Kommissar X - Das Millionen-Karussell von Kelly Kevin ISBN: 3-8328-1118-4
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Kommissar X - Das Millionen-Karussell von Kelly Kevin ISBN: 3-8328-1118-4
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Mit einer ganz ähnlichen Tasche stieg kurz darauf Glen Robinson in dieses Taxi, das vor dem Interkontinentalen Flughafen in der Vorortgemeinde Kloten auf den nächsten Fahrgast wartete. Es war schon spät am Nachmittag. Robinsons Maschine hatte Verspätung gehabt. Nun drängte die Zeit bis zu seinem Termin mit dem Anwalt Gottlieb Sprüngli. Sprüngli bewohnte einen luxuriösen Bungalow in Meilen am Zürichsee. Das herrliche Grundstück war groß genug für einige Accessoires des gehobenen Lebensstils wie Swimmingpool, Tennisplatz und eine Anlegestelle, vor der sein Kajütenboot dümpelte. Daß Sprüngli sich diesen Lebensstil erlauben konnte, verdankte er zwei Eigenschaften, die bei ihm hervorstachen und die er glänzend miteinander verbinden konnte: Er war ein mit allen, mitunter auch trüben Wassern gewaschener Jurist, und er war ein ebenso cleverer, manchmal auch skrupelloser Geschäftsmann. Geld stinkt nicht! Mit dieser Weisheit aus dem Zitatenschatz und einer dennoch feinen Nase hatte Gottlieb Sprügli beizeiten entdeckt, daß mit der Stärke des Franken, sowie der Zuverlässigkeit des Bankgeheimnisses, in der Schweiz gute Geschäfte zu machen waren. Überall in der Welt gab es Reiche, denen ihr Geld im eigenen Land nicht sicher genug schien. Aus welchen Gründen auch immer. Seit Jahren fließen Gelder aus allen Währungen auf Schweizer Nummernkonten. Nicht immer von Unbescholtenen. Gottlieb Sprüngli wußte das. Aber es störte ihn wenig. Es war ja ein offenes Geheimnis, daß auch die Mafia diesen Weg finanzieller Transaktionen nutzte. In New York haben sich bereits einige Firmen etabliert, die darauf spezialisiert sind, heißes Geld illegal in die Schweiz zu bringen. Für eine dieser Firmen, Bollinger & Rossi, diente Sprüngli als Mittelsmann. Seit der Talfahrt des Dollars versuchten immer mehr Geschäftemacher aus New York ihr Vermögen in Schweizer Franken anzulegen. Offiziell dürfen Ausländer aber nur bis zu 100 000 Schweizer Franken bei einer eidgenössischen Bank deponieren. Was darüber ist, wird mit einem Strafzins belegt. Davor bewahrte Gottlieb Sprüngli die guten Kunden der New Yorker Firma Bollinger & Rossi. Er besorgte zuverlässige Schweizer Bürger, die als Depotverwalter das Geld seiner New Yorker Kunden gegen mäßige Gebühr unter eigenem Namen auf ein Nummernkonto zahlten. Glen Robinson arbeitete ebenfalls für Bollinger & Rossi. Als Transporteur. Er brachte die heißen Gelder über die Grenze und lieferte sie bei Sprüngli ab. Damit war sein Auftrag erledigt. Ein lohnender Job. Robinson kassierte anfangs zwei, später drei Prozent der beförderten Summe. Bereits zwanzigmal war er, mit gebündelten Dollarscheinen im Handgepäck, von New York nach Zürich geflogen. Nie im Direktflug. Bei solchen Buchungen wären die US-Steuerfahnder vielleicht aufmerksam geworden. Aus diesem Grunde nahm Glen Robinson stets Umwege in Kauf. Diesmal hatte er in Hamburg Zwischenstation gemacht. Zwanzig Geldtransporte! Bisher war er nie aufgefallen. Eine stolze Bilanz für ihn. Bollinger & Rossi hatten das anerkannt und ihm für diesen Transport sein Honorar auf vier Prozent erhöht. Vier Prozent, das waren für Glen Robinson 40 000 Dollar. Denn diesmal hatte er in seiner schwarzen Aktentasche eine Million eingeschmuggelt. Er konnte diese Finanzspritze gut gebrauchen. Schon oft hatte er den Vorsatz gefaßt, zumindest etwas von seinen Honoraren ebenfalls auf ein Nummernkonto in der Schweiz zu deponieren. Bisher war es beim Vorsatz geblieben. Er führte ein aufwendiges Leben, war ständig unterwegs, stieg in den besten Hotels ab, legte Copyright 2001 by readersplanet
großen Wert auf elegante Kleidung, und genoß die Begleitung schöner, aber auch verwöhnter Frauen. Und Glen Robinson war ein leidenschaftlicher Spieler. Am Roulette-Tisch hatte er den größten Teil seiner Honorare verloren. Von dieser Leidenschaft durften seine Auftraggeber allerdings nichts wissen. Niemals hätten Bollinger & Rossi einem Spieler soviel Geld anvertraut. Zugegeben, manchmal hatte Glen Robinson den Gedanken, die Dollarbündel im Gepäck für sich zu behalten. Aber das Risiko war groß. Er wäre dann nirgendwo in der zivilisierten Welt seines Lebens sicher gewesen. Und was nützt der Reichtum, wenn man sich damit in die Einöde zurückziehen muß? Seine Prozente waren schließlich auch nicht zu verachten. Zumal er jetzt schon vier bekam. Er wußte, daß einige Kollegen, die noch länger als er im Geschäft waren, bereits fünf Prozent erreicht hatten. Den Löwenanteil, das war Robinson klar, kassierten Bollinger & Rossi in New York sowie dieser Sprüngli in Zürich. Wieviel das war, wußte er nicht. Das banden ihm die Herren nicht auf die Nase. In Lateinamerika, soviel hatte Robinson erfahren, mußten Auftraggeber gelegentlich bis zu fünfzig Prozent Provision zahlen. Unsanft wurde Glen Robinson aus seinen Gedanken gerissen. Bremsen kreischten, kurz darauf krachte es. Robinson landete hart an der Lehne des Vordersitzes und prellte sich den linken Oberarm. "Idiot!" fluchte der Taxifahrer und stieg aus. Erst jetzt nahm Robinson zur Kenntnis, daß der Wagen gegen einen Straßenbaum gekracht war. Der Fahrer besah sich den Schaden und raufte sich die roten Stoppelhaare. Robinson stieg ebenfalls aus. Die Motorhaube war stark eingedrückt. "Haben Sie das gesehen?" fragte der Fahrer. "Nein", sagte Robinson und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. "Der Vollidiot hat mich geschnitten. Ich konnte nicht anders ausweichen. Und dann haut das Schwein einfach ab. Aber ich habe die Nummer!" Der Taxifahrer stieg wieder in den Wagen, kam mit einem Notizblock zurück und notierte sich das Kennzeichen. "Können wir weiterfahren?" fragte Robinson ungeduldig. "Ich bin eilig." "Weiterfahren?" Der Rothaarige sah ihn entgeistert an. "Ich rufe jetzt die Polizei. Der Schaden muß aufgenommen werden. Und ich brauche Sie als Zeugen." "Ich sagte schon, ich habe nichts gesehen." "Gar nichts?" fragte der Fahrer verzweifelt. "Gar nichts!" bestätigte Robinson. "Ich war in Gedanken versunken." Ein Personenwagen näherte sich dem Unfallort und stoppte. Die Fahrerin, eine ältere Frau, steckte ihren Kopf durch das heruntergekurbelte Seitenfenster. "Kann ich helfen?" "Können Sie mich mitnehmen?" rief Glen Robinson. Er ging ein paar Schritte auf sie zu, um sich besser mit ihr verständigen zu können. "Ich bin nämlich sehr eilig", erklärte er. "Selbstverständlich", nickte sie freundlich. "Steigen Sie ein!" "Meine Tasche!" fiel Glen Robinson ein. "Ihre Tasche!" rief der Taxifahrer. Er schwenkte sie in der Rechten. Glen Robinson riß sie ihm aus der Hand und verabschiedete sich. "Halt!" rief der Fahrer. "Zu einer Aussage als Zeuge kann ich Sie nicht zwingen, aber als Kunde müssen Sie mir schon den Fahrpreis zahlen." Glen Robinson zog einen Schein und verzichtete auf das Wechselgeld. Er war froh, möglichst schnell weiterzukommen. Gottlieb Sprüngli wartete schon. Copyright 2001 by readersplanet
Und das mochte der Geschäftsmann, für den jede Sekunde kostbar war, nicht sonderlich. Mürrisch führte der Schweizer den amerikanischen Gast durch die weiträumige Diele ins Arbeitszimmer. "Diesmal ist es eine Million", sagte Robinson. "Bringen wir es hinter uns!" drängte der elegant gekleidete Sprüngli und stülpte sich eine getönte Hornbrille über sein farbloses Asketengesicht. Robinson hievte die schwarze Aktentasche auf den Schreibtisch und kramte einen kleinen Schlüssel aus der Geldbörse. Vergeblich fummelte er damit in dem Schloß herum. "Was ist?" fragte Sprüngli ungeduldig. "Ich weiß nicht", sagte Robinson verstört. "Irgend etwas stimmt mit dem Schloß nicht." Während Robinson den Schlüssel näher betrachtete, griff Sprüngli zu, und bei ihm sprang der Riegel zurück. "War gar nicht verschlossen", stellte Sprüngli fest mit einem Unterton, der Ironie und Vorwurf mischte. "Verstehe ich nicht", murmelte Robinson. Als er die Tasche öffnete, verstand er überhaupt nichts mehr. "Schmutzige Wäsche", staunte Gottlieb Sprüngli. "Soll das ein Witz sein?"
* "Noch einen Scotch?" fragte April Bondy, die attraktive Volontärin des Privatdetektivs Jo Walker. Sie hatte mit ihrem Chef zu Mittag gegessen. In 411 Meter Höhe, im höchsten Restaurant New Yorks, dem "Windows on the world", einem Nobel-Lokal im 107. Stockwerk des linken Turms vom World Trade Center. Jo Walker blickte auf seine Uhr. "Einen noch", nickte er. Die beiden hatten erst zwei getrunken und sahen schon alles doppelt, denn nach dem Essen in einem der aufwendig eingerichteten Grillräume waren sie in die Spiegel-Bar gewechselt, um zumindest eine der 130 Scotch-Sorten zu testen. April hatte sich eine solche Mahlzeit in der "Himmelsküche" schon immer gewünscht. Aber ein Eßplatz hier oben unter den Wolken war für den Normalverbraucher fast ebenso schwer zu finden wie die berühmte Stecknadel im Heuhaufen. Ursprünglich stand das "Himmelreich" nur Auserwählten offen. Wer dort verkehrte, mußte Clubmitglied und in der Lage sein, saftige Beiträge in die Kasse zu zahlen. Bis einige Normalesser protestierten. Seitdem durften jeden Mittag auch 120 Nichtmitglieder durch die Panoramascheiben des "Fensters zur Welt" herabsehen. Obwohl sie einen Aufschlag für das Gedeck zahlen mußten, waren diese Stühle auf Monate ausgebucht. Aber Kommissar X hatte in New York Beziehungen. Und April Bondy hatte heute Geburtstag. Deshalb war dieses Dinner arrangiert worden. "Auf dein Spezielles!" toastete Jo und hob sein Glas. "Glück, Gesundheit und ein langes Leben." Er räusperte sich. "Und viele Kinder, natürlich." "Ich will dich nicht beim Wort nehmen", toastete April zurück. "Trotzdem gebe ich darauf einen aus." "Sorry", sagte Jo und blickte erneut auf seinen Chronometer. "Ich bin verabredet." April hob die Brauen. "Wie heißt sie?" "Liza." "Woher kennst du sie?" "Ich kenne sie ja noch gar nicht. Wir haben uns noch nie gesehen. Aber sie hat mich heute morgen im Büro angerufen und mir ihr Herz ausgeschüttet. Mit vielen, vielen Tränen." Copyright 2001 by readersplanet
"Wie rührend", stellte April fest. "Nicht wahr?" nickte Jo. "Allerdings hat sie ihr Salzwasser nicht um mich vergossen, sondern um ihren Verlobten, einem gewissen Robinson. Den Namen habe ich vergessen. Oder war das der Nachname? Dann habe ich den Vornamen vergessen." "Und dieser Robinson ist verschwunden", kombinierte April mit erstaunlicher Treffsicherheit. "Richtig", staunte Jo. "Woher weißt du das?" "Jeder weiß, daß Robinson auf einer Insel verschollen ist." "Cheerio", sagte Jo und kippte den Rest aus seinem Glas. "Wenn da keine Verwechslung vorliegt, werde ich Lizas Fall dank deiner Hilfe sehr schnell gelöst haben." Ein Expresslift brachte die beides in gut einer Minute wieder auf Normalhöhe. Jo brachte April ins Büro. Dann fuhr er weiter nach Greenwich. In der Bleecker Street arbeitete Liza Carter, seine um ihren Verlobten besorgte Klientin, bei einem Zahnarzt namens Myers. Vor dessen Praxis wollte sie den Privatdetektiv treffen. Der Zahnarzt bewohnte eine alte, aber gut erhaltene Villa, die von einer kleinen Parkanlage umgeben war. Jo stellte seinen Wagen am Straßenrand ab und stieg aus, denn der asphaltierte Zufahrtsweg war durch ein Eisentor verschlossen. Wahrscheinlich wurde es nur zu Sprechstundenzeiten geöffnet. Für Fußgänger war der Zugang über einen Plattenweg frei. Er war an beiden Seiten von einer Weißdornhecke begrenzt. Vor dem überdachten Eingang stand eine Eiche, dessen ausladende, dicht belaubte Krone Schatten spendete. Unter dem Baum lud eine Gartenbank zur Rast ein. Hier hatte Liza Carter auf ihn warten wollen. Die Klientin war nicht zu sehen. Jo warf einen Blick auf seine Uhr. Er hatte sich etwas verspätet. War das Girl so ungeduldig, daß es nicht die paar Minuten warten konnte? Dabei hatte es am Telefon so herzerweichend geschluchzt, daß Jo ihr die Bitte um Hilfe einfach nicht abschlagen konnte. Jo zündete sich eine Pall Mall an und überlegte, ob er erst einmal auf der Bank abwarten oder im Haus nachfragen sollte. Da hörte er Schritte. Ein Mann bog um die Hausecke und kam auf Jo zu. Die bullige Figur war in einen viel zu engen Jeansanzug gezwängt. Das Grinsen in dem grobschlächtigen Gesicht verhieß nichts Gutes. Seine Hände hatte der Bullige in den Jackentaschen vergraben. Die rechte Tasche beulte sich verdächtig. Jo witterte Gefahr. Er ließ den Fremden nicht aus den Augen. "Hallo", sagte der bullige Typ, dessen Stimme noch schäbiger war als sein Jeansanzug. "Da bist du ja." "Sind wir verabredet?" fragte Jo. "Wohl kaum", grinste der andere höhnisch. "Aber wir haben auf dich gewartet." "Mit wem habe ich das Vergnügen?" Der Bullige lachte röhrend. "Vergnügen ist gut", sagte er. Und dann zog er seine rechte Hand aus der Jackentasche. Zum Vorschein kam eine Luger mit aufgeschraubtem Schalldämpfer. Jo hatte damit gerechnet. Er war nicht überrascht, konnte sofort handeln. Mit einem Hechtsprung schnellte er vorwärts. Wie ein Rammbock traf sein Ellenbogen die Brust des Gegners, gleichzeitig schlug er ihm mit der Handkante den rechten Arm herunter. Ein Schuß löste sich, knallte nicht lauter als ein Sektkorken. Die Kugel grub sich in den Baumstamm. Der Bullige brüllte wütend auf, wollte sich herumwerfen und die Pistole wieder hochreißen. Bevor er es schaffte, traf Jos Faust sein Handgelenk, und die Schußwaffe landete auf den Waschbetonplatten des Weges. Jo drehte seinem Gegner den Arm auf den Rücken und glaubte schon, diesen Kampf gewonnen zu haben. In dem Moment keilte der Bullige mit den Füßen nach hinten aus, traf Jos Schienbein und ließ sich gleichzeitig fallen.
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Kommissar X verlor das Gleichgewicht, stürzte und mußte das Handgelenk seines Gegners loslassen. Der Bullige entwickelte eine erstaunliche Behendigkeit. Blitzschnell kam er wieder auf die Beine. Jo, der ebenfalls hochschnellte, mußte eine harte Gerade in die Brustgrube einstecken, konterte seinerseits mit einem Haken und setzte mit der Rechten eine Finte an. Seine Linke kam genau und gestochen scharf. Sie explodierte am Kopf des Gegners. Der Bullige stöhnte auf, wankte rückwärts und stolperte. Aber er war immer noch nicht am Ende. Wie ein Panther warf er sich herum, rollte ein paar Yards zur Seite und landete auf den Füßen. Er keuchte vor Wut und kam wieder heran. Als er den Arm hochriß, sah Jo das Messer blitzen. Jo tauchte zur Seite, konnte eben noch ausweichen. Haarscharf zischte die Klinge an seiner Schulter vorbei. Er streckte den Fuß vor und versuchte, den Bulligen zum Stolpern zu bringen. Aber der Bursche hatte mit unheimlicher Geschicklichkeit den Schwung abgefangen, tänzelte einen Schritt zurück und kam wieder heran. Jo sah den Arm mit dem Messer abermals hochzucken, sah die lange, gebogene Klinge funkeln. In letzter Sekunde gelang es ihm, das Handgelenk des Gegners zu erwischen. Die Messerklinge war dicht vor seinem Gesicht, zielte mit der nadelscharfen Spitze auf seine Kehle. Er biß die Zähne zusammen und drückte den Arm des Gangsters zur Seite. Der Kerl stöhnte auf. Ganz plötzlich knickte sein Arm ein. Das Messer klirrte zu Boden. Jo riß dem Bulligen mit einem Ruck das Handgelenk auf den Rücken, packte mit der freien Hand nach seiner Schulter. Wie eine Katze wand sich der Bursche hin und her, um dem eisernen Griff zu entkommen, doch es gelang ihm diesmal nicht. "So", keuchte Jo, als er seinen Gegner endlich fest im Griff hatte, "und jetzt gehen wir zum unterhaltsamen Teil über. Ich schlage vor, wir reden Fraktur." "Ganz meine Meinung." Jos Kopf zuckte zur Seite. Die Stimme kam aus dem Eingang. Ein zweiter Mann trat hervor. Groß, hager, gut gekleidet. Aber mit den gleichen schlechten Manieren wie der Bullige in Jeans, denn auch in seiner Rechten lag drohend eine schallgedämpfte Luger. Hinter dem Hageren erschien ein dritter Mann. Klein, dick und kahlköpfig. Ein breites Grinsen lag auf seinem runden Gesicht. Es hätte auf einen aufgeblasenen Kinderluftballon gepaßt, wenn nicht das teuflische, hinterhältige Funkeln in seinen Augen gewesen wäre. "Bravo!" sagte der Dicke mit Eunuchenstimme. "Ein toller Fight! Und alles ohne Eintrittsgeld." "Was wollt ihr?" fragte Jo, der angesichts zweier Schußwaffen, die auf ihn gerichtet waren, den Sinn für Humor verlor. "Wir nehmen dein Angebot an", sagte der Hagere. "Unterhaltung ist immer gut. Gehen wir ins Haus. Dort werden wir mit dir Fraktur reden." Jo blieb keine andere Wahl.
* Noch bis vor kurzem war Liza Carter das gewesen, was man ein Mauerblümchen nennt. Vor der Natur nicht mit Reizen und den Eltern nicht mit Geld verwöhnt, hatte sich der kontaktscheue Teenager in eine Traumwelt zurückgezogen. Träume, die man mit siebzehn eben hat, inspiriert von Filmen und Romanen. Träume von der großen Liebe, dem großen Glück und der großen, weiten Welt. Dann trat Glen Robinson in ihr Leben, und mit ihm, so glaubte sie, konnte sie sich diese Träume erfüllen. Copyright 2001 by readersplanet
Er war älter, viel älter als sie. Aber das störte Liza nicht, im Gegenteil, sie bewunderte seine Erfahrung, den Stil, wie er das Leben meisterte. Glen Robinson war für sie ein Mann von Welt. Und ein Mann mit Geld. Beides imponierte dem Girl, das in kleinbürgerlichen, ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war. Obwohl ihre Eltern dagegen waren, hatte sich Liza Carter mit Glen Robinson verlobt. Das Mauerblümchen blühte auf. Es träumte von seiner Hochzeit. Aber wenn es davon sprach, vertröstete sie Glen Robinson auf später, weil seine Geschäfte ihm noch keine Zeit ließen, wie er sagte. Was für Geschäfte das waren, war ihr nie so recht klar geworden. Glen Robinson reiste viel und sprach wenig darüber. Meist war er in Europa unterwegs. Und offenbar verdiente er nicht schlecht dabei. Nie war er ohne ein kostbares Geschenk für sie zurückgekehrt. Diesmal aber war Glen Robinson überhaupt nicht zurückgekehrt. Seit fünf Tagen schon wartete Liza Carter vergeblich auf ihren Verlobten. Zuletzt hatte er sich aus Zürich gemeldet. Am Telefon machte er einen verstörten Eindruck. Irgend etwas war schiefgelaufen. Was, das hatte er ihr nicht gesagt. Er hatte sie vertröstet, wollte sich später wieder bei ihr melden. Darauf wartete Liza Carter bis heute vergeblich. Sie machte sich Sorgen um ihren Verlobten. Und weil sie sich nicht zu helfen wußte, hatte sie den Privatdetektiv Jo Walker um Rat gebeten. Liza Carter blickte auf die goldene Armbanduhr, ein Geschenk ihres Verlobten. Vor einer Viertelstunde hatte sie sich mit dem Detektiv treffen wollen. Ob er so lange auf sie warten würde? Sie beschleunigte ihre Schritte. "Verdammt!" Mit diesem Fluch machte sie dem Ärger über ihren Chef Luft. Warum hatte sie Dr. Myers losgeschickt, obwohl sie ihm gesagt hatte, daß sie dann eine wichtige Verabredung verpassen würde? Die Schecks hätte sie auch später noch zur Bank bringen können. Aber der Zahnarzt hatte darauf bestanden, daß sie das sofort erledigen müsse. Warum? Liza sah keinen zwingenden Grund. Dr. Myers war ihr gegenüber sonst eigentlich immer sehr entgegenkommend gewesen. Als Liza Carter das Grundstück des Zahnarztes erreicht hatte, wuchs ihr Ärger, denn die Bank unter der Eiche war leer. Dort hatte sie sich mit Jo Walker treffen wollen. Die Einganstür zur Praxis öffnete sich. Dr. Myers trat heraus, kam ihr entgegen. Der kleine, schmächtige Mann wirkte verstört. "Sorry", sagte er und nestelte nervös an seiner Hornbrille, die für das schmale, farblose Gesicht viel zu groß geraten war. "Ich habe noch einen dringenden Auftrag für Sie." Liza Carter verschlug es die Sprache. Einen Moment lang rang sie nach Luft. "Aber.. .", begann sie dann zögernd, "aber ich habe doch eine wichtige Verabredung." Eine zarte Zornesröte legte sich über ihr schmales, etwas blasses Gesicht. "Die hatten Sie vor einer Viertelstunde", stellte Dr. Myers fest. Seine Stimme hatte einen Tonfall, den sie von ihm nicht gewöhnt war. "Ich habe aufgepaßt. Bisher ist niemand hier aufgetaucht." Dr. Myers lächelte etwas gequält. "Der Verehrer hat Sie wohl versetzt." Liza Carter wollte etwas erwidern, aber sie schluckte, weil sich plötzlich so etwas wie ein Kloß in ihrem Hals festsetzte. Dieser Druck wirkte auch auf die Tränendrüsen. Ihre rehbraunen Augen bekamen einen wäßrigen Schimmer. Dr. Myers legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. "Na, kommen Sie", sagte er, und jetzt klang seine Stimme schon wesentlich freundlicher, wenn gleich immer noch merkwürdig fremd. "Ich habe hier noch eine dringende Sache, die muß sofort zur Post." Er drückte ihr einen Briefumschlag in die Hand und bemühte sich um ein freundliches Lächeln, das ihm aber nur mühsam gelang. "Und dann machen Sie für den Rest des Tages frei. Copyright 2001 by readersplanet
"Aber...", stammelte Liza, die nicht recht wußte, was sie von allem halten sollte. "Nun gehen Sie schon", nickte Dr. Myers ihr aufmunternd zu. "Ich war auch einmal jung und verliebt..." Sein Lächeln sollte vielsagend wirken, aber es blieb dünn. Liza Carter war verwirrt. Sie ahnte, daß hier etwas faul war, aber sie fand nicht den Mut, ihrem Chef zu widersprechen. Sie gehorchte und ging zur Post. Auf dem Weg dorthin ordnete sie ihre Gedanken. Als sie den Brief eingeworfen hatte, suchte sie sich eine freie Telefonzelle und rief das Detektivbüro Jo Walker an.
* Der gutgekleidete Hagere war offenbar der Anführer des Gangster-Trios, das Jo vor der Zahnarztvilla überfallen hatte. Auf seinen Befehl hin packten der Bullige in Jeans und der kleine Kahlköpfige ihr Opfer und schoben es unsanft die Treppe zum Eingang hoch. Jo schüttelte die Fäuste von seinem Körper. "Ich lasse auch ohne solche Zärtlichkeiten mit mir reden", sagte er ungehalten. "Okay", stimmte der Hagere zu. "Aber keine Dummheiten!" Jo wurde in die Praxis geführt. Das Wartezimmer war leer. Im Behandlungsraum roch es penetrant antiseptisch. Jo rümpfte die Nase und warf einen kritischen Blick auf den Patientenstuhl und das Bohrersortiment, das drohend darüber schwebte. Jo war ganz bestimmt nicht sonderlich ängstlich und hatte allgemein mit Vorurteilen wenig im Sinn. Aber Besuche beim Zahnarzt hatten ihn schon immer mit einem unangenehm flauen Gefühl in der Magengegend belastet. Und das hier war ein ganz spezieller Fall. "Machen Sie es sich gemütlich", sagte der Hagere ironisch. "Wo?" fragte Jo, das Unheil ahnend. "Auf dem Marterstuhl", sagte der Hagere grinsend und gab seinen Komplicen einen Wink. Sie halfen Jo, der sich vergeblich sträubte. "Was soll der Unsinn!" bäumte sich Jo auf. "Meine Zähne sind in Ordnung." Er wurde unsanft zurückgedrückt. "Deine Zähne werden bald nicht mehr in Ordnung sein, wenn du unartig bist!" drohte der Kahlkopf und fletschte seine eigenen Zähne, die viel dringender eine Behandlung nötig gehabt hätten. "Vielleicht verratet ihr mir zunächst einmal, was ihr von mir wollt", schlug Jo vor. Der Hagere nickte grimmig. "Wo ist das Geld?" fragte er. "Welches Geld?" wunderte sich Jo. Der Hagere nickte dem Bulligen in Jeans zu. Der holte aus. Seine Handfläche landete klatschend in Jos Gesicht. "Wir haben keine Zeit für faule Tricks", warnte der Hagere. "Entweder du läßt dir schnell einfallen, wo die Million steckt, oder wir bohren dir ein paar Löcher in deine strahlenden Beißerchen." Der Kahlkopf nahm demonstrativ einen Bohrer und schaltete ihn ein. Das Summen klang Jo so häßlich, daß er sein Gesicht verzog. Der Bullige mißdeutete das als ein Grinsen, was ihm unverschämt erschien. Jo bekam einen zweiten Schlag ins Gesicht. "Schluß jetzt, Robinson!" zischte der Hagere böse. Der surrende Bohrer näherte sich bedrohlich. Jo riß den Mund auf. "Halt!" schrie er. "Das muß ein Irrtum sein!" Copyright 2001 by readersplanet
* April Bondy meldete sich, als Liza Carter das Detektivbüro Walker anrief. April wunderte sich sehr, daß Liza sich nach Jo erkundigte, denn April wußte, daß KX zu diesem Termin gefahren war. Wo also war er geblieben? Als Liza von dem merkwürdigen Verhalten ihres Chefs, des Zahnarztes Dr. Myers, berichtete, witterte April, daß da etwas nicht stimmen konnte. Sie verabredete sich mit Liza. Sie fuhr sofort los und holte Liza beim Postamt ab. Zusammen fuhren die beiden zur Praxis. Am Straßenrand vor der Einfahrt zur Villa des Zahnarztes entdeckte April den Sportwagen ihres Chefs. Jo war also doch hier. Aber wo? Das Eisentor vor dem asphaltierten Zufahrtsweg, der durch den Park zur Villa führte, stand offen. April fuhr hinauf und parkte vor der Villa. "Dr. Myers ist weggefahren", stellte Liza fest und zeigte auf die offenstehende leere Garage. "Hat er denn heute nachmittag keine Sprechstunde?" fragte April. "Nein", antwortete Liza, "nur vormittags." "Hat er Ihnen deshalb freigegeben?" "Vielleicht. Aber das ist nicht üblich, denn nachmittags fallen für mich immer etliche Büroarbeiten an. Eigentlich hätte ich auch heute Wichtiges zu tun gehabt." "Ist sonst jemand im Haus?" erkundigte sich April. "Höchstens die Putzfrau. Aber die kommt in der Regel erst gegen Feierabend." "Versuchen wir es", meinte April. Die beiden gingen auf dem Eingang zu. Unter dem Fenster zum Behandlungszimmer hörte April plötzlich eine Stimme. "Halt! Das muß ein Irrtum sein!" Jo! Kein Zweifel, das war Jos Stimme. "Das muß ein Irrtum sein!" wiederholte Jo. "Ich bin nicht Robinson." Der Kahlkopf zog den Bohrer zurück und sah den Hageren fragend an. "Ich heiße Jo Walker und bin Privatdetektiv. Meine Lizenz steckt in der Brieftasche." Der Hagere überlegte kurz. "Her damit", sagte er dann. Jo sah seine Chance. Nicht darin, daß er beweisen konnte, ein anderer als Robinson zu sein. Da machte er sich nichts vor. Die Gangster waren mit ihm schon zu weit gegangen. Und daß sie Robinson ausgerechnet mit einem Privatdetektiv verwechselt hatten, würde erst recht nicht dazu beitragen, daß sie ihn ungeschoren ziehen ließen. Am Ende noch mit einer höflichen Entschuldigung für das bedauernswerte Versehen? Nein, damit war nicht zu rechnen. Jo sah mehr die Chance eines Ablenkungsmanövers. Während der Hagere seine Papiere studierte, und der Bullige ihm dabei neugierig über die Schultern blickte, hatte sich Jo für den Kahlköpfigen, der ihm nach wie vor den surrenden Bohrer vor die Nase rieft, einen Überraschungseffekt ausgedacht. Die Idee verdankte er genau genommen seinen strahlend weißen Zähnen. Die wiederum verdankte er einem Kollegen von Dr. Myers, der ihm vor einigen Wochen Zahnstein und Nikotinbelag entfernt hatte. Bei diesem Zahnarzt hatte Jo in einem ähnlichen Behandlungsstuhl gesessen und war deshalb mit einem Hebel vertraut, den er jetzt für seinen Plan nutzte und ganz plötzlich zog. Die Wirkung war verblüffend. Zumindest für den Kahlköpfigen. Copyright 2001 by readersplanet
Jo katapultierte sich mit dem Zahnarztstuhl in die Horizontale und trat dem verdutzten Glatzkopf den Bohrer aus der Hand. Ehe die anderen reagieren konnten, war Jo schon aus dem Stuhl gerollt und wieder auf den Beinen. Der kleine Dicke sprang als erster auf ihn zu. Etwas zu wild, weil er wütend über den Fußtritt mit mechanischer Hilfe war. Jo wich elegant zur Seite, ließ ein Bein stehen und half mit dem anderen nach, so daß der Angreifer mit Schwung gegen einen Schrank prallte. Dort blieb er eine Weile benommen liegen und rieb sich den kahlen Schädel, auf dem sich sehr schnell eine stattliche Beule bildete. Als nächstes Ziel visierte Jo den Bulligen in dem Jeansanzug an. Der wich respektvoll zurück, weil er bereits draußen schlechte Erfahrungen mit diesem Gegner gemacht hatte. Jo ließ ihm Bedenkzeit, denn er sah gerade noch rechtzeitig, daß der Hagere seine Luger auf ihn richten wollte. Mitten im Lauf änderte Jo die Richtung und hechtete nach den Beinen des Hageren. Die bekam er auch zu fassen. Jo riß den Gegner zu Boden. Dessen Schußwaffe fiel zu Boden, außer Reichweite. Inzwischen aber hatte es sich der Bullige überlegt und war zum Angriff entschlossen. Die Gelegenheit schien ihm günstig, denn sein hagerer Komplice war derart auf Jo zu liegen gekommen, daß dieser sich zunächst nicht bewegen konnte. Der Bullige wollte in aller Ruhe seine Luger aus der viel zu engen Jeansjacke fummeln. Da klirrte die Fensterscheibe. "Hands up!" sagte eine energische Frauenstimme. Jo drehte den Kopf zum Fenster und sah seine Volontärin. April Bondy hielt ihre kleinkalibrige Pistole in der Hand, die sie durch das Loch in der Glasscheibe steckte. Sie machte einen entschlossenen Eindruck. Zwei Herzschläge lang breitete sich tödliche Stille aus. Greifbar schien die Spannung in der Luft zu liegen. Dann reagierte der Bullige mit einer Schnelligkeit, die man ihm kaum zugetraut hätte. Er wirbelte herum und hechtete, wie von einer Bogensehne abgeschnellt, hinter den Zahnarztstuhl in Deckung. Gleichzeitig riß er seine Luger aus der Jackentasche und feuerte in Richtung Fenster. Es gab nur ein dumpfes Plopp, denn der Bursche hatte den Schalldämpfer aufgeschraubt. April mußte in Deckung gehen und tauchte gerade noch rechtzeitig hinter die Fensterbrüstung. Zentimeternah zischte die Kugel über ihren Kopf hinweg und schlug in den Stamm der mächtigen Eiche. Während es Jo gelang, den Hageren von sich zu wälzen, beendete der kleine Dicke sein Winseln über die Beule am Kahlkopf und sann auf Rache. Er stieß einen wütenden Laut aus, griff nach einer Arzneiflasche, die er in der Schrankwand fand, gegen die Jo ihn katapultiert hatte, und holte aus. Bevor der Detektiv auf die Beine kommen konnte, zerbrach die Flasche auf Jos Schädel. Vor seinen Augen zuckten grelle Blitze. Als er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, bekam er eine Kostprobe von dem bitteren Geschmack des Flascheninhalts. Jo verzog das Gesicht und schüttelte mühsam die Benommenheit ab. "Wir verduften!" hörte er den Hageren rufen. Damit war Jo gar nicht einverstanden. "Halt!" rief er scharf und angelte nach der Luger, die der Hagere im Zweikampf verloren hatte. "Stehenbleiben oder..." Krachend flog die Tür ins Schloß. Die drei Gangster rannten hinaus. "April!" rief Jo. Vorsichtig steckte seine Volontärin den Kopf durch die Fensteröffnung. "Sie fliehen", rief Jo. "Versuch' sie aufzuhalten! Ich komme." Jo spurtete los, riß die Tür auf. Schritte polterten die Treppe hinunter. Dann fielen Schüsse. Copyright 2001 by readersplanet
Als Jo das Freie erreichte, hörte er das Zuschlagen einer Wagentür. Gleich darauf das Aufheulen eines schweren Motors. April lag unter der Eiche. Einer der Gangster hatte sie niedergeschlagen. Sie rappelte sich gerade wieder hoch. Liza Carter, total verstört, versuchte ihr dabei zu helfen. "Alles okay?" fragte Jo. "Ich werde auch diesen Geburtstag überleben", sagte April sarkastisch. "Was war eigentlich los?" "Später", vertröstete sie Jo und rannte durch den Park zu seinem Wagen. Als er die Straße erreichte, preschte das Fahrzeug der Gangster bereits um die nächste Ecke. Jo konnte gerade noch erkennen, daß es ein grauer Ford war.
* Glen Robinson war der Verzweiflung nahe. Seit er Gottlieb Sprüngli eine Tasche mit schmutziger Wäsche statt einer Million Dollar abgeliefert hatte, war er vier Tage lang wie ein Besessener durch Zürich geirrt, um die richtige Tasche mit dem Geld zu finden. Immer wieder hatte er die Ereignisse seit seiner Landung in der Schweizer Finanzmetropole Revue passieren lassen. Vorher konnte der mysteriöse Austausch Dollarscheine gegen schmutzige Wäsche nicht stattgefunden haben, denn gleich nach seiner Ankunft hatte er in einer Flughafen-Toilette die Scheine nachgezählt. Diese Vorsichtsmaßnahme war zur Routine geworden, nachdem Sprüngli eines Tages das Fehlen von zehntausend Dollar reklamierte. Robinson wurde den Verdacht nicht los, daß Sprüngli sich dieses Geld unter den Nagel gerissen hatte. An jenem Tag war Robinson mitten beim Geldzählen über den Lautsprecher ausgerufen und am Telefon verlangt worden. Ein Gespräch aus New York. Liza Carter, seine Verlobte, hatte mal wieder die Zeit bis zu seiner Rückkehr nicht abwarten können. Liza! Glen Robinson seufzte. Liza, der verliebte Teenager! Das Mädchen himmelte ihn an. Und das gefiel ihm, das fesselte ihn. Denn eine Schönheit war Liza nicht. Aber sie war so anders als alle anderen. Glen Robinson hatte viele andere gekannt. Weil er gern den großen Mann spielte, zog er die entsprechenden Damen an. Später aus. Und danach war es dann meistens aus. Bei der unerfahrenen Liza Carter hatte der erfahrene Glen Robinson zum erstenmal gespürt, daß Liebe mehr sein kann als ein flüchtiges Abenteuer. Die Aufrichtigkeit, die er selbst früher als Naivität ausgelegt hätte, das anhängliche, manchmal etwas verträumte Wesen dieses Mädchens schlugen ihn in ihren Bann. So kam es, daß er immer wieder ein schlechtes Gewissen hatte, wenn er auf seinen Reisen die alten Damenbekanntschaften pflegte. Davon kaufte er sich dann bei Liza mit großzügigen Geschenken frei. Und dann geschah das, woran er selbst vorher nie so recht geglaubt hatte: Er verlobte sich mit Liza. Seitdem hatte er sich keinen Seitensprung mehr erlaubt. Am Abend nach der Panne bei Sprüngli hatte er sie angerufen. Er konnte seine Probleme nur andeuten, denn bisher hatte er seiner Verlobten die Masche, mit der er Geld verdiente, verschwiegen. Solche Geschäfte wurden unter einem strengen Siegel der Vertraulichkeit abgeschlossen. Bollinger und Rossi, seine Chefs, legten größten Wert darauf. Glen Robinson hatte sich lange überlegt, ob er Liza seine Lage schildern sollte. Nachdem er vier Tage lang in Zürich vergeblich nach dem Geld gesucht hatte, drohten ihm nun ernste Schwierigkeiten. Da war es besser, Liza nicht hineinzuziehen. Fest stand für Glen Robinson, daß die Tasche auf der Fahrt vom Flughafen zur Sprüngli-Villa vertauscht worden sein mußte. In Frage kam eigentlich nur der Taxifahrer. Den hatte Copyright 2001 by readersplanet
Robinson vergeblich gesucht. Natürlich hatte er sich das Kennzeichen des Taxis nicht gemerkt. Wozu auch? Er konnte doch nicht ahnen... Und von dem Fahrer wußte er auch nur, daß er rote Stoppelhaare hatte. Mit diesen Angaben war bei den Driver-Kollegen nicht viel zu machen gewesen. Robinsons große Hoffnung war die Polizei. Die aber wollte er nicht direkt um Hilfe bitten. Aus verständlichen Gründen. Immerhin gab sie täglich Unfallberichte an die Presse heraus. Und sein Taxi hatte schließlich einen Unfall gehabt. Der Fahrer wollte ja die Polizei rufen und ihn, Robinson, als Zeugen gewinnen. Es war wie verhext. Dieser Unfall war offenbar überhaupt nicht gemeldet worden. Glen Robinson hatte alles versucht, um seinen Fehler auszubügeln. Vergeblich. Jetzt blieb ihm nur noch ein Weg. Er mußte sich seinen Chefs anvertrauen. Eine heikle Sache. Ob die ihm glauben würden, daß er die Tasche mit dem Geld gegen eine Tasche mit schmutziger Wäsche versehentlich vertauscht hatte? Glen Robinson hatte Angst. Weil er Alfonso Rossi weniger fürchtete als William Bollinger, der als leicht reizbar und jähzornig galt, machte er sich schweren Herzens auf den Weg nach Coney Island. Dort, herrlich gelegen am Lindbergh Park, mit Blick auf die Gravesend Bay, bewohnte Alfonso Rossi einen feudalen Bungalow. Tino Benetto, Rossis arroganter Privatsekretär, öffnete die Tür. "Sieh an!" sagte Benetto mit einer Mischung von Überraschung und Ironie. "Der verlorene Sohn kehrt zurück." Glen Robinson überhörte die Anspielung. Er hatte Benetto, diesen geschniegelten Lackaffen, der vor Pomade glänzte und nach Parfüm stank, noch nie leiden mögen. Es war besser, seine herablassende Art einfach zu ignorieren. "Ist der Chef da?" fragte Robinson. "Er wartet seit Tagen auf Sie", antwortete Benetto mit vorwurfsvollem Tonfall. "Kann ich ihn sprechen?" "Sicher", kicherte Benetto. "Darauf freut sich Signore Rossi schon ungeduldig. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob er auch mit sich reden läßt." Glen Robinson verstand die Doppeldeutigkeit und schwieg. Was Benetto auf seine Weise ausgedrückt hatte, entsprach schließlich seinen eigenen Befürchtungen. Umso überraschter war Robinson, als sein Chef ihn empfing, als wäre nichts passiert. Rossi, ein großer, eleganter Mann mittleren Alters, mit ergrauten Schläfen und leichtem Bauchansatz, saß hinter seinem schweren Mahagonischreibtisch und war in Akten vertieft. "Nehmen Sie Platz", sagte er, ohne aufzublicken. Robinson setzte sich in einen der Ledersessel, die um den Schreibtisch herum gruppiert standen. Rossi las weiter in seinen Papieren. "Ich...ich bin...", stotterte Robinson los. "Mir ist etwas Schreckliches passiert." Glen Robinson machte eine Pause, weil er annahm, daß sein Chef auf dieses Schuldeingeständnis irgendwie reagieren würde. Aber Rossi las weiter. Er hatte Robinson bisher noch keines Blickes gewürdigt. "Die Tasche mit dem Geld", fuhr Robinson unsicher fort. "Ich muß sie irgendwie verloren haben. Vertauscht. Wahrscheinlich im Taxi. Als ich vom Flughafen zu Sprüngli fuhr. Vorher war das Geld noch in der Tasche. Das weiß ich genau. Dann hatten wir einen Unfall. Der Taxifahrer wollte die Polizei holen. Ich war eilig. Da kam eine Frau mit einem Wagen. Die hat mich mitgenommen. Ich wollte meine Tasche holen. Der Taxifahrer kam mir damit entgegen. Sie sah genau so aus wie meine. Aber es muß eine andere gewesen sein. Da muß es passiert sein." Robinson sah seinen Chef an. Rossi las und verzog keine Miene.
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"Ich weiß, ich hätte mich sofort melden müssen", gestand Robinson ein. "Aber informiert wurden Sie ohnehin von Sprüngli. Und...und ich dachte, ich versuche es erst einmal auf eigene Faust, das Ding wieder in die Reihe zu setzen. Ich habe den Taxifahrer gesucht. Vier Tage lang bin ich durch Zürich gerast. Ich habe ihn nicht gefunden. Ich bin sicher, daß er die Tasche mit dem Geld entdeckt und sie behalten hat. Vielleicht hat er deshalb den Unfall nicht bei der Polizei gemeldet. Danach habe ich mich erkundigt. Obwohl er das vorhatte, denn ich sollte ja noch für ihn als Zeuge aussagen. Es tut mir leid, aber..." Robinson verstummte. Ihm fiel keine weitere Entschuldigung ein. Rossi zeigte immer noch keine Reaktion. Und gerade das wurde Robinson immer unheimlicher. "Ich war selbst wie vor den Kopf geschlagen", fügte Robinson hinzu, "als Sprüngli die Tasche öffnete und die schmutzige Wäsche zum Vorschein kam." Robinson war am Ende seiner Rede. Es dauerte eine Weile, bis Rossi endlich die Augen hob. Der Blick, mit dem er sein Gegenüber maß, war für Robinson nicht einzuordnen. "Gehen Sie in den Salon und warten Sie", sagte Rossi. "Benetto wird Ihnen einen Cognac bringen. Ich habe noch zu tun, ich komme später. Dann werden wir die schmutzige Wäsche waschen."
* Mit seinem Mercedes-Sportwagen gelang es Kommissar X, sich hinter den Ford zu hängen, mit dem die drei Gangster flohen. Jo hielt sich so weit wie möglich zurück, aber die Kerle schienen ohnehin keinen Verfolger zu fürchten. Die Fahrt führte nach Süd-Manhattan, dann durch den Brooklyn Battery Tunnel auf den Gowanus Expressway. Von dort bog der Ford auf den Prospect Gowanus Expressway ab. Kurz darauf verließen die Gangster die Schnellstraße. Ihr Ziel war eine alte Villa am Prospect Park. Kommissar X stoppte in angemessener Entfernung und beobachtete, wie die drei Gangster auf dem Grundstück verschwanden. Nach einer Weile folgte Jo. Die Villa war verkommen, wirkte wie ein großer, schäbiger Klotz. An der Vorderfront waren die Fensterläden verschlossen. Das Grundstück wurde von einer hohen Hecke begrenzt, dahinter lag eine weiträumige Rasenfläche. Ein schmaler Fußweg zweigte von der Straße ab. Über diesen Pfad gelangte Jo an die Rückfront des Hauses. Dabei nutzte er die Deckung einiger wild wuchernder Sträucher. Der schmale Kiesweg wurde offenbar schon lange nicht mehr genutzt. Kniehoch wucherte hier das Gras, dichtes Buschwerk und unbeschnittene Hecken erschwerten das Vorwärtskommen. An einigen Stellen war der Pfad nahezu überwuchert. Vorsichtig schob Jo Zweige zur Seite, wich Brombeerranken aus, die sich ineinander verfilzt hatten. Das Gartentor, durch das der Besitzer ursprünglich einmal sein Grundstück hatte verlassen können, war jetzt völlig unpassierbar. Aber dahinter stand ein Baum, dessen ausladende Krone weit über die Hecke hinausragte. Jo blickte hoch und maß die Entfernung zu den untersten Zweigen. Er federte in den Knien, erwischte mit ausgestreckten Händen einen Ast und schwang sich hinauf. Der Ast schwankte unter seinem Gewicht, aber Jo fand Halt. Er kletterte durch das Gewirr von Blättern und Zweigen und sprang neben dem Stamm zu Boden. Der Park hinter der Villa war ungepflegt und verwildert. Vorsichtig schob sich Jo durch das Gebüsch, das sich immer mehr lichtete und schließlich von einzelnen Ziersträuchern abgelöst wurde. Der Detektiv blieb stehen und prüfte die Lage. Eine große Rasenfläche trennte ihn jetzt noch von der Rückfront des Hauses. Ein Fenster im zweiten Stock stand offen. Jo hörte Stimmen, konnte sie aber nicht verstehen, weil er zu weit weg war. In einem Spurt überquerte Jo die Rasenfläche und ging unter einem Wacholderbusch am Haus in Deckung. Links über ihm befand sich das geöffnete Fenster. Darunter lief ein schmaler Sims entlang. Jo entdeckte eine Dachrinne, mit Eisenklammern in der Mauer Copyright 2001 by readersplanet
verankert. Er trat einen Schritt zur Seite, preßte sich gegen die Wand und tastete nach der untersten Klammer. Lautlos zog er sich hoch und griff nach der nächsten Klammer. Sie war reichlich weit entfernt, aber Jo schaffte es. Geschickt kletterte er aufwärts und erreichte den Absatz in der Mauer. Der Sims war schmal. Er erlaubte allenfalls, sich auf Zehenspitzen vorwärts zu bewegen. Jo blickte nach unten. Bis zur Wiese war es tief genug, sich das Genick zu brechen. Lohnte sich das Risiko?
* Yul Shallet hatte in der Schule wenig, aber dafür in Vietnam das Töten gelernt. Als er seinen Vorgesetzten verprügelte und aus der Armee entlassen wurde, stand er da und brauchte Arbeit. Weil er keine Qualifikationen vorweisen konnte, fand er keinen anständigen Job. Sein älterer Bruder Al hatte ihm weitergeholfen. Al Shallet hatte sich in New York ein gefährliches, aber gewinnbringendes Geschäft aufgebaut: ein Geschäft mit dem Mord. Al tötete auf Bestellung. Seine Auftraggeber zahlten gut, das Geschäft florierte und Al nahm Yul als Partner auf. Seitdem mordeten sie gemeinsam. Schon nach kurzer Zeit konnte Al mit seinem jüngeren Bruder zufrieden sein. Yul verstand sein Handwerk. Die Vietnam-Erfahrungen zahlten sich aus. Daß Al frühzeitig zur Ruhe gesetzt wurde, war allerdings nicht eingeplant gewesen. Dafür sorgte die Polizei. Seit drei Wochen saß Al hinter Gittern. Zunächst in Untersuchungshaft. Ausgerechnet Al, dem Routinier, war bei der Arbeit ein Leichtsinnsfehler unterlaufen. Er hatte in der Wohnung seines letzten Opfers Fingerabdrücke hinterlassen. Es war ein Tick von Al, daß er nie mit Handschuhen arbeitete. Er brauchte den Hautkontakt mit seinem Handwerkzeug, einem schweren Colt Government, Kaliber 45 ACP. Die Abneigung gegen Handschuhe war ihm schon einmal zum Verhängnis geworden. Vor fünfzehn Jahren, als sich Al noch mit Diebstählen begnügte. Damals kam er mit einer Jugendstrafe davon. Diesmal stand es schlimm um Al. Er leugnete zwar hartnäckig, aber die Polizei hatte inzwischen ein enges Indizien-Netz geknüpft, durch das Al kaum noch schlüpfen konnte. Vergeblich hatte Yul versucht, seinem älteren Bruder ein falsches Alibi zu verschaffen. Kein Preis war ihm zu hoch, aber bisher ließ sich niemand als Zeuge kaufen. Die Beweise gegen Al waren zu erdrückend. Und das wußte jeder. Es hatte ja groß und breit in den Zeitungen gestanden, daß nicht nur Als Fingerabdrücke in der Wohnung des Ermordeten, sondern auch noch die Tatwaffe bei Al sichergestellt worden waren. Die Chancen, diese Beweislast in einem Prozeß zu widerlegen, waren gering. Das wußte auch Al. Sie hatten deshalb einen anderen Plan geschmiedet. Yul wollte versuchen, seinem Bruder zur Flucht zu verhelfen. Konkret ausgearbeitet war dieser Plan noch nicht. Al wollte erst einmal die Situation prüfen und nachdenken. Die erste Vorbereitung zur Flucht jedoch hatte Yul bereits getroffen. Der Großteil ihres ersparten Geldes, eine Million Dollar, war in der Schweiz in Sicherheit gebracht worden. Auf einem Nummernkonto. Das jedenfalls glaubte Yul Shallet. Bis er in Zürich rückfragte und feststellen mußte, daß sein Geld noch gar nicht eingezahlt worden war. Wütend rief Yul Shallet bei William Bollinger an, den er mit dieser Transaktion beauftragt hatte. Copyright 2001 by readersplanet
Der war angeblich nicht da. Ließ er sich verleugnen? Yul Shallet hatte so ein Gefühl. Bevor er etwas unternahm, wollte er mit seinem Bruder sprechen. Al wußte in solchen Fällen besser, was zu tun war. Yul fuhr ins Gefängnis. In dem Besucherraum herrschte Hochbetrieb. Yul mußte warten, bis eine der Kontaktnischen frei wurde. Insassen und Besucher saßen sich gegenüber, waren aber durch ein Gitter getrennt. Es dauerte eine Weile, dann wurde Al Shallet herein geführt. "Yul?" fragte der Häftling mit hochgezogenen Brauen. "Hallo!" grüßte Yul. "Ich muß dich sprechen, Al." "Was ist passiert?" "Ich habe heute in Zürich angerufen. Unsere Moneten sind noch gar nicht eingezahlt worden. Ich habe da ein ganz dummes Gefühl..." "Was sagt Bollinger dazu?" "Ich habe versucht, ihn zu erreichen. Aber er war nicht da. Angeblich!" Shallet stand auf. Er klammerte seine Fäuste um das Gitter, als wollte er es losreißen. Seine Lippen lagen hart aufeinandergepreßt. "Bollinger", murmelte er leise. "Wenn das Schwein uns hereingelegt hat, bringst du es um!" Yul nickte. Für ihn stand ohnehin fest, daß niemand den Versuch, sie zu betrügen, überleben würde. "Ich werde mich darum kümmern." Er dämpfte seine Stimme. "Und die andere Sache? Hast du es dir schon überlegt?" "Natürlich!" Al grinste. "Ich komme hier raus, verlaß dich darauf! Aber ich brauche noch etwas Zeit, verstehst du?" "Okay", sagte Yul. "Ich habe mir auch meine Gedanken gemacht. Wie wäre es, wenn..." "Pst!" unterbrach ihn Al, weil ein Wärter im Hintergrund auftauchte. "Nicht jetzt, darüber sprechen wir das nächste Mal."
* "Tut es sehr weh?" fragte Liza Carter. "Es geht", antwortete April Bondy und quälte sich ein Lächeln ab. "Schläge auf den Hinterkopf sollen ja das Denkvermögen erhöhen. Aber soviel ich auch nachdenke, mir wird einfach nicht klar, was hier gespielt wird. Oder wissen Sie das?" Liza schüttelte den Kopf. "Das ist mir ein Rätsel", sagte sie. "Das kann doch nichts mit meinem Fall zu tun haben -oder?" "Ich kenne Ihren Fall nicht." "Mein Verlobter", erklärte Liza Carter errötend, "Glen Robinson, ist nicht aus Zürich zurückgekehrt. Vor fünf Tagen hat er mich zuletzt angerufen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört." "Schrecklich", meinte April lächelnd. "Und deshalb haben Sie Jo Walker alarmiert?" "Ja." Liza hob die Schultern. "Ich war so in Sorge und wußte mir nicht anders zu helfen. Er soll ja ein guter Detektiv sein." "Sicher", stimmte April zu. "Aber was hat ihr Verlobter mit den drei Gangstern zu tun, die uns hier aufgelauert haben?" "Bestimmt nichts", sagte Liza übereifrig. "Aber die Burschen müssen gewußt haben, daß Jo hier mit Ihnen eine Verabredung hatte", überlegte April. "Vielleicht von Ihrem Chef?" Copyright 2001 by readersplanet
Liza wiegte den Kopf. "Er wußte, daß ich eine Verabredung hatte." "Mit dem Privatdetektiv Jo Walker?" "Nein, das habe ich ihm nicht gesagt." "Vielleicht eine Verwechslung", überlegte April. "Jo rief etwas von einem Irrtum. Mehr konnte ich unter dem Fenster nicht verstehen." "Es tut mir leid", sagte Liza, "daß Sie beide meinetwegen solche Schwierigkeiten hatten." "Ihretwegen?" April lachte. "Das steht ja noch nicht fest. Warten wir ab, was Jo erreicht." Sie zündete sich eine Zigarette an und überlegte. "Wohnt Ihr Chef hier in der Villa?" "Ja." "Dann werden wir auf Dr. Myers warten." Die beiden gingen in die Praxis. Liza holte eine Flasche Cognac aus ihrem Schrank und schenkte zwei Gläser ein. "Danke", sagte April. "Den kann ich jetzt gebrauchen." "Sie haben eine Beule", stellte Liza fest. "Soll ich Ihnen einen Eisbeutel holen?" "Nicht nötig", wehrte April ab und strich sich tastend durch ihr Haar. "So schlimm ist das nicht." Draußen fuhr ein Wagen vor. April schickte Liza zum Fenster. "Das ist er." "Wir werden uns jetzt erst einmal unsichtbar machen", schlug April vor. "Ich möchte sehen, wie Dr. Myers reagiert, wenn er die Verwüstung in seinem Behandlungszimmer sieht." Liza zeigte ihr eine Besenkammer, die April als Versteck geeignet erschien. Die beiden verschwanden hinter dem Vorhang. Dr. Myers stellte seinen Wagen in die Garage und schloß das Tor. "Verdammt!" fluchte er, als er die Praxistür offen vorfand. "Mistkerle!" schimpfte er, als er einen Blick in seinen Behandlungsraum warf. Er ging ins Nebenzimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch, schlug ein Telefonregister auf, nahm den Hörer vom Apparat und wählte eine Nummer. "Myers", meldete er sich kurz. "Daß Ihre Männer nicht gerade von der Heilsarmee sind, kann ich mir denken, aber deswegen können sie in meinen Räumen doch nicht hausen wie die Vandalen!" Myers Gesprächsteilnehmer übernahm die Initiative, denn Myers schwieg. Den anderen konnte April nicht hören. Myers wurde immer kleinlauter. "Okay", sagte er schließlich resigniert und legte auf. Jetzt verließ April ihr Versteck. Myers war überrascht, als sie plötzlich vor ihm stand. "Hallo!" sagte April freundlich. "Wer sind Sie? Was wollen Sie? "Ich habe einige Fragen, und ich bin sicher, daß Sie die beantworten können." Myers schluckte. Die Frau vor ihm war ausgesprochen hübsch. Nur die Pistole in ihrer Hand gefiel ihm überhaupt nicht.
* Vorsichtig kletterte Jo auf dem schmalen Sims der alten Villa entlang bis zu dem geöffneten Fenster. Die Stimmen wurden deutlicher. Er hörte den Hageren. Copyright 2001 by readersplanet
"Wir hatten ihn in der Mangel." Jo wagte einen Blick durch das Fenster und erkannte die drei Gangster: den Bulligen in Jeans, den kleinen Dicken mit der Glatze und den Hageren. "Aber der Kerl ist uns entwischt. Plötzlich tauchte da so ein Weibsbild auf und bedrohte uns mit einer Pistole." Der Mann, dem der Hagere Bericht erstattete, saß auf einem Ledersofa. Sein Gesicht war fast verdeckt von einem gepflegten Vollbart. Er rauchte Pfeife und machte einen ruhigen, gelassenen Eindruck. Aber der täuschte. "Ihr Idioten!" fauchte der Vollbärtige, und der unbedeckte Teil seines Gesichts lief rot an. "Da schicke ich drei Männer los, und dann diese Pleite!" "Der Bursche war nicht von Pappe", entschuldigte sich der Glatzköpfige. "Und mit der Puppe am Fenster konnten wir nicht rechnen", fügte der Bullige bei. "Es waren zwei", korrigierte der Hagere. "Zwei was?" fauchte der Bärtige. "Zwei Girls, Mr. Bollinger." Der Bärtige, den der Hagere mit Bollinger angeredet hatte, lachte bösartig. "Zwei Girls und die schlagen euch in die Flucht! Was ihr euch da geleistet habt, war kein Meisterstück." "Der Kerl behauptete, gar nicht Robinson zu sein", berichtete der Hagere. Bollinger lachte erneut. "War er auch nicht, ihr Hornochsen!" "Nicht?" echote der Hagere, dem das wohl immer noch nicht in den Kopf wollte. "Ganz sicher nicht!" Bollinger schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. "Glen Robinson kann es gar nicht gewesen sein. Der sitzt zur Zeit bei meinem Partner. Rossi hat mich eben angerufen. Robinson, dieser Vollidiot, ist ganz freiwillig bei ihm aufgekreuzt, um die Sache mit der Million mit ihm zu besprechen. Ihr habt den Falschen erwischt!" "Mist!" fluchte der Hagere. "Dann stimmten die Papiere also doch, die er uns gezeigt hat." "Wer war es denn?" fragte Bollinger. "Ein Privatdetektiv. Jo Walker, wenn ich mich nicht irre." "Kommissar X!" Bollinger stöhnte auf. "Auch das noch!" "Kommissar X?" fragte der Kahlköpfige erstaunt. "Ihr seid nicht aus New York", sagte Bollinger. "Sonst würdet ihr KX kennen." "Aber Sie selbst haben uns doch gesagt, daß diese Liza Carter sich mit Glen Robinson treffen wollte", sagte der Hagere. "Wir mußten doch annehmen..." "Schon gut!" winkte Bollinger ab. "Ich bin falsch informiert worden." Er zog unruhig an seiner Pfeife. "Ihr seid doch nicht verfolgt worden von diesem Privatdetektiv?" fragte er. "Ich habe ihn mit einer Flasche ins Land der Träume geschickt", erklärte der Kahlköpfige stolz. "Und ich habe dem Girl am Fenster eines übergebraten", sagte der Bullige. "Und das andere Girl?" fragte Bollinger. "Ist vor lauter Angst davongelaufen", sagte der Hagere. "Gut", meinte Bollinger. "Ich hoffe, wir kriegen deswegen keinen Ärger. Dieser Kommissar X ist ein Teufelskerl." "Er hat uns natürlich gesehen", gab der Hagere zu bedenken. "Wir sollten vielleicht besser wieder aus New York verschwinden."
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"Das werdet ihr auch", nickte Bollinger. "Aber vorher knöpft ihr euch den echten Robinson vor. Die Adresse habt ihr. Also macht euch auf die Socken. Und wenn die Sache erledigt ist, verschwindet ihr sofort wieder nach Chicago, verstanden?" "Okay", nickte der Hagere, sichtlich erleichtert. Jo hatte genug gehört. Er zog sich vom Fenster zurück, kletterte die Dachrinne herunter und lief zu seinem Wagen. Vorsichtshalber setzte er den Mercedes rückwärts in die nächste Querstraße. Eilig stieg er aus, um das Einfahrtstor des Grundstücks zu beobachten. Seine Gedanken überschlugen sich. Der Fall, der so harmlos ausgesehen hatte, war brisant geworden. Kein Wunder, wenn es um eine Million Dollar ging. Ein Haufen Geld, ein Mann, der just aus der Schweiz zurückgekommen war. Aus Zürich. Gewisse Gedankenverbindungen stellten sich ein. Jo hatte das vertrackte Gefühl, daß er dabei war, in ein Wespennest zu stechen. Und er fragte sich, was ein trauriges kleines Mädchen wie Liza Carter mit einer Sache zu tun hatte, die eindeutig nichts für kleine Mädchen war. Vermutlich wußte sie gar nichts davon. Ihr Verlobter hatte sich die Finger verbrannt. Jetzt saß er bei dem Mann, den der bärtige Bollinger als seinen Partner bezeichnete. Und die drei bösen Buben aus Chicago wollten ihm an den Kragen. Jo hatte immer noch das nervtötende Surren des Zahnarzt-Bohrers im Ohr. Er konnte sich ungefähr vorstellen, was das Trio mit dem armen Robinson anstellen würde. Kommissar X war entschlossen, es zu verhindern.
* Der Zahnarzt Dr. Myers machte einen schwachen Versuch, seine schmächtigen Schultern zu straffen. "Das ist die Höhe!" behauptete er. "Wenn Sie nicht sofort dieses...dieses Ding weglegen, rufe ich die Polizei an. Liza! Was hat das zu bedeuten?" Liza Carter schluckte erschrocken. April Bondy ließ sich nicht einschüchtern. Wenn ihrem Chef Gefahr drohte, wurde sie zur Tigerin. Und ihrem Chef wären in diesen Räumen beinahe ein paar unangenehme Dinge widerfahren. "Ausgezeichnet", sagte Jos Volontärin sanft. "Rufen Sie die Polizei an! Die Beamten werden sich sicher sehr dafür interessieren, daß Sie mit Gangstern zusammenarbeiten, die..." "Davon weiß ich nichts", sagte Myers mit Würde. "Und jetzt ist Schluß, jetzt..." Er stand auf. In der heldenhaften Absicht, der ungebetenen Besucherin die Pistole aus der Hand zu nehmen. Allerdings schien er selbst das gar nicht so heldenhaft zu finden. Seine Ansichten über Frauen stammten von vorgestern: Hübsche blonde Mädchen waren nicht ernst zu nehmen. Zwei Sekunden später lernte er etwas dazu. April drückte ab. Die kleine Pistole blaffte diskret, die Kugel schlug zwei Handbreiten neben Dr. Myers' Kopf in die Tapete. Der Zahnarzt sank totenbleich auf seinen Stuhl zurück und begann zu zittern. "Nächstes mal treffe ich", verkündete April. "Sie werden uns jetzt erzählen, was gespielt wird, Dr. Myers! Wer sind die drei Gangster? Was wollen sie von Mr. Robinson?" Myers schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte. "Ich...ich weiß überhaupt nicht..." "Wirklich nicht?" fragte April. "Wirklich nicht!" beteuerte Myers. Viel fehlte nicht, und er hätte die Hand auf sein Herz gelegt. "Aufstehen!" kommandierte April Bondy. Copyright 2001 by readersplanet
Myers peilte zu dem Loch in der Tapete und zog es vor, widerspruchslos zu gehorchen. Hinter der zu groß geratenen Hornbrille flackerten seine Augen ängstlich, als er ins Behandlungszimmer hinüberdirigiert wurde. Die freundliche Aufforderung, Platz zu nehmen, wurde von einer Geste in die gewünschte Richtung begleitet. Dort stand der Stuhl. Myers bekam Schluckbeschwerden und sah grau aus. Erst als April seine Rippen mit der Pistolenmündung kitzelte, ließ er sich auf das Möbel fallen. Jetzt hatte er mindestens so viel Angst wie sonst seine Patienten. Liza Carter hatte die Szene mit großen Augen verfolgt. Sie nickte hastig, als April nach einer Rolle Leukoplast fragte. Das Gesicht des Zahnarztes nahm die Farbe von schmutziger Milch an. "Was...was...", stotterte er. "Wer ins Feuer faßt, verbrennt sich die Finger", kommentierte April weise. "Liza, Sie fesseln ihm die Arme mit Leukoplaststreifen an die Lehnen. Die Beine auch! - Und wenn Sie nicht stillhalten, habe ich auch noch die Pistole", drohte sie in Myers Richtung. Der Zahnarzt hielt still. Lizas Finger zitterten, als sie ihren Chef mit Leukoplast umwand, aber in ihren braunen Rehaugen lag ein entschlossener Zug. Zwei Minuten später konnte sich Dr. Myers nicht mehr rühren. April durchbohrte ihn mit einem Blick und bemühte sich, finster und entschlossen auszusehen. "So", sagte sie. "Und jetzt haben Sie die letzte Chance, freiwillig auszupacken. Also?" "Ich weiß nichts! Ich bin unschuldig!" "Stellen Sie den Bohrer ein, Liza!" forderte April ungerührt. "Wir fangen zunächst mal damit an, ihm ein nettes kleines Loch zu bohren." "A-aber...", stammelte das Girl erschrocken. "Er hat Ihren Freund ans Messer geliefert", erinnerte sie April. "Jedenfalls hat er es versucht. Und wenn den Gangstern nicht zufällig ein Irrtum unterlaufen wäre, hätten sie mit Ihrem Verlobten genau das gemacht, was der saubere Mr. Myers jetzt gleich am eigenen Leib erfahren wird." "Nein...", flüsterte Myers, dem es bis dahin die Sprache verschlagen hatte. "Doch", sagte April. Und Liza Carter, die im Geiste ihren Glen auf dem Marterstuhl sah, hantierte mit dem Bohrer. "Ich wechsle den Kopf aus", sagte sie böse. "Mit dem hier kann man viel größere Löcher bohren." "Nein!" wimmerte Myers. Und dann, als der Bohrer zu surren begann, kreischte er in den höchsten Tönen: "Nein! Nein! Das dürft ihr nicht! Nein! Nein! Hilfe!" "Wollen Sie reden?" "Ja! Ja! Stellt es ab! Stellt es ab!" "Kommt nicht in Frage", sagte Liza ungewohnt forsch. "Er kann auch mit Begleitmusik reden!" Sie hielt den Bohrer dicht vor das schweißnasse Gesicht des Zahnarztes. Notfalls, erkannte April leicht erschüttert, würde die Kleine ihren Chef tatsächlich löchern. Myers hatte entschieden den gleichen Eindruck. "Bitte nicht!" jammerte er. "Ich kann doch nichts dafür! Sie haben mich gezwungen! Sie haben gedroht, mich umzubringen. - Stellt es ab! Stellt doch endlich das Ding ab..." "Wer hat Sie bedroht?" fragte April ungerührt. "Ich weiß nicht...Ich kenne sie nicht..." "Soll ich?" fragte Liza.
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"Nein!" heulte Myers. "Ich kann doch nichts dafür, daß sie sich nicht vorgestellt haben. Sie waren zu dritt. Ein kleiner Dicker, ein großer Bulliger..." "Geschenkt", winkte April ab. "Wir haben sie gesehen. Was wollten sie?" Der Schweiß lief in dicken Tropfen über Myers' Gesicht. Seine Brille war beschlagen. Er sah nichts mehr. "Sie suchten Glen Robinson", flüsterte er. "Miß Lizas Verlobten! Ich wußte nicht, wo er war. Sie wollten, daß ich sie benachrichtigte, wenn er auftauchte oder anrief und sich mit Liza verabredete. Wenn ich es nicht täte, würden sie mich umbringen, sagten sie. Und an Robinson hätten sie nur ein paar Fragen. Sie haben mir einen Zahn ausgeschlagen, diese Schweine. Einen Zahn!" "Stimmt", sagte Liza. "Vorgestern mußte er einen Kollegen aufsuchen." "Und als Miß Carter von ihrer Verabredung sprach, haben Sie geglaubt, sie sei mit Glen Robinson verabredet?" vergewisserte sich April. "Ja...Ja...Bitte, stellen Sie das Ding ab..." "Später. Wen haben Sie benachrichtigt?" "Ich weiß nicht...Ich kenne den Namen nicht, ich..." "Wenn wir ihn anbohren, fällt ihm der Name schon ein", behauptete Liza Carter. "Nein!" kreischte Myers. "Ich habe seine Telefonnummer! Die Kerle haben mir eine Telefonnummer gegeben, die ich anrufen sollte, wenn sich etwas tat! Aber der Mann hat sich nicht mit seinem Namen gemeldet, ich schwöre es!" "Ha!" sagte Liza verbissen. "Das glaube ich erst, wenn..." "Er sagt die Wahrheit", stellte April fest. "Sie können den Bohrer abstellen." Liza tat es. Ein bißchen widerwillig. Dem Kerl, der ihren Glen beinahe ins Verderben gestürzt hatte, hätte sie offenbar sehr gern etwas Schlimmes angetan. Die Telefonnummer fand sich auf einem Zettel in Myers' Schreibtischschublade. "Und was machen wir jetzt mit ihm?" fragte Liza mit einem Funkeln in den gar nicht mehr sanften Rehaugen. "Wir lassen ihn hier. Gefesselt. Damit er nicht auf den Gedanken kommt, seine Auftraggeber zu warnen." "Sollen wir ihn nicht auch noch ein bißchen knebeln?" "Gute Idee! Sonst könnte er die Nachbarschaft zusammenschreien, befreit werden und uns doch noch dazwischenfunken." Dem zitternden Zahnarzt wurde der Mund mit Leukoplast verklebt. April überzeugte sich, daß er keine Polypen hatte. Die ungehinderte Nasenatmung garantierte, daß ihm nichts weiter zustoßen würde. April widmete ihm noch einen strafenden Blick, den er allerdings durch die beschlagenen Brillengläser nicht wahrnahm. "Denken Sie mal über Ihre Schandtaten nach", empfahl sie. "Zeit genug werden Sie dafür haben. Viel Vergnügen!" Sprach's, wandte sich ab und verließ von Liza gefolgt die Praxis.
* "So!" sagte Alfonso Rossi. Glen Robinson drehte den leeren Cognacschwenker zwischen den Fingern. Er hätte gern einen weiteren Drink genommen, doch er wagte nicht zu fragen. Zweimal hatte er sich das Gesicht mit dem Taschentuch abgetupft. Aber das blonde Haar, das ihm feucht in die Stirn Copyright 2001 by readersplanet
hing, verriet immer noch den Schweiß, den er vergossen hatte. Er traute dem Frieden nicht. Er traute ihm ganz und gar nicht. Als Rossi den Salon betrat, zuckte Robinson heftig zusammen und bemühte sich vergeblich, so selbstsicher dreinzuschauen, wie es einem Unschuldigen zukam. Rossi ließ sich schweigend in einen der Sessel fallen und zündete sich ein Zigarillo an. Auf seinem scharfgeschnittenen Gesicht lag ein undefinierbarer Ausdruck. "So", wiederholte er. "Und jetzt erzählen Sie mir das Märchen noch einmal." "Märchen?" echote Robinson erschrocken. "Märchen", sagte Rossi kalt. "Und wenn Sie der heilige Franziskus, Florence Nightingale und der Erzengel Gabriel in einer Person wären - Sie könnten mir nicht erzählen, daß Sie eine Tasche mit einer Million Dollar verloren haben wie andere Leute ihr Taschentuch." "A-aber...", flüsterte Robinson. "Wo ist das Geld?" brüllte Rossi. So unvermittelt, daß Robinson sein Glas umwarf, sich die Finger an der Zigarette verbrannte und Asche über den Marmortisch stäubte. "Wo ist das Geld, du von allen guten Geistern verlassener Vollidiot? Wo ist es?" Glen Robinsons mühsam genährte Hoffnungen platzten wie eine Seifenblase. Bleich sank er in den Sessel zurück. "Ich weiß es nicht", flüsterte er gequält. "Ich weiß es doch nicht." Rossis Zähne knirschten. In seinen schwarzen Augen lag immer noch dieses gefährliche Gemisch aus Wut, beißendem Hohn und Fassungslosigkeit. "Hör zu, du hirnamputierter Selbstmörder!" fauchte er. "Ich weiß nicht, warum ich mir soviel Mühe mit dir gebe, aber ich bin nun mal ein Menschenfreund. Mag sein, daß du dir eingebildet hast, mich und Bollinger hereinlegen zu können..." "Aber ich schwöre...", stammelte Robinson. "Spar dir die Schwüre für später auf! Ich bin ein friedlicher und rücksichtsvoller Mensch. Aber es ist nicht mein Geld, das du dir unter den Nagel gerissen..." "Ich hab's nicht gestohlen! Ich..." "Gestohlen oder verschlampt", knirschte Rossi. "Das kommt auf das gleiche heraus. Hast du überhaupt eine blasse Ahnung, wessen Geld du da verschlampt hast? Weißt du, wem die Million gehört?" "Nein", flüsterte Robinson. "Aber ich weiß es!" schrie Rossi erbittert. "Die Million gehört den Shallet-Brüdern! Den Shallet-Brüdern, du verdammter, dämlicher Bastard!" "Nein", hauchte Robinson mit bleichen Lippen. "Doch!" brüllte Rossi. "Al Shallet sitzt, und Yul wollte das Geld in die Schweiz transferieren lassen, weil er irgend etwas vorhat, um seinen Bruder herauszuholen. Du hast Yul Shallet eine Million geklaut! Kapierst du das? Geht das in deinen blöden Schädel, du hirnverbrannter, größenwahnsinniger, gemeingefährlicher..." Alfonso Rossi ging die Puste aus. Glen Robinson fiel fast in seinem Sessel zusammen. Sein Chef hätte noch zwei Stunden weiterbrüllen können. Das war alles nichts im Vergleich zu dem Namen, den er da eben genannt hatte. Yul Shallet. Die Shallet-Brüder... Zwei von den kaltblütigsten, berüchtigtsten Berufskillern, die je in New York ihr Unwesen getrieben hatten. Sie waren tödlich wie Zyankali, sie waren gefährlicher als ein Nest voller Giftnattern - und er, Glen Robinson, hatte eine Million Dollar verloren, die ihnen gehörte. Copyright 2001 by readersplanet
"Oh Himmel", flüsterte er kaum hörbar. "Der wird dir auch nicht helfen", sagte Rossi gallig. "Wenn du einen gut gemeinten Rat hören willst: Rück die Dollars heraus, bevor die Shallet-Brüder von der Sache erfahren. Sonst kannst du nämlich gleich deinen Sarg bestellen." Da hatte er recht. Robinson wußte es. Er wußte aber auch, daß sämtliche gutgemeinten Ratschläge nutzlos waren, da er die Million nun einmal nicht hatte. "Na?" fragte Rossi erwartungsvoll. Robinson lockerte seinen Hemdkragen. Ihm war sterbenselend zumute. Wäre er weniger durcheinander gewesen, hätte er bemerkt, daß auch seinem Chef die Angst im Nacken saß. Yul Shallet hatte seine Ersparnisse nicht Glen Robinson anvertraut, sondern der Firma Bollinger & Rossi. Und an die Firma würde er sich mit seinen Ersatzansprüchen halten. Ersatzansprüche, die er nicht in wohlgesetzte Worte gekleidet per Einschreiben anmelden würde, sondern mit der Kanone in der Faust. Robinson war das klar. Aber im Augenblick hatte er keinen Sinn für solche Feinheiten. "Ich zahle es zurück", flüsterte er. "Ich werde..." "Na also", sagte Rossi aufatmend. "Wo ist es?" "Ich weiß nicht", stammelte Robinson. "Sie haben mich falsch verstanden, Sir! Ich meine, Sie könnten es mir doch vorstrecken und es Shallet zurückgeben. Und ich könnte es abarbeiten und..." Rossis Gesicht versteinerte sich. Wütend hieb er mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. Meine Geduld ist am Ende, hieß das. Und wie auf ein Stichwort schlug in der Diele die Türklingel an. Der Privatsekretär öffnete. Schritte erklangen. Die Tür schwang auf, und drei Männer betraten den Salon, bei deren Anblick Glen Robinson weiche Knie, feuchte Handflächen und Magenschmerzen bekam. Ein breitschultriger Bulle in einem zu engen Jeans-Anzug. Ein kleiner Dicker mit Glatze, dessen funkelnde Knopfaugen die Legende von der Friedlichkeit der Wohlbeleibten Lügen straften. Und ein großer, hagerer Bursche, bei dem schon die lässige Eleganz und die selbstsichere Haltung verrieten, daß er der Anführer des Trios war. "Ist er das?" fragte er. "Das ist er", sagte Rossi. Glen Robinson fühlte sich dem Kreuzfeuer abschätzender Blicke ausgesetzt. Die Männer musterten ihn wie ein Möbelstück, das sie zu Kaminholz verarbeiten wollten. So etwas ähnliches hatten sie ja auch vor. Sie glaubten ihm nicht. Sie würden ihn durch die Mangel drehen, bis er redete. Und da er nicht reden konnte... Robinson begriff, daß er den Fehler seines Lebens gemacht hatte, als er hierherkam. Er hätte fliehen sollen. Nach Alaska. Oder nach Feuerland. Oder zum Südpol. Hilflos sah er von einem zum anderen. Alfonso Rossis Gesicht glich einer Maske kalter Wut. Der kleine Dicke leckte sich die Lippen. Das Gesicht des Bulligen spiegelte ebenfalls Vorfreude, und Glen Robinson reagierte wie ein Tier in der Falle. Blindlings sprang er auf. Mit dem Mut der Verzweiflung raste er auf die drei Kerle zu und senkte wie ein angreifender Stier den Schädel. Die Gangster hatten nicht damit gerechnet, daß sich ihr Opfer so schnell aus einem Häufchen Elend in eine Rakete verwandeln könnte. Der Hagere blieb völlig verdutzt stehen. Robinsons Kopf bohrte sich in seinen Bauch, katapultierte ihn rückwärts durch die Tür und beförderte ihn der Länge nach auf den kostbaren Perser. Glen Robinson stolperte und fiel. Copyright 2001 by readersplanet
Zwei Yard robbte er auf Händen und Knien weiter, dann kam er wieder auf die Beine. Rossis Diele hatte die Ausmaße eines mittleren Tanzsaals. Glen Robinson raste auf die Haustür zu und Tino Bennetto bemerkte er erst, als es zu spät war. "Vorsicht", sagte Rossis arroganter Sekretär, während er das Bein vorstellte. Seine Schuhspitze hakte sich um Glen Robinsons Schienbein. Der Flüchtende stolperte und vollführte eine klassische Bauchlandung. Mit ausgebreiteten Armen schlidderte er ein Stück über den Teppich, und Bennetto setzte ihm den Fuß in den Nacken wie ein Großwildjäger, der einen Tiger erlegt hat. Robinson fühlte sich überhaupt nicht wie ein Tiger. Eher wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Er hatte Teppichfusseln im Mund und sah das Perser-Muster vor sich. Und er sah die blankpolierten Schuhe des Hageren, der sich wutschnaubend wieder aufrappelte. Die Tritte, die Robinson einstecken mußte, gaben ihm einen Vorgeschmack auf das, was ihn erwartete. Brutal wurde er hochgerissen und wieder in den Sessel geschleudert, aus dem er eben aufgesprungen war. Die Kerle machten sich gar nicht erst die Mühe, ihn zu fesseln. Der Bullige griff von hinten mit der Faust in sein Haar. Der kleine Dicke baute sich vor dem Sessel auf. Er hatte eine fingerdicke, biegsame Stahlrute hervorgezogen und grinste gemein, als er damit ausholte. Glen Robinson hob die Arme, um sich zu schützen. Vergebliche Mühe. Dem Dicken war es egal, wohin er traf.
* Liza Carter kauerte in einem Sessel in Jos Office. "Wir müssen ihn finden", sagte sie ungefähr zum zehnten Mal. "Er ist in Gefahr, das spüre ich. Wenn ich nur wußte, was diese schrecklichen Kerle von ihm wollen." "Das werden wir erfahren, sobald wir einen von den schrecklichen Kerlen gefunden haben", sagte April gelassen. Sie hielt den Telefonhörer ans Ohr und wählte eine Nummer, die sie auswendig kannte. Jo über das Autotelefon in seinem Mercedes zu erreichen, hatte sie vergeblich versucht. Und warten wollte sie nicht. Dafür erschien ihr die Gefahr zu groß, daß sich der Kerl, dem sie die Beule am Kopf verdankte, verdünnisieren könnte, bevor ihn die gerechte, mithin fürchterliche Strafe ereilte. April hatte die Nummer der Polizei gewählt und ließ sich mit Jos altem Freund Rowland verbinden. Der Captain zeigte nur gedämpfte Freude. Er hatte eine Schwäche für April. Was ihn ärgerte, weil es immer wieder dazu führte, daß er nicht Nein sagen konnte. Diesmal sagte er Nein. Genau viermal. Dann machte ihn Aprils abgrundtiefer Seufzer in Verbindung mit dem Hinweis auf die akute Gefahr, in der Jo und der bedauernswerte Verlobte eines hilflosen jungen Mädchens schwebten, mal wieder so schwach, daß er zähneknirschend versprach, zurückzurufen. Zehn Minuten später wußte April, wem die Telefonnummer gehörte, die der Zahnarzt angerufen hatte. Einem gewissen Bollinger. William Bollinger, Finanzmakler, wohnhaft in Brooklyn. April notierte Namen und Adresse, und Liza, die ihr über die Schulter gesehen hatte, riß überrascht die Rehaugen auf. "Aber...aber das ist doch Glens Chef", stammelte sie. Copyright 2001 by readersplanet
"Tatsächlich?" "Ja, bestimmt! William Bollinger von der Firma Bollinger und Rossi. Das ist die Firma, für die Glen arbeitet." "Als was?" fragte April gespannt. "Ich...ich weiß nicht genau. Als Vertreter, habe ich immer geglaubt. Weil er doch so viel unterwegs ist." April hatte noch nie davon gehört, daß Finanzmakler Vertreter beschäftigten. Ihre Gedanken gingen in eine ganz andere Richtung. Glen Robinson...Der Angstente eines Finanzmaklers, der im Auftrag seines Chefs von Gangstern gejagt wird, nachdem er gerade von einer Reise nach Zürich zurückgekommen ist... Gangster - Geld - Schweiz. Die Verbindung hatte etwas ungemein Schlüssiges. Jedenfalls erschien sie April jetzt nicht mehr besonders rätselhaft. Sie griff erneut zum Telefonhörer, und diesmal wählte sie die Nummer des geheimnisvollen Bollinger. Am anderen Ende der Leitung wurde so schnell abgehoben, als habe jemand neben dem Apparat gelauert. "Ja?" kam eine sonore, leicht atemlose Stimme. "Gesellschaft zum Schutz von Sitte und Moral, Sektion New York", meldete sich April frech. "Sir, ich möchte mit Ihnen über diesen entsetzlichen Film sprechen, den Sie in Ihren Kinos..." "Wie bitte? Sie sind wohl irgendwo entsprungen, Lady!" "Sir! Ich muß doch sehr bitten..." "Ich habe keine Kinos!" schnaufte der Teilnehmer am anderen Ende. "Ich habe nie Kinos besessen und werde nie..." "Oh! Spreche ich denn nicht mit Mr. Adalbert Ottingly?" "Nein! Hier ist Bollinger! William Bollinger!" Klick, machte es. April feixte. Einen Moment überlegte sie, ob sie Mr. William Bollinger nicht einen Besuch machen sollte, um ihn als neues Mitglied für die Gesellschaft zum Schutz von Sitte und Moral, Sektion New York, anzuwerben. Aber dann sagte sie sich, daß das außer dem Spaß überhaupt nichts bringen würde. "Und jetzt?" fragte Liza Carter tatendurstig. April lächelte. Liza machte sich, fand sie. In dem schwärmerischen Teenager, der am Telefon Tränenströme vergossen hatte, schien eine Wildkatze zu schlummern. Für ihren Glen war sie bereit gewesen, ihren Chef mit dem Zahnbohrer zu löchern, und jetzt sah sie ganz so aus, als werde sie William Bollinger ohne Vorrede ins Gesicht springen. Auf jeden Fall konnte es nicht schaden, wenn sie mitkam. "Wir fahren zu Bollinger", sagte April entschieden. "Die Sache mit Dr. Myers kann er schlecht abstreiten. Und manchmal sind auch die Ausreden ganz aufschlußreich, die jemandem einfallen."
* Jo konnte das ferne Dudeln von dem riesigen Rummelplatz hören, als er um die Straßenecke spähte. Wer Coney Island sagte, meinte normalerweise den Vergnügungspark. Oder das nicht gerade vornehme Amüsier-Viertel, das ihn wie ein Gürtel umgab und sich in die kleinbürgerlichen Wohngebiete fraß. Aber es gab hier auch feudale Villen und hypermoderne Bungalows. Den Superreichen und Super-Vornehmen war die Adresse allerdings nicht fein Copyright 2001 by readersplanet
genug. Hier wohnten Leute, die Geld gescheffelt hatten und noch nicht dazu gekommen waren, es in gesellschaftliche Anerkennung umzumünzen. Oder solche, die auf gesellschaftliche Anerkennung pfiffen, weil sie lieber anonym blieben. Das Grundstück, auf dem die drei Gangster verschwunden waren, wurde von einer strahlend weißen Mauer eingefaßt. Jo ging langsam daran vorbei und spähte durch das schmiedeeiserne Tor, dessen Gitter ein wirres abstraktes Muster bildete. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. In dem Park mußte ein ehemaliger Friedhofsgärtner gehaust haben. Wacholdersäulen, Lebensbäume, Zedern, Zypressen, Rhododendren - als Tüpfelchen auf dem eine Trauerweide, die ihre Zweige in einen schwarzen Weiher tunkte. Jo peilte zu dem Namensschild am Tor. "A. Rossi", stand darauf. Mr. Rossi besaß entweder einen abstrusen Geschmack, oder er hatte Haus und Garten von einem verdrehten Vorgänger übernommen. Mit Kennerblick untersuchte Jo die Mauer und stellte fest, daß es keine Alarmanlage gab. Auch diesmal zog er es vor, dem Feind in den Rücken zu fallen. Mr. Rossis Grundstück grenzte an den Lindbergh-Park, wo Jo unbeobachtet agieren konnte. Ein Sprung, und seine Fingerspitzen erreichten die Mauerkante. Mit einem Klimmzug zog er sich hoch und sprang innerhalb des Grundstücks auf den erstklassig gepflegten Rasen. Der Koniferen-Alptraum hatte den Vorteil, gute Deckung zu bieten. Jo pirschte sich quer durch den Park an den Bungalow heran. Von vorn hatte der Bau einen strengen, abweisenden Eindruck gemacht. Die Rückseite bestand fast nur aus Glas beziehungsweise im Moment aus dicht verrammelten Rolläden. Jo begrub die Hoffnung, daß er von draußen irgend etwas erspähen könnte. Sein Blick tastete die Lichtschächte ab. Während er sich prüfend über eins der Gitterroste beugte, hörte er mit halbem Ohr auf die Radiomusik im Haus. Reichlich laute Musik. Jetzt brach sie mit einem letzten Aufjaulen der elektrischen Gitarren ab - und in der sekundenlangen Stille hörte Jo ein anderes Aufheulen, das garantiert nicht mehr von dem Pop-Sänger stammte. Jemand schrie. Langgezogen, markerschütternd, gellend... Nur für ein paar Sekunden war dieser fürchterliche Schrei zu hören, dann dröhnte die Musik wieder los - aber Kommissar X hatte es gereicht, um ihm ein verdammt kaltes Gefühl im Nacken zu verursachen. War es Robinson, der geschrieen hatte? Weil die Herren Bollinger, Rossi, Kahlkopf und Konsorten von ihm wissen wollten, wo das Geld steckte, nach dem sie schon Jo gefragt hatten? Nein, nicht Bollinger, verbesserte sich der Detektiv in Gedanken. Der Vollbart-Mensch hockte in seiner verlotterten Villa am Prospect Park. Aber er hatte das Trio aus Chicago losgeschickt, und er war Rossis Partner. Abgesehen von der Frage, um welches Geld es hier ging, verstand Jo nur eins nicht: Was um alles in der Welt diesen Glen Robinson auf die hirnrissige Idee gebracht hatte, freiwillig in die Höhle des Löwen zu marschieren. Im Augenblick spielte aber die Frage keine Rolle. Sie hatten ihn, und sie waren dabei, Beefsteak-Tartar aus ihm zu machen. Jo beeilte sich, das Lichtschacht-Gitter abzuheben. Auch hier keine Alarmanlage. Der unbekannte Mr. Rossi schien eine Frohnatur zu sein, die die böse Welt nicht besonders fürchtete. Jo würde ihm das Fürchten beibringen, das schwor er sich. Immer noch hatte er den verzweifelten Schrei im Ohr, obwohl jetzt nur noch die Rock-Musik zu hören war. Sie machte es überflüssig, geräuschlos mit Saugnapf und Glasschneider zu arbeiten. Jo ließ sich in den Lichtschacht gleiten, lauschte sekundenlang und zerschmetterte kurzerhand die Scheibe des Kellerfensters mit dem Ellenbogen. Zwei Sekunden später stand er in einem dunklen, muffigen Raum, in dem es nach Heizöl roch. Copyright 2001 by readersplanet
Er wartete, bis sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Vorsichtig tastete er sich zur Tür. Nicht abgeschlossen. Jo warf einen Blick auf den Flur - und zuckte zurück, weil im gleichen Moment das Licht anging. Schritte auf der Treppe. Kommissar X hielt den Atem an. War das Klirren der Fensterscheibe doch gehört worden? Unmöglich, sagte er sich, lehnte behutsam die Tür an und wartete. Die Schritte klapperten vorbei. Jemand summte gut gelaunt vor sich hin: Die Melodie des Hits, der oben im Haus die Schreie des Opfers übertönte. Und dieser Mistkerl gab sich musikalisch! Jo ballte erbittert die Hände und lauschte, bis er das Quietschen von Angeln hörte. Erneut riskierte er einen Blick in den Gang. Ein paar Yards rechts von ihm stand eine Tür halb offen. Licht fiel heraus. Der Unbekannte summte immer noch. Jo fischte den 38er aus der Schulterhalfter, glitt aus seinem Versteck, und bewegte sich auf Zehenspitzen über den Betonboden. Lautlos erreichte er die Tür und spähte in den hell erleuchteten Kellerraum. Eine Art Hobby-Werkstatt. Der musikalische Mensch wandte ihm den Rücken zu. Die Statur war ebenso eindeutig wie der zu enge Jeans-Anzug: der Bullige. Er sichtete den Inhalt eines Werkzeugschranks. Sein heiteres Summen brach ab, als er eine große, stabile Kneifzange hervorkramte. "Hifi", machte er. Ein dünnes, böses Kichern, das kaum einen Zweifel daran ließ, was er mit der Kneifzange vorhatte. "Du Miststück", sagte Jo leise. Der Bulle blieb wie versteinert stehen. Normalerweise hätte ihn Jo kommentarlos von hinten niedergeschlagen, doch bei dem Krach der Rockmusik oben im Haus würde kein Mensch hören, was im Keller vorging. Der Bulle zog den Kopf zwischen die Schultern. Daß er eine Kampfmaschine war, wußte Jo aus eigener Erfahrung. Aber in dem Quadratschädel saß nicht besonders viel Verstand. Deshalb konnte der Detektiv voraussehen, was sein Gegner tun würde. Herumwirbeln und mit der Zange werfen. Genau das tat er. Beachtlich schnell. Aber Jo war noch eine Idee schneller, die Zange flog durch die offene Tür, und der Bulle sah nur noch einen Schatten auf sich zuschnellen. Diesmal hatte Kommissar X das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Er nahm sich genau eine Minute Zeit, um dem Kerl zu demonstrieren, wie man sich fühlt, wenn man zusammengeschlagen wird. Nach Jos Meinung fiel die Lektion viel zu milde aus, aber er hatte es eilig, den armen Kerl da oben aus seiner mißlichen Lage zu befreien. Mit einem scharf hochgezogenen Uppercut beendete er das Gejammer des Hünen, lauschte einen Moment und huschte zur Tür. Eine stabile Tür mit einem ebenso stabilen Schloß. Der Schlüssel steckte. Jo drehte ihn um, zog ihn ab und schob ihn in die Tasche. Er hätte nicht gerade sein letztes Hemd darauf verwettet, daß die Tür den Bärenkräften des Bulligen standhalten würde, aber er war ziemlich sicher, daß er frühestens in einer halben Stunde wieder mit dem Kerl zu rechnen hatte. Eilig strebte er der Treppe zu. Die Musik drang jetzt deutlich an sein Ohr. Wilde, aufpeitschende Rock-Rhythmen. Kommissar X war entschlossen, seinen Gegnern den passenden Tanz dazu zu liefern...
* Copyright 2001 by readersplanet
Yul Shallet starrte in den Badezimmerspiegel. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Seine Haut war grau, und die Bartschatten um sein mageres Kinn traten deutlicher hervor, obwohl er sich sorgfältig rasiert hatte. Er war sich bewußt, daß er zu viel Whisky getrunken hatte. Seit sein Bruder in Untersuchungshaft saß, trank er dauernd zu viel Whisky. Er brauchte Al. Die Vorstellung, allein weitermachen zu müssen, lastete wie ein dunkler Schatten über seinem Leben. Die Verhaftung seines Bruders hatte seinem alten Haß auf alles, was Gesetz und Ordnung hieß, neue Nahrung gegeben. Einem Haß, den er jetzt abzuschalten versuchte. Er wußte, daß er einen klaren Kopf brauchte. Kaltblütigkeit - das war etwas, das sein Bruder ihm ständig predigte. Damals, als ihre Zusammenarbeit begann, hatte Yul ständig versucht, etwas über die vorgesehenen Opfer herauszubekommen, damit er sie hassen konnte. Er war zu jung für das Geschäft gewesen - damals. Er konnte töten, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber man hatte ihm beigebracht, daß nur Feinde getötet werden durften. Kaltblütiger Mord auf Bestellung, Mord an völlig Fremden, die irgendwelchen anderen, ebenfalls Fremden im Wege waren, erschien ihm damals fast so ungeheuerlich, wie es wirklich war. Sein Bruder hatte lange gebraucht, um ihm klarzumachen, daß ihm all die abgeschossenen Vietkong schließlich auch nichts getan hatten. Und noch länger, um ihm einzutrichtern, daß er in seinem neuen Beruf binnen kürzester Zeit erledigt sein würde, wenn er auch nur die leiseste Spur von Gefühl investierte. Yul Shallet hatte gelernt, gefühllos zu töten. Er hatte gelernt, daß Gefühle überhaupt nur hinderlich waren. Hinderlich und gefährlich. Gefühle mußten fein säuberlich analysiert, dosiert und verteilt werden. Am besten gestattete man sich nur zwei oder drei davon. Erstens natürlich das Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen ihm und Al. Zweitens den Traum vom besseren Leben. Und drittens...Nein, besser überhaupt kein drittens! Unter "drittens" tauchte bei Yul Shallet immer ein Sammelsurium von Haßgefühlen, Größenwahn und phantastischen Zukunftsplänen auf, vor dem ihn sein Bruder sehr nachdrücklich gewarnt hatte. Dreck, dachte Yul Shallet. Er war aufgeschmissen ohne Al, der ihm sagte, was er zu tun und zu lassen hatte. Al aus dem Gefängnis zu holen, war im Augenblick sein ausschließliches Lebensziel. Und daß er nicht einmal die erste Anweisung, das gemeinsame Vermögen in die Schweiz zu transferieren, glatt und gut erledigt hatte, erfüllte ihn mit einer Wut, die ihn fast erstickte. Nur nicht den Kopf verlieren, sagte er sich selbst. Kaltblütigkeit... Er grinste in den Spiegel, als er sich an Als Lieblingsspruch erinnerte. Immer kaltes Blut und warm angezogen...Yul Shallet betrachtete sein scharfgeschnittenes, düsteres Gesicht, kniff die Augen zusammen und fand, daß er hinreichend bedrohlich aussah. Die Shallet-Brüder waren schließlich gefürchtet. Das Verdienst von Al, sicher... Aber Yul war entschlossen, dem Beispiel seines Bruders nachzueifern. Die Bastarde, die es gewagt hatten, ihre schmutzigen Finger nach dem Geld der Shallet-Brüder auszustrecken, würden es bitter bereuen. Der Killer verließ das Badezimmer und machte sich daran, seine Vorbereitungen zu beenden. Er pflegte sich bis an die Zähne zu bewaffnen. In die Schulterhalfter kam der Smith and Wesson 44. Magnum - eine der stärksten Faustfeuerwaffen, die je auf dem Markt gewesen waren. Den kleinen Browning schob er in die Wadenholster. Für den Fall eines Falles war da auch noch das Stilett in der Scheide am linken Unterarm. Das er aber noch nie benutzt hatte, weil er seinen Opfern nicht gern so nahe kam. Und vervollständigt wurde die Ausrüstung von dem Pistölchen am Schlüsselanhänger. Das Ding sah aus wie ein Spielzeug aus der Puppenstube. Nicht mal Polizisten kamen auf die Idee, es für eine Waffe zu halten, und selbst bei den strengsten Flughafenkontrollen lief es glatt durch. Es war ja auch wirklich kaum mehr als ein Spielzeug, die mannstoppende Wirkung gleich Null. Aber wenn man jemandem damit sehr nahe kam, tat es trotzdem seinen Dienst. Der Betroffene konnte sich Copyright 2001 by readersplanet
über die Wirkung dieses Spielzeugs dann nicht einmal mehr wundern, weil er nämlich tot war. Yul Shallet lächelte. Seine Vorbereitungen waren beendet. Er fischte den Wagenschlüssel aus der Jackentasche, stülpte sich einen Hut auf und verließ das Apartment. Über das Ziel bestand kein Zweifel. Er hatte die Million einer Firma anvertraut, die darauf spezialisiert war, heißes Geld zum Abkühlen in die sichere Schweiz zu bringen. Bollinger und Rossi. Verhandelt hatte er mit William Bollinger. Der würde ihm erklären müssen, wo die Dollars der Shallet-Brüder geblieben waren. Yul Shallet atmete tief durch. Er hoffte, daß man nicht versucht hatte, sie zu betrügen. Aber er hoffte, es nicht für sich selbst, er hoffte es für William Bollinger und Alfonso Rossi, denen es andernfalls äußerst übel ergehen würde...
* "Nein! Nein, nein..." Die Stimme überschlug sich, wurde zum heulenden Aufschrei. Jo verharrte in der Diele. Er hatte die Kellertreppe hinter sich gebracht, jetzt stand er unmittelbar am Ort des Geschehens. Eines grausamen Geschehens, das ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Der Mann, den er für Glen Robinson hielt, hing in einem Sessel. Der hagere Kerl, den Jo bereits kannte, hatte ihm ins Haar gegriffen und hielt seinen Kopf fest. Und der kleine Dicke stand vor ihm. Sein Kahlkopf glänzte im Licht. Er freute sich ganz offensichtlich, daß er seine Bosheit austoben durfte, und Glen Robinsons Stöhnen verriet deutlich, daß sich der Dreckskerl keinen Zwang angetan hatte. Zwei weitere Männer spielten nur Zuschauer. Beide waren elegant gekleidet: der Größere eher lässig, mit maßgeschneidertem Tweed-Jackett und weichem braunem Cashmere-Pullover, der andere korrekt in grauem Anzug, Schlips und Kragen. Alfonso Rossi, den Hausherrn, vermutete Jo in dem Lässigen. Den Burschen mit der Krawatte, ebenfalls ein südländischer Typ, hielt er für einen leitenden Angestellten, einen Privatsekretär vielleicht. Die beiden starrten erbittert auf die Szene. Glen Robinson sah fürchterlich aus. Der Glatzkopf hatte ihn bearbeitet, aber offenbar noch nicht den gewünschten Erfolg erzielt. Entweder war dieser Robinson hart wie ein Granitblock, oder er wußte einfach nicht, was man von ihm erfahren wollte. Jo tippte auf die letzte Möglichkeit. Er glaubte nicht daran, daß der blonde, nicht besonders kräftig gebaute junge Mann in dem Sessel das Zeug hatte, eine solche Behandlung durchzustehen. Nicht einmal für eine Million Dollar. Seine Peiniger allerdings schienen fest davon überzeugt zu sein, daß er das Geld hatte. Nicht umsonst war der Bullige in den Keller geschickt worden, um im Werkzeugschrank nach wirkungsvolleren Folterinstrumenten zu suchen. Jo spürte den lebhaften Wunsch, jeden einzelnen von diesen widerlichen Kerlen windelweich zu prügeln. Immer noch dröhnte das Radio. Aber jetzt gab der Mann, den Jo für Alfonso Rossi hielt, dem Krawatten-Typ ein Zeichen, und der Bursche ging zur Schrankwand hinüber, um den Apparat auszuschalten. Die Stille wirkte wohltuend. Allem Anschein nach auch auf Robinson. Er seufzte tief auf und ließ mit geschlossenen Augen den Kopf zur Seite sinken. Copyright 2001 by readersplanet
Der Hagere zerrte ihn an den Haaren zurück. Robinson stöhnte. Rossi baute sich vor ihm auf und starrte ihn an. "Jetzt sei endlich vernünftig", sagte er eindringlich. "Noch hast du eine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Spuck aus, wo du das Geld versteckt hast! Du hältst es ja doch nicht durch. Wir haben Zeit, Glen! Wir können noch die ganze Nacht weitermachen, uns tut es ja nicht weh." Wenn du dich nur nicht täuschst, dachte Jo grimmig. Robinson öffnete die Augen. "Ich weiß es nicht...", flüsterte er schwach. "So glaubt mir doch! Glaubt mir doch... Rossis Zähne knirschten. "Stell das Radio wieder an, Tino", befahl er. "Der Bastard will es nicht anders." Tino hieß der Typ mit der Krawatte also. Er wandte sich seufzend ab und marschierte zur Schrankwand. Das Radio stand in einem der Regale, nur zwei Schritte von dem Durchgang zur Diele entfernt, wo sich Jo hinter das Wandsegment des Mauerdurchbruchs duckte. Der Kerl war fast zum Greifen nahe - die beste Gelegenheit, um loszuschlagen. Jo hielt den 38er in der Rechten. Ein Blick zeigte ihm, daß niemand von den anderen zu ihm herübersah. Lautlos löste er sich aus seiner Deckung und stand mit zwei langen Schritten hinter dem eleganten Tino. Der Kerl legte gerade den Finger auf die Einschalttaste des Radios. Jo hob den Arm. In letzter Sekunde schien sein Gegner die Gefahr zu spüren, vielleicht ein winziges Geräusch zu hören. Er zuckte zusammen - doch da sauste der Stahllauf der Waffe schon herunter und traf ihn mit genau dosiertem Schwung. Wie ein nasser Sack fiel er in sich zusammen. Jo wirbelte herum. Sein Finger lag am Druckpunkt, und seine Stimme schnitt scharf durch die Stille. "Hände hoch! Keine überflüssige Bewegung! Wer mit dem Kopf wackelt, hat eine Sekunde später ein Loch drin!" Alfonso Rossi schien zu Stein zu erstarren. Dem dicken Kahlkopf, der schon wieder begierig die Stahlrute wippen ließ, klappte der Unterkiefer herunter. Der Hagere ließ Glen Robinsons Haar los, fuhr herum und krümmte sich vor Schrecken. Seine Augen quollen fast aus den Höhlen, und seine dünnen Lippen zuckten unkontrolliert. "Der...der...der falsche Robinson...", stammelte er. "Kommissar X!" kreischte der Dicke. Und sein Aufschrei wirkte wie ein Signal, das jäh die Hölle losbrechen ließ. Es war der Hagere, der blindlings unter die Jacke griff, als halte ihm Jo ein Spielzeug unter die Nase statt eines ausgewachsenen Smith and Wesson 38 Special. Das Gesicht des Gangsters verzerrte sich zur Fratze. Immerhin hatte er noch so viel Verstand, daß er sich zu Boden fallen ließ, während er die Waffe zog. Jo konnte nicht schießen. Er hätte riskiert, Glen Robinson zu treffen. Kommissar X stieß sich ab, hechtete mit einem Satz auf den Hageren zu und riß die Rechte hoch, um den Burschen mit dem Revolverlauf auszuschalten. Der Kerl reagierte blitzartig. Wie eine Katze rollte er herum und bekam noch in der Bewegung die Waffe frei. Jo landete auf dem Teppich. Schmerz zuckte vom Ellenbogen her durch seinen Arm. In einem Reflex zog er die Beine unter den Körper und kam auf die Knie. Sein Gegner lag auf dem Bauch, hielt die Pistole mit beiden Händen. Sein Finger krümmte sich. In letzter Sekunde warf sich Jo zur Seite. Copyright 2001 by readersplanet
Der Schuß peitschte auf. Hautnah pfiff die Kugel an Jos Schulter vorbei - aber der Hagere konnte in seiner Bauchlage nicht schnell genug die Waffe herumschwenken. Kommissar X rollte ab, kam blitzartig wieder hoch, ließ sich nach vorn fallen. Sein linker Unterarm traf die Handgelenke des Gegners, nagelte sie am Boden fest. Gleichzeitig holte Jo mit der Rechten aus. Der Schlag mit dem Revolverlauf war so dosiert, daß er das Denkvermögen des Hageren nicht erhöhte, sondern vorübergehend abschaltete. Der Bursche erschlaffte. Jo riß ihm die Pistole aus den Fingern, stieß sich ab und brachte mit einem flachen Hechtsprung ein paar Yard zwischen sich und den Sessel. Höchstens zwei Sekunden waren verstrichen, aber der Detektiv ahnte, daß das ein bißchen zu lange gewesen war. Schulmäßig rollte er über die Schulter ab, kam geschmeidig auf die Beine und erfaßte mit einem einzigen Blick die Lage. Der Glatzkopf hatte sich in Deckung geworfen. Alfonso Rossi hielt eine flache Automatic in der Faust und wartete auf den Moment, in dem sich sein Gegner hinter dem Sessel aufrichten würde. Glen Robinson war in sich zusammengesunken, offenbar bewußtlos. Rossis Gesicht verzerrte sich. Er hatte Jos Bewegung aus den Augenwinkeln wahrgenommen, wollte herumwirbeln - doch der Detektiv war schneller. Er zielte wie auf dem Schießstand. Scharf schnitt das Peitschen des 38ers durch die jähe Stille. Alfonso Rossi schrie auf. Der Hieb einer unsichtbaren Riesenfaust schien seine Rechte zu treffen. Die Pistole flog im Bogen durch die Luft, und Blut tropfte von Rossis Fingern auf den Boden. Der Glatzkopf! Wo steckte er? Jäh spürte Jo ein kaltes Gefühl im Nacken. Der Dicke hatte Zeit genug gehabt, sonstwohin zu kriechen. Kommissar X wirbelte herum - und sah gerade noch schräg hinter sich das Mündungsfeuer blitzen. In einem Reflex ließ er sich in die Hocke fallen. Die Kugel zog ihm fast einen Scheitel. Er schoß zurück, hatte gar keine andere Wahl. Seine Kugel streifte nur den Oberarm des Dicken - aber der war so erschrocken, daß er mit einem schrillen Schrei die Waffe fallenließ. Jo richtete sich auf. Das heißt: Er wollte es. Aus den Augenwinkeln sah er, daß sich Alfonso Rossi herumgeworfen und zur Flucht gewandt hatte - und gleichzeitig verwandelte sich der Glatzkopf in einen rasenden Derwisch. Er hielt immer noch die Stahlrute in der Linken. Und er drehte durch, schien den Revolver in Jos Hand gar nicht mehr wahrzunehmen. Mit einem irren Schrei stürzte er sich auf den Detektiv und KX brachte es einfach nicht fertig, auf diesen Verrückten zu schießen. In letzter Sekunde riß der Detektiv den Kopf zur Seite. Trotzdem mußte er den Hieb mit der Stahlrute voll nehmen. Das Ding traf seine Schulter und jagte eine Glutwelle von Schmerz durch seinen Körper. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er konnte sich jetzt vorstellen, wie dem wehrlosen Opfer des Glatzkopfs zumute gewesen war, und in den nächsten Sekunden diktierte eiskalte Wut sein Handeln. Mit einem brettharten Tritt erwischte er das Schienbein des Dicken. Der Glatzkopf jaulte auf, hüpfte auf einem Bein. Der jähe, brühheiße Schmerz machte ihn unfähig zur Gegenwehr. Jo knallte ihm die Handkante aufs Gelenk, riß ihm die Stahlrute aus den Fingern und er brauchte eine Menge Beherrschung, um dem Kerl das Ding nicht ein paarmal durch sein feistes Gesicht zu ziehen. Copyright 2001 by readersplanet
Statt dessen schickte ein ungefährlicher, aber wirkungsvoller Karateschlag den Dicken ins Land der Träume. Jo wirbelte herum. Von Alfonso Rossi war nichts mehr zu sehen. Vor Sekunden hatte Kommissar X halb im Unterbewußtsein wahrgenommen, wie die Haustür zukrachte. Zähneknirschend rannte er in die Diele und schon nach zwei Schritten hörte er das Aufheulen eines schweren Motors. Kies prasselte unter den Reifen. Als Jo die Diele durchquerte und die Haustür aufriß, sah er gerade noch das Heck des Wagens hinter einer Reihe dunkler Wacholdersäulen verschwinden. Kommissar X biß die Zähne zusammen. Mit einem Sprung überwand er die Stufen vor der Haustür, rannte über den kiesbestreuten Vorplatz und zog im Laufen wieder den 38er aus der Halfter. Er wollte Rossi stoppen. Vielleicht hielt das Tor den Kerl lange genug auf. Jo rannte quer durch den Park, kürzte die dekorativen Windungen des Wegs ab. Dem Geräusch nach zu urteilen mußte der Wagen jetzt das schmiedeeiserne Tor erreicht haben. Aber das Orgeln des überdrehten Motors änderte kaum die Tonlage, etwas klirrte metallisch. Jo begriff, daß sein Gegner das verdammte Tor mittels Lichtschranke oder elektronischem Impuls geöffnet hatte. Der Detektiv rannte trotzdem weiter. Sein Atem jagte, er legte ein Tempo vor, bei der sicher eine beachtliche Hundert-Meter-Zeit herausgekommen wäre. Vor ihm begann das Tor schon wieder zurückzuschwingen. In letzter Sekunde schaffte er es noch, warf sich durch die Lücke und stolperte mit vier, fünf Schritten auf die Straße. Die Rücklichter des flüchtenden Wagens glommen wie rote Augen. Jo hielt den 38er im Combat-Anschlag. Über Kimme und Korn visierte er den Hinterreifen an. Ruhig drückte er ab - und in der gleichen Sekunde wurde der Wagen scharf nach rechts gezogen. Jos Kugel verfehlte das Ziel. Schlingernd, mit kreischenden Reifen verschwand das Fluchtfahrzeug in einer Seitenstraße. Das Orgeln des Motors verebbte. Es war sinnlos, Alfonso Rossi zu verfolgen. Der Mercedes stand außer Sichtweite des Bungalows, in einer Querstraße genau in der entgegengesetzten Richtung. Außerdem wollte Kommissar X Glen Robinson nicht mit den drei Gangstern allein lassen, die irgendwann in den nächsten Minuten wieder zu sich kommen würden. Jo wußte nicht, wie schwer das Opfer verletzt war. Wenn er nach dem Schmerz ging, der immer noch in seiner Schulter wühlte, wo ihn die Stahlrute getroffen hatte, konnte er sich gut vorstellen, daß Robinson dringend ärztliche Hilfe brauchte. Mit einem tiefen Atemzug schob Kommissar X den Revolver zurück in die Schulterhalfter. Das Tor hatte sich wieder geschlossen, aber die abstrakten Ornamente des schmiedeeisernen Gitters machten es leicht, hinüberzuklettern. Federnd landete Jo auf dem Kiesweg und setzte sich in Trab, weil ihm der Gedanke an den Verletzten keine Ruhe ließ. Zwei Minuten später begriff er, daß er sich über etwas ganz anderes hätte Sorgen machen sollen. Glen Robinson mußte eine Menge Stehvermögen besitzen. Schwer verletzt konnte er jedenfalls nicht sein. Denn sonst hätte er es wohl kaum fertiggebracht, einen der Rolläden hochzuziehen und durch die Terrassentür zu verschwinden. Kommissar X fluchte beherrscht. Mit einem Blick überzeugte er sich, daß der Glatzkopf, der Hagere und der elegante Tino noch schlummerten, dann lief er ebenfalls auf die Terrasse. Lauschend blieb er stehen. Die Stille war vollkommen. Nicht einmal der Wind raschelte zwischen den dunklen Koniferen, geschweige denn Glen Robinsons Schritte.
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Im Eiltempo durchsuchte Jo den Park, doch es überraschte ihn nicht, daß er keine Spur von Robinson entdeckte. Aus seiner Sicht hatte der Mann durchaus vernünftig gehandelt. Er kannte den Detektiv nicht, und ob er das gekreischte "Kommissar X" des Glatzkopfs verstanden hatte, war fraglich. Für Robinson mußte die Situation völlig undurchschaubar ausgesehen haben. Kein Wunder, daß er die Chance zur Flucht genutzt hatte. Mein Fehler, dachte Jo. Er hätte daran denken müssen. Alfonso Rossi würde über kurz oder lang der Polizei ins Netz gehen. Glen Robinson vermutlich ebenfalls, da er als Zeuge gebraucht wurde - aber was ihm bis dahin noch zustoßen konnte, mochte der Teufel wissen. Kommissar X kam gerade zurecht, um den Glatzkopf, der sich vom Boden aufrappelte, wieder ins Land der Träume zu schicken. Jo benutzte Gardinenschnüre, um die drei bewußtlosen Gangster an Händen und Füßen zu fesseln. Aus dem Keller drangen dumpfe Laute herauf Der Bullige, der sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Tür warf. Jo stieg die Treppe hinunter. Als er die Tür erreichte, erbebte sie gerade wieder unter dem Ansturm des Gangsters. Der Krach übertönte das Geräusch, als Jo den Schlüssel umdrehte. Mit einem matten Grinsen legte Kommissar X die Linke auf den Türknauf und wartete. Beim nächsten Ansturm drehte er blitzschnell und zog die Hand zurück. Die Tür flog auf. Unter der Wucht des Stoßes krachte sie bis an die Wand. Der Bullige torkelte über die Schwelle, schoß quer durch den Flur und hätte sich wahrscheinlich den Schädel an der Wand eingerannt, wenn Jo nicht mit einem voll aus der Schulter geholten Schwinger dazwischen gegangen wäre. Der Bulle mußte das Gefühl haben, als trete ihn ein Pferd in den Magen. "Uuuh!" machte er. Dabei knickte er zusammen, verlor den Halt und landete platschend auf seinem breiten Hintern. Jo hielt ihm die Revolvermündung vor die Nase. Er hatte keine Lust, den Kerl die Kellertreppe hinaufzuschleppen, obwohl er ihm liebend gern noch einen Knock Out verpaßt hätte. Der Gangster schluckte und starrte mit unglaublich dämlichem Gesichtsausdruck auf die Waffe. Jo brachte mit einer entsprechenden Gebärde den Finger an den Druckpunkt. "Aufstehen, Hände gegen die Wand", befahl er. "Ein bißchen plötzlich! Und reiz mich nicht, Junge! Ich habe sowieso gute Lust, dir ein bißchen von eurer eigenen Medizin zu schlucken zu geben." Der Hüne erbleichte. Daß sich die Situation im Haus grundlegend geändert hatte, drang nur allmählich in sein Bewußtsein. Aber was mit der "Medizin", gemeint war, begriff er sofort. Es brachte ihn dazu, seine Magenschmerzen zu vergessen und geradezu eifrig zu gehorchen. Jo tastete den Kerl nach Waffen ab und zog ihm eine großkalibrige Pistole aus der Schulterhalfter. Danach wankte der Gangster verkrümmt die Treppe hinauf: Der Schwinger in den Magen mußte wirklich die Qualität eines Pferdetritts gehabt haben. Jo empfand nicht die Spur von Mitleid. Die Erinnerung an das, was er beobachtet hatte, erfüllte ihn immer noch mit kalter Wut, und sein Gesichtausdruck war entsprechend. Der Bullige jedenfalls zog es vor, sich widerstandslos fesseln zu lassen. Einträchtig legte er sich zu seinen bewußtlosen Komplizen. Jetzt endlich fand Jo Zeit, zum Telefon zu greifen und seinen Freund Tom Rowland anzurufen.
* "Auch nicht gerade der feudale englische Stil", stellte April Bondy fest. Copyright 2001 by readersplanet
Liza Carter legte den Kopf schief und betrachtete den verwilderten Park. Daß sie hier richtig waren, bewies das Schild mit dem Namen William Bollinger am Tor. April fand, daß weder das Grundstück noch der schäbige alte Kasten zu einem Finanzmakler paßte. Liza schien ähnliche Gedanken zu heben. Sie zuckte verständnislos mit dem runden Schultern. "In der Midtown haben sie ein tolles Büro", sagte sie. "Sehr vornehm eingerichtet, jedenfalls der Empfangsraum. Ich habe da mal auf Glen gewartet, als er mit seinem Chef sprach." "Aber regelmäßig gearbeitet hat Glen doch nicht in diesem Büro, oder?" "Nein. Er war oft auf Reisen, wie gesagt. Und hier in New York hatte er überhaupt keine feste Arbeitszeit." April nickte nur. Sie rätselte immer noch daran herum, welche Art von Tätigkeit Glen Robinson für die Firma Bollinger und Rossi ausführte. Wenn es das war, worauf ihr Verdacht abzielte, paßten seine häufigen Reisen und die unbeschränkte Freizeit zwischendurch allerdings sehr gut ins Bild. Sie hatten schon vorher abgesprochen, wie sie vorgehen wollten. Liza war es, die die Klingel am Torpfeiler betätigte. Eine halbe Minute verstrich, dann knackte es im Lautsprecher der Wechselsprechanlage. "Ja, bitte?" Eine dunkle, sonore Stimme. Liza atmete tief durch. "Mr. Bollinger?" fragte sie. "Ja." "Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Mr. Bollinger? Mein Name ist Liza Carter. Ich bin mit Mr. Robinson verlobt." Stille. Zwei, drei Sekunden lang... Dann reagierte Bollinger so, wie April es erwartet hatte: Er interessierte sich brennend dafür, was die Verlobte des Mannes, den er so dringend suchte, ihm zu sagen hatte. Daß Bollinger und sein Partner Robinson längst gefunden beziehungsweise schon wieder verloren hatten, konnte April nicht wissen. Es änderte auch nichts an den Tatsachen. Bollinger wollte trotzdem mit Liza sprechen, schon weil er sich sagte, daß sie als Glens Verlobte vielleicht das Versteck der Million kannte. "Moment, bitte!" sagte er. "Ich werde öffnen. Sie können mit dem Wagen bis vor das Haus fahren." "Danke, Mr. Bollinger..." Liza lächelte triumphierend. April nickte ihr zu, dann schwangen sich die beiden Mädchen wieder in den Wagen. Das Tor in der hohen, dichten Hecke schwang auf, als April den Motor anließ. Langsam lenkte sie den Wagen über den Weg, der von plattgefahrenem Unkraut bedeckt war, und hielt auf einem ebenso ungepflegten Vorplatz. Bollinger öffnete selbst. Eine massige Gestalt im hellen Viereck der Tür. Sekundenlang war er nur ein Schattenriß. Erst als er einen Schritt zurücktrat, fiel Licht auf das kräftige Gesicht mit dem dunklen, gepflegten Vollbart. "Guten Abend", sagte er höflich. "Kommen Sie doch herein und..." Er stockte abrupt. Sein Blick fiel auf April, und die dunklen Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. Liza Carter lächelte unschuldig. "Das ist Miß Bondy", stellte sie vor. "Sie ist Privatdetektivin." Das stimmte zwar nicht ganz, da April vorerst nur Volontärin war, hörte sich aber eindrucksvoll an. "Privatdetektivin?" echote Bollinger mit einem Tonfall jäher Wachsamkeit in der Stimme. Copyright 2001 by readersplanet
April betrat die Diele, bevor der Bärtige auf die Idee kommen konnte, sie hinauszuwerfen. Sie produzierte ihr charmantestes Lächeln. Liza tat es ihr nach, und der geballte Einsatz weiblicher Waffen schien Bollinger zu überzeugen, daß keine Gefahr drohte. Die Wachsamkeit in seinen Augen ließ nach. Unter den Barthaaren verzogen sich die Lippen, was man notfalls als Lächeln deuten konnte. "Treten Sie ein", wiederholte er seine Aufforderung. "Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Whisky vielleicht? Oder ein Likörchen?" "Nein, danke", lehnten April und Liza wie aus einem Munde ab. "Schade. Nun ja, wie Sie wollen. Bitte sehr..." Er war voran ins Wohnzimmer gegangen und wies auf die Sessel am Kamin. Der Tisch dazwischen war staubig, der ganze Raum sah nicht so aus, als ob er häufig benutzt werde. Aprils Blick wanderte zu der hell erleuchteten Galerie hinauf. Sie vermutete, daß Bollinger nur ein paar Räume im oberen Stockwerk bewohnte. Und zwar nicht ständig bewohnte. Was auch den verlotterten Zustand der Villa erklärte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte William Bollinger noch eine zweite Adresse, die er geheimhielt. Nicht gerade das typische Gebaren eines ehrlichen Finanzmaklers. Aber für einen ehrlichen Finanzmakler hielt April den Mann ohnehin nicht. "Darf ich erfahren, was Sie zu mir führt?" fragte er in einem jovialen Ton, der April auf die Nerven fiel. "Sie dürfen", sagte sie gnädig. "Wie Sie wissen, ist Mr. Robinson verschwunden." "Ist er? Das höre ich zum ersten Mal. Darf ich fragen, was Sie auf den Gedanken bringt, daß ich das wissen könnte?" "Sie dürfen", gestattete April zum zweiten Mal. "Allerdings ist es eine ziemlich alberne Frage, da Sie Robinson schließlich seit Tagen wie eine Stecknadel suchen." Stille. Der wachsame Ausdruck kehrte in Bollingers Augen zurück. Seine Stimme verlor den jovialen Klang und wurde scharf. "Tatsächlich? Glauben Sie? Und was, zum Teufel, bringt Sie auf diese Schnapsidee?" April ließ die Maske fallen. Sie lächelte kalt. "Sie haben drei Gangster mit der Suche nach Robinson beauftragt", stellte sie fest. "Sie haben versucht, ihn über Miß Carter zu finden, und sich deshalb an Miß Carters Chef herangemacht. Er wurde von Ihren Leuten bedroht und erpreßt. Heute nachmittag hat er Sie angerufen, um Ihnen zu verraten, daß sich Miß Carter mit ihrem Verlobten treffen wolle. Allerdings hatte Dr. Myers das falsch verstanden. Miß Carter war nicht mit Glen Robinson, sondern mit dem Privatdetektiv Jo Walleer verabredet. Und den haben Ihre Leute dann irrtümlich für Robinson gehalten und überfallen." Bollinger hielt den Atem an. Ein Nerv zuckte an seiner Schläfe. Die tiefliegenden Augen bildeten schmale Schlitze. "Phantastisch!" stieß er hervor. "Das ist die irrsinnigste Geschichte, die ich je gehört habe. Und selbstverständlich ist sie von Anfang bis Ende erlogen." "Wirklich?" fragte April gedehnt. "Wirklich!" schnaubte Bollinger. "Und nun..." "Dr. Myers ist völlig anderer Meinung", erklärte April gelassen. "Er hat uns Ihre Telefonnummer gegeben. Er hat alles verraten, und er wird seine Aussage notfalls auch vor Gericht wiederholen. So einfach ist das alles, Bollinger. Sie sitzen in der Tinte! Es wäre entschieden besser für Sie, unsere Fragen zu beantworten." William Bollinger war blaß geworden. Sein Blick zuckte zu dem staubigen Schreibtisch, der im Hintergrund des Raums stand. Ein Blick, den April instinktiv richtig deutete. Copyright 2001 by readersplanet
"Machen Sie sich nicht lächerlich", sagte sie forsch. "Sie wissen ganz genau, daß Ihnen die Pistole in der Schreibtisch-Schublade nichts nützt. Sie müßten nicht nur uns umbringen, sondern auch Dr. Myers und vor allem Jo Walker. Und Ihre drei Schießbudenfiguren könnten Sie damit nicht mehr beauftragen. Denen sitzt nämlich mein Chef im Nacken. Er hat sie verfolgt, und er wird sie erwischen." "Ver-verfolgt?" stotterte Bollinger. "Ganz richtig. Und jetzt zu unseren Fragen. Was wollen Sie von Glen Robinson, Mr. Bollinger?" Der Bärtige knirschte mit den Zähnen. "Nichts! Alles Unsinn! Dieser Myers lügt, wenn er..." "Wir können auch wieder gehen und die Polizei anrufen", sagte April drohend. Bollinger stieß die Luft aus. Er mochte ein Gangster sein - aber auf jeden Fall nur ein Schreibtisch-Gangster. Jetzt wirkte er überfordert. Schnelle, knallharte Entscheidungen lagen ihm nicht. Oder vielleicht war es auch die Tatsache, daß er ausgerechnet von zwei harmlosen Girls dermaßen in die Enge getrieben wurde, die er einfach nicht verdauen konnte. "Robinson schuldet mir Geld!" brüllte er. "Der Kerl hat sich einen Haufen Dollars unter den Nagel gerissen, die mir gehören, das ist alles. Da habe ich ja wohl das verdammte Recht, ihn zu suchen, oder?" "Und warum zeigen Sie ihn nicht an, wenn er Sie bestohlen hat?" fragte April sanft lächelnd. "Das geht Sie doch einen feuchten Kehricht..." "Weil die Polizei nicht wissen darf, daß dieses Geld existiert? Weil es sehr peinlich wäre, wenn herauskäme, daß Glen Robinson für Sie als Kurier gearbeitet und illegal Geld in die Schweiz gebracht hat?" Bollinger blieb der Mund offenstehen. Liza Carter richtete sich kerzengerade auf und starrte April von der Seite an. Jos Volontärin lächelte. Ein Finanzmakler, ein Haufen Dollars und eine Reise nach Zürich...Ihre Schlußfolgerungen waren reine Spekulation gewesen, doch der Schuß ins Blaue hatte offenbar haargenau ins Schwarze getroffen. William Bollinger sah plötzlich krank aus. Sein Gesicht war erschlafft, die Lippen zuckten. Er dachte an den Privatdetektiv, der den drei Gangstern aus Chicago auf der Spur war. Wenn der Kerl herausbekam, daß Glen Robinson in Rossis Villa durch die Mangel gedreht wurde, wenn er Robinson heraushaute oder die Polizei alarmierte... Bollingers Gedanken liefen durcheinander. Er schaffte es nicht so schnell, sich sämtliche möglichen Konsequenzen vor Augen zu führen. Er brauchte Zeit, um die Situation zu überdenken. Aber diese Zeit blieb ihm nicht mehr - denn in der nächsten Sekunde passierte etwas, mit dem keiner der Anwesenden gerechnet hatte. Ein helles, knallendes Geräusch zerriß die Stille. Scherben prasselten, regneten klirrend auf den Boden. Bollinger zuckte zusammen, Liza Carter schrie erschrocken auf, April riß den Kopf herum aber ehe auch nur einer von ihnen ganz begriffen hatte, daß die Terrassentür unter einem Tritt zu Bruch gegangen war, stand der Eindringling bereits mitten im Zimmer. Ein schlanker, drahtiger Mann. Funkelnde, schwarze Augen, dunkle Bartschatten um das hagere Kinn, die das schmale Gesicht eigentümlich düster wirken ließen. In der Faust hielt er einen schweren Smith and Wesson 44. Magnum. Sein Finger lag am Abzug. Und die Mündung der Waffe zielte genau auf Bollingers Brust. Der Bärtige sackte in seinem Sessel förmlich zusammen. Copyright 2001 by readersplanet
"Shallet", flüsterte er - und die Art, wie er den Namen aussprach, ließ deutlich erkennen, daß er diesen Mann mehr als Pest und Teufel fürchtete. Der Eindringling zog die Lippen von den Zähnen. "Stimmt", sagte er. Seine Stimme klang wie eingerostet, eigentümlich blechern und ausdruckslos. "Ich bin hier, Bollinger. Du hast genau fünf Minuten Zeit. Wenn du bis dahin die Million nicht herausgerückt hast, schieße ich dir ein Loch in den Schädel!"
* Tom Rowland kratzte sich am Kopf. Sein Blick wanderte über den Bulligen, den Hageren und den kleinen Dicken, die einträchtig nebeneinander auf dem Teppich lagen, und Alfonso Rossis eleganten Privatsekretär, der mit dem Rücken an der Schrankwand lehnte und sehr bleich aussah. Er wußte, was ihm blühte. Aus dieser Sache konnte er sich beim besten Willen nicht mehr herauswinden. Dreimal hatte er schon beteuert, sie hätten Glen Robinson ganz bestimmt nicht umbringen wollen. Aber Jo bestand darauf, daß es sich um einen klaren Mordversuch gehandelt habe. An Robinson und später an ihm, Kommissar X, was ja auch stimmte. Für Mordversuch war die Mordkommission und mithin Tom Rowland zuständig. Der Captain seufzte tief. "Die drei Galgenvögel aus Chicago muß ich sowieso an den FBI weiterreichen", sagte er. "Und was du da von Dollars und Schweiz erzählt hast, dürfte die Steuerfahndung interessieren. Schöne Geschichte, die du dir da mal wieder eingebrockt hast. Bist du dir klar darüber, wie heiß das Eisen ist?" "Völlig klar." Jo grinste matt. "Wenn ich mit meiner Theorie richtig liege, war das alles bisher nur Vorgeplänkel. Der Spaß fängt erst richtig an, wenn sich diejenigen zu Wort melden, denen das Geld gehört, das da verschwunden ist. Deshalb hätte ich gegen Rossi und diesen Bollinger ja auch gern ein schönes Ermittlungsverfahren wegen Verabredung zum Mord statt zur gefährlichen Körperverletzung." "Damit die Herren nicht gegen Kaution aus der U-Haft entlassen werden können, meinst du?" "Richtig. Die Leute, die sie mit dem Transport des heißen Geldes beauftragt haben, werden nämlich sehr schnell schalten, wenn sie merken, daß Bollinger und Rossi in der Tinte sitzen und vielleicht auspacken. Nur fürchte ich, daß die beiden das nicht einsehen. Sie dürften sich mit Freuden von ihren Anwälten aus der Zelle loseisen lassen." "Also hängen wir ihnen zu ihrem eigenen Besten einen geplanten Mord an", sagte Rowland gallig. "Naja, es ist ohnehin nur eine Frage der vorläufigen Formulierung. Übrigens müssen wir sie erst mal haben, bevor wir sie hinter Gitter in Sicherheit bringen können." "Die kriegen wir schon. Sie sind keine Profis. Nicht, was das Untertauchen und Abschotten betrifft." "Da kannst du recht haben. Sonst hätte April wohl kaum auf die Telefonnummer dieses Bollinger stoßen können." "April? Wieso das?" Rowland erzählte. Jo kratzte sich am Ohr. Er war bis jetzt einfach nicht dazu gekommen, sich die Frage zu stellen, wieso April und das zweite Girl, Liza Carter vermutlich, überhaupt so plötzlich in der Zahnarzt-Praxis aufgetaucht waren. Und die Frage, woher sie William Bollingers Telefonnummer hatten, erschien ihm noch ein Stück brisanter. Er hatte das vertrackte Gefühl, daß seine Volontärin wieder dabei war, einen Alleingang zu unternehmen, der in einer so unübersichtlichen Situation verteufelt schief gehen konnte. Dr. Myers!
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Von ihm mußte sie die Telefonnummer erfahren haben, anders war das gar nicht möglich. Jo verabschiedete sich hastig von Tom Rowland. Er versprach, sich so schnell wie möglich wieder zu melden, und spurtete zu seinem Wagen. Auf der Fahrt reimte er sich ein paar Dinge zusammen, die der Wahrheit ziemlich nahe kamen. Dieser verdammte Zahnarzt mußte mit im Spiel stecken. Erstens, weil die drei Chicagoer Gangster sonst nicht so ungeniert die Praxisräume benutzt hätten, zweitens, weil Myers der einzige war, der vielleicht zufällig Teile von Lizas Telefongespräch mit der Detektei hatte belauschen können. "Ich bin falsch informiert worden", hatte Bollinger gesagt. Die Kerle, die Glen Robinson suchten, mußten Myers unter Druck gesetzt haben, damit er Liza bespitzelte. Und aus irgendeinem Grund war er dem Fehlschluß erlegen, daß Liza mit ihrem Verlobten verabredet war, und hatte Bollinger informiert... Und wie kam April zu diesen Informationen? Kommissar X ahnte es. Er lächelte grimmig. Es kostete ihn Beherrschung, sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten. Er fühlte ein kühles Prickeln im Nacken, als er endlich vor dem Grundstück des Zahnarztes stoppte. Das Einfahrtstor stand offen. Jo fuhr bis vor die Haustür - und stellte fest, daß auch die nur angelehnt war. Licht brannte in den Räumen. Jo betrat die Diele, sah sich flüchtig um und fuhr dann leicht zusammen, als er die undefinierbaren Geräusche aus den Praxisräumen hörte. Seltsam erstickte Laute. Als habe sich jemand an einer heißen Kartoffel verschluckt und versuche vergeblich, sie auszuspucken... Kommissar X hatte solche Töne schon öfter gehört. Sie entstanden, wenn jemand trotz Knebel im Mund versuchte, etwas wie einen Schrei zustande zu bringen. Rasch durchquerte Jo den kleinen Warteraum, stieß die Tür des Behandlungszimmers auf - und der Anblick, der sich ihm bot, verschlug ihm glatt die Sprache. Dem Mann, der da mit Leukoplaststreifen an seinen eigenen Behandlungsstuhl gefesselt war, hatte es auch die Sprache verschlagen. Sein Mund war verpflastert. Mühsam drehte er den Kopf in Jos Richtung, gab etwas von sich, das wie "Ngrr, ngrr" klang und rollte die Augen. Der Detektiv ging ohne besondere Eile zu dem Marterstuhl hinüber. Marterstuhl im wahrsten Sinne des Wortes, wie ihm ein Blick auf den lose herunterhängenden Bohrer verriet. Dr. Myers war allerdings noch ganz. Jedenfalls soweit man es auf den ersten Blick sah. Und Jo konnte sich nicht recht vorstellten, daß es seine Volontärin fertiggebracht hatte, dem Opfer tatsächlich die Zähne zu löchern. Wahrscheinlich hatte die Drohung genügt. Dr. Myers mußte schließlich am besten wissen, wie schauderhaft weh ein angebohrter Nerv tat. Jo zog dem Gefesselten mit einem energischen Ruck das Pflaster vom Mund und sah zu, wie der Mann erleichtert nach Luft schnappte. "Hilfe!" keuchte er. "Ich bin überfallen worden! Machen Sie mich los! Sie müssen mir helfen!" "Den Teufel tue ich", sagte Jo gelassen. Der Zahnarzt stierte ihn an. Der hoffnungsvolle Ausdruck in seinem Gesicht verwandelte sich in schwärzeste Verzweiflung. "Oh Himmel...", stöhnte er schicksalsergeben. "Mein Name ist Jo Walker, wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben. Ich bin derjenige, dem Ihre lieben Freunde hier beinahe das Gebiß ruiniert hätten. Sie erwarten ja wohl nicht, daß ich besonders freundliche Gefühle für Sie hege, oder?" "Ich bin gezwungen worden", flüsterte Myers schwach. "Das halte ich nicht aus! Das halte ich wirklich nicht mehr aus! Erst diese brutalen Kerle! Und dann diese...diese beiden Hexen, die mir fast ein Loch ins Knie gebohrt hätten. Und jetzt..." Copyright 2001 by readersplanet
"...und jetzt ein wütender Privatdetektiv, der Ihnen vielleicht doch noch ein Loch ins Knie bohrt", vollendete Jo. "Wenn Sie gezwungen worden sind, dann beweisen Sie es jetzt, Mann! Machen Sie den Mund auf und erzählen Sie, was passiert ist." Myers erzählte. Dabei hing sein Blick an dem Bohrer, vor dem er eine Höllenangst zu haben schien, obwohl das Ding nicht einmal surrte. Jo fragte sich ernsthaft, ob der Bursche ein Trauma erlitten hatte, das ihm in Zukunft seinen Beruf verleiden würde. Zwei Minuten später machte sich Kommissar X keine Sorgen mehr um Dr. Myers' Zukunft. Aprils Zukunft lag ihm nämlich mehr am Herzen. Genau wie die Zukunft der kleinen, sanften Liza Carter, die sich ihrem Chef gegenüber allerdings als gar nicht so sanfter Racheengel entpuppt hatte. Nach dem, was der Zahnarzt berichtete, waren April und Liza stehenden Fußes aufgebrochen, um den Inhaber der Telefonnummer zu finden, die ihnen Myers genannt hatte. Um ihn zu finden! Nicht nur, um seinen Namen herauszubekommen! Sie wollten ihm auf die Bude rücken. Was an sich gar nicht mal eine schlechte Idee war, denn Leute, denen man auf die Zehen trat, neigten dazu, Fehler zu machen. Aber inzwischen hatte sich die Situation gründlich geändert. Für Alfonso Rossi und damit auch für William Bollinger war die Lage unhaltbar geworden. Daß Rossi seinen Partner warnen würde, stand für Jo außer Zweifel. Und was das unter Umständen für April und Liza bedeutete, mochte er sich gar nicht erst ausmalen. Schweigend zog er sein Taschenmesser hervor und befreite den Zahnarzt von den Fesseln. Dr. Myers stöhnte erleichtert auf. Jo bedachte ihn mit einem scharfen Blick. "Sie sitzen bis zum Hals im Dreck, Doc", stellte er fest. "Herauswinden können Sie sich nicht. Und bei allem, was die Gangster ab jetzt noch anrichten, werden Sie wegen Beihilfe mit drinhängen. Also stellen Sie sich am besten schleunigst freiwillig der Polizei, klar?" "Ja", flüsterte Myers. "Ja, das tue ich. Sofort!" Jo hatte das Gefühl, daß er es tatsächlich tun würde. Ihm blieb ja auch keine andere Wahl. Ohne sich weiter um den völlig entnervten Zahnarzt zu kümmern, verließ Kommissar X die Praxis und schwang sich wieder in den Mercedes. Und als er diesmal in Richtung Brooklyn fuhr, pfiff er auf die Geschwindigkeitsbegrenzung...
* April Bondy saß wie erstarrt. Ihre Handtasche stand neben dem Sessel auf dem Teppich, so daß sie keine Chance hatte, an die kleine Pistole heranzukommen. Ganz davon abgesehen, daß sie sich das angesichts des schußbereiten Magnum-Revolvers und des bleichen, düsteren Gesichts über der Waffe dreimal überlegt hätte. Neben ihr drückte sich Liza Carter in den Sessel, als wolle sie in den Polstern verschwinden. Über William Bollingers Haut lief der Schweiß in Strömen und versickerte zwischen den Barthaaren. "Bitte!" krächzte er. "Sie müssen mich anhören, Mr. Shallet! Ich...ich kann doch nichts dafür, ich..." "Keine Ausflüchte!" sagte Yul Shallet mit seiner kalten, blechernen Stimme. "Ich will mein Geld. Wir haben Ihrer Firma eine Million Dollar anvertraut und Ihnen hundertzwanzigtausend Dollar Honorar in den Rachen geworfen. Die Million ist in Zürich nicht angekommen! Wo ist sie? Wo?" Bollinger war fahl geworden. Seine Hautfarbe erinnerte an Käse. Verschimmelten Käse mit einem leichten Grünschimmer.
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Er sah aus, als würde er am liebsten losheulen. Aber er wußte, daß er sich zusammenreißen mußte, wenn er seinen Hals retten wollte. "Der Kurier", flüsterte er. "Der Kurier hat sich die Million unter den Nagel gerissen. Aber wir haben ihn Mr. Shallet! Wir haben ihn erwischt, er muß nur noch reden! Sie bekommen Ihr Geld, ich schwöre..." "Wie heißt dieser Kurier?" fragte Yul Shallet hart. "Robinson...Glen Robinson..." "Nein!" schrie Liza auf. "Das ist nicht wahr! Glen hat nichts gestohlen, Glen ist..." Sie verstummte erschrocken. Yul Shallets Kopf war herumgezuckt. Seine tiefliegenden dunklen Augen strahlen so viel Drohung aus, daß das Girl zu zittern begann. "Wer, zum Teufel, ist das?" fragte der Killer scharf. April hielt den Atem an. Jäh spürte sie die Gefahr, wie eine eiskalte Berührung im Nacken. Ihr Blick wanderte zu William Bollinger. Der Mann war in Schweiß gebadet. Haar und Bart klebten strähnig zusammen, als habe ihm jemand einen Eimer Wasser über den Kopf gekippt. Seine Brust hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Und das hoffnungsvolle Aufflackern in seinen Augen verriet, daß er plötzlich die Chance sah, die Drohung von sich abzuwenden und in eine andere Richtung zu lenken. Eine Chance, die er ohne die geringste Spur von Skrupeln ausnützte. "Das ist Liza Carter", stieß er hastig hervor. "Die Puppe von diesem Robinson! Und die andere ist eine Privatdetektivin, die für Jo Louis Walker arbeitet - falls Sie den kennen." "Kommissar X?" fuhr Yul Shallet auf. "Genau der!" Bollingers Stimme gewann zusehends an Sicherheit. "Sie stecken mit Robinson unter einer Decke. Das Girl weiß garantiert, wo die Million versteckt ist. Und dieser Walker dürfte es auch wissen, da bin ich ganz sicher. Schnappen Sie sich die Puppen, Mr. Shallet! Das ist der schnellste Weg, um wieder an Ihr Geld zu kommen, glauben Sie mir!" "Sie dreckiger Schweinehund!" sagte April Bondy, tonlos vor Empörung. "Er lügt!" rief Liza verzweifelt. "Ich wußte ja bis jetzt noch nicht einmal, warum alle Welt hinter Glen her ist. Ich kann nicht glauben, daß er etwas gestohlen haben soll. Glen tut so etwas nicht. Bestimmt war es in Wirklichkeit Mr. Bollinger. Und jetzt versucht er, Glen die Schuld in die Schuhe zu schieben!" "Geschwätz!" schrie Bollinger mit einer Stimme, die schrill vor unterdrückter Hysterie klang. "Geschwätz? Man sollte Sie erwürgen! Sie Lump! Sie widerlicher Verbrecher, Sie gemeiner, niederträchtiger..." "Shut up!" sagte Yul Shallet. Nicht einmal laut, aber in einem Ton, der Liza sofort verstummen ließ. Sie zitterte, als sie die düsteren, brennenden Augen des Killers auf sich gerichtet fühlte. Sein Blick wanderte weiter zu April Bondy. Dann zu Bollinger, der den Atem anhielt, grün vor Angst war und mit einem Ausdruck kriecherischer Unterwürfigkeit die Reaktion auf seinen niederträchtigen Vorschlag erwartete. Für ein paar Sekunden schien Yul Shallet unschlüssig zu sein, dann atmete er tief durch. "Okay", sagte er gedehnt. "Die Idee ist nicht einmal schlecht. Mit den Girls als Geiseln kann ich Robinson und diesen Privatdetektiv gleichzeitig unter Druck setzen." Bollinger nickte heftig. Er war froh, daß seine Behauptung, Robinson bereits zu haben, Shallets Aufmerksamkeit offenbar entgangen war. William Bollinger fühlte sich vor Angst einem Herzinfarkt nahe, und er wollte nur eins: Den Killer so schnell wie möglich loswerden. Shallet tat ihm den Gefallen. Copyright 2001 by readersplanet
Mit einem langen, geschmeidigen Schritt stand er neben Aprils Sessel, krallte die Linke um ihre Schulter und ließ sie in die Revolvermündung blicken. Mit dem Kopf wies er auf die zitternde Liza Carter. "Fesseln und knebeln!" befahl er. "Und keine Dummheiten, Bollinger! Ich habe, was ich brauche. Mir macht es nicht das geringste aus, dir ein Ticket für die große Reise zu verpassen." Bollinger glaubte es aufs Wort. Außerdem hatte er nicht den geringsten Grund, etwas zur Rettung der beiden Mädchen zu unternehmen. Sie hatten ihn in die Enge getrieben, hatten ihm mit der Polizei gedroht, und sie wußten zu viel. Er war froh, sie loszuwerden. Und er verschwendete keinen Gedanken daran, daß es sich Yul Shallet nicht leisten konnte, zwei Zeuginnen am Leben zu lassen. Im Gegenteil: Wenn er sie umbrachte und nach Möglichkeit Robinson und den Privatdetektiv gleich dazu, würde das mit einem Schlag auch seine, Bollingers, Probleme lösen. Ausgesprochen eifrig machte er sich daran, eine Rolle Schnur zu suchen und Liza Carter an Händen und Füßen zu fesseln. Sie wehrten sich nicht. Was hätte es auch genützt, da der Killer sie und April mit dem Revolver bedrohte? Nur einmal warf Liza verzweifelt den Kopf hin und her, als ihr ein Taschentuch zwischen die Zähne geschoben wurde, doch eine klatschende Ohrfeige beendete ihren Widerstand so rasch, wie er aufgeflackert war. Bollinger band ihr einen Schal über den Mund, damit sie den Knebel nicht ausspucken konnte. "Und jetzt?" fragte er heiser. "In den Kofferraum meines Wagens. Da das Tor offenstand, habe ich mir erlaubt, bis auf den Vorplatz zu fahren." William Bollinger zerrte Liza hoch und warf sie sich über die Schulter. Die Tür fiel hinter ihm zu. April Bondy schloß für einen Moment die Augen. Sie wußte, daß es ihr genauso ergehen würde wie Liza, und sie wußte, daß sie genauso wenig Chancen hatte, sich dagegen zu wehren. Sie hatte sich zu weit vorgewagt. Jetzt konnte sie alle Hoffnungen nur noch auf ihren Chef setzen...
* Daß Jo beinahe rechtzeitig gekommen wäre, um das doppelte Kidnapping zu verhindern, konnte April nicht ahnen. Kommissar X wiederum ahnte nicht, wie dicht er davon war, das kreiselnde Millionen-Karussell mit einem Schlag zu stoppen. Aber selbst wenn er es gewußt hätte, wäre wenig zu ändern gewesen. Er hatte ohnehin das Gefühl, wie ein wildgewordener Helldriver durch das abendliche New York zu rasen. Mindestens zwei Cops hatten seine Wagennummer notiert. Solange sie ihn nicht stoppten, war es ihm gleichgültig. Und stoppen würden sie ihn erfahrungsgemäß nicht, weil sie sich mit ihren Patrolcars gegen den silbergrauen Superflitzer ohnehin keine Chance ausrechneten. Instinkt ließ ihn den Wagen außer Sichtweite von Bollingers Villa anhalten. Das letzte Stück legte er zu Fuß zurück. Nichts hatte sich geändert. Oder doch: Das Einfahrtstor stand einladend offen. Also konnte er sich die zeitraubende Kletterpartie durch das Geäst des Baums diesmal sparen. Er nahm nicht den Weg, sondern schlich quer durch den verwilderten Park, so lautlos wie möglich. Erst mal die Lage sondieren! Jo hatte ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend. Instinkt, der Gefahr signalisierte. Eine ungreifbare, aber sehr reale Drohung. Mit einem Blick stellte der Detektiv fest, daß im oberen Stockwerk der Villa Licht brannte. Copyright 2001 by readersplanet
Auch bei seinem ersten Besuch hatten sich die Ereignisse im Oberstock abgespielt. William Bollingers Behausung wirkte so eigentümlich provisorisch, daß man annehmen konnte... Jos Gedanken stockten. Sein Blick war auf den Wagen gefallen, der auf dem unkrautüberwucherten Vorplatz parkte. Aprils Wagen! Sie war also noch hier. Und Liza ebenfalls. Jo atmete auf und machte sich im nächsten Augenblick klar, daß es dazu noch etwas zu früh war. Der Himmel mochte wissen, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte. Jo überlegte, ob er einfach klingeln sollte. Zu riskant, entschied er. Erst einmal mußte er sich einen Überblick verschaffen und... Wieder wurden seine Gedanken unterbrochen. Diesmal war es Motorengeräusch, das ihn aufstörte. Ein sattes, anschwellendes Brummen, das sich rasch näherte. Er wandte den Kopf - und sah den Doppelkegel der Scheinwerfer zwischen Büschen und Bäumen. Mit einer lautlosen Bewegung zog er sich tiefer ins Gebüsch zurück. Er erkannte einen blauen Pontiac: den Wagen, mit dem Alfonso Rossi geflohen war. Wirklich Rossi? Er konnte nicht auf direktem Weg hierhergekommen sein, denn in der Zwischenzeit war Kommissar X von Brooklyn nach Manhattan und wieder zurück nach Brooklyn gefahren. Aber vielleicht hatte sich Rossi zunächst von der Panik, dem blinden Fluchtimpuls übermannen lassen und sich erst später entschlossen, seinen Partner aufzusuchen. Doch, er war es! Jo erkannte ihn, als er ausstieg: Ein kreidebleicher Alfonso Rossi mit schmutziger Kleidung und schweißnaß am Schädel klebenden Haaren. Um die Hand, die bei dem Kampf in seinem Bungalow von einem Streifschuß erwischt worden war, hatte er ein Tuch gewickelt. Ein blutgetränktes Taschentuch. Rossi war offenbar ziemlich am Ende. Kein Wunder, da er verletzt, ohne Gepäck und ohne einen Cent Bargeld aus seinem Haus hatte fliehen müssen und weder dorthin zurückkonnte noch an sein Vermögen herankam. Bollinger war seine einzige Chance. Er brauchte ihn, und Jo war gespannt, wie der Bärtige reagieren würde, wenn er erfuhr, was passiert war. Zunächst einmal dauerte es fast zwei Minuten, bis sich auf Rossis Klingeln etwas rührte. Die Tür schwang auf. Jo erkannte die massige Gestalt mit dem gepflegten Vollbart. Oder nein: Jetzt sah der Bart gar nicht mehr so gepflegt aus, sondern genau so zerrauft wie Rossis Haar. Jo begriff auf den ersten Blick, daß auch bei William Bollinger irgend etwas gewaltig schiefgelaufen sein mußte. "Alf!" krächzte der Bärtige. "Gut, daß du kommst! Es ist etwas passiert, es..." "Das kann man wohl sagen!" stieß Rossi hervor. "Der Teufel ist los! Sie sind uns auf den Fersen, sie..." "Nein", stöhnte Bollinger. "Doch! Laß mich rein, verdammt noch mal!" Die Tür klappte zu. Aber immer noch wurde im Erdgeschoß kein Licht eingeschaltet. Also nahm Jo an, daß die Unterredung in dem gleichen Zimmer stattfinden würde, in dem Bollinger die drei Gangster aus Chicago empfangen hatte. Kommissar X lächelte matt, als er das Haus umrundete. Den Weg kannte er ja nun schon. Und da er sich nicht erst damit aufzuhalten brauchte, ihn zu erkunden oder die Festigkeit der Regenrinne zu prüfen, führte ihn die Kletterpartie binnen einer halben Minute in die Höhe des oberen Stockwerks. Auch dem Sims brachte er ein gewisses Vertrauen entgegen, obwohl es inzwischen wesentlich dunkler geworden war als bei seinem ersten Besuch. Vorsichtig schob sich Kommissar X über den schmalen Vorsprung, bis er sich unmittelbar neben dem Fenster an die Mauer preßte. Copyright 2001 by readersplanet
Eine breite Lichtbahn fiel heraus. Immer noch standen die beiden Flügel einen Spaltbreit offen, um frische Luft ins Zimmer zu lassen. Behutsam schob Jo den Kopf vor, spähte um die Ecke und nickte zufrieden, als er die beiden Gestalten erkannte. William Bollinger auf dem Ledersofa, wie gehabt. Alfonso Rossi zusammengekauert im Sessel gegenüber, die verletzte Rechte gegen die Brust gedrückt. Bollingers Pfeife samt Tabaksbeutel lag auf dem Tisch dazwischen. Eine halbvolle Whiskyflasche stand ebenfalls da. Aber die beiden Männer waren sichtlich weit davon entfernt, jetzt an die Genüsse des Lebens zu denken. Sie standen mit einem Bein im Zuchthaus. Dort würde es für sie nur noch sehr bescheidene Genüsse geben. Und eine Menge schlimmer Dinge, von denen sich die beiden vermutlich nichts träumen ließen. Sie waren Weiße-Kragen-Verbrecher, die sich nicht die Hände schmutzig machten und nicht die leiseste Chance hatten, sich gegen das brutale Faustrecht unter Zuchthausinsassen zu behaupten. Sie würden der letzte Dreck sein, jeglicher Willkür preisgegeben. Selbst eine verhältnismäßig geringe Strafe würde unter diesen Umständen zur Hölle für sie werden. Selbst schuld, dachte Jo lakonisch. Was sie sich eingebrockt hatten, mußten sie auslöffeln. Und im Augenblick fielen sie von einem Entsetzen ins andere, während sie sich gegenseitig schilderten, was sie sich eingebrockt hatten. Alfonso Rossi war mit seinem Bericht gerade am Ende. "Ich muß verschwinden!" krächzte er. "Dieser Walker wird die Polizei auf mich hetzen und..." "Du verdammter Idiot hast dir Robinson durch die Lappen gehen lassen", stöhnte Bollinger. "Die Million..." "Ich spucke auf die Million! Ich brauche Geld!" Der Widerspruch in seinen Worten schien Rossi überhaupt nicht aufzugehen. "Geld! Geld! Ich brauche auch Geld! Shallet war hier! Und die Partnerin von diesem Privatschnüffler! Und." "Waas?" dehnte Rossi. Jo fühlte ein kaltes Prickeln im Nacken. April! Für ein paar Minuten hatte er nicht mehr daran gedacht, daß ihr Wagen vor der Tür stand. Sie war hier gewesen. Und ein Bursche namens Shallet, der... Shallet? Jo kannte den Namen. Blitzartig fielen ihm die entsprechenden Daten und Fakten ein. Yul und Al Shallet. Brüder, beide Berufskiller, beide gefährlich wie Klapperschlangen. Al saß hinter Gittern und sah einem Mordprozeß entgegen, in dem er sehr wenig Chancen hatte. Yul lief noch frei herum, und die Eingeweihten waren sicher, daß er irgend etwas zur Rettung seines Bruders unternehmen würde. Was, zum Teufel, hatte Yul Shallet mit Bollinger zutun? "Shallet will seine Million wiederhaben", krächzte der Bärtige, als gebe er Antwort auf Jos stumme Frage. "Er wird sich an uns halten, wenn er Robinson nicht erwischt, er..." "Hast du ihm gesagt, daß Robinson bei mir ist?" Rossis Stimme klang hoffnungsvoll. Klarer Fall: Wenn Yul Shallet geradewegs zu dem Bungalow am Prospect Park raste, würde er vermutlich der Polizei ins Netz gehen. Dann konnte es zwar sein, daß er auspackte - aber alles war besser, als diesen Mann im Nacken zu haben.
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"Nein", murmelte Bollinger. "Das heißt, ja. Ich wollte es ihm sagen, aber er hat es nicht richtig mitgekriegt. Und hinterher hat er nicht mehr daran gedacht, wegen der beiden Puppen..." Jo hielt den Atem an. Alfonso Rossi betrachtete seinen Partner wie ein Mondkalb mit zwei Köpfen. "Hast du den Verstand verloren? Redest du jetzt irre?" "Nein, zum Teufel! Ich hab' dir doch gesagt, die Partnerin von diesem Walker war hier. Zusammen mit Glen Robinsons Girl! Der Zahnarzt hat geredet. Sie wußten alles. Alles, verstehst du?" "Und?" "Ich habe Shallet eingeredet, daß Kommissar X, seine Partnerin und das andere Girl mit Robinson unter einer Decke stecken. Und daß er am schnellsten zu seiner Million kommt, wenn er die beiden Puppen als Druckmittel benutzt. Da hat er sie mitgenommen..." Stille. Jo hatte das Gefühl, daß man das Hämmern seines Herzens hören müsse. Die Angst um April und Liza krampfte seine Magenmuskeln zusammen. Und gleichzeitig erwachte tief in ihm eine eiskalte Wut, die mit dem nächsten Pulsschlag durch seinen ganzen Körper flutete und das Blut in seinen Adern einzufrieren schien. Bollinger! Dieses gewissenlose Schwein! Er hatte April und Liza ausgeliefert, hatte sie dem Killer förmlich zum Fraß vorgeworfen. Jos Mund wurde trocken. Für Sekunden verschleierte die Wut seinen Blick, hörte er nur das Summen in seinem Schädel. Alfonso Rossis Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm. "Was nützt mir das, verdammt noch mal? Mir ist die Polizei auf den Fersen. Ich muß verschwinden! Ich brauche Geld! Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen, Will!" "Ich habe dir doch gesagt, ich brauche selber Geld, Al! Was ist, wenn Shallet die Million von mir zurückverlangt? Das wird er tun, wenn er Robinson nicht erwischt, verlaß dich darauf! Ich kann nichts flüssig machen, ich..." "William!" Rossi kreischte fast. "Ich lasse dich hochgehen, das schwöre ich dir! Wir sitzen in einem Boot, wir..." Nicht einmal Kommissar X begriff sofort den Sinn von Bollingers blitzschneller Bewegung. Der Bärtige riß die Hand aus der Tasche. Waffenstahl glänzte. Ein Pistölchen lag zwischen Bollingers Fingern, 24er Kaliber, ein Spielzeug, das fast in seiner Pranke verschwand - und dennoch absolut tödlich. Rossi prallte zurück. Seine Augen quollen vor. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen. "Will!" hauchte er. "William..." Bollingers Gesicht hatte sich verzerrt. "Stimmt, wir sitzen in einem Boot", sagte er schneidend. "Aber jetzt ist unser Kahn leider 1eck geworden. Jetzt heißt es Ballast abwerfen. Und du bist Ballast, mein lieber Alf! Ein Mann, der dämlich genug war, der Polizei ins Visier zu geraten, ist nicht mehr zu gebrauchen." "Was...was soll das heißen? Was..." "Bist du schwer von Begriff? Ich werde mich von dir trennen, Alf! Auf meine Weise! Oder glaubst du etwa, ich werde dich seelenruhig ziehen lassen, nachdem du gedroht hast, mich hochgehen zu lassen?" "Aber...aber..." Rossis Stimme versagte. Für einen Moment wirkte die Stille gespenstisch. Jo hatte alle Muskeln gespannt. Seine Linke schob sich vor, bis sie den Mittelholm des Fensters erreichte. Fest schloß er die Finger Copyright 2001 by readersplanet
um das lackierte Holz und zog mit der freien Hand den 38er aus der Schulterhalfter. Die beiden Männer im Zimmer waren völlig mit sich selbst beschäftigt. Bollinger genoß grinsend seinen Triumph. Alfonso Rossi begann an allen Gliedern zu schlottern, als die Erkenntnis der tödlichen Drohung in sein Hirn kroch. Jo hatte kein Mitleid mit ihm. Seinetwegen hätten sich diese beiden miesen Ratten gegenseitig ausrotten können. Jedenfalls redete er sich das ein, da ihn die Sorge um April fast verrückt machte. Aber er brauchte Shallet. Einer von den beiden Dreckskerlen mußte ihm verraten, wo Shallet steckte. Also mußten sie vorerst beide heil bleiben. Jo hätte zwar so oder so nicht bei einem kaltblütigen Mord zugesehen, aber im Augenblick wollte er das gar nicht so genau wissen. Er konzentrierte sich, rüttelte prüfend an dem hölzernen Holm, und stützte sich mit der Schußhand auf der Fensterbank ab. Noch einmal sah er zu den beiden Gangstern hinüber, atmete tief durch - und in der nächsten Sekunde explodierte er förmlich. Mit einer geschmeidigen Körperdrehung schwang er die Beine hoch. Seine Absätze knallten gegen den Rahmen des spaltbreit offenstehenden Fensterflügels. Die Metallöse und der Haken, die ihn in seiner Stellung hielten, gaben knirschend nach. Das Fenster flog auf, die Scheibe zerklirrte. Mit einer einzigen fließenden Bewegung katapultierte sich Jo ins Zimmer. Als die beiden Gangster die Köpfe herumrissen, hatte er bereits sein Gleichgewicht wiedergefunden. Breitbeinig stand er mitten im Raum, geduckt, den schußbereiten Revolver in der Rechten. Alfonso Rossi schrie erschrocken auf. Bollingers Unterkiefer klappte herunter. Jäh flackerte das Entsetzen in seinen Augen auf, die Barthaare zitterten unter einem fast schluchzenden Atemzug - und dann reagierte er wider alle Vernunft mit einem blinden Reflex der Abwehr. Er verstand nicht viel von Schußwaffen. Und wie vielen, die nichts von Waffen verstehen, vermittelte ihm die Pistole in seiner Hand ein Gefühl der Macht und Überlegenheit, das ihm den Verstand vernebelte. Wie auch immer: Er zuckte halb auf dem Sofa herum und feuerte. Jo war schon Sekundenbruchteile vorher zur Seite geglitten. Das kleinkalibrige Geschoß zerschmetterte die zweite Fensterscheibe. Noch in den Nachhall des Schusses schnitt das harte, gefährliche Peitschen des Smith and Wesson. Bollinger schrie. Seine Hand färbte sich rot, und noch während die kleine Pistole durch die Luft segelte, zuckte der absurde Gedanke durch Jos Hirn, daß es komisch aussehen würde, wenn diese sauberen Partner demnächst beide mit einem Verband um die Hand herumlaufen mußten. Boillingers Schrei brach ab. Er starrte auf seine Hand. Entsetzt über das Blut, verblüfft, weil er keinen Schmerz spürte noch nicht. Rossi hatte sich im Sessel herumgeworfen und stierte Jo wie ein Gespenst an. Gleich würde er die Nerven verlieren, durchdrehen, irgend etwas Wahnwitziges versuchen. Mit einem langen Schritt stand der Detektiv neben dem Sessel und knallte die Linke unter Rossis ungedecktes Kinn, als der in panischer Angst den Kopf hochriß. Bollinger starrte immer noch auf seine Hand. Der Schmerz setzte ein, und der Bärtige begann zu wimmern. "Hilfe! Ich verblute! Einen Arzt! Hilfe!" "Wo ist Shallet?" fragte Jo kalt. "Ich verblute, ich..." "Ja", sagte Jo mitleidlos. "Wenn du mir nicht Shallets Adresse nennst. Also?" "Du Schwein! Du verdammtes Schwein..." Bollinger wollte aufspringen. Jo war mit einem Schritt bei ihm und stieß ihn auf das Sofa zurück. Der Mann war nur leicht verletzt. Aber da er nicht richtig hinzusehen wagte, glaubte Copyright 2001 by readersplanet
er vermutlich, die halbe Hand sei ihm weggerissen worden. "Ich sterbe", jaulte er. "Einen Arzt...Ich habe Schmerzen...Ich halte das nicht aus...." "Glen Robinson hatte auch Schmerzen. Und du wirst gleich noch mehr Schmerzen haben, wenn du nicht den Mund aufmachst. Wo finde ich Shallet?" "Ich weiß nicht!" heulte Bollinger. "Ich weiß es nicht. Hilfe! Einen Arzt...Bitte..." "Die Adresse!" "Ich weiß nicht...Ich weiß nicht..." Bollinger sackte in sich zusammen und begann zu heulen wie ein Kind. Jo wandte sich angeekelt ab und ging zum Telefon. Er wußte, daß der Gangster die Wahrheit sagte, und er hatte einen bitteren Geschmack im Mund, als er die Nummer von Tom Rowland wählte.
* Glen Robinson setzte vorsichtig die Taschenflasche mit dem Whisky an den Mund. Der Alkohol brannte wie Feuer auf seinen zerschundenen Lippen. Er hatte die Flasche in einem Drugstore gekauft, als er soweit war, daß er sich wieder einigermaßen bewegen konnte. Wie er es geschafft hatte, aus Rossis Bungalow zu entkommen und durch die Dunkelheit bis zu der Stelle zu torkeln, wo er seinen Mietwagen gelassen hatte, wußte er jetzt selbst nicht mehr. Daß er den Wagen in Gang gebracht hatte, grenzte ebenfalls an ein Wunder. Blindlings hatte er die Richtung nach Manhattan eingeschlagen. Erst als er zum zweiten Mal die Leitplanke streifte, war er auf einen der dunklen Parkplätze am Rande des Gowanus Expressway gerollt. Danach fehlte einige Zeit in seiner Erinnerung. Die Reaktion auf Schock, Schmerzen und Todesangst hatte ihn wie ein Fieberanfall überkommen. Als sein Kopf wieder einigermaßen klar war, wurde ihm bewußt, daß er verkrümmt und zähneklappernd quer über den Vordersitzen lag. Er fühlte sich elend wie noch nie in seinem Leben, aber der Gedanke, daß ihm fürs erste die Flucht geglückt war, gab ihm etwas Auftrieb. Im Waschraum der Toilettenanlage, am Rand des Parkplatzes hatte er sich das Blut aus dem Gesicht gewischt, den Kopf unter kaltes Wasser gehalten und die Fetzen seines Hemdes in den Abfallkorb geworfen. Im Wagen zog er einen dünnen Mantel über, den er vor dem verhängnisvollen Besuch bei Rossi auf dem Rücksitz zurückgelassen hatte. In diesem Zustand konnte er es immerhin wagen, vor dem nächsten Drugstore zu halten und sich den Whisky zu kaufen, den er dringend brauchte. Er stellte fest, daß der Alkohol die Schmerzen in seinem Magen nur noch heftiger anfachte. Es wäre ihm besser gegangen, wenn er etwas Eisgekühltes getrunken hätte. Aber das wußte er nicht, da ihm die einschlägige Erfahrung fehlte. Er war überhaupt noch nie im Leben mit der Gewalt konfrontiert worden. Ein Schauer rann über seinen Rücken, als er an die vergangenen Stunden dachte. Wäre die Million wirklich in seinem Besitz gewesen - er wußte, daß er schon nach zwei Minuten alle Informationen hinausgeschrieen hätte. Bei dem Gedanken, daß die Kerle ihn wiederfinden und noch einmal durch die Mangel drehen könnten, wurde ihm übel. Die ganze Zeit, seit Gottlieb Sprüngli in Zürich die Tasche mit der schmutzigen Wäsche öffnete, hatte er Angst gehabt. Was er jetzt empfand, war nacktes Grauen. Er nahm noch einen Schluck Whisky und schraubte die Flasche zu. Plötzliche Eile trieb ihn an. Über die Brooklyn Bridge fuhr er hinüber nach Manhattan, und erst als er schon die Midtown erreicht hatte, wurde ihm klar, daß er hier auch nicht sicherer war als drüben in Brooklyn. Hatte er verraten, wo er untergekrochen war? Hatten die Dreckskerle überhaupt danach gefragt? Copyright 2001 by readersplanet
Er wußte es nicht mehr. Erneut hielt er den Wagen an, nahm einen weiteren Schluck Whisky und versuchte sich zu erinnern, was überhaupt im einzelnen passiert war. Ein Alptraum... Halbe Bewußtlosigkeit, die Gesichter der drei Gangster, die er nicht kannte, Rossis widerliche Visage und das höhnische Lächeln seines Privatsekretärs. Sie wollten die Million. Yul Shallets Million, wie Robinson jetzt wieder einfiel. Dann war da plötzlich noch jemand anders gewesen. Jemand, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war und den Kerlen einen heillosen Schrecken einjagte. Wie hatte der Glatzkopf geschrieen? Kommissar X... Ja, das war es: Kommissar X. Glen Robinson kannte den Namen, wußte, daß man einen Privatdetektiv namens Walker so nannte. Er konnte sich auch an das Gesicht des Mannes erinnern, die markanten Züge, die kalte Wut in den Augen. Er war wie der Teufel über die Gangster gekommen, hatte mit ihnen aufgeräumt, als sei es gar nichts. Nur Rossi war entwischt. Ob es dem Privatdetektiv gelungen war, ihn wieder einzufangen, wußte Robinson nicht. Er hatte die Gelegenheit genutzt, um blindlings die Flucht zu ergreifen. Mechanisch zündete er sich eine Zigarette an und blickte den Rauchringen nach. Was hatte der Privatdetektiv bei Rossi gewollt? Zufall? Oder hing auch das mit der verschwundenen Million zusammen? Robinson wußte es nicht. Im Moment war es für ihn auch nicht wichtig. Wichtig war nur die Frage, ob ihn die Kerle nach seiner Adresse gefragt, und ob er sie ihnen verraten hatte - und genau daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. Sie mußten gefragt haben. Oder doch nicht? Einfach deshalb nicht, weil sie es für selbstverständlich hielten, daß sein Schlupfwinkel und das Versteck der Million identisch waren? Glen Robinson stöhnte dumpf. Er fühlte den lebhaften Wunsch, sich auf ein vernünftiges Bett zu legen, eine halbe Flasche Scotch in sich hineinzuschütten und sich für mindestens vierundzwanzig Stunden nicht mehr zu rühren. Aber er wagte es nicht, in die kleine Pension zurückzukehren, in der er untergekrochen war. Vielleicht hatte er die Adresse doch verraten. Und Rossi war entkommen. Vielleicht wartete er schon. Vielleicht hatte er sich mit Yul Shallet zusammengetan. Oder irgendwelche anderen Typen angeheuert, die keine Fragen stellten, wenn die Kasse stimmte. Wohin also jetzt? Glen Robinson versuchte, seine durcheinanderwirbelnden Gedanken zu konzentrieren. Konnte er bei Liza unterschlüpfen? Sie wohnte nicht mehr bei ihren Eltern, hatte sich ein möbliertes Zimmer gemietet. Eine Sekunde war der Gedanke verlockend. Sie würde ihm helfen. Sie würde ihn pflegen und wieder auf die Beine bringen und... Und wenn sie ihn bei ihr fanden? Sein Magen krampfte sich zusammen. Nein, er durfte Liza nicht in die Sache hineinziehen, auf keinen Fall. Und außer ihr hatte er niemanden, dem er vertrauen konnte. Für einen Moment schloß er erschöpft die Augen und ließ den Kopf gegen die Nackenstütze des Wagens sinken. Einfach hier sitzenbleiben konnte er auch nicht. Ein neuer Schlupfwinkel? Wie denn, wenn er sich nicht mehr in die Pension wagte, wo er seinen Koffer und den Rest seines Geldes gelassen hatte? Der Inhalt seiner Brieftasche reichte höchstens noch für eine Nacht im Hotel. Darüber hinaus nicht mal für zwei anständige Mahlzeiten. Und danach würde er auf der Straße stehen, im buchstäblichen Sinne des Wortes... Glen Robinson schüttelte den Kopf. Copyright 2001 by readersplanet
Es gab keinen Ausweg. Nicht, solange die halbe Welt glaubte, daß er eine Million Dollar gestohlen hatte. Diesmal, wußte er, saß er so tief in der Patsche, daß ihm seine ganze Cleverneß nichts mehr nützen würde.
* Jo Walker lief im Office seines Freundes Tom Rowland wie ein gefangener Tiger hin und her. Der Zeiger der Wanduhr rückte auf die vier zu. Draußen dämmerte bereits der Morgen. Die Fahndung nach Yul Shallet lief, April Bondy, Liza Carter und Glen Robinson wurden wie Stecknadeln gesucht. Aber Kommissar X ahnte, daß dabei nicht viel herauskommen würde. Genauso wenig wie bei den Vernehmungen von Alfonso Rossi und William Bollinger. Der Doc hatte sich um die Verletzungen der beiden Gangster gekümmert - harmlose Verletzungen, genau wie Jo vorausgesehen hatte. Beide hatten Zeter und Mordio geschrieen, ihre Unschuld beteuert, gegen eine nächtliche Vernehmung protestiert und nach ihren Anwälten verlangt. Die Erlaubnis, die geplagten Juristen aus den Betten zu werfen, hatten sie bekommen. Da Rossi und Bollinger lukrative Klienten waren, oder besser gewesen waren, hatten sich die Anwälte ohne Murren auf die Socken gemacht. Und nach dem Gespräch, daß sie mit ihren Mandanten führten, passierte genau das, worauf Jo und der Captain gerechnet hatten: Die Herren Rossi und Bollinger wurden plötzlich sehr, sehr kleinlaut. Ihre Lage war, juristisch gesehen, ebenso eindeutig wie miserabel. Sie steckten bis zum Hals in der Patsche. Ihr Job war die Verschiebung von heißem Geld gewesen. Dann hatten sie sich dazu hinreißen lassen, Gangster zu engagieren und über Glen Robinson herzufallen. Und jetzt galten sie juristisch auch noch als Komplizen des Berufskillers Yul Shallet. Zumindest Bollinger war eine Anklage wegen Beihilfe zum Kidnapping bereits sicher. Wenn Shallet seine Opfer tötete, wurde Beihilfe zum Mord daraus. Wenn die beiden Finanzgangster auch nur den Schimmer einer Chance haben wollten, in einem halbwegs überschaubaren Zeitraum die Freiheit wiederzusehen, mußten sie jetzt reinen Tisch machen. Sie taten es. Beide packten rückhaltlos aus. Ans Licht kamen alle Einzelheiten ihrer verzweigten, erstklassig organisierten Geschäfte. Ans Licht kamen auch die Namen sämtlicher Mitarbeiter auf amerikanischem und schweizerischem Boden. Tatsachen, die die Polizei in den Stand setzen würde, zwei Dutzend Gangster wegen Steuerhinterziehung und Devisenvergehen zu verhaften. Nur eins blieb im Dunkeln, das einzige, was Kommissar X im Moment interessierte: der Aufenthaltsort des Berufskillers Yul Shallet. "Sie wissen es nicht", sagte Tom Rowland. "Darauf würde ich meinen Hut verwetten." "Behalt deinen Speckdeckel", knurrte Jo. "Ich weiß, daß sie es nicht wissen - ich habe Bollinger ein paar Drohungen um die Ohren gehauen, bei denen ein Felsklotz weichgeworden wäre. Aber sie müssen doch mit Shallet Kontakt aufgenommen haben, bevor sie seine Million verschlampten. Sie müssen irgend etwas über ihn wissen." Rowland hob die Schultern. "Sie haben nur telefonisch Kontakt gehabt, sagen sie. Einmal ganz zu Anfang ist der Mann in ihrem Office erschienen. Bollinger hat Shallets Wagen gesehen, aber er kann sich nicht mal an den Typ erinnern." "Glaubhaft?" "Ich denke ja. Bollinger war anscheinend halb irre vor Angst. Er hat dem Killer geholfen, April und Liza im Kofferraum zu verstauen." Jo knirschte mit den Zähnen. "Und sonst?" "Nichts. Wenn du selbst mit den Mistkerlen sprechen willst..." Copyright 2001 by readersplanet
Kommissar X zögerte, dann schüttelte er den Kopf. "Ich fahre ins Office", entschied er. "Bollinger hat Shallet weisgemacht, daß ich mit Glen Robinson zusammenarbeite. Wenn der Killer Robinson nicht findet, nimmt er vielleicht statt dessen mit mir Kontakt auf." "Stimmt! Brauchst du irgendwelche Unterstützung?" "Nein, lieber nicht. Der Kerl wird mißtrauischer als ein Einsiedlerwolf sein. Ich melde mich, wenn es etwas neues gibt, okay?" "Okay, Jo. Viel Glück!" Tom Rowland schlug dem Freund auf die Schulter und schnitt ein grimmiges Gesicht, um seine Besorgnis zu verbergen. Jos Grinsen mißglückte. Eilig verließ er das Office, und wenig später schwang er sich wieder in seinen silbernen Mercedes. Graue, trübe Morgendämmerung kroch durch die Straßenschluchten. Irgendwo rappelten Müllwagen. Aus dem Eingang eines Hochhauses quoll eine Putzkolonne in roten Kitteln. Jo fühlte einen hämmernden Druck hinter den Schläfen. Er war seit fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, und in diesen vierundzwanzig Stunden hatte es eine Menge Wirbel gegeben. Aber er war hellwach, angespannt bis in die letzten Nervenfasern - die Müdigkeit würde er erst spüren, wenn er April und Liza gefunden hatte. Wenn er sie gefunden hatte! Seine Zähne preßten sich zusammen, als er den Wagen in die Tiefgarage fuhr. Der Lift trug ihn nach oben. Im Flur warf das Fünf-Minuten-Licht seinen fahlen Schein auf die Tapeten. Jos Gedanken arbeiteten - und er fischte bereits den Schlüssel aus der Tasche, als er die Gestalt bemerkte. Die zusammengesunkene Gestalt eines Mannes. Er saß neben der Tür zu Jos Büro-Apartment auf dem Fußboden, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Die Arme hatte er um die angezogenen Knie geschlungen. Wahrscheinlich hatte er eine Weile geschlafen oder vor sich hingedöst, mit dem Kopf in der Ellenbogenbeuge - jetzt zuckte er erschrocken zusammen und blinzelte ins Licht. Jo erkannte ihn sofort. Das zerschrammte Gesicht beseitigte jeden Zweifel. Es war Glen Robinson, der da kauerte -der Mann, der in ganz New York wie eine Stecknadel gesucht wurde.
* Als der Wagen endlich stoppte, hatte April Bondy das Gefühl, daß der Killer sie stundenlang durch New York kutschiert hatte. Vielleicht hatte er das tatsächlich getan: Die Tatsache, daß Kommissar X in diesem Fall mitmischte, mochte es ihm notwendig erscheinen lassen, eventuelle Verfolger abzuschütteln. Am eigentümlichen Hallen des Motortons glaubte April zu erkennen, daß Shallet in eine Tiefgarage fuhr. Die Stille nach dem Abstellen der Maschine wirkte betäubend. April lauschte auf Schritte. Doch der Killer bewegte sich so katzenhaft leise, daß das Aufschwingen der Kofferraumhaube überraschend kam. Shallets düsteres Gesicht tauchte auf. Er hielt etwas in der Hand. Eine lippenstiftgroße Metallhülse. April tippte auf eine der Sprühdosen mit Betäubungsspray, wie Frauen sie zur Selbstverteidigung in der Handtasche trugen. "Nur, damit ihr keinen Lärm schlagt, wenn zufällig jemand vorbeikommt", erklärte Shallet gelassen. Copyright 2001 by readersplanet
Dabei drückte er auf den Knopf. Ein dünner Sprühnebel zischte aus der Düse, und noch während sich April bemühte, den Atem anzuhalten, klappte über ihr die Blechhaube wieder zu. Es war unmöglich, dem Betäubungsspray zu entgehen. Die Umgebung verschwamm. Schwärze schwappte in Aprils Hirn. Ihr Körper erschlaffte und sie bekam nicht mit, was in den nächsten Minuten geschah. Als sie halbwegs wieder zu sich kam, spürte sie, daß sie allein in dem Kofferraum lag. Schritte näherten sich. April spannte die Muskeln und wollte die Absätze gegen die Innenverkleidung des Kofferraums hämmern. Doch ehe sie es schaffte, verriet das neuerliche Aufschwingen der Haube, daß es Shallet gewesen war, dessen Schritte sie gehört hatte. Er lächelte matt, als er ihre Schultern packte und sie hochzog. Ein großer, geöffneter Koffer stand hinter dem Wagen auf dem Boden. Shallet ging auf Nummer sicher. Er wollte nicht riskieren, daß ihn ein Bewohner des Hauses mit seinen Opfern zusammen sah. April war gefesselt und geknebelt und konnte sich nicht wehren. Hilflos mußte sie es zulassen, daß der Killer sie in den engen Koffer zwängte und den Deckel schloß. Quer durch die Tiefgarage schleppte der Killer seine Last in den Lift. April schätzte, daß die Kabine im vierten oder fünften Stockwerk anhielt. Der Koffer wurde weitergetragen, sie konnte die keuchenden Atemzüge des Killers hören. Noch einmal setzte er seine Last ab. April hörte einen Schlüssel klirren, dann die Tür zufallen. Sekunden später wurde der Koffer hart auf den Boden gestellt und umgekippt. Die Schlösser sprangen auf, und Shallet ließ den Deckel hochklappen. April kam sich komisch vor, als sie, immer noch im Koffer sitzend, den Oberkörper aufrichtete. Ihr Blick fiel auf Liza, die noch bewußtlos war und auf dem Teppich lag. Shallet ging zu ihr hinüber, befreite sie von dem Knebel und zog ihr prüfend ein Augenlid hoch. Danach richtete er sich auf, verschwand in einem Nebenraum und April hörte Wasser plätschern. Aus schmalen Augen sah sie sich um. Ein kleines, unpersönlich eingerichtetes Apartment. Möbliert gemietet vermutlich - jedenfalls sah es aus wie eine Schaufensterdekoration. Der Blick durchs Fenster ging auf eine Hausfassade mit einförmigen hellen Fenstervierecken, die nichts darüber verrieten, in welcher Gegend sie sich befanden. Dem Verkehrslärm nach, der in den Kofferraum gedrungen war, mußte es irgendwo in Manhattan sein. April zuckte zusammen, als sie den Schatten des Killers sah, der sich auch hier in der Wohnung mit dieser katzenhaften Lautlosigkeit bewegte. Er kniete neben Liza nieder, holte sie mit ein paar leichten Ohrfeigen ins Bewußtsein zurück und stützte ihren Kopf, um ihr ein Glas Fruchtsaft einzuflößen. Sehr fürsorglich, dachte April sarkastisch. Kunststück: Yul Shallet brauchte sie ja schließlich noch, wollte sie als Druckmittel verwenden. April hatte die Wirkung des Betäubungsmittels abgeschüttelt und versuchte, scharf nachzudenken, um sich über ihre Lage klarzuwerden. Das Ergebnis war nicht gerade beruhigend. Bollinger, dieser Lump, hatte dem Killer eingeredet, daß Jo mit Glen Robinson unter einer Decke steckte. Also würde Yul Shallet nicht glauben, daß Kommissar X keinen blassen Schimmer hatte, wo Robinson steckte. Und Shallet hielt zwei Geiseln gefangen. Das hieß, daß er notfalls eine davon umbringen konnte, um seinen Gegner gefügig zu machen. Ein Schauer rann über Aprils Haut, als der Killer auf sie zukam. Auch sie wurde den Knebel los. Aufatmend fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Ihr Mund war trocken wie das Innere eines Backofens und die Kehle schmerzte. Sie starrte Shallet an. Seinem düsteren Gesicht Copyright 2001 by readersplanet
war keine Regung anzusehen. April gestand sich ein, daß sie sich vor ihm fürchtete. Wieder verschwand er in dem Nebenraum - der Küche vermutlich. April bekam ebenfalls ein Glas Saft. Grapefruit-Juice, ziemlich bitter - aber sie war so durstig, daß sie sonstwas getrunken hätte. Die Flüssigkeit belebte. Jos Volontärin war von Natur aus nicht gerade zaghaft veranlagt. In ihrem Innern begann sich schon wieder gesunder Zorn zu regen. "Sie sind ein Narr, Mister!" sagte sie energisch. "Dieser Bollinger hat Sie verschaukelt wie ein Baby in der Wiege! Es ist nicht wahr, daß mein Chef und ich mit Robinson zusammenarbeiten. Wir haben ihn lediglich gesucht, und zwar im Auftrag von Miß Carter, die sich Sorgen um ihn machte. Er ist spurlos verschwunden, verstehen Sie? Bollinger wollte Sie nur loswerden." Yul Shallet hatte interessiert zugehört. "Tatsächlich?" fragte er ausdruckslos. "Ja, tatsächlich!" schimpfte April. "Sie sind auf dem falschen Dampfer, Sie..." "Je mehr Sie reden, desto mehr beweisen Sie mir, daß ich genau auf dem richtigen Dampfer bin", sagte der Killer ungerührt. Dabei packte er April unter den Achseln, und sie konnte sich nicht wehren, als er sie über den Teppich in die Diele schleifte. Er brachte sie ins Bad und ließ sie auf den weichen Flauschteppich fallen. Sekunden später landete Liza neben ihr. April hatte mit einem Blick gesehen, daß der Raum kein Fenster hatte und allem Anschein nach schalldicht isoliert war. Na ja, wenigstens würde es auf dem Teppich nicht allzu unbequem sein. Jos Volontärin fühlte sich plötzlich schläfrig. Die Reaktion auf den Schrecken wahrscheinlich. Warum sollten sie sich nicht für eine Weile ausruhen, da sie ja doch nichts tun konnten... Yul Shallet beobachtete seine Opfer aufmerksam. April fühlte seinen Blick. Das bleiche, düstere Gesicht verschwamm plötzlich vor ihren Augen, als liege es hinter einer dicken, gekrümmten Glasscheibe. April blinzelte, um wieder klarer zu sehen. Es nützte nichts und mit jähem Schrecken begriff sie, daß diese bleierne Müdigkeit nicht normal war. Der Killer grinste. "Ich habe mir erlaubt, euch ein Schlafmittel einzuflößen", sagte er. "Ein starkes Schlafmittel. Schreien würde euch zwar sowieso nichts nützen, da euch niemand hören kann, aber es ist für uns alle besser, wenn ihr erst mal vierundzwanzig Stunden schlummert." Damit wandte er sich ab, drückte die Tür zu, und mit einem klirrenden, endgültigem Geräusch drehte sich der Schlüssel im Schloß. April versuchte, die Augen offenzuhalten. Sie wollte nicht schlafen. Sie wollte nachdenken, wollte etwas tun, wollte zumindest einen vernünftigen Plan fassen. "Liza?" murmelte sie. "Hmm?" "Wir müssen..." Aprils Stimme verlor sich. Noch einmal bewegte sie die Lippen, aber die Droge war stärker als ihr Wille. Der Schlaf übermannte sie so plötzlich, daß sie mitten im Wort verstummte.
* "Hi!" sagte Jo knochentrocken. Copyright 2001 by readersplanet
Glen Robinson sprang auf. Er schwankte und mußte sich an die Wand lehnen. Jo stellte fest, daß er sich das Blut aus dem Gesicht gewaschen hatte und kein Hemd trug. Reichlich verstört und immer noch blinzelnd starrte er den Detektiv an. Jo sah sein Gesicht zum erstenmal aus der Nähe. Ein ziemlich junges, gutgeschnittenes, vielleicht eine Spur zu weiches Gesicht. Aber in den blauen Augen lag auch ein entschlossener Zug. Glen Robinson hatte sich in eine fürchterliche Patsche hineingeritten und mußte nun sehen, wie er damit fertigwurde. Das war eine Erfahrung, die auch aus leichtsinnigen Burschen manchmal noch ganz brauchbare Kerle machte. "Kommen Sie rein", meinte Jo, während er die Tür zu seinem Office aufschloß. Robinson taumelte leicht, als er das Büro betrat. Der Detektiv wies mit dem Daumen auf einen Sessel und holte die Wodkaflasche aus dem Schrank. Schweigend füllte er zwei Gläser und reichte eins davon Robinson, der gierig trank. "Ich - ich weiß nicht mehr, was ich machen soll", eröffnete er das Gespräch. "Kann ich mir denken. Und wie kommen Sie auf mich?" "Ich kenne Sie...Dem Namen nach. In Rossis Bungalow habe ich gehört, wie einer der Gangster ,Kommissar X schrie..." "Und warum sind Sie abgehauen?" "Ich hatte Angst. Ich wollte erst mal weg...in Ruhe überlegen..." Er zuckte hilflos die Achseln. Jo spendierte noch eine Fingerbreite Wodka. "Klartext", verlangte er. "Wenn ich Ihnen helfen soll, muß ich die Wahrheit wissen. Und zwar die ganze Wahrheit." Glen Robinson nickte. Er begann zu erzählen, langsam, stockend, dann immer flüssiger. Was er über seinen Job berichtete, stimmte mit den Aussagen von Alfonso Rossi und William Bollinger überein. Dann kam die Geschichte mit der verschwundenen Million, mit dem Unfall des Taxis und der wahrscheinlich vertauschten Tasche. Eine abenteuerliche Geschichte, bei der es nicht wunder nahm, daß niemand sie glauben wollte. Jo hatte das Gefühl, daß Robinson die Wahrheit sagte, aber er mußte sicher gehen. "Wissen Sie, wem die Million gehört?" fragte er. Ein schwaches Nicken. "Yul Shallett. Das ist ein Berufskiller..." "Wissen Sie auch, daß dieser Shallet meine Volontärin und Liza Carter entführt hat?" Glen Robinson warf fast den Sessel um, als er aufsprang. "Nein!" schrie er. "Nein, verdammt! Das ist nicht wahr, das..." "Es ist wahr! Setzen Sie sich wieder, verdammt noch mal! War Ihnen nicht klar, daß man versuchen würde, über Liza an Sie heranzukommen?" "Aber sie hat doch nichts damit zu tun, sie..." Er verstummte hilflos. Immerhin schien er eine Menge für Liza übrig zu haben. Das erleichterte die Sache. "Sie bleiben also dabei, daß Sie die Million nicht haben?" fragte Jo hart. "Ich schwöre es!" Robinsons Stimme zitterte. "Ich würde meinen letzten Cent für Liza hergeben. Ich liebe sie. Vielleicht klingt es verrückt, aber ich liebe sie wirklich." "Schon gut, ich glaube Ihnen..." Jo starrte aus schmalen Augen auf die Schreibtischplatte. Es spielte ohnehin keine Rolle, ob Robinson die Million hatte oder nicht. Es ging nur darum, Shallet zu täuschen. April und Liza aus seinen Klauen zu befreien und... Das Schrillen des Telefons unterbrach Jos Überlegungen. Er griff zum Hörer und meldete sich. Am anderen Ende der Leitung herrschte sekundenlanges Schweigen. Nur die Atemzüge des Anrufers waren zu hören.
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"Hallo", sagte dann eine flache, leicht heisere Stimme - und Jo wußte, wen er an der Strippe hatte. "Hallo, Mr. Shallet", sagte er hart. "Ich schwöre Ihnen, daß ich Ihnen eigenhändig den Hals umdrehe, wenn Sie den beiden Mädchen ein Haar krümmen." Stille. Der Killer war verblüfft. Aber er faßte sich sofort wieder. "Ich werde den Süßen mehr als nur ein Haar krümmen, wenn Sie nicht auf meine Bedingungen eingehen", sagte er kalt. "Sie haben..." "Hören Sie, Shallet..." "Nein! Sie werden zuhören! Sie haben ab jetzt genau drei Tage Zeit, um mir meine Dollars wieder zu beschaffen. Wenn bis dahin mein Geld nicht auf dem Nummernkonto in der Schweiz liegt, wo es hingehört, sehen Sie Ihre Freundinnen nur noch als Leichen wieder, verstanden?" "Verflixt, so hören Sie doch erst mal..." Klick, machte es. Der Killer hatte aufgelegt. Jo atmete langsam aus und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. "Wer...wer war das?" flüsterte Glen Robinson. Jo drückte schweigend die Rücklauf taste des Tonbandgeräts. Glen Robinson konnte sich das kurze Gespräch mit eigenen Ohren anhören. Er wurde so weiß, wie es in New York nicht einmal frisch gefallener Schnee ist. "Oh Gott", flüsterte er. Und nach einer Pause: "Was soll ich tun? Was soll ich denn jetzt bloß tun?" Jo biß die Zähne zusammen. Drei Tage, dachte er. Und dieser verdammte Killer würde sich nicht noch einmal melden. Er würde einfach bei der Bank in Zürich anfragen, ob seine Million inzwischen auf dem Konto lag. Auf diese Weise umging er jeden weiteren Kontakt, jegliche Übergabemodalitäten, die bei Entführungen und Erpressungen immer der kritische Punkt waren -überhaupt jede Gefahr für sich selbst. Er konnte völlig im Dunkeln bleiben. Wenn er sich entsprechend still verhielt, war die Chance gleich Null, ihn auf dem Wege der Fahndung aufzuspüren und April und Liza zu befreien. Es gab nur noch einen Weg. Jo begegnete Glen Robinsons hilflosem Blick und verzog die Lippen. "Wir haben keine Wahl", stellte er fest. "Wir werden wohl oder übel nach Zürich fliegen müssen und versuchen, die verdammte Million irgendwie wieder herbeizuschaffen."
* Die nächste Maschine nach Zürich ging am Nachmittag. Jo telefonierte noch einmal mit Tom Rowland, aber er vermied es, sich über die neueste Wendung der Ereignisse auszulassen. Glen Robinson wurde nicht nur als Zeuge, sondern auch wegen seiner diversen illegalen Unternehmungen von der Polizei gesucht. Was Jo vorhatte, konnte ein böswilliger Staatsanwalt glatt als Begünstigung auslegen. Der Captain merkte natürlich, daß etwas im Busch war. Aber erst, als er versprach, sich in den nächsten Minuten außer Dienst zu fühlen, gab ihm Jo ein paar rein private Informationen. Rowland pfiff durch die Zähne und ersparte sich den Kommentar. Er würde sich weiterhin um die Fahndung nach Yul Shallet kümmern. Jetzt, da Bollinger, Rossi und ihre Komplizen hinter Schloß und Riegel saßen, konnte sich Glen Robinson auch Copyright 2001 by readersplanet
wieder in seine Pension wagen. Er bezahlte seine Rechnung und holte sein Gepäck. Wenig später fuhr er zusammen mit Jo in Richtung John F. Kennedy International. In Zürich landeten sie am späten Abend. Es war sinnlos, zu dieser Stunde noch etwas unternehmen zu wollen. Sie mieteten einen Wagen, quartierten sich in einem Hotel ein und nahmen an der Bar noch ein paar Drinks, weil sie sonst wohl keinen Schlaf gefunden hätten. Am nächsten Morgen beim Frühstück gingen sie noch einmal jeden Schritt durch, den Glen Robinson an jenem verhängnisvollen Tag in Zürich unternommen hatte. Das hatten sie zwar schon zweimal während des Fluges getan, aber da waren sie übermüdet gewesen. Kommissar X hegte in diesem Fall ohnehin die Ansicht, daß dreifach besser hielt als doppelt. Robinson konzentrierte sich. Langsam und genau schilderte er den Ablauf. Mit langen Pausen dazwischen, in denen er seine Erinnerung nach vergessenen Einzelheiten durchforstete. Auf der Flughafen-Toilette hatte er das Geld gezählt - da war es noch vorhanden gewesen. Dann wurde er ausgerufen: Ein Telefongespräch aus New York. Es war Liza gewesen, die Sehnsucht nach ihm hatte und wissen wollte, wann genau er zurückkam. Am Nachmittag des nächsten Tages, hatte er gesagt. Und er war sicher, die Tasche während des Gesprächs nicht aus der Hand gelassen zu haben. "Ganz sicher?" fragte Jo. Er nickte heftig. "Hundertprozentig! Bei dem Betrieb in den Abfertigungshallen muß man doch immer mit Kofferdieben und ähnlichem Gesindel rechnen." "Einleuchtend. Und weiter?" Als nächstes kam das Taxi. Der Fahrer, an den er sich nur noch vage erinnerte: Ein rothaariger Bursche, der unterwegs den Wagen gegen einen Baum setzte. Er hatte die Tasche herausgereicht, weil sein Fahrgast - begreiflicherweise - nichts mit der Polizei zu tun haben wollte. Er hatte, davon war Glen Robinson überzeugt, den Unfall dann später doch nicht gemeldet. Weil sich der Schaden als Bagatelle herausstellte, um die es sich nicht lohnte? Oder etwa, weil er Glen Robinson die falsche Tasche gegeben hatte. Eine Tasche, die irgendwann vorher von einem Fahrgast vergessen worden war, und weil er dann plötzlich feststellte, daß ihm eine Million Dollar in die Hände gefallen waren? Glen Robinson jedenfalls war überzeugt davon, daß er von diesem Zeitpunkt an eine Tasche mit schmutziger Wäsche durch Zürich transportiert hatte. Sie mußten den Taxifahrer finden. Robinson hatte es vergeblich versucht. Er beteuerte, alles Menschenmögliche unternommen zu haben. Aber ihnen blieb gar keine andere Wahl, als noch einmal von vorn anzufangen. Es wurde ein langer Tag. Zunächst einmal recherchierte Jo bei der Polizei, doch ein Taxi-Unfall war um die fragliche Zeit tatsächlich nicht gemeldet worden. Danach kamen die Droschkenunternehmen dran, die Funkzentralenstelle vor allem, die Personalbüros. Mit seiner Lizenz als amerikanischer Privatdetektiv fand Jo immerhin etwas mehr Entgegenkommen, als man Robinson entgegengebracht hatte. Zürich schien von rothaarigen Taxifahrern zu wimmeln. Systematisch wurden sie überprüft - doch Glen Robinson erkannte keinen von ihnen wieder. Ein rothaariger und zwei laut Kollegenauskunft rötlichblonde Driver hatten inzwischen den Beruf gewechselt. Rötlich-blond, räumte Robinson ein, könne der Gesuchte ebenfalls sein. Die Namen der drei Männer waren bekannt. Sie standen sogar im Adreßbuch. Aber der Rothaarige schied aus, nachdem Robinson ihn begutachtet hatte, und die beiden Rotblonden waren nicht zu finden. Nummer eins hatte einen Job in Saudi Arabien angenommen. Copyright 2001 by readersplanet
Nummer zwei war unbekannt verzogen, und da dieses "unbekannt" in jedem beliebigen Winkel der Schweiz liegen konnte, war es sinnlos, nach ihm zu suchen. So weit waren Jo und Robinson um 20 Uhr am Abend. Die halbe Nacht vergnügten sie sich mit Taxifahrten und sprachen mit den einzelnen Drivern. Jo gab sich kurzerhand als derjenige aus, der den Unfall des Taxis verschuldet habe, einfach weitergefahren sei und nun späte Reue - den Schaden wiedergutmachen wolle. Auch das nützte nichts. Die Antwort war immer wieder Achselzucken. Es gab zu viele Fahrer mit rötlichen Haaren. Und niemand erinnerte sich, daß einer von ihnen einen Unfall gehabt und zum Beispiel auf den Kerl geschimpft habe, der einfach weitergefahren war. Um vier Uhr morgens fiel Jo Walker wie ein Stein ins Bett. Um acht traf er sich mit Glen Robinson beim Frühstück. Der junge Mann wirkte bleich und verzweifelt. Die Sorge um Liza und April und die immer deutlicher werdende Hoffnungslosigkeit des Unternehmens machten ihn fast krank. Und Jo ging es im Grunde genauso, obwohl er sich etwas besser in der Gewalt hatte. "Und jetzt?" fragte Robinson hilflos. "Wir haben alles getan, nicht wahr? Alles..." "Noch nicht ganz", murmelte Kommissar X nachdenklich. "Aber..." "Dieser Gottlieb Sprüngli!" Jo köpfte sein Frühstücksei und merkte nicht, daß er viel zu viel Salz darauf streute. "Er ist der einzige, der jetzt noch übrigbleibt." "Aber was hat er damit zu tun? Als er die Tasche aufmachte, war die schmutzige Wäsche schon drin. Das habe ich gesehen." "Richtig. Aber sind Sie ganz sicher, daß Sprüngli keine Gelegenheit hatte, Ihre Tasche gegen eine andere auszutauschen?" Robinson runzelte die Stirn. "Sie - Sie meinen, in seinem Haus? Mit Absicht? Aber...aber das ist doch..." "Haben Sie immer die gleiche Art von Taschen benutzt?" "Ja, sicher, aber..." "Also hatte Sprüngli durchaus die Möglichkeit, eine ähnliche Tasche vorzubereiten. Die Frage ist, ob er auch Gelegenheit hatte, den Austausch vorzunehmen." "Nein", sagte Robinson. "Ich hatte das Ding doch die ganze Zeit in der Hand, bis ich es auf den Schreibtisch stellte." "Sind Sie völlig sicher? Haben Sie die Tasche nicht vielleicht kurz in der Diele abgestellt, um Sprüngli zu begrüßen? Oder haben Sie ihr vielleicht für einen Moment den Rücken gewandt, als sie schon auf dem Schreibtisch stand? Ein paar Sekunden Unaufmerksamkeit konnten unter Umständen schon genügen. Überlegen Sie!" "Ich...ich weiß nicht! Es ist möglich! Ich weiß es wirklich nicht..." Jo nickte nur. "Okay", sagte er. "Wir werden diesem Herrn Sprüngli auf die Bude rücken. Eine andere Chance haben wir ja ohnehin nicht mehr."
* April Bondy erwachte mit schwerem Kopf und schmerzenden Gliedern. Sie begriff nicht sofort, wo sie war. Als sie eine erste heftige Bewegung machte, schien sich jäher Schmerz wie ein Messer in ihr Hirn zu bohren, und sie sank für kurze Zeit zurück in den Dämmerzustand halber Betäubung. Schmerz war auch in ihren Hand- und Fußgelenken aufgeflammt. Eine neue, diesmal vorsichtige Bewegung machte ihr klar, daß sie gefesselt war. Gefesselt, auf den gelben Flauschteppich eines Badezimmers geworfen und... Copyright 2001 by readersplanet
Die Erinnerung kam so plötzlich zurück, als habe in ihrem Kopf jemand die Bilder eines Films aufgeblendet. Bollinger...Der Killer...Er hatte ihnen ein Schlafmittel eingeflößt und... Liza! April riß die Augen auf, drehte mühsam den Kopf und atmete erleichtert auf, als sie das Girl dicht neben sich entdeckte. Liza schlief noch, bewegte unruhig den Kopf und atmete schwer. April rief ein paarmal halblaut ihren Namen, aber sie bekam keine Antwort. Liza Carter erwachte erst eine volle Stunde später. April hatte die Zeit genutzt, um ihr Gefängnis näher zu inspizieren. Ein fensterloses Badezimmer mit einem Luftschacht-Gitter über der Wanne. Duschkabine, Waschbecken, Spiegel, Toilette - alles ganz normal. April lauschte, weil sie herausfinden wollte, ob sich Yul Shallet in der Wohnung aufhielt. Aber nicht das geringste Geräusch drang durch die Tür. Liza stöhnte, als sie endlich wach wurde. Auch sie sah zunächst völlig verwirrt um sich. Als die Erinnerung zurückkam, traten Tränen in ihre Augen. April versuchte, ermunternd zu lächeln, und stellte bei dieser Gelegenheit fest, daß ihre trockenen, spröden Lippen schmerzhaft spannten. Sie hatte Durst und Hunger. Außerdem mußte sie dringend zur Toilette. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das sie zu überwältigen gedroht hatte, machte wieder einem ausgesprochen belebenden Zorn Platz. "Mistkerl", murmelte April erbittert, während sie ein Stück über den Teppich rutschte. Mit beiden Füßen hämmerte sie gegen die Tür. Lautstark und unermüdlich. Ein paar Sekunden, dann näherten sich Schritte. Der Schlüssel wurde gedreht und die Tür aufgerissen. Yul Shallet sah wütend aus. April funkelte ihn an. Sie war nicht gesonnen, sich einschüchtern zu lassen. "Bleiben Sie bloß auf dem Teppich, Mister!" fauchte sie. "Wir sind keine Konservendosen. Sie können uns hier nicht tagelang lagern. Wir brauchen etwas zu essen und zu trinken, und außerdem mindestens fünf Minuten ohne Fesseln in diesem Badezimmer, verstanden?" Shallets Augen flackerten auf, dann grinste er. April atmete insgeheim auf: Ihr freches Mundwerk schien dem Kerl zu gefallen. Sie war froh, daß sie sich die Methode Tränendrüse sparen konnte. Der Killer beugte sich über sie, zerrte sie über die Schwelle ins Wohnzimmer und ging zurück, um Lizas Fesseln durchzuschneiden. "Keine Dummheiten, Baby", warnte er sie. "Wenn du Ärger machst, würde deine Freundin die Rechnung bezahlen, verstanden?" Daran gab es nichts miß zu verstehen. Shallet schloß die Tür ab, dann zerschnitt er auch Aprils Fesseln. Während er zurücktrat, glitt seine Hand unter die Jacke. Ein dünnes Lächeln huschte um seine Lippen. "Du kannst dich aus dem Kühlschrank bedienen. Aber versuche nicht, mir eine Flasche an den Kopf zu werfen. Du hättest schneller ein Stück Blei im Körper, als du denken kannst." April zuckte die Achseln. Sie wußte, daß sie keine Chance hatte: Nach der langen Fesselung fühlte sie sich steif wie ein Brett und brauchte eine volle Minute, um überhaupt auf den Beinen stehen zu können. Unsicher taumelte sie in die Küche hinüber und öffnete den Kühlschrank, während der Killer mit schußbereitem Revolver in der Tür lehnte. Seinem Gesicht nach zu urteilen, kam er sich ungeheuer menschenfreundlich vor. April ignorierte ihn und konzentrierte sich statt dessen auf den Inhalt des Kühlschranks. Sandwiches, kaltes Huhn, Cola, Bier, Whisky -alles reichlich vorhanden. April nahm sich ein paar von den belegten Broten und eine Dose Coke und ließ sich damit auf die Eckbank fallen. Es hatte keinen Sinn, sich den Appetit verschlagen zu lassen: Falls sich irgendwann eine Fluchtchance ergeben sollte, würde sie ihre Kräfte dringend brauchen. Bis auf den letzten Krümel verzehrte sie die Sandwichs, nahm eins der Gläser aus dem Regal und goß sich ungerührt einen doppelstöckigen Whisky ein. Copyright 2001 by readersplanet
Danach fühlte sie sich wesentlich besser. Yul Shallet beobachtete sie aus schmalen Augen. Sie wußte nicht, daß Kaltblütigkeit die Eigenschaft war, die er am meisten bewunderte, weil er selbst sie nur vortäuschte. Sie wußte nicht einmal, daß er ihr Verhalten, das lediglich gesunder Vernunft entsprang, überhaupt für besonders kaltblütig hielt. Sie spürte nur, daß dieser Mann mit dem bleichen, düsteren Gesicht und den brennenden Augen der letzte war, bei dem man durch Hilflosigkeit und Schwäche auch nur eine Spur von Beschützerinstinkt wecken konnte, und richtete sich danach. Energisch goß sie einen zweiten Whisky ein und stellte neue Sandwiches und Cola auf den Tisch, weil sie ahnte, daß Liza sonst aus purer Angst nichts essen würde. Die Rollen wurden vertauscht. April durfte ins Badezimmer, und sie schaffte es gerade noch, Liza zuzuflüstern, daß sie an Glen denken und schon deshalb bei Kräften bleiben müsse. Es war nicht ganz logisch, aber es wirkte. Liza aß und trank und brachte sogar, wenn auch unter Husten, den ungewohnten Whisky herunter. Sie war schon wieder gefesselt, als Shallet die Badezimmertür aufschloß. April hatte daran gedacht, ihm irgend etwas auf den Kopf zu schlagen. Aber im Bad fand sich nichts Geeignetes, und um ihn direkt anzugreifen, war ihr das Risiko zu groß, da er keinen Zweifel daran gelassen hatte, daß seine Rache Liza treffen würde. Eine teuflische und wirksame Drohung. Auch April wurde wieder gefesselt. Einigermaßen erleichtert registrierte sie, daß Shallet die Reste der Wäscheleine dazu benutzte. Auf die Schlafmittel verzichtete er diesmal, vermutlich in der weisen Erkenntnis, daß es nicht viel nützen würde. Um seine Gefangenen in einem tagelangen Dauerschlaf zu halten, hätte er stärkere, ganz spezielle Drogen gebraucht. Die hatte er nicht. Deshalb würde er sich vermutlich darauf beschränken, April und Liza erst dann wieder einzuschläfern, wenn er selbst schlafen wollte. Mit einem Knall schloß er die Badezimmertür. Der Schlüssel wurde gedreht. Die Schritte des Killers entfernten sich, und wenig später glaubte April, sehr fern eine Erkennungsmelodie zu hören, die ihr aus dem Werbefernsehen bekannt war. "Und jetzt?" fragte Liza Carter. Sie hatte sich aufgerichtet, und lehnte mit dem Rücken an den Kacheln der Badewanne. Der doppelte Whisky schien ihr gut bekommen zu sein. Jedenfalls war wieder etwas Farbe in ihr blasses Gesicht gekommen. Ihre Augen wirkten nicht mehr verängstigt, sondern eher unternehmungslustig. "Jetzt werden wir erst einmal versuchen, uns von den Fesseln zu befreien", sagte April entschlossen. "Aber... "Es sind ziemlich altmodische Wäscheleinen. Sie bestehen noch aus Hanf. Und Hanf kann man notfalls mit den Zähnen durchbekommen, wenn man genügend Geduld aufbringt." Für einen Moment blieb es still. Lizas Augen funkelten. Sie hatte keinerlei einschlägige Erfahrung, im Gegensatz zu April, die in ihrem gefährlichen Beruf schon öfter in die Lage gekommen war, sich von Fesseln verschiedenster Art befreien zu müssen. Aber Liza begriff schnell. Sie straffte sich, und ihr Blick ging gespannt in die Runde. "Wäre es nicht einfacher, die Stricke irgendwie zu zerschneiden?" fragte sie. "Und womit?" "Ich weiß nicht. Vielleicht könnten wir den Spiegel einschlagen. Das gäbe doch sicher ein paar ganz gute Scherben." April lächelte. "Keine schlechte Idee. Aber Shallet würde den Krach hören." "Ja, stimmt. Also mit den Zähnen! Ich habe sehr gute Zähne, das hat Dr. Myers immer gesagt." "Treibst du Sport? Gymnastik oder so?" Copyright 2001 by readersplanet
"Nein. Du?" "Ziemlich viel sogar." Ganz von selbst waren sie jetzt, im Augenblick der Gefahr, die sie beide bedrohte und sie zwang, sich aufeinander zu verlassen, zum vertrauteren Du übergegangen. "Das Problem sind nämlich nicht so sehr die Zähne, sondern die Muskeln", erläuterte April. "So, wie man bei der Knabberei den Kopf halten muß, kriegt man nämlich binnen einer halben Stunde Muskelkrämpfe im Nacken und an den Schultern. Und dann muß man die entsprechenden Entspannungsübungen kennen, sonst kommt man nicht weiter." Stille. "Eine - eine halbe Stunde?" echote Liza. "Glaubst du wirklich, daß das so lange dauert?" April mußte lachen. Ihr Blick streifte die dicke Wäscheleine. Sie seufzte tief. "Eine halbe Stunde ist gut", sagte sie. "Das ist eine Vollbeschäftigung, Liza. Es dauert garantiert mehrere Stunden. Sechs, acht, zehn -vielleicht noch länger." "Geduld bringt Rosen", sagte Liza Carter mit einem Galgenhumor, den sie sich vor kurzem sicher selbst noch nicht zugetraut hätte. "Ja", sagte April optimistisch. "Wenn wir hier herauskommen, will ich doch schwer hoffen, daß Rosen das mindeste sind, was Glen und Jo uns spendieren." Liza lachte leise. Vielleicht nur eine Folge des doppelten Whiskys. Aber auf jeden Fall ein gutes Zeichen - das bewies schon die Tatsache, daß sie sich zur Seite fallen ließ und ganz von selbst in die richtige Lage rollte. April schob sich zu ihr hinüber, zog die gefesselten Beine an und kam auf die Knie. Mit einem tiefen Atemzug beugte sie sich über ihre Schicksalsgefährtin und begann, die Stricke an Lizas Handgelenken mit den Zähnen zu bearbeiten. Sie wußte, daß es zumindest in der ersten Stunde so gut wie hoffnungslos aussehen würde. Aber sie hatten schließlich Zeit. Und April Bondy wußte aus Erfahrung, daß Geduld in der Tat manches brachte, was man mit Gewalt beim besten Willen nicht erreichen konnte...
* Jo Walkers Gesicht glich einer Maske, als er den Mietwagen über die Auffahrt der feudalen Villa lenkte. Gottlieb Sprüngli, der Schweizer Anwalt und Finanzberater, war ihre letzte Chance. Eine sehr dünne Chance, wie Kommissar X sich eingestand. Mochte sich der Schweizer hundertmal die Million unter den Nagel gerissen haben - es war ihm nicht nachzuweisen. Das einzige, worauf sie ihre Hoffnungen setzen konnten, war ein ganz bestimmter Charakterzug, der einer Reihe von Sprünglis Zunftkollegen anhaftete und den der Detektiv schon früher einmal kennengelernt hatte. Leute wie Gottlieb Sprüngli waren vollkommen skrupellos, was finanzielle Transaktionen anbelangte. Sie hielten es für legitim und rechtens, Steuer- und Devisengesetze und alle ähnlichen Vorschriften so elegant wie möglich zu umgehen. Sie waren sogar stolz auf den Service, den sie ihren Kunden bieten konnten. Und sie waren verrückterweise ehrlich! So ehrlich, daß man sie vielfach sogar Nummernkonten auf ihren eigenen Namen führen ließ, ohne daß die Auftraggeber und wahren Besitzer der betreffenden Beträge eine juristische Möglichkeit gehabt hätten, ihre eigenen Ansprüche jemals durchzusetzen, wenn es hart auf hart ging. Dies Geschäft konnte nur deshalb funktionieren, weil die jeweiligen Schweizer Makler über jeden Verdacht erhaben waren.
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Sie wären empört gewesen, hätte man sie als Verbrecher bezeichnet. Sie fühlten sich als Verteidiger des freien Bürgers, allerdings nur des reichen freien Bürgers, gegen die Übergriffe eines vorwitzigen Staates. Deshalb setzte Jo darauf, daß das, was inzwischen in New York geschehen war, Gottlieb Sprüngli gewaltig unter die Haut gehen würde. Vor der Eingangsfront des Luxus-Bungalows ließ er den Mietwagen in der Sonne stehen. Ein Butler öffnete - oder wie immer man diese dienstbaren Geister in der Schweiz nennen mochte. Ein ziemlich aufgeregter Butler, wie Jo fand. Ein paar Minuten später standen sie einem ziemlich aufgeregten Gottlieb Sprüngli in seinem Arbeitszimmer gegenüber. Er blätterte gerade eine Mappe mit lauter gleich aussehenden Briefen durch und setzte unter jeden Schrieb seinen Namenszug. Sein Gesicht war bleich. Und der Anblick von Glen Robinson verwandelte es in eine Maske gerechter Empörung. "Sie!" stieß er hervor. "Sie wagen es, mir noch einmal unter die Augen zu kommen! Und wer ist der da?" Mit "dem da" meinte er Jo. Der Privatdetektiv stellte sich vor. Gottlieb Sprünglis Miene vereiste vollends. Er sah aus wie ein Mann, der soeben die fundamentale Erfahrung gemacht hat, daß Undank der Welt Lohn ist. "Aha!" sagte er böse. "So ist das! Sie wagen es! Sie wagen es tatsächlich!" "Was wage ich?" fragte Jo reichlich verblüfft. "Hierherzukommen! Mir unter die Augen zu treten!" Gottlieb Sprüngli antwortete bereitwillig, und jetzt klang seine Stimme leidend. "Sie haben mich ruiniert, junger Mann! Sie haben einen ehrlichen, anständigen Schweizer Bürger ruiniert!" "Wieso?" fragte Jo perplex. "Ha! Wollen Sie es leugnen? Wollen Sie leugnen, daß Sie derjenige waren, der die Herren Rossi und Bollinger unter irgendeiner absurden Anklage verhaften ließ? Wollen Sie leugnen, daß Sie Interpol in Bewegung gebracht und bewirkt haben, daß ich - ich! - mit einer Verhaftung rechnen muß? Es ist ein Skandal! Jawohl, ein Skandal ist es!" "Und jetzt wollen Sie verschwinden?" fragte Jo mit einem Blick auf die diversen herumstehenden Aktenmappen. "Verschwinden? Ich? Sind Sie des Wahnsinns, junger Mann?" "Und was wollen Sie dann?" fragte Jo trocken. "Ich ordne meine Angelegenheiten", sagte Sprüngli mit Würde. "Ich versuche, einige Dinge im Interesse derjenigen zu regeln, die mir vertraut haben. Ich hoffe, Sie haben sich noch einen Rest Anstand bewahrt und lassen mich dabei in Ruhe, Sie - Sie Mensch! Meine Verhaftung steht unmittelbar bevor. Glücklicherweise habe ich Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Freunde, die mich in Kenntnis setzen. Nichts geht über Freunde in der Not, meine Herren." Jo schluckte seine Überraschung. Die verschiedenen Taschen und Mappen, die vielen Briefe - das alles wies tatsächlich darauf hin, daß Mr. Gottlieb Sprüngli hier durchaus nicht seine eigene Flucht vorbereitete, sondern die ihm verbliebene Zeit nutzte, um seine Kundschaft zu warnen. Es war grotesk, aber es war auch nicht ohne Logik. Ein ehrlicher Makler vorn Schlage Gottlieb Sprünglis würde hierzulande wohl milde Richter finden - das war jedenfalls Jos Vermutung. Er preßte die Lippen zusammen. Einen Augenblick hatte er das vertrackte Gefühl, eine schlechte Theatervorführung abzuziehen. Dann gab er sich einen Ruck, beschwichtigte den sichtlich aufbegehrenden Glen Robinson mit einer Handbewegung und paßte sich dem Tonfall des Bank-Menschen an.
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"Ich bedaure außerordentlich, Ihnen Schwierigkeiten gemacht zu haben", behauptete er. "Seien Sie versichert, daß ich es nie getan hätte, wäre ich nicht durch eine ganz außergewöhnliche Notlage dazu gezwungen worden." "Ja?" fragte Sprüngli interessiert. "Ja", sagte Jo. Und fügte in bedeutungsvollem Tonfall hinzu: "Sie verstehen - bei Mord und Kidnapping haben selbst bewährte Geschäftsprinzipien bisweilen zurückzustehen." Schweigen. Glen Robinson sah aus, als habe er plötzlich den Verdacht, in ein Irrenhaus geraten zu sein. Gottlieb Sprüngli schluckte erschrocken. Gleichzeitig betrachtete er Jo mit einem ganz neuen Blick. Mit dem Blick des Menschen, der plötzlich im Getriebe der Welt eine verwandte Seele entdeckt hat. "Wie...wie darf ich das verstehen?" fragte der Schweizer zögernd. "Darf ich es Ihnen erklären?" fragte Jo im gleichen umständlichen Ton. "Selbstverständlich. Wenn Sie vielleicht inzwischen einen Cognac..." "Nein, danke! Die Sache ist zu brisant, Sie begreifen? Menschenleben stehen auf dem Spiel! Ich muß Ihnen leider sagen, daß es um das Schicksal unschuldiger Frauen geht..." Die Worte trafen auf einen Nerv. In der Schweiz, die sich gerade mit Ach und Krach zum Frauenwahlrecht durchgerungen hatte, war das Schicksal "unschuldiger Frauen" ein Argument, gegen das das Kraut der Emanzipation noch nicht so recht gewachsen war. Gottlieb Sprüngli jedenfalls gehörte noch der Generation an, bei der Frauen an den heimischen Herd gehörten und selbstverständlich niemals und unter keinen Umständen in die harte Männerwirklichkeit hineingezogen werden durften. Er lauschte Jos Worten mit wachsendem Entsetzen. Und zweifellos war die heilige Empörung echt, mit der er auf den knappen, aber eindeutigen Bericht reagierte. "Ich bin entsetzt", sagte er mit Pathos. "Ich bin erschüttert, meine Herren. Selbst wenn ich die Million - eh entwendet hätte, was natürlich nicht der Fall ist! Aber selbst wenn es so wäre ich hoffe, Sie glauben mir, daß ich Ihnen unter den obwaltenden Umständen das Geld wieder aushändigen würde." Jo glaubte es ihm tatsächlich. Das Dumme war nur, daß das an den "obwaltenden Umständen" nicht das geringste änderte. Glen Robinson stöhnte dumpf. Gottlieb Sprüngli klopfte ihm voller Mitgefühl auf die Schulter. Aber auch sein Mitgefühl änderte nichts. Sprüngli hatte die Million nicht. Glen Robinson fuhr sich verzweifelt mit der Hand über die Stirn. "Liza", flüsterte er. "Der Kerl wird Liza umbringen, er..." "Wenn ich Ihnen vielleicht mit meinen bescheidenen Mitteln unter die Arme greifen darf?" fragte Gottlieb Sprüngli. Mit den "bescheidenen Mitteln" meinte er sein Vermögen. Einigermaßen verblüfft mußte Jo in der nächsten Viertelstunde feststellen, daß Gottlieb Sprüngli unter den "obwaltenden Umständen" bereit war, ihnen einen Kredit in Höhe von einer Million Dollar zur Verfügung zu stellen, falls die Polizei das Geld nicht beschlagnahmte. Man mochte über Sprüngli denken, was man wollte - irgendwo war er tatsächlich ein anständiger Mensch mit einer Moral, die einen geradezu grotesken Gegensatz zu seinen Geschäftsgebaren bildete. Jo jedenfalls war klar, daß das Angebot des Schweizers, wenn alle Stricke rissen, tatsächlich zur einzigen Chance werden konnte, April und Liza zu retten. Stirnrunzelnd dachte Kommissar X über die verrückte Situation nach. Im Grunde war es Zufall, daß ihm die einzig richtige Frage einfiel. Copyright 2001 by readersplanet
"Die Adresse des Mannes, auf dessen Nummernkonto Sie die Million einzahlen sollten, kennen Sie natürlich nicht, oder?" Gottlieb Sprüngli hob den Kopf. Leicht indigniert kletterten seine Brauen. "Selbstverständlich kenne ich seine Adresse", sagte er mit Würde. "Und auch seine Telefonnummer. Ich darf Sie doch daran erinnern, daß die Basis meines Geschäfts Vertrauen heißt, meine Herren! Vertrauen..."
* "Das schaffen wir nie", sagte Liza Carter mutlos. Jos Volontärin atmete tief durch. Der Einfachheit halber hatte sie den Kopf auf Lizas Rücken sinken lassen. Aprils Kiefer schmerzte, der Nacken tat ihr weh, und die Schultermuskeln hatten sich so hoffnungslos verkrampft, daß sie mindestens mit zehn Minuten rechnete, bevor sie weitermachen konnte. Aber was waren zehn Minuten gegen die Stunden, die sie sich nun schon anstrengte? Was konnte sie jetzt überhaupt noch umwerfen? "Der Strick ist zur Hälfte durch", sagte sie verbissen. "Und die letzten Fasern kannst du zerreißen. Wir schaffen es, Liza! Glaub mir, wir schaffen es!" "Und dann?" fragte Liza verzweifelt. "Was nützt es uns? Wir kommen ja doch nie hier heraus - oder?" April hätte auch weitergemacht, wenn sie absolut keine Chance gesehen hätte. Nie aufgeben - das war eine der Lektionen, die sie sich anhand von Jo Walkers Beispiel angeeignet hatte. Selbst in total aussichtslosen Situationen konnte immer noch eine überraschende Wende eintreten. Man mußte tun, was man konnte, um auf diese Wende vorbereitet zu sein. Aber die augenblickliche Situation war gar nicht einmal so aussichtslos. April hielt nichts davon, sich jetzt schon über die Wenns und Abers der Zukunft den Kopf zu zerbrechen. Doch sie sah ein, daß sie ihrer Leidensgefährtin ein wenig Mut machen mußte. "Der Luftschacht", sagte sie. "Wenn alle Stricke reißen, können wir immer noch versuchen, durch die Luftschächte zu entkommen." Liza schluckte. "Aber...aber das geht doch nicht. Die sind doch viel zu eng, die..." "Hast du es schon einmal versucht?" "Nein. Natürlich nicht..." "Aber ich", sagte April entschieden. Sie hatte es tatsächlich schon einmal getan. Die Erinnerung an die enge, dunkle, schmutzige Röhre war alles andere als angenehm. Aber es war eine Erinnerung, die seinerzeit von einem recht nachhaltigen Erfolgserlebnis gekrönt worden war. Ein mindestens ebenso mieser Gangster wie Yul Shallet hatte sich plötzlich seiner Geisel und damit seines einzigen Druckmittels beraubt gesehen. Und Jo, entsann sich April mit einem leicht nervösen Kichern, war dann tatsächlich mit einem Strauß herrlicher Baccarat-Rosen auf der Bildfläche erschienen. "Geduld bringt Rosen", wiederholte sie Lizas Weisheit von vorhin. Und damit beugte sie sich wieder vor, nahm den angenagten Strick zwischen die Zähne und bedauerte in Gedanken, daß sie und Jo nicht Stammgast bei Husario Menni geblieben waren. Husario briet nämlich die zähestens Steaks von ganz New York. Garantiert wäre das eine gute Übung gewesen...
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* Am frühen Abend landeten Jo Louis Walker und Glen Robinson wieder in New York. Tom Rowland holte sie ab. Er sah verbiestert aus. Wie immer, wenn ihn sein Freund in Dinge hineingezogen hatte, die in den Dienstvorschriften nicht vorkamen. "Völlig verrückt!" sagte er inbrünstig. "Was?" fragte Jo gespannt. "Diese Adresse! Ich habe mal ganz vorsichtig recherchieren lassen. Es sieht tatsächlich so aus, als handele es sich um Yul Shallets Schlupfwinkel und seine Telefonnummer. Zum Auswachsen, verdammt noch mal! Wir schlagen uns hier doppelt, und ihr fliegt mal eben nach Zürich und laßt euch die Adresse geben." Jo hielt bereits seit ein paar Sekunden den Atem an. Er war nicht weniger überrumpelt als sein Freund. Zürich hatte er zusammen mit Glen Robinson verlassen, weil sich dort einfach nichts mehr machen ließ. Die Information des Herrn Gottlieb Sprüngli war eine Spur gewesen. Aber nicht die Spur - jedenfalls nicht bis jetzt. Wenn Jo ehrlich war, konnte er immer noch nicht recht glauben, daß Yul Shallet dem Schweizer Bank-Menschen oder wem auch immer seine wirkliche Adresse verraten hatte. Vertrauen sei die Basis seines Geschäfts, hatte Sprüngli gesagt. Das stimmte auch. Jedenfalls was den Makler betraf. Und es konnte ja immerhin sein, daß Bollinger und Rossi ihren Kunden von der völligen Vertrauenswürdigkeit des Schweizers überzeugt hatten. "Bist du sicher, Tom?" fragte Kommissar X. "Natürlich nicht", knurrte der Captain. "Wer ist schon über irgend etwas sicher, verdammt! Es sieht so aus, habe ich gesagt. Willst du eine Bürgschaft? Oder wollen wir um eine Kiste Jack Daniels wetten?" "Ja", sagte Jo sanft. "Wetten wir um eine Kiste Jack Daniels. Du zahlst sie, wenn alles gut geht, und wenn es schiefgeht, hast du verloren." "Einverstanden", sagte Tom Rowland. Obwohl ihm der Pferdefuß von Jos Wetten nun wirklich nicht mehr neu war. Aber eine gute Wette war ein gutes Omen. Und ein gutes Omen konnten sie in dieser vertrackten Situation gebrauchen.
* "Jetzt!" flüsterte April Bondy atemlos. Liza spannte sich. Strengte sich an. Verzweifelt drückte sie ihre Arme auseinander. Dabei produzierte sie Flüche, die sie in ihrem Alter von Rechts wegen gar nicht kennen durfte. Ihr Atem ging keuchend, und die Anspannung ließ Muskeln und Sehnen deutlich unter der Haut hervortreten. "Mist!" stieß sie hervor. "Ich glaube..." Ein jäher Ruck. Liza hielt den Atem an. April ebenfalls. Sekunden verstrichen - und dann ließ ein neuerlicher Ruck die Fesseln endgültig von Lizas Handgelenken gleiten. "Geschafft!" flüsterte sie jubelnd. "Wir haben es geschafft! Wir haben es wirklich geschafft! Nie hätte ich das für möglich gehalten! Nie!" "Ich auch nicht", sagte April ehrlich. Copyright 2001 by readersplanet
Sie hatte sich aufgerichtet. Ihr Nacken, ihre Schultern, fast alle Muskeln ihres Körpers schmerzten. Aber sie hatte es geschafft, und nichts anderes zählte in diesem Augenblick. Liza machte sich hastig daran, die Stricke an Aprils Handgelenken aufzuknoten. Danach dauerte es nur noch wenige Minuten, bis sie auch die Fußfesseln loswaren. April lauschte sekundenlang, dann kletterte sie in die Badewanne und begann, das Luftschachtgitter abzumontieren. Schwarz gähnte das Loch. Der Geruch nach Staub drang heraus. April schüttelte sich, überlegte einen Moment und sah sich um. "Du zuerst", sagte sie. Auf diese Weise konnte sie Liza beim Einstieg helfen. Sie selbst würde es dann schon schaffen. Liza nickte nur. Entschlossen kletterte sie in die Badewanne und stieg mit einem Fuß in Aprils gefalteten Hände. Die nächsten Minuten vergingen mit verbissenen Versuchen - doch es wollte einfach nicht klappen. Ein paar Zentimeter fehlten. Eine lächerliche Winzigkeit an Platz, den sie zusätzlich gebraucht hätten, um in dem engen Schacht vorwärtszukommen. Liza weinte fast vor Enttäuschung. April schimpfte wie ein Rohrspatz. Dann fiel ihr Blick plötzlich auf die Flasche mit dem Sonnenöl, die auf der Glasplatte des Waschbeckens stand. Jos Volontärin lächelte andächtig. "Wir schaffen es!" sagte sie entschieden. "Nackt! Und mit Öl eingeschmiert!" "Nackt?" echote Liza. "Nackt und glitschig", feixte April. "Aber...aber wir werden doch - irgendeiner fremden Wohnung landen, wir..." "Na und? Sollen wir uns vielleicht aus purer Schamhaftigkeit von dem Kerl da draußen abmurksen lassen?" "Nein", sagte Liza entschlossen und zog ihren Rock aus. April tat es ihr nach. Sekunden später standen sie beide im Evaskostüm da und rieben sich mit dem Sonnenöl ein, bis ihre Körper vor Fett glänzten. Vorsichtig ließ April etwas Wasser ins Becken laufen und klatschte sich damit die Haare eng an den Kopf. Liza folgte ihrem Beispiel, dann kletterten sie von neuem in die Badewanne. Zweimal glitt Lizas glitschiger Fuß von Aprils ebenso glitschigen Händen ab, aber schließlich schafften sie es. Lizas Oberkörper verschwand in dem Luftschacht. April schob, half kräftig nach und hörte gedämpft die triumphierende Stimme. "Es geht! Es klappt! Wir schaffen es!" Ja, sie schafften es. April hatte Schwierigkeiten, sich ohne Unterstützung in das Loch zu zwängen. Aber schließlich kam sie auf den glorreichen Gedanken, sich an Lizas Füßen festzuhalten. Danach war es ein Kinderspiel. Jos Volontärin verschwand ebenfalls im Luftschacht, unterdrückte den Hustenreiz, der von dem Staub kam, und begann, sich wie eine Schlange vorwärts zu bewegen. Drei Minuten brauchten sie, um auch noch den rechtwinkligen Knick in dem Schacht zu überwinden. Jetzt waren sie in Sicherheit. Was immer passierte: Yul Shallet konnte ihnen auf diesem Weg nicht folgen, und er konnte nicht einmal mehr hinter ihnen herschießen.
*
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Der Hausmeister blinzelte verschlafen. Der Blick seiner runden, rotgeränderten Augen wanderte noch einmal mißtrauisch zu Tom Rowlands Ausweis. Die Alkoholfahne bewies, daß sich der Mann den Feierabend mit ein paar Drinks gewürzt hatte. So unsanft, wie er aus dem Schlaf gerissen worden war, brauchte er etwas länger, um zu begreifen, worum es ging. "Ja", sagte er schließlich. "Das stimmt. Der wohnt da oben." Sie hatten ihm Yul Shallet beschrieben. Eine einprägsame Beschreibung, in der der Hausmeister unschwer seinen Mieter erkannte. Er wohnte im fünften Stockwerk. Aber Jo war klar, daß sie nicht einfach klingeln konnten. "Haben die Wohnungen Balkone?" erkundigte er sich. "Ja, haben sie. Wieso?" "Kennen Sie die Mieter aus der Wohnung unmittelbar über der von Smitter?" Smitter war der Name, unter dem sich Yul Shallet hier eingemietet hatte. Der Hausmeister kratzte sich am Kopf. "Genau darüber? Da wohnt Miß Overstreet. Aber die ist jetzt nicht da, die jobbt als Bardame." "Würden Sie uns Miß Overstreets Wohnung aufschließen? Wir wollen lediglich über ihren Balkon klettern. Es geht um die Rettung von Menschenleben. Dieser Mr. Smitter hat zwei Mädchen entführt, die er gefangenhält." "Waas?" "Der Tatbestand ist eindeutig. Miß Overstreet wird unter diesen Umständen sicher nichts dagegen haben, daß wir kurz ihre Wohnung betreten." "Wenn das so ist...Moment! Ich hole den Hauptschlüssel!" Der Hausmeister verschwand in seiner Junggesellenwohnung. Tom Rowland gab über Walkie Talkie ein paar Anweisungen an seine Kollegen weiter, die sich über die beiden Treppen des Hauses bis ins fünfte Stockwerk vorpirschen würden. Der Hausmeister tauchte wieder auf, und gemeinsam fuhren sie mit dem Lift in die sechste Etage. Miß Overstreets Apartment war mit Plüsch und Nippes überladen. Jo inspizierte den Balkon, während er darauf wartete, daß der Beamte mit dem Nylonseil erschien, das Tom Rowland angefordert hatte. Der Balkon glich einer Betonwanne. Miß Overstreet hatte ihn reichlich mit künstlichen Blumen ausgestattet. Die geeignetste Verankerung für das Seil war der Türholm. Dort wurde es befestigt, als der Beamte es wenig später brachte. Tom Rowland schlang sich den Strick um den Körper, bis er eine perfekte Schultersicherung bildete. Jo nahm das freie Ende, führte es unter seinen Achseln durch und legte es in einer Schlinge um seinen Oberschenkel. An einer Stelle, die aus der Wohnung nicht eingesehen werden konnte, schwang er sich über die Balkonbrüstung, glitt vorsichtig nach unten. Er ließ sich Hand über Hand hinab, während das Seil um seinen Körper langsam ablief. Der Balkon ein Stockwerk tiefer tauchte auf. Licht fiel durch die Glastür. Von seiner Position aus konnte Jo nicht in das Zimmer sehen, aber dafür konnte er auch nicht gesehen werden. Mit den Füßen ertastete er die Balkonbrüstung, wickelte das Seil von seinem Oberschenkel und sprang geschmeidig auf den Betonboden. Ein kurzer Ruck am Strick zeigte Tom Rowland, daß alles in Ordnung war. Seine Leute standen in Bereitschaft. Sobald es in der Wohnung rundging, würden sie vom Flur her eingreifen. Nach menschlichem Ermessen konnte nichts mehr schiefgehen. Lautlos glitt Jo an die Glastür heran und spähte ins Zimmer. Die Einrichtung glich aufs Haar der von Miß Overstreets Apartment, nur daß hier niemand mit Plüsch und Nippes gewütet hatte. Es gab überhaupt nichts, das irgendeine persönliche Copyright 2001 by readersplanet
Atmosphäre erzeugt hätte. Das einzige Möbelstück, das Yul Shallet selbst angeschafft hatte, war vermutlich der große Farbfernseher. Der Apparat lief. Das Nachtprogramm flimmerte über die Mattscheibe: Ein Western, in dem der unbesiegbare Held gerade dabei war, im Alleingang einen Indianerstamm auszurotten. Jo grinste matt, ließ den Blick weitergleiten - und kniff die Augen zusammen, als er die Gestalt im Sessel erkannte. Yul Shallet. Er war es, kein Zweifel... Er hatte sich bequem zurückgelehnt, eine Bierflasche griffbereit neben sich auf dem Teppich, und fühlte sich offensichtlich vollkommen sicher.
* Mr. Nigel Milhouse träumte gerade von knackigen, braungebrannten Girls in superknappen Bikinis. Mr. Milhouse träumte häufig von knackigen Girls. Manchmal sogar mit offenen Augen, was man dem kleinen, mageren Mann gar nicht zugetraut hätte. Vielleicht lag es an Mrs. Milhouse. Mrs. Mildred Milhouse war nämlich nicht besonders knackig, sondern sehr schwergewichtig und athletisch und mit einer durchdringenden Stimme begabt, der sie nicht einmal nachts Ruhe gönnte. Tagsüber redete sie, nachts schnarchte sie. Das hörte sich dann an, als holze jemand die Taiga ab. Mr. Nigel Milhouse hatte ein schweres Leben. Zuerst glaubte er, daß ihn Mildreds Schnarchen geweckt hätte. Aber Mildreds Schnarchen war er gewöhnt. Einen Augenblick lauschte Nigel Milhouse in die Dunkelheit des ehelichen Schlafzimmers - dann hörte er jäh ein scharfes, metallisches Geräusch. Etwas schepperte zu Boden. Mildreds Schnarchen brach ab. Einbrecher, dachte Nigel Milhouse und tastete heldenhaft zur Nachttischlampe. In der Sekunde, in der er das Knöpfchen drückte, landete etwas oder jemand platschend auf dem Teppich. Gelber Lampenschein erfüllte das Zimmer. Nigel Milhouse hielt den Atem an, und betrachtete mit ungläubig aufgerissenen Augen die Erscheinung. Ein knackiges Girl stand vor seinem Bett. Pudelnackt. Schmutzig, über und über mit Öl beschmiert, aber ausgesprochen niedlich. Nigel Milhouses Herz hämmerte hoch in der Kehle, und er glaubte zu träumen, als im engen Loch des Luftschachts ein weiteres Mädchen erschien und sich mit der Hand auf der Kommode abstützte. Das zweite Girl war noch knackiger. Blond! Braungebrannt! Mit genau den richtigen Rundungen an genau den richtigen Stellen! "Hallo", sagte sie. "H-h-hallo", stammelte Nigel Milhouse. Und in dieser Sekunde erwachte seine bessere Hälfte, brummte ungehalten und richtete sich heftig im Bett auf, daß die Lockenwickler klickerten. Ihr Blick fiel auf die beiden nackten Girls. Aber im Gegensatz zu ihrem Ehemann hatte sie überhaupt keinen Sinn für den entzückenden Anblick. Copyright 2001 by readersplanet
Mrs. Mildres Milhouse riß den Mund auf, schnappte nach Luft und schrie...
* Jo nahm den Revolver aus der Schulterhalfter. Sein Blick hing an der Gestalt des Killers. Yul Shallet setzte gerade die Bierflasche an den Mund. Er nahm einen tiefen Schluck, atmete auf und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Auf der Mattscheibe küßte der Held das Girl, um dessentwillen er den Indianerstamm ausgerottet hatte. Jo hob den Fuß. Mit aller Wucht trat er zu, und die Thermopenscheibe zerknallte mit einem ohrenbetäubenden Krachen und Splittern. Jo warf sich mit der Schulter und dem erhobenen Ellenbogen voran durch die Lücke. Er nahm ein paar scharfe Glaszacken mit, spürte Splitter, die sich in den Handrücken seiner Linken bohrten, doch das störte ihn nicht. Ruckartig riß er den Smith and Wesson wieder nach unten und zielte auf den Killer, der im Sessel herumgefahren war. Yul Shallets Augen flackerten auf. Er hielt noch die Bierflasche in der Hand - und er reagierte ohne erkennbare Schrecksekunde. Die Flasche flog. Jo zog den Kopf ein und wich zur Seite aus. Shallet sprang auf. Blitzartig ließ er sich hinter den Sessel fallen, und zog in einer einzigen fließenden Bewegung seinen schweren Revolver. Jo feuerte, als sich der lange Lauf über die Sessellehne schob. Shallet kam noch zum Schuß, doch seine Kugel durchschlug nur eine Schranktür. Die Waffe wurde ihm mit unwiderstehlicher Gewalt aus den Fingern gerissen. Er schrie, als er sich herumwarf. Ein paar Yard entfernt knallte der schwere Smith and Wesson 44 Magnum gegen die Wand und fiel zu Boden. Der Killer warf sich blindlings nach vorn, um die Waffe wieder zu erwischen. Jo hatte sich längst in Bewegung gesetzt. Er wollte seinen Gegner nicht in den Rücken schießen. Mit langen Sätzen fegte er durch das Zimmer - und trat blitzschnell zu, als Shallets Finger schon den Kolben der Waffe berührten. Diesmal schlidderte der Revolver bis in die entgegengesetzte Ecke und blieb unter einem Schrank liegen. Shallet heulte auf vor Wut. Er schnellte am Boden herum, warf sich blindlings gegen die Beine seines Gegners. Mit halbem Ohr hörte Jo die schweren Schläge, die gegen die Tür hämmerten, das Knirschen des Brecheisens. Er geriet ins Stolpern, verlor fast das Gleichgewicht - aber er schaffte es, auf den Beinen zu bleiben. Als Shallet hochschnellte, empfing er ihn mit einem Hammerschlag, der von oben auf ihn niederkrachte. Der Killer fiel zurück. Seine Augen waren leicht glasig. Aber seine Reflexe funktionierten noch, er wälzte sich sofort herum und rollte ein paarmal um die eigene Achse. Diesmal ließ Jo ihn auf die Beine kommen. Viel Freude hatte er allerdings nicht daran. Bevor er seine Deckung aufbauen konnte, schlug Jos Faust wie eine Dampframme ein. Dann kam eine hageldichte Schlagfolge, die ihn rückwärts torkeln ließ, bis seine Kniekehlen gegen die Sesselkante stießen. Mit einem letzten Schwinger zum Kinnwinkel beförderte Jo seinen Gegner in das Möbelstück. Copyright 2001 by readersplanet
Gleichzeitig flog krachend die Tür auf. Tom Rowland und seine Kollegen stürmten mit gezogenen Revolvern ins Zimmer. Doch ihr Eingreifen war schon nicht mehr nötig. Yul Shallet starrte mit aufgerissenen Augen in die Mündung des 38ers, den Jo ihm vor die Nase hielt. "Wo sind sie?" fragte der Detektiv gefährlich leise. "Wo sind die Mädchen?" Shallet schluckte. Er wußte, daß er verloren hatte. Seine Stimme krächzte wie ein Reibeisen. "Bad", flüsterte er. "Sie sind im Bad..." Während dem Killer Handschellen angelegt wurden, stürmte Jo in die Diele. Die Tür zum Badezimmer war abgeschlossen. Er drehte den Schlüssel, stieß sie auf - und sah sich mit angehaltenem Atem in dem leeren Raum um. Ein Haufen Kleider auf dem Fußboden. Die Reste von Stricken, ein paar ölig schillernde Pfützen. Jos Blick wanderte nach rechts, Verblüfft starrte er auf das offen gähnende schwarze Loch des Luftschachts. Ein amüsiertes Funkeln stahl sich in seine Augen - und dann hörte er plötzlich von irgendwoher ein fürchterliches Geschrei. Es kam aus dem Flur, wenn ihn nicht alles täuschte. "Hilfe! Hilfe!" gellte es. "Hilfe! Polizei! Überfall!" Jo wirbelte herum und rannte in die Diele Captain Rowland kam aus dem Wohnzimmer, und sie stießen fast zusammen, als sie auf den Flur hinaus drängten. Aus den Augenwinkeln sah Jo, daß ein paar weitere Beamte und auch Glen Robinson aus der Richtung des Treppenhauses herbeiliefen. Nach ein paar Schritten blieben sie allesamt wie angewurzelt stehen. Auch Jo verschlug der Anblick glatt die Sprache. Eine enorm große, breite, athletisch wirkende Frau mit Lockenwicklern und einem Ungetüm von Flanellnachthemd stürmte aus der Tür der Nachbarwohnung und raste den Flur entlang. Ein kleiner, magerer Mann in gestreiftem Pyjama folgte ihr und blinzelte unglücklich in die Runde. Und hinter ihm kamen zwei Gestalten, die sämtliche männlichen Unterkiefer herabfallen ließen und nach dem ersten Schrecken in sämtlichen männlichen Augen ein gewisses Glitzern entfachten. April Bondy und Liza Carter. Nackt. Glänzend vor Sonnenöl, mit klatschnassen Haaren. Sie waren nach der Kriecherei durch den Luftschacht so verdreckt, als seien sie einem Schlammbad entstiegen, doch das konnte nichts daran ändern, daß sie einen sehr kreislaufanregenden Anblick boten. Total verwirrt starrten sie auf die Versammlung von Männern auf dem Flur, die sie absolut nicht erwartet hatten. "Jo!" flüsterte April. "Glen!" jubelte Liza. Und damit war der Bann gebrochen. Binnen Sekunden hatten Jo Walker und Glen Robinson jeder ein nacktes, glitschiges Girl am Hals hängen, und die Augen der übrigen anwesenden Männer wurden ein bißchen neidisch.
* Im Untersuchungsgefängnis der Stadt New York umklammerte der Killer Al Shallet die Gitterstäbe seiner Zelle mit den Händen. Copyright 2001 by readersplanet
Er starrte auf den Gang hinaus. Schritte hallten. Al Shallet fühlte etwas wie einen Eisklotz im Magen. Er hatte die Gerüchte gehört. Aber bisher war er sicher gewesen, daß das alles nicht stimmte, daß man ihm die Informationen nur zuflüsterte, um ihn zu ärgern. Und jetzt... Es war sein Bruder, der mit müden, schleppenden Schritten über den Gang kam. Yul Shallet, flankiert von zwei stämmigen Wärtern. Er starrte Al an. Mit einem trüben, glanzlosen Blick. Ein resignierendes Achselzucken war das einzige Zeichen, das er im Vorbeigehen gab. Stumpfsinnig schlurfte er weiter. Ein paar Sekunden später hörte Al Shallet das Zuschlagen einer Zellentür und das Rasseln des Schlüssels. Nein, dachte der Mörder. Das ist unmöglich. Das kann nicht sein, das... Einer der Wärter kam wieder zurück. Vor der Zellentür blieb er stehen und grinste. "Na, Junge?" sagte er spöttisch. "Da ist die Familie ja glücklich wieder beisammen." "Was soll das heißen?" krächzte Al außer sich. "Was ist mit Yul? Was haben sie ihm angehängt, diese Schweine?" "Angehängt?" Der Wärter schüttelte den Kopf. "No, Boy, dem brauchten sie nichts anzuhängen. Dein sauberer Bruder hat zwei Girls gekidnappt. Und er war dämlich genug, sich mit den Opfern in seiner eigenen Wohnung erwischen zu lassen, und dann auch noch auf einen Detektiv zu schießen, der gute Junge." "Nein", flüsterte Al. "Doch", sagte der Wärter zufrieden. Damit wandte er sich ab, schlenderte weiter und ließ rhythmisch den Schlüsselbund klirren. Al Shallet wankte durch die Zelle und sank schwer auf die Pritsche. Aus, hämmerte es in seinem Schädel. Aus, aus, aus... Und im Gedanken sah er sich schon in Sing-Sing alt und grau werden...
* Er behielt recht. Genau wie die Experten erwarteten, hatte Al Shallet in seinem Mordprozeß nicht den Schimmer einer Chance. Er wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt und ins Staatszuchthaus zu Ossining, genannt Sing-Sing, überführt, als die Berufung abgewiesen und das Urteil rechtskräftig geworden war. Schon kurze Zeit später leistete ihm sein Bruder dort Gesellschaft. Yul Shallet mußte sich wegen zweifachen Kidnappings verantworten. Und dagegen nahmen sich die Steuerhinterziehung, die Devisenvergehen und selbst der Mordversuch an dem Privatdetektiv Jo Louis Walker verhältnismäßig bescheiden aus. Auch für Yul Shallet hieß die Quittung, lebenslänglich. Er gehörte übrigens zu denen, die später gegen William Bollinger und Alfonso Rossi aussagten und mit dazu beitrugen, die illegalen Geschäfte der beiden Männer bis in die letzte Verästelung aufzuhellen. Sämtliche Mitarbeiter der Firma wurden ermittelt und sahen ebenfalls ihren Prozessen entgegen. Die komplette Kundenkartei fiel der Polizei in die Hände. Diesmal war es gleich ein ganzes Dutzend notorischer Gangster, die nach bester Al-Capone-Manier über das Delikt der Steuerhinterziehung stolperten. Copyright 2001 by readersplanet
Wären nur die finanziellen Transaktionen gewesen, hätten Bollinger und Rossi vielleicht die Chance gehabt, mit einer saftigen Geldstrafe und einer Bewährungsfrist davonzukommen. Aber die beiden Männer hatten sich erheblich mehr zuschulden kommen lassen. Alfonso Rossi, sein Privatsekretär und die drei Gangster aus Chicago mußten sich wegen gefährlicher Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Nötigung verantworten. Bei William Bollinger hieß die Anklage Beihilfe zum Menschenraub. Allesamt wurden zu drei bis fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, und eine Strafaussetzung zur Bewährung kam nach Lage der Dinge nicht in Frage. Glen Robinson hatte mehr Glück. Ihm räumten die Richter die Chance zur Bewährung ein. Vor allem, da er damals schon mit Liza Carter verlobt war, einen Job in Aussicht hatte und ganz den Eindruck machte, als werde er sich in Zukunft ehrlich durchs Leben schlagen. Glen und Liza heirateten vier Wochen später. Natürlich waren Jo und April zur Hochzeit eingeladen. Sie schenkten dem jungen Paar eine fahrbare Hausbar samt Inhalt. Und noch etwas Spezielles, das April aufgetrieben hatte. Es war ein Spiel. So etwas ähnliches wie Monopoly. "Das große Millionenspiel", hieß es - und erntete allgemeines Gelächter. "Habt ihr eigentlich gehört, daß die Million immer noch nicht wieder aufgetaucht ist?" fragte Jo. Glen zuckte die Achseln. "Keine Ahnung", sagte er. "Ich weiß es nicht. Ich will es auch gar nicht wissen." "Vernünftige Einstellung", meine Jo. Danach gab es den ersten Begrüßungswhisky, und ein paar Minuten später hatten sie die Million vergessen. Ja, die Million... Sie existierte noch. Aber niemand ahnte, wo und wie, und niemand würde es je erfahren. Über dem romantischen Hang-Grundstück hoch über dem Genfer See strahlte die Sonne. Die weißen Mauern eines Bungalows leuchteten durch die Zweige der Ziersträucher. Es war ein prächtiger Bungalow. Sein Vorbesitzer hatte ihn leider wegen des Bankrotts seiner Firma veräußern müssen. Und der Makler aus Genf war froh, einen schnell entschlossenen Käufer gefunden zu haben. Der stämmige Mann mit der rötlichen Haarbürste lehnte in der Hollywoodschaukel am Swimming-pool. Er sah dem schönen blonden Mädchen zu, das seinen Filmstar-Körper durch das grünschillernde Wasser bewegte. In ihrem Lächeln lag die Anbetung, die nur dem Erfolgreichen zuteil wird. Der rothaarige Mann nippte an seinem Drink und lächelte. Ein feines Leben war das. Und ein sehr geschickter Finanzberater war das gewesen, der ihm gezeigt hatte, wie er das Haus mit Hilfe von Hypotheken finanzieren und den Rest des Geldes so anlegen konnte, daß die Zinsen für die täglichen Kaviarbrötchen reichten. Ja, ja, dachte der Rothaarige. Gähnend stand er auf und warf einen Blick zur Uhr. Zeit für den Mittagsschlaf. Am Nachmittag würde er dann mit der blonden Sybille ein paar Runden im Boot drehen. Und für den Abend hatten die Vetterlis zu einer kleinen Cocktailparty gebeten. Bankdirektor Vetterli und Gattin, die sich glücklich schätzten, den neuen Nachbarn zu einem Willkommensschluck begrüßen zu dürfen... Glück mußte man haben. Schlau mußte man sein. Eine Million mußte man finden...
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Der rothaarige Mann atmete tief durch, warf einen alles umfassenden Blick über sein neues Zuhause und lächelte versonnen...
ENDE
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