Frank Schwieger
Das Löwenamulett
© privat
Frank Schwieger, geboren 1968, wuchs in Holstein auf. Nach einem Latein-...
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Frank Schwieger
Das Löwenamulett
© privat
Frank Schwieger, geboren 1968, wuchs in Holstein auf. Nach einem Latein- und Ge schichtsstudium ist er seit 1999 als Gymna siallehrer tätig. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Rendsburg. ›Das Löwenamu lett‹ ist sein erstes Buch.
Frank Schwieger
Das Löwenamulett
Ein Abenteuer aus dem
Alten Rom
Mit Illustrationen von Daniel Sohr
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe
In neuer Rechtschreibung
März 2009
# 2009 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
www.dtvjunior.de
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlagbild: Daniel Sohr
Lektorat: Maria Rutenfranz
.
Gesetzt aus der Aldus 11/14 Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen
Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany · ISBN 978-3-423-71339-9
uxori filioque,
mihi carissimis
Zur neunten Stunde am Tag vor den Iden des Juli, am Nachmittag des 14. Juli
A
lles begann vor zwei Tagen, am Tag vor den Iden des Juli. In Rom wurden die Ludi Apollinares gefeiert, ein rie siges Fest mit Umzügen, Theateraufführungen und Wagen rennen. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Delias Vater hatte Eintrittsmarken für die Rennen im Circus Maximus besorgt. Beim großen Zeus, was für ein Lärm, was für ein Spektakel! Ich glaube, ganz Italien hatte sich auf den Zu schauerrängen versammelt: Dort waren hunderttausend Menschen, vielleicht zweihunderttausend. Wenn man wie ich aus einer Kleinstadt kommt, ist man nicht gewohnt, so viele Menschen auf einem Haufen zu sehen. Wir hatten Mühe, zwischen all den Leuten unsere Plätze zu finden. Die Marken waren bestimmt nicht billig gewesen, wir saßen ganz weit unten, fast direkt an der Bahn, vor uns nur noch die 9
Ehrenplätze für die wichtigen Leute: all die Senatoren mit ihren purpurverbrämten Togen. Wir konnten wunderbar gucken. Das erste Rennen sollte in wenigen Augenblicken beginnen. An der Schmalseite des Circus, hinter den Startboxen, sahen wir die Gespanne, die schnaufenden Pferde, die ganz heiß darauf waren, über die Sandbahn zu jagen. Zwölf Wagen waren am Start, jeder von vier Pferden gezogen, auf jedem Wagen ein Auriga in den Farben seiner Mannschaft, der den Wagen lenkte. Die Pferde schlugen mit den Hufen gegen das Gitter, das sie von der Rennbahn trennte. Die Leute schrien vor Begeis terung und schwenkten die Farben ihrer Mannschaft: Rot, Blau, Grün oder Weiß. Einige hatten Schals dabei, andere Halstücher, wieder andere Wimpel oder Fahnen. Wie bunt die Ränge aussahen! Und wie laut es war! Eigentlich inte ressieren mich Pferderennen nicht, aber in dem Moment, als der Praetor ein weißes Tuch in die Bahn fallen ließ, die Boxen sich durch einen wundersamen Mechanismus gleich zeitig öffneten und die zwölf Gespanne herausjagten, da hielt es mich nicht mehr auf dem Sitz. Ich sprang auf und feuer te zusammen mit Delia, die neben mir stand, die blaue Mann schaft an. »A-ga-thon! A-ga-thon!«, rief Delia und hielt sich dabei die Hände wie einen Schalltrichter vor den Mund. »Wer ist Agathon?«, fragte ich. »Na, der blaue Auriga, der gerade in Führung gegangen ist.« »Ach so, na dann … A-ga-thon! A-ga-thon!« Wir hatten nur noch Augen für Agathon, der in wilder 10
Fahrt auf seinem Wagen um die Wendemarken jagte, dicht gefolgt von einem Fahrer der Weißen. Die Hufe donnerten, die Peitschen knallten, Staub wirbelte auf, hunderttausend Kehlen brüllten und schrien, selbst einige Senatoren vor uns waren aufgesprungen – und was tat Delias Vater? Er holte seine Schreibtafeln aus einer abgewetzten Ledertasche und machte sich Notizen! Saß einfach da und kritzelte Buchsta ben in das weiche Wachs. Ein total verrückter Kerl! »Eine Idee!«, brüllte Delia mir ins Ohr. »Was?« Ich konnte sie kaum verstehen. »Papa hat eine Idee. Für ein Gedicht.« »Ach so.« Das Rennen ging weiter, sieben Runden lang. Wir johlten und klatschten und unterstützten, so gut es ging, den blauen Auriga, der sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit einem wei ßen Fahrer lieferte. Auf der Spina, dem Mittelstreifen in der Rennbahn, waren an einer langen Stange sieben große Del fine angebracht. Die waren aus Holz und bunt bemalt. Zuerst fragte ich mich, was diese komischen Holzdelfine dort soll ten. Doch bald begriff ich: Jedes Mal, wenn eine neue Runde beginnt, klappt ein Sklave einen Delfin herunter, und wenn alle sieben Delfine unten sind, wird die letzte Runde gefah ren. Man weiß also immer genau, in welcher Runde sich das Rennen gerade befindet. In der vierten Runde gingen drei Wagen zu Bruch, einer hatte die Wendemarken zu eng genommen, zwei andere stie ßen auf der Geraden aneinander. Am Ende wurde es richtig knapp, sieben Wagen waren abgeschlagen, Agathon lag noch in Führung, doch der Weiße kam immer näher, hatte ihn 11
schon fast eingeholt. Auf der Zielgeraden fegten die beiden dicht nebeneinander wie zwei Sturmwinde durch den Sand. Die Pferde glänzten vor Schweiß und rannten so schnell, dass ich ihre Beine nicht mehr auseinanderhalten konnte. Doch Agathon rettete seine Führung ins Ziel, er gewann mit einer halben Pferdelänge Vorsprung. Der Jubel in unserem Block war unbeschreiblich. Die Leute lagen sich in den Armen, einige hatten Tränen in den Augen vor Freude oder tanzten auf den Sitzen, andere machten sich mit einem zufriedenen Lächeln auf den Weg in Richtung eines der Wettbüros, die sich in den Bretterbuden vor dem Circus befanden. Nach der Siegerehrung gab es eine Pause. Unten auf der Rennbahn führten ein paar Spaßmacher ihre Kunststücke auf. Sie schlugen Saltos, ritten auf störrischen Eseln oder be warfen sich gegenseitig mit Pferdeäpfeln. Delia und ich setz ten uns wieder hin. »Hört zu, Kinder, wie gefällt euch das?« Delias Vater räusperte sich umständlich und las aus seiner Schreibtafel vor: »Nicht soll dir entgeh’n der Wettstreit vornehmer Pferde. Wer ein Liebchen sucht, findet im Circus sein Glück.«* »Klingt ein bisschen schwülstig«, befand Delia. »Was soll das werden?« »Was meinst du, Lycoris?« Ovid ignorierte seine Tochter und wandte sich mir zu. »Findest du es auch schwülstig?« *
Zitat aus Ovids »Liebeskunst«, der Ars amatoria (Buch 1, Vers 135 f.). Der zweite Vers findet sich in heutigen Ausgaben nicht mehr. Offenbar auf Anregung der Mädchen hat Ovid ihn vor Herausgabe des Werks noch geändert in: »Viele Men schen gibt’s hier und viele Chancen darum.«
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»Nun ja«, druckste ich, »das mit dem Liebchen klingt wirk lich etwas, na ja, altmodisch.« »Du hast recht«, murmelte er und wandte sich seiner Wachstafel zu. »Die Stelle muss ich ändern. Was könnte man stattdessen …?« Er versank in seinen Gedanken. »Du darfst ihn jetzt nicht stören«, flüsterte Delia. »Ich ken ne das. Lass ihn einfach schreiben.« Ich musste grinsen. »Sind alle Dichter so?« Delia zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Ich kenn nur meinen Vater. Und der war schon immer so. Aber solange er seine Gedichte gut verkauft, soll’s mir recht sein. Oh …!« Plötzlich breitete sich ein Strahlen auf Delias Gesicht aus. Ihre Wangen röteten sich. Ich wusste zunächst nicht, was mit ihr los war. »Schau mal da!«, flüsterte sie und zeigte über die Köpfe einiger Leute hinweg in die Reihen der Senatoren. »Das ist er.« »Wer? Wo?« Ich hatte keine Ahnung, wen sie meinte, und versuchte, der Richtung ihres Fingers zu folgen. »Na, da, neben unserem Nachbarn, dem Senator Metellus.« »Ich kenne euren Nachbarn nicht.« »Da, da, der dicke Mann mit dem kahlen Schädel.« Tatsächlich konnte ich etwa fünf Reihen vor uns den glän zenden roten Kopf eines älteren Mannes erkennen. »Was ist mit dem?« »Das ist unser Nachbar, Senator Metellus. Aber den meine ich nicht. Der Junge daneben! Von dem ich dir erzählt habe!« Jetzt sah ich den Jungen, der neben dem Senator saß. Er 13
hatte lockiges braunes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, war schlank und hoch aufgeschossen. Und im nächsten Moment war mir klar, wer das sein musste. »Ist das …?« »Ja, das ist er.« Delia schloss die Augen und nannte den Namen: »Myron!« Dann lehnte sie sich mit einem Seufzer zurück. Ich war zusammen mit meinem Vater nach Rom gekom men. Er handelte mit Papyrus und hatte hier einiges zu erle digen. Während er ein paar Tage in der Stadt unterwegs war und seine Geschäfte abwickelte, durfte ich bei meiner Freun din Delia bleiben. Ich hatte sie vor einem Jahr kennengelernt, ihre Familie besaß eine Ferienvilla in meiner Heimatstadt. Dort hatten wir im letzten Sommer viel Zeit miteinander ver bracht und uns seitdem immer wieder Briefe geschrieben. Gleich nach meiner Ankunft hatte Delia mir von Myron erzählt, dem neuen Sklaven ihres Nachbarn. Ach was, er zählt – geschwärmt hatte sie! Myron hier und Myron da. Dabei kannte sie ihn gar nicht, hatte ihn nur ein paarmal ge sehen. Und außerdem … »Er ist ein Sklave!« »Pah! Na und?« Delia verschränkte die Arme vor der Brust. »Deine Eltern waren auch einmal Sklaven.« Das war gemein. »Das ist lange her«, schnappte ich zurück. »Meine Eltern wurden freigelassen, schon vor langer Zeit. Und mein Vater ist ein angesehener Kaufmann, ein erfolgreicher Papyrus händler. Er beliefert sogar die Apollonbibliothek hier in Rom. Du bist die Tochter eines römischen Bürgers, und die 14
ser, dieser Myyyyyron« – ich ahmte sie nach und erhielt dafür einen schmerzhaften Tritt gegen den Knöchel – »dieser Myron ist ein griechischer …« »Deine Eltern stammen auch aus Griechenland.« »Das hat damit nichts zu tun! Dieser Myron wohnt erst seit acht Tagen …« »Seit zehn Tagen!« »Dann eben seit zehn Tagen. Er lebt seit zehn Tagen im Haus eures Nachbarn, und du führst dich auf wie die unglück liche Echo, die für den schönen Narcissus dahinschmilzt.« »Was hast du eben gesagt?« Delias Vater blickte von seiner Schreibtafel auf und schaute mich interessiert an. Delia legte den Finger auf den Mund und schüttelte den Kopf. »Och, nichts Besonderes. Ich habe nur von Narcissus und Echo erzählt.« Ovid warf die Stirn in Falten und kaute auf seinem Schreibgriffel. Fast hatte ich den Eindruck, als würde er durch mich hindurchschauen. »Gute Idee«, murmelte er, »sehr gute Idee. Das muss ich mir gleich …« Und wieder wandte er sich seiner Schreibtafel zu und schien in eine andere Welt abzutauchen. Ich rückte ein wenig von ihm ab und zu Delia hinüber, damit er uns nicht hören konnte. »Er ist ein griechischer Sklave«, zischte ich. »Und er ge hört nicht dir, sondern diesem Senator da vorn, eurem Nach barn. Und außerdem kennst du ihn gar nicht.« »Ich habe ihn vom Balkon aus beobachtet, wie er im Gar ten irgendwelche Schreibarbeiten erledigt hat. Und ich hab ihm zugewinkt!« 15
»Oooh, na dann …« »Und ich habe schon einmal mit ihm gesprochen.« »Ein Mal? Bei der schönen Aphrodite!« Ich musste laut lachen. »Was gibt’s denn da zu lachen? Das war gestern Morgen, kurz bevor ihr gekommen seid, du und dein Vater.« »Wo war das?« »Auf der Straße vor unserem Haus. Er hat Senator Metel lus begleitet, hatte eine pralle Ledertasche um die Schulter hängen und etliche Schriftrollen auf dem Arm.« »Und was hast du zu ihm gesagt?« »Salve.« »Bloß Salve? Fiel dir nichts Besseres ein? Was hat Myron darauf gesagt?« »Auch Salve.« »Das war alles?« »Das war der Anfang.« »Der Anfang von was?« Delia lächelte versonnen und breitete die Arme aus. »Der Anfang eines großen, großen Abenteuers.« »Du spinnst total«, sagte ich und schüttelte den Kopf. In dem Moment wusste ich nicht mehr, ob sie es ernst meinte oder ob sie mich auf den Arm nehmen wollte. »Du kennst ihn doch kaum.« »Ja und? Dann werde ich ihn eben kennenlernen. Er wohnt ja gleich nebenan.« »Wird das der Senator erlauben? Was werden deine Eltern dazu sagen?« Delia zuckte mit den Schultern. »Nein und nein, fürchte 16
ich. Aber Schwierigkeiten sind dazu da, um überwunden zu werden. Per aspera ad astra!* Findest du nicht?« »Ich finde, wir sollten uns etwas zu trinken holen. Die Sonne brennt und ich habe Durst.« »Wenn du meinst …« Delia beugte sich zu ihrem Vater hinüber. »Sollen wir dir etwas mitbringen?« Ovid schrieb, ohne aufzuschauen, unablässig in seine Wachstafel und murmelte etwas für mich Unverständliches. Delia aber schien ihn verstanden zu haben und stand auf. »Da hinten ist ein Getränkestand, ich hab ein paar As da bei. Komm mit.« Ich folgte ihr die Sitzreihe entlang, bis wir die Stufen erreicht hatten, die hinauf zu den Verkaufsbuden führten. Natürlich waren wir nicht die Einzigen, die Durst oder Hun ger hatten. Geschiebe und Gedränge, Geknuffe und Gepuffe. Wir mussten die Ellenbogen einsetzen, einmal sogar die Knie, um endlich an unsere Becher zu gelangen. Das tat gut: ge kühlter Wein, mit Wasser verdünnt, mit Zimt und Lorbeer gewürzt – köstlich! Wir wollten gerade wieder zurück zu unseren Plätzen gehen, als Delia plötzlich erstarrte. Als hätte Zeus sie mit einem Blitz getroffen, oder besser: Eros mit einem Pfeil. Steif wie eine Statue stand sie da, die Lippen aufeinandergepresst, die Augen weit aufgerissen. Eine Statue, die reden konnte. »Da vorne!«, hauchte sie. Mir war sofort klar, wen sie gesehen hatte. Und da kam er auch schon, der schöne Myron, die Treppen hinauf und – *
Lateinisches Sprichwort: »Auf rauen Wegen zu den Sternen!«
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wusch! – war er an uns vorbeigehuscht, ohne auf Delia oder mich zu achten. Offenbar sollte er für seinen Herrn etwas zu trinken holen, denn er ging zu einer der Getränkebuden und mühte sich redlich, an einen gefüllten Becher zu kom men. »Blöder Kerl!«, fauchte Delia. »Wieso?« »Er hat mich missachtet!« »Das kann doch passieren. Bei all den Leuten hier. Viel leicht kann er sich auch gar nicht an dich erinnern.« Manchmal merkt man genau in dem Moment, in dem man etwas sagt, dass man es besser nicht gesagt hätte. »Was soll das denn heißen?« Funken sprühten aus Delias Augen. »Natürlich kann er sich an mich erinnern!« »Natürlich!« Ich legte meine Hand auf ihre Schulter. »Er hat dich einfach nur nicht gesehen. Außerdem ist er in Eile. Wollen wir zurück auf unsere Plätze? Das nächste Rennen wird gleich beginnen.« »Nein, wir warten hier.« »Du meinst … Und wenn er dich wieder …?« »Das wird er nicht!«, zischte Delia, und ihre dunklen Au gen funkelten. Sie warf den Kopf in den Nacken und stemm te die Hände in die Hüften. »Schließlich bin ich die Tochter des berühmten Dichters Publius Ovidius Naso … Oh, oh, beim Hercules, da kommt er!« Myron musste sich sehr geschickt an die Theke durch geschlagen haben, denn er war schon wieder auf dem Rück weg, einen großen tönernen Becher vorsichtig mit beiden Händen vor sich hertragend. Jetzt konnte ich ihn zum ersten 18
Mal genauer betrachten. Und ich musste Delia recht geben, er sah wirklich gut aus. Er war vielleicht sechzehn oder sieb zehn Jahre alt, schlank, fast ein wenig schmächtig, er hatte ein schmales Gesicht mit einer krummen Nase und glänzen den schwarzen Augen. Sein lockiges braunes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. »Narcissus!«, flüsterte ich Delia ins Ohr. »Quatsch!«, fauchte sie. »Was soll ich denn jetzt tun?« Sie zappelte unruhig neben mir. »Ihn ansprechen!« »Und was soll ich sagen?« »Dir fällt schon was ein.« Myron hatte sich uns bis auf wenige Schritte genähert. Seine Augen waren fest auf den randvollen Becher geheftet und im nächsten Moment hätte er uns links liegen lassen, wenn nicht … »Salve«, wisperte Delia, als er an uns vorbeiging. Myron blieb stehen und schaute vorsichtig von seinem Becher auf. »Meinst du mich?« Delia nickte nur, sie bekam kein Wort heraus. Ihre Wan gen waren so rot wie reife Himbeeren. »Kennen wir uns?« Myron runzelte die Stirn. »Bist du nicht …? Ja, natürlich, du bist das Mädchen aus dem Nach barhaus. Die Tochter des Dichters, nicht wahr?« »Hmm.« Wahrscheinlich hatte Delia einen Krampf in der Zunge. »Und dein Name ist …?« Delia machte keine Anstalten, etwas zu sagen. Ich knuffte sie in die Seite. 19
»Delia«, wisperte sie. »Ein schöner Name für eine Dichtertochter. Ich heiße Myron und bin, verzeih bitte, ziemlich in Eile. Mein Herr hat großen Durst.« Delia lächelte verlegen. »Eigentlich heiße ich Aurelia. Aber meine Eltern nennen mich meistens Delia, es sei denn, sie schimpfen mit mir. Meine Freunde übrigens auch.« Der Krampf in ihrer Zunge schien sich gelöst zu haben. »Dürfen dich auch Sklaven Delia nennen?«, fragte Myron. »Hmm!« Sie nickte, anscheinend war der Krampf zurück gekehrt. »Und wie ist dein Name, wenn ich fragen darf?« Er wandte sich mit einem überraschend selbstsicheren Lächeln mir zu. »Du darfst«, sagte ich und lächelte zurück. Ich konnte lang sam verstehen, was Delia an ihm fand. »Ich heiße Lycoris.« Myron strahlte: »Lykoris? Onoma Ellenikon. Oukoun pa tris sou he Hellas estin?« »Ou deta«, sagte ich, »all’ egenomen en to Miseno. He Hellas de patris ton goneon mou.«* »Was redet ihr da?« Delia zupfte an meiner Tunica. »Ich verstehe kein Griechisch. Mein Vater will’s mir immer bei bringen. Aber ich weiß nicht, wozu das gut sein soll.« »Du könntest dich mit vielen klugen Menschen unterhal ten«, sagte Myron. »Und Homer lesen, Hesiod, Sophokles, Archilochos, Sappho, Aristophanes – all die wunderbaren Dichter! Aber ich muss jetzt wirklich …« *
»Lycoris? Das ist ein griechischer Name. Stammst du aus Griechenland?« »Nein«, sagte ich, »ich wurde in Misenum geboren. Aber meine Eltern stammen aus Griechenland.«
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»Pah!«, machte Delia. »Mein Vater ist auch ein toller Dich ter. Und der schreibt auf Latein.« »Ich weiß«, sagte Myron. »Ich kenne seine Gedichte. Sie sind gut. Jedenfalls für einen Römer.« »Was soll das denn nun wieder heißen?« Delia stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden. »Seit wann interessie ren sich Sklaven für Gedichte?« »Ich habe eine gute Ausbildung genossen zu Hause in Athen. Sklave zu sein, bedeutet nicht, dumm zu sein.« Er schaute Delia durchdringend an. »So war das doch nicht gemeint …« »Und wie bist du nach Rom gekommen?«, mischte ich mich ein. Myron zuckte mit den Schultern. »Na, wie wohl? Ich bin verkauft worden. Vor drei Jahren. An einen ehemaligen Consul. Ich habe für ihn die Schreibarbeit erledigt. Seine Augen waren schlecht, er konnte kaum noch sehen. Ein feiner alter Herr. Leider ist er im letzten Monat gestor ben.« »Und dann?« »Dann hat mich mein neuer Herr gekauft, Senator Metel lus. Und jetzt erledige ich für ihn die Schreibarbeit, setze Briefe auf, kopiere Akten, schreibe Rechnungen. Oder hole ihm im Circus Maximus etwas zu trinken.« »Behandelt er dich gut?« Myron presste die Lippen zusammen. Ich hatte den Ein druck, dass ihm Delias Frage unangenehm war. Er druckste: »Tja, ich bin ja noch nicht lange in seinem Haus. Ich muss mich noch an vieles gewöhnen.« 21
»Wo sind deine Eltern?«, fragte ich ihn, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Ich weiß es nicht, ich habe sie nie kennengelernt. Sie wa ren auch Sklaven. Oder sind es immer noch. Ich wurde zum ersten Mal verkauft, als ich noch ein Baby war.« »Wollen wir uns vielleicht mal treffen?« Delia schienen Myrons Eltern nicht weiter zu interessieren. »Du könntest mir Griechisch beibringen.« Hatte sie nicht eben noch gesagt, dass sie Griechisch nutz los fand? »Treffen?« Myron war sichtlich verwirrt. »Wir uns tref fen? Aber ich bin doch ein Sklave. Und du die Tochter eines berühmten Dichters.« Delia zuckte mit den Schultern. »Ich rede doch auch mit anderen Sklaven. Also, was soll schon dabei sein?« Myron lächelte verlegen. »Wenn du meinst … Aber ich muss erst meinen Herrn fragen. Und du deinen Vater. Wenn die nichts dagegen haben, können wir uns ja vielleicht wirk lich mal sehen.« Viel hätte in diesem Moment nicht gefehlt, und Delia wäre tatsächlich wie die arme Nymphe Echo dahingeschmolzen. »Beim Herakles!«, rief Myron plötzlich. »Entschuldigt bitte, aber der Senator wartet auf seinen Wein.« Im nächsten Augenblick war er, beide Hände fest um den Becher gelegt, auf der Treppe verschwunden, die hinunter zu den Ehrenplätzen führte. Ich war mir nicht sicher, wer in die sem Moment heller strahlte, Helios mit seinem Feuerwagen hoch oben auf der Himmelsachse – oder Delia.
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Zur ersten Stunde an den Iden des Juli, bei Sonnenaufgang am 15. Juli
A
m Abend saßen Delia und ich noch lange auf dem Balkon vor ihrem Zimmer. Wir redeten über den Tag und über das, was wir in den nächsten Tagen in Rom unternehmen wollten. Und immer wieder schaute Delia hinüber in den Garten des Nachbarn und hoffte, dort Myron erblicken zu können. Vergeblich. Zu sehen war nur der Gärtner, der die Kühle der Dämmerung nutzte und im letzten Tageslicht an den Blumenbeeten herumwerkelte. Als wir uns schließlich schlafen legten, ließen wir die Tür zum Balkon offen, damit die Grillen uns noch ein Gute nachtlied spielen konnten. Der Tag war lang und anstren gend gewesen, ich schlief bald ein und träumte von einem wilden Wagenrennen, an dem ich selbst als Auriga teilnahm. Ich träumte von Tausenden Zuschauern, die mir zujubelten 23
und meine Farben schwenkten, von einem weißen Fahrer, der mir dicht auf den Fersen war – ich konnte seine Pferde schnaufen hören, spürte ihren heißen Atem im Nacken! –, von donnernden Hufen, glänzenden Pferderücken und von Myron, der aufgelöst vor mir stand und mir etwas erzählen wollte. »Lycoris!«, rief er und sah ganz verzweifelt aus. »Lycoris, wach auf!« Er packte mich an den Schultern und rüttelte mich. Wieso sollte ich aufwachen? Ich war doch wach. Ich stand doch auf meinem Rennwagen. Nein. Ich stand nicht auf einem Rennwagen. Ich lag in meinem Bett – und Myron beugte sich über mich und rüttelte mich tatsächlich. »Lycoris, so wach doch auf!« »Was ist hier los?« Hinter ihm tauchte Delia aus dem Halbdunkel des Zim mers auf. Ich richtete mich im Bett auf und rieb mir die Au gen. Das war eindeutig kein Traum. Vor mir stand Myron, schwer atmend, mit einer blutenden Nase und einer Platz wunde an der Stirn. »Was ist hier los?«, wiederholte Delia, die genauso über rascht war wie ich. »Was machst … oh!« Sie wich einen Schritt zurück. Wahrscheinlich hatte sie gerade erkannt, dass es Myron war, der da vor ihr stand. Sie sackte zurück auf ihr Bett und starrte ihn fassungslos an. Wir beiden Mädchen saßen, nur mit einer leichten Tunica bekleidet, auf unseren Betten in Delias Zimmer, und dazwi 24
schen, mitten in der Nacht, stand Myron. Doch was war seit dem Nachmittag geschehen? Er schien völlig aufgelöst zu sein, verwirrt und verängstigt. Und er hielt etwas in der Hand, das ich nicht erkennen konnte. Ich wollte im ersten Moment laut um Hilfe rufen, doch etwas hielt mich zurück. Ich spürte, dass Myron uns nichts Böses wollte. Nein, im Gegenteil, er hatte große Angst und war hierhergekommen, weil er ganz offensichtlich unsere Hilfe brauchte. »Hört mir bitte zu!« Myron atmete schwer. »Mir bleibt nicht viel Zeit.« »Wie bist du überhaupt …?« Delia blickte zur offenen Balkontür. Damit war ihre Frage beantwortet. Myron war so außer Atem, dass er seine Worte nur sto ckend hervorbringen konnte. »Es ist etwas Furchtbares pas siert«, stammelte er. »Ich stecke in großen Schwierigkeiten, in ganz großen Schwierigkeiten. Ich wusste nicht, wohin ich sollte. Da fiel mir dein Balkon ein, Delia. Zum Glück wächst an eurem Haus so viel Efeu. War ziemlich leicht, hier herauf zusteigen. Bitte verzeiht, ich wollte euch keinen Schreck ein jagen.« »Was ist denn passiert?«, fragte ich. »Du bist doch nicht etwa auf der Flucht? Weißt du nicht, was man mit entflo henen Sklaven macht?« »Doch«, keuchte Myron, »ich bin auf der Flucht. Und ich weiß, was mir bevorsteht, wenn man mich erwischt. Aber ich habe keine Wahl.« Plötzlich hörten wir einen spitzen Schrei. Er schien aus dem Nachbarhaus zu kommen. Wir blickten alle drei zur offenen Balkontür. 25
»Was ist denn nur … was hast du getan?« Delia hielt sich vor Entsetzen die Hände vors Gesicht. »Ich war noch wach«, begann Myron leise, »konnte nicht schlafen. Plötzlich hörte ich Geräusche. Sie kamen aus dem Arbeitszimmer meines Herrn. Meine Kammer liegt direkt darüber. Zuerst dachte ich, der Senator sei auch noch wach und würde irgendetwas in seinem Zimmer erledigen. Aber schon im nächsten Moment lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich hörte einen dumpfen Schlag, einen Schrei, etwas fiel auf den Boden. Einbrecher, dachte ich sofort. Da macht sich ein Einbrecher unten im Haus zu schaffen. Wahr scheinlich hat er den Senator im Arbeitszimmer überrascht.« Myron stockte und lauschte kurz nach draußen in die Nacht. Aber alles blieb ruhig. Schnell fuhr er fort: »Ich bin sofort von meiner Strohmatte aufgesprungen und die Treppe hi nuntergestürmt. Na warte, du Halunke, dachte ich, dir werd ich’s zeigen. Als ich die Tür zum Arbeitszimmer erreichte, sah ich meinen Herrn auf dem Boden liegen, leblos. Er be wegte sich nicht mehr. Vor ihm stand ein Kerl in einem dunklen Umhang mit einer Kapuze über dem Kopf. Er hielt einen Dolch in der Hand und beugte sich über den Senator.« »Bei allen guten Göttern!«, hauchte Delia. »Ein Mörder!«, flüsterte ich. »Ja«, sagte Myron. »Ich hatte ihn auf frischer Tat ertappt. Warum habe ich nur nicht um Hilfe gerufen?« Er ballte wütend beide Fäuste. »Aber nein, ich musste ja den Helden spielen.« »Was hast du getan?« »Auf dem Schreibtisch meines Herrn stand eine Statuette, 26
ein kleiner Hermes aus Bronze. Den habe ich mir gegriffen und bin damit auf den Mörder losgegangen. Ich glaube, ich habe ihn an der Schulter erwischt. Er ließ den Dolch fallen. Dann habe ich mich auf ihn gestürzt und auf ihn einge prügelt. Aber er wehrte sich kräftig. Wir schlugen und traten wie zwei griechische Allkämpfer aufeinander ein.« »Hast du ihn erkannt?« »Nein. Ich konnte ihm zwar die Kapuze vom Kopf reißen, aber es war ja kaum Licht in dem Raum. Er war sehr stark, o ja …«, Myron fasste sich an seine blutende Nase, »… und er hatte dunkles Haar.« »Lang oder kurz?« »Weder noch, eher halblang.« »Na prima«, sagte ich, »damit haben wir in Rom etwa eine halbe Million Verdächtige.« »Was geschah dann?«, fragte Delia. »Dann wurde es dunkel.« »Was meinst du damit?« »Der Kerl hat mir irgendetwas Hartes auf den Kopf ge schlagen. Vielleicht den kleinen Hermes. Mir wurde schwarz vor Augen und ich sackte auf die Knie. Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, war Afra.« »Afra? Wer ist denn das?« »Eine junge Küchensklavin in unserem Haus, eine ziem lich dumme Gans. Sie stand plötzlich in der Tür und schrie aus Leibeskräften: ›Mörder, Mörder, Mörder!‹« »Und dann habt ihr den Kerl verfolgt?« »Nein«, sagte Myron verzweifelt, »sie meinte mich. Ver steht ihr: MICH!« 27
»Wieso das?« »Weil der andere längst geflohen war. Keine Spur mehr von ihm. Und vor mir lag der tote Senator und ich hielt den Dolch in der Hand.« »Beim Herakles«, sagte ich, »das sieht nicht gut aus.« »Nein, wahrlich nicht«, stöhnte Myron. »Afra rannte aus dem Zimmer und weckte mit ihrem Geschrei das ganze Haus. Da bin ich aufgesprungen und in den Garten gelaufen. Die Tür stand offen. Wahrscheinlich ist der Mörder auf diesem Weg ins Haus gekommen. Die dumme Afra hatte be stimmt vergessen, sie abzuschließen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Keiner wird mir das glauben, nicht wahr?« Er sah uns flehend an. »Niemand kennt mich hier. Alle werden denken, der neue Sklave hat seinen Herrn ermordet. Und um mich wäre es geschehen. Wer glaubt schon einem Sklaven?« »Und dann bist du …?« »Über die Gartenmauer geklettert und in euren Garten gesprungen. Ich muss fliehen, in die Stadt, mich am Flussufer oder in einer dunklen Gasse verstecken. Vielleicht kann ich morgen unentdeckt aus einem der Stadttore entkommen.« »Und was willst du hier?«, fragte ich. Als Antwort erhielt ich zunächst nur ein hilfloses Schul terzucken. Myron suchte nach Worten: »Also ich dachte … vielleicht, dass …« Als er merkte, dass wir ihn verständnislos anstarrten, gab er sich einen Ruck und erklärte freiheraus: »Schaut, was ich dem Mörder entwunden habe.« Er öffnete seine rechte Hand und zeigte uns ein abge rissenes Lederband, an dem ein rundes Amulett hing. 28
»Das muss ich dem Kerl im Handgemenge vom Hals ge rissen haben. Es lag neben mir auf dem Boden, als ich wieder zu mir kam. Vielleicht kann man damit …« Schreie aus dem Nachbarhaus. Schlagende Türen, Hunde gebell. »Ich muss fort«, keuchte Myron. Auf seinem Gesicht sammelten sich kleine Schweißperlen, seine braunen Locken klebten ihm an der Stirn. »Hier, nehmt dieses Amulett. Viel leicht kann man damit … vielleicht könnt ihr … ich wusste sonst nicht … ich kenne hier doch niemanden.« Er war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Delia aber war die Ruhe selbst. Sie nahm das Amulett und griff nach Myrons Hand. »Wir helfen dir«, flüsterte sie. »Versprochen. Wir lassen dich nicht im Stich.« »Er ist über die Mauer geklettert!« Eine unbekannte Stim me drang aus dem Garten zu uns herauf. »Ich muss weg«, sagte Myron und riss sich los. »Sonst fin den sie mich.« »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich, »wir finden den Täter.« »Wirklich?« Ein schwaches Lächeln huschte über sein Ge sicht. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie wir das anstellen sollten. Aber Myron tat mir leid, und ich wollte einfach et was sagen, das ihm Mut machte. Auch wenn ich wusste, dass es ziemlich dumm war, ihm etwas zu versprechen. »Iupiter wird dich beschützen«, sagte Delia. »Und Hera auch«, fügte ich hinzu. 29
Jetzt lächelte Myron tatsächlich. »Na, dann muss ich mir ja wirklich keine Sorgen machen. Habt großen Dank!« Und schon war er aus dem Zimmer und über den Balkon ver schwunden. Draußen wurden die Stimmen lauter. Sie wussten, wen sie suchten. Würde Myron es schaffen? Wir drückten ihm alle Daumen und baten Iupiter und Hera um eine glückliche Flucht. »Meinst du, er schafft es?«, fragte Delia mich, nachdem wir unsere Stoßgebete beendet hatten. Wenn ich ehrlich gewesen wäre, hätte ich Nein sagen müs sen. Ein flüchtiger Sklave, ganz auf sich gestellt, allein in die ser riesigen Stadt? »Bestimmt«, sagte ich. »Er ist klug. Er wird es schaffen. Aber jetzt brauchen wir etwas Licht, um das Amulett besser sehen zu können.« »Moment«, sagte Delia, sprang aus dem Bett und flitzte durch die Tür. Kurz darauf war sie wieder im Zimmer, mit einem bren nenden Öllämpchen in der Hand, das sie unten an der Glut des Küchenfeuers entzündet hatte. Im Haus war es ruhig, niemand hatte etwas von unserem Besuch und den Ereig nissen im Nachbarhaus mitbekommen. Delia setzte sich zu mir aufs Bett, in der einen Hand das Öllämpchen, in der anderen das Amulett. Es war ein runder flacher Anhänger aus einem wertlosen Metall, der auf jeder Seite eine Prägung hatte. Auf der einen Seite erkannte ich einen fauchenden Greifen, dieses seltsame Tier aus den alten Mythen. Es hat den Körper eines Löwen, den Kopf eines 30
Adlers und zwei spitz aufgerichtete Ohren. Der Greif stand auf den Hinterbeinen und hatte den Schnabel weit aufgeris sen. Auf der anderen Seite des Amuletts war der Kopf eines Löwen zu sehen, eines brüllenden Löwen mit einem großen Maul, darüber die vier Buchstaben F G L M. »Hast du eine Ahnung, was das ist?«, fragte ich ratlos. »Ein Greif und ein Löwe«, erwiderte Delia. »Das habe ich auch erkannt«, sagte ich. »Ich meine, wer trägt so etwas? Und was bedeuten diese Buchstaben?« »Ich habe keinen blassen Schimmer«, flüsterte Delia. »Ich habe so etwas noch nie gesehen. Wir könnten meinen Vater fragen, vielleicht kann der uns weiterhelfen. Er kennt sich doch mit Mythen und Fabelwesen so gut aus. Ich glaube, er schreibt gerade an einem Gedicht über so etwas.« »Sollen wir ihn wecken?« »Nein, bloß nicht. Dann müssten wir ihm erzählen, dass Myron heute Nacht hier war, ein flüchtiger Sklave. Das fin det er bestimmt nicht gut. Aber er steht immer früh auf, mit dem Hahnenschrei. Aurora musis amica*, sagt er immer. So lange müssen wir wohl warten.« Und das taten wir dann auch. In dieser Nacht bekamen wir kein Auge mehr zu. Wir saßen in Delias Zimmer, betrach teten ratlos das Amulett, zerbrachen uns die Köpfe über die vier Buchstaben und hofften, dass Iupiter und Hera unsere Gebete erhört hatten und Myron auf seiner Flucht beschütz ten. *
Lateinisches Sprichwort: »Die Morgenröte ist die Freundin der Musen.« Im Deutschen etwa: »Morgenstund hat Gold im Mund.«
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Eos, die Göttin der Morgenröte, hatte eben erst ihre Rosen finger über den Horizont fern im Osten ausgestreckt, da schlüpften Delia und ich schon in unsere Tunicen, steckten unsere Haaren hoch, verließen das Zimmer und stiegen die Treppe hinunter. In der Küche fachte die Sklavin Lydia ge rade das Herdfeuer an. Sie musterte uns erstaunt, denn um diese Zeit war Delia sonst nie auf. Auf Delias Frage, wo wir ihren Vater finden könnten, verwies uns Lydia auf den Garten: Der Herr mache seinen Morgenspaziergang. »Ich mache gerade die Milch warm. Wollt ihr …?« Ich glaube, sie hat ziemlich verdutzt geguckt, als wir bei ihren letzten Worten auf dem Absatz kehrtmachten und aus der Küche rannten. Wir fanden Delias Vater draußen im Garten. Er saß unter einem Olivenbaum auf einer Bank und kritzelte irgendwel che Verse auf seine Schreibtafeln. Von wegen Spaziergang … »Nanu«, sagte er verwundert, als wir beide vor ihm stan den. »So früh schon auf den Beinen? Konntet ihr nicht schlafen?« »Doch, doch«, sagte Delia, »aber wir wollten dich etwas fragen. Schau mal«, sie hielt ihm das Löwenamulett unter die Nase, »das haben wir gestern auf dem Nachhauseweg auf der Straße gefunden. Weißt du, was das ist?« Ovid legte die Wachstafeln beiseite, nahm das Amulett und betrachtete es neugierig. »Und deswegen seid ihr so früh aufgestanden?« »Na ja, wir wollen vor allem den schönen Tag genießen, nicht wahr, Lycoris?« »Klar!«, sagte ich und nickte eifrig. Delias Vater musterte 32
erst uns überrascht und betrachtete dann das Amulett ein gehend von beiden Seiten. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nein, tut mir leid. So etwas habe ich noch nie gesehen.« »Weißt du auch nicht, was die Buchstaben bedeuten könn ten?« Ovid legte die Stirn in Falten. »F G L M … Tja, da kann ich nur raten. Das G könnte für Gryps stehen, das L für Leo.* Aber das F und das M? Ich habe wirklich keine Ahnung.« Delia seufzte und ließ die Schultern hängen, ich fragte mich, wozu Dichter eigentlich gut sind. Was nützt ihr ganzes Wissen, wenn sie nicht einmal so ein blödes Amulett … »Der Löwe steht für Kraft«, Delias Vater unterbrach meine Gedanken, »für Ausdauer und Tapferkeit. Aber auch für Aggressivität und Mordlust. Vor ein paar Jahren habe ich im Amphitheater mal einen gesehen, ein wahrhaft königliches Tier. Doch wer würde ein solches Löwenamulett tragen?« Ovid drehte das Amulett um. »Der Greif ist ein seltsames Tier. Einige behaupten, er sei ein Fabelwesen, andere sind fest davon überzeugt, dass es ihn tatsächlich gibt. Oder gegeben hat. Fern im Osten, im Zweistromland oder gar in Indien. Man hält ihn für den Diener der einen oder anderen Gottheit. Ich kenne ein schönes Relief, auf dem Apollo in Begleitung zweier herrlicher Greifen dargestellt ist. Der Greif begleitet auch die Göttin Nemesis, die Göttin des Schicksals, der Rache und der Strafe. Nemesis ist die Tochter der Nacht und des Ozeans, und sie ist die Mutter der schönen Helena. Ihr kennt *
Gryps = Greif, Leo = Löwe.
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doch die Geschichte, oder? Einst sah Zeus ein schönes Mäd chen auf der Erde umherwandeln, da verwandelte er sich in einen Schwan und …« »Papa!«, unterbrach Delia ihn ungeduldig. »Du schweifst ab.« »Nun gut. Also, der Greif … Nemesis … Was fällt mir da zu noch ein? Lasst mich überlegen … Es gibt einen berühm ten Nemesistempel in Rhamnus. Das liegt in Griechenland, in der Nähe von Marathon. Wisst ihr, in der Ebene von Marathon hatten dereinst die Athener in einer gewaltigen Schlacht …« »Papa!!!« »Entschuldige. Also, diesen Tempel schmückt eine groß artige Statue der Göttin. Ich glaube, sie ist von Praxiteles. Nein, falsch, Agorakritos hat sie geschaffen! Eine wunder bare Statue, ich habe sie einmal …« Wenn Delias Vater so weitermachte, war Myron längst ge fasst, bevor er seine Geschichten beendet hatte. Ich versuchte es anders: »Kannst du uns vielleicht sagen, welche Menschen die Göttin Nemesis besonders verehren?« »Oh«, Ovid zuckte mit den Schultern, »das kann im Grun de jeder sein. Jeder kann zu ihrem Tempel gehen, zu ihr beten und ein Opfer darbringen. Weil sie die Göttin der Vergeltung ist, ist sie natürlich besonders bei enttäuschten Liebenden beliebt. Ein betrogener Liebhaber könnte sich an Nemesis wenden, auf dass sie seinen Nebenbuhler mit Alb träumen oder Schrecklicherem heimsucht. Oder ein Kauf mann, der von einem Konkurrenten übers Ohr gehauen wurde. Oder ein Gladiator, der Beistand für seinen nächsten 34
Kampf braucht. Oder ein Bauer, der sich von seinem Nach barn um ein Stück Land betrogen glaubt. Oder …« Es war aussichtslos. »Schon gut«, murmelte ich ent täuscht, »das hilft uns nicht weiter.« »Eins noch.« Ovid runzelte erneut die Stirn. »Beide Tiere sind stark und angriffslustig, beide können den einen be schützen, den anderen zugrunde richten. Irgendwo muss da ein Zusammenhang sein …« Er rieb sich das Kinn. »Und dann diese Buchstaben … Das ist wirklich interessant. Aber ich fürchte, ich kann euch nicht weiterhelfen, jedenfalls im Moment nicht.« »Weißt du«, fragte Delia zaghaft, »wo wir mehr über das Amulett herausfinden können?« »Warum interessiert euch das nur so brennend?« »Och«, sagte ich, »es ist so eine Art Spiel. Wir beide haben uns geschworen, dass wir noch heute herausfinden, wem die ses Amulett gehört. Damit wir es ihm zurückgeben können.« »Na, wenn das so ist … Hört euch doch einfach in der Stadt um. Vielleicht in der Straße, in der ihr das Amulett ge funden habt. Oder geht zum Nemesistempel auf dem Aven tin. Die Priester dort sind sehr freundlich.« »Auf dem Aventin?«, fragte Delia. »Wo ist denn da ein Nemesistempel?« »Es ist ein kleiner Tempel, viele Römer kennen ihn gar nicht. Er liegt am Rande eines kleinen Platzes. Wenn du …« Während Ovid seiner Tochter den Weg zum Tempel be schrieb, bemerkte ich Schritte hinter mir. Es war Lydia, die wir eben in der Küche getroffen hatten. »Herr, verzeih die Störung. Deine warme Ziegenmilch.« 35
»Vielen Dank, Lydia, stell sie hier auf die Bank.« Die Sklavin tat, wie ihr geheißen, wandte sich aber nicht zum Gehen, sondern tänzelte unruhig vor der Bank auf der Stelle. »Ist noch etwas?«, fragte Ovid und sah sie interessiert an. »Herr, es gibt Neuigkeiten von Senator Metellus. Möch test du sie hören?« »Unbedingt!«, sagte Ovid. »Aber wir sollten erst die Mäd chen informieren. Ihr habt mich mit diesem Amulett so überrannt, dass ich gar keine Gelegenheit hatte, euch von den schrecklichen Dingen zu erzählen, die heute Nacht ge schehen sind.« Delia bemühte sich, ein überraschtes Gesicht aufzusetzen. »Was ist es denn passiert?« »Unser Nachbar ist überfallen worden.« »Nein!«, rief Delia und schlug sich die Hand vor den Mund. Ich fand das etwas übertrieben. »Senator Metellus?« »Ja, Senator Metellus. Afra war eben hier und hat es uns erzählt. Beim Hercules, das arme Ding war mit den Nerven völlig am Ende. Aber der Senator hat Glück im Unglück ge habt.« »Wie meinst du das?«, fragte Delia. Diesmal war ihre Überraschung nicht gespielt. »Afra hatte in der Nacht Lärm gehört, aus dem Arbeits zimmer des Senators. Sie ist dorthin geeilt und konnte das Schlimmste verhindern.« »Das Schlimmste?«, fragte ich. Worauf wollte Ovid hi naus? Der Senator war doch tot. »Nun, der Halunke stand vor Metellus, einen scharfen 36
Dolch in der Hand. Stellt euch vor – es war der Dolch des Senators! Ein ganz wertvolles Exemplar, aus Silber, mit Edelsteinen besetzt. Senator Metellus hatte ihn immer auf seinem Schreibtisch liegen. Der Kerl wollte wohl gerade zum entscheidenden Stoß ausholen, der Senator lag vor ihm, da kam Afra ins Zimmer, erfasste die Lage sofort und schrie aus Leibeskräften. Und das hat den Kerl in die Flucht geschla gen.« »Das heißt …«, stammelte Delia, »… das heißt, der Sena tor ist nicht …?« »Tot?«, sagte ihr Vater. »Nein, er ist nicht tot. Er hat nur eine große Schramme im Gesicht und eine gewaltige Beule am Hinterkopf. Und Kopfschmerzen hat er, riesige Kopf schmerzen. Nicht auszudenken, wenn Afra auch nur einen Wimpernschlag später gekommen wäre. Als sie ihn fand, war ihr Herr bewusstlos, er ist dann aber noch in der Nacht wieder zu sich gekommen.« Bei allen Göttern, war ich erleichtert! Der Senator war nicht tot! Der Unbekannte hatte ihn nicht umgebracht. My ron hatte sich getäuscht. Wahrscheinlich war alles viel zu schnell gegangen und er hatte in der Dunkelheit gar nicht feststellen können, ob der Senator noch lebte oder nicht. In diesem Moment dachte ich, und das war wirklich naiv, wir müssten uns keine Sorgen mehr machen. Der Senator lebte und Myron würde entkommen. Vielleicht würde er ein Schiff finden, das ihn nach Griechenland brachte. Dort könn te er dann in einer Bibliothek arbeiten, eine nette Frau ken nenlernen … »Man hat den Gauner kurz vor Sonnenaufgang erwischt.« 37
»Was???«, riefen Delia und ich wie aus einem Munde. »Ja, aber das ist doch nicht schlimm.« Ovid war wegen unserer Reaktion irritiert. »Nein«, log ich, »im Gegenteil. Das ist toll.« Meine Er leichterung war wie weggeblasen. »Klar«, stammelte Delia, »das ist gut. Wer war es denn?« »Dieser neue Sklave!«, sagte Lydia schnippisch. »Hatte mir doch gleich gedacht, dass der nichts taugt. Ein Grie che! Tut immer so freundlich und gebildet – und dann so was!« »Er heißt Myron«, erzählte Ovid, »ein junger Kerl.« Ob ich auch so blass wurde wie Delia? »Wir haben ihn«, sagte ich mit zitternder Stimme, »also diesen Myron, wir haben ihn gestern getroffen. Im Circus Maximus. Er war sehr nett.« »Pah!«, schnappte Lydia. »So sind sie, diese Griechen. Ge ben sich charmant und freundlich. Und in der Nacht, da stehlen sie dir das Bettlaken unter dem Hintern weg. Oder schlagen dir den Schädel ein.« »Lydia«, Ovid schaute sie durchdringend an, »ich glaube, du hast in der Küche genug zu tun, nicht wahr?« »Ja, Herr, ich meine doch nur …« »Soll ich noch deutlicher werden?« »Nein, Herr, ich habe schon verstanden. Lass deine Milch nicht kalt werden.« Als sie im Haus verschwunden war, fragte Ovid uns: »So, ihr habt diesen Myron also kennengelernt?« »Ja«, sagte Delia, »gestern bei den Wagenrennen. Er hatte seinen Herrn begleitet. Du weißt doch, nach dem ersten Ren 38
nen hatten wir uns etwas zu trinken geholt. Da haben wir mit ihm gesprochen, aber nur kurz.« Ich schaute Delia an. Würde sie ihrem Vater von unserem nächtlichen Besuch erzählen? Würde sie ihm sagen, dass Myron unschuldig war und dass er uns gebeten hatte, den wahren Täter zu suchen? Würde er uns glauben? Könnte er uns bei der Suche helfen? Delias Gesicht verriet ihre An spannung. »Er war wirklich sehr nett«, sagte sie. »Was ist mit ihm? Ich meine, wo hat man ihn gefunden?« »Am Ufer des Tiber«, sagte Ovid. »Er hatte sich im Schilf versteckt. Das hat zumindest Afra erzählt. Wie ein Löwe soll er sich gewehrt haben. Die Sklaven des Senators, die ihn gefunden haben, hatten die allergrößte Mühe, ihn fest zuhalten. Immer wieder hat er gerufen, dass er unschuldig sei.« »Oh.« »Aber das wird ihm nicht viel nützen. Morgen sind die Feiertage zu Ende. Dann nehmen die Praetoren ihre Arbeit wieder auf. Und dann wird man ihn …, aber das weißt du ja. Die Sachlage ist eindeutig.« »Was haben denn die Praetoren mit der Sache zu tun?«, fragte Delia verwundert. »Sind die überhaupt für Myron zu ständig?« »Nein, im Grunde nicht«, sagte ihr Vater. »Eigentlich könnte Senator Metellus ihn selbst verurteilen und bestra fen, Myron ist ja schließlich sein Sklave. Normalerweise be schäftigt sich ein Praetor gar nicht mit so einem Fall. Aber Metellus’ Sklaven haben Myron im Morgengrauen gleich in 39
den Amtssitz eines Praetors geschleppt. Sie hatten wohl kei ne klaren Anweisungen. Oder sie dachten, ihr Herr sei tot. Wie auch immer. Er wird jetzt dort in einem Kellerloch sit zen und auf das warten, was geschehen wird. Wahrscheinlich ist Senator Metellus sogar froh darüber, dass er die Sache nicht selber zu Ende bringen muss.« »Was wird mit ihm geschehen?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort im Grunde wusste. »Sie werden ihn foltern, dann hinrichten. Vielleicht nach einem, vielleicht nach zwei oder drei Tagen. Je nachdem, wie gut oder wie schlecht die Laune der Folterknechte ist.« Mir schnürte sich der Hals zu, ich wäre am liebsten schrei end aus dem Garten gerannt. Delias Kinn begann zu zittern, sie hatte die größte Mühe, sich zu beherrschen. »Tja«, sagte sie mit belegter Stimme, »da kann man wohl nichts machen.« Ovid zuckte mit den Schultern. »So sind die Gesetze. Ein Sklave, der seinen Herrn tötet oder es auch nur versucht, ist des Todes. Das war schon immer so und wird immer so blei ben. Aber wolltet ihr nicht herausfinden, wem dieses Amu lett gehört?« Er hielt es immer noch in den Händen. »Ja«, sagte Delia, »ja, das werden wir.« Ihre Stimme ge wann an Festigkeit. »Das werden wir heute noch herausfin den. Ganz bestimmt!« Sie nahm ihrem Vater das Amulett ab und umschloss es fest mit der Faust. Ich konnte nur nicken. Der Gedanke an Myron, der un schuldig in irgendeinem Kellerloch auf seine Bestrafung wartete, hatte meinen Mund so ausgetrocknet, dass ich kein Wort über die Lippen brachte. 40
»Vielleicht werden wir den ganzen Tag unterwegs sein«, sagte Delia zu ihrem Vater. »Wartet nicht mit dem Essen auf uns.« »Aber vergesst nicht zu frühstücken!«, rief Ovid uns noch hinterher, als wir schon durch die Gartentür im Haus ver schwanden.
Zur dritten Stunde an den Iden des Juli, am frühen Vormittag des 15. Juli
M
ir war hundeelend. Am liebsten hätte ich mich heu lend in eine Ecke verkrochen. Ein seltsames Amulett und eine Täterbeschreibung, die auf jeden zweiten Römer zutraf – das war alles, was wir hatten. Und einen Tag, einen einzigen Tag, um den Täter in dieser unendlichen Stadt zu finden. Ein Sandkorn im Circus Maximus ausfindig zu ma chen, konnte kaum aussichtsloser sein. Delia ging es keineswegs besser als mir. Wir sprachen kaum ein Wort, als wir in aller Eile unser Frühstück hinun terschlangen, etwas Brot und Käse, eine Feige und einen Schluck Milch. Wir hatten keine Zeit zu verlieren, das Sand korn musste gefunden werden. Wir mussten es zumindest versuchen. Auf dem Weg zum Aventin passierten wir den Circus. 42
Obwohl es noch früh am Morgen war, Helios hatte eben erst seine Rosse angeschirrt, strömten schon Hunderte von Men schen in seine Richtung. Es war der letzte Tag der Ludi Apollinares und der letzte Tag, an dem es Wagenrennen gab. Am Tag zuvor hatte ich mich noch von den dahinfliegenden Gespannen und dem Trubel auf den Rängen mitreißen lassen, jetzt hatte ich keinen Sinn mehr dafür. Die ersten Wettbüros öffneten ihre Türen, Straßenhändler waren mit Bauchläden unterwegs und boten warme Würstchen, gerös tete Haselmäuse, Honiggebäck oder Getränke an. Mehrmals wurden wir von zwielichtigen Gestalten angesprochen, die uns fragten, ob wir noch Eintrittsmarken bräuchten, die bes ten Plätze für nur zehn Sesterzen. Wir beachteten sie nicht, rannten stattdessen durch breite Straßen und enge Gassen, über weite Plätze und steile Treppen den Esquilin hinunter und den Aventin hinauf, bis wir endlich, atemlos, nass geschwitzt und mit roten Köpfen, vor dem Nemesistempel standen. Er lag an einem kleinen Platz am Westhang des Hü gels. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick über die Häuser und Tempel der Stadt. Der Tempel war klein und alt. Seine Säulen, sein Giebel, seine Mauern und seine Stufen sahen reichlich mitgenom men aus. Sonne und Regen, Hitze und Kälte hatten kräftig daran genagt. Auch der Altar vor den Stufen hatte gewiss schon bessere Tage gesehen. »Wir brauchen einen Priester!«, schnaufte Delia und blickte sich um. »Wo, bei allen guten Göttern, sollen wir hier einen Nemesispriester finden?« »Im Tempel«, sagte ich. 43
»Wir können doch nicht einfach so in den Tempel gehen«, sagte Delia entrüstet. »Das ist streng verboten! Den Tempel dürfen nur Priester betreten.« »Aber wir könnten dort jemanden finden«, beharrte ich. »Ja, vielleicht. Aber vielleicht ist auch niemand da. Es ist ja noch sehr früh am Morgen.« »Kann ich euch helfen?« Wir blickten uns erschrocken um. Hinter uns stand ein alter Mann, der uns freundlich anlächelte. Er hatte lichtes graues Haar, einen grauen Bart und war bekleidet mit einer langen weißen Tunica. Seinen Kopf zierte eine weiße Binde. »Du bist ein Priester!«, rief ich. »Ja«, sagte er und zeigte uns sein zahnloses Lächeln. »Das kann man wohl leicht erkennen. Ich bin ein Priester der Nemesis.« »Ein Nemesispriester!«, rief Delia. Sie klatschte vor Freu de in die Hände. »Ja, das bin ich. So begeistert hat mich schon lange nie mand mehr begrüßt.« »Es ist nur …« Delia suchte nach Worten. »Wir müssen etwas wissen, etwas herausfinden, bei dem du uns vielleicht helfen kannst.« »Ich werde sehen, was ich tun kann. Was ist es denn?« Delia holte das Löwenamulett aus ihrer Tunica hervor. »Dieses Amulett haben wir gestern auf der Straße gefun den. Wir würden es gerne seinem Besitzer zurückgeben. Be stimmt hängt er sehr daran.« »Auf der Vorderseite ist ein Löwe abgebildet«, ergänzte ich, »auf der Rückseite ein Greif.« 44
»So, so«, sagte der Priester und nahm das Amulett, das Delia ihm entgegenstreckte, vorsichtig in die Hand. »Ein Greif, sagst du?« Er schaute es eingehend an. »Ja, der Greif. Er begleitet Nemesis und dient ihr. Seid ihr deswegen hier hergekommen?« Wir nickten. »Und ihr glaubt, so ein alter Priester wie ich könne euch sagen, wer solch ein Amulett trägt?« Wir nickten erneut. »Und?«, fragte Delia ungeduldig. »Kannst du es?« Der Priester schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein. So ein Amulett habe ich noch nie gesehen. Auch dieser Löwe hier … und die Abkürzung …« Er rieb sich den Bart. »War tet mal, irgendwie kommt mir das doch bekannt vor. Irgend wo habe ich diese Abkürzung schon einmal gesehen. Aber wo?« Wir hätten den Priester am liebsten geschüttelt, um seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. »Tja, darüber muss ich nachdenken. Kommt doch morgen oder besser noch übermorgen wieder vorbei. Dann kann ich euch vielleicht weiterhelfen.« »Nein, das geht nicht«, entfuhr es Delia. Sie klang ziem lich verzweifelt. Der Priester schaute sie verwundert an. »Warum nicht?«, fragte er. »Weil …, weil …«, stotterte Delia. »Weil wir morgen gar nicht mehr in der Stadt sind«, half ich aus. »Wir verreisen morgen. Nach Ostia. Und dann mit dem Schiff nach Karthago.« »So, so«, sagte der Priester. »Das tut mir leid. Dann kann 45
ich euch wohl nicht weiterhelfen. Diese Abkürzung … Ich bin mir sicher, dass ich sie schon gesehen habe. Erst kürzlich. Aber wo?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir wirklich leid. Im Moment fällt es mir nicht ein. Und ihr könnt wirk lich nicht bis morgen warten?« »Nein«, sagte Delia, »unmöglich. Wir müssen es heute herausfinden.« »Dann wünsche ich euch viel Erfolg«, sagte der Priester. »Ich muss jetzt in den Tempel. Vielleicht hilft mir die Göttin ja auf die Sprünge. Wenn mir doch noch etwas einfällt, kom me ich heraus und sage es euch. Falls ihr dann noch hier seid.« »Wohl kaum«, sagte ich. »Wir haben nicht viel Zeit. Müs sen noch jede Menge erledigen. Wegen der großen Reise morgen.« »Verstehe«, sagte der Priester und lächelte. »Verstehe. Also dann …«, er gab Delia das Amulett zurück, »… dann wünsche ich euch alles Gute für eure Reise. Und für eure Suche. Möge Nemesis euch beistehen. Und schaut nicht so unglücklich. Ich glaube, das Amulett ist nicht wertvoll. Der Besitzer wird den Verlust verschmerzen.« Als der Priester verschwunden war, standen wir mit hängen den Schultern vor den Stufen des Tempels. »Und jetzt?«, fragte ich. »Bestimmt gibt es hier noch mehr als den einen Priester. Wir könnten warten, ob noch einer kommt.« Das konnte Delia doch wohl nicht ernst meinen! »Und wenn nicht?« Delia hob ratlos die Hände. 46
»Wir könnten Leute ansprechen«, schlug ich nach einer kurzen Pause vor. »Welche Leute?« »Na, alle. Alle, denen wir begegnen. Wir fragen sie ein fach, ob sie das Amulett kennen.« Was für eine blöde Idee!, dachte ich im selben Moment. Wo sollten wir anfangen und wo aufhören? Aber irgendetwas mussten wir doch tun! »Das ist doch völlig aussichtslos«, seufzte Delia. »Das kann Stunden und Tage dauern. So viel Zeit haben wir nicht.« »Hast du eine bessere Idee?«, fragte ich. Sie schüttelte mutlos den Kopf. »Komm«, sagte ich, »wir fangen einfach an. Vielleicht haben wir ja Glück. Du weißt doch: Fortes Fortuna adiuvat.*« Es ist nicht einfach, einen anderen Menschen von etwas zu überzeugen, an das man selbst nicht glaubt. Trotzdem mach te ich weiter. »Wir fangen mit dem Jungen dort an.« »Mit wem?« »Na, mit dem da, der dort auf dem Gehsteig sitzt und sei nen Apfel isst. Da, vor der Inschrift an der Wand.« »Ach so, der«, sagte Delia. Jetzt hatte auch sie den Jungen gesehen. Er saß auf der anderen Seite des kleinen Platzes. »Also gut, irgendetwas müssen wir ja …« Delia starrte mich an, als sei ich die Göttin Nemesis persönlich. »Was ist denn in dich gefahren?« Ich muss reichlich komisch ausgesehen haben. Wahr scheinlich hatte ich Augen und Mund weit aufgerissen und *
Lateinisches Sprichwort: »Den Mutigen hilft das Glück.«
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sah aus wie Theseus, als er zum ersten Mal den Minotaurus erblickte. Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass mir ab wechselnd heiß und kalt wurde und es einige Atemzüge lang dauerte, bis ich etwas sagen konnte. »Da, da«, stotterte ich, »da, an der Wand.« Ich zeigte auf die Schriftzüge an der Mauer hinter dem Jungen. »Was ist damit?«, fragte Delia verständnislos. »Das ist Werbung für ein Gladiatorenspiel. Ist schon längst gelaufen, fand im Frühjahr statt.« »Lies doch genau!«, rief ich. Delia überflog die Buchstaben – und zuckte zusammen. »Beim Pollux!«, flüsterte sie und las die Ankündigung laut vor: FAMILIAE G LADIATORIAE L EONIS M ORDACIS
GLADIATORVM PARIA XV
PRIDIE KALENDAS IVNIAS
AMPHITHEATRO STATILII TAVRI PVGNABVNT
SVMMVM CLEMENS RETIARIVS CONTRA VRBICVM
SECVTOREM VENATIO ET VELA ERVNT *
»Das ist es!«, flüsterte ich. »Die Abkürzung!«, wisperte Delia. Das konnte es sein: Die Gladiatorentruppe des Bissigen Löwen, auf Latein: Familia Gladiatoria Leonis Mordacis, ab *
Am 31. Mai werden 15 Gladiatorenpaare der Gladiatorentruppe des Bissigen Lö wen im Amphitheater des Statilius Taurus auftreten. Höhepunkt: der Netzkämpfer Clemens gegen den Verfolger Urbicus. Auch Tierhetzen und Sonnensegel wird es geben.
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gekürzt F G L M. Und dazu das Bild des brüllenden Löwen auf dem Amulett – das passte, das musste es sein! »Erinnerst du dich daran, was dein Vater vorhin gesagt hat?« »Was meinst du?« »Über die Menschen, die zur Göttin Nemesis beten.« Delia überlegte: »Enttäuschte Liebhaber, betrogene Bau ern und … Gladiatoren! Beim Hercules – wir haben eine Spur.« »Und die führt uns direkt zu dieser Gladiatorentruppe. Weißt du, wo die ihr Quartier hat?« »Keine Ahnung«, sagte Delia, »aber das finden wir he raus.« Ich spürte, wie sich zum ersten Mal seit der vergangenen Nacht so etwas wie Zuversicht in mir regte. Ein Funken Hoffnung glimmte in mir auf, ein ziemlich kleiner Funken, aber immerhin. »Hey, du!« Delia machte einige Schritte über den kleinen Platz auf den Jungen zu, der gerade aufstand. Seinen Apfel hatte er mit Kern und Stiel restlos verputzt. Ich folgte ihr. »Ja, du«, sagte sie, als der Junge uns verwirrt anblickte. Er war deutlich jünger als wir, vielleicht zehn Jahre alt, und trug eine abgewetzte braune Tunica. »Weißt du, wo die Gladiatorentruppe des Bissigen Löwen ihr Quartier hat?« »Wie? Was?« Der Junge war überfordert mit unserem Überfall. »Na, die Truppe hier«, sagte Delia ungeduldig und zeigte auf die Buchstaben an der Wand. 49
»Ich kann nicht lesen«, sagte der Junge und hob entschul digend die Hände. »Beim Cerberus!«, schimpfte Delia. »Hast du noch nie etwas von dieser Truppe gehört?« »Die Bissigen Löwen?«, fragte der Junge eingeschüchtert. »Ja, genau die!« »Doch.« »Und?« Wir rückten ihm so nah auf den Leib, dass er erschrocken einen Schritt zurückwich. »Das ist eine römische Truppe«, stammelte er und schaute uns verängstigt an. »Die kommen hier aus der Stadt.« »Mehr weißt du nicht?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich war noch nie bei einem Gladiatorenspiel.« »Gut«, sagte Delia, »den Rest finden wir selbst heraus. Tut uns leid, dass wir dir Angst eingejagt haben. Hier, kauf dir was zu essen.« Sie zauberte flugs einen Sesterz aus ihrer Tunica und drückte ihn dem Jungen in die Hand. Die Miene des Jungen hellte sich auf. »Danke«, flüsterte er. »Komm«, sagte Delia zu mir. »Wir müssen diese Truppe finden!« Sie nahm energisch meine Hand und zog mich in eine der Gassen, die auf den Platz führten. Es dauerte nicht lange, bis wir das Quartier der Löwen gefunden hatten. Wir mussten nur drei Leute fragen, dann waren wir am Ziel. Wir erfuhren, dass diese Gladiatoren truppe in der Stadt sehr bekannt und beliebt war und eine der letzten, die sich noch nicht in der Hand des Kaisers be 50
fanden. Sie hatte ihr Quartier in der Portunusgasse, unweit vom Tiberufer, ganz in der Nähe vom Rindermarkt. Als wir vor ihrem Haus standen, war es immer noch früher Vormit tag. Das Haus hatte zwei Geschosse, ein flaches Dach und eine getünchte Fassade. Die weiße Farbe war schmutzig und von Schmierereien übersät, der Putz blätterte an vielen Stellen ab und ließ die braunen Ziegelsteine auf die Straße blicken. Es gab eine Tür und rechts und links davon jeweils vier Fenster, zwei im Erdgeschoss, zwei im ersten Stock, deren Holzläden verschlossen waren. »Und jetzt?«, fragte ich, als wir unschlüssig mitten in der engen und belebten Gasse vor der Haustür standen. »Sollen wir anklopfen und uns erkundigen, ob hier jemand wohnt, der gestern Nacht Senator Metellus überfallen hat?« Delia presste die Lippen zusammen und schüttelte un wirsch den Kopf. »Wir könnten warten«, schlug ich vor, »bis jemand heraus kommt oder hineingeht, jemand, auf den Myrons Beschrei bung passt.« Delia schnaufte. »Wir sind auf unserem Weg hierher etwa zwanzig Männern begegnet, auf die diese Beschreibung passt.« Ich sah ein, dass sie recht hatte. »Aber was dann?«, fragte ich mutlos. »Wir müssen da hinein«, sagte Delia bestimmt und zeigte auf das Haus. »Und zwar möglichst schnell.« Ich starrte ängstlich auf die verschlossene Tür. »Könnte uns dein Vater nicht helfen?«, begann ich zögerlich. »Er ist 51
doch ein bekannter Dichter. Viele Menschen lesen seine Bücher, sogar Senatoren und der Kaiser persönlich. Das hast du mir erzählt. Vielleicht kennt er jemanden, der …« »Das dauert alles viel zu lange!« Delia ballte die Fäuste. Ich fürchtete schon, dass sie sich gewaltsam Einlass verschaf fen wollte. »Ich gehe jetzt und klopfe.« »Nein!« Ich hielt sie zurück. »Das ist dumm. Die werfen uns sofort hinaus. Wir könnten … Warte!« Mir war ein Junge aufgefallen, der sich dem Haus der Löwentruppe näherte. Offenbar kam er gerade vom Markt, wahrscheinlich vom Rindermarkt, der nur ein paar Schritte rechts von uns am Ende der Portunusgasse begann. Er trug zwei große Körbe, voll mit Einkäufen, die er, als er die Tür zum Haus der Löwentruppe erreicht hatte, auf den Gehsteig stellte. In dem Moment, als er die Klinke herunterdrückte, rief ich ihm zu: »Hey, du!« Er drehte sich um und lächelte. Er hatte freundliche brau ne Augen. Seine graue Tunica war ausgefranst und von Flecken übersät. Schweiß lief ihm in kleinen Rinnsalen von der Stirn und hinterließ schmale Staubfurchen auf seinen Wangen. Er war etwas älter als der Junge mit dem Apfel, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. »Meinst du mich?« »Ja, dich.« Was tat ich nur? Ich wusste nicht, was ich jetzt sagen soll te. Der Junge stemmte die Hände in die Hüften und schaute mich fragend an. 52
»Äh, also …« Ich brauchte eine gute Idee! »Ist das hier das Haus der Familia Gladiatoria Leonis Mordacis?« Das war nicht gerade genial, aber immerhin gewann ich dadurch Zeit. »Ja«, sagte der Junge. »Das ist es. Seid ihr Fans?« Da war sie, die Idee! »Ja«, beeilte ich mich zu versichern, »das sind wir. Wir waren bei eurem letzten Auftritt im Amphitheater und ha ben euch kämpfen gesehen. Das war toll!« »Wirklich?«, fragte der Junge und legte den Kopf zur Seite. »Ja, wirklich!«, rief Delia, die sich neben mich gestellt hat te. »Besonders dieser eine Gladiator, der war großartig!« »Welcher?«, fragte der Junge. »Bei uns gibt es vierund dreißig davon.« »Clemens!«, rief ich. Hera sei Dank, ich konnte mich an den Namen erinnern! Er stand an der Wand oben auf dem Aventin. »Ja, Clemens.« Delia pflichtete mir bei. »Der war super.« »Ihr habt recht«, sagte der Junge. »Clemens ist einer der besten. Ist schon seit einem Jahr bei uns, hat bisher alle Kämpfe gewonnen. Bis auf den ersten, aber bei dem hatte er so gut gekämpft, dass der Veranstalter ihm das Leben ge schenkt hat.« »Können wir ihn vielleicht mal sehen?« Ich strahlte den Jungen an, obwohl ich befürchtete, dass meine Frage ihn überraschen würde. Doch er wiegte nur den Kopf und sagte: »So einfach ist das nicht. Die Männer trai 53
nieren gerade. Ich kann euch nicht einfach mit hineinneh men.« »Ach, bitte!«, schnurrte Delia. »Nur einen kleinen Augen blick. Wir stören auch nicht. Ich bin übrigens Delia. Mein Vater ist ein berühmter Dichter. Und das ist meine Freundin Lycoris. Ihr Vater ist einer der reichsten Kaufleute ganz Italiens.« Natürlich war das maßlos übertrieben, aber wenn diese Übertreibung ihren Zweck erfüllte, sollte sie mir recht sein. »Sehr erfreut«, sagte der Junge. Er war sichtlich beein druckt. »Ich heiße Lysander. Mein Herr ist der Besitzer der Löwentruppe. Er heißt Decimus Lucretius Mordax. Ihm ge hört das alles hier, das Haus und alle Gladiatoren.« »Und was machst du?«, flötete ich. »Bist du auch ein Gladiator?« Natürlich wusste ich, dass er kein Gladiator war. Dafür war er viel zu jung. Außerdem würde kein Gladiator die Einkäufe erledigen, die hatten anderes zu tun. Ich wollte ihm einfach nur etwas Honig um den Mund schmieren. »Ich?«, lachte Lysander. Er wirkte tatsächlich geschmei chelt. »Nein, ich bin kein Gladiator. Würde auch nicht gern einer werden, ist mir zu gefährlich. Ich bin hier für alles Mögliche zuständig. Ich kaufe ein, helfe der Köchin oder dem Medicus, leere die Latrinen, repariere die Ausrüstung der Männer, trage ihnen in der Arena die Waffen vo ran …« »Das klingt aufregend«, trällerte Delia. Lysander musterte sie überrascht. »Das ist es auch«, sagte er dann und verknotete verlegen die Hände. »Ich mag meine 54
Arbeit, auch wenn mein Herr streng ist und oft schlechte Laune hat.« »Wir würden wirklich gerne einmal beim Training zu schauen«, versuchte ich mein Glück. »Meinst du nicht, dass du uns vielleicht doch …?« »Wir bleiben auch nicht lange«, sagte Delia. »Wir wollen uns die Männer nur einmal anschauen. Aus der Nähe, ver stehst du? Im Amphitheater müssen wir ja immer so weit hinten sitzen, weil wir Mädchen sind.« »Na ja«, druckste Lysander. »Eigentlich geht das nicht, mein Herr hat streng verboten, Fremde ohne sein Wissen in das Haus zu lassen.« »Aber wir sind doch keine Fremden«, sagte ich mit ge spielter Entrüstung. »Du kennst doch unsere Namen.« »Schon«, sagte Lysander, »aber mein Herr …« »Ach bitte!«, säuselte Delia. »Also, ich weiß nicht …« Lysander rang sich zu einem Ent schluss durch. »Also gut«, sagte er schließlich und mein Herz machte einen Sprung. »Der Herr ist gerade nicht im Haus. Ich weiß aber nicht, wann er wiederkommt. Ihr könnt also nicht lange bleiben. Und ich muss vorher den Trainer fragen.« »Prima!«, rief ich begeistert. »Wir stören auch nicht.« »Ganz bestimmt nicht«, versicherte Delia. »Falls jemand fragt, werde ich erzählen, dass ihr mir beim Tragen der Einkäufe geholfen habt. Außerdem haben wir ge rade die Tischler im Haus, da fallen zwei weitere unbekannte Gesichter vielleicht gar nicht auf. Obwohl, na ja, ihr seid Mädchen … Die findet man in einer Gladiatorenschule nur höchst selten.« 55
»Wir fallen ganz bestimmt nicht auf«, sagte ich. »Wir set zen uns still an den Rand und schauen nur zu.« »Wenn mein Herr euch erwischt, dann bin ich geliefert. Er hat eine mächtig fiese Peitsche.« Lysander verzog das Gesicht, offenbar hatte er sie schon das eine oder andere Mal zu spüren bekommen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Delia. »Dann sagen wir, dass wir uns heimlich hineingeschlichen haben. Ach, übri gens …«, sie zog das Amulett aus ihrer Tunica hervor, »kennst du das?« »Klar«, sagte Lysander, »das Medaillon unserer Truppe. Schaut, ich habe auch so eins.« Er zog den Ausschnitt seiner Tunica nach unten und zeigte es uns. »Tragen die Männer, ich meine, die Gladiatoren auch so ein Medaillon?« »Die meisten schon«, sagte er. »Es bringt ihnen Glück. Der Greif ist der Begleiter der Göttin Nemesis, an die sich die Gladiatoren vor allem vor einem Kampf mit Gebeten und Opfern wenden. Und der Löwe, na ja, ist ja klar, der steht für unsere Truppe, genau wie die Buchstaben.« »Die meisten oder alle?«, fragte ich. »Wie?« Lysander schaute mich verständnislos an. »Ich meine«, sagte ich, »ob nur einige oder alle Gladia toren so ein Amulett besitzen.« »Ach so«, Lysander zuckte mit den Schulter. »Wenn ein neuer Mann in die Truppe kommt, schenkt der Herr ihm ein solches Amulett. Mir hat er auch eins geschenkt, es ist nicht sehr wertvoll. Aber nicht alle Männer tragen es, gerade beim Training kann es hinderlich sein. Bei einigen Männern hängt 56
es an der Tür ihrer Kammer. Oder über ihrem Strohsack. Auch die Mitglieder der Fanclubs besitzen solche Medaillons. Aber das wisst ihr ja, ihr seid doch auch in einem Fanclub, oder?« »Klar«, sagte Delia, »daher haben wir das Amulett. Ein Freund hat es uns geschenkt.« Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Wie viele Fanclubs gibt es eigentlich in der Stadt?«, fragte ich Lysander. »Abgesehen von unserem, meine ich.« Er zuckte wieder mit den Schultern. »Sechs oder sieben, glaube ich.« »Und wie viele Mitglieder haben die? Ich meine, alle zu sammen?« Lysander hob ratlos die Hände. »Keine Ahnung. Mächtig viele, glaube ich. Wenn die Männer im Amphitheater auf treten, ist es auf jeden Fall immer sehr laut. Ein paar Hun dert, würde ich schon sagen, vielleicht tausend.« Der kleine Hoffnungsfunke in mir wurde von einem gro ßen Wasserschwall ausgelöscht. »Und die haben alle so ein Amulett? So wie wir?« »Nicht alle«, sagte Lysander. »Aber die meisten bestimmt.« Er musterte uns misstrauisch. »Wieso fragt ihr das alles? Das müsstet ihr doch alles selbst wissen. Und warum ist euch das so wichtig?« Delia biss sich auf die Unterlippe. Wahrscheinlich dachte sie das Gleiche wie ich: Unsere Spur zu dieser Gladiatorenschule war vielleicht doch nicht so vielversprechend, wie wir gehofft hatten. Oder täuschten wir uns? Ich wollte die Hoff nung noch nicht aufgeben. 57
»Sag mal, Lysander«, ich stellte mich ahnungslos, »dürfen die Gladiatoren eigentlich das Haus nachts verlassen?« »Natürlich nicht!«, rief er entsetzt. »Das sind doch Skla ven oder verurteilte Verbrecher. Oder Kriegsgefangene.« Das war’s, dachte ich, wir sind auf der falschen Spur. »Nur die vier Freiwilligen dürfen hinaus«, ergänzte Ly sander. Ich hielt die Luft an. »Wie meinst du das?« »Das wisst ihr nicht? Ich dachte, ihr seid in einem Fan club.« Beim Pollux! Sein Misstrauen wuchs spürbar. »Oh, wir sind erst seit ein paar Tagen dabei.« »Na, wenn das so ist … Vier unserer Männer haben sich freiwillig für das Gladiatorendasein verpflichtet, für ein paar Jahre, wenn sie es denn überleben. Die vier sind alle ein bisschen verrückt. Ist ja klar, wer macht so etwas schon frei willig? Sie haben einen Vertrag mit dem Herrn geschlossen und sich zum Kämpfen verpflichtet. Aber weil sie ansonsten freie Männer sind, dürfen sie das Haus außerhalb der Trai ningszeiten verlassen, also auch nachts.« »Wie heißen diese Männer?«, fragte ich. »Spiculus, Urbicus, Danaos und Incitatus.« »Und hat einer von ihnen dunkles, halblanges Haar, so wie ich?« Ich nahm eine meiner Strähnen in die Hand und zeigte sie Lysander. »Ihr stellt Fragen!« Er schüttelte irritiert den Kopf. »Wa rum wollt ihr das alles wissen?« Delia und ich zuckten mit den Schultern und lächelten verlegen. Uns fiel keine geschickte Lüge mehr ein. 58
»Ist ja auch egal«, sagte Lysander. »Mädchen sind wohl so. Dunkle Haare haben alle vier, doch halblang sind sie nur bei Urbicus. Aber sie sind kürzer als deine. Die anderen haben sie kurz geschoren, erst vor ein paar Tagen.« Waren wir doch auf der richtigen Spur? Ich schaute zu Delia hinüber, sie schien sich das Gleiche zu fragen. Der Hoffnungsfunken begann wieder zu glimmen. »Und dieser Urbicus darf das Haus nachts verlassen?« »Ja.« »Hat er es auch gestern Nacht verlassen?« Delia schaute mich vorwurfsvoll an. Offenbar fand sie die Frage allzu verräterisch. Tatsächlich runzelte Lysander die Stirn. »Ihr stellt wirklich komische Fragen. Was soll das alles? Ich glaube, ihr seid gar nicht von einem Fanclub.« »Ach«, sagte Delia, »wir glauben, wir haben Urbicus ges tern Abend gesehen. In der Stadt, bei der …, auf dem Forum Romanum, vor dem …, vor der Basilica Iulia.« »So?«, fragte Lysander. »Ich dachte, ihr wisst gar nicht, wie Urbicus aussieht.« »Wir haben gehört«, half ich aus, »wie jemand seinen Namen rief. Ein paar Männer standen zusammen. Sie haben sich unterhalten wie Gladiatoren, über ihre Kämpfe und so.« »Aha«, sagte Lysander und schaute mich prüfend an. »Auf dem Forum Romanum, sagst du? Was hat Urbicus denn da gemacht? Da gibt es doch gar keine Kneipen.« »Sie sind dann gleich aufgebrochen«, log ich entschlossen weiter. »In den …, na, in diesen Stadtteil, wo es so viele Kneipen gibt.« 59
»In die Subura«, ergänzte Delia. »Ja«, sagte Lysander, »da treiben sich die Männer abends gerne herum. Oder in der Nähe des Circus Maximus. Da gibt es auch viele Kneipen.« Glaubte er uns? Wir logen, dass sich sämtliche Dachbalken in der Straße hätten biegen müssen, und ich war mir sicher, dass er uns jetzt stehen lassen und ins Haus gehen würde. So ein zusammengeflunkertes Zeug konnte doch kein vernünf tiger Mensch für bare Münze nehmen! Doch Lysander tat es. Oder er fühlte sich durch unser gespieltes Interesse so ge schmeichelt, dass er über unsere Lügengeschichte hinweg sah. Ich weiß es nicht. »Ich glaube«, fuhr er fort, »Urbicus und zwei andere Män ner sind gestern Abend tatsächlich nicht im Haus gewesen. Auf jeden Fall waren sie beim Abendessen nicht dabei. Das weiß ich, weil ich den Tisch gedeckt und die Köchin mir vorher gesagt hatte, dass ich für die drei nicht decken soll.« »Und in der Nacht?«, fragte ich. »Waren sie in der Nacht im Haus?« »Keine Ahnung«, sagte Lysander. »Heute Morgen beim Frühstück waren sie auf jeden Fall da. Und im Moment trai nieren sie.« »Wann sind sie zurückgekommen?« »Also, Mädchen, ich dachte, ihr wolltet den Männern beim Training zuschauen. Woher soll ich denn wissen, wann die beiden zurückgekommen sind? Ich bin früh in meine Kam mer gegangen und habe die ganze Nacht hindurch fest ge schlafen.« »Schon gut.« Delia legte beschwichtigend die Hand auf 60
seine Schulter. »Du weißt ja, Mädchen sind manchmal sehr neugierig. Können wir jetzt ins Haus?« »Aber keine Fragen mehr, klar?« Lysander hatte offenbar die Geduld mit uns verloren. »Ihr tragt die Körbe, ich lotse euch in den Innenhof, wo die Männer gerade trainieren, und ihr setzt euch still auf eine Bank im Schatten des Säulen gangs. Von dort könnt ihr gut zugucken und werdet nicht so leicht bemerkt.« »Machen wir«, sagte ich. »Wir freuen uns schon auf Cle mens.« »Und auf Urbicus«, ergänzte Delia. »Auf den ganz beson ders.« Sie knuffte mir in die Seite und zwinkerte mir zu, als wir, jede einen schweren Korb in der Hand, hinter Lysander das Haus der Bissigen Löwen betraten.
Zur fünften Stunde an den Iden des Juli, am Vormittag des 15. Juli
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a saßen wir nun also, im Innenhof der Gladiatorenschu le des Bissigen Löwen, und schauten dreißig schwitzen den Männern beim Training zu. Dass wir uns hier sonderlich wohl fühlten, konnte ich nicht gerade behaupten. Der Hof war eine rechteckige Sandfläche, an drei Seiten von Säulengängen begrenzt, die Rückseite bildete eine hohe Mauer aus verwitterten Ziegelsteinen. Wir saßen auf einer Bank am Rande des Hofes, im Schatten des rechten Säulen ganges, und versuchten, nicht aufzufallen. Die Gladiatoren trainierten nur wenige Schritte vor uns. Sie brüllten und schnauften, keuchten und stöhnten und schlugen mit stumpfen Holzwaffen auf klobige Pfähle ein, die über die ganze Hoffläche verteilt im Sand steckten. Wir sahen, wie der Trainer, der zwischen den Männern umher 62
lief, den einen Tipps gab, die anderen anschnauzte und im mer wieder seine Peitsche knallen ließ, wenn ihm eine Bewe gung oder ein Hieb nicht gefiel. Die Männer mühten sich verbissen. Alle waren barfuß, die meisten trugen eine schäbige Tunica, die anderen kämpften mit freiem Oberkörper, nur mit einem Lendenschurz beklei det. Ich staunte über ihre Kraft. Beim Herakles, was waren das für Kerle! Oberarme so dick wie Wasserrohre, Beine so kräftig wie Säulentrommeln. Und jeder war übersät mit Narben, im Gesicht, auf der Brust, an Armen und Beinen. Direkt vor uns prügelte ein blonder Riese auf den Pfahl ein. Seine Brust war so breit wie ein Weinfass, auf seinen Schul tern hätte er ein ausgewachsenes Nilpferd tragen können. Er hatte ein kantiges Gesicht, ein ausgeprägtes Kinn und strah lend blaue Augen. »Bestimmt ein Germane«, flüsterte Delia. »Meinst du?« Ich hatte noch nie einen Germanen gesehen, nur unheim liche Geschichten gehört: von den tiefen Wäldern, in denen sie hausen, von der bitteren Kälte, die dort herrscht, im Win ter wie im Sommer, von ihrem Ungestüm und ihrer Kamp feslust. Vater hatte mir einmal von den Legionen erzählt. Von den römischen Soldaten, die dort im hohen Norden hinter dem Rhein mit den Germanen kämpften und nicht viel zu lachen hatten. Wenn wirklich alle Germanen so aus sahen wie dieser blonde Riese, dann war es gewiss kein Ver gnügen, als römischer Legionär dort stationiert zu sein. Dass die Gladiatoren uns nicht bemerken würden, war ei ne leere Hoffnung. Sie schauten immer wieder zu uns he 63
rüber. Einige tuschelten miteinander und zeigten mit dem Finger auf uns, einer zwinkerte uns sogar zu. Wir hatten ein reichlich mulmiges Gefühl. Ich zog die Knie an die Brust und drückte mich mit dem Rücken fest an die Wand. Jetzt nur nicht auffallen! Wo wir doch schon so weit gekommen wa ren. Nachdem wir dank Lysander bis in das Haus gelangt wa ren, hatten wir die Körbe in die Küche gebracht – die Köchin war ein furchtbar mürrisches Weib! – und Lysander hatte mit dem Trainer gesprochen und ihn mit viel Mühe über redet, dass wir einen Moment zugucken durften. »Ihr könnt nicht lange bleiben«, hatte er uns noch zuge raunt und dann auf die Bank im Säulengang gezeigt. »Setzt euch dahin, hinter euch werkeln die Tischler, dann fallt ihr vielleicht nicht so auf.« Tatsächlich konnten wir hören, dass in dem Raum hinter der Wand gesägt und gehobelt wurde. Werkzeug, Sägespäne, einige Bretter und Leisten lagen neben der Tür. Wir schau ten gebannt auf das Treiben auf dem Sandplatz. Wer von diesen dreißig Männern war Urbicus? Es gab nicht weniger als sechs Gladiatoren, auf die Myrons Beschreibung zutref fen konnte. Zwei von ihnen trugen das Löwenamulett, die konnten wir ausschließen. Aber wer von den übrigen vier war es? Wir überlegten flüsternd hin und her, doch wir ka men nicht weiter. Endlich gesellte sich Lysander zu uns. »Ich kann nicht lange bleiben«, flüsterte er, »muss der Köchin helfen. Wird Zeit, dass wir mal ein Küchenmädchen bekommen. Hat eine von euch nicht vielleicht Lust?« Er grinste. Wir müssen so entsetzt geguckt haben, dass er schnell 64
hinzufügte: »War doch nur ein Scherz! Und, gefällt’s euch? Clemens ist gut, nicht wahr?« Ich schluckte, Delia lächelte verlegen. Woher, bei allen Göttern des Olymp, sollten wir wissen, welcher von den Männern dieser Clemens war? Vor uns trainierten dreißig Gladiatoren, und jeder, wirklich jeder, konnte es sein, viel leicht sogar dieser germanische Riese. »Ja«, sagte ich, »er kämpft nicht nur wie ein Löwe, er trai niert auch so.« »Na ja«, erwiderte Lysander irritiert, »im Moment scheint er sich eher auszuruhen.« Ich spürte, wie ich rot wurde. So unauffällig es eben ging, ließ ich meine Augen über den Sandplatz schweifen und entdeckte am anderen Ende einen Gladiator, der sein Gesicht in ein Tuch tauchte. War das Clemens? »Klar, muss ja auch mal sein«, sagte ich und versuchte, möglichst gelassen zu klingen. Hatte Lysander bemerkt, dass wir nicht die leiseste Ah nung hatten, wer von diesen Männern Clemens war? Er stand neben unserer Bank, die Arme vor der Brust ver schränkt, und schaute wie wir dem Treiben der Gladiatoren zu. »Er ist sehr verschlossen«, raunte er uns mit wichtiger Miene zu, »redet nicht viel, hat keine Freunde in der Trup pe.« »Wer?«, fragte ich und biss mir im selben Moment auf die Zunge. »Na, Clemens natürlich«, sagte Delia und stieß mich an. »Aber er ist ein guter Kämpfer«, fuhr sie fort, »nicht 65
wahr?« Ich bewunderte sie für ihre Gelassenheit. »Ein … ein Netzkämpfer. Kämpfen die nicht auch mit so einem …?« »Dreizack«, sagte Lysander. »Ihr seid wirklich noch nicht lange dabei, was? Seht ihr, jetzt nimmt Clemens den Drei zack und gleich wird er da drüben auf den Pfahl einstechen.« Der Gladiator, der eben noch sein Gesicht getrocknet hat te, nahm jetzt tatsächlich eine Art Mistgabel und stach damit auf einen Holzpfahl ein. Das also war Clemens. Ehrlich ge sagt, war uns das ziemlich egal. Clemens gehörte nicht zu den Gladiatoren, die nachts Ausgang hatten. Außerdem wa ren seine Haare kurz geschoren. »Sag mal«, fragte Delia unvermittelt, »wo ist eigentlich Urbicus?« »Da, an dem Pfahl neben Clemens, der mit dem Holz schwert.« Jetzt endlich sahen wir ihn! Urbicus trug nur einen Len denschurz, seine schweißnasse Brust glänzte in der Sonne. Er übte mit einem Holzschwert Stiche auf den unteren Teil des Pfahls. In der Arena hätte er wohl auf diese Weise die Füße seines Gegners durchlöchert. Er hatte halblanges dunk les Haar, so wie Myron es beschrieben hatte. Und er trug kein Amulett! Das konnten wir von unserem Platz aus sofort erkennen, denn er trainierte mit freiem Oberkörper. Ich warf Delia einen kurzen Blick zu. Sie nickte unauf fällig. »Ja, das ist er«, sagte ich, »den haben wir gestern Abend auf dem Forum gesehen. Aber wo ist denn sein Löwenamu lett?« Gespannt wartete ich auf Lysanders Reaktion. 66
»Was Mädchen so auffällt«, sagte er grinsend. »Aber du hast recht, Urbicus trägt kein Amulett. Das ist in der Tat ungewöhnlich.« Lysander runzelte die Stirn. »Wisst ihr, Urbicus ist nämlich abergläubisch. Er glaubt fest daran, dass Nemesis ihn beschützt, solange er das Amulett trägt. Er betet jeden Tag zu ihr, hat sogar eine kleine Tonfigur der Göttin in seiner Kammer. Ich habe ihn noch nie ohne das Löwenamu lett gesehen. Das ist wirklich seltsam. Aber vielleicht hat er es ja nur kurz abgelegt. Beim Training kann ja eigentlich nichts passieren. Die Männer üben immer mit stumpfen Waffen, wie ihr seht.« »Lysaaaaander!« Eine gellende Frauenstimme hallte über den Hof. Wir blickten erschrocken nach links. In der Küchentür stand die mürrische Köchin. »Lysaaaaander!«, rief sie noch einmal, die Hände in die Hüften gestemmt. »Du fauler Nichtsnutz, wo bleibst du? Soll ich die ganze Arbeit alleine machen?« Lysander wurde blass. »Ich muss gehen«, sagte er hastig. »Canidia macht mich sonst zur Schnecke. Die ist schlimmer als Mordax. Wir brauchen wirklich dringend ein Küchen mädchen. Ihr solltet auch verschwinden, bevor der Herr zurückkommt. Sonst gibt es mächtig Ärger, für euch und für mich.« Und schon war Lysander in Richtung Küche verschwun den. »Und was jetzt?«, fragte Delia. Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn ich das wüsste.« Ich hatte wirklich keine Idee. Quer über den Platz zu 67
Urbicus gehen und ihn mit unserem Verdacht konfrontie ren? Hey, Gladiator, wir glauben, dass du gestern Nacht Se nator Metellus überfallen hast. Geh sofort zum Praetor und gestehe! Wenn du das nicht tust, wird man unseren Freund an deiner statt für die Tat bestrafen. Allein der Gedanke war lächerlich! Wir hatten keine Be weise, nur ein Amulett, von dem es tausend Stück hier in Rom gab. Wo ist dein Löwenamulett?, könnten wir Urbicus fragen. Habe ich gestern Abend in der Stadt verloren, würde er sagen. Und dann? Nein, das glauben wir nicht, könnten wir sagen. Hier, das ist dein Amulett, es wurde dir gestern Nacht … Blödsinn!!! Das würde zu nichts führen. Urbicus würde alles abstrei ten und wir ständen hilflos da und hätten nichts Konkretes gegen ihn in der Hand. Er würde uns einfach nur auslachen und weggehen. Wir könnten Delias Vater von unserem Verdacht erzählen. Doch was würde der tun? Was konnte er überhaupt tun? Er könnte sich an einen befreundeten Senator wenden. Der würde der Sache dann vielleicht nachgehen. Vielleicht. Doch wie lange würde das dauern? Und wie Erfolg versprechend wäre das? Wahrscheinlich würde die ganze Sache im Sande verlaufen, nach etlichen Tagen. Und Myron? Myron wäre dann längst … »Hey, ihr süßen Honigschnuten! Was hat euch denn hier her verschlagen?« 68
Ich zuckte zusammen, als hätte mir jemand einen Schwall kaltes Wasser über den Rücken gegossen. Delia erging es ähnlich. Wir waren so in unsere Gedanken vertieft gewesen, dass wir gar nicht bemerkt hatten, wie er sich uns genähert hatte. Plötzlich stand er hinter uns im Säulengang, barfuß und schweißüberströmt: Urbicus. Wir fuhren herum. Ich hatte das Gefühl, als hätte sich eine eiserne Hand um meinen Hals gelegt. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, hätte in dem Moment wohl auch gar nichts sagen können, weil die Eisenfinger sich fest um meine Kehle schlangen. Urbicus grinste uns von oben herab an. Um seine breiten Schultern lag ein Tuch, in seiner Hand hielt er ein abgewetztes Holzschwert, mit dem er jetzt auf mich zeigte. »Du da«, sagte er und sein Grinsen wurde immer breiter. Ich konnte sehen, dass ihm schon einige Zähne fehlten. »Was machst du heute Nachmittag?« Die Eisenhand drückte meine Kehle noch fester zu. Ich brachte kein Wort heraus. »Nur nicht so schüchtern, meine Kleine! Ich habe heute Nachmittag frei. Wollen wir uns treffen? Du kannst deine Freundin gerne mitbringen.« Ich starrte den grinsenden Gladiator mit großen Augen an. Auf was hatten wir uns da nur eingelassen? In diesem Moment wollte ich nur noch weg, weit weg von diesem widerlichen Kerl. »Urbicus!«, brüllte plötzlich eine Stimme in unserem Rü cken. War es die des Trainers? »Lass die Mädchen in Ruhe und geh wieder an deinen Pfahl!« Urbicus ließ sein Schwert sinken. 69
»Heute Nachmittag im ›Röhrenden Eber‹. Direkt am Cir cus Maximus«, flüsterte er. »Ich und meine Freunde warten auf euch.« Er zwinkerte uns noch zu, bevor er auf den Sandplatz in die Sonne trat und lässig zu seinem Pfahl schlenderte. Mir war plötzlich speiübel. Delia ging es nicht besser, ihr Atem ging so schnell, als wäre sie eben durch den Tiber ge schwommen. Schlagartig wurde uns beiden klar, dass gerade eben nicht nur ein Gladiator vor uns gestanden hatte, ein kaltblütiger Kerl, der schon unzählige Menschen in der Arena getötet hatte, sondern dass Urbicus der Mann sein musste, den wir suchten: ein eiskalter Widerling, der in der Nacht zuvor versucht hatte, den armen Senator Metellus heim tückisch zu ermorden. »Hey, ihr beiden! Was macht ihr denn hier?« Delia und ich hatten noch nicht einmal begonnen, uns von dem Schreck, den Urbicus uns eingejagt hatte, zu erholen, als wir schon wieder zusammenzuckten. Wollte uns jetzt ein zweiter Gladiator zu einem Treffen einladen? Wir blickten nach rechts. Vor uns stand ein junger Mann, vielleicht 17 oder 18 Jahre alt, und schaute uns neugierig an. War er auch ein Gladiator? Dafür war er eigentlich viel zu schmal, außer dem trug er keine Waffe. »Mädchen in einer Gladiatorenschule? Das ist ja ganz was Neues. Gehört ihr hierher?« »Nein«, sagte Delia. Sie fand als Erste ihre Stimme wieder. »Wir sind Fans und dürfen heute ein wenig beim Training zusehen. Und wer bist du?« »Pacuvius«, sagte der Unbekannte. »Bist du auch ein Gladiator?« 70
Er lachte. »Ich? Nein, beim großen Iupiter, ich bin ein frei er römischer Bürger.« »Und was machst du dann hier?«, fragte ich. Endlich war die Eisenhand von meinem Hals verschwunden. Pacuvius war mir auf Anhieb sympathisch. Er hatte ein freundliches Ge sicht, glänzende schwarze Augen und volles dunkles Haar. »Ich bin mit meinem Onkel hier«, antwortete er. »Wir beide sind Tischler. Onkel Orbilius ist der Magister, ich helfe ihm. Das ist die ganze Firma.« Jetzt fielen mir die Sägespäne auf seiner grauen Tunica auf und die Schrammen auf seinen Armen. »Und was macht ihr hier?« »Arbeiten, was sonst?« »Aber heute ist doch ein Feiertag«, warf Delia ein. »Müsst ihr da überhaupt arbeiten?« Pacuvius zuckte mit den Schultern, ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Wir haben die Tische und Bänke im Speiseraum erneuert. Das sollte schon vor den Feiertagen ge schehen, aber der Schmied hatte die Nägel erst so spät gelie fert, dass wir in Verzug kamen. Außerdem … Ach, ist nicht so wichtig.« Er winkte ab. »Auf jeden Fall sind wir gleich fertig. Onkel Orbilius räumt schon das Werkzeug zusam men, ich will nur noch den Speiseraum ausfegen. Habt ihr hier irgendwo einen Besen gesehen?« »Nein«, sagte ich, »aber frag doch Lysander, er ist in der Küche und hilft der Köchin.« »Gute Idee«, sagte Pacuvius. »Übrigens …«, er trat einen Schritt näher an uns heran und lächelte verschmitzt, »… ich bin auch ein Fan.« 71
»Wie meinst du das?«, fragte Delia überrascht. »Na, ein Fan der Löwentruppe.« »Ach so.« »Als wir diesen Auftrag bekamen, habe ich mich riesig gefreut. Ich hab die Männer schon oft im Amphitheater kämp fen sehen. Und jetzt kann ich sie ganz aus der Nähe beobach ten. Ist das nicht toll?!« »Ja«, sagte Delia und versuchte, überzeugend zu klingen, »das ist super. Deswegen sind wir ja auch hier. Aber wir müs sen jetzt gehen.« Sie stand auf, doch Pacuvius redete ungebremst weiter: »Clemens ist der Größte, findet ihr nicht auch? Er ist stark wie ein Bär, schnell wie eine Kobra und klug wie Sokrates.« »Wie Sokrates?«, fragte ich erstaunt. »Na ja«, Pacuvius lächelte, »der Vergleich hinkt wohl ein wenig … Aber er hat ein großes Herz!« »Wie meinst du das?«, fragte Delia und setzte sich mit einem leisen Seufzer wieder auf die Bank. »Er schont seine Gegner, tötet sie nicht, auch wenn er sie besiegt. Darum ist er bei vielen Menschen so beliebt. Andere hingegen verachten ihn deswegen. Aber das ist mir egal. Ich mag ihn und wünsche ihm, dass er die Arena irgendwann lebend und als freier Mann verlassen kann.« »Ist denn das möglich?«, fragte ich – und hätte mir im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Muss te nach Lysander nun auch Pacuvius gleich merken, dass wir keine Ahnung hatten? »Klar«, sagte Pacuvius. In seiner Begeisterung schien er keinen Verdacht zu schöpfen. »Der Lanista kann als Chef der 72
Truppe seinem Gladiator die Freiheit schenken, wenn er lange und erfolgreich gekämpft hat. Allerdings schaffen das nur die wenigsten, die meisten ereilt ein früher Tod in der Arena. Aber nicht Clemens, da bin ich mir sicher.« Ich wurde ungeduldig. So gerne ich mich auch weiter mit Pacuvius unterhalten hätte, er schien wirklich eine Menge über Gladiatoren zu wissen – wir hatten jetzt keine Zeit dafür! Delia schabte unruhig mit ihren Sandalen auf dem sandigen Boden. »Er stammt aus Rom.« »Wer?« »Na, Clemens.« Langsam ging mir dieser junge Tischler mit seinem Ge rede auf die Nerven. »Aus Transtiberim, auf der anderen Seite des Flusses. Vor einem Jahr wurde er in die Gladiatorenschule verurteilt. Und dann hat er …« »Wir müssen jetzt wirklich gehen«, sagte ich mit fester Stimme und stand auf. »Wir können uns ja ein andermal unterhalten. Tut mir leid, wir haben nicht viel Zeit heu te.« »Schon gut«, sagte Pacuvius, »ich hab ja auch zu tun. Werde mal diesen Lysander nach einem Besen fragen. Sagt mal, zu welchem Fanclub gehört ihr?« Jetzt wurde die Luft wirklich dünn. Nichts wie raus hier! »Wir sind erst ganz neu dabei«, stammelte Delia, »unser Club heißt …« »… die wilden Löwen«, sagte ich. »So, jetzt müssen wir aber wirklich.« 73
»Die wilden Löwen?« Pacuvius strich über sein Kinn. »Den Club kenne ich gar nicht.« »Den gibt’s auch erst seit ein paar Tagen«, log ich tapfer weiter. »Ist ein ganz neuer Club, wir haben ihn mit ein paar Freunden gegründet.« »Ach so«, sagte Pacuvius. Augenscheinlich stellte ihn mei ne Antwort zufrieden. »Habt ihr schon mal was von den Ascaniern gehört?« Wir schüttelten den Kopf und schauten ihn fragend an. »Das ist mein Club«, sagte er stolz. »Ein seltsamer Name«, meinte Delia. »Er wurde benannt nach der Gasse, in der wir wohnen, der Ascaniusgasse, drüben in der Subura. Kennt ihr die?« »Nein«, sagte Delia, »aber wir kommen bestimmt mal vorbei und dann können wir uns weiter unterhalten, ja? Jetzt müssen wir …« Zu spät. »Was ist hier los???« Ein Mann in einer hellbraunen Tunica kam quer über den Sandplatz auf uns zu. Die Gladiatoren hörten augenblicklich auf zu trainieren, einige grinsten. Vielleicht kannten sie solche Szenen. Der Mann hatte ein böses, von vielen Narben zerschnittenes Gesicht. Und ihm fehlte ein Ohr. Er sah zum Fürchten aus, wie er da mit energischen Schritten durch den Sand stapfte. Das musste Mordax sein, der Lanista, der Herr dieser Gladiatorenschule. »Wer hat die Mädchen hereingelassen?«, rief er wütend, als er uns schon fast erreicht hatte. »Niemand«, rief Delia und griff nach meiner Hand. »Wir 74
sind selbst hereingekommen. Und jetzt gehen wir, und zwar ganz, ganz schnell.« Wir stürmten los, zwischen den johlenden Gladiatoren hindurch, ich links, Delia rechts an dem schnaubenden La nista vorbei, so schnell uns unsere Sandalen durch den Sand trugen. Als die Tür hinter uns ins Schloss fiel und wir schnaufend auf der Straße standen, hörten wir den Lanista immer noch brüllen – und die Gladiatoren schallend lachen.
Zur sechsten Stunde an den Iden des Juli, gegen Mittag des 15. Juli
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ir liefen durch die Portunusgasse bis zum Forum Boarium, dem Rindermarkt, auf den die Gasse mün det. Hier herrschte ein buntes Treiben. Dutzende Stände stan den kreuz und quer über den Platz verteilt und ebenso viele Händler versuchten, ihre Waren mit lautem Geschrei an den Mann oder die Frau zu bringen. Früher hatte hier wohl ein Rindermarkt stattgefunden. Im Laufe der Zeit hatte er sich zu einem Lebensmittelmarkt entwickelt, auf dem man alles bekommen konnte, was in irgendeiner Form essbar war: Bro te und Salate, Käse und Fleisch, Zwiebeln und Lauch, Hüh ner, Gänse und Enten, Gewürze, Kräuter, Fische, Muscheln und noch vieles mehr für den kleinen und den großen Geld beutel. Delia und ich liefen zwischen den Markständen und den 76
vielen Menschen hindurch, am runden Herculestempel vor bei bis zum Ufer des Tiber, der als braune Brühe träge unter uns vorbeifloss. Es roch nicht sehr appetitlich. Irgendwo in der Nähe ergoss sich ein Abwasserkanal in den Fluss. Bevor wir uns an die Uferböschung setzten, schauten wir uns um. Niemand schien uns gefolgt zu sein. Wir brauchten einige Augenblicke, um wieder zu Atem zu kommen. »Bei allen guten Göttern!«, schnaufte Delia. Ihr standen glitzernde Schweißperlen auf der Stirn. »Das war knapp. Aber viel weiter sind wir nicht gekommen, oder?« Sie nahm sich einen trockenen Grashalm und begann, unruhig darauf herumzukauen. »Immerhin haben wir einen Verdächtigen«, erwiderte ich und fuhr fort: »Dem wir leider nichts beweisen können. Und der kein Motiv hat.« »Wie meinst du das?« Delia blickt mich erstaunt an. »Nun ja«, antwortete ich, »wenn Urbicus tatsächlich der Täter war, muss er doch einen Grund für seinen Überfall ge habt haben.« »Vielleicht pure Geldgier«, schlug Delia vor. Sie zupfte ruhelos an ihrer Tunica. »Ist das denn so wichtig?« »Überleg doch mal«, sagte ich und legte meine Hand auf ihren Arm. Ich merkte, wie nervös sie war, und wollte sie beruhigen. Auch wenn uns die Zeit davonlief. »Es ist nicht ganz ungefährlich, nachts in das Haus eines Senators ein zudringen. Man muss sich schon gut auskennen, vielleicht Helfer haben. Und dann müsste Urbicus auch gewusst haben, wo der Senator sein Geld aufbewahrt. Und ob er überhaupt viel Geld im Haus hat. Oder andere Wertgegenstände.« 77
Delia spuckte den zerkauten Grashalm aus. »Wir wissen so ziemlich gar nichts«, sagte sie und hob hilflos die Hände. »Wir wissen nur, dass es um Myron geschehen ist, wenn wir heute nicht alles herausfinden.« Ihr stiegen Tränen in die Augen. »Lass uns noch einmal in Ruhe nachdenken«, schlug ich vor und nahm ihre Hand. »Vielleicht wollte Urbicus den Senator ja gar nicht berauben.« »Was wollte er dann?« »Ihn töten.« Delia holte tief Luft. »Und warum hätte er das tun sollen?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte ihn jemand beauftragt. Jemand, der den Senator aus dem Weg räumen will. Aus politischen Gründen, aus Rache, aus verletztem Stolz, aus Eifersucht … Oder Urbicus selbst hatte einen Grund.« »Das ist doch alles nur Spekulation«, stellte Delia verzagt fest. »Wir können nur Vermutungen anstellen. Über Urbicus wissen wir so gut wie nichts.« »Wenn er denn der Täter war …« »Er ist der einzige Verdächtige, den wir haben«, sagte sie. »Und ein ziemlich widerlicher Kerl. Wir können nichts ande res tun, als dieser Spur nachzugehen, findest du nicht?« Ich nickte. »Du hast recht. Aber wir können schlecht erneut in die Gladiatorenschule gehen, um mehr herauszu finden. Dieser einohrige Lanista würde uns grün und blau prügeln. Oder einsperren und mästen, um uns später an die Löwen in der Arena zu verfüttern.« Delia lächelte gequält. 78
»Wir könnten draußen vor der Tür darauf warten«, schlug ich vor, »dass jemand herauskommt. Vielleicht Lysander. Oder, besser noch, Urbicus selbst. Dann schleichen wir ihm hinterher und beobachten ihn. Vielleicht trifft er sich ja mit seinem Auftraggeber. Er hat doch gesagt, dass er heute Nach mittag freihat.« »Möglich«, sagte Delia. »Aber wenn nun niemand heraus kommt? Die Gladiatoren trainieren. Wer weiß, wie lange? Lysander wird von der garstigen Köchin durch die Küche ge hetzt. Wir können nicht den ganzen Tag in der Portunusgas se stehen und die Zeit verstreichen lassen!« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wir haben Myron unsere Hilfe ver sprochen, wir sind seine einzige Hoffnung! Irgendwie müs sen wir mehr über Urbicus herausfinden, und zwar schnell.« Da kam mir plötzlich ein Gedanke, den ich am liebsten gleich wieder vergessen hätte. Und wenn Delia nicht so ver zweifelt gewesen wäre, hätte ich ihn auch niemals ausgespro chen: »Er hat uns doch selbst eingeladen.« Delia schaute mich verständnislos an. »Na, heute Nachmittag. In diese Kneipe. Wie hieß sie noch?« »Zum Röhrenden Eber«, antwortete Delia und verzog das Gesicht. »Da willst du doch nicht im Ernst hingehen? Der Kerl ist ekelhaft! Und außerdem müssten wir bis dahin stun denlang warten.« Fast ein wenig erleichtert sah ich ein, dass sie recht hatte. Ein Treffen war wenig Erfolg versprechend und würde uns zu viel Zeit kosten. Eine andere Idee schoss mir durch den Kopf: »Dann eben Pacuvius!«, rief ich. 79
»Der Tischler?«, fragte Delia überrascht. »Ja«, sagte ich und sprang auf. »Der Tischler mit seinem Fanclub, diese Marsianer.« »Ascanier«, sagte Delia und stand ebenfalls auf. »Richtig, so heißen die. Er wohnt in der Ascaniusgasse. Das hat er doch erzählt, nicht wahr? Weißt du, wo das ist?« Delia schüttelte den Kopf. »Nicht genau«, sagte sie. »Ir gendwo in der Subura. Das liegt dort hinten. Eine ziemlich düstere Gegend.« Sie zeigte über den Rindermarkt hinweg in Richtung Stadt. »Wie meinst du das?«, fragte ich erstaunt. »Na ja«, sagte Delia. »Leute wie wir wohnen da nicht gerade. Eher das einfache Volk. Handwerker, Tagelöhner und so.« »Und wenn schon«, sagte ich. »Die werden uns schon nicht umbringen. Wir schnappen uns diesen Pacuvius und fragen ihn über Urbicus aus. Vielleicht kennt er irgendein Detail, das uns weiterhilft. Urbicus ist ein freiwilliger Gla diator, nicht wahr? Er könnte Familie und Freunde haben, die etwas wissen.« »Klingt vernünftig«, meinte Delia. »Aber haben wir dafür genug Zeit?« »Wir müssen uns sofort auf den Weg machen«, sagte ich. »Und wenn wir Pacuvius nicht finden?«, warf Delia ein. »Er hat doch erzählt, dass sie gerade fertig sind mit ihrer Arbeit, er und sein Onkel. Heute ist ein Feiertag. Nicht sehr wahrscheinlich, dass sie noch einen zweiten Auftrag haben, oder? Vermutlich gehen sie gleich nach Hause.« »Du hast recht«, sagte Delia. »Also, worauf warten wir noch?« 80
Wir brachen sofort auf und fragten uns in die Ascaniusgasse durch. Das war schwieriger, als wir gedacht hatten. Es stellte sich heraus, dass die Ascaniusgasse ein ziemlich dunkler und enger Winkel mitten in der Subura war, den nicht viele Römer kannten. Wir gingen langsam durch die schmutzige schmale Straße und betrachteten die schäbigen Häuser, viel leicht befand sich irgendwo ein Hinweis. Und tatsächlich! Etwa in der Mitte der Gasse fanden wir es, ein reichlich heruntergekommenes Häuschen mit zwei Stockwerken, an dessen Tür eine schiefe Holztafel hing mit der Aufschrift: MAGISTER GAIVS MACROBIVS ORBILIVS
OPERA LIGNARIA CVIVSQVE GENERIS*
»Hier ist es!«, rief ich. »Sollen wir klopfen?« Statt zu antworten, ging Delia entschlossen auf die Tür zu und hämmerte mit der Faust gegen das alte Holz. Nichts rührte sich. Sie hämmerte noch einmal. Wieder nichts. Sie wollte eben zum dritten Mal ansetzen, als wir hinter uns eine Stimme hörten. »Die sind nicht da.« Wir drehten uns um und sahen einen Jungen in unserem Alter, der aus dem gegenüberliegenden Haus gekommen war. Er hielt eine Kiste in den Armen. Neben dem Haus stand ein großer Handkarren, auf dem sich allerlei Gerümpel *
Meister Gaius Macrobius Orbilius. Tischlerarbeiten jeder Art
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stapelte. Ich erkannte einen Tisch und zwei klapprige Stühle, ein paar Strohmatten, zerbeulte Töpfe und einen erbärm lichen Holzkasten, der wohl ein Schrank sein sollte, dazwi schen einige gefüllte Säcke. Der Junge stellte seine Kiste dazu und kam dann zu uns auf die andere Straßenseite. »Salvete«, sagte er und lächelte. »Magister Orbilius und Pacuvius sind nicht im Haus. Die arbeiten heute, obwohl Feiertag ist. Kann ich vielleicht etwas ausrichten?« »Tja«, sagte Delia, »eigentlich nicht. Wir würden gerne Pacuvius treffen und mit ihm sprechen.« »Um was geht es denn? Pacuvius ist mein Freund. Viel leicht kann ich euch weiterhelfen. Ich heiße übrigens Regu lus.« Wir musterten ihn misstrauisch. Dann sagte ich: »Ich glau be nicht. Wir müssten schon mit Pacuvius persönlich …« In diesem Moment fiel mir der runde Anhänger auf, den der Junge an einem Lederband um den Hals trug. Es war ein Lö wenamulett. »Oh«, fuhr ich fort und zeigte auf das Amulett, »du bist also auch ein Fan der Bissigen Löwen.« »Ja«, sagte er mit stolzer Stimme. »Ihr etwa auch? So vor nehme Mädchen?« Er schaute uns verwundert an. »Die halbe Gasse hier ist bei den Ascaniern, unserem Fanclub. Welchen Gladiator mögt ihr am liebsten?« »Urbicus«, sagten Delia und ich gleichzeitig. »Urbicus? Den Verfolger?« Regulus rümpfte die Nase. »Na ja, wenn ihr meint … Pacuvius und ich finden Clemens am besten. Wisst ihr, der stammt nämlich aus Transtibe rim …« »Das wissen wir.« Ich schnitt ihm das Wort ab. Vielleicht 82
etwas zu barsch, der Junge war sehr freundlich, aber ich wollte nicht noch einmal die halbe Lebensgeschichte dieses Gladiators hören. Dafür hatten wir einfach keine Zeit. »Wenn Pacuvius und sein Onkel ihre Arbeit beendet ha ben«, fragte ich Regulus, »kommen sie dann hierher zurück?« »Möglich«, sagte er und zuckte mit den Schultern, »aber ich weiß es nicht. Servilia, Pacuvius’ Tante, ist vor etwa einer Stunde aus dem Haus gegangen, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Sie müsste bald zurück sein.« »Das nützt uns nichts«, sagte Delia, »wir müssen dringend mit Pacuvius reden. Oder kannst du uns etwas über diesen Urbicus erzählen?« »Urbicus?« Regulus schüttelte den Kopf. »Nein, nicht viel. Ich weiß einiges über Clemens und drei, vier andere Gladia toren aus der Truppe. Aber über Urbicus? Den mag ich nicht besonders, ist mir unsympathisch, ein fieser Typ, er kämpft unfair und hinterhältig. Da müsst ihr euch an Pacuvius halten, der ist der größte Experte bei den Ascaniern, kann dir über jeden Löwengladiator alles erzählen: Woher er stammt, wann er zur Truppe kam, wie viele Kämpfe er bestritten hat, wie viele Siegeskränze er …« »Ja, das haben wir schon bemerkt«, sagte ich ungeduldig. »Genau darum wollen wir ja mit ihm sprechen. Wir sind nämlich auch in einem Fanclub und haben gehört, dass er ein großer Experte ist. Uns interessiert aber vor allem Urbicus.« »Tja«, sagte Regulus, »dafür bin ich nicht der Richtige.« Seine Miene verdunkelte sich. »Ich muss jetzt auch wieder an die Arbeit.« Er zeigte auf den vollen Karren auf der an deren Straßenseite. 83
»Was machst du da eigentlich?«, fragte Delia. »Wir ziehen aus«, sagte Regulus knapp. »Meine Eltern und ich.« Er presste die Lippen aufeinander. »Warum?«, fragte ich. »Gefällt’s euch hier nicht mehr?« »Na ja«, sagte Regulus und seufzte, »ist nicht die vor nehmste Wohngegend, nicht wahr? Aber uns gefällt’s. Mein Vater arbeitet als Tagelöhner auf verschiedenen Baustellen in der Stadt. Mal hier und mal dort. Und manchmal gar nicht. Da können wir uns keine Wohnung auf dem Esquilin oder gar auf dem Palatin leisten.« Er schaute an unseren feinen Tunicen herunter. Ihm musste klar sein, dass wir nicht aus dieser Gegend stammten. »Und warum zieht ihr weg?«, hakte Delia nach. Regulus seufzte erneut. »Wir können die Miete nicht mehr bezahlen. Mein Vater findet seit einem Monat keine Arbeit.« »Und euer Patron? Kann der euch nicht etwas Geld lei hen?« »Pah!« Regulus spuckte verächtlich auf den Boden. »Die ser alte Geizkragen! Mein Vater war dreimal bei ihm, hat ihn auf Knien um einen kleinen Kredit angefleht. Der Patron ließ sich nicht erweichen. Beim vierten Mal, vor ein paar Tagen, hat ein Sklave des Patrons – stellt euch das vor: ein Sklave! – meinen Vater aus dem Haus gejagt. Und gestern – während der Feiertage! – brachte uns ein Freigelassener der Hausgesellschaft den Räumungsbescheid. Wir hätten einen Tag Zeit, die Wohnung zu verlassen, ansonsten würden sie uns ein paar kräftige Kerle schicken, die uns mitsamt unse ren Habseligkeiten auf die Straße werfen.« 84
Regulus trat wütend gegen einen Kieselstein, der auf der Straße lag. Der Stein knallte gegen die Hauswand. »Und wisst ihr, was der Gipfel der Gemeinheit ist?« »Na?« »Die Hausgesellschaft gehört niemand anderem als unse rem Patron.« »So ein habgieriger Kerl!«, sagte ich entrüstet. »Einige Leute hier in der Gasse erzählen, dass er alle Mie ter aus dem Haus treiben will, um es abreißen und ein neues bauen zu können.« »Warum sollte er das tun?« »Er kann dann die doppelte Miete verlangen.« »Das ist eine Sauerei!«, schimpfte Delia. »Und man kann nichts dagegen unternehmen«, sagte Regu lus resigniert. »Hoffentlich ergeht es wenigstens Pacuvius und seiner Familie besser.« »Was meinst du damit?«, fragte ich. »Das kann er euch selbst erzählen. Ich muss jetzt gehen. Wir haben noch einen langen Tag vor uns.« »Wohin zieht ihr?« »Aufs Land«, sagte Regulus ausweichend, »zu einem alten Freund meines Vaters. Der hat dort einen kleinen Hof geerbt. Er wird uns für einige Zeit aufnehmen. Vielleicht können wir sogar den Winter über dort bleiben. Irgendwie wird es schon weitergehen.« Er zuckte mit den Schultern. »Alles Gute!«, sagte ich. »Mögen die Götter euch beiste hen!« »Danke!«, sagte Regulus und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. 85
»Und möge Nemesis euren Patron bestrafen!«, rief Delia ihm noch hinterher, als er schon im Haus verschwunden war. Was für ein gemeiner Kerl dieser Patron sein musste! So etwas hatte ich ja noch nie gehört. Statt seinen Klienten zu helfen, stürzte er sie ins Elend. Ich musste an den Patron meiner eigenen Familie denken, der uns so viel besser behan delte: ein vornehmer Senator aus Misenum, der ehemalige Herr meiner Eltern, zu dessen Klienten mein Vater zählte. Er hat uns in den letzten Jahren unterstützt, wo er nur konnte, und dafür nie eine Gegenleistung von uns verlangt. Während wir eine volle Stunde lang mit wachsender Unge duld in der Ascaniusgasse auf und ab liefen, verstauten Regulus und seine Eltern ihre letzten Sachen auf dem Kar ren. Sie taten uns so leid! Ich musste an unser großes Haus in Misenum denken, das nur uns gehörte und aus dem uns niemand würde vertreiben können. Und diese armen Leute hier besaßen nur einen kleinen Karren, auf dem ihr ganzes Hab und Gut Platz fand. Schließlich verabschiedeten wir uns, Regulus und sein Vater packten die Deichsel, zogen an, der Wagen setzte sich klappernd in Bewegung, die Mutter schritt nebenher – und fort waren sie. Weil dann zunächst immer noch nichts geschah, wären wir beinahe zum Haus der Löwentruppe zurückgegangen, als Pacuvius doch endlich kam. Er trug in jeder Hand eine Werkzeugkiste, als wir ihn am unteren Ende der Gasse er blickten. Der ältere Mann zu seiner Rechten musste Magis ter Orbilius sein, er hatte einige Holzleisten geschultert, die Frau neben ihm war vermutlich Servilia, Pacuvius’ Tante. Sie 86
trug einen Korb, aus dem grüne Lauchstangen hervorlugten. Wir warteten gespannt vor der Tür ihres Hauses. »Nanu«, sagte Pacuvius erstaunt, als er uns bemerkte. »Ihr seid doch die beiden Mädchen von vorhin. Was macht ihr denn hier?« Sein Onkel und seine Tante schauten uns genauso über rascht an wie er. Wir müssen reichlich verlegen und deplat ziert ausgesehen haben. »Ich hatte dir von den beiden vornehmen Mädchen erzählt, Onkel. Sie waren zur gleichen Zeit wie wir bei der Löwen truppe. Aber eure Namen …« Er schaute uns fragend an. »Ich heiße Lycoris«, sagte ich. »Und ich Delia«, sagte Delia. »Du musst ja einen großen Eindruck auf die Damen ge macht haben«, sagte Orbilius mit einem breiten Grinsen. »Dass sie dir gleich hinterherlaufen …« Ich spürte, wie mein Gesicht anfing zu glühen. Ob es ge nauso rot wurde wie Delias? Pacuvius lächelte, uns fehlten die Worte. »So hübschen Besuch lässt man doch nicht vor der Tür stehen«, sagte Servilia. »Ich habe frisches Obst und ein biss chen Käse vom Markt geholt. Wenn ihr mögt, dann kommt doch mit ins Haus. Habt ihr Lust?« Sie stellte den Korb ab, zog einen Schlüssel aus ihrer Tunica und öffnete die Tür. »Gerne«, sagte ich. Mein Kopf brannte wie das Schmiede feuer in Hephaistos’ Werkstatt. Servilia führte uns durch den schmalen dunklen Flur des Hauses in die kleine Küche. 87
»Setzt euch, setzt euch doch«, sagte sie einladend und zeigte auf den runden Tisch. Während wir zwei Hocker unter dem Tisch hervorzogen und uns schüchtern niederließen, be freite sie die Tischplatte mit einem feuchten Lappen von ein paar Brotkrumen. »Mögt ihr einen Schluck Milch? Sie ist frisch vom Markt.« Wir nickten wortlos. »Und eine Aprikose? Und etwas Schafskäse?« »Danke«, sagte ich, »das ist sehr freundlich.« Ich merkte, dass ich tatsächlich durstig war. Die Milch schmeckte köst lich, ich trank meinen Becher in einem Zug aus. Als Servilia das Körbchen mit den Aprikosen und einen Teller mit einem großen Stück Schafskäse auf den Tisch stellte, betrat Pacu vius die Küche. »Onkel Orbilius ist in die Werkstatt gegangen«, sagte er und setzte sich zu uns an den Tisch. Auch ihm gab Servilia einen Becher Milch. »Ich muss mich jetzt um die Wäsche kümmern«, sagte sie darauf. »Ihr drei kommt allein zurecht, nicht wahr? Lasst’s euch schmecken, Kinder!« Sie wuschelte Pacuvius durchs Haar und verschwand aus der Küche. »So«, sagte Pacuvius und lächelte uns an. Seine dunklen Augen strahlten. »Was verschafft mir die Ehre eines so ho hen Besuchs?« »Was meinst du mit hoher Besuch?«, fragte ich. »Nun, ihr seht nicht so aus, als würdet ihr aus diesem Stadtteil kommen.« Wir schauten verlegen an unseren sauberen Tunicen he 88
runter. An Delias Handgelenk glänzte der breite goldene Armreif, den ihr Vater ihr von einer Reise aus Ephesos mit gebracht hatte. Ich trug meine neuen Sandalen aus weichem Ziegenleder und eine Halskette aus feinem Silber. Vergli chen mit Pacuvius oder Servilia sahen wir wirklich aus wie zwei babylonische Prinzessinnen. »Wir wohnen auf dem Esquilin«, sagte Delia. Ich merkte, dass ihr Pacuvius’ Bemerkung unangenehm war. Pacuvius selbst blickte uns erstaunt an. »Braucht einer eurer Väter vielleicht eine neue Treppe in seinem feinen Haus?« Wir schauten ihn verständnislos an. Er lachte. »Wir sind Tischler, mein Onkel und ich. Seid ihr deswe gen hier?« »Nein«, sagte Delia. »Wir sind hier, weil wir gerne etwas von dir über Urbicus erfahren möchten.« »Über den Gladiator aus der Löwentruppe?« »Ja«, sagte ich und versuchte, möglichst überzeugend zu klingen. »Den finden wir nämlich klasse. Aber wir sind ja noch nicht lange dabei, ich meine, im Fanclub. Und da dach ten wir, du könntest uns vielleicht etwas über Urbicus erzäh len. Die Jungs aus unserem Fanclub würden dann nämlich ganz schön große Augen machen, wenn wir denen Sachen erzählen, die die noch nicht wissen.« Ich kam mir schäbig vor wegen all meiner Lügen und wäre vor Scham am liebsten im Küchenboden versunken. Trotz dem lächelte ich Pacuvius tapfer an und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. »Ach so«, sagte Pacuvius und klang ein bisschen ent 89
täuscht. »Dass ihr ausgerechnet diesen Urbicus so toll fin det … Warum nicht Clemens? Das ist ein großer Kämpfer mit einem großen Herzen!« »Was ist denn mit Urbicus?«, fragte Delia und gab sich die größte Mühe, nicht besonders interessiert zu klingen. »Wir Ascanier mögen ihn nicht«, sagte Pacuvius. »Das liegt nicht daran, dass er ein Freiwilliger ist, bestimmt nicht. Er kämpft nicht sauber, versteht ihr? In der Arena setzt er gemeine Tricks ein, die der Schiedsrichter nicht bemerkt. Aber wehe, er wird selbst einmal getroffen! Dann quiekt er wie eine angeschossene Wildsau. Er ist stark und geschickt, das will ich gar nicht bestreiten, und er beherrscht sein Hand werk, keine Frage. Besonders mit dem Schild kann er gut umgehen, so gut wie kaum ein anderer. Aber er hat, wie soll ich sagen, einen schlechten Charakter. Das merkt man sofort, wenn man ihn einmal kämpfen sieht.« Pacuvius trank einen Schluck aus seinem Becher. Delia und ich schauten uns an. Wir glaubten Pacuvius jedes Wort. »Weißt du noch mehr über ihn?«, hakte ich nach. »Hat er Freunde? Eine Familie?« Pacuvius strich sich mit dem Handrücken über den Mund. »Er war früher Soldat, bei irgendeiner Legion an der Donau. Sechzehn Jahre lang. Dann hat er in einem Jahr seine ganze Abfindung durchgebracht, war in jeder römischen Kneipe Stammgast. Als das Geld verbraucht war, ist er zu Mordax gegangen und hat sich der Löwentruppe angeschlossen. So richtig mit Vertrag und Gladiatoreneid. Für vier Jahre hat er sich verpflichtet. Mit Schwert und Schild umzugehen, das hatte er ja bei den Legionären gelernt.« 90
»Warum hat er nicht etwas anderes gemacht?« »Du meinst, einer normalen Arbeit nachgehen?« Pacuvius schnaubte verächtlich. »Doch nicht Urbicus! Dafür wäre der Herr sich zu fein. Nein, er glaubt, dass er als Gladiator das ganz große Geld verdient und dann leben kann wie König Croesus. In Wahrheit ist er ein riesiger Dummkopf.« »Wie meinst du das?«, fragte Delia. »Weil es ihn bei jedem Kampf erwischen kann! Ihr hättet ihn im Frühjahr sehen sollen, als er gegen Clemens antreten musste. Da wäre es beinahe um ihn geschehen gewesen. Clemens hat ihn durch die halbe Arena gejagt, bis Urbicus schließlich den Finger hob, das Zeichen der Kapitulation. Aber das kennt ihr ja. Der Veranstalter hat ihm dann das Leben geschenkt. So ein Glück wird er kein zweites Mal haben.« »Und wenn er die vier Jahre doch überlebt?«, fragte ich. »Dann wird er sein ganzes Geld in den teuersten Tavernen der Stadt auf den Kopf hauen. Und ihr seid sicher, dass ihr diesen Kerl gut findet?« Pacuvius schaute uns ungläubig an. »Doch«, sagte Delia, »er hat so kräftige … Arme!« Was für einen Unsinn redete sie da?! Ich war mir sicher, dass unser Schwindel jeden Moment auffliegen müsste. Pa cuvius runzelte die Stirn. »Das haben die anderen auch.« »Weißt du auch«, fragte ich schnell, »was Urbicus in seiner Freizeit macht? Wo man ihn vielleicht treffen kann?« Pacuvius schaute mich an, als wäre mein Gesicht von einem gelben Ausschlag übersät. »Er hat eine Stammkneipe«, sagte er, »ganz in der Nähe vom Circus Maximus. Zum Röhrenden Eber. Dort ist er fast jeden Tag. Aber ich würde da nicht hingehen.« 91
»Wieso nicht?«, fragte ich. Pacuvius musterte uns. Es war ihm deutlich anzumerken, was er dachte: Dass wir zwei Prinzessinnen vom Esquilin kei nen blassen Schimmer vom wahren Rom hatten. Und irgend wie hatte er damit auch recht. »Der Laden hat einen üblen Ruf«, erklärte er. »Der Wirt heißt Prokrustes, ist selbst ein ehemaliger Gladiator, hat zwei Dutzend Gegner in der Arena erledigt. Da treibt sich nur lichtscheues Gesindel herum. Bissige Ratten, die nachts aus den Kanälen kommen, sagt Onkel Orbilius immer. Mäd chen wie euch verputzen die zum Frühstück.« »Ach was!«, sagte ich munter. »Uns wird schon nichts passieren.« Dabei lächelte ich gequält, während sich mein Magen allein beim Gedanken an diese Kneipe zusammen krampfte. Delia war sämtliche Farbe aus dem Gesicht ge wichen. »Und sonst?«, fragte sie. »Weißt du sonst noch etwas über Urbicus? Hat er Freunde? Oder Feinde?« Pacuvius schaute Delia verwundert an und schüttelte den Kopf. »Nein, mehr weiß ich nicht. Da müsstet ihr schon in den ›Röhrenden Eber‹ gehen, um das herauszufinden. Dort trefft ihr bestimmt ein paar …«, er verzog das Gesicht beim nächsten Wort, »… Freunde von ihm.« »Gut«, sagte ich und blickte Delia dabei an, »dann werden wir das wohl tun.« Delia machte ein Gesicht, als stünde sie vor einer zischen den Schlangengrube. Wahrscheinlich dachte sie in diesem Moment genau wie ich daran, dass uns Urbicus ja selbst in den ›Röhrenden Eber‹ eingeladen hatte. 92
»Klar«, sagte sie gequält. »Hat denn die Kneipe jetzt schon geöffnet?« »Erst am Nachmittag.« Pacuvius grinste. »So lange müss tet ihr euch noch gedulden. Vor dem Trainingsende kann Urbicus das Haus ohnehin nicht verlassen.« Obwohl ich wusste, wie sehr die Zeit drängte, spürte ich Erleichterung in mir aufsteigen. Ein paar Stunden hatten wir also noch Zeit. »Willst du uns nicht begleiten?«, hörte ich Delia plötzlich fragen. Pacuvius verzog das Gesicht. »Ich? In den ›Röhrenden Eber‹? Ich bin doch nicht lebens müde. Außerdem habe ich zu tun, muss meinem Onkel helfen.« »Aber es ist doch Feiertag«, sagte Delia, »der letzte Tag der Ludi Apollinares. Da müsst ihr doch nicht arbeiten.« Pacuvius rollte mit den Augen. »Hast du eine Ahnung«, sagte er gedehnt. »Wenn Onkel Orbilius und ich nicht jeden Abend und jeden Feiertag in der Werkstatt stünden, hätten wir die Tischlerei schon längst zumachen können.« »Geht es euch so schlecht?«, fragte ich ehrlich überrascht. Pacuvius’ Miene verdüsterte sich. Mit der flachen Hand deutete er eine Linie dicht unterhalb seiner Nasenspitze an. »Das Wasser steht uns bis hier, lange können wir das nicht mehr durchstehen.« »Habt ihr keine Kunden?« »Doch, aber zu wenige. Die Konkurrenz ist groß, und die Preise für gutes Holz haben sich im letzten Jahr verdoppelt. Wir brauchen dringend neues Werkzeug, aber dafür fehlt uns das Geld.« 93
»So etwas Ähnliches haben wir heute schon mal gehört«, sagte ich. »Kann euer Patron euch nicht unterstützen?« Pacuvius’ schwarze Augen verengten sich zu funkelnden Schlitzen. »Der? Hah! Dieser habgierige Hund würde sich lieber rösten lassen, als einem seiner Klienten einen einzigen Sesterz zu leihen. Erst gestern früh war mein Onkel bei ihm, hat sich noch vor Sonnenaufgang vor seine Tür gestellt und mit ein paar anderen Klienten darauf gewartet, von diesem mürrischen Türsklaven, der aussieht wie eine gerupfte Krä he, eingelassen zu werden.« »Hat er ihn um Hilfe gebeten?« »Ja, um einen kleinen Kredit. Damit wir uns neues Werk zeug kaufen und vielleicht auch mal das Dach reparieren können. Ich hab nur diese eine durchgewetzte Tunica, Tante Servilia hat sich seit zwei Jahren keinen warmen Umhang mehr kaufen können. Im Winter ist der Herd hier in der Küche das Einzige, woran wir uns wärmen. Onkel Orbilius hat seit Monaten einen schlimmen Husten und kann sich keinen Medicus leisten. Und das alles nur, weil unser Patron kein Herz, sondern einen Stein im Brustkorb hat. Ich glaube, er will uns so weit ins Elend treiben, bis wir ihm dieses Haus für eine Handvoll Sesterzen verkaufen. Dann kann er es ab reißen und eine Mietskaserne bauen lassen, die seinen dicken Geldbeutel noch voller macht.« Pacuvius hatte sich in Rage geredet, seine Augen sprühten Funken. Er zog ein schmutziges Tuch aus seiner Tunica und wischte sich den Schweiß von Stirn und Hals. Er hat schon lange keine Thermen mehr von innen gesehen, dachte ich, als ich die Schmutzstreifen an seinem Hals bemerkte. 94
»Genau wie bei Regulus«, sagte Delia. »Was?« Pacuvius brauchte einen Augenblick, um Delias Bemer kung zu verstehen. »Bei Regulus? Von gegenüber? Habt ihr ihn noch getrof fen? Sie wollten heute Morgen ausziehen. Ich habe mich schon gestern Abend von ihm verabschiedet.« »Ja«, sagte Delia, »wir haben mit ihm gesprochen. Als wir auf dich warteten. Der Patron seiner Familie scheint genau so raffgierig zu sein wie eurer.« »Es ist derselbe«, schnaufte Pacuvius und ballte die Faust. »Derselbe alte Kahlkopf mit dem steinernen Herzen.« »Wo sind eigentlich deine Eltern?«, fragte ich, um das The ma zu wechseln, bevor sich Pacuvius’ Wut über den eiskalten Patron noch weiter steigern konnte. »Gestorben«, sagte Pacuvius mit heiserer Stimme. Sein Blick ruhte starr auf der Tischplatte. »Das tut mir leid«, sagte ich und bereute meine Frage. Ich hatte nicht noch eine Wunde aufreißen wollen, aber das hät te ich mir wohl früher überlegen sollen. Pacuvius zuckte schwach mit den Schultern. »Ist schon zehn Jahre her«, sagte er und räusperte sich. »Ich war da mals sieben Jahre alt. Wir lebten auf dem Land, auf einem kleinen Bauernhof etwa eine halbe Tagesreise vor der Stadt bei Tusculum. Der Hof war nicht groß, aber er gehörte uns. Mein Vater hatte ihn von seinem Vater geerbt, der wieder um von seinem Vater und so weiter. Seit dem großen Han nibalkrieg lebte meine Familie auf diesem Stück Land. Es war nicht einfach, wir waren nicht reich, konnten uns gerade 95
mal das Nötigste leisten, aber wir waren freie römische Bürger.« »Was ist passiert?«, fragte Delia. Pacuvius faltete die Hände auf dem Tisch. »Missernten. Zwei Jahre hintereinander. Beißender Frost im Winter, zu viel Regen im Frühjahr, brennende Hitze im Sommer – das war’s. Wir konnten kaum etwas von der Ernte einbringen. Mein Vater ging zu unserem Patron – und der versprach ihm Hilfe.« »Das ist doch prima«, sagte ich. Pacuvius schnaufte verächtlich. »Die Hilfe bestand darin, dass er unser Land für einen lächerlichen Preis kaufte. Wir mussten den Hof räumen und sind in die Stadt gezogen. Der Patron hat unser Haus abreißen und sich dort eine prächtige Villa hinbauen lassen. Wie konnten wir nur so dumm sein und auf sein Angebot eingehen?« Pacuvius blickte uns mit glühenden Augen an. Eine Antwort schien er nicht zu erwar ten. »Ich war damals noch ein kleiner Junge, meine Eltern zu gutgläubig. Oder einfach nur verzweifelt. In der Nacht vor dem Morgen, an dem wir nach Rom aufbrechen wollten, starb meine Mutter. Sie schlief ruhig ein und wachte nicht mehr auf. Einfach so. Aus Trauer und Gram, sagte mein Va ter. Er selbst ist zwei Jahre später in Charons Nachen gestie gen. Wir wohnten damals in einem heruntergekommenen Mietshaus, gar nicht weit von hier. Wir teilten uns ein enges Zimmer. Mein Vater brachte uns mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsarbeiten über die Runden. Im Winter packte ihn ein schlimmes Fieber, er konnte sich keinen Medicus leisten und starb. Und seitdem spaziert er als Schatten zusammen 96
mit meiner Mutter Hand in Hand durch die Unterwelt und amüsiert sich hoffentlich über diesen blöden Sisyphus, der seinen Felsen nicht mal eine halbe Stunde lang aus der Hand legen kann.« Pacuvius lächelte gequält. Delia neben mir schniefte und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Tunica über die Augen. Ich zerkaute beinahe meine Unterlippe und hätte Pacuvius am liebsten tröstend in die Arme genommen – oder dem fiesen Patron von damals den Hals umgedreht, wenn er denn hier gewesen wäre. »Und dann haben Onkel Orbilius und Tante Servilia mich zu sich genommen. Onkel Orbilius ist der Bruder meines Vaters. Seit acht Jahren lebe ich nun hier in der Ascanius gasse und helfe meinem Onkel in der Tischlerei.« Für einen Moment hatte ich völlig vergessen, warum wir hierhergekommen waren. Pacuvius selbst hatte uns doch gar nicht interessiert! Wir wollten etwas über Urbicus heraus finden, um ihn zu überführen und damit Myron zu retten. Doch Pacuvius’ Schicksal ging mir sehr nah. Ich schaute ab wechselnd zu Delia und zu Pacuvius und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Und ihr?«, fragte Pacuvius in die drückende Stille hinein. »Ihr wollt jetzt in diese verrufene Taverne gehen, was?« Sein Blick fiel auf den Käse und die unberührten Aprikosen auf dem Tisch. Sie sahen wirklich köstlich aus, frisch und saftig. »Die Aprikosen könnt ihr bestimmt mitnehmen, Tante Ser vilia wird nichts dagegen haben, wenn ihr …« »NEIN!«, platzte es aus mir heraus. Ich konnte einfach nicht mehr an mich halten. Ich wollte Pacuvius nicht weiter 97
belügen. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Delia schaute mich entsetzt an. »Nein«, sagte ich, »wir wollen nicht in diese furchtbare Kneipe gehen. Aber wir müssen, verstehst du?« Pacuvius machte große Augen und schüttelte den Kopf. Ich griff nach seiner Hand. »Es ist alles ganz anders.« Ich suchte nach Worten. »Wir ha ben dich belogen. Uns interessiert Urbicus überhaupt nicht.« »Doch, er interessiert uns schon«, sagte Delia. »Aber nicht, weil wir ihn besonders toll finden. Im Gegenteil.« Auch sie schien keine Lust mehr zu haben, Pacuvius etwas vorzu machen. Er schaute uns abwechselnd verständnislos an, verzog dann das Gesicht und blickte auf seine Hand. Anscheinend hatte ich sie ein wenig zu kräftig gedrückt. Ich ließ sie los. »Wir finden ihn sogar ziemlich abstoßend«, sagte ich. »Aber gerade deshalb sind wir hinter ihm her.« Pacuvius schien die Verwirrung förmlich auf die Stirn ge schrieben zu sein. Was redete ich da nur? »Wir glauben«, sagte Delia, »dass Urbicus etwas getan hat. Etwas sehr Schlimmes, ein Verbrechen.« »Und deswegen steckt ein Freund von uns in großen Schwierigkeiten.« Pacuvius schüttelte den Kopf. »Ich verstehe kein Wort.« »Wir können dir jetzt nicht alles erzählen«, sagte ich. »Aber vielleicht morgen.« »Ja, morgen«, sagte Delia. »Morgen können wir dir die ganze Wahrheit erzählen. Aber dann ist es wahrscheinlich schon zu spät.« 98
»Moment mal«, sagte Pacuvius. »Was ist morgen schon zu spät? In welchen Schwierigkeiten steckt euer Freund?« »Also, das ist so«, druckste ich, »unser Freund soll für eine Sache bestraft werden, die er nicht getan hat.« »Und wir sind sicher«, sagte Delia, »dass Urbicus diese Sache getan hat. Doch wir können es leider noch nicht be weisen. Darum müssen wir mehr über Urbicus herausfinden. Und zwar heute noch.« »Wieso heute noch?« »Weil es morgen für unseren Freund zu spät ist.« »Was meinst du mit zu spät?« Delia sah mich flehentlich an. Wie viel konnten wir ihm verraten? »Wenn es uns nicht gelingt«, sagte ich, »Urbicus zu über führen, wird unser Freund morgen schon mit deinen Eltern zusammen spazieren gehen.« Pacuvius holte tief Luft und nickte. »Ich verstehe«, sagte er. »Und wieso glaubt ihr, dass gerade Urbicus der Täter war?« Delia schaute mich fragend an. Ich nickte. »Weil unser Freund ihm«, sagte Delia und nestelte an ihrer Tunica, »das hier vom Hals gerissen hat.« Sie streckte Pacuvius das Löwenamulett entgegen. Pacuvius nahm das Amulett und betrachtete es eingehend. »Das Amulett der Löwentruppe«, sagte er langsam. »Jetzt verstehe ich allmählich.« »Unser Freund hat Urbicus auf frischer Tat ertappt«, sagte ich. »Doch Urbicus hat ihn niedergeschlagen und sich aus dem Staub gemacht. Und unser Freund wurde gefasst und soll jetzt verantwortlich gemacht werden. Keiner glaubt ihm, 99
dass er unschuldig ist. Nur wir. Er hat uns das Amulett ge geben, kurz bevor sie ihn erwischt hatten, und uns um Hilfe gebeten. Wir sind seine einzige Hoffnung.« »Wir müssen noch heute den Täter überführen«, sagte Delia. »Morgen ist es für unseren Freund zu spät.« »Verstehe«, sagte Pacuvius knapp. Er presste die Lippen aufeinander und drehte das Amulett in seinen Fingern. »Wir brauchen einen Beweis«, sagte ich. »Und darum müssen wir in diese finstere Taverne gehen.« Pacuvius hörte kaum noch zu, so sehr schien ihn das Lö wenamulett zu faszinieren. Ich blickte Delia an. Sollten wir uns einfach auf den Weg machen? Endlich riss sich Pacuvius von dem Amulett los und gab es Delia zurück. Wir hörten Schritte, einen kratzenden Husten, und im nächsten Mo ment stand Magister Orbilius in der Küche. »Ich störe euch nur ungern«, sagte er und hustete erneut, »aber ich könnte meinen lieben Neffen jetzt gut in der Werkstatt gebrauchen. Alleine schaffe ich die Arbeit nicht. Vier Arme sind stärker als zwei, nicht wahr, mein Bester?« Er klopfte Pacuvius mit seiner starken Hand auf die Schul ter. Pacuvius zuckte zusammen, das Gesicht schmerzver zerrt. »Wir gehen«, sagte Delia. »Es war sehr nett bei euch.« »Wir kommen morgen wieder«, sagte ich und versuchte, Pacuvius aufmunternd anzulächeln. Er schien es nicht zu bemerken. »Morgen oder übermorgen. Und dann erzählen wir dir … na …, du weißt schon.« Pacuvius reagierte nicht, rieb sich die Schulter und starrte auf den Fußboden. 100
»Willst du deine Freundinnen nicht verabschieden?«, frag te Magister Orbilius. »Als ich noch so jung war wie du, da haben wir …« Der Rest des Satzes verlor sich in einem neuen Hustenanfall. »Wir gehen dann mal«, sagte ich, als sich Orbilius gefan gen hatte. Pacuvius machte keine Anstalten, sich zu rühren, als Delia und ich uns erhoben und die Hocker zurück unter den Tisch schoben. Die Aprikosen und den Käse ließen wir unberührt stehen. »Vielen Dank für die Milch«, sagte Delia. »Also, dann bis morgen.« »Wie?« Pacuvius erwachte aus seiner Starre. »Ja, bis mor gen.« Er schüttelte sich. »Vielleicht bis morgen.«
Zur achten Stunde an den Iden des Juli, am frühen Nachmittag des 15. Juli
E
s war Mittag geworden. Helios hatte den höchsten Punkt seiner Bahn erreicht. Er war ganz allein dort oben, keine kühlende Wolke milderte sein Feuer. Delia und ich hatten die Ascaniusgasse hinter uns gelassen und schlenderten durch die engen Straßen der Subura. Bis der ›Röhrende Eber‹ sein finsteres Maul öffnen würde, blieben uns noch zwei oder drei Stunden Zeit. Wir waren hin- und hergerissen. Sollten wir wirklich dorthin gehen? Konnten wir die Stunden bis dahin irgendwie nutzen? Gab es nichts anderes, was wir tun konn ten? Immer wieder betrachteten wir alle Fakten, die wir kann ten, von jeder nur erdenklichen Seite, und immer wieder ka men wir zu dem Schluss, dass wir keine andere Wahl hatten, als uns an Urbicus’ Fersen zu heften, obwohl wir noch immer 102
keinen Beweis dafür hatten, dass er wirklich der Täter war. Nur das sichere Gefühl, dass er es sein musste. Wir waren furchtbar unruhig und merkten, dass wir nicht weiterkamen. Und dass uns die Zeit davonlief. Es war Delia, die schließlich vorschlug, ihren Vater doch in die Sache einzuweihen, ihm zumindest von dem Amulett und von unserem Verdacht zu erzählen. »Vielleicht kann er uns ja doch helfen«, meinte sie. »Du hast recht«, sagte ich. »Das könnte nützlicher sein, als ziellos durch die Stadt zu streichen. Und ungefährlicher als diese Kneipe.« Delia nickte. »Aber wir dürfen ihm auf keinen Fall sagen, dass wir in den ›Röhrenden Eber‹ wollen! Mein Vater würde uns niemals dorthin lassen.« »Wir wollen da nicht hin«, sagte ich. »Wir müssen. Wenn dein Vater uns nicht weiterhelfen kann.« Wenig später standen wir im Atrium, dem Innenhof des Hauses der Familie Ovid, am Rande des Impluviums, in dem sich das Regenwasser sammelte. »Der Herr ist oben in der Bibliothek«, erzählte uns Lydia, die eben die Treppe herunterkam. »Aber er wünscht, nicht gestört zu werden«, fügte sie mit spitzen Lippen hinzu und verschwand mit wehender Tunica in Richtung Küche. Delia rollte die Augen. »Bei Iuno!«, sagte sie, als sie den Fuß auf die unterste Treppenstufe setzte. »Die spielt sich auf, als sei sie die Herrin des Hauses. Das traut sie sich nur, wenn Mama nicht da ist.« Sie stieg die Treppe hinauf, ich folgte ihr. »In ein paar Tagen wird sie zurück sein, dann wird Lydia sich wieder benehmen.« 103
Oben angekommen, klopfte Delia vorsichtig an die Tür zur Bibliothek, die ihr Vater sich in einem Zimmer, das auf den Garten hinausblickte, eingerichtet hatte. Obwohl nichts zu hören war, öffnete sie die Tür. »Papa?« »Hm.« »Dürfen wir dich kurz stören? Es ist wichtig.« »Hm.« Delia trat über die Schwelle, ich folgte ihr. Ovid saß an ei nem großen Tisch, auf dem Schreibtafeln, Papyrusblätter und Schriftrollen in einem wilden Chaos durcheinanderlagen. Er hatte den Kopf in beide Hände gestützt und grübelte über einer Wachstafel. An allen Wänden des Raumes standen Regale, die bis unter die Zimmerdecke reichten und über und über ge füllt waren mit Schriftrollen. Wir traten an den Tisch heran. »Papa, hörst du mich? Es ist wirklich sehr wichtig!« Plötzlich, als hätte ihn ein Skorpion gestochen, sprang Ovid auf, stieß den Stuhl um und breitet die Arme aus. »Quodsi fata negant veniam pro coniuge, certum est nolle redire mihi: Leto gaudete duorum!«* Ovid blickte in weite Ferne und strahlte übers ganze Ge sicht. Ich wich einen Schritt zurück und starrte ihn an. Ich be fürchtete das Schlimmste. War er verrückt geworden? Delia schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, einige Blätter fielen zu Boden. *
»Doch wenn das Schicksal missgönnt für meine Gattin die Gnade, / dann will auch ich nicht zurück, dann freut euch am Tod von uns beiden!« (Zitat aus Ovids Metamorphosen, Buch 10, Vers 38 f.: Orpheus spricht in der Unterwelt vor Pluto und Proserpina.)
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»Papa, komm zu dir! Du kannst gleich weiterdichten.« »Wie? Was ist los?« Ovid ließ die Arme sinken und blickte uns an, als seien wir zwei grüne Baumnymphen. Er kam mir vor, als hätten wir ihn aus einem schönen Traum gerissen. »Das ist ganz normal«, flüsterte Delia. »Wenn er arbeitet, taucht er ab in eine ganz andere Welt.« »Ich war gerade im Hades.« Er strich sich verlegen durchs Haar. »Ich meine, in Gedanken. Ich war Orpheus, hielt mei ne Lyra im Arm und stand vor Pluto und Proserpina und habe …« »Hör zu«, fiel Delia ihrem Vater ins Wort. »Wir wissen, wer Senator Metellus überfallen hat.« Ovid runzelte die Stirn. »Das weiß ich auch. Dieser neue Sklave.« »Nein«, sagte Delia, »das ist falsch. Myron war in der letzten Nacht noch bei uns.« Ich hielt die Luft an. Was wollte Delia ihrem Vater alles erzählen? Wie würde er reagieren? »Was sagst du da?« Ovid starrte seine Tochter mit großen Augen an. Wir zerrten ihn unbarmherzig in die Realität. Er hörte Delia und mir aufmerksam zu, schnappte hier und da nach Luft und schüttelte immer wieder den Kopf, als wir ihm von den Ereignissen der letzten Nacht, von unseren Nach forschungen und unserem Verdacht erzählten. »Das ist doch … also …« Der Dichter suchte nach Worten, als wir unseren Bericht beendet hatten. »Dieser Sklave war gestern Nacht bei euch im Schlafzimmer?« Erst langsam schien er zu begreifen, was er gerade gehört hatte. »Und ihr 105
wart bei einer Gladiatorentruppe?« Er fasste sich an den Kopf. »Und in der Subura? Das ist ja wohl …« »Papa«, sagte Delia, »du musst dich nicht aufregen! Setz dich bitte und beruhige dich! Uns ist ja nichts passiert.« »Also, das ist doch …« Ovid ließ sich auf seinen Stuhl fallen und schüttelte ununterbrochen den Kopf. »Das gibt es doch gar nicht!« Ich beobachtete ihn gebannt. Er schien eine ganze Zeit lang nicht recht zu wissen, wie er reagieren sollte. Sollte er aus der Haut fahren? Uns Vorwürfe machen? Sich freuen, dass uns nichts passiert war? »Das Löwenamulett!«, sagte er schließlich und tippte sich an die Stirn. »Ich habe doch geahnt, dass mehr dahinter steckt. Auf der Straße gefunden …« Er schüttelte wieder den Kopf. Offenbar hatte er beschlossen, nicht aus der Haut zu fahren. »Wir müssen etwas tun«, sagte Delia energisch und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Warum?«, fragte ihr Vater und blickte sie erstaunt an. »Myron ist doch nicht unser Sklave.« »Aber er ist unschuldig!«, rief Delia entsetzt. »Davon bin ich überzeugt.« Ihre Augen wurden feucht. »Er ist ein guter Mensch, Papa. Bitte, glaub mir! Auch wenn er nur ein Sklave ist.« Jetzt kullerten dicke Tränen über ihre Wangen. Delia wischte sie mit dem Ärmel ihrer Tunica fort. Ovid seufzte. »Ja«, sagte er, »ich glaube dir. Aber wer wird das noch tun? Der Praetor bestimmt nicht. Der will einen eindeutigen Beweis. Und den hat er.« »Du meinst …?« 106
»Ja, Myron wurde mit einem Dolch in der Hand mitten in der Nacht vor seinem niedergeschlagenen Herrn erwischt. Ich fürchte, das ist dem Praetor Beweis genug. Das, was ihr habt, sind Vermutungen. Begründete Vermutungen, die viel leicht der Wahrheit entsprechen. Aber nur vielleicht. Wahr scheinlich ist es ungerecht, was Myron passieren wird. Aber wir können nichts dagegen tun, weil wir den Täter nicht überführen können.« »Aber …« Delia blickte ihren Vater fassungslos an. »Ihr habt doch selbst gesagt, dass es von diesen Amuletten Hunderte, vielleicht Tausende in der Stadt gibt.« Wir wussten beide, dass er recht hatte. Wir wussten es nur zu gut. »Ja«, sagte Delia und schniefte. »Aber die Zeit läuft uns davon. Bitte, Papa. Hast du nicht eine Idee?« Ovid wiegte den Kopf. »Es gibt da vielleicht etwas, was ich versuchen könnte. Aber ob das Myron hilft …« »Erzähl doch!«, bat Delia. »Senator Corvinus besucht mich heute Nachmittag. Er möchte sich ein paar Verse aus meinen Verwandlungsge schichten anhören. Ich kann ja mal mit ihm über die Ange legenheit sprechen.« »Und was soll das nützen?«, fragte Delia enttäuscht. »Cor vinus ist ein alter Mann.« Ovid hob drohend den Zeigefinger. »Täusch dich nicht, mein liebes Töchterchen. Senator Corvinus mag alt sein, so gar sehr alt, aber er ist immer noch einer der einflussreichs ten Senatoren dieser Stadt.« »Was willst du damit sagen?« 107
»Dass er Freunde hat, mächtige Freunde. Viele hören auf sein Wort. Vielleicht auch der zuständige Praetor. Wer auch immer das ist, aber das wird Corvinus wissen. Er könnte dem Praetor nahelegen, den Fall genauer zu untersuchen, euren Vermutungen nachzugehen. Oder wenigstens mit My rons … äh … Behandlung ein paar Tage zu warten.« »Gut!«, rief Delia. »Das soll er tun. Das muss er unbedingt tun. Senator Corvinus soll dem Praetor so richtig Feuer un term Hintern machen.« »Aurelia, bitte!« »Tut mir leid. Und wir können in der Zwischenzeit Be weise sammeln.« »Das werdet ihr schön bleiben lassen!« Ovid blickte uns streng an. »Das ist viel zu gefährlich für euch. Darum soll sich der Praetor kümmern.« »Aber wenn du Senator Corvinus nicht überzeugen kannst? Wenn er nichts unternimmt?« Ovid zuckte mit den Schultern. »Ich werde es versuchen. Versprechen kann ich natürlich nichts. Ihr müsst euch keine Sorgen machen!« Ich holte tief Luft. Keine Sorgen machen! Ovid hatte gut reden. So einfach wollte ich mich nicht beruhigen lassen. Delia hatte recht: Unsere ganze Hoffnung auf diesen alten Senator zu setzen, war naiv und gefährlich. Gefährlich für Myron … »Senator Metellus geht es übrigens schon viel besser«, fuhr Ovid fort. »Der Medicus war schon da und hat dem Senator ein Mittel gegen die Kopfschmerzen gegeben. Er wird bald wieder auf den Beinen sein. Und seine Frau ist 108
heute aus Tusculum zurückgekommen. Sie kümmert sich um ihn. Afra war vorhin hier und hat alles erzählt.« »Das sind gute Neuigkeiten«, sagte Delia. Was hatte Ovid eben gesagt? Aus Tusculum? Offenbar hatte die halbe Welt dort ihr Landhaus. Ich musste an Pacu vius und seine Familie denken, die dort zu Hause gewesen waren und hatten gehen müssen, weil ihr raffgieriger Patron dort ebenfalls ein Haus haben wollte. Die Welt war un gerecht. Mir blieb keine Zeit mehr, länger darüber nachzu denken. »Lass uns gehen«, sagte Delia zu mir. »Wir wollen meinen Vater nicht länger stören und können die Zeit bis Senator Corvinus’ Ankunft vielleicht …«, sie zwinkerte mir ver schwörerisch zu, »… anders nutzen.« »Keine weiteren Dummheiten!« Ovid hob drohend den Zeigefinger. »Nein, Papa. Bestimmt nicht. Wir gehen nur ein bisschen spazieren.« Ovid schaute uns skeptisch hinterher, als wir sein Arbeits zimmer verließen. Vor dem Haus berieten wir uns. »Was machen wir jetzt?«, fragte ich. Delia seufzte. »Ich glaube, wir haben nur noch eine Mög lichkeit.« Ich ahnte, worauf sie hinauswollte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. »Du meinst, wir müssen wirklich …?« Delia nickte entschlossen. »Ich glaube nicht, dass der alte Senator irgendetwas erreichen kann. Jedenfalls nicht in die ser kurzen Zeit. Wir müssen selbst etwas unternehmen.« Sie hatte recht. Dass wir ihren Vater eingeweiht hatten, 109
hatte uns nicht wirklich weitergebracht. Jetzt konnten wir nur noch eines tun. »Also dann«, sagte ich und holte tief Luft, »auf zum Circus Maximus! Weißt du, wo diese Kneipe genau liegt? Ich meine, der Circus ist riesig.« »Wir fragen uns wieder durch«, sagte Delia. »Das sollte kein Problem sein. Taugenichtse und Faulpelze, die alle Spe lunken dieser Stadt kennen, gibt es in Rom genug.« Es dauerte keine Stunde, da hatten wir den ›Röhrenden Eber‹ gefunden. Es war eine der unzähligen kleinen Kneipen, die um den Circus Maximus herumlagen wie Frösche um einen Teich. Sie lag in einer dunklen Seitengasse im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Hauses, das so alt und schäbig aussah, als sei es schon zur Zeit des Romulus erbaut worden. Die Leute, die in den oberen Stockwerken wohnten, hatten sicher lich schon mit ihrem Leben abgeschlossen, denn das Haus wirkte, als wollte es jeden Moment einstürzen. Über der offenen Tür hing ein schiefes Brett, auf das vor vielen Jahren eine ungeschickte Hand einen grimmig dreinblickenden Kei ler gemalt hatte, darunter stand in verwitterten Buchstaben AD VERREM FREMENTEM*
»Und jetzt?«, fragte Delia. Ich dachte an Urbicus und stellte mir vor, wie er in diesem düsteren Loch dort mit seinen Saufkumpanen schon unzäh *
Zum Röhrenden Eber
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lige Krüge geleert hatte. Keine zehn Pferde hätten mich unter normalen Umständen in diese Kneipe gebracht. Doch dann dachte ich an Myron, der jetzt in einem finsteren Keller saß und dessen einzige Hoffnung Delia und ich waren. »Lass uns hineingehen!«, hörte ich Delia sagen. Ich ver suchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. »Meinst du, die lassen uns überhaupt …?« »Na los«, sagte Delia. »Fortes Fortuna adiuvat.«* »Findest du wirklich, dass wir mutig sind?«, fragte ich. Sie zuckte mit den Schultern. »Wir waren heute immerhin schon in einer Gladiatorenschule. Da kann uns doch nichts mehr schrecken, oder?« Ich seufzte. Delia hatte recht. Worauf hatten wir uns da nur eingelassen? Wenige Augenblicke später waren wir durch die Tür ge schlüpft und standen im ›Röhrenden Eber‹. Ich hatte mir die Kneipe größer vorgestellt. Es war ein kleiner, dunkler Raum mit vier oder fünf groben Tischen, an deren Längsseiten Bänke standen. Die einzelnen Tische waren durch Bretterwände voneinander getrennt, sodass man nicht sehen konn te, wer am Nachbartisch saß. Zwei winzige Fenster ließen etwas Licht herein, das gerade ausreichte, um zu erkennen, dass hier seit den letzten Saturnalien nicht mehr sauber gemacht worden war. Es stank erbärmlich. Tonscherben, Brotrinden, abgenagte Hähnchenknochen und anderer Unrat lagen auf dem Boden. Wir stellten überrascht fest, dass die Kneipe leer war. Nur der Wirt stand hinter dem Tresen, die *
Lateinisches Sprichwort: »Den Mutigen hilft das Glück.«
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Arme vor der Brust verschränkt, und schaute uns aus seinen kleinen Schweinsaugen neugierig an. Hatte Pacuvius nicht erzählt, dass er ein ehemaliger Gladiator war? »Oha, welch hoher Besuch«, sagte er. »Was führt so feine Damen in mein bescheidenes …«, er wies mit einer Hand über den düstern Raum, »… Etablissement?« Was für ein fetter, widerlicher Kerl! Er sah aus wie ein Riesenschwein auf zwei Beinen. Mir drehte sich der Magen um, als er uns mit seinen schwarzen Zähnen angrinste. »Erzählt man sich jetzt auch schon auf dem Palatin von meinen köstlichen lukanischen Würstchen?«, fragte er und lehnte sich dabei auf seinen Tresen. »Oder möchtet ihr ein paar geröstete Haselmäuse probieren? Oder gar meine Spe zialität, gebratenes Kalbshirn mit Fischsoße?« Der Wirt schloss die Augen und leckte sich über die Lip pen. Ich schaute Delia an, auch sie schien keinen allzu großen Appetit auf die angebotenen Leckereien zu haben. Ich musste an die frischen Aprikosen und den Käse bei Pacuvius denken. Warum hatten wir dort nichts gegessen? Ich spürte, dass ich hungrig war. Aber ich war mir sicher, dass ich hier keinen Bissen herunterbringen würde. »Nein«, sagte Delia und konnte dabei das Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Wir möchten nur etwas trin ken. Einen Schluck Wein. Mit Wasser verdünnt, bitte.« »Das lässt sich machen«, sagte der Wirt. »Setzt euch, wohin ihr wollt. Ich bringe euch den Wein an den Tisch.« Wir entschieden uns für den Tisch in der äußersten Ecke des kleinen Raumes und setzten uns nebeneinander auf die Kante der schmierigen Bank. 112
»Was sollen wir jetzt nur machen?«, flüsterte Delia, nach dem uns der Wirt zwei Holzbecher hingestellt hatte. »Warten«, flüsterte ich zurück. »Etwas anderes können wir im Moment nicht tun, oder? Urbicus hatte doch gesagt, dass er heute Nachmittag hierherkommen will.« Ich war mir nicht sicher, wie sehr ich mir wünschte, dass er sein Wort hielt. Denn eigentlich wollte ich nur eines: raus hier! »Nur wann, das ist die Frage. Und inzwischen läuft uns die Zeit davon.« Delia nippte an ihrem Wein und verzog das Gesicht. »Bäh! Der Wein schmeckt nach Fisch!« Sie schüttel te sich und schob den Becher weit von sich. »Der Kerl hat ihn nicht mit Wasser, sondern mit Fischsoße verdünnt.« Ich schaute in die trübe Brühe in meinem Becher und war froh, davon nicht probiert zu haben. Wir saßen eine Weile stumm nebeneinander und hingen unseren Gedanken nach. Mir fiel ein, dass ich mit Delia über das reden wollte, was ihr Vater vorhin gesagt hatte. Irgend etwas hatte mich aufhorchen lassen. Doch was war das nur? Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass es eine wichtige Kleinig keit war, vielleicht sogar eine entscheidende. Doch irgendwie drehten sich meine Gedanken im Kreis, und ich kam nicht auf die Lösung. »Wir könnten den Wirt fragen«, schlug ich darum vor, um überhaupt irgendetwas zu sagen. »Vielleicht weiß der, wann Urbicus hier auftaucht.« »Ich glaube, dass ist nicht mehr nötig.« »Wie meinst du das?« »Da kommt er.« 113
Ich folgte Delias Blick. Sie starrte auf die Tür, durch die sich gerade drei Männer hindurchschoben. Der eine war zweifellos Urbicus. Die beiden anderen kannten wir nicht. Oder doch? Der Kleinere von den dreien kam mir bekannt vor. Er hatte breite Schultern, kurzes blondes Haar und eine platte Nase. Das war doch einer der Gladiatoren, denen wir am Morgen beim Training zugeschaut hatten. »Das Übliche«, grunzte Urbicus in Richtung Wirt, der die drei freundlich begrüßte. Sie setzten sich an den Tisch direkt vor dem Eingang, nur drei oder vier Schritte von uns entfernt. Offenbar hatten sie uns nicht gesehen. Es war nicht gerade hell hier. Die Augen mussten sich erst an das trübe Licht gewöhnen, das hatten wir eben selbst bemerkt. Zudem boten die Bret terwände, die die Tische voneinander trennten, etwas Schutz. Wir beide saßen mit dem Rücken zur Wand und konnten die Haarschöpfe der drei Männer im Halbdunkel sehen. »Irgendwann bringe ich den Trainer um!« Das war Urbi cus’ Stimme. Eine Faust knallte auf den Tisch. »Diesen Mist kerl, dieses Eitergesicht, diesen fußkranken Blutegel!« »Nun beruhig dich endlich, Alter!« Das musste der Kleine mit der platten Nase sein. »Wir haben keine Lust, uns ständig dein Geschimpfe über Atrox anzuhören. Nicht war, Danaos? Lass uns einen trinken, dann wird deine Laune gleich besser.« Als der Wirt mit drei großen Krügen an den Tisch der Männer trat, grummelte Urbicus immer noch unentwegt derbe Schimpfwörter vor sich hin. »Lasst es euch schmecken«, sagte der Wirt, stellte die Krüge lärmend auf den Tisch und verschwand wieder hinter seinem Tresen. 114
»Auf Nemesis!«, grölte der dritte Mann, der offenbar Danaos hieß. »Möge sie uns beschützen und unsere Gegner verderben.« »Auf Nemesis!«, riefen die Plattnase und Urbicus wie aus einem Mund. Wir hörten, wie die Krüge aneinandergesto ßen und dann schlürfend mindestens bis zur Hälfte in einem Zug geleert wurden. Es folgten drei Rülpser, die bis auf den Esquilin zu hören gewesen sein müssen. Delia verzog das Gesicht. Ich schaute sie fragend an. Sollten wir zu den drei Männern hinübergehen? Allein bei dem Gedanken daran schlug mein Magen einen Purzelbaum. Delia schien ganz ähn lich zu denken. Die Männer unterhielten sich unterdessen über irgend einen Unsinn. Wir beide saßen stocksteif und wie angewur zelt auf unserer Bank und wussten nicht, was wir tun sollten. Wahrscheinlich hätten wir noch eine ganze Weile so dage sessen, wenn nicht plötzlich die Plattnase (der Kerl hieß Spiculus, so viel hatten wir inzwischen mitbekommen), eine Frage gestellt hätte: »Sagt mal, habt ihr eigentlich gehört, was Senator Metellus gestern Nacht passiert ist? Meine Freundin hat’s mir vorhin erzählt.« Delia und ich fuhren zusammen. Wie würde Urbicus rea gieren? »Nun sag schon!«, quäkte Danaos. »Er ist überfallen worden. In seinem eigenen Haus.« »Und? Isser hin?«, fragte Danaos ohne allzu viel Mitleid in der Stimme. »Nee«, sagte Spiculus, »wohl nur verletzt. Hat eine Beule am Kopf, mehr nicht. Und geklaut wurde auch nix.« 115
»Wie das?« »So’ne blöde Sklavin kam dazwischen, hat den Einbrecher vertrieben.« »Die muss aber mächtig gekreischt haben. Was sagst du dazu, Urbicus?« Delia und ich hielten die Luft an. »Was soll ich dazu sagen?«, fragte Urbicus gedehnt. »Was geht mich Senator Metellus an? Einen feuchten Kehricht. Von mir aus kann dieser Drecksack lieber heute als morgen in den Hades einziehen.« Ich schaute Delia an. Sie nickte. »Was hast du denn gegen ihn?«, fragte Spiculus über rascht. »Hat er dir was getan?« »Mir was getan?« Urbicus schnaufte. »Das soll der mal versuchen! Den würde ich am ausgestreckten Arm verhun gern lassen. Nein, mir hat er nichts getan. Aber wisst ihr nicht, was für ein Aasgeier Senator Metellus ist?« »Nö.« »Keine Ahnung.« Urbicus schnaufte erneut. »Prokrustes, bring noch eine Runde! Aber beeil dich! Und wenn du deinen Wein noch einmal mit Fischsoße streckst, mach ich dir einen Knoten in deinen fetten Hals!« Ich biss mir auf die Lippe und hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Selbst in diesem Schummerlicht konnten wir erkennen, dass dem Wirt sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war, als er die Krüge der drei Männer mit zittern den Händen auffüllte. »Hört zu«, sagte Urbicus, nachdem er einen kräftigen 116
Schluck genommen hatte. »Alle Senatoren sind Aasgeier, so viel steht fest. Aber Metellus ist der schlimmste von allen, der Oberaasgeier, wenn ihr versteht, was ich meine. Wenn alle anderen Geier sich schon satt gefressen haben, ist Metel lus immer noch da und knabbert den letzten Rest von den abgenagten Knochen herunter. Seine Klienten sind ganz arme Schweine. Die haben nichts zu lachen, keine Hilfe zu erwarten. Metellus reißt ihnen Haus und Hof unter dem Hintern weg. Und ihm ist völlig egal, was aus seinen Klien ten wird. Sollen sie doch verhungern! Der hat mehr Familien ins Unglück und in den Hades gejagt als ich in der Arena, das könnt ihr mir glauben.« »Na, na, na – übertreib mal nicht«, ließ Danaos sich hören. »Ich übertreibe nicht«, brüllte Urbicus so laut, dass der Wirt neugierig hinter seinem Tresen aufblickte. »Der macht das seit Jahren! Wisst ihr noch, diese schlimme Missernte vor zehn Jahren? Da fing das an. In Tusculum hat Metellus ein gutes Dutzend Bauernstellen aufgekauft. Ich hab Ver wandte da in der Gegend. Für ein paar Sesterzen. Weil den Bauern das Wasser bis zum Hals stand und sie nicht mehr weiterwussten. Danach wurde er immer raffgieriger.« Ur bicus schlug mit der Faust auf den Tisch. Seine Stimme bebte. »Jetzt ist er gerade dabei, hier in der Stadt ganze Straßen aufzukaufen, um mit billigen Mietskasernen noch mehr Geld zu machen. Natürlich alles über Strohmänner, damit er nach außen eine weiße Toga behält. Dem ge schieht es ganz recht, wenn ihm jemand den Schädel ein schlägt.« 117
»Ganz ruhig, Alter!«, sagte die Plattnase. »Du regst dich schon wieder auf. Was ist nur los mit dir? Was interessiert dich dieser Senatorengeier?« »Ach, einen Scheißdreck«, schimpfte Urbicus. »Ich kann dieses ganze Pack einfach nicht ausstehen. Das wisst ihr doch. Und dieser Wein hier schmeckt zum Kotzen. Mir reicht’s. Kommt, Jungs, wir gehen in die ›Fröhliche Furie‹!« »Nicht schon wieder!«, maulte Spiculus. »Da waren wir doch erst gestern. Weißt du das nicht mehr? Bis Sonnenauf gang. Die Hähne haben schon gekräht, als wir wieder in der Portunusgasse waren. Ich glaube, wir haben zusammen eine ganze Amphore leer getrunken, oder? Ich hab jetzt noch Kopfschmerzen.« Urbicus lachte laut. »Aber der Wein dort ist besser. Er schmeckt nicht nach Fisch. Hey, Prokrustes, komm her, wir wollen zahlen.« »Runter!«, flüsterte ich und zog Delia am Arm. Im nächs ten Moment saßen wir unter dem Tisch auf dem schmut zigen Boden. Die Männer erhoben sich und zahlten. Wir hörten die Münzen klimpern. Kurz darauf waren Delia und ich wieder die einzige Gäste im ›Röhrenden Eber‹. »Was macht ihr denn da?«, fragte der Wirt von seinem Tresen aus. »Nichts, gar nichts«, sagte Delia, als sie sich aufrappelte und den Schmutz von ihrer Tunica klopfte. »Wir wollten nur …« »Wir wollen zahlen«, half ich aus. »Ihr hattet zwei Becher Wein, nicht wahr?« »Fischwein«, sagte ich, als Delia ihm schon zwei Münzen auf den Tresen warf. »Stinkenden Fischwein.« 118
»Verwöhnte Püppchen!«, schimpfte der Wirt. »Wenn’s euch hier nicht schmeckt …« Den Rest seiner Worte hörten wir nicht mehr, weil wir schon wieder auf der Straße standen. Wir atmeten beide tief durch. Obwohl es eine enge Gasse war, blendete uns das Tageslicht. Ich hielt mir die Hand über die Augen. »Urbicus kann nicht der Täter gewesen sein!«, rief Delia aufgeregt. »Der war gestern Nacht in dieser Kneipe. Wie hieß sie noch?« »Zur Fröhlichen Furie«, murmelte ich. In meinem Kopf purzelten die Gedanken wild durcheinander. Ich hatte Mühe, mich auf das Gespräch mit Delia zu konzentrieren, weil ich spürte, dass wir der Lösung ganz nahe waren. »Richtig«, sagte Delia. »Der hat dort gesoffen, die ganze Nacht hindurch. Bis es hell wurde. Wir sind einer falschen Spur nachgegangen.« Delia kratzte sich am Hals, wie sie es öfter tut, wenn sie nervös ist. »Obwohl … So wie der sich aufgeregt hat, könnte man glatt meinen, dass er wirklich was mit der Sache zu tun hat. Was denkst …« Sie starrte mich entsetzt an. »Hey, was ist denn in dich gefahren?« Ich hatte das Gefühl, als hätte Zeus mich mit einem Blitz getroffen. Mir war alles klar geworden. Mit einem Schlag. Bei allen Göttern des Olymp! Das musste die Lösung sein! »Was ist mit dir los?«, fragte Delia. »Was guckst du so komisch? Hab ich hier irgendwas?« Sie betastete ihren Hals, auf den ich unentwegt starrte. »Nein«, sagte ich. Endlich hatte ich einen der wilden Ge danken, die in meinem Kopf hin und her schwirrten, festhal ten können. Einen furchtbaren Gedanken. 119
»Wir müssen zurück zu deinem Vater!«, rief ich. »Sofort. Komm, schnell. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Es ist alles ganz anders.« »Was ist nur …?« Doch bevor Delia ihre Frage stellen konnte, zog ich sie schon im Laufschritt durch die Gassen. Verschwitzt und außer Atem standen wir eine halbe Stunde später wieder vor Ovid, der immer noch am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer saß. »Was ist denn mit euch passiert?«, fragte er, als er uns keuchend vor sich sah. »Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr nicht …« »Ich weiß«, schnaufte Delia und stemmte eine Hand in die Hüfte. »Aber Lycoris will dich etwas fragen.« »Und?«, fragte Ovid und schaute mich abwartend an. »Welche Frage kann so wichtig sein, dass ihr …?« Ich schnitt ihm das Wort ab: »Du hast doch vorhin von Senator Metellus’ Frau gesprochen?« Ovid nickte. »Sie ist von einem Landgut des Senators zurückgekom men, nicht wahr?« Ovid nickte erneut. »Und wo liegt dieses Landgut?« »In Tusculum. Hatte ich das nicht gesagt? Die Familie Metellus besitzt dort eine Villa. Eine halbe Tagesreise vor der Stadt.« Allmächtiger Zeus, dachte ich. Kann das wirklich wahr sein? 120
»Seit wann besitzt der Senator dieses Landgut?«, fragte ich weiter. »Na, du stellst Fragen …« Ovid legte die Stirn in Falten. »Lass mich überlegen … Das ist jetzt … ja, seit etwa zehn Jahren. Ein idyllisches Anwesen, ich war vor ein paar Jahren einmal dort. Inmitten der schönsten Wiesen und Felder.« »Komm«, sagte ich zu Delia. »Komm schnell!« »Was ist denn jetzt schon wieder?« Sie schaute mich mehr als irritiert an. »Wir wollen deinen Vater nicht länger stören.« Ich hatte Mühe, mich zu beherrschen. »Lass uns in den Garten gehen!« Ich muss so durchdringend geguckt haben, dass Delia ihr Nachfragen einstellte und mir folgte. »Ich erzähl euch dann, was ich mit Senator Corvinus …« Weiter konnte ich Ovid nicht hören. Ich stürmte bereits die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal. Delia lief hinter mir her und hatte mich erst im Garten eingeholt, wo ich unter einem Olivenbaum stehen geblieben war. »Was ist denn nur in dich gefahren?«, fragte sie verwirrt. »Hat dich eine Schlange gebissen?« »Ist dir denn nichts aufgefallen?«, fragte ich. »Was soll mir denn aufgefallen sein?« »Es passt alles zusammen«, sagte ich. »Wir haben es bloß nicht gesehen. Oder sehen wollen.« »Was redest du da?« »Das Landgut in Tusculum.« »Was soll damit sein?« »Es gehört Senator Metellus. Seit zehn Jahren.« »Ja und?« 121
»Und davor?« »Wie davor?« »Na, wem hat das Stück Land, auf dem die Villa des Sena tors steht, davor gehört?« »Woher soll ich das wissen? Vielleicht irgendeinem ande ren Senator. Oder einem Bauern, dem Senator Metellus das Land abgekauft hat.« »Genau!« rief ich. Wieso begriff Delia nur so langsam? »Er hat es einem Bauern abgekauft. Vor zehn Jahren. In Tusculum.« Delia wurde blass. »Du meinst …?« »Ja!«, rief ich und packte sie an den Schultern. »Senator Metellus hat vor zehn Jahren das Landgut in Tusculum einem armen Bauern abgekauft. Einem Bauern, der zwei schlechte Ernten hinter sich hatte und dem das Wasser bis zum Hals stand. Urbicus hat’s doch erzählt!« »Pacuvius’ Vater«, stammelte Delia. Ich ließ sie los. »Das ist möglich«, sagte sie. »Tusculum, vor zehn Jahren – das passt, dasselbe hat Pacuvius erzählt. Aber es kann auch ein Zufall sein.« »Richtig«, sagte ich. »Aber mir ist noch etwas aufgefallen, vorhin bei Pacuvius in der Küche. Nein, falsch, vorhin ist mir nichts aufgefallen, erst gerade eben, vor dem ›Röhrenden Eber‹.« »Was, beim Pollux, meinst du?« »Pacuvius hat geschwitzt.« »Dich hat wirklich eine Schlange gebissen.« »Er hat sich mit einem Tuch das Gesicht abgewischt. Und den Hals.« 122
»Richtig. Und was ist daran so auffällig? Im Moment schwitzen wir auch ziemlich.« »Pacuvius ist der größte Fan der Löwentruppe.« Delia wich einen Schritt zurück und schlug sich an die Stirn. »Beim Hercules, er trug kein Amulett! Dass mir das nicht gleich aufgefallen ist!« Wie hatte uns das nur passieren können? Die ganze Zeit hatten wir zusammen mit Pacuvius in der Küche gesessen und nicht bemerkt, dass er kein Löwenamulett trug! Irgend einer der Unsterblichen musste uns mit Blindheit geschlagen haben! »Aber vielleicht hatte er es in seiner Tunica«, wandte Delia ein. »Oder er legt es bei der Arbeit ab.« »Möglich«, sagte ich, »aber weißt du noch, wie er reagiert hat, als wir ihm unser Amulett zeigten?« »Als hätte ihn Vulcanus mit dem Schmiedehammer getrof fen. Er war ja ganz benommen, hat kaum noch gesprochen.« »Weil es nämlich sein Amulett war, das wir ihm gaben. Dasselbe Amulett, das Myron ihm in der Nacht zuvor vom Hals gerissen hat.« Delia schüttelte den Kopf. »Das kann doch alles nicht sein. Wie kann man sich in einem Menschen so täuschen? Und wenn alles doch ein Zufall ist? Wenn wir uns täuschen?« Ich klopfte Delia kräftig auf die Schulter. »Aua! Was soll denn das?« »Du bist nicht zusammengezuckt.« »So schlimm war das ja auch nicht.« »Aber Pacuvius ist zusammengezuckt, als sein Onkel ihm in der Küche auf die Schulter geklopft hat.« 123
»Der hat starke Hände.« »Weißt du nicht mehr, was Myron erzählt hat? Von der kleinen Hermesstatue, die auf Senator Metellus’ Schreib tisch stand?« Delia stutzte kurz. Dann fiel es ihr ein. »Er hat sie genom men und dem Unbekannten an die Schulter geworfen.« »Genau«, sagte ich. »Pacuvius ist zusammengezuckt, weil ihm die Schulter noch von dem Bronzehermes wehtat, den Myron ihm dagegengeknallt hatte.« »Und die Haare? Myron sagte, der Täter habe halblange dunkle Haare. Und Pacuvius …« Ich nickte nur. »… hat halblange dunkle Haare. Aber das ergibt doch alles keinen Sinn! Warum sollte Pacuvius Senator Metellus über fallen? Oder gar umbringen? Weil er seinem Vater den Hof abgekauft hat? Das war hart, aber doch kein Unrecht. Außer dem hätte der Vater ja nicht verkaufen müssen. Und es ist zehn Jahre her. Zehn Jahre!« Delia hatte recht, für ein Motiv war das zu wenig. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist alles völlig verrückt. Meinst du nicht, wir sollten uns besser an Urbicus halten? Der ist ein brutaler Gladiator. Vielleicht war er ja doch nicht die ganze Nacht in dieser Kneipe. Pacuvius hat auf mich nicht den Eindruck gemacht, als sei er ein skrupelloser Mör der.« »Auf mich auch nicht«, musste ich zugeben. »Und viel leicht täusche ich mich auch. Vielleicht hat Senator Metellus das Landgut in Tusculum ja von einem ganz anderen gekauft. Oder er hat es geerbt. Vielleicht besitzt Pacuvius überhaupt 124
kein Löwenamulett. Oder er legt es bei der Arbeit tatsächlich ab. Vielleicht hat er sich die Schulter morgens beim Aufste hen verrenkt. Vielleicht, vielleicht, vielleicht!« »Wir müssen das herausfinden«, sagte Delia. »Und zwar möglichst schnell.« »Am besten, noch bevor Senator Corvinus hier auf schlägt.« »Also, worauf warten wir?«
Zur neunten Stunde an den Iden des Juli, am Nachmittag des 15. Juli
D
elias Frage bedurfte keiner Antwort. Es verging keine halbe Stunde, bis wir wieder in der Ascaniusgasse stan den. Es war inzwischen früher Nachmittag, Helios’ Feuerwagen brannte heiß vom Himmel. Wer konnte, zog sich zu dieser Tageszeit ins Haus oder eine kühle Säulenhalle zu rück. Die schmale Gasse war beinahe menschenleer, nur ein paar Kinder spielten lärmend mit einem Ball, ein Stück weiter saßen zwei kahle Greise auf Holzschemeln vor einem Haus und dösten in der Sonne. Wir standen vor Magister Orbilius’ Haus. Erst jetzt wurde uns schlagartig klar, dass wir nicht die leiseste Idee hatten, wie wir vorgehen sollten. »Wir könnten die Nachbarn fragen«, schlug Delia zaghaft vor. 126
»Was willst du sie fragen? Ob sie Pacuvius einen Mord anschlag zutrauen?« Delia seufzte. »Nein, das wohl besser nicht. Aber wir könnten sie fragen, ob Pacuvius überhaupt ein Löwenamu lett besitzt. Die Antwort darauf könnte uns einen Schritt wei terbringen.« »Möglich«, sagte ich. »Oder wir fragen Servilia, wo Pacu vius in der letzten Nacht war.« »Er könnte sich heimlich aus dem Haus geschlichen ha ben«, wandte Delia ein. »Dann fragen wir Magister Orbilius, was mit Pacuvius’ Schulter los ist.« Es war einfach furchtbar! Uns lief die Zeit davon, uns und Myron. Doch wir kamen nicht von der Stelle. Wahrschein lich hätten wir noch stundenlang weiter überlegt, wie wir am besten vorgehen sollten, wenn Pacuvius selbst nicht plötzlich wie aus dem Nichts hinter uns aufgetaucht wäre. Wir hatten ihn nicht kommen hören. »Ihr schon wieder?«, fragte er verblüfft, als er den Haus schlüssel aus seiner Tunica zog. Er war blass. Ich sah, dass seine Hand zitterte, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. »Habt ihr etwas vergessen?« »Ja«, sagte Delia und schaute mich flehentlich an. »Ja«, wiederholte ich. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was sollten wir nur tun? Ihn zur Rede stel len? So tun, als seien wir zufällig hier vorbeigekommen? »Wir wollten noch einmal mit dir über Urbicus reden«, hörte ich mich sagen. Beim allmächtigen Zeus! War es wirk lich eine so gute Idee, hierher zu kommen? 127
»So?«, sagte Pacuvius gedehnt. »Ich habe euch doch schon alles erzählt. Aber wenn ihr unbedingt wollt, kommt doch rein.« Es klang nicht gerade einladend. Er stieß die Tür auf und trat in den schmalen Flur. Ich schaute Delia an. Wenn Pacuvius tatsächlich der Täter war, sollten wir seiner Einladung besser nicht folgen. »Worauf wartet ihr?«, fragte Pacuvius aus dem Halbdun kel des Flurs. Mein Blick fiel auf seinen Hals. Ein Löwen amulett war dort immer noch nicht zu sehen. »Ich muss ein paar Sachen aus der Werkstatt holen und habe nicht viel Zeit.« Magister Orbilius würde da sein, dachte ich. Nur keine Panik! Ich nickte Delia zu. »Wir kommen.« Wenige Augenblicke später standen wir zusammen mit Pacuvius in der kleinen Werkstatt. Pacuvius suchte aus ver schiedenen Kästen Feilen, Hobel, einen Hammer, ein langes Messer und anderes Werkzeug zusammen, das Tischler bei ihrer Arbeit verwenden. Er steckte alles in einen großen Lei nenbeutel. Delia und ich lehnten an einer Werkbank, ließen unsere Blicke über die vielen fertigen und halb fertigen Stüh le, Leitern, Tische und Schränke schweifen, die die Werkstatt füllten, und wussten nicht, was wir sagen sollten. »Nun, was wollt ihr noch wissen?«, fragte Pacuvius unge duldig, als er seine Tasche gefüllt hatte. Er wirkte fahrig und schien es eilig zu haben. »Onkel Orbilius wartet auf mich. Er ist bei einem Freund, ein paar Straßen weiter, und repariert eine Kommode.« »Ich dachte, ihr hättet heute Nachmittag frei«, sagte Delia. 128
Die Unsicherheit in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Der Freund kam vorhin vorbei«, sagte Pacuvius, »und bat meinen Onkel um den Gefallen.« »Und deine Tante?«, fragte ich. »Sie ist auch dort«, sagte Pacuvius. »Sitzt in der Küche und plaudert mit Lucretia, während wir Männer arbeiten. Die Kommode ist klappriger, als wir dachten. Darum hole ich noch ein wenig mehr Werkzeug.« »Ach so«, sagte ich und schluckte schwer. Wir waren also allein mit Pacuvius. Allein in dieser düsteren Werkstatt. »Also«, sagte er und trat einen Schritt auf uns zu. »Was ist los? Was wollt ihr noch wissen? Ich habe wirklich nicht viel Zeit.« Ich klammerte mich an der Tischkante fest. »Wir wollen dir von unserem Freund Myron erzählen«, sagte ich und blickte ihn unverwandt an. Von der Seite spürte ich Delias entsetzten Blick. Ich wusste in dem Moment auch nicht, warum ich das sagte. Ich hatte nur das unbestimmte Gefühl, dass es der richtige Weg sein könnte. »Myron?«, fragte Pacuvius. »Wer soll das sein? Ich dachte, ihr seid wegen Urbicus gekommen.« »Myron wurde gestern Nacht gefasst«, fuhr ich fort und wandte meinen Blick nicht von Pacuvius. »Er ist Sklave im Haus des Senators Metellus. Ein sehr freundlicher und ge bildeter Junge. Er ist Grieche, stammt aus Athen. Senator Metellus hat ihn erst vor wenigen Tagen gekauft. Er kennt den ganzen Homer auswendig.« Ich wusste natürlich nicht, ob das stimmte. »Er hat ein großes Herz, kann keinem Men schen etwas zuleide tun.« 129
Ich machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion von Pacuvius. »Und?«, fragte er mit belegter Stimme. »Warum ist er gefasst worden?« »Gestern Nacht schreckte er aus dem Schlaf auf«, fuhr ich fort. »Er hatte Geräusche gehört, aus dem Arbeitszimmer sei nes Herrn. Er rannte nach unten, sah Senator Metellus am Boden liegen, davor einen Unbekannten mit einem Dolch in der Hand. Er stürzte sich auf ihn und wurde niedergeschla gen. Doch zuvor konnte er dem Unbekannten das Amulett entreißen, das wir dir vorhin gezeigt haben.« Ich stieß Delia in die Rippen. Sie nestelte das Löwenamu lett aus ihrer Tunica hervor und hielt es Pacuvius entgegen. Er zuckte mit der Hand. Ich merkte, dass es ihm schwerfiel, nicht danach zu greifen. »Tja«, sagte ich, »und dann ist Myron in Panik geflohen, nachdem ihn eine Sklavin vor seinem bewusstlosen Herrn gefunden hatte.« »Der Senator ist nicht tot?«, fragte Pacuvius. Er atmete schwer. »Nein«, sagte ich, »er hat nur starke Kopfschmerzen und wird bald wieder auf die Beine kommen.« Pacuvius holte tief Luft. Fast schien es, als wollte er etwas sagen. Doch er schwieg. »Alles spricht gegen Myron«, fuhr ich fort. »Er hielt den Dolch in der Hand. Von dem wahren Täter hatte außer ihm niemand etwas bemerkt. Und er ist ein Sklave, ein griechi scher Sklave, neu im Haus des Senators. Wer sollte ihm glauben?« 130
Pacuvius presste die Lippen aufeinander. Sein Blick zuckte unruhig zwischen Delia und mir hin und her. »Und morgen wird man ihn hinrichten«, ergänzte Delia. Sie hatte verstanden, was ich erreichen wollte. »Natürlich nicht sofort, du weißt ja, was man mit Sklaven vor ihrer Hin richtung macht, nicht wahr?« »Das weiß ich«, flüsterte Pacuvius. Erst jetzt bemerkte ich, dass er seine Hand in den Leinenbeutel geschoben hatte, den er um die Schulter trug. Mein Magen krampfte sich zusam men. Ich dachte an die Werkzeuge, die er eben dort hinein gesteckt hatte. Pacuvius stand zwischen uns und der einzigen Tür der Werkstatt. Und er hatte kräftige Arme. Ich versuch te, nicht weiterzudenken … Er kam noch einen Schritt auf uns zu. Wir hatten die Werkbank im Rücken und konnten nirgendwohin. Pacuvius zog die Hand aus dem Leinenbeutel. Sie war, den Göttern sei Dank, leer. »Gibst du es mir zurück?«, fragte er Delia. »Wa… was?«, stotterte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Mein Löwenamulett«, sagte Pacuvius. Ich sah, dass Delia das Amulett fest umklammert in der Hand hielt. »Bitte«, sagte Pacuvius. Er streckte die Hand aus und lächelte gequält. Delia schaute mich fragend an. Ich wollte ihr sagen, dass es der einzige Beweis war, den wir hatten – da packte Pacu vius blitzschnell Delias Hand und entwand ihr das Löwen amulett. »Aua!«, rief Delia überrumpelt und rieb sich ihr Hand gelenk. 131
»Es hat mir immer Glück gebracht.« Pacuvius drehte das Amulett in seiner Hand. »Bislang jedenfalls.« »Was hast du jetzt vor?«, fragte ich leise. Pacuvius zuckte mit den Schultern. »Was ich vorhabe? Ich werde zu meinem Onkel gehen und ihm bei der Arbeit helfen. Was haltet ihr davon?« Ich spürte, wie dumpfe Wut in mir hochkochte. Delia ballte die Fäuste und hätte Pacuvius mit ihrem Blick wohl am liebsten durchbohrt. In diesem Moment ahnten wir, dass alles verloren war, dass wir das Versprechen, das wir Myron gegeben hatten, nicht würden halten können, dass er mor gen … »Aber vorher möchte auch ich euch eine Geschichte erzäh len.« Pacuvius lächelte bitter. »Den Anfang kennt ihr schon. Es ist die Geschichte eines kleinen Jungen, dessen Eltern von einem raffgierigen Senator in den Tod getrieben wurden. Der Junge wurde dann von einem freundlichen Onkel und einer lieben Tante aufgenommen, deren Güte und Herzlich keit vielleicht noch von ihrem Fleiß und ihrer Ehrlichkeit übertroffen werden. Nach einigen Jahren merkt der Junge, dass diese Tugenden der kleinen Werkstatt seines Onkels nicht viel nützen. Die Werkstatt gerät in große Schwierig keiten, der Onkel kann die Rechnungen nicht mehr bezah len, seiner Frau keine warme Kleidung kaufen, sich selbst nicht einmal einen Medicus leisten. Und warum das alles? Weil ein geldgieriger Senator ein Auge auf das bescheidene Häuschen des Onkels geworfen hat. Er will hier eine Miets kaserne hinklotzen, in der Menschen in schäbigen Löchern hausen und mit ihren überteuerten Mieten den Geldbeutel 132
des Senators zum Platzen bringen. Aber was ist mit eurem Patron, fragt ihr?« Pacuvius funkelte uns an. Seine Wangen glänzten, silber ne Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. »Der liebe Patron könnte euch doch helfen. Hah!« Er spuckte auf den Boden. »Genau wie damals, als uns der liebe Patron Haus und Hof für einen Hungerlohn abgekauft hat. Wisst ihr denn nicht, wer der liebe Patron meines Onkels ist?« Wir ahnten es. »Richtig!«, rief Pacuvius, ohne eine Antwort abzuwarten. »Senator Metellus, der Senator mit dem steinernen Herzen und den platzenden Geldbörsen. Unsere Familie gehört seit Generationen zu den Klienten der Meteller. Er hat meine Eltern auf dem Gewissen. Und er ist kurz davor, mich zum zweiten Mal ins Elend zu stürzen, mich und meine Familie. Aber dieses Mal habe ich mich gewehrt.« Pacuvius streckte uns die geballte Faust entgegen. »Ich habe es zumindest ver sucht …«, fügte er leise hinzu. Er ließ die Faust sinken und atmete tief durch. »Wolltest du ihn …?« Delia konnte ihre Frage nicht zu Ende bringen. Pacuvius schüttelte den Kopf, das Feuer war aus seinen Augen verschwunden. »Töten?«, fragte er. »Gleiches mit Gleichem vergelten? Nein, das kann ich nicht. Bestehlen wollte ich ihn, einfach nur bestehlen. Onkel Orbilius hätte mit dem Geld die Rechnungen bezahlen und sich einen Me dicus leisten können. Ich war so verzweifelt gestern Nacht. Wir hatten einen furchtbaren Abend hinter uns, Tante Ser 133
vilia, Onkel Orbilius und ich. Onkel Orbilius hatte von seinem Besuch bei Senator Metellus erzählt, wie er höhnisch abgefertigt und vor die Tür gesetzt worden war. Und dann hat er alle unsere Schulden aufgelistet. Tante Servilia hat bitter geweint. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, habe das Haus heimlich verlassen, nachdem die beiden ins Bett gegangen waren, bin stundenlang durch die Stadt gelaufen. Irgendwann war ich auf dem Esquilin, stand vor dem Haus des Senators. Im letzten Winter hatten Onkel Orbilius und ich dort die Tür erneuert, die vom Haus in den Garten führt.« Pacuvius lächelte bitter. »Ein guter Tischler weiß natürlich, wie die Türen, die er selbst gebaut hat, zu öffnen sind. Auch ohne Schlüssel. Dann habe ich’s einfach getan, ohne nachzudenken. Ich bin von der Straße aus über die Mauer in den Garten geklettert. Alles war still und dunkel. Die Tür ins Haus war kein Problem. Mein Onkel hatte mich einmal zu einem Besuch beim Senator mitgenommen, da rum weiß ich, wo sein Arbeitszimmer ist. Dort, so dachte ich, würde ich schon etwas Wertvolles finden. Eine Geldschatulle, einen silbernen Kelch, Schmuck … irgendetwas, das uns hel fen würde. Aber ich hatte gerade erst angefangen zu suchen, konnte in der Dunkelheit nicht gut sehen …« »Da hat dich der Senator überrascht«, sagte ich. Pacuvius nickte. »Er muss mich gehört haben. Vielleicht war er noch wach, ich weiß nicht. Im letzten Moment hörte ich ihn kommen, zog meine Kapuze über den Kopf und versteckte mich hinter der Tür. Er sah das Chaos im Zimmer, begann zu schreien, da warf ich mich auf ihn und hielt ihm den Mund zu. Er 134
versuchte, sich aus meinem Griff zu lösen. Plötzlich sah ich einen Dolch in seiner Hand aufblitzen und fürchtete um mein Leben. Irgendwie schaffte ich es, ihn zu Boden zu rei ßen. Er stieß mit dem Kopf gegen einen Schrank und blieb regungslos liegen. Ich dachte, er sei tot, nahm ihm den Dolch aus der Hand, als ich plötzlich ein Geräusch hörte. Im nächs ten Moment durchfuhr ein brennender Schmerz meine Schulter, und ich dachte, Apollo selbst hätte mich mit einem seiner Pfeile erwischt.« »Das war nicht Apollon«, sagte ich, »sondern Hermes, der mit seinen Flügelschuhen durch die Luft flog und auf deiner Schulter landete.« Pacuvius verzog das Gesicht. »Der Gott der habgierigen Kaufleute und der schäbigen Diebe. Irgendwie passend, fin det ihr nicht?« »Und Urbicus?«, fragte Delia. »Ist ein gemeiner Kerl«, sagte Pacuvius, »aber er hat mit der ganzen Geschichte nichts zu tun. Hier steht er«, Pacuvius hob beide Hände, »der wahre Übeltäter. Mich würde nur noch interessieren, wie ihr das herausgefunden habt.« Er ließ die Hände sinken. »Ihr wusstet es, als ihr hierherkamt, nicht wahr?« »Du trugst kein Amulett«, sagte Delia, »obwohl du ein großer Fan der Löwentruppe bist.« »Und deine Schulter«, sagte ich. »Sie tat dir sehr weh, als dein Onkel dir vorhin darauf klopfte. Myron hatte uns er zählt, dass er den Täter mit einem Bronzehermes an der Schulter getroffen hatte.« Pacuvius nickte. »Ihr seid sehr mutig, so einfach hierher 135
zukommen, in die Höhle des …«, er zögerte und zeigte auf das Amulett in seiner Hand, »… des Löwen. Doch was habt ihr jetzt vor?« »Wir wollen Myron retten«, sagte ich. »Aber dafür müs sen wir dich …« Ich stockte. Pacuvius sah mich durchdringend an. »Verraten? Auslie fern? Ist es das, was du sagen willst?« Ich hob hilflos die Schultern. Was sollten wir nur tun? Im Grunde war doch Pacuvius genauso unschuldig wie Myron. »Die Frage sollte eher lauten«, sagte Delia, »was du jetzt vorhast.« Pacuvius wiegte den Kopf. »Nun, ihr seid die Einzigen, die die Wahrheit kennen. Abgesehen von mir natürlich.« Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Was hatte er vor? Wollte er uns … »Ich werde euch erzählen, was ich mache. Ich werde dieses Haus jetzt verlassen. Ohne euch.« Er steckte das Löwenamu lett in den Leinenbeutel, wandte sich zum Gehen, drehte sich dann noch einmal zu uns um. »Schade, dass wir uns nicht unter anderen Umständen begegnet sind, wirklich schade.« Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. »Lebt wohl.« Noch ehe wir ein Wort sagen konnten, war Pacuvius, schnell wie der Wind, aus der Werkstatt verschwunden. Delia und ich standen einige Atemzüge lang wie versteinert an der Werkbank. Dann blickten wir uns an. Gerade noch hatten wir gedacht, es sei um uns geschehen, und jetzt … »Wa… was sollen wir …?«, stammelte Delia. »Hinterher!«, rief ich. »Wir müssen ihn aufhalten.« Und schon rannten wir aus der Werkstatt, durch den Flur, 136
hinaus auf die Ascaniusgasse. Beim Herakles, war es heiß hier draußen! In der Werkstatt war es kühl und dunkel ge wesen. Die Sonne blendete uns, wir brauchten einige Augen blicke, um uns an die Helligkeit zu gewöhnen. »Wo ist er hin?«, rief Delia und blickte hektisch in beide Richtungen. Kein Mensch war zu sehen. Die spielenden Kin der waren verschwunden, und auch die Schemel, auf denen die beiden Alten eben noch gesessen hatten, waren leer. Pacuvius musste in irgendeine Seitengasse gerannt sein. Es war aussichtslos, die Verfolgung aufzunehmen. Wohin hät ten wir uns wenden sollen? In dem Gassengewirr der Subura hätten wir uns nur heillos verlaufen. »Weg«, sagte ich resigniert. »Er ist weg. Den holen wir nicht mehr ein. Und selbst wenn – wir könnten ihm eh nichts beweisen.« »Was hat er denn vor?«, fragte Delia verzweifelt. »Na, was wohl? Der will abhauen, die Stadt verlassen.« »Aber wir können ihn doch nicht einfach entkommen lassen!«, rief Delia. Tränen traten in ihre Augen. »Das ist schon geschehen«, sagte ich und hatte das Gefühl, als würde sich eine eiserne Klaue um mein Herz legen.
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Zur zweiten Stunde am 17. Tag vor den Kalenden des Sextilis, früh am Morgen des 16. Juli
S
o schnell uns die Sandalen trugen, liefen wir durch die staubigen Straßen zurück auf den Esquilin. Wir stürm ten quer durch das Haus in den Garten, wo Delia ihren Vater vermutete. Und richtig, er saß auf derselben Bank, auf der er schon am Morgen gesessen hatte, neben ihm ein kleiner alter Mann. Das musste Senator Corvinus sein. Er trug eine blass grüne Tunica und die feinen roten Schuhe, an denen man Senatoren leicht erkennen kann. Augenscheinlich hatte der Senator darauf verzichtet, die Toga aus schwerer Wolle an zulegen. Kein Wunder, bei der Hitze! Corvinus hatte ein Gesicht, das mich sofort an das einer Schildkröte denken ließ, so viele Falten und Furchen durchzogen seine dunkle Haut. 138
»Ich habe euch schon suchen lassen«, sagte Ovid, nachdem wir den Senator höflich begrüßt hatten. Er schaute uns ver blüfft an. »Wie seht ihr denn schon wieder aus? Verschwitzt und voller Staub. Wo wart ihr? Doch nicht etwa …?« »Nein, nein«, sagte Delia, »mach dir keine Sorgen. Wir sind nur spazieren gegangen.« »Was hast du gesagt?« Senator Corvinus hielt sich die Hand hinters Ohr und blinzelte Delia mit seinen wässrigen Augen an. »Sie waren spazieren«, sagte Ovid mit lauter Stimme direkt in das Ohr des Senators. Corvinus musterte uns erstaunt. Es war uns schon sehr peinlich, in welchem Aufzug wir vor ihm standen. Aber et was anderes bereitete uns größere Sorge. »Wir haben etwas herausgefunden«, rief ich. »Das würden wir euch gerne erzählen. Wenn ihr ein wenig Zeit für uns habt.« Es dauerte lange, bis wir unseren Bericht beendet hatten. Das lag nicht nur daran, dass wir so viel zu erzählen hatten, sondern vor allem daran, dass wir das meiste zweimal er zählen mussten. Senator Corvinus legte immer wieder eine Hand an sein Ohr, schüttelte den Kopf und schaute uns mit zusammengekniffenen Augen an. Als wir von Senator Me tellus’ Machenschaften berichteten, schnaubte er und mur melte ein paar unverständliche Worte. Nachdem wir schließ lich alles erzählt hatten, wussten wir zunächst nicht, was wir von Senator Corvinus halten sollten. Dieser schwerhörige alte Mann sollte einer der mächtigsten römischen Senatoren sein? Doch man soll nicht von der Farbe des Papyrus auf den 139
Inhalt der Schriftrolle schließen, wie mein Vater immer sagt. Und das traf auch auf Senator Corvinus zu. »Ihr seid kluge und tapfere Mädchen«, sagte er. »Und ihr habt ein großes Herz. Das ist etwas ganz Besonderes. Aber eine Sache gibt es, die ihr dringend benötigt.« Wir schauten ihn verständnislos an. »Nun«, er schmunzelte, »habt ihr keine Ahnung, was das ist?« Ratloses Schulterzucken. »Ein Bad«, sagte er und begann zu kichern. Wir schauten an uns herunter und mussten zugeben, dass der Senator recht hatte. Allerdings war uns ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Wir müssen ziemlich verstört ge guckt haben, denn Corvinus sagte: »Entschuldigt bitte, Kin der. Meine Witze sind meistens nicht die besten. Das sollte ich lieber solch gescheiten Wortakrobaten wie meinem Freund Ovid überlassen. Aber nun zur Sache. Ovid hat mir schon einiges über den Fall erzählt. Eigentlich war ich hierherge kommen, um mir ein paar schöne Verse anzuhören. Nun denn, was kann ich für euch tun?« »Kannst du Myron helfen?«, schoss es aus Delia heraus. Ihre Stimme bebte, wahrscheinlich weil sie wusste, wie viel von der Antwort abhing. Senator Corvinus wiegte seinen Schildkrötenkopf. »Das kommt darauf an.« »Worauf?«, fragte Delia. »Ob ich Aquilius überzeugen kann.« »Wer ist Aquilius?« »Bitte?« 140
»Wer ist Aquilius?«, wiederholte Delia mit lauter Stimme. »Der Praetor«, antwortete Corvinus. »Der Praetor, der den Fall bearbeitet. Ein ehrgeiziger junger Mann. Ich war mit seinem Vater befreundet.« »Wovon willst du ihn überzeugen?«, fragte Ovid. »Na, von der Wahrheit, mein Junge.« Corvinus griff nach seinem Gehstock und erhob sich mühevoll von der Bank. »Von der nackten Wahrheit, wie ein Dichter einmal geschrieben hat. Von der Wahrheit, die die Mädchen herausgefunden haben. Aber ob mir das gelingt, weiß ich nicht. Der junge Aquilius kann sehr eigensinnig sein. Ein Sturkopf, genau wie sein Vater.« »Willst du gleich zu ihm gehen?«, fragte ich. »Gehen?«, fragte Corvinus und begann erneut zu kichern. »Nein, meine junge Dame. Das werde ich nicht. Aquilius wohnt auf dem Palatin. Ich glaube kaum, dass meine alten Beine mich noch so weit tragen würden.« »Aber …«, hob ich zu einem Protest an, doch Senator Corvinus tätschelte meine Schulter. »Ich werde nicht gehen«, wiederholte er lächelnd. »So alte Knaben wie ich gehen keine weiten Wege mehr, sie lassen sich tragen. Auf der Straße steht meine Sänfte. Die Sklaven dösen wahrscheinlich irgendwo im Schatten. Doch dieses Mittagsschläfchen werde ich unterbrechen müssen.« Mir fiel die kleine Sänfte ein, die ich beim Betreten des Hauses aus dem Augenwinkel neben dem Eingang stehen gesehen hatte. Corvinus’ Witze waren wirklich nicht die bes ten. »Und falls Aquilius uneinsichtig sein sollte«, der Senator 141
lächelte mich verschmitzt an, »… ich bin heute Abend zum Essen eingeladen. Vielleicht kann ich da etwas erreichen.« »Bei einem Essen?«, fragte Delia erstaunt. »Was kann man denn bei einem Essen erreichen?« »Ach«, sagte Corvinus und legte seine Hand auf Delias Schulter, »das kommt immer darauf an, wer unter den Gäs ten weilt. Oder bei wem man eingeladen ist. Gehabt euch wohl!« Er nickte uns zu und ging, auf seinen Stock gestützt, ein paar wacklige Schritte in Richtung Haus. Plötzlich blieb er stehen, rührte sich einige Augenblicke lang nicht, als dächte er angestrengt über etwas nach. Schließlich wandte er sich noch einmal um. »Gib ihnen einen griechischen Namen«, sagte er zu Ovid. »Wem?«, fragte der verdutzt. »Na, den Verwandlungsgeschichten, an denen du arbei test. Und aus denen du mir noch vorlesen musst.« »Einen griechischen Namen …«, sagte Ovid, mehr zu sich selbst, und kratzte sich am Kopf, »… das ist eine gute Idee. Das ist eine sehr gute Idee. Corvinus, wir sollten …« Doch Senator Corvinus war schon durch die Gartentür verschwunden. Den Rest des Nachmittags verbrachten wir im Haus. Jetzt konnten wir nur noch warten. Ich konnte kaum einen Mo ment still sitzen. Selbst das Bad, das Delia und ich uns am frühen Abend gönnten, entspannte mich nicht. Die Stunden flossen träge dahin wie der Tiber in seinem Bett. Helios schirrte seine Rosse vom Wagen, die ersten Sterne 142
zeigten sich am Himmel, doch immer noch keine Nachricht von Senator Corvinus. Irgendwann spät in der Nacht fiel ich in einen unruhigen Schlaf voller böser Träume, aus dem ich beim ersten Morgengrauen erwachte. Das Frühstück aßen wir bei Lydia in der Küche. Sie hatte mittlerweile ebenfalls erfahren, dass Myron unschuldig war. Darum gab sie sich die größte Mühe, uns mit endlosem Ge plapper auf andere Gedanken zu bringen. Sehr erfolgreich war sie dabei nicht. Wir gingen hinauf in die Bibliothek. Lydia hatte erzählt, dass der Herr in der Nacht kein Auge zugetan hat. Er sei die ganze Zeit über in der Bibliothek auf und ab gegangen. Sie konnte es gut hören, da ihr Zimmer direkt unter der Biblio thek liegt und die knarrenden Deckenbalken sie immer wie der geweckt hatten. Ovid sah unausgeschlafen aus, als wir ihn an seinem Schreibtisch antrafen. Er hatte den Kopf auf beide Hände ge stützt und starrte mit glasigen Augen ins Leere. »Alles in Ordnung, Papa?«, fragte Delia vorsichtig. »Soll ich dir eine warme Milch holen?« Ovid strich sich mit den Händen übers Gesicht und schüt telte den Kopf. »Ein Glas Wein wäre wohl besser«, murmelte er. »Oder eine Mütze voll Schlaf.« Er seufzte laut und lehnte sich, die Arme vor der Brust verschränkt, in seinem Korbstuhl zurück. »Aber die hätte ich mir wohl selbst holen müssen, heute Nacht.« »Wir konnten auch nicht schlafen«, sagte Delia. »Gibt es Neuigkeiten?« 143
»Leider nein«, sagte Ovid und erhob sich schwerfällig. »Aber damit können wir auch noch nicht rechnen. Rom er wacht gerade erst. Der Praetor wird noch nicht in seinem Büro sein. Wir müssen Geduld haben.« »Wir haben eine Idee«, sagte ich und schaute Delia fra gend an. Sie nickte. Ovid hob die Augenbrauen. »Wir wollen zum Praetor gehen und ihm die ganze Sache erzählen. Vielleicht kannst du ja mitkommen. Du bist ein an gesehener Mann hier in der Stadt.« »Bitte, was wollt ihr?« Ovid schien nicht sehr begeistert zu sein von unserem Vorschlag. Ich muss zugeben, dass ich es auch nicht war. Zwei zwölfjährige Mädchen, die zu einem hohen römischen Beam ten vorgelassen werden wollten, um sich für einen Sklaven einzusetzen, ohne irgendeinen Beweis mitzubringen – schon der Türhüter des Praetors würde uns auslachen. »Wir könnten es versuchen«, sagte Ovid langsam. Offen bar ging es ihm wie uns: Alles schien besser als die tatenlose Warterei. »Obwohl ich mehr als skeptisch bin. Aber viel leicht sollte ich zuvor einen Boten zu Senator Corvinus schi cken, damit der …« Es klopfte an der Tür. »Ja?« Die Tür ging auf und Lydia steckte ihren Kopf in die Bibliothek. Ihre Wangen glühten wie Mohnblumen. »Es ist Besuch da, Herr. Er wartet unten im Atrium. Er sagt, er hat nicht viel Zeit.« »Besuch? Um diese Zeit?«, fragte Ovid. Wir drei schauten Lydia verdutzt an. »Wer ist es denn?« 144
Lydia lächelte scheu. »Du kennst ihn, Herr. Ein großer Bewunderer deiner Gedichte.« »Etwa Corvinus?«, fragte Ovid. »Nein«, sagte Lydia, »jemand anders. Aber du solltest wirklich schnell kommen, Herr. Er sagt, er hat es eilig.« »Gut, dann komme ich. Wartet hier auf mich«, sagte Ovid im Gehen zu uns. »Es wird nicht lange dauern. Und dann machen wir uns gleich auf den Weg zum Praetor.« Er zog die Tür hinter sich ins Schloss. Wir hörten, wie er und Lydia die Treppe hinunterstiegen. »Wer kann das sein?«, fragte ich. Delia winkte ab. »Keine Ahnung. Mein Vater bekommt dauernd Besuch von irgendwelchen Leuten, die sich für seine Gedichte interessieren. Hoffentlich quatschen die nicht so lange.« Delia ließ sich in Ovids Korbstuhl fallen, ich setzte mich auf die Tischkante. Ganz leise konnten wir die Stimmen zweier Männer hören, die sich miteinander unterhielten. Allmäh lich wurden wir unruhig. Wie lange wollte dieser Fremde Ovid denn noch aufhalten? Delia blickte mich genervt an. »Wenn das noch lange dauert …« Die Stimmen verstummten, die Treppenstufen knarrten. »Na endlich«, seufzte Delia und sprang, als die Tür ge öffnet wurde, aus dem Stuhl. »Wie lange wolltest du denn noch …?« Sie brach mitten im Satz ab. Nicht ihr Vater stand in der Tür, sondern ein alter Mann, den ich nicht kannte. Ich musste an meinen eigenen Großvater denken, als ich ihn sah. Er war nämlich in einen dicken wollenen Umhang gehüllt, mitten im Hochsommer! Frieren alte Männer eigentlich 145
immer? Allzu groß war er nicht. Er hatte volles graues Haar und abstehende Ohren. »Seid gegrüßt«, sagte er lächelnd. »Aurelia und …«, er schaute mich an, »Lycoris, nicht wahr?« Ich nickte. Wer war dieser Mann? Delia schien ihn zu ken nen. Aber aus irgendeinem Grund hatte es ihr die Sprache verschlagen. Oder sie hatte einen Krampf im Kiefer. Auf jeden Fall konnte sie ihren Mund nicht mehr schließen. »Ich wollte euch persönlich danken«, fuhr der alte Mann fort, »für das, was ihr getan habt. Das war tapfer und selbst los. Solche Eigenschaften findet man heutzutage nicht häu fig. Und es war nützlich. Nützlich für mich. Aber das kann euch Ovid ausführlicher erklären. Ich habe jetzt keine Zeit. Hier«, sagte er und zog zwei kleine Kästchen aus seinem Um hang hervor, »als kleines Dankeschön.« Er schüttelte uns beiden die Hand und gab uns ein Käst chen. Ich war so verwirrt, dass ich alles über mich ergehen ließ. Wer war dieser Mann und was wollte er hier? Ich dachte an Myron und an die Zeit, die uns davonlief. »Lebt wohl«, sagte der Alte und war genauso plötzlich ver schwunden, wie er gekommen war. Als er die Tür hinter sich schloss, hatte sich der Krampf in Delias Kiefer immer noch nicht gelöst. Langsam fing ich an, mir Sorgen zu machen. »Ist was?«, fragte ich sie. »Hast du ein Gespenst ge sehen?« »Nein«, sagte Delia und schluckte. Offenbar hatte sie doch keinen Krampf. »Aber den Kaiser.« »Wo?«, fragte ich. »Wo hast du den …?« Ich stockte. In diesem Moment hat mein Herzschlag, glau 146
be ich, für einen Moment ausgesetzt. Vor Schreck ließ ich das Kästchen fallen. Es sprang auf, ein goldener Ring fiel heraus und kullerte über den Fußboden. »Das war …?« Jetzt war ich es, die Probleme hatte zu sprechen. Delia nickte nur. Ich bekam weiche Knie. »Bei Castor und Pollux«, ich suchte nach Worten. »Das war wirklich …?« Delia holte tief Luft: »Der Princeps«, sagte sie, »der Erha bene, der ehrenwerteste aller Senatoren, der Sohn des Ver göttlichten, der Imperator Caesar Augustus.« »Der Kaiser«, hauchte ich und musste mich setzen. »Aber wieso hast du denn nichts gesagt? Ich habe ihn doch noch nie gesehen. Ich hätte mich doch … Und überhaupt – was wollte der hier?« »Was hätte ich denn sagen sollen?«, fragte Delia. »Etwa: Verehrter Herr, das ist meine Freundin Lycoris, Tochter des Papyrushändlers Theron aus Misenum. Und das, liebe Lyco ris, ist Caesar Augustus, der mächtigste Mann der Welt?« Ich sah ein, dass sie recht hatte. »Aber was wollte er hier? Und was sollen diese Ringe?« Meiner war unter den Tisch gerollt. Ich bückte mich und hob ihn auf. »Er ist wunderschön«, sagte ich und betrachtete ihn genauer. Es war ein goldener Ring, den ein roter Edel stein zierte. Und in diesen Edelstein war eine klitzekleine Figur eingearbeitet: Apollon, der auf einer Lyra spielte. Delia hatte den gleichen Ring bekommen. »Der Schutzgott des Kaisers«, murmelte sie, als sie den winzigen Apollon erkannte. Als wir noch damit beschäftigt 147
waren, unsere Ringe zu vergleichen, kam Ovid zurück in die Bibliothek. »Papa!«, rief Delia, kaum hatte er den Fuß über die Schwel le gesetzt. »Was wollte Augustus hier? Wieso hast du uns nicht …?« Ovid hob die Hand und schnitt Delia das Wort ab. »Es ist schon wieder Besuch gekommen«, sagte er mit ernstem Gesicht. Täuschte ich mich oder zuckte ein feines Lächeln um seine Lippen? »Aber wir müssen doch sofort aufbrechen«, protestierte Delia. »Sonst ist es für Myron zu spät.« Ovid schüttelte den Kopf. »Nein, dafür ist es schon zu spät.« »WAS?«, rief Delia verzweifelt. »Was meinst du damit? Willst du damit sagen, dass …?« »Ich will damit sagen, dass ihr unseren Besuch empfangen solltet. Er wartet im Atrium. Wenn ihr dann immer noch aufbrechen wollt, können wir das gerne tun.« Jetzt konnte Ovid sein Lächeln nicht mehr unterdrücken. Delias Blick sauste zwischen ihm und mir hin und her. »Eigentlich kann das ja nur eines bedeuten«, sagte ich, und im nächsten Moment schoss Delia an ihrem Vater vorbei durch die Tür. Ich folgte ihr. Unten im Atrium stand, auf seinen Gehstock gestützt, Senator Corvinus. Diesmal trug er eine elegante Senatoren toga aus weißer Wolle. Er lächelte Delia an, die aufgewühlt vor ihm stand. »Und?«, fragte Delia. »Hast du etwas erreicht? Hat der Praetor dir geglaubt? Oder ist es schon zu spät?« 148
Der Senator räusperte sich. »Nun, meine Kinder, wie soll ich sagen? Für den einen oder anderen könnte es in der Tat zu spät sein.« »Was meinst du damit?«, fragte Delia. »Ist Myron etwa schon …?« Inzwischen hatte sich auch Ovid zu uns gesellt. Senator Corvinus räusperte sich erneut. Reichlich umständlich, wie ich fand. »Tot?«, fragte er und wiegte seinen Schildkrötenkopf. »Myron? Nein, das ist er nicht. Jedenfalls noch nicht.« »Das heißt, sie foltern ihn gerade?« »Foltern? Ja, in gewisser Weise ist das wohl eine Art Fol ter, da muss ich dir recht geben.« Delia stiegen Tränen in die Augen. Vielleicht konnte sie deswegen Corvinus’ Grinsen nicht sehen. »Er hat die ganze Nacht kein Auge zugetan«, fuhr der Senator fort. »Und dann diese Aufregung am frühen Mor gen. Und jetzt muss er sich draußen vor der Tür die Beine in den Bauch stehen, während wir uns hier unterhalten. Grau envoll!« »Draußen vor der Tür?«, wiederholte Delia. »Was willst du damit sagen? Doch nicht etwa vor dieser Tür?« Sie zeigte auf die Haustür wenige Schritte vor uns. Der Senator nickte verschmitzt und klopfte dann dreimal mit dem Gehstock auf das Mosaik, das den Fußboden des Atri ums schmückte. Einen Atemzug später wurde die Tür geöff net und Myron trat ein. Er war blass und trug einen Verband um den Kopf, aber er sah glücklich aus. Glücklich und ziem lich lebendig! 149
In diesem Augenblick machte mein Herz einen Satz und in meinem Kopf schwirrten tausend Gedanken und Gefühle wie ein aufgescheuchter Spatzenschwarm wild durcheinan der. Ich schaute zu Delia: Sie strahlte heller als der Sonnen wagen. Nachdem wir Myron einen halben Augenblick lang ungläubig angestarrt hatten, sprangen Delia und ich auf ihn zu, fielen ihm um den Hals und wollten ihn gar nicht mehr loslassen. Für Fragen und Antworten hatten wir gleich noch Zeit. »Was ist geschehen?«, fragte schließlich Delia, als wir uns einigermaßen beruhigt hatten. »Der Praetor«, sagte Myron mit belegter Stimme, »der Praetor hat mich heute Morgen freigelassen.« Was für eine furchtbare Nacht musste Myron hinter sich gehabt haben! Einen Tag und eine Nacht voller Ungewissheit und Todesangst. Das war ihm deutlich anzusehen. »Weil er dir geglaubt hat?«, fragte Delia Senator Corvinus und wäre ihm wohl am liebsten auch um den Hals gefallen. Ich hielt sie zurück, weil ich befürchtete, dass dies den klei nen alten Herrn umwerfen könnte. »Das war gar nicht mehr nötig«, antwortete der Senator. »Als ich Aquilius gestern Abend traf, war die ganze Sache gewissermaßen schon erledigt.« Delia und ich schauten ihn verständnislos an, Ovid kratzte sich sein unrasiertes Kinn und schien genauso wenig zu ver stehen wie wir. »Nun«, fuhr Corvinus fort, »es ist im Grunde ganz ein fach: Der wahre Täter hatte sich gestellt. Schon gestern Nach mittag.« 150
»Pacuvius?«, riefen Delia und ich wie aus einem Munde. Der Senator nickte. »Ja, ein junger Mann aus der Subura. Ein Tischler, wenn ich es recht verstanden habe. Er ist ges tern Nachmittag plötzlich im Büro des Praetors aufgetaucht und hat alle Schuld auf sich genommen. Seine Geschichte war durchaus glaubhaft.« »Aber gestern war doch ein Feiertag«, sagte ich. »Wieso war der Praetor dann in seinem Büro?« »Aquilius ist ein ehrgeiziger Mann«, sagte Corvinus, »der es bis zum Consulat bringen will. Da arbeitet man auch feiertags. Sein Arbeitseifer war für unseren guten Myron ein großes Glück. Nur die Götter wissen, was dieser Tischler ge tan hätte, wenn er im Amtsgebäude des Praetors niemanden angetroffen hätte.« »Das heißt …«, ich schluckte, »jetzt wird also Pacuvius bestraft.« Senator Corvinus legte die Hand ans Ohr. »Den Tischler bestrafen?«, fragte er. Ich nickte. »Ja, das muss wohl so sein. Müsste so sein, müsste ich sagen. Wollte ich sagen … .« Er lächelte sein Schildkrötenlächeln und stürzte uns in die nächste Verwirrung. »Mein alter Freund …« Ovid mischte sich in das Gespräch ein. Er legte Senator Corvinus den Arm um die Schulter. »Ich habe den Eindruck, dass du die beiden Mädchen auf eben die Folter spannen möchtest, der Myron gerade entron nen ist.« »Du hast recht«, sagte der Senator. »Ich mache es kurz. 151
Keine Scherze mehr. Also, der junge Tischler wird nicht bestraft. Er wurde heute früh entlassen, genau wie Myron. Wahrscheinlich ist er schon wieder zu Hause.« »Aber wie ist das möglich?«, fragte ich. »Er hat doch die Tat gestanden.« »Ja, das hat er. Aber seine Tat war in gewisser Weise Not wehr.« »Damit wird sich Metellus nicht zufriedengeben«, sagte Ovid. »Wenn der erfährt, dass der Täter vom Praetor auf freien Fuß gesetzt wurde, wird er alle Hebel in Bewegung setzen, um das wieder rückgängig zu machen. Er hat gute Beziehungen, kennt viele Richter, war früher selbst einmal ein glänzender Anwalt.« »Ich glaube, Metellus hat im Moment ganz andere Sorgen.« Senator Corvinus lächelte wie eine Sphinx. »Was meinst du damit?« »Er hat gerade Besuch.« »Du sprichst schon wieder in Rätseln.« »Derselbe Besuch, der eben hier war.« »Der Kaiser ist bei Metellus? Was, bei allen Göttern, will er da?« »Ihn um etwas bitten.« »Bitten?« »Na ja, du weißt ja, wie das mit den Bitten des Kaisers so ist.« Ovid nickte. »Das sind nichts anderes als Befehle, denen man unverzüglich zu folgen hat.« »So ist es«, sagte Corvinus. »Der Kaiser wird Metellus bitten, eindringlich bitten, die Stadt zu verlassen.« 152
»Warum das?« »Metellus hat reichlich Dreck am Stecken. Einen ganzen Misthaufen, möchte ich fast sagen. Augustus hatte ihn schon lange im Auge. Die üble Sache mit dem Tischler Orbilius hat das Fass dann zum Überlaufen gebracht. Metellus hat es zu weit getrieben.« »Und darum muss er ins Exil?« »Wenn du es so ausdrücken willst. Streng genommen kommt er ja nur einer Bitte des Kaisers nach. Gestern beim Abendessen habe ich übrigens lange mit ihm über den Fall gesprochen. Und nicht ganz ohne Selbstlob darf ich be haupten, dass ich seinen Entschluss entscheidend beeinflusst habe.« »Du hast gestern Abend mit Augustus gesprochen?« »Ja, dort war ich eingeladen. Hatte ich das nicht erwähnt?« »Nein«, sagte Ovid, »jedenfalls nicht direkt.« »Aber was wird dann aus Myron?«, fragte Delia. »Muss er auch ins Exil? Schließlich ist Senator Metellus immer noch sein Herr.« »Das ist nicht ganz richtig«, sagte Corvinus. »Augustus wird nämlich Senator Metellus auch darum bitten – ich darf bescheiden darauf hinweisen, dass das meine Idee war –, auf sein gesamtes Vermögen zu verzichten. Und zum Vermögen gehören nun einmal auch die Sklaven.« Delia strahlte. »Aber wo soll Myron wohnen? Er kann doch nicht auf der Straße bleiben. Er muss doch ein Dach über dem Kopf haben. Papa, können wir nicht …?« Ovid verdrehte die Augen, Corvinus lächelte, Myron be trachtete verlegen den Mosaikfußboden. 153
Natürlich gelang es Delia, ihren Vater dazu zu überreden, Myron aufzunehmen. »Aber nur für ein paar Tage!«, sagte er mit drohend erhobenem Zeigefinger. Ich bin gespannt, wie viele paar Tage das sein werden. An diesem Tag saßen Myron und Delia jedenfalls lange auf der Gartenbank und haben sich unterhalten. Delia war dabei sehr albern, fand ich. Aber wir Mädchen sind wohl manchmal so. Gleich nach dem frohen Wiedersehen im Atrium sind Delia und ich allerdings in die Subura aufgebrochen. Orbi lius und Servilia waren auch da, wir haben in der Küche gesessen wie alte Freunde und lange über die Ereignisse der letzten beiden Tage gesprochen. Fast so wie über die Abenteuer des Odysseus, so fern und wundersam kamen sie uns vor. Natürlich hatte Pacuvius ein gewaltiges Don nerwetter über sich ergehen lassen müssen. Das haben wir zum Glück nicht mitbekommen, er hat es uns erzählt. Sein Onkel und seine Tante hatten die halbe Stadt nach ihm abgesucht und wären vor Sorge beinahe gestorben. Als er dann am Morgen zurückkam, hat Orbilius ihm erst die Ohren lang gezogen und ihn gleich darauf heulend in den Arm genommen und so fest gedrückt, dass Pacuvius die Luft wegblieb. Servilia schluchzte immer wieder, als wir in der Küche saßen, und hat wohl drei Schnupftücher vollge weint. Senator Corvinus hat uns noch etwas Interessantes er zählt: Aus Senator Metellus’ beschlagnahmtem Vermögen soll Magister Orbilius so viel Geld bekommen, dass er seine Werkstatt wieder in Schwung bringen kann. Ein warmer 154
Umhang für Servilia und ein Medicus, der sich um Orbi lius’ Husten kümmert, müssten da wohl auch noch drin sein. Für heute Abend hat sich Senator Corvinus zum Essen ein geladen. Delias Vater will ein paar seiner Verwandlungsge schichten vortragen. Das wird bestimmt ein lustiger Abend. Und morgen? Ich weiß noch nicht. Vielleicht gehe ich in die Ascaniusgasse. Magister Orbilius will einen Medicus auf suchen und hat Pacuvius den Tag freigegeben. Und da dachte ich mir … na ja …. Auf jeden Fall hoffe ich, dass Vaters Geschäfte ihn noch ein paar Tage länger hier in Rom fest halten werden.
Anhang
Wissenswertes über die Römer zur Zeit des Dichters Ovid Der Dichter Ovid,
sein Förderer und der Kaiser
Publius Ovidius Naso lebte von 43 v. bis ca. 18 n. Chr. Er gehört zu den bedeutendsten Dichtern der Antike. Ovid schrieb unter anderem eine ›Liebeskunst‹ (Ars amatoria), in der die Leser auf humorvolle Weise Tipps erhalten, wo und wie sie in Rom einen Partner finden und erobern können, und die ›Metamorphosen‹: Geschichten aus der griechischen Sagenwelt, die oft mit einer Verwandlung (= Metamorpho se) enden. Ovid war verheiratet und hatte eine Tochter, wie er selbst in einem seiner Gedichte erzählt. Gefördert wur de er von Marcus Valerius Messalla Corvinus (64 v. – 8 n. Chr.), einem hoch angesehenen Senator. Ovid lebte in Rom zur Zeit des Augustus, des ersten römischen Kaisers. Dieser lenkte das Römische Reich von 31 v. Chr. bis zu seinem Tod im Jahre 14 n. Chr. Unter seiner langen Herrschaft blühte die Wirtschaft im Römi schen Reich ebenso auf wie Kunst und Kultur. Aber im Jahre 8 n. Chr. schickte er den Dichter Ovid in die Verbannung ans Schwarze Meer. Die Gründe dafür sind nicht eindeutig überliefert.
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Freizeitvergnügen im Alten Rom
Wagenrennen: Zu den beliebtesten Freizeitvergnügungen der Römer gehörten Gladiatorenkämpfe und Wagenrennen. Die Wagenrennen fanden in Rom selbst im Circus Maximus statt, einer gewaltigen Rennbahn zwischen den Hügeln Pala tin und Aventin. Man schätzt, dass zwischen 150 000 und 200 000 Zuschauer auf den Rängen Platz fanden. Auf ein Zeichen des Veranstalters schossen die Gespanne aus den Startboxen (carceres) heraus, die automatisch und gleichzeitig geöffnet wurden. Dann jagten sie sieben Mal um den Mittelstreifen (spina) herum, bis sie die Ziellinie erreicht hatten. Meistens wurde mit Viergespannen (quadrigae) ge fahren: Ein Wagen wurde von vier schnellen Hengsten gezo gen, die parallel geschirrt waren. Gelegentlich gab es auch Rennen mit Zweigespannen, viel seltener mit sechs, acht oder noch mehr Pferden pro Wagen. Die Rennwagen hatten zwei Räder und waren sehr leicht gebaut. Auf dem Wagen stand ein Fahrer (auriga). Er band sich die Zügel um seine Taille. Sein Oberkörper war durch ein ledernes Korsett ge schützt, sein Kopf durch einen ledernen Helm, seine Beine durch Bandagen aus Leinen. In der rechten Hand hielt er die Peitsche, mit der linken lenkte er den Wagen möglichst eng um den Mittelstreifen herum. Es gab vier große Rennställe, die die Zuschauer an ihren Farben erkannten: die Blauen, die Grünen, die Weißen und die Roten. Die Fahrer trugen eine Tunica in der Farbe ihres Rennstalls unter ihrem Lederkorsett. Jeder Rennstall hatte seine Anhänger, die ihre Farben im Circus lautstark unter 160
stützten. Dabei hat es sicherlich auch die eine oder andere Schlägerei gegeben, ähnlich wie heute in Fußballstadien. Die Regel waren Rennen mit acht oder zwölf Gespannen, d. h. dass jeder Rennstall zwei bzw. drei Fahrer an den Start schickte. Diese arbeiteten während des Rennens zusammen und versuchten, ihrem Spitzengespann den Sieg zu ermög lichen. Gladiatorenkämpfe fanden in der Regel im Amphitheater statt, in Rom seit dem Jahre 80 n. Chr. im Colosseum, dessen gewaltige Ausmaße man heute noch bestaunen kann. Es gab nur wenige freiwillige Gladiatoren, die meisten waren Sklaven, verurteilte Verbrecher oder Kriegsgefangene, die zum Kampf in der Arena gezwungen wurden. Gladiatoren waren in Gladiatorenschulen (ludi gladiatorii) organisiert, die von ihrem Besitzer (lanista) geleitet wurden. Die meiste Zeit des Jahres verbrachten Gladiatoren mit Trai ning und Übungskämpfen. Vielleicht fünf oder sechs Mal im Jahr mussten sie in der Arena auftreten und auf Leben und Tod kämpfen. Dabei traten die Männer paarweise gegeneinander an. Die Paare waren in der Bewaffnung der Männer aufeinander abgestimmt, sodass möglichst große Chancengleichheit be stand. Es gab regelrechte Gladiatorengattungen, auf die sich die Männer spezialisierten. Eine sehr bekannte Gattung ist der Netzkämpfer (retiarius), der mit einem Dreizack, einem Dolch, einem Schulterschirm und einem Netz, allerdings ohne Helm und Schild kämpfte. 161
Die Gladiatoren kämpften bis zur Entscheidung. Nieder lagen waren oft tödlich. Wenn ein Gladiator – verletzt oder erschöpft oder entwaffnet – aufgab, hob er als Zeichen der Kapitulation den Zeigefinger. Dann hatte der Veranstalter zu entscheiden, was mit dem Unterlegenen geschehen sollte. In der Regel dürfte er sich nach dem Publikum gerichtet haben. Befand dieses die Leistung des Unterlegenen für gut, schenk te der Veranstalter ihm das Leben und entließ ihn aus der Arena. Fand der Unterlegene nicht die Gunst des Publikums, gab der Veranstalter das Zeichen, den Gladiator zu töten. Dies musste sein siegreicher Gegner dann sofort tun. Manchmal waren die Auseinandersetzungen so heftig, dass einer der beiden Gladiatoren von seinem Gegner im Kampf getötet wurde. Dann gab es nichts mehr zu entscheiden.
Die Zeiteinteilung der Römer Stunden und Tage: Für die Römer war vor allem der »natür liche Tag« wichtig, d. h. die Zeit von Sonnenauf- bis Son nenuntergang, die sie in zwölf Stunden einteilten. Die Länge einer Stunde variierte also je nach Jahreszeit: Eine Stunde im Winter war deutlich kürzer als eine Stunde im Sommer. Für einen Sommermonat kann man die römische Zeiteinteilung etwa so mit der unseren vergleichen, wobei die modernen Uhrzeiten nur Richtwerte sind: 4.30–5.45 Uhr 5.45–7.00 Uhr 7.00–8.15 Uhr
hora prima (erste Stunde) hora secunda (zweite Stunde) hora tertia (dritte Stunde) 162
8.15–9.30 Uhr 9.30–10.45 Uhr 10.45–12.00 Uhr 12.00–13.15 Uhr 13.15–14.30 Uhr 14.30–15.45 Uhr 15.45–17.00 Uhr 17.00–18.15 Uhr 18.15–19.30 Uhr
hora quarta (vierte Stunde) hora quinta (fünfte Stunde) hora sexta (sechste Stunde) hora septima (siebte Stunde) hora octava (achte Stunde) hora nona (neunte Stunde) hora decima (zehnte Stunde) hora undecima (elfte Stunde) hora duodecima (zwölfte Stunde)
Die Römer kannten keine Wochentage mit festen Namen. Sie hatten nur drei fest bezeichnete Tage in jedem Monat: Der erste Tag jedes Monats hieß Kalenden (Kalendae). Dann gab es die Nonen (Nonae), dies war der 5. Tag des Monats (Aus nahme: im März, Mai, Juli und Oktober waren die Nonen der 7. Tag). Und schließlich die Iden (Idus). Die Iden lagen auf dem 13., im März, Mai, Juli und Oktober auf dem 15. Tag des Monats. Alle übrigen Tage wurden so bestimmt, dass vom nächsten fest bezeichneten Tag aus rückwärts gerechnet wur de, wobei die Grenztage mitzählten. Der Tag vor den Iden des Iulius ist also der 14. Juli, die Iden des Iulius sind der 15. Juli. Und der 16. Juli ist der 17. Tag vor den Kalenden des Sextilis (der nach Augustus’ Tod in August umbenannt wurde). Feiertage: Die Römer kannten keine Sieben-Tage-Woche mit sechs Werktagen und einem arbeitsfreien Sonntag. Sie hatten vielmehr eine große Anzahl von staatlichen Feier tagen (feriae publicae), an denen keine Senatssitzungen und Gerichtsverhandlungen stattfinden durften und die Arbeit vielerorts ruhte. 163
Alle Feiertage waren religiöse Feste, das heißt, sie fanden zu Ehren verschiedener Gottheiten statt. Einige feriae dau erten nur einen Tag, andere mehrere Tage. Die Saturnalien z. B., ein Fest zu Ehren des Gottes Saturn, wurden etwa sieben Tage lang im Dezember gefeiert. Die unteren Schichten mussten an den meisten Feiertagen arbeiten: feriae bedeuteten für diese Menschen Verdienst ausfall. Im besten Fall konnte dieser durch Geschenke oder öffentliche Speisungen, wie sie bei einigen Feiern üblich waren, aufgefangen werden. An vielen Festtagen fanden nicht nur religiöse Handlun gen (Opfer, Gebete, Prozessionen) statt, sondern auch öffent liche Spiele (ludi). Unter ludi verstanden die Römer vor allem Theater- und Musikaufführungen, Gladiatorenkämpfe und Wagenrennen. Zu den bedeutendsten ludi gehörten die Ludi Apollinares zu Ehren Apollos. Sie fanden an etwa zehn Tagen Anfang/Mitte Juli statt.
Gesetze und Gebräuche Rechtsprechung: Die Römer hatten ein ausgefeiltes, in Jahr hunderten gewachsenes Rechtssystem mit vielen Gesetzen (leges), die von der Volksversammlung bzw. dem Senat, später vom Kaiser erlassen wurden. Oberste Richter in Rom selbst waren die Praetoren, denen die verschiedenen Ge richtshöfe der Stadt unterstanden. Zur Zeit des Kaisers Augustus gab es in Rom zwischen 10 und 18 Praetoren. Sie wurden anfänglich von der Volksversammlung gewählt, spä ter vom Kaiser selbst ernannt. 164
Eine Polizei im heutigen Sinne gab es in Rom nicht. Die Reichen organisierten ihren Schutz, indem sie Sklaven zu Türstehern oder Leibwächtern ausbildeten oder sich in der Öffentlichkeit von Klienten begleiten ließen. Die ein fachen Leute waren auf Selbst- oder Nachbarschaftshilfe an gewiesen. Patron und Klientel: Ein wichtiges Element des römischen Rechtssystems war das Verhältnis von Patron und Klient. Ein Patron war ein vornehmer römischer Mann, oft ein Se nator, der Klienten unter seiner Schutzherrschaft hatte. Je mehr Klienten ein Patron hatte, desto größer war sein An sehen. Klienten waren einfache freie römische Bürger, Bauern, kleine Händler und Handwerker, die in der Regel in die Schutzherrschaft ihres Patrons hineingeboren wurden: Schon der Vater war Klient bei dem Vater des Patrons usw. Auch Freigelassene gehörten zur Klientel eines Patrons, der ihr ehe maliger Herr war. Die Klienten unterstützten ihren Patron in der Volksver sammlung, jubelten ihm zu und wählten ihn, wenn er sich um ein politisches Amt bewarb. Auch mussten sie gelegent lich kleinere Arbeiten für ihn erledigen. Der Patron seiner seits unterstützte seine Klienten, wenn diese in wirtschaft liche Not gerieten oder bei einem Prozess Hilfe benötigten. Auch gehörte es zu den Pflichten eines Patrons, jeden Mor gen in seinem Haus Klienten zu empfangen und sich ihre Sorgen anzuhören.
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So wohnten die Römer
Insula: Im Laufe der Jahrhunderte wurde es in Rom immer enger. Man schätzt, dass 700 000 oder noch mehr Menschen zur Zeit des Kaisers Augustus dort lebten. Dies führte dazu, dass immer mehr Einzelhäuser in Mietshäuser (insulae) um gewandelt wurden, in denen die einfachen Leute lebten. Insulae waren mehrstöckige Häuserblocks, in denen sich in der Regel eine ganze Familie ein einziges Zimmer teilte. Diese Zimmer hatten kein fließendes Wasser und keine Hei zung. Im Winter konnte vielleicht ein kleiner Ofen, der mit Kohle oder Holz befeuert wurde, etwas Wärme spenden. Das Wasser mussten sich die Bewohner aus einem Brunnen in der Nähe holen. Ihre Notdurft verrichteten sie entweder in öffentlichen Latrinen oder in ihrem Zimmer in Eimern, die nicht selten auf die Straße entleert wurden. Das Essen wurde entweder auf einem kleinen Herd in dem Zimmer zubereitet, oder man aß in einer der vielen Imbissbuden, die sich überall in der Stadt fanden. Der Gestank, der Lärm und die Enge in diesen einfachen Stadtteilen (die bekanntesten sind die Sub ura und Transtiberim) müssen furchtbar gewesen sein. Oft gab es Einstürze und Brände, bei denen viele Menschen ums Leben kamen. Domus: Die reichen Menschen hingegen lebten in einem großen Stadthaus, einer domus, und zwar meist auf einem der vornehmen Hügel, wo die Luft und die Aussicht besser waren. Der vornehmste Hügel Roms war der Palatin, wo der Kaiser sein Haus hatte. Weitere vornehme Hügel waren der Aventin und der Esquilin. Eine domus war in der Regel ein 166
ein- oder zweistöckiges Atriumhaus, zu dem auch ein Gar ten gehören konnte. Das Atrium ist ein rechteckiger Innen raum in der Mitte des Hauses, von dem aus man die umlie genden Räume betrat. Licht erhielt das Atrium über eine Öffnung im Dach, unter der sich ein Becken (impluvium) befand, in dem sich das Regenwasser sammelte. Eine domus hatte in der Regel einen eigenen Wasseranschluss und eine Küche, in der Sklaven das Essen zubereiteten. Einzelne Räu me konnten sogar mit einer Fußbodenheizung ausgestattet sein. Villa: Viele Reiche leisteten sich darüber hinaus auch noch ein prächtiges Haus auf dem Land, eine villa, die inmitten von weiten Feldern und Wäldern lag, die natürlich auch dem reichen Herrn gehörten und von seinen Sklaven bearbeitet wurden.
Griechen in Rom Zwar war Griechenland im 2. Jahrhundert v. Chr. von den römischen Legionen erobert worden, doch hatten die Grie chen eine so hochstehende Kultur, dass die Römer sich in vielen Bereichen Dinge von ihnen abschauten: in der Spra che und der Literatur, in der Architektur und der Philo sophie, in der Medizin und in der Musik, in der Malerei, der Bildhauerkunst oder beim Theater – überall kopierten die Römer und entwickelten das, was die Griechen erfunden hat ten, weiter. Mit der römischen Eroberung waren vielen Griechen nach Rom gekommen – als freie Menschen oder als Sklaven. Aber 167
auch der ganze Süden Italiens und die große Insel Sizilien waren griechisch geprägt. Die Römer nannten diese Gegend Magna Graecia (Großgriechenland). Hierhin waren in frü heren Jahrhunderten viele Griechen aus ihrem Mutterland ausgewandert und hatten neue Städte gegründet. Ihre Nach fahren lebten auch zur Zeit des Kaisers Augustus noch viel fach in dieser Gegend und machten das Griechische dort zu einer mindestens genauso wichtigen Sprache wie das Latei nische. Besonders deutlich wird der Einfluss der Griechen auf die Römer im Bereich der Religion. Zwar kannten die Römer auch eigene Gottheiten, doch begannen sie schon sehr früh, ihre Götter mit denen der Griechen gleichzusetzen und zu verschmelzen. Auf der folgenden Seite findet sich eine Auf stellung wichtiger Gottheiten mit ihren lateinischen und griechischen Namen.
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Lateinischer Griechischer Zuständigkeit Name Name Amor
Eros
Gott der Liebe (dargestellt oft als kleiner Junge mit Flügeln, Pfeil und Bogen)
Apollo
Apollon
Gott der schönen Künste, der Heil- und Wahrsagekunst und des Lichts
Bacchus
Dionysos
Gott des Weines und der Freude
Ceres
Demeter
Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit
Diana
Artemis
Göttin der Jagd und des Mondes
Fortuna
Tyche
Göttin des Schicksals und des Glücks
Iuno
Hera
Schwester und Frau Iupiters, Schutzgöttin der Frauen
Iupiter
Zeus
König der Götter, Gott des Wetters und Gewitters
Mars
Ares
Gott des Krieges
Mercurius
Hermes
Gott der Diebe und Händler, der Reisenden und Kaufleute, Götterbote
Minerva
Athene
Göttin des Krieges, des Handwerks und der Weisheit
Neptunus
Poseidon
Meeresgott, Gott der Erdbeben und der Pferde
Pluto
Hades
König der Unterwelt
Proserpina
Persephone
Königin der Unterwelt
Sol
Helios
Sonnengott
Venus
Aphrodite
Göttin der Schönheit und der Liebe
Vesta
Hestia
Göttin des Herdfeuers und der Familie
Vulcanus
Hephaistos
Gott des Feuers und der Schmiedekunst