Das Königreich Der Schatten RICHARD A. KNAAK
Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander
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Das Königreich Der Schatten RICHARD A. KNAAK
Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich. Dieses Buch wurde auf chlorfreiem, umweltfreundlich hergestelltem Papier gedruckt. In neuer Rechtschreibung. German translation copyright © 2004 by Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Diablo (3): The Kingdom of Shadow« by Richard A. Knaak. Original English language edition © Copyright 2002 by Blizzard Entertainment. All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York. No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s). , Übersetzung: Ralph Sander Lektorat: Manfred Weinland Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest Chefredaktion: Jo Löffler Umschlaggestaltung: tab Werbung GmbH, Stuttgart, Cover art by Bill Petras Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Panini S.P.A. ISBN: 3-8332-1042-7 Printed in Italy www.dinocomics.de
Für Chris Metzen und Marco Palmieri.
Eins Der furchtbare Schrei hallte vom Fluss herüber. Kentril Dumon fluchte innerlich, während er den Anderen Befehle zurief. Er hatte seine Männer eindringlich davor gewarnt, sich irgendwelchen Gewässern zu nähern, doch im dichten, schwülen Dschungel von Kehjistan war es nicht immer einfach, an jeden der Myriaden Flüsse und Ströme zu denken. Zudem neigten einige der anderen Söldner dazu, sämtliche Befehle zu missachten, wenn ein kühles Nass nur wenige Schritte entfernt lag. Der Narr, dessen Schrei soeben ertönt war, hatte erfahren müssen, was es hieß, ungehorsam zu werden – allerdings würde er nicht lange genug leben, um aus dieser Lektion eine Lehre zu ziehen. Der schlanke, gebräunte Hauptmann kämpfte sich, den Schreien folgend, durch das dichte Laub. Ein Stück voraus konnte er Gorst ausmachen, seinen Stellvertreter, ein riesiger Kämpfer, der sich seinen Weg durch die Ranken und Äste bahnte, als böten sie keinerlei Widerstand. Während die meisten Söldner aus den kühleren, höher gelegenen Regionen der Westlichen Königreiche stammten und dementsprechend stark unter der Hitze litten, ließ sich der braungebrannte Gorst davon nichts anmerken. Die struppige Mähne des Mannes, die mit ihrer tiefschwarzen Farbe einen krassen Kontrast zu Kentrils hellbraunem Haar bildete, ließ den Riesen wie einen Löwen auf der Flucht erscheinen, während er in Richtung Flussufer davoneilte. Hauptmann Dumon kam nun schneller voran, da er der von 5
seinem Freund geschlagenen Schneise folgen konnte. Das Schreien hielt an und weckte die grausame Erinnerung daran, wie drei andere Männer seiner Truppe ihr Leben hatten lassen müssen, seit sie in den Dschungel vorgedrungen waren, der den größten Teil des Landes bedeckte. Der Zweite von ihnen war eines entsetzlichen Todes gestorben, als ihn eine Horde monströser Spinnen überrannte, die so viel Gift in seinen Körper gepumpt hatten, dass sein Leib völlig aufgedunsen war. Kentril hatte daraufhin befohlen, mit Fackeln gegen das Spinnennest und seine hungrigen Bewohner vorzugehen, um die Kreaturen zum Raub der Flammen werden zu lassen. Das Leben des Mannes war zwar dadurch nicht gerettet worden, doch wenigstens hatte man seinen Tod auf diese Weise rächen können. Der dritte glücklose Kämpfer wurde nie wieder gefunden, nachdem er einfach auf einem mühseligen Marsch durch ein Gelände verschwunden war, dessen Boden so sehr nachgab, dass er die Stiefel bei jedem Schritt förmlich nach unten zog. Nachdem der Hauptmann dabei selbst einmal fast bis zu den Knien eingesunken war, konnte er sich nur zu gut vorstellen, welches Schicksal diesen Soldaten ereilt hatte. Dieser Boden war durchaus in der Lage, ein rasches und schreckliches Ende zu bereiten. Noch während er über den Tod des Söldners nachdachte, der als Erster dem furchterregenden Dschungel von Kehjistan zum Opfer gefallen war, entdeckte er vor sich eine Szene, die jener Katastrophe zum Verwechseln ähnlich sah. Eine gewaltige, schlangengleiche Kreatur erhob sich hoch über das Flussufer, längliche, reptilienartige Augäpfel waren auf die kleinen Gestalten gerichtet, die sich vergeblich bemühten, sich vor dem riesigen Maul in Sicherheit zu bringen. Obwohl die Bestie ihre Kiefer fest um den in Panik geratenen Söldner ge6
schlossen hatte, durch dessen Schrei Kentril und die anderen aufmerksam geworden waren, schaffte sie es, die Menschen wütend anzufauchen. Aus ihrer Seite ragte eine Lanze hervor, doch der Treffer war offenbar nicht ernsthafter Natur gewesen, da sich der Behemoth in keiner erkennbaren Weise daran störte. Irgendjemand feuerte einen Pfeil auf den riesigen Kopf ab und zielte offenbar auf eines der Augen, doch das Geschoss verfehlte sein anvisiertes Ziel und prallte wirkungslos von der Schuppenhaut ab. Das Tentakelbiest – ein Name, den ihr geschätzter Auftraggeber Quov Tsin für diesen Schrecken verwendete – schleuderte seine Beute hin und her und gab Kentril auf diese Weise Gelegenheit, zu schauen, wen das Ungetüm überhaupt zu fassen bekommen hatte. Hargo! Das hatte ja so kommen müssen. Der bärtige Idiot hatte sich während der Reise auf den Zwillingsmeeren bereits mehrfach als Enttäuschung entpuppt und sich seit der Ankunft an diesen Gestaden immer wieder vor ihm zugeteilten Aufgaben gedrückt. Doch bei allen Fehlern, ein solches Schicksal hatte auch Hargo nicht verdient. »Macht die Seile bereit!« brüllte Kentril. Tentakelbiester besaßen ein Paar gekrümmter Hörner, die bis zum Hinterkopf und damit bis zu der einen Stelle an dem schlangenähnlichen Leib reichten, den die Söldner vielleicht zu ihrem Vorteil würden nutzen können. »Hindert die Bestie daran, in tieferes Gewässer zurückzukehren!« Die anderen befolgten diese Anweisung, was Hauptmann Dumon nutzte, um seine Leute zu zählen. Sechzehn, er selbst und der glücklose Hargo eingeschlossen. Damit waren sie vollzählig – bis auf Quov Tsin. Wo war der verdammte Vizjerei denn nun schon wieder? Er 7
hatte die unerfreuliche Angewohnheit, der Gruppe ein Stück vorauszueilen, und die von ihm bezahlten Söldner im Ungewissen zu lassen, was er von ihnen erwartete. Kentril bereute schon längst, auf dieses Angebot eingegangen zu sein, doch die Schilderungen des Schatzes, der sie erwarten würde, waren einfach zu verlockend gewesen ... Er verwarf diese Gedanken, da Hargo immer noch eine kleine Überlebenschance hatte. Das Tentakelbiest hätte ihn mühelos in zwei Stück zerbeißen können, doch meistens zogen diese Kreaturen es vor, ihre Beute unter Wasser zu ziehen, um sie auf diese Weise zu Tode kommen zu lassen. Außerdem wurde ihr Mahl auf diese Weise aufgeweicht und war so leichter zu verzehren, wie der verfluchte Hexenmeister es mit der Emotionslosigkeit eines Gelehrten ausgeführt hatte. Die Männer hatten inzwischen die Seile bereit, und Kentril befahl ihnen, Position einzunehmen. Andere waren derweil damit befasst, das gigantische Reptil immer wieder zu attackieren, um es abzulenken und es nicht auf den Gedanken kommen zu lassen, sich einfach von den Menschen zurückzuziehen. Wenn die Söldner dieses einfältige Tier nur noch ein paar Augenblicke länger aufhalten konnten ... Gorst hatte sein Seil als Erster wurfbereit. Er wartete nicht erst auf Kentrils ausdrücklichen Befehl, da er längst erkannt hatte, was der Hauptmann beabsichtigte. Der Riese warf die Schlinge mit absoluter Präzision über das rechte Horn. »Oskal! Versuch, Hargo ein Seil zuzuwerfen! Benjin, wirf dein Seil über das andere Horn! Ihr zwei da – helft Gorst!« Der stämmige Oskal warf sein Seil dem geschwächten, blutüberströmten Mann im Maul des Behemoth zu. Hargo versuchte, es zu fassen zu bekommen, reichte aber nicht ganz heran. Das Tentakelbiest fauchte wieder und wollte sich 8
Tentakelbiest fauchte wieder und wollte sich zurückziehen, doch das Seil, das Gorst und die beiden anderen Männer festhielten, ließ es nicht sehr weit kommen. »Benjin! Das andere Horn, verdammt!« »Wenn das Vieh aufhört zu zappeln, krieg ich das ja auch sicher hin, Hauptmann!« Oskal warf sein Seil nochmals Hargo zu, der es diesmal zu fassen bekam. So kraftlos er auch inzwischen war, gelang es ihm doch, sich das Seil umzubinden. Die gesamte Szene erinnerte Kentril an ein makabres Spiel. Wieder verdammte er sich, dass er zu diesem Auftrag bereit gewesen war, und er verfluchte Quov Tsin, der ihm überhaupt erst dieses Angebot gemacht hatte. Wo war dieser üble Hexenmeister nur? Warum war er nicht so wie die anderen herbeigeeilt? War er womöglich tot? Der Hauptmann bezweifelte, dass er so viel Glück haben könnte. Und ganz gleich, was in diesem Augenblick mit dem Vizjerei auch sein mochte, es würde sich in keiner Weise auf die verzweifelte Situation auswirken, mit der sie hier konfrontiert waren. Alle Verantwortung lastete nur auf Kentrils Schultern. Ein paar Kämpfer versuchten nach wie vor, das Schlangenungeheuer auf irgendeine Weise zu verletzen, doch die dicke Schuppenhaut des Tentakelmonsters hielt Lanzen und Schwerter davon ab, dass ihm Schaden zugefügt wurde. Die beiden Bogenschützen mussten unablässig darauf achten, nicht den Mann zu treffen, den sie zu retten versuchten. Dann endlich legte sich eine Schlinge um das linke Horn. Hauptmann Dumon unterdrückte jedoch die aufkeimende Hoffnung, da es noch eine relativ leichte Aufgabe war, das Monster zu fangen. Unterworfen hatten sie es damit längst nicht. 9
»Jeder verfügbare Mann soll an den Seilen mithelfen! Bringt dieses Ding an Land, da ist es schwerfällig und verwundbarer!« Er selbst begab sich zu seinen Männern und zog an dem Seil mit, das Benjin geworfen hatte. Das Tentakelbiest fauchte lautstark, doch auch wenn es in gewisser Weise verstand, in welcher Gefahr es schwebte, ließ es seine Beute nicht los. Grundsätzlich war Kentril ein Mann, der eine solche Beharrlichkeit bei einem lebenden Wesen bewunderte, jedoch nicht, wenn das Leben seiner eigenen Leute dabei auf dem Spiel stand. »Zieht!«, brüllte der Hauptmann. Die Anstrengung sorgte dafür, dass sein braunes Hemd schweißnass auf der Haut klebte. Seine Lederstiefel – ein besonders gutes Paar, das er sich von dem Lohn des letzten Kontrakts gekauft hatte – sanken in den morastigen Untergrund nahe dem Wasser ein. Obwohl je vier Mann an den Seilen zogen, mussten sie all ihre Kraft einsetzen, um den Schrecken Zoll für Zoll aus dem Wasser an Land zu zerren. Doch Zoll für Zoll genügte letztlich, und als der gewaltige Leib der Bestie an Land gezogen wurde, verstärkten die Söldner ihre Anstrengungen noch weiter. Immerhin fehlte nicht mehr viel, um endlich ihren Kameraden befreien zu können. Da das Ziel nun viel näher war, hob einer der Bogenschützen seine Waffe und zielte. »Haltet ...«, war alles, was Kentril noch sagen konnte, da bohrte sich bereits ein Pfeil in das linke Auge der Kreatur. Das Schlangenmonster bäumte sich vor Schmerz auf und öffnete das Maul ein Stück weit, doch es genügte nicht, um den schwerverletzten Hargo herausfallen zu lassen, obwohl zwei Männer gleichzeitig versuchten, ihn herauszuziehen. Zwar verfügte das Tentakelbiest über keine nennenswerten Gliedmaßen, doch es wand sich mit solcher Heftigkeit, dass es all seine Kont10
rahenten in Richtung des dunklen Wassers zu schleifen begann. Einer der Männer hinter Gorst rutschte weg und brachte einen zweiten aus dem Gleichgewicht, woraufhin alle übrigen Söldner den Halt verloren. Benjin konnte das Seil nicht länger fassen und wäre beinahe mit seinem Hauptmann zusammengestoßen. Das Tentakelbiest, dessen Auge eine einzige Masse aus zerstörtem Gewebe war, zog sich weiter in Richtung Fluss zurück. »Haltet es auf!« brüllte Kentril vergebens. Nur noch fünf Männer versuchten, die Seile festzuhalten. Gorst, in dessen großem Körper jeder Muskel angespannt war, hielt sich gut, wenn man berücksichtigte, dass er nur von einem weiteren Söldner unterstützt wurde, doch letztlich konnte nicht einmal seine immense Kraft das Unvermeidliche verhindern. Die hintere Hälfte des gigantischen Reptils war bereits wieder im Wasser verschwunden. Der Hauptmann wusste, dass sie den Kampf verloren hatten. Es war unmöglich, jetzt das Blatt noch einmal zu wenden. Hargo, dem es irgendwie gelungen war, sich weiter an sein Leben zu klammern und nicht das Bewusstsein zu verlieren, hatte offenbar auch erkannt, dass er verloren war. Sein Gesicht war eine einzige blutige Masse, und mit heiserer Stimme flehte er seine Kameraden an. Kentril würde diesen Mann nicht genauso qualvoll sterben lassen wie den ersten. »Benjin! Fass wieder das Seil!« »Es ist zu spät, Hauptmann, wir können ...« »Du sollst das Seil fassen, habe ich gesagt!« Als der Kämpfer gehorchte, rannte Kentril zu dem Bogenschützen, der ihm am nächsten war und der wie versteinert dastand. Sein Mund stand offen, seine Haut war knochenbleich, während er nur zusehen konnte, wie das Schicksal seines Gefähr11
ten unerbittlich seinen Lauf nahm. »Dein Bogen! Gib ihn mir!« »Hauptmann?« »Dein Bogen, verdammt noch mal!« Kentril riss die Waffe aus den Händen des verständnislosen Bogenschützen. Der Hauptmann hatte lange und zielstrebig das Bogenschießen gelernt, und von seiner zusammengewürfelten Mannschaft war er immer noch der Zweit- oder Drittbeste. Für das, was er nun vorhatte, konnte Kentril aber nur beten, dass er der Beste sein würde. Unverzüglich hob der drahtige Kommandant den Bogen und nahm sein Ziel ins Visier. Hargo sah ihn an und verstummte schlagartig. Ein Blick in die flehenden Augen des Sterbenden genügte dem Hauptmann, um zu erkennen, dass er keine Zeit vergeuden sollte – was er dann auch nicht tat. Der hölzerne Bolzen traf Hargo in die Brust und ließ den Mann auf der Stelle tot zusammensacken. Diese Handlung traf die anderen Söldner gänzlich unvorbereitet. Gorst ließ das Seil los, die anderen taten es ihm einen Moment später nach, da sie nicht mit ins Wasser gerissen werden wollten. Schweigend sahen die Überlebenden mit an, wie das Monster sich in den Fluss zurückzog und vor Schmerz und Wut auch dann noch fauchte, als sein Kopf bereits untertauchte. Für einen kurzen Moment waren Hargos Arme noch an der Wasseroberfläche zu sehen, doch dann waren auch sie verschwunden. Kentril ließ den Bogen sinken und wandte sich ab. Die anderen Kämpfer sammelten hastig ihre Habseligkeiten ein und folgten ihm wie ein Mann. Nach dem dritten Todesfall waren sie selbstgefällig geworden, und das hatte nun einer von ihnen mit dem Leben bezahlen müssen. Kentril gab sich daran 12
die Hauptschuld, da er als der Hauptmann besser auf seine Leute hätte achten müssen. Nur einmal war er vor dem heutigen Zwischenfall gezwungen gewesen, einen seiner Männer zu töten, um dessen Leiden ein Ende zu setzen, doch das war auf einem richtigen Schlachtfeld gewesen, nicht in einem Tollhaus, wie es dieser Dschungel darstellte. Dieser erste Mann hatte auf dem Boden gelegen, sein Bauch war nur noch eine blutige Masse gewesen, dass sich Hauptmann Dumon gewundert hatte, den Verwundeten überhaupt noch lebend vorzufinden. Da war es ein Leichtes gewesen, den tödlich verwundeten Soldaten zu erlösen. Doch dies hier ... dies war barbarisch gewesen. »Kentril«, sagte Gorst ruhig. Für jemanden, der so groß war wie dieser Riese, konnte der Mann sehr sanft sprechen, wenn ihm danach war. »Kentril. Hargo hat ...« »Schweig, Gorst.« »Kentril ...« »Es reicht.« Von allen Männern, die je seinem Kommando unterstanden hatten, war Gorst der Einzige, der ihn duzte und mit dem Vornamen anredete. Hauptmann Dumon hatte ihm das nie angeboten, der Riese war einfach zu der Ansicht gelangt, es zu tun. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie so gute Freunde geworden waren. Gorst war der einzige wahre Freund, der je für Geld unter Kentrils Kommando gekämpft hatte. Nun waren nur noch fünfzehn Mann übrig. Wieder einer weniger, mit dem der angebliche Schatz geteilt werden musste, von dem der Vizjerei gesprochen hatte. Aber auch wieder einer weniger, um die Gruppe im Fall eines Angriffs zu verteidigen. Kentril hätte liebend gern mehr Söldner mitgenommen, doch Tsins Angebot hatte nicht mehr Interessenten auf den Plan gerufen. Die siebzehn Kämpfer, die ihn und Gorst begleiteten, waren die Ein13
zigen, die sich auf die mühselige Reise hatten begeben wollen. Die Bezahlung, die Quov Tsin angeboten hatte, war nur mit Mühe genug gewesen, um die Männer zu entlohnen. Apropos Tsin ... wo war der Mann? »Tsin, verdammt sollt Ihr sein!« brüllte der narbengesichtige Hauptmann in den Dschungel. »Wenn Euch nicht irgendetwas aufgefressen hat, dann zeigt Euch auf der Stelle!« Keine Antwort. Kentril versuchte, im dichten Gewirr aus Bäumen und Blättern den kleinwüchsigen Zauberkundigen zu entdecken, doch nirgends war Quov Tsins kahler Kopf zu sehen. »Tsin! Zeigt Euch endlich, sonst werden meine Männer Eure kostbare Ausrüstung in den Fluss werfen! Dann könnt Ihr Euch mit den Bestien herumschlagen, wenn Ihr wieder eine Eurer unaufhörlichen Berechnungen vornehmen wollt!« Seit Beginn dieser Reise hatte der Vizjerei immer wieder Pausen eingelegt, um Instrumente aufzubauen, Strukturen und Muster aufzuzeichnen und kleinere Zauber zu wirken – allesamt Dinge, die sie zu ihrem Ziel führen sollten. Tsin schien zu wissen, wohin die Reise ging, doch von den anderen hätte das bislang niemand sagen können, nicht einmal Kentril. Aus einiger Entfernung war eine helle, recht nasale Stimme zu hören. Was ihr Arbeitgeber sagte, konnten weder er noch Gorst verstehen, aber der herablassende Tonfall des Sprechers war unverkennbar der von Tsin. »Dort entlang«, sagte der Riese und zeigte nach rechts. Die Erkenntnis, dass der Hexenmeister nicht nur überlebt, sondern auch Hargos Schicksal völlig ignoriert hatte, ließ Wut in Kentril aufsteigen. Während er weiterging, legte sich seine Hand um das Heft seines Schwertes. Nur weil der Vizjerei sich ihre 14
Dienste erkauft hatte, gab ihm das nicht das Recht, sein eher dubioses magisches Talent zu verweigern, und eine Rettung des Söldners nicht einmal zu versuchen. O ja, Quov Tsin würde von ihm mehr bekommen als nur ein paar verärgerte Vorwürfe ... »Wo seid Ihr?«, rief er. »Hier, wo denn sonst?«, gab Tsin knapp zurück. Er befand sich irgendwo hinter dem dichten Blattwerk. »Beeilt Euch gefälligst, wir haben schon genug kostbare Zeit vergeudet!« Vergeudet? Hauptmann Dumon wurde noch wütender. Vergeudet? Als Söldner wusste er, dass seine Art, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, immer mit der Gefahr des Todes einherging. Doch Kentril hatte sich stets gerühmt, trotzdem zu wissen, was ein Leben wert war. Es waren immer die gewesen, die Gold und Reichtümer boten, die am wenigsten zu schätzen wussten, was ein Söldnerhauptmann und seine Männer durchmachten. Langsam zog er das Schwert aus der Scheide. Mit jedem Tag, der verstrich, hatte diese Reise mehr und mehr wie ein planloses Umherirren ausgesehen. Kentril hatte genug davon, es war an der Zeit, die Abmachung aufzukündigen. »Das ist keine gute Idee«, murmelte Gorst. »Du solltest deine Klinge wieder wegstecken, Kentril.« »Kümmere dich einfach nur um deine Angelegenheiten.« Niemand würde ihn aufhalten können, nicht einmal Gorst. »Kentril ...« In diesem Moment kam das Objekt von Kentrils Zorn durch das dichte Blattwerk. Auf Kentril, der selbst gut sechs Fuß groß war, hatte der hünenhafte Gorst immer erstaunlich gewirkt, doch so, wie der den Kommandanten überragte, so gewaltig wirkte er selbst im Vergleich mit dem Vizjerei. 15
In den Legenden wurde das Volk der Hexenmeister immer als übermenschliche, große Gestalten dargestellt, die rot-orangene, mit Runen bestickte Mäntel – den Turinnash oder »geistigen Mantel« – mit Kapuzen trugen. Die kleinen silbernen Runen, mit denen das weite Kleidungsstück besetzt war, schützten angeblich den Magier vor kleineren magischen Bedrohungen und in Maßen sogar vor einigen dämonischen Mächten. Die Vizjerei trugen ihren Turinnash voller Stolz, fast wie ein offizielles Abzeichen, ein Symbol der Überlegenheit. Zwar trug auch Quov Tsin einen solchen Mantel, doch bei nicht mal fünf Fuß Größe trug der kaum dazu bei, irgendein Bild mystischer Macht zu vermitteln. Die schmächtige, runzlige Gestalt mit dem langen grauen Bart erinnerte Kentril nur an seinen alten Großvater, die aber nichts von der freundlichen Art des Letztgenannten besaß. Tsins leicht schräg stehende, silbergrauen Augen spähten unübersehbar geringschätzig über seine Hakennase. Der kleinwüchsige Magier besaß keinerlei Geduld, und er erkannte auch nicht, dass sein Leben in diesem Moment an einem seidenen Faden hing. Als Vizjerei verfügte er aber natürlich nicht nur über Zauber, mit denen er sich verteidigen konnte. Auch der Stab, den er in der rechten Hand hielt, war mit Schutzzaubern versehen, die bei unzähligen Gelegenheiten zum Einsatz kommen konnten. Nur ein schneller Hieb, dachte Kentril insgeheim. Ein rascher Hieb, und dann hat diese scheinheilige kleine Kröte die längste Zeit gelebt ... »Es wird auch allmählich Zeit!«, fuhr der Zauberkundige den Söldner an und fuchtelte mit dem Stab vor dem Gesicht des Hauptmanns hin und her. »Wieso hat das so lange gedauert? Ihr wisst doch genau, dass mir die Zeit davonläuft.« Sogar schneller, als dir bewusst ist, du brabbelnder Köter ... 16
»Während Ihr durch den Dschungel spaziert seid, Meister Tsin, habe ich versucht, einen Mann aus den Fängen dieser Wasserschlangen zu retten. Wir hätten Eure Hilfe gebrauchen können.« »Schön, schön, aber genug geredet.« Quov Tsin ließ seinen Blick über den Dschungel hinter sich schweifen. Vermutlich war ihm nicht mal bewusst geworden, was Kentril ihm soeben gesagt hatte. »Kommt! Schnell! Das müsst Ihr sehen!« Als sich der Vizjerei abwandte, hob Hauptmann Dumon wieder seine Hand an das Schwert, bereit, es zu ziehen. Gorst legte ihm eine Hand auf den Arm. »Lass uns sehen, was er hat, Kentril.« Der Riese machte einen Schritt vor und stellte sich zwischen Kentril und Tsin, der ihm nichtsahnend den Rücken zugedreht hatte. Die beiden gingen los, und mit einigem Widerwillen folgte Kentril ihnen. Er konnte noch einige Augenblicke länger warten. Quov Tsin und Gorst verschwanden im dichten Laub, und Kentril musste sich wenig später wieder den Weg freischlagen, um weiterzukommen. Es war allerdings auch recht angenehm, da er sich bei jedem Hieb vorstellen könnte, nicht bloß einen Zweig oder eine Ranke zu durchtrennen, sondern auf das Genick des Zauberkundigen einzuschlagen. Und dann endete der Dschungel unvermittelt. Die frühabendliche Sonne beschien die Landschaft vor ihm auf eine Weise, wie es seit zwei Wochen nicht mehr der Fall gewesen war. Kentril sah auf eine Reihe von hohen, zerklüfteten Gipfeln, die den Beginn einer gewaltigen Gebirgskette darstellten, die sich längs durch Kehjistan zog und weiter nach Osten reichte, als man mit bloßem Auge erkennen konnte. In der Ferne, unmittelbar über dem östlichen Ausläufer eines 17
besonders großen und hässlichen Gipfels an der Südspitze dieser Gebirgskette lagen die von Wind und Wetter heimgesuchten und zusammengefallenen Überreste einer einst mächtigen Stadt. Die Bruchstücke einer hohen Steinmauer, die die gesamte östliche Seite umgeben hatte, waren noch immer zu erkennen. Einige wenige robustere Bauten in der Stadt hatten dem allgemeinen Zerfall weitestgehend getrotzt, machten aber zumindest einen einsturzgefährdeten Eindruck. Eines dieser Bauwerke – möglicherweise der Palast des Herrschers über dieses untergegangene Königreich – stand hoch oben auf einem gewaltigen Hügel, von wo aus einst der Herr über dieses Reich seinen gesamten Wirkungsbereich hatte überblicken können. Der Dschungel hatte ursprünglich dieser Region weichen müssen, doch üppige Pflanzen bedeckten längst wieder weite Teile der Landschaft. Was sie im Lauf der Jahrhunderte noch nicht überwuchert hatten, war längst ein Raub der Witterung geworden. Bodenerosion hatte einen Abschnitt der nördlichen Stadtmauer und mit ihr einen großen Teil der Stadt mitgerissen. Zudem war ein beträchtlicher Teil des Berges weggebrochen und mitten in die Stadt gestürzt. Kentril konnte sich nicht vorstellen, dass in dieser Stadt noch irgendetwas heil geblieben war. Dieser antike Ort war dem Zahn der Zeit ganz offensichtlich zum Opfer gefallen. »Das sollte Euren Zorn ein wenig besänftigen, Hauptmann Du-mon«, erklärte Quov Tsin, der die Augen nicht von dem Anblick abwenden konnte. »Sogar mehr als nur ›ein wenig‹.« »Wie meint Ihr das?« Kentril ließ sein Schwert sinken und betrachtete mit einem gewissen Unbehagen die Ruinen. Er kam sich vor, als hätte er soeben einen Ort erreicht, an dem sich sogar die Geister nur mit großer Behutsamkeit bewegten. »Ist es das? Ist 18
das ...« »›Das Licht unter den Lichtern‹? Das reinste aller Reiche in der Geschichte der Welt, erbaut am Hang des in den Himmel ragenden Berges mit dem Namen Nymyr? Aye, Hauptmann, das ist sie – und für unsere Ansprüche genau zur rechten Zeit, wenn meine Berechnungen stimmen!« Hinter Kentril waren erstaunte und verblüffte Laute zu hören. Die anderen Männer hatten soeben zu ihnen aufgeschlossen und die Worte des Hexenmeisters mitbekommen. Sie alle kannten die Legenden über das Reich, das einst als Licht unter den Lichtern bezeichnet wurde, ein Ort, von dem es hieß, er sei das eine Königreich, vor dem die Finsternis der Hölle zurückgeschreckt sei. Sie alle kannten diese Geschichte, auch diejenigen, die aus den Westlichen Königreichen kamen. Hier hatte einst eine Stadt gestanden, die von denen verehrt wurde, die dem Licht folgten. Hier hatte ein Wunder gestanden, regiert von freundlichen Herrschern, die die Seelen aller in den Himmel geführt hatten. Hier hatte ein so reines Königreich existiert, von dem man sich erzählte, es habe sich schließlich über die Ebene der Sterblichen begeben, und seine Bewohner hätten die Grenzen überwunden, die Sterblichen auferlegt waren, um sich zu erheben und sich den Engeln anzuschließen. »Dieser Anblick macht den Verlust Eurer Männer mehr als wert, Hauptmann«, flüsterte der Vizjerei und zeigte mit einer knochigen Hand auf die Ruinen. »Im Moment seid Ihr einer der wenigen Glücklichen, die einen Blick auf eines der Wunder der Vergangenheit werfen können – auf das sagenhafte, verschollene Urehl«
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Zwei Ihre Haut hatte die Farbe von Alabaster und wies nicht den geringsten Makel auf. Ihr kastanienrotes Haar fiel bis weit über ihre vollkommen ebenmäßigen Schultern, und ihre Augen hatten das tiefste Smaragdgrün, das man sich nur vorstellen konnte. Hätte ihr Gesicht nicht Merkmale des Ostens aufgewiesen, hätte er sie durchaus für eine der ungestümen jungen Frauen aus seiner Heimat halten können. Sie war eine Schönheit. Sie war alles, wovon ein erschöpfter, von Kriegen geplagter Abenteurer wie Kentril während der Unschuld seiner Jugend Nacht für Nacht geträumt hatte – und noch immer träumte. Zu schade, dass sie seit Hunderten von Jahren tot war. Kentril strich über die Brosche, über die er buchstäblich gestolpert war, und blickte wiederholt zu seinen Gefährten, die sich ganz in der Nähe aufhielten. Sie wussten nichts von seinem Fund, sondern waren nach wie vor damit beschäftigt, in den von Pflanzen überwucherten Ruinen mühsam nach etwas von Wert zu suchen. Bislang war die Schatzsuche aus Kentrils Sicht ein völliger Fehlschlag gewesen. Mit fünfzehn Mann suchten sie unablässig in den Ruinen einer der sagenumwobensten Städte überhaupt, und wie sah das Ergebnis von drei Tagen harter Arbeit aus? Ein kleiner Sack voll rostiger, verbogener und größtenteils zerbrochener Objekte, deren Wert eher zweifelhaft war. Die kunstvoll gearbeitete Brosche stellte den bislang beachtlichsten Fund dar, aber selbst sie würde die mühselige Reise zu einem von Käfern heimgesuchten Ruinenfeld allenfalls zu einem Bruchteil 20
wettmachen. Niemand blickte in seine Richtung. Kentril entschied, dass er sich zumindest dieses eine Andenken mehr als verdient hatte, und steckte das Artefakt in den Beutel an seinem Gürtel. Als Anführer der Söldner stand ihm ohnehin ein größerer Anteil an allen Funden zu, daher hatte der narbengesichtige Kommandant keine Bedenken, so zu handeln. »Kentril?« Der Hauptmann zwang sich, keinen ertappten Eindruck zu erwecken, als er sich zu demjenigen umdrehte, der sich ihm klammheimlich genähert hatte. Es gelang Gorst trotz seines bulligen Aussehens immer wieder, sich nahezu lautlos zu bewegen. Kentril fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und versuchte, kein Schuldbewusstsein erkennen zu lassen. »Gorst! Ich dachte, du würdest unserem geschätzten Arbeitgeber mit seinen Werkzeugen und Rechengeräten helfen! Was führt dich zu mir?« »Der Magische Mann ... er will dich sprechen, Kentril.« Auf Gorsts rundlichem Gesicht lag ein breites Lächeln. Zauberei faszinierte ihn wie ein Kleinkind, und auch wenn der Vizjerei diesbezüglich bislang wenig zum Besten gegeben hatte, schien sich der barbarisch wirkende Söldner bereits an den rätselhaften Geräten und Objekten zu ergötzen, die Quov Tsin mitgebracht hatte. »Sag ihm, ich werde bald nach ihm sehen.« »Er will dich auf der Stelle sprechen«, erwiderte der Hüne, und sein Tonfall verriet, dass er nicht verstehen konnte, wie man nicht sofort zu dem Vizjerei eilen konnte, um zu erfahren, was dieser von einem wollte. Gorst glaubte ganz offensichtlich, irgendein wundersames Spektakel der Hexenkunst stehe unmittelbar bevor, und jedes Zögern seines Freundes zog das Warten nur 21
unnötig in die Länge. Hauptmann Dumon zuckte mit den Schultern, da er wusste, dass es keinen Unterschied ausmachte, ob er sofort losmarschierte oder noch eine Weile wartete. Außerdem wurde ihm mit einem Mal klar, dass er einen Grund hatte, um sich mit dem Vizjerei zu unterhalten. »Also gut, begeben wir uns zum ›Magischen Mann‹.« Als er an Gorst vorbeiging, fragte dieser plötzlich: »Kann ich es sehen, Kentril?« »Sehen? Was meinst du?« »Das, was du gefunden hast.« Kentril hätte fast geleugnet, irgendetwas gefunden zu haben, doch Gorst kannte ihn viel zu gut. Er schnitt eine Grimasse, dann zog er die Brosche aus dem Beutel. Er hielt sie so, dass nur der Mann neben ihm sehen konnte, was er in der Hand hielt. Gorst grinste breit. »Schön.« »Hör zu ...«, setzte Kentril an, doch der hünenhafte Kämpfer hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und ihn einfach stehen lassen. Mit einem Mal kam dem Hauptmann die versuchte Täuschung töricht vor. Er vermochte nie zu sagen, was Gorst gerade wirklich durch den Kopf ging, doch es schien, als sei der Freund, was die Brosche anging, nun zufrieden gestellt. Dieses Thema schien für ihn abgeschlossen zu sein. Gorsts Magischer Mann erwartete sie also – was für Kentrils Gefährten offenbar weitaus bedeutungsvoller war, als das Bild einer vor Jahrhunderten gestorbenen Frau. Als sie Tsin erreichten, lief der Vizjerei ungeduldig vor einer Anordnung aus Steinen, alchimistischen Gerätschaften und anderen Instrumenten seines schändlichen Handwerks auf und ab. Hin und wieder kritzelte der kahlköpfige Hexenmeister etwas auf 22
ein Pergament, das auf dem von Kentrils Leuten behelfsmäßig errichteten Arbeitstisch lag. In erster Linie schien er damit beschäftigt zu sein, immer wieder durch ein Fernrohr zu schauen, das auf den höchsten Punkt des Nymyr ausgerichtet war. Danach widmete er sich jeweils wieder der Schriftrolle. Gerade griff der Vizjerei nach einem Gerät, das für den Söldner beinahe wie ein Sextant aussah, aber offensichtlich hatte der Hexenmeister einige Veränderungen daran vorgenommen. Als Quov Tsins knochige Finger das Gerät berührten, bemerkte er die beiden Männer, die sich ihm näherten. »Ah, Dumon! Es wird auch Zeit! Und hat die Arbeit des heutigen Tages bislang mehr Früchte getragen als an den vorangegangenen Tagen?« »Nein ... es ist so, wie Ihr gesagt habt. Bis jetzt haben wir kaum mehr als Abfall gefunden.« Von der Brosche erwähnte er nichts, denn bei seinem Glück hätte Tsin gewiss irgendetwas von Bedeutung in den Fund hineininterpretiert und ihn augenblicklich konfisziert. »Egal, ganz egal! Ihr und Eure Bande könnt getrost weitersuchen, so lange Ihr mir nur nicht im Wege steht. Jedenfalls bis ich die letzten Ergebnisse auswerten konnte. Hättet Ihr irgendetwas gefunden, dann wäre das natürlich erfreulich gewesen, aber insgesamt betrachtet macht mir mangelnder Erfolg nichts aus.« Das mochte für den Hexenmeister gelten, aber nicht für die Söldner, die aus ihrem Unmut keinen Hehl machten. Kentril hatte ihnen die Reise mit den Worten des Vizjerei schmackhaft gemacht, und ein Fehlschlag würde man in erster Linie ihm zur Last legen, nicht Tsin. »Hört zu, Hexenmeister«, murmelte er. »Ihr habt genug bezahlt, um diese verrückte Mission auf die Beine zu stellen, aber 23
Ihr habt uns noch viel mehr versprochen. Ich wäre damit zufrieden, wenn ich jetzt nach Hause heimkehren und das alles hier einfach hinter mir lassen könnte. Aber die anderen versprechen sich einiges von diesem Unternehmen. Ihr habt gesagt, wir würden in diesen Ruinen einen Schatz finden – einen sehr reichen sogar –, aber bislang haben wir ...« »Ja, ja! Ich habe das doch längst alles erklärt! Aber das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt! Bald, sehr bald schon!« Kentril sah Gorst an, der nur mit den Schultern zuckte, dann wanderte sein Blick zurück zu dem schmächtigen Magier. »Ihr habt mir einige wilde Geschichten erzählt, Vizjerei«, knurrte Hauptmann Dumon. »Und je länger das Ganze hier dauert, desto ungeduldiger werden meine Gefährten. Warum erklärt Ihr mir und Gorst nicht einmal mit einfachen Worten, was Ihr eigentlich beabsichtigt?« »Das wäre bloße Zeitverschwendung für mich«, brummte der kleine Hexenmeister mürrisch und seufzte, als er bemerkte, wie sich Kentrils Miene zusehends verfinsterte. »Also gut, aber das ist das letzte Mal, dass ich darüber rede. Ihr kennt ja bereits die Legenden über die Gottesfürchtigkeit der Bewohner dieser Stadt, darum werde ich mir das ersparen und gleich zur Zeit der Unruhen springen – seid Ihr damit einverstanden?« Nachdem Kentril sich gegen ein großes Trümmerstück der einstigen Stadtmauer gelehnt und seine Arme verschränkt hatte, nickte er zustimmend. »Gut, erzählt ab da. Das ist auch der Punkt, an dem die Geschichte für meinen Geschmack etwas zu phantastisch wird.« »Ein Söldner, der sich auch noch im Herummäkeln versucht...« Quov Tsin unterbrach seine Arbeit und begann mit der Geschichte, von der Hauptmann Dumon glaubte, er würde sie 24
noch hundertmal hören können, ohne sie jemals wirklich zu verstehen. »Es begann in einer Zeit ... einer Zeit, die denen unter uns vertraut ist, die wir in den Künsten und dem Kampf zwischen Licht und Finsternis bewandert sind ... einer Zeit bekannt als der Sündenkrieg.« Auch wenn die Jahre als Söldner ihn abgehärtet hatten, schauderte es Kentril, als der kleine Vizjerei das letzte Wort aussprach. Bevor er mit Tsin zusammengetroffen war, hatte er nie von derartigen Legenden gehört. Doch etwas an diesem mythischen Krieg, von dem sein Geldgeber sprach, ließ vor dem geistigen Auge des Söldners Bilder entstehen – Bilder von teuflischen Dämonen, die versuchten, die Welt der Sterblichen auf einen Weg zu führen, der geradewegs in die Verdammnis führte. Der Sündenkrieg war nicht wie ein normaler Krieg ausgetragen worden, denn hier hatten Himmel und Hölle gegeneinander gekämpft. Erzengel und Dämonen mochten sich zwar wie zwei Armeen gegenübergetreten sein, doch die Schlachten spielten sich überwiegend hinter den Kulissen ab, verborgen vor den Blicken der Sterblichen. Dieser Krieg hatte sich zudem über Jahrhunderte erstreckt – was bedeutete für unsterbliche Wesen schon Zeit? Königreiche waren entstanden und untergegangen, Teufel wie Bartuc, der Kriegsherr des Blutes, waren an die Macht gelangt und wieder geschlagen worden – doch dieser Krieg hatte kein Ende finden wollen. Bereits früh in diesem Ringen war das wundersame Ureh zu einem zentralen Schlachtfeld auserkoren worden. »Alle wussten in jener Zeit von der Größe Urehs«, erläuterte der Hexenmeister. »Ein Quell des Lichts, eine führende Macht des Guten in einer unruhigen Zeit, was natürlich bedeutete, dass nicht nur die Erzengel, sondern auch die Fürsten der Hölle selbst 25
– die Erzbösen – auf die Stadt aufmerksam wurden. Die Erzbösen. Ganz gleich, in welchem Land man geboren war, ob in den Dschungeln von Kehjistan oder in den kühleren Felsenregionen der Westlichen Königreiche – jeder kannte die drei Erzbösen, die über die Höllenschlünde geboten: Mephisto, der Fürst des Hasses, Herr über die Untoten. Baal, Fürst der Zerstörung und Chaosbringer. Und ... Diablo, die wohl meistgefürchtete, die absolute Manifestation des Schreckens. Ein Alptraum nicht nur für Kinder, sondern auch für erfahrene Krieger, die gesehen hatten, was die Menschen sich gegenseitig anzutun in der Lage waren. Diablo war derjenige gewesen, der vor allem seinen Blick von seinem dämonischen Reich aus auf das strahlende Ureh gerichtet und der sich an dessen Ruhm am meisten gestört hatte. Aus dem Chaos, das Baal erschuf, konnte wieder Ordnung werden. Der Hass des Mephisto vermochte von jedem Mann überwunden zu werden, der dazu stark genug war. Aber sich nicht vor der Furcht zu fürchten – das war etwas, was Diablo nicht glauben und noch weniger hinnehmen konnte. Das Land rings um Ureh wurde mit jedem Jahr finsterer, Hauptmann Dumon. Kreaturen, die vom Bösen erschaffen worden oder die nicht von dieser Welt waren, lauerten denjenigen auf, die in die Stadt reisen oder sie verlassen wollten. Düstere Zauber schlichen sich ein, wo sie es nur konnten, und die Hexenmeister des Königreichs waren kaum mehr in der Lage, sie zurückzutreiben. Und mit jeder Niederlage durch die Bewohner von Ureh«, so fuhr der Vizjerei fort, »zeigte sich Diablo entschlossener denn je. Er würde diese wundersame Stadt zu Fall bringen und ihre Einwohner zu Sklaven der Hölle machen. Jeder sollte sehen, dass es 26
auf der Ebene der Sterblichen keine Macht gab, die dem übelsten der Erzbösen die Stirn bieten konnte. Schließlich war ein Punkt erreicht, da es niemand mehr wagte, diese Stadt anzusteuern, und nur wenigen Bewohnern gelang die Flucht. Es heißt, dass daraufhin der Herrscher über dieses Reich, der gerechte und edelmütige Juris Khan, seine Priester und Magier um sich scharte, damit sie alles Erforderliche unternahmen, um das Volk ein für allemal zu schützen. Die Legende besagt, Juris Khan habe in einer Vision einen Erzengel gesehen, der ihm erklärte, die höheren Mächte hätten die Prüfungen ihrer ergebensten Anhänger beobachtet und sich veranlasst gefühlt, ihnen die sicherste Zuflucht anzubieten, die nur denkbar war, wenn die Menschen es sich zur Aufgabe machen würden, aus eigener Kraft dorthin zu gelangen.« Auf dem Gesicht des Hexenmeisters zeichnete sich plötzlich ein beinahe entzückter Ausdruck ab. »Er bot den Einwohnern von Ureh die Sicherheit des Himmels selbst als Zuflucht an.« Gorst brummte, womit er seine aus tiefstem Herzen empfundene Ehrfurcht angesichts solcher Worte zum Ausdruck brachte. Kentril schwieg, hatte aber Schwierigkeiten, sich ein solches Angebot vorzustellen. Der Erzengel wollte die Himmelspforten für die Sterblichen aus Ureh öffnen und sie an einen Ort führen, den nicht einmal alle drei Erzbösen vereint angreifen konnten? Und die einzige Bedingung war, dass die Menschen von Ureh aus eigener Kraft den Weg dorthin finden sollten? »Eine noble Geste«, warf der Hauptmann ein und konnte sich seinen Sarkasmus nicht verkneifen. »›Wir sind hier, aber ihr müsst schon sehen, wie ihr zu uns gelangt.‹« »Ihr wolltet die Geschichte hören, Dumon. Soll ich nun wei27
tererzählen oder nicht? Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als für Eure Unterhaltung zu sorgen.« »Fahrt fort, Hexenmeister. Ich werde versuchen, meine Ehrfurcht zu zügeln.« Mit einem verächtlichen Naserümpfen sagte Tsin: »Der Erzengel erschien Juris Khan noch weitere zwei Male in dessen Träumen, jedes Mal mit dem gleichen Versprechen und jedes Mal mit einigen Hinweisen darauf, wie dieses Wunder Wirklichkeit werden konnte ... Von seinen Visionen geleitet, trieb Lord Khan die Hexenmeister und Priester zu Anstrengungen an, wie sie noch niemals zuvor von jemandem zustande gebracht wurden. Von dem Erzengel hatte er Hinweise darauf erhalten, was getan werden musste, aber die Umstände der Existenz dieses Engels machten es ihm unmöglich, den Sterblichen weitere Erklärungen zu geben. Doch gestärkt vom Glauben an den Himmel unternahm Ureh alle nur denkbaren Anstrengungen, um diese wunderbare Aufgabe zu bewältigen. Die Einwohner wussten, was ihnen angeboten worden war, und sie wussten, welches Schicksal ihnen drohte, wenn sie scheiterten. Das Wenige, das wir über diese Zeit wissen, stammt von Gregus Mazi, dem einzigen Bewohner von Ureh, der anschließend in der Stadt gefunden wurde. Er war einer aus dem Kreis der Magier, die an dem großen Zauber beteiligt waren, und nach Ansicht der meisten Gelehrten muss er im letzten Augenblick an seinem Glauben gezweifelt haben. Denn als die Hexenmeister und Priester schließlich den Weg in den Himmel öffneten – wie, wurde nie geklärt –, blieb Gregus Mazi als Einziger zurück.« »Nicht gerade gerecht.« »Von ihm«, ging Quov Tsin über Kentrils Einwand hinweg, 28
»wissen wir, dass ganz Ureh einschließlich der Stadtmauern im Moment des Übergangs in ein starkes rotes Licht gehüllt wurde. Gregus, der noch immer völlig erschüttert war, dass man ihn zurückließ, beobachtete, wie sich über dieser eine zweite Stadt zu erheben begann, ein exaktes, wenn auch ätherisches Abbild von Ureh ...« Vor den aufgerissenen Augen des glücklosen Hexenmeisters schwebte das gewaltige Trugbild über seiner sterblichen Hülle. Von dort, wo Gregus Mazi stand, konnte er Fackeln und sogar einige Wachen auf den geisterhaft schimmernden Zinnen ausmachen. Ihm kam es so vor, als hätte die Seele von Ureh die Ebene der Sterblichen verlassen, denn als er sich umsah, stellte er fest, dass die verlassenen Gebäude bereits zerfielen und einstürzten – so als wäre ihnen alle Substanz entzogen und nur verrottende Ruinen zurückgelassen worden. Als der einsame Mann wieder zum Himmel blickte, sah er, dass die schimmernde Stadt immer stärker an Substanz verlor. Die karmesinrote Aura flackerte auf und wurde so grell wie die Sonne, die wenige Augenblicke zuvor untergegangen war. Gregus Mazi hatte nur für eine Sekunde die Augen gegen die Helligkeit abgeschirmt, und in dieser einen Sekunde war der phantastische Anblick der schwebenden Stadt Ureh verschwunden. »Gregus Mazi war danach ein gebrochener Mann, Hauptmann Dumon. Anhänger von Rathma, Nekromanten aus dem tiefsten Dschungel, fanden und versorgten ihn, bis sein Verstand weitestgehend geheilt war. Er verließ sie schließlich, da sich in seinem Herzen längst eine Besessenheit manifestiert hatte. Er wollte sich seiner Familie und seinen Freunden anschließen, ihnen doch noch folgen, und dafür reiste der Hexenmeister um die Welt. Er versuchte herauszufinden, was er dafür benötigte. Zwar 29
hatte er an dem Zauber mitgearbeitet, der das Volk von Ureh in den Himmel hatte flüchten lassen, doch waren ihm bei weitem nicht alle Einzelheiten darüber bekannt gewesen.« »Kommt auf den Grund zu sprechen, Tsin, weshalb wir hier sind.« »Kretin!« Der Vizjerei warf ihm einen finsteren Blick zu und fuhr fort. »Zwölf Jahre, nachdem Ureh aufgestiegen war, kehrte Gregus Mazi in seine verlassene Heimat zurück. Mit sich führte er Schriftrollen und Bücher, die alle seine Studien belegten. Hier und da hinterließ er einzelne Notizen, die ich zum größten Teil finden konnte. Nach zwölf Jahren also kam Gregus Mazi in die Ruinen zurück ... und verschwand spurlos.« Kentril strich sich über seinen Schnauzbart. Er kannte eine sehr realistische Antwort auf die Frage nach dem Schicksal des Hexenmeisters. »Ein Tier hat ihn gefressen. Oder aber er hatte einen Unfall.« »Ich hätte das wohl auch vermutet, mein werter Hauptmann, wäre ich nicht frühzeitig auf dies hier gestoßen.« Quov Tsin griff in einen großen Beutel, in dem er seine wichtigsten Notizen aufbewahrte, und kramte eine alte Schriftrolle hervor. Er hielt sie Kentril hin, der sie nur widerstrebend entgegennahm. Hauptmann Dumon entrollte das Dokument so behutsam, wie er nur konnte. Das Pergament war brüchig und die Schrift stark verblichen, doch mit ein wenig Anstrengung konnte er den Text entziffern. »Das hat ein Mann aus Westmarch geschrieben!« »Ja, und zwar der Söldnerhauptmann, der Gregus Mazi auf seinen Reisen begleitete. Ich empfand es als ironisch und vielleicht sogar vielsagend, dass Ihr auf mich zukamt, als ich mein Angebot an jeden richtete, der interessiert war. Ich betrachte es 30
als Schicksal, dass wir beide den Spuren meines Vorgängers und dieses Mannes folgen.« »Dieser Mann« entpuppte sich als ein gewisser Humbart Wessel, ein erfahrener Kämpfer mit einer dankenswert klaren Art, sich in Wort und Schrift auszudrücken. Kentril überflog die Absätze, konnte zunächst aber nichts finden. »Weiter unten«, empfahl Tsin. Der Söldner widmete sich dem empfohlenen Teil der alten Schriftrolle, den Humbart Wessel unübersehbar erst, viele Jahre später hinzugefügt hatte. Am siebten Tage gegen Sonnenuntergang, so begann der Abschnitt, näherte sich Meister Mazi wieder dem Rand der Ruinen. Ich sag zu ihm, dass diese Reise kein gutes Ende genommen hat, und dass wir gehen sollten. Er aber erwidert, er sei sich diesmal sicher. Der Schatten wird genau im richtigen Winkel stehen. Er müsse es einfach. Meister Mazi hat uns viel Gold versprochen und auch noch ein anderes Angebot gemacht, das niemand annehmen wollte, ganz gleich, für wie würdig sie sich halten mögen. In den Himmel aufzusteigen, bot er an ... Nun bin ich älter, aber ich würde es auch heute nicht annehmen. Der Schatten kam so, wie er gesagt hatte. Nymyrs Hand streckte sich nach dem alten Ureh aus. Wir sahen zu und waren so sicher wie schon zuvor, dass wir uns auf die Jagd nach einem Phantom begeben hatten. Oh, was für Narren wir doch waren, dass wir das glaubten. Ich kann mich an den Schatten erinnern. Und an das Leuchten. Wie die Ruinen auf einmal wieder zu leben schienen. Wie das Licht von innen heraus strahlte! Schwören möchte ich noch immer, dass ich Stimmen hörte, aber niemanden sehen konnte! 31
»Ich komme ...« Das waren die letzten Worte von Meister Mazi, aber er hatte sie nicht an uns gerichtet. Ich kann mich trotzdem an sie erinnern, und auch daran, wie wir dachten, wir würden den Glanz des Goldes sehen, von dem er immer wieder gesprochen hatte. Doch niemand wollte eintreten. Nicht ein Mann wollte Meister Mazi folgen, der allein hineintrat. Wir schlugen unser Lager auf, hörten die Stimmen, hörten, wie sie nach uns zu rufen schienen. Aber keiner von uns wollte gehen. Morgen, sagte ich zu den anderen, morgen, wenn Meister Mazi wieder herauskommt und uns zeigt, dass alles in Ordnung ist, gehen wir auch hinein und holen uns unseren Anteil. Eine Nacht wird nichts ausmachen, sagte ich ihnen. Aber am Morgen sahen wir nur die Ruinen. Keine Lichter. Keine Stimmen. Keinen Meister Mazi. Lord Hyram, ich schrieb dies auf wie vereinbart, und es geht nach Zakarum ... Hauptmann Dumon drehte die Rolle um und suchte nach der Fortsetzung des Textes. »Ihr werdet nichts finden. Das Wenige, was nach diesem Abschnitt noch erhalten ist, widmet sich anderen Dingen und war für mich ohne Bedeutung. Nur diese Seite.« »Ein paar Zeilen, hingekritzelt von einem alten Krieger? Deshalb sind wir hier?« Kentril verspürte den Wunsch, das Pergament in Tsins hässliches Gesicht zu schleudern. »Kretin«, gab Quov Tsin zurück. »Ihr seht die Worte, aber ihr könnt nicht dahinter blicken. Vertraut Ihr einem von Eurer Art nicht?« Er hob seine knorrige Hand. »Ach, egal. Das diente ja auch nur dem Zweck, aufzuzeigen, worum es hier geht. Gregus Mazi fand einen Weg, in das alte Ureh zu gelangen, das er zwölf Jahre zuvor verloren hatte. Und wir können genau das Gleiche 32
erreichen!« Kentril rief sich den Satz über das Gold ins Gedächtnis, jenes Gold, das ihn überhaupt erst dieses Abenteuer hatte in Angriff nehmen lassen. Er hatte aber auch gelesen, dass Humbart Wessel und seine Männer zu verängstigt gewesen waren, um die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, als sie sich ihnen bot. »Ich verspüre noch nicht den Wunsch, in den Himmel aufzusteigen, Hexenmeister.« Der kleine Tsin schnaubte verächtlich. »Ich auch nicht! Gregus Mazi war auf diesem Weg willkommen, aber ich bin auf der Suche nach einer irdischeren Belohnung. Sobald die Menschen von Ureh aufgestiegen waren, hatten sie keine Verwendung mehr für die Dinge, die sie als Sterbliche sammelten. Ihre Wertgegenstände, Zauberbücher, Talismane ... das alles müssen sie zurückgelassen haben.« »Und warum haben wir dann noch nichts davon entdeckt?« »Die Hinweise finden sich in diesem Text von Humbart Wessel! Damit die lebenden Sterblichen aufsteigen konnten, mussten Juris Khan und seine Hexenmeister einen Zauber wirken, wie es ihn noch niemals gegeben hatte. Sie mussten die Distanz zwischen dieser Ebene und dem Himmel überwinden, also schufen sie einen Ort, der genau dazwischen lag – in Gestalt jenes Schatten-Urehs, das Gregus Jahre später wiederfand!« Hauptmann Dumon versuchte nach Kräften, der Logik des Magiers zu folgen. Das ihm versprochene Gold existierte demnach nicht innerhalb dieser Ruinen, sondern in einer schwebenden Vision der Stadt, wie sie jener Söldnerführer beschrieben hatte. Er sah auf die Trümmer und den Schutt, alles, was von Ureh übrig geblieben war. »Aber wie sollten wir einen solchen Ort 33
erreichen können, selbst wenn er wirklich existiert? Ihr sagtet, er sei nicht Teil unserer Welt, sondern befinde sich zwischen unserer und ... und ...« »... dem Himmel, genau«, führte der Vizjerei den Satz zu Ende. Er wandte sich wieder seinen Gerätschaften zu und spähte durch eines der Objekte. »Gregus Mazi hat mehr als ein Jahrzehnt benötigt, um es zu schaffen. Doch dank ihm benötigte ich für meine Berechnungen nur drei Jahre, nachdem ich die richtigen Informationen ergattert hatte. Ich weiß ganz genau, wann sich alles abspielen wird!« »Die Stadt kommt wieder zurück?« Tsins sah Kentril mit großen Augen ungläubig an. »Natürlich! Habt Ihr denn überhaupt nicht zugehört?« »Aber ...« »Ich habe Euch jetzt mehr als genug erzählt, Hauptmann Dumon, doch nun muss ich mich wieder an die Arbeit geben! Versucht, mich nicht noch einmal zu stören, es sei denn, es ist unbedingt erforderlich. Habt Ihr verstanden?« Kentril straffte die Schultern und biss die Zähne zusammen. »Ihr habt mich zu Euch geholt, Vizjerei.« »Habe ich das? Ach ja, natürlich. Ich wollte Euch etwas sagen. Morgen Abend ist es so weit.« Der Hauptmann zweifelte immer mehr daran, dass er und Quov Tsin dieselbe Sprache sprachen. »Was ist morgen Abend, Hexenmeister?« »Das, worüber wir eben gesprochen haben, Kretin! Der Schatten kommt morgen Abend, eine Stunde vor Anbruch der Nacht!« Tsin sah wieder auf seine Notizen. »Sagen wir vorsichtshalber eineinviertel Stunden.« »Eineinviertel Stunden«, wiederholte der Hauptmann ver34
blüfft. »Ja, ganz genau. Und nun geht endlich!« Der kahlköpfige Vizjerei vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Kentril sah ihm zu und erkannte, dass der schmächtige Mann längst die Anwesenheit der beiden Kämpfer vergessen hatte. Das Einzige, was für Quov Tsin zählte, das Einzige, was für ihn existierte, war das verschollene, legendäre Ureh. Kentrils Gedanken überschlugen sich. Nun wusste er mit Sicherheit, dass er einem Verrückten gefolgt war. All das vorausgegangene Gerede über Gold hatte den Hauptmann glauben lassen, Tsin meine damit, dass die Reichtümer der Stadt in einem Versteck untergebracht seien, und dass sie sich mit Hilfe der Schatten zu einer bestimmten Tageszeit ausfindig machen lassen würden. Ihm war nicht klar gewesen, dass der Vizjerei einem Spuk nachjagte, einem Ort, der nicht existierte – nicht auf dieser Welt jedenfalls. Was aber, wenn Tsin Recht hatte? Wenn die Legende um diese Stadt auch ein Körnchen Wahrheit enthielt? Im Himmel brauchte niemand Gold. Vielleicht hatte man wirklich alles so zurückgelassen, wie der Hexenmeister es behauptete, und sie mussten es nur finden ... Aber für Humbart Wessel war diese Möglichkeit offenbar Realität geworden, und doch hatte keiner seiner Männer einen Schritt hinein in das schattenhafte Königreich gewagt. Kentril Dumon schob die Hand in den Beutel, den er am Gürtel trug, und holte die Brosche hervor, die er gefunden hatte. Für die abgebildete Frau wäre er gerne nach Ureh gereist. Da das aber nicht mehr möglich war, würde er sich auch mit Schmuck aus ihrem Haus oder dem eines anderen wohlhabenden Bürgers zufrieden geben. 35
Schließlich brauchten die früheren Eigentümer ihre Schätze nicht mehr. Von seinem Posten auf dem zerfallenden Wachturm aus beobachtete Zayl die Söldnertruppe unter sich voller Sorge. Sie bewegte sich wie ein kleiner, aber entschlossener Ameisenhaufen zwischen den Ruinen. Die Männer suchten in jeder Spalte, sahen unter jedem Findling nach, und auch wenn sie kaum nennenswerte Erfolge vorweisen konnten, stellten sie ihre Bemühungen nicht ein. Seit der Ankunft der Neulinge hatte Zayl sie mit blasser Hautfarbe und ernster Miene beobachtet. Keiner der Zauber des versierten Nekromanten hatte die Ankunft dieser Störenfriede vorhergesagt, und zu einem so entscheidenden Zeitpunkt hielt Zayl das kaum für puren Zufall. Ureh war von den Anhängern Rathmas immer sehr behutsam behandelt worden, da sie das hochempfindliches Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Existenzebenen gespürt hatten. Zayl war mit den Legenden so gut vertraut wie alle anderen, über die wahre Geschichte, die sich dahinter verbarg, wusste er jedoch kaum etwas. Von Ureh hatte er sich immer angezogen gefühlt, sehr zur Verärgerung und Bestürzung seiner Mentoren. Sie glaubten, er sei besessen von dem Gedanken an die unglaubliche Magie und an die Macht, die derjenige in seinen Händen halten würde, der sie wieder erstehen lassen konnte. Immerhin hatten die Hexenmeister des versunkenen Reiches die Naht zwischen Leben und Tod viel stärker überlappen lassen, als ein Nekromant es sich vorstellen konnte. Wenn die Legenden die Wahrheit erzählten, waren die Bewohner Urehs dem Tod entronnen – was aber den Lehren Rathmas vollständig widersprach. 36
Zayl verspürte jedoch keinesfalls das Verlangen, die Geheimnisse jener Magier zu ergründen – dies hatte er seinen Lehrern allerdings unterschlagen. Nein, der Nekromant, der die Söldner mit seinen mandelförmigen Augen beobachtete, hatte es auf etwas völlig anderes abgesehen. Er wollte mit den Erzengeln selbst Kontakt aufnehmen – und mit der hinter ihnen stehenden Macht. »Wie Ratten, die nach Abfall suchen«, spottete eine helle Stimme neben ihm. Ohne sich umzuwenden, erwiderte der Nekromant: »Ich dachte eher an Ameisen.« »Ratten sind sie, sage ich dir. Und ich sollte es wohl wissen, immerhin haben sie mir Arme und Beine abgenagt und sich dann durch meinen Brustkorb gefressen. Dieser verwahrloste Haufen dort macht auf mich den gleichen Eindruck wie die Bestien!« »Sie sollten jetzt nicht hier sein. Sie hätten fortbleiben sollen. Das hätte ihnen schon der gesunde Menschenverstand sagen müssen.« Zayls Gefährte lachte auf. Es klang hohl und verächtlich. »Ich besaß auch nicht genug Menschenverstand, obwohl auch ich es hätte besser wissen sollen!« »Du hattest keine Wahl. Von Ureh einmal so berührt, musstest du schließlich zurückkehren.« Der Nekromant spähte unter seiner Kapuze hervor und betrachtete das Areal hinter der Söldnergruppe, von wo ihr mutmaßlicher Anführer soeben zu ihnen aufgeschlossen hatte. »Bei ihnen ist ein Hexenmeister. Er hat sich noch nicht gezeigt, seit er herkam, aber ich kann ihn spüren.« »Stinkt er etwa so erbärmlich? Oh, ich wünschte, ich hätte noch immer eine Nase.« 37
»Ich nehme seine Macht wahr ... und ich weiß, er registriert meine ebenfalls, auch wenn ihm die Quelle vielleicht noch nicht bewusst ist.« Zayl wich ein Stück zurück, dann erhob er sich. Von ihrer Position aus würden ihn die Grabräuber nicht entdecken können. »Weder er noch seine bezahlten Helfer dürfen eingreifen.« »Was hast du vor?« Der in Schwarz gehüllte Zayl erwiderte nichts, sondern griff nach einer Reihe von Dingen, die er schon vorher neben sich angeordnet hatte. In seiner Gürteltasche verstaute er einen aus Elfenbein geschnitzten Dolch, zwei nahezu abgebrannte Kerzen, eine kleine Phiole mit einer zähen, karmesinroten Flüssigkeit – dazu den menschlichen Schädel, dem der Unterkiefer fehlte und der den Mittelpunkt der Ansammlung gebildet hatte. »Ganz sanft«, spottete der Schädel. »Wir sind ziemlich weit oben! Ich möchte den Sturz nicht noch einmal erleben!« »Still, Humbart.« Zayl versenkte das makabre Artefakt in der Tasche und schloss sie. Nachdem er mit seinen Vorbereitungen fertig war, warf er einen letzten Blick auf die Schatzsucher in der Tiefe und sann über deren Schicksal nach. Ganz gleich, wie er es anstellte, sie durften am morgigen Abend nicht mehr hier sein – davon hing nicht nur für sie, sondern auch für ihn selbst viel ab.
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Drei »Hauptmann Dumon ...« Kentril wälzte sich im Schlaf und versuchte, trotz des steinigen Untergrunds, auf dem er die Decke ausgebreitet hatte, einigermaßen bequem zu liegen. Lediglich Quov Tsin hatte ein Zelt, während die Söldner an Wind und Wetter gewöhnt waren. Doch das Gebiet rund um die Ruinen von Ureh wirkte sogar auf diese hartgesottenen Kämpfer so beunruhigend, dass sie nicht zur Ruhe kommen wollten. Auch die anderen Männer wälzten sich im Schlaf, mit Ausnahme von Gorst, der sogar auf einem Nagelbett tief und fest geschlafen hätte. »Hauptmann Dumon ...« »Hmm? Was ...?« Kentril stützte sich auf einen Ellbogen auf. »Wer ist da?« Der fast volle Mond schien so hell, dass der Hauptmann einige Momente benötigte, bis sich seine Augen an die ihn umgebende Dunkelheit gewöhnt hatten und er etwas erkennen konnte. Rings um das Lagerfeuer lagen seine Männer, ein paar schnarchten, aber das lauteste Schnarchen kam aus dem Zelt des Hexenmeisters. »Verdammter Ort ...« Der Söldner legte sich wieder hin. Er freute sich bereits auf den Moment, wenn sie die Ruinen hinter sich lassen würden. »Hauptmann Dumon ...« Kentril rollte sich von der Decke und hatte die Hand bereits um den Griff seines Dolchs gelegt, den er stets am Gürtel trug. Seine Nackenhaare richteten sich auf, und ein eisiger Schauer lief 39
dem Anführer der Söldner über den Rücken, als er eine Gestalt wahrnahm, die nur wenige Schritte von ihm entfernt zu seiner Rechten stand – eine Gestalt, die gerade eben noch nicht dort gewesen war. Die Entdeckung an sich hätte den Hauptmann vielleicht nicht sonderlich berührt, da er sich selbst ebenfalls fast lautlos durch ein Gelände bewegen konnte. Was ihn aber beunruhigte, was ihn erzittern ließ, war die Tatsache, dass derjenige, in dessen Gesicht er starrte, kein anderer sein konnte als der glücklose Hargo! Dabei war da eigentlich gar kein richtiges Gesicht mehr, das er hätte anstarren können, denn die rechte Hälfte war weggerissen worden, an ihrer Stelle schimmerte der blanke Schädel und waren die verrottenden Reste von Muskeln zu sehen. Ein Auge fehlte, an seiner Stelle klaffte ein dunkelrotes Loch. Der verschmutzte Bart des Söldners umschloss einen Mund, der zu einem Todesgrinsen verzerrt war. Das verbliebene Auge starrte Kentril vorwurfsvoll an. Aber es war nicht nur Hargos Gesicht, das massiv in Mitleidenschaft gezogen worden war. Der rechte Arm war gleich unterhalb der Schulter abgefressen worden, Brust und Bauch klafften weit auf und gaben den Blick auf Rippen und Gedärme frei. Von der Kleidung des Mannes waren nur noch Fetzen übrig, wodurch sein entsetzliches Schicksal noch unterstrichen wurde. »Hauptmann Dumon ...«, krächzte der unheimliche Besucher. Kentrils Finger wurden völlig schlaff, und er ließ den Dolch fallen. Er sah sich rasch um, doch niemand sonst war von dieser grässlichen Erscheinung aufgeweckt worden. Die anderen schliefen, wenngleich sie sich immer wieder von einer Seite zur anderen drehten. »Har-Hargo?«, brachte er schließlich heraus. 40
»Hauptmann Dumon...« Der Leichnam torkelte ein paar Schritte vor, während Flusswasser aus der halb zerfressenen Gestalt sickerte. »Ihr solltet nicht hier sein ...« Was Kentril anging, hätte er sich mit einem Mal nichts lieber gewünscht, als tatsächlich wieder in Westmarch zu sein und sich in seiner bevorzugten Taverne einen Rausch anzutrinken. Jeder Ort auf der Welt wäre besser gewesen als der, an dem er sich gerade befand. »Ihr müsst aufbrechen, Hauptmann«, fuhr Hargo ungerührt fort, obwohl in seinem Hals ein Loch klaffte, das ihn eigentlich am Sprechen hätte hindern müssen. »An diesem Ort wartet der Tod. Er hat mich gekriegt, und er wird auch Euch kriegen ... Euch alle ...« Während er diese Warnung aussprach, hob der dahingeraffte Söldner seinen unversehrten Arm und zeigte auf den Hauptmann. Das Mondlicht betonte den fahlen, todbringenden Glanz, der Hargos Leichnam überzog. Sogar am ansonsten unverletzten Arm hatte die Verwesung bereits eingesetzt. »Was soll das bedeuten?«, kam es Kentril über die Lippen. »Was willst du damit sagen?« Hargo jedoch wiederholte lediglich seine Warnung. »Er wird Euch alle töten. So wie mich, Hauptmann ... Er wird Euch alle mit in den Tod reißen ...« Mit diesen Worten wandte sich der Leichnam dem Nachthimmel zu und stieß einen Schrei aus – eine Mischung aus Bedauern und Angst, der das Blut in den Adern gefrieren ließ. So hartgesotten Kentril auch war, hier sank er auf die Knie und presste sich die Hände auf die Ohren, um das herzzerreißende Wehklagen nicht länger hören zu müssen. Tränen rannen ihm übers Gesicht, sein Blick war zu Boden gerichtet. Den schaurigen 41
Anblick konnte er nicht länger ertragen. Dann verstummte der Schrei abrupt. Der Söldnerhauptmann wagte es, vorsichtig aufzublicken ... ... und erwachte. »Aaaah!« Kentril fuhr von seinem Schlaflager auf und warf die Decke zur Seite. Erst als er stand, wurde ihm bewusst, dass seine Männer auf eine ganz ähnliche Weise reagierten. Sie schrien entsetzt und warfen wilde Blicke nach allen Seiten. Zwei der Männer hatten ihre Schwerter gezogen und fuchtelten wild herum, wobei sie Gefahr liefen, ihre Kameraden zu verletzen. Ein Kämpfer saß nur stumm da, die Augen weit aufgerissen, und zitterte am ganzen Leib. Kentril hörte, wie aus mehreren Richtungen ein Name geflüstert oder gerufen wurde: Hargo. »Ich hab ihn gesehen«, keuchte Oskal. »Stand vor mir, als würde er leben!« »Von wegen leben!«, zischte ein anderer. »Der Leibhaftige selbst hätte nicht schlimmer aussehen können!« »Das war eine Warnung«, erklärte Benjin. »Er will, dass wir von hier verschwinden.« Der Kämpfer griff nach seiner Decke. »Also, ich bin auf der Stelle dazu bereit!« Hauptmann Dumon kam endlich zur Besinnung, als er sah, in welcher Verfassung sich seine Männer befanden. Ganz gleich, welche fürchterliche Botschaft Hargo überbracht hatte, der gesunde Menschenverstand verlangte nach vorsichtiger Vorgehensweise. »Halt!«, ging Kentril dazwischen. »Niemand geht irgendwohin!« »Aber, Hauptmann«, protestierte Oskal. »Ihr habt ihn doch auch gesehen. Ich erkenne es an Eurer Miene!« 42
»Das mag sein, doch ist es noch lange kein Grund, Hals über Kopf in den Dschungel zu fliehen und vielleicht so zu enden wie Hargo, oder etwa doch?« Dies schien ihnen allen einzuleuchten. Oskal ließ die Decke fallen und betrachtete kurz die düstere Landschaft, die sich im Süden ausbreitete. Benjin erschauerte. »Was meinst du, Gorst?« Kentrils Stellvertreter war von allen in der Gruppe am gelassensten, auch wenn seine üblicherweise fröhliche Miene durchaus Sorge verriet. Hauptmann Dumon war froh, dass Gorst nicht in die gleiche Panik verfallen war wie die anderen. »Wir sind hier besser aufgehoben«, brummte der Riese. »Hier ist es besser als da draußen.« »Habt ihr das gehört? Nicht mal Gorst würde jetzt in den Dschungel zurückkehren wollen! Glaubt denn wirklich einer von euch, sein Überleben wäre dort gesicherter als hier?« Er hatte seine Männer wieder unter Kontrolle. Niemand wollte an jenen höllischen Ort zurückkehren, zumindest nicht bei Dunkelheit. Denn selbst der fast volle Mond würde kaum helfen, die vielen dort lauernden Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Kentril nickte zufrieden. »Wir entscheiden das besser am Morgen. Und nun steckt eure Waffen weg! Bringt Ordnung in dieses Lager und sorgt dafür, dass die Feuer richtig brennen!« Die Männer gehorchten und nahmen sich besonders den letzten Befehl zu Herzen. Kentril nahm zur Kenntnis, dass sie sich allmählich entspannten und eine vertraute Routine einsetzte. Er war sicher, dass die erfahrenen Kämpfer den Alptraum schon bald vergessen haben würden. Männer, die ihr Leben als Söldner bestritten, litten oft unter unruhigem Schlaf. Kentril selbst wurde heute noch in zehrenden Träumen an seinen ersten Feldzug 43
erinnert. Damals waren sein Kommandant und fast alle Männer der Schwadron vor seinen Augen abgeschlachtet worden. Er war nur mit Glück verschont geblieben, doch die Bilder dieser schrecklichen Geschehnisse war noch so deutlich, als wäre es erst gestern geschehen. Dieser entsetzliche Traum hier aber war anders als jene wiederkehrenden, quälenden Erinnerungen, denn Kentril hatte nicht als Einziger geträumt. Alle hatten es zur gleichen Zeit erlebt, und jeder seiner Männer konnte den Traum mehr oder weniger übereinstimmend wiedergeben ... Plötzlich schürte ein schroffes, durchdringendes Geräusch die Überbleibsel der fürchterlichen Vision aufs Neue, und Kentril hielt bereits den Griff seines Dolchs umschlossen, ehe er endlich begriff, worauf er eigentlich reagiert hatte: auf lautes Schnarchen. Bei dem Verursacher handelte es sich um keinen anderen als um Quov Tsin. Der Vizjerei hatte nicht nur den Traum verschlafen, sondern auch die sich anschließende Panik! Ungläubig stürmte Hauptmann Dumon auf das Zelt zu, hielt sich aber im letzten Moment zurück. Was hätte er davon, den schlafenden Hexenmeister zu sehen oder ihn sogar aufzuwecken? Tsin würde den Hauptmann nur beschimpfen und dann von ihm wissen wollen, warum er seine Ruhe störte. Kentril wich zurück. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sich auf dem runzligen Gesicht des Vizjerei ein verächtlicher Ausdruck abzeichnete, sobald der Zauberkundige den Grund erfahren hätte. Starke, tapfere Söldner, die sich vor einem Alptraum fürchteten? Quov Tsin würde in Gelächter verfallen und Dumon und seine Männer verhöhnen. Nein, schlafende Hexenmeister weckte man besser nicht, ent44
schied Kentril. Morgen allerdings würde er Tsin davon in Kenntnis setzen, dass seine Söldner nicht die Absicht hatten, zu warten, bis das Gold von Ureh vom Himmel auf sie herabregnete. Morgen früh würde Kentril sich mit seinen Leuten auf den Rückweg machen. Was hatten sie schon von allem Gold der Welt, wenn sie es mit dem Tod bezahlen mussten? Am Dschungelrand, vom Lager aus nicht zu sehen, hielt der durchnässte Hargo torkelnd inne. Zweige und Blätter, vom Nachtwind aufgewirbelt, wehten durch seine schaurige, geisterhafte Gestalt, ohne dass das verrottende Fleisch und die abgenagten Knochen ein Hindernis dargestellt hätten. Das einzelne Auge starrte fiebrig, der Mund stand offen. Darin war eine geschwärzte Zunge und ebensolches Zahnfleisch. Von einem großen, knorrigen Baum blickte Zayl auf den Ghul hinab. In seiner Hand hielt der fahle Nekromant einen kleinen Talisman in der Form eines Drachen, um den ein Fetzen Stoff gewickelt war. »Du hast deine Mission erfüllt«, ließ er den Geist wispernd wissen. »Du kannst nun ruhen, Freund.« Hargo sah zu dem Nekromanten empor und verblasste im nächsten Moment. »Kein sehr gesprächiger Kerl«, meinte der Schädel, den Zayl auf einen Ast gesteckt hatte. »Ich finde immer, dass der Tod etwas mehr Leben brauchte, um interessanter zu werden, oder?« »Sei ruhig, Humbart.« Der schlanke Nekromant schob den Talisman in eine Tasche seines Mantels. Den Stoff hatte er zuvor entfernt und betrachtete ihn nun einige Augenblicke lang nachdenklich. 45
»Meinst du, die Jungs haben die Botschaft verstanden?« »Das will ich doch hoffen. Ich habe mir große Mühe damit gegeben.« Was das anging, hatte Zayl Recht. Er hatte den Tod eines der Söldner sogar von seinem Beobachtungsposten in der Nähe der Ruinen aus riechen können. Dadurch war es ihm möglich gewesen, die Spur bis zu dem Punkt zurückzuverfolgen, an dem der Mann gestorben war. Dort am Fluss war Zayl dann auf die Suche gegangen, um die Reste des dahingeschiedenen Hargo aufzuspüren. Der Nekromant war mit diesem Stück Stoff belohnt worden, dies aber auch erst, nachdem er den Hunger jener Kreatur anstachelte, der der Mann zum Opfer gefallen war. Ein wenig Fleisch oder ein paar Tropfen Blut hätten Zayl bessere Dienste geleistet. Doch der Stoff von der Kleidung des Toten hatte letztlich auch genügt, um den Mann zu beschwören. Immerhin hatte er die Kleidung lange genug am Körper getragen, sodass die Verbindung stark genug gewesen war. Zayl hatte sich damit begnügt, den schlafenden Geist der Söldner anzusprechen und ihren toten Kameraden zu benutzen, um sie aus Ureh zu vertreiben, ehe es zu spät war. Der tote Hargo hatte seine Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit gelöst. Der Nekromant war sicher, dass die Männer bei Tagesanbruch die Flucht ergreifen würden. Er war gar nicht erst in die Versuchung geraten, den Vizjerei in seinen Zauber einzubeziehen. Zum einen wäre es reine Zeitverschwendung gewesen, zum anderen hätten die Abwehrzauber des Hexenmeisters, die auch im Schlaf aktiv waren, diesen auf Zayls Anwesenheit hingewiesen. Das jedoch durfte nicht geschehen. »Wenn sie gehen, wird er auch gehen müssen«, sagte die schwarz gekleidete Gestalt. »Ja, er wird gehen müssen.« 46
Nekromanten führten die meiste Zeit ein einzelgängerisches Leben und neigten wohl deshalb dazu, Selbstgespräche zu führen. Auch nachdem er vor zwei Jahren auf die Überreste von Humbart Wessel gestoßen war und den Schädel mit Leben erfüllt hatte, war es Zayl nicht gelungen, diese Angewohnheit loszuwerden. Humbart kümmerte es nicht, ob der andere mit sich selbst oder mit ihm redete. Er reagierte jedoch darauf, wann immer ihm der Sinn danach stand – was relativ häufig der Fall war. »Das war verdammt gute Arbeit«, sagte er. »Vielleicht wird auch der Hexenmeister die Flucht ergreifen, aber nur, wenn die Krieger von hier verschwinden.« »Natürlich werden sie aufbrechen. Nach einem solchen Omen, das jeder von ihnen erlebt hat, müssten sie schon unglaubliche Narren sein, wenn sie blieben.« »Warte erst mal bis zum Morgen, mein nicht ganz so weltlicher Freund. Das süße Wispern des Goldes kann die schroffe Warnung durch einen Alptraum mühelos übertünchen! Oder glaubst du etwa, ich bin wegen des schönen Wetters und der verspielten Flussschlangen zurückgekehrt? Ha! Glaub es mir, Zayl. Wenn sie bei Tagesanbruch nicht losziehen, werden sie niemals verschwinden!« Der kieferlose Schädel lachte glucksend. Der Nekromant nickte finster und ließ den Stofffetzen zu Boden fallen. »Beten wir, dass du dich irrst, Humbart.« Die Männer machten sich bereit und stellten sich in einer Reihe auf, damit der Hauptmann sie begutachten konnte. Unbehagen, gepaart mit Unsicherheit, zeichnete sich auf den Gesichtern vieler ab. Sie hatten einen weiten Weg zurückgelegt und ihr Leben für zugesichertes Gold und Geschmeide aufs Spiel gesetzt. Wenn 47
sie jetzt umkehrten, würden sie mit leeren Händen dastehen. Aber wenigstens würden sie dann zurückkehren können. Keiner von ihnen beneidete Hargo um dessen Schicksal. Kentril war entschlossen, seine Männer von hier wegzubringen. Die anderen mochten bereits wankelmütig geworden sein, doch er erkannte einen wahren Vorboten der Gefahr, wenn er ihn sah. Als er die Inspektion beendete, strich er mit der Hand über die Gürteltasche, in der sich die Brosche befand. Wenigstens würde er nach der Heimkehr mehr besitzen als nur die beruhigende Gewissheit, überlebt zu haben. Quov Tsin verließ sein Zelt in dem Moment, als Kentril sich gerade wappnete, um sich ihm entgegenzustellen. Der kleine Hexenmeister blinzelte, als er in den Sonnenschein hinaustrat, erst dann bemerkte er, dass sich der Hauptmann näherte. »Heute ist der große Tag, Dumon! Die Geheimnisse, die Reichtümer von Ureh – heute werden wir sie enthüllen!« »Tsin, wir brechen auf.« Quov Tsin kniff seine silbergrauen Augen stärker zusammen. »Was sagt Ihr da?« »Wir brechen auf. Wir bleiben nicht an diesem verfluchten Ort.« Der Hauptmann hielt es für besser, den wahren Grund zu verschweigen. »Das ist doch lächerlich! Ein oder zwei Tage noch, dann könnt Ihr aufbrechen und seid so reich wie Könige!« Einige der Männer, die sie beide aus einiger Entfernung beobachteten, murmelten etwas. Hauptmann Dumon fluchte innerlich. Da versuchte er, ihr aller Leben zu retten, und sie hatten nichts Besseres zu tun, als die erste Anspielung auf das angebliche Gold mit wankelmütigen Bemerkungen zu kommentieren. Wie vergesslich manche Menschen doch sein konnten. 48
»Wir brechen auf, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« »Ich habe Euch bezahlt ...« »Gerade genug, um Euch hierher zu begleiten. Wir sind Euch nicht länger verpflichtet, Vizjerei, und Ihr besitzt nichts, was Ihr uns noch als Lohn geben könntet.« Der Hexenmeister öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn dann aber abrupt wieder. Kentril, der mit einer der üblichen Tiraden gerechnet hatte, reagierte verwirrt. Aber vielleicht hatte er Tsin auch nur davon überzeugen können, wie sinnlos jede weitere Diskussion war. »Wenn das Eure Entscheidung ist, bitte.« Der kleine Mann drehte sich um und ging zurück zu seinem Zelt. »Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich habe zu tun.« Kentril runzelte die Stirn, während er Quov Tsin nachsah. Er hatte sich gegen den Hexenmeister gestellt und war als Sieger hervorgegangen. Sein Kontrakt mit dem Vizjerei war erfolgreich aufgelöst worden. Der Hauptmann und seine Leute konnten sich unverzüglich auf den Weg machen ... Irgendetwas ließ ihn zögern. Aber nur kurz. Wir können gehen!, jubelte er innerlich und wandte sich den anderen zu. »Packt eure Sachen! Ich möchte, dass wir unverzüglich aufbrechen! Verstanden?« Sein ernster Blick und sein Befehlston veranlassten die Söldner, das Lager in Windeseile abzuschlagen. Während er seine eigenen Habseligkeiten einsammelte, sah Hauptmann Dumon hin und wieder zum Zelt jenes Mannes, in dessen Dienste sie nun nicht länger standen. Kein einziges Mal spähte der Vizjerei heraus. Kentril fragte sich, ob der Mann wohl schmollte oder ob er einfach nur mit den Vorbereitungen für das angebliche Spektakel beschäftigt war. Es gefiel ihm nicht so ganz, Tsin allein hier 49
zurückzulassen, doch wenn der Vizjerei bleiben wollte, während alle anderen Ureh schleunigst verließen, musste es dem Hauptmann recht sein. Seine Männer kamen für ihn an erster Stelle. Kurze Zeit später waren die Söldner abmarschbereit. Gorst grinste Kentril an, der soeben den Mund aufmachte, um den Marschbefehl zu erteilen. Doch ein Grollen aus südlicher Richtung sorgte dafür, dass ihm die Worte im Hals stecken blieben. Er blickte über die Schulter und sah, dass vom Dschungel her dunkle Wolken aufzogen. Sie waren pechschwarz und kamen mit unglaublicher Geschwindigkeit näher. Der Wind frischte auf. Binnen weniger Atemzüge hatte er die Heftigkeit eines Orkans erreicht. Blitze zuckten über den Himmel, ein Sandsturm zog auf und stürzte das Lager ins Chaos. »Sucht Schutz!« Kentril sah sich um und erkannte, dass einzig die verfallene Stadt ihnen den Schutz bieten konnte, den sie brauchten, wenn sie diesen titanenhaften Anschlag der Elemente überstehen wollten. Grimmig bedeutete er den anderen, ihm zu folgen. An einer Stelle, wo die Stadtmauer schon vor Jahren eingestürzt war, konnten die Söldner mühelos nach Ureh gelangen. Wie schon bei der vorausgegangenen Schatzsuche nahmen sie auch diesmal kaum etwas von der einst so grandiosen Architektur wahr. Kentril fand ein rundes, drei Stockwerke hohes Gebäude, das er von allen Bauwerken in der näheren Umgebung noch für das robusteste hielt. Er führte seine Männer hinein, und sie kauerten sich im Inneren zusammen, um das Unwetter zu erwarteten. Kaum waren die Söldner in ihre Zuflucht gelangt, setzte ein Wolkenbruch ein. Gleichzeitig schlugen gefährlich nahe Blitze in 50
umliegende Bauten und Ruinen ein. Donnerschläge erschütterten das Gebäude, als würde es von einer ganzen Armee mit Katapulten beschossen. Staub und Putz rieselten von der Decke herab. Kentril saß in der Nähe des Eingangs und versuchte, nicht über das verheerende Unwetter nachzudenken. Blitz und Donner brachten ihm einmal mehr die Erinnerung an frühere Schlachten und gefallene Kameraden zurück. Aus Verzweiflung zog er schließlich die Brosche aus der Tasche und hielt sie so, dass niemand anderes sie sehen konnte, während er das Bild verträumt betrachtete. Eine Stunde verging, dann zwei, schließlich drei, doch das Unwetter ließ nicht nach. Die Söldner hatten keine Möglichkeit, ein Feuer zu entfachen und saßen inzwischen in kleinen Gruppen zusammen. Manche von ihnen versuchten ein wenig zu dösen, andere unterhielten sich gedämpft. Immer mehr Zeit verstrich, bis Gorst auf einmal blinzelte und die Frage stellte, die Kentril selbst schon längst hätte aussprechen sollen – wie ihm in diesem Moment bewusst wurde. »Wo ist der Zaubermann?« Bei ihrem überstürzten Aufbruch hatte keiner der Männer auch nur einen Gedanken an den Vizjerei verschwendet. Doch so wenig der kleine Mann ihn auch kümmerte, so konnte Kentril ihn doch nicht dem Unwetter überlassen. Er steckte die Brosche zurück in die Tasche, erhob sich und sah die anderen an. »Gorst, du übernimmst das Kommando, bis ich zurück bin. Ich beeile mich.« Als er in der Tür stand, deutete nichts auf ein baldiges Ende des strömenden Regens hin. Hauptmann Dumon verfluchte sein lästiges Gewissen, dann lief er hinaus ins Unwetter. Der Wind peitschte so stark, dass er fast ins Haus zurückge51
wirbelt wurde. Er kämpfte sich trotzdem durch die Ruinen voran und suchte immer wieder ihren spärlichen Schutz. An dem Loch in der Stadtmauer blieb der Hauptmann stehen. Ein Blitz schlug in einiger Entfernung in den Boden ein und ließ einen Regen aus kleinen Steinen und Lehmbrocken auf Kentril einprasseln. Danach atmete der Söldner tief durch und verließ den trügerischen Schutz Urehs. Er kniff die Augen gegen den Regen zusammen und hielt Ausschau nach dem Zelt des Hexenmeisters. Schließlich entdeckte er es und stellte fest, dass es von den tobenden Elementen nicht im Geringsten betroffen zu sein schien. Obwohl es eine zerbrechliche Konstruktion war, schien es fast so, als meide jeder Windhauch und jeder Regentropfen den Kontakt mit dem Zelt. Selbst dem Unwetter ungeschützt ausgesetzt, blieb Kentril stehen und schaute nur ungläubig drein. Wieder schlug ganz nah ein Blitz ein. Kentril kam wieder zu sich und rannte auf das Zelt zu, während er sich dem Sturm ebenso hartnäckig entgegenstemmte wie jedem anderen Gegner. Zweimal rutschte er aus, fiel, sprang aber sofort wieder auf. Dann endlich war Quov Tsins Unterkunft nahe genug. Er rief nach dem Hexenmeister, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Abermals schlug ein Blitz ein. Staub und Steine attackierten Kentril Dumon ebenso heftig wie der Regen. Er machte einen Satz und landete im Zelt. »Und was, bitteschön, soll das werden?« Der runzlige Vizjerei saß über eine Schriftrolle gebeugt, als wisse er nichts von dem Unwetter, das draußen tobte. Verständnislos musterte er Kentril. »Ich ... ich wollte nach Euch sehen, ob ... alles in Ordnung ist«, sagte der Söldner in bemühtem Ton. Tsin machte den Eindruck, 52
als sei er eben erst aus einem erholsamen Schlaf erwacht, wohingegen Kentril sich vorkam, als sei er durch einen der Dschungelflüsse geschwommen. »Welche Besorgnis! Und warum sollte etwas nicht in Ordnung sein?« »Nun, das Unwetter ...« Der Hexenmeister zog eine Augenbraue hoch. »Welches Unwetter?« »Das Unwetter draußen ...« Der Söldnerhauptmann hielt inne. Hier im Zelt war nichts von den Donnerschlägen und dem Heulen des Windes zu hören! Der prasselnde Regen schien dem dünnen Zeltstoff nichts anhaben zu können. »Wenn da draußen ein Unwetter tobt«, gab Quov Tsin zurück, »solltet Ihr dann nicht durchnässt sein?« Kentril sah an sich herab und erkannte, dass seine Stiefel und sonstige Bekleidung völlig trocken waren, und das galt auch für seine Haare, die lediglich leicht verschwitzt von der Anstrengung waren. »Aber ich ... wurde bis auf die Haut durchnässt ...!« »Hier im Dschungel ist die Luftfeuchtigkeit zeitweise sicher etwas extrem, aber Ihr macht auf mich keinen wesentlich anderen Eindruck als sonst, Dumon.« »Aber draußen ...« Der Hauptmann wirbelte herum und schob die Zeltplanen des Eingangs beiseite, damit der Hexenmeister das Unwetter erkennen konnte. Strahlender Sonnenschein begrüßte den völlig verständnislosen Kentril. »Seid Ihr etwa eines mystischen Unwetters wegen den ganzen Weg durch den Dschungel zurückgerannt?«, fragte der Zauberkundige. 53
»Wir haben das Lager nie verlassen, Tsin ... das Unwetter brach schon los, als wir am Packen waren.« »Und wo sind dann die anderen?« »Die haben Schutz gesucht ... in einer Ruine ...« Noch während Kentril sprach, fühlte er, wie peinlich ihm die ganze Situation war. Mehr als ein Dutzend erfahrener Kämpfer hockte in diesem Moment in einem Haus, das ihnen seit Stunden Zuflucht bot vor ... einem wolkenlosen Himmel? Aber da war doch der Sturm gewesen ... Kentril sah sich um, konnte aber nirgends einen Beleg für seine Überzeugung finden. Der felsige Boden wirkte unverändert ausgedörrt, nicht ein Tropfen Wasser war zu sehen. Der Wind wehte kräftig, erreichte aber gerade mal einen Bruchteil der Stärke, der Kentril eben noch ausgesetzt gewesen war. Und selbst sein eigener Körper widersprach dem, was er für real gehalten hatte – wie anders ließ sich erklären, dass Kleidung und Haut praktisch trocken waren? »Hmm.« Hauptmann Dumon drehte sich wieder um und sah, dass sich Quov Tsin erhoben hatte. Er stand mit verschränkten Armen da und betrachtete ihn zunehmend verwirrt. »Habt Ihr Euch vor der Abreise noch an den Rumrationen vergriffen, Dumon? Ich hatte bis jetzt eine bessere Meinung von Euch ...« »Ich bin nicht betrunken.« Der Hexenmeister wischte den Einwand beiseite. »Das ist im Moment auch ganz egal, Hauptmann. Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen. Da Ihr und Eure Leute nun doch geblieben seid, sollten wir einen Plan ausarbeiten. Die Stunde rückt rasch näher ...« 54
»Die Stunde ...« Kentril begriff, was Tsin meinte, und rechnete schnell nach. In Anbetracht der bereits verlorenen Zeit würden er und seine Männer nicht mehr weit kommen. Selbst wenn sie wie geplant aufgebrochen wären, hätten die Söldner bis Sonnenuntergang nur mit viel Mühe ein sicheres Lager für die Nacht gefunden. Wenn sie hingegen noch eine weitere Nacht hier zubrachten, würden sie am Ende vielleicht doch etwas vorzuweisen haben, das sie fur ihre Missgeschicke entschädigte. Aber wollten sie hier tatsächlich eine weitere Nacht verbringen, an einem Ort, wo ihre Träume von Toten heimgesucht wurden und wo gewaltige Unwetter von einem Moment zum nächsten aufhörten? Ehe Kentril einen Entschluss fassen konnte, erledigte Tsin dies für ihn. »Lauft los, Dumon, und schart Eure Männer um Euch«, wies der Hexenmeister ihn an. »Ich muss draußen noch einige Berechnungen vornehmen. Kommt in ein paar Stunden wieder, dann werde ich Euch sagen, was zu tun ist. Wir müssen schließlich den richtigen Zeitpunkt abpassen.« Mit diesen Worten wandte sich Quov Tsin von ihm ab und vertiefte sich wieder ganz in seine rätselhaften Arbeiten. Kentril war noch immer ratlos, blinzelte kurz und verließ dann widerstrebend das Zelt. Ein letztes Mal forschte er, ob er irgendwo einen Beweis für das Unwetter fand, dann machte er sich ergebnislos auf den Rückweg nach Ureh. Er konnte nur hoffen, dass er mit seiner Entscheidung, doch noch eine Weile zu bleiben, keinen schrecklichen Fehler beging. Erst als Kentril den eingestürzten Mauerabschnitt erreichte, fiel ihm auf, dass der Vizjerei womöglich etwas zu ruhig und zu gelassen reagiert hatte, als er von dem Unwetter erfuhr. Und erst 55
da fragte er sich, ob der Hexenmeister vielleicht mehr darüber wusste, als er zugeben wollte. Konnte es sein, dass der Zeitpunkt, an dem der Wetterumschwung eingesetzt hatte, genauso wenig Zufall war wie das plötzliche Ende des Unwetters? Doch Tsin hatte nie eine derartige Macht demonstriert ... es sei denn, alles, was die Kämpfer in den letzten Stunden erlebt hatten, wäre nichts weiter als eine Illusion gewesen. Allerdings hätte es großes Geschick erfordert, um sicher sein zu können, dass keiner von Dumons Männern eine solche Täuschung durchschaute ... Aus dem Gebäude, in dem er Gorst und die anderen zurückgelassen hatte, ertönte ein Ruf. Der hünenhafte Söldner winkte Kentril zu und grinste wie gewohnt. Das ungewöhnlich jähe Ende des Unwetters schien ihn nicht zu stören. Der Hauptmann entschied, seine Bedenken vorläufig nicht zu äußern. Zumindest bestand so für ihn und die anderen immer noch eine Chance, dieses Unternehmen mit einem satten Gewinn abzuschließen. Eine weitere Nacht nahe Ureh würde zu bewältigen sein. Am nächsten Morgen konnten sie schließlich immer noch abreisen ... Kentrils sprach mit genügend Nachdruck über die Möglichkeit, doch noch einen Profit zu erzielen und die lange Reise nicht völlig umsonst unternommen zu haben, dass die Bedenken, die das beunruhigende Unwetter bei seinen Männern hatte aufkommen lassen, ausgeräumt wurden. Ihnen allen war bewusst, dass ein verspäteter Aufbruch in den Dschungel keine gute Idee war, aber noch klarer war ihnen, dass sie mit Taschen voller Schätze nach Hause zurückkehren könnten, wenn sie nur noch eine weitere 56
Nacht ausharrten. Die Furcht, die sie am Abend zuvor ergriffen hatte, reduzierte sich immer mehr auf einen schlechten Traum, der den Visionen von Gold und Juwelen weichen musste. So eingeschworen ließ der Hauptmann seine Leute zur vereinbarten Zeit antreten und wandte sich an den Hexenmeister, der letzte Berechnungen durchführte. Der Schatten des Berges Nymyr hatte sich bereits weit über Ureh ausgebreitet, doch Tsin ließ Kentril wissen, dass ihr Warten nur dann belohnt würde, wenn der Schatten die komplette Stadt auf eine ganz bestimmte Weise bedeckte. Endlich schaute der Vizjerei von seinen Schriftrollen auf und verkündete: »Die Zeit ist gekommen.« Wie eine Armee aus schwarzen Ameisen breitete sich der Schatten immer weiter und weiter aus. Erneut überfiel Kentril ein Gefühl des Unbehagens, doch er blieb auf seinem Posten. Bald, sehr bald schon ... »Basara Ty Komi...«, setzte Quov Tsin zu einem sonoren Gesang an. »Basara Yn Alli!« Kentrils Körper kribbelte, als wäre er von einer gewaltigen Kraft erfasst worden. Er sah die anderen an und erkannte, dass sie das Gleiche empfunden hatten. Niemand hatte sich aber von der Stelle gerührt. Gemeinsam bildete die Gruppe ein grobes Fünfeck, in dessen Mitte sich der Hexenmeister befand. Diese Form sowie die unverständlichen Worte, die Tsin sprach, entstammten den Schriften des Zauberkundigen Gregus Mazi, der auf diese Weise angeblich den Korridor wieder geöffnet hatte, durch den er zu den anderen gesegneten Bewohnern der Stadt gelangt war. Keiner der Anwesenden wollte den vollen Weg zurücklegen. Jeder der Männer würde sich schon zur Genüge gesegnet fühlen, wenn sich auf 57
diesem Weg ausreichend viele weltliche Habseligkeiten fanden. »Gazara! Wendo Ty Ureh! Magri! Magri!« Die Luft schien von reiner magischer Energie erfüllt zu sein. Wolken zogen sich über dem in Schatten liegenden Königreich zusammen, dunkle Wolken, die Kentril gewiss nicht an das Himmelreich, sondern an dessen Pendant erinnerten. Doch wenn diese Worte einmal funktioniert hatten, dann sicher auch ein zweites Mal ... Quov Tsin, der die Arme in Richtung der Ruinen ausgestreckt hielt, rief: »Lucin Ahn! Lucin ...« »Im Namen des Gleichgewichts«, fiel ihm jemand ins Wort. »Ich fordere Euch auf, diesem Wirken ein Ende zu setzen, ehe Ihr eine große Katastrophe auslöst!« Tsin zögerte. Die Söldner drehten sich wie ein Mann um, einige griffen nach den Waffen. Kentril unterdrückte den Aufschrei, der ihm auf der Zunge lag, und starrte den Narr an, der sie in einem so entscheidenden Augenblick gestört hatte. Eine ganz in Schwarz gekleidete, schlanke Gestalt stand da und betrachtete die Versammelten mit einer Arroganz, wie sie nur denen vorbehalten ist, die sich nicht nur in jeglicher Hinsicht überlegen fühlen, sondern sich auch dessen bewusst sind, dass dies die Wahrheit ist. Der Mann mit dem glatten Gesicht, der um einige Jahre jünger war als der Hauptmann, hätte Kentril nicht weiter beunruhigt, wären da nicht zwei Dinge gewesen, die ihn letztlich doch nervös machten. Zum einen lag dies an den schräg stehenden Augen, die von einem so unirdischen Grau waren, dass sie die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zogen. Gleichzeitig stießen eben diese Augen aber auch ab, weil Kentril in ihnen seine eigene Verwundbarkeit und Sterblichkeit erkannte, etwas, das kein Söldner erfahren wollte. 58
Die zweite Sache hatte mit der Kleidung zu tun. Zwar gab es viele, die Schwarz bevorzugten, doch Gewand und Mantel des Fremden waren mit Hauptmann Dumon vertrauten Mustern bedeckt. Jedes Symbol stand für einen Aspekt des Lebens nach dem Tode, auch die Aspekte, die von den meisten Menschen gemieden wurden. Als der ungebetene Gast näher kam, konnte Kentril einen kurzen Blick auf den Dolch des Mannes werfen, der sich deutlich von dem der Söldner unterschied, da er nicht geschmiedet, sondern geschnitzt worden war. Selbst auf diese Entfernung sah der Hauptmann, dass der Dolch vermutlich aus feinstem Elfenbein bestand. Der Mann war ein Nekromant und gehörte damit den am meisten gefürchteten Zauberkundigen an ... »Seid so vernünftig, sofort von hier fortzugehen!«, brüllte der Nekromant. »In diesen Ruinen erwartet Euch nichts als der Tod!« Oskal wollte weichen, doch ein Blick des Hauptmanns hielt ihn zurück. »Ques Ty Nogru!«, erwiderte Quov Tsin mit schiefem Grinsen. Er überging die Warnungen des Nekromanten und wies ein letztes Mal zu den Überresten der einst so stolzen Stadt. »Protasi! Ureh! Protast!« Der Himmel grollte. Der Wind wurde stärker und änderte mit jeder Sekunde aufs Neue seine Richtung. Kentril sah, wie der Nekromant auf ein Knie niederging, eine Hand am Elfenbeindolch. Trotz der Wolken wirkte der Schatten, der das sagenumwobene Reich umschloss, noch tiefer und deutlicher. Blitze zuckten. Sie hatten ihren Ursprung an Stellen des Himmels, wo sich noch gar keine Wolken befanden. 59
»Ureh!«, schrie der runzlige Vizjerei. »Ureh Aproxos!« Drei Blitze entluden sich und trafen hoch über den Ruinen aufeinander. Die Männer zuckten zusammen oder schnappten erschrocken nach Luft. Als die Blitze verschwunden waren und das Grollen verhallte, sah Kentril in die Richtung, in die Quov Tsin gewirkt hatte. Er blickte auf das Ergebnis von Schweiß und sogar Blut, über Wochen hinweg vergossen. Sein Blick ruhte auf Ureh, der legendären Stadt, dem Licht unter den Lichtern, dann endlich rief er: »Und?« Die Ruinen hatten sich nicht verändert.
60
VIER »Ich verstehe das nicht!«, kreischte Tsin. »Ich kann das nicht verstehen!« Ureh lag unverändert da und war noch immer dasselbe zerfallende Skelett, auf das die Gruppe zuerst gestoßen war. Die Wolken hatten sich verzogen, die Blitze waren verloschen, und der Wind war abgeflaut. Nur der gewaltige Schatten des Berges Nymyr lag noch immer über dem uralten Königreich, und mit jeder Sekunde, die verstrich, zog dieser Schatten Ureh immer tiefer in die Dunkelheit. »Er!« Der Vizjerei zeigte mit einem knorrigen Finger auf den Nekromanten. »Er hat Schuld! Er hat diesen Fehlschlag verursacht! Er hat mich im entscheidenden Moment gestört!« »Meine Störung«, gab der ernst dreinblickende Mann zurück, »hat bedauerlicherweise rein gar nichts bewirkt.« Trotz seiner Warnung und seinem eindeutigen Versuch, die anderen zur Flucht zu bewegen, machte selbst er auf Kentril den Eindruck, als sei er enttäuscht, dass sich Ureh nicht verändert hatte. »Ich bin so verblüfft wie Ihr.« Da es keinen erkennbaren Grund gab, weiterhin die Formation beizubehalten, scharten sich die Söldner um den Nekromanten. Sogar Gorst, der den Vizjerei-Hexenmeister für faszinierend hielt, betrachtete den anderen Zauberkundigen mit mäßigem Enthusiasmus. Alle wussten, wie Nekromanten mit den Toten umgingen und die Grenze zwischen der Welt der Sterblichen und dem Leben nach dem Tode verschwimmen ließen. Das Schwert gezogen, stellte sich Hauptmann Dumon dem ar61
roganten Eindringling entgegen. »Wer seid Ihr? Wie lange habt Ihr uns schon beobachtet?« »Mein Name ist Zayl.« Er warf einen flüchtigen Blick auf die Klinge in Kentrils Hand. Sie schien ihn überhaupt nicht zu interessieren. »Dies hier ist mein Zuhause.« »Das ist keine Antwort auf meine andere Frage ...« Der Söldnerhauptmann zögerte, seine Gedanken überschlugen sich plötzlich. Nekromanten spielten mit den Toten. Bedeutete das ...? Dann war ihm die Wahrheit schlagartig klar. Kentril setzte die Spitze seiner Klinge genau unter Zayls Kinn. »Ihr wart derjenige! Ihr habt Hargos Geist in unsere Träume gebracht, nicht wahr? Ihr habt uns die Warnung geschickt, damit wir von hier aufbrechen.« Diese Worte versetzten die anderen Kämpfer in Wut. Tsin, der ein Stück entfernt stand, legte den Kopf leicht schräg und betrachtete den anderen Zauberkundigen nun mit deutlich mehr Interesse. »Ich habe nur getan, was getan werden musste ... jedenfalls hatte ich das geglaubt.« »Aha!«, warf Tsin ein. »Ihr wart also auch davon überzeugt, dass Gregus Mazis Pfad an diesem Tag wieder geöffnet werden könnte! Ich hatte mir so etwas gedacht!« Kentril hörte ein leises Lachen, doch es schien von keinem seiner Leute zu kommen. Zayls Hand zuckte zu einer großen, ausgebeulten Tasche, die er an der Seite trug und die aussah, als enthalte sie eine Melone oder ein ähnlich geformtes Objekt. Als der Nekromant merkte, dass dem Hauptmann seine Reaktion aufgefallen war, zog er die Hand wie beiläufig wieder zurück. »Ich hatte darauf vertraut«, räumte Zayl widerstrebend ein. »Allerdings war dies offenbar ebenso unbegründet wie Eure 62
Nachforschungen.« »Dann gibt es also kein Gold?«, fragte Benjin traurig. Kentril warf dem Mann einen finsteren Blick zu. »Halt den Mund. Und was Euch angeht ...« Er berührte mit der Schwertspitze Zayls Kehle. »... glaube ich, dass Ihr mehr wisst, als Ihr uns verratet.« »Das ist zweifellos wahr, Hauptmann«, fügte Quov Tsin hinzu. »Am besten wäre es, wenn Ihr dieses Geschöpf bewacht, ja, vielleicht sogar fesselt. O ja, ich glaube, das wäre die geeignete Vorgehensweise.« Ausnahmsweise war Kentril einmal der gleichen Meinung wie sein Arbeitgeber. Jeder wusste, dass man Nekromanten nicht vertrauen konnte. Zayl hielt möglicherweise bereits ein Gift oder einen Trank einsatzbereit. Im Verlaufe ihrer kurzen Unterhaltung hatte sich der Schatten des Berges weiter ausgedehnt und legte sich allmählich auch über die Gruppe. Ein kühler Wind kam auf und ließ die Söldner frösteln. Zayls Mantel begann wild zu flattern, und Kentril musste den Hemdkragen enger zusammenziehen. »Nymyrs Berührung ist äußerst frostig«, sagte der Nekromant. »Wenn Ihr in der Nähe von Ureh bleiben wollt, hättet Ihr Euch passender kleiden sollen.« »Wozu sollten wir denn das tun?«, murmelte Oskal. »Ein paar Steinblöcke, leere Gräber! Alles für nichts und wieder nichts ...« »Wir werden mehr als nur Mäntel benötigen«, stimmte ein anderer Kämpfer zu. »Wenn es noch dunkler wird, benötigen wir sogar Fackeln.« Tatsächlich hatte der Schatten des Berges das Gelände in eine Dunkelheit getaucht, die fast so schwarz war wie die Nacht, was umso krasser wirkte, da nur ein paar Schritte entfernt nach wie 63
vor die Sonne schien. Ureh lag in so völliger Finsternis da, dass man kaum noch irgendwelche Formen oder Umrisse der Stadt erkennen konnte. Je länger die Gruppe dort verharrte, wo sie gerade stand, desto mehr brachte der Schatten sie in dieser Dunkelheit zum Verschwinden. »Wir sollten zum Lager zurückkehren«, schlug Kentril vor. »Und das gilt auch für Euch, Meister Zayl.« Der bleiche Nekromant deutete eine Verbeugung an und marschierte dann los, bewacht von vier Männern. Gorst half Quov Tsin mit den Schriftrollen und Talismanen und folgte ihm wie ein wohlerzogener junger Hund. Kentril selbst blieb stehen, bis alle anderen gegangen waren. Dann ließ er seinen Blick ein letztes Mal über die nähere Umgebung schweifen, um sicherzustellen, dass sie nichts vergessen hatten. Dieser Blick blieb haften, als Kentril zu den Ruinen sah. Ein schwaches Licht flackerte dort in einem der weiter entfernt gelegenen Türme. Er kniff die Augen einen Moment lang zu, da er glaubte, sein Verstand hätte ihm einen Streich gespielt – doch dann sah er ein ganzes Stück weiter rechts in einem anderen Teil der Stadt noch ein zweites Licht. Jeder Nerv begann zu kribbeln und sämtliche Nackenhaare richteten sich auf, als Hauptmann Kentril Dumon mit ansah, wie in der toten Stadt ein Licht nach dem anderen anging und Ureh vor seinen Augen zum Leben erwachte. »Tsin!«, rief er, ohne den Blick von diesem unglaublichen Schauspiel zu nehmen. »Tsin!« Je mehr die Stadt erhellt wurde, umso deutlicher wurde, dass sie auch nicht länger in Schutt und Asche lag. Von Ruinen war nichts mehr zu erkennen, und auch das Loch in der Mauer exis64
tierte nicht länger. Ein verfallener Wachturm präsentierte sich stolz wie am Tag seiner Erbauung. Kentril hätte sogar schwören können, dass auf den Zinnen Banner im auffrischenden Wind wehten. »Es ist wahr ...«, murmelte eine vertraute Stimme gleich neben ihm. Kentril sah den Vizjerei, dessen Gesichtsausdruck beim Anblick der Stadt dem eines Kindes glich, das soeben das großartigste Spielzeug der Welt geschenkt bekommen hatte. »Es ist wahr ...« Auch der Rest der Gruppe kam zurück und scharte sich um Hauptmann Dumon. Viele der Söldner starrten so fassungslos wie er selbst auf die Stadt. Auch der Nekromant Zayl konnte sich nicht eines erstaunten Gesichtsausdrucks erwehren. Dass im Augenblick niemand auf den schwarz gekleideten Zauberkundigen achtete, störte Kentril nicht, da Zayl ganz offensichtlich nicht an Flucht dachte. Wie alle anderen war er von dem Wunder gefesselt, das sich vor ihren Augen abspielte. »Die Legenden haben die Wahrheit gesagt«, flüsterte Zayl. »Du hattest Recht, Humbart.« »Worauf warten wir noch?«, fragte Tsin in die Runde. »Genau deshalb sind wir doch hergekommen! Dafür haben wir uns abgemüht, Dumon! Ich habe Euren Männern Gold und mehr versprochen. Da habt Ihr es, Ihr müsst es Euch nur noch nehmen!« Diese Worte brachten wieder Leben in die Söldner. »Er hat Recht«, rief Benjin begeistert. »Gold! Eine ganze Stadt voller Gold!« Auch Kentril empfand die Verlockungen eines Schatzes als groß genug, um die Angst, die er spürte, zu verdrängen. Ureh war ein Königreich, von dem man sagte, es sei das wohlhabendste in der Geschichte der ganzen Welt gewesen. Viele Geschichten 65
waren über Schatzsucher erzählt worden, die nach diesen Reichtümern gegraben hatten, doch nie war die Rede davon gewesen, dass auch nur einer von ihnen erfolgreich gewesen wäre. Das bedeutete aber auch, der noch vorhandene Schatz konnte groß genug sein, um jeden einzelnen der Männer so wohlhabend wie einen König oder Sultan zu machen ... »Das kann nicht Euer Ernst sein«, protestierte Zayl. »Die Reichtümer Urehs gehören Ureh allein. Ihr beraubt die Toten.« »Sie sind nicht tot, wie Ihr sicher wisst«, betonte Kentril. »Sie sind gegangen ... und wenn das der Fall ist, dann wollten sie von den Dingen, die sie zurückgelassen haben, ganz offensichtlich nichts behalten. Damit hat Tsin Recht. Es gehört uns.« Der Nekromant machte den Eindruck, als wolle er etwas dagegenhalten, doch es war klar, dass er der Aussage des Hauptmanns so gut wie nichts entgegenzusetzen hatte. Wenn auch widerwillig, so nickte er schließlich doch zustimmend. Kentril wandte sich an den Vizjerei. »Diese Lichter ... bedeuten sie für uns irgendwelche Schwierigkeiten?« »Unsinn! Die Geschichte weist eindeutig daraufhin, dass diese Leute die Ebene der Sterblichen innerhalb weniger Minuten verließen. Wenn wir Ureh so sehen, wie sie die Stadt zurückgelassen haben, dann kann man davon ausgehen, dass viele Lampen und Fackeln noch brannten, als sie gingen, und nicht gelöscht wurden. Jenseits der Ebene der Sterblichen ist Zeit nichts weiter als ein Wort. Es kann sogar sein, dass wir noch Schüsseln voller Essen und frisches Ale für Eure Männer finden! Was sagt Ihr dazu?« Die anderen Kämpfer jubelten, als sie von diesem möglichen Bonus hörten. Irgendetwas an der Logik des Hexenmeisters missfiel Hauptmann Dumon, aber er vermochte nicht zu sagen, was 66
genau es war, sodass er seine Sorge schließlich mit einem Achselzucken abtat. Selbst er konnte nicht anders, als Begeisterung zu verspüren. »Also gut!«, rief er den anderen zu. »Packt zusammen, was ihr braucht. Nehmt auch Seile und Fackeln mit – ich werde mich nicht allein auf diese Lichter verlassen! Und vergesst nicht die Säcke! Los, Beeilung!« Noch bereitwilliger als zuvor schritten Kentrils Männer zur Tat. Auch Quov Tsin machte sich bereit, holte seinen Zauberstab hervor und legte drei Amulette, die er in einer Gürteltasche aufbewahrt hatte, um seinen Hals. Trotz der vielen Meinungsverschiedenheiten beabsichtigte der Hauptmann, zusammen mit Tsin auf die Suche zu gehen, sobald sie Ureh betreten hatten. Er war sicher, dass dort, wo der Vizjerei nach magischen Artefakten suchte, auch Reichtümer zu finden sein würden. Zur allgemeinen Überraschung wartete der Nekromant auf die Gruppe, als diese sich wieder zusammenfand. Die Söldner waren so sehr mit ihren Vorbereitungen beschäftigt gewesen, dass niemand daran gedacht hatte, Zayl zu bewachen. Doch es sah ganz danach aus, als ließe sich der Mann von den möglichen Schätzen des magischen Königreichs ebenso anziehen wie die anderen. Wieder lag seine Hand auf der ausgebeulten Tasche, doch als sich Kentril ihm näherte, schlug der Zauberkundige seinen Mantel darüber. »Ich werde Euch begleiten«, sagte er entschlossen. Kentril gefiel der Gedanke zwar nicht, doch zu seiner Überraschung war Tsin sofort einverstanden. »Natürlich werdet Ihr das«, erklärte der Vizjerei. »Euer Wissen und Eure Kenntnisse werden von unschätzbarem Wert sein. Selbstverständlich werdet Ihr Hauptmann Dumon und mich 67
begleiten.« Zayl deutete eine Verbeugung an, während seine Miene völlig ausdruckslos blieb. »Selbstverständlich.« Auch wenn keiner der Söldner gegen die Anwesenheit des Nekromanten protestierte, hielten sie doch Abstand zu ihm, während sie mit brennenden Fackeln in Richtung Ureh aufbrachen. Da die Stadtmauer keinerlei Lücken mehr aufwies, brachte Kentril sie unter Zayls Führung zum Haupttor. Die Befürchtung, angesichts einer völlig intakten Stadt könnte auch das Haupttor verschlossen sein, bewahrheitete sich nicht. Auch die Zugbrücke war heruntergelassen, sodass sie ohne Probleme hineingelangen konnten. »Sieht fast wie eine Einladung aus«, meinte Kentril. Quov Tsin schnaubte ungehalten. »Dann sollten wir wohl erst recht nicht hier stehen bleiben und Löcher in die Luft starren.« Mit gezogenen Waffen und hoch erhobenen Fackeln rückte die Gruppe vor. Auf den ersten Blick schien es, als hätten die Bewohner nur eben kurz die Stadt verlassen oder sich zur Ruhe begeben. Gebäude, die beim letzten Besuch noch in sich zusammengefallen, zumindest baufällig waren, wirkten plötzlich wieder wie neu. Die großen Öllaternen, die zuvor noch verbogen und verrostet in den Straßen gelegen hatten, standen an ihrem angestammten Platz und verbreiteten hellen Lichtschein. Auch tiefer in der Stadt waren die Fenster der Türme und anderen Gebäude hell erleuchtet. Die Straße, auf der sich die Gruppe voranbewegte, machte den Eindruck, als hätte man sie erst kurz zuvor noch gefegt. Das Einzige, was fehlte, waren Geräusche gleich welcher Art. Keine Unterhaltungen, kein Lachen, kein Weinen, nicht einmal Vögel oder Insekten waren zu hören. 68
Ureh schien zwar wiedererstanden zu sein, doch die herrschende Stille gemahnte auch jetzt an das ungewöhnliche Schicksal der einstigen Bewohner. Nicht weit vor ihnen gabelte sich die Straße nach drei Richtungen. Kentril betrachtete jeden der Wege aufmerksam, dann sagte er: »Gorst, geh mit vier Männern die rechte Straße entlang, aber nur hundert Schritte, nicht weiter. Albord, du und Benjin, ihr seht euch links um. Der Rest geht mit Tsin und mir. Keiner begibt sich weiter als hundert Schritte. Wir treffen uns hier so schnell wie möglich wieder.« Obwohl er Zayl keiner der drei Gruppen zugewiesen hatte, folgte ihm der Nekromant dennoch. Kentril übernahm die Spitze, Oskal und ein weiterer Mann flankierten ihn mit einem Schritt Abstand. Ihre Blicke wanderten von einer Straßenseite zur anderen, während der Hauptmann die Schritte zählte. Sie passierten ein Haus nach dem anderen, vereinzelt brannten Lichter, doch jedes Mal, wenn eine der Gruppen nachsah, war von Leben keine Spur zu entdecken. »Überprüf die Türen«, wies Kentril Oskal an und zeigte auf eine Art Laden zu ihrer Linken. Er war heller erleuchtet als die anderen Gebäude und zog den Hauptmann an wie eine Motte, die nach der offenen Flamme strebt. Von einem weiteren Söldner begleitet, drückte Oskal gegen die Tür, die sich sofort öffnete. Er beugte sich vor und sah sich im Inneren um, dann rief er mit entspannter Stimme: »Eine Töpferei, Hauptmann! An den Wänden stapeln sich Gefäße und andere Gegenstände. Auf der Töpferscheibe steht sogar noch ein Teil, das aussieht, als wäre es gerade erst fertiggestellt worden.« Ein habgieriger Ausdruck huschte über sein hässliches Gesicht. »Sollen wir nachsehen, ob wir in der Kasse noch ein paar Münzen 69
finden können?« »Nein, die werden auch noch da sein, wenn wir uns um die Schätze kümmern – vorausgesetzt, du bist überhaupt noch an ein paar Münzen interessiert, sobald wir diese Stadt erst einmal durchsucht haben.« Die Söldner mussten lachen, als sie seine Worte hörten, und selbst Tsin gestattete sich ein seltenes Lächeln, während Zayl praktisch keine Gefühlsregung zeigte. Kentril bemerkte, dass die Hand des Mannes wieder auf der großen Gürteltasche ruhte. »Was habt Ihr in dieser Tasche, Nekromant?« »Ein Erinnerungsstück, weiter nichts.« »Ich glaube, es ist mehr als nur ein ...« Ein gellender Schrei zerriss die Stille und hallte in den leeren Straßen von Ureh wider. »Das hört sich an wie einer von uns!«, meinte Oskal erschrocken. Der Hauptmann war bereits im Rückzug begriffen. »Das ist auch einer von uns! Lauft, ihr Narren!« Der Schrei war nicht noch einmal zu hören, stattdessen konnten sie Flüche vernehmen, dazu das Scheppern von Waffen, und für einen sehr kurzen Moment schien es, als würde ein Tier tief und zornig knurren. Gorst und dessen Männer trafen an der Kreuzung mit Kentrils Gruppe zusammen. Niemand sprach ein Wort, jeder Atemzug wurde aufgespart, um schneller handeln zu können. Sie erreichten den großen Albord, einen weißhaarigen Mann aus einer Region nördlich von Dumons eigener Heimat. Er brüllte vier andere Söldner an, die ausnahmslos einen entsetzten Ausdruck in den Augen hatten. Gleich neben Albord lag am rechten Straßenrand eine zerfetzte Gestalt. Kentril brauchte einen Mo70
ment, um die Gruppe im Geiste durchzugehen, dann wusste er, dass es sich bei dem blutigen Etwas um Benjins sterbliche Überreste handeln musste. »Was ist passiert?«, wollte der Hauptmann wissen. »Etwas ist hier aufgetaucht und hat ihn in Stücke gerissen. Es war so schnell, dass keiner erkennen konnte, um was es sich überhaupt handelte!« »Es war eine Katze!«, beteuerte ein anderer Mann mit entgeisterter Miene. »Eine riesige, höllische Katze ...« »Ich konnte nur einen Schemen sehen«, sagte Albord. »Kein Schemen reißt einen Mann derart in Stücke!« Kentril sah Tsin an. »Und?« Der Hexenmeister hob seinen Stab und zeichnete einen Kreis in die Luft. Einen Moment lang blickte er nach oben, dann erwiderte er: »Was immer es war, es ist nicht mehr in der Nähe, Dumon.« »Seid Ihr Euch da sicher?«, fragte Zayl. »Es lässt sich nicht alles so einfach mit Magie aufspüren.« »Nehmt Ihr irgendetwas wahr, Kretin?« Zayl zog den Elfenbeindolch, der Kentril schon zuvor aufgefallen war. Vor den Augen der irritierten Söldner stach er sich in eine Fingerkuppe, und während ein paar Tropfen Blut über die Klinge rannen, formte sein Mund unhörbare Worte. Der Dolch flammte hell auf, dann sah er wieder aus wie zuvor. »Ich nehme nichts wahr«, antwortete der fahle Mann. »Aber das heißt nicht, dass da auch nichts ist.« Fluchend drehte sich Kentril zu Albord um. »In welche Richtig ist das Ding entkommen, nachdem es Benjin getötet hat?« »Auf das Gebäude da vorne links zu ... glaube ich.« »Nein!«, widersprach ein anderer Söldner. »Es machte kehrt 71
und lief dort entlang in die Dunkelheit.« »Du irrst!«, mischte sich derjenige ein, der das Ding als Katze bezeichnet hatte. »Es wirbelte herum, und dann verschwand es in die Richtung, aus der es gekommen war! Dadurch habe ich ja erst erkennen können, wonach es aussah.« Die anderen betrachteten Albords Gruppe, als hätten sie ein paar Verrückte vor sich. Einer von Gorsts Männern spie an die Hauswand gleich neben ihm und knurrte: »Allmählich frage ich mich, ob die ihn nicht vielleicht selbst umgebracht haben. Was meint Ihr, Hauptmann?« Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Söldner sich wegen eines Schatzes gegenseitig umbrachten, doch in diesem Fall konnte Dumon es sich nicht vorstellen. Dennoch erschien es ihm sinnvoll, den Beteiligten noch weitere Fragen zu stellen. »Wo war jeder Einzelne von euch, als es Benjin erwischte?« »Ausgeschwärmt, so wie Ihr es uns immer sagt, Hauptmann«, erwiderte Albord. »Jodas da drüben, ich gleich neben ihm, Benjin genau da, wo Toko steht.« Er zeigte gerade auf den Mann, der ihn des Mordes bezichtigt hatte, als aus einer Türöffnung gleich neben Toko etwas Schwarzes geschossen kam und ihn an der Brust traf. Der Kämpfer schrie fast genauso entsetzlich auf wie zuvor Benjin, als sich geschwungene Krallen, die jede für sich einen Fuß lang sein mussten, durch die gefutterte Lederkleidung und das darunterliegende Fleisch schnitten. Im nächsten Moment kamen blutige Rippen und zerstörte innere Organe zum Vorschein. Toko gelang es noch, einen Blick auf die verheerende Wunde zu werfen, dann ereilte ihn der Tod, und er kippte vornüber. Eine Bestie, die tatsächlich vage an eine Katze erinnerte, kam 72
aus dem Gebäude und fauchte die Menschen an. Aber keine normale Katze war sieben Fuß lang oder hatte rote Augen ohne Pupillen. Im Schein der Lampen wirkte ihr Fell gezackt, fast wie aus unzähligen Klingen zusammengesetzt, und pechschwarz. Die höllische Katze brüllte einmal in einer Weise auf, dass den Männern das Blut in den Adern zu gefrieren drohte, und bleckte dann ihr Gebiss. Sie besaß zwei rasiermesserscharfe Zahnreihen. »In die Zange nehmen!«, befahl Kentril. »Sofort in die Zange nehmen!« Der vertraute Tonfall des Hauptmanns ließ die anderen Söldner sofort ins Hier und Jetzt zurückkehren. Rasch stellten sie sich in der Formation auf, die er angeordnet hatte, und versuchten, der monströsen Kreatur den Fluchtweg abzuschneiden. Der mit Stacheln besetzte Schwanz zuckte hin und her, während sich die Katze ihren Gegnern näherte. Ihr Blick ging von einem Mann zum anderen, als würde sie jeden von ihnen abwägend mustern. »Was hat das Ding vor?« »Vielleicht überlegt es sich, wen es als Nächsten frisst.« »Ruhe!«, befahl Kentril. Die Bestie hielt inne und hielt ihren Blick auf den Hauptmann gerichtet. Hauptmann Dumon schaffte es allen Ängsten zum Trotz, diesem unmenschlichen Starren standzuhalten. Dann endlich war es die Kreatur, die als Erste in eine andere Richtung blickte. Sie wich langsam nach hinten, als wolle sie in das Gebäude zurückkehren, aus dem sie gekommen war. Das konnte und wollte Kentril nicht zulassen. Er wusste, dass man einem Gegner nicht auf dessen Territorium folgen durfte. Aber wenn sie diese monströse Katze entkommen ließen, würde diese sie aller Voraussicht nach später, wenn sie nicht mehr so 73
wachsam waren wie jetzt, erneut angreifen. »Albord! Oskal! Ihr und ...« Weiter kam er nicht, da die Katze auf einmal einen grässlichen Schrei ausstieß und einen Satz auf ihn zu machte. Krallen schoben sich aus den Pranken den Monsters vor, jene Sicheln, die schon zwei seiner Männer rettungslos zerfleischt hatten. Kentril sah sein eigenes, schreckliches Ende gekommen. Er wusste, dass er nicht schnell genug würde reagieren können, um seinem Schicksal zu entkommen. Doch unvermittelt wurde die Kreatur von etwas getroffen, das genauso schattenhaft war wie sie. Obwohl das zweite Wesen deutlich kleiner war, prallte es mit einer solchen Wucht auf, dass beide auf die Straße stürzten. Am Ende einer der Extremitäten dieser zweiten Kreatur blitzte es weiß auf, aber es war keine Klaue, wie Kentril zunächst glaubte, sondern ein Dolch – ein Dolch aus Elfenbein. Zayl hatte sich geopfert, um den Hauptmann zu retten. Noch nie hatte Kentril einen Mann gesehen, der so schnell und so beweglich war wie der Nekromant. Obwohl er nach wie vor seinen weiten Mantel trug, tänzelte Zayl um die brutalen Tatzen der Katze herum, die immer wieder nach ihm schnappte, aber nur die Luft teilte. Der bleiche Zauberkundige machte einen Satz und landete auf dem gigantischen Widersacher, und diesmal fand sein Dolch ein Ziel. Smaragdgrünes Licht blitzte an der Stelle auf, wo die Klinge ins Fleisch eindrang. Zwar gelang Zayl deutlich erkennbar nur ein oberflächlicher Treffer, doch die Katze heulte auf, als hätte er sie mitten ins Herz getroffen. Sie schüttelte sich so wild, dass der Nekromant schließlich abgeworfen wurde. Kentril ging dazwischen, fest entschlossen, keinen anderen 74
Mann seinetwegen sterben zu lassen. Als er angriff, schlossen sich ihm Oskal, Jodas und zwei weitere Söldner an, während ein anderer Mann Zayl in Sicherheit zu bringen versuchte. Die Katze schlug nach dem Nekromanten und heulte auf, als die Krallen ihr Ziel verfehlten. Kentril stieß vor, lenkte aber nur neuerlich die unerwünschte Aufmerksamkeit der Kreatur auf sich. Als eine Tatze blitzschnell nach dem Anführer schlug, griffen Oskal und Jodas von zwei Seiten gleichzeitig an. Die Bestie drehte sich zu Letzterem um, und der wich so schnell zurück, wie er es nur konnte. Von der anderen Seite attackierte nun Oskal, der bislang unentdeckt geblieben war, und rammte sein Schwert gut einen Fuß tief in die ungeschützte Flanke der Kreatur. Die Katze heulte gequält auf und wandte sich dem Söldner zu, der seine Klinge zurückzog und aus der Reichweite des gewaltigen Mauls und der gekrümmten Klauen zu entkommen versuchte. Dieser Rückzug erwies sich jedoch als Fehler. Mit der Wucht eines Streitkolbens wurde der nichtsahnende Kämpfer vom stacheligen Schwanz niedergerissen. Das waffengleiche Anhängsel zerschmetterte mit einem lauten Krachen den Schädel des Mannes. Blut spritzte auf die beiden Männer, die Oskal am nächsten standen. Mit aufgerissenen Augen sank der bereits tote Soldat nieder, und sein Schwert fiel scheppernd auf die Straße. Voller Wut griff Kentril erneut an und versuchte mit aller Macht, die Kehle der Katze zu erreichen. Die Bestie drehte sich zu ihm um, wurde aber von etwas auf der anderen Seite, das sie zögern ließ, abgelenkt. Mit aller Kraft, die Hauptmann Dumon aufbieten konnte, 75
trieb er sein Schwert tief in den dicken, muskulösen Hals. Die höllische Katze wich zurück und riss Kentril die Waffe aus den Händen. Das Leben strömte unübersehbar aus der tiefen Wunde, während das schwer verletzte Biest nach allem zu schlagen versuchte, was sich in Sichtweite befand. Albord wurde um ein Haar der Kopf vom Rumpf gerissen. Die anderen Söldner wichen ein Stück weit zurück, während sie hofften, dass der Tod zumindest schnell kommen möge, wenn er sie schon ereilte. Doch selbst diese klaffende Wunde ließ die Katze ihren Angreifer Kentril nicht vergessen. Trotz allem war sie noch schnell und konzentrierte sich auf den Verursacher ihrer Schmerzen, während sie Kentril starr in die Augen blickte. In ihrem karmesinroten Blick erkannte der Hauptmann klar und deutlich, dass sein Ende bevorstand. Dann schritt Gorst ein. Der Barbar stieß ein Geheul aus, das es mit dem der Katze aufnehmen konnte, und sprang sie von hinten an. Das monströse Geschöpf versuchte, sich dem neuen Angreifer zuzuwenden. Gorst jedoch schlang seine Arme um den Hals des Tiers und bekam das Heft von Kentrils Schwert zu fassen, das er dazu benutzte, nicht den Halt zu verlieren. Gleichzeitig konnte er sich so vor einer Attacke seines Gegners schützen und dabei die Klinge, die tief im Leib steckte, benutzen, um die blutende Wunde noch zu vergrößern. Dann endlich geriet die todbringende Bestie ins Wanken und ging schließlich zu Boden. Einmal versuchte sie noch, sich zu erheben, jedoch vergeblich. Gorst klammerte sich weiter an der Kreatur fest, und seine Muskeln waren bis zum Zerreißen gespannt. Der Stachelschwanz zuckte noch einige Male hin und her, konnte Gorst aber nichts anhaben, da dieser außer Reichweite blieb. 76
»Kommt, setzen wir diesem Schrecken ein Ende!«, befahl Kentril. Zusammen mit den verbliebenen Söldnern kam auch Zayl näher, wobei jeder die Nähe zum Schwanz des Monsters mied. Kentril nahm Oskals Schwert an sich und stach wie die anderen immer wieder auf die Kreatur ein. Auch wenn das Ganze höchstens ein oder zwei Minuten dauerte, schien ihnen das Bemühen, das Tier zu töten, bereits endlos zu dauern. Als Kentril allmählich fürchtete, nichts könne dieses Monster wirklich erledigen, stieß es schließlich doch seinen letzten Atemzug aus und bewegte sich nicht mehr. Misstrauisch hielten die Überlebenden ihre Klingen auch dann noch bereit, als Gorst schon von der Kreatur herabkletterte. Erst als sie sahen, dass der Söldner unbehelligt blieb, wussten sie, dass sie gesiegt hatten. »Geht es Euch gut?«, fragte eine unnatürlich gelassene Stimme. Kentril drehte sich um und sah Zayl, den Nekromanten, der den schrecklichen Zwischenfall offenbar körperlich und geistig gänzlich unversehrt überstanden hatte. Unter anderen Umständen hätte der Söldner gereizt darauf reagiert, doch Zayl hatte ihm das Leben gerettet, und das würde Kentril ihm nie vergessen. »Danke, Meister Zayl. Ohne Eure schnelle Reaktion wäre ich jetzt sicherlich tot.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes. »Nennt mich einfach nur Zayl. Wer im Dschungel geboren wird, lernt schon bald, dass es notwendig ist, schneller zu reagieren als die Tiere, Hauptmann – sonst wird man in jungen Jahren aufgefressen.« Kentril nickte höflich, war sich nicht sicher, ob der Nekromant 77
nur gescherzt hatte, und wandte sich an den Einzigen der Gruppe, der überhaupt nichts unternommen hatte, um die Tragödie abzuwenden. »Tsin! Verdammt sollt Ihr sein, Tsin! Wo war Eure angebliche Macht? Ich dachte, ein Vizjerei hätte alle möglichen magischen Zauber auf Lager ... Drei meiner Männer sind tot!« Wieder einmal schaffte es der kleine Mann, den Eindruck zu erwecken, er würde auf den viel größeren Kämpfer herabblicken. »Ich hielt mich bereit für den Fall, dass sich hier mehr als diese eine Bestie aufhält. Oder glaubt Ihr, Euer kleiner Trupp hätte sich gleichzeitig mit zwei oder mehr Kreaturen dieser Art befassen können?« »Hauptmann«, mischte sich Albord ein. »Hauptmann, lasst uns von hier verschwinden. Kein Gold ist so etwas wert.« »Verschwinden?«, protestierte ein anderer. »Ich gehe von hier nicht ohne einen Schatz weg!« »Und was hast du von einem Schatz, wenn dein Kopf nicht mehr auf deinen Schultern sitzt?« Kentril wirbelte zu seinen Männern herum. »Seid ruhig! Ihr alle!« »Von hier wegzugehen, wäre wohl ein weiser Zug«, sagte Zayl. Tsin zeigte mit dem Holzstab auf den Nekromanten. »Unsinn! In dieser Stadt erwartet uns so viel! Wahrscheinlich hat das Tier schon hier gelebt, als noch alles in Ruinen lag, und wir sind ihm bloß nie begegnet. Und da niemand gekommen ist, um dem Geschöpf zu helfen, wage ich zu behaupten, dass es hier ganz allein gelebt hat. Es gibt hier nichts zu fürchten. Überhaupt nichts!« In diesem Augenblick erklang von irgendwoher Musik. »Woher kommt denn das?«, platzte Jodas heraus. 78
»Klingt, als würde es von überall her kommen«, meinte einer seiner Kameraden. Tatsächlich wirkte es so, als würde sich die Musik der Gruppe von allen Seiten zugleich nähern. Es war eine einfache, aber unheimliche Melodie, die dennoch auch ein wenig fröhlich klang. Es schien, als würde sie auf einer einzigen Flöte gespielt. Kentril verspürte den Wunsch, zu den Klängen zu tanzen, gleichzeitig aber hätte er am liebsten die Flucht ergriffen. Das leise Gelächter eines Mannes mischte sich in die Musik. Rechts von Kentril bewegte sich eine Gestalt ... eine menschliche Gestalt. Albord zeigte die Straße entlang. »Hauptmann, da vorn bei dem alten Gasthaus sind Leute!« »Ein Pferd mit Reiter kommt in unsere Richtung!«, rief ein anderer Söldner. »Der alte Mann dort! Der war eben noch nicht da!« Ringsum hatten Menschen Gestalt angenommen, die gerade eben noch nicht da gewesen waren. Sie trugen wallende Gewänder in allen möglichen Farben, und Kentril sah Alte und Junge, Gesunde und Kranke – und durch sie hindurch konnte er die dahinterliegenden Gebäude erkennen! »Kein Reichtum der Welt kann das hier aufwiegen, Tsin!« Der Hauptmann rief seine Männer zu sich. »Wir begeben uns gemeinsam zum Stadttor. Niemand schweift ab, niemand unternimmt den Versuch, irgendwo nach Wertvollem zu suchen, verstanden?« Keiner der Kämpfer protestierte. Eine verlassene Stadt zu plündern, war eine Sache, doch in einer Geisterstadt gefangen zu sein ... »Nein!«, widersprach der Vizjerei. »Wir sind so dicht dran!« 79
Trotzdem blieb er nicht allein zurück, als sich die Söldner und Zayl auf den Rückweg machten. Als Kentril sich erinnerte, dass Zayl ein Nekromant war, fragte er ihn: »Ihr habt doch mit dieser Art zu tun? Irgendwelche Vorschläge?« »Euer Befehl ist bereits die klügste Vorgehensweise, Hauptmann.« »Könnt Ihr irgendetwas gegen diese Geister unternehmen?« Der bleiche Mann runzelte die Stirn. »Ich nehme an, ich könnte sie abwehren, aber etwas an ihnen bereitet mir Unbehagen. Es wäre am besten, wenn wir ohne eine Konfrontation aus Ureh entkämen.« Diese Warnung aus dem Mund eines Nekromanten trug nicht eben dazu bei, dass sich Kentril in irgendeiner Weise beruhigt fühlte. Wenn sogar Zayl Unbehagen verspürte, war es wohl tatsächlich besser, die Stadt schnellstmöglich zu verlassen. Bislang hatten die geisterhaften Gestalten nichts getan, sie schienen die Eindringlinge nicht einmal wahrzunehmen. Die Flöte spielte zwar unbeirrt weiter und wurde mit jedem Moment eindringlicher, doch auch sie hatte den Fliehenden bislang keinen Schaden zugefügt. »Dort ist das Tor!«, rief Albord. »Da ist ...« Weiter kam er nicht. Die Söldner blieben wie ein Mann stehen und wurden kreidebleich, als sie den Weg betrachteten, der sie in Sicherheit bringen sollte ... ein Weg, der ihnen nicht mehr offen stand. Das Tor war zwar noch da, wo es sein sollte, doch die Zugbrücke war inzwischen hochgezogen worden. Das Tor selbst war verriegelt, und davor hatten sich etliche jener bleichen Spektralwesen versammelt, mit ihren schmerzverzerrten Gesichtern und 80
leeren Augen – die geisterhaften Bewohner des von Schatten umhüllten Königreichs. Diese leeren Augen richteten sich nun auf die Schatzsucher und starrten Kentril und seine Gefährten mit einer furchterregenden Eindringlichkeit an. Die Musik spielte immer noch, und auch das Lachen des unbekannten Mannes hielt an.
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FÜNF Zayl hielt den Elfenbeindolch hoch und murmelte etwas. Der Dolch leuchtete auf, und für einen Moment schien die geisterhafte Horde zurückzuweichen. Doch dann drängte die Menge vor, als hätte eine unsichtbare Macht sie angetrieben, und bewegte sich stumm, aber entschlossen auf die kleine Gruppe zu. »Das hätte eigentlich etwas bewirken sollen«, sagte der Nekromant in fast emotionslosem Tonfall. »Sie sind Geister, weiter nichts ... glaube ich jedenfalls.« Die entsetzliche Horde schien mit jeder Sekunde größer zu werden. Weder streckte einer von ihnen seine Arme nach den Söldnern aus, noch ließen sie irgendein anderes bedrohliches Verhalten erkennen. Doch ihre Zahl wurde immer höher, und sie kamen unaufhaltsam heran. Ihre Blicke waren starr auf Kentril und seine Leute gerichtet, was keinen Zweifel daran ließ, dass sie es auf niemanden sonst abgesehen hatten. Keiner der Söldner wollte wissen, was geschehen würde, wenn sie sie erreichten. Einer der Männer löste sich schließlich aus der Gruppe und rannte in die Richtung, aus der sie eben gekommen waren. Hauptmann Dumon fluchte, wusste aber auch keinen anderen Ausweg aus der Situation. Er hob das Schwert hoch über seinen Kopf und befahl dann der Truppe den Rückzug. Die Waffen fest umschlossen – auch wenn niemand zu sagen vermochte, welche Wirkung die Klingen auf den fleischlosen Schrecken haben würden – zogen sich die Schatzsucher rasch ins Stadtinnere zurück. Sogar Zayl und der Vizjerei rannten los, 82
wobei Quov Tsin für Alter und Größe bemerkenswert schnell war. Hinter ihnen folgte die Legion fahler Gestalten, die sich zwar kaum zu bewegen schien, aber den Fliehenden dennoch mühelos auf den Fersen blieb. »An der nächsten Ecke links!«, rief Kentril den anderen zu. Wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog, führte dieser Weg zu einem der Wachtürme. Wenn sie dort hineingelangten, würde es ihnen möglich sein, über die Stadtmauer zu klettern. Zwei der Männer, die die Angriffe überlebt hatten, trugen Seile mit sich, die genügen sollten, um den Boden auf der anderen Seite zu erreichen. Als sie jedoch die Kreuzung erreichten, ließ eine Bewegung auf der Straße, für die sich Kentril entschieden hatte, die Söldner innehalten. »Sie kommen auch von vorn!«, brüllte Albord. Tatsächlich tauchten auf der Straße voraus immer mehr Geister auf. Kentril sah nach rechts. Nur von dort rückte ihnen keine schauerliche Horde entgegen. Es war der einzige Weg, der noch die Hoffnung auf eine erfolgreiche Flucht nährte. Zayl, der sich neben ihm befand, murmelte: »Was bleibt uns anderes übrig?« Mit einer Handbewegung wies Kentril den anderen die Richtung. Er rechnete damit, dass ihnen auch hier der Weg abgeschnitten würde, doch allen Befürchtungen zum Trotz wurden sie mit keinen der geisterhaften Gestalten konfrontiert. Das galt aber nicht für die Seitengassen. Als sich zwei Söldner von der Gruppe lösten und abseits der Hauptstraße einen Fluchtweg suchen wollten, nahmen mehrere der Spektralwesen unmittelbar neben den Männern Gestalt an und ließen die Kämpfer zurückweichen. Doch obwohl auch diese Geister den 83
Eindringlingen dicht auf den Fersen waren, kamen sie seltsamerweise nie in Reichweite. Der Nekromant sprach als Erster aus, was sich allmählich abzeichnete: »Wir werden durch die Stadt dirigiert, Hauptmann. Wir laufen exakt dorthin, wohin sie uns haben wollen.« Kentril wusste, was Zayl meinte. Das geringste Abweichen vom gewünschten Weg führte dazu, dass augenblicklich weitere Heerscharen der stummen Schreckensgestalten erschienen, die jedoch allesamt keine Anstalten machten, sich ihre Beute zu schnappen. So lange die Söldner dem richtigen Pfad folgten, begnügten sich die Geister damit, mitzuhalten. Was, so fragte sich der Hauptmann, würde sie wohl erst erwarten, wenn sie das Ziel erreichten? Ihre Flucht führte sie an Läden vorbei, an schmalen, eleganten Häusern mit kuppelförmigen Dächern, nach allen Seiten von hohen Mauern umgeben. Viele der Gebäude wurden von Lampen oder Fackeln erhellt, und hin und wieder waren Stimmen zu vernehmen. Doch bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen es Kentril gelang, einen Blick in eines der Häuser zu werfen, konnte er keine Spur von Leben entdecken. Während der gesamten Flucht spielte die Flöte unablässig ihre immergleiche, nicht enden wollende Melodie. Von Zeit zu Zeit war das joviale Lachen eines Mannes zu hören, das klang, als würde er sich über die vergeblichen Anstrengungen der gehetzten Gruppe amüsieren. Im nächsten Augenblick mussten die erschöpften Söldner feststellen, dass der Weg vor ihnen von einer weiteren geisterhaften Versammlung blockiert wurde. Kentril begriff nicht sofort, warum ihre Flucht hier enden sollte. Zu seiner Linken entdeckte er eine schmale, finstere Gasse, die alles andere als einladend war 84
und sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Rasch ließ der Hauptmann seinen Blick schweifen, ob es womöglich noch einen anderen Ausweg gab. Aber offenbar war die Gasse ihre einzige Hoffnung auf ein Entkommen. »Dort entlang!«, brüllte er und wies mit dem Schwert die Riehtung an, während er inständig hoffte, damit keinen verheerenden Fehler begangen zu haben. Als sie sich der Gasse näherten, nahm keiner der Geister Gestalt an, um sie aufzuhalten. So konnte ein Mann nach dem anderen in dem schmalen Spalt zwischen zwei Häuserblocks verschwinden. Kentril hielt das Schwert die ganze Zeit vor sich ausgestreckt, was ihm ein wenig Trost spendete, obwohl ihm die Sinnlosigkeit seines Tuns sehr wohl bewusst war. »Sie sind noch immer hinter uns, Hauptmann!«, rief das Schlusslicht der Gruppe nach vorn. »Folgt mir! Das Ganze muss irgendwann ein Ende nehmen. Es muss einfach ...« Als wären seine Worte erhört worden, mündete die Gasse abrupt in einen weitläufigen Platz. Kentril blieb stehen und starrte auf etwas, das er in all den Tagen beim Durchkämmen der Ruinen nicht bemerkt hatte. »Das können wir doch nicht übersehen haben«, flüsterte er. »Das kann nicht sein ...« »Beim Drachen!«, stieß Zayl dicht hinter ihm aus. Als sich Kentril umdrehte, sah er, dass der Nekromant ungläubig den Mund aufgerissen hatte – ein Anblick, den er als fast genauso beunruhigend empfand wie das, was vor ihnen war. Ein gewaltiger Hügel – genau genommen ein Ausläufer von Nymyr selbst – ragte mitten in der Stadt auf. An den Hügel selbst konnte sich Hauptmann Dumon natürlich erinnern, aber 85
selbst bei seinem ersten Anblick hatte er sich bereits gewundert, warum die Bewohner ihr Königreich so angelegt hatten, dass sich in dessen Mitte ein mehrere hundert Fuß hoher Berg aus schwarzem Stein befand. Hinzu kam, dass man sich sogar die Mühe gemacht hatte, eine Treppe, die bis zum Gipfel hinaufführte, in den Fels zu schlagen. Was ihn und die anderen aber am meisten bannte, war ein prachtvolles steinernes Bauwerk mit drei spiralförmigen Türmen, das von einer hohen Mauer umlaufen war. Von diesem Gebäude aus konnte man nicht nur ganz Ureh überblicken, sondern auch das Land ringsum auf viele Meilen im Auge halten. Von der Form her erinnerte das Bauwerk Kentril an die Burgen und Schlösser seiner Heimat. Bösartig aussehende, geflügelte Figuren bewachten das Tor, das jeder durchschreiten musste, um auf das Anwesen zu gelangen. An den Stellen, an denen der schwarze Fels nahtlos mit dem Schatten des Berges verschmolz, schien der eigentümliche weiße Marmor, aus dem die Feste offensichtlich erbaut worden war, von einer schwachen Aura umgeben zu sein. Kentril blinzelte ein paar Mal, doch der fahle Lichtschein rings um das erhabene Gebäude hielt sich beharrlich. Ein unangenehmes Gefühl regte sich in seiner Magengegend. »Der Palast von Juris Khan!«, wisperte Zayl. »Aber er verschwand zusammen mit ihm ...« »Juris Khans Palast?« Quov Tsin kämpfte sich durch die verblüffte Gruppe nach vorn und schob die größeren und wesentlich kräftigeren Kämpfer aus dem Weg. Dabei versuchte er mit seinem Zauberstab auf sie einzuschlagen. In der vordersten Reihe angekommen, betrachtete er das Bauwerk, so gut es ihm bei seiner geringen Körpergröße möglich war. Es war mehr als nur ein Anflug von Gier in seiner Stimme zu hören, als er murmelte: 86
»Jaaa ... welcher Ort könnte besser geeignet sein, um Ausschau zu halten?« Mit einem Mal fielen Kentril wieder die Phantome ein, von denen sie verfolgt wurden. Er spähte über die Schulter und erwartete, dass sie zwischenzeitlich aus der Gasse hervorgetreten waren. Umso erstaunter war er, diese schrecklichen Begleiter nirgends entdecken zu können. »Sie haben ihre Verfolgungsjagd aufgegeben«, sagte der Nekromant. »Sie haben uns dorthin gelotst, wohin sie uns haben wollten.« Hauptmann Dumon widmete sich wieder der steilen, gewundenen Treppe, die zu dem großen Tor führte. Die düsteren geflügelten Figuren auf der Mauer zu beiden Seiten dieses Tores schienen die Neuankömmlinge aufmerksam zu beobachten. »Gehen wir da rauf?« »Im Moment«, entgegnete Zayl, »scheint das die bessere Alternative zu sein, als eine Rückkehr zu unseren Freunden. Wenn wir umkehren, werden sie zweifellos wieder auftauchen. Und diesmal könnten sie sich unter Umständen nicht damit begnügen, uns zu hetzen.« »Natürlich sollten wir nach oben gehen!«, rief Tsin aus und hielt den Stab auf den sagenhaften Palast gerichtet. »Dort wurde Juris Khans meisterliches Zauberwerk durch den vereinten Einsatz seiner Priester und Magier erschaffen! Dort werden wir das großartigste aller Zauberbücher finden – und natürlich Gold im Überfluss!« Allein der Vizjerei schien noch daran interessiert, nach Macht und Reichtum zu streben. Kentril und seine Männer hatten zumindest für den Augenblick alle Lust auf Schätze verloren. Jeder der Söldner wollte das im Schatten gelegene Königreich so 87
schnell wie möglich verlassen, auch wenn sie dafür auf jegliche Beute verzichten mussten. Doch diese Möglichkeit stand ihnen augenblicklich gar nicht zur Wahl. Sie waren zu dieser Treppe geführt worden, und der Hauptmann der Söldner wusste, dass dies wohl keineswegs zufällig geschehen war. »Wir gehen rauf, brummte er. »Achtet darauf, dass die Fackeln nicht verlöschen.« Während sie sich mit einigem Widerwillen an den Aufstieg machten, bemerkte Kentril, dass sich mit dem Verschwinden ihrer unheimlichen Verfolger auch noch etwas anderes verändert hatte: Die Musik und mit ihr das Gelächter waren verklungen. Über Ureh hatte sich Totenstille ausgebreitet. Der Aufstieg erwies sich angesichts der steilen Treppen als so mühselig und schwierig, dass sich Kentril fragte, wie jemand diese Reise mehr als einmal hinter sich gebracht haben mochte. An einigen Stellen waren Teile der Stufen weggebrochen, was den Weg noch beschwerlicher machte. Die Fackeln waren keine große Hilfe, da die Flammen von dem intensiven Schatten gedämpft zu werden schienen. Kentril hatte schon pechschwarze Nächte erlebt, die heller waren als dieser Tag. Er überlegte, wieso ihm diese extreme Dunkelheit nicht bei den vorausgegangenen Ausflügen in die Ruinen aufgefallen war. Wieso kam ihm diesmal alles so anders vor? Die Gruppe bewegte sich immer weiter auf der Treppe nach oben, die längst doppelt so lang wirkte, wie sie eigentlich hätte sein sollen. Nach einer Strecke, die Kentril wie tausend Stufen vorkam, bemerkte er, wie sehr seine Leute und auch er selbst außer Atem gekommen waren, sodass er eine kurze Rast befahl. Nicht einmal Tsin, der diesen Palast mehr als jeder andere errei88
chen wollte, protestierte dagegen. Zayl, bei weitem nicht so erschöpft wie der Rest, ließ sich ein paar Stufen oberhalb von Kentril nieder. Seine Hand ruhte wieder auf der ausgebeulten Tasche, seine Augen waren geschlossen, und er schnupperte, als versuche er, eine Witterung aufzunehmen. Als sich Kentril ihm näherte, öffnete der Nekromant rasch die Augen und zog die Hand weg, sodass die Tasche wieder von seinem Mantel verdeckt wurde. »Hauptmann Dumon.« »Ich möchte mit Euch reden, Zayl.« »Zu Euren Diensten.« Der Hauptmann setzte sich neben den Zauberkundigen. »Offenbar wisst Ihr recht viel über diesen Ort. Viel mehr sogar als Tsin, der sein ganzes Leben von Ureh besessen ist.« »Er ist sein ganzes Leben lang davon besessen, ich dagegen habe mein ganzes Leben in unmittelbarer Nähe verbracht, Hauptmann.« »Da habt Ihr wohl Recht, Zayl. Aber wie viel wisst Ihr? Als Ihr das hier gesehen habt ...« Er zeigte auf den Palast. »... seid Ihr zwar überrascht gewesen, aber nicht annähernd so sehr wie ich. Das da war hier vorher nicht, Nekromant! Dieser Hügel schon, aber nicht dieser Palast aus Marmor!« »Und das überrascht Euch in einem Reich, das direkt in den Himmel führt?« Kentril schnaubte. »Für einen irdischen Himmel ist der über Ureh für meinen Geschmack bislang etwas zu blutig gewesen.« Zayl hob eine Augenbraue. »Ihr habt einen sehr scharfen Verstand, Hauptmann Dumon. Und Ihr besitzt ein angeborenes Wissen über unsere Welt, von dem ich vermuten muss, dass sein ganzes Ausmaß sogar mich überraschen würde.« 89
»Ich frage Euch noch einmal, Nekromant: Was wisst Ihr über diesen Palast?« »Nur dass er – wie der Vizjerei andeutete ...« Der fahle Mann sprach das eine Wort mit Abscheu aus. »... jener Ort war, an dem der Zauber seinen Lauf nahm und an dem der Pfad in den Himmel geöffnet wurde. Ich empfinde es nicht als überraschend, dass das Zuhause von Juris Khan selbst heute nicht den Regeln der Sterblichen zu folgen scheint. Es kam mit Mächten jenseits unseres Wissens in Berührung, und deren Wirkung dürfte auch nach einigen Jahrhunderten noch nicht nachgelassen haben.« Diese Worte waren für Kentril keine Hilfe. Er versuchte einen anderen Ansatz. »Ich möchte wissen, was Ihr in Eurer Tasche mitführt.« »Ein Erinnerungsstück, wie ich bereits sagte.« »Und aus welchem Grund bewahrt Ihr es auf? Es scheint für Euch sehr kostbar zu sein.« Zayl erhob sich, seine Miene verriet keine Gefühlsregung, als er mit lauterer Stimme erwiderte: »Wird es nicht Zeit, weiterzugehen, Hauptmann? Wir haben noch ein beträchtliches Stück vor uns.« »Er hat völlig Recht, Dumon«, stimmte Tsin ihm zu. Er saß ein Stück unter ihnen. »Wir verschwenden nur kostbare Zeit.« Zayl setzte sich ohne ein weiteres Wort in Bewegung. Kentril biss die Zähne zusammen, dann nickte er den anderen widerwillig zu und bedeutete ihnen damit, den Aufstieg fortzusetzen. Er schwor sich, dass die Zeit noch kommen würde, den Zauberkundigen dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen. Vorausgesetzt, sie überlebten diesen Wahnsinn lange genug. Seltsamerweise gestaltete sich der Aufstieg von diesem Punkt aus deutlich leichter. Die Mauern rund um das Anwesen des 90
großen Juris Khan rückten mit jeder Stufe spürbar näher. Es dauerte nicht mehr lange, dann stand die Gruppe schließlich vor dem hohen Gittertor. »Hässliche Bestien«, meinte Albord und betrachtete die beiden geflügelten Gargoyles, die einen Körper hatten, der halb menschliche Züge und halb in Richtung eines Löwe ging, dazu einen Schnabel, der den Kopf wie den eines Aasgeiers wirken ließ. Die Pranken mündeten in geschwungenen Krallen, die denen eines Adlers oder Falken glichen. Mit großen, unmenschlichen Augen starrten sie jeden an, der direkt vor dem verschlossenen Eingang stand. »Das ist also das Zuhause des Gottesfürchtigsten aller Gottesfürchtigen?«, wunderte sich Kentril. »Gargoyles werden oft als Wächter gegen die Hölle angesehen«, erläuterte Zayl. »Diese hier vermitteln dem Besucher offensichtlich, dass nur die in den Palast eintreten dürfen, die reinen Herzens sind.« »Heißt das, wir müssen draußen bleiben, Hauptmann?«, rief einer der Männer. »Entweder gehen wir alle hinein oder keiner!« Kentril betrachtete das Gittertor. »Falls wir überhaupt einen Weg hinein finden.« Zayl streckte daraufhin seine Hand nach dem schweren Tor aus, und es öffnete sich bei der leisesten Berührung. »Sollen wir eintreten?«, fragte er höflich an die Söldner gewandt. Der Hauptmann unterdrückte ein Schaudern, da sich das Tor lautlos geöffnet hatte, so als hätte man es erst kürzlich frisch geölt. Zayl machte einen Schritt nach vorn, und als nichts passierte, 91
schritt er weiter auf das Anwesen. Vom Erfolg des Nekromanten ermutigt, folgte Hauptmann Dumon und gab seinen Männern zu verstehen, sich ihm einer nach dem anderen anzuschließen. Albord durchschritt als Nächster das Portal, Jodas folgte, dann die anderen Männer. Je länger der Erste, der hindurchgegangen war, unbehelligt blieb, desto unbesorgter schritten die übrigen Söldner voran. Ein Mann erlaubte sich sogar einen Spaß auf Kosten der Gargoyles, indem er erklärte, sie würden ihn an seine frühere Ehefrau erinnern. Zum ersten Mal, seit die Stadt zu geisterhaftem Leben erwacht war, herrschte eine etwas entspanntere Atmosphäre. Tsin blieb zurück und sah zu, wie jeder Söldner das Tor passierte. Als auch der letzte Mann hindurchgegangen war, packte er seinen Stab fester und marschierte mit der Arroganz eines Eroberers auf den Durchgang zu. In diesem Augenblick erwachten die Gargoyles zum Leben. Mit ausgebreiteten Schwingen bäumten sich die Kreaturen auf und richteten ihre steinernen Augen auf den Vizjerei. Tsin wich sofort zurück, zumal die Wesen ihre Krallen in seine Richtung ausstreckten. Kaum war Tsin wieder auf Abstand, nahmen die Gargoyles aufs Neue ihre ursprüngliche Haltung ein und erstarrten. »Diese Wächter haben einen weisen Blick«, murmelte Zayl, der in einiger Entfernung zu Kentril stand. Der Hauptmann ignorierte die Bemerkung und ging zum Tor zurück, wo er die beiden Gargoyles betrachtete. Hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, er wäre überzeugt gewesen, jemand habe sich das Ganze nach einigen Krügen Ale nur ausgedacht. Er streckte den Arm aus und tippte mit der Schwertspitze leicht gegen eine der Figuren. Der Klang war eindeutig der von Metall 92
auf festem Sockel. »Geht zur Seite, Dumon«, wies der Hexenmeister ihn an. »Ich werde schon mit diesen ungehorsamen Hündchen fertig.« Quov Tsin hielt die Spitze seines Zauberstabs auf den Gargoyle zu seiner Linken gerichtet. Noch während er sprach, beschrieb er mit der anderen Hand Gesten über dem hölzernen Stab, woraufhin einige der Runen unheilvoll zu leuchten begannen. Zayl stellte sich neben Kentril. »Ich halte das für keine gute Idee, Hauptmann Dumon.« Der Anführer der Söldner musste ihm beipflichten. »Tut das nicht, Tsin. Ihr macht alles nur noch schlimmer!« »Und das sagt ausgerechnet der Mann, der erst jüngst noch so sehr nach meiner magischen Hilfe verlangte?«, schnaubte der Mann verächtlich. »Diese Bestien werden mich nicht zurückhalten.« Kentril eilte durch das offene Tor und stellte sich Tsin in den Weg. Dieser machte unwillkürlich einige Schritte nach hinten, nahm aber den Stab nicht herunter. »Haltet Euch dicht neben mir«, befahl der Hauptmann. »Entfernt Euch nicht, dann könnte es uns gelingen, unnötigen Ärger zu vermeiden.« »Was habt Ihr vor?« »Macht einfach nur, was ich sage, Tsin.« Als sich Kentril erneut dem Tor näherte, stellte sich Zayl ihm in den Weg. »Wenn Ihr das unbedingt so versuchen wollt, braucht Ihr einen anderen als den Vizjerei, um auch den zweiten Gargoyle im Auge zu behalten.« Er hielt den Elfenbeindolch ruhig in der Hand. »Ich werde Euch helfen.« »Ich brauche keine ...«, setzte der runzlige Zauberkundige an. »Seid ruhig, Tsin«, fiel ihm Hauptmann Dumon ins Wort. Er 93
hatte nun endgültig genug von diesem Mann, ganz gleich, ob er ein Hexenmeister war oder nicht. Zayl konnte das Tor durchschreiten, während es Tsin nicht möglich gewesen war, und das sagte einiges über die beiden Männer aus. Mit der kleinwüchsigen Gestalt in der Mitte durchschritten Kentril und der Nekromant das Tor. Die Gargoyles standen unbeweglich da, wie steinerne Statuen, und ließen nichts von dem Leben erkennen, das sie kurz zuvor noch demonstriert hatten. Als er seinen Fuß auf das Anwesen setzte, atmete Kentril langsam aus. Sein Plan schien zu funktionieren. Die magischen Wächter schienen nicht wahrzunehmen, dass sich der Hexenmeister zwischen den beiden größeren Männern an ihnen vorbeischmuggelte. »Nur noch ein paar Schritte ...« Aber als Tsin die Schwelle überschreiten wollte, erwachte der Gargoyle auf Kentrils Seite zum Leben, begann mit seinen Flügeln zu schlagen und öffnete seinen steinernen Schnabel, um einen wilden, ohrenbetäubenden Schrei auszustoßen. Hinter Kentril ertönte ein zweites, identisches Gebrüll, der Beweis dafür, dass auch Zayl sich einer aus ihrer Starre erwachten Kreatur gegenübersah. Das Geschöpf senkte den Kopf und schnappte mit dem Schnabel links neben dem Kämpfer in die Luft. Das Schwert des Hauptmanns schlug mit großer Wucht gegen das marmorne Maul, und wenigstens zog sich der Gargoyle daraufhin zurück. Kentril hörte den Nekromanten Worte in einer fremden Sprache ausstoßen, dann erschrak er über ein kurzes Aufblitzen am Rande seines Gesichtsfeldes. Der erste Gargoyle nutzte diesen Moment aus, um erneut anzugreifen. Abermals versuchte er, sich um den Söldner herum zu 94
bewegen. Das Ding will Tsin!, erkannte Kentril. Und es will einem Kampf mit mir aus dem Weg gehen! Es will nur ihn! Furchterregende Krallen huschten an seiner Schulter vorbei und versuchten, den kleinen Hexenmeister zu fassen zu bekommen. Der Vizjerei schlug mit seinem Stab nach ihnen, und Funken flogen, sobald der Holzstab den Stein berührte. »Tsin!«, brüllte Kentril. »Das ist Eure Chance! Springt ...« In diesem Augenblick setzte das Flötenspiel, das von überallher zu kommen schien, wieder ein. Kentril fragte sich erschrocken, was das erneute Erklingen der unheimlichen Melodie wohl ankündigen mochte. Die Musik hatte einen merkwürdigen Effekt auf die Gargoyles. Die Kreatur, mit der sich der Hauptmann konfrontiert sah, hielt mitten in ihrem Angriff inne und schaute zum Himmel. Sie krächzte einmal, dann nahm sie wieder ihre ursprüngliche Position ein. Während Kentril zusah, wich alles Leben aus dem Geschöpf, bis der Wächter wieder nichts weiter als eine steinerne Figur war. »Unglaublich ...«, hörte er Zayl sagen und drehte sich um. Auch der Gegner des Nekromanten war wieder zu Stein erstarrt. Es stand außer Frage, dass die Musik diese Reaktion hervorgerufen hatte. Der Hauptmann wollte diese glückliche Wendung nicht ungenutzt verstreichen lassen. »Bewegung, Tsin!« Das ließ sich der Vizjerei nicht zweimal sagen. Einen Fuß hatte er bereits auf den Hof des Palastes gesetzt, und als sich Kentril und Zayl umdrehten, um ihm zu folgen, wartete er bereits in einiger Entfernung auf sie. Die Musik spielte unterdessen weiter. »Sie kommt aus dem Palast«, behauptete der Vizjerei, der nun ganz versessen darauf schien, das imposante Gebäude zu betre95
ten. »Folgt mir.« Aus Zayls Richtung drang leises Gelächter. »Ein wahrhaft mutiger Mann, möchte ich meinen, der sich dorthin begibt, wo er eindeutig nicht erwünscht ist.« Kentril sah den Nekromanten an, doch der tat so, als habe er nichts gesagt. Zudem musste der Hauptmann einräumen, dass die Stimme auch nicht wie seine geklungen hatte – allerdings auch nicht wie die eines der Männer, die sonst seinem Befehl unterstanden. Kein anderer schien die Stimme gehört zu haben. Albord und die übrigen Söldner warteten einfach nur auf ihre Befehle, während Tsin bereits einen deutlichen Vorsprung hatte. Aus irgendeinem Grund wollte Kentril nicht, dass der Vizjerei sich zu weit von ihnen entfernte. Etwas riet ihm, dass er auf die kleine, arrogante Person ein Auge halten sollte. Die Gargoyles waren aus gutem Grund am Eingangstor postiert worden, und sie hatten nur auf Tsin reagiert, nicht aber auf Zayl, wie man es eigentlich eher hätte erwarten müssen. Das verhieß nichts Gutes. Den Klängen der Flöte folgend, erreichte die Gruppe einen Eingang, einen Bogen mit zwei bronzenen Torflügeln, auf denen Erzengel eingelassen waren, welche Schwerter in ihren Händen hielten. Es fiel auf, dass diese Darstellungen äußerst ramponiert aussahen, während alles andere unversehrt schien. Mit der Spitze seines Stabs drückte Quov Tsin vorsichtig gegen eine der Türen, die sich daraufhin genauso lautlos öffnete wie das Haupttor. Mit einem Selbstvertrauen, als würde er in sein eigenes Heim zurückkehren, schritt der Vizjerei hindurch. Sich über drei Stockwerke erstreckende Marmorsäulen säumten zu beiden Seiten einen prachtvollen Saal, der von einem gewaltigen Kronleuchter erhellt wurde. Der Hauptmann schätzte, 96
dass wohl mehr als hundert Kerzen für Licht sorgten. Den gesamten Boden überzog ein Muster aus kunstvoll gestalteten Mosaiken, die Drachen, Chimären und ähnliche Wesen darstellten, was Kentril als einen krassen Gegensatz zu den Erzengeln empfand. Zwischen den Säulen waren zu beiden Seiten die Porträts beeindruckender Personen in Amtstracht zu sehen. Zweifellos zollten sie denen Tribut, die Ureh über die Jahrhunderte hinweg regiert hatten. Am anderen Ende des Saales machten sie eine weitere Tür aus. Nachdem sie in diese Richtung gegangen waren und sich an den lange toten Herrschern vorbei bewegt hatten, die sie anzustarren schienen, blieben sie vor dem Durchgang stehen. Jetzt war jedem klar, dass die Musik aus dem dahinter liegenden Raum kam. Auch diese Doppeltür schmückten Erzengel mit Schwertern, und auch hier waren die Figuren massiv beschädigt. Tsin berührte eine Torhälfte, doch diesmal öffnete sie sich nicht. Auch Zayl, der es versuchte, war nicht erfolgreicher. Kentril gesellte sich zu den beiden Zauberkundigen. »Vielleicht gibt es ein Schloss oder ...« Gerade wollte er eine der zerstörten Verzierungen berühren, als beide Türen unvermittelt doch noch aufsprangen. Die drei wichen zurück, als ihnen aus dem dunklen Raum dahinter kalte Luft entgegenwehte. Zuerst sahen sie gar nichts, doch dann lenkte die Musik ihre Blicke zur entlegensten Stelle des Raumes, und sie konnten ein schwaches Licht ausmachen. Gleich neben der Lampe saß ein alter Mann in weißem Gewand auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne. Er beugte sich vor, als hätte er die Palast-Besucher noch gar nicht bemerkt. Kentrils Augen passten sich weiter der herrschen97
den Dunkelheit an, und schließlich erkannte er eine schmale Gestalt, die auf dem Boden vor dem älteren Mann saß und eine Kapuze trug. Die Gestalt hielt eine Flöte, ungefähr auf der Höhe, auf der sich die Lippen des Vermummten hätten befinden müssen. »Noch mehr Geister«, murmelte Albord. Obwohl er nur geflüstert hatte, reagierten die beiden Personen, als wäre der Kronleuchter von der Decke gefallen und auf dem Marmorboden in tausend Stücke zersprungen. Die Gestalt, die die Flöte hielt, hörte auf zu spielen, erhob sich und verschwand mit geschmeidigen Bewegungen in der Dunkelheit. Der Patriarch sah auf und begrüßte die Gruppe, als hätte er seit langer Zeit auf ihre Ankunft gewartet. »Endlich seid Ihr da, Freunde«, sagte er mit sanfter Stimme, die dennoch die Kraft einer ganzen Armee zu besitzen schien. Der Vizjerei, der nicht viel von Floskeln hielt, so lange sie nicht ihn selbst betrafen, tippte mit seinem Stab auf den Boden und erklärte: »Ich bin Quov Tsin! Hexenmeister des Innersten Kreises, Meister von ...« »Ich weiß, wer Ihr seid«, erwiderte der ältere Mann finster. Er blickte zu Kentril und den anderen, und obwohl er weit von ihnen entfernt war, kam es dem Hauptmann vor, als würde er unmittelbar vor diesem Mann stehen und jeden Gedanken und jedes Gefühl vor ihm preisgeben. »Ich weiß, wer Ihr alle seid, meine Freunde.« Zayl schob sich vor den Hexenmeister und stellte eine verkniffene Miene zur Schau, die beinahe jeden überraschte, allen voran Kentril. Jeder aus der Gruppe war längst zu der Ansicht gelangt, der Nekromant habe seine Gefühle so perfekt unter Kontrolle, dass nichts – nicht einmal ein geisterhaftes Königreich – ihn je 98
aus der Fassung bringen konnte. Nicht einmal der Ausdruck, den er beim ersten Anblick des Palastes offenbart hatte, reichte an seine momentane Spannung heran. »Überrascht es Euch, ehrbarer Herr, dass ich zu wissen glaube, wer Ihr seid?« Diese Frage löste bei der Gestalt im weißen Gewand fast einen Anflug von Belustigung aus. Der Mann legte einen Arm auf die Stuhllehne, während er sein Kinn auf die andere Handfläche stützte. »Und? Glaubt Ihr es nur, oder wisst Ihr es?« »Dann seid Ihr etwa wirklich ... der großartige Juris Khan!« Der Mann runzelte kurz die Stirn. »Ja ... ja, ich bin Juris Khan.« »Bei allen Heiligen!«, flüsterte ein Söldner. »Noch ein Geist!«, flüsterte ein anderer. Kentril brachte seine Männer mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen. Er sah zu Tsin, um einen Bestätigung zu erhalten. Auch wenn der Vizjerei nicht unmittelbar reagierte, besagte sein begieriger Ausdruck alles, was Kentril wissen musste. So unglaublich es auch klingen mochte, so hatten sie doch Juris Khan gefunden – den Mann, der ein Königreich regiert hatte, das von vielen als das heiligste überhaupt betrachtet wurde ... ein Mann überdies, der so tot hätte sein müssen wie die schrecklichen Phantome, von denen sie hierher getrieben worden waren. Getrieben? »Er hat das getan«, wandte sich Kentril an die anderen und trat näher. »Er hat uns hierher gelenkt. Er ist derjenige, der uns den Ausweg aus der Stadt versperrt hat, damit wir seinen Palast aufsuchen ...« Zu seiner Überraschung unternahm der Herrscher über Ureh 99
gar nicht erst den Versuch, diesbezüglich etwas abzustreiten. Stattdessen erhob sich Juris Khan von seinem Platz, schob die Hände in die ausladenden Ärmel seines Gewandes und neigte den Kopf, als wolle er sich entschuldigen. »Ja, dafür bin ich verantwortlich. Ich habe dafür gesorgt, dass Ihr herkommen musstet ... doch das liegt nur daran, dass ich nicht zu Euch kommen konnte.« »Was für ein Unsinn ...« Hauptmann Dumon wurde unterbrochen, da Khan sich bückte, nach seinem Gewand fasste und es weit genug hochhob, um ihm seine Füße zu zeigen. Jedenfalls hätten dort seine Füße sein sollen. Gleich über den Knöcheln verschmolzen Khans Füße allerdings so vollkommen mit den vorderen Stuhlbeinen, dass man nicht erkennen konnte, wo das Fleisch endete und das Holz begann. Juris Khan ließ den Saum seines Gewandes wieder fallen und sagte mit ernster Stimme: »Ich hoffe, Ihr verzeiht mir.« Sogar Tsin empfand das als so außergewöhnlich, dass er es nicht ignorieren konnte. »Aber was soll das bedeuten? Was ist mit dem Pfad in den Himmel? Die Legenden besagen ...« »Legenden besagen viele Dinge«, unterbrach ihn Zayl. »Und die meisten von ihnen entpuppen sich am Ende als falsch.« »Und unsere ist die falscheste von allen«, murmelte eine Stimme, die links von ihnen aus der Dunkelheit kam. Juris Khan streckte seine Hand dorthin aus und lächelte demjenigen zu, der in der Schwärze verborgen stand. »Sie sind, was sie scheinen. Du kannst wieder hervorkommen.« Mit diesen Worten trat der Flötenspieler aus den Schatten heraus. Jetzt trug er keine Kapuze mehr. Zum ersten Mal erkannte Kentril, dass es eine Frau war, die das wallende Gewand 100
trug, eine junge und sehr attraktive Frau mit zarter Haut wie Alabaster. Sie hatte Augen, die im schwachen Schein der Lampe und der Fackeln smaragdgrün leuchteten, und wallendes, rotes Haar, das noch leuchtender war als das der Frauen in Kentrils Heimat. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Östliches und unterstrichen, dass sie in diesem fernen Reich geboren worden war. »Freunde ... meine Tochter Atanna.« Atanna. Ein Name, der sich auf der Stelle ins Herz des Kämpfers eingrub. Atanna, die schönste aller schönen Frauen, die Hauptmann Kentril Dumon je in seinem Leben gesehen hatte. Atanna, ein Engel inmitten Sterblicher ... Atanna – das Gesicht auf der Brosche.
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SECHS »Es war Verrat«, erklärte Juris Khan, als Atanna jedem der Männer einen Kelch mit Wein reichte. »Verrat durch denjenigen, dem wir am meisten vertrauten.« »Gregus Mazi«, warf seine Tochter ein und setzte sich in Kentrils Nähe auf den Boden. Sie sah den Hauptmann an, und für einen Moment schien in ihren smaragdfarbenen Augen ein Licht aufzuflammen, das jedoch gleich wieder vom Thema der Unterhaltung erstickt wurde. »Gregus Mazi ... mein Vater nannte ihn einst Bruder der Brüder.« »Er saß zu meiner Linken, während der gute Priester Tobio seinen Platz zu meiner Rechten hatte.« Der weißhaarige Herrscher lehnte sich zurück, den Kelch mit den Händen umschlossen. »Ihnen übertrug ich die ruhmreiche Aufgabe, die Visionen Wirklichkeit werden zu lassen. Sie bekamen von mir den gesegneten Auftrag, uns zu unserer himmlischen Zuflucht zu führen.« Die Söldner und die beiden Zauberkundigen saßen vor dem gefangenen Monarchen am Boden, und jedem von ihnen brachte die anmutige Atanna Früchte und Wein. Nach so viel Blutvergießen und so viel Schrecken war die Gruppe dankbar für Lord Khans Gastfreundschaft. Außerdem waren noch etliche Fragen offen, und wer konnte geeigneter sein, sie zu beantworten, als der legendäre Herrscher über das heilige Königreich persönlich? Juris Khan entsprach in vielerlei Hinsicht dem Bild, das man sich von einem Führer machte. Wenn er stand, war er so groß und fast so breitschultrig wie Kentril. Für einen Mann im fortgeschrittenen Alter waren Khans Erscheinungsbild und Persönlich102
keit die eines jungen Mannes, und von Gebrechlichkeit war an ihm so gut wie nichts zu bemerken. Auch wenn seine Gesichtszüge vom Alter geprägt waren, verliehen sein kantiges Kinn, die königliche Nase und die stechend grünen Augen ihm eine majestätische Ausstrahlung. Selbst sein langes, angegrautes Haar ließ diesen Herrscher nicht alt erscheinen, sondern wirkte wie ein Symbol für die Weisheit, die er über viele Jahre hinweg errungen hatte. Kentril sah in seinen Weinkelch und sagte nachdenklich: »Aber die Legenden berichten, dass Mazi durch ein Versehen zurückgelassen wurde und dass er viele Jahre lang versuchte, zu Euch zu gelangen ...« Juris Khan seufzte. »Legenden enthalten meist mehr Erfundenes als Tatsachen, mein Freund.« »Dann seid Ihr nicht in den Himmel gelangt?«, fragte Tsin, der seinen Kelch fast schon geleert hatte. »Der Zauber schlug fehl?« Er wirkte enttäuscht darüber, dass die Magie nicht funktioniert haben sollte. Aber das Schicksal der glücklosen Einwohner von Ureh schien ihn nicht wirklich zu kümmern. »Wir gelangten nicht in den Himmel«, bestätigte Khan. »Wir waren in einem Limbus gefangen, in einer zeitlosen Zone zwischen der irdischen Ebene und unserem glorreichen Ziel ... und alles nur, weil ein Mann Übles im Schilde führte.« »Gregus Mazi«, wiederholte Atanna mit gesenktem Blick. Hauptmann Dumon widerstand nur mit Mühe dem sehnsüchtigen Wunsch, sie zu trösten. »Was tat er Euch an?« »Als die Zeit für den letzten Zauber gekommen war«, erklärte der väterliche Monarch, »erkannte Tobio, dass die Worte nicht die richtigen waren. Ihre Bedeutung war verkehrt worden, es war keine Einladung mehr, um in den Himmel zu reisen ... sondern 103
um im Schlund der Hölle willkommen geheißen zu werden!« Kentril sah zu Zayl hinüber, der so aufmerksam wie die anderen zugehört hatte. Der Nekromant nickte ihm zu. »Bei vielen Zaubern bewirkt eine leichte Veränderung der Worte einen gegenteiligen Effekt. Ein Heilzauber kann umgekehrt werden, um noch stärker zu verwunden oder sogar zu töten.« »Gregus wollte mehr, als uns nur töten«, murmelte Juris Khan. »Er wollte unsere Seelen verdammen ... und beinahe wäre ihm das auch gelungen.« Der Hauptmann stellte sich die Frau neben ihm vor, wie sie, der Verdammnis anheim gefallen, in Diablos Reich vegetierte und erschauderte. Wäre es ihm möglich gewesen, hätte Kentril diesen schändlichen Gregus Mazi am Hals gepackt und ihm die Kehle zugedrückt – so lange, bis die Augen des Hexenmeisters weit genug aus den Höhlen getreten wären, um ihn auf seine eigenen Fersen blicken zu lassen, ohne dass er den Kopf hätte drehen müssen. »Wären nicht mein Vater und Tobio gewesen«, fügte Atanna hinzu und errötete leicht, als sie Hauptmann Dumons Blick auf sich ruhen fühlte, »dann hätte er wohl auch Erfolg damit gehabt.« »Wir versuchten, die bereits gesprochene Beschwörung noch einmal zu sprechen, damit umgekehrt würde, was umgekehrt werden konnte, und anstatt in den Himmel oder in die Hölle verschlug es uns mitten in ein gewaltiges Nichts, in dieses zeitlose Reich, aus dem wir danach nicht mehr entkommen konnten.« Quov Tsin schnaubte, dann erwiderte er: »Ihr hättet dort noch einmal den Zauber neu wirken sollen! Für jede gut ausgebildete Gruppe von Vizjerei wäre das eine spielend leichte Angelegenheit gewesen, ganz zu schweigen von einer ...« 104
»So einfach war es nicht, mein Freund, weil die Priester und Magier von eben diesem Zauber getötet worden waren.« Ein kühler Ausdruck huschte über das ansonsten so freundliche Gesicht des Herrschers von Ureh. »Gregus hatte alles sehr gründlich geplant. Eine einzelne, gleichfalls veränderte Zeile entzog jedem, der den Zauber sprach, sämtliche Lebensenergie, mit Ausnahme von Tobio und mir. Unsere überlegene Kraft und unser Wissen retteten uns, ließen uns aber geschwächt zurück. Schlimmer noch aber war, dass uns ohne die anderen die Macht fehlte, den Zauber noch einmal zu wirken.« Wenn es Juris Khan und dem Obersten der Priester auch nicht gelungen war, die Zauber umzukehren, so hatten sie es zumindest geschafft, Gregus Mazi im Augenblick seines Triumphs zu verstoßen. Der Kampf kostete Tobio das Leben, doch indem sie den hinterhältigen Hexenmeister bannten, hinderten sie ihn daran, seinen entsetzlichen Plan zu vollenden und Ureh in das Reich der Erzbösen zu schicken. Damit trieb das Königreich mitsamt seinem Volk mitten im Nichts, in dem die Zeit für immer stehen geblieben war – bis zu dem Augenblick, als die Welt um sie herum wieder Gestalt annahm, die Welt, über der tiefe Schatten lagen. »Niemand, der sein Leben in Ureh verbracht hatte, hätte es versäumen können, den großartigen Nymyr und den Schatten zu erkennen, den er auf unser schönes Königreich warf. Davon überzeugt, dass dem Fluch ein jähes Ende gesetzt worden war, stürmten mehr als vierzig meiner Leute gedankenlos durch das Haupttor. Sie wollte einfach nur die Wärme der Sonne auf ihrer Haut und den sachten Wind spüren ...« Khan lehnte sich wieder zurück. Er war noch bleicher als der Nekromant. »Sie mussten dafür mit einem grässlichen Tod bezahlen. 105
Sie waren nach draußen in den Sonnenschein gelaufen, der ihr Schicksal besiegelte. In dem Augenblick, in dem das Licht auf ihre Haut fiel, verbrannten sie. So wie Bruchstücke vom Eis eines Gletschers, die man in das gut geschürte Feuer einer Schmiede wirft, schmolzen die glücklosen Einwohner von Ureh buchstäblich dahin. Ihre Schreie hallten noch lange nach, als sie schon längst zu Pfützen geworden waren, die ihrerseits binnen weniger Sekunden verdunsteten. Einigen gelang es, sich wieder in den Schatten des Berges zurückzuziehen, doch sie machten ihr Leiden damit nur noch schlimmer, denn die Partien ihres Körpers, die einen Augenblick zu lange dem Lichtschein ausgesetzt waren, brannten dennoch weg. Am Ende mussten die, die noch rechtzeitig hatten anhalten können, die kreischenden und leidenden, halb zerfressenen Opfer töten.« Atanna schenkte Kentril mehr Wein ein und lächelte ihn sanft an. Gleichzeitig liefen ihr aber auch Tränen über die Wangen. Sie hob ihren eigenen Kelch, von dem sie noch nicht getrunken hatte, und setzte die schockierende Geschichte ihres Vaters fort. »Wir hatten unterschätzt, welche Ungeheuerlichkeit Gregus Mazi uns auferlegt hatte. Diese abscheuliche Schlange hatte dafür gesorgt, dass wir nicht länger Teil der Welt der Sterblichen waren. Schlimmer noch – wir hegten die Befürchtung, dass wir das Schicksal der ersten Opfer würden teilen müssen, wenn erst einmal der Schatten geschwunden wäre und der Sonnenschein auf unser Zuhause fiele. Doch am nächsten Morgen erwartete die Einwohner etwas, das auf den ersten Blick für ein Wunder gehalten werden mochte, denn als sich die Sonne über den Horizont erhob und die ersten Sonnenstrahlen zu sehen waren ... da begann die Welt zu verblassen. 106
Abermals waren die Stadt und ihre Bewohner ins Nichts des Limbus geraten. Und so schockierend das auch war, so waren sich doch alle einig, dass dieses Exil dem entsetzlichen Sterben so mancher aus ihren Reihen vorzuziehen war, bis eine Lösung für ihre Misere gefunden werden konnte. Alle blickten auf zu ihrem gesegneten Führer Juris Khan, davon überzeugt, dass er einen Weg zurück in die Freiheit finden würde. Viele sahen in der Rettung vor dem todbringenden Sonnenschein sogar ein Zeichen, dass der Himmel sie nicht im Stich gelassen hatte. Auf irgendeine Weise würde Ureh entweder auf die Ebene der Sterblichen zurückkehren oder aber seine beabsichtigte Reise ins heilige Reich fortsetzen.« »Nach einem umfangreichen Studium kam ich zu dem Schluss«, nahm nun wieder Atannas Vater den Faden auf, »dass es zumindest eine Möglichkeit gab, ohne Gefahr für uns mit der wirklichen Welt verbunden zu bleiben. Ich hatte zudem feststellen können, dass wir eines Tages dorthin zurückkehren würden. Von meiner hübschen Tochter unterstützt ...« Er lächelte die junge Frau liebevoll an. »... die ihre eigenen Begabungen besitzt, arbeitete ich mit aller Macht daran, zwei einzigartige, mystische Edelsteine zu erschaffen.« Juris Khan gab Atanna seinen Kelch, dann beschrieb er vor den Augen seiner Gäste mit einem Finger einen feurigen Kreis in der Luft, in dessen Mitte abwechselnd zwei Bilder zu sehen waren: ein bleicher Kristall, der wie von Sonnenschein berührtes Eis funkelte, und ein pechschwarzes Ebenbild. Noch nie zuvor hatte es zwei so vollkommene Edelsteine gegeben, und Hauptmann Dumon und seine Männer bewunderten und begehrten beide vom ersten Moment an. »Der Schlüssel zum Schatten«, erklärte Khan und zeigte auf 107
den schwarzen Stein. »Der Schlüssel zum Licht«, fuhr er fort und ließ wieder das Bild des wie Eis aussehenden anderen Edelsteins auftauchen. »Der eine unter Ureh in der tiefsten Höhle verborgen, der andere auf dem höchsten Punkt von Nymyr, wo er vom ersten Sonnenstrahl des Tages beschienen wird. Gemeinsam das, was den Schatten bindet, der nun über uns liegt und der immer dort ist, damit wir hier bleiben können, während wir nach einem Ausweg suchen.« Als dann der Moment gekommen war, erfuhren sie weiter, an dem Ureh – wie von Juris Khan vorausgesagt – wieder auf der Ebene der Sterblichen auftauchte, wurde der Plan in Angriff genommen. Freiwillige wurden gesucht, zehn an der Zahl, allesamt mutige Männer. Fünf wurden in die Tiefe geschickt, um dort nach dem dunkelsten aller Orte Ausschau zu halten, dort, wo der Schatten am finstersten ist. Die anderen fünf machten sich auf den Weg zum Gipfel des Nymyr, um den anderen Edelstein an einer Stelle zu platzieren, die ihr Herrscher als den geeigneten Standort auserkoren hatte. Neben dem Schlüssel des Lichts führte die zweite Gruppe auch eine speziell gefertigte Zange mit sich, um die Bedrohung durch die Sonne zu meiden. Die Hoffnung war groß, als sich die beiden Gruppe auf den Weg machten, denn es schien, als wären die Gebete der Einwohner erhört worden. Leider hatte jedoch niemand damit gerechnet, dass Gregus Mazi zurückkehren könnte. Man konnte nur vermuten, dass er die Präsenz jener, die er vor so langer Zeit verriet, entweder erahnt oder sogar wahrgenommen hatte. Als Ureh das nächste Mal in den Schatten entstand, wartete der ruchlose Hexenmeister bereits am Stadtrand. Er wurde auf den Versuch aufmerksam, das Königreich zu retten, und verfolgte die, die den Berg bestiegen. 108
Mit machtvollen Worten ließ er die Spitze des Gipfels von einem Blitz zertrümmern, der gleichzeitig die fünf Männer tötete. Nachdem dieser Teil seines Plans erledigt war, schlich sich Gregus Mazi heimlich in den Palast seines einstigen Herrn, wo er auf einen völlig unvorbereiteten Khan traf. »Mir blieb kaum Zeit, aufzublicken, ehe ich verstand, dass er zugeschlagen hatte. Als ich mich ihm entgegenstellen wollte, erkannte ich, dass ich eins mit dem Stuhl geworden war, der seinerseits nun eins mit dem Palast war. ›Ihr dürft ruhig sitzen bleiben und für alle Zeit über Eure Fehler nachdenken, Mylord‹, verhöhnte mich diese elende Bestie. ›Und nun werde ich das Schicksal Eures geliebten Königreichs besiegeln, indem ich mir den zweiten Edelstein tief unter der Stadt hole und ihn ebenso vernichte wie den ersten.‹« Der Herrscher fuhr sich durch sein angegrautes Haar. Eine Träne rollte ihm über die Wange. »Ihr müsst wissen, meine Freunde, dass ich Gregus liebte wie einen eigenen Sohn. Es gab einmal eine Zeit, da dachte ich sogar ...« Er sah kurz zu Atanna, die wieder errötete, und unmittelbar neben ihr verspürte Kentril ein unerklärliches Gefühl von Eifersucht. »Aber das ist nicht weiter wichtig. Was zählt, ist, dass er mich zurücklassen wollte, unfähig ihn zu verfolgen, während er die letzte Hoffnung all jener zerstörte, die sich auf mich verlassen hatten.« Allerdings hatte Gregus Mazi seinen einstigen Meister unterschätzt. Zwar war er geschwächt und nun auch noch gefangen, doch Khan verfügte noch über eine andere Macht: das Volk und die Liebe, die er für seine Untertanen empfand. Daraus schöpfte Khan nun. Als er zurückschlug und auf den spottenden Gregus Mazi zielte, da tat er dies nicht mit der Kraft eines einzelnen Wesen, sondern mit der unbändigen Macht Tausender. 109
»Ich gebe zu«, murmelte der müde Monarch und schloss für einen Moment bedauernd die Augen, »als ich zuschlug, da geschah es mit Zorn, mit Hass, voller Sünde ... aber auch freudig und entschlossen. Gregus hatte keine Chance.« Es blieb nicht einmal ein Leichnam des Verräters übrig, den man hätte beerdigen oder verbrennen können, nur ein paar Rauchschwaden, die die letzten Augenblicke eines Mannes markierten, der das Licht unter den Lichtern verdammt hatte. Aber auch wenn das Ungeheuer für seine Taten bezahlt hatte, war es ihm doch gelungen, Juris Khans geliebtes Königreich wieder in sein entsetzliches Exil zu bannen. Ohne den Kristall auf dem Gipfel von Nymyr konnte sich Ureh nicht auf Dauer in der wirklichen Welt halten. Als am nächsten Tag der Morgen dämmerte, fand sich die gesamte Stadt erneut im Limbus wieder, diesmal jedoch ohne jede Hoffnung auf Rettung. »Ich konnte die Kristalle nicht noch einmal erschaffen, müsst Ihr wissen«, erklärte Khan. »Ihre Formung erforderte Bestandteile, die mir nicht länger zur Verfügung standen. Schlimmer aber noch war, dass ich von da an in diesem Raum gefangen war und mich nicht befreien konnte, ganz gleich, was ich versuchte. Ich war fortan darauf angewiesen, dass sich meine liebreizende Tochter um mich kümmerte.« Doch selbst so in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, gab Juris Khan nicht auf. Er ließ sich alle Bücher, Schriftrollen und Talismane bringen, die auffindbar waren. Mit einem Zauber nach dem anderen befasste er sich, immer in der Hoffnung, dass sich irgendeine Hilfe finden ließ, wenn sein Königreich auf die Ebene der Sterblichen zurückkehrte. Bei den wenigen Gelegenheiten, wenn Ureh wieder auftauchte, benutzte er magische Spähhilfen, um nach jedweder möglichen Unterstützung Ausschau zu halten, 110
die sich in der Nähe aufhalten mochte. Und so war er diesmal auf die Anwesenheit von Kentril Dumon und dessen Männer aufmerksam geworden, die sich sogar schon innerhalb der Stadtmauern befunden hatten. »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, welche Freude ich verspürte, Euch zu entdecken! Mutige Entdecker im Herzen meines eigenen Reiches! Ich wusste, dass ich diese eine Gelegenheit, diese eine Hoffnung, nicht ungenutzt lassen konnte. Ich musste Euch herbringen.« Kentril sah vor seinem geistigen Auge die Heerscharen geisterhafter Gestalten, die die Gruppe von einer Straße in die nächste gelenkt hatten. »Ihr hättet Euch einer besseren Art und Weise bedienen können ...« »Mein Vater tat, was in seinen Möglichkeiten stand, Hauptmann«, unterbrach ihn Atanna mit entschuldigendem Tonfall. »Er konnte sich nicht zu Euch begeben, er musste so vorgehen.« »Das war Euer Volk?«, fragte Zayl auf eine Weise, die erkennen ließ, dass er keine Antwort erhalten musste, um sich bestätigt zu sehen. »Sie wirkten, als wären sie tot ... und doch sind sie es nicht.« Der Herr über Ureh nickte finster. »Zwischen dem Himmel und der Ebene der Sterblichen gefangen zu sein, hat seinen Preis. Wir leben nicht mehr richtig, aber wir sind auch nicht tot. Atanna, ich und die anderen, die im Palast sind, leiden nicht so sehr, da uns die Zauber geholfen haben, die diesen Ort schützen und binden, doch selbst wir werden so enden wie sie, wenn uns nicht bald jemand hilft.« »Jemand«, murmelte die Schönheit mit den feuerroten Zöpfen. Sie hielt sich nah bei Kentril auf und schaute ihn eindringlich an. 111
»Aber wie können wir helfen?«, wandte sich der Anführer der Söldner an die Frau. Das Lächeln, mit dem sie reagierte, schien sein Herz völlig zu vereinnahmen. »Ihr könnt den Schlüssel zum Licht ersetzen.« »Den Kristall ersetzen?«, mischte sich Quov Tsin ein. »Ihr habt gesagt, er sei zerstört worden.« Khan nickte dem Vizjerei höflich zu. »Das hatten wir auch gedacht. Auch Gregus hatte das geglaubt. Doch als ich vor langer Zeit einmal Hilfe von Menschen wie Euch ersuchen wollte, stellte ich fest, dass der Schlüssel zum Licht nicht zusammen mit der Bergspitze zerschmettert wurde. In Wahrheit wurde er durch die Wucht der Explosion lediglich weit von seinem vorbestimmten Platz weggeschleudert und landete auf der anderen Bergseite.« Der kleinwüchsige Hexenmeister rieb sich sein kantiges Kinn. »Und dann habt Ihr ihn nicht geborgen? In der Nacht, wenn alles im Schatten liegt, müsstet Ihr doch sicher ...« »Im Schatten ja, aber nicht in diesem Schatten. Als wir unsere Heimat das erste Mal wieder zu sehen bekamen, gleich am nächsten Abend, nachdem meine Männer der Sonne zum Opfer gefallen waren, schickte ich einen kleinen Trupp aus, um die Umgebung zu erkunden und herauszufinden, was sich zugetragen haben mochte. Im Schutz der Nacht hätte das eigentlich keine schwierige Aufgabe sein dürfen. Ich strebte lediglich nach Wissen, ich hoffte auf eine Siedlung ganz in der Nähe.« Er bleckte die Zähne. »In dem Moment, als der Erste aus dem Bereich trat, der sonst im Schatten von Nymyr lag, verbrannte auch er.« Atanna legte ihre Hand auf die von Kentril, und in ihren Augen fand er die Bitte um Verständnis und Beistand. »Wir sind wahrlich gefangen, Hauptmann. Unsere Welt endet gleich vor den Mauern der Stadt. Würde ich nur einen Zoll weiter gehen 112
wollen, dann würde ich Gefahr laufen, dass das Fleisch von meinen Knochen schmilzt und meine Knochen zu Asche verbrennen.« Im Angesicht dieser flehenden Augen konnte Hauptmann Dumon nicht anders und legte seine Hand auf ihre, dann sah er zu Juris Khan. »Können wir den Kristall erreichen? Können wir ihn rechtzeitig an seinen vorgesehenen Platz bringen?« Hoffnung ließ die Miene des älteren Mannes aufleuchten. »Ihr würdet das für uns tun? Ihr würdet uns helfen? Wenn Ihr das schaffen würdet, verspreche ich jedem von Euch eine wahrhaft königliche Belohnung.« Jodas verschluckte sich fast an seinem Wein. Die Laune der Kämpfer besserte sich schlagartig. Dies war eine Mission, die mühselig, aber lösbar schien und die mit einer großen Belohnung lockte. Sofort meldeten sich alle freiwillig, lediglich Zayl und Tsin schwiegen. »Wir müssen uns nicht alle auf den Weg begeben«, sagte Kentril. »Gorst, dich brauche ich auf jeden Fall, Jodas, du bist ein guter Bergsteiger, Brek, Orlif, ihr kommt ebenfalls mit. Albord, du hast das Kommando über die anderen.« Einige von denen, die zurückbleiben sollten, begannen sich zu beschweren, doch Khan brachte sie zum Schweigen, indem er erklärte: »Wenn uns dieses Wunder zuteil wird, dann werden wir die Belohnung unter allen aufteilen, das verspreche ich euch.« Kentril fragte noch einmal nach dem zeitlichen Rahmen und dem Lageort des Edelsteins. Juris Khan versicherte ihm, es würde ihnen auf jeden Fall genügend Zeit verbleiben, wenn sie innerhalb der nächsten Stunde aufbrachen. Ein Pfad, der vor Jahrhunderten in den Berg gehauen worden war, würde ihnen in dieser Hinsicht gute Dienste leisten. 113
Was den zweiten Teil der Frage anging, so bat der Herrscher über Ureh seine Tochter, ihm ein Kästchen zu bringen. Als Atanna Augenblicke später zurückkehrte und ihm ein kleines silbernes Behältnis übergab, holte Khan daraus einen kleinen Edelstein von unglaublicher Reinheit hervor, in den eine einzige Rune geschliffen war, und reichte ihn dem Hauptmann. »Dies ist ein Stück, das nach der Erschaffung des Originals verblieben war. Der Runenzauber verbindet es mit dem anderen Stein. Haltet es vor Euch, dann wird es Euch den Weg weisen.« »Ihr solltet jetzt aufbrechen«, ließ seine Tochter die Gruppe wissen. Wieder berührte sie Kentrils Hand. »Geht mit meinem Segen.« Zayl trat zu Kentril. »Hauptmann Dumon, ich möchte Euch gern begleiten. Meine Fähigkeiten könnten nützlich für Euch sein, und ich kenne dieses Gebiet sehr gut. Ich glaube, das würde die Sache beschleunigen.« »Ein weiser Vorschlag«, sagte Juris Khan. »Ich danke Euch.« »Na, wenn er mitgeht, dann werde ich auf diesem eisigen Berg nicht benötigt«, warf Tsin ein. »Ich werde lieber hier warten.« Auch mit dieser Entscheidung war ihr Gastgeber einverstanden. »Ihr würdet mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Ihr bei mir bleibt, Hexenmeister. Vielleicht kann ich mit Eurer Hilfe von Gregus’ teuflischer Magie befreit werden. Ich kann Euch alle in meinem Studierzimmer zusammengetragenen Bücher, Schriftrollen und anderen Arbeiten für Eure Recherche zur Verfügung stellen, und als Lohn für meine Befreiung könnt Ihr anschließend an Euch nehmen, was immer Ihr wollt.« Hatte die Erwähnung von Gold und Reichtümern die Herzen von Kentrils Männer erfreut, so bewirkte der Gedanke an ein solch umfangreiches magisches Wissen das Gleiche bei dem Viz114
jerei. »Ihr ... Ihr seid äußerst großzügig, Mylord Khan.« »Ich würde alles dafür geben, damit dieser Alptraum ein Ende findet«, erwiderte der Mann und blickte wieder zu Hauptmann Dumon. »Ist es nicht so, Atanna?« »Alles«, bestätigte sie, und auch ihr Blick ruhte für einen langen, langen Moment auf Kentril. Der winzige Edelstein leuchtete hell auf, was als ermutigendes Zeichen gewertet wurde. Kentril umschloss das Kleinod rasch wieder, um nicht Gefahr zu laufen, es zu verlieren, und steckte es zurück in die Gürteltasche, in der er auch die Brosche aufbewahrte. Er hatte Atanna nichts von diesem Fund gesagt, doch er würde es auf jeden Fall nachholen, sobald sie zurückgekehrt waren – nachdem sie den Schlüssel zum Licht an den ihm zugedachten Platz gebracht hatten. Juris Khan hatte ihnen sehr präzise Angaben gemacht, was zu tun war, wenn sie den magischen Edelstein erst einmal gefunden hatten. Kentril wusste nun ganz genau, wo er ihn zu platzieren hatte, wobei er zum einen sicherstellen musste, dass der Stein nicht vom Wind umgeweht werden konnte und zum anderen, dass er dennoch dem allerersten Sonnenstrahl des Morgens ausgesetzt sein würde. Nur wenn diese Anweisungen exakt umgesetzt wurden, konnte er darauf hoffen, Ureh – und damit auch Atanna – davor zu bewahren, wieder aus seinem Leben zu verschwinden. Die fünf Männer mühten sich ab, den Berg zu umrunden. Auch wenn der Pfad gekonnt in den Fels gehauen worden war, hatte doch der Zahn der Zeit an ihm genagt. Immer wieder mussten die Männer Stellen, die irgendwann einmal herausgebrochen waren, mit einem riskanten Satz überwinden. Dann wieder wa115
ren Felsblöcke, die den Weg versperrten, zu übersteigen. Orlif wäre einmal fast weggerutscht, doch Gorst und Jodas bekamen ihn noch rechtzeitig zu fassen, ehe Schlimmeres passieren konnte. Sehr zur Überraschung der Söldner erwies sich Zayl als ein exzellenter Führer. Er hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptete, die Umgebung gut zu kennen. Zwar hatte der Nekromant nie den Berg Nymyr erstiegen, doch er schien ein gutes Gefühl für die Struktur des Felsmassivs zu besitzen. Mit einer Fackel in der Hand folgte Kentril Zayl dichtauf, was zur Folge hatte, dass er dank des heftigen, kalten Windes, der immer wieder den Mantel des Nekromanten zur Seite wehte, von Zeit zu Zeit die rätselhafte Tasche an dessen Gürtel sehen konnte. Etwas an dem ihm unbekannten Inhalt störte ihn, auch wenn er dies nicht erklären konnte. Fast kam es ihm so vor, als würde die Tasche ihn anstarren, was natürlich lächerlich war. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. »Hier ist ein Teil des Weges weggebrochen. Wir müssen die Kluft überwinden«, ließ Zayl ihn wissen. »Gorst!« Der muskulöse Kämpfer, der nun einen schlichten Umhang trug, kam mit einem Stück Seil nach vorn. Mit Kentrils Hilfe sicherten die beiden Männer das Seil, dann kletterten sie einer nach dem anderen langsam hinauf. Nachdem sie das Hindernis überwunden hatten, ließ Kentril eine Rast einlegen und überprüfte erneut den winzigen Edelstein. Diesmal flammte er so hell auf, dass der Hauptmann fast schon erwartete, den Schlüssel zum Licht auf dem nächsten Felsvorsprung erblicken zu können. »Er muss ganz in der Nähe sein«, murmelte er. 116
»Ja, wir haben Glück«, erwiderte der bleiche Zauberkundige. »Juris Khan glaubte, der Edelstein sei viel weiter talwärts gestürzt.« »Was meint Ihr, wie lange wir noch suchen müssen?« Zayl blickte hinauf zum nächtlichen Himmel. Sie hatten einige Stunden benötigt, um hierher zu gelangen. Nymyrs Schatten war vor einer Weile von der Dunkelheit geschluckt worden. »Es wird klappen, wenn wir den Schlüssel bald finden. Diese Felswand ist nicht so schwierig zu ersteigen wie die, die nach Ureh weist.« Sie zogen weiter und wappneten sich gegen die Kälte der Nacht. Kentril holte wieder den kleinen Edelstein hervor und korrigierte daraufhin ihre Richtung ein wenig. Minuten später stolperten sie buchstäblich über das magische Juwel. Staub und Gesteinsbrocken, möglicherweise die Folge von Gregus Mazis todbringendem Zauber, hatten das Artefakt fast vollständig unter sich begraben. Erst als Kentril sich einmal im Kreis drehte, um herauszufinden, warum es schien, als sollte die Gruppe nicht weitergehen, trat er zufällig ein paar lose Steine weg, unter denen etwas Funkelndes zum Vorschein kam. Obwohl nur ihre Fackeln für ein wenig Licht sorgten, strahlte der Schlüssel so hell wie ein kleiner Stern. Zayl bückte sich und grub den Edelstein aus, dann hob er ihn mit beiden Händen hoch. »Der muss ein Vermögen wert sein«, meinte der bärtige Brek. »Was glaubt Ihr, was wir dafür bekommen würden, Hauptmann?« »Von Ureh mehr als von jedem, der ihn uns abkaufen würde«, gab Kentril zurück und warf dem Söldner einen strengen Blick zu. Der Gedanke, Atanna zu hintergehen, erfüllte ihn mit Wut. 117
Rasch sorgte Zayl zwischen den beiden für Frieden. »Niemand würde vorschlagen, irgendetwas anderes zu tun, als das, was unsere Absicht ist, Hauptmann. Wir müssen uns nun beeilen, denn der Morgen wird schneller anbrechen, als uns lieb sein kann.« Der Nekromant ließ das Artefakt in seinem Besitz, während sie mit der Ersteigung begannen. Gorst sicherte für sie alle die Seile und wirkte von Zeit zu Zeit als Gegengewicht, wenn sie eine Felsspalte überwinden mussten. Kentril empfand den Weg als weitaus müheloser, als er es eigentlich erwartet hätte. Die Berge in seiner Heimat hätten ihm wesentlich mehr Schwierigkeiten bereitet. Wären die Einwohner von Ureh nicht dazu verdammt gewesen, im Schatten dieses Gipfels zu verbleiben, hätten sie sich wohl ohne Probleme selbst aus ihrer Misere befreien können. Dann endlich waren sie dem Gipfel nahe. Und als die Gruppe noch einmal auf einem breiten Felsvorsprung eine Pause einlegte, übergab Zayl den Schlüssel zum Licht an Kentril. »Sagt, Hauptmann ...« »Was gibt es, Jodas?« »... was geschieht mit dem Rest der Gruppe, wenn wir dieses Ding nicht an die richtige Position bringen? Werden sie so wie die anderen verschwinden?« Kentril sah zu Zayl, der aber nur mit den Schultern zuckte und antwortete: »Das Beste wird es sein, das gar nicht herausfinden zu müssen.« Nach einigen Minuten intensiver Suche gelangten Hauptmann Dumon und der Nekromant übereinstimmend zu der Ansicht, den idealen Punkt gefunden zu haben. Leider bedeutete das auch, dass ein gefährlicher Felsabschnitt von mindestens drei118
hundert Fuß Höhe überwunden werden musste. Auch wenn dieses Stück nur einen kleinen Teil der Nymyr-Spitze darstellte, waren sich die beiden einig, dass es mit Blick auf Khans Berechnungen der beste Ort sein würde. »Ich erledige das allein«, teilte Kentril den anderen mit. Davon wollte Gorst allerdings nichts wissen. Auch wenn er die meiste Zeit über ruhig gewesen war, ließ ihn Kentrils Absicht sofort widersprechen. »Ihr braucht einen Anker. Wir binden uns die Seilenden um, dann kann ich Euch festhalten, wenn Ihr fallen solltet.« Kentril wusste, es war sinnlos, über diesen Punkt zu streiten. Wenn er ehrlich war, verschaffte es ihm ein Gefühl der Sicherheit, zu wissen, dass Gorst da sein würde. In vielen Schlachten hatten sie Seite an Seite gekämpft, und jeder wusste, dass er sich auf den anderen verlassen konnte. Wenn er jemandem vertrauen konnte, dann war es Gorst. Kentril biss die Zähne zusammen, als er mit dem Aufstieg begann. Nach einer recht mühelosen Reise und einer ebenfalls ziemlich unproblematischen Suche nach dem Artefakt, drohte dieser letzte Abschnitt nun, ihnen vielleicht doch noch den Sieg aus den Händen zu reißen. Der Wind erschien ihm hundertmal heftiger als zuvor, und nirgendwo fand er einen zufriedenstellenden Halt. Aus Angst, ein zu langes Ausharren könnte ihn abrutschen und in den Tod stürzen lassen, drängte Kentril schneller und schneller voran, während er betete, dass sein Glück ihn nicht vor Erreichen des Gipfels im Stich lassen würde. Gorst, der für nahezu alles eine natürliche Begabung zu besitzen schien, hielt mühelos mit ihm mit. Kentril malte sich aus, dass sein Freund mit bloßen Händen Stücke aus dem Fels brach, um dort Halt zu finden, wo eigentlich keiner war. Vermutlich 119
wäre es besser gewesen, wenn der bedeutend größere Söldner den Gipfel allein bezwungen hätte, doch das wiederum hätte der Hauptmann nicht zugelassen. Endlich schob Kentril seine Finger über die höchste Bergkante. Er musste erst neuen Halt finden, da die vereiste Oberfläche seinen Griff abrutschen ließ. Doch dann gelang es ihm, sich ohne große Mühe nach oben zu ziehen. Kentril sah sich auf dem Gipfel um. Er bot genügend Platz, dass vier Männer daraufstehen konnten, und es war ganz eindeutig der Teil des Berges, der am Morgen als Erstes von der Sonne beschienen wurde. So beweglich wie eine Bergziege folgte Gorst ihm auf die Spitze und grinste Kentril an, während der Wind ihm die Haare ins Gesicht wehte. Aus seiner Gürteltasche zog Hauptmann Dumon das Artefakt und begutachtete die Umgebung, da er keine Stelle auswählen wollte, von der aus der Schlüssel zum Licht wegrutschen konnte, kaum dass die Bergsteiger den Rückweg nach Ureh angetreten hätten. »Dort?«, schlug Gorst vor. Dieses Dort war eine kleine Aussparung im Fels, die in die richtige Richtung wies und auf die Juris Khans Anweisungen zutrafen. Allerdings war sie nicht groß genug, um den Edelstein aufzunehmen. Kentril nahm seinen Dolch und begann, die Stelle zu bearbeiten. Er musste nur etwas von der gefrorenen Erde herausschlagen, dann konnte er das Artefakt sicher platzieren und diesen eisigen Ort verlassen. Sein Dolch arbeitete sich nur mühsam vor, kleine Bröckchen steinharter Erde flogen umher ... Die Spitze der Klinge schabte über etwas Weißes. Kentril ver120
suchte, das Objekt zu entfernen, was ihm jedoch nicht gelang ... Er begann zu fluchen, als er erkannte, dass er einen Knochen freigelegt hatte! Es gab kaum einen Zweifel daran, dass dieser Knochen Überbleibsel eines der fünf Unglücklichen war, die von Gregus Mazi ermordet wurden. Und nun hatte das Schicksal dafür gesorgt, dass der tote Hexenmeister ein weiteres Mal einem Plan zur Befreiung Urehs im Weg stand. So sehr er sich auch bemühte, Kentril konnte den Knochen nicht herauslösen, und keine andere Stelle auf Nymyr war für den Edelstein geeignet. »Lass es mich mal versuchen«, meinte Gorst und tauschte den Platz mit Kentril. Er zog seinen eigenen Dolch, der vielen Männern, die kleiner waren als er, schon als Kurzschwert gedient hätte. Gorst machte sich an die Arbeit und erzielte erste Erfolge, nachdem sein Kommandant längst gescheitert war. Dann war von dem Knochen – bei dem es sich vermutlich um einen Teil eines Unterarmes handelte – ausreichend freigelegt, sodass Gorst ihn mit seinen riesigen Händen umfassen konnte, um daran zu ziehen. Der mächtiger Kämpfer stöhnte vor Anstrengung, die Muskeln spannten sich an, die Adern traten hervor. Der gefrorene Boden rings um den Knochen begann zu knacken ... und dann gab der Knochen nach. Mit einem überraschten Aufschrei fiel Gorst nach hinten und begann, auf dem vereisten Fels wegzurutschen und sich in Richtung der Felskante zu bewegen. Kentril drückte das Artefakt in die neu entstandene Aushöhlung, dann legte er einen Arm um den Vorsprung und drückte sich dagegen, während er mit der anderen Hand das Seil packte, das ihn mit Gorst verband, und mit aller Kraft daran zog. Kopf und Arme des anderen Söldners rutschten bereits über 121
die Felskante. Als sich das Seil straffte, drehte er sich seitlich, wodurch zwar ein Bein über den Vorsprung glitt, er aber auch mit einer Hand nach Halt suchen konnte. Nach Luft schnappend zog Kentril mit all seiner Kraft an dem Seil und kämpfte gleichzeitig gegen die Erschöpfung, die Schwerkraft und gegen Gorsts alles andere als unbedeutendes Gewicht an. Der Arm, mit dem er sich festhielt, schmerzte entsetzlich, doch er ließ nicht los. Gorst fand im ersten Anlauf keinen Halt und wäre beinahe vollständig über die Felskante gerutscht. Er verdankte es Kentril, dass es nicht so weit kam, da der Hauptmann alles gab, um den deutlich größeren Söldner mit seinem Gewicht zu stoppen. Erst im zweiten Anlauf fand der Riese Halt am Felsen und zog sich in Sicherheit, wobei er ausnahmsweise einmal vor Anstrengung keuchte. »Der Schlüssel?«, rief er Kentril zu. »Da, wo er hingehört.« Wenn nicht ein weiterer Hexenmeister auftrat, der auch noch den Rest des Gipfels wegsprengte, konnte der Edelstein für lange Zeit an seinem Platz verharren. Juris Khan hatte angedeutet, dass das Artefakt seine Aufgabe auch bei Regen und Schnee erfüllen würde. Der Schlüssel zum Licht funkelte auf einmal, als erwache er zum Leben. Einen Moment lang überlegte Kentril, welche innere Magie das wohl ausgelöst haben mochte. Dann wurde ihm bewusst, dass nicht nur der Edelstein heller zu leuchten schien, sondern auch die Umgebung mit einem Mal besser zu erkennen war. Er sah über die Schulter und stellte fest, dass sie es wirklich in allerletzter Minute geschafft hatten. Soeben brach der neue Tag an. 122
Das Artefakt strahlte so hell wie die Sonne selbst und schien alles Licht um sich herum in sich aufzunehmen. Kentril bewunderte das Schauspiel noch einige Sekunden lang, dann eilte er, so schnell es möglich war, über den vereisten Gipfel des Nymyr. Das Tageslicht näherte sich der Stelle, an der Ureh beheimatet war. Weit in der Ferne schien der Dschungel sein grünes Blätterdach zu öffnen. Nicht ganz so weit entfernt wurden allmählich Konturen der felsigen Landschaft erkennbar, die zu dem sagenumwobenen Reich führten. Und was war mit Ureh? Während der Hauptmann zusah, berührten die ersten Sonnenstrahlen die Stadt, in der Atanna für seinen Erfolg gebetet hatte. Das Licht drang allmählich in die Schatten vor, die ihr Sicherheit geschenkt hatten. Dann aber wurden diese Strahlen jäh bedrängt, aufgehalten, und im unmöglichen Schatten des hohen Berges stand triumphierend ... die Stadt.
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SIEBEN Bei ihrer Rückkehr drang der Gruppe eine Musik ans Ohr, die vor Freude und Lebendigkeit sprühte. Nicht nur Flöten waren zu hören, auch Hörner, Lauten und Trommeln. Als Kentril und die anderen vom Berg herunterkamen, vernahmen sie fröhliche Stimmen und bemerkten, dass die Stadt von Licht erfüllt war. Das Königreich lag noch immer im tiefsten Schatten, doch im verlorenen Reich herrschte nicht länger Hoffnungslosigkeit. Atanna war ihnen entgegengekommen. Ihre Augen waren alles, was Kentril noch sah, und ihre Stimme rührte aufs Neue sein Herz und seine Seele an, als sie sich bei ihnen bedankte. »Ich möchte Euch etwas zeigen, bevor wir zu meinem Vater gehen«, sagte sie gleich zur Begrüßung. Sie nahm die Hand des Hauptmanns und führte ihn und die anderen auf einen hoch gelegenen Balkon, von dem aus fast die gesamte Stadt überblickt werden konnte. Atanna machte eine ausholende Handbewegung und zeigte Kentril die Früchte seines Erfolgs. In den Straßen feierten die Einwohner – die lebendigen Bürger der Stadt. Überall konnte man sie sehen, und sie waren nicht länger die fahlen Geister, sondern atmende, lebende Wesen, gekleidet in Gewänder, so farbenfroh wie die der Wüstenbewohner von Lut Gholein, keineswegs mehr so ernst und verdrießlich wie die, die man normalerweise in Kehjistan zu sehen bekam. Die Leute lachten und tanzten, sangen und genossen das Leben. »Nett«, kommentierte Gorst und grinste angesichts der festlichen Aktivitäten. Hauptmann Dumon sah seine Gastgeberin an, die selbst ein so 124
wundervoller Anblick war. »Ich verstehe nicht. Diese Leute ...« »Es geschah in dem Augenblick, in dem es der Sonne nicht gelang, unser Königreich zu erreichen. Nicht nur, dass der Schatten ihr trotzte, sondern ganz Ureh schien mit einem Mal irdische Substanz anzunehmen. Wir sind noch immer nicht wieder ein echter Bestandteil dieser Welt, aber wir sind ihr näher als je zuvor seit der Katastrophe.« Der Nekromant beugte sich zu Kentril vor. »Die Magie ist eine seltsame und komplizierte Bestie, Hauptmann. Vielleicht kann der Herrscher über dieses Reich das Wunder besser erklären.« Kentril nickte. »Wir sollten ihn und die anderen nicht länger warten lassen.« Atanna ließ seine Hand nicht los, und er unternahm seinerseits auch nichts, um sich davon freizumachen. Sie und der Rest der Gruppe eilten durch die Säle des Palastes, die sich ebenfalls auf eine Weise verändert hatten, die nicht sofort ins Auge fiel. Doch die Kronleuchter und die Öllampen leuchteten heller, darauf hätte Kentril schwören können. Das Gefühl von Tod und Zerfall, das ihn beim ersten Besuch überkommen hatte, war dem Geist allgemeiner Wiedergeburt gewichen. Und so, wie die Straßen nun von Menschen aus Fleisch und Blut bevölkert wurden, standen auch in den Sälen lebendige Wesen, in glänzende Metallrüstungen gekleidet. Sie waren vom Hals bis zu den Füßen in Kettenhemden und Panzer gehüllt, und sie trugen offene Helme mit Schirmen, die gut eine Handbreit nach vorne hervorragten. Als Atanna und die Söldner an ihnen vorbeigingen, salutierten die Soldaten. In gewisser Weise erinnerten sie Kentril mit ihren schmalen Augen und der blassen Haut an Zayl, und er fragte sich, ob die Vorfahren des Nekromanten wohl in irgendeiner Weise mit Ureh verbunden waren. 125
Je näher sie Juris Khans Saal kamen, umso mehr Menschen, die Amtstrachten mit blauen oder roten Schärpen trugen, kreuzten ihren Weg. Alle verbeugten sich graziös, während Atanna und der Hauptmann zur Tür gingen. Auch Höflinge huldigten ihnen, Männer, die auf ein Knie niedersanken, Frauen, die einen Knicks machten. Brek wäre fast stehen geblieben, um sich einer der Damen zu nähern, aber Gorst gab ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf und drängte den Kämpfer zum Weitergehen. Die Türen gingen auf, und das, was vor kurzem noch in tiefste Dunkelheit getaucht war, schwärzer als der schwärzeste Schatten, glitzerte jetzt vor Gold und Juwelen. Die Wände selbst waren mit Gold geschmückt. Schnörkel säumten jedes Segment, Reliefs zierten die jeweilige Mitte. Um Figuren und Muster zu betonen, waren Edelsteine jeder Farbe, Schattierung und Transparenz kunstvoll eingelassen worden. Vermutlich waren diejenigen, die dies geschaffen hatten, über Jahre damit beschäftigt gewesen, doch das Ergebnis rechtfertigte alle Mühen und jeden Zeitaufwand. Als sie eintraten, begrüßte sie eine Ehrenwache, zwanzig Mann in Rüstung, die sofort Haltung annahmen und mit den Lanzen zur Decke zeigten. An der Stirnseite des Saales, an dem der karmesinrote Teppich, der an den Türen begann, endlich ein Ende fand, erwartete ein begeisterter Juris Khan die Gruppe. Albord und die anderen schienen gleichermaßen erfreut über Kentrils Rückkehr wie der Herrscher von Ureh, und dazu hatten sie auch allen Grund. Die erfolgreich abgeschlossene Mission bedeutete, dass sie das schattenhafte Königreich mit so vielen Schätzen würden verlassen können, wie sie zu tragen imstande waren. Von Tsin war dagegen keine Spur zu sehen. Kentril erinnerte 126
sich an die Unterhaltung, kurz bevor sie sich auf den Weg gemacht hatten. Der Vizjerei hatte dem Herrscher helfen wollen, den Fluch von ihm zu nehmen, also war anzunehmen, dass der bärtige Hexenmeister längst damit befasst war, sich in Khans umfangreicher Bibliothek des magischen Wissens umzusehen. Der Hauptmann konnte dem nur Positives abgewinnen. Zum einen würde sich Tsin endlich einmal nützlich machen, zum anderen musste er ihn für die Dauer seiner Bemühungen nicht in der Nähe ertragen. »Meine Freunde!«, rief der grauhaarige Monarch freudig aus. »Meine guten, treuen Freunde! Euch ist die Dankbarkeit eines ganzen Reiches sicher! Ihr habt Ureh eine Chance gegeben, auf eine Weise weiterexistieren zu können, die wir niemals für möglich gehalten hätten!« Er deutete auf den Saal, die Wachen und auf die Höflinge jenseits der Saaltüren. »Schon jetzt tragen Eure Mühen Früchte! Das Volk feiert nicht nur die Erneuerung, sondern auch diejenigen, die dafür verantwortlich sind!« Khan legte die Arme auf seine Knie und lächelte freundlich. »Hauptmann Kentril Dumon, Ihr und Eure Männer – und auch Ihr, Meister Zayl – seid Gäste dieses Palastes. Es wird einige Tage dauern, um Eure Belohnung zu bestimmen, doch in der Zwischenzeit gehört Euch in Ureh alles, was Euer Herz begehrt.« Kentril musste an die Feierlichkeiten in den Straßen denken. »Können meine Männer den Palast verlassen, wenn sie das wünschen?« »Ich denke, mein Volk wird sogar darauf bestehen«, erwiderte Juris Khan und blickte zu den anderen Söldnern. »Hier im Palast gibt es für Euch Schlafstätten, aber ansonsten gibt es keinen Grund, hier bleiben zu müssen. Ich weiß, dass außerhalb des Palastes Wein, Speisen und Vergnügungen aller Art auf Euch 127
warten, meine Freunde! Wenn Ihr es wünscht, geht mit meinem Segen, und wenn Ihr genug habt, dann seid Ihr hier jederzeit wieder hier willkommen!« Der Hauptmann nickte zustimmend. Das war alles, was Albord und die anderen brauchten. Unter Schulterklopfen und begeisterten Worten machten sie sich auf den Weg aus dem Saal, und jeder der Männer salutierte im Vorbeigehen vor Kentril. »Ihr könnt auch gehen«, sagte er zu Jodas und den anderen Söldnern, die ihn auf den Berg begleitet hatten. Schnell schlossen sie sich ihren Kameraden an. Als Gorst ebenfalls mit ihnen ziehen wollte, nahm der Hauptmann ihn kurz beiseite. »Hab ein wenig ein Auge auf sie«, bat er seinen loyalen Stellvertreter. »Achte darauf, dass sie die Gastfreundschaft nicht zu sehr ausnutzen, verstehst du?« Gorst grinste ihn so breit an wie selten. »Ich werde aufpassen, Kentril. Ganz bestimmt.« Damit blieb nur noch Zayl zurück, und auch wenn sich Hauptmann Dumon in der Gegenwart des Nekromanten inzwischen weitaus wohler fühlte als zu Beginn, war ihm dennoch daran gelegen, dass sein bleicher Gefährte sich irgendeiner anderen Beschäftigung zuwandte. Atanna hielt noch immer Kentrils Hand, und er hoffte, es bedeutete, dass sie nichts gegen weitere Annäherungsversuche von seiner Seite einzuwenden hatte. Als könnte er Gedanken lesen, erklärte Zayl plötzlich: »Großer Herrscher von Ureh, mit Eurer Erlaubnis würde ich mich gerne dem Vizjerei anschließen, um zu sehen, ob er auf meine Hilfe zurückgreifen möchte.« »Dafür wäre ich Euch sehr dankbar, mein Freund. Eine meiner Wachen kann Euch den Weg zeigen.« 128
Mit einer schwungvollen Verbeugung entfernte sich der Nekromant und ließ Kentril mit Juris Khans Tochter allein. Ihr Vater lächelte die beiden an. »Atanna, ich bin sicher, der Hauptmann ist hungrig. Sorge doch bitte dafür, dass sein Hunger gestillt wird.« »Wenn das dein Befehl ist«, erwiderte sie und deutete eine leichte Verbeugung an. Atanna führte Kentril aus dem Saal in einen Gang, durch den er bislang noch nicht gekommen war. Nicht ein einziges Mal ließ sie seine Hand los, und genauso wenig versuchte er, sich von ihr zu lösen. Im Geiste hätte sie ihn durch das ganze Königreich führen können, und er wäre ihr bereitwillig gefolgt. »Ihr habt so viel für uns und mich getan«, sagte sie, während sie nebeneinander gingen. »Ich weiß nicht, wie ich Euch dafür danken soll, Hauptmann.« »Kentril. Mein Name ist Kentril, Mylady.« Sie schlug die Lider mit den langen Wimpern nieder und lächelte ihn an. »Kentril. Dann müsst Ihr mich im Gegenzug natürlich Atanna nennen.« »Das wäre mir eine Ehre.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Ist Ureh wirklich sicher? Haben wir den Zauber von Gregus Mazi wirklich besiegt?« Ihr Lächeln wurde ein wenig schwächer. »Ihr habt unseren Platz in dieser Welt gefestigt. Zwar können wir nicht in den Bereich jenseits des Schattens vordringen, aber es gibt Grund zur Hoffnung, dass sich das schon bald ändern wird. Sobald mein Vater von seinem anderen Fluch befreit ist, kann er sich mit einigen Überlegungen befassen, mit Möglichkeiten, bei denen ihm der Hexenmeister und der Nekromant eine große Hilfe sein würden.« 129
»Ihr solltet besser ein Auge auf Tsin haben, er ist nicht unbedingt der Aufrichtigste seines Schlags.« »Mein Vater weiß, wie er andere einzuschätzen hat, Kentril. Das sollte Euch klar sein.« Der Korridor erschien ihm mit einem Mal unerträglich warm. Der Hauptmann versuchte an ein Thema zu denken, auf das er die Unterhaltung lenken konnte ... bis ihm endlich die Brosche einfiel. »Mylady ... Atanna ... ich muss gestehen, als ich Euch zusammen mit Lord Khan sah, da war es nicht das erste Mal, dass ich Euer Gesicht bewundern durfte.« Sie lachte leise und melodiös. »Und ich dachte schon, ich hätte Euch mit einem einzigen Blick verzaubert! Mir fiel auf, dass Eure Reaktion auf mich viel stärker war als die Eurer Kameraden.« Atanna legte den Kopf ein wenig schräg. »Dann sagt mir, woher Ihr mich kennt.« »Dies ist der Grund«, erwiderte er und holte die Brosche hervor. Atanna hielt den Atem an. Sie nahm ihm den Schmuck aus der Hand und strich mit dem Zeigefinger über ihr Abbild. »So lange, so unglaublich lange ist es her, dass ich dies gesehen habe! Wo habt Ihr es gefunden?« »In den Ruinen. Mitten in der Stadt ...« »Er nahm es an sich«, sagte die rothaarige junge Frau in einem so finsteren Tonfall, dass Kentril ein wenig schauderte. »Gregus. Er hat es an sich genommen.« »Aber weshalb?« »Weil er mich begehrte, Kentril, weil er mein Herz und meine Seele begehrte. Als er herausfand, dass Ureh zurückkehren würde, sobald der Schatten von Nymyr auf diese Weise auf die Stadt 130
fiel, da kam er nicht nur her, um sein Versagen wieder gutzumachen, sondern auch, um mich als seine Beute mitzunehmen.« Ohne es bewusst zu bemerken, wanderte die Hand des Hauptmanns zum Heft seines Schwertes. Atanna dagegen nahm genau wahr, was er tat – und errötete. »Ihr würdet mein Held sein, Kentril? Wärt Ihr doch bloß beim ersten Mal hier gewesen. Ich weiß, Ihr hättet ihn Ureh nicht antun lassen, was er tat. Ich weiß, dass Ihr die Bestie vernichtet hättet ... für uns ... für mich.« Er wollte sie in die Arme nehmen, beherrschte sich aber. Es gelang ihm jedoch nicht zu verhindern, dass er erwiderte: »Ich würde alles für Euch tun.« Sie errötete stärker, was sie noch bezaubernder machte. Atanna drückte ihm die Brosche in die Hand. »Nehmt dies als ein Geschenk von mir zurück. Betrachtet es als ein Zeichen meiner Dankbarkeit und ... und meiner Gunst.« Er wollte etwas Angemessenes erwidern, wollte sich bedanken, doch bevor er den Mund aufmachen konnte, stellte sich Juris Khans Tochter auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Die übrige Welt versank für die Dauer dieser Berührung in völliger Bedeutungslosigkeit. Zayl fühlte sich extrem unbehaglich. Das ging schon seit einer ganzen Weile so, etwa seit dem Augenblick, da er und die anderen Juris Khan erstmals gegenüber gestanden hatten. Dass sonst niemand dieses Unbehagen bemerkt hatte, war dem geistigen und körperlichen Geschick des Nekromanten zuzuschreiben. Die Disziplin, von der er sich sein ganzes Leben lang hatte leiten lassen, ermöglichte Zayl die Kontrolle über praktisch jeden Aspekt seines Daseins. Nur wenige Dinge waren in der Lage, sein 131
inneres Gleichgewicht zu stören. Doch genau das hatten Ureh und die Einwohner dieser Stadt bei ihm bewirkt. Auf den ersten oberflächlichen Blick konnte der Nekromant nichts erkennen, was dazu in der Lage war. Khan und sein Volk waren in eine höchst missliche Lage getrieben worden, sie waren dem verdrehten Zauber eines ruchlosen Hexenmeisters zum Opfer gefallen. Er hatte ihnen so sehr helfen wollen, wie es Hauptmann Dumons Wusch entsprach. Während jedoch der Söldner vor allem an der hübschen Tochter des Herrschers von Ureh interessiert war, hatte Zayl nichts weiter angestrebt, als sein massiv gestörtes, inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen. Das, was Gregus Mazi hier inszeniert hatte, hätte die Stabilität der ganzen Welt bedrohen können. Denn immer, wenn Unschuldige wie die Bürger dieses Königreiches leiden mussten, stärkte das die Sache der Hölle. Gregus Mazi ... »Da wären wir, Sir«, sagte der Wachmann, der Zayl begleitet hatte. »Danke, das wäre dann alles.« Der bleiche Zauberkundige trat ein. Wie erbeten, war er zu der Bibliothek geführt worden, in der Juris Khan die bedeutendsten magischen Werke, heiligen Folianten, Schriftrollen und Artefakte Urehs aufbewahrte. In den glanzvollen Tagen des Königreiches hielten sich hundert Gelehrte der mystischen sowie der theologischen Schule in dem immens großen Saal auf. Sie durchforsteten die bis zur Decke reichenden Regale nach all den Geheimnissen und Erkenntnissen, die über Jahrhunderte hinweg hier zusammengetragen worden waren. Jetzt hingegen saß da nur eine einzelne, kleine Gestalt über ein schimmeliges Buch gebeugt, das fast so groß war wie sein Leser. 132
Als Zayl eintrat, hörte er Quov Tsin in Überlegungen vertieft murmeln. »Aber wenn diese Rune hier für die Kraft der Sonne steht und dieses Segment dort bezieht sich auf das Auge von liest ...« Abrupt blickte Tsin auf und schielte über die Schulter in Richtung des Nekromanten. »Meister Tsin«, begrüßte Zayl den anderer Zauberkundigen. Der bärtige, kleine Mann stieß ein kurzes Schnauben aus, dann kehrte sein Blick zum Buch zurück. »Wie kommt Ihr mit Eurer Recherche voran?« Ohne Zayl anzusehen, erwiderte Quov Tsin gereizt: »Nur langsam, wenn junge Kretins einen ständig mit ihrem Gebrabbel unterbrechen.« »Vielleicht wäre eine gemeinsame Suche ...« Wieder sah der ältere Vizjerei den Nekromanten an, doch diesmal brannte in seinen Augen wachsender Zorn. »Ich bin ein Hexenmeister der ersten Ordnung. Es gibt keinen Nutzen, den ich mir von Euch erhoffen könnte.« »Ich meinte nur ...« »Wartet! Mir fällt gerade eine Sache ein, die Ihr doch für mich tun könntet.« Zayl warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Und das wäre?« In giftigem Tonfall gab der Vizjerei zurück: »Ihr könnt diese Bibliothek auf der Stelle wieder verlassen und Euch so weit wie möglich von mir entfernen! Ihr verpestet die Luft, die ich einatme.« Die grauen Augen des Nekromanten waren auf Tsins silbergraue Pupillen gerichtet. Die Vizjerei und die Diener von Rathma konnten auf gemeinsame Vorfahren zurückblicken, doch eine derartige Blutsverwandtschaft hätte keiner der beiden Zauber133
kundigen jemals zugegeben. Was diese beiden Fraktionen anging, klaffte zwischen ihnen ein Graben, der so breit war wie der Abstand zwischen Himmel und Hölle – und den keiner der Beteiligten überwinden wollte. »Wie Ihr wünscht«, erwiderte der bleiche Magier. »Ich möchte jemanden, der bereits ein so hohes Alter erreicht hat, keiner zu großen Belastung aussetzen. So etwas könnte tödlich enden.« Mit einem Knurren wandte sich Quov Tsin ab. Zayl verließ unterdessen die Bibliothek und schritt durch einen verlassenen Korridor. Er hatte sich mit dem Vizjerei nicht auf eine Konfrontation einlassen wollen, ganz gleich, wie geringfügig sie auch sein mochte. Es war vielmehr die ehrliche Absicht des Nekromanten gewesen, ihm zu helfen, um Juris Khan auf diese Weise vielleicht schneller zu befreien. Doch es gab Zauber und Recherchen, denen sich Zayl auch alleine widmen konnte, Wege, die der materialistischer denkende Tsin niemals gutgeheißen hätte. Diejenigen, die Rathma folgten, stießen oft auf Möglichkeiten, die von anderen Zauberkundigen übersehen wurden. Welche Ironie es doch gewesen wäre, wenn Zayl binnen kürzester Zeit das gefunden hätte, wonach sein Gegenspieler so angestrengt suchte. Tsin wollte unbedingt die magischen Bücher und Relikte in seinen Besitz bringen, die Khan ihm versprochen hatte. Es würde ihn zweifellos innerlich zerfressen, wenn die Belohnung stattdessen Zayl zufiele ... »Zayl, Jüngelchen! Ich muss reden!« Er legte eine Hand auf die ausgebeulte Tasche an seinem Gürtel und versuchte, die Worte zu ersticken, die sich nicht ersticken lassen wollten. Auch wenn die Stimme kaum lauter als ein Flüstern gewesen war, kam es dem Nekromanten vor, als hallte sie in 134
dem leeren Korridor wie Donnerschlag wider. »Zayl ...« »Ruhig, Humbart!«, raunte er, sah sich rasch um und entdeckte einen Durchgang, der auf einen Balkon führte. Mit schnellen, lautlosen Bewegungen begab sich der schlanke, bleiche Mann nach draußen. Unter ihm war nach wie vor der Lärm der Feierlichkeiten. Zayl atmete erleichtert aus. Hier draußen würde es niemand hören, wenn er sich mit dem Schädel unterhielt. Er zog den Überrest von Humbart Wessel aus der Tasche und sah in die leeren Augenhöhlen. »Du hast dich schon mehr als einmal beinahe verraten, Humbart, und mich damit fast in große Schwierigkeiten gebracht! Es ist für jemanden von meiner Art nicht immer leicht, Vertrauen zu erlangen, aber es kann sehr leicht wieder verspielt werden. Diejenigen, die Rathmas Wahrheiten nicht verstehen, bevorzugen es, die Lügen zu glauben.« »Du meinst die Erweckung der Toten?« »Was willst du von mir, Humbart?« »Gregus Mazi«, antwortete der Schädel, dessen Augenhöhlen sich fast ein wenig zu verengen schienen. Damit war ihm Zayls Aufmerksamkeit sicher. »Was ist mit ihm?« »Du hast doch sicher nichts von dem Gewäsch geglaubt, das über den alten Gregus erzählt wurde, nicht wahr?«, spottete Humbart. »Gregus, der sich so sehr seinen Freunden im Himmel anschließen wollte, dass er jeden Morgen und Abend betete und fast den ganzen Tag weinte?« Während sein Blick über die von zahlreichen Fackeln erhellte Stadt wanderte, ließ sich der Nekromant alles durch den Kopf gehen, was über den Hexenmeister gesagt worden war. Als er 135
Juris Khans Schilderungen gelauscht hatte, waren Zayl mehr als einmal Widersprüche zu dem aufgefallen, was er durch Humbart Wessel wusste. Allerdings musste er auch davon ausgehen, dass der Herrscher von Ureh Mazi besser gekannt hatte. »Hexenmeister, vor allem solche wie die Vizjerei, können ein hinterlistiger, verlogener Haufen sein. Mazi hat dir einfach nur etwas vorgemacht, Humbart.« »Wenn er mir etwas vorgemacht hätte, Freund, dann hätte ich jetzt immer noch zwei Beine, zwei Arme und alle übrigen Knochen, und sie alle wären von Fleisch bedeckt! Der alte Gregus war ein gepeinigter Mann, der sich die Schuld an allem gab, weil er nicht gut genug gewesen war, und der vom ersten Tag an um Wiedergutmachung betete. Er war kein Monster, kein ruchloser Magier, das kannst du mir glauben!« »Aber Juris Khan ...« »... ist entweder selbst getäuscht worden, oder er lügt das Blaue vom Himmel herunter. Ich schwöre es dir bei meinem Grab, und wie du weißt, ist das ein Schwur, an den ich mich gebunden fühle.« Nun wurden Zayl seine früheren Befürchtungen klar. In der Vergangenheit hatte ihm der Schädel immer nur Teile jener Ereignisse preisgegeben, die sich außerhalb des im Schatten liegenden Königreichs zugetragen hatten. Damals, als Humbart Wessel und seine Männer beobachteten, wie Gregus Mazi auf die geisterhafte Stadt zu rannte, die Arme lobpreisend zum Himmel erhob, und wieder und wieder seinen Dank für diese zweite Chance hinausschrie. Jedes Mal, wenn Humbart den Zauberkundigen erwähnt hatte, war es die Beschreibung eines Mannes gewesen, der Wiedergutmachung anstrebte, der beweisen wollte, dass er seiner großen Aufgabe doch würdig war. 136
Er war dabei nie als die Bestie erschienen, die Khan und seine Tochter beschrieben hatten. »Und was schlägst du vor?«, murmelte der Nekromant. »Bring die Wahrheit an der Quelle in Erfahrung, was sonst?« Zayl klappte der Mund auf. »Gregus Mazi?« Ihm war nie der Gedanke gekommen, den Geist des toten Magiers zu beschwören. Bislang war ihm das auch unmöglich erschienen, denn zusammen mit dem Königreich musste auch jede Spur des Mannes verloren gegangen sein. Nun aber stand Zayl inmitten dieses Reiches. Doch da war noch ein anderes Problem. Laut Juris Khan war Mazi restlos vernichtet worden. Sein Körper war zu Asche verbrannt. Ohne Haut, Haar, Blut oder ein Stück eines lange getragenen Kleidungsstücks konnte selbst ein erfahrener Nekromant wie Zayl nicht wirklich etwas erreichen. Er sagte dies dem Schädel, was ihm eine schroffe und bissige Bemerkung einbrachte. »Bin ich denn der Einzige hier, der noch ein Gehirn im Kopf hat? Denk nach, Jüngelchen! Gregus ist hier in Ureh geboren und aufgewachsen. Er hat sein ganzes Leben hier verbracht, bis der Zauber gewirkt wurde, der die Seele der Stadt und die Seelen all ihrer Einwohner ins Vergessen beförderte. Außerdem kam er auch noch hierher zurück. Um es genau zu sagen, Zayl: Ureh war in der Zeit erstarrt und hat sich praktisch überhaupt nicht verändert. Wenn der alte Gregus hier ein Zuhause hatte, dann stehen die Chancen gut, dass es noch existiert.« Was Humbart sagte, war so logisch, dass Zayl einfach nicht fassen konnte, warum es ihm nicht selbst hatte einfallen wollen. Wenn sich in den Habseligkeiten des toten Magiers ein Kleidungsstück oder ein anderer Gegenstand fand, den er oft getragen, oft berührt hatte, konnte das genügen, um den Geist des 137
Mannes zu beschwören. Von Gregus Mazi selbst konnte der Nekromant damit vielleicht die Wahrheit erfahren – und vielleicht sogar den Schlüssel zur Errettung Urehs erhalten. Sollte sich Mazi als die bösartige Kreatur entpuppen, die Juris Khan beschrieben hatte, würde Zayl wohl in der Lage sein, ihm das Geheimnis des von ihm gewirkten Zaubers schneller zu entreißen, als es Tsin jemals gelingen konnte, der dazu einen verstaubten Band nach dem anderen studierte. »Wir müssen sein Haus finden.« »Wir können aber wohl schlecht nach dem Weg fragen, oder?« Mit einem Blick auf die Stadt, in der die Feierlichkeiten noch lange kein Ende gefunden hatten, gestattete sich Zayl den Anflug eines Lächelns. »Vielleicht doch, Humbart ... vielleicht doch.« Wenige Minuten später bewegte sich der Zauberkundige zwischen den Bürgern von Ureh, eine hoch aufragende, schwarze Gestalt inmitten farbenprächtiger Bewohner, die im Schein von Fackeln und Öllampen tanzten, sangen und jubelten. Es mutete sonderbar an, dass Fackeln und Lampen nötig waren, wo es doch hellster Tag hätte sein sollen. Doch im Schatten des Nymyr, der sie vor dem Exil und einem entsetzlichen Tod schützte, waren die Einwohner von Ureh nicht gewillt, sich zu beklagen. Etliche Männer bestanden darauf, ihm die Hand zu schütteln oder ihm auf die Schulter zu klopfen, während mehr als eine attraktive Frau versuchte, sich bei ihm auf eine persönlichere Weise erkenntlich zu zeigen. Zayl ließ die Dankesbekundungen ebenso über sich ergehen wie die Küsse, die man ihm auf die Wangen drückte, aber auch wenn er sich unwillkürlich ein wenig von der ausgelassenen Stimmung anstecken ließ, vergaß der Nekromant doch nie die Aufgabe, die er erledigen wollte. »Verdammt, ich wünschte, ich hätte noch einen Körper zu die138
sem alten Schädel«, meldete sich Humbarts Stimme aus der Tasche. »Ach, wäre das schön, ein wenig gutes Ale zu finden, eine verruchte Frau ...« »Sei ruhig!« Obwohl nicht anzunehmen war, dass in diesem Trubel irgendjemand den Schädel hören konnte, wollte Zayl kein Risiko eingehen. Einer von Kentril Dumons Männern kam ihm entgegengeschwankt, an jedem Arm eine junge Frau. Der bärtige Söldner gab einer der Frauen, deren goldene Kleidung für einen Harem angemessener gewesen wäre, einen Kuss. Dann bemerkte er den Blick des Nekromanten. »Na, vergnügt Ihr Euch, Zauberkundiger?« Er grinste breit und ließ die beiden Frauen für einen Moment los, um mit seinen Armen auszuholen und ganz Ureh in eine Geste einzuschließen. »Das ganze verdammte Königreich will seine Helden feiern!« Zayl erinnerte sich an den Namen des dunkelhaarigen Kämpfers. Er lächelte ihn flüchtig an und gab zurück: »Mal etwas anderes als der übliche Lohn eines Söldners, nicht wahr, Brek?« »Das könnt Ihr wohl laut sagen!« Brek legte seinen Arm um die zweite junge Frau, eine verlockende Schönheit mit ausgeprägten Rundungen, die das dünne Kleid nur wenig verhüllte. Der Kämpfer ließ seine Finger ein, vielleicht zwei Zoll über den Brüsten der Frau baumeln, während er ihren Hals küsste. Die Frau in Gold begann Zayl bewundernde Blicke zuzuwerfen. Mit gesenktem Blick fragte sie: »Seid Ihr auch einer der Helden?« »Obacht«, scherzte der Söldner. »Er ist ein Nekromant, meine Damen. Ihr wisst schon, jemand, der Tote erweckt und mit Geistern spricht!« Wenn Brek geglaubt hatte, die beiden damit abschrecken zu 139
können, sah er sich gründlich getäuscht. Tatsächlich war es sogar so, dass die Frauen Zayl nun noch interessierter betrachteten – so interessiert, dass er sich vorkam wie ein Maus, die man gefesselt zwei hungrigen Katzen vorlegte. »Ihr weckt die Toten?«, fragte die Erste atemlos. »Und Ihr sprecht mit Geistern?« »Könnt Ihr uns das zeigen?«, wollte die Zweite wissen. »Langsam, Ladies, bringt ihn bloß nicht auf irgendwelche Ideen!« Zayl schüttelte den Kopf. »Es ist nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte, meine Damen. Außerdem möchte ich nicht die gute Stimmung stören. Immerhin ist der Fluch von Gregus Mazi endlich aufgehoben worden.« Die golden gekleidete Frau wurde ernst. »Ein wirklich schrecklicher Mann!« »Ja, ein richtiger Verräter. Ureh täte gut daran, sich aller Erinnerungen an ihn zu entledigen. Alle Bilder, alle Schriften sollten vernichtet werden. Auch sein Heim sollte dem Erdboden gleichgemacht werden, um das Böse zu vergessen ... es sei denn, dadurch würde man die Häuser anderer Einwohner in Gefahr bringen.« »Es gäbe ohnehin wenig zu verbrennen«, warf die Frau mit den üppigen Kurven ein. »Immerhin ist es in den Berg gehauen.« »In den Berg? Hat er in einer Höhle gelebt? Wie abscheulich!« »Es war ein Teil eines alten Klosters, das noch vor der Stadt gebaut worden war«, erklärte sie. »Aber es war wirklich abscheulich von ihm.« Brek hatte genug von diesem Gerede. »Nun, Mädchen, warum lassen wir den Zauberkundigen nicht seines Weges ziehen? Ich bin sicher, er hat selbst auch eine Verabredung, nicht wahr, Sir?« 140
Zayl erkannte die Aufforderung, den Söldner in Ruhe zu lassen, und lächelte ihn weiter freundlich an. »Ja, tatsächlich. Um genau zu sein, wartet jemand auf mich, der lieber sterben würde, als ein Treffen mit mir zu versäumen.« Die Frauen kicherten leise, während der Söldner Zayls Scherz mit einem verärgerten Blick quittierte. Der Nekromant verbeugte sich leicht, verabschiedete sich und ging weiter, als wolle er sich wieder unter die Feiernden mischen. »Jetzt weiß ich endlich, wie man auf den Ausdruck Galgenhumor gekommen ist«, wisperte Humbart in seiner Tasche. »Ich hielt es für besser, sie glauben zu machen, dass ich mich heute Nacht nur amüsieren will.« »Mit solchen Scherzen? Also ich hätte ja gesagt ...« »Ruhe«, unterbrach ihn Zayl und schüttelte die Tasche, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Jetzt wusste er, wo er die frühere Heimstatt des mysteriösen Gregus Mazi finden konnte. Dort angekommen, würde er ganz sicher etwas entdecken, womit er den Geist des Mannes beschwören konnte. Und dann würde Zayl endlich die Wahrheit erfahren und wissen, wessen Version der Wahrheit entsprach. Damit würde er dann auch herausfinden, warum ihm das wiedergeborene Ureh solches Unbehagen bereitete. Von lüsternen Gedanken erfüllt stolperte Brek in das Heim einer der beiden Frauen. Nicht einmal die kurze Unterhaltung mit dem Nekromanten hatte sein Verlangen beeinträchtigen können. Beide Frauen schienen nicht nur sehr willig zu sein, sie waren auch weitaus attraktiver als die Frauen, mit denen er sonst Umgang hatte. Es würde eine angenehme Abwechslung sein, am Morgen einmal nicht neben einer einäugigen Dämonin zu erwachen, deren Haut lederner war als seine Stiefel. Brek war sicher, 141
dass er diese beiden Schönheiten mehr als einmal würde befriedigen können. Und selbst, wenn dies nicht der Fall war und sie stattdessen ihn befriedigen würden, wäre es die Sache allemal wert. Ein schwaches Leuchten weit hinten im Gebäude erleichterte die Orientierung. Der Söldner bahnte sich seinen Weg auf das Leuchten zu, als er auf einmal bemerkte, dass er schon längst keine der Frauen mehr im Arm hielt. Irgendwo nahe der Tür mussten sie sich von ihm gelöst haben. »Hey, Ladies!«, rief er. »Wo seid Ihr denn abgeblieben?« »Hier drüben ...«, antwortete die Stimme der in Gold gekleideten Frau, wenn Brek sich nicht irrte. Wenn sie die Erste sein wollte, würde er sie nicht enttäuschen. Brek folgte ihrer Stimme und streckte die Arme aus, während er sich dem schwachen Licht langsam weiter näherte. »Nur noch ein kleines Stück ...«, murmelte die andere Frau, deren kurvenreicher Körper den Kämpfer so angesprochen hatte. »Dann wollt Ihr beide mich gleichzeitig?« Er begann zu lachen. »Na, von mir aus!« »Es freut uns, dass Ihr so denkt«, sagte die erste der Frauen und trat ins Licht. Brek stieß einen Entsetzensschrei aus. Unter struppigem Haar starrte ihn ein geschundenes Gesicht aus leeren Augen an. Der kreisrunde Mund, in dem scharfe, nadelgleiche Zähne aufblitzten, stand offen. Das Fleisch, das einst das Gesicht der Frau bedeckt hatte, war vertrocknet und die Haut so angespannt, dass sie jeden Moment zu zerreißen drohte. Knochige Klauen streckten sich ihm entgegen und suchten den Kontakt. Er konnte die zerfetzten Überreste des goldenen Kleides ausmachen, und erst dann ließ das, was er an Schrecken vor sich 142
sah, ihn endlich handeln. Er griff nach seinem Schwert – musste jedoch feststellen, dass die Scheide leer war. Wo war seine Waffe geblieben? Allmählich kehrte die Erinnerung an das Gasthaus zurück, in dem er den Frauen und einigen anderen Anwesenden gezeigt hatte, welche Rolle ihm beim Kampf gegen die höllische Katze zugefallen war. Danach war eine Runde zu Ehren seiner Heldentat ausgegeben worden, und dann ... Er hatte das Schwert auf dem Stuhl neben sich liegen lassen! Voller Furcht wich Brek zurück, rempelte dabei aber jemanden an. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm ein weiteres kadavergleiches, aber begieriges Gesicht, eine mumifizierte Hülle, die eigentlich nur der anderen Frau gehören konnte, die ihn am Arm hierher geführt hatte. »Wir hätten gern alle etwas von dir«, sagte sie. Und während sie sprach, bemerkte Brek, dass sich im Dämmerlicht weitere Gestalten bewegten, ähnlich aussehend, und die sich gierig nach ihm streckten. Er brachte einen einzigen kurzen Aufschrei zustande, bevor sie ihn unter sich begruben.
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Acht Hauptmann Dumon hatte sich den Himmel immer als einen Ort vorgestellt, an dem es nur helles Licht gab und die Dunkelheit keine Chance hatte, sich dort festzusetzen. Dass der Himmel ein Reich sein könnte, in dem die Schatten herrschten und in dem selbst die Morgendämmerung den Tod bedeuten konnte, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Allerdings kam für ihn im Grunde jeder Ort, an dem er mit Atanna zusammensein konnte, dem Himmel gleich. Vor einigen Stunden hatte er sie verlassen, doch sie war nach wie vor in seinem Herzen und in seinen Gedanken. Seitdem war ihm nur ein leichter Schlaf vergönnt gewesen, dennoch fühlte er sich erfrischter und ausgeruhter als je zuvor in seinem Leben. Er sah aus dem Fenster des Zimmers, das man ihm überlassen hatte, und bemerkte, dass immer noch überall in der Stadt Fackeln brannten. Auch wenn sich ein Teil von ihm danach sehnte, ein wenig Tageslicht zu sehen, das ein Gefühl für das Verstreichen der Zeit vermittelte, wusste der Hauptmann nur zu gut, dass dies nicht möglich war. So lange die Einwohner von Ureh nicht unbehelligt in den Sonnenschein hinaustreten konnten, musste sich der Schatten unverrückbar über dem Königreich spannen. Atanna war sicher, dass ihr Vater die Situation lösen konnte, da sie nun auf der Ebene der Sterblichen eine gewisse Stabilität erreicht hatten. Doch um überhaupt etwas in die Wege zu leiten, musste er zunächst einmal befreit werden – was wiederum nur durch Quov Tsin erreicht werden konnte. 144
Nie zuvor hatte sich Kentril wegen echter magischer Hilfe an den Vizjerei gewandt. Er hätte sie während des Kampfes mit der dämonischen Katze gut gebrauchen können, aber viel erwartet hatte er nicht. Und nun betete er sogar dafür, dass Tsin sich als der Meister erweisen würde, der zu sein er vorgab. »Kentril!« Gorst stand in der Tür. Kentril blinzelte einen Moment lang, als er sich daran erinnerte, dass er normalerweise jeden Morgen von seinem Stellvertreter einen Lagebericht erhielt. Da Tsins Auftrag erledigt zu sein schien, hatte der Hauptmann alle derartigen Gewohnheiten jedoch bereits verdrängt. Seine Gedanken kreisten nur noch um Khans Tochter. »Ja, Gorst.« »Drei Männer werden vermisst, Kentril.« »Vermisst?« »Sieben sind zurückgekehrt.« Er grinste breit. »Betrunken. Drei sind nicht zurückgekehrt.« Hauptmann Dumon zuckte mit den Schultern. »In Anbetracht der Situation keine allzu große Überraschung. Mich wundert schon eher, dass überhaupt so viele wiedergekommen sind.« »Soll ich nach ihnen suchen?« »Erst, wenn sie über ein paar Tage hinweg vermisst bleiben. Wir werden hier alle wie Könige behandelt, Gorst. Das genießen sie natürlich, weiter nichts.« Der Kämpfer mit der dichten schwarzen Mähne wollte sich abwenden, machte dann aber doch noch eine Bemerkung: »Sie ist schöner als auf der Brosche, Kentril.« »Ich weiß. Gorst ... hast du schon gehört, wie Tsin vorankommt?« Wenn einer die Fortschritte des Vizjerei im Auge behalten hatte, dann der riesige Söldner. 145
»Der Zaubermann glaubt, er hat etwas entdeckt.« Das gefiel Kentril. »Gut. Wo finde ich ihn?« »Bei den Büchern.« Als deutlich wurde, dass dem Hauptmann dieser Hinweis nicht genügte, brummte Gorst: »Ich zeige dir den Weg.« Kentril folgte ihm durch ein Labyrinth aus Gängen, bis sie einen Raum erreichten, in dem sich zweifellos eine der umfangreichsten Sammlungen von Schriften befand, die der Söldner je mit eigenen Augen gesehen hatte. Zwar war er des Lesens und Schreibens mächtig – ganz im Gegensatz zu den meisten seiner Männer –, doch konnte er sich nicht vorstellen, jemals so viele Worte aneinander zu reihen. Hinzu kam, dass die Worte in diesen Büchern und auf den Schriftrollen nicht nur eine Bedeutung, sondern Macht besaßen. Sie waren voller Magie. Die Regale erstreckten bis hoch an die Decke, jedes von ihnen war mit in Leder gebundenen Büchern oder mit dicht an dicht gestellten Pergamenten gefüllt. Ein System war auf den ersten Blick nicht zu erkennen, aber als ein Mann des Militärs ging Hauptmann Dumon davon aus, dass ein solches existierte. Vor jedem der Regale stand eine abgewetzte Leiter, und für diejenigen, die sich Urehs literarische Schätze zunutze machen wollten, hatte man Tische und Stühle bereitgestellt. Als ein Söldner wusste Kentril auch den Wert zu schätzen, den viele der hier gelagerten Schriften besitzen mussten. Hexenmeister wie Quov Tsin bezahlten oft immense Summen für derartige Bücher, und er selbst hatte schon ein paar Werke dieser Art beschafft, für die er gut entlohnt wurde. Doch im Augenblick war die Bibliothek für Kentril nur ein Mittel, um Atanna zu befreien. Inmitten des von Öllampen erhellten Raum saß Quov Tsin über Bücher und Pergamente gebeugt und machte sich mit einem 146
Federkiel Notizen, während er mit dem Zeigefinger über eine bestimmte Seite in einem besonders dicken Buch fuhr. Der Vizjerei sah nicht auf, als sich Kentril ihm näherte. Tsin murmelte Unverständliches, und der Gesichtsausdruck des Hexenmeisters ließ den hartgesottenen Kämpfer innehalten. Er hatte den kleinen Mann schon mit der Miene eines Besessenen erlebt, doch jetzt wirkte Tsin so, als habe er völlig den Verstand verloren. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, und sein Blick wanderte immer nur zwischen dem Buch und dem Blatt hin und her, das er beschrieb. Ein Grinsen, das der Hauptmann bislang nur bei Toten gesehen hatte, überzog das Gesicht des kleinen Mannes und verlieh Tsin einen beunruhigenden Ausdruck. Kentril räusperte sich, doch der vornüber gebeugte Vizjerei sah nicht auf, sondern machte nur immer mehr Notizen. »Tsin.« Mit einer schier übermenschlichen Anstrengung gelang es dem Hexenmeister, sich von seiner Arbeit abzuwenden und den Hauptmann anzusehen. »Was gibt es, Dumon?« Angesichts des Gifts, das der Vizjerei mit jedem Wort zu verspritzen schien, wichen Kentril und Gorst gemeinsam ein Stück zurück. Der Hauptmann bemerkte, dass seine Hand in einem Reflex zum Heft seines Schwertes gezuckt war. Rasch zog er sie zurück, ehe Tsin daran Anstoß nehmen konnte. »Ich bin gekommen, um zu sehen, welche Fortschritte Ihr macht, was Lord Khan und die Stadt angeht ...« »Ich könnte viel größere Fortschritte machen, wenn ich nicht permanent von Euresgleichen gestört würde!« Quov Tsin schlug mit der Faust auf den Tisch, woraufhin einige Tintenspritzer auf dem unteren Teil des Pergaments und auf seiner Hand landeten. Er schien es nicht wahrgenommen zu haben, stattdessen kon147
zentrierte er sich weiter darauf, giftige Worte auszustoßen. »Ihr kommt her und stört mich mit Euren Fragen, während ich hier kurz vor einer Entdeckung stehe! Kann Euer schwacher Verstand nicht das Ausmaß dessen begreifen, dem ich mich anzunähern versuche?« Er ließ den Federkiel los und griff mit seiner von Tinte befleckten Hand nach dem Zauberstab. Hass füllte Tsins Augen. Kentril wich noch ein Stück weiter zurück und wäre fast mit Gorst zusammengestoßen. »Ganz ruhig, Tsin! Seid Ihr des Wahnsinns?« Der Vizjerei umfasste den Stab so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Seine silbergrauen Augen sahen abwechselnd die beiden Männer und den mit Runen überzogenen Stab in seiner Hand an. Einige gefährliche Sekunden lang rang der Mann mit sich, was er tun sollte ... bis Quov Tsin den Stab endlich wieder weglegte und sich unter großer Anstrengung wieder seiner Arbeit widmete. Ohne seine Besucher anzusehen, flüsterte er: »Ihr solltet jetzt besser gehen.« »Tsin, ich glaube, Ihr müsst Euch ein wenig ausruhen ... und wann habt Ihr überhaupt zum letzten Mal etwas gegessen?« Der Zauberkundige ballte beide Hände zu Fäusten. Mit weiterhin gesenktem Blick zischte er: »Ihr solltet jetzt besser gehen.« Gorst fasste Kentril an der Schulter, und sie verließen beide die Bibliothek. Erst als sie einige Schritte auf dem Korridor zurückgelegt hatten, wagten sie, wieder etwas zu sagen. Hier konnten sie hoffen, nicht mehr von Tsin gehört zu werden. »War er das letzte Mal auch schon so, als du ihn gesehen hast?«, wollte Hauptmann Dumon wissen. »Nein ... jedenfalls nicht so, Kentril.« 148
»Ich wusste ja schon immer, dass der alte Magier unbeherrscht ist, aber Tsin hätte uns ja fast umgebracht. Das ist dir doch klar, oder?« Der Riese sah ihn finster an. »Das ist mir klar.« »Ich sollte mit Juris Khan reden. Niemand hat etwas davon, wenn der alte Tsin verrückt und dazu auch noch gewalttätig wird. Er könnte noch jemanden verletzen.« »Vielleicht müsste er einfach nur ein wenig schlafen.« Kentril verzog das Gesicht. »Tja, wenn ihn jemand dazu bringen kann, dann nur Khan. Du hast gesehen, wie sehr er auf mich hören wollte.« »Soll ich ihn im Auge behalten?«, fragte Gorst. »Nur, wenn du auf sicherer Entfernung zu ihm bleiben kannst. Aber mach es auch nicht sofort. Er soll sich erst wieder ein oder zwei Stunden lang in seine Arbeit vertiefen. Das dürfte ratsam sein.« Von irgendwoher aus dem Palast war auf einmal eine Flöte zu hören. Augenblicklich verlor Kentril jegliches Interesse am Treiben des Vizjerei. Er kannte nur eine Person in Khans Palast, die Flöte spielte. »Vielleicht sollte ich erst mit Atanna reden. Sie kann es ihrem Vater sicher besser erklären«, sagte der Hauptmann. »Das dürfte wohl die beste Vorgehensweise sein.« Wieder grinste Gorst ihn breit an. »Wahrscheinlich.« Kentril spürte, wie er errötete. Er wandte sich zum Gehen, merkte aber noch an: »Pass auf dich auf, Gorst.« »Du auch«, gab dieser – immer noch grinsend – zurück. Das Flötenspiel hielt an. Wieder war es jene schaurige Melodie, die Kentril beim schicksalhaften ersten Mal gehört hatte. Er folgte der Musik durch etliche sich windende Gänge, die ihm das 149
Gefühl vermittelten, er würde sich abermals auf dem Weg zur Bibliothek befinden. Schließlich gelangte er nicht auf einen Balkon oder in einen der riesigen Säle, sondern zu einem offenen Tor, das auf einen ausladenden Innenhof unter freiem Himmel führte, der als Garten diente. Obwohl ... die Bezeichnung Garten war eher eine massive Untertreibung. Vor dem Soldaten lag ein kleiner Wald oder eher schon ein Dschungel. Exotische Bäume und Pflanzen wuchsen hier, wie sie Kentril noch nie zu Gesicht bekommen hatte, nicht einmal auf seinen Reisen in die entlegensten Regionen von Kehjistan. Dunkles Grün, lebendiges Karmesinrot, grelles Gelb und feuriges Orange schmückten die Szene auf eine fesselnde Weise. Es gab Hängepflanzen mit langen Ranken und monströs große Blumen, von denen manche größer waren als sein Kopf. In einem solchen Garten konnte man sich verlaufen, dessen war sich Kentril sicher. Nahe dem Pfad, der in den Wald führte, saß Atanna auf einer Steinbank und spielte Flöte. Sie trug ein wallendes, seidenes Kleid, das auf eine unerklärliche Weise die Kurven ihres Körpers nicht kaschierte, sondern vielmehr betonte. Die langen, roten Zöpfe hingen ihr über die linke Gesichtshälfte bis zu ihrem allzu verlockenden Dekolleté. Zuerst bemerkte sie ihn gar nicht, doch als er sich ihr – gebannt von ihrem Anblick – näherte, sah Atanna mit einem Mal auf. Ihre Augen waren so eindringlich, dass Kentril nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte. Atanna nahm die Situation aber sofort in die Hand, indem sie die Flöte zur Seite legte und zu ihm kam. »Kentril! Ich hoffe, du hast gut geschlafen.« »Sehr gut sogar. Du spielst wunderschön, Atanna.« 150
Sie reagierte mit einem höchst zurückhaltenden Blick. »Das finde ich zwar nicht, aber mein Vater ist der gleichen Meinung wie du.« Unsicher, was er erwidern sollte, sah er an ihr vorbei in den Garten. »Hier weiß man nie, was einen als Nächstes erwartet.« »Gefällt es dir? Das ist mein Lieblingsort. Ich habe einen Großteil meines Lebens hier verbracht ... und auch einen Großteil meines Exils.« »Dieser Ort ist ... außergewöhnlich.« Atanna zog ihn mit sich. »Du musst es dir aus der Nähe ansehen.« Trotz der fröhlichen Farben der Blüten und mancher Pflanze, hatte der Garten ein recht unheilvolles Aussehen, das Kentril erst wirklich bemerkte, als seine Gastgeberin ihn entlang des Pfades führte, der sich durch die Anlage zog. Mit einem Mal wichen Schönheit und Bewunderung einem wachsenden Unbehagen. Der Garten erinnerte ihn immer mehr an den Dschungel, durch den er und seine Männer vorgedrungen waren und der vier Kämpfern aus seiner Gruppe das Leben gekostet hatte. »Was ist los?«, fragte die Tochter von Juris Khan. »Nichts.« Er wappnete sich für den Spaziergang. Dies hier war nicht der Dschungel, dies hier war nur ein Garten, den man für den Herrscher über dieses Reich angelegt hatte. Welche Gefahr sollte darin schon lauern? »Ich liebe es hier«, erklärte sie leise. »Hier kann ich der Welt entfliehen, in der ich gefangen bin. Hier kann ich mir vorstellen, weit weg zu sein, in einem fernen Land, in dem ein gutaussehender Fremder auf mich wartet.« Kentril wollte etwas sagen, gelangte aber zu der Ansicht, dass er nicht sicher sein konnte, ob seine Zunge ihn nicht womöglich 151
im Stich lassen würde. Er konnte es kaum glauben. Noch nie in seinem Leben hatte es eine Frau gegeben, in deren Gegenwart er sich so berauscht gefühlt hatte. Die breiten Blätter der Pflanzen strichen über ihre Schultern, und hin und wieder hingen in Kopfhöhe Ranken, die scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht waren. Der Weg, auf dem sie gingen, war so angelegt, dass er wie ein natürlicher Pfad wirkte – eine Schicht aus weicher Erde und Sand auf vermutlich solidem Steinuntergrund. Mit jedem weiteren Schritt in den Garten wurde es dunkler, bis Kentril den Bereich nicht mehr sehen konnte, an dem sie die Anlage betreten hatten. Er konnte nicht einmal mehr vermuten, wo genau sich vor ihnen der Ausgang befinden mochte. Jetzt kam es ihm tatsächlich so vor, als wäre er in den Dschungel zurückgekehrt. Seine Begleiterin nahm seine plötzliche Angst wahr. »Du zitterst am ganzen Leib.« »Es ist nichts weiter, Mylady.« »Du sollst mich doch Atanna nennen«, sagte sie mit gespielter Entrüstung. »Oder hat dir das so wenig bedeutet?« Sie beugte sich vor und küsste ihn, und im nächsten Augenblick schwand seine Angst, die die Umgebung betraf. Kentril legte seine Arme um Atanna und erwiderte ihre Leidenschaft. Dann spürte er auf einmal etwas an seinem Genick, eine langsame, aber gleichmäßige Bewegung, die sich wie ein Wurm oder eine Raupe anfühlte. Doch das, was sich da über seine Haut bewegte, hatte Gliedmaßen, die spitz wie Nadeln waren. Unfähig, dieses Gefühl zu ignorieren, drängte Hauptmann Dumon Atanna zurück und wollte nach der Kreatur greifen. Doch als sich seine Hand der Stelle näherte, zog sich das Ding 152
zurück, als sei es von ihm abgefallen. »Was ist?«, fragte Atanna besorgt. »Etwas ist auf mir gelandet! Es hat sich angefühlt, als sei es mit winzigen Klingen an jedem Bein über meinen Nacken gelaufen!« Obwohl es ziemlich dunkel war, konnte er ihr Gesicht immer noch gut erkennen. Atanna legte beunruhigt die Stirn in Falten, doch eine Erklärung schien sie ihm nicht geben zu können. »Sollen wir zurückkehren?« Der Schmerz hatte nachgelassen, und Kentril wollte nicht wie ein Feigling oder Narr dastehen, vor allem nicht, wenn es sich vermutlich nur um irgendein Insekt gehandelt hatte. »Nein, lass uns weitergehen.« Sie legten ein paar Schritte zurück, dann blieben sie stehen, um sich abermals zu küssen. Atanna schmiegte ihren Kopf an seine Brust. »Vater hofft immer noch, die Reise in den Himmel vollenden zu können.« Er versteifte sich. »Ist das denn noch möglich?« »Das glaubt er zumindest. Ich bete, dass er sich irrt.« »Wieso denn?« Sie legte ihre Hand auf seine Wange. »Weil die Welt der Sterblichen mehr nach meinem Geschmack ist.« »Kannst du es ihm nicht ausreden?« Die sanfte Berührung ihrer Hand auf seiner Haut ließ Kentril ruhiger werden. »Es wäre leichter, wenn ich wüsste, dass unsere Chancen besser stehen und es ungefährlicher wäre, auf Dauer auf der Ebene der Sterblichen zu bleiben. Wenn ich ihn davon überzeugen könnte, dass dies zum Nutzen aller wäre, dann – so habe ich das Gefühl – würde er einlenken. Immerhin existiert die Bedrohung nicht mehr, vor der wir ursprünglich geflohen sind.« 153
Sie wollte bleiben, und er wollte, dass sie blieb. Aber Juris Kahn wünschte sich, doch noch das heilige Ziel zu erreichen, das ihm in jenen finsteren Jahren des Schreckens angeboten worden war. Das war zwar nicht überraschend, sie beide aber wollten davon nichts wissen. »Vielleicht weiß Tsin ...«, begann Kentril, erinnerte sich dann aber an die Besessenheit, mit der der Vizjerei seiner Arbeit nachging. Er wollte Tsin nicht noch einmal ansprechen müssen, zumindest so lange nicht, wie der Hexenmeister nicht ausreichend gegessen und geruht hatte. »Vielleicht könnte er Vater überzeugen?« Ihr Tonfall verriet die Hoffnung, die sie hegte. »Der alte Mann scheint sehr begabt zu sein, auch wenn es ihm an Höflichkeit mangelt. Glaubst du, er könnte das schaffen?« »Ich ...« Wieder hielt der Hauptmann inne. Eine Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an. Möglicherweise würde sie Tsins Natur ansprechen. Atanna schien zu bemerken, wie sich seine Stimmung veränderte. »Du hast dir gerade etwas überlegt, nicht wahr?« »Eine mögliche Idee. Wenn Tsin sich noch immer so verhält, wie ich es von ihm gewohnt bin, dann könnte es zu unserem ... zu eurem Nutzen funktionieren. Ich muss erst noch eine Weile darüber nachdenken. Außerdem wäre es gut, wenn ich nicht sofort mit ihm spreche.« »Ich habe auch nicht die Absicht, dich jetzt schon wieder gehen zu lassen«, gab die junge Frau zurück. »Jedenfalls nicht sofort.« Atanna trat vor und küsste ihn erneut. Hauptmann Dumon erwiderte ihren Kuss, da er sich mit einem Mal viel besser fühlte. Wenn er den Vizjerei überreden konnte, die Sache aus seinem Blickwinkel zu betrachten, würde 154
Tsin auch Khan überzeugen können. Kentril musste nur die Habgier des Zauberkundigen wecken ... Plötzlich keuchte er vor Schmerz auf. Etwas bohrte sich in seinen Rücken, als wollte es bis in sein Herz vordringen. Er drehte sich um und bekam etwas zu packen, das sich wie eine der Ranken anfühlte. Ein Empfinden von tausend Nadeln jagte durch Finger und Handfläche. »Kentril!« Trotz der Schmerzen ließ der Söldner nicht locker, sondern zog mit aller Kraft an dem Ding. Ein sonderbares, ganz und gar unmenschliches Kreischen hallte durch den Garten. Die komplette Ranke fiel auf den Pfad, eine dunkle, sehnige Struktur, die mindestens dreimal so lang wie ein Mann war. Kentril ließ das Ende los und packte seine Hand, mit der er die Ranke gehalten hatte. Sie schmerzte, als hätte er sie geradewegs in ein loderndes Feuer gehalten. »Atanna! Was war ...« »Ich weiß es nicht! Deine Hand! Gib mir deine Hand!« Mit ihren Fingern berührte sie sanft seine brennende Haut, und sofort ließ der Schmerz deutlich nach. Sie flüsterte etwas, dann beugte sie sich vor und berührte seine Hand mit ihren Lippen. Aus Angst, sie könnte etwas von dem Pflanzengift abbekommen, das ihn getroffen hatte, versuchte er, sie wegzudrängen. Atanna erwies sich jedoch zu seiner Überraschung als so kräftig, dass er sich nicht aus ihrem Griff lösen konnte. »Bitte, Kentril, bleib ruhig. Ich weiß, was ich tue.« Tatsächlich schien das der Fall zu sein, denn je länger sie seine 155
Verletzung behandelte, umso mehr ließ der Schmerz nach. Es dauerte nicht lange, da konnte er bereits wieder die Finger bewegen, ohne dass er mehr als ein leichtes Stechen fühlte. »Was hast du gemacht?«, fragte er sie schließlich. »Ich bin die Tochter meines Vaters«, erwiderte sie lediglich. »Ich bin die Tochter des Hochverehrten Juris Khan.« Das sollte nichts anderes bedeuten, als dass sie manche seiner wundersamen Fähigkeiten teilte. Von ihrer Herrlichkeit gefesselt, hatte er ihre Talente fast vergessen. Nun, da sich Atanna um seine Verletzung gekümmert hatte, fiel ihm wieder ein, von was er ursprünglich angegriffen worden war. Er kniff die Augen ein wenig zusammen und suchte auf dem dunklen Weg nach dem Ende der Ranke. Seine Begleiterin wurde zuerst darauf aufmerksam. »Hast du danach gesucht?« »Sei vorsichtig.« Doch die Pflanze schien bei ihr nichts zu bewirken. »Das kann dich eigentlich nicht gestochen haben. Es ist nur eine HakkaraRanke. In manchen Teilen der Welt isst man den fleischigen unteren Teil. Er enthält viel Saft, und ihm wird nachgesagt, dass er sehr gesund ist.« »Dieses dürre Ding?« Er nahm ihr die Ranke aus der Hand und stellte fest, dass sie sich bis auf ein paar winzige Beulen glatt und weich anfühlte. Frustriert strich Kentril über ein weiteres Stück der Ranke, ohne auf etwas Ungewöhnliches zu stoßen. »Irgendein Insekt muss dich gebissen haben. Vermutlich das Gleiche, das dich kurz zuvor schon belästigte«, überlegte Atanna. »Manchmal haben es Insekten aus dem Dschungel bis nach hier geschafft, auch wenn durch den Berg ein kühleres Klima entsteht, als sie es eigentlich bevorzugen.« 156
»Ein Insekt? In Ureh?« »Wieso nicht? Du und deine Freunde, ihr seid doch auch hier. Warum sollte das nicht auch einem Insekt gelingen? Der Dschungel ist nicht sehr weit von unserem Königreich entfernt.« Ihre Worte klangen zwar überzeugend, konnten ihn aber nicht gänzlich beruhigen. Er sah sich in dem dunklen Garten um, und schließlich sagte er: »Lass uns weitergehen.« Erst als er weit vor sich den ersten Lichtschimmer bemerkte, wurde Kentril wieder ruhiger. Als sie den Garten verließen, sah er mit kaum verhohlener Abscheu über die Schulter zurück. Atanna und andere in Ureh mochten diesen Hain friedlich und schön finden, doch für ihn passte er mehr zu dem alptraumhaften Fluch, den Gregus Mazi gewoben hatte. Waren die Pflanzen durch das zeitlose Exil im Limbus auf eine Weise verändert worden, die Khans Tochter nicht bemerkte? »Jetzt, da es wieder heller ist«, sagte Atanna plötzlich, »möchte ich mir noch einmal deine Hand ansehen.« Er drehte sich zu ihr um und hielt beide Hände zur Begutachtung ausgestreckt. Es war kaum mehr als ein paar Striemen zu erkennen. Kentril konnte das kaum glauben, hatte sich seine Hand doch so angefühlt, als wäre sie eine blutige, von Löchern zersetzte Masse. Die junge Frau fuhr mit einem Finger über die verbliebenen Male und sagte: »In Kürze werden auch die wieder verschwunden sein.« »Das ist erstaunlich. Vielen Dank.« Er hatte schon früher den Einsatz von Magie erlebt, aber nie am eigenen Leib erfahren. Kentril war sicher, dass es ihm noch um einiges schlechter ergangen wäre, wenn Atanna sich seiner nicht angenommen hätte. »Es ist nichts Bedeutendes ... und es tut mir Leid, dass du mei157
netwegen leiden musstest. Hätte ich dich nicht zu diesem Spaziergang eingeladen, dann ...« »Solche Dinge passieren nun mal. Gib dir daran keine Schuld.« Sie warf ihm einen bittenden Blick zu. »Wirst du trotzdem mit Meister Tsin reden, damit er versucht, meinen Vater zu einem Meinungswandel zu bewegen?« »Natürlich werde ich das!« Wie konnte Atanna nur etwas anderes denken? Der Hauptmann tat das nicht nur für sie, sondern auch für sich. »Der alte Tsin ist in seinem Denken und Handeln konsequent. Ich werde ihm die Sache so erklären, dass er Gefallen daran findet. Dann wird er alles daransetzen, Lord Khan zur Einsicht zu bringen.« »Das will ich hoffen«, sagte sie und küsste ihn noch einmal. »Wo wir gerade wieder von meinem Vater sprechen ... ich muss mich jetzt zu ihm begeben. Da er nicht von seinem Stuhl aufstehen kann, spiele ich für ihn, um ihm ein wenig von seiner Last zu nehmen. Vielleicht kann ich ja bereits eine vorsichtige Andeutung machen. Er ist immer viel zugänglicher, nachdem er meiner Musik gelauscht hat.« Nach einem letzten Kuss ging Atanna davon. Kentril sah ihr nach, wie sie im Garten verschwand. Auch wenn es für ihn der angemessenere Weg gewesen wäre, folgte der Söldner ihr nicht. Stattdessen umging er den Garten und wahrte einen sicheren Abstand zum Grün. Als er die Stelle erreichte, an der Khans Tochter gesessen und Flöte gespielt hatte, war Atanna bereits fort. Hauptmann Dumon warf dem Hain einen letzten abschätzenden Blick zu. Der Garten wirkte jetzt nicht ungewöhnlicher als jeder andere Flecken Dschungel oder Wald. Aber als ein Ort, der von einem meisterlichen Gärtner gestaltet worden war, hätte er 158
keine so beängstigende Atmosphäre vermitteln dürfen. Je länger Kentril den Garten betrachtete, umso mehr war er überzeugt, dass er daraus nicht so leicht wieder herausgefunden hätte, wenn er auf sich allein gestellt gewesen wäre. Plötzlich räusperte sich jemand hinter ihm. »Hauptmann?« »Albord.« Er hoffte, dass der andere nicht gemerkt hatte, wie er zusammengezuckt war. »Was gibt es?« »Tut mir Leid, wenn ich Euch störe, aber einige von uns haben sich gefragt, wann wir unsere Belohnung von dem Herrscher bekommen werden, damit wir nach Hause zurückkehren können.« »Bist du all die Annehmlichkeiten schon Leid, Albord?« Der weißhaarige Kämpfer mit dem glatten Gesicht machte den Eindruck, als fühle er sich unbehaglich. Kentril vergaß immer wieder, dass Albord trotz aller Erfahrung und aller Fertigkeit weit jünger war als die meisten aus der Gruppe. Dass er oft das Kommando übernommen hatte, wenn Gorst unabkömmlich war, sprach fur den Mann. »Es ist ja nicht so, dass ... ich habe mich hier wirklich vergnügt, Hauptmann ... aber einige von uns möchten gern nach Westmarch zurückkehren.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir fühlen uns zu Hause einfach wohler, Sir.« Das Letzte, was Kentril wollte, war, jetzt aufzubrechen. Dennoch konnte er verstehen, wie sich die anderen fühlen mochten. Gorst würde vermutlich bleiben, er hatte weder Familie noch Verwandtschaft. Die anderen dagegen hatten ihre Wurzeln in den Westlichen Königreichen, Menschen, die sie liebten. Dass diese Männer sich als Söldner verdingten, hatte nicht nur damit zu tun, dass sie reich werden wollten, sondern da waren auch Angehörige, die ernährt werden mussten. Die Gedanken an den Garten traten in den Hintergrund, und 159
der Hauptmann klopfte Albord auf die Schulter. »Ich werde sehen, was sich machen lässt, damit ihr heimkehren könnt. Wenn ich das tue, kann ich darauf vertrauen, dass ihr auch etwas für die Familien derjenigen mitnehmt, die ihr Leben gelassen haben? Wenn ich unseren Gastgeber richtig einschätze, dann sollte er jedem genug zukommen lassen.« »Aye, Hauptmann! Ihr wisst, dass ich ein ehrlicher Mensch bin.« Kentril hatte daran nicht den mindesten Zweifel. Er wusste auch, welche anderen Überlebenden aus ähnlichem Holz geschnitzt waren. Niemand wurde in Hauptmann Dumons Trupp aufgenommen, ohne vorher auf Herz und Nieren geprüft zu werden. Wenn Kentril Albord mit Münzen heimkehren ließ, dann konnte er sicher sein, dass die Hinterbliebenen von Benjin, Hargo und den anderen diese Münzen auch bekommen würden. Dankbar salutierte der junge Kämpfer vor ihm. Er wollte sich zurückziehen, doch dann zögerte er: »Hauptmann, zwei unserer Männer sind noch immer nicht aus der Stadt zurückgekehrt.« »Ich weiß, Gorst hat es mir gesagt. Es sind sogar drei.« »Simon hat sich vor kurzem wieder zurückgeschleppt, doch er sagte, Jace habe sich bereits vor Stunden auf den Rückweg gemacht. Und Brek wurde von niemandem gesehen.« Kentril, der genug Männer vom Schlag der beiden Vermissten kennen gelernt hatte, reagierte mit einem Schulterzucken auf Albords Sorge. »Sie werden schon wieder auftauchen. Vergiss nicht, sie werden sich ihren Anteil nicht entgehen lassen wollen.« »Soll ich jemanden ausschicken, um nach ihnen zu suchen?« »Jetzt nicht.« Der Hauptmann merkte, dass er ungeduldig wurde. Er brauchte ein wenig Zeit für sich, um darüber nachzudenken, wie er den Sachverhalt am besten darstellen konnte, 160
damit Tsin seine Sicht der Dinge verstand. Kentril konnte nicht noch mehr Zeit vergeuden, nur weil betrunkene Söldner noch immer nicht wieder aufgetaucht waren. »Ich habe Gorst gesagt, er soll eventuell nach ihnen suchen lassen, wenn auch in den nächsten Tagen nichts von ihnen zu sehen ist.« Er hoffte, dass er nicht allzu desinteressiert geklungen hatte, und klopfte Albord aufmunternd auf die Schulter. »Versuch, dich ein wenig zu entspannen. Genieße das hier. Glaub mir, Albord, so etwas widerfährt unsereins nicht oft. Der Dschungel, den wir durchquerten, oder der Winter nahe dem Golf von Westmarch – das ist normalerweise unser Los.« Albord reagierte mit dem Lächeln eines Bauernjungen, das Kentril an die Herkunft der meisten schlecht bezahlten Söldner erinnerte. »Ich nehme an, dass ich das Essen und die Frauen noch ein wenig länger aushalten kann.« »Das höre ich gerne!«, rief der ältere Kämpfer aus, während er den anderen zum Korridor zurückführte. Vor seinem geistigen Auge sah Kentril Atanna, die sein Grund war, noch einige Zeit hier auszuharren ... vielleicht sogar für immer. So lange er den Vizjerei nicht dazu überredet hatte, Juris Khan von dem Gedanken abzubringen, weiter nach dem Weg in den Himmel zu streben, würde er das Thema der Entlohnung nicht anschneiden. Schließlich hatten Albord und die anderen auch schon auf andere Weise Anerkennung für ihre Leistung erfahren. Davon abgesehen fragte sich Kentril, was schon passieren sollte, wenn sie noch ein paar Tage verstreichen ließen.
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NEUN Der ewige Schatten über Ureh war Zayl äußerst dienlich, als er zu Gregus Mazis Zuhause im Berg aufstieg. Denn von einigen Vierteln der darunter gelegenen Stadt konnte man einiges davon erkennen. Entsprechend mühelos wäre ohne den Schatten bei Tageslicht auch die Gestalt zu bemerken gewesen, die sich auf dem Felsenpfad nach oben bewegte. Zayl konnte gut verstehen, warum der Hexenmeister sich diesen Ort ausgesucht hatte, zugleich fragte er sich aber auch, warum ihm die Ruinen noch nie aufgefallen waren. Der Zauber, der Ureh als eine geisterhafte Form in Richtung Himmel befördert hatte, zeigte interessante Begleiterscheinungen, von denen er hoffte, sie später noch genauer erforschen zu können. Unter ihm nahmen die Feiern in der Stadt kein Ende. Zayl runzelte die Stirn. Benötigten diese Leute denn überhaupt keinen Schlaf? Zugegeben, dieses Reich im Limbus unterstand nicht den gleichen Gesetzen wie die Ebene der Sterblichen, doch inzwischen hätten etliche der Bewohner längst völlig erschöpft sein müssen. Riesige, bedrohliche Statuen empfingen ihn, als er das erreicht hatte, was ein Eingangsportal zum Kloster gewesen sein musste. Früher einmal waren sie Erzengel mit majestätisch flammenden Schwertern und gewaltigen gespreizten Flügeln gewesen. Doch so wie ihre Pendants vor den Toren von Khans Palast wiesen auch sie schwere Beschädigungen auf. Einem Engel fehlten ein kompletter Flügel und die rechte Gesichtshälfte. Der andere besaß überhaupt keinen Kopf mehr, und dort, wo seine Schwingen 162
angesetzt hatten, ragten nur noch Stümpfe hervor. Zayl stieg über das Geröll und wunderte sich, dass Gregus Mazis Behausung nach wie vor in Schutt und Asche lag, während der Rest der Stadt in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt worden war. Der Nekromant vermutete, dass die Bewohner der verfluchten Stadt zu irgendeinem Zeitpunkt ihre Wut an seinem Zuhause ausgelassen hatten. Wieder wünschte er sich, mehr über dieses Reich zu wissen, in dem Ureh gefangen war. Khan hatte angedeutet, dass die Zeit auch in Ureh verstrich. Immerhin war die Rede davon gewesen, dass während der Jahrhunderte langen Gefangenschaft nach einer Möglichkeit gesucht worden sei, aus diesem Zustand zu entfliehen. Gleichzeitig schien es aber auch so, dass niemand in Ureh etwas essen musste, denn Lebensmittelvorräte hätten nicht für eine so lange Zeit reichen können. Was vom Kloster noch übrig war, empfand Zayl auf den ersten Blick als nicht besonders beeindruckend. Am äußersten Rand des Berges gelegen, deutete der unscheinbare Umriss auf ein zweistöckiges, kastiges Gebäude hin, in dem jede Etage Platz für höchstens zwei Zimmer bieten mochte. Von einem kleinen Balkon aus konnte man die Umgebung überblicken, und eine niedrige Mauer war offenbar alles, was diesen Ort hatte schützen sollen. Trotz der Enttäuschung über seine Entdeckung setzte der Nekromant seine Suche fort. Im Erdgeschoss des Gebäudes fand sich eine schlichte Holztür, wie man sie von jedem beliebigen Landgasthaus kannte. Da seine Sehkraft in der Dunkelheit weitaus besser war als bei den meisten Menschen, konnte Zayl die Beschädigungen zu beiden Seiten des Türrahmens erkennen. Jemand hatte mit Äxten und Keulen jeden Zoll des Steinrahmens traktiert, so als sei derjenige aufs äußerste frustriert gewesen. Die 163
Tür selbst dagegen wirkte sonderbarerweise, als sei sie unberührt geblieben. Er musste nur seine Hand auf das Holz legen, um den Grund zu erkennen. Eine komplexe Reihe von Schutzzaubern war über den Eingang gelegt worden, wodurch es praktisch unmöglich wurde, die Tür zu durchschreiten. Sie war gegen körperliche Attacken ebenso gefeit wie gegen eine Fülle von magischen Angriffen. Der steinerne Türrahmen, der an der Oberfläche etliche Risse davongetragen hatte, war ebenfalls mit Zaubern geschützt worden, doch sie fühlten sich älter an, so als hätte nicht erst der letzte, berüchtigte Bewohner sie gewirkt. Zayls Achtung vor dem Einfall des Hexenmeister, ausgerechnet das Kloster als sein Zuhause zu wählen, stieg. Die Mönche, die die Baumeister dieser Anlage waren, hatten sie mit einigen sehr mächtigen Gebeten verstärkt, die selbst nach so langer Zeit noch ihren Zweck erfüllten. Der Nekromant blickte nach oben und entdeckte nirgends Fenster. An einer Stelle schien es, als hätte sich dort irgendwann einmal eine entsprechende Öffnung befunden, doch wenn dem wirklich so war, dann hatte man sie schon vor langer Zeit wieder zugemauert. Zayl ging davon aus, dass diese frühere Gebäudeöffnung ebenfalls sorgfältig gegen Eindringlinge gesichert war. Damit blieb also nur die Tür, um ins Innere zu gelangen. Der blasse Zauberkundige berührte sie erneut und fühlte die Myriaden von bindenden Zaubern, mit denen Gregus Mazi sein Haus geschützt hatte. Der alte Hexenmeister hatte seine Kunst wahrlich verstanden. Zayl zog Humbarts Schädel aus der Tasche. »Sag mir, was du siehst.« »Du meinst, abgesehen von der Tür?« 164
»Du weißt genau, was ich von dir will.« Er hielt den Schädel näher an den Eingang und ließ ihn alles genau betrachten. Einige Momente später sagte Humbart: »Da verlaufen Linien in alle Richtungen, Jüngelchen. Sehr gute und starke Magie, für die nicht nur eine Person verantwortlich ist. Für das meiste schon, aber es gibt einige Linien, die von zwei oder sogar drei anderen stammen. Selbst einige Gebete sind darunter.« Nachdem der Nekromant den Schädel wiederbelebt hatte, war ihm der angenehme Nebeneffekt aufgefallen, dass der Geist von Humbart Wessel Magie auf eine Weise erkennen konnte, wie es keinem Zauberkundigen sonst möglich war. Zayl wusste nicht, aus welchem Grund er diese Fähigkeit besaß und konnte sich die Gabe des Schädels nur dadurch erklären, dass dieser viele Jahrhunderte lang nahe den Ruinen von Ureh gelegen hatte. In den letzten Jahren war Humbarts Talent immer wieder von Vorteil gewesen, da es Zayl Stunden, manchmal sogar Tage mühseliger Arbeit ersparte. Mit der anderen Hand zog der in Schwarz gekleidete Mann den Dolch aus Elfenbein hervor, hielt das Heft nach oben und fragte: »An welcher Stelle kreuzen sich die meisten Zauber?« »Unten links, Jüngelchen. Auf Hüfthöhe ... nein, nicht da! Mehr nach rechts ... halt!« Zayl richtete das Heft auf die von Humbart angegebene Stelle und murmelte etwas, woraufhin der Dolch zu leuchten begann. Plötzlich entstand an der angezeigten Position ein buntes Muster, das an ein Sechseck in einer Blume erinnerte. Zayl flüsterte weiter, ließ nun aber den Dolch ein wenig kreisen. Das magische Muster flammte kurz auf, dann erlosch es plötzlich. 165
»Du hast einiges davon unschädlich gemacht, Jüngelchen, aber es stehen immer noch ein paar Zauber im Weg.« Während Humbarts fleischloser Schädel ihm Anweisungen gab, befreite Zayl die Tür nach und nach von den sonstigen Schutzzaubern. Wäre er gezwungen gewesen, sich allein auf seine eigenen Fähigkeiten zu verlassen, hätte er keine so raschen Fortschritte machen können. Die Zauber waren geschickt miteinander verbunden worden. Ein Vorteil war, dass die komplexesten dieser Zauber gegen Dämonen gerichtet waren, nicht gegen Menschen. Auf Befragen antwortete der Schädel, die meisten der Schutzmaßnahmen seien erst vor kurzer Zeit geschaffen worden, was vermuten ließ, dass sie das Werk von Gregus Mazi waren. »Du kannst jetzt eintreten«, erklärte Humbart schließlich. Mit dem Schädel in der Armbeuge und dem Dolch so in der Hand, dass er ihn auf konventionelle Weise einsetzen konnte, betrat Zayl das Haus. Er fand sich in einem dunklen Korridor wieder und sprach ein Wort, woraufhin der Dolch zu leuchten begann. Zayl hatte Mazis Heim für recht klein gehalten, doch nun sah er, wie sehr er sich geirrt hatte. Der leere Korridor führte weit in den Berg hinein, so tief sogar, dass nicht einmal das Ende auszumachen war. Links von ihm führte eine gewundene Treppe offenbar in den Teil des Gebäudes, der auch von außen zu erkennen war. Der Nekromant war aber lediglich daran interessiert, wohin der Korridor wohl fuhren mochte. Es konnte zwar durchaus sein, dass er das Gesuchte bereits in einem der Räume fand, doch die Neugier des Zauberkundigen war geweckt worden. Welche Geheimnisse hatte Gregus Mazi hier hinterlassen? Den Dolch, der ihm den Weg beleuchtete, ausgestreckt, ging 166
Zayl durch den langen Korridor, der mit viel Geduld in den Fels getrieben worden war. Die Wände waren sorgfaltig geglättet. Die Mönche, die diese mühselige Arbeit auf sich genommen hatten, waren aber nicht sonderlich daran interessiert gewesen, ihr Werk auch noch zu schmücken. Nur gelegentlich fand sich die Figur eines bewaffneten Erzengels. Darüber hinaus hatten sich weder die Mönche noch Mazi um Dekoration gekümmert. Am dritten Bildnis eines dieser Engel, die mit großer Sorgfalt in den Stein gehauen waren, blieb Zayl stehen, weil ihm plötzlich etwas auffiel. Humbart, der noch immer in der Armbeuge lag, wurde ungeduldig. »Ich starre auf ein kahle Wand, die nur wenige Zoll von der Stelle entfernt ist, an der sich einmal meine Nase befunden hat. Gibt es da oben zufällig irgendetwas Interessantes zu sehen?« Der Nekromant hob den Schädel höher, um ihm etwas zu zeigen. »Er ist unbeschädigt.« »Und das heißt?« »Denk doch mal nach, Humbart. Die Palasttore. Die Erzengel am Tor, das hierher führt. Sie alle sind beschädigt, als habe sie jemand zerschlagen, der diese Heiligenbilder hasst.« »Ja, und?« Zayl ging weiter zum nächsten Engel, der ebenfalls prächtig erhalten war. »Warum sollte ein Magier wie Gregus Mazi, der angeblich so ruchlos war, diese Bildnisse unberührt gelassen haben?« »Vielleicht wollte er bei sich zu Hause keine Unordnung schaffen.« »Nein, das hat etwas zu bedeuten, Humbart.« Aber was, das wusste auch der Nekromant nicht. Er ging weiter und blickte 167
immer wieder zu den himmlischen Führern, die allesamt vollständig intakt waren. Nein, Mazi hatte den Figuren in seinem Zuhause nichts angetan, und genau das ergab für Zayl keinen Sinn. Endlich erreichten sie die ersten Räume, die aus dem Fels gehauen worden waren – Räume, die der letzte Bewohner allem Anschein nach kaum genutzt hatte. Vom Mobiliar war nur wenig geblieben. Einige sehr alte Betten standen einsam und verlassen in einer Ecke, ihr Holz verrottete allmählich, manche waren bereits zusammengebrochen. »Der alte Gregus war mir nie als ein Mann vorgekommen, der die Gesellschaft anderer sehr nötig hatte«, kommentierte Humbart leise. »Das scheint ja wohl auch zu stimmen. So wie es hier aussieht, hat er nicht viele Gäste empfangen.« Nachdem er weitere Räume durchquert hatte, erreichte Zayl schließlich eine Steintreppe, die nach unten führte. Er konnte ihr Ende nicht erkennen, daher bewegte sich der Nekromant nun vorsichtiger weiter. Er hielt den Dolch vor sich ausgestreckt und hatte einen Zauber auf den Lippen, um ihn bei Bedarf sofort einsetzen zu können. Zum Glück schlug weder eine Falle noch ein Dämon zu. Am Ende der Treppe gelangte er in einen kurzen Korridor, der vor drei geschlossenen Türen endete – eine vor ihm, je eine weitere zu seiner Linken und zu seiner Rechten. Nach einer kurzen Begutachtung stand fest, dass die Türen alle identisch aussahen, und als er sie Humbart zeigte, ließ dieser ihn wissen, dass keine von ihnen mit einem Schutzzauber belegt war. »Das erinnert mich an eine Geschichte über ein Abenteuer«, plapperte der Schädel weiter, während der Nekromant noch überlegte, wie er sich denn entscheiden sollte. »Da stand ein Mann 168
auch vor drei derartigen Türen. Man hatte ihm gesagt, dass zwei von ihnen zu einem Schatz oder in die Freiheit führten, während hinter der dritten der sichere, grausame Tod lauerte. Der Mann dachte eine Weile darüber nach, lauschte an jeder Tür und entschied sich dann.« Zayl, der soeben im Begriff stand, sich für den linken Durchgang zu entscheiden, bemerkte, dass Humbart verstummt war. »Und was geschah dann?« »Naja, er machte eine Tür auf und wurde von einer Meute Ghule bei lebendigem Leib aufgefressen. Und wie sich herausstellte, bot keine der Türen Gold oder Freiheit, sondern hinter jeder von ihnen wartete ein schauerliches Ende auf denjenigen, der ...« »Ach, halt den Mund, Humbart!« Auch wenn der Schädel keinerlei Schutzzauber hatte erkennen können, ging Zayl nicht davon aus, dass es völlig risikofrei sein würde, eine der Türen zu öffnen. Er steckte den toten Gefährten zurück in die Tasche und machte sich darauf gefasst, mit irgendeiner Falle konfrontiert zu werden. Die Tür ging auf und gab den Blick in einen Raum frei, in dem eine dicke Staubschicht lag, sonst nichts. »Hat man dich schon aufgefressen?«, wollte Humbart mit gedämpfter Stimme wissen. Der Nekromant verzog den Mund. Gregus Mazi hatte zwar das alte Kloster übernommen, hatte es sich aber nicht in vollem Umfang zu eigen gemacht. Vielleicht, so überlegte Zayl, wäre es doch besser gewesen, sich erst in den vorderen Räumen umzusehen. Sein Blick wanderte zu den verbliebenen Türen, dann entschied er sich für den nächsten Raum. Die Tür, auf die man von 169
der Treppe kommend zuging, musste einfach die richtige sein. Zayl wappnete sich für das, was auch immer kommen mochte, und stieß die Tür auf. Dahinter präsentierte sich ein großer Raum, in dem halb verrottete Tische standen. An der gegenüberliegenden Wand fand sich ein hoch aufragender Erzengel, der eine Hand ausgestreckt hielt, als wolle er jemanden segnen. Zayl fluchte leise, als ihm klar wurde, dass er den Speisesaal der Mönche gefunden hatte. Dem Aussehen nach zu urteilen war es nur ein weiterer Ort, von dem Mazi keinen Gebrauch gemacht hatte. Er wandte sich ab und ging zur linken Tür. Den leuchtenden Dolch vor sich haltend, trat er ein. Überall standen Gläser und Zaubergegenstände. Zayl hielt einen Moment lang inne, um zu verarbeiten, was er sah. Dies war eindeutig die Welt des Gregus Mazi, dies war der Arbeitsplatz eines Mannes, der reges Interesse an jedem Aspekt seines Berufs gehabt hatte. Mit einem Schwenk seines leuchtenden Dolchs erkannte Zayl Behältnisse, die mit Kräutern aller Art gefüllt waren, mit eingelegten und konservierten Kreaturen, bei denen nicht einmal der Nekromant zu sagen vermochte, worum es sich dabei genau handelte. Chemikalien in Pulverform oder flüssig waren zuhauf vorhanden. In den Regalen standen Bücher dicht an dicht, Schriftrollen waren übereinander gestapelt, Pergamente voller Notizen lagen verstreut, und auf manchen Tischen sammelten sich Zeichnungen. An einigen Stellen waren sogar Ketten an der Decke befestigt worden, an denen die unterschiedlichsten Artefakte hingen. Alles war in einem so einwandfreien Zustand, dass es schien, als sei der Hexenmeister erst gestern noch hier am Werk gewesen. Dabei wurde Zayl klar, dass auch in diesen Gemächern ledig170
lich ein paar Tage vergangen waren. Die Besonderheiten des Limbus hatten hier die Vergangenheit ebenfalls erhalten. »Ich schätze, da draußen gibt es viele interessante Dinge zu sehen«, rief Humbart. Der Nekromant holte den Schädel aus der Tasche und legte ihn auf den größten Tisch – gleich neben die Stelle, an der Mazi gesessen und Notizen gemacht hatte. Den Dolch vor sich haltend, betrachtete Zayl, was auf dem Pergament geschrieben stand. »Was steht da?« »Zauberstrukturen. Theoretische Ergebnisse. Dieser Gregus Mazi hat sehr praktisch gedacht.« Der Nekromant runzelte die Stirn. »Nicht das, was ich von ihm erwartet hätte.« »Das Böse kann sehr geschickt sein, wenn du darauf anspielst, Jüngelchen.« Zayl betrachtete das Pergament aufmerksamer. »Das stimmt, aber all diese Notizen betreffen nur das Problem, wie man möglicherweise in den Himmel aufsteigen kann. Das hat jemand geschrieben, der wirklich an seine Mission glaubte.« Nach einem letzten Blick auf das Pergament wandte sich der Nekromant ab und sah sich noch einmal in dem Raum um, der viel größer war, als er es zunächst wahrgenommen hatte. Im schwachen Schein seines Dolches konnte er weitere Regale erkennen, in denen ein Glas neben dem anderen stand. »Heh! Du wirst mich doch nicht etwa allein hier zurücklassen wollen?« »Dir passiert schon nichts.« »Sagte der Mann, der noch all seine Beine hatte.« Zayl ignorierte den Protest des Schädels und drang tiefer in Gregor Mazis Arbeitsraum vor. Aus jedem der Behältnisse starrten ihm glupschäugige Kreaturen entgegen, die längst tot waren. 171
In einer dicklichen Flüssigkeit trieb eine schwarz und karmesinrot gemusterte Spinne, die größer als sein Kopf war. Es gab junge Sandmaden und sogar einen Fetisch der finsteren DschungelKannibalen. Sie waren von puppengleichem Erscheinungsbild, trugen Totemmasken und versteckten sich im dichten Blattwerk der Bäume, wo sie darauf warteten, ahnungslose Lebewesen niederzustrecken. Nekromanten vernichteten diese Kreaturen überall dort, wo sie ihnen begegneten, da nichts Gutes von ihnen zu erwarten war. »Zayl, Jüngelchen? Lebst du noch?« »Ich bin noch immer hier, Humbart.« »Aye, und ich auch, allerdings ist es auch nicht so, dass ich in der Hinsicht irgendeine Wahl hätte!« Ein Exemplar lenkte die Aufmerksamkeit des Nekromanten ganz besonders auf sich. Zuerst hielt er es nur für ein quadratisches Stück Haut, möglicherweise von einer der Tentakelbestien aus den Dschungel-Flüssen. Doch als er das graue Objekt von der Größe einer Hand genauer betrachtete, sah er, dass sich an jeder Ecke eine sehr scharfe Klaue befand, und der Mittelpunkt des Dings schien eine Art Maul aufzuweisen. An den Rändern war zudem Fellwuchs zu erkennen. Neugierig nahm Zayl das Glas aus dem Regal und stellte es auf den nächsten Tisch. »Was hast du da, Jüngelchen? Ich habe Glas klingen gehört.« »Nichts, worüber du dir Gedanken machen müsstest.« Der Nekromant nahm den Deckel ab, nachdem er eine Greifzange entdeckt hatte, die offenbar dazu diente, Dinge zu entnehmen, und fischte das Exemplar heraus. Er holte die bizarre Kreatur aus der Flüssigkeit, ließ sie abtropfen und hielt sie mit seinem Dolch fest, um sie eingehender zu studieren. 172
»Ich will mich ja nicht beklagen, Jüngelchen, aber willst du dich etwa mit jedem einzelnen verdammten Glas befassen?« Zayl warf dem Schädel einen Blick über die Schulter zu. »Es dauert nicht lange ...« Aus dem Behältnis war auf einmal ein Zischen zu vernehmen. Die Zange wurde ihm aus der Hand gerissen, während etwas Gewaltiges versuchte, sich über seinen Oberkörper zu legen. »Zayl! Zayl, Jüngelchen!« Der Nekromant konnte nicht antworten. Ein triefend nasses, pulsierendes Ding mit der Haut eines Alligators bedeckte sein Gesicht, die Schultern und einen seiner Arme. Zayl schrie auf, als er das Gefühl hatte, ihm würden Messer in den Rücken gebohrt, die sich mühelos durch seine Kleidung schnitten. Gezackte Zähne rissen an seiner Brust und rief ihm in Erinnerung, dass er seinen Dolch hatte fallen lassen. Er versuchte, einen Zauber zu sprechen, aber er konnte kaum Luft holen, geschweige denn ein Wort hervorbringen. Die Wucht des überraschenden Angriffs riss den Zauberkundigen zusammen mit dem Angreifer zu Boden. Der Aufprall raubte Zayl fast das Bewusstsein, doch er wehrte sich dagegen, weil er wusste, dass eine Bewusstlosigkeit seinen sicheren und grausamen Tod bedeutet hätte. Das Zischen wurde lauter und furchteinflößender, und der Nekromant fühlte, wie das Ding ihn bereits bis zur Hüfte bedeckte. Wenn es der Kreatur gelang, ihn völlig zu umschließen, würde dies sein Ende besiegeln. Mit aller Kraft versuchte er, das feuchte Ding nach oben wegzuschieben, doch damit animierte er auch die Klauen, die sich in seinen Rücken gegraben hatten, sich weiter durch sein Fleisch zu schneiden. Der Schmerz war so heftig, dass er fast seinen Griff 173
wieder gelockert hätte. Von irgendwoher drang die erstickte, verzweifelte Stimme von Humbart Wessel an seine Ohren. »Zayl, Jüngelchen! Ich kann ein Licht sehen. Ich glaube, der Dolch liegt ein Stück links von dir. Nur ein paar Zoll!« Zayl verlagerte sein Gewicht und schaffte es, mitsamt dem Angreifer in diese Richtung zu rutschen. Er spürte etwas an seiner Schulter, doch dann verlagerte das Schreckensding seinerseits das Gewicht und zog den Nekromanten mit sich. Humbart rief wieder etwas, doch es drang nicht durch das dichte und erstickende Etwas hindurch, das sich um Zayl gelegt hatte. Noch verzweifelter warf sich Zayl abermals nach links. Diesmal konnte er das Heft seines Dolchs unmittelbar unter seinem Schulterblatt fühlen. Halb erstickt und von der Angst getrieben, gefressen zu werden, zuckte er herum, um ihn mit der rechten Hand erreichen zu können. Die Zähne bohrten sich so heftig in seinen Unterarm, dass der Nekromant zu schreien begann. Dennoch zwang sich Zayl, weiter zu versuchen, den Elfenbeindolch in seine Finger zu bekommen. Seine Hand berührte die Klinge, und auch wenn er wusste, dass es ihm noch mehr Schmerz zufügen würde, umschloss der verwundete Zauberkundige sie. Blut trat aus den Schnittwunden der Finger aus, als der Nekromant den Dolch zu sich heranzog. Gleichzeitig sprach er den kürzesten und wirkungsvollsten Zauber, der ihm in den Sinn kommen wollte. Eine Lanze aus reinem Knochen schoss aus dem Dolch hervor, fraß sich mühelos durch die dicke Haut der Bestie, zerfetzte ihr Fleisch und stieg auf, bis sie gegen die Decke krachte. 174
Zayls schrecklicher Widersacher wurde nach hinten gerissen, aus dem bizarren Maul entkam ein seltsamer wehklagender Laut. Der Nekromant wurde mit Blut bespritzt, als sich das Ding von ihm löste. Während Zayl sich in Sicherheit brachte, dankte er dem Drachen Trag’Oul. Die Lanze stand für eine der Klauen des mystischen Leviathans, der dem am nächsten kam, was für die Anhänger Rathmas ein Gott war. Als einer der wirkungsvollsten Kampfzauber der Nekromanten war die Knochenlanze in der Vergangenheit gleich zweimal von Zayl beschworen worden, doch niemals waren die Umstände so ernst gewesen. Doch trotz der schweren Wunde schien die Kreatur weit davon entfernt zu sein, sterben zu wollen. Mit schnellen und geschmeidigen Bewegungen begab sie sich an die Decke und von dort in eine Ecke. Ein Sprühregen aus Lebenssaft ging auf dem Boden nieder. »Geht es dir gut, Jüngelchen?« »Ich werde es überleben. Danke, Humbart.« Der Schädel machte ein Geräusch, als würde jemand gepresst den Atem ausstoßen. »Danken kannst du mir immer noch, wenn du dieses abscheuliche Ding endlich erledigt hast.« Zayl nickte, hob den Dolch so, dass er auf die schwer atmende Kreatur wies, und murmelte einen weiteren Zauber. Trag’Oul hatte ihm einmal geholfen, vielleicht würde er ihm ein weiteres Mal seine Gunst erweisen. Ein Hagel aus knochenartigen Geschossen, die etwa die Größe eines Dolches besaßen, nahm in der Luft Gestalt an und jagte mit unglaublicher Schnelligkeit nach oben. Das Ding an der Decke hatte keine Gelegenheit, sich auch nur zu rühren. Gnadenlos bohrten sich die nadelspitzen Projektile 175
durch die dicke Haut. Ein Regen aus Blut – oder welche Flüssigkeit auch immer die Kreatur am Leben erhielt – ging auf den Nekromanten, das Arbeitszimmer und einen fluchenden Schädel nieder. Das Geschöpf heulte laut und schmerzerfüllt und versuchte zu fliehen, doch Zayl hatte den Den’Trag – die Zähne des Drachen Trag’Oul – beschworen, der so heftig zuschlug, dass das sich windende Ding förmlich an Decke und Wand festgenagelt wurde. Die Bewegungen des Widersachers wurden langsamer, während der Strom des Lebenssaftes versiegte. Dann endlich regte sich das Monster nicht mehr. »Zayl! Zayl!«, rief Humbart. »Bei den Göttern! Wisch diesen Schleim von mir ab. Ich schwöre dir, auch wenn ich keine gut funktionierende Nase mehr habe, kann ich diesen Gestank kaum ertragen.« »Ru-ruhig, Humbart!«, keuchte der Nekromant. Gleich zweimal die Hilfe von Trag’Oul zu beschwören, hatte an seinen Kräften gezehrt. Wäre er besser vorbereitet gewesen, hätte es nicht so weit kommen müssen, doch durch den ersten Angriff der Bestie war er bereits massiv geschwächt worden – noch bevor er überhaupt einen Zauber hatte wirken können. Während er wieder zu Kräften zu gelangen versuchte, betrachtete Zayl die zahlreichen Exemplare, die Gregus Mazi hier sein Leben lang zusammengetragen hatte. Das Monster war ein kleines, scheinbar totes Exemplar unter vielen gewesen. Bedeutete dies, dass jede andere der gehorteten Raritäten noch Leben in sich barg? Wenn dem so war, konnte Zayl nur dankbar sein, dass bei dem Kampf nicht versehentlich weitere Gläser zu Bruch gegangen waren. Der Nekromant bezweifelte, dass er in diesem Raum lange überlebt hätte, wären Dutzende solcher Kreaturen auf einmal freigekommen. 176
mal freigekommen. Als er das Gefühl hatte, sich wieder auf seine Beine verlassen zu können, kehrte Zayl zu dem Schädel zurück. Eine dicke Schicht gelblichen Blutes überzog den letzten Überrest von Humbart Wessel. Zayl nahm das Stück seines Mantels, das noch einigermaßen sauber war und wischte den Schädel so weit sauber, wie es ihm möglich war. »Igitt! Manchmal wünschte ich mir, du hättest mich da verrotten lassen, wo du mich gefunden hast, Jüngelchen!« »Du warst bereits verrottet, Humbart«, berichtigte Zayl ihn. Er legte den Schädel auf einen sauberen Teil des Tisches, als etwas an der Wand ihn aufmerksam werden ließ. »Ah!« »Was? Etwa noch eine solche Bestie?« »Nein.« Der blasse Mann ging hinüber, um das an sich zu nehmen, was er entdeckt hatte. »Nur ein Mantel, Humbart, nichts weiter.« Ein Mantel, den Gregus Mazi einst getragen hatte. Doch es war nicht so sehr das Kleidungsstück an sich, das Zayl faszinierte, sondern das, was er darauf zu finden hoffte. Im Schein des Dolches untersuchte er den Mantel sorgfältig. Dort! Mit größter Behutsamkeit nahm der Nekromant zwei Haare vom Kragen. Das war sogar noch besser. Im Gegensatz zu einem Kleidungsstück waren Haare nahezu eine Garantie dafür, dass die Beschwörung erfolgreich verlaufen würde. »Hast du endlich, wonach du suchst?« »Ja, das wird uns helfen, den Hexenmeister herbeizurufen.« »Gut. Es wird schön sein, den alten Gregus nach so langer Zeit wiederzusehen. Ich hoffe, er hat sich besser gehalten als ich.« Zayl sah sich im Raum um und machte nahe dem Eingang eine ausreichend große Freifläche aus. Als er hinüberging, fielen 177
ihm die dort in den Boden geritzten Symbole auf. Es konnte keinen angemesseneren und zweckdienlicheren Ort geben, um den Geist von Gregus Mazi zu beschwören, als die Stelle, an der er selbst zahlreiche Zauber gewirkt hatte. Der Nekromant kniete sich hin und murmelte etwas, während er mit der Spitze seiner Klinge neue Muster auf dem Boden malte. Der Dolch glitt langsam über die steinerne Oberfläche und ließ das Muster zurück, das Zayl haben wollte. In den Mittelpunkt dieser Linien legte er die beiden Haare. Zayl bewegte sich vorsichtig, damit sie nicht von einem Lufthauch bewegt wurden. Dann hielt er seine Hand darüber und öffnete mit der Klinge eine der Wunden, die er zuvor davongetragen hatte. Der kaum verheilte Schnitt begann wieder zu bluten, und drei Tropfen der karmesinroten Flüssigkeit fielen auf die Haare. Augenblicklich stieg grünlicher Rauch auf. Zayl sprach Gregus Mazis Namen aus, einmal, zweimal und schließlich ein drittes Mal. Vor ihm kräuselte sich der beunruhigende Rauch empor und nahm eine vage erkennbare humanoide Form an. »Ich beschwöre dich, Gregus Mazi!«, rief Zayl in der Handelssprache. »Ich beschwöre dich! Wissen ist gefragt, Wissen, das nur du geben kannst! Komm zu mir, Gregus Mazi! Lass deinen Geist auf der Ebene der Sterblichen wandeln! Lass ihn zurückkehren an diesen Ort deiner Vergangenheit! Bei dem, was einmal ein Teil von dir war, rufe ich dich!« Der Rauch stand inzwischen mannshoch. Er schien eine Gestalt darzustellen, die ein Gewand trug. Zayl wiederholte die Beschwörungsformel in der Vergessenen Sprache, Worte, die nur noch den Zauberkundigen bekannt waren. Doch als der Erfolg zum Greifen nah war und die Gestalt fast 178
schon eine bestimmte Form annehmen wollte, ging alles schief. Der wallende Rauch verflüchtigte sich abrupt und zog sich vor den Augen des verwirrten Nekromanten immer mehr zurück. Jegliche Ähnlichkeit mit einer humanoiden Gestalt verschwand, die Haare rollten sich zusammen und verbrannten, als hätte man sie in loderndes Feuer geworfen. »Nein!«, keuchte Zayl. Er wollte nach den Haaren greifen, doch als er sie erreichte, waren sie nur noch Asche. Sekundenlang kniete er nur da, unfähig, etwas anderes zu tun, als auf die Spuren seines Fehlschlags zu starren. Erst als sich Humbart zu Wort meldete, begann sich der Nekromant wieder zu regen. »Also, was ist denn passiert, Jüngelchen?« Den Blick immer noch auf das Muster und die Asche gerichtet, schüttelte Zayl den Kopf. »Ich weiß es nicht ...« Er hielt inne und starrte in die Finsternis. »Zayl?« »Ich weiß sehr wohl, warum es nicht geklappt hat, Humbart!«, erwiderte der Nekromant, starrte aber weiter ins Nichts. »Es konnte überhaupt nie klappen. Es war vom ersten Moment an zum Scheitern verurteilt, nur war mir das nicht klar!« »Würde es dir etwas ausmachen, nicht ganz so sehr in Rätseln zu sprechen, Jüngelchen?«, gab der Schädel ein wenig ungehalten zurück. »Könntest du es so erklären, dass auch wir einfachen Sterblichen es verstehen?« Zayl drehte sich zu ihm um. »Es ist doch ganz klar, Humbart. Es gibt nur einen einzigen Grund, warum es aussichtslos war, Gregus Mazi beschwören zu wollen: Er lebt noch immer!«
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ZEHN Sofern das überhaupt noch möglich war, machte Quov Tsin bei Hauptmann Dumons nächstem Besuch einen noch besorgniserregenderen und erschreckenderen Eindruck als beim letzten Mal. Ein leerer Krug und eine kleine, nur zur Hälfte leergegessene Schale standen dort, wo er weiter fieberhaft Notizen machte. Seine Gesichtszüge waren noch deutlicher hervorgetreten, wie es sonst nur bei Toten der Fall war, wenn das Fleisch wegzutrocknen begann. Außerdem sah er noch bleicher aus als der Nekromant. Inzwischen murmelte der Vizjerei nicht nur vor sich hin, sondern sprach mit lauter, fordernder Stimme zu sich selbst. »Natürlich ist das Zeichen von Broka an dieser Stelle unbedingt erforderlich, das sieht doch jeder Dummkopf! Ha!« Ehe er eintrat, fragte er Gorst, der vor der Bibliothek an die Wand gelehnt stand: »In welcher Verfassung befindet er sich?« Der Riese hatte sich von Tsins schroffer Art nie aus der Ruhe bringen lassen, doch nun machte auch Gorst einen besorgten und verunsicherten Eindruck. »In keiner guten Verfassung, Kentril. Er hat ein wenig getrunken und noch weniger gegessen. Ich glaube, er schläft überhaupt nie.« Der Hauptmann verzog das Gesicht. Das war nicht die Stimmung, auf die er gehofft hatte, auch wenn es von Anfang an eher unwahrscheinlich gewesen war, dass der Vizjerei in irgendeiner Weise ansprechbarer werden könnte. Doch Kentril hatte keine andere Wahl. Er musste jetzt mit Tsin reden. »Halt die Augen offen, ja?« »Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst, Kentril.« 180
Hauptmann Dumon straffte die Schultern und ging auf den vornüber gebeugten Hexenmeister zu. Quov Tsin sah nicht in seine Richtung, er nahm seinen Besucher nicht einmal zur Kenntnis. Mit einem flüchtigen Blick auf die Arbeit des Zauberkundigen erkannte Kentril, dass Tsin mehr als ein Dutzend großer Pergamentbögen mit unverständlichen Notizen und Skizzen bekritzelt hatte. »Ihr seid ein größerer Narr, als ich es für möglich gehalten hätte, Dumon«, erklärte der Vizjerei plötzlich mit einem noch giftigeren Tonfall als zuletzt. Er hatte den Kämpfer noch immer nicht angeblickt. »Ich habe beim letzten Mal gegen meine Überzeugung gehandelt, als ich Euch die Störung nachsah ...« »Nur die Ruhe, Tsin«, fiel Kentril ihm ins Wort. »Das geht zu einem sehr großen Teil Euch an.« »Nichts geht mich mehr an als diese Arbeit hier.« Der Söldner nickte bestätigend. »Das ist auch genau das, was ich meine. Euch ist nicht klar, was Ihr verlieren könntet.« Nun endlich sah der kleinwüchsige Mann auf. Mit blutunterlaufenen Augen betrachtete er den Hauptmann und überlegte, was die Worte des anderen Mannes wohl bedeuten mochten. »Erklärt das.« »So wie ich Euch kenne, Tsin, gibt es für Euch zwei Gründe, warum Ihr das tut. Zunächst einmal wollt Ihr beweisen, dass Ihr es wirklich könnt. Die Hexenmeister der Vizjerei sind für ihren Ruf als Meister ihrer Kunst berühmt, und Euer Ruf übertrifft den der meisten Eurer Zunft.« »Versucht nicht, mich mit hohler Schmeichelei einzuwickeln.« Kentril ignorierte den gefährlichen Ausdruck auf dem bärtigen Gesicht und fuhr fort: »Den zweiten Grund weiß ich besser zu schätzen. Wir kamen für Ruhm und Reichtum nach Ureh, Tsin. 181
Meine Männer und ich wollen Gold und Juwelen ...« »Schnödes Verlangen.« »Aye, aber Ihr selbst seid doch auch wegen Reichtümern hergekommen, wenngleich sie auch von einer anderen Art sein mögen. Ihr seid gekommen, um das gesammelte magische Wissen an Euch zu nehmen, das in diesem Königreich über viele Jahrhunderte hinweg gehortet wurde. Wissen, das für immer verloren wäre, wenn Ureh wirklich von der Ebene der Sterblichen verschwindet.« Tsin begann, ungeduldig auf den Tisch zu klopfen. Sein Blick wanderte kurz zu dem magischen Stab, dann zurück zu dem Söldner, als überlege er, wie er vorgehen solle. Kentril trotzte dem hasserfüllten Blick des Vizjerei. »Lord Khan hat Euch alles geboten, was Ihr tragen könnt, wenn Ihr Erfolg habt, nicht wahr? Das bedeutet, Ihr bekommt Bücher und Schriftrollen, die jede für sich schon ein Königreich wert sind, richtig?« »Mehr als Ihr Euch vorstellen könnt, Kretin. Wenn Ihr auch nur ein Jota von dem verstehen könntet, was ich hier entdeckt habe, würdet Ihr vor Staunen den Mund nicht mehr zumachen können.« »Dann wäre es doch eine umso größere Schande, wenn der Rest verloren wäre.« Der Zauberkundige blinzelte ihn an. »Worauf wollt Ihr hinaus?« Hauptmann Dumon stützte sich auf dem Tisch ab, beugte sich vor und fragte in verschwörerischem Tonfall: »Was würdet Ihr alles erreichen, wenn Ihr diese Sammlung noch ein, vielleicht sogar zwei Jahre länger studieren könntet?« Habgier funkelte in den blutunterlaufenen Augen des Hexen182
meisters auf. »Dann könnte ich der Mächtigste und Beste meiner Art werden.« »Juris Khan will, dass der Weg in den Himmel wieder geöffnet wird.« »Ihm fehlt der Beistand des ersten Versuchs«, gab Tsin zurück. »Aber ich muss zugeben, wenn ich ihm zuhöre, dann glaube ich, dass er eine Vorstellung davon hat, wie er dieses Problem umgehen kann. Ich möchte nicht gegen ihn wetten, denn ich glaube, dass er sich seinen heiligen Traum in kürzester Zeit verwirklichen wird, wenn er erst einmal freigekommen ist.« »Und wenn er geht, dann geht auch diese ganze Bibliothek.« Kentril sah Quov Tsin an, dass er sein Ziel erreicht hatte. Dem Vizjerei war noch deutlicher als den Söldnern bewusst, dass alle Reichtümer dieses sagenhaften Reiches nur dann zurückkehren würden, wenn die Stadt wieder Leben atmete. Tsin hatte nicht einmal den Versuch unternommen, sich in der Bibliothek umzusehen, bevor der Schatten gekommen war, weil ihm klar gewesen war, dort nichts finden zu können. Der Vizjerei hatte all seine Hoffnungen auf die Legende gesetzt, und nun drohte genau diese Legende ihm das zu entreißen, wofür er so hart gearbeitet hatte. »So vieles wird wieder verloren sein«, murmelte der runzlige Zauberkundige. »So vieles verloren, und das alles völlig grundlos ...« »Natürlich könntet Ihr einfach darin scheitern, eine Lösung für den Fluch zu finden, der auf dem König lastet. Aber früher oder später würde er misstrauisch werden und Euch wegschicken. Und wenn Ihr versuchen würdet, das alles zu stehlen ...« Tsin schnaubte verächtlich. »Denkt gar nicht erst in diese Richtung, Dumon. Selbst wenn ich so tief sinken würde, gibt es in dieser Bibliothek Schutzzauber, die nur unser Gastgeber auf183
heben kann. Was glaubt Ihr denn, warum ich hier sicher bin, so lange ich mich vor persönlichen Belangen hüte?« »Dann gibt es also keine Hoffnung.« Der kleine Hexenmeister erhob sich. »Ganz offensichtlich habt Ihr eine Idee, Hauptmann. Seid so freundlich und sagt mir sofort, woran Ihr denkt.« »Ein kluger Magier wie Ihr müsste eigentlich hervorragende Gründe finden, warum es zum Nutzen von Lord Khan ist, wenn Ureh auf Dauer wieder ein Teil der wirklichen Welt wird.« Quov Tsin starrte Kentril so lange Zeit schweigend an, dass der Hauptmann sich zu fragen begann, ob seine Idee überhaupt die Mühe wert war. Was, wenn Tsin den Herrscher nicht überzeugen konnte? Was, wenn Juris Khan sich daraufhin nur über die Abenteurer ärgerte? Er könnte verlangen, dass sie alle aus dem Königreich eskortiert wurden. Der Vizjerei mochte erfahren sein, doch einer Schwadron Krieger, die nun den Palast bewachte, würde er nicht lange trotzen können. »Ihr habt eine Chance, das muss ich zugeben«, murrte der Hexenmeister und setzte sich wieder hin. »Und wundersamerweise könntet Ihr genau im richtigen Moment hergekommen sein.« Jetzt war es an Kentril, sich über die Worte des anderen zu wundern. »Was meint Ihr mit ›im richtigen Moment‹?« Mit einer ausholenden Geste zeigte Tsin auf den Berg von Notizen, die er zusammengetragen hat. »Seht dort, Hauptmann Dumon, und verharrt in Erstaunen! Betrachtet, was ich allein, ich, Quov Tsin, in so kurzer Zeit geleistet habe. Ich habe es geschafft.« »Geschafft? Ihr habt ...« »Aah! Daran, dass Euer Mund vor Staunen offen steht, sehe 184
ich, dass Ihr begriffen habt, was ich meine. Ja, Dumon, ich kann unseren werten Gastgeber von Gregus Mazis üblem und höchst meisterlichem Zauber befreien!« Widersprüchliche Gedanken gingen Kentril durch den Kopf, als er Tsins Worte auf sich wirken ließ. Auf der einen Seite würde ihnen die Dankbarkeit des Monarchen gewiss sein, doch auf der anderen Seite bedeutete es, dass die Zeit noch knapper wurde, falls sich Khan dazu entschied, weiter seine heilige Mission zu verfolgen. »Ihr müsst ihn davon überzeugen, dass er diesen Traum aufgibt, Tsin!« Ein verschlagener Ausdruck zeichnete sich auf dem zerknitterten Gesicht ab. »Ja, und zwar für etwas weitaus Wichtigeres als Euer Zeitvertreib mit seiner Tochter. Ich vermute, es wird mich noch zwei Tage Arbeit kosten, um sicherzustellen, dass alle meine Berechnungen und Formeln richtig sind. Doch ich bin schon jetzt so gut wie sicher, den richtigen Weg gefunden zu haben, sodass ich mich innerhalb weniger Stunden darangeben kann, ihn auf unsere Linie einschwenken zu lassen. Zunächst allerdings brauche ich ein wenig Zeit, um einen klaren Kopf zu bekommen und mich auf die Audienz bei ihm vorzubereiten.« »Soll ich Euch begleiten?« Wieder schnaubte der Hexenmeister. »Du liebe Güte, nein! Wenn er Euch sieht, Dumon, wird er sofort glauben, dass das alles nur Eure Idee ist. Die lüsternen Gefühle eines einzigen bezahlten Kämpfers sind kein gutes Argument gegen die glorreiche Zuflucht des Himmels.« Und das gilt auch für die Habgier eines sehr ehrgeizigen Magiers, dachte Kentril unwillkürlich. Doch Quov Tsin verstand es, mit Worten umzugehen, wenn es darauf ankam, und er wusste 185
sehr gut, wie er sich Adligen gegenüber verhalten musste. Sicher würde er den König weitaus besser überzeugen können, als es einem niederen Söldner möglich gewesen wäre. »Nun? Was steht Ihr hier noch herum, Dumon? Wollt Ihr, dass ich Erfolg habe, oder nicht? Geht, damit ich alles organisieren kann.« Kentril nickte knapp und überließ den Vizjerei sich selbst. Er wusste, Tsin würde diese Sache mit der gleichen Besessenheit angehen, die er bei allen Problemen rund um das schattenhafte Königreich in die Waagschale warf. Mit der Ausdauer und Entschlossenheit eines Jägers würde der Hexenmeister es irgendwie schaffen, Juris Khan zu überzeugen. Und dann konnte Hauptmann Dumon sein eigenes Anliegen in Sachen Atanna vortragen. »Du lebst ja noch«, kommentierte Gorst, als Kentril die Bibliothek verließ. »Ich glaube, der Zaubermann beginnt allmählich, dich zu mögen.« »Der Himmel möge verhindern, dass es jemals dazu kommt. Wir sind uns lediglich einig geworden, sonst nichts.« »Er wird versuchen, dir zu helfen, damit du sie nicht verlierst?« Kentril zog eine Augenbraue hoch. Gorst grinste ihn an, wie nur er es vermochte. »Sie ist der einzige Grund, weshalb du dich zu ihm begeben würdest. Er ist nur an der Magie interessiert. Wenn Ureh verschwindet, habt ihr beide das Nachsehen.« Sogar Kentril ließ sich gelegentlich von Gorsts barbarischem Äußeren täuschen, und er vergaß auch zwischendurch immer wieder, warum dieser Kämpfer mit der schwarzen Mähne sein Stellvertreter und sein Freund war. »Du fasst es in wenigen Wor186
ten zusammen.« »Er wird das schon machen, Kentril. Er wird Juris Khan überzeugen.« Der Hauptmann brummte. »Hast du in letzter Zeit Zayl irgendwo gesehen?« »Nein, schon länger nicht mehr.« Kentril konnte dem Nekromanten nicht vertrauen. Jemand von Zayls Schlag war geeignet, sogar den vertrauensseligsten Menschen misstrauisch werden zu lassen. Zwar hegte er keine Abneigung gegen den Nekromanten, und genau genommen war ihm Zayls Anwesenheit sogar viel lieber als die von Tsin, dennoch war Kentril besorgt, wenn es um den Aufenthalt des Zauberkundigen inmitten der Stadtbewohner ging. Womöglich war der Zeitpunkt gekommen, sicherzustellen, dass nichts geschehen war, was seine neu geschöpfte Hoffnung wieder gefährden konnte. »Ich werde einen Spaziergang unternehmen, Gorst.« »In die Stadt?« »Ja, genau. Wenn Zayl auftaucht, sag ihm, ich muss ihn sprechen.« Die Entscheidung, dem Nekromanten nachzuspüren, gefiel Kentril überhaupt nicht. Lieber hätte er seinen ursprünglichen Plan verfolgt und Atanna von seinem Erfolg bei Tsin berichtet, um sich so von ihr eine Belohnung zu ergattern. Doch anstelle der erfreulichen Gesellschaft von Khans verführerischer Tochter erwartete ihn viel wahrscheinlicher die des mürrischen, abweisenden Zayl. Niemand hielt den Hauptmann auf, als er das Heim von Juris Khan verließ. Stattdessen stellten sich die Wachen noch aufrechter hin und salutierten ihm, als er sie passierte. Ihr Herrscher 187
hatte dem Söldner wahrhaftig eine fürstliche Behandlung zuteil werden lassen. Das ließ ihn über seine eigenen Männer nachdenken, auch über die beiden, die bislang noch nicht zurückgekehrt waren. Es gab keine Meldungen über ein ungebührliches Verhalten, aber Kentril wollte nichts von der Gunst verspielen, die man ihnen erwies. Als er die letzte Stufe der langen und gewundenen Treppe, die vom Palast in die Stadt führte, hinter sich gelassen hatte, sah er sich von Feiernden umgeben. Im Schein der allgegenwärtigen Lampen und Fackeln tanzten Frauen in bunten, exotischen Gewändern zur Musik von Gitarren, Hörnern und Trommeln. Kinder lachten und rannten zwischen den feiernden Massen umher. Eine Gruppe Männer aus der Stadt saß an einem Tisch und war mit Krügen voller Ale beschäftigt. Sie winkten dem Hauptmann zu, er solle sich zu ihnen gesellen. Er lächelte und schüttelte den Kopf, um weitergehen zu können. Irgendjemand musste in Ureh doch schon im Bett liegen und schlafen, aber Hauptmann Dumon konnte nichts dergleichen feststellen. Etliche der Menschen, die jetzt die Straßen bevölkerten, mussten wohl geschlafen haben, als er selbst sich ebenfalls zur Ruhe begeben hatte, ansonsten hätten sie um diese Zeit schwerlich immer noch auf den Beinen sein können. Ein Stück weit voraus entdeckte er Orlif und Simon, die mit einigen Einheimischen in ein Würfelspiel vertieft waren. Kentril wollte erst zu ihnen gehen, doch dann entschied er sich dagegen, weil sie wohl kaum wissen würden, wo sich Zayl aufhielt. Die beiden waren vermutlich gerade erst nach einem erholsamen Nickerchen in die Stadt zurückgekehrt. Er überließ die beiden ihrem Vergnügen und begab sich tiefer 188
in die Stadt. Ganz gleich, wohin er auch kam, überall waren Feierlichkeiten im Gang. Die Bürger des legendären Königreichs feierten mit einer solchen Ausgelassenheit, dass Kentril Schwierigkeiten hatte, sich vorzustellen, dies sollte einmal eines der angesehensten und gottesfürchtigsten aller Reiche gewesen sein. Andererseits hatten sich diese Menschen nach so viel Leid auch derart harmlose Vergnügungen verdient. »Seid Ihr einer der Helden?«, fragte eine melodische Stimme. Kentril wandte sich um und sah sich zwei aufreizend gekleideten jungen Frauen gegenüber. Eine trug ein außergewöhnliches goldenes Kostüm, das ihn an den Harem erinnerte, den ihm einmal ein älterer Söldner beschrieben hatte. Die andere, die mit Kurven gesegnet war, wie sie die meisten Männer begehrten, lächelte ihn an und klimperte mit ihren langen dunklen Wimpern. Zu einer anderen Zeit wäre jede Einzelne von ihnen eine Belohnung gewesen, die alles übertroffen hätte, was Kentril sich hätte vorstellen können. Jetzt hingegen fand er sie zwar interessant anzuschauen, doch sie boten ihm nichts, was er wollte. Atanna hatte sein Herz fest im Griff. »Er muss einer von ihnen sein«, sagte die Kurvenreiche und lächelte. »Ich heiße Zorea.« »Und ich bin Nefriti«, fügte die Zweite hinzu, die in Gold gekleidet war. »Meine Damen«, erwiderte Kentril und verbeugte sich. Beide Frauen erröteten daraufhin und lachten leise. »Ein wahrer Kavalier«, rief Zorea, die schwarze Zöpfe hatte. Sie strich mit den Fingern über seinen rechten Arm. »Und so stark!« »Wollt Ihr mit uns feiern?«, fragte Nefriti und schürzte ihre vollen Lippen, während sie seinen linken Arm nahm. »Wir würden uns geehrt fühlen, Euch eine Gunst zu erwei189
sen«, sagte ihre Begleiterin. »Ureh möchte Euch jedwede Belohnung zuteil werden lassen, die Ihr verdient habt.« Langsam und höflich löste er sich von den beiden. »Ich danke Euch für Euer freundliches Angebot, meine Damen. Aber im Moment bin ich auf der Suche nach jemandem.« Zoreas Gesicht strahlte. »Nach einem Eurer Freunde? Ich habe gesehen, dass zwei Fremde mit einigen Männern gewürfelt haben.« »Die beiden habe ich gesehen, aber ich suche einen anderen.« Ihm wurde bewusst, dass sich Zayl von allen anderen abheben würde. Vielleicht würde diese zufällige Begegnung für Kentril doch noch von Nutzen sein. »Vielleicht habt Ihr ihn ja gesehen. Groß, blasse Haut, die Augen mehr so wie Eure, weniger wie meine. Er dürfte komplett in Schwarz gekleidet gewesen sein.« »Ja, den haben wir gesehen!«, rief Nefriti aufgeregt. »Nicht wahr, Zorea?« »O ja!«, erwiderte sie und reagierte fast ebenso erfreut wie ihre Freundin. »Wir wissen sogar, wo er ist.« »Wir führen Euch hin!« Der Hauptmann ließ es zu, sich von den beiden Frauen den Weg zeigen zu lassen. Er hätte zwar nicht gedacht, dass der Nekromant diesen Feierlichkeiten viel abgewinnen konnte, aber möglicherweise hatte er Zayl auch falsch eingeschätzt. Mit großer Zielstrebigkeit und auffallend großer Kraft lenkten die beiden Frauen ihn durch die Menge. Zorea und Nefriti hielten ihn je an einer Hand fest, wie sie behaupteten, nur aus Sorge, ihn zu verlieren. Die Frauen kannten den Weg sehr genau und bewegten sich geschickt zwischen den Menschenansammlungen auf der Straße hindurch. Die Massen lichteten sich allmählich, und in gleichem Maß 190
wuchs in Hauptmann Dumon das Misstrauen. Anfangs hatte er den Frauen noch geglaubt, dass sie wussten, wo sich Zayl aufhielt. Doch die Situation, mit der er nun konfrontiert wurde, erinnerte viel zu sehr an das, was jedem erfahrenen Kämpfer vertraut war, der sich einmal in einem fremden Land oder in einer fremden Stadt aufgehalten hatte. Die Gegend, in der sie inzwischen angelangt waren, wirkte weitgehend verlassen. Mehr als ein Söldner hatte seine Karriere mit einem Dolch im Rücken beenden müssen, weil er auf eine solche Täuschung hereingefallen war. Ureh mochte eine heilige Stadt sein, doch Gregus Mazi hatte bereits bewiesen, dass selbst die frömmsten Länder nicht alle ihre eigenen Dämonen besiegen konnten. Bevor sie ihn noch weiter in die Irre führten, blieb Kentril abrupt stehen. »Wisst Ihr, Ladies, ich bin fast sicher, dass mein Freund von dort, wo Ihr ihn gesehen habt, längst wieder aufgebrochen ist und sich auf den Weg zurück zum Palast gemacht hat, wo er auf mich wartet.« »Nein!«, erwiderte Nefriti erschrocken. »Er ist gleich da vorne.« »Es ist nicht mehr weit«, beteuerte Zorea, die sich wie ein Zwilling der anderen Frau anhörte. Kentril löste sich freundlich, aber bestimmt von beiden. »Ich danke Euch dafür, dass Ihr Euch solche Mühe gegeben habt. Die Menschen in diesem Königreich sind wirklich ausgesprochen liebenswürdig.« »Nein!«, beharrte Zorea. »Hier entlang.« Nefriti nickte eifrig. »Ja, hier entlang.« Erneut packten sie seine Arme, diesmal sogar so heftig, dass der Hauptmann erschrocken reagierte. Wieder wollte er sich losreißen, musste aber feststellen, wie erstaunlich fest die Frauen 191
ihn umklammert hielten. »Lasst mich los!« Er konnte sich aus Zoreas Griff befreien, doch Nefriti klebte wie ein Egel an ihm. »Ihr müsst dort entlanggehen, bitte!«, forderte sie ihn auf. Von der einen Frau immer noch festgehalten, lief Kentril Gefahr, von der zweiten wieder gepackt zu werden. Da er damit rechnen musste, dass eine dritte Person auftauchte – dann vermutlich ein Mann mit einer oft benutzten Klinge –, vergaß der Söldner jede Höflichkeit und holte nach der heranstürmenden Zorea aus. Genauso gut hätte er mit der Faust gegen eine Mauer schlagen können. Ihr Kinn war hart wie Stein, sodass Kentril der einzige Leidtragende dieses Treffers war. Hand und Arm schmerzten so sehr, dass er fürchtete, er könnte sich einen oder gleich mehrere Knochen gebrochen haben. Zoreas Hände hatten ihn fast erreicht, aber im letzten Moment wich Hauptmann Dumon zur Seite aus, sodass sie in die Luft griff. Gleichzeitig zog er mit seiner freien Hand sein Schwert, so gut es unter diesen Umständen ging. Nefriti reagierte auf seine Waffe, indem sie Kentril nach hinten riss. Er war von ihrer immensen Kraft völlig überrascht und konnte nicht mehr verhindern, dass er gegen die hinter ihm liegende Mauer prallte. Als sein Hinterkopf gegen Stein schlug, veränderte sich das Aussehen der Welt um Kentril. Zuerst sah er alles doppelt, was auch für die beiden grimmig dreinblickenden Frauen galt. Dann setzte eine noch entsetzlichere Verwandlung ein. Ein Alptraum umgab den Hauptmann. Das Meer aus Fackeln und die Scharen fröhlich Feiernder verschwanden, und die prachtvollen Gebäude wurden wieder zu Ruinen, die nun aber 192
sogar eine noch düsterere Atmosphäre aufwiesen, eine unheilvolle Vorahnung und Verzweiflung zugleich. Irgendwo in weiter Ferne waren die Schreie Tausender Männer, Frauen und Kinder zu hören, während eine nicht erkennbare Lichtquelle alles in einen grässlichen karmesinroten Farbton tauchte. Egal, in welche Richtung er blickte, überall konnte Kentril Dumon nur das sehen, was er für die Seelen der Verdammten hielt. Sie streckten sich nach ihm aus, sie wollten ihn, sie flehten ihn an, noch während sie versuchten, ihn zu einem der Ihren zu machen. Alles sah so aus, als hätte eine riesige Bestie ihren Körpern jeglichen Rest von Wasser entzogen und nur trockene Hüllen hinterlassen. Offenbar wollten sie nun den Kämpfer genauso sehen wie sich selbst. Die Augen waren tief in die Höhlen eingesunken, die Haut war so ausgedörrt wie totes Laub, und sie bewegten sich, als seien sie eben erst dem Grab entstiegen. Die Kleidung war zerfetzt, die Münder waren in freudiger Erwartung weit aufgerissen. »Nein!«, schrie er, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. »Geht weg von mir!« Er schlug mit seiner Klinge nach den Gestalten und konnte sie zwar ein wenig zurückdrängen doch ein Fluchtweg war nirgends erkennbar. Eine Vorahnung des nahenden Endes überkam Kentril, zumal ihm klar war, dass er früher oder später ermüden musste. Dann würde die Meute über ihn herfallen. »Hauptmann! Hauptmann Dumon!« Kentril ignorierte, dass jemand seinen Namen rief, stattdessen schlug er wieder und wieder nach seinen Gegnern. Auf einmal schien ihre Zahl abzunehmen. Hoffnung keimte auf, und der Hauptmann machte einen Schritt nach vorn, da er dachte, er habe 193
sich bereits einen Weg freigekämpft. »Hauptmann Dumon! Seht mich an! Hört mich an!« Jemand packte ihn von hinten an der Schulter. Kentril riss sich los und wirbelte herum. Wenn sie jetzt sogar von allen Seiten auf ihn einstürmten, würde er ihnen zumindest noch ein Gemetzel bescheren, ehe sie sein Leben und seine Seele für sich beanspruchen konnten. »Hauptmann! Ich bin es, Zayl! Zayl!« Allmählich nahm das Gesicht des besorgten Nekromanten Gestalt an. Kentril betrachtete den Zauberkundigen sowohl ängstlich als auch dankbar. »Zayl! Tut etwas! Sie dürfen uns nicht kriegen!« »Uns?« Zayl sah ihn verwirrt an. »Wer, Hauptmann?« »Die natürl...« Kentril hielt abrupt inne. Der entsetzliche Mob war verschwunden, die Schreie waren verstummt. Ureh sah wieder aus, wie es aussehen sollte. Die Gebäude, die Menschen, der Himmel – alles war wieder normal. Die Bewohner betrachteten den Söldner mit einer Mischung aus Sorge und Mitgefühl. Die beiden Frauen, die ihn hergeführt hatten, waren jedoch spurlos verschwunden. Der Nekromant führte ihn rasch weg von der gaffenden Menge und in Richtung des Palastes. Erst als sie ein Stück weit vom Schauplatz des Zwischenfalls entfernt waren, begannen sie zu reden. Zayl lotste Kentril in eine schmale Gasse und meinte leise: »Sagt mir, was da hinten geschehen ist, Hauptmann. Ich hörte Eure Stimme und bin losgerannt. Ihr habt mitten auf der Straße gestanden, mit Eurem Schwert um Euch geschlagen und dabei geschrien, als würden die Fürsten der Hölle Euer Blut fordern.« 194
»Nicht mein Blut«, murmelte der Kämpfer. Kentril sah auf seine Hand und bemerkte, dass er das Heft seines Schwertes noch immer so fest umschlossen hielt, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Mein Leben ... meine unsterbliche Seele.« »Erzählt mir mehr darüber. Alles. Bis ins letzte Detail, wenn Ihr das könnt.« Hauptmann Dumon atmete tief durch, dann berichtete er Zayl von den beiden Frauen und wie sie ihn in einen verlassenen Teil der Stadt hatten locken wollen. Und nach einem ungewöhnlich schwierigen Kampf mit ihnen war die Welt auf einmal völlig verrückt geworden. Der Nekromant hörte aufmerksam zu, ohne etwas zu sagen. Seine Augen verrieten nicht, was in seinem Kopf vor sich ging, aber trotz des Schweigens hatte Kentril nicht das Gefühl, Zayl könnte ihn für wahnsinnig halten. Vielmehr schien es so, als würde der große bleiche Mann jedes Wort völlig ernst aufnehmen. Das half Kentril, sich weiter zu entspannen, während er sein Erlebnis schilderte, und sich sogar an weitere Einzelheiten zu erinnern. Erst als er geendet hatte, begann Zayl, ihm Fragen zu stellen, und zu Kentrils Überraschung wollte der Nekromant nicht mehr über die dämonische Horde wissen, sondern über die zwei Frauen. »Ihr habt sie so geschildert, dass die eine ein freizügiges goldenes Kleid trug, wie man es aus Lut Gholein kennt, und Ihr habt auch sehr detailliert ihre Freundin beschrieben. So detailliert sogar, dass ich höchst neugierig geworden bin.« »Ich bin nicht der erste Mann, der den honigsüßen Worten einer Frau zum Opfer fällt, Zayl, und beide haben sehr glaubwürdig versprochen, sie könnten mich zu Euch führen.« Kentrils Gefährte nickte. »Und ich versuche auch nicht, Euch 195
zu beleidigen. Vielmehr möchte ich Euer exzellentes Gedächtnis loben. Ich bin diesen Frauen tatsächlich begegnet, wie sie behauptet haben, Hauptmann Dumon. Ich traf sie, als sie mit einem Eurer Männer feierten, dem, der Brek heißt.« »Brek?« Kentrils schreckliches Erlebnis war mit einem Mal zweitrangig. Einer seiner Soldaten war in Begleitung der beiden Frauen gesehen worden, die ihn ganz zweifellos zu töten versucht hatten! »Soweit mir bekannt, ist er bislang nicht aus der Stadt zurückgekehrt. Weder Gorst noch Albord, die beide auf die anderen Männer achten sollten, haben ihn gesehen, seit er zum ersten Mal in die Stadt ging.« »Eine Sache, mit der wir uns beschäftigen sollten. Aber nur eine von vielen, wie mir scheint.« »Was soll das bedeuten?«, fragte Kentril zaghaft. »Hauptmann Dumon, es war kein Zufall, dass ich Euch begegnet bin. Ich musste Euch finden, um mit Euch eine höchst beunruhigende Begebenheit zu besprechen.« »Und zwar?« Der Nekromant legte die Stirn in Falten. »Ich werde jetzt nicht mein Erlebnis schildern, aber ich habe guten Grund zu der Annahme, dass uns nicht die ganze Wahrheit gesagt worden ist, was Gregus Mazi angeht.« »Nicht die ganze Wahrheit?«, tönte eine Stimme an Zayls Seite. »Es ist eine verdammte Lüge!« Kentril, der soeben sein Schwert wegsteckte, wollte es sofort wieder ziehen. »Was im Namen des Himmels war das?« »Ein ungestümer und viel zu vorlauter Begleiter.« Mit Blick auf die Tasche fügte Zayl hinzu: »Ich warne dich zum letzten Mal, Humbart. Hör mit deinen unablässigen Bemerkungen auf, sonst werde ich den Zauber widerrufen, der dich belebt hat.« 196
»Hmpf«, kam als einzige Erwiderung. Mit einem Mal schien jedes der bizarren und gehässigen Gerüchte wahr zu werden, die Kentril über die mysteriösen Anhänger von Rathma gehört hatte. Er wich vor Zayl zurück, und dies trotz der Tatsache, dass der Mann sich bislang nur als hilfsbereit erwiesen hatte. »Hauptmann, das ist nicht nötig.« »Haltet Euch von mir fern, Zauberkundiger! Was ist in der Tasche?« Zayl sah verärgert auf die Gürteltasche. »Humbart vergisst immer wieder, in welche Gefahr er mich bringen kann, wenn er ungefragt seine Meinung kundtut.« »Hum ... Humbart Wessel?« »Was noch von mir übrig ist, Jüngelchen! Hört mal! So von einem alten Soldaten zum anderen ...« »Ruhe!« Der Nekromant schüttelte die Tasche, dann sagte er zu Kentril: »Hauptmann, ich habe fast mein ganzes Leben nahe den Ruinen von Ureh zugebracht. Ich habe immer darauf gewartet, dass es in der Form wieder Gestalt annimmt, wie es nun geschehen ist. Aber Schatten und Licht standen nie im richtigen Verhältnis zueinander, um es zurückkehren zu lassen. Doch das heißt nicht, dass meine Mission nicht zwischenzeitlich von kleineren Erfolgen gekrönt wurde.« Er griff in die Tasche. »Eines Tages fand ich dies.« Aus leeren Augenhöhlen starrte ein arg ramponierter Totenschädel Kentril an. Der Unterkiefer fehlte, und einige Zähne des Oberkiefers waren herausgebrochen. Am Hinterkopf deutete ein Riss auf einen heftigen Schlag hin, auch wenn nicht zu sagen war, ob er von einem Angriff oder einem Unfall stammte. »Die Überreste von Humbart Wessel«, verkündete Zayl leise. 197
»Soldat, Söldner, Abenteurer ...« »... und der letzte Mann, der Gregus Mazi lebend sah, bevor dieser in der schattenhaften Stadt verschwand, um seinen üblen Plan zu vollenden.« Aus der Richtung des Schädels erwiderte eine hohle, verärgerte Stimme: »Der alte Gregus hätte keiner Seele etwas zuleide getan!« Kentril konnte sein Schwert kaum noch halten. Er wusste, dass Zayl zu denen gehörte, die die Geister der Toten wecken konnten, doch ein sprechender Totenschädel war selbst für den abgebrühten Soldaten zu viel. »Was habt Ihr vor, Nekromant? Welchen Plan verfolgt Ihr?« Frustriert seufzend antwortete Zayl: »Mein Plan besteht darin, die Wahrheit herauszufinden, Hauptmann Dumon, weil diese Wahrheit in Zusammenhang mit dem Gleichgewicht auf der Ebene der Sterblichen steht. Um das zu erreichen, machte ich mich auf die Suche nach etwas, mit dem ich den Geist von Gregus Mazi beschwören kann. So hätte ich vielleicht einen Weg gefunden, um seine Zauber zu brechen.« »Und? Ist es Euch gelungen?« Der Lärm von Feierlichkeiten kam näher, woraufhin Zayl rasch den Schädel zurück in die Tasche steckte. Er wartete, bis sich der Jubel wieder entfernt hatte, dann bedeutete er Kentril, einen Blick auf den Berg Nymyr zu werfen, und fuhr fort: »An der Felswand existiert ein altes Kloster, in dem der Hexenmeister eine Weile gelebt hat. Dort fand ich etwas, das vom Hexenmeister stammt und das ich benutzen konnte, um ihn zurückzuholen. Ich wirkte einen Zauber, wie ich ihn schon Hunderte Male zuvor gewirkt habe, stets mit Erfolg.« Seine Miene wurde ernst. »Diesmal jedoch kam aus dem Jenseits keine Reaktion.« 198
Der Hauptmann hielt diese Mitteilung für völlig unbedeutend. »Also seid Ihr gescheitert. Ein Toter hat sich Eurer Macht entzogen.« »Er hat sich entzogen, weil er überhaupt nicht tot ist.« Zayl ließ seine Worte wirken. Kentril runzelte die Stirn, da er nicht wusste, ob er wirklich verstand, was dieser Mann ihm sagte, und da er auch nicht sicher war, ob er eine solche Neuigkeit überhaupt erfahren wollte. »Aber Juris Khan hat uns doch erzählt, dass er und Mazi gekämpft haben, dass Mazi ihn zum Gefangenen in seinem eigenen Palast gemacht hat, dass Khan seinen Gegner aber schließlich doch vernichten konnte, bevor der noch mehr Unheil über Ureh brachte.« Der Zauberkundige nickte bestätigend. »Ja, Juris Khan hat all das gesagt.« »Dann ist Gregus Mazi tot.« »Nein, das ist er nicht. Das weiß ich sicher. Der einzige Grund für mein Versagen ist der, dass er nach wie vor lebt.« Kentril steckte endgültig sein Schwert weg und sah zum Palast. Eine plötzliche Angst um Atanna verdrängte seine Zweifel, was seine eigene geistige Verfassung anging, und sie verdrängte sogar sein Misstrauen gegenüber dem Nekromanten. »Wir müssen sie warnen! Niemand kann wissen, wo sich Mazi versteckt hält!« Zayl legte aber seine schmale und doch kräftige Hand auf die Schulter des Söldners. Er beugte sich vor und flüsterte: »O doch, man kann es wissen, kann es zumindest in Erfahrung bringen, und ich habe den entsprechenden Zauber gewoben. Gregus Mazi ist noch immer in Ureh, Hauptmann.« Sein Blick wanderte zu dem prachtvollen Bauwerk auf dem Hügel. »Und ich fürchte, dass er sich im Palast befindet.« 199
Elf Kentrils Entsetzen wäre nicht größer gewesen, hätte Zayl ihm erzählt, Diablo persönlich residiere in dem Palast, in dem Atanna zuhause war. Gregus Mazi, der Mann, der ein Königreich verflucht und Khans Tochter begehrt hatte, weilte nicht nur immer noch unter den Lebenden, sondern war sogar nahe genug, um ihr Schaden zufügen zu können. Noch nie in seinem Leben hatte Kentril einen anderen Menschen so unbedingt töten wollen, nicht einmal in einer der vielen Schlachten, in die er gezogen war. Dort hatte er nur seine Pflicht erfüllt, für die er bezahlt wurde, nichts weiter. Doch hier war die Aufgabe persönlicher Natur. »Wo im Palast ist er?«, wollte er von Zayl wissen, als sie sich dem Hügel zum Palast näherten. »Wo?« »Unter dem Palast, um genau zu sein. Die exakte Position war nicht zu bestimmen. Es sind Kräfte im Spiel, denen ich noch niemals begegnet bin. Zauber, die ich gewirkt habe, wurden so verkehrt, dass sie für mich nutzlos wurden. Vielleicht ändert sich das, wenn ich näher an der Quelle bin.« »Sie müssen gewarnt werden«, beharrte Kentril. »Sie müssen wissen, dass sich die Gefahr direkt unter ihnen befindet.« Am Fuß der alten Treppe angelangt, bat der Nekromant seinen Begleiter, stehen zu bleiben. »Hauptmann Dumon, ist Euch im Palast bislang irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?« »Nur dass einige meiner Männer nicht zurückgekehrt sind.« »Aber weder Lord Khan noch seine Tochter scheinen in Gefahr zu sein.« 200
Es gefiel dem Söldner nicht, wie Zayl redete. »Was soll das heißen?« »Dir habt viele Schlachten geschlagen, viele Kriege erlebt. Kündigt Ihr Eure Absichten dem Feind an, oder versucht Ihr, ihn zu täuschen und ahnungslos zu belassen?« Kentril kniff ein wenig die Augen zusammen. »Versucht Ihr, mich dazu zu bringen, ihnen nichts zu sagen?« »Jedenfalls nicht, so lange wir nicht mehr herausgefunden haben – oder bis wir erkennen, dass ihnen Gefahr droht.« »Und was schlagt Ihr vor, Nekromant?« Zayl sah sich um, weil er sicher gehen wollte, dass sich niemand in der Nähe aufhielt, der sie belauschen konnte. »Wir finden erst heraus, was genau sich unter dem Palast befindet.« Kentril hielt Zayls Vorschlag zwar für töricht und fand, der richtige Weg sei es, Atanna zu warnen, dass Gregus Mazi zurückgekehrt war. Doch er fürchtete auch, der ruchlose Hexenmeister würde davon gleichfalls erfahren. Zweifellos beobachtete er Khan und dessen Tochter aufmerksam, um sicher zu sein, dass niemand von seiner heimlichen Anwesenheit wusste. Sonst würde er höchstwahrscheinlich sofort vernichtend zuschlagen. Es sprach auch vieles dafür, dass der Schurke die Gäste seines einstigen Meisters überwachte. Wenn sie sich einfach auf die Jagd nach ihm begaben, dann würde er sicherlich Fallen stellen, um sie alle zu töten. »Wir werden ihnen vorerst noch nichts sagen«, stimmte Kentril schließlich zu. »Aber wir brauchen irgendeine Art von Ablenkung, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln, damit er nicht merkt, dass wir heimlich nach ihm suchen.« »Da hat er Recht«, ertönte Humbarts erstickte Stimme. Zayl tippte auf die Tasche und nickte einwilligend. 201
Sie schwiegen über ihre Absichten, als sie einige Zeit später in den Palast zurückkehrten. Keiner der beiden hatte sich bislang überlegt, wie sie den versteckten Zauberkundigen ablenken konnten, doch sie wussten auch, dass sie nicht zu lange warten durften. Gregus Mazi führte zweifellos etwas Übles im Schilde. Mit diesem Gedanken im Kopf suchte Kentril Albord auf. Der jüngere Söldner war soeben im Begriff, sich mit zwei anderen auf den Weg in die Stadt zu machen, was bestens zum Plan des Hauptmanns passte. Er nahm Albord zur Seite und flüsterte ihm zu: »Frag nicht warum, aber ich habe einen Befehl für dich.« Auch wenn er sich mit keiner Geste die Überraschung über die Worte seines Vorgesetzten anmerken ließ, verrieten die Augen des Söldners Kentril, dass Albord den Ernst der Lage verstand. »Aye, Hauptmann?« »Ich muss die Feier für unsere Leute für den Augenblick unterbrechen. Ich möchte, dass ihr drei in die Stadt geht und jeden Mann mitnehmt, den ihr finden könnt. Jeder soll in den Palast zurückkommen. Lass mich wissen, wen ihr nicht finden konntet. Am wichtigsten ist, dass ihr euch nicht aufteilt. Lasst auch niemanden von den Einheimischen wissen, was ihr vorhabt. Und wenn euch jemand seine Hilfe anbietet, um einen Vermissten wiederzufinden, lehnt diese Hilfe kategorisch ab.« Diese letzten Worte entlockten dem Mann eine Reaktion: »Wie ernst ist die Situation, Hauptmann?« Kentril dachte an seine Begegnung, bei der sich die Stadt in einen höllischen Alptraum verwandelt hatte. Er war mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass die beiden Frauen irgendeinen exotischen Trank benutzt haben mussten, um ihn zu schwächen und um die Halluzinationen hervorzurufen. Er hatte davon gehört, dass manche Attentäter solche Flüssigkeiten auf ihre Fin202
gernägel auftrugen, sodass eine einzige Berührung genügte, um sie an das Opfer weiterzugeben. »Ernst genug. Hütet euch vor allem vor zwei Frauen, eine, die golden gekleidet ist, und die beide viel zu sehr auf eure Gesellschaft aus sind.« Während er Albord und die anderen losschickte, kam Zayl zu ihm zurück. »Was habt Ihr ihnen gesagt?« »Genug, damit sie auf sich aufpassen. Es ist nicht weiter ungewöhnlich, dass ich wissen will, wo meine Männer sind und was sie treiben, Nekromant. Söldner neigen dazu, in Friedenszeiten sehr schnell zur Last zu werden, wenn man ihnen Gastfreundschaft angeboten hat. Sie alle zurückzurufen, wird wie eine übliche Vorsichtsmaßnahme erscheinen.« »Weihen wir Meister Tsin ebenfalls ein?« Kentril zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich will es Gorst sagen, und der hält sich in der Nähe des Hexenmeisters auf.« Sie eilten zur Bibliothek, mussten zu ihrer großen Überraschung jedoch feststellen, dass niemand dort war. Der Tisch, an dem der Vizjerei so lange gesessen hatte, war noch immer unter einem Berg von Büchern und Schriftrollen begraben, doch Tsin und seine Notizen waren verschwunden. Der Hauptmann bemerkte, dass noch jemand fehlte: Gorst. Der Riese war womöglich Tsin einfach nur gefolgt, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, doch der beträchtliche Stapel an Pergamenten, der verschwunden war, und die Tatsache, dass der kleine Zauberkundige Schwierigkeiten haben würde, seine Notizen allein mit sich herumzuschleppen, legten den Schluss nahe, dass er Gorst angewiesen hatte, ihm bei irgendetwas zu helfen. Kaum hatten sich Kentril und Zayl umgedreht, sahen sie ein Stück entfernt Atanna im Korridor stehen. Sie bemerkte die 203
beiden, und ihre ohnehin schon strahlende Miene erschien dem Kämpfer so, als würde sie regelrecht von innen heraus aufleuchten. »Kentril! Du hast es geschafft, du hast es geschafft!« Sie ignorierte den Nekromanten und warf sich dem Hauptmann an den Hals, küsste ihn voller Leidenschaft. Kentril vergaß für einen Moment die Bedrohung, während er Atannas Dankbarkeit mit Freuden akzeptierte. Dabei war es nebensächlich, dass er nicht wusste, welchen Grund sie überhaupt hatte, um ihm zu danken. Allmählich wurde ihm bewusst, dass Zayl ein Stück hinter Lord Khans Tochter stand und ihn ansah. Zunächst ärgerte ihn diese Störung, doch dann erinnerte sich Kentril daran, was er und sein Begleiter zu erreichen versuchten. Mit sanfter Gewalt löste er sich von Atanna und tröstete sich damit, dass er wenigstens in der Lage war, sie ansehen zu dürfen. »Und wofür dankst du mir so innig?« »Als wenn du das nicht wüsstest!« Fast hätte sie ihn wieder geküsst, doch sie bemerkte seinen Unwillen. Ein amüsiertes Lächeln zeichnete sich auf ihrem vollkommenen Gesicht ab, während sie zuließ, dass auch Zayl an der Unterhaltung teilhaben konnte. »Ihr werdet das auch interessant finden, Sir.« »Das vermute ich, Mylady.« Atanna reagierte freundlich auf seine Höflichkeit. »In diesem Moment«, ließ sie die beiden wissen, »hat der Vizjerei-Hexenmeister Quov Tsin eine Audienz bei meinem Vater!« »Jetzt schon?«, gab Kentril verblüfft zurück. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Tsin schon so bald versuchen würde, Lord Khan zu überreden. An dieser plötzlichen Entwicklung war sicher auch die Habgier des Vizjerei schuld. Kentril konnte nur hoffen, 204
dass das überstürzte Vorgehen nicht den ganzen Plan über den Haufen warf. »Der gute Hexenmeister hat meinem Vater bereits gesagt, er glaube, ihn in ein oder zwei Tagen von Gregus’ Fluch befreien zu können. Es werden stundenlange Vorbereitungen notwendig sein, außerdem eine ganze Fülle von Zaubern, doch er ist zuversichtlich, dass es ihm gelingen wird!« Ihre Augen standen vor Hoffnung und Erwartung weit offen. Kentril betete, dass Tsin – allein schon um Atannas willen – Juris Khan nicht enttäuschen würde. »Es freut mich, das zu hören, aber ...« »Und für manche dürfte eine Sache noch wichtiger sein«, fügte die rothaarige Prinzessin hinzu, deren Blick jetzt auf Hauptmann Dumon ruhte. »Meister Tsin hat bereits ein Wunder gewirkt. Er konnte Vater überzeugen, dass Ureh wieder ein Teil dieser Welt bleiben sollte und dass das Streben nach dem Himmel etwas ist, das wir so wie jeder andere Sterbliche auch betreiben sollten, indem wir uns den Prüfungen des Lebens stellen.« Kentril zögerte mit seiner Reaktion. Er hoffte, dass er sie wirklich richtig verstanden hatte. »Juris Khan will den Zauber nicht noch einmal wirken? Er wird keinen zweiten Versuch unternehmen, die Zuflucht des Himmels zu beanspruchen?« »Nein! Dank dem Vizjerei glaubt Vater nun, dass uns hier eine andere Rolle beschieden ist. Er glaubt, wir könnten gebraucht werden, um dem Rest der Welt zu helfen, auf den rechten Weg zu gelangen. Er fragt sich sogar, ob das von Anfang an unsere Bestimmung gewesen sein könnte.« Für Hauptmann Dumon klang das alles zu phantastisch, aber in Atannas Gesicht entdeckte er nichts anderes als die Wahrheit. Lord Khan hatte seine Meinung geändert. Tsin war tatsächlich 205
erfolgreich gewesen, und das sogar weitaus schneller, als Kentril es für möglich gehalten hätte. »Ich gratuliere Euch zu dieser Neuigkeit, Mylady«, sagte Zayl höflich. »Danke«, erwiderte sie und lächelte den Nekromanten einen Moment lang an, ehe sie sich wieder ganz Kentril widmete. »Vater ist so begeistert, dass er dich und Meister Tsin in Kürze mit einem privaten Abendessen ehren möchte. Ihr seid auch eingeladen, Meister Zayl, wenn Ihr möchtet.« Der bleiche Mann schüttelte den Kopf. »Meinesgleichen sind nicht für soziales Verhalten berühmt, und abgesehen davon habe ich nichts getan, um eine solche Ehrung zu verdienen. Aber ich bin durchaus der Ansicht, dass Hauptmann Dumon und der Hexenmeister auf diese Weise geehrt werden sollten.« »Wie Ihr wünscht.« Mit diesen Worten schien Atanna zu vergessen, dass der Nekromant überhaupt noch existierte. »Kentril, ich hoffe, du wirst ja sagen.« Was sonst hätte er sagen sollen? »Selbstverständlich. Und ich fühle mich geehrt.« »Hervorragend! Dann ist ja alles geklärt. Ein Diener wird dich bald in deinen Gemächern aufsuchen, um dir beim Anziehen zu helfen.« »Beim Anziehen?« Dem Söldner gefiel nicht, was er da hörte. »Aber sicher«, antwortete Zayl mit Unschuldsmiene. »Man muss immer angemessen gekleidet sein, wenn man einem königlichen Abendessen beiwohnt, Hauptmann.« Ehe Kentril protestieren konnte, gab ihm Atanna einen Kuss und eilte davon. Beide Männer sahen zu, wie die Frau mit den verführerischen Rundungen durch den Korridor lief und verschwand. 206
»Eine außergewöhnliche Frau, Hauptmann Dumon.« »Sehr außergewöhnlich sogar.« Der Nekromant kam näher. »Dieses Essen könnte für uns von Vorteil sein. Da Lord Khan und seine Tochter mit Euch und dem Vizjerei beschäftigt sein werden, kann ich heimlich nach einem Weg suchen, der unter den Palast führt. Es muss irgendwo ein Plan existieren mit dem Grundriss des Palastes, und womöglich sind dort sogar die Höhlen verzeichnet, von denen Khan gesprochen hat.« Kentril sah weiter in die Richtung, in die Atanna davongeeilt war. »Es gefällt mir trotzdem nicht, ihr nichts davon zu sagen.« »Vergesst nicht, dass Gregus Mazi einst Khans Tochter begehrte. Er hat sie bislang nicht angefasst, doch wenn er weiß, dass sie gewarnt ist, könnte er versuchen, sie zu entführen. Ihre Unwissenheit sorgt derzeit für ihre Sicherheit.« »Schon gut«, herrschte der Hauptmann ihn an und warf dem großen, schmalen Mann einen zornigen Blick zu. »Sorgt nur dafür, dass man Euch nicht erwischt. Es dürfte schwierig werden, das zu erklären.« »Wenn es doch passieren sollte, werde ich allen sagen, dass ich auf eigene Faust gehandelt habe. Sie wird keinen Grund haben, das Vertrauen in Euch in Zweifel zu ziehen, Hauptmann.« Mit einer leichten Verbeugung ging Zayl seines Weges. Kentril blickte ihm nachdenklich nach, da er sich noch immer nicht sicher war, ob er richtig handelte, was den Pakt mit dem Nekromanten anging. Dann jedoch machte er sich auf den Weg in seine Gemächer, um zu sehen, was er tun konnte, um für den Abend vorzeigbar zu sein. Viel lieber wäre er auf der Stelle in einen Kampf gezogen. Eine schwarze Galauniform mit Goldverzierungen war auf 207
sein Bett gelegt worden, eine Uniform mit einer langen, elegante Hose und einer Jacke mit Rockschößen. Epauletten schmückten die Schultern der Jacke, und auf der linken Seite, in Brusthöhe, war das stilisierte Bild einer Krone und eines Schwertes eingestickt worden. Die glänzenden schwarzen Lederstiefel reichten ihm bis zu den Knien und vervollständigten das recht schneidige Gesamtbild. Kentril kam sich in dieser Aufmachung albern vor. Er war ein Soldat, ein Söldner. Die Uniform hätte von einem Kommandanten getragen werden sollen, einem General, aber nicht von jemandem, der einen so niedrigen Rang hatte wie er. Aber er hätte auch nicht in seiner abgetragenen und an vielen Stellen geflickten Kleidung zu dem Essen erscheinen können. Dass die Uniform wie angegossen passte, war für den Hauptmann keine Überraschung. Atanna hätte sie nicht bereitlegen lassen, wenn sie nicht gewusst hätte, dass sie wie für ihn geschneidert war. Er fragte sich allerdings, ob die Uniform wohl früher einmal einem anderen gehört oder ob sie sie einfach auf irgendeine Weise herbeigezaubert hatte. Obwohl Kentril den Weg zu seinem Ziel kannte, warteten vor seinen Gemächern zwei bewaffnete Wachen, um ihn zu eskortieren. Sie marschierten vor ihm her durch die Korridore und führten den Kämpfer dorthin, wo Khan auf ihn wartete. »Willkommen, mein Freund!«, rief der väterliche Mann von seinem Platz aus. »Es freut mich so sehr, dass Ihr zugestimmt habt, unser Gast zu sein.« Wegen der Unfähigkeit des Monarchen, sich von der Stelle zu rühren, war ein schwerer Tisch in den Saal getragen worden. Er war von Meisterhand gefertigt und mit filigranen Mustern überzogen, und vermutlich hatte er so viel gekostet, wie Kentril mit 208
sehr viel Glück in zehn Jahren verdiente. Darauf waren ein goldenes Tischtuch ausgebreitet, auf dem glänzendes Tafelsilber lag und große, prachtvolle Kerzenleuchter standen. Drei Stühle waren um den Tisch herum angeordnet. Da Juris Khan das Podest, auf dem sein Stuhl stand, nicht verlassen konnte, hatte man ihm noch einen kleineren, aber nicht weniger aufwändig verzierten Tisch hingestellt, während der größere so stand, dass der Herrscher über Ureh am Kopfende seinen Platz hatte. Quov Tsin saß bereits zur Linken des Gastgebers, doch von Atanna war nichts zu sehen. Aber als er näher kam, trat sie auf einmal von der Seite hervor und hielt ihm ihre Hand entgegen. Er starrte sie an – zum einen, weil er nicht begreifen wollte, wie ihm ihr Eintreten hatte entgehen können, zum anderen, weil nichts im Saal es mit ihrem grandiosen Anblick aufnehmen konnte. Ihr wallendes smaragdfarbenes Kleid bildete einen perfekten Kontrast zu ihren vollen, karmesinroten Zöpfen, die kunstvoll über Schultern und Brust gelegt waren. Die Ärmel reichten hinunter bis zu ihren Handrücken und umschlossen jeweils drei Finger wie ein Handschuh. Das Kleid ließ ihre Schultern frei und war so tief ausgeschnitten, dass es mit ihrem perfekt geformten Körper verlockend spielte, ihn aber nicht zur Schau stellte. Er nahm ihre dargebotene Hand und gab ihr einen Kuss auf den Handrücken, dann führte Atanna ihn zum Tisch. »Du solltest dort am Ende Platz nehmen«, murmelte sie. »Ich werde zu deiner Linken sitzen, ganz in deiner Nähe.« Kentril wollte sich zu dem ihm zugewiesenen Platz begeben, doch dann erinnerte er sich daran, wie sich Offiziere in der Gegenwart einer Dame verhielten. Also begleitete er sie zu ihrem 209
Platz und zog ihren Stuhl zurück, damit sie sich setzen konnte. Mit einem lieblichen Lächeln nahm Atanna seine Geste an. »Das wird auch Zeit«, murmelte Tsin, als sich Kentril selbst gesetzt hatte. Nach dem leeren Kelch zu urteilen, der vor dem Vizjerei stand, hatte er schon mindestens eine Runde getrunken. Natürlich war er in den Gewändern erschienen, die er immer trug. Von einem Hexenmeister wurde allerdings auch nicht erwartet, dass er sich anders kleidete, als es seinem Stand entsprach. Bei genauer Betrachtung war die mit Runen überzogene Kleidung hier gar nicht einmal so fehl am Platz. »Ihr seht prachtvoll aus«, erklärte Juris Khan an den Hauptmann gewandt. »Sieht er nicht prachtvoll aus, meine Liebe?« »Ja, Vater.« Atanna errötete. »Eine weise und wundervolle Wahl, Tochter! Wahrlich, Hauptmann Dumon, die Uniform ist Eurer würdig.« »Ich danke Euch, Mylord«, erwiderte Kentril, dem keine bessere Antwort einfiel. »Ich bin so dankbar, dass Ihr beide kurzfristig herkommen konntet. Ich verdanke Euch schon jetzt so viel, und wie es aussieht, werde ich Euch bald noch mehr zu verdanken haben!« »Wir fühlen uns wirklich geehrt, Lord Khan«, erwiderte Quov Tsin und hob seinen leeren Kelch zum Salut. Ein Diener tauchte wie aus dem Nichts auf und schenkte aus einer dunkelgrünen Flasche ein, worauf der Vizjerei vermutlich schon die ganze Zeit gewartet hatte. Kentril reagierte mit einem Kopfnicken auf die Worte seines Gastgebers, auch wenn er nicht das Gefühl hatte, viel getan zu haben, was solches Lob verdiente. Zugegeben, er hatte den Schlüssel zum Licht an den ihm zugedachten Platz gebracht, doch das hätte jeder schaffen können, der stark genug war. In erster 210
Linie sollte Tsin derjenige sein, der Urehs Herrscher vom Fluch Gregus Mazis befreien würde. Hauptmann Dumon konnte verstehen, dass der Hexenmeister dafür einen entsprechenden Dank erhielt, aber ihm selbst genügte es, in Atannas Nähe zu sein. Juris Khan schnippte mit den Fingern, woraufhin mehrere Diener an den Tisch kamen und den ersten Gang servierten. Die Diener waren einander so ähnlich in ihrem Aussehen, dass Kentril jeden von ihnen genau betrachten musste, um sicher zu sein, dass sie nicht völlig identisch waren. Obwohl er selbst nur ein angeheuerter Söldner war – ein Mann, der seinen Rang nur dem Umstand verdankte, dass er so viele andere mutige Männer überlebt hatte –, behandelten ihn die Diener mit dem gleichen Respekt, den sie auch ihrem Herrn entgegenbrachten. Während das Essen weiter fortschritt, genoss der erfahrene Kämpfer Früchte und Gemüsesorten, wie er sie noch nie gekostet hatte, dazu Fleisch, das im eigenen Saft geschmort worden war. Der Wein, der dazu gereicht wurde, hatte einen so vollmundigen Geschmack, dass Kentril aufpassen musste, nicht zu viel zu trinken. Alles, was er kostete, war absolut perfekt – so perfekt, dass ihm das Essen mehr wie ein Traum vorkam. Und die ganze Zeit über labte er sich an dem Anblick, den Atanna bot. Er war so sehr von ihr gefesselt, dass lange Zeit verstrich, ehe Kentril eine Frage durch den Kopf ging, die ihm schon zuvor ein Rätsel aufgegeben hatte. Er betrachtete die spärlichen Reste auf seinem Teller, dann fragte er mit größter Vorsicht: »Mylord, woher kommen alle diese Speisen?« Tsin warf ihm einen Blick zu, als sehe er vor sich ein unartiges Kind, das unaufgefordert etwas gefragt hatte. Juris Khan dagegen akzeptierte nicht nur die Frage, sondern ließ es sogar so erscheinen, als sei sie sehr klug und berechtigt. »Ja, das solltet Ihr fra211
gen. Es ist kein Wunder, wenn Ihr Zweifel hegt, denn ich gab Euch zu verstehen, dass wir zwar zwischen dem Himmel und der Ebene der Sterblichen gefangen, uns unseres Schicksals aber sehr wohl bewusst waren. In mancher Hinsicht verging die Zeit, in anderer dagegen nicht. Selbst ich kann das nicht restlos erklären, was ich sehr bedauere. Wir wussten nur, dass in der wahren Welt Jahr um Jahr verstrich, während wir weder alterten noch allzu viel schliefen – und wir verspürten auch keinerlei Hunger.« »Überhaupt keinen Hunger?«, fragte Kentril erstaunt. »Nun, in einer Hinsicht verspürten wir durchaus Hunger, denn wir verzehrten uns danach, errettet zu werden. So, wie wir nicht alterten, wurden auch unsere Speisen nicht älter. Daher haben wir sehr große Vorräte, die auch noch eine ganze Zeit reichen werden.« Atannas Vater lächelte seine beiden Gäste milde an. »Und bis dahin, so hoffe ich doch, wird sich unsere Situation wohl grundlegend verbessert haben.« Kentril nickte, dankbar für diese Antwort, während er sich insgeheim schämte, die Frage überhaupt erst gestellt zu haben. »Mylord«, meldete sich der Vizjerei zu Wort. »Während Ihr dem Hauptmann hier das Offensichtliche erklärt habt, habe ich mir noch einige Gedanken gemacht.« Khan fand den Einwurf sehr interessant. »Gedanken, die meine Verfassung betreffen?« »Aye. Ich werde ganz entschieden von den Fähigkeiten Eurer Tochter sowie von den Euren Gebrauch machen müssen, so wie ich bereits früher erwähnt hatte. Ihr müsst wissen ...« Damit begann Tsin eine langwierige und für den realistisch denkenden Hauptmann gänzlich unverständliche Erklärung, während der Kentril seine Aufmerksamkeit nur zu gerne wieder auf seine Gastgeberin lenkte. Atanna bemerkte seinen Blick und 212
lächelte ihn über den Rand des Kelches hinweg an, den sie gerade gehoben hatte, um daraus zu trinken. Die Augen und den Verstand ausschließlich auf den himmlischen Anblick gerichtet, vernachlässigte Hauptmann Dumon die Konzentration auf das Besteck in seinen Händen. Die Messerklinge rutschte von dem Stück Fleisch ab, das er hatte klein schneiden wollen, und stach ihm seitlich in die Hand, in der er die Gabel hielt. Ein paar Tropfen Blut fielen auf den Teller, und ein starker Schmerz jagte durch Kentril. Im gleichen Moment verwandelte sich der hell erleuchtete Saal in eine Schreckenskammer. Frisches Blut schien über beschmutzte und zerkratzte Wände zu laufen, und anstelle der Decke war nur noch ein schroff gezacktes Loch zu sehen, das den Blick auf einen Himmel freigab, der so aufgewühlt und gepeinigt wirkte wie die gesamte übrige Umgebung. Karmesinrote und schwarze Wolken rangen miteinander, gewaltige Blitze zuckten dort auf, wo sie kollidierten. Wirbelnde Mahlströme bildeten sich und schienen bereit zu sein, die blutende Welt darunter zu schlucken. Knochen, die verdächtig nach denen von Menschen aussahen, lagen überall auf dem schmutzigen und aufgerissenen Boden verstreut, und etwas, das an eine Ratte erinnerte, huschte umher, ehe es in einem der schmalen Risse verschwand, die sich durch den Raum zogen. Ein heftiger Wind war aufgekommen, der heulend wehte. In seinem Zug empfand Kentril eine massive Hitze, die ihn dennoch bis in seine Seele frösteln ließ. Von irgendwo her hörte er Stöhnen und Schreien, und als er von dem verrotteten Tisch aufstand, lag auf dem abgesplitterten und schmutzigen Teller nicht das frisch zubereitete Mahl, von 213
dem er eben noch gegessen hatte, sondern ein grünliches Stück Fleisch, auf dem es vor Maden wimmelte. Das Stöhnen und Schreien wurde noch lauter, sodass der Hauptmann sich schließlich die Ohren zuhalten musste. Er taumelte zurück und ließ sich gegen eine Mauer fallen, die sich als die Quelle des gequälten Flehens entpuppte. Hunderte von Mündern schrien in den Wänden um Hilfe. Die, die ihm am nächsten waren, schienen zugleich die lautesten zu sein. Entsetzt wich Kentril zurück und stolperte zurück zum Tisch, wo ... wo er mit einem sehr verärgerten Quov Tsin zusammenstieß. »Was meint Ihr eigentlich, was Ihr hier macht, Kretin? Wollt Ihr Euch vor den Augen unseres Gastgebers zum Narren machen?« Der Vizjerei zeigte in Richtung des Podestes. Als Kentril dorthin sah, erblickte er nicht den guten, väterlichen Juris Khan. Der Stuhl stand unverrückt an seinem Platz, und er schien von dem Horror ringsum verschont geblieben zu sein, doch es war nicht der Herrscher von Ureh, der dort saß. Vor Hauptmann Kentrils schreckgeweiteten Augen erhob sich dort ... »Kentril! Sprich zu mir! Ich bin es, Atanna! Kentril!« Als wäre das alles nur ein Traum gewesen, nahm der große Saal von einem Augenblick zum anderen wieder sein ursprüngliches Aussehen an. Atanna hielt seine blutende Hand, während sie ihn erschrocken und besorgt ansah. In diese Augen blicken zu können, gab dem Söldner etwas, worauf er sich konzentrieren konnte. Sie waren wie ein Anker für seine geistige Gesundheit, die auf einmal in Frage gestellt war. »Hauptmann Dumon, fühlt Ihr Euch nicht wohl?« 214
Widerstrebend sah Kentril zu Juris Khan und atmete erleichtert auf, als er den Monarchen dort stehen sah, ganz offensichtlich um das Wohl seines Gastes besorgt. Verschwunden war das Bild von ... ja, von was überhaupt? Kentril konnte sich nicht einmal genau daran erinnern, was er gesehen hatte. Er wusste nur noch, dass er einem solchen Anblick in seinem ganzen Leben noch nicht begegnet war. Allein der Versuch, sich auch im Entferntesten an dieses Bild zu erinnern, machte ihm Angst. Khans Tochter hielt ihm einen Kelch an die Lippen. »Trink hiervon, mein Liebling.« Ihretwegen und nur ihretwegen trank er. Der Wein besänftigte ihn und ließ ihn den Alptraum weitestgehend vergessen. Atanna führte ihn zu seinem Stuhl zurück. Während er sich hinsetzte, murmelte er: »Verzeihung, ich möchte alle um Verzeihung bitten.« »Jemand, der sich unwohl fühlt, hat keine Veranlassung, sich zu entschuldigen«, erklärte Khan freundlich. Atanna, die eine Hand auf der Schulter des Hauptmanns liegen ließ, sagte: »Ich glaube, ich weiß, was geschehen ist, Vater. Wir sind früh am Tag im Garten spazieren gegangen, und dort hat ihn etwas gebissen oder gestochen.« »Ich verstehe. Ja, die Insekten des Dschungels gelangen manchmal hierher. Von manchen sagt man, dass sie Krankheiten übertragen, die Wahnvorstellungen und Schlimmeres bewirken können. Ihr müsst ganz gewiss gestochen worden sein, Hauptmann Dumon.« Kentril hatte in vielen unwirtlichen Ländern gekämpft, in denen Wetter und Tiere schlimmere Gegner waren als ein feindlicher Soldat. Daher konnte er ihre Schlussfolgerungen nachvollziehen. Doch die erschreckende Klarheit dieser Halluzination 215
wollte den Kämpfer nicht loslassen. Was war in ihm, das solche entsetzlichen Bilder entstehen lassen konnte? Als ein Mann, der Blutvergießen gesehen und am eigenen Körper erlebt hatte, waren ihm oft Träume von der Kehrseite des Krieges gekommen, doch niemals war seiner Phantasie ein derartiges Schreckensbild entsprungen. Atannas Erklärung würde aber auch sein Erlebnis in der Stadt nachvollziehbar machen. War dieser Zwischenfall das erste Anzeichen für eine beginnende Krankheit gewesen? Er hatte angenommen, diese Zorea oder die andere Frau hätten ihm irgendeine Form von Droge verabreicht, doch deren Effekt hätte inzwischen längst nachgelassen. Lord Khan setzte sich wieder hin. »Nun, ganz gleich, welches der Grund sein mag – ich bin sicher, dass Ihr Euch schnell erholen werdet, wenn sich meine Tochter um Euch kümmert. Ich möchte schließlich, dass Ihr bei völlig klarem Verstand seid, wenn Ihr meine Geschenke entgegennehmt, damit ich Euch nicht irgendetwas aufdränge, was nicht nach Eurem Geschmack ist.« »Geschenke?« »Aye, mein guter Hauptmann, obwohl ... wenn Ihr annehmt, werdet Ihr kein Hauptmann mehr sein.« Khan beugte sich zu seinen beiden Gästen vor. »Beim Kampf gegen Gregus Mazi ließen manche meiner Männer ihr Leben. Wichtige, gute Männer. Gute Freunde. In Ureh existiert ein Vakuum, und wenn wir wieder ein Teil der Welt der Sterblichen werden wollen, dann muss dieses Vakuum gefüllt werden. Ihr zwei könnt dabei helfen.« Kentril fühlte, wie Atanna ihn fester an der Schulter fasste, und als er sie ansah, hatte ihr Gesicht einen Ausdruck von Stolz und Freude. 216
»Meister Tsin, Ihr und ich, wir haben das zum Teil bereits besprochen, daher seid Ihr gegenüber Hauptmann Dumon im Vorteil. Dennoch ist die Entscheidung auch für Euch von großer Bedeutung, daher mache ich Euch mein Angebot noch einmal, und diesmal noch präziser formuliert. Alle, die in meinem Königreich mit Magie umzugehen verstanden, sind ausgelöscht worden, ausgenommen meine Tochter und ich. Daher frage ich Euch, ob Ihr das wieder mit Ehre erfüllen wollt, was Gregus beschmutzt hat. Ich biete Euch an, der königliche Hexenmeister zu werden und Euch das magische Wissen meines Reichs an die Hand zu geben, wenn Ihr für immer zu meiner Linken sitzen wollt.« Der Vizjerei erhob sich langsam und zufrieden lächelnd. Kentril hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was diese Worte für den Zauberkundigen bedeuten mussten. Er würde damit nicht nur auf lange Sicht auf die Bücher und Schriftrollen in der Bibliothek zurückgreifen, Juris Khan bot dem kleinen Mann auch darüber hinaus alles, was sich der Vizjerei je hätte wünschen können. »Mylord Khan«, erwiderte Quov Tsin freundlich. »Nichts würde mir mehr zusagen als dies.« »Dann bin ich zufrieden.« Nun wandte sich der erhabene Monarch Kentril zu, der fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. »Hauptmann Kentril Dumon, durch Eure Hilfe und durch die Fürsprache eines Menschen, der Euch besser kennen gelernt hat als ich, habe ich bereits erfahren, dass Ihr ein fähiger, entschlossener, ehrbarer und loyaler Mann seid. Ich wüsste keine besseren Eigenschaften, die man in einem Soldaten ... nein, in einem Führer finden könnte!« Khan legte die Finger aneinander. »Wir sind ein altes Reich in einer neuen Welt, einer Welt, die Ihr viel bes217
ser kennt als wir. Wir benötigen einen Mann, der uns führt, der uns vor Elementen schützt, die in einer veränderten Zeit unseren Untergang wünschen könnten. Ich brauche Euch als Kommandant meiner Armee, als Beschützer meines Volks, als General, wie es die Uniform verlangt, die Ihr tragt.« Trotz seines schrecklichen Erlebnisses zwang sich Kentril, wieder aufzustehen. »Mein großzügiger Lord Khan ...« Doch sein Gastgeber fiel ihm höflich, aber bestimmt ins Wort: »Und in Ureh, das solltet Ihr auch wissen, geht ein solcher Dienstrang mit einem Titel einher. Der Kommandant unserer Truppen ist nicht nur ein Soldat, sondern auch ein Prinz unseres Landes.« Dem Hauptmann verschlug es einen Moment lang die Sprache. Atanna drückte mit ihrer Hand leicht seinen Arm. »Und als Mitglied des Adels würden Euch auch alle damit verbundenen Rechte gewährt. Euch wird Grund und Boden gegeben, Ihr könnt eine eigene Dienerschaft beschäftigen, Ihr könnt ein anderes Mitglied des Adels heiraten ...« Bei diesen Worten drückte Atanna seinen Arm ganz besonders fest. Als sich Kentrils und ihr Blick einen Moment lang trafen, sah er die Antwort darin, warum Juris Khan ihm einen solchen wunderbaren Posten anbot. Trotz der Liaison war dem Soldat stets klar gewesen, dass er nicht auf eine dauerhafte Liebe hoffen durfte. Atanna war eine Prinzessin, geboren und erzogen, um jemanden von gleichem oder höherem Rang zu heiraten. Könige, Sultane, Herrscher und Prinzen konnten um ihre Hand anhalten, nicht aber ein niederer Soldat. Dieses Hindernis hatte ihr Vater nun mit ein paar Worten aus der Welt geschafft. »... und so weiter«, beendete Juris Khan seine Ausführungen. 218
Er lächelte wie ein Vater, der seinen Sohn vor sich sieht ... vielleicht ein Vorgeschmack auf Dinge, die noch kommen würden. »Also, was sagt Ihr dazu, mein guter Hauptmann?« Was sollte Kentril schon sagen? Nur ein Narr oder ein Wahnsinniger konnte ein solches Angebot verweigern, und trotz der jüngsten Erlebnisse war er nicht der Ansicht, dass er einer der beiden Gruppen zuzuordnen war. »Ich ... ich fühle mich geehrt, Mylord.« »Dann ist alles Euer, was ich Euch angeboten haben! Ihr und Meister Tsin haben mich zu einem wahrhaft glücklichen Mann gemacht! Meister Tsin versichert mir, dass er Erfolg damit haben wird, mich zu befreien, und wenn es stimmt, werde ich in drei Tagen von der Sonne beschienen werden, die jenseits unserer Grenzen zu sehen ist, und vor dem versammelten Hof offiziell Eure neuen Posten bekannt geben.« Khan ließ sich regelrecht auf seinen Stuhl fallen, so als sei er von seiner bedeutungsvollen Geste körperlich und emotional zutiefst erschöpft worden. »Euch ist die Dankbarkeit von ganz Ureh gewiss ... doch die Dankbarkeit meines unterwürfigen Selbst ist die größte von allen.« Atanna nahm wieder Platz, und als sie und Kentril sich ansahen, errötete sie noch stärker. Die Unterhaltung kehrte zurück zu Quov Tsins Plan, Lord Khan von seinem Stuhl zu befreien, und bezog schließlich auch Atanna mit ein, da sie eine wichtige Rolle spielte. Sich selbst überlassen, begann Hauptmann Dumon, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Es waren Gedanken, die sein Täuschungsmanöver betrafen. Nach allem, was Juris Khan ihm soeben gewährt hatte, nach allem, was Atannas Augen und Mund versprachen, hatte er noch immer nicht erwähnt, dass Gregus Mazi möglicherweise immer noch lebte und vielleicht wieder seine schwarzen Künste gegen 219
sie zum Einsatz bringen würde. Kentril wusste, dass Zayl in diesem Moment im Palast umherschlich und hinter dem Rücken der Gastgeber die Baupläne suchte. Zugegeben, sie beide hatten nur das Wohl aller Beteiligten im Sinn, dennoch hatte der Hauptmann das Gefühl, Atanna und ihren Vater mit jeder Sekunde mehr zu hintergehen, die er verstreichen ließ, ohne die Wahrheit zu sagen. Trotz dieser Bedenken blieb Kentril aber dabei, nichts zu sagen. Wenn Zayl sich geirrt hatte, würde niemand einen Schaden davontragen. Wenn der Nekromant aber die richtige Schlussfolgerung gezogen hatte, würden nur er und Kentril sich mit der Bedrohung befassen können. Khan konnte nichts unternehmen, so lange er an seinen Stuhl gefesselt war, und Hauptmann Dumon würde keinen Augenblick lang in Erwägung ziehen, Atanna mit dem ruchlosen Zauberkundigen zu konfrontieren. Tsin musste sich schon um genügend andere Dinge kümmern. Nein, wenn Gregus Mazi wirklich noch lebte, dann würde Kentril dafür sorgen müssen, dass der Hexenmeister für die Verbrechen der Vergangenheit bezahlte. Atanna sah wieder zu ihm, lächelte und errötete einmal mehr, ohne etwas von den düsteren Gedanken zu bemerken, die der Hauptmann mit einem Lächeln überspielte. Nein, ganz gleich, was kommen würde – Gregus Mazi durfte nicht gestattet werden, sie je wieder zu berühren. Nicht einmal dann, wenn es Kentril Dumon das Leben kosten sollte.
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Zwölf Zayl traf sich einige Stunden nach dem Essen mit Kentril. Die Miene des Nekromanten, als er in die Gemächer des Hauptmanns eintrat, gab keinen Aufschluss darüber, ob er Erfolg gehabt hatte oder gescheitert war. Erst nachdem Zayl seinen Elfenbeindolch in die Hand genommen und sich einmal um seine eigene Achse gedreht hatte, ließ der bleiche Mann Kentril wissen, was er herausgefunden hatte. »Es war einfacher als erwartet. Die Höhlen sind in den Plänen in der Bibliothek deutlich gekennzeichnet. Offenbar hat unser Gastgeber es nicht für nötig gehalten, solche Informationen in seinem eigenen Heim zu verbergen.« »Nein«, erwiderte Kentril leicht verbittert. »Wahrscheinlich glaubt er, dass er jedem vertrauen kann.« Zayl präsentierte ihm eine Abschrift der Karte, auf der zu sehen war, wie man die Höhlen unter dem Palast erreichen konnte und wie das Tunnelsystem aufgebaut war. »Wie Ihr seht, ist es gut, dass wir diesen Plan haben. Das System ist sehr komplex, fast wie ein Labyrinth. Man könnte sich dort unten verlaufen und nie wieder nach draußen finden.« »Was glaubt Ihr, wo Mazi sein könnte?« »Das ist eine Sache, die ich gerne erst mit einem Erkenntniszauber klären möchte, ehe wir aufbrechen, Hauptmann. Ich habe das frühere Heim des Hexenmeisters nicht mit leeren Händen verlassen, sondern weitere Haare mitgenommen. Mit ihrer Hilfe werde ich versuchen, seinen Standort ausfindig zu machen. Es wird vielleicht nicht absolut präzise sein, aber es sollte genügen, 221
um ihm sehr nahe zu kommen.« Kentril wollte nicht darüber nachdenken, mit dem Nekromanten die Höhlen zu erkunden und nach dem heimtückischen Zauberkundigen zu suchen. »Wird er feststellen können, was Ihr macht?« »Die Gefahr besteht immer, doch ich habe jedes Mal alle denkbaren Sicherheitsvorkehrungen getroffen, und das werde ich auch weiterhin so halten. Die Methoden von meinesgleichen sind viel subtiler als die, die Mazi oder Tsin anwenden. Das ist in erster Linie aus Gründen des eigenen Überlebens geschehen, da wir wissen, wie viele andere uns sehen. Wir haben sogar lernen müssen, wie wir uns zwischen anderen Anwendern der magischen Künste bewegen können, ohne sie je wissen zu lassen, dass wir anwesend waren. Ihr könnt beruhigt sein, Gregus Mazi wird es nicht bemerken.« Die Fähigkeit, Tsin zu täuschen, beeindruckte Kentril nicht so sehr, wie Zayl es vermutlich dachte. Doch für eine Umkehr war es längst zu spät. »Wie viel Zeit bleibt uns?« »So ein Zauber, wie ihn der Vizjerei wirken muss, wird viele Stunden erfordern, vielleicht sogar einen ganzen Tag. Doch wir müssen anfangen, sobald sie mit den Vorbereitungen beginnen.« Der Nekromant sah wieder auf den Plan. »Dass wir dies hier haben, ist für uns umso besser. Verliert es nicht, Hauptmann.« Zayl machte einen Schritt nach hinten, als wolle er sich zurückziehen. Dann fragte er unvermittelt: »Wie ist das Abendessen verlaufen?« »Gut.« Es schien ihm nicht der rechte Zeitpunkt zu sein, um dem Nekromanten zu berichten, was sich alles zugetragen hatte. Zayl wartete, dass er mehr dazu sagte, doch als Kentril schwieg, machte sich der Zauberkundige schließlich auf den Weg. 222
Kentril ließ sich auf sein Bett sinken und war nach einer Weile endlich eingeschlafen ... als ein kurzes Klopfen an der Tür ihn aus dem Schlaf riss und er sofort aufrecht im Bett saß. Eine Hand war bereits an dem Dolch, den er gewohnheitsmäßig neben sich gelegt hatte. Im nächsten Moment traten Gorst und Albord ein. Beide wirkten beunruhigt. »Was ist los, Gorst?«, fragte Kentril, der sich beim Anblick der beiden nur geringfügig entspannte. »Albord hat etwas zu berichten.« Der jüngere Söldner fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Hauptmann, es gibt da eine Sache, die mir nicht gefällt.« »Und zwar?« »Niemand hat bislang Brek irgendwo gesehen, und nun fehlen noch zwei weitere Männer.« So etwas hörte Kentril eigentlich nie gerne, doch in Anbetracht der bevorstehenden Ereignisse missfiel ihm diese Nachricht noch mehr. »Wer?« »Simon und Mordecai. Ich habe die anderen gefragt, und niemand weiß, wann sie zuletzt gesehen wurden.« »Alle anderen sind da?« Gorst nickte. »Sie sind alle hier. Sind zwar ein wenig gereizt, dass sie nicht weg können, aber es gibt Schlimmeres, als hier festzusitzen, nicht wahr, Kentril?« Der Hauptmann war sicher, dass er bei diesen Worten rot anlief, doch darüber konnte er sich jetzt wirklich keine Gedanken machen. Mit Albord waren damit nur noch sieben Mann übrig, Kentril und Gorst nicht eingeschlossen. »Drei Vermisste. Das gefällt mir nicht. Jemand hat etwas gegen unsere Anwesenheit.« Insgeheim fragte er sich, ob das Verschwinden der Männer irgendetwas mit Gregus Mazi zu tun haben mochte. Steckte der 223
Hexenmeister dahinter, dass die neuen Verbündeten seines einstigen Meister einer nach dem anderen eliminiert wurden? »Was sollen wir tun?«, wollte Albord wissen. »Wir behalten das für uns. Niemand verlässt den Palast, wenn ich es nicht anweise. Ich fürchte, wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.« Kentril rieb sich nachdenklich das Kinn. »Albord, du übernimmst das Kommando über die anderen. Ich habe etwas vor, wofür ich Gorst benötige. Kannst du das machen?« Der jüngere Söldner ging in Habtachtstellung. »Ich werde mich darum kümmern, Hauptmann.« »Guter Junge. Und wenn einer der drei Vermissten auftaucht, befrage ihn gründlich, wo er sich aufgehalten hat. Wir müssen so viel wie möglich in Erfahrung bringen.« Er sagte kein Wort davon, Lord Khan gegenüber etwas darüber zu erwähnen. Und auch weder Albord noch Gorst brachten diese Möglichkeit ins Spiel. Sie würden die Entscheidung mittragen, die ihr Hauptmann traf. Kentril schickte Albord weg, während sein Stellvertreter noch blieb. »Gorst, es gibt da etwas, bei dem ich deine Hilfe brauche. Aber da es mit einem großen Risiko verbunden ist, werde ich dich nur mitnehmen, wenn du dich freiwillig dazu bereit erklärst. Wenn du nicht mitgehen willst, habe ich dafür volles Verständnis.« Das vertraute Grinsen verschwand von Gorsts Gesicht. »Was ist los, Kentril?« Hauptmann Dumon erklärte ihm alles, angefangen bei Zayls erstaunlicher Erkenntnis bis hin zu dem Entschluss, den er und der Nekromant gefasst hatten. Gorst hörte aufmerksam zu, die dunklen, runden Augen immerzu auf den Kommandanten gerichtet. 224
»Ich komme mit«, erwiderte er, sobald Kentril seine Schilderung abgeschlossen hatte. »Gorst, das könnte gefährlicher werden als jede Schlacht.« Der Riese lächelte. »Und?« Auch wenn Kentril von Schuldgefühlen geplagt wurde, weil er seinen Freund in diese möglicherweise selbstmörderische Mission eingeweiht hatte, war er zugleich erleichtert. Gorst an seiner Seite zu haben, ließ die kommenden Ereignisse in einem normaleren Licht erscheinen. So würde es nur eine weitere Gefechtssituation sein, eine Geheimmission hinter feindlichen Linien. Zugegeben, der Gegner bediente sich der Hexerei, doch sie hatten Zayls Talente, um dieses Aspekts Herr zu werden. Wenn der Nekromant Gregus Mazi in Schach zu halten vermochte, würden die beiden Kämpfer eingreifen können, um ihm den tödlichen Schlag zu versetzen. Ein Angriff von drei Seiten auf einen einzelnen Widersacher klang nach einem nahezu perfekten Schlachtplan. Kentril schnaubte angesichts seiner naiven Überlegungen. Wenn man es auf diese schlichten Fakten reduzierte, klang alles so einfach. Allerdings hatte er Zweifel daran, dass es auch noch so einfach sein würde, wenn sie erst einmal mit allen Aspekten konfrontiert wurden. Eines hatte er schon früh in seiner Karriere gelernt: Wenn die Schlacht wirklich anfing, dann gingen alle glorreichen Pläne für den Sieg in Schall und Rauch auf. Das Warten auf den entscheidenden Moment erwies sich als die schlimmste Tortur. Dem Hauptmann erschien jede Minute wie eine Stunde, jede Stunde wie ein Tag. Wären da nicht die kurzen Unterbrechungen gewesen, wenn sich Atanna für eine Weile von Tsins Vorbereitungen zurückziehen konnte, dann wäre Kentril wohl verrückt geworden. 225
Lord Khans Tochter und er unterhielten sich nur wenig, wenn sie zusammen waren, und das, was sie sprachen, betraf mehr die Zukunft. Halb verhüllte Geheimnisse gingen dem Hauptmann durch den Kopf, während er Atanna in seinen Armen hielt. »Nicht mehr lange«, flüsterte sie mehr als einmal. »Aber noch viel länger, als ich eigentlich warten möchte ...« Von solchen verlockenden Worten angespornt, schwor sich Kentril heimlich, dass er, wenn die Zeit gekommen war, persönlich Gregus Mazi den Kopf abschlagen und ihn Atanna und ihrem Vater überreichen würde, um zu beweisen, dass er ihrer würdig war. Dann würde Lord Kahn in ihm sicher einen respektablen Freier sehen. Endlich war der Zeitpunkt gekommen. Als Hauptmann Dumon vorgab, mit der Reinigung seiner Ausrüstung beschäftigt zu sein, suchte ihn eine völlig andere Atanna auf. Sie trug ein züchtiges weißes Gewand, das dem von Juris Khan ähnelte, und ihr prachtvolles Haar hatte sie straff zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Der finstere Ausdruck verriet Kentril, weshalb sie gekommen und warum sie so gekleidet war. »Ist es so weit?« fragte er. Die Frage hatte eine doppelte Bedeutung. »Meister Tsin sagt, die Kräfte stehen nun in der korrekten Konstellation zueinander, und die Muster decken sich mit ihrem Zweck. Wir werden trotz allem noch Stunden benötigen, doch ich muss die ganze Zeit über anwesend sein. Ich bin gekommen, um dich um dein Vertrauen und um deinen Glauben an unsere Sache zu bitten.« Er gab ihr einen Kuss. »Ihr werdet es schaffen – und im Geiste bin ich bei dir.« »Danke.« Sie lächelte ihn hoffnungsvoll an, dann eilte sie da226
von. Kentril verging sein eigenes Lächeln, als ihm bewusst wurde, dass seine Mission nun ebenfalls begonnen hatte. Er legte seine Ausrüstung zusammen, wartete einige Minuten, um sicher zu sein, dann verließ er seine Gemächer, um sich zu Gorst und dem Nekromant zu begeben. Der Riese kam ihm auf dem Korridor entgegen, ein Treffen, das auf einen Beobachter völlig zufällig wirkte. Sie sprachen davon, sich die Beine zu vertreten und zu laufen, um ihre Muskeln nicht aus der Übung kommen zu lassen – etwas, was erfahrene Kämpfer üblicherweise taten. Wie selbstverständlich gingen die beiden Männer durch die vielen Korridore des Palastes und verließen das Gebäude schließlich. Jenseits der schützenden Mauern um den Palast lag die Stelle, die der Nekromant als den besten Eingang zu dem Höhlensystem, das Nymyr durchzog, ausgemacht hatte. Es war dieselbe Öffnung im Fels, durch die sich Khans mutige Freiwillige begeben hatten, um den Schlüssel zum Schatten an den ihm bestimmten Platz unter der Erde zu bringen. Laut Zayl war der Eingang, durch den sie in das System eindringen würden, nicht natürlichen Ursprungs. Jemand hatte ihn in den Fels gehauen, bis man schließlich auf das Höhlensystem gestoßen war. Der Nekromant vermutete, dass es möglicherweise die damaligen Mönche waren, die diese Aufgabe erledigt hatten. Vielleicht war beabsichtigt gewesen, ein Versteck zu scharren, für den Fall, dass das Kloster überrannt wurde. Möglicherweise aber dienten sie auch irgendwelchen heiligen Ritualen. Kentril hatten die Erklärungsversuche nicht interessiert, die die Geschichte der Höhle betrafen. Für ihn zählte nur, dass das Höhlensystem existierte und ihnen den Weg in die Unterwelt 227
erlaubte. Doch als er die schroffe Felsöffnung sah, schlug sein Herz so wild wie bei seiner allerersten Schlacht. Er musste einige Male tief Luft holen, um sich dem Eingang der Höhle zu nähern, ohne dass Gorst etwas von seiner unerklärlichen Furcht bemerkte. »Ich sehe Zayl nirgends«, murmelte der Hauptmann. »Ich bin hier«, erwiderte einer der Schatten nahe der schmalen Öffnung. Plötzlich kam Bewegung in einen Teil der Felswand, als der Nekromant seinen Mantel aufschlug und sich den anderen zeigte. »Ich hielt es für das Beste, mich bis zu Eurer Ankunft zu tarnen.« Kentril biss die Zähne zusammen und tat so, als hätte der wundersame Auftritt des Zauberkundigen ihn nicht erschreckt. »Wie sieht es drinnen aus?« »Es ist Platz genug geschaffen worden, damit ein Mann hinter dem anderen gehen kann. Euer Freund wird den Kopf ein wenig einziehen müssen, und stellenweise könnte es ihm etwas eng erscheinen.« »Macht Euch um Gorst keine Sorgen. Wenn nötig, schafft er sich schon Platz.« Zayl wandte sich von den beiden Söldnern ab und ging voraus. Als Kentril ihm folgte, hatte er einen Moment lang das Gefühl, die Wände würden zusammenrücken, doch diese unangenehme Empfindung war glücklicherweise schnell wieder vorüber. Der Nekromant murmelte etwas. Einen Augenblick später erfüllte ein ungewöhnliches bleiches Licht den schmalen Durchgang. Kentril sah, dass Zayl in der linken Hand seinen leuchtenden Dolch aus Elfenbein hielt. »So wird es noch fünf- bis sechshundert Schritte weitergehen«, erklärte er. »Danach sollten die Höhlen etwas breiter wer228
den.« Gorst musste tatsächlich die meiste Zeit über den Kopf einziehen, aber sich nur einmal zwischen zwei Felsen hindurchquetschen, um weiterzukommen. Was Kentril betraf, so hätte der genauso durch einen dunklen Korridor des Palastes gehen können, da selbst der Boden so geebnet worden war, dass man sich mühelos voranbewegen konnte. Ihre Glückssträhne schien ein Ende zu finden, als sich der Gang vor ihnen in eine breite Höhle hätte öffnen sollen. Doch als die drei Männer um eine Windung bogen, fanden sie vor sich keine Höhle, sondern eine Wand aus Geröll. »Damit hatte ich nicht gerechnet«, kommentierte der Nekromant. »Und laut der Zeichnung gibt es keinen anderen Weg.« Kentril trat vor und begutachtete das Hindernis. An einigen der recht großen Steine zog er versuchsweise. Im nächsten Moment sackte der Geröllhaufen in sich zusammen und begrub binnen Sekunden seine Beine bis zum Stiefelansatz. Gorst zog ihn rasch heraus, ehe noch Schlimmeres passieren konnte, dann wich das Trio zurück und wartete ab, bis sich der aufgewirbelte Staub gelegt hatte. »Ich glaube, ich kann etwas erkennen«, erklärte Zayl, nachdem er einen kurzen Hustenanfall hinter sich gebracht hatte. Im Schein des Dolches war ein Loch nahe dem oberen Teil des versperrten Durchgangs zu sehen. Kentril lieh sich die magische Klinge des Nekromanten und kletterte vorsichtig nach oben, um sich das Ganze genauer anzusehen. »Die Öffnung ist gerade groß genug. Wenn wir ein paar Schritt weit hindurchkriechen können, sollten wir auf der anderen Seite angekommen sein.« Gorst und Kentril arbeiteten daran, die Öffnung noch ein wenig größer zu machen, während Zayl den Dolch hielt, damit sie 229
Licht hatten. Nachdem das erledigt war, kroch der Nekromant hindurch, gefolgt von dem Riesen, dann von Kentril. Auf der anderen Seite angekommen, hatten sie dann endlich den wahren Anfang des Höhlenkomplexes erreicht. Die Höhle hatte einen Durchmesser und eine Höhe von etlichen hundert Fuß. Zerklüftete Kalksteine wuchsen von der Decke herunter, manche von ihnen drei- oder viermal so groß wie Gorst. Andere ragten aus dem Boden empor, in manchen Fällen mit einem Durchmesser von mehr als einem Fuß und über zwei Fuß Höhe. Wasser lief an den Wänden entlang und schnitt Nischen in den Fels, während es an anderer Stelle Myriaden von Formen entstehen ließ. Es legte Partien frei, unter denen funkelnde Kristalle verborgen lagen. Im schwachen Schein des Dolches glänzte die gesamte Höhle. Kentril sah zu Boden, und augenblicklich war jegliches Staunen angesichts der Umgebung vergessen, denn nur gut zwanzig Schritt vor ihnen fiel der Boden jäh ab und ließ den Abschnitt dahinter wie einen furchteinflößenden schwarzen Abgrund erscheinen. »Da hinunter?«, wollte Gorst gutgelaunt wissen. Zayl nickte und griff in seinen weiten Mantel. Kentril nahm erstaunt zur Kenntnis, dass der Zauberkundige keine Schmutzspuren aufwies, obwohl er genauso wie die anderen durch Staub und Geröll gekrochen war. Der Nekromant zog ein kurzes, ja geradezu lachhaft kurzes Stück Seil aus einer Tasche, doch als er an beiden Enden zog, da fing es an zu wachsen! Zunächst war es allenfalls einen Fuß lang, aber Augenblicke später hatte es bereits die dreifache Länge erreicht. 230
»Gorst«, rief der bleiche Mann. »Helft mir dabei.« Er reichte Kentril seinen Dolch und ließ den großen Söldner ein Ende des Seils fassen, dann zogen die beiden, worauf es immer länger und länger wurde. Es wurde fünf Fuß lang, acht Fuß und immer mehr. Gorst und der Nekromant zogen unaufhörlich weiter, und bei jedem Anlauf wurde das Seil wieder ein Stück länger. Nach wenigen Atemzügen hatten sie ein Seil von beträchtlicher Reichweite, das durchaus genügte, um den Abstieg zu beginnen. Wortlos nahm Zayl den Dolch wieder an sich. Die beiden Soldaten sicherten das erstaunliche Seil an einem der dickeren Stalagmiten, während sich der Nekromant über die Felskante beugte und die Finsternis unter ihnen studierte. »Wenn die Zeichnung zutreffend ist, dann ist da unten mehr als genug Platz für uns.« Dem Hauptmann gefiel die Art nicht, wie Zayl das sagte: »Und wenn nicht?« »Dann werden wir in einer tausend Fuß tiefen Schlucht baumeln.« Zum Glück waren die Berechnungen des Unbekannten, der die Höhlen als erster kartographiert hatte, nicht nur bei dieser Schlucht, sondern auch bei allen folgenden Abschnitten präzise. Mit mehr Vertrauen begab sich das Trio tiefer und tiefer in das Höhlensystem, stets angeführt von Zayls leuchtender Klinge. Dann endlich gelangten sie in einen Bereich, in dem die Gänge horizontaler verliefen. Der Nekromant legte einen Stopp ein, um den Plan zu studieren, da er sie nicht in eine Sackgasse oder eine Grube führen wollte. Kentril und Gorst zogen vorsichtshalber ihre Waffen. »Sind wir noch auf dem richtigen Weg?«, wollte Kentril wis231
sen. »Ich glaube schon. Der Zauber, den ich wirkte, ehe wir nach hier unten aufgebrochen sind, gab mir keine so präzise Position an, wie ich es eigentlich erhofft hatte. Aber er war genau genug, um davon ausgehen zu können, dass wir unserem Ziel sehr nah sind. Seid auf der Hut.« Langsam bahnten sie sich ihren Weg durch eine Reihe sich windender Durchgänge, die immer wieder von kleinen und schmucklosen Höhlen unterbrochen wurden. Nur einmal mussten sie dabei stehen bleiben, als sie auf einen zerfledderten Wasserschlauch stießen. Sie gingen alle davon aus, dass er von den Männern zurückgelassen worden war, die Juris Khans Schöpfung hier herunter gebracht hatten. Zayl untersuchte ihn, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Dann bemerkte Kentril, dass der Abschnitt vor ihnen heller zu sein schien, als er von Zayls Dolch eigentlich hätte beschienen werden können. Er fasste den Nekromanten am Arm und bedeutete ihm, die magische Klinge zu bedecken. Obwohl der magische Schein damit nicht mehr zu sehen war, hielt das Leuchten ein Stück weiter vor ihnen an. Mit gezücktem Schwert ging der Hauptmann weiter, während Zayl und Gorst sich hinter ihm hielten, bereit, beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten sofort einzuschreiten. Mit jedem Schritt wurde das Leuchten intensiver. Zwar wurde es nicht wirklich hell, denn die Dunkelheit hielt sich weiter unbeirrt, doch Kentril konnte umso mehr erkennen, je näher er kam. Und dann stand die Gruppe mit einem Mal in einer breiten, runden Kammer, in deren Mitte auf einem bearbeiteten Stalagmiten die Lichtquelle lag ... der Schlüssel zum Schatten. Diejenigen, die das Risiko auf sich genommen hatten, hierher 232
zu kommen, hatten sorgfältig einen Teil des Kalkgesteins abgeschlagen und eine Art steinerne Hand geschaffen, in deren Fläche ein gewaltiger schwarzer, langsam pulsierender Kristall lag. Da nirgends ein Anzeichen von Gefahr zu sehen war, ging Kentril ein Stück näher heran, um sich Lord Khans Arbeit genauer anzusehen. Mit ausgestrecktem Dolch stellte sich Zayl neben ihn, da auch er den Edelstein betrachten wollte. In dem Moment zeigte sich den beiden Männern an einem Stalaktit gleich hinter dem Kristall ein Schreckensgesicht. Beide Söldner fluchten laut, und selbst Zayl stimmte ein. Beunruhigt starrten sie die Figur an, die in den Stein geschnitzt zu sein schien. Ein Mann aus Kalkstein und anderen Mineralien hing dort, als hätte man ihn an dem Stalaktiten festgebunden, aus dem er gehauen war. Arme und Beine waren so weit nach hinten gezogen, wie es nur menschenmöglich war, um sie auf dem Rücken zusammenzubinden. Schmerz und Entsetzen waren so perfekt in den Gesichtszügen getroffen worden, dass Kentril fast damit rechnete, die gefangene Kreatur könnte jeden Moment ihren stummen Schrei beenden. Der Künstler hatte es geschafft, das Makabre und das Menschliche gleichzeitig zu erfassen, was die Skulptur noch faszinierender wirken ließ. »Was ist das für ein Ding?« »Vielleicht eine Art Wächter. So wie die Gargoyles und die Erzengel, die wir gesehen haben.« »Und warum hat er nicht zu einem Alarm angestimmt, als wir eingetreten sind?« Der Nekromant zuckte mit den Schultern. Kentril ging auf die grässliche Skulptur zu, streckte seinen Arm aus und tippte vorsichtig mit dem Schwert an die Brust der Gestalt. 233
Nichts geschah. Die vor Pein zusammengekniffenen Augen gingen nicht auf, um ihn zu verdammen. Das Maul bewegte sich nicht, um dem Eindringling den Kopf abzubeißen. Die Statue war und blieb einfach nur eine Statue. Der Hauptmann kam sich ein wenig albern vor und wandte sich den beiden anderen Männern zu. »Also wenn Gregus Mazi nicht hier ist, dann sollten wir ...« Er hielt inne und spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief, als er bemerkte, dass die zwei die Augen aufrissen und ... sich auf etwas hinter Kentril konzentrierten. Hauptmann Dumon wirbelte herum. Die Augen, die auch geschlossen geblieben waren, nachdem er die Figur etwas respektlos inspiziert hatte, starrten ihn nun wütend an. Der bereits geöffnete Mund stieß einen schrecklichen Schrei aus. Alle drei Männer hielten sich die Ohren zu, während der schmerzhafte Laut alles übertönte. Unablässig schrie der Wächter weiter, bis er endlich wieder leise genug wurde, damit sie die Hände herunternehmen konnten. In dem Moment hörten sie ein Flattern, das sich rasch näherte. Ein Schwarm fledermausähnlicher Kreaturen kam in die Kammer geflogen. Sie kreischten wild, als sie angriffen. In der schwachen Beleuchtung sah Kentril kleine, graue dämonische Gestalten, die kaum bis zu den Knien reichten und vage an Reptilien erinnerten. Klauen, die denen von Raubvögeln ähnlich waren, schlugen nach dem Trio, und Mäuler voller Zahnreihen versuchten, sich in Fleisch zu bohren, sobald eine der Kreaturen über sie hinwegflog. »Alea Nefastus!«, rief der Nekromant. »Fliegende Teufel! 234
Niedere Dämonen, aber in größeren Gruppen durchaus gefährlich!« Und sie waren wirklich in einer großen Gruppe gekommen. Kentril bohrte seine Klinge in eine der Kreaturen und sah mit grimmiger Befriedigung, wie sie zuckend zu Boden fiel. Leider nahmen sofort sechs neue und noch gierigere Geschöpfe ihren Platz ein. Dicht neben ihm traf Gorst zwei der Teufel mit der Breitseite seiner Axt, während sich ein weiterer in seine Schulter krallte. Der Riese schrie vor Überraschung und Schmerz auf, da nicht einmal seinen Muskeln den rasiermesserscharfen Krallen etwas entgegenzusetzen hatten. Immer mehr kamen in den Raum geschwärmt, ihre Schreie waren fast so schrecklich wie der Warnruf des Wächters. Der Hauptmann konnte zwei weitere der Kreaturen töten, doch es kam ihm so vor, als hätte er überhaupt nichts erreicht. Dennoch machte er unverdrossen weiter, da ihm keine andere Wahl blieb. Einer der Teufel schoss an ihm vorbei und suchte sich stattdessen Zayl als Ziel. Der machte seinen weiten Mantel auf und lockte den kleinen Dämon in eine Falle. Die Kreatur stieß einen kurzen, erstickten Schrei aus, dann regnete braune Asche nahe dem Stiefel des Nekromanten zu Boden. Zayl öffnete wieder seinen Mantel und konzentrierte sich auf die anderen Angreifer. »Sie müssen Gregus Mazi dienen«, rief Kentril. »Der Schrei, den das Ding dort ausstieß, sollte ihn warnen!« Der Nekromant antwortete nicht, sondern schrie einer weiteren Gruppe fliegender Teufel unverständliche Worte entgegen. Gleichzeitig zeichnete er in ihre Richtung mit der Dolchspitze einen Kreis in die Luft. Die fliegenden Kobolde, auf die er gezielt hatte, machten abrupt kehrt und griffen zu Kentrils Überraschung ihre Artgenos235
sen an. Zwei von ihnen fielen dieser Schar zum Opfer, ehe die anderen reagierten und in Überzahl über sie herfielen. Binnen weniger Augenblicke waren sie eliminiert worden, hatten aber zwei weitere Artgenossen mit in den Tod nehmen können. Einer der Kobolde zog seine Kralle über Kentrils Wange und bespritzte den Hauptmann mit seinem eigenen Blut. Die Wunde stach so heftig, dass ihm die Tränen kamen, dennoch gelang es ihm, den Angreifer mit seinem Schwert zu durchbohren. Ein weiterer Toter schien den Schwarm insgesamt aber nicht von weiteren Attacken abzuhalten. »Es sind zu viele!«, stöhnte Gorst. »Hauptmann Dumon! Wenn Ihr und Gorst die Angreifer noch ein paar Augenblicke lang abwehren könnt, wäre ich wohl in der Lage, uns von diesem Problem zu befreien.« Kentril sah keine andere Alternative, also kämpften er und Gorst sich zu dem Nekromanten durch, um Zayl abzuschirmen, während der wieder etwas in einer ihnen unbekannten Sprache sagte. Mit dem Dolch malte er ein weiteres leuchtendes Bild in die Luft, das den Söldner diesmal an einen explodierenden Stern erinnerte. Plötzlich war die Kammer von einem Dunst erfüllt, der verdorben roch, ansonsten aber harmlos zu sein schien, und in jeden Winkel und jeden Spalt vordrang. Bei den drei Männern bewirkte der Nebel allenfalls eine Reizung der Nasenschleimhäute, zudem behinderte er ein wenig ihre Sicht. Doch die Wirkung auf die fliegenden Dämonen war keineswegs harmlos. Einer nach dem anderen verloren sie allmählich die Kontrolle, kollidierten untereinander, prallten gegen die Höhlenwände oder fielen einfach nur auf den steinernen Boden. 236
Sobald sie dort landeten, begannen sie zu zittern, als wären sie von Wahnsinn heimgesucht worden. Allmählich wurde das Zischeln und Kreischen leiser und leiser, bis sich schließlich keine der Kreaturen mehr regte. »Zerata!«, rief der Nekromant. Der Dunst verzog sich, bis die Luft wieder völlig klar war. Zayl taumelte auf einmal nach vorne und wäre hingefallen, wenn Gorst nicht so schnell reagiert und ihn gepackt hätte. Der Zauberkundige lehnte sich einige Augenblicke lang gegen den Riesen, dann schien er sich wieder zu erholen. »Verzeiht mir, aber der letzte Zauber war etwas zu anstrengend gewesen, da ich ihn ohne jeden Fehler sprechen und kontrollieren musste. Sonst wäre der Effekt ein anderer gewesen.« »Wie meint Ihr das?«, fragte Kentril. »Dann würden wir so wie diese Kobolde am Boden liegen.« Gorst trat gegen einige der Kreaturen, um sicher zu sein, dass keine von ihnen sich nur tot stellte. Dann spähte er in den Gang, aus dem sie gekommen waren. »Nichts mehr zu hören.« »Es hat uns eine große Schar angegriffen«, meinte Zayl, der sich zu dem anderen Söldner gesellte. »Möglicherweise haben wir den ganzen Schwarm vernichtet.« Der Riese nickte, dann fragte er: »Und wo ist ihr Meister?« Diese Frage hatte auch Kentril auf der Zunge gelegen. Waren diese Geschöpfe alles, was Gregus Mazi ihnen hatte entgegenschicken können? Warum wurden sie nicht mit irgendeinem weiteren Zauber angegriffen, während sie abgelenkt waren? Selbst der einfältigste Taktiker wusste um den Wert eines solchen Manövers. Aber noch etwas störte ihn. Er wandte sich wieder dem Schlüssel zum Schatten zu und betrachtete das Artefakt, wobei er 237
sich fragte, warum Mazi nicht einfach den schwarzen Kristall herausgenommen und zerschmettert hatte. Zwar war es möglich, dass eine solche Tat mehr Anstrengung erfordert hätte, als es auf den ersten Blick der Fall zu sein schien. Doch Juris Khan hatte sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sein einstiger Freund ein Hexenmeister von enormem Geschick war. Somit hätte es Gregus Mazi doch möglich sein müssen, den Kristall in tausend Stücke zu zerschlagen ... Warum also war der Edelstein noch unversehrt? Jegliches Zögern konnte unmöglich mit dem Wert des Schlüssels zu tun gehabt haben, auch wenn Kentril etliche Herzöge und andere Adlige in den Westlichen Königreichen kannte, die ihm für den Stein genug gezahlt hätten, um für den Rest seines Lebens nie wieder arbeiten zu müssen. So echt, wie der Edelstein aussah, konnte man fast glauben, dass er durch Magie entstanden war. Er wusste aber, dass es manchen Stein gab, der wirklich so vollkommen war. Jede Facette wirkte wie ein Spiegel, von denen einige sein eigenes Gesicht, andere die Umrisse seiner Gefährten und sogar einige der toten Kobolde zeigten. Hauptmann Dumon konnte gar ein paar Details des Gesichts des Wächters ausmachen ... Kentril wirbelte herum, den Blick auf die Augen der entsetzlichen Kreatur gerichtet. Von allen Aspekten der monströsen Skulptur waren sie mit der größten Präzision und Sorgfalt gearbeitet worden. Das ließ sie absolut menschlich erscheinen. Zu menschlich sogar. »Wir müssen nicht länger nach Gregus Mazi suchen«, rief Kentril den anderen zu. Er wollte den Blick von der Kreatur abwenden, doch es gelang ihm nicht. »Ich glaube, ich habe ihn gefunden.« 238
Dreizehn »Ich glaube, Ihr habt Recht, Hauptmann«, gab Zayl ruhig zurück, nachdem er sich die Figur eingehend betrachtet hatte. »Jetzt, da ich die Gelegenheit hatte, einige Findezauber zu wirken, kann ich schwören, dass dort Leben drinsteckt.« »Aber wieso?«, wollte Kentril wissen. »Wie ist das möglich? Wie kann das Mazi zugestoßen sein?« Der Nekromant machte keinen sehr erfreuten Eindruck. »Ich kann nur annehmen, dass Juris Khan in seinen Geschichten nicht ganz ehrlich war.« »Das ist unmöglich! Khan würde so etwas niemals tun. Das wisst Ihr ganz genau!« »Ich bin über diese Entdeckung mindestens so beunruhigt wie Ihr ... und mindestens so verwirrt. Ich nehme an, es ist möglich, dass Lord Khan gar nichts vom tatsächlichen Schicksal seines einstigen Freundes weiß, was damit auch für Khans Tochter gelten würde.« »Natürlich weiß sie nichts davon!«, knurrte der Hauptmann. Gorst schüttelte den Kopf. »Könnt Ihr irgendetwas tun? Könnt Ihr ihn wieder zum Menschen machen?« »Ich fürchte, das geht leider nicht. Es ist weitaus komplexer als der Fluch, der auf unserem Gastgeber liegt. Ich habe bislang nur feststellen können, dass Gregus Mazi nicht einfach nur in den Stalaktiten eingeschlossen worden ist. Nein, er ist ein Teil des Felsens geworden. Ich befürchte, dieser Zauber kann nicht aufgehoben werden.« »Aber Ihr habt gesagt, dass er noch lebt«, beharrte der Riese. 239
Zayl zuckte mit den Schultern, und Kentril glaubte, dass er weitaus beunruhigter war, als er zeigen wollte. »Ja, ansonsten hätte mein Beschwörungszauber beim ersten Versuch funktioniert. Wenn es irgendeinen Trost bedeutet, kann ich sagen, dass sein Verstand – sollte er die Verwandlung überlebt haben – schon vor langer Zeit dem Wahnsinn verfallen sein muss. Ich wage zu behaupten, dass er nicht länger leidet.« »Ich will ihn sehen«, forderte eine Stimme. »Hol mich raus, damit ich ihn mir ansehen kann.« Zayl holte Humbart Wessels Schädel aus der Tasche, während Gorst das Schauspiel zwar mit Unbehagen, aber auch mit deutlich mehr Interesse betrachtete. Kentril fiel ein, dass er seinem Freund nichts von dem ungewöhnlichen Begleiter des Nekromanten gesagt hatte. Zayl hielt den Schädel so, dass Humbart sich die unheimliche Figur ansehen konnte. Hin und wieder wies er den Zauberkundigen an, den Schädel so zu drehen, dass die leeren Augenhöhlen mal in die eine, mal in die andere Richtung zeigten. »Aye, er ist es«, erklärte er schließlich traurig. »Den alten Gregus hat ein bittereres Schicksal ereilt als mich.« »Hast du irgendetwas gefühlt?«, fragte der Nekromant. »Irgendeinen Hinweis darauf, wer das getan haben könnte?« »Das ist mächtige Hexerei, Jüngelchen. Ich weiß es nicht. Glaub mir, es tut mir wirklich Leid. Aber in einem Punkt hast du Recht: Das kann nicht rückgängig gemacht werden. Es gibt keine Möglichkeit, ihn wieder zu einem Menschen werden zu lassen.« Kentril wollte nicht darüber nachdenken, wie es für diesen Mann gewesen sein musste. Hatte er sehr gelitten? Waren Zayls Überlegungen zutreffend? War Gregus Mazi möglicherweise bei noch klarem Verstand in diese Form verwandelt worden? War er 240
seit Jahrhunderten in dieser Form gefangen, unfähig, sich zu bewegen oder irgendetwas anderes zu tun? »Aber warum?«, wollte der Hauptmann schließlich wissen. »Warum macht man so etwas? Das sieht für mich mehr nach einer Bestrafung aus. Ihr habt gesehen, was passiert ist, Zayl. Er stieß einen Schrei aus, der diese fliegenden Bestien alarmiert hat!« »Ja. Offensichtlich ist er Teil eines Warnsystems.« Der Nekromant starrte auf den Schlüssel zum Schatten. »Ich frage mich, ob es damit zu tun hatte, dass wir diesem Juwel zu nahe kamen.« »Das ergibt doch keinen Sinn! Wir wären die Letzten, die den Kristall stehlen wollten! Ureh braucht den Stein an diesem Ort, sonst würde es nichts ausmachen, ob wir das Gegenstück auf den Nymyr gebracht hätten oder nicht.« Zayl griff nach dem Artefakt, als wolle er es an sich nehmen, während er gleichzeitig beobachtete, wie wohl die monströse Figur im Fels darauf reagieren würde. Die allzu menschlichen Augen wurden plötzlich aufgerissen und starrten den wagemutigen Nekromanten zornig an. Diesmal war jedoch kein Schrei zu hören, der irgendwelche Angreifer alarmiert hätte, und das lag womöglich daran, dass niemand mehr da war, der überhaupt hätte reagieren können. Als Zayl die Hand zurückzog, sahen sie, wie sich der Blick des Wächters entspannte und die Augen geschlossen wurden. Der Mund dagegen blieb geöffnet, als wolle er schreien. »Er bewacht den Stein. Sehr interessant. Ich erinnere mich, dass ich meine Position ein wenig änderte, als Ihr Euch ihm genähert habt. Damit müsste ich dem Kristall so nahe gewesen sein wie gerade eben. Das muss die Reaktion ausgelöst haben.« »Und was machen wir jetzt?«, wollte Gorst wissen. 241
Kentril steckte die Klinge zurück. »Hier ist überhaupt nicht mehr viel für uns zu tun. Wir können uns genauso gut auf den Rückweg machen. Ich kann nicht sagen, wie weit Tsin bereits mit seinem Zauber ist.« Zayl sah zur Decke. »Ich spüre, dass hier große Mächte am Werk sind – aber Ihr habt Recht. Er könnte bald fertig sein. Und wie Ihr selbst gesagt habt, es gibt hier nichts mehr für uns zu tun. Wir werden in den Palast zurückkehren und diese Sache noch im Detail unter uns besprechen.« »Augenblick mal!«, rief Humbart Wessels Schädel. »Ihr könnt ihn doch nicht so zurücklassen!« »Humbart, wir ...« Doch der Schädel ließ nicht locker. »Seid ihr gute Männer, oder seid ihr die Art von Schurken, für die ihr den alten Gregus gehalten habt? Hauptmann Dumon, was würdet Ihr machen, wenn einer Eurer Männer auf dem Schlachtfeld so schwer verletzt liegen würde, dass Ihr ihn nicht mit Euch nehmen könntet? Würdet Ihr ihn dem Feind überlassen, damit dieser mit ihm nach Belieben verfährt?« »Nein, natürlich nicht ...« Der Söldner wusste genau, was die geisterhafte Stimme aus dem Schädel meinte. Man ließ nie einen Kameraden zurück, der vom Feind gefoltert werden könnte. Entweder ließ man ihn selbst das Schicksal in die Hand nehmen, oder aber man nahm ihm dies ab. Kentril hatte sich mehr als einmal zu einer solchen Vorgehensweise veranlasst gesehen, und auch wenn es nie ein Vergnügen war, hatte er immer gewusst, dass er seine Pflicht tat. »Nein ... Humbart hat Recht.« Er zog erneut seine Waffe und näherte sich dem, was von Gregus Mazi noch übrig war. Behutsam klopfte er den Stein nach einer Schwachstelle ab, konnte aber auf den ersten Blick nichts 242
finden außer gehärteten Mineralien. Der Zauber war sehr gründlich gewirkt worden. »Erlaubt mir, das zu erledigen, Hauptmann. Ich glaube, meine Klinge wird diesem Zweck eher dienlich sein.« Zayl trat mit dem Elfenbeindolch vor, doch Kentril stellte sich ihm in den Weg. »Gebt mir die Waffe, Nekromant. Ich weiß, wo ich zuzustechen habe, um einen Mann schnell und sauber zu töten. Das muss auf die richtige Weise gemacht werden.« Der Zauberkundige beugte sich dem Willen des erfahrenen Soldaten und überreichte Kentril seinen Dolch. Einen Moment lang betrachtete dieser sich die mit Runen überzogene Waffe, dann wandte er sich wieder Gregus Mazi zu. Als er die Waffe hob, um zuzustechen, öffnete der Wächter im Kalkstein die Augen und konzentrierte sich so stark auf Kentril, dass die Hand des Kämpfers zu zittern begann. Langsam bewegte er die Klinge zur Seite und bemerkte, mit welchem Interesse Mazi seinen Blick folgen ließ. In diesem Moment erkannte Hauptmann Dumon, dass der Verstand des Hexenmeisters noch immer intakt war. Diesem Mann hatte nicht einmal der Wahnsinn als Fluchttor aus seiner Existenz offen gestanden. Nicht einmal das war ihm vergönnt gewesen. Kentril zögerte, weil er sich zum wiederholten Male fragte, ob es wirklich keinen Weg gab, Gregus Mazi zu befreien. Doch dann waren es diese Augen, die ihm die Antwort auf seine unausgesprochene Frage gaben. Mazi flehte ihn mit seinen Blicken an, das zu tun, was getan werden musste. »Der Himmel möge dir beistehen«, murmelte der Hauptmann, und mit einem Gebet auf den Lippen stieß Kentril die Klinge genau in den Brustbereich. 243
Aus der Wunde trat nicht ein Tropfen Blut aus, stattdessen wehte Kentril ein heißer Windhauch entgegen, der nach Schwefel stank. Es war fast so, als wäre eine Öffnung zu einer vulkanischen Region im Innern des Berges geschaffen worden. Kentril erschrak darüber so sehr, dass er einen Schritt nach hinten machte und dabei die Klinge aus dem Stein zog. Er rechnete mit einem erneuten höllischen Aufschrei wie jenem, der die Kobolde zum Angriff veranlasst hatte. Doch aus dem erstarrten Mund drang nur ein tiefes Seufzen, das nicht nur vom Tod kündete, sondern auch Gregus Mazis Erleichterung verriet, endlich aus diesem schrecklichen Gefängnis befreit worden zu sein. Die Augen sahen ihn einen Moment lang fast dankbar an, dann wurden sie matt und schlossen sich zum letzten Mal. »Sein Fluch ist vorbei«, flüsterte Zayl nach einer Weile. »Er hat diesen schaurigen Ort verlassen.« Der Nekromant nahm Kentril behutsam den Dolch aus der Hand. »Ich schlage vor, wir tun das Gleiche.« »Ruhe in Frieden, Gregus«, murmelte der Schädel. Niedergeschlagen machte sich das Trio daran, die Höhlen zu verlassen. Sie waren losgezogen, um einen bösartigen Hexenmeister zu suchen, und gefunden hatten sie ein menschliches Wesen, das unerträglichen Qualen ausgesetzt war. Nichts von dem, was sie vermutet hatten, war tatsächlich so gewesen, und genau das war der Punkt, der sie so störte – insbesondere Kentril. Nachdem sie den Berg verlassen hatten, gingen die Kämpfer und Zayl getrennte Wege, da es dem Nekromanten nicht ratsam erschien, wenn man sie zusammen sehen würde. »Ich werde noch einige Zeit hier bleiben, dann kehre ich zurück, als käme ich soeben aus der Stadt. Wir müssen uns später 244
noch treffen, Hauptmann. Ich spüre, dass uns beiden Fragen auf der Seele brennen, die wir beantwortet haben wollen.« Kentril nickte und schritt dann, von Gorst gefolgt, zum Palast zurück. Auch wenn die beunruhigenden Ereignisse in der Höhle weiterhin seine Gedanken bestimmten, fragte er sich doch auch, wie Tsins Bemühungen ausgegangen sein mochten. Hatte er möglicherweise auch einen Fehlschlag erlitten? War auch bei ihm nichts so, wie er es angenommen hatte? Sein Unbehagen verstärkte sich, als er und Gorst feststellten, dass der Eingang zum Palast gänzlich unbewacht war. Sie betraten das alte Bauwerk und mussten erkennen, dass nicht ein Laut durch die Säle und Korridore hallte, so als hätte die Totenruhe der verlassenen Ruinen wieder Einzug im Königreich gehalten. Kentril und der Riese bewegten sich vorsichtig durch einen verdächtig leeren Flur, vergeblich auf der Suche nach Leben. Dann hatten sie die gewaltigen Türen erreicht, die in Juris Khans Heim führten. Kentril sah seinen alten Freund an, dann streckte er die Hand aus ... Die Türen öffneten sich aus eigener Kraft und gaben den Blick auf eine ehrerbietige Menge frei, die vor dem Podest kniete, auf dem der Thron des Herrschers über Ureh stand. Der Thron war leer ... und Juris Khan stand inmitten seiner Untertanen und beugte sich immer wieder vor, um mal den Kopf eines Wachmanns, mal den eines Bauern oder Höflings zu berühren und ihnen seinen Segen zu schenken. An seiner Seite folgte ihm Atanna, die völlig verzückt war. Schweigen erfüllte den Saal, Schweigen, aus Ehrfurcht und Respekt geboren. Doch es schien so, dass nicht einmal das Wunder, ihren Vater als freien Mann zu sehen, die Freude übertreffen konnte, die Atanna zeigte, als sie Kentril an der Tür gewahrte. Sie fasste Lord 245
Khan am Arm und gestikulierte wild. »Kentril Dumon!«, rief der ältere Monarch fröhlich. »Tretet vor, Ihr und Euer Begleiter, und nehmt an unserer Feier teil, denn Ihr seid ebenso sehr Grund für diesen glorreichen Moment wie der meisterhafte Vizjerei!« Mit einer Hand zeigte er auf Quov Tsin, der sehr selbstzufrieden wirkte. Der Hexenmeister stand am linken Rand des Podestes und war einigermaßen herausgeputzt, während sich Männer und Frauen in seine Richtung bewegten, um ihm Respekt zu zollen. Tsin bemerkte Kentrils Blick und sah ihn so triumphierend an, dass ihm nicht einmal ein Jota Bescheidenheit anzudichten war. Von Atanna gedrängt, bewegte sich Hauptmann Dumon auf sie und ihren Vater zu. Die kniende Menge machte ihm Platz, um zu bekunden, dass man vor ihm genauso viel Respekt hatte wie vor dem Herrscher. Noch nie in seinem Leben hatte Kentril solchen Respekt erwiesen bekommen. Er erinnerte sich daran, was Juris Khan ihm angeboten hatte, und zum ersten Mal glaubte er wirklich, es könnte machbar sein. »Mein guter Kentril!« Lord Khan legte seinen Arm um Kentril und zog mit dem anderen seine Tochter heran. »Dies ist ein Tag der Freude – mindestens so bedeutend wie der Tag, an dem der Erzengel zum ersten Mal zu mir von der Hoffnung auf Errettung sprach. Die Wiedergeburt Urehs als ein Leuchtfeuer in der Welt, ist wahrlich zum Greifen nah.« »Ich freue mich sehr fur Euch, Mylord.« Das erhabene Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an. »Dessen bin ich mir sehr sicher. Aber seht! Hier ist jemand, der noch mehr gewillt ist, unserer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, und der das viel besser kann als ich. Wenn Ihr mich entschuldigen würdet, mein Sohn, ich muss mich dem Volk jenseits 246
der Palastmauern zeigen. Alle sollen wissen dass bald das Ende unseres großen Fluches gekommen sein wird.« Wachen in Rüstungen eilten an die Seite ihres Herrn, und die versammelte Menge erhob sich wie ein Mann, um Lord Khan zu folgen, wie dieser zum ersten Mal seit einer Ewigkeit seinen Saal verließ. Atanna führte Kentril an den Rand des Raumes, damit sie nicht von der Menge mitgerissen wurden. Gorst überließ die beiden grinsend sich selbst und bahnte sich seinen Weg, um zu Quov Tsin zu gelangen. »All meine Hoffnungen«, sagte sie schluchzend, »all meine Träume ... sind nun Wirklichkeit geworden, Kentril ... und es gibt niemanden außer dir, dem ich dafür danken kann.« »Ich glaube, du könntest auch Tsin danken. Er hat schließlich den Zauber gebrochen, der auf deinem Vater lag.« Atanna wollte nichts von seinen Widerworten wissen. »Der Vizjerei-Meister sorgte für die tatsächliche Befreiung meines Vaters. Aber ich weiß, dass du ihn dazu gebracht hast. Du hast ihn dazu gebracht, meinen Vater davon zu überzeugen, dass es am besten wäre, nicht noch einmal nach dem Weg in den Himmel zu suchen.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Dafür danke ich dir.« »Ich bin nur froh, dass alles ohne Probleme verlaufen ist.« »Das ist es wirklich, doch die ganze Zeit über, die ich mit ihnen gearbeitet habe, musste ich unablässig an dich denken ... so sehr, dass ich einige Male fürchtete, ich könnte dem Zauber damit schaden!« Ihre Augen funkelten. »Es ist viel schöner, dich leibhaftig vor mir zu sehen, als nur davon zu träumen.« Für einen Moment wurde sie ernst. »Kentril, deine Kleidung ist schmutzig, deine Wange blutig! Was ist geschehen?« In der Aufregung war ihm völlig entgangen, wie er aussah. 247
Kentril hatte sich noch nicht entschieden, was er wegen Gregus Mazi sagen würde. So erwiderte er lediglich: »Als Soldat bin ich es gewöhnt, viel zu trainieren. Ich bin ein wenig gelaufen und geklettert.« Er zuckte mit den Schultern. »Einmal habe ich den Halt verloren und bin ein Stück weit abgerutscht.« »Wie fürchterlich! Das darfst du nicht noch einmal machen! Ich werde es nicht zulassen, ich will dich nicht jetzt schon verlieren!« Auch wenn er seine Lüge bereits bedauerte, blieb Kentril bei dieser Version. »Es tut mir Leid, wenn ich dir Sorgen bereite.« Doch ihre Stimmung hatte sich längst gebessert. »Schon gut. Mir ist nur gerade eingefallen, dass du mit mir auf den Großen Balkon kommen musst. Dort bist du noch nie gewesen, und dort ist mein Vater jetzt.« »Dann sollten wir ihn nicht stören ...« »Aber nein! Du musst dort sein!« Sie zog ihn hinter sich her in die Richtung, in die Juris Khan und die anderen gegangen waren. Wegen seiner einzigartigen Lage verfügte der Palast des Herrschers von Ureh über etliche Balkone, doch keiner von ihnen war so groß wie jener, auf dem sie Atannas Vater antrafen. Kentril schätzte, dass dieser Balkon ausreichend breit war, um hundert Menschen auf einmal Platz zu bieten. Sein strahlender weißer Marmorboden und das elegante Steingeländer schufen einen Glanzpunkt, wo sich Gäste während feierlicher Anlässe einfinden konnten. Kentril stellte sich vor, dass dies zur Blüte von Urehs Macht auch ein Ort gewesen war, an dem man gemeinsam unter freiem Himmel diniert hatte. Im Augenblick jedoch diente der Balkon einem weitaus wichtigeren Zweck. Zum Erstaunen des Hauptmanns hatte sich Lord 248
Khan nicht seinem Hofstaat zugewandt, sondern stand über die Brüstung gelehnt und rief etwas nach unten in die Stadt. Offenbar konnte man ihn dort trotz der Entfernung gut verstehen, denn bei jeder Äußerung brandete Applaus auf, der stets lange anhielt. Sechs Wachen standen bei dem in Weiß gekleideten Mann, sechs Wachen, von denen jede eine Fackel trug. Der Hauptmann vermutete, dass die Flammen dem Zweck dienten, den Herrscher von der Stadt aus erkennen zu können. Weitere sechs Soldaten hielten Wache und achteten darauf, dass niemand auf eine so dreiste Idee kam, den Herrscher über die Brüstung stoßen zu wollen. Kentril hielt diese Vorsichtsmaßnahme allerdings für unnötig, denn es war nicht zu überhören, dass der Herrscher geliebt und verehrt wurde. »Hier hielt Harkin Khan einst seine Rede von den Heiligen«, erklärte Atanna. »Hier heiratete mein Großvater Zular Khan meine Großmutter, und hier stellte er sie dem Volke vor. Hier sprach mein Vater die Worte des Erzengels, damit alle sie hören konnten.« »Wie kann ihn da unten überhaupt irgendjemand hören? Vom Sehen ganz zu schweigen!« »Komm und schau es dir an!« Kentril wollte sich nicht in die Feierlichkeiten verwickeln lassen, doch Atanna zeigte sich überaus entschlossen, da sie ihn vor sich her schob, bis sie eine Stelle weit zur Rechten Juris Kahns erreicht hatten. Am Geländer angekommen, bemerkte Kentril ein Paar schimmernder Metallkugeln mit runden Öffnungen, die auf die Massen unter ihm gerichtet waren. »Was ist das?« Die Frau mit den roten Zöpfen zeigte auf ein identisches Paar 249
weiter links. »Sie verstärken und verbreiten die Stimme desjenigen, der dort spricht, wo Vater gerade steht. Gleichzeitig bekommt die Menge unten in der Stadt ein viele Male vergrößertes Bild meines Vaters zu sehen. Diese Kugeln sind sehr, sehr alt, und niemand kennt mehr den Zauber, durch den sie erschaffen wurden. Aber sie funktionieren immer noch ohne Einschränkung.« »Unglaublich!«, rief Kentril aus. Zwar war das Wort völlig unangebracht, doch fand er kein treffenderes. Auf einmal legte sie einen Finger auf seinen Mund und flüsterte: »Psst! Das wirst du hören wollen.« Zuerst hörte Hauptmann Dumon nur wieder die gleichen Versprechen für die Zukunft, die Juris Khan auch schon zuvor seinen Untergebenen gemacht hatte. Er sprach vom Ende aller Widrigkeiten für Ureh, davon, dass die Sonne bald wieder ihre Haut bescheinen würde, ohne sie zu verbrennen. Er sprach von der neuen Rolle, die das Licht unter den Lichtern in der Welt spielen würde, um sie zu Güte und Frieden zu führen ... Und dann begann er, über Kentril zu sprechen. Der Söldner schüttelte den Kopf und hoffte, sein Gastgeber würde endlich damit aufhören. Khan jedoch plauderte ausgiebig über die Rolle des Hauptmanns und übertrieb aus Kentrils Sicht in weiten Teilen maßlos. Wenn man den Herrscher über Ureh hörte, wie er ihn beschrieb, dann war Kentril Dumon ein außergewöhnlicher Paladin, ein Verteidiger der Schwachen, ein Bezwinger des Bösen, wo immer es auch lauerte. Die Menge begann jedes Mal lautstark zu johlen, wenn Lord Khan seinen Namen aussprach, und mehrere der Anwesenden auf dem Balkon wandten sich in seine Richtung, um einen Blick auf diesen rechtschaffenen Mann zu werfen. 250
Zu seinem noch größeren Entsetzen bat Atannas Vater ihn dann schließlich sogar, zu ihm zu treten. Er hätte sich geweigert, doch Atanna ließ ihm keine andere Wahl, da sie ihn zu Juris Khan führte. Der gütige Herrscher legte einen Arm um die Schultern des Kämpfers, den anderen streckte er der Menge in der Stadt entgegen. »Kentril Dumon von Westmarch, freier Offizier, erfahrener Kommandant ... Held von Ureh.« Der Jubel schwoll neuerlich an. »In Kürze wird er einen neuen Posten antreten ... als General der Streitkräfte, die dieses heilige Reich verteidigen!« Diesmal kannte der Jubel keine Grenzen mehr, auch die auf dem Balkon Versammelten stimmten ein. Kentril wäre am liebsten in der Menge untergetaucht, doch da Atanna neben ihm stand und ihn festhielt, war ihm dies unmöglich. »General Kentril Dumon!«, rief Kahn. »Kommandant des Reiches, Beschützer des Königreiches, Prinz des Blutes!« Der väterliche Monarch lächelte Kentril an. »Und bald ... so hoffe ich doch ... Mitglied meines Hauses!« Der Jubel brach abermals los, diesmal so heftig, dass es schien, als müsste Nymyr angesichts der erzeugten Beben in sich zusammenstürzen. Kentril war einen Moment lang irritiert über die letzte Bemerkung, doch dann legte Juris Khan die Hände des Söldners Hand auf die seiner Tochter und betrachtete beide voller Stolz. Erst da wurde dem Hauptmann klar, dass sein Gastgeber ihm soeben den Segen gegeben hatte, Atanna zu heiraten. Sie küsste ihn, dann verließen sie den Balkon, während er sich noch immer fragte, ob das alles nur ein Traum war. Hoffnung ergriff Besitz von ihm, doch sie paarte sich mit Unsicherheit. Wagte er wirklich, sich dem allem zu stellen, was Ureh zu bieten 251
hatte? General, Prinz und Prinzgemahl? »Ich muss zu meinem Vater zurückkehren«, flüsterte sie ihm zu. »Wir sehen uns bald.« Wieder küsste sie ihn, sah ihn lange an und lief dann schnell zum Balkon zurück. »Tja«, sagte eine Stimme dicht neben Kentril. »Meinen herzlichsten Glückwunsch, Hauptmann – oh, verzeiht – Mylord.« Er sah zur Seite und erkannte Zayl, der aus dem Schatten einer Ecke hervortrat. Der Nekromant nickte und blickte an ihm vorbei zum Balkon. »Ein bemerkenswertes Schauspiel.« »Ich habe nicht darum gebeten ...« »Aber es ist doch schön, eine solche Behandlung zu erfahren, oder nicht? Zumindest muss Euch doch Atannas Zuneigung begeistern.« Kentril warf dem Nekromanten einen finsteren Blick zu. Er wusste nicht, ob er spottete. »Was wollt Ihr?« »Ich wollte nur fragen, wie Ihr alles angetroffen habt, als Ihr in den Palast kamt. Ich war zugegebenermaßen neugierig und kehrte früher hierher zurück als angekündigt. Zu meiner Überraschung standen am Eingang keine Wachen, niemand war auf den Korridoren. Ich hörte den Lärm, der von hier kam, und traf gerade noch rechtzeitig ein, um zu hören, wie Ihr zum Thronerben benannt wurdet.« »Ich bin kein Erbe«, widersprach der Hauptmann. »Ich werde Prinzgemahl sein, wenn ich sie heirate, aber nicht ...« Er stockte. In manchen Ländern war es so, dass jemand, der eine Prinzessin oder eine Frau von ähnlichem Rang heiratete, zum Herrscher wurde, wenn die Krone weitergegeben wurde. Hatte Juris Khan ihn soeben zum künftigen Herrscher über Ureh bestimmt? Zayl sah in Kentrils fragendes Gesicht und erwiderte mit dem Anflug eines Lächelns: »Nein, ich weiß nicht, wie die Erbfolge in 252
Ureh geregelt ist. Ihr könntet Recht haben ... vielleicht aber auch nicht. Nun kommt! Wir werden nur wenig Zeit haben, ehe sie zurückkehrt, um dafür zu sorgen, dass Ihr angemessen für Eure neuen Rollen eingekleidet werdet.« »Was wollt Ihr wissen?« »Habt Ihr Gregus Mazi erwähnt?« Hauptmann Dumon fühlte sich beleidigt. »Ich halte mein Wort.« »Das dachte ich mir auch, aber ich musste fragen.« Der Nekromant kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Sagt mir, was sich hier zugetragen hat, seit Ihr zurückgekehrt seid.« Nachdem Kentril alles geschildert hatte, was ihm an Details noch im Gedächtnis geblieben war, runzelte Zayl die Stirn: »Eine interessante, aber wenig informative Darstellung.« »Was habt Ihr erwartet, was ich Euch erzählen würde?« »Ich weiß nicht ... ich hatte nur das Gefühl, dass sich aus irgendetwas ein Hinweis ableiten ließe, wie wir weiter vorgehen sollen.« Der Nekromant seufzte. »Ich werde in meine Gemächer zurückkehren und meditieren. Wenn Ihr Euch an irgendetwas Ungewöhnliches erinnert, sucht mich bitte unverzüglich auf.« Kentril bezweifelte zwar, dass er irgendetwas vergessen hatte, dennoch versprach er Zayl, der Bitte nachzukommen. Nachdem Zayl gegangen war, musste Kentril über seine momentane Situation nachdenken. Ihm wurde bewusst, dass er in verschlissener, schmutziger Kleidung inmitten von Adligen und vor dem Volk Urehs gestanden hatte. Auch wenn es jetzt zu spät war, daran noch etwas zu ändern, konnte er zumindest dafür sorgen, dass er ein besseres Bild abgab, wenn jemand – vor allem Atanna und Juris Khan – ihn das nächste Mal sah. Dies war jetzt der geeigne253
te Zeitpunkt, um die Galauniform anzuziehen, die er schon beim Abendessen getragen hatte. Zumindest aber würde sie ihm dienlich sein, bis er über andere angemessene Kleidung verfügte. Er wollte sich zu seinen Gemächern begeben, entdeckte aber ein Stück weiter vor sich Gorst und Tsin auf dem Korridor. Der Vizjerei schien sehr verärgert über etwas, das der Riese zu ihm sagte. Als Tsin Kentril entdeckte, warf er dem Hauptmann einen zornigen Blick zu, als hätte Letzterer soeben Urehs Bibliothek der magischen Werke in Brand gesetzt. Ein unbehagliches Gefühl machte sich in ihm breit, das durch Gorsts Blick in seine Richtung nur noch verstärkt wurde. Er beschleunigte seine Schritte und betete, dass er sich einfach nur irrte. »Ich habe es ihm gesagt«, erklärte Gorst seinem vorgesetzten Offizier. »Ich musste es tun.« »Beim siebenäugigen Dämonen Septumos, Hauptmann Dumon! Was habt Ihr Euch dabei gedacht? Warum wurde ich nicht informiert? Stimmt jedes Wort, das dieser Kretin über die Höhlen und Gregus Mazi sagt? Ich kann nicht glauben ...« »Wenn Gorst es Euch erzählt hat, dann stimmt es«, setzte Kentril der wütenden Tirade ein jähes Ende. Er hatte keine Zeit für solche Dinge. Was hatte sich der andere Söldner bloß dabei gedacht? Warum weihte er Tsin ein, ohne Rücksprache mit seinem Hauptmann zu halten? Der Vizjerei schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich hätte mit dort unten sein sollen! Gregus Mazi! So viele Dinge hätte er erklären können!« »Es gab nicht viel, was er noch hätte erklären können.« Kentril sah Gorst, dem sein Verhalten überhaupt nicht peinlich zu sein schien, eindringlich an. »Du hast ihm gesagt, dass wir Mazi gefunden haben, nicht wahr?« 254
funden haben, nicht wahr?« Gorst nickte. »Ja, alles. Ich musste es, nach dem, was Meister Tsin sagte.« »Und was war das, Tsin?« Der Hexenmeister baute sich vor Kentril auf, so weit dies eben möglich war, jedenfalls, und murmelte: »Ich weiß noch immer nicht, ob dieser Schläger hier ...« »Was habt Ihr gesagt, das Gorst so reagieren ließ, Tsin?« Zur Abwechslung war es jetzt der Vizjerei, der sich unbehaglich zu fühlen schien. »Das Einzige, was diesen Mann hier erträglicher macht als den Rest Eurer Truppe, ist die Tatsache, dass er Respekt vor allem Magischen hat. Darum habe ich seine Fragen hingenommen, was die Arbeit an meinem großen Zauber anging. Er wollte etwas von den Schwierigkeiten wissen, und davon, wie ich sie überwunden habe. Und er ...« Tsin hielt inne, als Kentril näher kam und die Hand auf das Heft seines Schwertes legte. »Ich komme sofort darauf zu sprechen! Ich erzählte Gorst von den Mustern und den Beschwörungen, die ich entworfen hatte, um den geschickt angelegten Fluch aufzuheben. Ich erzählte ihm davon, dass alles so reibungslos wie erwartet verlief.« Wenn die Prahlerei nicht bald ein Ende nahm, würde Hauptmann Dumon den Zauberkundigen erwürgen, ganz gleich, wie die Folgen aussahen. »Alles lief bestens. Das habt Ihr auch erwartet. Keine Schwierigkeiten. Ich nahm an ...« »Dann habt Ihr falsch angenommen, Kretin!«, herrschte der Bärtige ihn an. »Es gab sehr wohl einen Punkt, an dem ich fürchtete, all meine harte Arbeit könne am Ende doch vergebens sein – als etwas, das sich meiner Kontrolle entzog, beinahe mein sorgfältig gewobenes Netz zunichte gemacht hätte!« Quov Tsin klopfte mit seinem Stab auf den Boden. »Probleme hatte ich ei255
gentlich nur von dieser Frau erwartet, die zwar große Kraft besitzt, sich aber viel zu sehr von ihren Tagträumen ablenken lässt ...« Bei diesen Worten warf er Kentril einen finsteren Blick zu, um zu verstehen zu geben, dass der Hauptmann die Ursache für diese Ablenkung war. »Was ich jedoch nicht erwartet hätte, war, dass das Ganze ausgerechnet durch unseren Gastgeber beinahe zur Katastrophe ausgeartet wäre!« »Was hat er getan?«, fragte Kentril und verdrängte augenblicklich die Gedanken an seine Galauniform oder die Hochzeit mit einer adligen Tochter. Tsin schnaubte verächtlich. »So wie ein Schüler in seinem ersten Jahr tat er das Undenkbare! Wir standen an der Schwelle, jenem Punkt, wo nicht mehr der Bruchteil eines Fehlers zugestanden werden konnte. Die Frau führte die notwendigen Kräfte zusammen, während ich sie mit Worten und Gesten steuerte, um das umzukehren, was Fleisch, Holz und Stein zu einer Einheit hatte verschmelzen lassen. Hätte es sich nicht bloß um seine Beine gehandelt, wäre es sogar für mich zu komplex gewesen. Doch da das nicht der Fall war ...« »Tsin!« »Schon gut, schon gut! Er bewegte sich, Kretin! Juris Khan, dessen Aufgabe es war, seine Macht, seinen Willen von innen heraus zu konzentrieren, um die Veränderungen der Struktur des Zaubers in seinem eigenen Körper zu veranlassen, bewegte sich!« Der Vizjerei lehnte sich an die Wand, als hätte er damit alles erklärt, was der Erklärung bedurfte. Aber Kentril wusste, dass dies noch nicht alles sein konnte. Es wäre für Gorst kein Grund gewesen, so zu reagieren. »Er hat sich nicht einfach nur bewegt«, warf der Riese ein, der 256
dem Hexenmeister jetzt die gleiche Ungeduld entgegenbrachte wie sein Vorgesetzter. »Tsin sagt, er sei regelrecht aufgesprungen, Kentril! So als hätte jemand unter ihm ein Feuer entzündet. Und nach allem, was Tsin geschildert hat, würde ich sagen, dass es genau in dem Moment passiert ist, als du den Dolch in Gregus Mazis Brust gestoßen hast.«
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Vierzehn Gorsts Überlegung beunruhigte und verfolgte Hauptmann Dumon noch lange, nachdem die drei wieder getrennte Wege gingen. Kentril war sich nicht sicher, was er von dem Gedanken halten sollte, Juris Khan habe möglicherweise auf Mazis Tod reagiert. Auf jeden Fall verhieß es nichts Gutes. Dass Tsin keine Ahnung hatte, wie sich diese Reaktion hinreichend erklären ließ, half in der Sache ebenfalls nicht weiter. Dennoch war der Vizjerei nicht völlig von Gorsts Bedenken zu überzeugen gewesen, dass ihr Gastgeber ihnen etwas verschwieg. Kentril teilte in diesem Fall Tsins Skepsis. Dennoch musste der Hauptmann zugeben, dass seine Abneigung vor allem mit den Ehren zu tun hatte, mit denen er von Lord Khan bedacht worden war, insbesondere in Hinblick auf die bevorstehende Hochzeit mit dessen Tochter. Was Quov Tsin betraf, waren die Gründe für sein Benehmen noch offensichtlicher, denn die gewaltige Sammlung in Urehs magischer Bibliothek stand ihm so lange offen, wie ihm die Gunst des Herrschers gewiss war. Über diese Ereignisse zu schlafen, half Kentril kaum, da sich sogar seine Träume mit den besorgniserregenden Entwicklungen beschäftigten. Daher hieß er das unerwartete Klopfen an der Tür zu seinen Gemächern auch durchaus willkommen, als es ihn aus einem Traum riss, in dem Juris Khan sich als Gregus Mazi entpuppte – und Atanna die willfährige Geliebte des getarnten Schurken war. Zwar hoffte er, Khans Tochter vor seiner Tür anzutreffen, doch war es ein recht nachdenklich dreinblickender Albord, der 258
ihn aus dem Schlaf geholt hatte. Kentril befürchtete sofort, weitere Männer könnten verschwunden sein, doch diese Sorge konnte ihm der jüngere Söldner nehmen. Die Nachricht, die er ihm stattdessen überbrachte, war allerdings kaum beunruhigender. »Hauptmann, die Männer wollen gehen.« »Niemand geht in die Stadt, so lange ich es nicht erlaube.« Albord schüttelte den Kopf. »Hauptmann ... sie wollen Ureh verlassen. Sie wollen heimkehren, und ich finde, das sollte ihnen auch erlaubt werden.« Diesmal wusste Kentril keinen vernünftigen Grund, sie zurückzuhalten. Ihm selbst war hier ein neues Leben angeboten worden, sie aber wollten heim in die Westlichen Königreiche. Hätte er nicht so lange gezögert, wäre ihnen möglicherweise schon längst ihre Belohnung ausgehändigt worden. »Also gut, gib mir ein paar Tage, dann werde ich dafür sorgen, dass unser Gastgeber für jeden ...« Albords Miene verriet noch größeres Unbehagen, als er ihm ins Wort fiel. »Hauptmann, Jodas und Orlif haben bereits mit ihm gesprochen.« Fast hätte Kentril den weißhaarigen Söldner an der Kehle gepackt, konnte diesen Impuls aber gerade noch rechtzeitig unterdrücken. »Wann? Wann haben sie das gemacht?« »Vor kurzem. Ich selbst habe erst davon erfahren, als es bereits geschehen war, als sie zu mir kamen und es erzählten. Sie sagten, sie haben Lord Khan mitgeteilt, sie müssten aufbrechen, und sie haben ihn gefragt, ob er nach wie vor dazu stehe, was er ihnen versprochen hat.« »Und Khan hat sein Versprechen eingelöst?« »Ihren Worten zufolge hat er sie wie Brüder umarmt und ihnen versprochen, einem jeden von ihnen einen ganzen Sack voll 259
zu überreichen.« Kentril hegte nicht den mindesten Zweifel daran, dass der väterliche Herrscher genau das getan hatte. Es war ein weiteres Beispiel seiner Freundlichkeit, die es schwer machte, zu bestimmen, welche Verbindung zwischen dem Monarchen, der einem Heiligen glich, und Gregus Mazi bestand. Der Hauptmann stützte sich auf einen Stuhl in seiner Nähe und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Wie hätte er schon anders handeln können, als auf die Abreise seiner Männer mit der gleichen Weisheit und Freundlichkeit zu reagieren, die Juris Khan ihm vorgemacht hatte? Schließlich war es ihr gutes Recht, zu tun, was sie wollten. Der Kontrakt, der sie an Tsin gebunden hatte, war vor langer Zeit erfüllt worden. »Ich kann es ihnen nicht verdenken«, erwiderte er schließlich. »Und vermutlich sind sie außerhalb von Ureh sicherer, jedenfalls für den Moment. Wie lange noch, bis ihr alle aufbrecht?« »Sie wollen sich auf den Weg begeben, wenn es das nächste Mal hinter Nymyr Tag wird, Hauptmann. Ich würde sagen, das ist wohl schon morgen.« Albord straffte seine Schultern. »Ich gehe nicht mit ihnen, Sir.« »Nicht?« Albords Gesicht begann zu strahlen. »Hauptmann, ich habe seit dem letzten Mal, als ich von Abreise sprach, noch einmal sehr gründlich über alles nachgedacht. Unter Euch habe ich mehr gelernt, als es mir in meinem Dorf je möglich gewesen wäre. Ich habe dort Familie, so wie jeder andere irgendwo Familie hat, doch meine wusste, dass ich vielleicht für lange Zeit fernbleiben werde – vielleicht überhaupt nie mehr zurückkehre. Ich möchte gerne noch eine Weile hier bleiben.« Er grinste breit. »Dann kann ich immer noch heimkehren und von mir sagen, dass ich unter ei260
nem Prinzen gedient habe!« Kentril reagierte erleichtert auf diese Worte. »Du bist sicher, dass du nicht mit ihnen aufbrechen willst?« »Diesmal bin ich entschlossen zu bleiben, Sir.« »Also gut. Ich werde dafür sorgen, dass sie angemessen verabschiedet werden. Sie haben gute Arbeit geleistet ... ihr alle habt gute Arbeit geleistet.« Albords Grinsen wurde so breit, dass er es mit Gorst hätte aufnehmen können. »Ich weiß das zu schätzen, Hauptmann ... Herr. Ich würde sie allerdings gerne bis zu den Toren des Königreichs begleiten.« Gegen diesen Wunsch war nichts einzuwenden, da er einfach und ungefährlich klang, auch wenn es noch immer keine Erklärung für das Verschwinden dreier Männer gab. Kentril vermutete nach wie vor, dass man sie in einen abgeschiedenen Teil der Stadt gelockt und dort erstochen hatte. Es war davon auszugehen, dass ihre Leichen niemals entdeckt würden. Wenn sich Albord so in der Öffentlichkeit zeigte, dass er immerfort unter Beobachtung stand, würde ihm auch nichts geschehen. »Das Vergnügen gönne ich dir, mein Junge ... und danke für deine Loyalität.« Albord salutierte schneidig, dann ging er. Kentril kehrte ins Bett zurück, doch mit den Gedanken war er weiterhin bei seinen Männern. Er fragte, ob einer der drei Vermissten noch hätte leben können, wenn seine Leute früher zurückbefohlen worden wären. Auf dem Schlachtfeld zu sterben, war für einen Söldner immer noch ehrenhafter, als in irgendeiner Gasse mit einem Messer im Rücken zu enden. Aber Kentril wusste ja nicht einmal verbindlich, ob sie wirklich tot waren. Es war denkbar, dass sie immer noch lebten und gefangen gehalten wurden ... 261
Gefangene? Hauptmann Dumon saß aufrecht im Bett. Natürlich! Es gab eine Möglichkeit, das herauszufinden ... Kentril traf den Nekromanten in dem am weitesten von den übrigen Unterkünften entfernten Zimmer an. Wie es schien, hatte Zayl ausdrücklich um diese Abgeschiedenheit gebeten. Der Zauberkundige reagierte nicht auf das erste Klopfen gegen die Tür, doch der Kämpfer konnte fühlen, dass Zayl sich in seinen Gemächern aufhielt. Abermals klopfte er, rief nun auch leise den Namen des anderen. »Herein«, ertönte sogleich Humbart Wessels unverkennbare, hohle Stimme. Kentril trat ein und sah, dass der Nekromant im Schneidersitz auf dem Boden saß. Er hatte seine Hände auf die Knie gelegt und den Blick starr auf den Dolch aus Elfenbein gerichtet, der vor ihm in der Luft schwebte. Zayls Mantel lag auf dem Bett ausgebreitet, und auf einem kleinen Holztisch daneben war der Schädel so hingestellt worden, dass die leeren Augenhöhlen zur Tür wiesen. »Hallo, Freund«, begrüßte ihn der Schädel fröhlich. »Er macht das zwei oder drei Mal am Tag, wenn es geht. Er ist dann völlig abseits dieser Welt ...« »Wie lange verharrt er so?«, erwiderte der Hauptmann flüsternd. Plötzlich bewegte der Nekromant die linke Hand, und der Dolch fiel herunter, wurde aber noch rechtzeitig aufgefangen, ehe er zu Boden schlug. »So lange, wie es nötig ist«, antwortete Zayl und erhob sich in einer einzigen, fließenden Bewegung. Der Schädel lachte glucksend. »Aber für alle Fälle dreht er mich zur Tür, damit ich Alarm schlage, falls jemand eintritt.« 262
Zayl warf Humbart einen finsteren Blick zu. »Darauf, dass du Alarm schlägst, warte ich noch immer.« »Es ist doch nur unser werter Kamerad Kentril Dumon, Jüngelchen! Ich habe seine Stimme sofort erkannt.« »Nichts gegen Euch, Hauptmann, aber Humbart scheint zu vergessen, dass Ihr möglicherweise nicht allein gekommen sein könntet. Oder aber Ihr wärt vielleicht gar nicht wirklich Ihr selbst gewesen. Es gibt Illusionszauber, mit denen man fast jeden täuschen kann, auch einen viel zu sehr von sich eingenommenen Toten.« Der schlanke blasshäutige Mann griff nach seinem Mantel. »Nun denn, was kann ich für Euch tun?« »Ich kam her, weil ... weil ich eine Idee hatte, die auf Euren eigenen Erfahrungen beruht.« »Und die wen betrifft?« Der Hauptmann merkte, wie sein Blick zum Schädel zurückschweifte. »Drei meiner Leute sind nicht wieder aus der Stadt zurückgekehrt. Der Rest von ihnen plant, morgen früh abzureisen. Bevor es dazu kommt, könnte es aber sein, dass ich sie noch für ein Rettungskommando benötige.« Damit hatte er Zayls volle Aufmerksamkeit. »Ein Rettungskommando? Habt Ihr Grund zu der Annahme, dass die Vermissten noch leben könnten?« »Das ist genau der Moment, da Ihr ins Spiel kommt. Mit einem Mal erinnerte ich mich daran, dass Ihr sagtet, der misslungene Versuch, Gregus Mazi zu beschwören, hänge damit zusammen, dass er noch lebte. Ihr habt dann einen anderen Zauber benutzt, um seinen ungefähren Aufenthaltsort zu bestimmen ...« »Und Ihr wollt, dass ich versuche, das Gleiche für diejenigen Eurer Leute zu erreichen, die verschwunden sind«, sinnierte der Nekromant. »Ich wüsste nicht, warum das nicht gehen sollte – 263
und vielleicht würde es sogar ein wenig Licht in dieses Land unter Schatten bringen. Ja, Hauptmann, das würde ich sehr gern versuchen.« »Wie schnell könnt Ihr damit beginnen?« Zayl griff nach dem Schädel und steckte ihn in die unter seinem Umhang verborgene Gürteltasche. »Ich kann nicht anfangen, so lange ich keinen persönlichen Gegenstand von ihnen habe, besser noch ein Haar oder Stück Fingernagel von allen dreien. Wäre es angemessen, sich um diese Zeit in den Gemächern umzusehen, in denen sie untergebracht waren?« Kentril bezweifelte, dass irgendjemand etwas dagegen haben könnte, wenn der Hauptmann der Truppe sich mit den Habseligkeiten der verschwundenen Männer befasste, um so vielleicht einen Hinweis auf ihren Verbleib zu bekommen. Er nickte zustimmend. Mehr benötigte der Nekromant offensichtlich nicht, denn er bat den Hauptmann mit einer ausholenden Geste, ihm den Weg zu zeigen. Die Dankbarkeit ihres Gastgebers war der Grund dafür, dass jedem der Männer aus Kentrils Truppe für die Dauer des Aufenthalts in Ureh eigene Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt worden waren. Einige der Männer – und das galt auch für Kentril – waren so sehr an beengte Unterkünfte gewöhnt oder daran, unter freiem Himmel zu nächtigen, dass sie allenfalls das Bett benutzt hatten, sonst aber so gut wie nichts. Andere wiederum nutzten diesen unerwarteten Luxus so sehr aus, dass sie ihre Habseligkeiten überall in ihren Gemächern verteilten. Kentril war sicher, von jedem der drei Verschwundenen etwas Brauchbares finden zu können. Diese Überzeugung machte es dann umso erschreckender, dass sie im ersten Raum keinen Hinweis darauf finden konnten, ob er 264
überhaupt jemals bewohnt worden war. Als Kentril seine eigenen Gemächer zum ersten Mal betreten hatte, war es für ihn kaum vorstellbar gewesen, dass sich vor ihm schon jemals ein anderer Gast darin aufgehalten haben sollte. Die seidenen, mit Gold durchwirkten Vorhänge, das breite bequeme Himmelbett – einfach alles hatte völlig neu ausgesehen. Das Bettgestell und die anderen eleganten Möbelstücke waren aus der besten Eiche – einer Holzart, die der Hauptmann im östlichen Kehjistan noch nirgends angetroffen hatte – geschnitzt und mit einer tief rötlich-braunen Farbe gestrichen worden. Neben dem Bett gab es im Hauptraum einen robusten Schrank mit BronzeGriffen, vier Stühle, zwei Tische – einen größeren, der vermutlich als Esstisch diente, und einen kleineren, identisch aussehenden, gleich neben der Tür. Die mit Filigran geschmückten Wände waren mit kleinen, aber detailreichen Wandteppichen geschmückt, die Geschehnisse aus der Frühgeschichte Urehs wiederzugeben schienen. Der kleinere der beiden übrigen Räume bot dem Bewohner Gelegenheit zur Körperpflege, es gab sogar Wasserleitungen, die ein deutliches Zeichen für den Reichtum Lord Khans und seiner Vorfahren waren. Der andere Raum beherbergte zwei Ledersessel, einen winzigen, aber dennoch eleganten Tisch sowie ein Regal mit einer Auswahl an Büchern. Aus Neugier hatte sich Hauptmann die Sammlung in seinen eigenen Gemächern durchgesehen, aber er wusste, dass die meisten seiner Männer keine Buchstaben entziffern, geschweige denn lesen konnten. Sie waren als Erstes in Breks Quartier getreten, und ein flüchtiger Blick hatte genügt, um den Hauptmann zu der Ansicht gelangen zu lassen, dass hier jemand nach dem Verschwinden der Söldner aufgeräumt hatte. Brek galt nicht als der Mann, der viel 265
von Ordnung hielt, und Reinlichkeit war ihm ebenfalls weitestgehend fremd. Es hätten Essensreste, leere Flaschen und anderes herumliegen müssen. Aber weder davon war etwas zu sehen, noch von Breks Tasche, die er zweifellos hier zurückgelassen hatte, als er in die Stadt ging. »Das ist sehr beunruhigend«, meinte Zayl leise. In den Räumen der beiden anderen Vermissten sah es nicht anders aus. Alles war so hergerichtet worden, als hätten sich die Söldner niemals hier einquartiert. Selbst Kentril, der in seinen Gemächern noch am ehesten Ordnung hielt, hätte es mit dieser Sauberkeit nicht aufnehmen können. Er suchte Gorst auf, der Karten mit Albord und zwei anderen Männern spielte. Die Kämpfer erhoben sich respektvoll, als er in das Quartier des Riesen trat, doch Kentril bedeutete ihnen, sich zu rühren. »War irgendjemand in Breks Unterkunft?« Alle vier schüttelten den Kopf, woraufhin er sich an Albord wandte, der die benachbarten Räume belegte. »Hast du von nebenan irgendein Geräusch gehört?« »Nicht mehr, seit Brek sich zum letzten Mal dort aufgehalten hat.« Hauptmann Dumon ließ sie sich wieder ihrem Spiel widmen und kehrte zu dem Nekromanten zurück. Es gefiel Kentril überhaupt nicht, dass sogar der sonst so gelassene Zayl angesichts der Entdeckungen nervös wirkte. »Es sind viele Diener im Palast beschäftigt«, gab der Zauberkundige zu bedenken. »Sie bewegen sich so flink und lautlos, dass sie es mit meinesgleichen aufnehmen könnten. Es ist denkbar, dass sie die Habseligkeiten aus irgendeinem Grund entfernt haben und sie nun irgendwo aufbewahren.« »Oder sie haben die Jungs einfach nicht zurückerwartet«, warf 266
Humbart aus seiner Tasche ein. Kentril fühlte sich beunruhigter als je zuvor. »Dann könnt Ihr gar nichts machen?« Zayl hob den Dolch und murmelte etwas Unverständliches. Die verzauberte Klinge flammte hell auf, dann hielt der Nekromant die Waffe vor sich und schwenkte sie durch den Raum. »Was habt Ihr vor?« »Ich will feststellen, ob irgendeine nützliche Spur hinterlassen wurde. Ein einzelnes Haar unter einem Stuhl, ein Stück Stoff, das von einem Laken verdeckt wird ...« Kaum hatte er ausgesprochen, als der Nekromant leicht enttäuscht die Klinge sinken ließ. »Nichts davon ist hier der Fall. Es tut mir Leid, Hauptmann.« »Vielleicht könnten wir ...« Bevor Kentril zu Ende sprechen konnte, ging die Tür auf und Atanna trat ein. »Hier bist du ...« Sie eilte auf den Kämpfer zu und behandelte Zayl abermals wie Luft. Kentril ließ sich von ihr flüchtig küssen und stellte dann fest, dass sie ihn aus dem Zimmer dirigieren wollte. »Und du hast wieder deine schrecklichen alten Sachen angezogen!« Sie schüttelte entrüstet den Kopf, wirkte dabei aber mehr wie eine besorgte Mutter, weniger wie die betörende Frau, die er vor sich sah. »Du musst dich umziehen, ehe es dafür zu spät ist! Vater erwartet uns dort bereits!« »Dort? Wo?« »Natürlich bei der offiziellen Einführung bei Hofe. Du musst mit jedem bekannt gemacht werden, ehe du die Rolle annehmen kannst, die Vater dir versprochen hat. Andernfalls wäre das ein unhöfliches Verhalten.« »Aber ...« Trotz der Ungewissheiten und Fragen Lord Khan betreffend, die statt weniger immer mehr wurden, fühlte sich 267
Hauptmann Dumon einmal mehr völlig wehrlos, was den Charme der Prinzessin mit den roten Zöpfen anging. Atanna trug ein Kleid in Weiß und Grün, das sich wie angegossen an ihren wohlgeformten Körper schmiegte und – so wie alles, was sie trug – nur zu dem Zweck geschaffen worden schien, ihn völlig in den Bann zu schlagen. »Wir haben jetzt keine Zeit für Diskussionen«, schnitt sie ihm den Satz ab und führte ihn zu seinen eigenen Gemächern. »Ich werde auf dich warten, aber du musst dich beeilen! Das ist sehr wichtig, weil es deine Zukunft betrifft, Kentril.« Ihre Augen funkelten wie Juwelen, als sie anfügte: »Und auch unsere Zukunft.« Diese Worte machten ihn schließlich völlig unfähig, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Wie weggewischt war all seine Besorgnis, was das Geheimnis von Gregus Mazi anging oder die Täuschungsmanöver des Juris Khan. Und wie weggewischt war auch jede Befürchtung, er könne für immer zu Atannas Sklaven werden. Auch wenn es amüsant mit anzusehen war, wie wenig der gute Hauptmann Herr über sich selbst war, sobald die strahlende Tochter von Juris Khan die Szene betrat, machte sich Zayl doch Sorgen um den Mann. Kentril musste sich zweifellos in einer Zwickmühle befinden, gefangen zwischen Vertrauen und Verrat, zwischen Liebe und Lügen. Der Söldner, der anders als die Anhänger Rathmas nicht darin geschult war, seine Emotionen zu pflegen und zu kontrollieren, riskierte es, einen fatalen Fehltritt zu begehen. Zayl hoffte, dies würde nicht der Fall sein, da der Hauptmann nach wie vor sein bester Verbündeter war. Dem Riesen Gorst konnte man vertrauen, aber ihm mangelte es ein wenig am Scharfsinn eines Kentril 268
Dumon. Und sollte erst einmal Quov Tsin als einzig Hoffnung Zayls verbleiben, würden sie allesamt dem Untergang geweiht sein ... Aber wie genau sah dieser Untergang aus? Er vermutete, dass es etwas mit den Vermissten zu tun hatte. Der Gedanke, dass sie einfach nur irgendwelchen Straßenräubern zum Opfer gefallen sein könnten, kam ihm immer unwahrscheinlicher vor. Nein, er war fast sicher, dass sich etwas Finstereres, Unheilvolleres zugetragen hatte. Auch in den Räumen der beiden anderen Söldner war kein noch so kleiner Hinweis auf deren Verbleib zu finden gewesen. Zayl überlegte, ob er versuchen sollte, einen der Diener dazu zu bewegen, ihm zu verraten, wo die Habseligkeiten der Männer geblieben waren. Doch abgesehen davon, dass er damit nur die Aufmerksamkeit ihres Gastgebers auf sich gelenkt hätte, konnte er niemanden aus der Dienerschaft auch nur sehen. Wie der Nekromant bereits gegenüber Hauptmann Dumon erklärt hatte, bewegten sie sich tatsächlich so still und heimlich wie die Angehörigen von Zayls Volk, was für diesen Berufsstand höchst sonderbar war. Es handelte sich nur um ein weiteres Mosaiksteinchen zu einem Bild, das er erst noch erkennen musste. »Ein Haar, ein Stück Fingernagel«, murmelte er, als er den letzten Raum ein zweites Mal durchsuchte. »Das ist doch wirklich nicht zu viel verlangt, aber offenbar ist jede Hoffnung vergebens.« Ein einziges Haar hätte ihm genügt, um so zu verfahren wie in Gregus Mazis Heim. Aber die Mächte, die die Welt der Sterblichen im Gleichgewicht hielten, konnten doch seine Enttäuschung unmöglich gutheißen. Zayl wünschte, er hätte ... Er war gerade darin begriffen, den Dolch wegzustecken, als er 269
abrupt innehielt, weil ihn eine Erkenntnis durchfuhr, die er aus einem unerklärlichen Grund bislang gänzlich ignoriert hatte. Hauptmann Dumon hatte diesen Punkt ins Spiel gebracht, doch war er völlig in Vergessenheit geraten. Die mögliche Antwort auf all ihre Fragen wartete nur darauf, hinausgeschrien zu werden, und der Zauberkundige hatte es einfach nicht erkannt ... Als Zayl zum ersten Mal Gregus Mazi hatte heraufbeschwören wollen, da war dieser nicht tot gewesen. Doch jetzt war er es ... erlöst von der Gruppe um den Nekromanten, nachdem man sein entsetzliches Schicksal entdeckt hatte. »Ich bin ein Narr!«, rief er. »Erwarte von mir keinen Widerspruch«, meldete sich Humbart sofort zu Wort. Zayl sah auf die Gürteltasche an seiner Seite. »Gregus Mazi ist tot!« »Aye, und das ist ganz bestimmt kein Grund zum Jubeln, Jüngelchen!« Zayl erwiderte weiter nichts darauf, sondern begab sich sofort auf den Weg zu seinem Quartier. Er würde das Muster einrichten, den Zauber vorbereiten ... Nein! Das konnte er nicht in seinen Gemächern tun! Bei der Suche nach den Habseligkeiten der drei Vermissten hatte er vom Hauptmann erfahren, wie Juris Khan auf Tsins Zauber reagierte. Der Nekromant bezweifelte, dass es ein weiser Zug gewesen wäre, den Geist des Hexenmeisters im Heim des Mannes zu beschwören, der – unwissentlich oder absichtlich fälschlich – behauptete, ihn getötet zu haben. Es würde sich sicher bezahlt machen, den Zauber an einem anderen Ort zu wirken, und Zayl konnte sich keinen besseren vor270
stellen als den Eingang zu der Höhle, in der sie den unglückseligen Magier schließlich gefunden hatten. Der Nekromant benötigte nicht lange, um alles Notwendige aus seinem Quartier zu holen und den Palast unbemerkt zu verlassen. Er hatte sich den Bauplan des Gebäudes genau eingeprägt, da er aus irgendeinem Grund annahm, dass es sich später noch einmal als nützlich erweisen könnte. Als Angehöriger eines Standes, dem die meisten mit Misstrauen und Besorgnis begegneten, war dies eine gewohnheitsmäßige Handlung gewesen. Man konnte nie wissen, wann ein übereifriger Würdenträger entscheiden würde, sich hervorzutun, indem er einen der »bösartigen« Beschwörer der Toten festnahm und tötete. In gewisser Hinsicht gab es Zayl ein größeres Gefühl von Sicherheit, in den Schacht zu entkommen. Er war in der Dschungelregion geboren, und die engen Grenzen, die jedes Gebäude – und erst recht ein so gewaltiges Bauwerk wie der Palast – ihm setzte, störten ihn in seiner Konzentration. Jetzt, da er sich außerhalb des Palastes befand, kam es ihm bereits wieder so vor, als könnte er freier durchatmen. Sein Verstand schien mit einem Mal schärfer, und er fragte sich erneut, wieso er nicht sofort auf die Idee gekommen war, Gregus Mazi nach dessen tatsächlichem Ableben erneut zu beschwören. So viel Zeit war dadurch vergeudet worden ... Mit dem Dolch voraus, der wieder Licht spendete, begab sich Zayl einige Schritt weit in die Höhle, bis er einen ausreichend breiten Abschnitt in dem engen Korridor gefunden hatte. Der Nekromant setzte sich hin und begann, mit der leuchtenden Klinge Muster in den Staub zu zeichnen. Der geplante Zauber würde praktisch identisch mit dem sein, den er in Mazis Heim gewirkt hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass er 271
diesmal einige Symbole mehr verwendete, um die Erfolgsaussichten zu verbessern. Aus der Tasche holte er neben Humbarts Schädel noch drei kleine Kerzen sowie ein einzelnes Haar. Den Schädel legte er zur Seite, dann ordnete er die Kerzen an und legte das Haar in die Mitte. Nachdem er sich den Finger angestochen hatte und die notwendige Zahl von Blutstropfen auf das Haar gefallen war, zündete er mit der Dolchspitze jede der Kerzen an, um sich dann der Beschwörung zu widmen. Ein leichter Wind kam im Schacht auf, woraufhin Zayl seine Arbeit kurz unterbrach und seine Position veränderte, um den Wind abzuweisen, ehe der das Haar davonwehen konnte. Zufrieden begann er von neuem. Unvermittelt blies der Wind aus einer anderen Richtung. Zayl runzelte nachdenklich die Stirn, da er sich nicht an derartig heftige Strömungen erinnern konnte. Er schnupperte, konnte aber keinerlei Magie wittern. »Probleme?«, wollte der Schädel wissen. »Nur ein kleines Ärgernis«, erwiderte Zayl, nahm einige Steine und errichtete einen kleinen Wall, der seinen Zauber schützen würde. Abermals setzte er zu seiner Beschwörung an und wurde vom erneut aufkommenden Wind nicht mehr gestört. Zayl hielt seinen Blick auf das Haar gerichtet und dachte an den toten Hexenmeister. Wie zuvor, so stieg auch diesmal Rauch an der Stelle auf, an der das Blut auf das Haar getropft war. Der Rauch nahm eine annähernd menschliche Form an und wurde umso dichter, je weiter der Nekromant mit seinem Zauber voranschritt. Schließlich reichte er so hoch wie ein erwachsener Mann und nahm 272
zunehmend dessen Züge an. Zayl konnte einen Mann im Gewand eines Hexenmeisters ausmachen. Die Gestalt schien sich nach ihm zu strecken und etwas sagen zu wollen. »Ich beschwöre dich, Gregus Mazi!«, rief Zayl. »Ich beschwöre dich, Gregus Mazi! Ich rufe dich, damit du noch einmal auf der Ebene der Sterblichen wandelst! Komm zu mir und teile dein Wissen mit mir.« Im Rauch entstand eine beeindruckende schwarzhaarige Gestalt, die eher an Kentril Dumon als an den Nekromanten oder den Vizjerei erinnerte. Gregus Mazi war ein breitschultriger Mann mit entschlossener Miene, der keineswegs nach der falschen Schlange aussah, als die man ihn beschrieben hatte. Vielmehr wirkte er wie ein legendärer Beschützer. »Etwas jünger als zu der Zeit, da ich ihn kennen gelernt habe«, merkte Humbart an. »Ruhig!« Zayl hatte den Geist noch nicht vollständig gebunden, und so lange dies nicht der Fall war, konnte die Beschwörung durch jede Störung vorzeitig beendet werden. Er sprach weiter seine Formeln, dann zeichnete er mit dem Dolch einen doppelten Kreis in die Luft. Mazis flackernder Geist wurde solider und war schließlich so klar umrissen, dass ein ahnungsloser Betrachter meinen mochte, ihn berühren zu können. Hätte Zayl sich mehr angestrengt, wäre der Geist noch greifbarer zu beschwören gewesen, doch das war für den Nekromanten nicht von Bedeutung. Zudem hatte er zu großen Respekt vor dem toten Magier, um ihn derart zu binden. Schon bald sollte der Zauber vollständig sein, und danach würde es nur Zayl gelingen, den Geist ohne große Mühen auch wieder fortzuschicken. Als Gregus Mazi noch ein Stück mehr Teil der Welt der Sterb273
lichen wurde, versuchte er wieder, etwas zu sagen. Er machte den Mund auf, doch kein Laut war zu hören. Er unternahm weitere Versuche, den anderen Zauberkundigen zu erreichen, doch er bewegte sich, als sei er in einer zähen Flüssigkeit gefangen. Lediglich die Augen konnten sich bereits ausdrücken, und in ihnen sah Zayl das dringende Bedürfnis, sich mitzuteilen. Vielleicht wollte er ihm die Information geben, die er und der Hauptmann begehrten. »Gregus Mazi, Luft soll einmal mehr in deine Lungen strömen! Lass die Sprache wieder dein sein, wie ich es dir gestatte. Lass die Worte hören, die du zu sprechen wünschst.« Der tote Hexenmeister stöhnte auf. Finster entschlossen zeigte er mit einem Finger auf Zayl und zwang sich, ein einzelnes Wort über die Lippen zu bringen. »Diablooooo!« Noch während er sprach, veränderte sich Mazis Erscheinungsbild. Sein Gewand in den Farben Blau und Gold, das mit heiligen Schutzzeichen überzogen war, ging auf einmal in Flammen auf! Der Finger, der warnend ausgestreckt worden war, verkümmerte rasch, bis nur noch die Knochen übrig waren, und auf die gleiche Weise veränderte sich auch das Gesicht, von dem am Ende nur die starren Augen blieben, die ihn warnend ansahen ... »Zayl, Jüngelchen! Pass auf!« Monströse Hände aus schroffem Gestein schossen auf einmal aus den Wänden hervor und bekamen den Nekromanten von zwei Seiten her gleichzeitig zu fassen. Sie pressten ihm die Luft aus den Lungen, und Zayl musste alle Kraft aufbieten, um nicht auf der Stelle zerquetscht zu werden. Während seines Überlebenskampfs wirbelte er die Kerzen und 274
Muster durcheinander. Da er nun an den Nekromanten gebunden war, hätte der schreckliche Geist von Gregus Mazi an Ort und Stelle verharren müssen. Stattdessen jedoch verblasste er augenblicklich, immer noch das eine warnende Wort auf den Lippen. Zayl hielt den Dolch unverändert in der Hand, doch da seine Arme an den Leib gepresst wurden, konnte er ihn nicht heben. Mit dem restlichen Atem, der noch in seinen Lungen verblieben war, rief der Zauberkundige Worte, die ihn retten sollten. »Beraka! Dianes Tempri! Berak...« Mehr brachte er nicht heraus. Ein Grollen erschütterte die Höhle, und aus weiter Ferne hörte Zayl, dass Humbart Wessel nach ihm rief. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
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Fünfzehn Juris Khan geizte nicht, als es daranging, die Söldner zu belohnen, die sich zur Abreise entschlossen hatten. Kentril staunte angesichts der Reichtümer, die Khan mit vollen Händen an die Männer verteilte – Goldmünzen, funkelnde Diamanten, Rubine und vieles mehr. Das Limit dessen, was die Söldner bekamen, hing einzig davon ab, wie viel sie tragen konnten, da der Herrscher von Ureh ihnen weder Pferde noch andere Lasttiere mitgeben konnte. Das schien aber Jodas und den anderen nicht viel auszumachen, denn der Lohn, den sie erhielten, war überreichlich. »Kommt uns besuchen, wenn Ureh wieder neben den anderen Königreichen der Welt existiert, dann werde ich Euch weiter schadlos halten«, ließ Lord Khan sie wissen. »Jeder von Euch ist stets willkommen.« Der Gastgeber der Soldaten hatte eine Zeremonie in dem großen Saal anberaumt, in dem er einst gefangen gewesen war. Eine Heerschar von Höflingen in besten Gewändern war zusammengekommen und unterbrach die Ansprache ihres Herrschers immer wieder mit tosendem Beifall. Den meisten Adligen war Kentril inzwischen mindestens zweimal begegnet, doch ihre Namen hatte er sich noch immer nicht merken können. Von Atanna und ihrem Vater abgesehen schien niemand im Palast eine eigene Meinung zu vertreten, sondern ausschließlich an den Lippen des großen Lord Khan zu hängen. Das überraschte den Hauptmann nicht wirklich, da mächtige Herrscher oftmals ausschließlich von solchen Gefolgsleuten umgeben waren. Warum sollte es in einem 276
Reich, das so gesegnet war wie das von Ureh, anders zugehen? Juris Khan hatte mit seinem Volk das Schlimmste durchgemacht, was man sich nur vorstellen konnte. Kentril verabschiedete sich von seinen Leuten, nachdem die Zeremonie vorüber war. Er erinnerte die sechs Männer an den sichersten Weg durch den Dschungel und betonte noch einmal, wie wichtig es sei, tiefe Gewässer zu meiden. »Wenn ihr erst einmal Kurast erreicht habt, sollten sich euch keine Hindernisse mehr in den Weg stellen. Denkt nur daran, niemandem zu zeigen, was ihr mit euch führt.« »Wir werden vorsichtig sein, Hauptmann«, erwiderte Orlif. Gorst gab jedem der Männer einen so heftigen Klaps auf die Schulter, dass sie fast nach vorne taumelten. Und so wie ein pflichtbewusster Vater ermahnte er sie, an alles zu denken, was sie von ihrem Hauptmann gelernt hatten. Auf ein Signal von Albord hin salutierten die sechs vor ihrem Kommandanten, dann machten sie sich auf den Weg. Kentril und Gorst folgten der Gruppe bis zum äußeren Tor und wünschten jedem von ihnen noch einmal alles Gute. Auch wenn der Abschied von Männern, die unter ihm gedient hatten, Hauptmann Dumon stets mehr schmerzte, als er zu erkennen geben wollte, war die Trennung von diesen Männern diesmal so einschneidend, dass er größte Mühe hatte, die Fassung zu bewahren. War es schon schlimm genug, dass so viele seines Trupps gar nicht erst die Heimreise antreten konnten, so gab ihm der Schatten, der über dem Königreich lag, auch noch das Gefühl, als würden sie mitten in der Nacht aufbrechen. Die Männer und ihre Eskorte hielten ihre Fackeln hoch, damit sie die steilen Stufen erkennen konnten, die in die Stadt hinabführten. Kentril wusste zwar, dass jenseits des Nymyr die Sonne erst vor gut 277
einer Stunde aufgegangen war, dennoch sorgte er sich, dass nachtaktive Raubtiere oder feindliche Krieger im Schutz der Dunkelheit lauern könnten. Auch wenn ihm klar war, dass diese Gefahren in erster Linie in seinem Kopf existierten, musste sich der Hauptmann zwingen, den anderen nicht nachzueilen. »Glaubst du, sie kommen durch?«, fragte Gorst unvermittelt. »Warum fragst du?« Der Riese zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Ich schätze, so geht es mir immer, wenn andere weggehen.« Kentril lachte leise, als er erkannte, dass Gorst ganz ähnliche Sorgen plagten wie ihn selbst. »Sie sind in der Gruppe, sie sind bewaffnet, und sie wissen, wohin sie unterwegs sind. Du und ich, wir haben es sogar von den Bergen im Norden von Ensteig zurück geschafft, und da hatten wir nur ein einziges Schwert.« Er sah den Fackeln nach, die das einzige erkennbare Zeichen für die Gruppe waren, die sich auf den Weg in die Stadt befand. »Ihnen wird nichts passieren.« Als dann die Fackeln nicht mehr von den anderen Lichtern zu unterscheiden waren, die Ureh erhellten, kehrten die beiden in den Palast zurück. Lord Khan hatte angedeutet, er wolle mit Quov Tsin darüber reden, was notwendig sei, um das Königreich wieder völlig in der wirklichen Welt zu verankern und um die letzten Reste des bösartigen Zaubers aufzuheben. Was Kentril jedoch weitaus mehr interessierte, war die Überzeugung, von Atanna erwartet zu werden. Mehr denn je sehnte er sich nach ihren Lippen, ihren Augen, ihren Armen. Die Abreise der anderen kennzeichnete für ihn das Ende seines Lebens als Söldner und den Beginn von etwas höchst Erstaunlichem. Wären da nicht die Bedenken gewesen, die er und Zayl hinsichtlich der Wahrheit über Gregus Mazi hegten, hätte er sich im Moment für den 278
glücklichsten Menschen überhaupt halten können. Beim Gedanken an den Nekromanten fragte er Gorst: »Hast du Zayl in jüngster Zeit gesehen?« »Nicht mehr, seit es darum ging, etwas über Brek und die anderen herauszufinden.« Als es dem Hauptmann endlich gelungen war, Juris Khan zu fragen, was mit den Gemächern des vermissten Trios geschehen war, hatte der Monarch sich völlig erstaunt gezeigt und ihm zugesichert, jemanden aus seinem Stab die Angelegenheit verfolgen zu lassen. Das hatte er mit einem so überzeugend ehrlichen Tonfall gesagt, dass Kentril nicht anders konnte, als ihm seine Worte zu glauben. Kentril hatte sogar anschließend versucht, Zayl zu finden und ihm zu sagen, dass Lord Khan nichts damit zu tun haben konnte, dass die Habseligkeiten der Söldner weggeschafft worden waren. Jedoch hatte er bereits da den Nekromanten nirgends finden können. »Halte nach ihm Ausschau. Sag ihm, ich muss ihn schnellstmöglich sprechen.« Gorst zögerte, was für den sonst so entschlossenen Riesen recht ungewöhnlich war. »Glaubst du, ihm ist das Gleiche widerfahren wie Brek?« Das hatte Kentril noch gar nicht in Erwägung gezogen. »Sieh in seinem Zimmer nach, ob sich seine Sachen noch dort befinden.« Der Anhänger Rathmas hatte nur wenige persönliche Habseligkeiten, doch ganz sicher würde er irgendetwas dort zurückgelassen haben. »Wenn du siehst, dass seine Gemächer so aussehen wie die der anderen, komm sofort zu mir.« »Aye, Kentril.« Nun war es Hauptmann Dumon, der innehielt und seinen Blick über die flackernden Fackeln und Lampen im ewig dunklen 279
Ureh schweifen ließ. Albord und die Männer würden inzwischen ein gutes Stück bis zu den Stadttoren zurückgelegt haben. In einer, höchstens in zwei Stunden würden Jodas, Orlif und die vier anderen wieder die Sonne sehen können. »Kentril?« »Hmm? Entschuldige, Gorst. Ich habe nur etwas überlegt.« »Was denn?« Der erfahrene Söldner lächelte seinen Freund traurig an. »Ich habe überlegt, ob ich es noch bedauern werde, dass ich nicht mit ihnen aufgebrochen bin.« Die versammelte Menge jubelte und winkte, als Albord mit den anderen Söldnern durch die Stadt marschierte. Auf den jungen Offizier wirkte es so, als sei jeder Bürger der Stadt gekommen, um seine Kameraden zu verabschieden. Nie hätte er sich in seiner zugegeben kurzen Karriere träumen lassen, von anderen solche Anerkennung zu erfahren. Hauptmann Dumon hatte ihn vom ersten Tag an gewarnt, das Leben eines Söldner sei im allgemeinen rau und undankbar, doch dieser Augenblick machte jede Entbehrung der Vergangenheit mehr als wert. »Und du bist wirklich sicher, dass du nicht mitkommen willst, Alby?«, rief Jodas. »Ein weiterer guter Kämpfer ist immer willkommen!« »Danke, aber ich bleibe hier.« Albord bedauerte nicht wirklich, seine Kameraden nicht zu begleiten, auch wenn er den Wunsch verspürt hatte, seine Familie wiederzusehen. Doch es würde viel besser sein, beispielsweise in einem Jahr zurückzukehren und allen zu präsentieren, wozu er es als einer von Hauptmann Dumons Adjutanten gebracht hatte. Lord Khans Worten zufolge stand die Erhebung des Hauptmanns in den Adelsstand fest, 280
ebenso die Übertragung des Kommandos über die Streitkräfte des heiligen Königreichs sowie die anstehende Vermählung mit der Tochter des Monarchen – aus Albords Sicht wohl die größte Belohnung von allen. »Tja, vielleicht kommen wir dich ja mal besuchen«, meinte der andere Söldner und lachte kurz auf. Er umfasste den Sack, in dem seine Belohnung steckte. »Schließlich reicht das hier nicht für alle Ewigkeit!« Die anderen stimmten in sein Gelächter ein. Jeder von ihnen war wahrhaftig königlich belohnt worden. Jeder der Männer konnte mit diesem Reichtum den Rest seines Lebens bestreiten und würde am Ende immer noch mehr als genug besitzen. Söldner waren zwar bekanntermaßen Spielernaturen, doch Albord bezweifelte, dass selbst der Risikofreudigste ihrer Gruppe sein Vermögen in den nächsten Jahren durchbringen konnte. »Kennen diese Hampelmänner eigentlich den Weg zum Stadttor?«, murrte Orlif und deutete auf die sechs Wachen in ihren Rüstungen, die ihre Eskorte bildeten. Ernst dreinblickend und stumm liefen sie in einem so perfekten Gleichschritt, wie ihn nicht einmal Hauptmann Dumon mit seinem strengen Training bei seinen Leuten hätte einüben können. »Kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis wir da ankommen. Und mein Gepäck wird auch nicht leichter.« »Wenn euch die Säcke zu schwer werden«, scherzte Albord, »dann werde ich sie gern für euch bewachen, bis ihr wieder mal aus Westmarch herkommt.« Wieder begannen die Männer zu lachen. Albord fühlte, dass sie ihm schon bald fehlen würden. Doch seine Aussichten waren besser, wenn er bei seinem Hauptmann blieb. Ihm war immer eine gewisse Größe bei ihm aufgefallen, und dieses Gefühl hatte 281
sich »un mehr als bewahrheitet. »Da ist ja das Tor!«, rief einer der anderen. »Von dort ab nur noch eine Stunde, und wir können wieder die Sonne sehen! Das wird ein willkommener Anblick sein!« Auf Albord wirkten die Stadttore äußerst imposant. Als die Gruppe das erste Mal hergekommen war, um sich in den Ruinen umzusehen, waren die Tore noch geschlossen, fast so, als versuchten sie, die Geheimnisse von Ureh zu beschützen. Da waren sie noch verrostete Relikte gewesen, doch nun gaben die Tore in ihrem neuen Glanz ein beeindruckendes Bild ab. Sie ragten mindestens zwölf Fuß hoch und waren so dick, dass sie eine ganze Armee daran hätten hindern können, in die Stadt zu gelangen. So wie beim Portal zum Palast wurde auch dieses Stadttor von gewaltigen Erzengel mit Schwertern geschmückt, aber auch sie waren von einer unbekannten Kraft massiv beschädigt worden. Beiläufig fragte sich Albord, wie es zu diesen Spuren von Gewalt gekommen sein mochte. Hatte irgendein Vasall des finsteren Gregus Mazi es sich auf die Fahne geschrieben, die Symbole himmlischer Macht zerstören zu wollen? Die Ehrenwache stoppte am Tor und drehte sich so, dass die Männer die abreisenden Soldaten ansehen konnten. Ihre ernsten, fast schon ausdruckslosen Gesichter reizten Albord, sein Schwert zu ziehen, doch im letzten Moment erkannte der weißhaarige Kämpfer, wie töricht das ausgesehen hätte. Dann machte sich eine ungewöhnliche Stille breit, die umso auffälliger war, da aus der Ferne nach wie vor der Lärm der Festlichkeiten zu hören war, die begonnen hatten, seit der magische Edelstein von Hauptmann Dumon auf dem Gipfel in Position gebracht worden war. Albord sah sich um und stellte fest, dass alle Versammelten ihre Blicke auf ihn gerichtet hatten. 282
Jodas und die anderen bemerkten offenbar nichts Ungewöhnliches, sondern machten sogar einen etwas ungeduldigen Eindruck. »Zeit, sich zu verabschieden, Alby. Wir müssen jetzt los ...« Der junge Söldner kehrte mit seinen Gedanken ins Hier und Jetzt zurück, um sich von den abreisenden Kameraden zu verabschieden und ihnen die Hand zu reichen und dem einen oder anderen einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter zu geben. Albord kämpfte mit den Tränen und stellte amüsiert fest, dass es Jodas und Orlif und auch den übrigen nicht anders erging. »Es ist wohl besser, wenn du gehst, bevor wir durch das Tor marschieren«, schlug Jodas vor, während sich die Ehrengarde daranmachte, das Portal zu öffnen. »Viel Glück und alles, was dazugehört.« Bei vielen Söldnertrupps gab es den einen oder anderen Aberglauben, und einer, der unter den Männern aus Westmarch kursierte, besagte, dass man seine Kameraden am ehesten dann wiedersehen würde, wenn man ihnen nicht zuschaute, wie sie durch ein Tor davongingen. Sie dabei zu beobachten, hieß dagegen, sie vielleicht niemals wiederzusehen. Söldner führten ein gefahrvolles Leben, weshalb sie sich jeden Glauben zu Herzen nahmen, der ihnen beim Überleben half. Und Glaube war auch der entscheidende Grund dafür, dass ihr Hauptmann und sein Stellvertreter von vornherein im Palast geblieben waren. Nachdem er den sechs Männern ein letztes Mal gewunken hatte, machte Albord kehrt. Da er sich noch immer nicht sicher war, ob er seine Gefühle tatsächlich wieder im Griff hatte, sah er sich nicht um und ging davon aus, dass die anderen sich ganz genauso verhalten würden. Der anhaltende Lärm der Feierlichkeiten in den Straßen begann, an seinen Nerven zu zehren, zumal er im Moment keinen Grund hatte, sich über irgendetwas zu 283
freuen. Selbst der Gedanke an seine eigene Zukunft in Ureh konnte seine Stimmung nicht aufheitern. Immer lauter und lauter wurden die Feiernden, und der ohrenbetäubendste Lärm kam aus der Richtung, in die seine Kameraden gegangen waren. Albord beschleunigte seine Schritte. Er war sicher, er würde wieder zur Ruhe kommen, wenn er erst einmal in den Palast zurückgekehrt war. Dort würden ihm all die guten Gründe wieder einfallen, warum er nicht mit Jodas und den restlichen Männern fortgegangen war. In diesem Augenblick erhob sich kaum wahrnehmbar eine Stimme über den ausgelassenen Jubel, die Albord aufhorchen ließ. Er hielt inne und versuchte das eben Gehörte zu verstehen. Die Stimme hatte nach der von Orlif geklungen, und der Mann hatte eindeutig den Namen des weißhaarigen Kämpfers gerufen. Albord machte einen Schritt in Richtung des Palastes von Juris Khan, doch die plötzliche Unsicherheit ließ ihn erneut stocken. Was würde es schon ausmachen, wenn er umkehrte und nach dem Rechten sah? Wenn er wirklich Orlif gehört hatte, musste der einen triftigen Grund haben, nach ihm zu rufen. Sollte er sich geirrt haben, würde es keine Gefahr und keine Schwierigkeiten geben, denn inzwischen mussten die sechs längst das Tor passiert haben. Er machte kehrt, da er sich sagte, dass er allenfalls ein oder zwei Minuten brauchen würde, um festzustellen, ob er Orlif tatsächlich gehört hatte oder nicht. Dann konnte er zumindest sicher sein, alles ihm Mögliche unternommen zu haben. Die Feierlichkeiten hatten eine solche Lautstärke erreicht, dass es ihm in den Ohren schmerzte. Machten diese Menschen denn niemals eine Pause? Hatten sie überhaupt nichts anderes zu tun als unentwegt zu feiern? Zugegeben, sie hatten allen Grund, 284
glücklich zu sein, doch selbst ein Söldner konnte von Zeit zu Zeit ein wenig Ruhe und Frieden gebrauchen. Je eher Albord in den Palast zurückkehrte, umso besser. Dort konnte er wenigstens diesem sorglosen Wahnsinn entkommen, der die ganze Bevölkerung erfasst hatte. Ein kurzer Schrei bahnte sich den Weg an seine Ohren. Der junge Kämpfer zog sofort das Schwert und rannte in Richtung Stadttor. Vielleicht hatte er sich ja geirrt, doch er hätte schwören können, dass der Schrei so klang, als habe Jodas ihn ausgestoßen. Albord stürmte um die letzte Biegung ... und sah sich »einem Meer aus schaurigen, torkelnden Leibern gegenüber, leeren Körperhüllen, die zusammenschwärmten wie eine gefräßige, aggressive Fischart, die er in den Flüssen des Dschungels gesehen hatte. Die Gestalten, die zerlumpte und verschmutzte Kleidung trugen, kämpften miteinander, da jede von ihnen versuchte, etwas in ihren Besitz zu bringen, das sich in ihrer Mitte befand. Ihre runden Mäuler öffneten und schlossen sich unablässig, und jedes Mal blitzten die scharfen Zahnreihen auf. Einige hatten sich von der Masse gelöst und hielten in ihren knorrigen Händen blutige Stücke Fleisch, von denen sie immer wieder abbissen. Inmitten der Menge kämpfte sich eine menschliche Gestalt nach oben. Albord sah, dass es sich um Orlif handelte, dessen Gesicht zerfetzt war. Die Arme waren mit seinem eigenen Blut bedeckt, und er versuchte verzweifelt, sich mit dem Schwert den Weg in die Freiheit zu bahnen. Voller Entsetzen sah Albord, dass die andere Hand des Söldners fast komplett abgerissen oder weggebissen worden war. Orlif bemerkte ihn und warf Albord einen flehenden Blick zu, der ihn mehr ängstigte, als er es für möglich gehalten hätte. Plötzlich zog etwas aus der Masse an dem älteren Kämpfer, 285
und von einem verzweifelten und hoffnungslosen Schrei begleitet, wurde Orlif wieder nach unten gerissen. »Nein!« Der Ausruf war Albord über die Lippen gekommen, noch bevor er sich davon hätte abhalten können. Leere Augenhöhlen richteten sich auf den fassungslosen Soldaten, und die geisterhaften Gestalten begannen, sich ihm zuzuwenden. Endlich erlangte Albord wieder die Herrschaft über seine Sinne zurück, machte kehrt und rannte so schnell wie möglich davon. Während sich die blutige Szene vor seinen Augen abgespielt hatte, waren weiter unablässig Musik, Jubel und Lachen zu hören gewesen. Albord sah nach links und rechts, während er weiterlief, doch von den Feiernden war keine Spur zu entdecken. Es war fast so, als würde eine Geisterstadt feiern. Plötzlich versuchte eine der grotesken, torkelnden Gestalt, die aus einer abzweigenden Gasse geschossen kam, nach ihm zu greifen. Albord machte einen Satz zur Seite und schlug im Laufen mit dem Schwert nach dem Angreifer. Die scharfe Klinge schnitt sich durch eines der Handgelenke und trennte die verweste Klauenhand ab. Von diesem Verlust völlig unbeeindruckt, stellte der teuflische Widersacher dem Söldner weiter nach. Der Palast! Wenn er es zum Palast schaffte, dann – davon war Albord überzeugt – war er in Sicherheit. Hauptmann Dumon würde dort sein, und der würde wissen, was zu tun war. Noch während er weiterlief, begann sich die Stadt um ihn herum zu verändern und wurde mit jeder verstreichenden Sekunde so verzerrt und tödlich wie ihre Bewohner. Die Gebäude zerfielen oder stürzten in sich zusammen, und von den Dächern ergoss sich eine Flüssigkeit über aufgerissene Mauern und in ausgedörr286
te Erde, die so dicklich wie Blut war. Der Himmel nahm eine kränkliche Farbe an, und der Gestank von verwesendem und verbranntem Fleisch stieg dem jungen Kämpfer in die Nase. Der in der Ferne gelegene Palast des Juris Khan schien von diesen Veränderungen nicht betroffen zu sein, sodass sich Albord auf diesen einen normalen Punkt in einer ansonsten vollkommen verrückt gewordenen Welt konzentrierte. Mit jedem Schritt kam er seiner Errettung näher und näher. Doch dann musste er zu seinem Entsetzen sehen, dass ihm der Weg abgeschnitten worden war. Eine Horde verwester, hungriger Leichen kam ihm langsam und zielstrebig entgegen, und zwar genau aus der Straße, die zu den Stufen zum Palast hinauf führte. Die Gestalten rissen gierig die Mäuler auf, da sie ein neues Mahl entdeckt hatten. Der Gestank, der ihm von der Horde entgegenschlug, ließ in dem panischen Kämpfer Übelkeit aufkommen. Er musste sich mit aller Macht daran hindern, auf die Knie zu sinken und sich zu übergeben. Albord sah nach links und entdeckte eine freie Gasse, in die er ohne zu zögern rannte, da er hoffte, dort entlang einen anderen Weg zu finden, der ihn zu den Stufen führte. Aus dem Schatten heraus packte etwas seinen Arm, und im nächsten Moment sah sich Albord einem Ghul gegenüber, der eine Verhöhnung einer weiblichen Gestalt darstellte, eine ausgetrocknete Hülle, die die Fetzen eines einst wohl sehr femininen und sehr offenherzigen Kleides trug. Einzelne Haarsträhnen hingen über dem grässlichen Gesicht, der Mund war in freudiger Erwartung weit aufgerissen. »Komm, hübscher Soldat«, krächzte der Leichnam mit einer Stimme, die geradewegs aus dem Grab zu kommen schien. »Komm und spiel mit Nefriti ...« 287
»Lass mich los, Höllenbrut!« Albord holte blindlings nach dem Dämon aus, fügte ihm aber nur oberflächlichen Schaden zu. Er landete einen Treffer am Arm, doch ihm fiel ein, dass sich die vorangegangene Kreatur davon schon nicht hatte beeindrucken lassen, also zielte er auf den Hals. Die Klinge schnitt sich durch die verkrustete Haut und durch die trockenen Knochen, als handele es sich um Pergament. Der Kopf des Dämons fiel auf die Straße und rollte ein Stück weit. Nachdem er sich einige Male um die eigene Achse gedreht hatte, blieb er so liegen, dass das seelenlose Gesicht auf den Kämpfer gerichtet war. »Nefriti sehnt sich nach deinem Kuss«, spottete der Kopf. »Komm und küss Nefriti ...« Immer wieder ging der Mund auf und zu. Zu Albords Entsetzen zerrte der kopflose Körper weiter an ihm. Es gelang ihm, sich zu befreien, worauf er die Klinge durch den Torso jagte, der endlich in sich zusammensackte. Der verzweifelte Söldner setzte unverzüglich seine Flucht fort. Die Gasse führte zu einer weiteren Hauptstraße, die zum Glück frei von wandelnden Leichen war. Albord hielt kurz an, um zu Atem zu kommen und sich für die beste weitere Vorgehensweise zu entscheiden. Der Palast hoch oben auf dem Hügel wirkte jetzt näher und ließ ihn neuen Mut schöpfen. Wenn er nur diese unselige Horde umgehen könnte, würde er es zurück schaffen. Das Schicksal von Orlif vor Augen rannte der junge Söldner so schnell in Richtung des Hügels, wie er nur konnte. Jetzt ahnte er, was mit den drei Vermissten geschehen sein musste. Dies war ganz sicher das Werk des Hexenmeisters, von dem ihr Gastgeber gesprochen hatte. Zwar hatte der Herrscher von Ureh behauptet, 288
er habe den schändlichen, ruchlosen Gregus Mazi vernichtet, doch Albord hatte schon zur Genüge erlebt, wozu Hexenmeister in der Lage waren, um zu wissen, dass sie perfekte Illusionen erschaffen konnten. Zweifellos hatte Mazi seinen früheren Herrn in dem Glauben bestärkt, er sei tot, und war nun zurückgekehrt, um Rache zu üben. Hauptmann Dumon und die anderen mussten gewarnt werden ... Gelächter und Musik strapazierten nach wie vor seine Ohren, doch inzwischen hatte der Lärm einen so wahnsinnigen Klang angenommen, als wären die Feiernden Insassen eines Irrenhauses. Albord hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch er fürchtete, dass er dann langsamer geworden wäre, selbst wenn es nur den Bruchteil einer Sekunde ausmachte. Die Geräuschkulisse traf ihn bis tief in seine Seele, und sie erfüllte ihn mit dem gleichen Entsetzen wie die dämonischen Horden hinter ihm. Als der Fuß des Hügels in Sichtweite kam, beschleunigte er seine Schritte noch einmal. Nur noch ein kurzes Stück ... Sein Stiefel blieb an etwas hängen. Albord stolperte und fiel der Länge nach auf das Steinpflaster der Straße. Sein ganzer Körper war von einem so heftigen Schmerz erfüllt, dass ihm für einen Augenblick schwarz vor Augen wurde. Er zwang sich, bei Bewusstsein zu bleiben, und sah seine Klinge einige Fuß entfernt liegen. Während er nach ihr griff, begann er, wieder aufzustehen. Erst da wurde ihm bewusst, dass er nicht länger allein war. Sie kamen aus allen Gassen, aus den zerfallenen Gebäuden und die Hauptstraße entlang. Sie bewegten sich wie ein Mann, und sie hatten nur eines im Sinn. Schritt für Schritt kamen sie 289
näher, die Arme nach ihm ausgestreckt ... Albord wirbelte herum und musste erkennen, dass jeder nur denkbare Fluchtweg abgeschnitten war. Überall befanden sich die Leichname, die nach ihm gierten. Sehnsüchtig sah er zu den Stufen, die hinauf zum Palast führten. Er war nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt, doch er wusste, er war ohne Chance, sie zu erreichen. Merkwürdigerweise hörte er auf einmal Hauptmann Dumons Stimme in seinem Kopf. Wenn möglich, bring den Kampf zum Feind. Es ist besser, zu kämpfen und schnell zu sterben, anstatt auf das Unvermeidliche zu warten. Dumon hatte ihm das schon früh ans Herz gelegt. Von ihm wusste er auch, dass für den größten Teil der Söldner der Tod ein unausweichliches Schicksal war. Er umfasste sein Schwert fester, hob es hoch über sich, stieß dann einen Kampfschrei aus und stürmte los. Als er mit den Leichnamen in der vordersten Reihe zusammenprallte, fraß sich seine Klinge durch vertrocknetes Fleisch und spröde Knochen. Verweste Gliedmaßen wirbelten durch die Luft, und etliche der wandelnden Kadaver gingen zu Boden. Ein Stück weiter lockte unverändert der Palast, der ihn anfeuerte, sein Bestes zu geben. Die Leichname bekamen seinen freien Arm zu fassen, dann seine Beine. Sein Gesichtsfeld war ausgefüllt von grotesken Gesichtern. Irgendjemand entriss ihm sein Schwert, und dennoch kämpfte sich Albord noch weiter voran, einen Schritt, dann noch einen ... Schließlich aber hatten sie ihn überwältigt. Monströse Fratzen starrten ihm entgegen, ihre abscheulichen Mäuler gierig aufgerissen. Albord schrie. 290
In der großen, stillen Bibliothek saß Quov Tsin über die Bücher gebeugt, die über Jahrhunderte hinweg von Khans Vorgängern zusammengetragen worden waren. So schön die Lobpreisungen der Höflinge von Juris Khan auch gewesen waren, so liebte der runzelige Vizjerei seinen Beruf noch viel mehr. Und doch konnte er sich nicht so konzentrieren wie üblich, was er den dummen Söldnern zu verdanken hatte. Hauptmann Dumon und dieser Riese, Gorst, hatten in ihm leise, aber beharrliche Zweifel aufkommen lassen, was den Wahrheitsgehalt der Geschichten anging, die ihr Gastgeber erzählte. Tsin mochte es nicht, an etwas zu zweifeln. Lord Khan hatte ihm die gesamte Bibliothek geschenkt und ihn zum obersten Hexenmeister des sagenumwobensten aller Königreiche gemacht. Eine solche Macht konnte dafür sorgen, dass der Vizjerei als der Größte seiner Art bekannt wurde! »Verdammt sollt Ihr sein, Dumon!«, murmelte Tsin, während er die Seite umblätterte. »Verdammt sollt Ihr sein, weil Ihr keine Ruhe geben könnt ...« »Stimmt etwas nicht, Meister Tsin?« Der Hexenmeister zuckte zusammen und warf dem Ruhestörer einen finsteren Blick zu, bis er erkannte, dass es der väterliche Juris Khan war, der da vor ihm stand. »Nichts ... nichts von Bedeutung, Mylord.« Khan lächelte selig. »Ich bin sehr froh, das zu hören. Ihr habt so viel für das Königreich getan – und vor allem für mich –, da würde es mir Sorgen machen, wenn Ihr nicht glücklich wärt.« Quov Tsin erhob sich und betrachtete verstohlen seinen gütigen Gastgeber. Wie sollte den Verdächtigungen des Hauptmanns irgendwelche Bedeutung beizumessen sein? Dieser Mann ent291
sprach in absolut jeder Hinsicht der Legende, die der Hexenmeister über Jahrzehnte hinweg so gründlich studiert hatte. Sicherlich war er, Tsin, besser in der Lage, eine Situation einzuschätzen, als es ein liebeskranker Draufgänger wie Kentril Dumon vermochte! »Ich bin über Eure großzügige Belohnung zutiefst erfreut, Mylord Khan, und ich weiß, dass ich mein Leben in Euren Dienst gestellt habe, ganz gleich, in welcher Funktion als Hexenmeister Ihr mich benötigt.« »Dafür bin ich Euch sehr dankbar, Vizjerei. Das ist auch der Grund, warum ich gekommen bin, um allein mit Euch zu sprechen.« Tsin kniff seine schmalen Augen noch ein wenig mehr zusammen, bis nur noch winzige Schlitze zu sehen waren. »Mylord wünscht meine Hilfe?« »Ja, Meister Tsin ... genau genommen kann ich ohne Euch nicht darauf hoffen, Ureh zu retten.« Diese Worte erfüllten den kleinwüchsigen Zauberkundigen mit immensem Stolz. Genau genommen kann ich ohne Euch nicht darauf hoffen, Ureh zu retten. Das war ein Herrscher, der seine Fähigkeit zu schätzen wusste! Die Befürchtungen, die der Söldnerhauptmann ausgesprochen hatte, gingen mit jedem verstreichenden Moment mehr in Rauch auf. »Ich stehe Euch voll und ganz zur Verfügung, Lord Khan ...« Der große Monarch legte fast kameradschaftlich einen Arm um die Schultern des Hexenmeisters. »Wenn Ihr Euch dann für eine Weile von diesen Büchern losreißen könntet, ich möchte Euch etwas zeigen.« Damit war ihm Tsins Aufmerksamkeit endgültig gewiss. »Aber selbstverständlich.« Juris Khan führte ihn von der Bibliothek fort. Während sie 292
nebeneinander durch die Korridore gingen, erklärte der Monarch von Ureh einige historische Aspekte des heiligen Königreichs und erzählte, wie dieser und jener Vorfahr dazu beigetragen hatte, das Reich ein Stück mehr dem höchsten Ruhm entgegenzuführen. Quov Tsin, der wusste, dass sein Gastgeber mit diesen Schilderungen lediglich die Zeit überbrücken wollte, bis sie ihr eigentliches Ziel erreicht hatten, achtete fast gar nicht darauf, was der Mann neben ihm sagte. Stattdessen nahm er interessiert die vielen kleinen Details ringsum wahr, so zum Beispiel, wie jede Wache sofort strammstand, sobald sie sich näherten, und wie die Diener völlig ungläubig reagierten, wenn Lord Khan ihnen zunickte. Der ältere Mann war ein strenger Herrscher, doch die Menschen liebten und ehrten ihn. Im Gegensatz dazu waren Kentril Dumons Befürchtungen vollkommen unbedeutend. Tsin bemerkte schnell, dass er in einen Bereich des Palastes geführt wurde, den er noch nicht gesehen hatte. Nahe dem Großen Saal öffnete Juris Khan eine Tür, die so unauffällig war, dass der Hexenmeister sie im Vorbeigehen sicherlich nicht als solche erkannt hätte. Dahinter führte eine schmale Treppe hinunter auf einen Korridor, der von einer undefinierbaren Lichtquellen gerade so matt beleuchtet wurde, dass man sehen konnte, wohin man trat. Tiefer und tiefer drangen Tsin und sein neuer Herr in die unteren Ebenen des Gebäudes vor. Der Vizjerei war zwar davon ausgegangen, dass es im heiligen Palast ein Untergeschoss gab, doch er nahm erstaunt zur Kenntnis, in welche Tiefen er nun geführt wurde. Kerzen, Fackeln oder Öllampen waren nirgends zu sehen, doch die rätselhafte dämmrige Beleuchtung sorgte dafür, dass die beiden ihren Weg nicht in völliger Dunkelheit zurücklegen muss293
ten. Zu seiner eigenen Verwunderung störte sich Tsin nicht an der fast schon finsteren Atmosphäre seiner Umgebung, vielmehr steigerte sie nur weiter seine Vorfreude. Ganz offensichtlich führte ihn Lord Khan an einen Ort von größter Wichtigkeit. Dann fühlte er die rohen, fast chaotischen Kräfte, die auf einmal ins Spiel kamen. Noch bevor sie die dicke Eisentür erreicht hatten, konnte Tsin sich ausmalen, was ihn dahinter erwarten würde. Der wilde Kopf eines Gargoyle hielt in seinem Schnabel einen massiven Ring, der als Türgriff diente. Quov Tsin bewunderte die detaillierte Arbeit, die an dem Kopf geleistet worden war und ihn so realistisch aussehen ließ, dass er fast erwartete, die Kreatur würde nach Juris Khan schnappen, als dieser nach dem Ring griff. »Tezarka ...«, flüsterte Khan, als er den Griff umschloss. Mit einem leisen Stöhnen öffnete sich die Tür langsam und gab den Blick auf das Arbeitszimmer eines großen Hexenmeisters frei. »Meine privaten Räumlichkeiten ... ein Ort der Macht.« Der weitläufige Raum hatte die Form eines Sechsecks und war so immens groß, dass das bescheidene Arbeitszimmer des Vizjerei hier gut ein Dutzend Mal oder mehr hineingepasst hätte. In den Regalen, die jede Wand säumten, drängten sich Behältnisse voll mit Pulvern, Kräutern und anderen seltenen Substanzen. Auf drei großzügig bemessenen hölzernen Tischen lagen etliche Zauberbücher ausgebreitet. Gläser, in denen Proben aufbewahrt waren, deren Herkunft selbst der bewanderte Tsin nicht bestimmen konnte, waren auf einen Tisch rechts von ihm gestellt worden. An verschiedenen Stellen des Raums bemerkte er Runen, die als Schutzzeichen vor möglicherweise fehlschlagenden Zaubern dienten. In der Mitte der Decke hing ein riesiger Kristall, der den gesamten Raum erhellte, und von dem die Kraft ausging, 294
von der Quov Tsin spürte, dass sie alles an diesem Ort hier durchdrang. Den fesselndsten Anblick bot allerdings das gewaltige steinerne Podest in der Mitte des Zimmers. Es reichte fast so hoch, wie der Vizjerei groß war. In die rechteckige Basis waren komplizierte Runen eingeritzt, die zum Teil sogar Tsin fremd waren. Auch die ebene Fläche war mit solchen Zeichen überzogen und wies zudem das Symbol für die Sonne auf. Ohne nachzudenken machte der kleine Vizjerei einen Schritt nach vorn, um das Podest aus der Nähe zu betrachten. Als er mit seinen knochigen Fingern über die obere Kante strich, konnte er die dem Objekt eigenen Kräfte spüren, die in der Vergangenheit angerufen worden waren ... und daraufwarteten, wieder angerufen zu werden. »Das ... das ist sehr alt«, sagte er schließlich. »Dieser Raum wurde aus dem Stein gehauen, lange bevor meine Vorfahren den ersten Gedanken an ein heiliges Ureh hatten. Er wurde geschaffen, lange bevor irgendeines der östlichen oder westlichen Reiche existierte. Er entstand durch die Vorfahren der Rathmianer, meines eigenen Volks, und Eurer ehrenwerte Vizjerei-Bruderschaft, mein guter Tsin. Manchmal frage ich mich, ob diejenigen, die diese Räumlichkeiten in den Fels schlugen, überhaupt menschlich waren oder ob sie himmlische Diener schickten, die den Weg für sie ebneten ...« »Solche Kräfte ...« Sie waren weitaus gewaltiger, als sie Quov Tsins Art selbst in jenen Jahrhunderten besessen hatte, da man Pakte mit mutmaßlich unterworfenen Dämonen geschlossen hatte. »Hier werdet Ihr und werde ich den letzten von Gregus’ Flü295
chen ungeschehen machen, mein guter Freund. Von hier aus will ich Ureh vollständig auf die Ebene der Sterblichen zurückführen.« Tsin glaubte ihm, dass dies möglich sein würde. Derartige Urkräfte waren äußerst schwierig zu kontrollieren, doch wenn Lord Khan das schaffte, was er sich erhoffte, würde alles, was der Hexenmeister in seinem ganzen Leben mitangesehen hatte, dagegen wie das Werk eines Lehrlings wirken. Dies hier war ein Ort wahrer Macht ... »Während ich gefangen war, konnte ich nichts machen«, erklärte sein Gastgeber. »Rein gar nichts. Dennoch überlegte ich mir sehr gründlich, was geschehen würde, wenn jemand käme, der in der Lage wäre, mich zu befreien. Durch den Verrat von Gregus Mazi verlor ich alle meine Hexenmeister, abgesehen von meiner geliebten Atanna.« Seine Miene veränderte sich. »Aber so begabt sie auch ist, so reicht sie doch nicht an Euch heran, Meister Tsin.« Der Zauberkundige nahm diese Aussage unwidersprochen hin. Atanna war tatsächlich begabt, sogar so begabt, dass Tsin sie irgendwann einmal für gemeinsame Nachfahren in Erwägung gezogen hätte, wäre sie nicht bereits in Kentril Dumon verliebt gewesen. Die Kräfte, die hier herrschten, waren mit solcher Vorsicht zu steuern, dass Tsin sicher war, Lord Khans Versuche würden unweigerlich scheitern, wenn er diese Aufgabe ohne die Unterstützung des Vizjerei angehen würde. »In diesem Raum«, flüsterte Juris Khan, der auf einmal hinter dem kleinen Hexenmeister stand, »können wir mit unseren vereinten Fähigkeiten solche Kräfte wirken, dass uns keine Grenzen mehr gesetzt sind, mein Freund. Kräfte, denen noch weit mehr gelingen kann, als Ureh wieder zu einem der großen Königreiche 296
zu machen. Die Geheimnisse der Welt und darüber hinaus können uns gehören, wenn wir bereit sind, Risiken einzugehen.« Quov Tsin konnte sich all den Ruhm und die Macht lebhaft vorstellen. Er strich über die Runen und labte sich an den Kräften, die in jeder von ihnen steckte. Der runzlige Vizjerei malte sich aus, wie sie zum Leben erwachten und seinem Befehl gehorchten ... Dann bemerkte er etwas genau in der Mitte des Podestes, eine Art sonderbaren, beunruhigenden Fleck, den man nicht vollständig hatte wegwischen können. »Was ist das?«, fragte er. Juris Khan warf bestenfalls einen flüchtigen Blick darauf. Sein Tonfall, mit dem er reagierte, ließ erkennen, für wie völlig unbedeutend er es hielt. »Das ist natürlich Blut.«
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Sechzehn Zayl ... Er versuchte, sich zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Zayl ... Er versuchte, zu atmen, doch auch das vermochte er nicht. Zayl ... Ohne seine Ausbildung wäre er jetzt längst tot, da sämtliche Luft aus seinen Lungen gepresst worden war. Zayl, du verdammter junger Narr! Du kannst jetzt nicht sterben, verdammt noch mal! Der Nekromant versuchte, etwas zu sagen, doch obwohl er wusste, dass er den Mund geöffnet hatte, kam kein Laut über seine Lippen. Er strengte sich an, die Augen aufzumachen, doch sie weigerten sich, seinen Bemühungen nachzukommen, bis es ihm unter größten Anstrengungen endlich gelang, seine Lider weit genug zu öffnen, um etwas sehen zu können. Erst dann stellte Zayl fest, dass ihn das gleiche Schicksal ereilt hatte wie zuvor Gregus Mazi. Auch wenn er über eine hervorragende Nachtsicht verfügte, konnte Zayl gerade genug erkennen, um sein schreckliches Schicksal zu begreifen. Er hing von einem Stalaktiten herab, der sich oben in der ersten großen Kammer befand, in die er und die beiden Söldner bei ihrer Exkursion in das Höhlensystem gelangt waren. So wie im Fall des unglückseligen Mazi waren auch Zayls Arme und Beine fest nach hinten gebunden worden, doch anders als bei dem Hexenmeister erfüllte Zayl keinen Zweck. Die Macht, die ihn in diese Lage gebracht hatte, wollte ihn nicht als Wächter 298
für irgendetwas benutzen, sondern sie hatte nur den Tod des Nekromanten im Sinn. Und Zayl würde sterben, sehr bald sogar. Bereits jetzt spürte er, wie sich sein Körper veränderte und zu einem Teil des Stalaktiten wurde. Fremdartige Kräfte bahnten sich ihren Weg durch seinen Leib und veränderten seine Struktur. Sehr bald würde er noch mehr ein Teil des Gesteins sein als Gregus Mazi vor ihm. Doch bevor es dazu kommen konnte, würde er erstickt sein. »Zayl, Jüngelchen! Du musst mich doch sicher noch hören können!« Humbart Wessels hohle Stimme hallte durch die weitläufige Höhle und schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Indem er seine Augen auf das Äußerste anstrengte, gelang es dem Nekromanten, noch gerade eben den Durchgang auszumachen, durch den er zuvor gekommen war. Irgendwo dort lag der Schädel und war auf seine Weise genauso hier gefangen, wie Zayl selbst. Seine Hoffnung, die für einen Augenblick zu einem Höhenflug angesetzt hatte, sank wieder ins Bodenlose, als ihm bewusst wurde, wie wenig Humbart für ihn tun konnte, bestand er doch nur aus einem Schädel. Zayls Überlegungen wurden immer düsterer, er fühlte sich extrem erschöpft. »Wenn du mich hören kannst, ich bin noch genau da, wo du mich hingelegt hast. Erinnerst du dich? Du hast einen scharfen Verstand! Kannst du das Bild vor deinem geistigen Auge sehen?« Was wollte der Schädel damit erreichen? Zayl wollte einfach nur schlafen, und Humbart sollte ihn doch endlich in Ruhe lassen! »Ich glaube, du hörst mir immer noch zu, Jüngelchen. Jeden299
falls hoffe ich das. Mir würde der Gedanke nicht gefallen, für alle Ewigkeit hier liegen zu müssen. Also hör mich an!« Humbarts Stimme begann den Nekromanten zu reizen. Er wollte dem Untoten sagen, er solle von hier verschwinden und ihn in Ruhe lassen, aber ohne seine Beine war Humbart dazu kaum in der Lage. »Dein Dolch, Zayl! Du brauchst deinen Dolch, um dich zu retten!« Sein Dolch! Zayl riss die Augen auf. Hatte er noch seinen Dolch bei sich? Der Schädel beantwortete die Frage bereits für ihn: »Ich kann ihn sehen, Jüngelchen! Er liegt nur ein paar Fuß von mir entfernt!« Ob ein paar Fuß oder einige tausend Meilen, das war in diesem Moment völlig gleich. Hätte der Nekromant ihn sehen können, wäre es ihm wohl möglich gewesen, ihn zu sich zu rufen. Doch Zayl hatte nie gelernt, indirekt Objekte zu sich zu holen, erst recht nicht unter solch verzweifelten Umständen. Er musste das sehen, was er haben wollte. Der Wunsch, ins Vergessen abzutauchen, wurde wieder stärker. »Hör mir zu!«, beharrte der Schädel. »Der Dolch ist auf mich gerichtet, auf der Spitze liegt nur ein wenig Geröll. Im Bereich des Heftes ragt ein Fels nach oben, der so aussieht wie der Zahn eines Riesen ...« Auch wenn Zayl liebend gern geschlafen hätte, hörte er doch zu. Vor seinem geistigen Auge begann ein Bild des Dolches Gestalt anzunehmen. Er konnte jetzt sogar Humbarts Schädel sehen, dessen leere Augenhöhlen hoffnungsvoll auf die Klinge gerichtet waren. 300
Aber warum machte er sich diese Mühe? »Du kannst ihn sehen, nicht wahr, Jüngelchen? Verdammt! Wenn du noch lebst und mich hörst, dann kannst du ihn auch sehen!« Dann endlich begann Zayl zu verstehen. Humbart war bereits lange genug sein Begleiter, um zu wissen, was der Mann, der ihn wiederbelebt hatte, zu leisten imstande war. Er wusste, dass der Nekromant den Dolch sehen musste, also sorgte er dafür, dass dessen Bild in seinem Kopf entstand. Es würde nicht funktionieren, oder etwa doch? Es würde sämtliche noch seinem Körper verbliebene Luft erfordern, alle die winzigen Partikel, die hier und da verstreut waren und die es Zayl erlaubten, vier- bis fünfmal länger als ein normaler Mensch auf das Atmen zu verzichten. Er würde jeden letzten Rest an Luft aus seinen Lungen pressen müssen, um die Kraft für diesen einen Zauber aufzubieten. Unterdessen beschrieb Humbart weiter die Umgebung des Dolches. Offenbar war der Schädel sehr optimistisch, was die Chancen anging. Oder aber er wollte so einfach nur verhindern, über die Alternativen nachdenken zu müssen. Wenn Letzteres der Fall war, dann konnte Zayl es ihm nicht verübeln, denn aufgrund des Zaubers, den der Nekromant angewendet hatte, würde Humbart unter seinem Schicksal ebenfalls zu leiden haben. Wenn nicht irgendjemand den Schädel entdeckte, dann würde der einstige Söldner im Nymyr gefangen sein, und sein Geist würde sich nicht von ihm lösen können. Die einzige andere Möglichkeit war die, dass der restliche Gang auch noch einstürzte und den Schädel zerschmetterte. »Das ist so weit alles, Jüngelchen«, rief Humbart, dessen Stimme etwas gedämpfter als üblich klang. »Du solltest jetzt ein gutes 301
gutes Bild vor Augen haben ... vorausgesetzt, du hast auch nur ein Wort mitbekommen.« Zayl konzentrierte sich auf den Dolch und fügte die Bildelemente zusammen, die der Schädel ihm beschrieben hatte. Er sah den Fels, sah die Klinge, wie sie darauflag. Und er sah Humbarts Schädel, der der teilweise bedeckten Spitze des Dolches zugewandt war. Der Nekromant rief sich jede Stelle der Höhlenwände in Erinnerung, um das Mosaik zu vervollständigen. Mit jedem noch verbliebenen Jota an Kraft konzentrierte er sich auf den verzauberten Dolch und forderte mit Herz und Verstand, dass dieser zu ihm komme. »Zayl!« Etwas Leuchtendes schoss durch die Höhle, als wäre es mit einem Bogen abgeschossen worden. Der gefangene Nekromant lenkte seine ganze Konzentration auf das Objekt, das auf einmal in seine Richtung abbog und in der tödlichen Dunkelheit wie ein Komet wirkte. Der Elfenbeindolch flog unbeirrt auf ihn zu. Für einen kurzen Augenblick musste Zayl daran denken, was sie bei Gregus Mazi hatten tun müssen, um ihn zu befreien. Sollte er den Dolch mit der Spitze voran näher kommen lassen? Sollte sich Zayl wünschen, dass sich die Klinge tief in sein noch menschliches Fleisch bohrte? Doch bei Mazi waren es andere Umstände gewesen. Zum einen war der Hexenmeister mit einer bestimmten Absicht Teil des Stalaktiten geworden, und zum anderen hatte der Zauber Jahrhunderte zur Verfügung gehabt, um sein schändliches Ziel zu erreichen. Anders jedoch bei Zayl. Die Verwandlung hatte eben erst eingesetzt, und mit dem Dolch konnte er sich noch immer vor die302
sem Schicksal bewahren. Plötzlich begann der Dolch zu sinken. Mit Mühe brachte der Nekromant ihn wieder zurück auf seine alte Flugbahn. Seine Konzentration hatte einen Moment lang nachgelassen, doch viel schlimmer war, dass er fühlte, wie ihm der Wille abhanden kam, sein Werk zu vollenden. Komm zu mir, rief er im Geiste. Komm her zu mir. Tatsächlich kam die Klinge näher und bewegte sich dabei so schnell, dass es auf den ersten Blick schien, als würde sie ihn doch umbringen. Erst im letzten Moment änderte der Dolch seine Richtung, flog um Zayl und den Stalaktiten herum und presste sich in die verhärtete Hand des Nekromanten. Sobald das Heft ihn berührte, fühlte der Nekromant, dass er seine Finger bewegen konnte. Er umschloss den Dolch und lenkte seine noch verbliebene Kraft in ihn. Seine Lungen schrien, sein Herz hämmerte wie wild, doch der gefangene Zauberkundige wollte nicht aufgeben. Wie vom Blitz getroffen, zerplatzte mit einem Mal die Hülle, die sich um ihn gelegt hatte. Unfähig, sich zu regen, fiel Zayl wie ein Stein dem Boden entgegen. Hätte er sich an einem Punkt hoch über dem Höhlenboden befunden, dann wäre er beim Aufprall vermutlich umgekommen. Doch der Stalaktit, an den er gebunden gewesen war, hing über dem Abgrund. Das und nur das gab ihm die Möglichkeit, sich ausreichend zu erholen, um sein Leben zu retten. Während er am Vorsprung vorbei in die Tiefe stürzte, schaffte es Zayl, einen Zauber auszusprechen. Im nächsten Moment wurde er von einem heftigen Wind erfasst, der ihn nach oben trug. Es kostete Zayl immens viel Kraft, sich an der Höhlenwand festzuklammern, doch es gelang ihm – und das in letzter Sekunde. Der Zauber ließ abrupt nach und hätte ihn beinahe 303
Der Zauber ließ abrupt nach und hätte ihn beinahe wieder in den Abgrund stürzen lassen. Zayl gelang es, sich über die Felskante zu ziehen, dann sank er auf den Vorsprung nieder. Erschöpfter als je zuvor in seinem Leben, lag er einfach nur da, versuchte zu Atem zu kommen, und fühlte, dass jede Faser seines Körpers sich so anfühlte, als habe jemand den gesamten Berg Nymyr auf ihn fallen lassen. »Zayl?«, hörte er plötzlich eine zaghafte Stimme. »Ich ... ich lebe«, krächzte er. »Bist du sicher?«, fragte Humbart. »Du hörst dich nämlich nicht so an.« »Lass ... mir ... etwas ... Zeit.« »Ich kann warten, ich muss nirgendwohin«, murmelte der Gefährte des Nekromanten. Nach und nach normalisierte sich Zayls Atmung. Noch immer schmerzte sein ganzer Körper, aber wenigstens konnte er sich jetzt wieder bewegen. Im Schein des Dolches erkannte Zayl, dass er nicht unversehrt davongekommen war. Seine Kleidung hing ihm in Fetzen von seinem Leib, und die Hautpartien, an denen der Zauber den Stalaktiten und seinen Körper bereits hatte verschmelzen lassen, waren mit Narben übersät. Zayl war fast sicher, dass sein Gesicht genauso aussehen musste, doch er dankte dem Großen Drachen dafür, dass er mit dem Leben davongekommen war. Auf wackligen Beinen kehrte der Nekromant schließlich in den Gang zurück, in dem sich die Attacke abgespielt hatte. Der Felsrutsch, den er und Hauptmann Dumon vorgefunden hatten, war nahezu verschwunden, als hätte eine gewaltige Kraft ihn weggesprengt. Zayl hielt den Dolch vor sich ausgestreckt, um gewappnet zu sein, falls er aufs Neue angegriffen wurde, doch er 304
konnte keine Gefahr fühlen. Einige Schritte weiter stieß er auf den Schädel. »Oh, Jüngelchen! Am liebsten würde ich ja sagen: ›Schön, dich zu sehen.‹ Aber so schön bist du gar nicht anzuschauen.« »Mag sein, aber ich bin auch noch nicht bereit, mich dir im Leben nach dem Tode anzuschließen, Humbart.« Noch immer kraftlos ließ sich der Zauberkundige auf einem großen Felsblock nieder. »Sag mir ganz genau, was geschehen ist.« »Nachdem sich die beiden bestialischen Hände um dich gelegt hatten, fiel dir die Klinge aus der Hand. Ich befürchtete, die Steinhände könnten dich wie einen Käfer zerdrücken, aber sie bewegten sich an der Felswand entlang in Richtung der Höhle. Sie haben dich einfach durch das Geröll gedrückt und dadurch noch mehr Felsstücke in meine Richtung rollen lassen. Weißt du eigentlich, dass die mich wie ein rohes Ei hätten zerquetschen können?« Zayl konnte die Besorgnis des Schädels nachvollziehen, doch er wollte erst den Rest der Beschreibung hören. »Erzähl weiter.« »Das ist alles. Danach bist du außer Sichtweite gewesen. Dann war ein unheilvoller Lichtblitz zu sehen, und anschließend habe ich mir die Lunge aus dem Hals geschrien. Natürlich nur im übertragenen Sinne.« »Und dafür danke ich dir. Du hast mich gerettet!« Der Schädel schien einen schnaubenden Laut von sich zu geben. »Was sollte ich denn anderes machen? Wer würde mich denn sonst nach draußen bringen, wenn nicht du?« Zayl legte die Stirn in Falten, als er an dem Schädel vorbeiblickte. Was Humbart nicht sehen konnte und offenbar auch nicht ahnte, war die Tatsache, dass tonnenschwere Felsbrocken den Ausgang der Höhle komplett verschüttet hatten. Der 305
Nekromant bezweifelte, mit seinen Händen oder durch Magie einen Weg nach draußen schaffen zu können. Also musste er nach einer anderen Möglichkeit suchen, um das Höhlensystem zu verlassen. »Komm, Humbart«, sagte er und nahm den Schädel hoch, dann begab er sich tiefer in die Höhle. »Du gehst in die falsche Richtung, Jüngelchen.« »Nein, das tue ich nicht.« Nach kurzem Schweigen meinte der Schädel nur: »Oh.« Die beiden erreichten die große Höhle, und Zayl hielt den Dolch ausgestreckt, um sich in alle Richtungen umzusehen. »Wir gehen dort entlang«, sagte er schließlich und deutete auf die Einmündung eines Ganges in der Nähe der Höhlendecke. »Dort entlang? Und wie sollen wir dort hingelangen?« Humbart hatte eine sehr gute Frage in den Raum geworfen. Auf den ersten Blick schien es keine menschenmögliche Methode zu geben, um an dieses Ziel zu gelangen. Zayl durchsuchte die zerfetzten Überreste seines Mantels, musste aber feststellen, dass das Seil verschwunden war, das er beim letzten Besuch in der Höhle benutzt hatte. Doch wenn er sich richtig an den Plan erinnerte, stellte diese Öffnung dort oben im Felsgestein ihre beste Chance dar, den Nymyr zu verlassen. Nach einem Blick auf die glatte Oberfläche des Gesteins, das hinauf zu dem Durchgang führte, holte Zayl einmal tief Luft und erwiderte: »Natürlich indem ich klettere.« »Klettern willst du?« Der Schädel klang zutiefst erschrocken. »Dort hinauf? Zayl, Jüngelchen, glaubst du wirklich ...« Der Rest seines Protests wurde erstickt, da der Zauberkundige den Schädel zurück in die Tasche steckte. Was der Nekromant nicht gebrauchen konnte, waren entmu306
tigende Worte, da sein Vertrauen in die eigenen Kletterkünste ohnehin nicht allzu groß war. Wenn er auf dem Weg nach oben ausrutschte, würde es ihm wohl an einem ausreichenden Willen mangeln, einen Zauber zu wirken, der in der Lage war, jeden Knochen in seinem Leib davor zu schützen, auf dem felsigen Untergrund zerschmettert zu werden. Doch ganz gleich, wie hoch dieses Risiko auch war, er musste es versuchen. Eines hatte Zayl Humbart nicht gesagt, und es war ihm selbst auch erst durch die ernste Lage bewusst geworden, in die er geraten war: Das Geheimnis, das über Ureh lag, würde sich schon zu erkennen geben ... und es war unmöglich, dass es sich dabei um etwas Gutes handelte. Als Gorst zu Kentril kam, sah dieser sofort, dass der Riese nicht sehr guter Dinge war. »Albord ist noch nicht zurück.« Kentril, der noch immer versuchte, seine Galauniform so zurechtzuziehen, dass sie bequem saß, hielt inne und sah seinen Stellvertreter an. »Es ist fast Zeit für das Abendessen. Hast du in seinen Gemächern nachgesehen?« »Aye, Kentril. Seine Sachen sind noch da.« »Vielleicht ist er nur noch ein wenig in der Stadt geblieben, nachdem die anderen aufbrachen. Vielleicht hat ihre Abreise bei ihm Heimweh ausgelöst.« Dem Hauptmann selbst war es so ergangen, als sich seine Männer auf den Weg nach Hause gemacht hatten. Nicht einmal Atannas angenehme Gesellschaft hatte dieses Gefühl völlig verdrängen können. »Mag sein«, brummte Gorst, klang aber von Kentrils Worten genauso wenig überzeugt wie der Hauptmann selbst. Dieses eine Mal wünschte sich Kentril, er müsste sich nicht 307
mit Atanna treffen. Albords Abwesenheit behagte ihm überhaupt nicht. »Sieh dich im Palast so unauffällig wie möglich um. Such überall nach Albord, wo er hingegangen sein könnte. Wenn ich die Gelegenheit dazu bekomme, werde ich das auch tun.« »Aye.« »Und was ist mit Zayl?« »Seine Sachen sind auch da, aber er ist ebenfalls noch nicht wieder aufgetaucht.« Das ließ sogar noch Schlimmeres vermuten als das Verschwinden des jungen Söldners. Zayl war nicht der Typ, der einfach fort blieb, erst recht nicht nach den Bedenken, die er geäußert hatte. »Gorst?« »Ja, Kentril?« »Nimm eine Waffe mit.« Der Riese nickte und schlug mit der flachen Hand leicht auf das Schwert an seiner Seite. »Mache ich immer. Das habe ich von dir gelernt.« Eine Axt mit sich zu führen, hätte zu leicht Misstrauen erwecken können, doch ein Schwert, das in der Scheide steckte, würde nicht viel Aufmerksamkeit erregen. Und das galt auch für die Tatsache, dass der große Kämpfer anscheinend lediglich durch den Palast spazierte. Für einen Fremden war es nur normal, dass er sich in dem gewaltigen Gebäude ein wenig umsehen wollte. Hinzu kam, dass der Mann trotz seiner beeindruckenden Statur wie eine Katze umherschleichen konnte. Gorst wollte losgehen, blieb dann aber noch einmal stehen. »Kentril, wenn ich Albord nirgends im Palast finden kann, soll ich dann in der Stadt nach ihm suchen?« Hauptmann Dumon dachte einen Moment lang darüber nach, 308
antwortete schließlich aber in der Hoffnung, Albord würde ihm diese Entscheidung vergeben können: »Nein. Wenn es dazu kommt, dass wir die Suche auf die Stadt ausweiten müssen, gehen wir gemeinsam oder gar nicht.« Als Kentril wieder allein war, versuchte er, sich fertig anzuziehen, doch diese neuesten Nachrichten behagten ihm keineswegs. Nun waren auch noch der Nekromant und Albord verschwunden. Er war froh, dass wenigstens Jodas und die anderen abgereist waren, bevor auch sie spurlos hätten verschwinden können. Verschwinden? Albord hat die anderen zum Stadttor begleitet ... »Nein!« Kentril vergaß seine Galauniform, er vergaß sogar Atanna, als er aus den Gemächern stürmte und zum nächsten Palastfenster eilte, von dem aus er einen Blick auf die von Fackeln erhellte Stadt werfen konnte. Er starrte hinab zu den im Schatten liegenden Gebäuden, hörte den Festlärm und versuchte sich einzureden, dass sich der entsetzliche Gedanke, der ihm eben durch den Sinn geschossen war, nicht bewahrheitete. Die sechs Männer, die sich zur Abreise entschieden hatten, mussten inzwischen längst die Stadt verlassen haben und würden bereits durch den von der Sonne beschienenen Dschungel ziehen. Zumindest sie würden es in eine relative Sicherheit geschafft haben ... Dennoch wollte ihn der Zweifel nicht loslassen, dass selbst die vernünftigste Erklärung möglicherweise nicht den Tatsachen entsprach. »Atanna!« Sie würde ihm sagen können, was hier vorging. Sie Würde ihm auf die eine oder andere Weise schon zu erkennen geben, ob seine Befürchtungen begründet waren oder nicht. Mit ausholenden Schritten eilte er durch die erhabenen Korri309
dore und ignorierte, dass die Wachen ihm salutierten, sobald er sie passierte. Kentril hatte nur eines vor Augen: Juris Khans Tochter. Und diesmal war es nicht Begehren, das ihn zu ihr trieb. Einer der fast gesichtslosen Diener stellte sich ihm in den Weg, als er sich dem Großen Saal näherte. Ehe der Mann mit der wächsernen Miene etwas sagen konnte, packte Kentril ihn am Kragen und herrschte ihn an: »Wo ist deine Herrin? Wo ist Atanna?« »Was ist denn? Ich bin doch hier!« Erschrocken ließ Kentril den Diener los und drehte sich um. Die wunderschöne Prinzessin mit dem karmesinroten Haar trug ein Gewand ähnlich dem, in das sie gekleidet war, als sie geholfen hatte, ihren Vater von seinem Fluch zu befreien. Weit hinter ihr machte Kentril eine Tür aus, die ihm zuvor noch nicht aufgefallen war. »Was wünschst du, mein Liebster?« Er verspürte den fast übermächtigen Wunsch, sie in seine Arme zu nehmen und all seine Probleme einfach zu vergessen. Doch auch wenn es einfach gewesen wäre, genau dies zu tun, konnte Hauptmann Dumon nicht einfach seine Männer vergessen. Mindestens drei von ihnen waren spurlos verschwunden, und vielleicht galt das auch für sieben weitere Söldner, den Nekromanten nicht eingerechnet. »Wo bist du gewesen?« »Ich habe meinem Vater geholfen«, erwiderte sie beiläufig und schürzte die Lippen. »Du siehst besorgt aus, Kentril. Habe ich dich auf irgendeine Weise beleidigt?« Wieder musste er den Wunsch überwinden, sich einfach in ihr zu verlieren. »Ich möchte mit dir reden.« Er erinnerte sich an den Diener, der sich irgendwo hinter ihm aufhielt. »Unter vier Au310
gen.« »Das sind wir doch«, sagte sie mit einem koketten Lächeln. Der Hauptmann warf einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass der Diener verschwunden war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Diese Dienerschaft war extrem schnell zu Fuß und zudem so lautlos wie die Nacht. Atanna stand im nächsten Moment bereits neben ihm und hakte sich bei ihm unter. »Lass uns ein wenig spazieren gehen.« Sie führte ihn zu dem Balkon, auf dem Lord Khan sich nach seiner Befreiung durch Quov Tsin dem Volk gezeigt hatte. Kentril wollte etwas fragen, während sie durch den Korridor gingen, doch sie legte einen Finger auf ihre Lippen und brachte ihn zum Schweigen, als sei er ein kleines Kind. Beim Anblick ihrer wahrhaft bezaubernden Augen konnte er nichts anderes tun, als ihr zu gehorchen. Die Luft auf dem Balkon war so kalt, dass der Hauptmann zu frösteln begann. Wie sehr freute er sich bereits auf den Moment, da Ureh der Sonne ohne Gefahren ausgesetzt werden konnte und an dem der Schatten des Berges nur das Verstreichen eines weiteren Tages markierte. »Es gefällt mir so sehr, hier draußen zu sitzen«, sagte seine Begleiterin. »Ich weiß, wir befinden uns nur auf einem Hügel, doch mir kommt es wie der Nymyr selbst vor.« Es wäre so einfach gewesen, auf ihre Worte einzugehen und sich von der Atmosphäre mitreißen zu lassen. Doch Kentril widerstand, da es um Menschenleben ging. »Atanna, ich muss mit dir reden.« »Du kleiner Dummkopf! Das tust du doch gerade!« Ihre Worte machten ihn ein wenig ärgerlich. »Das ist nicht der richtige Augenblick für Wortklaubereien, Atanna. Es geht um 311
etwas wirklich Wichtiges! Mindestens drei meiner Männer gelten offiziell als vermisst, und nun ist offenbar auch noch ein weiterer nicht mehr aufzufinden. Zudem bin ich besorgt, was das Wohl der sechs Männer angeht, die abgereist sind, ganz zu schweigen von Zayl. Zu viele Menschen sind einfach verschwunden, und nach meiner Erfahrung heißt das, dass hier irgendetwas nicht stimmen kann.« Sie sah ihn fast vorwurfsvoll an. »Du willst doch damit sicher nicht sagen, dass ich ihnen etwas angetan habe, oder etwa doch?« »Nein, natürlich nicht. Aber etwas stimmt nicht, und ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Nichts ist so, wie es sein sollte. Nicht einmal Gregus Mazi ...« »Gregus Mazi?« Ihr Blick wurde stechend. »Was ist mit dieser Schlange?« Kentril entschied sich, es ihr zu sagen. Atanna konnte unmöglich die Wahrheit wissen. Er fasste sie an den Schultern. »Atanna, dein Vater hat ihn nicht getötet.« »Was soll das heißen? Vater sagte ...« »Hör mir zu!« Er beugte sich vor, damit sie in seinen Augen sehen konnte, dass er die Wahrheit sprach. »Atanna, ich habe ihn gefunden ... Gregus Mazi, meine ich. Man hatte ihn verflucht und zu einem Teil der Höhlen unter uns gemacht, damit er dort als höllischer Wächter weiter existiert.« »Was hast du da unten gesucht? Woher wusstest du, wo du nach ihm suchen musst?« Kentril warf einen flüchtigen Blick über seine Schulter, um sicher zu sein, dass niemand sie belauschte. »Zayl hat es herausgefunden. Er war in Mazis Zuhause und versuchte, den Geist des Hexenmeisters zu beschwören, um ihn zu befragen und ...« Atanna wandte sich ab und murmelte: »Der Nekromant ... na312
türlich, er würde dazu in der Lage sein.« Frustriert drehte Kentril sie wieder so, dass sie ihn ansah. »Hör mir zu! Du kennst deinen Vater von allen am besten. Hat er sich irgendwie anders verhalten? Gibt es irgendetwas an ihm, was dir ungewöhnlich vorkommt?« »Mein Vater ist exakt so, wie ich es von ihm erwarte.« »Aber etwas stimmt hier nicht, Atanna, und das habe ich viel zu lange ignoriert, weil du für mich wichtiger warst. Männer, die sich auf mich verlassen haben, könnten tot sein. Und das, was sie getötet hat, könnte noch immer sein Unwesen in Ureh treiben. Wenn dein Vater ...« Sie legte eine Hand auf seine Wange, liebkoste ihn und machte es für Kentril schwer, sich weiterhin zu konzentrieren. »Nichts kann uns hier etwas anhaben. Dies ist der Palast von Juris Khan. Ich habe dich, du hast mich, und das ist das Einzige, was zählt, nicht wahr?« Wie leicht es doch gewesen wäre, ihr zuzustimmen. Ihre bloße Berührung schlug ihn in ihren Bann und machte alles andere bedeutungslos. »Nein!«, rief er aus und packte sie am Handgelenk. »Atanna! Du musst das ernst nehmen! Ich kann nicht hier bleiben und so tun, als sei nichts geschehen! Ich muss wenigstens Albord und die anderen suchen! Sie ...« »Du kannst nicht gehen! Ich habe dich jetzt, ich werde dich nicht wieder gehen lassen!« Kentril erschrak, als er hörte, mit welcher Vehemenz die junge Frau sprach. In ihren Augen funkelte ein Zorn, den er nicht für möglich gehalten hätte. Sie machte so abrupt einen Schritt nach vorn, dass Kentril unwillkürlich zurückwich. 313
»Ich hatte Vater gefragt, und er sagte, ich könnte dich haben! Ich wollte nur dich, nicht die anderen. Nur dich, verstehst du denn nicht?« Der Zorn hatte wieder nachgelassen, doch an seiner Stelle bemerkte Kentril nun einen Blick, der sich in ihn zu bohren und sein Innerstes nach außen zu kehren schien. Unbewusst machte er noch einen Schritt nach hinten. Dann wurden ihre Züge wieder sanfter. »Es war so einsam ... nur er und die wenigen anderen ... und als sie fort waren, da wollte ich mehr haben.« Kentril fühlte, wie sich ihm jedes einzelne Nackenhaar bei ihren Worten aufrichtete. Als Atanna weiter näher kam, schien der Wind ihre Haar zu erfassen und ließ es wild und sinnlich wehen, während sich ihr wallendes Gewand eng an ihren Körper presste. Sie lächelte ihn an und warf ihm unter halb geschlossenen Lidern einen verheißungsvollen Blick zu. »Ich will dich mit meinem ganzen Herzen, meiner Seele und meinem Leib, Kentril«, schmachtete sie. »Willst du mich denn nicht auch?« Doch, das wollte er. Fast sogar mehr, als er alles andere wollte. Er wollte sich ihr in jeder erdenklichen Weise unterwerfen, er wollte ihr dienen, sie beschützen ... Doch als Juris Khans Tochter ihre Arme nach ihm ausstreckte, veranlasste etwas Kentril dazu, einen schnellen Satz nach vorn zu machen. Der Söldner stieß hart mit Atanna zusammen, die erschrocken keuchte, dann nach hinten wegkippte und über die Brüstung des Balkons stürzte. »Atanna!« Kentril hastete ihr nach und versuchte, sie zu fassen zu bekommen, doch sie war bereits hinter der Brüstung ver314
schwunden. Er stürzte nach vorn und sah nach unten, in der Hoffnung, sie zu entdecken. Doch die Dunkelheit war so vollkommen, dass er nichts erkennen konnte. Er wich zurück, sein Herz raste, als wolle es jeden Moment zerspringen. Es war doch nie seine Absicht gewesen, sie zu töten! Er wollte doch nur die Kontrolle brechen, die sie über ihn hatte. Dass sie so wie ihr Vater Magie beherrschte, war ihm klar. Dass sie es aus Angst, sie könnte ihn verlieren, für richtig hielt, ihn mit einem Zauber zu belegen, war für ihn völlig nachvollziehbar und bewirkte bei ihm nur, dass er sie noch mehr liebte. Wenn sie doch nur zugehört hätte ... Ihr Vater! Ganz gleich, welche Bedenken er in Hinblick auf Lord Khan auch hatte, im Verhältnis zu dieser Situation waren sie bedeutungslos. Wie sollte er dem Herrscher über Ureh gegenübertreten und ihm sagen, seine einzige Tochter sei in den Tod gestürzt, nachdem der Mann, den sie liebte, ihr einen Stoß versetzt hatte? Wie sollte er das nur? Tief in seinem Inneren wusste Hauptmann Dumon, dass sein Verstand noch immer nicht richtig arbeitete. Widersprüchliche Gedanken bekämpften sich gegenseitig und versuchten, die Oberhand über die anderen zu gewinnen. Während ein Teil von ihm wegen Atannas Tod und der Konsequenzen besorgt war, fragte sich der andere Teil unverändert, was mit den Vermissten geschehen war und was es wirklich mit Gregus Mazi auf sich hatte. So oder so würde er Juris Khan aufsuchen müssen. Was Kentril getan hatte, konnte nicht ignoriert werden, er musste Khan Rede und Antwort stehen. Ihm fiel die Tür ein, die er im Korridor ein Stück weit hinter Atanna gesehen hatte, die Tür, durch die sie vermutlich gekom315
men war. Sie hatte gesagt, sie habe eben ihrem Vater geholfen – was den Schluss zuließ, dass er den Monarchen dort finden würde, wohin die Tür führte. Ohne zu zögern verließ der Söldner den Balkon. Im Korridor hallten seine schwere Schritte wider, doch das war das einzige Geräusch, das er hörte. Von den Dienern und Wachen war nichts zu sehen. Hatten sie mitbekommen, was geschehen war, und suchten nun nach dem Leichnam ihrer Herrin? Warum war niemand auf den Balkon gekommen, um herauszufinden, was geschehen war? Diese Frage wurde unwichtig, als er die Tür erreicht hatte. Er riss sie auf und sah, dass eine Treppe in die unteren Ebenen des Palastes führte. Fackeln oder Lampen konnte er keine entdecken, dennoch sorgte ein Beleuchtung aus unbekannter Quelle dafür, dass er ein beträchtliches Stück weit sehen konnte. Einem Reflex folgend zuckte die Hand des Hauptmanns nach dem Schwert, doch dann hielt er sich vor Augen, was eben geschehen war. Wie würde es erst aussehen, wenn er mit gezogener Waffe von Atannas Schicksal berichtete? Als er die Treppe nach unten lief, dachte Kentril einen Moment lang daran, umzukehren und Gorst zu holen. Aber dann entschied er, dass er seinen Freund nicht mit hineinziehen sollte. Diese Sache ging nur Juris Khan und Kentril etwas an. Äußerst besorgt erreichte er den Fuß der Treppe und gelangte vor eine alte eiserne Tür, deren Griff ein Metallring war, gehalten vom Schnabel eines wild dreinblickenden Gargoyles. Da es keinen anderen Weg gab, den er hätte nehmen können, fasste er nach dem Ring und zog daran, ohne dass etwas geschah. Eine kalte, aber sanfte Brise umwehte ihn für einen kurzen Augenblick. 316
Tezarka ... Erschrocken ließ er den Ring los und drehte sich einmal um seine eigene Achse. Kentril hätte schwören können, dass er Atannas Stimme gehört hatte. Doch das war durch seine Tat nicht mehr möglich. Jedes Gefühl, sie könnte anwesend sein, konnte nur mit seinen Schuldgefühlen zusammenhängen. Kentril beschloss, noch einmal an dem Ring zu ziehen. Ihm war zwar bewusst, dass es zu nichts führen würde, aber ... Mit einem leisen Aufstöhnen schwang die eiserne Tür überraschend auf, und Kentril trat über die Schwelle. »Aaah, Dumon! Genau zum richtigen Zeitpunkt!« Mitten in dem Raum hinter der Eisentür befand sich ein gewaltiges steinernes Podest, in das mystische Symbole eingraviert waren. Quov Tsin stand glücklich lächelnd daneben und hielt Hern Söldner fast freundschaftlich eine Hand ausgestreckt entgegen. Die silbernen Runen auf dem Turinnash des Vizjerei strahlten, und der kleine Mann stellte einen so begeisterten Gesichtsausdruck zur Schau, dass er um Jahre jünger wirkte. Verblüfft ging Kentril langsam auf ihn zu. »Tsin? Was treibt Ihr denn hier unten?« »Wir bereiten eine hexerische Leistung vor, die gewaltiger ist als alles, was ich mir je hätte vorstellen können! Ich bereite mich darauf vor, mit Kräften in Berührung zu kommen, mit denen seit Jahrhunderten kein anderer Vizjerei mehr Kontakt hatte, wenn es überhaupt jemals der Fall gewesen ist!« Kentril sah sich um, konnte sonst aber niemanden sehen. Auch wenn er in der Vergangenheit des Öfteren mit Hexenmeistern zu tun gehabt und manche von ihnen sogar in ihrem Arbeitszimmer aufgesucht hatte, erfüllte ihn dieser Raum mit einer unerklärlichen Furcht. »Wo ist Lord Khan?« 317
»Er wird jeden Moment zurückkehren. Ihr könnt ruhig warten. Er möchte, dass Ihr auch dabei seid ...« Kentril achtete nicht weiter auf den Vizjerei. »Ich muss ihn finden ... ich muss ihm erklären, was mit seiner Tochter geschehen ist.« Tsin runzelte die Stirn. »Mit seiner Tochter? Was soll mit seiner Tochter sein? Sie ist vor kurzem von hier weggegangen.« »Ich glaube, der gute Hauptmann fürchtet, meiner geliebten Atanna könnte etwas zugestoßen sein«, dröhnte eine Stimme hinter ihnen. Kentril zuckte zusammen und entfernte sich einige Schritte von der Tür. Juris Khan betrat soeben den Raum und wirkte trotz seines Alters jung und stark. Lord Khan lächelte den erschrockenen Söldner milde an. »Sie hat Euch überrascht. Sie hat Euch dazu gebracht, instinktiv zu reagieren. Atanna kann sehr launisch sein, mein guter Hauptmann. Ihr habt nur so reagiert, wie es richtig war.« »Aber ...« Kentril konnte kaum fassen, dass sein Gastgeber so freundlich über einen so schrecklichen Unfall reden konnte. Auch wenn es eine Erleichterung war, dass der Monarch ihm keine Verantwortung am Geschehenen anlastete, änderte das nichts an der Tatsache, dass das einzige Kind dieses Mannes vom Balkon auf die Felsen hinabgestürzt war. »Aber Atanna ist tot!« Bei diesen Worten begann Juris Khan amüsiert zu lachen. »Tot? Das würde ich nicht sagen. Du bist doch nicht tot, meine Liebste, oder etwa doch?« Hinter ihm betrat Atanna den Raum. Hauptmann Dumon stieß einen erstickten Schrei aus und machte einen weiteren Schritt nach hinten, bis er das Podest erreicht hatte. 318
»Ich wollte dich vorhin auf dem Balkon nicht aufregen«, schnurrte sie, während hinter ihr die Tür von selbst ins Schloss fiel. Als Atanna näher kam, fiel ihm ihr schwankender Gang auf, da ein Bein unübersehbar gebrochen und der Fuß des anderen seitlich verdreht war. Ihr linker Arm war in einem unmöglichen Winkel hinter ihren Rücken gedreht, und der rechte Arm – den sie nach Kentril ausstreckte – mündete in eine Hand, die so zermalmt war, dass sie nicht mehr als Hand zu erkennen war. Ihr Kleid war mit Schmutz überzogen, aber nirgends war ein Tropfen Blut zu sehen. Ihr Kopf war seitlich weggeknickt und wurde nur von den Sehnen in ihrem Nacken festgehalten. »Sehr Ihr?«, fuhr Juris Khan fort. »Vielleicht ein wenig ramponiert, aber ganz sicher nicht tot.«
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Siebzehn Gorst war auf fast jeder Ebene des Palastes gewesen und hatte dabei einige bemerkenswerte Dinge festgestellt. Am auffälligsten war dabei, dass fast alle Bediensteten und Wachleute verschwunden waren. Nur diejenigen, die sich in der Nähe seines Quartiers und von Kentrils Gemächern hatten aufhalten sollen, waren auch tatsächlich zugegen gewesen. Als er heimlich andere Etagen aufsuchte, waren die Korridore und Säle verwaist. Selbst die Schar von Höflingen, die sich im Großen Saal eingefunden hatte, um Lord Khans Ankündigungen zu lauschen, waren nirgends aufzufinden. Es war fast so, als wäre nur das absolut notwendige Personal im Gebäude verblieben. Der Riese hatte seine Suche zwar noch nicht abgeschlossen, inzwischen aber genug gesehen, um zu wissen, dass er seinem Hauptmann besser Bericht erstatten sollte. Kentril würde sich auf all das schon einen Reim machen können. Gorst bewunderte seinen Kommandanten und Freund, und vertraute dessen Urteil praktisch bedingungslos, ausgenommen manche der Aussagen, die Khans Tochter betrafen. In dieser Hinsicht schien es wiederholt so, als habe der Hauptmann den Bezug zu seiner Umwelt verloren. Wenn Atanna allerdings ihre Schönheit so sehr bei Gorst zur Geltung gebracht hätte, wie sie es bei Kentril tat, wäre der Riese vermutlich noch weitaus berauschter gewesen. Schlachten konnten durchaus komplex sein, aber Frauen waren noch um einiges vielschichtiger. Er schlich hinter zwei aufmerksamen, aber ahnungslosen Wachen vorbei, die sich in der Nähe seiner Gemächer aufhielten, 320
dann tat er so, als komme er aus einem Seitengang, und ging gelassen auf sie zu. Zwar konnte er nicht sehen, ob sie ihre Augen in seine Richtung drehten, doch Gorst spürte, dass sie seine Präsenz schwach wahrnahmen. Sie waren gut, aber bei weitem nicht gut genug. Vor Kentrils Räumen angekommen, klopfte er zweimal an. Als keine Antwort erfolgte, machte er sich wesentlich lauter bemerkbar. Noch immer kam kein Reaktion. Auch wenn vieles dafür sprach, dass der Hauptmann sich in Atannas Gegenwart aufhielt, verspürte Gorst dennoch ein gewisses Unbehagen. Er hatte keine Ahnung, was er machen sollte, falls nun auch noch Kentril verschwunden wäre. Natürlich war er fähig, eigene Entscheidungen zu treffen, doch am wohlsten fühlte sich Gorst immer dann, wenn er Befehle erhielt, die er befolgen konnte. Der Riese wollte sich eben abwenden, um sich zu seinem eigenen Quartier zu begeben, als er aus dem Augenwinkel etwas Schwarzes ganz am Ende des Korridors ausmachte. Er sah dorthin, konnte aber nichts entdecken. Doch als Söldner war einem kein langes Leben beschieden, wenn man solche Dinge ignorierte. Die Stelle zu erreichen, ohne die Wachen auf sich aufmerksam zu machen, war für Gorst kein Problem, die Ursache für den kurzzeitigen schwarzen Fleck zu ermitteln, erwies sich als weitaus schwieriger. Gorst begann sich zu fragen, ob er sich möglicherweise doch nur etwas eingebildet hatte, da er keinen Hinweis auf dieses Etwas finden konnten, es sei denn natürlich, es war auf irgendeine Weise mit der Wand verschmolzen ... In dem Moment erkannten die guten Augen des Riesen, dass ein Teil des Türrahmens kleine Wellen warf. Neugierig streckte er seinen Arm aus und tastete die fragliche 321
Region ab. Die linke Seite des Türrahmens verwandelte sich schlagartig in etwas ganz und gar Unnormales, das so heftig Wellen warf, dass es fast schien, als würde er diese Stelle durch fließendes Wasser hindurch betrachten. In der nächsten Sekunde schwand der sonderbare Anblick, und dann nahm vor Gorst der arg ramponierte Leib des Nekromanten Zayl Gestalt an. Der erschrockene Riese bekam den in seine Richtung taumelnden Mann gerade noch zu fassen. Zayl stöhnte leise und klammerte sich mit der wenigen noch verbliebenen Kraft an ihn. »Bringt mich ...«, keuchte der fahle Mann. »Bringt mich ... auf mein ... Zimmer.« Gorst achtete darauf, dass niemand ihn beobachtete, und trug den Zauberkundigen rasch in die Gemächer, die für ihn bereitgestellt waren. Er legte Zayl auf das Bett und sah sich hektisch um, überlegte, wie er dem verletzten Mann helfen konnte. »Macht endlich diese Tasche auf, verdammt noch mal!« Im ersten Moment glaubte Gorst, der Nekromant habe gesprochen, doch Zayl hatte die Augen geschlossen, und er atmete langsam, aber gleichmäßig. Dann erinnerte sich der Riese an den merkwürdigen Gefährten und daran, wo Zayl ihn aufbewahrte. Es war vermutlich gut, dass sich der Schädel zu Wort gemeldet hatte, denn als Gorst nach der Tasche griff, bemerkte er, dass sie so wie die Kleidung des Zauberkundigen in Fetzen gerissen war. Hier und da war etwas von ihrem grausigen Inhalt zu sehen, und Gorst hielt es für pures Glück, dass der Schädel nicht längst herausgefallen war. Behutsam holte er ihn hervor und legte ihn auf den Tisch neben sich. »Danke, Jüngelchen. Eine Zeit lang hatte ich schon nicht mehr 322
daran geglaubt, dass wir es hierher zurück schaffen würden.« Gorst versuchte, sich vor Augen zu halten, dass er mit einem Söldnerkameraden sprach, nicht einfach mit dem Schädel eines beliebigen Mannes, der seit Jahrhunderten tot war. »Was ist geschehen?« »Der junge Mann wollte den Geist des alten Gregus beschwören«, erklärte Humbart Wessel. »Aber als Gregus dann schließlich auftauchte, war er erstens nicht alt, und zweitens war er sehr schlecht gelaunt. Er wollte uns warnen, aber als er sprach, da griffen die Felswände nach dem armen Zayl ...« Humbart berichtete dann von dem grässlichen Schicksal, dem der Nekromant nur knapp mit Hilfe des Schädels entkommen war, sowie von dem mühseligen Aufstieg aus der Höhle und der kräfteraubenden Rückkehr in den Palast. Die Schilderung hätte Gorst als größtenteils erfunden und übertrieben abgetan, wenn da nicht all die anderen Dinge gewesen wären, die sich abgespielt hatten. »Lass dir von niemandem erzählen«, sagte der Schädel abschließend, »dass der junge Mann nicht so geschickt ist wie ein Söldner, nur weil er ein Zauberkundiger ist, Kamerad! Zayl ist ein guter, robuster Mann, den man jederzeit in einer Schlacht an seiner Seite gebrauchen kann.« »Können wir irgendetwas für ihn tun?« »Nun ... sieh zu, ob du eine kleine rote Tasche in den Sachen findest, die er hier gelassen hatte.« Gorst ging die wenigen Habseligkeiten des Mannes durch und fand besagte rote Tasche. Er hielt sie hoch. »Aye, das ist sie. Wenn sie nicht mit Flüchen oder Schutzzaubern belegt ist, dann mach sie auf.« Der Riese gehorchte, begriff aber erst die Bedeutung von 323
Humbarts Worten, als er bereits die Schnüre aufgezogen hatte. Zum Glück wurde er weder von irgendetwas angegriffen noch in Asche verwandelt. »Ist da drin eine kleine Phiole mit einer gelblichen Flüssigkeit?« Das war der Fall, und sie befand sich direkt neben etwas, das wie ein getrockneter Augapfel aussah. Gorst schluckte, dann holte er die Phiole hervor und verschnürte die kleine Tasche sofort wieder. »Flöß ihm den Inhalt ein. Ich habe gesehen, wie er so etwas auch getrunken hatte, nachdem ein mit Domen besetzter Koloss ihn fast in Grund und Boden gerammt hätte. Natürlich konnte Zayl ihn am Ende doch noch in tausend Stücke zerplatzen lassen.« Als Gorst die kleine Flasche öffnete, schlug ihm ein Geruch entgegen, der zu der dicklichen, unangenehmen Flüssigkeit passte. Er rümpfte die Nase und begab sich zu dem bewusstlosen Mann, schob eine Hand unter Zayls Kopf, um ihn ein wenig anzuheben, dann träufelte den Inhalt vorsichtig in den Mund des Nekromanten. Zayl musste einmal husten, schluckte aber die Flüssigkeit. Augenblicklich begann er am ganzen Leib wild zu zucken. Bestürzt und erschrocken wich Gorst zurück. »Ich dachte, du hättest gesagt, dass ihm das hilft!« Der Schädel erwiderte nichts. Dann hörte das Zucken so abrupt auf, wie es begonnen hatte, und Zayl musste wieder husten. Gleichzeitig begannen alle sichtbaren Wunden augenblicklich zu heilen und zu verblassen. Erstaunt sah der Riese mit an, wie der Zauberkundige kurz darauf wieder eine etwas gesündere Gesichtsfarbe bekam, auch wenn es 324
bei seiner üblichen Blässe kaum einen Unterschied machte. Dann war auch die letzte seiner Verletzungen geheilt. Noch immer geschwächt, aber eindeutig auf dem Weg der Besserung sah Zayl den Soldaten an. »Danke.« »Und mir dankt überhaupt niemand?«, knurrte Humbart Wessel. »Es ist nicht meine Schuld, dass ich keine Hände habe, sonst hätte ich dir das Zeug persönlich in den Mund gekippt!« »Ja, dir danke ich auch, Humbart.« Der Nekromant versuchte, sich aufzusetzen, doch es wollte ihm noch nicht gelingen. »Wie es scheint, benötige ich wohl noch ein paar Minuten länger. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn Ihr Hauptmann Dumon zu mir bringen könntet. Es gibt einiges zu bereden.« »Ich kann Kentril nirgends finden«, gestand Gorst ihm ein. »Bis auf Euch konnte ich überhaupt niemanden finden.« Zayl kniff die silbrigen, mandelförmigen Augen zusammen, die den Riesen immer wieder an Quov Tsin erinnerten. »Niemanden?« »Albord wird vermisst. Das hat Kentril so beunruhigt, dass er mich losgeschickt hat, damit ich mich im Palast umsehe. Tsin konnte ich ebenfalls nirgends finden, und abgesehen davon ist außer auf diesem Stockwerk niemand sonst zu entdecken. Scheint so, als wäre der gesamte Palast menschenleer ...« »Ja. Und ich fürchte, das ergibt zunehmend einen Sinn.« Der Schädel reagierte darauf mit einem missbilligenden Schnauben. »Das hast du mir einige Male erzählt, während wir aus dem Nymyr geklettert sind, aber eine Erklärung für deine Worte hast du noch immer nicht geliefert.« Zayl legte die Stirn in Falten. »Das liegt daran, dass ich das Ganze bislang selbst noch nicht völlig verstehe.« Gorst wusste, dass er noch weniger verstand als die beiden, 325
doch in einem Punkt war er sich seiner Sache sicher. Sein Hauptmann war verschwunden, und das konnte seiner Ansicht nach nur eine Vorgehensweise nach sich ziehen. »Ich muss Kentril finden.« »Es wäre wohl besser ...« »Begleitet mich oder lasst es bleiben«, fiel ihm der Riese entschlossen ins Wort. »Aber ich werde auf die Suche nach meinem Hauptmann gehen.« Der Nekromant richtete sich angestrengt auf. »Gebt mir noch ein wenig Zeit, Gorst, dann werde ich Euch nur zu gern begleiten. Ich halte es für das Beste, wenn wir Ureh und dessen düstere Vergangenheit schnellstmöglich verlassen. Dieses Königreich macht auf mich einen alles andere als heiligen Eindruck.« Trotz seiner Unruhe war Gorst einverstanden, noch ein wenig zu warten. Er wusste, dass Magie im Spiel sein musste, und ihm war auch klar, dass er dagegen nur wenig würde ausrichten können. Mit einer Axt oder einem Schwert konnte er sich gegen Widersacher aus Fleisch und Blut bestens zur Wehr setzen, aber der Magie fühlte er sich schutzlos ausgeliefert. Zayl an seiner Seite zu haben, würde für bessere Chancen sorgen. Gorst hatte bereits miterlebt, wozu dieser Mann in der Lage war. Der Nekromant benötigte einige Minuten, ehe er seine Kraft ausreichend erneuert hatte, und ein paar Minuten mehr waren erforderlich, um sich seiner ruinierten Kleidung anzunehmen. Gorst hatte erwartet, er würde sich einfach etwas Neues zaubern, doch Zayl ging zu seinem Gepäck und holte ein Gewand heraus, das mit dem in Fetzen gerissenen fast identisch war. Lediglich der Mantel konnte nicht ersetzt werden. »Wir müssen für dich eine neue Tasche finden«, sagte Zayl zu dem Schädel. »Ich fürchte, ich habe keinen Ersatz, der für dich 326
groß genug wäre, Humbart.« »Ich werde auf keinen Fall hier zurückbleiben. Wenn du nicht ...« Gorst wollte nicht warten, bis die beiden ihre Diskussion beendet hatten. »Ich habe eine ausreichend große Tasche«, unterbrach er sie. »Die könnt Ihr so wie die alte an Eurem Gürtel festmachen.« Zayl nickte. »Dann wird es Zeit, den Hauptmann zu suchen und anschließend diesen Ort zu verlassen.« Zayl kam es vor, als hätte er den Riesen unterschätzt. Gorst war viel klüger und geschickter, als der Nekromant bis dahin angenommen hatte. Die Informationen, die er Zayl über den Grundriss des Palastes geben konnte, passten nicht nur genau zu den Bauplänen, die der Zauberkundige gesehen hatte, sondern sie berichtigten sogar einige Fehler, die sich durch Erweiterungsbauten ebenso eingeschlichen hatten wie durch Irrtümer desjenigen, der für die Erstellung der Pläne verantwortlich zeichnete. Der Söldner hatte sich simpler Tricks bedient, um die Aufmerksamkeit der bewaffneten Wachen nicht auf sich zu lenken. Zayl fand jedoch, diese Vorgehensweise sei viel zu zeitraubend. Dank des Trankes, den Gorst ihm verabreicht hatte – dem er von einigen Inhaltsstoffen besser niemals etwas sagen würde –, fühlte sich der Nekromant fast wie neu geboren. Die Verletzungen waren verschwunden, und das einzige Überbleibsel des verheerenden Endes, das ihn beinahe ereilt hätte, war ein leichtes Zucken in einem Arm. Dennoch fühlte sich der Zauberkundige sicher, dass er nicht nur sich selbst vor den Blicken der Soldaten verbergen konnte, sondern auch den Riesen. Sie würden viel Zeit sparen, wenn sie geradewegs die Wachen passieren konnten, anstatt sich einen Weg suchen zu müssen, an ihnen unbemerkt 327
vorbeizukommen. Auch wenn Gorst offensichtlich nicht so ganz damit einverstanden war, sagte er nichts dagegen, als Zayl begann, seinen Zauber zu wirken. Mit dem Dolch schrieb er flammende Symbole in die Luft, um den Zauber noch stärker zu machen. Dann berührte er den Söldner mit der Spitze seiner Klinge. »Es ist nichts geschehen«, beklagte sich der Riese. »Wir sind beide mit dem Zauber verbunden. Wir können uns gegenseitig sehen, aber sonst kann uns niemand wahrnehmen. Das gilt auch für die normalen Geräusche, allerdings würde ich vom lauten Rufen und vom Niesen abraten, wenn wir die Wachen passieren. Abrupte und laute Geräusche könnten den Schutz durchdringen.« Noch immer ein wenig widerstrebend folgte Gorst ihm nach draußen auf den Flur. Ein Stück entfernt standen die Wachen weiterhin reglos da und starrten den Korridor entlang. Zayl musste unwillkürlich die ihnen anerzogene Disziplin bewundern, die der seinen so ähnlich war. Jeder der acht Männer stand gerade und aufrecht da und hielt entweder eine Axt oder ein Schwert in der Hand. Sie waren so unbeweglich, dass man sie für lebensechte Statuen hätte halten können. Ihre fast identischen Gesichter und die Mienen, die sie aufgesetzt hatten, unterstrichen diesen Eindruck nur noch und waren für Zayl gleich zu Beginn Grund zu der Überlegung gewesen, ob sie möglicherweise alle miteinander verwandt waren. Er und Gorst bewegten sich Schulter an Schulter und Schritt für Schritt weiter. Sie passierten die ersten beiden Wachleute, dann die nächsten beiden, ohne dass irgendjemand von ihnen Notiz nahm. Der Söldner schien sich zu entspannen. Etwas am Gesichtsausdruck des folgenden Mannes ließ Zayl 328
aber innehalten, obwohl sie beide es eilig hatten. Gorst sah ihn besorgt und nervös an, doch der Nekromant ignorierte ihn. Stattdessen betrachtete er vorsichtig die bewaffnete Gestalt und fragte sich, was dieser Mann an sich hatte, das ihn so störte. Er kam nicht dahinter und warf dem Wachmann, der auf der anderen Seite stand, einen Blick zu. Dann wurde ihm auf einmal klar, was ihn so störte, was er aber nicht hatte identifizieren können: Bei keinem der Wachleute war auch nur die winzigste Regung zu sehen gewesen, obwohl Zayl sie über Gebühr lange betrachtet hatte. Ganz gleich, wie gut ein Mann ausgebildet worden war, irgendwann einmal musste er einfach die Augenlider bewegen. Doch genau das tat keine der hiesigen Wachen. Zayl wollte Gorst darauf aufmerksam machen, fürchtete aber, den Zauber damit zu gefährden. Wenn sie sich weit genug von den Männern entfernt hatten, konnte er ihm diese beunruhigende Feststellung noch immer vermitteln. Im Moment war es wichtiger ... Der Nekromant bemerkte, wie einer der Wachleute seinen starren Blick genau auf seine Augen richtete. »Sie können uns sehen!«, rief Zayl. Alle bewegten sich zur gleichen Zeit. Gorst hatte sein Schwert gezogen und war verteidigungsbereit, um sich einem der vier Männer zu stellen, die sich ihnen bereits genähert hatten. Der eine, der Zayl in die Augen gesehen hatte, machte einen Satz nach vorne und holte mit der Axt aus. Die anderen drei begaben sich hinter ihn, ihre Mienen waren gleichermaßen ausdruckslos. Den Dolch vor sich ausgestreckt, murmelte Zayl einen Zauberspruch. Eine schwarze Sphäre nahm Gestalt an und schoss in die Brust des ersten Angreifers. Der Wachmann hielt einen Mo329
ment lang inne, dann wandte er sich wieder Zayl zu. Dieses Ergebnis gefiel dem Nekromanten überhaupt nicht. Noch nie hatte ein Schwächungszauber völlig versagt. Diese Wachen waren nicht einfach nur Männer, die Rüstungen trugen und bewaffnet waren. Und genau deshalb waren sie möglicherweise mehr, als er und Gorst würden bewältigen können. Falls sich der hünenhafte Söldner ähnliche Gedanken machte, ließ er sich davon zumindest nichts anmerken. Während Zayls magischer Angriff versagt hatte, machten Gorsts Geschick und bemerkenswerte Kraft das nun mehr als wert. Der erste Wachmann, der den Kämpfer mit der wilden Mähne erreichte, beabsichtigte ganz eindeutig, ihm mit der Axt den Kopf abzuschlagen. Gorst, der scheinbar schon jetzt unterlegen war, fuchtelte wie wild mit seiner Klinge und schützte sich nicht vor der herannahenden Waffe. Doch als sich die Axt näherte, machte der Riese etwas höchst Erstaunliches. Er ließ die Klinge bis auf wenige Zoll an seine Kehle herankommen, dann packte er mit seiner fleischigen Hand die Axt mitten in ihrer Bewegung und riss sie dem Angreifer aus der Hand. Obwohl der Wachmann bereits entwaffnet war, stürmte er weiter heran. Gorst rammte ihm kurzerhand den Griff der Axt in den Bauch. Das Metall seiner Rüstung verbog sich, und der ansonsten völlig emotionslose Gegner stieß keuchend die Luft aus. Nicht damit zufrieden, seinen Widersacher lediglich dazu zu bringen, zu Boden zu sinken, holte Gorst mit der Axt aus und schlug sie dem Wachmann mit der Breitseite ins Gesicht, das daraufhin ... zerplatzte. Bruchstücke flogen umher, während an der Stelle, an der sich eben noch das Gesicht des Mannes befunden hatte, nun ein 330
schwarzes Loch klaffte. Der Söldner ließ keinen Augenblick zu viel verstreichen, sondern wirbelte die Axt herum und trennte Helm und Nackenschutz vom Rumpf. Die nunmehr gänzlich kopflose Gestalt fiel scheppernd auf den Marmorboden. »Sie leben überhaupt nicht!«, rief Gorst, obwohl diese Feststellung überflüssig war. »Aber sie können gestoppt werden!«, gab Zayl zurück. Nun, da er genauer wusste, womit sie es zu tun hatten, fühlte sich der Nekromant ein wenig wohler. Kein Wunder, dass sein Zauber fehlgeschlagen war! Er hatte ihn auf die Art von Gegner ausgerichtet, der diese Widersacher dem Anschein nach angehörten. Doch dies waren keine Menschen, sondern eher eine Variante von Golems, und als Nekromant hatte er gelernt, wie man mit diesen umgehen musste. Für die Anhänger von Rathma war die Erweckung eines Konstrukts – einer Figur aus Ton, Stein oder einer anderen Substanz – eine Kunst, die mit der Erweckung von Toten eng einherging. In vielerlei Hinsicht war für die Erweckung eines Golems das Gegenteil der Elemente erforderlich, die benötigt wurden, um einen Geist zu beschwören oder einen Leichnam wiederzubeleben. Bei Letzteren holte man etwas ins Leben zurück, das einst gelebt hatte. Bei Ersterem wurde etwas, das nie gelebt hatte, eine Art Leben eingehaucht. In der Hoffnung, nichts falsch zu machen, stieß er die Worte nicht nur in der umgekehrten Reihenfolge aus, sondern sprach sie auch von ihren Buchstaben her rückwärts, um so die gegenteilige Wirkung zu erzielen. Dem Wachmann entglitt sein Schwert ... danach fielen erst die eine, dann die andere Hand, seine Arme, sein Kopf, der Rumpf und die Beine zu Boden. Die Rüstung landete scheppernd auf 331
dem Marmor, und das Gesicht zersplitterte in tausend Stücke, als es auf dem harten Stein aufschlug. Ein zweiter Wachmann erwischte den Nekromanten um ein Haar, als dieser noch damit befasst war, sein Werk zu bewundern. Die Axt verfehlte Zayls Brust knapp, und dem Zauberkundigen blieb nur mit Mühe genug Zeit, um den umgekehrten Zauber erneut zu sprechen – bevor der Wächter abermals zuschlagen konnte. Diesmal jedoch geschah etwas anderes. Der Wachmann verlor seine Axt, seine Bewegungen wurden unkoordiniert, doch er zerfiel nicht so wie der andere. Vielmehr konnte Zayl sehen, wie sich seine Verfassung allmählich besserte und die Bewegungsabläufe wieder fließender wurden. Der Golem hatte sich an den Zauber angepasst. Hinter sich hörte er Gorst aufstöhnen, der mit der Spitze der Axt einen weiteren Widersacher aufgespießt hatte und ihn hochstemmte. Hätte er einen wirklich menschlichen Wachmann vor sich gehabt, wäre dieser längst tödlich verwundet gewesen. Doch der Golem versuchte unbeirrt, weiterhin den Riesen mit dem Schwert zu erreichen. Unter größter Anstrengung benutzte Gorst die Axt, um das eine Konstrukt dem anderen entgegenzuschleudern. Die Wucht des Aurpralls ließ den zweiten Golem zerplatzen, und er ging zu Boden. Der Erste dagegen erhob sich wieder, obwohl an der Stelle ein Loch klaffte, wo sich seine Brust hätte befinden sollen. Er griff nach der Axt seines Kameraden und ging wieder zum Angriff über. Zayl sah sich indessen mit drei Gegnern gleichzeitig konfrontiert. Instinktiv rief er nach der Klaue von Trag’Oul, die ihm in Gregus Mazis Zuhause gute Dienste geleistet hatte. 332
Der Knochenspeer bohrte sich durch den vorderen Golem, dessen Bewegungsfähigkeit er bereits eingeschränkt hatte. Der Schaden, den beide Zauber gemeinsam bei ihm bewirkten, war zu viel für den zum Leben erweckten Wächter. Er fiel in sich selbst zusammen, und so als hätte man ein Kartenhaus umgestoßen, zerbrach der komplette Golem in Stücke. Der Nekromant wusste, dass er die Klaue nicht noch einmal einsetzen konnte, also rief er sofort die Den’Trag, die Zähne von Trag’Oul. Diese Kombination hatte gegen die Bestie in Mazis Arbeitszimmer gewirkt, und hier würde sie ihm sicher ebenso nützlich sein. Doch als der Hagel aus schnellen, todbringenden Geschossen auf das Paar niederging, prallten die meisten einfach von den beiden Golems ab. Der Nekromant konnte kaum glauben, was er mit eigenen Augen sah. Noch niemals hatte er davon gehört, dass die Zähne ihre Wirkung verfehlten. Zwar bohrten sich einige der Geschosse in die beiden Golems, und es war ihnen auch gelungen, den Axtträger zu entwaffnen, doch die Projektile hatten nichts anderes bewirkt, als das Tempo der beiden ein wenig zu verringern. Dann wurde ihm klar, wie sehr sich die Zähne und die Klauen ähnelten. Die Golems hatten sich einfach anpassen können. Zayl verfluchte seine Dummheit, dann suchte er nach einem anderen Zauber, der keine Ähnlichkeiten mit den bislang gewirkten Sprüchen aufwies. Er musste schnell denken, denn auch wenn die Wächter offenbar Respekt vor der Kraft seines Dolches hatten, bedeutete dessen geringe Länge, dass sie mit ihren Waffen immer noch im Vorteil waren. Als sich der Entwaffnete bückte, um seine Axt aufzuheben, schlug der andere mit seinem Schwert mit aller Kraft nach dem 333
Nekromanten. Die Spitze der Klinge kam bis auf einen Zoll an Zayls Kehle heran, woraufhin der Zauberkundige zurückwich und mit Gorst zusammenstieß, der von seinen verbliebenen Gegnern ebenfalls zurückgedrängt worden war. Zayl kam eine Idee, von der er hoffte, sie würde sich nicht als Fehler entpuppen, da er sonst ihrer beider Leben für nichts opfern würde. »Gorst, wir müssen unsere Gegner tauschen!« »Tauschen? Wieso?« »Vertraut mir einfach nur. Auf mein Kommando!« Zum Glück protestierte der Söldner nicht dagegen. Noch immer Rücken an Rücken stehend, konnte Zayl fühlen, wie sich der Riese anspannte und darauf wartete, dass der Zauberkundige den Befehl gab. »Treibt sie drei Schritte zurück, dann dreht Euch nach links!« Zayl machte selbst einen Ausfallschritt nach vorn, was für seine Gegner so unerwartet kam, dass sie ein Stück zurückwichen. Doch der Nekromant wirkte wider Erwarten keinen Zauber, sondern machte das, was er auch Gorst befohlen hatte. Er wirbelte herum und überließ seine Widersacher dem Riesen, während er sich dessen Gegnern widmete. Gleichzeitig drehte sich Gorst und übernahm die Golems, mit denen Zayl bis eben konfrontiert gewesen war. Der Nekromant richtete seinen Dolch auf seine beiden neuen Widersacher und entfesselte abermals die Zähne des Drachen. Die nadelspitzen Projektile bohrten sich durch die Golems, durchlöcherten deren Rüstung und zerschmetterten sie in Hunderte von umherfliegenden Stücken. Zayl stieß einen für ihn untypischen Triumphschrei aus. Wie erwartet, konnten sich die beiden, die ihm bislang nicht gegenübergestanden hatten, nicht an seine Zauber anpassen. Durch den 334
Wechsel der Gegner hatte er ihren Schöpfer überlistet. Doch damit stand Gorst dem Paar gegenüber, das sich bis dahin mit dem Nekromanten befasst hatte. Aus Sorge, die beiden könnten für den Söldner zu viel sein, drehte sich Zayl wieder um, während er bereits einen Zauber formulierte, von dem er hoffte, die Wächter wenigstens noch etwas aufzuhalten. Doch seine Sorge war unnötig, denn Gorst hatte die Situation bestens im Griff – und das galt im wahrsten Sinne des Wortes auch für einen seiner Gegner. Er hatte seine Waffe fallen lassen und hielt den Golem kopfüber über sich. Ohne zu zögern schlug er ihn mit aller Macht auf den Boden auf. Helm und künstliches Gesicht wurden bis zur Unkenntlichkeit zerdrückt, dann warf der kräftige Söldner den Golem fort und wandte sich dem letzten Gegner zu. Obwohl alle anderen seiner Art bereits zerstört waren, versuchte dieses Konstrukt unbeirrt, dem Kämpfer mit seinem Schwert einen tödlichen Hieb zu versetzen. Gorst, der aber weitaus beweglicher war, als sein massiger Körper es vermuten ließ, bekam das Handgelenk des Schlagarms zu fassen und zog mit aller Kraft. Während ihm der Wachmann entgegenstürzte, rammte der Söldner ihm mit solcher Wucht die Faust ins Gesicht, dass es unter dem Aufprall zerplatzte und der Helm am Hinterkopf von innen heraus verbeult wurde. Entschlossen, keinerlei Risiko einzugehen, riss Gorst den Helm herunter und trat dann gegen die Brust der Kreatur. Der letzte Golem fiel rücklings zu Boden und zerbrach, woraufhin die Gliedmaßen in alle Richtungen davonflogen und Teile der Rüstung umherwirbelten. »Und nun?«, fragte Gorst, als er eine der Äxte aufhob. »Wie Ihr schon sagtet: Wir suchen Hauptmann Dumon.« 335
Sie eilten weiter über den Flur. Die herrschende Stille und die menschenleeren Gänge trugen nichts dazu bei, dass sich Zayls Unruhe legte. Der Kampflärm hätte weitere Wachen alarmieren sollen, doch niemand war den Golems zu Hilfe geeilt. Wo waren all diejenigen, die sich bis dahin im Palast aufgehalten hatten? Und vor allem: Wo war Hauptmann Dumon? In einem so weitläufigen Palast mit so vielen Geheimgängen war es doch fast unmöglich, zu ... Was für ein Narr er doch gewesen war! Zayl blieb stehen und wäre von Gorst fast umgerannt worden. »Tragt Ihr irgendetwas bei Euch, das dem Hauptmann gehört? Egal was. Wenn nicht, müssen wir in seine Gemächer zurückkehren.« Der Riese überlegte einen Moment lang, dann hellte sich seine Miene auf: »Ich habe das hier.« Aus einer Tasche holte er ein kleines, rostiges Medaillon hervor, dessen Bild einen bärtigen westlichen Monarchen zeigte. In stark abgenutzter Schrift stand am Rand geschrieben: Für die Ehre, für die Pflicht, für den König und das Königreich. »Kentril bekam es von seinem Vater. Er hat es jahrelang bei sich getragen. Er sagte, es bringe ihm Glück. Er gab es mir, als mir vor gut einem Jahr beinahe der Kopf abgeschlagen worden wäre. Ich hätte Glück nötiger als er, meinte er.« Das war nicht gerade das, was sich Zayl erhofft hatte, doch wenn Gorsts Aura nicht völlig die überdeckte, die von Hauptmann Dumon hinterlassen worden war, dann konnte das Medaillon genügen, um den verschwundenen Söldner ausfindig zu machen. Bedauerlicherweise hatte die wenige, zur Verfügung stehende Zeit auch zur Folge, dass der Nekromant mit einem nicht so präzisen Zauber arbeiten konnte. Das bedeutete, dass sich 336
äußere Einflüsse wie der Wechsel des Besitzers auf das Ergebnis auswirken mochten. Dennoch musste Zayl es zumindest versuchen. Er nahm das Medaillon in die rechte Hand und hielt die Spitze der Klinge über das Zentrum, während er zu murmeln begann. Augenblicklich spürte er ein Ziehen, das aber in Richtung des ihn beobachtenden Gorst ging. Verärgert versuchte Zayl, sich Kentril Dumon so genau wie möglich vorzustellen. Diesmal kam das Ziehen aus einer anderen Richtung, einem Bereich nahe dem Großen Saal, einem Bereich, über den der Nekromant kaum etwas wusste. Er murmelte weiter und konzentrierte sich noch stärker, um eine Bestätigung zu erhalten, dann nickte er Gorst zu. »Habt Ihr ihn gefunden?« Zayl hielt das rostige Erinnerungsstück vor sich und unternahm einen dritten Versuch. Wieder zog ihn die unsichtbare Kraft dorthin. »Er befindet sich höchstwahrscheinlich irgendwo dort drüben.« Gorst hielt die Axt fest umschlossen, während er Zayl folgte, der sich seinerseits von dem verzauberten Medaillon leiten ließ. Während sie weitergingen, bemerkte der Zauberkundige eine befremdliche Besonderheit, die die Fackeln und Öllampen ringsum betraf. Die Flammen zuckten auf eine seltsame Art und Weise, und Zayl fand, dass das Licht dunkler wirkte, als würde ihm irgendetwas die natürliche Leuchtkraft entziehen. Der Weg führte sie zu einer verborgenen Tür, die sie ohne zu zögern durchschritten. Vor ihnen erstreckte sich ein Korridor, der in einen Bereich unterhalb des Palastes mündete, ein Gang, den keiner von beiden auf einem der Pläne gesehen hatte. Gorst gefiel nicht, dass die schwache Beleuchtung von überall und nir337
gends zugleich zu kommen schien, und sogar der Zauberkundige fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Dennoch gingen sie nach unten, da sie mehr als zuvor davon überzeugt waren, dort den Hauptmann zu finden. Am Ende des Gangs angekommen, fanden sie sich vor einer schweren Eisentür wieder. Der Kopf eines furchterregenden Gargoyles, der an die Gestalten außerhalb des Palastes erinnerte, ragte aus der rechten Seite hervor. In seinem schnabelähnlichen Maul hielt er einen großen Metallring. Gorst legte ein Ohr an die Tür, schüttelte dann aber den Kopf. »Nichts zu hören.« Er zog an dem Ring. »Die ist zu schwer für mich. Wenn ich es versuche, reiße ich nur den Griff ab.« »Lasst mich sehen, was ich tun kann.« Zayl ging um den Riesen herum und beugte sich vor, den Dolch weiterhin vor sich ausgestreckt. Er nahm gewaltige Kräfte wahr, nicht nur im unmittelbaren Bereich der Tür, sondern auch dahinter. »Zayl«, sagte der Schädel. »Ich glaube ...« »Jetzt nicht, Humbart. Siehst du nicht ...« Er ließ seinen Satz unvollendet, als auf einmal der Ring aus dem Maul des Gargoyles rutschte. Ein gellender Schrei hallte durch den Korridor. Als der Schnabel nach ihm schnappte, machte der Nekromant einen Schritt rückwärts und stieß mit Gorst zusammen. Im gleichen Moment sprang ihn aus der Tür ein geflügelter und klauenbewehrter Gargoyle in voller Größe an.
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Achtzehn »Atanna ...« Kentril verkniff sich den Rest dessen, was er hatte sagen wollen. Diese grässliche Marionette konnte unmöglich Atanna sein. Den Kopf immer noch komplett zur Seite weggekippt, warf sie ihm ein entstelltes Lächeln zu. »Mein geliebter Kentril ...« Juris Khan legte seinen Arm um sie. Mit einem Gesichtsausdruck, der dem eines liebenden Vaters entsprach, sagte er zu ihr: »Nun, mein Schatz, findest du nicht auch, dass du so hübsch wie nur möglich aussehen solltest, wenn du zu deinem Geliebten gehst?« Der Monarch murmelte Worte von einer Art, wie der Söldner sie noch nie gehört hatte, und trat ein Stück zurück. Eine flammende Korona hüllte seine Tochter von Kopf bis Fuß ein. Atanna erhob sich einige Zoll in die Luft, wobei ihre Beine zu zucken begannen und wieder das Aussehen gesunder Gliedmaßen annahmen. Die klaffenden Wunden im Gesicht und am Körper bildeten sich zurück, bis sie vollständig verschwunden waren. Sogar ihr Kleid nahm wieder sein ursprüngliches, unbeschädigtes Aussehen an. »Olbystus!«, rief Juris Khan aus. Langsam sank Atanna zu Boden. Die strahlende Aura verblasste, und dann stand vor Kentril eine fast vollkommen wiederhergestellte Frau. Fast ... doch der Kopf hing immer noch zur Seite. Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen rückte Atannas Vater ihn zurecht. Muskeln, Adern, Sehnen und Fleisch verschmol339
zen, bis die grässliche Wunde vollständig verschlossen war und nichts mehr auf ihren vormaligen Zustand hinwies. Juris Khan strich ihr durchs Haar, um ein paar Strähnen zu korrigieren. »So, das sieht doch schon viel besser aus.« »Bin ich wieder hübsch, Kentril?«, fragte sie mit einem völlig unschuldigen Tonfall. Er konnte nichts erwidern, nicht einmal einen klaren Gedanken fassen. Verzweifelt sah er zu Quov Tsin, der das alles mit einer Begierde in sich aufnahm, die nichts Gutes verhieß. »Es ist so, wie Ihr gesagt habt«, erklärte der kleine Vizjerei fast schon schmeichelnd. »Die Macht, so gut wie alles zu tun, selbst das Leben zu erhalten!« »Ein Geschenk des Himmels«, sagte ihr Gastgeber. »Ein Geschenk, das mit anderen geteilt werden kann.« »Ein Geschenk des Himmels?«, rief der Hauptmann. »Das ist doch höllisch!« Khan warf ihm einen väterlichen Blick zu. »Höllisch? Aber dies ist Ureh, mein guter Hauptmann! Keine Bestie und kein Diener der Drei Erzbösen kann diesem heiligen Königreich etwas antun. Ist es nicht so, Meister Tsin?« Der Vizjerei rümpfte die Nase. »Denkt nicht so irdisch, Dumon! Könnt Ihr Euch die Macht des Himmels denn gar nicht vorstellen? Glaubt Ihr, die Hölle könnte auf diese Weise Leben bewahren?« »Bewahren? Das nennt Ihr Leben? Sie ist tot, Tsin! Seht sie Euch doch nur an!« »Aber, Kentril, wie kannst du das nur sagen?« Schmollend kam Atanna näher. Ihre Augen funkelten auf die übliche magische Weise, und er fühlte ihre Körperwärme, obwohl sie noch immer einige Zoll von ihm entfernt war. Mit jedem Atemzug 340
hob und senkte sich ihr Busen, sodass sogar Hauptmann Dumon seine eigenen Befürchtungen in Frage stellen musste. »Sehe ich für dich wirklich und allen Ernstes aus, als wäre ich tot?« »Öffnet Eure Augen und Euren Verstand, Hauptmann«, drängte ihn Quov Tsin, der sich den beiden näherte. »Ihr seid mir immer ein wenig intelligenter als die meisten von Eurer Art vorgekommen. Ihr kennt die Geschichten, die Legenden, die man sich erzählt über das Licht unter den Lichtern! Ihr wisst, dass die Erzengel dem Volk große Wunder gewährten und dass sie ihnen Dinge offenbarten, von denen wir nur träumen können!« »Aber ... so etwas?« »Kentril hat allen Grund, skeptisch zu sein«, merkte Juris Khan an, der die Arme ausbreitete, um den gesamten Raum einzuschließen. »Sind es nicht die Erzengel selbst, die uns warnen, damit wir uns vor dem Bösen hüten, das in der Tarnung des Guten daherkommt? Gibt es nicht überall auf der Welt Geschichten über listige Dämonen, die jede Gelegenheit nutzen, um die Menschen zu korrumpieren? Mein guter Hauptmann, die Geschichte von Ureh zu der Zeit, da wir den Weg in den Himmel suchten, untermauert Euer Misstrauen. Wegen der unterschwelligen List und Tücke von Diablo und der vielen niederen Dämonen betete ich für ein Wunder, um einen Weg zu finden, der mein Königreich vollständig ihren bösen Plänen entzog. Zu meinem Glück gewährten mir die Erzengel genau dieses Wunder, doch bis dahin hatten wir mehr als einmal mit verschlagenen Verrätern und finsteren Machenschaften zu tun, die kaum als solche erkennbar waren. Ja, ich beglückwünsche Euch zu Eurer Skepsis, ganz gleich, wie fehl am Platz sie im Moment auch sein mag.« Tsin drehte den Soldaten so, dass dessen Blick auf das Podest gerichtet war. Der Söldner riss die Augen weit auf, als er sah, 341
dass Runen pulsierend aufleuchteten. Der Wunsch, sich so weit wie möglich von diesem Artefakt zu entfernen, überkam Kentril. Doch er wurde nicht nur von dem Vizjerei festgehalten, sondern Atanna stand auch noch direkt hinter ihm. »Der Erzengel, der zu Lord Khan sprach, konnte das Geschehene nicht ungeschehen machen«, erklärte der kleine Hexenmeister. »Doch er offenbarte unserem Gastgeber einen möglichen Fluchtweg für den Fall, dass die richtigen Elemente ins Spiel kämen. Das ist geschehen.« Khan ging um das Podest herum und sah von der gegenüberliegenden Seite zu Kentril. »Ich hatte ursprünglich vorgehabt, Eure glückliche Ankunft dazu zu nutzen, meinen eigentlichen Plan umzusetzen und Ureh endlich in den Himmel aufsteigen zu lassen. Doch Euer guter Meister Tsin konnte mich von der Notwendigkeit überzeugen, auf der Ebene der Sterblichen zu bleiben. Wie sich herausgestellt hat, passt das so perfekt zu den Resultaten meiner Berechnungen, dass ich glauben muss, der Erzengel meinte tatsächlich diesen Weg.« Hauptmann Dumon wusste nicht, was er zu dem Ganzen sagen sollte, also murmelte er nur: »Ich verstehe nicht.« »Das ist doch völlig simpel, Dumon! Ihr Kretin! Der Erzengel wies auf Kräfte hin, die weder an den Himmel noch an die Hölle gebunden sind, Naturkräfte der Welt selbst. Was wäre besser geeignet, um Ureh wieder mit unserer Ebene zu verbinden? Die natürliche Tendenz dieser Kräfte ist die Schaffung eines Gleichgewichts, die Schaffung von Harmonie. Ureh wird wieder völlig real werden, die Bewohner können wieder den Sonnenschein erleben, das Königreich kann mit anderen Königreichen und anderen Reichen in Kontakt treten.« 342
Im Augenblick betrachtete Kentril das keineswegs als den wundervollen Gedanken, den Tsin darin zu sehen schien. In Wahrheit bedauerte er längst, den Edelstein an seinen Platz gesetzt zu haben. Ureh hatte sich nicht als das entpuppt, was er erwartet hatte – genauso wie seine Zukunft nicht seinen Vorstellungen entsprach. »Aber was ist mit Gregus Mazi?«, wollte der Hauptmann wissen und löste sich von Atanna und dem Vizjerei. Er konnte den schrecklichen Anblick nicht vergessen, den er zu sehen bekommen hatte. »Lord Khan hat mir erklärt, was es damit auf sich hatte, Dumon. Ihr hattet nicht Gregus Mazi gefunden, sondern einen seiner Schüler. Er versuchte auch, den Schlüssel zum Schatten zu vernichten, doch ein Schutzzauber legte diesen Fluch auf ihn. Der Kretin hatte sich das selbst zuzuschreiben. Er ist nun ein Wächter, der andere mit gleichermaßen niederträchtigen Gedanken aufhalten muss, um Urehs Hoffnungen zu beschützen ...« Diese Erklärung wies einfach zu viele Ungereimtheiten und Löcher auf, doch für Quov Tsin ergaben Khans Worte offenbar einen Sinn – aber auch nur, weil er nicht dort unten gewesen war. Was nicht für Kentril Dumon galt. Er wusste ganz genau, dass Juris Khan einfach nur eine weitere Lüge von vielen erzählt hatte. Nichts von dem, was der Hauptmann und seine Gefährten von dem heiligen Königreich angenommen hatten, entsprach der Wahrheit. Sie waren gekommen, um eine Legende zu finden, doch tatsächlich hatten sie einen Alptraum entdeckt. »Und was ist mit meinen Leuten, Tsin? Was ist mit Albord und den anderen? Oder mit dem Nekromanten, mit Zayl? Viele gute Männer werden vermisst, und ich habe bislang für ihr Verschwinden keine vernünftige Erklärung geliefert bekommen.« 343
Juris Khan kam um das Podest herum. Mit einem Mal wirkte er größer als zuvor – und unheilvoller. »Das Böse, das Gregus verkörperte, hat auf einige meines Volks abgefärbt, das gebe ich zu. Aber sobald Ureh wieder seinen festen Platz inmitten der Menschheit hat, werden diejenigen zur Rechenschaft gezogen, die diese schrecklichen Taten begingen.« Auch wenn ein Teil von ihm den Worten des älteren Mannes so sehr glauben wollte, hatte Kentril zu vieles gehört, das er nicht akzeptieren konnte. »Tsin, Ihr könnt meinetwegen hier bleiben, wenn Ihr das wollt, aber ich werde aufbrechen ...« Atanna stand auf einmal wieder dicht neben ihm. Der Hauptmann fühlte sich zwischen Verlangen und Abscheu hin und her gerissen. Da stand die Frau seiner Träume an seiner Seite ... die Frau, die er zu Tode hatte stürzen lassen und die auf die groteskeste Weise zurückgekehrt war, die man sich vorstellen konnte. »Aber du kannst nicht gehen, Kentril, mein Liebling. Noch nicht!« Ihre Worte klangen honigsüß, doch sie waren nicht süß genug, um ihn nicht noch misstrauischer werden zu lassen. Wieder wich er vor ihr zurück, zugleich machte er sich bereit, seine Klinge zu ziehen. »Ich gehe jetzt durch diese Tür nach draußen. Und wenn Ihr bei Verstand seid, Tsin, dann werdet Ihr mich begleiten.« »Seid kein größerer Narr als der, für den ich Euch ohnehin schon halte, Dumon. Ich gehe nicht von hier fort, und Ihr könnt es überhaupt nicht. Wir brauchen Euch jetzt mehr denn je.« »Mich brauchen? Wofür?« Der Vizjerei schüttelte ungläubig den Kopf. »Natürlich für den Zauber, Kretin. Ihr seid ein maßgeblicher Bestandteil des Zaubers!« 344
Er sah von einem zum anderen, dann wandte er sich ab und marschierte los. Gegen einen Zauberkundigen hätte sich Kentril Dumon vielleicht noch zur Wehr setzen können. Gegen zwei von ihrer Art hätte er schon einen guten Grund gebraucht, um an seinen Sieg über sie zu glauben. Doch gegen drei Zauberkundige würde nur ein Wahnsinniger antreten wollen. Kentril rannte zur Tür, aber im nächsten Moment bemerkte er, dass er auf das Podest zulief! Er wirbelte herum, doch erneut fand sich vor ihm das Podest. »Hört auf, mit Euren Spielen unsere Zeit zu vergeuden, Dumon!«, herrschte Tsin ihn an. »Es ist ja schließlich nicht so, als wollten wir Euch töten!« Kentril, der sich noch so sehr anstrengen konnte, ohne sich dabei der Tür zu nähern, blieb stehen. »Ihr wollt mich nicht töten?« »Die Menge Blut, die wir benötigen, wird Euch nicht mal ein Schwindelgefühl bereiten, das verspreche ich Euch.« Blut ... »Verdammt sollt Ihr sein!« Das Schwert fest umschlossen, machte Kentril einen Satz nach vorn. Die Waffe verschwand aus seiner Hand und tauchte keine Sekunde später in Juris Khans Hand auf. Fast beiläufig schleuderte Atannas Vater die letzte Hoffnung des Söldners zur Seite. »Mein guter Hauptmann, Ihr versteht fortwährend alles falsch. Ja, es ist erforderlich, dass Ihr Euch auf das Podest legt, doch das ist beim besten Willen nicht als Menschenopfer zu bezeichnen. Lasst es mich erklären ...« Ein Ausdruck, der ihm etwas von einem Heiligen verlieh, legte sich auf sein faltiges Gesicht. »Wir haben es hier mit Kräften zu tun, die 345
Teil und Summe dessen sind, was die natürliche Ordnung bewahrt. In dieser natürlichen Ordnung steht das Leben an oberster Stelle. Blut repräsentiert dieses Leben am stärksten. Das Podest ist der Mittelpunkt, deshalb muss das Blut dort fließen.« Eine zarte, aber kalte Hand berührte Kentrils Wange. Er erschrak und sah neben sich abermals das Wesen, von dem er geglaubt hatte, er würde es lieben. »Und dafür brauchen sie nur ein paar Tropfen. Der Rest, den sie dir abnehmen, mein Liebster, ist für uns bestimmt.« Die Berührung war verlockend und abstoßend zugleich. »Für uns?« »Natürlich, Kentril, mein Liebster! Wenn der Zauber vollendet ist, wird nicht nur Ureh wieder ein Teil der wirklichen Welt sein. Du musst dann auch nie wieder den Tod fürchten. Ist das nicht wunderbar?« Nie wieder den Tod fürchten? Sie würden ihn zu dem machen, was sie war! Wieder unternahm er einen Fluchtversuch, doch sein Körper weigerte sich, seinen Befehlen zu gehorchen. Kentril konnte atmen, er konnte sogar seine Augen bewegen, doch seine Arme und Beine waren wie erstarrt. »Also wirklich, Dumon! Hört endlich auf, uns beide zu blamieren. Ihr werdet doch wohl ein paar Tropfen Blut erübrigen können, um eine Stadt zu retten und das Angebot anzunehmen, das Lord Khan Euch macht. Wenn es mehr als einmal getan werden könnte, dann würde ich es selbst tun!« Mit einer gewissen Befriedigung stellte der Söldner fest, dass wenigstens sein Mund ihm noch gehorchte. »Das dürft Ihr gerne machen, Tsin!« »Bedauerlicherweise muss ich bei diesem Zauber assistieren. 346
Außerdem hat unser werter Gastgeber mir versichert, dass er mir auch diese Gunst erweisen wird, wenn die Kräfte wieder im richtigen Verhältnis zueinander stehen. Im Moment seid Ihr der Glückliche.« Kentrils Beine bewegten sich wieder, jedoch nicht aus freiem Willen. Quov Tsin, der neben dem Podest stand, machte mit seinen Fingern Bewegungen, als würden sie spazieren gehen, und die Beine des Kämpfers vollzogen jede dieser Bewegungen nach. »Verdammt, Tsin! Könnt Ihr nicht begreifen, dass hier etwas nicht stimmt?« Als er sich dem Vizjerei näherte, erkannte er allerdings den glasigen Blick des Mannes. Aus der Nähe betrachtet, wirkte Tsin so, als sei er in eine Trance verfallen. »Nach oben, wenn ich bitten darf«, wies der Vizjerei ihn an. Kentril konnte sich seinen Beinen nicht widersetzen, die ihn auf das Podest brachten. Dann streckten sich alle seine Gliedmaßen so aus, als würden sie von unsichtbaren Fesseln gehalten. Juris Khan baute sich vor ihm auf. In der Hand hielt der Monarch einen Dolch mit schmaler, geschlängelter Klinge. »Habt keine Bedenken, Kentril Dumon. Ureh wird Euch in alle Ewigkeit dankbar sein.« Während Khan die Klinge hoch über seinen Kopf hob und Zauberworte ausstieß, sah der Hauptmann, dass Atanna ihn erwartungsvoll anlächelte. Schon bald würden sie wieder vereint sein ... und er würde so sein wie sie. Der geflügelte Gargoyle kam aus der Tür, und sein ganzer Leib schien dabei dem Eisen zu entspringen. Der Schnabel wurde aufgerissen, ein lautes Brüllen ertönte, und metallene Klauen 347
schlugen nach den beiden Männern. Gorst stellte sich sofort schützend vor Zayl und versuchte, das Ding mit seiner Axt zu töten. Leider prallte aber die Klinge mit einem lauten Scheppern von der Bestie ab, die lediglich ein paar tiefe Schrammen davontrug. »Was sollen wir jetzt machen?«, fragte der Riese. Der Gargoyle maß von der Schnabelspitze bis zu den Hinterläufen gut und gerne acht bis zehn Fuß. Zayl war klar, dass nicht einmal Gorst der Kreatur nahe kommen wollte. Der Wächter würde ihn in Fetzen reißen. »Lasst mich einen Zauber versuchen.« Der Gargoyle ähnelte einem Golem, allerdings besaß er eben die Gestalt eines Tieres. Vielleicht, so überlegte der Nekromant, konnte man ihm auf die gleiche Weise wie einem normalen Golem beikommen. Er ging so vor wie bei den Wächtern und verkehrte den Zauber mitsamt allen Wörtern, um falsches Leben wieder zu einem leblosen Objekt zu machen. Einen Moment lang hielt das Monster inne. Es schüttelte den Kopf, als versuche es, einen klaren Gedanken zu fassen, dann bewegte es sich unbeeindruckt weiter. Zayl und Gorst mussten sich für den Augenblick geschlagen geben und zogen sich nach oben zurück. Der Gargoyle folgte ihnen, machte aber auf halber Höhe auf der Treppe Halt. Dann erstarrte er, den eisernen Blick auf beide Männer gerichtet. »Aha. In erster Linie beschützt er also die Tür«, murmelte Zayl und fragte sich, was er mit dieser Erkenntnis anfangen konnte. Gorst stützte sich auf die Axt und warf der Bestie einen finsteren Blick zu. »Wir müssen nach unten gelangen. Kentril ist ganz sicher dort, und das gefällt mir überhaupt nicht.« 348
Der Nekromant musste ihm, was das anging, zustimmen. Aus welchem Grund sich der Hauptmann dort unten aufhielt, vermochte er nicht zu sagen, doch ganz sicher war die Situation für ihn äußerst ernst. Je länger der Gargoyle sie blockierte, desto wahrscheinlicher wurde es, dass der Hauptmann ermordet wurde ... oder dass ihm etwas noch viel Schlimmeres zustieß. »Was ist da draußen los?«, wollte eine Stimme an seinem Gürtel wissen. Bei allem, was sich zugetragen hatte, war Humbart völlig in Vergessenheit geraten. Natürlich konnte der Schädel nur wenig ausrichten, aber wenn der Nekromant nicht antwortete, würde Humbart keine Ruhe geben. »Wir stehen einem Gargoyle gegenüber, der eine Tür bewacht, von der wir glauben, dass dahinter Hauptmann Dumon zu finden sein wird«, ließ er den Inhalt der Tasche wissen. »Wenn du nicht eine gute Idee beizusteuern hast, dann würde ich vorschlagen, dass du ruhig bist.« Wie üblich nahm der Schädel von Zayls Worten keine Notiz. »Hast du einen von deinen Golem-Zaubern versucht?« »Ja, und er ist fehlgeschlagen.« »Wie wäre es dann ...« Zayl seufzte verärgert darüber, dass sein entleibter Gefährte keine Ruhe geben wollte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Humbart schon in der Vergangenheit manch nützlichen Einfall gehabt hatte. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt! Ich ...« »Nur eine Frage, Jüngelchen! Was ist mit der Eisernen Jungfrau?« »Eiserne Jungfrau?«, wiederholte Gorst, der diese Bezeichnung vermutlich nur in Verbindung mit dem Folterinstrument 349
kannte. »Ein weiterer Umkehrzauber. Warum er überhaupt erwähnt wird, ist mir ...« Der bleiche Nekromant stockte. »Aber er könnte funktionieren! Es wird zwar riskant sein, aber wenn ich vorsichtig bin, sollte mir schon nichts passieren.« Der Riese schüttelte den Kopf. »Wenn es gefährlich ist, dann setzt mich ein.« »Gorst ...!« Der große Kämpfer wollte sich auf keine Diskussion einlassen. »Wenn es mit mir nicht gelingt, dann könnt Ihr Euch noch etwas anderes überlegen. Aber wenn es mit Euch nicht funktioniert, was soll ich dann noch machen?« Gorst hatte Recht, auch wenn Zayl das nur sehr ungern zugeben wollte. Die Diener Rathmas betrachteten sich als diejenigen, die in der Schlacht an vorderster Front standen, um die Welt der Sterblichen im Gleichgewicht zu halten. Normalerweise setzten sie aber nie das Leben anderer anstelle ihres eigenen aufs Spiel. »Also gut, aber geht kein unnötiges Risiko ein.« »Was muss ich tun?«, wollte Gorst wissen. Zayl wirkte bereits den Zauber und erwiderte: »Ihr müsst Euch dem Gargoyle im Kampf stellen.« »Ist das schon alles?« »Du könntest auch noch ein wenig beten, Freund«, meldete sich der Schädel zu Wort. Gorst reagierte mit einem mürrischen Brummen. Zayl vollendete den Zauber und erklärte: »Wenn es nach Plan verläuft, dann wird jeder Schlag, den der Gargoyle Euch zufügen will, ihn selbst verletzen. Zieht Euch sofort zurück, wenn Ihr nur den leisesten Schmerz spürt.« 350
Der Riese sagte nichts dazu. Er verkniff sich auch die Bemerkung, dass er kaum noch eine Chance haben würde, sich zurückzuziehen, wenn der Gargoyle erst einmal einen guten Treffer hatte landen können. Der Söldner packte seine Waffe und begab sich nach unten zu der Bestie aus Metall. Als er sie fast erreicht hatte, blieb Gorst stehen. »Wenn ich ihn treffe, spüre dann ich den Schmerz?« »Nein, Ihr könnt nach Belieben zuschlagen.« Der riesige Kämpfer grinste ihn zufrieden an. »Gut.« Der Gargoyle hatte fast reglos dagestanden, seit die beiden sich auf der Treppe nach oben zurückgezogen hatten. Das änderte sich jetzt, als sich ihm der Mensch näherte. Wieder strömte unheiliges Leben in ihn. Er schnappte und schlug nach Gorst, obwohl der Kämpfer noch längst nicht nahe genug war. Trotz der Zuversicht in den von ihm gewirkten Zauber, verspürte Zayl ein Gefühl der Sorge um seinen Gefährten. Niemand vermochte zu sagen, von welchem Zauber die Bestie noch umgeben war. Er machte sich darauf gefasst, Gorst zu beschützen, falls irgendetwas schief ging. Kaum mehr einen Schritt von dem Wächter entfernt, hob der Riese plötzlich die Axt und stieß ein lautes Kriegsgeschrei aus. Der Gargoyle brüllte ebenfalls auf und machte einen Satz nach vorn. Metall traf auf Metall. Trotz des Zaubers, mit dem der Nekromant ihn belegt hatte, kämpfte Gorst so, als könnte nur sein eigenes Geschick ihm das Leben retten. Wiederholt traf die Axt auf die Klauen und den gefährlichen Schnabel des Gargoyles. Dessen rasiermesserscharfe Krallen näherten sich dem Söldner bis auf wenige Zoll, doch Gorst wich jeder Attacke so aus, als würde ihn kein Zauber schützen. Mit seiner immensen Kraft gelang es ihm, den Kopf seines 351
Widersachers einzubeulen, doch die Hiebe auf das eiserne Fell der Bestie kosteten einen zu hohen Preis. Stücke brachen aus der Klinge, die immer stumpfer wurde, und jeder Hieb war langsamer als der vorangegangene. Der Gargoyle schaffte es schließlich, Gorsts Verteidigung mit einer Pranke zu unterlaufen. Der Kämpfer wollte sich zurückziehen, doch er stolperte über die Stufe hinter ihm. »Was ist da los?«, wollte Humbart wissen. Zayl erwiderte nichts, da er sich bereithielt, einen Zauber zu wirken, auch wenn er wusste, dass der den Söldner nicht vor einer schrecklichen Verletzung bewahren konnte. Die Klauen rissen an Gorsts rechtem Bein! Im gleichen Moment erfüllte ein entsetzliches, metallisches Kreischen den Korridor. Gorsts monströser Widersacher taumelte auf einmal zur Seite, sein rechter Hinterlauf war aufgerissen. Doch wenig unbeeindruckt davon drängte der Gargoyle wieder nach vorn und versuchte, seinen Schnabel in den Bauchbereich des Menschen zu stoßen. Abermals war das metallische Kreischen zu hören. Diesmal wich der Gargoyle zurück, allerdings recht ungelenk und ziellos. An seinem Bauch klaffte nun ein großes Loch, das für ein lebendes Tier längst tödlich gewesen wäre. Doch die Magie, die dieses Ding zum Leben erweckt hatte, trieb es zu immer neuen Angriffen an, auch wenn die Bewegungen der Kreatur längst nicht mehr so geschickt und fließend waren. »Es funktioniert!«, rief Gorst. »Ich gehe jetzt aufs Ganze.« Auch wenn er sah, dass sein Zauber die geplante Wirkung zeigte, konnte sich Zayl nicht entspannen. Er ging näher an die Kämpfenden heran und hielt dabei Ausschau nach einer Bedro352
hung oder aber einer Schwachstelle, die er sich zunutze machen konnte. Der Riese holte mit der Axt aus und verbeulte die linke Schulter des Gargoyles, der sich von dieser Art Wunde nicht beeindrucken ließ, sondern nach Gorsts rechtem Oberarm schlug. Das Resultat war nicht unerwartet. Anstatt weiches, menschliches Fleisch aufzuschlitzen und Muskeln und Knochen zu zerfetzen, riss sich der Wächter lediglich seinen eigenen Vorderlauf auf. Damit waren zwar die Gliedmaßen auf einer Seite erheblich verletzt, und der Gargoyle taumelte und kippte gegen die Wand, dennoch gab er noch immer nicht auf. »Das dauert zu lange«, rief der Söldner. »Ich werde etwas anderes versuchen.« Mit diesen Worten warf er seine Axt weg und bot der Bestie Gesicht und Kehle dar. »Gorst! Nein!« Auch wenn der Zauber den Kämpfer bislang beschützt hatte, wollte Zayl kein Risiko eingehen. Der metallene Wächter reagierte aber viel zu schnell, als dass der Nekromant noch etwas hätte unternehmen können. Mit dem unversehrten Vorderlauf holte die Kreatur aus, um Gorsts Gesicht bis auf die Knochen wegzureißen. Die Pranke kam näher und näher ... Und dann wurden Schnabel und Kehle des Gargoyles mit einem brutalen metallischen Kreischen weggerissen. Von einem Teil eines Auges abgesehen, war von dem monströsen Gesicht nichts mehr übrig. An seiner Stelle klaffte ein großes Loch im Kopf des Golems. Der Gargoyle unternahm einen unbeholfenen Schritt nach vorn und setzte seinen schwer beschädigten Vorderlauf auf. Diesmal kippte er so zur Seite weg und würde sich wohl nicht 353
wieder aufrichten können. Mit einer fast kindlichen Neugier beugte sich Gorst vor und bot seine Brust dem einen noch heilen Vorderlauf zum erneuten Zuschlagen an. Dann streckte er die Hand aus und klopfte auf die Pfote des hoffnungslos beschädigten Wächters. Die metallene Bestie krächzte kurz, dann wurde sie ruhig. »Netter Zauber«, meinte Gorst, als er sich aufrichtete. »Wie lange hält er an?« »Diese Schlacht ist geschlagen«, erwiderte der Nekromant. »Seine Wirkung ist damit vorüber.« »Wie schade. Könnt Ihr ihn noch einmal wirken?« Zayl schüttelte den Kopf. »Nicht mit Aussicht auf Erfolg. Außerdem glaube ich nicht, dass Euch dieser Zauber dort unten viel nützen würde.« Der Riese griff nach der ramponierten Axt. Die Antwort des Zauberkundigen schien ihn nicht weiter zu berühren. »Dann werde ich wohl wieder ganz normal kämpfen müssen, wie?« Da der Gargoyle geschlagen war, gab es nun auch keinen Türgriff mehr, den sie hätten benutzen können. Allerdings ging Zayl auch nicht davon aus, dass er als Öffnungsmechanismus für die Tür zu nutzen gewesen wäre. Ein derart simples Objekt würde nicht den Zutritt zu einem solch bedeutungsvollen Ort ermöglichen. Der wahre Schlüssel musste etwas Magisches sein – doch was? Er zog den Schädel aus der Tasche. »Humbart, was siehst du?« »Eine rote Kraft bedeckt die Oberfläche. Von oben bis unten verläuft eine dunkelgrüne Zickzacklinie, und in der Mitte kann ich einen blaugelben Punkt entdecken ...« Das musste es sein, wonach Zayl suchte. »Führe die Spitze der Klinge dorthin.« 354
Der Schädel folgte der Aufforderung und dirigierte die Hand des Nekromanten mal nach links, mal nach rechts, dann wieder nach oben oder unten, wie es gerade erforderlich war. »Jetzt bist du genau drauf, Jüngelchen.« Als Zayl die Spitze seiner Waffe auf den Punkt setzte, durchlief ihn ein schwaches Kribbeln. Augenblicklich setzte er zu einem Zauber an, um die Schutzvorrichtungen zu suchen und außer Kraft zu setzen. Ohne die ungewöhnlichen Fähigkeiten des Schädels hätte er diese Stelle niemals mit solcher Präzision finden können, so geschickt waren die Schutzzauber angelegt. Sein Geist löste und entwirrte die unzähligen Muster, die das Schloss bildeten, und suchte behutsam nach dem verborgenen Faktor, der es öffnen würde. Dabei kamen Worte über seine Lippen, die er selbst noch nie zuvor gehört hatte, uralte Worte, die einem finsteren Verstand entsprungen waren. Der Nekromant überlegte, ob er sich zurückziehen sollte, aber damit wäre ihm jede Möglichkeit versperrt gewesen, je in den Raum hinter der Tür vorzudringen. Genau das musste er aber schaffen, da Hauptmann Dumon höchstwahrscheinlich in größten Schwierigkeiten steckte. Dann kam ihm endlich ein einzelnes Wort in den Sinn, das den letzten Schlüssel darstellte. Ihm war, als habe er Zugriff auf das Wissen desjenigen, der diesen Zauber ursprünglich ersonnen und gewirkt hatte. »Tezarka ...«, flüsterte Zayl. Mit einem leisen Ächzen begann sich die Tür zu öffnen. Der Nekromant wich zurück und stellte sich neben den wachsamen Gorst, der genau wie er selbst damit rechnete, dass ein Angriff unmittelbar bevorstand. Die eiserne Tür glitt weiter auf, und durch den breiter werdenden Spalt drang Licht von der ande355
ren Seite. Gleichzeitig strömte eine Flut gewaltiger Kräfte durch den Spalt und versetzte sogar Zayl in Erstaunen. Ein Angriff gleich welcher Art erfolgte hingegen nicht, weder von Wächtern noch von Golems. Zayl und Gorst sahen sich kurz an, dann traten sie vorsichtig ein. Der gewaltige sechseckige Raum schlug die beiden Männer sofort in seinen Bann, denn es bestand kein Zweifel, dass sie in das Arbeitszimmer eines extrem mächtigen Zauberkundigen geraten waren. Die dicken Bücher, die zusammengetragenen Kreaturen, Substanzen und Artefakte ... Zayl hatte noch nie eine vergleichbare Sammlung zu Gesicht bekommen. Der Anblick fesselte ihn so sehr, dass ihm einige Augenblicke lang die Worte fehlten. Nicht einmal Gregus Mazis Heim hatte ihn dermaßen in seinen Bann gezogen. Erst Gorst konnte ihn aus diesem Zauber lösen, indem er die Frage stellte, die gestellt werden musste. »Warum – ist hier niemand?«
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Neunzehn Kentril war außerstande, sich zu bewegen, konnte aber wenigstens noch sprechen. Folglich sah er auch keinen Grund, den Mund zu halten. »Tsin, kommt doch endlich zur Besinnung! Seht Ihr denn nicht, wie verkehrt das alles ist? Ihr selbst seid mit einem Zauber belegt, verdammt!« »Beruhigt Euch, Dumon«, fuhr der Vizjerei ihn an. »Ihr seid ein so undankbarer Kretin! Unsterblichkeit, Reichtum, Macht ... ich dachte, davon würde jeder Söldner träumen!« Es war sinnlos. Tsin konnte den Zauber, der auf ihm lag, nicht durchschauen. Lord Khan hatte sich die Habgier des Hexenmeisters zunutze gemacht, so wie auch der Hauptmann selbst es getan hatte, als er Tsin dazu überredete, ihren Gastgeber zu überzeugen, Ureh wieder zu einem Teil der Welt der Sterblichen zu machen. Aber hatte ihr Gastgeber eigentlich überzeugt werden müssen? Es war doch Atanna gewesen, die das Thema Kentril gegenüber angesprochen und ihm erklärt hatte, sie könnten ein gemeinsames Leben führen – wenn ihr Vater sich gegen einen erneuten Versuch entschied, doch noch in den Himmel zu gelangen. Dem Söldner wurde bewusst, dass man ihn hinters Licht geführt hatte. Atanna war zweifellos von ihrem Vater instruiert worden, den gutgläubigen Hauptmann auf solche Gedanken zu bringen. Er hatte gewusst, dass Kentril dann alles daransetzen würde, den Vizjerei auf seine Linie einzuschwören. Er und Tsin waren so töricht gewesen, sich allein von dem lei357
ten zu lassen, was ihr Herz begehrte. Ihren Verstand hatten sie beide allzu bereitwillig vernachlässigt. »Es ist doch recht ironisch«, bemerkte der Monarch. »Ich hatte gerade erst meine liebe Tochter losgeschickt, um nach Euch zu suchen, und dabei wart Ihr selbst bereits auf der Suche nach ihr. Ich hatte eigentlich länger warten wollen, ehe ich diesen Zauber wirke. Aber meine Kinder waren so eifrig und begierig, dass ich gezwungen bin, es schon heute Nacht zu tun.« Kentril blickte zu Tsin, um herauszufinden, ob dieser etwas von dem Geständnis ihres Gastgebers mitbekommen hatte. Der kleine, kahlköpfige Hexenmeister jedoch schien völlig damit beschäftigt zu sein, sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Der Vizjerei ging inzwischen um das Podest herum und murmelte irgendwelche Zauber, die bewirkten, dass verschiedene Runen kräftiger zu leuchten begannen. Welche Macht Juris Khan auch immer auf den Hexenmeister ausübte, sie schien allumfassend zu sein. »Ich hatte ihnen Eure Männer versprochen, als wir Eure Ankunft zum ersten Mal bemerkten. Aber für diese Aufgabe benötigte ich einen von Euch. Und ich brauchte einen weiteren Zauberkundigen, der mir bei meinen Bemühungen assistierte, nachdem ich alle anderen vor langer Zeit opfern musste, um meine heilige Mission zu erfüllen.« »Gregus Mazi hat also nie versucht, Ureh zu vernichten, oder?« Der erhabene Fürst wirkte düpiert. »Er tat etwas viel Schlimmeres als das! Er wagte zu behaupten, ich wüsste nicht, was ich tue. Er behauptete, ich, Juris Khan, liebevoller Herrscher über all meine Untertanen, würde mein Volk in die Verdammnis stürzen, anstatt es zu erretten! Ist das nicht unglaublich?« 358
Kentril fand das keineswegs unglaublich, wie er auch vieles andere glauben konnte, was Juris Khan anging. Er erkannte erst jetzt, was ihm und den anderen bislang nicht ins Auge gefallen war: Der Herrscher über Ureh hatte völlig den Verstand verloren. Seine ursprünglich wohl guten Absichten waren dabei längst in ihr Gegenteil verkehrt worden. »Ich gebe zu, dass es Zeiten gab, da zweifelte ich an meinem Glauben. Doch immer, wenn dies geschah, erschien mir der Erzengel und baute mich auf, um mich auf den rechten Weg zurückzuführen. Ohne ihn hätte es passieren können, dass ich nicht bis zum Ende durchgehalten hätte.« Dieser Erzengel, von dem Juris Khan immer wieder sprach, musste seiner Einbildung entspringen, und doch war es diesem Mann beinahe gelungen, es bis in die Zuflucht des Himmels zu schaffen! Wie konnte der Erzengel dann eine bloße Illusion sein? Nur durch die Unterstützung einer solchen Figur konnte ein gewöhnlicher Sterblicher überhaupt hoffen, eine solch immense Leistung zu vollbringen. »Er warnte mich vor den heimtückischen Bemühungen der dunklen Mächte, die die um mich herum beeinflussen würden. Er warnte mich, ich dürfte niemandem außer mir selbst vertrauen. Selbst diejenigen, die dabei halfen, unser Ziel zu erreichen, hätten von den dunklen Mächten beschmutzt sein können ...« Khan trug eine überaus stolze Miene zur Schau. »Also sorgte ich dafür, dass keiner von ihnen die Gelegenheit erhielt, mich im Augenblick der Erfüllung unseres Schicksals zu hintergehen!« Als die Priester und Zauberkundigen zusammengekommen waren, um ihren Teil zu leisten, erfuhr Kentril weiter, war keinem von ihnen aufgefallen, dass ihr Meister ihre Arbeit um et359
was Eigenes ergänzen wollte. In aller Heimlichkeit hatte der Monarch von Ureh einen zweiten Zauber so geschickt in die eigentliche Aufgabe verwoben, dass keiner seiner Untertanen etwas davon bemerken würde. Jeder von ihnen würde unwissentlich dazu beitragen, sicherzustellen, dass kein Versuch unternommen werden konnte, der die heilige Mission gefährdet hätte. Juris Khan hatte den Hauptzauber so gestaltet, dass er jeden töten würde, der ihm bei diesen Bemühungen geholfen hatte. Das Schicksal jener Männer war schon in dem Moment besiegelt gewesen, da sie mit ihrer Arbeit begannen. Der Zauber, mit dem Ureh in den Himmel aufsteigen würde, bediente sich nicht nur der magischen Kräfte, die der Welt eigen waren, sondern auch einer gleich großen Kraft, die die Zauberkundigen selbst beisteuerten. »Es war so gut geplant, so bis ins letzte Detail durchdacht«, fuhr der Monarch fort. »Ich konnte fühlen, wie sich Urehs Seele von seiner irdischen Hülle löste ... und wie den Verrätern die Lebenskraft entzogen wurde.« Doch er hatte einen seiner Männer unterschätzt, den einen, auf den er am stärksten hätte achten sollen: Gregus Mazi, Vertrauter und für den Herrscher fast so etwas wie ein leiblicher Sohn, war ein bewanderter und erfahrener Hexenmeister. Zusammen mit dem Priester Tobio hatte Mazi den größten Teil dazu beigetragen, dass der Zauber überhaupt erst möglich wurde. »Ich sah es in seinen Augen. Ich erkannte den Moment, als er begriff, was der Zauber bei ihm bewirken sollte. Ihm war zwar nicht bewusst, dass ich für die Veränderungen verantwortlich war, doch das Ergebnis war ihm in jedem Falle klar. Im entscheidenden Moment, in der kritischsten Phase löste er sich aus der Matrix, die wir gemeinsam erschaffen hatten. Mit der ihm ver360
bliebenen Kraft brachte er sich aus Ureh fort!« Diese instinktive Reaktion hatte mehr bewirkt, als nur Mazi das Leben zu retten. Durch sie war auch ein Ungleichgewicht entstanden, das die Seele Urehs von der Ebene der Sterblichen fortriss. Doch anstatt in den Himmel aufzusteigen, blieb sie in einem schattenhaften, zeitlosen Limbus hängen. Mit Hilfe der übrigen Hexenmeister und Priester des Königreichs hätte Juris Khan dieses Missgeschick vielleicht korrigieren und die Suche nach der heiligen Zuflucht erfolgreich abschließen können. Doch es war sein eigener Zauber, der diesen Männern das antat, was Gregus Mazi erspart geblieben war. Die einzige andere Ausnahme stellte Tobio dar, dessen Vorsehung ihn praktisch unversehrt hatte davonkommen lassen. Lord Khan entschied, dass dies bedeuten musste, den Priester am Leben zu lassen, und es gefiel dem Monarchen, dass einer seiner alten Freunde ihm treu geblieben war. Zusammen mit Tobio machte sich Khan sofort daran, einen Plan auszuarbeiten, um aus diesem ewigen Gefängnis zu entkommen. Doch alle Versuche schlugen fehl. Das Volk geriet in Panik, da es fürchtete, für immer in der Falle zu sitzen. Juris Khan hob den Dolch hoch über Kentril und zeichnete Muster in die Luft. »Und dann, in der finstersten Stunde«, fügte er mit einem dankbaren Lächeln an, »erschien mir der Erzengel erneut in meinen Träumen. Wie Ihr bereits wisst, konnte er das Geschehene nicht ungeschehen machen. Doch er konnte mich führen, und – was noch viel bedeutender war – er konnte mir helfen, damit ich das Schicksal meines Volks erfüllte. Der Himmlische Gesandte zeigte mir, wie man eine Art Portal öffnete. Er ließ seine Kraft in mich strömen, ließ seine und meine Wünsche eins werden ... und er ließ mich meine Kinder berühren.« 361
Als Tobio jedoch von diesem Geschenk hörte, erwies er sich als der denkbar eifersüchtigste Priester – zumindest aus Khans Sicht. Er stellte seinen alten Freund zur Rede und behauptete, dieser habe keine heiligen Kräfte empfangen, sondern verdorbene, die von infernalischen Wesen stammten. Der Priester besaß sogar die Unverschämtheit, den Versuch zu unternehmen, seinen Herrscher zu überwältigen. Doch Juris Khan besiegte den fehlgeleiteten Kleriker ohne jegliche Mühe, und schweren Herzens verbannte er Tobio in die uralten Verliese unter dem Palast, immer von der Hoffnung getrieben, der Priester könnte sich eines Tages von den sündigen Gedanken befreien und in die Gemeinschaft zurückkehren. Von da an konnte Lord Khan ungehindert den Anweisungen des Erzengels folgen und Zauber erschaffen, die ihm helfen sollten, seine kostbaren Kinder zu erretten, während er weiter nach einer dauerhafteren Lösung suchte. Der Erzengel zeigte ihm, wie man das Volk ruhig hielt, wie man sich den Darreichungen anderer Engel öffnete, von denen es für jeden Einwohner einen gab. Er brachte den vertrauensseligen Herrscher von Ureh dazu, seine eigene Tochter einzuweihen und ihr den Ruhm des Erzengels ebenso zu offenbaren wie die Geschenke, die sie dafür erhalten würde, wenn sie ihrem Vater und ihrem Volk half. Juris Khan zog den Dolch zurück, den er über Hauptmann Dumons Brust gehalten hatte, und streckten Atanna einen Arm hin. Die Prinzessin mit den karmesinroten Zöpfen kam zu ihrem Vater und ließ sich von ihm umschlingen. Sie lächelte Kentril liebevoll und wissend an. Es war ein Lächeln, das verriet, dass sie restlos von der Rechtschaffenheit der Sache ihres Vaters überzeugt war. »Sie hatte Angst, mein guter Hauptmann, weil sie nicht 362
verstand, welchen Segen er ihr zu geben wünschte.« Das alte, aber würdevolle Gesicht strahlte, als der Monarch seiner Tochter ein Lächeln schenkte. »Ich musste Druck ausüben. Ich musste darauf bestehen, auch wenn sie nicht willens war. Es erforderte sehr große Beharrlichkeit – auch von Seiten des Erzengels –, doch schließlich öffnete sie sich ihm.« Atannas Gesichtsausdruck war verklärt. »Es war so kindisch von mir, mein Liebster! Ich fürchtete mich tatsächlich vor etwas, das Vater wollte! Als der Erzengel in mich fuhr, da schrie ich doch wahrhaftig auf! Kannst du dir das vorstellen? Heute erscheint mir das alles so albern!« Für den gefangenen Söldner, der wusste, was dieser Segen aus Atanna und ihrem Vater gemacht hatte, war es keineswegs albern. Was immer der engelsgleiche Wohltäter hatte erreichen wollen, entstanden war daraus ein abscheuliches Zerrbild von allem, was heilig war. »Ich glaube, ich bin fast fertig, Mylord«, erklärte Quov Tsin unvermittelt. »Es sind nur noch ein paar Muster zu wirken.« »Ich bin erfreut, werter Hexenmeister. Ohne Eure Bemühungen wäre dies nicht möglich geworden.« Kentril nutzte diesen Augenblick der Ablenkung, um zu testen, inwieweit er seinen Körper möglicherweise wieder bewegen konnte. Doch trotz der vielfältigen Aufgaben, denen sich der Vizjerei zu widmen hatte, und trotz Lord Khans Ausflug in eine grausige Erinnerung, ließ der Griff des Hexenmeister nicht im mindesten nach. Atanna trat wieder zu ihm und strich mit ihrer Hand über seine Stirn. Eigentlich wäre es eine beruhigende Berührung gewesen, doch es war ausgerechnet die Hand, die kurz zuvor noch zermalmt gewesen war. Das satte Smaragdgrün ihrer Augen 363
leuchtete, doch sie blinzelte nicht ein einziges Mal. »Du wirst dir albern vorkommen, wenn dies alles vorüber ist, mein liebster Kentril. Du wirst dich so wie ich fragen, warum du so viel Aufhebens darum gemacht hast.« Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, nicht, so lange er sich immer noch daran erinnerte, wie sie vor kurzem den Raum betreten hatte. Stattdessen blickte der Söldner an ihr vorbei zu Juris Khan, der mit seiner Geschichte offenbar am Ende angelangt war und der nun vorhatte, sein Werk in Bezug auf Kentril zu vollenden. »Was geschah mit Gregus Mazi?« Das freundliche Lächeln auf dem Gesicht des Monarchen schien zu erstarren. »Ich erzählte Euch ja von den Schlüsseln, ihrer Erschaffung und unseren ersten Versuchen, den Schatten so festzuhalten, wie Ihr das schließlich für uns getan habt. Und ich erzählte Euch auch, wie Gregus zurückkehrte, um das Unvorstellbare zu tun, nämlich uns ein weiteres Mal zu verraten. In diesen Punkten habe ich nicht gelogen, mein guter Hauptmann. Was ich jedoch verschwieg, war die Tatsache, dass er Hilfe hatte ... in Gestalt des fehlgeleiteten Tobio.« Gregus Mazi war heimlich nach Ureh zurückgekehrt und hatte von den Kristallen erfahren. Dabei war er jedoch auch auf den gefangenen Priester gestoßen. Er nutzte Tobios Wahnsinn und täuschte vor, ihm zu glauben, sodass der Hexenmeister seinen neuen Verbündeten darüber informierte, er müsse die beiden Schlüssel entfernen oder zerstören, damit das heilige Königreich nicht auf der Ebene der Sterblichen verbliebe. Man entschied, dass ihre Chancen umso besser stünden, wenn jeder von ihnen getrennt nach einem der beiden Steine suchte. Selbst wenn nur einer von ihnen erfolgreich wäre, würde Ureh wieder in den Limbus zurückgesandt werden. 364
Zwar war es Gregus Mazi gelungen, sich unbemerkt in die Stadt zu schleichen, doch als er nach dem Schlüssel zum Schatten zu suchen begann, wurde sein früherer Herr auf ihn aufmerksam. Der Hexenmeister hatte es fast geschafft, den Kristall zu stehlen, da wurde er von Lord Khan ertappt. Beide lieferten sich einen Kampf, doch der untreue Zauberkundige wusste nichts von den mächtigen Geschenken, die sein Gegenüber vom Erzengel erhalten hatte. Mazi war schon bald unterlegen, und um sicherzustellen, dass sich dieser Verrat nicht wiederholen würde, verwandelte Khan ihn in den Wächter, auf den Kentril und die anderen gestoßen waren. Zuvor jedoch hatte der Herrscher von Ureh seinem früheren Freund die Information entrissen, dass Tobio unterwegs zum zweiten Kristall war. »Wie Ihr seht, mein teurer Hauptmann, war der Schlüssel zum Licht tatsächlich von mutigen Märtyrern an seinen Platz gebracht worden. Als ich jedoch von Gregus erfuhr, dass Tobio im Begriff stand, alle meine Hoffnung auf unsere letztendliche Befreiung zunichte zu machen, da wurde ich äußerst zornig. Ich rief die Kräfte, die mir vom Erzengel verliehen worden waren, und transportierte mich auf die der Sonne abgewandte Seite des Nymyr, wo ich den fehlgeleiteten Priester entdeckte, wie er versuchte, den Schlüssel zum Licht von dem ihm vorbestimmten Platz zu nehmen.« Khan machte eine kurze Pause und schloss die Augen, als würde er einen Moment lang trauern. Als er sie dann wieder öffnete, sagte er zu seinem Gefangenen: »Ich weine immer noch um den armen Tobio, der von Gregus so sehr auf den falschen Weg geführt wurde. Ich gewährte ihm eine letzte Chance, seine Fehler einzusehen, sich von dem Wahnsinn loszusagen und mit mir nach Ureh zurückzukehren ...« Mit einem Mal erinnerte sich Kentril an den grausigen Fund 365
im kalten harten Fels des finsteren Nymyr. »Aber er nutzte diese Chance nicht, oder?« »Leider nicht. Stattdessen riss dieser Narr den Schlüssel heraus und trat mit ihm in den ersten Sonnenschein dieses Tages. Ich gebe zu, ich reagierte unüberlegt, da mein einziger Gedanke der Tatsache galt, dass er meinen Kindern die Freiheit geraubt hatte.« Der verwitterte Knochen, den Hauptmann Dumon gefunden hatte, gehörte also dem zu allem entschlossenen Priester, aber keinem der angeblichen Freiwilligen. Zwar hatte Tobio ins Sonnenlicht treten können, doch das konnte ihn nicht vor dem Zorn des Juris Khan retten. Zum Glück war der Kristall an einer Stelle gelandet, an der nicht einmal der Herrscher über Ureh ihn bergen konnte. Der Wahnsinn, von dem das Königreich der Schatten verzehrt worden war, blieb darauf beschränkt – zumindest bis zu dem Moment, da Kentril und seine Männer des Weges gekommen waren. »Auch wenn der gute Tobio versagte, muss ich zugeben, dass ich die Unterstützung eines fähigen Hexenmeisters wie die unseres Freundes Quov Tsin benötigte«, fuhr Atannas Vater fort. »Aber das wäre viel einfacher gewesen, wenn das Königreich einen festen Platz in dieser Welt gehabt hätte, anstatt im Abstand von vielen Jahren für nur ein oder zwei Tage aufzuerstehen.« Nun lächelte Khan wieder. »Aber was soll’s. Der Augenblick nähert sich in rasendem Tempo, und vermutlich habe ich Euch mit diesen alten Geschichten nur gelangweilt. Jetzt müssen wir uns auf die Zukunft vorbereiten, wenn mein Volk – meine Kinder – von den Engeln erleuchtet wird und sich nicht länger vor der Sonne fürchten muss, sondern in alle Welt ziehen und die Kunde des Erzengels verbreiten kann.« 366
Kentril hatte diese »Kinder« gesehen, diese Ghule, die nun die Stadt bevölkerten. Die geisterhaften Gestalten, die er und die anderen zuerst entdeckt hatten, waren lediglich Illusionen gewesen, um einen noch viel größeren Schrecken zu tarnen. Khan hatte mit dem Mitleid des Söldnerhauptmanns gespielt, und aus diesem Grund hatte Dumon die meisten seiner Männer in einen grässlichen Tod geschickt. Das Bild, das er zweimal gesehen hatte, war keine Sinnestäuschung aufgrund einer von einem Dieb verabreichten Droge gewesen, und es war auch nicht von einem Insektenstich ausgelöst worden. Es war die Realität gewesen, das wahre Ureh. Das heilige Königreich, das Licht unter den Lichtern, war in etwas Diabolisches, ja Dämonisches verwandelt worden. Die ganze Zeit über hatte Juris Khan ihn manipuliert und den Weg geebnet, damit seine entsetzlichen Kreaturen den Schutz des Schattens verlassen und sich in den Ländern der Sterblichen ausbreiten konnten ... Aber die ganze Zeit über hatte Juris Khan auch immer wieder von jenem wundersamen Erzengel gesprochen, jener Himmelsgestalt, die zu ihm gekommen sei, um ihn und seine Schar in den Himmel zu führen. Wieder musste sich Kentril fragen, wie alles so entsetzlich hatte ausgehen können. Warum waren die Worte des Erzengels so verdreht und in ihr Gegenteil verkehrt worden? Oder hatte es diesen Erzengel in Wahrheit nie gegeben? Lord Khan hatte bereits seinen Platz eingenommen, Atanna und Quov Tsin folgten ihm. Der Monarch hob den Dolch und öffnete den Mund. »Mylord!«, hielt Kentril ihn vom Sprechen ab. »Gestattet mir eine letzte Frage, um Ruhe zu finden und mir die Möglichkeit zu geben, den von Euch angebotenen Ruhm zu akzeptieren. Dürfte 367
ich ... dürfte ich erfahren, wie dieser wunderbare Erzengel aussah?« Der Vizjerei, der darauf versessen war, endlich fortzufahren, schnaubte verächtlich, als er diesen Einwurf hörte. Doch Juris Khan reagierte mit Freude auf dieses Anliegen, da er eindeutig glaubte, der Kämpfer wolle wirklich verstehen. »Aber natürlich, Kentril Dumon! Wenn es für Euch so wichtig ist, dann werde ich versuchen, ihn Euch zu zeigen. Ihr müsst natürlich bedenken, dass ich ihn nur aus meiner Erinnerung abbilden kann. Was Ihr zu sehen bekommen werdet, mag Euch zwar prachtvoll erscheinen, doch es ist nur ein blasses, von einem Menschen geschaffenes Abbild eines in jeder Hinsicht vollkommenen Geschöpfs. Selbst ich habe ihn nicht in seinem vollen Glanz sehen können, denn welcher Sterbliche könnte schon den gleißenden Ruhm eines himmlischen Wächters ertragen?« Er gab die Klinge seiner Tochter, nahm die Hände hoch und murmelte einen Zauber. Kentril spannte sich noch mehr an, auch wenn er den Grund dafür nicht so recht kannte. Immerhin würde Lord Khan nur ein Abbild des Erzengels schaffen, nicht das Wesen an sich. Der Söldner hatte von einer Illusion keinerlei Hilfe zu erwarten. »Sehet!«, rief Juris Khan und deutete auf einen Bereich oberhalb des Podestes. »Sehet! Ein Krieger der Wahrheit, ein Wächter der Bastion des Lichts, ein Wahrer der Güte, der alles überschaut! Sehet den Erzengel Mirakodus, den Verteidiger der Menschheit mit den goldenen Haaren! Sehet Mirakodus, der Ureh vor dem Bösen beschützte, das nach seiner Seele strebte!« Während seine Worte durch die Kammer hallten, nahm etwas Gestalt an, das alle sehen konnten. Atanna schnappte verzückt nach Luft, und selbst der erschöpfte Tsin sank ehrfürchtig auf ein 368
Knie nieder. Juris Khan standen Tränen in den Augen, während er stumm dem Bild dessen dankte, den er als den größten Beschützer seines Volkes bezeichnet hatte. Auch Kentril starrte das Abbild gebannt an. Der Erzengel trug eine Rüstung aus strahlendem Platin, den Brustpanzer schmückten komplizierte Runen und andere Schriftzeichen, und die komplette Gestalt leuchtete so hell wie die Sonne. In einer Hand hielt er ein flammendes Schwert, die andere war den Betrachtern entgegengestreckt, als wolle er sie auffordern, näher zu treten. Aus den Schultern traten zuckende, sich windende Ranken purer magischer Energie hervor, die sich so schnell bewegten, dass sie wie gewaltige, feurige Flügel wirkten. Die geschnitzten Abbilder, mit denen der Söldner aufgewachsen war, hatten die Engel immer als gesichtslose Wesen dargestellt, die den Kopf unter einer Kapuze verbargen. Hier war das nicht der Fall. Die Kapuze lag im Nacken und gab den Blick frei auf ein vollkommenes Gesicht, das von wallendem goldenen Haar umrahmt wurde. Im ersten Moment verspürte Hauptmann Dumon eine gewisse Schuld, dass er die himmlischen Gesichtszüge von Mirakodus so unverhohlen studierte, vielleicht weil er sich nicht würdig fühlte, etwas Derartiges schauen zu dürfen. Die breiten Kiefer, die heroisch hohen Wangenknochen, das unfassbar gebieterische Gesicht – Kentril konnte die Details dieses Anblicks kaum richtig erkennen, doch der Gesamteindruck raubte ihm eine Zeit lang die Sprache. Kein Mensch durfte jemals hoffen, es mit dieser Schönheit und Perfektion aufnehmen zu können. Dabei war es Lord Khan nur gelungen, eine Andeutung des wahren Mirakodus zu erschaffen, und selbst diese war großartig genug, um die Sinne zu überwältigen. Dann sah Kentril der Kreatur in die Augen und merkte, wie 369
seine Ehrfurcht einer anderen Empfindung wich. Die Augen zogen ihn magisch in ihren Bann. Er konnte ihre Farbe nicht erkennen, er wusste nur, dass sie dunkel waren, dunkler als das vollkommenste Schwarz. Wie von einem entsetzlichen Wirbel angezogen, kam es Kentril Dumon vor, als würde Mirakodus an seiner Seele zerren, um sie in eine Grube zu ziehen, die keinen Boden hatte. Das Verlangen, laut aufzuschreien, kam in ihm auf, doch das Bild vor seinen Augen erfüllte ihn zugleich mit einer stummen Angst. Kentril wurde von einer unerklärlichen Panik erfasst, wie er sie noch nie verspürt hatte. Er wollte sich von diesem Anblick losreißen, doch seine Augen weigerten sich, ihm zu gehorchen. Der Hauptmann spürte, wie er immer tiefer in die Augen des Erzengels gezogen wurde, in einen Schrecken, der unmöglich zu beschreiben und zugleich auf eine seltsame Art vertraut war. Kentril fühlte Grabeskälte und die niemals endenden Qualen der verdammten Seele. Etwas in ihm – ein verzweifelter Wunsch nach geistiger Unversehrtheit, nach Hoffnung – machte es dem Kämpfer schließlich möglich, sich von der Gestalt über ihm abzuwenden. Und während allmählich wieder Ordnung in seinen Verstand einkehrte, versuchte Kentril zu begreifen, was er gerade erlebt hatte. Nach außen hin war diese Figur ein Gesandter und Wächter des Himmels, doch in ihrem Kern war etwas, das möglicherweise sogar von Juris Khans Unterbewusstsein wahrgenommen worden war – etwas, das niemals mit einem Erzengel oder dem Reich in Zusammenhang stehen konnte, aus dem er angeblich kam. Hinter der Fassade, hinter die niemand sonst zu blicken schien, hatte Hauptmann Dumon eine monströse Kraft wahrgenommen, die das absolut Böse darstellte. 370
Kentril konnte sich nur eine Kreatur vorstellen, die in der Lage war, solche Ängste und solchen Schrecken zu erzeugen. Der Name geriet dem hartgesottenen Kämpfer schließlich in den Sinn, während er sich bemühte, mehr Abstand zu Lord Khans Illusion zu gewinnen. »Diablo...« »Ja!«, erklärte Juris Khan mit verklärtem Lächeln, als hätte er Kentrils Ausruf gar nicht wahrgenommen. »Mirakodus erstrahlt in solchem Glanz, wie ihn kein menschlicher Verstand zu begreifen vermag!« Das Bild verschwand, als Khan vergnügt in die Hände klatschte und sich wieder lächelnd dem fassungslosen Soldaten zuwandte. »Nachdem ich Euch also die wunderbare Wahrheit gezeigt habe – können wir nun anfangen?« Zayl betrachtete die Kammer, in die Gorst und er so unbedingt hatten vordringen wollen. Die Kammer, in der sich Hauptmann Dumon hätte aufhalten sollen, falls der Nekromant sich nicht vollkommen geirrt hatte. Er näherte sich vorsichtig dem Podest in der Mitte und überlegte, was wohl schiefgegangen sein mochte. »Wo ist er?«, fragte der hünenhafte Söldner und sah sich wachsam um. »Ihr sagtet, er sei hier!« »Das sollte er auch sein.« Zayl widmete sich wieder seinem Zauber, jedoch mit dem exakt gleichen Ergebnis wie zuvor. Alles deutete daraufhin, dass sich der Hauptmann hier auch tatsächlich aufhielt. Gleichzeitig war jedoch nicht zu übersehen, dass dies nicht der Fall war. Zayl steckte das Medaillon wieder ein und konsultierte den Dolch, um herauszufinden, ob dieser andere Signale gab. Er 371
suchte einmal komplett den Raum damit ab, jedoch ohne Ergebnis. Gorst wanderte umher und forschte bis in jeden Winkel des Raums, ganz gleich, wie unwahrscheinlich es auch war, Kentril dort zu entdecken. »Glaubt Ihr, es gibt hier noch eine andere Tür?« »Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.« »Könnte er über oder unter uns sein?« Für den Riesen war das eine absolut scharfsinnige Frage, doch der Nekromant hatte den Suchzauber so gewirkt, dass er einen solchen Fehler ausschließen konnte. Den erzielten Resultaten nach zu urteilen, hätte ihr Gefährte unmittelbar vor ihnen stehen müssen. Zayl schloss kurz die Augen und ließ seine Sinne über die Grenzen hinausgehen, die sein Körper ihnen normalerweise setzte. Mit einem Mal erfasste er die erschreckenden, wilden Kräfte deutlich stärker, sie konzentrierten sich größtenteils auf das Steinpodest direkt vor ihm. »Habt Ihr etwas herausgefunden?«, fragte Gorst hoffnungsvoll. »Nichts, was die Frage klären könnte, was schief gelaufen ist. Ich bin sicher, dass er hier sein müsste.« Der hünenhafte Kämpfer dachte einige Sekunden lang nach, dann fragte er: »Könnte Humbart nicht helfen?« Daran hätte Zayl eigentlich selbst als Erstes denken müssen. Der Schädel hatte sich mehr als einmal als wertvoll erwiesen, dennoch zögerte der Nekromant jedes Mal aufs Neue ihn einzubeziehen. Seine Lehrer hatten Zayl stets daraufhingewiesen, wie wichtig Unabhängigkeit war, doch warum sollte man ein Werkzeug wie Humbart Wessel nicht nutzen, wenn es so tadellos 372
funktionierte? Er zog den Überrest des Söldners aus der neuen Tasche und zeigte Humbart die Kammer. Der Schädel gab leise, nachdenkliche Laute von sich, artikulierte sich aber zunächst nicht weiter. Schließlich sagte Humbart: »Kann keine Spur von ihm entdecken. Ist mir ein echtes Rätsel!« »Du kannst nichts sehen?« »Oh, ich sehe einiges! Ich sehe ein verdammtes Wirrwarr aus Farben, Linien und Formen, die alle wie verrückt um diesen Steinklotz da herumwirbeln. Ich kann jede einzelne Rune auf dem Ding sehen, die so grell strahlt wie ein Blitz. Ich sehe so viele Zeichen von roher, irdischer und nicht irdischer Energie, die das Ding umgibt, dass ich mir wünschte, ich hätte wieder Beine, um das Ding hier rauszutragen. Aber den Hauptmann Kentril kann ich nirgends ausmachen!« Der Nekromant verzog das Gesicht. »Dann ist mein Zauber doch fehlgeschlagen. Meinen Bemühungen zum Trotz hat er uns in die falsche Richtung geschickt.« »Das kann jedem mal passieren, Jüngelchen. Vielleicht solltest du es einfach noch mal versuchen?« »Ich habe es oft genug versucht, immer mit dem gleichen Ergebnis. Und diesmal würde es auch nicht anders ausfallen, das kann ich dir garantieren.« Was Gorst überhaupt nicht gefiel. »Aber wir können ihn doch nicht einfach im Stich lassen!«, wandte der Riese ein und schlug so heftig auf den Tisch, der neben ihm stand, dass beinahe ein ganzes Regal mit haltbar gemachten Kreaturen umgestürzt wäre. »Das kann ich nicht!« »Nur die Ruhe, Freund!«, zischte Humbart ihn an. Aus Sorge, die wachsende Wut könnte in Aggression um373
schlagen, sagte der Zauberkundige rasch: »Niemand gibt auf, Gorst! Wir müssen nur gründlich darüber nachdenken. Etwas stimmt hier nicht, und diesem Etwas muss in Ruhe auf den Grund gegangen werden!« Der Söldner schien von dieser Aussage ein wenig besänftigt, denn er schwieg nun. Zayl konnte nur hoffen, dass er seinen eigenen Worten gerecht werden konnte. Wieder betrachtete er aufmerksam die verschiedenen Bereiche der Kammer und suchte nach etwas, das »nicht richtig« war. Er sah sich die Regale an, die Tische, das steinerne Podest, die Gläser voller ... »Humbart!«, rief er plötzlich. »Sag mir noch einmal, was du siehst, wenn du dir das Podest betrachtest!« Der Schädel schilderte erneut die heftigen Kräfte, die dort tobten, sowie die leuchtenden Runen. Er berichtete von der wild wirbelnden Energie, die über dem Podest zusammenlief. Humbart Wessel beschrieb eine Art Mahlstrom hexerischer Kräfte, die über und in dem steinernen Gebilde tosten. »Ich kann nichts dergleichen erkennen«, kommentierte Gorst, als der Schädel geendet hatte. Auch der Nekromant konnte von alledem nichts sehen, und das fand er höchst bemerkenswert. Er fühlte diese Gewalten, doch schauen konnte er sie nicht. Der lebhaften Beschreibung durch den Schädel nach zu urteilen, nahmen diese Kräfte an Heftigkeit zu. Sie mussten sich zu irgendetwas zusammenbrauen, das für Zayls Empfinden nur etwas äußerst Beängstigendes sein konnte. Er steckte Humbart in die Tasche zurück und näherte sich dem Podest. Als er vorsichtig mit den Fingern über die Runen strich, hätte er schwören können, ein Pulsieren wie von etwas Lebendigem zu fühlen. 374
»Was ist?«, wollte Gorst wissen. »Das weiß ich noch nicht, aber ich muss etwas versuchen.« Er inspizierte die Runen genauer und berührte drei ganz bestimmte, deren Bedeutung er erkannt hatte. Er flüsterte einen Zauber und schuf eine Verbindung zwischen sich und den Runen. Urtümliche Kräfte schossen so vehement durch den Nekromanten, dass er nach Luft schnappen musste. Der Riese machte einen Schritt auf ihn zu, doch Zayl schüttelte den Kopf. Er kämpfte noch immer damit, die Kräfte im Gleichgewicht zu halten, gleichzeitig zog er seinen Dolch. Die Klinge leuchtete kräftig, und als er die Waffe über das Podest hielt, entstand ein Regenbogen aus Farben, die von verschiedenen in den Stein geritzten Markierungen ausgingen und sich zu einer grell blendenden Machtdemonstration zusammenfügten. »Lasst die Wahrheit sichtbar werden!«, rief Zayl zur Decke. »Lasst die Maske fallen! Zeigt die Welt, wie sie ist, lasst sie uns schauen! Hezar ky Brogdinas! Hezar ke Nurati! Hezar ky ...« Mit einem Mal überkam den Nekromanten ein Gefühl, das so gewaltig war, dass er die Verbindung nicht länger aufrechterhalten konnte. Er fiel nach hinten, und vor seinen Augen wurde alles verschwommen. Plötzlich sah er doppelt – und das auf eine ganz sonderbare Weise. Während in dem einen Bild Zayl und Gorst waren, zeigte das andere eine völlig gegensätzliche Szene, die jedoch kaum zu erkennen war. In ihr hielten sich drei Gestalten ganz in seiner Nähe auf. Während Zayl nach hinten wich, kam Gorst auf ihn zu. »Ich sehe ihn! Ich sehe ...« Weiter kam er nicht, denn der Raum – und mit ihm die Wahrnehmung der Realität – veränderte sich abermals. Der Riese ging auf ein Knie, und der Nekromant machte es ihm nach, 375
um nicht völlig den Halt zu verlieren. Die andere Version des Raums begann zu verblassen. Zayl kämpfte sich wieder vor, entschlossen, dieses Bild nicht zu verlieren. Die nur vage erkennbaren Gestalten schienen nichts von dem wahrzunehmen, was sich um sie herum abspielte. Sie wirkten so, als seien sie in etwas vertieft, das sich auf dem Podest ereignete. Einer von ihnen sah wie Juris Khan aus, eine andere Gestalt hatte die Haarfarbe von Khans Tochter, und der dritte Umriss war so klein, dass Zayl an den Vizjerei denken musste, auch wenn er sich nicht erklären konnte, was Quov Tsin hier zu suchen haben sollte. Zayl legte seine Hand auf zwei der Runen und artikulierte seine Zauberformel noch einmal. Er rief die Kräfte zu sich. Etwas anderes versuchte, sie ihm wieder zu entziehen, doch der Nekromant blieb hartnäckig. Er war überzeugt, dass eine Katastrophe drohte, wenn er jetzt nicht standhielt. Wieder veränderte sich alles, und diesmal legten sich die beiden Bilder genauer übereinander. Auf dem Podest zeichnete sich eine vierte Gestalt ab, deren Arm- und Beinhaltung den Eindruck erweckte, als hätte man sie gefesselt. Diese erschreckende Erweiterung der Szene ließ Zayl beinahe doch die Konzentration verlieren. Wieder begann das andere Bild zu verblassen, doch er reagierte rechtzeitig, errang seine Konzentration zurück. Zum dritten Mal rief Zayl einen Zauber, während er zugleich die in den Runen enthaltenen Kräfte aufforderte, seinem Befehl zu gehorchen. Die auf dem Podest gefangene Gestalt wurde etwas deutlicher, und Zayl erkannte in ihr Kentril Dumon, der ihn seinerseits aber noch nicht sehen konnte. Vielmehr starrte der Hauptmann mit aufgerissenen Augen auf etwas, das sich über ihm befinden 376
musste. Sein Ausdruck war so angestrengt, dass der Nekromant nun ebenfalls in diese Richtung blickte. Juris Khan stand über ihn gebeugt, die Augen in freudiger Erwartung weit aufgerissen. Seine Hand hatte soeben zu einem Hieb ausgeholt, der auf Hauptmann Dumons Brust zielte. Und in dieser Hand hielt Khan eine geschwungene Klinge, die es auf das Herz des Söldners abgesehen hatte.
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Zwanzig Ein simpler Zauber verhinderte, dass Kentril weiter protestierte, nachdem Juris Khan erklärt hatte, er benötige völlige Ruhe, um die Magie fehlerfrei zu wirken. Er entschuldigte sich dafür sogar bei seinem Gefangenen und versicherte dem Hauptmann, dass er es, wenn alles vorüber sei, wiedergutmachen würde. Atanna war vor Beginn des Zaubers zu ihm gekommen, hatte seine Stirn gestreichelt und ihn sanft auf den Mund geküsst. Jetzt fühlten sich ihre Lippen kalt und tot an, ihre Augen hatten einen glasigen Ausdruck angenommen und waren nur mehr eine Parodie auf das Leben. Hätte ihm jemand früher erzählt, das Angebot der Liebe einer hübschen Prinzessin und der Unsterblichkeit würden ihn eines Tages abstoßen, hätte er ihn sicher laut ausgelacht. Kentril konnte nur noch beten, dass ein Wunder geschah. Quov Tsin ignorierte weiterhin das Offensichtliche und half, den abscheulichen Plan in die Tat umzusetzen. Der Vizjerei begann mit dem ersten Teil des Zaubers, der die in den Runen verborgenen Kräfte rief und mit den rohen Urkräften verband, von denen sie umgeben waren. Atanna stand neben ihm, ein entrücktes Lächeln auf den Lippen, und murmelte etwas, das sich anhörte, als würde sie in der Handelssprache rückwärts reden. Ihre Arme hielt sie weit ausgebreitet, eine Handfläche wies auf Tsin, die andere auf ihren Vater. Lord Khan selbst thronte über dem wehrlosen Kentril, den düsteren Dolch hoch über ihn gehalten und allem Anschein nach bereit, jeden Augenblick damit zuzustoßen. Der Monarch des 378
gesegneten Ureh sprach in einer Mischung aus klar verständlichen und schier sinnlosen Phrasen, die dem Gefangenen nur noch mehr Angst einflößten. »Blut ist der Fluss des Lebens!«, rief der ältere Mann zur Decke hinauf. »Und wir trinken dankbar aus diesem Fluss! Blut ist die Nahrung des Herzens ... und das Herz ist der Schlüssel zur Seele! Die Seele führt uns in den Himmel ... und zur Unsterblichkeit ...« Der Dolch kam ein Stück näher und entfernte sich gleich wieder, als Khan zu einem Satz in einer anderen unverständlichen Sprache ansetzte. Kentril wünschte, er hätte das Bewusstsein verloren, gleichzeitig wusste er jedoch, dass er vielleicht nie wieder aus einer Ohnmacht erwachen würde. Ob das besser wäre, als die ungeheuerliche Existenz, die ihm angeboten wurde, vermochte der Hauptmann nicht zu sagen. Doch wenn er bei Bewusstsein blieb, gab es zumindest noch die Hoffnung, einen Ausweg zu finden, ehe es zu spät war – so schwach dieser Hoffnungsschimmer auch sein mochte. Es war jedoch kein Fluchtweg erkennbar. Mit aufgerissenen Augen sah Kentril mit an, wie sich Juris Khan vorbeugte und den Dolch vor die Herzgegend seines Gefangenen hielt. Der Blick des Mannes verriet dem Söldner, dass die Klinge sich diesmal in ihr Ziel bohren würde. Wirbelnde Ranken aus reiner Energie erhoben sich rings um Kentril, sie spannten jede Faser seines Körpers aufs Äußerste an. Quov Tsin dirigierte diese Ranken, aus denen Lord Khan Kraft zu schöpfen schien. »Großer Diener des Himmels, Erzengel Mirakodus, erhöre diesen bescheidenen Menschen! Blut, der Vorbote der Seele, öffnet den Weg in die wahre Welt! Lass deine Kraft uns führen! 379
Lass die Macht des Himmels ungeschehen machen, was geschehen ist! Gib den Schatten frei! Lass es nicht zu, dass die Sonne deinen Kindern den Tod bringt! Lass Ureh auf die Ebene der Sterblichen zurückkehren, damit Urehs Kinder in alle Welt hinausziehen und jedem Mann und jeder Frau jene Wahrheit überbringen können, die du sie wissen lassen willst!« Es klang völlig verrückt, doch Kentril konnte nichts tun oder sagen, um das Opfer zu verhindern. »Gesegneter Mirakodus, mit diesem Blut ersuche ich, Juris Khan, dich um diese Gunst!« Der Dolch sank tiefer und tiefer ... ... als auf einmal aus dem Nichts eine Hand auftauchte und Hauptmann Dumons rechten Arm packte. Kentril achtete nicht weiter darauf, da er annahm, Tsin wolle einfach nur sicher gehen, dass der Söldner nicht doch noch im letzten Augenblick zur Seite wich. Er kniff die Augen zusammen und wartete auf den Schmerz und die Leere des Todes ... »Hauptmann! Bewegt Euch! Ich fürchte, uns bleibt nicht viel Zeit!« Er riss die Augen auf. »Zayl?« Der Nekromant stand über ihn gebeugt und hatte eine Hand um seinen rechten Arm gelegt. Ein Stück hinter ihm sah er Gorst, der das Ganze mit einer Mischung aus Erleichterung und Argwohn beobachtete. In der Kammer sah es aus wie zuvor. Lediglich Khan, Atanna und der Vizjerei waren verschwunden! »Was ...«, begann Kentril und bemerkte erst jetzt, dass er wieder sprechen konnte. Der Nekromant fiel ihm ins Wort. »Beeilt Euch! Er könnte jeden Moment feststellen, dass ich seinen Zauber unterwandert 380
habe. Wir müssen unbedingt vorher von hier verschwunden sein!« Zayl nahm seinen Dolch und hielt ihn nacheinander über Kentrils Arme und Beine, und er bemerkte, dass er sich wieder bewegen konnte. Der Zauberkundige musste ihn nicht noch einmal zur Eile antreiben, damit er vom Podest sprang. »Ich werde etwas ausprobieren«, sagte Zayl zu ihm und Gorst. »Bei so vielen Energiequellen zu meiner Verfügung könnte es funktionieren. Es ist vielleicht unsere letzte Chance.« Der Gedanke, einfach nur dazustehen und darauf zu hoffen, der Nekromant werde sie schon retten, missfiel Kentril. Er fragte: »Können wir irgendwie helfen?« »Das könnt Ihr allerdings! Gorst, gebt dem Hauptmann eine Waffe. Ihr beide müsst auf mich aufpassen, für den Fall, dass unser werter Gastgeber bemerkt, was ich tue.« Kentril nahm das Schwert entgegen, das der andere Söldner ihm reichte. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass Zayl ganz offensichtlich damit rechnete, Juris Khan werde von dort zurückkehren, wohin er ihn geschickt hatte. Die beiden aufmerksamen Soldaten warteten gebannt, während der Nekromant rasch ein komplexes Muster über den Runen zeichnete. »Das sollte genügen«, erklärte er, dann zeigte er mit dem Dolch zuerst auf sich, danach auf seine beiden Gefährten. Kentril verspürte ein Gefühl extremer Leichtigkeit, fast so, als wäre er schwerelos geworden. Der Hauptmann rechnete bereits damit, wie eine Wolke davonzufliegen. Er öffnete den Mund, um den Zauberkundigen zu fragen, was er vorhatte, als ... ... die Kammer verschwand! Im nächsten Moment nahm um ihn her ein von heftigen Winden gepeitschter Gebirgskamm Gestalt an. Kentril reagierte 381
auf diese Veränderung, indem er sich sofort gegen die Felswand drückte. Zayl hatte sie an den äußersten Rand des Nymyr versetzt. Der Wind heulte unheilvoll, grollender Donner war zu hören. Kentril sah auf und erkannte, dass der Himmel sein Aussehen verändert hatte. Er wies jetzt die alptraumhaften Farben auf, die er aus seinen Visionen kannte. Sein Blick wanderte nach unten, wo Ureh lag und nur von ein paar schwachen Lichtern erhellt wurde. Hauptmann Dumon konnte sich vorstellen, wie es in der Stadt aussah, in der die dämonischen Bewohner des einst heiligen Reiches jeden Anschein von Menschlichkeit abgestreift hatten. »Hierher habe ich uns eigentlich nicht schicken wollen«, murmelte Zayl und blickte frustriert drein. »Mit der Kraft, die ich aus den Runen gezogen habe, hätten wir mühelos irgendwo außerhalb dieses verfluchten Schattens landen sollen.« Kentril dachte an das Bild des falschen Erzengels. »Vielleicht ist das nicht möglich gewesen. Vielleicht gibt es aus Ureh kein Entkommen.« Der Nekromant sah ihn eindringlich an. »Hauptmann, womit war Juris Khan beschäftigt, als ich auftauche?« »Er sagte, er müsse einen Zauber wirken, um sicherzustellen, dass Ureh auf der Ebene der Sterblichen bleiben könne. Ein Zauber, der seine Kinder befähigen soll, in die Welt hinauszuziehen.« Kentril holte tief Atem und ging dann alle Details durch, die er für wichtig hielt. Er beschrieb den Wahnsinn, von dem der Monarch eindeutig ereilt worden war, er erwähnte Tsins Verrat, den schrecklichen Vorfall mit Atanna und die Entdeckung, dass Lord Khans Erzengel keineswegs vom Himmel gesandt worden war. »Allmählich fügt sich alles zusammen«, erwiderte Zayl, als 382
Kentril alles Maßgebliche erzählt hatte, »allerdings nicht auf die Weise, die ich als beruhigend empfinden würde. Ich glaube, ich beginne zu verstehen. Meine Freunde, ich denke, Juris Khan hat sein Volk nicht in den Himmel geschickt, sondern geradewegs in die tiefste Hölle.« Das überraschte Hauptmann Dumon nicht annähernd so stark, wie es noch vor ein paar Tagen der Fall gewesen wäre. Diese Antwort erklärte vieles von dem, was sie erlebt hatten. Und es passte auch eindeutig zu dem, was ihm durch den Kopf gegangen war, als er in die Augen von Khans Darstellung des Erzengels geblickt hatte. Zayl sah sich um, als erwarte er, von jemandem auf diesem gottverlassenen Gebirgskamm belauscht zu werden. »Das ist meine Überlegung: In jenen Tagen, als Ureh über allen anderen stand und ein Symbol für die Reinheit war, tobte das, was von Zauberkundigen und Priestern als der Sündenkrieg bezeichnete wird. Über ihr wahres Aussehen ist nur wenig bekannt, doch die Mächte der Finsternis waren zu jener Zeit sehr aktiv, und ein Ort wie dieses heilige Königreich hatte unter zahlreichen heimtückischen Attacken zu leiden. Einige der Legenden, die Ihr kennt, spielen darauf an, doch sie erklären nicht einmal ansatzweise das volle Ausmaß der Gefahr, die der Welt der Sterblichen damals drohte.« »Dämonen griffen Ureh an?« Gorst hatte die Brauen eng zusammengezogen, als wäre der Gedanke ihm schier unvorstellbar. »Nicht in Form einer Armee, sondern in Form von Mächten, die versuchten, die Einwohner zu verderben. Generationen von Herrschern arbeiteten unermüdlich daran, genau dies zu verhindern und die Unschuldigen vor den Erzbösen zu schützen ...« Der Nekromant kniete sich plötzlich hin und begann, mit dem Dolch 383
Symbole in den Fels zu zeichnen. »Verzeiht, ich muss arbeiten, während ich das erkläre, sonst sind wir alle verloren ...« »Was macht Ihr da?« »Ich sorge dafür, dass wir vor den Blicken unseres Gastgebers geschützt sind, Hauptmann. Jedenfalls hoffe ich das.« Er zeichnete einen großen Kreis, in dessen Mitte er eine Reihe von Runen schrieb. Während der heftige Wind dem Nekromanten nichts anzuhaben schien, mussten sich die beiden Söldner fest an die Felswand pressen, um sich wenigstens einigermaßen in Sicherheit zu bringen. »Eure Schilderungen füllen viele Lücken in meinen Erklärungsversuchen aus«, fuhr Zayl fort. »Ich fürchte, Juris Khan hat seine Schäfchen so sehr behütet, dass er vor dem Wolf selbst nicht genug Vorsicht wahrte. Ich glaube, dass jemand, der – wie Ihr es beschrieben habt – das Aussehen eines himmlischen Kriegers angenommen hatte, den wohlmeinenden Herrscher glauben lassen konnte, er tue nur das Beste für Ureh. Ich glaube so wie Ihr, dass es sich dabei wohl um Diablo höchstpersönlich gehandelt haben könnte.« »Aber das kann doch nicht sein!«, protestierte Kentril, der nicht glauben wollte, dass er die Wahrheit gesehen hatte. »Das wäre doch viel zu schändlich!« »Keineswegs. Ureh war die lohnendste Beute von allen. Sie für sich zu beanspruchen, würde die Anstrengungen des Größten aller Dämonen erfordern. Ja, Hauptmann, ich glaube wirklich, Diablo ist in der von Euch beschriebenen Form erschienen. Er hat Lord Khan mit dieser Tatsache getäuscht und alles Gute, was der Mann angestrebt hatte, in ein immer schlimmeres Übel verdreht. Anstatt in den Himmel hätte er die Stadt in die Hölle geschickt, und nur Gregus Mazis rechtzeitiges Eingreifen konnte das ver384
hindern. Doch nicht einmal der Limbus konnte sie für alle Zeit schützen ...« Diablo, so vermutete der Zauberkundige weiter, hatte es zumindest geschafft, noch einmal den Verstand seiner Schachfigur zu berühren. Nach und nach hatte er Juris Khan dazu gebracht, dem dämonischen Fürsten Volk und Tochter zu überantworten. Ureh war zu einem Alptraum geworden, in dem die wenigen, die sich vielleicht noch widersetzten, geopfert oder einem noch schlimmeren Schicksal zugeführt wurden. Doch der Fürst des Terrors gab sich damit noch immer nicht zufrieden. Vielleicht war es ihm bewusst geworden, als Ureh zum ersten Mal kurzzeitig in die Welt der Sterblichen zurückkehrte. Vielleicht hatte Diablo dabei die Gelegenheit für ein Portal erkannt, das von seinen Horden ungehindert durchschritten werden könnte, um sich über diese Welt auszubreiten. »Doch Diablo benötigte Blut, unbeflecktes Blut, um das zu erreichen. In seinem Wahnsinn hatte Juris Khan jedoch all seine Zauberkundigen getötet. Er benötigte jemanden, der ihm helfen konnte, jemand mit dem geeigneten Wissen und den passenden Fertigkeiten. Eure Truppe versorgte ihn mit beidem – vielleicht ein Zufall, vielleicht Schicksal.« »Aber Ihr habt mich gerettet. Wir haben ihn stoppen können!« Zayl erhob sich und sah den Hauptmann finster an. »Haben wir das? Der Zauber war bereits weit fortgeschritten, als ich Euch endlich erreichte.« »Er hat aber von mir kein Blut bekommen.« Der Nekromant nickte, empfand aber diese Tatsache offensichtlich nicht als sehr tröstlich. »Er hat immer noch Meister Tsin.« 385
Kentril sah ihn erschrocken an. Tsin war zu Lord Khans Marionette geworden, doch so wie die Söldner war er weder von dem ursprünglichen Zauber über Ureh noch von der anschließenden Verderbnis berührt worden. »Aber ist das überhaupt möglich? Werden sie ihn nicht für den Rest des Zaubers benötigen?« »Der Vizjerei hat ihnen bereits geholfen, indem er die benötigten Kräfte bändigte. Es wäre zwar ein wenig riskant, aber ich würde es bei unserem Gastgeber und seinem wahren Herrn für möglich halten, wenn sie verzweifelt genug sind.« Dann waren Kentril und seine Gefährten also gescheitert, obwohl man ihn hatte retten können. Sie hatten ein von einem Dämon unterwandertes Königreich verlassen, das schon bald nicht mehr im Schatten der Berges gefangen sein würde. Sobald das geschah, würden sich die Schrecken, die Kentril in der Stadt gesehen hatte, über die ganze Welt ausbreiten. »Nein ...« »Da habt Ihr wohl Recht«, stimmte der bleiche Mann ihm zu. »Doch ich glaube, wir haben noch immer eine Chance, um Ureh zur längst überfälligen und verdienten letzten Ruhe zu betten.« »Aber wie? Wenn Tsins Blut bereits vergossen wurde, müsste dies doch bedeuten, dass die Stadt schon wieder Teil unserer Welt ist, oder nicht?« »Damit der Zauber funktioniert, muss er mit den beiden Schlüsseln verbunden werden. Meine Vermutung ist die, dass beide an ihrem vorgesehenen Platz sein müssen, wenn die Sonne den Gipfel bescheint. Nur dann wird sich der Zauber des Blutes mit der Dunkelheit und dem Licht verbinden und denen in Ureh die Möglichkeit geben, aus dem Schatten zu treten.« Gorst kleidete das Ganze in einfachere Worte. »Wenn die Steine an ihrem Platz sind, können die Dämonen entkommen. Wenn 386
Wenn nicht, wird Ureh wieder zu einer Ruinenstadt.« »Richtig. Aber wenn Letzteres passiert, dann wird es für immer so bleiben.« Damit war für Kentril klar, was sie tun mussten. »Dann benutzt Eure Hexenkunst und bringt uns zu einem der Schlüssel. Wir zerschlagen ihn, und dann hat das alles ein Ende.« »Leider wäre das nicht sehr ratsam, Hauptmann. Ich hatte die Kraft der Runen bereits benutzt, um uns an Euren ursprünglichen Lagerplatz außerhalb des Schattens zu bringen, aber ...« Er breitete die Hände aus. »... Ihr seht ja selbst, wo wir gelandet wären.« »Und was machen wir dann?« Zayl spielte mit dem Messer. »Ich habe den Gedanken noch nicht aufgegeben, die Reste der Kraft zu benutzen, die ich aus den Runen geschöpft habe, um uns aus der Kammer in Sicherheit zu bringen. Ich glaube, ich kann Euch und Gorst nahe genug an den Schlüssel zum Licht transportieren, damit Ihr eine Chance habt. In der Zwischenzeit werde ich mich nach unten begeben und den Schlüssel zum Schatten aufsuchen. Einer von uns sollte Erfolg haben, das ist alles, was erforderlich ist, um diesen Schrecken zu hindern, sich über die Grenzen von Ureh hinweg auszubreiten.« Dieser Plan war schon einmal versucht worden, und sowohl Gregus Mazi als auch der Priester Tobio hatten dafür teuer bezahlen müssen. Kentril machte Zayl darauf aufmerksam. Der Nekromant jedoch hatte bereits eine Antwort auf Lager. Mit einem grimmigen Lächeln erläuterte er: »Ich werde seine Aufmerksamkeit auf mich lenken. Juris Khan wird vermutlich glauben, dass ich für ihn die größere Bedrohung darstelle. Abgesehen davon wird er Grund zur Annahme haben, dass wir ge387
meinsam unterwegs sind.« »Eine Illusion?« Kentril hielt es für recht unwahrscheinlich, dass Khan auf einen so simplen Zauber hereinfallen würde. »Weit gefehlt, Hauptmann. Darf ich ein wenig von Eurem Blut haben?« Nachdem er bereits um ein Haar zur Ader gelassen worden wäre, reagierte der Söldner überrascht auf dieses Ansinnen. Dennoch glaubte er, Zayl nach wie vor trauen zu können, erst recht unter den gegebenen Umständen. Dieser Mann hatte ihm immerhin das Leben gerettet. Kentril hielt ihm die Hand mit der Innenfläche nach oben entgegen. Der Nekromant nickte nur kurz, dann streckte er den Dolch vor und sagte: »Von Euch auch, Gorst.« Der Riese gehorchte mit weit weniger Zurückhaltung, nicht zuletzt auch wegen Kentrils zuvor demonstriertem Vertrauen. Zayl stach jedem von ihnen in den Zeigefinger, dann drehten sie die Hände um. Blutstropfen verteilten sich auf dem Gebirgskamm. Der Zauberkundige wartete, bis jeder von beiden drei Tropfen vergossen hatte, dann ließ er sie ein Stück nach hinten treten. Einige Sekunden lang flüsterte er etwas und bewegte eine Hand über den Blutflecken. Dann stach er sich zum Erstaunen der beiden Söldner selbst in den Finger und achtete darauf, dass vor jedem der Männer nur drei Tropfen auf den Fels fielen. »Unter normalen Umständen hätte ich diesen Zauber auf eine ganz andere Weise gewirkt«, erklärte er beiläufig. »Doch nun muss es so genügen.« Wieder murmelte er etwas. Kentril sah dem Gesicht des Nekromanten an, wie angestrengt er war. Dann wurde ihm klar, 388
dass Zayl etwas zu erreichen versuchte, das allem widersprach, was er gelernt hatte. Plötzlich hob sich der Boden vor dem Hauptmann an, zunächst nur ein paar Zoll, dann mehr und mehr, und nach nicht einmal einer Minute war ein Hügel entstanden, bereits halb so groß wie ein erwachsener Mann und stetig wachsend. Je mehr der Hügel anstieg, desto deutlicher nahm er Form an. Arme wuchsen seitlich heraus, und an den Enden formten sich Hände mit einzelnen Fingern. Der zweite Hügel tat es dem ersten nach und überholte ihn sogar in seinem Wachstum, bis er Gorsts Größe erreicht hatte. Je länger Kentril zusah, um so mehr erinnerte die Kontur an den Riesen. Beine entstanden, der Torso nahm klare Gestalt an. Sogar die dichte Mähne auf seinem Kopf wurde erkennbar. Vor den ungläubigen Augen der Kämpfer nahmen ihre exakten Ebenbilder endgültig Gestalt an. Der neue Kentril und der neue Gorst standen starr da wie der Stein, aus dem sie entstanden waren. Zwar blinzelten sie immer wieder, doch es geschah völlig regelmäßig und gleichzeitig, nicht so zufällig wie bei einem richtigen Lebewesen. »Eine Variation des Golem-Zaubers«, erläuterte Zayl. »Nicht gerade ein Experiment, das man unter diesen Bedingungen zum ersten Mal versuchen sollte, aber es hat ja funktioniert.« Kentril sah in sein eigenes Gesicht. »Können sie auch reden?« »Sie haben keinen echten eigenen Verstand. Sie können grundlegende Dinge tun, also gehen und in gewissem Maß auch kämpfen, aber das ist auch schon alles. Es dürfte jedenfalls reichen, um Juris Khans Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, bis Ihr den Schlüssel zum Licht erreicht habt.« »Zayl, Ihr macht Euch selbst zum Ablenkungsmanöver – und 389
damit zu einem Köder, wie er nicht unbedingt üblicherweise die Jagd überlebt.« Der Nekromant wahrte einen neutralen Gesichtsausdruck. »Ich schaffe uns die bestmöglichen Chancen, Hauptmann.« Er würde es sich nicht ausreden lassen, und wenn Kentril sich selbst gegenüber ehrlich war, musste er zugeben, dass er kein vernünftiges Argument besaß, um diesen Plan zu verwerfen. Genau genommen hatte Zayl von ihnen allen noch die besten Aussichten, wenn es zu einer Konfrontation mit Khan kam. »Wir haben uns jetzt lange genug hier oben aufgehalten«, fuhr Zayl fort. »Ich muss Euch fortschicken, bevor er feststellt, wo wir uns befinden. Ich glaube, wir sind einer Verfolgung bislang nur entgangen, weil wir nicht dort aufgetaucht sind, wohin ich uns hatte bringen wollen.« Wieder konzentrierte der Nekromant seine Kräfte auf die beiden. Kentril stand dicht neben Gorst und versuchte, sich für die Reise bergauf per Zauber zu wappnen. Dass Zayls letzter Versuch fehlgeschlagen war, erfüllte ihn mit Sorge, was die nächste Aktion anging. Sie konnten sich genauso gut kopfüber am Turm von Khans Palast wiederfinden. »Möge der Drache über Euch wachen«, sagte der Zauberkundige leise. Zayl und der Felsrücken verschwanden. Wütend und enttäuscht starrte Juris Khan auf die Stelle, an der sich Kentril Dumon gerade noch befunden hatte. Das musste die Schuld dieses üblen Nekromanten sein, den er, um den Schein zu wahren, als Gast in seinem Palast hatte akzeptieren müssen. Es hatte ihn von Anfang an gestört, dass einer, der sich mit der Magie der Toten befasste, seine geliebte Stadt betreten hatte. Jedes Mal, wenn sich Zayl in der Nähe aufhielt, hatte er 390
sich zu einem Lächeln zwingen müssen. Und auf diese Weise zeigte sich der Nekromant nun erkenntlich? »Was zur Hölle ist los?«, schrie Quov Tsin auf. »Was ist passiert?« »Ein Missverständnis«, erwiderte Khan. »Ein dummes Missverständnis.« Atanna machte einen äußerst enttäuschten Eindruck, was den Zorn des Monarchen von Ureh auf den unreinen Zayl nur noch erhöhte. »Mein Kentril!«, rief sie. »Vater! Mein Kentril!« Er legte eine Hand auf ihre zarte Schulter. »Beruhige dich, meine geliebte Tochter. Der gute Hauptmann wird wieder zu uns zurückkehren. Vielleicht müssen wir ein anderes Ritual durchführen, um ihn für dich bereitzumachen, doch du kannst mir glauben, dass es geschehen wird.« »Aber was ist mit Dumon?«, wollte der Vizjerei wissen. »Wohin ist er gegangen?« »Es scheint, als hätte ich diesen Zayl unterschätzt. Er hat nicht nur die magische Veränderung in diesem Raum durchschaut, sondern sie auch zu seinem Vorteil zu nutzten gewusst, indem er den Hauptmann aus dieser Realität in die andere holte.« »Was ist jetzt mit dem Zauber? Was ist damit?« Lord Khan betrachtete den Hexenmeister nachdenklich, dann sagte er zu seiner Tochter. »Ja, was ist damit? Atanna, meine Liebste, ist unsere Arbeit damit völlig zunichte gemacht worden?« »Natürlich nicht, Vater! Ich würde dich doch niemals derart enttäuschen! Wie kannst du so etwas überhaupt von mir denken?« »Aber ja, aber ja. Verzeih mir, Atanna.« Er lachte leise und 391
ging zu Quov Tsin. »Und Euch bitte ich auch um Verzeihung, Meister Tsin.« Der kleine Hexenmeister sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Verzeihung? Wofür, Mylord?« »Für das, was ich nun tun muss.« Mit unglaublicher Kraft packte Juris Khan den kleinen Vizjerei und schleuderte ihn auf das Podest. »Mylord ...« »Ihr sollt wissen, dass Euer Opfer es meinen Kindern ermöglichen wird, sich in jedes Land zu begeben und in dieser Schattenwelt einen Weg in den Himmel zu öffnen.« Tsin machte den Mund auf, um einen Zauber zu sprechen. Jede Rune auf seinem Gewand war entflammt. Der Vizjerei versuchte sogar, Khan mit seinen spindeldürren Armen zurückzustoßen. Keine Abwehr – ob magisch oder weltlich – half ihm jedoch gegen die Macht, über die Juris Khan gebot. Mit einem Gebet an den großen Erzengel Mirakodus trieb er den Dolch tief in die knochige Brust des Hexenmeisters. Tsins Augen traten aus den Höhlen hervor, er wollte nach Luft schnappen, doch seine Lungen verweigerten ihm den Dienst. Seine Hände verloren ihren Halt am Gewand des Monarchen und sanken schlaff neben dem kleinen Man herab. Blut spritzte aus der tiefen Wunde, breitete sich über den Stoff und tropfte schließlich auf das Podest. Ein Lichtblitz schoss aus Quov Tsins Körper hervor und zwang Lord Khan, zurückzuweichen. Weitere Blitze folgten, und über dem Leichnam entbrannte eine epische Schlacht magischer Kräfte. Der Meister der heiligen Stadt sank demütig auf ein Knie nie392
der. »Großer Mirakodus, erhöre mein unterwürfiges Flehen! Lass die Welt der Sterblichen wieder unser sein!« Eine Erschütterung durchlief den ganzen Palast, doch Juris Khan fürchtete sich nicht. Ein Gefühl der Entrückung überkam ihn, und für einen Augenblick sah er seine Umgebung in hundert verschiedenen Variationen, die endlich zu einem Bild verschmolzen und das Aussehen annahmen, das ihm am vertrautesten war. Der Zauber war erfolgreich verlaufen. Körper und Seele von Ureh waren wieder vereint. Das Licht unter den Lichtern strahlte nach langer Zeit neu entfacht auf der Ebene der Sterblichen ... Und alles, was er jetzt noch brauchte, um das Werk zu vollenden, war die Sonne. Sie stand kurz davor, aufzugehen und den Schlüssel auf dem Berg Nymyr mit ihren Strahlen zu erwecken. Das würde den Zauber besiegeln und das letzte Hindernis beseitigen ... Doch nein, es gab noch mehr als nur ein Hindernis, denn der Nekromant würde ganz sicher versuchen, ihn aufzuhalten. Ohne jeden Zweifel würde dieser Ruchlose seine Freunde dazu überreden, die Steine zu stehlen oder zu vernichten, eine Tat, zu der schon Gregus den armen Tobio überredet hatte. Zayl musste beseitigt werden. Ohne ihn würde Kentril in die Gemeinschaft zurückkehren. Der Riese Gorst wirkte harmlos, doch wenn er nicht dazu bewegt werden konnte, ins Licht zurückzukehren, würde Lord Khan auch ihn beseitigen müssen. »Shakarak!« Ein Feuerball materialisierte vor ihm. Khan murmelte ein weiteres Wort, und die Mitte der brennenden Kugel wurde durchscheinend. Zayls Gesicht tauchte darin auf. »Shakarog!« Das Bild wurde kleiner und zeigte mehr von der Umgebung des bleichen Nekromanten. Juris Khan betrachtete die 393
Gestalt verächtlich. Sie hatte so gut wie keine Farbe im Gesicht und war in Gewänder gehüllt, so schwarz wie sein Herz. Er war wahrlich ein Instrument der Hölle, nicht des Himmels. Der Erzengel hätte auf der Stelle seine Vernichtung zum Wohle aller angeordnet. Hinter Zayl tauchte eine zweite Gestalt auf. Hauptmann Kentril Dumon! »Aha«, sagte er zu sich selbst. »Anders als Gregus und Tobio haben sie beschlossen, gemeinsam zu reisen und ihre Anstrengungen zu vereinen. Zu schade, dass sie nichts davon haben werden.« Atanna trat zu ihm und streckte ihre zarte Hand nach dem Söldnerhauptmann aus. »Kentril«, schmachtete sie. »Ich werde ihn dir zurückbringen, mein Liebling.« Er erwähnte nicht, dass er dies nur tun würde, wenn es sich nicht als notwendig erwies, den Mann zu töten. Der Zauber, der den Hauptmann zu einem perfekten Gemahl für seine Tochter gemacht hätte, konnte nun nicht mehr gewirkt werden. Auch wenn Lord Khan ihr versprochen hatte, Kentril Dumon würde bald ihr ganz allein gehören, konnte es unmöglich werden, dieses Versprechen einzulösen. Dennoch würde er es versuchen ... doch zuerst musste er sie ablenken, um zu verhindern, dass sie ihn zu begleiten wünschte. Es würde ihr nicht gut tun, eventuell mit ansehen zu müssen, wie er den Hauptmann tötete. »Atanna, mein Liebling. Ich kann nirgends den großen Söldner namens Gorst entdecken. Du musst für mich am Schlüssel zum Licht Wache halten und darauf achten, dass er nicht dorthin gelangt und versucht, den Stein noch vor Sonnenaufgang an sich 394
zu nehmen. Verstehst du das?« Zum Glück hatte sie ihn nicht murmeln hören, dass die Gruppe gemeinsam unterwegs war, und auch war ihr im Gegensatz zu ihm nicht aufgefallen, dass der Riese ein Stück hinter seinem Söldnerkameraden folgte. »Aber ich möchte zu Kentril ...« »Das würde ihn nur noch mehr verwirren, und dabei könnte er sich sogar verletzen. Du weißt, wie sehr ihm das zu schaffen gemacht hat. Der Nekromant wird ihm seinen Verstand im Moment ganz sicher verdreht haben.« Atanna wäre ganz offensichtlich dennoch lieber mitgekommen, doch dann nickte sie. »Also gut, Vater ...« »Wunderbar!« Er nahm sie in die Arme und küsste sie auf die Stirn. »Nun mach dich auf den Weg. Bald wird das alles hinter uns liegen, und dann wird der gute Hauptmann Dumon wieder ganz dir gehören.« »Wie du es wünschst.« Sie lächelte, küsste ihn auf die Wange und ging. Mit seiner Tochter verschwand auch jeder freundliche Ausdruck auf Lord Kahns Gesicht. Finster blickte er auf die Gestalten, die unterwegs waren, um den Schlüssel zum Schatten an sich zu bringen. Mit dieser sündigen Tat hatten sie sich, wie vor ihnen schon Gregus, selbst verdammt. Er würde sie zerschmettern, notfalls auch Atannas Geliebten. Solch teuflisches Handeln durfte nicht ungesühnt bleiben. Dennoch verlangte die Gerechtigkeit, dass er zunächst für die Sünder betete. Gleichzeitig aber würde er sich mit dem Gedanken vertraut machen, sie vielleicht töten zu müssen. So wie er es bei Gregus und Tobio getan hatte, flüsterte Lord Khan ein paar Worte, dann schloss er mit dem Satz, der ihm immer am meisten Trost spendete. 395
»Möge der Erzengel Mirakodus sich Eurer Seelen annehmen.« Zufrieden lächelnd brach er auf, um den dreien zu geben, was ihnen gebührte.
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Einundzwanzig Mit der letzten Kraft, die er aus Juris Khans Arbeitszimmer geschöpft hatte, war es Zayl gelungen, sich und die Golems in die Höhle zu transportieren, in der er kurz vorher noch gefangen gewesen war. Der Nekromant hatte keinen weiteren, ähnlichen Zauber gewagt, da diese Magie grundsätzlich riskant und unter den gegebenen Umständen sogar töricht und nicht im Geringsten hilfreich gewesen wäre. Von hier aus musste es mit Formeln weitergehen, die er auswendig beherrschte, ganz gleich, wie sehr dies sein Vorankommen auf lange Sicht auch beeinträchtigen würde. Der Nekromant ging ohnehin nicht davon aus, dass er sein Ziel ungehindert erreichen würde – wenn er es überhaupt dorthin schaffte. Hauptmann Dumon war der Wahrheit sehr nahe gekommen. Zayl beabsichtigte tatsächlich, sich zu opfern, wenn die beiden Söldner dadurch ihr ureigenes Ziel erreichen konnten. Vor Sonnenaufgang musste nur einer der Schlüssel entfernt werden, und dabei war es unerheblich, welchen der beiden es traf. Zayl hatte alles nur Machbare unternommen, um die Aufmerksamkeit des Gegners auf sich zu ziehen, und dabei eine magische Spur hinterlassen, die jeder Zauberkundige erspüren und erst recht verfolgen würde. Möglicherweise hätte dies nicht genügt, doch die Begleiter des Nekromanten würden auf jeden Fall dafür sorgen, dass Khan nicht woanders nach ihnen suchte. Mit der ihm zur Verfügung stehenden Macht würde der Herrscher über Ureh seine Beute aufspüren und dabei recht schnell auf Zayls magische Spuren aufmerksam werden. Und dann würde er 397
mit einem simplen Erkenntniszauber erkennen, dass der Anhänger Rathmas nicht allein unterwegs war. Die beiden Golems folgten ihm wie kleine Hunde ihrer Mutter. Sie machten eine entschlossene Miene, allerdings nur, weil Zayl sie dazu angehalten hatte. Es würde zu nichts führen, wenn Juris Khan bei seinem Eintreffen auf den ersten Blick erkannt hätte, dass die beiden Kämpfer wie zwei geistlose Zombies dreinschauten. Damit wäre die Wahrheit viel früher offensichtlich geworden, als es dem Nekromanten lieb sein konnte. Jede Sekunde, die es ihm herauszuschinden gelang, brachte den Hauptmann und seinen Kameraden dem Erfolg näher. Mit Hilfe einer behelfsmäßigen Version seines ursprünglichen magischen Seils stiegen die drei zügig ins Innere des Berges hinab. Der Nekromant ging jedes Mal voraus und zeigte den Golems, was sie zu tun hatten. An sein Blut gebunden, konnten sie jede seiner Bewegungen exakt kopieren. Die einzige Gefahr – von ihrem Widersacher abgesehen – bestand in eigenständigem Handeln. Hätten sie den Abstieg auf sich allein gestellt bewältigen müssen, wären sie das Risiko eingegangen, abzustürzen und zerschmettert zu werden. »Bist du dir sicher, dass dein Plan funktioniert?«, fragte Humbart, als sie ihrem Ziel stetig näher kamen. »Vielleicht hat er sich doch auf die Suche nach ihnen gemacht.« Dieser Gedanke war Zayl auch schon gekommen, aber eine solch verheerende Wende der Ereignisse wollte er nicht offen aussprechen. »Er wird sicher erst mich aufhalten wollen, denn meine Fähigkeiten machen mich logischerweise zur größten Bedrohung fur ihn.« »Aye, aber Logik muss hier nicht unbedingt eine Rolle spielen, habe ich Recht?« 398
»Lass uns einfach das Beste hoffen, Humbart.« Der Schädel erwiderte nichts, was ihm in mehr als einer Weise ausgelegt werden konnte. Je weiter sie aber in den Berg vordrangen, desto größer wurde die Sorge. Hatte Lord Khan das Offensichtliche womöglich ignoriert, und war er dabei den Söldnern auf die Spur gekommen? Hatte er den Trick mit den Golems etwa von Anfang an durchschaut? Solche Fragen machten Zayl auf eine Weise zu schaffen, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Dann hatten sie die Ebene erreicht, wo der verzauberte Kristall zu finden sein sollte. Den Dolch allzeit bereit, führte Zayl die Golems weiter vorwärts. Die Geschöpfe besaßen Waffen, die vom Aussehen her denen jener Männer entsprachen, deren Gestalt sie nachahmten. Allerdings bestanden ihre Waffen aus dem Fels, aus dem sie auch selbst erschaffen worden waren. Wie schlagkräftig dies in einem Gefecht sein würde, vermochte der Zauberkundige nicht zu sagen. Wieder konnte er nur darauf hoffen, genug Zeit herauszuschinden, damit die anderen in der Lage waren, ihren Teil der Mission zu erfüllen. Näher und näher kamen sie ihrem Ziel, und noch immer stellte sich ihnen nichts in den Weg. Die Sorgenfalten in Zayls Gesicht wurden mit jedem Schritt tiefer. Inzwischen konnte er ein Stück voraus das eigenartige Licht sehen, das von der Stätte ausging, wo sich der Schlüssel zum Schatten befand. Sie waren so dicht am Ziel, aber noch immer gab es keinen Hinweis darauf, dass Juris Khan sie verfolgte. Sollte etwa der Nekromant erfolgreich sein, während die beiden Söldner zu den Opfern dieser Mission wurden? Er blieb stehen und dachte kurz nach, dann bedeutete er dem Gorst-Golem, vorauszugehen. 399
Der riesige Kämpfer trat vor und hielt die Axt so in der Hand, wie es ihm der wahre Gorst vormachte. Jede Bewegung entsprach denen des Söldners, was ein Zeichen dafür war, wie gut der schnelle Zauber des Nekromanten gewirkt hatte. Der falsche Gorst trat in den Schein des Schlüssels und hielt seine Waffe bereit. Nichts geschah. Der Golem wandte sich zu Zayl um und wartete auf neue Befehle. In dem Moment materialisierte ein heulendes Etwas über dem Konstrukt und ließ sich auf es niederfallen. Dem Nekromanten waren solch dämonische Gestalten nie zuvor begegnet, doch er erkannte darin sofort die geisterhaften Kreaturen, von denen Hauptmann Dumon berichtet hatte – Kreaturen, die die Überbleibsel der einst so gottesfürchtigen Bewohner von Ureh waren: nur noch die vertrocknete Hülle eines Körpers, dazu ein runder, aufgerissener Mund voller spitzer Zähne und seelenlose schwarze Höhlen dort, wo die Augen hätten liegen sollen. So sehr Zayl auch den Umgang mit Toten und Untoten gewöhnt war, der Anblick dieser einstigen Menschen aus dem sagenhaften Königreich ließ ihn doch erschaudern. Während der Golem mit seinem Gegner rang, nahmen zwei weitere Kreaturen Gestalt an. Zayl stürmte auf eine von ihnen los, musste aber erkennen, dass noch ein weiteres dieser Geschöpfe aus der Felswand materialisierte und ihn attackierte. Wirres Haar umrahmte ein Gesicht, das geradewegs aus einem Alptraum zu entstammen schien und den Nekromanten gierig anstarrte. Die zerfetzten Überreste eines einstmals verführerischen, smaragdgrünen Kleides bedeckten kaum noch die verschrumpelte, kadavergleiche Gestalt. »Küss mich«, krächzte das Ding. »Komm und lass dich von mir streicheln ...« 400
Zayl bekam vor Entsetzen eine Gänsehaut, und mehr aus einem Reflex heraus stieß er zu. Zu seiner Überraschung bohrte sich seine Klinge tief in die Kehle des Ghuls. Der Dolch leuchtete hell auf, als er sich in das ausgedörrte Fleisch fraß. Das entsetzliche Ding stieß ein fast schon erleichtertes Keuchen aus. Um sicher zu gehen, drehte Zayl die magische Waffe und sprach rasch ein paar Formeln. Die Halswunde flammte auf, und als der Nekromant die Klinge zurückzog, verstärkte sich dieses Leuchten, bis es die ganze Gestalt einhüllte. Sie fiel gegen die Wand und sank zu Boden, bis sie in der Haltung eines Kindes im Mutterleib liegen blieb. Im grellen Lichtschein schrumpfte der Körper immer mehr zusammen. Zayl sah lange genug zu, um sicher zu sein, dass sich das Ding in Kürze in nichts aufgelöst haben würde. Dann erst wandte er sich zu den Gestalten um, von denen die beiden Golems angegriffen wurden. Dabei sah er, dass sich die Zahl der Angreifer nicht nur verdreifacht hatte, sondern sie nun auch von zwei Seiten attackierten. Er war eingekreist. Die Golems gaben ihr Bestes, um die schrecklichen Horden zurückzuschlagen, und kämpften mit dem mechanischen Geschick, das sie von den wahren Söldnern geerbt hatten. Der falsche Gorst schlug einem Ghul den Arm ab, während der andere Kämpfer seinem Angreifer die Klinge in die Brust rammte. Leider waren beide Krieger das Produkt von Hexenkunst, sodass ihren Waffen die magischen Eigenschaften fehlten, die der Klinge des Zauberkundigen eigen war. Wenn man ihnen genug Zeit gelassen hätte, wären sie sicher in der Lage gewesen, ihre Gegner 401
niederzuringen. Doch unter den gegebenen Umständen und angesichts des nicht endenden Stroms von Angreifern konnte keine derartige Hoffnung aufkommen. Damit waren Zayls Fähigkeiten einmal mehr gefordert. In einer so beengten Umgebung wagte er es nicht, die Klauen oder Zähne von Trag’Oul einzusetzen, erst recht nicht, wenn sich Juris Khan in der Nähe aufhielt und darauf wartete, zuzuschlagen. Aber vielleicht konnte er zu etwas Ähnlichem greifen ... Er warf einen Blick über seine Schulter, dann wirkte er einen Zauber. Aus den Wänden, der Decke und sogar aus dem Boden brachen dicke Elfenbeinstäbe hervor, Stäbe aus echtem Knochen. Einer der dämonischen Angreifer stieß mit der Barriere zusammen, die sich vor ihm erhob. Ein stummer Befehl von Zayl ließ den Kentril-Golem noch rechtzeitig einen Schritt nach hinten machen, um zu verhindern, dass er auf der anderen Seite der Barriere mit den anstürmenden Angreifern in der Falle saß. Die Mauer aus Tausenden von Knochen längst verstorbener Kreaturen versperrte den Ghulen wirkungsvoll den Weg. Die gierigen Mäuler zuckten auf und zu, und die verdrehten, ausgetrockneten Finger versuchten vergeblich, an den Nekromanten heranzukommen. Mit dämonischer Wut bemühten sie sich, sein Werk zu überwinden, doch zumindest für den Augenblick hielt die Wand stand. Es war jedoch nicht abzusehen, wie lange das der Fall bleiben würde. Rasch wandte sich Zayl den Angreifern zu, die den GorstGolem umschwärmten, und wirkte einen weiteren Zauber. Mit seinem Dolch schrieb er ein Paar geschwungener Linien in die Luft, während er gleichzeitig einen Zauber rezitierte. Zwei Angreifern war es gelungen, sich an dem Konstrukt vor402
beizuschleichen, doch beide kamen nur ein paar Schritte weit auf den Nekromanten zu, ehe dessen Zauber sie erfasste. Fast menschliche Schreie ausstoßend, krümmten sie sich abrupt zusammen und wichen schnell zurück. Die anderen, die hinter ihnen weiter gegen den Golem gekämpft hatten, kauerten sich ebenfalls panisch zusammen. Einer von ihnen wandte sich ab und floh in den dunklen Gang, woraufhin auch die Reihen der anderen sich aufzulösen begannen. Die Folge war eine Szene, die zugleich entsetzlich und bemitleidenswert war. Jede dieser Schreckgestalten war einst ein Mensch gewesen, und in gewisser Weise bedauerte Zayl, was er ihnen soeben alles hatte antun müssen. Sie waren nicht diejenigen, die vom rechten Weg abgekommen waren. Vielmehr waren sie von dem Mann getäuscht worden, dem sie am meisten vertraut und den sie verehrt hatten: von Lord Juris Khan. Da nun die Golems Wache halten konnten, machte sich Zayl weiter auf den Weg zu der Kammer, in der sich der Schlüssel befand. Ganz gleich, ob seine Gefährten und er überleben würden oder nicht, zumindest einer der Kristalle würde von seinem ihm zugedachten Platz genommen oder sogar zerschlagen werden. Wenn sich herausstellte, dass es dieser Stein war, der vernichtet werden musste, dann würde Zayl nicht zögern, dies zu tun. Und dann stand er vor dem Edelstein. Alles war so wie beim letzten Mal. Ein Stück dahinter hing die tote Gestalt von Gregus Mazi noch immer von der Decke herab, aber wenigstens hatte sein Alptraum ein Ende gefunden. Ohne in seiner Wachsamkeit nachzulassen, begab sich Zayl zum Schlüssel. Die verwesenden Kadaver der geflügelten Teufel, die er und die anderen bei ihrem ersten Besuch in der Höhle abgewehrt hatten, lagen auf dem Boden verstreut, doch von einer 403
neuen Gefahr war nichts zu erkennen. Schritt um Schritt kam der Nekromant dem dunklen Kristall näher. Seine Finger waren nur noch wenige Zoll entfernt ... Ein plötzliches Knirschen ließ ihn zurückschrecken. Im ersten Moment befürchtete Zayl, die Höhle würde einstürzen, doch weder waren in der Decke Risse zu erkennen, noch lösten sich irgendwelche Stücke aus dem Fels. Dennoch hielt das sonderbare Knirschen und Ächzen an. Etwas im hinteren Teil der Höhle begann sich zu bewegen. Der Nekromant riss die Augen weit auf, als er sah, dass der versteinerte Gregus Mazi sich einer Marionette gleich aus seiner Jahrhunderte langen Starre befreite. Als Zayl ihm jedoch in die Augen sah, erkannte er, dass Mazi selbst nicht wieder zum Leben erwacht war. Der Hexenmeister war und blieb tot, und sein Leichnam bewegte sich nur, weil der wahnsinnige Juris Khan es so wollte. Der Leib glitzerte wegen der unzähligen Kristallablagerungen auf seiner Haut, und als der Untote seine verkrustete Hand nach Zayl ausstreckte, wich dieser rasch weit genug zurück, um nicht länger in Reichweite zu sein. Dann jedoch schoss die Hand weiter vor und wurde, während sie sich dem Nekromanten näherte, größer und länger. Dieser reagierte nicht schnell genug, und im nächsten Moment hatten sich die langgestreckten Finger um ihn gelegt und drückten so fest zu, wie es auch schon die steinernen Hände im Tunnel getan hatten. Im Gegensatz zu jenem beinahe tödlich verlaufenen Kampf war Zayl diesmal aber nicht auf sich allein gestellt. Die Golems, die seinem Willen gehorchten, kamen zu ihm in die Kammer, ihre Waffen kampfbereit erhoben. 404
Der Mann aus dem Stalaktiten ließ auch seine andere Hand vorschießen, um den falschen Kentril zu fassen zu bekommen. Dem Befehl des Nekromanten gehorchend, konterte der Golem mit einem Schwerthieb, der ein beträchtliches Stück der Hand abschlug. Bedauerlicherweise verlor er dadurch auch einen Teil seiner Schwertklinge. »Ergebt Euch in Euer Schicksal«, forderte Gregus Mazi. »Bereut Eure Sünden, und der Erzengel wird sich Eurer vielleicht doch noch annehmen ...« Der Mund, aus dem diese Worte kamen, war zweifellos der des auferstandenen Hexenmeisters, doch die Stimme konnte nur dem wahnsinnigen Monarchen von Ureh gehören. »Kentril Dumon, mein guter Hauptmann«, fuhr die makabre Gestalt fort, ihren leeren Blick auf den falschen Söldner gerichtet. »Befreit Euch von den Fesseln des Zweifels und der Täuschung, die diese ruchlose Seele Euch aufgezwungen hat! Die Unsterblichkeit an der Seite Atannas erwartet Euch ...« Obwohl sich Zayl in keiner erfreulichen Lage befand, kam Hoffnung in ihm auf. Mit seinen wenigen Worten hatte Lord Khan verraten, dass er das Konstrukt für den echten Hauptmann hielt. Demnach hatte er die beiden echten Söldner nicht entdeckt, die in diesem Augenblick den Nymyr bestiegen. Selbst wenn Zayl hier seinen Untergang erlebte, bestand nach wie vor Hoffnung, dass es Hauptmann Dumon und Gorst gelingen würde, der Gefahr, die von dieser Stadt der Verdammten ausging, ein Ende zu setzen. Der Kentril-Golem antwortete natürlich nicht, weil dies die Fähigkeiten des Nekromanten überstieg. Stattdessen schlug er wieder auf die ausgestreckte Hand und trennte einen Finger ab, verlor zugleich aber ein weiteres Stück seiner Klinge. 405
Khan, der offenbar durch die Augen seiner untoten Marionette blickte, hatte bislang weder an dem Golem noch an dessen Waffe etwas Ungewöhnliches bemerkt. Je länger Zayl ihn im Glauben lassen konnte, den echten Söldner vor sich zu haben, desto besser. »Hauptmann Dumon hört nur auf mich, Mylord«, gab der Zauberkundige zurück und gab sich alle Mühe, so herablassend wie möglich zu klingen. »So lange ich lebe, untersteht er meinem Willen.« »Dann, Nekromant, müsst Ihr sterben – um seiner und sogar um Eurer eigenen Seele willen!« Zayl erwartete längst, sein Leben hier lassen zu müssen, doch er beabsichtigte nicht, seinem Gegner ein leichtes Opfer zu sein. Juris Khans Interesse an dem Hauptmann hatte ihm wertvolle Sekunden eingebracht, um einen Plan zu ersinnen. Mit dem Zauber riskierte er zwar sein Leben, doch wenn er funktionierte, würde Khan sich persönlich hierher begeben müssen. Im Geiste stellte er sich die Explosion eines Sterns vor, dann legte er darüber die kristalline Gestalt, die einst der Körper von Gregus Mazi gewesen war. Mit dem letzten Rest Luft in seinen Lungen schrie Zayl ein einzelnes magisches Wort heraus. Gregus Mazi explodierte. Die Wucht der Explosion schleuderte Zayl gegen den KentrilGolem. Ein Hagel aus Splittern traf den Nekromanten und seine beiden Konstrukte. Die ganze Kammer wurde erschüttert, und der Stalaktit, der Mazi so lange Zeit festgehalten hatte, stürzte herab und bohrte sich in den Boden. Zayl schlug sich so hart den Kopf an, dass er einen Moment lang benommen war. Nach wie vor prasselten Steine unterschiedlichster Größe auf ihn nieder, sodass der Nekromant sein 406
Gesicht mit den Armen bedecken musste. Er hatte die Variation eines Zaubers benutzt, der den Leichnam eines gewaltsam zu Tode Gekommenen dazu veranlasste, in einer mächtigen Explosion all den Schmerz freizusetzen, der sich während der letzten schrecklichen Augenblicke seines Lebens aufgestaut hatte. Zwar war Zayl bemüht gewesen, die Explosion in eine bestimmte Richtung zu lenken, doch die geringe Größe der Kammer hatte es ihm praktisch unmöglich gemacht, völlig von den Folgen verschont zu bleiben. Nur mit Mühe erhob sich der benommene Nekromant. Keiner der Golems rührte sich, um ihm zu helfen, da er es ihnen nicht befohlen hatte. Zayl sah sie an, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Aus der Nähe konnte er gut erkennen, welcher Schaden entstanden war, da keiner der beiden mit einem Schutzzauber belegt worden war. Teile ihrer Gesichter waren weggerissen, aus Rumpf und Gliedmaßen waren einzelne Stücke herausgebrochen, und die tiefen Risse, die beide Konstrukte überzogen, ließen erkennen, dass es um ihre Stabilität nicht mehr sonderlich weit bestellt war. »Es gibt offenbar keine Untiefen des Bösen, in die Ihr nicht hinabsteigt, nicht wahr, Nekromant?« Zayl wandte sich dem Schlüssel zum Schatten zu – und entdeckte dahinter das scheinheilige Gesicht des Juris Khan. Der Monarch blickte stolz auf den Kristall und legte seine Hände schützend über ihn, wie über ein besonders geliebtes Kind. Von dem eigenartig dunklen Licht beschienen, wirkte Lord Khan so monströs wie die Kreaturen, in die sich sein Volk verwandelt hatte. »Den Leib eines Mannes zu nehmen, so rücksichtslos das Haus zu zerstören, in dem seine Seele gewohnt hat ... Eurer Verderbt407
heit ist wahrlich nicht beizukommen!« Zayl fühlte sich versucht, den Mann darauf hinzuweisen, dass es ihm selbst auch nicht als verkehrt vorgekommen war, die Kontrolle über Gregus Mazis Körper zu übernehmen. Allerdings würde Juris Khan für alles, was er tat, eine aus seiner Sicht plausible Erklärung geben können. Der Herrscher von Ureh war von dem Glauben beseelt, mit dem Segen des alles andere als himmlischen Erzengels zu handeln, von dem er immer wieder sprach. »Ich fürchte«, führ Zayls ehemaliger Gastgeber fort, »dass Eurer Seele nur die Abgründe der Hölle bestimmt sind.« Sein Blick wanderte zu dem Kentril-Golem. »Aber für den guten Hauptmann und seinen Freund könnte es noch Hoffnung geben ...« Im dämmrigen Licht der Höhle war es Khan offenbar nicht aufgefallen, in welchem Zustand sich die beiden Gestalten befanden. Zayl sah, dass er die Chance hatte, noch mehr Zeit herauszuschinden, und machte, den leuchtenden Dolch von sich gestreckt, einen Satz nach vorne. »Wenn ich in die Abgründe der Hölle gehen soll, werde ich Euch mitnehmen!«, brüllte er. Juris Khan reagierte wie erhofft, indem er sich von den Konstrukten abwandte und all seine Aufmerksamkeit auf den Nekromanten richtete. Der Schlüssel sandte eine Welle aus schwarzem Licht aus, die Zayl traf. Es gelang ihm gerade noch, einen magischen Schild zu errichten, doch die auf ihn einwirkende Gewalt war so groß, dass das schwarze Licht den Zauberkundigen gegen die Höhlenwand schleuderte. Zayl schrie vor Schmerz auf. »Hauptmann Dumon!«, rief der Monarch. »Entfernt Euch von ihm und kommt zu mir. Atanna erwartet Euch.« 408
Natürlich reagierte der Golem nicht. Lord Khan beugte sich vor und machte eine angestrengte Miene, während er wiederholte: »Hauptmann Dumon! Entfernt Euch von ihm und kommt zu mir. Atanna ...« Zayl zwang sich zur selben Zeit, wieder aufzustehen, obwohl sein Kopf dröhnte und seine Beine jeden Moment unter ihm nachzugeben drohten. Atannas Vater erkannte plötzlich die List, die Zayl angewandt hatte. »Homunkuli!«, rief Khan, hob eine Hand und zeigte auf das, was von Hauptmann Dumon noch übrig war. Der Golem erzitterte. Er machte einen Schritt nach vorn, wobei jedoch der Unterschenkel des einen Beins stehen blieb. Das Schwinden jeglichen Gleichgewichts ließ die Schöpfung des Nekromanten nach vorn kippen. Noch bevor der Golem auf dem Boden aufschlug, lösten sich Arme, Beine und Kopf vom Rumpf und wurden in unterschiedliche Richtungen verstreut. Lord Khan ballte die Hand zur Faust. Der Golem verlor jede Ähnlichkeit mit einem Menschen, und auf dem Höhlenboden verteilten sich nur noch feiner Staub und zersplittertes Gestein. Zayl hätte nicht für möglich gehalten, dass sein Widersacher einen noch finstereren Gesichtsausdruck zustande bringen würde. Doch die Miene, die er nun sah, ließ sogar den abgehärteten Zauberkundigen wünschen, nicht so nahe bei dem Herrscher über Ureh zu stehen. »Der Gipfel ...« Lord Khan starrte Zayl hasserfüllt an. »Sie sind auf dem Weg zum Gipfel des Nymyr!« »Vielleicht solltet Ihr ihnen nacheilen. Ich werde so lange den Schlüssel zum Schatten für Euch bewachen.« »Verspottet mich nicht! Beim Erzengel, Ihr seid wahrlich eine 409
Kreatur des Bösen!« Der Nekromant spürte, wie er langsam, aber stetig wieder zu Kräften kam. Wenn er Khan nur noch ein wenig länger hinhalten konnte, würden es die beiden Söldner schaffen. »Das einzig Böse ist das, was Ihr selbst in Ureh habt einziehen lassen, Lord Khan! Ihr habt geschafft, was Dämonen und fehlgeleitete Beschwörer seit Jahrhunderten vergeblich versuchten. Ihr habt dem heiligen Königreich die ewige Verdammnis gebracht. Ihr habt Euer geliebtes Volk ausgeliefert!« »Wie ... könnt... Ihr... es ... wagen?« Abermals ging eine Welle aus schwarzem Licht von dem Kristall aus, doch diesmal war Zayl vorbereitet. Die Attacke drückte ihn gegen die Wand und machte dem Zauberkundigen das Atmen schwer, aber er wurde nicht mehr brutal gegen den Fels geschleudert. Auf seinen stummen Befehl hin stürmte plötzlich der verbliebene Golem vorwärts und holte mit der Axt nach Juris Khan und dem Stein aus. Lord Khan richtete seine Energie gegen den falschen Gorst, der zwar ins Wanken geriet, von Zayls Willen getrieben aber unablässig weiter vorzurücken versuchte. Khan, der gezwungen war, gegen zwei Feinde zugleich zu kämpfen, ließ in seiner Wachsamkeit gegenüber dem Nekromanten geringfügig nach. Das genügte Zayl, um sich nicht länger vor der Attacke schützen zu müssen, sondern zum Gegenangriff überzugehen. Er konzentrierte sich aber nicht auf den Monarchen, sondern vielmehr auf den Schlüssel zum Schatten. Zayl wusste nicht, ob er darauf hoffen konnte, das Artefakt zu zerstören. Aber es würde schon genügen, den Stein zu beschädigen. Seine größte Sorge 410
galt weiterhin dem Erfolg von Hauptmann Dumon und Gorst. Als Diener von Rathma hatte Zayl sein Leben der Aufgabe verschrieben, das Gleichgewicht zu wahren. Wenn er dieses Leben nun opfern musste, dann geschah es in Erfüllung seiner heiligsten Pflicht. Er entfesselte die Zähne von Trag’Oul und hoffte, dass wenigstens eines der Geschosse sein Ziel treffen würde. Mit einer beiläufigen Handbewegung schuf Juris Khan einen silbern schimmernden Schild, der den Schlüssel vor dem Hagel aus Projektilen schützte. Die knochigen Geschosse wurden in alle Richtungen abgelenkt, und einige von ihnen kehrten sogar zum Nekromanten zurück. Zayl presste den Mund zusammen und lenkte seinerseits die Projektile ab. Gleichzeitig ging auch der zweite Golem zu Boden, da die Zähne das vollendeten, was Khan begonnen hatte. »Brut des Diablo!« Der große Herrscher stellte sich vor den geschützten Kristall und schien dabei noch an körperlicher Größe zu gewinnen. Seine Augen brannten so rot wie bei jedem Dämon, was umso ironischer war, wenn man seine Äußerung bedachte, die er soeben an den Nekromanten gerichtet hatte. Juris Khan war so durch und durch vom Finstersten der Erzbösen erfüllt, dass er seine eigene Verdammnis überhaupt nicht erkennen konnte. »Unterjocher der Seelen! Nimm deine ewige Strafe an!« »Gehört es zu dieser Strafe, sich noch länger Eure Predigten anhören zu müssen, Mylord?«, spottete Zayl. Weder Zauber noch Golems hatten sich bislang als wirkungsvolle Waffen erwiesen. Juris Khan war mit Worten viel stärker zu treffen, vor allem, wenn er mit diesen Worten in ein Licht gestellt wurde, das nichts mit der von ihm behaupteten Gottesfürchtigkeit zu tun hatte. Doch diesmal reagierte der Herrscher über Ureh nicht so, wie 411
der Zauberkundige es erwartet hatte. Stattdessen schüttelte Lord Khan nur in gespieltem Mitleid den Kopf und erwiderte: »Armer, fehlgeleiteter Narr. Das Böse, das Euch in seinem Griff hat, lässt Euch die Kräfte des Lichts unterschätzen. Ich weiß, was Ihr versucht, und ich weiß auch, warum Ihr es versucht.« »Ich versuche es, damit meine Ohren nicht Euren unablässigen Predigten ausgesetzt werden.« Wieder sprang Juris Khan nicht auf den Spott an. Er lachte leise und betrachtete den Nekromanten, als hätte er einen von Flöhen befallenen Hund vor sich. »Die letzte, verzweifelte Waffe eines geschlagenen Schurken. Eure Marionetten haben Euch bessere Dienste geleistet, Meister Zayl, da ich mich von ihnen wenigstens eine Weile habe täuschen lassen.« »Sie sollten Euch nur herlocken«, gab der Nekromant zurück. »Hierher, wo ich auf Euch wartete.« »Und Ihr glaubt, Ihr könnt mich dazu bringen, bei Euch zu bleiben und meine Zeit zu vergeuden, während Eure Gefährten auf dem Weg zum anderen Schlüssel sind? Glaubt Ihr etwa, ich hätte ihn unbewacht gelassen? Atanna wacht über ihn, sie wird es sehen, wenn sich die Söldner nähern. Und sie wird das Richtige tun.« Zayl brachte ein flüchtiges Lächeln zustande. »Selbst wenn es gegen Kentril Dumon gerichtet ist?« Diese Worte ließen Juris Khan aufhorchen. »Atanna wird dafür sorgen, dass er den Kristall weder entfernt noch beschädigt. Das ist alles, was sie tun muss.« »Sie will den Hauptmann, Mylord. Sie will ihn von ganzem Herzen. Eure Tochter könnte sich von ihrem Verlangen oder vielleicht sogar von ihrer Liebe dazu verleiten lassen, zu zögern. Ein Zögern ist alles, was der Hauptmann benötigt.« 412
»Atanna kennt ihre Aufgabe«, gab der ältere Mann zurück, doch sein Gesichtsausdruck verriet seine Verunsicherung. »Sie wird nicht das Werk des Erzengels verraten!« Noch während er sprach, zuckte knisternd Energie um Juris Khans Hände. Zayl wusste, dass die Zeit für ausgiebige Wortwechsel vorüber war. Wenn er dem Hauptmann und Gorst eine Chance geben wollte, dann musste der Nekromant all seine Macht ins Spiel bringen. »Die Zeit ist gekommen, um Eure Sünden zu beichten und um Vergebung zu bitten, Nekromant«, sagte Khan mit schallender Stimme. Sein Gesicht war von den Mächten erhellt, die er heraufbeschwor. »Und fürchtet nicht um Atannas Herz. Sie ist immer noch die Tochter ihres Vaters ... und sie wird tun, was nötig ist, auch wenn das bedeutet, dass sie Kentril Dumon vernichten muss!« Die starken Winde und die Kälte konnten der rothaarigen Tochter des Königs nichts anhaben, als sie auf der im Dunkeln liegenden Seite des Bergs nach dem Riesen Gorst Ausschau hielt. Von ihrer augenblicklichen Position aus spähte sie in die Nacht, um nach verräterischen Bewegungen zu suchen. Mit ihren Augen konnte sie in der Dunkelheit fast so gut sehen wie eine Katze. Es gab nur einen anderen Gedanken, der sie von ihrer Aufgabe ablenkte, ein Gedanke, der sich tief in ihren Geist gegraben hatte und ihr wie ein gieriger Blutegel zu schaffen machte. Sie wusste, dass ihr Vater versprochen hatte, ihrem geliebten Kentril nichts anzutun, doch Unfälle ließen sich nicht immer verhindern. Auch wenn der Nekromant gänzlich fehlgeleitet war, sprach er vielleicht doch die Wahrheit, wenn er behauptete, Kentril könnte sich für ihn, diesen säuerlichen, bleichen Mann, opfern. Das hätte 413
Atanna überhaupt nicht behagt. Da sie nichts Ungewöhnliches entdecken konnte, transportierte sie sich an einen anderen Standort. Atanna hoffte, der Region nahe dem Gipfel fernbleiben zu können, da sie nicht einmal der nächtliche Himmel dort oben hätte beschützen können. Nur der schwarze Schatten, jener behagliche Schatten, bewahrte sie vor dem Schicksal, das nicht einmal das Geschenk des Erzengels abzuwenden vermochte. Ihre Bedenken waren wie fortgewischt, als sie ein Stück unterhalb eine Bewegung bemerkte. Das musste der Riese sein! Atanna machte sich daran, sich ihm zu nähern, damit sie sicher sein konnte, dass gleich ihr erster Schlag tödlich war. Kentril zuliebe würde sie dafür sorgen, dass der Tod seinen Freund schnell ereilte, damit ... Eine zweite, kleinere Gestalt kam in Sichtweite. »Nein!«, flüsterte sie erschrocken. Das konnte nicht Zayl sein, denn ihn hatte sie in der Vision ihres Vaters gesehen. Aber es konnte auch nicht Kentril sein, da er zusammen mit dem Nekromanten unterwegs war. Wie hätte er demnach zugleich auch hier sein können? Sie würde sie aufhalten müssen, sie musste sie daran hindern, den Gipfel und damit den Schlüssel zum Licht zu erreichen. Ein simpler Zauber würde die Stelle an der Felswand zerstören, an der sich die beiden gerade aufhielten ... und er würde Kentril töten! Das aber brachte Atanna nicht über sich. Es musste eine andere Möglichkeit geben, die beiden zu stoppen. Doch jeder Versuch, ihnen durch eine Zerstörung eines Teils der Felswand den Weg zu verbauen, würde vermutlich auch ihren Tod zur Folge haben. »Ich kann nicht«, flüsterte sie. Andererseits konnte sie auch 414
nicht untätig zusehen, denn dann würde sie nicht nur ihren Vater, sondern auch den wunderbaren Erzengel Mirakodus verraten. Der Gedanke an den Erzengel erfüllte Atanna mit Liebe und Furcht zugleich. Sie musste an seine wundervollen Geschenke denken, aber sie erinnerte sich auch voller Angst daran, was geschehen war, als er in ihren Geist und in ihre Seele eingefahren war. Atanna wollte das nicht noch einmal durchmachen müssen, denn die Narben auf ihrer Seele waren noch lange nicht verheilt. Sie betete um eine Antwort, und es schien, als sei ihr Gebet augenblicklich mit einer Idee beantwortet worden. Atanna konnte die Hand nicht gegen ihren Geliebten erheben, doch genauso wenig konnte sie Verrat an allem üben, was ihr Vater anstrebte. Also war eine Prüfung notwendig, die zeigen sollte, ob Kentril von Anfang an auch tatsächlich würdig gewesen war oder nicht. Zweifellos würden ihr Vater und der Erzengel die Gerechtigkeit in ihrem Handeln erkennen. Sicherlich würden sie verstehen, was sie beabsichtigte. Und wenn Kentril wirklich sterben würde ... nun, Atanna sagte sich, dass auch er das dann einfach würde verstehen müssen.
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Zweiundzwanzig Zu spät war Kentril bewusst geworden, dass er und Gorst wohl einen großen Nachteil bei der Besteigung des Nymyr in Kauf würden nehmen müssen. Bei ihrem letzten Aufstieg waren sie noch mit Fackeln ausgerüstet gewesen, um den Weg in der Dunkelheit zu finden ... Das war dem Hauptmann aber erst eingefallen, als Zayl seinen Zauber gewirkt hatte. Und da war der Nekromant schon vor seinen Augen verschwunden. Zu Kentrils Überraschung hatte Zayl dieses Problem aber offenbar erkannt. Denn als sie beide am Berghang materialisierten, bemerkte der Söldner, dass die völlige Finsternis des Schattens einem tiefen Grau gewichen war, das es ermöglichte, sich zumindest eingeschränkt zu orientieren. Auch Gorst registrierte diese Verbesserung. Es war jedoch fraglich, ob der Zauberkundige das Wesen des Schattens verändern konnte, wahrscheinlicher erschien es, dass er Kentril und Gorst die Fähigkeit zur bedingten Nachtsicht verliehen hatte. Durch diese Gabe wurde ihnen aber auch klar, dass Zayl sie unglücklicherweise bei weitem nicht so nah an den Schlüssel herangebracht hatte, wie es ihnen lieb gewesen wäre. Den beiden Kämpfern stand noch ein gehöriges Stück Weg bis zum Gipfel bevor. »Wir benötigen wahrscheinlich ein Seil, um bis ganz nach oben zu gelangen«, meinte Gorst. Auch das hatte Kentril dem Nekromanten nicht mehr sagen können, bevor der Zauber gewirkt wurde, und auch Zayl selbst war es offenbar nicht in den Sinn gekommen. Kentril betrachtete 416
den vor ihnen liegenden Pfad und suchte nach einer leichter zu bewältigenden Route. Doch der Gebirgskamm, auf dem sie sich befanden, ließ nur eine Marschrichtung zu. »Wir werden es wohl einfach versuchen müssen«, sagte er schließlich. Gorst nickte nur stumm. Wenn sein Hauptmann den Aufstieg ohne jegliche Ausrüstung bewältigen wollte, dann sollte es eben so sein. Äußerst vorsichtig machten sie sich also daran, den Gipfel zu erklimmen. Kentril wusste nicht, wie spät es war, aber wenn sie ohne größere Probleme vorankamen, würden sie es wahrscheinlich noch rechtzeitig bis zum Schlüssel schaffen. Natürlich hing viel davon ab, wie lange Zayl Juris Khan davon abhalten konnte, sich an ihre Fersen zu heften. Er versuchte nicht über das mögliche Opfer, das der Nekromant für sie brachte, nachzudenken. Die Chancen, dass er überlebte, standen äußerst schlecht. Kentril hatte zu viel von der Stärke ihres hinterhältigen Gastgebers mitbekommen, als dass er sich diesbezüglich Illusionen machte. Zayl würde alles in seiner Macht Stehende tun, um sich Khan vom Leib zu halten. Aber früher oder später würde der verrückte Monarch von Ureh ihn töten. Kentril konnte nur hoffen, dass dies dann doch eher später der Fall sein würde. Sonst waren sie alle verloren. Immer näher kamen sie dem Gipfel, ohne angegriffen zu werden. Dem Hauptmann blieb wenig Zeit, an irgendetwas anderes als den Aufstieg zu denken. Doch als der Schlüssel zum Licht immer näher rückte, schweiften seine Gedanken zu Atanna ab. Ungeachtet dessen, wie sie sich letzten Endes entpuppt hatte, konnte Kentril sich doch nicht von seinen schöneren Erinnerun417
gen an sie lösen. Wenn alles anders gelaufen wäre und er nicht vorzeitig die Wahrheit erfahren hätte, wäre er womöglich bereitwillig auf die von ihrem Vater angebotene Unsterblichkeit eingegangen – und hätte dann aber auch mit den Konsequenzen leben müssen. Er hielt inne und atmete tief durch, um einen klaren Kopf zu bekommen. Es war sinnlos, weiter über Atanna nachzudenken. Er würde sie nie mehr wiedersehen, er würde ... Auf einem kleinen Felsvorsprung, ein Stück weit vor ihnen, machte Kentril eine Gestalt aus, und er erkannte sofort, dass es sich nicht um Lord Khan handelte, der dort auf sie wartete. »Atanna!«, rief er. Der Wind blies ihm Staub ins Gesicht. Er wandte sich ab und rieb sich die Augen. Als er sich wieder umdrehte, war die Gestalt verschwunden. »Was ist los?«, rief Gorst hinter ihm. »Hast du etwas gesehen?« »Ich dachte, ich hätte ...« Kentril ließ seinen Satz unvollendet. Wäre es tatsächlich Atanna gewesen, wäre sie entweder näher gekommen oder hätte den Vorsprung zerstört. Gewiss jedoch wäre sie nicht einfach verschwunden. Das ergab keinen Sinn. »Nichts«, antwortete er schließlich. »Meine Phantasie spielte mir wohl einen Streich.« Sie gingen weiter. Trotz der Befürchtung, irgendwann einen Abschnitt zu erreichen, den sie ohne Ausrüstung nicht würden überwinden können, erlaubte die Route den Söldnern weiterhin ein gutes Vorankommen. War es Zayl gelungen, sie an genau die Stelle zu schicken, von wo aus sie den Gipfel am einfachsten erreichen konnten? Falls dem so war, hatte er mit der aus den Runen geschöpften Kraft mehr erreicht, als er es den Kämpfern 418
hatte versprechen wollen. »Wir sind fast am Ziel«, ließ Kentril seinen Freund wissen. »Fast.« Gorst brummte. Fast bedeutete, dass sie immer noch ein beträchtliches Stück Weg vor sich hatten. Hauptmann Dumon griff nach einer Stelle im Fels, an der er sich festhalten wollte ... als der Stein plötzlich herausbrach. Einen Moment lang kämpfte Kentril um sein Gleichgewicht und drückte sich an die Felswand. Dabei wanderte sein Blick eher zufällig talwärts. Tief unter ihnen machte er Bewegung wie in einem Ameisenhaufen aus. Etwas schickte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit an, den Berg zu erklimmen. Per Hauptmann öffnete ungläubig den Mund. »Gorst! Siehst du das auch?« Der Riese machte sich lang. »Ja, ich sehe es. Was kann das sein, Kentril?« »Ich habe keine ...« Die Masse bewegte sich so ungeheuer schnell, dass er nach den wenigen Worten, die er mit Gorst wechselte, bereits deutlicher sehen konnte, was sich ihnen da näherte. Es waren Gestalten von der Größe und Statur eines Menschen! Sie waren überwiegend grau, doch am Rumpf sowie an Armen und Beinen entdeckte Kentril stellenweise auch andere Farben. Er schluckte entsetzt. »Das sind die Einwohner von Ureh! Sie verfolgen uns!« Er stellte sich Hunderte von aufgerissenen Mäulern vor, die vertrockneten, kadaverähnlichen Hüllen einstiger Menschen, ihre klauenartigen Hände, die gierigen Gesichter. Der Hauptmann konnte sich nur zu gut vorstellen, was Albord und den anderen widerfahren war, und ihm wurde klar, dass sich das 419
gleiche Schicksal nun auch ihnen näherte. »Wir müssen hinauf zum Gipfel, und zwar so schnell wie möglich!« Sie kamen aber nur so zügig voran, wie der Pfad es ihnen gestattete. So sehr die beiden sich auch bemühten, ihre Verfolger schienen sich zehnmal rascher voranzubewegen. Der Gipfel lockte, doch er lag noch immer viel zu weit entfernt. Erschöpft mussten Kentril und Gorst schließlich eine Pause auf dem schmalen Grat einlegen. Nach einem Blick auf ihre Verfolger begann Kentril zu fluchen. »Sie klettern so behände, als wären die Berge ihre Heimat. Bei diesem Tempo haben sie uns eingeholt, lange bevor wir den Gipfel erreichen.« Gorst nickte. »Wir schaffen das nicht... aber du schon.« Kentril sah den Freund an. »Was soll das heißen?« Gelassen griff der Riese nach der Axt, die er auf dem Rücken trug. »Diese schmale Stelle hier eignet sich bestens, um sie aufzuhalten. Ich erledige das, und du kletterst weiter.« »Sei kein Narr, Gorst. Wenn jemand nach oben geht, dann natürlich du. Ich werde sie aufhalten.« Der Söldner schüttelte nachdrücklich den Kopf, dann streckte er den Arm aus, in dessen Pranke er die Axt hielt. Sein Freund hatte beide Hände benötigt, um die schwere Waffe zu schwingen. »Siehst du? Meine Reichweite ist doppelt so groß wie deine, Kentril. Genau das brauchen wir. Ich bin der Geeignetste, um hier zu bleiben, und das weißt du. Außerdem hast du von unserem letzten Aufstieg noch etwas gut bei mir.« »Gorst ...« Hauptmann Dumon wusste, dass jede weitere Diskussion sinnlos war. Von allen Männern, denen Kentril je begegnet war, hatte sich Gorst als der Sturste erwiesen. Sie hätten noch diskutieren können, wenn sie bereits von der Masse aus 420
Ureh überrannt wurden, aber auch dann hätte der Krieger mit der wilden Mähne nicht klein beigegeben. Kentril blickte ein letztes Mal talwärts, dann nickte er. »Also gut. Aber wenn du eine Möglichkeit findest, dich in Sicherheit zu bringen, nutze sie. Mach dir um mich keine Gedanken.« »Ich werde tun, was ich kann. Du solltest dich jetzt besser auf den Weg machen.« Kentril legte eine Hand auf die Schulter seines Freundes. »Möge dein Arm immer kraftvoll sein.« »Möge deine Waffe immer scharf sein«, vollendete Gorst den alten Söldnerspruch. Der Hauptmann wappnete sich für die letzte Etappe. Er gab sich ganz der Anziehung hin, die der Gipfel auf ihn ausübte, und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was den Riesen erwartete. Er konnte nur hoffen, dass sie dieses Chaos beide lebend hinter sich bringen würden. Wenn er es bis zum Gipfel schaffte, bevor die Kreaturen Gorst erreichten, konnte Kentril ihn wahrscheinlich noch retten. Er musste nur den Schlüssel zerstören ... Dieser Gedanke ermutigte ihn, gab ihm neuen Auftrieb. Immer näher rückte das Plateau. Er konnte bereits die Stelle ausmachen, an der sich der Kristall befand. Welch bittere Ironie, dass er nun das ungeschehen machen musste, was ihn und seine Männer solche Mühen gekostet hatte, um es zu vollenden. Von unten war ein lautes Fauchen zu hören. Fluchend trieb sich Kentril noch mehr an. Der Vorsprung lag nur ein paar Schritte entfernt. Ein Augenblick noch, dann ... Unter ihm stieß Gorst seinen Kampfschrei aus. Auch wenn er wusste, was dies zu bedeuten hatte, konnte der Hauptmann nicht anders, als einen Blick zurückzuwerfen. Der Riese stand auf dem schmalen Grat und holte, als sich ihm 421
die ersten dämonischen Kreaturen näherten, mit seiner Axt aus. Da kein Platz zum Ausweichen vorhanden war, konnte die Abscheulichkeit an der Spitze der Meute nicht ausweichen. Die Axt fraß sich tief in den Schädel der Kreatur. Sie brüllte grässlich auf und kippte dann nach hinten weg. Der Riese ließ keine Sekunde ungenutzt verstreichen, sondern brachte den nächsten Angreifer zum Straucheln. Trotz dieser Erfolge drängten Hunderte von Gestalten nach, die alle nur bestrebt waren, den einsamen Verteidiger aus dem Weg zu fegen. Fast panisch versuchte Kentril nun, das Plateau zu erreichen. Doch jeder Schritt kam ihm wie eine Meile vor. Er hatte das Gefühl, sich durch zähen, an ihm saugenden Morast zu bewegen. Ein sehr menschlicher Schmerzensschrei erschütterte ihn plötzlich bis ins Mark. Wieder sah der Kämpfer nach unten. Die Ghule attackierten Gorst von allen Seiten. Zwei von ihnen hatten es bis auf den Vorsprung geschafft, ein weiterer versuchte, nahe den Füßen des Riesen Halt zu finden. Ein anderes Dutzend der Kreaturen suchte nach einer Möglichkeit, hinter den Söldner zu gelangen. Gorst landete einen kraftvollen Treffer gegen einen der Ghule, der noch die Überreste eines Brustpanzers und eines Kettenhemdes trug. Die Klinge durchtrennte den oberen Teil des Torsos, doch die knochigen Finger schafften es, sich am Schaft von Gorsts Waffe festzuklammern. Obwohl er die Axt mit aller Gewalt schüttelte, konnte er den Griff der entschlossenen Kreatur nicht lockern. Dieses Bemühen behinderte ihn zudem dabei, sich gegen die anderen zur Wehr zu setzen. Der zweite Dämon sprang ihm auf den Rücken und versuchte, sich mit seinen grässlichen Zähnen im Nacken des Söld422
ners zu verbeißen. Gorst wirbelte herum und rammte die Axt gegen die Kreatur, die sich nahe seiner Füße festklammern wollte. Bei dieser Aktion verlor der Angreifer zwar den Halt, riss beim Sturz in den Abgrund aber auch die Axt mit sich. Womit der Riese unbewaffnet war. Er packte das Monster, das sich auf seinem Rücken festhielt, doch es wollte sich nicht einfach abschütteln lassen. Noch während Gorst sich darauf konzentrierte, näherten sich ihm vier weitere Ghule. Kentril setzte seinen Aufstieg fort, doch bei jedem Schritt musste er einen Blick zu seinem Freund zurückwerfen. Inzwischen wurde dieser von gleich drei Kreaturen bedrängt, seine Schulter war blutig, und trotz seiner Kraft hatte er unübersehbare Schwierigkeiten, sich noch länger auf den Beinen zu halten. Fast wäre der Hauptmann umgekehrt. Für einen Moment bildete er sich ein, dem Freund tatsächlich beistehen und mit diesem gemeinsam die heranstürmende Horde zurückschlagen zu können. Doch der gesunde Menschenverstand obsiegte, er begriff, wie sinnlos der Gedanke war. Gorst war zurückgeblieben, damit Kentril Zeit genügend bekam, das zu tun, was getan werden musste. Wenn er jetzt umkehrte, würde das Opfer des Freundes völlig umsonst sein. Opfer ... Erst jetzt wurde ihm die Bedeutung und Tragweite dieses Wortes bewusst. Im selben Augenblick stieß Gorst einen Schlachtruf aus, der weit über die Grenzen des Nymyr hinaus zu hören sein musste. Als wäre seine Kraft plötzlich auf magische Weise erneuert worden, richtete sich der Hüne auf und stemmte einen seiner teuflischen Widersacher hoch über sich. Mittlerweile hatte sich ein gutes halbes Dutzend von Juris Khans grausigen Kindern an ihm 423
festgeklammert. Jede der Kreaturen zerrte an seinem Fleisch und machte ihn mürbe. Noch immer lautstark brüllend, stürmte Gorst nach vorn. »Neeeiiin!« Kentril Schrei wurde von den Bergen zurückgeworfen. Er sah noch, wie der Riese sprang. Seine zahlreichen Angreifer konnten sich nicht mehr rechtzeitig von ihm lösen und wurden mit ihm gerissen. Gorsts Sprung, der nicht annähernd so athletisch wirkte, wie Hauptmann Dumon es von dem Söldner gewohnt war, erlaubte es dem Kämpfer kaum, sich allzu weit von seiner Position zu entfernen. Doch offenbar war genau das auch seine Absicht, denn er kollidierte mit weiteren der Kreaturen und brachte sie aus dem Gleichgewicht, womit er eine Lawine auslöste, von der ein Großteil der grässlichen Geschöpfe mitgerissen wurde. »Gorst ...« Kentril konnte seinen Blick nicht von der Gestalt abwenden, die immer kleiner wurde. Gorst hatte den Hauptmann länger begleitet als jeder andere und war diesem stets als unbezwingbar erschienen ... Tränen stiegen in Kentrils Augen, doch er musste sie unterdrücken. Er holte tief Luft, ehe er sich abwandte und wieder an den Aufstieg machte. Gorsts letzter Triumph hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Die Sonne würde jeden Moment aufgehen, und Kentril musste dafür sorgen, dass nicht nur sein Freund, sondern auch keiner der anderen Männer umsonst gestorben war. Der Gipfel rückte näher und näher ... doch das galt auch für die Horde der Verfolger. Zayl schrie auf, und das nicht zum ersten Mal. Er brüllte laut und lang anhaltend ... aber er gab nicht auf. Seine Kleidung war 424
zerfetzt, und jede Stelle seines Körpers entweder blutbeschmiert oder sie schmerzte wie rasend – dennoch kapitulierte er nicht. Und doch hatte er sich nicht einen Schritt näher an den Schlüssel zum Schatten heranbringen können. Scheinbar völlig unberührt von allen noch so mächtigen Zaubern, die Zayl gegen ihn aufgeboten hatte, kam Juris Khan auf den halbtoten Nekromanten zu. »Eure Entschlossenheit ist bewundernswert, ganz im Gegensatz zu der Sache, der Ihr Euch verschrieben habt. Eine Schande, dass Eure verderbte Seele für immer an Diablo verloren sein wird.« »So wie Eure?« »Selbst so kurz vor Eurem Ende versucht Ihr noch, die Tatsachen zu verdrehen ...« Lord Khan schüttelte den Kopf, und er tat dies auf eine ganz und gar väterliche Weise, eine Geste, die Zayl seiner Ausbildung zum Trotz bis zum Äußersten reizte. »Euer gesegneter Erzengel ist Diablo selbst, könnt Ihr das nicht begreifen?« Aber der Monarch von Ureh war dazu nicht in der Lage. Der Dämon hatte gründliche Arbeit geleistet. Zayl verstand sogar, wie es so weit hatte kommen können. Juris Khan war über alle Maßen von sich selbst überzeugt gewesen. Er hatte über das heiligste aller Königreiche geherrscht, über das Symbol für Gottesfürchtigkeit und Güte, und aus diesem Grund wollte er nicht begreifen, dass der gehässigste und geschickteste aller Dämonen ihn zum Narren gehalten hatte. Zayl hatte diesem Mann alles entgegengesetzt, was ihm zur Verfügung stand, doch Khan war imstande gewesen, jeden Angriff lässig abzuwehren. Dem Nekromanten war kaum noch etwas verblieben, abgesehen von seinem Dolch, der vielleicht noch etwas hätte bewirken können. Aber nur, wenn es Zayl gelungen 425
wäre, seinen Gegner abzulenken. Dann hätte er vielleicht eine Chance gehabt, Khans Abwehrmechanismen zu umlaufen und ihn zu verwunden. Was blieb ihm also noch, nachdem jeder Angriff mühelos abgeschmettert worden war? Er hoffte, dass Juris Khan sich täuschte und Kentril Dumon und Gorst es doch bis zu dem anderen Stein geschafft hatten. Aber wäre ihnen dies tatsächlich gelungen, hätte dieser Kampf hier längst enden müssen. Oder? »Wo ist Euer Erzengel überhaupt, Mylord? Wenn er hier wäre, könnten wir ein für alle Mal herausfinden, ob ich lüge oder nicht. Das kann doch nicht zu viel verlangt sein, oder? Andererseits ... vielleicht ist es ja doch zu viel von mir erwartet ...« »Ich muss Mirakodus nicht darum bitten, mir seine Identität zu beweisen, Ungläubiger! Ich habe gesehen, was seine Geschenke zu vollbringen imstande sind. Ich glaube an sein Wort. Wenn er beschließen würde, jetzt mit uns zu sprechen, dann wäre dies ganz allein seine Entscheidung, nicht Eure und auch nicht meine!« Juris Khan stand über den Nekromanten gebeugt. »Schließt Frieden mit Eurem Himmel, Dieb, der Ihr die Toten bestohlen habt, denn in wenigen Augenblicken wird Eure Zunge für immer ruhen und Eure Lügen werden ein Ende haben.« Zayl hatte keinen Grund, an diesen Worten zu zweifeln. Als der Monarch sich ihm näherte, betete der Zauberkundige, Trag’Oul möge ihm helfen, seine Seele auf die nächste Ebene der Schlacht zu führen. Er konnte nur hoffen, dass Khans wahrer Meister sie nicht an sich nahm und mit in die Hölle zerrte. Als wäre sein Gebet gehört worden, ertönte auf einmal eine dröhnende Stimme: »Juris Khan! Juris Khan! Ich will dich sprechen!« 426
Beide Männer erstarrten in ihren Bewegungen. Khan machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen, doch dann schloss er ihn wieder, sah erst zu Zayl und dann zur Decke. »Juris Khan«, dröhnte die Stimme weiter. »Edler Diener! Ich bin es, dein Wohltäter, dein Erzengel ...« Lord Khans Gesicht nahm einen ehrfürchtigen Ausdruck an. Er hob beschwichtigend die Hände und rief »Mirakodus! Großer Mirakodus! Du beehrst deinen unterwürfigen Diener mit deiner Anwesenheit!« Viel leiser sprach die Stimme, die sich als der Erzengel bezeichnete, dann zu dem Nekromanten: »Wenn du noch irgendetwas auf Lager hast, Jüngelchen, dann ist das jetzt deine letzte Chance!« Das musste sich Zayl nicht zweimal sagen lassen. Er machte einen Satz auf seinen Gegner zu, konzentrierte seinen ganzen Willen auf den Dolch und zielte auf die Brust des Monarchen. Der verzückte Gesichtsausdruck wich in Sekundenbruchteilen einer von finsterster Wut verzerrten Grimasse. Juris Khans Hände waren von flammender Energie umgeben, als er sie nach dem Nekromanten ausstreckte. Doch der Dolch war schneller. Als die verzauberte Klinge die Verteidigung des Monarchen durchbrach, erfüllte ein gleißender Blitz die Kammer. Nach kurzem Zögern schnitt sie sich durch das strahlende Gewand und bohrte sich ins Fleisch. Nach Luft ringend holte Juris Khan aus und schlug Zayl ins Gesicht. Der Hieb wurde von solcher Kraft und solchem Schmerz geführt, dass er den Nekromanten gegen die Felswand schmetterte. Zayl spürte, wie etwas knackte, als er aufschlug. Und dann 427
wurde er mit solcher Wucht zurückgeschleudert, dass er zweimal vom Boden abprallte und schließlich vor die Füße seines Gegners rutschte und zum Liegen kam. »Ihr ... Ihr ...« Khan schien keine Worte zu finden, die seiner Wut hätten Ausdruck verleihen können. Durch seine Tränen hindurch konnte der Nekromant sehen, wie das Blut des Monarchen zu Boden tropfte. Er hatte zwar das Herz verfehlt, war aber offenbar noch nahe genug gekommen, um ihm eine schwere Verletzung zuzufügen. »Und? Wo ist jetzt Euer Erzengel?«, brachte Zayl heraus. »Hat er ... Euch verlassen ... Mylord?« »Unverschämter Narr!« Der wahnsinnige Herrscher lehnte sich gegen den Schild, den er zum Schutze des Schlüssels zum Schatten erschaffen hatte. »Ich benötige nur einige Augenblicke, dann werde ich mich selbst heilen!« Khan grinste ihn gehässig an. »Augenblicke, die Euch nicht mehr vergönnt sein werden.« Ein entsetzlich bekanntes Geräusch drang vom Eingang zur Kammer herüber. Zayl hörte eilige Schritte. Er zwang sich, dorthin zu sehen, und erkannte, dass einer der grausigen Bewohner von Ureh seinen Kopf in die Kammer steckte. Dann tauchten zwei weitere der makabren Fratzen auf. Da seine Kräfte fast völlig aufgebraucht waren, hatte die Knochenbarriere schließlich nachgegeben und den gierigen Teufeln den Weg geöffnet. Juris Khan atmete noch immer mühsam, während er auf den am Boden liegenden Nekromanten zeigte. »Dort ist er, meine Kinder! Er ist der, den ihr sucht.« Die runden Mäuler wurden in freudiger Erwartung aufgerissen, die leeren Augenhöhlen auf Zayl gerichtet. Die entsetzlichen Geschöpfe streckten sich nach ihm, und Zayl wusste, dass er 428
nichts mehr besaß, womit er sie hätte bekämpfen können. Die wenige Kraft, die noch in seinem Körper steckte, benötigte er, um den Dolch zu halten. Aber er hoffte, wenigstens eine der Kreaturen damit niederstrecken zu können, ehe die anderen ihn in blutige Fetzen rissen. All seinen Lehren und all seiner Ausbildung zum Trotz wollte der Nekromant in diesem Moment nur eines: leben. »Nun ist nur noch einer übrig«, verkündete Khan, dessen Stimme schon wieder hörbar kräftiger klang. Seine Wunde blutete nicht mehr so stark, und sein abscheuliches Gesicht ließ nicht viel von dem Schmerz erkennen, den ihm der fast tödliche Stich hätte bereiten müssen. Zayl hatte sich geirrt. Die Macht hinter Juris Khan – der falsche Erzengel oder Diablo, wenn Hauptmann Dumon mit seiner Einschätzung richtig lag – schützte ihre Marionette durchaus sehr effektiv. Diablo wollte Ureh unbedingt unter seine Kontrolle bringen, um sein Geschenk in die ganze Welt hinauszutragen ... und um den Legionen der Hölle den Weg zu ebnen. »Nun ist nur noch einer übrig«, wiederholte die selbst schon dämonisch wirkende Gestalt. Khan straffte die Schultern, als bereite er sich darauf vor, die Höhle zu verlassen. »Und wer weiß?«, fügte er lächelnd an. »Vielleicht ist ja schon längst niemand mehr übrig.« Während sich die Horde rasch näherte, um Zayl zu zerfleischen, verschwand Juris Khan vor den Augen des Zauberkundigen, der wusste, dass der Monarch nun dafür sorgen würde, dass seine letzten Worte zur Wirklichkeit wurden. War die Sonne bereits aufgegangen? Unter dem Schleier des magischen Schattens konnte sich Kentril nicht sicher sein, doch 429
er hoffte und betete, dass es noch nicht dazu gekommen war. Da Gorst und sehr wahrscheinlich auch Zayl tot waren, wäre es eine Schande, es bis hierher geschafft zu haben, um dann doch noch zu scheitern. Er schaffte es, sich auf das kleine Plateau zu ziehen, stellte aber fest, dass ihm die Kraft fehlte, aufzustehen, von einer Fortsetzung des Aufstiegs ganz zu schweigen. Der Hauptmann lag auf dem rauen, kalten Fels und versuchte, zu Atem zu kommen. Nur noch ein paar Augenblicke, das war alles, was er brauchte. Nur ein paar Augenblicke. Das Poltern loser Steine gleich unterhalb des Plateaurandes warnte ihn, dass ihm womöglich nicht einmal diese wenigen Augenblicke mehr vergönnt sein würden. Sein ganzer Körper schrie vor Schmerz, als Kentril sich dazu zwang, wieder aufzustehen. Er stolperte weiter, um das letzte Stück zurückzulegen, das ihn noch von seinem Ziel trennte. Allerdings fragte er sich, ob er es überhaupt noch bis zum Gipfel schaffen würde. Weiteres Geröll wurde losgetreten, und als der Hauptmann sich umdrehte, sah er, wie sich eine verschrumpelte tote Hand über die Felskante schob. Er machte kehrt und lief zum Rand des Plateaus. Der graue Schleier, in den alles getaucht war, ließ das Gesicht, das sich dort über den Rand schob, noch tödlicher wirken. Mit allem Mut, den der Söldner aufzubringen vermochte, trat er nach dem Kopf des Untoten, der mit dem Schrei einer verdammten Seele auf den Lippen nach hinten wirbelte und dann außer Sicht geriet. Kentril warf einen Blick über den Vorsprung und erkannte, dass vier weitere Kreaturen den Aufstieg in den nächsten Minuten geschafft haben würden, dicht gefolgt von 430
mindestens einem Dutzend weiterer Geschöpfe. Der Hauptmann schleppte sich zur Felsformation und machte sich daran, den letzten Abschnitt zu bezwingen. Er musste es einfach schaffen. Nein, er würde es schaffen. »Komm schon, du verdammter Rekrut!«, murmelte er, während er nach einem Halt suchte. »Du kannst fünfmal so schnell klettern!« Fuß um Fuß und Zoll um Zoll näherte sich Kentril seinem Ziel. Im Osten war von der Sonne noch nichts zu sehen, was er als ein gutes Zeichen wertete. Er musste sich inzwischen nahe des oberen Randes des Schattens befinden, was ihn in die Lage versetzen sollte, einen Lichtschein zu erkennen. Dass dem nicht so war, konnte nur bedeuten, dass der neue Tag noch nicht angebrochen war. Als er auf einmal ein allzu vertrautes Fauchen hörte, erfuhr seine Hoffnung auf ein letztendliches Gelingen einen herben Rückschlag. Obwohl er wusste, was er dort sehen würde, blickte er nach unten. Die erste der dämonischen Kreaturen hatte das Plateau erreicht. Andere folgten und liefen aufgescheucht hin und her, bis eines der Ungetüme nach oben schaute und den Söldnerhauptmann entdeckte. Das genügte, um auch die anderen auf ihn aufmerksam werden zu lassen. Schon nahmen sie neuerlich die kurz ins Stocken geratene Verfolgung auf, begierig darauf, Kentrils Fleisch zu schmecken. Zum Glück bot der Gipfel nicht zu viele Möglichkeiten, um ihn zu bezwingen, sodass einige der Ghule dem Weg folgten, den Kentril genommen hatte, während andere nach abweichenden Möglichkeiten suchten, ihre Beute schneller zu erreichen. 431
Die Gier nach Fleisch und Blut ließ zwei der Kreaturen alles vergessen und nach Westen eilen, da sie offenbar hofften, den Hauptmann so vor den anderen einholen zu können. Weit kamen sie nicht. Kentril sah erstaunt mit an, wie die beiden plötzlich hell aufflammten, als würden sie brennen. Ihre Schreie ließen die anderen Monster in ihrem Bestreben zögern. Die beiden wollten zu ihren Gefährten zurückkehren, doch als sie sich bewegten, verwandelten sich Teile ihres ausgetrockneten Fleische in Asche, und die Knochen darunter begannen nachzugeben, als bestünden sie aus zerfließendem Wachs. Einer der beiden fiel hin – ein halb geschmolzenes Zerrbild eines menschlichen Toten, das sich stetig weiter verflüssigte. Der andere schaffte es zwar an eine Stelle, die wohl die Grenze des Schattens darstellte, doch es rettete ihn nicht mehr. Auch er sank in sich zusammen und gab einen solch grässlichen Anblick ab, dass selbst die anderen Kreaturen einen Bogen um ihn machten. Mit einem Mal wurde Kentril bewusst, dass die Verfolger sich wieder in Bewegung gesetzt hatten. Er verfluchte die morbide Faszination, die dieser schaurige Akt auf ihn ausgeübt hatte, und machte sich daran, so schnell wie möglich aufzusteigen und zu versuchen, die gerade verpasste Gelegenheit wieder wettzumachen. Fast wäre er zu langsam gewesen. Eine Hand bekam beinahe seinen linken Fuß zu fassen, doch der Hauptmann trat nach ihr und zerschmetterte mehrere Finger, wodurch er den Verfolger zwang, sich langsamer voranzuwagen. Seine eigene Hand bekam auf einmal die obere Felskante zu fassen. Sein Herz raste, und das Blut rauschte in seinen Ohren, als sich Kentril hinaufzog. Endlich konnte er einen ersten Blick auf die Stelle werfen, wo der Schlüssel zum Licht lag. 432
Viel hatte sich nicht verändert. Raureif überzog den Fels und zwang den Kämpfer, sich mit vorsichtigen Schritten auf sein Ziel zuzubewegen. Mit dem Stiefel trat er gegen etwas, das daraufhin in Richtung des Edelsteins rollte. Es war der Knochen, den er bei der ersten Ersteigung freigegraben hatte, der letzte Überrest seines Vorgängers, des glücklosen Priesters Tobio. Hauptmann Kentril versuchte, nicht daran zu denken, dass er sich dem Kleriker schon bald anschließen würde. Als er sich dem Schlüssel zum Licht näherte, merkte er, dass dessen helles Leuchten unverändert, aber nicht überwältigend war. Er schien kaum für mehr Helligkeit zu sorgen als sein Gegenstück tief unten in den Höhlen. Ist das wichtig?, unterbrach Kentril seinen eigenen Gedankengang. Lass ihn so hell strahlen wie die Sonne, oder lass ihn so dunkel sein wie die Höhlen. Pack dir einfach nur das Ding, und dann ist es vorbei! Er griff nach dem Kristall, als ... auf einmal Atannas hübsches Gesicht so deutlich vor seinem geistigen Auge entstand, dass er fast glaubte, sie schwebe vor ihm in der Luft und fülle den gesamten im Schatten liegenden Himmel aus. Mein liebster Kentril, sprach das Gesicht. Mein liebster Kentril, wie sehr sehne ich mich danach, wieder in deinen Armen zu liegen ... Der Hauptmann zögerte, gefangen zwischen seinem Pflichtgefühl und der Liebe zu dieser Frau. Komm zurück zu mir, Kentril, fuhr sie fort. Ihre Augen funkelten, und sie hatte die Lippen geschürzt, als warte sie darauf, von ihm geküsst zu werden. Lass uns wieder zusammen sein ... 433
für alle Zeit ... Für alle Zeit? Diese Formulierung weckte sofort wieder die Lebensgeister in ihm. Er wollte keines von Juris Khans Geschenken, dieses hier am allerwenigsten. Doch trotz seiner Entschlossenheit konnte er sich nicht von Atannas Worten lösen. Als der Hauptmann den überraschend warmen Edelstein berührte, reagierte sie mit neuen Versprechungen. Liebster, süßer, geliebter Kentril ... da ist so vieles, was wir einander geben können ... Ich war so einsam, bis ich dich sah ... und als du mir die Brosche zeigtest ... da wusste ich, dass der Himmel dich mir versprochen hatte ... Komm zurück zu mir, dann wird alles wieder gut ... wir werden wieder eins sein ... »Verschwinde aus meinem Kopf!«, herrschte Kentril sie an und schloss die Augen. Er versuchte, das Bild, den Duft und den Geschmack Atannas aus seiner Erinnerung zu verbannen. »Verschwinde aus ...« Ein leises Fauchen alarmierte ihn gerade noch rechtzeitig. Hinter ihm näherte sich eines von Lord Khans abscheulichen »Kindern«, ein haarloser, hagerer Leichnam in der ramponierten Kleidung eines Kaufmanns. Ein rostiges Medaillon, das noch immer wertvolle Edelsteine zierten, baumelte an einer Kette um den verschrumpelten Hals der Kreatur. »Beste Ware heute!«, brabbelte die Gestalt. »Gute Töpfe! Frisch aus dem Feuer!« Ganz gleich, ob das Ding wusste, was es da von sich gab, die Worte gingen dem erfahrenen Söldner jedenfalls durch Mark und Bein, erinnerten sie ihn doch auf höchst morbide Weise daran, dass sein Gegenüber einmal ein Mensch wie er selbst gewesen war. 434
Kentril versetzte der Kreatur einen Schlag gegen die Brust, und da Fleisch und Knochen unter dem Aufprall nachgaben, versank die Faust bis zum Handgelenk darin. Dennoch ließ der Treffer den Ghul nur wenige Schritte zurückweichen. Ohne zu zögern trat Kentril nach seinem Gegner und riss ihm damit ein Bein weg, woraufhin der Untote zu Boden ging und – unfähig, seine Abwärtsbewegung zu stoppen – über den Felsvorsprung rutschte. Erneut griff Dumon nach dem Kristall und riss ihn aus seiner Halterung. Dann sah er nach Osten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Er war also rechtzeitig genug hier eingetroffen. Jetzt musste er nur noch das Artefakt zerstören. Doch abermals waren Atannas Gesicht und Stimme in seinem Kopf, und das machte es ihm schwer, zwischen Realität und Einbildung zu unterscheiden. Kentril hatte Mühe, sich daran zu erinnern, was er gerade noch hatte tun wollen. Kentril, mein liebster Kentril ... meine wahre und einzige Liebe ... komm zu mir ... vergiss diese Narretei ... Sie schwebte vor ihm in einem hauchdünnen silbernen Kleid, die Arme flehend nach ihm ausgestreckt. Für Kentril hatte Atanna weitaus mehr Ähnlichkeit mit einem Engel als dieser falsche Mirakodus. Wie atemberaubend sie doch war, wie berauschend ... Er machte einen Schritt auf sie zu. In dem Moment stürzte etwas auf ihn herab, das den modrigen Gestank eines Grabes mit sich trug. Kentril schlug hart auf dem eisigen Boden auf, der Kristall entglitt ihm. Er selbst und auch sein Angreifer kamen der Felskante bedenklich nahe. Der Hauptmann verzog das Gesicht, als das runde Maul nach ihm schnappte und ihn der faulige Atem des Ghuls traf – eine fast ebenso tödliche Waffe wie seine Zähne. 435
Es gelang Kentril, auf die Knie zu kommen und den Schrecken von sich zu stoßen. Er versuchte, den Schlüssel zu erreichen. Doch sein Gegner packte den Söldner am Arm und riss ihn zurück. Hauptmann Dumon sah, dass ein Stück weit hinter der Kreatur noch drei Ghule den Gipfel erreicht hatten und sich ihm nun näherten. Kentril versuchte vergeblich, sein Schwert zu ziehen. Er musste sich mit dem Dolch bescheiden. Er stach nach der Hand, die ihn festhielt, und hieb auf Knochen und verweste Haut ein. Die Finger lockerten ihren Griff so weit, dass Kentril sich losreißen konnte. Er ließ den Dolch fallen und zog nun doch noch sein Schwert. Dann bewegte er sich vorsichtig nach hinten in Richtung des Kristalls. Die größere Klinge war für die sich nähernden Ghule allerdings kein Grund, ihr Tempo zu verlangsamen. Sie bewegten sich so schnell auf ihn zu, wie es auf dem glatten Untergrund möglich war. Kentril stach nach dem Ersten, dann holte er mit dem Schwert nach den beiden anderen aus. Zwar traf er einen von ihnen, konnte ihm jedoch keinen Schaden zufügen. Dann endlich hatte er den Schlüssel zum Licht erreicht. Er hob ihn auf, während er sich abermals gegen seine Widersacher zur Wehr setzen musste. »Halt!«, rief er so laut, wie es ihm bei der Kälte und aufgrund seiner Erschöpfung möglich war. »Halt, oder ich werfe den Stein weg!« Die Kreaturen hielten inne. Kentril hatte sie gestoppt, doch wie lange würde dies anhalten? Sie würden nicht einfach abwarten, bis die Sonne aufging und sie vernichtete. Er konnte hören, dass weitere ihrer Art auf dem Weg hierher waren. Nur ein einziger unaufmerksamer Augen436
blick, und Kentril würde den Ghulen zum Opfer fallen. Ihr würdet das nicht tun, nicht, wenn Ihr so sehr leben möchtet. Ein Gesicht nahm in seinem Kopf Kontur an, doch diesmal war es nicht Atanna, sondern Juris Khan. Dieser schien den Kämpfer aus dem Inneren seines Schädels heraus anzusehen, als wolle er herausfinden, was der Hauptmann vor ihm verbarg – nämlich, dass er sehr wohl leben wollte und sich einen Ausweg wünschte, obwohl es keinen Ausweg gab. Kentril ... mein guter Hauptmann ... Ihr könntet leben, und das sehr gut sogar ... Ihr könntet lieben ... ein ganzes Königreich kann Euch gehören. Hauptmann Dumon sah sich an der Spitze einer gewaltigen Streitmacht, er selbst trug eine Rüstung am Leib, die so strahlend und so majestätisch war wie die des Erzengels. Er sah sich vor einer jubelnden Menge stehen, und überall verbreitete er den guten Willen Urehs. Kentril sah sich sogar auf dem Thron sitzen, der Juris Khan gehörte, Atanna an seiner Seite, ihre wunderschönen Kinder direkt vor ihnen ... Dann wurde das gottgleiche Gesicht Khans vor seinen Augen mit Leben erfüllt, und es schien sich über der Stadt zu erheben und den ganzen Himmel auszufüllen. Ein freundliches Lächeln zierte das erhabene Antlitz, und der titanenhafte Monarch streckte eine riesige Hand nach Kentril aus, um ihm die Möglichkeit zur Flucht und alles andere noch dazu zu bieten, was sich der Söldner vorgestellt hatte. Setzt den Stein an seinen Platz zurück, und dann kehrt heim, mein guter Hauptmann ... kehrt heim, mein Sohn ... Kentril fühlte, wie ihm sein eigener Wille entglitt und er sich bereitmachte, alles zu akzeptieren, was dieser Titan ihm anbot – 437
selbst wenn diese wunderbare Offerte in Wahrheit nur schrecklichen Horror übertünchte. Dann dachte Kentril jedoch an Zayl, der zweifellos tot sein musste, wenn Juris Khan zu ihm gekommen war. Er dachte an Albord, Jodas, Brek, Orlif und den Rest seiner Truppe, allesamt Opfer einer bösen Macht, zu der der Hauptmann sie gerührt hatte. Vor allem aber musste er an Gorst denken, der sein Leben für ihn geopfert hatte, für seinen Freund, einen Kameraden. Gorst, der nicht gezögert hatte, das zu tun, was getan werden musste. Hauptmann Kentril Dumon warf seine Klinge zur Seite, presste das Artefakt an sich ... und sprang dann über die Felskante in die Tiefe. Er kniff die Augen zu, da er nicht sehen wollte, wie die Felsen unter ihm rasend schnell näher kamen. Der Wind zerrte an ihm, als versuche er, ihm den Schlüssel zum Licht zu entreißen. Kentril malte sich aus, wie er auf dem Felsen aufschlug, wie sein Leib zermalmt und dabei auch der Kristall zerbrochen wurde. Dann ließ der Wind nach – und mit ihm auch das Gefühl, in die Tiefe zu stürzen. Der Hauptmann öffnete die Augen und stellte fest, dass er in der Luft schwebte. Nein ... nein, er schwebte nicht, sondern wurde vielmehr von den geisterhaften Fingern des riesigen Juris Khan festgehalten. Der Gesichtsausdruck des Patriarchen war weit davon entfernt, freundlich zu sein. Setzt ihn zurück, Kentril Dumon ... jetzt sofort! Als der Söldner in das gigantische Antlitz schaute, bemerkte er, wie stark Lord Khan inzwischen dem finsteren Erzengel ähnelte. Vor allem die Augen wiesen die gleiche dämonische Ein438
dringlichkeit auf, und je länger Kentril das Gesicht betrachtete, umso mehr schien es sich von etwas Menschlichem zu etwas Höllischem zu verwandeln! Trotz Khans rasch schwindender Geduld und trotz der Finger der geisterhaften Hand, die ihn zu zerquetschen drohten, wollte Kentril nicht gehorchen. Lieber begrüßte er den Tod, lieber ließ er sich jeden Knochen brechen, lieber sah er seine Lebenssäfte über die ganze Umgebung vergossen, als dies hier auf die Welt loszulassen. Er hob den Schlüssel zum Licht hoch über sich und versuchte, ihn nach unten in die Stadt zu schleudern. Doch seine Arme wollten diesen Befehl nicht ausführen, so sehr er sich auch anstrengte. Juris Khans Gesicht hatte inzwischen jeglichen menschlichen Zug verloren, sodass der Monarch den abscheulichen Kreaturen ähnelte, die er als seine Kinder bezeichnete. Sein Haut spannte sich über Fleisch und Knochen, der Mund nahm einen gierigen und obszönen Zug an. In der Haut brannte eine Wut, die nicht dem Himmel entsprang, sondern den tiefsten Niederungen der Hölle. Setzt den Schlüssel zurück, oder ich ziehe Euch die Haut von Eurem jämmerlichen Leib und reiße Euch das Herz heraus, während es noch schlägt, um es vor Euren flehend dreinblickenden Augen zu verzehren! Kentril versuchte, nicht auf ihn zu hören, sondern sich auf den erfolgreichen Abschluss seiner Mission zu konzentrieren. Wo war nur die verdammte Sonne? Wie lange dauerte es denn noch, bis sie endlich aufging? Er konnte nicht länger atmen und hatte Mühe, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Eine innere Stimme flehte den Söld439
ner an, Khans Angebot anzunehmen, selbst wenn ihm nicht wirklich zu trauen war. Aber alles war besser, als noch länger leiden zu müssen. Um Kentril herum wurde alles schwarz. Zuerst dachte er, er werde allmählich bewusstlos, doch dann erkannte der Hauptmann, dass Zayls Zauber in seiner Wirkung allmählich nachließ. Zwar konnte er die abscheuliche Gestalt seines Gastgebers noch immer erkennen, ansonsten aber kaum noch etwas. Ureh war zu einer düsteren, undefinierbaren Form geworden, und das galt sogar für die Berge, die sich in unmittelbarer Nähe befanden. Ein schwacher grauer Streifen war am östlichen Horizont zu erkennen, doch abgesehen davon ... ... ein schwacher grauer Streifen? Fast im gleichen Moment, in dem er stutzte, nahm er wahr, dass sich etwas in seinen Händen wärmer anfühlte als noch kurz zuvor. Er zwang sich, die Augen zu öffnen und sah, dass das Leuchten des Schlüssels stärker geworden war. Als sein Blick dann zu dem grauen Streifen am Horizont jenseits des schattenhaften Königreichs zurückkehrte, wusste Kentril, dass die Nacht endgültig vorüber war. Von neuer Entschlossenheit erfüllt hielt er den Kristall dem gigantischen Trugbild entgegen. Mit aller Kraft, die er noch aufzubringen imstande war, widersetzte er sich Juris Khans Kontrolle und schrie: »Setzt ihn doch selbst zurück!« Dann warf er den Schlüssel fort. Die riesige, geisterhafte Hand griff nach dem Stein, doch als sie das Artefakt zu fassen versuchte, flammte dieses so hell auf wie die Morgensonne. Der Schlüssel zum Licht brannte sich den Weg durch die gewaltige Handfläche, dann stürzte er ungehindert in die unter ihm liegende Stadt. 440
Juris Khan stieß einen Schrei aus, eine Mischung aus Wut und Schmerz. Narr!, dröhnte der Gigant in Kentrils Kopf. Verderbte Seele! Ihr sollt ... Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment schlug der leuchtende Kristall irgendwo auf. Er zerplatzte, und aus seinem Inneren breitete sich ein gleißend helles Licht nach allen Richtungen aus, als versuche es, alles in seinen grellen Schein einzuschließen. Das Gebiet rund um das zersplitterte Artefakt wurde augenblicklich taghell. Ureh, der Berg Nymyr, der umliegende Dschungel ... nichts entging dem Licht, das durch den Tod von Khans Schöpfung entfesselt worden war. Eine Welle reinen Sonnenlichtes erfasste die Heerscharen der Verfolger, die sich noch immer auf dem Gipfel oder an der Felswand aufhielten. Das verfluchte Volk der einst heiligen Stadt schrie und kreischte, als jede der Kreaturen vor Kentrils entsetzten Augen zerschmolz und verbrannte. Zu Dutzenden stürzten die, die es noch nicht bis zum Gipfel geschafft hatten, als bis zur Unkenntlichkeit verwandelte Gebilde talwärts und hinterließen Brandstellen auf dem Fels des Nymyr. Als sich das Licht über Ureh ausdehnte, zerfielen nach und nach sämtliche Gebäude, bis sie wieder jene verfallenen, leeren Ruinen waren, die Kentril und die anderen bei ihrer ersten Ankunft in der Stadt vorgefunden hatten. Mauern stürzten ein, Dächer fielen in sich zusammen. Innerhalb von nicht einmal einer Minute spielte sich ab, was sonst Jahrhunderte brauchte. Und von überall waren die Schreie der verdammten Seelen von Ureh zu hören, sodass Kentril befürchtete, er würde darüber den Verstand verlieren. Er verspürte vor allem Mitleid mit diesen 441
Geschöpfen, gleichwohl sie seine Freunde umgebracht hatten. Aber sie waren von jemandem, dem sie vertraut hatten, zu solchen Abscheulichkeiten verwandelt worden. Sie waren von Dämonen übernommen worden, die die leeren Hüllen ihrer Körper als Portal in die Welt der Sterblichen benutzen wollten. Vielleicht würden sie jetzt endlich ihre letzte Ruhe finden. Und dann begann auch Juris Khan sich zu verändern. Kentril wirbelte durch die Luft, aber weder flog er richtig, noch schwebte er. Als die ersten Sonnenstrahlen bis zu ihm drangen, sah er etwas von der monströsen schattenhaften Gestalt und beobachtete, wie sich der Herrscher über dieses Reich verwandelte. Juris Khan wurde zu einer Bestie. Rasch verloren sich Gesicht und Gestalt, die an sein schreckliches Volk erinnerten und offenbarten, welches Übel in dem Herrscher steckte. Es war das Böse, das nur Diablo sein konnte. Für einen Moment erhob sich über dem schwindenden Giganten eine Höllenkreatur, ein Wesen mit Stoß- und Fangzähnen, ein Ungetüm, das seinen Zorn über Kentrils Verzweiflungstat hinausbrüllte. Ichor tropfte von dem schuppigen, fast fleischlosen Schädel, der in die Länge gestreckt zu sein schien. Zwei gekrümmte, schuppige Hörner reichten bis weit über die fledermausgleichen Ohren. Oberhalb der tiefen Furchen, die die Nase bildeten, und unter buschigen Brauen starrten die Augen des Dämonenfürsten den Menschen an. Der Hass und das Böse darin waren identisch mit dem, was der entsetzte Söldner im Abbild des falschen Erzengels Mirakodus erblickt hatte. Diablo tat seinen Zorn noch einmal lautstark kund, dann verschwand er so schnell wie er gekommen war. Mit einem schmerzlichen Aufschrei verschwand auch Juris Khans Bild. Die königlichen Stoffe wurden dunkler und verwan442
delten sich in Fetzen. Was eben noch elastische Haut war, wurde schlagartig brüchig und fiel in tausend Stücken herab. Lord Khan legte die andere Hand auf seine Brust, als könne er das Unvermeidbare doch noch irgendwie aufhalten ... dann zerfiel der Gigant zu einem Haufen Knochen und Stofffetzen. Die letzten Überreste von Khans Bild lösten sich auf – und Kentril stürzte wieder dem Boden entgegen. Er raste so schnell in die Tiefe, dass er kaum atmen konnte. Die Ruinen des kurzzeitig wiedererstandenen Königreichs schienen ihn zu sich zu rufen. Kentril schloss die Augen und betete, das Ende möge schnell und schmerzlos kommen. Gerade als er erwartete, er werde jeden Moment aufschlagen, wurde sein Fall abermals abgebremst. Hauptmann Dumon riss die Augen auf. Gut hundert Fuß unter ihm entdeckte er ein rundes Gebäude, dessen Dach eingestürzt war. Fast im gleichen Moment setzte die Abwärtsbewegung wieder ein, doch diesmal langsamer, gemäßigter. Er sah sich um und versuchte, den Grund für dieses Wunder zu erkennen. Der noch immer im Schatten liegende Palast von Juris Khan empfing ihn. Irgendwie war es dem Licht des Kristalls gelungen, das hoch gelegene Bauwerk zu verschonen. Inzwischen hatte die Morgendämmerung aber in vollem Umfang eingesetzt und verdrängte diese falsche Dunkelheit Stück für Stück. Kentril hätte dem Zerfall des Gebäudes keine große Bedeutung beigemessen, doch dann entdeckte er am Rand des Balkons eine Gestalt mit wehendem rotem Haar. Obwohl sie so weit voneinander entfernt war, trafen sich ihre Blicke. Kentril entdeckte in Atannas Augen eine Mischung aus Gefühlen, die ihn im ersten Moment verwirrte, und er realisierte 443
kaum, dass sie es war, die ihn langsam schwebend in Sicherheit brachte. Erst als ein kurzes, trauriges Lächeln über ihr so ernstes Gesicht huschte, verstand er, was sie getan hatte. Das Licht erfasste den Palast, und Kentril merkte, dass er wieder schneller fiel. Atanna lehnte sich über die Brüstung und streckte ihm einen Arm entgegen. Auch wenn er wusste, dass es nicht seine Hand war, die Juris Khans Tochter mit ihrer Geste zu fassen versuchte, konnte Dumon nicht anders, als ihr seinen Arm entgegenzustrecken. Sie lächelte noch einmal, diesmal deutlicher, und dann ... ... berührten die Sonnenstrahlen ihren Körper, und Atanna verblasste einfach, wurde durchscheinend ... und verschwand. Gleichzeitig fiel der Palast des Juris Khan in sich zusammen, bis nur noch Staub und Geröll übrig waren. Selbst der Hügel schien merklich in sich zusammenzusinken. Atannas Zauber verlor in diesem Moment seine Wirkung, und Kentril Dumon stürzte wie ein Stein dem Boden entgegen.
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Dreiundzwanzig Stimmen durchdrangen die Finsternis. »Vielleicht wäre es besser, wenn du ihn von den Toten erweckst und es dann gut sein lässt, Jüngelchen.« »Er lebt ... auch wenn ich nicht erklären kann, wie dies möglich ist.« Kentril wünschte sich, die Stimmen hätten ihn in Ruhe gelassen, damit er seinen ewigen Frieden genießen konnte. Doch sie wollten und wollten nicht verstummen. Ein Schnauben. »Du solltest besser etwas von dieser Kraft benutzen, um dich selbst zu heilen.« »Ich werde es schon überleben ...« Ein Licht durchbrach die leere Schwärze und blendete den Söldner. Kentril versuchte, sich die Augen zuzuhalten, doch mit einem Mal jagte ein stechender Schmerz durch seinen Körper. »Er hat sich bewegt, Humbart! Er hat reagiert!« »Ach, dass ich das noch erleben darf!« Das Licht wurde noch eindringlicher, stechender. Es brannte sich in seinen Verstand und zwang ihn, es anzustarren. Stöhnend gab Kentril die Augen frei. Seine Hände sanken herab. Das helle Tageslicht begrüßte ihn, doch das war nicht die Ursache für das grelle Leuchten. Vielmehr rührte es vom flammenden Schein eines Elfenbeindolches, der in der linken Hand des Nekromanten Zayl lag. Der einzigen Hand des Nekromanten. Zayls anderer Arm endete in einem mit Stoff umwickelten 445
Stumpf gleich oberhalb des Handgelenkes. Der blasse Anhänger Rathmas sah noch blasser aus als sonst, bis auf jene Stellen im Gesicht, die rot vernarbt waren. Seine Kleidung hing ihm in Fetzen vom Leib, und er sah aus, als hätte er seit Tagen keinen Schlaf mehr gefunden. »Willkommen zurück, Hauptmann«, sagte der Zauberkundige in einem Tonfall, der für seine Verhältnisse fast an Heiterkeit grenzte. »Sieh an, die Toten sind auferstanden!«, rief Humbart Wessel amüsiert. Der Schädel lag auf einem Stein gleich neben dem knienden Zayl. »Zayl ...« Kentril schnappte keuchend nach Luft. Seine Stimme klang rau und stockend. »Ihr ... lebt ...« Der Nekromant nickte. »Das war für mich eine ebenso große Überraschung wie für Euch. Wie kommt es, dass Ihr hier unten inmitten der Ruinen liegt, wenn Ihr den Nymyr besteigen musstet, um Juris Khan aufzuhalten?« Kentril drehte sich um und fühlte entsetzliche Schmerzen in Brust und Schulter. »Vorsicht, Hauptmann. Ihr habt Euch Rippenbrüche und eine ausgekugelte Schulter eingehandelt. Beides kann besser heilen, wenn ich mich ein wenig erholt habe, aber es wird seine Zeit dauern.« Kentril reagierte nicht auf Zayls Worte, sondern betrachtete, was von der sagenumwobenen Stadt Ureh übrig geblieben war. Von der Stadtmauer waren nur noch ein paar Reste verblieben, und praktisch jedes Hausdach war eingestürzt. Ureh wirkte plötzlich wie eine x-beliebige antike Stadt, die man der Zeit und den Elementen überlassen hatte, und strömte kaum noch etwas von einer unheimlichen Legende aus. 446
Vom Palast existierte nur noch das Fundament. »Sagt mir, was passiert ist, Hauptmann Dumon«, drängte der Nekromant. »Falls es Euch nichts ausmacht ...« Wenn es jemanden gab, der es verdiente, die Wahrheit zu erfahren, dann war es Zayl. Der Zauberkundige reichte ihm eine Wasserflasche, und wenig später erzählte Kentril so detailliert, wie es sein Gedächtnis noch hergab – angefangen beim Aufstieg bis zur Verfolgung. Er berichtete von Gorsts Opfer und von seiner eigenen Entscheidung, die Bedrohung durch das schattenhafte Königreich ein für alle Mal zu beenden, und koste es sein eigenes Leben. Als er von Atanna sprach, schnürte es dem müden Kämpfer die Kehle zu, und Tränen sammelten sich in seinen Augen. Doch er schilderte die Geschehnisse weiter, bis sein Gefährte alles wusste, was es zu wissen gab. Zayl nickte verstehend. »Vielleicht hat ein echter Erzengel über Euch gewacht, Hauptmann. Ihr habt die Zeit hervorragend abgepasst, vor allem was mich anging. Noch ein paar Sekunden länger, dann hätten mich Khans dämonische Kinder in Stücke gerissen. Nur das Messer und ein gelungener Auftritt Humbarts haben mich so lange durchhalten lassen.« »Was hat er getan?«, fragte Kentril und sah den Schädel an. »Ich habe ihnen lediglich vorgegaukelt, ihr Lord und Herrscher zu sein. Ich habe ihnen befohlen, aufzuhören, weil der Nekromant noch für einen Zauber gebraucht würde. So etwas in der Art habe ich auch mit Khan gemacht. Vielleicht sollte ich mein Glück auf einer Bühne versuchen.« Zayl musste unwillkürlich flüchtig lächeln. »Da weder unser Gastgeber noch sein Volk ihn sehen konnten, hat dieser Einfall einige wertvolle Sekunden eingebracht. Dennoch legte die Horde ihre Verwirrung schnell wieder ab, wie Ihr sehen könnt.« Er hob 447
den verbundenen Stumpf. »Ist es jetzt vorüber? Ist die Gefahr gebannt?« »Ja. Ureh und seine Bewohner haben jetzt Ruhe gefunden, und das Portal zur Hölle wurde verschlossen. Ehe ich Euch fand, suchte ich in der Stadt nach Restspuren des höllischen Einflusses, doch es war nichts mehr zu finden.« Kentril sah hinauf zum Himmel. Er schätzte, dass es kurz nach Mittag sein musste. »Wie lange war ich bewusstlos?« »Zweieinhalb Tage. Ich fand Euch am ersten Tag kurz vor Sonnenuntergang und habe getan, was ich konnte.« Zweieinhalb Tage? Der Hauptmann ignorierte die Schmerzen und setzte sich auf. »Was ist mit meinen Beinen, Zayl?« »Nicht gebrochen, wie es aussieht. Aber das könnt Ihr selbst am besten beurteilen.« Kentril prüfte es vorsichtig. Auch wenn jede Regung weh tat, konnte er sie doch gut bewegen. »Wenn ich in der Lage bin zu stehen, möchte ich von hier fort. Ich will nicht noch eine Nacht innerhalb der Stadtmauern zubringen.« Zayl runzelte die Stirn. »Es wäre wohl sinnvoller, noch ein oder zwei Tage ...« »Ich möchte fort von hier.« »Wie Ihr wünscht. Ich kann Euch gut verstehen.« Es kostete den Nekromanten einige Mühe, sich zu erheben. Anschließend verstaute er den Schädel in seiner Gürteltasche und half dem Kämpfer beim Aufstehen. In der Aufwärtsbewegung fiel etwas vor Kentrils Füße. Neugierig bückte er sich, um den Gegenstand in Augenschein zu nehmen. Atannas Gesicht blickte ihm von der Brosche entgegen. »Was ist das?«, fragte Zayl, der von seiner Position aus nichts 448
erkennen konnte. Der Hauptmann schloss rasch die Hand um den Schmuck. »Nichts. Gar nichts. Lasst uns gehen.« Ihr Ziel war die üppige Wildnis vor den Toren der Stadt. Während sie sich langsam dorthin bewegten, weihte der Nekromant Kentril ein, wie er sich die nächsten Schritte vorstellte. »Wir können für diese Nacht Euer altes Lager benutzen. Morgen bringe ich uns dann sicher zu anderen meiner Art. Sie werden helfen können, uns beide zu heilen – danach könnt Ihr Eures Weges gehen.« »Und ein Außenstehender wird für Euresgleichen kein Problem darstellen?« Zayl lachte leise. »Nicht, wenn derjenige Diablo selbst gegenübergestanden hat. Das ist eine Geschichte, die sie sich werden anhören wollen.« Sie kletterten über einen umgestürzten Teil der Stadtmauer und ließen das besondere Licht hinter sich zurück. Als sie aber den Bereich verlassen hatten, der zuvor im ewigen Schatten gelegen hatte, hielt Hauptmann Dumon Zayl plötzlich inne. »Gebt mir bitte einen Augenblick«, bat er. Schweigend sah Kentril auf das, was das Ende eines Traums und Alptraums in einem verkörperte. Der Wind pfiff durch die Ruinen der vergessenen Stadt, sein Heulen hörte sich an wie ein Klagelied für jene, die ihr Leben gelassen hatten. »Es tut mir Leid um Eure Freunde«, sagte der Nekromant so behutsam, wie er nur konnte. Doch offenbar hatte Zayl an sie nicht vorrangig gedacht. »Es ist vorüber. Es sollte am besten vergessen werden ... für alle Zeit.« Er wandte sich ab, und gemeinsam gingen sie weiter. Nach ei449
nigen Schritten ließ Hauptmann Kentril Dumon seine Hand verstohlen zu einer Tasche an seinem Gürtel wandern ... und die Brosche darin verschwinden. Hinter ihm gingen die Elemente einmal mehr geduldig zu Werke und begannen, die letzten Erinnerungen zu tilgen – die letzten Erinnerungen ans Königreich der Schatten.
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ÜBER DEN AUTOR Richard A. Knaak hat über zwanzig Fantasy-Romane und mehr als ein Dutzend Kurzgeschichten verfasst. Zu seinen Arbeiten gehört auch der New York Times-Bestseller The Legend of Huma aus der Dragonlance-Serie, zu der er weitere Romane beigesteuert hat, wie auch zur Dragonrealm-Serie. Frostwing und King of the Grey sind zwei von mehreren eigenständigen FantasyAbenteuer aus seiner Feder. In der Diablo-Reihe ist neben Das Königreich der Schatten bereits Das Vermächtnis des Blutes erschienen, außerdem hat er für die Warcraft-Reihe den Titel Der Tag des Drachen geschrieben. Gegenwärtig arbeitet er an einer umfangreichen Dragonlance-Trilogie. Weitere Informationen finden sich im Internet unter der Adresse www.sff.net/people/knaak.