TOM ARDEN
Der Kreis den Orokons 5
Das Lied des Verschwindens
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1. Das Heiligtum der Flamme
Inmitten des Wüsten...
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TOM ARDEN
Der Kreis den Orokons 5
Das Lied des Verschwindens
2
1. Das Heiligtum der Flamme
Inmitten des Wüstenreichs von Unang Lia erheben sich die felsigen, leuchtend roten Gipfel des Theron-Massivs. Sie ragen schroff in den wolkenlosen Himmel. Unbeweglich thront das gewaltige Gebirge in einem Meer aus Treibsand. Wenn die Sonne hoch am Himmel steht, glühen die zerklüfteten Gipfel wie in einem orangeroten Feuer. Neigt sich der Tag dem Ende zu, verändert sich auch das Glühen. Es wird dunkler, erst purpurrot, dann grün und schließlich blau. Aber immer leuchtet in diesem Farbenspiel ein Strahl, der heller ist, klar und golden, und der wie ein Leuchtfeuer auf der Hochebene brennt. Auf den Reisenden, der es zum ersten Mal sieht, wenn er die trockenen Wüsten durchquert hat, muss dieses Leuchtfeuer fremdartig und beunruhigend wirken. Ein Ausländer mag vielleicht die Augen zusammenkneifen und mit pochendem Herzen diese Pracht bewundern. Ein Einheimischer aus Unang würde sich jedoch sofort in den Sand werfen und den Namen der Heiligen Stadt rufen. Kal-Theron! Denn nichts anderes ist das goldene Leuchten auf der Hochebe ne! Im weit entfernten Sosenica, in Yamarind und Emascus, auf den Inseln von Zoebid und an der Küste Qatanis wird jede Anrufung dieses Namens von einem Segenswunsch begleitet. Jahr für Jahr strömen die Pilger nach Kal-Theron, verlassen ihre kargen Hügel, ihre duftenden Haine, ihre Marktplätze und Paläste und ihre schat tigen Gassen. Viele sind krank, andere alt, aber trotzdem machen sie sich unverzagt auf die Reise. So mancher von ihnen wird sterben, aber was macht das schon? Verliert ein Unangese auf dem Weg nach Kal-Theron sein Leben, gewinnt er damit das Versprechen auf ewi ge Seligkeit.
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Als die Sonne heute hinter den Bergen versinkt, vibriert die Hei lige Stadt vor Leben. Fackeln blaken, Trommeln werden geschlagen, der Duft von Räucherkerzen erhebt sich mit den Gesängen in den Himmel. Gefeiert wird das Fest des Propheten. Im Großen Kalen der von Unang, mit seinem komplizierten Rechenwerk der Umlaufbahnen und Umdrehungen, Sternenbewegungen und Mond phasen, sind viele heilige Tage festgelegt. Aber keiner ist so wichtig wie dieser. Fünf Tage lang haben die Gläubigen gefastet und gebe tet. Jetzt, am Abend des fünften Tages, drängt sich eine riesige Men schenmenge vor einem gewaltigen Gebäude, das sich am Ende eines breiten Boulevards erhebt. Das mit Rubinen, Granaten und Amethysten reich verzierte Bauwerk ist das Heiligtum der Flamme, der größte Tempel der Anhänger des Theron. Nur wenigen ist je ver gönnt, einen Blick in das Innere des Gebäudes zu werfen. Die Men schen, die sich hier ehrfürchtig versammelt haben, wissen nur, dass hier, in diesem gewaltigen, juwelenbesetzten Bauwerk, die Heilige Flamme lodert. Die Erregung der Massen heizt die Nacht noch mehr an. Der Höhepunkt der Feierlichkeiten steht unmittelbar bevor. Schon bald wird Kaled, der Sultan des Vereinigten Unang, die Treppe zum Hei ligtum hinaufschreiten und durch die gewaltigen Türen verschwinden. Drinnen wird er in die Flamme blicken, so sagt man, und Zwie sprache mit Therons Geist halten, wie schon seine Vorfahren es getan haben. Dann wird der Moment kommen, auf den alle gewartet haben. Der Sultan wird wieder aus dem Gebäude heraustreten, auf der obersten Stufe der mit Rubinen geschmückten Treppe stehen bleiben und auf die Menschenmenge hinunterblicken. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet und alle Ohren gespitzt, begierig, die beruhi genden Worte wahrzunehmen, die er aussprechen wird ... muss: Die Flamme brennt. Diese wenigen Worte genügen, wie sie schon immer genügt ha ben. Danach erhebt sich Geschrei, werfen sich die Menschen nieder und kreischen laut vor Freude.
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Aber noch ist es nicht so weit. Noch lauert die Ekstase nur, bebt al les vor fiebriger Erwartung. Sultan des Mondes! Sultan der Sterne!, tönt der dumpfe Singsang der Massen. Unter zahllosen Turbanen rinnt der Schweiß, Schleier wehen sacht über die Gesichter der Frauen und bewegen sich unter ihren aufgewühlten Atemzügen. Dann die ersten Seufzer, die Rufe! Die Zeit ist gekommen! Hör ner schmettern an den Toren des großen Gebäudes am anderen Ende des Boulevards, das man den Palast des Wisperns nennt. Die Menge wogt aufgeregt hin und her, als der prächtig gewandete Sultan vor sein ergebenes Volk tritt. Ihm voraus schreitet seine Leibwache, die wie ihr Herr in den ma jestätischen Farben des Feuers gekleidet ist. Einige Wächter tragen Speere, andere Krummsäbel, wieder andere führen Löwen mit sich, die an ihren Ketten zerren. Dazwischen schlagen herrliche Eunuchen die Trommeln, trillern auf Flöten, wirbeln umher und tanzen, gehüllt in Gewänder aus Seide und Damast. Kräftige Sklaven tragen die reich verzierten Sänften, überladen mit Troddeln, Kissen und schwankenden Lampen. Der Monarch scheint über den Boulevard zu schweben. Er sitzt in der Haltung des Segnenden auf seinen Kissen: im Lotussitz, mit gesenktem Kopf und hoch erhobenen Armen. Sultan! Sultan!, ertönen die Rufe aus zahllosen Kehlen, einige stöh nen, wehklagen, strecken ihm die Hände entgegen, andere klatschen und wiegen sich, stimmen spontan die Hymne an, die sie alle kennen und die die Größe ihres Führers besingt: - Sultan der Sterne! Sultan des Mondes! - Können wir hoffen, dich zu fangen, wenn du bald vorüberkommst ? - Einfaltspinsel, herunter mit euch von den Sparren! - Ihr werdet vielleicht in Triumphwagen den Himmel kreuzen. - Doch niemals den Sultan von Mond und Sternen fangen!
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Zunächst haben alle nur Augen für den Sultan. Ihm folgen schwan kend zwei weitere Sänften. Obschon beide längst nicht so prächtig sind wie die erste, werden sie schon bald Ziel der hingebungsvollen Erregung der Menschen. Denn in ihnen sitzen diejenigen, die das Heiligtum betreten werden. Die Begleiter des Sultans sind zwei wunderschöne Jungen, die ihre Hände gefaltet haben und sie zum Gebet gen Himmel strecken. Der eine ist groß und schlank und mit Kränzen aus Lotusblüten und Jasmin geschmückt. Es ist Prinz Dare, der einzige Sohn des Sultans. Er stattet der Flamme seinen ersten Besuch ab. Die jungen Männer betrachten ihn neiderfüllt, Mädchen fallen in Ohnmacht. Der Prinz steht an der Schwelle zum Mann, und bald wird die Zeit kommen, da er seine erste Braut erwählen und seinen angestammten Platz im Geschlecht des Propheten einnehmen wird. Der Junge in der Sänfte hinter ihm trägt eine schlichte Robe. Die ses junge Mitglied der Akademie der Imams ist nur als der Novize der Flamme bekannt. Noch vor einem Tag trug er einen anderen Na men, doch schon jetzt ist dieser Name selbst für ihn verloren, verzehrt vom Feuer des Vergessens. Bei jeder Sonnenwende wird ein Junge aus der Akademie für die Flamme auserwählt. Der Novize symbolisiert das Band zwischen dem Sultan und der Ordnung der Dinge, und deshalb wird sich heute Nacht in den Augen dieses Jun gen der Schein der Flamme spiegeln. Ist das Zwiegespräch beendet, wird der Novize allerdings das Heiligtum nie wieder verlassen. Die Heilige Flamme wird das Letzte sein, was er in seinem Leben sieht. Keinem Unangesen könnte eine größere Ehre zuteil werden. Ehrerbietung schlägt dem Novizen entgegen, Gebete und demütige Verbeugungen begleiten ihn auf seinem Weg. Denn seit dem Au genblick seines Auftretens schwebt über diesem unschuldigen Jun gen der Schein des Heiligen. Was geht dem Novizen wohl durch den Kopf? Er hockt mit ge schlossenen Augen in seiner schwankenden Sänfte, seine Miene ist ausdruckslos und seine Haltung feierlich. Vielleicht hat er sich von
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allen Gedanken befreit, wie sein spiritueller Meister es ihn lehrte, vielleicht hat sich sein Bewusstsein bereits von ihm gelöst, ohne die Menge oder das Gesicht in der Sänfte vor sich zu bemerken, das ihm zugewendet ist. Es gehört Prinz Dare, der aschfahl vor Furcht den Namen ausstößt, den der Novize nie wieder tragen wird. »Thal!« Doch er korrigiert seinen Lapsus sofort. Der gertenschlanke Prinz reißt sich zusammen, drückt wieder die Hände, die sich ihm ehrfürchtig entgegenstrecken, und presst wie der Novize die Augen fest zusammen. Er hofft, dass der Junge hinter ihm auch sein Bewusstsein so fest verschlossen hat, vor der Erinnerung und vor allem vor dem Begehren. Sie müssen ihre Pflicht erfüllen, das steht außer Frage. Aber wie hart ist das Schicksal, wie bitter ist es, dass von allen Novizen ausgerechnet Thal für die Flamme erwählt worden ist! Thal war seit seiner Kindheit der liebste Freund des Prinzen. Aber das war gestern, und heute ist er nicht mehr Thal. Die Zeremonie beginnt. Der Sultan steht auf den rubinroten Stufen, neben sich sein hoch gewachsener Sohn und der Novize. Hinter ih nen stehen in respektvollem Abstand Imams, Wachen und Eunu chen, aufgereiht nach Rang und Namen. Die Musik und die Gesän ge steigern sich in einen beinahe wahnsinnigen Rausch; dann breitet der Monarch die Hände aus, und wie ein Sargtuch legt sich Schweigen über die Menge. Die Gläubigen werfen sich auf dem Boulevard nieder und pressen die Stirn auf die Pflastersteine. Über ihnen schwingen die großen Tore nach außen. Jetzt ist es an dem Novizen, vorauszugehen. Jemand drückt ihm ein Weihrauchfass in die Hand. Die Wachen und selbst die Imams weichen zurück und bilden eine Gasse. Die Eunuchen sehen zu und summen eine wortlose Melodie. Thal - denn natürlich ist er noch derselbe Junge - starrt nach vorn und schluckt mühsam. Zitternd betritt er die finstere Höhle. Er ist verwirrt, denn er hatte die orangefarbene, lodernde Glut eines Brennofens erwartet. Wo ist die Flamme?
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Doch diese Dunkelheit hält nur einen Moment an. Nachdem sich die Tür geschlossen hat, lockt ein orange-rot-goldenes Glühen den Novizen weiter auf seinem letzten Gang. Langsam und ehrfürchtig schreitet er voran, wie sein Lehrer es ihm gesagt hat. Wie eisig die Krallen der Furcht sind, die ihn gepackt hält! Wie seine Entschlossenheit schwankt! Das Weihrauchfass in seiner Hand pendelt ungewollt. Der Rauch treibt ihm Tränen in die Augen. Oder muss er einfach nur weinen? Vor sich sieht er eine gewaltige Felswand, doch da, in der äußersten Ecke, findet sich unter einem Bo gen ein Durchgang, hinter dem eine Treppe hinabführt. Er stockt. Einen Augenblick würde er am liebsten zum Prinzen zurücklaufen. Doch als er den Kopf unmerklich dreht, sieht der dem Untergang geweihte Novize aus den Augenwinkeln das glitzernde Visier eines Ebahn-Wächters. Der Wachtposten taucht aus dem Dunkel auf wie ein Phantom. Er ist vollkommen in Gold gekleidet und hält eine Sense in der Hand. Thal wendet rasch den Blick ab, doch da bemerkt er noch einen Wächter und dann noch einen. Sie erscheinen wie Geister aus der Finsternis. Er zittert und ringt nach Luft. Also gibt es die Ebahns tatsächlich! Sein ganzes Leben lang hat er von diesem Korps gehört, aber bis jetzt war er sich nicht sicher, ob die Geschichten über sie der Wahrheit entsprechen. Er kannte ihre Legende sehr gut. Es wurden nur die besten jun gen Ebahn-Sklaven ausgewählt und in den Kellern unter dem Hei ligtum sorgfältig ausgebildet. Die Bestimmung dieser Wächter ist es, niemals den heiligen Ort zu verlassen. Sie verbringen ihr Leben in der Gegenwart der Flamme, aber dennoch sollen diese Ebahns die Flamme niemals sehen. Alle, auf die die Wahl fällt, werden sofort geblendet, doch dafür sind ihre anderen Sinne aufs Äußerste geschärft. Der entsetzte Novize schwitzt und bebt und geht unsicheren Schrittes zur Treppe, flankiert von dieser Phalanx einschüchternder Wächter. Mittlerweile hat er alles vergessen, was man ihn über sein heiliges Schicksal lehrte, sein Privileg, das Ansehen, das er jetzt bei
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den Gläubigen genießt. Er würde auf der Stelle selbst die kleinste Gelegenheit zur Flucht ergreifen, aber nirgendwo tut sich ein Aus weg auf, bietet sich ein Schlupfloch. Die schweren Schritte der blinden Wachen hallen laut von den Steinwänden wider. Die Wendel treppe führt immer tiefer hinab, weit unterhalb der Boulevardhöhe. In den Epizyklen, die verstrichen sind, seit der Prophet die Flamme fand, haben viele vergessen, dass dieses große, mit Juwelen ge schmückte Heiligtum wie ein Grabmal über einer felsigen Höhle in dem Berg errichtet wurde. Das Licht, das den Novizen und seine blinden Begleiter umgibt, ist zunächst nur ein kalter Schein, doch schnell wird es heller und glühender. Ein dumpfes Fauchen dringt in Thals Ohren. Schließlich umrunden sie die letzte Biegung der Treppe. Jetzt schreit Thal auf, und sein Körper schüttelt sich in heftigen Krämpfen. Seine Beine geben nach, und er sinkt zu Boden, während er in die blendende Feuersäule starrt. Sie entspringt tief unten im Boden und schießt aus einem großen Ring aus Felsgestein weit nach oben. Ihre Wildheit ist einschüchternd. Der Prinz schreit auf und läuft auf seinen Freund zu, doch es nützt nichts. Die Ebahns trennen sie und halten sie fest. Gleich werden sie den Novizen in die Flamme stoßen, aber noch nicht, jetzt noch nicht. Das Ritual muss ablaufen wie immer. Zuerst werden die Jungen auf die Knie und dann ausgestreckt auf den Boden gezwungen. Der Sul tan wirft sich zwischen ihnen zu Boden, beschämt sich, indem er die Flamme wie ein Liebhaber anstöhnt, dann gar wie ein Sklave. Ver zweifelt fleht er den feurigen Gott an, ihn anzunehmen, ihn zu segnen, ihm seine Widerwärtigkeit zu vergeben; leidenschaftlich fleht er den Feuergott an, sein unwürdiges Opfer anzunehmen. Die Ebahns zerren den Novizen weiter. »Nein!«, schreit jemand. Es ist ein verzweifelter, dröhnender Ruf. Doch diesmal ist es der Novize, der schreit. Er wehrt sich, kämpft und tritt, während der Prinz wie in Trance zusieht. Jetzt kann er nichts mehr für seinen Freund tun.
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Im nächsten Moment kann niemand mehr etwas tun. Der Sultan sieht seinen entsetzten Sohn gequält an. Und das don nernde Fauchen der Flamme erfüllt die Grotte. Sie dröhnt und heult ohrenbetäubend wie ein Sturm.
»Trinkt ein bisschen Nektar. Bitte, Eure Königliche Hoheit.« Mit einem traurigen Lächeln reicht die Sklavin die Medizin, aber der junge Prinz wendet sich immer noch nicht zu ihr um. Seit er in sein Gemach gestürmt ist, scheint nichts seinen Kummer lindern zu können. Er liegt da und schluchzt unaufhörlich in die seidenen Kis sen, und seine schmalen Schultern beben unter seinen prächtigen, bestickten Roben. »Geh weg, Lammy! Lass mich einfach allein.« Die alte Sklavin seufzt. Es ist schon weit nach Mitternacht. In den Wandnischen glimmen gedämpft die Konar-Lampen, deren Licht die Tränen in ihren Augen schimmern lässt. Rasch wischt die Amme sie mit ihrer knorrigen Hand weg. Verflucht seien die Gesetze, die sie so beschränken! Noch vor einem Monat hätte sie sich auf ihr jun ges Mündel gestürzt, ihn fest in die Arme genommen und gemeinsam mit ihm ihren Tränen freien Lauf gelassen. Doch das ging nicht mehr. Jetzt war Prinz Dare der Unangefochtene Thronfolger, ein Vertrauter der Flamme, und als solcher unantastbar. Er durfte von keiner gewöhnlichen Hand mehr berührt werden. Es war zwar grausam, aber Mutter Madana wagte nicht, dieses grausame Gesetz in Frage zu stellen. Sie hatte jetzt seit über fünfzig Sonnenwenden die königlichen Kinder genährt und gehegt und kannte die Strafe für eine Übertretung nur zu gut. Und obwohl sie mit dem Prinzen allein war, durfte sie kein Risiko eingehen. Der kai
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serliche Wohnsitz wurde nicht umsonst Palast des Wisperns ge nannt. Die Wände waren voller Gucklöcher. So wurde dafür gesorgt, dass nur die Treuesten der Treuen sicher sein konnten, das Ende ih rer Tage auf natürliche Weise zu erleben. Und Mutter Madanas Le ben neigte sich diesem Ende zu. Zwar hing sie nicht mehr sehr da ran, aber ihr Stolz war nach wie vor ungebrochen. Die alte Sklavin hatte viele Freunde unter den Schwertern der Palastwache sterben sehen, viel zu viele. Sie wollte in ihrem Bett sterben! Mit dem Kelch Nektar in der Hand ging sie auf die andere Seite der geräumigen Kammer. Es war eine heiße Nacht. Die hohen, ver gitterten Türen zur Terrasse standen offen, und aus dem Garten bauschte eine duftende Brise die Gardinen und geschmückten Vor hänge. Einen Moment genoss Mutter Madana den Geruch. Wie oft war sie mit ihren jungen Schutzbefohlenen die breiten Terrassen hi naufgestiegen und dann mit ihnen durch die üppigen Dachgärten spaziert! In ihrem langen Leben hatte Mutter Madana manches Leid er lebt, aber längst nicht so viel, wie sie erwartet hatte. Sie war schon als junges Mädchen in die Sklaverei verkauft worden und hatte den Verlust ihrer Freiheit natürlich bedauert. Aber bald war ihr klar ge worden, dass es vielleicht auch ein heimlicher Segen war. Ihr Vater war ein armer Mann gewesen und mit drei Töchtern gesegnet. Er hätte ihr niemals eine angemessene Mitgift geben können. Ihre älte re Schwester hatte den Herrn einer großen Karawanserei geheiratet. Manche behaupteten, es wäre die feinste an der Küste Dorvas. Was aus ihrer jüngeren Schwester geworden war, hatte sie nie genau er fahren. Sie hatte gehört, dass sie eine wichtige Frau war und am Hof des Kalifen von Qatani aufstieg. Sie konnte nur hoffen, dass das stimmte. Mutter Madana hatte ihren glücklicheren Geschwistern nichts geneidet. Schließlich war sie ein einfaches Mädchen und hätte kaum die Blicke der Männer angezogen. Das war in gewisser Weise eben falls ein Segen. Hübsche Sklavenmädchen erwartete ein Schicksal,
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dem sie nur zu gern entronnen war. Als man Mutter Madana den königlichen Kinderzimmern zugeteilt hatte, war sie zuerst nur erleichtert gewesen. Doch je mehr sie sich in ihre Arbeit vertiefte, desto mehr hatte sich diese Erleichterung in echte Freude verwandelt. Nein, sie hatte ein gesegnetes Leben geführt, jedenfalls für eine Sklavin. Nicht ein Tag verstrich, für den sie nicht dankbar war, aber dennoch war ihr klar, dass eben darin auch der Samen für ihre Trau er lag. Wieso hatte sie so närrisch sein können, ihr junges Mündel zu lieben? Doch wie hätte sie es verhindern sollen? Dare war der einzige Sohn des Sultans und dazu ein kränklicher, empfindsamer Junge. Mochte er auch in dieser letzten Sonnenwende die Körpergröße eines Mannes erreicht haben, so mangelte es ihm doch an der entsprechenden Kraft. Manchmal stand zu befürchten, dass er sie auch niemals erlangen würde. Mutter Madana unterdrückte die Tränen und dachte an die Male, die sie den jungen Prinzen geküsst, sei ne Stirn geglättet und seinen dunklen, widerspenstigen Haarschopf gebändigt hatte. Niemals mehr würde ihr gestattet werden, auch nur den Saum seines Gewandes zu küssen. Nach seiner Hochzeit wür de er andere Gemächer auf der entlegenen Seite des Palastes bezie hen. Falls sie ihn je wieder sah, würde es dem Jungen nichts bedeu ten, das wusste sie. Sie würden ihn in einen anderen verwandeln, in einen Fremden. Mutter Madana schüttelte sich. Sie hatte all das schon erlebt, doch dieses Mal war es schlimmer. Konnte es denn natürlich sein - oder gar rechtens -, dass der Junge schon so bald den Mantel des Unan gefochtenen Thronfolgers anlegen sollte? War es nur Zufall, dass Thal, sein bester Freund, der Flamme geopfert worden war? Sie holte tief Luft und versuchte sich zu beruhigen. Die alte Skla vin nahm automatisch die vertrauten Gerüche des Gartens wahr: Jasmin und Javanerwurzel, Malak und Nachtnarzissen und die Sporen des Mondnektars, der köstlichste Duft von allen. Doch der kam aus dem Kelch. Zu einem Trunk angerührt, konnte er angeb lich jedes Herzeleid kurieren. Sie legte den Kopf in den Nacken,
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während sie die kostbare Medizin selbst trank. Wie das goldene Feu er der Konar-Lampen breitete sich ein warmes Glühen in ihrem Körper aus. Sie drehte sich ängstlich zu den Augen in der Wand um. Was hatte sie getan? Solche Tränke waren nicht für die Lippen von Sklaven bestimmt! Auf der Terrasse ertönten Schritte. Ein Sklave? Oder ein Bote? Rasch versteckte Mutter Madana den Kelch, bevor die imponierende Gestalt eines Mannes vor ihr auftauchte und durch die Gitter türen hereintrat. Sie schnappte nach Luft und schlug die Hand vor den Mund. Es war kein Sklave. Der Mann trug eine prächtige Robe in Rot und Gold. In dem Turban auf seinem Kopf blitzten Juwelen, und selbst seine Augen schimmerten wie wertvolle Steine. In dem Licht der Lampen glänzte sein schwarzer, frisch geölter Bart. Was wollte der Sultan hier? Unbeholfen sank Mutter Madana auf die Knie. »Geheiligter!« Der Sultan lächelte. »Kann dieser Mantel der Größe denn sogar mein altes Kindermädchen täuschen? Komm schon, Lammy, wir sind Freunde, oder nicht? Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie ich auf deinen Knien geritten bin?« Die Sklavin errötete, unfähig zu antworten. Sie brachte nur ein ersticktes Geräusch heraus, halb Schluchzen, halb Lachen. Mutter Madana wusste nicht, ob ihr das Erstaunen die Zunge lähmte, die Furcht oder die Medizin, die durch ihre Adern rann. Sie wusste nur, dass sie diesem Mann nicht antworten konnte, dieser fremden, bös artigen Kreatur, die mitten in der Nacht zu ihr kam und sie Lammy nannte. Es war Spott, grausamer Hohn, was sonst? Dass er ihr ein mal nahe gestanden hatte, so nahe wie Dare jetzt, verschlimmerte das Leid der alten Sklavin nur. Kaum auszudenken, dass ihr junger Prinz seinem Vater nacheifern sollte. Sie konnte froh sein, dass sie alt war und der Tod sie vorher ereilen würde. »Steh auf, Lammy.« Der Sultan reichte ihr die Hand und half ihr hoch. Dann deutete er auf den Jungen auf dem Bett. Der junge Prinz
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hatte seinen Vater noch nicht bemerkt und lag mit abgewandtem Gesicht schluchzend da. »Der erste Besuch bei der Flamme hat mei nen Sohn erschüttert. Das ist bei einem so jungen Menschen nicht anders zu erwarten. Ja, es ist sogar zu begrüßen! Sollte ein junger Mann bei einem so ungeheuren Anlass leichtfertig sein?« Mutter Madana schüttelte nur verständnislos den Kopf und senk te demütig den Blick. Aber in ihrem Kopf überschlugen sich die Ge danken. Wollte der Mann sagen, er sei froh, dass Dare so verstört war? Oh, er war ein Monster, ein hartherziges Monster! Der Sultan fuhr fort: »Macht die Trauer, die mein Sohn empfin det, ihn schwach? Das kann ich nicht glauben. Und weiter: Würde es mich entmannen, wenn ich jetzt zu ihm gehe? Wer könnte meinen Sohn besser trösten als jemand, der schon die Bürde trägt, die er eines Tages übernehmen wird? Lammy, zieh dich auf die Terrasse zurück und lass mich mit meinem Jungen allein, nur einen kurzen Augenblick.« Mutter Madana nickte pflichtbewusst, aber sie musste sich zwingen, dem Befehl zu gehorchen. Während die alte Sklavin durch die Gittertür hinaustrat, konnte sie sich einen kurzen Blick zurück nicht verkneifen. Es schmerzte sie wie ein Stich in der Brust, als sie sah, wie der Sultan Dare in die Arme schloss! Zögernd glitt Mutter Madana in die Schatten. »Mein Sohn«, sagte der Sultan. »Es wird Zeit, die Tränen zu trock nen.« Steif ließ sich die reich geschmückte Gestalt auf dem schmalen Diwan seines Sohnes nieder. Der Junge schluchzte leise und blickte ausdruckslos auf den geölten schwarzen Bart, auf die vielen Ringe an den Fingern seines Vaters und die Falten um seine Augen. Die Gewänder des Sultans waren glatt und kalt wie Echsenhaut. Dare fühlte sich elend. Warum nur, warum?, hätte er seinen Vater am liebsten gefragt. »Warum nur, warum?«, sagte der Sultan.
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Dare fuhr zusammen. »Das fragst du dich doch, oder nicht?« Der Sultan lächelte mitfühlend. »Ach, mein Sohn, fürchte deinen eigenen Vater nicht! Weißt du denn nicht, wie sehr ich dich liebe? Was heute Abend passiert ist, war eine Prüfung, und du hast sie bestanden.« Das erstaunte Dare. »Diese weibischen Tränen?« Der Sultan lachte. »Sie bedeuten gar nichts! Glaubst du wirklich, dass ich mich für dich schäme, mein Sohn? Gewiss, du hast seit der Zeremonie unaufhörlich geweint. Aber du hast es unbemerkt getan. Für das gewöhnliche Volk, das den Boulevard säumte, für die Imams und die Ebahn-Wächter des Heiligtums war Prinz Dare nichts anderes als ein stählerner, junger Held.« Dares Erstaunen wuchs. Seit der Zeremonie schämte er sich. Er verwünschte die Feigheit, die ihn gelähmt hatte, so dass er nur schockiert zusehen konnte, wie die Ebahns Thal in die Feuersäule trieben. Wie gern hätte er sich auf sie gestürzt und den mörderi schen Wachen seinen Freund entrissen! Aber Dare war zu schwach, zu verängstigt. Er hatte nicht einmal aufgeschrien, nicht einmal Thal um Vergebung angefleht! »Vater, Ihr irrt Euch. Ich bin kein Held.« Der Sultan lächelte. »Mein Sohn, du vergisst dich! Kann sich der Sultan von Mond und Sternen jemals irren? Ich sage, du bist ein Held, denn du bist so erschienen, und mit der Zeit, mein Sohn, wer den wir zu dem, was wir zu sein scheinen.« Er hielt inne und kniff die Augen zusammen. »Also sollten wir sorgfältig darauf achten, was wir zu sein scheinen.« »Vater?« »Du bist verwirrt und hältst meine Worte für rätselhaft, aber bald wirst du sie verstehen.« Dare riss sich zusammen und wischte die Tränen weg. »Vater, Eure Worte sind unmissverständlich, doch ich weiß nicht, ob sie mir gefallen. Wollt Ihr denn die wichtigste Lektion verneinen, die ich
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von Lammy lernte, nämlich dass Ehrlichkeit die edelste aller Tugen den ist?« Über diese Worte lachte der Sultan, wenn auch ein wenig verlegen, und umarmte den Jungen förmlich. »Mein Sohn, willst du etwa behaupten, es mangele dir an Mut? Meine besten Ratgeber würden für weniger Unverfrorenheit an den Pranger gestellt werden, als du mir in den letzten Augenblicken entgegengebracht hast. Aber wie mich das befriedigt! Ich fürchtete schon, du wärst ein Weichling. Statt dessen bist du meiner würdig, mein Sohn!« Dare sah seinen Vater verwundert an und zuckte zusammen, als der Sultan mit seinen beringten Händen seine Schulter beinahe schmerzhaft drückte. Er flüsterte drängend, fast fiebrig. »Mein Sohn, der Kummer hat dich heute erschüttert, aber was ist dieser Abend anderes als ein Stadium, das du durchlaufen musstest? Ein Junge muss seinen Vorrat an Tränen verbrauchen, bevor er zum Mann reifen kann. Schlafe nun. Wenn der Morgen kommt, wird die se Nacht der Schwäche hinter dir liegen und bald vergessen sein. Ich musste als junger Prinz auch mit ansehen, wie ein Freund der Flam me geopfert wurde.« »Ein ... Freund?« Dare war den Tränen nahe, aber er bemühte sich, sie zurückzuhalten. Wenn sein Vater nur seinen durchdringen den Blick abgewendet hätte, mit dem er ihn so scharf musterte. Sein Vater holte tief Luft. »Als ich ein Junge war, Dare, ein Junge wie du, hatte ich einen Freund, der ... Malagon hieß. Wie fröhlich haben Malagon und ich auf den Dachgärten gespielt, als unsere Stimmen noch hoch und piepsig waren und unser Kinn keinerlei Bartwuchs zierte! Entzückt verbrachten wir lange Nachmittage mit Versteckspielen und Ringen und Fangen! Unserer Phantasie wuch sen Flügel. In selbstgemachten Rüstungen waren wir kühne und aufrechte Soldaten! Auf hölzernen Schlachtrössern durchquerten wir die entlegensten Ecken dieses Reiches, suchten nach Schätzen, besiegten Drachen und retteten Jungfrauen aus geheimnisvollen Türmen. Abends lagen wir auf dem Boden der Bibliothek meines
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Vaters und lasen in den alten Schriftrollen über die furchtlosen Helden von einst. Oft kämpften wir weiter, diesmal auf dem Schach brett, und stritten heftig um das Leben von kleinen, geschnitzten Rittern, Heiligen und Monarchen.« Bei diesen Worten schluchzte Dare auf, denn er hatte gerade in der Nacht ein solches Spiel mit Thal gespielt, bevor sein Freund in die Akademie der Imams gebracht wurde. Der Junge blickte seinen Vater plötzlich mit neuem Vertrauen an. Es war schwer zu glauben, dass dieser große, Furcht einflößende Mann einmal jung gewesen war, so jung wie er jetzt, und einen Freund gehabt hatte wie er. Aber Dare wusste, dass es wahr sein musste. Wie hätte er sonst mit so viel Mitgefühl sprechen können? Der Sultan schluckte schwer. »Ja, mein Sohn, alles, was du mit deinem Freund erlebt hast, habe ich auch mit meinem erlebt. Mein Freund war wie deiner ein Gemeiner und aus ebendiesem Grund für mich erwählt worden. So sollte ich die Leute lieben lernen, die ich regieren würde. Und wie der Deine musste auch mein Freund ... sterben.« »Aber warum, Vater?« »Warum ? Damit ich den schmerzlichen Verlust kennen lernte, wie auch du ihn empfunden hast. Was gibt es für einen besseren Beweis, dass ein Prinz bereit ist, die Nachfolge anzutreten? Heute Abend hast du die Aufrichtigkeit deines Herzens unter Beweis gestellt. Jubiliere, mein Sohn! Es stimmt, du bist jünger, als ich es gewesen bin, als Mala ... für mich verloren war, viel jünger sogar. Aber wenn die Prüfung, die du bestehen musstest, grausamer war als die meine, dann nur deshalb, weil die Herausforderungen größer sind, denen du dich in den langen Sonnenwenden gegenübersehen wirst, die noch vor dir liegen.« Der Sultan drückte feierlich die Hände des Jungen, und seine Au gen schienen wieder zu glühen. »Mein Sohn, ich weiß nicht, wie lan ge ich noch lebe. Nein, erschrick nicht, sondern höre mir genau zu. In einer ruhigeren Zeit hätte ich dir eine ausgedehntere Kindheit ge
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währen können, was ich auch zu gern getan hätte. Aber ich kann mir keine Verzögerung mehr leisten. Unser Land befindet sich in einem höchst kritischen Zustand, und der Unangefochtene Thronerbe muss auf seinem Platz sein. Dare zitterte. »Vater, ich verstehe Euch nicht...« »Fürchte dich nicht, mein Sohn ... Oder nein, vielleicht sollte ich lieber sagen, dass du wahrlich Grund zur Furcht hast. Denn vieles, was du jetzt noch nicht weißt, wird dir bald enthüllt. Würde ein Fremder, der die Feierlichkeiten dieser Nacht miterlebt hat, vermu ten, dass mein Reich tief gespalten ist, meine Herrschaft in höchster Gefahr? Niemals, aber das ist eben die Macht eines öffentlichen Schauspiels. Morgen werden wir die Weisesten meiner Imams zusammenrufen, dazu den Ratgeber Simonides, und du wirst von so schweren Bedrohungen hören, von so abgründigen Schurken, dass dein Herz für immer Narben davontragen wird. Morgen wirst du von jemandem hören, den man Rashid Amr Rukr nennt.« »R... Rashid Amr Rukr?« Dare schüttelte sich. Diesen Namen kannte er nicht, aber er flößte ihm sofort Angst ein. Er schluckte. »Herr, ich kenne dieses Böse nicht. Ist es ein Mensch?« Der Sultan packte die Hände seines Sohnes wie mit einem Schraubstock. »Es ist ein Mann oder eine verachtenswerte Kreatur des Bösen, in die gestohlenen Kleider eines Sterblichen gehüllt! Wenn ich nur dein unschuldiges Herz verschonen könnte, aber lei der ... es muss geopfert werden. Wie dein Freund geopfert wurde.« Ernst senkte der Sultan den Blick. »Aber ich will diese Nacht nicht mit noch mehr Entsetzen belasten, mein Sohn. Schlaf jetzt und bereite dich auf das Morgen vor. Träume nicht von dem, was vorbei und vergangen ist, und wenn du von der Zukunft träumst, dann träume von einer entzückenden Braut, die bald die Deine sein wird, auf dass sie die Strenge deiner neuen Männlichkeit ein wenig lindere.« »Dann stimmt es also, dass ich heirate?«, fragte Dare unsicher. Der Sultan lächelte. »Aber natürlich. Mein schwarz gekleideter
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Bote ist bereits unterwegs und bringt einen Befehl in die schöne Stadt Qatani, die Perle der Küste. Mein Sohn, merke dir gut, was ich dir jetzt sage. Heute Abend noch beklagst du den Tod deines Freun des, aber schon bald - ich sage dir, es muss so sein! - wird der No vize der Flamme in den staubigeren Kammern deiner Erinnerung logieren. Mein Bruder, der Kalif von Qatani, hat eine Tochter, die die Schimmernde Prinzessin genannt wird. Ihr eigentlicher Name ist Bela Dona. Berichte von ihrer Schönheit eilen durch mein ganzes Reich. Sie ist angeblich so schön, dass selbst die Sonne weint, weil sie sich übertrumpft fühlt. Es gibt viele, die für Bela Donas Liebe alles tun würden, doch nur einen, der zwischen ihren Schenkeln liegen wird. Seit ihrer Geburt ist die Schimmernde Prinzessin deine Verlobte.« »M... meine, Herr?« »Du bist der Unangefochtene Thronerbe, habe ich Recht? Mei nen Erben zu heiraten ist Bela Donas Bestimmung.« Dare zuckte zusammen, als sein Vater zärtlich seine Lenden berührte. »Mein Sohn, du bist zu der Größe eines Mannes herangewachsen. Schon bald wirst du auch die Sehnsüchte eines Mannes empfinden. Du weißt nicht, was ich meine, Dare? Aber das wirst du bald! Genieße die Freuden, mein Sohn, die ich für dich vorbereitet habe! Wenn du erwachsen bist, wirst du vielleicht viele Frauen haben, aber mit keiner wirst du dieselbe Wonne erleben wie mit Bela Dona!« Dares Herz hämmerte, als sein Vater wissend lächelte und sich zurückzog. Der Junge blieb verwirrt auf dem Diwan zurück. Er war zwar erschöpft, aber jetzt konnte er unmöglich einschlafen. Erst quälte ihn eine kurze, glühende Erregung, die von der Trauer weggespült wurde, und dann kam die Furcht wieder, stärker denn je. Getrieben von der Macht seiner Gefühle wollte er aufspringen und umherwandern, wie sein Vater es getan hatte, aber in diesem Moment hörte er Mutter Madanas vertraute Schritte, als sie über die Terrasse hereinkam.
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Dare schloss fest die Augen und tat, als schlafe er. Mochte auch das Kind in ihm nach der Zärtlichkeit seiner alten Amme verlangen, etwas anderes in ihm, etwas Neues, wollte nicht einmal ihr Gesicht sehen. Er dachte an die liebkosende Hand seines Vaters und erröte te. Mutter Madana betrachtete traurig den schlaksigen, zusammenge kauerten Jungen. Seufzend legte sie eine Decke über ihn und achtete sorgfältig darauf, dass ihre vulgären Hände seine geheiligte Person nicht berührten. Die Versuchung, ihn auf die Wange zu küssen oder sein Haar zu glätten, war groß, aber sie widerstand. Nervös glitt ihr Blick zu den Schatten an den Wänden, zwischen den Licht kreisen der Konar-Lampen. Noch vor wenigen Augenblicken war Mutter Madana weniger vorsichtig gewesen und hatte sich dicht an die Gittertür gedrückt. Sie wollte alles hören, was in dem Raum vorging. Erst als sich der Sultan zum Gehen anschickte, schlich die Sklavin verstohlen fort und drückte sich gegen eine Säule, während der Furcht einflößende Mann an ihr vorbeischritt. Danach atmete sie langsam und leise aus, doch der Tumult in ihrem Inneren begann erst. Während sie gemächlich über die Terrasse schlich, kochte Mutter Madana insgeheim vor Wut. Verwünscht sei ihre Feigheit! Früher einmal hatte sie sich für eine loyale Untertanin des Sultans gehalten. Jetzt jedoch zuckte sie nur noch aus Angst um ihr Leben vor diesem bösartigen Menschen zurück. Und als sie hörte, was er über Lord Malagon sagte, konnte sie sich kaum beherrschen. Fast wäre sie in die Kammer gestürzt und hätte ihren Herrn und Meister der Lüge bezichtigt. Ja, der Freund des Sultans, ein gebürtiger Gemeiner, war in der Flamme gestorben, aber wer hatte seinen Tod denn angeordnet? Oh, damals hatte Mut ter Madana sich noch eingeredet, dass der Sultan richtig handelte, dass Lord Malagon, der freundliche, entzückende Mala, tatsächlich ein Verräter war und Folter und Tod verdient hatte. Jetzt wusste sie, was für eine Närrin sie damals gewesen war.
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Das Herz der alten Sklavin pochte schmerzhaft in ihrer Brust, während sie an den Wänden entlangging und eine Konar-Lampe nach der anderen löschte. Als nur noch das schimmernde Licht des Mondes sein blasses Muster auf den Boden warf, tastete sie sich rasch zu Dares Diwan zurück, küsste ihn zart und schlich dann zu ihrer eigenen, schmalen Liege. Später würde sie erbeben, wenn sie die Risiken bedachte, die sie in dieser Nacht eingegangen war. Aber sie konnte nicht anders, sie konnte einfach nicht anders! »Dare«, flüsterte jemand. »Dare.« Dare zuckte zusammen. »Thal?« Natürlich war niemand da. Der Prinz erhob sich von seinem Diwan und starrte in die blas sen Flächen des Mondlichts zwischen den vergitterten Türen. Vielleicht war er ja in einen ruhelosen Schlaf gefallen. Er erinnerte sich schwach an einen beunruhigenden Traum. Plötzlich fiel ihm wieder ein, was geschehen war. Es war kein Traum gewesen, sondern die unbarmherzige Realität. Dare stöhnte, aber es klang merkwürdig tonlos. Mittlerweile fand er keine Tränen mehr, die er vergießen konnte. Die Verzweiflung umhüllte ihn wie ein schwerer Mantel, als er auf die Terrasse hinausging. Wie ein Gespenst glitt der gertenschlanke Junge zu der weißen, geschwungenen Treppe, die zum Dachgarten führte. Er bahnte sich den Weg durch das dichte, duftende Blätterwerk und lehnte sich an den Stamm eines Zitronenbaums. Verzweifelt be trachtete er die duftenden Orte, an denen er einst so glücklich mit Thal gespielt hatte. Er erkannte in dem schwachen Mondlicht kaum etwas, aber das spielte keine Rolle. Dares Vorstellungskraft erweck te die Blumenbeete und Labyrinthe, die Haine und Grotten, die geschlängelten Wege und die kurvenreichen, murmelnden Bächlein zum Leben. Ach, Thal, Thal!
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Bis auf das murmelnde Wasser war alles still. Nicht einmal der Hauch eines Lüftchens bewegte die Blätter und das Efeu oder trug den Duft der üppigen exotischen Blumen herbei. Dare fühlte, wie ihm die Augen zufielen. Da sah er es. Es war eine menschliche Gestalt, ein Junge, oder vielleicht ein We sen mit der Figur eines Jungen. Es schimmerte zwischen den Blu menbeeten in einem unheimlichen silbrigen Licht. Eine eisige Klammer legte sich um Dares Herz. »Thal?« Die Gestalt wirkte einladend, als wollte sie Dare auffordern, zu ihr zu kommen. Und mit ihr zu spielen.
3. Ein anderes Land Scarlet, Scarlet, sein Rock war rot,
Mit einem hey zown zerry zerry zown.
In Vianas Königreich wurde er oft gesehen,
In den Jahren, nachdem sie die Königin getötet hatten.
Mit einem hey zown zerry
Zerry zerry zown,
Mit einem hey zown zerry,
Zerry zown!
Bando sang. Sein Lied breitete sich träge in dem dämmrigen Wald aus. Traurig starrte der Zenzaner in das ersterbende Feuer, aber er dachte nicht daran, es wieder anzufachen. Es war schon spät, und er hatte nur darauf gekocht. Gleich würde er es austreten und sich da von überzeugen, dass kein mutwilliger Funke in das zundertrockene Unterholz fliegen konnte. Aber noch war es nicht so weit, noch
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nicht. An seinen dicken Bauch geschmiegt schliefen seine beiden kleinen Söhne, Raggle und Taggle. Die Jungen waren von dem lan gen Tagesmarsch erschöpft, und Bando wollte sie nicht aufwecken. Lächelnd glättete er Raggles zerzaustes Haar - oder war es vielleicht Taggle? Genau wusste er das nie. In dem zenzanischen Wald war es noch heiß. Die Hitze bog die Blätter und Zweige der Bäume schwer nach unten. Die glorreichen Tage, Vianas Tage, waren schon einige Mondleben vergangen, bevor die ersten Vorboten des neuen Lebens ihr Grün zeigten und die ur alten Bäume mit ihren rasch wuchernden Girlanden schmückten. Jetzt war Therons Jahr auf seinem Zenit. Am Tag war der Himmel strahlend blau, und seine Helligkeit drang selbst in die schattigsten Höhlen der Wälder. Blätter und Gräser, Blumen und Farne wirkten staubig und erschöpft. Selbst in der Dunkelheit der Nacht ließ die Hitze kaum nach, sondern lauerte drückend und fast spottend über ihnen, wartend. Wenn nur ein Gewitter käme! Oder Regen. Bando sang leise weiter und wiegte sanft seine Jungen. Das Lied schien keine Bedeutung zu haben. Er sang die Melodie, die ihm gera de in den Sinn kam, aber in dieser Lobrede auf ihren Führer schwang auch Ironie mit. Selbst in Zenzau verblasste die Legende des Wegelagerers. Alles in dem eroberten Königreich veränderte sich, seit die Rebellen in der Schlacht um Wrax vernichtet worden waren. Das Böse, das Böse, er kämpfte gegen das Böse,
Mit einem hey zown zerry
Zerry zown.
Auch wenn rot die Farbe ist, die wahre,
Gibt es zu viele, die behaupten, es wäre blau!
Mit einem hey zown zerry,
Zerry zerry zown.
Mit einem hey zown zerry
Zerry zown!
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Der Zenzaner gähnte. Auf der anderen Seite des Feuers war einer seiner Gefährten im Schlaf zusammengesackt. Der Mönch hatte den ganzen Tag über seine entzündeten Füße, seinen Hitzeausschlag und die schlechten Rationen gemeckert und war jetzt endlich einge schlafen. Morgen früh würde er unfehlbar seine Moskitostiche be klagen und laut darüber sinnieren, wann er endlich in einem or dentlichen Bett schlafen konnte. Bando hatte sich oft gefragt, warum ihr Anführer einen so nutz losen Gefährten nicht einfach wegjagte. Was bewirkte denn der Ka paun, so nannte Bando den Mönch, außer einer Verschwendung von Rationen? Der junge Wolveron war trotz all seiner Dummheiten ei nige hundert Kapaune wert. Anscheinend hegte Bob Scarlet religiö se Skrupel und wollte den ejländischen Mönch genauso wenig verjagen wie die Priesterin Landa. Widerwillig hatte Bando versprochen, den Mönch nicht weiter zu quälen. Er hatte eine Weile nur zu gern darüber gesprochen, dass die Rationen noch knapper werden würden, wenn die Koros-Zeit kam, und sie vielleicht nie wieder in Betten schlafen könnten. Natürlich sagt er das nur, wenn der Mönch in der Nähe war. Aber Bando konnte nicht mehr über das entsetzte Gesicht des Mönchs lachen. Die düstere Zukunft, die vor ihnen lag, war zu real, als dass er darüber hätte Witze machen können. Instinktiv umarm te der Zenzaner seine schlafenden Söhne. Um sich selbst machte er sich keine Sorgen. Seit Iloisa, die Kriegerin, die er geliebt hatte, ihr Leben für die Sache der Rebellen geopfert hatte, hätte Bando ihr lie bend gern im Tode Gesellschaft geleistet. Doch wenn er an das Schicksal dachte, das seine Söhne erwartete, schüttelte sich der Zenzaner vor Entsetzen. Die Tage mit Jem in den Wäldern um Schloss Oltby war die letzte glückliche Zeit gewesen, die diese Rebellenschar erlebt hatte. Wie sehr hatte sich seitdem alles verändert! Jem war seinen eigenen Weg gegangen, und auch Rajal verfolgte ein Ziel, das Bando nicht einmal zu verstehen versuchte. Schwarzbart war tot, ebenso
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die Priesterin Hara; Dolm und Mutter Rea waren zurück geblieben. Sie waren beide zu krank und zu alt, um die anderen auf dieser Reise zu begleiten. Eine Reise, die Bando für ihre letzte hielt. Manchmal fragte er sich, ob er mit dem Rebellenleben eigentlich noch weitermachen konnte. Dieses Gefühl war neu für ihn. Er sehn te sich danach, zu dem kleinen Dorf zurückzukehren, das er vor so langer Zeit verlassen hatte. Wie friedlich und wie entzückend es wäre, dort zu leben und seine Jungen großzuziehen. Natürlich war das nur ein sentimentaler Traum. Es war zu spät: Bando Riga war ein gesuchter Mann, ein Verräter an dem Usurpator, dem unrechtmäßi gen König. Wenn die Blauröcke ihn fanden, würden sie ihn foltern und töten, und was von ihm übrig blieb, würden sie auf dem Dorf platz aufhängen, bis der Leichnam nur noch aus Knochen bestand. Schließlich würden selbst diese zu einem trockenen, klappernden Haufen zusammenfallen. Was sollte dann aus seinen beiden kleinen Söhnen werden? Nein, Bando konnte nicht zurückgehen. Jedenfalls nicht, um sein Leben voller Furcht vor Entdeckung zu leben. Was das Schicksal auch für ihn bereithielt: Der Zenzaner musste sich dem stellen. Seine Söhne sollten nicht in dem Glauben aufwachsen, dass ihr Vater ein Feigling war. Vorsichtig legte Bando die Jungen auf den Boden und breitete eine Decke über sie. Dann löschte er das Feuer und sah sich im Lager um. Auf einer Matratze aus Blättern lag das Mädchen Landa, die Pries terin, wie sie sie jetzt nannten, und schlief wie das Kind, das sie noch vor kurzem gewesen war. Direkt daneben lehnte Rekrut Wolveron an einem Baum und hielt Wache. Einen Moment betrachtete Bando die reglose Gestalt. Dieser Wol veron war ein merkwürdiger Kerl. Sie waren am Tag der Schlacht auf ihn gestoßen, aber trotz aller Abenteuer, die sie seitdem mit ihm erlebt hatten, war er unverändert mürrisch und distanziert. Selbst Raggle und Taggle konnten ihn nicht aus der Reserve locken. Nur
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Vögeln und anderen Tieren gegenüber legte er eine gewisse Zärtlichkeit an den Tag. Bando kam es irgendwie merkwürdig vor, dass ein Mann, dessen Bajonett menschliches Blut vergossen hatte, entsetzt davor zurück schreckte, einen Dompfaff oder ein Kaninchen zu töten. Als Ban do einmal einen schönen Hasen vor der Mündung hatte, packte Wolveron seine Flinte, und der Schuss ging daneben. Wütend war Bando an dem Abend gewesen - wenn auch nicht so wütend wie bei anderen Gelegenheiten, wenn sich der Leichtsinn des Jungen auf eine viel gefährlichere Weise gezeigt hatte. Einmal hatte er sich in ein Lager der Blauröcke geschlichen. Ein andermal hatte er aus dem Hinterhalt auf eine Patrouille der Blauröcke geschossen. Natürlich konnte Bando verstehen, warum, aber er konnte nicht zulassen, dass der Bursche sie alle umbrachte. Manchmal hätten sie sich fast geprügelt, wenn Hul oder ihr Anführer nicht eingeschrit ten wären. Trotzdem mochte Bando den jungen Wolveron. Der Kerl war grob, hatte jedoch sein Herz am rechten Fleck, so viel war sicher. Bando zweifelte nicht daran, dass ihr neuer Gefährte ein mutiger Kämpfer war, sollte es wieder zu einem Scharmützel kommen. Sie konnten es sich nicht leisten, ihn zu verlieren. Der Bursche umklammerte sein Gewehr und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Er hatte die erste Wache übernommen. Später würde er Hul wecken, aber der Gelehrte schlief noch nicht. Er saß unter den Zweigen einer hohen Pinie und las im Licht einer einzelnen Kerze konzentriert in einem abgegriffenen Buch. Bando sah sei nen alten Kameraden freundlich an. »Du hast heute Nacht Wache, Hul. Strengst du deine Augen nicht zu sehr an?« »Es ist eine sehr nützliche Anstrengung, mein Freund, wenn sie mir Weisheit bringt.« »Ich dachte, Hul, davon hättest du schon genug.« Hul legte das Buch nachdenklich beiseite. Früher einmal war er Professor an der Universität von Agondon gewesen. Seitdem hatte
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der untypische Rebell in so manchem gefährlichen Scharmützel an der Seite Bandos gefochten. Selten gab es zwei Freunde, die so we nig gemein hatten, und ebenso selten hielten zwei Freunde so voll kommen loyal zueinander. »Glaubst du, dass ein Mensch zu viel Weisheit haben kann, Bando?« »Hm.« Der Zenzaner hockte sich hin und stopfte seine Pfeife. »Ich frage mich manchmal, ob ein gewisser Kerl, und ich meine nicht dich damit, Hul, vielleicht ein bisschen zuviel davon hat.« »Alter Freund, wer könnte dieser Bursche wohl sein? Und sag mir, warum fragst du dich das?« Bando ließ seinen Blick über die Lichtung gleiten. Aber er brauchte nicht aufzupassen. Bob Scarlet hatte sich von ihnen zurückgezogen. Wie immer schlief ihr Anführer abseits von den an deren, und Bando war sicher, dass seine Pistolen bereit waren. Die Loyalität verbat, dass der Zenzaner seinen Namen nannte, also seufzte er nur. »Ich bin ein einfacher Mann, Hul, und nicht wie du. Dieser Kerl, na ja, ich verstehe oft nicht, was er tut. Oder anders ge sagt: Was er tut, kommt mir manchmal närrisch vor.« »Was er tut, oder was er tun will?« Bando zündete ein Stück Zunder an. »Beides. Jedenfalls bin ich verwirrt, aber der Mann hat gewiss mehr Verstand als ich.« »Bist du dir da so sicher?« »Was meinst du, Hul?« Hüls Brille glitzerte im Kerzenlicht. »Vielleicht bist du nicht ganz ehrlich zu mir, Bando. Du sagst, er ist schlau, und du bist nicht schlau, aber vielleicht glaubst du eigentlich, dass es sich andersherum verhält?« Der Zenzaner sog nachdenklich an seiner Pfeife. Was Hul sagte, stimmte, aber das hätte Bando niemals zugegeben. Früher, vor der Schlacht um Wrax, hatte er ihren geheimnisvollen Anführer bewun dert. Jetzt jedoch, deprimiert von der Niederlage, war der Maskier te nur noch eine traurige, einsame Gestalt. Er bewegte sich langsam auf den unaufhaltsamen Untergang zu und klammerte sich trotz
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dem an seine Geheimnisse, die er niemandem anvertrauen wollte, niemandem außer vielleicht Hul. Bando vermutete schon lange, dass sein alter Freund mehr über den so genannten Bob Scarlet wusste, als er verraten wollte. Es konnte nicht anders sein, denn sonst hätte Hul nicht so entschieden darauf gedrängt, dieser kleinen Bande beizutreten, nachdem sie ihren alten Anführer verloren hatten. Bando hatte sich Hüls Weis heit gern gebeugt. Aber der Wegelagerer war ein ganz anderer Cha rakter als der Harlekin - und in Bandos Augen war es kein guter Tausch. Er dachte wieder an ihren ersten, toten Anführer. Der arme Tor! Bando mochte sich nicht daran erinnern, dass dieser genau auf die Art gestorben war, die er selbst am meisten fürchtete: in dem Dorf seiner Kindheit auf dem Dorfanger aufgehängt, ein weiteres Opfer der »Justiz« der Blauröcke. Ein bekannter Hass durchströmte Ban do. Wenn er ihren neuen Anführer auch nicht mochte, vergaß er doch die eine Sache nicht, die ihn zur Loyalität gemahnte. »Hul, du denkst schlecht von mir«, sagte er plötzlich. »Wie kommst du darauf, alter Freund? Niemals!« »Trotz seines merkwürdigen Benehmens ist der, von dem wir sprechen, der unerbittliche Feind des Bösen, oder nicht? Alles Bösen, das einen blauen Rock trägt? Hältst du mich für illoyal einem Rebellen gegenüber, der zu einer Legende geworden ist und in Ge schichten, Liedern und Versen besungen wird?« »Vielleicht glaubst du ja, dass diese Legende Flecken bekommen hat?« Bando blickte traurig zu Boden. Seit Tagen schlich ihre kleine Gruppe wie Tiere über die bewaldeten Hügel. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich jetzt befanden. Er wusste nur, dass sie weiterzie hen mussten, immer weiter, zu einer neuen und noch schreckliche ren Konfrontation und zweifellos zu einer neuen und noch fürch terlicheren Niederlage. Ihr Anführer hatte entschieden: Sie mussten nach Ejland gelangen, wo seine Agenten eine neue Rebellenarmee
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aufstellten. Es war Wahnsinn, aber vielleicht blieb ihnen nichts mehr als der Wahnsinn. »Es ist die Zeit, die Flecken bekommen hat.« Hul lächelte. »Gut gesagt, alter Freund! Ich glaube, du bist klüger, als du zugibst.« Er streckte die Hand aus und urnfasste den Arm seines Gefährten. »Bando«, flüsterte er eindringlich. »Es gibt Din ge, die ich nicht enthüllen darf. Aber glaube mir das eine: Es gibt ei nen Plan in dem Kurs, dem wir folgen. Vielleicht kannst du ihn jetzt noch nicht erkennen, aber eines Tages wird dir alles klar werden. Unser Kurs ist sehr gefährlich, das war er immer schon, aber Bando: Noch nie war er närrisch, und das ist er auch jetzt nicht. Halte dich an deinem Rebellen-Glauben fest, denn bald, das verspreche ich dir, wird er reich belohnt werden.« Bando sah seinen Gefährten erstaunt an. Die beiden Männer blie ben eine Weile schweigend sitzen, bis der alte Rebell schließlich die Pfeife ausklopfte, die Glut ausdrückte und der Gelehrte das Buch zur Seite legte. Er blies die Kerze aus. Sie holten ihre Decken aus den Satteltaschen und legten sich in dem warmen Unterholz zur Ruhe. »Es war anders, als der junge Jem noch bei uns war«, murmelte Bando nach einem langen Gähnen. »Ich wünschte, diese alten Zei ten kämen wieder!« »Der arme Jem!«, erwiderte Hul seufzend. »Ich frage mich, wo er jetzt sein mag.«
»Jem ...Jem?« Rajal stieß seinen Freund an. Jem schreckte hoch. Schon wieder diese Trance! Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er seinen Bierkrug abgesetzt und sich
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den Mund mit dem Handrücken abgewischt hatte. Es war ihm wie ein kurzer Moment vorgekommen, aber anscheinend hatte er weit länger in die Flamme der Kerze gestarrt, die auf dem Tisch des Ka pitäns brannte. Er wollte nicht unhöflich sein, aber offenbar hatte er das Ende der letzten Geschichte des alten Mannes verpasst. Wie gern er jetzt mit seinem Beschützer gesprochen hätte! Wie oft war das schon passiert, dieses merkwürdige, stille Schweigen vor einer Kerze oder einer Lampe? Gewiss einige Male, seit sie Port Tiral verlassen hatten. Durch das offene Fenster drang das leise Rauschen des Meeres. Es war dunkel, bis auf das silbrige Glitzern des Mondes. Die Nacht war schwül, und unter Deck würde es bestimmt stickig sein. Jem rieb sich die Augen. Die Kabine von Kapitän Porlo war ein Panoptikum der Seltsamkeiten, die an den Wänden angeordnet waren oder von der niedrigen, rauchgeschwärzten Decke herunterhingen. Ein Ti gerkopf prangte neben einem Rhinozeroshorn, ein rivanischer Wim pel und ein Torga-Schild wurden von einer Messingmuskete und ei nem verrosteten Krummsäbel eingerahmt, der einmal in der Hand eines wilden wenayamschen Piraten geblitzt haben musste. Vergilbte Seekarten lagen neben verstaubten Logbüchern des Kapitäns. Die Kabine des alten Mannes war ein Abbild seines Verstandes, ein biss chen schäbig, aber schillernd, und voll gestopft mit den Erinnerun gen an hunderte fabelhafter Abenteuer. Jem blickte auf die schweren Teller hinunter, auf denen Reste von Pökelfleisch und Senf fettige Spuren hinterließen. »Kümmert Euch nicht um meinen Freund«, sagte Rajal gerade. »Unser Vormund hat einmal jemanden beschäftigt, der ihn lehren sollte, sich wie ein Gentleman zu benehmen. Aber, um die Wahrheit zu sagen, er hat seinen Lehrer getötet, bevor die Ausbildung vollendet war.« Die Augen des Kapitäns funkelten, und er deutete auf die Waffen an den Wänden, die in der leichten Dünung leise klirrten. »Womit, mein Schöner? Mit einer Machete? Oder einem Säbel?«
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»Er hat ihn kaltblütig erschossen.« »Hah!« Der Kapitän schlug auf den Tisch. »Das Ungestüm der Jugend! Ach, Master Jem, Ihr seid zweifellos ein Wolf im Schafspelz.« Der alte Mann trank einen herzhaften Schluck Rum und zwinkerte Rajal zu. »Ich nehme an, dass er auch wie der Teufel hinter den Mädchen her ist, hm?« »Wie der Teufel? Wie Toth-Vexrah höchstpersönlich!« »Raj!«, protestierte Jem. »Treib keine Scherze mit dem Namen des Anti-Gottes!« Rajal lachte nur. Jems Freund war betrunken; sie waren alle betrunken und genossen diese unschuldige Ausgelassenheit. Selbst der Kapitän benahm sich kindisch, seit er vom ernsten Blick von Jems Vormund befreit war. Seit sie Port Tiral vor einem Monat verlassen hatten, war Lord Empster in seiner Kabine geblieben. Ohne ihn benahm sich die klei ne Gruppe auch nicht mehr so, als befände sie sich in Wirklichkeit in einem ehrbaren Salon, als wären Pökelfleisch und Rum und madiger Zwieback eigentlich Fasan und Varl-Wein und Orandy-Pud ding. Aber ihre Lockerheit war nur oberflächlich. Unter der Oberfläche lauerte die Furcht, selbst als sie jetzt schallend lachten. Die Catayane würde sehr bald Unang Lia erreichen. Verstohlen tastete Jem nach dem Lederbeutel, den er wie einen Talisman um den Hals trug. Dar in verbarg sich der Kristall der Viana. Rajal trug den Kristall des Koros bei sich, aber sie mussten noch drei Kristalle finden, und TothVexrah war aus dem Reich des Nicht-Seins in die Welt gekommen, verkleidet als Tranimel, dem Ersten Minister Ejlands. Schon bald mussten sie irgendwo in den glühend heißen Ländern des Südens den Kristall des Theron finden, bevor Tranimel oder seine Agenten ihn an sich rissen. Aber wer konnte schon sagen, wo sich der Kristall be fand? Ob die Trancezustände Jem einen Hinweis darauf gaben? Rajal trieb seinen Schabernack mit dem Kapitän. »Ich bin jeden falls sicher, dass Ihr ein Teufel wart, Kapitän, und vermutlich noch
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seid. Stimmt es, dass ihr Seebären in jedem Hafen ein Mädchen habt?« »Hah! Natürlich kann jeder Seemann in jedem Hafen ein Mädchen bekommen, mein Süßer«, erwiderte der Kapitän und zwinkerte. »Es gibt immer genug Mädchen, die für ein oder zwei Kupfermünzen den Rock heben. Sehr zur Erleichterung für uns Männer. Aber leider ...«, der alte Mann seufzte. »Diese Art Vergnü gungen sind für mich lange vorbei. Meine tierischen Instinkte sind längst zu Staub vertrocknet.« »Unsinn, Kapitän!«, platzte Rajal fröhlich heraus. »Kann denn Altersschwäche einen Mann so schnell überwältigen, der einst über die Haremsmauer des Kalifen sprang?« »Raj!« Das war gefährliches Terrain. Jem holte aus und wollte seinem Freund einen Tritt unter dem Tisch versetzen, traf stattdessen jedoch Bubi, das Schoßtier des Kapitäns, eine räudige Äffin. Sie lag wie so oft unter dem Tisch und kuschelte sich gemütlich an das Holzbein ihres Herrchens. Die schönste Schnitzarbeit, die man je gesehen hatte, wie Kapitän Porlo immer wieder versicherte. Von Zeit zu Zeit machte Bubi mit ihren fauligen Ausdünstungen auf sich auf merksam, aber das Geschöpf rührte sich selten, außer wenn ein un geschickter Gast ihre Anwesenheit vergaß und ihr auf den Schwanz, in die Rippen oder gegen den Kopf trat. Prompt kreischte sie auch jetzt unter dem Tisch protestierend auf, aber glücklicherweise wurde der Laut von der Glocke übertönt, mit der ein Seemann die nächste Wache einläutete. Außerdem war Kapitän Porlo abgelenkt. Dem alten Seebären ran nen die Tränen über die Wangen. »Was war ich doch für ein Hitz kopf!«, brach es aus ihm heraus. Jem wusste, dass sie jetzt erneut diese sowohl absurde als auch außergewöhnliche Geschichte über sich ergehen lassen mussten, wie der Kapitän sein Bein verloren hat te. »Es war pure Lust, die mich ruiniert hat, verruchte Lust! Ach, wenn ich doch nur niemals, niemals die Mauer des Kalifenpalastes erklommen hätte!«
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»Ja, wenn nur«, stimmte Jem ihm seufzend zu. Der Kapitän stärkte sich mit einem Schluck aus dem Krug. »So mancher Bursche behauptet, dass er für einen Blick auf diese wun derschönen Haremsfrauen sterben würde. Aber wie viele können wohl ohne ihr vertrautes Linkes leben, sagt mir das? Ich meine mein Bein, meine Süßen, mein armes linkes Bein. Aber trotzdem, ich hat te Glück. Wenn es nach den Haremswächtern gegangen wäre, hätte ich auch noch meine Klunker verloren.« »Klunker?«, erkundigte Jem sich pflichtschuldigst. »Klunker, die diese Eunuchen nicht mehr haben, wenn du ver stehst, was ich meine! Ach, die brutalen Kerle in diesem UnangLand, mein Lieber, die machen keine Fehler. Trotzdem dachten sie wohl, ich hätte genug, nachdem sie mich aus der Kobragrube gezo gen haben.« »Ko-Kobragrube?« Rajal zeigte das angemessene Entsetzen. »Schon mal eine Kobra gesehen, meine Süßen? Die komischste Schlange dieseits von Sassoroch!« Er legte eine düstere Pause ein. »Ich dachte, keiner könnte so gut klettern wie der junge Faris Porlo, dachte ich wirklich. Und außerdem war ich begierig auf den An blick dieser Mädchen - ich wollte wirklich nur einen Blick werfen und hatte nichts Respektloses im Sinn. Aber versteckt etwas vor einem Mann, und ihr findet sofort einen, der nicht ruht, bis er es zu Gesicht bekommen hat, stimmt's nicht?« Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Ich bin über die Mauer mit den Stahlspitzen geklettert, aber mit der Grube dahinter habe ich nicht gerechnet.« »Ihr seid gefallen?« Jem tat überrascht. »Gefallen?« Der Kapitän versprühte prustend einen feinen Rum nebel in der Kajüte. »Der junge Faris Porlo? Nie im Leben. Ich bin über diese Kobras hinweggesprungen und sicher auf der anderen Seite gelandet. Große Paläste? Darüber könnt ihr mir nichts erzählen! Endlose Korridore? Hab sie alle gesehen! Entzückende Frauen? Hört mir auf mit entzückenden Frauen!« Einen Augen blick nahm die Miene des Kapitäns einen lüsternen Ausdruck an,
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doch dann verfinsterte sich sein Gesicht. »Erst als diese großen, klunkerlosen Burschen mich erwischten, lief die Sache schief. Sie ha ben mich zurück zum Balkon geschleppt und mich ohne Federle sens hinuntergeworfen!« Jem und Rajal sahen entsprechend entsetzt aus. »Lasst euch meine Lust eine Warnung sein, meine Süßen. Ich kannte Kerle, die von eifersüchtigen Ehemännern erschossen wor den sind, ich kenne Burschen, die jeden Schneid verloren haben. Und nicht wenige fingen sich Syphilis ein, ein hoher Preis für einen kurzen Moment der Freude, hm? Und einige, einige endeten sogar verheiratet, mit einer Frau, denkt nur!« Der alte Seebär schüttelte sich. »Aber ich glaube, nur euer alter, armer Kapitän ist in dieser Kobragrube gelandet. Wenn mein armes Linkes nur gebrochen ge wesen wäre, hätte ich es sicher wieder zusammengeflickt, aber als die bösen Kobras auf mich zugeschlittert kamen, sss, machten sie, sss, sss, und ihre schuppigen Köpfe in die blutende Wunde steckten, na ja, welche Chance hat ein Kerl da schon? Sagt es mir! Sie haben sich satt getrunken, diese Kobras, und das arme Linke in ihrem Gift gebadet! Ach, sie sind schon böse, diese Kobras, und sie zischen die ganze Zeit, sss, sss, als hätten sie eine gute Zeit! Ach, ihr Süßen, betet, dass ihr niemals Kobras begegnet!« Rajals Theaterausbildung war nicht umsonst gewesen. Er sah aus, als wollte er auf der Stelle niederknien und beten. Jem versuchte, sei nem Freund nachzueifern, aber selbst diese absurde Geschichte appellierte an seine eigene Furcht. Er wollte den Kapitän gerade weiter über Unang Lia ausfragen, über dieses fremde Land der Harems und Eunuchen, doch da schlug der Kapitän erneut auf den Tisch und erklärte, es nütze nichts, trübselig zu werden. Er verrenkte sich bei nahe den Hals, als er seine Concertina suchte. »Zeit für ein Lied, meine Süßen, stimmt's? Und mehr Rum, was?« Er senkte den Krug über Rajals Becher, aber der Krug war leer. »Pah!« Der Kapitän schleuderte ihn zu Boden und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Pustel!«, schrie er.
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Der Schiffsjunge tauchte wie aus dem Nichts mit frischem Rum auf. Vielleiht hatte er aber auch draußen gewartet. Und tatsächlich, ein Ohr war knallrot, als habe er es an die niedrige Holztür gepresst. Andererseits war Pustel sowieso knallrot im Gesicht, jedenfalls konnte man das aufgrund der Pickel denken, die seine Visage und seinen Hals bedeckten. Vorsichtig hob die hässliche Gestalt den Krug des Kapitäns vom Boden auf, beugte sich über den Tisch und schenkte Rum nach. »Der neue Schiffsjunge ist ganz nett, was, meine Süßen?« Jem lächelte, blickte aber angewidert auf die Knöchel des Jungen. Selbst seine Hände waren von Pickeln übersät. Pustel hatte zwar erst in Port Tiral auf der Catayane angemustert, dem südlichsten Brückenkopf des ejländischen Reiches, aber er konnte kaum ein Ti raloner sein. Unter den entstellenden Entzündungen war seine Haut so blass wie die eines Gespenstes. Das Schiff schwankte, und Rum spritzte über die Tischplatte. »Sachte, Bursche! Was glaubst du, was das ist? Hühnerpisse?« Beinahe spielerisch versetzte der Kapitän dem Jungen einen Schlag auf den Kopf, was seine struppigen Haare noch mehr zerzauste. »Das ist wertvoller Balsam, aber steck du ja nicht deine picklige Schnute da rein, mein Süßer, sonst gibt's Ärger, das sag ich dir!« Pustel füllte schnüffelnd die restlichen Krüge. Aber er war ein tollpatschiger Kerl, und als er hastig zurücktrat, landete er mit dem Absatz auf Bubis Schwanz. Diesmal schrie die Äffin lauter. Wie ein Blitz kletterte sie das Tischbein hinauf und hing im nächsten Moment an der Decke, fauchte und peitschte ihren schmerzenden Schwanz hin und her. Der Kapitän lachte schallend. »Meine arme Hübsche!« Der alte Mann richtete sich auf und nahm die verängstigte Äffin in die Arme. Mit seinen rauen Händen strich er ihr über das räudige Fell. »Na, na, nimm es dem armen Pustel nicht übel. Der arme Kerl besteht fast nur aus Eiter. Vermutlich wird er eines Tages platzen, und dann? Dann schwimmen wir in gelbem Eiter, alle miteinander.«
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Der Schiffsjunge wurde noch röter, nahm einen Stapel fettiger Tel ler hoch und zog sich hastig zurück. Kaum hatte er die Tür zugezo gen, hörten sie das Klappern von Tellern auf dem Boden. Der Kapitän lachte wieder und hob den Krug. »Auf Therons Nektar!« Er trank einen kräftigen Schluck. »Therons Nektar?«, wiederholte Rajal fragend. »Weil er so brennt, Schätzchen! Aber wo ihr hingeht, braucht ihr nicht darauf zu hoffen! Die würden euch schon aufknüpfen, weil ihr dieses Zeug hier auf dem Schiff gesoffen habt. Sie sind sehr fromm, fürchterlich fromm. Aber singen wir doch ein bisschen, hm?« Nach diesen Worten zerrte der Kapitän an seiner Quetschkommode und grölte: Piaster! Piaster!
Gold und Diamanten, Rubine und Silberteller!
Liegen sie in einem Wrack am Grunde des Meeres?
Wo, sag mir, wo kann mein Schatz sein?
Johohe! Ein Seebär bin ich, he!
Aber wo, sag mir, wo kann mein Schatz sein?
Dieses Lied hatte der Kapitän schon häufig gesungen, immer wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte. Jem hatte den alten Mann einmal nach diesem Schatz gefragt, weil er dachte, dass der alte Kapitän vielleicht ebenfalls auf der Jagd war. Aber der hatte gelacht und ge meint, es wäre nur ein albernes, altes Lied. Goldbarren — mit einem Siegel gestempelt!
Ach, wie sie blitzen, wenn ich die Kiste öffne!
Liegt sie vergraben im Sand unter einem fernen
Wüstenhimmel?
Wo, sag mir, wo, kann mein Schatz liegen ?
Johohe! Ein Seebär bin ich, he!
Aber wo, sag mir, wo, kann mein Schatz sein?
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Rajal stimmte in das derbe Trinklied mit ein und fügte seine höhe re, reinere Stimme dem unmelodischen Katzengesang des Kapitäns hinzu. Jem wollte eigentlich seinem Beispiel folgen, aber stattdessen starrte er wieder in die Kerzenflamme. Seine Miene war vollkommen ausdruckslos. Noch bevor das Lied zu Ende war, schüttelte er sich und stand auf. »Entschuldigt, Kapitän - ich brauche etwas frische Luft.« »Luft?« Kapitän Porlo deutete auf das Fenster. »Du kannst hier rauspinkeln, wenn du willst, mein Süßer.« Aber Jem war schon verschwunden. Als die hölzerne Tür hinter ihm zuschlug, erlosch die Kerze auf dem Tisch des Kapitäns. Bubi kreischte und huschte über Boden und Wände. Der Kapitän lachte dröhnend auf, stieß mit Rajal an und entbot noch einen Trinkspruch auf Therons Nektar.
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5. Das erste Verschwinden
Die Träume senkten sich schwer über die Menschen auf der Lichtung. Hul schlief schweigend, während der Mönch leise jammerte und Bando tief und guttural knurrte. Die Jungen hatten sich von der Decke freigestrampelt, aber sie schliefen noch immer fest. Ihr leiser Atem rührte kaum die Luft. Am leisesten jedoch war Landa. Sie schien überhaupt nicht zu atmen. Irgendwo schrie eine Eule, und im Unterholz war das Geräusch von kleinen Tatzen zu hören. Rekrut Wolveron schulterte die Muskete und drehte sich um. Er spürte etwas. Es war aber keine Gefahr, sondern nur Landa, die den Kopf hob und sich misstrauisch umsah. Wolveron blickte sie an und nickte. Geschickt und leise richtete Landa sich auf. Sie huschten lautlos durch das Unterholz. »Ich fürchtete schon, sie würden nie schlafen«, flüsterte Landa.
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»Die alten Rebellen? Ihre Erinnerungen lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Hast du den Platz gefunden?« »Ich habe danach gesucht, als es noch hell war. Weiter im Wald ist ein kleiner Bach, und daneben steht eine riesige Eiche. Ihre Äste sind knorrig und verwachsen, und ihre Wurzeln wuchern über das Ufer wie ... wie die Windungen einer gewaltigen Schlange.« »Hoffentlich nicht die von Sassoroch!« Landa lächelte nicht. »Schwester, sprich den Namen des Bösen nicht aus!« »Priesterin, sprich du nicht den Namen deiner Schwester aus!« »Dieser Baum hier ist nicht Sassoroch. Aber du bist meine Schwester.« Cata sah sich vorsichtig um. »Nur wenn wir sicher sein können, dass uns niemand von den anderen hört. Unsere Kameraden würden mich nicht mehr als Krieger achten, wenn sie wüssten, dass ich eine Frau bin.« »Schwester, das stimmt nicht! Hast du denn die Geschichten über Bandos Frau nicht gehört?« »Von der edlen Iloisa? Doch, natürlich, und ich ehre ihr An denken, aber sie stammte aus den Steppen Derkolds und war von Geburt an darin geschult, Äxte zu schwingen und mit Bogen und Messern umzugehen. Was bin ich in ihren Augen dagegen schon an deres als eine entlaufene Absolventin von Mistress Quick? Es ist besser, viel besser, wenn unsere Kameraden mich für einen Mann halten, eben für den Rekruten Wolveron und nicht für Catayane.« »Liebste Cata!« Seufzend sprach Landa den verbotenen Namen aus und umschlang ihre Gefährtin. »Schwester im Geiste, wie kannst du glauben, dass ich an dir zweifle! Sei versichert, dass ich dich mit all meinen Kräften unterstütze. Aber wie traurig bin ich, dass du mich verlassen musst!« »Ich weiß, Priesterin. Aber du hast deine Bestimmung gefunden, ich dagegen suche meine immer noch. Am Tag der Schlacht habe ich die Gegenwart meines Geliebten ganz deutlich gespürt. Er war
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mir so nah wie noch nie, seit wir getrennt wurden. Dann wurde dieses Band zerrissen, und ich habe die Spur erneut verloren. Ich weiß nur, dass ich ihn suchen muss, und zwar nicht nur um mei netwillen. Mit ihm gemeinsam werde ich die Zukunft unseres Rei ches schmieden!« »Leider«, murmelte die Priesterin, »ist mir ein solches Schicksal nicht mehr bestimmt!« »Priesterin?« Landa schwieg. Sie hatte sich nur einen winzigen Moment ver gessen, nur einen kurzen Herzschlag. Noch vor einigen Monaten war die Priesterin die Verlobte von Prinz Orvik gewesen. An seiner Seite wäre sie Königin von Zenzau geworden, so wie Cata hoffte, ei nes Tages Königin von Ejland zu sein. Wie merkwürdig und ver schlungen waren doch die Wege des Schicksals! Landa fuhr sich has tig über die Augen und ging weiter. Sie durfte nicht länger an ihren toten, dummen Geliebten denken! Immer wieder betete sie im Stillen, dass Cata nicht dasselbe Schicksal erleiden musste wie sie. Sie glitten durch den Vorhang aus hängenden Blättern. Das Mondlicht schimmerte auf dem Wasser des Baches und glitzerte auf der Spitze von Catas Bajonett. Sie musste das Risiko eingehen, ihre Kameraden unbewacht zurückzulassen, tat es jedoch nur äußerst ungern. Das Ritual war lebenswichtig. Plötzlich kniete die Prieste rin ehrerbietig nieder und blickte in die Zweige der Eiche hinauf. Ihr Stamm war ein gewaltiger, gewellter Monolith aus eisenharter Rinde, der dicht mit Moos und Efeu bewachsen war. »Dieser Baum ... Ist das einer der alten?«, fragte Cata. »Nur sehr wenige sind noch aus der Zeit der Schwesternschaft übrig geblieben. Wir können von Glück reden, dass wir einen ge funden haben, wo wir so weit von den Hügeln von Wrax entfernt sind. Die Bäume hier sind jünger als die meiner Kindheit, aber ich bin sicher, dass diese Eiche der älteste Baum unter ihnen ist. Hoffen wir, dass seine Aura stark genug ist.« »Du meinst, die Göttin kommt vielleicht nicht?«
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»Sie kommt ganz bestimmt. Aber wir brauchen möglicherweise viel Energie, um sie zu rufen, da wir die Orte mit der größten spiri tuellen Kraft verlassen haben.« Die Zeremonie begann. Landa legte sich ausgestreckt vor den Baum. Ihre Gewänder verschwanden im Dickicht des Schilfrohrs und der Farne, und ihr langes Haar mischte sich mit den Wurzeln und dem Efeu. Cata legte sich neben sie und spürte die kühle, feuch te, fruchtbare Erde. Der Bach murmelte neben ihnen und plätscher te durch die unheimliche Dunkelheit. »Ul-ul-ul-ul!« Der Schrei durchdrang die Nacht wie der Ruf eines Vogels. Aber es war Landa. Sie hob den Kopf und umklammerte die gewundenen Wurzeln. Mit schlangengleichen Bewegungen richtete sie sich auf und umarmte den Baum. Vollkommen versunken strich sie mit den Fingern über seine moosige, kratzige Borke. »Tochter des Orok, sieh deine Anhängerin. Schwester des Koros, höre ihre Worte. Geheiligte Viana, weich wie Blätter, komm zu mir an diesen waldigen Ort, wo ich dir eine Schwester darbiete, die bis her in Blindheit durchs Leben stolperte, verloren für das Wissen dei ner Macht und deiner Gnade. In welcher Absicht, o Göttin, du dieses Kind der Natur aufgezogen hast, weit entfernt von der Gnade unserer eigenen geheiligten Wälder, vermag deine schlichte Dienerin und Tochter nicht zu erraten. Doch wisse, Göttin, dass dieses Kind dir wahrhaft treu war und in Harmonie mit deinem Element, der Erde, lebte. Nur durch die Machenschaften des Bösen musste diese treue Dienerin deine Seite verlassen. Tochter des Orok, sieh deine Anhängerin. Schwester des Koros, höre ihre Worte!« Gleich würde Cata in das Lied der Priesterin einfallen, und ihre Stimmen würden sich zu einem komplexen Mantra vereinen: Viana. - Vianu, Viana - Viana. Im Grünholz lass mich liegen. Und, auch wenn es eine vergebliche Hoffnung war: Lass keine Axt in den Hü geln von Wrax ihr Werk tun. Die Worte schienen übereinander zu stolpern, schwankten und wurden allmählich zu reinen Klängen, die
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sich wiederum zu einer Musik der Beschwörung zusammenfügten. Casta flüsterte fasziniert der vorzeitlichen Eiche zu: Göttin des Entstehens, verzehre mich wie ein Feuer, Göttin des Vergehens, gewähre mir mein Begehren. Es spielte keine Rolle, dass ihr die Musik fremd war. Der Instinkt leitete sie, wo ihr Wissen versagte, der Instinkt und ein tiefes Gefühl, wie es richtig war. Als Landa ihr erklärt hatte, sie sei eine Tochter der Viana, war Cata nicht eine Sekunde auf die Idee gekommen, das anzuzweifeln. Nach dem Chaos der Schlacht um Wrax war Cata kurz an ihrer Suche verzweifelt. Sie widmete sich einem Leben als Rebellin und glaubte, sie könne ihre wahre Natur verbergen, sie unter der männlichen Verkleidung verstecken. Aber der Ruf des Blu tes in ihr war stärker, und Cata musste ihm folgen. Auf ihrer Reise war Landa eines Morgens in aller Frühe über den neuen Rekruten gestolpert und hatte gesehen, wie er heimlich mit den Tieren und Blumen gesprochen hatte. Cata hatte leichtsinni gerweise ihre Verkleidung abgelegt, und Landa war auf sie zugestürmt. Ich wusste es, Schwester! Schwester, ich kannte dich! Cata war erschreckt aufgesprungen, aber Landa war nicht einmal eine Spur verblüfft gewesen. Schluchzend umarmte die Priesterin das nackte Mädchen. Cata konnte nur erstaunt den Kopf schütteln. Landa quittierte ihre Bemerkung, dass sie niemals Schwestern sein könnten, mit einem Lächeln, und als Cata anführte, sie sei eine Vaga, lachte die Priester in laut auf. Möglicherweise floss das Blut des Koros in den Adern deines Vaters, aber auch in denen deiner Mutter Schwester, spürst du es denn nicht? Du hast in Unwissenheit gelebt, was deine wahre Göttin angeht, aber hat sie nicht durch die Erde und aus den Bäumen nach dir gerufen? Cata hatte sofort gewusst, dass die Priesterin die Wahrheit sagte. Jetzt hatten sie die komplizierten Mantras lange genug gesungen.
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Mit einer Geste wischte Landa sie beiseite und warf den Kopf in den Nacken. »Geheiligte Viana, sende meiner Schwester ein Zeichen! Hilf ihr, o Göttin, bei ihrer geheimnisvollen Suche! Hilf ihr, denjenigen zu finden, den sie sucht! Zeig ihr, wohin der Kristall deiner Macht gereist ist, sicher am Busen desjenigen ruhend, den man den Schlüssel zum Orokon nennt!« Ihre Deklamationen schallten laut, sehr laut gegen die Wand aus dunklem Schweigen. Hohe, schrille Echos durchkreuzten den Wald, und plötzlich glühte ein geheimnisvolles, grünes Leuchten wie Phosphor in Schilf und Moos. Die Göttin fing an, ihre Anbeterinnen langsam, aber stetig mit dem Mantel ihrer Macht zu umhüllen. Catas Herz hämmerte. Landa packte ihre Hand. Sie tanzten wie verrückt, einen wilden Tanz unter dem Spinnennetz der Äste, die im Mondlicht Schatten warfen. Das Leuchten verstärkte sich und wur de heller. Dann stieg es wie ein Feuer höher in die Äste der Eiche. Schließlich zuckte eine Säule aus grünem Licht zwischen den Tan zenden empor. Zu ihren Füßen tat sich ein unglaublich wimmelndes Leben auf, Blumen, Farne, Gräser und Ranken krochen und glitten, schlängelten und wanden sich. Die Lichtsäule wurde immer heller, aber jetzt war es mehr als nur Licht. Cata verschwamm alles vor den Augen. Fassungslos vor Staunen sah sie zu, wie das Abbild eines Kristalls, eines grünen Kristalls, vor ihnen auftauchte und sich in dem glühenden Licht drehte. »Jem!«, rief sie. »Jem, wo bist du?« »Göttin!«, schrie Landa. »Geheiligte Viana, zeig meiner Schwester den Pfad, dem sie folgen muss! Allgnädige, zeig ihr, wo ...« Weiter kam Landa nicht. Ihre Stimme wurde von einem lauten Geräusch verschluckt. Die Erde schien zu explodieren. Die beiden Frauen schrien auf. Sie wurden auseinander gerissen und zu Boden geschleudert. Der Lichtstrahl schien zu explodieren. Durch das Grün zuckte ein gol dener Blitz, dann noch einer und schließlich ein dritter. Plötzlich war der Kristall verschwunden, und an seiner Stelle drehte sich über
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dem Boden die nackte, statuenhafte Gestalt eines Mannes, der den Kopf in den Nacken geworfen und die Arme ausgestreckt hatte. Nur seine äußere Gestalt wirkte menschlich. Seine Haut war gol den, und goldenes Licht strömte glühend aus seinen Augen. »Nein!«, rief Landa. »Nein, das kann nicht sein!« »Was ist das?«, wollte Cata wissen. »Was passiert da?« »Eine Interferenz! Ein anderer Zauber!« »Ist er böse?« »Ich weiß es nicht!« Um sie herum schienen die Elemente in einem aufgewühlten Mahlstrom zu toben. Lichtblitze zuckten. Erst tauchte der grüne Kristall auf, dann die goldene Gestalt, der Kristall, die Gestalt, Grün, dann Gold. Plötzlich verschwanden Kristall und Mann. An ihrer Stelle befand sich ein Hurrikan aus Licht. Das Schilfrohr wurde zu Boden gepresst, Blumen wurden ausgerissen und verschwanden in dem kreischenden, aufströmenden Lichtstrahl. Selbst der Bach er hob sich zu einer kochenden Flut. Zweige und Efeu zuckten, wan den sich und tanzten in einer schrecklichen, verrückten Ekstase. »Es zieht mich in sich hinein!«, schrie Landa. »Verzweifelt hielt sie sich an Wurzeln und Gräsern fest. Ihre Klei dung flatterte an ihrem Körper. Sie würde jeden Moment in diesen wahnsinnigen Wirbel gezogen werden. »Halt dich fest!« »Cata, ich kann nicht mehr ...!« »Halt dich fest, halt noch ein bisschen aus!« Mit einer Hand umklammerte Cata eine dicke Wurzel, und mit der anderen packte sie Landas Kleidung und griff nach ihren Beinen, mit denen sie wild herumstrampelte. Es hatte keinen Sinn. Sie brauchte beide Hände. Es half nichts: Cata warf sich nach vorn. Mit aller Kraft riss sie Landa an der Schul ter zurück. Landa schrie auf und stürzte in den kochenden Bach. Sie war gerettet. Doch im nächsten Augenblick schrie Cata auf.
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»Nein ...!« Landa kletterte hastig ans Ufer, aber sie kam zu spät. Entsetzt musste sie mit ansehen, wie Cata in den Lichtstrahl hinaufgezogen wurde. »CATA!« Es war vorbei. Mit einem Schlag war alles vorbei. Plötzlich war die schreckliche Magie verschwunden, die Lichter waren fort, und auch die Luft hatte sich wieder beruhigt. Der Wind und der Bach waren wieder still. Alle Dinge waren fort, als hätte es sie niemals gegeben. Wie Cata.
»Jem ... Jem!« Jem öffnete die Augen. Er hatte geträumt, und obwohl sein Traum sofort verpuffte, glaubte er noch einen Moment brennende Luft zu riechen. Und auf seiner Netzhaut tanzte noch das Abbild ei ner Flamme. »Feuer?«, stieß er hervor, aber es war nur eine Illusion gewesen. Um ihn herum herrschte tiefschwarze Finsternis. Es musste mitten in der Nacht sein, trotzdem rüttelte ihn jemand an der Schulter. »Raj?« »Jem, hör doch - da ist irgendwas.« Jem lauschte. Es musste schon sehr spät sein, sonst hätten sicher noch einige Seeleute um eine Lampe herumgesessen, Witze erzählt oder bei einem Spiel derb geflucht. Jetzt hörte man nur gedämpftes Schnarchen und das leise Huschen der Ratten. Das Schiff knarrte leise in der sanft plätschernden Dünung. Es lag in einer Flaute, und die Segel waren eingeholt. Durch die Takelage schien der Mond und warf ein silbriges Gittermuster auf das Deck.
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»Hören? Ich höre nichts.« »Ich meinte nicht hören, ich meinte sehen. Ich meine ... Komm einfach mit, Jem. Komm mit ans Heck, dann zeig ich es dir. Schnell!« Jem stöhnte und schwang sich mühsam aus der Hängematte, die er am Bug angebracht hatte. Rajals Bettrolle lag ein Stück entfernt. Die beiden Freunde schliefen nur in den kältesten Nächten unter Deck, und eine solche Nacht hatten sie nicht mehr erlebt, seit sie Port Tiral verlassen hatten. Was auch gut war. Im Inneren des Schiffs war es eng und schmutzig. Es gab keine Fenster, und es stank nach Pökelfleisch, Essen aus der Kombüse und den widerlichen Aus dünstungen der Besatzung. Manchmal sehnte sich Rajal nach einer Kabine, einer ordentlichen Kabine für sie beide, aber es gab nur eine Kabine für Passagiere, und die hatte Lord Empster in Beschlag ge nommen. Jem störte das nicht. Er schlief gern hier draußen, so dicht an der Galionsfigur des Schiffes, wie er konnte. Sie erinnerte ihn irgendwie an seine verschollene Geliebte. Jem betrachtete die geheimnisvolle hölzerne Lady häufig und träumte dann von seinen glorreichen Ta gen mit Cata. Er hatte den Kapitän schon mehrmals nach der Gali onsfigur gefragt und wie es dazu kam, dass das Schiff ihren Namen trug. Catayane, Catayane?, sagte der alte Mann. Ein schöner alter Name, stimmt's? Ein schöner Name für ein Mädchen! Dem konnte Jem nur zustimmen. Rajal stolperte, als würde die Catayane plötzlich auf hoher See krängen. »Raj, du bist betrunken! Was soll das?« Jem vermutete, dass sein Freund gar nicht zu Bett gegangen war. Das Leben an Bord fiel Rajal schwer. Er trank zu viel Rum, und manchmal war sein Verhalten wirklich merkwürdig, so wie jetzt zum Beispiel. Andererseits benahmen sich alle seltsam. Jem dachte daran, wie schnell er sich beim Abendessen verabschiedet hatte, als ihn plötzlich die Angst gepackt hatte. Und sie schien immer noch in
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seinen pochenden Schläfen zu lauern. Er schluckte. Es schmeckte trocken und beißend. Die Nacht schien nicht mehr so warm zu sein. Jem spürte die Kälte, die einen feuchten Nebel mit sich brachte. Er rieb sich die Arme. Sie stolperten durch die Finsternis. »Also, was soll ich jetzt sehen?« »Shh. Komm einfach mit.« Mit theatralischer Heimlichtuerei blickte Rajal zum Krähennest hinauf, in dem Pustel mittlerweile fest schlafen würde, und kon trollierte anschließend Bug und Heck. Dann führte er Jem über das Achterdeck, schlich an den glänzenden Kanonen vorbei, an den Taurollen, den massiven Speichen der Ankerwinde. Vom Rand des Achterdecks aus deutete er triumphierend ins Wasser. Jem runzelte die Stirn. Als er Rajals Bitte nachkam, sah er nur das Meer, das durch die Lampen am Ruder und an dem abgerundeten Heck glänzte. »Aber es war da! Es war da!«, rief Rajal. »Shh! Was war da, Raj?« Wütend wandte sich Rajal ab. Über ihren Köpfen flatterte die wenayanische Flagge, eine von vielen Fahnen, die der Kapitän an Bord hatte. Diese hier war nützlich, behauptete der Kapitän, um Piraten, das heißt, andere Piraten, abzuschrecken. Rajal sank über der hölzernen Reling zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich bin doch nicht verrückt geworden, oder?« »Vorsicht! Du fällst noch über Bord! Was meinst du mit verrückt?« Rajal raufte sich die Haare. »Ich bin wohl zu lange bei dem Ka pitän geblieben, nachdem du gegangen bist. Mir war schlecht von dem ganzen Rum.« »Das ist wahrhaftig kein Kunststück! Aber Raj, seit wir an Bord gekommen sind, trinkst du, und das sieht dir gar nicht ähnlich!« Jem erinnerte sich an den Rajal, den er von früher kannte, als er noch auf der Straße gelebt hatte. Damals war Jem der halbstarke
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Narr gewesen und Rajal der Vorsichtige, Vernünftige. Aber das schien so lange her zu sein. Seit dem Verlust seiner Schwester hatte Rajal sich verändert. Jem machte sich Sorgen um ihn - und auch um den Kristall, den Rajal bei sich trug. Er wollte seinen Freund trösten, aber wie er das anstellen sollte, wusste er nicht. »Schließlich ist der Alte einfach eingeschlafen«, erklärte Rajal tonlos. »Das Äffchen ist um mich herumgetanzt, und ich habe sie weggestoßen. Dann bin ich an Deck gestolpert und eingeschlafen. Wahrscheinlich über die Reling gebeugt wie jetzt.« »Das war nicht sehr klug.« »Aber da habe ich es gesehen, verstehst du?« »Im Schlaf?« Jem dachte an die Flammen, die ihn in Trance versetzt hatten, und plötzlich erinnerte er sich wieder an den Traum. Vage erkannte er einen menschlichen Körper, der in einer Flamme schrie ... einer gewaltigen, fauchenden Feuersäule. Er schüttelte sich. »Was hast du denn geträumt, Rajal?« »Es war kein Traum ... Ich meine, ich bin aufgewacht. Wenn du dich vorbeugst, dann siehst du das Bullauge von ...« »Der Kapitänskajüte?« »Der Kabine von Lord Empster. Da war ein Licht...« »Eine Lampe?« »Ein Lichtstrahl. Es war ein wirbelnder, überirdischer Lichtstrahl ...« »Raj, du hast geträumt.« Rajal raufte sich erneut die Haare. In dem Mondlicht schimmerte sein Gesicht aschgrau. »Warum sollte ich bloß geträumt haben? Wir haben so viel Magie erlebt...« Jem zuckte mit den Schultern. »Ja, wenn wir in der Nähe der Kris talle waren.« Rajal deutete auf seine Brust und dann auf die von Jem. »Viel näher können wir kaum sein.« »Aber wir sind nicht in der Nähe des Nächsten.« »Immerhin sind wir dorthin unterwegs, oder nicht?«
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»Eigentlich stecken wir mitten in einer Flaute. Du hast geträumt, Raj.« Rajal atmete tief durch. Seme Miene verdüsterte sich vor Enttäuschung, und diesmal zog er noch stärker an seinem Haar. Jem zuckte zusammen. In der Stille der Nacht schien das leise Murmeln der See sie zu verspotten. Der Dunst verdichtete sich zu einem Nebel. So schnell? Jem war irritiert. Dann berührte etwas sein Bein. Er erschrak, doch als er sich umdrehte, sah er nur Bubi, das Äffchen, das geduckt und lautlos um sie herumsprang. Er schüttelte sich. Kapitän Porlo war ein sehr liebenswerter Mann, aber etwas an der Äffin bereitete ihm Unbeha gen. Einmal hatte sie die Concertina des Kapitäns genommen und eine hohe, unheimliche Melodie herausgequetscht. Der Kapitän fand das anscheinend entzückend und lachte, aber Jem beschlich plötz lich eine merkwürdige Furcht. Als Rajal ihn berührte, zuckte Jem wieder zusammen. »Ich habe nicht geträumt«, sagte Rajal leise. »Jem, findest du nicht, dass er etwas Merkwürdiges an sich hat...« »Du meinst Lord Empster?« »Ja! Etwas, das nicht ganz richtig ist...?« Jem seufzte. »Das fand ich schon immer, Raj. Und zwar seit ich das erste Mal sein Haus betreten habe, wie der Harlekin es mir be fohlen hat. Weißt du, ich dachte sogar zunächst, dass er der Harle kin wäre!« »Empster?« »Ja! Der Harlekin in einer anderen Verkleidung ...« »Er ist jemand anders. Aber wer? Jem, was hat er dir über diese Aufgabe erzählt?« »Diesmal? Nur, dass wir an der Küste Qatanis landen. Wir wis sen, dass er Papiere hat, diplomatische Papiere ...« »Gefälschte?« »Aber warum? Er ist doch ein wichtiger Mann ...« »Ach, komm schon! Sicher suchen sie ihn schon längst!«
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»An der qatanischen Küste?«, erwiderte Jem spöttisch. »Warum nicht? Was weißt du noch?« »Nicht mehr als du! Nur, dass wir nach Qatani reisen und dass ir gendwo am Hof des Kalifen ... Na ja, ich denke, dort befindet sich irgendwo ein Hinweis.« »Am Hof?« Rajal dachte darüber nach. »Dieser Kalif ... ich frage mich, ob er derjenige mit den Kobras ist.« Jem musste lächeln. Er ließ seine Hand wie eine Schlange vor schnellen. »Ssss!« Doch plötzlich packte Rajal Jems Handgelenk. »Jem! Sieh doch da passiert es schon wieder!« Erschreckt sah Jem hinunter. Zwar lag der Schiffsrumpf in dich tem Nebel, aber durch das rautenförmige Bullauge von Lord Empsters Kabine fuhr ein Lichtstrahl hell in die Nacht. Es war genau so, wie Rajal gesagt hatte. »Was kann das sein?« »Irgendetwas Böses, so viel ist klar!« »Raj, halt mich an den Beinen fest.« »Was?« »Es ist weder eine Lampe noch eine Flamme, jedenfalls keine ge wöhnliche.« »Das habe ich dir doch gesagt!« »Ja. Und ich will wissen, was es ist. Wenn ich mich weit genug über die Reling beuge, kann ich durch das Fenster blicken.« Rajal war entsetzt. »Er wird dich sehen!« »Na und? Er ist immerhin mein Beschützer!« »Ein Beschützer, der sich in seiner Kabine einschließt und so gut wie nie herauskommt! Warum gehst du nicht hin und klopfst ein fach an seine Tür?« »Dann würde er das, was dieses Licht macht, verstecken, oder nicht?« Warum Jem sich dessen so sicher war, wusste er nicht, aber irgendwie war ihm klar, dass dieses Licht ein Geheimnis war ... ein gefährliches Geheimnis. »Und jetzt halt meine Beine fest.«
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Rajal schnitt eine Grimasse. Mittlerweile war von seiner Trunkenheit nur noch ein leichtes Pochen in den Schläfen übrig geblie ben. Plötzlich verschoben sich ihre Rollen wieder, und er war erneut der vorsichtige und bedachte Raj, der versuchte, seinen leichtsinni gen Freund zurückzuhalten. Als Jem sich bereitmachte, fing Bubi an zu kreischen. Ihr Schwanz zuckte über das Deck und mit ihren spindeldürren Fin gern packte sie erst Rajal und dann Jem. »Ach, wirf sie einfach über Bord!«, rief Jem gereizt. Sie drehten sich beide zu dem räudigen Geschöpf um, aber es schoss gerade noch rechtzeitig davon und brachte sich in der Take lage in Sicherheit. Rajal sollte erst später klar werden, dass das Äffchen nur versucht hatte, das bevorstehende Desaster zu verhindern. Rajal bereitete sich auf seine Aufgabe vor und grub seine Finger tief in Jems Waden. Jem protestierte, aber Rajal dachte nicht daran, den Griff zu lockern. »Sei vorsichtig, Jem!« »Du solltest lieber vorsichtig sein!« Jem hing kopfüber an der Seite des Schiffes herunter. Beinahe im gleichen Moment bereute er seine Eskapade. Es war schon schlimm genug, dass ihm das Blut in den Kopf schoss, aber die Galle in sei nem Hals war noch viel widerlicher. Er schluckte angestrengt und packte den zerborstenen Fensterrahmen, während er sich allmählich auf die Lichtspirale zubewegte. Wie hell sie war! »Ein bisschen da rüber!« »So?« »Nein, auf die andere Seite. Und jetzt ein bisschen weiter hinun ter. Nur ganz wenig!« Jem war knallrot im Gesicht, während sein Kopf sich endlich auf gleicher Höhe mit dem Fenster befand. Jetzt leuchtete das merkwürdige Licht ihm direkt ins Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und versuchte sich gegen die Lichtstrahlen zu schützen. Dann ging alles schief. Erst rutschte der Kristall in seinem Lederbeutel bis zu seinem Kinn. Nur der Knopf von Jems Wams ver
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hinderte, dass er ins Meer stürzte. Er hielt sein Wams am Kragen zusammen. Dann sah er es. Jem schrie auf. Im gleichen Moment sollte sich weit weg in den Dünen der Wüste eine andere merkwürdige Szene ereignen. Unter dem klaren, sternenübersäten Himmel saß eine Gruppe von Wanderern in langen, weißen Roben um ein Lagerfeuer. Es war eine große Gruppe, die sich weit über den im Licht der Sterne gebadeten Strand verteilte. Mittlerweile schliefen die meisten Männer und auch ihre Kamele, die sie im Morgengrauen wieder besteigen würden. Aber einige scherzten noch miteinander, spielten oder rauchten. Es waren alles Männer, und zwar nur Ausgewählte, sehnige Gestalten mit stählernen Blicken. Einem zufälligen Beobachter wäre sofort klar geworden, dass dies keine gewöhnlichen Reisenden waren. Es waren weder Händler noch Pilger. Sie trugen nicht die Uniform der Armeen von Unang. Sollte dieser Beobachter jedoch ein Unangese sein, würde er sofort wissen, wer sie waren. Und dass sie tatsächlich eine Art Armee darstellten. Sein Herz würde vor Furcht erzittern, und er würde darum beten, dass die Ouabin überall hinritten, nur nicht dorthin, wo er herkam oder wo er hinwollte. Jetzt stimmen die letzten Feiernden ein Lied an. Es dringt über die Dünen und hat etwas merkwürdig Unheimliches an sich, ob wohl es eigentlich eine recht unbeschwerte Melodie besitzt, jeden falls in der Strophe. Es ist ein Lied, das große Bedeutung für die Er eignisse haben wird, die noch vor uns liegen. STROPHE
Die Zeit mag schnell verstreichen oder langsam,
Die Ehe bringt Freuden, die alle erleben sollten:
Zuerst blicke an das Mädchen, das du begehrst,
Gewinne sie, entfache sie und bade in ihrem Feuer!
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CHORUS Heirate und Brenne!
Das Rad soll sich drehen!
Welch kühner Liebende muss lange schmachten?
Schnapp deinen Schatz von dem lodernden Schei-ei-terhaufen
Heirate und brenne,
Heirate und brenne!
Aber jetzt richten wir unsere Aufmerksamkeit auf einen, der sich nicht unter der Gruppe der Zecher befindet. Dennoch ist er wach und stiehlt sich in die wilden, einsamen Dünen davon. Schon bald ist er nicht mehr zu sehen, und außer dem fernen Klang des Liedes dringt kein Geräusch zu ihm. Ehefrauen mögen einen teuer zu stehen kommen,
während Geliebte wohlfeil sind,
Trotzdem bringen sie Freuden, die alle Männer ernten sollten;
Ach, gelobt sei der Tag, an dem du ihr deinen Namen gibst,
Umarme sie, entfache sie und lasse sie in Flammen aufgehen!
Heirate und brenne ...
Der Mann lächelt und hätte fast laut gelacht. Allerdings, es gibt ein Mädchen, das er bald entflammen wird! Er sinkt auf die Knie und reckt seine Hände gen Himmel. Das Lied klingt weiter, während in der Luft vor ihm die goldene Gestalt Form annimmt. Ja, er hat es gewusst! Er hat den Ruf gespürt, ihn wie einen körperlichen Schmerz empfunden. »Goldener, ist es wahr? Ihr werdet bald in dieses Land kommen?« »Ouabin, willst du an meinem Wort zweifeln?« »Niemals! Ich hoffe nur, dass alles gut geht.« »Ach, du hoffst! Kann ich denn darauf hoffen, dass du deine Rolle spielst?«
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»Bin ich nicht Rashid Amr Rukr? Ich kann nur hoffen, Herr, dass ich Euch vertrauen darf!« »Narr! Kennst du denn nicht meinen Namen?« »Ich könnte raten, Herr. Und ich glaube, dass ich ihn wirklich er kannt habe.« Und Rashid Amr Rukr blickt mit der Kühnheit seiner Rasse der goldenen Erscheinung in die Augen. Ein anderer Mann wäre viel leicht wie vom Blitz gefällt zu Boden gegangen. Doch der überirdische Besucher des Scheichs lächelt nur, streckt die Hände aus und fordert den Führer der Ouabin auf, sich zu erheben. Jetzt badet auch der Scheich in dem goldenen Licht, während Erkenntnis und Versprechungen wie Magie in seinen Verstand sickern. Ekstase erfüllt ihn, als er an die Macht denkt, die sich bald in seinen Händen befinden wird. Im Lager hat das Lied mittlerweile seinen Höhepunkt erreicht. Wüsten sind Orte, die die Götter verfluchten,
Dort führen die Menschen ein karges Leben voll Hitze,
Dürre und Durst:
Gebt ihnen eine Zukunft ohne Furcht,
Rashid und Qatanis Prinzessin müssen heiraten!
Heirate und brenne!
Die Welt muss lernen
Dass Ouabins Macht unsere einzige Sorge gilt!
Prinzessin Bela Dona hält den Schlü-ü-ssel
Heirate und brenne,
Heirate und brenne!
»Jem, was ist da?« Aber Jem starrte nur staunend in die Kabine seines Beschützers, wo sich die goldene Kreatur unmittelbar über dem Boden langsam
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drehte. Licht strömte aus ihren Augen, und ihr Mund öffnete und schloss sich, als spräche sie mit einem unsichtbaren Fremden. Wäre das alles gewesen, hätte Rajal Jem vielleicht nicht losgelassen. Aber vor dem, was dann geschah, stolperte er zurück und löste seinen Griff. Die Nacht wurde zum Tage. Ein gewaltiger Blitz, ein grüner Blitz zuckte vom Himmel. Rajal schrie und wurde auf das Deck geschleudert. Aus der Kabi ne unter ihm drang ein unmenschlicher Schrei zu ihm hinauf. Im selben Moment hörte er noch einen Schrei, einen allzu menschli chen, und unmittelbar darauf ein gewaltiges Platschen. »Jem!« Rajal rappelte sich hoch, aber er brach vor Schmerzen sofort wieder zusammen. Danach herrschte völliges Durcheinander, das in einer noch größeren Verwirrung enden sollte. Erst schrie Rajal um Hilfe und läutete wie von Sinnen die Schiffs glocke. Bubi hüpfte wie von der Tarantel gestochen zwischen seinen Füßen herum. Pustel glitt hastig aus dem Krähennest herunter. Der Blitz hatte ihn aufgeweckt. Schließlich strömten die Matrosen aus den Quartieren. Selbst Kapitän Porlo stürmte schwankend auf das Achterdeck. »Mann über Bord?«, brüllte er. »Wer ist über Bord gegangen?« »Da ist er!«, schrie Pustel aufgeregt und sprang wild herum, bis ihn der betrunkene Kapitän mit einem einzigen Hieb zum Schwei gen brachte. Einer der Matrosen sprang ins Meer. Verzweifelt muss te Rajal zusehen, wie eine Laterne geschwungen wurde. Sein Rücken schmerzte höllisch von dem Sturz. Raue Stimmen bellten Befehle, und Seile wurden über die Reling geschleudert. Der Kapitän packte Rajal brutal am Arm und drehte ihn beinahe aus dem Gelenk. »Was habt ihr jungen Racker da gespielt, hm?« »Kapitän, wir wollten nicht...« »Ihr wolltet nicht, wolltet nicht...!« Der Kapitän schleuderte Rajal zur Seite, ergrimmt darüber, dass
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er so plötzlich geweckt worden war. Es gab Wichtigeres zu tun. Strömender Regen vertrieb den Nebel, und in der Ferne sah man be reits einen Silberstreif am Horizont. Bubi sprang ihrem Herrn auf die Schulter und schien ihn anzutreiben. »Lichtet den Anker! Setzt Segel! Spürt Ihr nicht, dass der Wind wieder auffrischt, ihr Scheuerlappen?« Mit diesen Worten humpelte der Kapitän unter Deck, und Rajal betrachtete als Einziger den Mann, den man aus dem Meer gefischt und vor ihn auf das Deck gelegt hatte. Die Haut der Gestalt war blau angelaufen, aber sie atmete. Nur leider stimmte etwas ganz Entscheidendes nicht. »Das ist nicht Jem!«, flüsterte Rajal heiser. Die nassen Seeleute schlurften davon. Rajal schrie hinter ihnen her und fuchtelte mit den Händen herum. »Das ist nicht Jem!« Jemand hatte die Laterne mitgenommen. In der Dunkelheit konn ten die Matrosen es nicht erkennen. Vielleicht dachten sie, dass Ra jal einfach nur betrunken war. Bestürzt lief er an die Seite des Schif fes und blickte verzweifelt in die wogende See hinab. Wo war Jem? Wo konnte er sein? Er drehte sich wieder zu der hilflosen Gestalt an Deck um. Sie trug die Kleidung eines zenzarischen Bauernjungen. Schwarze Locken, die wie Seetang aussahen, umrahmten das fein geschnittene Gesicht. Als sie die Augen öffnete, sah sie Rajal verständnislos an. »Wo ... wo bin ich?«, fragte Cata.
Die Klippen an der Dorva-Küste ragen schroff in den Himmel und trennen Land und Meer wie eine felsige, zerklüftete Mauer. Eine Straße führt über diese Steilküste, ein gefährlicher Weg, der hier an
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steigt und sich dort zwischen Abgründen, Felswänden und schmalen Vorsprüngen aus glänzenden weißen Felsen hinabsenkt. Es war noch sehr früh am Morgen, aber schon jetzt regierte die Hitze. Ein Reiter hetzte die Straße entlang. Hinter ihm stieg blasser Staub auf. Sein Kamel schrie. Grob zerrte der Mann an den Zügeln und lenkte den Blick des Tieres von den gähnenden Abgründen weg. Unter dem Turban des Reiters funkelten stählerne Augen, die nicht blinzelten. Es waren die Augen eines Sosen-Boten. Er war einer der besten Kamelreiter vom Sosen-Plateau und trug wie alle Angehöri gen seines Volkes fließend weite Gewänder. Seine jedoch waren schwarz, nicht weiß, und an den Handgelenken und der Stirn mit goldenen Bändern gesichert. Auf diesen Bändern war das Wappen des Kalifen eingearbeitet. Beim Anblick des schwarzen Reiters erzitterten gewöhnliche Sterbliche, denn sie wussten, dass er das Dekret des Sultans mit sich führte. Der Reiter umrundete eine felsige Ecke. Dann zügelte er sein Kamel und betrachtete die Szenerie, die sich ihm bot. Ein letztes Dorf, eine letzte öde Karawanserei auf einem Flecken Land, dann war der Weg frei. Entlang der geschwungenen Bucht wichen die Klippen zurück, bis sie schließlich auf Meereshöhe absanken. Und an der äußersten Ecke der Bucht funkelten Marmor, Glas und Gold. Über dem tiefblauen Wasser bauschten sich bunte Segel. Das war Qatani, die Perle der Küste. Der wichtigste Seehafen von Nieder-Unang. Dieser Stadtstaat war der Sitz des Kalifen von Qatani, Bruder des Sultans und oberster Fürst derer, die unter seiner kaiserlichen Herrschaft regieren durften. Der Reiter legte die Hand auf die Brust, über sein Herz. Es war eine heilige Geste, ein Zeichen für Glück, und Gewohnheit unter seinen Stammesgenossen, wenn ihr Ziel nah vor ihnen lag. Schon bald würden seine Sporen sein Kamel weitertreiben, aber zuerst musste er einen zweiten religiösen Brauch ausführen. Er warf einen flüchtigen Blick zur Sonne, um ihren Stand zu ermessen. Doch das war eigentlich nicht nötig. Instinktiv kannte er die Zeit.
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Grün. Es war die Zeit, die grün genannt wurde. Der Reiter stieg ab und machte direkt vor den Augen des Kamels das Bleib-stehen-Zeichen. Die Augen des Tieres wurden glasig. Der Mann trat etwas zurück und hob die Arme hoch über den Kopf. Dann stieß die schwarz gekleidete Gestalt ein hohes Klagen aus, drehte sich mehrmals um sich selbst und warf sich schließlich zu Bo den, in Richtung der Heiligen Stadt. Es war die Zweite von Fünf Niederwerfungen, die alle Gläubigen täglich zu absolvieren hatten. Aus einer uralten Prophezeiung, die von fünf großen sterblichen Herrschern kündete, die Unang regie ren sollten, bevor die Götter auf diese Welt zurückkämen, waren diese Niederwerfungen als die Katakomben, die Grünen, der Staub, die Welle und die Sterne bekannt. In ganz Unang, in allen Städten und Dörfern, unterwarfen sich alle Frauen und Männer aller Schich ten und Klassen denselben Ritualen. Wüstenkarawanen kamen zum Stehen. Menschenmengen verstummten. Auf den Feldern ließen einsame Arbeiter Hacken und Sensen fallen. An vornehmen Höfen wie in schmutzigen Schweineställen verstummte alles bis auf das Geräusch der Gebete. Lange Zeit verharrte der Reiter so, murmelnd und sich vernei gend. Das Meer unterhalb der Straße war ein gewaltiges blaues Feld, das glitzernd, aber unbeweglich in der hellen Morgensonne dalag. Öde Hügel erstreckten sich ins Landesinnere, gesprenkelt mit karger, hässlicher Vegetation. Der Reiter absolvierte die Litanei, die er als Junge gelernt hatte, betete für den Sultan, für seine Gesundheit, seinen Wohlstand, seine Weisheit, seine Gnade, für seine Hände und Füße, seine Augen und seinen Mund, für seine Lungen und die Leber und den Magen und die Eingeweide und die Kraft und die Fruchtbarkeit seines männlichen Gliedes. Erst am Ende, wie immer, fügte er eine Bitte um sein eigenes Wohlergehen hinzu, betete darum, dass sein Leben verschont bleibe und dass er bald die Liebe einer Frau erringen würde, die auf der fernen Ebene lebte, die auch seine Heimat war.
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Es war ein bescheidenes Gebet, aber es sollte dennoch nicht erhört werden. Der Reiter war loyal, zuverlässig und aufrecht, aber er hatte einen närrischen Zug an sich. Viele Nächte waren vergangen, seit er sich auf seine Mission begeben hatte. Jetzt, so kurz vor dem Ziel, hätte er so schnell wie möglich seine Nachricht in Qatani abgeben sollen. Aber es war noch früh. Er konte vor Anbruch der Dunkelheit dort ankommen. In dem Dorf, das vor ihm lag, verlockte ihn eine ange nehme Karawanserei zum Bleiben. Eine tödliche Verlockung, wie sich herausstellte. Ameda, Tochter des Evitamus, Amed, wie man sie nannte, schlich auf Zehenspitzen über die kühlen Fliesen der Kammer ihres Vaters. Der alte Mann streckte sich auf einer schäbigen Matte am Fenster aus, während er in einem hohen Singsang die heiligen Worte herunterleierte. Wie Vater dieses Fenster liebte! Es strahlte in dem hellen Sonnenlicht. Von hier aus, so sagte er sich gern, flatterten seine Wor te wie Stare über die Dünen in die Heilige Stadt. Die andere Seite der Kammer lag im Schatten. Als Amed zu ihrer verlassenen Gebetsmatte zurücksah, bekam sie einen Moment Ge wissensbisse. Aber nur kurz. Nicht das Wegschleichen machte ihr Sorgen, das war leicht. Ihr Vater merkte nie, wann seine Tochter ihn verließ, wenn er in seine religiöse Verzückung verfiel. Schwieriger war es, rechtzeitig wieder zurückzukommen. Amed zuckte zusam men. Sie schien schon den Sajana-Riemen auf ihrem Rücken zu fühlen. Wenn sie nur Faha Ejo hätte dazu bringen können, zu ihr in die Karawanserei zu kommen! Nein! Sollte ein Mischling sie für einen Feigling halten? Amed war schließlich kein gewöhnliches unangesisches Mädchen. An der Tür zu ihrer Kammer stand eine dunkle, mit Schnitzerei en verzierte Truhe. Amed nahm ihren Mut zusammen. Während sie ein letztes Mal zurückblickte, hob sie den schweren Deckel. Sie hat
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te eigentlich vorgehabt, in der letzten Nacht die Truhe zu durchsu chen, während ihr Vater schlief. Doch stattdessen war sie selbst sofort eingeschlafen, nachdem sie ins Bett gegangen war. Kein Wunder nach einem Tag voller Holzhacken, Regale auffüllen und Wasser aus der Zisterne heraufziehen. Sie war erst aufgewacht, als ihr Vater sie am Morgen gerüttelt hatte. Jetzt musste sie schnell sein. Amed rollte das Samttuch zusam men, das zuoberst in der Truhe lag, und stoppte es als Keil zwischen die Scharniere. Dann griff sie mit der Hand in die weichen Tiefen. Der Geruch des Stoffes war berauschend. Amed war von dieser duftenden Truhe fasziniert gewesen, solange sie zurückdenken konnte. Als kleines Kind hatte sie ihren Vater gedrängt, wieder sei ne Roben anzuziehen, doch dieser hatte nur gelächelt. Als der alte Mann einmal weggegangen war, hatte Amed einen mit Sternen übersäten Umhang herausgezogen, war die Treppe hinunterstolziert, durch den Garten und um den Hof der Karawanserei geschritten, während der glitzernde Mantel hinter ihr durch den Staub schleifte. Reisende und Dienstmädchen hatten gelacht und ihr Beifall gespen det, aber als Vater es erfuhr, hatte sich sein Gesicht vor Wut verdunkelt. Einen Monat dauerte es, bis die Striemen auf Ameds Rücken verblassten. Wenn sich Amed so frech wie ein Junge benahm, dann musste sie auch wie einer behandelt werden, sagte ihr Vater wie immer, wenn er sie schlug. Danach war das Mädchen, der Wildfang, wie Faha Ejo sie nann te, vorsichtig gewesen, aber sie kehrte immer wieder zu der Truhe zurück. Ihr Inhalt war Amed so vertraut wie ein Freund: der Ster nenumhang, der spitze Hut, der Goldzylinder und das dicke Buch, das nur mit einem Schlüssel geöffnet werden konnte. Sie liebte diese Schätze, aber es gab auch Abfall in der Kiste. Leere Duftfläschchen, ein zerkratzter Essteller, ein Schachbrett ohne Figuren und ein Ring ohne einen Stein. Außerdem war da das kleine Elfenbeinkamel, dem ein Bein fehlte. Das Glas der Sanduhr hatte einen Sprung, und es befand sich kein Sand mehr darin. Und dann
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gab es noch die Konar-Lampe. Sie lag ganz unten am Boden der Tru he, unter einem muffigen, eingerollten Teppich. Die Lampe war schäbig und verbeult, und Mutter Madana hätte niemals erlaubt, dass sie in ihrer Karawanserei benutzt wurde. Sie war wohl kaum der Wertgegenstand, den Faha Ejo verlangt hatte, aber sie musste genügen. Vater würde jedenfalls nicht einmal bemerken, dass sie verschwunden war. Amed tastete danach und zog sie heraus. So schlecht war sie eigentlich gar nicht. Vielleicht stellte selbst diese alte Messinglampe für einen Mischling einen Luxus dar, den er sich nie erträumt hätte! Jedenfalls hoffte Amed das. Sie hörte den Singsang ihres Vaters immer noch, als sie rasch die Truhe wieder verschloss, leise aus dem Zimmer huschte und die Treppe hinablief. Wie der Blitz schoss sie an Mutter Madana vorbei, als das alte Weib ungeachtet der Gebetsstunde in ihrer Küche rumorte. Die ehrfurchtgebietende Herrin der Karawanserei würde Amed ganz sicher bestrafen, wenn sie erfuhr, was das Mädchen tat. Nur zur Gebetsstunde war Amed von all den Pflichten befreit, die sonst jeden Tag auf sie warteten, frei von dem »Hol dies«, »Nimm das«, »Besorg jenes«, »Trag dieses«. Sie hetzte über den Hof. Einen Moment später stürmte sie die Hügel hinter dem Dorf empor, sprang über spitze Felsen und grün graue Büsche. »Ungläubiger!«, rief sie. »Ungläubiger!« »Wildfang!«, erwiderte eine lachende Stimme. Auf einem geschwungenen weißen Felsbrocken saß Faha Ejo, der Ziegenhirte, in der warmen Sonne und rauchte seine Tonpfeife. »Lieber wild als ungläubig!« »Lieber ungläubig als wild!« Es war ihre übliche Begrüßung. Die Freunde schlugen sich ge genseitig so fest auf die Hände, dass sie brannten. Atemlos ließ sich Amed neben dem Ziegenhirten auf den Felsvorsprung fallen. »Ich habe sie«, sagte sie stolz.
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»Hm?« Faha Ejo stieß eine Rauchwolke aus, während er seine trä ge Herde im Auge behielt. Einige standen verloren auf den Hängen unter ihnen, andere knabberten widerwillig an dem Steinkraut. »Ich sagte, ich habe sie!« Amed hielt Faha Ejo die Lampe unter die Nase. »Das?« Es war eine sehr hässliche Lampe. Der Ziegenhirte nahm das bil lige Geschenk nur sehr zögerlich und strich mit der Hand über die bauchige Brennschale, den ohrenförmigen Griff und die herausra genden Tüllen. Die eine war für Öl, die andere für Konar-Pulver. Ungeduldig nahm Amed Faha Ejo die Pfeife aus dem Mund und sog gierig den scharfen Tabakgeschmack ein. Faha Ejo zog die Mundwinkel herunter. »Sie ist zerbeult.« Amed hustete. »Sie ist alt.« »Das sehe ich. Und schmutzig.« Der Ziegenhirte schnappte sich seine Pfeife. Amed schluckte schwer. »Alte Dinge sind wertvoll.« »Wenn sie aus Gold oder Silber sind, Wildfang. Konntest du nichts Besseres finden?« »Es ist eine schöne Lampe!« »Für eine Bruchbude vielleicht.« Amed war beleidigt und vergaß beinahe, dass es stimmte. Sie packte die Lampe und wollte zur Karawanserei zurücklaufen, aber Faha Ejo sprang auf. Er packte Ameds Arm. »Vielleicht nimmt Vetter Eli sie ja trotzdem.« Ameds Miene hellte sich auf. »Glaubst du?« »Das müssen wir ihn selbst fragen. Komm, suchen wir ihn.« Nervös blickte Amed den Hügel hinunter. Das flache Dach der Karawanserei glühte anklagend im Sonnenlicht. »Die Niederwerfungen sind beinahe vorbei.« »Was denn, hast du Angst?« »Ich muss zurück.«
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Faha Ejo schnaubte verächtlich. »Sag doch dem alten Mann, dass du aufgehalten worden bist ... von Mutter Madanas SchafsaugenEintopf!« Amed musste lachen. Faha Ejo brachte sie immer zum Lachen. Grinsend schnappte sich der Ziegenhirte die Lampe und marschierte los. »Ungläubiger, deine Ziegen!« »Wohin sollen sie schon laufen? Komm, wer als Erster da ist!« Es war kein wirklicher Wettkampf. Faha Ejo verfügte über die Geschmeidigkeit seines Bergstammes. Amed musste sich schon anstrengen, einigermaßen mitzuhalten, und wäre auf dem steinigen Hügel beinahe gestürzt. Während sie mit ausgebreiteten Armen ver suchte, ihr Gleichgewicht zu behalten, betrachtete sie die Szenerie, die vor ihr lag. Nicht nur den Berg, sondern auch den Hügelkamm, das Meer und irgendwo in weiter Ferne die blendende Pracht von Qatani. Wie langweilig war dagegen ihr Dorf! Und wie groß, wie prächtig die weite Welt! Wenn sie mit Faha Ejo zusammen war, sah Amed immer den größeren Zusammenhang. Obwohl sie schon mindestens fünfzehn Sonnenwenden alt war, kannte das Mädchen aus der Karawanserei doch nichts außer diesem kleinen Dorf ihrer Kindheit. Und oft fürchtete sie schon, dass sie auch nie etwas anderes kennen lernen würde. Es stimmte, ihre Aussichten waren trübe. Wer wird schon einen Wildfang heiraten?, fragte ihr Vater oft traurig. Amed wuss te nur, dass sie sich mehr als nur eine Hochzeit erträumte - und vor allem mehr als ein Leben voller Schinderei. Die öden Tage hätten das Feuer in ihr vielleicht schon gelöscht, sie davon überzeugt, dass das Leben letztlich nur eine triste Angelegenheit war. Doch dann waren in der letzten Koros-Zeit die Mischlinge ins Dorf gekommen. Immer wieder hatte Mutter Madana ihr befohlen, sich von ih nen fern zu halten, und immer wieder hatte Amed diesen Befehl missachtet.
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Schon bald waren die Funken in ihrem Inneren zu einem Feuer aufgeflammt. Dabei hatte Faha Ejo seine neue Freundin gar nicht inspirieren wollen. Beiläufig und ohne jedes Staunen sprach der Ziegenhirte von den Orten, die er gesehen hatte, den juwelengeschmückten Städten, den eisbedeckten Gipfeln der Berge, den weit entfernten Reichen aus rosa und roten Dünen, die wie eine Fata Morgana in der flimmernden Hitze waberten. Wie ein Maler, der Bilder in die Luft malte, zeigte Faha Ejo Amed das Tote Meer von Geden, die Dschungel von Janaga. Lässig rief er das Große Feuer von Faqbar wieder ins Leben, die Nordac-Morde und die Zeit, in der die Truppen des Sultans den Abgrund von Ryn geplündert hatten. Von Faha Ejo hatte Amed gelernt, dass die Welt ein außerge wöhnlicher Ort war. Sie hatte auch gelernt, zu rauchen, zu fluchen, zu lügen und zu stehlen. Und wenn die Lampe als Bezahlung reich te, würde jetzt ein noch größeres, verbotenes Vergnügen folgen. »Komm schon, du lahme Ente!«, rief Faha Ejo über die Schulter zurück.
Sie schlüpften in das Mischlingslabyrinth, ein Gewirr aus Baracken, Zelten und Wagen, das sich hinter den flachen Häusern er streckte. Kochtöpfe, Nachttöpfe, Vorhänge aus Wäscheleinen, aufgehängter Seetang neben abgehangenem Ziegenfleisch behinderten sie auf ihrem Weg durch die verbotenen Gassen. Fliegen summten und Babys brüllten, Rauch und der Geruch nach Kot verpesteten die Luft. Lachen und Musik ertönten von überallher. Alle aufrechten Unangesen verachteten die Mischlinge. Einige sagten, sie wären so schlimm wie die Vagas, aber genau wusste das
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niemand, denn in den Südlanden gab es keine Vaga-Stämme mehr. Trotzdem rann genug Vaga-Blut durch die Adern so manchen Mischlings. Andere, wie Faha Ejo, waren Xladins, die während der Xlada-Kriege in alle Winde verstreut worden waren. Doch die meisten waren eine wilde Mischung aus Rassen, aus Harandi und Yuqi und Geden und Faqbar und Nardac und Ryn. In einigen floss sogar noch Wenaya-Blut, oder man sah Spuren von Zaxon-, Varlan- oder Tiralo-Genen. Auf jeden Fall waren sie alle Ungläubige und, wie Mutter Madana oft sagte, allesamt schmutzig, lebensunfähig und in ihrer Karawanserei nicht geduldet, nein, nicht um alles in der Welt. Es waren Hausierer, Arme, Huren und Schläger, aber niemals Diener und nur selten Sklaven. Denn alle wussten, dass man einem Mischling nicht trauen durf te. Faha Ejo schnappte sich einen kleinen Jungen mit einer Rotzna se. »Wo ist Vetter Eli?« Der Junge sah ihn verständnislos an und zog die Nase hoch. »Papa?« Faha Ejo deutete mit seinen Händen einen gewaltigen Bauch an. Der Junge lachte entzückt und wies ihm den Weg. In einer Lücke zwischen einer zusammengefallenen Hütte und einem baufälligen Wohnwagen hockte Faha Ejos Vetter, der Vater des kleinen Jungen, im Dreck, nuckelte an seiner Pfeife und knabberte zwischendurch an etwas, das wie ein Hundeknochen aussah. Der Hund, dessen Knochen es hätte sein können, lag trübsinnig zu sei nen Füßen. Hinter ihm stand Faho Ejos Mutter an einem Kochtopf und rupfte eine tote Möwe. Als sie ihren Sohn sah, rief sie durch ihre braunen Zähne: »Heh, Faha-Junge! Ziegen, Ziegen!« Faha Ejo ignorierte sie, verbarg die Lampe hinter seinem Rücken und schlug seinem Vetter auf die Schulter. »Heh!« »Heh, heh!« Der Junge und der Mann schlugen sich mehrere Male, bis Faha
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Ejo zur Seite sprang, grinste und winkte. Zuerst wollte sein Vetter nicht mitkommen, aber schließlich rappelte er sich sichtlich mürrisch hoch und watschelte auf seinen schlaffen Beinen hinter den Jungen her. Der Hund folgte ihm ebenso wie der kleine, rotznasige Junge, und so marschierten sie aus dem Labyrinth heraus. Amed mochte Faha Ejos Vetter nicht. Der fette Mann war nicht mit den anderen im Dorf angekommen, sondern erst vor ein paar Tagen in einem schäbigen Vaga-Wagen eingetroffen. Er war auf dem Weg nach Qatani und unterbrach hier seine Reise, die ihn zu einem anderen, weiter entfernten Labyrinth an der Küste geführt hatte. Er behauptete zwar, dass er in einer dringlichen Angelegenheit unter wegs war, aber Essen und andere Annehmlichkeiten konnten ihn dennoch aufhalten. Eli Oli Ali war faul und außerdem ein Queru lant, aber trotzdem schien es besser zu sein, sich gut mit ihm zu stellen. Nach Auskunft seines Neffen war er in Qatani ein durchaus angesehener Geschäftsmann. Amed mochte das kaum glauben. Ein Mischling und ein Ge schäftsmann? Der fette Kerl behauptete, er habe seine Schwester ge holt, die er in der Stadt verkaufen wollte. Er hielt das Mädchen in dem Wagen verschlossen, und niemand hatte sie bisher gesehen. Aber angeblich war sie wunderschön, schöner als ein Mischlings mädchen eigentlich sein durfte. Und wenn jemand einen guten Preis für sie erzielen konnte, dann war es Eli Oli Ali. In diesem Punkt jedenfalls stimmten alle anderen Mischlinge bewundernd überein. Amed empfand jedoch nur einen diffusen Widerwillen. Gestern hatte Faha Ejo in einem ausgelassenen Moment verkündet, dass sie ausreißen und mit Vetter Eli nach Qatani fliehen sollten. Er würde sich um sie kümmern, aber natürlich! Amüsierte sich Eli über den Ziegenhirten, dann schüttete er sich über Amed vor Lachen geradezu aus. Er betätschelte ihren Arm, sah sie lüstern an und wollte wissen, ob sie Junge oder Mädchen sei. Wenn sie ein Mädchen wäre, dann hätte er vielleicht einen Verwendungszweck für sie!
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Als Amed mitten in der Nacht auf ihrer Decke in der Karawan serei erwachte, hörte sie zotige Lieder aus dem Labyrinth. Sie hielt sich die Ohren zu, fühlte sich merkwürdig hilflos, und ihre Wangen glühten vor Scham. Trotzdem erklärte sie sich bereit, bei Faha Ejos neuestem verrückten Plan mitzumachen. Schließlich gelangten sie an den Rand der Klippe. Die Möwen stol zierten um sie herum, bis der fette Mann mit einem lauten »Pah!« seinen Hundeknochen ins Meer warf. Der Hund jaulte, und Elo Oli Ali trat nach ihm. Der rotznasige Junge zuckte zusammen. Grinsend präsentierte Faha Ejo seinem Vetter die Lampe. »Was hältst du davon?« Seufzend nahm der Dicke sie entgegen und drehte sie in seinen pummeligen Händen hin und her. Er streckte die Lippe vor und kratzte sich Schnurrbart und das wabbelige Kinn. Sein Gesicht war fettig, und seine Fingernägel zierten Halbmonde von Dreck. »Für Kua?«, sagte er schließlich. »Pah!« »Pah?« Faha Ejo schaffte es, amüsiert zu wirken. Während er am Rand der Klippen hin und her ging, pries er die Qualität der Lam pe, die, seinen Worten zufolge, in ihrer Kunstfertigkeit selbst einem Wesir am größten königlichen Hof keine Schande gemacht hätte. War diese Lampe nicht von einer seltenen Schönheit? Ein Produkt erlesenster Handwerkskunst? Eine Lampe, die dem prächtigsten Ort zur Zierde gereicht hätte, dem heiligsten Altar? Vor einer sol chen Lampe würden die Imams das Klagelied von Theron intonieren, unter ihrem sanften Licht würde ein Prinz königlichen Geblütes sein Ehegelöbnis vollziehen. Faha Ejo senkte die Stimme und trat dichter an seinen Vetter he ran. »Würde unter einer solchen Lampe nicht auch die Schönheit von Dona Bela noch stärker erstrahlen?« Das beleidigte den fetten Mann, und die Lampe fiel mit einem lauten Poltern zu Boden, als er Faha Ejo an der Kehle packte. »Sprich nicht respektlos von meiner Schwester!«
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»Nein!«, krächzte Faha Ejo. »Nein. Ich spreche nur von der Lam pe ...!« »Ein Stück Müll!« Eli Oli Ali trat gegen die Lampe, die unzwei felhaft über die Klippe geflogen wäre, wenn der rotznäsige Junge sie nicht noch mit einem Satz erwischt hätte. Lachend tanzte er am Rand der Klippe und hielt die verbeulte Lampe wie eine Trophäe hoch. Sie glitzerte im hellen Sonnenlicht. Faha Ejo riss sich los. »Vetter Eli«, stotterte er. »Du hast verspro chen ...!« »Für einen angemessenen Preis.« »Ich habe die Bezahlung gebracht...« »Du hast gesagt, Luxusgüter vom Hof!« Verächtlich betrachtete der fette Mann Amed. »Wer glaubst du, bin ich, Wildfang, hm?« Er deutete auf die glitzernde Bucht. »In unserer schönen Hauptstadt gibt es Menschen, die viele Goldstücke für einen Schlauch Kua-Fer ment bezahlen. Und dann kommst du und schleppst eine schmutzige alte Konar-Lampe an? Verstehst du denn nicht, dass ich Ge schäftsmann bin? Und mich ständig gegen Casca Dalla behaupten muss?« Diesen Namen erwähnte Eli oft, sogar in der kurzen Zeit, die er in dem Mischlingslabyrinth war. Anscheinend verbarg sich hinter die sem Namen ein verhasster Rivale, der ihm seine Geschäfte streitig zu machen drohte. Mit dem Verkauf seiner Schwester auf dem Markt hoffte Eli einen vernichtenden Schlag gegen seinen ewigen Rivalen landen zu können. Triumphierend behauptete er, dass er ein für alle mal zeigen wollte, dass jeder, der Qualität wollte, bei Eli richtig war. »Glaubst du denn, dass es so leicht in Qatani ist?«, jammerte er und gestikulierte wild herum. »Glaubst du, dass ich in Luxus schwimme und es mir leisten kann, etwas zu verschenken? Es ist ein nie enden wollender Kampf, wenn man auf ehrliche Art und Weise sein Geld verdienen will! Eine Konar-Lampe? Meine Güte, wenn ich ein solcher Narr wäre, hätte Casca schon früher triumphiert! Pah! Eine Konar-Lampe, dass ich nicht lache ...!«
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Mit diesen Worten watschelte der fette Mann davon, nicht ohne dabei über die Ahnungslosigkeit der Jugend gehörig den Kopf zu schütteln. Sein räudiger Hund trottete hinter ihm her. »Bei Theron!«, fluchte Faha Ejo. Er holte mit der Lampe aus und schien sie ins Meer werfen zu wollen, doch dann überlegte er es sich anders und schob sie stattdessen unter seine Jacke. Der Junge mit der Rotznase protestierte gegen den Verlust seines neuen Spielzeugs, aber Faha Ejo verscheuchte ihn mit einem dro henden Knurren. Er schob sich die Pfeife zwischen die Zähne und ließ sich gegen die Seite eines Wagens sinken. Amed hatte ein schlechtes Gewissen. Einen Moment fürchtete sie, dass ihr Freund sich gegen sie wenden würde. Es erleichterte sie, als er stattdessen knurrte: »Dieses fette Schwein! Was hat Casca Dalla mit uns zu tun? Ich wette, dass Eli das ganze Ferment allein säuft!« Amed tat genauso wütend wie ihr Freund, aber eigentlich war sie froh. Ferment zu trinken war eine schwerwiegende Übertretung. In der Stadt mochten in den Rauchhöhlen Esh und Masha und andere wirksame Kräuter von der Jarvel-Küste geraucht werden, in jedem Basar gab es Pulver und Tränke, Samen und Blätter, die einem den Kopf verdrehten oder einen in einen Rausch aus Nebel und Träumen versetzten. Mit Ferment verhielt sich das anders. In den Schriftrollen des Theron, die von den Imams des Altertums weitergegeben wurden, stand, dass der Fall des Agonis, des getäuschten Himmelsgottes, eintrat, als er aus dem Glas trank, das ihm von einem bösen Zauberer gereicht wurde. Also waren die »Träume aus dem Glas« in dem Land verboten, in dem Theron angebetet wurde. Vielleicht waren sie deshalb so faszinierend. Ferment-Trinker re deten von einer Vision jenseits aller Visionen, von Freude jenseits aller Freuden, und Ferment-Verkäufer wurden schnell reich. Wurden sie allerdings erwischt, drohten drakonische Strafen, Verkäufern und Konsumenten gleichermaßen. Einige verloren ihre Lippen, andere ihre Zungen, wieder andere wurden verprügelt, bis ihnen alle Kno
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chen im Leib gebrochen waren. Amed musste zugeben, dass sie Eli Oli Ali aus tiefstem Herzen ein solches Schicksal wünschte. »Ich gehe lieber zurück«, murmelte sie kläglich. »Warte!« Faha Ejo packte ihren Arm. »Willst du etwas sehen?« »Das geht nicht!« Amed schüttelte ihren Freund ab. In ihrer Phantasie sah sie schon den Lederriemen, der hinter dem Kopf ih res Vaters hervorzuckte. Sie stürmte wieder in das Gewirr der Gas sen, schob sich an Vorhängen aus Seegras vorbei, vorbei an Kochtöp fen und dem Fleisch der Seevögel. Faha Ejo trottete hinter ihr her. »Ich wollte eigentlich warten, bis du in einem Kua-Rausch wärst...« »Ungläubiger ...!« »In einem Kua-Rausch, dachte ich, wäre es wie eine Vision der Götter ...« »Ich habe gesagt, ich muss gehen ...« »Aber Wildfang, ich habe mich geirrt! Es wäre eine Vision für ei nen Blinden ...« Amed drehte sich verärgert um. »Ungläubiger! Wovon redest du eigentlich?« Faha Ejo baute sich dicht vor Amed auf. Der Atem des Ziegen hirten duftete nach Tabak, als er heiser flüsterte: »Von Cousine Dona Bela!« »Was?« Faha Ejo grinste. »Das fette Schwein glaubt, er habe sie in Sicher heit gebracht. Aber in der Seite des Wagens ist ein Loch. Willst du sie sehen?« Ameds Herz hämmerte. Sie wusste, dass sie so schnell wie möglich in die Karawanserei zurücklaufen sollte, aber die Neugier gewann die Oberhand. Seit sie von dieser geheimnisvollen gefangenen Dame gehört hatte, plagte sie verzweifeltes Mitleid - Mitleid und Ärger. Der Lederriemen war augenblicklich vergessen. Im nächsten Moment drückte sie sich mit Faha, Ejo in den schmalen Spalt hinter Vet
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ter Elis Wagen. Das Holz war gesprungen, und die Farbe blätterte bereits ab. Faha Ejo kauerte sich hin und presste sein Auge gegen die Wand. Die Geräusche des Labyrinths umgaben sie, aber hier waren sie in Sicherheit. Der Schatten dämpfte das grelle Licht des Tages, als Faha Ejo einen langen, leisen Pfiff ausstieß. »Wirklich, eine Vision der Götter!« Eifrig schubste Amed ihren Freund beiseite und hockte sich selbst hin. Das Loch hatte kaum den Durchmesser ihres kleinen Fingers, und zuerst sah sie - gar nichts. Sie wollte schon protestieren, weil sie sicher war, dass Faha Ejo sie zum Narren hielt. Dann bemerkte sie den goldenen Nebel. Als sie ihren Blickwinkel veränderte, kam eine andere Szenerie ins Bild. Sie schnappte nach Luft. Noch nie zuvor hatte sie ins Innere eines Vaga-Wagens geschaut. Es war eine mottenzerfressene, stockige Angelegenheit, aber es waren immer noch Reste der frühe ren Pracht zu erkennen. Eine wunderbare Lampe, gegen die ihr Ge schenk schäbig wirkte, warf ihr sanftes Licht über plumpe Polste rung, geschnitzte Täfelungen, Perlenvorhänge und Leinentücher. Der Geruch von Räucherkerzen hing in der Luft, und an der Decke schwebten Windspiele aus Silber und Glas. Sie würden klingen, sobald der Wagen sich bewegte. Aber nicht diese Dinge faszinierten Amed. Was ihr den Atem nahm, war die hinreißende Gestalt, die auf Kissen am Boden des Wagens ruhte. Eli Oli Alis Schwester war in reine Seide gehüllt und lag mit dem Rücken zu dem Astloch. Doch schon aufgrund des dunklen Haars, das ihren Rücken hinunterzufließen schien, und der Makellosigkeit der olivfarbenen Haut ihrer sanft geschwungenen Schulter konnte Amed Rückschlüsse auf die Schönheit der Frau ziehen. Seufzend hob das Mädchen ihren Arm, der mit vielen Reifen geschmückt war, und berührte die Windspiele über ihrem Kopf. Mu sik wie aus einem fließenden Kristallstrom erfüllte die Luft, während
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die entzückende Gefangene leicht hin und her schwankte und mit ei ner makellos reinen Stimme ein rätselhaftes Lied anstimmte. In meinem Kopf da gibt es Fünf Verschwinden Ein Verschwinden nach dem anderen Eins unter einem sengenden Himmelszelt Zwei in einer blauen Tiefe Das dritte Verschwinden in der Sonne Das Vierte durch einen verdunkelten Spiegel Aber nur nachdem es fünf Verschwinden gab Werde ich wieder real sein! Amed sah schweigend zu. Das Lied machte sie traurig und beunru higte sie, aber vor allem war sie fasziniert. Ihr traten Tränen in die Augen, ohne dass sie es merkte. Noch niemals war sie so merkwürdig verzaubert gewesen. Dieser Zauber wurde von einer Hand gestört, die ihr zwischen die Beine griff. Wütend stieß Amed Faha Ejo beiseite, aber ihr Freund war hartnäckig. »Du bist hart! Ich hab's gefühlt!« Sie spielten dieses Spiel nicht zum ersten Mal, aber jetzt war Amed wütend. »Ich bin ein Mädchen! Sei nicht albern!« »Du bist ein halber Junge, oder etwa nicht?« Einen Augenblick später rangen die beiden Kinder und wälzten sich in der schmutzigen Gasse. »Hehl«, schrie jemand rau. »Eli!« Mit einem derben Lachen hockte sich Faha Ejo auf die Fer sen. Amed rappelte sich hoch. Nur weil der Spalt hinter den Wagen so eng war, konnte der fette Mann sich nicht sofort auf sie stürzen und sie am Kragen herauszerren. Amed hatte Zeit, genug Zeit, um zu fliehen. Aber zuerst musste sie einfach noch etwas anderes tun. Nur ein Blick. Ein einziger Blick noch.
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Eli Oli Ali brüllte erneut, aber Amed kümmerte es nicht. In dem Wagen hatte sich das Mädchen namens Dona Bela umge dreht, aufgeschreckt von dem Geschrei. Ihr Schleier war gefallen, und ihre Schönheit erstrahlte blendend in dem goldenen Licht. Amed stieß einen leisen Schrei aus. Niemals, nie im Leben, würde sie dieses Gesicht vergessen!
»Pustel! Pustel, wo bist du?« Durch die Fenster drang der salzige Geruch der Meeresluft in die Kajüte. Ein Sonnenstrahl schwankte in der Dünung hin und her und erwärmte die modrigen Bücher und Karten. Die Silberintarsien auf dem Krummsäbel und der Muskete funkelten, und die Sonne fing sich auch in den Glasaugen des Tigerkopfes. »Pustel! Wo bleibst du, verdammt? Drückst du dir deine Pickel aus?« Auf dem Gang klapperte es, aber wenigstens kündete das Geräusch nicht von einer Katastrophe. Pustel schien sich nur wie immer mit seinem beladenen Tablett abzumühen. Das Deck des Schiffes war so steil geneigt wie ein Hügel, und zudem bewegte es sich ständig, aber Kapitän Porlo hatte wenig Mitgefühl für die Schwierigkeiten von Burschen, die noch über beide Beine verfüg ten. Was wussten die schon vom Gehen? Ungeduldig klapperte er mit Messer und Gabel. An einem sol chen Morgen konnte einen alten Seebären nur der Heißhunger über fallen. Der plötzliche Sturm der letzten Nacht war zu einem stetigen Wind abgeflaut, der die Segel knattern ließ, als hauche ein un geduldiger Gott seinen Odem hinein. Selbst die Bohlen in der Ka pitänskajüte erzitterten unter den hohen Wellen des Meeres.
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»Pustel, beeil dich gefälligst, du schmutziger Scheuerlappen! Also wirklich, muss man denn den ganzen Morgen auf sein Frühstück warten? Entschuldigt, Miss«, fügte der Kapitän hinzu und entblöß te seine schwarzen Zahnstummel in einem scheuen Lächeln. »Ihr werdet gewiss Verständnis für den alten Faris Porlo haben, aber denkt daran, sein Bellen ist weit gefährlicher als sein Biss.« Cata erwiderte das Lächeln und schaukelte die Äffin, die sich wie ein zufriedenes Kind in ihre Arme geschmiegt hatte. Es störte Cata nicht, dass Bubi stank und nicht besonders sauber war. Sie spürte das wohlwollende Wesen der räudigen Freundin des Kapitäns und liebte sie so, wie sie alles Wilde auf der Welt liebte. Rajal dagegen schien verärgert. Er war zwar nicht grausam, wünschte sich aber doch, dass statt Jem diese räudige alte Äffin in den grünen Blitzstrahl geraten wäre! Cata konnte zwar die Magie erklären, die sie hergebracht hatte, aber weder sie noch Rajal begrif fen, was mit dem jungen Mann passiert war, den sie beide liebten. Rajal rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. Jems Schicksal war geradezu eine Katastrophe, und da konnten sie nichts anderes tun, als mit dem alten Seebären hier herumzusitzen und auf ihr Frühstück zu warten! »Pustel! Na endlich!«, bellte der Kapitän, als die Tür aufflog. Nur gut, dass der Tisch nicht weit vom Eingang entfernt stand. Im selben Moment bockte das Schiff nämlich heftig, und Pustel stolperte trotz seiner zwei Beine nicht nur in die Kabine, sondern segelte hinein. Bubi schrie und befreite sich aus Catas Armen, aber es passierte nichts weiter Gefährliches. Das Tablett landete mit einem Knall mitten auf dem Tisch, wo es hingehörte. Allerdings plumpste Pustel anschließend mit dem Gesicht in das Essen, was Kapitän Porlo je doch kaum störte. Seine Augen waren vor Gier weit aufgerissen. Er schob den Schiffsjungen beiseite und stopfte sich sofort einen madigen Zwieback in den Mund, zerteilte ungeduldig das Pökelfleisch und beschimpfte Pustel, weil er ihm nicht seinen Rum gebracht hat te.
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Einen Moment später fielen dem Kapitän seine Manieren ein, oder besser, er erinnerte sich daran, dass eine Dame am Tisch saß. Er deutete auf Pustel, der bereits wieder davonhastete. »Stört Euch nicht an dem Tollpatsch, Miss. Kein einziger Pickel ist auf dem Fleisch aufgeplatzt. Nein, nein, das ist Senf ... Seht Ihr, einfacher Senf.« Cata war zwar nicht überzeugt, aber ihr Hunger überwog schnell ihre Bedenken. Damals im Wildwald hatte sie sich an Papas Schwur gehalten, niemals das Fleisch einer anderen Kreatur zu verzehren. Wie entsetzt Papa wäre, wenn er wüsste, was sie seitdem alles gegessen hatte! Der Kapitän drängte: »Und Meister Rajal, Ihr nehmt Euch doch, oder? So ist es richtig, zeigt dem Mädchen, wie es geht. Es ist ganz gut, dass wir keine Eier haben, mehr sage ich dazu nicht. Ich mag ein ordentliches Ei, aber nur, wenn wir im Hafen liegen. Hm, Rührei. Habt Ihr schon einmal Rührei probiert, Miss? Nun, das ist ein Ge richt, das selbst einer ... einer Königin zu Gesicht stehen würde, wenn Ihr mir diese Bemerkung gestattet.« Cata akzeptierte diese Schmeichelei mit einem Lächeln. Nach ihrer merkwürdigen Ankunft hatte sie ihre Bauerntracht gegen ein prachtvolles Brokatkleid in Grün und Erdbraun aus der Kiste des Kapitäns eingetauscht. Es verlieh ihr das Aussehen einer vornehmen Lady, die unterwegs zu irgendeinem wichtigen Besuch war. Cata hätte zwar lieber Männerkleidung getragen, wie in Zenzau, aber Lord Empster hatte anderes im Sinn. Am Hof von Unang, so be hauptete er, würde es niemand wagen, einer fremden Dame Leid anzutun, und sie wäre in dieser Verkleidung weit nützlicher für sie als in irgendeiner anderen. Cata hegte da zwar ihre Zweifel, aber sie beugte sich trotzdem der Welterfahrenheit des Edelmannes. Sie spürte sofort die Kräfte, die er besaß, und wüsste, dass sie vorsich tig sein musste. Der Kapitän fuhr mit seiner Vorstellung einer höflichen Unterhaltung fort.
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»Wie ich sehe, findet Bubi Gefallen an Euch, Miss«, bemerkte er, während die Äffin schnüffelnd um den Tisch lief. »Nach so einem alten Haudegen wie mir weiß sie eine vornehme Dame bestimmt zu schätzen. Ich hoffe, Ihr findet meine Kabine angenehm? Und auch die Bettrolle? Ich habe die Flöhe so gut ausgeschüttelt, wie ich konnte, aber meine Mittel sind beschränkt, wie Ihr ja wisst, nach dem die Kobras sich auf mein Bein gestürzt haben. Das arme alte Linke! Vermutlich hätte ich Pustel die Aufgabe auftragen sollen, aber ich wollte nicht, dass er im Bettzeug einer feinen Dame herumschnüffelt, versteht Ihr? Wenn Ihr mir diese Bemerkung er laubt.« Cata gewährte es ihm großzügig und versicherte dem Kapitän er neut, dass sie keine feine Dame war und dass er nicht ihretwegen sein Bett hätte räumen müssen. Darauf erwiderte der Kapitän, dass man Faris Porlo ja mancher Dinge beschuldigen konnte, niemals aber der Unhöflichkeit einer Dame gegenüber. »Nicht, dass ich Fachmann wäre, was Damen angeht, Miss. Ich meine, ich habe niemals die Segnungen einer Ehefrau erleben dürfen. Wohl wahr, ich hatte einmal eine Süße, aber ich frage Euch, würde Faris Porlo zusehen, wie sich eine so feine, schöne Blüte der Weib lichkeit vor Leid verzehrt, während ihr Ehemann auf See ist?« »Hätte sie nicht mit Euch kommen können?«, fragte Cata. Der Kapitän war schockiert. »Also wirklich, Miss! Die See ist kein Ort für Mädchen, hab ich Recht?« »Ich bin auf See.« »Ja, Miss, und wenn ich Euch irgendwo nett und trocken an Land bringen könnte, würde ich es augenblicklich tun! Ah, es gibt wirklich dunkle Magie in dieser Welt, wenn ein unschuldiges junges Ding einfach vom sicheren Land weggezaubert wird, wo es hingehört, und sich auf einer alten Schaluppe wiederfindet, umgeben von rau en, ungehobelten Burschen und weit weg von allem femininen Flitterkram, den eine Dame so braucht!« Cata wollte dem Kapitän gerade erklären, dass sie an Land selten
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in Spitzen und Seide gehüllt worden war, als die Tür aufging. Der Seebär blickte freudig hoch, weil er seinen Rum erwartete. Seine Miene verfinsterte sich jedoch unmerklich, als statt Pustel Lord Empster eintrat. »Mein Lord«, platzte er heraus. »Ihr frühstückt mit uns ? Ich muss schon sagen, Ihr esst sonst ja kaum etwas, aber dieser Wind macht jeden Mann heißhungrig ... Pustel! Pustel! Wo bleibt mein Rum? Und der Seiner Lordschaft?« Lord Empster lächelte und trat an den Tisch, ohne auch nur zu schwanken. Rajal musterte das Gesicht des Edelmannes. Es wirkte wie immer geheimnisvoll und unnahbar und wurde vom Schatten des breitkrempigen Hutes verborgen. Wieder dachte Rajal an die Vi sion der letzten Nacht. War sie wirklich real gewesen? Konnte sie denn real sein? Heute Morgen erschien ihm alles nur noch wie ein schlechter Traum. Aber wäre es ein Traum gewesen, wäre Jem noch hier. Der Edelmann zündete sich seine Pfeife an. »Porlo, wir müssen reden. Wie lange dauert es noch, bis wir Qatani erreichen?« »Ich würde sagen, ein Tag sollte genügen, wenn wir so weitersegeln«, erwiderte der Kapitän. »Wir müssen nur noch das Kap der Gehaltenen Versprechen umrunden und uns dicht an der Küste von Dorva halten. Aber mein Lord, was wird nun aus Eurer Schatzsu che, jetzt, wo der junge Bursche verschwunden und wahrscheinlich ertrunken ist?« »Ertrunken?«, rief Cata. »Jem ist nicht ertrunken!« »Er kann nicht tot sein«, mischte sich Rajal ein. »Das kann einfach nicht sein.« »Shh, meine jungen Freunde«, beschwichtigte Lord Empster sie freundlich. Er zog zwei goldene Äpfel aus seiner Tasche, als wollte er damit ihre Ängste verscheuchen. Sie nahmen sie dankbar an. »Porlo, Ihr sprecht, ohne gefragt zu sein.« »Aber das habt Ihr selbst doch den Matrosen gesagt, mein Lord. Der Junge soll ertrunken sein, und das Mädchen ist die letzte Über
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lebende eines Schiffsuntergangs. Sie war zufällig dort und hat um ihr Leben gekämpft. Wir wollten ihn retten und haben stattdessen sie aus dem Wasser gefischt. Eine sehr plausible Geschichte, wenn Ihr mich fragt ... Oder meine Matrosen! Hoffen wir nur, dass sie nicht merken, wie ähnlich das Mädchen meiner Galionsfigur sieht, mehr sage ich dazu nicht. Oder herausfinden, dass sie Catayane heißt. Ihr wolltet für diese Fahrt die beste Mannschaft, die in Ejland zu finden war, und die habe ich Euch besorgt. Die Männer sind kei ne Idioten! Unter Deck wird sicher bald von Zauberei gemunkelt, denkt an meine Worte!« Cata schob das Pökelfleisch weg und biss in den Apfel. Rajal drehte seinen neugierig zwischen den Fingern und sah zu, wie das Sonnenlicht auf der Schale spielte. Wie war Lord Empster mitten auf dem Meer an eine derartig frische, saftige Frucht gekommen? Er war ein merkwürdiger Mann, wirklich ein merkwürdiger Mann! Rajals Magen knurrte. Er biss in den Apfel. . »Porlo, was wir den Männern erzählen und was wir bereden, wenn wir unter uns sind, sind zwei verschiedene Dinge«, fuhr sein Beschützer fort. »Aber kommt, meine Freunde, ich muss Euch jetzt in die Rolle einweisen, die wir spielen wollen. Denn schon bald wer den wir an einen Ort gelangen, der merkwürdiger ist als alle Plätze, die ihr je zuvor besucht habt. Es wäre langweilig für Porlo, der schon die Geheimnisse aller Länder dieser Welt gesehen hat. Viel leicht gehen wir lieber an Deck und überlassen Porlo seinem Pökel fleisch und seinem Senf? Und seinem Rum. Und natürlich seiner Äffin.« Bubi stieß ein Zischen aus. Noch vor wenigen Augenblicken hat te sie um Essen gebettelt, doch jetzt hockte sie ängstlich in einer Ecke unter dem rostigen Krummsäbel, der an der Wand befestigt war. Lord Empster zog einen dritten Apfel hervor und reichte ihn der Affin. Deren Verhalten wurde freundlicher. Aufgeregt schnapp te sie sich den Apfel mit ihren kleinen, so verblüffend menschlichen Händen.
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»Tochter des Orok, sieh deine Anhängerin. Schwester des Koros, höre ihre Worte. Geheiligte Viana, so weich wie das Laub, komm jetzt zu mir an diesen waldigen Ort und gewähre einer irrenden Schwester deine Gnade. Ich weiß nicht, welches Schicksal meinen Zauber fehlleitete, und ich wage nicht darüber nachzudenken, wel ches Schicksal meiner verlorenen Schwester harrt. Wisse, dass ich nur Gutes erreichen wollte und mich nicht in Mächte der Dunkelheit eingemischt habe. Wisse, o Göttin, dass ich dir treu gewesen bin, wie auch meine Schwester. Ich flehe dich an, bringe sie zu mir zurück, wenn es in deiner Macht liegt. Das Böse pirscht sich immer mehr in die Welt, und es liegen schwere Aufgaben vor uns; wie viel schwieriger werden sie sein, so fürchte ich, wenn meine Schwester niemals zu uns zurückkehren kann! Tochter des Orok, sieh deine Anhängerin. Schwester des Koros, höre ihre Worte ...« Landas Stimme versiegte und wurde zu einem kaum hörbaren Flüstern, während sie im Schatten der uralten Eiche kauerte. Wur zeln und weiches Schilf umgaben sie. Der kleine Bach murmelte in der Nähe und glitzerte im Licht der aufgehenden Sonne. Landa seufzte und lehnte ihre Stirn gegen die kühle Rinde. Sie hatte sich die ganze Nacht bemüht, Cata zurückzuholen, gebetet und gefleht und alle magischen Sprüche heruntergebetet, die sie von Priesterin Ajl gelernt hatte. Es war sinnlos. Landa hatte nicht einmal den Hauch einer göttlichen Gegenwart verspürt. Immer und immer wieder sagte sie sich, dass sie nicht aufgeben durfte, und immer wieder überkam sie die Furcht wie ein Dolchstoß, dass Cata fort war, wirklich fort, und niemals zurückkommen würde. Sie hob die Arme, als sie müde versuchte, erneut zu beten, doch da raschelte es hinter ihr. »Priesterin«, sagte eine freundliche Stimme. »Komm jetzt. Komm mit, Kind.« Landa drehte sich um, und Hul stand neben ihr. Sie warf sich in seine Arme und schluchzte hemmungslos. Der Gelehrte strich ihr ein wenig verlegen über die kupferroten Locken. »Arme Landa, ich weiß, wie sehr du leidest. Wir alle leiden unter
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diesem schweren Verlust, aber hier können wir nichts mehr tun. Ver giss nicht, dass überall die Patrouillen der Blauröcke auf den Straßen lauern und Agondon noch weit, weit entfernt ist. Es wird Tag, und wir müssen aufbrechen.« Landa riss sich mühsam zusammen. Hul hatte Recht - außerdem war ja für die anderen der Rekrut Wolveron verschwunden, der mür rische junge Soldat, nicht ihre teure Freundin Cata. Wenn sie nicht vorsichtig war, könnte Hul denken, nun, er könnte auf die Idee kommen ... Sie schüttelte sich, wischte sich die Augen und lächelte tapfer, als Hul erklärte, dass Bando das Frühstück vorbereitet habe. Wenn sie sich beeilten, wäre vielleicht noch etwas übrig, bevor der Mönch auch ihre Portionen hinuntergeschlungen hätte. Sie bahnten sich den Weg durch das dichte Unterholz. Es wurde bereits heiß, und die Sonne brach hell durch den Baldachin aus trockenen, staubigen Blättern. In dieser Zeit des Theron gibt es nir gendwo eine Zuflucht für das Grün, für die Pflanzen und nicht ein mal für die Erde, aus der sie entspringen, dachte Landa. Sie wusste, dass Therons Land eine Wüste aus glühendem Sand war. Ihr kam ein Bild in den Sinn, so lebendig, als wäre es echt. Das verwirrte sie, denn sie hatte einen solchen Ort noch nie gesehen. Sie bekam Angst. Sie hatte Cata nur ein Zeichen geben wollen, ei nen Hinweis und die Hoffnung, dass sie Jem eines Tages wiederfin den würde. Wer wusste schon, welchen schrecklichen Gefahren Cata sich jetzt ausgesetzt sah? Wer konnte sagen, ob sie überhaupt noch am Leben war? Aber daran wollte Landa nicht denken. Das konnte sie nicht. Sie warf einen letzten Blick zurück auf die uralte Eiche. »Ich gebe nicht auf«, flüsterte sie beinahe unhörbar. »Cata, glaub mir, ich werde nicht aufgeben! Ach, Hul«, fuhr sie dann lauter fort. »Ich mache mir so schreck liche Vorwürfe.« Der Gelehrte dachte darüber nach. Und zweifellos etwas gründ licher, als es Landa lieb war. »Die Philosophen haben viel über das Thema Schuld geschrie
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ben«, sagte er. »Denn was ist das Rätsel der ›Korosanischen Schöp fung‹, der Grundlage all unserer Mythologien, anderes als eine Allegorie der Schuld? In den Ländern von El-Orok mögen Schuld und ihre Verwandten und Folgeerscheinungen, damit meine ich natürlich Verantwortung, Rache und Bosheit, als eben die Elemente betrach tet werden, in denen sich unser Wesen am dauerhaftesten manifestiert. Ich für meinen Teil jedoch denke da an Vytonis Diskurs über die Freiheit. Was hat dieser große Autor anderes behauptet, als dass aus Schuld, aus endloser Schuld, nichts Gutes erwachsen kann und dass wir sie überwinden müssen, wenn wir uns retten wollen? Was das angeht«, Hul musste diese Bemerkung einfach hinzufü gen, »hat er ein Kapitel1 der Torheit gewidmet, sich mit Göttern und Magie einzulassen. Er hat argumentiert, dass wir unsere Freiheit al lein gewinnen müssen, durch unsere eigenen Bemühungen in der all täglichen Welt. Ich fürchte, ich habe mittlerweile zu viel gesehen, um diese Sicht der Dinge noch aus vollem Herzen zu akzeptieren. Gewiss würde ich jetzt diesem Kapitel umfangreiche Fußnoten anfü gen, falls ich jemals meine Ausgabe überarbeiten könnte. Mögli cherweise würde ich sogar meine Einleitung um einen Absatz erweitern. Trotzdem frage ich mich, meine Liebe, ob du vielleicht nicht doch besser daständest, wenn du Vytonis Ratschlag beherzi gen würdest.« Einige Augenblicke verstrichen, während Landa versuchte, die unterschwellige Bedeutung seiner Worte zu finden. Plötzlich riss sie sich von ihrem Gefährten los. »Grausamer Hul«, klagte sie, »du gibst mir die Schuld!« Der Gelehrte errötete und ergriff erneut ihren Arm. »Nein, Lan da! Ich habe nur philosophiert und wollte dich nicht verletzen! Du wolltest Gutes tun, und deshalb kann es da keine Schuld geben! Ich frage mich nur, ob deine Wege die besten sind.« l »Über die Sündhaftigkeit der mystischen Überredung«, siehe Seite 223-231 in der von Hul (Eldric Hulverside) in seiner Jugend herausgegebenen Ausgabe. Agondon: Freie Philosophische Gesellschaft,S/, 994a)
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Landa wischte sich die Tränen weg, die ihr sofort wieder in die Augen getreten waren. Ein Sonnenstrahl brach durch das Blätter dach und badete die junge Gestalt in einen goldenen Dunst. Hul be merkte überrascht, dass er Landa attraktiv fand, sehr attraktiv sogar. Doch das Mädchen schnüffelte und meinte ernüchternd: »Du bist nicht von meinem Glauben, Hul. Ich fürchte sogar, dass du an gar nichts glaubst. Aber die Göttin ist real, und ebenso verhält es sich mit der Magie. Wie sollte ... Rekrut Wolveron wohl sonst verschwunden sein?« »Ich glaube, du meinst Catayane, hab ich Recht?«, fragte Hul lei se. Landa rang nach Luft. »Hul... Du wusstest es?« »Ich habe es erraten, Landa. Jems Onkel Tor, der Rote Rächer, hat mir vor langer Zeit von einem Mann namens Wolveron erzählt. Er hat in Tors Dorf ziemlich viel Unruhe gestiftet, der alte Wolveron. Und ich wusste, dass der alte Mann eine Tochter hatte. Außerdem fand ich Rekrut Wolveron irgendwie merkwürdig.« Landa musste lachen. »Ach Hul, und wir dachten, wir wären so schlau! Wissen die anderen es auch?« »Sagen wir einmal so: Es wäre sinnlos, die Wahrheit weiter zu ver bergen, hm?« Landa nickte. Doch plötzlich überkam sie wieder eine tiefe Trauer, und sie wiederholte in Gedanken ihren innigen Schwur: Ich gebe nicht auf. Glaube mir, Cata, ich gebe nicht auf. »Rum! Pustel, verdammt, wo bleibt mein Rum?« Kapitän Porlo war alles andere als erfreut darüber, dass Empster die jungen Leute hinausführte. Sie hatten ihr Frühstück kaum an gerührt, und schließlich konnte ein Seemann es sich nicht leisten, gutes Essen verderben zu lassen. Was nicht hieß, dass der Kapitän gierig gewesen wäre. Er spielte sogar mit dem Gedanken, Bubi ei nen Zwieback zuzuwerfen. Aber die Äffin war vollkommen mit dem merkwürdigen Apfel beschäftigt.
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Äpfel, also wirklich! Der Kapitän wusste wenig über die Nah rungsmittel solcher Landratten und vermutete, dass Empster diese kümmerlichen Dinger die ganze Zeit in seiner Kabine aufbewahrt hatte. Ernährte er sich davon, wenn er tagelang kein Abendessen zu sich nahm? Es war ein weiteres Anzeichen für die Verrücktheit des Edelmannes. Also wirklich, was wollte ein Mann mit Äpfeln, wenn er sich mit Pökelfleisch voll stopfen konnte? Sogar mit Senf, versteht sich. Der Kapitän lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah sich in seinem schäbigen Reich um. Bei diesem Seegang würde er sich nicht an Deck wagen. Pustel bediente ihn, ein Nachttopf stand neben sei nem Stuhl, und die salzige Meeresluft drang durch das Fenster he rein. Was wollte er mehr? Warum sollte er sich rühren? Aber wenn er es gemütlich hatte, wurde der alte Seebär auch traurig, wenn er an das entzückende Mädchen dachte, das seiner teuren hölzernen Lady so sehr glich, seiner einzigen Braut, die er jemals wirklich besessen hatte. Konnte es denn stimmen, dass sie tatsächlich Catayane hieß? Dem Kapitän gelüstete nicht nach dem Mädchen, das hatte er lange hinter sich, aber sie brachte ihn dazu, darüber nachzudenken, wie sein Leben hätte verlaufen können. Por lo sagte sich oft, dass er ein anderer Mann geworden wäre, wenn er diesen Kobras nicht begegnet wäre, ein mutigerer Mann. Seine Tag träume drehten sich um ein liebes Mädchen, eines aus Varl, das viel leicht vor vielen Jahren seine wirkliche Braut hätte werden können. Das Letzte, was er von ihr hörte, war, dass sie einen Burschen na mens Crum geheiratet hatte. Bauer Crum. Kurz darauf hatten sie einen Jungen bekommen. Das Gör hätte sein eigenes Kind sein kön nen! Der Kapitän wischte sich eine Träne aus den Augen, schüttelte sich und rief wieder nach seinem Rum. Es hatte keinen Sinn, in der Vergangenheit zu wühlen. Er sollte sich lieber ein Beispiel an Bubi nehmen. Zärtlich betrachtete er seine kleine Freundin, wie sie den Apfel immer wieder zwischen ihren kleinen Händen drehte und mit
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vollen Backen kaute. Für Bubi schien nichts anderes wichtig zu sein, sie dachte nur an ihren Schatz. Da fiel auch dem Kapitän ein Schatz ein, ein anderer, und er summte leise das Lied vor sich hin, das er gestern Abend für die Jungen gekräht hatte. Johohe! Ein Seebär bin ich, he!
Aber wo, sag mir, wo, kann mein Schatz sein?
Der Kapitän grinste und seine Stimmung besserte sich schlagartig. Er griff nach einer vertrauten, vergilbten Landkarte, die zwischen dem ganzen Durcheinander auf seinem Tisch lag, und betrachtete sie mit glänzenden Augen. Glaubte dieser alberne Empster wirk lich, dass er den alten Faris Porlo unter seiner Kuratel hatte? Der Edelmann mochte den Kapitän vielleicht benutzen, aber der Seebär benutzte auch den Adligen. Die arme alte Catayane hatte schon auf dem Trockendock gelegen und sollte eingemottet werden, als der Kapitän unerwarteterweise den geheimnisvollen Adligen wiederge troffen hatte, dem er das erste Mal vor vielen Jahren begegnet war. Damals war Faris Porlo noch Schiffsjunge gewesen, wie Pustel jetzt, und hatte seine erste Seereise angetreten. Und Empster? Er war genauso gewesen wie heute, oder etwa nicht? Merkwürdig, dass er sich so schwer erinnern konnte. Und noch merkwürdiger war, dass der Bursche kein bisschen älter geworden zu sein schien. Was soll's?, dachte Porlo. Was kümmert es mich? Ohne Empster hätte er niemals das alte Schiff neu auftakeln und für diese letzte Reise bemannen können. Ja, es würde ihre letzte gemeinsame Reise werden. Aber Porlo wusste, dass dies von allen Reisen, die er jemals unternommen hatte, die wichtigste war. Um sicherzugehen, musste er Empsters Spiel mitmachen, vorläufig jedenfalls. Noch konnte er nicht ausbrechen. Außerdem hatte dieser Kerl magische Kräfte, aber welche Macht würde erst Porlo sein Eigen nennen, wenn er den Schatz fand, nach dem er so lange gesucht hatte? Das Grinsen des Kapitäns verstärkte sich, und er streckte die
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Arme nach seiner kleinen Bubi aus. Die Affin sprang hoch und ku schelte sich an die Brust ihres alten Beschützers. Nur eins trübte jetzt noch die Zufriedenheit des Kapitäns. »Rum! Pustel, verdammt, wo bleibt mein Rum?«
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10. Die Vision des Propheten
Helles Sonnenlicht überflutete den Boden von Dares Schlafkammer, als fremde Diener ihn weckten. Der Junge schreckte hoch und sah fünf bunt gekleidete Targon-Diener, Mitglieder des besonderen Ge folges seines Vaters, die mit unbeweglichen und unergründlichen Gesichtern um sein Bett herumstanden. Sie neigten feierlich die Köpfe, intonierten einen kurzen Segen für den Unangefochtenen Thronfolger und bedeuteten dem Jungen dann unisono, aufzuste hen. Dare blickte unsicher in die Runde. »Wo ... wo ist Lammy?« »Wir werden Euch nun dienen«, intonierten die fünf hohen, zwitschernden Stimmen. Sie klangen merkwürdig mechanisch. Bis jetzt hatte Dare die Angehörigen der Targon-Gilde nur aus der Entfer nung gesehen, wenn sie durch die entlegenen Palastkorridore gin gen. Schon damals hatten sie ihm Furcht eingeflößt, und aus der Nähe verängstigten sie ihn noch mehr. »Warum ... warum redet ihr alle gleichzeitig?« Doch die Targons antworteten nicht. Dare lief es eiskalt den Rücken hinab. »Ich will Lammy!« Er wollte aufspringen und zu Lammys Kammer laufen, aber die Targons umringten ihn wie eine Mauer. Was hatte das zu bedeuten? Dare hatte ein schlechtes Gewissen, als ihm klar wurde, dass er die Katakomben verschlafen hatte, die ersten der fünf täglichen Ge
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betsstunden. Er prüfte den Sonnenstand. Vielleicht hatte er die Grü ne sogar ebenfalls verpasst! Lammy hätte ihn niemals so lange schla fen lassen! Er hatte eine ernste Sünde begangen und fürchtete zunächst, dass die Targons gekommen waren, um ihn zu bestrafen. Doch da irrte er sich. »Beruhigt Euch, o Thronfolger«, sangen die Stimmen. »Der Sul tan des Mondes und der Sterne hat zu entscheiden, was geschehen soll, und es ist sein Wille, dass Ihr zu ihm kommt. Er erwartet Euch bereits ungeduldig in der Großen Kammer der Erscheinung. Doch zunächst werden wir Euch in das Gewand der Flamme kleiden.« Wie mit Zauberei zog jeder der Targons ein Stück einer pracht vollen Kleidung hervor. Hilflos betrachtete Dare den glatten Sei denstoff der Hose, des Hemdes, des Umhangs, des Tuchs und die goldene Stoffbahn, aus der der Turban gewickelt wurde. Die Tar gons bewegten sich mit einer gezierten, erbarmungslosen Ge schicklichkeit um den Prinzen herum und schafften es, ihn nicht zu berühren, während sie ihn ankleideten. Der Junge konnte ihre Dienste nur über sich ergehen lassen. Nachdem er angekleidet war, führten sie ihn durch ein Labyrinth gewaltiger, hallender Korridore, an deren Wänden eingearbeitete Edelsteine funkelten und deren Fliesen ein faszinierendes Muster hatten. In regelmäßigen Abständen waren Palastwachen an den Wänden postiert. Sie hielten ihre Krummsäbel bereit, ihre Haut glänzte ölig, und ihr schwarzes Haar war auf dem Kopf zu einem festen Knoten gebunden. Dare war eingeschüchtert, aber es war eine merkwürdig unreale, entkörperte Furcht. Die Gegenwart wurde von dem geheimnisvollen Erlebnis der letzten Nacht überlagert. Hatte er wirklich eine Vision von Thal gesehen, die ihn aus dem dunklen Garten gelockt hat te? Es konnte nicht real gewesen sein, aber wenn es nicht wirklich war, was sollte dann diese grausame Täuschung? Dare war noch nie in der Großen Kammer der Erscheinung ge wesen, aber er wusste, dass sie am Ende einer geschwungenen Mar
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mortreppe lag. Stolpernd erklomm er die Stufen, beunruhigt von dem merkwürdig intensiven, bunten Licht, das von oben herab strahlte. Als er den Treppenabsatz erreichte, drohte sein Herz einen Schlag auszusetzen. Er stand vor einem gewaltigen Fenster aus farbigem Glas, durch das er auf den großen Boulevard blicken konnte, über den er gestern Abend gegangen war. In der Mitte des Fensters befand sich eine große rote Scheibe, flankiert von kleineren Scheiben aus Rot und Grün auf der einen, Blau und Gold auf der anderen Sei te. Der Prinz starrte nur kurz aus dem Fenster und sah ängstlich zum Heiligtum der Flamme hinüber. Dann umringten die Targons ihn wieder. Sie veranlassten ihn, sich umzudrehen, und als Dare ihnen folgte, blickte er auf einen riesigen roten Teppich, der wie ein Fluss von Blut auf einen goldenen Thron zuführte, der von einem Baldachin in Form einer Flamme überragt wurde. Darauf saß der Sultan in seinen prächtigsten Staatsgewändern. Hunderte von Höflingen standen mit gesenkten Häuptern neben ihm. »Komm, Prinz meines Geschlechts! Komm, Unangefochtener Thronfolger!« Die Stimme des Sultans dröhnte Furcht einflößend durch den hallenartigen Raum. Dare riss sich zusammen und ging weiter, gestärkt von den Tar gons, die ihn flankierten. In der Nähe des Throns wurde ein Gong geschlagen, und eine Gruppe heiliger Männer intonierte Gebete und Segenswünsche. All das wirkte wie das Vorspiel auf irgendeine große Zeremonie, aber trotzdem sollte Dare von dem überrascht werden, was als Nächstes geschah. Die fünf Targons verschmolzen mit der Menge und ließen den großen, schüchternen Jungen allein vor seinem Vater stehen. Dare war sich der Blicke der Höflinge sehr bewusst, aber sie spiel ten keine Rolle. Sie waren bloß Zuschauer, mehr nicht. Der Junge blickte seinem Vater in die Augen. Die glühten schwarz unter dem Turban. Dieser prüfende Blick war zu viel für ihn. Er senkte den
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Blick und musterte die großen Hände, die gelassen auf der Lehne des kaiserlichen Throns ruhten. Die scharfen Fingernägel, die glitzernden Ringe, die dichten, schwarzen Haare. »Komm, Dare«, sagte der Sultan. »Hab keine Angst. Wir treffen uns heute zwar in einer formelleren Umgebung, aber diese Formalitäten sind angebracht, wenn ein junger Mann von einem Lebensabschnitt zum nächsten geht.« Er deutete auf den blutroten Teppich. »Wie du siehst, blicke ich direkt von meinem Thron auf das Hei ligtum, so wie du es eines Tages tun wirst, mein Sohn. Und es ist gut, dass wir diesen heiligen Ort im Blick behalten. Denn die Lektion, die du heute Morgen lernen und an die du dich dein ganzes Leben er innern wirst, besagt, dass es nichts Wichtigeres gibt als die Flamme.« Die Höflinge murmelten zustimmend, und ein alter Mann, der neben dem Thron stand, hüstelte leise, während er sich ein frisches Speicheltuch vor den Mund hielt. Dare hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Er trug die Gewänder eines Imams, aber er war nicht bei der Gruppe der Gelehrten gewesen, die den Prinzen am Abend zuvor in das Heiligtum begleitet hatten. Der gekrümmte alte Mann stützte sich unsicher auf einem Gehstock, den ein mit Rubinen besetzter Apfel zierte. Ein langer weißer Bart hing vor seiner Robe herab. »Das ist Ratgeber Simonides, der mir sehr nahe steht«, erklärte der Sultan. »Früher einmal war Simonides mein Tutor, und er hat mich alles gelehrt, was ich über meine heiligen Pflichten weiß. Seitdem ist er in der Rangordnung der Imams aufgestiegen und wurde der Erste der Ältesten. Aber nun ist mein alter Lehrer gebrechlich, und seine Pflichten wurden beschnitten, aber dennoch gibt es in meinem ganzen Reich keinen weiseren Mann. Und für diesen wich tigen Tag hat er sich von seinem Krankenbett erhoben. Komm, Si monides, unterrichte meinen Sohn, wie du mich unterrichtet hast.« Tief vornübergebeugt tastete sich der Tattergreis vor und blickte mit wässrigen, rot geränderten Augen zu dem jungen Prinzen hi nauf. Seine flammenförmige Mitra schwankte bedenklich auf sei
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nem Kopf, und während er mit zittriger Stimme redete, tupfte er sich wiederholt die schlaffen, feuchten Lippen ab. »Prinz des Geschlechts, Ihr habt Euch sicherlich gefragt, warum Ihr so bald, schon so übermäßig früh, den Mantel des Unangefoch tenen Thronfolgers anlegen müsst, hab ich Recht? Nun, Unange fochtener Thronfolger, heute Morgen werdet Ihr die Antwort auf diese ... ehem ... Frage erfahren. Aber wenn ich mir vorstelle, dass ich ein solches Kind, vergebt mir, ich meine das nicht despektierlich, mit dem Namen des Unangefochtenen Thronfolgers belegen muss! Unangefochtener Thronfolger, wenn Euer Vater es sich nur leisten könnte, auch die Frage ungestellt zu lassen, ehm, die Frage ...« Der alte Mann schien den Faden verloren zu haben. »Ihr seid so prägnant wie immer, Simonides«, munterte ihn der Sultan lächelnd auf. »Aber kommt, alter Freund, Ihr habt mir selbst gesagt, dass Euch nur noch wenig Zeit bleibt. Es stimmt mich trau rig, miterleben zu müssen, wie Ihr in das Unergründliche eingeht, aber noch trauriger wäre ich, wenn diesem Euren letzten Schüler die Weisheit entginge, die Ihr ihm vermitteln könntet.« Der alte Mann stand einen Moment still da und zwinkerte, dann nickte er zögernd, als stimme er zu, räusperte sich und begann erneut zu sprechen. »Prinz dieses Geschlechts, Ihr seid in Unwissen heit gehalten worden, was man natürlich bei einem Kind auch ange messen findet. Aber ich habe gehört, dass Ihr ein gelehriger Schüler seid, was mir selbstverständlich vorkommt, seid Ihr doch der Sohn Eures Vaters! Ich weiß daher, dass Ihr schnell verstehen werdet, was ich Euch jetzt erkläre. Aber zuerst... Sagt mir, was Ihr von der Ge schichte unseres Glaubens und von der Gründung des Geschlechts wisst, dessen jüngster ... ehm ... Zweig Ihr seid?« Dare runzelte die Stirn. Er war schon oft aufgefordert worden, diese Geschichte zu erzählen, aber es überraschte ihn, dass man ihn bei einem so wichtigen Anlass darum bat. Sein Vater munterte ihn jedoch mit einer Handbewegung auf, und unter den Höflingen ent stand eine leichte Unruhe.
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Der schlaksige Jüngling sah sich um und schluckte. »Nun, mein edler Herr«, begann er, »ich weiß, dass vor der Ankunft des Pro pheten Mesha eine schlimme Zeit herrschte. Damals war unser Volk gespalten und hatte den Glauben verloren, der es einst vereinte.« »Einst?« Schleim gurgelte in der Kehle des alten Mannes. »Ja, mein Herr. Als unser Volk zur Zeit der Großen Wanderung das Tal des Orok verließ, war es im Glauben an Theron vereint. Während die Epizyklen verstrichen, ging dieser Glaube verloren. Wie Sandkörner im Wind verstreute sich unser Volk über diesen großen Subkontinent. Dadurch wurde es leider in viele Sekten und Nationen geteilt und vergaß seine Treue gegenüber seinem gemein samen Gott!« Der Sultan lächelte. Zwar wiederholte sein Sohn nur eine einstudierte Lektion, aber er hatte sie gut gelernt. Der große Mann lehn te sich in die Kissen seines Throns zurück und strich mit einem Finger nachdenklich über seinen geölten Bart. Er schloss die Augen. Es sah aus, als versetze er sich wieder in seine Jugendzeit zurück und wäre selbst der Junge, der eben diese Antworten auf die Fragen sei nes Lehrers gab. Doch die Unterrichtsstunde verwandelte sich schnell in eine Vor lesung. Simonides ging unsicher vor dem Prinz hin und her und setzte mit der Vorsicht des Alters den Stock vor sich auf den Boden. Die Begeisterung in seiner Stimme nahm zu, als er sich für das The ma erwärmte. »Allerdings, junger Prinz«, sagte Simonides. »Diese Reiche befanden sich in einem höchst kritischen Zustand. Nur wenige Menschen erinnerten sich an ihre Pflichten dem wahren Gott gegenüber, der im Mittelpunkt des Geschlechts von Orok stand, wie Ihr, Unangefochtener Thronfolger, im Stammbaum Eures Vaters steht. Bö seste Blasphemien waren damals in den Ländern von Unang an der Tagesordnung. Es gab Kulte von den Fünf Göttern, dann Sekten, die Imagenta verehrten. Einige beteten die Sonne an, andere den Mond. Es gab viele Götzenanbeter, andere opferten Tiere. Sehr wei
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se spricht das Buch der Imams von diesen Tagen als der Zeit der Lästerungen ...« »Simonides?« Der Sultan räusperte sich. »Hm?« Der Tutor begriff, dass er abgeschweift war. »Hm, ja, also was ist dann geschehen, Prinz dieses Geschlechts, um die ungläubi gen Königreiche wieder zu erlösen?« Dare schluckte wieder. Sein Hals war trocken, und seine Zunge klebte am Gaumen. »Mein Herr, Ihr sprecht von der Ankunft des Propheten. Das begab sich vor fünf Epizyklen, in dem Jahr, das nach den alten Kalen dern SZ 34/124 genannt wird, oder NUl im neuen Kalender. Da mals wurde der einfache Kameltreiber, der bald zum Propheten Mes ha werden sollte, von einer Vision des Wahren Gottes heimgesucht.2 Das geschah in der Einöde des Westens, wo unser Volk ein hartes, freudloses Leben führte, seine Opfergaben wertlosen Götzen dar brachte und sich dabei gegen Überfälle der gottlosen Stämme der Ouabin wehren musste.« »Gut, sehr gut«, drängte Simonides. Dares Gedanken überschlugen sich, während er versuchte, sich an alles zu erinnern, was er gelernt hatte. Während er sprach, dreh te er sich langsam um sich selbst, um den Schritten des alten Tutors zu folgen. Er starrte auf den langen, blutroten Teppich, und seine Blicke wurden wie magisch von dem Heiligtum angezogen, das durch das rote Glas selbst wie eine lodernde Flamme wirkte. »Eines Tages«, fuhr er fort, »in der größten Mittagsglut, stolperte 2 In Unang Lia wird die Zeit anders gezählt als in Ejland, aber das grundlegende Prinzip der Epizyklen ist in beiden Reichen und in allen Ländern des El-Orok gleich geblieben. Ein Epizyklus ist eine Einheit von 125 Jahren (nach dem Sosentschen Kalender). 34/124 bezieht sich daher auf das 124ste oder vorletzte Jahr des 34sten Epizyklus seit dem Anfang der Zeit des Sühneopfers. (Die Zeit der Buße hatte zu dieser Zeit etwa 4374 Jahre zuvor begonnen. Zur gegenwärtigen Zeit, SZ 999d nach dem Ejland-Kalender, sind 4999 Jahre vergangen.) Zur Ehre der Vision des Propheten wurde das Jahr SZ 34/124 später von der Akademie der Imams in das Jahr NU (Neu Unang) Sonnenumlauf l, oder NUl, umgedeutet. Das bedeutet einen neuen Zyklus der Zeit. Weil die Zeit nur noch von der Vision des Propheten an gemessen wird, werden die Sonnenwenden einfach nur noch von diesem Zeitpunkt an ohne weitere Teilungen durchnummeriert. Die gegenwärtige Sonnenwende (nach der die Vision also fünf Epizyklen zurückliegt) ist folglich NU 625. Siehe auch Anhang »Die Zeit im Orokon« im zweiten Buch dieser Reihe: Der rote
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Schlüssel.
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der zukünftige Prophet durch die Dünen, die weit von seinem Dorf entfernt waren, und suchte die Kamele, die bei dem letzten Überfall weggelaufen waren. Da erschien ihm der Wahre Gott ... in einer Feuersäule ...« Dare fiel es schwer, nicht auf das Heiligtum zu starren. Das erhabene Gebäude demütigte beinahe hochmütig selbst die prächtigsten Kuppeln und Minarette der schönen Stadt, in deren Mitte es lag. Der junge Prinz verstummte und schlug die Augen nieder, als er sich an den Schrecken erinnerte, den er in der Nacht zuvor hatte miterleben müssen. Er versuchte, diese furchtbare Vision abzuschütteln, und dachte an die Höflinge und an deren gespannte Blicke, die auf ihm ruhten. »Weiter, Dare!«, forderte sein Vater ihn beinahe barsch auf. Der Junge sprach tonlos weiter. »Dann zeigte der Wahre Gott Mesha den Weg. Er befahl ihm, die Menschen auf den Pfad der Ge rechtigkeit zu führen, denn es würde eine Zeit kommen, in der das gegenwärtige dekadente Zeitalter zu Ende ginge. Dann würden die Guten, diejenigen, die Therons Beispiel folgten, und zwar nur sei nem Beispiel, im Unergründlichen belohnt werden, während die Ungläubigen dem Reich des Nicht-Seins verfielen.« »Hm. Und was hat der Wahre Gott noch gesagt?«, wollte Simonides wissen. Dare zögerte. »Er... er hat Mesha befohlen, sein Volk auf eine Pilgerreise in die Berge zu führen, wo diese Stadt jetzt steht. Dort, sagte der Wahre Gott, würde Mesha sie finden ... die Heilige Flamme...« Der Junge wäre wohl wieder verstummt, aber glücklicherweise hatte sein Vater genug gehört. Der stattliche Mann sprang von sei nem Thron auf und schob den Tutor überraschend grob beiseite. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sprach rasch und aufgeregt, schlenderte durch die Reihen der aufmerksamen Höflinge und marschierte schließlich den langen, roten Teppich entlang. Unsicher folgte ihm sein Sohn. Sie gingen zu dem Fenster. »Die Heilige Flamme!« Der Sultan machte eine weit ausholende
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Bewegung. »Ja, mein Sohn, sie ist das Lebenswichtigste, denn was sonst als eben diese Flamme sichert unsere Macht, meine, und auch deine, in dem Leben, das noch vor dir liegt? Als Mesha die Flamme in Besitz nahm, gründete er unser Geschlecht. Wer die Flamme besitzt, beherrscht das Vereinte Unang. Du kennst jetzt zwar die Macht, die die Flamme verleiht, aber weißt du auch etwas von ihrem Ursprung?« »Ursprung?« Dare verstand nicht. »Junge!«, fuhr der Sultan ihn an, »hältst du diese Flamme denn tatsächlich für ewig? Glaubst du denn wirklich, dass es nicht auch eine Zeit gegeben hat, in der die Flamme noch nicht brannte? Oder dass die Flamme nicht eines Tages flackern und erlöschen könnte?« Der Zorn seines Vaters beunruhigte den Prinzen, doch der Ärger des Sultans verrauchte rasch, und er fügte hinzu: »Ach ja, eben die ser Täuschung bin auch ich aufgesessen.« Dares Unterweisung hatte gerade erst begonnen.
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11. Gefälschte Texte »Dare?« Dare starrte aus dem riesigen roten Fenster. »Dare?« Die Stimme des Sultans klang etwas schärfer. Der Junge drehte sich um, riss sich zusammen und blickte in Au gen, die irritierenderweise beinahe auf gleicher Höhe waren wie sei ne. In den folgenden Sekunden vergaß er die Blicke hunderter, viel leicht sogar tausender der vornehmsten Höflinge des Reiches. Es gab nur noch ihn selbst, seinen Vater und den alten Mann namens Si monides. »Dare«, fuhr sein Vater fort, »du hast sehr gut im Buch von Mes ha gelernt und weißt alles über die Ankunft des Propheten, was
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nötig ist. Du bist noch jung, aber schon bald werden deine Augen ein uraltes Manuskript sehen, da du jetzt wie dein Vater an die Blut linie gebunden bist. Es wird in der Akademie der Imams sicher aufbewahrt. Ich spreche vom El-Orokon. Gefälschte Versionen davon liegen in den Büchereien von Ejland, vielleicht auch in Zenzau und Wenaya, aber unser Exemplar ist das einzig wahre ... Stimmt das nicht, Simonides? Simonides?« Die Stimme des Sultans klang gereizt, als er den Namen seines alten Tutors wiederholte. Simonides nickte. Der ältere Mann war offenkundig erschöpft. Er stand am anderen Ende des langen Teppichs und schien gegen die starke Versuchung ankämpfen zu müssen, sich auf den leeren Thron sinken zu lassen. Es befanden sich keine ande ren Sitzgelegenheiten in der Kammer der Erscheinung. »Das El-Orokon!«, schrie der Sultan. Er hakte sich bei Dare un ter und marschierte mit ihm zu dem goldenen Thron zurück. »In diesem heiligen Text steht die Geschichte der Fünf Kristalle«, dröhnte er, »welche die Macht von Theron und seinen vier Ge schwistern verkörperten. Mein Sohn, du hast von der Großen Wan derung gesprochen, als unser Volk das Tal des Orok verließ, aber weißt du auch, warum sie diese Reise auf sich nahmen?« Dare sah ihn verständnislos an. Sein Vater setzte sich wieder auf den Thron und schob Simonides erneut achtlos zur Seite. Die Höf linge kümmerten sich nicht um den alten Mann. Sie sahen nur den Unangefochtenen Thronfolger und denjenigen, den sie als Sultan von Mond und Sternen verehrten. Das Geschlecht des Propheten verkörperte das Schicksal ihrer Rasse, jedenfalls schien es so. Und es war lebenswichtig, dass Prinz Dare dieses Schicksal ebenfalls verstand, die Hoffnungen, den Ruhm und auch die Schrecken. Der Sultan ließ sich ausführlich über die Fünf Kristalle aus. Er sprach vom Orokon, der einstens die Harmonie allen Lebens gesi chert hatte. Er sprach von den Kriegen, die das Tal des Orok ver wüsteten, bis schließlich die Verheerung vollständig war und die
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fünf Rassen der Menschheit diese erste Heimat verlassen mussten. »Das war doch so, Simonides? Und dann? Was geschah dann?« Simonides schwankte trotz seines Stockes. Es bereitete ihm sicht lich Mühe zu antworten, und sein Atem kam pfeifend und ange strengt. Viele Höflinge verstanden seine Worte nicht, aber das spiel te keine Rolle, solange Dare es hören konnte. Der Prinz mit seinem guten Herzen hätte sich gern für den alten Mann eingesetzt, aber die Furcht hielt ihn zurück. »Und dann?«, meinte der alte Mann keuchend. »Nun, welches Elend kam dann, welches Elend, als die Menschen der Erde von ihren verschiedenen Bestimmungen erfuhren. Jede Rasse musste sich einer Prüfung unterziehen, mit der sie sich des Ur-Gottes wert erweisen sollte ... Jede Rasse wurde zu einem Ort geschickt, der ih rer Natur entsprach ... Eisige Berge für die leidenschaftslosen Ago nisten, Wälder, Inseln und fadenscheinige, weibische Verstecke für die Anhänger der minderwertigen weiblichen Göttinnen ...« Der alte Mann führte sein Spucktuch an die Lippen. Der Sultan setzte ungeduldig nach. »Aber eine Rasse wurde vor allen anderen bevorzugt, war es nicht so?« Diesmal wartete er nicht erst auf eine Antwort. Viele Höflinge rangen nach Luft, gepackt von der Leidenschaft in der Stimme des Sultans. »Unsere Rasse, mein Sohn, war die bevorzugte Rasse, denn sind diese Länder von Unang auch hart, was könnte eine bessere Vorbe reitung für ein Volk sein, dem es bestimmt ist, die ganze Welt zu erobern? Die Welt, sage ich, denn wie könnte es anders sein, wo doch Theron, der rothaarige und rotäugige Theron, das Lieblingskind des Gottes Orok war? Fünf Epizyklen sind seit der Vision des Propheten verstrichen. In jedem Epizyklus hat, wie der Prophet es vorhersagte, ein großer Sul tan dieses Land mit einer besonders erfolgreichen Herrschaft geseg net, unser Reich ausgedehnt und alle Feinde besiegt. Denk daran, mein Sohn, was unsere historischen Schriftrollen dich gelehrt haben.
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Über den Roten König Mesha, den Sultan der Katakomben, der die bösen Geister aus der Stadt der Toten vertrieben hat! Über Zultan, den Herrscher des Dschungel-Grüns, dessen Reich auf der Höhe seiner Macht bis weit in die unübersichtlichen, geheimnisvollen Länder von Orokona reichte! Denk an Bulaq, den Sultan des Roten Staubs, der die gesamten Südlande unter unser kaiserliches Zepter brachte, mit einem eisernen Griff, der niemals nachlässt! Denk an Abu Makarish, den Sultan der Blauen Welle, der unser Reich bis zu den Gebieten der Inseln ausdehnte, weit jenseits unserer Küsten! Denk an Mesha Kaled, ja, Kind, deinen eigenen Vater, dessen Ruhm so groß ist - hat mir das nicht der Gott der Flamme selbst gesagt? -, dass er nur der Sultan von Mond und Sternen genannt wird? Und nun, Kind, denk nur, wie viel Ruhm auf den Sohn warten muss, den Unangefochtenen Thronfolger, den Spross eines so großen Monar chen! Kind, denk daran, denk wirklich daran, dass keine Rasse auf dieser Welt größer sein kann als die unsere!« Der Sultan war rastlos von seinem Thron aufgestanden. Er ging umher und erhob seine Stimme zu einem hallenden Dröhnen. »Ge fälschte Texte behaupten etwas anderes! Aber wir wollen nicht von den Blasphemien der Agonisten sprechen! Denn ist es nicht klar, dass der Ur-Gott seinen zweiten Sohn bevorzugt hat? Hat er mit dem mächtigen Theron nicht einen kühnen und furchtlosen Krieger geschaffen? Was war Koros anderes als ein missgestalteter Schurke, Agonis anderes als ein jämmerlicher Waschlappen? Der Agonist hat sich sogar geweigert zu kämpfen, und das obwohl das Tal des Orok in höchster Gefahr schwebte!« Der große Monarch schüttelte sich und wandte sich zu seinem zitternden Sohn um. Die Höflinge hatten ausnahmslos die Blicke gesenkt, als wagten sie nicht, einen so großartigen, so machtvollen, so starken Mann anzusehen. Wie konnte sein Griff nicht tatsächlich bis zum Mond und zu den Sternen reichen? »Ich schweife ab«, sagte der Sultan, »aber wie könnte das auch an ders sein? Das Schicksal dieses Landes ist meine verzehrende Lei
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denschaft. Ich sagte, dass wir vom Ur-Gott bevorzugt worden sind, und zwar vor allem damals in dieser traurigen Zeit, als uns das Schicksal zufiel, das Tal des Orok verlassen zu müssen.« »Aber Herr«, sagte Dare nervös, »hat der Ur-Gott damals nicht alle Völker bestraft?« Die Augen des Sultans blitzten, aber er lachte nachsichtig und forderte die Höflinge auf, es ihm gleichzutun. »Einige mehr als andere, du dummer Junge! In Wahrheit zeigte Orok Gnade, obwohl er die Kinder des Koros verdammte, ich spreche von dem Ungeziefer, der Vaga-Brut, die jetzt gnädigerweise in den Ländern Unangs aus gerottet ist. Doch jeder der überlegenen Rassen gab er ein Ab schiedsgeschenk. Was waren diese Geschenke anderes als die Kristalle der Götter, um die Menschen in den Zeiten zu schützen, die ihnen bevorstanden? Doch von all diesen Steinen konnte es keiner mit dein Kristall des Theron aufnehmen, der prachtvoll in zinnoberrotem Feuer glüht.« In diesem Moment ertönte ein gutturaler Schrei. Simonides hatte die ganze Zeit geschwankt und war schließlich zu Boden gefallen. Dare wollte zu ihm gehen, doch der Sultan packte die Schulter seines Sohnes und drehte ihn von dem ausgestreckt daliegenden alten Mann weg. Simonides gelang es, sich selbst aufzurappeln, und sprach weiter. »Der Kristall wurde den Imams des Altertums übergeben und soll te auf ewig in ihrer Verwahrung bleiben! Wäre das so geschehen, hätte sich unser Volk niemals so beklagenswert zerstreut, wie es während der Zeit der Lästerungen passierte. Leider widerfuhr den Imams des Altertums dieses schreckliche Schicksal, als sie das Theron-Gebirge überquerten! Ob es nur ein Zufall war oder ob sie sich verirrten, ob sie Opfer eines bösen Verrats wurden, das werden wir niemals erfahren. Es hat schockierende Geschichten gegeben, sogar bösartige. Einige behaupten, die Imams, die Heiligsten unserer Rasse, wären in verfeindete Gruppen zerfallen, Opfer der Sün de, des Neides und des Stolzes; einige behaupten, dass der mächtige
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Theron, der es von weitem beobachtete, sie als unwürdig für ihre kostbare Last befand. Andere behaupten, Vaga-Blut habe unsere Rasse verunreinigt, denn wie sonst ... Wie sonst hätte uns dieses Leiden überkommen können?« Der alte Tutor hätte noch mehr zu sagen gehabt, aber er war außer Atem, und zudem war der Sultan ungeduldig. »Die Wahrheit wird in den Schleiern der Zeit verborgen bleiben, wie vieles aus der Vergangenheit«, verkündete der große Monarch. »Es genügt zu sagen, dass die Imams verschwanden und mit ihnen auch der geheiligte Kristall verloren ging! Das wolltest du doch sagen, Simonides, nicht wahr?« Der alte Mann war erneut zu Boden gesunken. Nur ein pfeifendes Keuchen kam als Antwort. Der Sultan fuhr fort: »Für die gewöhnlichen Menschen war die ser Verlust vielleicht nicht von großer Bedeutung, denn sie versan ken bereits tief in der widerwärtigen Verderbnis, die sie in der Zeit der Lästerungen bald vollkommen überwältigen sollte. Aber für diejenigen, die es besser wussten, war es ein Desaster, und als genau das stellte es sich heraus. Nicht wahr, Simonides?« Der alte Mann bemühte sich, wieder aufzustehen, und fuhr un beholfen mit dem Stock über den Teppich. Seine flammenförmige Mitra war ihm vom Kopf gefallen und rollte über den Boden. An seinen kahlen Schläfen traten die Adern deutlich hervor, während er taumelte. »Erhabener, Ihr besitzt die Wahrheit.« Dann sank er wieder zusammen. Fragend blickte Dare vom Sultan zu Simonides und wieder zurück. Zum ersten Mal kam dem Jungen der Gedanke, dass sein Vater verrückt war, wirklich verrückt, nicht nur grausam und bru tal. Aber wenn dem so war, dann würde dieser Wahnsinn auch nach ihm greifen, das wusste Dare, und ihn genauso hart packen wie die Hand seines Vaters. In seiner Phantasie schien Dare einen glühenden Kristall zu sehen, der die Luft mit seinen feurigen Strahlen verseng te.
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Plötzlich kümmerte er sich nicht mehr um den auf dem Boden knieenden Simonides. »Aber Herr, ist der Kristall denn niemals mehr gefunden wor den?« »Ha! Du bist klug, mein Sohn, klüger, als selbst deine Lehrer be richteten. Aber nein, niemals wieder haben menschliche Augen die sen Kristall erblickt, außer vielleicht im Reich der Träume. Legenden erzählen von Heiligen, selbst in den finstersten Zeiten der Lästerung, die den glühenden Schatz gesucht haben, der, wie sie glaub ten, ihren wahren Glauben wieder zurückbringen würde. Leider wurden selbst die Heiligsten enttäuscht, und das galt für alle Sucher seitdem. Doch, mein Sohn, denk an die Vision des Propheten. Mes ha führte sein Volk auf die Suche nach der Flamme, die aus den fel sigen Tiefen dieser Berge emporlodert. Und wo, mein Sohn, sagte ich, haben die Imams den Kristall des Theron verloren?« Dare riss die Augen auf. »Herr, hier in diesen Bergen. Im TheronMassiv.« Der Sultan lächelte. »Und jetzt denke nach, denk nach! Als der Prophet die Flamme gefunden hat, hat sich die Anbetung des Theron wie ein Fegefeuer in den Ländern Unangs ausgebreitet. So kam es, dass unser wahrer Glaube wiederhergestellt wurde und unser Schicksal sich erfüllte. Wie das ohne den Kristall geschehen konnte, fragst du? Während meiner gesamten Herrschaft haben meine wei sesten Imams in die Hitze der Heiligen Flamme gestarrt, in all ihrer Rätselhaftigkeit, in all ihrer Macht. Immer und immer wieder, nach dem Studium der Litaneien des Propheten habe ich sie gefragt, was es sein kann, was diese Flamme nährt. Die Antwort, die sie mir ga ben, war immer dieselbe, und wie hätte es auch eine andere sein kön nen? Denn wer konnte bezweifeln, dass Theron, in seiner Gnade und seiner Weisheit, dafür sorgte, dass sich alle seiner Macht beugten, dass jedoch das Unterpfand einer solchen Macht niemals wie der in menschliche Hände gelangen sollte!« »Also ist die Flamme ... der Kristall?«, flüsterte Dare.
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Der Sultan lächelte geheimnisvoll und ließ den Blick über die ver sammelten Höflinge gleiten. Der Junge machte sich gut. Sehr gut sogar.
»Schwarz. Weiß. Gelb. Rosa.« Eli Oli Alis kleiner Sohn hockte im Staub an der Mauer zur Karawanserei und sortierte Kieselsteine in kleine Haufen. Von Zeit zu Zeit schnüffelte der Junge oder wischte sich die Nase mit dem Handgelenk ab. Er blickte weder zum strahlenden Himmel hinauf noch hinunter aufs Meer oder auf die Straße, die auf der Kuppe des Kliffs entlangführte. Er war ein, sehr ernsthaftes Kind, sehr dünn und sehr schmutzig, mit großen, traurigen Augen und einem sensi blen Mund. Vielleicht hatte Papa ihm einen Namen gegeben, aber der einzige Name, den der Junge kannte, war Kleiner, und der be deutete nur, das s er klein war. Klein und schwach. Der Kleine hatte die schönsten Kieselsteine gesammelt, die er fin den konnte, und schob sie in die Taschen, bis deren Nähte zu platzen drohten. Er konnte nicht sagen, warum er das tat, genauso we nig, wie er hätte erklären können, warum er sie jetzt sortierte. Er wollte es einfach tun. Er griff in die Tasche und holte eine weitere Hand voll heraus. »Rot. Grau. Braun. Grün.« Von weitem wirkten alle Steine verwaschen weiß. Erst wenn man sie genau betrachtete, konnte man ihre Farben erkennen. Als wür den sie ein Geheimnis hüten, dachte der Kleine, und obwohl sie sich keine Mühe machen, es zu verbergen, bleibt es eins, außer für die, die genau hinsehen. »Gold. Orange. Rot. Blau.« Aus der Karawanserei drang das Klappern von Töpfen, das von ei
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ner schrillen Stimme übertönt wurde. Die gehörte Mutter Madana, und sie rief nach Amed, Ameda, wie sie sie nannte. Zuerst be schimpfte sie das Mädchen, es wäre dumm, faul, boshaft und treu los, und dann befahl sie ihm, den Speisesaal zu fegen, die Tische zu decken und mehr Holz für das Küchenfeuer zu holen. Der Kleine achtete nicht auf die Unruhe. An ärgerliche Stimmen war er gewöhnt. Erst heute Morgen hatte Papa gewütet, geflucht und gedroht, er würde Vetter Faha alle Glieder einzeln ausreißen. Und diesen Wildfang, dieses burschikose Mädchen, würde er auf einem Spieß rösten, falls sie es jemals wieder wagen würde, sich im Mischlingslabyrinth blicken zu lassen! Der Kleine versuchte sich vorzustellen, wie sich Faha Ejos Freun din an einem Spieß über einem lodernden Feuer drehte, und grinste. Dann hörte er den Reiter. Der Lärm aus der Karawanserei hatte zunächst das donnernde Hufgetrappel übertönt. Erst jetzt sah der Kleine auf, nahm die Staubwolke wahr, die dunklen Gewänder, die blitzenden Goldbän der. Er rappelte sich hoch und verstreute dabei seine Kieselsteine. Der Botschafter des Sultans! Selbst ein Mischlingsjunge wusste genug, um Angst zu bekommen. Kaleds Botschafter ritten immer allein. Vielleicht sollten sie so das Sprichwort demonstrieren, dass der Reisende am schnellsten voran kommt, der eine einsame Straße wählt; vielleicht sollten sie aber auch beweisen, dass ihr Herr keine Furcht kannte und bei der Überbringung seines Willens keinen Widerstand erwartete. Niemand war so dumm, einen Schwarzen Reiter anzugreifen. Das wäre ein Verbrechen gegen den Sultan höchstpersönlich und würde die schnellste und grausamste Strafe nach sich ziehen. Erinnerungen in Unang hielten lange, doch Legenden waren noch dauerhafter. Ganze Dörfer waren dem Erdboden gleichgemacht worden, weil ein einzi ger Mann es gewagt hatte, sich dem Willen des Sultans zu widersetzen. In der Mittagshitze lag der Dorfplatz wie ausgestorben da. Der
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Kleine rannte über die Straße. Er hätte eigentlich zum Labyrinth zurücklaufen sollen, aber er war genauso beunruhigt wie aufgeregt. Er wollte sehen, wie der Reiter vorbeiritt. Er duckte sich hinter einem Felsvorsprung. Der Kleine war höchstens sechs Sonnenwenden alt, aber er hatte bereits viel von der Welt gesehen. Viel zu viel. Zusammen mit Eli Ali Oli war er einer derjenigen gewesen, die den Kua-Exodus erlebt hat ten, war einer der vielen tausenden gewesen, die nach der Belage rung durch die Menschendrachen in die Küstenregionen geflohen waren. Seine frühesten Erinnerungen waren die an einen rumpelnden Karren, der durch die gefährlichen Gegenden des Vorgon-Pas ses nach Nieder-Unang fuhr. Dann kamen die Labyrinthe und La ger und Karawanen, in denen Eli Oli Ali seinen Geschäften nach ging. In hunderten von Dreckslöchern hatte der Kleine das Zischen von gepressten Stimmen gehört, das verstohlene Klimpern von Münzen. In den Gassen und dem elenden Hafenviertel von Qatani, wo Eli schnell Erfolg hatte, war sein Sohn aufgewachsen und hatte sich an das trunkene Grölen gewöhnt - und an das Brüllen von Geschäftsleuten, nachdem er ihnen ihre funkelnden Kinkerlitzchen ge stohlen hatte. Er rannte mit einer Bande von Dieben, die in den Kel lern unter Papas schmutzigem Khan lebten. Immer wieder war der Kleine vor Fremden geflohen, und auch oft genug vor Eli Oli Ali. Doch noch häufiger hatte er Schläge, Drohungen und Flüche über sich ergehen lassen müssen, die Papa eigentlich seinem Rivalen, Casca Dalla, zugedacht hatte. Der Kleine war daran gewöhnt, genauso wie er an Schmutz und Hunger gewöhnt war. Aber die ganze Zeit brannte eine dumpfe Wut in dem Jungen, verborgen wie die Farben der unbeachtet daliegenden Steine. Doch Wut kann man nicht ewig unterdrücken. Früher oder spä ter bricht sie aus, manchmal unerwartet. Das Herz des Kleinen hämmerte vor Angst, als der Reiter auf den Dorfplatz einbog. Unvermittelt schlug die Furcht in Wut um. Ein scharfer Stein pfiff durch die Luft.
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Gurgeln. Zischen. Jem stöhnte. Er gewann nur langsam das Bewusstsein zurück und musste sich durch mehrere warme Schichten kämpfen. Warm, ja. Er fühlte die Wärme wie einen erneuernden Balsam und dachte einen Augenblick, dass er auf einem merkwürdigen, stützenden Meer trieb. Aber nein ... Jem spürte den harten Felsen unter seinem Körper. Da war ein Schmerz, den auch die Wärme nicht abmildern konnte. Langsam konzentrierte er seinen Blick auf einen grauen Klumpen Kraut, der sich an den kreideartigen Felsen klammerte. Jem bewegte den Kopf und blickte in eine blendende Helligkeit. Vö gel flogen hoch oben in der weißen Glut, und ihre Schreie hallten bis zu ihm hinunter. Und von unten drang das Gurgeln und Zischen empor. Er lag auf einem Felsvorsprung an einer Klippe. Über ihm befand sich eine kahle, gezackte Felswand. Und unter ihm das Meer. »Ameda! Yarga-Beeren!« Der Schwarze Reiter zuckte zusammen. »Yarga-Beeren, hörst du? Ameda!« Wieder zuckte der Reiter bei der lauten Stimme zusammen. Er hockte auf der Küchenbank und hatte seinen Kopfschmuck abge legt. Jetzt war sein kahler Schädel ungeschützt, und man sah die gol denen Ohrringe, die Wahrzeichen seines Stammes. Mutter Madana drehte sich zu ihm um. Er stützte den Kopf in die Hand, und das Blut rann zwischen seinen Fingern hindurch. »Ach, mein armer Herr! Meine Yarga-Beeren werden Euch wieder gesund machen, hm? Ich habe sie in der letzten Gottesjahreszeit an gesetzt, nur die besten. Für meine Yarga-Beeren bekomme ich ... oh, viele Zirhams. Vierzig, fünfzig pro Flasche. Aber für Euch ...« Es polterte an der Tür, und nackte Füße klatschten auf den Pflas tersteinen. Amed hielt ein staubiges Glas hoch. In der zähen Flüssigkeit lagen längliche, grüne Stiele.
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Die Herrin plusterte sich auf. »Dummes Mädchen! Habe ich gesagt Hamali-Stiele? Yarga-Beeren, Ameda, Yarga-Beeren!« Errötend huschte Amed davon. Es waren erst wenige Sekunden seit dem Schrei auf dem Dorfplatz vergangen, seit das Kamel scheu te und der Reiter blutend in den Staub fiel. Mutter Madana hatte die Angelegenheit sofort in die Hand genommen und nach Amed geru fen, damit die ihr mit dem verletzten Mann half. Der Steinewerfer war natürlich weggelaufen. »Bestimmt irgend so ein Mischlingsgör, da bin ich sicher. Nun, Herr, das kann überall passieren! Aber was können wir dagegen tun?« Das alte Gesicht unter dem Kopftuch lächelte. Mutter Madana hatte bereits die Mittagsglocke geläutet, und die Gäste hatten sich im Speisesaal versammelt. Doch diesmal dachte die Herrin nicht an ihre Stammgäste, an die paar einsamen Kamelhändler und dritt klassigen Sklavenhändler, die beiden Hausierer und die ParvoSchaustellertruppe, die nach Qatani unterwegs waren. Die Kessel blubberten, und die Küche war voller Dampf. Ungeschnittene Brote und Gewürze, Pepperonis und Oliven lagen bereit. Aber Mutter Madana hatte nur Augen für den Reiter. »Die Roten sind nicht weit hinter mir«, knurrte er. »Sie werden dieses verdammte Dorf dem Erdboden gleichmachen!« Die Roten und die Gelben Reiter waren kaiserliche Patrouillen. Sie ritten in größeren Gruppen und übten Gerechtigkeit, wenn man das so nennen wollte. So mancher hätte bei der Erwähnung der Patrouillen gezittert, doch Mutter Madana lachte nur. »Ach Herr, lasst sie nur zerstören, was sie wollen, hinterher brau chen sie auf jeden Fall eine Stärkung! Ich habe Euch schwarze Gesellen oft genug vorbeireiten sehen - und auch die Roten und die Gelben. Und was sage ich mir da immer: Warum reiten sie nicht langsamer? Wissen sie denn nicht, dass dies hier die beste Karawanserei an der Straße nach Qatani ist? Heh, ich weiß, was Ihr denkt... Die Kosten, die Kosten. Aber das ist nichts. In Qatani fließen Euch
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die Zirhams und Korsons wie Sand aus der Tasche. Ich frage Euch, warum sollte man in dieser schlimmen Stadt bleiben? Geht, überbringt Eure Nachricht und kommt dann wieder zurück zu Mutter Madana, hm? Alles was Ihr braucht, wartet hier auf Euch. In Qata ni zahlt Ihr dafür ... Korson über Korson! Und wofür? Für einen Eimer Brühe! Eine Bettrolle voller Flöhe! Und die Diener? Erzählt mir bloß nichts über die Diener!« Mutter Madana bedachte nicht, dass der Reiter und seinesgleichen in Kasernen untergebracht waren. Sie war voll in Fahrt und rührte die Werbetrommel. Sie war nur einmal in ihrem Leben in der Stadt gewesen, aber das Niveau der Dienstboten dort hatte sie gezeichnet, so sagte sie, für immer gezeichnet und verdorben. Über dieses The ma konnte sie sich endlos auslassen und wollte auch gerade damit anfangen, als Amed atemlos zurückkam. Die alte Frau schnappte sich das Yarga-Glas und verscheuchte das Kind mit einem unterdrückten Fluch. Dann nahm sie ein Tuch, gab etwas von den einge legten Beeren darauf und zerdrückte sie zu einer Paste. Ungeduldig schob sie die Hand des Reiters weg. Er hatte direkt unter den Augen einen ernsthaften Schnitt in der Wange. Als Mut ter Madana ihr Heilmittel darauf schmierte, sog er scharf die Luft ein. »Was tust du da, Alte? Willst du mich verbrennen?« Mutter Madana zuckte nicht mit der Wimper. »So! Schon besser, hm?« Der Reiter sah sie finster an und griff nach seinem Kopfschmuck. »Wo ist mein Kamel?« Die alte Frau lachte. »Aber Herr, so eilig könnt Ihr es doch nicht haben! Seid Ihr nach dieser fürchterlichen Strapaze nicht hungrig?« Lächelnd sah sie, wie der dunkelhäutige Mann die Nase rümpfte und den schweren, vertrauten Geruch von Jama-Reis mit Ziegenkä se und Dahl schnupperte. Sein bohrender Blick glitt über die Teller mit den Oliven, den Gewürzen und den flachen, runden Broten. Mutter Madana gierte dagegen nach etwas ganz anderem. In den alten Erzählungen hatte sie oft von diesem oder jenem legendären
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Khan oder von einer berühmten Karawanserei gehört. Hier war der Ort, wo sich der Kriegerprinz Ushani zum Sterben niederlegte, dort die prächtigsten Paläste der Straße, die während dreier Königreiche als Segen der Sultane berühmt waren. Die alte Frau kannte diese Le genden, die wie Springbohnen ihre Ursprünge in den winzigsten Samenkörnern hatten. Und hatte sie denn den Mann des Sultans nicht gerettet? Vielleicht würde man bald sagen, dass es der Sultan selbst gewesen wäre! Sie holte tief Luft und wappnete sich, um das notwendige Opfer zu bringen. »Aber Herr, Ihr dürft Euch kaum so bald wieder auf den Weg machen! Kommt, das prächtigste Mittagsmahl diesseits von Qatani wartet auf Euch. Ihr seid gerade rechtzeitig angekommen! Das muss Schicksal sein ... Und Bezahlung? Nichts da! Bin ich etwa eine Frau, die von purer Geldgier getrieben wird? Was für ein Gedanke! Ich will nur der Sache des Sultans dienen!« Sie senkte die Stimme und beugte sich dicht zu dem Reiter. »Erzählt nur Euren Kollegen von der Pracht meiner Karawanserei, das ist die einzige Bezahlung, um die ich Euch bitte.« »Blau. Rot. Orange. Gold.« Erneut sortierte der Kleine seine Steine in einer Reihe. Seine Hände zitterten, und er schniefte seinen Rotz in rhythmischen, gurgelnden Zügen hoch. Es hatte keinen Sinn, sich zu verstecken, das wusste er. Aber er versteckte sich eigentlich auch nicht wirklich. Hier unter Papas Wagen war es kühl. Außerdem würde Eli Oli Ali ihn früh genug finden, wenn es so weit war. Warum sollte er Angst davor haben? Der Kleine wusste, was dann kam und wie weh es tun würde. Er suchte in seinen Taschen nach weiteren Steinen. »Grün. Braun. Grau. Rot.« Der kleine Junge lag auf dem Bauch und stützte seine Hände ge gen seine spitzen Wangenknochen. Neben ihm lag hechelnd der na menlose Hund und klopfte lethargisch mit dem Schwanz auf den
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Boden. Durch die Speichen eines Rades betrachteten sie die Welt wie Gefangene aus ihrer Zelle. Auf der einen Seite sahen sie blasse Fel sen, die sich jäh zu den Klippen erhoben, auf der anderen sahen sie einen umgekippten Nachttopf, weggeworfene Möwenknochen und die Ausbuchtungen eines Vorhangs aus Seetang. Alle waren zum Dorfplatz gelaufen, weil sie neugierig waren, ob der Reiter sterben würde. In dem Labyrinth war das Summen der Fliegen lauter als vorher, ein ständiges, brummendes Geräusch. »Rosa. Gelb. Weiß. Schwarz.« Der Kleine betrachtete die Steine. Neben seinem Kopf hing das Ende eines Seils, das um die Achsen des Wagens gewickelt war. Trä ge tippte er gegen das Ende, das schwankte wie ein Pendel. Der Hund bellte. Der Kleine fühlte sich elend. Er kletterte hinaus auf die Klippen und schnüffelte heftig. Er strich sich mit der Hand über Nase und Augen, holte die übrigen Steine aus der Tasche und schleuderte sie in einem Steinregen über das Kliff hinaus. In dem Moment passierten zwei Dinge. Jemand schrie »Heh!«, und der Kleine wirbelte herum. Dabei sah er die Staubwolke in der Ferne. Die Roten Reiter! Sicher, sie waren noch weit weg, aber welche Rolle spielte das? Er sah ihre roten Uniformen leuchten und wusste sehr genau, was sie vorhatten. Entsetzen schüttelte ihn, und er wäre beinahe zusammengebrochen. Aber nicht die Reiter hatten den Schrei ausgestoßen. Der Hund kläffte, und der Kleine sah den Fremden, der ausge streckt über dem Klippenrand hing. Der kleine Junge hielt die Luft an. Aber im ersten Moment weniger wegen der misslichen Lage, in der sich der Fremde befand, sondern wegen seines blonden Haares. Stücke des Kreidefelsens bröckelten ab und rutschten die Klippe hinunter. Der Vorsprung brach unerbittlich immer weiter ab. »Hilf mir!«, rief der Fremde. »Bitte, hilf mir!« Der Kleine lief zurück in das Labyrinth. Sein Herz hämmerte, und er hatte die Augen weit aufgerissen. Die Fliegen summten um
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ihn herum, und er verscheuchte sie mit der Hand. Wenn doch nur Vetter Faha Ejo hier wäre! Er hatte nicht genug Zeit, um ihn zu suchen. Er konnte niemanden holen. Was sollte er tun? Dann fiel es ihm ein. Das Seil! Er kroch unter den Wagen. Schritte ertönten in dem Labyrinth. »Kleiner! Wo bist du, Balg? Komm, wir müssen die Kamele anschirren und abfahren. Sofort!« Einen Moment blieb der Kleine wie erstarrt stehen. Er stellte sich entsetzt vor, wie sein Papa am Rand der Klippe auftauchen und den Fremden verächtlich auslachen würde. Vielleicht würde er sogar einen schweren Stein auf ihn werfen. Schnell wickelte der Junge das Seil ab und krabbelte zu dem Gelbhaarigen zurück. »Hier. Schnell.« Er ließ das Seil hinunter. Würde es halten? Unruhig blickte der Kleine zu den Roten Reitern und sah dann wieder auf die heftig kämpfende Gestalt unterhalb des Klippenrandes und auf den Wa gen, hinter dem Papa jeden Moment wutentbrannt hervorstürmen würde. »Verdammt, Kleiner, wo steckst du? Was ist, soll Casca vor jeder mann prahlen, dass dein Papa an diesem Drecksort umgebracht worden ist? Ich lasse dich zurück, das sage ich dir! Wusstest du schon, dass Reiter kleine Jungen essen ... ?« Der Vorsprung brach endgültig ab. Der Fremde kletterte über den rettenden Rand. »Kleiner, ich verdanke dir mein Leben!« Der Kleine schnüffelte aufgeregt. Während all seiner langen Reisen hatte er Steine gesammelt und gehofft, dass er eines Tages einen magischen Talisman finden würde. War jetzt endlich eine andere, eine ganz andere Magie zu ihm gekommen? Er hatte eine Menge Fragen, aber dafür war jetzt keine Zeit. Die Stimme kam näher. »Kleiner! Pah! Du verdienst so einen Papa
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wie mich gar nicht... Ich schlage dich grün und blau, das verspre che ich dir ...!« Der Kleine sah seinen neuen Freund verzweifelt an. »Schnell, du musst dich verstecken!« Einen Moment später krabbelte Jem in den Wohnwagen, und die Tür schlug hinter ihm zu. Der Kleine drehte sich schuldbewusst um, als Eli Oli Ali um die Ecke kam, ihn packte und ihm eine Kopfnuss versetzte. »Verdammte Göre, du hast den Stein geworfen, hab ich Recht?« »Aber nein, Papa!« Der Kleine wappnete sich gegen heftigere Schläge, aber die Roten Reiter retteten ihn. Eli Oli Ali blickte in die Ferne. »Pah! Sie kommen schnell näher. Heute Abend ist diese Karawanserei nur noch eine rauchende Rui ne!« Schnell und heimlich wickelte der Kleine das Seil wieder auf, während sein Papa die Kamele anschirrte.
»Ameda! Zorga-Creme!« Der Schwarze Reiter zuckte zusammen. »Zorga-Creme, hast du gehört?« Die Stimme hallte in dem Giebel des langen, kühlen Raumes wider. Die Stammgäste saßen überall auf den niedrigen Bänken und aßen schweigend, während sie verstohlene Blicke auf das kleine Podest warfen. Es war schon selten genug, dass ein Gast neben der Herrin saß; dass dieser Gast ein Schwarzer Reiter war, war jedoch geradezu unerhört. Die staunenden Gäste hätten es verstanden, wenn Mutter Madana gekuscht und gezittert hätte, doch stattdes
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sen schien sie das Kommando zu haben und behandelte den Angst einflößenden Boten wie einen geehrten Gast. Andererseits: Wann hätte Mutter Madana jemals gekuscht? Zwischen den ständigen Rufen nach Ameda prahlte die alte Frau mit der Pracht ihrer Karawanserei. Der Gast musste doch zugeben, dass es keine normale Karawanserei war, keine schäbige kleine Dreckshütte am Wegesrand. Oder nicht? Er bemerke doch gewiss die geräumigen Zimmer, die stabilen Wände? Erriet er, dass dieser Ort einmal ein Seefort gewesen war, das die Reiseroute nach Qata ni bewachte, damals zur Zeit der Wenaya-Überfälle? Einzelheiten der schillernden Vergangenheit des Forts folgten. Wollte der Gast vielleicht die Kanonen auf den Zinnen sehen, die Pulvertaschen, die Gefängniszellen? Wirklich, der Geist dieses vor nehmen Reiches atmete aus jedem einzelnen Stein der Wände! Wo könnten Reiter, seien sie in Schwarz, Rot oder Gelb gekleidet, wohl eine bessere Unterkunft finden? Es war eine kühne Ansprache, aber es war schwer zu sagen, wel che Wirkung sie zeitigte. Denn der Gast antwortete nicht. Er schien sogar kaum zuzuhören. Die Haut unter seinem Auge war von dem Yarga-Beerenbrei aufgedunsen und leuchtete rötlich. Er hatte die Stirn gerunzelt und hob den Blick nicht von dem Essen vor ihm auf dem Teller. Trotzdem aß er durchaus mit Appetit. Die leeren Schüsseln füllten bald den Tisch. Das genügte als Aufmunterung für Mutter Madana. Amed kam mit der Zorga-Creme zurück. Das tollpatschige Mädchen hätte ihre wertvolle Last beinahe verschüttet, als sie sich zwischen den Tischen hindurchwand. Mutter Madana nahm ihr mit einem Fluch den Krug aus der Hand. Aber ihre Miene hellte sich schnell auf. Als sie sich ihrem Gast zuwandte, strahlte sie wohlwollend und goss ihm eine großzügige Portion auf sein würziges Essen. Amed hielt die Luft an. Ein Schuss Zorga-Creme machte aus dem einfachsten Essen ein Mahl für den Sultan, so hatte sie reden hören. Mutter Madanas Creme war legendär - allerdings hauptsächlich,
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weil sie so gut wie nie welche ausgab. Sie bereitete sie nur selten zu und behielt sie dann hauptsächlich für sich. Sie verwahrte sie in dem Krug, der mit einem feuchten Tuch bedeckt in der Kühlkammer un ter der Küche stand. Natürlich steckte Amed häufig ihren Finger hi nein, aber nur wenn sie sicher war, wirklich sicher, dass sie nicht erwischt werden würde. Falls Mutter Madana ihr einen Löffel ange boten oder ihr diese Creme sogar auf den Teller gegossen hätte, wäre Amed aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Der Reiter knurrte nur griesgrämig. Mutter Madana ließ sich nicht entmutigen. »Aber Herr, was denke ich nur? Ich biete Euch das Beste an, was meine Küche hergibt, aber gebe ich Euch das, was ein Mann am meisten möchte? Nein!« Der Reiter blickte scharf hoch. »Ameda!«, rief Mutter Madana. »Bring die Jarvel-Pfeife meines Mannes. Und zwar die beste aus Esche.« Amed sprang wieder von dem Podest herunter. Es war nie einfach zu servieren, nicht, wenn Mutter Madana herumkommandierte. Aber heute war es so schlimm wie noch nie. Amed war erschöpft. Trotzdem hätte es noch schlimmer sein können, noch viel schlim mer. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, dass ihr Rücken mittlerweile nur noch blutige Striemen aufwies. Nur weil Amed so kurz vor dem Mittagessen zurückgekommen war, war sie bis jetzt dem Sajana-Riemen entgangen. Die Kamel händler, die auf der Veranda herumlungerten, lachten, als sie sie über den Platz laufen sahen. Einer von ihnen deutete die Bewegungen des Riemens an, und Amed zitterte. In der Halle wartete schon ihr Va ter. Er zeterte, dass seine Tochter den Glauben besudle, und wollte sie auf der Stelle verprügeln, aber Mutter Madana preschte vor und befahl das Mädchen herrisch in die Küche. Während Amed jetzt zwischen den Bänken zurückging, wich sie dem Blick ihres Vaters aus. Der alte Mann hockte in einer entlege nen Ecke über seine Schüssel gebeugt. An einem gewöhnlichen Tag wäre seine Isolation deutlicher aufgefallen. Dann nämlich hätten
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sich die Gäste auf den anderen Bänken lauter unterhalten, die Händ ler hätten geprahlt, die Hausierer hätten witzige Bemerkungen gemacht, und man hätte auf die Münzen gewettet. Die Männer hätten laut über derbe Scherze gelacht und jarve-verfärbte, braune Zähne entblößt. Heute jedoch schien selbst das Kratzen der Löffel leiser, und der vorsichtige Blick ihres Vaters unterschied sich in nichts von denen der anderen. »Ameda!« Der alte Mann erwischte seine Tochter am Handgelenk. »Vater?« »Du brichst mir das Herz, weißt du das nicht?« Amed biss sich auf die Lippen. Als sie in der Küche herumwerkelte, hatte sie ihrem Vater sein Verhalten übel genommen, und gehässige Gedanken waren ihr nur zu leicht in den Sinn gekommen. Was tat ihr Vater denn schon anderes als beten und essen und Trüb sal blasen? Amed dagegen arbeitete und arbeitete. Sie versuchte, brav zu sein, aber durfte sie keine Freunde haben, keine Vergnü gungen? Stärker und stärker brannte die Unruhe in dem Mädchen. In den seltenen Momenten, die sie für sich allein hatte, strich sie über die Klippen oder kletterte in den zerstörten Befestigungen der Ka rawanserei umher, was Mutter Madana ihr strengstens verboten hat te. Dort starrte sie sehnsüchtig über die Bucht nach Qatani, das dort prächtig und geheimnisvoll wie eine Perle schimmerte. Früher einmal hatte ihr Vater in dieser großen Stadt gelebt. Amed konnte sich kaum noch daran erinnern. Sie wusste auch nicht, warum er Qatani verlassen hatte. Sie wusste nur, dass sie nicht ihr ganzes Le ben in dieser trüben Karawanserei verbringen würde. Wenn Eli Oli Ali ihnen kein Entkommen bot, würde Amed eine andere Möglich keit finden. Sie hatte mehr als einmal vorgehabt davonzulaufen. Dann jedoch erkannte sie, dass es ihre Arbeit war, ihre Arbeit allein, mit der ihr Vater seine Unterbringung zahlte. Der alte Mann, der sie schlug, verfluchte und an ihr verzweifelte, war in Wirklichkeit ohne
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sie hilflos. Er war schwach und krank. Nur wenn er wirklich wütend war, konnte er den Sajana-Riemen überhaupt noch schwingen. Mit einer merkwürdigen Vorahnung blickte Amed in seine glanzlosen Augen. Sie wollte gerade etwas sagen, als Mutter Madanas Stimme sich wieder erhob und nach der Jarvel-Pfeife verlangte. Schnell befreite sich Amed aus dem Griff ihres Vaters. Der ganze Vorfall hatte nur einen Moment gedauert, aber das genügte, um das Mädchen in den tiefsten Kummer zu stürzen. Auf dem Podest drehte sich der Reiter zu Mutter Madana um. Während des Essens hatte er nur wenig gesprochen. Aber jetzt huschte ein gerissener Ausdruck über sein Gesicht. »Weib, ich hät te dich nicht für so heimtückisch gehalten.« »Herr?« »Ich trage bei mir eine wertvolle Last, verborgen in einem Gefäß, das ich mit meinem Leben bewahre. Ich bin bereits einem begegnet, der dieses Gefäß zerstören wollte. Treffe ich jetzt hier auf jemanden, der es umdrehen will, bis das Götterblut ausgetrocknet ist?« Mutter Madana runzelte die Stirn. »Herr, ich bin nur eine einfache Frau ... Ich fürchte, Ihr seid zu klug für mich.« Der Reiter beugte sich näher und stieß die Worte durch seine ka melartigen Zähne hervor. »Ist dir denn nicht bekannt, dass mir das Laster verboten ist, mit dem du mich in Versuchung führst? Unter den Männern meines Stammes ist Jarvel genauso geächtet wie Fer ment! Verruchtes Weib! Mit einem Stein konntest du mein Geheim nis nicht in deinen Besitz bringen, aber du begehrst es anscheinend immer noch glühend.« Er tippte sich an die Stirn. »Denn wo ist mei ne Bürde versteckt, wenn nicht hier?« »Ge ... Geheimnis? B ... Bürde?« »Die Worte des Sultans! Eben die Worte, die über seine Lippen gekommen sind! Was bin ich anderes als die Stimme Ihrer Erhabe nen Kaiserlichen Hoheit, die aus der Feste der Heiligen Stadt bis in die entlegensten Gegenden seines Reiches erschallt? Bis zum Palast
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deines Kalifen, in die Stadt, die man die Perle der Küste nennt, tra ge ich, was mir anvertraut wurde. Bis die Worte ausgesprochen sind, hat meine Person Anteil an der Heiligkeit des Sultans. Aber wie kannst du das nicht wissen?« Mutter Madana war blass geworden. Was der Reiter sagte, stimm te natürlich. Aber was bedeutete es? Unter ihnen waren die Augen der Männer, fünfzehn Paare und ein einzelnes, mit verstohlener Neugier auf das Podest gerichtet. Und alle Ohren versuchten, jedes einzelne Wort aufzuschnappen. Der Reiter sprach weiter. »Ich dachte, dass dieses Unterpfand in allen Ländern Unangs respektiert würde. Habe ich jetzt ein Krebsgeschwür in diesen Königreichen entdeckt, ein Geschwür, das mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden muss?« Jetzt hielt die alte Frau die Luft an. Sie verstand zwar immer noch nicht ganz, was ihr Gast meinte, aber die Drohung in seinen Worten begriff sie sehr wohl. In ihr rangen Angst und Empörung miteinan der. War das etwa die Belohnung für ihre Gastfreundschaft? Sie hät te nicht übel Lust gehabt, dem Kerl eine gesalzene Rechnung zu prä sentieren. Doch dann änderte sie ihre Meinung. Es könnte gefährlich sein. Einen Moment ließ der Reiter seinen Blick über die Bänke unter sich gleiten. Schnell wichen fünfzehn Augenpaare und ein einzelnes seinem prüfenden Blick aus. »Und doch«, murmelte er, »gibt es vielleicht eine Möglichkeit.« »Herr?« »Eine Möglichkeit«, sagte er, »für diese verfluchte kleine Stadt, sich zu rehabilitieren.« Der Reiter lächelte. »Der alte Mann dort m der Ecke ... Wie ist sein Name?« Mutter Madana blickte zu ihrem ältesten Gast hinüber. »Evitamus. Sein Name ist Evitamus.« »Und sein Bart... Ist er nicht gespalten?« »Das würde ich sagen.« »Dreifach gespalten?«
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»Ich denke schon.« Mutter Madana presste die Lippen zusam men. Sie wusste nicht, wo das hinführen sollte. »Hm. Er sitzt zwar weit von uns weg, aber ist da nicht ein Stern auf seiner Stirn eingebrannt? Dieser Evitamus, er ist ein Seher, stimmt's?« Jetzt verstand die alte Frau. »Sicherlich, Herr, aber er hat sich schon lange zur Ruhe gesetzt. Viele Jahre sind vergangen, seit er hier aufgetaucht ist und klugerweise die Unbequemlichkeiten von Qata ni verließ. Diese Dienstboten! Ich weiß nicht, wie man sie auch nur einen Tag ertragen kann! Man kann den alten Mann kaum einen Se her in dem Sinne nennen, wie man Euch den Überbringer des Wil lens des Sultans nennt oder mich die Herrin dieser Karawanserei.« Der Reiter lächelte. »Ein pensionierter Seher? Aber Sehen ist doch eine Gabe, hab ich Recht? Kann er den Stern auf seiner Stirn auslöschen oder die Narben auf seinem Kinn, die dafür sorgen, dass sein Bart wie eine Gabel wächst? Und kann er etwa seine Begabung für diese Wahrsagungen verlieren?« »Ist es Euer Begehr, Herr, von dieser Gabe zu profitieren?« »Profitieren?« Der Reiter seufzte. »Welchen Gewinn soll ich daraus ziehen, ich, dessen Schicksal der Verlust ist?« »Herr?« Dieses Gespräch schien eine neue Wendung zu nehmen, und zwar eine noch geheimnisvollere als die letzte. Mutter Madana fiel ein, dass sie ein bisschen Jarvel-Pulver, vielleicht sogar ein bisschen zu viel, ihrer letzten Portion Zorga-Creme beigemischt hatte. Die Augen des Reiters schienen eindeutig umwölkt, als er sich jetzt dichter zu ihr beugte und flüsterte: »Weib, es gibt einen Teil von mir, der mich sehr schmerzt.« Mutter Madana spürte ein beunruhigendes Kribbeln in der Ma gengegend und hoffte, dass ihr Gast begriff, dass sie ein respektables Geschäft führte. »Eure Frau verschafft Euch wohl keine Erleichte rung?«, antwortete sie frostig. »Unwissendes Weib! Den Männern meines Korps ist es erst er
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laubt zu heiraten, wenn sie den Dienst des Sultans verlassen, und zwar nach ihrer vierzigsten Sonnenwende. Für mich nähert sich die se Zeit bald!« »Dann werdet Ihr gewisslich bald die Erleichterung finden, die Ihr sucht!« »Wenn das nur so wäre! Auf der Ebene, von der ich stamme, lebt eine wunderschöne Jungfrau, für die mein Herz schlägt, seit sie hei ratsfähig ist. Sie ist immer noch unverheiratet, aber ihr Vater ist ein ungeduldiger Mann, und ich fürchte, dass er sie einem anderen Frei er zur Frau gibt, bevor ich bereit bin, sie in mein Bett zu holen. Sollte diese Schönheit für mich verloren sein, wäre mein Leben tatsäch lich eine vollkommene Verschwendung. Aber ich muss mein Schick sal erfahren: Ich ertrage es nicht, noch länger zu warten. Frau, lass den Seher zu mir kommen und einen Blick in meine Zukunft wer fen. Wenn du dies bewerkstelligst, werde ich den Vorfall vergessen, der sich in dieser kleinen Karawanserei ereignet hat.« »Das ist die Entschädigung, Herr, die Ihr begehrt?« Mutter Madana hätte fast laut gelacht. Ihre Phantasie arbeitete bereits nach Kräften, und sie überstieg in Gedanken weit die Grenzen der Gegenwart. Großartige Möglichkeiten kamen ihr in den Sinn. Dass der alte Mann ein Seher war, hatte sie zwar von Anfang an ge wusst, aber bis jetzt hatte sie dem keine große Bedeutung beige messen. Es war ein Teil seines alten Lebens, des Lebens, dem er vor vielen Sonnenwenden entflohen war. Am Anfang hatte er genug Geld gehabt, um sich zu ernähren, dann hatte das Mädchen ihren Wert gezeigt. Mehr war nicht wichtig gewesen. Wahrsagung, Pro phezeiungen? Mutter Madana war eine pragmatische Frau und verachtete solchen Hokuspokus. Jetzt jedoch begriff sie, dass ihr - wie sagte man noch? - etwas durch die Lappen gegangen war! Hatte sie nicht gehört, dass Seher fürstlich entlohnt wurden und ihre Künste nur den Reichen zur Verfügung stellten? Ihre Stammkunden waren der reinste Abschaum und hatten kaum genug Geld, das Essen zu bezahlen, mit dem sie die Männer versorgte. Aber die Reiter ...
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Mutter Madana holte tief Luft. Sofort beschloss sie, dass Ameds Vater seine Macht demonstrieren musste, und zwar hier und jetzt an diesem Nachmittag. Das konnte der Anfang einer ganz neuen Ära sein! Wer wusste schon, welche Ströme von Handel dem folgen mochten? Sie blickte hoch. »Evitamus!« Der alte Mann in der Ecke sah sie furchtsam an. Mutter Madana war so von ihrem merkwürdigen Gespräch mit dem Reiter gefesselt, dass sie ihren letzten Befehl an Amed vergessen hatte. Und das war auch gut so: Das Mädchen durchwühlte ge rade die Schränke der Speisekammer und fragte sich, wo die alte Frau die Pfeife hingetan hatte, als eine Hand von hinten ihr Gesicht packte. Sie schnappte nach Luft und versuchte sich zu befreien. »Hehl«, meinte jemand höhnisch. »He!« »Ungläubiger!« Amed riss sich los. »Was machst du hier? Mutter Madana würde schreien, dass sich die Balken biegen, wenn sie wüss te, dass ein Mischling hier ist.« »Schreit sie denn nicht schon?« »Was?« »Ich dachte, sie hätte ein bisschen mehr Grund, sich Sorgen zu machen ... Und ich bin neugierig. Weißt du denn nicht, dass sich das halbe Dorf draußen vor der Tür versammelt hat?« Faha Ejo zog seine Freundin in den Hof. Sie kletterten auf eine hohe Steinmauer und konnten von dort auf den Dorfplatz blicken. Es war genau so, wie Faha Ejo gesagt hatte: Vor der Karawanserei hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Ganz vorn stand eine alte Bäuerin, die ihren Kopf hin und her wiegte und Gebete mur melte. Die Menge antwortete mit einem Summen. »Diese Narren! Was machen sie da?« Amed sprang hinunter und hob eine Handvoll Steine auf. Faha Ejo packte ihr Handgelenk. »Wirf keine Steine. Das hat die
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ganze Angelegenheit ja wohl überhaupt erst ausgelöst, wie ich gehört habe.« »Was?« »Sie haben Angst. Sie glauben, das Dorf wird zerstört.« Amed grinste. »Nur wenn der Reiter platzt... von zu viel ZorgaCreme!« Aber Faha Ejo blieb ernst. »Wo die Schwarzen reiten, sind die Ro ten nicht weit. Und nach ihnen die Gelben, um das Siegel zu setzen. Es wird Ärger geben, merk dir meine Worte.« »Ärger?« Faha Ejo schüttelte sich. »Oh, ich habe es schon früher gesehen, Wildfang. Immer und immer wieder. Vergiss diese Narren! Wofür soll man beten? Ich renne lieber weg und bleibe nicht stehen!« Ameds Augen blitzten. »Und warum tust du es nicht?« »Oh, das mache ich noch rechtzeitig. Ich bin schnell, schon vergessen? Hoffen wir nur, dass der kleine Mistkerl auch schnell ist.« »Der kleine Mistkerl?«, wiederholte Amed verständnislos. Sie konnte nur daran denken, dass ihr Freund weggehen wollte und sie noch nicht einmal gefragt hatte, ob sie mitkommen wolle. »Der kleine Mistkerl? Der Kleine«, erwiderte der Ziegenhirte. »Er läuft immer mit einer Tasche voller Steine herum. Warte nur, bis Eli Oli Ali ihn erwischt! Der arme Vetter Eli. Da hat er sich auf eine weitere nette Nacht in unserem Labyrinth gefreut, mit all den Bequemlichkeiten, und nun muss er wieder auf die Straße zurück!« »Mit seiner Schwester?« Amed lehnte sich an die raue Wand. Jetzt musste Faha Ejo grinsen. »Hah! Also das ist es, worüber du dir Sorgen machst?« Amed errötete. Seit dem Vorfall in dem Mischlingslabyrinth hat te sie kaum Zeit gehabt, über das Mädchen nachzudenken. Aber so fort stieg ihr das Bild wieder vor Augen. Deutlich, beinahe zu deut lich. Sie ließ sich stöhnend zurücksinken. Lachend versuchte Faha Ejo, Amed zwischen den Schenkeln zu liebkosen. »Ha, Wildfang, es gibt genug Mädchen, wenn du hart
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suchst ... hart suchst, verstehst du? Was ist mit dem Ferment, sag mir?« Amed riss sich zusammen. Sie sprang auf und stieß Faha Ejos Arm zur Seite. »Ferment? Halt den Mund mit deinem blöden Ferment!« »Hah!« Der Ziegenhirte sprang zurück. »Du würdest ein anderes Lied singen, wenn du etwas Besseres aufgetrieben hättest als diesen Müll!« Er zog die Konar-Lampe aus der Tasche und schwang sie verächtlich durch die Luft, als wollte er sie über die Mauer werfen. Im nächsten Moment hätten die Freunde sich im Staub gewälzt und sich heftig geprügelt. Doch stattdessen waren sie plötzlich still. Ein Schrei ertönte. Sie hörten schon die ganze Zeit das Stöhnen und Murmeln, aber dies war etwas Wilderes, und es kam aus der Nähe. Dann begriff Amed, dass es kein Schrei war, sondern ein angestrengtes, absichtliches Wehklagen. Und es war eine Stimme, die sie sehr gut kannte. »Vater!« Bestürzt lief Amed zurück zum Speisesaal und achtete nicht darauf, dass Faha Ejo ihr folgte. An der Tür blieb sie stehen und ver folgte unerlaubterweise die merkwürdige, schreckliche Szene, die sich vor ihr abspielte.
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14. Seher und Weissagung
Mit einer Verstohlenheit, die sie nicht hätte erklären können, wenn sie gefragt worden wäre, hockte sich Amed hinter die schweigenden Händler und spähte zwischen ihren hohen, gewölbten Turbanen hindurch. Der Speisesaal lag im Dunkeln. Jemand hatte die Fenster läden geschlossen und eine brennende Fackel auf das Podest gestellt. Ihr diffuses Licht beleuchtete kreisförmig die funkelnden Augen
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des Schwarzen Reiters, die geschürzten Lippen von Mutter Madana und den alten Mann, der vor ihnen stand. Er trug einen sternen übersäten Mantel. Mit ausgestreckten Armen und den Bart hoch in die Luft erhoben schlurfte Ameds Vater langsam im Kreis, während er dieses hohe Wehklagen ausstieß. Dann verstummte der Alte. Er starrte direkt in die Fackel, und die schrillen Laute verwandelten sich in ein Lied. Es war ein Lied, das genauso wild war wie die Laute, die es ersetzte. Seine Tochter schüttelte sich unwillkürlich. Amed konnte das Entsetzen kaum erklären, das sie verspürte, als sie das Gefühl beschlich, diese geheimnisvollen, verdrehten Worte zu erkennen. Dabei konnte sie sich nicht daran erinnern, sie jemals zuvor gehört zu haben. Theron, Gott der Heiligen Flamme Komm zu demjenigen, der den Namen Evitamus trägt, dem treuen Diener All deiner Ruhmestaten. Alles, was du tust, Soll in seinen Augen gespiegelt werden Die sich zu einer gewaltigen Größe weiten Um durch Dunst und gewaltigen Nebel das Wirken Deiner geheimen Zahnräder zu sehen In einer Zeit, die weit vor uns liegt – In einer Zeit von jemandem, der vor mir steht Und vor Sehnsucht brennt zu erfahren Wie sein zukünftiges Leben aussieht. Theron komme! Gewähre mir die Vision oder lasse mich sprachlos! Als das Lied vorüber war, herrschte ein langes Schweigen, während dessen Evitamus in die Flamme starrte und Mutter Madana und der Reiter Evitamus nicht aus den Augen ließen. Die Zuschauer im Speisesaal hielten den Atem an, Händler, Hausierer und Parvo
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Truppe gleichermaßen. Die drittklassigen Sklavenhändler vergaßen ihre Gewinne und Verluste und blickten gebannt auf die merkwürdige Szene. Was würde Evitamus sagen? Er regte sich immer noch nicht, bis auf das unwillkürliche Zucken seiner erhobenen Hände und das sanfte Wehen seines langen, sternenbesetzten Umhangs. Plötzlich brach der alte Mann auf dem Boden zusammen, presste sich die Hände vor die Augen und kreischte. »Vater!« Amed wollte nach vorn stürzen, doch eine Hand hielt sie am Arm fest. »Närrin! Hast du noch nie einen Seher erlebt?« Faha Ejos Stimme war ein heiseres Flüstern. Der Mischlingsjun ge war in eine schattige Ecke gekrochen, aber Amed war nicht schockiert, dass er hier war. »Was meinst du mit Seher?« »Wildfang, kennst du denn nicht einmal deinen eigenen Vater?« »Dieser Umhang ... Er hat mir verboten, ihn jemals zu tragen ... Aber er selbst hat ihn auch noch nie getragen.« »Noch nie? Dann verbirgt sich hier ein Geheimnis, Wildfang!« Sie hätten vielleicht weitergeredet, aber Amed hielt unwillkürlich die Luft an, als der Reiter vom Podest sprang. Mitleidlos starrte er auf die Gestalt hinab, die jetzt stöhnend auf den kalten Pflasterstei nen kauerte. »Was ist, alter Mann?«, wollte er wissen. »Was hast du gesehen?« Langsam hob Evitamus den Kopf, ließ die Hände von den Augen sinken und sagte nur ein Wort: »Nein.« »Nein?« Wütend fuhr der Reiter herum. »Weib, was soll diese Narretei?«, schrie er Mutter Madana an. »Hat der alte Mann die Macht oder hat er sie nicht?« Die Gastgeberin versuchte, ihn zu besänftigen. »Aber natürlich, Herr! Evitamus der Seher ist berühmt in dieser Gegend - so berühmt wie meine eigene Karawanserei!« Sie schleppte sich müh sam von dem Podest und stellte sich neben den Reiter. Dann rang sie die Hände und versuchte zu lächeln. »Ihr müsst verstehen, Herr«,
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sie plauderte wild drauflos, »dass die tiefsten Visionen ihren Tribut fordern. Was zeigt sein Zusammenbruch anderes als die Stärke der Gabe unseres Sehers? Kommt, Evitamus, es geht Euch wieder gut, stimmt's? Eure Kraft kehrt zurück? Sagt unserem vornehmen Gast, was Ihr gesehen habt, hm?« »Nein«, wiederholte der alte Mann murmelnd. Mittlerweile wurde der Reiter zunehmend ungeduldig, und Mutter Madana ging es nicht anders. Der Reiter stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden und ließ seinen Blick über die Zuschauer gleiten. Die Stirn unter seinem Tur ban war gerunzelt, als käme ihm plötzlich der Gedanke, dass sie sich gegen ihn verschworen, ihn heimlich auslachten. Seine Augen fun kelten drohend, und zum ersten Mal bekam Mutter Madana Angst. »Evitamus! Sag dem Mann, was du weißt!« »Hah!«, rief der Reiter. »Dieser Seher ist ein Betrüger!« Mit diesen Worten wollte der hochmütige Gast die Szenerie verlassen, aber seine Anschuldigung riss den alten Mann aus seiner Le thargie. Er rappelte sich auf und raffte seinen langen Umhang um die Schultern. Seine Stimme klang trotzig und stolz. »Reiter, wisst Ihr denn nicht, dass es der Kodex meiner Gilde ist und dass ich einen Eid darauf geschworen habe, nur die Wahrheit zu enthüllen und nur sie? Es gibt viele, die lieber schmeichelnde Lügen hören wollen, aber ich habe es ihnen immer abgeschlagen, so wie ich es auch jetzt tue!« »Was soll das bedeuten?«, fuhr der Reiter ihn an. »Es gibt eine Wahrheit, die du nicht enthüllen willst?« »Ich sage nur, dass ich schweigen muss oder sagen, was ich gese hen habe!« Der Reiter schrie auf. Er riss die brennende Fackel aus ihrer Hal terung auf dem Podest und schwenkte sie direkt vor Evitamus. Sei ne Zweifel waren wie weggeblasen: Jetzt wollte er nur noch wissen, was der alte Mann verheimlichte. Er musste es erfahren!
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»Seher, sage es, oder ich brenne dir die Augen aus! Wie sieht mei ne Zukunft mit Lady Jamia aus ? Wird ihr grausamer Vater sie mir vorenthalten? Wird ein anderer Mann sie in sein Bett holen? Seher, ich muss es wissen. Sag es mir, sag es!« Der Reiter packte den alten Mann an der Schulter. Ihre Gesichter wurden von den Flammen grell erleuchtet und waren eine Studie der Furcht. Aber man konnte kaum entscheiden, wer mehr Angst hat te. Das Licht flackerte, während der Reiter Evitamus heftig hin und her schüttelte. Plötzlich schien etwas in dem alten Mann zu brechen. »Reiter!«, schrie er. »Ihr werdet Euch niemals an Eurer Dame erfreuen können. Und auch nicht an irgendeinem anderen Vergnügen. Niemals mehr!« »Was?«, stieß der Reiter hervor. »Was meinst du damit?« Jetzt war es Mutter Madana, die jammerte und die Hände rang. Sie tanzte wie eine verrückte Marionette um die beiden herum. Ver zweifelt schrie sie, dass der alte Mann verrückt war, dass er einen Fehler gemacht hatte, nicht meinen konnte, was er gesagt hatte. »Ein Scherz, Herr, ein guter Scherz«, brabbelte sie. »Ein typischer Seher scherz, es ist ein Scherz, den die besten Seher immer wieder machen!« Sie lachte schrill und gekünstelt. »So lustig, so lustig ... Aber guter Evitamus, jetzt sagt die Wahrheit, die Wahrheit! Wie könnt Ihr nur mit unserem vornehmen Gast so frotzeln?« Sie hätte weitergeplappert, aber der Reiter fuhr sie an: »Schweig, Weib! Seher, sprich, und achte auf das, was du sagst!« Eine erwartungsvolle Stille legte sich über den Saal, aber als Evi tamus wieder sprach, brachten seine Worte den Zuhörern keine Lin derung. Zitternd sah der alte Mann dem Reiter in die Augen, und seine Stimme klang, als würde sie von einer fremden Macht gesteuert, welche die gnadenlosen Worte über seine Lippen zwang. »Reiter, ich wiederhole: Ihr werdet Euch niemals an Eurer Dame erfreuen können. Und ich sage ebenfalls noch einmal, dass Eure Freuden beendet sein werden, bevor die Nacht hereinbricht und den Tag beendet...«
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Die Zuhörer schnappten vernehmlich nach Luft, und Mutter Madana schrie auf, aber ihr Schrei wurde von der Stimme des Reiters spielend übertönt. »Nein!«, brüllte er wie irre. » Vater!« Amed schrie ebenfalls und riss sich von Faha Ejo los. Entsetzt sah sie voraus, was als Nächstes passieren würde, wusste es mit einer absoluten Sicherheit. Der Reiter holte mit der Fackel aus und versetzte dem Seher einen heftigen, vernichtenden Schlag. Evitamus brach zusammen. Dann schrie der Reiter erneut und stürzte aus dem Saal. Vorher je doch warf er die Fackel zu Boden und setzte den Umhang des alten Mannes in Brand. Im nächsten Moment brach Chaos aus. Evitamus kreischte, Mut ter Madana hüpfte sinnlos herum, und Amed versuchte mit der Hil fe anderer, die Flammen zu ersticken. In dieser Unordnung wusste Amed nicht, was aus Faha Ejo wurde, aber wie alle anderen auch hörte sie die Stimme des Reiters aus der Richtung der Tür. »Flieht, wenn euch euer Leben lieb ist, ihr Narren, oder sterbt! Denn auch ich trage eine Gabe zur Weissagung in mir, und so viel kann ich euch weissagen: Bevor die Sonne wieder aufgeht, wird die ses Dorf brennen!«
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15. Die Niederwerfung des Staubes
Von den Minaretten in Kal-Theron läuteten die Glocken zur Nie derwerfung. In der ganzen Heiligen Stadt, von den Prachtvillen, die den Boulevard der Flamme säumten, bis zu den niedersten Hütten der dienenden Klassen, warfen sich Frauen und Männer in Richtung Heiligtum zu Boden. Ob sie auf der Straße arbeiteten, wenn der Ruf ertönte, sich im Luxus suhlten oder Sklavenarbeit verrichteten, nie
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mand wagte es, sich dem Ruf zu widersetzen. Das heißt, nur weni ge. Auf den Marktplätzen fand das Feilschen ein abruptes Ende. In den Klassenzimmern hoben die Lehrer die Hände und signalisier ten den Schülern, ihre Gebetsmatten auszurollen. Selbst in den Lasterhöhlen wurden die Jarvel-Pfeifen beiseite gelegt und auch andere Vergnügungen tugendhaft unterbrochen. Musik verstummte, und der schlammige schwarze Mokka erkaltete. Nur im Palast des Wisperns herrschte Verwirrung. Dares Lektion hatte länger gedauert als vermutet, und sie war noch nicht vorbei. Was war zu tun? Simonides war es gerade erst gelungen, wieder aufzuste hen, und jetzt warf er sich auf der Stelle erneut hin. Pflichtbewusst sank Dare neben ihm auf die Knie, doch zu seiner Überraschung zog sein Vater ihn wieder hoch. Die Verblüffung des Prinzen steigerte sich noch, als er bemerkte, dass auch die Höflinge standen und er wartungsvoll den Sultan anblickten. Dares Gedanken überschlugen sich. Was bedeutete Macht, und was konnte sie sein, wenn selbst die heiligsten Befehle auf ihren Wunsch hin ausgesetzt werden konnten? Der Sultan lächelte. Ein Lächeln, das eindeutig besagte, er stehe über den Gesetzen, die andere banden, und könne die Privilegien seiner Größe auch nach seinem Gutdünken auf seine Gefährten übertragen. Während der gesamten Niederwerfung des Staubes wurde die Unterweisung seines Sohnes fortgesetzt. Simonides bete te leise. Von Zeit zu Zeit stellte der Sultan dem alten Mann weitere Fragen und missachtete ganz offensichtlich seine heiligen Gebete. Die Höflinge grinsten pflichtschuldigst. Der Sultan deutete auf das rote Fenster. »Mein Sohn, wir haben uns daran gewöhnt, es Heiligtum der Flamme zu nennen, dieses mächtige Gebäude, aber genauso gut könnte es auch der Sarg des Kristalls heißen. Was sonst könnte die se Feuersäule speisen? In einem Schlund tief unter der Heiligen Kammer liegt der Kristall des Theron, aufgehoben im Schutz seiner sengenden Hitze. Darin sind sich alle Imams einig, das stimmt doch, Simonides? Auf dieser Tatsache beruht auch die Wahrheit der Of
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fenbarung - und eben darauf die Autorität des Geschlechts des Pro pheten! In einer Welt, die von Zweifeln erschüttert wird, die ständig an uns nagen und zerren, muss diese Wahrheit so unverrückbar bleiben wie die Sterne und so unnachgiebig wie der Fels, auf dem diese Stadt steht.« Der Sultan seufzte. »Leider, zum Unglück für dieses Reich, glau ben nicht alle daran!« »Herr?«, fragte Dare unsicher. Der Junge war beunruhigt und fragte unwillkürlich: »Aber wenn diese Wahrheit unbestreitbar ist, wie können dann einige nicht daran glauben?« Ein Schatten glitt über das Gesicht des Sultans, doch er verschwand rasch, als er lachte. »Ach, die süße Unschuld der Jugend! Wieder fragt er, was ich einst hätte fragen können, damals, als mein Bart noch nicht so dicht um meine Lippen wuchs!« Lächelnd blickte der Sultan Simonides an, vielleicht weil er erwartete, den alten Mann ebenfalls amüsiert zu sehen, doch der Leh rer war vollkommen in seine heiligen Pflichten versunken. Der Sultan wurde wieder ernst und ergriff die Hände seines Soh nes. »Dare, du sprichst mit einem Herzen, das ehrenhaft und wahr ist! Wie könntest du dir jemals die Monstrosität, das alles verschlingende Böse unseres unsterblichen Feindes vorstellen ... Rashid Amr Rukr? Ach, wenn ich deine Unschuld nur bewahren und dir nichts über den verruchten Anführer der Ouabin erzählen müsste.« »Die Ouabin?«, sagte Dare. »Aber das war doch der Stamm, der unsere Vorfahren überfallen hat, vor langer Zeit in der Wildnis des Westens. Damals muss tatsächlich eine fürchterliche Zeit geherrscht haben, aber wie kann ein Ouabin jetzt eine Bedrohung für uns sein, hier in den festen Mauern dieser Bergstadt? Ich dachte, sie wären primitive Nomaden, nicht mehr.« »Nicht mehr, also wirklich! Vergiss nicht, mein Sohn, seit der Zeit des Propheten sind Epizyklen vergangen, und so wie die Ouabin schon damals eine Plage für uns gewesen sind, sind sie es auch heu te noch.«
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»Aber warum, Herr?« »Ihre Unnachgiebigkeit! Ihre Heimtücke! Manche behaupten, es müsse Vaga-Blut durch ihre Adern fließen, aber meine Imams sind davon überzeugt, dass es Kreaturen des Bösen sind, nicht Vagas, sondern etwas noch Schlimmeres, Wesen, denen es erlaubt wurde, durch die Narretei des Vaga-Gottes aufzublühen.« Er hob seine Stimme. »Das ist doch so, Simonides, oder nicht? Hm? Ach, wenn wir die Ouabin nur auslöschen könnten, wie wir einst die Kinder des Koros vernichtet haben!« Dare blickte in die hasserfüllten Augen seines Vaters. Der Sultan sprach rasch weiter. »Durch den ganzen Subkontinent, durch Glaube oder durch Gewalt, haben sich viele Stämme der Menschheit dieser Stadt gebeugt. Nur die Ouabin haben unserer Macht widerstanden und durchgehalten, eben weil sie sich im Griff der dunklen Mächte befinden. In der Vergangenheit waren die Oua bin nur eine Plage, wenn auch eine sehr lästige. Jetzt jedoch hat der fanatische Rashid Amr Rukr die mörderischen Stammesangehöri gen zu einer mächtigen Armee zusammengeschlossen.« »Aber Herr, Eure Streitkräfte sind die mächtigsten und besten der ganzen Welt!«, brach es aus Dare heraus. Der Sultan riss sich zusammen. »Hah, nicht einmal der Mond und die Sterne könnten heller strahlen, wenn sie vom Firmament herun terstiegen, als unsere kaiserlichen Streitkräfte! Ist das nicht die Be deutung des Titels, den ich trage, der Titel, der mir in meiner Zwie sprache mit dem Feuergott verliehen wurde? In der Vergangenheit haben wir die Ouabin immer und immer wieder zurückgeschlagen. Erst jetzt, unter Rashids Einfluss, bedroht uns dieses Böse mit wah rer und schrecklicher Gefahr. Wie eine Infektion, die lange am Rand unseres Reiches gelauert hat. Doch jetzt ist diese Infektion ausgebrochen und verbreitet sich rasend schnell!« »Herr, was meint Ihr?« »Noch nie zuvor haben die Ouabin Gefolgsleute in unserem Volk gefunden! Allein der Gedanke wäre absurd gewesen. Was waren die
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se Nomaden anderes als plündernde, räuberische Mörder? In unse rem ganzen Reich wurden sie verachtet und gefürchtet, was solchen Verbrechern auch recht geschieht, bis Rashid Amr Rukr kam!« »Dieser Rashid muss ein großer Zauberer sein!« »Es gibt keine Größe im Verruchten, Dare. Nenn ihn ein Monster, das einem Mann gleicht. Was sonst soll diese Missgeburt sein, wenn er immer tiefer in unser Reich vordringt, unsere Städte mit Spionen und Mördern durchsetzt und unsere Menschen vom Pfad der Tu gend und des wahren Glaubens weglockt?« »Aber wie, Herr?«, fragte Dare atemlos. »Mein Sohn, du hast zwar die Größe eines Mannes erreicht, aber in allen anderen Dingen bist du noch ein Kind. Leider muss ich dir sagen, dass die Perfidie unseres Feindes sich weiter ausgebreitet hat, denn Rashid behauptet, und das ist die wahre Plage seiner Rebelli on, dass diejenigen, die sich jeden Tag in Richtung Kal-Theron nie derwerfen, nur die Narren einer Täuschung sind.« Unwillkürlich blickte Dare den alten Tutor an, der seine atemlosen Gebete in Richtung des Heiligtums ausstieß. Die Augen des Sultans funkelten. »Natürlich entspricht das ge naue Gegenteil der Wahrheit, und es sind Rashids Anhänger, die sich irren. Sie werden ganz bewusst in die Irre geleitet. Wer kann diese Macht der Bösartigkeit schon berechnen? Solche Lügen wie die von Rashid dringen nur schwer über meine Lippen, aber für diese Nar ren, die ihr Vertrauen in diesen Bösewicht gesetzt haben, existiert keine Flamme im Heiligtum, und kein Gott schwebt in der Heiligen Flamme.« »Herr, solche Menschen müssen wirklich Narren sein!« »Dare, es sind blasphemische, räudige Hunde! Oft, sehr oft, haben meine Imams zu Theron gebetet und ihn angefleht, Donnerblitze des gerechten Zorns vom Wüstenhimmel zucken zu lassen und Rashid Amr Rukr aus dieser Welt zu brennen! Seine Verrucht heit kennt keine Grenzen, denn für Rashid basiert die Geschichte dieser Reiche seit der Ankunft des Propheten nur auf Lügen. Hah!«
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Der Sultan strich sich über die Stirn. »Aber frage jetzt, wie es kommt, dass man diesem Übeltäter glaubt, und ich werde dir die größte Lüge in den Annalen von Unang schildern!« Was als Nächstes geschah, erschreckte Dare. Der Sultan griff in die Falten seiner kaiserlichen Robe und zog eine goldene Dose her vor. Feierlich hielt er sie seinem Sohn hin. Der Junge betrachtete das Behältnis nicht nur aus Beflissenheit bewundernd. Luxus war ihm vertraut, aber dieses Behältnis war ein Meisterwerk höchster Hand werkskunst. Trotz des Leuchtens des Buntglasfensters glänzte das kleine Behältnis, als wäre es ein Stück der Sonne, das nur unter un erträglichen Schmerzen geschmiedet worden sein konnte. Geheimnisvolle Hieroglyphen schmückten den Deckel. »Öffne es, mein Sohn.« »Darf ich, Herr?« »Vor einem solchen Privileg beweist selbst ein Prinz Demut? Nun, daran sehe ich, dass es tatsächlich ein Privileg ist. Die Dose ist ein Werk eines marakanischen Handwerkers, ein Relikt aus der viel gepriesenen Ersten Blüte unter der Herrschaft von Mesha, Sohn des Propheten Mesha.« Der Sultan drehte die Dose im Licht. »Hältst du einen solchen Schatz für eine bloße Muschel, die sofort vergessen wird, wenn sie ihren Inhalt hergegeben hat?« Dare schüttelte den Kopf. »Dann öffne den Deckel, mein Sohn, öffne den Deckel.« Die Höflinge hielten den Atem an, und der Sultan lächelte. Einen Moment blickte Dare seinem Vater fragend in das dunkle Gesicht. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte die Dose, als er warte er, einen Schlag zu bekommen. Stattdessen überkam ihn ein Schock, als er den Deckel hob. Denn jetzt sah er, dass die Dose tatsächlich nichts weiter war als eine schlichte Verpackung. Auf einem Bett aus zerknittertem Samt lag ein gewaltiger Edelstein, der in einem tiefen und blendenden Rot glühte. Fasziniert nahm Dare ihn in die Hand. Die kostbare Dose fiel achtlos zu Bo den, während der Junge in den flammenden Edelstein starrte.
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»Weißt du, was das ist, Dare?« »Herr, ich ...« »Der Kristall des Theron!« »Aber Ihr sagtet...!«, stieß Dare hervor. »Lügen, nichts als Lügen! Glaubst du denn tatsächlich an diese Legenden, dass ein Juwel unter der Erde läge und sein Feuer durch eine Schlucht im Felsen nach oben schickt? Das ist ein Märchen für leichtgläubige Kinder!« Verächtlich deutete er auf den ausgestreckten Lehrer. Die Stimme des Sultans war ein heiseres, drängendes Flüstern. »Ich will dir die Wahrheit über diesen Kristall erzählen. Hältst du es für möglich, dass etwas so Wertvolles, so Mächtiges in die Hän de von altersschwachen, streitsüchtigen Imams gelegt werden wür de? Allein die Vorstellung wäre eine Beleidigung der Götter! Die wahren Hüter des Kristalls waren Männer von Furcht einflößender Macht und Ehre und heroischer Tapferkeit. Zwischen dem ge wöhnlichen Volk des Theron-Stammes und diesen Männern besteht ein Klassenunterschied. Während die Zeit verstrich, glaubten nur noch wenige, dass diese Männer derselben Rasse entstammten, aber diese besonderen Männer vergaßen niemals, dass sie die Wächter des Erbes dieses Volkes waren. Der Kristall musste vor der Berührung durch vulgäre, blasphemische Hände geschützt werden, das wussten sie. Und das war eine gewaltige Aufgabe, wo doch die Kinder des Theron zunächst vom Krieg, dann vom Exil verdorben wurden, während sie sich immer weiter vom Tal des Orok entfernten. Sie schätzten das gemeine Volk ganz richtig ein und brachten ihren Schatz weit weg, in die entlegene Wildnis des Westens, und schwo ren, ihn dort zu bewahren, als ein Geheimnis, bis die Zeit des Süh neopfers ihr Ende fände.« Dare starrte in den Kristall und schien in eine Trance gefallen zu sein. »Aber Herr«, sagte er langsam. »Herr, dann sind die Hüter des Kristalls ... die Ouabin?«
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Dares Verwirrung steigerte sich noch. Der Sultan sprang vor und riss ihm den Kristall aus den Händen. Der Prinz zuckte zusammen und schrie auf, als der kostbare Stein ihm einfach weggenommen wurde. »Die Ouabin!«, schrie sein Vater wütend. »Närrischer Junge, glaubst du denn dem schmutzigsten Sandbauern, der sich seine Flöhe in irgendeinem schäbigen Khan am Wegesrand kratzt? Du bist mein Sohn! Du bist mein Erbe! Ist etwa auch in dir, selbst in dir, diese sklavische Dummheit, wie diese Gehirnlähmung, die das Fi schervolk der Vacos-Inseln infiziert hat, die an einem einzigen Tag ihren wahren Glauben ablegten, als ein einsamer, seekranker Ouabin an ihre Strande gelangte und seine Lügen zusammen mit seinen Ein geweiden auskotzte? Narr! Sollen denn das, was ich dir bisher er zählt habe, Lügen sein? Können die Ouabin denn Teil unserer Ras se sein, und zwar ein überlegener Teil? Könnte das Blut Rashid Amr Rukrs reiner sein als meins? Und könnten die Hände dieses läster lichen Hundes jemals dem Kristall des Theron nahe kommen?« Während er sprach, gestikulierte der Sultan vor Erregung hierhin und dorthin. Dares Herz hämmerte die ganze Zeit vor Angst, und er folgte mit ruckartigen Kopfbewegungen dem Kristall in der Hand seines Vaters. Hinterher würde der Junge begreifen, dass dies alles ein grotesker Scherz war, ein Scherz auf seine Kosten, der vor allem die Höflinge ablenken sollte. Wie konnte ein Ouabin der Trä ger des Kristalls sein, wenn dieser Kristall jetzt hier war? Es war sehr erstaunlich, aber Dare kam nicht dazu, noch mehr zu staunen, sondern schrie auf, als sein Vater den Kristall plötzlich zu Boden warf. Er zersprang in tausend Stücke. »Strass!« »Herr?« Dare zitterte am ganzen Körper. »Wertloser Strass, angefertigt von den Händen eines betrügeri schen Ouabin! Während all der Epizyklen hat dieser widerwärtige Stamm seine Kunst des Betrugs und der Täuschung vervollkomm
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net und unser Reich mit falschen Wertgegenständen überschwemmt. Kind, begreifst du jetzt, dass die Bösartigkeit der Ouabin keine Grenzen kennt?« Der Sultan trat gegen die Bruchstücke, die auf dem Teppich glitzerten, und verstreute sie in alle Richtungen. »Das ist nur einer ihrer falschen Edelsteine, der von meinen Agenten in den Hügeln von Kardos aufgespürt wurde. Ja, er ist großartig, und der Kristall, den sie jetzt blasphemischerweise den von Theron nennen, ist zweifellos noch weit prächtiger. Ist es da ein Wunder, dass die Ouabin Gefolgsleute gewinnen und dass ihr Einfluss immer mehr wächst und sich ausbreitet? Was sie nicht mit Gewalt erlangen, erschleichen sie sich durch Betrug.« Der Sultan packte seinen Sohn an den Schultern. »Siehst du jetzt die Gefahr, in der sich dieses Reich befindet? Ver stehst du jetzt, warum der Thronfolger an seinem Platz sein muss? Rashids Mordbuben lauern vielleicht schon innerhalb dieser Mau ern! Viel zu viele meines Volkes wenden sich von mir ab! Dare, du bist aufgerufen, ein Mann zu werden, und ein Mann wirst du sein!« Er wandte sich an seine Höflinge. »Edle von Unang, schaut auf Eure Zukunft! Hat dieses Kind sich nicht als ein würdiger Erbe er wiesen? In wenigen Mondleben wird er heiraten, wie es bestimmt ist, und dann für immer an das Geschlecht des Propheten gebunden sein! Mein Schwarzer Reiter ist bereits nach Qatani unterwegs, um seine Verlobte hierher zu bringen. Ihre Schönheit wird in meinem ganzen Land gerühmt und strahlt wie die Sonne in einem Spiegel! Habe ich meine Pflicht nicht gut erfüllt und die Nachfolge geregelt, die allein das ruhmreiche Schicksal dieser Länder von Unang si chert? Bin ich nicht der Sultan des Mondes und der Sterne? Heil meiner Macht, meinem Volk und Heil, Heil dem Unangefochtenen Thronfolger!« »Heil, o Sultan von Mond und Sternen!« »Heil, Heil dem Unangefochtenen Thronfolger!« Dare wich stolpernd zurück. Er war blass und atmete schwer.
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Aber es waren nicht nur die mitreißenden Worte seines Vaters, die ihn erschütterten, oder die rhythmischen Rufe der versammelten Höflinge. »Herr ... Seht doch!« Der Sultan drehte sich um und ließ den Blick über die Scherben des falschen Kristalls zu der zusammengesunkenen, reglosen Ge stalt auf dem blutroten Teppich gleiten. Es war Simonides. Er hatte endlich aufgehört zu beten.
»Vater ... Vater!« Die Augen des Sehers drohten zuzufallen, und wenn er sie offen hielt, fixierte ihr Blick niemanden, sondern schien irgendwo in die Dachgiebel zu starren. Amed unterdrückte den Impuls, den alten Mann zu schütteln, und sah hilflos in das runzlige, bärtige Gesicht. Ihr Vater zitterte, als wäre ihm kalt. Eine Decke verhüllte die verbrannten Reste seines Umhangs, aber Amed wagte nicht, sie höher zu ziehen. Sie waren jetzt allein in dem dunklen Speisesaal. Der ParvoClown und einer der Hausierer hatten angeboten, den alten Mann nach oben zu tragen, aber Amed schüttelte den Kopf. Welchen Sinn hatte es jetzt noch, Vater zu stören? Vorsichtig griff sie nach seiner Hand. Es war die Zeit für die Niederwerfung des Staubes, aber die ses Mal kümmerte sich niemand darum. Durch die geöffneten Türen hörte man, wie sich die Gäste überstürzt verabschiedeten und Mutter Madanas hohe Stimme, die den Lärm mit Leichtigkeit übertönte. Mehrmals unterzog sich die Gastgeberin dieser Proze dur, packte jeden einzelnen Gast und jammerte ihre Litanei herun ter. Erst versuchte sie, die Geschehnisse mit einem Lachen zu über
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spielen, erklärte, es hätte nichts zu bedeuten, gar nichts. Dann bat sie den Gast, nicht zu gehen. Dann vergaß sie alle Verstellung, fluch te und tobte und verlangte horrende Summen, die man ihr angeblich schuldete. Amed beugte sich näher zu ihrem sterbenden Vater herunter. Die Stimme des alten Mannes klang zitternd und angestrengt, und er stieß die Worte unter gurgelndem, schmerzhaftem Keuchen hervor. »Meine Tochter ... Jetzt musst du meinen Mantel anlegen.« »Vater?« »Du weißt es doch, oder nicht? Ach, in meiner Verblendung habe ich dich nicht ausgebildet, und deine Fähigkeiten sind nicht schär fer als meine Augen. Dennoch, das Bewusstsein hat immer schon in dir geschlummert. Erwünscht oder unerwünscht, der Keim wird wachsen.« Amed begriff nur langsam, und dann sah sie ihren Vater fas sungslos an. Mit einem merkwürdigen Staunen betrachtete sie seine Stirn, die versengten, farblosen Streifen zwischen den Strängen sei nes Bartes. »Vater, ist es mein Schicksal, solche Narben zu tragen wie du? Sag mir Vater, werde ich alles sehen?« »Höre ich da Begehren in deiner Stimme?« Ein Lächeln umspielte die Lippen des alten Mannes. »Tochter, sehne dich nicht nach der Macht der Götter! Einer, der alles sieht, wird nur Leid sehen, und auch ohne diese Fähigkeit habe ich schon genug davon sehen müs sen. Nein, nur wenn ich singe ... wenn ich den Reim des Göttlichen angestimmt habe, sehe ich klar, was zu sehen ich auserkoren bin. Aber oft, immer, gab es Blitze, kleine Augenblicke, solche wie den, als du sahst, dass der Reiter mich schlagen würde. Du wusstest, dass es geschehen würde, meine Tochter, hab ich Recht?« »Vater, die Vorahnung hat wie mit einer Hand nach mir gegriffen. Aber jetzt werde ich von einer anderen Vorahnung getrieben, die ich noch weniger ertragen kann, noch viel weniger!« Tränen strömten dem Mädchen über die Wangen. Doch ihr Vater lächelte. »Ach, meine Tochter, du brauchst keine Zauberkraft, um
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vorauszusagen, was mit deinem Vater geschehen wird. Aber was war ich für ein Narr! Wie traurig, dass deine Erinnerungen an mich so schlecht sein müssen!« »Aber nein, Vater!« Der alte Mann holte rasselnd Atem. Die Haut, die von der Decke verborgen wurde, war schwer verbrannt. Schweiß stand auf seiner Stirn, aber er zitterte immer noch in dem kalten Griff des Todes. »Ameda«, sagte er. »Versuch nicht, mich zu täuschen. Und schen ke mir keine Gnade, die ich nicht verdient habe. Zerfressen von Schuld und Stolz habe ich wie ein Narr meinen Talenten den Rücken zugekehrt. Und schlimmer noch, viel schlimmer, ich habe sogar dich mit Missachtung gestraft. Tochter, du wirst niemals so vernarbt sein wie ich und auch nicht die Roben tragen, die ich trug, denn ich wur de in einer Gilde in einer fernen Stadt ausgebildet. Dort geschah alles nach uralten Vorschriften, und die harte Disziplin war aus schließlich Jungen vorbehalten, nur Jungen. Doch eines Tages, das weiß ich, wird die Macht in dir lodern, wenn ... ach, wenn ... du das Falsche korrigieren kannst, das ich angerichtet habe. Andernfalls, so fürchte ich, bist auch du dem Untergang geweiht! Mir fehlt jetzt die Zeit, dir von meiner Geschichte zu erzählen, jedoch sei versi chert, du wirst sie durch die Aufgaben kennen lernen, die vor dir liegen.« »Aufgaben? Vater, ich verstehe dich nicht.« »Was heute geschehen ist, war meine gerechte Strafe, aber dass sie mich treffen musste, bevor ich mein großes Unrecht wieder gutmachen konnte! Tochter, diese Aufgabe geht jetzt auf dich über! Beug dich näher heran, noch näher, denn das Reich des Seins verblasst mit jedem Atemzug mehr, der über meine Lippen dringt. Hör zu, und zwar aufmerksam, denn nichts, was ich dir in all den Jahren, die wir gemeinsam verbracht haben, sagte, war so wichtig wie der Befehl, den ich dir jetzt geben muss. Tochter, eine Zeit großer Proben steht diesen Ländern bevor. Die Ankunft dieses Reiters war nur ein Vorbote des Bösen, das bald wie
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ein Wolkenbruch über uns hereinbrechen wird. Meine Kraft schwin det, aber selbst wenn sich meine Kräfte noch auf ihrem Höhepunkt befänden, könnte ich dir nicht alles mitteilen, was vor uns liegt. Nur ...« »Vater?« Dem alten Mann fielen die Augen zu, und einen Moment be fürchtete Amed, dass der Tod ihn zu früh ereilt hätte. Ihre Furcht ließ nicht nach, sondern umklammerte ihr Herz noch fester, als ihr Vater tief und schmerzhaft einatmete. »Tochter«, sagte er. »Du kennst doch die Kiste in meiner Kammer?« Amed nickte ausdruckslos. »Am Boden dieser Kiste liegt ein verbeultes Ding, das wie eine Konar-Lampe aussieht. In diesem Objekt sind große und geheime Mächte verborgen, Mächte, die ich erst ein einziges Mal eingesetzt habe - und dann zum Schlechten. Die Konar-Lampe wirkt so, dass die, die von ihrer Magie profitieren, gemeines Volk, das zufällig über das Geheimnis stolpert, sofort die Wunder vergessen, die sie bewirkt hat. Wenn diese Magie vorbei ist, halten sie sie nur für eine einfache Konar-Lampe. Leider kann ich es nicht vergessen! Aber wie gesagt, meine Kräfte waren ein Fluch, wie auch das Schlechte ... das Schlechte, das ich getan habe. Mein Kind, dieser Fehler muss jetzt korrigiert werden, oder ... oder dieses Land ist dem Untergang ge weiht!« Amed holte scharf Luft, als sie diese schrecklichen Worte ver nahm, doch dann schrie sie auf, als ihr Vater sich plötzlich aufrich tete und den Arm seiner Tochter umklammerte. Einen Moment fun kelte Leben in den ersterbenden Augen, und die bebende Stimme erhob sich zu einem verzweifelten Schrei. »Tochter, bringe die Konar-Lampe nach Qatani... Bring sie zum Kalifen und knie vor ihm nieder ... Bitte ihn ... Bitte ihn, deinem närrischen, boshaften Vater zu vergeben ...« »Vater!« Selbst wenn der alte Mann noch mehr hätte sagen wollen, seine
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Zeit war abgelaufen. Plötzlich war alles Leben aus seinen Augen ver schwunden, und seine Hand wurde schlaff. Er sank zurück. Zu ei ner anderen Zeit hätte sich Amed weinend über seine leblose Gestalt geworfen, doch jetzt konnte sie ihren toten Vater nur anstarren. Sie war kreidebleich, und ihre Schläfen hämmerten wie unheilvolle Trommeln. Die Konar-Lampe! Wo war Faha Ejo? Mutter Madana stürmte wieder in den Saal. Mittlerweile waren all ihre Gäste fort, in die Berge geflohen. »Ameda!«, schrie sie rasend vor Wut. »Was machst du da hinten im Dunkeln? Was macht der alte Mann da? Faulenzt er auf dem Boden?« »Er ist tot«, erwiderte Amed leise, aber die Herrin der Karawan serei achtete nicht auf sie. Stattdessen trat sie nach dem reglosen Mann. »Evitamus, du un dankbarer Mistkerl! Wenn ich mir vorstelle, dass ich dir all die Jahre Obdach gewährt und dich durchgefüttert habe und du jetzt mein Geschäft ruiniert hast! Wofür? Für die Wahrheit, pah! Wahrheit? Ich werde dir Wahrheit geben! Runter von meinem sauberen Boden, sage ich! Bei Theron, wo ist mein Besen?« »Er ist tot, dummes altes Weib!«, schrie Amed. »Er ist tot!« »Was war das, Mädchen? Wie hast du mich genannt?« »Ich habe gesagt, mein Vater ist tot, und es ist alles Eure Schuld!« »Tot?« Die Gastgeberin stieß einen lauten Klageschrei aus. »Was? Und ich soll ihn jetzt auch noch begraben?« »Haltet den Mund! Haltet einfach den Mund, Ihr böses Weib!« Amed stürzte sich auf sie und schlug mit den Fäusten auf sie ein, aber Mutter Madana war zu stark. Sie packte das Mädchen an den Haaren und wollte ihr die Augen auskratzen. »Elendes Miststück, ich werde dich verprügeln! Ich werde dich verprügeln, bist du nicht mehr stehen und sitzen kannst!« Amed konnte sich nur mit letzter Kraft losreißen. Lange Jahre der Wut verliehen ihr die nötige Kraft. Sie trat Mutter Madana, und die
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alte Frau stolperte jammernd zurück. Amed wirbelte herum, außer sich vor Zorn. »Ich bringe dich um, ich bringe dich um!« »Hilfe!«, schrie Mutter Madana. »Hilfe, Mörder!« Aber dazu kam es nicht. Amed trat Mutter Madana erneut. Die alte Frau verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Leichnam am Boden. Amed stürzte sofort zur Tür und ließ die Frau zurück, deren klägliche Schreie wie Peitschenhiebe hinter ihr her klangen, als sie aus der Karawanserei flüchtete. Das Sonnenlicht glühte auf den weißen Wänden und ließ den sandi gen Staub auf dem Boden flimmern. Amed lehnte sich schwer at mend an eine Wand. Sie musste Faha Ejo finden und die KonarLampe zurückholen. Sie schnüffelte und sah sich auf dem Platz um. Wütend wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Leere. Überall Leere. »Ungläubiger!«, schrie Amed. Nur ein Echo antwortete ihr. Sie sah sich um, lief zurück in das Mischlingslabyrinth, aber die Gassen waren ebenso verlassen wie der Platz. Sie bemerkte viele Zei chen für eine überstürzte Flucht. Hier blubberte noch ein Kessel über einem Feuer, dort lag eine Leine mit Wäsche auf dem Boden, von vielen Füßen in den Schmutz getreten. Fliegen summten, und der Gestank war noch widerlicher als zuvor. »Ungläubiger?« Es war still, und Amed flüsterte unwillkürlich. Sie atmete flach und hielt sich die Hand vor das Gesicht. Ihr Freund konnte nicht fort sein, oder doch? Vorsichtig tastete sie sich tiefer in die Schatten hinein. So viel Angst hatte sie nicht gehabt, als sie mit Faha Ejo hier gewesen war. Einmal stieß sie gegen einen Nachttopf, der laut klapperte. Ein anderes Mal trat sie auf etwas Weiches, Nachgiebiges. Sie schüttelte sich. Ein toter Vogel. Die Fliegen summten ohne Unterlass, aber auch in Ameds Hirn brummte es. Sie dachte an die Reiter, den Schwarzen, und die Roten und Gelben, die ihm folg
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ten. Würden sie wirklich das Dorf niederbrennen? Wenn es alle glaubten, dann entsprach das wohl der Wahrheit. Aber da war auch noch etwas anderes, das zunächst nur leise in Amed vibrierte, bis es zu einem schmerzhaften Pochen wurde. Cousine Dona Bela! Amed suchte in allen Gassen. Dieser Ort war tatsächlich ein Labyrinth, aber sie würde den schäbigen Vaga-Wagen sofort erkennen. Sie nahm denselben Weg, den sie heute Morgen gegangen war, und kam an einer baufälligen Hütte aus Treibholz vorbei, die anstelle einer Tür einen Vorhang hatte. Ja, hier ging es lang. An einem Nagel am Türpfosten hing ein unverwechselbarer Busch aus getrocknetem Seetang, der das Böse fernhalten sollte. Im Kalifat von Qatani war es den Mischlingen per Gesetz verboten, Produkte des Meeres zu benutzen, aber in einer trotzigen Geste sammelten sie Seetang und hängten ihn auf. Als wollten sie damit sagen, dass sie nichts und niemanden fürchteten. »Niemanden, außer den Reitern!«, sagte Amed laut. Sie hätte bei nahe gelacht, aber ihr Gelächter verstummte, als sie um die Ecke bog. In der Reihe der Unterkünfte gähnte ein Spalt. Eli Oli Alis Wagen war bereits verschwunden. Amed schlug sich mit der Hand gegen die Stirn und verfluchte sich selbst. Natürlich war der Wagen weg! Faha Ejos Vetter war kein dummer Bauer, der alles im Stich ließ und in die Berge rannte. Mittlerweile war er sicher schon weit weg und würde seine kostbare Fracht auf den Markt von Qatani bringen. Amed stöhnte. Erneut stieg die Erinnerung an diese entzücken de Gefangene in ihr hoch, aber sie hatte jetzt keine Zeit, an Dona Bela zu denken. Sie schlüpfte durch diese Öffnung aus dem Labyrinth. Jetzt stand sie wieder auf der Spitze der Klippe, wo Eli Oli Ali die Konar-Lam pe zurückgewiesen und sie abfällig als Müll bezeichnet hatte. Einen Moment kämpfte Amed mit dem Lachen. Ein warmer Wind zupfte an ihrem Wams, und sie blickte auf das glitzernde Meer hinaus. War
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Faha Ejo mit seinem Vetter gefahren? Aber nein, der Ziegenhirte war bei Amed im Speisesaal gewesen und erst gegen Ende ver schwunden. Amed stellte sich vor, wie er die Straße entlang hinter dem Wagen seines Vetters her lief. Sie blickte zur Küste. Die Straße zweigte zum Dorf ab und führte hindurch, verlief aber zum größten Teil an einem Felsenband in halber Höhe der Klippen. Auf der anderen Seite des Dorfs erhob sich ein gewaltiges Kap. Das war gewiss der beste Aussichtspunkt. Amed ging um die Klippenspitze herum. Hier hatte sie oft mit Faha Ejo gesessen und war der Küstenstraße mit ihren Blicken gefolgt, bis hin zu dem in der Ferne schimmernden Qatani, der Perle der Küste. Oft hatte Faha Ejo gelacht und sie eine Närrin gescholten, dass sie es wagen wollte, in diese Stadt zu gehen. Wenn du geben willst, dann geh doch, hatte er sie verspottet. Manchmal war Amed kurz davor gewesen, wenn Faha Ejo nur eingewilligt hätte, mitzu kommen. Was für ein närrischer Gedanke! Auf den Ziegenhirten konnte sie sich kaum verlassen, und außerdem forderte er Amed heraus, allein zu handeln, um ihren Mut zu prüfen. Oft fragte sich Amed, ob sie wirklich Mut besaß. Vielleicht war das Problem, dass ihre Courage niemals auf die Probe gestellt worden war. Aber ihre Chance sollte bald kommen. Die Sonne glühte über dem Kap wie Feuer. Die steilen Felsen und der Sand waren glühend heiß. Erst sah Amed die Fußabdrücke, dann blickte sie hoch in den grellen Sonnenschein und rief: »Ungläubiger!« Ameds Freund stand auf dem höchsten Punkt der Klippe, wo sie oft gesessen und die Welt betrachtet hatten. Einen Augenblick dreh te er sich um, es war wirklich nur ein Augenblick, aber Amed sah den Griff der Konar-Lampe im Sonnenlicht blinken. Er lugte aus dem schäbigen Mantel des Ziegenhirten heraus. Doch nicht deshalb hämmerte Ameds Herz so stark. In seinen Händen hielt Faha Ejo
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einen großen, schweren Felsbrocken, den er bis hinter seinen Kopf schwang. Auf der Straße weiter unten klapperten Hufe. »Ungläubiger!«, rief Amed erneut. Sie mühte sich den Berg hi nauf, aber sie konnte es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Später würde sie sich fragen, was sich Faha Ejo eigentlich dabei gedacht hatte. Vielleicht zeigte er damit nur seine Verachtung für die Unangesen, indem er ihre abergläubische Feigheit beschämte, vielleicht bezeug te er auch nur Respekt vor einer Freundschaft, die stärker gewesen war, als Amed vermutet hatte. Und vollzog eine Rache, die Amed niemals selbst auszuüben gewagt hätte. Vielleicht war Faha Ejo aber auch einfach nur ein Narr. Mit einem lauten Schrei schleuderte er den Felsbrocken nach un ten. Dann stolperte er zurück. Er hatte das Gleichgewicht verloren. Als er zu Boden stürzte, fiel die Konar-Lampe aus seiner Tasche. Amed sprang vor. Sie hätte die wertvolle Lampe beinahe ergriffen, doch dann war es zu spät. Faha Ejo war schneller, und er packte die Lampe. Dabei knurrte er etwas. Und in dem Moment geschah es. Erst ertönte der Donnerschlag. Dann zuckte der blendende Blitz vom Himmel. »Ungläubiger!« Amed stolperte, blinzelte und schüttelte den Kopf, um die Hel ligkeit zu vertreiben, die sie blendete. Aber ihre Sehkraft kehrte nur langsam zurück, und genauso langsam begriff sie, was passiert war. »Ungläubiger?« Aber wo Faha Ejo gestanden hatte, befanden sich nur Felsen und Sand. Dann hörte Amed das Klappern der Hufe und blickte über den Rand der Klippe hinunter. Ein reiterloses Kamel galoppierte in Richtung Qatani davon. Und auf der Straße lag der Schwarze Reiter auf dem Rücken und rührte sich nicht.
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Amed kletterte hastig die Klippe hinab. Keuchend fiel sie vor dem Reiter auf die Knie, doch als sie nach dem Puls an seinem Hals tastete, spürte sie nur noch das sacht verlöschende Schlagen des Le bens. Der dunkle Turban war ihm vom Kopf gerutscht, und Blut sickerte aus einer klaffenden Wunde in den Staub. »Nein, Ungläubiger!«, stieß Amed hervor. »Nicht!« Plötzlich verdunkelte sich der helle Tag, und Amed begriff, dass sie mehr als nur ein Kamel gehört hatte. Sie sprang hoch und wollte weglaufen, aber sie konnte sich nirgendwohin wenden. Um die Kurve der Klippenstraße galoppierten die Roten Reiter, und Amed blickte ihnen entsetzt entgegen. »Mörder!«, schrie jemand. »Mörder und Verräter!«
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17. Ein neues Abenteuer für Jem Der Vaga-Wagen hielt endlich an. Erst hatte er so heftig geschwankt, dass Jem sich nur auf die Pols ter hatte kauern und sich gegen die schmerzhaften Schläge hatte ab stützen können. Später verlangsamte der Wagen seine Geschwin digkeit, und Jem war sogar eingedöst, eingelullt von den sanfteren Rhythmen, die ihn umgaben: dem leisen Klingen der Windspiele, der Perlenvorhänge und der Reifen am Arm des Mädchens. Er öff nete die Augen und betrachtete sie erneut. Der Wagen hatte keine Fenster, aber an der Decke hing eine Lampe, die das Innere in ein weiches, goldenes Licht tauchte. In diesem Licht kam Jem das Mädchen beinahe wie eine Göttin vor. Wunderschön, aber mit einer Schönheit, die kein Begehren, sondern Bewunderung hervorrief. Der schimmernde Schleier! Die glitzernden Juwelen! Mehr als ein mal hatte er seinen Namen geflüstert und versucht, sich für sein plötzliches Eindringen zu entschuldigen. Aber es hatte keinen Sinn:
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Das Mädchen sprach nicht. Jetzt saß sie mit traurigem Ernst da, die Augen niedergeschlagen, und Jem fragte sich, ob sie überhaupt spre chen konnte. Die Stimmen des kleinen Jungen und seines Vaters klangen in der Stille laut durch die hölzernen Wände. »So, das sollte genügen. Wir kampieren hier!« »Aber Papa, sollten wir nicht... weiter in die Stadt fahren?« »Heute Abend? Dummer Junge, wir haben die Küstenstraße doch schon lange verlassen! Glaubst du, ich würde heute Abend dort entlang fahren, wenn die Reiter unterwegs sind? Wir haben eine kostbare Fracht bei uns, Kleiner, und ich werde sie nicht für die se Lakaien aus Unang aufs Spiel setzen!« Es rumste, als wäre etwas in den Sand gefallen. »Los, steh auf, lad die Satteltaschen ab und zünd ein Feuer an. Ich will mein Abendessen. Ach, und Kleiner?« »Ja, Papa?« »Hol sie raus. Immerhin ist es unsere letzte Nacht.« Jem sah das wunderschöne Mädchen mit großen Augen an. Jetzt endlich erwiderte sie den Blick, und er erkannte das Flehen in ihren Augen. Natürlich: Warum sollte ein so wunderschönes Mädchen, eine Edelfrau, in so schäbiger Gesellschaft reisen? Das Mädchen war die kostbare Fracht, das war klar. Aber was bedeutete das: ihre »letz te Nacht«? Es klapperte, und ein Schloss knirschte. Jem wappnete sich dafür, vor dem Vater des Kleinen zu fliehen. Doch es war der Junge selbst, der in den Wagen kletterte. Mit trä nenfeuchten Augen umarmte das Mädchen ihn und strich sein dun kles Haar glatt. Aber er befreite sich aus ihrem Griff. »Dona Bela, rasch ... Ihr müsst kommen.« Die Augen des Mädchens trübten sich vor Kummer. »Was ist los?«, zischte Jem. »Sie ist eine Gefangene, richtig?« »Leise!«, zischte der Junge ihn an. »Gelbhaar, du musst dich verstecken! Papa Eli ist zwar jetzt ruhig, aber wenn er dich findet, tö tet er dich, das schwöre ich dir!« »Ich habe keine Angst vor ihm!«
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»Bitte!« Das Mädchen kletterte gehorsam aus dem Wagen, wobei ihre Armringe und ihr Schmuck vernehmlich klimperten. Jem griff nach ihr, als wollte er sie zurückhalten, aber der Stoff ihres Gewandes glitt zwischen seinen Fingern hindurch. »Wir sind morgen in der Stadt!«, flüsterte der Junge. »Versteck dich hier ... Versteck dich einfach hier!« »Das kann ich nicht!« Jetzt kletterte der Junge ebenfalls die Treppe hinab. Jem sprang zur Tür, aber der Kleine schlug sie ihm direkt vor der Nase zu und traf seinen Kopf. Jem fiel geräuschvoll zu Boden. »Kleiner, was machst du dahinten?«, rief Eli Oli Ali. »Nichts, Papa! Gar nichts!« Mit einem Klicken rastete der Riegel ein. Was war das für ein Lied? Jem hielt sich den Kopf und bemühte sich, ein Stöhnen zu unter drücken. Eine hohe, überirdische Melodie erklang in der Nacht. Sie schien aus endloser Ferne zu kommen. Jem konnte die Worte nicht verstehen, aber die Stimme war von unvergleichlicher Schönheit und Reinheit. Dann begriff er, dass der Gesang gar nicht so weit weg war, sondern direkt von der anderen Seite der Holzwand des Wagens kam. Das Mädchen? Und er hatte sie für stumm gehalten! Er ver suchte zu verstehen, was sie sang, aber ihr Akzent war ihm fremd, und die Melodie schien jeden Sinn und alle Bedeutung zu verwi schen. In dem Moment geschah etwas Außergewöhnliches. Zunächst war es nur ein Gefühl, eine vertraute Hitze, die sich in der Gegend um Jems Herz ausbreitete. War das möglich? Vorsichtig hockte er sich hin und versuchte, jedes Geräusch zu vermeiden. Dann nahm er den Lederbeutel in die Hand, den er unter seiner Tunika trug. Ja, es geschah! Die Lampe war erloschen, und das Innere des Wagens
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lag im Dunkeln, aber jetzt sah Jem das grüne Glühen, das der Kris tall zwischen seinen Fingern ausstrahlte. Aber wie konnte das sein? Warum? Als Jem den tief roten Kristall getragen hatte, war der Stein erst in der Gegenwart dieses zweiten, grünen Kristalls zum Leben erwacht, den er jetzt bei sich trug. Seit seiner plötzlichen, merkwürdigen Ankunft an der Küste dieses Landes war kaum ein Tag verstrichen. Konnte er dem nächsten Objekt seiner Suche schon so nahe sein? Jem hielt den Atem an und zitterte vor Verwirrung, während er sich beinahe schuldbewusst über das unheimliche Licht beugte. Plötzlich überkam ihn Furcht. Der erste Kristall hatte nicht nur in der Gegenwart eines anderen Steins ge glüht. Nein. Es hatte noch eine andere Gelegenheit gegeben. In der Gegenwart des Anti-Gotts. Die ganze Zeit über hatte sich die merkwürdige Melodie verstoh len in Jems Bewusstsein geschlichen. Jetzt brach sie ab, und das grü ne Leuchten erlosch. Es war wieder dunkel. Jems Herz hämmerte. In einem Moment wich alle Hitze aus dem Kristall, und Jem fragte sich, ob es nicht einfach nur eine Illusion gewesen war. Vielleicht lag es ja an dem Schlag auf den Kopf? Unter seinem Scheitel spürte er immer noch einen dumpfen Schmerz, und er strich sich vorsichtig sein stroh blondes Haar glatt. Dann presste er sein Ohr an die Tür und lausch te. Die Stimme, die er hörte, war Eli Oli Alis, und die Worte des Kerls waren deutlich genug zu verstehen. »Teure Schwester, du hast uns auf unserer Reise wirklich gut un terhalten ... Wenn ich daran denke, dass ich deine süße Stimme nie wieder hören werde, wenn wir mitten in der Nacht um ein Lagerfeuer sitzen! Nun, vielleicht singst du es mir noch einmal? Vor dem Schlafengehen? Was? Ach ja, ich erkenne die Sorge in deinem Ge sicht. Du sagst vielleicht nichts, aber ein Mann kann in deinen Gesichtszügen lesen. Sorg dafür, dass sie süß aussehen, mehr verlange ich nicht, wenn ... Ach, aber wie könnte ein Mann von so viel Schönheit nicht verzaubert werden? Weißt du, meine Liebe, ich hat
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te große Lust, dich vor Casca Dallas Fenstern vorbeizuführen, wenn wir nach Qatani kommen. Hah, er soll schäumen und sich vor Wut auf der Erde wälzen!« Ein hässliches Lachen ertönte, und dann gluckerte etwas. Jems Unbehagen stieg. Was er hörte, gefiel ihm nicht, kein bisschen! »Ah, ein feines Ferment ist das ... Keine Sorge, meine Liebe!«, fuhr Eli fort. »Habe ich nicht schon tausend Mädchen wie dich ge sehen? Na ja, nicht ganz so schön wie du, zugegeben, aber Mädchen in ... in deiner Lage. Sie kriegen alle Angst, merk dir meine Worte. Angst? Pah! Es dauert nicht lange ... Ich sage dir, der Bursche, der für deine Jungfräulichkeit bezahlt, wird dich ordentlich einreiten!« Jemand schnappte nach Luft und schluchzte. Das Feuer knister te. Jem presste die Hände gegen die Tür und überlegte, ob er sie vielleicht einschlagen konnte. Der kleine Junge spielte mit dem Hund. »Hierher, Junge!« Man hörte Keuchen. »Junge, hol es!« Der Hund kläffte, und dann schrie Eli Oli Ali wütend auf. Jem hörte einen scharfen Schlag, dem ein leises Wimmern folgte. »Jetzt lass den räudigen Köter allein und geh schlafen! Meine Schwester und ich müssen uns in Ruhe unterhalten ... Und wir wol len nicht, dass ein kleiner Balg wie du unser Vergnügen stört!« Der Hund war ruhig und der Junge auch. »Komm, Schwester, komm ein bisschen näher zu deinem Bruder, hm? Habe ich dir schon gesagt, dass er ein Fremder ist, derjenige, der dich zuerst gemietet hat? Ja, da kann ein Mädchen schon aufgeregt werden! Er ist ein guter Kunde, ein sehr guter Kunde ... Einer, den ich auf jeden Fall vor Cascas Klauen retten will... Was habe ich meinem fremden Freund erzählt? Hm ... Die Schönheit der Schim mernden Prinzessin, habe ich gesagt. Die Ähnlichkeit ist wirklich frappierend - und dazu noch die Geilheit einer Hure! Na ja, das stimmt noch nicht ganz, aber du wirst es schon lernen!«
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Erneut grölte Eli Oli Ali vor Lachen und trank einen Schluck Fer ment. Jem hatte genug gehört. Er war überaus wütend. Er hätte den schmutzigen Hurenbock liebend gern auf der Stelle umgebracht. Vorsichtig drückte er gegen die Holztür. »Wo ist dieses Balg hin?«, rief Eli Oli Ali. »Kleiner, wo bist du?« »Pinkeln, Papa!«, ertönte die nervöse Antwort. »Pah! Schlaf im Wagen. Meine Schwester und ich haben intime Dinge zu besprechen, hm?« Der Hurenbock senkte die Stimme zu einem neckenden Flüstern. Jem stellte sich vor, wie er mit seinen schmutzigen Fingern das Mädchen betatschte. »Immer noch ein bisschen Angst? Na ja, diese Fremden haben manchmal einen merkwürdigen Geschmack ... Sei auf alles vorbereit, das rate ich dir. Weißt du, meine Liebe, ich überlege, ob wir nicht ein kleines Experiment durchführen sollten, bevor ... Vor dem großen Ereignis. Nur eine kleine ... Übung, hm? Cascas Mädchen haben normalerweise ein bisschen Erfahrung ... Das heißt, eigentlich haben sie eine ganze Menge Erfahrung, wenn es Cascas Mädchen sind. Senke einfach nur den Kopf, hm? Ja ... Ach ja ... Immerhin gibt es Möglichkei ten, wie ein Mädchen einen Mann erfreuen kann und trotzdem ihre Jungfräulichkeit behält ... Komm mein Täubchen, nicht zurückzucken!« Plötzlich klang die Stimme böse. »Komm her, du Miststück!« Jem sprang durch die Dunkelheit. Er wappnete sich gegen den Aufprall. Er würde gleich wie ein Rammbock durch die Tür bre chen. Der Kleine stieg im selben Moment die Stiege zur Tür hoch und zog den Riegel zurück. Das Mädchen riss sich los und lief weg. Trunken griff Eli nach ihr, als Jem gerade aus dem Wagen schoss, den Hurenbock wie eine Kanonenkugel umriss und zu Boden schleuderte. »Was...?« »Mistkerl! Lass das Mädchen in Ruhe!«
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Sie rangen miteinander, aber Jem war im Vorteil. Er versetzte Eli Oli Ah einen Hieb zwischen die Augen, und der fette Kerl sackte re gungslos zusammen. Triumphierend hockte sich Jem rittlings auf seinen schmierigen Kontrahenten, atmete tief durch und spähte in die Dunkelheit. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass sie sich mit ten in der Wüste befanden und nur von dunklen, geheimnisvollen Dünen umgeben waren. Ehrfürchtig starrte er in den Sternenhimmel hinauf. »Hast du ihn umgebracht?«, erkundigte sich eine piepsende Stim me. »Hm?« Jem riss sich zusammen. »Oh, er atmet noch. Er ist nur betäubt.« »Ich auch!« Der Kleine rappelte sich aus dem Sand auf. »Wird er bald wieder zu sich kommen?« »Er ist ein kräftiger Kerl, also denke ich schon.« »Sollen wir ... du weißt schon?« »Was?« Der Kleine schnüffelte einen Rotzbach hoch. »Ihn kalt machen.« »Das hatte ich eigentlich nicht vor!« Jem blinzelte dem Jungen ironisch zu. »Immerhin ist er dein Vater, oder nicht?« »Ich wünschte, er wäre es nicht!« »Gut, das verstehe ich. Wir bringen ihn um, aber jetzt noch nicht. Wo ist das Seil? Wollen wir ihn nicht erst fesseln?« Der Kleine grinste begeistert und tauchte unter den Wagen. Eli Oli Ali wäre gebunden und hilflos gewesen, und Jem hätte den Wagen unter Kontrolle gehabt. Es wäre fast so gekommen. Aber etwas stimmte nicht. Jem sah sich unsicher in dem orangeroten Licht schein des Feuers um. Dona Bela! Wohin war sie verschwunden? Hinter den Dünen kläffte ein Hund. Jem sprang auf und lief dem aufgeregten Bellen hinterher.
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»Dona Bela! Dona Bela! Wo seid Ihr?« Es war stockfinster. Die unbekannten Sterne bildeten ein hartes, klares Muster am Himmel, doch ihr Licht reichte nicht bis auf die Dünen hinunter. Und es gab keinen Mond. Jem spähte durch die Dunkelheit, aber er konnte weder das Mädchen noch den Hund ent decken. Mittlerweile hatte er sich ziemlich weit von dem Wagen entfernt. Er machte sich zwar Sorgen um das Mädchen, aber gleichzeitig auch um den Jungen, der mit seinem gewalttätigen Vater allein geblieben war. Wie lange würde es dauern, bis der Hurenbock wieder zu sich kam? Jem drehte sich unsicher um. Er wusste schon nicht mehr, aus welcher Richtung er gekommen war. Vor ihm lag nur Schwärze. Das Feuer konnte doch nicht so rasch niedergebrannt sein! Aber die Dünen waren hoch, sehr hoch sogar! Jem atmete schwer. Der Hund bellte wieder, und Jem glaubte schon, dass die Wüste seinen Augen und Ohren Streiche spielte. Er rief nach dem Mädchen. Und nach dem Hund. Da sah Jem etwas Merkwürdiges. Unwillkürlich hielt er die Luft an. Es war der Hund, aber er war verändert. Das Tier glühte in einem überirdischen Licht. In einem roten Licht. Der Hund bellte erneut und lief weg. »Warte!« Jem kämpfte sich erschöpft über die nächste Düne. Was hatte dieses geheimnisvolle Glühen zu bedeuten? Eins war sicher: Er würde niemals mehr zurück zu dem Wagen finden. Ein neues Abenteuer lag vor ihm. Irgendwie war ihm schwindlig, und er stolperte, während er sich die Stirn hielt. Er sah den Hund, doch dessen Farbe hatte sich erneut geändert. Jetzt war er grün! Wieder bellte der Hund und lief davon. »Warte, bitte!«
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Beim nächsten Mal war der Hund purpurfarben. Jemand lachte gellend. Jem wirbelte herum. Jemand packte ihn von hinten. Jem wollte sich wehren, aber in dem Augenblick presste ihm jemand ein dickes, stinkendes Tuch vors Gesicht.
»Bemerkenswert!« »Fantastisch!« »So blau!« »So weiß!« »Diese Klippen!« »Diese Schiffe!« »Die Segel!« »Feluccas!«, unterbrach sie eine barsche Stimme. »Kapitän?« Rajal drehte sich zu dem korpulenten Seebären um. Kapitän Porlo stand ein Stück von seinen beiden jungen Gefährten entfernt. Wie sie, beugte er sich konzentriert über die Bugreling und blickte auf den Hafen. Seine Miene war allerdings eher grimmig, während die beiden aus dem Staunen nicht mehr herauskamen. »Feluccas«, wiederholte der Kapitän. Er hatte sein Teleskop herausgekramt und suchte mit dem langen Glas die geschäftigen Docks ab. »Ganz zu schweigen von Xebecs, Caiques und Dhows. Allesamt Fremde! Es ist, als ginge man freiwillig in eine Kobragru be, und was es mit Kobras auf sich hat, wissen wir ja, mein Linkes, hm? Hah, da sehe ich sogar ein oder zwei Laniarden!« »Laniarden?«, fragte Rajal. »Aus Lania Chor«, erwiderte Cata. »Hast du denn gar nichts in Geographie gelernt, Raj ? Bei Mistress Quick habe ich immer über den Atlanten gehockt.«
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»Tatsächlich? Und ich dachte, du hättest ihn auf deinem Kopf ba lancieren müssen!« Cata lachte. »Das haben die meisten anderen Mädchen immer ge macht! Ich habe mich abends in die Bücherei geschlichen, wenn die anderen schliefen, und das gelernt, was sie uns im Unterricht nicht beigebracht haben. Eben all die wichtigen Dinge, das, was ihrer Meinung nach Mädchen nicht zu wissen brauchten. Wahrscheinlich habe ich schon damals geahnt, dass ich eines Tages reisen würde!« »Aber du hast bestimmt nicht erwartet, dass es so aussehen wür de!« »Wohl kaum!« Catas Freude trübte sich einen Augenblick, und erneut überwäl tigte sie der Kummer. Wenn Jem nur hier wäre! Am Tag zuvor hat ten sich Cata und Rajal ihre Geschichten immer wieder erzählt, als würden sie irgendwo auf einen Hinweis stoßen, wenn sie sie nur oft genug wiederholten. Stattdessen quälten sie sich nur mit ihren Fragen. Was war geschehen? Warum war Jem verschwunden? Schließ lich hatte Cata allen Mut zusammengenommen und Lord Empster gebeten, ihnen zu helfen, diese Vorgänge zu verstehen. Doch der Edelmann hatte sie nur freundlich angesehen und ihr einen weiteren goldenen Apfel angeboten. »So, Porlo, du hast gut Fahrt gemacht!«, bemerkte Empster plötz lich hinter ihnen. Cata fuhr zusammen. Sie hatte geglaubt, dass Jems Beschützer noch in seiner Kabine unter Deck wäre, aber er war unbemerkt auf die Brücke neben sie getreten. Es war merkwürdig, wie lautlos und unvermittelt dieser Edelmann auftauchte! Sein Umhang bauschte sich, und er nahm einen tiefen Zug aus seiner elfenbeinernen Pfeife. »Aye, mein Lord«, erwiderte der Kapitän. »Wir sind gut um das Kap der Gehaltenen Versprechen herumgekommen, wenn ich so sa gen darf. Und seit meine hölzerne Lady in Fleisch und Blut aufge taucht ist, waren die Winde uns wohlgesonnen. Verzeihung, Miss«, sagte er ehrerbietig zu Cata.
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Cata war zwar nicht besonders empfindlich, machte sich jedoch dennoch Sorgen. Und nicht zum ersten Mal kniff sie sich, als könnte sie immer noch nicht glauben, dass sie wirklich hier an Bord war. Staunend betrachtete sie ihre Gefährten auf der Brücke und sah dann auf das Deck unter ihr, wo Seeleute mit bronzefarbenen Rücken im Schweiße ihres Angesichts schufteten, fluchten, lachten und Ströme von Kautabak ausspien. Dann lächelte sie und dachte daran, wie sehr der Kapitän darum bemüht gewesen war, dass die Matrosen bloß nicht die Ähnlichkeit zwischen Cata und der Gali onsfigur bemerkten. Wenn einer von den rauen Burschen zufällig Catas Blick begegnete, sah er sofort weg und wagte es nicht, die vor nehme Dame anzusehen. Cata musste zugeben, dass es manchmal von Vorteil war, zu dem so genannten schönen Geschlecht zu gehören. »Porlo, könnt Ihr mir kurz Euer Glas überlassen?«, bat Lord Empster. Bewundernd blickte er durch das Teleskop. »Qatani, Per le der Küste! Viele Jahre sind vergangen, seit ich das letzte Mal hier war, und dennoch kenne ich keinen prächtigeren Anblick!« »Ihr wart schon einmal hier?«, fragte Rajal misstrauisch. »Aber ja. Der alte Kalif, der Onkel des gegenwärtigen Kalifen, war ein Jugendfreund von mir. Ich habe so manchen Abend in den marmornen Hallen seines prächtigen Palastes geweilt, bevor ich wei terzog, um mehr von der Welt zu erleben. Nun, Vaga-Junge, ich darf wohl sagen, dass ich in meiner Sturm-und-Drang-Zeit so viel ge reist bin wie dein rastloses Volk. Was auch gut so ist. Der Kalif ist von meiner Ankunft unterrichtet worden und dürfte meine kleine Reisegesellschaft als geschätzte Freunde willkommen heißen.« »Hm, ich darf wohl bemerken, dass ich ein Feind bin!«, warf der Kapitän mürrisch ein. »Unsinn, Porlo! Ich glaube kaum, dass man sich an Euch erinnert.« Der Kapitän knurrte. Warum sollten sie sich wohl nicht an den jungen Faris Porlo erinnern, wenn sie den jungen Mathanias Emps ter noch kannten?
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Lord Empster lachte. »Also wirklich, Porlo ... Wärt Ihr damals der feine Kommandeur gewesen, der Ihr jetzt seid, dann natürlich. Aber Ihr wart damals nur Schiffsjunge - wie Pustel jetzt einer ist!« Der Kapitän versteifte sich. »Pustel! Wie könnt Ihr einen Mann nur so quälen, mein Lord! Ich war ein gut aussehender Bursche, jawohl, nicht so eine Eiterbeule! Fragt nur Miss Catty hier, Verzeihung Miss, ob sie nicht sehen kann, dass ich einmal gut ausgesehen habe! Jedenfalls bis ich diesen Kobras begegnet bin. Das Ferment, das sie in dieser Gegend verkaufen, hat mich ruiniert, keine Frage.« »Ferment?«, fragte Rajal. Das war eine Variation der altbekannten Geschichte. »Ich dachte, sie dürfen nicht trinken.« »Nicht dürfen und nicht tun sind wohl zwei verschiedene Dinge, Meister Raj. Unang Rotgut? Tödliches Zeug! Hm, ich dachte, ich könnte schweben, und jetzt seht mich an!« Der Kapitän stampfte mit dem Holzbein vernehmlich auf das Deck. »Wenn Euch meine Erfahrung eine Warnung sein soll, dann macht lieber zwei draus: Haltet Euch von diesem Ferment fern und von den Kobras!« Rajal versprach, diese Warnung ernst zu nehmen, und Cata muss te lachen, doch Lord Empster blieb ernst. »Leider werden unsere jungen Freunde größeren Gefahren begegnen, bevor wir die Küste dieses Landes verlassen können. Aber Porlo, seht Eure Fahnen an! Sind Eure Farben korrekt?« Wie alle anderen Seebären seines Schlages hatte Kapitän Porlo Flaggen aller Nationalitäten an Bord seines Schiffes. Ihre Instand haltung und Reparatur beschäftigten die Seeleute an Bord nicht un wesentlich. Das war zwar eine sehr kluge Politik, aber manchmal verwirrte es auch. Sie hatten auf ihrer Reise mehrmals die Flaggen hastig wechseln müssen, wenn ein dubios wirkendes Schiff am Ho rizont gesichtet wurde. Der Kapitän fluchte. In der ganzen Aufregung über den aufkom menden Wind hatten sie vergessen, die wenayanische Flagge einzu holen. Sie hatten sie aufgezogen, als sie einer verdächtigen Schaluppe an der Mündung des Orokona begegnet waren. Wütend rief der
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Kapitän nach Pustel, doch gerade als er seine Kommandos herausbellen wollte, ertönte ein Schrei. Cata hatte ihn ausgestoßen. Das Mädchen spürte plötzlich Todes qualen, die wie ein Messer in ihr Gehirn schnitten. Sie schrie und brach zusammen. »Cata, was hast du?«, rief Rajal. Sekunden später bekam er die Antwort. Im Krähennest sprang Pustel hin und her und deutete auf den Horizont. Die Männer blick ten in die Richtung, in die er wies. Es kam vom Festland und segel te wie ein Komet durch den strahlenden Himmel. Es war ein Falke. Ein Falke, dessen Flügel brannten. Jetzt zerrissen die Schreie des Vogels den Himmel, Schreie, die von fürchterlichen Schmerzen kündeten. Beunruhigt wich ein einsamer Sturmvogel von seinem Kurs ab, dann kamen die Kormorane, die Haubenvögel und die Möwen, die wegflogen und alarmiert kreisch ten. Bubi schrie und zappelte in der Takelage. Der brennende Vogel stieg derweil immer höher und verschwand schließlich im gleißenden Himmel über Qatani. Dann war es vorbei. Cata rieb sich die Stirn und starrte in die Ge sichter ihrer drei Gefährten. »Cata, was ist passiert?«, wollte Rajal wissen. »Ich habe den Schmerz des Vogels gespürt. Und er meinen.« »Was? War das ein schlimmes Omen?« Verlegen ergriff Kapitän Porlo Catas Hand und tätschelte sie. »Das arme Ding hat geglaubt, es wäre eine Kobra, denke ich. Zer brecht Euch nicht Euren hübschen kleinen Kopf, Mädchen. Kobras fallen nicht vom Himmel.« »Das Kind hat ganz eindeutig magische Kräfte«, sagte Lord Emps ter. Seine Stimme klang anders als gewöhnlich. »Vielleicht werden wir noch vor dem Ende dieser Suche feststellen, dass diese Kräfte lebenswichtig sind. Oder ... vielleicht auch nicht.«
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Rajal wollte den Edelmann gerade fragen, was er damit meinte, aber da ereilte sie der nächste Schrecken. Am Ufer explodierte etwas. Im nächsten Augenblick fegte eine Kanonenkugel durch die Luft und landete an der Steuerbordseite im Meer. Eine Wasserfontäne spritzte hoch und schwappte über das Deck. Das Schiff schwankte. Kapitän Porlo taumelte auf seinem Holzbein, während er heldenhaft versuchte, das Gleichgewicht zu hal ten. Vergeblich. Er fiel wie ein gestürztes Denkmal und rief: »Ein Warnschuss! Vor unseren Bug! Pustel, Pustel, hiss die Fahne der Blauröcke, oder ich nehm deinen hässlichen Kopf zwischen die Daumen und drücke zu!« Während des folgenden Durcheinanders betrachtete Cata auf merksam und furchtlos die Küste des fremdartigen Landes. Sie wusste nicht, was die Zukunft für sie bereit hielt, konnte es nicht einmal erahnen, aber eins war sicher: Auf sie lauerte Gefahr.
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»Simonides?« Der alte Mann träumte wieder und blickte traurig in das gleißen de Sonnenlicht. Prinz Dare streckte die Hand aus und berührte die runzlige Hand des Lehrers. Es war Nachmittag, und sie saßen im schönsten der duftenden Haine auf den üppigen, hellen Dachter rassen. Simonides thronte auf einem Korbstuhl, sein Schüler hock te mit gekreuzten Beinen vor ihm im Gras. Von Zeit zu Zeit zwit scherte etwas im Unterholz. Es waren keine Vögel, sondern die Tar gon-Diener. Sie durften Prinz Dare offenbar keine Sekunde unbe aufsichtigt lassen, aber wenigstens hatten sie eingewilligt, außer Sicht zu bleiben. Simonides hatte sich von seinem Zusammenbruch in der Kammer der Erscheinung erholt und war heute schon wieder deutlich besser bei Kräften. Erst am Morgen war er von seinem Krankenbett aufgestanden, fest entschlossen, das zu tun, was der Sultan von ihm erwartete, nämlich den Jungen auf seine bevorstehende Hochzeit vor zubereiten. An diesem Nachmittag sprach Simonides in der Son nenhitze von Lebensweisen, von Manieren und von Moral. Seine Stimme lullte Dare ein, aber manchmal riss der Monolog des alten Mannes ab, so wie jetzt. Er verstummte, und in Dare stieg wieder die Traurigkeit hoch, die er stets an diesem Ort empfand, zwischen Farnen, Blumen und Bäumen, wo er einst so glücklich mit Thal gespielt hatte. »Simonides?« Als der alte Tutor das erste Mal schwieg, hatte Dare voller Angst wie am Vortag geglaubt, Simonides sei tot. Beunruhigt wollte der junge Prinz schon nach den Targons rufen. Jetzt wusste er, dass den
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alten Mann, wie auch ihn selbst, ernsthafte Sorgen plagten. Es konnte kaum anders sein! Wie beschämt, wie angewidert war Dare ge wesen, als er noch glauben musste, dass die Brutalität seines Vaters das Leben des alten Mannes beendet habe! Wie traurig musste es den alten Lehrer stimmen, das Böse zu erkennen, das sich wie eine Schlingpflanze um das Herz des Menschen wand, den er einst un terwiesen hatte! Zärtlich strich Dare über die Hand seines Lehrers. Er hatte während der Lektion kaum zugehört, weil ihn die Regeln und Kon ventionen nicht kümmerten, die von nun an sein Leben bestimmen sollten. Als Dare in das betagte Gesicht blickte, ahnte er, wie viele Geschichten sich hinter der hohen, gewölbten Stirn verbargen. Ge schichten, die der Tutor hätte erzählen können. Geschichten, die viel spannender waren als die trockenen, formellen Sätze, die er schon so oft rezitiert haben musste. »Simonides?« Der alte Mann sah freundlich auf den Jungen hinab und erwider te den Händedruck. Dem Prinzen traten Tränen in die Augen, als er an die Hand seines Vaters dachte, der seine Lenden liebkoste, und dann an eine andere Hand, die er nie wieder halten würde. »Simonides«, sagte er, »mein Vater hat mir von einem Freund er zählt, den er einmal hatte. Einen Freund namens Mala. Kanntet Ihr diesen Freund und wisst Ihr von seinem Schicksal?« Die Miene des alten Mannes umwölkte sich einen Augenblick beunruhigt, doch dann wich dieses Gefühl dem Ausdruck von Trauer. Er erwiderte den eindringlichen und doch so unschuldigen Blick des Prinzen. Allerdings, er kannte Lord Malagon und auch die bittere Geschichte, die zu seinem Tod geführt hatte! Was auch immer der Sultan dem jungen Prinzen gesagt hatte, er war davon überzeugt, dass es nicht der Wahrheit entsprach! Simonides holte tief Luft. Äonen schienen verstrichen zu sein, seit er in die Akademie der Imams aufgenommen worden war. Er hatte eine strahlende Karriere in Kal-Theron erlebt und war allen Erwar
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tungen mehr als gerecht geworden, die man in seiner Jugend in ihn gesetzt hatte. Aber um welchen Preis! War das all die Vertuschungen, die Lügen wert gewesen? Zu lange schon hatte er getan, was er für seine Pflicht hielt, selbst wenn der Zweifel an seinem Herzen nagte. Jetzt jedoch entdeckte Simonides einen neuen Zweifel in sich, der diesmal nicht zum Schweigen gebracht werden konnte. Seine Pflicht, oder vielmehr die Aufgabe, die vor ihm lag, war, Dare von uralten Dingen zu unterrichten, die Lektionen zu rezitieren, die im Buch des Propheten aufgeschrieben waren. Aber das Kind hörte kaum zu, wie auch schon sein Vater damals kaum zugehört hatte. Der alte Mann runzelte die Stirn. Wenn er etwas Gutes tun wollte, bevor er starb, musste er dann nicht dafür sorgen, dass der Unange fochtene Thronfolger mit der Zeit ein besserer Mensch wurde als sein Vater? Vielleicht musste der Junge dafür Lektionen lernen, die nicht in den heiligen Büchern standen. Durch das Blätterwerk drangen wieder die hellen Stimmen der Targons. Simonides sah sich verstohlen um. Seine Stimme bebte leicht, als er sich dicht zu Dare hinüberbeugte. »Wollt Ihr, Dare, die Geschichte Eures Vaters hören ... Die Geschichte Eures Vaters, als er noch jung war?« Der Prinz nickte gespannt. Simonides redete leise weiter. Die Tar gons hörten nur ein dumpfes Murmeln und nahmen an, dass die hei ligen Lektionen fortgesetzt wurden. »Dare, Euer Vater ist ein starker und mächtiger Mann und steht im Zenit seiner Macht. Könnt Ihr ihn Euch als Jungen vorstellen, etwa in Eurem Alter, oder sogar noch jünger? Es ist schwer, ihn als Euren Vater zu sehen, hab ich Recht? Aber die Zeit bewirkt noch viel merkwürdigere Veränderungen als die, von denen in alten Ge schichten geschrieben steht. So wie früher einmal Euer Lehrer, die ser altersschwache Mensch, der jetzt vor Euch sitzt, ein gelenkiger Jüngling mit einem bartlosen Gesicht war, der sich auf das Leben freute, das vor ihm lag, war auch der berühmte Herrscher dieses
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Landes ein dünnes Kind in einer weißen Tunika, das durch diese duftenden Gärten lief. Wie gern ich mich an ihn erinnere: an seinen schlanken Hals, sei ne hohe, piepsige Stimme. Er hatte strahlende Augen, war begeisterungsfähig und unendlich neugierig. Mittlerweile glaube ich, dass er zu neugierig war und dass ich ihn mit zügelnder Hand von die sem oder jenem Abgrund hätte zurückhalten sollen, über den der Junge niemals hätte blicken dürfen. Leider loderte der Leichtsinn in mir zu einem Feuer auf, das ich schnell hätte eindämmen sollen! Aber ich hatte schon zu lange ohne geistige Nahrung gelebt. Euer Großvater war ein Ignorant, der ge gen die Vorzüge meiner gelehrten Künste immun war. In Eurem Va ter hingegen fand ich den Schüler, nach dem sich jeder Lehrer sehnt. Gier überkam mich. Ich sonnte mich in der geistigen Beweglichkeit meines jungen Schützlings. Voller Ehrgeiz war ich auch auf meinen eigenen Vorteil bedacht, plante für die Zeit, in der er den Thron be steigen sollte. Also half ich ihm so gut ich konnte, ermutigte ihn und spendete ihm für seinen gefährlichen Eifer Beifall. Er gierte leidenschaftlich nach Wissen, und bald sollte ich erfahren, wie leidenschaftlich. Als Euer Vater noch sehr jung war, saß eine Nachtigall auf einem Zweig vor seinem Fenster. Sie war immer da, wenn ich morgens zu ihm kam, und trällerte ein Lied, das mein Herz mit Freude erfüllte. Eines Morgens jedoch war die Nachtigall ver schwunden, und Euer Vater ebenfalls. Ich hörte Lammy voller Sor ge nach dem verschwundenen Prinzen rufen. Schließlich war ich es, der ihn fand. Er hatte sich in diesem Hain hier versteckt und hock te vor dem Leichnam des Vogels. Neben ihm saß sein Freund Lord Malagon, der Spielgefährte seiner Kindheit. Was hatten die beiden getan! Vorsichtig hatten sie die Federn des Vogels entfernt und mit einem angeschärften Stock seinen Hals auf geschlitzt. Fasziniert starrten sie in die freigelegte Kehle. Ich war schockiert und wollte sie schelten. Ich dachte, dass Lord Malagon den jungen Prinzen auf Abwege geführt hatte. Wusste er denn nicht,
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dass es Blasphemie war, mutwillig die Schöpfungen des Ur-Gottes zu zerstören? Aber als Euer Vater mich ansah, lag nicht die Spur von schlechtem Gewissen in seinem Blick, sondern nur das Staunen über die Geheimnisse der Natur. Ich erinnere mich noch sehr genau an die Worte, die er dann mit der unschuldigen Kadenz der Jugend lispelte. ›Guter Meister Simonides, wenn Ihr erlaubt ... Ich wollte sehen, was das Lied macht.‹ Von dieser Zeit an widmete sich Euer Vater den Naturwissenschaften. Fasziniert untersuchte er die Geheimnisse des Lebens, die verborgenen Botschaften im Pulsieren des Herzens, dann auch im Beben der Erde, schließlich in den Bewegungen von Mond und Ster nen. Er spähte durch Ferngläser, brütete über Landkarten, stocher te in den schimmernden Eingeweiden von Tieren herum, nachdem er Fell und Haut entfernt hatte. Für Euren Vater bestand die Welt aus einer ganzen Reihe von Fragen, und es war eine Angelegenheit höchster Dringlichkeit, die Antworten zu erfahren. Bei all diesen Dingen wurde er von seinem treuen Mala begleitet, und beiden wurde in ihren Forschungen von mir Beihilfe geleistet. Ich hielt diese Zeit damals für eine Idylle. Was waren wir für ein glückliches Trio, bevor sich der schwere Mantel des Königtums auf die Schultern meines jungen Prinzen legte! Wäre es so weitergegangen, wäre Euer Vater zweifellos einer der gelehrtesten Männer in ganz Unang geworden. Das soll weder Speichelleckerei noch niede re Schmeichelei sein. Leider kam ihm die Pflicht dazwischen und dann, was noch viel schrecklicher war, diese Leidenschaft. Sie entfremdete sein Herz zunächst von der Liebe zu Lord Malagon und dann sogar zur Menschheit selbst! Am Anfang seiner sechzehnten Sonnenwende wurde Euer Vater zum Unangefochtenen Thronfolger erklärt. Wie Ihr, Dare, sollte er heiraten, und Euer Großvater hatte für seine Initiation eine exotische junge Prinzessin namens Ysadona auserkoren. Diese Prinzessin, Eure Mutter, Dare, stammte aus Lania Chor, aus dem fernen Königreich von Amalien. Aber sie lebte schon viele Sonnenwenden
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in Kal-Theron, wo ihr Vater, ein Bruder des Königs von Lania Chor, Botschafter am Hof von Unang war. Wie es Sitte bei unverheirate ten Mädchen war, wurde Eure Mutter in völliger Abgeschiedenheit erzogen. Aber die Gerüchte über ihre Schönheit verbreiteten sich schnell. Als sich die Nachricht über die Heirat in der ganzen Stadt herumsprach, gab es ein großes Fest, denn wer konnte eine bessere Braut für den zukünftigen Sultan sein als diese vornehme Tochter Lanias? Nun war es jedoch so, dass Euer Vater sich keineswegs nur mit den Gedanken an seine Hochzeit beschäftigte. Seine königliche Be stimmung kam ihm sogar eher unwirklich vor. Viele Sonnenwenden sollten noch verstreichen, bevor er den Thron besteigen würde, und vermutlich glaubte er, so weiterleben zu können wie in seiner Kindheit und seine Tage in seinem voll gestellten Laboratorium zu ver bringen. Eines Tages hörte ich sogar, wie er Mala versicherte, dass die Ehe eine Staatspflicht sei, nicht mehr. Es müsste sich nichts zwi schen ihnen ändern, wenn diese Pflicht erfüllt wäre. Nichts dürfe ihre Leidenschaft für das Wissen schmälern. Leider kannte Euer Va ter die Wahrheit nicht! Die Heirat war ein Fluch, der nur darauf lau erte, ihn zu überwältigen! Ich muss zugeben, dass ich selbst mich über seine Hingabe wunderte, denn sogar mein altes Gelehrtenherz, dem leider die Liebe zum schönen Geschlecht fremd geblieben ist, wurde von den Ge danken an die schöne Ysadona aufgewühlt. Wie müsste die Natur eines gesunden Jünglings beschaffen sein, dem die Tatsache gleichgültig war, dass er bald diese Schönheit besitzen würde? Aber ich wurde Eurem Vater nicht gerecht, als ich annahm, sein Herz bliebe kalt. Er war noch jung und in der strikten Moral des Hofes erzogen worden. Er war so lebendig, hatte eine so schnelle Auffassungsgabe, dass man vergessen konnte, wie wenig er von der Welt außerhalb der Palastmauern kannte. Genau wie Ihr, Dare. Was wusste er schon von den weiblichen Reizen, wenn Lammy die ein zige Frau war, deren Liebkosungen er kannte?
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Wie es Sitte in Unang war, durfte Euer Vater seine Braut nicht vor der Hochzeit sehen. Später, wenn er zum Mann geworden war, konnte er tun, was schon sein Vater getan hatte. Er konnte sich wei tere Frauen erwählen, so wie ein Feinschmecker sich die schönsten Gerichte von einer gedeckten Tafel aussucht. Eines Tages sollte er einen großen Harem besitzen, in dem er wie durch einen Garten der Lust wandeln konnte! In einem Harem gibt es keine Geheimnisse und keine Schleier. Doch beim ersten Mal ist das anders. Erst in der Hochzeitsnacht würde Euer Vater endlich den Schatz sehen, den er jetzt besaß. Dann sollten die Eunuchen der Schlafkammer mit geschickten Händen seine Einführung in die Geheimnisse der Liebe bewerkstelligen. Natürlich nahm ich an, dass sich Euer Vater nach dieser Erfah rung der Kostbarkeit bewusst sein würde, die er jetzt sein Eigen nennen konnte. Ich war glücklich für ihn, trauerte aber um mich und auch um Lord Malagon. Natürlich waren die Veränderungen, die Euer Vater nicht für möglich gehalten hatte, unabwendbar und soll ten sich auch bald vollziehen. Ich fürchtete, dass er für die Wissenschaft verloren wäre, Bibliothek und Laboratorium aufgab, und ich fürchtete ebenso, dass der arme, treue Mala ebenfalls seinen Platz im Herzen Eures Vaters verlieren würde. In beiden Punkten sollte ich Recht behalten, denn es kam wirklich so. Allerdings in einer ganz anderen Weise, als ich mir vorgestellt hatte. Nach seiner Heirat konnte Euer Vater ungehindert durch den Hof des Sultans streifen, befreit von den Beschränkungen seiner Kind heit. Mala leistete ihm Gesellschaft, und schon bald wurde der jun ge Edelmann von allen bewundert. Viele waren davon überzeugt, dass Lord Malagon bestimmt zum Großwesir berufen würde, wenn Euer Vater den Thron bestieg. Selbst jetzt noch sagt mir mein lie bendes Herz, dass irgendwo, in einer anderen, besseren Welt, unser Land mit diesem glücklichen Ergebnis gesegnet worden ist. Einige Mondleben nach der Initiation Eures Vaters drangen Neuigkeiten an den Hof. Die Stämme der Ouabin hatten erneut den
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Herrschaftsbereich des Sultans verletzt. Euer Vater fühlte sich stark in seiner neuen Männlichkeit und bat Euren Großvater, mit der kai serlichen Armee reiten zu dürfen. Der Sultan schlug ihm diesen Wunsch mit einem Lächeln ab. Er war der Unangefochtene Thron folger und doch noch so unerfahren? Durfte ein Prinz der Blutlinie sein Leben in Gefahr bringen? Mehr noch, konnte er sich auf eine Ebene mit einer Herde von Kriegern und Gewöhnlichen stellen? Al lein der Gedanke war ungeheuerlich. Noch nie hatte das Königs haus von Unang so gehandelt und würde es auch niemals tun. Die Proteste Eures Vaters fruchteten nichts. Natürlich entbehrte diese Situation nicht einer gewissen Ironie. Sechzehn Sonnenwenden lang hatte Euer Vater nichts gesehen außer diesem Palast seiner Kindheit. Er musste sich mit Bildern, Buchrollen und Dingen zufrieden geben, die von weither stammten und von Fremden in den Palast gebracht worden waren. Und jetzt, nachdem er ein bisschen von der Welt kennen gelernt hatte, bedeutete die Vor stellung, dass er sie nicht weiter erkunden durfte, einen herben Rückschlag für ihn. Er war ein junger Mann und gierte nach allem, was das Leben ihm bieten konnte. Das Wissen, dass er alle sinnlichen Lüste schmecken konnte, die sich in der Sicherheit des Palastes befanden, spendete nur einen geringen Trost. Schon bald begannen die Freuden der Ehe zu verblassen, und ich fürchte, dass Euer Vater insgeheim die Braut verachtete, die jemand anders für ihn ausge sucht hatte. Damals beging Lord Malagon wohl den großen Fehler, fürchte ich, den Fehler, der ihn letztendlich, wenn auch nicht direkt, das Le ben kostete. Angespornt vom Gerede seines Freundes über den Krieg, über den Ruhm, der einen im Kampf für den Herrscher er wartete, kam Mala eines Tages im Mantel eines Kriegers zu Eurem Vater. Er hatte ein Offizierspatent angenommen und sollte gegen die Ouabin reiten. Der liebe, dumme Mala! Er sagte mir, er wolle Eurem Vater helfen, für seinen Freund das tun, was dieser nicht voll bringen durfte. Und ich hielt meine Zunge im Zaum, redete ihm sei
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ne Torheit nicht aus. Trotz all seiner Gelehrsamkeit zeigte Mala nur, dass er ein Novize war, was die Wege des Herzens anging. Die Reaktion Eures Vaters war merkwürdig. Später sah ich darin das erste Zeichen der Heimtücke, die schon bald sein Verhalten be stimmen sollte. Er umarmte Mala, und sie beteten beide, aber ich wusste, dass Euer Vater innerlich vor Wut kochte. Von den Flüste rern im Palast erfuhr ich, dass er zu Eurem Großvater ging und ihn aufforderte, Mala das Offizierspatent wieder abzunehmen. Erneut schlug Euer Großvater ihm seinen Wunsch ab, diesmal jedoch ärgerlich. Was wäre denn Kaleds Freund, sagte der Sultan, ein Diener, der mal hierhin und mal dorthin geschickt wurde? Lord Malagon sei ein junger Mann vornehmen Geblüts. Wollte er eines Tages eine Zierde für den Hof sein, musste er sich doch auf dem Feld des Ruhms betätigen, wie es einem Edelmann anstand. Euer Vater wandte ein, dass ihm selbst dies ebenfalls zustünde, und bat Euren Großvater erneut darum, ihn mit den Truppen reiten zu lassen. Er neut schlug ihm der Sultan diesen Wunsch mit der Begründung ab, dies sei unmöglich. Der königliche Lebensstil von Unang dürfe nicht in Frage gestellt werden, nicht einmal von denen, die den Titel trugen. Euer Vater konnte dem nur zustimmen und sich respektvoll ver neigen, insgeheim jedoch verfluchte er Euren Großvater als Schur ken und Narren, dessen bin ich mir sicher. Von dieser Zeit an saß der Stachel der Unzufriedenheit in seinem königlichen Herzen. Er sollte niemals mehr weichen. Es schmerzt mich zu berichten, welch hohen Preis Eure Mutter für den unterdrückten Missmut Eures Va ters zahlen musste. Die Berichte, die mich aus dem Schlafzimmer erreichten, bereiteten mir Sorgen und machten mich zornig. Als Euer Vater erfuhr, dass seine Gemahlin ihm einen Erben gebären würde, zeigte er weder Freude noch überhaupt Interesse, sondern bemerkte nur mit einer Verwünschung, dass er dann wohl bald ein neues Behältnis für seine Lust brauche. »Ach Dare ... Dare, mein Junge, es tut mir so Leid!«
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Die Geschichte sollte an diesem Nachmittag nicht weiter erzählt werden. Dare hatte wie verzaubert der Idylle der Kindheit seines Vaters gelauscht. Doch als er von dem Neid erfuhr, der seinen Vater Malas Zuneigung entfremdet hatte, traten dem Jungen Tränen in die Augen. Es war die Grausamkeit seiner Mutter gegenüber, die sie schließlich frei strömen ließ. Dare schluchzte laut auf. Die Blätter raschelten. Im nächsten Moment liefen überall Targons umher, und ihre ausdruckslosen Stimmen riefen im einstim migen Klang: »Thronfolger! O Thronfolger, was quält Euch? Der Sultan des Mondes und der Sterne will nicht, dass Ihr Euch aufregt, nein, nicht um alles in der Welt! Sind Eure langen Beine verkrampft? Ist die Sonne zu heiß? Diese Blumen, sind sie zu hell für Eure Augen?« »Er ist müde. Müde, das ist alles«, meinte Simonides traurig. »Es war eine lange Lektion. Eine lange Lektion für einen Jüngling.« Und dem alten Mann blieb nur zu hoffen, dass er die Lektion wieder aufnehmen konnte.
Das Erste, was Jem wahrnahm, als er aufwachte, war der Geschmack in seinem Mund. Er zuckte zusammen und schluckte, aber der scharfe, beißende Geschmack war immer noch da. Jem überlegte ei nen Moment, was es sein konnte, dann erinnerte er sich an die Hand auf seinem Mund und die ranzigen Gerüche der letzten Nacht. Er rang nach Luft und stützte sich auf die Ellbogen. Anscheinend hat te er sehr lange geschlafen. Wo war er? Er lag auf einem großen, niedrigen Bett, das von ei nem bauschigen Vorhang aus Gaze verhüllt war. Durch die offenen
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Fensterläden erleuchtete das Morgenrot eine außergewöhnlich luxuriöse Kammer. Wände, Boden und Decke waren mit wunder voll bemalten Fliesen bedeckt, es gab prächtige Teppiche und Wandbehänge, Sofas und Diwans, Weihrauchbehälter und Schüs seln mit Früchten und Blumen. Hinter den Fensterläden sah Jem hängende Gärten. Er hörte Wasser plätschern und Vögel sorglos zwitschern. Er stand auf und zog den Gazevorhang zurück. Der beißende Geschmack war immer noch in seinem Mund. Er schluckte. Seine Keh le war trocken, und er schnitt eine Grimasse. In dem Moment bemerkte er die Gestalt, die neben ihm stand. Es war ein großer, mädchenhafter Knabe in prächtigen Gewändern. Jem erschrak, aber der Knabe bedrohte ihn nicht. »Trinkt dies, junger Herr«, sagte er und hielt ihm einen kleinen, goldenen Becher hin. Jem warf einen Blick hinein und sah eine zähe, nektarähnliche Flüssigkeit. Sie erschien ihm augenblicklich als das Begehrenswer teste auf der Welt, und er leerte den Becher dankbar und gierig. Schon während das Nass über seine Lippen rann, fühlte Jem, wie der Schmerz nachließ und eine kühle Süße seinen Mund erfüllte. Ihm kam kurz der Gedanke, dass sie ihn wieder unter Drogen setzten. Aber wer waren sie eigentlich? Jem drehte sich zu dem Knaben um, aber der war genauso plötz lich verschwunden, wie er aufgetaucht war. Jem wandte sich wieder um. In der Ecke der Kammer befand sich ein Torbogen. Er ging hin und sah eine weitere Kammer, dahinter noch eine und eine weitere. Alle waren gleichermaßen prachtvoll, und es schien endlos viele von ihnen zu geben. Konnte dieser Ort denn ein Palast sein, und zwar ein prächtigerer Palast als alle, die er in Ejland gesehen hatte? Wie lange war er bewusstlos gewesen? Hat te man ihn in die Heilige Stadt gebracht? Sicher lebte nur der Sultan in solch verschwenderischer Pracht! »Hallo?«, rief Jem unsicher. »Hallo? Ist da jemand?«
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Der Ort schien verlassen. Das war absurd! Jem legte die Hände trichterförmig vor seinen Mund. »Ha-lo!«, schrie er, aber es antwortete nur das Echo. Er sank gegen den Tor bogen, während ihm zahlreiche Fragen im Kopf herumgingen. Dann hörte er ein Geräusch. Das Klicken von Krallen. Er drehte sich hastig um und staunte. Aber weniger über das plötzliche Er scheinen des Hundes als vielmehr über die erneute Veränderung im Äußeren der Kreatur. Der fluoreszierende Schein aus der Wüsten nacht war verschwunden. Jetzt leuchtete sein Fell purpurrot-grünrot-blau und gold gestreift. Die fünf Farben des Orokon. Eifrig sprang das Geschöpf auf Jem zu, als begrüße es seinen lange vermissten Herrn. »Hm.« Jem hockte sich hin, streichelte den pelzigen Kopf und sah fragend in die hellen Augen des Hundes. »Ich bin nicht sicher, ob du Freund oder Feind bist, Regenbogen. Du wirst dir mein Vertrauen verdienen müssen. Also, sag mir, wen hast du noch in diesem Palast gesehen?« Der Hund bellte aufgeregt und sprang ans Fenster. Jem blickte hinaus auf eine breite Terrasse und die ausgedehnten Gärten dahinter. Sie wirkten in dem rötlichen Licht der Morgensonne genauso ver lassen wie der geheimnisvolle Palast. Wusste der Hund etwas, was Jem nicht wusste? Jems Magen knurrte, und er überlegte, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Kein Wunder, dass ihm so schwindlig war! Er blieb an einer Schüssel mit Früchten stehen, füllte seine Taschen mit Feigen, Mandarinen und Granatäpfeln und folgte Regenbogen hi naus in den strahlenden Morgen. »Regenbogen?« Jem drehte sich auf einem blütenübersäten Weg um und bemerk te, dass sein neuer Freund schon wieder verschwunden war. Er lächelte. Der Hund liebte es offenbar zu verschwinden. Jem hatte bald entdeckt, dass Regenbogen ihn nirgendwo hinführte, auch
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wenn er das zunächst angenommen hatte. Der Hund erkundete die Umgebung, das war alles. Er genoss die Größe und Pracht, die Fruchtbarkeit und die Düfte der Palastgärten. Jem schob sich eine Feige in den Mund und schälte eine Manda rine. Er wollte sich über Regenbogen keine weiteren Gedanken ma chen. Der Hund würde sicher bald durch einen Vorhang aus Zwei gen springen oder hinter einer anderen duftenden Hecke hervor schießen. Jem versuchte sich vorzustellen, welches Leben Regenbogen früher geführt hatte. Vermutlich ein hartes Leben. Ein solches Geschöpf war sicher dankbar über die merkwürdige Veränderung, die ihn hierher gebracht hatte. Und was ist mit mir?, dachte Jem. Seine Panik war rasch verflo gen, vertrieben von den süßen Früchten, der Wärme, den tausend Düften, die in der Luft hingen. Trotzdem waren seine sorgenvollen Fragen nicht verschwunden, genauso wenig wie die plötzlichen Schauer, die auf seinem Körper eine Gänsehaut hervorriefen. Mittlerweile hatte der Himmel seine Röte verloren und strahlte in einem harten Blau. Jem blickte durch einen Baldachin aus Blättern in den Himmel. Merkwürdig, der Tag schien schon weiter fortge schritten zu sein, als er hätte sein sollen. Wo war die Sonne? Jem vermutete, dass sie direkt über ihm stand. Wie lange war er über diese Wege geschlendert? Er hatte alle Früchte gegessen, trotzdem fühlte er sich hungrig, sehr hungrig sogar. Er drehte sich beunruhigt um. »Regenbogen?« Jem fand sich in einem Weidenhain wieder. Blumen bedeckten den Boden, und ringsum herrschte eine fast unheimliche Stille. Nicht einmal das Zwitschern eines Vogels störte die duftende Ruhe. Jem ließ sich zu Boden sinken und überlegte, was er tun konnte. Wo war der Hund? Und was war hier mit der Zeit los? Der rötliche Glanz des Sonnenuntergangs verfärbte bereits den Himmel. Es würde bald Abend werden, und doch kam es Jem so vor, als wäre gerade erst eine
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Fünfzehn vergangen, seit er den geheimnisvollen Palast verlassen hatte. Er spielte mit den Blüten und rieb sie zwischen den Fingern. Da erst fiel ihm ihre Farbe auf: Natürlich, sie waren so bunt wie der Hund. Was bedeutete das, was hatte das alles hier zu bedeuten? Wenn er ein Gefangener war, wo steckten dann die Wachen? War dieser Trank vielleicht doch vergiftet gewesen? War dieser Garten eine Illusion ... War das alles hier eine Illusion? Jem kniff die Augen zusammen, einmal, zweimal, und schlug sie dann wieder auf. Es brachte nichts. Dreimal, viermal... Fünfmal. Wieder. Er schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte. Wenn er doch wieder auf der Catayane aufwachen könnte ... Nein, wieder im Schloss in Irion ... nein! Jem blickte auf den Regenbogen von Orokon, der in duftenden Blüten vor ihm lag. Plötzlich erinnerte ihn dieser Hain an einen anderen Ort, eine Lichtung, auf der er gelegen hatte, vor so langer Zeit, mit einem wilden Mädchen. Ehrfürchtig drückte er den Kristall an seine Brust. Eine Vision seiner Geliebten stieg vor seinen Augen auf, und er flüsterte wie ein Gebet: »Cata. Cata. Ich werde deine Liebe nicht enttäuschen.« Jem erhob sich und fühlte sich gestärkt. Er hörte ein freundliches Bellen, und als er zwischen den Bäumen hervortrat, sah er Regen bogen, dessen Farben in dem abendlichen Licht etwas gedämpft wa ren. Er stand am Rand eines künstlichen Beckens. Jem hielt die Luft an. Er hatte heute schon andere Becken gesehen, aber dieses war bei weitem das Spektakulärste. Es war ein langes Rechteck aus Wasser, das grünlich schimmerte und von Wasserlilien bedeckt war. Es schien sich beinahe endlos vor ihm auszudehnen ... Nein, nicht endlos. Auf der anderen Seite sah Jem das gewaltige Palastgebäude, das im Mondlicht glänzte. Natürlich musste ein so großes Bauwerk mehrere Fassaden haben, trotzdem fand Jem es
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merkwürdig, dass er das Becken heute Morgen von seinem Fenster aus nicht gesehen hatte ... und auch auf seinen Wanderungen bisher nicht darauf gestoßen war. Die Geographie dieses Ortes war wirk lich verwirrend. Andererseits war alles hier sehr großzügig und nach einem Prinzip angelegt, das Jem nicht verstand. Er blickte ins Wasser und sah sein Spiegelbild. Und noch ein an deres. »Cata?« Jem wirbelte herum. Natürlich, eine Illusion! Nur eine Illusion. Sehnsüchtig blickte Jem wieder ins Wasser. Wenn es nur wahr wäre! Einem plötzlichen Impuls folgend zog Jem die Kleider aus und sprang in das kühle, reine Nass. Seine Glieder und sein Haar schimmerten golden im Mondlicht, während er mit gleichmäßigen Zügen schwamm. Er dachte nur an die Pracht der Gärten, des Palastes und des Beckens. Als er das andere Ende erreichte, war er kein bisschen müde. Re genbogen wartete bereits auf ihn, ebenso wie der wunderschöne Jüngling vom Morgen. Er hielt ihm mehrere herrliche Kleidungs stücke hin. Ein Grinsen huschte über das mädchenhafte Gesicht. »Junger Herr, habt Ihr Euch erfrischt? Das ist gut, aber jetzt müsst Ihr Euch beeilen. Es ist Zeit für das Abendessen, und mein edler Herr wartet schon.«
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21. Palast der duftenden Stufen »Aiee! Aiee! Aiaiaiee!« »Was machen die da?«, fragte Rajal. In einer Gasse hinter den hohen Mauern drehten sich drei alte Männer mit schmutzigen weißen Turbanen im Licht der unterge henden Sonne unaufhörlich um sich selbst. Sie wirbelten in einem
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engen Kreis herum und schwangen die Hände hoch über ihren Köp fen. Ihre langen Barte bauschten sich und schlangen sich umeinander wie ihre unheimlichen Stimmen. Seit ihrer Ankunft in Qatani hatte Rajal mehr als einmal den Ruf zum Gebet gehört, doch dies hier war etwas anderes, etwas Fremderes. »Eine drollige Sitte«, meinte Lord Empster weltmännisch. »Drollig? Diese Männer könnten ein schlimmes Omen bedeuten, mein Lord!« Kapitän Porlo schüttelte sich. »Ich erinnere mich daran, dass ich kurz vor meiner Begegnung mit den Kobras solche Kerle gesehen habe. Sie haben geheult und geschrien wie die Wilden. Sie sind ein schlimmes Vorzeichen, wenn ich so sagen darf. Seht Ihr, Bubi mag sie auch nicht, was, meine Hübsche?« Mit einem Grinsen, das seine braunen Zähne zur Schau stellte, versuchte der Seebär seinen Affen auf der Schulter zu behalten. In der kühlen Abendluft hatten sich die drei Männer auf einer langen, niedrigen Terrasse versammelt, die zur Straße durch ein verziertes Eisengitter abgetrennt war. Von unten erlaubte es nur einen Blick auf ein geometrisches Muster, doch von drinnen hatte man einen prächtigen Blick über die Stadt, bis hinunter zum Hafen. Palmen ra schelten im Abendwind. Kuppeln und Minarette glänzten im Son nenlicht, aber das merkwürdige Lied der drei alten Männer dämpfte die Schönheit dieses Anblicks. »Wie ich sehe, lasst Ihr Euch von unseren Tänzern des Unter gangs unterhalten«, sagte jemand hinter ihnen. »Tänzer des Untergangs?« Beunruhigt drehte sich Rajal zu dem großen, eleganten Wesir Hasem um, der sie an diesem Nachmittag zuvorkommend im Palast begrüßt hatte. Der Wesir lachte. »Seid versichert, es ist nur ein Name, EmpsterSchützling. Denn wovon singen sie als von dem Untergang, der uns alle erwartet, das heißt alle von uns, die wir an die Freuden dieser Welt gebunden sind? Ihre Gesänge sind manchmal sehr unerquicklich für die Ohren unserer ausländischen Gäste, das stimmt. Aber die Tänzer des Untergangs sind heilige Männer und ziehen unbe
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helligt durch alle Länder Unangs. Ich bin sicher, dass der Schützling eines so vornehmen Botschafters wahrlich an die Lebensweisen fremder Völker gewöhnt ist.« Rajal errötete, aber bevor er etwas sagen konnte, erkundigte sich der Wesir, ob alles andere zu seiner Zufriedenheit wäre. Der junge Mann nickte eifrig und mit unverstellter Begeisterung. Niemand konnte den Luxus des Palastes der Duftenden Stufen bestreiten. Nachdem sie in herrlichen Zimmern gebadet und geruht hatten, war Lord Empsters Reisegesellschaft in prächtige Kleider gewandet worden, komplett mit juwelengeschmückten Turbanen nach der neuesten Mode von Unang. Selbst Bubi war mit einem goldenen Kragen und einem glatten, seidenen Kummerbund geschmückt worden. Rajal kam aus dem Staunen kaum noch heraus. Außerhalb des Pa lastes gab es viel Elend, das von den strahlenden Fassaden der Stadt verdeckt wurde, aber innerhalb der Palastmauern herrschte Pracht in einem Ausmaß, das Rajal noch nie gesehen hatte. Er wusste, wie leicht er von solchem Luxus verführt werden konnte, und war fast dankbar für das bedrohliche Klagen, das aus der Gasse zu ihnen he raufdrang. Doch noch etwas machte ihm Sorgen. »Wo ist Cata?« Bei ihrer Ankunft war Cata in einen anderen Teil des Palastes gebracht worden. Rajal hatte erwartet, dass sie ihnen bald wieder Ge sellschaft leisten würde, aber sie war bis jetzt nicht aufgetaucht. »Der weibliche Empster-Schützling wird bei den Damen dinie ren«, erwiderte der Wesir. »Wir pflegen hier nicht die Sitte der Ejländer, die Geschlechter zu vermischen. Außer natürlich, wenn Damen erforderlich sind«, fügte er anzüglich hinzu. Kapitän Porlo stieß Rajal in die Rippen. »Der war gut, was, Meis ter Raj? Wenn Damen erforderlich sind! Kobras oder nicht, einiges verstehen sie hier schon, in diesen Unang-Ländern!« Der Wesir wandte sich ihm zu. »Dann darf ich davon ausgehen, dass uns der Schuss vor den Bug vergeben ist, edler Kommandeur?
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Ein übereifriger Wachmann hat ihn abgegeben. Anscheinend hielt er Euch für einen wenayanischen Piraten, obwohl Ihr doch ganz deutlich die ejländische Flagge gehisst hattet. Der Narr wurde natürlich geblendet!« »Nein!«, stieß Rajal hervor. »So halten wir es hier.« Der Wesir lächelte. »Unsere Stadt bildet immerhin den Verbindungspunkt zu den Südlanden, und wir rüh men uns ob unserer Gastfreundschaft. Für die, die uns beschämen, darf es keine Gnade geben. Aber kommt, das Bankett wartet auf uns, und mein Herr ist begierig, seine Gäste endlich empfangen zu können.« »C-Cat?« »C-Cata?« »C-Catayane?« Die beiden Mädchen stolperten über den Namen und grinsten al bern, dann kicherten sie. Also wirklich, war das denn so schwer? Aber obwohl Cata sie für dumm hielt, vergab sie ihnen nur zu gern, als Sefita - oder war es Satima? - mit einer goldenen Schüssel war mes Wasser über Catas Glieder schöpfte. Sie lehnte sich zurück, genoss den Schaum und die Öle und atmete den Dampf ein. »Mm, ich glaube, mir gefällt Eure Gastfreunschaft hier in Qatani.« Als Antwort erntete sie ein Kichern. »Gast...?« »... freundschaft?« »Schon gut«, sagte Cata lächelnd. Die Mädchen hatten sie bereits abgeschrubbt und eine Schicht Dreck nach der anderen von ihrer Haut gekratzt. Jetzt wuschen sie gründlich und dennoch zart ihr langes Haar. Cata schloss die Au gen. Wann hatte sie sich das letzte Mal so sauber gefühlt? Seit ihrer Zeit bei Tante Umbecca hatte sie nicht mehr heiß gebadet, und auch damals nie so ausgedehnt. Das Bad war tief in dem Marmorboden
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eingelassen, und durch verborgene Leitungen floss das bereits vor geheizte Wasser hinein. Magie? Wenn ja, dann war das eine wundervolle Magie! Cata ließ ihren Gedanken freien Lauf. Sie dachte an das Dienst mädchen ihrer Tante, die arme Nirry, die mit einem Krug voll kochenden Wassers nach dem anderen die Treppe der Burg hinaufstieg, Wasser, das sie mühsam auf dem Küchenofen erhitzt hatte. Dabei schwappte die Hälfte auf den Teppich. Sie dachte an ihre Spaziergänge mit dem Mädchen im Garten der Sakristei oder den Weg zum Obstgarten hinauf und hinunter. Sie erinnerte sich daran, wie sie noch ein ungezähmtes Kind gewesen war und barfuß durch den Wildwald von Irion lief. Sie spürte die Farne an ihren Schenkeln, dann lag sie am murmelnden Flüsschen, weich und sicher am war men Ufer. Aber nein, nicht am Ufer. Im Wasser. Das Wasser ... Cata kam wieder zu sich. »Ihre Haut... So weich!« »Ihr Haar ... So lang!« »So blass ... So dunkel!« »Ihre Augen ... Ihre Lippen!« »Ach, Sefita!« »Ach, Satima!« Kichern und Seufzer. »Sefita! Satima!« Die Mädchen sprangen hoch. Der Befehl wurde von einem schar fen Händeklatschen begleitet. Eine massige Frau watschelte heran. Sie war sehr fett, trug viele Juwelen und hatte einen safrangelben Sari an. Auf ihrem wogenden Busen war ein großes, flaches goldenes Objekt befestigt, möglicherweise ein Orden. »Nutzlose Mädchen, ist meine Ejländerin denn immer noch nicht fertig? Wie soll sie meine Tafel zieren, wenn sie hier liegt und ihre schöne Haut verbrüht? Das arme Ding ist ja so rot wie ein Hum mer!«
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Die verwirrten Mädchen beeilten sich. Eine half Cata aus der tiefen Wanne, die andere hüllte sie in ein Badetuch, das weich und stark parfümiert war. Cata stotterte. »Gute Dame, ich bin sehr dankbar ...« Unsicher sah sie die beeindruckende Frau an. Die ihrerseits ihren Blick sehr selbstsicher erwiderte. Was sie so sicher machte, wusste Cata nicht. »Ja, Ejländerin, ich denke, so wirst du gefallen. Ich glaube, du wirst sogar ausgesprochen gut gefallen!« Rajal genoss den Luxus, der ihn umgab. Sie waren durch eine Reihe von Räumen gegangen, einer verschwenderischer eingerichtet als der vorige. An jeder Tür standen reglose Wachen mit verzierten, glitzernden Waffen. Die prachtvollen Türen glitten wie von Zauberhand auf, als wäre ein verborgener Mechanismus am Werk. Auf Rajal wirkte dieser Palast der Duftenden Stufen wie ein riesiges Labyrinth, und es war ihm schleierhaft, wie der Wesir sich hier zurechtfand. In den wenigen Augenblicken, seit sie die Terrasse verlassen hatte, fühlte sich Rajal bereits vollkommen verloren. Kapitän Porlo dagegen war einfach nur erschöpft. Energisch schwang er seine Krücke und versuchte, Schritt zu halten. Sein Holzbein pochte laut auf dem Marmorboden. Schließlich gelangten sie zu einem großen, goldenen Wandschirm, in den Rubine eingelassen waren, die das königliche Wappen bilde ten. Der Wesir schnippte mit den Fingern, und sofort tauchten vier ernste Sklavenjungen auf. Sie knieten demütig nieder, und jeder hielt ein Kissen mit Quasten hoch. Auf jedem Kissen lag ein merkwür diges Objekt, das wie die Schwingen eines Vogels geformt war. Drei dieser Objekte bestanden aus einer roten, hornartigen Substanz, das vierte war aus Bronze gegossen. Der Wesir wählte dieses für sich aus und befestigte es vor seinem Gesicht. Nur sein Mund war noch frei. »Das ist die Maske von Manjani, dem brennenden Vogel. Bevor er vor dem gemeinen Volk erscheint, legt mein Herr eine solche Maske
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an, allerdings ist sie aus Gold geformt. Wenn er in seinen Räumen diniert, wie heute Abend, ist sein Gesicht zwar unverhüllt, doch das Protokoll schreibt vor, dass seine Gäste eine solche Maske aufsetzen, um ihre Unterlegenheit anzuzeigen.« Rajal wollte nach dem brennenden Vogel fragen, aber etwas hielt ihn zurück. Vor wenigen Augenblicken hatte der Wesir noch so lie benswürdig gewirkt, doch mit dieser Maske sah er bedrohlich aus, und Rajal war eingeschüchtert. Unbeholfen wie seine Gefährten legte er die Maske an. Jetzt sahen sie alle geheimnisvoll böse aus, und Bubi hüpfte herum und schrie. Sie hätte allen die Maske herunter gerissen, wenn Kapitän Porlo sie nicht zurückgehalten hätte. Er klemmte sie unter seinem Arm fest und ließ ihren Schwanz nicht los. »Shh, meine Süße, shh. Sei leise!« »Fertig?« Der Wesir lächelte. Der Schirm glitt zur Seite, und sie betraten eine dämmrige Kam mer, aus der ihnen ein beißender Geruch entgegenschlug. Duftker zen bildeten die einzige Lichtquelle. Zu Rajals Überraschung enthielt diese Kammer weder Tisch noch Stühle, sondern nur eine lan ge, niedrige Platte in der Mitte, die mit goldenen Tellern und Kelchen gedeckt war. Am Kopfende dieser Tafel saß mit gekreuzten Bei nen auf einem hohen Polsterkissen ein rundlicher kleiner Mann mit einem Mondgesicht. Er lächelte geziert und balancierte den gewal tigsten Turban auf dem Kopf, den Rajal jemals gesehen hatte. Er war überrascht, denn er hatte eigentlich vermutet, dass die Gäste sich versammelten und eine Weile warteten, bevor der Monarch hereinkam. »Ah, Hasem!« Der Kalif klatschte in die Hände. »Sind unsere Gäste da? Meine Güte, wenn ich nicht so ungeheuer diplomatisch wäre, dann hätte ich längst alles heruntergeschlungen, so hungrig bin ich. Ach, der Hunger, meine Lieben!«, fügte er seufzend hinzu. »Die Staatslast, ihr wisst schon, die Bürden der Macht!« Drei weitere Gestalten mit Vogelmasken hockten bereits an der Seite der Tafel. Man stellte sich kurz vor, und der Empster-Lord, der
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Empster-Schützling und der Porlo-Kommandeur, der vornehmste Admiral der Ejländer-Marine, nahmen ihre Plätze an der freien Seite der Tafel ein. Wesir Hasem setzte sich an den Fuß der Tafel, sei nem Herrn gegenüber. Aus der Dämmerung tauchten Sklaven lautlos wie Gespenster auf und hoben die Deckel von den goldenen Schüsseln. Trotz seiner ei genen Gier war der Kalif großzügig und drängte seine Gäste, reich lich zuzugreifen. Rajal ließ sich nicht lange bitten und bemerkte erst jetzt, wie hungrig er gewesen war. Das Bankett war fantastisch, und wenn er einige Angebote auch ausschlagen musste, zum Beispiel Augen in Gelee, gebratene Zungen und gewürzte Bulleneier, gab es doch auch reichlich frisches Gemüse, das vom Vaga-Volk bevorzugt wurde. Rajal aß so gut wie schon seit Monaten nicht mehr. War ein Teller leer gegessen, verschwand er, und wie von Zauberhand tauch te ein frischer auf. Gemäß der Sitte von Unang wurden keine berauschenden Getränke serviert, aber die blubbernde Wasserpfeife, die zwischen den Gängen herumgereicht wurde, ersetzte diesen Mangel mehr als reichlich. Rajal sog den süßen Rauch tief ein und fühlte, wie ihm an genehm schwindelte. Aber wenn er sich in diesen Augenblicken der Ruhe zurücklehnte, überkam ihn auch eine gewisse Beunruhigung. Vielleicht lag das daran, dass er in diesem Augenblick in die Reihe der Masken blickte, die ihm auf der anderen Seite der Tafel gegen übersaßen. In ihren vornehmen seidenen Gewändern wirkten diese Gäste ge nauso wie die kleine Gruppe von Lord Empster, nur waren ihre Masken blau statt rot. Der Wesir hatte erklärt, dass es sich bei die sen drei Männern um eine Handelsdelegation aus den entlegensten Gebieten Wenayas handelte, die nur eine fremde Sprache verstan den. Tagsüber berieten sie im Beisein der königlichen Übersetzer, doch heute Nacht waren sie nur zum Essen hier. Denn der Kalif drückte die Tiefe seiner Freundschaft für ihr Inselvolk nicht nur durch Worte, sondern auch durch die Schätze seiner Küche aus.
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Die Wenayaner schienen diese Gastfreundschaft zu genießen, aber ihr Schweigen beunruhigte Rajal. Von Zeit zu Zeit schnappte er unter einer der Masken einen forschenden Blick auf und fragte sich, ob die anderen Gäste wirklich nichts von der Unterhaltung ver standen. Mehr als einmal während des Essens hatte Rajal trotz des Gelächters das Gefühl, in eine Art Spiel verwickelt worden zu sein. Aber was hatte es zu bedeuten? Zerstreut schüttelte er ein wenig schroff den Kopf, als ihm der Kalif einen Bullenhoden anbot.
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22. Landesbräuche
Es war kein Ende des königlichen Banketts abzusehen. Immer mehr exotische Speisen wurden aufgetragen, einige davon waren grotesk, andere sublimer. Und immer noch machten Scherze an der Tafel die Runde. Mittlerweile hatte der Kalif Lord Empster gebeten, sich neben ihn zu setzen, und schmeichelte ihm übertrieben. Der Edel mann war in den Künsten der Diplomatie bewandert und wusste, dass dies nur eine Erwiderung seiner eigenen Komplimente war. »Also wirklich, Empster-Lord. Ihr seht kein bisschen älter aus als damals, als ich noch ein Junge war.« »Könnt ihr durch die Maske blicken? Euer Erhabenheit, ich bin beeindruckt von Euren Kräften!« »Ach, Ihr! Es sind Eure Hände, versteht Ihr. Kein einziger Le berfleck ist zu sehen, und so glatt sind sie. Nehmt Ihr Eselsmilch? Blut von Unschuldigen? Wisst Ihr, als Ihr uns vor all diesen Son nenwenden besucht habt, ich war damals natürlich noch ein Kind, habe ich oft Eure Hände angesehen und bewundert. Ich sagte mir, Oman, was würdest du tun, um solche Hände zu haben? Und wisst Ihr was, mein Lieber? Es macht mir nicht einmal etwas aus, das zu
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zugeben. Wie ich schon zu Hasem sagte, man kann noch so stolz sein, aber es kommt eine Zeit, in der man sich dem stellen muss Hand ist nicht gleich Hand, hm? Aber was sehe ich: keine Ringe, kein Nagellack? Was für eine Enthaltsamkeit, wenn ich so sagen darf. Vermutlich denkt Ihr jetzt, ach, gewiss denkt Ihr das, ich ginge wirklich etwas zu weit.« Der Kalif streckte die Hände aus. Er hatte kleine, pummelige Finger, die unter all den Ringen kaum zu sehen waren. »Im Gegenteil, Erhabener«, erwiderte Lord Empster. »Ich kann nur den Scharfsinn bewundern, mit dem Ihr Euch geschmückt und die beiden Laster der falschen Bescheidenheit und der Protzigkeit gleichermaßen vermieden habt.« Der kleine Mann kicherte und schnalzte mit der Zunge. »Nun, Hasem, habt Ihr das gehört? Ich sagte doch, es gibt keinen besseren Burschen als unseren Empster-Lord, stimmt's? Ein paar nette Kom plimente, mehr will ich nicht, und er versorgt mich reichlich damit. Ich denke, dass Ihr meine rechte Hand werden könntet, nun, was sagt Ihr dazu? Nichts für ungut, Hasem, nichts für ungut!« Die bronzene Maske verbeugte sich respektvoll und wandte sich dann Lord Empster zu. »In der Tat, Empster-Lord, Seine Herrlich keit freut sich auf noch mehr gelehrte Gespräche mit Euch. Sein Onkel, der verblichene Kalif, gesegnet sei sein Andenken, hat oft von Eurer Weisheit gesprochen und sich gewünscht, dass dieses Kalifat eines Tages von Eurer Anwesenheit profitieren möge.« »Guter Wesir, ich danke Euch.« »Der Dank, Empster-Lord, ist ganz auf unserer Seite.« Die Komplimente wären wohl noch eine Weile hin und her ge flattert, wenn nicht ein lauter Wind aus Kapitän Porlos Richtung geblasen hätte. Der Kalif kicherte, und sofort wimmelten Sklaven um die Tafel, die mit Wedeln Zitronenduft in der Luft verteilten. Der Kapitän schnüffelte mürrisch und packte Bubi fester am Schwanz. Obwohl er anscheinend reichlich dem Jarvel zugesprochen hatte, schien der alte Seebär den Abend nicht so zu genießen wie seine
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Mitreisenden. Er war so scharf gewürztes Essen nicht gewöhnt, die unruhige Bubi strengte ihn an, und außerdem fiel es ihm schwer, sich mit gekreuzten Beinen hinzusetzen. Verstohlen hatte der Kapitän unter den Roben den Lederriemen seines Holzbeins gelockert, mit dem es an seinem linken Stumpf befestigt war. Unglücklicher weise fühlte er sich verletzlich, wenn die Prothese nicht fest saß, und außerdem wollten ihm die Gedanken an die Kobras nicht aus dem Kopf gehen. Er hätte den Kalifen gern gefragt, ob er sie noch hielt, aber mittlerweile nahm die Unterhaltung eine andere Richtung. »Kommt, Empster-Lord, Ihr müsst uns alle Neuigkeiten aus Agondon berichten«, verlangte der Kalif und spießte ein Schafsauge mit einer Metallzinke auf. »Ich habe gehört, dass sie dort nur noch Blau tragen, nichts als Blau, wohin man auch blickt! Es gibt doch sicherlich etwas mehr Abwechslung, oder?« Der Wesir äußerte sich etwas vornehmer. »Diese letzten Kriege in Eurem Reich, Empster-Lord, haben uns große Sorgen bereitet. Ich nehme an, dass die Verräter alle mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden sind?« »Ich bin sicher, dass Euer Schützling ein modebewusster junger Mann ist«, führte der Kalif ungeachtet des Einwurfs seine Gedan kengänge fort. »Die rote Maske steht ihm ausgezeichnet, stimmt das nicht, Hasem? Würde er Rot tragen, wenn er wieder zu Hause ist?« »Erhabener«, erklärte Lord Empster, »Rot ist eine sehr hübsche Farbe und, wie ich weiß, außerdem im Reich von Unang auch ge heiligt. Leider ist sie in Ejland die Farbe des Verrats!« »Was Ihr nicht sagt!« Augengelee tröpfelte vom Kinn des Kalifen. Der Wesir räusperte sich. »Stimmt es«, fuhr er fort, »dass die Hafenanlagen in Agondon unter Wasser stehen? Was für eine tragische Situation für eine so große Handelsstadt! Ich habe gehört, dass sie auf unsicheren Grund gebaut worden sind.« »Unsicher!« Kapitän Porlo musste einfach protestieren. Obwohl er die Flaggen aller Nationen in seinem Schrank verwahrte, verstand sich der alte Seebär dennoch als loyaler Ejländer. »Die Docks von
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Agondon sind die besten in der Welt!«, bellte er. »Nicht zu verglei chen mit Eurem baufälligen, fremdländischen Müll!« »Ich würde sagen«, meinte der Kalif, »das hier ist doch etwas sehr scharf!« Er sprach vom Lungen-und-Euter-Curry. Lord Empster lachte. »In seinem Patriotismus vergisst mein Freund, dass unsere kaiserliche Stadt hauptsächlich auf Neuland ge baut ist, das vom Meer zurückgewonnen wurde. Es stimmt, dass ei nige Gebiete von Agondon durch das extrem schlechte Wetter der letzten Zeit überflutet worden sind. Aber sowohl die Stadt als auch die Hafenanlagen meines Freundes dürften sicher sein.« Kapitän Porlo knurrte und sog an der blubbernden Wasserpfeife. Bubi wurde immer unruhiger. Die kleine Affin war anscheinend von den schweigsamen Gästen, die sich hinter den blauen Masken verbargen, fasziniert. Mehrmals war sie über die Tafel gesprungen und hätte auch einige Masken herunterreißen können, wenn agile Sklaven sie nicht vorher eingefangen hätten. Jetzt hatte der Kapitän sie an die mit einer Quaste verzierte Gür telschnur seiner Unang-Robe festgebunden. Bubi hatte sich erst über diese Beschränkung beschwert und dann beide Hände unter ihren Kummerbund gesteckt. Sie kratzte sich ausgiebig an ihrer räudigen Stelle. Sie hatte weder die Nüsse noch die gezuckerten Früchte angenommen, die ihr die Sklaven angeboten hatten. Aber sie be ruhigte sich ein bisschen, nachdem sie an der Wasserpfeife genuckelt hatte. »Darf man also davon ausgehen, Empster-Lord, dass ihr diesen ›Die-Zeit-wird-enden‹-Anhängern keinen Glauben schenkt?«, frag te der Wesir gerade. »Wir in den Südlanden können nicht umhin festzustellen, dass sie Eurem ejländischen Kalender eine besondere Konsequenz zumessen.« Lord Empster lächelte. »Es gibt viele, die darauf hinweisen, dass die Kalender von Menschen gemacht worden sind und nicht als ein
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Produkt der Götter betrachtet werden sollten. Doch stammt nicht Euer eigener Kalender aus der Zeit, in der Euer Feuergott dem Pro pheten in der Wildnis erschien? Ein Kalender ist immer halb Werk der Götter, auch wenn es die Menschen sind, welche die Jahre zählen. Es sind die Götter, die entschieden haben, wie lange diese Jahre andauern sollen. Aber wenn Ejländer sagen, der tausendste Zyklus bezeichnet das Ende der Zeit, kann man nur hoffen, dass sie sich irren. Sollte es stimmen, bliebe uns nämlich nicht mehr viel Zeit.« »Allerdings«, erwiderte der Kalif. »Stellt Euch vor, die Zeit würde aufhören, bevor ich mein Essen aufgegessen habe! Oder bevor wir die neuen Elefanten bekommen, die wir bestellt haben. Zeremonientiere, Ihr wisst schon! Sie haben beeindruckende Rüssel. Der Große wird grün vor Neid werden. Jedenfalls hoffe ich das.« »Was ist mit den Omen?«, fragte Rajal plötzlich. »Was sagt er?« Der Kalif leckte ein Sorbetglas aus. Lord Empster versetzte dem jungen Mann einen warnenden Stoß, aber es war bereits zu spät. Rajal hatte sich zu großzügig vom Jarvel bedient, und seine Zunge saß locker. Die Leute mochten ja ahnungslos ihren Geschäften nachgehen, meinte er, aber es gäbe genug Anzeichen, dass die Zeit des Sühneopfers dem Ende entgegenginge. Ein neues Zeitalter dämmere für die Frauen und Männer auf der Erde heran, aber ob es ein Zeitalter des Terrors oder des Segens sein würde, wäre noch im Schoße der Zeit verborgen. Lord Empster räusperte sich und wollte nach den Zeremonienelefanten fragen, aber der Wesir hob plötzlich die Hände wie Klau en über den Kopf und rief: »Geschöpfe des Bösen!« Bubi schrie. Rajal hielt die Luft an. Der Kalif ließ sein Sorbetglas fallen. Nach einer Schrecksekunde lachte der kleine Mann jedoch. »Ach, Hasem, jetzt habt Ihr mich aber schockiert. Euch auch, Jungs? Einen Moment dachte ich, er wäre besessen, und zwar von einem
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nicht besonders erfreulichen Geist, möchte ich hinzufügen. Aber wirklich, heutzutage gibt es so viel Böses, hab ich Recht? Hasem, hast du unseren Freunden schon von dem Schwarzen Reiter er zählt?« »Noch nicht, Erhabener. Aber ich werde sie natürlich zu der mor gigen Exekution einladen.« »Exekution?« Rajal spürte, wie die Wärme des Jarvel nachließ und einer kalten Furcht wich. »Aber ja«, erwiderte der Kalif und stopfte sich kandierte Früch te in den Mund. »Der Große, ich spreche von meinem Bruder, Ihr versteht schon, hat mir eine Nachricht gesandt, was sehr höflich von ihm war. Leider wurde sein Reiter, sein Bote, niedergeschlagen und getötet! In meinem Herrschaftsgebiet! Glücklicherweise hat man das kleine Miststück erwischt, das die Tat begangen hat, nicht wahr, Hasem?« »Ich muss den Übeltäter noch persönlich begutachten, Eure Herrlichkeit, aber soweit ich weiß, schmachtet das Kind im Moment in den Verliesen.« »Hm. Sehr gut. Er wird seinen wohlverdienten Lohn morgen empfangen, nicht wahr?« »Allerdings«, erwiderte der Wesir lächelnd. »Das wird er.« Rajal fühlte ein Kribbeln im Hals, aber er wusste nicht, ob er protestieren oder sich übergeben sollte. Der Kalif drehte sich liebenswürdig zu ihm um, und Rajal konnte nur stammeln: »H... Habt Ihr denn die B... Botschaft erhalten?« Der Kalif hob die Hände. »Aber natürlich nicht, mein Lieber! Der Reiter hat die Botschaft im Kopf. Ich nehme an, dass es nichts Wichtiges war. Eine Order nach mehr wenayanischen Sklaven oder Grüße zu Shimmys Namenstag, wer weiß? Und dann verteilt der Reiter sein Hirn bei irgendeiner schmutzigen Karawanserei auf der Straße nach Qatani. Was für ein Ort, um seinen letzten Schnaufer zu tun, wenn Ihr mir diesen Ausdruck verzeiht. Jetzt müssen wir warten,
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bis der Große es mir wieder gibt. Seine Nachricht, meine ich. Sollte es etwas Aufregendes gewesen sein, dürfte er sich wohl bei der Wie derholung besonders beeilen.« »Eure Lebensart ist wirklich anders als unsere, Erhabener«, be merkte Lord Empster. »In Ejland würde man ein solches System als höchst unpraktisch ansehen, weil alles von dem Leben eines Reiters abhängt.« »Aber es ist doch sehr praktisch«, sagte der Kalif. »Denn wer würde schon einem Reiter etwas antun? Außer vielleicht diese kleine Kreatur aus der Karawanserei. Wenn ich mir vorstelle, dass mein Land eine solche Verderbtheit beherbergt hat! Eine Schande, Hasem. Werden wir das jemals überwinden? Nun, ich denke, das werden wir.« Der Kalif schob sich eine Feige in den Mund und bemerkte zu spät, dass sie viel zu groß war. Seine Wangen blähten sich beim Kauen auf, und zwischen den einzelnen Bissen fuhr er nachdenklich und undeutlich fort: »Jetzt erinnere dich daran, Hasem, dass ich die Angelegenheit ausschließlich den königlichen Graveuren vorbehalten will. Und dass nicht wie letztes Mal unerlaubte Bilder in allen Ecken und Enden des Königreichs auftauchen, und zwar mehr oder we niger mit Eurer Zustimmung. Würdet Ihr auch sagen: kastrieren, Haut abziehen und Eingeweide rausholen, in dieser Reihenfolge? Sollten wir danach die Gliedmaßen abhacken, ein Teil nach dem anderen? Das ist nach den ersten zwei immer ein bisschen langweilig, findet Ihr nicht?« »Allerdings, Erhabener«, erwiderte der Wesir. »Aber darf ich vom Kastrieren abraten? Ich denke, in diesem Fall wäre es vielleicht ... unangebracht.« »Unangebracht? Für den Mord an einem Reiter?« Der Wesir war so in Gedanken versunken, dass er nicht einmal lächelte. »Studien zeigen, dass Bewerbungen für den Eunuchendienst nach einer öffentlichen Kastration erheblich nachlassen. Es wirkt dann immer wie eine Bestrafung. Eure Herrlichkeit, wir wollen uns
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in Erinnerung rufen, dass Eure Tochter auf dem Balkon erscheinen wird. Und sicher wird der Pöbel etwas weniger Verstümmelungen akzeptieren, wenn er erfährt, dass ihm in Kürze eine so große Eks tase des Geistes zuteil wird.« »Ekstase? Wirklich, Hasem, wenn du das sagst, klingt es so, als würden wir meine Tochter dem Pöbel zum Vergnügen darbieten.« »Aber Erhabener, in gewisser Weise tun wir das.« »Also wirklich!« »Entschuldigt«, mischte sich Rajal neugierig ein. »Ich wusste gar nicht, dass Eure Herrlichkeit mit einer Tochter gesegnet ist.« Lord Empsters Augen blitzten hinter seiner Maske, vielleicht ein bisschen ironisch. Der Kalif hob eine wohl gezupfte Augenbraue, als wolle er andeuten, dass er trotz aller gegenteiligen Annahmen ein höchst vielschichtiger Mann war. Es blieb Hasem überlassen fest zustellen, dass anscheinend Ejland erheblich weniger Nachrichten aus Unang Lia erreichten, als es umgekehrt der Fall war. Wusste denn der Empster-Schützling tatsächlich nichts von Qatanis kost barstem Juwel? »Juwel?« Rajal schluckte schwer. Verstohlen tastete er mit der Hand an seine Brust und fühlte den Kristall des Koros. Vielleicht lag es nur an dem Jarvel, aber ihn überkam eine Vorahnung, ein aller dings noch sehr unklarer Hinweis, der vielleicht bei ihrer Suche hel fen konnte. Wenn Jem nur hier wäre! Anscheinend ahnte der Wesir jedoch nichts davon. »Empster-Schützling«, sagte er, »es gibt eine Sitte in unserem Land, genannt die Königliche Enthüllung, bei der der Kalif, wenn er vor seinem Volk erscheint, den Leuten seinen schönsten weiblichen Schatz zeigt. Und dort vor dem gierigen Mob steht sie dann, un verschleiert und nur in die fadenscheinigsten Gewänder gehüllt. Damit die anderen Frauen sehen, was sie beneiden können, und alle Männer vor Augen haben, was ihr Begehren anstachelt. In früheren Zeiten stellten die Kalifen diese oder jene exotische Konkubine zur Schau oder eine lüsterne Sklavin vom Markt. In jedem Fall war es
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immer ein anderes Mädchen, aber die Reaktion der Menge war immer dieselbe: Begeisterung und Schreie der Abscheu und Lust.« »Barbarisch«, sagte der Kalif mit überraschend viel Gefühl. »Allerdings«, erwiderte der Wesir, »aber ein mächtiges Symbol, Erhabener, Eurer männlichen Macht.« »Meiner Macht? Also wirklich, Hasem!« »Ich meine, die Macht des Kalifen. Ich meine, es wäre doch Eure Macht, wenn ihr...« Die bronzene Maske drehte sich zu den Gästen um, und obwohl der Wesir die Stimme gesenkt hatte, wusste Rajal, dass er jetzt den entscheidenden Hinweis erhalten würde. Ihm war nicht klar, woran er ihn erkennen würde, aber eine merkwürdige Er regung hatte ihn gepackt. Er räusperte sich und lächelte, denn er neut bemerkte er die beobachtenden Augen hinter den blauen Mas ken. Der Wesir sprach weiter. »So war es in der Vergangenheit, versteht Ihr, diese verächtliche Lust und der Neid. Jetzt ist alles anders, denn es war der weise Erlass unseres derzeitigen Herrschers, dass kein Schatz des schönen Geschlechts wertvoller für ihn sein könnte als seine Tochter. Anscheinend stimmten die Menschen unserer Provinz darin mit uns überein, denn wenn die Prinzessin auf dem Balkon er scheint, verstummt die Menge vor Ehrfurcht. Jetzt gellen weder Schreie der Lust noch des Trotzes, sondern es erhebt sich eine Wel le geistiger Macht, die zwischen den Menschen und der Person hin und her fließt, die der Pöbel die Schimmernde Prinzessin genannt hat, so groß ist ihre Schönheit. In allen Ländern Unangs hat sich ihr Ruhm verbreitet, und es gibt nur wenige, die ihren Kopf nicht nei gen und eine solche Schönheit segnen oder beten, dass die Götter Prinzessin Bela Dona behüten mögen.« »Bela Dona?« Es war das erste Mal, dass der Wesir den Namen nannte, und wie seine Gefährten wiederholte Rajal ihn leise. Konnte das der Hinweis sein? Schon in dem Namen schien eine merk würdige Magie zu liegen. So schrecklich die morgige Exekution auch sein würde, Rajal
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konnte es kaum erwarten, dass er diese geheimnisvolle Bela Dona mit eigenen Augen betrachten konnte.
23. Eine andere Mutter Madana Jem kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er war scheinbar end los dem mädchenhaften Knaben gefolgt, hatte hierhin und dorthin geschaut, während er durch die hell erleuchteten Kammern ging, in denen jetzt ihre ganze Pracht erstrahlte. Hinter Jem ertönte das Klicken von Regenbogens Klauen auf dem Boden, und von vorn drang Musik in sein Bewusstsein, aufgeregte Stimmen und perlendes Gelächter. Trotzdem war der Bankettsaal ein Schock für ihn. Jem hatte ge glaubt, dass dieser Ort verlassen wäre! Aber es waren bestimmt an die tausend fröhliche Gäste anwesend! »Ach, mein junger Freund!« Der Knabe verschwand, und eine große, exotisch wirkende Gestalt kam auf den Neuankömmling zu und umarmte ihn entzückt. »Lasst mich Euch ansehen ... Ah, ihr habt Euch noch nicht ganz erholt, wie ich sehe!« »Erholt?«, murmelte Jem verblüfft. Sein Gastgeber war ein älterer Mann mit glitzernden Augen und einem langen, wehenden Bart. Er trug einen schwarzen Turban, der mit Juwelen bedeckt war, und einen glitzernden Umhang. Seine lan gen Finger waren mit Ringen geschmückt, und um seinen schlaffen, faltigen Hals hingen Ketten aus Gold und Silber. Mit einem freundlichen Lächeln tätschelte er Jems Arm. »Es dauert... lange. Ihr seid blass, und ich bemerke die Sorge in Eurem Blick. Aber kommt, Ihr sollt Euren Platz neben mir einnehmen. Wie Ihr seht, hat sich Eure Gefährtin bereits zu uns gesellt.« Die Ringe blitzten, als der alte Mann mit der Hand auf ein Podest
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deutete. Es erhob sich über das Gewirr in dem Saal, und Jem sah da rauf eine Vision, bei der ihm das Herz in der Brust hüpfte. »Cata!«, rief er und stürmte los. Doch nein. Es war das Mädchen aus dem Wagen. Jem stolperte und hielt sich die Stirn. Plötzlich überfiel ihn die Mattigkeit wie eine Woge, und er starrte ausdruckslos in die Helligkeit, auf den Glanz der exotischen Früchte, das Glitzern der Juwelen und die prächtigen Stoffe. Dann kniff er die Augen zusammen. Selbst die luxuriöseste Pracht Agondons konnte es nicht einmal annähernd mit einer so verschwenderischen Zurschaustellung von Luxus oder mit so üppig gedeckten Tischen aufnehmen. Gesichter in seiner Nähe wandten sich ihm zu und zeigten ihm ein freundliches Lächeln und strahlende Augen. »Wie ich sagte, Ihr seid noch nicht ganz wiederhergestellt.« Eine beringte Hand legte sich leicht auf seinen Arm. »Die Ouabin sind hinterhältig, und diese Gegend hier hat viele Entführungen in den letzten, gefährlichen Mondleben gesehen. Ich kann dem mächtigen Theron nur danken, dass wir Euch retten konnten ... Aber leider nicht rechtzeitig genug, um zu verhindern, dass Vergessen Eure Sinne überwältigte. Ihr werdet Opfer der merkwürdigsten Illusionen sein ... in den nächsten Tagen, leider, leider.« Der alte Mann seufzte, doch dann hellte sich seine Miene wieder auf. »Wie ungehobelt ich doch bin! Erlaubt mir, mich vorzustellen. Ich trage den Namen Almoran, und Ihr seid in meinem bescheide nen Heim herzlichst willkommen, Prinz Jemany.« »Ihr wisst, wer ich bin?« Jems Gastgeber lachte. »Prinz, ich bin ein alter Mann, das ist wohl wahr, und meine Fähigkeiten lassen nach, aber glaubt Ihr wirklich, dass ich den Erben des mächtigsten Reiches der Welt nicht kennen würde?« Nachdenklich blickte Jem in die funkelnden Augen.
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»Blass. So blass!« »In meinem Land ist das dunkel.« »Man heißt Euch dunkel?« »Ja.« »Euer Haar?« »Die Haut.« »Nein!« »Doch.« »Nein. Sie ist cremig, cremig.« Eine Hand liebkoste sie, und Cata musste nicht zum ersten Mal mit dem Drang kämpfen, sie einfach beiseite zu schlagen. »Sefita!«, rief jemand. Die Hand zog sich rasch zurück. Cata drehte sich zu ihrer Gastgeberin um und lächelte. Erneut. Aber allmählich strengte sie dieses Lächeln an. Wenn dieses Mahl doch endlich zu Ende ginge! Wenn sie doch ihre Freunde endlich wieder sehen könnte! »Ach, Satima!«, erwiderte ihre Gastgeberin lächelnd. »Cata«, verbesserte Cata sie. Wie oft schon? »Für mich bist du Satima. Alle meine Mädchen, alle heißen Satima. Oder Sefita.« »Wie könnt Ihr es dann wissen?«, fragte Cata mit zusammengebissenen Zähnen. »Welche welche ist, meine ich.« »Ach Sefita, warum sollte ich es wissen, würden die meisten fragen!« Cata würde diese Frage jedenfalls nicht stellen, das war ihr klar. Sie hatte diese Spiele satt, sie war müde, und ihr war unwohl. Ihre Beine waren verkrampft. Der Sari, den man ihr gegeben hatte, scheuerte auf ihrer Haut. Sie rutschte auf dem Kissen hin und her und zupfte an dem Gewand. Barsch winkte sie ein zweites Sorbet hinweg. »Komm, Satima, wir müssen dich ein bisschen mästen!«
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»Ich bin doch keine Gans«, protestierte Cata. »Ach, Sefita, wie geistreich du bist. Aber halte das bitte zurück, wenn du die Männer triffst.« »Männer?« Die Augen der alten Frau blinkten fröhlich. Cata versuchte, ihre Wut unter Kontrolle zu halten. Mutter Madana, das schien der Name ihrer Gastgeberin zu sein, thronte über einem langen, niedrigen Tisch, umgeben von Kissen, Teppichen und Wandschirmen. Etwa zwanzig Mädchen saßen an der Seite der beeindruckenden Frau. Wie sie waren alle in Safran ge kleidet, das im Licht der vielen Kerzen leuchtete. Große, dunkle Männer, merkwürdig feminine Männer, gingen hin und her und ser vierten eine Mahlzeit, die kein Ende nehmen wollte. Seit Cata Tante Umbecca verlassen hatte, war sie nicht mehr Gast einer solch extravaganten Mahlzeit gewesen. Vermutlich sollte sie sich geehrt fühlen. Geschmeichelt. Aber wie sollte das angehen? Ihre Wünsche, mit ihren Freunden zusammen speisen zu dürfen, waren mit Gelächter quittiert worden. Mutter Madana, die Sefitas und Satimas schienen ihre Geduld auf die Probe stellen zu wollen. Aber das war längst nicht das Schlimmste. Hinter den Diwans und Wand schirmen wurde geflüstert, geweint und leise geschluchzt. Manch mal hörte Cata sogar das Klirren von Ketten, aber selbst dann schien es, als ob nur sie es bemerkte. War der Saal vielleicht verwunschen? Jemand neben ihr kicherte. »Geh zur Seite!« »Nein.« »Fair ist fair!« »Du hast mich gekniffen!« »Geh zur Seite!« »Ooch!« Die Mädchen kämpften darum, neben ihr sitzen zu können. Cata riss sich zusammen, und das Tätscheln ging weiter. Diesmal waren es andere Hände, die sie streichelten, drückten und schubsten. Es
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war mehr, als sie ertragen konnte. Warum hielten diese Mädchen sie für ein so großes Wunder? Und warum benahmen sie sich wie kichernde Närrinnen? In einer Ecke neben einem Schirm erhaschte Cata einen Blick auf eine Kette. »Ach, Satima, ich sehe deine Zukunft!« Cata blickte Mutter Madana scharf an. »Meine Mädchen, wie sie dich lieben! Wie werden das dann erst die Männer tun!« Cata runzelte die Stirn. »Wie werden sie was tun?« »Na, dich lieben, natürlich. Silberfisch Satima!« »Was?« »Dummes Mädchen, verstehst du denn nicht? Du bist jetzt in Qa tani. Sieh nur, ach was sage ich: Fühle!, wie eine Ejländerin hier ge schätzt wird.« Lachend strich Mutter Madana über die goldene Me daille, die an ihrer Brust befestigt war. »Ich bin keine Ejländerin«, erwiderte Cata kalt. Auch das sagte sie nicht zum ersten Mal. Die Antwort war dieselbe: »Unsinn! Sefita, du bist vielleicht ein bisschen kantig, aber ich habe gesehen, wie du deine Serviette auf gefaltet hast! Glaubst du, dass ich ein Quick-Mädchen nicht erken ne, wenn ich eins sehe?« »Ihr kennt Quicks?« »Satima, wer kennt sie nicht! Jedenfalls unter uns Kennern? Und folgt denn meine eigene kleine Schule nicht dem Beispiel dieser berühmten Akademie?« Mutter Madana senkte den Blick und schwenkte Brauselimonade in einem ballonähnlichen Glas. »Du hast übrigens nicht zufällig dein Zeugnis dabei?« Das war wirklich zu viel. Den ganzen Abend hatte Cata sich zu sammengerissen, ihre Wut beherrscht und ihre Ängste ausgeblen det. Doch diese scheinbar beiläufige Bemerkung brachte ihre Wut zum Überkochen. Grob befreite sie sich von den tätschelnden Mädchen und stolperte von der Speisetafel zurück.
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»Wer seid Ihr? Was wollt Ihr von mir?« »Ein lebhaftes neues Stück Fleisch!«, ertönte eine Stimme hinter ihr. Cata wirbelte herum. Der Besucher hatte sich unbemerkt hereingeschlichen. Es war ein Mann. Aber er war ganz anders als die hoch gewachsenen, eleganten Sklaven, die ihnen die Mahlzeit serviert hat ten. Der Neuankömmling war ein fetter, schäbiger Kerl mit einem schlecht gewickelten Turban. Er war unrasiert, fettig und primitiv, schwankte ein bisschen und stank nach Ferment. Doch das schien Mutter Madana nicht zu stören. »Eli! Eli Oli Ali!«, rief sie begeistert. Sie erhob sich von ihrem Kissen, umarmte den Mann und küsste ihn. Sie schlugen sich auf die Hände. »Heh!« »Heh-Heh!« Cata nutzte ihre Chance, das heißt, sie wollte es. Die Türen waren offen, und sie stürmte los. Aber sie kam nicht weit. Sofort umringten sie zehn, fünfzehn Satimas und Sefitas, lächelten, gurrten und betatschten sie. »Wie hübsch, so hübsch.« »Mmh, ihre Haut!« »Ihr entzückendes Haar!« »Lasst mich los! Lasst mich endlich los!« Eli Oli Ali schien entzückt. »Was soll das werden, Mutter? Kat zenkampf Übungen?« »Pah! Unser neuer Silberfisch ist temperamentvoll, das ist alles. Haltet sie fest, Mädchen. Sie wird sich wieder beruhigen.« »Ein Silberfisch? Und dann auch noch ein kratzbürstiger?« Er grinste gierig. »Nicht für dich, Eli.« »Mutter, Ihr seid grausam!« »Grausam? Sie ist eine Quickie. Noch ein bisschen mehr Ausbil dung hier bei mir, und dann stell dir vor, was sie für einen Preis er
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zielt. Du kennst unsere Abmachung, Eli. Die Gemeinen für dich. Qualität ist mein Ressort. Ich entscheide, und die hier ist erste Wahl.« »Pah! Sie sieht eher nach Schwierigkeiten aus, wenn Ihr mich fragt.« »Sollte sie zu viel Schwierigkeiten machen, gehört sie dir, das verspreche ich. Aber Eli, es ist ihre erste Nacht. Mach ein paar Zu geständnisse, hm? Erinnerst du dich nicht mehr an die Kaiserin von Zalaga? Sie saß da, spuckte, fauchte, kratzte und fluchte die ganze Zeit, bis ich sie endlich gebrochen habe. Und sieh sie dir jetzt an!« Die alte Frau streckte ihren mächtigen Busen vor. »Du hast doch wohl meinen Königlichen Exportorden schon bemerkt, oder nicht?« »Sehr oft«, erwiderte der fette Kerl mürrisch. Mutter Madana rieb sich die Hände. »Aber komm, Eli, hast du deine Schwester mitgebracht? Wenn wir schon von Qualität reden, meine ich. Hm?« Es gab eine Pause. Eli Oli Ali schnüffelte herzerweichend. »Eli?« »Leider!« »Eli, nein!« »Die Ouabin!« Mutter Madana schrie und stampfte mit dem Fuß auf. Dann warf sie sich auf ein Sofa, das mit Kissen übersät war. »Die Schönheit der Schimmernden Prinzessin, hast du gesagt, und dazu der fleischliche Charme einer Hure! Ich war sicher, dass ich für sie den nächsten Or den bekäme! Und dann verlierst du sie! Vergewaltigt in der Wüste, in einem Ouabin-Zelt!« Der Hurenbock schnüffelte. »Es kommt noch schlimmer!« Mutter Madana blickte auf. »Was kann schlimmer sein?« »Ich habe sie den Ejländern versprochen! Heute Nacht!« »Was?«, rief Mutter Madana. »Was?«, echote Cata.
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Aber ihre Gastgeberin hörte sie nicht. »Du Narr, Eli! Du Narr und Opportunist! Hätte mich Casca Dalla so hintergangen? Oh, ich wusste, dass dein Glück dich verlassen hat, ich wusste es! Ich sollte das Mädchen ausbilden, du hast sie mir versprochen, mir! Nicht diesen brünftigen Hunden! Würdest du denn ein so wunder volles Stück Fleisch als ordinäre Hure verschwenden, wo ich sie doch zu einer königlichen Braut machen könnte?« Hätte jemand anders so mit Eli Oli Ali geredet, hätte er sicher protestiert, vielleicht sogar Gewalt angewendet. Aber die Hüterin der Haremsfrauen war immerhin das wichtigste Glied in seinem Geschäftsimperium. Ohne Mutter Madana konnte er seinen Platz als Königlicher Hurenbock nicht verteidigen, einen Platz, den Cas ca Dalla bereits ungeniert für sich forderte. Seines königlichen Siegels verlustig zu gehen war Elis größte Angst. Er zwinkerte Mutter Madana unschuldig zu. Vorsicht war hier die Mutter der Porzellankiste. Außerdem, wer war er denn, wenn er die Wut dieser aufge donnerten alten Schreckschraube nicht dämpfen konnte? Sie moch te ihn, ach was, sie liebte ihn! Sie musste sich einfach nur abregen, das war alles. »Königliche Braut?«, fragte er nach einem Moment, als wären nie mals barsche Worte zwischen ihnen gefallen. »Sind das Eure Pläne für meine teure Schwester?« »Genau«, entgegnete ihm Mutter Madana. »Aber Mutter, ich muss zu den Ejländern gehen, und was kann ich ihnen anbieten? Nennt es Hurerei, aber sie zahlen gut.« Der Bursche betrachtete Cata lüstern. »Sie brauchen eine Ablenkung, wenn sie herausfinden, dass meine Beute abhanden gekommen ist. Eine ihrer eigenen Art könnte es vielleicht richten, meint Ihr nicht?« Mutter Madana verdrehte die Augen. »Warum sollten sie wohl einen Silberfisch wollen, wenn sie davon mehr als genug zu Hause kriegen können? Der Flammenhaarige hat mehr Quickies besessen, als Ihr Ziegensäcke mit Ferment getrunken habt, glaubt mir!« »Der Flammenhaarige?« Cata hielt die Luft an.
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Eli Oli Ali blieb hartnäckig. »Mutter, bitte! Wenn ich den Silberfisch nicht haben kann, dann gebt mir wenigstens irgendwas ande res.« »Irgendwas?« Der fettige Kerl nickte. »Aber nichts von Qualität!« Jetzt schüttelte er den Kopf. Hinter dem Schirm klirrten die Ketten. Mutter Madana spitzte die Lippen. »Eine Ablenkung, sagst du, Eli? Was würde dein rothaariger Rammler zu einem Baba-Mädchen sagen, was meinst du?« »Habt Ihr eines?« »Drei. Sie sind gerade angekommen, während Ihr unterwegs wart.« »Drei! Frisch?« »Frisch wie der Morgentau. Ich wollte sie eigentlich für die Auk tion morgen zurechtmachen. Als vornehme Bräute sind sie voll kommen ungeeignet. Sie sind mürrisch, nicht sehr sauber und nei gen dazu, fett zu werden. Und natürlich diese dünnen Hälse, die man so leicht brechen kann. Aber für einen Abend der Lust?« »Teure Mutter!« »Teurer Eli!« Küsschen, Küsschen. Mutter Madana klatschte in die Hände, und die Sklaven rollten einen Wandschirm beiseite. Eli Oli Ali schrie vor Entzücken auf. Das Kerzenlicht ließ die goldenen Ketten schimmern, und Cata sah drei verängstigte, dunkelhäutige Mädchen. Sie waren fast vollkommen nackt, hatten dunkle Locken und lange Hälse mit Ringen. Eli Oli Ali schnappte sich eine Kette. »Monster! Dreckiges Monster! Lasst sie in Ruhe!« Die ganze Zeit hatte Cata sich gewehrt. Jetzt schlug sie, trat und schrie. Einen Moment, nur einen Moment hatte sie sich losgerissen. Aber es nützte nichts.
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Mutter Madana drehte sich plötzlich wütend zu ihr um. »Halt die Klappe, Silberfisch!« Cata stolperte und taumelte. Sie hatte gewusst, dass Mutter Ma dana beeindruckend war, aber wie beeindruckend, konnte sie nicht ahnen. Die Faust der Frau war hart wie Stein. »Wirklich lebhaft!«, kicherte Eli Oli Ali. »Glaubt Ihr, dass Ihr sie tatsächlich zähmen könnt?« »Pah, ich werde sie brechen, oder ich will nicht Madana heißen!« Der Hurenbock grinste. »Das habe ich doch schon mal gehört! Vergesst nicht, dass morgen Auktion ist. Nach einem Königlichen Erscheinen steigen die Preise, hm?« »Ach, nehmt Ihr Eure Babas und verschwindet mit ihnen. Raus, raus!« Mutter Madana gab ihren Mädchen ein Zeichen. Einge schüchtert versammelten sie sich um die ausgestreckte Cata. »Also, was passiert mit Mutters bösen Mädchen, hm? Sefita? Satima?« »Rabenschwarz!«, meinte eine kichernd. »Stinki!«, sagte eine andere. »Alte Kleidung!« »Käfer!« »Spinnen!« »Ratten!« Eine quietschte aufgeregt: »Schlangen!« »Es gibt keine Schlangen in Mutters Lagerraum, Sefita.« Aber die pompöse Frau lächelte zufrieden. Wie gut sie ihre jungen Mündel geformt hatte. Es waren keine Baba-Mädchen, die nur für einen flüchtigen Verkehr taugten! In ganz Unang und den umliegenden Reichen zahlten die Edelleute hohe Preise für diese koketten Spiel zeuge. Aber das neue Mädchen schien wirklich eine Herausforderung zu sein. Sie stieß Cata mit dem Fuß an. »Unsere Freundin gehört noch nicht ganz zu uns, hab ich Recht?«
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Kichern antwortete ihr. »Nein, Mutter!« »Mal sehen, wie es ihr morgen geht, nach einer Nacht in der Ra benschwärze.«
»Der Thronfolger ist hungrig, hm?« »Das kann man wohl sagen!« Lächelnd strich sich Almoran über seinen langen Bart und sah zu, wie sich sein junger Gast großzügig den Teller mit den köstlichen Speisen füllte. Noch vor wenigen Augenblicken hatten Jem zahlreiche Fragen gequält, doch jetzt dachte er nur an den bunten Reis, das Lamm, das mit Walnüssen gefüllt war, an die Mandeln und Pistazien, den cremigen Yoghurt und das Kokosnussmus. Es gab Kartof feln und Artischocken und Gurken und Linsen, die perfekt gewürzt und exquisit garniert waren. In verschiedenen Gefäßen warteten Chutney aus Mangos, Quitten und Zitronen, Brauselimonade so wie Sorbets und köstliche Nektare. Jem konnte sich nicht erinnern, jemals so hervorragend gegessen zu haben. Die Gerüche, die Aro mata, selbst die Farben . . . Alles war erstaunlich und fremdartig. Unter dem Tisch verleibte sich Regenbogen ebenfalls ein köstliches Mahl ein. Sein gestreifter Schwanz wedelte begeistert hin und her, und er hatte seine Schnauze in einer goldenen Schüssel vergra ben. An den Tischen unterhalb des Podestes glänzten die luxuriösen Gewänder, fröhliches Stimmengewirr drang nach oben, durch mischt von Gelächter und dem Klirren von Kelchen. Almoran ließ mit einem Händeklatschen die Musiker aufspielen. Jem lehnte sich zufrieden zurück. Nur Dona Bela schien sich nicht wohl zu fühlen. Sie saß an Al morans anderer Seite und blickte unsicher zu Jem herüber. Die
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schweren Lider bedeckten ihre Augen, und sie runzelte die Stirn. Almoran ergriff ihre Hand. Das Mädchen verzog den Mund, und nach einer Weile nahm sie die Hand weg. »Lord Almoran«, sagte Jem achtlos. »Ihr habt wirklich einen wunderschönen Palast. Ihr seid gewiss einer der vornehmsten Men schen in diesem Land.« »Junger Prinz, da irrt Ihr Euch«, erwiderte Almoran lächelnd. »Ich bin nur ein Geschäftsmann, ein einfacher Geschäftsmann, der sich von seinen Geschäften in diese feste Burg zurückgezogen hat. Nein, ich bin nur ein einfacher Mann, der mit vielen Freunden ge segnet ist, die er um sich herum versammelt hat. Sie verschönern den Kummer meiner schwindenden Jahre.« Jem rieb sich die Augen. Er war plötzlich müde und konnte sei nem großzügigen Gast nur mit Mühe antworten. Verschwommen war er sich der beunruhigenden Merkwürdigkeit bewusst, die die ser fröhlichen Szene anhaftete. »Dann wirklich, edler Herr, also wirklich, dann müsst Ihr einer der größten Männer sein, weil Eure Fähigkeit, Freundschaften zu schließen, wirklich bemerkenswert ist. Mindestens so bemerkenswert wie dieses Haus, das ich trotz Eurer Bescheidenheit dennoch einen Palast nennen möchte.« Diesmal widersprach Almoran nicht, sondern sagte einfach nur: »Ich nenne es das Haus der Wahrheit.« »Warum ausgerechnet dieser Name?« Jem sprach mittlerweile leise und stellte fest, dass er seinen Kopf auf die Arme stützte. Hastig blickte er hoch. Spielte ihm seine Fantasie einen Streich, oder blick ten alle Gäste zum Podest? War die Musik leiser, und war auch die Fröhlichkeit abgeklungen? »Junger Prinz«, meinte Almoran, »dies hier ist ein Ort der Liebe, und welche Wahrheit gibt es außer der Liebe? Alles andere ist Illu sion.« Freundlich streckte der alte Mann die Hand aus und strich Jem übers Haar. »Und darf ich nicht hoffen, dass meine neuen Freunde mir genauso lieb werden wie diejenigen, die Ihr dort unten sitzen seht?«
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Diesmal antwortete Jem nicht. Als er seine Augen wieder öffne te, fand er sich auf demselben großen Bett wieder, in dem er am Morgen aufgewacht war. Diesmal herrschte Dunkelheit in der Kam mer, aber durch das offene Fenster sah er den goldenen Mond, des sen Schein sich im Wasser des langen Beckens spiegelte. Am Fußen de des Bettes lag Regenbogen und schlief zufrieden. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, teilte Jem den Gazevorhang und schlich auf nackten Füßen auf die Terrasse. Die Gärten lagen ruhig da, und ringsum herrschte tiefe Stille, als wäre der ganze Ort verlassen. Jem blickte zum Mond hinauf. Es war Vollmond, und er schwebte über den Gärten wie ein riesiges, unbe wegtes Gesicht. Erst jetzt fiel Jem ein, dass er in der Nacht in der Wüste keinen Mond gesehen hatte. Wie lange war er schon hier? Er hockte sich auf den Rand des Beckens und ließ eine Hand durch das Wasser gleiten. Er erinnerte sich daran, wie er geschwommen war. Es war heiß in dieser fremden Nacht, und er überlegte, ob er wieder ins Becken springen sollte. Seine Knöchel schrammten gegen etwas Festes. Neugierig beugte sich Jem vor und spähte ins Wasser. Dann run zelte er die Stirn. Er trat in das Becken, watete weiter hinein, zunächst vorsichtig, dann immer schneller. Er drehte sich um, blick te zum Haus, zum Mond und auf die Gärten. Wie konnte das angehen? Des Becken war flach, unglaublich flach. Das Wasser reichte kaum bis zu seinen Knöcheln. Das königliche Bankett war fast vorbei. Rajal war müde und hätte auf der Stelle einschlafen können, aber der Kalif klatschte in die Hände und verlangte nach Unterhaltung. Während Kaffee und fri sche Jarvel-Pfeifen gereicht wurden, nahmen drei maskierte Musiker ihren Platz in einer Ecke ein. Einer spielte Tabla, der andere ein ge bogenes Hörn und der dritte ein geheimnisvolles Saiteninstrument, eine Kreuzung zwischen einer Laute und einer Harfe. Als sie ein langsames, rhythmisches Stück begannen, glitt eine
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ganz in Schwarz gekleidete Gestalt in den Raum zwischen Tafel und Ecke. Sie hatte die Figur einer Frau, aber nach der Mode der strik ten, frommen Moral Unangs war die Gestalt von Kopf bis Fuß in wallende Schleier gekleidet. Selbst ihre Hände waren von Handschuhen verdeckt, und man konnte ihre Augen nur durch winzige Schlitze im Kopfschmuck erkennen. Langsam begann die Frau zu tanzen, und ihre Schleier bauschten sich. »Das sollte unseren wenayanischen Feunden gefallen«, sagte der Wesir. »Leider haben wir wohl zu viel geredet, so dass sie vermut lich verwirrt sind und sich wundern. Ein Armutszeugnis für unse re Gastfeundschaft. Aber auf diesen Tanz reagieren alle Männer, ganz gleich, welche Sprache sie sprechen.« »Hm«, meinte der Kalif. »Natürlich geht es hierbei um das Ver hüllen.« »Aber auch um das Enthüllen«, erwiderte der Wesir. »Enthüllen, ja.« »Amüsiert Ihr Euch, Erhabener?« »Großartig.« »Gleich werdet Ihr Euch noch mehr amüsieren.« »Ach, ich weiß!« Der Kalif nippte gierig an dem beinahe schlammigen Mokka. Rajal war verwirrt. In kürzester Zeit schien sich der Charakter des Kalifen radikal verändert zu haben. Um dann erneut umzuschlagen. Seine Begeisterung für die schwarz gekleidete Person schien so gar nicht zu seinem vorherigen Verhalten zu passen. Doch als die verschleierte Frau den ersten Schleier ablegte, musterte er sie mit einem eindeutig leidenschaftlichen Blick. Für einen Moment schoss Rajal der Gedanke durch den Kopf, dass dieses fließende Ma terial möglicherweise die Tochter des Kalifen selbst verbarg. Aber nein, das war absurd. Prinzessin Bela Dona war eine heilige Ikone. Diese Frau vor ihnen war nicht heilig, sondern lästerlich. Während sie tanzte, sang sie ein unangesisches Lied.
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Wohin verschlägt es mich? Wohin wandere ich? Geraubt aus dem einzigen Heim, das ich kannte, Ohne Ahnung von meinem Ziel Nur dass ich immer weiter reisen muss! Soll ich eine Sklavin sein oder eine Konkubine? Ich flehe Euch an, werde ich meine Liebe finden In den ungesehenen Reichen, die noch vor mir liegen? Wohin verschlägt es mich? Wohin muss ich wandern? Geraubt, ohne dass mein Same ausgesät wurde Nur wissend, dass Dunkelheit vor mir liegt, In welchem Land auch immer, weiter, immer weiter! Soll ich eine Hure werden, oder die Frau eines Reichen Ich flehe Euch an, soll ich meine Liebe finden, mein Leben, In den umwölkten Reichen, die jetzt vor mir liegen? Die Stimme der Frau war hoch und flötend und strahlte Traurigkeit aus, vielleicht sogar Ironie. Sie stand jedoch wie die Worte ihres Liedes in einem merkwürdigen Kontrast zu den unzüchtigen Bewe gungen ihrer behandschuhten Hände und den rhythmischen Stößen ihrer Hüften. Langsam entledigte sie sich ihrer ersten Kleidungsschicht. Als der seidene Schleier über den Banketttisch flatterte, sah Rajal, dass nur die dämmrige Beleuchtung ihn hatte schwarz er scheinen lassen. In Wirklichkeit war er dunkelrot, so rot wie der Kristall, den Rajal um den Hals trug. Jetzt verstand er auch den an züglichen Tanz. Die Frau trug ein raffiniertes Arrangement aus Schleiern, die beinahe transparent waren und zunächst wie ein ein ziges dunkles Kostüm aussahen. In Wirklichkeit bestand es aus mehreren Farben, aus fünf Farben. Nach dem dunkelroten Schleier sah Rajal die grünen Schleier leuchten. Und er wusste, dass nach dem grünen rote, blaue und goldene folgen würden. Die Farben des Orokon. Er sah gebannt zu, aber es dauerte nur wenige Augenblicke, bis
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sich seine Erregung in blankes Entsetzen verwandelte. Die blau maskierten Gestalten an der Tafel widmeten sich scheinbar gebannt der sinnlichen Darbietung. Rajal beobachtete sie. Obwohl er ihre Blicke während des Essens so gut wie möglich gemieden hatte, ver suchte er jetzt, diese wortkarge Delegation einzuschätzen. Der eine war lang und dünn, vielleicht auch ein bisschen nervös. Der zweite, kräfige in der Mitte wirkte irgendwie beeindruckend. Der dritte hatte eine geduckte, schmierige Art, die in dem Schwung seines Mundes deutlich wurde. Der Kräftige, offenbar ihr Anführer, tippte zum Takt des langsa men Rhythmus mit den Fingern auf den Tisch. Rajal fiel nicht zum ersten Mal die Blässe seiner Haut auf. Er hatte angenommen, dass die Wenayaner dunkelhäutig waren. Aber das war anscheinend ein Irrtum. Dann fiel ihm der Ring auf, den der Mann am Mittelfinger trug. Rajal wusste wenig über Schmuck, obwohl er in seiner Kindheit erlebt hatte, wie mit ihm in den hellen, gut gefüllten Buden der Vaga-Jahrmärkte gehandelt wurde. Dieser Ring kam ihm irgendwie bekannt vor, und Rajal überlegte, ob er ihn nicht schon einmal gese hen hatte. Oder einen ähnlichen. Er hob den Blick langsam zu der blauen Maske. Der Mund, den man unter der Maske gerade noch sehen konnte, hatte einen sinnlichlüsternen Ausdruck. Rajal schüttelte sich unwillkürlich, als habe ihn das Böse gestreift. Dann wandte sich die Maske ihm zu. Einen Mo ment glaubte Rajal, der Jarvel habe seinen Geist verwirrt. Zunächst deutete die Hand, die mit dem Ring, auf die tanzende Frau. Und dann flüsterte der Mann: »Erinnert sie Euch nicht auch an Catayane?« Erneut wandte sich die Maske der Tänzerin zu. Mittlerweile waren die roten Schleier zu Boden geflattert, und das Blau von Wenaya kam zum Vorschein. Die Farbe der Delegierten, dachte Rajal. Aber auch die der Blauröcke! Er zitterte am ganzen Körper. Hatte er richtig gehört? Das war doch unmöglich! Der Mann hatte sehr leise ge sprochen, und da es gewiss fremdartige Worte waren, hatte eines da von zufällig wie Catas Name geklungen.
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Nervös sah Rajal seine eigenen Gefährten an. Beschäftigt mit Bubi und fasziniert von dem Tanz hatte Kapitän Porlo nichts be merkt, und Rajal gelang es nicht, Lord Empsters Blick zu erhaschen. »Ah, Verheimlichung!«, sagte der Wesir gerade. »Verheimlichung!«, seufzte der Kalif. »Eine schöne Sache, hab ich Recht?« »Aber nicht so schön wie die Enttarnung!« »Allerdings, Erhabener!« Mittlerweile hatte die Frau die meisten Schleier abgelegt, aber immer noch sah man keine nackte Haut. Rajal fragte sich, warum. Vielleicht lag es an dem dämmrigen Licht, vielleicht aber auch nur an der außergewöhnlichen Raffinesse des Kostüms. Vielleicht war aber auch, so dachte er später, eine böse, verführerische Magie am Werk, die keine Enthüllung gestattete, bis der entscheidende Moment ge kommen war. In jedem Fall war Rajal wieder vollkommen von der tanzenden Frau gefesselt und wartete eifrig auf das erste Aufblitzen von Haut unter den Schleiern. Dabei pulsierte kein Begehren in seinen Adern, und er empfand auch kein intellektuelles Vergnügen an dieser Darbietung. Es erfüll te ihn eher mit einer Art heißer Scham, und Rajal war froh, dass Cata nicht da war und Zeugin seines Unbehagens wurde. Aber das war nicht alles, oder? Rajal hatte schon früher solche Vorstellungen ge sehen, in den etwas degenerierteren Vaga-Lagern. Und immer hatte es in Pfiffen und Pfui-Rufen und Münzen geendet, die man verächtlich der nackten Kreatur hingeworfen hatte, die noch verhüllt von den Schleiern eine Göttin der eigenen Begierden gewesen zu sein schien. Aber diesmal war es anders. Mit einer Gewissheit, die ihm Furcht einflößte, wusste Rajal, dass diese Vorstellung nicht nur damit enden würde, dass die Frau sich nackt zeigte.. Jetzt waren die blauen Schleier verschwunden, und nur die golde nen waren noch übrig. Die Musik spielte schneller, und die goldenen Schleier wehten, flogen durch den von Fackeln erleuchteten Raum, aber immer noch konnte man keinen Körperteil der Frau sehen.
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Selbst ihr Gesicht war noch vor aller Augen verborgen. Rajal wusste, dass diese letzten Schleier ganz plötzlich verschwinden würden, sobald die Musik aufhörte. Aber erst würden die Musiker locken und spotten, das Ende vortäuschen und dann doch noch einen Takt weiterspielen. Er war sich verschwommen des Kalifen und des Wesirs bewusst und der Scherzworte, die hin und her flogen. Der Kalif sagte, dass es viel Täuschung in der Welt gäbe und dass diese Täuschung auf jeden Fall ausgerottet und bestraft werden müsse; der Wesir versi cherte seinem Herrn, dass dies allerdings bestraft werden würde, und zwar ohne Gnade. Rajal lief es kalt über den Rücken. Die Musik brach ab. Plötzlich waren alle Schleier fort, und vor ihnen stand ... Nicht etwa eine Göttin der Schönheit, sondern ein fürchterlich runzliges altes Weib! Der Kalif grölte vor Lachen. Der Wesir drehte sich kühl zu Lord Empster um. »Ein alter Qatani-Streich, der angeblich eine Art Morallektion sein soll. Mein Vater hat ihn mir gespielt, als die Lust der Männlichkeit meine Lenden erhitzte. Ich glaube, er wird auch Mädchen vorgespielt, wenn die weib liche Eitelkeit an ihre Herzen klopft und Einlass begehrt. Vielleicht lehrt uns dieser Tanz der Fünf Schleier aber noch etwas anderes.« Lord Empster bewegte sich auf seinem Stuhl, und seine Maske glitzerte im Licht der Fackeln. Rajal unterdrückte den Wunsch zu schreien. Kapitän Porlo hielt Bubi zurück. »Wir haben den Tanz genossen, aber die Tänzerin war eine Hoch staplerin«, sagte Hasem leise. »Wie Ihr, Empster-Lord, und Eure Delegation aus Ejland.« »Nein!«, rief Rajal. Der Kalif wollte sich schier ausschütten vor Lachen und wiegte sich vor und zurück. Hasem jedoch war ärgerlich, war aufgesprun gen und schrie:
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»Haltet Ihr uns denn tatsächlich für Narren, primitive Narren, die auf Eure glattzüngigen Lügen hereinfallen? Lord? Admiral? Schützling? Pah! Ihr seid ejländische Kriegsverbrecher, die bei uns einen Zufluchtsort vor der Verfolgung aufgrund ihrer üblen Ver brechen suchen! Wachen! Schafft sie in den Kerker!« Die Türen flogen auf. Füße stampften und Krummsäbel blitzten, goldene Becher und Teller segelten zu Boden. Der Wesir schrie, der Kalif lachte, und Bubi, die Affin, befreite sich aus dem Griff des Kapitäns. Sie riss einem Gast die blaue Maske herunter, bevor brutale Hände sie packten und gnadenlos prügelten. In dem Moment, bevor er aus dem Saal geschleppt wurde, drehte Rajal sich noch einmal um. Er wollte das Gesicht sehen, das die Äffin in ihrer Panik enthüllt hatte. Und mit einem Schlag wurde ihm alles klar.
»Erfolg!« »Sieg!« »Endlich frei!« Polty sprang auf und schlug einen Haken in die Luft. Bohne we delte mit den dünnen Armchen und machte ein paar verlegene Tanz schritte. Mr. Burgrove stolperte über eine Ecke des Teppichs, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Von den dreien freute sich wirklich nur Polty aus ganzem Her zen. Bohnes Freude war vorgetäuscht, um Polty zu gefallen, während Mr. Burgrove nur froh war, endlich der Einschränkungen eines langen Abends ledig zu sein, an dem es nichts anderes zu trin ken gab als Hava-Nektar. Außerdem mochte er keine Ausländer.
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Polty hingegen fing an, sie sogar ganz besonders zu mögen. Er warf sich in seinen prächtigen, exotischen Roben auf einen großen, weichen Diwan und betrachtete die luxuriöse Unterkunft, die die Qatanis ihren geschätzten Gästen zur Verfügung gestellt hatten. Überall lagen Kissen herum, und an allen Wänden hingen Gobelins. Der Ort war wie geschaffen für fleischliche Freuden, und Polty hat te bald herausgefunden, wie er sich solche Genüsse verschaffen konnte, selbst innerhalb der strengen Regeln des Palastes. Er erwar tete sie noch am selben Abend. Lächelnd zog er einen Tobarillo aus seiner kleinen silbernen Dose hervor. Seit sie die Zivilisation, will heißen Ejland, verlassen hatten, rationierte er dieses besondere Vergnügen, aber heute war eine besondere Gelegenheit. Das Streichholz flammte auf. »Polty?« »Bohne?« »Was passiert jetzt? Ich meine mit den Verrätern? Was wird mit ihnen geschehen?« »Hah! Dem alten Seebären und dem edlen Lord nichts.« »Nichts?« Polty lächelte wissend. »Wir wollten ihnen doch nur ein bisschen Angst einjagen, mehr nicht. Der junge Schützling war der Einzige, hinter dem wir her waren. Oder vielmehr, er ist der Einzige, den wir jetzt zu fassen bekommen. Mal sehen, wie Lord Empster reagiert, wenn er erfährt, dass er - unwissentlich natürlich - einen Verräter aufgenommen hat, der seit den Tagen meines Vaters in Irion gesucht wird! Wir lassen den Edelmann eine Weile frei herumwandern. Ich habe das Gefühl, dass er eine sehr interessante Bekanntschaft sein könnte, so oder so.« Bohne dachte darüber nach, aber es verwirrte ihn. »Und sein Schützling?« »Unser junger Freund? Ihn erwartet der Tod, glaubst du nicht? Vielleicht sogar bei dieser kleinen theatralischen Veranstaltung, die für morgen geplant ist. Entnahme der Eingeweide auf einem öffent
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liehen Platz! Schließlich braucht das Spiel mehr als einen Akt, rich tig? Aber erst werden wir ihn verhören. Das heißt, ich werde das tun.« »Heute Abend noch?« »Morgen früh. Soll er noch ein bisschen kochen. Sollen sie alle ko chen. Heute Nacht ist die Nacht der Freuden.« »Wirklich, Polty?« Bohne war unsicher. »Na ja, die Nacht der Schmerzen, wenn du zufällig Jem Missgeburt heißt.« Bohne runzelte die Stirn. »Jem Missgeburt? Aber das ist...« »Wir erwarten Besuch«, unterbrach ihn Polty »Schon wieder?« Bohne schien beunruhigt. »Natürlich.« Polty lächelte. »Außerdem ist unser Mischlings freund wieder aus der Wüste zurück, und wir wollen doch sicher hören, wie seine Reise verlaufen ist. Wir müssen alles über diese Unang-Länder in Erfahrung bringen, was wir können, Bohne. Vor al lem, was die fleischlichen Sitten angeht.« »Ach, Polty!« Aber Bohne war glücklich. Unvermittelt begann er einen aufmerksamen Rundgang durch die Unterkunft, sammelte schmutzige Taschentücher ein, abgelegte Socken, Tobarillo-Stumpen. Dass sei ne Dienste überflüssig waren, machte sie ihm noch erfreulicher. Da sie als wichtige Handelsdelegation angesehen wurden, genossen Pol ty und seine Freunde eine Menge Vorrechte. Eine Bemerkung von Polty würde genügen, und zwei Sklavenjungen ständen bereit, ihm jeden seiner Wünsche sofort zu erfüllen. Doch Polty hatte ihre Dienste ausgeschlagen. Der Wesir war darüber erstaunt gewesen, Bohne dagegen gar nicht. Wären es Sklavinnen gewesen, hätte Pol ty seine Meinung vielleicht geändert. So aber wollte er nicht, dass Fremde herumspionierten, schon gar nicht hier, in ihrem Refugium. Bohne würde sich um ihn kümmern. Wie damals in ihren alten Tagen!
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Polty lehnte sich zurück und legte einen Arm hinter seinen Kopf. Genüsslich zog er an seinem Tobarillo. »Ich hätte nichts dagegen, etwas über diese Prinzessin zu erfahren«, fuhr er fort. »Fleischlicherweise, meine ich. Obwohl ich noch so einen albernen Streich wie den, den sie uns heute Abend gespielt haben, nicht schätzen würde. Der Tanz der Fünf Schleier, also wirklich! Der arme Penge ist wie ein Kartenhaus zusammengesackt!« »Ach Polty!«, sagte Bohne und lachte liebevoll. Einige Male war er über Mr. Burgrove hinweggetreten, und einmal kippte er einen Nachttopf um, der an einer falschen Stelle stand. Er wischte den Inhalt mit einem Rasiertuch auf. Wie so oft summte Bohne ein kleines Liedchen, eines von Poltys Lieblingsliedern, aber dann schien ihn etwas zu beunruhigen, und er blickte nach einer Weile hoch. Seine Stirn war gerunzelt. Es war etwas, was Polty vorhin gesagt hatte. »Polty, das war nicht Jem Missgeburt!« »Was?« »Der Junge in der Mitte. Der Krüppel aus der Burg war doch blond, nicht wahr? Sehr blond. Und Polty ... dieser Junge war dun kelhaarig, auch an Händen und Kinn. Außerdem war sie größer, die Missgeburt, meine ich.« Polty seufzte. »Also Bohne, wirklich! Du weißt doch, dass der Krüppel ein Meister der Verkleidung ist! Und er verfügt über Zau berkraft.« »Zauberkraft?« »Erinnerst du dich noch an diesen schmutzigen alten Vaga, der in den Wäldern lebte?« Grinsend, denn das würde Polty gefallen, legte Bohne seine Hän de an den Mund und rief: »Augenloser Silas! Augenloser Silas!« »Genau. Vaga-Magie. Dieser bösartige Vaga hat dem Krüppel alles beigebracht, was er wusste. Nun, ich glaube, ein Krüppel, der ge hen kann, dürfte kaum Probleme haben, sein Äußeres zu verändern, was meinst du? Er will uns von der Fährte abbringen? Soll er es
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doch versuchen! Weißt du nicht mehr, dass er einmal vom Blitz getroffen wurde, es überlebt hat und davon erzählen konnte?« »Aber wie wollen sie ihn dann umbringen?«, erkundigte sich Bohne. Polty begriff nicht ganz, worauf sein Freund hinauswollte. »Ich glaube, der Kalif hat es uns heute Abend erzählt, hm? Hoffentlich verzichten sie nicht auf die Kastration, das ist alles, was ich dazu sagen kann.« Poltys Tobarillo war niedergebrannt, und er warf ihn auf den Bo den. Dann rollte er sich zur Seite und betrachtete sein Spiegelbild in einem großen Spiegel. Groß und düster stand er etwas abseits in ei nem dünnen Rahmen. Poltys Blick glitt zu der Ausbeulung in seiner Hose. Beiläufig liebkoste er seinen männlichen Schatz. »Er hatte einen Freund«, sagte Bohne nach einer Weile. »Hm?« »Der Krüppel hatte einen Freund. Einen Vaga-Jungen. Und der war dunkel. Und kleiner. Der Vaga, meine ich.« »Wie der Junge auf dem Bankett?« Bohne nickte. »Bohne, red keinen Unsinn! Was sollte Lord Empster wohl mit einem Vaga anfangen? Er hat diesen Jungen seinen Schützling ge nannt, und wir wissen sehr genau, dass der Krüppel sein Schützling ist.« Mr. Burgrove lag immer noch auf dem Boden und stöhnte. Er hat te sich mittlerweile auf die Ellbogen gestützt, aber statt aufzustehen, war er nur auf den Rücken gerollt. Sein Mantel war aufgegangen, und darunter trug er immer noch seine ejländische Kleidung. Polty betrachtete sie ironisch. Vor einiger Zeit mochte diese Kleidung das Modischste gewesen sein, was man bei Quisto hatte er werben können. Aber jetzt war die Handarbeit von Agondons vornehmstem Herrenschneider in einem beklagenswerten Zustand. »Was für ein Spezialagent!« Polty lachte. »Und was für ein feiner Herr! Wenn ich mir vorstelle, dass dieser Mann eine Legende in der
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Damenwelt war und als der bestaussehende Junggeselle von Varby gerühmt wurde!« »Er ist seit dieser Sache mit Miss Pelligrew niemals mehr derselbe gewesen.« Mr. Burgrove rollte sich auf die Seite und erbrach sich. »Ausländischer Dreck!«, prustete er. »Ich glaube nicht, dass die Mahlzeit ihm bekommen ist«, bemerkte Bohne. Polty zündete sich einen neuen Tobarillo an. »Steh auf, Jac!«, rief er nicht gerade freundlich. »Du könntest dich wenigstens auf deinen Diwan legen. Soll ich jedes Mal über deinen hässlichen Kadaver stol pern, wenn ich pissen gehe?« »Ich glaube, er ist wieder ohnmächtig geworden, Polty«, sagte Bohne. »Ach Jac! Tritt ihm in die Rippen, Bohne.« Bohne zögerte. »Tritt ihn!« Bohne trat zu. Fest. Mr. Burgrove hätte sich vielleicht zur Wehr gesetzt und sich auf seinen Angreifer gestürzt, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. Aber so rang er nur nach Luft und schleppte sich schließlich zu seinem Diwan. Er kam nur langsam voran und stolperte unterwegs gegen den Spiegel. Der große Rahmen kippte, und es knackte. Bohne seufzte, und Polty deutete mit dem Daumen auf Burgrove. »Komisch, nicht wahr, dass er sich betrunken benimmt, obwohl er es gar nicht ist? Jedenfalls kann er das nicht sein, oder?« »Er hat viel Jarvel geraucht.« »Jarvel? Jac ist sturzbetrunken. Besoffen!« »Ich glaube, es läuft ihm die ganze Zeit durch die Adern, Polty Wie meinem alten Dad«, fügte Bohne traurig hinzu. »Dem alten Ebenezer?«, fragte Polty nachdenklich. Er erinnerte sich an den alten Säufer vom »Trägen Tiger« und seufzte. »Ach Boh ne, die alten Zeiten von Irion sind schon so lange her!«
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»So lange nun auch wieder nicht«, sagte Bohne und strahlte. »Aber sieh nur, wie weit wir gekommen sind!« »Wie weit du gekommen bist, Polty Major Veeldrop! In so kur zer Zeit!« Bohne verstand es sehr gut zu schmeicheln. »Das stimmt«, erwiderte Polty eitel. Er klopfte auf den Diwan neben sich, und Bohne eilte glücklich an die Seite seines Freundes. Polty schlang Bohne einen Arm um die Schultern. »Weißt du, mein Freund, ich glaube, du kannst auch auf dich stolz sein.« »Wirklich, Polty?« »Nun, du bist hier in Unang Lia und spielst deine eigene Rolle in dieser wichtigen Mission! Für einen dummen Spucknapfleerer aus einem elenden Bierschuppen in der Provinz ist das doch nicht schlecht, oder?« »Wahrscheinlich nicht, Polty« Bohne grinste. »Wahrscheinlich nicht! Mein Lieber, für den Sohn eines schlur fenden, verrückten Säufers und einer pockennarbigen alten Hure ist das sogar gut, verdammt gut!« Polty war heute Abend in Form, so viel war klar. Bohne hatte fast den ganzen Abend lang Mitleid mit den Rotröcken gehabt, auch wenn sie Verräter waren, und er hatte den Moment gefürchtet, in dem die Falle zuschnappen würde. Aber jetzt war er froh über das Elend, das sie erleiden würden. Wäre ihr Plan schief gelaufen, wäre Polty jetzt in einer miesen Stimmung und würde ihn mit allem durchprügeln, was gerade zur Hand war. »Ich bin nur dein Diener, Polty«, sagte Bohne. »Wirklich, Freund, ein Offiziersbursche ist kein Diener.« »Nein?« »Aber deine Treue ist rührend. Du könntest nicht loyaler und treuer sein, wenn du mein Diener wärst.« Bohnes Augen wurden feucht. »Darf ich dir die Stiefel ausziehen, Polty?« Blauer Rauch ringelte sich um Poltys Locken, als er sich zurücklehnte und Bohne gestattete, sich um ihn zu kümmern. Manchmal,
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dachte Polty, ist das Leben wirklich befriedigend, sehr befriedigend sogar. Es war eine feine Sache, ein Held zu sein, aber noch besser war es, ein Spezialagent zu sein. Man stelle sich nur den Ruhm vor, den er bald erlangen würde, jetzt, da er Jem Missgeburt in seinen Hän den hatte! Polty glaubte voller Stolz, dass eine dankbare Nation ihn eines Ta ges so belohnen würde, wie er es verdiente. Nur selten dachte er über das Schicksal seines toten Vaters nach. Das hätte ihm zumin dest beweisen müssen, dass militärischer Ruhm eine zweischneidi ge Sache sein kann. Genauso wenig hatte er bedacht, bisher jeden falls nicht, dass die Arbeit, der er hier nachging, geheim war und ihm deshalb kaum öffentlichen Ruhm einbringen konnte. Was war er in den Augen der Welt schon anderes als ein Regierungsbeamter, der Sklaven für die Kolonien Ejlands beschaffte und dafür Schiffsladungen mit Waffen nach Qatani brachte. Es war eine miese Arbeit, darüber hinaus langweilig, und sie passte so gar nicht zu einem Gentleman. Menschen- und Waffenhandel, also wirklich! Wenigs tens die Sklavinnen boten eine willkommene Abwechslung, wofür man schon dankbar sein musste. Wenn er nur seine verfluchte Herzensschwester finden könnte! Polty war nur kurz in Agondon gewesen, bevor er auf diese neue Mission geschickt worden war. Er hatte keine Zeit gefunden, nach Cata zu suchen, geschweige denn, um Modell für Porträts, Büsten oder Statuen zu sitzen, großzügige Geschenke entgegenzunehmen oder an Gedenkessen teilzunehmen. Allerdings zweifelte Polty nicht daran, dass er all diese Dinge noch nachholen würde. Sie kamen noch auf ihn zu, aber wie viel früher wäre das alles eingetreten, wenn er ein wohlhabender Mann mit einem Titel gewesen wäre! Schlagartig verpuffte Poltys Zufriedenheit, und eine trübe, ver traute Wut brannte in seinem Bauch. Er sprang auf und stieß Bohne zur Seite. »Verdammtes Miststück, verdammtes!« »Welches Miststück? Polty, was ist los?«
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Aber Bohne wusste es, und Polty antwortete nicht. Er ging zum Fenster und blickte mürrisch durch die Lamellen. Wenn er sich vor stellte, dass er Reichtum und Titel besitzen könnte, wenn er nur sei ne verschwundene Herzensschwester geheiratet hätte! In der Vorkammer ertönte ein Gong. Polty atmete tief durch. Auch wenn er überspannt war, bedeute te das keineswegs, dass er auf sein Vergnügen verzichten würde. Er drehte sich um und lächelte dem fetten Kerl in seinen langen, gebo genen Schuhen zu, der mit ausgestreckten Armen auf ihn zuwat schelte. »Major-Herr.« »Oily!« Polty umarmte den Neuankömmling herzlich, hieß ihn, sich zu setzen und seine Füße hochzulegen. Wollte er Jarvel? Ferment? Essen? »Major-Herr, Ihr überwältigt mich! Sollt Ihr mir Freuden berei ten, wenn es doch an mir ist, Euch Vergnügen zu verschaffen. Pah!« Aber der fette Kerl senkte die Stimme. »Vielleicht gestattet Ihr mir eine von Euren Ejland-Rollen, hm?« Polty klappte seine Tobarillo-Dose auf. »Bohne, die Zündhölzer! Und Ferment! Wir wollen Oily begrüßen und ihm ein mitreißendes Liedchen singen!« Der fette Mann strahlte. Polty strahlte ebenfalls. »Ein neuer Turban, Oily?« »Mögt Ihr ihn? Pah! Es ist bloß ein Fetzen!« »Nein! Hat sicherlich einige Korsons gekostet, da bin ich sicher.« Polty war auf und ab gegangen, und jetzt setzte er sich plötzlich ne ben seinen Gast. »Ihr seid spät, Oily.« »Eli.« »Hm?« »Eli - das ist mein Name.« »Ich nenne Euch Oily« »Pah, Eure ejländische Sprache klingt fremd in meinen Ohren!«
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»Wie Eure für mich, Oily Aber habt Ihr das Mädchen?« Im Vorraum hörte man das Klirren von Ketten. »Aber natürlich habt Ihr sie! Bohne, Ferment! Und die goldenen Humpen, denke ich, nicht die aus Zinn!« »Es ist alle, Polty« »Was?« Bohne hielt einen leeren Weinschlauch hoch. »Jac, du Schwein!« Polty schritt durch die Unterkunft und schnappte sich den Weinschlauch. Eli Oli Ali zuckte zusammen, als der Major-Herr mit der schlaffen Blase ausholte und dem betrunke nen Ejländer damit rechts und links auf die Ohren schlug. Mr. Burgrove spuckte und hustete. Polty drehte sich um und lächelte. »Ach, Major-Herr, Euer Ärger kennt keine Grenzen!« »Das sollte er auch nicht, Oily, wenn ich gezwungen bin, so unhöflich zu einem geschätzten Gast zu sein! Weiß dieser Narr denn nicht, wie schwer man in diesen Ländern Unangs an Ferment kommt? Ach, er kümmert sich nur um sein eigenes Vergnügen!« Die Augen des Mischlings funkelten. »Major-Herr, ich habe Euch ein Fass mitgebracht.« »Das habt Ihr? Und ich erwartete nur ein Mädchen! Rollt es herein, Oily, rollt es herein!« Der Mischling klatschte in die Hände, und zwei zerlumpte barfüßige Straßenjungen rollten ein exotisches, mit einem komplizierten Muster geschmücktes Holzfass in eine Ecke der Unterkunft. Bohne beobachtete sie nervös. Daran, dass der Palast der Duftenden Stufen ein Ort der Korruption war, hegte er keinen Zweifel. Und außer Fra ge stand ebenfalls, dass man die Wachen bestechen konnte. Trotzdem, wenn Polty doch vorsichtiger wäre! Wenn sie sich nun den Unwillen des Kalifen zuzogen? Polty behauptete immer, er könnte den Wesir Hasem um den Finger wickeln. Vielleicht stimmte das. Der Wesir, das war klar, wollte sich unbedingt mit der Regierung von Ejland gut stellen, damit er nicht nur Waffen im Austausch für Sklaven erhielt.
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Vielleicht würde er ja eines Tages Ejland um Hilfe rufen müssen, falls seine Position in Qatani gefährdet war. So argumentierte Polty immer, aber trotzdem beunruhigte es Bohne, wie die ejländische Delegation das in sie gesetzte Vertrauen missbrauchte, alle Regeln brach und alle Heiligtümer des unangesischen Glaubens in den Dreck zog. Er warf Eli Oli Ali einen angewiderten Blick zu und versuchte, den Weinschlauch zu füllen. Aber wie sollte er dieses vermaledeite Fass öffnen? »Oily?«, sagte Polty. »Major-Herr?« »Wie lange kennen wir uns?« »Nun, ein Mondleben oder länger.« »Wir sind also alte Freunde, oder nicht?« »Allerdings, Major-Herr.« Der Mischling warf seinem brennen den Tobarillo einen bewundernden Blick zu. »Ihr seid sehr gerissen, Ihr Ejländer. Nun, die hier könntet Ihr auch mit Jarvel füllen.« »Daran haben auch wir bereits gedacht. Oily?« »Major-Herr?« »Warum habe ich das Gefühl, dass Ihr mich hinhaltet?« »Pah! Ich habe doch gesagt, dass Ihr gerissen seid!« Ein bedauernder Ausdruck überzog die Miene des Mischlings. Er zupfte an sei nem locker gewickelten Turban. Darunter war sein Kopf bandagiert. »Oily! Was ist passiert?« »Ach, Major-Herr, ich wurde angegriffen!« Bohne hatte das Fass mittlerweile auf die Seite gelegt. Mit der Scheide von Poltys Regimentsschwert stieß er vorsichtig gegen das Holz. Das war wirklich ganz anders als die guten ejländischen Fäs ser, die sie im »Trägen Tiger« gehabt hatten ... »Ach, Major-Herr. Sie kamen in ganzen Hundertschaften! Ich konnte nichts tun!« Eli Oli Ali wischte sich eine Träne aus den Augen. Seine Unter lippe zitterte, als er erklärte, wie es passiert war. Er war auf dem Heimweg und brachte seine kostbare Fracht eiligst zurück, als eine
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Bande berittener Ouabin von einem Hügel stürmte. Woher sie wussten, dass er kam und was er transportierte, konnte er nicht sa gen, jedenfalls nicht genau, aber es war so gut wie sicher, dass er von einem Qatani verraten worden war. Ja, ein Qatani ... Ein Schurke der schlimmsten Sorte ... Ein Ouabin-Agent, wie er im Buche stand ... Sein Name war Casca Dalla ... Polty hörte mittlerweile kaum noch zu. »Dann ist also die Schönste der Schönen ...«, sagte er leise. »Der Traum von einem Traum ...« »Das unvergleichliche Juwel...« »Meine Schwester. Sie ist verschwunden.« Mr. Burgroves Nase blutete. Er stillte das Blut mit seiner goldfarbenen Krawatte und sah sich kläglich um. Der Anblick des Fässchens besserte seine Laune schlagartig. »Bin ich gestorben und ins Unergründliche eingegangen? Ein ganzes Fass!« Er richtete sich taumelnd auf. Polty sah Eli Oli Ali kühl an. Er streckte die Hand aus und nahm seinem Gast behutsam den Tobarillo aus den Fingern. Der Huren bock sah traurig zu, wie die glühende Stange einen Moment über seinem Unterarm schwebte. Dann warf Polty sie achtlos zu Boden und seufzte. Bohne mühte sich inzwischen zuerst mit dem Griff von Poltys Schwert und dann mit der Schneide an dem Fass ab. Mr. Burgrove stand schwankend neben ihm und feuerte ihn an. »O mutiger Ritter! O heldenhafter Ritter!« Die Augen des Mischlings glänzten, und er beugte sich zu Polty hinüber. »Major-Herr, habt Ihr schon mal etwas von Baba-Mädchen gehört?« Der Atem des Mischlings stank. Polty rümpfte die Nase, aber er konnte nicht umhin zu fragen: »Was ist ein Baba-Mädchen?«
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»Sie stammen von der Baba-Küste. So schwarz wie Käfer und mit langen Hälsen.« »Was willst du damit sagen, Oily?« Der Mischling klatschte in die Hände. Erneut klirrten Ketten im Vorraum, und diesmal führten die Jungen drei exotische Schönhei ten herein, die nur mit ihren Ketten bekleidet waren. Eiserne Maulkörbe waren vor ihren Mündern befestigt und sorgten dafür, dass sie nicht schreien konnten. Poltys Kinnlade klappte nach unten. »Oily, ich mag dich wieder!« Der Mischling verbeugte sich tief. »Ach, Major-Herr, Ihr seid so gut, so großzügig!« »Ich weiß, Oily.« Polty lächelte und wühlte in seiner Robe nach einer Geldbörse. Er wog sie in der Hand und dachte nach. »Sie sind sauber?« »Unberührt! Major-Herr, ich habe sie persönlich inspiziert!« »Da bin ich mir sicher«, erwiderte Polty und umfasste die volle Brust des ihm am nächsten stehenden Mädchens. Sie zuckte vor der Berührung angewidert zurück. Polty grinste. Widerstand konnte eine sehr scharfe Soße sein. Aber etwas beunruhigte ihn. »Oily?« »Major-Herr?« »Eure Schwester. Sagt mir: Wie sah sie aus?« Der Mischling seufzte. »Major-Herr, es gab nur eine, die ihr glich. Major-Herr, ich meine die wunderschönste Frau der Welt... MajorHerr, ich meine Prinzessin Bela Dona. Wir haben unserer Schwester sogar den Namen Dona Bela gegeben, weil sie wie das Spiegelbild der Prinzessin wirkt, das in der Magie eines Spiegels schimmert. Eine wahrhaft Schimmernde Prinzessin!« Der Mischling seufzte erneut. Polty betrachtete ihn ironisch. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig, die dieser rührenden Szene ein jähes Ende bereiteten. Erst drehte sich Polty um und ließ die Hand von der Brust des Baba-Mädchens sinken. »Schafft sie fort!«
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»Major-Herr?«
»Schafft sie mir aus den Augen!«
Dann krachte es in der Ecke.
»Nein!«, schrie Bohne. »O nein!«
Mr. Burgrove stürzte Hals über Kopf in eine rote Flut.
Heirate und Brenne!
Das Rad soll sich drehen!
Welcher kühne Liebende muss lange schmachten?
Ergreife deinen Schatz von dem glänzenden Schei-ei-terhaufen
Heirate und brenne,
Heirate und brenne!
Lagerfeuer. Kamele. Lange weiße Roben. Ein Lied, das sich über die Dünen erhebt. Wir waren schon einmal hier, jedenfalls kommt es uns so vor. Aber mittlerweile lagern die Ouabin näher an Qatani. Viel näher. Als sich Rashid Amr Rukr heute Nacht zu seinem geheimen Tref fen davonstiehlt, ist er so ungeduldig, dass es ihn beinahe wütend macht. Der Schmerz, das Sehnen brannte schon die ganze Nacht in ihm, aber erst jetzt, später als gewöhnlich, war er sicher, dass er, den er aufsucht, da sein wird. Drängt denn etwa nicht die Zeit, ist nicht der Moment für leidenschaftlichen Eifer gekommen? Wie kann der Goldene ihn warten lassen, wo die Ereignisse auf ihren Höhpunkt zusteuern? Beinahe hätte der Scheich gedacht: Wie kann der Gol dene es wagen? Doch der stolze Mann erinnert sich daran, was auf dem Spiel steht, und er bemüht sich, diese Gedanken zu unterdrücken, als der
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andere endlich Gestalt annimmt. Etwas unbeholfen wirft sich der Scheich in den Sand. »Narr«, ertönt die Stimme, die ein wenig amüsiert klingt. »Was soll diese Wut, die ich in dir spüre? Ich ärgere dich, stimmt das?« »Aber nein, Goldener!« Der Scheich blickt beunruhigt auf. »Was könnte ich anderes fühlen als Eifer, wo unser Ziel so nah ist?« Die goldenen Augen leuchten heller, und der Scheich spürt plötz lich einen scharfen Schmerz in seinem ganzen Körper. Er schnappt nach Luft und fällt hintenüber, aber der Schmerz hält nur kurz an. Eine kleine Ermahnung, nicht mehr. Vielleicht aber auch ein erns tes Versprechen. »Spiele nicht einmal mit dem Gedanken, mich zu belügen, Oua bin! Du magst vielleicht unter deinen schmutzigen Wüstennomaden als allmächtig gelten, aber was ist deine irdische Macht gegen mein göttliches Vermögen?« Die goldene Gestalt glänzt im Mondlicht und dreht sich langsam um sich selbst. Der Scheich zittert und verwünscht sich, weil er bis her keine Angst kannte und auch noch nie irgendeinem Menschen unterlegen war ... Nein, keinem Menschen ... Einen Augenblick fragt er sich, ob er ein Narr ist, den Versprechungen dieses geheimnisvollen Versuchers zu vertrauen, sein Schicksal mit diesem Han del, dieser Allianz zu verknüpfen. Dann denkt er an die Macht, die ihm in Aussicht gestellt wurde, und seine Zweifel zerstreuen sich wie die Körper im allgegenwärtigen Sand in dieser Wüstennacht. Er ist sich wieder sicher, dass der Goldene ihn braucht, und zwar genauso, wie er den Goldenen braucht. Sein Blick wird kühner, und als sein merkwürdiger Besucher sich ihm wieder zuwendet, sieht der Scheich ihn offen an. Sein Trotz könnte vielleicht eine weitere Strafe nach sich ziehen, doch als der Goldene wieder spricht, klingt sein Tonfall ganz anders als vorher. »Es ist wahr, Ouabin, wir sind aufeinander angewiesen, wenn wir die Macht erringen wollen, nach der wir streben. Die Welt für dich, für mich Mond und Sterne! Darauf haben wir uns geeinigt, richtig?
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Unser Schicksal wird sich erfüllen ... aber Ouabin, wir dürfen uns jetzt nicht im Stich lassen. In der kurzen Zeit, die seit meinem letzten Gespräch mit dir verflossen ist, hat deine Rolle in dieser Angelegenheit noch mehr Bedeutung bekommen. Du wunderst dich über meine Verspätung heute Nacht? In der Wirklichkeit wurde meine irdische Manifestation gefangen gehalten.« »Ihr seid in Gefangenschaft, Goldener?« In dem Scheich flammt erneut Ärger auf, ein anderer diesmal. »Was denn, haben die Qata nis bereits ihren bösartigen, feigen Verrat begangen? Der Zorn, der auf sie niedergeht, wird doppelt so verheerend sein, wie ich eigent lich vorhatte.« »Das mag geschehen wie es soll, doch nein, sie müssen ihre wah ren Farben noch enthüllen - wie auch ich.« Die Gestalt schweigt einen Moment. Vielleicht denkt sie nach. »Es ist ganz gut, dass ich die se Gefangenschaft ertragen habe, denn sie war nur von kurzer Dau er, und ich möchte nicht, noch nicht, vor den anderen als der er scheinen, der ich wirklich bin. Die Geschehnisse der letzten Nacht waren ein Spiel, jedenfalls betrachten sie es so ... Eine Unterhaltung für den Kalifen. Aber lasse ich mich so leicht zum Narren halten? Toths Agenten sind bereits zu dem kleinen Potentaten vorgedrun gen, zumindest bis zu dem Wesir, der hinter den Kulissen die Fäden zieht. Das war kein Spiel, sondern eine ernste Warnung. Einer mei ner Gefährten schmort weiterhin im Verlies, ein anderer wird ver misst, und jemand spielt da sein böses Spiel. Denn ich kann ihn nir gendwo aufspüren, trotz meiner göttlichen Bewusstheit! Wir befin den uns bereits in einer höchst kritischen Situation. Jetzt kommt es auf deine Geschwindigkeit an, Ouabin. Auf deine Geschwindigkeit und deine Stärke.« Blieb auch der größte Teil seiner Rede dem Scheich ein Geheimnis, diese letzten Worte waren deutlich genug. »Goldener, es wird geschehen, wie wir es geplant haben! Morgen befreie ich die Stadt...« »Befreien?« Zum ersten Mal schien sein Besucher beinahe lachen zu wollen!
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»Goldener, für uns befreie ich sie! Die anderen sollen es nennen, wie sie wollen! Was kümmert es mich, solange sie vor der Macht der Ouabin zittern? Hat mein Volk nicht unter meiner Führerschaft sogar das Reich selbst erschüttert? Haben nicht diese Mauern bereits Risse, sollen sie nicht bald fallen? Denkt an die vielen furchtlosen Feldzüge, die ich im Laufe meiner langen Führerschaft...« »Denk nicht mehr daran! Was sind schon die armseligen Trium phe der Vergangenheit gegen den Ruhm von morgen? Was ist die Macht, die du bisher kanntest, verglichen mit der wahren Macht, die wir suchen? Das Mädchen, Ouabin, denk nur an das Mädchen! Komm, wir wollen uns für den bevorstehenden Triumph stählen!« Mit diesen Worten fassen sich die merkwürdigen Verbündeten an den Händen, und ein gleißendes Licht flammt zwischen ihnen auf. Als Rashid Amr Rukr wieder in den Sand sinkt und allein ist, hat er das Gefühl, als verfüge er schon über die Macht, nach der er sich gesehnt hat, als verzehre sie ihn wie ein Feuer. Heute wird sie wieder verblassen, aber bald, in einigen Mondleben von jetzt an, wird er diese Macht für immer besitzen. Heirate und brenne!
Die Welt muss lernen
Dass Ouabins Macht unsere einzige Sorge gilt!
Prinzessin Bela Dona hält den Schlü-ü-ssel
Heirate und brenne,
Heirate und brenne!
Als er sich in dieser Nacht in seine Unterkunft zurückzog, fühlte sich Kalif Oman Elmani weniger zufrieden, als man es am Ende eines so erfolgreichen Tages eigentlich hätte erwarten können. Die Gefangennahme der Ejländer war sicherlich ein komisches Spekta kel gewesen, aber auf dem Kalifen lasteten schwere Sorgen, und er brauchte schon stärkere Ablenkungen, um sie zu verdrängen. Er dachte an die Aufgaben, die vor ihm lagen, wenn seine Tochter wie
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der vor dem Mob erscheinen sollte. Was für ein schreckliches Geheimnis ihr Ruhm verbarg! Der Kalif seufzte und fühlte, wie die Tränen in seine Augen zu steigen drohten. Er zwinkerte ärgerlich. Was nutzten ihm schon Tränen? Er hatte sich gerade auf der Couch ausgestreckt, als jemand an die Tür klopfte und Wesir Hasem eintrat. Die beiden Männer umarm ten sich, wie sie es immer taten, bevor sie sich zur Nacht zurückzogen. Es gab Gerüchte, dass ihre Beziehung noch viel weiter ging. Zwar gehörte es zu den Pflichten des Wesirs, für manche Freuden des Sultans zu sorgen, aber er musste sie ihm niemals persönlich be reiten. Das hätte er auch nicht getan, denn der Kalif hatte besondere Wünsche, ganz besondere Wünsche. Es mag genügen zu sagen, dass der Wesir dafür gänzlich ungeeignet war, was ihn allerdings kei neswegs traurig stimmte. Dennoch war er um die Befriedigung der Bedürfnisse seines Herrn bemüht und fragte ihn, ob ein kleiner Trost heute Nacht angebracht wäre. Der Kalif seufzte erneut. »Leider, Hasem, kann ich nur an meine kleine Shimmy denken. Was könnte solche Gedanken schon vertreiben?« »Ich habe Euch noch nicht der neuesten Amalianerin vorgestellt. Oder was wäre mit der süßesten Blume von Lania Chor?« »Das wäre zweifellos höchst verlockend, aber heute Nacht, Hasem, will ich schlafen. Das Vergessen ist der beste Trost von allen.« »Wie Ihr wünscht, Oman, ganz wie Ihr wünscht.« »Aber leiste mir ein bisschen Gesellschaft, Hasem, während ich einschlummere. Du weißt, dass ich es mag, wenn du über mich wachst.« »Natürlich, Oman, selbstverständlich.« Der Wesir wurde traurig, als er sich neben das Bett seines fetten Herrn setzte. Vor langer Zeit hatte er seinen Dienst bei dem Kalifen nur als Pflicht betrachtet, dazu noch als eine besonders langweilige. Mittlerweile hatte er seinen schwierigen Herrn längst lieb gewonnen und diente ihm voller Hingabe. Und er wünschte sich sehn
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liehst, dass der Kalif ihn ebenso liebte und ihn nicht immer nur als Ersatz für einen anderen betrachtete. Manchmal fürchtete Hasem, dass eines Tages dieser andere wieder zurückkommen könnte. Aber nein, das war unmöglich. Der Dschinn war fort, schon lange fort. Jetzt seufzte der Wesir, und seine Gedanken drifteten zurück in die Vergangenheit.
Die Geschichte von Jafir, dem Dschinn Aufgrund seines Äußeren und auch seinem Benehmen nach hätte man nicht geschlossen, dass Kalif Oman Elmani der Bruder des Ehrfurcht gebietenden Sultan Kaled war und der Sohn Sultan ElThakirs. Omans unglückliche Kindheit wurde von seinem über mächtigen Bruder überschattet. Er hatte nach seiner Jugendzeit we nig von Kaled gesehen, aber er war sich der überlegenen Talente sei nes Bruders immer bewusst, genauso wie seines besseren Ausse hens, der viel versprechenderen Aussichten. Von Anfang an stand Kaled als Unangefochtener Thronfolger fest. Auf Oman wartete das Los eines Höflings, der pflichtbewusst in der erdrückenden Gegen wart seines Bruders litt. Für viele Höflinge in Kal-Theron und nicht zuletzt für Oman selbst war es deshalb eine große Überraschung, dass Sultan El-Thakir auch für seinen zweiten Sohn eine größere Bestimmung auserkoren hatte. Zufälligerweise war El-Thakir mit dem Kalifen von Qatani verwandt. Abdul Samad, ein Vetter zweiten Grades. Schon seit vielen Sonnenwenden schielten die Adligen des vom Land eingeschlosse nen Kal-Theron eifersüchtig auf diese Perle der Küste, Abduls Herrschaftsgebiet. Zweifellos war Qatani lebenswichtig für die Macht des Sultans, vor allem, wenn er seine Kolonien jenseits des Meeres weiter unter Kontrolle behalten wollte. Sicher, wie alle niederen Herrscher auf diesem großen Subkontinent hatte auch Abdul sei 232
nem Vetter in Kal-Theron Loyalität geschworen, aber Sultan ElThakir war nicht der Einzige, der das für unzureichend hielt. Seit ei niger Zeit vermutete er, dass Abdul selbst Machtgelüste hegte. Ihm waren Gerüchte über Pläne zu Ohren gekommen, die bereits Hoch verrat bedeutet hätten, wenn man nur darüber nachdachte. El-Thakir entschied sich jedoch gegen eine offene Anklage. Statt dessen bestimmte er, dass sein Sohn Oman - und nicht einer von Abduls vielen Sprösslingen - den Thron von Qatani besteigen soll te. Wäre Abdul von diesem Plan informiert worden, hätte er sicherlich protestiert. Aber dazu sollte es nicht kommen. Einige Mondleben später brach nämlich eine Gruppe von Maskierten, zweifellos Ouabin, in den Palast des Kalifen ein und schlachtete alle Söhne Abduls mit dem Schwert ab. Dem verzweifelten Abdul blieb nur noch, sich den Wünschen seines Vetters zu beugen. So wurde Oman El mani zum künftigen Kalifen bestimmt. Überflüssig zu erwähnen, dass El-Thakir nicht wirklich vorhat te, seinem Zweitgeborenen große Macht in die Hände zu geben. Im Gegenteil. Oman sollte bloß ein Marionetten-König werden, der an den Fäden tanzte, die in Kal-Theron gezogen wurden. Um das sicherzustellen, wurde einer der vertrautesten Höflinge El-Thakirs als Omans Ratgeber eingesetzt, als sein Beschützer, seine Stütze und sein Rückgrat. Der Wesir Hasem. Dieses Arrangement war höchst befriedigend, und während vieler Sonnenwenden hatten nur zwei Dinge es erschüttern können. Unglücklicherweise waren es zwei höchst bedeutsame Dinge. Das erste war ein Dschinn namens Jafir, das zweite ein Seher, der, neben vielen anderen Dingen, auch die Macht des Dschinns zerstörte. Hasem war nicht bei Hofe gewesen, als der Dschinn das erste Mal erschien, aber er konnte sich die Szene lebhaft vorstellen. An einem regnerischen Nachmittag, kurz nachdem er sein illustres Amt angetreten hatte, durchwühlte Oman die Kammer seines verstorbenen Onkels, als er in einer Kiste mit edlen Stoffen auf eine verbeulte Lampe stieß, die wie eine Konar-Lampe aussah. Oman rieb achtlos
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den Staub von der Lampe, und sofort drang eine mächtige Wolke aus den Öffnungen, und ein Dschinn stand vor ihm. Das war schon erstaunlich genug, aber noch verwunderlicher war, dass der Dschinn dem fetten kleinen Kalifen bis aufs Haar glich. Der Kalif stolperte zurück, weil er fürchtete, gleich in etwas Unaussprechliches verwandelt zu werden. »Fürchte dich nicht«, sagte der Dschinn. Seine Miene war ver zückt. »Denn du bist der Befreier, auf den ich so lange gewartet habe. Ich bin Jafir Al-Jazan, und ich bin dein Freund. Vor vielen Epi zyklen war ich Schüler bei einem großen, aber grausamen Zauberer und als Strafe für eine ...«, er schnalzte mit den Lippen, »... eine wirkliche Bagatelle, die geringste aller Verfehlungen, wurde ich in die Knechtschaft dieser verwünschten Lampe gezwungen. Ohne auch nur die Chance zu einer Rechtfertigung zu bekommen. Es war eine lange Knechtschaft, das versichere ich dir! Aber ich sehe, dass der Zauberer sein Wort gehalten hat, denn er meinte, meine Leiden würden enden, wenn ich meinem Zwilling begegne. Und ich sehe, dass du dieser Zwilling bist.« »Zwilling?« Freude durchströmte den Kalifen, denn er hatte sich sein ganzes Leben lang seinem Bruder unterlegen gefühlt und ihn dafür gehasst. Jetzt hatte er einen anderen Bruder, einen, den er lie ben konnte. Jafir verkündete, dass er dem Kalifen freiwillig dienen würde. Den anderen, so sagte er, habe er nur drei Wünsche erfüllt, aber der Kalif konnte so viel wünschen, wie er wollte. »Weißt du, diese anderen haben mich sofort vergessen. Nachdem ich ihre Wünsche erfüllt habe, meine ich. Vermutlich war das Teil meines Fluchs. Sie dachten sogar, dass diese verzauberte Lampe wirklich nur eine schäbige Ko nar-Lampe wäre, die man am besten wegwerfen sollte. Mein Lieber, du hast keine Ahnung, wie lange ich manchmal warten musste, bis jemand kam und mich herausgelassen hat. Ich weiß wirklich nicht, was schlimmer ist, in der Lampe eingeschlossen zu sein oder den ... vulgärsten Menschen drei Wünsche erfüllen zu müssen! Ich weiß es
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nicht, aber man muss höflich bleiben, selbst wenn man schreien will, richtig?« Der Dschinn schnitt eine Grimasse, rollte mit den Augen und nahm dann den entzückten Kalifen am Arm. »Aber das liegt jetzt alles hinter mir. Komm, Oman, amüsieren wir uns!« So kam es, denn eine Periode größten Staunens im Leben des Ka lifen begann. An diesem Nachmittag befahl er, mit Jafir an seiner Sei te, dem regnerischen Himmel sein strahlendes Blau wieder anzulegen, und zischte unsichtbar über die Dächer von Qatani. Er ver doppelte die Größe des Palastes seines verstorbenen Onkels und wünschte sich selbst hochgewachsen und genauso gut aussehend wie Kaled. Er verwandelte alle Männer im Basar in Frauen und alle Frauen in Männer. Er vertilgte das größte Bankett, das er jemals gesehen hatte, ohne dass ihm anschließend schlecht wurde. Es war klar, dass die Macht des Kalifen nun ungeheuer wurde, aber als der Wesir entdeckte, was passiert war, war er entsetzt. Er ermahnte den Kalifen streng, der daraufhin ernüchterte und zögernd seinem neuen Bruder befahl, alles wieder so zu verwandeln, wie es vorher gewesen war. Geduldig wie einem Kind erklärte ihm der We sir, dass auch nur der leiseste Verdacht vom Vorhandensein einer sol chen Macht in Kal-Theron mit größtem Missfallen aufgenommen werden würde. Oman durfte mit seinem neuen Freund spielen, aber sie mussten sich auf unauffälligere Magie beschränken, es sei denn, sie wollten riskieren, dass der Sultan den Zorn des Feuergottes auf sie herabbeschwor. Es fügte sich, dass weder dem Kalifen noch dem Dschinn diese Beschränkungen besonders schwer fielen. Sie hatten ihre ekstatischen Spiele bald satt, und der Kalif war einfach nicht intelligent genug, die Fähigkeiten seines Dschinns zu politischen Zwecken zu nutzen. Schon bald beruhigten sie sich, und ihre einzigen Laster wa ren köstlichste Bankette und abendfüllende Illusionen, die sie an die Wände projizierten. Wesir Hasem war nicht einmal verärgert darüber, die beiden fetten Kerle zusammen zu sehen. Es war gut, dass Oman abgelenkt war, und nichts konnte ihn so wirksam ab
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lenken wie Jafir. Wenn der Wesir auch eine tiefe Traurigkeit empfand, so unterdrückte er sie. Er durfte nur an das Wohl des Staates denken - und daran, was das Beste für das Reich war. Wenn er in diesen Tagen Oman gute Nacht entbot, strich Hasem auch beschützend über die Lampe, die sicher neben dem Bett des Kalifen stand und in der der Dschinn des Nachts ruhte. Denn mochte er sich auch ständig über sein verbeultes Heim beschweren, missen wollte er es doch nicht. Das waren die glorreichen Tage von Oman und Jafir. Aber die Idylle sollte nicht lange währen. Ungefähr zu dieser Zeit heiratete der Bruder des Kalifen im fernen Kal-Theron die wunderschöne Lady Ysadona. Und Sultan El-Thakir ließ ausrichten, dass der Kalif ebenfalls heiraten müsste. Natürlich fiel es Hasem zu, sich nach einer angemessenen Braut umzusehen. Der Wesir dachte lange und gründlich darüber nach. Seine Wahl erfüllte ihn mit Stolz, und einige hielten sie sogar für brillant. Aber die Ehe war von Anfang an al les andere als ein Erfolg. Lange Monate hatte der Wesir sich bemüht, Jafir vor den Höflin gen zu verstecken. Jetzt musste der merkwürdige Gefährte des Kalifen auch noch vor seiner Gemahlin verheimlicht werden. Schon bald gingen die Gerüchte um, dass Oman grausam zu seiner Frau wäre. Es war eine üble Verleumdung. Der verängstigte Kalif hatte kaum eine Sekunde in ihrer Gegenwart verbracht, und er war sogar so weit gegangen, Jafirs Mächte dazu zu nutzen - und nicht seine eigenen -, ihm einen Sohn zu sichern. Warum der Dschinn ihm nicht gehorchte und stattdessen nur eine Tochter zeugte, sollte Oman niemals herausfinden. Aber wenn es Ungehorsam war, war Oman im Nachhinein fast froh darüber. Wenn er sich an die Zeit mit Jafir er innerte, sagte er oft, dass er trotz allen Kummers wenigstens noch Shimmy hatte, ein Kind, das von der Magie geküsst worden war. Es sollte jedoch dem Kalifen zum Unglück gereichen, dass noch andere Magie auf seine Tochter lauerte. Es gab einige Menschen im Palast, vor denen er das Geheimnis des Dschinns nicht verbergen
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konnte. Der Ranghöchste unter ihnen war der Wahrsager Evitamus, der magische Beistand des verstorbenen Kalifen Abdul Samad. Der Wahrsager hatte erst spät geheiratet und eine Tochter in die Welt gesetzt. Ehe und Vaterschaft hatten den alten Mann weich gemacht, aber der frühe Tod seiner Frau hatte ihn mit einer Bitterkeit erfüllt, von der er sich nicht erholen konnte. In seiner Jugend war er allen Berichten zufolge ein sehr ehrgeiziger Mann gewesen, aber er hatte diesen Ehrgeiz nicht so befriedigen können, wie er es eigentlich gewollt hatte. Alter Groll wurmte ihn noch immer, und er hat te sich viele Feinde gemacht. Nur politische Taktik hielt den Wesir davon ab, ihn auf der Stelle zu verbannen. Der Wahrsager hatte magische Kräfte, aber es war schwer zu sagen, wie groß sie waren. Der Wesir war der Meinung, der Mann wäre in der Verbannung vielleicht viel gefährlicher, als wenn er dazu gezwungen würde zu bleiben. Und genauso war es auch. Der Wahrsager wurde vom Neid zerfressen, als er sah, in welch hoher Gunst der Dschinn stand. Wenn der Kalif sich mit seinem besonderen Freund zurückzog, sah der Wesir den Wahrsager oft mit finsterer Miene in den Fluren herumlaufen, als wollte er herausfinden, was hinter den geschlossenen Türen vorging. Wurde er überrascht, machte er merkwürdige, mystische Handbewegungen und schlurfte verächtlich davon. Nachdem die Ereignisse ihren Höhepunkt erreicht hatten, sagte sich Hasem, dass er den alten Mann besser gleich am ersten Tag ver bannt hätte, damit die Sache erledigt gewesen wäre. Denn die Rache des Sehers hätte nicht schlimmer sein können als das, was er am Ende anrichtete. Die Tragödie ereignete sich am Tag von Shimmys Verlobung. Der Sultan hatte befohlen, das entzückende Kind mit seinem Unangefochtenen Erben zu verloben. Damit hätte er das Kalifat von Qata ni noch fester unter die kaiserliche Knechtschaft gezwungen. Nun waren aber bei einer traditionellen Verlobungszeremonie die Diens te eines Sehers erforderlich, und der Sultan wollte, dass alles nach
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den alten Sitten ablief. Vergeblich drängte der engste Vertraute des Großen Mannes, ein Ratgeber namens Simonides, der vielleicht selbst mit seherischen Kräften ausgestattet war, den Sultan dazu, auf diesen Teil des Rituals zu verzichten. So kam es, dass der Seher Evi tamus dieser Ehe keinen Ruhm, sondern Verderben voraussagte. Damit ruinierte er die Verlobungszeremonie, die sich in Verwirrung auflöste. Evitamus wurde verbannt und entging dem Tod nur durch die Fürsprache von Simonides. Der behauptete gnädigerweise, dass der alte Mann verrückt sei und seine seherischen Kräfte schon seit langer Zeit verdreht wären. Was niemand vorhersehen konnte, war jedoch der schreckliche Fluch, mit dem der Wahrsager die Tochter des Kalifen belegen wür de - und auch nicht das einfache, aber höchst wirkungsvolle Mittel, mit dem er dafür sorgte, dass Jafir den Fluch nicht wieder unge schehen machen konnte. Denn der Fluch kam von Jafir selbst. Die Mächte des Sehers er laubten ihm zwar nur, in die Zukunft zu blicken, aber seine List war fast eine dunkle Magie an sich. Es geschah nämlich Folgendes: Der böse alte Mann stahl die Konar-Lampe, während der Dschinn darin gefangen war. Dann benutzte er die Magie des Geistes gegen dessen Willen, belegte die Prinzessin Bela Dona mit einem fürchterlichen Fluch, zauberte sich und seine Tochter weg und legte ein Netz aus Blindheit um sich herum, damit niemand aus Qatani sie finden konnte. Es waren drei Wünsche. Und der Dschinn musste sie erfüllen. Wesir Hasem löschte die neue, glänzende Konar-Lampe, die nur neben dem Bett des Kalifen stand, damit sie Licht spendete. Der fette kleine Kerl schlief mittlerweile. Er atmete wie ein Kind. Hasem seufzte, glättete seinem Gefährten das Haar, erhob sich von der Couch und trat rastlos ans Fenster. Im Hafen dümpelten die Schiffe an den Ankerketten, und am Himmel leuchtete ein heller, goldener Mond.
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Der Wesir lehnte die Stirn gegen die Fensterlamellen. Viele Son nenwenden waren seit dem Fluch verstrichen. Er dachte an das Ent setzen, das Oman schüttelte, als ihm damals klar wurde, dass er alles verloren hatte. Der Wesir wusste, dass Oman seit diesem Tag nur davon träumte, Jafir käme wieder und alles würde sich am aufge wühlten Hof von Qatani wieder beruhigen. Plötzlich wurde dem Wesir klar, dass er sich das ebenfalls wünschte, obwohl er ur sprünglich das Gegenteil gedacht hatte. Wenn er diesen fetten, när rischen Kalifen auch liebte, wusste er dennoch, dass er, der Wesir, letztlich nichts anderes war als Omans Gefängniswärter. Er hatte sein Leben satt und war auch des langen Dienstes für das Reich des Sultans müde. Sollte der Dschinn doch zurückkehren und Oman die Macht geben, die ihn nicht nur glücklich machen, sondern ihn auch befreien konnte! Tränen glitzerten in Hasems Augen, als er schließlich von dem mondbeschienenen Fenster zurücktrat. »Dare!«, flüsterte jemand. »Dare.« Im gleichen Augenblick erwachte im fernen Kal-Theron Prinz Dare aus einem beunruhigenden Traum, der mit Simonides begon nen hatte. Er hatte seine Geschichte in den heißen, duftenden Gär ten geflüstert. Dann hatte Dare dieselben Gärten wieder im Dun keln gesehen - und diese einschüchternde, geisterhafte Vision von Thal. Zitternd starrte der Junge in die Nacht und dachte mit Entsetzen und Trauer zunächst an seinen Vater, dann an Thal und dann an sein eigenes, königliches Schicksal. Das Mondlicht floss silbrig und unheimlich über den Boden. Ein leises Lüftchen regte sich, und es duftete schwach nach den leise raschelnden Gärten oben auf dem Dach. »Dare. Dare.« Erneut dieses Flüstern. Der Junge hatte es für einen Traum gehalten, jetzt wusste er je doch, dass es mehr war. Er stand auf, schlich auf nackten Füßen zur Terrasse und erwartete, dass die Targons jeden Moment auftauchen
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würden. Stattdessen ging er, wie in einem Traum, die hellen Stufen hinauf und schlüpfte durch den Vorhang aus Blättern hindurch. Jetzt stand er zwischen den Blumenbeeten und Irrgärten, den Hai nen und Grotten. Er hörte wieder das Murmeln eines gewundenen Bächleins. Weihrauch hüllte ihn ein wie eine besondere Luft, als er erneut die Erscheinung seines toten Freundes sah. »Bist du real, Thal?«, fragte Dare atemlos. »Freund«, antwortete die Erscheinung. »Natürlich bin ich real.« »Aber ich kann durch dich hindurchsehen!« »Freund, dennoch bin ich deshalb kein bisschen weniger wirk lich.« Dare zitterte und sank auf einem Stück Gras auf die Knie. Er schlug die Hände vors Gesicht, und wenn er geträumt hätte, wäre er jetzt aufgewacht, weil er sich danach sehnte, diese Qual zu beenden. Aber sollte das ein Traum sein, dann hatte er gerade erst begonnen. Warum Dare die Hände vom Gesicht nahm, wusste er nicht. Er wusste nur, dass in einer Vision, die nicht vor seinen Augen, sondern in seinem Kopf stattfand, eine geisterhafte Hand sich nach ihm ausstreckte und sich dann wieder zurückzog. Sie winkte ihm, er solle kommen. Kommen und spielen.
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27. Der Verrückte am anderen Ufer »Ich hab sie ...«
»Schnell, stich zu!«
»Du widerlicher Rohling ...«
»Stich schon zu, du Narr!«
»Sie ist zu schnell ...«
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»Spießt sie auf!« »Feiglinge! Doch nicht so ...« »Halt's Maul, Abschaum!« »Feiglinge! Packt ihren Schwanz ...« »Was willst du, Abschaum?« »Werft sie hoch und schlitzt sie auf!« Die Ratte saß in der Falle und schrie. Rajal hielt sich die Ohren zu. Auch wenn er die Geräusche der Flüche, das Poltern der Stiefel und das Klirren des Schwertes auf dem Stein dämpfen konnte, hör te er doch noch das Kreischen der Ratte, das plötzlich lauter wurde, als sie durch die Luft segelte. Der Krummsäbel zischte, und Rajal wich zurück, als ein Schauer von Eingeweiden durch die Stangen seiner Zelle klatschte. »Ha-Ha!« »Viel Spaß damit.« »Mmh, ganz frisch!« »Eine ›Sonderration‹ Fleisch!« Die Wachen waren betrunken und fielen beinahe um vor Lachen, während der Gefangene auf der anderen Seite des Ganges, der sie die ganze Zeit gereizt und beschimpft hatte, an den Stangen seiner Zelle rüttelte, fluchte und schrie. Anscheinend hatte er gehofft, dass die Eingeweide in seine Rich tung fliegen würden. »Zurück, Abschaum!« Eine Fackel zischte, die Wachen lachten erneut und verschwan den. Gut gelaunt planschten sie durch das stinkende Wasser, das sich auf dem Gang gesammelt hatte. Stille senkte sich über die absolute Finsternis. Dann hörte Rajal das gedämpfte Schluchzen, das Stöh nen, das verstohlene Schlurfen, das durch den Kerker schallte, unaufhörlich wie der Schleim, der von den Wänden tropfte. Das Mondlicht drängte sich durch ein winziges Gitter und fing sich auf den bösartig glänzenden Eingeweiden. Es musste eine riesige Ratte gewesen sein.
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Rajal schüttelte sich und schob mit dem Fuß einen Klumpen Stroh über die dampfende Schweinerei. Dann schlang er fest die Arme um sich. Wie lange war er schon hier? Ihm schwindelte vom Jarvel, und die scharf gewürzten Speisen der Qatanis blubberten und brodelten in seinen Eingeweiden. Doch das Bankett schien schon eine Ewig keit zurückzuliegen. Jetzt existierte nichts anderes mehr als dieses fürchterliche Gefängnis mit seinem Gestank und seiner Finsternis. Der Verrückte auf der anderen Seite des Ganges schrie, brüllte den Wachen hinterher, sie sollten gefälligst zurückkommen, schimpfte sie Feiglinge, forderte sie auf, es mit einer anderen Ratte zu versu chen, einer richtigen diesmal. Vielleicht meinte er ja sich selbst. Rajal war anfangs einfach nur froh gewesen, dass er nicht mit einem so verzweifelten, so bemitleidenswerten Geschöpf die Zelle teilen musste. Als der Verrückte immer weiter schrie, wurden Rajal die Gründe schnell klar. Seine eigene Gefangenschaft hatte nicht einmal eine Nacht gedauert, und er hätte am liebsten schon jetzt in nutzlo ser, verzweifelter Wut gegen die Stangen seiner Zelle gehämmert. Stattdessen schlang Rajal die Arme fester um sich, zog die Knie an die Brust und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er steckte sich die Daumen in die Ohren und schloss ganz fest die Augen. Luft holte er durch den Mund, und er atmete so flach wie möglich. So hoffte er dem fauligen Geruch zu entgehen, der überall um ihn he rum fast fühlbar waberte. Schließlich döste er ein, und eine Weile träumte er sogar.
Rajals Traum Ich stehe auf einem Schiff, am Bug eines Schiffes, und sehe nach vorn, während es die Wogen eines tiefen, blaugrünen Meeres teilt. Es ist die Catayane, dieses Schiff, obwohl ihre Segel weißer sind und ihre Decks sauberer als vorher. Merkwürdig, Kapitän Porlo und die Mannschaft sind nirgendwo zu sehen. Im Traum weiß ich diese Din 243
ge, obwohl mein Blick nach vorn gerichtet bleibt, auf die wogenden Wellen. Bin ich allein auf dem Schiff? Es scheint so, obwohl mich der Gedanke merkwürdigerweise nicht sonderlich beunruhigt. Dann fällt mir die Galionsfigur vor mir auf, die sieb gefährlich weit in die schwere See hinauslehnt. Mit einem Stich erinnere ich mich, wie liebevoll, wie sehnsüchtig Jem diese hölzerne Lady angesehen hat und wie traurig sie ihn machte. Ihr Gesicht ist angemalt, ihr Hals starr, und ihr harter Körper hat Risse, das Holz ist verblasst. Aber im Traum kommt es mir so vor, als ob diese Cata ganz neu ist. Ihre Wan gen und ihre Augen glühen, und die steifen Faltenwürfe ihres hölzer nen Gewandes werden von einem weichen, bauschigen Stoff ersetzt. Die Büste lebt, und ich weiß, dass sie redet, gegen den Wind und das Brüllen des Wassers, aber ich kann ihre Worte nicht verstehen. Dann merke ich mit einer Spur von Bedauern, dass ich nicht wie Jem bin. Ich werde mich nicht so gefährlich weit über die Reling beugen, wie er das getan hat, um die Worte der hölzernen Lady zu verstehen. Ich seufze nur und starre geradeaus. Die Catayane segelt weiter, immer und immer weiter, durch die blaue Leere aus Himmel und Meer, Meer und Himmel, ohne dass Land in Sicht kommt. Der Himmel wird dunkel, und ich höre, wie sich ein Sturm nähert. Dann erfahre ich es. Zuerst höre ich die Worte der hölzernen Lady. Er gehört nicht dir, er gehört mir. Er gehört nicht dir, er gehört mir. Es ist ein Gesang, ein spöttischer Gesang. Später, das weiß ich, werde ich an diesen Traum denken und bei der Erinnerung vor Scham erröten. In dem Traum jedoch, jetzt, hier, verstehe ich nichts, weder das Lied, noch worauf es sich bezieht. Ich drehe mich um, denn während der Gesang ertönt, spüre ich je manden hinter mir. In der stärker werdenden Dunkelheit gleite ich über die Decks. Mir schein, dass ich rutsche, wie ein schwerer Stein, der mühsam über eine raue Oberfläche gezogen wird. Vor mir liegt das Heck, und am Ruder, mit dem Rücken zu mir, steht eine Gestalt, die ich kenne. Natürlich ist es Jem. Ich berühre seine Schulter. Die Gestalt dreht
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sich um, und zu meiner Überraschung stelle ich fest, dass es nicht Jem ist, sondern Cata. Ihre Miene ist ausdruckslos, unbewegt wie die ei ner Puppe, als sie mechanisch sagt: Er gehört nicht dir, sondern mir. Verwirrt und verängstigt gehe ich weg. Dann stehe ich wieder am Bug, aber etwas ist mit der Galionsfigur geschehen. Der Gesang hat aufgehört. Die Figur ist wieder starr und unbeweglich, aber dann merke ich noch etwas. Ich bin jetzt leichtsinnig wie Jem, schiebe mich hinaus aufs Bugspriet und schwinge mich nach unten. Der Himmel ist dunkel, und es stinkt entsetzlich. Ich höre ein lautes Schaben, als würde das Schiff langsam vorwärts gezogen, ein Stein über Steine. Ich strecke die Hand aus und betaste das hölzerne Gesicht. Es ist genau so, wie ich befürchtet habe, alles, wie ich befürchtet habe. »Jem!«, rufe ich. »Jem! Jem!« »Shh, ruhig!« »Jem?« »Ruhig.« Durch das kleine Gitter weiter oben dämmerte der Morgen, und in dem fahlen Licht sah Rajal eine Gestalt, die neben ihm kauerte. Sie war schmutzig und staubig und nur in Lumpen gehüllt. »Du bist nicht Jem!« »Ruhe, sagte ich!« Rajal verstummte. Erstaunt blickte er in ein Gesicht, das genau so dunkel war wie seins. Der Junge mochte in seinem Alter sein, vielleicht war er sogar noch ein bisschen jünger. Spinnweben hingen im Haar des Jungen, und an seinem Kinn klebte Staub. Einen Moment war Rajal verwirrt. Er steckte noch halb in seinem Traum und flüsterte: »Aber wo ist Jem?« »Oh nein, nicht du auch noch!« »Wa... Was?« Der Fremde schlug Rajal ruhig, aber fest ins Gesicht.
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»Heh!« »Ssh, sag ich! Du bist doch nicht verrückt, oder?« »Ich ... Ich muss verrückt sein«, sagte Rajal. »Wie kommst du hier herein?« Die Antwort zeigte sich ihm jedoch im gleichen Moment, als er sich in seiner elenden Zelle umsah. Die Tür war fest verschlossen, wie sie es die ganze Nacht gewesen war, und die Stangen waren nicht verbogen. Aber auf dem Boden neben sich sah Jem einen schweren, sandigen Steinblock liegen. Er war offenbar aus der Wand herausgebrochen worden, und die Lücke bot einem schlanken Jungen ge rade genug Platz, um von der Nachbarzelle aus hindurchzukriechen. Einen Moment lang hatte Rajal seinen Traum vergessen. Jetzt er innerte er sich wieder an das Schaben von Stein auf Stein. »Der alte Lacani hat ihn mir gezeigt«, erklärte Rajals Besucher. »Ich habe nach weiteren lockeren Steinen gesucht. Er sagte, dass sich vielleicht noch mehr als dieser eine bewegen lassen. Ich habe zwar keine gefunden, aber wenigstens gibt es diesen einen. Ich meine, ein Fluchtweg ist besser als keiner, stimmt doch?« Rajal blieb skeptisch. »Was nützt ein Fluchtweg, wenn er dich nur in die nächste Zelle führt?« »Es ist immerhin ein Anfang! Weißt du, ich glaube, der alte Lacani weiß vielleicht, wo noch mehr lockere Steine sind, aber er will es mir nicht sagen.« Eine Ecke des Steinblocks war abgebrochen. Der Fremde nahm das Stück und wog es in der Hand. Dann legte er es ins Stroh neben sich, als wüsste er später dafür eine Verwendung. Er erzählte weiter vom alten Lacani, der schon seit vielen Sonnenwenden im Kerker schmachtete und die Existenz der Welt draußen vergessen hatte. Rajal war von diesem merkwürdigen Jungen und seinem leisen, aufgeregten Geplapper fasziniert. »Wer ist der alte Lacani?« Wie zur Antwort ertönte ein jämmerliches Heulen von dem Ver rückten von der anderen Seite des Flurs. »Der ist doch verrückt!«, meinte Rajal.
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»Allerdings, und er war in meiner Zelle! Ich meine, ich war in seiner. Eine Weile hat er sich normal benommen, und dann hat er ver sucht, mich zu erwürgen!« »Warum?« »Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich hat er mich für je mand anderen gehalten. Ich hatte Glück - sie haben ihn von mir weggerissen und in eine Einzelzelle gesteckt. Seitdem plappert er nur noch dummes Zeug und heult.« »Das höre ich.« »Sag mal, ich verhungere fast. Du nicht?« Der Fremde klopfte sei ne Taschen ab und fand einen Kanten Brot. Er brach ein Stück ab, reichte es Rajal und stopfte sich den größeren Teil selbst in den Mund. »Du bist kein Unangese, hab ich Recht?«, fragte er, während er kaute. »Ich bin ... Ich bin ein Ejländer«, log Rajal. »Ich dachte, die wären alle blond.« »Die meisten sind das auch. Aber eben nicht alle.« Skeptisch betastete Rajal das Brot. Es fühlte sich an wie ein großes Stück Schimmel. »Ach, gib es her!« Sein Besucher nahm ihm das Brot wieder ab. »Wenn du nicht willst, kenne ich einen, der es nimmt.« »Der alte Lacani?« »Vergiss den Alten. Ich meine mich. Hier unten gibt es keine Ban kette, weißt du.« »Du weißt von dem Bankett?« »Oh, ich habe gehört, wie die Wachen sich amüsiert haben, bevor sie hochgingen, um dich zu holen. Es ist ein alter Trick ... Sie ziehen dich fein an, stopfen dich voll, und dann wirst du denunziert. Der alte Lacani behauptet jedenfalls, dass es ihm passiert wäre. Aber mach dir keine Sorgen, du wirst nicht so lange hier unten bleiben wie er.« Rajal sah seinen Besucher fragend an. »Sie kühlen dich hier unten nur ein bisschen ab. Aber nur für eine Nacht. Ich glaube nicht, dass sie dich ... na ja, verderben wollen.«
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»Was meinst du damit?« Der Fremde nahm das Stück Stein, warf es gelassen in die Luft und fing es wieder auf. Er stand jetzt und ging in der Zelle auf und ab. »Ein Junge wie du. Du bist doch sicher wertvoll, oder nicht?« »Wertvoll?« »Natürlich! Nicht wie der alte Lacani!« Rajal schüttelte sich. Er wusste zwar nicht genau, was sein Besu cher meinte, aber dennoch beschlich ihn eine ungute Vorahnung. »Und was ist mit dir? Du bist doch nur ein Junge.« Der Fremde lächelte. »Tatsächlich?« »Was denn sonst?« »Welche Rolle spielt das schon? Ich werde sterben.« »Wir sterben alle«, erwiderte Rajal unsicher. Er stand ebenfalls auf. Eine Weile umkreisten sich die beiden, aber Rajal hatte keine Ahnung, warum sie das taten. Der Fremde hielt immer noch den Stein in der Hand. »Ich meine damit, dass ich verurteilt worden bin. Sie werden mich töten.« Er verharrte plötzlich bewegungslos, und während er in dem schwachen Licht dastand, beantwortete er die Frage, die sich offenbar in Rajals Blick widerspiegelte. »Heute. Auf dem Marktplatz.« Jetzt erinnerte sich Rajal. »Du hast den Reiter getötet!« Amed - denn natürlich war es Ameda, die Tochter von Evitamus schrie, dass es nicht wahr wäre, und hob die Faust mit dem Stein. Rajal wich zurück. »Es ... Es tut mir Leid«, sagte Amed. »Aber ich habe es nicht ge tan, weißt du. Ich meine, hast du denn getan, wessen man dich be schuldigt?« Rajal hielt es für das Klügste, den Kopf zu schütteln. »Natürlich nicht. Du bist unschuldig, ich bin unschuldig ... Hah, ich würde sogar vermuten, der alte Lacani ist unschuldig. Wir sind alle gleich, hm? Einige von uns sind nur einfach verzweifelter, das ist alles.«
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»Woher weißt du das?« Amed machte sich nicht die Mühe, diese Frage zu beantworten. Rajal blickte nach unten und musterte seine Hände. Im Laufe der Nacht hatte sich sein Turban gelöst, und ein Streifen Stoff hing ihm über die Stirn. Er verzichtete darauf, ihn wieder zurückzustecken. Zitternd dachte er an seinen Besucher und an das Schicksal, das ihn erwartete. »Du hast mir deinen Namen nicht genannt«, sagte er traurig. »Oh«, erwiderte Amed. »Ich glaube, das sollte ich auch nicht tun.« »Nein?« Rajal war wieder auf die Knie gesunken und blickte im mer noch auf seine Hände. Amed beugte sich über ihn. »Du weißt, was sie mir antun wollen, das reicht doch. Vielleicht verstehst du jetzt auch, warum ich dir das antun muss.« Bei diesen Worten blickte Rajal hoch, aber es war bereits zu spät. Die Faust mit dem Stein sauste herunter, und Rajal brach auf dem Stroh zusammen. Rasch wickelte Amed Rajals Turban ab, bevor der Stoff sich mit Blut vollsog. Ebenso rasch tauschte sie die Kleidung mit ihrem Op fer. Als sie den Beutel fand, den er um den Hals trug, lugte sie neu gierig hinein, sah den Kristall, befand ihn für wertvoll und nahm den Beutel an sich. Dann schob sie Rajals Körper durch das Loch in der Wand und wuchtete den schweren Stein wieder zurück an seinen Platz. Danach blieb Amed im Stroh liegen und atmete schwer. Ihr Plan war gewagt und würde vielleicht scheitern. Aber mehr konnte sie nicht tun. Rajal war Amed. Und Amed war Rajal.
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In welcher Richtung lag die Heilige Stadt? In ihrer Zelle konnte Amed das nicht genau erkennen, aber als sie das Echo der Glocken hörte, die in der Welt draußen schlugen, warf sie sich in das schmutzige Stroh. Sie murmelte eindringlich eben die Gebete, die sie noch vor kurzer Zeit verschmäht hatte. Selbst Amed hätte nicht sagen können, warum sie wie die anderen zum Gott der Flamme betete und zum Geist ihres toten Vaters. Der Seher schien jetzt oft bei ihr zu sein, schwebte wie eine wohl wollende Kraft an ihrer Seite. Mehr als einmal in ihrer Zeit im Kerker glaubte Amed die Stimme ihres Vaters zu hören. Er schien ihr et was aus den Wänden zuzuflüstern, aber was die Stimme genau sag te, konnte sie nicht verstehen. Manchmal fragte sich Amed, ob ihr Vater nicht in den wenigen lichten, weisen Momenten des alten La cani durch den Mund des Verrückten zu ihr sprach. Wie merkwür dig und wie traurig, dass ihr Vater, der ihr im Leben so fern gewe sen war, ihr jetzt, im Tod, so nah und so real erschien! Allerdings war Amed überzeugt, dass sie ihm bald Gesellschaft leisten würde. Auch ohne die Hilfe des Henkers. In der kurzen Zeit, die sie in diesem Kerker zubrachte, erlebte sie, wie viele Gefangene in ihren Zellen starben. Einige erlagen schon nach kurzer Zeit den Giften, die in dem Dreck und der üblen Luft lauerten. Viele starben an Knochenbrüchen und anderen Verletzungen, auf schreckliche Weise missbraucht von den trunkenen Wachen. In ihrer ersten Nacht hatte Amed entsetzt mit angesehen, wie die Wächter mühsam und fluchend einen Leichnam über den nassen Flur gezerrt hatten. Und sie hörte kurz darauf das Platschen, als sie den Kadaver in die Ab wasserkanäle warfen. Amed hätte beinahe geweint, aber nicht aus Mitleid mit dem Mann. Sie wünschte sich, auch so sterben zu dürfen, ohne Henker und den johlenden Mob auf dem Marktplatz!
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Das war die schlimmste Zeit für Amed gewesen. Seitdem hatte sie der Verzweiflung nicht mehr nachgegeben. Und in dem Glück, das sie bis jetzt am Leben erhalten hatte, glaubte sie die schützende Hand ihres Vaters zu erkennen. Vielleicht war das auch so: Amed hatte gebetet, eine Möglichkeit zur Flucht zu bekommen, und jetzt war ihre Chance da. Wenn sie nur Erfolg hatte! Amed vollendete ihre Niederwerfungen und blieb mit gesenktem Kopf ruhig im Stroh sitzen. In diesen wenigen Tagen hatte sie sich vollkommen verändert. Mittlerweile sah sie beinahe erstaunt auf die Person zurück, die sie noch vor so kurzer Zeit gewesen war. Eine unreife Dienstmagd in einer Karawanserei, die nichts anderes im Sinn hatte, als zusammen mit Faha Ejo Ferment zu ergattern. Als ihr Vater starb, war Amed, wie sie selbst es gern formulierte, zum Mann geworden. Und sie bereute ihren letzten Jungenstreich aus ganzem Herzen! Sie dachte beschämt an die Konar-Lampe und hoffte, dass ihr Vater ihr ihre Dummheit vergab. Ein Stöhnen drang aus der Nachbarzelle. Amed zuckte zusammen. Also war der Ejländer wenigstens nicht tot! Das Stöhnen wiederholte sich, und sie versuchte es zu ignorieren. Sie durfte nur an ihre Mission denken, an ihre Aufgabe, nicht an den Ejländer ... wenn er überhaupt einer war. Trotzdem dachte Amed an ihn. Sie ähnelten sich ziemlich. In Gewicht und Größe waren sie sogar fast gleich. Aber würden die Wa chen wirklich glauben, dass der Ejländer Amed war, ihn hinauszer ren und ihn auf dem Markt töten? Amed blieb nichts anderes übrig, als dies zu hoffen. Trotzdem, sie war nicht bösartig, sondern nur verzweifelt, und das schlechte Gewissen plagte sie. Dann sagte sie sich, dass der Ejländer ein Feigling war ... ein Feigling oder ein Narr. Hätte er die Gefahr nicht ahnen müssen, in der er schwebte, und versuchen sollen, sich zu verteidigen? Amed strich mit den Händen über die seidenen Roben, die bis vor kurzem noch der Ejländer in
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der Nachbarzelle getragen hatte. Was kann einen solchen Luxus knaben schon Schlimmes erwarten?, dachte sie verächtlich. Amed schüttelte sich, als sie sich an gewisse Gerüchte erinnerte, Geschichten, die sie von Durchreisenden in der Karawanserei gehört hatte. Konnte die große Stadt tatsächlich einer solchen Dekadenz verfallen sein? Vielleicht war es auch ganz gut so, dass der Ejländer sein Leben heute beenden würde. Nur bin ich jetzt der Luxusknabe, dachte Amed. Dann hatte sie keine Zeit mehr, weiter zu grübeln. Plötzlich dreh te sich ein Schlüssel im Schloss, und Amed schreckte aus ihrer Träumerei auf. Die Wachen stürzten sich sofort auf sie. »Komm schon, kleiner Lustknabe!« »Nein, lasst mich los!« »Bah, er ist ein richtiger Kämpfer, der Kleine!« »Halt still, du Bettler!« »Aua! Hört auf damit!« »Verdammt! Verdammt!« »Hab ihn!« »Ha-ha! Soll ich ihm eins hinter die Ohren geben?« »Nein, sie wollen ihn unversehrt. Passt vor allem auf den Mund auf. Weshalb kann ich mir aber einfach nicht vorstellen!« »Nein?« Schmutziges Gelächter. »Wie wäre es mit einem saftigen Tritt in die Eier?« »Er ist ein Fremdling. Wir sollen ihn respektvoll behandeln, ha ben sie gesagt.« Die Wachen legten Amed die Handfesseln eng um die Gelenke. »Komm, Junge, du hast Glück. Ich würde sagen, da wo wir hingehen, erwartet dich eine Menge Spaß. Allerdings würde es mich nicht überraschen, wenn es beim ersten Mal ein bisschen weh tut!« Die Wachen grölten, als sie ihren Gefangenen wegführten. Amed wusste nicht, warum sie sich so heftig zur Wehr gesetzt hatte. Es war, als hätte ein Instinkt die Kontrolle übernommen, der sie einen
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Moment vergessen ließ, dass ihr Plan funktioniert hatte. Er hatte funktioniert! Entzückt sog sie die Luft ein, als sie den stinkenden Verliesen entstieg. Zwar sah sie mit Entsetzen dem entgegen, was ihr bevorstand, aber Amed hätte lieber jede unbekannte Herausforde rung angenommen, als noch einmal in die finstere Unterwelt hinab zusteigen. Der Palast der Duftenden Stufen war wie viele vornehme Häuser in bestimmte, voneinander getrennte Trakte unterteilt, und die Bediensteten, die in dem einen Bereich dienten, durften keinen ande ren betreten. Küchensklaven würden niemals in die feinen Staatsunterkünfte gelangen, und die Eunuchen, die sich der königlichen Frauen annahmen, lebten in einer vollkommen anderen Welt als die königlichen Diener. Die Wächter der Verliese waren eine ganz an dere Zunft als die prächtigen Wachen, die ganz in Gold gewandet oben im Palast ihren Dienst versahen. Am Fuß einer weiteren Treppe war der Knotenpunkt, wie er ge nannt wurde, wo die Wächter ihren Gefangenen an ihre goldenen Gegenstücke aushändigen wollten. Die Palastwachen hatten sie vor einigen Momenten auch noch erwartet, doch ein Scharmützel an den Palasttoren hatte sie kurzfristig weggerufen. Und die Gefängniswächter waren nicht auf das vorbereitet, was als Nächstes geschehen sollte. ERSTER WÄCHTER (stampft mit dem Fuß auf): Bah, wo sind sie denn? ZWEITER WÄCHTER (grinsend): Ha-ha, wissen sie denn nicht, dass der Kalif vor Lust brennt? Bisschen früh am Morgen dafür, findest du nicht? ERSTER: Es ist nicht der Kalif. ZWEITER: Was? ERSTER: Nicht der Kalif will ihn, sondern der Rothaarige. ZWEITER (zieht die Nase hoch): Der Rothaarige was?
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ERSTER: Sie haben es uns doch gesagt, oder nicht? Der Ejländer
mit dem roten Haar.
ZWEITER: Was ist der denn, ein Kind des Feuergottes?
ERSTER: Lass diese Blasphemien!
ZWEITER (zieht den Rotz stärker hoch): Das sagst ausgerechnet
du? Hah, hah, du kannst doch kaum stehen vor lauter Ferment in
deinem Bauch! Schmutziger alter Säufer!
ERSTER: Wen nennst du da einen schmutzigen Säufer?
ZWEITER: Dich! Du bist wirklich ein schmutziger alter Säufer.
Sharif Fez hat gesagt, dass ich schon längst zu den Goldenen Wa
chen versetzt worden wäre - zu den Goldenen Wachen, verstehst
du! -, wenn du mich nicht immer wieder runtergezogen hättest.
ERSTER: Pah! Ohne mich würdest du Scheiße schaufeln!
ZWEITER (wischt sich die Nase am Ärmel ab): Wenigstens würde
ich sie ohne dich schaufeln!
Amed steht zwischen ihnen. Mit Ketten ist sie an die Handgelenke der Wärter gefesselt. Ruhelos gleitet ihr Blick in alle Richtungen, das heißt in alle, in die sie im Moment blicken kann. Sie vergleicht den Korridor, in dem sie steht, einen öden Raum mit rohen, sandigen Steinen an den Wänden, mit dem glänzenden Marmor, der vor ihr liegt, im eigentlichen Palasttrakt. Flucht scheint unmöglich. Doch dann geschieht es, das Wunder, um das sie gebetet hat. Amed zuckt zusammen. Ein dunkelrotes Licht glüht auf, dringt durch den Stoff ihrer Robe. Ihre Wächter bemerken diese unerwartete Entwicklung nicht sofort. ZWEITER (nach einer Pause): Das Haar eines Mannes kann nicht rot sein! ERSTER: Ich habe doch gesagt, dass er ein Ejländer ist! ZWEITER: Und bei einem Ejländer geht das? Was denn, vielleicht auch noch blau? Hah-Hah! ERSTER (beachtet ihn nicht): Bah! Ich könnte noch einen Schluck Ferment gebrauchen!
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ZWEITER (plötzlich verängstigt): Bei den Klöten des Theron!
ERSTER: Halt dein blasphemisches Maul, hab ich gesagt!
ZWEITER: Nein, sieh doch ...!
ERSTER: Was denn? Ahh ...!
Sie stürzen zu Boden und schützen mit den Händen ihre Augen vor dem Licht. Die geheimnisvolle Magie dauert nur einen Moment, aber das genügt. Ameds Ketten biegen sich und zerbrechen schließlich. Sie springt die Treppe hinauf und entkommt gerade noch den golden gewandeten Wächtern, die in diesem Augenblick zurückkehren und die unseligen Wächter halb erblindet in dem Korridor unter ihnen schwanken sehen. »Hinterher!« »Er wird nicht entkommen!« »Schnell, hier lang!« »Da lang!« »Nein, hier lang!« »Komm zurück, du Narr!« »Er ist weg!« »Weg? Er kann nicht weg sein!« »Da ist er!« Die Magie war noch nicht verschwunden und umhüllte Amed mit einem Schimmern, auch nach dem Gleißen, das ihre Fesseln gelöst hatte. Später würde sie sich an diese Zeit nur als ein Chaos aus Flucht und Verfolgung erinnern, Flur um Flur, Raum um Raum. Gold, Juwelen, Samt und Seide flogen an ihr vorbei, und in ihren Ohren klangen die lauten Schreie, die klappernden Waffen, die schweren Stiefel ihrer Verfolger. Wächter, Wächter und noch mehr Wächter jagten die Flüchtige. Sie rutschte auf dem Marmorboden um eine Ecke. Vor ihr lag eine Treppe. Links befanden sich Fenster.
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Rechts eine Tür. Sie stand einen Spalt offen. Amed schlüpfte hinein. Die Kammer war leer. Sie atmete schwer und lehnte sich gegen die Tür. Der Schlüssel steckte. Es blieb gera de noch genug Zeit, um ihn herumzudrehen, als auch schon die Schritte der Stiefel über den Flur knallten und laute Schreie gellten. »Verdammt noch mal!« »Wo lang?« »Die Fenster!« »Die Treppe!« »Ich nehme die Tür!« »Die ist verschlossen!« »Verschlossen? Warum?« »Da geht es zum Frauenflügel!« Der Griff bewegte sich. »Felsenfest zu, siehst du? Los jetzt, sonst verlieren wir ihn!« Die Schritte entfernten sich, und Amed rutschte auf der anderen Seite der Tür auf die Knie. Plötzlich fühlte sie sich ausgelaugter als je zuvor. Ein Zauber hatte sie in seinem Griff gehalten, das wusste sie. Und jetzt schien diese Magie verschwunden zu sein. Doch in dem Punkt sollte Amed sich irren. Die Magie fing gerade erst an.
»Cata ... Cata.« Die Stimme klang leise, und das Wasser fühlte sich warm an. Je mand hob eine goldene Schüssel. Cata lehnte sich genüsslich zurück. Verschwommen bemerkte sie eine grüne Höhle aus Blättern, Sonnenlicht, das durch die herabhängenden Zweige zuckte. War sie wie der zu Hause? Sie spürte die Berührung von Händen, die allmählich
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fester zupackten, dabei aber zärtlich blieben. Sie streichelten ihre Haut, ihre Haare. Cata blickte verträumt hoch. »Jem ... Jem.« Aber ihr antwortete nur ein Kichern. Cata schlug blindlings zu. Jemand krabbelte weg und quietschte. Noch war Cata benommen und begriff nicht. Sie zwinkerte und sah sich um. Durch einen Fensterschlitz weit oben in der Wand fiel ein Lichtstrahl auf ihr Gesicht. Sie hatte die ganze Nacht in Mutter Madanas Vorratsraum auf einem Haufen alter Kleider gelegen. Benom men erinnerte sie sich an die Hände, die sie vorsichtig und zärtlich dorthin getragen und niedergelegt hatten. Und dann das Klappern des Schlüssels im Schloss. Jetzt sah sie, dass die Tür einen Spalt of fen stand, und erkannte auch die beiden wimmernden Mädchen, die dicht neben ihr hockten. Mit einem Schlag begriff sie, was passiert war. Die Mädchen hatten der Versuchung nicht widerstehen kön nen, den Schlüssel gestohlen und waren zu ihr gekrochen, um ihre Zärtlichkeiten fortzusetzen. Cata blickte auf die offene Tür. Sie lächelte den Mädchen zu und winkte sie verführerisch zu sich. »Satima? Sefita?« Die beiden krabbelten zurück und grinsten. »Liebe Sefita, liebe, liebe Satima.« Cata breitete die Arme aus, als wollte sie sie umarmen. Vorsich tig legte sie ihre Hände auf ihre Köpfe. Die Gesichter der Mädchen strahlten vor debiler Lust. Ein Vergnügen ganz anderer Art zeigte sich auf Catas Zügen, nachdem sie ihre Schädel zusammengeschla gen hatte. Die Mädchen sackten bewusstlos auf den Kleiderhaufen. Cata sprang auf und schoss zur Tür. Draußen hörte sie nur tiefes Atmen. Alle anderen Satimas und Sefitas schliefen fest. Dann hörte sie auch das Murmeln, tiefer und irgendwie reifer als die Tonlagen der Mädchen. Eine Stimme, das wusste Cata, gehörte Mutter Ma
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dana, und die andere erkannte sie ebenfalls. Es war die Stimme eines Mannes. Jemand lachte schallend, und dann blubberte eine JarvelPfeife. Ruhig schloss Cata die Tür hinter sich. Sie arbeitete sich langsam vorwärts, schob sich an der Wand entlang. Nur eine Ecke verbarg sie noch vor Mutter Madanas Blick. Die Ehrfurcht einflößende Matrone beherbergte ihren Gast in dem Raum, in dem sie gestern zu Abend gegessen hatten. Die schlafenden Mädchen lagen um sie herum. Cata spähte um die Ecke. »Mutter«, sagte der Mann gerade, »ich konnte es kaum glauben!« »Aber Eli, du hast doch gesagt, dass der Rothaarige alles nehmen würde. Sogar Auswurf von der Straße, hast du gesagt.« »Ja, aber er ist trotzdem anspruchsvoll.« »Auswurf, und dann soll er wählerisch sein?« »Gestern Nacht wollte er nur meine Schwester!« »Schwester! Pah! Habe ich dir von meiner Schwester erzählt, Eli?« »Ich wusste gar nicht, dass Ihr eine habt.« »Ich habe sogar zwei. Eine ist Sklavin in Kal-Theron und küm mert sich um die Kinder des Sultans, kannst du das glauben? Die gute Lammy! Sie habe ich immer geliebt.« Die Jarvel-Pfeife blubberte. »Die andere liebt Ihr nicht?« »Sie ist ein Miststück. Hat eine Karawanserei an der Küste von Dorva. Jedenfalls bis vor ein paar Tagen. Wenn man sie reden hört, könnte man meinen, sie wäre diejenige, die in einem Palast lebt und nicht als Sklavin!« »An der Küste, sagt Ihr?« »Richtig. Kannst du glauben, dass sie zu mir gekommen ist und mich gebeten hat, sie aufzunehmen, nachdem sie jetzt von den Rei tern aus ihrem elenden Schuppen getrieben worden ist. Pah! Als wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie es war, sie, das Miststück, die Lammy an die Sklaventreiber verschachert hat! Ich habe ihr in die Augen gesehen und ihr gesagt, was ich von ihr halte. Was soll ich
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denn mit der Herrin einer schmutzigen alten Ferment-Höhle?, habe ich sie gefragt. Ja, genauso habe ich sie genannt! Ich werde dir nicht erzählen, wie sie mich genannt hat. Ich sagte ihr, du würdest einige Unterkünfte im Hafen kennen, falls sie da irgendwo hausen möch te. Das stimmt doch, Eli, oder? Es geschieht ihr ganz recht, von ei nem Mischling ausgehalten zu werden ... das meine ich nicht beleidigend, Eli.« »Herrin einer alten Ferment-Höhle, sagt Ihr?«, fragte Eli nach denklich. Er schien zu grübeln. Dann brach es aus Mutter Madana heraus: »Eli, du willst sie doch wohl nicht anstellen? Eli, das verbiete ich dir!« »Mutter«, erwiderte der Mischling unschuldig, »würde ich Euch erzürnen wollen? Lasst sie zu Casca Dalla gehen. Soll sie sehen, was sie von ihm bekommt!« Die Jarvel-Pfeife blubberte wieder. »Ja, lass sie zu Casca gehen«, fuhr Mutter Madana einen Augen blick später fort. »Als wenn ich einen Korson auf dieses Miststück geben würde. Das hier war ein Verlustgeschäft für mich, Eli. Erst deine verschwundene Schwester und jetzt diese Babas als totes Ge wicht in deinen Händen. Du weißt, dass es Gerüchte im Schatzamt gibt, hab ich Recht?« »Gerüchte?« »Ich habe einen Hinweis bekommen. Man meint, ich solle lieber mit Casca zusammengehen.« »Mutter? Ihr habt doch nicht vor ,..!« »Eli, Eli, würde ich dich hintergehen? Was ist schon Casca gegen einen Mann mit einem königlichen Siegel? Die Geschäfte gehen in Zyklen, hab ich Recht? Noch ein Mondleben, und wir stehen so so lide da wie ein Fels ... Aber diese Babas. Ich glaube, wir sollten sie auf einer Auktion verkaufen, hm? Babas bringen jedenfalls Pech.« »Das sagt sie mir jetzt!« Das Blubbern verstärkte sich.
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»Was ist mit dem Silberfisch?« »Was soll mit ihr sein?« »Sie würde einige Zirhams einbringen, hm?« »Ich sagte dir doch: Sie soll von mir ausgebildet werden!« »Sie bedeutet Ärger! Warum sollten wir sie lange ausbilden, wenn wir sie jetzt schon gewinnbringend verkaufen könnten?« »Eli, sie ist eine Investition!« Die Pfeife blubberte. »Eli?« »Mutter? »Deine Schwester. Ähnelte sie wirklich der Schimmernden Prin zessin?« »Ihr ähneln? Sie war ihr Ebenbild!« »Ach Eli, wenn wir sie doch nur zurückholen könnten!« »Pah! Stellt Euch vor, wie Casca schäumen würde ... Und denkt nur, was der Rotschopf dafür hinlegen würde!« »Der Rotschopf? Pah! Der Kaiser von Zalaga!« Sie hätten noch weiter geschwärmt, wenn sie nicht von einem lau ten Krachen unterbrochen worden wären. Dem ebenso laute Schreie folgten. Cata schrie ebenfalls. Die Qualen peinigten ihr Hirn. Es war eine Qual, die sie schon einmal erlebt hatte. Sie stolperte aus ihrem Ver steck um die Ecke, aber sie wusste bereits, was passiert war. Ein brennender Vogel, wie der, den sie vom Schiff aus gesehen hatte, war durch die Jalousien gebrochen. Flammen versengten die Luft. Zuerst hörte sie die Stimme. »Du bist gekommen. Ich wusste, dass du kommen würdest.« Es war eine tiefe Stimme, aber unverwechselbar weiblich. Was die Worte bedeuteten, konnte Amed jedoch nicht entschlüsseln. Denn wie konnte jemand sie erwarten? Sie drehte sich um und sah sich genauer im Zimmer um: die langen, geschlitzten Jalousien, die die
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Fenster verdeckten und das Licht filterten; die zerbrechlichen, be malten Rahmen, die vielen Spiegel, die in Gold gerahmt waren und von wehender Gaze verhüllt waren. Es roch nach einem schweren, süßen Parfüm, aber Amed konnte trotzdem niemanden entdecken. »Lady?« »Wildfang«, ertönte die Stimme wieder. Amed holte tief Luft. Wenn es ihr auch Sorgen bereitete, dass ihre Verkleidung so leicht zu durchschauen war, beunruhigte es sie noch mehr, dass ihr die geheimnisvolle Stimme so bekannt vorkam. Aber wie war das möglich ? Schon einmal, an dem Tag, an dem ihr Vater gestorben war, hatte Amed geglaubt, dass das Schicksal wie etwas Fassbares nach ihr gegriffen und sie berührt hatte, sie an die Hand nahm. Jetzt, noch unter den Nachwirkungen ihrer merkwürdigen Flucht, wusste sie, dass das Schicksal erneut seine Hand im Spiel hatte. Sie flüsterte: »Meine Dame, ich kann Euch nicht sehen.« »Aber das musst du doch!« Die Stimme klang amüsiert. »Ich bin zwar hauchdünn, aber nicht unsichtbar! Wildfang, du musst genauer hinsehen! Sieh auf die andere Seite der Kammer.« »Da sehe ich einen Spiegel.« »Geh hin.« »Er ist mit Gaze verhüllt.« »Gaze ist hauchdünn.« Amed runzelte die Stirn und starrte in ein Licht, das hinter dem Stoff schimmerte. »Was siehst du?«, fragte die Stimme. Amed schwieg. »Da ist doch eine Silhouette, oder?« Das stimmte, aber Amed war verwirrt. Um was für ein Spiegel bild sollte es sich schon handeln, wenn nicht um ihr eigenes? Dann fiel ihr ein, dass die Stimme vielleicht auch nur in ihrem Kopf sprach. Denn als die Dame wieder mit Amed redete, schienen die Worte nicht in der Luft um sie herum, sondern unter ihrer Schädeldecke zu klingen. Ein Gedanke, der sie traurig stimmte.
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»Nur eine Silhouette?«, fragte die Stimme. »Hier im Zimmer ist es dunkel.« Amed flüsterte jetzt nur noch und zitterte so heftig, dass sie kaum stehen konnte. Rasch und ungeschickt zerrte sie die Gaze vom Spiegel. Dann erschrak sie, denn die Gestalt in dem Spiegel war nicht sie selbst in ihrer gestohlenen Kleidung. Stattdessen sah sich Amed ei ner vornehmen Dame in einem edlen, aber schlichten Gewand ge genüber. Sie war verschleiert, aber nur leicht, und Amed sah schon an ihren Augen, wie wunderschön sie sein musste. »Habe ich dich erschreckt?«, wollte die Dame wissen. »Aber wie kann das sein?« »Meine Dame«, flüsterte Amed, »wie sollte es anders sein?« Aber ihre Verblüffung sollte sich noch steigern. Die Dame lachte freundlich und trat dann aus dem Spiegel, als wäre es eine offene Tür. »Wildfang, du wusstest, dass du mich treffen würdest, hab ich Recht?« »Ich weiß nicht einmal, wer Ihr seid, meine Dame«, erwiderte Amed. »Du kennst meinen Namen nicht? Und weißt du auch nicht, woher du mich kennst?« Ihre Stimme klang spöttisch, aber es war ein liebevoller Spott. »Ich kann nur sagen, nein, meine Dame.« Graziös griff die Dame zum Schleier, und als sie die Hand sinken ließ, fiel auch der Schleier. Er löste sich in der Luft auf, aber Amed hatte nur Augen für das Gesicht. Als würde sie eine Göttin anbeten, sank sie auf die Knie, denn diese Dame war tatsächlich der Inbegriff der Schönheit. Mehr als das. »Ich kenne Euch, meine Dame.« »Aber natürlich.« Sie lächelte. »Du hast mich vielleicht auf dem Balkon meines Vaters gesehen?« »Ich weiß nicht, was Ihr meint. Aber ich staune nur, dass Ihr hier seid und, wie auch ich, der Gefangenschaft entflohen seid.«
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»Wildfang ...« Die Stimme klang ironisch. »Hältst du mich denn vielleicht für eine andere?« »Nicht, bevor ich hier im Palast gewesen bin. Aber ... Aber ich glaube, Ihr seid eine Dame, die ich schon einmal gesehen habe.« Die Frau sah sie an, sehnsüchtig, wie es Amed schien, und Amed stöhnte unwillkürlich, als sie sich an Faha Ejos wunderschöne Cousine erinnerte. Hatte diese Dame eine Schwester, und zwar eine, die ihr bis aufs Haar glich? Aber wie konnte es zwei solcher Frauen auf der Welt geben? Amed hätte gern den Blick abgewendet und ver sucht, sich dieser Verzückung zu entziehen, die sie gepackt hielt. Stattdessen sagte sie kühn: »Ich habe Euch nur einen Moment ge sehen, meine Dame, aber ich wusste, dass ich Euch liebte.« Die Frau schrie auf und wandte sich ab. Sie hielt sich eine Hand vors Gesicht. Amed ging zu ihr. Sie wollte die Hand wegschieben, kühn in ihrem Bedürfnis, sie zu trösten, sie zu beschützen. Stattdessen schrie sie auf, als ihre Hand durch die andere hin durchzugleiten schien. Bestand die Frau aus Nebel? »Allerdings!« Sie schwang herum. In ihrem Blick lag beinahe so etwas wie Triumph, ein trauriger, bitterer Triumph. »Du willst mich berühren? Deine Hände gleiten durch mich hindurch. Du willst mich umarmen? Ich verschwinde in deinen Armen. Du willst mich küssen? Küsse mich, und du küsst Luft. Wildfang, sieh mich ge nauer an. Du hältst mich für real, denn ich stehe vor dir und rede, aber ich bin nicht so real, wie du es bist. Unter den Luxusdingen in diesem Palast bin ich nur eine bloße Erscheinung, und ich kann die se Schätze genauso wenig berühren, wie ich eine liebevolle Umar mung fühlen kann. Jeden Tag werden mir feine Speisen vorgesetzt, denn mein Vater will, dass ich wie all seine anderen Töchter behandelt werde. Leider sitze ich nur da und sehe zu, wie die Speisen er kalten! Schmuck fällt durch meine Hände, und Weihrauch brennt, ohne dass ich ihn riechen kann.« »Ich ... ich verstehe das nicht«, stotterte Amed. »In Eli Oli Alis Wagen wart ihr aus Fleisch und Blut, da bin ich ganz sicher.«
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Die Frau flüchtete ans Fenster, als hätte sie Angst. »Sprich nicht von meinem anderen Leben! Für mich ist es nur ein schmerzhafter Nebel, eine Quelle beunruhigender Träume, nicht mehr. Es reicht schon, dass du mich in Wirklichkeit gesehen hast, nicht als Erschei nung! Kannst du mich nicht schimmern sehen, schimmern wie ein Bildnis im Wasser?« Jetzt zitterte die Dame, zitterte, als wäre sie tatsächlich eine Spiegelung auf einer Wasseroberfläche, die von einem Steinwurf aufge wühlt wurde. »Man nennt mich die Schimmernde Prinzessin, denn sie halten mich für ein kostbares Juwel. Ach, aber sie ahnen nichts von der Ironie dieses Namens!« Amed rang nach Luft, und sie war verwirrt vor Scham. Erst jetzt begriff sie, wer diese außergewöhnliche Dame war. Aber wie sollte sie zu einer Prinzessin sprechen? »D... Dame, P... Prinzessin ... Ich habe Euren Namen schon gehört! Eure Eleganz und Eure Schönheit werden im ganzen Land gerühmt! Aber ... Ach, sagt mir, ob es stimmt, verzeiht mir einfa chem Mädchen aus der Provinz, das keine Respektlosigkeit im Sinn hatte, das nur aus Unwissenheit geredet hat und ... und ...« Amed verlor den Faden und blickte kühner, als sie eigentlich vorgehabt hatte, in die liebevollen Augen hoch. Mit einem Lächeln streckte die Prinzessin die Hand aus, und einen Moment schien es, als könnte sie Amed wirklich vom Boden hochheben. Das starke, süßliche Parfüm des Zimmers wirkte plötzlich intensiver, beinahe berauschend. Doch Amed wagte es immer noch nicht, die Hand zu nehmen. »Wildfang«, ertönte die Stimme. »Nenn mir deinen Namen.« Wieder das Flüstern. »Ameda.« Und dann: »Amed.« Ein fröhliches Leuchten überzog das entzückende Gesicht, und die Prinzessin seufzte. »Was dich heute zu mir geführt hat, Amed, kann ich nicht im Entferntesten erahnen, aber meine körperlose Form verleiht mir eine Art Zauber, und ich sehe hinter die bloße Oberfläche der Dinge. Seit vielen Sonnenwenden habe ich unseren
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wilden Feuergott angefleht, mir eine Freundin zu senden, damit diese Einsamkeit, in der ich schmachte, ein wenig gelindert wird. Ich sehe in deine Augen und erkenne, dass du diese Freundin bist. Wirf dich nicht vor jemandem nieder, der dich liebt. Wildfang, du wirst die Meine sein - und Prinzessin Bela Dona die Deine.« Erneut griff die Prinzessin nach unten, aber diesmal streckte Amed die Hand nach oben. Vorsichtig umfassten ihre Finger die substanzlose Hand, und dann beugte sie sich vor, um ihr einen Phantomkuss aufzudrücken. »Eli, tritt es aus!« »Ich versuche es ja, du fetter Eunuch!« »Schwein, nenn mich nicht so!« Mutter Madana zog ihren Sari schützend um sich und legte ihre Hand auf ihren Königlichen Ex port-Orden. »Ihr wisst, was Ihr seid!« »Schwein! Fettiges Schwein!« »Hilf mir, du blödes Miststück! Der Stock, der Stock ...« Mutter Madana klatschte in die Hände. »Sefitas, Satimas! Raus auf den Balkon!« »Die Babas! Holt die Babas ...« Das Feuer verbreitete sich rasch. Cata krümmte sich schreiend, aber der Schmerz dauerte nicht lange. Der Vogel war tot. Cata stolperte durch einen Vorhang aus Rauch. Sie hörte einen Schrei: Der Silberfisch! Aber sie wusste nicht, ob sie begriffen, dass sie frei war. Sie hüpfte hinter ein Sofa und versteckte sich hinter ei nem Schirm. Die niedrige Tür erkannte sie nur verschwommen. Sie befand sich zwischen zwei Gobelins an der gegenüberliegenden Wand. Sie schlich zur Tür. Und schlug sie hinter sich zu. Cata atmete tief. Die Tür war schwer, und auf der anderen Seite
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befand sich ein langer, beinahe finsterer Gang mit einer niedrigen Decke und rauen Steinwänden. Sie hörte das Echo von weit ent fernten Stimmen, und in der Ferne sah sie ein Licht. Cata vermutete, dass dies ein Dienstflur war, der die vornehmen Suiten miteinander verband. Aber führte er auch aus dem Palast heraus? Vor sich sah sie eine Weggabelung. Sie schlich durch die Finsternis und ver fluchte den Sari, den man ihr auf gezwungen hatte. Sie war nur ein kurzes Stück gegangen, als sie plötzlich laute Stim men hörte und der Glanz einer Fackel in ihren Augen schimmerte. Sklaven, die näher kamen! Cata presste sich fest an die Wand. Sinnlos. Sie würden sie sehen. Doch unvermittelt gab die Wand nach, und Cata befand sich plötzlich in einer weiteren vornehmen Wohnung. Das Erste, was ihr auffiel, war der besondere Geruch. War das Ringelblume, Lavendel, Geißblatt, Rose? Es war alles zusammen. Und nichts davon. Cata spähte um den eleganten Wandschirm. Die Kammer war mit Spiegeln voll gestellt, und alle waren mit Gaze überzogen. Dann sah Cata sie. Der Junge kniete und beugte sich über die Hand des Mädchens, die er in seiner hielt. Aber der Junge war kein Junge. Und das Mädchen war ein Phantom. Fasziniert verfolgte Cata aus ihrem Versteck die Szene, die sich jetzt abspielte.
Von prächtigen Stoffen umhüllt saßen Amed und Prinzessin Bela Dona Seite an Seite auf einem Sofa mit Löwenfüßen. Die Sonne schien durch die Jalousien und warf ein golden-schwarzes Muster
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auf den Boden. Der Spiegel vor ihnen war ein glänzender Nebel. Amed starrte hinein und musterte erst die Prinzessin und dann sich selbst. Sie schienen beide gleich real zu sein - oder irreal. Sie lehnte sich zurück und sog die berauschende, parfümierte Luft ein. »Die Fesseln«, erklärte die Prinzessin, »in denen ich schmachte, sind bitter, denn es ist mein Schicksal, eine gespaltene Kreatur zu sein, geteilt in zwei unvollständige Personen. Mein Leben wäre reich, wenn ich real wäre, und grausam ist der Hohn, dass ich es nicht bin. Irgendwo in den wilderen Regionen dieses Reiches führt mein körperliches Ich ein Leben voller Angst und sieht sich Gefah ren ausgesetzt, die ich mir nicht einmal vorstellen kann. Ich weiß nur, dass ich sterben muss, falls sie sterben sollte. Sollte sie geschändet werden, bin auch ich geschändet, und verlässt ihre Schönheit sie, geschieht mir dasselbe.« »Wie grausam!«, rief Amed. »Aber kann man nichts dagegen tun?« »Mein Vater hat in dieser langen Zeit meiner Gefangenschaft sehr oft die Ärzte um Rat gefragt, sich auf die Weisheit seiner Philosophen berufen, den Zauber seiner Magier beschworen, damit sie mich wieder zu einem Ganzen machen. Jedes Mal sind meine Hoffnungen auf geflammt, weil ich sicher war, dass endlich meine Erlösung gekom men wäre. Doch jedes Mal hat sich mein Leid nur noch vergrößert.« »Wenn ich nur Euer Erlöser sein könnte!«, rief Amed. »Wildfang, dein Eifer lässt meinen Mut wachsen, denn du könntest es tatsächlich sein. Aber wie ich sagte, zu oft schon sind meine Hoffnungen enttäuscht worden. Halte deinen Eifer zurück und auch deine flinke Zunge, bis du weißt, wie ich mit diesem Fluch be legt worden bin und warum.« Amed hörte aufmerksam zu, wie die Prinzessin die Geschichte von ihrer Verlobung mit dem Thronfolger des Sultans erzählte, die vor so vielen Sonnenwenden stattgefunden hatte. Als sie von dem Seher berichtete, pochte Ameds Herz heftig in ihrer Brust. Die Prin
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zessin war so in ihre Geschichte versunken, dass sie kaum etwas an deres bemerkte. Und sie schien auch tatsächlich nicht zu hören, wie Amed vor ihr hockte und zitternd die Anrufung des Sehers zitierte. Sie war fest davon überzeugt, sie zu kennen. Theron, Gott der Heiligen Flamme
Komm zu dem, der den Namen trägt
Evitamus, dein treuer Diener
Von all deinen glorreichen ...
Die Prinzessin fuhr fort: »Wie sehr sie sich danach sehnten, von meinem Glück zu hören, wenn der Prinz zum Manne gereift und ich eine Frau wäre, und wie er mich dann in sein Bett nähme! Aber sie rechneten nicht mit dem, was dann passierte. Der Seher erwachte mit einem dröhnenden Aufschrei aus seiner Trance und kündete nicht von Freude, sondern von Leid, nicht von Triumph, sondern von Untergang! Denn der Seher weissagte, dass der Prinz und ich niemals heiraten würden und dass das Geschlecht des Sultans kein Ruhm erwartete, sondern der Untergang!« Amed zitterte vor Scham und Angst. Jetzt hörte sie von Simonides, der ihren Vater vor dem sicheren Tod bewahrte, von der Verbannung des Evitamus und der schrecklichen Rache, die er nahm. Erstaunt hörte sie von der Konar-Lampe und Jafir, dem Dschinn, der unseli ger und unwilliger Helfer ihres Vaters bei dessen Fluch gewesen war. »So kam es«, schloss die Prinzessin, »dass dieser Fluch auf mich gelegt und ich zu dem wurde, was du jetzt vor dir siehst.« »Nein«, murmelte Amed, »nein, nein ...« Einen Augenblick fürchtete sie, sie müsse verrückt werden. Sie schloss die Augen und sah eine schreckliche Dunkelheit, die sie zu verschlingen drohte. Sie wusste, dass ihr Vater etwas Schreckliches getan hatte, aber sie hatte sich nie ausgemalt, wie fürchterlich es tatsächlich war. Sie rang tapfer die Tränen nieder und ballte die Fäus te. 268
»Teure Freundin«, sagte die Prinzessin, »wie sehr du mit mir mit fühlst.« Amed wischte sich die Augen. »Wie sollte ich nicht mit einer sol chen Berühmtheit mitfühlen? Bis jetzt habe ich zwar viel von der Schimmernden Prinzessin gehört, aber die Bedeutung ihres Namens habe ich niemals begriffen. Aber Prinzessin, wie viele wissen von Eurem Schicksal?« »Niemand außer denen, die es müssen. Der Fluch ist bis heute ein Geheimnis, und das muss auch so bleiben. Außer den Sklaven, die mich hier versorgen und keine Zunge haben, und den weisen Män nern, die sich meiner Heilung gewidmet und bei ihrem Leben ge schworen haben zu schweigen, wissen nur mein Vater und Wesir Hamed von meinem wahren Zustand. Meine Erscheinungen auf dem Balkon sind eine reine Farce, die einer leichtgläubigen Masse vorgegaukelt wird. Der Mob darf der Prinzessin niemals nahe kommen, denn die Leute dürfen auf keinen Fall Verdacht schöpfen.« »Aber warum?« »Wildfang, bist du etwa so unwissend wie die Gemeinen?« »Edle Dame, bis jetzt gehörte ich zu ihnen.« »Dann weißt du auch, wie stark sie sich an die Hoffnung klammern, wie schwach sie auch sein mag. Was verkörpert die Schim mernde Prinzessin anderes als die Zukunft Qatanis? In Wahrheit war die Herrschaft meines Vaters sehr unrühmlich, und ich habe oft vermutet, dass er meine Mutter nur geheiratet hat, damit er in der Gunst der Massen steigt.« »Ich dachte, er wäre ein guter Mann!« »Er ist beides, gut und schlecht, denn er ist ein Mensch. Jafir, den Dschinn, mochte er sehr, aber leider brachte er meiner Mutter nur sehr wenig Zuneigung entgegen. Aus vielen Andeutungen habe ich geschlossen, dass er sie grausam behandelt hat und kaum trauerte, als sie krank wurde und starb. Seine einzige Sorge galt der Sicherung seiner Herrschaft, und schon bald hing sie von mir ab.« Die Prinzessin hätte beinahe traurig aufgelacht.
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»Ja, und zwar nicht nur von einem einfachen Mädchen, sondern von einem, das darüber hinaus auch noch eine bloße Erscheinung war! Wie hätte es auch sonst sein können? Denn wenn der Mob sei ne Prinzessin liebt, wer würde sich dann gegen ihren Vater stellen? Und der Sultan? Konnte er seinen Bruder in Ungnade fallen lassen? Das ging nicht so einfach; aber, Wildfang, ich habe meinen Vater lei se mit seinem Wesir beraten hören und mehr erfahren, als eine Tochter wissen sollte. In Wahrheit liebt mein Vater den Sultan keineswegs, und mehr noch, der Sultan hegt auch keine freundlichen Ge fühle für meinen Vater. Wildfang, was soll nun aus mir werden? Und aus Qatani? Die Zeit meiner Eheschließung nähert sich geschwind, und ich schmachte immer noch in den Fesseln dieses Fluchs. Wie wütend wird der Sultan sein, wenn er schließlich die Wahrheit erfährt?« Bis jetzt war die Prinzessin gefasst geblieben, aber bei diesen Wor ten sank sie zusammen, und Tränen rannen ihr über die Wangen. In diesem Augenblick sehnte sich Amed danach, sie festzuhalten und sie zu küssen. Nichts schien schrecklicher zu sein, als untätige Zeu gin zu bleiben und hilflos eine solche Trauer mit ansehen zu müssen. Aber Amed war mehr als eine Zeugin, viel mehr. Die Prinzessin schluchzte: »Wie müde ich dieser Verstellung bin! Heute muss ich auf dem Balkon erscheinen, wo mein Vater mich dem gierigen Mob vorführt. Wie immer bei solchen Gelegenheiten lasse ich meine Gestalt fest erscheinen. Heute jedoch sehne ich mich danach, zu flackern wie eine erlöschende Flamme, damit alle wissen, dass ich nichts bin, gar nichts!« »Prinzessin, sagt so etwas nicht! Wie könnt Ihr nichts sein, wenn Ihr mir alles bedeutet? Wir haben uns zwar erst vor wenigen Augenblicken kennen gelernt, aber auch in einem winzigen Moment kann sich ein Schicksal entscheiden!« Amed streckte flehentlich die Hände aus, als könnte allein durch ihre Willenskraft die Schim mernde Prinzessin wieder real werden. »Prinzessin, ich werde Euch die Substanz verschaffen, die Euch fehlt!«
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»Du bist eine Närrin - oder du verhöhnst mich grausam!« »Euch verhöhnen? Aber nein, Prinzessin!« »Aber ja, Wildfang! Was denn, du willst mich wieder vereinen? Du willst erreichen, woran große und gebildete Männer gescheitert sind, immer und immer wieder? Wie soll das gehen? Du bist kaum mehr als ein Kind, und auch wenn du dich wie ein Junge benimmst, besitzt du dennoch den schwachen Körper eines Mädchens.« Amed war beleidigt. »Eines Mädchens? Einer Frau, und zwar einer Frau mit einem Körper!« Die Prinzessin zuckte zusammen, als hätte jemand sie geschlagen. »Tatsächlich, du verhöhnst mich! Ich dachte, du wärst meine Freun din, aber jetzt sehe ich, dass du mich hasst!« Das war zu viel. Amed sank auf die Knie und versuchte vergeblich, die schimmernde Gestalt zu umarmen. »Hassen? Prinzessin, ich liebe Euch!« »Du liebst mich? Kann ich das glauben?« »Können? Ihr müsst es!« Den Blick, der daraufhin in diese wunderschönen Augen trat, würde Amed niemals vergessen. Es war ein Strahlen, das durch die Tränen drang wie die Sonne durch einen verhangenen Himmel. Dann wischte die Prinzessin die Tränen weg, beugte sich vor, ganz wie eine Dame aus den Legenden, und tat, als küsse sie ihre neue Gefährtin. Amed liefen Schauer über den ganzen Körper, und sie hätte vor Wonne beinahe gestöhnt. »Hört mich an, Prinzessin«, sagte sie eifrig. »Ihr habt gesagt, dass weise Männer immer wieder versucht haben, den Bann zu brechen ...« Die Prinzessin seufzte. »Sie haben endlos die Anwort gesucht, aber was sie erreichten, war nur, ihre nutzlosen Diskussionen immer hitziger zu entfachen. Einer versucht es mit einem Vogelopfer. Der andere malt Kreidezeichen und magische Kreise. Der Nächste behauptet, der Fluch könne nur durch einen soliden Glücksbringer
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entfernt werden, irgendein Objekt. Ein Medaillon, ein Ring? Viel leicht eines der Geschenke, die ich zu meiner Geburt bekommen habe? Nein, nein und wieder nein!« Ungeduldig überging Amed diese Gegenargumente. »Prinzessin, es gibt einen Weg, nur einen. Die Konar-Lampe. Wenn ich sie nun finden und sie Euch bringen könnte?« Die Prinzessin seufzte. »Das ist leider unmöglich! Der Seher hat den Dschinn ein Netz aus Blindheit weben lassen und dafür gesorgt, dass niemand aus Qatani ihn jemals finden kann. Wenn selbst die Bemühungen der weisesten Männer gescheitert sind, wie könnte dann ein Wildfang allein den Dschinn zurückbringen?« »Aber ich kann es!« Wenn Amed die Prinzessin hätte packen kön nen, dann hätte sie es getan. Sie hätte sie gepackt und geschüttelt. »Wer sonst als das Schicksal hat mich hierher geführt? Wenn die weisesten Männer Euch nicht dienen konnten, ist es vielleicht Schicksal, dass ein bescheidener Wildfang erreichen kann, was ih nen versagt blieb. Ich schwöre Euch, ich ... Ich habe diese KonarLampe gesehen, genau diese ... Und ich werde sie Euch bringen!« »Wildfang, stimmt das wirklich?« »Ich schwöre es Euch, Prinzessin!« Erneut hätten diese wunderschönen Augen beinahe in Tränen ge schwommen, doch in dem Moment ertönte ein tiefer Gong im Kor ridor. Amed fuhr zusammen. »Mein Vater!«, rief die Prinzessin. »Du musst gehen!« Sie konnten den Kalifen schon an der Tür hören, wo er seiner Wache Befehle zubellte. Amed sah zu den Fenstern, aber die Prinzessin schüttelte den Kopf. »Die Grube!« »Grube?« Es war keine Zeit für lange Erklärungen. Die Prinzessin deutete auf die andere Ecke. »Hinter den Schirm. Dort ist ein Dienstboten gang. Du kannst bestimmt durch ihn flüchten.«
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Ein Moment blieb ihnen noch. Amed umarmte die schimmernde Gestalt. Sie spitzte die Lippen und küsste die Luft. Der Kalif schrie immer noch. »Warte«, flüsterte die Prinzessin. »Du brauchst ein Symbol! Schnell, nimm den Schlüssel, den du umgedreht hast, als du meine Kammer betreten hast. Nimm ihn und behalte ihn.« Amed rannte zur Tür und zog ihn aus dem Schloss. Sie drehte sich ein letztes Mal um und fasste in ihre Robe. Ins tinktiv packte sie den Kristall und reichte ihn ihr. Die Prinzessin griff danach. Eigentlich hätte er auf den Boden fallen müssen, doch stattdessen zuckte eine purpurrote Flamme auf. Die Prinzessin schnappte nach Luft. Der Kristall zitterte in ihren Phantomhänden, und schwarzrotes Licht lief ihren Arm hinauf. Dann erlosch es, und der Kristall war verschwunden. »Schimmy! Schimmy!« Eine Stimme drang durch die Tür. Amed ignorierte sie. »Prinzessin, was ist passiert? Was habe ich getan?« »Was war das für ein Stein?« »Ich weiß es nicht! Ich ...« »Es war Magie, die du mir gebracht hast, eine andere Erklärung gibt es nicht. Oh, du hättest ihn mir nicht geben sollen. Ich fürchte, du hättest ihn mir nicht geben dürfen!« »Schimmy! Schimmy!« Die Prinzessin wirbelte herum. Es gehörte zu dem Spiel, das ihr Vater spielte. Gleich würde er die Tür öffnen. »Geh jetzt, geh!« »Ich gehe, aber ich komme wieder!« Ein letzter Luftkuss. »Und wenn ich zurückkehre, werde ich Euch befreien, Prinzessin!« Aber Prinzessin Bela Dona war sehr beunruhigt, zutiefst beunru higt, als sie sich jetzt umdrehte und ihrem Vater mit einem gezwun genen Lächeln entgegenblickte.
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»Shh!« Eine Hand presste sich auf Ameds Mund. Das Mädchen und der Wildfang wirbelten gemeinsam durch die Tür hinter dem Schirm. »Wer bist du?« »Ich weiß alles, und ich werde dir helfen. Rasch, folge mir!« Hinter ihnen buckelte der Kalif vor seiner Tochter und drängte sie in Baby-Sprache, ein gutes Mädchen zu sein, ein braves, feines, kleines Mädchen ... Wollte Schimmy heute Nachmittag nicht ein bisschen schimmern? Licht durchflutete die Kammer. Der Korridor war stockfinster. Cata lief voran, und Amed folgte ihr. »Wo entlang?« »Hier ... Nein, hier!«, befahl Cata atemlos. Ihre Schläfen hämmerten. Sie sehnte sich danach, sich umzudre hen, den Wildfang zu packen, zu schütteln und Antworten zu ver langen. Wer bist du? Was bist du? Was war das für ein Stein? Das Einzige, was Cata wusste, war, dass sie dieses Geheimnis ergründen musste. Stimmen. »Schnell!« Cata drückte Amed gegen die Wand. Eine Wegkreuzung lag di rekt vor ihnen, erhellt von dem blakenden Licht einer Fackel. »... und die besten Kissen!« »Doch nicht das Chenille!« »Und auch noch ein Amali-Schirm!« »Oh!« »Aber ja, mein Lieber. Unschätzbare Kostbarkeiten ...« Zwei Eunuchen gingen dicht an ihnen vorbei. Cata versuchte, nicht zu atmen. Dennoch nahm sie den stechenden Geruch von Rauch wahr. Das Feuer! Sie hatte es vollkommen vergessen! Anscheinend waren nicht nur Möbel zerstört worden. Die Eunu chen meinten, es wäre ein schwerer Schlag gewesen. Wenn das so
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weiterging, dann war Mutter Madana bald bankrott. Wenn sie nur nicht so sentimental wegen dieses schmierigen Mischlings wäre! Ei nige behaupteten ja, sie verlöre allmählich ihr glückliches Händchen. Aber der Schatzmeister würde niemals den Exporthandel unterge hen lassen. Dafür war er zu gewinnträchtig. Es war allerdings wohl nur noch eine Frage der Zeit, so behaupteten manche, bis Eli Oli Ali verdrängt wäre und Casca Dalla das Geschäft übernahm. Mochte Mutter Madana auch noch so sehr fluchen und toben ... »... zuerst Elis Schwester.« »Und jetzt das. Sie hat den Silberfisch entwischen lassen, kannst du das glauben?« »Sie werden sie finden. Und dann wird sie verkauft, glaub mir.« »Auf der Auktion ... das ist sicher. Geschieht ihr ganz recht.« Dann waren sie verschwunden. »Wo entlang?«, fragte Amed wieder. »Hier ... Nein, hier.« »Weißt du es wirklich?« »Bis eben wusste ich es nicht. Aber jetzt...« Cata fühlte ein scharfes, instinktives Drängen. Tiere. Sonnenlicht. Ja, sie kannte den Weg. Dann ertönten erneut Stimmen, diesmal jedoch andere. Schreie und Echos. »Sie muss da sein, sie muss einfach!« »Silberfisch! Silberfischchen! Gib auf, sei nicht albern!« »Schnell!«, befahl Cata. Sie umrundeten eine Ecke. Am Ende des Korridors stand eine Tür offen. Dahinter blendete die Sonne. Sie rannten darauf zu. Und standen auf einem Balkon. Hinter der Balustrade befand sich eine Mauer mit scharfen Spitzen - und dahinter Dächer, Kuppeln und Minarette. »Wir müssen springen!« »Aber die Entfernung ...«
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»Die Spitzen ...« »Die Mauer ...« »Wie tief geht es nach unten?« Sie blickten hinab und hielten die Luft an. Jetzt verstand Cata auch diese kurze, heftige Empfindung, die sie in dem finsteren Kor ridor verspürt hatte. »Die Kobras.« »Was?« »Die Kobragrube. Sie umgibt den ganzen Frauenflügel.« »Silberfisch! Silberfisch!« Die Stimmen kamen näher. Amed sprang auf die Balustrade. »Warte! Gib mir einen Schuh!« »Was?« »Hör auf zu streiten, tu's einfach!« Cata zog ihren Sari aus, drehte den Stoff schnell zu einem Seil zusammen und band den Schuh als Gewicht ans Ende. »Kannst du werfen?« »Natürlich«, sagte Amed. »Wirf den Schuh zwischen die Spitzen, das müsste halten. Spring hinüber, kletter über die Mauer, dann über die Spitzen und hinunter. Verstanden? Du zuerst. Schnell!« »Und du?« »Ich teste mein Glück.« »Du bist nackt!« »Schnell, geh!« Aber einen Moment ließ sie sich noch Zeit. Heftig umklammerte Amed Catas Hand. »Fremdes Mädchen, ich kenne nicht einmal deinen Namen!« »Cata. Und deiner?« »Amed. Du bist eine Freundin. Ach Cata, wie soll ich das wieder gutmachen?« »Gib mir deine Robe - und deinen anderen Schuh!« »Silberfisch! Silberfisch!«
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Das war Eli Oli Ali. Nah, viel zu nah. »Rasch!« Vielleicht hätten sie noch Zeit gehabt, aber etwas war passiert. Ein kleiner, goldener Gegenstand fiel aus Ameds Robe, als sie sie ablegen wollte. Es war der Schlüssel von Bela Donas Zimmer. Der Wild fang wollte ihn schnell wieder aufheben, aber Cata kam ihr zuvor. »Schnell!«, rief sie. Amed sprang, aber sie schwang viel zu tief. Verzweifelt hing sie direkt über den Kobras und schlug nach den Schlangen, die zisch ten und nach ihr schnappten. Cata schrie auf. In der einen Hand hatte sie den Schlüssel, in der anderen Ameds Schuh. Sie warf den Schuh auf die Kobras. Der Sari riss. Amed rutschte noch tiefer. Der Instinkt übernahm die Kontrolle. Plötzlich erinnerte sich Cata wieder an all ihre Kräfte. Sie stöhnte und zischte. Ihre Haut kräuselte sich. Sie hob die Arme über ihren Kopf wie die Haube ei ner Kobra, schloss die Augen und fühlte, wie ihre Haut Schuppen bildete. Hinunter, hinunter. Sie zwang die Schlangen fort. Der Sari riss noch ein Stück weiter. Aber nicht zu weit. Im nächsten Augenblick kletterte Amed über die Mauer, und Eli Oli Ali, der auf den Balkon gestürmt war, hielt ein nacktes Schlan genmädchen in den Armen.
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»Weisheit des Alters? Mein junger Freund, Ihr schmeichelt mir. Nein, ich kann schwerlich behaupten, mit solcher Weisheit beschenkt worden zu sein, obwohl ...« Almoran machte eine ausholende Be wegung. »Die Mittel, sie zu gewinnen, befinden sich um uns herum.« Das stimmte. In die Wände waren tiefe Löcher gehauen, aus denen Pergamentschriftrollen hervorlugten. Zwischen den Wällen aus Pergament standen dunkle Eichenregale mit Büchern, die nach Art der Ejländer gebunden waren. Das Zentrum des Raums nahm ein runder Tisch ein, auf dem sich weitere Bücher, Rollen und Kar ten türmten. Es war später Morgen, und das helle Licht drang durch die Fenster. In der Bibliothek war es warm. Almoran sah Jem fragend an. »Nachdem ich mich aus der großen Stadt zurückzog, beschloss ich, mich der Lehre zu widmen, die ich in meiner ungeduldigen Jugend vernachlässigt hatte. Wenn auch die Vergnügungen der Freundschaft mich von meinem ursprünglichen Ziel abgebracht haben, kann ich eine so süße Ablenkung wirklich bedauern? Sicher, ich verfüge über Kenntnisse der Wissenschaft, oberflächliche Kenntnisse, aber immerhin.« Regenbogen lief klickend über das Parkett und schnüffelte in der gewaltigen, runden Kammer herum. Jem beobachtete den Hund unwillkürlich, gebannt von dem hellen, beinahe strahlenden Fell. Er schüttelte sich und konzentrierte sich wieder auf Almoran. »Edler Herr, Eure Bescheidenheit ist eine Zierde für Euren Charakter. Ihr seid gewiss ein Mann von großer Weisheit, wenn Ihr so weit habt aufsteigen können ... Zu einer solchen Bedeutung in der Welt, wofür dieser Rundgang ein Zeugnis ablegt.« »Ist das so, junger Prinz?« Jem wusste nicht genau, was er darauf antworten sollte. Der Rundgang durch das Haus schien endlos zu dauern, und es fiel ihm
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mittlerweile schwer, höflich zu bleiben. Er stand an diesem runden Tisch und hielt ein Buch in der Hand. Almoran hob fragend eine Au genbraue, und Jem täuschte gelehrtes Interesse vor. Er entzifferte die verblichenen Buchstaben und stellte erstaunt fest, dass es keineswegs das bedeutungsschwere philosophische Machwerk war, das er erwartet hatte. Im Gegenteil. Es war eine Ausgabe von Beccas Erster Ball. Beinahe hätte Jem das Buch fallen lassen. Er warf Almoran einen scharfen Blick zu, doch dieser schien das nicht zu bemerken. »Kommt, mein junger Freund«, sagte er. »Wir sind an diesem heißen Morgen weit genug gekommen. Erholen wir uns in der Kam mer der Freuden, und ich erzähle Euch dort die Geschichte meines Lebens. Jedenfalls einen Teil davon.« Vor dem Fenster standen zwei geschwungene, mit Schnitzereien verzierte Stühle. Almoran bedeutete Jem mit einer Handbewegung, sich an seine Seite zu setzen, und klatschte dann kurz in die Hände. Der mädchenhafte Knabe oder einer, der ihm ähnelte, erschien in dem Durchgang zur Bibliothek. Der alte Mann befahl ihm, grünen Tee zu bringen. Der Junge verbeugte sich und zog sich zurück, kam jedoch beinahe augenblicklich mit einem beladenen Tablett zurück. Beunruhigt betrachtete Jem seinen geheimnisvollen Gastgeber. Auf ihrer langen Reise durch das Haus der Wahrheit hatte Almoran sich über die architektonische Pracht des Hauses ausgelassen, über die wunderschöne Möblierung und die schmuckvollen Intarsien. Doch auf die Fragen, die Jem ihm stellte, hatte er kaum reagiert. Wer waren diese Ouabin, die es beinahe geschafft hätten, ihn und Dona Bela zu kidnappen? Almoran deutete auf eine gewölbte Decke. Wie kam es, dass Almoran sie gerettet hatte? Und wie hatte er das be werkstelligt? Der alte Mann bewunderte ein Fliesenmuster. Woher wusste er, dass Jem ein Prinz war? Eine runzlige Hand glättete ein Samtkissen. In all den Zimmern, die sie besucht hatten, waren sie keiner anderen Menschenseele begegnet, nicht einer. Wohin waren sie alle verschwunden, die tausend Feiernden, die gestern Nacht so fröhlich gezecht hatten?
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Jem kämpfte gegen die merkwürdige Müdigkeit an, die er schon vor Almorans Haus empfunden hatte. Regenbogen schlief bereits neben seinem Stuhl und hatte den Kopf auf seine gefalteten Pfoten gelegt. Jem streichelte den Hund hinter den Ohren. Durch das Fens ter blickte er auf den Garten, dessen gleißende Helligkeit sich gegen das dunstige Licht der Bibliothek scharf abhob. Nicht zum ersten Mal dachte Jem daran, dass er eine Mission zu erfüllen hatte, einen Auftrag. Wann kann ich mich wieder auf den Weg machen?, dachte er. Und wie? Mit einer beinahe träumerischen, sonoren Stimme begann Almoran seine Geschichte.
Almorans Geschichte
Es gibt Menschen, deren Leben so beginnen, wie sie es dann wei terführen, und andere, in deren Ursprüngen wir keinerlei Hinweise auf die Menschen finden, zu denen sie irgendwann werden. Vor drei Gens lebte einmal ein armer Flickschuster in der großen Stadt Qatani, die in allen Ländern als die Perle der Küste gerühmt wurde. Dieser gewöhnliche Mann hatte drei Söhne, von denen ich einer war, zudem der Jüngste. Mein ältester Bruder hieß Simonides, der Name des Zweitältesten war Evitamus. Niemand hat uns damals beachtet, zerlumpte Straßenjungen, die wir waren. Wir spielten im Staub neben der Hütte meines Vaters, und niemand hätte vermutet, welch merkwürdiges Schicksal auf uns wartete. Unsere Mutter verzweifelte, denn sie stammte angeblich aus einer höheren Kaste und wünschte sich nur, dass ihre Söhne nicht zu der Armut verdammt waren, die ihr eigenes Los war. Was uns anging ... Meine Brüder und ich waren zu jung, um zu 280
verzweifeln. Sicher, unsere Aussichten waren trist, und wir schienen zunächst kaum eine Chance zu haben, die ehrgeizigen Ziele zu er füllen, die jeder von uns erwartete. Mein Bruder Simonides war ein ernster, frommer Junge und sehn te sich danach, nach Kal-Theron zu reisen und dort in die Akademie der Imams aufgenommen zu werden. Evitamus gelüstete es nach höfischer Macht. Er hoffte, dass es ihm eines Tages gelingen würde, in den Dienst des Monarchen zu treten, des Kalifen von Qatani. Mei ne Wünsche waren sowohl bescheidener als auch größer. Ich wollte weder von Akademien noch von Kalifen abhängig sein und ver suchte, mir selbst einen Platz im Leben zu erarbeiten. Ich wollte ein so bedeutender Händler werden, dass ich nach meinem Rückzug aus dem Geschäft in vollkommenem Luxus leben konnte, ohne dabei einem Menschen etwas schuldig zu sein. Zweifellos hätte uns unser Ehrgeiz mit Verzweiflung erfüllen müssen, aber es gab da ein Geheimnis, das wir Brüder teilten und welches uns viel Trost spendete. Nachts lagen wir nebeneinander auf unserer einzigen Decke und dachten uns einen besseren Ort aus. Wir konzentrierten uns auf ein großes Haus mit einem luxuriösen Garten, das die Bühne für unsere unschuldigen Spiele darstellte. Diese Illusion war so machtvoll, dass es uns vorkam, als würden wir tatsächlich in dieses Paradies versetzt werden und die Hütte unseres Vaters hinter uns lassen. Ich habe diese spielerischen Träume der Nacht den ehrgeizigen Plänen des Tages immer vorgezogen und hät te mich ihnen gern auf Dauer hingegeben, wäre da nicht eine merkwürdige Bedingung gewesen. Und zwar Folgende: Als ich jung war, konnte ich nicht allein träu men. Das große Haus kam mir nur real vor, wenn meine Brüder mir in meinem Traum Gesellschaft leisteten und wir eine dreifaltige Anstrengung aufbrachten. Es war daher ein sehr trauriger Augenblick für mich, als meine Brüder erklärten, sie würden sich diesem Traum nicht mehr hingeben. Wir waren älter geworden. Simonides dachte nur an seine Frömmigkeit und Evitamus nur an den Hof. Als ich sie
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bat zu träumen, verwünschten sie mich als Narren und fragten mich, ob ich mein ganzes Leben verträumen wollte. Für mich jedoch waren meine Brüder die Narren, die sich nach Segnungen sehnten, die nicht die ihren werden konnten, wo dafür doch andere Segnungen so leicht erreichbar waren. So viel zu meinen Brüdern. Jetzt muss ich von meinem Vater reden. Sein Name war Pandarus. Es ist ein Gemeinplatz, dass Kinder ihre Eltern für ganz gewöhnlich halten und in ihnen nichts Beson deres sehen. Auch wenn das für die größere Welt auf Anhieb deut lich wird. Seine besondere Verschrobenheit war, eine dicke Maske zu tragen, die er aus den Materialien seines Schuhhandwerks ange fertig hatte und die sein Gesicht vollkommen verbarg. Während un serer ersten Sonnenwenden sahen meine Brüder und ich niemals sein Gesicht, und später fragten wir einmal meine Mutter nach dem Grund. Sie antwortete, dass mein Vater in seiner Jugend verunstaltet worden war und uns mit seinen Narben nicht abstoßen wollte. Mir und meinen Brüdern genügte diese Erklärung. Erst als Simo nides seine zwölfte Sonnenwende erlebte, Evitamus in der elften war und ich in der zehnten, erfuhren wir, was sich wirklich hinter dieser mysteriösen Ledermaske verbarg.
Es begab sich, dass das Kalifat von Qatani von drei großen Prüfungen heimgesucht wurde, und zwar nacheinander. Die erste war eine Seuche, ein Ausbruch von Jubba-Fieber, die derart ernst war, dass es am Anfang so aussah, als würde niemand in der Stadt überleben. Frauen und Männer flohen zu tausenden, und viele machten sich auf eine verzweifelte Pilgerreise in die Heilige Stadt. Sie hofften, damit ihr Leben zu retten. Die Höflinge drängten den Kalifen, ebenfalls diese Reise anzutreten. Vergesst nicht, dass ich nicht von dem jetzigen Kalifen Oman Elmani spreche, sondern
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von dem Kalifen Abdul Samad, seinem Onkel, der auch der Onkel des gegenwärtigen Sultans ist. Damals war Abdul Samad noch jung, und in seiner Jugend ist man viel anfälliger für böse Omen und alle mystischen Dinge. In dem Jubba-Fieber, das den Verstand der Menschen versengte, fürch tete der Kalif das Missfallen des Feuergottes zu erkennen. Um dieses Missfallen abzuwenden, hätte er sogar sein Reich aufgegeben. Abdul Samad bedurfte keiner großen Überredung und befahl seinen Dienern, ihn für die Pilgerreise auszustatten. Auf dem Weg aus der Stadt kam Abdul Samads Pilgerzug an der Hütte meines Vaters vorbei. Unsere kleine Familie hatte nicht an Flucht gedacht, denn wovon sollten wir uns auf dieser langen Reise ernähren? Die Armut würde uns umbringen, wenn das Jubba-Fie ber es nicht vorher schaffte. Als die Pilger vorbeiritten, drängten meine Brüder und ich uns mit den anderen Armen an der Straße, um, närrisch wie wir waren, zu applaudieren und zu jubeln, als unser Führer vorbeizog. Wir dachten nicht daran, dass er unsere Hingabe damit belohnte, uns in der Zeit der Gefahr im Stich zu lassen. Unsere Rolle bestand in tu gendsamer Passivität, nicht mehr. Stellt Euch jetzt unser Entsetzen vor, als unser Vater plötzlich vor Abdul Samads Sänfte sprang und schrie, dass der Kalif nicht gehen dürfe. Meine Brüder und ich zit terten, und meine Mutter stöhnte. Die Wächter wollten meinen Vater auf der Stelle niedermetzeln, aber Abdul Samad blickte aus sei ner Sänfte und verlangte gebieterisch, dass der Maskierte sich erkläre. »Kalif«, sagte unser Vater. »Ich würde eher sterben, als Euch zu beleidigen, denn in Eurer Stadt, der Perle der Küste, durfte ich eine Zufriedenheit erleben, die ich noch nie zuvor verspürt habe, trotz der Mühen eines langen und anstrengenden Lebens. Ich bitte Euch, glaubt mir, dass es nur meine Ergebenheit Euch gegenüber ist, die mich dazu drängt, Euch mitzuteilen, dass Ihr nicht gehen dürft. Wisset, dass das Fieber bereits in den Pilgern auf den Straßen brennt.
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Geht mit ihnen, und Ihr werdet ganz gewiss sterben. Damit stürzt Ihr dieses Reich in ein Elend, von dem es sich niemals mehr erholen wird. Kehrt zurück in den Palast der Duftenden Stufen, und ich ver sichere Euch, dass das Fieber rasch abflaut und Euch nichts anhaben wird.« Beleidigte Rufe schallten aus der Menge, und erneut wollten die Wachen meinen Vater töten, aber Abdul Samad wirkte nachdenk lich. Schließlich befahl er seinem Tross umzukehren. Darüber staunten viele nicht schlecht, und die Menge hätte meinen Vater bestimmt gelyncht, wenn Abdul Samad nicht befohlen hätte, dass bei Todes strafe niemand den Maskierten berühren dürfe. Die Zeit verstrich, und wir erfuhren aus Kal-Theron, dass das Fieber die Reisenden erfasst hatte und entsetzlich unter ihnen wütete. Nach zwei weiteren Tagen war das Fieber aus Qatani gewichen. Die Stadt war gerettet! Man feierte ausgelassen, und in dieser Nacht kam ein königlicher Bediensteter in unsere Hütte. Dort belohnte er den Maskierten mit den Reichtümern, die er verdient hatte. Meine Brüder und ich waren entsetzt über das gewesen, was mein Vater ge tan hatte. Nun verwandelte sich unser Entsetzen in Freude, denn es schien uns, als wären unsere Sorgen jetzt vorbei. Stellt Euch unsere Bestürzung vor, als unser Vater den Bediensteten wegschickte! »Ich verdiene keine Belohnung«, sagte er. »Und ich verdiene auch keinen Dank. Die Vorhersage, die ich machte, war purer Zufall. Manchmal wählen mich die Götter zu ihrem Instrument. Ich bin nur froh, dass der Kalif verschont geblieben ist. Und nun lasst mich mein armes und anonymes Leben weiterleben. Es ist mein Schick sal, und ich begehre nichts anderes.« Meine Brüder und ich konnten nur bedauern, was unser Vater ge tan hatte. Wir gingen zu unserer Mutter und flehten sie an, unseren Vater dazu zu bringen, seine Meinung zu ändern. Leider war unse re Mutter nicht dazu zu bewegen und sagte nur, dass es Dinge gäbe, die wir nicht verstehen könnten. Sie bat uns, niemals die Entschei dungen unseres Vaters in Frage zu stellen.
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Wir konnten kaum glauben, dass sie diesen Standpunkt einnahm. Von dieser Zeit an jedoch wurde unsere Unzufriedenheit immer größer. Mein Bruder Simonides wollte in seiner Frömmigkeit die Wege des Schicksals akzeptieren. Aber ich wusste, dass sogar er daran dachte, wie der Wohlstand und die prächtigen Gewänder ihm den Weg in die Akademie der Imams ermöglicht hätten. Mein Bru der Evitamus verurteilte meinen Vater öffentlich und verfluchte ihn. Seine Träume vom Hof waren in so greifbarer Nähe gewesen, nur, um sie sich so grausam entreißen zu lassen. Ich für meinen Teil wünschte mir, dass meine Brüder mir bei unserem dreifaltigen Traum wieder Gesellschaft leisteten und mit mir in das große Haus kämen, in dem wir so glücklich gewesen waren. Ich sagte anfangs, dass drei Prüfungen Qatani in dieser Sonnen wende des Kalifats heimsuchten. Die zweite und dritte folgten der ersten sofort. Ein Mondleben, nachdem die Seuche vertrieben war, brach ein gewaltiges Feuer im Hafen aus. Es breitete sich rasend schnell aus und drohte auf die ganze Stadt überzugreifen. Man fürchtete am Ende um den Palast der Duftenden Stufen. Die Edlen drängten den Kalifen zu fliehen, und er bewegte sich mit seinem Tross schnell aus der Stadt. Und wieder kam er an der Hütte meines Vaters vorbei. »Halt, Kalif!«, rief mein Vater und sprang dem Kalifen erneut in den Weg. »Wisset, dass ich lieber sterben würde, als Euch zu belei digen, aber glaubt mir, es ist nur meine Ergebenheit, die mich jetzt dazu bringt, Euch zu sagen, dass Ihr nicht gehen dürft. Ihr wollt dem Feuer entkommen, wie viele andere. Aber ich sage Euch, die Verheerung wird Euren Palast nicht berühren. Doch es gibt Oua bin-Verräter, die das Feuer gelegt haben und die all Eure Schätze stehlen werden, wenn Ihr flieht! Kehrt zum Palast der Duftenden Stufen zurück, und das Feuer wird schnell erlöschen. Flieht, und eine Zeit des Terrors wird über dieses Land hereinbrechen!« Erneut kehrte der Kalif um, und wieder begab sich alles so, wie mein Vater vorhergesagt hatte. Das Feuer verschonte den Palast. Die
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Männer des Kalifen spürten die verräterischen Ouabin auf und ver nichteten sie. Jetzt sollte mein Vater mit Ruhm überschüttet werden, aber erneut verweigerte er die Belohnungen, und wieder blieben meinen Brüdern und mir nur Wut und Ärger. War unser Vater wirklich ein willkürliches Instrument der Götter? Wir mochten es nicht glauben. Wir versuchten unsere Mutter auf grausame Weise zu zwingen, uns sein merkwürdiges Verhalten zu erklären. War er wirklich nur ein einfacher Flickschuster? Verbarg die Maske tatsächlich ein ver narbtes Gesicht oder aber das schreckliche Antlitz eines mächtigen Dämons? Unsere Gedanken waren offenbar auch dem Kalifen gekommen, aber ich sagte schon, dass Abdul Samad ein abergläubischer Mann war. Zweimal hatte mein Vater ihn gerettet, und der Monarch hütete sich, diesem merkwürdigen Beschützer zu widersprechen. Er ließ den maskierten Mann in Ruhe, jedenfalls so lange, bis mein Vater ihn ein drittes Mal mit seiner Macht überraschte. In Qatani brach Krieg aus. Von den Vergeltungsmaßnahmen ge gen ihre Agenten erbost, stürmten die Horden der Ouabin heran, schlossen die Stadt ein und forderten die Kapitulation des Kalifen. Wenn er sich ergebe, so versprachen sie, durfte er gehen und die Stadt als freier Mann verlassen. Leiste er jedoch weiterhin Widerstand, würden seine Stadt und all ihre Einwohner der Vernichtung anheimfallen. Der Kalif hatte keine Wahl. Schließlich ritt er traurig hinaus, um die Ouabin zu treffen, und hätte ihnen das Stadtsiegel übergeben, wenn nicht mein Vater ein drittes Mal vor ihn getreten wäre. »Kalif, erneut bitte ich Euch anzuhalten! Ich denke nur an die Heiligkeit Eurer Person und an Euer Reich. Vertraut mir, Ihr dürft den Versprechungen der Ouabin keinen Glauben schenken! Reitet weiter, und Ihr werdet getötet, ob Ihr das Siegel übergebt oder nicht. Danach beginnen die Ouabin sofort mit ihrem Vernichtungswerk, jetzt, da sie keinen Widerstand mehr fürchten müssen. Kehrt zu eu
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rem Palast zurück und schickt die Nachricht hinaus, dass Ihr mor gen den Ouabin entgegenreiten werdet. In Wahrheit werden dann jedoch die Armeen des Sultans längst eingetroffen sein und die Stadt von den Eindringlingen befreien!« Also kehrte der Kalif ein drittes Mal um, und ein drittes Mal geschah es, wie mein Vater es vorausgesagt hatte. Diesmal wollte Abdul Samad jedoch nichts mehr von der Weigerung des Maskierten hören. Er verlangte, dass mein Vater in den Pa last geschafft wurde, und dort beschenkte er ihn mit einer Kiste voller Gold. Dann umarmte er meinen Vater übertrieben und riss ihm plötzlich die Ledermaske vom Gesicht. Der Kalif sprang zurück, als erwarte er eine fürchterliche Fratze. Stattdessen sah er auf eine Stirn, in die ein Stern eingebrannt war, und einen grauen Bart, der sich vor einem Kinn mit zwei Narben dreifach teilte. Freude überzog das Gesicht von Abdul Samad, nicht Entsetzen. »Ein Seher! Meine Güte, Pandarus, Ihr wart sehr geheimnisvoll! Dabei wart Ihr ein Segen für mich, denn Ihr seid der mächtigste Se her, den ich jemals erlebt habe. Und jetzt keine Geheimnisse mehr, Pandarus, und Schluss mit der Schande, in der Ihr bisher gelebt habt. Ihr habt Euch bewiesen, was Ihr ja vermutlich auch wolltet. Von jetzt an werdet Ihr die Zierde meines Hofes sein und ein vertraute rer Ratgeber für mich als jeder andere.«
Nun waren meine Brüder und ich vollkommen begeistert, denn endlich, so schien es uns, waren unsere Prüfungen vorbei. Wir fan den uns in luxuriösen Unterkünften wieder und trugen Gewänder, die wir sonst nur in unseren gemeinsamen Träumen gesehen hatten. Die mageren Mahlzeiten aus den Zeiten unserer Armut wurden von festlichen Banketten ersetzt, die uns von Sklaven serviert wurden.
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Von nun an trug unser Vater Roben, die mit Sternen bestickt waren, und verschwand für lange, geheime Besprechungen mit seinem kö niglichen Herrn. Stolz dachte mein Bruder Simonides an den Tag, der nun bald eintreten musste, wenn er sich nach Kal-Theron einschiffen und dort eine Leuchte an der Akademie der Imams werden würde. Ekstatisch malte sich mein Bruder Evitamus bereits die Aussichten seiner höfischen Karriere aus. Ich rieb mir die Hände und dachte, wie leicht ich jetzt der große Händler werden konnte, der ich hatte werden wollen. Bald würde ich mir mein privates König reich errichten. Es traf uns wie ein Schock, als uns klar wurde, dass unsere Eltern diese Freude nicht teilten. Das Gesicht meiner Mutter blieb umwölkt, trotz der prächtigen Gewänder, die sie jetzt trug. Eines Tages überraschten wir sie, als sie weinte und vollkommen in ihrem Leid versunken war. »Mutter, was quält dich?«, fragte mein Bruder Simonides. »Wie kann es sein, dass jetzt, wo unser Glück gemacht ist, du dich immer noch nicht freust?« »Ach, meine Söhne«, antwortete unsere trauernde Mutter. »Ihr wisst nichts von den Kosten dieser Pracht! Euer Vater und ich haben schon früher so gelebt, aber es endete immer im Leid. Ein Seher ist ein Mann mit großer Macht, das stimmt, und es ist eine Macht, die von der Welt sehr geschätzt wird. Aber seine Macht ist ebenso ein Fluch wie ein Segen. Die Machthaber wenden sich schnell gegen die Seher, wenn man ihnen Dinge weissagt, die sie nicht gern hören. Wesire, Minister und niedere Höflinge schmieden aus Neid und verzehrender Bosheit Ränke. Das vornehme Leben am Hof weicht bald wie der dem Vegetieren in schmutzigen Gassen, dem Kerker oder einer schrecklichen Verbannung in die Wüste! In seiner langen Karriere wurde Euer Vater verleumdet, geschlagen und gefoltert. Er wurde aus Geden, Vashi und Ormuz ausgewiesen, und er wurde von den Ouabin gefangen genommen, die den Geheimnissen seiner Macht auf den Grund gehen wollten. Schließlich haben wir uns in diese
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schöne Küstenstadt zurückgezogen, um hier in rechtschaffener und anonymer Armut zu leben. Leider ließ die Macht eures Vaters, die in der Großen Gilde der Seher zu höchster Vollendung ausgebildet wurde, ihm keine Ruhe. Sie hat ihn dreimal dazu berufen, die Stadt zu retten! Ihr bittet mich, den Luxus zu genießen, der uns jetzt umgibt. Wie soll ich das tun, wenn ich meinen Ehemann liebe und weiß, dass er diesmal seinem Untergang entgegensieht?« Die Worte unserer Mutter schreckten uns zunächst auf, aber die Jugend ist eben leichtsinnig: Wir verdrängten sie bald und genossen stattdessen unser Leben im Wohlstand und mit allen Privilegien, die es uns brachte. Wir erlebten eine Blütezeit, denn der Kalif vertraute den Kräften meines Vaters so sehr, dass er keine Entscheidung traf, bevor mein Vater nicht ihren Ausgang vorhersagte. War die Vorhersage ungünstig, entwickelte der Kalif andere Strategien, bis er schließlich eine fand, die Erfolg hatte. Es war ein großartiges Sys tem, und die Macht des Kalifen wuchs, ebenso der Handel und die Diplomatie. Nur langsam begriffen wir die dunkle Seite. Denn jetzt kam es dazu, dass der Kalif seinen wachsenden Ehrgeiz im Krieg befriedigte. Zu lange schon hatte er sich an dem kaiserlichen Joch gerieben; jetzt wollte er gegen seinen Vetter, den Sultan, in den Krieg ziehen und Qatani befreien.
Meine Mutter zitterte und fürchtete, das Ende wäre gekommen, aber es lag eine seltsame Wendung in dieser letzten, tragischen Epi sode der Karriere meines Vaters. In dieser Zeit hatte meine Mutter schweren Herzens beschlossen, mich und meine Brüder wegzu schicken. Wir waren zwar noch jung, aber es wurde Zeit für uns, in die Welt hinauszugehen, wenn unsere schönen Aussichten nicht alle vergebens sein sollten.
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Doch als sie unserem Vater von diesem Plan erzählte, sagte der ihr mit tränenfeuchten Augen, dass der Kalif nach uns geschickt hatte, nach Simonides, Evitamus und auch Almoran. Meine Mutter brach daraufhin wehklagend zusammen, während meine Brüder und ich uns um meinen Vater scharten und wissen wollten, was das zu bedeuten hatte. Wir sollten es sehr bald herausfinden. Zitternd standen wir vor dem Kalifen, der uns darüber informierte, dass seine neuen, kaiser lichen Ambitionen mehr als nur einen Seher erforderten. Unser Va ter war ein großartiger Diener gewesen, aber er wurde alt. Aber die Macht des Sehens sollte in seinen Söhnen weiterleben. Es war der Plan des Kalifen, dass meine Brüder und ich insgeheim in die Wüste von Los geschickt wurden. Dort sollten wir bei der Großen Gilde der Seher ausgebildet werden, wo mein Vater vor so langer Zeit seinen Stern und die Narben an seinem Kinn erhalten hatte. Nach unserer Rückkehr sollte es drei Seher in Qatani geben, und nur der Kalif sollte ruhmreicher sein. Ein Seher für die Kultur. Einer für den Handel. Und einer für die Eroberungen. Mit unseren gemeinsamen Mächten würden wir das größte Reich schaffen, das die Welt jemals gesehen hatte. Qatani sollte unangreifbar werden! Mit funkelnden Augen wandte sich der Kalif zu meinem Vater um und wollte wissen, ob die Worte, die seine königlichen Lippen gesprochen hatten, wahr wären. In diesem Moment fällte mein Vater die mutigste Entscheidung seines Lebens. Er brach alle Schwüre, die er in der Großen Gilde der Seher abgelegt hatte. »Kalif«, rief er, »wenn es Wahrheiten gibt und es eine Freude ist, sie Euch zu berichten, so gibt es auch Wahrheiten, die mein Herz bitter schmerzen müssen. Aber da ich ein Seher bin, kann ich Euch nur sagen, was ich sehe. Und ich sehe das: Euer Plan muss scheitern, denn meine Söhne besitzen nicht die Kraft, die Ihr erwartet, und ihr Schicksal ist es, das Leben von ganz gewöhnlichen Menschen zu leben!« Bei diesen Worten verdunkelte sich die Miene des Kalifen, doch
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schon bald wich der Zorn Verwunderung über das, was dann ge schah. Simonides brach plötzlich auf dem Boden zusammen, schrie und presste seine Hände auf die Augen. Quälend presste er die Wor te heraus: »Kalif, mein Vater hat gelogen! Wisset, dass Euer Plan tatsächlich dem Scheitern geweiht ist, denn wir werden niemals die drei Seher von Qatani sein! Aber wisset auch, dass die Macht in uns allen dreien lodert und unsere Herzen wie eine Flamme verzehrt! Mein Vater versucht uns zu beschützen, aber da die Macht in mir brennt, mich packt, kann ich ihrer schrecklichen Wahrheit nicht widerstehen! Ich habe die Macht! Aber ich werde Euch niemals die nen!« Plötzlich wurde der Kalif von einer schrecklichen Wut gepackt und drehte sich zu meinem Vater um. »Verruchter alter Mann, du wolltest deinen Wohltäter belügen, der dich aus der Gosse geholt und reich gemacht hat? Wachen! Tötet den Verräter! Auf der Stelle!« Die Wachen stürmten heran und rammten meinem Vater ihre Krummsäbel in den unseligen Leib. Er stürzte tot zu Boden. Im gleichen Moment packte Verzweiflung den Kalifen, denn er sah alle seine Pläne ruiniert. Nie hätte er erwartet, dass ein Seher ihn belü gen könnte, doch wenn das so war, wie sollte er dann seinen drei Sehern Glauben schenken, selbst wenn sie so ausgebildet wurden, wie er wollte?
Der Rest ist schnell erzählt. Der Kalif war kein böser Mann, auch wenn er dem Hochmut verfallen war. Er war meinem Vater sehr dankbar gewesen, und er bedauerte den Tod des Mannes, der, wie er zu spät erkannte, sein loyaler Freund gewesen war. Erneut wurden meine Brüder und ich vor diesen großen Mann gerufen. Er teilte uns mit, dass er für das Unrecht sühnen wolle, das er uns angetan hatte, und wollte wissen, was wir verlangten. So wur
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den unsere lang gehegten Pläne endlich wahr, wenn auch nicht ganz so, wie wir es uns vorgestellt hatten. Mein Bruder Simonides schwor den Mächten ab, die unserem ei genen Vater ein so schreckliches Ende beschert hatten. Er wollte nur nach Kal-Theron an die Akademie der Imams geschickt werden und dort ein Leben in demütiger Frömmigkeit führen. In Wahrheit je doch würde das Leben für Simonides niemals so einfach werden. Der Kalif war, wie wir uns erinnern, der Vetter des Sultans, und da er mit der Empfehlung eines so bedeutenden Mannes an die Akade mie kam, wurde Simonides von Anfang an als besonders viel ver sprechend angesehen. Sicher, der Kalif hatte nichts über Simonides besondere Kräfte verlauten lassen. Dennoch lag eine lange, mühevolle Karriere mit weltlichen Belangen vor meinem ältesten Bruder. Er erklomm die höchsten Ränge des kaiserlichen Dienstes. Soweit ich weiß, hat er sich niemals wieder seiner Kräfte bedient. Aber häu fig habe ich mich gefragt, wie oft er es wohl gern getan hätte. Und wie oft sich die einschüchternden Wahrheiten der Zukunft ihm ungebeten aufgedrängt hatten. Bevor dieses Leben endet, wird er dieser Blindheit abschwören müssen, die er vor langer Zeit am Hof von Qatani akzeptiert hat. Mein Bruder Evitamus hatte diese Skrupel nicht. Er war, wie ich schon sagte, ein ehrgeiziger Höfling. Und jetzt dachte er nur an die Größe, die unser Vater genossen hatte, und sagte sich, dass er die Fehler unseres Vaters nicht wiederholen würde. Dieser Bruder also bat darum, zur Großen Gilde der Seher geschickt zu werden. Simo nides und ich waren von dieser Bitte entsetzt. Ich bin sicher, dass auch dies das Leben meiner Mutter verkürzt hat. Man hätte viel leicht erwarten können, dass der Kalif diese Bitte abschlägig bescheiden würde. Aber die Verlockungen der Seherkunst sind groß, und er beschloss, dass der Hof wenigstens einen Seher brauchte. Man durfte die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Also kam es, dass Evitamus in den finsteren Künsten unseres Va ters ausgebildet wurde und von der Gilde mit einem Stern und tie
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fen Narben zwischen den Strängen seines Bartes zurückkehrte. Aber seine Mächte hatten ihn betrogen, wenn sie ihm vorgegaukelt haben sollten, dass sein Leben in Zukunft von stetigem Ruhm und Erfolg bei Hof geprägt sein würde. In Wahrheit machte er sich mächtige Feinde und beschwor viel Leid auf sich und andere herab. Ich fürchte weiterhin, dass dieser arme, närrische Bruder jetzt tot ist. Dennoch habe ich das starke Gefühl, dass er vielleicht wieder aus dem Grabe aufersteht, um wenigstens einen der vielen Fehler wieder gutzumachen, die er begangen hat. Und was war mit Almoran, dem jüngsten der drei Brüder? Ich für meinen Teil wollte nichts von den Künsten der Seher wissen. Mit der Zeit hatten sich andere Kräfte in mir entwickelt. Ich meine natürlich diese Fähigkeit zum Handeln, mit der ich in der Welt des Handels zu Bedeutung gelangte. Ich konnte mich frühzeitig zurückziehen, hierher, an diesen Platz, den ich das Haus der Wahrheit nenne. Mei ne einzige Trauer ist, dass meine geliebten Brüder nicht hier sind, um mit mir gemeinsam hier zu leben. Denn ich habe das Haus so konstruiert, dass es vollkommen und wunderbarerweise dem Haus ähnelt, in das wir uns in unseren gesegneten, dreifaltigen Träumen zurückgezogen haben. Wie viel prächtiger müsste es sein, denke ich oft, wenn meine Brüder hier wären, damit ich gemeinsam mit ihnen träumen könnte! Jem schreckte hoch. Aber nein, er hatte nicht geschlafen. Er hatte nur der träumerischen, sonoren Stimme zugehört. Dennoch schien ihm, als wäre Almorans Geschichte trotz ihrer Länge nicht ganz vollständig. Vielleicht gab es ja Teile, die noch erzählt werden mussten. Einen Augenblick versuchte Jem, eine Frage zu formulieren. Aber er konnte nicht genau sagen, was er eigentlich erfahren wollte. Und die Frage verblasste ebenso wie das Bedürfnis. Er sah hinaus in den Garten und erblickte Dona Bela, die ziellos durch eine Weidenallee schlenderte. Wie zurückgezogen sie aussah, wie ätherisch! Auf Jem wirkte das so, als gehöre sie beinahe an die
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sen merkwürdigen Ort, als wäre sie niemals das Mädchen gewesen, das er erst vor so kurzer Zeit gerettet hatte. Oder die Spanne, die ihm wie eine kurze Zeit vorkam ... Almoran lächelte. »Aber ich bin ein alter Mann und rede und rede. Armer Prinz, Ihr müsst hungrig sein, sehr hungrig, und es geht Euch nicht gut! Ich bin davon überzeugt, dass es der Prinzessin ge nauso ergeht.« »Der Prinzessin?«, fragte Jem und schaute wieder das Mädchen im Garten an. Almorans Lächeln vertiefte sich. »Kommt, leisten wir unseren zahlreichen Freunden Gesellschaft.«
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32. Tod am Nachmittag »Pepperoni!« »Gewürze!« »Oliven!« »Öl!« Die Schreie erfüllten den Basar, wurden von den vollen Regalen zurückgeworfen und hallten in den kühlen Bogengängen und den engen, überfüllten Gassen wider. »Alkanet!« »Bernstein!« »Safran!« »Zucker!« Kein Basar unter der Sonne der gesamten Südlande war berühm ter als der von Qatani. Von jenseits der ausgedehnten Metropole und auch noch von weiter her, von den Piers, an denen Fischerboote dümpelten, aus Werkstätten in Gassen und Gärten in den Hügeln strömten sie heran: schwarz verhüllte Frauen und Männer in stau
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bigem Weiß, Händler mit ihren Turbanen, Roben und Schleiern, die jeden Tag auf dem großen Platz zusammenkamen. Um den Rand des Platzes war eine Zuschauergalerie auf massiven Pfeilern errichtet worden. Sie war über hölzerne Stege mit dem Palast der Duftenden Stufen verbunden. Hier, unter kühlen, ge schmückten Bogengängen, konnten Edelleute von oben auf die Sze nerie herabblicken, sicher vor allem vulgären Stoßen und Schieben. Wesir Hasem flanierte mit seinen Gästen über den Basar. »Ein faszinierendes Schauspiel, nicht wahr?« »Wesir, vor dreißig Sonnenwenden war es bereits faszinierend, mittlerweile ist es noch viel bemerkenswerter.« Der Wesir lächelte. »Empster-Lord, ich vergesse immer wieder, dass Ihr die Perle der Küste schon besucht habt. Nehmt meine demütige Entschuldigung entgegen.« »Guter Wesir, das dürfte kaum nötig sein. Wenn ein Mann schon so lange in der Welt gelebt hat, ist es doch angenehm, wenn er die Länge seines Aufenthalts vergessen darf. Aber lasst uns hier warten. Mein humpelnder Gefährte bleibt zurück.« Die Galerie füllte sich bereits, und Kapitän Porlo musste sich durch das Gewirr der Höflinge vorarbeiten, eine Anstrengung, die sein Selbstbewusstsein einigermaßen ramponierte. Seine Wangen glühten, und die Augen waren blutunterlaufen. Bubi, die Äffin, zit terte auf seiner Schulter. Sie hatte eine dicke, weiße Bandage um ihren Kopf. Der Wesir ergriff herzlich die Hand des Kapitäns. »Ich hoffe doch, Admiral, dass Ihr uns den Schwindel der vergangenen Nacht vergeben habt? Die Großen genießen nichts so sehr wie ein bisschen Theaterdonner, und die Verleumdung von Dreien ist lustiger als die eines Einzelnen, da werdet Ihr mir sicher zustimmen. Selbstver ständlich wollten wir Euch keinen ernsthaften Schaden zufügen.« »Nur Meister Raj«, murmelte der Kapitän. »Allerdings«, mischte sich Lord Empster rasch ein. »Wer hätte geglaubt, dass wir einen hinterhältigen Verräter beherbergen? Wesir,
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wir stehen in Eurer Schuld, weil Ihr uns unsere Narretei vor Augen geführt habt.« Der Wesir wollte lächelnd Bubi tätscheln, überlegte es sich jedoch anders, als die Äffin böse zischte. »Ihr seid überzeugt, dass der Bursche ein Verräter ist?«, erkundigte sich der Kapitän. »Daran besteht kein Zweifel. Nicht der geringste Zweifel.« Es war Lord Empster, der diese Antwort gab. Der Kapitän moch te es kaum glauben, aber sein Arbeitgeber beugte sich jetzt lächelnd über die Balustrade, stopfte seine Pfeife und blickte gelassen auf den Reichtum, der in der Nachmittagssonne glitzerte und schimmerte. Gelassen glitt sein Blick über Ohrringe und Artischocken, über Mangos, Liebesperlen, Meerjungfrauenschwänze, über Aale, die an Haken hingen, und Haufen von in Honig gebackenen Heu schrecken. Das Zentrum des Marktes jedoch bildete der Kreis des Opfers. Das finstere Bauwerk wirkte bemerkenswert schlicht. Es war eine einfache Scheibe aus poliertem Holz, mit einer Falltür im Boden und einem Gestell, das vertikal aufgerichtet und wie ein Rad geformt war. Hier wurde der Verurteilte mit ausgestreckten Gliedmaßen angebunden. »Es dreht sich«, erklärte der Wesir. »Eine neuerliche Verbesserung.« »Das Rad?« Lord Empster sog an seiner Pfeife. »Die Bühne auch. Natürlich werden die entscheidenden Schwerthiebe direkt vor der königlichen Loge ausgeführt.« »Natürlich.« »Aber wir haben festgestellt, dass es ganz wünschenswert ist, wenn man anschließend die Bühne ein wenig drehen kann. Das ge meine Volk hat sich beinahe zu Tode getrampelt, um einen Blick auf das Opfer werfen zu können. Und besonders schlimm wird es, wenn sie sich um das Geschlecht balgen.« »Das Geschlecht?«
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»Habt Ihr das schon vergessen, Empster-Lord? Nun, das Ge schlecht zu entfernen ist ein besonderer Reiz. Natürlich...« Der Wesir lachte leise. »Es bleibt oft nur sehr wenig übrig, wenn hundert Hände es betatscht und danach gegriffen haben.« »Wird es denn niemals zur Galerie hinauf geworfen? Die Edel leute, denke ich, würden sich doch sicher etwas vornehmer beneh men.« »Wir gewinnen unser Vergnügen aus dem Gemetzel, das unten stattfindet. Aber heute, darf ich hinzufügen, erwartet uns noch ein weiteres Vergnügen. Sagen wir, eine Neuheit... eine Überraschung.« Lord Empster sah den Wesir fragend an. Hasem hätte vielleicht mehr verraten, aber eine neue Stimme begrüßte ihn, und er drehte sich um. Er wirkte beinahe erleichtert. »Ach, hier sind ja Eure ejländischen Freunde.« »Ich entbiete Euch meinen Gruß, Lord Empster«, sagte Polty gutmütig. »Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen?« Der Edelmann erwiderte den Gruß ebenso freundlich. »Wie ich sehe, ist Euer Freund, Mr. Burgrove, nicht bei Euch.« »Leider ist Jac indisponiert.« »Er hat sich die ganze Nacht erbrochen«, erklärte Bohne. Kapitän Porlo musterte die Neuankömmlinge misstrauisch. Schon in ihren blauen Masken waren die angeblichen Wenayaner un heilvoll und bizarr gewesen. Bei Tageslicht wirkten Polty mit sei nem gut aussehenden, cremigen Teint und Bohne mit seinen Som mersprossen und seinen linkischen Bewegungen noch unheilvoller und bizarrer. Dieser Eindruck wurde von den geliehenen Roben noch verstärkt. Wesir Hasem neigte den Kopf. »Ihr entschuldigt mich, meine Freunde? Die Niederwerfungen stehen unmittelbar bevor, und ich muss wieder zu meinem Herrn zurück.« Aber als der Wesir gehen wollte, packte Polty seinen Arm und zog ihn zur Seite. »Hasem, stimmt das?«
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»Was meint Ihr, Flammenhaariger?« Poltys Stimme glich einem schlangengleichen Zischen. »Der Krüppel, der Ejländer, ist entkommen?« »Da gibt es, sagen wir, ein kleines Problem.« »Ihr seid ein Narr, Hasem!« Der Wesir richtete sich auf. »Arroganter Ejländer! MUSS ich Euch daran erinnern, dass Ihr ein Gast in meinem Land seid?« »Gast vielleicht, Hasem, aber ganz gewiss auch ein Händler. Wollt Ihr die Waffen haben, die ich Euch versprochen habe, oder nicht? Ihr wisst, was ich will: den ejländischen Jungen.« »Ich verstehe Euch nicht, Flammenhaariger. Es gibt genug Jun gen. Wenn Ihr einfach nur einen Jungen wollt...« »Macht mich nicht krank!« »Das hatte ich auch nicht vor!«, erwiderte der Wesir. Er blickte scharf auf die Hand, die ihn immer noch festhielt. »Ejländer, wenn Euch unsere Abmachung nicht mehr gefällt, können wir sie sofort beenden.« Es war pure Angeberei, und Polty wusste es. Würde Hasem seinen wertvollen Handel mit Ejland aufgeben, ganz zu schweigen davon, dass er die Gunst des Regimes der Blauröcke riskierte? Wohl kaum, aber der Wesir war ein stolzer Mann. Vermutlich war es besser, ihn zu beruhigen. »Hasem, entschuldigt. Ich war ein bisschen überspannt. Ich weiß, dass Ihr Euer Bestes tut.« Polty blickte verstohlen zu Lord Empster hinüber. »Und was geschieht mit den an deren?« »Wir überwachen sie ständig, wie Ihr es wünscht.« »Teurer Hasem! Habt Ihr schon die Beute eingeschätzt?« »Das Schiff? Der Laderaum ist überfüllt mit Piratenschätzen. Aber wir werden den so genannten Admiral noch ein wenig bauch pinseln, noch ein kleines bisschen. Das Mädchen habe ich natürlich bereits weitergegeben.« Polty sah den Wesir merkwürdig an und packte den Arm fester. »Mädchen? Welches Mädchen?«
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»Diese Exekution, mein Lord. Ich nehme an, das erwartet auch Meister Raj?« Lord Empster zuckte mit den Schultern und betrachtete weiter den Basar. Sein Blick blieb an geschmückten Jarvel-Pfeifen hängen, an Ballen mit goldenem Stoff, an fünfeckigen Schachbrettern mit Elfenbeinfiguren. Auf der anderen Seite des Marktes befanden sich die vergitterten Galerien für die Damen. Sie lagen direkt neben der königlichen Loge. Hier würde die Tochter des Kalifen vor das Volk treten und neben ihrem Vater stehen. Die Loge war mit schweren Vor hängen geschmückt, die noch zugezogen waren. Der Kapitän unternahm einen neuen Versuch. »Vielleicht ist mei ne Frage nicht angebracht, mein Lord, aber welches Spiel spielt Ihr eigentlich?« »Ihr habt Recht, Porlo, die Frage ist nicht angebracht.« Der Edel mann stieß eine Rauchwolke aus, griff geschickt in das Jackett des Kapitäns und holte das kleine Messingfernglas heraus. »Können wir damit die Tochter des Kalifen von hier aus sehen?«, fragte er. »Wirk lich sehen?« Es war eine Frechheit, für die jeder andere über die Planke gegan gen wäre, wie Kapitän Porlo es auszudrücken beliebte. Aber er blieb hartnäckig bei seiner Linie, auch wenn seine Stimme etwas heiser klang. »Ich weiß, dass Ihr ein komischer Kauz seid, mein Lord, manchmal ein bisschen zu komisch für einen alten Seebären. Aber Ihr vertraut dem alten Porlo doch, nach all den Jahren? Bitte, mein Lord, Ihr wisst etwas, was ich nicht weiß, richtig?« Scheinbar vollkommen gebannt justierte Lord Empster das Fern glas. »Geheimnisse, Porlo? Nun, es wäre wohl kaum noch ein Ge heimnis, wenn ich es Euch erzählen würde, oder? Sagen wir, dass das Schicksal seltsame Wege nimmt.« Der Kapitän stieß einen Fluch aus und deutete wütend auf den Kreis des Opfers. »Was ist denn das Schicksal des armen Kerls, der da raufkommt? Und was meint dieser Hasem mit Überraschung? Ich sage Euch, mein Lord, diese unangesischen Hunde sind längst
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nicht so zivilisiert wie wir!« Er stampfte nachdrücklich mit dem Holzbein auf und fügte, etwas zu laut, hinzu: »Denkt nur an diese Kobras!« Während Polty sich mit Wesir Hasem beschäftigte, war Bohne untätig herumgeschlendert. Er sah sich überall um. Mittlerweile war die Galerie genauso voll wie der Platz darunter. Der junge Leutnant blickte angeekelt über die Balustrade. Mit gespielter Aufmerksamkeit betrachtete er die gewöhnlichen Menschen, die zwischen den Buden des Marktes herumliefen. Sein Blick fiel ohne besonderen Grund auf eine fette alte Frau mit ten in der Menge. Sie umklammerte einen Korb mit trockenen Tört chen und bot ihre Waren in einem merkwürdigen Singsang feil. Ihre Zunge rollte in ihrem aufgerissenen Mund und klatschte dabei von der einen zur anderen Seite. Kein Ejländer würde so rufen, es hätte auch keiner gekonnt. Bohne fand es sowohl faszinierend als auch abstoßend, doch plötzlich brach die Frau ab. Ein zerlumpter Straßen junge hatte sich durch die Menge gedrängt, einen Kuchen geschnappt und war weggelaufen. Bohne sah zu, wie die Frau ihre Faust schüttelte, und konzentrierte sich dann auf den Jungen, der durch den verwirrenden Wald aus Beinen, Armen und Roben schlüpfte. Im Laufen stopfte er sich dabei den Kuchen in den Mund. Bohne grinste, aber das Grinsen erlosch, als der Junge plötzlich ge gen einen gewaltigen Bauch prallte. Er erhielt einen Schlag auf den Kopf, und der Kuchen flog zu Boden. »Heh!«, rief Bohne sinnloserweise, als wäre der Junge - und nicht die alte Frau - ein Opfer der Ungerechtigkeit geworden. Dann hielt er die Luft an. Der Bauch gehörte Eli Oli Ali. Der schmierige Kerl versuchte un ter einigen Schwierigkeiten eine Gruppe von Sklaven über den Platz zu führen. Bohne erkannte die Baba-Mädchen. Aber gestern Abend waren es noch drei gewesen. Jetzt war da noch eine Vierte, aber die se Vierte unterschied sich beträchtlich von ihren nackten, dunkel
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häutigen Gefährtinnen. Die Baba-Mädchen waren schon vor langer Zeit gebrochen worden. Sie schienen sich in ihr Schicksal zu fügen und erduldeten die Rufe ihres Sklaventreibers, die Schläge mit der Peitsche und die Tätscheleien der lüsternen Menge. Das neue Mädchen dagegen wand sich in den Ketten und schrie ihren Trotz heraus. Aber das war noch nicht alles. Das Mädchen war weiß und trug ein grünes Kleid. »Warte!« Polty packte unbewusst die Schulter des Wesirs. »Hasem, was für ein Mädchen meint Ihr?« Der Wesir verdrehte die Augen. »Das Mädchen von dem Schiff. Die Konkubine der Mannschaft, nehme ich an. Ihr sagtet, alle be weglichen Güter gehören uns!« Mit diesen Worten wollte der Wesir sich abwenden, aber Polty ließ ihn nicht los. »Was für ein Mädchen?«, wiederholte er. »Was glaubt Ihr denn? Schwerlich eine von Euren ejländischen Rosen! Mal sehen ... langes, dunkles Haar ...« Polty schlug sich gegen die Stirn. »Natürlich! Dieses Miststück! Sie ist mit dem Krüppel davongelaufen! Hasem, ich will sie!« »Erst einen Jungen, dann ein Mädchen! Seid Ihr vielseitig oder einfach nur unentschlossen?« »Hasem, wo ist sie?« »Ich habe sie natürlich der Hüterin der Palastfrauen übergeben. Oman duldet es nicht, wenn ein weißes Flittchen im Palast herum springt. Sie geht heute Nachmittag auf den Blutmarkt, denke ich.« Polty erstarrte. »Blutmarkt?« »Fragen, nichts als Fragen! Ihr seid offenbar kein eifriger Student unserer Sitten. Nach dem Blut kommt der Markt. Sklaven, die nach einem öffentlichen Opfer erworben werden, werden als besonders gesegnet betrachtet, wusstet Ihr das nicht? Und noch viel mehr, wenn die Prinzessin sich zeigt. Ich erwarte, dass Euer Silberfisch ei nen sehr hohen Preis erzielt. Sie ist zwar äußerst lebhaft, aber es soll
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ja einige geben, die das mögen, hat man mir gesagt. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigt.« »Hasem, ich will dieses Mädchen!« Der Wesir war am Ende seiner Geduld. Grob befreite er sich aus Poltys Griff, wiederholte, dass das Mädchen verkauft werden wür de, und ging entschlossen davon. In der Zwischenzeit hatte sich Bohne durch die Menge zu ihm durchgekämpft. »Polty, da gibt es etwas, das du wissen solltest...« Aber in diesem Moment läuteten die Glocken, und die Szenerie um sie herum veränderte sich mit unheimlicher Geschwindigkeit. Erst rumpelte etwas wie Donner. Auf den Galerien und dem Platz warfen sich die Unangesen zu Boden. Dann war alles still bis auf die gemurmelten Gebete. »Ach, Hasem, was hat dich aufgehalten? Haben wir gebetet?« »Sehr komisch, Oman. Habt Ihr das Mädchen?« »Natürlich! Sie ist im Spiegel.« »Ist sie fest?« »Sie flackert kein bisschen. Jetzt schnell, Hasem, auf deinen Platz.« Der Wesir nahm seine Position neben dem Thron ein. Die Sonne glühte selbst durch die Vorhänge und tauchte das Innere der könig lichen Loge in ein dämmriges, rötliches Licht. Wie ein Gespräch durch eine dünne Wand, vertraut und trotzdem nervend, drang das Murmeln der Betenden zu ihnen herauf. »Ich hasse dieses Gemurmel.« »Setzt Eure Maske richtig auf.« »Was?« »Eure Maske ist nicht gerade!« Die Niederwerfungen waren beinahe zu Ende. Langsam wurden die Vorhänge geteilt. Wenn die Gläubigen sich wieder aufrichteten, würden sie ihren Herrscher erblicken, der in unglaublich prachtvol len Gewändern vor ihnen saß und dessen Gesicht hinter gewaltigen goldenen Flügeln verborgen war. Der fette kleine Mann schwitzte
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hinter der Maske, blinzelte in die Sonne und hob wohlwollend die Hände. Höflicher Applaus kam von den Galerien. Auf dem Platz erhob sich Gebrüll. »Ich weiß nie, ob sie für mich schreien oder gegen mich. Wenn du verstehst, was ich meine.« Die Stimme hinter der Maske klang ge reizt. »Natürlich sind die Rufe gegen Euch gerichtet, Oman. Sie jubeln nicht, sie buhen.« »Hassen sie uns denn so sehr?« »Wisst Ihr denn nicht, wie sie Euch nennen? Schamloser, Sybarit, machtlose Marionette ...« »Marionette?« »Wir sind doch in der Hand Eures Bruders, oder nicht? Und ehr lich gesagt, Oman, ich wüsste nicht, wie es anders funktionieren sollte. Wollt Ihr denn dieses Kalifat ohne kaiserlichen Schutz regieren? Die Perle der Küste, von wegen! Ich kann mir viele neiderfüll te Blicke vorstellen, mit denen man uns bedenken würde, sollte jemand auch nur einen Moment vermuten, dass wir schwach sind. Wenayanische Blicke, ejländische Blicke, wenn wir nicht mit ihnen gemeinsame Sache machen. Und vergessen wir die Ouabin nicht.« Der Kalif seufzte. »Zieht das Tuch weg.« Mit steifer Würde trat Wesir Hasem an die Seite der Bühne, wo etwas stand, das wie eine Tür oder ein Wandschirm aussah und mit Silber beschlagen war. Für die Menge, selbst für die auf den Galerien, war es nur ein Gleißen reflektierten Lichts. Es war ein Spiegel, der ganz in ein gestreiftes Tuch eingehüllt war. Der Wesir zog das Tuch fort, und die Prinzessin trat vor. Diesmal schrie niemand, sondern unvermittelt trat Stille ein, eine Stille, die nur von Seufzern unterbrochen wurde. In einem Land, in dem vornehme Damen selten in der Öffentlichkeit gesehen werden und dann auch noch vollkommen verhüllt und verschleiert -, war der Anblick einer Frau in einem durchsichtigen Gewand schon auf
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regend genug. Aber das war längst nicht alles. Bei einer anderen Frau wären das Stöhnen und die Seufzer vielleicht von Begierde erfüllt gewesen. Doch bei dieser Dame schwang nichts Niederes, nichts Ir disches in ihnen mit. Waren die Gebete von vorhin vielleicht alle auf einmal erfüllt worden? Verzückt blickten Tausende hoch, als betrachteten sie eine geheiligte Vision. Dann brandete das Flüstern auf. »Kann sie eine Göttin sein?« »Eine Göttin auf Erden!« »Stimmt es, dass sie schon bald heiratet?« »Den Sohn des Sultans ...« »Das Geschlecht des Propheten ...« »Kaiserin des Geschlechts ...« »Dann sind wir gesegnet!« Während unter den Zuschauern solche Worte die Runde mach ten, fand in der königlichen Loge eine ganz andere Unterhaltung statt. Der Kalif betrachtete traurig seine strahlende Tochter und dann noch trauriger das gemeine Volk vor ihm. Er seufzte. »Können wir jetzt das Opfer darbringen?« »Noch einen Moment länger, Oman. Sie sollen sich satt sehen.« »Gleich werden sie platzen!« Der Kalif blickte mit glasigen Augen nach unten. Während der Niederwerfungen hatten heidnische Sklaven schnell die Vorberei tungen auf dem Kreis des Opfers getroffen. Hinter einem schwar zen Tuch wurde der Gefangene an das Rad gebunden. Neben dem Rad stand der Gerechte Henker steif da, Krummsäbel bereit und mit seiner prachtvollen, blutroten Uniform bekleidet. »Hasem, hast du das Fernglas dabei?« »Selbstverständlich! Heute gibt es eine Überraschung, habe ich das nicht gesagt?« »Ich hasse Überraschungen! Welche ist es denn?« »Das Geschlecht des Opfers.« »Was meinst du, Hasem?«
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»Der Mörder. Er ist ein richtiger Wildfang.« »Ein Wildfang?« Der Kalif sprach lauter, als er vorgehabt hatte. Zu laut, denn sei ne Worte kamen seiner Phantomtochter zu Ohren. Prinzessin Bela Dona hatte bis jetzt stocksteif dagestanden. Doch nun wirbelte sie zu ihrem Vater herum. »Ein Wildfang?«, platzte sie heraus. Aber es stimmte nicht. Hinter dem Tuch litt Rajal Qualen, aber er freute sich auch. Schon vor Äonen, so kam es ihm vor, hatte er die Hoffnung fahren lassen. Jetzt war er davon überzeugt, dass der Tod auf ihn wartete. Als sie ihn aus der Zelle schleiften, hatte er um sich geschlagen und ge schrien, doch als sie ihn ans Rad fesselten, gab er auf und seufzte, als hätte man ihm einen Dorn aus dem Fleisch gezogen. Wie ein Stein versank er in seiner Trauer, dann in der Erinnerung und dann in ei ner Dunkelheit ohne Begehren. Um sich herum fühlte er, wie ein stärkendes Medium, die tiefe, rote Kraft seines Glaubens. Wenn er nur Jem wiedersehen könnte ... und Myla! »Schimmy, du schimmerst!« »Kind, sie werden es bemerken!« »Zurück in den Schatten!« »Kind, komm da weg!« Der Wesir gibt das Zeichen, eine kurze, knappe Handbewegung. Rund um die Galerien tun die Wachen es ihm gleich. Gebogene Hörner trompeten los, und auf dem ganzen Platz drehen sich die Menschen zum Zentrum um. Jetzt ist der Gerechte Henker an der Reihe. Erst verbeugt er sich tief und lange und entbietet so der Prinzessin und ihrem Vater seinen Respekt. Dann hebt er mit bewundernswerter Eleganz seinen Krummsäbel. Er schwingt ihn über seinem Kopf und tanzt den schwingenden, langsamen Tanz des Todes.
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Die Menge applaudiert und jubelt. »Vater, er soll aufhören!« »Schimmy, sei nicht albern!« Das Rad dreht sich und die Bühne ebenfalls. Das ausgestreckte Opfer dreht sich. Auch der Gerechte Henker dreht sich. In seiner roten Uniform erinnert er an einen bizarren Vogel, der eine tödliche Balz vollführt. Nach der fünften Umdrehung wird er das Tuch vom Körper des Opfers ziehen und die Nacktheit darunter entblößen. Dann, wenn sie sich an der königlichen Loge vorbeidrehen, kommt der erste von vielen eleganten, beinahe zierlichen Schlägen, die das weiche Fleisch mit exquisiter Langsamkeit in eine verstümmelte, blutige Masse verwandeln. Die Menge stampft und buht. »Er soll aufhören, sage ich!« »Schimmy, was hast du denn?« »Wildfang! Er wird sie töten!« »Also wirklich, Mädchen! Das hast du doch schon früher gese hen!« »Aber nicht Wildfang!« »Schimmy, hör auf zu schimmern!« Wütend deutet der Kalif auf seine Tochter und beugt sich unbe holfen vor. Seine goldene Maske ist verrutscht. Wesir Hasem will den Arm des Mädchens packen, aber seine Hände gleiten durch das Phantomwesen hindurch. »Die Vorhänge!«, ruft er den Sklaven zu. »Zieht die Vorhänge zu!« Aber im gleichen Moment wird ein anderer Vorhang zurückgerissen. Prinzessin Bela Dona war schon verwirrt, doch als der Gerechte Henker das Tuch wegzieht, verstärkt sich ihre Verwirrung noch. Sie schnappt nach Luft. Ihr Vater tut es ihr nach. Er hält sich das Fernglas an die Augen höhle seiner Maske.
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»Gebt mir das Glas!« »Hasem!« »Aber das ist doch unmöglich!« »Ein Mädchen, habt Ihr gesagt? Kennt Ihr den Unterschied denn nicht?« »Verrat!« Der Wesir reckt drohend eine Faust gen Himmel. POLTY (schnappt nach Luft): Ich glaub es nicht!
BOHNE: Polty, wer ist das denn?
POLTY Bohne, bist du blind?
BOHNE (jetzt sieht er es auch): Der Vaga-Junge! Nein!
KAPITÄN PORLO: Mein Lord! Mein Lord!
Benommen starrt LORD EMPSTER in die Ferne.
BOHNE: Polty! Wir müssen was unternehmen ...!
KAPITÄN PORLO: Es ist Meister Raj! Mein Lord, sie sollen auf-
hören!
BUBI die Äffin schreit und kreischt. Doch LORD EMPSTER starrt immer noch geradeaus. Aber er sieht den Kreis des Opfers kaum. Verzückt wie ein Gläubiger hat er nur Augen für die Schimmernde Prinzessin. POLTY Bohne, du bist brillant! Erst findest du meine Herzens
schwester! Und jetzt das! Natürlich müssen wir etwas unterneh-
men! Der Vaga könnte uns direkt zu dem Krüppel führen! Wir
müssen ihn verhören, bevor er getötet wird.
BOHNE (platzt heraus): Nein, nein, nein ...
POLTY Reiß dich zusammen, Bohne. Heh, was hast du denn ... ?
Fünf Farben blitzen in Rajals Augen. Zuerst das blendende Gold, als
das dunkle Tuch weggerissen wird. Einen Moment taucht er in eine
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neue, andere Blindheit, dann konzentriert sich das Gold in einem einzigen Punkt und blitzt auf. Der Krummsäbel saust durch die Luft. Blau. Der Blitz verklingt, und es ist nur noch der Himmel zu sehen. Rot. Der Arm des Henkers hebt sich erneut. Grün. Das Schimmern eines wässrigen Glases. Dann Purpurrot. Das Mädchen aus dem Glas. Rajal schreit auf, aber nicht vor Schmerz. Das Rad dreht ihn auf recht, und er sieht sich der Prinzessin gegenüber. In einer Vision er kennt er den verlorenen Kristall, der wie ein leuchtendes Herz in ih rer Brust glüht. Kann diese Vision real sein? Plötzlich schreit Prinzessin Bela Dona auf. Sie streckt die Hände aus. Flehentlich streckt sie sich zu dem Fremden hinunter, als wäre dieser Junge in Wahrheit kein Fremder, sondern eigentlich ihr geliebter Wildfang. Das Rad dreht sich. Die Bühne auch. Im nächsten Moment wird die Klinge hinuntersausen und Fleisch zertrennen. »Schimmy, was machst du da?« »Das Kind ist verrückt geworden!« Dann schreit der Vater des Mädchens ebenfalls auf, als ihre Gestalt plötzlich wie ein Blitz leuchtet. Purpurfarbenes Licht zuckt aus ihren Händen und trifft den nackten Jungen auf dem Rad. Das Mädchen schreit erneut. Dann stolpert die Prinzessin zurück und bricht im Spiegel zu sammen. Sie ist verschwunden. Dann ertönt die Explosion. Der Kalif ist noch entsetzt über die merkwürdige Magie seiner Tochter und glaubt zunächst an noch mehr Zauber, aber an einen fremdartigeren, gefährlicheren. Schreie gellen.
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Menschen rennen. Die Galerie bricht zusammen. Leichen hegen im Staub. »Hasem! Was geht hier vor?« Der Gerechte Henker war tot zu Boden gestürzt. Im nächsten Moment spürte Rajal, wie Hände an seinen Fesseln zerrten. Ein Schatten glitt über seine geblendeten Augen. Er stellte sich Prinzessin Bela Dona vor, die von ihrem Balkon heruntergekommen war, um ihn mit Magie zu retten. Aber es war nicht die Prinzessin. »Scheiße, Scheiße!« Die Stimme kannte er. Die hölzerne Bühne schwankte. Pulverdampf schwebte in der Luft. Das war keine Magie, sondern eine Bombe der Ouabin. Da nach detonierten noch zwei weitere. Sie explodierten mitten auf dem bevölkerten Platz. »Flieht um Euer Leben!«, schrien alle. Und die Stimme wiederholte: »Schnell! schnell!« Rajal war frei. »Die Ouabin!« Im nächsten Moment war es vorbei. Weiß gekleidete Reiter ström ten auf den Platz und schwangen Schwerter und brennende Fackeln. Ein heftiger Stoß erschütterte die königliche Loge. Dann flog die Tür auf, und ein Krieger der Ouabin trat kühn vor. Er drückte dem Kalifen eine Schriftrolle in die Hand. Der fette kleine Monarch schob die Maske von seinem verschwitzten Gesicht. Sie fiel schep pernd zu Boden. Zitternd versuchte er, die Schriftrolle zu öffnen, und reichte sie dann mit einem frustrierten Stöhnen seinem Wesir. »Hasem, was steht drin?« »Nicht viel«, erwiderte der Wesir grimmig. »Hasem! Ich sagte, was steht...?« »Lest es selbst, Oman! Immerhin ist es an Euch gerichtet!«
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Der kleine Mann stotterte. »Grüße, Erhabener ... Na, das ist ja ganz nett, oder nicht, Hasem?« Wütend riss der Wesir dem Kalifen die Schriftrolle aus der Hand und spie dem erschreckten Kalifen die Worte geradezu ins Gesicht. Eure Stadt ist umstellt. Widerstand ist zwecklos und auch unnötig. Wir kommen in Frieden und wollen Euer Reich aus den Klauen von Sultan Kaled und Eure Tochter aus den Fesseln ihrer Verlobung befreien. Die Reiche von Unang werden ab sofort mir gehören, und Prinzessin Bela Dona, soll meine Braut werden. Ich warte auf Euch in Eurem Palast. Unverzüglich. Euer Freund im Glauben Rashid Amr Ruhr
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JEM, der Held, Sucher des Orokon CATA, die Heldin, Geliebte des Jem RAJAL, Jems treuer Freund POLTY (POLTISS VEELDROP), ihr unerbittlicher Feind BOHNE (ARON THROSH), Poltys treuer Freund LORD EMPSTER, Jems geheimnisvoller Beschützer JAC BURGROVE, ein heruntergekommener Lebemann KAPITÄN PORLO, ein knorriger alter Seebär BUBI, sein Haustier, eine Äffin, die zur Räude neigt PUSTEL, sein Schiffsjunge, der zu Pickeln neigt KALED, Sultan von Mond und Sternen SIMONIDES, sein alter Lehrer, der Höchste seiner Imams PRINZ DARE, Sohn des Sultans und Thronerbe THAL, Novize der Flamme, Dares Freund MUTTER MADANA l, eine Sklavin, Dares Kindermädchen MUTTER MADANA 2, Herrin einer vornehmen Karawanserei MUTTER MADANA 3, Hüterin der Haremsfrauen in Qatani SEFITA und SATIMA, die Namen ihrer zahlreichen Mündel EVITAMUS, pensionierter Wahrsager AMED (AMEDA), Wildfang, seine jungenhafte Tochter FAHA EJO, ein Ziegenhirte, Ameds Freund ELI OLI ALI, sein Vetter, ein mächtiger Mann in Qatani CASCA DALLA, verhasster Konkurrent von Eli Oli Ali KLEINER, ein kleiner Junge, Eli Oli Alis Sohn DER SCHWARZE REITER, dem der Tod vorherbestimmt ist KALIF OMAN ELMANI, Bruder des Sultans, Herrscher von Qatani
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WESIR HASEM, der Drahtzieher hinter den Kulissen BELA DONA, die Schimmernde Prinzessin DONA BELA, ein schönes, stummes Mädchen, das ihr gleicht RASHID AMR RUKR, gefürchteter Anführer der Stämme von Ouabin ALMORAN, Herr des Hauses der Wahrheit DER MÄDCHENHAFTE KNABE, sein Diener GEHEIMNISVOLLE GÄSTE im Haus der Wahrheit REGENBOGEN, ein höchst bemerkenswerter Hund FISCH und BLASE, Diebe, Mitglieder der »Unner«-Bande STINKER und STORCH, ebenfalls Diebe der Unner LADYBOYS, am Platz der Kobras DER ALTE LACANI, ein Verrückter AUGE, ein Mitglied von Kapitän Porlos Mannschaft DIE DOM-TÄNZER, Gauner und Heilige EBAHN-WÄCHTER, im Heiligtum der Flamme DIE ALTEN der Akademie der Imams WISPERER in den Wänden TARGON-DIENER, Garde des Sultans HÖFLINGE, WÄCHTER und PILGER SEELEUTE, SKLAVEN und EUNUCHEN HÄNDLER, MISCHLINGE und ABSCHAUM etc.
IN ZENZAU: BOB SCARLET, Wegelagerer und Rebellenführer HUL, sein Stellvertreter und einst ein großer Gelehrter BANDO, Hüls Freund, Rebellenveteran LANDA, eine wunderschöne, junge zenzanische Priesterin RAGGLE und TAGGLE, Bandos Söhne DER BRUDER, Opfer ihrer häufigen Streiche
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DIE ALTE LADY in der Kutsche nach Agondon BAINES, ihre einäugige Gefährtin GOODMAN OLCH, ein ehrenwerter Ehemann GOODY OLCH, seine ehrenwerte Ehefrau MISS TILSY FASH, die zaxonische Nachtigall FREDDIE CHAYN, Spross eines unbedeutenden Fürstentums KUTSCHER, BLAURÖCKE und WIRTE etc.
IM REICH DER TOTEN: SULTAN EL-THAKIR, Vater des jetzigen Sultans KALIF ABDUL SAMAD, Bruder von Sultan El-Thakir DER BOTSCHAFTER VON LANIA CHOR LADY YSADONA, seine bildschöne Tochter LADY ISABELLA, seine andere bildschöne Tochter MALA (LORD MALAGON), Kaleds Jugendfreund PANDARUS, Vater von Simonides, Evitamus und Almoran MUTTER von Simonides, Evitamus und Almoran MESHA BULAQ, Sultan des Roten Staubes PRINZ ASCHAR, sein kranker Sohn DIE BRAUT AUS GEDEN, die Verlobte des Prinzen Aschar DER SCHAH VON GEDEN, Vater der Braut NOVA-RIEL, der die Schlange Sassoroch besiegte TOR, Jems geheimnisvoller Onkel ILOISA, Kriegerin und Bandos Frau VYTONI, Philosoph, Autor von »Diskurs über die Freiheit« Andere BERÜHMTE AUTOREN und GELEHRTE KÖNIGE, KÖNIGINNEN und HISTORISCHE FIGUREN Verschiedene TOTE VERWANDTE, FREUNDE und FEINDE etc.
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AUF DEN NEBENSCHAUPLÄTZEN: EJARD BLAU, unrechtmäßiger König von Ejland KÖNIGIN JELICA, seine Frau, geborene Miss Jelica Vance TRANIMEL, sein böser Erster Minister, siehe: TOTH-VEXRAH LADY UMBECCA VEELDROP, böse Großtante von Jem und Cata EAY FEVAL, ihr geistiger Berater und Mitverschwörer CONSTANSIA CHAM-CHARING, früher einmal eine große Dame der Gesellschaft TISHY CHAM-CHARING, ihre tölpelhafte Tochter SILAS WOLVERON, Catas Vater BARNABAS, ein magischer Zwerg, wird immer noch vermisst MYLA, verschwundene Schwester von Rajal MORVEN und CRUM Viele andere ALTE FREUNDE und FEINDE etc.
GÖTTER UND ANDERE SELTSAME KREATUREN: OROK, Ur-Gott, Göttervater KOROS, Gott der Finsternis, wird von den Vagas verehrt VIANA, Göttin der Erde, wird in Zenzau verehrt THERON, Gott des Feuers, wurde einmal in Unang Lia verehrt JAVANDER, Göttin des Wassers, wird in Wenaya verehrt AGONIS, Gott der Lüfte, wird in Ejland verehrt TOTH-VEXRAH, böser Anti-Gott, siehe: TRANIMEL LADY IMAGENTA, seine Tochter, Verlobte von Agonis JAFIR, der DSCHINN HARLEQUIN BOB SCARLET; der gleichnamige Vogel PENGE, ein besonderer Teil von Polty BRENNENDE VÖGEL
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WAS BIS JETZT GESCHAH: Es steht geschrieben, dass die fünf Götter einst auf der Erde lebten und die Kristalle, die ihre Macht verkörperten, in einem Kreis ver eint waren, den man den OROKON nannte. Krieg entzweite die Götter, und die Kristalle wurden in alle Winde zerstreut. Jetzt, da die Welt sich dem unsagbar Bösen gegenüber sieht, ist es die Aufga be von Prinz Jemany, Sohn des gestürzten Königs von Ejland, die Kristalle wieder zu vereinen. Der Anti-Gott Toth-Vexrah ist bereits aus dem Reich des NichtSeins entkommen. Sollte Toth die Kristalle in seine Gewalt bekommen, wird er damit die Welt zerstören. Nur Jem kann das verhin dern. Bei seiner Geburt war Jem alles andere als ein Held: Er wurde als Krüppel geboren. Aber nachdem er sich in die unzähmbare Catayane verliebte und den ersten Kristall fand, erlangte er die Fähigkeit zu gehen. Während Jem seine Suche begann, wurde Cata von dem sadistischen Armeeoffizier Poltiss Veeldrop gefangen genommen. Er übergab sie Jems böser Tante Umbecca, und die formte aus dem widerspenstigen Mädchen eine junge Dame. Cata konnte jedoch ent kommen und ist als Mann verkleidet der Widerstandsbewegung von Bob Scarlet in Zenzau beigetreten. Polty sucht sie derweil mit allen Mitteln, denn nur wenn er Cata heiratet, wird er Vermögen und Titel seines Vaters erben. Inzwischen hat Jem einen geheimnisvollen Beschützer gefunden, Lord Empster. Zunächst wusste Jem nicht, ob dieser Beschützer gut oder böse war. Doch gegen Ende des zweiten Abenteuers, als er in mitten des Chaos und des Kampfes um Zenzau den zweiten Kris tall fand, zerstreuten sich seine Bedenken. Jem ist jetzt mit seinem
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Freund Rajal zum Wüstenreich von Unang Lia unterwegs und wird bald feststellen, ob er seinem Beschützer zu Recht traut. Aber zunächst regt sich das Böse an einem Ort, der die Heilige Stadt genannt wird. Jem, Rajal und Cata scheinen von den düsteren Vorgängen dort weit entfernt zu sein. Aber das sind sie nicht. Ganz und gar nicht.
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Roter Fremder, der du Traurig streifst umher, Wirst sein der Sultan der Katakomben, Wirst fest stehen zu dem letzten Familiengeheimnis, Nicht wie der Sultan des Mondes und der Sterne.
Fremde Kreatur Selten gesehen, Eingehüllt vom Geheimnis des Dschungelgrüns, Dreht und wendet sich im Nebel mit einem verrückten Schurken, Aber niemals mit dem Sultan der Sterne und des Mondes.
- Sultan der Sterne! Sultan des Mondes! Können wir hoffen, dich zu fangen, wenn du bald vorüberkommst? - Einfaltspinsel, herunter mit euch von den Sparren! Ihr werdet vielleicht in Triumphwagen den Himmel kreuzen, Doch niemals den Sultan von Mond und Sternen fangen!
Rote Engel Und auch ihr Blauen, Kommt in die Höhle des Was-sollen-wir-tun; Wo die Wilden und ein Kind und die merkwürdigsten Offenbarungen Zu dem Sultan von Mond und Sternen beten.
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- Sultan der Sterne! Sultan des Mondes!
Sag uns, was du hinter den Bergen und Dünen erblickst!
- Einfaltspinsel, seht eure Narben!
Ihr könnt gegen eure Wände schlagen, an euren Stäben rütteln!
Aber ihr werdet niemals das Geheimnis von Mond und Sternen
lüften!
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Digitalisiert und korrigiert
von
Minichi Nightingale
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