jetzt so wunderschön die Beherrschung und der Herr Professor zumindest einen Schneidezahn verlieren. Ich
wandte mich zu einem ruhmlosen Abgang. „Marcus“, rief Isolde, „mein Mann hat recht. Am Sonnabend war Günter Rogge im Dorf. Ich habe ihn selber gesehen.“ Heute würde ich keinen Schluck mehr trinken. Ich mußte wieder völlig nüchtern sein, wenn Werner nach Hause kam.
22. „So richtig überzeugend klingt das nicht“, meint Staatsanwalt Dr. Günther am Telefon. „Man kann da sehr leicht Porzellan zerschlagen, Werner. Also gut, ich gebe sofort den Haftbefehl durch, damit der Mann unverzüglich auf die Insel gebracht werden kann. Wenn sich herausstellt, daß du recht hast, ruf mich gleich zu Hause an, auch nachts. Dann sind wir morgen früh beim Lokaltermin dabei.“ „Danke schön, Hans.“ Ich lege auf und atme tief durch. „Wie lange wird es dauern, Genosse Hauptmann?“ fragt Sabine gespannt. „Zwei Stunden etwa. Klatt hat alles geregelt: Der Wagen fährt mit Blaulicht bis Ralshagen. Dort wartet das Motorboot vom Wasserschutz. Und Sie gehen jetzt zum Postamt. Vermutlich ist sie gerade dabei, Briefe zu sortieren. Sie wissen ja selber, möglichst ohne Aufsehen. Ihre Kolleginnen brauchen nichts mitzukriegen. Ob sie uns helfen und hier ein paar Fragen beantworten möchte. Und bitten Sie Leutnant Stresow zu mir rein!“ Erst nach einigen Minuten kommt der ABV, wedelt aufgeregt mit einem Zettel und ruft: „Genosse Hauptmann,
hier ist eine Anmeldung vom Juni. Er lag eine Woche lang offiziell im Seglerhafen.“ Ich werfe einen Blick auf die Anmeldung, mache mir eine Notiz und sage: „Genosse Stresow, wieviel Polizeihelfer können Sie auf der Insel zusammentrommeln?“ Er überlegt laut: „Richard Hauck liegt im Krankenhaus, Hermann Niemeier ist auf Lehrgang… bleiben sechs in allen drei Ortsteilen.“ Das wird knapp, denke ich und informiere Stresow über die Maßnahmen, die ich vorhabe. „Dat kriegen wir in Griff“, erklärt er zuversichtlich. „Ich hol noch ein paar Feuerwehrleute dazu. Die ihr Auto is mit Scheinwerfern ausgerüstet. Dazu den Barkas vom Milchfahrer, und den vonne Gemeinde lassen wir für uns in Reserve.“ „Sehr gut, Genosse Stresow. Aber nicht die Pferde scheu machen. Erzählen Sie den Männern was von einer Übung! Und Sie sollen starke Taschenlampen mitbringen!“ „Geht klar, Genosse Hauptmann.“ Er schwitzt vor Aufregung! „Ick werd’ dat gleich veranlassen.“ Ich bleibe an seinem Schreibtisch sitzen und versuche, mich zu konzentrieren. Dr. Günther hat recht: Mir fehlen noch wichtige Beweise. Es gibt zwei Möglichkeiten, sie herbeizuschaffen. Die eine will ich jetzt prüfen, obwohl ich weiß, daß mein Schlag ins Leere treffen kann. Von der zweiten habe ich noch nicht einmal Sabine Donix etwas angedeutet. „Ja, bitte!“ rufe ich, als es klopft. In der Tür steht Max Bockmühl. Der hat mir jetzt gerade
noch gefehlt. „Ist es wichtig?“ frage ich gereizt. „Ehrlich gesagt, du kommst mir ziemlich ungelegen.“ „Ich geh gleich wieder. Der Bekannte von Ilse Boelssen heißt Günter Rogge und ist Mitarbeiter des Instituts für Futtermittel in Neuenplathen. Na?“ Erwartungsvoll schaut er mich an. „Haben wir inzwischen selber rausgekriegt.“ Ich stelle mich dicht ans Fenster, so daß ich die Dorfstraße und die Gartenpforte im Blickfeld habe. „Dann entschuldige“, sagt Max enttäuscht. „Daß er am Sonnabend im Dorf gesehen wurde, weißt du bestimmt auch.“ Er zuckt die Schultern und öffnet die Tür. „Moment, Mäcki, mit wem hast du gesprochen?“ „Ich hab bei Preckwinkels Kaffee getrunken. Hat sich so ergeben.“ Er grinst etwas müde. „Ist ja nicht mein Problem, aber ich hoffe, du bist auf der richtigen Fährte. Ich hab’ jedenfalls dem Professor noch mal eingeheizt, und ich sage dir eins, dem geht der Arsch mit Grundeis. In dem Haus ist Qualm in der Küche. Ich vermute, Frau Isolde ist stocksauer auf ihren Gatten, weil der was zurückhält.“ Ich habe ihn ausreden lassen, aber nun platzt mir der Kragen, und ich werde etwas laut. Mit Absicht. „Max! Ich ersuche dich, ab jetzt deine Nase nicht mehr in meine Arbeit zu stecken! Schreib eine Komödie, daß sich die Leute krank lachen, aber fuhrwerke hier nicht mehr dazwischen!“ In dem Moment sehe ich Sabine mit der Boelssen an der Gartenpforte. Ich packe Max am Arm. „Los!“ zische ich. „Ab in die Küche! Frag Frau Stresow, ob ihre Hühner legen und die Katze schon gejungt hat. Und dann verduftest du unauffällig!“
Kurz darauf tritt die Genossin Donix mit Ilse Boelssen ein. Wir kennen uns vom Sehen. Sabine hat uns neulich auf der Dorfstraße miteinander bekannt gemacht. Ilse könnte ihre ältere Schwester sein, ebenfalls blond, klein, aber gegen Sabine wirkt sie geradezu zerbrechlich. Wie die das schafft, täglich, bei Wind und Wetter und zu jeder Jahreszeit auf ihrer Posttour mit dem Fahrrad durch den schweren Mahlsand zu fahren, manchmal sogar mehrmals – wenn Telegramme zuzustellen sind! Sie muß mehr Kraft haben, als man ihr ansieht. Ich biete ihr einen Stuhl an. Sie setzt sich wie ein Kind, das ein Strafgericht erwartet, aufrecht, ohne sich anzulehnen. Ihr Blick wandert ängstlich zwischen Sabine und mir hin und her. „Fühlen Sie sich eigentlich wohl in Ihrem neuen Beruf?“ frage ich. „War es nicht eine Umstellung, aus Ihrem schönen Haus in Dolgendorf wegzugehen und hier noch einmal völlig von vorn anzufangen?“ „Ich habe Ihrer Kollegin schon gesagt, daß ich Gründe dafür hatte. Ich fühle mich wohl auf der Insel, und die Arbeit macht mir Spaß.“ „Glaub ich ihnen. Aber Sie sind eine junge, gutaussehende Frau. Haben Sie sich völlig mit diesem einsamen Leben hier abgefunden?“ Sie schaut trotzig zu Böden. „Mein Privatleben geht Sie gar nichts an. Sie vergessen, daß ich vor einer Woche noch verheiratet war.“ „Frau Boelssen, ich bin kein Moralapostel. Aber solange die Umstände, unter denen Ihr Mann sterben mußte, nicht aufgeklärt sind, haben wir nicht nur das Recht, sondern
auch die Pflicht, uns mit Ihrem Privatleben zu befassen. Wann hat Sie Günter Rogge das letzte Mal auf der Insel besucht?“ Sie springt auf, blickt auf Sabine, als erwarte sie Hilfe von ihr. „Herr Rogge hat damit überhaupt nichts zu tun!“ schreit sie mich an. „Warum regen Sie sich dann so auf?“ frage ich leise. Sie setzt sich wieder. Diesmal lehnt sie sich an. Ich nicke Sabine zu. Die holt ihre Zigaretten hervor, nimmt sich eine und schiebt, als sie Frau Boelssens begehrlichen Blick bemerkt, die Schachtel über den Tisch. „Warum“, fragt Sabine ruhig, „haben Sie nicht offen mit mir geredet – neulich – und haben mir alles erzählt, was an dem Sonnabend passiert ist?“ Ilse Boelssen raucht hastig ein paar Züge, ehe sie antwortet. „Ich habe alle Ihre Fragen beantwortet. Was wollen Sie denn noch? Es heißt doch, daß ein Verdächtiger verhaftet worden ist. Oder war das nur ein Bluff?“ „Nein“, sage ich, „es war ein Irrtum. Frau Boelssen, Sie mußten doch damit rechnen, daß man Sie am Abend des zweiten August in der Sanddornklause gesehen und erkannt hat. Sie sind mit Günter Rogge hineingegangen. Als Sie bemerkten, daß Ihr Mann dort saß und mit Herbert Schlicker trank, haben Sie eine Schachtel Club gekauft und sind rasch wieder gegangen. Ist das ein Bluff von uns oder die Wahrheit?“ Sie stützt den Kopf in die Hände. Ihre Schultern beginnen zu zucken. Sabine sieht aus, als wolle sie gleich mit heulen. Mitleid mit dem Täter – manchmal verständlich, hab’s ja schon selber erlebt. Aber es geht nicht. Es darf
nicht sein. Es trübt den klaren Blick auf die Dinge. Wenn hier alles vorbei ist, muß ich mit Sabine grundsätzlich darüber reden. Ich räuspere mich. „Genossin Donix, gehen Sie zu Frau Stresow. Sie möchte uns dreien einen Kaffee kochen!“ Frau Boelssen hebt den Kopf, schaut Sabine erschrocken an. „Bitte, gehen Sie jetzt nicht weg, Fräulein. Bitte, ich will lieber mit Ihnen allein reden.“ Sabine wirft mir einen beschwörenden Blick zu. Vielleicht ist es falsch. Ich beuge mich ihrem stummen Argument und gehe leise hinaus. In der Küche ist Frau Stresow gerade damit befaßt, Klaräpfel zu schnippeln. „Dat is ja man ein Jammer“, klagt sie, „die Bäume hängen so voll, aber fast alle madig dies Jahr. Nu muß ich Appelmus kochen, da haben wir wenigstens im Winter unsere Vitamine.“ Sie erhebt sich seufzend und setzt einen Teekessel voll Wasser auf den Propangasherd. „Dat muß ja schrecklich für Sie sein“, meint sie, „mitten inne Hochsaison auf unsere Insel und denn nix wie Arbeit. Ein paarmal hatten wir schon die DEFA und dat Fernsehn hier, aber die sind wenigstens ab und zu mal zum Baden gekommen.“ „Gehen Sie auch selber an den Strand, Frau Stresow?“ „Nee, wat Sei von uns wull denken daun, Herr Wadzeck“, meint sie belustigt. „Wir olleren Lüd up de Insel boaden bloß inne Boawann. An Strand, dat ist nix für unsereinen. Min Kierl seggt ja, dat löt sich nich miehr uphollen. Aber wi in unser Öller hebben uns dat natürliche Schamgefeuhl bewoahrt.“ Sie stellt das Kaffeegeschirr auf ein Tablett. „Danke schön“, sag ich, „das bring
ich schon selber rein.“ Sabine nimmt mir an der Tür das Tablett ab. Sie zwinkert mir zu und sagt: „Frau Boelssen hat sich entschlossen, reinen Tisch zu machen.“ Die junge Frau sitzt noch immer auf ihrem Stuhl wie ein Häufchen Elend, aber sie scheint mir etwas gefaßter als vorher. Stockend zuerst, dann immer lebhafter, beginnt sie zu erzählen: „Günter hätte sich nie in unsere Ehe eingemischt, dazu ist er zu taktvoll und zu feinfühlig. In Dolgendorf, als er uns mal besuchte, hat er erst mitgekriegt, wie Rudolf anfing, auf mir herumzutrampeln: Ich wäre zu blöde, einen Eimer Wasser umzukippen. Gehirnamputierte, nannte er mich in Günters Gegenwart. Günter versuchte, die Situation mit einem Scherz zu überspielen. Als er gegangen war, hat mich mein Mann verdächtigt, ich hätte was mit seinem Freund. In der Nacht hat mich Rudolf das erste Mal geschlagen. Wie ich von ihm weggegangen bin, habe ich selber noch nicht an eine Scheidung gedacht. Es sollte ihm nichts als ne Lehre sein, damit er. sieht, ich laß mir nicht mehr alles gefallen, und ich kann auch ohne ihn leben. Wäre er damals gleich gekommen und hätte vernünftig mit mir geredet oder wäre einfach nur nett zu mir gewesen aber er ist nicht gekommen, hat mir bloß ein paar unverschämte Briefe geschrieben. Dann fing Günter an, mir zu schreiben. Ostern waren wir heimlich ein paar Tage in Oberhof und das erste Mal so richtig zusammen. Damals hab ich beschlossen, mich ganz von Rudolf zu trennen, auch wenn es mit Günter nichts für die Dauer werden sollte…“ „Und warum haben Sies nicht getan?“ fragt Sabine.
„Weil er mich in der Hand hatte und mich jederzeit hochgehn lassen konnte. Mensch, ich hatte geklaut! Versteht ihr?“ schreit sie. „Ich bin eine ganz gewöhnliche Kriminelle!“ „Nun mal langsam“, sag ich. „Frau Boelssen, was haben Sie gestohlen, und wann war das?“ Wir haben Mühe, sie zu beruhigen. Sie schluchzt hemmungslos. Endlich bringt sie es heraus: „Wie ich als Aushilfskellnerin Rudolf auf der Insel kennenlernte…. hundert Mark aus der Tageskasse vom ,Blanken Hecht’. Bei der Abrechnung waren alle besoffen, nur ich nicht. Am andern Tag bin ich rüber nach Ralshagen und hab mir im Exquisit einen flotten Pulli gekauft, weil ich schick sein wollte für den Herrn Tierarzt. Später, da waren wir längst verheiratet, hab ich’s ihm mal gebeichtet. Kein anderer hat davon erfahren, auch Günter weiß nichts…“ Sabine und ich schauen einander fassungslos an. „Kein Ruhmesblatt für Sie, Frau Boelssen“, sage ich, „aber die Sache ist inzwischen längst verjährt. Ihr Mann hat Sie ganz primitiv erpreßt.“ Sie nickt heftig, „jetzt war es mir sowieso egal, ich hätte lieber alle Folgen auf mich genommen, als länger mit diesem Kerl verheiratet zu sein. Wenn Günter mich besuchte, kam er mit seinem Segelboot von Ralshagen auf die Insel, und wenn’s dunkel wurde, ging ich zu ihm. Wir hatten beide die Heimlichtuerei satt. Ich schrieb Rudolf, daß ich die Scheidung einreichen wollte. Er antwortete nicht. Da bat ich meine Eltern, mit ihm zu reden. Am letzten Freitag kam Günter überraschend zu mir und erzählte mir, daß Boelssen die Absicht hätte, am Sonn-
abend Professor Preckwinkel aufzusuchen. Mit dem hätte Rudolf ein Hühnchen zu rupfen wegen irgendwelcher alten Institutsgeschichten. Ich sollte vermeiden, ihm über den Weg zu laufen. Wir kannten ja beide seinen Jähzorn. Freitag nacht blieb ich auf Günters Boot. Sonnabend hatte ich Dienst. Günter schlug vor, daß wir uns abends in der Sanddornklause treffen sollten. Arn Nachmittag war er zu einem Gespräch auf der Vogelwarte verabredet. Ich hab also Feierabend, geh rauf in mein Dachzimmer in der Post, zieh meine Sachen aus und steh so vor meinem Schrank, überlege, was ziehst du an heute abend? Ich hatte wie immer vergessen, die Tür abzuschließen. Auf einmal ist Boelssen im Zimmer, glotzt mich von oben bis unten an und sagt: ,Siehst gut aus, Ilse, hast dich gar nicht verändert.’ Und dann hält er mir son paar struppige blaue Feldblumen hin. Wegwarte’, sagt er. ,Erinnerst du dich? Die hab’ ich dir zu unserm ersten Rendezvous auf der Insel mitgebracht.’ – Geben Sie mir noch ne Zigarette, Fräulein Donix? In meinem Schreck hab ich mir erst mal meinen Bademantel angezogen. ,Deine Blumen kannst du dir sauerkochen’, sag ich. Nächste Woche reiche ich die Scheidung ein, und wenn sie mich einsperren, das zieht nicht mehr.’ Darauf grinst er mich so komisch an, ich merke gleich, daß er schon wieder getankt hat. ,Scheidung ist nicht, meine kleine Gehirnamputierte’, sagt er. ,Alles wird gut. Wir gehen zurück nach Neuenplathen. Ich war bei Professor Preckwinkel. Er muß mich wieder einstellen und sich obendrein entschuldigen für alles, was er mir damals angetan hat. Das wird noch heute in Ordnung gebracht.’ – ,Na und’, sag ich, ,ist doch
nicht mehr mein Bier. Aber es freut mich für dich.’ Plötzlich springt er auf, will mir an die Wäsche und schreit, er braucht mich doch gerade jetzt. Ich stoße ihn zurück auf die Liege und sage, er soll nicht son Zeck machen. Wenn er will, können wir irgendwo ne Tasse Kaffee trinken und in Ruhe über die Scheidung reden. Darauf wird er krebsrot im Gesicht und brüllt: ,Wenn du gehst, gehst du, wie du gekommen bist, arm wie eine Kirchenmaus. Wer geht, geht arm!’ Plötzlich greift er mir an den Hals. Meine Kette!’ sagt er. Wissen Sie, das war sone dünne Goldkette mit nem Seemannsgrab, Kreuz, Herz und Anker – Glaube, Liebe, Hoffnung. Das erste Geschenk von Rudolf. ,Gib her’, sagt er, ,du hast sie nicht verdient.’ Da hab ich die Kette abgemacht und sie ihm vor die Füße geschmissen. ,Steck ein’, sag ich, ,und laß dich hier nie wieder sehn. Sonst schrei ich das halbe Dorf zusammen!’ Und er hat die Kette tatsächlich in die Hosentasche gesteckt, bevor er gegangen ist.“ Sie trinkt die Tasse mit dem inzwischen kalten Kaffee in einem Zuge aus. Das Telefon klingelt. Ich nehme ab. Ein Anruf von den Genossen aus Ralshagen. „Gut“, sag ich, „danke. Ich bin dann am Hafen.“ Unauffällig blicke ich auf die Uhr, „Frau Boelssen“, sagt Sabine leise, „wann und wo haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?“ „In der Sanddornklause, als wir die Zigaretten gekauft haben. Was sehen Sie mich denn so an? Ich hab ihn nicht umgebracht, und ich weiß bis jetzt nicht, wer’s getan hat. Aber ich schwöre Ihnen, ich hätt ihn auch von der Steilküste gestürzt, wenn ich noch Gelegenheit dazu gefunden
hätte!“ Ich stehe auf. „Frau Boelssen. Ich erwarte in Kürze Herrn Rogge am Hafen. Fräulein Donix bringt Sie nach Hause. Ziehen Sie sich was Warmes an. Wir fahren zusammen zum Hochland.“ Eine Stunde später stehen wir an der Steilküste. Es ist dunkel geworden. Wie die Flügel einer riesenhaften Windmühle kreisen die Strahlen des Leuchtturms über das Hochland. Leise klatscht die schwache Brandung auf den steinigen Nordstrand der Insel. „Hier beginnt die Sanddornhecke“, sagt Günter Rogge, „hier muß es gewesen sein. Die Sonne war gerade untergegangen. Wir wollten uns den Abend durch Boelssen nicht verderben lassen und sind Arm in Arm über das Hochland gewandert – bis zum Swantewitberg. Vielleicht können wir doch noch ein Glas Wein in der Sanddornklause trinken, dachte ich. Wir wollten einen Blick aufs Meer werfen. ,Sieh mal’, sag ich zu Ilse, ,da unten liegt jemand.’ Sie trat vorsichtig näher. Ich hielt sie fest. Es ist gefährlich hier am Rand. ,Gib mal den Feldstecher’, sagt sie plötzlich ganz aufgeregt, dann hab ich selber durchgeschaut. Unten lag ein Mensch auf einem der großen Findlingsblöcke, unnatürlich verrenkt. Es war Boelssen. Ilse schrie auf: ,Rasch, komm weg! Er ist tot.’ Dann rannte sie schon los. Ich holte sie ein und rief: ,Er wird abgestürzt sein, betrunken wie er war. Aber vielleicht lebt er noch?’ – ,Komm ganz schnell nach Hause’, flüsterte sie, ,er ist tot, ich spür das!“ „Und Sie sind beide wirklich weggerannt?“ frage ich. Ilse Boelssen schüttelt den Kopf. „Nur bis zu der Treppe, die
an der Sanddornklause das Steilufer hinunterführt. Dann hatte mich Günter zur Vernunft gebracht.“ Rogge legt den Arm um sie. „Ilse, wenn wir hier jemals heil rauskommen wollen, müssen wir alles sagen.“ Die Frau zittert am ganzen Leibe. Ihre Zähne klappern, als hätten wir strengen Frost statt der milden Sommernacht. „Sags, Günter!“ stößt sie hervor. „Wir dachten doch, er wäre abgestürzt. Da fiel Ilse ein, daß er ihr Kettchen noch in der Tasche haben könnte. Ich sollte es holen, damit es Ilse nicht belasten würde, falls die Polizei auf den Gedanken käme…“ „Erstaunlich“, sage ich, „was für eine verblüffende Logik in einer solchen Paniksituation.“ „Ich verstehe Ihre Skepsis“, Rogge zuckt die Schultern, „aber ich hoffte wirklich, ich könnte Rudolf noch helfen. Alles andere zählte jetzt nicht mehr.“ „Sag nichts mehr, sei still“, sagt Ilse Boelssen und beginnt hysterisch zu lachen, „die denken, wir spinnen!“ „Bitte“, sag ich, „Herr Rogge, erzählen Sie weiter!“ „Es klingt auch unglaubhaft, Genosse Wadzeck. Wir haben den Abgestürzten nicht mehr gefunden. Die Stelle muß genau zwischen den beiden Buhnen gewesen sein. Von unten sieht man die Reste des gesprengten Bunkers aus dem zweiten Weltkrieg. Auch den Findlingsblock hab’ ich mir gemerkt. Aber da lag niemand mehr. Ein paar hundert Meter weiter lief eine Gestalt den Strand entlang, nur noch undeutlich zu erkennen. Ich atmete auf. Boelssen konnte also nicht ernsthaft verletzt sein. Als mich Ilse zwei Tage später anrief und mir halb verrückt vor Angst erzählte, daß man Boelssens Leiche am Bod-
den gefunden habe, sagte ich: Jetzt hilft uns nur noch eines: den Mund zu halten. Die Wahrheit ist zu unglaublich. Diese Geschichte kauft uns niemand ab.“ Keiner von uns sagt ein Wort. Fern auf dem Meer, mitten zwischen der dänischen Insel Moen, deren Lichter wir sehen, und unserer Küste, zieht ein Frachter dahin – oder ist es ein Fischkutter? Endlich fragt Sabine: „Herr Rogge, setzen wir mal den Fall, wir wären so naiv, Ihnen die Geschichte zu glauben, wie erklären Sie sieh die Tatsache, daß Boelssen am Bodden, fast schon bei Süderort, gefunden wurde?“ „Ich hab mir den Seewetterbericht angesehen. Es war starker Westwind, der im Laufe der Nacht erst auf Nord, dann auf Nordost drehte.“ „Aber Boelssen lebte doch noch und rannte den Strand entlang. Wer hat ihn denn getötet und ins Wasser gestoßen?“ Ilse Boelssen legte den Arm um Rogge. „Günter“, sagte sie leise, „du hast nicht so gute Augen wie ich. Wir wollten, daß es Boelssen wäre, aber er war es nicht. Ich war mir damals schon fast sicher, daß er es gar nicht gewesen sein konnte.“ Sabine stößt mich an und macht sehr erstaunte Augen. Ich flüstere ihr was ins Ohr und sage dann laut: „Frau Boelssen, Herr Rogge, ob ich Ihre Geschichte glauben kann oder nicht, wird sich noch heute nacht herausstellen. Unterleutnant Donix bringt Sie jetzt beide nach Ahlhöft zurück. Sie halten sich im Dienstzimmer des ABV zur Verfügung.“ Bald darauf führt Leutnant Stresow unsere Hilfstruppen
an die Steilküste. Sie haben bis jetzt geduldig in der Sanddornklause gewartet. Ich erkläre den Leuten ihre Aufgabe. Der Wagen der Feuerwehr fährt so dicht an den Uferrand, wie es gerade noch zu verantworten ist, und richtet den Scheinwerfer auf den Steilhang. Vorsichtig kriechen die Männer über die schmierigen Tonschichten. Ein Spezialist für Arbeitsschutz könnte mir jetzt ein gewaltiges Ding anhängen. „Wenn dat Eintagsfliegen wären“, sagt Stresow verdrossen, „würde ick von jedem zehn Mark Ordnungsgeld kassieren. Mir wird ganz schlecht, wenn ick die Leute da rumklettern sehe. Wenn Sie sich man nicht zuviel versprechen, Genosse Hauptmann. Mir kommt dat vor, als ob einer ‘ne Nadel im Heuhaufen sucht und nicht mal genau weiß, ob er die da überhaupt verloren hat.“ Ich antworte nicht. Vielleicht hat Stresow mit seinem Vergleich gar nicht so unrecht. Meine Hoffnung steht auf schwachen Füßen. Gesetzt den Fall, Rogge und Ilse Boelssen haben mich nicht belogen, so muß sich in der fraglichen Zeit noch eine dritte Person an dieser Stelle des Hochlands aufgehalten haben: der Täter, der Boelssen nicht nur getötet, sondern ihn hinaus ins Wasser gezogen oder mit einem Boot fortgeschafft hat. Da er den beiden nicht begegnete, kann er nur über das Steilufer hinuntergelangt sein. Nach einer reichlichen Stunde breche ich die Aktion ab. Aber nicht ohne Erfolg. An einem verrosteten Armierungseisen, das von einem gesprengten Flakbunker des zweiten Weltkrieges stammt, hing ein kleiner, auf den ersten Blick belangloser Gegenstand. Ein VP-Helfer hat
ihn entdeckt. Er war es auch, der mich auf das frisch hinuntergesackte Stück Steilhang aufmerksam machte. Ich halte den winzigen, aber wichtigen Tatzeugen in der Hand. Es ist eine Achselklappe aus festem Khakistoff mit einer Messingschnalle. Beides gehört zu einer hochmodischen Windjacke, holländischer Import. Lange habe ich im Frühjahr davorgestanden, im Rostocker Exquisitladen. Nur des Preises wegen nahm ich vom Kauf Abstand, obwohl sie mir bei der Anprobe gut paßte. Vorgestern habe ich die Jacke wiedergesehen. Mein Gedächtnis. Ich weiß, daß die drei Torwarte von Dynamo Dresden Boden, Jakubowski und Klimpel heißen, daß Jakubowski vorher beim FC Hansa Rostock und Klimpel beim BFC Dynamo spielte. Und ich weiß, daß die Achselklappen von der holländischen Jacke abgetrennt waren, als sie am Garderobenhaken hing. Ich bedanke mich bei meinen Helfern und steige vor der Sanddornklause in den Barkas. Mich gruselts nicht mal bei dem Gedanken an die Abfahrt. Inzwischen weiß ich, daß es einen weniger halsbrecherischen Weg gibt als den, welchen Sabinchen heute nachmittag genommen hat. „Wohin solls denn jetzt gehen?“ erkundigt sich der Milchfahrer, ein Mann mit schwarzem Stoppelhaar. „Zu dem Besitzer der Jacke. Er wohnt etwas südlich von Ahlhöft. Ich weiß nicht, ob ich Sie noch länger in Anspruch nehmen kann? Sie müssen morgen sicherlich sehr früh raus.“ Er grient treuherzig. „Ick bin jung verheiratet, zweiter Frühling, wenn Sie dat verstehn. Dat Mädel stellt Ansprüche an die Kondition, Herr Hauptmann, da kriegen
wir noch ganz andere Dinger in Griff.“
23. Ich hatte das Haus des ABV verlassen und schob wie ein Blöder mein Fahrrad über die Dorfstraße, widerstand trotz alledem mannhaft der Versuchung, auf ein Bier in den ,Blanken Hecht’ einzukehren. Ich wußte genau, es wäre nicht bei dem einen Bier geblieben. Mir war kotzjämmerlich zumute, und das lag bestimmt nicht an meinem etwas zu reichlichen Nachtisch beim lächelnden Möller. Ich hatte eine erbärmliche Niederlage erlitten und war dafür von meinem Freund Werner Wadzeck abgekanzelt worden wie ein Jungpionier, der zum Fahnenappell ohne Halstuch erschienen ist. Im Leben geht es anders zu als im klassischen Krimi, wo am Schluß der wahre Bösewicht durch geniale logische Kombinationen überführt wird. Wie banal ist dagegen die Wirklichkeit, dachte ich. Vielleicht haben die beiden einen guten Anwalt und kommen mit Totschlag oder sogar mit Notwehr davon. Soweit ich wußte, verbrachte Dr. Ermeler, einer unserer prominentesten Strafverteidiger, zur Zeit seinen Urlaub in Süderort. Für einen Moment beutelte mich der wahnwitzige Gedanke, zu ihm zu fahren und ihm die Geschichte zu erzählen, vielleicht sogar beiläufig nach seinen Honorarforderungen zu fragen. Aber Werner hatte mir nur allzu deutlich empfohlen, daß ich mich heraushalten sollte. An der Anschlagtafel blieb ich stehen. Gleich neben Boelssens schrecklichem Porträt hing das Kinoprogramm. Ich sah nach der Uhr. Den Augenzeugen würde ich verpassen. Geschenkt. Ewald
Hauck, Kinovorführer und Kassierer in Personalunion, war heilfroh, noch eine Seele für die Kunst gerettet zu haben. Das Zeltkino war halb leer – oder optimistischer ausgedrückt: halb voll. Man gab einen DEFA-Film. Für meine Begriffe war es keiner von den besten. Es geht um die Besatzung eines Hochseekutters, bei der im persönlichen Bereich so einiges nicht stimmt. Die Wellen schwachsinniger Albernheit schlagen höher als die Brecher des Atlantik. Dennoch berührte mich die Figur des Kapitäns. Ein Mann, der sich fortwährend um seine Brigade und sogar um die Angehörigen kümmert – wie ein sozialistischer Heiland, obwohl die das gar nicht mögen. Siehste, Marcus, dachte ich, als ich mein Fahrrad losschloß, du hast gar keinen Grund zum Lästern. Bist im Grunde genauso ein Arschloch – mit dem winzigen Unterschied, daß es bei dir kein Happy-End mit verschnulzten Seemannsliedern gibt. Verdrossen fuhr ich nach Hause, wie immer ohne Licht, den Zehnmarkschein lose in der Jackentasche. Aber kein ABV, kein Polizeihelfer hielt mich an. Ich genehmigte mir ein kleines Bier, Hunger hatte ich nicht mehr, und schrieb einen langen Brief an Helga. Eigentlich war es ja Quatsch. Während ich hier auf der Insel herumlungerte, bar jeden Erfolgserlebnisses, saß sie vielleicht in einem Hotel in Alma Ata, und irgendein Knallkopp von sozialistischem Globetrotter versicherte ihr gerade, wie jugendlich sie aussähe. Auch hat man schon vieles vom Charme mittelasiatischer Barkeeper gehört. Trotzdem habe ich geschrieben: „Es ist nicht mein Haus auf der Insel, es ist unseres. Wollen wir uns
nicht endlich mal darauf einigen? Ich habe das erste Mal seit Jahren begriffen, daß es gar nicht so lustig ist, hier den Eremiten zu spielen. Ein Stammgast am FKK-Strand, das ist wie ein Spezialist in der Parfümfabrik. Der jubelt auf, wenn es mal nach Zwiebel oder Knoblauch duftet.“ Die Formulierung war ehrlich, aber alles andere als charmant. Ich zerriß den Brief und beschloß, morgen einen besseren zu schreiben. Mit einer Flasche Bier in der Hand setzte ich mich auf die Terrasse. Ich hätte schlafen gehen können. Werners traurige Erfolgsmeldung würde mich morgen zeitig genug erreichen. Nie ist die Milchstraße hier auf der Insel so klar zu sehen wie im August. Eine lange Sternschnuppe fiel. Ich glaubte sie zischen zu hören. Törichterweise wünschte ich mir etwas, dachte aber noch rechtzeitig daran, daß ich damals mit Gudrun schon auf dieser Terrasse gesessen und mir beim Fall einer Sternschnuppe auch was gewünscht hatte. Meine Nachmittagsmüdigkeit war wie weggeblasen. Ich ließ die zweite Flasche Bier verschlossen, griff mir meinen Bademantel und ging zum Strand. Preckwinkels schienen süß und selig zu schlafen. Ich stieg auf die kleine Düne, von der aus man alle drei Leuchttürme gleichzeitig blinken sieht: unsern, den von Kap Arkona und den vom Darßer Ort. Dreieck. Drei Könige, Drei Gleichen, Dreifaltigkeit, Dreiecksverhältnis, Triangel, das, mit einem Metallstäbchen angeschlagen, einen unbestimmten Ton von sich gibt. Irgendwann, zwischen Sonnabend und Sonntag, mag es ein unbestimmter, ein letzter Laut gewesen sein, den ein Mensch von sich gab, für den ich keine Sympathie empfand. Trotzdem…
Ich verhedderte mich im Brombeergestrüpp, fand aber im hellen Mondlicht bald meinen Trampelpfad zum Strand und blieb plötzlich stehen. Hatte ich mich getäuscht? Nein. Ich hörte ein leises Wimmern, wie von einem kranken Tier. Ich ging der Richtung nach, aus der ich die Laute vernahm. In einer flachen Mulde, bewachsen mit Kriechweide und Glockenheide, lag eine menschliche Gestalt. Ich beugte mich zu ihr nieder. „Marcus“, flüsterte Isolde Preckwinkel, „was wollen Sie von mir?“ War sie betrunken? „Isolde“, sagte ich, „ist Ihnen schlecht? Ich bringe Sie nach Hause.“ Sie schlang den Arm um meinen Hals. „Nicht, Marcus. Ich hab kein Zuhause.“ Ich löste mich aus ihrem Griff. Die Sache war mir nicht geheuer. „Frau Preckwinkel, kommen Sie zu sich. Was ist denn passiert?“ „Bitte, Marcus“, bettelte sie, „setzen Sie sich zu mir. Es dauert nicht lange. Schön, daß Sie gekommen sind.“ Sie mußte betrunken sein, oder hatte sie einen Schock? Sie sprach mit schwerer Zunge: „Er ist so naiv, so lebensfremd. Ich mußte ihm doch helfen. Als er zu der Verabredung ging, hab ich mir seine Windjacke angezogen und bin ihm gefolgt. Ich traf Boelssen auf dem Hochland. Er war gräßlich zugerichtet und blutete im Gesicht. Ich hab’ ihn… zur Rede gestellt. ,Deinen Mann vernichte ich und dich mit’, hat er gebrüllt. Ich packte ihn am Hals.
,Boelssen, seien Sie doch vernünftig!’ Er schlug wie wild um sich. Wir gerieten immer dichter an die Steiluferkante. Dann verlor er das Gleichgewicht und fiel. Unten schlug er auf einem Stein auf. Ich wollte hinunter… ihm helfen. Da hörte ich Stimmen und verkroch mich unter einer Sanddornhecke. Ilse Boelssen und Günter Rogge… Sie hatten ihn liegen sehen und rannten zur Ufertreppe. Ich hatte nicht mehr viel Zeit, bin den Hang hinunter… mehr gefallen als geklettert. Boelssen lebte noch… hat mich höhnisch angegrinst….Dieses Schwein’, keuchte er, ,ich mach ihn fertig!’ Er war so voller Haß, daß ich vor Angst fast gestorben bin. ,Seien Sie doch still’, sagte ich, ,mein Mann kann alles regeln.’ – ,Ich mach ihn fertig’, keuchte er. Da hab ich zugeschlagen… mit einem Stein. Ich konnte gerade noch denken: Gleich müssen sie kommen… von der Treppe her! Da hab’ ich ihn ans Wasser geschleift, ihn hineingezogen, so tief, bis es mir zum Halse stand. Dann bin ich weggelaufen…“ „Und Ihr Mann?“ fragte ich entsetzt. „Der schlief schon und hat nichts gemerkt. Heut nachmittag, als Sie weggingen, hab ich ihm alles gesagt… ich hab’s doch nur für ihn getan. Ich soll mich stellen, sagt er, oder er zeigt mich an.“ Eine Zeile von Brecht schwirrte mir durch den Kopf: O welche Kälte. „Laß mich sterben, Marcus“, sagte sie müde, „ich hab mich an den Falschen gehängt, fünfzehn Jahre lang.“ Ich riß sie hoch, verpaßte ihr ein paar Ohrfeigen. „Was haben Sie genommen?“ „Eine… halbe Flasche… Korn… und genug Schlaftablet-
ten.“ Sie lächelte selig. „Reicht, Marcus… gleich vorbei…“ Sie war schon eingeschlafen, als ich sie durch die Heide schleppte, alles andere als ein Leichtgewicht. Ich trommelte gegen Willi Kühles Tür. Als er öffnete, ließ ich ihm keine Zeit zum Fragen. „Fahr, so schnell du kannst, zum Doktor! Vergiftung! Höchste Lebensgefahr!“ Willi schwang sich aufs Rad, gleich im Schlafanzug, und raste ins Dorf. Seine Frau war ebenfalls aufgewacht. Erfahren in der Ersten Hilfe, schaffte sie es, Isolde zum Erbrechen zu bringen. Wir betteten sie auf die Veranda. Werner traf mit dem Milchauto noch vor Dr. Scherer ein.
24. Ich komme mir selber albern vor, als ich im Waschraum stehe und mich rasiere. Aber das Leben geht weiter und braucht seine Ordnung, auch wenn ich in dieser Nacht nicht geschlafen habe. „Kein Frühstück, Mäcki!“ rufe ich durch die offene Tür. „Nur einen Kaffee, dreimal so stark wie sonst!“ Meine paar Habseligkeiten sind gepackt. Sabine und ich fahren mit dem Postboot hinüber nach Schapswiek. Der Lokaltermin findet heute nicht statt, auch morgen und übermorgen nicht. Isolde Preckwinkel habe ich mit dem Motorboot vom Wasserschutz ins Ralshagener Krankenhaus bringen lassen. „Selbstverständlich werde ich meine Frau begleiten“, sagte der Professor. „Einen Scheißdreck werden Sie“, antwortete ich grob. „Ich erwarte Sie am Nachmittag um sechzehn Uhr zur
Vernehmung in unserer Rostocker Dienststelle.“ „Gern“, erwiderte er, „und bei der Gelegenheit werde ich mich über Sie und Ihre Methoden beschweren. Glücklicherweise gibt es bei uns klar formulierte Gesetze.“ Ich verkniff mir mühsam den klar formulierten Hinweis, an welcher Stelle meines Körpers er mich lecken könne. „Bild dir bloß nichts ein, du Dichterheini“, sagte ich beim Kaffeetrinken zu meinem Freund Max, „mein Chef wird sich zwar notgedrungen bei dir bedanken, aber…“ „Was aber?“ „Kannst mich mal in Rostock besuchen, dann erklär ich dir das Aber.“ Wir fahren zusammen zum Hafen. Die Sonne versteckt sich noch hinter einer Dunstschicht. Es wird wieder ein heißer Tag werden. „Ich verstehe nicht“, sage ich, „warum ihr alle so von der Insel schwärmt. Für mich wird sie wohl immer was Bedrohliches behalten.“ Max lächelt müde. „Unangenehme Dinge geschehen hier nur alle fünfundzwanzig Jahre.“ Als wir an der Post vorüberkommen, schaue ich hinauf zum Mansardenfenster. „Bist du froh, daß es so ausgegangen ist, Mäcki?“ „Was heißt froh? Die eine hat es geschafft, von so einem Mann loszukommen, wenn auch nicht ohne fremde Hilfe. Die andere hat es leider gar nicht erst versucht. Nibelungentreue hab ich nie verstanden.“ „Das glaub’ ich dir aufs Wort.“ Der Diesel des Postbootes im Hafen tuckert schon bereitwillig. Urlauber mit Koffern und Taschen versuchen, die besten Plätze zu ergattern. Sie verlassen die Insel bei
diesem Wetter wohl nicht halb so gern wie ich. Sabine Donix und Leutnant Stresow erwarten uns. Der ABV setzt für einen Moment seine Dienstmütze ab und fährt sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Diesmal, nach der durchwachten Nacht, schwitzt er wohl vor Erschöpfung. Schimmel-Otto döst auf seinem Kutschbock und schreckt erst auf, als Sabine ihn anspricht. Ich kann mir denken, was sie von ihm will. Stresow zwinkert mir zu. Vermutlich möchte die Genossin Donix die Insel in einem besseren Lichte wiedersehen. Ein Kutter legt ab. Ein Mann winkt zu uns herüber. „Herbert Schlicker“, flüstert mir Max zu. „Ach so, hätt ich beinah vergessen.“ Er langt in die Gepäcktasche seines Fahrrads und holt ein längliches Bündel in Pergamentpapier heraus. „Teil dir’s mit Sabine, und schönen Gruß unbekannterweise an deine Frau!“ Das Postboot tutet mahnend. Sabine und ich bedanken uns bei Stresow. Und bei Max. Dann steigen wir auf. Wir schauen noch mal zum Hochland hinüber. „Genosse Hauptmann“, sagt Sabine leise, „vielleicht wäre ich doch lieber Strafverteidiger geworden.“ Das wäre ein Jammer für unsere Truppe, denke ich, rein kadermäßig gesehen. Dann beginne ich zu winken, wie es sich für alle, die die Insel verlassen, gehört. Im Hafen, der hinter uns zurückbleibt, winken Stresow und Max. Ein Mann und eine Frau kommen angerannt, ziehen ihre Pullis aus und schwenken sie wie verrückt. Ich borge mir von meinem unbekannten Nachbarn das Fernglas, reiche es rasch an Sabine weiter.
„Rogge“, sagt sie erfreut, „und Ilse Boelssen. Wenn wir außer Sichtweite sind, gehen sie mit Bockmühl in die Hafenkneipe und trinken ein großes Bier. Was bin ich neidisch!“ „Mit Recht“, sag’ ich, „in zwei Stunden beginnt für uns der zweite Teil der Arbeit. Dann werden Berichte geschrieben.“ Sabine wirft eine Münze ins Wasser. „Haben Sies so dicke?“ frag ich. „Dann muß ich es mir mit Ihrer Beförderung noch sehr überlegen.“
25. Im Oktober ist die Luft über der Insel viel klarer als im Hochsommer. „O diese Stille, dieses Leuchten“ – so ähnlich, aber sicherlich viel besser hat’s der Große Eginhart Götze ausgedrückt. „Soll ich schon Kartoffeln schälen?“ fragte Helga. „Ja“, sagte ich und gab ihr einen Kuß auf den Scheitel. Nur wer wie ich genau Bescheid wußte, konnte den winzigen grauen Haaransatz erkennen. Sie schaute durch das Fernglas. „Die ,Störtebeker’ biegt schon um die Vogelinsel. Du mußt dich beeilen.“ Ich stieg auf das Fahrrad und zuckte schmerzlich zusammen. Gegen die Abnutzung der Bandscheiben war noch kein Kraut gewachsen. Gegenüber, am Haus „Albatros“, waren die Fensterläden schon winterlich verrammelt. Stresow hat mir erzählt, daß der Professor das Haus verkaufen wolle. Nur ungern dachte ich an den Prozeß zurück, bei dem ich als Zeuge auftreten mußte. Isolde Preckwinkel ist zu sieben Jahren Freiheitsentzug
verurteilt worden – wegen Totschlags. Rechtsanwalt Dr. Ermeler gab eine glänzende Vorstellung. Der Professor hatte ihn engagiert. Das war die letzte milde Tat für seine Frau, bevor er sich von ihr scheiden ließ. Auf dem Lichtmast saß eine Silbermöwe. Harmlose Vögel. Sie greifen nur den an, der ihr Nest gefährdet. Auf der Betonstraße kam mir Sigrid entgegen, unsere neue Postzustellerin, ein liebes Mädchen, weißblond wie ein Osterlämmchen. Immer wenn ich ihr begegne, ertappe ich mich bei der unsachlichen, im übrigen rein hypothetischen Frage: Ob die überall so weißblond ist? Ilse Boelssen hat die Insel verlassen. Sie ist inzwischen mit Günter Rogge verheiratet, und die beiden leben irgendwo zwischen Suhl und Meiningen. Zur Hochzeit schickten sie mir eine Einladung, aber mir stand der Sinn nicht danach. Die „Störtebeker“ bog in die Fahrrinne nach Ahlhöft ein. Ich setzte mich auf eine Fischkiste. Für eine Zigarette war noch Zeit. Schimmel-Otto hockte dösend auf seinem Fuhrwerk. Als er mich bemerkte, winkte er mir zu. „Na, Herr Bockmühl, gefft dat im Fernsehn bald wieder ‘n neuen Schwank von Ihnen?“ „Ich weiß nicht“, antwortete ich „vielleicht schreib ich lieber mal einen Krimi.“ „Ach, doar hebben wi up de Insel ja nix tau lachen.“, meinte er. Wenn ich so bedenke, daß die dritte Fassung meines Lustspiels inzwischen dem Autor zur Bearbeitung zurückgegeben wurde… Inzwischen hatte die „Störtebeker“ festgemacht. Der
Decksmann befestigte das Schutzpolster an der Luke. Heute machte es mir keinen Spaß, die Kopframmler zu zählen. „Grüß dich, Mäcki“. sagte Werner und schüttelte mir herzlich die Hand, „das ist meine Inge. Und nun erzähl uns mal gleich, was es zu essen gibt!“ Ich grinste. „Hecht nach Bornholmer Art.“